Atlan - König von Atlantis Nr. 456 Dorkh
Marionetten der Magier von Horst Hoffmann
Pthor unter dem Joch dere...
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Atlan - König von Atlantis Nr. 456 Dorkh
Marionetten der Magier von Horst Hoffmann
Pthor unter dem Joch derer von Oth
Atlantis‐Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, ist wieder einmal mit unbekanntem Ziel unterwegs. Das Unheil, das Pthor vormals über unzählige Zivilisationen auf den verschiedensten Planeten gebracht hatte, scheint nun, seit dem Erreichen der Schwarzen Galaxis, auf den fliegenden Kontinent selbst zurückzuschlagen. Jedenfalls hatten die Pthorer in jüngster Zeit schwere Prüfungen über sich ergehen lassen müssen, denn ihre Heimat wurde das Ziel mehrerer Invasionen – zuletzt der des Duuhl Larx. Auch wenn die Truppen, die Duuhl Larx bei seinem überstürzten Abzug hatte zurücklassen müssen, längst keine Gefahr mehr darstellen, kommt Pthor gegenwärtig nicht zur Ruhe. Schuld daran ist Chirmor Flog, der seinerzeit mit dem Schwarzschock das Böse in die Große Barriere von Oth brachte. Und dieses Böse wirkt weiter fort und führt dazu, daß die Bewohner der Barriere, die Magier, nun über die Grenzen ihres Landes ausgreifen und die Herrschaft über das restliche Pthor übernehmen. Die Odinssöhne, pro forma als Herren über Pthor eingesetzt, scheinen dies nicht zu bemerken. Sie halten sich in der FESTUNG auf und empfangen die Ergebenheitsadressen von Delegationen aus allen Teilen des Kontinents. Sie sonnen sich in ihrer vermeintlichen Macht – dabei sind sie nichts als MARIONETTEN DER MAGIER …
Die Hauptpersonen des Romans: Koy, Kolphyr, Bördo und Fenrir ‐ Vier Rebellen gegen die neuen Herren von Pthor. Sigurd, Balduur und Heimdall ‐ Drei Marionetten der Magier. Sator Synk und Leenia ‐ Der Orxeyaner und die ehemalige Körperlose werden gesucht. Kolviss ‐ Der Traummagier unternimmt einen Alleingang.
1. Die FESTUNG – Audienz der Odinssöhne Alle erlittene Schmach, alle Demütigungen und alle Zweifel waren vergessen. Sigurd, Balduur und Heimdall, die drei Söhne Odins, hatten wieder – und wie sie glaubten, diesmal endgültig – jenen Platz eingenommen, der ihnen ihrer Ansicht nach gebührte. Souveräner als jemals zuvor beherrschten sie Pthor und die Bewohner des Dimensionsfahrstuhls. Man respektierte sie nicht nur – man liebte sie und sah bewundernd zu ihnen auf. Die Scharen von Pthorern, die zur FESTUNG kamen, um ihre Ergebenheit zu versichern, bewiesen dies nachhaltig. Sie stellten sich keine Fragen. Zweifel waren nicht im Sinne derjenigen, die ihnen ihren Glauben gaben, die für sie dachten und die die wahren Herrscher waren. »Es hat sich gelohnt, Brüder«, sagte Balduur mit verträumt wirkendem Blick. »Wir taten recht daran, dem falschen Propheten abzuschwören und uns auf die Seite der Macht zu schlagen.« »Niemand spricht mehr von Atlan und seinen Freunden«, kam es von Heimdall. Der Finstere zog die Brauen zusammen und grinste. »Man hat sie vergessen. Sollen sie zwischen den dunklen Sonnen vor die Hunde gehen, falls sie noch leben.« Sigurd, der dritte im Bunde, lächelte dünn. »Immerhin haben wir ihnen dankbar zu sein. Sie sorgten mit dafür, daß wir jetzt hier sind und nicht die Herren der FESTUNG.« Heimdall winkte ab. »Wir benutzten sie!« Heimdall goß sich Wein in einen silbernen
Pokal und trank. »Auch dazu, uns unsere nichtswürdige Schwester vom Hals zu schaffen.« Die Odinssöhne lachten und tranken. Der große, neu geschaffene Audienzsaal war noch leer. Draußen, vor den großen Türen, warteten weitere hundert Atlanter darauf, zu ihren Herren vorgelassen zu werden, um ihnen zu huldigen. Macht! Die Odinssöhne glaubten, den Gipfel der Macht erklommen zu haben. Sie stellten sich keine Fragen danach, wie sie ihn erstürmt hatten. Die Macht über Pthor war ihnen nicht einfach überraschend in die Hände gefallen – es war eine Fügung, die sie ihnen gegeben hatte. Dies glaubten die drei Söhne Odins, und dies sollten sie glauben. Sie wurden völlig von den Magiern beherrscht, deren Marionetten sie waren, Strohmänner, die ihre jetzige Position nur den taktischen Manövern der Magier zu verdanken hatten. Die Audienzen waren Farcen, billige Schauspiele für drei bedauernswerte Werkzeuge. Die Untertanen, die es in den Augen der Odinssöhne gar nicht erwarten konnten, ihnen ihre Reverenz zu erweisen und gelegentlich Bitten vorzutragen, wurden von den Magiern herangeschafft. Wer sich weigerte, zur FESTUNG zu ziehen, bekam die Macht der Bewohner von Oth zu spüren. Und die Magier verfügten über Mittel, jeden gefügig zu machen, der sich gegen ihre Befehle sträubte. Es gab Pthorer, die von Copasallior in den Dämmersee getaucht wurden und halb ertrunken in der FESTUNG erschienen waren, andere, die auf Schritt und Tritt von kleinen Sturmböen, Schneeschauern oder winzigen Platzregen verfolgt wurden, wieder andere, die von winzigen Feuerfunken umschwirrt wurden und durch tausend Höllen gingen – bis aller Widerstand gebrochen war. Es hatte noch keinen einzigen Toten gegeben. Die Magier zogen es vor, ihre Opfer auf subtile Weise zu quälen. Ein einziger falscher Gedanke genügte mitunter, und die Magier waren zur Stelle.
Selbst während der Audienzen kam es zu den seltsamsten Vorfällen, wenn jene, die hierhergetrieben worden waren, etwas Falsches dachten oder sagten. Die Odinssöhne nahmen es amüsiert wahr. Natürlich hatten ihnen die Magier ebenso wie die anderen Pthorer ihre Ergebenheit versichert und stellten in ihren Augen so etwas wie eine persönliche Schutztruppe dar. Tausende von Atlantern warteten unten, zwischen den kleineren Pyramiden, darauf, zu ihnen vorgelassen zu werden. Nur ein kleiner Teil der Gekommenen war in den unteren Stockwerken der FESTUNG untergebracht. Die anderen befanden sich im Freien oder in den riesigen Zelten, die nun überall errichtet worden waren. Dort wurden sie mit Getränken und Lebensmitteln versorgt, bis der große Augenblick kam und sie zu Sigurd, Balduur und Heimdall vorgelassen wurden. In der Regel warteten sie drei bis fünf Tage darauf. Eine regelrechte Bürokratie hatte sich entwickelt. Wer um eine Audienz »bat«, hatte Berge von Formularen auszufüllen. Wozu das gut sein sollte, wußte niemand. Einige vermuteten, daß auf diese Weise alle Pthorer erfaßt werden sollten, andere glaubten an Sicherheitsmaßnahmen für die Herrscher. Sigurd saß in einem prachtvollen, mit kostbaren Stoffen und Fellen bespannten Sessel. Er sah, daß sein Pokal leer war, und nickte seinen Brüdern zu. »Lassen wir sie nicht länger warten. Ich bin in der Laune, heute ein paar Wünsche zu erfüllen.« Balduur schrak aus seinen Gedanken auf und lachte spöttisch. Er hatte immer noch etwas von einem Träumer an sich, und Sigurd wußte, daß er sich fragte, ob es mit der Macht, die er nun zu haben glaubte, nicht möglich sein könnte, seine geliebte Opal zum Leben zu erwecken. Balduur sprach nicht mehr darüber, seitdem er eine entsprechende Anspielung gemacht hatte und von Heimdall ausgelacht worden war. Dabei hatte Heimdall ähnliche Gedanken. Sein Traum war der vom Parraxynt, und die Magier schürten die irrationale Hoffnung in
ihm, eines nicht mehr fernen Tages das Artefakt vervollständigen zu können. Sie ließen ihren Marionetten ihre Träume, denn sie waren Fesseln des Geistes. Die Odinssöhne sollten so sehr an sie gekettet werden, daß sie selbst dann, falls sie eines Tages das Spiel durchschauen sollten, darum flehen würden, ihre Rolle weiterspielen zu dürfen. »Wünsche?« Balduur lachte trocken. »Du läßt sie übermütig werden, Bruder. Sie sollen zittern und knien und nicht betteln.« »Unser geflohener König«, – Sigurd betonte das letzte Wort höhnisch – »gebrauchte einmal das Schlagwort ›Zuckerbrot und Peitsche‹. Warum sollen wir den Leuten nicht dann und wann einmal das Zuckerbrot geben? Was nützt es uns, wenn sie uns hassen? Es genügt, wenn sie unsere Macht kennen und fürchten.« »Sigurd möchte ein allseits beliebter Herrscher sein«, sagte Heimdall und blinzelte Balduur vielsagend zu. Sein Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. »Großzügigkeit wird allzu leicht als Schwäche ausgelegt. Die Peitsche ist besser, Sigurd.« Die Konversation bewegte sich schon am Rande dessen, was den Odinssöhnen von den Magiern gestattet wurde. In Kleinigkeiten durften sie frei sein und dann und wann auch einmal unwichtige Entscheidungen treffen. Was wirklich wichtig war, wurde nicht von ihnen entschieden, denn dann diktierten die wirklichen Herrscher ihnen ihre Worte. Und auch die Magier waren nur die Statthalter eines Mächtigeren. Thamum Gha, der Neffe des Dunklen Oheims und Beherrscher des Guftuk‐Reviers, in dem Pthor erneut zum Stillstand gekommen war, brauchte nicht selbst auf Pthor präsent zu sein. Sein einmaliges Auftreten hatte genügt, um alle Weichen zu stellen und mehr zu erreichen als Chirmor Flog mit seinen Scuddamoren und Duuhl Larx mit den Trugen und seinen anderen Hilfsvölkern. Zwar befanden sich auch Truppen Thamum Ghas auf Pthor, die an große Affen erinnernden, hochintelligenten Ugharten, doch diese hielten sich ausschließlich in der Senke der verlorenen Seelen auf, wo die
letzten Exoten auf ihren Abtransport warteten, um irgendwo bei einem Werftplaneten als lebende Galionsfiguren in die Bugkuppeln von Organschiffen gesetzt zu werden. Von diesem grausamen Schicksal ahnten sie jedoch nichts. »Wachen!« rief Heimdall. Die große Tür dem Podest mit den Thronsesseln und den Tischen mit Kostbarkeiten aus allen Teilen Pthors gegenüber schwang auf. Zwei Dellos traten in den Saal ein und verneigten sich. »Holt die nächste Gruppe herein!« Die Dellos richteten sich wieder auf. Einer von ihnen sagte: »Es handelt sich um Abordnungen aus der Wüste Fylln, dem Blutdschungel und von der Ostküste, ihr Herren.« »Dann holt sie, verdammt!« Heimdall nahm einen Pokal und schleuderte ihn nach den Wachen. Er brummte noch etwas Unverständliches und richtete den Blick zur Tür, durch die nun eine Schlange von Pthorern in den Saal geführt wurde. Nur wenige Dellos gingen neben ihnen her, die Waffen unter weiten Umhängen versteckt. Als an die hundert Pthorer im Saal waren, warfen sie sich vor den Odinssöhnen auf die Knie. »Steht auf!« rief Sigurd nach einer Weile. »Die Sprecher mögen vortreten!« Aus jeder Abordnung trat ein Mann vor, die Arme voller Geschenke und den Kopf gebeugt, bis er kurz vor dem Podest stand. Die Geschenke wurden von Dellos abgenommen und den Odinssöhnen zu Füßen gelegt. Einer nach dem anderen versicherten die Sprecher der Abordnungen den drei Brüdern ihre absolute Loyalität und priesen die Herrlichkeit derer, von denen sie wußten, daß sie in Wirklichkeit traurige Jammergestalten waren. Die Rolle, die die Odinssöhne in den zurückliegenden Wochen und Monaten gespielt hatten, war vielen Pthorern bekannt. Doch niemand wagte nun, daran zu denken. Niemand hatte den Mut, seinen Abscheu offen zu zeigen.
Die Magier waren überall. Man sah sie nicht, aber sie waren da. Sie kannten die geheimsten Gedanken und schlugen aus dem Nichts heraus zu. Geduldig und mit funkelnden Augen hörten die Söhne Odins sich die Lobeshymnen an. Sie genossen es, wie ihre »Untertanen« sich vor ihnen erniedrigten. Sigurd, an diesem Tag ohnehin gut gelaunt, wurde von einem seltenen Hochgefühl ergriffen, so daß er tatsächlich alle Bitten, die danach vorgebracht wurden, erfüllte, soweit es sich um Lappalien handelte. Heimdall warf ihm dafür zynische Blicke zu, schwieg aber. Balduur blickte verträumt und mit offensichtlichem Wohlgefallen auf »seine« Pthorer hinab. Schließlich erhob Sigurd sich aus seinem Thronsessel und richtete die gleichen Worte an die Gekommenen wie an alle anderen Gruppen zuvor. Er sprach von der großen gemeinsamen Aufgabe, die alle Pthorer nun zu bewältigen hätten, von der Wiederherstellung der alten Ordnung und drängte die Pthorer dazu, noch effektiver als bisher an der Realisierung dieser Aufgabe mitzuarbeiten. Er verlangte Höchstleistungen von allen, die etwas produzierten, und von den anderen kämpferischen Einsatz gegen alle subversiven Elemente. Namen nannte er nicht. Die Pthorer brauchten nicht zu wissen, daß es immer noch einige Rebellen gab, die nicht gefaßt waren. Heimdall stand ebenfalls auf und stellte sich neben Sigurd. Er drohte harte Strafen für alle an, die versagten oder mit dem Gedanken spielen sollten, sich gegen die Odinssöhne zu stellen. »Nun geht zurück und tut, was von euch verlangt wird«, schloß Sigurd. »Ihr werdet sehen, daß eine neue Epoche anbricht, die auch euch nur Vorteile bringen wird.« Die Sprecher der Abordnungen gingen rückwärts und mit gebeugten Köpfen zu ihren Artgenossen zurück. Schon wollten diese sich erneut auf die Knie werfen, als eine helle Stimme aus ihrer Mitte erscholl: »Nein, Sigurd! Wir sind noch nicht fertig!«
Sigurd, die Hand schon wieder am Griff der Karaffe, um sich neuen Wein einzuschenken, sah hoch. Für ihn war die Angelegenheit erledigt gewesen. Nun mußte er fassungslos mitansehen, wie ein junger Bursche, fast noch ein Knabe, sich zwischen den Pthorern nach vorne drängte. Er machte sich mit den Ellbogen Luft, wenn jemand versuchte, ihn zurückzuhalten, oder beschwörend auf ihn einredete, und scheute auch nicht davor zurück, seine Fäuste zu gebrauchen, als zwei Dellos herbeieilten und ihn zu greifen versuchten. Der Jüngling schlug sie zu Boden. Er kämpfte mit der Geschmeidigkeit und Schnelligkeit einer Katze und ließ ihnen keine Chance. Bevor weitere Dellos heran waren, war er auf das Podest gesprungen. Direkt vor Sigurd blieb er stehen. Heimdall stand auf dem Sprung, um sich auf ihn zu stürzen. Balduur stieß einen heiseren Schrei aus. »Erkennst du mich?« schrie Bördo seinen Vater an, bevor Heimdall ihn packen und zurück in den Saal befördern konnte. »Erkennst du deinen Sohn, stolzer Sigurd?« * Es waren für Bördo schreckliche Minuten gewesen, als er, halb versteckt zwischen den anderen Pthorern, dem grausigen Spiel zusehen und erleben mußte, wie Sigurd, Balduur und Heimdall sich wie drei Narren aufführten – träge Gestalten, die vor Selbstbeweihräucherung zu vergehen schienen, drei erbärmliche Schatten ihrer großen Namen. Der letzte, irgendwo in einem entlegenen Winkel von Bördos Bewußtsein noch verborgene Zweifel an dem, was er über seinen Vater gehört hatte, wurde zerschlagen. Diese drei Männer waren keine strahlenden Helden. Sigurds Lächeln wurde für Bördo zur Grimasse, je länger er hinsah. Und als sein Vater dann zu den
Pthorern sprach, wobei er auch Atlan erwähnte und diesen Mann, dem Bördo nur zweimal flüchtig begegnet war, als er kaum etwas von den Dingen wußte, die auf und mit Pthor vorgingen, von dem er aber während seiner Odyssee mehr als genug gehört hatte, mit ein paar Worten abtat und als Verräter bezeichnete, wußte Bördo, daß alles, was er über Sigurd und dessen Brüder gehört hatte, wahr gewesen war. Und er hatte Männer erschlagen, nur weil sie Sigurd als Feigling und Verräter beschimpft hatten! Erst Sadak, der Seher, hatte ihm die Augen öffnen können. Als Bördo nun vor seinem Vater stand, trug er immer noch den Beutel mit der geheimnisvollen Blume darin am Gürtel, die allein ihn vor einer Wahrnehmung durch die Magier schützen konnte. Bisher hatte sie das getan. Bördo hatte mit einer der in den unteren Teilen der FESTUNG zusammengestellten Gruppe den Audienzsaal erreicht. Vorher mußte er sich an Dellos vorbeischmuggeln. Auch dies wäre mit Sicherheit nicht gelungen, hätten die Magier im Hintergrund ihn wahrnehmen können. Doch Sadak hatte auch gesagt, daß die Blume ihn nur bis zur FESTUNG schützen würde. Und wenn schon! Nun stand er vor Sigurd. Die lange Odyssee war zu Ende. Bördo hatte seinen Vater gefunden – einen Weichling und Verräter an der Sache Pthors. Nie und nimmer würde Bördo sich dazu hingeben, eine neue Schreckensherrschaft errichten zu helfen. Zuviel Leid hatte er auf seinen Wanderungen gesehen. »Erkennst du mich?« Bördo schrie es, als er noch immer keine Antwort erhielt. Sigurd stand mit offenem Mund und Unglauben in den Augen vor ihm. Auch Balduur war aufgesprungen. Wie Heimdall blickte er den Bruder an und wagte nicht, die Initiative zu ergreifen. Von hinten kamen Dellos heran. »Pfeife deine Hunde zurück, tapferer Sigurd!« Bördos Worte
trieften vor Hohn. »Oder verleugnest du auch deinen Sohn?« Endlich kam Leben in den Odinssohn. »Ja«, sagte er leise. »Ich hatte einen Sohn, ein Kind mit einer Valjarin. Aber der Knabe wurde bei ihrer Familie untergebracht, bis er einmal …« Sigurd warf seinen Brüdern einen unsicheren Blick zu, als fürchtete er, daß sie ihn jetzt mit Fragen bestürmen würden. Wußten sie überhaupt von Bördo? »Bis er würdig genug sein würde, um dir unter die Augen zu treten?« fragte Bördo, immer gereizter werdend. Er konnte seinen Vater nicht hassen. Nie würde er das können. Aber die Enttäuschung, der Zorn darüber, den Mann, den er all die Jahre so sehr verehrt hatte, nun hilflos und den Magiern hörig vor sich stehen zu sehen, machten ihn rasend. »Er steht jetzt vor dir, und er wünscht sich, niemals beschlossen zu haben, dich zu suchen.« »Bördo …«, murmelte Sigurd. »Ja, ich bin Bördo!« Er drehte sich um und sah hinab auf die Pthorer, die nicht fassen konnten, was sie erlebten. Die Dellos kamen nicht weiter heran. Es sah so aus, als warteten sie auf irgend etwas, auf jemanden, der ihnen sagen sollte, was sie zu tun hatten. Das gleiche galt für die Odinssöhne. Bördo triumphierte innerlich, als er erkannte, daß die Blume ihn immer noch gegen die Magier abschirmte. Diejenigen von ihnen, die diesen Raum kontrollierten, mußten den Eindruck haben, daß Sigurd ins Leere sprach. Bördo wußte, daß sie bald geeignete Methoden finden würden, um ihn unschädlich zu machen. Er hatte nicht viel Zeit, aber die Zeit, die ihm blieb, wollte er nutzen. Er mußte sich Luft machen. Er breitete die Hände aus und rief den Pthorern zu: »Schaut her! Seht sie euch genau an, eure stolzen und mächtigen Herren! Seht ihr ihre Macht? Laßt euch nicht blenden! Ihr alle seid nicht freiwillig hier, und die Magier, die euch gezwungen haben, herrschen auch über die FESTUNG. Diese drei hier«, er sah Balduur an, dann Heimdall und schließlich den zitternd dastehenden Sigurd, »sind nichts als Marionetten.« Bördo atmete tief durch. Sein Herz
schlug wild in der Brust und jagte das Blut pochend durch die Schläfen. »Doch bevor sie zu Marionetten wurden, verrieten sie euch und jene, denen ihr eure Freiheit zu verdanken hattet. Und das taten sie aus freiem Willen. Glaubt nicht, was sie über Atlan und seine Freunde verbreiten ließen. Nicht er ist der Verräter – sie sind es, die mit den Dunklen Mächten der Schwarzen Galaxis einen Pakt geschlossen haben. Sie arbeiteten mit den Scuddamoren zusammen, mit den Trugen und nun mit den Magiern.« Bördo sah in entsetzte Gesichter, aber unter den hundert Pthorern waren nun bereits einige, die aufstanden und ihre Scheu abzulegen schienen. Ein Dalazaare hob die Faust und schrie: »Der Junge hat recht! Sie haben uns verkauft! Sie …« Der Dalazaare kam nicht weiter. Wie aus dem Nichts heraus bildete sich über seinem Haupt ein Feuer, das sich auf ihn herabsenkte und einhüllte. Kleine Flämmchen schienen direkt aus seinem Gesicht zu fahren. Er schrie, fiel zu Boden und wälzte sich vor Schmerzen und panischer Furcht herum, bis zwei Dellos heran waren und ihn aus dem Saal schafften. Als wäre dieses Eingreifen der Magier ein Zeichen für sie gewesen, kam Leben in die Odinssöhne. Sigurd suchte nach Worten, hob langsam und wie zur Abwehr die Hände und machte einen Schritt zurück. Dafür kam Heimdall heran. Der Finstere schwang eine Faust und brüllte: »Das reicht! Wachen, packt den Elenden und werft ihn in ein Verlies! Wir kümmern uns später um ihn!« »Damit niemand mehr die unbequeme Wahrheit hören kann?« Bördo lachte laut auf. Das Schwert und den Bogen hatte er vor der FESTUNG zurücklassen müssen. Er war unbewaffnet, und doch hatte er jetzt keine Angst. »Wie erbärmlich ihr doch seid! Und ich glaubte an euch! An dich, Sigurd! Nur der Gedanke daran, eines Tages vor meinem Vater, vor dem Helden Sigurd stehen zu können, gab mir die Kraft, zu überleben.« Bördo sah sich schnell um. Weitere Dellos stürmten in den Saal und begannen, die Pthorer
hinauszutreiben. Die anderen waren schon am Podest, zögerten aber noch, es zu betreten. Besonnene Pthorer riefen Bördo zu, er solle schweigen. Er hörte es kaum. Heimdall ignorierend, ging er weiter auf Sigurd zu, bis er direkt vor ihm stand. Er streckte die Hände nach ihm aus, doch wieder wich Sigurd zurück. Er hatte Angst. Nicht vor mir, dachte Bördo. Vor dem, was ich für ihn symbolisiere. Vor der Wahrheit! »Bördo«, stammelte Sigurd, als hätte er ungeheure Schwierigkeiten dabei, die Worte hervorzubringen. »Ja, ich … erkenne dich. Geh zurück, geh schnell zurück. Hier bist du … Ich werde dich …« Bördo erkannte, daß sein Vater halb von Sinnen war. Der Schock, als er so unvermittelt vor ihn getreten war, mußte ihn der Kontrolle der Magier vorübergehend entrissen haben. Plötzlich wurde Bördo von seinen Gefühlen übermannt. Bevor Sigurd noch weiter zurückgehen konnte, warf er sich an seine Brust und begann zu weinen. »Komm zu dir, Vater«, schluchzte er. »Siehst du nicht, was sie aus euch gemacht haben? Kämpfe doch gegen sie, bevor …« Er wurde von hinten gepackt und mit brutaler Gewalt fortgerissen. Er wirbelte herum und sah Heimdalls Gesicht über sich. Von unbändiger Wut und Verzweiflung gepackt, begann er zu schreien, um sich zu schlagen und zu treten. Heimdall schrie gellend auf, als Bördos Stiefelspitze gegen sein Schienbein krachte und die Fäuste des Jünglings gegen seinen Magen trommelten. Dann hatte er ihn wieder gepackt, versetzte ihm nun seinerseits einen Schlag in die Magengrube, hob ihn in die Luft und schleuderte ihn den vor dem Podest wartenden Dellos vor die Füße. Bördo hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Wie durch wallende Nebel sah er, daß Sigurd nichts unternahm, um ihm zu helfen. Der Beutel! Bördo sah ihn vor Heimdalls Füßen liegen. Er mußte ihn ihm im Kampf abgerissen haben. Jetzt spürte er sie. Die Magier waren nicht im Raum, aber dennoch
mit ihren Kräften überall um ihn herum. Eine eisige Hand schien in sein Bewußtsein zu greifen. Noch einmal bäumte er sich auf und schrie den Namen seines Vaters. Doch Sigurd stand nun neben Heimdall und blickte mit ebenso finsterer Miene auf ihn herab. Er hob einen Arm und zeigte anklagend auf ihn. »Schafft ihn in ein Verlies!« befahl er mit nun fester Stimme. Augenblicklich wurde Bördo von den Wachen gepackt. Er wehrte sich nicht mehr. Von starken Armen gehalten, wurde er aus dem Saal getragen. Kein Blick zurück zu Sigurd. Das, was in sein Bewußtsein drängte, gewann die Oberhand. Bördos Sinne schwanden. Als sich die Tür hinter ihm und den Dellos schloß, blieb Sigurd einige Augenblicke wie versteinert stehen. Was war das gerade gewesen? Er hatte sich wieder völlig unter Kontrolle – glaubte er. Das eben Geschehene wurde mit Gewalt aus seinem Bewußtsein verdrängt, und doch sollte Sigurd vorläufig nicht zur Ruhe kommen. »Dieser Bengel«, knurrte Heimdall. »Stimmt es, daß er …?« »Halt den Mund!« herrschte Sigurd den Bruder an. »Vergeßt, was ihr gesehen und gehört habt. Wir sind nicht hier, um uns das Gewäsch eines Halbwüchsigen anzuhören!« Sigurd ließ sich in den Sessel fallen, füllte seinen Pokal und leerte ihn in wenigen Zügen. Dann rief er nach den Wachen und befahl, die nächste Abordnung hereinzuführen. Balduur und Heimdall schwiegen, doch ihre Blicke schienen ihn durchdringen zu wollen. Die Audienz ging weiter, doch Sigurd war nicht mehr bei der Sache. Heimdall redete für ihn, und manchmal kamen Sigurd die Worte des Bruders wie bitterer Hohn vor. Augenblicklich schalt er sich dafür einen Narren. Auch wenn die Magier ihn noch so gut im Griff hatten – in seinem
Unterbewußtsein brodelte es. Was war das gewesen, jetzt gerade? Jeder Gedanke an Bördo wurde im Keim erstickt. Sigurd rutschte unruhig im Thronsessel hin und her. Dann und wann fauchte er die Pthorer an, die gekommen waren, um ihm zu huldigen. An diesem Tag erfüllte er keine Bitten mehr. Er wurde ungenießbarer als Heimdall. Irgend etwas arbeitete in ihm, kämpfte gegen etwas anderes. Es verursachte Übelkeit und blinde Aggression. Er versuchte, in sich hineinzuhören, mit dem Ergebnis, daß ihm schwindlig wurde und stechende Schmerzen durch seinen Kopf fuhren. Sigurd kapitulierte. Er hatte keinen Sohn. Sollte der Bengel im Kerker schmachten. Später würde er seine verdiente Strafe erhalten. Die Strafe dafür, daß er versucht hatte, die Odinssöhne umzubringen. Denn nur das konnte sein Trachten gewesen sein. So dachten es die Magier für Sigurd, Balduur und Heimdall. 2. Auf der Flucht – Koy, Kolphyr und Fenrir Drei unterschiedliche Gestalten bewegten sich langsam, immer wieder rastend und sich ängstlich umsehend, parallel zur Straße der Mächtigen gehend auf ein bunkerähnliches riesiges Bauwerk zu. Es war ein gewaltiges rotfarbenes Fort – das Lettro des Odinssohns Heimdall. Nichts deutete darauf hin, daß irgendwo in der Nähe ein Magier saß und die drei beobachtete. Koy, der Trommler, Kolphyr und Fenrir gehörten mit Sator Synk, Leenia und den Robot‐Guerillas zu den meistgesuchten Rebellen auf Pthor. Geht man davon aus, daß es nirgendwo zwischen Blutdschungel und Dunkler Region, zwischen der Großen Barriere von Oth und der Eisküste im Norden Pthors nicht doch noch irgendwo versteckt Pthorer gab, die nur auf eine
passende Gelegenheit warteten, um gegen die Magier aktiv zu werden – und das war mehr als unwahrscheinlich –, so waren sie tatsächlich die einzigen, die noch entschlossen waren, für die Freiheit Pthors zu kämpfen. Die drei waren bisher unbehelligt geblieben. Seit ihrer Flucht hatten sie auf Schritt und Tritt mit der Angst leben müssen, von den für sie unbegreiflichen Sinnen der Magier aufgespürt zu werden. Und sie wußten, daß sie erst dann etwas davon merken würden, wenn es zu spät war und sich die Falle um sie geschlossen hatte. Sie hielten sich bewußt etwas abseits von der Straße der Mächtigen, denn die Wahrscheinlichkeit, daß diese kontrolliert wurde, war bedeutend größer als die, daß die Magier die Steppe überwachten. Und Heimdalls Lettro? Koy und Kolphyr wußten zwar in groben Zügen, was sich inzwischen auf Pthor ereignet hatte – auch nach ihrer Flucht. Doch davon, daß die Odinssöhne nun als die Marionetten der Magier in der FESTUNG saßen, ahnten sie nichts. Sie waren eine der wenigen Hoffnungen der Gejagten. Von Synk und Leenia hatten sie seit deren Aufbruch in Richtung Dunkle Region nichts mehr gehört und gesehen. Aber vielleicht waren die Odinssöhne zur Kooperation zu bringen. Koy und Kolphyr mußten nach Lage der Dinge glauben, daß Sigurd, Balduur und Heimdall sich schmollend in ihre Behausungen zurückgezogen hatten. Auch wenn sie mit den Brüdern bisher keine sehr guten Erfahrungen gemacht hatten, hofften sie nun doch darauf, diese zur Unterstützung ihres Kampfes bewegen zu können. Es war ihr Pech, daß sie unterwegs keinen Pthorern begegnet waren, die ihnen hätten sagen können, was mittlerweile fast jeder auf Atlantis wußte. Von Anfang an hatten sie einen weiten Bogen gemacht, sobald sie irgendwo jemanden sahen. Nun näherten sie sich Heimdalls Lettro, um den ältesten und ungenießbarsten der Odinssöhne als ersten aufzusuchen.
Koy führte die Gruppe jetzt an. Er bestimmte das Tempo und gab Verhaltensanweisungen. Weder Kolphyr noch Fenrir hatten das Lettro jemals betreten, wohl aber Koy, der dem finsteren Heimdall, kurz nachdem er beschlossen hatte, sich selbständig zu machen und nach seiner Mutter Dagrissa zu suchen, begegnet war. Gemeinsam hatten sie den Bunker und die in ihm lagernden Schätze gegen die halbstofflichen Gordys verteidigt. Mit Schaudern dachte der Trommler an das schreckliche Ende, das einige der Angreifer gefunden hatten, weil der Entstofflichungseffekt durch einen Schaltfehler an den entsprechenden Projektoren gerade in dem Augenblick rückgängig gemacht wurde, als sie versuchten, durch die Mauern des Bunkers ins Innere zu gelangen. Und Kröbel, der skullmanente Magier? »Es könnte sein«, sagte Koy leise, während die drei ungleichen Gefährten hinter ein paar mächtigen Felsblöcken, die wie vom Himmel gefallen hier mitten in der Ebene lagen, Schutz suchten, »daß auch Kröbel jetzt zu den negativen Magiern gehört, obwohl er einst von ihnen davongejagt wurde.« »Dieser famose Kröbel befand sich nicht in der Barriere von Oth, als die Magier negativ wurden«, gab Kolphyr zu bedenken. »Außerdem kann er, wie du sagtest, nichts anderes als Wasser durch Hineintauchen seiner Hände zum Kochen bringen.« »Dennoch sollten wir vorsichtig sein. Die Nähe anderer Magier kann sich auf nicht vorhersehbare Art auf ihn ausgewirkt haben.« Kolphyr zirpte etwas Unverständliches. Fenrir wurde unruhig. »Lauf vor«, rief Koy ihm leise zu. »Sieh dich um, Fenrir!« Etwa hundert Meter bis zum Bunker. Der riesige Wolf sprang mit einem Satz auf die Felsen, witterte kurz, und sprang auf der anderen Seite wieder herunter. Koy konnte gerade noch sehen, wie er hinter einer Ecke des Lettros verschwand, als er den Kopf über den Fels steckte. Als er wieder herunterstieg, sah er, wie der Bera ihn fragend anblickte. Koy nickte.
»Ich glaube, nein, ich bin sicher, daß ich meine Broins jetzt wieder voll einsetzen kann. Aber ich glaube nicht, daß es nötig sein wird.« Er zuckte die Schultern. Von ihrer Position aus war der Eingang des Bunkers nicht zu sehen. Er lag zur Straße der Mächtigen hin. »Es ist ein Gefühl, Kolphyr, ein Gefühl, das mir sagt, daß im Lettro nichts mehr lebt.« »Du meinst, Heimdall ist … tot?« »Unsinn. Er ist ein zäher Brocken. Warten wir ab.« Koy kletterte wieder ein Stück den Fels hinauf, um sehen zu können, was sich beim Bunker tat. Nach einigen Minuten sah er Fenrir, der vor dem Lettro stand und darauf zu warten schien, daß die beiden ihm folgten. »Gehen wir«, flüsterte Kolphyr. Koy folgte ihm vorsichtig. Seine Broins bebten leicht, als rechnete er jeden Augenblick damit, sie – entgegen seiner eben geäußerten Vermutung – einsetzen zu müssen. Doch es blieb ruhig. Sie erreichten Fenrir, und dieser führte sie auf die Straße und zum Eingang des Bunkers. Das Tor war aufgebrochen. Koy dachte wieder an seine erste Begegnung mit Heimdall und daran, wie er mit dem Truvmer, Heimdalls Kettenfahrzeug, damals das geschlossene Tor gerammt und durchbrochen hatte. Diesmal sah es anders aus. Heimdall hatte es inzwischen repariert gehabt. Nun war es systematisch aufgebrochen worden. Wer immer sich hier gewaltsam Zutritt verschafft hatte, mußte viel Zeit gehabt haben. Und Heimdall sollte sich nicht dagegen gewehrt haben? Koys Unbehagen wuchs. Was war hier geschehen? Waren es wieder die Gordys gewesen, die das massive Holz überall dort, wo die Flügel des Tores in der Mauer verankert gewesen waren, mit Äxten herausgeschlagen hatten? Die beiden Flügel lagen flach auf dem Boden, nach innen gedrückt, in den Vorhof hinein. Fenrir war bereits im Innenhof und wartete ungeduldig. Langsam, sich nach allen Seiten umsehend
folgten Koy und Kolphyr. Totenstille. Kein Zeichen von Heimdall oder den Angreifern. Es sah überall aus wie nach einer Schlacht. Weitere Türen waren aufgebrochen. Noch zögerte Koy, einen der Gänge zu betreten, die zu den weiträumigen, düsteren und dennoch prunkvoll ausgestatteten Hallen führten. »Heimdall!« rief er. »Ich bin es, Koy! Komm heraus! Wir wollen mit dir reden!« Keine Antwort. Aber wenn Heimdall nicht in der FESTUNG war (und dieser Gedanke erschien Koy zu diesem Zeitpunkt absurd), gab es keinen anderen Ort auf ganz Pthor, an dem er sein konnte. Bei einem seiner Brüder? Koy konnte es sich nicht vorstellen. Lag er hilflos irgendwo in seinem Bunker? War er doch das Opfer eines heimtückischen Angriffs geworden? War es möglich, daß die Magier sich die Odinssöhne als unliebsame Konkurrenten um die Macht vom Hals geschafft hatten? Koy wußte, daß er die Antwort nur im Bunker selbst erhalten würde, und mit zusammengebissenen Zähnen gab er Kolphyr das Zeichen, ihm zu folgen. Was er in den Gängen und Hallen sah, übertraf das Bild der Verwüstung im Innenhof noch. Bilder und Teppiche waren von den Wänden gerissen, Möbelstücke und wertvolle Vasen umgestoßen und zerschlagen, Regale mit kleineren Kostbarkeiten einfach umgestoßen worden. Koy versuchte sich zu erinnern. Er rief weiter nach Heimdall, obwohl er nun nicht mehr daran glaubte, eine Antwort zu bekommen. Dann fand er den Weg ins Zentrum der Anlage. Hier hatten sich alle Schätze des Odinssohns befunden. Der Saal war so gut wie leer. Koy registrierte es mit Erschrecken und Erleichterung zugleich. Insgeheim hatte er befürchtet, Heimdall könnte selbst Hand an sich gelegt haben, aber dann hätte er sich hier umgebracht, inmitten seiner geliebten Kostbarkeiten, neben dem Schatz, der ihm am meisten bedeutete.
Das Gestell war leer. Nicht ein einziges der unschätzbar wertvollen Bruchstücke des geheimnisvollen Artefakts, des Parraxynts, war noch daran. Das gab Koy die letzte Gewißheit, daß Heimdall tatsächlich nicht mehr in seinem Lettro war. Hier hätten sie ihn gefunden, hier und an keinem anderen Ort. Plünderer, vielleicht die Gordys, die so sehr hinter den Fragmenten des Parraxynts hergewesen waren, von dem es hieß, daß derjenige, der alle Teile zusammentrüge, das Geheimnis von Pthor lösen könnte. War Heimdall jetzt unterwegs, um ihnen die Beute wieder abzujagen? Auch die anderen Schätze waren verschwunden. Heimdall hätte gekämpft bis zum letzten Blutstropfen, um sie zu verteidigen. Nein, dachte Koy. Er hatte sein Lettro bereits verlassen, bevor die Plünderer kamen. Vielleicht war er auch niemals hierher zurückgekehrt. »Und was jetzt?« fragte Kolphyr, der die Gedanken des Gefährten erraten zu haben schien. »Ich habe noch eine Hoffnung«, knurrte der Trommler. »Kröbel.« Er sah die Ablehnung in Kolphyrs Miene. »Auch wenn er ein Magier ist oder ein Halbmagier. Er war Heimdall trotz aller Streitereien treu ergeben.« Doch auch der skullmanente Magier blieb unauffindbar. »Laß uns schnell von hier verschwinden«, sagte Koy, nachdem sie den ganzen Bunker durchsucht hatten. »Wir müssen herausfinden, was mit den Odinssöhnen geschehen ist.« »Du willst die anderen beiden aufsuchen?« »Balduurs Heim ist viel zu weit«, brummte Koy. »Bis zu Sigurds Lichthaus sind es etwa siebzig Kilometer. Zwei Tage, wenn wir vorsichtig bleiben und nur im Hellen gehen.« »Und wenn wir auch das Lichthaus verlassen vorfinden?« Koy gab keine Antwort. Sie verließen den Bunker. Koy atmete auf. Es war für ihn, als ließen sie einen Alptraum hinter sich zurück, als sie sich nun auf den Weg nach Nordosten machten. Sie entfernten sich immer weiter
von der Straße der Mächtigen, die vom Lettro aus zunächst 35 Kilometer in nordwestlicher Richtung verlief und bei Donkmoon einen Knick machte, um dann strikt nach Osten zu führen. Sie zu benutzen, hätte neben dem Risiko einer Entdeckung einen gewaltigen Umweg bedeutet. Wenige Stunden später begann es zu dämmern. Einige Male hatten die Wanderer sich ins Gras werfen oder unter Bäumen Schutz vor Entdeckung suchen müssen, als in geringer Höhe Zugors über sie hinwegjagten, die alle in die gleiche Richtung flogen – zur FESTUNG. Weder Koy noch Kolphyr konnten wissen, daß in ihnen Pthorer saßen, die den Odinssöhnen huldigen »wollten«. »Wir müssen einen sicheren Platz zum Übernachten finden«, sagte Koy. Die Tage, in denen sie nur nachts marschiert waren, waren vorbei. Die Nacht hatte relativen Schutz vor Scuddamoren und Trugen geboten, aber nicht vor den Magiern. Koy wollte sehen, was um sie herum vorging oder sich aus der Ferne näherte. Die Steppe ging allmählich in eine Wildnis über. Verdorrte Sträucher und dichte Buschgruppen zwangen die drei Gefährten nun immer häufiger, Umwege zu machen. Es fiel schwer, die Orientierung zu behalten. Kleinere Wälder boten Schutz vor Entdeckung aus der Luft, doch die magischen Sinne der neuen Herrscher drangen auch durch die dichtesten Wipfel. Koy spürte schon seit Stunden, daß er immer nervöser wurde. Der Verfolgungswahn griff nach ihm, und er bekämpfte ihn, so gut es ging. Unsichtbare Gegner. Unheimliche Gegner. Nichts und niemand, den man von Mann zu Mann bekämpfen konnte. Kolphyr blieb stehen und deutete auf eine weitere Baumgruppe, die in der Dunkelheit als verschwommener Fleck etwa einen Kilometer entfernt zu erkennen war. Koy nickte. Sie marschierten darauf zu. Als sie die halbe Strecke hinter sich hatten, blieb Fenrir plötzlich stehen, witterte und stieß ein verhaltenes Knurren aus. »Was ist los, mein Guter?« fragte Koy. »Ist jemand in der Nähe?«
Die Nackenhaare des Wolfes waren aufgerichtet, die Zähne gefletscht. Plötzlich rannte er in südlicher Richtung davon und verschwand in der Nacht. »Fenrir!« brüllte Koy wütend. »Komm zurück!« Er schüttelte heftig den Kopf, als das Tier verschwunden blieb. »Verdammt, warum kann er nicht sprechen? Was hat er jetzt wieder entdeckt?« »Wir müssen hier auf ihn warten«, stellte Kolphyr fest. Koy versuchte vergeblich, eine Stimmung aus seinen Worten herauszuhören. Kolphyr war viel ruhiger als er selbst. Dort hinten waren die Bäume, die ein gewisses Gefühl der Sicherheit gaben. Koy setzte sich zwischen drei Büsche und fluchte leise vor sich hin. Kolphyr legte sich einfach neben ihm auf den Boden und starrte in die Luft. Ein Licht am Himmel. Koy zuckte heftig zusammen. Dann erkannte er, daß es sich lediglich um einen weiteren Zugor handelte, der in Richtung FESTUNG flog. Was, um alles in der Welt, wollten die ganzen Pthorer dort? Fast hatte es den Anschein, alle Atlanter würden ihre Heimat verlassen und zur FESTUNG pilgern. Warum? Hatten die Magier sie gerufen? In jedem Zugor konnten ihre Häscher sitzen, angesetzt auf die noch auf freiem Fuß befindlichen Rebellen. Koy zwang sich zur Ruhe. Er brauchte einen klaren Kopf. Doch immer wieder mußte er sich die Frage stellen, warum sie bisher ungeschoren geblieben waren. Trieben die Magier nur ein besonders makabres Spiel mit ihnen? Hofften sie, daß sie sie zu Synk und Leenia führen würden? Nach einer Viertelstunde kehrte Fenrir zurück. Er zerrte an Koys Kleidern, um ihn aufzufordern, ihm zu folgen. Als der Trommler und Kolphyr sich erhoben hatten, lief er ein Stück voraus, wartete, bis die beiden Gefährten ihm zögernd folgten, lief wieder ein Stück und wartete erneut. Auf diese Weise führte er sie, bis sie die Siedlung mitten in der
Wildnis sahen. Ein Mann tauchte wie aus dem Nichts auf und verstellte ihnen den Weg. Koy geriet in Panik. Er richtete die Broins auf den Fremden, dessen Gesicht in der Dunkelheit nicht sofort zu erkennen war. Weitere Gestalten kamen hinter Büschen hervor. Sie waren plötzlich überall. Kolphyr drehte sich um und sah ein halbes Dutzend Fremde hinter sich. »Mach keine Dummheiten, Koy«, warnte er leise. »Ich glaube, das sind …« Weiter kam er nicht. Der Mann vor ihnen zog blitzschnell eine Waffe aus dem Brustteil seiner an eine Rüstung erinnernden Kleidung und schoß. Der Schrei blieb Koy im Halse stecken, als er gelähmt neben Kolphyr und Fenrir zu Boden sank. * Sie befanden sich in einem rechteckigen, spärlich eingerichteten Raum ohne Fenster. Auf einem Tisch standen Talgkerzen und spendeten genügend Licht, um gut sehen zu können. Koy und Kolphyr spürten ihre Gliedmaßen wieder. Die Lähmung ließ nach, aber das nützte ihnen herzlich wenig. Sie konnten sich nicht bewegen. An Händen und Füßen gefesselt, saßen sie auf dem kahlen Boden, mit dem Rücken an eine Wand gelehnt. Auch Fenrir war gefesselt. Ihn hatte man verschnürt wie ein Paket. Die Technos hielten ihn anscheinend für den mit Abstand gefährlichsten der Fremden. Technos … Drei alte Männer saßen im Schneidersitz vor den Gefesselten. Es waren ohne jeden Zweifel Technos – hochgewachsen, fast zwei Meter groß, mit rotbrauner Haut, schwarzen Augen und Haaren. Die Gesichter wirkten hochmütig und unfertig – fliehende Stirn, gut
ausgebildete Nase, schmale Lippen und stark hervorstehende Wangenknochen. Doch im Gegensatz zu allen anderen Technos, denen Koy und Kolphyr bislang begegnet waren, waren diese drei alt. Ihre Haut war schlaff. Falten durchzogen ihre Gesichter. Die Hände waren knochig. Die Alten trugen nicht die braunen zweiteiligen Lederrüstungen mit dem Waffenrock und dazu hochschäftige Stiefel wie die beiden Jüngeren, die mit Lähmwaffen in den Händen hinter ihnen standen. Sie waren in weite weiße Umhänge gekleidet, was den Eindruck hervorrief, daß sie für ihre jüngeren Artgenossen so etwas wie Heilige waren. Und Koy glaubte zu wissen, warum. Obwohl Kolphyr schwieg, zeigte seine Miene, daß er die gleichen Gedanken hatte wie der Trommler. Diese drei Technos waren weit über achtzig Jahre alt. Sowohl Koy als auch Kolphyr hatten Technos gesehen, die die ihnen gesetzte Altersgrenze von achtzig Jahren erreicht hatten und nur darauf warteten, dorthin zurückgebracht zu werden, woher sie auch gekommen waren. Es gab keine Techno‐Kinder auf Pthor. Sie kamen alle als zwanzigjährige Jünglinge aus der FESTUNG, taten ihre Arbeit und wurden nach ihrem Tod oder dem Erreichen des 80. Lebensjahres zur FESTUNG zurückgeschafft. So hatten es die Herren der FESTUNG gewollt, und so wurde es auch jetzt, nach deren Tod, noch praktiziert. Viele alte Techno machten sich freiwillig auf den Weg zur FESTUNG, wo sie auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Zu tief steckte in ihnen, was sie als ihre Bestimmung ansahen – oder einfach als ihre Pflicht, gegen die es kein Auflehnen gab. Noch immer war es ein Geheimnis, woher die Technos kamen. Was mit den Alten geschah, sobald sie wieder in der FESTUNG waren, war dagegen leicht vorstellbar. Und nun sahen sich Koy, Kolphyr und Fenrir drei Technos
gegenüber, die es irgendwie geschafft zu haben schienen, diesen Bann von sich abzuschütteln und den Teufelskreis zu durchbrechen. Sie sahen sie schweigend an, und Koy erwiderte den Blick. Er bemühte sich, die beiden hinter den Alten stehenden Bewaffneten zu ignorieren. Wo waren sie hier? Warum hatte man sie hierhergebracht? »Bist du Koy, den man den Trommler nennt?« fragte einer der Alten schließlich nach Minuten, die sich hinzogen wie kleine Ewigkeiten. Koy nickte. »Der bin ich, und meine Freunde sind Kolphyr, der Bera, und Fenrir, der Fenriswolf, den ihr kennen müßt, wenn ihr wißt, wer ich bin.« Der Alte nickte. »Mein Name ist Hogarth«, sagte er mit ruhiger, dunkler Stimme. »Zu meiner rechten sitzt Takris, zu meiner linken Brandhl.« Wieder trat eine Pause ein, bis Koy sich plötzlich von der Faszination, die die drei Alten auf ihn ausübten, losmachen konnte und ungehalten knurrte: »Wenn ihr uns kennt, warum habt ihr uns dann gelähmt und gefesselt? Haben die Magier euch zu ihren Häschern gemacht? Haben sie euch ein langes Leben versprochen, wenn ihr für sie arbeitet?« Koy lachte rauh. »Nur so kann es sein. Wieso kam ich nicht gleich darauf? Wann kommen sie, um uns zu holen? Oder liefert ihr uns persönlich ab?« »Deine Worte sind voller Bitterkeit«, entgegnete Hogarth. »Und ich wünschte, wir könnten ihnen Glauben schenken.« Koy war verwirrt. Er drehte den Kopf wieder, aber Kolphyr saß wie versteinert da und blickte nur die Alten an. Fenrir winselte leise und bewegte sich dann und wann ruckartig, um auf die Beine zu kommen. Dann lag er wieder völlig ruhig da. Kein Zähnefletschen, kein wütendes Gebell. Nur die Fesseln störten ihn, erkannte Koy. Nicht die Technos.
Viel zu viele Fragen schossen ihm durch den Kopf. Was war wirklich mit den Alten los, die gar nicht hier sein dürften? Hatte er sich in ihnen getäuscht? Sah er nun schon jeden als Gegner an? Kolphyr begann mit seiner zirpenden Stimme zu reden: »Wenn ihr uns kennt, solltet ihr wissen, daß wir keine Verbündeten der Magier sind. Bindet uns los. Wir sind unterwegs, um Pthorer zu suchen, die sich mit uns verbünden und bereit sind, gegen die Magier zu kämpfen.« »Bist du verrückt geworden?« entfuhr es Koy. »Du darfst ihnen nicht vertrauen!« »Ich glaube, daß du krank bist, Koy«, sagte Kolphyr ohne jeden Spott. Der Trommler schwieg. Er spürte es ja selbst. Von nun an wollte er sich vorerst aus allem heraushalten und Kolphyr sprechen lassen. Tun konnte er ohnehin nichts, sollten die Technos tatsächlich mit den Magiern verbündet sein und diese benachrichtigt haben. Was nützten ihm dann seine Broins noch? Ein paar Technos konnte er damit töten, die Magier nicht. Es wäre blanker, sinnloser Mord. »Wir möchten euch glauben«, sagte nun Hogarth. »Doch jene, die nun die Macht ergriffen haben, verstehen es mit Sicherheit, einem jeden von uns seine Sinne zu rauben und ihn zu einem anderen zu machen – zu einem Werkzeug, das vielleicht selbst gar nicht weiß, das es mißbraucht wird.« »Wir sind nicht ihre Werkzeuge!« rief Kolphyr schrill. Es war das erstemal, daß er Erregung zeigte. »Ebensowenig wie ihr.« Hogarth lächelte dünn. »Auch das kannst du nicht wissen, Kolphyr.« »Ich weiß es. Und nun hört zu.« Er begann zu berichten, von den Erlebnissen in der Großen Barriere von Oth bis hin zur Flucht aus Chirmor Flogs Gewalt. Nur Synk, die Roboter und Leenia sparte er aus, was Koy bewies, daß der Bera doch nicht ganz so von der Ungefährlichkeit der Technos überzeugt war, wie er dies vorgab.
Die Alten nickten. Ein Dialog entwickelte sich, in deren Verlauf Koy und Kolphyr erfuhren, daß die drei sich lange vor dem Fall der FESTUNG und kurz vor dem Erreichen der »Altersgrenze« in die Wildnis zurückgezogen hatten, um dem ihnen zugedachten Schicksal zu entgehen. Sie hatten keine Lust verspürt, sich wie ihre Artgenossen widerstandslos zur Schlachtbank führen zu lassen. Sie hatten nicht wirklich damit gerechnet, unentdeckt zu bleiben. Doch wider alles Erwarten waren sie unbehelligt geblieben und konnten sich hier, in der abseits aller Reiserouten gelegenen Wildnis, ein Zuhause aufbauen. Mittlerweile existierte eine kleine Siedlung, ein Barackenlager, denn einige Technos, die von ihnen gewußt hatten, waren schließlich doch durch sie ermutigt worden und ihnen gefolgt, in der Hoffnung, daß auch sie hier gut und sicher aufgehoben wären, wenn die Alten so lange unentdeckt geblieben waren. Ihre Hoffnungen hatten sich erfüllt. Bisher hatten sich weder Magier noch Ugharten hier sehen lassen. Erst die jungen Technos, die als letzte hier eingetroffen waren, hatten die Kunde von der Machtübernahme der Magier gebracht. Die Alten kümmerten sich bis dahin wenig um das, was auf Pthor vorging. Natürlich entging ihnen nicht, daß es zu Umwälzungen gekommen war, und daß Pthor zum Stillstand gekommen und wieder aufgebrochen war. Doch sie blieben in ihren Baracken und wollten vom Leben draußen nichts wissen. Hier hatten sie ihren Frieden, und ihr einziges Streben ging dahin, sich diesen Frieden so lange wie möglich zu bewahren. Sie hatten es geschafft. Koy und Kolphyr erkannten, warum sie bisher keinen Besuch von Magiern bekommen hatten: Die hier zusammengekommenen Technos waren völlig harmlos. Sie hatten auch nicht die leiseste Absicht, etwas zur Befreiung Pthors beizutragen. Vielleicht waren sie kontrolliert und als harmlos abgetan worden. Wie dem auch sei, Koy und Kolphyr konnten davon ausgehen, daß auch sie hier, zumindest für eine Weile, sicher waren. Koys
Mißtrauen schwand im Lauf der Unterhaltung. Die beiden Technos im Hintergrund steckten ihre Waggus ein und machten sich daran, den Gefährten die Fesseln abzunehmen. Bald darauf standen Koy und Kolphyr, der gebückt bleiben mußte, um nicht an die Decke der Hütte zu stoßen, und massierten sich die Gelenke. Fenrir kauerte sich in eine Ecke. »Zu den Odinssöhnen wolltet ihr?« fragte der Alte, den Hogarth als Takris vorgestellt hatte. »Zu Sigurd«, sagte Koy. Kolphyr hatte nur erwähnt, daß sie sich Hilfe von den drei Brüdern erhofften. Nun schilderte er, wie sie Heimdalls Lettro vorgefunden hatten. »Den Weg könnt ihr euch ersparen«, sagte Hogarth. Seine Stimme verriet Teilnahmslosigkeit. »Leibahn«, rief Hogarth. Einer der beiden Jüngeren trat neben ihn. »Geh und hole Sastjat.« Leibahn verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einem anderen Techno, ebenfalls noch jung, zurück. »Sastjat kam erst vor wenigen Tagen in die Siedlung«, erklärte Takris. »Sastjat, sag unseren Gästen, was du über die Odinssöhne weißt.« Und der Techno berichtete. Seine Worte zerstörten alle Hoffnungen, die Koy und Kolphyr sich gemacht hatten. Sie erfuhren, daß die Odinssöhne in der FESTUNG waren und als Marionetten der Magier Pthor regierten. »Wir hätten es uns denken müssen!« knurrte Koy. »Diese Feiglinge werden sich nie ändern. Wir hätten sie …« Er sprach nicht aus, was er dachte. An die Alten gewandt, fragte er: »Können wir hierbleiben? Nur bis morgen früh?« »Ihr seid unsere Gäste«, sagte Hogarth. Das klang alles andere als begeistert, aber die Gefährten hatten den Eindruck, daß sie den Worten des Alten glauben konnten. Immer noch war er entsetzt über die Rolle, die die Magier den
Odinssöhnen zugedacht hatten. Sein Zorn auf Sigurd, Balduur und Heimdall verflog. Sie waren Verräter und hatten in der Vergangenheit viele Fehler gemacht, aber dieses Schicksal hatten selbst sie nicht verdient. Sollten Koy und Kolphyr zusammen mit Fenrir versuchen, ihnen zu helfen? Sich in die Höhle des Löwen begeben? Sie brauchten Ruhe, um das Gehörte zu verarbeiten. Wenigstens eine Nacht. Andere Technos kamen und gingen, um die Gefährten zu bestaunen. Sie führten sie in der Siedlung herum, und Koy war beeindruckt von dem, was er zu sehen bekam. Hier lebten mindestens zweihundert Technos. Dann wies man ihnen eine leerstehende Baracke zu, in der sie für sich allein waren – und sicher, wie sie glaubten. Sie täuschten sich gewaltig. Sie waren bereits in der Falle, ohne das geringste davon zu bemerken. Es gab keine Gegner, die sich heimlich näherten. Es war in ihnen, verhielt sich noch still, wartete ab und begann dann, ihre Gedanken zu lenken. Nur Fenrir begann zu knurren und unruhig auf und ab zu wandern. Wenn er zur Tür kam, blieb er stehen und scharrte daran. Koy und Kolphyr schrieb es dem Umstand zu, daß er sich eingesperrt fühlte, doch sie wollten ihn nicht in der Nacht herumlaufen lassen, aus Angst davor, er könnte unnötig Unruhe stiften. Sie fanden keinen Schlaf. Sie zerbrachen sich die Köpfe darüber, was sie nun noch unternehmen konnten, wo es den Anschein hatte, als stünden sie allein auf weiter Flur. Auf Leenia und Synk mit seinen Robotern konnten sie nicht zählen. Vielleicht waren sie den Magiern schon in die Hände gefallen. Allein – aber nicht ohne Waffen. Je länger sie redeten, desto zuversichtlicher wurden sie, daß sie es schaffen konnten, einen Überraschungsschlag zu landen. Und sie dachten nicht im Traum daran, daß es nicht ihre eigenen Gedanken
waren, die sie produzierten. * »Die FESTUNG ist belagert«, sagte Koy mit leuchtenden Augen. »Schön. Alle möglichen Pthorer befinden sich in den Lagern, die vor ihr errichtet wurde und drängeln sich, um zu den Odinssöhnen vorgelassen zu werden. Noch besser. In dem Gedränge fallen wir gar nicht auf. Wir stehen vor den dreien, bevor irgend jemand merkt, wer da in der FESTUNG ist, und schlagen sie heraus, bevor die Magier ihre Überraschung verdaut haben. Meine Broins werden die halbe FESTUNG sprengen, sollte es nötig werden.« »Und den Rest besorge ich«, stimmte Kolphyr zu und schlug sich mit einer Pranke auf den Velst‐Schleier, der seinen ganzen Körper bedeckte und ihn, der ja aus Antimaterie bestand, von der »normalen« Umwelt völlig isoliert. Nur dem Velst‐Schleier war es zu verdanken, daß er als Antimateriewesen auf einer Welt wie Pthor überhaupt leben konnte. Dennoch hatte der Bera die Möglichkeit, winzige Brocken Antimaterie durch den Schleier zu befördern und sie wie Bomben zu verwenden, die dort, wo sie auf Normalmaterie trafen, schreckliche Verwüstungen hervorriefen. Kolphyr hatte dies bereits einige Male mit Erfolg praktiziert und war sicher, daß nichts und niemand gegen diese Waffe gewappnet sein konnte. Die Magier waren plötzlich nur noch seltsame Gesellen, die zwar Pthor in die Knie gezwungen hatten, aber ihm und Koy nicht ernsthaft gefährlich werden konnten. Die beiden redeten sich in einen wahren Siegestaumel hinein. Sie merkten nichts von der Veränderung, die mit ihnen vorging. Sie redeten die ganze Nacht hindurch, wie von neuer Kraft erfüllt, und die Pläne, die sie schmiedeten, wurden immer phantastischer und verwegener. Es gab keinen Zweifel mehr daran, daß die Odinssöhne, einmal dem Bann der Magier entrissen, sich auf ihre Seite schlagen würden.
Dann begann der Siegeszug. Donkmoon, Orxeya, selbst Wolterhaven wollten sie aufsuchen und mit der Zeit eine kleine Armee um sich sammeln, mit der sie zum großen Schlag gegen die Magier ausholen konnten. »Wir werden sie in ihre Berge zurücktreiben!« ereiferte sich Koy. »Und sie wieder zur Vernunft bringen!« Kolphyr gab glucksende Geräusche von sich. »Dieser neue Neffe soll dann ruhig kommen! Er wird schneller wieder verschwunden sein, als er glaubt.« »Thamum Gha«, murmelte Koy. Er lachte still in sich hinein. »Es ist fast wieder so wie in alten Zeiten, nicht wahr, Kolphyr? Jetzt brauchten wir noch Atlan und Razamon, und die alte Truppe wäre wieder vollkommen beisammen.« Der Morgen graute, als sie ihre Behausung verließen und sich von den Technos verabschiedeten. Sie bedankten sich für die Gastfreundschaft und hatten es eilig, sich auf den Weg zu machen. An ihrem Ziel gab es keinen Zweifel: so schnell wie möglich mußten sie zur FESTUNG, um ihre Heldentaten zu vollbringen. Sie waren regelrecht aufgeputscht und weihten die Alten, die persönlich zum Abschied gekommen waren, in ihre Pläne ein. Jeder konnte wissen, was sie vorhatten. Wer konnte sie denn aufhalten? Doch die alten Technos machten finstere Mienen und schüttelten die Köpfe. »Ihr seid nicht mehr die, die gestern zu uns kamen«, sagte Hogarth finster. »Ihr seid nicht mehr ihr selbst. Ihr seid besessen. Gebt euer wahnsinniges Vorhaben auf und kommt zu euch.« »Unsinn, Alter!« wehrte Kolphyr ab. »Wir wissen, was wir zu tun haben. Komm, Fenrir!« Koy war bereits losgegangen. Der Fenriswolf rührte sich nicht von der Stelle. Er knurrte Kolphyr an. »Was?« entfuhr es dem Bera. »Du willst nicht hören? Komm jetzt, oder wir gehen ohne dich. Vielleicht würdest du uns ohnehin nur behindern.«
»Laß ihn doch, wenn er nicht will!« kam es von Koy, ohne daß
dieser sich umsah. Kolphyr zuckte die Schultern und ging ihm nach. Nach einer Weile folgte Fenrir den beiden. Und irgendwo im Hintergrund saß ein Magier, der sie beobachtete und steuerte. Es war Kolviss, der Traummagier, ein zwei Meter durchmessendes quallenähnliches Wesen von blauer Farbe, das alle möglichen Techniken der mentalen Beeinflussung beherrschte. So konnte er beispielsweise mentale Projektionen erzeugen, hypnosuggestiv wirken oder Halluzinationen hervorrufen. Im Fall von Koy und Kolphyr »gab« er ihnen ihre Gedanken und verrückten Einfälle und schürte ihre Euphorie. Zufrieden beobachtete er aus seinem Versteck ein gutes Stück von der Barackensiedlung der Technos entfernt, wie die beiden Rebellen sich auf den Weg zur FESTUNG machten. Nur der Fenriswolf hatte ihn vor Probleme gestellt, doch nun bekam er auch das Tier mehr und mehr unter Kontrolle, so daß Fenrir schließlich neben Koy und Kolphyr einhertrottete und die kleine Gruppe bald anführte. Kolviss gehörte zu den Mächtigen von Oth. Seine magischen Kräfte waren anerkannt und gefürchtet. Nun, da er die beiden so lange vergeblich gesuchten Rebellen entdeckt und unter seine Kontrolle gebracht hatte, sah er die Chance, den anderen mächtigen Magiern, vor allem Koratzo, eines auszuwischen. Man wußte, daß es – allen gegenteiligen Beteuerungen der Odinssöhne zum Trotz – zumindest noch eine Widerstandsgruppe auf Pthor gab. Sie bestand aus dem Orxeyaner Sator Synk sowie einer für die Magier nicht greifbaren Frau und eben diesen beiden – Koy und Kolphyr. Fenrir wurde weniger Bedeutung beigemessen. Synk, Leenia, Koy und Kolphyr wurden als eine zusammengehörige Gruppe betrachtet, denn sie waren beisammen gewesen, und hatten die gleichen Ziele. Synk und die Frau befanden sich nun nicht bei Koy und Kolphyr. Doch allein diese beiden und der Fenriswolf waren gefährlich genug, und einmal in der FESTUNG angekommen, sollten sie schon preisgeben, was sie über den Aufenthalt von Synk und Leenia wußten.
Koratzo würde vor Wut platzen, wenn er erfuhr, daß Kolviss ihm, der sich für den größten aller Magier hielt, zuvorgekommen war. Koy, Kolphyr und der Wolf würden vor den Odinssöhnen stehen, ihren verrückten Plan zu verwirklichen versuchen und dann von ihm, Kolviss, so beeinflußt werden, daß sie sich selbst stellten. Kolvissʹ Status würde steigen, und es konnte dann nur noch eine Frage von Tagen sein, bis auch Synk und seine Begleiterin gefaßt waren. Trotz seines Erfolgs hütete Kolviss sich davor, den Orxeyaner und vor allem seine geheimnisvolle Begleiterin zu unterschätzen. Die Art und Weise, wie sie sich in der Großen Barriere von Oth bewegt hatte, ließ darauf schließen, daß sie über Fähigkeiten verfügte, die denen der Magier ebenbürtig sein durften. Davon, daß sie diese Fähigkeiten nach der Verbannung aus der Gemeinschaft der Körperlosen und damit aus den Höheren Welten fast völlig verloren hatte, wußten die Magier noch nichts. Wie dem auch sein mochte: Kolviss war der Triumph nicht mehr zu nehmen. Auch in der Gunst des Neffen Thamum Gha würde er steigen, wenn er ihm die Widerständler präsentierte. Ungesehen folgte der Traummagier den Rebellen. Er bewegte sich in Stößen durch die Luft und blieb immer gerade so nahe bei den dreien, daß er ihre Gedanken klar erkennen und seinen Einfluß aufrechterhalten konnte. Und er würde triumphieren, denn nichts auf der Welt konnte Koy, Kolphyr und nun auch Fenrir jetzt noch seinem Bann entreißen. Fenrir eilte dem Trommler und dem Bera voraus, als könnte er es gar nicht mehr erwarten, zur FESTUNG zu gelangen. Selbst falls Koy und Kolphyr auf den Gedanken gekommen wären, Fenrirs plötzliche Unrast zu ergründen, hätten sie wohl nie herausgefunden, was ihn so anlockte. Vielleicht war die ganze FESTUNG für ihn jetzt ein riesiger Berg schmackhafter Knochen, vielleicht »sah« er eine rassige Wölfin, die dort auf ihn wartete. Es war sein und Kolvissʹ Geheimnis.
Siegessicher liefen die Rebellen in das ihnen zugedachte Verderben. 3. Das Wache Auge – Sator Synk, Leenia und neun Roboter Als Sator Synk ins Nebengebäude der riesigen Ortungsstation zurückkehrte, die nach Diglfonks Versicherungen momentan völlig sicher war, fragte niemand danach, wo er sich stundenlang herumgetrieben hatte. Die Roboter lagen wie desaktiviert auf dem Boden herum, nur Leenia sah von den Schirmen der Geräte auf, die sich in der kleinen Halle befanden, und zog anerkennend die Brauen hoch. Synk war kaum wiederzuerkennen. Er war gewaschen. Die langen roten Haare und der Bart rahmten nicht mehr als zerzauste Mähne sein Gesicht ein, sondern waren gekämmt und glänzten. Die Kleidung des Orxeyaners war noch naß und sauber. Die Schaftstiefel glänzten wie die Haare. Keine Spur von Schmutz war mehr zu sehen. Synk sah aus, als hätte er eine Einladung zu einem Fest erhalten und sich dafür herausgeputzt. Mit einem Verlegenheitsgrinsen im Gesicht nickte er Leenia zu und nahm seinen Platz vor einem runden Pult mit einigen ausgefallenen Monitoren ein. Er räusperte sich und schwenkte seinen Sessel herum, so daß er den Robot‐ Guerillas zugewandt war. Noch einmal hüstelte er und warf Leenia einen kurzen Blick zu, um sich davon zu überzeugen, daß sie auch noch herüberschaute. Befriedigt nickte er. Dann holte er tief Luft und brüllte: »Diglfonk! Eins bis Acht! Kommt her und stellt euch in einer Reihe vor mir auf! Und haltet den Mund, bevor ich euch sage, daß ihr reden dürft!« Die Roboter schwebten in die Höhe, fuhren einige Extremitäten aus und kamen langsam heran. Synk bemerkte das Blinken von
kleinen Lichtern auf der Oberfläche der Kugel‐, Stab‐ und Kastenkörper und war sicher, daß sie sich wieder lautlos über ihn unterhielten, vielleicht schon wieder eine Verschwörung planten. Doch noch hielt er sich zurück. Die neun Robotdiener aus Wolterhaven schwebten in einer Reihe vor ihm und warteten. Trotz seines Befehls rechnete der Orxeyaner damit, gleich wieder das ihm so verhaßte »Verfüge über uns, Herr!« hören zu müssen. Doch sie blieben ruhig. Um ihn zu täuschen? Ihn in Sicherheit zu wiegen? Oder bereuten sie wirklich, was sie getan hatten? Synk machte sie alle, vor allem natürlich seinen speziellen Freund Diglfonk, dafür verantwortlich, daß vier von ihnen einfach verschwunden waren und nun irgendwo auf Pthor vermutlich Unfug trieben, falls sie nicht nach Wolterhaven zurückgekehrt waren. Synk hatte die Konsequenzen gezogen und die ihm Verbliebenen neu durchnumeriert, um so zum Ausdruck zu bringen, daß er den vier Deserteuren nicht nachtrauerte. Nun sollte ein Neuaufbau beginnen. »Diglfonk«, begann der Held von Pthor. »Seht euch an. Ihr seid ein verlotterter Haufen. Ich befehle euch, euch gegenseitig zu überholen und zu reinigen. In einer Stunde inspiziere ich jeden einzelnen von euch. Das heißt …« Synk richtete sich im Sessel auf und stemmte sich mit den Ellbogen auf die Lehnen. »Ja, Herr?« fragte Diglfonk. »Das heißt, falls nicht noch einige von euch lieber von hier verschwinden wollen. Sie können gehen – jetzt. Wer sich dafür entscheidet, bei mir zu bleiben, kann nicht mehr zurück. Ich verlange unbedingten Gehorsam. Jeder, der bleibt, verpflichtet sich dazu, darauf zu achten, daß kein anderer desertiert. Falls es Anzeichen dafür gibt, ist der Betreffende zu eliminieren. Ist das verstanden worden?« »Ja, Herr!« kam es im Chor von allen neun Robotern.
»Dies ist ein Befehl, klar und unmißverständlich. Keine Hintertüren, versteht ihr?« »Ja, Herr.« Synk seufzte und warf Leenia einen gequälten Blick zu. »Also schön. Noch eines. Diglfonk, ich frage dich zum letztenmal, wohin die vier Deserteure verschwunden sind, und ob der Befehl dazu aus Wolterhaven kam.« Diglfonk schwebte ein Stück vor. »Ich kann diese Fragen nicht beantworten, Herr. Der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen.« »Zeitpunkt?« fuhr Synk auf. »Welcher Zeitpunkt?« »Der Zeitpunkt, zu dem du auf alle Fragen eine Antwort bekommen wirst, Sator Synk.« »So!« Synk sprang auf und griff nach der rotierenden Scheibe über Diglfonks ovalem Körper. Er hielt sie an. »Zum Beispiel auf die Frage, wie ihr so sicher sein könnt, daß keine Magier in der Nähe sind, und weshalb wir von ihnen bisher ungeschoren blieben?« »Ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß du die Funktionen meines Wahrnehmungssystems beeinträchtigst, Herr«, krächzte Diglfonk. »Antworte auf meine Frage!« »So ist es, Sator Synk. Zum geeigneten Zeitpunkt wirst du alles verstehen, was du jetzt noch nicht begreifst.« »Und wer bestimmt diesen Zeitpunkt?« »Niemand von uns«, antwortete Diglfonk. »Niemand von euch!« Synk wurde knallrot im Gesicht und drehte die Scheibe mit Gewalt in die falsche Richtung, als wollte er eine Uhr aufziehen. »Gefällt dir das? Es wurde höchste Zeit, daß ich andere Saiten aufziehe! Wer bestimmt den Zeitpunkt, Diglfonk?« »Er ist eine Funktion der Umstände, Herr. Zuerst müssen die vier Beauftragten zurück sein.« Synk ließ die Scheibe los, die sich sofort wieder in der gewohnten Weise zu drehen begann.
»Sie kehren zurück? Sie sind Beauftragte? Antworte, du Blechklump! Dein feiner Herr Soltzamen hat sie zum Desertieren veranlaßt!« »Sie sind nicht desertiert. Sie führen einen Auftrag aus … für den Herrn Soltzamen, der dir für alles eine Erklärung geben wird.« »Wann, Diglfonk?« »Zum geeigneten Zeitpunkt.« Synk stöhnte. Er ließ sich wieder in den Sessel fallen und schlug sich die Hände vor die Augen. Wie war diesen mit allen Wassern gewaschenen, hinterlistigen und disziplinlosen Kerlen beizukommen? Er nahm die Hände wieder herunter und musterte sie der Reihe nach. Wie unschuldige Kinder standen, beziehungsweise schwebten sie vor ihm. Was mochte Leenia von ihm denken? Ich werde euch zeigen, wer hier der Herr ist, Soltzamen oder ich! dachte Synk voller Grimm. Na wartet! Ich werde euch Disziplin beibringen! »Verschwindet jetzt und kommt in genau einer Stunde zurück! Ich will keinen Flecken Schmutz mehr auf euch sehen! Hochglanz! Poliert euch, bis euch die Tentakel abfallen! Geht mir jetzt aus den Augen! Später werden wir ein Manöver durchführen. Ich will genau wissen, was in jedem von euch steckt!« »Verfüge über uns, Herr!« Synk schrie auf, riß sein Schwert aus dem Gürtel und schlug nach Diglfonk, der schnell genug zur Seite auswich. Die Wucht des Hiebes ins Leere riß Synk aus dem Sessel. Er landete auf allen vieren auf dem kahlen Boden und fluchte wie ein Rohrspatz. Der letzte Roboter verschwand gerade aus der Halle. »Undankbares Pack!« brüllte Synk ihnen hinterher. Er kam auf die Beine und sah, daß Leenia einen Bildschirm betrachtete. Sie hatte wenigstens Takt. Und dennoch … Sie sollte sehen, daß er sich nicht von ein paar Robotern auf der Nase herumtanzen ließ. Sie sollte … »Du brauchst mir nichts zu beweisen, Sator«, sagte sie plötzlich,
kam auf ihn zu und lächelte ihn an. »Jeder sieht, daß sie dich lieben, nur du nicht.« Synk verschluckte sich. »Sie … lieben mich? Pah! Du kennst sie nicht so gut wie ich! Sie sind durchtrieben und gemein und …« Leenias Lächeln! Es ließ seinen Zorn schwinden. Es trieb ihm das Blut in den Kopf. Es machte ihm wieder bewußt, daß er mit dieser faszinierenden, wunderschönen Frau ganz allein war. Die Roboter zählten nicht. Was hatte er davon, daß sie ihn liebten – ganz abgesehen davon, daß Leenia sich in dieser Hinsicht einfach irren mußte. Sie sollte ihn lieben und … Synk biß die Zähne aufeinander und wich ihrem Blick aus. Nein! Nie und nimmer durfte er zulassen, daß er sich in sie verliebte. Er wollte frei sein, ungebunden, sein eigener Herr. Sie war schön, berauschend schön und tausendmal attraktiver als alle Orxeyanerinnen oder die Tänzerinnen, die der Wirt des Goldenen Yassels dann und wann bei besonderen Gelegenheiten auftreten ließ und von denen niemand wußte, woher er sie bekam. Doch es durfte nicht sein. Wenn er ihr seine heimliche Liebe gestand, würde er sie nur unglücklich machen. Für eine Frau, selbst für Leenia, war kein Platz an der Seite eines Helden. Sie brauchte ein Zuhause, all das, was er ihr nicht geben konnte. Synk reimte sich alles mögliche zusammen, um sich selbst klarzumachen, daß sie für ihn nur eine Kameradin, ein Kampfgenosse sein durfte. In Wirklichkeit quälten ihn gewaltige Minderwertigkeitskomplexe. Die Wut, die er auf sich selbst hatte, richtete er gegen die Roboter. Er setzte sich wieder. »Ist das dein Ernst?« fragte er, kleinlaut geworden. »Du glaubst wirklich, daß sie nicht aus Aufsässigkeit handeln?« »Ich bin sicher, daß es einen guten Grund für das Verschwinden der vier gibt, Sator. Du mußt Geduld mit ihnen haben. Warteten sie
nicht treu auf uns, als wir aus der Dunklen Region zurückkamen? Und hattest du sie nicht schon ungerechtfertigterweise verurteilt?« Synk druckste verlegen herum. »Nun ja, ich gebe zu, daß ich überrascht war. Du meinst also, ich sollte abwarten und sie vorerst schonen?« Leenia schmunzelte. »Schone sie, Sator. Ich vertraue ihnen.« Dem konnte der Orxeyaner nichts entgegensetzen. Er seufzte und ergab sich in sein Schicksal. Was aber war der Auftrag der vier Verschwundenen? Wo befanden sie sich jetzt, und warum wollte Diglfonk nicht reden? »Also gut«, sagte der Held der Schlacht um Pthor. »Ich werde ihnen noch eine Chance geben. Trotzdem müssen sie auf Vordermann gebracht werden. Den ganzen Tag über werde ich sie drillen. Eine schlagkräftige Truppe darf nicht rosten.« Er kicherte, als hätte er einen besonders guten Scherz zum Besten gegeben. Dann wurde er schlagartig ernst. Er war zum Abwarten verurteilt, obwohl alles in ihm darauf drängte, etwas zu unternehmen. Was war mit den Robotern wirklich los? Synk war überzeugt davon, daß sie sich verändert hatten, seitdem sie mit ihm zusammen in Wolterhaven gewesen waren. Was war es? Warum hatten die Magier sie noch nicht längst entdeckt, und was gab ihnen die Sicherheit, mit der sie ihn so sehr verwirrten? Konnten sie die Magier spüren, sobald diese in die Nähe gerieten? Der Gedanke erschien ihm absurd, aber Synk hatte aufgehört, im Zusammenhang mit den Robotern irgend etwas als unmöglich zu betrachten. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, und er fragte sich, ob die vier »Deserteure« wirklich noch existierten. Eines wußte er mit Bestimmtheit: Sie befanden sich in Gefahr. Und er würde sich bis an sein Lebensende Vorwürfe machen, falls sie nicht zurückkehrten. Aber das war ja die Absicht der Halunken!
Ihn unter Druck setzen, moralisch fertigmachen! »Nicht mit mir«, knurrte der Orxeyaner in seinen Bart. Es war gut, daß er nicht ahnte, wo die vier sich befanden und worin ihr Auftrag bestand. Wahrscheinlich wäre er mit einem Schrei aufgesprungen und mit gezogenem Schwert bis zu ihrem »Einsatzgebiet« gerannt. 4. Die FESTUNG – Bürokratie auf Pthorisch Koy, Kolphyr und Fenrir waren nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt. Je näher sie der FESTUNG kamen, desto öfter begegneten ihnen Pthorer, die eben von einer Audienz bei den Odinssöhnen kamen. Der Luftraum wimmelte von Zugors, die zur FESTUNG und wieder zurück flogen. Jetzt, da die große Pyramide jeden Augenblick am Horizont zu sehen sein mußte, trafen die drei Siegessicheren auf Atlanter, die zu Fuß zu den Odinssöhnen gepilgert waren. Und alle sagten sie das gleiche, als sie hörten, was die drei ungleichen Gefährten vorhatten. Viele erschraken, andere beschworen sie, auf der Stelle umzukehren, ehe es zu spät war. Manche brachten ihnen Sympathie entgegen und schienen mit sich zu ringen, ob sie sie in ihrem Vorhaben bestärken oder sogar mit ihnen ziehen sollten. Am Ende siegte jedoch immer wieder die Furcht vor den Magiern. Doch jedes Wort der Warnung war verschwendet. Koy und Kolphyr ließen die Pthorer, die die Macht der Magier am eigenen Leib verspürt hatten, einfach stehen und lachten sie aus. Nichts konnte ihren Glauben an den bevorstehenden Triumph erschüttern, nichts den Bann von ihnen nehmen, mit dem Kolviss sie belegt hatte. Wenn sie von Zweifeln erfaßt würden, sorgte der Traummagier schnell wieder dafür, daß sie sie vergaßen. Kolviss hatte seinen Spaß am Katz‐ und Mausspiel mit ihnen. Endlich kam die FESTUNG in Sicht. Koy und Kolphyr
beschleunigten ihre Schritte noch, obwohl sie die ganze Nacht hindurch marschiert waren und sich keine Stunde Schlaf gegönnt hatten. Immer mehr Pthorer strömten aus allen Richtungen heran. Ebensoviele kamen von der riesigen Pyramide zurück, um in ihre Dörfer zurückzukehren. Koy und Kolphyr machten einen Bogen um sie, weil sie die Beschwörungen satt hatten. Sie schlossen sich einer Gruppe von Orxeyanern an, sechs Männern und drei Frauen, die mit ausdruckslosen Mienen einhertrotteten, als wäre ihnen alles egal. Die beiden Rebellen und Fenrir mußten sich wohl oder übel langsamer bewegen. Jetzt durften sie nicht mehr auffallen. Wie harmlose Bittsteller wollten sie vor der FESTUNG erscheinen, um erst in ihr, vor den Odinssöhnen, zuzuschlagen. Von ihrer Warte aus gesehen, war dieses Vorgehen logisch, und Kolviss konnte nicht daran gelegen sein, sie zu früh für Aufsehen sorgen zu lassen. Er schirmte sie gegen andere Magier ab, die die Umgebung der FESTUNG kontrollierten, so daß niemand ihm seinen Triumph nehmen konnte. Nur diesem Umstand war es auch zu verdanken, daß die Orxeyaner, als einige von ihnen beim Anblick dessen, was sich vor der FESTUNG tat, alle Vorsicht vergaßen und zu fluchen begannen, von den anderen Magiern ungeschoren blieben. Kolviss hatte diese Gruppe »übernommen«, und das wurde akzeptiert. Niemand schöpfte Verdacht, da der Traummagier sich bisher völlig loyal den anderen gegenüber verhalten hatte. Überall landeten und starteten Zugors. Pthorer aus allen Ecken des Dimensionsfahrstuhls stiegen aus und ein. Die Neuankömmlinge wurden, wie nun auch die Orxeyaner, Koy, Kolphyr und Fenrir, von Dellos oder Technos empfangen und zu Quartieren geführt, großen Zelten, die allesamt hoffnungslos überfüllt waren. Koy fluchte im stillen, als er erkannte, daß es wohl einige Zeit dauern würde, bis sie an der Reihe waren, die FESTUNG zu betreten. Sie standen ganz hinten auf einer langen Warteliste. Wie
lange sie zu warten haben würden, konnte er nun, als sie eines der Zelte betraten, noch nicht wissen, obgleich ihn die langen Holztische mit den Dellos dahinter Schlimmes ahnen ließen. Sie waren überfüllt mit Papierstapeln, und Pthorer waren dabei, Berge von Formularen auszufüllen. Sie bekamen eine Ecke im Zelt zugewiesen, weit hinter den anderen Pilgern, stiegen über Pthorer hinweg und setzten sich schließlich im hinteren Teil des Zeltes auf ausgebreitete Strohmatten. Nur Fenrir sorgte für Aufsehen. Die Pthorer wichen vor ihm zurück, wenn er ihnen zu nahe kam. Niemand erkannte Koy und Kolphyr, obwohl es im Zelt wahrscheinlich Dutzende von Atlantern gab, denen sie schon einmal begegnet waren. Daß diese schwiegen und sich offensichtlich nicht an sie erinnerten, machte Koy nur einen Moment lang stutzig. Dann »vergaß« er es wie alles, das ihm dann und wann nicht ins Bild zu passen schien, wenn er einen halbwegs lichten Augenblick hatte. Die drei Beeinflußten saßen mit den Orxeyanern zusammen. Koy sah jetzt, daß die Pilger nicht einfach wahllos im Zelt zusammengepfercht waren, sondern in Gruppen zu etwa hundert Personen beieinandersaßen. Auch zu ihrer Gruppe kamen immer mehr Neuankömmlinge, bis sie etwa hundert Mitglieder umfaßte und die Technos den nächsten Ankömmlingen einen anderen Platz zuwiesen. »Immerhin etwas«, knurrte der Trommler. »Wir sind schon nicht mehr die letzten.« Kolphyr gab keine Antwort. Er wirkte verschlossen – zumindest für jemanden, der ihn nicht kannte. Koy wußte, daß der Bera genau wie er danach fieberte, vor die Odinssöhne zu treten und sie zu entführen. Das Warten wurde zur Qual. Die Orxeyaner unterhielten sich und fluchten. Weiter vorne im Zelt, nahe bei den Tischen, sprang ein Valjare auf und rief den
Dellos und Technos wüste Beschimpfungen zu. Gleich darauf wurde er wie von Geisterhand in die Höhe gerissen, drehte sich ein paarmal um die eigene Achse und landete hart auf dem Rücken, als er unvermittelt fiel. Die Orxeyaner bekamen große Augen. »Warum lassen sie uns in Ruhe?« fragte eine der Frauen mit zusammengekniffenen Augen. Sie wog gut und gern zwei Zentner und sah aus, als hätte ihr jemand vor nicht allzu langer Zeit den Kopf kahlgeschoren. »Sei ruhig, Gandel«, zischte ihr Nebenmann ihr zu. »Du siehst, daß sie auch hier sind. Wir sind nirgendwo sicher vor ihnen. Denke an das, was in Orxeya und unterwegs geschah.« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Glatze. »Ach was«, flüsterte sie. »Ihr habt eben geflucht, und zwar auf die verdammten Magier. Ich tue es in diesem Augenblick. Und was passiert? Gar nichts!« »Gandel!« Die anderen Orxeyaner rückten ein Stück von ihr ab. Koy beobachtete das Ganze und wußte nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Einerseits amüsierte er sich über die Angst der Raufbolde aus der Händlerstadt vor den Magiern, die für ihn ja längst allen Schrecken verloren hatten. Andererseits fragte er sich, was eben mit dem Valjaren geschehen war. Er kümmerte sich nicht weiter um die Orxeyaner, sondern brütete stumm vor sich hin. Was gingen sie ihn an? Doch die Zweizentnerfrau ließ sich nicht beeindrucken. Sie fluchte und zeterte lauthals vor sich hin, und je länger sie ungeschoren blieb, desto verwegener wurde sie. Natürlich ahnte sie nichts davon, daß Kolviss sie nur solange verschonte, wie sie in der Nähe von Koy, Kolphyr und Fenrir war, um diesen nicht doch noch einen Anlaß zum Nachdenken zu geben. »Und ich sage euch«, wandte die Dicke sich wieder an ihre verängstigten Begleiter, »daß nur dieser verdammte Kerl daran
schuld ist, daß sie gerade uns aus Orxeya fortgeschleppt haben, um diesen drei Weichlingen zu sagen, wie großartig sie sind. Nur Synk ist schuld. Er mit seinen verrückten Ideen hat uns Orxeyanern die Magier auf den Hals gehetzt.« Koy wurde hellhörig. Auch Kolphyr hob den Kopf. Sator Synk! Was wußte diese Frau von ihm? Sicher, sie war Orxeyanerin, doch soviel Koy wußte, hatte Synk sich lange nicht mehr in seiner Heimatstadt blicken lassen. »Was seht ihr mich so an?« fragte Gandel Gars, als sie Koys und Kolphyrs Blicke plötzlich auf sich ruhen sah. »Ihr scheint keine Angst zu haben, eh? Keine Feiglinge wie diese Kerle?« Sie bedachte die Orxeyaner, die noch ein Stück weiter wegrückten, mit einem vernichtenden Blick. Und Kolviss ließ sie weiter gewähren. Er ließ Koy und Kolphyr an Sator Synk und Leenia denken. Hätte er Hände gehabt, so hätte er sie sich jetzt gerieben. Das Gespräch begann für ihn interessant zu werden. Vielleicht konnte er Thamum Gha sogar noch eine Zugabe liefern, falls er etwas über den Aufenthaltsort der letzten freien Rebellen erfuhr. Koy und Kolphyr mußten nur intensiv genug an sie denken. »Du meinst Synk?« fragte Koy die Dicke. »Sator Synk?« »Genau den! Er und seine verrückten Roboter sind an allem schuld. Sieh mich an, Kleiner. Wo du deine Hörner hast, habe ich gar nichts mehr. Sie haben mir alle Haare vom Kopf gebrannt und noch schlimmere Sachen mit mir angestellt!« »Die Magier?« »Wer sonst? Soll ich dir sagen, was sie in Orxeya getrieben haben, nur weil wir Orxeyaner nun mal so reden, wie uns zumute ist?« Sie zählte einige Beispiele für das Unwesen der Magier in der Händlerstadt auf und betonte immer wieder, daß sie es speziell auf sie abgesehen hätten, weil sie im Grunde Sator Synks »verrückte« Ansichten teilte. Koy und Kolphyr hörten eine völlig andere Geschichte. Für sie gab Gandel eine Reihe von Beispielen dafür, wie
man mit den Magiern fertig werden konnte. Kolviss »übersetzte« aus dem Hintergrund und stärkte damit das Selbstvertrauen und die Siegeszuversicht der beiden Helden, die sich schon an der Spitze ihrer Armee gegen die Magier ziehen sahen. »Synk interessiert mich«, sagte der Trommler, als Gandel endlich geendet hatte und Luft holte. »War er in Orxeya – in den letzten Tagen, meine ich?« »Sator? Er hatte gerade einen Drachen getötet, als wir ihn zum letztenmal sahen. Ich und neun Feiglinge waren hinter ihm her, um ihn zurückzuholen. Seine verdammten Blechkerle überfielen uns und entführten ihn. Ich sage euch, er ist in ihrer Gewalt.« Die Dicke kniff die Augen zusammen und musterte Koy von oben bis unten. »Wieso fragt ihr nach ihm? Kennt ihr ihn? Habt ihr ihn gesehen?« »Wir kennen ihn flüchtig«, log Koy, als er merkte, daß aus der Orxeyanerin nichts herauszuholen war. »Wer hat nicht von seinen Taten gehört?« »Taten! Jawohl, er mag ein verantwortungsloser Lump und ein Aufschneider sein, aber er hat keine Furcht. Ihr hättet sehen sollen, wie er das Ungeheuer tötete. Er ging mit aufrechtem Blick und dem Schwert in der Hand darauf zu und …« Ein Dello, der mit einem Stapel von Formularen auf die Gruppe zukam und sich durch lautes Brüllen Respekt verschaffte, ersparte es Koy, sich die Heldentaten Sator Synks weiter anhören zu müssen. Er dachte aber kurz daran, daß Synk und Leenia zur Dunklen Region aufgebrochen waren und lieferte Kolviss damit die Information, die dieser sich erhofft hatte. Allerdings konnte selbst der Traummagier nicht ahnen, wie wertlos sie inzwischen geworden war. »Achtung!« rief der Dello. »Ich verteile jetzt diese Formulare.« Er hob zwei verschiedene Blätter hoch, so daß alle sie sehen konnten. »Ihr füllt sie aus. Eure Namen, eure Herkunft, der Zweck eures Hierseins, und so weiter. Wer nicht schreiben und nicht lesen kann, kommt nach vorne zum Tisch oder läßt sich von den anderen
helfen!« Er begann, jedem Angehörigen der Hundertergruppe zwei Formulare zu geben. Als er bei Koy angelangt war, fragte der Trommler naiv: »Was soll das? Ihr wißt genau, warum wir hier sind. Was ist das für ein Formular?« »Ein Antrag auf Aushändigung eines Passierscheins, der zum Betreten der Wartehallen in der FESTUNG und zur Antragstellung für eine Audienz bei unseren Herren berechtigt. Redet nicht lange, lest und schreibt!« Koy schluckte. Er kniff sich in den Arm. Er spürte den Schmerz. Nein, kein Traum. Er sah Kolphyr an. Der Bera hatte den Blick starr auf den Dello gerichtet und schien Maulsperre zu haben. »Du«, sagte Koy zur Orxeyanerin. »Können deine Leute lesen und schreiben?« »Mit einigen Ausnahmen, ja«, brummte die Dicke, die den Dello wie ein seltenes Tier anstarrte. »Wir sind Händler und müssen darauf achten, daß uns niemand übers Ohr haut. Dann müssen wir rechnen und logischerweise lesen und schreiben können. Aber das hier ist Wahnsinn. Wir wollen nichts kaufen oder verkaufen«, fuhr sie nun den Spezialandroiden an, »sondern deine feinen Herren sehen, damit wir endlich wieder nach Hause zurückkönnen! Was soll der Unsinn mit den Formularen?« Der Dello blickte Gandel einen Moment finster an, dann drehte er sich um, holte eine Pfeife aus einer Tasche und blies zweimal kurz hinein. Vom entfernten Tisch neben dem Eingang kamen zwei Technos herbeigeeilt. Die Pthorer machten ihnen bereitwillig Platz. Offensichtlich wußten sie, was nun geschehen würde, denn plötzlich waren alle Blicke auf die Orxeyaner gerichtet. »Moment mal«, sagte Koy schnell, der ebenfalls eine Ahnung hatte. »Wir sind hier, um den Odinssöhnen unsere Ergebenheit zu versichern. Wir wollen nichts anderes als zu ihnen. Wer hat euch gesagt, daß ihr diesen Unsinn veranstalten sollt? Dort vorne sitzen
Eingeborene aus dem Blutdschungel und Steppenbewohner. Keiner von ihnen kann lesen und schreiben. Viele wissen nicht einmal, wie sie heißen. Was sollen sie euch denn ausfüllen? Ihre Loyalität erklären? Sieh sie dir an, sehen sie aus wie … Rebellen?« Die beiden Technos waren heran. Der Dello schien noch unentschlossen zu sein, wen er zuerst abführen lassen sollte – die Orxeyanerin oder Koy, dessen Gesichtsausdruck sich jetzt urplötzlich veränderte. Er lächelte und griff nach den Blättern. Auch Kolphyr streckte die Hände aus. »Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?« entfuhr es Gandel Gars. »Ihr macht den Unsinn mit?« Sie lachte so laut, daß die Dellos am Tisch in die Höhe fuhren. »Paßt auf!« Gandel bat den Dello um die Formulare, erhielt sie und zerriß sie mit grimmiger Miene. »So«, sagte sie. »Nun geh und melde deinen Herren, daß sich unter all den Idioten hier im Zelt ein vernunftbegabtes Wesen aus Orxeya befindet. Vielleicht wollen sie es empfangen. Ansonsten sagt ihnen, daß sie mich …« Die Odinssöhne sollten nie erfahren, was Gandel Gars ihnen anbot. Der Dello stieß die Technos an und zeigte auf die Zweizentnerfrau. Die Technos packten sie. Gandel kratzte, schrie und teilte Tritte aus. Der Dello packte selbst mit an, und gegen seinen Griff war auch Gandel machtlos. Die Technos drehten ihr die Arme auf den Rücken. Sie schrie gellend auf und fluchte auch noch, als sie durch die Gasse, die die wartenden Pthorer bildeten, abgeführt wurde. Die Pthorer klatschten begeistert in die Hände, was Koy die Bestätigung dafür lieferte, daß er gerade noch rechtzeitig einen Rückzieher gemacht hatte. Von ihnen war keine Unterstützung zu erwarten – im Gegenteil. Sie waren total verblödet – zumindest war dies die Version, die Koy sich zurechtlegen sollte. Kolviss lieferte ihm weiterhin Erklärungen für alles, das er nicht begriff. Koy und Kolphyr waren nun »überzeugt« davon, daß es mit den Formularen und der Bürokratie seine Richtigkeit hatte. Die
Odinssöhne durften kein Risiko eingehen. Alles mußte seine Ordnung haben, jeder Besucher mußte erfaßt sein. Von draußen war jetzt ein markerschütternder Schrei zu hören. Kolviss sorgte dafür, daß Koy und Kolphyr sich keine Gedanken darüber machten, was mit Gandel Gars geschehen war. Denjenigen aber, die vor den Zelten gerade aus Zugors stiegen oder zu Fuß ankamen, bot sich ein weiteres abschreckendes Bild, als die Orxeyanerin die Strafe für all das erhielt, was sie sich herausgenommen hatte. Der Dello teilte einfache Kohlestifte zum Schreiben aus, nachdem er alle Formulare verteilt hatte. Wieder blieb er vor Koy stehen. Er deutete auf Fenrir. »Ihr seid mit diesem … diesem Wesen gekommen«, stellte er fest. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Odinssöhne Tiere empfangen werden.« Koy erschrak. Wenn er auch bei seinem Vorhaben ganz auf seine und Kolphyrs Fähigkeiten baute, so konnte er sich doch nicht vorstellen, ohne Fenrir in die FESTUNG zu gehen. Kolviss bestärkte ihn in seiner Entschlossenheit, den Fenriswolf unter allen Umständen mitzunehmen, denn er wollte ja alle drei Rebellen präsentieren, und Fenrir gehörte zu ihnen, ob Tier oder nicht. Der Traummagier ließ Koy wieder gerade soviel Freiheit, daß dieser versuchen konnte, eine entsprechende Argumentation zu führen. »Ich werde seine Formulare für ihn ausfüllen«, sagte der Trommler. »Er ist kein gewöhnliches Tier, eigentlich überhaupt kein Tier. Er ist intelligent und …« Koy war sich des Unsinns dessen, was er nun sagte, vollauf bewußt, aber vielleicht konnte man Unsinn nur mit Unsinn beantworten. »In ihm wohnt die Seele eines Pthorers.« Der Dello schüttelte den Kopf. Er blickte zu der nächsten Gruppe von Neuankömmlingen hinüber, die bald vollzählig war und ebenfalls mit Formularen versorgt werden mußte. Offensichtlich standen die Spezialandroiden unter Zeitdruck.
»Ist er ein Vertreter eines pthorischen Volkes?« fragte er. Koy schluckte und warf Kolphyr einen hilflosen Blick zu. »In gewissem Sinne«, antwortete er, als der Bera nicht reagierte. »Er ist …« »Schreib auf, was oder wer er ist«, fuhr der Dello kurz angebunden dazwischen. Lauter rief er: »Ihr alle füllt die Formulare aus. In einer Viertelstunde komme ich die Formulare abholen!« Er kehrte zum Tisch zurück, um kurz darauf mit einem neuen Stapel Blätter zur nächsten Gruppe zu gehen. Koy stieß eine Verwünschung aus und murmelte ein paar Beschimpfungen in Richtung Kolphyr, von dem er sich im Stich gelassen fühlte. Dann begann er zu lesen. Name? Der Trommler schrieb wahrheitsgemäß: Koy. Herkunft? Koy schrieb: Aghmonth. Vertreter welches pthorischen Volkes? Was sollte er nun schreiben? Sohn eines Androidenpärchens? Zu welchem Volk gehörte er? Aghmonther. Zweck deines Hierseins? Bitte um Audienz bei den Odinssöhnen. Die nächsten Fragen waren für den Trommler ohne Sinn, doch er versuchte sie so gut wie möglich zu beantworten. Neben und hinter ihm fluchten einige Orxeyaner und andere Pthorer leise. Lese‐ und Schreibkundige halfen den Analphabeten. Noch ging niemand nach vorne. Kolphyr schrieb, und Fenrir lag nach wie vor mit seltsamer Ruhe neben ihm. Koy begann die Formulare für ihn auszufüllen. Name? Fenrir. Herkunft? Verdammt! dachte Koy. Wozu braucht Fenrir eine Legitimation? Er ist
Balduurs Wolf! Aber es war, als ob eine unsichtbare Hand die seine lenkte. Kolviss »sagte« ihm, was er zu schreiben hatte, und der Traummagier fand immer größeren Spaß an seinem Spiel. Er würde dafür sorgen, daß alle, die die Formulare der drei Rebellen prüften, alles mögliche lasen, nur nicht die richtigen Angaben. Erst die Odinssöhne sollten sie lesen können und den Zusatz, den er Koy und den Kolphyr hinter ihren Namen machen ließ: Zur FESTUNG geführt von Kolviss. Unter »Herkunft« schrieb der Trommler also: Balduurs Heim an der Straße der Mächtigen. Vertreter welches pthorischen Volkes? Intelligente, zum Rebellentum neigende Tiere, diktierte Kolviss. Zweck deines Hierseins? Bitte um Audienz, Heimweh nach seinem Herrn Balduur. Kurz bevor der Dello die mehr oder weniger ausgefüllten Formulare einsammeln kam, kehrte Gandel Gars zurück. Schweigend setzte sie sich an ihren alten Platz, nahm die Blätter und den Stift, die dort lagen, und füllte gehorsam aus. Auch danach sagte sie kein Wort mehr. Koy sah mit Schrecken, warum sie plötzlich so schweigsam war. Ihr Mund war zugewachsen. Zwischen Nase und Kinn war nur noch glatte Haut. * Wenn Koy geglaubt hatte, nun bald zu den Odinssöhnen vorgelassen zu werden, so sah er sich getäuscht. Zwei Tage vergingen, ohne daß sich etwas tat. Durch den Eingang des Zeltes konnte er sehen, wie in Abständen von einigen Stunden jeweils eine Hundertergruppe Pthorer zur FESTUNG geführt wurde, doch der Strom der Besucher schien kein Ende nehmen zu wollen. Koy mußte sich vor Augen führen, daß es mindestens ein halbes Dutzend Zelte
gab, in denen jeweils an die dreitausend Pthorer saßen, nahm er das eigene Zelt als Maßstab. Die Technos und Dellos, manchmal auch andere Angehörige pthorischer Völker, deren Gesichtsausdruck darauf schließen ließ, daß sie nichts weiter waren als willenlose Marionetten, brachten zweimal am Tag warmen Brei und große Krüge mit Wasser. Wenigstens brauchte niemand zu hungern. Auch die Orxeyanerin schien keinen Hunger zu leiden, obwohl sie keinen Mund mehr hatte, mit dem sie Nahrung hätte aufnehmen können. Fenrir sprach dem Brei zu, als hätte er nie etwas anderes gefressen. Koy machte sich keine Gedanken. Nur eines zählte: Sie mußten endlich an ihr Ziel gelangen und dann kräftig genug sein, um ihren verwegenen Plan auszuführen. Seine Siegeszuversicht war ungebrochen. Dann kam der große Augenblick. Die Gruppen, die vor ihm und den Gefährten saßen, wurden der Reihe nach aus dem Zelt geführt. Die Stunden zogen sich in die Länge, bis die Reihe endlich an Koys Gruppe war. Drei Dellos erschienen und bellten Befehle. Koy stand auf. Kolphyr und Fenrir kamen in die Höhe, ebenso die anderen Pthorer. Jeder erhielt einen »Passierschein«, eine kleine gelbe Karte, die an die Brust geheftet wurde. Sie verließen das Zelt. Jetzt, da der Einzug in die große Pyramide unmittelbar bevorstand, wurden einige Pthorer plötzlich gereizter. Sie alle waren ja mehr oder weniger unfreiwillig hier, und nur die Angst vor der Bestrafung durch die Magier hatte sie bisher stillhalten lassen. Koy und Kolphyr waren ganz ruhig. Fenrir blieb bei ihnen, als sie sich ziemlich am Ende der Gruppe nun auf die Pyramide zubewegten. Sie konnten es zum Gegensatz zu den anderen nicht abwarten, den Audienzsaal zu betreten. Noch war es nicht soweit. Vier weitere Gruppen warteten vor ihnen darauf, eingelassen zu werden. Sie standen Schlange. Etwa alle zwei Stunden verschwanden hundert Pthorer in der FESTUNG,
und auch dort würden sie noch einmal Formulare auszufüllen haben, wie der Dello angedeutet hatte. Das Warten wurde unerträglich. Die gereizte Stimmung erfaßte nun auch die drei Gefährten. Fenrir wurde unruhig. Dann war ihre Gruppe endlich an der Reihe. Ein riesiges Tor, dahinter eine Halle, in der sich Pthorer drängten. Und genau in dem Augenblick, in dem Koy, Kolphyr und Fenrir zusammen mit den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe die Pyramide betraten, erlosch der Einfluß des Traummagiers. Koy stand einen Moment da wie versteinert. Fenrirs Nackenhaare richteten sich auf. Er fletschte die Zähne und knurrte drohend. Kolphyr stieß einen schrillen Schrei aus. Sie waren in die Falle der Magier gegangen! Allen dreien fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie wußten nicht, wie sie hierhergekommen waren, was sie dazu gebracht hatte, sich ohne Waffen in die Höhle des Löwen zu begeben. Sie wußten nur eines: Sie waren in der FESTUNG, umgeben von Magiern und deren Häschern. Ganz egal, welchem Umstand es zu verdanken war, daß sie bisher unbehelligt geblieben waren, nun war dieser Zauber vorbei, und jeden Augenblick konnten sich Bewaffnete oder die Magier selbst mit ihren unheimlichen Kräften auf sie stürzen. Zahllose Fragen wirbelten in ihren Köpfen umher, doch es war keine Zeit, eine Erklärung zu suchen. Keine Sekunde durften sie zögern. Es gab nur die Flucht nach vorne. Wenn sie es schafften, die Odinssöhne in ihre Gewalt zu bringen, bevor sie selbst aktionsunfähig waren, hatten sie vielleicht eine Chance. Irgend jemand vor ihnen schrie auf. Dellos und Technos fuhren herum, sahen, wen sie da vor sich hatten, und zogen ihre Waffen. »Fenrir!« brüllte Koy. »Greife sie an! Kolphyr, wir schlagen uns zu den Odinssöhnen durch!« Koys Broins zitterten bereits. Er richtete sie auf die Decke der Halle, genau über den heranstürmenden Dellos, die anscheinend den Befehl erhalten hatten, sie lebend zu fangen. Koy wollte sie
nicht töten, vor allem aber keine Pthorer, die nichts dafür konnten, daß sie hier waren. Die Decke zerbarst und begrub ein paar Dellos unter sich. Koy fluchte. Er konnte nun keine Rücksicht mehr nehmen, so bitter diese Erkenntnis auch war. Als Fenrir die ersten Angreifer ansprang, stürmten Koy und der Bera vor. Die erschreckten Pthorer wichen zur Seite. Einige Beherzte erkannten die Chance, die sich ihnen da scheinbar bot, und griffen ihrerseits die Dellos und Technos an. Ein heilloses Wirrwarr entstand. Kolphyr blieb kurz stehen und katapultierte winzige Brocken Antimaterie durch den Velst‐Schleier. Wände zerplatzten regelrecht. Das Chaos brach über die Halle herein. Koy rannte weiter, sah einen Korridor und stürmte herein. Fenrir rannte an ihm vorbei. Zu den Odinssöhnen! In die höheren Stockwerke! Sie hatten keine Chance. * Für Kolviss war die Entdeckung ein Schock. Es gab einen blinden Fleck im Bereich der FESTUNG, etwas oder jemanden, den er mit seinen magischen Sinnen nicht erfassen konnte. Dies war für ihn so ungeheuerlich, daß er die Rebellen augenblicklich vergaß. Nur durch einen geradezu unglaublichen Zufall hatte er den »blinden Fleck« überhaupt aufspüren können. Es war unwahrscheinlich, daß andere Magier von dessen Existenz wußten, ansonsten hätte bereits ein Kesseltreiben auf diesen Unbekannten oder dieses Objekt eingesetzt, das unerkannt ins Zentrum der Macht eingedrungen war. Kolviss stellte Spekulationen an. Was immer es war, das er gefunden hatte und doch nicht fassen konnte, konnte ein Gefahrenherd erster Ordnung darstellen. Eine Geheimwaffe irgendwelcher unbekannter Widerständler? Etwas, das der Neffe hinterlassen hatte, um die Magier zu kontrollieren? Konnte es gar der Mann sein, den die Odinssöhne und ein Teil der Magier mehr fürchteten als alle anderen? Atlan in seinem Goldenen Vlies, in dem vielleicht noch weit mehr steckte, als man schon wußte?
Kolviss konzentrierte sich ganz auf den blinden Fleck, doch immer, wenn er gerade glaubte, ihn in den Griff bekommen zu können, verschwamm er und löste sich auf. Kolviss setzte seine ganze Kraft ein, um ihn erneut aufzuspüren. Zweimal gelang es ihm. Dann waren all seine Bemühungen umsonst. Der Traummagier erkannte, was die Vernachlässigung der Rebellen ausgelöst hatte, als er das Chaos gewahrte, das jetzt in den unteren Etagen der FESTUNG tobte. Gleich würden die Rebellen in der Gewalt der anderen Magier sein. Kolviss konnte seinen schönen Plan, sie persönlich den Odinssöhnen zu präsentieren, in den Wind schreiben. Er würde sein eigenmächtiges Handeln verteidigen müssen. Dann war es gut, wenn er einen Trumpf in der Hand hatte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihn die anderen Magier, an ihrer Spitze Koratzo, zur Rechenschaft ziehen würden. Bis dahin mußte er den blinden Fleck wieder gefunden haben. Wenn er diese unbekannte Gefahr abwenden konnte, war seine Position gefestigt genug, um alle Vorwürfe zurückzuweisen. Kolviss vergaß Koy, Kolphyr und Fenrir. Seine magischen Sinne tasteten die FESTUNG und ihre Umgebung ab. Vergeblich. Was immer sich eingeschlichen hatte, blieb unauffindbar. Vielleicht hatte es gespürt, daß er es für kurze Zeit erfaßt hatte. Aber er wußte, daß etwas da war. Und plötzlich hatte er, der Mächtige, Angst. 5. In den Kerkern der FESTUNG – ein neuer Verbündeter Der Kampf dauerte nicht lange. Er war quasi zu Ende, bevor er überhaupt erst richtig begonnen hatte. Im Korridor angelangt, kurz vor einer Rampe, die zur nächsten Etage der Pyramide führte,
erstarrten Koy, Kolphyr und Fenrir mitten in der Bewegung. Sie konnten keinen Finger rühren. Sie waren bei Bewußtsein, und Augenblicke lang war es ihnen so, als sähen sie verschwommene Gesichter und Grimassen vor sich – Gesichter fremdartiger Wesen, die sofort wieder verflossen und verblaßten. Doch das dämonische Grinsen auf ihnen machte ihre Niederlage deutlich. Dellos und eine Anzahl der verschiedensten Bewohner des Dimensionsfahrstuhls, denen nur der ausdruckslose Blick ihrer Augen gemeinsam war, kamen heran und luden die drei Erstarrten auf flache Wagen. Sie zogen sie die Rampe hinauf, dann über einen weiteren Korridor bis zu einem Lift. Die Tür des Aufzugs fuhr zur Seite. Einer nach dem anderen wurden die Gefangenen hineingeschafft und nach unten gebracht, tief unter die Pyramide, wo sie in ein finsteres Verlies geworfen wurden. Fenrir wurde als letzter abgeladen. Die Marionetten der Magier verschwanden. Nur ein Dello blieb zurück. Koy, immer noch gelähmt, sah, wie der Spezialandroide Talgkerzen auf den Boden stellte und eine davon anzündete. Danach verschwand auch er und schlug die schwere Eisentür von außen zu. Sie waren allein. Falsch! dachte Koy. Physisch allein, aber die Magier sind hier. Ihre Sinne sind bei uns. Koy wagte nicht daran zu denken, welche Pläne die Magier mit ihnen haben mochten. Sie kannten ohne Zweifel ihre Fähigkeiten. War es ausgeschlossen, daß sie sie für sich nutzen wollten? Koy wollte lieber sterben, denn als willenlose Marionette der Magier deren Schreckensherrschaft zu festigen helfen. Er sah keine Möglichkeit, die Magier wieder zu normalisieren. Und die Odinssöhne? Sicher waren sie mittlerweile von ihrem Hiersein unterrichtet. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten – im Gegenteil. Balduur? War es denkbar, daß er sich vom Bann der Magier lösen konnte, wenn er erfuhr, daß Fenrir in diesem Verlies schmachtete?
Wie stark war seine Bindung an den Fenriswolf? Hing er noch an ihm, oder haßte er ihn jetzt? Es waren irrationale Hoffnungen eines Mannes, der sich von den Ereignissen überrumpelt fühlte. Viel zu schnell war alles gekommen. An das, was seit der Nacht im Barackenlager der Technos geschehen war, konnte Koy sich nicht erinnern. Doch es war offensichtlich, daß ein Magier die Gefährten und ihn aufgespürt und hierhergeführt hatte. Es war wie das Erwachen aus einem tiefen Schlaf gewesen, als er sich in der FESTUNG wiedergefunden hatte. Nein, es gab keinen Grund zur Hoffnung. Niemand war hier, der Rettung bringen konnte. Synk, seine Roboter und Leenia waren entweder irgendwo in der Nähe der Dunklen Region in Sicherheit oder ebenfalls in Gewalt der Magier. Aus. Alle Pläne, die Koy und Kolphyr noch vor kurzem geschmiedet hatten, konnten sie mit ihren Hoffnungen begraben. Pthor gehörte den Magiern und dem Neffen Thamum Gha. Niemand konnte den Spieß jetzt noch umdrehen. Von einem Augenblick zum andern konnte Koy sich wieder bewegen. Fenrir sprang auf und winselte. Kolphyr stand auf und stieß hart mit dem Kopf gegen die knapp zwei Meter hohe Decke des Gefängnisses. Er stieß einen schrillen Laut aus und setzte sich mit dem Rücken gegen eine Wand, sich den Kopf mit einer Hand massierend. »Und nun?« fragte Koy, ohne den Bera anzusehen. Fenrir lief unruhig auf und ab und blieb immer wieder vor der Eisentür stehen, um zu wittern. Er knurrte. Vielleicht standen draußen Wachen. »Ich könnte die Tür sprengen«, kam es von Kolphyr. »Ich auch«, sagte Koy mürrisch. »Und was dann? Wir kämen keine fünf Meter weit.« Schweigen. Es gab nichts zu sagen. Es hätte keiner Kerkermauern bedurft, um die Gefährten zu halten.
Stundenlang saßen sie schweigend da und starrten die Wände an. Es gab keine Einrichtung in der Zelle – keine Stühle oder Tische. Nur die Talgkerzen. Die Gefangenen hingen ihren trüben Gedanken nach und machten ihrer Enttäuschung durch gelegentliche Wutausbrüche Luft. Koy spielte nur kurz mit dem Gedanken, wenn er schon sterben sollte, vorher soviel Unheil in der FESTUNG anzurichten, wie es ihm mit seinen Broins möglich war. Kolphyr konnte noch mehr tun – vielleicht soviel Antimaterie durch den Velst‐Schleier schleusen, daß die ganze Pyramide in die Luft flog, und mit ihr die Odinssöhne und ein Teil der Magier. Aber gleichzeitig würden Tausende von unschuldigen Pthorern sterben. Außerdem stand noch nicht fest, daß die Gefährten hier unten ihr Leben beenden sollten. Was auch immer die Magier mit ihnen vorhaben sollten – Koy führte sich vor Augen, daß sie die Hoffnung nicht aufgeben durften. Irgend etwas völlig Unvorhergesehenes konnte eintreten. Sie erhielten Gewißheit über das ihnen zugedachte Schicksal, als die Tür aufgerissen wurde und einige schwerbewaffnete Dellos sie zu den Odinssöhnen führten. Koy mußte an sich halten, um nicht leichtsinnig zu werden. Wenn man sie nun dorthin führte, wohin sie noch vor Stunden mit Gewalt hatten vordringen wollen, mußten sie so gut abgeschirmt sein, daß sie nicht einmal Beschimpfungen ausstoßen konnten, wenn die Magier dies nicht wünschten. Doch noch waren sie Herr ihrer Sinne. Koy sah Sigurd, Heimdall und Balduur auf einem geschmückten Podest sitzen und überlegen grinsen. Balduur schien Fenrir überhaupt nicht zu bemerken. Die Dellos blieben an ihrer Seite. Eine Farce, dachte Koy grimmig, zum Gefallen dieser drei Bedauernswerten, die sich als Herrscher fühlen. Doch sein Mitleid mit den Söhnen Odins verschwand, als Sigurd sich in seinem Sessel vorbeugte, nachdem die Gefährten drei Meter vor dem Podest zum Stehen gebracht worden waren. Der jüngste der drei Brüder grinste nicht mehr. Sein Gesicht war finster, die
Augen stechend, als er höhnisch ausrief: »Koy, der Trommler! Kolphyr, der Unbezwingbare! Fenrir, meines Bruders verräterischer Begleiter! Haben wir euch also! Ihr glaubtet, euch verstecken und zuschlagen zu können, wenn wir Schwäche zeigten, ist es nicht so? Das Spiel ist aus! Wo ist Synk und seine verdammten Roboter? Wo ist diese Frau, die bei euch war?« Sigurds Augen! Koys Herz schlug wild in seiner Brust. Er hatte Augenblicke lang nur den einen Wunsch, im Boden zu versinken oder sich in Luft auflösen zu können, um nicht diesem Blick zu begegnen, der nicht mehr der eines menschlichen Wesens war. »Wo sind sie?« brüllte Sigurd wieder. Seine in kostbaren Handschuhen steckenden Hände umklammerten die Lehnen des Thronsessels. »Wir können euch zum Reden bringen, wenn euch das lieber ist! Also antwortet!« Trotz der ausweglosen Situation, in der sie sich selbst befanden, spürte Koy Triumph in sich aufsteigen. Sigurds Drohungen konnten ihn nicht schrecken. Er sagte nichts anderes, als Koy und Kolphyr ohnehin schon wußten. Aber Synk und Leenia waren noch frei! Und die »Herrscher« hatten Angst vor ihnen. »Versucht es«, schrie Koy in einem plötzlichen Wutausbruch zurück. Er begann hysterisch zu lachen. »Zeigt uns eure Macht. Versucht aus uns herauszubekommen, was wir selbst nicht wissen. Eure Magier können unsere Gedanken lesen? Dann wissen sie, daß Sator und Leenia mit den Robotern zur Dunklen Region aufbrachen! Sucht sie dort, ihr armseligen Helden. Und mit euch hatten wir Mitleid! Euch wollten wir helfen! Ihr habt euer Los verdient! Die Magier hätten wirklich keine besseren Werkzeuge finden können. Ihr seid die größten Dummköpfe auf ganz Pthor!« »Schweig!« Heimdall war aufgesprungen und schleuderte einen Weinpokal nach Koy. Der wich geschickt aus und lachte schallend. Auch Sigurd
hielt es nicht mehr im Sessel. »Euch werden die großen Worte vergehen!« brüllte er. »Ihr werdet um Gnade winseln, wenn ihr vor dem Henker steht. Wir könnten euch auf der Stelle töten lassen. Wir könnten es selbst besorgen, aber ihr sollt es so leicht nicht haben. Noch einen Tag lassen wir euch, und jede Stunde sollt ihr zählen und euch ausmalen, welches Ende wir euch zugedacht haben. Morgen sterbt ihr!« »Zusammen mit dem anderen Verräter!« schrie Heimdall. Koy entging Sigurds schnelles Zusammenzucken nicht, ebensowenig wie der kurze Blick, den er seinem Bruder zuwarf. Wer war dieser andere? »Wir haben nichts anderes erwartet«, sagte Kolphyr ruhig. Fast amüsiert fügte er hinzu: »Wie lautet die Urteilsbegründung?« »Mordversuch!« bellte Heimdall. »Mordversuch an den Söhnen Odins!« Er gab den Dellos ein Zeichen. Offensichtlich war die »Audienz« vorüber. Koy wunderte sich nicht über das so plötzlich abreißende Interesse der drei Brüder an ihnen, ebensowenig wie darüber, daß sie keine weiteren Fragen nach Synk und Leenia stellten. Die Magier wußten, daß sie über deren Aufenthalt nichts weiteres sagen konnten. Man warf sie wieder in den Kerker. Fenrir verhielt sich völlig ruhig, wie auch schon im Audienzsaal, und erst jetzt merkte Koy, das der Wolf die ganze Zeit über unter der Kontrolle der Magier gestanden hatte. Sie fürchteten ihn also – oder das, was er vielleicht bewirken konnte. Ihre Macht hatte Grenzen – das spürte Koy jetzt deutlicher als je zuvor. Und die Hoffnung wuchs. Ja, sie würden die Stunden bis zu ihrer vorgesehenen Hinrichtung zählen, aber anders, als die Magier sich das dachten. Die Chance, den nächsten Tag zu überleben, war minimal, aber sie bestand. Der andere »Verräter«. Wer war es, wenn nicht Synk oder Leenia? Wer hatte noch den Mut aufgebracht, sich gegen die Herrschenden zu stellen? Welche Macht hatte er?
Befand er sich ebenfalls hier unten? Vielleicht ganz in der Nähe? Koy und Kolphyr besprachen sich miteinander. Beide waren sich darin einig, daß sie versuchen mußten, Kontakt mit dem Unbekannten aufzunehmen. Er war ihre Hoffnung. Alles andere mußte hinter diesen Versuch zurückgestellt werden. Durch die Eisentür kamen sie nicht. Doch sie hatten gesehen, daß nur auf dieser Seite des dunklen Ganges Zellen waren. So begannen sie, Klopfzeichen zu geben. Wenn der Unbekannte sich in einer der Nachbarzellen befand, mußte er sie hören. Und er antwortete bereits nach den ersten Versuchen. Die Art und Weise, wie er das tat, übertraf alle Erwartungen der Gefährten. Wenige Zentimeter über dem Boden löste sich in der Zellenwand ein Stein aus der Mauer. Mörtel bröckelte herab. Zwei weitere Steine folgten. Dann sah Koy ein Gesicht in der Öffnung. Es war noch zu dunkel, um zu erkennen, wem es gehörte. Kolphyr kroch über den Boden des Kerkers und holte die Talgkerze. »Aber das ist … ein Kind!« entfuhr es Koy. * Für Kolviss kam die Stunde der Wahrheit. Doch er war auf die Vorwürfe, die er zu hören bekam, vorbereitet. Die anderen Magier zeigten keinerlei Verständnis dafür, daß er eigenmächtig gehandelt und die Entdeckung der Rebellen verschwiegen hatte. Noch schwerwiegender war der Vorwurf, daß Kolviss seine Entdeckung aus eigennützigen Gründen geheimgehalten und das Ziel verfolgt hatte, durch sein Vorgehen an Einfluß und Macht zu gewinnen und den Neffen Thamum Gha für sich einzunehmen. Kolviss argumentierte, daß er schließlich drei gefährliche Widerständler ans Messer geliefert hätte, und daß die Umstände hinter diesem Erfolg, der ein Erfolg aller Magier sei, zurückzutreten
hatten. Er verstand es, von sich abzulenken und die Aufmerksamkeit der anderen Magier auf die letzten noch freien Widerständler, Sator Synk mit seinen Robotern und die geheimnisvolle Frau, zu richten. Schließlich hatte er sie davon überzeugt, daß es unsinnig war, sich zu streiten, solange diese letzten Rebellen nicht gefaßt waren. Er versprach, in dieser Hinsicht nicht wieder eigenmächtig vorzugehen und die anderen Magier unverzüglich zu benachrichtigen, sobald er ihre Spur gefunden hatte. Man verzieh ihm, nicht, ohne ihn eindringlich vor den Folgen, die ein erneutes eigenmächtiges Vorgehen haben würde, zu warnen. Kolviss zeigte sich reumütig. Eines allerdings verschwieg er: die Existenz des blinden Flecks. Dieses Rätsel wenigstens wollte er allein lösen. Vielleicht hätte er sich anders entschieden, hätte er schon zu diesem Zeitpunkt gewußt, welche fatalen Folgen sein Schweigen für ihn und die anderen Magier haben sollte. Die Magier wandten sich wieder anderen Aufgaben zu, nachdem Kolviss, der die Gefangenen immer noch hin und wieder belauschte, ihnen mitgeteilt hatte, daß der Sohn Sigurds zu ihnen Kontakt aufgenommen hatte. Kolviss wollte zeigen, daß er keine Geheimnisse mehr vor den anderen hatte. Doch diese maßen dem Zusammentreffen der zum Tode Verurteilten keine Bedeutung zu. Sie konnten nicht mehr fliehen und sollten am kommenden Tag zusammen hingerichtet werden. Welche Rolle spielte es da, ob sie nun getrennt oder zusammen waren? Sie würden überall auf Pthor die Nachricht von der bevorstehenden Hinrichtung der Rebellen verbreiten lassen. Synk und seine Roboter mußten es erfahren, wenn sie nicht blind und taub waren. Ausgehend von dem, was die Magier über den Orxeyaner wußten, würde Synk alles daransetzen, die Gefangenen zu befreien – und in die Falle gehen. Kolviss war zufrieden. Es war sein Vorschlag gewesen, und daß er
angenommen worden war, zeigte ihm, daß er durch sein Handeln nichts an Prestige eingebüßt hatte. Er machte sich erneut auf die Suche nach dem, was unerkannt in den Bereich der FESTUNG eingedrungen war. * Nach wenigen Minuten war das Loch in der Mauer groß genug, um den Knaben hindurchschlüpfen zu lassen. Bördo wischte sich den Staub von der Kleidung und aus den Haaren und richtete sich vor Koy und Kolphyr auf. Erst jetzt erkannten die beiden, wen sie da vor sich hatten. Nein, er war kein Kind mehr. Er war gewachsen und zum Jüngling geworden. Sein Gesicht war voller Narben, der Blick härter und stolzer geworden. Doch seine Züge hatten sich nicht verändert. Sie hatten ihn beide in der Hütte des alten Valjaren Kruden gesehen und ihn später ein Stück auf dem Weg in die Dunkle Region mitgenommen, bevor sie auf andere Valjaren trafen und kämpfen mußten. Im Lauf der Auseinandersetzungen war Bördo entführt worden. Und hier trafen sie sich wieder – als zum Tode Verurteilte in den Kerkern der FESTUNG. Auch Bördo erkannte sie. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann wurde er schlagartig ernst. »Sie haben euch also auch erwischt«, sagte er. »Wie lautet das Urteil? Tod, weil ihr die Odinssöhne ermorden wolltet?« »Ja«, sagte Koy überrascht. »Dann werden wir vermutlich zusammen hingerichtet.« Bördo gab einen kurzen Bericht über seinen Weg zur FESTUNG und die Begegnung mit seinem Vater. Seine Worte waren voller Bitterkeit. Von der Bewunderung, mit der er früher über Sigurd gesprochen hatte, war nichts mehr geblieben. Sie hatte sich in maßlose
Verachtung verwandelt. »Und ihr?« fragte er. Koy berichtet. Er konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. Bördo war also der andere Gefangene gewesen. Aber wie sollte er ihnen helfen können? Er war ein Kämpfer geworden. Aber gegen die Macht der Magier konnte auch er nichts ausrichten. Koy sah seine Hoffnungen schwinden. Nichts von dem, das sie von ihm erfuhren, brachte sie weiter. Es würde vier anstatt drei Opfer geben. Doch Bördo schien keinen Augenblick lang resigniert zu haben. Er schien die neue Situation besser als Koy erfassen zu können. Es gab keinen Grund zum Optimismus. Dennoch gab der Knabe offensichtlich nicht auf. Hoffte er darauf, daß sein Vater doch noch zur Besinnung kommen und sie retten konnte? Wußte er nicht, wie irrational diese Hoffnung war? Bördo winkte nur ab, als Koy eine entsprechende Frage stellte. »Gibt es weitere Gefangene hier unten?« fragte der Trommler gereizt. Es störte ihn, daß Bördo vielleicht etwas wußte, von dem sie nichts ahnten, aber nicht damit herausrückte. »Nicht, daß ich wüßte«, murmelte der Jüngling. Er sah Koy nicht an, sondern betrachtete Fenrir, der vor der Eisentür der Zelle lag und sich nicht rührte. »Sie haben ihn gelähmt?« wollte er wissen. »Nicht gelähmt. Er kann sich bewegen, aber er …« Koy platzte der Kragen. »Verdammt, wie kannst du so ruhig sein, wenn wir vielleicht schon in ein paar Stunden sterben müssen? Sieh mich an, wenn ich mit dir rede! Oder bist du schon genauso verbohrt wie dein Vater? Haben die Magier dich geschickt, um zu spionieren? Sollst du uns ausfragen, und …?« Koy fluchte, als er merkte, wie sehr er sich gehen ließ. Er hatte keinen Grund, Bördo etwas vorzuwerfen. Aber die ganze Anspannung der letzten Stunden brach nun aus ihm heraus. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Kolphyr. Koy nickte. »Es tut mir leid, mein Junge, aber …«
Koy zuckte die Schultern und fluchte wieder. Plötzlich wurde er
sich bewußt, wie groß seine Angst vor dem Tod war, nun, da es keine Möglichkeit mehr zu geben schien, dem Schicksal zu entfliehen. »Es ist gut«, sagte der Sohn Sigurds. »Ich verstehe dich, aber ich weiß auch, wie gefährlich eine falsche Hoffnung sein kann.« »Falsche Hoffnung?« Koy lachte humorlos. »Wir machten uns die ganze Zeit über falsche Hoffnungen, um uns selbst nicht aufzuregen. Wem können sie schaden, wenn wir doch keine Möglichkeit haben, etwas zu unternehmen?« Das Wissen darum, daß seine Gefühle schwankten wie ein Blatt im Wind, machte die nach Bördos Erscheinen aufgetretene Depression nur noch größer. Koy wußte, daß er wieder erste Anzeichen von Verfolgungswahn zeigte. Die Magier waren überall, hatten sie in ihrem eisernen Griff, überwachten sie, spielten mit ihnen … »Es ist möglich, daß wir mindestens einen Verbündeten in der FESTUNG haben«, sagte Bördo mit ernstem Blick. »Unsinn!« entfuhr es Koy. »Niemand kommt gegen sie an! Niemand kann in unsere Nähe gelangen, ohne von ihnen erkannt zu werden!« »Vielleicht doch«, widersprach Bördo. »Vielleicht habe ich mich getäuscht, doch wenn nicht, haben unsere Verbündeten die Möglichkeit, den Sinnen der Magier zu entgehen oder sie zu täuschen.« Mehr war trotz aller Bemühungen nicht aus dem Jüngling herauszubekommen. Auch Kolphyr bekam keine Antwort auf entsprechende Fragen. Bördo gab sein Geheimnis nicht preis. Koy warf ihm vor, sich selbst etwas vorzumachen. Doch dann begegnete er wieder dem Blick des Knaben. Nein, dachte er. Er betrügt sich nicht selbst. Er ist von seinen Worten überzeugt. Aber sich nicht sicher genug, um uns Mitteilung zu machen. Immerhin erreichte Bördo damit, daß Koy nicht resignierte!
Wieder keimte verhaltene Hoffnung in ihm auf. Zum wievielten Male innerhalb kurzer Zeit. »Wir müssen uns bereithalten«, mahnte der Jüngling. Fenrir sprang auf und rieb seinen Kopf an Bördos Beinen. Wer oder was, fragte sich der Trommler, sollte in der Lage sein, den Magiern Paroli zu bieten? Die gleiche Frage stellte sich Kolviss. 6. Das Wache Auge – Rebellion der Roboter Es war Zufall, daß sich Sator Synk gerade zu dem Zeitpunkt in der Hauptkuppel der riesigen Ortungsstation befand, als die Magier von der FESTUNG aus die Nachricht von der bevorstehenden Hinrichtung der gefaßten Verräter verbreiten ließen. Und ein ebensolcher Zufall wollte es, daß die Nachricht über die Kommunikationsgeräte in der Kuppel kam. Die Magier gingen davon aus, daß Synk und seine Begleiter ständig darum bemüht waren, zu erfahren, was im Bereich der FESTUNG geschah, indem sie entweder direkten Kontakt mit Pthorern hielten oder über Möglichkeiten verfügten, die Bewohner des Dimensionsfahrstuhls unbemerkt auszuhorchen, um das Risiko eines Verrats ihres Verstecks auszuschließen. So hatten sie Kuriere nach allen Siedlungen geschickt oder die Pthorer direkt unterrichtet. Es sollte lediglich einer schnelleren und umfassenderen Verbreitung der Nachricht dienen, daß sie sie außerdem über die Sendeanlagen der FESTUNG bekanntgaben. Überall dort, wo das erforderliche technische Gerät zum Empfang stand – etwa in Wolterhaven oder den Städten – sollten die dort befindlichen Pthorer auf direktem Weg informiert werden. An das Wache Auge im Besonderen dachten sie dabei nicht. Synk stand also fassungslos vor dem Lautsprecher, aus dem die Nachricht kam, und hörte von der Gefangennahme und
bevorstehenden Hinrichtung Koys, Kolphyrs, Fenrirs und Bördos. Er verlor alle Farbe aus dem Gesicht und rührte sich erst wieder, als die Stimme aus dem Gerät längst verstummt war. Sie hatten sie erwischt! Sie wollten sie skrupellos umbringen, und ganz Pthor sollte Zeuge sein! Niemals durfte es dazu kommen! Er durfte es nicht zulassen. Synk zögerte keinen Augenblick. Er rannte aus der Kuppel ins Nebengebäude, in dem er sich mit Leenia und seiner Streitmacht einquartiert hatte. Es war noch hell. Die Hinrichtung sollte am Vormittag des nächsten Tages vollzogen werden. Zeit genug, um mit den Robotern zur FESTUNG zu gelangen und zuzuschlagen. Die Maschinen konnten ihn und Leenia tragen. Synk hatte keine exakte Vorstellung davon, wie er die Hinrichtung verhindern sollte. Das war für ihn im Augenblick nebensächlich. Er mußte zur FESTUNG, dann würde er weitersehen. Auf keinen Fall würde er untätig hier sitzenbleiben und zusehen, wie seine Verbündeten umgebracht würden. Die Zeit des Wartens war für ihn endgültig vorbei. »Sie haben sie geschnappt!« rief er Leenia zu. Die Worte sprudelten so schnell aus ihm heraus, daß Leenia nur die Hälfte verstand. Sie versuchte, ihn zu beruhigen, doch Synk war nicht zu halten. »Wo sind sie?« fragte er, als er sich umgesehen und festgestellt hatte, daß sich keiner der Robot‐Guerillas im Gebäude befand. »Wo treiben sie sich jetzt schon wieder herum? Ich brauche sie auf der Stelle!« »Sator!« Synk zuckte zusammen. Leenia trat vor ihn hin und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Erst jetzt bemerkte der Orxeyaner, daß sie sich verändert hatte. Irgend etwas stimmte nicht mit ihr, aber was? Der Anzug! Er lag zusammengerollt auf einem Tisch. Leenia trug noch ihre
kniehohen Stiefel und dazu nun einen knappen Rock aus Fellen und eine Art Wams aus dem gleichen Material, das gerade ihre Brüste bedeckte. Bauch und Oberschenkel waren frei. Der Held von Pthor schluckte, und er hoffte inbrünstig, daß sie nicht gerade jetzt wieder einen der seltenen Momente hatte, in denen sie die Gedanken anderer Wesen schwach auffangen konnte. »Was … was hast du getan?« stammelte er. »Wieso hast du …?« »Den Anzug abgelegt?« Leenia lächelte. »Du hast deine Probleme, Sator, und ich die meinen. Der Anzug gehört zu den Höheren Welten. Ich kann ihn nicht tragen, wenn es mir gelingen soll, mich ganz von meiner Vergangenheit zu lösen. Außerdem befürchte ich, daß die Körperlosen über ihn noch immer Einfluß auf mich nehmen können.« Sie preßte die Lippen aufeinander, und Synk erschrak, als er ihrem Blick begegnete. »Das ist vorbei, Sator. Vielleicht wird die Zeit kommen, ihn wieder anzulegen.« »Und dieses, dieses …« Synk versuchte, nur auf Leenias neue Bekleidung zu blicken. »Woher hast du die Sachen?« »Oh, die Felle fand ich in einem anderen Gebäude, und deine Roboter schnitten sie mir nach meinen Anweisungen zurecht und schneiderten mir das neue Kostüm. Gefälltʹs dir, Sator?« »Es ist … äh …« Synk machte einen Schritt zurück und schlug mit der Faust auf den Tisch. Mit hochrotem Kopf fragte er: »Die Roboter! Wo haben sie sich versteckt? Wir haben jetzt keine Zeit für … für anderes.« Leenia machte ein enttäuschtes Gesicht. Synk seufzte. Was hatte er jetzt wieder angerichtet? Mußte man Frauen denn immer wieder sagen, daß sie schön waren? »Es steht dir hervorragend, Leenia, wirklich. Du siehst damit noch schöner aus als ohnehin schon. Aber …« Verdammt, konnte sie seine Gedanken lesen und wissen, was er jetzt am liebsten tun würde? Spielte sie schon mit ihm? Steckte sie am Ende mit den Robotern unter einer Decke? »Ich muß wissen, wo sie sind, Leenia! Ich muß unsere Freunde befreien!«
»Es ist sinnlos, Sator.« »Wo sind sie?« Leenia zuckte die Schultern. »Du selbst hast ihnen befohlen, bis zum Abend am Rand des Wachen Auges ein Manöver durchzuführen – zur Strafe dafür, daß sie dir nicht sagen wollen, was man in Wolterhaven mit ihnen gemacht hat.« Zum zweitenmal landete die Faust des Orxeyaners auf der Tischplatte. Synk rieb sich die Knöchel und stieß eine Reihe von Verwünschungen aus. Natürlich! Was war mit ihm los, daß er es vergessen konnte? Er hatte die Roboter zwei Tage lang gedrillt, sie auf Vordermann gebracht und ausgefragt, alle Listen, die ihm einfielen, angewandt, um sie zum Reden zu bringen. Vergeblich. Aber er wußte, daß die Robotbürger etwas an ihnen verändert hatten. »Am Rand des Wachen Auges«, murmelte Synk. Das Wache Auge war riesig, und er hatte keine detaillierteren Befehle gegeben. Bis zum Einbruch der Dunkelheit sollten sie sich ein Scheingefecht liefern. Diglfonk und Eins bis Drei sollten versuchen, von außen kommend in die Anlage einzudringen, und die anderen fünf mußten sie daran hindern. Alle Mittel waren erlaubt, nur durfte kein nicht zu behebender Schaden an einer der Maschinen entstehen. Synk erinnerte sich an den genauen Wortlaut seines Befehls: Sie sollten ihr Manöver nicht etwa von selbst abbrechen, wenn es zu dämmern begann, sondern solange weitermachen, bis er bei Anbruch der Dunkelheit persönlich kam, um ihnen den Befehl zum Aufhören zu geben. Synk seufzte tief. Er mußte zwischen die Fronten. Die Guerillas anzufunken, verbot sich schon aus Gründen der Sicherheit. Außerdem hätten sie nicht auf ihn gehört. Es war sogar fraglich, ob sie überhaupt auf ihn hören würden, wenn er vor Anbruch der Dunkelheit zwischen ihnen auftauchte. Es war nicht einfach, einen einmal gegebenen Befehl zu widerrufen, vor allem dann nicht, wenn
die verflixten Roboter sich stur stellten. Und das taten sie seit Tagen. »Ich gehe mit«, sagte Leenia, als Synk sich den Gürtel mit dem Schwert zurechtrückte. Er winkte ab. »Kommt nicht in Frage. Es genügt, wenn einer sich in Gefahr begibt.« »Gefahr? Du meinst, deine Roboter könnten uns …?« »Ich befahl ihnen, scharf zu schießen und alle Tricks anzuwenden. Alle, verstehst du?« Er schüttelte den Kopf und biß die Zähne aufeinander. »Nein, das kannst du nicht.« »Ich komme trotzdem mit, Sator.« Synk brummte etwas in seinen Bart und zuckte die Schultern. Wie sollte er sie daran hindern? Sie war frei, ebenso wie er. Sie verließen das Nebengebäude und lauschten. Alles war still. Ein schrecklicher Verdacht beschlich den Orxeyaner. Sollten auch sie sich abgesetzt haben? Würde Diglfonk das wagen? Synk traute ihm alles zu. Mit grimmiger Miene entfernte er sich vom Nebengebäude. Die Kuppel. Dort gab es Monitoren, die große Teile der Anlage zeigten. Es war sinnlos, aufs Geratewohl zum Rand des Wachen Auges zu gehen, in der Hoffnung, sie dort zu finden. Sie konnten sich ebensogut auf der gegenüberliegenden Seite befinden. Synk betrat die Zentralkuppel, von Leenia gefolgt. Er stellte sich vor einen langen Tisch mit einer Vielzahl von Knöpfen und Schaltern, zwischen denen sich mindestens zwei Dutzend Bildschirme befanden. Etwa die Hälfte davon funktionierte noch. Synk aktivierte einen nach dem anderen, bis er zwei Roboter sah. Sie lagen auf der Lauer und warteten auf etwas. Die Verteidiger. Synk erkannte sie unschwer an den riesigen roten Nummern, die er ihnen vorgestern aufgemalt hatte. Sieben und Acht. »Ihre Position.« Leenia deutete auf einige Zahlen unter dem Bildschirm. »Sie sind im Süden. Dieser Turm auf dem Schirm. An ihm müssen wir uns zu orientieren versuchen.«
Synk nickte mit finsterer Miene. Bis sie dort waren, verging eine Viertelstunde. Und es war gar nicht sicher, daß sich die Roboter dann noch dort befanden. Leenia verließ die Kuppel vor Synk. Der Orxeyaner mußte wieder an sich halten. Schon im hauteng anliegenden roten Anzug hatte sie eine Figur gehabt, von der jeder Mann nur zu träumen wagte. Aber jetzt, nur mit diesen beiden Fetzen bekleidet … Kolphyr und Koy! Fenrir! Sie warteten auf ihn! Der Orxeyaner beeilte sich, wieder vor Leenia zu kommen, und sah sich nicht um. Nach Süden. Nach Minuten sah er den Turm, von dem Leenia gesprochen hatte. Auf dem Bildschirm war er nur im Hintergrund zu sehen gewesen, vermutlich das an dieser Stelle am weitesten nach außen ragende Gebäude der Anlage. Nach weiteren fünf Minuten hörte er die ersten Schüsse. Die »Eindringlinge« mußten also heran sein. Synk hatte gehofft, daß sie so lange warten würden, bis er selbst bei den Verteidigern war und über diese mit Diglfonk Kontakt aufnehmen konnte. Nun verlagerte sich der Kampf womöglich, bevor er die Roboter erreichte. Synk begann zu rennen. Plötzlich schoß wenig Dutzend Meter von ihm entfernt etwas in die Luft. Im nächsten Augenblick zuckte ein Lichtblitz über ihn und Leenia hinweg. In seiner Linken fiel ein rechteckiges Gebäude in sich zusammen. Drei Roboter kamen aus den Trümmern und schwebten auf die Stelle zu, von der sich der Angreifer erhoben hatte. »Hinlegen, Leenia!« brüllte Synk. Er landete auf dem staubigen Boden zwischen den Gebäuden. Einer der drei Roboter über ihm wurde von einem weiteren Lichtblitz getroffen, glühte auf und trudelte zu Boden, sich um die eigene Achse drehend. Es war einer der stabförmigen Guerillas. Gykogsbeeden, von Synk nur »Eins« genannt. »Das ist …« Synk sprang vor Wut auf die Beine. »He, ihr Idioten!« brüllte er, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt. »Hört
sofort auf! Ich sagte, ihr solltet keinem von euch ernsthaften Schaden zufügen!« Synk drehte sich zu Leenia um. Er zitterte. »Sie bringen sich gegenseitig um! Sie …« Wieder zuckten Blitze durch die Luft. Gleich zwei weitere Gebäude explodierten. Die Trümmer flogen umher. Synk war längst wieder auf dem Boden und hatte die Arme in den Nacken gelegt. Was er jetzt erlebte, kam für ihn dem Weltuntergang nahe. Sie bekämpften sich schonungslos. Sie waren endgültig verrückt geworden. Sie wollten ihn fertigmachen! »Nein!« kreischte der Orxeyaner. »Nicht mit mir!« Wieder sprang er auf, sah sich schnell um und zeigte auf ein flaches Gebäude in wenigen Metern Entfernung, von dem er hoffte, daß es die nächsten Minuten überstehen würde. »Lauf hinein, Leenia!« rief er. »Das hier ist meine Sache. Warte, bis ich zu dir komme!« »Aber du bringst dich in Gefahr!« »Oh, nein! Sie werden mich nicht angreifen. Sie wollen, daß ich mitansehe, wie sie sich gegenseitig umbringen. Darauf müssen sie monatelang gewartet haben. Los, bring dich in Sicherheit!« Der nächste Lichtblitz. Diesmal wurden keine Roboter aufgescheucht, und es fiel auch keiner vom Himmel. Nur aus der Ferne war das Geräusch einer Explosion zu hören. Synk mußte diesem Wahnsinn ein Ende bereiten, bevor das ganze Wache Auge nur noch ein Trümmerfeld war. Er sah sich nicht mehr nach Leenia um. Dort vorne lag Eins, und er begann sich schon wieder zu bewegen. Synk mußte bei ihm sein, bevor er davonschweben konnte. Er rannte los und bekam den Roboter gerade noch an einem Tentakel zu fassen. Er verlor den Boden unter den Füßen, sah die Gebäude und Leenia, die gar nicht daran zu denken schien, seiner Aufforderung Folge zu leisten, unter sich immer kleiner werden, bis Gykogsbeeden endlich zu merken schien, daß jemand an ihm hing. »Eins!« brüllte Synk. »Du landest sofort. Das Manöver ist zu Ende. Dieser Befehl hebt alle vorangegangenen auf. Ich befehle dir zu
landen!« Synk hatte nicht wirklich daran geglaubt, daß Eins gehorchen würde, doch wenige Sekunden später hatte er wieder festen Boden unter den Füßen. Er landete auf dem Gesäß, als Gykogsbeeden neben ihm niederging. »Verfüge über mich, Herr!« Zum erstenmal seit Diglfonks Auftauchen in Orxeya war diese Phrase wie Musik in Synks Ohren. Er richtete sich auf und holte tief Luft. In der Ferne blitzte es. Die Roboterschlacht tobte mit unverminderter Heftigkeit, und wieder wurde Synk angst und bange. Für einen Moment vergaß er, warum er hier war. »Was ist los, Eins?« fuhr er Gykogsbeeden an. »Wollt ihr euch gegenseitig vernichten, um euch an mir zu rächen?« »Wir sind im Manöver«, antwortete der Roboter. »Es wird keine schwerwiegenden Beschädigungen geben.« »Es wird gar keine Beschädigungen mehr geben! Ich befehle dir, Kontakt mit Diglfonk aufzunehmen. Er soll das Manöver sofort abbrechen lassen. Los, funke ihn an! Er soll meinen Befehl an alle anderen weiterleiten. Er hebt alle vorangegangenen auf. Das Manöver ist zu Ende!« »Aber es dunkelt noch nicht, Herr«, wagte Gykogsbeeden einzuwenden. »Wenn ich sage, das Manöver ist zu Ende, dann ist es für euch stockfinstere Nacht! Ich befehle, daß es dunkel ist! Ist das verstanden worden?« »Ja, Herr.« »Na, also! Jetzt funke Diglfonk an!« Der Roboter rührte sich nicht. Synks Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Funkte er nun oder funkte er nicht? Leenia war mittlerweile herangekommen und beobachtete Gykogsbeeden skeptisch. »Ich kann Diglfonk nicht anfunken«, erklärte dieser endlich. »Es gehörte zu den Abmachungen, daß keiner von uns Kontakt mit dem
anderen hat. Nur so konnten wir den Ernstfall überzeugend simulieren.« Synk schnappte nach Luft. »Soll das etwa heißen, daß … daß ich jedem einzelnen von euch klarmachen muß, daß er mit dem Unsinn aufzuhören hat?« »Nur Diglfonk«, sagte Eins. »Seine Funkanrufe werden als einzige aufgefangen. Alle anderen werden automatisch blockiert.« »Dann bringe mich zu Diglfonk!« »Vorsicht, Sator«, warnte Leenia. Doch es war bereits zu spät. Gykogsbeeden fuhr drei zusätzliche Tentakelarme aus und umwickelte seinen Herrn damit. Bevor Synk Luft schnappen konnte, war er mit dem Roboter in der Luft. Leenia versuchte noch, ihn zu packen, doch selbst wenn sie seine Beine noch erreicht hätte, wäre dabei nur herausgekommen, daß auch sie einen unfreiwilligen Flug unternahm. Sie begab sich zum Flachgebäude, um zu warten. Sie war längst nicht so zuversichtlich wie Synk, daß ihm von »seinen« Robotern keine Gefahr drohte. Sie rechneten nicht mit seinem Auftauchen. Sie beschossen sich mit Energiestrahlen, die sie nicht zerstörten, denn sie verfügten über Energieschirme. Im Gegensatz zu Sator Synk. Ein einziger Schuß, in den er zufällig hineingeriet, mußte sein Ende bedeuten. * Wenn Eins Synk direkt zu Diglfonk brachte, dann mußte Diglfonk sich mitten im Chaos befinden, das die Roboter dort unten, nun in unmittelbarer Nähe des schlanken Turmes, entfesselten. Gykogsbeeden schwebte mit Synk in mindestens einhundert Meter Höhe. Der Orxeyaner sah es überall aufblitzen. Wenn einer der Guerillas getroffen wurde, bildete sich eine grünliche Blase um ihn herum, bis der Beschuß eingestellt war. Die Getroffenen blieben
dann jedesmal einige Sekunden am Boden liegen, wie zuvor auch schon Gykogsbeeden, vermutlich, um anzuzeigen, daß sie ausgefallen waren. Dann aber kämpften sie wieder. Das war völlig unsinnig. Synk hatte absichtlich keine detaillierten Kampfesregeln gegeben, um zu sehen, wie die Roboter vorgehen würden, wenn man ihnen allein die Initiative überließ. Sie führten sich auf wie Kinder – mit der einzigen Ausnahme, daß Kinder dabei keine Häuser in die Luft gehen ließen. Synk hatte erwartet, durch das Manöver Aufschluß über ihm unbekannte Waffensysteme der Roboter zu erhalten. Was er sah, ließ ihn verzweifeln. »Ich lande jetzt direkt neben Diglfonk«, verkündete Gykogsbeeden. »Ich muß darauf hinweisen, daß ich dich dabei in Gefahr bringe, Herr. Die Verteidiger werden auf mich schießen, sobald ich einen gewissen Abstand von ihnen habe.« »Aber wo ist Diglfonk? Ich sehe ihn nicht!« Synk sah nur, daß aus vier Richtungen auf eine Stelle neben dem Turm geschossen wurde, an der sich nichts zu befinden schien. »Diglfonk, Zwei und Drei befinden sich unter einer Schutzglocke. Sie sind nicht sichtbar für organische Gegner, aber die Verteidiger können sie natürlich orten.« Oh nein! durchfuhr es Synk. »Eins!« brüllte er. »Heraus mit der Wahrheit. Ihr verfügt über Fähigkeiten, die ihr vor mir verbergt. Ich habe keine Lust, abgeschossen zu werden, wenn du hinunterschwebst. Ich habe keinen Schutzschirm. Kannst du mich allein herunterlassen? Ich meine, verfügst du über so etwas wie Feldprojektoren, die mich in der Luft halten können, wenn du mich losläßt?« Der Roboter antwortete, ohne zu zögern: »Ja, Herr.« »Dann bleib, wo du bist, und setze mich vorsichtig ab, und zwar direkt neben Diglfonk. Kann ich dieses … diese Schutzglocke durchdringen?«
»Selbstverständlich, Herr. Du wirst Diglfonk, Zwei und Drei sehen, sobald du durch sie hindurch bist.« »Dann laß mich jetzt herunter. Auf mich werden die Verteidiger nicht schießen.« In Gedanken fügte er hinzu: hoffentlich nicht. »Verfüge über mich, Herr!« Gykogsbeeden ließ den Orxeyaner los. Für einige schreckliche Sekunden hatte Synk das Gefühl, haltlos in die Tiefe zu fallen. Dann spürte er, wie etwas nach ihm griff. Sein Fall verlangsamte sich. Unter ihm wurde weitergeschossen. Schützte diese geheimnisvolle Glocke die unter ihr Befindlichen auch vor den Energiestrahlen? Unter ihm blitzte es auf. Vier Roboter kamen aus ihren Verstecken und gingen zum Generalangriff auf die »Eindringlinge« über. Die Strahlbahnen lagen wie ein Netz über dem Boden. Synk geriet in Panik und begann zu schreien. Die Verteidiger kamen zum Stillstand. »Hört auf damit!« schrie Synk. »Vier, Fünf, Sechs, Sieben und Acht, ich befehle euch, den Angriff einzustellen! Dieser Befehl hebt alle vorangegangenen auf!« Und sie hörten ihn. Sie gehorchten. Die Verteidiger stellten das Feuer ein, als er noch knapp zehn Meter über ihrem unsichtbaren Ziel schwebte. Synk atmete auf – einen Augenblick zu früh. Jetzt schossen die unter der Schutzglocke befindlichen Roboter. Mit einem einzigen Feuerschlag schalteten sie die nun wehrlosen Verteidiger aus. Natürlich! Er hätte auch Diglfonk, Zwei und Drei anrufen müssen. Er wollte es nachholen, doch plötzlich waren sie unter ihm. Er hatte die Glocke passiert. Diglfonk und die beiden anderen entstanden wie aus dem Nichts heraus. Sie hatten ihre Waffenarme auf ihn gerichtet. »Nicht schießen!« brüllte Synk in Panik. »Ich bin es, Euer Herr! Brecht das Manöver ab!« »Es ist noch nicht dunkel!« kam es von Diglfonk. Ein Energiestrahl zuckte aus seinem Tentakelarm und fuhr dicht an Synk vorbei. Der
Orxeyaner schrie auf. Er verlor den Halt und stürzte die letzten vier Meter ab. Das letzte, das er bewußt wahrnahm, war das Aufblitzen über ihm. Diglfonk hatte auf Gykogsbeeden geschossen, auf seinen eigenen Verbündeten! Synks letzter Gedanke, bevor er das Bewußtsein verlor, war, daß sie sich jetzt endgültig demaskiert hatten. Sie wollten seinen Tod. Diglfonks Schuß auf Gykogsbeeden war Absicht gewesen. Diglfonk war sein Mörder. * Leenia hielt es in ihrem Versteck nicht mehr aus. Sie spürte, daß Sator Synk ihre Hilfe brauchte. Aber was sollte sie tun? Von dem Versteck aus konnte sie nichts unternehmen. Leenia lief zurück in die Zentralkuppel. Im Süden blitzte es einige Male auf. Sie verschwand in der Kuppel und blieb vor dem Tisch mit den Monitoren stehen. Keiner der Roboter war mehr zu sehen. Das Geschehen hatte sich weiter zum Rand der Anlage hin verlagert. Wieder blitzte es direkt beim Turm auf, doch keiner der Schirme zeigte dessen unmittelbare Umgebung. Leenia konnte nicht aufs Geratewohl zum Turm laufen. Sie war ebenso ungeschützt wie Synk. Was die Roboter jetzt veranstalteten, war nicht mehr nur der Ungehorsam, das Katz‐ und Mausspiel mit ihrem »Herrn«, in dem sie nichts anderes sah als eine spezielle Beschäftigungstherapie für Synk. Sie hatten irgend etwas vor. Vielleicht hing es mit dem Verschwinden der vier Robotdiener zusammen. Zum erstenmal beschlich Leenia der Gedanke, Diglfonk und seine Guerillas könnten von Wolterhaven den Befehl erhalten haben, sie und Synk zu neutralisieren. Sie mußte warten. Etwa eine Stunde noch. Dann begann es zu dämmern, und sie würde Gewißheit erhalten. Sollten die Roboter
auch dann nicht zurückkehren – und Synk mit ihnen –, mußte sie wohl oder übel die Initiative ergreifen. War sie wieder soweit, daß sie sich notfalls gegen sie wehren konnte? Hatte ihr Körper genügend Energien aufgebaut? Hier gab es keine Energiebarrieren wie im Ruinenschloß, in die sie nur hineinzulaufen brauchte, um sich aufzuladen. Sie könnte Schirme projizieren. Es gab genügend entsprechende Geräte hier. Aber die Gefahr, daß die Magier dadurch auf das Wache Auge aufmerksam gemacht wurden, erschien ihr zu groß. Sie wußte ohnehin nicht, was sie von Diglfonks Versicherung zu halten hatte, die Magier würden durch das energetische Chaos, das die Roboter am Rand der Anlage entfesselt hatten, nicht angelockt. Schweren Herzens wartete sie. Doch sie war nicht untätig. Als die Dämmerung über Pthor hereinbrach, hatte sie einige Vorkehrungen für den Fall getroffen, daß sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten und die Roboter sie angreifen würden. Doch es kam ganz anders. Etwa eine Viertelstunde nach Einsetzen der Dämmerung sah sie sie. Sie schwebten alle neun in etwa fünfzig Metern Höhe auf das Quartier zu. Zwei von ihnen trugen Synk. Leenia wartete in der Kuppel, bis sie auf den Schirmen sehen konnte, wie sie vor dem Nebengebäude landeten und Sator behutsam ablegten. Dann blieben sie in einem Halbkreis um ihn herum stehen und schienen darauf zu warten, daß er sich rührte. Synk war bewußtlos – oder tot! Leenia spürte, wie sich etwas in ihr verkrampfte. Plötzlich wurde sie sich bewußt, wie gern sie diesen kleinen Raufbold hatte. Sie wußte, was Synk für sie empfand. Sie erwiderte zwar diese Gefühle nicht, aber er war im Lauf der Wochen zu einem Kameraden für sie geworden, zu einem Körperlichen, der sie so akzeptierte, wie sie war, und keine quälenden Fragen stellte. Wen hatte sie denn außer ihm? Leenia wußte, daß ihr alle getroffenen Vorkehrungen nichts mehr
nützen würden, wenn sie jetzt die Kuppel verließ. Aber sie mußte zu Synk. Sie sah sich um und nahm eines der kleinen Geräte von einem Pult, die sie so verändert hatte, daß sie sie im Notfall als Bomben verwenden konnte. Sie hielt es in beiden Händen, als sie die große Kuppel verließ. Ein Knopfdruck genügte, um die Bombe scharf zu machen. Wenige Minuten später erreichte sie das Quartier. Noch immer standen die Roboter reglos vor Synk. Sie konnten auch darauf warten, daß sie in die für sie gestellte Falle lief. Synk konnte der Köder sein … Leenia atmete tief durch und versuchte, sich so natürlich wie möglich zu geben. Sie blieb vor Sator stehen und sah, daß er atmete. Eine zentnerschwere Last fiel ihr von der Seele. »Was habt ihr mit ihm gemacht?« fragte sie Diglfonk scharf. Synk hatte den Robotern kurz nach dem Erreichen des Wachen Auges eingeschärft, daß sie im Fall seiner Abwesenheit Leenias Befehle auszuführen und sie als seine Stellvertreterin zu akzeptieren hätten. Diglfonk antwortete sofort: »Sator Synk ist unverletzt geblieben. Er geriet in unser Manöver hinein. Er wird in wenigen Minuten zu sich kommen.« »Er befahl euch, das Manöver abzubrechen!« sagte Leenia schneidend. »Er hob den vorangegebenen Befehl nicht auf«, entgegnete der Roboter ungerührt. »Wir beendeten das Manöver bei Anbruch der Dämmerung, wie es uns befohlen worden war.« Ein leises Ticken. Dann fügte Diglfonk hinzu: »Bis er wieder zu sich kommt, haben wir dir zu gehorchen. Verfüge über uns, Leenia!« »Bringt ihn hinein!« Sie deutete auf den Eingang des Nebengebäudes. »Und dann sagt mir, warum ihr versucht, unseren Aufbruch zu verzögern.« Sie nickte, um ihre Worte zu bekräftigen. »Ich weiß, daß ihr die von der FESTUNG gesendete Nachricht empfangen konntet. Ihr wußtet, weshalb euer Herr kam, um euch den Abbruch des Manövers zu befehlen. Mach mir nichts vor,
Diglfonk. Sobald Sator erwacht ist, wird er euch den Befehl geben, ihn und mich zur FESTUNG zu bringen, um unsere dort gefangengehaltenen Freunde zu befreien. Werdet ihr uns gehorchen?« Von Diglfonk kam keine Antwort. Synk wurde ins Gebäude gebracht und in seinen Sessel gesetzt, so daß er nicht herausfallen konnte. »Hat man euch Anweisung gegeben, uns hier festzuhalten, Diglfonk?« »Ich kann diese Frage nicht beantworten, bevor nicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist«, antwortete Diglfonk. Zum erstenmal glaubte Leenia, sich in Sator Synk hineinversetzen, seine Gefühle verstehen zu können, die er den Robotern entgegenbrachte. Sie verzichtete auf weitere Fragen, blieb aber wachsam. Für sie stand jetzt endgültig fest, daß sie ihre Befehle direkt aus Wolterhaven erhielten. Aber was steckte dahinter? Was befahl ihnen der Herr Soltzamen? Synk kam zu sich. Er stöhnte, schlug die Augen auf, blickte einen Moment lang wie in Trance vor sich hin. Dann sah er Leenia. Und die Roboter. Es war, als ob irgend etwas in ihm explodierte. Er sprang auf, stand einige Sekunden lang schwankend auf den Beinen, riß dann das Schwert aus der Scheide und schlug so schnell nach Diglfonk, daß diesem keine Zeit zum Ausweichen zu bleiben schien. Die rotierende Scheibe wurde getroffen und knickte um. Was nun geschah, überraschte Leenia nicht mehr. Alle neun Roboter senkten sich auf den Boden herab. Die Lichter, die eben noch geblinkt hatten, erloschen. Die Roboter kippten zur Seite und blieben reglos liegen. Kein Ticken mehr. Kein Anzeichen dafür, daß noch »Leben« in ihnen war. »Was … was habe ich getan?« Synk war kreidebleich. Er mußte sich wieder setzen. »Nichts«, antwortete Leenia. Sie lachte humorlos. »Du hast ihnen
nur einen willkommenen Anlaß gegeben, sich selbst zu desaktivieren, und zwar für solange, bis ihr Herr Soltzamen ihnen befiehlt, sich wieder zu rühren.« Synk blickte sie ungläubig an. »Was … was redest du da? Sieh sie dir an! Sie sind …« »Schauspieler! Exzellente Schauspieler, Sator. Aus irgendeinem Grund wollen oder dürfen sie nicht mit uns zur FESTUNG ziehen. Und ich glaube jetzt, diesen Grund zu kennen.« »Das werden sie büßen«, ereiferte sich der Orxeyaner, der Leenias letzte Worte gar nicht gehört zu haben schien. Er berichtete ihr, wie er mit Gykogsbeeden zum »Schlachtfeld« geflogen war, und wie Diglfonk den verhängnisvollen Schuß abgegeben hatte. Dann erst fragte er: »Was hast du eben gesagt?« »Entweder stecken die Robotbürger mit den Magiern unter einer Decke«, sagte Leenia, »oder deine Guerillas und wir brauchen gar nicht mehr zur FESTUNG. Sie sind bereits da.« »Aber … sie sind hier!« »Nicht diese neun. Die anderen vier, Sator. Die Deserteure.« 7. Die FESTUNG – Befreiung bei Nacht Die Stunden vergingen, und nichts geschah, das Bördos Optimismus rechtfertigte. Die Gefangenen saßen schweigend auf dem Boden und brüteten vor sich hin. Koy kämpfte gegen die Depression. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Wieso war Kolphyr so ruhig? Er versuchte sich die Hinrichtung auszumalen. Wieder dachte er daran, seine Broins einzusetzen. Wenn man sie außerhalb der FESTUNG ins Jenseits befördern wollte, wenn die Magier und ihre Marionetten vor den Augen der angereisten Pthorer ein Exempel statuieren wollten, hatten sie vielleicht eine Chance. Er und Kolphyr
konnten … Koy sprang auf und fluchte. Es war immer das gleiche. Auch die Broins nützten nichts. Bisher hatte es selbst in den am ausweglosesten erscheinenden Situationen noch einen Funken Hoffnung gegeben. Doch diesmal war es völlig anders. Das machte ihn krank. Das Wissen darum, daß es für die Magier eine Kleinigkeit war, seine Broins zu neutralisieren. Koy hatte das Gefühl, daß Bördo ihn voller Mitleid anblickte. Aber er wollte kein Mitleid. Nicht von diesem Knaben. Von niemandem auf der Welt! Dann endlich geschah etwas. Koy hörte Geräusche vor der Tür. Sie wurde aufgerissen. Bewaffnete Dellos traten ein und brachten einen Topf mit dem gleichen Brei, der den Wartenden in den Zelten verabreicht wurde, dazu eine Kanne mit Wein. Wein für die Todgeweihten! War es bitterer Hohn der Magier, ihnen eine Henkersmahlzeit bringen zu lassen, oder wollte man sie am Leben erhalten? Hatten sie ihre Pläne geändert? »Nein!« Koy schrie seine Verzweiflung heraus. Er wollte sich keinen neuen, trügerischen Hoffnungen mehr hingeben. Er wollte nicht mehr denken müssen. Lieber jetzt sterben, als noch weitere qualvolle Stunden auf das Ende warten zu müssen. Koy sprang auf und stürzte sich auf die Dellos, die Energiewaffen der Spezialandroiden ignorierend. Er trat nach dem Topf und kippte ihn um. Seine Fäuste trommelten gegen die Brust des am nächsten stehenden Dellos. Bördo und Kolphyr schrien auf. Ein Schatten huschte an Koy vorbei: Fenrir. Der Wolf riß zwei Dellos zu Boden. Koy hatte plötzlich eine Strahlwaffe in der Hand. Der Dello lag vor ihm am Boden und versuchte, sich wieder aufzurichten. Koy wußte nicht mehr, was er tat. Er erschoß den Androiden, richtete die Waffe auf die beiden, die noch im Eingang standen und sich jetzt umdrehten, um Verstärkung herbeizurufen, und drückte wieder ab. Die von Fenrir niedergerissenen Wächter kämpften verzweifelt,
bis Kolphyr sie betäubte. Der Weg nach draußen war frei. Koy atmete tief. Er fühlte sich befreit. Nicht noch einmal würde er sich einsperren lassen. Egal, was nun mit ihnen geschehen würde, er wollte fliehen und rennen, bis zum bitteren Ende. Sollten die Magier noch einmal versuchen, ihn zu lähmen. Die Zeit, sich selbst zu erschießen, würde ihm bleiben. Er drehte sich schnell zu den anderen um. Sie waren hinter ihm, als er jetzt auf den Korridor hinausstürmte. Koy rannte, so schnell ihn die Beine trugen. Fenrir war an ihm vorbei. Das Ende des Korridors. Eine Treppe, die gewunden mehrere Stockwerke nach oben führte. Koy griff nach dem Geländer und erstarrte. Vier ungleichmäßig gebaute Maschinen, etwa einen Meter im Durchmesser, schwebten ihm entgegen. Koy schrie wieder und zielte auf die erste. »Nein!« hörte er. Bördos Stimme. Der Sohn Sigurds hatte ihn erreicht und fiel ihm in den Arm. Der Schuß löste sich und fuhr in die metallenen Gitterstufen. Bördo riß Koy den Strahler aus der Hand und schleuderte ihn weit in den Korridor zurück. »Ich hatte recht«, kam es hastig über die Lippen des Jünglings. »Wenn wir eine Chance haben, dann durch sie!« »Was redest du für einen Unsinn!« Koy schrie Bördo an. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er sich auf ihn stürzen. »Ich weiß nicht, wer sie sind und wer sie geschickt hat«, sagte Bördo. »Aber ich habe sie gesehen, als man mich abführte. Sie standen mitten auf einem Gang, und niemand kümmerte sich um sie! Sie müssen …« Koy hörte nicht mehr, was Bördo sagte. Er war blind gewesen, blind vor Haß und Angst. Jetzt, als das Schreien heranstürmender Dellos, Technos und anderer Helfer der Magier von allen Seiten zu hören war, erkannte er die Maschinen. Sator Synks Roboter! »Bleibt stehen, wo ihr seid«, ertönte die Kunststimme einer der
Maschinen. »Rührt euch nicht von der Stelle und überlaßt alles uns. Wir sind hier, um euch aus der FESTUNG zu bringen.« * Es gab nicht nur einen »blinden Fleck«. Es war Zufall, daß Kolviss nur einen der Roboter entdeckt hatte und sein Pech, daß er glaubte, den gleichen Eindringling wiedergefunden zu haben, als er später noch zweimal eine schwache Wahrnehmung hatte. Alle vier Roboter verfügten, wie auch ihre beim Wachen Auge gebliebenen neun Artgenossen, seit dem letzten Aufenthalt in Wolterhaven über eine Defensivwaffe gegen die Magier, die es den neuen Herrschern unmöglich machte, sie mit magischen Mitteln aufzuspüren. Sie konnten nicht geortet werden. Was Kolviss »wahrgenommen« hatte, war also eher eine Nichtwahrnehmung gewesen – ein Vakuum in einer vollkommen kontrollierten Umgebung. Diese Defensivwaffe ermöglichte es den Robotern nicht nur, dem Zugriff der Magier zu entgehen, sondern gab ihnen darüber hinaus die Möglichkeit, magische Aktivitäten zumindest dann zu orten, wenn sie selbst deren Ziel waren. Dies war es, was Diglfonk so sicher machte, daß das Wache Auge noch uninteressant für die Magier war, und das dafür gesorgt hatte, daß Sator Synk und Leenia auf dem Weg zur Dunklen Region und zurück zum Wachen Augen nicht entdeckt worden waren. Sie hatten sich im Schutz der Roboter befunden. Und dieser Defensivwaffe allein war es zu verdanken, daß die vier Robot‐Guerillas sich in der Nähe der FESTUNG so frei hatten bewegen können, als gäbe es keine Magier. Ihr Auftrag war es ursprünglich gewesen, in der FESTUNG selbst und in deren Umgebung zu spionieren. Es gab gute Gründe dafür, daß Sator Synk nicht über diese neuen Fähigkeiten unterrichtet worden war.
Als die vier Robotdiener dann beobachteten, wie Koy, Kolphyr und Fenrir gefangengenommen und in den Kerker geworfen wurden und dies nach Wolterhaven meldeten, hatten sie neue Befehle erhalten. Sie mußten die Gefangenen befreien und so schnell wie möglich in Sicherheit bringen, auf die Gefahr hin, daß die Magier nun wissen würden, daß es eine Gruppe auf Pthor gab, an die sie nicht herankamen. Und noch waren sie mit ihren Schutzbefohlenen nicht in Sicherheit. Es hing alles davon ab, daß sie aus der FESTUNG heraus waren, bevor die Magier auf das, was sich nun in den unteren Geschossen der Pyramide tat, aufmerksam wurden, die Situation erfassen und eine Sperre ähnlich dem magischen Knoten aufbauen konnten. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. * Koy war nun bereit, alles mit sich geschehen zu lassen. Nur nicht mehr denken. Dies war ein Spiel, in dem er und die Gefährten jetzt nur Statisten waren. Jeweils ein Robotdiener befand sich bei ihm, bei Kolphyr, Fenrir und Bördo. Kolphyr bot kein anderes Bild als in den letzten Stunden: Wie in Stein gemeißelt stand er da und ließ die Häscher der Magier herankommen. Bördo umklammerte einen Tentakel des wie an ihm klebenden Roboters. Sein Blick war voller Zuversicht. Auch Fenrir stand still. Sie standen am Fuß der Treppe, über die jetzt ein halbes Dutzend Technos kamen und sie mit gezogenen Waffen einzukreisen begannen. Von der anderen Seite, aus dem Korridor, kamen Dellos und andere Pthorer. Sie waren ebenfalls bewaffnet. Sie wollten offensichtlich kein Risiko mehr eingehen, aber ebenso offensichtlich hatten sie den Befehl, die Widerständler lebend zu fassen. Noch
unternahmen die Roboter nichts. Sie warteten, bis alle, die von den Magiern nach unten geschickt worden waren, um die Ausbrecher wiedereinzufangen, sich in unmittelbarer Nähe befanden. Erst als keine weiteren Bewaffneten mehr nachrückten, handelten sie. Es gab nur ein leises Zischen, mehr nicht. Kleine Klappen im Leib der Maschinen öffneten sich und schlossen sich wieder. Ein Dello bellte gerade den Befehl, in die Zelle zurückzukehren. Mitten im Satz brach er ab, riß die Augen weit auf und stieß einen heiseren Schrei aus. Seine Beine knickten ein. Er sank zu Boden. Einer seiner Artgenossen nach dem anderen folgte ihm. Sie lagen starr und mit aufgerissenen Augen da und rührten sich nicht mehr. Das gleiche geschah mit den Technos. Koy beobachtete es fassungslos. Sie waren gelähmt. Wie konnten Androiden gelähmt werden? Vorerst sollte der Trommler keine Gelegenheit haben, sich weitere Fragen zu stellen. Die von den Magiern geschickten Pthorer gerieten in Panik. Offenbar entriß sie das, was sie mitansehen mußten, für einen Augenblick dem Bann ihrer Herren. Sie begannen zu schreien. Einige wandten sich zur Flucht, andere griffen an. Keiner von ihnen kam mehr als zwei Schritte weit. Die Robotdiener warteten nicht darauf, daß die Magier sie wieder in ihren Griff bekamen. Ihre Tentakelarme fuhren in die Höhe. Die Pthorer wurden in ein grünliches Leuchten gehüllt und sackten schlaff in sich zusammen. Das gleiche geschah mit Koy, Kolphyr, Fenrir und Bördo. Die Tentakel der Roboter fingen die Bewußtlosen auf. Dann hoben die Maschinen vom Boden ab und schwebten mit ihnen die Treppe hinauf. Dies war der Augenblick, auf den sie gewartet hatten. Kein Androide und kein Pthorer war in der Nähe, der sie sehen und als verlängertes Auge der Magier wirken konnte. Ohne ihre Helfer waren die Magier hilflos. Sie konnten sie nicht wahrnehmen. Alles kam nun darauf an, aus der FESTUNG zu verschwinden, bevor sie neue Truppen schicken konnten. Die vier Robotdiener hatten viel Zeit gehabt, diesen Teil der
Pyramide auszuspionieren, bevor sie eingriffen. Die nächsten Quartiere der Dellos und beeinflußten Pthorer befanden sich mehrere hundert Meter entfernt. Der Gang, in den die Roboter nun mit den bewußtlosen Widerständlern hineinschwebten, endete vor einer der gewaltigen Mauern der FESTUNG, wenige Meter über dem Sockel der Pyramide, und zwar auf der den Zelten genau gegenüberliegenden Seite. Wieder wurden Tentakelarme ausgefahren. Grelle Strahlbahnen standen in der Luft und fraßen sich in das Gestein. Sie schmolzen es wie Butter. Innerhalb von wenigen Sekunden waren die Roboter mit den Bewußtlosen in der mehrere Meter dicken Wand. Eine weitere halbe Minute verging, bevor sie hindurch waren. Aus dem Gang drang Geschrei. Die Roboter schwebten ins Freie und richteten die Tentakel gegen die Decke des entstandenen Tunnels. Wenige Schüsse genügten, um ihn einstürzen zu lassen, bevor die ersten Verfolger erschienen. Synks Roboter verloren keine Zeit. Die Bewußtlosen in sicherem Griff, hoben sie erneut ab und gewannen schnell an Höhe. Ihr Fluchtweg aus der Pyramide war verschüttet. Es würde einige Zeit dauern, bis die Magier ihre Häscher aus der FESTUNG geschickt oder bis die Verfolger sich den Weg nach draußen freigebrannt hatten. Zeit genug für die Guerillas, um zu verschwinden. Es war Nacht. Und die hellen Punkte am Himmel machten deutlich, daß die Flucht noch lange nicht gelungen war. Man war zwar aus der FESTUNG heraus, hatte eine ungleich größere Bewegungsfreiheit als vorhin, aber einem massiven Angriff durch bewaffnete Zugors konnten auch die Roboter nicht viel entgegensetzen. Ihre Schutzschirme schützten sie, nicht aber die Bewußtlosen. Die Situation ähnelte der am Wachen Auge, als Sator Synk in die »Schlacht« der Robotdiener geraten war. Nur war es hier und jetzt bitterer Ernst. Doch erst einmal mußten die Magier ihre Spur gefunden haben. Die Roboter beschleunigten und jagten von der FESTUNG fort,
zunächst in einer Spirale um die Pyramide herum, dann, als sie die Zelte und die Feuer, die die Nacht erhellten, hinter sich gelassen hatten, nach Westen, um jeden Verfolger irrezuführen. An Bord der Zugors gab es keine Ortungsgeräte, die sie erfassen konnten. Dazu hielten sie sich zu weit von ihnen entfernt. Nur die Magier selbst konnten eine Möglichkeit finden, sie trotz ihrer Defensivwaffen zu lokalisieren. Die Roboter waren sich ihrer Achillesferse bewußt. Kein Magier konnte sie wahrnehmen, solange er nicht gezielt nach dem »blinden Fleck« suchte. Mindestens einer von ihnen wußte jedoch, daß es sie gab. Er hatte versucht, sie wiederzufinden, was die Roboter wiederum registriert hatten. Dieser Magier war bisher erfolglos gewesen. Die Frage war nun, ob sich das ändern würde, wenn er, der bisher anscheinend allein auf sie Jagd gemacht hatte, die anderen über ihre Existenz informierte. * Kolviss sah sich urplötzlich in einer Zwickmühle. Natürlich konnte er sich sofort nach dem Bekanntwerden der Flucht der Todeskandidaten die Zusammenhänge ungefähr zusammenreimen. Die Widerständler hatten sich nicht in Luft aufgelöst, und sie allein wären nicht in der Lage gewesen, die Dellos zu desaktivieren und die auf sie angesetzten Pthorer zu lähmen. Die anderen Magier würden bald Fragen zu stellen beginnen. Momentan war ihre ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die Entflohenen wieder mit ihren Sinnen einzufangen, um die außerhalb der FESTUNG patrouillierenden Truppen auf sie anzusetzen. Wenn herauskam, daß er allein die Schuld an ihrem Entkommen hatte, hatte er ausgespielt. Die Umgebung der FESTUNG verwandelte sich in ein Tollhaus. Kolviss wußte, daß die Suche nichts einbringen würde. Nur er konnte die Entflohenen
wieder herbeibringen, indem er die »blinden Flecke« endlich wieder einfing. Ganz kurz hatte er sie gespürt, dieses greifbare Nichts, als er sich auf die Stelle konzentrierte, an der der Tunnel durch die Mauern der FESTUNG gebrannt worden war. Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit hatte genügt, um sie wieder zu verlieren. Da die Befreiten ohne Bewußtsein waren, konnte der Traummagier sie ebensowenig erfassen wie die Befreier. Nun drehte er sich im Kreis. So sehr er sich auch anstrengte, er fand ihre Spur nicht mehr. Die Minuten vergingen, und mit jeder Minute wuchs seine Verzweiflung. Er schirmte sich gegen die anderen Magier ab, wodurch er nur einen Aufschub gewann. Sie konnten seine Panik nicht spüren und seine Gedanken nicht lesen, doch die Tatsache, daß er sich abkapselte, schürte ihr Mißtrauen. Er wollte ihnen noch nicht sagen, daß er einen oder mehrere Eindringlinge aufgespürt und geschwiegen hatte. Noch gab er nicht auf. Und schon spürte er, wie einige Magier sich auf ihn konzentrierten. Kolviss war nicht mehr in der Lage, seine Sinne gezielt einzusetzen. Er hatte verloren, doch er wehrte sich gegen diese bittere Erkenntnis. In seiner Verzweiflung begann er Traumbilder aufzubauen. Er suchte sein Heil in der Flucht nach vorn. Die betäubten Pthorer im Korridor vor den Verliesen kamen zu sich. Kolviss sah vier Roboter in ihren Erinnerungen, die die Gefangenen entführt hatten. Vier Roboter, von deren Existenz in der FESTUNG kein Magier etwas wußte – der blinde Fleck, vier blinde Flecke. Der Schock ließ Kolviss seine Abschirmung vernachlässigen. Wenig später trafen die ersten Magier bei ihm ein. »Kolviss! Du hast uns erneut getäuscht! Rechtfertige dich!« Es gab nichts mehr, mit dem er sich hätte rechtfertigen können. Kolviss resignierte und beichtete. Es war zu spät für die anderen Magier, um aus dem, was sie nun
erfuhren, noch einen praktischen Nutzen zu ziehen. Die Widerständler und ihre Befreier waren schon zu weit entfernt. Der ganze Aufwand, den die Magier inszenierten, um die Umgebung der FESTUNG nach ihnen absuchen zu lassen, in der Hoffnung, sie könnten sich im Gefühl ihrer Unaufspürbarkeit irgendwo in der Nähe versteckt halten, nützte nichts. Erst als der Morgen graute, wurde die Suche abgebrochen. Der Traummagier aber sah sich vor ein Gericht der anderen Magier gestellt. Ihm galten ihr ganzer Zorn und ihre ganze Verachtung. Er hatte mit hohem Einsatz gespielt und alles verloren. Daß er dennoch eine Chance zur Wiedergutmachung erhielt, verdankte er einzig und allein dem Umstand, daß die Magier überall auf Pthor durch Boten und, wo dies möglich war, durch direkte Nachrichtenübermittlung hatten verkünden lassen, daß die Verräter öffentlich hingerichtet werden sollten. Inzwischen hatte sich diese Ankündigung als voreilig und politisch falsch herausgestellt. Trotz ihrer negativen Aufladung waren die Magier keine Mörder. Die Ankündigung hatte in erster Linie der Abschreckung dienen sollen. Es war nicht abzusehen, wie Sigurd auf den Tod seines Sohnes reagieren würde, und außerdem hatten sich die Magier in den vergangenen Tagen und Wochen auch ohne solch drakonische Maßnahmen durchsetzen können. Doch nun warteten die Pthorer auf die Hinrichtung, die meisten von ihnen mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen. Kolviss wurde die Aufgabe zuteil, sie hinzuhalten und zu beruhigen. Niemand sollte von der Flucht der Gefangenen erfahren. Mit all seiner magischen Kraft sollte Kolviss zunächst die angereisten Pthorer in und vor den Toren der FESTUNG davon »überzeugen«, daß die Gefangenen noch in ihren Kerkern saßen und die Hinrichtung aufgeschoben würde, bis man ihnen einen fairen Prozeß gemacht hatte. Dabei sollte er die Möglichkeit andeuten, daß das Todesurteil durch einen Gnadenakt der
Odinssöhne rückgängig gemacht würde. Gleichzeitig mußte die Suche nach den Entkommenen wieder aufgenommen und intensiviert werden. Die Folgen ihres plötzlichen Auftauchens außerhalb der FESTUNG waren nicht auszudenken … 8. Das Wache Auge – Triumph und Ernüchterung Alle Versuche Sator Synks, die Roboter aus ihrer Starre zu reißen, waren vergeblich gewesen. Nun, als Synk und Leenia in der Zentralkuppel bange auf neue Nachrichten aus der FESTUNG warteten, lagen sie noch so im Nebengebäude wie am Tag zuvor. Keiner von ihnen hatte sich gerührt. Synk schwitzte. Leenia saß kreidebleich in einem Sessel und trommelte nervös mit den Fingern auf die Lehne. Dann endlich kam die Stimme aus den Funkempfängern, die die Aussetzung der Hinrichtung bekanntgab und verkündete, daß den Gefangenen der Prozeß gemacht würde, wobei ein Gnadenakt nicht ausgeschlossen wäre. Es folgte eine Warnung an alle Pthorer, die mit den in der FESTUNG Einsitzenden sympathisierten. Dann schwiegen die Lautsprecher wieder. Synk und Leenia sahen sich an. Sie wußten nicht, was sie von der Ankündigung zu halten hatten. Gab es Anlaß zu großen Hoffnungen? »Sie planen auf lange Sicht«, sagte Leenia. »Eine Begnadigung könnte die aufgebrachten Pthorer versöhnen. Den Magiern kann an einer aufsässigen Bevölkerung, die sie haßt, nicht gelegen sein. Wenn sie die Pthorer auf ihre Seite bringen können, haben sie gewonnen.« »Niemals!« widersprach Synk. »Einige werden sich täuschen lassen, doch der Großteil der Atlanter will frei sein!«
Wieder schwiegen beide. Synk hatte bis zuletzt gehofft, daß die vier verschwundenen Roboter bei oder in der FESTUNG waren, um zu Koys, Kolphyrs und Fenrirs Gunsten einzugreifen, wie Leenia es angedeutet hatte. Aber die Gefährten befanden sich immer noch als Gefangene in der Gewalt der Magier! Synk konnte keine Freude über die neue Nachricht empfinden. Er glaubte nicht an eine Begnadigung. Für ihn waren die Freunde schon so gut wie tot. Und sie waren mehr als nur Freunde gewesen. Sie hatten die gleichen Ziele gehabt wie er und Leenia und bis zum bitteren Ende dafür gekämpft. Das Wissen darum, daß es irgendwo auf Pthor noch jemanden gegeben hatte, der den Magiern trotzte, hatte Synk seine Lage besser ertragen lassen. Nun hatte er diese anderen abgeschrieben. Er war allein mit Leenia – allein gegen eine ganze Welt. Wie würde die »Begnadigung« aussehen? Lebenslängliche Verbannung auf einen der Planeten dieses Reviers der Schwarzen Galaxis? Synk und Leenia, zwei Verlorene, die keine Heimat mehr hatten. Dieses Pthor war nicht mehr ihr Pthor. Jeder Baum, jeder Strauch, ja selbst die Luft schien verhext. Trauer und Verbitterung. Angst? Nein, Synk fürchtete sich nicht mehr. Er konnte nicht einmal mehr Zorn empfinden. Er sprang nicht schreiend auf, um sich in einem Zerstörungsrausch Luft zu machen. »Vielleicht sollten wir uns stellen«, sagte er leise, ohne Leenia direkt anzusehen. »Vielleicht wäre es besser so. Vielleicht sollten wir uns hier und jetzt umbringen, bevor auch wir ihnen in die Hände fallen.« »Du weißt nicht mehr, was du redest, Sator.« »So?« Der Orxeyaner blickte Leenia in die Augen. »Mein Leben war Kampf. Aber ich habe gelernt, den Realitäten ins Auge zu sehen. Es ist aus. Wir haben versagt. Was sollen wir beide noch tun
können, wenn Stärkere als wir gescheitert sind. Vielleicht haben die Robotbürger eher als wir erkannt, wie sinnlos blindes Anrennen gegen Kräfte ist, die wir nicht einmal begreifen können, und darum dafür gesorgt, daß die Roboter ausfielen und wir hier festsitzen.« »Sator, sie sind nicht tot! Sie leben und solange sie leben, gibt es Hoffnung! Komm zu dir! Werde wieder der Alte! Selbst wenn es zum Schlimmsten kommt, dürfen wir nicht aufgeben. Ich werde weiterkämpfen, und wenn es sein muß, allein!« Sie verließ die Kuppel und ließ ihn mit seinen Gedanken allein. Er brauchte Zeit, um wieder zu sich zu finden. Leenia betrat das Nebengebäude und sah zu ihrem Erstaunen, daß die Roboter wieder schwebten. Diglfonk kam ihrer Frage zuvor. »Auch wir haben die Nachricht empfangen, Leenia. Sie ist falsch. Eure Freunde befinden sich in Freiheit. Sie sind auf dem Weg hierher.« Es dauerte eine Weile, bis Leenia begriff, daß Diglfonk keine makabren Scherze machte. Also hatte sie sich doch nicht getäuscht. »Mit den vier von euch, die verschwanden, um sie zu befreien? Wußtet ihr, was geschehen würde?« Diglfonk erklärte ihr, worin der ursprüngliche Auftrag der »Deserteure« bestanden hatte, und daß die Zurückgebliebenen aus Wolterhaven die Anweisung bekommen hatten, passiv zu bleiben und Synk unter allen Umständen daran zu hindern, sich selbst zur FESTUNG zu begeben, wo er die dort befindlichen Robotdiener nur behindert hätte, falls es ihm überhaupt gelungen wäre, sie als freier Mann zu erreichen. »Deshalb das Theater«, sagte Leenia langsam. Sie mußte lächeln. »Also haben die Anweisungen aus Wolterhaven für euch höhere Präferenz als Sator Synks Befehle.« »In Fällen wie diesem, ja.« Leenia atmete auf. Sie ließ sich von Diglfonk genau erklären, worin die neuen Fähigkeiten der Robot‐Guerillas bestanden. Ihre letzten Zweifel schwanden. Die Aussetzung der Hinrichtung war
ein Trick der Magier, um ihr Gesicht nicht zu verlieren, wobei offenblieb, ob sie es mit dem fairen Prozeß wirklich ernst meinten. Alles paßte zusammen. Viele Fragen, die sie sich während der letzten Tage gestellt hatte, wurden beantwortet. »Ich glaube, du solltest jetzt zur Kuppel gehen, Diglfonk. Nur du allein kannst Sator aufmuntern. Wenn nötig, provoziere ihn. Er befindet sich in einem erbarmungswürdigen Zustand.« Lichter flackerten kurz an allen neun Robotern auf. Leenia hatte den Eindruck, als amüsierten sie sich über den Gemütszustand ihres »Herrn«. »Ich werde mein Möglichstes tun«, versprach Diglfonk und schwebte aus dem Gebäude heraus. Leenia wartete mit den anderen Robotern. Da sie wußte, daß sie mit den vieren, die mit Koy, Kolphyr und Fenrir hierher unterwegs waren, in ständiger Verbindung standen, ließ sie sich ununterbrochen informieren. Als sie hörte, daß die Ankunft unmittelbar bevorstand, trat sie auf den freien Platz vor dem Nebengebäude heraus und wartete dort. Vier helle Punkte erschienen am Himmel und gewannen schnell an Größe. Jetzt konnte Leenia die von den Robotern getragenen Gefährten erkennen. Eine Minute später standen sie vor ihr. Sie waren bei Bewußtsein, standen aber noch unter Schockeinwirkung. Fenrir sprang sie vor Freude an und beleckte sie. Koy wirkte verstört, Kolphyr strahlte eine seltsame Ruhe aus. Nur Bördo, den Leenia nun zum erstenmal sah, schien die neue Situation sofort voll erfaßt zu haben, und blickte sich mit leuchtenden Augen um. Die vier Robot‐Guerillas begaben sich zu ihren Artgenossen. Leenia suchte nach Worten. Als sie keine fand, schüttelte sie den Befreiten nur stumm die Hände. Sie wollte zur Kuppel, um Synk zu holen. Es war nicht mehr nötig. Sie hörte sein Geschrei. Diglfonk tauchte zwischen zwei Gebäuden auf und flog im Zickzack an ihr vorbei. Nun erschien auch Synk, mit Steinen bewaffnet, sah die Gefährten und erstarrte.
»Der verdammte Kerl hat also nicht gelogen!« entfuhr es ihm. »Aber wie ist es möglich, daß ihr …? Ich meine, wie habt ihr …?« Leenia lächelte. Diglfonk hatte ihre Aufforderung also wörtlich genommen und alles mögliche getan, um Synk aus seiner Depression zu reißen. Nur informiert hatte er ihn nicht. Die Roboter mochten ihre Fehler haben, dachte sie amüsiert. Von Psychologie verstanden sie allerdings eine Menge, wie es schien. * Sator Synk war wieder in seinem Element. Nichts an ihm erinnerte noch an den apathischen, gebrochenen Mann, der in der Kuppel gesessen hatte. Nachdem er nun gehört hatte, wozu die Roboter in der Lage waren, war er schon wieder Feuer und Flamme für neue Unternehmungen. Er ging aufgeregt im Quartier auf und ab und schmiedete neue Pläne. Den »Deserteuren« war verziehen. Selbst Diglfonk durfte sich wieder in seine Nähe wagen. Für Synk zählte nur, daß man jetzt in der Lage war, den Magiern beizukommen, und sei es auch nur durch Nadelstiche, die er ihnen in einem regelrechten Guerillakrieg versetzen wollte. Überraschend zuschlagen, sich wieder zurückziehen, und den nächsten Schlag vorbereiten. Synk war so sehr von der Idee besessen, daß er Diglfonks Versuche, ihn zum Schweigen zu bringen, erst registrierte, als der Roboter an ihm vorbeischwenkte und sich vor ihn stellte. »Was soll das?« brüllte Synk. »Geh mir aus dem Weg, wenn ich denke!« »Ich habe eine Nachricht für dich, Sator Synk«, plärrte Diglfonk ungerührt. »So!« Synk kniff die Augen zusammen. »Wohl von deinem Herrn Soltzamen?« »Vom Herrn Soltzamen«, bestätigte Diglfonk.
Synk schien nichts Gutes zu ahnen. Er warf Leenia einen gequälten Blick zu, seufzte inbrünstig und sagte: »Also los! Was hat Soltzamen mir zu sagen?« »Die Robotbürger von Wolterhaven werden auf keinen Fall aktiv in den Kampf um die Macht auf Pthor eingreifen. Sie werden nicht offen gegen die Magier Partei ergreifen und nicht zulassen, daß wir als ihre ausführenden Organe die Magier offen bekämpfen. Sie dürfen sich nicht unnötig in Gefahr begeben, denn sie sind einer der Faktoren, die das Überleben auf Pthor überhaupt erst möglich machen. Wenn sie sich unnötig in Gefahr begeben, wird auf Pthor bald niemand mehr existieren, der überhaupt ein Interesse daran haben könnte, für irgend etwas zu kämpfen.« Synk starrte Diglfonk mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an. Er schluckte ein paarmal, bevor er fähig war, Worte hervorzubringen. »Sag das noch einmal«, befahl er dem Robotdiener. Diglfonk wiederholte die Botschaft. »Aber das kann nicht Soltzamens Ernst sein!« donnerte der Orxeyaner dann los. »Ich glaube dir kein Wort, Diglfonk. Ich glaube vielmehr, daß ihr feige geworden seid und nur einen Vorwand sucht, um euch drücken zu können. Geht mir aus den Augen, alle!« Die Roboter gehorchten. Sator Synk war mit Leenia und den Geretteten allein. »Du weißt genau, daß sie nicht feige sind, Sator«, sagte Leenia. »Vier von ihnen begaben sich in größte Gefahr, um unsere Freunde zu befreien. Ich glaube ihnen, und ich glaube auch, daß die Robotbürger ihre Gründe für ihre angekündigte Zurückhaltung haben.« Koy, der sich inzwischen erholt und sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte, pflichtete ihr bei. Doch Worte konnten Sator Synk nun nicht trösten. Er ließ sich in seinen Sessel fallen und hatte die Fäuste geballt. Finster blickte er vor sich hin. Er war nicht mehr ansprechbar.
Gerade noch hatte es so ausgesehen, als sei die Zeit des Stillhaltens nun endlich vorbei, als hätte er endlich eine Möglichkeit gefunden, den unbesiegbar scheinenden Magiern etwas entgegenzusetzen. Und nun dies! Im stillen aber ahnte er, daß mehr dahinterstecken mußte als Feigheit. Wollten die Robotbürger ihn schikanieren? Dazu war die Lage viel zu ernst. Was auf Pthor vorging, betraf auch sie. Ihnen konnte ebensowenig wie ihm daran gelegen sein, daß die Magier herrschten. Und die Aktion der vier Guerillas in der FESTUNG bewies, daß die Robotbürger keine Komplizen der Magier waren. Ein Wort ging Synk nicht mehr aus dem Kopf: unnötig. Was sollte das heißen, daß die Robotbürger sich nicht »unnötig« in Gefahr bringen durften? Unternahmen sie vielleicht doch etwas, von dem er nichts wissen sollte? Und wieso waren die Robotbürger so wichtig für das Überleben auf Pthor? Was sollte das überhaupt heißen – »Überleben auf Pthor«? Synk wurde aus seinen finsteren Gedanken gerissen, als Kolphyr etwas rief. Synk hatte es nicht verstanden, aber er sah nun, daß Koy, der Jüngling und Leenia zu dem Bildschirm eilten, vor dem der Bera stand. Leenia stieß einen Laut der Überraschung aus. Widerwillig stand Synk auf und begab sich zu ihnen. Und als er das Raumschiff sah, das auf dem Schirm stand, vergaß er Wolterhaven, die Robotbürger und seine aufsässigen Guerillas. Ein fremdes Raumschiff. Es näherte sich dem Dimensionsfahrstuhl aus dem Weltraum, und es hatte ganz den Anschein, als käme es heimlich heran. »Wer ist das?« fragte Koy leise, fast andächtig. »Solch ein Schiff habe ich noch nie im Leben gesehen.« Niemand gab eine Antwort. Gebannt verfolgten die Gefährten, wie sich das relativ kleine Schiff vorsichtig näher an Pthor heranschob.
ENDE Weiter geht es in Atlan Band 457 von König von Atlantis mit: Der Arkonide und der Wasserrichter von H. G. Francis