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Paul Zsolnay Verlag
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LEONARDO SCIASCIA
Man schläft bei offenen Türen
PAUL ZSOLNAY VERLAG WIEN • DARMSTADT 3
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Paul Zsolnay Verlag
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LEONARDO SCIASCIA
Man schläft bei offenen Türen
PAUL ZSOLNAY VERLAG WIEN • DARMSTADT 3
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vertrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. © Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m. b. H., Wien/Darmstadt 1989 Titel der italienischen Ausgaben: 1912 + l © 1986 Adelphi Edizioni S.p.A., Milano; Porte aperte © 1987 Adelphi Edizioni S.p.A., Milano; La scomparsa di Majorana © 1975 Giulio Einaudi editore S.p.A., Torino; Leonardo Sciascias Der Fall Majorana ist im Jahre 1978 bereits einmal im Verlag Seewald, Stuttgart, auf deutsch erschienen. Umschlag und Einband: Buchholz/Hinsch/Hensinger unter Verwendung eines Bildes von Moritz Baumgartl Satz: Schatzl's DTP-Wien Druck und Bindung: May & Co., Darmstadt Printed in Germany ISBN 3-552-04109-5 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sciascia, Leonardo: Man schläft bei offenen Türen / Leonardo Sciascia. – Wien; Darmstadt: Zsolnay, 1989 ISBN 3-552-04109-5
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By maoi 2003 2003/III-1.0 NICHT ZUM VERKAUF BESTIMMT.
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Man schläft bei offenen Türen
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Inhalt:
1912 + 1 Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz 9
Man schläft bei offenen Türen Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz 103
Der Fall Majorana Aus dem Italienischen von Ruth Wright und Ingeborg Brandt 201
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1912 + 1
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- Andiamo?
- Andiamo pure. - Torniamo indietro? - Torniamo pure. Aldo Palazzeschi, »La passeggiata«
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Ich weiß nicht, ob während des ganzen Jahres 1913, aber zumindest einmal schrieb D'Annunzio, als er eines seiner Bücher signierte: »1912 + l«: weil er selber abergläubisch war, weil die Person, der er es widmete, abergläubisch war, oder beides. In Norditalien gilt die 13 als Unglückszahl, wie im Süden die 17: Ein Widerspruch, der unaufgelöst ist und seinerzeit so lebhaft war, daß die Männer des Südens die 13 zu ihrer Glückszahl wählten und als Talisman trugen: Ich erinnere mich an einen, aus Gold in einen Kreis geschmiedet, der aus der Westentasche über dem imponierenden Bauch seines glücklichen Besitzers baumelte. Als Abruzzeser, der für den Norden optiert und triumphierend die Seiten gewechselt hatte, wollte D'Annunzio das Jahr 1913 folglich mit geschlossenen Augen und eiligst durchqueren. Doch trotz des Nordwindes, der in Italien unablässig wehte, und der Schulden, die ihn ins Exil nach Arcachon gebracht hatten, war 1913 ein guter Jahrgang für ihn: dem sich im Zeichen des gleichen und wachsen11
den Glücks weitere anschließen sollten, bis hin zum Aufbruch des Faschismus. In jenem Jahr wurde ihm das Exil durch einen Erfolg vergoldet, der in Frankreich und der Welt einen Höhepunkt bildete. Er dauerte bereits an die zehn Jahre, doch in jenem Jahr – in dem er als französischer Autor, der ins Italienische übersetzt wurde, anerkannt und gesalbt wurde – stand er auf dem Gipfel. Bereits acht Jahre zuvor hatte Leon Blum, der einer Aufführung der Gioconda im Oeuvre beiwohnte, am Ende des ersten Aktes das Zeichen für einen langen Applaus gegeben. In der Pause gab es einen bissigen Wortwechsel zwischen Blum und Renard: »Ihr seht ziemlich verärgert aus«, sagte Blum. »Ja«, antwortete Renard, »wegen Eurer Begeisterung.« Ich glaube, meine frühere Abneigung gegen D'Annunzio und mein Unbehagen, wenn ich ihn heute wieder lese, haben ihren hauptsächlichen Grund in diesem Satz von Renard. Unerträglicher als D'Annunzio ist der (heute okkulte) D'Annunzio-Kult; unerträglich die D'Annunzianer: auch diejenigen, die ihn niemals gelesen haben, die ihn nicht lesen werden, und die über ihn – sein Leben und seinen Faschismus – eben soviel wissen, daß sie meinen, weit davon entfernt zu sein. Der Wahrheit zuliebe muß man sagen, daß die Begeisterung des Sozialisten Blum im Oeuvre in jenem fernen 1905 auch als ein Zeichen für die unvorhersehbaren Negationen des Sozialismus, der Sozialismen und der Sozialisten, dem so viele weitere folgen sollten, betrachtet werden kann. Man kann sich die Begeisterung Blums für den französischen D'Annunzio und für das Französisch D'Annunzios leicht vorstellen. Ich beschränke mich 12
auf Blum, um eine Vorstellung vom Ruhm D'Annunzios in jener Zeit und in jenem Jahr zu vermitteln. Und man konnte in Italien als Sozialist gegen den Krieg in Libyen sein: freilich um den Preis, sich ruchlos zu fühlen, wie ausgeschlossen von einem Fest, bei dem das Wehen der Fahnen und des Gefieders der Bersaglieri, das vibrierende Blech der Kapellen, der Glanz des vaterländischen und risorgimentalen Schnickschnack. Übertönt wurde von den Canzoni della gesta d'oltremare*, die D'Annunzio aus Arcachon an den Corriere della Sera schickte. Generäle und Admirale, Soldaten und Matrosen, die am Strand von Libyen gefallen waren, boten sich dem Gesang des Poeten an, und der Poet bot seinen Gesang der »auserwählten Nation«, den Italienern, an. Pascoli, der sanfte Pascoli, hatte den Willkommensgruß ausgesprochen: »die große Proletarierin ist aufgebrochen« zum »vierten Ufer«, Richtung Libyen, Richtung Tripolis. Und vielleicht gab es auch eine gewisse Verwechslung zwischen dem Tripolis in Libyen und dem Tripolis in Syrien; eine Verwechslung, die auf der Tatsache beruhte, daß bis zu diesem Augenblick der Name Tripolis im Gedächtnis der Italiener nur wegen der rührenden Liebesgeschichte existierte, die ein anderer Dichter, der keine Zeit gefunden hatte, seine überseeischen Heldentaten zu besingen, in Versen erzählt hatte, die für Menschen in meinem Alter stets unvergeßlich bleiben (und einer dieser Verse läßt mich nicht los, weil er mit der Geschichte zu tun hat, die ich hier und jetzt erzählen möchte: »Contessa, was ist das Leben?«): Die Geschichte der tapferen Liebe des * Gesänge der überseeischen Heldentaten 13
provenzalischen Troubadours Jaufré Rudel für Melisenda, die Komtesse von Tripolis. Von Tripolis in Syrien. Deshalb vielleicht das Liedchen, fast ein hymnischer Marsch, der sich zum königlichen Marsch gesellte und von Tripolis in Libyen als »dem schönen Land der Liebe« schwärmte. Eine Liebe zu einem Land, das nun nicht mehr fern war: D'Annunzio schmeckte seine Würze, atmete seine Düfte, erblickte Sand und Palmen, Morgenröte und Abendrot. Viertes Buch der Laudi: Merope, zehn Gesänge, und einer davon für Elena von Frankreich, Herzogin von Aosta, von dem die Gebrüder Treves im Jahre darauf (genau gesagt am Donnerstag, den 16. Oktober 1913: das Datum muß man sich merken) eine Prachtausgabe der »Reisen in Afrika« publizieren sollte. Das »süße Frankreich«, »ein goldenes Antlitz wie die Lilie«, die Reisen nach Afrika, alles bereiste D'Annunzio prunkvoll im gedichteten Wort, und nicht an Bord eines Schiffes, zwischen Damen und Windhunden im Exil von Arcachon. Er sang und sang: »Das wilde Keuchen, die triefende Wange, die lange Kraftanstrengung mit gesenktem Kopf, die Hände in den Speichen, die Schultern, die die Kiste aufheben und forttragen, der Schießbefehl, das Ziel, die erste Salve in die Feindesmasse, die Erde wie rasiert, der heisere Schrei aus trockenen Kehlen, jedes Mal, wenn eine Reihe fällt, die heitere Glut des Spiels, oh, Ameglio, und das Eisen ist so kühl …« Es sind Verse, wie man weiß, aber ich setze sie als Prosa, um ihre Unbesonnenheit und Grausamkeit noch deutlicher zu machen, denn Prosa verzeiht nicht. In Palermo, wo General Giovanni Ameglio zur Welt kam (er wurde, als der Krieg zu Ende war und die Guerilla begann, zum Gou14
verneur der Cyrenaika ernannt), sollte sich das vom Dichter gefeierte »kühle Eisen« in einem prächtigen und praktischen Geschenk materialisieren: Ein zweischneidiges Schwert, silbern, der Goldknauf verziert mit Schlachtszenen, weiblichen Figuren und Emblemen von der Hand des Palermitaner Bildhauers Mario Rutelli: der, von dem die Wassernymphen am Brunnen der Exedra stammen. Der übertrieben verzierte Knauf trug die Inschrift: »Für Giovanni Ameglio, seine Heimatstadt Palermo MCMXIII«. In der Cyrenaika stichelte die Guerilla. Kriegsgerichte tagten ausdauernd, um die Rebellen abzuurteilen und sie dann den Hinrichtungskommandos zu übergeben. Einige Bilder davon erreichten die Italiener. Skizzen, Fotografien. Mit welchen Gefühlen hat man sich damals die Fotografie von einem Araber, der zwischen den Dünen erschossen wird, angesehen, die ich jetzt vor Augen habe? Das Kommando ist in zwei Reihen angetreten, der Offizier will soeben den Feuerbefehl geben, der Verurteilte scheint weit weg vom Peloton zu stehen, wie verloren zwischen den Wellungen der Düne. August 1913. 1912 + 1. Am 26. Oktober des Jahres 1913 wird das Parlament des Königreichs Italien gewählt. Das erste Mal nach allgemeinem Wahlrecht, oder fast. Aus den 3,200.000 Wählern der vorangegangenen Wahl werden 8,500.000. Ein großer Fortschritt. Und wenn es – ständige Befürchtung – ein Schritt ins Dunkel wäre? Man versteht nicht, warum der gerissene Giolitti eine allgemeine Wahl durchführen läßt, und die Zeitungen und die besorgten Bürger beschäftigen sich 15
damit ausführlich. Eine défaillance, ein Irrtum von ihm. Der Wahltag verläuft im großen und ganzen ruhig: kaum Messerstechereien, kaum Schlägereien, ein paar Revolverschüsse. In Parma wird der Gewerkschafter Filippo Corridoni festgenommen, ein agitierter Agitator, aber Leute meines Alters kennen ihn als Mann der Ordnung, wie die Faschisten ihn in die Klassenzimmer hängten: freundlich im Ausdruck, gut gekämmt, gestärkter Hemdkragen, Krawatte. Der Ort, aus dem er stammte, Pausula in der Provinz Macerata, nahm seinen Namen an – Corridonia. Aber Giolitti* hatte richtig gesehen: Die große Angst, die 5,300.000 neuen Wähler würden sich der sozialistischen Partei zuwenden, war grundlos gewesen. Die Sozialisten kommen von 58 auf 78 Abgeordnete. Die gesamte Linke – dem Namen nach – hat 165. Die Mehrheit des alten Giolitti, der gesagt hatte, er sei müde und denke an Rücktritt, zählt statt dessen 348. Lediglich in Bologna kann man von einem »bitteren« Erfolg der Sozialisten sprechen. Im Carlino tröstet sich Bergeret (Marroni), indem er schreibt: »Die Erfahrung lehrt uns: wenn eine Monarchie einen guten Polizeiminister braucht, der bereitwillig auf das Volk schießen läßt, dann findet sie ihn immer. Sie muß ihn nur in den Reihen jener Juristen suchen, die als Revolutionäre ins Parlament einziehen. In zehn Jahren …« Eine Prophezeiung, die wohl so gemeint war, daß es noch etwas länger dauern würde. Sie sollte sich jedoch pünktlich bewahrheiten. *
Giovanni Federico Giolitti, 1842-1928, mehrfach Ministerpräsident vor Mussolini.
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italienischer
Politiker,
Aber woran lag es, daß die trostlosen Voraussagen, die Sozialisten würden dank des allgemeinen Wahlrechts einen stürmischen Vormarsch erleben, nicht eintrafen? Der Grund dafür lag in der absonderlichen (absonderlich im Sinne von Sekretion) und geheimnisvollen Weisheit der Italiener, die in einem Sprichwort aus alten Schultagen weiterlebt, daß nämlich das erprobte Alte stets besser sei als das zu erprobende Neue. Diese Weisheit verkörperte sich in einem Ehrenmann aus der Provinz, einem Strafverteidiger, der in den Künsten der Landwirtschaft und der Jagd dilletierte. Er war ein geheimer Kammerherr Seiner Heiligkeit (cum exercitium) und hatte als Leiter einer katholischen Wählerinitiative einen aus sieben Punkten bestehenden Pakt ausgetüftelt, der allen Politikern einer gemäßigten Politik, die ihm zustimmten, die Unterstützung der Katholiken zusicherte. Wie es scheint, akzeptierten 330 Kandidaten den Pakt und wie es scheint, wurden 228 von ihnen gewählt: eine hübsche Anzahl. Der »Gentiloni-Pakt«: Von Graf Vincenzo Ottorino Gentiloni. Er wurde l865 in der Mark von Ancona geboren und war in diesem Jahr 1913 mithin 48 Jahre alt, die man ihm nicht ansah. Man könnte auch sagen: Gut genossene Jahre, den Abbildungen nach zu urteilen. Dennoch starb er nur drei Jahre nach dem rauschenden Erfolg seines Paktes. Vor diesem Triumph wußte man nichts über Graf Gentiloni: Sein Name war so unbekannt, daß man glaubte, er werde nach dem von ihm ersonnenen Pakt so genannt. Aber sobald das Wahlergebnis bekannt wurde, fragten sich alle, wer der umsichtige und geheimnisvolle Knüpfer jenes Bündnisses sei, und vor 17
allem: Wie lautet sein Taufname? »Verehrte Leserinnen« stellen die Frage der Italienischen Illustrierten. Und wenn sogar »die verehrten Leserinnen« im Hinblick auf den Grafen Neugier zeigten, kann man sich vorstellen, daß ganz Italien vor Neugier platzte. Die Illustrierte antwortet nach eifrigen Recherchen, daß Gentiloni Ottorino heiße. Sie ignoriert den ersten Namen oder verschweigt ihn, um in der Vorstellung zu schwelgen, Ottorino wäre die Verkleinerungsform von Otto, denn Otto bedeutete Bismarck, und Gentiloni war in der soeben abgeschlossenen Wahlangelegenheit »eine Art Bismarck« gewesen: kleiner, begreiflicherweise, und in kleinerer Sache: aber mit unbestreitbaren Fähigkeiten. Vincenzo Ottorino: das erinnert an jenes Bonmot von Antonio Baldini über den Dichter Aleardo Aleardi, der mit Rufnamen auch nicht Aleardo hieß, sondern Gaetano: »Gefühle, die wirklich nach Aleardo klingen, sind in Verse geflossen, die nach Gaetano klingen, und echt gaetanische Gefühle in echt aleardische Verse.« So verhielt Graf Gentiloni sich eines Tages wie Vincenzo: Er gewährte einer Zeitung ein Interview. Die Illustrierte jammert, klagt und betrauert: »Die Faszination des Geheimnisses ist dahin; der Zauber ist entschwunden!« Aber da ich Vincenzo lieber mag als Ottorino, finde ich, daß er sein Werk krönte, als er sich wie Vincenzo aufführte und enthüllte, was zu enthüllen war. Er hatte nicht, wie die Italiener glauben wollten, eine finstere, bedrohliche und machtvolle Freimaurerloge gegründet: Er hatte die Politik der italienischen Katholiken gegründet, die später teilweise, aber nur teilweise, auch einen Parteinamen erhielt: Die Volkspartei von Don Luigi Sturzo und die Democrazia Cristiana von De 18
Gasperi, Fanfani und Moro. Ich sage »teilweise«, denn der Rest vermischt und löst sich in all dem, was in Italien Politik ist – nicht ausgesprochene, aber gemachte Politik: Mit ein paar Rückständen, ein paar Schuppen oder Scherben aus der Widerstandszeit. Während der Gentiloni-Pakt triumphierte, starb in Rom Kardinal Mariano Rampolla von Tindaro. Als Staatssekretär Leos XIII. war er an der Reihe, der Nachfolger des Papstes zu werden. Als jedoch bei der ersten Stimmabgabe im Konklave auf seinen Namen 29 Stimmen entfielen, war der Kardinal-Erzbischof von Wien gezwungen, das Veto des österreichischen Kaisers bekanntzugeben. Das konnte man nicht auf sich sitzen lassen. Tatsächlich erhielt Rampolla beim folgenden Wahlgang 30 Stimmen. Aber der Aufstand dauerte nur einen Moment lang: Gewählt wurde Kardinal Sarto als Pius X. Mehr als das Veto des Kaisers vielleicht, der Rampollas zählebige Freundschaft mit Frankreich mißbilligte, hatte sein hartnäckiger Charakter, sein renitentes »non expedit«, das Konklave zu einer anderen Entscheidung bewogen. Die Zeiten des »non expedit« waren vorbei. (Panzini, Wörterbuch der Moderne: lateinische Redewendung, die bedeutet, es ist nicht hilfreich, es ist nicht nötig, das heißt es ist verboten. Tatsächlich ist »non expedit« die rituelle Formulierung der apostolischen Kanzlei, wenn irgendeine beantragte Sache nicht gewährt werden darf. In der politischen Sprache bedeutet dieses »non expedit« in Italien bis zu dem Zeitpunkt das Verbot für alle Katholiken und Gläubigen, sich an politischen Wahlen zu beteiligen, da bereits eine Wahlbeteiligung die Anerkennung der Fakten mit einschloß, die zur Beseitigung der weltli19
chen Macht des Pontifex geführt hatten.) Es begann die lange Zeit des Ausgleichs, der Aussöhnungen, der Vereinbarungen: unter mehr oder weniger feierlichen Feierlichkeiten. Der Gentiloni-Pakt. Die LateranVerträge. Die Verabschiedung des Artikel sieben der Lateran-Verträge durch die verfassungsgebende Versammlung. Die Opferung Moros auf dem Altar der nationalen Einigkeit und Solidarität. Wie ein Lehrstück erscheint mir die Erinnerung an das einzige Mal, daß ich Giorgio La Pira* gesehen und gehört habe; in Messina vor 33 Jahren, bei der großen Antonello-Ausstellung.** La Pira erzählte – nicht mir, sondern seinen beiden alten Freunden, Vann'Antò und Pugliatti, die mich mitgenommen hatten – über den Stadtrat von Florenz und das Parlament, über das, was er beabsichtigte und manchmal sogar erreichte: den Ausgleich. »Wir müssen uns einigen«, sagte er. Allesamt einigen. Er bewegte seine kleinen Hände, als wollte er sie körperlich modellieren: die Einigung. Ein knetbares, zuckersüßes Gemisch. Ich hatte ein Gefühl, als wäre mir schwindlig: Ich zog mich zurück, wie von einem Fenster, das ins Leere führt, und sah mir die Bilder Antonellos an, die überhaupt nicht einig zu sein schienen. Sie leuchteten kalt wie Diamant, allesamt; und diese Bilder, aus denen Skepsis und Ironie hervorblitzte … *
Linker Christdemokrat, Abgeordneter, Staatssekretär, Bürgermeister von Florenz 1951-57 und 1961-65. Suchte Ausgleich mit den Kommunisten. ** Antonello da Messina, 1430-79, malte auch in Neapel, Venedig, Mailand.
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Der Text des Gentiloni-Paktes ist äußerst knapp und frei von gebieterischen oder feierlichen Tönen: leise, bescheiden. Nur wo er die Ehescheidung berührt, wird er entschieden und unnachgiebig: »absolute Opposition gegen die Scheidung«. Ein Pakt, mit dem alle einverstanden sein konnten, sogar die emsigsten Befürworter der Scheidung. Sie konnten sich bequem mit der Feststellung begnügen, daß die Italiener für die Scheidung noch nicht »reif« seien; und das mit Zustimmung des größten Teils der »Unreifen«. Dieser Satz von der »Unreife« der Italiener, gewisse Freiheiten – und im Endeffekt die Freiheit – zu genießen, wird zugleich unterhaltsam und schmerzlich, wenn er von den Gipfeln, wo er formuliert wird, zur Basis herabsteigt, wo er breite Zustimmung findet. Im Zug, im Bus, in den Vereinslokalen, in den Wartesälen – jedes Gespräch über die Freiheiten und über die Freiheit wird mit der melancholischen Feststellung besiegelt, »daß wir noch nicht reif dafür sind«. Aber man hat wenigstens die Reife des Bewußtseins, unreif zu sein: und davon kann man auch verfaulen. Was in den sieben Punkten des Gentiloni-Paktes aus dem Allgemeinen an Essentiellem hervorsticht, ist folgendes: »Opposition gegen jeden Gesetzesvorschlag, der von Haß gegen religiöse Vereinigungen getragen ist und deshalb geeignet wäre, den Religionsfrieden der Nation zu stören«; »es dürfen keine Bedingungen geschaffen werden, die die Einrichtungen des privaten Erziehungssystems behindern oder diskreditieren«; »das Recht des Familienvaters auf eine gründliche religiöse Unterweisung seiner Kinder in den öffentlichen Schulen ist durch juristische Maßnahmen und prakti21
sehe Garantien abzusichern«; »Widerstand gegen alle Versuche, die Einheit der Familie zu schwächen, und daher absolute Opposition gegen die Scheidung.« Willensbekundungen, denen die faschistische Regierung später mit den Lateranverträgen weitgehend zustimmte, ganz zu schweigen von der Überreichlichkeit, mit der anschließend die Regierungen der wiederhergestellten Demokratie zustimmten. Im Mittelpunkt des Denkens des Grafen Gentiloni und der katholischen Wählervereinigung und an der Spitze ihrer Besorgnisse stand also die Familie, die Einheit der Familie, und so ist der Kriminalfall, der sich nun ereignet, ganz im Sinne des Gentiloni-Paktes, wenn man bedenkt, was er in sich vereinte und verbarg, und weshalb ich ihn heute als zweideutig und beispielhaft betrachte; beispielhaft zweideutig und zweideutig beispielhaft. Er ereignet sich in San Remo, zwei Wochen nach den Wahlen, während die Zeitungen noch völlig damit beschäftigt sind, Gewinne und Verluste der Parteien zu berechnen, den Bestand der Mehrheit und den der Opposition zu inventarisieren; die Neugewählten zu biografieren und den Nichtwiedergewählten einen flüchtigen Gruß hinterherzuschicken; und, vor allem, den Scharfsinn des Grafen Gentiloni und die Konkretheit und Haltbarkeit seines politischen Schachzuges zu lobpreisen: auch wenn man ihn gerne etwas dunkler, geheimer und geheimnisvoller gehabt hätte. 8. November 1913: Gräfin Maria Tiepolo, Gemahlin des Hauptmanns Carlo Ferruccio Oggioni, tötet den Burschen ihres Gatten, den Bersagliere Quintilio Polimanti. 22
Frau Maria Oggioni, geborene Tiepolo: aber für die Zeitungen ist sie sofort die Gräfin Tiepolo. Sie wird zunächst als Nachfahrin der »Familie des berühmten Malers Tiepolo« gehandelt, aber bald gibt man den Dogen den Vorzug. »Aus der Familie der venezianischen Dogen.« Longanesi notiert fünfzig Jahre später: »Es gibt keinen Kommunisten, der nicht ein lustvolles Erschauern verspürt, wenn er neben einem Herzog sitzt.« Man kann sich ausmalen, wie es jemand erschauert, der über eine Gräfin Tiepolo reden und schreiben darf, statt über eine Frau Oggioni; mit dem zusätzlichen Schauer des Wissens, daß die Gräfin mit nur einem Schuß das Leben eines Bersagliere ausgelöscht hatte. Besagter Bersagliere, der aus Monsampietro Morico im Piceno gebürtig war, erfuhr übrigens in den Berichten seinerseits eine gewisse Veredelung: Von Beruf Schreiner, als welcher er vor seiner Einberufung zu den Waffen tätig war, wurde er zum Ebenisten befördert. »Ebenist, seit dem 17. Jahrhundert französische Bezeichnung für den Kunstschreiner, der Intarsien aus Ebenholz fertigt. In einigen Gegenden Italiens der Tischler, der aus Edelhölzern besondere Möbelstücke anfertigt und deshalb Ebenist genannt wird«, heißt es im Tommaseo. Ich habe in meiner Jugend häufig Schreinereien besucht und hätte diesen Beruf gerne erlernt, aber in keiner Schreinerei habe ich je ein Stück Ebenholz herumliegen gesehen. Wir hatten etliche Schreiner im Dorf, aber nur einen, der »Ebenist« genannt wurde, so daß ich glaubte, er habe seinen Namen wie einen Titel aufgrund einer Prüfung oder eines Examens verliehen bekommen, bei dem er als Meisterstück einen Gegenstand aus Ebenholz bearbeiten mußte, aus dem, wie mir 23
bekannt war, gewisse wertvolle Stöcke gemacht wurden. Für Quintilio Polimanti war es mithin ein Ehrentitel, den er mit seinem Tode erworben hatte. Ebenist. Am meisten machte die Nebenklage davon Gebrauch, denn er paßte besser zu diesem Fall und zur Identifizierung des Toten, als dieser etwas schwer zu erinnernde Name, der savinianisch* »avant la lettre« war: Quintilio Polimanti. Und er hatte einen Bruder namens Paris und einen Onkel Priamus. Die Tatsache, daß man ihn zu den Bersaglieri gezogen hatte, sprach für eine robuste und agile physische Konstitution, für einen umfangreichen Brustkorb, langen Atem und eine Neigung und Eignung zum Rennen. Die Bersaglieri müssen immer rennen, wenn sie nicht gerade Ausgang haben. Und »Im Sturm erobern«: laut Dienstvorschrift. Für schnelle Truppenbewegungen und Aktionen, die den Feind überrennen, schuf General Alessandro Lamarmora die Einheit: und vielleicht war es auch seine Idee, ihnen diesen Strauß aus schillernden, schlappenden Federn an den Hut zu stecken. Hahnenfedern, in voller Absicht: um dem italienischen Gockel eins draufzusetzen. Die Lokalreporter wurde auf Polimanti und Familie angesetzt, um Informationen zu sammeln, und tags drauf las man in den Zeitungen, daß Vater und Onkel noch in Monsampietro Morico lebten, als »Monopolkaufleute« (was, glaube ich, Tabakhändler bedeutete), während Quintilio und sein Bruder Paris, Schneider, nach Fermo umgezogen waren. Quintilio war dort besser bekannt als Fahrradfahrer und nicht so sehr als *Von: Alberto Savinio, Maler, Schriftsteller 1891-1952, hieß eigentlich und zuerst De Chirico. 24
und
Komponist,
Ebenist. Sympathisch, dem Frohsinn zugeneigt: Und wer ihn gekannt hatte, zeigte sich überrascht, daß er sich den »niederen Diensten eines Burschen« angepaßt haben sollte. Bursche. Aber mit literarischen Vorfahren, Ordinanz. Foscolo spielt damit: »ordina alla tua ordinanza …«. Und De Amicis berichtet in seiner Vita militare von seinem Leben mit zwei Ordinanzen: der eine mit aufrechten, gemessenen und schamhaften Gefühlen; gefühllos und verstiegen der andere. Er nennt ihn ein »Original«. Aber er war lediglich dumm, und man begreift nicht, warum De Amicis ihn behielt, denn er schadete ihm nur und entschädigte ihn nicht einmal durch Zuneigung. Die genaueste Definition verdanken wir Pater Alberto Guglielmotti und seinem Wörterbuch der Seefahrt und des Militärs (aus dem D'Annunzio einige Stichworte in wirklich wundervolle Verse setzte): »Ordinanz-Soldat oder -Matrose nennt man einen jeden Matrosen oder Soldaten, der vom gewöhnlichen Dienst auf dem Platz oder an Bord befreit und nur zum besonderen Dienst bei einem bestimmten Offizier abgestellt ist.« Sie ist so genau, daß sie sogar den Grund nennt, warum Quintilio Polimanti einen Dienst ausübte, der zwar nieder war, aber ihn vom Waffendienst auf dem Kasernenhof freihielt, der für einen Bersagliere besonders mühsam war. Seine Mitbürger, die sich über Polimantis Rolle als Bursche wunderten, hatten vielleicht nie Waffendienst getan oder hatten nur noch Erinnerungen an eine in Schönheit verklärte Jugend. Ein junger Bauer oder Handwerker, der zum Regiment kam, wie man damals sagte, bewarb sich nach ein paar 25
Tagen des Exerzierens, wenn er klug genug war und keine Neigung zu Dauermärschen bei Sonne und Regen hatte und nicht bei der kleinsten Dienstverfehlung ein paar Tage Bau mit Wasser und Brot riskieren mochte, liebend gerne um eine Stelle als Offiziersbursche. Nach dem, was ich vor langen Jahren in Tennen und Kneipen über die Militär- und Kriegszeiten erzählen hörte, waren die Klügsten und Intelligentesten immer diejenigen, die einen Unterschlupf als Bursche gefunden hatten. Und manch einer wußte von Schrullen und Abartigkeiten des Offiziers, dem er diente, zu berichten – über seine Frau und die Kinder; aber mit Nachsicht und Herzlichkeit, ganz so wie jener Bursche in der Erzählung Die Ordinanz von De Amicis, der kein »Original« war. Oftmals waren Frau und Kinder und nicht der Offizier die eigentlichen Helden dieser Erinnerungen und Geschichten: die immer spaßig waren; und was die Frau betrifft, zuweilen wie von Boccaccio. »Lieber ein Schwein als Soldat«, sagt das Sprichwort, und dabei dachte man vor allem an den Fraß, an den Eintopf mit Nudeln und Bohnen, bei dem einem übel wurde, und an das Kochgeschirr, das ekelerregend war. (Da jeder seins selber waschen mußte, beschränkte man sich nämlich darauf, etwas Wasser drüberlaufen zu lassen: und nie bekam die Mannschaft ihr Kochgeschirr von den Vorgängern so sauber, wie es Vorschrift war.) Ein Offiziersdiener dagegen betrat die Kaserne nur am Abend. Er aß keinen Fraß, hatte kein Wecken und kam, wann es ihm paßte. Er hatte das Gefühl, und manchmal nicht nur das, zur Familie zu gehören und wie ein Familienangehöriger behandelt zu werden. Er besorgte die 26
täglichen Einkäufe oder begleitete die Hausfrau; brachte die Kinder zur Schule und holte sie wieder ab; und putzte das Tafelsilber. War er von Beruf Schneider, so gab man ihm die Kleider zum Ausbessern und Ändern; war er Schreiner oder Mechaniker, gab es immer etwas herzurichten oder zu reparieren, war er Bauer, so gab es den Garten, den Hühnerstall, und beides gab es damals fast immer. Der Wehrdienst war damals sehr viel länger als heute. Polimanti aber stand kurz vor seiner Entlassung und hatte nur noch wenige Tage, sehr wenige sogar. Und vielleicht wurde das Drama dadurch ausgelöst, wenn es nicht sogar der Beweggrund war: für die Notwehr aus Ehre nach Aussagen der Gräfin und ihrer Verteidiger; für den Entschluß, eine gefährliche Verbindung radikal zu beenden, nach Meinung der meisten – wenn nicht ein noch trüberes und komplizierteres Motiv dahintersteckte. Die Gräfin hatte sofort ausgesagt, »daß der Bursche versucht habe, in ihr Zimmer einzudringen und ihr Gewalt anzutun, weshalb sie sich mit einem Revolver bewaffnet, auf den Burschen geschossen und ihn getötet habe«. Der Messaggero vom 9. November schreibt: »Wie es scheint, stimmt diese Version.« Der Bericht trägt den Titel: »Um die Ehre zu retten«, aber er vertraut dem Leser auch an, daß die Gräfin »sehr schön« sei und daß der Polimanti »ein hübscher junger Mann, hochgewachsen, mit blondem gekräuseltem Haar« war. Der Leser konnte mit Hilfe dieser Angaben das »wie es scheint« in Argwohn, Zweifel oder sogar in die Gewißheit des Gegenteils übersetzen. Den Italienern zu berichten, daß zwischen einer schönen Frau und einem ansehnlichen Mann, die acht 27
Monate lang unter demselben Dach und oftmals alleine waren, in Bezug auf ihre Instinkte und Gefühle nichts weiter vorgefallen sein soll als ein Schuß aus einem Revolver, den die Frau abgibt, um ihre Ehre zu retten, ist eine Zumutung und ein Widerspruch in sich. Und tatsächlich registriert dieselbe Zeitung ein paar Tage später, die öffentliche Meinung sei von der Version, die richtig zu sein schien, unbefriedigt und viele Leser vermuteten in dem Vorfall und anderen Ereignissen, über die eine Zeitung nicht berichten könne, Anzeichen für eine Leidenschaft oder eine Beziehung zwischen der Gräfin und dem Burschen, der zwar verstorben ist, aber man weiß nicht wie und warum, wenngleich auf tragische Weise. »Die Wahrheit muß die Beweisaufnahme ergeben.« Zugleich berichten Familienangehörige und Freunde, die Gräfin leide seit etwa drei Jahren an Epilepsie und habe erst vor einigen Tagen wieder einen starken Anfall gehabt. Dennoch. Während die Leiche des Polimanti in der Kaserne der Bersaglieri noch darauf wartet, daß die Angehörigen zur Beerdigung kommen, hat die Gräfin schon ihren Verteidiger nominiert: Advokat Grazio Raimondo, einen Sozialisten und seit einigen Tagen Deputierter für den Wahlkreis Oneglia*, der auch schon Gelegenheit hatte, im Parlament eine ausufernde Rede zu halten. Den Vorsprung, mit dem er seinen »gemäßigten« Gegner, den Abgeordneten Marsaglia, geschlagen hatte, verdankte er jedoch nicht dem Anwachsen der sozialistischen Partei, das sowieso nicht bedeutend war. Er verdankte seine Wahl dem guten Andenken, * Heute Teil der 1923 gegründeten Küstenstadt Imperia, Riviera Ponente. 28
das man in Oneglia an seinen Großvater, den Ehrenwerten Biacheri hatte, der Präsident des Deputiertenhauses gewesen war. Gräfin Tiepolo konnte sich deshalb in besten Händen fühlen. Der Advokat war ein aktiver Sozialist, hatte liberale Vorfahren und das Wort floß ihm reichlich und tremulierend von der Lippe, was die Parlamentsprotokolle schon damals registrierten. Die Zeitungen bezeichnen ihn nach acht Monaten als »ehemaligen offiziellen Sozialisten«. Das heißt, daß er die Partei inzwischen verlassen, jedoch erklärt hatte, ihren Ideen treu zu bleiben: Es gibt viele solcher Fälle in den letzten vierzig Jahren. Die Sozialisten bieten mehr als jede andere Partei die Möglichkeit zum Dissens und zum Austritt: wobei man sich einbilden – oder einreden – kann, in Zukunft ein besserer Sozialist zu sein, als die Partei es erlaubt, im Moment jedenfalls. Aber meistens versteckt sich hinter der Erklärung, nun ein »besserer Sozialist« zu sein, daß man es weniger oder gar nicht mehr ist. Nach einer Woche ist der Fall Tiepolo aus den Zeitungen verschwunden. Andere Ereignisse machen Schlagzeilen: Der Tango erreicht Paris; in der Scala wird der Parzifal mit einer Pause aufgeführt, die es erlaubt, in Ruhe zu Abend zu essen (und es entsteht ein Disput zwischen denen, die die Neuerung ausnahmsweise akzeptieren, und jenen, die sie im Namen der italienischen Tradition zurückweisen); und in Florenz taucht die Gioconda von Leonardo wieder auf, die vor zwei Jahren aus dem Louvre geraubt worden war. Ihr Verschwinden war unerklärlich und mysteriös, ihre Rückkehr sozusagen banal: Ein italienischer Arbeiter, der sie ohne Preis und Lohn dem Vaterland zurückgeben wollte, 29
hatte sie mit größter Leichtigkeit von der Wand genommen. Eine Enttäuschung: Man hatte sich einen Rocambole* vorgestellt und herauskam ein Anstreicher, der in Frankreich bereits polizeilich bekannt war; es ist unklar, ob wegen eines Diebstahls oder einer Ordnungswidrigkeit. Man hatte deshalb einen Grund, der französischen Polizei Vorwürfe zu machen: Sie wußte, daß der italienische Anstreicher zu den Arbeitern gehörte, die am Tag des Diebstahls im Louvre waren, und hatte ihn auch verhört; aber sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Fingerabdrücke mit denen zu vergleichen, die gut erkennbar auf dem verwaisten Rahmen des Meisterwerks von Leonardo verblieben waren, und sie hatte auch nicht das Zimmerchen durchsucht, das der Anstreicher bewohnte und wo er unter dem Bett zwei Jahre lang, in denen es Tausenden vorenthalten wurde, das Lächeln der Mona Lisa versteckt hatte. Jenes Lächeln, das José Ortega y Gasset sich zu entweihen unterstand und das die Plattenfirma His Masters Voice vulgarisierte, indem sie die Verpackung ihrer Schallplattennadeln mit dem Bild der Gioconda dekorierte; ganz zu schweigen von dem kindischen und völlig kretinösen Jux der Futuristen, dieses Lächeln mit einem dichten Oberlippenbart zu verhängen. Aber vielleicht hat Aldous Huxley die wiedergefundene Gioconda in Florenz, wo sie in religiöser Feierlichkeit ausgestellt wurde, gesehen oder wiedergesehen, und dabei die Idee zu einem intelligenteren Scherz bekommen: nämlich zu seiner Erzählung Das Lächeln der Gioconda, die mich unweigerlich und viel* bekannter Meisterdieb 30
leicht zu Unrecht an die Gräfin Tiepolo erinnert. Ähnelte das Lächeln der Gräfin möglicherweise dem Lächeln der Mona Lisa? Aber auch die Gioconda, deren Rückgabe an Frankreich die Erneuerung der lateinischen Liebe signalisiert und in Frankreich und Italien das Gerücht nährt, daß der »Dreibund« weniger einmütig sei, als der Marchese von San Giuliano glauben machen will; auch die Gioconda also geht im Wutgeheul unter, das der Tango auslöst. Marinetti, ein Feind des Tango von Anbeginn, seit er sich in Paris zu verbreiten begonnen hat, veröffentlicht einen »futuristischen Rundbrief«: »Nieder mit dem Tango und dem Parzifal!« Auch Parzifal: »Eine genossenschaftliche Fabrik zur Herstellung von Traurigkeit und Verzweiflung.« Wer sagt das den Exhumierern des Parzifal von heute? Wie es scheint, sagt D'Annunzio über Marinetti, er sei ein Kretin mit ein paar Funken Blödheit. Und man kann seinen Brief gegen den Tango und den Parzifal einen Geistesblitz nennen. Aber inzwischen ist soviel Zeit vergangen, daß man ihn sich getrost als ein Geblitze der Intelligenz und Genialität hinter den Spiegel stecken kann. O diese Avantgarden! Mehr als 5000 Druckfehler im Ulysses von Joyce (in Worten: fünftausend) seit 1922 bis heute, aber Richard Ellman, der Betreuer der endlich korrigierten Ausgabe, sagt: »Da das Werk den Ruf hatte, unverständlich zu sein, hat niemand die Fehler bemerkt. Wenn die Lektoren auf eine dunkle Stelle stießen, dachten sie, Joyce wäre schuld …« Ich habe den Originaltext der Erklärung nicht: Kann es sein, daß Herr Ellman wirklich »Schuld« gesagt hat? Was für eine Schuld? Weder Joyce noch der 31
Drucker sind schuld. Und wenn überhaupt: »felix culpa«. Felice, fortunata; felicissima, fortunatissima.* Am 29. April 1914 beginnt vor dem Schwurgericht in Oneglia der Prozeß gegen die Gräfin. Der Saal kann nicht alle Zuhörer fassen, und die meisten müssen sich damit begnügen zu sehen, wie die Gräfin im geschlossenen Wagen vorfährt und in Begleitung eines Oberleutnants der Carabinieri den Justizpalast betritt. Erst in ihrem Käfig im Saal lüftet die Gräfin den Schleier. »Sie ist schön und muß früher sogar sehr schön gewesen sein: ein bleiches, zartes Gesicht; das Haar in einer hellen Kastanienfarbe, fast blond; die Augen lebhaft und klar, der Blick tief.« Die Zuschauer sind beeindruckt, aber nicht berührt. Fast alle erwarten sich eine Bestätigung dessen, was sie seit langem wissen : daß das Gesetz nicht für alle gleich ist und daß die Gerechtigkeit ungerecht ist. Als die Mutter des Polimanti kreischt: »Wo ist mein Sohn?«, da erst läuft ein Schauder der Ergriffenheit durch den Saal und dringt bis zur Angeklagten, die aus ihrem Täschchen ein Tüchlein und das Salz hervorholt. Das Salz, das aus den Handtaschen der Damen verschwunden ist, war damals ein notwendiges Ausstattungsstück: In facettierten und verzierten Kristallfläschchen und silbernen Amphörchen befanden sich stark riechende Mixturen, und man meinte, sie seien belebend, wenn man an ihnen schnüffelte. Aber soweit ich mich entsinne, enthielten die Riechfläschchen zu jener Zeit wohl nur noch Schwefeläther: eine chemische Substanz, in der sich der »Äther« der Poeten und der Schwefel vermischten. Der Himmel in seiner reinsten * Die italienische Sprache unterscheidet zwischen (essere felice) und Glück haben (essere fortunato). 32
glücklich
sein
Der Vormittag verging mit einem ersten Vorstoß der Advokaten Rossi und Del Bello, die die Nebenklage vertraten. Sie beantragten ein Gutachten über die Schuldfähigkeit der Angeklagten, um der Jury zuvorzukommen, die daran Zweifel haben mochte. Sie hofften, die Verteidigung in Verlegenheit zu bringen, indem sie ihr mit dem Antrag auf ein psychiatrisches Gutachten zuvorkamen, aber Advokat Raimondo entwaffnete sie: Er habe nichts gegen den Antrag, halte das Gutachten aber, unabhängig von seinem Ergebnis, für irrelevant: Seine Linie war, daß ein Fall von rechtfertigender Notwehr vorliege. Als die Vertreter der Nebenklage ihren Antrag daraufhin zurückzogen, schien es, als wären sie im ersten Durchgang geschlagen: tatsächlich jedoch hatten sie, womöglich unbeabsichtigt, erreicht, daß die Verteidigungslinie ihres Gegners sofort bekannt wurde. Am Nachmittag schilderte die Gräfin mit leiser, langsamer Stimme in venezianischem Tonfall die Ereignisse jenes fatalen Tages: »An jenem Morgen fühlte ich mich nicht wohl, da ich fast die ganze Nacht wachgelegen hatte. Gegen zehn Uhr hörte ich es an der Haustür klingeln und ging hin, um zu öffnen. Es war der Bursche, der sich um den Stall kümmerte, nicht der Polimanti. Der war außer Haus, um die Kinder zur Schule zu bringen. Ich traf ihn später, als ich aufstand, um in die Küche zu gehen. Der Polimanti trat auf mich zu und versuchte, mich zu umarmen, wobei er mir sagte, er liebe mich. Ich stieß ihn zurück und zog mich wieder in mein Zimmer zurück, wo ich mich einschloß. Er klopfte und wollte, daß ich ihm aufmache. Ich antwortete nicht und warf mich wieder auf das Bett; aber sofort 33
kam ich zu dem Entschluß, daß es so nicht weiterging: Wenn ich da blieb, richtete ich ein Unheil an und so beschloß ich, die Koffer zu packen und sofort abzureisen. Nach kurzer Zeit klopfte der Bursche wieder an die Tür und fragte nach meinen Wünschen für die Küche. Ich glaubte nicht, daß mich der Polimanti noch einmal anfallen würde, öffnete und stand ihm deshalb direkt gegenüber. Er nahm mich in seine Arme und sagte: ›Sei mein, du mußt mir gehören; ich sehne mich schon so lange nach dir.‹ Ich wehrte mich längere Zeit und versuchte, mich ihm zu entwinden, bis ich bemerkte, daß seine Kraft infolge meines Widerstands erlahmte. Ich nutzte das aus, um mich aus der Umklammerung zu befreien, und es gelang mir, ihn aus dem Zimmer zu jagen. Dann ergriff ich den Revolver, der sich in einer Schublade der Kommode befand, richtete ihn auf den Polimanti, der immer noch auf mich einredete und sagte zu ihm: ›Wenn Ihr nicht weggeht, schieße ich.‹ Aber statt sich zu fürchten, kam er mir wieder mit ausgestreckten Armen entgegen, um mich zu umarmen, und sagte: ›Ich habe keine Angst.‹ Also drückte ich die Waffe ab, traf den jungen Mann im Gesicht, aus dem ich das Blut spritzen sah, und er fiel zu Boden …« Der Berichterstatter notiert: »Damit ist die Signora Oggioni-Tiepolo am Ende ihrer Erzählung angelangt, die fast teilnahmslos wirkte, als wollte sie sich dadurch von der Erregung befreien, von der sie gepackt zu sein schien.« Es hätte wohl eines schärferen und sensibleren Stils bedurft, um den Übergang von der Erregung zur Teilnahmslosigkeit plausibel zu machen: Der Chronist ist nur deshalb erstaunt, weil eigentlich das Gegenteil hätte stattfinden müssen, nämlich eine Steigerung der Erregung bis zum 34
Ausbruch in Tränen: wie es sich gehört. Er ist darüber so erstaunt, daß er einen Trennstrich zwischen die Angeklagte und sich und ihre Personalien zieht: »die Signora Oggioni-Tiepolo«. Der öffentliche Ankläger und die Advokaten der Nebenklage hätten aus dieser kurzen Erzählung sehr viele Fragen herleiten können: Aber sie denken, sie hätten bereits genug andere und offensichtlichere Indizien in der Hand, aus denen mit Sicherheit auf eine Liebesbeziehung zwischen der Gräfin und dem Burschen zu schließen wäre und sich fast mit Gewißheit ergäbe, daß sie die Tat mit Vorsatz begangen hätte. Ungeduldig warten sie nur darauf, diese Indizien auszubreiten und der Angeklagten vorzuhalten. Als erstes kommt die Geschichte mit dem Medaillon zum Vorschein: das seltsamerweise verschwunden ist. Es war ein goldenes, kreisrundes Medaillon mit zwei Glasscheiben, wie man es heute nur noch an Kettchen um den Hals mancher Witwen oder erschöpfter Mütter hängen sieht und wie es damals Verlobte mit dem Abbild des jeweils anderen zu tragen pflegten. Die Verlobte stellte es offen zur Schau; der Verlobte hingegen (und aus gutem Grund vor allem der geheime Liebhaber) trugen es unter dem Hemd, wie einen geheimen (nicht immer zulässigen) Talisman. Das des Polimanti war »a double face« und enthielt auf einer Seite das Bild der Gräfin, auf der anderen eine Haarlocke von ihr. Die Gräfin gestand, von dem Medaillon zu wissen. Der Polimanti hatte es ihr am Vorabend gezeigt, aber er hatte es nicht aus dem Hemd, sondern aus der Hosentasche geholt. Die Gräfin war sehr verblüfft darüber: 35
»Woher habt Ihr mein Bild?« Ja: Woher? Genau das wollen sie alle wissen: Die Advokaten der Nebenklage, der öffentliche Ankläger, der Vorsitzende, die Geschworenen, die Zuschauer im Gerichtssaal und die Leser der Gerichtsberichte. Und, um ehrlich zu sein, auch ich. Es war nicht leicht in jenen Jahren – und in einer bis vor wenigen Jahren besonders geschlossenen Gesellschaft –, das Foto einer jungen Frau zu besitzen, ohne es von ihr geschenkt zu bekommen. Man bekam es nur durch eine Verlobung oder eine enge Verwandtschaft, und unter Verwandten auch nur durch eine fast definitive Trennung: Man trug es oder übergab es als Andenken, wenn der Ozean einen trennen sollte (und das Wort Amerika wurde mit einem Unterton des Todes ausgesprochen). Der Polimanti konnte es gestohlen haben. Aber schwieriger war es, die Haarlocke zu erklären. Man trug die Haare zu jener Zeit lang und zum Knoten hochgesteckt. Bezaubernd: Als junger Mann mit anzuhören, wie die Alten jene Haare, das Flechten und Verknüpfen zum Knoten und das Wiederauflösen dieser Frisuren besangen und ihnen nachtrauerten. Unerreichbare Bilder der Scham, der Bescheidenheit und der Empfindsamkeit. So stieß ich eines Tages in der Pinakothek von Cordoba, in der die Werke von Julio Romero de Torres verwahrt wurden, eines Malers, an den in Italien vielleicht nur in den akkuraten Aufzeichnungen von Vittorio Pica erinnert wird, auf ein Bild, das wirklich bezaubernd ist: Ein Lob auf das lange Haar und den Knoten, das Gesicht flüchtig, so daß man die Schönheit eben erahnt, in der Hand einen rötlichen Apfel, wie dargeboten. Betitelt »Viva el pelo«, »Es lebe das Haar!«: im Jahr, in dem es 36
gemalt wurde, 1928, sollte es eine deutliche Ablehnung der um sich greifenden Mode des kurzen Haarschnitts und des ausrasierten Nackens darstellen: jener Haarfrisur, die man, glaube ich, Herrenschnitt nannte. Die Haarsträhne konnte niemand abgeschnitten haben als sie selber: die Gräfin aber griff zu einer Erklärung, die niemand glaubte: daß die Haarsträhne von ihrer Tochter sei, deren Haar die gleiche Farbe habe wie das ihre. Aber war es vorstellbar, daß der Fetischismus eines unerhört Verliebten zu einem solchen Transfer fähig war? Leuten, die den Liebeswahn, die Leidenschaften, die Homöopathien und Allopathien der Liebe, die Algophilien und eben die Fetischismen nicht nur vom Hörensagen kannten, wie heute, da wir alles von den Soziologen erfahren, sondern aus eigenem Erleiden oder nachempfundenen Erleben anderer, mußten es für unmöglich halten. Und eins war sicher, egal ob man nun zugeben oder abstreiten wollte, daß zwischen der Gräfin und dem Burschen eine intime Beziehung bestanden hatte: daß dieser unter einer schwärmerischen Liebe mit den üblichen Symptomen und den gewöhnlichen Ritualen litt. Die Gräfin gab zu, dem Soldaten mehr Zuneigung und Vertrauen geschenkt zu haben, als zwischen der Ehefrau eines Offiziers und seinem Burschen erlaubt und üblich war; zwischen Herrin und Diener: denn er war in der Tat nichts anderes als ein Diener. (Gibt es ihn noch in der Armee der Republik?) Sie war zweifellos unvorsichtig gewesen: Eine Unvorsicht, die in den kurzen Perioden ihrer Trennung so weit ging, daß sie ihm schrieb »denk an mich«, »ich denke an Dich mit viel Gefühl«, »ich küsse Dich«: Doch die Angeklagte 37
rechtfertigte diese Ausdrücke damit, daß die Briefe und Postkarten auf Wunsch des Polimanti an Dina Polimanti adressiert waren, und so habe sie gemeint, daß sie derartige Ausdrücke gebrauchen dürfe, eben da sie an eine Frau – die Schwester des Burschen, die sie jedoch nicht kannte – gerichtet waren. Eine Entschuldigung, die auch für die Küsse gelten mochte: Aber man begreift nicht recht, warum die Schwester des Polimanti an sie hätte denken oder von ihr hätte bedacht werden sollen. Andererseits empfing der Polimanti fast unter dem gleichen Datum Post, in der die Signora, berichtete der Reporter, ihn »korrekt« behandelte; und das heißt unter Einhaltung der Form und der Formalitäten, die in den Beziehungen zwischen Herrin und Diener beachtet werden mußten, selbst wenn man die Zuneigung berücksichtigt, die in De Amicis'scher* Weise zwischen einer guten Herrin und einer guten Ordinanz entstehen muß. Doch das Protokoll läßt diese Stelle, wo man einige harte Vorhaltungen des öffentlichen Anklägers und der Nebenklage vermuten darf, im Dunkel. Die Verbindung des einen mit dem anderen und des Anscheins mit der tatsächlichen Wahrheit wird dem Scharfsinn und der Beobachtungsgabe des Lesers überlassen, als ob das Spiel mit dem äußeren Schein zu einer anderen Wahrheit führen könnte. *»deamicisianamente«: Adverb, gebildet aus dem Namen des Autors De Amicis, 1846-1908. Synonym für jemanden, der über ungewöhnlich pathetische und moralische Eigenschaften verfügt. Für Sciascia ist natürlich auch der Geburtsort von De Amicis bedeutsam: Oneglia, das heutige Imperia, wo der Fall Tiepolo verhandelt wurde.
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Es sollte noch einen langen, blutigen Krieg und eine gierige und wilde Nachkriegszeit dauern, die intellektuelle und politische Verrücktheiten verschiedener Art zur Folge hatten: doch im Saal des Schwurgerichts von Oneglia treibt Lady Chatterley's Liebhaber von Lawrence, der 1928 in Florenz, auf englisch versteht sich und fast privat, erschien, um den Schlägen der englischen Zensur auszuweichen, schon jetzt sein schwülstiges, flatterhaftes Wesen. Und man muß zugeben, daß der Bersagliere Polimanti die ursprüngliche, unmittelbare und glückliche Sexualität, die Lawrence den intellektuellen Fälschungen, Verfeinerungen und Geschmackhaftigkeiten entgegensetzen wollte, weit besser verkörpert hätte als der wenig überzeugende Jagdaufseher Mellors, den man doch sehr in Verdacht hat, ein Intellektueller zu sein. Tatsächlich trieb es schon D'Annunzio sozusagen »à la Mellors«, aber das erfuhr man erst später, aus seinen Briefen. Dieser Hinweis reicht aus, um den sprichwörtlichen Esel straucheln zu lassen*: den Lawrence'schen Esel. Aber das soll kein despektierliches Bild sein, wenn man bedenkt, daß wahrscheinlich einige der größten Brünstigkeiten in der Natur Eseleien sind. Es gibt etwas, das an D'Annunzio erinnert (jenes D'Annunzio der Briefe, die bisher nur in limitierter Auflage gedruckt und nicht im Handel sind) und das befindet sich im Entwurf eines Briefes, der im Nachlaß *»far cascare l'asino« (den Esel straucheln lassen oder zu Fall bringen etc.) sagt man, wenn ein ansonsten einwandfrei es Werk einen Fehler aufweist, über den man stolpert, wie hier über die nach Sciascias Ansicht falsch herausgearbeitete Figur. 39
des Polimanti gefunden wurde: Er spricht dort, wie es die Protokolle vorsichtig nennen, von »genossenen Augenblicken«. An die Frau gerichtet, die jener Augenblicke des Genusses teilhaftig war, jedoch ohne ihren Namen zu nennen. Die Gräfin weist entschieden zurück, daß man den ihren hineinsetzen könnte und nennt statt dessen eine Signora Letizia, der ihr Diener ebenfalls »und nicht nur platonisch« gedient habe. Sie weiß sonst nichts über diese Dame, woraus man schließen muß, wenn man ihre Existenz überhaupt anerkennen will, daß sie diese Tatsache nicht von sich aus entdeckt hat, sondern infolge eines übertriebenen und ziemlich ungehörigen Geständnisses des Polimanti. Was wiederum auf eine – wie die Richter, die Anwälte und die Gerichtsreporter es nennen – »nicht korrekte« Beziehung zwischen der Angeklagten und dem Toten schließen läßt. Es ist beachtlich, mit welch einer Prüderie die Verhandlung geführt wird, so daß die Dinge nie bei ihrem eigentlichen Namen genannt werden. Das geht so weit, daß die Frauen keine Frauen sind, sondern »das schwache Geschlecht«. »Hatte der Polimanti eine Schwäche für das schwache Geschlecht?« fragt der öffentliche Ankläger. Und die Gräfin antwortet: »Mir fiel auf, daß er vielen Mädchen den Hof machte.« Aber der einen, die er in seinem Briefentwurf »süßes Wesen« nennt, kommt man nicht auf den Grund. Am zweiten Prozeßtag läßt sich der Gerichtsreporter gehen: »Von der Pressebank aus betrachtet, hat die Angeklagte zwei Gesichter und zwei Seelen, je nachdem, ob man sie im Profil sieht, während sie mit dem Staatsanwalt spricht, oder von vorne. Wenn man sie 40
von der Seite her anschaut, hört man nur den Ton ihrer sanften Stimme in einem zärtlichen venezianischen Singsang; und der Eindruck, den man hat, verschönt noch das reine Profil ihres durchscheinenden Gesichts: Eine Madonna, möchte man sagen, würdig von einem jener Großen portraitiert zu werden, die in Venedig die bewundernswerten Dokumente ihrer unsterblichen Kunst hinterlassen haben. Doch wenn sie ihr Gesicht auf eine hinterlistige Frage der Nebenklage hin nach einem fast unmerklichen Augenblick des Nachdenkens en face zeigt, und aus ihrem reinen Antlitz die blaugrünen, brennenden Augen Blitze verstrahlen und ihre Antworten überlegt, prompt und direkt wirken, dann spürt man, daß der Charakter dieser Frau nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Man erkennt vor allem, daß ein junger, süßer, gesunder Mann von zwanzig Jahren, wie der Polimanti, wenn er dazu verurteilt war, von morgens bis abends an ihrer Seite zu leben, ihre Anweisungen zu befolgen und auf eine Handbewegung hin zu gehorchen, sie im Morgenrock und im Badeanzug zu sehen, sie zu betrachten, wenn sie zu Hause aß oder wenn sie unter Palmen und Orangenbäumen von allen bewundert in San Remo spazierenging und der Wind den Schleier und das Haar um ihr schönes und harmonisches Antlitz wehte, sich unwiderstehlich angezogen fühlen, jegliche Dienstvorschrift brechen und seiner Herrin sagen mußte, daß er sie liebe.« Aber »im Sturm nehmen« war auch die Parole der Bersaglieri. Und wie sollte man schließlich widerstehen, »wenn sie zu Hause aß«? Doch einmal abgesehen vom Essen, als einem ziemlich seltsamen Element der erotischen Anziehungskraft 41
(es sei denn, es handelte sich, wie bei Casanova, um das Ausschlotzen von Austern oder, viel gewöhnlicher, wie bei anderen, um das Essen eines Apfels), finden wir in diesem »Impromptu« des Gerichtsreporters einen Abklatsch und ein Echo auf gewisse Eigenheiten von D'Annunzio: so wenn D'Annunzio von einer Beobachtung (die freilich immer der Erscheinung und ihrer Enthüllung gilt) zu den Mitteln der Literatur und der Kunst, zur Ähnlichkeit und zur Analogie überleitet, und am Ende alles in ein übersinnliches Licht taucht. Es ist fast ein Schema: das man vor allem in Tagebüchern und Zeitungsberichten wiederfindet, wenngleich der Zeitungsschreiber es mit einer weniger exakten und weniger prächtigen Feder kopiert (denn D'Annunzio konnte exakt sein, wenn er nicht einfach nur prächtig war). Tatsächlich lag D'Annunzio in der Luft, wie wohl kein anderer Autor zuvor und seither in Italien. Der Höhenflug des Berichterstatters geht jedoch sofort in einen Sturz über, mit dem er sich auf die bitteren Feststellungen und Vorwürfe der Anwälte der Nebenklage und des Anklägers wirft. Am Vortag hatte man noch nicht gewußt, an wen der Brief gerichtet war, dessen Entwurf man in Polimantis Nachlaß gefunden hatte, und der die Gräfin dazu veranlaßt hatte, jene Signora Letizia zu erfinden, die Polimanti »nicht nur platonisch« geliebt habe. Doch nun taucht zwischen den Blättern der Ermittlungsakten (die bestimmt mehr als einmal umgeblättert worden waren) das Original des Briefes auf. Er ist zweifellos an die Gräfin gerichtet: »Liebe Maria!« Die »genossenen Augenblicke« hat man ausgestrichen, dafür jedoch die Liebesbezeigungen 42
und Küsse vervielfacht, die der Brief überbringen sollte, wie in jener berühmten Dichtung von Salvatore Di Giacomo, dem Italiener von der Art Polimantis vieles – nämlich Seelenzustände und »Kristallisationen« – verdanken: fast ein Del'amour als Volksausgabe. Auch Di Giacomo lag in der Luft, aber in einer niedrigeren Strömung. Es wird noch einige Zeit (aber nicht mehr lange) dauern, bis man bemerkt, daß er einer der größten Liebesdichter war, die Italien jemals hatte: Von einer Subtilität und einem Zauber, daß man ihn tatsächlich wie eine Darstellung und Ableitung aus De l'amour von Stendhal lesen konnte. Die Verteidigung definierte das Auftauchen des Briefes als »ein Wunder«, womit sie einen Zweifel andeuten wollte, den man nicht begriff: vielleicht, daß er nachträglich und geschickt in die Prozeßakten geschmuggelt worden sei. Die Unterstellung veranlaßte die Nebenklage zu einer schwerwiegenden Behauptung: »Beschweren Sie sich nicht«, sagte Advokat Rossi an die Adresse der Verteidiger gerichtet, »wann hat man je in einem Prozeß wie diesem eine solche Unterordnung der gerichtlichen Autorität unter die militärische Autorität gesehen.« Eine Behauptung, auf die nur die Angeklagte reagierte, indem sie sagte: »Das ist stark«; aber wenn der Vorsitzende nicht reagierte, so kann das auch bedeuten, daß der Pfeil ins Schwarze traf. General Carpi, der Kommandant der Brigade in Genua, hatte sich bestimmt nicht ohne Grund am Tag nach dem Delikt überstürzt nach San Remo begeben. Und die Nebenklage hatte sofort gerügt, daß die Behauptung der Militärbehörde, in der Habe des Polimanti sei nichts gefunden worden, was 43
für den Fall interessant sein könnte, unbestritten hingenommen wurde. Gehörte der Entwurf des Briefes etwa auch zu den Gegenständen, die der Polimanti in den Taschen gehabt hatte? Lediglich was die Briefe und Postkarten betrifft, die die Signora dem Burschen geschrieben hatte, ist klar, daß diese von den Familienangehörigen dem Gericht übergeben worden waren. Man muß hier die Wertschätzung und das Prestige berücksichtigen, das die Armee genoß, die nach dem unglücklichen Krieg in Äthiopien 1896 mit den Gesta d'oltremare, die in Zeitungen, Schlagern und Gedichten gefeiert wurden, gerade erst einigen Ruhm zurückerobert hatte. Sollte man ihr Ansehen schmälern, indem man die Ehre eines Offiziers, noch dazu eines Angehörigen des Generalstabs, verletzte? Daß ein Bersagliere von einer umwerfenden Liebe ergriffen wird, mag durchgehen: Man weiß, wie sie sind, die Bersaglieri. Sie stürzen, auch im Gefühlsleben, auf alles los: alla bersagliera, tollkühn, furchtlos, im Laufschritt. Aber daß die Frau eines Hauptmanns ihm nachgeben könnte, war unzulässig. Vor dem bloßen Verdacht mußte man fliehen. Ein extrem schwieriges Unterfangen: Man übersah, daß die Figur des Polimanti, der mit seiner umwerfenden Liebe die Frau des Hauptmanns erobert hatte, dem Prestige der Armee im allgemeinen und der Einheit der Bersaglieri im besonderen, sehr viel einträglicher war als der Hauptmann mit seiner intakten Ehre – jedenfalls nach überwiegender Empfindung. Nichts erzeugt in einem Strafprozeß soviel Ungewißheit, sät so viele Zweifel und schafft solche Konfu44
sion wie die Gutachten. »Jeder weiß, daß der Gutachter zuvorderst aufgerufen ist, ein Geschehen oder einen Zustand in tatsächlicher Hinsicht zu beurteilen«: Aber jeder weiß auch, daß die Anrufung, die Beantragung, die Fragestellung und die Fragen, die im Prozeß an einen Gutachter gerichtet werden, wie überhaupt die Autorität einer Stellungnahme, stets durch die Autorität eines Gegengutachtens in Zweifel gezogen werden. Wenn dann in einem Prozeß der richterliche Gutachter, der Gutachter der Verteidigung und der Gutachter der Nebenklage sich mit gleicher Autorität und Namhaftigkeit gegenüberstehen, erreicht die Verwirrung ihren Höhepunkt: Und nun können die Richter entweder das Gutachten akzeptieren, das ihrer Überzeugung am nächsten kommt, da es objektiv soviel wert ist wie die anderen beiden, da allen drei Antworten die wissenschaftliche Absolutheit fehlt, oder sie machen reinen Tisch, vergessen alles und verlassen sich auf die Erfahrungen des menschlichen Herzens und auf die Gesetze. In der Sache Tiepolo gab es zunächst nur einen Gutachter, den Ballistiker: da er sich jedoch selbst widersprach und ungenaue Antworten gab, war er so gut wie zwei einander entgegengesetzte Gutachter. Die Hauptfrage betraf die Entfernung, aus der der Schuß abgegeben worden sei: und nach langer Debatte kam man zu dem Schluß – fast ein Vergleich, der alle zufrieden stellte –, daß die Entfernung fünfundzwanzig oder dreißig Zentimeter betragen habe. Also nicht gerade hautnah. Es entsprach der Einlassung der Angeklagten und schien ein Pluspunkt für die Verteidigung zu sein. Es sah aber anders aus, wenn man sich die Szene einen 45
Augenblick lang veranschaulicht: Ein Schuß ins Gesicht, der aus fünfundzwanzig oder dreißig Zentimetern Entfernung auf einen Mann abgegeben wird, der einen soeben umarmen will, läßt eine Gefühlskälte vermuten, die sehr viel mehr für eine vorsätzliche Tat spricht, als ein Schuß, der während einer Umklammerung aus nächster Nähe abgegeben wird. Und eine grundlegende Frage wurde der Angeklagten nicht gestellt: Ob sie je zuvor aus einem Revolver geschossen habe. Der Ehemann, der die Waffe in einer Schublade der Kommode verwahrte, die seltsamerweise im Kinderzimmer stand, wußte mit Sicherheit, daß sie damit umgehen konnte, als er ihr sagte, die Waffe könne im Bedarfsfall nützlich sein. Und im ersten Verhör hatte die Angeklagte auch erklärt, sie habe zunächst den Sicherungshebel bedient, aber im Prozeß korrigierte sie sich: Sie wisse nicht, wie man die Waffe entsicherte und habe nur den Abzug betätigt. Der Gutachter war jedoch anderer Meinung: Die Waffe mußte gesichert gewesen sein. Es handelte sich um einen Revolver mit acht Schuß, und da vor jenem tödlichen bereits einer fehlte, mußte die Waffe erneut entsichert werden, um sie abzufeuern. Da ich nicht weiß, um was für eine Waffe es sich handelte und mich, selbst wenn ich es wüßte, meinerseits auch nicht sachkundig machen will, überlasse ich jenem Gutachter das letzte Wort. Die Entsicherung der Waffe, die von der Angeklagten im ersten Verhör zugegeben und nun abgestritten wurde (und vielleicht auch der Vorwurf der Nebenklage, die Anklagebehörde sei von der Militärbehörde gesteuert worden), machen den Anklagevertreter eigensinnig und verbissen. Er zermürbt die Angeklagte 46
und treibt den Verteidiger Raimondo zur Verzweiflung. Stimmt es, daß die Gräfin wollte, daß der Polimanti nach seinem Wehrdienst in San Remo blieb, und hatte sie ihm versprochen, für ihn eine Arbeit zu finden? Die Gräfin verneint »auf das Höchste«. Aus welchem anderen Grund hat die treue Kammerzofe die Familie Oggioni verlassen, wenn nicht aus dem, daß sie nicht zur Zeugin des Skandals werden wollte? Aber das ist keine Frage, sondern eine Feststellung, und so fragt man sich, warum die Gräfin nicht widerspricht – ob aus Müdigkeit, Entrüstung oder Bestürzung. Oder ist das Hausmädchen entlassen worden, fährt der Ankläger fort, weil sie eines Abends dabei ertappt wurde, wie sie durch ein Schlüsselloch die Herzlichkeiten zwischen der Gräfin und dem Polimanti auszuspionieren versuchte? An dieser Stelle widerspricht der Anklagevertreter sich selbst und beweist nur, daß er nichts Genaues weiß und lediglich ein paar Gerüchte über den Weggang der Zofe aus dem Hause Oggioni aufgeschnappt hat. Und so antwortet die Gräfin, die sich wegen der offensichtlichen Hilflosigkeit der Anklage wohl etwas beruhigt hat, auf diese zweite Frage trocken, da sei nichts auszuspionieren gewesen, und durch das Schlüsselloch war nichts zu sehen (und in diesem Augenblick betreten die Schlüssellöcher – als komisches Element, in das tragische Ereignisse sich fast stets verwandeln – den Prozeß). Doch noch etwas: Hat die Gräfin in Nummer 47 vom Anfang November 1913 der La Nuova Antologia das Drama Eine Frau sucht Frieden gelesen? Das hatte man sie schon im Vorverfahren gefragt: Nein, hat sie nicht gelesen. Und so weiter. 47
Das Drama, das in der »neuen Anthologie« veröffentlicht wurde, war durch einen anonymen Brief in den Prozeß hereingezogen worden, denn obwohl anonyme Briefe, sofern sie keine objektiven Angaben enthalten, im Strafprozeß nicht berücksichtigt werden, neigen die Richter stets dazu, ihnen zu glauben: und so geschah es im Falle Tiepolo, in dem ein Anonymus, der mit »ein Südländer« unterzeichnete, dem Ermittler empfohlen hatte, das Motiv der Dame in diesem Drama zu suchen. Die Heldin des Dramas hatte ihren Liebhaber getötet, da er sich weigerte, ihr die Briefe zurückzugeben. Der anonyme »Südländer« vermutete nun oder war sogar sicher, daß die Tragödie von San Remo den gleichen Hintergrund hatte. »Ein Südländer«: was sonst? Die ganze Welt ist, vor allem in ihren schlechten Eigenheiten, Süden. Und nicht nur die Richter nehmen den Hinweis ernst. Die Briefe sind tatsächlich – wenngleich nicht das absolute Motiv der Tragödie – ein wesentliches Element des Falles, da die Angeklagte selber erklärte, sie habe befürchtet, daß ihr Mann die Postkarten und Briefe zu Gesicht bekommen könnte: »Da ich wußte, daß ich diesen Leichtsinn begangen hatte, fürchtete ich, die Zuneigung zu verlieren, die mein Mann mir in zwölf Ehejahren erwiesen hatte.« Um den Vorsatz aufrechtzuerhalten, schwankt der Ankläger an diesem zweiten Prozeßtag zwischen dem Drama »eines englischen Autors«, und das heißt, der Verweigerung der Briefrückgabe und der Eifersucht der Gräfin, die dadurch ausgelöst wurde, daß sie erfuhr, »daß der Bursche eine Geliebte hatte, die schwanger war«. Daß die Gräfin davon erfahren habe, sagt der Ankläger, »steht fest«. Aber es stand, wie wir 48
sehen werden, keineswegs fest. Es steht laut Anklage auch fest, daß die Gräfin ihre Aussagen in der Vorermittlung jetzt in der Hauptverhandlung abzuändern versucht: ähnlich wie es eine Maria Tarnowska einige Jahre zuvor in einem berühmten Prozeß gemacht hatte. Ein Hinweis des Anklagevertreters, der die Empörung des Verteidigers Raimondo auslöst: auch deshalb, weil die Tarnowska zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden war, während er für einen Freispruch der Gräfin kämpfte. Am dritten Tag beginnt der Aufmarsch der Zeugen, nachdem man der Angeklagten letzte Vorhaltungen hinsichtlich der Ereignisse vor dem tödlichen Schuß gemacht hat. (Und die Gräfin repetiert: Umarmung und Küsse durch Polimanti, sie schlägt um sich, zerkratzt sein Gesicht, kann sich losmachen, läuft, um die Waffe aus der Schublade zu holen, steht vor ihm, während er die Arme ausbreitet und lachend sagt, er habe keine Angst; und schließlich der Schuß, der fast ohne ihre Absicht losgeht.) Der erste ist der Arzt Giuliani, der im gleichen Haus wohnt, und sofort den Tod des Polimanti feststellte sowie jene Kratzspuren bemerkte, die von den Ärzten der Autopsie nicht bemerkt wurden. Als nächste kommt Signora Bosio, in deren Wohnung sich die Gräfin flüchtet, nachdem sie geschossen hat; aber da die Signora das gleiche sagt wie ihr Mann, der es ordentlicher ausdrückt – Hauptmann der Bersaglieri, gleiches Regiment wie Oggioni und Polimanti – ist es besser, hier seine Aussage wiederzugeben, die im übrigen auch detaillierter ist als die seiner Gattin. Hauptmann Bosio berichtet also: »Etwa zwanzig Tage 49
vor dem Ereignis läutete Signora Oggioni eines Nachts gegen zwei Uhr und bat mich um Hilfe, da der Polimanti ihre Wohnung nicht verlassen wolle und zudem mit aller Gewalt versuche, in ihr Schlafzimmer einzudringen. Ich eilte also hinunter und fragte den Soldaten nach dem Grund für sein merkwürdiges Benehmen. Er antwortete, er traue sich nicht ins Quartier zurück, da er ohne Erlaubnis fortgegangen sei. Nachdem der Soldat schließlich gegangen war, sagte ich der Signora: ›Sie dürfen diesen Mann absolut nicht mehr in Ihrer Nähe dulden.‹ Tatsächlich hatte die Signora mir bei der Gelegenheit recht gegeben, denn beim Abschied hatte sie ihm gesagt, er sollte am nächsten Morgen nicht wiederkommen. Aber am nächsten Morgen um sieben Uhr kam der Polimanti an meine Tür und sagte zu mir: ›Die Signora hat mir verziehen, und ich bitte Sie ergebenst, mir ebenfalls zu verzeihen. Sie bittet Sie, herunterzukommen.‹ Ich folgte ihm, und als ich in die Wohnung Oggioni kam, sagte mir die Signora, daß der Polimanti sie untertänigst um Vergebung gebeten und sie inständig angefleht habe. ›Er hat geweint‹, sagte sie zu mir, ›und hat heilig versprochen, sich zu bessern; ich bitte Sie, Herr Hauptmann, ihm deshalb Ihrerseits vergeben zu wollen, so wie ich das Bedürfnis hatte, es zu tun.‹ Ich wiederholte noch einmal, natürlich sehr ernstlich, die Vorwürfe, die ich dem Polimanti gemacht hatte. Er meinte: ›Was wollen Sie, Herr Hauptmann, ich hatte getrunken! Und außerdem muß ich Ihnen ganz freimütig gestehen: Ich hatte mich geirrt.‹ Diese Worte hatten für mich die Bedeutung: ›Ich hatte mir Illusionen über die Nachgiebigkeit der Signora gemacht; aber sie ist nicht so, wie ich es mir 50
vorgestellt hatte.« An dieser Stelle wäre Rechtsanwalt Perry Mason vom Gerichtshof Los Angeles eingeschritten, wenn er Nebenkläger gewesen wäre, und hätte Einspruch gegen die zuletzt erwähnte Äußerung eingelegt: als bloße Vermutung und Schlußfolgerung des Zeugen (der nach amerikanischem Prozeßrecht nur über Tatsachen berichten darf, die sich vor seinen Augen und Ohren zugetragen haben). Und ich gestatte mir die Abschweifung, zu überlegen, wie viele Prozesse in Italien platzen würden und wie viele Angeklagte frei herumliefen, wenn man bei uns ähnlich verfahren würde. Die Prozesse, die heute in Italien geführt werden, würden wie Kartenhäuser in sich zusammenfallen, wenn man die Mutmaßungen der Zeugen und die Fakten vom Hörensagen, die von anderen stammen, weglassen würde. Der brave Bürger schwankt zwischen dem sehnlichen Wunsch, sämtliche Übeltäter sicher hinter Schloß und Riegel zu bringen, und dem ebenso sehnlichen Wunsch, daß diese Strafe von einer unerbittlichen, zuverlässigen und immerwährenden juristischen Gewalt verhängt werden möge – wie der Esel in dem scholastischen Sophismus von Jean Buridan von Bethune*, den Dante in den herrlichen Vers gefaßt hat: »Wer zweifelnd stand in zweier Speisen Mitten, hat, eh' noch eine er geführt zum Mund, trotz seiner Freiheit Hunger doch gelitten«**, womit er den vierten Gesang des Paradieses eröffnet. * Giovanni Buridan, gest. ca. 1358, war ein scholastischer Philosoph, dem die bekannte Fabel von dem Esel zugeschrieben wird, der sich nicht entscheiden kann, ob er zuerst essen oder trinken soll und deshalb stirbt. ** Deutsch von Paul Pochhammer, Leipzig 1920.
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Man folgte also nicht dem Gesetz, sondern der Gewohnheit, die es den Zeugen im italienischen Strafprozeß gestattet, Eindrücke, Meinungen und subjektive Urteile über Personen und Fakten vorzutragen, ja sogar Informationen Dritter und Kenntnisse vom bloßen »Hörensagen« – wozu sie von Richtern und Rechtsanwälten oftmals noch aufgefordert werden –, und ließ die Deutung, die der Zeuge der Äußerung des Polimanti gab, ungerügt durchgehen. Und Hauptmann Bosio setzte seine Erzählung fort: »Einige Tage später, zehn oder fünfzehn Tage vor der Tragödie, kam ich mit meiner Frau die Treppe herunter und traf die Signora Oggioni unten an der Haustür, wo sie den Polimanti gerade entließ, und zwar mit den Worten: ›Fort mit Euch, und laßt Euch nicht mehr blicken! Alles weitere erledigt der Hauptmann!‹ Der Polimanti ging weg, und als ich die Signora um eine Erklärung bat, erzählte sie mir, daß der Polimanti sie und ihr Kind respektlos behandelt habe. Am nächsten Tag erfuhr ich jedoch, daß der Polimanti wieder in die Dienste der Oggionis aufgenommen wurde. Einige Tage drauf hörte ich von unserem Hausmädchen, das atemlos angelaufen kam, als ich in der Kaserne war, daß sich im Haus Oggioni ein Toter befinde. Ich informierte Hauptmann Oggioni mit der gebotenen Vorsicht, und gemeinsam verließen wir die Kaserne. Er schwang sich auf das Fahrrad, ich wandte mich im Laufschritt unserem Hause zu, betrat eiligst meine Wohnung, und dort fand ich die Signora Oggioni, die in einem Zustand unbeschreiblicher Erregung zu mir sagte: ›Ich habe geschossen, um meine Ehre zu verteidigen^ Hauptmann Oggioni betrat nach mir die Wohnung. Die Signora warf sich an seine Brust 52
und rief: ›Ferruccio, mein Ferruccio! Ich will nur dir gehörend« Man ahnt, daß Hauptmann Bosio, trotz seiner Zeugenaussage zugunsten der Angeklagten, darüber verblüfft ist, daß die Signora dem Polimanti immer wieder verzeiht: Wie ist es nur möglich, daß die Signora nicht begreifen wollte, daß sein Rat, den Polimanti nicht mehr ins Haus zu lassen – und zwar »absolut nicht« – der einzig richtige war, um das Problem zu lösen? Eine Verblüffung, die jeder mit ihm teilen wird, der die Akten siebzig Jahre später noch einmal durchblättern muß. Es gibt in der Aussage von Hauptmann Bosio jedoch einen Punkt, der aus heutiger Sicht erläutert werden muß; es geht um die Stelle, wo er sagt: »Eines Nachts gegen zwei Uhr«, was damals für jedermann zwei Stunden nach dem Ave Maria bedeutete und was man heute für zwei Stunden nach Mitternacht halten wird. Der Tagesablauf wurde seinerzeit – und bis über meine Kindheit hinaus – nicht vom gewissermaßen rathäuslichen Schlag der Uhren, sondern, ebenfalls gewissermaßen, vom kirchlichen Schlag der Turmglocken bestimmt: Das Salve Regina, das Mittagsläuten, die Vesper, das Ave Maria und das Zwei-Uhr-nachts; und zwischen dem Salve Regina und dem Mittag gab es das Gebimmel, das die Messen ankündigte, die man reihenweise feierte. Es waren Uhrzeiten, nach denen sich eher die Frauen richteten als die Männer, die ja zur Arbeit gingen. »Temps perdu«, inzwischen: aber noch immer skandieren diese Glocken für jeden, der in etwa mein Alter hat, die »recherche«. Es war deshalb nicht etwa tief in der Nacht, als die 53
Signora hinunterkam, um den Hauptmann Bosio zu bitten, ihr zu helfen, den Polimanti fortzujagen. Und der Grund dafür, daß sie sich an den Kollegen des Gatten und Mitbewohner des Hauses wandte, war die Tatsache, daß Hauptmann Oggioni in diesen Tagen im Manöver war: Eine Abwesenheit, die dem Polimanti günstig erschien, um eine amouröse Beziehung zur Signora – wie man will – anzuknüpfen oder weiterzuführen. Die Eheleute Oggioni hatten zwei Kinder: einen Sohn von neun Jahren und eine Tochter von acht. Aber zur Zeit der Tragödie war bereits ein weiteres unterwegs und deshalb das fast tägliche Unwohlsein der Signora, ihr seelischer Zustand, die Sorgen und Ängste. Auf Befragen des Gerichtspräsidenten antwortete Signora Bosio: »Sie beklagte sich darüber, und ich sagte ihr, sie müsse auch der Geburt des neuen Kindes frohgemut entgegensehen, und berichtete ihr als Beispiel meinen eigenen Fall eines weiteren Kindes, das ich nach einer Pause von fast zehn Jahren bekommen hatte.« Und es gibt viele Gründe, warum eine Frau Beklemmungen kriegen kann, wenn sich nach so vielen Jahren noch eine neue Mutterschaft ankündigt. Doch die Vertreter der Nebenklage sahen nur einen: das »Kind der Liebe«, wie kinematographische Filme und Fortsetzungsromane es und schon im Titel nannten. Man spekulierte deshalb, die Fehlgeburt der Signora im Gefängnis sei nicht ungewollt erfolgt. Advokat Raimondo empörte sich, doch war er der einzige, wie es scheint; die Signora natürlich ausgenommen. Jedermann glaubte, daß die Signora, einerlei wie die Dinge 54
sich im einzelnen zugetragen haben mochten, mit dem Burschen mindestens einmal sexuellen Kontakt gehabt habe und der Kern des Dramas in der beginnenden Schwangerschaft bestanden habe. Und tatsächlich, kaum hatte diese Enthüllung (die nicht allen, die am Prozeß teilgenommen hatten, eine Enthüllung bedeutete) in den Zeitungen für Unruhe gesorgt, da stürmte eine erregte Menge in den Gerichtssaal, so daß der Saal nicht alle fassen konnte und manch einer Quetschungen und Knochenbrüche davontrug. Zu den Aussagen der Freundinnen und Freunde des Hauses Oggioni gesellten sich die der Hausmädchen, die von ihren Arbeitgeberinnen als Dienerinnen, von Cozzano* (der ihnen nahestand), dagegen als Kammerzofen bezeichnet wurden. »Ein Lob der Liebe der Kammerzofen«, schrieb der Dichter: aber er meinte den Beischlaf: unkompliziert, hurtig und erfrischend wie ein Glas Wasser an einem heißen Tag; ohne Komplikationen und sentimentale Konsequenzen. Das Auftreten der Kammerzofen in der italienischen Literatur ist ein nicht zu unterschätzendes Ereignis. Es gibt da eine, die immer die Botschaften ihrer Herrin übermitteln muß, und als die Herrin mitteilen läßt, sie könne eine Verabredung nicht einhalten, tröstet der Dichter sich sofort mit den Worten: »Ein Lächeln erscheint auf der schimmernden Lippe, / das lange Warten, die scharfe Zunge, die Stunde / und der Duft einer Episode Boccaccios. / Erst lacht sie mich aus, wehrt ab und zetert / beschwört mich beim Namen ihrer Patronin: / ›Ah, welche Schande! Meine arme Herrin! Oh, arme * Guido Cozzano, italienischer Autor, 1883-1916 55
achtzehnjährig und »zart wie eine Zwetschge«. Er nahm's, wie's kam, der Dichter, um es kurz und banal auszudrücken. So wie Polimanti. Die Kammerzofe Felicina Cordone, bei Familie Bosio in Diensten: »Wenn er mich auf der Treppe sah, hat der Polimanti mich oft geküßt«; und Angela Gardelli, die den Dienst bei Familie Oggioni aufgekündigt hatte, kappte kurzerhand die verleumderischen Fangarme der Anklage: »Ich bin weggegangen, weil der Polimanti mir keine Ruhe ließ: Er faßte mich an und wollte mich ständig küssen.« Und sie fügt hinzu, der Bersagliere habe sich damit gebrüstet, alle Frauen zu küssen, die er treffe: die Signora Oggioni gehörte ihrer Ansicht nach jedoch nicht dazu. Der Bursche hatte allerdings nicht verschwiegen, in sie verliebt zu sein, und vertraute dem Dienstmädchen an, daß die Signora ihm schriebe; und einmal ging er so weit, der Gardelli eine Wette um zehn Lire vorzuschlagen, daß er am gleichen Abend die Schlafzimmertür der Signora von innen abschließen werde; er zog die Wette jedoch mit der Bemerkung zurück, er habe kein Vertrauen in die Diskretion der Kammerzofe. Nach Ansicht der Gardelli zog er die Wette jedoch zurück, weil der Hauptmann an diesem Abend aus dem Manöver nach Hause heimkehrte. Kurz: Nur Prahlereien und Dreistigkeiten und nichts dahinter. Ob sie sich denn wegen dieses Angefasses und dieses Geküsses nie bei der Herrin beschwert habe? Die Gardelli antwortet, daß sie sich sehr wohl darüber beklagt habe: Aber auf das Geschimpfe der Herrin habe der Bursche »ein eingeschnapptes Gesicht« gemacht. Er tat beleidigt, wirkte finster und wurde nervös: und statt ihn ins Quartier zurückzuschicken, vergab ihm die 56
Signora nicht nur die Handgreiflichkeiten und Küsse, die Angelina erlitten hatte, sondern sie ertrug auch noch die schlechte Laune, die er wegen der gerechten Vorwürfe bekam. Bis sie schließlich die ergebene Dienerin verlor, weil sie ihn behielt. Angelina war übrigens nicht nur freundlich, sondern auch hübsch: Und es ist gestattet, sie sich »zart wie eine Zwetschge« vorzustellen, und dies nicht nur zur Freude der Signora: es war so, daß fast alle, die den Prozeß verfolgten, boshafterweise mutmaßten, es wäre für die Eifersucht der Signora eine Erleichterung gewesen, als das Dienstmädchen kündigte. Doch während die Eifersucht der Gräfin der schmutzigen Phantasie jedes einzelnen überlassen und von der Anklage nur flüchtig gestreift wurde, kam man auf die Eifersucht des Polimanti gegenüber der Gräfin sehr wohl zu sprechen: Das berichtete ein Zeuge, dem der Bersagliere – von Bersagliere zu Bersagliere – nicht nur anvertraut hatte, von welch paradiesischer Schönheit die Signora sei, ohne das Leinen und die Pikees, die »crèpe georgette«, die Atlasstoffe, den Chiffon und die Voiles, die sie sonst immer trug und in denen ein jeder sie bewunderte; er vertraute ihm auch an, daß er nicht der einzige Nutznießer einer solchen Schönheit sei, da er durch ein Schlüsselloch unzweideutige Herzlichkeiten zwischen der Signora und einem gewissen Doktor Vagliasindi, Ackerbaukundler, beobachtet habe. Der Gerichtshof hatte inzwischen einen Ortstermin in der Wohnung Oggioni beschlossen, um den Ablauf des Deliktes zu rekonstruieren, und so bat ein Geschworener auch darum, ein Experiment durchzuführen, ob das Schlüsselloch tatsächlich als Rahmen für das Bild 57
dienen könnte, das der Polimanti seinem Freund enthüllt hatte. Niemand widersprach dem Antrag, und so preßten beim Ortstermin alle – Richter, Geschworene, Anwälte und Journalisten – das Auge gegen die Schlüssellöcher: erst des Schlafzimmers, das jedoch nur einen verstümmelten und nicht überzeugenden Einblick bot; dann des Salons, wo er vollständig war. Da Polimanti jedoch erzählt hatte, die Umarmung der Gräfin mit dem Agronomen durch das eine wie das andere Schlüsselloch beobachtet zu haben, beantragte Advokat Raimondo die Protokollierung der Feststellungen, die ein zweifelhaftes Ergebnis erbracht hatten. Die Nebenklage aber widerspricht: Man kann die Feststellungen nicht protokollieren, solange ein Gutachter sie nicht beschworen hat. Der Einspruch erscheint töricht und falls er tatsächlich der Strafprozeßordnung entsprechen sollte, so muß es sich um eine Vorschrift von überirdischer Dummheit handeln, wenn sie die eidliche Stellungnahme eines Sachverständigen vorschreibt, damit zu den Akten genommen werden kann, was man durch ein Schlüsselloch sieht. Es scheint undenkbar, daß ein Mensch mit einem derart geheimnisvollen Laster ausfindig gemacht wird: Ein Sachverständiger für Voyeurismus durch Schlüssellöcher. Doch der Gerichtshof findet einen, man erfährt nicht unter welcher Berufsbezeichnung, und beauftragt ihn unverzüglich. Auf dem Sofa umarmt der Generalstaatsanwalt den Protokollführer: Der Gutachter schaut durch das Schlüsselloch, schwört und unterzeichnet. Die Zeugen erzeugen einen leidenschaftlichen Wirbel um die Angeklagte, die immer schöner und seelen58
voller wird. Da sind die Aussagen ihrer Freunde und der Familien Oggioni und Tiepolo, der Familienangehörigen und Freunde des Polimanti und schließlich all derer, die sich in den Schlingen der Justiz verfangen haben, weil sie anderen mitgeteilt haben, sie hätten etwas gesehen, wüßten etwas oder glaubten, etwas zu wissen. Die Angeklagte ist gerührt, wenn sie alte Freunde wiedersieht, und hört, was man über sie sagt; sie bleibt ungerührt, aber wachsam, wenn die Zeugen der Gegenseite aussagen; sie lächelt, lacht sogar und teilt die ausgelassene Heiterkeit der Anwesenden, wenn jemand sich dumm anstellt oder widerspenstig wird. Man kann die Zeugen annäherungsweise in drei Kategorien einteilen: Die Freunde und die Solidarischen, die samt und sonders ihre unverbrüchliche Hochachtung für die Familie Oggioni im allgemeinen und die Signora im besonderen bekunden, und betonen, sie hätten nie und nimmer den Verdacht gehegt, in der Nachsicht der Signora Oggioni gegenüber dem Polimanti, die sie allerdings als übertrieben empfunden hätten, könnte ein anderes Gefühl mitgewirkt haben als eben das der Nachsicht und Gutmütigkeit. Die zweite Kategorie, die Gegner, sind die Familienangehörigen des Polimanti, die aus dem Piceno heruntergekommen sind, und vom aufrechten, anständigen und zurückhaltenden Charakter ihres Verwandten berichten. Sie glauben, im Gegensatz zur ersten Gruppe, daß die Gräfin ihn schamlos aufgereizt habe, um ihn in dem Moment, da sie sich bedroht fühlte, vorsätzlich zu töten, und sie sind sich dessen sogar sicher. In dieser Gruppe tun sich besonders der Paris Polimanti, Schneider in 59
Fermo, sowie ein Landsmann namens Strinchini hervor, der zwar kein Verwandter ist, jedoch ebenfalls Bersagliere, erst kurz bei der Truppe, im gleichen Jahrgang und Regiment wie unser Quintilio, und der für diese Version vertrauliche Details gesammelt hat. Die dritte Kategorie besteht aus Kammerzofen, Arbeitern und sonstigen Personen, die den Polimanti mehr oder weniger oft trafen, hörten, wie er angab oder lamentierte, und gegen die Angeklagte zwar keine feindseligen Gefühle hegten, jedoch ein gewisses Mitgefühl für den Toten nicht verheimlichen konnten; und da sie ihn gekannt hatten, mußten sie aussagen. Es war eine Pflicht, die bei der Bevölkerung im Norden wie im Süden Italiens stets Widerwillen auslöste – der desto größer wird, je weiter man nach Süden kommt, und im Süden so weit geht, Schamgefühle auszulösen. Die Kammerzofen, das muß betont werden, hatte der Bursche ausgiebig betätschelt. Alle bestätigten seine Annäherungsversuche, sagen aber auch, sie hätten diese sofort zurückgewiesen und verlangt, wenn er weiterhin mit ihnen ausgehen wolle, müsse er die Hände ruhig halten. Das Versprechen wurde vielleicht abgegeben, aber bestimmt nicht eingehalten. Den Zeugenaussagen nach zu urteilen, flogen die Hände des Polimanti nur so durch San Remo und betätschelten Jungfrauen wie Eheweiber, egal ob schön oder häßlich. Es sind zweifellos auch die Hände des Burschen, die von zwei Nachbarinnen durch das Küchenfenster der Oggionis beobachtet wurden, wie sie eines Tages zärtlich einen weiblichen Torso abtasteten. Die Nachbarinnen mögen nicht beschwören, ob es der Torso der Signora oder der Kammerzofe war, da die Stellung der 60
Fensterläden keine vollständige Sicht erlaubte; aber sie glauben, wie man hört, es sei der Leib der Signora gewesen, da die Signora, so fügen sie hinzu, sich allzu häufig in der Küche aufgehalten habe und mit dem Burschen vertraulich umgegangen sei und in übertriebener Geschäftigkeit mit ihm geredet und gelacht habe. Schon die Vertraulichkeit war nach Ansicht der Beobachterinnen unschicklich, auch wenn sie es nicht so deutlich sagen. Mit ähnlicher Zurückhaltung beurteilen auch einige Offiziere die Ungebührlichkeit, daß der Bursche, wenn die Signora ans Meer fuhr, im Bademantel am Strand spazierenging, was allen seinen Kameraden rigoros verboten war. Viele Zeugen berichten, daß er sogar die Kabine betreten habe, in der die Signora sich umzog und sie in unbekleidetem Zustand gesehen habe, aber sie haben es nicht selber beobachtet, sondern von Polimanti erfahren. Allen Bekannten hatte er von seiner Liebe zu der Signora erzählt und ihnen auch das Medaillon gezeigt. Jenen, zu denen er Vertrauen hatte, erklärte er, das Bild stelle die Frau des Hauptmanns dar, während er den übrigen sagte, es handele sich um die Frau eines Advokaten. Auch dort, wo er die Identität der Dame preisgab, hatte seine Geschichte zwei Versionen: Einigen gestand er, er sei zwar verliebt in sie, habe jedoch vergeblich versucht, sie zu verführen. Anderen berichtete er, die Gräfin habe sich ihm hingegeben und dies in so unersättlicher Weise, daß er kurz vor der Erschöpfung und dem körperlichen Verfall stehe. Das ausführlichste Geständnis hatte er, wie berichtet wird, seinem Kameraden und Landsmann Strinchini gemacht. Strinchini, der die Verführungsszene schilderte, behauptete, dies in den genauen Wor61
ten seines Freundes zu tun: Wie die Gräfin eines Tages nur leicht bekleidet zu ihm gekommen sei, um mit ihm zu reden; wie er von ihrer Erscheinung so geblendet, fast wie verzaubert worden sei, daß er nicht begriff, was sie sagte; wie er auf die Frage der Gräfin, was es an ihr denn so zu betrachten gebe, nur zu antworten gewußt habe, sie sei schön, schön; und wie er dafür einen Nasenstüber bekam, der fast wie eine Zärtlichkeit war: woraufhin er sie in die Arme nahm, leidenschaftlich wurde und sie hemmungslos küßte, und wie sie schließlich eng umschlungen auf einen Sessel herniedersanken. Die Schilderung wirkte so glaubhaft, daß sie die Advokaten der Verteidigung beunruhigten. Sie versuchten alles mögliche, um den Zeugen unglaubwürdig zu machen, indem sie ihm einen zweifelhaften Lebenswandel unterstellten, vor allem im Hinblick auf seine drei Schwestern, die angeblich Lebedamen waren. Der Ausdruck war ein Pendant zu dem Begriff »leichte Mädchen«: Und so, wie die Damen, auf die er anspielte, keinesfalls Damen waren, war das Leben, das diese Mädchen führten, keineswegs leicht. Es entstand ein Streit zwischen den Anwälten, und Strinchini wurde ausfallend gegenüber Professor Conti, der – mehr noch als Raimondo – ein umsichtiger Verteidiger der Gräfin war. Im Reigen der Zeugenaussagen und im ständigen Wechsel der widersprüchlichen Wahrheiten ist es schließlich die Aussage des Strinchini, die sich, auch wegen der Reaktion der Verteidigung, in den Köpfen der Prozeßbeobachter festsetzt und Aussagen anderer Zeugen, die in die gleiche Richtung zielen, interessant macht, selbst wenn sie unbe62
achtlich sind. Dazu gehört zum Beispiel die des Paris Polimanti, der bei den Oggionis ebenfalls als Bursche tätig gewesen war und von einer Nachlässigkeit der Signora berichtet, die er selber als Verführungsversuch interpretiert: ein Versuch, der wirkungslos blieb, da er einen festeren Charakter und stärkere Prinzipien hatte als sein »unglücklicherer Bruder«. Der Ausdruck wird auch von anderen Familienangehörigen gebraucht und meint einerseits das Unglück, das ihm widerfuhr, als er einer derart unheilvollen Frau in die Hände fiel. Andererseits hat er die Bedeutung von »dieser Unglückliche!« und spielt darauf an, daß auch er, Polimanti, Anstand und Sitte verletzt habe. Die besonnenste Beurteilung des Polimanti stammt freilich von einem Cafetier (es gab noch keine Bars und keine Barmänner): »Der junge Mann war flink, aber strohdumm«, sagte er und man habe die vielen Albernheiten, die Polimanti herumerzählt habe und die er, der Cafetier, sowieso nur mit einem Ohr gehört habe, nicht sonderlich ernst zu nehmen brauchen. Er entzog sich damit geschickt der Aussage und hinterließ gleichzeitig einen Hinweis, der es wert war, beachtet zu werden. Ich glaube, es ist nicht ganz abwegig, wenn ich die Behauptung hinzufüge – die ich nicht nur aus der Gesamtbetrachtung des Falles herleite, sondern auch aus gewissen Details der Berichterstattung –, daß auch die Signora ein bißchen dumm war: wenigstens das bißchen, das zur Ergänzung der weiblichen Schönheit dient und, nach männlicher Ansicht, der Schönheit ihre Aura verleiht. Die Frage der Fehlgeburt – die nach Überzeugung 63
der Anklage absichtlich herbeigeführt worden war, während die Verteidigung schon den bloßen Verdacht entrüstet zurückwies – konnte nicht anders gelöst werden als durch ein gynäkologisches Gutachten. Wenn schon wegen des Schlüssellochs ein Gutachten gebraucht wurde, dann mußte ein solches Thema erst recht ins Licht der Wissenschaft getaucht werden. Man muß jedoch zugeben, daß die Angeklagte und ihre Advokaten dies wollten, da sie ungeschickterweise behaupteten, die Fehlgeburt sei eine Folge des gewaltsamen Zusammenstoßes mit dem Burschen gewesen. Die Behauptung erschien unwahrscheinlich, da ein Monat vergangen war und die Signora zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung weder Anzeichen noch Symptome einer erlittenen Gewaltanwendung zeigte. Daher die Notwendigkeit eines Gutachtens, von dem die Anklage erhoffte, es würde den Beweis erbringen, daß sich die Angeklagte vorsätzlich und absichtlich der »Frucht der Sünde« entledigen wollte. Doch das ließ sich offensichtlich so wenig beweisen wie das Gegenteil, so daß alles so ungewiß blieb wie zuvor: in einer Sitzung unter Ausschluß der Öffentlichkeit, in der die heikelsten Einzelheiten debattiert wurden, die einem heute wie die Geheimnisse höherer Töchter vorkommen würden, wenn es noch höhere Töchter gäbe. Was das Handgemenge betraf, so gab es einen interessanten Hinweis des Polizeikommissars Silvestri. Er hegte nicht den geringsten Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Revolverschusses, erblickte den Beweis für diese Gewißheit jedoch gerade in der Tatsache, daß kein Mitbewohner des Hauses Stimmen oder Krach aus der Wohnung der Oggionis gehört hatte: bevor der Schuß 64
fiel, den alle gehört hatten. Das hatten seine gründlichen Ermittlungen ergeben. Die Anklage hätte diese Feststellung aufgreifen müssen, aber sie ging unter im Sumpf der Zeugenaussagen, die inzwischen tatsächlich einen ansteigenden Sumpf bildeten. Langweilig und zum Ersticken. Die Zeugen, die sich dem Podium näherten, wiederholten fast alle das gleiche: die Geständnisse des Polimanti, sein hemmungsloses Gefingere; die Gefühle der allerhöchsten Wertschätzung für die Signora, das Nie-nichts-gehört-haben-Wollen, was ihren Ruf schädigen oder den kleinsten Zweifel erregen könnte. Hundertvierzig Zeugen: Und etliche werden mehr als einmal aufgerufen. Wie Angelina Gardelli, die vorgeladen wird, um zu bestätigen, daß sie nie gewagt hätte, durch's Schlüsselloch zu spionieren, und dann noch einmal, um zu berichten, wie die Signora sich die Haarspitzen abzuschneiden pflegte: denn die Signora pflegte sich ja die Haarspitzen zu kupieren, wie ihr plötzlich einfiel, als es darum ging, die Locke zu erklären, die der Polimanti in seinem Medaillon verwahrte. Aber sogleich erhielt die Nebenklage einen anonymen Brief von einer Frau, die erklärte: »Ich bin ebenfalls eine Frau und schneide auch die Haare, damit sie schöner wachsen. Ich kann jedoch versichern, daß man sich dabei nicht die Locken abschneidet. Man kappt gerade eben die Spitzen der Haare. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß es irgendwo auf der Welt einen Liebhaber gibt, der so verrückt ist, die Haarspitzen zu sammeln und zusammenzukleben.« Doch das ist nur einer der vielen anonymen Briefe, die auf die Richter, den Ankläger und die Anwälte der Verteidigung wie 65
der Nebenklage herniederregnen: Nur daß Letztere ein Interesse daran haben, Kopien davon an die Presse weiterzureichen, da diese Briefe irgendeine prozessuale Handlung gutheißen, fordern oder auch nur nahelegen. Richter und Verteidiger bekommen ihrerseits Briefe, die vom gleichen Ressentiment getragen sind: Nur daß die Richter aufgefordert werden, hart zu bestrafen, während man den Verteidigern Vorwürfe macht. Vor allem die Frauen befürchten einen Freispruch der Gräfin und würden hierin ein erstes Anzeichen für den Verfall der Familie, der Gesellschaft und des Vaterlandes erblicken. Eine Dame, die mit »Olivia« zeichnet, schreibt im Namen aller italienischen Lehrerinnen: »Wir Lehrerinnen wissen, welcher Mühe, zunächst seitens der Mütter und später unsererseits es bedarf, um einen Mann zu formen, der fähig ist, dem Vaterland zu dienen. Wir mißbilligen daher auf das schärfste den Tod, der dem Soldaten Polimanti durch die frevelhafte und ruchlose Hand einer Frau zugefügt worden ist, die zunächst …« Der Chronist verzichtet darauf, seinen Lesern den Rest des Schreibens mitzuteilen. Sie können sich vorstellen, daß er aus einer obszönen Schilderung der Ereignisse besteht, die sich vor dem tödlichen Schuß zwischen der Dame und dem Soldaten ereignet haben. Aber gewiß hatte auch die Lehrerin diese Ereignisse für sich behalten und ihrer Feder nur Ausdrücke der Verdammnis entfließen lassen. Und wer weiß, was für abgrundtiefe und leidenschaftliche Lieben und Launen – menschlicher und italischer Lebensart – in den übrigen 570 anonymen Briefen an die Nebenklage steckten, in den 350 an die Verteidigung, den 120 an den Vorsitzenden und den 69 Briefen an den öffentlichen 66
Ankläger – ganz zu schweigen von den ungezählten, jedoch zahlreichen, die an die Geschworenen und die Zeitungskorrespondenten adressiert waren. Die Feindseligkeit der Frauen, die den Prozeßbeteiligten schreiben, läßt sich in der folgenden Weissagung zusammenfassen, die zugleich ein allgemeines Bedauern ausdrückt: Sie wird freigesprochen werden. Ihr werdet sie freisprechen, weil sie schön ist. Der Wunsch und die Hoffnung, daß man Gerechtigkeit walten lassen möge, besteht mithin im Gegenteil dieses Wunsches: Sie muß verurteilt werden, weil sie schön ist. Familie und Vaterland (das Vaterland, das in Libyen von Sieg zu Sieg geeilt war und jetzt von Erschießung zu Erschießung eilte) sind nur angeblich in Gefahr, falls ein Freispruch ergehen sollte: Der Hauptpunkt ist die Schönheit der Angeklagten. Es gab allerdings in den unteren Volksschichten auch eine zweite, weiter verbreitete, feindselige Haltung, die nicht so sehr von Frauen, als vielmehr von Männern eingenommen wurde und auf Klasseninstinkt oder Klassenbewußtsein beruhte. Diese Feindseligkeit wurde jedoch durch eine Resignation gemildert, die auf langer Erfahrung beruhte, und bei den politisch Aktiveren noch dazu durch die Tatsache gemäßigt, daß ein Sozialist die Verteidigung übernommen hatte. Man muß allerdings zugeben, daß die anonymen Briefschreiber, die sich die Mäuler verbogen, nicht ganz unrecht hatten. Tatsächlich veranlaßte die Schönheit der Angeklagten die Männer zu ungenauerem und versöhnlicherem Urteil, und davon waren nicht nur die Männer mit Klasseninstinkt oder -bewußtsein betroffen. Eine widersprüchliche Haltung zeigten auch diejenigen – von der weiter 67
verbreiteten Art –, die ein hartes Urteil als Trost für sich selber und als Ermahnung für ihre Ehefrauen, Töchter, Schwägerinnen und Cousinen betrachteten, da es ihrem argwöhnischen und hartnäckigen Wissen um die Gefahren für die Würde der Familie, für ihr selbstgewähltes Wächteramt und somit ihrer Eifersucht entsprach. (So weit ging damals die Familienehre.) »Was ist die Schönheit!« ruft Gioacchino Belli mit grausamem Erstaunen aus: In einem Sonett, in dem er als Beispiel das Kriterium anführt, nach dem die schöneren Kätzchen eines neuen Wurfs aufgezogen und die anderen sofort auf den Müllhaufen kommen, und uns so, eben in all seiner Grausamkeit, eine alltägliche Angewohnheit vor Augen führt, die man selber praktiziert oder von der man gehört hat, ohne zu schaudern. (Den Schauder, der eine Folge des Erschreckens ist, wenn man eine Gänsehaut bekommt und sich einem die Haare sträuben, verspürt man erst, wenn man den letzten Vers des Sonetts von Belli erreicht hat.) Was ist die Schönheit … Die Schönheit einer Frau, sagt Stendhal, ist ein Glücksversprechen, das für uns oder andere reserviert ist. Man muß aber sagen, daß auch die folgende Randbemerkung, die viele Jahre später von Toulet geäußert wurde, äußerst vernünftig ist: »Niemand hat je behauptet, daß das Versprechen eingehalten worden wäre.« Die Zeugenaussage des Professors Pompeo Molmenti, eines königlichen Senators, ragt als Abwechslung heraus zwischen den Zeugenaussagen des Antonio Sciacca – eines inzwischen entlassenen Bersagliere, der von Marsala gekommen ist, um über die schon 68
bekannten Geständnisse des Polimanti hinaus jene letzte Aussage über den »Schlamassel« zu bezeugen, in den Polimanti geraten war, weil die Signora schwanger geworden war, ohne ihrem Mann eine Erklärung dafür bieten zu können – und einer Clarice Pasquali, die von Casal Monferrato gekommen ist, um als Kammerzofe der Mutter der Angeklagten von den Handgreiflichkeiten des Polimanti zu berichten, die sie jedoch kraftvoll zurückgewiesen habe: was glaubhaft war, wenn man ihre Statur betrachtete. Der Professor war venezianischer Geschichtswissenschaftler mit besonderem Interesse für das lockere Leben der Stadt im 18. Jahrhundert und ihren in diesem Sinne besonders illustren Sohn, und seinen auch heute noch brauchbaren Studien wie der Sittenstrenge seines Lebenswandels verdankte er die Purpurwürde eines Senators. Er veröffentlichte in eben dem Jahr seine Epistolari veneziani del secolo XVIII, die ein sehr dichtes und immer noch nützliches Werk sind, und vermutlich beschäftigte er sich gerade mit dieser Arbeit, als er sich von Venedig nach Oneglia begab, um auszusagen. Bereits 1910 hatte er eine erste Kostprobe seiner Carteggi casanoviani veröffentlicht, denen weitere in einer erheblich umfangreicheren Sammlung folgen sollten, die zwischen 1916 und 1919 erschienen. Einer der bekanntesten und unermüdlichsten Casanova-Forscher ist der nordamerikanische Botschafter J. Rives Childs (die Leidenschaft für Casanova scheint vor allem unter den Diplomaten zu gedeihen – vielleicht begünstigt durch ihr Herumreisen von einer Hauptstadt zur nächsten, die viele Freizeit und den freien Zutritt, den sie allenthalben genießen). Childs 69
zählt Senator Molmenti zu den herausragenden Casanova-Forschern, da er nicht nur aufschlußreiche Dokumente entdeckt, sondern Casanova in Italien überhaupt erst bekannt gemacht habe, nachdem es über ein halbes Jahrhundert gedauert hatte, bis seine Memoiren veröffentlicht wurden. Schwerwiegender noch als diese Verspätung war im übrigen die Verstümmelung des Werkes, die dadurch entstand, daß man die pikantesten Teile, die am mechanischsten sind und zahlreiche Wiederholungen enthalten, getrennt publizierte und einem großen Publikum zugänglich machte, so daß selbst die Leser erreicht wurden, die gerade erst alphabetisiert worden waren. Es ist gut denkbar, daß auch Polimanti sich von einem fernen Vorbild Casanova hatte anregen lassen, denn er ähnelte ihm in vulgärer Weise, zumindest was den unersättlichen Appetit, die Überheblichkeit, das rasche Anbandeln, die Frechheit und seine ausgeprägte Neigung für Kammerzofen betraf. Doch zu Professor Molmenti: Er gehört zu jenen Persönlichkeiten aus der Welt der Wissenschaft und Kultur, die mich außerordentlich interessieren und faszinieren: allesamt Leute, die beinahe ihre gesamte Existenz dafür hergeben, andere zu beschatten und auf den Fußspuren von Menschen zu wandeln, die das genaue Gegenteil ihrer selbst, ihrer eigenen Lebensart und -ziele bilden. Der Ausdruck »auf den Fußspuren gehen« fiel mir ein, als ich an eine Gestalt dachte, die dafür das treffendste Beispiel bietet: Der Katholik Petro Paolo Trompeo, der gleichsam (oder zweifellos) ein Jansenist ist – ein ernster und schlichter Mensch, der in einem stets strengen Stil schreibt und schon als Jung70
ling damit begann, auf den Fußspuren des Atheisten und Freigeistes Stendhal durch das romantische Italien zu wandern und ihm sein Leben lang, auch anderswohin und in anderen Zeitläufen zu folgen: mit einer Liebe und einer Sensibilität, die ich fast unvergleichlich nennen würde. Und tatsächlich wandelte er in seinem ersten Buch Durch das romantische Italien auf den Fußspuren von Stendhal. Die Aussage des Professors und Senators Molmenti gibt dem Prozeß allerdings – was vorhersehbar war – nicht die kleinste casanovanische Note. Sie berührt drei für die Verteidigung nützliche Punkte: Die Schwächeanfälle der Gräfin in Augenblicken großer Erregung (der Professor erwähnt als Beweis dafür ihre Ohnmacht während der Beisetzung des Senators Tiepolo); den Adel ihrer Familie, die sogar einen Dogen und eine Königin hervorgebracht habe; und schließlich das Gefühl für Ehre, die in dieser Familie stets hochgehalten werde (ein Großvater der Angeklagten habe sogar Bankrott gemacht, da er die Schulden eines Verwandten übernommen habe), so daß – und damit schloß der Professor – der Name Tiepolo und das Wort Ehre als Synonyme angesehen werden müßten. Man mag, um seine Aussage auf den Punkt zu bringen, hinzufügen: Um so schlimmer für Polimanti, daß er keine Ahnung von der Schwäche der Gräfin hatte und nicht wußte, was ein Synonym ist. Mit dem Lokaltermin in San Remo – den Beschreibungen der Zeitungen nach zu urteilen ist die Wohnung, die seit dem Tag der Tragödie verlassen daliegt, staubig und düster (eine Hausbewohnerin, die sich am 71
Fenster zeigt, behauptet angeblich sogar, sie sei unheilvoll: Ein Zollbeamter sei auf dieser Etage fehlgetreten und habe sich zu Tode gestürzt; der Bursche des Vormieters der Oggionis habe wegen eines Tadels seines Hauptmanns Selbstmord verübt und sei so gut wie tot gewesen, als man ihn aus der Wohnung getragen habe, und vielleicht dachte Polimanti an dieses Ereignis, als er behauptete, er hätte sich umgebracht, wenn es ihm nicht gelungen wäre, mit der Signora ins Bett zu gehen) – mit dem Lokaltermin in San Remo also beginnt die öffentliche Meinung sich auch ein Bild vom Hauptmann Oggioni zu machen. Dazu trägt die lange Reihe der Aussagen seiner Kollegen und Vorgesetzten bei, die allesamt ihre Hochachtung und Solidarität bekunden, wenngleich sie in einem Punkt ihre Überraschung und Vorbehalte zu erkennen geben – wie bereits bei der Aussage des Hauptmanns Bosio festzustellen war. Warum nur hatte er den Polimanti behalten, obwohl alle Kollegen fortgesetzt geraten hatten, ihn zum Regiment zurückzuschicken? Und sie hatten es Oggioni nicht nur in Einzelgesprächen und privat empfohlen, sondern auch kollektiv und offiziell: die ihm ranggleichen Offiziere hatten regelrecht über den Fall Polimanti beraten und dem Hauptmann ihre einstimmige Empfehlung übermittelt, den Polimanti aus dem Haus zu jagen. Woraus sich ergab, daß es nicht stimmte, was die Offiziere als Zeugen bekundet hatten: Sie hätten nie irgendwelches Gerede über das Treiben des Burschen im Hause Oggioni gehört. Den Kameraden, die ihn drängten, den Polimanti wegzuschicken, antwortete der Hauptmann, er befürchte, daß man den Burschen in die Strafkompanie stecken werde, wenn er zum Regiment 72
zurück müsse. Man kenne ja seinen sonderlichen und heftigen Charakter, der sich keiner Pflicht beuge. Gänzlich unglaubwürdige Gründe auch in Anbetracht der häuslichen Dienste, zu denen Polimanti eingeteilt war. Und warum sollte ausgerechnet ein Berufsoffizier einer Armee, deren Disziplin zu jener Zeit fast an Sadismus grenzte, einen Soldaten jener Disziplin entziehen, die man als unübertreffliche Lehrmeisterin des Lebens schätzte, wenn er ihrer mehr als andere zu bedürfen schien? Die Journalisten, die am Ortstermin teilgenommen und das Appartement mit düsterer Melancholie beschrieben hatten, sagten: »Die Kinder sind fort, leben jetzt bei der Großmutter mütterlicherseits, und auch der Hausherr ist weit weg.« Weit weg wo? Weit weg von der Ehefrau natürlich: an die er vielleicht nicht mehr glaubte. Man hielt es jedenfalls für seine Pflicht, ihr nicht zu glauben, wenn die anderen ihr nicht glaubten (aber diesen Mechanismus hat schon Pirandello gequält und bestürzt untersucht). Seine Abwesenheit im Gerichtssaal, die man zuvor nicht bemerkt oder nicht notiert hatte, erschien seit dem Ortstermin wie eine Brüskierung der Ehefrau, wie eine Anklage. Die Diskretion, mit der die Zeitungen dies nur eben andeuteten, ist bewundernswert. Heutzutage würde aus einem solchen Säuseln ein Getöse, Sturm und Donnerwetter werden: wie die Darstellung der üblen Nachrede im »Barbier«, die am Anfang von der Flöte begleitet und am Ende von der Kesselpauke bekräftigt wird. Egal, wie weit weg der Hauptmann sein mochte, er wäre gehetzt, aufgestöbert, herausgetrieben und zum Interview gestellt worden, damit er die gewünschten Erklä73
rungen abgäbe – das heißt jene, die der Frau vor Gericht schaden würden. Und selbst wenn der Hauptmann sein Vertrauen und seine Liebe zur Ehefrau bekräftigt hätte, wären aus seinen Worten Ressentiments oder Zweideutigkeiten irgendwelcher Art herausgehört worden, die dazu gedient hätten, ein Geschnatter zu veranstalten. Man neigt dazu, mit dem Älterwerden unweigerlich die Vergangenheit zu loben; aber das nimmt der Vergangenheit nicht die Dinge, die tatsächlich lobenswert sind. Eine derartige Diskretion findet in den abschließenden Plädoyers der öffentlichen Anklage und der Nebenklage offensichtlich nicht statt. Advokat Conti beschränkt sich für die Verteidigung als notwendige Vorsichtsmaßnahme mit einem flüchtigen Hinweis auf den »brennenden Schmerz des Hauptmanns«. Der Ausdruck entsprach nicht einfach nur der Rhetorik, der die Advokaten damals mehr als heute anhingen und zu der sie gewissermaßen verpflichtet waren; er entsprach zweifellos auch der Seelenlage des Oggioni; die Ankläger ziehen ihn dagegen mit hinein und klagen ihn ebenfalls an: seine Pflichten als Ehemann und Vater nicht erfüllt zu haben: einerseits wegen seiner Zurückhaltung gegenüber der Gräfin, seiner Frau, andererseits, in den Niederungen des tragischen Ereignisses, da er, trotz der Ermahnungen seiner Kollegen, den unternehmungslustigen Burschen im Haus behalten hatte. Unglückseliger Polimanti – ein schlechter Kerl war er nicht, nur ein zarter Jüngling im Ungestüm seiner zwanzig Jahre –, der das Pech hatte, in der Gunst des Hauptmanns Oggioni zu stehen: so sah ihn Advokat Rossi von der Nebenklage. Was die Zurückhaltung des 74
Hauptmanns hinsichtlich seiner Gattin betrifft, so muß dieser Ausdruck dechiffriert und im Sinne von Enthaltsamkeit oder Zurückhaltung in den sexuellen Beziehungen interpretiert werden. Man versteht nicht genau, ob die Anspielungen der Anklage nur Versäumnisse und mangelnde Häufigkeit oder »amplexus interruprus« bedeuten. Das Wort »Zurückhaltung«, das voller Ironie steckt, kann verschiedene Grade in diesem Sinne ausdrücken. Die Sprache war, wie wir bereits sagten, voller Schamhaftigkeiten: so daß der Vorsitzende, als der öffentliche Ankläger im Feuer seines Plädierens fragte, ob er gewisse wollüstige Details referieren dürfe, über die man hinter verschlossenen Türen gesprochen habe, ein »Nein« brüllte und außer sich geriet. Die »Zurückhaltungen« hatten sich folglich einzig und allein aus vertraulichen Mitteilungen des Polimanti an seine Freunde ergeben: Vertraulichkeiten, in denen der Hauptmann – und man kann sich vorstellen, mit welchem Spott – als Malthusianer strenger Observanz bezeichnet wurde. Genauso hatte der Bursch ihn bezeichnet: als »Malthusianer«. Das Wort mußte aus seinem Mund und für seine Zuhörer etwas forastisch und erläuterungsbedürftig klingen. War es vorstellbar, daß ein Polimanti von sich aus auf das Wort in dieser Bedeutung gestoßen war und es nicht einem intimen Geständnis der Gräfin verdankte? Die Plädoyers dauerten vom 26. Mai bis zum 2. Juni. Worte über Worte, aus denen ein schmächtiger Archipel konkreter Elemente und Indizien auftauchte, die auf die eine oder die andere Wahrheit verwiesen. Die Wahrheit der Verteidigung, daß die Angeklagte in 75
Notwehr gehandelt habe, um ihre Ehre, wie die ihrer Familie zu retten (wenngleich sie mit dieser vorsorglichen Erklärung nicht ausschließen mochte, in zweiter Linie als Wahrheit hinzuzunehmen, daß die Gräfin im Augenblick der Tat seelisch konfus, überreizt und außer sich gewesen sei). Und die Wahrheit der Anklage, die ein kaltblütiges und vorsätzliches Delikt unterstellte, dem man lediglich zugutehalten konnte, daß dabei die Absicht mitgespielt haben mochte, den äußeren Anschein der eigenen und der familiären Ehre zu verteidigen: doch nur den Anschein, da die Gräfin sie bereits in den Schmutz gezerrt hatte, als sie den Burschen verführte oder sich ihm hingab. Die Angeklagte war, wie es scheint, nicht abgeneigt, die gutgemeinte Absicht, den Anschein von Ehre zu retten und den Zerfall der Familie zu verhindern, als mildernden Umstand zu werten und das heißt, die Strafe herabzusetzen: aber nur, wenn die Gräfin wegen vorsätzlichen Mordes bestraft wurde. Der Gentiloni-Pakt als Bollwerk der Institution Familie gegen die verrückte Suche nach dem persönlichen Glück war zu nahe. Das bestätigten selbst diejenigen, die das Glück am besessensten verfolgten: Die bürgerlichen Angehörigen einer zusammengewürfelten, amorphen, quantitativ unbestimmten, jedoch zweifellos mehrheitlichen Bourgeoisie. Der Pakt war ja auch nicht aus dem Nichts entstanden: Er gründete sich auf eine alte, weitverbreitete Erbschaft und Erbanlage, die dem Kult und der Verherrlichung des äußeren Scheins gewidmet war; auf den Imperativ, den Anschein zu wahren, gerade wenn der Inhalt sich auflöst. Die Anklage besaß konkrete Argumente und Indi76
zien, die zusammengenommen beweiskräftig waren, doch sie begnügte sich damit, in ihrem Plädoyer das Verlangen einer schönen Frau von fünfunddreißig nach einem jungen Mann von zweiundzwanzig herauszustellen, der schön, stark, kindlich und von unbesonnener Kühnheit war. Auch das konkrete Argument – das verschwundene Medaillon, das die Angeklagte nach eigenem Eingeständnis gesehen und dem Polimanti wegnehmen wollte – wurde ohne viel Aufhebens übergangen. Man hätte das Verschwinden ausdrücklich der Militärbehörde anlasten müssen, die die Effekten des Mannes sofort beschlagnahmt hatte. Aber wie konnte man in diesem heroischen Augenblick und in diesem patriotischen und militaristischen Taumel, in dem Italien sich befand, die Armee mit einer Anschuldigung verunehren? Der öffentliche Ankläger hütete sich, das Medaillon auch nur zu erwähnen: Er überließ das Thema der Nebenklage, die davon lustlos Gebrauch machte. Auf seiten der Verteidigung war Professor Conti der einzige, der eine – sowohl im Sinne des Rechts, als auch im Licht des Empfindens – klare und tiefschürfende Argumentation vertrat: Auch die Frau aus der Gosse hat das Recht, einen Mann zurückzuweisen, sich zu wehren und ihn vielleicht sogar zu töten, wenn er sie mit Gewalt zu nehmen versucht; jede Frau hat das Recht, eine Liebesbeziehung zu beenden – aus Reue, aus Bequemlichkeit oder aus Langeweile –, wie sie möchte; und konsequenterweise gehört zu diesem Recht auch der Gebrauch der Waffe, wenn man sie mit Gewalt zwingen will, eine Beziehung fortzusetzen, und ihre Kraft nicht ausreicht, den anderen zurückzuweisen. Natürlich, fügte er hinzu, habe weder der eine 77
noch der andere Fall etwas mit dem Fall der Gräfin zu tun: die – was selbst für den abgefeimtesten Verleumder offensichtlich sei – weder eine Frau aus der Gosse sei, noch von dem Verdacht berührt werde, den die Anklage vortrage, indem sie die Fakten verdrehe und Gerüchten Glauben schenke, die auf schamlosen Phantasien und Prahlereien des Polimanti beruhten, nämlich, daß die Gräfin ihn getötet habe, um eine Beziehung zu beenden, die für sie lästig und riskant wurde. Die Argumentation schlug, wie es scheint, keine sonderliche Bresche in die Mauer der öffentlichen Meinung, mit der auch die Frauen übereinstimmten: daß zwischen Straßenprostitution und Ehebruch nur eine dünne und sehr bewegliche Grenze verlaufe; und daß eine Frau, die sich einmal in diesen Bereich begeben hat und an dieser unsicheren Grenze steht, einen Mann nicht deshalb umbringen darf, weil er das verlangt, das er von ihr bereits in anderen Fällen erhalten hat. Und natürlich glaubten das auch die Ehebrecher: Die ihren Ehebruch offensichtlich für heilig hielten, da sie ihn aus Liebe begingen, »stärker als der Tod« und geeignet, die Heiligkeit der Ehe in den Schatten zu stellen, während der Ehebruch anderer einfach nur Prostitution war. Man kann sich denken, wie eine solche Vorstellung die Zustimmung und Unterstützung aller Ehebrecher finden mußte. Die größten Erwartungen galten dem Plädoyer von Advokat Raimondo, der als letzter sprach und das stundenlang. Er enttäuschte nicht, sondern erschütterte und begeisterte sogar noch. Bart und Mähne zitterten stürmisch im Winde seiner Beredsamkeit, und tatsächlich rezitierte er eines dieser bebenden Plädoyers, an denen 78
früher die Tüchtigkeit eines Advokaten gemessen wurden, so wie heute noch die der Politiker. (Wenn ein Politiker sich im Fernsehen zeigt, um zu reden, hat der Fernsehzuschauer einige Stunden später nur noch die Erinnerung, daß er »gut gesprochen« hat, und es wäre sinnlos zu fragen, worüber, denn er war desto besser, je mehr er über nichts gesprochen hat.) Und ich lese Raimondos Plädoyer, ohne darin ein Gefühl zu verspüren und ohne etwas Überzeugendes darin zu finden. Doch im Saal des Schwurgerichts von Oneglia weint das Publikum und klatscht Beifall. Natürlich weint auch die Angeklagte. Und es weinte (wenngleich etwas weniger, versteht sich, einerseits wegen der Unbeirrbarkeit, zu der er verpflichtet war, andererseits aus der Gewohnheit, jedwedes Gefühl zu unterdrücken, das einen beim Anhören bewegender Ansprachen überfallen könnte) sogar der Vorsitzende des Gerichtshofes, der zur Gerichtsglocke griff, um den Beifall zu unterbinden, wenngleich weinend. Ein Rechtsanwalt, der eine Frau verteidigen mußte, die angeklagt war, einen Mann umgebracht zu haben, um ihre Ehre zu verteidigen oder zu rächen – die sich ihm verweigert oder in der Hoffnung auf sein Eheversprechen hingegeben hatte, woraufhin er sie hatte sitzen lassen – hatte in seinem Inneren unzählige und hartnäckige Stimmen, jahrhundertealte Vorurteile und Gemeinplätze zum Schweigen zu bringen, die einen Apparat von Doktrinen, ein System von Überzeugungen und infolgedessen von – unverhüllten oder geheimen – Verhaltensweisen geschaffen hatten, die als Tugenden in Erscheinung traten oder sich als Laster 79
verbargen. Das galt auch für die Fälle, in denen die Frau angegriffen worden war und Klage führte wegen einer erlittenen Gewalttat, die vom Gesetz mit harten Strafen geahndet wurde: zwischen drei und zehn Jahren, mit erheblichen Strafverschärfungen, wenn die Gewalt gegen Minderjährige oder »unter Mißbrauch eines Abhängigkeits- oder Vertrauensverhältnisses oder eines häuslichen Arbeitsverhältnisses« verübt wurde: das heißt durch einen Don Bartolo gegen eine Rosina (Der Barbier von Sevilla: wenn Don Bartolo sich weniger um seine Obliegenheiten und mehr um seine Wünsche gekümmert hätte); durch einen Rustico gegen eine Alibech (Das Decameron, dritter Tag, zehnte Erzählung); durch einen Hausherrn gegen das Zimmermädchen oder seine Cousine, die zu Besuch war und die er während des Mittagsschlafes überraschte. Die Kommentare gehen darüber hinweg, doch offensichtlich war die Unberührtheit, die durch die Gewaltanwendung verloren ging, in diesen Prozessen für gewöhnlich eine Art Voraussetzung und ein Pluspunkt für die Klägerinnen; deswegen die entwürdigenden medizinischen Gutachten von Amts wegen und auf Antrag der Angeklagten, um festzustellen, ob die Frau vor dem Ereignis die Jungfernschaft noch besessen habe und wann diese verloren gegangen sei. Wie die medizinische Wissenschaft das Wann feststellen konnte, bleibt ihr Geheimnis, aber ihre Geheimnisse hat sie im Lauf ihrer Entwicklung immer gehabt. Magalotti berichtet von den Dingen, die die Mediziner mal empfahlen und dann bekämpften, und Savinio berichtet, er habe im Laufe seines Lebens erlebt, wie sich die medizinischen Ansichten über die Tomate viermal geändert hätten. Die Jungfernschaft 80
also: Sobald man diese Frage nicht stellte, weil die Vergewaltigung nicht diesen Schaden hervorgerufen hatte, verlief ein solcher Prozeß derart dubios und entwürdigend, daß die Gewaltopfer – und vor allem ihre Familienangehörigen – jeden Versuch, Recht zu bekommen, aufgaben. Es war fast die Regel: und man muß annehmen, daß sie noch heute gilt. Sobald ein Anwalt eine Frau zu verteidigen versuchte, die aus Ehrengründen getötet hatte oder die Position einer Vergewaltigten gegen ihren Vergewaltiger unterstützte, hatte er, trotz der Unnachgiebigkeit des Gesetzgebers in Ehrendelikten und der strengen Strafvorschriften gegen sexuelle Gewalttäter, mit Behinderungen und Unwägbarkeiten zu tun. Ich spreche vom Anwalt von früher und nicht von seinem Stand als einer abgehobenen Berufsgruppe, sondern im Kontext einer Gesellschaft, eines Ambientes und eines Systems von Glaubenssätzen, das nahezu total akzeptiert und praktiziert wurde (aber auch heute noch gibt es Hörigkeiten und plötzliches, unvorhersehbares Aufbegehren dagegen). Die Überzeugung, die Frau habe bewußt oder unbewußt an ihrer Vergewaltigung mitgewirkt und sei als solche eine Provokation, war tief verwurzelt, rastet ein wie geschmiert. Man erzählte sich zum Beispiel, wie eine Legende oder einen Mythos, der einen wahren Kern enthält, die Anekdote von einem Rechtsanwalt (meist stammte er aus Neapel, es konnte sich aber auch um die jeweilige lokale anwaltliche Berühmtheit handeln), der als Verteidiger eines Vergewaltigers einen der Carabinieri, die den Gerichtssaal zierten, darum bat, seinen Säbel aus der Scheide zu ziehen und 81
ihm diesen zu überlassen. Dann mußte der Carabinieri den Säbel zücken und versuchen, ihn in die Scheide zurückzustecken, die der Anwalt langsam und fast unmerklich hin und her bewegte. Der Carabiniere schaffte es nicht, seinen Säbel wieder zu verstauen, und der Anwalt erreichte damit den Freispruch seines Mandanten. Eine sehr effektvolle Metapher, zu der stets gegriffen wurde, um die Möglichkeit einer Vergewaltigung überhaupt zu verneinen (und ich meine mich zu erinnern, daß die gleiche Metapher mehrfach in Tausendundeine Nacht auftaucht, wenngleich freundlicher). Es ist allerdings zu bezweifeln, daß sie auf die Richter Einfluß hatte, da sie die unschwer zu erlangende Kenntnis gehabt haben dürften, daß eine Vergewaltigung nicht einfach in dem Vorgang besteht, von dem die Metapher handelt, sondern in den unübersehbaren Drohungen und der Gewalt, die ihm vorausgehen. Und man muß aus mehreren Gründen bezweifeln, daß sich die Episode jemals in einem Gerichtssaal ereignet hat. Der Carabiniere durfte das kapriziöse Spiel des Anwalts laut Dienstvorschrift nicht mitmachen, bevor nicht deutlich war, daß es sich bloß um eine Metapher handelte. Die Richter und Staatsanwälte wären eingeschritten, da die anwaltliche Bitte als momentane Geistesschwäche erscheinen mußte. Und der Verteidiger selbst mußte befürchten, daß der Carabiniere in seiner Aufregung und Nervosität ihm in die Hand stechen oder schneiden würde, und es ist kaum vorstellbar, daß ein Verteidiger so sehr in seine Tätigkeit versunken ist, etwas Derartiges nicht zu berücksichtigen. Aber wie auch immer: Die Metapher wird noch immer als glaubhaft verbreitet, auch wenn man sich heutzutage auf sie 82
vorsorglich nur noch als eine Episode von früher beruft. Daß die Frau ihre Vergewaltigung provoziere und deshalb an ihr selber schuld sei, ist eine Vorstellung, die auch in der Sache Polimanti durchschimmert, wie wir an dem Bedauern für Polimanti gesehen haben, das der Reporter an einer Stelle anstimmt. Sie schwingt auch im Plädoyer des Rechtsanwalts Raimondo mit: der die Gräfin zunächst von jeglicher, auch der geringsten Schuld reinigt, um ihr dann bis zu ihrem Tod die Strafe aufzuerlegen, »stets einen dunklen Schatten« um sich zu verspüren, »durch den ihr Ehemann zum Gespött der Leute« gemacht werde, und sie mit diesem Bannfluch zu entlassen: »Das ist die Bürde deiner Sünde, die du auf den Schultern tragen wirst, wenn du mit zitterndem Haupt, als wärst du gefallen, dich der vergebenden und unfehlbaren Gerechtigkeit Gottes nähern wirst.« Der Satz ist eine Anspielung auf die römische Lukrezia, die freilich nicht einen anderen, sondern sich selber getötet hatte – eine Tatsache, auf die der Professor gerade dadurch hinweist, daß er sie verschweigt. Die Selbstverurteilung und Selbstbestrafung als notwendige Konsequenz der weiblichen Verpflichtung, sich dem Mann, der sie begehrt, hinzugeben, ist ein Mythos, der den Frauen seit Jahrhunderten angeboten wird. Er ist der vielleicht männlichste Mythos, der jemals erfunden wurde und hat seinen festen Platz im Fundus der nicht eben zahlreichen römischen Legenden und Überlieferungen der Italiener. Und so wie Lukrezia die Tugend verkörpert, repräsentiert Messalina das Laster. Und warum sah Advokat Raimondo 83
nicht voraus, daß das Bild der Lukrezia, das er für den Fall der Gräfin Tiepolo beschwor, sich nicht sofort in das der Messalina verwandeln mußte? Tatsächlich steht in der Zeitung: »Sie ist eher eine Messalina, die sich am Gladiator sättigt, um ihn anschließend umzubringen.« Advokat Rossi von der Nebenklage (»O Freund Rossi«, beschwört Advokat Raimondo ihn in seinem Plädoyer, um ihn von etwas zu überzeugen, wovon er selber nicht überzeugt war) hatte eine sehr viel leichtere Aufgabe: freimütig konnte er sagen, was der Verteidiger heimlich fühlte: er durfte anklagen, spotten und sogar beleidigen. Kurz gesagt: das, was Montaigne ohne Engstirnigkeit und sogar mit Freundlichkeit und Leichtigkeit gesagt hatte, als er die Sache gutwillig als das hinnahm, für das er sie hielt, und sich noch darüber freute: über die Liebe der Frauen und ihre Art zu lieben »gibt es nicht ein Wort, ein Beispiel oder eine Geste, die wir nicht bereits besser aus unseren Büchern kennen, es ist alles festgelegt in ihrem Blut«: dieser Gedanke von Montaigne wurde allerseits im Gerichtssaal von Oneglia wiederaufbereitet, aber engstirniger, finsterer und obszöner. Und das nicht nur im Gerichtssaal, nicht nur von Männern, und wer weiß, ob er sich nicht auch in die Gefühle der Angeklagten – Reue, Gewissensbisse und Angst – einschlich. Man kann sich, wenn es gilt, eine boshafte Anspielung zu verstehen und ein geheimes Einvernehmen mit dem Nachbarn aufzubauen, den Konsens vorstellen, das maliziöse Augenzwinkern und Sich-in-die-Seite-Schubsen, mit dem während der Verhandlung die Frage aufgenommen wurde, die Advokat Rossi der Oberin der Barmherzigen Schwestern von 84
San Remo stellte, wo die Gräfin zu Gast gewesen war und eine Haltung gezeigt hatte, die von der Oberin als »erbaulich« für die Schwestern und sich selber bezeichnet wurde. Der Advokat hatte gefragt: »Aber bei Ihnen im Kloster gab es doch keine Männer, oder?« Darauf die Oberin mit gekränkter Treuherzigkeit: »Männerhaben in den Klöstern der Schwestern keinen Zutritt.« 1913 ist das Jahr der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, des Gentiloni-Paktes, der Guerilla in Libyen (die, stärker als der vorangegangene Krieg, der Mehrheit der Italiener einen Sinn für kolonialen Besitz, den Stolz des »o du mein Afrika« und die Gleichheit mit den anderen europäischen Nationen vermittelte, die in überseeischen Besitzungen schon länger und geschickter tätig waren); und es ist das Jahr, in dem der Nationalismus Bewegungen und Zuckungen auslöst, die der Außenpolitik der Regierung zuwiderlaufen. Es gibt noch eine Neuigkeit: der endgültige Text der Strafprozeßordnung tritt in Kraft. Anhand der Zeitungsberichte über den Tiepolo-Prozeß machen sich die Italiener eine Vorstellung von den formalen Neuerungen des Strafprozesses. Doch das Strafgesetzbuch bleibt das von 1889 : ein Gebäude, an dem aus Angst, es könnte zusammenbrechen, nichts verändert wird. Um nicht abzuschweifen vom Fall Tiepolo: Ein Vorsatz, was ist ein Vorsatz? Nicht mehr und nicht weniger als das: Ein Vorsatz ist ein Vorsatz. So wie alle genau wissen, was die Kunst ist (mit dieser geistreichen Bemerkung beginnt Croce seine Ästhetik), gehen das Strafgesetzbuch und mit Sicherheit auch die Richter davon aus, daß alle wissen, was ein Vorsatz ist. Artikel 364: »Wer 85
mit dem Ziel zu töten den Tod eines anderen verursacht, wird mit einer Haft zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren bestraft«; doch Artikel 366 fügt hinzu, daß in sechs Fällen lebenslängliche Freiheitsstrafe anzuwenden ist: darunter, an zweiter Stelle, wenn die Straftat »mit Vorsatz« begangen worden ist. Das ist alles. Es gibt einen Roman von Simenon – »Maigret hésite« –, der sich um den Artikel 64 des französischen Strafgesetzbuches rankt (mir scheint jedoch, man sollte in diesem Fall besser sagen, er folgt ihm) und der dank der Magie der Zahlen dem italienischen Artikel 46 entspricht. Seltsamerweise ist jedoch der italienische Artikel genauer: »Wer eine Straftat im Zustand geistiger Verwirrung verübt und dadurch außerstande ist, diese in bewußter und freier Entscheidung über seine Handlungen zu begehen, wird nicht bestraft.« Die französische Vorschrift besagt dagegen, daß »keine strafbare Handlung vorliegt, wenn der Angeklagte …«. Im einen Falle liegt also ein Strafausschließungsgrund vor, im anderen überhaupt keine Straftat. Was nun den Vorsatz betrifft, so ist er das völlige Gegenteil dessen, was dieser Artikel definiert, nur daß es im vagen beläßt. Die Strafverschärfung durch den Vorsatz wird deshalb fast immer, und oftmals extrem, gegen den Angeklagten angewandt, der hinreichend Zeit hatte, über seine Entscheidung, seinen Nächsten umzubringen, nachzudenken. Das heißt, die Zeit, die es braucht, bis die Leidenschaft so weit erkaltet ist, daß man seinen Tötungswunsch aufgeben kann. Und wenn die Leidenschaft nicht abkühlt (wobei die Zeit der Abkühlung im übrigen nicht für alle immer gleich lang sein muß), so folgt 86
daraus, daß die Entscheidung zu töten kalt und vorsätzlich getroffen wurde. Unberücksichtigt bleibt schließlich auch, daß die Zeit des Nachdenkens, einerlei, wie lange sie dauert und ferner, je länger sie dauert, mit einer Steigerung der Leidenschaft und der Erregung einhergehen kann, bis hin zum Delirium. Im Falle Tiepolo war nach Ansicht der Anklage der Vorsatz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben, da die Gräfin genügend Zeit zum Nachdenken gehabt habe. Im übrigen habe sie die Chance erblickt, sich einer Beziehung zu entledigen, die unbequem und bedrückend geworden war, und, durch die unvorhergesehene und unerwünschte Schwangerschaft, für sie und ihre Familie bedrohliche, schwerwiegende und unabwendbare Konsequenzen haben mußte. Doch das Argument überzeugt nicht. Die Chance, von der die Anklage ausgeht, konnte nicht dauerhaft sein, da die Gräfin mit Verhaftung, Gefängnis und Strafprozeß rechnen mußte. Vor allem aber mußte der Tod des Polimanti in ganz Italien eine Überzeugung schüren, die nur wenige gehabt hätten, wenn er am Leben geblieben wäre: die nämlich, daß sie seine Geliebte gewesen sei. Daraus folgt, daß die Tat nicht vorsätzlich begangen wurde: Die Gräfin schoß, ob man nun an die amouröse Beziehung glauben will oder nicht, aus Leidenschaft und verzweifelter Eigenliebe, so oberflächlich oder tiefgehend diese auch sein mochte, um den Anschein zu wahren oder ihre Freiheit zu erlangen. Nichts wäre ungerechter gewesen, als das strafverschärfende Merkmal des Vorsatzes anzuwenden; und ebenso ungerecht – wenngleich nicht allzu ungerecht –, ihr eine Notwehrsituation zuzubilligen: 87
jedenfalls, wenn man die Stille berücksichtigt, die der Tat vorausgegangen war, die Entfernung, die den Körperkontakt ausschloß, die Entsicherung der Waffe und das genaue Zielen, das nicht darauf gerichtet war, den Mann abzuwehren oder zu verletzen, sondern zu töten. Und als Schlußfolgerung: Abgesehen von kriminellen Vereinigungen, die ihre Verbrechen mit dem gleichen Vorsatz reifen lassen wie Staaten ihre Kriegserklärungen oder gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen, sollten fast sämtliche Straftaten, die als vorsätzlich beurteilt werden, unter dem Schutz des Artikels 46 stehen. Die wirklich vorsätzlichen Taten sind nur die, die man nicht begeht. Die Geschworenen bekamen elf Fragen vorgelegt, die sie zu beantworten hatten. Die erste: »Ist es eine Tatsache, daß auf den Adjutanten Polimanti Quintilio am Morgen des 8. November 1913 in San Remo, Corso Umberto Nummer 2, genau gesagt in der Wohnung des Hauptmanns des 1. Regiments der Bersaglieri Oggioni Ferruccio und seiner Familie, ein Schuß aus einem Revolver ins Gesicht abgegeben wurde, dessen Kugel in die Kopfhöhle eindrang und die einzige und sofortige Ursache seines Todes war?« Die Tatsache ist unwiderleglich, die Frage überflüssig (man könnte auch sagen hirnrissig), die Antwort »Ja«. Zweite Frage: »Sofern die Antwort auf vorstehende Frage zustimmend ist« (als ob eine gegenteilige Antwort möglich wäre: man hätte sofort den Krankenwagen kommen lassen und den Geschworenen, die dagegen gestimmt hatten, die Zwangsjacke anlegen lassen müssen), »hat 88
die Angeklagte, Maria Tiepolo Oggioni, die Tat begangen, indem sie den Schuß aus der Pistole gegen den Adjutanten Polimanti abgab und seinen sofortigen Tod verursachte?« Wie daran Zweifel haben, wenn sie es sofort zugegeben hatte? Dritte Frage: »Ist zugunsten der Angeklagten, Maria Tiepolo Oggioni, strafbefreiend davon auszugehen, daß sie die Tat begangen hat, weil sie notwendigerweise dazu gezwungen war, um einen gegenwärtigen und nicht gerechtfertigten Angriff auf sich zurückzuweisen?« Die Antwort ist nicht einstimmig: fünf »Ja«, vier »Nein«, eine Enthaltung: aber es reicht, um die restlichen acht Fragen fallen zu lassen und für den Freispruch. Die Gräfin wird unverzüglich aus der Haft entlassen. Und ebenso unverzüglich taucht der Ehemann auf, umarmt sie, und man fragt sich: Hatte er sich in der Nähe befunden, um das Urteil abzuwarten und sich zu überlegen, ob er wieder auftauchen oder »weit weg« bleiben sollte? Pirandello hatte bereits damit begonnen, wie wir sagten, die unbekannte Region der Eigenliebe zu erforschen (und La Rochefoucauld hatte gesagt, daß es noch viel davon gäbe): Es ist die Art und Weise, wird Savinio sagen, auf die eingebildeten oder tatsächlichen Hörner zu reagieren, die einem aufgesetzt werden; ein Wahnsinn, der in Sizilien aus einem »kosmischen Gefühl« schöpft. Aber im Fall Tiepolo war schon alles pirandellesk. Die vielen Wahrheiten und das Spiel des Scheins gegen das Sein. Der Widerhall des Urteils war in ganz Italien zu hören, und in der Diskussion gab es mehr Mißbilligung als Zustimmung. Doch bevor der Monat noch zu Ende ging, wurden in Sarajevo Erzherzog Franz Ferdinand 89
und seine Frau erschossen. Auch sie von einem Browning getroffen: genauso präzise wie der der Gräfin. Und Anfang Juli war der Prozeß Tiepolo nur noch eine ferne Erinnerung. Während die Armeen sich schon an den Grenzen aufstellten und auf das große Blutvergießen vorbereiteten, wies jemand noch einmal auf ihn hin, aber nur, weil in Frankreich eine Signora Caillaux freigesprochen wurde, die den Direktor des Figaro, Calmette, getötet hatte. Der Kommentar vermutete ironisch, daß es jetzt wohl Mode werde, Frauen freizusprechen, die Männer ermordeten, egal ob Offiziersburschen oder Chefredakteure. Die Unannehmlichkeiten im Leben und Sterben der Menschen rühren daher, daß es Gott zwar gibt, aber daß man es im Tode noch weniger weiß als im Leben: denn im Leben machen wir daraus, wie Borges meinte, wenigstens ein Thema der besten phantastischen Literatur (und ich mache in diesem Augenblick auch so etwas, wenngleich sie nicht gerade vom Besten sein wird). Solange wir leben, tun wir nichts weiter, als vergeblich den Namen Gottes auszusprechen. Als Tote werden wir ihn vielleicht nicht einmal mehr aussprechen. Wir glauben, ihn durch Worte wie »Wahrheit«, »Gerechtigkeit«, »Poesie« in uns und in den Handlungen unserer Artverwandten aufzuspüren und uns ihm anzunähern: aber wenn wir uns dem Tode nähern, entdecken wir durch unverhoffte und flüchtige Hinweise, daß wir ihn statt dessen von uns entfernen: als wären diese Worte eine Verschwörung gegen ihn und Losungen eines immer wieder und vergeblich geplanten Attentats. Das Sein ist; das Nichtsein ist nicht. Und 90
wenn sie das gleiche wären, die gleiche Sache? Schon das Wort »Sache« springt leer zurück in die Leere, ist ein Nichts im Nichts. Etwas irrt durch unser Gehirn, und wir vermögen es nicht zu entziffern: und das ist keine phantastische Literatur. Aber alles übrige ist es. Machen wir also weiter damit. Man könnte glauben, daß Gott, der in einer Erzählung von Borges nicht zwischen dem orthodoxen und dem häretischen Theologen unterscheidet – nicht weil er nicht durchblickt, was für den göttlichen Verstand undenkbar wäre, sondern weil Menschendinge ihn unberührt lassen – aber auch nicht zwischen Mördern und Ermordeten unterscheidet, zwischen Henkern und Opfern, Folterern und Gefolterten, Freude und Schmerz. »Wo ist der Henker, wo das Opfer?«: Diese Frage wurde schon im Theater gestellt, um die Götter in arroganter und sinnloser Weise zu ärgern, und hallte schon unterm Himmel wider, den die Menschen sich im Namen der Götter gemacht hatten, als es noch Götter gab. Stellen wir uns deshalb einen Ort vor, wo man den Namen Gottes nicht in den Mund nimmt: Einen viktorianischen Salon, sehr ordentlich, Möbel aus warmem Mahagoni, Bilder mit Landschaften und Jagdszenen an den Wänden, Statuen aus Biskuitporzellan und Nippes aus Silber. Ein Salon, in dem man gepflegte Konversation betreibt, ohne je eine Frage zu stellen, die indiskret klingt, oder ein unangenehmes Wort zu gebrauchen. Er befindet sich jenseits der Erzählung Das Lächeln der Gioconda von Aldous Huxley, aber er könnte darin vorkommen, und deshalb habe ich die Geschichte nicht zufällig erwähnt. Man könnte sie eine Kriminalgeschichte nennen: nur daß das Wort »Gott« nicht darin 91
vorkommt, das in jeder Kriminalgeschichte in dem Wort »Gerechtigkeit« mitspielt. Eine einfache Geschichte: Eine Frau glaubt, sie werde von dem Ehemann einer Freundin geliebt, weiß aber nicht, daß der Mann bereits eine jugendliche Geliebte hat, die von ihm ein Kind erwartet. Eines Tages lädt die Ehefrau, die immer kränkelt, ihre Freundin – eine Miß Janet Spence – zum Mittagessen ein. Kaum ist das Essen vorbei, da fühlt sie sich schlecht, legt sich ins Bett und stirbt unverzüglich: Mit Arsen vergiftet. Angeklagt und verurteilt wird der Ehemann. Man hängt ihn auf. Doch eines Tages sagt Doktor Libbard, der Hausarzt des Fräulein wie auch der Verstorbenen war, im Salon der Miß Spence leichthin, als redete er über das Wetter oder den Garten, im Plauderton: »Ich glaube wirklich, daß Sie die Dame ermordet haben.« – »Ja«, antwortet Miß Spence. Und der Arzt: »Mit dem Kaffee, nehme ich an.« Sie wirkte zerstreut und schien ihm zuzustimmen. Doktor Libbard entnahm seiner Tasche den Füllfederhalter und schrieb mit seiner akkuraten, gewissenhaften Schrift ein Rezept über eine Dosis Schlafmittel aus. Man mag, was ich mir vorstelle, als Gewagtheit empfinden: Daß ein Doktor Libbard (aber besser noch wäre es der Advokat und Ehrenwerte Raimondo oder Professor Conti) an einem solchen Ort, wo der Name Gottes nicht mehr erwähnt wird und man sich Gesellschaft leistet, indem man über andere, freundlichere und weit entfernte Dinge spricht, unerwartet und im Plauderton sagt: »Eine Sache habe ich damals nicht verstanden: warum dieser offene Koffer auf Ihrem Bett? Sie sagten damals, Sie hätten wegreisen wollen.« Und die Gräfin 92
antwortet, genauso zerstreut wie Miß Spence: »Um ihn nicht mißtrauisch werden zu lassen. Es war der beste Vorwand, um die Schublade aufzumachen und den Revolver herauszuholen.«
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Anmerkung Im vergangen Jahr schrieb und publizierte ich eine kurze (wie soll ich es nennen?) Erzählung, die als Hommage a Manzoni gedacht war: ein bescheidener Beitrag – sagte ich – gemessen am Lärm der Feierlichkeiten zu seinem Zweihundertsten Geburtstag. Dieses Jahr passierte es mir, daß ich einen weiteren, gleich kurzen Text verfaßte, den man als Hommage a Pirandello aus Anlaß seines fünfzigsten Todestages bezeichnen könnte: nur daß es diesmal nicht meine Absicht war und ich nicht von Anfang an daran gedacht hatte. Jetzt, da ich die Niederschrift beendet habe, frage ich mich, was der traile d'union zwischen diesen beiden Autoren sein mag, die ich gleichermaßen liebe. Aber es brauchte Seiten über Seiten, um eine, wie man heute zu sagen pflegt, erschöpfende Antwort zu finden. Eine kurze Antwort, zu der ich hier und heute gelange, lautet, daß der traile d'union vielleicht Pascal heißt; Pascal, den Manzoni und Pirandello in verschiedener Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen gelesen haben. Die Gründe des Herzens, die die Vernunft bestimmen und in sich aufnehmen will, für Manzoni; die gleichen Gründe, die sich der Vernunft jedoch entziehen und sich in kosmischem Erschrecken gründen, für Pirandello. Aber ich dachte nicht an Pirandello, als ich zu schreiben begann. Ich dachte eher an ein umherschweifendes Spazierengehen in einem kurzen Zeitabschnitt der italienischen Chronik. Deshalb wählte ich als Motto die zwei ersten und letzten Verse eines Gedichts von Palazzeschi, das genau diesen Titel hat: Der Spaziergang 94
Doch dann tauchten in der (noch einmal: wie soll ich es nennen?) Erzählung andere Dinge auf: und vor allem Pirandello, den ich noch einmal las. Ich habe stets – und mit dem Fortschreiten der Jahre (das im Grunde ein Zurückgehen war) immer mehr – das Konzise* gesucht. Es ist ein altes Bestreben von mir, das ich wie kodifiziert in der Formulierung des Stichworts »sachlich, genau, knapp« auswendig mit mir herumtrage, so wie es im Wörterbuch der Synonyme des alten, unerreichbaren Tommaseo für die Kunst des Schreibens gebraucht wird (und es scheint mir angebracht, den Leser damit zu erfrischen) : »Es kann jemand kein konziser Autor sein, der nicht genau ist, denn da er keine exakte Kenntnis von den Dingen hat, wird er sich stets in der Eigentümlichkeit der Wörter irren, aus der die Kürze, die Klarheit und jener schöne Stil entstehen, dem nichts hinzugefügt oder genommen werden kann, ohne seinen Wert zu beeinträchtigen. Alfieri ist ein konziser, aber kein präziser Autor; denn er bemerkt nicht, daß die Kürze oder Länge eines Textes sich nicht danach bemißt, wie viele Wörter er auf weist, sondern wie lange man braucht, um ihn zu verstehen; und daß die Kürze, die nur auf dem Papier steht, falsch sein kann … Bei seinem Versuch, konzise zu sein, ist Alfieri oft länger als Metastasio; er gebraucht unnötige Epitheta. Aber ich will nicht sagen, daß Metastasio konzise wäre. Weder der eine, noch der andere ist sparsam; die Sparsamkeit ist eine Tugend, die die Worte und Dinge, die Ideen und die Gefühle umfängt; sie ist um so wünschenswerter, als sie direkter zur Moralität führt.« Ich * konzis = kurz, gedrängt 95
habe versucht, konzise zu sein: ob es mir gelungen ist, ist eine Frage; es steht mir nicht zu, sie zu beantworten. Da der Text (um nicht zu sagen: die Erzählung) bereits vollgestopft ist mit Zitaten, Verweisen und Anspielungen, wollte ich ihn nicht noch mit erläuternden und bibliografischen Fußnoten belasten; damit die Lektüre locker dahingleitet, ohne die Fußfallen für Augen und Hirn, die in den Nümmerchen und anderen Zeichen bestehen, wie wir sie in sogenannten wissenschaftlichen Werken finden: wo sie eine Notwendigkeit sind, derer sich die Autoren, wie man glauben muß, mit Vergnügen entledigen; sehr zum Mißvergnügen der Leser, wenn die Verweisziffern, wie Hagelschauer, auf den Seiten niedergehen. Ich habe mir deshalb überlegt, die wenigen Hinweise, die den Leser interessieren könnten, hierher zu verbannen, ohne jedwedes Zeichen oder Nummern, die sie mit dem Text verbinden. Eines der fünfzig Exemplare des Martyre de Saint Sébastien von D'Annunzio, gedruckt auf papier de Hollande, befindet sich heute in meinem Bücherschrank und trägt die handschriftliche Widmung: »a Fernand Charles Ecot. ›Chaque flèche est pour le salut.‹ Gabriele D'Annunzio. 7 juin 1912+1«. Im Buch lag ein Billett mit einer Einladung für die »répétition generale« des Martyre: ein Zeichen dafür, daß Ecot im Paris von damals etwas galt (aber ich konnte nicht feststellen, was). Die Auseinandersetzung zwischen Renard und Blum fand exakt am 21. Januar 1905 statt: im Journal von Renard. 96
Das Manifest Marinettis gegen den Tango und den Parzifal, ein Flugblatt, trägt das Datum 11. Januar 1914. Um nicht einer unmotivierten Intoleranz gegen Marinetti und den Futurismus bezichtigt zu werden, hier ist es, in seiner vollständigen Absonderlichkeit: Vor einem Jahr beantwortete ich eine Umfrage des Gii Blas und wies auf das schlaffmachende Gift des Tango hin. Dieses epidemische Geschaukel verbreitet sich allmählich über die ganze Welt und droht sämtliche Rassen zu zersetzen, indem es sie in Gelatine verwandelt. Wir sehen uns deshalb abermals gezwungen, gegen die Dämlichkeiten dieser Mode ins Feld zu ziehen und dem schafsherdenartigen Snobismus entgegenzuwirken. Die Monotonie romantischer Hüftschwünge zwischen blitzenden Augen und spanischen Dolchen von De Musset, Hugo und Gautier. Die Industrialisierung Baudelaires Blumen des Bösen wiegen sich in den Tavernen von Jean Lorrain vor impotenten »Voyeurs« a la Huysmans und Homosexuellen a la Oscar Wilde. Die letzten manischen Bemühungen eines dekadenten und geisteskranken, sentimentalen Romantizismus um die »Donna Fatale« aus Pappmache. Die Plumpheit der englischen und deutschen Tangos, Lustwünsche und Liebeskrämpfe in Fracks, von Knochen, die ihre Gefühle nicht äußern können. Hörigkeit in den Pariser und italienischen Tangos, weichtierhafte Paare, und die katzenartige Wildheit der argentinischen Rasse, die man blöderweise gezähmt, voll Morphium gespritzt und gepudert hat. Eine Frau zu besitzen, bedeutet nicht, sich an ihr zu reiben, sondern sie zu penetrieren. - Barbar!
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Ein Knie zwischen die Schenkel? Aber ja! Mindestens zwei! - Barbar! Jawohl, wir sind Barbaren! Nieder mit dem Tango und seinen Ohnmachtskadenzen. Ihr findet es also unterhaltsam, euch gegenseitig ins Maul zu schauen und verzückt das Gebiß zu untersuchen, wie zwei halluzinierende Zahnärzte? Rausziehn? … Plombieren? … Ihr findet es also überaus unterhaltsam, euch abwechselnd übereinander zu beugen, um euch die Liebeswunden zu lecken, ohne es jemals zu schaffen? … Oder eure Schuhspitzen zu fixieren, wie zwei hypnotisierte Schuhmacher? … Mein Schätzchen, trägst du wirklich Größe 35? … Wie gut beschuht du bist, mein Traaaaaum! … Und duuuuu erst! … Tristan und Isolde, die ihren Liebestraum hinauszögern, um König Marke zu erregen. Liebestropfenzähler. Miniaturen sexueller Nöte. Zuckerwatte der Sehnsucht. Unzucht im Freien. Delirium tremens. Alkoholisierte Hände und Füße. Mimischer Koitus für Kinematographen. Abgewichste Walzer. Whow! Nieder mit der Diplomatie der Haut! Es lebe die besitzergreifende und gewalttätige Brutalität und die schöne Raserei eines exaltierten Muskeltanzes, der uns stark macht. Tango, Wirbeln und Stampfen von Seglern, die in den Tiefen des Schwachsinns Anker geworfen haben. Tango, Wirbeln und Stampfen von Seglern, die in der Suppe der Weichlichkeit und in mondbleichen Stupiditäten dümpeln. Tango, schleichende und geduldige Begräbnisse eines toten Sexus! Oh, nicht um Religion handelt es sich, um Moral oder Schamhaftigkeit! Für uns haben diese drei Worte keine Bedeutung! Wir rufen ›Nieder mit dem Tango!‹ im Namen der Gesundheit, der Kraft, des Willens und der Männlichkeit.
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Wenn der Tango schlimm ist, so ist der Parzifal schlimmer, da er den gelangweilt und schmachtend dahintaumelnden Tänzern eine unheilbare musikalische Neurasthenie aufpfropft. Wie entgehen wir dem Parzifal mit seinen Ergüssen, Pfützen und Überschwemmungen mystischer Tränen? Parzifal ist die systematische Entwertung des Lebens! Eine genossenschaftliche Fabrik der Traurigkeit und der Verzweiflung. Die unmelodischen Krämpfe schwacher Mägen. Schlechte Verdauung und übler Atem vierzigjähriger Jungfrauen. Geflenne fetter, alter Popen mit Verstopfung. Verkauf von Gewissensbissen und eleganter Feigheiten für Snobs, en gros und en detail. Blutarmut, Nierenversagen, Hysterie, Anämie und Verkalkung. Kniefälligkeit, Vertierung und Abplattung des Mannes. Gekrieche geschlagener und verwundeter Noten. Geschnarche betrunkener Organe, die sich in der Kotze bitterer Leitmotive suhlen. Tränen aus falschen Perlen einer Maria Magdalena im Dekollete bei ›Maxim's‹. Eitrige Poliphonie der Leiden Amfortas'. Wimmernde Verschlafenheit der Gralsritter. Lachhafter Satanismus der Kundry … Völlig überholt! Absolut überholt! … Es langt! Wisset, ihr Könige und Königinnen des Snobismus, daß ihr uns, den Futuristen, den lebenden Erneuerern, absoluten Gehorsam schuldet! Überlaßt der tierischen Geilheit des Publikums den Kadaver Wagners, des Erneuerers vor fünfzig Jahren, dessen Werk nichts mehr bedeutet, da es längst überholt wurde von Debussy, von Strauss und von unserem großen Futuristen Pratella. Ihr habt uns geholfen, ihn zu verteidigen, als es erforderlich war. Wir werden euch lehren, etwas Lebendiges zu lieben und zu beschützen, ihr unsere lieben Sklaven und Schäfchen des Snobismus.
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Schließlich, vergeßt nicht das folgende, für euch einzig überzeugende Argument: Heutzutage noch Wagner und Parzifal zu Heben, der überall aufgeführt wird, vor allem in der Provinz, und Tango-Tees zu veranstalten, wie alle guten Bürger überall auf der Welt, wohlan: ES IST NICHT MEHR CHIC!
Die Erzählung von Huxley, Das Lächeln der Gioconda, in dem gleichnamigen Band. Wegen der Druckfehler im Ulysses von Joyce siehe den Corriere della Sera vom 17. Juni 1986. Der Maler Julio Romera de Torres hat für sich alleine ein Museum in Cordoba, wo er 1874 geboren wurde und 1930 starb. Ein Besuch im Museum Torres bietet zauberhafte Augenblicke in einer Stadt, die einen großen Zauber hat. Das Drama La signora senza pace (nicht »La donna senza pace«, wie im Prozeß gesagt wurde) stammt von Regina Winnge, die heute offensichtlich die Gnade der Vergessenheit genießt. Das Verfahren gegen Maria Tarnowska, die Komplizin von Nicola Maumoy bei der Ermordung des Grafen Paolo Kamarowsky, hatte von 4. bis zum 20. Mai 1910 in Venedig stattgefunden. Ein ziemlich verworrener Fall, der die Italiener erregte. Die Verteidiger waren Arturo Vecchini und der junge Francesco Carnelutti. Annie Vivanti bezog daraus Anregungen für ihren Roman Circe.
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Das Plädoyer des Advokaten Raimondo wurde damals ausführlicher als die anderen im Prozeß Tiepolo von allen Zeitungen veröffentlicht. Vor zehn Jahren erschien es in einer Anthologie, die als Geschenkband des Verlags Giuffrè unter dem Titel Die Verteidigung hat das Wort veröffentlicht wurde: eines von vier Beispielen für die Rednergabe der »Advokaten von einst«. Die anderen drei Plädoyers stammen von Enrico Ferri, Enrico Pessina und Genunzio Bentini. Der Band ist mit Zeichnungen von Mino Maccari geschmückt: sie waren nötig. Madame Caillaux, Ex-Gattin des Ministers Joseph Caillaux, tötete im Jahre 1914 Gaston Calmette, der aus dem Figaro das Organ des französischen Nationalismus gemacht und den Minister aus patriotischen Gründen der Korruption beschuldigt hatte: Die Dame erklärte jedoch, sie habe Calmette getötet, da sie sich durch die Veröffentlichung eines sehr privaten Briefes beleidigt gefühlt habe. Also ein Ehrendelikt. Daß die Existenz Gottes in den Bereich der guten phantastischen Literatur gehöre, hat Borges in mehr als einem Interview gesagt. Die Erzählung, auf die ich mich berufe, heißt Die Theologen und befindet sich in dem Band Altre inquisizioni, der sich jetzt in der Gesamtausgabe des Mondadori-Verlags befindet.
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Man schläft bei offenen Türen
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Tatsache ist, daß nicht der Gesetzgeber tötet, sondern der Richter, und nicht das gesetzgeberische Verfahren, sondern das gerichtliche Verfahren. Der Prozeß stellt sich in einer eigenen, völligen Autonomie gegenüber dem Gesetz und dem Befehl dar. Der Befehl, als willkürlicher Akt des Imperiums, löst sich in dieser Autonomie und durch diese Autonomie auf und der Prozeß findet dadurch, daß er sich sowohl über das Befohlene, als auch denjenigen, der den Befehl erteilt hat, hinwegsetzt, außerhalb irgendeines revolutionären Zusammenhanges, seinen »Augenblick der Ewigkeit«. Salvatore Satta, »Selbstgespräche und Gespräche eines Juristen«.
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»Sie wissen, wie ich darüber denke«, sagte der Generalstaatsanwalt. Ein gelungener Einstieg: Man weiß nicht, wie er darüber denkt, ob er darüber denkt, ob er denkt. Der kleine Richter betrachtete ihn mit sanfter, nachlässiger, nachgiebiger Schläfrigkeit. Und der Staatsanwalt spürte diesen Blick auf seinem Gesicht wie einst als Kind die Hand eines alten und blinden Verwandten, der – so sagte er – sehen wollte, welchem der ältesten Familienangehörigen er ähnelte. Wegen dieser Hand, die ihm über das Gesicht fuhr, als wollte sie es modellieren, empfand er gegenüber diesem Verwandten eine Art Ekel, Abscheu. Und nun gegenüber diesem Blick Unbehagen und Unruhe. Mit wem wollte ihn der kleine Richter vergleichen? Und er bereute seine Worte, die ein vertrauliches, fast freundschaftliches Gespräch eröffnen sollten. Aber ihm fiel nichts Besseres ein, als sie umzudrehen. Er sagte: »Ich weiß, wie Sie darüber denken.« Aber immer noch dieser Blick, der sein Unbehagen und seine Unruhe noch steigerte. Er übersprang 105
die ganze Vorrede, die er sich sorgfältig zurechtgelegt hatte, und wie abgehaspelt sagte er: »Man muß zugeben, daß sie nie etwas von uns verlangt haben; und nicht einmal in diesem Fall, damit das klar ist, haben sie es gewagt, etwas von uns zu verlangen.« Die imponierende Figur und der imponierende Richterstuhl, auf dem der Staatsanwalt wie üblich saß, versetzten den kleinen Richter in Befangenheit und Unterlegenheit: die er bei ihren seltenen Gesprächen innerlich stets durch ein Gefühl der Sorglosigkeit und Langeweile bezwang, indem er sich ablenkte oder die Redewendungen, die er aufgriff, ironisch zuspitzte. »Wie Sie darüber denken, wie ich darüber denke: was für ein peinliches und albernes Spiel. Und wie er darüber denkt, weiß ich nicht und will ich nicht wissen; aber ich denke gewiß nicht darüber: ich denke einfach.« Und er hing dem »Darüber« nach: das keine Grammatik und kein Wörterbuch je in seinem wahren Wesen als Fürwort all der Dinge verzeichnen würde, über die man nicht sprechen und über die man nicht nachdenken will. Für die Italiener stand dies Fürwort für die katholische Religion, die Regierungspartei, die Freimaurerei, für alles, was – offensichtlich oder, schlimmer noch, in dunkler Weise – über Gewalt und Macht verfügte; für jede Sache, die Furcht einflößte; und jetzt eben für den Faschismus mit seinen Forderungen und Ritualen. »Sie wissen, wie ich darüber denke, ich weiß, wie Sie darüber denken: Und deshalb denken wir nicht darüber, wir denken nicht daran. Es ist besser so.« Die Worte des Staatsanwalts streiften sein Ohr, wie eine Landschaft vom Nebel berührt wird. Er sagte: »Sie haben ihre Sondergerichte eingerichtet, sie haben uns 106
rausgehalten und – warum wollen wir das nicht anerkennen? – über die Politik gestellt, über ihre Politik. Und es gibt noch Richter, die ihren Dienst unbehelligt ausüben, die nicht nur Urteile gefällt haben, die so mancher Parteigröße oder sogar dem Regime nicht recht waren, sondern die offen und standhaft das Urteil manch eines Parteiführers oder mancher Gruppe oder selbst der ganzen Partei über gewisse Fälle oder bestimmte Gesetzesauslegungen ignoriert haben …« »Ja, rausgehalten, drübergestellt: aber die Sondergerichte …« »Dagegen konnten wir nichts machen: Wir hätten das verloren, was uns statt dessen bleibt.« »Wir haben uns damit zufriedengegeben.« »Ja, wir haben uns zufriedengegeben«, gab der Staatsanwalt zu. Ein Seufzer der Ergebenheit verwandelte sich in ein Gähnen. Er gähnte oft: wenn sich in seinem Körper etwas tat, das er ignorieren wollte, aber auch wegen seines Lebens zwischen der ungeheuerlichen Macht, die sein Amt ihm verlieh und die er mit besessener Sorge und Vorsicht ausübte, und, abgesehen vom Gehalt, all dem, was seine Familie ihm vollständig verweigerte. »Aber Sie wissen ja, wie ich darüber denke«, sagte er abermals. Und abermals gähnte er: diesmal aus Langeweile, darüber denken zu müssen; selbst wenn es sich um ein Darüberdenken im Detail handeln mußte, das wie immer das Ganze außer acht ließ. Doch er ließ auch dieses Detail sofort fallen und wandte sich etwas anderem, Konkreterem zu. Er öffnete eine Schublade des Schreibtisches und entnahm ihr eine rote Pappe, die er so in der Hand hielt, daß der Richter sie im richtigen Moment zu sehen bekam, als 107
Überraschung. »Die Polizei«, sagte er, »hat uns sämtliche Unterlagen, die in der Wohnung des Angeklagten gefunden wurden, sofort übermittelt. Sämtliche: mit Ausnahme von dieser. Die zwar im Verzeichnis aufgeführt war, das den anderen Dingen beilag, jedoch im Präsidium verblieb. Ich habe insistieren müssen, um sie zu erhalten. Warum, habe ich ihnen gesagt und auch geschrieben, schickt man uns so viele, auch unnütze Unterlagen – Notizbücher, Briefe, Postkarten, Familienfotos, Rechnungen vom Metzger und vom Bäcker – und diese Sache nicht? Mir scheint, sie hatten Befehl von oben, sie uns nicht zu geben. Wenn ich mich nach dem Grund frage, finde ich nur eine Antwort. Aber vielleicht ist es nicht die richtige. Ich würde deshalb gern Ihre Meinung hören … Gestern haben sie endlich nachgegeben.« Er gab nun ebenfalls nach und reichte dem Richter das Stück Karton. Der Richter nahm es und schrak zusammen, kaum daß er ein Auge darauf geworfen hatte: Es war eine Abbildung, die Zeitungen, Plakate und Postkarten dreizehn Jahre zuvor in das Gedächtnis aller Italiener, die ein Gedächtnis hatten, und ins Gefühl aller Italiener, die ein Gefühl hatten, genagelt hatten. Diese, genau diese: ein heiteres und strenges Gesicht, eine hohe Stirn und ein nachdenklicher Blick, in dem etwas von Trauer und Tragik lag; oder vielleicht von etwas Tragischem, das ein tragischer Tod dem Abbild des Lebenden später eingezeichnet hatte. Das Bild versetzte den Richter in jenen Sommer des Jahres 1924 zurück, er war Amtsrichter in einem kleinen sizilianischen Ort, in dem es wenige Faschisten und noch weniger Sozialisten gab, als der Faschismus noch zu schwanken schien, sich 108
aber mit ausgehendem Sommer erholte, sich durchsetzte und siegte. Und in seiner Erinnerung mischte sich das Gefühl, wahrhaftig das Gefühl – die Farben, die Gerüche und sogar der Geschmack – des verlöschenden Sommers mit dem Verlöschen der Leidenschaften, die der tragische Fall innerhalb der Familien entfacht hatte. Auch er hatte diese Leidenschaft verspürt, doch eingebettet in die Leidenschaft für das Recht, das Gesetz und die Gerechtigkeit. Und er dachte: So mußte sie gefühlt werden, um nicht zu verlöschen. Neben der Fotografie befand sich eine Inschrift voller Pünktchen und Ausrufezeichen, in der Giacomo Matteotti* folgende Sätze »an seine Henker« zugeschrieben wurden: »Tötet mich, aber die Idee, die in mir lebt, könnt Ihr nicht umbringen; meine Ideen sind unsterblich; meine Kinder werden stolz sein auf ihren Vater; die Arbeiter werden meinen Leichnam segnen; es lebe der Sozialismus!« Aus diesen naiv-erhabenen und heroischen Sätzen (sie hatten, er erinnerte sich, nicht nur die Opposition ermutigt, sondern auch die Hausfrauen bewegt) ragte das Wort »Leichnam« heraus und ersetzte das Bild, das er vor sich hatte, durch ein anderes – durch die Fotografie von der Überführung der »sterblichen Reste« aus dem Wald von Quartarella zum Friedhof von Riano Flaminio: der weiße Holzsarg, die vier Carabinieri, die ihn trugen, und der erste (auf dem Foto links, er erinnerte sich mit schrecklicher Genauigkeit), der vorderste in der ersten Reihe, der sich auf Nase und Mund ein Taschentuch preßte. In gewis*
1885-1924. Generalsekretär der sozialistischen Partei. Wurde 1924 nach einer aufsehenerregenden Parlamentsrede von Faschisten ermordet. 109
sen Momenten angesichts gewisser Ereignisse dachte er an den Fall Matteotti seit Jahren nur mit Worten, die als historisches Urteil erst einer zukünftigen Geschichte gehören würden. Doch dieser rote Karton hatte ihn in optische Erinnerungen gestürzt, die ihm in dieser Klarheit und Deutlichkeit unbekannt waren: Und sie vermischten sich mit diesen Worten, mit diesem Urteil. Es waren Fotografien, die jene Wochenzeitung damals mehr als jede andere verbreitete: die Frauen von Riano, die Blumen an die Stelle legen, wo der Leichnam gefunden wurde; die Beisetzung in Fratta Polesine, die Bahre, die von Verwandten und Freunden auf den Schultern getragen wurde (der Bariton Titta Ruffo, sein Schwager, der in der Bildunterschrift besonders genannt wurde: hatte er infolge dieser Verwandtschaft und dieser Geste später Unannehmlichkeiten zu erleiden?); und dann jenes unbezahlbare Foto, das mehr wert war als ein ganzes Kapitel aus einem Geschichtsbuch, mit den knienden sozialistischen Abgeordneten an der Brüstung der Brücke, wo Matteotti entführt worden war. Sie hatten einen Kranz niedergelegt und sich hingekniet: begierig, in die Geschichte einzugehen, die Augen ins Objektiv gerichtet; aus Sorge, vom Objektiv nicht erfaßt zu werden, hatten die in den hinteren Reihen sich aufgerichtet. Er nahm sich vor, diese Fotografie wiederzufinden: Er entsann sich der Namen von zwei oder drei der Knienden, er war neugierig, zu erfahren, wer jeder einzelne von ihnen war. Er hörte sich, ganz in Gedanken versunken, plötzlich sagen: »Eine Sache hat man damals kaum beachtet: Er war Privatdozent für Strafrecht an der Universität Bologna.« 110
»Wer?« fragte der Staatsanwalt. »Matteotti«, sagte der Richter: Aber der sorgenvolle Blick des Staatsanwalts, der zugleich etwas mitleidig wirkte, machte ihm klar, daß er nicht nur Argwohn erweckt hatte, sondern auch den Verdacht einer geistigen Unordnung und Verwirrtheit. Der Gedanke war heikel, sehr heikel; und was hatte das Detail mit der Privatdozentur hier zu suchen? Aber aus dieser Einzelheit war im Kopf des Richters eine Feststellung gesprossen: Matteotti wurde nicht deshalb für so unerbittlich gehalten, weil er im Namen des Sozialismus sprach, der zu jener Zeit eine offene Tür war, durch die man beliebig ein und aus trat, sondern weil er im Namen des Rechts sprach. Des Strafrechts. Der Staatsanwalt ließ ihm Zeit, sich auf den Grund für das Gespräch zu besinnen, zu dem er ihn eingeladen hatte; dann fragte er gähnend: »Was halten Sie davon? Ich meine: von der Tatsache, daß sie uns ausgerechnet dieses Blatt nicht schicken wollten?« »Sehr taktvoll«, sagte der Richter. »Genau das«, sagte der Staatsanwalt irritiert wie immer, wenn er Sarkasmus und Ironie vermutete. »Ich denke, daß sie die Herausgabe absichtlich unterlassen haben, um uns zu sagen: Wir wollen keine Verwirrung stiften, indem wir dem Angeklagten ein Verbrechen anlasten, das vor ein anderes Gericht gehört, wenngleich man es sich als ein Detail vergegenwärtigen muß, das seine Verworfenheit abrundet; im übrigen habt ihr genug in der Hand, worauf die allerhärteste Verurteilung gestützt werden kann.« »Sehr taktlos«, kommentierte der Richter. »Lassen wir das, ob es taktvoll oder taktlos war, und 111
nehmen wir es als das, was es ist: eine Warnung … Man erwartet von uns, kurz gesagt, ein rasches und exemplarisches Urteil.« Es klopfte, und der Staatsanwalt sagte: »Herein!« Ein Amtsdiener brachte ein Bündel Post und trat näher, um es auf den Tisch zu legen. Er war kaum hinausgegangen und hatte die Tür wieder geschlossen, als der Staatsanwalt sagte: »Ein Spitzel: Ich habe den Verdacht, er ist hochrangig und hoch bezahlt; ich habe durch die Carabinieri sehr diskret eine Untersuchung anstellen lassen: Er lebt gut, mit einer Großzügigkeit, die sein Gehalt weit übersteigt. Und meines auch … Er klebt in eben diesem Moment bestimmt mit dem Ohr an der Tür. Aber nur aus Berufsehre: Man hört nichts, ich habe es überprüft.« Der Richter wollte zu Ende kommen. Das Gespräch brachte ihn in die Verlegenheit, sich entweder bloßzustellen oder lügen zu müssen; oder noch schlimmer: weder lügen noch die Wahrheit sagen zu können. Er versuchte, das Gespräch abzukürzen: »Sie meinen also, daß man von uns ein rasches und exemplarisches Urteil erwartet. Aber nicht nur sie: Meines Wissens erwarten das alle.« Der Staatsanwalt schien erleichtert. »Dann reden wir doch endlich deutlich«, sagte er und schwieg statt dessen langanhaltend, als ob er darauf wartete, daß ein langsam aufgehendes Licht das, was er zu sagen hatte, deutlicher erscheinen lassen würde. Und schließlich, wie ein sizilianischer Stöberhund, der eine lange Spur verfolgt hat: »Die ermittelnde Justiz, die richtende Justiz: Es ist nahezu ein Gemeinplatz, zu glauben, daß die richtende Justiz, der Sie angehören, nichts mit der 112
politischen Macht zu tun hat und sich in diesen Jahren absolute Unabhängigkeit bewahrt hätte; während man von der ermittelnden das Gegenteil annimmt … Ich könnte für die eine wie die andere eine gleich große Zahl von Fällen der Willfährigkeit anführen. Ich sage: Fälle. Denn weder für die eine noch für die andere kann man eine tatsächliche Abhängigkeit als Regel annehmen. Aber nehmen wir an, der Gemeinplatz sei wahr und daß auch Sie ihn in diesem Augenblick für wahr halten und meinen Worten den Sinn einer Botschaft mit einer unterschwelligen Drohung unterstellen, die ich Ihnen seitens der politischen Macht zu übermitteln hätte … Es ist nicht wahr; aber glauben Sie ruhig, es wäre so, wenn Sie wollen …« Der Richter bewegte die rechte Hand, um ein Nein anzudeuten, die Handbewegung eines Jungen, der etwas Geschriebenes von der Schiefertafel wischt. Und er glaubte wirklich nicht daran: ein braver Mann, der Staatsanwalt; fast immer langweilig, aber nie hintertrieben; außer Dienst manchmal arrogant, aber im Amt nur zu kleinen und nicht unerträglichen Übergriffen fähig. »Wenn Sie es im Moment nicht glauben«, sagte der Staatsanwalt mit seinem eingefleischten Pessimismus, »dann werden Sie es morgen oder in einem Jahr glauben … Der Punkt ist jedenfalls folgender: Ich entsinne mich an ein Gespräch, das wir beide vor etwa zehn Jahren über die Todesstrafe geführt haben. Und wir standen damit nicht alleine, wie Sie sich erinnern werden. In der Zeitschrift Das Reich war soeben ein Aufsatz seiner Exzellenz Rocco erschienen … Hier, ich habe ihn heute morgen noch einmal gelesen …« Er holte unter 113
dem Postberg die Zeitschrift hervor und schlug sie dort auf, wo das Lesezeichen lag. »Hier: Über die Wiedereinführung der Todesstrafe in Italien … Ich entsinne mich nicht der Argumente, mit denen Sie ihm widersprachen; aber ich erinnere mich an Ihren höchst irritierten Tonfall. Und ich kann Ihnen darin zustimmen, daß der Ansatz etwas irritierend ist: ›Die Wiedereinführung der Todesstrafe in Italien‹, zitierte er, ›die vom Volksbewußtsein gefordert, vom Abgeordnetenhaus unterstützt und von der königlichen Regierung beschlossen worden ist, erfüllt eine alte Forderung der italienischen Wissenschaft^ das ist ein bißchen übertrieben, das gebe ich zu … Aber mit den Überlegungen, die in dem Artikel entwickelt werden, war und bin ich völlig einverstanden.« Er erwartete, daß der Richter etwas sagen würde. Enttäuscht fuhr er fort: »Ob Sie es glauben oder nicht: Wegen meiner Wertschätzung für Sie, die, wenn Sie gestatten, auf einem Gefühl des Wohlwollens und der Freundschaft beruht … « »Ich danke Ihnen«, sagte der Richter. » …möchte ich Ihnen lediglich einen Gedanken nahebringen, da dieser Prozeß automatisch an die Kammer gelangen wird, der Sie angehören, und zwar, ob es sich, sofern Ihre Auffassungen über die Todesstrafe unverändert sind, für Sie nicht empfehlen würde, sich zur Ruhe zu setzen oder, was weiß ich?, im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Appellationsgerichtshofes eine möglichst opportune und nicht präjudizielle Möglichkeit zu finden, um den Prozeß an eine andere Abteilung zu verweisen … nicht präjudiziell für Ihre Karriere, meine ich, die bisher brillant war, würde ich sagen … Ich bin, wie ich schon sagte und nur wieder114
holen kann, vollkommen einer Meinung mit seiner Exzellenz Rocco«, er vergaß nie den Titel, den ein anderer sich verdient hatte, zu erwähnen, auch wenn er ihn verdient hatte, »und das heißt, in Übereinstimmung mit dem Gesetz; denn die Todesstrafe ist nun einmal seit zehn Jahren das Gesetz dieses Staates: Und Gesetz ist Gesetz, und wir können nichts anderes tun, als es anzuwenden und ihm zu dienen. Und man braucht, glaube ich, diesem Ruf nach der Todesstrafe auch keine Beachtung mehr zu schenken, denn es gibt sie ja inzwischen. Die Todesstrafe ist Gesetz: kaltblütige, grausame Verbrechen, ein niederträchtiger Täter … Die ganze Stadt ist empört und erschüttert: Eine Neigung zur Lynchjustiz … Aber ich glaube mich zu erinnern – ohne Ironie, mit Bedauern, fast schmerzlich –, daß Sie ebenfalls das Faustrecht vorziehen würden …« »Nein, ich würde es nicht vorziehen. Ich sagte damals, meiner Erinnerung nach, daß ein Rudel Fanatiker oder Besessener, die Gerechtigkeit zu verüben glauben, das Recht im Grunde bestätigt, wenn es ihm zuwiderhandelt; in dem Sinne, daß der Rechtsbruch diejenigen, die ihn begehen, gerade dazu nötigt, das Recht wiederherzustellen und zu bestätigen, daß man es nicht brechen darf und nicht kann … Wenn man ferner bedenkt, daß die Instinkte, die Wut und der Wahnsinn, die in einem Akt des Lynchens hervorbrechen, von nicht geringerer Grausamkeit sind als der makabre Ritus, der einen Gerichtshof dazu bewegt, ein Todesurteil auszusprechen: ein Urteil, im Namen der Gerechtigkeit, des Rechtes, der Vernunft und des Königs von Gottes Gnaden und nach dem Willen der Nation, das dann einen Mann der Salve aus zwölf Gewehren 115
anheimfallen läßt; aus zwölf Gewehren in der Hand von zwölf Männern, die eingezogen wurden, um das Wohl der Bürger zu garantieren und das höchste Gut, nämlich das Leben, zu schützen, und die plötzlich dazu aufgerufen werden und die sich aus vollem Willen dazu bereit erklären, einen Mord zu begehen, für den sie nicht bestraft, sondern noch ausgezeichnet werden … Eine Aufforderung zum Mord, den man mit dem Dank und der Belohnung des Staates begeht.« »Wir wollen nicht übertreiben«, sagte der Staatsanwalt. Er war ziemlich verwirrt. Das »damals«, mit dem der Richter seinen Satz angefangen hatte, diese Rückbesinnung auf eine Erinnerung an eine Meinung, die er vor zehn Jahren vertreten hatte, hatten den Staatsanwalt auf eine andere, inzwischen gewandelte Meinung hoffen lassen; aber die Vehemenz dessen, was der Richter dann gesagt hatte, ließ sich mit dem »damals« schlecht vereinbaren. Der kleine Richter, der sonst eher wortkarg war und mit wenigen spitzen Worten auskam, schien von einer unaufhaltsamen Beredsamkeit gepackt worden zu sein. »Wissen Sie«, fuhr er fort, »wie bei uns ein Exekutionspeloton zusammengestellt wird? Ich spreche nicht vom militärischen Bereich und von Kriegszeiten, in denen man verpflichtet ist, daran teilzunehmen: Ich meine jetzt und hier, in diesen Friedenszeiten, in denen wir wirken … Haben Sie jemals die Männer eines Pelotons gesehen? Schwarze Uniformen, schwarze Umhänge, jedenfalls in der Jahreszeit, in der ich sie gesehen habe; Köpfe, die einem Lombroso* Glaubwürdigkeit * 1836-1909. Italienischer Gerichtsmediziner und Psychiater. Untersuchungen zum Kretinismus. 116
verleihen würden; Gesichter, die wir in einer Kaserne der Polizei oder Carabinieri, wo sie auf ihre Aufgabe warten, für die man sie eingezogen hat, als atavistische Fratzen bezeichnen würden, von atavistischer Brutalität. Aber wenn man sie sieht und weiß, daß es Männer sind, die sich dazu entschlossen haben, zu töten, und die man zum Töten ausgewählt hat … Man nennt sie ›Metropolitaner‹, sie kommen aus der Hauptstadt, wie ein Schwärm Raben, wie ein Todesschwarm aus der Kapitale. Eine seltsame Assoziation zwischen Hauptstadt, Kapitale und Kapitalverbrechen.« »Lassen wir das«, sagte der Staatsanwalt, verärgert über die Erregtheit des Richters und ein wenig auch über seine eigene. Er dachte: Ich wasche meine Hände, und dachte es so intensiv, daß er die dazugehörige Handbewegung machte. »Lassen wir das … Sie werden noch einmal darüber nachdenken, und ich werde noch einmal darüber nachdenken; man muß abwägen …« Schon wieder dieses »darüber«. Diesmal war es ein technisches, werkstattmäßiges »darüber«, diatribisch und ziemlich nutzlos in einer Zunft, in der das Gesetz stärker war als jede Meinung: ».. .man muß berücksichtigen, daß kein Romanautor die Phantasie aufbrächte, die in diesem Fall den kleinsten Zweifel und die geringste Zweideutigkeit erkennen könnte; oder ihm auch nur den winzigsten Widerhall von Mitleid oder Barmherzigkeit geben könnte: es sei denn für die Opfer, natürlich; und ihn auch nicht zu dem Zweck ausspielen könnte, dem alten Staat nachzutrauern und dem neuen Vorwürfe zu machen. Nichts dergleichen kann man in der Frage des Sergeanten Grischa tun, glauben Sie mir.«
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Der Roman von Arnold Zweig gehörte zu den Büchern, die der Staatsanwalt erst kürzlich gelesen hatte. Die Anspielung paßte nicht ganz zur Sache, aber der Staatsanwalt hielt darauf, sich als Mann zu zeigen, der sich literarischer Muße hingab, und im übrigen wollte er abschweifen. Tatsächlich fragte der Richter: »Und um welche Frage handelt es sich?« »Ich weiß nicht, welchen historischen und dokumentarischen Hintergrund die Geschichte hat. Ein Roman. Von einem Deutschen. Sehr interessant: Der alte preußische Staat mit seinen Prinzipien, seinen Regeln, seinen Skrupeln prallt mit dem Deutschland zusammen, das aus dem Krieg hervorgeht – starrsinnig, kein Gefühl für das Recht, völlige Skrupellosigkeit, unmenschliche Abstraktheit – und verliert … Das heutige Deutschland; und wir können nur hoffen, daß unser Land rechtzeitig Schluß macht und sich durch diese Liaison nicht zu sehr kompromittiert …« Er bemerkte, daß er im Begriffe war, sich selbst etwas zu sehr zu kompromittieren, und sagte: »Aber zurück zur Sache … Sie wissen, bei uns geht die Meinung um, seit es den Faschismus gibt, könnte man bei offenen Türen schlafen …« »Ich schließe immer ab«, sagte der Richter. »Ich auch; aber wir müssen anerkennen, daß sich die Bedingungen der öffentlichen Sicherheit in den letzten fünfzehn Jahren in dieser Gegend beachtlich verbessert haben. Auch in Sizilien, trotz allem. Was immer jetzt unsere Meinungen über die Todesstrafe sein mögen, wir müssen zugeben, daß ihre Wiedereinführung dazu dient, den Leuten die Vorstellung von einem Staat in den Kopf zu setzen, der sich auf das äußerste 118
um die Sicherheit der Bürger kümmert; die Vorstellung, man könnte wirklich bei geöffneten Türen schlafen.« »Das gebe ich ohne weiteres zu«, sagte der Richter. »Dann sind wir ja einer Meinung«, sagte der Staatsanwalt hastig, wie jemand, der Angst hat zu entdecken, daß man nicht im geringsten einer Meinung ist. Er erhob sich, auch der Richter erhob sich, und sie schüttelten sich die Hand. »Dürfte ich Sie bitten«, sagte der Rieh ter, »mir diese Zeitschrift zu leihen? Ich möchte den Aufsatz seiner Exzellenz Rocco noch einmal lesen.« Der Staatsanwalt gab sie ihm, geleitete ihn zur Tür und öffnete: Der Amtsdiener stand davor, mit einem Gesicht, das durch den Ausdruck einer falschen Ehrfurcht noch unangenehmer wirkte als sein wahres: gefräßig wie ein Frettchen. Staatsanwalt und Richter erinnerten sich bei seinem Anblick daran, daß sie den Verhaltenskodex der faschistischen Partei in zweifacher Weise verletzt hatten: Sie hatten sich mit SIE angeredet, und sie hatten sich mit Handschlag verabschiedet. Sie tauschten noch einige Höflichkeiten aus, indem sie sich mit Ihr titulierten, und verabschiedeten sich dann mit römischem Gruß. Der Staatsanwalt trat in sein Büro zurück und nahm wieder Platz auf der Höhe seines Richterstuhles. Müde und gähnend. »Jedenfalls wird er darüber nachdenken, er muß es sich durch den Kopf gehen lassen, das Pro und Kontra abwägen … Ja, ja, die Karriere!« Wie oft irrt man sich nicht, wenn man seinesgleichen für seinesgleichen hält. Manche sind schlimmer, aber es gibt auch welche, die besser sind.
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Das Gespräch mit dem Staatsanwalt hatte lange gedauert, sehr lange (sehr viel länger, als es dem Leser vorkommen mag). Der Richter verließ den Justizpalast, als es schon Abend war, die Lampen schon brannten, die großen Bäume auf dem Platz dunkle Gebilde waren, die Zweige gespenstisch verdreht. Jedes Mal, wenn der Richter die Schwelle dieses Gebäudes überschritt, leuchtete in seinem Gehirn das Wort »Inquisition« auf. Jahrhundertelang waren in diesem Palast Gotteslästerer verurteilt worden, Hexen und Ketzer, oft wegen keinerlei Ketzerei; von diesem Tor aus hatten sich die Prozessionen der Autodafes durch die Stadt geschlängelt: Richtung Scheiterhaufen, der nicht weit davon entfernt entfacht werden sollte, jedoch infolge der Route und der Langsamkeit des Zuges in großer Entfernung zu liegen schien. Der Staat – der Bourbonen, der Piemontesen – hatte den Palast von der Inquisition geerbt, was den fatalen Mangel an öffentlichen Gebäuden offensichtlich machte; aber er hatte durch Gesetzesakt auch die fiskalischen Folgen der Prozesse gegen die Ketzer geerbt, indem er sich die beschlagnahmten Güter der Verfolgten aneignete und ausdauernd mit den gesetzmäßigen Erben stritt. Eine dieser Rechtsstreitigkeiten dauerte bis 1910: Wegen der Besitztümer einer Ketzerin, die 1724 als Quietistin (aber mehr für sexuelle Übertretungen) verbrannt worden war. Geld stinkt nicht: nicht einmal das der lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannten Leiber, die, so versichern Zuschauer von Autodafes, einen besonderen und scheußlichen Gestank haben. »Man muß den eigenen Auffassungen schon ein gehöriges Gewicht beimessen, wenn man ihretwegen einen Menschen lebend rösten 120
läßt.« Große Worte. Alles ist Ansichtssache und von relativem und unerheblichem Wert; einschließlich jener, daß man einen Menschen nicht lebendig rösten kann, nur weil er anderer Ansicht ist. Und einschließlich jener, daß die Menschheit, das Recht, das Gesetz – kurz: der Staat, den die idealistische Philosophie und seinerzeit auch die faschistische Doktrin ethisch nannten – hier und heute, im Jahr 1937 (im Jahr 1987) auf einen Mord nicht mit einem Mord antworten dürfen. Vitaliano Brancati sagte über diese Jahre, und vielleicht sogar in diesem Jahr, aus Anlaß eines armen Mannes, der Abneigung gegen die Boshaf tigkeit empfindet, ohne Worte zu finden, um sie auszudrücken: »Warum flog diesem armen Mann, der von allen Leiden geplagt wurde, die einer ehrlichen Seele durch die Unterdrückung zuteil werden können, und der dennoch unfähig ist auszusprechen, warum er leidet, nicht ein Lied der Freiheit von Milton oder von Leopardi zu?« Doch dem kleinen Richter fehlten derartige Hilfen nicht. Unauslöschlich: »Als ich sah, wie der Kopf sich vom Körper trennte und wie einer nach dem anderen in die Kiste fiel, da begriff ich, nicht mit dem Verstand, sondern mit all meinem Sein, daß es keine Theorie der Vernunft des Lebens und des Fortschritts gibt, die einen derartigen Akt rechtfertigen könnte, und ich weiß, selbst wenn alle Menschen der Erde seit ihrer Erschaffung fänden, daß so etwas nötig sei, daß es nicht nötig ist, daß es verwerflich ist und daß folglich darüber, was gut und nötig ist, nicht durch Worte und Taten anderer, sondern nur von mir und mit meinem Herzen entschieden werden kann.« Wir haben diese Worte, die die Gedanken des Richters bedrängten, nicht in der Über121
Setzung gefunden, die er als Junge um die Weihnachtszeit 1913 gekauft hatte (und an den Zeitpunkt erinnerte er sich genau, denn nur an diesen Festtagen verfügte er über die eineinhalb oder zwei Lire, die ihm ein Verwandter aus Amerika geschenkt hatte, um sich das Buch kaufen zu können); wir haben uns statt dessen einer anderen, neueren Übersetzung bedient, in der Überzeugung, daß keine Übersetzung, weder die häßlichste noch die schönste (die gefährlichere ist vielleicht die schönste), es je schaffen könnte, das Werk eines großen russischen Schriftstellers zu verfälschen. Und das Gedächtnis des Richters bewahrte eine weitere Seite, ebenfalls von einem Russen: »Auch wenn der Fürst ein Dummkopf war – das hatte der Lakai bereits beschlossen … « : der Fürst, der von einer Hinrichtung erzählt, die er (ebenfalls in Paris, durch die Guillotine) miterlebt hat, und nun die höchste Auseinandersetzung mit der Todesstrafe vorführt, die man jemals gehört hat. Der Richter meinte sich zu erinnern, daß der Lakai plötzlich gerührt war; doch es wird eine kurzzeitige Rührung gewesen sein; denn die Lakaien sind immer für die Todesstrafe, einerlei, ob sie die Funktion des Lakaien ausüben oder es ihrem Wesen nach sind. Da ist dieser arme Rocco (er war wieder zu Hause, hatte die Pantoffeln angezogen, die Balkontür geöffnet, die Schreibtischlampe eingeschaltet und den Artikel Über die Wiedereinführung der Todesstrafe in Italien noch einmal zu lesen begonnen), dieser arme Rocco – und er empfand wirklich ein Gefühl von Erbarmen, fast Mitleid –, der mit einer langen Liste großer Namen aus der italienischen und ausländischen Wissenschaft beginnt, die die Todesstrafe zulassen wollen oder regelrecht 122
fordern. Wissenschaft, die Wissenschaft. Dieser arme Rocco: Ordinarius für materielles und formelles Strafrecht an der Universität Rom, Minister der Justiz (und der Gnade),* seine Exzellenz Rocco. Ein Titel, der sich hervorragend als Umhang eignet für einen Lakaien. Nur dieses »Advokat«, das er seinem Namen mit Vorliebe voranstellte, diesen Titel mochte der Richter ihm nicht zuzugestehen. Seine Exzellenz Rocco: Der Staatsanwalt vergaß ihn nie. Ein braver Mann, der Staatsanwalt: Aber die braven Männer bilden die Basis jeder Pyramide der Unbilligkeit. »Im Grunde bin ich selber einer von diesen braven Männern.« Und er konnte wirklich nicht glauben, daß der Staatsanwalt das Gegenteil dächte, und sich auch nicht vorstellen, daß die Ermahnung, die er ihm vorsichtig hatte zukommen lassen, von etwas anderem diktiert gewesen wäre als der Sorge um den Berufsstand; als von seiner Idee, an diesem Fall ein Rechtsbedürfnis zu verwirklichen, das alle verspürten; und die vielleicht noch einer persönlichen Wertschätzung für ihn entsprang, die bis zur Freundschaft reichte, wenngleich eine echte und wahre Freundschaft zwischen ihnen nie bestanden hatte. Es war dies, nach Ansicht seiner Eltern, seiner Brüder und seiner Frau, sein hauptsächlicher Fehler: bis zum Beweis des offenkundigen und direkten Gegenteils, wobei er auch das Gegenteil unnachsichtig untersuchte, zu glauben, daß das Gute in jedem Menschen über das Böse obsiege und daß in jedem Menschen das Böse dafür empfänglich sei, auf* »Ministero di Grazia e Giustitia«, »Ministerium der Gnade und Gerechtigkeit«, offizielle Bezeichnung des italienischen Justizministeriums. 123
zuleben und sich durchzusetzen, sei es aus Zerstreutheit, wegen eines Straucheins oder eines Falles mit mehr oder weniger tödlichen Konsequenzen für einen selber oder die anderen. Ein Fehler, der ihn bewogen hatte, Richter zu werden, und ihm erlaubte, Richter zu sein. Nicht, daß er nicht seine Bösartigkeiten, seine Unarten und seine Versteifungen aus Eigenliebe gehabt hätte: aber die verarbeitete er – so glaubte er zumindest, und damit tröstete er sich – in einer Sphäre, die wir literarisch nennen könnten und die er Unschuld nannte, weil er meinte, sie würde anderen nicht schaden. Doch wir nennen sie literarisch und beladen sie dadurch, wenngleich nicht schwerwiegend, mit einer anderen Bedeutung: Denn die Literatur ist niemals ganz unschuldig. Nicht einmal die unschuldigste. Er hatte den Schluß des Artikels von Rocco erreicht: »Was die Fälle der Anwendung der Todesstrafe betrifft (einerlei, ob sie nur auf die schwersten politischen Delikte oder nur auf die grausamsten gewöhnlichen Verbrechen zu beschränken oder auf die einen wie die anderen und auf welche sonst immer auszudehnen ist), und das gleiche gilt auch für die Modalitäten der Ausführung der Todesstrafe, für das Gericht, dem ihre Anwendung zu übertragen ist, für die Prozeßordnung und Urteilsform und so weiter, so sind dies Einzelfragen der Gesetzgebungspolitik in Strafsachen, die, meiner Ansicht nach, dem Sachverstand der Regierung und des Parlaments vorbehalten bleiben, die sich – auch hierin – als zuverlässige und treue Sachwalter des juristischen Gewissens der italienischen Nation erweisen werden.« Und »auch hierin« wurden Roccos Erwartungen nicht enttäuscht. Wie sollte man sie auch ent124
täuschen, da er als erster herbeieilte, um sie auszuführen? Er hatte den Aufsatz noch einmal gelesen, und es gelang ihm nicht, sich zu entrüsten, wie es seine Absicht gewesen war, als er ihn sich vom Staatsanwalt auslieh, der seinerseits statt dessen glaubte, er wolle ihn noch einmal lesen, um einen Grund zum Umdenken zu finden und sich eines Besseren zu besinnen. Ein braver Mann: Er war für die Todesstrafe wie für eine Sache, die ihm sehr fern lag, die andere eingeführt hatten und andere ausführten, abstrakt, fast wie eine propagandistische Schaustellung, die auf jeden Fall ästhetisch war. Er war selbst nie in der Situation gewesen, sie zu beantragen; und wenn einer seiner Stellvertreter sie beantragte, so meinte er, es wäre ihre Sache und ohne viel Gewicht, da es etwas anderes war, sie zu beantragen, als sie zu verhängen. Und eines nahm der Richter zu seinen Gunsten an: Wenn der Staatsanwalt jemals in die Verlegenheit kommen sollte, die Todesstrafe zu verhängen, und wenn dann jemand behaupten würde, der faschistische Staat habe die Todesstrafe als Maßnahme zur Verbesserung der Sicherheit und Ordnung nur eingeführt, um die Bürger damit zu ködern, so würde zumindest diese Behauptung ihn so empören, daß sein Gewissen von ihr nicht unberührt bliebe und beunruhigt wäre. Etwas, das dem Professor Rocco niemals widerfahren würde, abgesehen davon, daß er den Grund der Wiedereinführung bestens kannte. Es war ihm also nicht gelungen, sich abermals zu entrüsten. Wie der Physiklehrer zu sagen pflegte: Die Lösung war gesättigt. Gesättigt mit Empörung.
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Offene Türen. Oberste Metapher der Ordnung, der Sicherheit und des Vertrauens: »Man schläft bei offenen Türen.« Aber es war ein Traum von offenen Türen; in der täglichen Wirklichkeit, im Wachsein, entsprachen ihm viele verschlossene Türen, vor allem für diejenigen, die gerne wach waren, prüften, verstanden und urteilten. Verschlossen waren vor allem die Zeitungen, aber die Bürger, zwei von tausend im dichtbevölkerten Süden, die täglich dreißig Centesimi ausgaben, um sie zu kaufen, bemerkten nichts von diesen verschlossenen Türen, außer wenn sich unter ihren Augen etwas Schweres, Tragisches ereignete und sie die Nachricht suchten und sie entweder nicht fanden oder sich schamlos »betrogen« fanden. (Der Ausdruck ist, wie wir wissen, in diesem Zusammenhang ungebräuchlich; aber wir wissen auch, daß der Leser uns verzeihen wird, wenn wir ihm zur Rechtfertigung die Definitionen anbieten, die uns veranlaßt haben, hier von Betrug zu sprechen: »Die ›Fälschung‹ betrifft die Dinge unmittelbar, insofern als das geistige Konzept ihnen nicht entspricht; die ›Lüge‹ die Worte, insofern als sie nicht den Gedanken entsprechen; und der ›Betrug‹ die Tatsachen, insofern als die Worte, die Handlungen oder das Stillschweigen darauf abzielen, andere zu täuschen und an das Falsche glauben zu machen, und zwar zum Vorteil des Täuschenden und zur Befriedigung irgendwelcher unwürdiger Leidenschaften«: Definitionen, die, was nicht betont werden muß, von Tommaseo* stammen.) * Nicolo Tommaseo, 1802 -1874, vielfach verfolgter und exilierter Autor. Schrieb Romane und Gedichte, sammelte Volkslieder, verfaßte pädagogische und literaturgeschichtliche Texte
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In dem Fall, der dem Richter bevorstand – ein Mann hatte innerhalb weniger Stunden drei Personen ermordet –, war der Betrug auf die Spitze getrieben worden und hatte sich ins Groteske und Komische verkehrt. Die Opfer waren, in zeitlicher Reihenfolge, die Ehefrau des Mörders; der Mann, der den Posten übernommen hatte, aus dem der Mörder entlassen worden war; der Mann an der Spitze des Amtes, der seine Entlassung verfügt hatte. Betrachtete man die Zeitungen, so hatte kein Mord stattgefunden: Über die Ehefrau wurde kein Wort verloren, und die anderen beiden waren zwar unerwartet verstorben, aber eines natürlichen Todes. Zwei Tage lang hatten sich die Chronisten um sie gekümmert: um den unerwarteten Tod, das Begräbnis, das Beileid der Bürger. Und wir denken, daß die bloße Nachricht, so wie sie am Tag nach den tragischen Vorfällen in der meistverbreiteten Zeitung der Insel erschien, als Modell dafür dienen kann, welche Höhen und Entwicklungen ein gewisser Journalismus erreichen kann, wenn er sie nicht schon erreicht hat: Die Nachricht vom unerwarteten Tod des Präsidenten der faschistischen Provinzialvereinigung der Künstler und freien Berufe und Sekretärs der Gerichtsgewerkschaft, Advokat Commendatore Giuseppe Bruno, die sich rasch in unserer Stadt verbreitete, hat in allen Bereichen, in denen der illustre Verblichene wegen seiner edlen Qualitäten des Geistes und des Herzens auf das höchste geachtet wurde, allgemeines und tiefstes Mitgefühl hervorgerufen. und ist, zusammen mit Bellini, Verfasser des berühmten »Wörterbuch der italienischen Sprache« in fünf Bänden, auf das Sciascia hier anspielt.
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Mit Giuseppe Bruno verstirbt eine der herausragenden Persönlichkeiten von Palermo. Weitreichend waren stets seine Betätigungen und seine noble Beteiligung am öffentlichen Leben, zu dem er durch sein ausgleichendes Wesen, die Rechtschaffenheit seiner Gefühle und den Edelmut seiner Vorschläge einen bleibenden Beitrag geleistet hat. Als Amtsleiter und als Gewerkschaftsführer zeichnete er sich durch diese seine vortrefflichen Tugenden aus, die ihn in den Vereinigungen der Freiberufler und der Künstler unserer Stadt so beliebt machten. Als Präsident der Vereinigung der freien Berufe und Künstler seit ihrer Gründung, als Sekretär der Gerichtsgewerkschaft und als Vize-Sekretär der faschistischen Föderation von Palermo war er ein weiser Organisator und Anreger jeder Einrichtung, die seiner Führung anvertraut wurde. Vor allem im Palermitaner Gerichtssaal erinnert man sich seines ausgezeichneten Sinnes für Gerechtigkeit, dank dessen seine Anwesenheit stets eine Garantie für die Sachlichkeit einer jeden Entscheidung war. In der Verwaltung öffentlicher Ämter, als Mitglied des Magistrats, Wasserkommissar, Vorsitzender des Verwaltungsrates des Hospitals und Delegierter der Regierung bei der Bank von Sizilien bewies er allzeit einen tiefen Eifer und eine lebendige Leidenschaft, mit denen er dank seines hohen, gewissenhaften Verantwortungsgefühls die höchsten Interessen verband. Das Vertrauen höchster Parteiführer in die Würde, mit der er die schwierigsten faschistischen und gewerkschaftlichen Funktionen der Provinz bekleidete, und dieses Vertrauens konnte er sich allezeit rühmen, ist 128
der Lohn für sein uneigennütziges und inbrünstiges Werk als Parteiführer. Die Trauer, die seine Familie trifft, ist deshalb die Trauer auch der großen Familie der Freiberufler und Künstler von Palermo, die ihn stets als ein Beispiel und einen nachfolgenswerten Führer in Erinnerung behalten werden. An seinem Leichnam knien heute die Bannerträger des Faschismus und Syndikalismus von Palermo; so wie sich in der Erinnerung an ihn die bewegenden Gedanken all derer vereinen, die ihn kannten und Gelegenheit hatten, seine hohen Tugenden schätzen zu lernen. Die Ehrungen, die Giuseppe Bruno heute feierlichst zuteil werden, bilden das höchste Zeugnis dieser Gefühle. Der Leichnam, der seit gestern in einer Leichenhalle im Haus der Vereinigung der freien Berufe und Künstler aufgebahrt ist, ist das Ziel eines ständigen Pilgerzuges der hauptsächlichen Autoritäten und Führer von Faschisten und Gewerkschaften sowie großer Abordnungen des Verbandes der freien Berufe und Künstler. Der Leichnam, der am gestrigen späten Nachmittag in den Sitz des Verbandes gebracht worden ist, wurde in der Nacht von jungen Faschisten bewacht. Seit heute morgen um neun erweisen sämtliche Vertreter der Vereinigungen der freien Berufe und Künstler turnusmäßig die Ehrenwache bis zum Augenblick des Abtransports. An der Beisetzung beteiligen sich die Autoritäten und Parteiführer und sämtliche Gewerkschaften der 129
Berufsgruppe, angeführt von den Bannerträgern, den Sekretären und Präsidenten der einzelnen Vorstände. Parteigenossen nehmen an der Leichenfeier in Parteiuniform teil. Der Leichenzug beginnt um 16 Uhr in der Via Caltanisetta und durchquert die Straßen Libertà, Ruggero Settimo, Cavour und Via Roma. Vor dem Haus des Verblichenen in der Via San Cristoforo wird der Leichnam einige Minuten verharren, so daß die Teilnehmer dem Geburtshaus von Giuseppe Bruno die Ehre erweisen können. Der Zug löst sich auf der Piazza Giulio Cesare (Hauptbahnhof) mit faschistischem Ritus auf. Der Dachverband der freien Berufe und Künstler hat unmittelbar nach Erhalt der unerwarteten Nachricht seinen tiefen Schmerz ausgedrückt, indem er seine direkte Beteiligung an der Beisetzung in die Wege geleitet hat und sich vom Präsidenten der Vereinigung der freien Berufe und Künstler von Messina, Großoffizier Gennaro Vitelli, vertreten läßt. Zugleich mit den Ehrungen für den hingeschiedenen Commendatore Advokat Giuseppe Bruno findet die Beisetzung des Buchhalters Antonio Speciale, Angestellter im Büro der Gerichtsgewerkschaft, statt, der gestern ebenfalls völlig unerwartet der Zuneigung seiner Lieben und der Wertschätzung all derer verlustig ging, die ihn im Gerichtswesen schätzten. Auch der Leichnam des Buchhalters Antonio Speciale ist in einer Leichenkammer der Vereinigung der freien Berufe und Künstler aufgebahrt und von jungen Faschisten und Stadtpolizisten bewacht worden. Der Richter hatte diesen Artikel zusammen mit dem vom anderen Tag, in dem die feierliche Beisetzung 130
beschrieben wurde, in einer Mappe verwahrt und mit dem Satz beschriftet: »Kein Zusammenhang mit den Verbrechen, wegen derer die zweite Abteilung des Schwurgerichts von Palermo angerufen ist, ein Urteil über den dieser Taten Angeklagten zu fällen«; und er hätte den traurigen Spaß gerne noch weitergetrieben und die Mappe zu den Prozeßakten gegeben, wobei er über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Strafanzeige gegen die Zeitung oder den Schreiber phantasierte. Aber auf welche Rechtsnorm hätte er direkt oder durch Analogieschluß zurückgreifen können, um sie zu belangen? Solchen Phantasien gab sich der Richter häufig hin; Sehnsüchte und Träumereien eines Juristen im Gang der Dinge, der den Buchstaben des Rechts vielleicht intakt ließ und seine Substanz vernichtete. In dem Bericht, den wir dieser Mappe entnommen haben, gab es nur einen Punkt, den man vielleicht als Augenzwinkern und als Zeichen geheimen Einverständnisses zwischen Schreiber und Leser, zwischen dem freiwilligen und dem unfreiwilligen Sklaven, bezeichnen könnte. Es ist das Wort »unerwartet«, für das man sich bei der Parteiführung damit entschuldigen konnte, daß es nach dem Wörterbuch nur einen sinnhaften Zusammenhang mit Trauer und Schmerz hat, und den hat jeder Tod ja unweigerlich und pleonastischerweise auch. Unter den Lesern aber gab es nicht einen, der mit dem Wort nicht die Bedeutung des düsteren, gewaltsamen und blutigen Ereignisses verbunden hätte, die man damit verbergen wollte. Der Prozeß begann, und schon während der ersten Sitzung sagte sich der Richter, daß es schön wäre, die 131
Fähigkeit oder die magische Gabe zu besitzen, den Angeklagten unsichtbar zu machen: eine kindliche Phantasie, die gelegentlich, aber immer wieder aufblitzte und von den vielen teils vergnüglichen, teils erschreckenden Fabeln herrührte, die seine Kindheit geprägt hatten. Um genau zu sein, sagte er es sich nicht: Es war eher etwas Vages und Flüchtiges aus einer Welt der Erinnerung und des Traumes, aus einer Erinnerung, die in den Traum hinabreichte, etwas, das seine Gedanken für einen Augenblick berührte oder sie einen Augenblick lang durchdrang. Und manchmal war es nur das Aufblitzen eines Gegenstandes: ein Ring. Den man am Finger dreht: Und der Mann verschwand aus seinem Käfig, in dem er ungerührt mit den beiden Carabinieri plauderte, sobald es eine Pause gab. So daß der Richter sich zuweilen dabei ertappte, wie er an seinem Ehering drehte und über sich lachen mußte. Dieser Mann war ihm überaus unbehaglich: so sehr fast, daß er ihn an dem gewohnten Zwiegespräch mit der Vernunft hinderte, indem er seinen Instinkt wachrief und aufstachelte. Und der Instinkt drängte dazu, ihn auszulöschen: wie von einer Zeichnung, auf der eine allegorische Darstellung des Lebens mit allen Schrecken, Leidenschaften und Gewalttätigkeiten, die im Leben vorkommen, durch diese Figur ein Zuviel an Realismus erfährt, das sie aus dem Gleichgewicht bringt. Eine Unverhältnismäßigkeit. Ein Irrtum. Aber die Zeichnung, auf der er zuviel war, und der magische Ring, der ihn unsichtbar machte, waren nur Ablenkungen, das wußte der Richter wohl, und das nagte an ihm, waren Alibi und Flucht vor jenem Wort und jenem Urteil, das er nach dem Gesetz über jenen 132
Mann zu sprechen hatte. Der Instinkt wäre deshalb, wenn er ihm nachgeben würde, nichts weiter als die Unterwerfung unter das Gefühl, das in der Doktrin Roccos bemäntelt wurde und das zutagetritt, wenn man die Einführung der Todesstrafe fordert, solange es sie nicht gibt, und wenn es sie gibt, sich dafür ausspricht, sie nicht nur gegen Mörder anzuwenden, sondern auch gegen Räuber, Handtaschen- und Hühnerdiebe. Vor allem, wenn man selber beraubt worden ist. Es gab aber in denen, die für die Todesstrafe waren, vermutlich auch so etwas wie einen vorsintflutlichen und verborgenen Ästhetizismus. In doppelter Hinsicht: einerseits, indem man das Leben befreien und reinigen will von jeder extremen menschlichen Abweichung, und das heißt von denen, die wegen abweichender Leidenschaften, abweichender Interessen und abweichender Methoden des Tötens (Hinterlist, Verrat) als des Lebens unwert betrachtet werden; andererseits zur beschaulichen Betrachtung eines selten gesehenen und üblicherweise nur vorgestellten, befohlenenen Todes mit geordneter und ritueller Gewaltanwendung und grausamen, aber sorgsamen Regeln: reines Schauspiel, fast Fiktion, wenn in jenen, die es befehlen, nicht jenes Gefühl von »geschieht ihm recht« am Werk wäre und in dem, der es empfängt, nicht die Unvermeidlichkeit, es akzeptieren zu müssen und sich »anständig zu benehmen«. Die Erhabenheit der unwürdigen Seelen, wie Stendhal bemerkte, als er die Gemarterten auf den Gemälden von Pomarancio* * Nicolo Circignani detto dalle Pomerance (von den Orangen), 1516-1591, Nebenfigur, malte u.a. einiges in Rom, wo er auch starb. 133
und Tempesta* in einer römischen Kirche mit dem Schauspiel der Guillotine in Aktion verglich. Und tatsächlich fühlte der Richter in jeder Sitzung, wie etwas Unwürdiges ihn zeitweilig durchfuhr; ein Zucken, eine Abschweifung, ein Bruch, wie ein Traum, der in schwindlig machte und ihn die Furcht und Faszination der Leere und des Abgrunds spüren ließ. Es dauerte nicht lange, aber die Unruhe blieb. Er mußte einen Fall entscheiden, in dem ein jeder, selbst der Gerechteste und Unbeschwerteste, der erleuchtet ist von dem, was die Theologen »die Gnade« und die Menschen ohne Theologie »die Vernunft« nennen, mit sich selber und dem dunkelsten, dem verstecktesten und eben unwürdigsten Teil seiner selbst ins Gericht hätte gehen müssen. Da war sodann das Messer, das ihn innerlich in einen Schrecken versetzte, den er nicht nur im Gehirn, sondern bis in die Knochen spürte; das »Corpus delicti«, das auf einer Ecke des Tisches lag, auf dem der Gerichtsschreiber schrieb und schrieb – ohne jemals den Kopf zu heben, grauhaarig, die Brillengläser so dick wie ein Flaschenboden. Und es schien, als produzierte nicht er die Schrift, sondern als produzierte die Schrift ihn als einen Auswuchs. Das Messer, das auf einem Stück Zeitung lag, von dem der Richter auf der Höhe seines Amtssessels nur die Überschriften lesen konnte – Der Duce zu Franco am ersten Jahrestag seiner Ernennung zum spanischen Staatsoberhaupt –, und auf dem die * Pietro Molyn, genannt Cavalier Tempesta, Haarlem 1639 Milano 1701. Errang einen gewissen Ruhm als Maler von Jagdszenen und Seestürmen (daher der Beiname) sowie als Mörder seiner ersten Frau. 134
Blutspuren sich in Rostflecke verwandelt hatten, rief ihm die Aussage des Angeklagten bei seiner ersten Vernehmung durch den Polizeikommissar in Erinnerung: »Die Idee zu den unüberlegten Handlungen, die ich heute begangen habe, hatte ich schon früher, so daß ich bereits zu der Zeit, als mein Gehalt nicht erhöht wurde, fünfzig Schuß für den Revolver kaufte … Ich kaufte da auch das Jagdmesser …, und zur gleichen Zeit ließ ich das Bajonett schleifen, das ich zu Hause hatte, und zwar bei einem Schleifer in der Via Beati Paoli.« (Der Name paßt gut, dachte der Richter, zu einer Straße, in der Messer geschliffen werden: Es war die Waffe, von der diese legendäre Sekte häufigen und – nach Meinung der Leute vom Schlage des Angeklagten – gerechtfertigten Gebrauch machte.) Nachdem er sich entschlossen hatte, die »geplante« Bluttat auszuführen (seine ganze Erfahrung mit Advokaten und Richtern sagte ihm nicht, daß er im Begriffe war, den Vorsatz einzugestehen), hatte er an jenem Morgen das Bajonett beim Schleifer abgeholt und eine Lira dafür bezahlt: Es war nicht einfach geschliffen, sondern auf die Länge eines Faustmessers gekürzt worden; er hatte es sich in den Hosengurt gesteckt, und in der Tasche trug er bereits eine Pistole und 25 Schuß Munition. Aber die Waffe, die er zum Töten ausgewählt hatte, war das Messer; die Pistole, sagte er später, habe er gebrauchen wollen, um sich selber umzubringen. Warum das Messer? Der Richter betrachtete es, hob den Blick zum Angeklagten und gab sich selber die Antwort mit einer Definition, die er auch in einem Buch hätte finden können, das er freilich nie gelesen hätte, von einem Schriftsteller, dessen Namen er vielleicht 135
kannte, wenngleich nur den Namen, aus den letzten Tagen seines Lebens: »Es ist mehr als ein einfacher Metallgegenstand; die Menschen haben es zu einem sehr präzisen Zweck erdacht und geschmiedet; es ist in mancher Hinsicht ewig. Das Messer, das gestern nacht einen Mann in Tacuarembó getötet hat, und die Messer, die Cäsar getötet haben. Es will töten, will unverhofft zustoßen, will Blut vergießen, das noch warm ist.« Der Richter hatte den gleichen Gedanken, aber er gab ihm mehr Worte und verband ihn mit einer Folge dunkler Bilder und Erinnerungen, die zu ihm gehörten wie das ganze Jahr einer fiebrigen Malaria, deren Folgen er noch immer spürte. Der Stoßtrupp, der in aller Stille zu irgendeiner nächtlichen Überraschungsaktion an der Front auftauchte, nur mit einem Dolch bewaffnet. Das Klacken der Scheren, die den Stacheldraht durchschnitten und wie ein Alarmsignal durch die Nacht hallten, so daß manchmal im gegnerischen Graben tatsächlich Alarm gegeben wurde und den Angreifern, die sich kriechend näherten, das plötzliche Feuer aus Gewehren und Schnellfeuerwaffen entgegenschlug. Aber normalerweise gelangen die Angriffe: Und wenn der Stoßtrupp zurückkehrte und die Infanterie vorrückte, hundert Meter, zweihundert, um den eroberten feindlichen Schützengraben zu besetzen, fand man die noch bartlosen österreichischen Soldaten, erstochen im Schlaf oder im Moment des Wachwerdens vom unerwarteten Alarm. Es war ein Anblick – diese auf dem Rücken liegenden Soldaten mit einem blutigen Rinnsal, das aus dem Mund lief –, den die Morgendämmerung langsam enthüllte: eines der grausamsten Kriegserlebnisse des noch bartlosen italienischen Soldaten, den 136
sie im Herbst 1917 in den Krieg geschickt hatten. Und dann dieser Gesang der faschistischen Sturmabteilungen, der mit dem Schwur endete: » …Bomben, Bomben und ein Streicheln mit dem Dolch.« Und die Dolchstöße für Matteotti. »Ein Streicheln mit dem Dolch«: Wie kann man eine Partei hinnehmen, ihr helfen oder sogar applaudieren, die jenen, die sie ablehnen, solches verspricht? Man hätte auch eine »polizeiliche« Hypothese aufstellen können, die einerseits den Vorsatz des Angeklagten hervorhob, andererseits die Zweifel an seiner mutmaßlichen Perversität bestärkte, die unergründlich tief und unauslöschlich zu sein schien. Die folgende: daß der Gebrauch des Messers nicht von dem perversen Wunsch diktiert worden war, die Freude am Töten aus nächster Nähe und in einer Art mörderischer Intimität zu verspüren, sondern vom Kalkül. Da die drei Morde an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten stattfinden sollten, mochte er sich gedacht haben, ein Schuß auf die ersten beiden Opfer würde Aufmerksamkeit erregen und es ihm unmöglich machen, das »geplante« Blutbad zu Ende zu bringen. Beim dritten Mord hätte er die Pistole benutzen können, doch da mochte man ihm zugutehalten, daß auch der Ort seines Selbstmordes »geplant« war und daß er einige Zeit brauchte, um ihn zu erreichen. Aber der Richter brauchte nur einen Blick auf den Angeklagten zu werfen und die Hypothese löste sich in Luft auf. Vielleicht hatte er gedacht, daß ihm nach Beendigung der Bluttat nichts weiter übrigbliebe als der Selbstmord. Aber nicht fest entschlossen, nicht wie ein Urteil, das die 137
Handlung und das Schicksal eines anderen betraf, der von ihm und seinem Sein und seinem Dasein abgetrennt war. Für einen anderen, der getan hätte, was er getan hatte, wäre der Selbstmord der einzige Ausweg gewesen: Aber vielleicht sah er sich und diese drei Toten wie auf einem dieser stupiden Fotos von einem Jagdausflug. Er hatte die Bluttat zu Ende geführt, und seine Opfer im Jenseits wußten, welchen Preis man zahlte, wenn man sich gegen ihn stellte – oder hatten es wenigstens im Augenblick ihres Todes gewußt. In seinem Käfig zwischen den zwei Carabinieri verzichtete er nie auf Äußerungen und Gesten, die anmaßend und unterwürfig zugleich waren. Und diese Äußerungen und Gesten veranlaßten den Richter, nach etwas zu suchen, das im Strafgesetzbuch »allgemeine Strafmilderungsgründe« genannt wurde. Man konnte diesen Mann wegen seines anmaßenden und unterwürfigen Wesens als Produkt einer Umgebung, ja fast einer ganzen Stadt bezeichnen, in der den Dienern mehr Anmaßung gestattet war als den Herren: »Hauptstadt Siziliens, Residenz des Königs, berühmter Erzbischofssitz, weltberühmt bei sämtlichen alten wie neuen Autoren wegen ihrer anmutigen Lage, ihrer Ausdehnung und der Vortrefflichkeit ihrer Bürger …« Das war der Stolperstein, die Störung, die Sackgasse: die Vortrefflichkeit der Bürger. Etwa zweitausend adlige Familien und viele von zweifelhaftem Adel hatten sich im 18. Jahrhundert hier niedergelassen: Und wenn man von 102.106 Seelen die Herren abzieht, was sollen die verbleibenden Seelen anders sein als Diener. Im anwaltlichen und gerichtlichen Unterholz, wo sich in einer Stadt wie dieser alles auf unerklärliche 138
Weise trifft und verknüpft, bildete der Angeklagte eine unbestreitbare Macht. Seine Lebensführung konnte in jenen Jahren, in denen die Buchführung ebenso heilig war wie die Ehe, nicht als untadelig bezeichnet werden; und sein Temperament war für jemanden seinesgleichen alles andere als sanftmütig. Dennoch war ihm das Kreuz eines Ritters der italienischen Krone verliehen worden, und bei den Richtern, Rechtsanwälten und Künstlern genoß er eine Wertschätzung, die man familiär nennen konnte. Nur als Zeugen zu seinen Gunsten verhielten die meisten von ihnen sich zurückhaltend: Sie hätten sich nie über ihn zu beklagen gehabt, da er sich ihnen gegenüber stets »mit Ehrerbietung« verhalten habe. Lediglich der Bürgermeister von Palermo mußte ein weitergehendes Zugeständnis machen und versuchte deshalb unter Berufung auf sein schweres Amt und seine Verpflichtungen, sich der Zeugenaussage im Gerichtssaal zu entziehen. Aber das Gericht erließ einen Vorführbefehl, und dies war das erste Zeichen dafür, daß es sich durch die Hierarchie vom Bürgermeister an abwärts, durch das, was die Russen, wie man hört, »Nomenklatur« nennen, nicht im geringsten beeindrucken ließ. Und der Bürgermeister stieg auf den Zeugenstuhl, schwor und gestand, daß man den Angeklagten mit »mein Liebster« angeredet hatte, mit »du«, und daß er persönlich darauf bestanden hatte, ihn zum Ehrenmitglied der ONMI, das war das Nationalwerk zum Schutz von Mutter und Kind, zu ernennen: was im Gerichtssaal ziemlich makaber klang, wenn man bedachte, daß der Angeklagte die Mutter seiner Kinder erstochen hatte. Und der Angeklagte war auf aus- und nachdrücklichen Wunsch des Bürgermeisters 139
nicht nur Mitglied der ONMI geworden, sondern auch des Tierschutzvereins, des Italienischen Roten Kreuzes, des Nationalen Kunstinstitutes für Mode, des Faschistischen Kolonialinstitutes, der Nationalen Mietervereinigung und der Nationalen Kriegsfreiwilligenvereinigung Azzurri di Dalmatici; sei es, um Leuten einen Gefallen zu tun, die ihn in ihren Kreisen haben wollten, wie der Bürgermeister, sei es aus einem manischen Trieb, sich zu vereinigen und Mitglied zu werden. Und wir wissen nicht, ob er nicht auch ein reguläres Mitglied der sizilianischen Gesellschaft für die Geschichte des Vaterlandes war, deren Präsident ihm das Amt des Inspektors des Risorgimento-Museums angetragen hatte: »In Kenntnis der patriotischen Gefühle, die Euer Wohlgeboren durchdringen, wäre ich Ihnen, auch im Namen des Vorstandes, dankbar, wenn Sie die Aufgabe annehmen würden.« Bei vielen Dingen hatte er mitgemacht und viele Freunde gehabt. Der Richter erinnerte sich einer dieser Freundschaften, einer aktiven, herzlichen und vermutlich nicht unfruchtbaren Freundschaft; denn die wirklich offenen Türen der Stadt waren diejenigen, die nur durch Freundschaften geöffnet wurden. Von einer war auf den vielen Seiten der Ermittlungsakten die Rede, und daran mußte er denken: Die Carabinieri! Ihre Berichte, von zweifelhafter Orthographie, ohne Grammatik und Syntax, mit Redewendungen, die seltsam toskanisch und höfisch klangen und wie aus dantischen Erinnerungen oder einem Opernlibretto stammten (und zuweilen ein Wort enthielten, das einen südlichen Dialekt streifte, den sie zu verstecken und zu unterdrücken versuchten): ein Bericht der Carabinieri. Diese Berichte – dachte der 140
Richter – waren das einzig Wahre, das in Italien im Umlauf war. Nicht alle und nicht immer, verständlicherweise: aber fast immer; und man konnte fast allen vertrauen. Auch wenn er sie sah, gaben die Carabinieri ihm eine gewisse Sicherheit: wie einem Kind. Vielleicht eine Erinnerung an jene kindlichen Spiele, in denen die Welt in apodiktischer Art eingeteilt wurde in Räuber und Carabinieri und man nur ungerne das Los akzeptierte, die Rolle des Räubers zu spielen. Und auch im düsteren, spärlich beleuchteten, abgenutzten und feuchten Gerichtssaal, der einem stets Angst vor einer Ansteckungskrankheit machte und in dem sich der Muff staute, der an das Leben der Verhörten erinnerte, die man hier durch den Wolf gedreht hatte, aber auch an den Zufall und das Modern der Papiere, durch die abermals menschliche Schicksale zu Makulatur wurden – auch hier in diesem Gerichtssaal gaben ihm die beiden Carabinieri, die in Paradeuniform hinter seinem Rücken standen, ein Gefühl der Sicherheit und, wenn er sich umwandte, um nach ihnen zu schauen, der Erholung und der optischen Erfrischung. Das Blau, das Rot und das Silber waren lebende Farben in dieser staubigen und verbrauchten Luft. Und er gestand sich ein, eine Schwäche für die Paradeuniform der Carabinieri zu haben: eine stets kindliche, der sich jedoch, seit er erwachsen und ein Richter war, die bittere Einsicht hinzugesellt hatte, daß es kaum vorkommen würde oder zumindest schwer vorstellbar wäre, daß Carabinieri in Ausgehuniform ihresgleichen folterten. Die Zeugenaussagen der vielen Freunde, die er gehabt hatte, der vielen Verwandten, denen er gehol141
fen hatte, und der vielen Personen, die ihm ihre Zuneigung erwiesen und vor allem in der letzten Zeit versucht hatten, ihm zu helfen, damit er seinen Posten behielt, hörten sich jetzt so zurückhaltend an und entfernten ihn so weit von ihrem Leben, daß man meinte, sie müßten sich anstrengen, um sich überhaupt an ihn zu erinnern. Je nach der sozialen Lage der einzelnen spielten in dieser Haltung zwei Beweggründe eine Rolle: ein niederträchtiger, der von der Furcht diktiert wurde, sich politisch zu kompromittieren; zum anderen ein instinktiver Widerwille und eine Abstandnahme von einem Mann, der sich durch diese drei Morde, die alle Anzeichen einer vorsätzlichen Tat aufwiesen, als »Bestie« gezeigt hatte, als welche die Vertreter der Nebenklage ihn donnernd bezeichneten. (Und »Die menschliche Bestie von Palermo« lautete dann auch der Titel der Revisionsbegründung des Verteidigers Filippo Ungaro.) Unnötig zu sagen, daß der erste der zwei Beweggründe mehr bei jenen Personen mitspielte, die riskierten, etwas zu verlieren, wenn sie sich politisch kompromittierten; und der zweite, der den ersten fast ausschloß, bei den Leuten, die wenig oder nichts zu verlieren und lediglich Angst vor der »Bestie« hatten. Obwohl die Zeitungen nichts über Ort, Zeit und Umstände der drei Mordtaten berichtet hatten, war man minutiös unterrichtet. Sogar etwas mehr, und indem man etwas für gesichert hielt, was statt dessen wenn nicht Erfindung, so doch zweifelhaft war. Eine Einzelheit des Mordes an der Frau, die dem Richter zweifelhaft war und die ihn, wie immer man sie betrachtete, sehr beunruhigte, war für die Leute 142
schreckliche Gewißheit: Bevor er seine Frau erstach, hatte der Angeklagte sie ein Gebet sprechen lassen, damit sie gewissermaßen »gut versorgt« starb. Aber es ist wohl angebracht, hier die Fakten zumindest summarisch zu referieren. Nachdem er das Messer beim Schleifer abgeholt hatte, mietete der Angeklagte ein Auto, einen »Balilla«* genau gesagt, kehrte nach Hause zurück und sagte seiner Frau, er wolle nach Piana degli Albanesi (das die Faschisten dummerweise in Piana dei Greci umgetauft hatten), um die Kinder zu besuchen, die dort bei Verwandten waren. Der Angeklagte behauptete, sie sei es gewesen, die ihn begleiten wollte, die Anklage nahm jedoch an, er habe sie eingeladen mitzufahren, und das ist auch wahrscheinlich, da er den Mord bereits »geplant« hatte und das Messer bei sich trug. Während der Fahrt stritten sie sich wie üblich. Und da er, nervös geworden, ins Schleudern kam und ein Kotflügel beschädigt wurde, stiegen sie aus, und da die Frau nicht aufhörte zu schimpfen, kam es zu der »unüberlegten Tat«. Aber wenn es schon reichlich unglaubhaft war, daß die Frau sich aufgedrängt haben sollte, so war es gänzlich unglaubwürdig, daß die Dinge sich so weiterentwickelt hatten, wie der Angeklagte sie schilderte: der Autoverleiher sagte aus, daß an dem Kotflügel kein Kratzer zu sehen war; und ein Bauer aus Piana hatte in der Toten die Frau wiedererkannt, die er beim Beten vor einem Bildstock an der Straße gesehen hatte. *
Automarke nach einem legendären Freiheitshelden, der angeblich den Aufstand der Genueser gegen die Österreicher entfesselte. Zeitweilig auch Name der faschistischen Jugendorganisation.
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Die Frau, gut angezogen, die niederkniete, um zu beten, während ein ebenfalls gutgekleideter Mann nicht weit von ihr neben einem Auto spazierenging, hatte ihn beeindruckt: und als er später von der Leiche hörte, die man in dieser Gegend gefunden hatte, war er zur Dienststelle der Carabinieri in Piana gegangen, um zu berichten, was er gesehen hatte. Doch der Angeklagte leugnete: entweder, weil er sich tatsächlich wie ein Richter und Scharfrichter verhalten hatte, indem er der Frau ihr Todesurteil verkündete und ihr Gelegenheit bot, sich auf das Jenseits vorzubereiten (denn er war ein sehr frommer Mann, der seine Familie einige Jahre zuvor in der Kathedrale von einem Monsignore und Vize-Kantor hatte segnen lassen); oder weil er meinte, jene Episode einer Frau, die am Rand einer Landstraße niederkniet und betet, sehe mehr nach Ergebenheit als nach einem Ehestreit aus; oder weil ihm schien, seine Tat wäre noch schwerwiegender und grausamer, wenn er die Frau getötet hätte, nachdem er sie beim Beten gesehen hatte. Oder wegen der beiden letztgenannten Erwägungen zugleich: zwischen denen der Richter hin und her schwenkte, da er verzweifelt das ausschließen wollte, was die Leute als gesichert annahmen: daß der Angeklagte seiner Frau das Urteil kaltblütig mitgeteilt habe, ihr kaltblütig jene letzte Chance fürs Jenseits angeboten und sie kaltblütig erstochen habe. Am zweiten Mord waren die kalte Heimtücke, die Lüge und der Verrat beeindruckend, durch die der arme Buchhalter Speciale in die tödliche Falle gelockt worden war. Der Angeklagte hatte ihn mit freundschaftlicher Miene und unter dem glaubwürdigen Vorwand zu Hause aufgesucht, mit ihm gemeinsam ins 144
Boro gehen zu wollen; und dort hatte er ihn von vorne niedergestochen, anschließend – laut Anklage – die Tür von innen verschlossen und das Büro durch ein Fenster oder eine Tür (durch welche, weiß man nicht; in den Akten erscheint die örtliche Beschreibung äußerst konfus) verlassen, um die Entdeckung des Leichnams so lange hinauszuzögern, wie er brauchte, um Advokat Bruno zu erreichen, ohne daß der bereits wußte, was im Büro vorgefallen war. Aber die Tötung des Speciale in diesem Büro war nicht nur Kalkül, sondern auch Teil eines fast symbolischen, rituellen Entwurfs, da er glaubte, der Speciale sei aufgrund einer hinterlistigen Intrige eingestellt worden, in der er den Advokaten Bruno aufgehetzt habe. Und obwohl die Büros wegen der Tageszeit leer waren, war jemand anwesend. Er hörte den Schrei des tödlich verwundeten Mannes, lief die Treppe herab und stieß auf den Angeklagten, der ebenfalls nach unten ging: Und dieser gab auf die Frage des anderen, was vorgefallen sei, die unbekümmerte Antwort: »Ein Spaßvogel«, so wie Hamlet nach dem Mord an Polonius sagt: »Eine Ratte.« Für den Richter bedeutete diese Episode, nicht schon bei der Lektüre der Akten, wo sie bereits verzeichnet war, sondern erst während der Zeugenaussagen im Gerichtssaal, eine fast unerwartete Annäherung an den Angeklagten: dank des plötzlichen, automatischen und in gewisser Weise wertlosen Aufblitzens der Antwort Hamlets. Die schmutzige Materie dieses Prozesses und das gräßliche und blutrünstige Elend seiner Tatsachen begann sich zu erheben und in eine Tragödie zu verwandeln. Und warum ihm die Tragödie nicht zubilligen, wenn seine Leidenschaften so groß waren und 145
das Gespenst der Verzweiflung erschienen war – sie ihm zu offenbaren und Rache zu fordern? Nur daß das Gesetz derartige Gespenster nicht zuläßt; und es hätte sie auch im Fall Hamlet nicht zugelassen, wenn Hamlet mit dem Gesetz auf einer Stufe und nicht darüber gestanden hätte; was auch den Unterschied bildete, den einer seiner Lehrer, so erinnerte sich der Richter, in seinen Erläuterungen zu Alfieri zwischen der Tragödie und dem Drama gemacht hatte: Tragödie ist, was sich in einer Sphäre ereignet, wo das Gesetz nichts vermag, und Drama, was der Wirkung und Strenge des Gesetzes unterworfen ist; eine nicht erschöpfende, einschränkende Unterscheidung, die für den schulischen Hausgebrauch jedoch nützlich war. Das Gesetz läßt nur ein Gespenst zu, nämlich das Gespenst des Wahnsinns. Nur dann hält es sich vom Kriminalfall fern, urteilt nicht, überläßt das Urteil dem Psychiater und verfügt als Strafe – abstrakt betrachtet, denn im Konkreten verläuft alles anders – die Heilung. Advokat Bruno war in Palermo ein Mann mit Autorität und Prestige; wohlgelitten und geschätzt. Sein Trauerzug, in bombastischer Feierlichkeit, wurde durch den Sarg des armen Buchhalters ergänzt, das dritte Opfer allerdings sorgsam ausgespart, und das Ganze war zugleich eine einmütige Demonstration des Mitgefühls und des Beileids wie des einmütigen Abscheus der ganzen Stadt für den Urheber solch gräßlicher Verbrechen. Als dann von der Staatsanwaltschaft einige Advokaten zu Pflichtverteidigern des Angeklagten berufen wurden, lehnten sie die Bestallung ab und 146
gaben als Grund die Freundschaft mit dem hingeschiedenen Bruno an, dem sie jetzt in schmerzlichem Angedenken verbunden seien. Und weshalb hatte dann der Anwalt, als der Angeklagte schließlich, wie man zu sagen pflegt, einen Anwalt seines Vertrauens gefunden hatte, nicht die Befangenheit des Gerichts gerügt, um zu erreichen, daß der Prozeß an ein anderes Schwurgericht außerhalb von Palermo verwiesen wurde? Und angenommen, es wäre zu Beginn der Hauprverhandlung zu spät gewesen, einen Verweisungsantrag zu stellen, warum wurde keine psychiatrische Untersuchung des Angeklagten gefordert? In seiner Revisionsbegründung wird Advokat Ungaro später sagen: »Es sei darauf hingewiesen, daß die Verteidiger in der Hauptverhandlung zu keiner Zeit eine psychiatrische Untersuchung verlangt haben, woraus folgt, daß sie keinen Zweifel an der Fähigkeit des Angeklagten hatten, die Tat wissentlich und willentlich zu begehen.« Kein schlechtes Argument für einen Gegenanwalt, aber absolut ungeeignet, um das Vergessen oder Unterlassen eines so naheliegenden und grundlegenden Antrages in einem Prozeß dieser Größenordnung zu erklären. Wie immer ein Advokat den Angeklagten, dessen Verteidigung er übernommen hat, in seinem Herzen beurteilen mag, seine Pflicht ist eben die, ihn mit allen Mitteln zu verteidigen, die das Gesetz gestattet. Ehe Tatsache, daß die psychiatrische Untersuchung im ganzen Verlauf des Verfahrens nicht beantragt wurde, und die Erwägung, daß der Angeklagte die Mühlen der Justiz und der Advokatur oft besucht hatte und sich mit Rechtskenntnissen bestäubt fühlte, ver147
anlaßten den Richter zu der sicheren Annahme, daß die Anwälte auf seinen Wunsch hin keinen derartigen Antrag stellten. Fehlgeleitete, grimmige und verzweifelte Eigenliebe: außer Kontrolle geraten. »Die Eigenliebe lebt von allen Gegensätzen … Sie wechselt sogar zur Seite ihrer Gegner über, nimmt an ihren Plänen teil und teilt – wunderliche Fügung – ihren Haß, verschwört sich mit ihnen zum eigenen Untergang und arbeitet mit an ihrer eigenen Vernichtung: Kurz gesagt, sie kümmert sich nur um ihr eigenes Sein, und nur um zu sein, gibt sie sich her, ihr eigener Feind zu werden.« Wunderliche Fügung, sagt La Rochefoucauld. Der Richter verkürzte das Wunderliche um das darin enthaltene Wunder und erweiterte es um das genaue Hinschauen, die Aufmerksamkeit und das Untersuchen: genauso, als wäre er ein Psychiater. Wenn der Angeklagte in seinem Wahn sich weigerte, in den Wahn verbannt zu werden, so hätte die Verteidigung den Antrag dennoch stellen können und sogar müssen. Aber vielleicht hatte die Verteidigung vom Wahnsinn auch einen sehr allgemeinen und banalen Begriff: Wahnsinn ohne Methode, ohne Überlegung und inkonsequentiell; während es ein Irresein gibt, in dem nur der erste Ring nicht hält, während die Kette im übrigen methodisch, überlegt und konsequent aufgebaut ist: Und der erste Ring ist üblicherweise jene Eigenliebe, die sich ihrem Feind ausgeliefert hat. »Es muß berücksichtigt werden«, dachte der Richter, »daß es dahingestellt bleiben kann, ob der Antrag auf ein psychiatrisches Gutachten vom Angeklagten abgelehnt oder von der Verteidigung verabsäumt wird, selbst wenn das Gericht ihm stattgeben würde; denn 148
allein die Antragstellung würde im Lager der Anklage wie auch in der öffentlichen Meinung hier und heute Wut und Spott auslösen und den Ausgang des Verfahrens präjudizieren … Trotzdem ist es eine Tatsache, daß die Verteidigung zu Lasten dieses Mannes zwei Elemente außer acht läßt: den Verdacht, daß in Palermo ein faires Verfahren nicht möglich sei, den der Verteidiger in den Protest gegen die von Leidenschaften erhitzte Atmosphäre kleidete, womit er den Ausdruck Befangenheit vermied, und das psychiatrische Gutachten.« Indem er dieserart über den technischen Fortgang dieses Prozesses nachdachte und gewisse Momente seiner Erinnerung an Gelesenes oder Gedanken über Gelesenes hinzufügte, näherte der kleine Richter sich unmerklich dem Angeklagten, seiner verbogenen und grausamen Menschlichkeit, seinem Wahn, und machte ihn, grob gesagt, schmerzhaft sichtbar, wie es seine Pflicht war. Daß darin auch seine Abneigung gegen den Faschismus mitschwang, wenngleich er es ablehnte, sich als Antifaschisten zu betrachten, und dem Faschismus nur die Würde seines Denkens und Handelns entgegenstellte, war ein Problem, das ihn ein wenig bekümmerte. Er konnte nicht darüber hinwegsehen, daß der Prozeß keimfrei und als Routine verlaufen wäre, wenn eines der drei Opfer statt des Advokaten Bruno ein Schwager des Angeklagten oder ein beliebiger Beamter seines Büros gewesen wäre, auch wenn der Richter dann immer noch ein Problem gehabt hätte, nicht bei der Todesstrafe anzukommen. Aber Advokat Bruno gehörte einer Korporation an und war in der Provinz ihr höchster Repräsentant: unmöglich, daß die Korpo149
ration nicht aufstünde, um mit all ihrer Macht und mit allen Mitteln zu erreichen, daß die höchstmögliche Strafe den Schuldigen träfe: Faschismus oder nicht. Jede Korporation reagiert blindwütig auf jeden Anschlag gegen ihre Sicherheit und sogar auf Attentate, die nur in der Vorstellung existieren, und erst recht auf einen kriminellen Anschlag, noch dazu auf eine Korporation, die, wie die Advokaten (oder die Richter), mit dem Gesetz unter einem Dach wohnen. Der korporative Schulterschluß gegen den Angeklagten war also völlig natürlich und hätte auch in einem freiheitlichen System stattgefunden. Die Todesstrafe jedoch gehörte zum Faschismus und war Faschismus wie die Idee, daß seiner Existenz und Sicherheit die Todesstrafe eingewurzelt wäre und über allem schwebte, das sich gegen ihn wenden konnte; stets bereit, mit oder ohne Urteil, jeden zu treffen, der ihn beleidigte. In diesem Sinne war die Todesstrafe nach vierzig Jahren in Italien wieder Gesetz geworden: zur Verteidigung des faschistischen Staates; und man war dabei angelangt, sie schon dann zu verhängen, wenn jemand die Absicht hatte, nur die Absicht, Mussolini nach dem Leben zu trachten. Danach hatte man sie auf die meisten schweren, auch unpolitischen Delikte ausgedehnt: Aber der Stempel war geblieben. Deshalb war die Ausrichtung der feierlichen Beisetzung durch Organisationen faschistischen Ursprungs und die Partei selber sowie später die Nebenklage der faschistischen Konföderation der freien Berufe und Künstler, vertreten durch den Abgeordneten Dr. Alessandro Pavolini, für den Angeklagten bereits die Todesstrafe, und das Schwurgericht war nur das Instrument, das pro forma angerufen wurde. 150
Und daran erkannte der Richter, daß seine Abneigung gegen den Faschismus allen Grund hatte, aber er versuchte, diesen Grund auch für sich zu verwenden, indem er sich sagte, es sei ja nicht wahr, daß er in diesem Prozeß und bei seiner Urteilsfindung die Rechnung nur mit seinem eigenen Gewissen ausmachen müßte, mit seiner eigenen »Würde«. Andererseits fühlte er sich auf eine undefinierbare Weise (die sogar sehr definierbar war) tagtäglich mehr bedroht und litt unter einem Gefühl der Isolation und wachsenden Einsamkeit. Eine Frage seiner Frau hatte ihn das auf schmerzliche und fast alptraumhafte Weise spüren lassen. Nie war zwischen ihnen von seiner Arbeit je die Rede gewesen; von der Last der Papierberge und der Skrupel, die er mit nach Hause brachte und die auch in den Stunden, die er in seinem Studierstübchen zwischen seinen Büchern verbrachte, auf ihm lag. Eines Tages bei Tisch überraschte sie ihn mit der unerwarteten Frage: »Wird er verurteilt?« Und sicher wollte sie fragen, ob er zum Tode verurteilt werden würde. Er hoffte, daß sie es befürchtete. Aber der Zweifel, ob sie nicht vielmehr, wie alle, ein Todesurteil für gerecht und jedes andere Urteil für eine Absolution hielt, nagte in ihm; auch deshalb, weil die Frau auf seine Antwort »Natürlich werden wir ihn verurteilen« beruhigt und erleichtert zu sein schien. Unter den Geschworenen, die durch Los für den Prozeß ausgewählt wurden (das Gesetz wollte neuerdings, daß sie Assessoren genannt wurden), gab es einige kaum merkliche Anzeichen menschlicher Schwäche. Nicht für den Angeklagten, weil für ihn niemand je etwas empfinden konnte; sondern für das Leben, für 151
die Dinge des Lebens, die Ordnung und die Unordnung des Lebens. Unabhängig von der Homosexualität gibt es da etwas Besonderes zwischen Männern, einigen wenigen Glücklichen und einigen wenigen Unglücklichen, denen es gegeben ist, einander in ihrer Sensibilität, in der Intelligenz und in Gedanken zu begegnen, anzuerkennen und zu erwählen: so wie die Homosexuellen in einer berühmten Textstelle von Proust. Fünf ordentliche Geschworene, ein Ersatzmann. Drei von ihnen waren Kaufleute, denen man ansah, daß sie sich Sorgen machten, weil sie ihre Geschäfte wegen des Prozesses anderen überlassen hatten, und zuweilen klagten sie auch darüber. Die anderen drei waren ein Beamter, ein Lehrer für Latein und Griechisch an einem Gymnasium und ein Landwirt. Ordentliche Geschworene waren diese drei und zwei der Kaufleute. Einer von ihnen wirkte zwar zerstreut und so, als wollte er aus der Ferne beobachten, was während seiner Abwesenheit im Lebensmittelladen oder, wie man damals sagte, im Kolonialwarengeschäft vorging, um das Frau und Kinder sich kümmerten, hatte jedoch ein aufmerksames Ohr und feines Gespür auch für das, was im Gerichtssaal stattfand. Doch waren auch die übrigen vier aufmerksam, zurückhaltend aufmerksam; und gewitzt. Eine gewisse Unaufmerksamkeit und Unduldsamkeit, ein gelegentliches gelangweiltes Schnauben zeigte dagegen der Ersatzmann: der sich unnütz fühlte und als wäre er gezwungen, einer Laune des Vorsitzenden wegen dabeizusein. Mit dreien von ihnen – dem Kolonialwarenhändler, dem Landwirt und dem Professor – hatte der Richter 152
eine Verbundenheit entwickelt, eine Sympathie, ein Einvernehmen: jenseits der wenigen Worte, die sie tagsüber wechselten, und eigentlich mehr durch das Schweigen und die Blicke, die sie zuweilen während der Sitzungen und Beratungen im Beratungszimmer wechselten. Und besonders zu dem Landwirt: der das versengte Gesicht des Landwirts hatte, große Bauernhände und Sprichwörter und Metaphern wie ein Bauer; doch eines Tages hörte der Richter, wie er mit dem Professor über den Codex der Daphnis und Chloé in der Laurenziana* und über den Tintenklecks sprach, der von Courier stammte. Der Name eines Schriftstellers und der Titel eines Buches können manch einem zuweilen wie der eines Vaterlandes klingen: Und so ging es dem Richter, als er den Namen Courier hörte, in dessen gesammelten Werken – gefunden auf dem Dachboden eines Verwandten, der nichts damit anfangen konnte – er damit begonnen hatte, das Französische und die Vernunft zu buchstabieren; das Französische und das Recht. Später, als der Prozeß bereits zu Ende ging, geschah es eines Tages, als er nach Hause kam, daß ihm der Portier einen Umschlag überreichte, der, wie es schien, einen Karton enthielt: groß, verschlossen, ohne seinen Namen oder den des Überbringers oder Absenders. »Er hat gesagt, es wäre für Sie, aber er wollte mir nicht sagen, von wem … Ich habe darauf bestanden, aber er sagte, Sie würden schon wissen.« Und als wollte er sich entschuldigen: »Er kam mir vor wie ein guter Christ … * Courier de Mère, 1772 - 1825, ließ sich 1809 in Florenz nieder, wo sich die berühmte Biblioteca Medicea Laurenziana befindet, und übersetzte u.a. »Daphnis und Chloé« von Longus. 153
Groß, ein Gesicht wie ein Bauer; und angezogen wie ein Bauer am Sonntag.« Wie alle Leute, die aus einer Palermitaner Sackgasse stammten, hegte der Portier eine gewisse Verachtung für die Bauern, auch wenn er sie für gute Christen hielt, was nichts mit gelebter Religiosität zu tun hatte, sondern meinte, daß sie ein schlichtes Gemüt hätten. Der Richter verstand. Und der Ausdruck »guter Christ« erschien ihm, nachdem er den Umschlag geöffnet hatte, eine wirklich passende Bezeichnung für den Überbringer: Es war, zwischen zwei Pappdeckel gelegt, ein alter volkstümlicher Holzschnitt, sonst nichts. Kein Billet nicht ein Wort. Das Bild zeigte eine Madonna, die von zwei Engem gekrönt und von zwei Heiligen eingerahmt wurde: einer der beiden war zweifelsfrei der heilige Johannes. Schwebend und von Strahlen umgeben die Gruppe; aufgehoben auf einer Wolke, die, um ehrlich zu sein, aus unförmigen Felsen zu bestehen schien. Unten standen ein Kirchlein, eine Brücke mit zwei Bäumen, vier betende Figuren in den Flammen des Fegefeuers, eine Guillotine, eine Forke, an der ein Mensch hing, und die Schrift: »Das heilige Werk der Seelen der enthaupteten Leiber«.* Der Richter erinnerte sich: Das Bild bezog sich auf einen der dunkelsten und ursprünglichsten Kulte, der in der katholischen Kirche Siziliens in Erscheinung getreten war: offiziell wahrscheinlich nie unterstützt, aber mit Sicherheit weitgehend toleriert. Die Toleranz für die Seelen der Enthaupteten ging so weit, daß das Wort »Heilige« sich zwischen die Seelen und Körper gedrängt hatte, als der Kult für die Seelen im Fegefeuer * Im Original: »Le anime sante dei corpi decollati«, stehen die Heiligen tatsächlich zwischen Seelen und Körpern. 154
sich zu einem für die Seelen der Enthaupteten umformte. »Die heiligen Seelen der enthaupteten Körper« war eine zwar nicht kirchlich zugelassene und schriftlich gebrauchte, jedoch in der Alltagssprache und der gewöhnlichen Verehrung vorherrschende Redewendung. Der Richter erinnerte sich auch des Dorfes, in dem er geboren war und in das er zu den Ferien immer zurückkehrte, und der kleinen Kirche der Heiligen Seelen, die der auf dem Holzschnitt sehr ähnelte. Sie war natürlich für die heiligen Seelen des Fegefeuers errichtet worden, die so zahlreich waren, wie das Dorf im Laufe der Jahrhunderte Einwohner gehabt hatte, weil niemand zugab, daß einer seiner Vorfahren, selbst der entfernteste, sich jenseits des Grabes woanders befinden konnte als im Fegefeuer; aber irgendwann hatten die Seelen der Enthaupteten begonnen, an deren Stelle zu treten, bis sie sich der Kirche ganz bemächtigt hatten, so daß dieses Kirchlein, das am Rande des Dorfes lag, die Vorbeikommenden nachts mit fürchterlichen Visionen Geköpfter (den Kopf in der Hand), Erhängter und sonstiger Gerippe versorgte, die auch der Schutzpatron – der den Passanten, dem sie erschienen, vor jedem Schaden schützen sollte – nicht daran hinderte, einen derartigen Schrecken zu verbreiten, daß einem die Haare zu Berge standen oder sogar schlohweiß wurden. Die Bewegung, die diesem Kult huldigte, hatte vermutlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eingesetzt, als die Weiße Bruderschaft entstand, die die Verurteilten tröstete, bis zum Augenblick ihres Todes mit ihnen betete und später für die Seelen mit Gebeten und Messen Fürbitten leistete. Bedenkt man, daß man 155
vorher den Verurteilten jeden religiösen Trost verweigert hatte, so machte die Geschichte des Erbarmens da schon einen Fortschritt. Und auch die Geschichte der Vernunft, wenn ein Palermitaner Autor wie Guicciardini in den Erinnerungen, die er seinen Kindern hinterließ, insbesondere dem Sohn, der eine juristische Karriere anstrebte, den Rat gab, keine Folter und keine Prügelstrafen zu verhängen und niemals zum Tode zu verurteilen, »wegen was auch immer«. An dieser Stelle hatte der Richter aus der Unordnung seiner zahlreichen Bücher das Bändchen mit der Avvertimenti cristiani von Argisto Giuffredi herausgefischt, geschrieben fünf oder sechs Jahre vor seinem tragischen Tode 1591. Und fand den Abschnitt sofort wieder, da er an die zehn Jahre zuvor die Seite eingeknickt hatte. »Ich weiß wohl«, schrieb Giuffredi, »daß Ihnen dieser Gedanke merkwürdig vorkommen wird.« Und ob er einem so vorkommen mußte: zwei Jahrhunderte vor Beccaria!* Und wie kam Giuffredi zu seiner »merkwürdigen« Idee? Über die Folter, die damals zumeist mit dem Seil erfolgte, sagt er klar und deutlich: »Deshalb besteht außer der Gefahr, daß einer geständig gemacht wird und deshalb sterben muß, auch die Gefahr, daß man ihm das Genick bricht, weil, wie ich mehrfach erlebt habe, entweder der Strick reißt oder der Balken bricht, an dem er hängt: und begreift, daß dieses Geschäft mit dem Seil heutzutage dermaßen heruntergekommen ist, daß dort, wo einstmals das Seil nicht ohne jene Indizien und Zeugen angewandt * Ital. Strafrechtskritiker, gegen Folter und Todesstrafe, Verfasser der auch ins Deutsche übersetzten Schrift »Von den Verbrechen und Strafen«, 1738-94. 156
wurde, die heute schon als Beweis gelten und für außerordentliche Maßnahmen ausreichen, man heute das Seil aufgrund von derart schwachen Indizien gibt, daß es eine Schande ist …« Und Giuffredi fürchtete offensichtlich die Folgen der Folter gegen Unschuldige: vielleicht, weil er selber sie als Unschuldiger erlitten hatte, unter welchem Vorwurf, wissen wir nicht, und drauf und dran gewesen war, sich schuldig zu bekennen; und was die Schande betrifft, sie leichter Hand anzuwenden, so dachte der Richter: Genau wie heute bei der Kriminalpolizei. Und das ist für uns Richter eine Schande. Die radikale Ablehnung der Todesstrafe rührte bei Giuffredi zweifellos von der Ablehnung der Folter und der Prügelstrafe her, aber vielleicht kam ein beklemmend intimer Grund hinzu: das Todesurteil gegen eine vermutlich unschuldige, sehr schöne Frau, die in der Stadt eine Art literarischen Salon unterhielt und in die sich Giuffredi als junger Dichter vielleicht verliebt hatte. (Denn weshalb sonst sollten die anderen Palermitaner Poeten ihm die Verse widmen, die sie über den Tod der schönen Dame verfaßten?) Er legte den Giuffredi beiseite und suchte nach einem anderen Buch, an das er sich plötzlich erinnert hatte: den Pitrè;* über den Kult der Seelen der Geköpften. Er liebte es sehr, das Knäuel der Kuriositäten zu entwirren, auf die er in seinen Büchern und seinen Gedanken stieß. Seit er auf irgendeine Weise mit Büchern zu tun hatte: Und seine Brüder, die viel zielstrebiger und arbeitsamer über den Büchern saßen, hielten ihn deshalb für einen Tagedieb. Aber er wußte, * Sizilianischer Volkskundler, 1843-1916. 157
daß er in diesen verlorenen Stunden und Tagen viel hinzugewonnen hatte; und jedenfalls hatte er stets Vergnügen daraus gezogen. Der Pitrè also: zwanzig Seiten nur über diesen Kult. Doch es fehlte die Antwort auf das Warum. Warum in Sizilien, warum in jenem Jahrhundert, warum der Widerspruch, daß man erst zu den Hinrichtungen lief, als wären es Feste, und anschließend die Hingerichteten für heilig erklärte? Er fand eine Antwort: Wir jedoch überlassen es dem Leser, selber eine Antwort zu suchen. Man hatte einige Jahre zuvor auf unübersehbare Anordnung des Regimes die großen Sizilianer feierlich geehrt: eine der vielen Widersprüchlichkeiten, denen der Faschismus häufig erlag, wenn er in manchen Dingen mit der Realität, der Geschichte und den Angewohnheiten der Italiener rechnen mußte. Man war gegen den Regionalismus, aber damit gewisse Regionen sich nicht vernachlässigt fühlten – obwohl sie konkret vernachlässigt wurden – verherrlichte man eben jene Persönlichkeiten, die dort geboren waren und – egal, ob groß oder weniger groß – entweder darauf pfiffen, dort geboren zu sein, oder an ihren Geburtsort die bösesten Erinnerungen hatten. Sizilien wußte nicht, daß es so viele große Söhne gehabt hatte: Aus Italien wurden Akademiker abgeordnet, um daran zu erinnern. Aber über Argisto Giuffredi,* dessen Größe hauptsächlich in privaten Erinnerungen gegen die Folter, die öffentlich vorgeführten Leibesstrafen und * der im übrigen auch nicht in der zwanzigbändigen »großen Volksenzyklopädie« von Sonzogno vermerkt ist.
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die Todesstrafe bestand, wußte Sizilien weiterhin nichts. An nichts wollte man sich in diesem Augenblick weniger erinnern als an diese Erinnerungen, die erst 1896 von einem Archivmanuskript gedruckt worden waren; in diesem Augenblick, da Italien voll war von dummen Sprüchen wie diesem, der von einem idealistischen Philosophen stammte: »Da auch der Tod nicht sinnlos sein kann, wenn er dem Schuldigen eine Stunde oder einen Augenblick jenes Kontaktes mit der Ewigkeit gibt oder wiedergibt, den er verloren hatte.« Ein verblüffener Gedanke: der einen Tyrannen wie Phalaris* (vergleiche Diodorus von Sizilien) vielleicht auf den grausamen Scherz gebracht hätte, den Philosophen unverzüglich in Kontakt mit der Ewigkeit zu bringen; aber die Spaße der Tyrannei Mussolinis waren weniger grausam und bescheidener. Was an den Kalauer erinnert, den der Bildhauer Marino Mazzacurati, ein geistreicher Mann, auf einen idealistischen Philosophen münzte, der später zum Marxismus übertrat (ohne je, wie mir scheint, die Kontakte zur Unendlichkeit aus dem Auge zu verlieren): »Der Pelotonplaton«.** Leider war er nicht der einzige, und seine Nachkommenschaft ist auch noch nicht zu Ende. Doch zurück zum Richter: Am Tag nach der anonymen Schenkung des Holzschnittes fragte er den Landwirt wie nebenbei, während er seine Robe anzog und * Tyrann von Agrigent, 6. Jhdt. v. Chr. Berüchtigt für seine Grausamkeit. Diodorus war ein griechischer Historiker zur Zeit Caesars, der eine vierzigbändige Weltgeschichte verfaßte. ** Das Wortspiel »II Piatone d'esecuzione« ist im Original origineller »Piatone = Platon; »plotone« = Peloton = kleines Kommando; »plotone d'esecuzione« = Hinrichtungskommando. 159
die Geschworenen sich die dreifarbige Schärpe anlegten: »Kennen Sie die Avvertimenti cristiani von Giuffredi?« Der Geschworene antwortete, etwas erregt und etwas verwirrt, mit Ja. Und der Richter fügte hinzu, um den Hinweis noch zu verdeutlichen: »Ich habe gestern wieder einmal darin gelesen; und danach auch ein Kapitel aus den Volksbräuchen und Sitten von Pitrè.« Der Geschworene nickte, als wollte er auch diese Lektüre bestätigen. Die Sitzung war an diesem Vormittag etwas mühsam. Die Staatsanwaltschaft hatte, wie wir gesehen haben, darauf bestanden, daß ihr das Bild Matteottis übergeben wurde, das die Polizei im Hause des Angeklagten gefunden hatte. Aber da sie es nun einmal hatte, war sie in der heiklen Situation, es dem Angeklagten vorhalten zu müssen; schon wegen der Tatsache, daß sie darauf insistiert hatte. Und wahrscheinlich jagte es ihm mehr Angst ein als die Strafe für die drei Morde, die er mitsamt ihrer Planung zugegeben hatte, und es fiel ihm nichts Besseres ein, als das Bild abzustreiten, da es sich eindeutig und offensichtlich nur zu seinem Nachteil auswirken konnte. Das Protokoll der Vernehmung war bereits geschlossen worden, aber der Staatsanwalt, der mit sich selbst über das Ja und Nein debattiert hatte, hatte sich im letzten Moment für Ja entschieden. Der Protokollant hatte deshalb nach dem »vorgelesen, genehmigt und unterschrieben« hinzugefügt: »Vor Unterschrift a.B.« (auf Befragen): »Es stimmt, daß sich bei mir eine Fotografie von Giacomo Matteotti befunden haben kann. Sie wurde mir lange Zeit nachdem die Episode Matteotti 160
bereits beendet war, von dem Bruno übergeben. In Wirklichkeit erfolgte die Übergabe folgendermaßen: Er pflegte mir von Zeit zu Zeit alle Zeitschriften und sonstigen Papiersachen zu geben, die er nicht mehr benötigte, und darunter befand sich alles, was er an Hotelreklamen, Einladungen zu Tagungen etc. bekam. Eines Tages befand sich zwischen den Papieren, die er mir gab, auch dieses Foto von Matteotti. Ich nahm das ganze Paket mit nach Hause, und dort wurde es vergessen. « Der Staatsanwalt hatte den Punkt nicht vertieft. Er hatte sein Ziel erreicht, daß die Politiker ihn nicht beschuldigen konnten, angesichts eines so schwerwiegenden Vorfalles wie des Besitzes einer Fotografie Matteottis im eigenen Haus unsensibel gewesen zu sein, und daß diejenigen, die noch am Recht hingen, ihm nicht vorwerfen konnten, für das Recht kein Gefühl zu haben. Als wollte er sagen: Ich habe die Sache geprüft, aber ich kann daraus keinen Anklagepunkt machen; sollen die Richter des Schwurgerichts übernehmen und sehen, was sie damit machen wollen und können: zwei Glieder nur in jener Kette, die den Lauf der italienischen Justiz in Gang hält, Verantwortungen wegschiebt und im Leben des einzelnen, der von ihr erfaßt wird, unendlich ist. In gewissen Fällen jedoch damit endet, daß sie dem Kontakt mit der Ewigkeit des idealistischen Philosophen gleicht. Das Schwurgericht behandelte die Angelegenheit gesetzmäßig: Jenes Bild Matteottis war nicht als »corpus delicti« zu betrachten; und nicht einmal die Staatsanwaltschaft hatte die Tatsache, daß der Angeklagte es zu Hause hatte, in ihrem Abschlußbericht als strafbare Handlung eingestuft. Ganz, als ob der Staatsanwalt 161
eine persönliche und private Neugier befriedigt hätte, als er nach dem Bild verlangte. Doch fügte es dem Bild des Angeklagten noch einen Zug schwerer und unangenehmer Unmoral hinzu, den sich die Nebenklage nicht entgehen ließ. Und die Richter, Anwälte beider Seiten und Prozeßbeobachter wußten sehr wohl, was es in Wahrheit bedeutete: In seiner Leidenschaft, Mitgliedsausweise zu erwerben, Vereinigungen beizutreten und an allem teilzunehmen, was Macht hatte oder werden konnte, hatte der Angeklagte wie beim Lotto, dem er huldigte, mit zwei Losen gespielt: mit dem seinerzeit noch ungefestigten Faschismus und dem sich erholenden Sozialismus; und in seiner Manie, alles aufzuheben, hatte er auch das Bild Matteottis verwahrt, sogar dann noch, als dieses Bild nicht nur verloren hatte, sondern für einen Mann auch gefährlich war und ihn Freiheit und Arbeit kosten konnte: die polizeiliche Verbannung oder für Beamte die fristlose Entlassung ohne Abfindung oder Pension. Der Richter kannte einen Fall, der ihm nahegegangen war: Ein entfernter Verwandter von ihm, Volksschullehrer, hatte seine Stelle verloren und es nicht geschafft, eine andere zu finden, weil er im Sommer 1924 eine Lira für das Denkmal für Matteotti gestiftet hatte. Für die Lira hatte er, als eine Art Quittung, eben jenes Bild erhalten. Ein Mann, um die fünfzig, der wortlos durchs Haus schlich; und nur beim Namen Mussolini reagierte er reflexhaft, indem er rief: »Dieser Mörder hat mich ruiniert.« Alle Geschworenen trugen im Knopfloch das Abzeichen der faschistischen Partei; aber wenn man jeden im Vertrauen gefragt hätte, ob er sich als Faschist fühle, so 162
hätte er erst nach einigem Zögern mit Ja geantwortet; wenn man die Frage noch vertraulicher gestellt hätte, im kleinen Kreis und mit dem hinzugefügten Wörtchen »wirklich«, so hätte einer – so viel ließ sich sagen – entschieden mit Nein geantwortet, während die anderen sich um das Ja gedrückt hätten: nicht aus Vorsicht, sondern ehrlich. Und das Problem, den Faschismus als Ganzes zu beurteilen, hätten sie sich nie gestellt, wie sie es sich auch gegenüber dem Katholizismus nie gestellt hatten. Sie waren getauft und gefirmt worden, sie hatten getauft, gefirmt und (die Verheirateten) in der Kirche geheiratet, und sie hatten den Pfarrer geholt, wenn ein Familienangehöriger im Sterben lag. Von der faschistischen Partei hatten sie den Mitgliedsausweis und das Abzeichen. Aber viele Dinge der katholischen Kirche und viele Dinge des Faschismus mißbilligten sie. Katholiken, Faschisten. Aber während der Katholizismus immer da war, festgefügt und massiv wie ein Felsen, so daß man sich immer auf gleiche Weise als Katholik bezeichnen konnte, war der Faschismus anders: Er bewegte sich, schwenkte hin und her, veränderte sich und veränderte sie, so daß sie sich immer weniger als Faschisten fühlten. Das war überall in Italien und bei den meisten Italienern so. Der Konsens mit dem faschistischen Regime, der mindestens zehn Jahre lang komplett und dicht gewesen war, hatte einen Sprung bekommen und nahm ab. Gut: die Eroberung Äthiopiens. Obwohl man nicht verstand, warum die Eroberung eines Imperiums damit einherging, daß die Eroberer zunehmend auf Dinge verzichten mußten, die es früher, zumindest für Leute mit Geld, im Überfluß gegeben hatte. Und dann: Warum ließ Mussolini sich 163
in den spanischen Krieg und eine immer engere Freundschaft mit Hitler treiben? Und wenn man mit wachsender Unlust auch weiterhin die übertriebene Behauptung wiederholte, man schlafe bei offenen Türen, so war es gerade die offene Tür oben am Brennerpaß, die einen zu beunruhigen begann: Und wenn es auch nicht Mächte der Zerstörung und Plünderung waren, die dort hereinflossen und sich ausdehnten, so schien es doch, als strömten von dort, immer breiter werdend, die Vorzeichen kommenden Unheils herein. Kurz, es wurde immer schlimmer. Und das »ruhige Leben«, das man jahrhundertelang gesucht hatte und das denen, die es gesucht hatten, soviel Unruhe gebracht hatte, war in immer weitere Ferne gerückt und immer unerreichbarer. Der Faschismus wurde, soweit man dazugehörte, immer bedrückender, und soweit man nicht dazugehörte, immer brutaler. Diese Unduldsamkeit, die mit unterschiedlicher Deutlichkeit in ganz Italien feststellbar war, beeindruckte in verschiedener Weise auch die sechs Mitglieder der Jury. Der Faschismus hatte zwar wenig mit dem Prozeß zu tun, berührte ihn jedoch, da die Todesstrafe stets als faschistische Einrichtung betrachtet wurde; er klebte an ihm, da man wollte, daß sie in diesem Fall und gegen diesen Mann angewandt wurde; nicht nur, weil seine Verbrechen todeswürdig waren, sondern weil eines der Opfer den Faschismus in der Stadt und in einem wichtigen Teil des faschistischen Korporationswesens – einem Teil, der in Palermo nicht nur zahlenmäßig, sondern aufgrund seines hohen Ansehens vielleicht der bedeutsamste war – repräsentiert hatte. Die Korporation und der Faschismus gipfelten in einem Namen: 164
Alessandro Pavolini, der im Prozeß die Nebenklage vertrat und seit dem abessinischen Krieg, in dem er eine Luftkampfstaffel mit dem Namen la disperata* befehligt hatte, zu den bekanntesten Figuren des Faschismus gehörte. Wir wissen nicht, ob ihn irgendeine Vorahnung durchschauerte, wenn er von Rom aus – wie es scheint – den Prozeß in Palermo, das Revisionsverfahren und dann die abermalige Schwurgerichtsverhandlung verfolgte: die Vorahnung, daß er selber binnen weniger Jahre dort stehen würde, wo er den Angeklagten haben wollte, nämlich vor einem Hinrichtungspeloton. Zu Beginn des Prozesses waren die Geschworenen, mit einer sicheren Ausnahme, allesamt in abstrakter Weise für die Todesstrafe: aus Gründen der offenen Türen, wie der Staatsanwalt richtig vermutet hatte. Nur daß die abstrakte Zustimmung bei einigen beim Nachdenken einige Modifikationen und Mäßigung erfuhr, was zwar nicht dazu führte, daß die Geschworenen die Todesstrafe ablehnten, sich jedoch ihrer Ablehnung annäherten. Gemeinsam war allen die Auffassung, daß manche Täter, wegen gewisser Delikte, die besonders grausam waren oder abartige Ziele verfolgten, »sie verdienten«. Aber zwischen der Erwägung, daß sie sie verdienten, und der Notwendigkeit, sie zu verhängen, begannen sich die Meinungen zu scheiden. Und für einige war vor allem ein Justizirrtum ein Problem. Andere, die weiterhin für die Todesstrafe waren, da sie in Anbetracht der Weise, wie man in solchen Prozessen zur Wahrheit gelangte, den Justizirr* »Die Verzweifelte« 165
turn für unwahrscheinlich hielten oder das Risiko zynisch in Kauf nahmen, schreckten jedoch verwirrt zurück, wenn sie an der Grenzlinie standen, an der das Problem aufhörte, abstrakt und allgemein zu sein und konkret und persönlich wurde. Die Todesstrafe ist Gesetz, und es gibt Verbrecher, die sie verdient haben: »Aber ist es tatsächlich meine Angelegenheit, zu entscheiden, ob sie sie verdienen, und sie dann zu verhängen?« Es schien ganz so, als wären diejenigen, die dieses Zaudern spürten, nur einen Schritt davon entfernt, grundsätzlich die Besetzung der Jurien mit Laienrichtern in Frage zu stellen: Und doch galt dieses Zaudern nur der Todesstrafe; und es hätte ausgereicht, wenn die Berufsrichter, die Richter in der Robe, ihnen zur Beruhigung versichert hätten, daß diese Strafe pflichtgemäß und unvermeidbar sei. Hier muß gesagt werden, daß der Richter als ein Mann, der den Beruf gewählt hat, über andere zu richten, für die Süditaliener, wie für alle Südländer, nur als korrupte Figur verständlich ist; unerreichbar in seinen Gefühlen und Absichten, wie losgelöst von allen menschlichen und gewöhnlichen Empfindungen, kurzum unverständlich ist er dagegen, wenn er sich weder durch materielle Güter noch durch Freundschaften, noch durch Leidenschaften korrumpieren läßt. Wie Don Quijote sagt, als er die Galeerensträflinge befreit: Möge es dort oben (oder hier unten) jeder mit seinen eigenen Sünden ausmachen, aber es ist nicht gut, wenn hier unten (oder dort oben) sich ehrbare Männer zu Richtern über andere Menschen aufwerfen, die ihnen keinen Schaden zugefügt haben; aber wenn es schon Männer gibt, könnte man hinzufügen und Don Quijote beiseite lassen, die sich entschlossen 166
haben, über andere Menschen zu richten, so mögen sie ihre eigenen Fehler oder Verdienste nicht außer acht lassen: und derjenige, der sich nicht dafür entschieden hat, zu urteilen und sich unvorsichtigerweise ihrem Wissen und Amt anvertraut, braucht sich sowohl hier unten als auch dort oben für nichts zu verantworten. Ein Gemütszustand, der vielleicht mehr oder weniger, je nach – wie Savinio* sagen würde – der Dicke des Fells auf alle Juries ausgedehnt werden kann: mit Sicherheit aber auf den größten Teil der Geschworenen des Verfahrens, von dem wir sprechen. Und es ist nicht so, daß eine solche Gemütsverfassung sie für den Ablauf des Prozesses unaufmerksam gemacht hätte. Sie hätten sich um die Verantwortung, die sie schließlich auf sich zu nehmen hatten, sogar weniger aufmerksam gekümmert, wenn sie sich als Richter gefühlt hätten; sie waren ja in Wirklichkeit Richter und auf einer Stufe mit den Robenträgern. Die Lüge des Angeklagten betreffend das Bild Matteottis hatte sie irritiert: Sie war, wie der Anwalt der Nebenkläger gesagt hatte, ein zweiter Messerstich ins Herz des armen Advokaten Bruno; aber die Ansicht der Berufsrichter, daß dieses Bild für das anstehende Verfahren unerheblich sei, besänftigte die Furcht, es könnte der Partei, deren Mitglieder sie waren, außerhalb des Gerichtssaales als schwerwiegende Verfehlung erscheinen und es könnte Konsequenzen für sie haben, daß sie der Tatsache, der Angeklagte könnte dieses Bild aus Haß gegen den Faschismus zehn Jahre lang aufgehoben haben, keine Bedeutung beigemessen hatten. * Alberto S., Maler, Schriftsteller, Komponist, 1891-1952, Bruder des Malers Giorgio De Chirico.
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Die Geschworenen, die verheiratet waren, wurden von ihren Ehefrauen tagtäglich über den Prozeß ausgefragt. Und da sie ausweichend, mit bruchstückhaften Sätzen und unverständlichem Gemurmel antworteten, gab es Ärger und Schelte. Die Geschworenen hielten das Schweigegebot, zu dem sie verpflichtet waren: Daß sie darüber auch mit den Freunden nicht reden durften, tat ihnen weh; wenn sie das Schweigen jedoch gegenüber den Frauen einhielten, dann lobten sie das Gesetz in ihren Herzen, weil es sie zum Schweigen verpflichtete. Aber auch die zwei Berufsrichter und der öffentliche Ankläger mußten sich hinter einem Schild des Schweigens verstecken oder konnten nur vage Antworten geben. Und alle Fragen der Frauen, ob sie nun direkt oder unterschwellig waren, ließen sich in der Frage der Frau unseres Richters zusammenfassen: »Werdet ihr ihn verurteilen?«, und das hieß zum Tode, denn eine andere Strafe erschien für einen, der seine eigene Frau mit solcher Grausamkeit umgebracht hatte, nicht angemessen. Da waren zwar noch die beiden anderen schrecklichen Verbrechen: aber die eigene Frau zu ermorden … Vor allem ein Gefühl hatten die Hausfrauen, die damals noch wirklich im Haus standen und Regeln und Gewohnheiten folgten, die sich eine junge Frau von zwanzig heutzutage für sich und ihr eigenes Leben nicht vorstellen könnte; das Gefühl, daß draußen alles unterschiedslos Faschismus sei, daß überall Spitzel und Denunzianten lauerten, angefangen beim Kabäuschen des Portiers im eigenen Wohnhaus, um die Duckmäuser, Meckerer und – eine Menschenart, die dem Regime besonders verhaßt war – die Gleichgültigen zu erwischen. Und da, je nach 168
Augenblick und Laune, fast alle Italiener, also auch ihre Ehemänner, einer der drei Gruppen angehörten, fürchteten sie, dieser Prozeß sei eine Art Prüfstand, um festzustellen, wie sehr ihre Männer es an Eifer fehlen ließen: Und sie, die Frauen, hatten dann die unerforschlichen Sankhonen zu tragen, die über die Familie hereinstürzen und sie ruinieren würden. Dies war der Gemütszustand bei den Frauen der Laienrichter, in dem unbefriedigte Neugier und Sorge sich mischten. Während die Frauen der Berufsrichter ihnen in puncto Neugier glichen, war ihre Sorge größer: wohingegen die Frau des Anklagevertreters bloß neugierig war, denn sie konnte gewiß sein, daß ihr Mann die Todesstrafe beantragen würde. Sie konnte unbesorgt sein, daß dieser Prozeß die Karriere ihres Mannes behindern, er persönlich bei allen Parteiführern in Ungnade fallen und Berufstätigkeit, gesellschaftliches Leben und der bislang ruhige Lauf des Familienlebens mühsam werden würden. Genau das aber befürchteten die Frauen der beiden Berufsrichter. Man muß allerdings einräumen, daß die Frauen, die damals aus vielen Dingen (über ihnen und unter ihnen stehend) herausgehalten wurden, von der Todesstrafe eine Vorstellung hatten, die sich aus Bildern, Worten und Musik zusammensetzte, die mehr mit ihren seltenen und erhebenden Theater- und Kinobesuchen zu tun hatten als mit der Wirklichkeit und dem Gewissen: Andrea Chénier, Mario Cavaradossi, Maximilian von Österreich in einem amerikanischen Film und viele andere, von der Guillotine bis zur Erschießung, von unschuldig verurteilten Adligen bis zu einem gelegentlichen Schuldigen, dessen Reue und Ergebenheit jener noblen Haltung entsprachen, die 169
der idealistische Philosoph »den Kontakt mit der Ewigkeit« nannte. »Sprich nicht vom Strick im Hause des Gehängten: aber auch nicht im Hause des Henkers«, schreibt zehn Jahre später ein polnischer Autor; und man kann sagen, daß diejenigen, die mit dem Fall in nähere Berührung kamen oder denen er naheging, damals, wenn sie darüber sprachen, das Gefühl hatten, zugleich im Hause des Gehängten und des Henkers zu wohnen; unabhängig davon, wie intensiv oder bewußt ihnen dieses Gefühl war und ob eine der beiden Bereicherungen auf sie zutraf oder nicht. Die Menschen, die am Rand dieses Strudels standen, hüteten sich deshalb auch, und sei es nur andeutungsweise, darüber mit denen zu sprechen, die den Strudel nicht sehen konnten: aus Gewissensgründen, aus Überlebensgründen. Es ging nicht nur um das Problem, nach dem Gesetz Gerechtigkeit walten zu lassen oder gegen das Gesetz durchzusetzen; es ging auch um das Problem der inneren Freiheit, die ein jeder braucht, der zu urteilen berufen ist. Sie versuchten deshalb, außerhalb der Sitzungen nicht nur nicht darüber zu reden, was einfach war, sondern auch nicht daran zu denken, was extrem schwierig war. Die Tatsache, daß die Geschworenen sich wie zufällig oder unter irgendeinem Vorwand, der mit ihrer gewöhnlichen Tätigkeit zu tun hatte, zu treffen versuchten, war ein Zeichen für das Gegenteil. Und auch einer der beiden Berufsrichter, nämlich unserer, verspürte eines sonntäglichen Tages das Bedürfnis, den Geschworenen zu besuchen, der sich mit der Landwirtschaft beschäftigte, und nahm die Einladung an, ein paar Stunden auf dem Land zu ver170
bringen. »Um an gar nichts zu denken«: wobei schon das Nichts undenkbar war, da bereits das Vorbeihuschen der Landschaft und das Anstarren eines Baumes oder eines Felsens ein Gedanke ist. Wenngleich nicht »jener« Gedanke. Es war November, und er war, wie stets in Palermo, mild, üppig und golden. Obwohl Allerseelen vorbei war, lachten die Zuckerpuppen und das Marzipanobst in den Auslagen der Konditoreien, und auf den Straßenständen gab es Kaktusfeigen, Zuckerwatte, Dattelpflaumen und Orangen. »Die Dinge der Toten«, die Zuckerpuppen und das Obst aus Marzipan, nach denen die Kinder am Morgen des zweiten November in allen Ecken des Hauses suchen: Und am Abend zuvor hatten sie so getan, als schliefen sie, hatten gegen den Schlaf angekämpft und ein paar Minuten länger als üblich wach gelegen, in der Hoffnung mitzuerleben, wie die Toten kamen und ihre Geschenke versteckten. Man brauchte keine Angst vor ihnen zu haben, denn sie gehörten zur Familie, und an einige hatte man noch frische Erinnerungen. Die Toten brachten Geschenke, und die Lebenden brachten sich gegenseitig reihenweise um. Diese Straßenstände, die am Sonntag, dem Tag, an dem der Verkauf verboten war, nicht nur Obst, sondern auch Brot und Käse feilhielten; diese kleinen Preisschilder an den Waren, die für ein Kilogramm galten, konnte man meinen, und die statt dessen, wie man feststellen mußte, wenn man näher trat und vielleicht die Brille aufsetzte, falls man eine brauchte, den halben Kilopreis anzeigten; diese Stadtpolizisten, die in der Hand nicht etwa den Block mit den Strafzetteln, sondern eine Obsttüte trugen: all diese Dinge mischten 171
sich im Kopf des Richters und gaben ihm das Gefühl, in einer unrettbaren Stadt zu leben. Die Straßenbahn hatte schon den Stadtrand erreicht. Hinter der Haltestelle begann das offene Land, das Grün der Orangenhaine, das Feld. Der Richter stieg aus. Er hatte sich plötzlich entschieden, nicht zum Haus des Geschworenen zu gehen. Es gab keine Regel, weder eine schriftliche noch eine gewohnheitsrechtliche, die persönliche Beziehungen zwischen Richtern und Geschworenen und gegenseitige Besuche verbot: Aber er hatte sich soeben eine solche Vorschrift geschaffen. Er sagte sich: »Wenn der Prozeß vorbei ist«, und war neugierig auf dieses Landhaus, auf die Bibliothek, die sich nach Angaben des Geschworenen darin befand, und auf das Leben, das er führte. Zu Fuß kehrte er nach Hause zurück. Frauen spazierten am Arm ihrer bescheiden gekleideten Ehemänner oder Verlobten durch die sonntägliche Stadt in lebhaften Kleidern, die schon kühn waren, Fleisch zeigten und Formen nachzeichneten, und aus ihren Schlapphüten schienen Kutschen zu sprießen. »Schrullig, meine trocknen Gedanken«, dachte er bei sich und über seine Art, statt dessen zerfließende Gedanken zu denken. Und er grübelte auch über diese Zeile und konnte sich nicht entsinnen, von wem sie stammte. Der Prozeß verlief genau wie vorgesehen: abgesehen davon, daß der Angeklagte einiges hinzufügte, das sich zu seinem eigenen Nachteil auswirkte. Offensichtliche Lügen; Äußerungen über die drei Opfer, die ihm entschlüpften und unauslöschlichen Haß erkennen ließen. Keine Spur von Reue und Gewissensbissen. Nur nannte er seine Mordtaten weiterhin »unüberlegt«. 172
Er hatte versucht, den Bruno zu verdächtigen, ihn nicht wegen der Unterschlagungen entlassen zu haben, die sich aus einer Kassenprüfung ergaben und die Bruno selbst als bedeutungslos und verzeihlich abgetan hatte, sondern aus Eifersucht, da eine Stenotypistin des Büros ihm ihre Gunst erwiesen und dem Bruno verweigert hatte; zunächst hatte er sich dieser Sache gerühmt, aber nun argumentierte er, das sei nur ein falscher Eindruck Brunos gewesen, und er schwor, die Stenotypistin hätte einen untadeligen Lebenswandel geführt. Nehmen wir an, er habe geglaubt, sich damit wie ein Ehrenmann, wie ein »Gentiluomo« zu verhalten: Aber das bewahrte die arme Frau, die inzwischen in einer weit entfernten Kleinstadt ihr eigenes Leben lebte, nicht davor, als Zeugin vorgeladen zu werden: und die Rufschädigung, die sie erlitt, entsprach der Verbreitung der Nachricht von Mund zu Mund über die Gesamtlänge Italiens von Palermo bis zu jener Kleinstadt, in der sie lebte, obwohl die Zeitungen sie mit dem üblichen Schweigen über den ganzen Prozeß verschwiegen. Später versuchte er, einen weiteren Verdacht gegen den Bruno auszustreuen: daß dieser nämlich seiner Frau nachgestellt habe und in seiner Abwesenheit sogar zweimal bei ihm zu Hause erschienen sei. Auf die Frage, ob er auch den Verdacht hätte, seine Frau könnte den Aufmerksamkeiten des Bruno, auch wenn sie so sporadisch gewesen waren, erlegen sein, antwortete er, das glaube er nicht: Aber er antwortete in dem Ton und auf die gleiche Weise, wie er die Beziehung zu der Stenotypistin abstritt, derer er sich zuvor gerühmt hatte. Als Ehrenmann nämlich, der nur aus Großmut 173
mit einem Nein antwortete, wo man ein Ja zu verstehen hatte. Und das rief eine derartige Entrüstung hervor, daß der Vorsitzende ihm mit halblauter Stimme den gleichen Vorhalt machte, den die Anwälte der Nebenklage ihm schon wegen des Bildes von Matteotti gemacht hatten, das angeblich von Bruno stammte. Und dabei fällt mir auf, daß ich hier zum erstenmal vom Vorsitzenden des Gerichtshofes spreche: der nicht jener Richter ist, den ich zuweilen »der kleine Richter« oder »unser Richter« nenne. Der Richter, von dem die ganze Zeit die Rede war, ist jener, den man normalerweise als Nebenrichter bezeichnet – was im Hinblick auf die Bedeutung des Wortes in der Gerichtssprache vielleicht ungenau ist –; er war jedoch wegen seiner besonderen Lehrmeinungen, seiner Humaniora (die also, wie man sieht, in jedem Beruf zählten) und der Schärfe und Freimütigkeit seines Urteils mehr oder weniger gefürchtet als der Vorsitzende (alles ist relativ). Der Vorsitzende war ein schweigsamer, feierlicher Mensch, der in allen Prozessen und in diesem Prozeß ganz besonders auf strenge Ordnung hielt, und selbst für ihm Nahestehende in seinen Gedanken und Empfindungen undurchschaubar; und vielleicht verhüllte er in dieser Undurchdringlichkeit auch eine gewisse Scheu gegenüber seinem Beisitzer, dem er in umsichtiger Weise freie Hand ließ. Doch selbst wenn es dem Angeklagten gelungen wäre – was er (hier ist der Ausdruck angebracht) unüberlegterweise für möglich hielt –, die anderen davon zu überzeugen, daß Advokat Bruno ihm das Bild Matteottis zwischen die Papiere geschmuggelt habe, daß er auf ihn eifersüchtig gewesen sei, weil die Steno174
typistin ihn nicht erhört habe, und daß er einen Anschlag auf seine Ehre als Familienoberhaupt verübt hätte, so wären diese Punkte doch nicht geeignet gewesen, irgendwelche Schatten auf das Andenken des verblichenen Bruno zu werfen. Was man ihm vorwerfen mochte, waren seine andauernde Nachsicht gegenüber den Fehlbeträgen in der Kasse und die Toleranz, die er gegenüber den kleinen, aber ständigen Unterschlagungen bewiesen hatte. Wenn er noch gelebt hätte, wären ihm von Gesetzes wegen mehr als nur Vorwürfe gemacht worden; aber er war tot; und wenn nun ausgerechnet derjenige, der lange von seiner Nachsicht profitiert hatte, wie aus einem stillschweigenden Einverständnis, diese Dinge vorbrachte, so war man entschlossen, sie dem Konto der Gutmütigkeit und Großzügigkeit des Toten gutzuschreiben, und dem die monströse, grausame Undankbarkeit seines Mörders entgegenzusetzen. Es waren jedoch – dachte der Richter – ebendiese Gutmütigkeit und Nachsicht, die dazu geführt hatten, daß der Angeklagte in dem Augenblick, in dem sie beendet wurden und zu Ende gehen mußten, in Wut geraten war. Er war so lang toleriert worden, daß er nicht einsah, warum diese Toleranz ihm plötzlich nicht mehr gewährt wurde. Bruno war im übrigen von einigen Kollegen davon unterrichtet worden, wie sein Untergebener die Dinge sah und daß er Drohungen ausstieß, und diese Kollegen überredeten Bruno auch, den Angeklagten fallenzulassen und ihm nicht länger zu verzeihen. Zu einem, der ihm ausführlicher von den Drohungen berichtete, hatte der Bruno jedoch leichtsinnig geantwortet: »Was soll's? Der bringt mich nicht um.« Sei es, weil er fest entschlossen 175
war, seine Pflicht zu erfüllen, sei es, weil er den Mann für harmlos hielt und nicht glaubte, daß er so weit gehen könnte, das zu tun, was er dann doch prompt tat. Vielleicht aus beiden Gründen. In dem zweiten Grund jedenfalls versuchte die Verteidigung herumzustochern; vergeblich. Aber selbst wenn die Sanftmut des Angeklagten in der Vergangenheit existiert haben sollte, so erschien sie unglaubwürdig angesichts der Entschiedenheit, der Waffe und der Art und Weise, in der die drei Verbrechen begangen worden waren; ganz zu schweigen vom Verhalten des Angeklagten im Gerichtssaal, das in allen Strafprozessen ein schwerwiegendes Moment ist und das, so konnte man sagen, nicht die mindeste Bereitschaft, ihn zu verstehen, und keinerlei Mitleid mit ihm erzeugte. Das ist der Punkt – dachte der Richter weiter –, weshalb alles auf ein schlimmes Ende zuläuft: Die persönlichen Beziehungen, die freundschaftlichen Einmischungen und Empfehlungen, das Mitleid mit den Unschuldigen, das die Bestrafung des Schuldigen erforderte, die Einstellung, sich angesichts des größeren Übels, das sich später allerdings als das kleinere herausstellen kann, das kleinere Übel zu akzeptieren; und, im Grunde, das Absäbeln und Einschläfern all dessen, was das Gesetz verlangt, wie im Falle des Onkels bei Manzoni,* dem der provinzielle Vater nachgibt, aus Angst vor den Folgen, die schwerwiegend und weitreichend sein können, aber letztlich weniger schwerwiegend und weit* Alessandro Manzoni, u.a. von Goethe sehr bewunderter Autor, 1785-1873, vgl. »Die Verlobten«, mit denen der für die ital. Einigung und Literatur entscheidende Streit über die Hochsprache zugunsten des Toskanischen entschieden wurde. 176
reichend sind, als, von ferne betrachtet, das Laufenlassen, das Tolerieren und der Tribut an die Freundschaft sein mögen, der im Verschweigen und Unterlassen besteht. Das ist alles. Oder fast alles. Gegen Ende des Verfahrens, als die »abschließenden Schriftsätze« herniederregneten, legte auch die Verteidigung ihren Schriftsatz vor und beantragte, festzustellen, ob der Täter die Fähigkeit besessen habe, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, womit sie jedoch nicht auf eine völlige Schuldunfähigkeit abzielte, sondern nur auf eine verminderte Schuldfähigkeit. Sie stellt den Menschen auf halbe Stufe zwischen Verstand und Wahnsinn, wobei Momente des Wahnsinns den Verstand oder Momente des Verstandes den Wahn überdecken können, im Augenblick der Tat jedoch mit Sicherheit der Wahn überwiegt. »Wer zur Zeit der Tat unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, wird nicht bestraft … Wer die Tat im Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit begeht, wird bestraft, doch wird seine Strafe gemindert.« Im vorliegenden Falle aber wäre eine Prüfung der völligen Unzurechnungsfähigkeit angemessener gewesen als der verminderten: wie unserer Meinung nach in einem Strafprozeß immer. Es gibt kein menschliches Wesen, in dem nicht eine verminderte Zurechnungsfähigkeit oder etwas Ähnliches, technisch Undefinierbares (unterstellt, die verminderte Zurechnungsfähigkeit wäre ein ernstzunehmender Begriff) schlummert oder gar auf der Lauer liegt. Jederzeit oder zumindest im richtigen (und das heißt im unpassendsten und unheilvoll177
sten) Augenblick kann sie ausbrechen, und wenn wir in gewissen, nicht in allen Kriminalfällen, die von Leidenschaften handeln, verminderte Zurechnungsfähigkeit annehmen, so bekräftigen wir damit die allgemeine Auffassung, daß die Gesetze in der Praxis nicht für alle Menschen gleich seien, und verstoßen gegen das Prinzip, das die Gleichheit aller vor dem Gesetz proklamiert. Aber es war zu spät. Und man konnte sich fragen, ob der Verteidiger sich nicht hätte bemühen müssen, den Angeklagten zu überreden, dem Antrag zuzustimmen: gerade weil der Angeklagte sich derart in seinem Glauben verschanzt zu haben schien und in seinem Wahn tatsächlich verschanzt hatte, das ihm zugefügte Unrecht lediglich ein wenig zu exzessiv gerächt zu haben. Man saß bereits im Beratungszimmer, das für Augen und Nase nicht weniger widerwärtig war als der Verhandlungssaal. Die Wände waren geweißt worden, bevor sich die Justizbeamten hier niedergelassen hatten, und hinter dem herabrieselnden Kalk oder dort, wo er abbröckelte, erschienen die Zeichnungen und Inschriften, die die Gefangenen der Inquisition aus zwei Jahrhunderten hinterlassen hatten. Teilweise wurden sie von Holzregalen und Aktenbündeln, die davorstanden, verdeckt. Etliche Inschriften und Zeichnungen waren vollständig sichtbar. Die Richter kannten sie längst auswendig, einige bis zum Erbrechen; aber die Geschworenen waren noch neugierig. Und manch einer war bestürzt darüber, daß er ein weltliches Gesetz – selbst wenn es voll war von altem Gerumpel und bei der Restaurierung neue Mystizismen eingeflossen waren – in eben den Räumen anwenden 178
sollte, in denen dieses Gesetz hartnäckig, fanatisch verweigert worden war. Das Beratungszimmer. Und wegen der Roben, die die Richter trugen, und der trikolorigen Schärpen der Geschworenen, wegen der Staatsbildnisse an den Wänden und dem Hauch der Verwesung, den die alten Akten ausströmten, erinnerte es an eine Sakristei. Aber auch wegen des Ritus, den sie jeden Morgen zelebriert hatten, wenn sie hier herauskamen, und wegen des letzten Aktes, an dem sie gerade arbeiteten und in dem sich alles summierte, was sie in zahllosen Sitzungen aus dem Leben und den Taten des Angeklagten eruiert hatten. Er stand da wie nackt. Sein Familiensinn, der vor allem darin bestand, daß er gegen den Willen seiner Frau seine beiden unverheirateten Schwestern ins Haus genommen hatte: Er existierte nicht. Als Verheirateter hatte er eine Dreizehnjährige verführt, ihr eine Wohnung eingerichtet, sie unterhalten und mit ihr Kinder gezeugt. Und man hielt ihm auch vor, daß er als blutjunger Mann mit der Frau, die er später heiraten sollte, durchgebrannt war – die klassische Fuitina der ganz jungen, armen Leute – und in die Heirat eingewilligt hatte, nachdem der Vater des Mädchens ihn wegen Entführung einer Minderjährigen und wegen Vergewaltigung angezeigt hatte. Was war mit seinem Patriotismus: hatte er sich doch 1915 während des Krieges versteckt und eventuell sogar eine Selbstverstümmelung begangen. Seine Sanftmut: Er hatte an gewalttätigen Auseinandersetzungen teilgenommen, lief stets bewaffnet herum und lehrte seine Söhne, daß der Besitz einer Pistole wichtiger sei als ein Stück Brot. Sein Arbeitseifer: Er unterschlug Geld aus der Kasse 179
und behielt Mitgliedsbeiträge, die die Rechtsanwälte für die Eintragung in die Berufsrolle bezahlten, für sich. Und dann die Verbrechen jenes »unheilvollen« Tages. Mit besonderem Vorsatz gegen die Ehefrau, wie sich aus einem Testamentsbrief an die Söhne ergab, der mindestens ein Jahr zuvor geschrieben wurde und sich unter seinen Papieren befand: Darin sagt er, daß er sie »totmachen« wolle: ein tiermedizinischer Ausdruck, der das Animalische der Frau hervorheben sollte, jedoch auf ihn selber zurückfiel und ihm selbst Bestialität verlieh. Und alle drei Morde beging er, indem er das Vertrauen der Opfer und der Personen, die ihnen nahestanden, mißbrauchte. Die Frau lud er zu einem Ausflug zu den Kindern ein. Den Buchhalter Speciale suchte er zu Hause auf und bat ihn, mit ihm in den Justizpalast zu gehen, da er eine Akte suchen müsse, die er dringend benötige. In das Haus des Advokaten Bruno wurde er vom Dienstmädchen wie ein Familienmitglied eingelassen. Dreimal hatte er im Verlauf mehrerer Stunden das Messer herausgeholt, das er vorsorglich und gut in seinem Futteral verwahrte. Mit sicherer Hand hatte er es jeweils im Leib seines Opfers versenkt, wobei er ihnen vermutlich ins Auge sah, um jenen Moment höchster Qual, die er ihnen zufügte, zu genießen. Ein Detail erschien den Richtern und Geschworenen besonders grausam: Zweimal nämlich steckte er das blutige Messer ins Futteral zurück. Beim dritten Mal schleuderte er es der Nichte* des Advokaten Bruno entgegen, die ihn durch das Treppenhaus verfolgte. In dem Augenblick hätte er die Pistole gegen * Im Original »la nipote«, kann auch Enkeltochter heißen. 180
sich selber richten können, wie er es, seinen Worten nach, vorgehabt hatte. Er gebrauchte sie nicht, und als er kurz darauf ins Polizeipräsidium gebracht wurde, wo er auf den Bruder seiner Frau stieß, forderte er die Beamten auf, zu prüfen, ob sein Schwager bewaffnet wäre, da er fürchtete, der Schwager würde dem Drang, seine Schwester zu rächen, nicht widerstehen. Auch dieses Detail machte auf die Richter und Geschworenen einen tiefen Eindruck: Es schien, als ob sich darin seine gesamte Persönlichkeit ausdrückte. Doch als der Gerichtshof nach kurzer Beratung das Beratungszimmer verließ, verkündete er ein Urteil, das nicht auf die Todesstrafe lautete. Etwa zehn Tage später, während die meisten noch immer wie benommen und über dieses Urteil verärgert waren, und eine Minderheit, bestehend aus Kollegen, Advokaten und Parteiführern, in bitterer und denunziatorischer Weise sagte: »Ich habe es gleich gesagt«, und über den beisitzenden Richter herzuziehen begann, wobei man zu verstehen gab, daß er kein Faschist sei und das Regime verächtlich machen wollte; etwa zehn Tage später also beschloß der kleine Richter, den Geschworenen zu besuchen, der außerhalb der Stadt eine alte Villa besaß. Es ist mir wieder einmal unterlaufen, daß ich »der kleine Richter« sage, aber nicht, weil er von auffallender kleiner Statur gewesen wäre, sondern wegen des Eindrucks, der mir in Erinnerung geblieben ist, seit ich ihn das erste Mal sah. Er stand mit anderen zusammen, und jemand bezeichnete ihn als den Kleinsten in der Gruppe und meinte: »Er hatte eine brillante Karriere vor sich, und dann weigerte er sich, 181
jemanden zum Tode zu verurteilen, und war ruiniert.« Und dann erzählte er mir in groben Zügen, wenngleich mit einigen Unstimmigkeiten, die Geschichte jenes Prozesses. Seit dem Tag erschien mir – jedesmal, wenn ich ihn sah, und die wenigen Male, die ich mit ihm sprach – das Wort »klein« so, als bezeichnete es die Größe, die er gezeigt hatte, als er die Dinge, die so viel stärker waren als er, ohne viel Aufhebens angepackt hatte. Er ging also zu jener Villa, an einem Tag kurz vor Weihnachten, und es war so warm wie im September. Die Stadt wirkte auch in den Vororten schon weihnachtlich, aber zu jener Zeit kam das Weihnachtsfest noch ohne Baum und Geschenke aus und begnügte sich mit der Krippe, dem gemästeten Hähnchen, den getrockneten Feigen und den gerösteten Mandeln. Die Villa fand er leicht. Sie lag, von Mauern umgeben, in einem Vorwerk und die neoklassizistische Kuppel sah man schon von weitem. Der Bau war nicht durchgängig neoklassizistisch, es gab Umbauten und Anbauten und es gab sogar ein herrliches chiaramontanisches Biforium* wie das am Steri, in dem die Justiz zelebriert wurde. Der Hausherr empfing ihn wie einen alten Freund, den man lange nicht gesehen hat; und dem Richter kam es genauso vor, als ob sie sich lange nicht gesehen hätten. Es war, als hätten sich die Tage, die seit dem Urteil vergangen waren, in die Länge gezogen; so viel war seither gesagt und gedacht worden. Und sie fühlten *
Fenster mit einer Doppelöffnung, das durch eine Mittelsäule gegliedert wird, wie am Palazzo Chiaramonte, der im Volksmund »lo Steri« genannt wird. Der Steri ist ein schöner mittelalterlicher Bau in Palermo, in dem heute die Justiz residiert. 182
sich wie zwei Menschen, die früher eine dramatische Situation gemeinsam durchgemacht haben und einer Gefahr entkommen sind. Sie hatten beinahe ein Gefühl der gegenseitigen Dankbarkeit für die Hilfe, die sie sich gewährt hatten, um zu entkommen. Denn sie hatten beide am Krieg teilgenommen, waren etwa gleichaltrig und fast an den gleichen Orten gewesen, und vielleicht waren sie sich begegnet, hatten miteinander gesprochen und nun das Gefühl, wie Kameraden, wie Freunde daraus hervorgegangen zu sein; während das Dröhnen der Ressentiments und der Drohungen wegen jenes Urteils in der Luft lag. Trotzdem versuchten beide, nicht über den Prozeß zu sprechen. Sie sprachen über den Krieg, wie gesagt, und dann über die Bücher in dieser schönen Bibliothek, die groß und harmonisch wirkte, mit Regalen in warmen Farben und überaus graziösen Dekorationen und Schnitzereien, die ein bißchen wie Rokoko aussahen und den Jugendstil vorwegnahmen. Der Richter interessierte sich außerordentlich für diesen Mann mit dem Gesicht, wie es früher die Bauern hatten, den großen Bauernhänden, die mit beeindruckender Zartheit die Bücher aufschlugen und durchblätterten, in seinem Anzug aus Ripssamt (aber natürlich von besserem Material und Zuschnitt), wie er damals zum Sonntagsstaat der Bauern gehörte. »Sie denken wahrscheinlich«, sagte er, während er dem Richter eines der Bücher zeigte, die an diesem Morgen angekommen waren und noch auf dem Tisch lagen: den Bodoni* der Camera della Badessa, »daß dieses *
Bodoni, Giovanni Battista, 1740-1813, berühmter Buchdrucker, »Die Kammer der Äbtissin«, evtl. ein Buch seiner Werkstatt. 183
Haus die Erbschaft einer langen Reihe von Vorfahren ist; aber ich weiß nicht einmal, was mein Urgroßvater von Beruf war. Nur, daß er in solcher Armut lebte, daß sein Sohn, mein Großvater, an nichts anderes dachte, als sich einen sinnlosen Reichtum zusammenzuraffen. Alles, was Sie hier sehen, stammt von ihm, von meinem Großvater: Er hat es von einem Abkömmling einer alten Familie, der sich bei ihm sehr verschuldet hatte. Einschließlich der Bibliothek, wie sie hier steht, oder fast: Ich habe vielleicht ein Sechstel der Bücher, die hier stehen, hinzugekauft. Fast alles Franzosen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, meist in den schönen Ausgaben, die die Franzosen zu machen verstehen und die man bei uns jetzt auch vorsichtig zu machen beginnt. Meine Schwäche sind illustrierte Bücher: ein Ersatz für meine Kindheit, in der ich mir den illustrierten Pinocchio und den illustrierten Cuore* mindestens so heiß und sehnlich wünschte, wie mein Großvater sie mir verweigerte. Er war Analphabet und haßte die Bücher. Glücklicherweise starb er, ehe er dazu kam, diese hier loszuwerden, wie er es vorhatte. Aber glauben Sie nicht, ich sei zynisch, wenn ich sage glücklicherweise: Ich habe nicht die geringste Erinnerung an meinen Vater, und meinen Großvater hatte ich im Grunde gern, auch wenn meine Mutter auf mich die Angst übertrug, die sie vor ihm hatte. Ein Mann mit einer harten Schale. Der Domherr, der sich um die Seele meines Großvaters kümmerte, hat mir zwar versichert, daß die Schulden, die mit dieser Villa bezahlt wurden, kein Wucher waren, aber ich habe den Verdacht, daß * Einst sehr beliebter Jugendroman von De Amicis, 1846-1908. 184
der Pfarrer selbst ein Wucherer war. Wir wollen das nicht vertiefen: Es gibt Wichtigeres, womit man sein Gewissen beunruhigen kann. Außerdem, wie schon die alten, pathetischen Sozialisten zu sagen pflegten: Die Anfänge aller großen Vermögen liegen stets im Dunkeln, im Trüben. Und durch welche Gewalttaten und Wuchereien waren dieses Haus und das Land drumherum an die alte Familie gelangt, die in ihren Schulden unterging? Dieses ewige Auf und Ab der Familien, der Völker: Ich glaube, niemand hat dafür einen schärferen Sinn gehabt als Guicciardini,* der das aber gelassen sah; und auf der anderen Seite haben wir unseren Verga** mit seinem Aberglauben und seinen Ängsten«, sagte der Richter. Ihn dürstete gleichsam, über Bücher und Autoren zu reden, weil er so selten jemanden traf, mit dem er darüber reden konnte. Er legte das Buch zurück, nachdem er die Stiche von Rosaspina*** betrachtet hatte: »Wunderschön; Stendhal mit seiner Vorliebe für Correggio wird sie bestimmt nicht übersehen haben.« »Bestimmt nicht: Er wird es zumindest in einem Brief oder in einer Notiz erwähnt haben; unser Trompeo weiß das mit Sicherheit … Das Unangenehme bei vielen Büchern, die Bodoni gedruckt hat, ist nur eins: Wenn man sie zu lesen versucht, stellt man fest, daß die Harmonie des Seitenaufbaus sehr viel einträglicher ist *
Graf Francesco G., 1851-1915, Sproß einer uralten Florentiner Adelsfamilie, Politiker, Jurist, Soziologe, Schriftsteller. ** Giovanni V., l840-1922, sizilianischer Autor, Hauptvertreter des ital. Verismus. *** Berühmter Kupferstecher, 1762-1841, veröffentlichte u.a. Drucke der »Kreuzabnahme« von Antonio Correggio, 1494-1534. 185
als das, was auf der Seite geschrieben steht. Ich habe hier etliche stehen, aber ich glaube, daß ich nur eins ganz gelesen haben: die Aminia … Schade: Es wäre schön, wenn Bodoni die Bücher gedruckt hätte, die wir am meisten lieben.« »Ich besitze nur eins: den Aristodemos von Monti.«* »Schön klar, aber unlesbar. Obwohl ich Monti mag. Seine Beiträge zur Crusca** sind ein großes Vergnügen. Und wenn man bedenkt, was wir seit Kriegsende bis heute alles erlebt haben und was ich selber mitgemacht habe, wird einem dieser Monti mit seinem Walzerwirbel direkt sympathisch, das muß ich zugeben. Sie werden mein Parteiabzeichen während der Gerichtsverhandlungen bemerkt haben. Ich trage es ostentativ. Aber es stimmt, daß ich Parteimitglied bin. Und wissen Sie, warum? Damit sie mir den Reisepaß nicht ablehnen können.« Aus einer Tür im Hintergrund trat eine junge Frau herein, die wie Diana auf der Jagd gekleidet war: groß, braun, sehr kurzes Haar. »Das ist die Dame, die momentan mit mir zusammenlebt.« Der Satz kam dem Richter wie eine intrigante Distanzierung vor, die ein Provisorium ausdrückte: Seine Gedanken verweilten bei diesem »momentan«, und vor lauter Erstaunen über ihre Erscheinung betrachtete er nur ihr Gesicht, das Herzlichkeit und Ironie ausstrahlte, und sagte: »Französin?« * Vincenzo Monti, 1754-1828, einer der bekanntesten ital. Autoren mit einem unübersehbaren Werk. ** Anmerkungen zu dem berühmten, 1591 begonnenen Wörterbuch der Accademia della Crusca, Florenz
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»Ja, Französin«, sagte die Frau und reichte ihm die Hand. »Natürlich haben Sie es erraten, wegen meiner Nase … O mein Gott: die französische Nase!« Der Richter errötete. Sie hatte recht. Der Freund befreite ihn (während der Richter noch ein unbeholfenes Kompliment stotterte) aus seiner Verlegenheit: »Die Bauern in Sizilien sagen dazu Lämmerbein.« »Genau das richtige Wort, ich werde es mir merken«, sagte die Frau. Sie plauderten ein wenig über Nasen, über Gesichtsformen und über Della Portas* Buch zur Physiognomie, das aus einem der Regale geholt wurde. Der Richter fühlte sich leicht und entspannt. Und als er sich verwundert darüber äußerte, wie gut die Dame italienisch spreche und wie viele italienische Autoren und Bücher sie kenne, hatte der Freund eine Erklärung: »Simone ist eine italienische Französin, um einen ihrer Ausdrücke zu italienisieren. Sie lebt in einer Art Republik, in der Stendhal Erster Konsul ist. Sie wissen schon. Diese Leute lieben das, was wir an uns am meisten hassen. Bedenken Sie nur, was aus dem grausamen und elenden Fall, mit dem wir uns beschäftigt haben, in einem Text von Stendhal geworden wäre … Aber das Unheil mit den Italienliebhabern, und nicht nur mit den französischen, ist eben, daß sie an uns nur die schlechtesten Seiten lieben, und daß sie aufhören, uns zu lieben, wenn sie sehen, daß wir auch bessere haben.« »Das mag stimmen«, gab Simone zu. »Aber ich kenne sogar schon die beste und liebe euch immer noch.« »Das hält nicht vor«, sagte der Freund lächelnd: so als wollte er mit einer gewissen Melancholie auf ihre * Giambattista della P., 1535-1615, Physiker, Philosoph und Literat, u.a. »De humana physiognomia«. 187
Beziehung anspielen. »Wie jede Liebe übrigens. Irgend etwas stört einen immer am anderen und erst recht an einem Land, das nicht das unsere ist. Man fällt immer auf die Verallgemeinerungen herein … Die Deutschen sind so und so, die Spanier, die Franzosen … Und die Italiener, wie sind die Italiener? Ganz zu schweigen von den Sizilianern. Die werden immer schnell mit apodiktischen Urteilen definiert, gegen die man kein Rechtsmittel einlegen kann … Ich glaube, kurzum, daß die Verallgemeinerungen nur in der Verneinung funktionieren, grob gesprochen: indem man das definiert, was wir nicht sind und nicht sein wollen, und was dann impliziert, was wir in etwa sein wollen … Es wäre interessant und nicht ganz unnütz, die europäische Geschichte einmal vom Standpunkt der Russen, die Deutsche sein wollen, zu betrachten; dann der Deutschen, die Franzosen sein wollen; der Franzosen, die zur Hälfte Deutsche, zur anderen Italiener und zugleich weiterhin Franzosen sein wollen, der Spanier, die schon zufrieden wären, wenn sie Engländer wären, da sie keine Italiener sein können, und schließlich der Italiener, die am liebsten alles zugleich wären, nur keine Italiener …« »Im Augenblick«, sagte Simone, »haben die Spanier keinen anderen Wunsch, als sich gegenseitig umzubringen.« »Mit dem geistigen Beistand von Leon Blum«, sagte der Richter. »Ein geistiger Beistand nur für die Seite, auf der er stehen sollte«, ergänzte Simone. »Blum, der Sozialist, Blum, der Verehrer Stendhals: und dabei kommt dann diese Posse des Nichtinterve188
nierens heraus«, sagte der Freund. »Mussolini schickt Glückwunschtelegramme an italienische Generäle, die mit italienischen Truppen spanische Städte erobern, aber Blum rührt sich nicht und redet weiter davon, man werde nicht eingreifen in Spanien, als ob er daran glaubte …« »Wenn man nicht zugeben will, daß Mussolini es begriffen hat«, sagte der Richter, »hat niemand begriffen, daß der Krieg in Spanien die Krönung dessen ist, was der Welt bevorsteht.« »Wenn man ferner nicht zugeben will, daß Mussolini mit seinem Scherz vom Schwert des Islam es begriffen hat, hat auch keiner von denen, die an den Ereignissen in Tel Aviv direkt beteiligt sind, begriffen, was dort passiert, und das beunruhigt mich sehr«, sagte der Freund. »Ich habe oft meinen Spaß daran, die Geschichte durch ein Detail zu betrachten, das unbedeutend erscheinen mag wie eine Figur im Schatten oder eine Andekdote … Napoleon betritt die Synagoge, sieht die Juden im Gebet zusammengekauert und sagt: »Meine Herren, mit dem Hintern hat noch niemand einen Staat gegründet, und jetzt explodieren die Bomben auf den Märkten von Tel Aviv. Eine Geschichte ohne Ende …« Diese Sorgen um ein paar Nachrichten, die durch den Krieg in Spanien verdrängt wurden, der Terrorismus der Juden, die einen eigenen Staat haben wollten, und die Art, wie die Engländer ihr Mandat in Palästina ausübten, erschienen Simone und dem Richter übertrieben, und die Tatsache, daß er daraus ein Diskussionsthema machte, kam ihnen ziemlich verbohrt vor. Andererseits hatte sie nicht die Informationen, die ihr 189
Freund zu besitzen schien, der diese Gegend bereist hatte. So erlahmte die Diskussion über das Thema nach einiger Zeit. Sie unterhielten sich weiter mit Leichtigkeit und mit Eifer über Frankreich, über gewisse Autoren und gewisse Bücher. Und über den Faschismus. Aber darüber sprachen sie so, daß er weit weg zu sein schien und als wäre er nur auf einer imaginären Karte der menschlichen Dummheiten verzeichnet. Es war schon eine Weile dunkel, als der Richter bemerkte, es sei Zeit, nach Hause zu gehen, eigentlich über die Zeit. Der Freund (den wir wegen der Dinge, die wir noch erfahren, so nennen können) bestand darauf, ihn mit dem Auto nach Hause zu bringen. Gemächlich fahrend, erzählte er von der Frau, die seit einigen Monaten bei ihm lebte wie zuvor andere. Es waren Verbindungen, an die er die schönsten Erinnerungen hatte, auch weil sie zu Ende gegangen waren, so wie diese zu Ende gehen würde. Von seinen Reisen. Von seinem ländlichen Leben. Als sie sich verabschiedeten, sagte er: »Ich habe Sie sehr bewundert während der Beratungen. Sie haben das Problem der Todesstrafe in seinen schrecklichsten Dimensionen dargestellt, ohne es auch nur einmal direkt anzusprechen.« »Ich habe Sie auch bewundert: Ich bin überzeugt, daß die Abstimmung ohne Ihren Redebeitrag …« »Ich bin nur Ihrer Linie gefolgt. Aber ich wollte sagen, obwohl Sie es bereits wissen, daß ich genau deswegen die Aufgabe als Geschworener angenommen habe: als eine Geste gegen die Todesstrafe … Giolitti* * Giovanni Federico G., 1842-1928, ital. Politiker, mehrfach Ministerpräsident. 190
hat einmal gesagt, in unserem Land würde man niemand eine Zigarre und einen Orden verweigern; und nicht einmal ein falsches ärztliches Attest, füge ich hinzu; und das hätte man auch mir nicht verwehrt.« »Ich will Ihnen etwas sagen: Ich hätte mich dem Prozeß genausogut entziehen können, und es ist mir sogar von höherer Stelle nahegelegt worden. Aber ich habe es als Ehrensache betrachtet: für mein Leben; für die Ehre meines Lebens.« »Und wir haben es geschafft … Aber wie wird die Sache enden?« »Schlimm«, sagte der Richter. Seit ihrem letzten Gespräch vor drei Monaten, an das er noch zwiespältige und ärgerliche Erinnerungen hatte, waren der Richter und der Generalstaatsanwalt sich oft über den Weg gelaufen: auf den Gängen, wo sie kaum und nur widerwillig einen Gruß wechselten. Doch als sie sich nach den Weihnachtsfesttagen wieder einmal auf dem Korridor trafen und den üblichen flüchtigen Gruß wechselten, fühlte sich der Richter, der schon ein paar Schritte weitergegangen war, plötzlich angesprochen und drehte sich um. »Wenn Sie eine halbe Stunde Zeit haben«, sagte der Staatsanwalt, »kommen Sie in mein Büro, um etwas zu plaudern.« Herzlich im Ausdruck, nicht nur in der Wortwahl. »Ich habe eine Sitzung, aber nicht lange. Ich komme in, sagen wir, einer Stunde zu Ihnen.« »Sehr gut, ich erwarte Sie.« Er war pünktlich. Der Amtsdiener fragte ihn mit einer gewissen Reserviertheit nach seinem Namen, als hätte er ihn nie gesehen, und meldete ihn an. Vielleicht 191
kannte er ihn wirklich nicht, und seine Reserviertheit entsprach seiner Gewohnheit, den Staatsanwalt vor unerwünschten Besuchern zu schützen: aber der Richter hatte sich gegenüber in letzter Zeit oft solche Verhaltensweisen wie die des Amtsdieners bemerkt. Der Staatsanwalt kam ihm auf der Schwelle entgegen und empfing ihn mit einer Herzlichkeit, die den Amtsdiener zu verblüffen schien. Statt sich selber hinter den Schreibtisch und den Richter davorzusetzen, wählte er die zwei Sessel, die in einer Ecke des Zimmers neben einem runden Tisch standen. Der Staatsanwalt deutete auf den Aschenbecher, der auf dem Tisch stand, und sagte: »Sie können rauchen, wenn Sie mögen.« Der Empfang verwirrte den Richter ein wenig. »Ich hoffe«, begann der Staatsanwalt, »Sie haben es mir nicht übelgenommen, was ich Ihnen vor einigen Monaten zu sagen hatte. Es war nur, das muß ich noch einmal sagen, von meiner Sympathie und Wertschätzung für Sie bestimmt; abgesehen von – wie soll ich sagen – einer Verantwortung für unsere Berufsgruppe, ich kann es jetzt offen zugeben, obwohl Sie es sich schon gedacht haben werden. Um Mißverständnisse, Reibereien und Starrköpfigkeiten zu vermeiden, die für uns unangenehme Folgen haben könnten, so wie die Dinge nun einmal liegen … Aber da ist nichts mehr zu machen … Und, schauen Sie, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken. Ich will einmal ganz ehrlich sein: Auch weil der Groll sich jetzt nicht gegen die Palermitaner Justiz richtet, sondern nur gegen Sie … « »Das habe ich bemerkt«, sagte der Richter. »Das tut mir leid, glauben Sie mir, es tut mir sehr leid: 192
Aber so ist es nun mal … Hier: Gestern habe ich die Revisionsbegründung von Advokat Ungaro erhalten. Ich wollte sie mit der Revision unseres Büros vergleichen und habe sie deshalb kommen lassen: Ungaro ist ein großer Jurist … Nun gut: Das Urteil des Schwurgerichts, dem Sie angehört haben, wird als Ergebnis einer falschverstandenen Pietät bezeichnet und der Verwirrung und Ratlosigkeit der Jury zugeschrieben. Angesichts der Schwere der Strafe, schreibt er, habe man die Schwere des Verbrechens nicht hinreichend gewürdigt. Das heißt, man hat das Gesetz verletzt und nicht Gerechtigkeit geübt. Ich bin, wie Sie wissen, mit ihm vollkommen einverstanden, aber ich weiß auch, wie allgemein bekannt ist, und vielleicht weiß er es ebenfalls, daß das Laienelement, wie er die Geschworenen nennt, kapituliert hat …« »Vor mir, wollen Sie sagen … Aber die Geschworenen haben nicht kapituliert: Sie hatten das, was Sie eine Meinung nennen und was ich als Prinzipien bezeichne. Und es handelt sich bei den Gegnern der Todesstrafe um ein derart starkes Prinzip, daß man mit Sicherheit recht hat, selbst wenn man es als einziger öffentlich vertritt. Ich habe also keinen Grund, mich zu beschweren, wenn man glauben möchte, daß eine widerstrebende Jury mit raffinierten Argumenten von mir überredet werden mußte, nicht die Todesstrafe zu verhängen. Nur muß ich zur Ehre der Jury eben sagen, daß sie nicht widerstrebt hat.« »Das freut mich zu hören«, sagte der Staatsanwalt. »Und warum?« Der Staatsanwalt schwieg verwirrt, schloß die Augen und schien sich zu konzentrieren, um eine Antwort 193
zu suchen. Plötzlich schien er in tiefe Müdigkeit zu verfallen, zu altern, und das Netz der Falten auf seinem Gesicht wirkte dichter und tiefer: »Ich gehe in ein paar Monaten«, sagte er, »verlasse dieses Büro und diesen Beruf. Gehe in Pension. Es ist schlimm für jemand, der soviel Macht hatte wie ich; warum sollte ich das nicht zugeben? Aber langsam gewöhne ich mich daran. Ich beginne Dinge zu denken, die ich bisher nie gedacht habe. Zum Beispiel: Daß ich ein Toter war, der andere Tote begraben hat. Oder: daß wir das allesamt sind in unserem Beruf als Ankläger und Richter. Und schließlich frage ich mich: Ob wir als Tote, die Tote begraben, das Recht haben, die Toten zum Tode zu verurteilen? Aber Vorsicht: Das ist nur eine Frage. Und die Antwort lautet, wie ich finde, immer noch: ja, wir haben dieses Recht, weil das Gesetz es von uns verlangt … Aber als ich vorhin zu Ihnen sagte, daß ich vollkommen mit Ungaro einverstanden wäre, so wie ich Ihnen bei unserem letzten Gespräch sagte, ich wäre mit Rocco völlig einverstanden, da korrespondierte dieses vollkommen nicht mit dem, was ich tatsächlich fühle. Es gibt etwas, das mich plagt und beunruhigt, wenn man das Gesetz so weitgehend befolgt … Auf der Schwelle zum Alter, zur Pensionierung, vielleicht zum Tode.« Er legte die Hand auf die Brust und bewegte die Finger, als wollte er etwas zerdrücken. Angina pectoris, dachte der Richter. Die Geste erinnerte ihn an seinen toten Vater. »Ich wüßte gerne …«, sagte der Staatsanwalt. »Das ist der Grund, weshalb ich heute morgen mit Ihnen reden wollte: Ich wüßte gerne, was Sie empfinden und was Sie befürchten bei dem, was momentan mit Ihnen passiert … Nicht, was Ihre Karriere betrifft, die haben 194
Sie bereits verspielt, aber das wußten Sie vorher … Nein, im Hinblick auf Ihr Gewissen und Ihr Leben …« Der Richter hatte sich nicht vorgestellt, daß er eines Tages mit dem Generalstaatsanwalt ein Gespräch haben würde, das eine Beichte und im Endeffekt eine Bitte um Hilfe sein würde. Er sagte: »Ich würde lügen, wenn ich sagen wollte, daß ich mir keine Sorgen mache.« »Das dachte ich mir.« »Ich meine, ich bin überzeugt, meine Pflicht getan zu haben, als Mensch und als Richter; ich bin überzeugt, in technischer Hinsicht juristisch einwandfrei gearbeitet zu haben, wie es besser nicht ging … Das Hauptargument hätte die geistige Unzurechnungsfähigkeit sein müssen; da es mir nicht zur Verfügung stand, habe ich mir geholfen, indem ich die drei Verbrechen als Fortsetzungsdelikt mit einheitlichem Gesamtvorsatz behandelt habe … Jetzt denke ich mit Schrecken daran, was kommen wird … Angst: Das ist es, was ich empfinde.« »Ich kann Ihnen genau sagen, was passieren wird: Das Revisionsgericht wird Ihr Urteil aufheben und das Verfahren zur neuerlichen Hauptverhandlung an das Schwurgericht in Agrigent verweisen, wo es einen Präsidenten gibt, der eine gewisse Neigung zur Todesstrafe hat. Es schmerzt mich, das zu sagen. In Agrigent gibt es auch einen Rechtsanwalt, der ein alter Sozialist ist, ich glaube, er war früher Abgeordneter: ein guter Anwalt und, aber das brauche ich nicht zu sagen, ein stadtbekannter Antifaschist. Er wird mit Sicherheit die Verteidigung übernehmen. Das ist genau, was man braucht, um zu demonstrieren, daß der Faschismus derartige Greueltaten unerbittlich verfolgt, während 195
der Antifaschismus sie schamlos verteidigt; man muß berücksichtigen, daß das einen Nebeneffekt für Sie und Ihr Urteil haben wird, auf das es zurückwirkt. Im Endeffekt wird der Angeklagte zum Tode verurteilt und erschossen … Und jetzt frage ich Sie: Was kann Ihr Urteil für einen anderen Sinn haben, als seine Agonie zu verlängern?« »Ab uno disce omnes … Ich will damit sagen: So, wie ich mich kenne, und so, wie ich glaube, die anderen Menschen zu kennen und vor allem jenen Mann, bin ich mir fast sicher, daß er sich im Laufe der Zeit und der Instanzen – angefangen bei der Freiheitsstrafe, die ihm praktisch keine Hoffnung läßt, über das neue Verfahren, das Todesurteil und schließlich das Gnadengesuch – einen Hoffnungsfaden zurechtspinnen wird, so dünn dieser auch sein mag. Er wird nichts tun, als diesen Faden abzuspulen und aufzuwickeln bis zu dem Augenblick, in dem sie eines Nachts zu ihm kommen werden, um ihn zu wecken und ihm mitzuteilen, daß sein Gnadengesuch abgelehnt worden sei und er vor Sonnenaufgang erschossen werde. Erst von diesem Augenblick an wird er zwei oder drei entsetzliche Stunden lang in Agonie verfallen, trotz des Pfarrers an seiner Seite; oder in das, was wir für gewöhnlich Agonie nennen: Das Gefühl, daß für ihn das Leben zu Ende ist, daß er nie wieder die Sonne aufgehen sieht, daß er dabei ist, die Grenzen der irdischen Nacht zu überschreiten, um in eine grenzenlose Nacht einzutauchen; ganz zu schweigen von den entsetzlichen Bildern, die das Gedächtnis ihm in dem Augenblick vorspielen wird, in dem der Tod in seinem Körper explodiert …« Der Staatsanwalt wischte sich mit dem Taschentuch 196
über die Stirn, als müßte er in diesem eiskalten Zimmer schwitzen. »Doch die Agonie«, fuhr der Richter fort, »ist ein im wahren Wortsinn eigentümlicher Zustand, an dem das Leben immer noch größeren Anteil hat als der Tod; und ich kann getrost zugeben, daß unser Urteil ihn verlängert hat. Worauf es ankommt: Entweder ist unser ganzes Leben nur zufällig, absurd und trägt seine Bedeutung in sich und besteht nur aus den Illusionen, an die man glaubt und die ganz diesseitig sind; dann erscheint einem die Verlängerung des Lebens um einige Jahre, einige Monate oder auch nur um ein paar Tage wie ein Geschenk: so wie dem Krebskranken oder dem Schwindsüchtigen: Absurdität in der Absurdität. Oder dieses unser Leben ist statt dessen Teil eines unerforschlichen Planes: Dann dient diese Agonie dazu, ihn reicher an Gedanken und reicher an Gedachtem, vielleicht wahnsinniger als zuvor, wenn wir nicht religiöser sagen wollen, an etwas Jenseitiges auszuliefern.« »Ich glaube, dieses Mehr an Gedachtem, dieses Mehr an Religiosität, von dem Sie reden, das widerfährt ihm, sehr viel schmerzlicher, aber zugleich, wie soll ich sagen, ja befreiender in diesen zwei oder drei Stunden, in denen er weiß, daß er endgültig sterben muß.« »O nein, in dem Augenblick ist der Tod kein Gedanke mehr; in dem Moment gibt es nichts mehr, was man Denken nennen könnte. Versuchen Sie einmal, wenn Sie können, sich einzufühlen, und Sie werden immer noch weit davon entfernt sein.« »Haben Sie nicht den Eindruck, nur ein Alibi für sich und die Vergeblichkeit Ihres Protestes zu suchen, der, das kann man ja zugeben, innerhalb unseres Kontextes 197
nur zugelassen wird, wenn Sie dem menschlichen Wesen, das Sie zum Gegenstand der Verteidigung eines Prinzips gemacht haben, noch mehr Leid zufügen, und daß Sie, kurz gesprochen, bei der Verteidigung des Prinzips das Leiden dieses Menschen nicht berücksichtigt haben?« »Es stimmt, daß ich der Verteidigung des Prinzips mehr Bedeutung beigemessen habe als dem Leben dieses Mannes. Aber das ist ein Problem und kein Alibi. Ich habe meine Seele gerettet, und die Geschworenen haben ihre gesucht: was sehr bequem erscheinen mag. Aber bedenken Sie, was geschähe, wenn in einer Art Kettenreaktion alle Richter die ihrige retten würden …« »Das wird nicht passieren: Das wissen Sie so gut wie ich.« »Ja, ich weiß: Das ist die Kehrseite des Erschreckens und der Furcht, die ich nicht nur im Hinblick auf diesen Prozeß empfinde … Aber ich tröste mich mit einer Fantasie: Wenn alles, die Welt, das Leben, wir selber, wie jemand gesagt hat, nichts weiter ist als ein Traum, den irgendwer träumt, dann könnte diese winzige Einzelheit seines Traumes, die aus dem Prozeß, über den wir reden, sowie aus der Agonie des Verurteilten und auch Ihrer und meiner Agonie besteht, den Träumer darauf aufmerksam machen, daß er falsch träumt, daß er sich auf die andere Seite drehen und versuchen sollte, bessere Träume zu träumen. Zumindest Träume ohne Todesstrafe sollte er haben.« »Eine Fantasie«, sagte der Staatsanwalt müde. Und müde bemerkte er: »Aber Sie sind immer noch erschreckt und haben Angst.« 198
»Ja.« »Ich auch. Vor allem.«
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Der Fall Majorana
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»Edle Wissenschaftler, ich kann Euren Anstrengungen nicht antworten mit etwas, das mehr sei als der Tod!« Vitaliano Brancati, Minutario (27. Juli 1940) »Er hatte eine Vorliebe für Shakespeare undPirandello.« Edoardo Arnaldi, Biographische Notiz zu Ettore Majorana
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I Rom, 16.4.1938 XVI*
Liebe Exzellenz. Ich bitte Sie, Doktor Salvatore Majorana zu empfangen und anzuhören. Er muß Sie dringend wegen des unseligen Falles seines Bruders, des verschwundenen Professors, sprechen. Eine neue Spur könnte neue Nachforschungen erforderlich machen, in den Klöstern von Neapel und Umgebung, vielleicht sogar in ganz Süd- und Mittelitalien. Ich lege Ihnen den Fall wärmstens ans Herz. Professor Majorana war während der letzten Jahre einer der bedeutendsten Köpfe der italienischen Wissenschaft. Und wenn er, wie zu hoffen steht, noch zu retten ist, ins Leben und in die Wissenschaft zurückgeführt werden kann, darf kein Mittel unversucht bleiben. Mit herzlichen Grüßen und allen meinen guten Wünschen zum Osterfest Ihr Giov. Gentile *Jahr der faschistischen Zeitrechnung 203
Dieser Brief mit dem Aufdruck »Senato del Regno« (Senat des Königreiches) im Briefkopf und auf dem Umschlag war von Senator Gentile als dringend an Seine Exzellenz Senator Arturo Bocchini z.e.H. (zu eigenen Händen) adressiert und hatte Bocchini, den Polizeichef, zweifellos noch am selben Tag, an dem er geschrieben wurde, erreicht. Zwei Tage später erschien Doktor Salvatore Majorana im Vorzimmer der Amtsräume des Polizeichefs. Er füllte das Audienzgesuch aus und vermerkte in der Spalte des Formulars, in der der Grund des Besuchs genau einzutragen war: Bericht über wichtige Spuren in bezug auf den verschwundenen Professor E. Majorana. Brief des Senators Giovanni Gentile. Er wurde empfangen, womöglich sogar ungeduldig erwartet. Bocchini, der inzwischen Zeit gehabt hatte, sich über den Fall zu informieren, war sich sicherlich klar über die Aufgabe, die ihm Erfahrung und Beruf eingaben: daß nämlich auch diesmal zwei Formen von Wahn im Spiel waren, die des Verschwundenen und die der Familienangehörigen. Wissenschaft wie Poesie, man weiß es ja, sind nur einen Schritt vom Wahnsinn entfernt: und der junge Professor hatte diesen Schritt getan, indem er sich ins Meer oder in den Vesuv stürzte, wenn er nicht eine raffiniertere Todesart gewählt hatte. Und die Angehörigen, wie es ständig vorkommt, wenn der Leichnam nicht gefunden wird oder durch Zufall erst sehr viel später und bis zur Unkenntlichkeit entstellt, geraten in den Wahn, ihr Toter sei noch am Leben. Dieser Wahn würde sich mildern und vergehen, wenn er nicht unablässig von jenen Wahnsinnigen genährt
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würde, die daherkommen und behaupten, sie hätten den Verschwundenen gesehen und an ganz bestimmten Zeichen wiedererkannt, Zeichen, die vor der Begegnung mit den Angehörigen ganz vage sind und die erst deren angstvolle und unkontrollierte Fragen sicher werden lassen. So waren auch die Majoranas – unvermeidlich wie alle – zu der These vom Kloster gelangt: daß der junge Professor sich dorthin zurückgezogen habe. Nachdem die Angehörigen erst einmal davon überzeugt waren, hatte es dann nicht viel gebraucht – wird sich Bocchini gesagt haben –, Giovanni Gentile zu überzeugen: einen Philosophen, den jedoch der Polizeichef keineswegs nur als Philosophen behandeln konnte. Allein das Ansinnen, in den Klöstern von Neapel und Umgebung nachzuforschen, in Süd- und Mittelitalien – warum nicht auch noch in Norditalien, in Frankreich, Österreich, Bayern und Kroatien? – hätte dem Senator Bocchini schon gereicht, diesen ganzen Fall zum Teufel zu wünschen – wäre da nicht dieser Senator Gentile. Von Nachforschungen in den Klöstern konnte jedenfalls keine Rede sein; sollten sich doch die Angehörigen des Verschwundenen an den Vatikan wenden, an den Papst. Dort würden ihre Bitten sicherlich mehr Gehör finden als ein Ersuchen der italienischen Polizei, des italienischen Staates. Alles, was Senator Bocchini tun konnte, war, auf Grund jener Zeugenaussagen und Indizien, die, wie Doktor Salvatore Majorana glaubte, es als so gut wie sicher erscheinen ließen, daß sein Bruder sich nicht umgebracht habe, neue und gründlichere Ermittlungen anzuordnen. 205
Die Unterredung fand unter Federführung des Sekretärs Seiner Exzellenz ihre Synthese und ihr Ende. Eine bewundernswerte Synthese, wie in allen Akten unserer Polizei: wo alles, was uns hinsichtlich Grammatik, Syntax und Logik jeder Folgerichtigkeit oder Übereinstimmung zu entbehren scheint, zu einer Sprache voller Andeutungen, verborgener Anspielungen und Vorschriften wird. So vermittelt uns das Dokument, das wir vor uns haben und zu entziffern versuchen, den Eindruck, und zwar den ganz richtigen Eindruck, daß man von der Politischen Abteilung, an die es gerichtet war, und den Polizeipräsidenten von Neapel und Palermo nichts anderes gewollt habe als die Bestätigung der einfachsten und glaubwürdigsten Hypothese: daß Professor Ettore Majorana sich umgebracht hatte. Der Ausgang der zusätzlichen Ermittlungen wäre damit von vorneherein entschieden. Betreff: Verschwinden (mit Selbstmordabsicht) des Prof. Ettore Majorana. Herr Salvatore Majorana, Bruder des seit dem 26.3. dieses Jahres verschwundenen Prof. Ettore Majorana, erstattet Bericht über zusätzliche Einzelheiten, die von den Familienangehörigen selbst erbracht werden konnten: Nach erfolgten Nachforschungen, unter Mitarbeit der Polizei (Quästur Neapel), waren in Neapel und Palermo keinerlei Ergebnisse zu verzeichnen gewesen. Prof. Majorana hat sich in Neapel nach Palermo eingeschifft, mit Selbstmordabsicht, wie aus hinterlassenen Briefen hervorgeht, und man nahm an, er sei in Palermo geblieben. Doch dieser Hypothese widerspricht die Tatsache, daß die Rückfahrkarte bei der Direktion der »Tirrenia« abgegeben wurde und daß
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er wahrend der Rückreise um fünf Uhr morgens in seiner Kabine schlafend gesehen wurde. Darauf wurde er Anfang April in Neapel, zwischen dem Palazzo Reale und der Galleria, als er von Santa Lucia heraufkam, von einer Krankenschwester, die ihn kannte und die auch die Farbe seines Anzuges gesehen und erraten hat, gesehen und wiedererkannt. In Anbetracht dieser Umstände, und da die Angehörigen nunmehr überzeugt sind, daß Prof. Majorana nach Neapel zurückgekehrt ist, verlangen sie, daß die Anmeldeformulare der Hotels in Neapel und Umgebung nochmals durchgesehen werden (Majorana schreibt sich mit dem ersten i lang, j, Majorana, so daß der Name bei anfänglichen Nachforschungen möglicherweise übersehen worden ist) und daß die Polizei von Neapel – die schon im Besitz eines Lichtbildes von ihm ist – ihre Nachforschungen intensiviere. Außerdem könnten noch Ermittlungen darüber angestellt werden, ob Majorana sich vom 27. März an in Neapel eventuell Waffen angeschafft hat.
Das offenkundige Versehen bei der Erwähnung des ersten langen i (= j) im Namen Majoranas, in dem überhaupt nur ein i vorkommt, fällt sofort auf, man kann es aber auch der Funktion zuschreiben, die man gewöhnlich einem Lapsus zuschreibt. Und zwar: seht doch mal, an was für verrückte Einzelheiten sich diese Angehörigen klammern! Nicht als Versehen oder Irrtum ist dagegen dieses »erraten« anzusehen, das dem »gesehen« der Farbe des Anzugs folgt. Hier handelt es sich um eine Beurteilung der Zeugenaussage der Krankenschwester: sie sagt, sie habe gesehen, hat aber nur erraten. Im übrigen zieht sich ständig die unausgesprochene
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Warnung durch diese »Dienst-Aufzeichnung«: Bedenkt, daß es die Familienangehörigen sind, die auf weitere Ermittlungen dringen; bedenkt, daß sie es waren, die diese Zeugenaussagen zusammentrugen; wir sind überzeugt, daß sich der Professor – wer weiß, wo und wie – das Leben genommen hat, und wie man schon das erstemal zu keinerlei Ergebnissen gekommen ist. so wird man auch durch neue Ermittlungen nichts erreichen. Die »Aufzeichnung« ist dreimal quer mit großen, ungeduldigen Schriftzügen überschrieben worden. Das erste Mal mit violettem Stift: Dringend berichten, das zweite Mal in grün: Den Polizeibehörden mitteilen, daß Seine Exzellenz die Intensivierung der Ermittlungen wünscht. Diese beiden Vermerke sind mit unleserlichen Namenszügen unterschrieben. Der dritte Vermerk ist das nicht, in blauer Farbe steht das Wort da: Erledigt. Aller Wahrscheinlichkeit nach bezeichnen die verschiedenen Farben die Stufen der Hierarchie: das Violett, das zu damaliger Zeit Zeichen einer raffiniert-altmodischen Raffiniertheit war (Anatole France hatte violette Tinte gebraucht, und fast alle Schriftsteller zwischen 1880 und 1930 hatten das, was die Kataloge der Antiquariate als »Einsendungen« bezeichnen, mit eine Tinte von liturgischem Violett geschrieben), stammte vielleicht von Bocchini selbst (ein Mann, von dem man damals sagte, daß er raffiniert, skrupellos und ein Lebemann war); das Grün mochte jemand gewählt haben, der sich servil, aber primitiv der Originalität des Vorgesetzten anzupassen suchte, vielleicht der Sekretär; und schließlich das schülerhafte, bürokratische Blau des Chefs der Polizei-Abteilung? 208
Auf der Rückseite des zweiten Blattes findet sich dann, mit der Feder geschrieben, der Vermerk: Mit Dr. Giorgi gesprochen, der sich eine Notiz gemacht und Maßnahmen getroffen hat. 23. 4. Atti (zu den Akten). Kaum fünf Tage nach derZusammenkunf t von Doktor Salvatore Majorana mit Senator Bocchini schließt dieses Wort – Atti – den Fall praktisch ab und überliefert ihn den Archiven. Später wird sich der Akte noch eine anonyme Mitteilung zugesellen, die unten am Rande von dem Polizeibeamten signiert ist, der sie in Augenschein genommen hat, datiert Rom, 6. August 1938 (das Fehlen der faschistischen Jahresangabe ist zu beachten: eine seltsame und grobe Unterlassungssünde, wenn sie von Amts wegen passiert ist): Immer im Hinblick auf Strömungen gegen die Interessen Italiens wird in manchen Kreisen vermutet, daß das Verschwinden von Majorana, eines Mannes von größter Bedeutung auf dem Gebiete der Physik und besonders des Radiums, des einzigen, der die Forschungen Marconis im Interesse der nationalen Verteidigung fortsetzen konnte, Ergebnis irgendeines dunklen Komplottes gewesen sei, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen* * Diese kurze Mitteilung ist bezeichnend für Herkunft und Niveau der meisten »Vertrauensleute«. Die Kreise, in denen damals der Verdacht entstehen konnte, daß es sich beim Verschwinden Majoranas um einen Spionagefall gegen die italienischen Interessen handeln könnte, konnten nur jene der niedrigsten Bürokratie sein, der Pförtner (Kategorie, der der anonyme »Vertrauensmann« höchstwahrscheinlich angehörte), der kleinen Krämer; gewiß nicht jene der Physiker, der Diplomaten, der hohen Militär- und Verwaltungshierarchie. So drängt sich der Gedanke auf, der Verdacht müsse entstanden sein, nachdem die Zeitung La Domenica del Corriere das Verschwinden Majoranas meldete, und zwar unter den Lesern dieser Wochenzeitung.
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Der anonyme Informant, offensichtlich spezialisiert im Beschnüffeln der Strömungen gegen die italienischen Interessen, war seiner Zeit um ein paar Jahre voraus, und wie alle Vorläufer wird ihn niemand ernst genommen haben. Diese Art Information hätte 1938 nicht einmal der deutsche oder amerikanische Geheimdienst ernst genommen, kaum der englische oder französische. Für die italienische Polizei, könnte man glauben, scheint es der Schlußstein im Fall Majorana gewesen zu sein: so irrsinnig muß ihr eine solche Hypothese erschienen sein. Tatsache ist, daß die Italiener über die von Marconi hinterlassenen und von ihm schon weit vorangetriebenen Forschungen fabelten, welche Italien in Ermangelung anderer, worüber man sich allmählich klar zu werden begann – im nächsten als nahe befürchteten Krieg unbesiegbar machen sollten. Insbesondere phantasierte man von einem »Todesstrahl«, der, als Versuch, von Rom aus auf eine Kuh in eine Waldlichtung bei Addis Abeba gesandt wurde. Es bleibt eine Erinnerung daran in jenem »Lexikon gängiger Ideen« unter dem faschistischen Regime, wie sie sich in der Komödie »Raffaele« des Sizilianers Vitaliano Brancati wiederfindet: - In Äthiopien ist eine Kuh gestorben! - Eine Kuh? In Äthiopien? … Und was ist Besonderes daran? - Man muß eben bedenken, warum sie gestorben ist, woran sie gestorben ist! - Und warum ist sie gestorben? - Weil Marconi in Äthiopien mit einem Todesstrahl expe-
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rimentiert haben soll, der erbarmungslos alle Tiere und Menschen tötet, die er auf seinem Wege trifft! - Ja? Dann haben wir's ja geschafft!
Aber es handelte sich eben nur um eine Phantasterei. Und Arturo Bocchini wußte das nur zu gut. II Der Bürger, der noch nie gegen die Gesetze verstoßen hat, dem auch von anderen noch nie ein Unrecht zugefügt worden ist, um diese Gesetze anzurufen, der Bürger, der so lebt, als sei die Polizei nur für Verwaltungsakte da, wie um Pässe oder Waffenscheine (für die Jagd) auszustellen, wird sehr rasch von einem Gefühl der Bestürzung, der Ungeduld, des Aufbegehrens ergriffen werden, wenn ihn die Lebensumstände unversehens dazu führen, mit ihr zu tun zu haben, sie in Anspruch zu nehmen für das, was sie als Institution ist. Die Überzeugung wird sich an ihm festsetzen, daß das bißchen öffentliche Sicherheit, das man genießt, sich mehr auf die spärliche und sporadische Tendenz der Menschen stützt, die ein Verbrechen begehen, als auf die Tüchtigkeit und den Scharfsinn der Polizei selbst. Eine Überzeugung, der eine gewisse Objektivität zugrunde liegt – mehr oder weniger den Zeitumständen, mehr oder weniger der Mentalität in den verschiedenen Ländern entsprechend. Wenn aber ein Mensch verschwindet, kann auch in der Angst und Ungeduld derjenigen, die ihn wiederfinden wollen, die Überzeugung völlig subjektiv sein –
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und also ungerecht. Und wir selbst geben ohne weiteres zu, der italienischen Polizei gegenüber ungerecht zu sein, ihr die Lustlosigkeit, die mangelnde Schärfe der Untersuchung zu verübeln, mit der sie die Ermittlungen über das Verschwinden von Ettore Majorana geführt hat. Sie führte sie überhaupt nicht, sondern ließ es zu, daß die Familienangehörigen sie führten, und beschränkte sich darauf – wie aus der »Aufzeichnung« hervorgeht, – an dem Fall »mitzuarbeiten« (und bis zu einem gewissen Punkt tat sie nur so, als arbeite sie mit). Und wir sind auch selber ungerecht, weil wir nach beinahe vierzig Jahren Majorana »wiederfinden« wollen – und nichts haben, um ihn »wiederzufinden«, als ein paar Papiere und spärliche Unterlagen in seiner Akte bei der »Direzione Generale di Pubblica Sicurezza« (der Sicherheitspolizei). Auf diesen wenigen Blättern erleben wir erneut die Angst, die Ungeduld, die Enttäuschung, die Verurteilung der Polizei wegen ihres Unvermögens und ihrer Unwirksamkeit, wie sie die Familienangehörigen von Ettore Majorana damals sicherlich viel dramatischer und schmerzhafter erlebt haben. Aber es gibt auch die Gründe der anderen, die Gründe der Polizei. Der Fall war, bürokratisch gesehen, nur ein »Betreff«, objektiv gesehen also der Fall eines Verschwindens mit Selbstmordabsichten. Es lagen zwei Briefe vor – einer an die Familie, der andere an einen Freund –, in denen diese Absicht ganz deutlich ausgesprochen war; in jenem an den Freund wurde sogar die Art und die Stunde angegeben, in der dieser Selbstmord stattfinden sollte. Daß diese Absicht dann am Abend des 25. März, um elf Uhr, im Golf von Neapel, nicht aus212
geführt wurde, besagte für die Polizei auf Grund ihrer Erfahrungen und der Statistik nur, daß sie später und anderswo ausgeführt wurde. Sich nun dafür einzusetzen, diesen Ort und diesen Zeitpunkt ausfindig zu machen, wäre reine Zeitvergeudung gewesen. Man konnte weder vorbeugen noch bestrafen: das Problem bestand einzig darin, einen Leichnam zu finden. Die Lösung eines solchen Problems war nur für die Familie wichtig und bestand im Sinne Pirandellos in der schmerzlichen und resignierten (im Laufe der Jahre immer resignierteren) Gewißheit, in der Trauerfeier, in den Nachrufen, im Anlegen der Trauerkleider, in der Errichtung und dem Besuch des Grabes. Dies war aber weder für die Polizei noch, wie die Amerikaner sagen würden, für die »Gesamtheit der Steuerzahler« wichtig. Selbst wenn man einräumen wollte, daß Ettore Majorana sich gar nicht umgebracht hatte, sondern sich nur verborgen hielt: dann bestand das Problem darin, einen Wahnsinnigen zu finden. Es lohnte sich also nicht, Leute der Polizei abzustellen, um eine Leiche zu suchen, die nur durch Zufall hätte gefunden werden können, oder aber einen Wahnsinnigen zu suchen, der früher oder später sowieso bemerkt und gemeldet werden würde (auch hier der Erfahrung und der Statistik zufolge). Daß Majorana nicht tot wäre oder daß er, wenn noch am Leben, nicht wahnsinnig wäre, wußte man nicht, konnte es sich nicht vorstellen, und nicht nur auf Seiten der Polizei. Die Alternative, die der Fall stellte, war also Tod oder Wahnsinn. Wenn sie sich über diese Alternative hinweggesetzt und auf die Suche nach einem lebendigen und, wie man sagt, im Vollbesitz seiner geistigen 213
Kräfte befindlichen Ettore Majorana begeben hätte, wäre die Polizei selbst dem Wahnsinn verfallen. Außerdem wäre in diesem Augenblick die Polizei keines Landes, und schon gar nicht die italienische, im Stande gewesen, irgendein vernünftiges und einleuchtendes Motiv hinter dem Verschwinden von Majorana zu vermuten; und keine Polizei wäre in der Lage gewesen, etwas »gegen ihn« auszurichten. Denn tatsächlich ging es doch darum: ein Spiel zu spielen gegen einen Mann von außergewöhnlicher Intelligenz, der beschlossen hatte, zu verschwinden, und der die Art seines Verschwindens mit mathematischer Genauigkeit berechnet hatte. Fermi wird später sagen: Wenn er bei seiner Intelligenz einmal beschlossen hätte, zu verschwinden oder seine Leiche verschwinden zu lassen, wäre ihm dies bestimmt geglückt. Nur ein Detektiv hätte ein solches »Spiel« in Angriff genommen: der Chevalier Charles Auguste Dupin in einer Geschichte von Edgar Allan Poe. Aber die Polizei, wie sie war, wie sie ist, wie sie gar nicht anders sein kann … Nun, es ist ein wenig wie in dem Gespräch über Professor Cottard, über den Arzt, über die Ärzte überhaupt, das Bergotte in Prousts Suche nach der verlorenen Zeit führt: Er ist ein Dummkopf. Was ihn, zugegebenermaßen, nicht hindert, ein guter Arzt zu sein, was mir aber doch ziemlich schwierig vorkommt, und was ihn ganz gewiß daran hindert, ein guter Arzt für Künstler zu sein, für intelligente Personen … Die Krankheit intelligenter Personen rührt ja zu drei Vierteln gerade von ihrer Intelligenz her. Sie brauchen einen Arzt, der sich zumindest über diesen Punkt im klaren ist. Wie sollte Sie denn jemand wie Cottard heilen können? Er
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hat Ihre Schwierigkeit bei der Verdauung von Saucen erkannt, Ihre Magenstörungen, aber er hat die Folgen Ihrer Lektüre von Shakespeare nicht vorhergesehen … Er wird bei Ihnen eine Magenerweiterung feststellen, und er braucht Sie erst gar nicht zu untersuchen, weil er diese Diagnose schon von Anfang an im Auge gehabt hat – man kann direkt sehen, wie sie sich in seinen Brillengläsern spiegelt.
Proust war nicht der Meinung, daß Cottard ein Dummkopf sei; und wir wollen ebensowenig behaupten, daß die Polizei mit Dummheit geschlagen sei. Aber wir können uns unmöglich vorstellen, daß das Drama eines intelligenten Mannes, sein Wille zu verschwinden, seine Gründe dafür sich anders in den Brillengläsern eines Polizeikommissars spiegeln können – selbst in den Brillengläsern von Bocchini – als ein Widerschein von Unverstand, von Wahnsinn. Der Rest ist Schweigen Daß Mussolini, durch eine »Bittschrift« der Mutter Ettores und einen Brief von Fermi informiert und mit dem Fall befaßt, die Ermittlungsakten von Bocchini verlangt und auf den Aktendeckel den Befehl hingehauen habe: Ich will, daß er gefunden wird!, was von Bocchini dann in gemäßigterer Handschrift mit der Anmerkung versehen wird: Die Toten findet man, es sind die Lebenden, die verschwinden können, daß der Verdacht einer Entführung oder einer Flucht ins Ausland aufgekommen sei, daß der Geheimdienst sich für den Fall interessiert habe, daß die Nachforschungen besonders eifrig, ja fieberhaft vorangetrieben worden seien – zu all dem blieben bei der Familie Majorana keine anderen Unterlagen
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als Abschriften der »Bittschrift« der Signora Majorana und des Briefes von Fermi. Es ist durchaus denkbar, daß die »Bittschrift« der Mutter einen gewissen Eindruck auf Mussolini gemacht hat; der Brief von Fermi tat das sicherlich nicht. Ende Juli 1938: Am 14. Juli war das Rassengesetz veröffentlicht worden. Fermi fühlte sich verunsichert, dachte schon ans Emigrieren. Das Regime befand sich ihm gegenüber in einer gewissen Verlegenheit; denn wie Meazza führend im Fußballspiel war, so war Fermi führend auf dem Gebiet der Physik, und dann war er Akademiker Italiens, der jüngste obendrein. Ein Knoten, der entwirrt oder durchschnitten werden mußte. Man kann sich die Erleichterung in Rom vorstellen, als Fermi den Nobelpreis entgegennahm, ohne den Arm zum römischen Gruß* zu erheben, und sich in aller Stil* Über den Verzicht auf den römischen Gruß von Fermi und den Händedruck, den er statt dessen mit dem König von Schweden tauschte, waren damals bissige Kommentare in den italienischen Zeitungen zu lesen. Für jemanden, der nicht unter dem Faschismus gelebt hat, ist es schwer, sich vorzustellen, welchen Unannehmlichkeiten man sich ausgesetzt sehen konnte, wenn man aus Zerstreutheit jemandem die Hand gab, anstatt den Arm zum römischen Gruß zu erheben. Es ist wiederum Brancati, der in seiner Komödie »Raffaele« darstellt, zu welchen beängstigenden, ja unlösbaren Problemen die Abschaffung des Händedrucks führen konnte. - Verzeiht, Federale, wenn der König in mein Dorf kommt, wie es den Anschein hat, und mir die Hand hinstreckt, was soll ich dann nur machen? - Wenn er Euch die Hand drücken will?.,. Ja, das ist schon ein Fall, den man gründlich überdenken muß … Kommt mal ein bißchen näher! Nehmen wir einmal an, ich sei der König. - Und ich, was bin ich? Ich frage ja nur, weil ich mich korrekt verhalten will. 216
le in die Vereinigten Staaten absetzte. Der Brief Fermis war zu diesem Zeitpunkt alles andere als opportun, er wirkte im Gegenteil eher schädlich. Auch wegen der Art, wie er formuliert war: von einem Eingeweihten an einen Ahnungslosen. Ich zögere nicht, Ihnen zu erklären, und ich übertreibe nicht, daß unter allen Gelehrten, italienischen und ausländischen, die ich Gelegenheit hatte, näher kennenzulernen,
- Ihr seid Ihr selbst: der politische Sekretär … Wie heißt Ihr doch gleich? - Gorgoni. - Der politische Sekretär Gorgoni … Grüßt mich! … Ich sage, grüßt mich! - Gruß dem König! - Nein, nein, nein, nein! … Ihr müßt sagen: Gruß dem Duce! - Aber Ihr seid doch der König! - Aber das ist für Euch gar nicht von Interesse. Ihr müßt sagen: Gruß dem Duce! - Gut, dann sage ich also das. - Bleibt mit erhobenem Arm einfach stehen! … Ich strecke Euch nun die Hand hin … Aber nein, nein, nein! … Schaut einmal zu, wir wechseln die Rollen! Ich bin Ihr. Ich bin der politische Sekretär Gorgoni – schaut mir jetzt aufmerksam zu! – und Ihr seid der König … Nein, Ihr seid zu groß! Setzt Euch mal hin! Kommt Ihr mal her, Scarmacca. Ihr seid jetzt der König … Nein, ich bin der König, undlhrseid der politische Sekretär Gorgoni. - Warum soll ich denn Gorgoni sein ? Ich mächt ' ich selber sein … vor dem König. - Na schön. Ihr seid also Ihr selber. Hebt den Arm. Ich strecke Euch die Hand hin, so … Hebt den Arm noch höher! - Und wenn der König, Gott bewahre, dann denkt, ich wollte ihm aus Arroganz die Hand nicht geben, und sich beleidigt fühlt? - Seine Majestät der König-Kaiser denkt nicht mehr … Kurz und gut, das sind doch Lappalien … Sachen, die in der Praxis nie vorkommen … Setzt Euch wieder! Aber wer stellt eigentlich solch dumme Fragen? 217
Majorana derjenige war, dessen geniale Begabung mich am meisten beeindruckt hat. Er war gleichermaßen befähigt, Hypothesen von außerordentlicher Kühnheit aufzustellen und die eigenen wie die Arbeiten anderer scharf zu kritisieren; ein erfahrener Rechner und profunder Mathematiker, der niemals hinter dem Schleier der Zahlen und Rechenverfahren den wirklichen Kern des physikalischen Problems aus den Augen verliert, verfügt Ettore Majorana in höchstem Grade über jene seltene komplexe Begabung, die den Typ des Theoretikers großer Klasse ausmacht …
Um wirklich etwas zu erreichen, wäre es viel wirksamer gewesen, wenn Fermi geschrieben hätte: Sie wissen selbstverständlich sehr gut, wer Majorana ist …, weil niemand im Italien des Jahres 1938 auch nur den leisesten Zweifel hegen konnte, daß Mussolini etwas nicht wüßte. Man kann sich leicht vorstellen, wie das auf einen kurzen Schlagaustausch hinauslief, während Polizeichef Bocchini dem Regierungsleiter einen seiner täglichen Berichte erstattete. Mussolini wird sich nach dem »Fall Majorana« erkundigt und gefragt haben, welche Ergebnisse die Ermittlungen bisher gezeitigt hätten. Und Bocchini wird erwidert haben, daß man nunmehr an einem toten Punkt angelangt sei, an einem toten Punkt im doppelten Sinne des Wortes: im Sinne der Polizei, die sich mit der Aussichtslosigkeit, diesen Fall zu lösen, inzwischen abgefunden hatte, und im Sinne seiner eigenen Überzeugung, die sich mit der der Polizei deckte: daß Professor Majorana tot sei. Bocchini wird auch gesagt haben, daß sich an die normalen Nachforschungen, die nach jeder Vermißtenanzeige
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angestellt werden, noch weitere, gründlichere, angeschlossen hätten, und zwar auf Empfehlung des Senators Giovanni Gentile. Auch die politische Polizei sei eingeschaltet worden, deren Scharfsinn und Korrektheit der Duce sehr wohl kannte und zu schätzen wußte. Wenn Mussolini sich damit nicht zufriedengegeben, wenn er wirklich befohlen haben sollte, daß die Suche fortgesetzt würde, wenn er tatsächlich gesagt hatte: Ich will, daß man ihn findet!, wird Bocchini ihm auch diesen unerfüllbaren Machtanspruch als einen Wahnsinnsanfall ausgelegt haben, von dem er ihn hinfort mit wachsender Besorgnis befallen sah. III Ich wurde am 5. August 1906 in Catania geboren und besuchte dort das humanistische Gymnasium bis zur Reifeprüfung 1923. Anschließend studierte ich in Rom Ingenieurwesen, bis zum Anfang des letzten Studienjahres. Da ich den Wunsch hegte, später rein wissenschaftlich zu arbeiten, habe ich im Jahre 1928 um eine Versetzung zur physikalischen Fakultät gebeten, die mir auch gewährt wurde, und dann 1929 in theoretischer Physik unter der Leitung Seiner Exzellenz Enrico Fermi promoviert. Das Thema meiner Doktorarbeit lautete: »Die Quantentheorie der radioaktiven Atomkerne«, wofür ich die Note summa cura laude erhielt. In den darauffolgenden Jahren habe ich als freier Mitarbeiter das Institut für Physik in Rom besucht, folgte der wissenschaftlichen Entwicklung und widmete mich theoreti-
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sehen Forschungen verschiedener Natur. Dabei war mir die anhaltende, kluge und anregende Anleitung S. E. des Prof. Enrico Fermi von großem Nutzen.
Diesen Bericht über seinen Ausbildungsgang schrieb Ettore Majorana im Mai 1932, offenbar zu einem bürokratischen Zweck. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die Anlage zu einem an den Nationalen Forschungsrat gerichteten Gesuch um Unterstützung für die Reise nach Deutschland und Dänemark, von deren Nutzen ihn Fermi überzeugt hatte. In diesem Schreiben fällt die nach bürokratischen Gesichtspunkten abträgliche Nonchalance bei der Erwähnung seiner eigenen Forschungen auf. Bezeichnend dafür ist die Formulierung: Forschungen verschiedener Natur – andere hätten die eigenen Forschungen minutiös aufgezählt; und die Definition als freier Mitarbeiter, die doch wohl ein wenig der Behauptung widerspricht, er hätte sich der anhaltenden, klugen und anregenden Anleitung Fermis erfreut. Man fühlt in diesen wenigen Zeilen etwas Gezwungenes, Forciertes: er mußte dem Drängen, dem Zureden der Freunde nachgeben, er mußte das tun, was die anderen taten, oder zumindest das, was die anderen von ihm erwarteten – das widerstrebende Bemühen eines unangepaßten Mannes, sich anzupassen. In Wirklichkeit hatte Majorana das Physikalische Institut ziemlich unregelmäßig besucht, auch war Fermi nicht sein wissenschaftlicher Führer. Arnaldi erzählt: Im Herbst 1927 und zu Beginn des Winters 1927/1928 sprach Emilia Segrè häufig in dem neuen Kreis, der sich
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wenige Monate zuvor um Fermi gebildet hatte, von der außergewöhnlichen Begabung Majoranas. Gleichzeitig versuchte Segrè, Majorana dazu zu bringen, seinem Beispiel zu folgen und zum Studium der Physik überzuwechseln, einer Fakultät, die viel eher seinen wissenschaftlichen Bestrebungen und seinen spekulativen Fähigkeiten entspräche als das Ingenieurwesen. Majoranas Übergang zur Physik erfolgte Anfang 1928, nach einem Gespräch mit Fermi, dessen Einzelheiten sehr geeignet erscheinen, einige Charakterzüge von Ettore Majorana zu beleuchten. Er kam ins Institut für Physijc in der Via Panisperna und wurde zu Fermis Studio geführt, wo sich auch gerade Rasetti befand. Damals sah ich Ettore zum ersten Mal. Von weitem wirkte er schmächtig und bewegte sich mit einer gewissen Schüchternheit, ja Unsicherheit; bei näherer Betrachtung fiel sein tiefschwarzes Haar auf, seine dunkle Hautfarbe, die leicht hohlen Wangen, die ungemein lebendigen, funkelnden Augen. Eigentlich sah er aus wie ein Sarazene (er glich, den Fotografien nach zu urteilen, Giuseppe Antonio Borgese; auch von Borgese sagte man, er habe das Aussehen eines Sarazenen gehabt). Fermi arbeitete damals an einem statistischen Modell, das später das Thomas-Fermi-Modell genannt wurde. Das Gespräch mit Majorana wandte sich den Forschungen zu, die im Institut gerade im Gange waren, und Fermi erklärte Majorana rasch den generellen Charakter des Modells und zeigte ihm Auszüge aus seinen neuesten Arbeiten zu diesem Thema, besonders die Tabelle, auf der die numerischen Werte der sogenannten »universellen Leistungskraft nach Fermi« (potenziale universale) zusammengefaßt waren. Majorana hörte interessiert zu, bat Fermi auch um einige Erläuterungen, und ging dann weg, ohne sich über seine Gedanken und
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Absichten zu äußern. Am späten Vormittag des folgenden Tages erschien er wieder im Institut, ging direkt in Fermis Studio und bat ihn ohne Umschweife, ihm doch nochmals die Tabelle zu zeigen, auf die er am Vortage einen kurzen Blick geworfen hatte. Nachdem er sie eingesehen hatte, zog er ein kleines Blatt Papier aus der Tasche, auf dem eine analoge Tabelle geschrieben war, die er zu Hause in den letzten vierundzwanzig Stunden berechnet hatte, wobei er, der Erinnerung Segrès zufolge, die nichtlineare Gleichung zweiten Grades von Thomas-Fermi in eine Gleichung von Riccardi verwandelte und darauf numerisch integriert hatte. Er verglich die beiden Tabellen miteinander, und nachdem er festgestellt hatte, daß sie vollständig übereinstimmten, sagte er, die Tabelle von Fermi stimme …
Er war also nicht gekommen, um nachzuprüfen, ob seine eigene, in den letzten vierundzwanzig Stunden (von denen er auch einige geschlafen hatte) errechnete Tabelle richtig war, sondern ob die stimmte, die Fermi in wer weiß wie vielen Tagen berechnet hatte. Ob ihm die Idee der Umwandlung der Gleichung Thomas-Fermi in die Gleichung Riccardi unwillkürlich gekommen war oder ob sie ein Urteil implizierte, wissen wir nicht. Nachdem Fermi die Probe bestanden hatte, wechselte jedenfalls Majorana zur Physik über und begann, das Institut in der Via Panisperna zu besuchen: regelmäßig, bis er promoviert hatte, danach viel seltener. Von seiner Beziehung zu Fermi ist anzunehmen, daß sie immer gleich geblieben ist, wie sie sich schon bei der ersten Begegnung abgezeichnet hatte: nicht nur von gleich zu gleich (Segrè wird später sagen, daß in Rom
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einzig und allein Majorana mit Fermi diskutieren konnte), sondern distanziert, kritisch, spröde. An Fermi und seiner ganzen Gruppe mußte irgend etwas gewesen sein, das in Majorana ein Gefühl des Andersseins, wenn nicht sogar des Mißtrauens auslöste, das sich zuweilen fast zu einem Antagonismus steigerte. Fermi seinerseits konnte wohl kaum etwas anderes als ein gewisses Unbehagen Majorana gegenüber empfinden. Bei den Wettkämpfen zwischen den beiden ging es um äußerst komplizierte Berechnungen, die Fermi mit dem Rechenschieber, an der Tafel oder auf einem Blatt Papier ausführte, Majorana hingegen im Kopf, ihm den Rücken zukehrend; und wenn Fermi sagte: Ich bin fertig!, nannte Majorana bereits das Resultat – diese Wettkämpfe waren in der Tat eine Art, eine latente, unbewußte Gegnerschaft auszutragen. Eine fast kindliche Art (man darf nicht vergessen, daß beide noch sehr jung waren). Wie alle »guten«, wie alle besseren Sizilianer neigte Majorana nicht dazu, sich einer Gruppe anzuschließen, sich mit anderen zu solidarisieren und dann in dieser Gemeinschaft zu bleiben (es sind die schlechten Sizilianer, die den Gruppengeist der »cosca«, der Mafia, besitzen). Und dann gab es zwischen der Gruppe der »Jungs aus der Via Panisperna« und Majorana noch einen grundlegenden Unterschied: daß Fermi und die »Jungs« suchten, während er einfach fand. Für jene war die Wissenschaft eine Willenssache, für ihn war sie Natur. Jene liebten sie, sie wollten sie erfassen und besitzen; Majorana »trug sie in sich«, vielleicht ohne sie zu lieben. Für Fermi und seine Gruppe war sie ein Geheim223
nis außerhalb ihrer selbst, das es zu enträtseln, aufzureißen, zu enthüllen galt. Für Majorana war sie ein Geheimnis, das er in sich trug, das tief in seinem Wesen wurzelte, ein Geheimnis, das zu fliehen Flucht aus dem Leben, ja Flucht des Lebens selbst bedeutet hätte. Bei einem frühreifen Genie – wie es eben Majorana war* – steht das ganze Leben wie unter einem unverrückbaren Maß: dem der Zeit, des Werkes. Ein Maß, das ihm gegeben ist, unverjährbar. Kaum ist in dem Werk eine Vollendung, eine Perfektion erreicht, kaum ein Geheimnis enthüllt, kaum eine perfekte Form erreicht – *Über die Frühreife Majoranas sind während der letzten Jahre zahlreiche Artikel in Tageszeitungen, Wochen- und Fachzeitschriften veröffentlicht worden. Auch Arnaldi spricht darüber in der biographischen Notiz, auf die wir uns oft beziehen (sie ist 1966 in Rom von der »Accademia Nazionale dei Lincei« in dem Band »Das Leben und Werk Ettore Majoranas« veröffentlicht worden). Andere Kinder ließ man damals Gedichte aufsagen, wenn Verwandte und Bekannte zu Besuch kamen – mit Vorliebe »La vispa Teresa« (Die muntere Therese), so daß der Dichter Trilussa sich einen Spaß daraus machte, das Gedicht zu verlängern: Ist dies die Geschichte / die einjährige Wichte / schon aufsagen müssen / werden wenige wissen / was im 20. Jahr / das Los der Teresa war. – Ettore gab man Rechenprobleme auf, zwei dreistellige Zahlen miteinander zu multiplizieren, Quadrat- und Kubikwurzeln zu ziehen, und das im Alter von drei, vier Jahren, als er noch nicht einmal Zahlen lesen konnte. Wenn ihm jemand eine Rechenaufgabe stellte, verzog sich der kleine Ettore unter einen Tisch, fast als ob er sich von allen anderen isolieren wollte, und gab von dort wenige Sekunden später das Ergebnis an. Unter den Tisch hockte er sich wohl, weil er sich da besser konzentrieren konnte, und vielleicht auch, weil er sich schämte, wie alle Kinder, die man zwingt, sich vor den Großen zu produzieren. Womöglich war ihm als Erwachsenem noch ein wenig von diesen kindlichen Hemmungen geblieben, so daß es ihm schwer wurde, die Resultate seiner Forschungen preiszugeben.
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und das heißt Offenbarung des Geheimnisses – in der Kategorie der Erkenntnis oder, annähernd gesagt, der Schönheit: ob in der Wissenschaft, in der Literatur oder Kunst –, schon tritt der Tod ein. Und weil das Genie ein vollkommenes »Einssein« mit der Natur ist, ein vollkommenes »Einssein« mit dem Leben, und Natur und Leben ein vollkommenes »Einssein« mit seinem Geist, weiß das frühreife Genie das auch – ohne es zu wissen. Jegliches Tun ist für es wie durchdrungen von dieser Vorwarnung, von dieser Furcht. Es spielt mit der Zeit, seiner Zeit, spielt mit seinen Jahren durch Täuschungen, durch Verzögerungen. Es versucht, das Maß zu dehnen, die Grenze zu verschieben. Es versucht, sich dem Werk zu entziehen, das, sobald es abgeschlossen ist, Abschluß bedeutet – Abschluß seines Lebens. Nehmen wir Stendhal. Sein besonderer Fall ist eine bis zum äußersten hinausgezögerte Frühreife. Überdies handelt es sich um einen Fall von doppelter Frühreife, denn frühreif sind seine Bücher auch im Verhältnis zu der Zeit, in der sie veröffentlicht wurden, im Verhältnis zu seiner eigenen Zeit. Dieser zweiten Frühreife ist sich Stendhal voll bewußt. Der anderen, vor der er sich fürchtet, sucht er auf jede mögliche Weise zu entfliehen. Er verliert Zeit. Bildet sich ein, aus karrieristischen und mondänen Ambitionen heraus zu handeln. Er tarnt sich. Versteckt sich hinter Plagiaten und Pseudonymen (was Vorder- und Rückseite der gleichen Medaille ist). Es ist ein Spiel, das ihm bis zu einem gewissen Punkte sogar glückt. Sagen wir, es gelingt ihm bis zur Niederschrift von De l 'amour (Über die Liebe, 1822). Als er dieses Buch schreibt, ist es aber schon klar, daß er kaum noch Chancen hat, sein Spiel weiter hinauszuziehen. 225
Noch ein paar Jahre des Widerstands – dann ist er gezwungen, in ganz kurzer Zeit alles zu schreiben. Er kann nichts mehr hinauszögern, es hilft ihm nichts mehr zu sagen: Ich bin nicht ich. Er sagt es zwar noch, wie unter dem Zwang des Trägheitsgesetzes. Aber Henry Brulard hat die präzise Funktion, Henri Beyle auszuliefern, ihn dem Tod zu überantworten; ihn so zu überantworten, wie er war, zwischen Kindheit und Jugend, zwischen dem Grenoble der Jahre der Revolution und Mailand in den Jahren des napoleonischen Feldzuges; das heißt, in der Zeit, die ihm zugemessen war für das Werk, dessen Vollendung hinauszuschieben, hinauszuzögern, zu fliehen ihm bis zur äußersten Grenze des Möglichen gelungen ist. Und von dieser Inkongruenz, von dieser bis zur Reife hinausgezögerten Frühreife, von diesem Lebenskern her, der wie unter Glas intakt und rein bewahrt wurde, von diesem Alter her, das drängend in ein anderes einbricht, rührt der Zauber einer jeden Seite Stendhals. Wir können hinzufügen, daß das sichere Zeichen der Frühreife Stendhals, seiner »verdrängten« Frühreife, die Natur seines Geistes ist (wobei wir diesen Ausdruck auch umdrehen können: der Geist seiner Natur), identisch mit der Natur anderer Frühreifer. Wie Giorgione, Pascal, Mozart, um uns auf die berühmtesten Fälle zu beschränken. Ein mathematischer Geist, ein musikalischer Geist. Ein »berechnender« Geist.* * In der Biographie und im Werk Stendhals lassen sich viele andere Zeichen in diesem Sinne finden, von denen wir hier einige regellos aufzählen. Von frühester Jugend an weiß Stendhal, daß er der Schriftsteller ist, der er später sein wird; sonst wäre sein Verhalten reiner
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Gänzlich anders gelagert als Stendhals Fall, doch die gleiche Wahrheit bekundend, ist der Fall des Evaristo Galois. Wie Stendhal, der alles tut, um die Vollendung seines Werkes hinauszuschieben, so verbringt der zwanzigjährige Galois die Nacht, die dem Duell vorausgeht, von dem er »weiß«, daß er sterben wird, damit, alles vorwegzunehmen: wie im Fieber preßt er in einem einzigen Brief an seinen Freund Chevalier das Werk, das ihm aufgetragen war, ein Werk, das nichts anderes sein kann als sein »Einssein« mit seinem Leben, zusammen: Die Theorie der algebraischen Gleichungen. Ohne es zu ahnen, tief im Unterbewußtsein, sucht Majorana wie Stendhal, das nicht zu tun, was er tun Größenwahn gewesen, eine Besessenheit bis zum ersten Anzeichen von Delirium, wenn er sich nicht auf die Werke gestützt hätte, die er später schreiben wird. Er weiß ganz genau, daß er viel zu sagen hat. Er bringt trotzdem den Willen auf, seine Zeit bewußt zu vergeuden, auch wenn er nicht genau weiß, warum, auch wenn er glaubt, diese Zeitverschwendung damit motivieren zu können, daß er eben zu viel zu sagen hat (1804 heißt es im Journal: J'ai trop a écrire, c'est pourquoi je n'écris rien.) Seine spätere Schreibwut nimmt sich dagegen wie ein Versuch aus, das Leben, das er durch die Kürze der dem Menschen zugemessenen Spanne bedroht fühlt, räumlich auszudehnen: seine Sucht, überall »Spuren des Lebens« zu hinterlassen, wo er nur Platz dafür findet (rührend, zwischen all den Sachen des »Fondo Bucci«, der sich jetzt an der »Sormani« von Mailand befindet, jene Puder- oder Tabakdose, deren Inneres ganz vollgekritzelt ist). Seine Geheimschrift ist eine Art, auf diese Spuren aufmerksam zu machen, sie zu verstecken, bedeutet, sie durch Geheimnis und Fragwürdigkeit interessanter und größer zu machen. Aber beides, Schreibwut wie Geheimschrift, gehören der Phase der Kindheit und der Jugend an: der Entdeckung der Schrift, ihrer Verinnerlichung und ihrer Wiederentdeckung. Ein Kind schreibt überall, ein Jugendlicher wird stets zur Erfindung einer »Geheimschrift« neigen. 227
muß, dem er nicht entrinnen kann. Direkt oder indirekt sind es Fermi und die »Jungs« von der Via Panisperna, die ihn mit ihren Mahnungen und ihrem Beispiel zwingen, etwas zu tun. Aber wenn er etwas tut, macht er es wie zum Spaß, wie bei einer Wette, mit Leichtigkeit, mit Ironie. In der Art eines jungen Mannes, der sich plötzlich, an einem Abend in der Gesellschaft von Freunden, als Zauberkünstler entpuppt, sich als Taschenspieler produziert, der sich aber sofort zurückzieht, sobald Applaus ausbricht, der sich fast entschuldigt und sagt, daß das ein ganz leichtes Spiel sei, das jeder zustande bringen könne. Dunkel aber fühlt er bei jeder Entdeckung, bei jeder Enthüllung, daß er sich dem Tode nähert. Daß »die« Entdeckung, die vollkommene Enthüllung eines Geheimnisses, das die Natur ihm anvertraut, der Tod sein wird. Er ist so »eins« mit der Natur wie eine Pflanze, wie eine Biene, aber im Unterschied zu diesen bleibt ihm ein – wenn auch nur geringfügiger – Spielraum, in dem er sie umgehen und täuschen kann, in dem er – wenn auch vergeblich – einen Ausweg, einen Fluchtpunkt suchen kann. Keiner von denen, die ihn kannten und ihm nahestanden und dann über ihn schrieben und erzählten, erinnert sich seiner anders als eines Mannes, der strano, der seltsam wirkte. Das war er wirklich: entfremdet, fremd. Vor allem dem Ambiente der Via Panisperna gegenüber. Laura Fermi sagt: Majorana aber hatte einen sonderbaren Charakter. Er war übertrieben schüchtern und in sich verschlossen. Am Morgen, wenn er mit der Straßenbahn ins Institut fuhr,
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begann er mit gerunzelter Stirn zu grübeln. Kam ihm dann eine neue Idee, ging ihm eine Lösung eines schwierigen Problems auf oder die Erklärung bestimmter Ergebnisse seiner Experimente, die zuvor ganz unerklärlich schienen, wühlte er in seinen Taschen, zog einen Bleistift und ein Zigarettenpäckchen heraus und bekritzelte es mit komplizierten Formeln. Von der Straßenbahn ging er, ganz in Gedanken versunken, mit gesenktem Kopf ins Institut, wobei ihm ein dichter Schöpf seiner schwarzen, zerrauften Haare bis in die Augen fiel. Dort suchte er nach Fermi oder Rasetti und erklärte ihnen an Hand des vollgekritzelten Zigarettenpäckchens seine Idee.
Aber kaum, daß die anderen ihm zustimmten, sich von seiner Idee begeistert zeigten, ihn drängten, sie zu veröffentlichen, zog sich Majorana wieder in sich zurück, murmelte etwas von Kindereien, über die es sich nicht zu diskutieren lohne, und warf, kaum hatte er seine letzte Zigarette geraucht (und es dauerte bei einem so starken Raucher wie ihm nicht lange, bis er bei der letzten der zehn »Macedonia« angelangt war), das leere Päckchen mit all seinen Berechnungen und seinen Theorien in den Papierkorb. Dort landete – durchdacht und durchgerechnet – die Theorie des Atomkernes (der sich aus Protonen und Neutronen zusammensetzt), ehe sie Heisenberg publizierte, die Theorie, die später nach Heisenberg benannt wurde. Man kann nicht ausschließen (und es scheint sogar nach einer gründlichen Prüfung seiner Arbeitshefte bestätigt), daß in ihm auch eine gewisse Neigung zur Mystifikation und zur Theatralik steckte: daß also seine Theorien ihn keineswegs plötzlich wie eine Art Er-
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leuchtung überkamen oder daß er die Berechnungen, mit denen er seine Kollegen verblüffte, nur einfach so in der Straßenbahn anstellte. Wahrscheinlich amüsierte es ihn, das Wasser der Wissenschaft vor den Augen derer, die nach ihm dürsteten, einfach wegzuschütten und in der Erde versickern zu lassen. Die Tatsache, daß er es wirklich wegschüttete und vergeudete, indem er eine Theorie, eines Nobelpreises würdig, und deren Neuheit und Tragweite ihm zweifellos bewußt waren, in den Papierkorb warf, kann zwar den Verdacht zur Mystifikation und Theatralik wecken, aber nur durch die Art, in der er es tat, nicht durch seine Beweggründe. Die Gründe waren tief und dunkel, waren »vitale« Gründe. Sie gehörten zum Selbsterhaltungstrieb. In doppeltem Sinne, wie wir heute sagen können: dem der Erhaltung der eigenen Existenz, aber auch der der gesamten Menschheit. Diese Episode von Majorana, der früher als Heisenberg die Theorie entwickelte, daß der Atomkern aus Protonen und Neutronen besteht, und sich nicht nur weigerte, sie zu veröffentlichen, sondern Fermi geradezu verbot, darüber auf einem Physikerkongreß zu sprechen, der in Paris abgehalten wurde (es sei denn, eine absurde Bedingung, Fermi wäre zu dem Scherz bereit, die Entdeckung dieser Theorie einem Professor der Elektronik zuzuschreiben, einem Italiener, vielleicht einem von der Universität Rom, den Majorana absolut gering schätzte und von dem man außerdem wußte, daß er bei dem Pariser Kongreß anwesend sein würde) – dieses Verhalten scheint uns ins Licht tiefsten »Aberglaubens« getaucht, jenes Licht, aus dem die Neurose hervorbricht; und gerade die Mystifikation, 230
die Theatralik, der »Scherz« sind ja die Kehrseite aller Neurosen. Als dann die Theorie Heisenbergs anerkannt und gefeiert wurde, teilte Majorana das Bedauern der anderen Physiker des römischen Institutes keineswegs, seine Theorie nicht schnellstens publiziert zu haben. Vielmehr brachte er dem deutschen Physiker ein Gefühl der Bewunderung entgegen (wozu sein Selbstbewußtsein beitrug) wie auch der Dankbarkeit (darin drückte sich seine Furcht aus). Heisenberg ist für ihn wie ein unbekannter Freund, der ihn, ohne es zu wissen, ohne ihn zu kennen, vor einer Gefahr gerettet, ihm ein Opfer erspart hat. Dies ist vielleicht der Grund, weshalb er dem Drängen Fermis leicht nachgibt: Er geht nach Deutschland, nach Leipzig. Zu Heisenberg. IV Einige Monate vor der Abreise Ettores nach Deutschland wurde endlich der ungeheuerliche Fall abgeschlossen, durch den der Name Majorana für immer in die Gerichtsannalen einging. Der Fall Majorana. Der Prozeß Majorana. Und wir nennen ihn ungeheuerlich auf Grund der damaligen Unterlagen, auf Grund des Plädoyers der Anklage wie der Verteidigung, denn mehr als das Verbrechen, durch das er ausgelöst wurde, scheint uns das Räderwerk der Justiz und der Gesellschaft ungeheuerlich, in das acht Jahre lang offensichtlich unschuldige Personen hineingezogen wurden – bis zur Vernichtung, bis zum Wahnsinn. Im Sommer 1924 verbrennt ein Kind in seiner Wiege, 231
zwischen der kleinen Matratze und dem Moskitonetz. Es verbrennt in Catania, im Hause des Antonio Amato, eines begüterten Mannes, dessen einziger Sohn das Kind war. Man denkt gar nicht an ein Verbrechen, bis angesichts der Reste der verbrannten Wiege der Verdacht aufkommt, der dann zur Gewißheit wird, daß eine brennbare Flüssigkeit über die Wiege geschüttet worden war. Von wem, findet man schnell heraus: von einem sechzehnjährigen Dienstmädchen, Carmela Gagliardi. Und weshalb ein so schreckliches Verbrechen? Das Mädchen erklärt: weil meine Mutter sich darauf versteift hatte, mich bei den Amatos in Stellung zu lassen, während ich in den Dienst der Platanias zurück wollte, an denen ich hing und die mich sehr gern hatten. Diese Erklärung, weil überzeugend, überzeugt nicht. Das ungeheure Mißverhältnis zwischen Motiv und Tat, typisch für Dienstbotenverbrechen, wie sie ein französischer Kriminalist benannt und erforscht hatte, erweckte in Amato, früher als bei der Polizei, einen bestimmten Verdacht. Er hatte Auseinandersetzungen wegen der Teilung des väterlichen Vermögens mit seinen Schwestern und Schwägern. Die Schwäger – die Brüder Giuseppe und Dante Majorana, Juristen, Persönlichkeiten von Autorität und Ansehen in und außerhalb der Stadt – hatten ihn auf legalem Weg zur Auszahlung jenes Erbteils gezwungen, welches den Kindern selbst gegen den Willen des Erblassers nicht vorenthalten werden kann – des »Pflichtteils«. Die Angelegenheit hatte sich auf folgende Weise abgespielt: Die Schwestern, und das heißt praktisch die Schwäger, hatten in wohlwollender Schlichtungsab232
sieht nur, sagen wir fünf, verlangt, der Bruder hatte eins geboten. Als sie daraufhin auf einem gerichtlichen Urteil bestanden, wurden ihnen sieben zugesprochen, und der Bruder sah sich gezwungen, sie auszubezahlen. Auf seiten der Schwestern und Schwäger mußte also Befriedigung geherrscht haben, weil sie mehr erhalten als gefordert hatten. Im Herzen Amatos hingegen mochten sich Wut und Groll eingenistet haben, weil er hatte zahlen müssen. Und dieses Gefühl, dieses irrationale Ressentiment, spiegelte sich zweifellos in dem Schmerz um sein auf so grauenvolle Weise umgekommenes Kind und projizierte sich auf die Schwestern, auf die Schwäger: und so ließ er in denen, die die Ermittlungen führten, den Verdacht aufkeimen, das Mädchen habe im Auftrag gehandelt. Es gehört nicht viel dazu, einem sechzehnjährigen Mädchen, das von seinen Familienangehörigen nicht geliebt wird, sogar ein Opfer ist – allein, verlassen, noch mehr von der Scham als von Reue über seine Tat bedrückt –, die Aussage abzuringen, es sei zu dieser Tat angestiftet worden. Die Idee, die man während der Vernehmungen in ihrem Hirn hatte aufblitzen lassen, daß nämlich die Existenz eines Anstifters, eines Auftraggebers ihre Schuld mildere oder sie davon sogar gänzlich freispreche, verschmolz mit einem plötzlich ausbrechenden Rachedurst gegenüber ihrer Familie (der Mutter, die sie gezwungen hatte, bei den Amatos in Dienst zu bleiben, und sie schlug, wenn sie wagte, sich dagegen aufzulehnen; dem Bruder, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen; der Schwester, die zu Hause herumfaulenzte und mit einem jungen Mann verlobt war, in den Carmela 233
sich verliebt hatte und der ihr eine gewisse Aufmerksamkeit bezeigte), all dies brachte sie soweit, anzuklagen, immer wieder anzuklagen. Und als ersten klagte sie Rosario Sciotti an, den Verlobten ihrer Schwester: damit auch er im Gefängnis landen und ihre Schwester ihn nicht bekommen würde. Sciotti war es gewesen, sagte sie aus, der ihr die Flasche mit dem flüssigen Brennstoff gegeben hatte, den sie über die Wiege ausleeren sollte. Und ihr Bruder und ihre Mutter waren es gewesen, die sie dazu zwangen, Sciotti zu gehorchen. Aber den Untersuchungsrichtern genügte das nicht. Gut – Sciotti hatte ihr den Auftrag gegeben; er hatte ihr die Flasche gebracht (eine Viertelliterflasche aus farblosem Glas, mit einer Flüssigkeit gefüllt, die ihrem Geruch nach Petroleum zu sein schien). Aber von wem hatte Sciotti den Auftrag bekommen, der selbst keinerlei Motiv hatte, den Tod des Kindes zu wollen? So griff das Mädchen, von allen Seiten eingeflüstert, einen Namen heraus: Majorana. Aber Giuseppe oder Dante, wer von den beiden Schwägern Amatos? Tage, wir vermuten sogar Monate der Unentschiedenheit folgten. Dann fällt die Wahl auf Dante. Man nimmt Giovanni Gagliardi, den Bruder Carmelas, und die Mutter, Maria Pellegrina, fest. Sie leugnen. Fahren verzweifelt fort zu leugnen. Und solange sie leugnen, ist es nicht möglich, Majorana festzunehmen. Monate vergehen, Jahre. Im Gefängnis schließen die drei Freundschaften, finden Ratgeber. Keine desinteressierten Ratgeber, da die Verteidiger Majoranas Amato ausdrücklich der Bestechung anklagten, die 234
er im Gefängnis durch Mitglieder der catanesischen Unterwelt (Malavita) leicht habe ins Werk setzen können. Und sie wurden dazu gebracht – Sciotti, Gagliardi, die Pellegrina –, die Anklagen des Mädchens zuzugeben. So geschieht es, daß sie sich im Verlaufe des Prozesses, der ihnen lebenslängliches Zuchthaus eingebracht hätte, für schuldig erklären und dann uferlos Namen angeben, von Komplizen, von Anstiftern, von Auftraggebern. Eine lange Kette. Als erstes Glied in der Kette Dante und Sara Majorana, welche, nach den Worten Sciottis, ihn nicht nur mit dem Verbrechen beauftragt, sondern ihm auch die Rasche mit dem Brennstoff übergeben hatten: eine grünliche Flasche, mit Benzin gefüllt. Wieso dann die Flasche weiß geworden war, als sie in die Hände Carmelas kam, mehr nach Petroleum als nach Benzin roch und wie – beiden widersprechend – die Sachverständigen bei der Analyse der Reste Spuren von Brennspiritus festgestellt hatten – um die Entwirrung dieses Knotens hatten sich weder Polizei noch Untersuchungsrichter je bemüht. Hier muß man anerkennen, daß die keineswegs desinteressierten mitgefangenen Winkeladvokaten, welche Sciotti, Gagliardi und die Pellegrina dazu gebracht hatten, sich selbst anzuklagen und andere anzuklagen, technisch – von jedem moralischen Einwand einmal abgesehen – den Gefangenen den einzigen Rat erteilten, durch den deren verzweifelte Situation zu entflechten war. Festgenagelt durch die Anklagen des Mädchens (das in doppeltem Sinne für wahrhaft gehalten wurde, nach zwei Kriterien, welche wir in der Praxis der Justiz als üblich betrachten dürfen: daß Minderjährige und besonders Kinder stets die Wahrheit sagen; und daß ein 235
Angeklagter oder ein Zeuge viel eher bei der ersten Aussage lügt als bei der zweiten), gab es für sie keine andere Rettung, als anzuklagen, als so viele Personen, wie sie nur irgend konnten, mit hineinzuziehen, bis zum Wahnwitz, bis zur Absurdität. Nur wenn die absolute Absurdität erreicht war, konnte der Prozeß, wie eine Montgolfière, wieder auf den Boden des gesunden Menschenverstandes, der Wahrheit zurückfallen. So geschah es. Vom 4. April bis zum 13. Juni 1932 – Dante und Sara Majorana saßen seit drei Jahren im Gefängnis, die andern seit acht; Giovanni Gagliardi war in der Zwischenzeit irrsinnig geworden – fand das Schwurgericht in Florenz zu jenem Krümchen Wahrheit zurück, zu der elenden traurigen Wahrheit des Dienstbotenverbrechens. Verzweifelt weinend bekannte Carmela Gagliardi, mittlerweile eine Frau: »Ich allein bin schuldig!« Und nur ihr Weinen, ihre Reue erinnerten daran, daß im Mittelpunkt dieses Labyrinths von Haß, Lüge, Verzweiflung der kleine Cicciuzzu Amato gestanden hatte, das Kind, das in seiner Wiege verbrannt war. Laura Fermi sagt: Majorana hatte seine Besuche im römischen Institut fortgesetzt und arbeitete dort auf seine eigentümliche, sprunghafte Art weiter, bis er 1933 für ein paar Monate nach Deutschland ging. Nach seiner Rückkehr nahm er seinen Platz im Rahmen des Institutes nicht wieder ein; selbst bei seinen alten Gefährten mochte er sich kaum mehr blicken lassen. Sicherlich mußte der tragische Schicksalsschlag, der die Familie Majorana getroffen hatte, an der Verstörtheit seines Charakters mitschuldig sein. Ein Kind in den Windeln, Vet-
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ter von Ettore, war gestorben, in seiner Wiege verbrannt, die unerklärlicherweise Feuer gefangen hatte. Man sprach von einem Verbrechen. Ein Onkel Ettores und des Kleinen war angeklagt worden. Ettore machte es sich zur Aufgabe, die Unschuld seines Onkels zu beweisen. Mit großer Entschlossenheit schaltete er sich persönlich in den Prozeß ein, beriet sich mit den Anwälten, kümmerte sich um jede Einzelheit. Der Onkel wurde freigesprochen; aber die Anspannung, die Sorge wirkten weiter; die Aufregungen, die der Prozeß mit sich brachte, mußten im Falle eines so sensiblen Menschen wie Ettore zwangsläufig bleibende Spuren hinterlassen.
Die Erinnerung von Laura Fermi ist ungenau. Zwischen Ettore Majorana und dem Kind bestand keine Verwandtschaft. Die Wiege hatte nicht unerklärlicherweise Feuer gefangen. Der blutjunge Ettore übernahm keinesweges die Rolle des Erforschers, des Koordinators, der Führungsfunktion bei den Anwälten der Verteidigung; das hätte er schon in Anbetracht seiner Jugend und der Struktur einer sizilianischen Familie gar nicht gekonnt. Er wird ohne Zweifel über das Problem »meditiert« haben (ein Ausdruck, der in seinen Briefen immer wiederkehrt, wenn er von einer Schwierigkeit spricht, die es zu überwinden gilt). Aber gerade weil er sich dem Fall wie einem Problem näherte, ist anzunehmen, daß er es aus größerer Distanz und mit weniger Angst empfand als die übrigen Familienmitglieder. Auch daß sich die Rechtsanwälte seine Beweisführungen, seine Lösung des Problems zu eigen gemacht hätten, ist ganz und gar unwahrscheinlich. Da alle »juristische Koryphäen« waren – außer Roberto Farinacci, dessen berufliche Bedeutungslosigkeit aller-
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dings durch seine zu fürchtende politische Macht mehr als aufgewogen wurde –, kann man sich leicht vorstellen, mit welcher Kälte, sogar Verachtung sie sich jede »laienhafte« Anregung verbeten hätten. In der Erinnerung von Laura Fermi fällt auch eine gewisse Ungenauigkeit in der Schilderung der Abfolge der Ereignisse auf, so in der Frage, ob sie vor oder nach der Reise Ettores nach Deutschland lagen. Aber gerade weil sich alles vorher abgespielt hatte, können wir auf Grund der Briefe aus Deutschland wie an Hand der Aussagen der Angehörigen sagen, daß das Ereignis, so nachhaltig und so lange es auch die ganze Familie in Leid und Bedrängnis versetzt haben mag, in Ettore Majorana selbst keine Spur von Verwirrung oder gestörtem seelischen Gleichgewicht hinterlassen hatte, wie seine engeren Freunde im römischen Institut und Laura Fermi zu glauben geneigt sind. Nach Ansicht einiger Freunde, sagt Edoardo Arnaldi, habe dieses Ereignis die Haltung Ettores dem Leben gegenüber entscheidend beeinflußt: aber die Brüder, die sich alle sehr genau an diese Zeit erinnern, schließen das aufs entschiedenste aus. Das will besagen, daß selbst er, Arnaldi, der zu den wenigen gehörte, mit denen Majorana nach seiner Rückkehr aus Leipzig noch verkehrte, nicht zu sagen vermag, ob jenes Ereignis überhaupt eine Rolle bei der zunehmenden Verdüsterung und Menschenfeindlichkeit des Freundes spielte oder nicht. Die Versuchung, nun die Hypothese aufzustellen, daß diese Ungewißheit, diese Widersprüchlichkeit einen tiefen Grund, eine tiefe Funktion haben könnten, ist ziemlich verlockend. Diejenigen, die Ettore Majorana nahestanden und »sich erinnern«, schrecken vor 238
der Vorstellung zurück, er könnte in der Wissenschaft, die er betrieb, die er »in sich trug«, etwas Grauenerregendes, etwas Schreckliches erblickt (erahnt, vorausgesehen) haben, eine Vision von Feuer und Tod. Genau das ist es, was sie in ihrem Bewußtsein, in ihrem Wissen sich weigern zuzugeben, etwas, was sie ausdrücklich verneinen, genau dies taucht wieder auf wie ein Lapsus memoriae, ein Gedächtnisfehler, wie ein echtes Mißverständnis. Sie sind nun bemüht, Ettore Majorana einem Bilde anzunähern, das auf »jenes andere« hindeutet, einem Bild, das schließlich wie ein Emblem, wie ein Symbol, »jenes andere« enthält. Das Kind, das in seiner Wiege verbrennt: das Bild besitzt, um einen Ausdruck zu bemühen, der in die Atomphysik und in die Forschungen Majoranas gehört, eine unaufhaltsame »Austauschkraft«. Nicht nur für diejenigen, die die Geschichte der Atomforschung erlebt haben und davon gezeichnet sind, sondern auch für alle, die sich dem Leben Ettore Majoranas, dem Geheimnis seines Verschwindens nähern. V Die Begegnung mit Heisenberg ist, wie wir glauben, das bezeichnendste, das wichtigste Ereignis im Leben Majoranas gewesen, und zwar mehr auf menschlicher als auf wissenschaftlicher Ebene. Wohlverstanden: auf Grund dessen, was wir von seinem Leben dokumentarisch wissen, denn das, was wir nicht wissen, erweckt in uns die Vorstellung einer weiteren, bedeutenderen Begegnung. 239
Er kommt in Leipzig am 20. Januar 1933 an. Eine häßliche Stadt, aber ihm genügt ein Gang ins Physikalische Institut, um sie sympathisch zu finden. Am 22. schreibt er an die Mutter: Im Physikalischen Institut hat man mich sehr herzlich empfangen. Ich hatte eine lange Unterredung mit Heisenberg, der ein ungewöhnlich höflicher und sympathischer Mensch ist. (Im selben Brief spricht er von der lieblichen Lage des Instituts »zwischen Friedhof und Irrenanstalt.«) Am 14. Februar, wieder an die Mutter: Ich stehe in bestem Einvernehmen mit Heisenberg. Und am 18. desselben Monats an den Vater: Ich habe einen Artikel über die Struktur der Kerne geschrieben, der Heisenberg sehr gefallen hat, obwohl er einige Korrekturen an einer seiner Theorien enthält. Vier Tage später an die Mutter: Im letzten »Kolloquium«, einer wöchentlichen Vereinigung von etwa hundert Physikern, Mathematikern, Chemikern usw., hat Heisenberg über die Kerntheorie gesprochen und mich sehr gelobt, auf Grund einer Arbeit, die ich hier gemacht habe. Wir haben uns infolge vieler wissenschaftlicher Diskussionen und einiger Schachspiele ziemlich angefreundet. Gelegenheit dazu bietet sich bei dem Empfang, den er jeden Dienstagabend für die Professoren und Studenten des Institutesfür Theoretische Physik gibt. Der amerikanische Physiker Feenberg, zu dieser Zeit ebenfalls Gast des Leipziger Institutes, hat sich in einem Gespräch mit Arnaldi an ein Seminar über die Kernkraft erinnert, in dem Heisenberg den Anteil erwähnte, den Majorana an der Forschung hatte. Er, Heisenberg, sagte auch, daß Majorana anwesend sei und er ihn aufgefordert habe einzugreifen. Natürlich kam Majorana dieser Aufforderung nicht nach: unter vier Augen mit
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Heisenberg, mag sein, aber angesichts einer Menge von hundert Personen … Vielleicht handelt es sich um das »Kolloquium«, von dem er in dem Brief an den Vater spricht: er erwähnt seine Weigerung, das Wort zu ergreifen, nicht, was sicher von dem Vater nicht gebilligt worden wäre. Was das Schachspiel betrifft, war Majorana darin Meister von Kindheit an, wir finden ihn mit sieben Jahren in dem Bericht einer Zeitung aus Catania. Von Heisenberg schreibt er fast in jedem Brief. Am 28. Februar, an den Vater, sagt er, daß er sich noch zwei oder drei Tage in Leipzig aufhalten müsse, bevor er nach Kopenhagen ginge, weil er das Bedürfnis habe, mit Heisenberg zu plaudern. Seine Gesellschaft ist so unersetzlich und ich möchte, solange er hier bleibt, von ihr profitieren. Drei Monate später berührt er das Plaudern wieder. Heisenberg, sagt er, liebt meine Plauderei und bringt mir geduldig das Deutsche bei. Der Gebrauch dieser Ausdrücke – plaudern, Plauderei – hat, wie wir glauben, eine doppelte Funktion: einmal sicherlich, um die Themen, über die er mit Heisenberg diskutiert, zu verharmlosen, abzuwerten (eine Haltung, die er hinsichtlich der Wissenschaft konsequent einnimmt und die in Wirklichkeit ein gegenteiliges Gefühl aufzeigt), und zum anderen möglicherweise, um den Familienangehörigen zu zeigen, daß sich sein Charakter, sein Verhalten während seines Aufenthaltes in Leipzig gewandelt hätten. Schweigsam und spröde, wie sie ihn kannten, plaudert er in Leipzig mit Heisenberg in liebenswürdiger Weise. Aber nur mit Heisenberg, denn der dänische Physiker Rosenberg, der sich auch in jenen Monaten in Leipzig aufhielt, erinnert sich, nur ein einziges Mal 241
Majoranas Stimme gehört zu haben, in einem ganz kurzen Satz. Wenn er mit Heisenberg über Literatur oder wirtschaftliche Probleme, Seeschlachten oder Schachspiel gesprochen hätte, Dinge, die ihn leidenschaftlich interessierten und denen er spekulativ nachging, wäre das kein Plaudern gewesen. Er sprach mit Sicherheit von Kernphysik. Aber gleichfalls bestimmt in anderer Weise, mit anderen Implikationen, als er darüber mit Fermi oder Bohr, mit den Physikern des Leipziger oder des römischen Institutes hätte sprechen können (und offensichtlich nicht wollte). Mit den anderen Physikern war sein idealer Verkehr jener Art, wie er ihn im römischen Institut eingeführt hatte und im Leipziger Institut mit dem Amerikaner Feenberg fortsetzte: Majorana sprach kein Englisch, Feenberg kein Italienisch, aber sie waren stets beisammen, arbeiteten an demselben Tisch und verständigten sich, indem sie sich in langen Zwischenräumen auf ein Stück Papier geschriebene Formeln zeigten (Arnaldi). Mit Heisenberg war der Kontakt vollkommen anderer Art. Der Grund lag, wie wir rückblickend zu durchschauen glauben, in der Tatsache, daß Heisenberg das Problem der Physik lebte, seine Forschungen in einem weiten und dramatischen Kontext von Gedanken stand. Er war, um es banal zu sagen, ein Philosoph. Wer, wenn auch nur summarisch (wie wir, schon um voranzukommen), die Geschichte der Atomphysik, der Atombombe kennt, ist in der Lage, diese einfache und peinliche Feststellung zu treffen: daß sich diejenigen frei verhielten, d.h. wie freie Männer, die Wissenschaft242
ler, die es nach objektiven Bedingungen nicht waren, und daß sich diejenigen wie Sklaven verhielten und Sklaven wurden, die durch die objektiven Bedingungen frei waren. Frei waren jene, die sie nicht machten, Sklaven jene, die sie machten. Und zwar nicht durch die Tatsache, ob sie sie herstellten oder nicht herstellten, was die Frage auf die praktischen Möglichkeiten, sie herzustellen, beschränken würde, die jene nicht hatten, diese aber hatten – sondern hauptsächlich, weil die Sklaven ihr mit Sorge, Angst und Grauen gegenüberstanden; während die Freien sie ohne Zögern, ja manchmal sogar mit einem Anflug von Freude, planten, konstruierten, vervollkommneten und sie, ohne Bedingungen oder Auflagen zu machen (was wenigstens bei einer möglichen Nichtbefolgung ihre Verantwortung abgeschwächt hätte), Politikern und Militärs übergaben. Die Sklaven hätten sie Hitler überantwortet, einem kaltschnäuzigen und wahnsinnigen Diktator, während die Freien sie Truman überantworteten, einem Mann von »gesundem Menschenverstand«, der den »gesunden Menschenverstand« der amerikanischen Demokratie repräsentierte: das macht keinen Unterschied. Denn Hitler hätte genauso entschieden, wie Truman entschieden hat, d.h. die verfügbaren Bomben in Städten explodieren zu lassen, die sorgfältig »wissenschaftlich« ausgewählt wurden unter den im Feindesland erreichbaren Städten, deren totale Zerstörung man im voraus hatte berechnen können (unter den »Empfehlungen« der Wissenschaftler: daß das Objekt den Durchmesser von einer Meile habe und dicht bebaut sei, daß es dort einen hohen Prozentsatz von Holzbauten gäbe, daß es bis jetzt noch keinen Bombenangriff 243
erlitten habe, so daß man sich der Wirkung dieses einzigen und definitiven mit der größten Präzision sicher wäre).* Unter jenen, die für Hitler die Atombombe hätten herstellen können, war Werner Heisenberg zweifellos der bedeutendste. Die Physiker, die in Amerika an ihrer Herstellung arbeiteten, glaubten bis zur Besessenheit, daß er sie bereits herstelle. Einer von ihnen, im Gefolge der amerikanischen Vorhut, der zur Jagd auf die deutschen Physiker geschickt war, suchte ihn fieberhaft in dem ganzen Teil Deutschlands, das die Alliierten gerade im Begriff waren zu besetzen, in der Vorstellung, daß da, wo Heisenberg wäre, auch die Werkstatt der Atombombe sein müsse. Aber Heisenberg hatte nicht nur das Projekt der Atombombe nicht angesteuert (lassen wir beiseite, ob es ihm gelingen konnte oder nicht, sie herzustellen; planen konnte er sie jedenfalls), sondern hatte die Kriegsjahre in der schmerzlichen Sorge verbracht, daß die anderen, auf der anderen Seite, im Begriff waren, sie herzustellen. Keine unbegründete *Die organisatorische Struktur des »Manhattan Projekts« und der Ort, an dem dieses Projekt realisiert wurde, nehmen für uns das Bild der Einzelhaft und der Sklaverei an, analog zu dem der Vernichtungslager Hitlers. Wenn man das Geschäft des Todes betreibt – auch wenn er für andere bestimmt ist –, wie man es in Los Alamos betrieb, steht man auf der Seite des Todes, ist selber des Todes. In Los Alamos hat man genau das neu geschaffen, was man zu bekämpfen glaubte. Zwischen General Groves, dem im »Manhattan Projekt« mit vollen Machtbefugnissen ausgestatteten Administrator, und dem Physiker Oppenheimer, dem Leiter der atomaren Laboratorien, bestand in der Tat das gleiche Verhältnis, wie es sich in den Konzentrationslagern zwischen manchen Gefangenen und dem Kommandanten bildet. Für diese Gefangenen stellte die Mitarbeit, der »Kollabora244
Sorge, leider. Und er versuchte, wenn auch ungeschickt, jenen anderen zu verstehen zu geben, daß er und die in Deutschland verbliebenen Physiker nicht die Absicht hätten, noch in der Lage wären, sie herzustellen. Wir sagen ungeschickt, weil er glaubte, sich des dänischen Physikers Bohr als Vermittler bedienen zu können, der sein Lehrer gewesen war. Aber Bohr stand schon 1933 in dem Rufe, kindisch geworden zu sein; so schrieb Majorana von ihm an den Vater und später an die Mutter, von Leipzig aus, bevor er ihn kannte – folglich mußte er es von Heisenberg gehört haben oder von einem aus dessen Kreis –, und aus Kopenhagen, nachdem er ihn kennengelernt hatte: Am 1. März werde ich mich zu Bohr nach Kopenhagen begeben, dem größten Inspirator der modernen Physik, jetzt ein wenig alt und spürbar kindisch geworden … Bohr ist für etwa zehn Tage verreist. Er ist im Augenblick mit Heisenberg im Gebirge, um sich auszuruhen. Seit zwei Jahren grübelte er hartnäckig über dasselbe Problem nach, und in letzter Zeit waren die Zeichen der Ermüdung an ihm sehr deutlich zu sehen. Stellen wir uns tionismus«, eine andere Art dar, Opfer zu sein im Vergleich zu den übrigen Opfern. Für ihre Peiniger eine andere Art, Peiniger zu sein. Oppenheimer ist tatsächlich so zerstört aus Los Alamos herausgekommen wie ein gefangener »Kollaborateur« aus einem Vernichtungslager Hitlers. Sein Drama – das uns keineswegs rührt, dem wir nur den Wert eines Gleichnisses, einer Lektion, einer Warnung für die anderen Wissenschaftler beimessen – ist in Wirklichkeit das auf individuellem Niveau gelebte subjektive Drama eines unseligen »Kollaborateurs«, das viele Tausende Personen betroffen hat (in dem Sinne, daß sie dadurch umgekommen sind). Hoffen wir, daß der Tod nicht noch weitere und noch größere Ernten einbringt, dank diesem keineswegs gebrochenen »Kollaborationismus«. 245
sieben Jahre später vor, 1940. Er begriff genau das Gegenteil von dem, was Heisenberg den Kollegen, die in den Vereinigten Staaten arbeiteten, vorsichtig zu verstehen geben wollte.* Jedenfalls würde in einer menschlicheren Welt, die in der Wahl ihrer Werte und Mythen umsichtiger und gerechter wäre, die Figur Heisenbergs mehr und in noblerer Weise herausgestellt worden sein, mehr als andere, die in seinen Jahren auf dem Felde der Kernphysik arbeiteten, mehr als jene, die die Bombe herstellten, sie weitergaben, mit Jubel die Nachricht ihrer Auswirkung aufnahmen und erst nachher (aber nicht einmal alle) Verwirrung und Gewissensbisse empfanden. VI In Deutschland hatte er, von Heisenberg angespornt, die Arbeit über die Kerntheorie, von der er in einem der Briefe spricht, in der Zeitschrift für Physik veröffentlicht. Sonst tat er nichts. Er lernte auch nichts außer Deutsch. Das, was in jenen Monaten in Deutschland geschieht *Obwohl Majorana auch noch weitere Einzelheiten über Bohrs Verkindlichung gab, so bezeugt doch die Tatsache, daß die Alliierten während des Krieges alles daran setzten, ihn aus dem von den Deutschen besetzten Dänemark herauszuholen, daß er nicht völlig kindisch geworden sein konnte. Vielleicht erweckte nur seine außerordentliche und ständige Zerstreutheit den Anschein von Verkindlichung. Doch kindisch oder zerstreut – auf alle Fälle scheint es gewiß, daß er die Rede von Heisenberg eher als Drohung aufgefaßt hat denn als besorgte und zur Beruhigung Anlaß gebende Botschaft. 246
– Hitlers Machtergreifung, die antisemitischen und Rassengesetze, die katastrophale wirtschaftliche Lage, die dem Nationalsozialismus günstige Indifferenz der Leute – beobachtet er offensichtlich unbewegt. Will man ein Urteil fällen, so erfüllte ihn eine allgemeine Bewunderung für Deutschland, für seine Tüchtigkeit. Natürlich, wenn wir bedenken, daß er 26 Jahre alt und im Klima und den Illusionen des Faschismus aufgewachsen war und daß alles, was von Hitler und den deutschen Zeitungen über Italien gesagt wurde – Bewunderung für den Faschismus, für Mussolini, für den Fortschritt des Landes – ihn nicht unberührt lassen konnte. Aber es ist ein Unterschied, dies zu sagen, oder aber, er sei vom Nazismus begeistert gewesen, wie es gesagt worden ist. Wir sind im Jahre 1933. In Italien kann man Antifaschisten nur im Gefängnis treffen. Vier Jahre vorher hatte die »Versöhnung« zwischen Staat und Kirche stattgefunden: die Katholiken hatten ihre Reserve dem Faschismus gegenüber aufgegeben, die Bischöfe segneten die Fahnen und proklamierten Mussolini zum »Mann der Vorsehung«. Im Jahr vorher hatte selbst Pirandello die Schirmherrschaft über die Ausstellung zur Zehnjahresfeier der »faschistischen Revolution« übernommen. Marconi war Präsident der von Mussolini gewollten »Königlichen Akademie Italiens«, Fermi, Mitglied der Akademie, war Seine Exzellenz Fermi. D'Annunzio (schließlich der einzige, der in solch trauriger Lage ein zweideutiges Vergnügen fand, der einzige, der sich zweideutige Verachtung erlaubte) fuhr fort, brüderliche Botschaften an Mussolini zu senden. Schriftsteller, deren Bekehrung zum Antifaschismus – nachdem der Krieg verloren und der Faschismus 247
erledigt war – niemand zu bezweifeln wagte, verbreiteten Lobgesänge auf den Faschismus und den Duce (manche waren so weit gegangen zu schreiben, daß es ein stärkendes Vergnügen wäre, im Spanischen Krieg den Anhängern Francos bei der Füsilierung der Gegner beizustehen). Der der jungen Generation liebste Dichter bestätigte, von einer Auflage zur anderen eines seiner Bücher, die Widmung an Mussolini: den Mann, der 1919 seinem Herzen erschienen ist. Die Vorrangstellung Italiens in der Rüstung, im Fußballspiel, in der Physik bezweifelte niemand. Alle Welt bewunderte die Unternehmen der italienischen Luftwaffe. Akademische und engagierte Kritiker bejubelten die Prosa Mussolinis. Und bei jeder Rede Mussolinis dröhnte die Piazza Venezia von einer Zustimmung, die ihr Echo in Palästen und Hütten fand. Das sowjetische Rußland nahm am Filmfestival von Venedig teil … Dürfen wir wirklich gerade von Ettore Majorana, der an Politik desinteressiert war bis zur Grenze, zu der man damals desinteressiert sein konnte, der distanziert, verschlossen in seinen Gedanken war, eine gradlinige Ablehnung des Faschismus, ein hartes Urteil über den entstehenden Nationalsozialismus verlangen? Man muß sich außerdem klarmachen, daß die aus dem Ausland kommenden Briefe häufig, wenn nicht regelmäßig geöffnet und gelesen wurden; wenn etwas gegen den Faschismus in ihnen war oder etwas, das man so auslegen konnte, wurden sie zurückbehalten und kopiert; wenn auch nicht sofort Unannehmlichkeiten entstanden, so blieben sie doch in den Akten der politischen Polizei: auf daß man von ihnen zu gegebener Zeit, d. h. bei besser gebauter Falle, Gebrauch ma248
chen konnte. Und es gab niemanden in Italien, der nur ein Minimum an Beobachtungsgabe und Schlauheit hatte, der das nicht wußte und sich danach richtete: und meist ohne sich zu entrüsten, wie angesichts einer Norm, deren Mangel an Legitimität durch die umsichtige Verteidigung der nationalen Sicherheit, des sozialen Friedens usw. kompensiert wurde. Man muß vermuten, daß die Familie Majorana, nach dem kaum überstandenen Unglück (bei dem die Politik irgendeine Rolle gespielt haben mußte: daß Polizei und Justiz in ihren vom Zaun gebrochenen, verrückten Nachforschungen, wenn nichts anderes, so doch die Sicherheit hatten, nichts dem Regime Unerwünschtes zu tun; daher auch das Gegengift, die Gegenmaßnahme, Farinacci in das Kollegium der Verteidigung aufzunehmen) besonders argwöhnisch, besonders vorsichtig geworden war, daß sie sich noch überwacht, beobachtet fühlte. Alles in allem: auch wenn Ettore gegenüber dem Faschismus ein Gefühl der Abneigung gehabt hätte, wenn der Nationalsozialismus in ihm eine verächtliche Reaktion hervorgerufen hätte, war es elementare Vorsicht gewesen, sich in den Briefen auf einfache Tatsachen zu beschränken. Hier z. B., wie er der Mutter die nationalsozialistische »Revolution« beschreibt: »Leipzig, das zum größten Teil sozialdemokratisch war, hat die Revolution ohne Zwang angenommen. Züge von Nationalisten ziehen häufig durch die Haupt- und 'Nebenstraßen, schweigend, aber mit hinreichend kriegerischem Aussehen. Braune Uniformen sind selten, während das Hakenkreuz überall hervortritt. Die Verfolgung der Juden erfüllt die meisten Arier mit Freude. Die Zahl derer, die
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durch die Vertreibung der Juden einen Posten in der öffentlichen Verwaltung oder privaten Betrieben finden werden, ist außerordentlich hoch. Das erklärt die Popularität des Kampfes gegen die Juden. In Berlin waren über 50 Prozent der Anwälte Israeliten. Von ihnen wurde ein Drittel ausgeschlossen; die anderen blieben, weil sie 1914 in der Armee dienten und den Krieg mitgemacht haben. Im Bereich der Universität wird die Säuberung im Laufe des Oktober abgeschlossen sein. Der deutsche Nationalismus besteht zum großen Teil aus Rassenstolz. Allen Lehrern ist nahegelegt worden, den Beitrag, den die nordische Rasse zur Kultur geleistet hat, in den Schulen hervorzuheben, auch der Kampf gegen das Judentum wird mehr durch die rassische Verschiedenheit als durch die Notwendigkeit, eine sozial schädliche Mentalität zu unterdrücken, gerechtfertigt. In Wirklichkeit werden nicht nur die Juden, sondern auch die Kommunisten und allgemein Gegner des Regimes aus dem Leben der Gesellschaft in großer Zahl eliminiert. Im ganzen entspricht das Werk der Regierung einer historischen Notwendigkeit: Platz zu schaffen für die neue Generation, die in der wirtschaftlichen Stagnation zu ersticken droht.«*
In diesem Bild scheint keine Begeisterung mitzuschwingen. Die Gleichmütigkeit, die wir für gewollt *In einem vorangegangenen Brief hatte er deutlich geschrieben: Die innerpolitische Situation scheint nach wie vor permanent katastrophal, aber mir scheint nicht, daß die Leute das besonders stört. Im gleichen Brief karikiert er einen Offizier der Reichswehr, der keine Bewegung machen kann, ohne lautstark die Hacken zusammenzuschlagen: immer bereit, ihm Feuer für seine Zigarette zu geben; doch gerade diese mechanische Höflichkeit hatte es ihm während seiner ganzen Reise verboten, abgesehen vom Gruß, ein paar Worte mit Majorana zu wechseln.
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halten, gibt ihm sogar eine Düsterkeit, die wir vergeblich bei anderen Zeugnissen aus dieser Periode suchen (wenn sie nicht, wie sich versteht, von erklärten Gegnern des Nationalsozialismus stammen). Was die Anerkennung der historischen Notwendigkeit betrifft, der der Nationalsozialismus entspräche: es konnte ebensogut eine Vorsichtsmaßnahme sein wie eine Überzeugung. Aber wenn es eine Überzeugung gewesen wäre, würden wir darüber nicht schockiert sein: die Tatsache beiseite, daß er sich außerhalb eines moralischen Urteils stellt, gehorcht er einer Art von Historismus, den es heute wie damals gibt, der in der Zustimmung der Massen die Rechtfertigung für eine Politik sieht. Die Massen lassen sich nicht manövrieren, sagen die jungen Revolutionäre von heute. Man muß sich wundern, daß sie so denken, weil für sie Nazismus und Faschismus schon historische Erfahrungen sind, bereits bezahlt und geprüft, aber es ist nicht verwunderlich, wenn das im Jahre 1933 ein junger Mann von 26 Jahren dachte. Aber bei diesem Detail – den Eindrücken Majoranas vom Nationalsozialismus – haben wir uns etwas grundlos aufgehalten. Bei einem Mann wie Majorana ist es nicht wichtig, ob er sich von der nationalsozialistischen Propaganda hat täuschen lassen oder nicht. In jedem Fall hätte es sich um eine Täuschung gehandelt. Aber er hat sich nicht täuschen lassen – oder wenigstens nicht in dem Maße wie andere, die besser als er informiert waren, die reifer waren als er (um ihnen den Kredit des guten Glaubens zu geben).
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VII In den ersten Augusttagen kehrte Ettore aus Deutschland nach Rom zurück. Aus der Zeit, die seiner Abreise von Leipzig vorausging, stammt ein reger Briefwechsel mit der Mutter, weil er nach seiner Rückkehr in Rom ganz allein im Hause sein wird, da die übrige Familie sich darauf vorbereitete, für den Rest des Sommers nach Abbazia zu reisen. Die Mutter macht sich Sorgen darüber, schlägt sogar vor, selbst wieder nach Rom zurückzufahren: eine kleine Erpressung, um ihn dazu zu bewegen, zu ihnen nach Abbazia zu kommen. Aber er gibt nicht nach: Du würdest mir wirklich unnötig Sorge machen, wenn Du diese weite und ermüdende Reise auf Dich nähmest, ohne jeden Zweck und Grund. Ich werde mein Programm jedenfalls nicht ändern vor lauter Angst, daß Du Deine so unvernünftige Drohung in die Tat umsetzt. Augenscheinlich ist er kein Muttersöhnchen (und das sollte man bedenken, wenn man ihn auf konventionelle Art psychoanalysieren wollte). Liebevoll, zärtlich, aufmerksam ist er der ganzen Familie und besonders der Mutter gegenüber; in seinen Entschlüssen aber, seien es nun große oder kleine, zeigt er sich unbeugsam. Er kehrt also aus Leipzig zurück, vielleicht mit einem festen Arbeitsprogramm, sicherlich aber mit dem Wunsch, dem Verlangen nach Einsamkeit. Gleich nach seinem Eintreffen in Rom, von diesem römischen August an, in dem es ihm gewiß gelungen sein wird, allein im Hause zu leben, allein in der Stadt, wird er (im Sinne Pirandellos) alles daransetzen, als »uomo solo«, als einsamer Mann zu leben. 252
Vier Jahre lang – vom Sommer 1933 bis zum Sommer 1937 – verläßt er das Haus nur selten und läßt sich kaum noch im Institut für Physik blicken. Von einem gewissen Zeitpunkt an stellt er seine Besuche dort ganz ein. Arnaldi, Segrè und Gentile (Giovanni Gentile jun., Sohn des Philosophen) besuchten ihn manchmal: um zu versuchen, sagt Arnaldi, ihn ins normale Leben zurückzuführen. Die Tatsache, daß Fermi nicht auch zu ihm ging, besagt, daß ihre Beziehungen nie sehr freundschaftlich gewesen oder es nicht mehr waren. Majorana ging jedem Gespräch über Physik geflissentlich aus dem Wege. Er redete über Flotten, Seeschlachten, Medizin, Philosophie. Sein Interesse an Philosophie, das immer sehr lebhaft gewesen war, hatte sich noch erheblich gesteigert. Aber daß er nicht über Physik sprechen wollte, beweist nicht, daß er sie aufgegeben hätte, sondern mehr denn je von ihr besessen war. Aber keinem von uns, sagt wieder Arnaldi, gelang es jemals herauszubekommen, ob er sich noch mit Forschungen über theoretische Physik befaßte – ich glaube, ja, habe aber keinerlei Beweise dafür. Er arbeitet viel, eine ganz außergewöhnliche Anzahl von Stunden. Aber woran arbeitete er, wenn aus jener Zeit nur La Teoria simmetrica dell'elettrone e del positrone (Die symmetrische Theorie des Elektrons und des Positrons), die er 1937 publizierte, und der Essay über den Valore delle leggi statistiche nella fisica e nelle scienze sociali (Die Bedeutung statistischer Gesetze für die Physik und die Sozialwissenschaften), vier Jahre nach seinem Verschwinden veröffentlicht, stammen? Diejenigen, die glauben, daß er nicht mehr im Bereich der Physik gearbeitet habe, können ebenso recht haben wie die anderen, die genau gegenteiliger Meinung sind. Er schrieb 253
stundenlang, am Tage wie in der Nacht; und ob er nun über Physik schrieb oder über Philosophie – Tatsache ist, daß von all den vielen Papieren sich nur zwei kurze Schriften fanden. Zweifellos vernichtete er alles, kurz bevor er verschwand, wobei er, zufällig oder mit Absicht, den Essay verschonte, den Giovanni Gentile jun. 1942 im Februar/März-Heft der Zeitschrift Scientia veröffentlichen wird. Der Schluß dieses Aufsatzes ist für uns, die wir äußerst wenig über Physik und noch weniger von Sozialwissenschaften wissen, tief beeindruckend: Die Kernzertrümmerung eines radioaktiven Atoms kann einen automatischen Zähler in Gang setzen, der das Atom mechanisch erfaßt, was durch einen geeigneten Verstärker möglich ist. Einfache Laboreinrichtungen reichen also aus, um eine allerdings umfangreiche und beachtliche Kette von Erscheinungen vorzubereiten, die von der zufälligen Spaltung eines einzigen radioaktiven Atoms »kommandiert« werden würde. Streng wissenschaftlich gesehen, spricht nichts dagegen, daß am Anfang der Menschheitsgeschichte ein ähnlich einfacher, unsichtbarer und unvorhersehbarer Lebensvorgang stattgefunden hat. Wenn das, was wir meinen, zutrifft, haben die statistischen Gesetze der Sozialwissenschaften die zusätzliche Aufgabe, nicht nur empirisch das Ergebnis einer großen Zahl unbekannter Ursachen zu ermitteln, sondern vor allem ein unmittelbares und konkretes Zeugnis über die Wirklichkeit vorzulegen, deren Deutung eine besondere Kunst erfordert, nicht zuletzt als Hilfe für die Kunst des Regierens«.
»Tief beeindruckend« nannten wir diese Schrift im
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Sinne von Beunruhigung, von Furcht. Ganz automatisch haben wir uns dabei überrascht, sie in Verse zu übertragen, in dem Rhythmus der Diktion und der Vision die Worte auf einem Blatt Papier anzuordnen. Ein merkwürdiges und müßiges Unterfangen, wird man sagen; aber Tatsache ist, daß wir bei seiner Ausführung die Beunruhigung und die Furcht in uns wachsen fühlten. Versucht es auch ihr, wenn ihr wollt: ihr werdet euch einem entsetzlichen Epigramm gegenübersehen. (Wir sprechen von einem Epigramm in der Bedeutung einer kurzen und gedankenreichen poetischen Komposition, die aber – wer weiß? – auch ironisch gemeint sein kann.) Ettores Schwester Maria erinnert sich, daß er in diesen Jahren oft sagte: Die Physik ist auf einem falschen Wege oder, sie erinnert sich nicht genau, Die Physiker sind auf einem falschen Wege. Mit Bestimmtheit bezog er sich dabei nicht auf die Forschung an sich, auf die Resultate der Experimente oder auf die Versuchsmethoden der Forschung. Er bezog sich vielleicht auf Leben und Tod, wollte vielleicht dasselbe ausdrücken, was der deutsche Physiker Otto Hahn gesagt haben soll, als man 1939 begann, von der »Freisetzung der Atomenergie« zu sprechen: Aber Gott kann das nicht wollen! Doch halten wir uns an das, was wir durch sichere, übereinstimmende Zeugenaussagen wissen: Daß sich Ettore Majorana nämlich in jenen Jahren betrug wie ein »zutiefst erschreckter« Mensch. Verse von Eliot oder Montale könnten uns helfen, seinen »Schrecken« zu definieren; Figuren von Brancati, ihn psychologisch zu motivieren. Dabei denken wir verständlicherweise an Randfiguren wie Ermenegildo Fasanaro in dem Roman 255
Bell'Antonio, die den Schrecken jener Art »menschlicher Zwiespältigkeit« fühlen, die die Kraft des Bösen im Menschen ausbrechen sehen, wie es sich vor ihren Augen (1939-1945) vollzieht; und insbesondere denken wir an die Hauptfigur der Erzählung La cimice (Die Wanze), auf die uns ein von Arnaldi referiertes Detail verweist: daß sich Majorana die Haare ungewöhnlich lang hatte wachsen lassen (entspricht die Selbstverständlichkeit, mit der man sich heute die Haare lang wachsen läßt, nicht vielleicht einem diffuseren, allgemeinen »Grauen«?), so lang, daß ein Freund ihm, trotz seines Protestes, einen Friseur ins Haus schickte. Nervöse Erschöpfung – sagen übereinstimmend die Zeugen, und das sagten auch die Ärzte der Familie; und einige hätten sich gezwungen gesehen, von Wahnsinn zu sprechen, wenn sie nicht über jenen delikaten, »modernen« Euphemismus verfügt hätten. Aber nervöse Erschöpfung oder Wahnsinn sind keine offenen Türen, durch die man aus und ein gehen kann, wie man gerade will. Majorana demonstriert jedoch, daß er, wann immer er wollte, in das zurückkehren konnte, was Arnaldi das normale Leben nannte. Und er kehrte, wie wir glauben, aus ganz »normalem« Trotz dorthin zurück, weil der latente Antagonismus zu Fermi und den »Jungs von der Via Panisperna« wieder erwacht war. Die Jungs waren keine Jungs mehr, sondern Professoren, Ordinarien oder Lehrbeauftragte, mit allem belastet, was dieser Betrieb üblicherweise auf dem Gebiet interner Strategie und Taktik wie auf dem Felde der Sitten und Bräuche mit sich bringt, wenn man Hochschullehrer in Italien ist und am akademischen Leben des Landes (und nicht nur Italiens) teilnimmt. 256
Es ist bedauerlich, sagen zu müssen, daß die Version, die seitens der akademischen Welt über die Rückkehr Majoranas ins »normale« Leben gegeben wird, an Mystifikation grenzt: man behauptet nämlich, daß Fermi und die anderen Freunde ihn dazu gebracht hätten, sich an der Ausschreibung für einen Lehrstuhl für theoretische Physik zu beteiligen. In Wirklichkeit war die Entscheidung über die Erteilung der drei ausgeschriebenen Lehrstühle längst gefallen, und zwar nicht unter Einbeziehung Majoranas, den man, im Gegenteil, gar nicht auf der Liste hatte. Wir meinen, daß Majorana sich entschlossen hat, an dem Wettbewerb teilzunehmen, aus purer Lust, ein Spiel zu durchkreuzen, das hinter seinem Rücken und um ihn auszuschließen in die Wege geleitet wurde. In aller Unschuld durchbricht Laura Fermi jene Verschwörung des Schweigens, die sich um diesen Vorgang gebildet hat, und erzählt die Dinge so, wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt haben. Der Dreiervorschlag der Liste war, wie üblich, schon gemacht worden, noch vor den Arbeiten der Kommission, und zwar in der Reihenfolge: Gian Carlo Wick erster, Giulio Racah zweiter, Giovanni Gentile jun. dritter. Die Kommission, in der auch Fermi saß, trat zusammen, um die wissenschaftlichen Leistungen der Kandidaten zu prüfen. An diesem Punkt vereitelte ein unvorhergesehenes Ereignis alle Vorplanungen: Majorana entschloß sich plötzlich zu kandidieren, ohne vorher irgend jemanden zu Rate zu ziehen. Die Konsequenzen seiner Entscheidung lagen auf der Hand: er wäre als erster durchs Ziel gegangen, Giovanni Gentile jun. hingegen wäre überhaupt nicht in die engere Wahl gekommen.
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Angesichts dieser Gefahr raffte der Philosoph Giovanni Gentile alle Energie zusammen und ließ die Umsicht eines guten Familienvaters aus der Landschaft von Castelvetrano walten: Er veranlaßte den Erziehungsminister, die Ausschreibung zu suspendieren – nachdem Ettore Majorana auf elegante Art als Konkurrenz eliminiert und auf den Lehrstuhl für theoretische Physik der Universität Neapel berufen worden war, auf Grund seiner »chiara fama«, seines unbestreitbaren Rufes, und eines alten Gesetzes des Ministers Casati, das 1935 durch den Faschismus wieder in Kraft gesetzt worden war. Alles kam also wieder in Ordnung, und Majorana war damit nun wirklich gezwungen, ins »normale« Leben zurückzukehren, er, der sich an diesem Wettbewerb nur beteiligt hatte, um seinen Kollegen einen bitteren Streich zu spielen. Unter diesen faßte später, nach seinem Verschwinden, die Überzeugung Fuß, er sei in einer Art Panik geflüchtet, aus dem Trauma heraus, sich nun mitteilen, Vorlesungen halten zu müssen. Als wollten sie sagen, ihm sei ganz recht geschehen. VIII Aus einer reinen Trotzgebärde, aus Eigensinn hatte Majorana also einen Mechanismus ausgelöst, der über ihm zuschnappte wie eine Falle. Man kann ohne weiteres annehmen, daß er sich schon wie in einer Falle fühlte – in der Falle einer »Normalität«, die ihn zwang, unablässig weiterzumachen, zu publizieren, sich ständig auf der Höhe jener »chiara fama« zu halten, um derentwil258
len er auf den Lehrstuhl berufen worden war – kurz, regelmäßig und fortgesetzt das zu tun, was er immer zu vermeiden versucht und in den letzten Jahren konsequent vermieden hatte, als wäre er endgültig zum Verzicht entschlossen. Er mußte nunmehr auf der Ebene eines Fermi bleiben. Sicher, er fühlte auch das Unbehagen, unterrichten zu müssen, zu reden, sich mitzuteilen, aus sich herauszugehen. Aber aus den Briefen an die Familie, aus den Erinnerungen seiner Schwester und den Eindrücken anderer, die ihm in dieser Zeit nahestanden, geht nicht hervor, daß ihm das Unterrichten besondere Schwierigkeiten gemacht hätte. Seine Vorlesungen waren wenig besucht, was für ihn eine Erleichterung gewesen sein muß; ein einziger aufmerksamer, interessierter Zuhörer war für ihn ein hinreichender Ausgleich. In diesen ersten drei Monaten des Jahres 1938 spielt sich sein Leben in Neapel zwischen seinem Hotel und dem Institut für Physik ab. Mit Carelli, dem Direktor des Instituts, unterhielt er sich nach dem Kolleg lange über Fragen der Physik. Obwohl Majorana es peinlich vermied, auch nur andeutungsweise darüber zu sprechen, hatte Carelli den Eindruck, daß er an etwas sehr Wichtigem arbeitete, von dem er nicht reden mochte. Er machte einsame Spaziergänge am Meer und war auf der Suche nach einer geeigneten Pension, in die er aus dem Hotel zu übersiedeln gedachte. Trotz der guten Adressen, die er, wie er sagte, bekommen hatte, und obwohl er am 22. Januar seiner Mutter den bevorstehenden Umzug vom Hotel in die Pension ankündigte, schien es ihm doch nicht zu gelingen, sie zu finden, da er im Februar vom Hotel Terminus in das sau259
berere und bequemere Hotel Bologna zog. An diesem Punkt setzt unser erster Zweifel, unser erster Verdacht ein: daß er nämlich im Januar doch die geeignete Pension gefunden hatte und fortan sein Verschwinden vorbereitete, indem er, zwischen dieser Pension und dem Hotel hin und her pendelnd, ein Doppelleben führte. Denn sein Verschwinden ist in unseren Augen wie eine minutiös durchkalkulierte und gewagte architektonische Konstruktion; etwas ähnliches wie der tollkühne Streich, den Filippo Brunelleschi dem Tischler Manetto Ammanatius, dem Grasso Legnaiuolo, spielte.* Eine dieser leichten und luftigen Konstruktionen, die ein Nichts in sich zusammenstürzen lassen kann, die aber gerade deswegen halten, weil dieses Nichts mit einkalkuliert ist. Gewiß, jenseits des Kalküls muß man mit den Imponderabilien, dem Unvorhersehbaren rechnen. Der Streich, um voll zu gelingen, hing nicht, wie bei der Kuppel von Santa Maria del Fiore allein von den Berechnungen ab, von der Geschicklichkeit, der Wachsamkeit des Ser Filippo Brunelleschi – dazu brauchte es noch Glück, wie bei allen Unternehmen, wo das Nichtvoraussehbare ins Spiel kommen und das Ganze zum Einsturz bringen kann. Und Brunelleschi fehlte es nicht an Glück. Aber es könnte zynisch klingen, wollte man sagen, daß es Ettore Majorana vielleicht ebenso wenig an Glück gefehlt hatte. Tatsache bleibt, daß er, tot oder lebendig, durch Selbstmord oder durch Flucht, ver*Anspielung auf »Die Novelle vom Grasso Legnaiuolo«, dem Brunelleschi, Donatelle und andere weismachen, er sei gar nicht er, sondern ein anderer. Die Erzählung stammt von Piovano Arlotto (1396-1484), dem die Sammlung der »Facetien« zugeschrieben wird. (A. d. Ü.) 260
schwinden wollte; und daß alle jene Imponderabilien, die nicht eingetreten sind, um ihn auffinden zu lassen, in seinem Sinne als das anzusehen sind, was man als Glück zu bezeichnen pflegt. Aber gehen wir der Reihe nach vor. Bemerkenswert ist schon, daß bei den zwei Vorlesungen, die er wöchentlich an der Universität zu halten hatte, ein fester Wohnsitz in Neapel gar nicht notwendig war, um so weniger, als er ja in Rom ein Zuhause hatte. Zweifellos gefiel ihm das Wohnen im Hotel, wo er mehr für sich sein konnte, als ihm das bei einem Leben im Schoß der Familie möglich gewesen wäre. An den Briefen, die er aus Neapel schrieb, fällt auch im Vergleich zu denen aus Deutschland eine Art distanzierterer Abstand in den Beziehungen zu seinen Angehörigen auf, besonders spürbar in der letzten Nachricht. Vielleicht empfand er in der »normalen« Befriedigung seiner Angehörigen über seine wiedergefundene oder gefundene »Normalität«, in ihrem Stolz auf die ungewöhnliche Anerkennung, die ihm durch die Berufung auf Grund der »chiara fama« zuteil geworden war, ein Zeichen der Verständnislosigkeit, eine Reaktion, die sich durch seine extreme Sensibilität noch steigerte. Wie auch immer, in Neapel hatte er sich der absoluten Einsamkeit, die er ersehnte, um einen weiteren Schritt genähert. Jetzt war nur noch einer, der endgültige Schritt zu tun. Über diesen Schritt, glauben wir, muß er lange »meditiert« haben, über die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, um sein Vorhaben zu einem glücklichen Ende zu bringen. Der dem Polizeichef Bocchini gewiß fälschlich zugeschriebene Satz – die Toten findet 261
man, es sind die Lebenden, die verschwinden können – paßt ausgezeichnet auf diesen Fall, jedoch mit dem Zusatz, daß lediglich intelligente Lebende zu verschwinden vermögen, ohne eine Spur zu hinterlassen, oder, wenn sie unvermeidlicherweise eine hinterlassen, der Entdeckung durch genaueste Vorausberechnung der falschen Einschätzung dieser Spur durch die anderen und wie ungeschickt sie ihr nachgehen werden, vorzubeugen. Die anderen, das heißt die Polizei. Wir glauben, Majorana sei zu seinem Urteil über die Polizei, und hier verweisen wir auf das Urteil von Bregotte über Professor Cottard, durch die Erfahrung gekommen, die er sich bei der Lektüre all der Prozeßakten erworben hatte, welche den Hauptteil jener mehr als zwanzigtausend Seiten bildeten, mit denen Dante und Sara Majorana vor das Schwurgericht nach Florenz geschickt wurden.
Am Abend des 25. März reiste Ettore Majorana mit dem Postschiff Neapel – Palermo um 22 Uhr 30 ab. Er hatte einen Brief an Carelli, den Direktor des Instituts für Physik abgeschickt, einen anderen im Hotel hinterlassen, der an seine Familie adressiert war. Warum er nicht auch diesen mit der Post beförderte, ist leicht begreiflich: er hatte berechnet, wie die Dinge ablaufen mußten und wie sie dann auch tatsächlich abgelaufen sind. Seine Familie sollte nicht brutal die Nachricht erhalten, sondern stufenweise, nach und nach. Diese Briefe sind längst bekannt, seit sich nämlich Professor Erasmo Recami, ein junger Physiker am »Domus Galileiana«, mit den Schriften Majoranas beschäftigte und sie publizierte. Aber wir halten es für notwendig, sie nochmals zu zitieren. Der an Carelli gerichtete Brief: 262
Lieber Carelli, ich habe einen Entschluß gefaßt, der nunmehr unvermeidlich war. In ihm steckt nicht das kleinste Körnchen Egoismus, doch bin ich mir der Unannehmlichkeiten bewußt, die mein plötzliches Verschwinden Dir und den Studenten verursachen wird. Auch das bitte ich Dich, mir zu verzeihen, vor allem aber, daß ich das Vertrauen, Deine aufrichtige Freundschaft und die Sympathie, die Du mir in diesen Monaten entgegengebracht hast, enttäusche. Ich bitte Dich, mich auch bei jenen in Erinnerung zu bringen, die ich in Deinem Institut kennen und schätzen gelernt habe, besonders bei Sciutti. Auch sie werde ich in lieber Erinnerung behalten, wenigstens bis elf Uhr dieses Abends und möglicherweise auch späterhin.
Was will das besagen, darin ist nicht ein Körnchen Egoismus, wenn nicht, daß der Entschluß einem ganz anderen Gefühl, einer ganz anderen Absicht, einem ganz anderen Schmerz entsprang als dem Schmerz einer Gastritis oder einer Migräne, wie manche zu glauben geneigt sind? Der Satz steht da, klar und unzweideutig: und ist doch bis jetzt in Unsichtbarkeit gehüllt. Zudem ist die Doppeldeutigkeit zu beachten, die in der Angabe um elf Uhr dieses Abends liegt: auf dem Höhepunkt des Zweifels, der Ungewißheit über die Unsterblichkeit der Seele, aber auch über die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen dem Entschluß, zu sterben oder weiterzuleben. Warum diese präzise Zeitangabe? War das nicht zudem der ungünstigste Augenblick, auf dem Dampfer Neapel – Palermo Selbstmord zu begehen? Wenn das Schiff um 22.30 ablegte, war es um 11 Uhr noch im Golf von Neapel, noch in Sicht des Hafens, der Lichter der Stadt, die Reisenden alle auf dem Oberdeck,
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sämtliche Matrosen in voller Tätigkeit. Ein Mann, der sich eine halbe Stunde nach Abfahrt eines Schiffes ins Meer stürzt, riskiert, wenn nicht gerettet, so doch gesehen zu werden. Ist es möglich, daß Majorana, wenn er wirklich die Absicht gehabt haben sollte, sich umzubringen, das nicht einzukalkulieren gewußt hätte? Es muß in dieser Zahl elf irgendein Geheimnis, irgendeine Botschaft verborgen sein. Vielleicht könnte ein Mathematiker, ein Physiker, ein Experte für Navigation versuchen, diese Botschaft zu entziffern. Es sei denn, Majorana hätte diese Zahl eigens angegeben, damit man an eine Absicht, an eine Botschaft glauben sollte. Eine Weile waren wir tatsächlich dieser Meinung, er habe die Stunde berechnet, in der seine Leiche durch die Strömung im Golf von Neapel nicht mehr aufzufinden sein würde. Wir haben andere Briefe von Selbstmördern gesehen, und aus allen sprach, bis ins Schriftbild hinein, eine mehr oder weniger starke Erregung. Etwas Aufgelöstes, Chaotisches. In den beiden Briefen Majoranas dagegen ist Ordnung, Vorsorglichkeit, Haltung, ein Spiel bis an die Grenze der Doppeldeutigkeit, die nicht anders als gewollt sein können: wenn man ihn soweit kennt, wie wir ihn inzwischen kennen. Auch das Wort »scomparsa« (Verschwinden) an Stelle von Tod oder Ende wurde unserer Meinung nach bewußt gebraucht, damit es als Euphemismus verstanden würde – während es gar keiner war. Und hier der Brief an seine Angehörigen, wenn man ihn überhaupt als Brief bezeichnen kann: Ich habe nur einen Wunsch: daß Ihr Euch nicht schwarz kleidet. Wenn Ihr Euch dem Brauch beugen wollt, tragt ruhig, aber nicht län264
ger als drei Tage, irgendein Zeichen der Trauer. Später erinnert Euch in Euren Herzen an mich, wenn Ihr könnt, und verzeiht mir. Auch hier eine Zahl: Drei. 3,11,3 + 11 = 14. Können diese Zahlen eine Bedeutung haben? Wir wissen nichts über Zahlen, wir wissen etwas über Worte, und drei Worte sind es, die der Familie in dieser kurzen Nachricht wehgetan haben werden: wenn Ihr könnt.
Carelli hatte den Brief noch gar nicht erhalten, als ihn ein dringendes Telegramm Majoranas aus Palermo erreichte, in dem dieser ihn bat, seinen Brief als gegenstandslos zu betrachen. Erst als er später den Brief bekam, begriff er den Sinn des Telegramms und rief die Majoranas in Rom an. Ein weiterer Brief von Ettore, aus Palermo, traf bei ihm ein, auf einem Briefbogen des Grand Hotel Sole: Lieber Carelli, hoffentlich hast Du das Telegramm und meinen Brief zur gleichen Zeit erhalten. Das Meer hat mich abgewiesen, und ich werde morgen ins Hotel Bologna zurückkehren. Vielleicht reise ich zusammen mit diesem Brief. Ich habe jedoch die Absicht, auf den Unterricht zu verzichten. Halte mich nicht für ein Mädchen aus einem Stück von Ibsen, der Fall ist anders. Für alle Einzelheiten stehe ich Dir zur Verfügung.
Der Brief stammt vom 26. März. Den polizeilichen Ermittlungen nach hat sich Majorana am selben Tag um 7 Uhr abends auf das Postschiff nach Neapel begeben und es am folgenden Morgen um 5 Uhr 45 verlassen. Aber wir hegen da einige Zweifel, und zwar nicht in bezug auf die Hypothese, er hätte sich während der
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Rückfahrt ins Meer gestürzt, sondern über die Hypothese, daß er das Schiff am Abend des 26. in Palermo überhaupt bestiegen hat. IX Daß die Reise bis zur Ausschiffung in Neapel durchgeführt worden war, bestätigte die Rückfahrkarte, die bei der Verwaltung der »Tirrenia« abgegeben wurde und sich dort auch vorfand. Daß in der Kabine, die Ettore Majorana laut Fahrkarte belegt hatte, eine Person gereist war, die er hätte sein können, sagte Professor Vittorio Strazzeri aus, der die Nacht in derselben Kabine verbracht hatte. Aus den abgegebenen Fahrkarten ging hervor, daß in besagter Kabine der Engländer Carlo Price, Vittorio Strazzeri und Ettore Majorana gereist waren. Unmöglich, den Engländer Price wiederzufinden, aber es war leicht, Professor Strazzeri, Dozent an der Universität Palermo, ausfindig zu machen. Alarmiert durch einen Brief von Ettores Bruder (dem mit Sicherheit eine Fotografie beigelegen haben wird), zog Professor Strazzeri zweierlei Dinge in Zweifel: daß er tatsächlich mit Ettore Majorana gereist war und daß der »dritte Mann« ein Engländer gewesen sei. Aber von einer Tatsache ist er absolut überzeugt: Wenn die Person, die mit mir gereist ist, Ihr Bruder war, hat er sich, wenigstens bis zur Ankunft in Neapel, nicht umgebracht. Was den Engländer betrifft, so bezweifelt er nicht, daß er Price hieß, aber er sprach italienisch wie wir, wie die Leute aus dem Süden, und hatte ziemlich ungeschliffene Manie266
ren, wie ein kleiner Kaufmann oder ähnlich. Damit sind wir wirklich beim »dritten Mann« angelangt. Doch ist das Problem gar nicht schwer zu lösen. Nachdem Professor Strazzeri einige Worte mit dem Mann gewechselt hat, der Carlo Price sein sollte, und mit dem, der Ettore Majorana sein konnte, überhaupt nicht gesprochen hatte, kommt man zu der durchaus glaubhaften Hypothese, daß der Mann, der nicht sprach und von dem Strazzeri dann erfuhr, daß es sich um Ettore Majorana gehandelt haben mußte, in Wirklichkeit der Engländer war, während derjenige, von dem ihm später gesagt wurde, es müsse Price gewesen sein, hingegen ein Sizilianer war, irgendein Geschäftsmann, wie er wirkte, der an Stelle von Majorana fuhr. Daran ist gar nichts Romanhaftes. Majorana konnte zur geeigneten Zeit zum Fahrkartenschalter der »Tirrenia« gegangen sein und seine Karte jemandem geschenkt haben, der sich gerade eine kaufen wollte und der ihm vielleicht dem Alter, der Statur und Haarfarbe nach ein bißchen ähnelte (nichts leichter, als in einer Gruppe von Sizilianern, selbst wenn sie klein ist, einen »sarazenischen« Typ zu finden). Will man diese Hypothese nicht akzeptieren, muß man entweder die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage von Professor Strazzeri anzweifeln oder, wie es jemand versucht hat, auf die romanhafte These setzen, daß dieser Price, der gar nicht Price, sondern ein als Engländer verkleideter Sizilianer war, Majorana folgte und dessen Aktionen dirigierte. Auf diesem Wege kann man leicht zu der kuriosen Vorstellung einer Mafia kommen, die sich außer mit Mädchen- auch mit Physikerhandel beschäftigt hatte. Aber von all solchen Hypothesen abgesehen, bleibt 267
die Tatsache bedeutsam, daß Professor Strazzeri keineswegs davon überzeugt ist, mit Ettore Majorana zusammen gereist zu sein, dafür aber vollkommen sicher, daß die Person, welche Majorana sein konnte, in Neapel an Land gegangen ist. Dessen ist Strazzeri so sicher, daß er dem Bruder empfiehlt, in irgendwelchen Klöstern nach Ettore zu suchen: es sei schon manches Mal vorgekommen, sagt er, daß Personen, die keineswegs sonderlich religiös waren, sich in ein Kloster zurückgezogen hätten – wobei er offensichtlich dem Vorurteil huldigt, daß Wissenschaftler grundsätzlich weit entfernt von der Religion, wenn nicht völlig irreligiös sein müßten. Aber Strazzeri irrte. Ettore Majorana war religiös. Sein Drama ist ein religiöses Drama gewesen, wir würden sagen, ein Drama wie das Pascals. Daß er das religiöse Erschaudern vorauslitt, bei dem wir die Wissenschaft eines Tages anlangen sehen werden – wenn sie da nicht schon angelangt ist. Hierin liegt der Grund, weshalb wir diese Seiten über Majoranas Leben niederschreiben. Der Brief von Professor Strazzeri, sein Rat, nach Ettore im Bereich von Klöstern zu suchen, stammt vom 31. Mai. Aber wir haben gesehen, daß Giovanni Gentile schon am 16. April den Polizeichef Bocchini zu einer Suchaktion in Klöstern veranlassen wollte, und das ganz gewiß auf Betreiben der Familie Majorana. Am 17. Juli erschien in der Rubrik »Wer hat ihn gesehen?« in der populärsten italienischen Wochenzeitung La Domenica del Corriere eine kleine Fotografie und eine Personenbeschreibung des verschwundenen Ettore Majorana: 268
Alter 31 Jahre, 1,70m groß, schlank, schwarzes Haar, dunkle Augen und eine lange Narbe auf einem Handrücken. Wer etwas über ihn weiß, wird gebeten, an R. P. Marianecci, Viale Regina Margherita 66, Rom, zu schreiben.
Der Pater Superior der Kirche Gesù Nuovo in Neapel wußte etwas davon: Er sagte, daß Ende März oder Anfang April ein junger Mann, den er nach der Fotografie fast mit Sicherheit als Ettore Majorana wiedererkannte, zu ihm gekommen sei und ihn gebeten habe, ihn als Gast in einem Exerzitienhaus aufzunehmen, wo er versuchen wolle, Einkehr tage zu halten. Die Genauigkeit dieses Satzes, die mit den Gepflogenheiten des Jesuitenordens übereinstimmte, legt den Gedanken nahe, daß dem jungen Mann diese besonderen Gepflogenheiten vertraut waren und daß er sich aus Gründen der Zuneigung oder der Gewohnheit gerade an die Jesuiten gewandt hatte. Ettore war nämlich Zögling des »Convitto Massimo« in Rom gewesen und wußte über die dortigen Regeln gut Bescheid. (Eine Art Zeugnis des Konvikts für die Zeit vom 15. Dezember 1917 bis zum 27. Januar 1918 erteilte ihm folgende Zensuren: Frömmigkeit 10, Disziplin 10, Fleiß 10, Betragen 10 – innerhalb der Stubengemeinschaft. Was die Schulnoten anbetrifft, so hält er sich bei 10 für Betragen, sinkt aber auf 9 in punkto Fleiß und Lernerfolg ab. Und diese 10 in Frömmigkeit, von der wir sehr wohl wissen, daß sie nicht »unsere Art« von Frömmigkeit ist, macht uns großen Eindruck.) Der Pater Superior in Neapel war mißtrauisch geworden durch die Erregung, die der junge Mann nicht zu verbergen vermocht hatte, und sagte, ja, es 269
wäre möglich, aber nicht sofort. Er möge wiederkommen. Aber er kam nicht wieder. Ende März, Anfang April. Vor der Abreise nach Palermo und den Briefen, die den Selbstmord ankündigten, oder später, nach seiner Rückkehr nach Neapel? Denn nach Neapel war er zurückgekehrt, nach der Zeugenaussage der Krankenschwester, wenn auch nicht mit dem Postschiff am 27. März. Und die Krankenschwester war auch nicht eine beliebige Krankenschwester, eine, die ihn kaum und nur zufällig kannte und sich nun, wie das oft vorkommt, in die Geschichte hineindrängt: es war seine Krankenschwester, jene, von der in einem Brief an die Mutter die Rede ist und die ihm auch die guten Adressen für die Pension, die er suchte, gegeben hatte. Ihre Zeugenaussage war tatsächlich der einzige unerwartete, unvorhergesehene Faktor, der durchbrechen konnte, was wir für einen genauest kalkulierten Plan halten, den Plan, den Majorana für sein Verschwinden ausgearbeitet hatte: und wenn die unwägbare, unvorhergesehene Tatsache hinzugekommen wäre, daß die Polizei sie ernst genommen hätte, wären wir jetzt vielleicht nicht dabei, Hypothesen über das Verschwinden von Majorana aufzustellen. Aber es war durchaus zu erwarten und vorauszusehen, daß die Polizei diese Aussage einfach übergehen und in den Bereich jener unerheblichen Wahnvorstellungen verweisen würde, die bei mysteriösen Fällen zu entstehen pflegen. Die Angehörigen glaubten der Krankenschwester, und sie glaubten, daß der Superior von Gesù Nuovo Ettore nach dem 27. März tatsächlich gesehen hatte. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt glaubte unserer 270
Meinung nach die ganze Familie daran, die Mutter bis zuletzt, bis zu ihrem Tode; und sie bedachte ihn in ihrem Testament mit jenem Anteil der Erbschaft, der ihm zustand, wenn er zurückkommen wird. Und wir sind davon überzeugt, daß sie recht hatte. Ihr Brief an Mussolini ist nicht vom Wahn der mütterlichen Liebe und Hoffnung gekennzeichnet: sie spricht darin Dinge aus, die objektiv richtig und zutreffend sind. Insbesondere sagt sie – und das ist der Kernpunkt: Er war stets gelassen und ausgeglichen, und das Drama seiner seelischen und nervlichen Verfassung wirkt deshalb wie ein Geheimnis. Aber eines ist gewiß, und das bestätigen mit voller Überzeugung seine Freunde, die Familie und ich selber, seine Mutter: es traten bei ihm niemals zuvor krankhafte oder psychische Symptome auf, die den Gedanken an Selbstmord hätten aufkommen lassen; im Gegenteil, die Klarheit und die Strenge, die sein Leben und seine Studien kennzeichneten, erlauben, ja zwingen gerade dazu, ihn einzig und allein als ein Opfer der Wissenschaft zu betrachten.
Noch andere absolut vernünftige Dinge teilte Ettores Mutter in diesem Brief mit, die auch vernünftig geblieben wären, wenn sie das Sieb der polizeilichen Mentalität passiert hätten: man müsse draußen, auf dem Lande nach ihm suchen, in irgendwelchen Bauernhäusern, wo er mit dem Geld, das er bei sich hatte, länger auskommen konnte, und den Konsulaten sollte man seine Paßnummer angeben und dabei erwähnen, daß dieser Paß im August ablaufen würde …
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Ein weiteres Element, das gegen die SelbstmordThese spricht, sollte man berücksichtigen: Ettore Majorana hatte seinen Paß und auch Geld bei sich. Arn 22. Januar hatte er die Mutter gebeten, seinen Bruder Luciano zu veranlassen, sein persönliches Guthaben bei der Bank abzuheben und ihm das ganze Geld zu schicken. Und einige Tage vor dem 25. März, dem Tag, an dem er unter Ankündigung seines Selbstmordes nach Palermo aufgebrochen war, hatte er sich sein Gehalt von Oktober bis Februar auszahlen lassen, das er bis zu diesem Augenblick nicht abgeholt hatte. Ihm ging jeglicher Sinn für Geld ab, wie die Gehälter für fünf Monate beweisen, die er praktisch vergessen hatte. Daß er sich plötzlich für Geld interessiert haben soll, ausgerechnet am Vorabend seines Selbstmordes, scheint unwahrscheinlich. Dafür gibt es nur die einfache Erklärung: er brauchte das Geld für das, was er vorhatte. Es gibt noch eine andere, kompliziertere These: die Unstimmigkeit, daß ein Selbstmörder so viel Geld wie möglich mit sich herumtrug und obendrein seinen Paß, was dazu gedient haben mag, in der Mutter die Illusion zu nähren, er sei noch am Leben, die Hoffnung, daß er sich nicht umgebracht habe. Aber diese Erklärung steht in Widerspruch zu seiner Bitte, keine Trauerkleidung für ihn anzulegen oder allenfalls ein einfaches Trauerzeichen, aber das nur drei Tage lang – die drei Tage der strengen Trauer Siziliens. Er wollte, daß man an seinen Tod glaube.
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X Wenn er sich auf »einen« oder auf »den« Tod vorbereitete, auf einen Zustand, in dem Vergessen, Sichvergessen und Vergessenwerden herrscht (was zum wahren und wirklichen Tod gehört, aber auch zu einem nur behördlich bescheinigten, wenn man die Absicht oder die Neigung hat, sich nie mehr »mit den anderen« einzulassen, auf ihr Leben und ihre Gefühle mit den Augen eines Insektenforschers zu blicken; eine Absicht oder Neigung, die Pirandellos Mattia Pascal gänzlich abging, die aber zwanzig Jahre später sein Vitangelo Moscardi aufbrachte: wir erinnern uns dieser beiden Pirandello-Figuren auch aus dem Grund, weil es auf journalistischer oder TV-Ebene als sicher galt, daß Ettore Majorana für Mattia Pascal als Vorbild eine Zuneigung hegte, während der Protagonist von Uno, nessuno e centomila, »einer, keiner, Hunderttausend«, seinen persönlichen Aspirationen weit mehr entgegenkam); wenn er also sein eigenes Verschwinden vorbereitete, es organisierte und berechnete, glauben wir, daß in Majorana – im Widerspruch, im Widerstreit und als Kontrapunkt zu seinem Vorhaben – das Bewußtsein aufflackerte, die Daten seines kurzen Lebens könnten zum Geheimnis seines Verschwindens in Beziehung gebracht werden und sich in einen Mythos verwandeln. Die Wahl – scheinbar oder real – des »Todes durch das Wasser« weist auf einen anderen Mythos hin, den sie wiederholt: auf den des Odysseus bei Dante. Seine Leiche unauffindbar zu machen oder den Glauben zu erwecken, er sei im Meer verschwunden, war eine Betonung des mythischen Bezugs. Schon das Verschwinden 273
als solches hat in jedem Fall etwas Mythisches. Der Körper, der nicht aufgefunden wird und dessen Tod man nicht betrauern kann, ist kein »wirklicher« Tod; die andere Identität, das andere Leben – das kein »wirkliches« Leben, keine »wirkliche« Identität ist –, die der Vermißte irgendwo anders hat oder führt, indem er in die Sphäre des Unsichtbaren eintaucht, machen das Wesen des Mythos aus. All das verpflichtet zu einem Gedenken jenseits von Bürokratie und Justiz (die Todeserklärung wird fünf Jahre nach dem Verschwinden ausgestellt), zu einem unbefriedigenden Mitleid, unerbittlichen Ressentiments. Wenn die Toten, wie Pirandello sagt, »die Pensionäre des Gedächtnisses« sind, so sind die Vermißten die Empfänger eines länger ausgezahlten, höheren Lohnes des Gedächtnisses. Das gilt in jedem Fall. Aber besonders in einem Fall wie dem Ettore Majoranas, bei dessen mythischem Verschwinden die Jugend, die geniale Begabung, die Wissenschaft eine mythische Bedeutung annahmen. Wir glauben, daß Majorana dies in Rechnung stellte, auch aus dem absoluten und totalen Verlangen heraus, ein »einsamer Mensch« zu sein oder »nicht mehr zu sein«; und daß er in seinem Verschwinden einen Mythos vorbildete und er sich dessen bewußt war: den Mythos der Verweigerung an die Wissenschaft. In jenem Sizilien geboren, das seit zwei Jahrtausenden keine Wissenschaftler hervorgebracht hatte, wo deren Fehlen, wenn nicht Ablehnung der Wissenschaft, eine Lebensnorm geworden war, wirkte seine bloße Existenz, die Tatsache, daß er Wissenschaftler war, schon wie ein Mißklang.* 274
Seine Art, die Wissenschaft in sich zu tragen, wie ein Stück von ihm, wie eine vitale Funktion, wie ein Maß des Lebens, mußte ihm eine beängstigende Last gewesen sein; und noch mehr die Vorausahnung dieser Todeslast, die er fühlte, wie sie bei jeder Forschung, bei jeder Entdeckung eines Geheimnisses der Natur objektiviert wurde, sich ansammelte, anschwoll, sich im menschlichen Leben ausbreitete wie tödlicher Staub. * Offensichtlich will diese Behauptung nicht apodiktisch in dem Sinn sein, daß die Sizilianer für die Wissenschaft ungeeignet seien, weil Sizilien seit mehr als zwei Jahrtausenden keine wissenschaftliche Begabung hervorgebracht hat. Eine solche Behauptung wie die unsere setzt immer historische Gründe voraus: in diesem Fall ist es die, im Vergleich zu anderen Regionen Italiens, längere, bedrückendere und engmaschigere Präsenz der Inquisition, der spanischen Inquisition. Ein Grund, warum auch Spanien als ein Land betrachtet werden kann, das als Nährboden der Wissenschaft ungeeignet ist. Genauso selbstverständlich will das nicht besagen, daß in Sizilien – von Archimedes bis Majorana – sich niemand der Wissenschaft verschrieben hätte. Es gab einen Maurolico; es existierten Bernardino d'Ucria und Bottone, zwei Botaniker; es existierte der Philosoph und Forscher Campatila, der Anatom Ingrassia, derChemiker Cannizzaro. Als unmittelbare Vorgängerin von Ettore Majoranas Arbeit kann man die »Mathematische Schule von Palermo« betrachten, und – einen Vorgänger gibt es auch in der Familie selbst, den Physiker Quirino Majorana. Als Professor an der Universität Bologna hat er sich ein ganzes Leben lang bemüht zu beweisen, daß die Relativitätstheorie auf einem Irrtum beruhe, ohne daß ihm das jemals gelang, was er auch ehrlich zugab, was ihn aber nicht davon abhielt, diese Theorie unentwegt anzufechten. Ein Fall, der uns »typisch sizilianisch« zu sein scheint. Und wir wüßten gern, wie die Beziehungen zwischen dem Onkel und dem Neffen Majorana waren und wie die Diskussionen über die Relativitätstheorie zwischen ihnen aussahen: zwischen Ettore, der daran glaubte, und Quirino, der sich weigerte, sie anzuerkennen.
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»I will show you fear in a handful of dust«,* sagte der Dichter. Dieses Schaudern, glauben wir, muß Majorana in einer Handvoll Atome erblickt haben. Hat er präzise die Atombombe vor sich gesehen? Die Experten und besonders diejenigen, die die Atombombe hergestellt haben, schließen das entschieden aus. Wir können nichts anderes tun, als Geschehnisse und Daten anzuführen, die Majorana und die Geschichte der Kernspaltung betreffen, was ein beunruhigendes Bild ergibt. Jedenfalls für uns, die Uneingeweihten, die Laien. Im Jahre 1931 hatten Irene Curie und Frederic Joliut die Resultate von verschiedenen ihrer Experimente als Compton-Effekt auf die Protone interpretiert. Als Majorana diese Interpretation las, hatte er spontan das gesagt – wie Segrè und Arnaldi übereinstimmend bezeugten –, was Chadwick am 17. Februar 1932 in einem Brief an die Zeitschrift Nature schrieb. Nur daß Chadwick, wenn der Titel seines Briefes nicht täuscht, seine Interpretation lediglich als Möglichkeit anführte (Possible existence of a neutron), während Majorana mit Sicherheit und voll Ironie erklärt hatte: Diese Narren, da haben sie den Zusammenhang von Proton und Neutron (aus denen ein Deuteron, der Kern des schweren Wasserstoffatoms besteht) entdeckt – und haben es nicht gemerkt! 1932, sechs Monate, ehe Heisenberg sein Werk über die Wechselwirkungsenergie der Kerne veröffent-
* »In einer Handvoll Staub werde ich Dir das Schaudern zeigen«, T.S. Eliot, Das wüste Land, 1,30 (A. d. Ü.) 276
lichte, hatte Majorana, wie wir gesehen haben, die gleiche Theorie den Kollegen vom römischen Institut unterbreitet und auf ihr Drängen, seine Theorie sofort zu publizieren, negativ reagiert. Als Heisenberg dann diese Theorie veröffentlichte, kommentierte Majorana, daß er damit alles gesagt habe, was man zu diesem Thema sagen konnte, und wahrscheinlich schon zu viel. Ein Zuviel in wissenschaftlicher Beziehung oder ein Zuviel im moralischen Sinn? 1937 veröffentlichte Majorana seine Theorie simmetrica dell 'elletrone e del positrone (Theorie über die Symmetrie von Elektron und Positron), die, wie wir glauben, nicht rezipiert und bekannt wurde. Das geschah erst zwanzig Jahre später, mit den von Lee und Yang entdeckten elementary particles and weak interaction. Diese drei Fakten demonstrieren eine Tiefe und Schnelligkeit der Intuition, eine Sicherheit in der Anwendung der Methode, umfangreiche Kenntnisse und die Fähigkeit, sie auf dem raschesten Weg in die Praxis umzusetzen, die Majorana durchaus befähigt haben konnten zu begreifen, was andere nicht begriffen, zu sehen, was andere nicht sahen, und gewisse Folgen vorwegzunehmen, wenn nicht auf dem Gebiete der Forschung und der Resultate, so doch auf dem Gebiet der Intuition, der Vision, der Prophezeihung. Arnaldi sagt: Einige der Probleme, mit denen er sich befaßte, die Methoden, die er dabei anwandte, und, allgemein gesehen, die Wahl der mathematischen Mittel, mit denen er sie in Angriff nahm, zeigen eine natürliche Tendenz, seiner Zeit vorauszueilen, die in manchen Fällen etwas Prophetisches an sich hatte. Und Fermi äußert während eines Gespräches mit Giuseppe Cocconi 1938 nach Majoranas Verschwinden: 277
Denn sehen Sie, auf der Welt existieren Wissenschaftler verschiedener Kategorien. Personen zweiten und dritten Ranges, die ihr Bestes tun, aber nicht weit kommen. Personen ersten Ranges, die zu Entdeckungen gelangen, welche für die wissenschaftliche Entwicklung von grundlegender Bedeutung sind. Aber dann gibt es noch die Genies wie Galilei undNewton. Ettore Majorana war eben ein solches Genie. Majorana besaß etwas, was damals niemand sonst auf der Welt besaß; unglücklicherweise mangelte es ihm dagegen gerade an dem, worüber die anderen normalerweise fast alle verfügen: an gesundem Menschenverstand.
Wenn Fermis Urteil korrekt wiedergegeben wurde, hat er allerdings offensichtlich etwas vergessen: ein Genie wie Galilei und Newton gab es auch damals auf der Welt, nämlich Einstein. Wie dem auch sei, Majorana war Fermis Meinung nach ein Genie. Und warum hätte er also nicht sehen oder vorhersagen können, was die dritt-, zweit- und erstrangigen Wissenschaftler noch nicht sehen oder vorausahnen konnten? Außerdem hatte ein deutscher Physiker schon im Jahre 1921, auf die Atomforschungen von Rutherford hinweisend, geäußert: Wir leben auf einer Insel aus Schießbaumwolle; er fügte aber hinzu, daß wir Gott sei Dank noch nicht das Streichholz gefunden hätten, sie anzuzünden (offenkundig kam es ihm überhaupt nicht in den Sinn, daß man das Streichholz nicht anzünden mußte, wenn es einmal gefunden war). Warum sollte ein Genie der Physik, das fünfzehn Jahre später einer möglichen Kraft wie der Kernspaltung gegenüberstand, auch wenn diese noch keine anerkannte Entdeckung war, nicht begriffen haben können, daß dieses Streichholz schon da war
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– und voll Grauen, voll Entsetzen geflüchtet sein? Weil es ihm an gesundem Menschenverstand mangelte? Es ist eine mittlerweile allgemein bekannte Geschichte, daß Fermi und seine Mitarbeiter die Kernspaltung im Jahre 1934 theoretisch entdeckt hatten, ohne dessen gewahr zu werden: die Spaltung des Urankerns. Ida Noddack hatte diesen Verdacht, aber weder Fermi noch andere Physiker nahmen ihre Behauptungen zunächst ernst, sondern erst vier Jahre später, Ende 1938. Ettore Majorana konnte sie sehr wohl ernst genommen und vorausgesehen haben, was die Physiker des römischen Instituts sich nicht vorzustellen vermochten. Um so mehr, als Segrè von »Blindheit« spricht. Der Grund dieser unserer Blindheit ist auch heute noch nicht klar, sagt er. Vielleicht neigt er dazu, diese Blindheit als eine Art Vorsehung zu verstehen, die verhütete, daß Hitler und Mussolini in den Besitz der Atombombe kamen. Die Bewohner von Hiroshima und Nagasaki wären wohl nicht geneigt gewesen, das so anzusehen – wie es in Angelegenheiten der Vorsehung immer der Fall ist. XI »I had forgot that foul conspiracy / Of the beast Caliban and his confederates / Against the life …«* Ein kurzes Wort, * Vergessen hatt' ich ganz den schnöden Anschlag des Viehes Caliban und seiner Mitverschworenen, mich umzubringen… (William Shakespeare, Der Sturm, in: Sämtliche Dramen, Bd.1: Komödien, übersetzt von A. W. Schlegel und Dorothea Tieck. München, Darmstadt 1971, S. 79). 279
mein – mein Leben – ist vor Prosperos Satz davongeflogen. So wiederholen wir ihn uns, hinter dem Kartäusermönch einhergehend, der uns bei unserem Besuch durch das uralte Kloster führt. Er ist Holländer. In unserem Alter. Hochgewachsen, hager. Er stützt sich auf einen langen, derben Stock, wie ihn die Hirten und Eremiten tragen, und zieht unter Schmerzen einen dick verbundenen Fuß hinter sich her. Mechanisch erzählt er von der Geschichte des Ordens, der des Klosters, aber ab und an dreht er sich um, verweilt bei einem Satz oder einem Wort und fixiert uns mit einem klaren Blick, in dem jedoch etwas wie Mißtrauen, wie Ironie aufblitzt. Es ist, als errate er bereits die Fragen, die wir ihm stellen wollen. Und nimmt sie vorweg: so wehrlos wie entwaffnend. Die Geschichte des Ordens, sagt er, habe keine literarischen oder wissenschaftlichen Ruhmestaten zu verzeichnen. Das einzig Erwähnenswerte, was ein Kartäusermönch in diesem Kloster je geleistet habe, sei das Abschreiben einer alten Chronik gewesen. Doch von dem Augenblick an, da wir diese Art kleiner, von Wäldern umgebener Zitadelle betreten haben, ist alle Angst, alle Neugier von uns abgefallen. Prosperos Satz hallt in unserem Gedächtnis wider, so laut wie zwischen kahlen Wänden. I had forgot that foul conspiracy / Of the beast Caliban and his confederates / Against the life. Und ständig reihen sich andere Sätze daran, von demselben Prospero gesprochen, Sätze aus derselben Szene des 4. Aktes aus dem Schauspiel Der Sturm, dem zweitletzten, ja, in gewissem Sinne sogar dem letzten Werk von Shakespeare: » …These our actors, / As I foretold you, were all Spirits 280
and / Are melted into air, into thin air: / And, like the baseless fabric of this vision, /The cloud-capp'd towers, the gorgeous palaces, / The solemn temples, the great glabe itself, / Yes, all which it inherit, shall dissolve / And, like this insubstantial pageant faded / Leave not a rack behind. We are such stuff / As dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep …«* Warum diese Visionen – der große Garten, in dessen Mitte, wie auf einem Bild von Desiderio, die Arkaden und die Fassade einer Kirche stehen: zerfallen, infolge eines Erdbebens, wie es in der kleinen Broschüre heißt, die uns der Kartäusermönch eingangs geschenkt hat; die langen und verlassenen Gänge, die leeren Zellen, jede mit einem Fenster, dessen Sims den Mönchen auch als Schreibpult diente (eine Lösung, sagt der Kartäuser, die Le Corbusier außerordentlich gefallen hat); die alten vergilbten Bilder, die zerfressenen Radierungen des Ordensgründers – alles dies gibt uns ein Gefühl von Auflösung, von Unwirklichkeit, wie es im Traum geschieht, wenn man weiß, daß man träumt. Aber vielleicht hat aie Verlockung des einen Satzes zum darauffolgenden mehr mit dem Sinn unserer Reise, unseres Besuches zu tun, als wir denken: vielleicht hat sich jemand in dieses Kloster vor dem Verrat des Lebens gerettet, indem er die Verschwörung gegen das Leben *… unsre Spieler, / Wie ich Euch sagte, waren Geister und / Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft: / Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden / Die wolkenhohen Türme, die Paläste, / Die hehren Tempel, selbst der große Ball, / Ja, was daran nur teilhat, untergehn / Und, wie dies leere Schaugepräng erblaßt, / Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Stoff / Wie der zu Träumen, und dies kleine Leben / Umfaßt ein Schlaf. (William Shakespeare, Der Sturm, a. a. O.)
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verriet. Aber die Verschwörung ist durch diese Flucht nicht aus der Welt geschafft, die Auflösung geht weiter, der Mensch zersetzt sich immer mehr und verdunstet zu jenem Stoff, aus dem die Träume sind. Und ist der Schatten, der wie aufgedruckt auf einem Mauerfetzen in Hiroshima zurückblieb, nicht schon wie ein Traum, ein Traum von dem, was der Mensch einmal »war«? Nun, wir haben diese Reise gemacht, haben diese Zitadelle der Kartäuser betreten, um einer dünnen, beunruhigenden Fährte von Majorana nachzugehen. In Palermo sprachen wir eines Abends mit Vittorio Mistico, dem Direktor der Zeitung L'ora, über Majoranas rätselhaftes Verschwinden. Plötzlich kam Mistico eine ganz deutliche Erinnerung: während des Krieges oder unmittelbar danach, so um das Jahr 1945 herum, hatte er damals, sehr jung, gemeinsam mit einem Freund ein Kartäuserkloster besucht, und während dieses Besuches hatte ihnen irgendein Laienbruder erzählt (die »Brüder« leben freier, der Welt mehr zugewandt als die »Patres«, führen jenes aktive Leben, welches es den Patres erlaubt, sich einem kontemplativen Leben hinzugeben; die Stunden, die die Patres dem Studium und der Lektüre geistlicher Schriften widmen, verbringen die Laienbruder draußen beim Kochen und der Pflege des Gemüsegartens; oft verlassen sie auch das Kloster und unterhalten sich in aller Freiheit mit den Leuten von draußen) – damals also hatte ihnen jemand anvertraut, daß im Kloster, unter den Patres, ein großer Wissenschaftler lebe. Um sich der Richtigkeit dieser Erinnerung zu versichern, rief Mistico sofort den Freund an, der ihn damals bei diesem Besuch begleitet hatte. Der Freund bestätig282
te es und präzisierte, daß der Laienbruder, der ihnen damals im Vertrauen die Mitteilung gemacht hatte, ein Neffe des Schriftstellers Nicola Misasi war. Aber da Nisticò eben Journalist war, trieb es ihn, etwas Aktuelleres zu finden, etwas, von dem jetzt, in jüngerer Zeit die Rede war, anstatt der Spur jenes Wissenschaftlers nachzugehen, von dem ihnen der Neffe von Nicola Misasi vor mehr als dreißig Jahren erzählt hatte. Deshalb fügte er hinzu, daß man sage, was aber durchaus nicht sicher, sondern vielleicht nur Gerede sei, im Kloster, in diesem Kloster habe sich ein Mann von der Besatzung der B-29 aufgehalten oder halte sich dort noch immer auf, die die Atombombe über Hiroshima ausgeklinkt hatte. Savinio* behauptete, ganz sicher zu sein, daß die Ruinen von Troja wirklich die von Schliemann entdeckten waren, weil während des Ersten Weltkrieges der * Alberto Savinio, der größte italienische Schriftsteller zwischen den beiden Weltkriegen (Bruder des größten italienischen Malers dieser Zeit, der sich Andrea De Chirico nannte). Aber wer kennt schon in Italien seine Werke, trotz der verdienstvollen zwei oder drei Neuauflagen, die man in den letzten Jahren von seinen Büchern herausgab? Eben dieser Savinio, der sich mitunter über mittelmäßige oder dumme Leser ausließ, fragte sich: Gibt es unter den Savinio-Lesern Mittelmäßige oder Dumme? Was nicht als Frage, sondern als Behauptung zu verstehen war: er war sicher, daß es sie nicht gab. Heute freilich, da sich die Zahl der Mittelmäßigen und mehr noch die der Dummen auf das erschreckendste vermehrt, glauben wir, daß sich die Zahl der potentiellen oder aktiven Savinio-Leser so verringert hat, daß es sie kaum noch gibt. Hoffen wir, daß die Übersetzung seiner Werke ins Französische, mit deren Veröffentlichung Gallimard begonnen hat, ihm außerhalb Italiens die Leserkreise erschließt, die hierzulande nicht wachsen, sondern immer kleiner werden. 283
Agamemnon sie beschossen hatte. Wenn die immer noch nicht beschwichtigte Wut Agamemnons sie nicht dazu angeregt hätte, warum sollten sie Kanonen auf Ruinen in einem Ödland richten? Die Namen sind nicht nur Schicksale, sie sind die Dinge selbst. Das Absurde und das Geheimnis nistet in allem, Giacinta, sagt der Dichter José Moreno Villa.* Völlig »rational« dagegen ist das Geheimnis von Ursache und Wirkung, ein stetes und dichtes Gewebe von Bedeutungen, das von einem Punkt zum anderen, von einer Sache zur anderen, von einem Menschen zum anderen führt – kaum sichtbar, fast unaussprechlich. In dem Augen-
*Um im Stil Savinios fortzufahren: dieser Vers haftet unauslöschlich im Gedächtnis dank jenem weiblichen Namen, der bei uns kaum gebräuchlich ist, obwohl Capuana ihn zum Titel eines Romans gemacht hat, der nicht einmal schlecht ist. (Jose Moreno Villa gibt Giacinta das Attribut »peliculera«, ein unübersetzbares Wort, wenn es nicht mit filmtoll, Kinofan, den Mythen und Träumen des Films verfallen, umschrieben wird, das aber Montale, um des Reimes willen, mit »fotogen« übersetzt hat.) In diesem Vers ließe sich die gesamte Dichtung Moreno Villas zusammenfassen, wenn man das alberne Spiel mitmachen wollte, wie es jemand zwischen Futurismus und Fragmentarismus auf die italienische Dichtung angewandt hat: ein Vers, der einen ganzen Dichter charakterisiert, ein Vers, der in einer Mikro-Anthologie nicht fehlen dürfte. Wobei nur für Dante eine Ausnahme gemacht wurde, von dem man zwei Zeilen aufnahm. Für solch alberne Spiele ist freilich symptomatisch, daß sie in Anfällen von Verzweiflung aufkommen: wie in diesen Nachkriegsjahren, als das Spiel erfunden wurde, welche zehn Bücher es sich lohnen würde, vor der nuklearen Zerstörung zu retten. Als ob es genügte, die zehn Bücher zu retten, wenn man nicht imstande ist, die Menschen zu retten, die diese Bücher auch lesen können. Und so hat uns diese kurze Abschweifung im Stil Savinios wieder zu unserem Thema zurückgeführt. 284
blick, in dem Mistico uns von der unerwarteten, unvorhersehbaren, unglaublichen Kunde berichtete, die die ferne Stimme des Freundes ihm bestätigt hatte, erleben wir eine metaphysische Offenbarung, eine mystische Erfahrung: wir haben, jenseits der Vernunft, die rationale Sicherheit erhalten, ob sie nun mit den realen und nachprüfbaren Fakten übereinstimmt oder nicht, daß jene zwei gespenstischen Tatsachen, die beide auf den gleichen Punkt hinausliefen, nicht ohne Bedeutung sein konnten. Der Verdacht Nisticos, daß der »große Wissenschaftler«, von dem ihm vor dreißig Jahren »Bruder« Misasi erzählt hatte, auch Majorana sein könnte; das Gerücht, daß sich im selben Kloster auch der amerikanische Offizier aufgehalten habe oder vielleicht noch aufhalte, von Gewissensbissen gepeinigt, weil er diesen verhängnisvollen Bomber kommandiert oder zu seiner Besatzung gehört hatte – konnten diese beiden Dinge nicht in Beziehung zueinander gebracht werden, sich nicht ineinander spiegeln, sich nicht wechselweise erklären, nicht die Bedeutung einer Enthüllung haben? Aber jetzt, dem Kartäusermönch folgend, der uns durch Gänge, Treppen und Zellen führt, möchten wir keine Fragen stellen, nichts überprüfen. Wir fühlten uns mitverstrickt, zur Wahrung eines Geheimnisses verpflichtet. Wir stellen einige Fragen: aber nur, wenn der Mönch sich umdreht und uns forschend ansieht, Fragen erwartend, immer mit diesem Blick, in dem Mißtrauen und Ironie blitzen. Halten sich Amerikaner im Kloster auf? Nein, zur Zeit nicht, einer ist zwei Jahre lang hier gewesen, dann wieder ausgetreten, auch aus dem Orden, glauben wir zu verstehen. Aus einem Vor285
trag, den er über die Amerikaner hält: zuerst brennen sie darauf, solch ein Leben zu führen, dann werden sie unruhig, dann müde. Von der Unmöglichkeit, daß Wissenschaftler hier unter den Kartäusern wären, hat er, unseren Fragen zuvorkommend, schon gesprochen. Aber wenn nun einer »vorher« Wissenschaftler gewesen sei, »vorher« Schriftsteller oder Maler? Er breitet die Arme aus, lächelt leise. Dann sind wir auf dem Friedhof: dreißig Hügel aus roter Erde, wie Sarkophagdeckel geformt, ein schwarzes Holzkreuz auf jedem Grab. Ohne Namen. Jeder »Pater« oder »Bruder«, der stirbt, wird derart in der Reihenfolge neben einen anderen gelegt, daß der jüngst Verstorbene neben einem lange vor ihm Verstorbenen liegt. Auf dem dritten Grabhügel links liegen Blumen: dort ist der Prior begraben, der vor einigen Monaten gestorben ist. Der nächste, der sterben wird, kommt in das vierte Grab, neben einen, der schon länger als dreißig Jahre tot ist. Ein endgültiger, heiliger Friede herrscht zwischen diesen schwarzen Kreuzen. Auch wir fühlen Frieden in uns. An der Schwelle, als er sich von uns verabschiedet, fragt der Kartäusermönch: Ho dato risposta a tutti i vostri quesiti? Habe ich alle Ihre Fragen beantwortet? Er sagt tatsächlich quesiti. Aus der Unsicherheit seines Italienisch oder der Sicherheit seines Lateins heraus? Wir haben wenige Fragen gestellt, er hat viele erraten und ist ihnen ausgewichen. Aber wir antworten: Ja. Und es ist die Wahrheit.
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