London 1666 � von Adrian Doyle
Sonntag, 26. August 1666 Die Pestkutsche holperte über regennasse Pflastersteine. Ab un...
35 downloads
992 Views
979KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
London 1666 � von Adrian Doyle
Sonntag, 26. August 1666 Die Pestkutsche holperte über regennasse Pflastersteine. Ab und zu war zwischen den Hufschlägen ein Peitschenknall zu hören oder ein derber Fluch. Ruby duckte sich und kroch noch ein Stückchen tiefer in die Schatten des Kellerlochs. Sie zitterte vor Kälte, weniger vor Furcht, obwohl sie – natürlich – auch Angst hatte. Es war gottlos früh an diesem Morgen und erst vage hell. Wer jetzt unterwegs war, der hatte entweder kein Zuhause, oder seine Geschäfte duldeten trotz des Feiertags keinen Aufschub. Ruby wartete, bis die Geräusche der Kutsche verklungen waren, und stellte sich vor, wie die Leute jetzt vor Kummer und dumpfer Sorge, es könne wieder losgehen, steif und wach in ihren Betten lagen.
Was bisher geschah … � Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter der Blutsauger, mit Gott versöhnt. Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren alle Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch zum Knaben heranwächst. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet. Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes – und daß das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire
sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen. Eine ähnliche Erfahrung machte auch der Geist von Beth MacKinsey, die von Lilith einst im Korridor der Zeit getötet wurde. Als Gott den Fluch von der Ur-Lilith nahm, »erwachte« Beth und wurde auf ein fernes Licht zugezogen – als plötzlich alle Türen des Korridors aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht Beth im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Doch nicht Beth ist das wahre Böse in Prag. Satan streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet er die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg wird. In den Wirren der Geschehnisse kann Beth fliehen … Durch die Hölle jenseits des Tores gelangen Lilith und Landru in die Vergangenheit der Erde. Lilith wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 im Körper der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren. Landru findet sich im Körper des Vampirs Racoon wieder, in derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, verderbliche Macht die dortige Vampirsippe abschlachtet. Und er trifft auf eine Frau, die er aus der Zukunft kennt: Beth MacKinsey! Doch sie hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren und ist auf der Suche nach Satan, der ihr Kind geraubt hat! Seine Spur weist von Paris nach Heidelberg. Dort bereitet eine »Loge der Nacht« seine Ankunft vor. Allerdings werden drei Manifestationen erwartet, die sich hier vereinen sollen. In Regensburg stößt Lilith in Lenas Körper auf eine Bruderschaft, die sie bereits aus der Gegenwart kennt: die Illuminati – und deren Anführer Salvat, der ebenfalls in dieser Zeit weilt! Warum, kann Li-
lith noch nicht ergründen. Sie schließt sich den Mönchen an, als diese nach Heidelberg ziehen. Dort also werden ihre Wege sich treffen. Allein Landru erlebt das Zusammentreffen nicht mehr. Als Beth auf den Vater ihres Kindes trifft, tötet dieser den mächtigen Vampir – bzw. Racoons Körper – fast beiläufig. Landrus Geist wird zurückgeschleudert in die Hölle hinter dem Tor, wo sich sein echter Körper befindet und wo er nun seine ganz persönliche Verdammnis durchlebt. Beth sieht ihren Sohn wieder, der Satan getreulich dient. In einer entweihten Kirche findet das Ritual statt, das die drei Manifestationen vereinen soll. Doch im entscheidenden Moment greifen die Illuminaten ein! Und Salvat entpuppt sich als überirdisches Wesen, das mit einem Flammenschwert Satan schwer verletzt. Er flieht und nimmt Beth mit sich, während deren Sohn – so wie viele Mitglieder der Loge – stirbt. Salvat, ebenfalls verletzt, kann ihm nicht folgen. So verankert er den Auftrag, Satan den entscheidenden Stoß zu versetzen, in Lilith und Tobias, einem jungen Mann, der als einziger Bewohner Heidelbergs dem Einfluß Satans trotzen konnte. Sie finden ihn in einem französischen Heerlager, wo er Beth dazu benutzt, einen Riß in der Zeit zu schaffen, durch den er entkommen kann. Lilith, die beim Kampf in der Kirche ihre Rechte verlor und nun eine fremde Hand, die der Teufel einst einem dienstbaren Heidelberger schenkte, an deren statt trägt, verletzt Satan damit – und folgt ihm durch den Riß! Beth und Tobias bleiben zurück …
Voriges Jahr um diese Zeit hatte die böse Krankheit die ganze Stadt in ihren Klauen gehalten. Die meisten Häuser waren verlassen gewesen, die Straßen und Plätze von Unkraut überwuchert. Selbst der König und sein Gefolge hatten London den Rücken gekehrt gehabt, die Zünfte und Bürger hatten sich von der Panik mitreißen und aus den Toren der Stadt schwemmen lassen. Kaum jemand hätte seinerzeit geglaubt, daß das Leben so rasch wieder Einzug in die toten Gassen halten würde. Doch irgendwann, erinnerte sich Ruby, mußte der dunkle Gesell mit der Sense wohl ein Einsehen gehabt haben – oder er war einfach nur des pausenlosen Menschenmähens müde geworden. Menschenmähen. Sie schauderte zusammen. Auch, weil ihr niemand sagen konnte, warum sie selbst davongekommen war, obwohl der Schwarze Tod bereits überall an ihrem Körper geblüht hatte … Als sich knochige Hände um ihre Fußgelenke schlossen, schrie Ruby gellend auf und keilte reflexartig nach hinten aus wie ein Gaul. Die heiseren Laute, die aus dem Loch quollen, in das sie gekrochen war, hätten auch ein verzerrtes Echo ihrer eigenen Schreie sein können. Offenbar hatte sie genau ins Schwarze getroffen. Die Umklammerung löste sich. Ruby rutschte vollends hinaus auf die Straße und merkte kaum, wie sie sich an einigen Stellen die Haut blutig schürfte. Als sie über ihre Schulter zurückblickte, sah sie dort, wo sie eben noch gekauert hatte, eine häßliche Mördervisage und eine drohend geschüttelte Faust. »Warte nur, ich krieg dich schon …!« Niemals! dachte sie mit brennendem Herzen. Du ekelhafter Hurensohn! Sie kam auf die Füße. Zwischen den hohen Häusern war es zugig. Regen trieb in ihr Gesicht. Der lausig kalte Wind war kaum zu ertragen. Aber zu frieren war immer noch besser als … Die Pfoten sollen dir abfaulen, du verdammte zweibeinige Ratte, und der
Schwanz obendrein! Die krumme Gestalt versuchte aus dem Keller zu klettern. Ruby begriff erst jetzt, wie ernst es dem Verwahrlosten war. Wahrscheinlich hatte er noch nie so junges, zartes Fleisch berührt wie ihres. Und was riskierte er schon? Wer stand einer Waisen ohne Obdach bei? Niemand! Hilf dir selbst, Träumerin! Oh, nicht alles hatte sie geträumt. Die Pest war keine Einbildung gewesen. Sie hatte überall in der Stadt gehaust. Und noch heute karrten sie jeden Tag ein paar Leichen zu der Grube, um zu verhindern, daß die Seuche neuerlich um sich griff und die Stadt diesmal vielleicht vollständig und für immer entvölkerte … Ruby rannte. Zu ihrem Glück war ihr Verfolger ein ungelenker Tölpel. Zwar hatte er seinen Unterschlupf inzwischen verlassen, doch strauchelte er mehr, als daß er einen raumgreifenden Schritt vor den anderen setzte und sie ernsthaft Gefahr lief, eingeholt zu werden. Er war entweder betrunken, oder er litt an Gebrechen. Seine Schimpfkanonaden hallten dessen ungeachtet sehr vehement durch die St. Bartholomew Street, die an dieser Stelle keine zweihundert Yards vom Fleet River entfernt lag, der weiter unten in die Themse mündete. Ruby kannte einige Verstecke entlang des befestigten Kanals, deshalb lenkte sie ihre Füße dorthin. Als sie sich aber das nächste Mal umsah, lag die Straße plötzlich leer in der schmutzig grauen Tristesse dieses Morgens, und erst da bemerkte sie, wie still es wieder geworden war. Es mochte auf sieben oder acht Uhr früh zugehen, aber weil es Sonntag war, wälzte sich noch nicht die übliche Schar der Angestellten, Arbeiter, Jobsucher und fliegenden Händler durch den Bezirk rings um den Pye Corner. Ruby war stehengeblieben. Sie vermied selbst jedes Geräusch und lauschte in nähere und weitere Umgebung. Als sie weder Schritte
noch Flüche oder Gehuste hörte, akzeptierte sie zögernd, daß der Unhold seine Verfolgung eingestellt hatte, nachdem ihm klargeworden war, daß sie beweglicher und schneller als er war. Mit geballten Fäusten spannte sie jeden Muskel ihres keineswegs mageren, sondern unter den Lumpen sehr gut proportionierten Körpers an. Nicht einmal die ungewaschenen Haare und die viel zu großen Klamotten konnten verbergen, daß sich unter dieser Kruste eine Schönheit verbarg. Die Kerle schienen für so etwas ohnehin einen Riecher zu haben. Miese kleine Bastarde! Ruby hatte, was das anging, bereits einige trübe Erfahrungen gemacht. Vor einem Jahr, sie war fünfzehn gewesen, hatte der hochanständige und wohlangesehene Dr. Burnet sie auf dem Behandlungsstuhl seiner Praxis – Mieser kleiner, toter Bastard! Ruby sog tief die dunstverhangene Morgenluft ein. Ihre Lungen hatten sich längst daran gewöhnt. Der Mensch gewöhnt sich an vieles, das hatte schon ihre Mutter jeden Tag einmal gesagt, als Ruby noch ein Kind und bei ihr gewesen war. Vielleicht sagte sie es noch immer gegen die kahle Wand ihrer Stube. Vielleicht gelang ihr nur noch dieser Satz, dieser eine, sonst gar kein Wort mehr … Traurig ließ Ruby die Spannung aus ihrem Körper fließen. Sie merkte, daß sie Hunger hatte. Und Durst. Deshalb beschloß sie, irgendwo etwas zu stehlen. Den Weg zum Kanal, wo die Häuser armer Leuten standen, behielt sie bei. Eine Kleinigkeit ließ sich dort immer besorgen, im Gegensatz zu den Palästen der reichen Geldsäcke, wo die Diener angewiesen waren, jeden gleich windelweich zu prügeln, der es auch nur wagte, die Finger nach einer trockenen Brotkante auszustrecken. Ruby hatte, was Arme anging, genausowenig Gewissensbisse wie bei Reichen. Skrupel konnte sie sich nicht leisten.
Sie glaubte auch nicht, daß sie je wieder irgendwo seßhaft werden könnte. Sie war verdammt, durch die Stadt zu ziehen. Ruhelos, immer in der Angst, erkannt zu werden, denn sie haßte es, wenn Leute mit den Fingern auf sie zeigten und raunten: »Seht nur, das Pestmädchen! Erinnert ihr euch? Wißt ihr noch, wie sie vor einem Jahr aussah …?« Sie mußte kurz stehenbleiben, weil ihr schwarz vor Augen wurde. Sie stützte sich mit beiden Armen an einer Hauswand ab. Der Schwindel verging wie üblich, und sie erlangte die Gewalt über ihren äußerlich längst wieder makellosen Körper zurück. Aber als sie den Weg fortsetzen wollte … … stand plötzlich jemand im Weg! Genau vor ihr! Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie er dorthin gekommen war, noch dazu in dieser gespenstischen Lautlosigkeit. Aber da stand er, zum Greifen nahe, und in seinen geröteten Augen konnte sie lesen, was er mit ihr vorhatte. »Hab ich dich, mein Täubchen? Jetzt werd’ ich dir die Federn stutzen. Du sollst nie vergessen …« Ruby wartete nicht, bis er ausgeredet hatte. Sie riß ihr rechtes Bein empor und trat zu. Blitzschnell und mit aller Wucht, zu der sie fähig war. Seine Stimme erstickte in einem ähnlichen Gurgeln, wie es im Fluß den einen oder anderen Strudel markierte. Aber trotz des Tritts und der Tränen, die der Schmerz ihm in die Augen trieb, reagierte er erschreckend gezielt. Seine Hand schoß vor und umspannte Rubys Knöchel. Es gelang ihr nicht mehr, auszuweichen. Fast spielerisch brachte er Ruby zu Fall. Ihr Standbein wurde förmlich weggerissen. Das nächste, was sie spürte, war der harte Boden in ihrem Kreuz. Zwar konnte sie durch eine instinktive Reaktion verhindern, daß sie mit dem Kopf aufschlug und sich dabei vielleicht sogar den Schädel brach, aber der Katzenbuckel, mit dem sie dies erreichte, schien
durch die Wucht des Aufpralls selbst in tausend Trümmer zu gehen. Der widerwärtigste Schmerz, an den sie sich erinnern konnte, züngelte durch ihr Rückgrat. Für ein paar quälend lange Herzschläge war sie überzeugt, nie wieder aufstehen zu können. Erst das Lachen ernüchterte sie. Das teuflische Gelächter des Hurensohns, der ihr das angetan hatte! Breitbeinig und glotzend stand er über ihr. Und Ruby konnte nicht anders: Sie wünschte ihm für das, was er ihr angetan hatte und noch antun würde, die Pest an den Hals! DIE PEST! Für unbestimmte Dauer rückten wieder die Bilder in ihr Bewußtsein, die sie liebend gern vergessen hätte. Die Karren voller Toter … das Toben der unrettbar Verlorenen … rote Kreuze auf den Haustüren versiegelter Häuser, dazu die flehentlichen Aufschriften: »Gott erbarme dich unser …« Der Allmächtige hatte sich keines der Elenden erbarmt. Nur mir. (Der Allmächtige …?) Wie durch einen Mantel aus Watte hindurch spürte Ruby, wie sie hochgehoben und von dem immer noch lachenden und in sich hineinkichernden Mannsbild geschultert wurde. Er war gar nicht so schwach und unbeholfen, wie er den Anschein erweckt hatte! Ruby begriff, daß sie ihm auf den Leim gegangen war. Aber für Reue war es zu spät. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg. Es war nicht schwer zu ergründen, was er mit ihr vorhatte. Sie besaß weder Geld noch Schmuck, nur ein paar Lumpen, die nicht besser waren als seine und … sich selbst. Ja, es war klar, was er ihr antun wollte. Dieser ungewaschene, ungehobelte, gierige Dreckskerl würde sie vergewaltigen und dann in den Fluß werfen, wo die Fische sie bis auf das Skelett abnagen würden …
Nein! � Es mußte doch … � Ruby glaubte zunächst, sich die Stimme nur eingebildet zu haben � – die Stimme, die sagte: »Laß sie los! Leg sie ganz sacht wieder auf den Boden zurück. Und dann sieh zu, daß du fortkommst, oder ich werd’ persönlich dafür sorgen, daß man dich aufhängt!«
* Samuel Pepys war schon die ganze Nacht unterwegs. Zuerst hatte er in der »Trompete« gezecht und war mit der Wirtin, Mrs. Lane, in ihre Wohnung hinaufgegangen, wo sie ihn wieder einmal angebettelt hatte, ihrem Taugenichts von Gatten eine Stelle zu vermitteln. Nachdem er ihr vage Bereitschaft signalisiert hatte, war sie ihm sogleich an die Hose gegangen. Doch der ungezogene Balg im Nebenzimmer, den sie im letzten Jahr zur Welt gebracht hatte, hatte die ganze Zeit geplärrt, so daß er ihre geschickten Lippen und die Zunge nicht recht hatte genießen können. Um die Sache zu beenden, hatte er sie rasch genommen und sich mit ein paar unverbindlich gehaltenen Zusagen davongemacht. Danach hatte er noch zwei weitere Schenken besucht, mit diesem und jenem geplaudert und gegen Morgen Lust auf einen Spaziergang verspürt. So war er Zeuge des gemeinen Angriffs eines tumben Kerls auf eine zierliche Gestalt geworden, die Pepys im ersten Betrachten zunächst für einen Burschen gehalten hatte. Doch schon beim zweiten Hinsehen waren ihm die unübersehbaren Attribute aufgefallen, für die er ein Auge hatte. Nicht der unbestechliche Chronist in ihm, zu dem er sich berufen fühlte, viel mehr noch der unverbesserliche Schwerenöter, der schon manches Gelübde abgelegt, aber auch ebenso oft gebrochen hatte, sofern es die eheliche Treue anging … »Laß sie los! Leg sie ganz sacht wieder auf den Boden zurück. Und
dann sieh zu, daß du fortkommst, oder ich werd’ persönlich dafür sorgen, daß man dich aufhängt!« Noch während er dem Verwahrlosten seine Drohung entgegenschleuderte, eilte Pepys beherzt auf ihn zu. Er hatte nicht übertrieben, ganz und gar nicht. Sein Wort besaß bei Hofe einiges Gewicht, selbst beim König. Wenn er bezeugte, was er hier gesehen hatte … Der Kerl mit dem Bündel Mensch auf seiner Schulter war herumgefahren. Im ersten Moment schien sich ein hämischer Zug um die wulstigen Lippen legen zu wollen, doch dann weiteten sich seine Augen, und er schleuderte seine Last – eigentlich seine Beute – mit einem gutturalen Schrei auf das Pflaster, so daß zu befürchten stand, dies könnte das Ende des Mädchens bedeuten. Von der Halbwüchsigen kam kein Laut, dafür wirbelte das brutale Scheusal halb um die eigene Achse und rannte, ohne auch nur den Versuch zu wagen, Pepys zu attackieren, mit rudernden Armen und laut lamentierend die Straße hinauf Richtung Aldersgate davon. Pepys versuchte nicht, ihm zu folgen. Unschlüssig, ob er sich überhaupt erleichtert fühlen sollte, kümmerte er sich um das Mädchen. Es war bezaubernd. Aber vielleicht war es auch schon tot …
* Ruby blinzelte in ungewisse Düsternis. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß sie sich in einer Kutsche befand, schräg in der Ecke des Verschlags plaziert, so daß sie nicht hatte nach vorn kippen können. Ihr gegenüber saß ein nobler Herr. »Ich fürchtete schon«, sagte er, »ich müßte dich verloren geben, schöne Blume.« Schöne Blume. Pestblüte. Ruby setzte sich ruckartig zurecht. Der Schmerz, der augenblick-
lich überall in ihrem Körper zu pochen begann, erinnerte sie daran, was geschehen war. »Wart Ihr das, der den gemeinen Hund vertrieben hat …?« Das bleich gepuderte Gesicht unter der Perücke lächelt. »Das traust du mir wohl nicht zu?« »Doch … doch!« beeilte sie sich zu versichern, obwohl er wirklich nicht den Eindruck eines erprobten Kämpfers machte. Er sah eher aus wie die vielen Sesselfurzer, die andere Leute um ihr Hab und Gut betrogen … »Wie heißt du?« Vorsichtig tastete sie über ihren linken Unterarm, der stark geblutet haben mußte und immer noch höllisch wehtat, wiewohl ein seidener Schal als Verband herhielt. »Ruby.« Er überlegte so lange, bis das, was er schließlich sagte, wie eine Lüge klang. »Ich bin Mr. Somerset.« Ruby nickte, obwohl sie ihm nicht glaubte. Offenbar fürchtete er, von seiner unverhofften und auch nicht ganz freiwilligen Bekanntschaft kompromittiert zu werden. »Wenn du es gestattest«, fuhr er fort, »möchte ich dir helfen.« »Ihr habt mir schon geholfen – mehr als genug.« Er schüttelte den Kopf. »Da bin ich anderer Ansicht.« Ruby rutschte unruhig auf der Bank hin und her. »Bitte, Ihr müßt mir nicht –« »Ich weiß, daß ich nicht muß«, unterbrach er sie in einem Ton, der vorgab, keinen weiteren Widerspruch zu dulden. »Aber ich möchte. Ich möchte sehr gern. Du bist viel zu schade, um dich ständig deiner Haut erwehren zu müssen. Ich sag es frei heraus: Vielleicht könnte man sich einig werden. Zuerst müssen deine Wunden versorgt werden. Dann brauchst du einfache, aber schickliche Kleidung und ein falsches Zeugnis, das zu besorgen kein Problem sein wird …« »Aber …«, setzte Ruby an. Sie wollte fragen, was dies alles bezwecken sollte, doch er führte bereits unbeeindruckt weiter aus: »Gleich
morgen vormittag wirst du dann bei meiner Frau vorstellig. Sie sucht eine zusätzliche Magd; die andere ist schon alt, oft krank und wird wohl nicht mehr lange bei uns sein … Was ist? Hättest du dazu Lust, oder gefällt es dir draußen in der Gosse besser?« Ruby schluckte. »Wie alt bist du?« fragte er, als sie nicht sogleich antwortete. »Sechzehn.« »Sechzehn …« Er dehnte die Zahl, als wäre sie eine Köstlichkeit, die er sich auf der Zunge zergehen lassen wollte. »Was ist mit deiner Familie?« »Ich habe keine.« »Sind deine Eltern tot?« Ruby zuckte die Schultern. »Du weißt es nicht?« »Nein.« »Bist du fortgerannt von zu Hause?« »Nein.« »Was dann?« Sie überlegte, ob es ihn denn etwas anginge. Er hat dein Leben gerettet! Sie lachte lautlos und tieftraurig. Und jetzt will er eine Belohnung dafür, minderte sie den Wert seines mutigen Einschreitens ab. »Ich bin einverstanden«, sagte sie. »Womit?« »Mit … allem.« Seine Augen leuchteten auf. Verhalten rieb er sich die Hände. »Ich kenne eine Unterkunft ganz in der Nähe meines Hauses. Sie ist schäbig, aber man stellt keine Fragen. Die Kutsche wird uns hinbringen. Aber du steigst alleine aus. Hier …« Er griff unter die Falte seines Rocks und kramte umständlich ein paar Münzen aus einem Lederbeutel. »Das sollte genügen, um dir für eine Nacht ein Dach über dem Kopf zu sichern. Von dem, was übrigbleibt, kaufst du dir mor-
gen ein paar Sachen. Und vergiß nicht, dich zu waschen und zu kämmen. Das Zeugnis laß’ ich morgen in der Früh beim Portier hinterlegen. – Hast du alles verstanden?« »Fast.« Ruby biß sich kurz auf die Unterlippe. »Frag, was du noch wissen willst.« »Was ist, wenn Eure Frau mich ablehnt?« »Das wird sie nicht. Ich zahle die Dienerschaft. Die letzte Entscheidung obliegt dem Herrn des Hauses. Sorgen bereitet mir höchstens etwas anderes.« »Und was?« »Ob du eine Magd glaubhaft machen kannst. Ich fürchte, du kannst die Widerspenstigkeit, die mir durchaus in deinem Blick gefällt, nicht so verstecken, wie es nötig wäre, um –« »Ich kann«, widersprach Ruby. Und im nächsten Moment verwandelte sich ihr Gesicht tatsächlich in eine Maske bedingungsloser Unterwürfigkeit. Selbst die Augen machten die Verstellung mit. Es schien »Mr. Somerset« zu überzeugen. »Ach ja«, sagte er, »ehe ich es vergesse: Nun, da du dich entschieden hast, kann … nein, muß ich dir meinen wahren Namen nennen.« Sie heuchelte Überraschung – ebenso perfekt wie gerade noch die devote Dienerin. »Ich heiße Pepys. Samuel Pepys. Spätestens morgen würdest du es ohnehin erfahren, und du solltest vorbereitet sein – auf jede Überraschung.« »Wie hoch wird mein Lohn sein?« fragte sie. »Das Übliche.« Sein fleischiges Gesicht bekam leichte Schieflage. »Über Gratifikationen unterhalten wir uns nachts, wenn ich an die Tür deiner Kammer klopfe …« Verlegen senkte sie den Blick. Ein scheues Reh. Das selbst nicht wußte, was es wirklich war.
* � er quetscht sich durch das kellerloch. ihm ist schlecht. als er den kopf zu weit nach unten beugt, erbricht er sich. er weiß sofort, daß die kotze anders ist als sonst. aber er weiß nicht, warum. die dunkelheit saugt ihn in sich ein wie ein warmer schoß. (von dem er weiter träumen muß.) ich hätt’ sie umlegen sollen, denkt er. alle beide. verrecken sollen sie … (wie ich?) er atmet schwer. er hat schmerzen. vielleicht auch fieber. glüht seine haut wirklich, oder ist es plötzlich warm geworden? (im oktober, du arschloch?) er fängt an, sich aus den lumpen zu schälen, bis er nackt ist. splitternackt, er hat einen aufgeblähten bauch, aber seine rippen könnte er zählen – wenn er es wollte, er will nicht. er will … was ist das? hat er sich gestoßen? die geschwulst ist neu, und während er sie berührt, scheint sie zu wachsen, größer zu werden, die haut zu spannen … es ist nicht die einzige. er entdeckt noch mehr. sie sind überall. beulen. keine geschwüre, sondern … nein! schreit er. NEIN! dann lahmt seine zunge und schwillt an, gebiert eine beule, größer als die anderen. einen knebel, der den ganzen mund ausfüllt und ihm die kiefer auseinandersprengt, als hätte jemand eine ochsenblase hineingestopft und voll mit luft gepumpt … er kommt auf die beine. viel weiter kommt er nicht. auf seinen augen wachsen punkte, werden taubeneigroß und quellen aus den höhlen. er ist blind, bevor er erstickt; stumm gemacht ward er schon vorher. es ist ein qualvoller tod, wie vom teufel selbst erfunden. ein sinnloser tod. oder einfach nur die rache, an die er nie gedacht …
* Montag, 27. August 1666, 3 Uhr morgens
Ruby wachte auf, nachdem sie ihrem Gefühl nach gerade erst eingeschlafen war. Sie hatte lange wach gelegen, zunächst kein Auge zutun können, obwohl das heiße Bad in der Zinkwanne sie ermattet und schläfrig gemacht hatte. Aber die Unruhe hatte sich als stärker erwiesen. Ihr Herz flatterte wie ein in einen Käfig gesperrter Vogel. Der noble Herr ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Vor allem aber sein Angebot, das eine Falle war … Das Geräusch, von dem sie geweckt worden war, wiederholte sich. Es klang wie eine in den Angeln knarrende Tür, und es gab nur eine Tür in diesem Zimmer! Ruby wagte nicht, sich zu rühren. Sie horchte angestrengt, den Kopf über der verlausten Decke. Sie war schon ein paarmal gebissen worden, noch während sie wachgelegen hatte, und hoffte nur, daß ihr Gesicht verschont blieb, denn nach Tagesanbruch würde sie ein gutes Bild abgeben müssen … Daran dachte sie jetzt nicht mehr. Es mochte noch so absurd sein, aber sie stellte sich vor, der Kerl aus dem Keller hätte sie aufgespürt und würde nun bei ihr einbrechen, um – »Schläfst du schon?« Ruby zuckte zusammen. Ihr Herz setzte einen Takt aus, dann wußte sie, wer in dem stockdunklen Zimmer stand. Sie hatte einen Riegel vorgeschoben, ehe sie sich niederlegte, denn das ganze Haus war eine schlimme Absteige, in der es der wohl größte Fehler gewesen wäre, auch nur einer Menschenseele zu trauen – aber dieser Riegel schien kein Hindernis gewesen zu sein. »Was – wollt Ihr?« Stille. Keine Schritte, kein hörbarer Atem, kein Knarren mehr. Dann, als sich die Spannung in ihr fast zu einem Schrei gesammelt hatte, flüsterte es so nah an ihrem Ohr, daß sie eine Gänsehaut be-
kam: »Dich, schöne Blume … dich … Ich gestehe, ich konnte es nicht mehr erwarten …« Eine Hand nestelte an der Decke. Sie ließ nicht los. »Das Bett ist verlaust«, sagte sie, aber Hoffnung, daß ihn dies jetzt noch abschrecken konnte, hatte sie nicht. »Oh«, flüsterte er nur. Wieder war es eine Weile fast totenstill. Dann spürte sie seine Hand an seinem Arm. Behutsam, aber doch mit Nachdruck zog er sie unter der Decke hervor, aus dem Bett heraus. »Dann sollten wir den Flöhen nicht wehtun. Wir können …«, eine zweite Hand fand ihre Brüste und spielte begehrlich damit, »… es uns auch im Stehen Wohlergehen lassen.« Sie wußte, daß sie sich entscheiden mußte – hier, auf der Stelle. Und sie traf ihre Wahl. Ihr Widerstand erlosch. Die juckenden, entzündeten Bißstellen der Flöhe mißachtend, schmiegte sie sich an Pepys’ fülligen, aber nicht unansehnlichen Körper, der sie, wenn er aufrecht stand, fast um Haupteslänge überragte. Auch wenn sie es sich nicht gern eingestand: Seine Nähe und sein ganzes Gehabe erregten sie. Sehr. Wenn sie mit ihrer Hand hinabgetaucht wäre und ihren Finger in den senkrechten Spalt geschoben hätte, wäre er zum Beweis ihrer Lust naßglänzend zurückgekehrt. Sie wußte nicht, warum sie gerade jetzt wieder an Burnet denken mußte – Dr. Burnet – und an ein gutes Dutzend andere, die sich mit ihr seit vorigem Jahr amüsiert hatten. Eine kurze Weile jedenfalls, ehe sie … »Du stammst doch hoffentlich nicht aus Greenwich?« Pepys’ Flüstern zerstörte die Magie ihrer auflodernden Leidenschaft. »Greenwich?« echote sie verständnislos. »Ja. Dort ist die Pest ausgebrochen, schlimmer denn je – und wie
es heißt, drängen die Flüchtlinge in die City hinein …« Ruby begriff nicht, wie er ausgerechnet jetzt an solche Greuel wie die Pest denken konnte (dabei dachte auch sie fortwährend daran, und sei es auch nur mit einem verschwindend kleinen Funken ihres Verstands). »Wenn Ihr ein solcher Jammerlappen seid«, konnte sie sich nicht verkneifen, ihn anzufahren, »dann müßtet ihr auch Angst vor dem Tripper haben, vor der Syphilis und –« »Schon gut«, brachte er sie zum Schweigen und verschloß ihren Mund kurzerhand mit dem seinem. Er benahm sich recht derb, aber er küßte anständig. Nur seine Zunge war ein wenig widerlich. Sie schmeckte nach Arsen. Ruby wußte darüber Bescheid, weil sich zwei von Burnets Kollegen während ihrer Erkrankung eingebildet hatten, Versuche mit ihr durchführen zu müssen. Angeblich, um sie zu heilen. Aber Ruby hatte sie nicht täuschen können. Später hatte sich ihre Skepsis dann bestätigt, als sie noch von anderen erfahren hatte, die mit allerlei Chemikalien vollgepumpt worden waren – ohne jeden Plan. Keiner außer ihr hatte es überstanden. So hatte sie im Grunde nicht nur die Pest überlebt, sondern auch die närrischen Ärzte, die dem Volk jeden Tag ein neues Wundermittel gegen das Verderben anpriesen. »Komm, nimm ihn in die Hand …« Ruby fühlte einen behaglichen Schauder. Die Finsternis des Zimmers trug das ihre dazu bei, den Zauber, den Pepys vorhin erst durch seine dumme Frage zerstört hatte, neu zu entfachen. »Du siehst wie eine Ikone im Garten des Königs aus«, erklang Pepys’ kehlige Stimme. Ruby störte sich nicht daran, daß er sie so wenig sehen konnte wie sie ihn. Sie fand einen Weg in seine Beinkleider. Pepys stöhnte. Gleichzeitig umfingen seine Hände ihre Brüste und walkten so unbeherrscht in dem zarten Fleisch, daß Ruby eine Weile nicht hätte
sagen können, ob ihre eigene Begierde darunter litt oder gar noch geschürt wurde. »Gefällt dir das?« Sie antwortete nicht, sondern zahlte ihm jeden kleinen, aufwühlenden Schmerz mit gleicher Münze heim – dort unten, wo auch er es zu spüren bekam. Es kamen jedoch keine Beschwerden. So wenig wie von ihr. Sie schaukelten einander höher und höher in die rauschhaften Gefilde der Lust. Irgendwann bog Pepys eines ihrer Beine so weit nach oben, als sollte sie stehend Spagat vor ihm üben. Er legte ihre Ferse ohne Erklärung über seine Schulter und befreite seinen Pfahl aus ihren unermüdlichen Händen. Rubys Pforte war warm und einladend. Er hatte wenig Mühe, einzudringen, wohl aber jede Menge Spaß, denn es erwartete ihn eine beinahe jungfräuliche Enge. Ruby hatte noch keinen Mannskerl erlebt, den dies nicht verrückt gemacht hätte. Ihr Blut geriet mit jedem seiner Stöße mehr in Wallung. Längst hatte sie es ihm verziehen, daß er eine Gegenleistung für seinen Beistand in der St. Bartholomew Street erwartete und der künftigen Bequemlichkeit wegen sogar bereit war, sie in sein Haus einzuschleusen. Von der Sehnsucht, die hinter geheimen Dämmen in ihr hervorbrach, hatte sie bis zu dieser Stunde nichts gewußt – die Sehnsucht nach einem vielleicht nicht sicheren (Was war schon sicher?), aber doch festen Ankerplatz in ihrem unsteten Herumtreiber-Leben. Pepys bot ihr die vielleicht einmalige Chance dazu, die sie nicht verwerfen wollte … Doch dann wurden Rubys Hoffnungen in dem Moment, in dem sie es am wenigsten erwartet hätte, ad absurdum geführt. Ihr Liebhaber bekam offenbar weiche Knie und zog sie mit sich zu Boden. Ruby war noch nicht gekommen, aber es machte ihr nichts aus.
Sie wartete, daß Pepys das Wort an sie richtete, sie lobte oder dergleichen sonst von sich gab. Aber er blieb stumm und begann unruhig auf ihr hin und her zu schaukeln, bis Ruby der Verdacht kam, er könnte sich nicht wohlfühlen. Der Gedanke, sein Herz könnte all die Aufregung am Ende nicht verkraftet haben, entsetzte sie. Doch dann … Ein Fauchen. Ganz nah bei – über – ihnen. »Was war das?« keuchte Ruby und versuchte den schweren Körper von sich herabzuwälzen. Aber Pepys lag weiter wie ein erdrückender Klotz auf ihr. Er zitterte. Aus Angst und Feigheit? Er mußte das Fauchen ebenso wie sie gehört haben. Warum gab er keine Antwort? Ruby fing an, mit den Fäusten gegen seine Brust zu trommeln. Er lag auf seine Arme gestützt und nagelte sie mit dem Gewicht seines Unterleibs förmlich auf dem Dielenboden fest! Das Fauchen wurde lauter und aggressiver. Und es schwebte nun so nah über Rubys Gesicht in der Schwärze der Nacht, daß sie sich – selbst wenn sie es allzu gern gewollt hätte – nicht länger der Erkenntnis verschließen konnte, daß es von Pepys verursacht wurde. Von dem Mann, dessen Schweiß sich gerade noch mit ihrem eigenen vermischt hatte – Rubys Gedanken zerstoben in einem panischen Wirbel. War sie auf einen heimtückischen Mörder hereingefallen? Hatte der »noble Herr« dies alles nur arrangiert, um sich zuerst mit ihr zu vergnügen und sie dann …? Es liefen so viele Wahnsinnige in den Straßen herum. (Und nicht alle kommen in ein Heim wie du, Mutter.) So viele Gauner und Halunken! Aber wer von denen trug teure Galoschen aus feinstem Leder und Hosen aus gefärbter Seide und … Obwohl sich Ruby immer tiefer in ihre hysterischen Ängste hineinsteigerte, merkte sie, wie sich das, was auf ihr lag, veränderte.
Ihre Hände merkten es zuerst. Sie erzeugten plötzlich nicht mehr denselben Klang, wenn sie gegen Pepys Brustkorb prügelten. Das gerade noch schwammige und nachgiebige Fleisch auf seinen Rippen schien zu verhärten. Es wurde stramm wie ein aufgespanntes Trommelfell. Und als ihre fuchtelnden Arme von seinen Fingern umschlossen wurden, fühlte auch deren Griff sich gänzlich anders an als noch kurz zuvor! Hart und von einer Kraft beseelt, die Rubys Knochen wie dürre Zweige hätte zerbrechen können, wenn Pepys dies gewollt hätte … Pepys? Sie spürte, wie sich sein Gesicht dem ihren näherte, wie er sich zu ihr hinabbeugte, als wollte er das Küssen und Kosen fortsetzen, bei dem sie unterbrochen worden waren. Das Fauchen war jetzt zu einem sonderbaren, kaum weniger angstmachenden Gurgeln herabgesunken. Allmächtiger Widersacher Gottes! Heilige Niedertracht … Es gelangt Ruby, einen seiner Arme so nah an ihr Gesicht zu zwingen, daß sie nur noch den Kopf hochreißen mußte, um zuzubeißen. Ihre Zähne gruben sich in seine ledrige Haut, und jeder andere hätte vor Schmerz aufgeheult. Pepys jedoch lachte. Er lachte. Aber nicht wie ein Mensch, und auch von keinerlei Heiterkeit beseelt, sondern wie das grobe Scheusal, in das er sich warnungslos verwandelt hatte! »Nur weiter so!« stachelte die Stimme sie voller Häme an, ihre Versuche ruhig fortzusetzen. Eine Stimme, die Ruby beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wer war Pepys? Wer war er wirklich? »Laß mich los! Hör auf damit! Du –« »Du hast immer noch nicht verstanden …« Er lachte schallend. Etwas bohrte sich durch ihre rechte Wange. Es konnte ein Fingernagel
sein, spitz wie ein Dorn. »Aaahh«, hörte sie ihn seufzen. »Dieser Quell … wie er duftet …« Atem fächelte über ihr Gesicht. Dort, wo der Finger – oder was auch immer – sich zurückzog, leckte eine samtrauhe Zunge über die blutende Wange. »Aaaahhhh …« Die Verzückung war hörbar. Pepys Ekstase schien jetzt größer als während des Beischlafs. Er hatte in ihr volles, brünettes Haar gegriffen und den Kopf blitzschnell nach hinten gebogen, so daß sich die Haut straff spannte, und dort, wo der fliegende Puls ihres Herzens sein Crescendo trommelte, drang nun etwas ein, etwas völlig anderes als das, was sie im Gesicht verletzt hatte … und spätestens als sich Pepys Lippen über diese Stelle stülpten und wie ein Blutegel zu saugen begannen, dämmerte es Ruby, daß es sich nur Zähne handeln konnte. Dieser durchgedrehte Kerl hatte ihr in die Kehle gebissen UND WOLLTE SIE UMBRINGEN! Der Schock dieser neuen Erkenntnis stürzte sie fast in eine Ohnmacht. Sie kämpfte dagegen an. Sie kämpfte wie noch nie in ihrem Leben! Dreckskerl! dachte sie. Elender Schweinehund! Wie konnte ich bloß auf deine beschissene Schöntuerei hereinfallen? Sie wehrte sich gegen ein unsichtbares Phantom, das stark wie ein Ochse war. Doch dann – es konnten erst Sekunden verstrichen sein – passierte etwas, das Ruby fast noch mehr verblüffte als Pepys’ Vorhaben, sie massakrieren zu wollen! Ihr Peiniger zuckte von ihr zurück. Schmatzend lösten sich die Lippen. Zunächst registrierte Ruby nicht viel mehr, als daß Pepys von ihr abrollte und sich auf den Beinen oder auf allen vieren von ihr ent-
fernte. Sie hörte, wie er gegen das Bettgestell stieß und einen Stuhl umwarf. Dabei rann unablässiges Wimmern aus seinem Mund, das sich fast anhörte wie das ausdauernde Gekreische eines Neugeborenen, das Hunger litt. Ruby lag immer noch wie betäubt am Boden. Nun war sie frei und doch nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren. Eine sonderbare Lähmung hielt ihren Körper wie ein Panzer umschlossen. Sie lag nur da, starrte in die Finsternis und lauschte den grauenerregenden Geräuschen, die Pepys verursachte. Warm rann es aus Rubys zerstochener Ader. Nachdem Pepys zunächst Richtung Tür gewankt war, kehrten seine Schritte nun wieder zurück, und Ruby hätte keinen Penny mehr auf ihr Leben verwettet. Er ließ sie jedoch achtlos liegen und huschte in einem heftigen Luftzug an ihr vorbei zum Fenster. Es war verschlossen. Aber das hinderte ihn nicht, sich dagegenzuwerfen. Ruby hörte noch das Bersten des Glases, das Prasseln der Splitter, die auf dem Boden landeten und – nach einer kurzen Pause – einen dumpfen Aufschlag. Draußen. Von dorther, wo jetzt kaltnebliger Windhauch hereinwehte. Es wurde still. Ruby war allein. Erst als sie ihre Hand gegen die Wunde am Hals preßte und der Blutung Einhalt gebot, bekam sie einen Schüttelfrost und begann wie Espenlaub zu zittern. Sie konnte noch gar nicht glauben, daß nicht sie, sondern Pepys tot war. Daß er dort unten, drei Stockwerke tiefer, auf dem harten Pflaster lag und sich vermutlich das Genick gebrochen hatte, dieser heimtückische Bastard!
Mühsam zog sie sich am Bett hoch und ging zum Fenster. Ein paar Sterne funkelten am Himmel, die Wolken hatten sich verzogen. So sah sie gerade noch den Schemen, der sich vom Straßenpflaster erhob und – Ruby blinzelte und rieb sich die Augen. Es mußte eine Halluzination sein! Sie hörte rauschenden Flügelschlag. Dann war alles, was an Pepys hätte erinnern können, verschwunden.
* Elizabeth saß auf den untersten Stufen der Treppe hinter der Eingangstür in ihrem Haus in der Seething Lane, als er heimkam. Samuel Pepys Frau wurde durch die Geräusche, die er beim Aufschließen und Eintreten verursachte, wach. Hellwach. Zuvor war sie, die Beine angezogen und das Gesicht auf die Knie gelegt, eingeschlafen gewesen. »Wo warst du?« giftete sie ohne jedes Vorgeplänkel. Kein Zweifel, sie hatte seine nächtliche Abwesenheit bemerkt und wollte ihm seine Eskapaden unter keinen Umständen durchgehen lassen. Sie legte es darauf an, ihm eine Szene zu machen, die auch den Dienstboten nicht verborgen bleiben würde. Vielleicht erhoffte sie sich von solcher Schmähung ein heilsame Wirkung für die Zukunft … »Komm mir ja nicht wieder mit irgendwelchen faulen –« Da erst erkannte sie im Schein der fast herabgebrannten Kerzen, in welch einer fürchterlichen Verfassung er war. Ihr Atem stockte, wenn auch kaum aus ehrlichem Mitgefühl. Entsprechend rasch fing sie sich wieder und keifte: »Mit welchen liederlichen Schlampen hast du dich vergnügt, daß sie dir die Augen auskratzen wollten?« Kyle starrte sie an. (Kyle …? Ich bin Samuel Pepys, geboren am 23. Februar 1633 in Salis-
bury Court, London, verheiratet mit Elizabeth St. Michel, kinderlos … Lügner! Du bist ein Narr, Kyle. Ein Narr, der sich ewig wundern wird über die eigene Verrücktheit!) Dann – maßlos in Wahn und Verwirrung – stürzte er sich auf Elizabeth, packte sie an beiden Ohren, zerrte sie empor und brach ihr fast die Nase, als er sie so fest gegen sein eigenes Gesicht preßte, daß zwischen ihren Augen nur noch ein Zoll Platz war. Zuerst hatte sie aufgeschrien, nun war sie stumm. Ein Kaninchen im Blick der Schlange. »Halt still!« zischte er. Ihr sturer Gehorsam änderte nichts an der Verläßlichkeit, mit der ihr Blut ihn nähren würde – hoffentlich. Er zerbiß ihre Lippen und trank aus der platzenden Frucht. Er soff regelrecht. In stiller Qual, unfähig, ein Fingerglied zu krümmen, um sich seiner zu erwehren, ertrug sie ihn und sah ihm zu, wie er ihr mehr stahl als je zuvor mit einem Kuß. Er brauchte es! Er mußte es tun, um den in seiner Widerwärtigkeit mit nichts vergleichbaren Geschmack fortzuspülen, den sie auf seinem Gaumen hinterlassen hatte. Ruby. Oben auf der Treppe erschien im eilends geknoteten Morgenmantel der alte Simpson, mit dem Kyle/Pepys vorgestern noch das neue Arbeitszimmer eingerichtet, Karten und Gemälde aufgehängt hatte … Sein Diener erstarrte, als er die wahre Bedeutung des Kusses durchschaute, mit dem der Heimkehrer seine Gattin begrüßte. Kyle grinste ihm mit blutverschmiertem Mund entgegen. Auf seinen elfenbeinfarbenen Augzähnen glitzerte das Elixier. Er hatte sie, nachdem der erste Schwall aus Elizabeth’ Lippen versiegt war, gedankenlos in ihre Zunge gebohrt. Doch auch dort fand sich nur wenig von dem, wonach ihn dürstete. Und ehe er sich nun den
dunklen, reißenden Flüssen ihres Herzens zuwenden konnte, mußte er erst noch Simpson besänftigen. Es war leicht, wie immer. Alles war leicht für den letzten Vampir von London. Den letzten von vielen. WO SEID IHR ALLE HIN? WARUM BIN ICH ALLEIN? Kyle spießte seine Frau auf den Nagel seiner Klaue, die keine Ähnlichkeit mehr mit der Hand hatte, mit der er die Wirtin, Mrs. Lane, gestreichelt hatte. Oder Mary aus dem »Schwanen«. Oder … Vage wie Bilder aus fiebrigen Träumen bahnte sich etwas den Weg an die Oberfläche von Kyles Bewußtsein. Je mehr unverdorbenes Blut er schlürfte, desto klarer dämmerte ihm der entsetzliche Grund, der ihn verleitet hatte, dieses absurde Leben eines anderen anzunehmen und zu führen, als wäre es sein eigenes. Samuel Pepys war tot – der echte Samuel Pepys! UND WER BIN ICH? Er wußte, wer er war. Er wußte es wieder. Und während er Elizabeth in einem letzten Rest von Vernunft fallenließ, bevor sie völlig ausgesaugt war, während er die Treppe hinaufhetzte und sich über den Diener hermachte, schweiften seine Gedanken noch einmal zu Ruby, dem Mädchen, dessen Liebreiz und Geheimnis ihn verzückt hatte, bis … … bis er ihr Jaucheblut gekostet hatte! Blut wie Gift und Säure …! Kyle ließ auch Simpson fallen, obwohl sein brennender Durst noch lange nicht gestillt war. Er besuchte jede Kammer des Hauses, jede Magd und selbst Pepys Vater, den er nicht erwartet hatte, aber schlafend in der Gästestube vorfand. Er soff bis zur schieren Besinnungslosigkeit und erstickte jeden nur denkbaren Widerstand. Alles Leben im Haus erstarrte im
dumpfen Morast seiner vorzeitlichen Magie, und auch Kyle selbst, der diese elementare Kraft erzeugte, verlor mehr und mehr den Bezug zur ihn umgebenden Realität. Kyles Rausch überwand die letzten Barrieren, die sich um sein vampirisches Hirn herum aufgebaut hatten. Er versank in Träumen, die keine waren. Es waren Erinnerungen. An den Tag und die Stunde vor beinahe sieben Jahren. An jenen unfaßbaren Moment, der ihm alles – alles! – genommen hatte: seine vom Kelch gegebene Familie und die eigene, ihm so wertvolle Identität. Statt dessen hatte er sich in die Haut dessen verkrochen, den er in jener Nacht in ausgelassener Stimmung trunken gemacht und in den Garten von Downings festlich geschmücktem Hause gezerrt hatte. Damals. Gestern. Vor einer kleinen Ewigkeit …
* London, Silvester 1659 Erinnerungen eines Vampirs Lawsons Flotte ankert in der Themse – immer noch. Das Kriegsgespenst geht um. Wir haben Moncks Armee nach Schottland entsandt, vorsichtshalber. Die Holländer üben sich derweil in den üblichen Anfeindungen. Es geht um die Vorherrschaft auf See. Schachzüge. Der Zeitvertreib der Sippen … Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre unwissend wie die Menschen, deren Geschick wir nach Belieben lenken. Es ist faszinierend und abstoßend zugleich, sich in Gedanken auf die Ebene von Wesen
zu begeben, die so anmaßend sind zu glauben, der Welt immer mehr von ihren Geheimnissen entreißen zu können. Diese armen Irren. Wir bestimmen, was sie erfahren dürfen und was nicht! Wir wägen ab, wieviel Schläue den Nutzen des Schlachtviehs erhöht oder was schädlich wäre! Ich lache leise in mich hinein, während ich den Blick über die »feine« Gesellschaft schweifen lasse. Von Frauen habe ich genug, seit ich festgestellt habe, daß das Blut von Männern in seinem Bouquet meinem Geschmack mehr entgegenkommt. Deshalb achte ich kaum auf all die aufgetakelten Fregatten, die sich im Takt der Musikanten wiegen. Ich bin nicht leicht zu entflammen, aber als ich die gescheitelte Haarmähne eines ins Gespräch mit dem Hausherrn vertieften Mannes sehe, vor allem aber das Gesicht darunter, ist es um mich geschehen. Soviel ungestillter Hunger liegt im Blick der Augen, die – ich helfe etwas nach – sogleich über den Rand des Rotweinglases hinweg zu mir finden. Wir sehen einander an. Nicht länger, als der Flügelschlag eines Schmetterlings dauert. Danach weiß er, daß und wo ich auf ihn warte. Es ist kurz vor Mitternacht. Nur ein paar Minuten noch, und das alte Jahr bleibt als Schatten im aufgehenden Licht des neuen zurück. Ich liebe Schatten. Aber auch das Licht ist mir nicht spinnefeind … Langsam durchschlendere ich den Garten. Es ist kalt, aber es liegt kein Schnee. Schade. Es sieht nett aus, wenn rote Tropfen Löcher in den weißen Mantel fressen. Ich spaziere so weit, wie sich sonst kein Festgast vom Haus entfernt hat, aber ich bleibe nicht lange allein. Der, nach dem mich
dürstet, um auf das Neue Jahr angemessen zu begrüßen, eilt an lockeren Zügeln herbei. Direkt vor mir bleibt er stehen. Sein Gesicht ist leer, seine Adern voll. »Mit wem bist du zum Fest gekommen?« frage ich. »Mit meiner Frau.« Seine Stimme leiert. »Ihr Name?« »Elizabeth.« »Und deiner?« »Samuel.« »Samuel …« Ich streichele über seinen schön geschwungenen, dennoch männlichen Mund. »Ich bin Kyle. Laß uns Freunde sein für eine Nacht, Trinkbrüder. Vergiß deine Frau, sie wird schon Ersatz für dich finden; notfalls kann ich darauf dringen …« Ich suggeriere ihm das Gefühl, einem guten Freunde begegnet zu sein, vielleicht dem besten, den er immer gern gehabt hätte, aber nie fand. Nicht im »richtigen« Leben jedenfalls. Freude glüht in seinen Augen. Ich bin spendabel und erhöhe die Wirkung des Weins, an dem er sich gelabt hat. Trunken hängt er an meinen Lippen und wartet auf noch andere Versprechungen, die ich ihm gern machen will. »Komm.« Ich lege meinen Arm um ihn. Seine Kleidung ist nicht gerade vom feinsten Schneider, aber Leute, die in solchen Dingen nicht bewandert sind, mag er damit täuschen können. Ich sehe schon, er legt ebensolchen Wert auf Schein wie auf Sein. Vielleicht sind wir uns gar nicht so unähnlich. Vielleicht verbindet unser beider Art sogar mehr, als ich mir zu hoffen wagte … Schon gut, zugegeben, ich werde überschwenglich. Aber ich bin nun mal ein Träumer. Deshalb feiere ich ja diese letzte Nacht des alten Jahrs auch unter Menschen und bin nicht unter denen, die mir wirklich nahe stünden! Gewiß bin ich ein Außenseiter, der allein nicht einsam ist, doch
ganz ohne die Familie könnte ich nicht sein. Sie gibt mir Halt, sie ist mein Hafen, wann immer mich nach Bindungen verlangt, die kein Mensch mir geben könnte. Es muß Haßliebe sein, die mich immer wieder treibt, mich unter sie zu mischen. Ich studiere sie. Ich lote all ihre Un- und Eigenarten aus, und manches, was ich dabei fand, ist kurios erheiternd, zumindest aber eine Abwechslung zur Elegie, in der meine Rasse schwelgt. Unsterblichkeit ist nicht nur Geschenk, es ist auch Fluch. Aber darüber ließe sich lange philosophisch sein … Weiter und weiter entferne ich mich mit Samuel von Downings vornehmem Haus. Er ist Vorsteher im Flottenamt, ein nützliches Werkzeug. Auf ihn ist Verlaß. Er ist loyal, nicht nur dem König gegenüber, sondern denen, die hinter dem König stehen. Uns. Ich lache. Samuel dreht den Kopf. »Worüber amüsiert Ihr Euch?« Oh, ich lasse ihm die Illusion, auch jetzt noch frei zu sein, sonst wäre er nicht unterhaltsamer als die tumben Kreaturen, die wir manchmal schaffen. »Über dich, mein Freund, über dich! Es erquickt mein Herz, mit dir hier durch den Park zu promenieren …« Er mag es glauben. Downings Haus verschwindet hinter Büschen und Bäumen. Vor uns liegt ein kleiner Zierteich, auf dem Enten schwimmen. Unser Erscheinen erschreckt sie und treibt sie flatternd in die Lüfte. Ich sehe ihnen nach. Die Nacht kennt keine Geheimnisse vor mir, und einen Augenblick lang will mich die Sehnsucht fast verleiten, meine eigenen Schwingen zu entfalten. Ich beherrsche mich. Samuels Gesellschaft ist mir wichtiger, zumal ich mich den ganzen Tag gezügelt und meinen Durst unterdrückt habe. Ich habe mehr Jahreswenden erlebt als jeder andere auf diesem
Fest, dennoch klebe auch ich an der Tradition, sie für etwas Besonderes zu halten. »Wohin gehen wir?« fragt mein Begleiter, den ich immer noch mit einem Arm umschlinge und herze, wie es junge Mädchen oder verschrobene ältere Damen manchmal untereinander tun. »Dorthin …« Ich zeige zu dem kleinen Steg, der hinaus aufs Wasser führt, gesäumt von Schilf und Seerosen, deren Blüten die Dunkelheit geschlossen hat, was ich durchaus schade finde. Wir unterhalten uns ein wenig über seine Arbeit, und ich erfahre ungeschönt, wie er über Downing, der sein Vorgesetzter ist, denkt. Erstaunlich, wie genau er ihn einzuschätzen vermag. Dabei bildet Downing sich soviel auf seine Verstellungskünste ein. Wir betreten die hölzernen Planken. Die Nacht ist klar. Das Feuerwerk wird gut zu sehen und noch besser zu hören sein. Das Wasser des Teichs liegt da wie ein dunkler Spiegel. Wäre es Tag, würde Samuel mich neben seinem Bild darin vermissen. Wir gehen ein paar Schritte, aber nicht bis zum Ende des Stegs. Dann lasse ich mich auf dem Holz nieder und gebe Samuel zu verstehen, daß er es mir nachmachen soll. So liegen wir nebeneinander und schauen zu den Sternen. Die Kälte ist auch ihm zur wohlig warmen Decke geworden. Er beklagt sich nicht, im Gegenteil. Ich gaukle ihm soviel Zufriedenheit vor, wie er sie gewiß nicht einmal in den Armen seiner Frau (die ihn schon suchen mag) oder einer anderen Liebschaft findet. Hier draußen sind und bleiben wir allein, dafür will ich Sorge tragen. Meine Magie umschirmt uns. Niemand wird die traute Zweisamkeit zerstören können. Ich bin alt. Aber in Samuels Nähe fühle ich mich neugeboren. Es wird noch besser kommen. Gleich wird die hehre Mitternacht eingeläutet, und die Ziffern auf den alten Kalendern werden übermalt werden müssen. 1660.
In vierzig Jahren wird das Jahrhundert wechseln. Und in dreihundertvierzig das Jahrtausend. Werde ich dann auch auf dem Rücken liegen, irgendwo, einen Gespielen zum Trunke bei der Hand, und so tun, als rührte mich das Rascheln der Blätter im Wind der Zeit an? Ich verwandle mich. Der süße Schmerz der Metamorphose läßt eine neuerliche Maske über meine Züge wuchern – meine Züge formen sich zu einem ehrlicheren Abbild meiner Seele. Ich greife hinüber und ziehe Samuel über mich. Er ist leicht wie eine Feder, nachdem meine wahren, aber die meiste Zeit schlummernden Kräfte zum Ausbruch gekommen sind. »Was wird jetzt geschehen?« fragt er. In diesem Augenblick beginnen fern die Glocken verhaßter Kirchen zu läuten. Kanonen, Pistolen und Gewehre krachen, um das Neue Jahr zu begrüßen. Auch ich begrüße es, die Augen über Samuels Schulter hinweg in die Weite des Himmels gerichtet. Blut füllt meinen Mund. Prickelnder Saft … Nektar der Götter … Ah, ich vergehe, während ich aus meinem mitgebrachten Gefäß trinke. Lust und Genuß sind eins. Ich erschauere. Der Himmel rückt näher, die Sterne, der Mond … Ich verliere mich ganz in meinem Wohlgefühl. Das abrupt endet – als die Welt zerbricht! Als irgend etwas geschieht … WAS …? Das Wasser unter dem Steg beginnt zu kochen. Die Nacht erlischt in einem violetten Blitz, der für immer stehenzubleiben scheint, bis ich erkenne, daß es kein Blitz ist, sondern … ja, was …? Ein Riß? Ein Spalt? Ein rotierender Taifun wie jene, von denen so manches Schiff – zuletzt eins, das aus Siam zurückkam – uns Kunde überbrachte?
Nein … nichts von alledem … Es geht kein Wind, nicht das leiseste Lüftchen! Alles, ich eingeschlossen, liegt still und starr danieder! Meine Zähne sind noch immer in Samuels Hals. Sein Blut füllt noch immer meinen Mund. Aber es fließt nicht mehr. Alles, wahrhaftig alles hat aufgehört zu fließen. Nur meine Gedanken scheinen davon ausgenommen – aber vielleicht bilde ich mir das auch ein. Vielleicht ist dies der Tod, von dem ich glauben wollte, er könnte mich nie umfangen; er könnte keinem, dessen Blut wie meines schwarzgefärbt ist, je etwas anhaben … Dann – bewegt sich die Zeit, bewegen wir uns wieder. Samuel und ich. Er versucht sich von mir zu befreien. Mein Einfluß auf ihn scheint erloschen. Und als er mich ein Stück weit hochreißt, vermag ich hin zum Ufer zu blicken, genau in jene Richtung, in der das Haus liegen muß, aus dem wir kamen. Aber uns viel näher als Downings elegantes Domizil ist … ES! … ein zuckender, leuchtender, rotierender Spuk. Ein Kugelblitz von solchen Ausmaßen, wie ich noch keinen jemals sah und noch keinen selbst erzeugte! Er schwebt dicht über dem Ufergras. Einen Moment sieht er wie eine hohle Schale aus, in der sich Schatten winden – im nächsten erscheint mir dieses Phänomen wie der Eingang zu einem Schacht, den niemand wagen durfte zu betreten. NIEMAND. Nicht einmal ich oder ein anderes Familienmitglied! Ich spüre, wie meine Magie, die ich entfaltete, um allein und ungestört mit Samuel sein zu können, von einem Antipol in mich zurückgeschmettert wird – und wie damit auch etwas von dieser unerhörten fremden Macht in mich einbricht! ICH BRENNE! Mir ist, als würde ich in heißem Öl gesotten – oder als stünde ich auf einem entflammten Scheiterhaufen …
Dort am Ufer schält sich mehr und mehr ein Alptraum aus dem wabernden Mahlstrom. Ich erkenne … den abnormen Embryo eines Zyklopen! Ich erkenne … ein Auge wie von einer ins Unermeßliche vergrößerten Fliege! Und … Ziegengehörn! Und … HASS! Der Haß ist am schlimmsten – weil er mich verschlingt. Weil er mich entdeckt hat und nun in einer Weise straft, wie sie nur der Teufel selbst ersinnen kann. Der leibhaftige Satan …!
* »Da bist du ja! Endlich! Wir haben alles nach dir abgesucht! Wo treibst du dich nur herum? Ich war in solcher Sorge. Mr. Downing und die anderen haben mir geholfen, dich zu suchen, die Ärmsten. Du hast ihnen die Silvesterstimmung verdorben …!« Samuel Pepys richtet sich von den Planken des Stegs auf. Seine Hand fährt zum Hals. »Du blutest ja …« Elizabeth eilt herbei und faßt ihn am Arm. Die offensichtliche Verletzung scheint sie ihrem Mann sofort gewogener zu machen. Sie hält die Lampe, die sie bei sich trägt, höher und versucht herauszufinden, woher das Blut kommt. Pepys schiebt sie von sich. Er ist erbost über die Weise, wie sie ihn vor den anderen, die hinter ihr am Ufer stehen, der Lächerlichkeit preisgibt. »Ich war etwas frische Luft schnappen«, knirscht er zwischen seinen Zähnen. »Dabei muß ich ausgeglitten sein und mir den Hals am
Holz der Bretter aufgeschürft haben …« Barsch zeigt er ihr die Schulter und geht vorsichtig auf die Gruppe zu. Manche halten noch ihre Gläser in der Hand, mit denen sie sich zugeprostet haben, andere tragen Lampen bei sich wie Elizabeth. Pepys wiederholt noch einmal, was er seiner Frau schon sagte. Aber er verschweigt, daß er sich nicht erinnern kann, warum er Haus und Fest verließ. Downing fragt: »Und es geht Ihnen wirklich gut, Samuel? Soll ich nicht besser nach meinem Leibarzt schicken?« Pepys ist gerührt von der Anteilnahme seines Amtsvorstehers. Aber er schüttelt den Kopf. Er will nicht noch mehr Wirbel verursachen. Außerdem tritt schon kein neues Blut mehr aus, und er fühlt auch keinen Schmerz. »Es ist alles in Ordnung. Ich muß bei dem Sturz ohnmächtig geworden sein.« »Sie hatten Glück, daß sie nicht ins Wasser fielen. Der Teich ist tief.« Downing lächelt noch einmal aufmunternd. »Mein Diener wird die Wunde säubern und verbinden.« Mit diesen Worten wendet er sich wieder der Gesellschaft zu, die mit ihm zum Haus zurückkehrt. Pepys schließt sich an, nachdem er sich den Staub vom Anzug geklopft hat – eine Unmenge Staub, von der er nicht sagen kann, woher sie kommt. Seine ganze Kleidung ist davon verschmutzt. Elizabeth wagt ihn nicht mehr anzusprechen. Sie kennt ihn und weiß, was es bedeutet, wenn er in dieser Laune ist. Aber das hat sie sich selbst zuzuschreiben. Es ist beredt genug, daß sein Vorgesetzter sich mehr Sorgen um ihn gemacht hat als sie, die ihm nur mit Vorwürfen kam. Sie wird einmal wie ihre Mutter, denkt Pepys. Später wundert sich der Diener Downings, daß er zwar Blut wegwischt, aber keine Verletzung findet, aus der es herausgesickert ist. Nur am Hals ist eine leicht verfärbte Stelle, aber diese muß schon Jahre alt sein. Die Narbe ist kaum noch zu erkennen.
Am Neujahrstag ist Pepys immer noch mit seiner Frau zerstritten. Er zieht sich in die Zimmerflucht zurück, die er sich gern als nobles Arbeitszimmer träumt, auch wenn sie in Wahrheit nur eine schäbige Kemenate ist. Noch. Wer weiß, vielleicht macht er ja bald Karriere, dann muß es so nicht bleiben. Er hat viele gute Vorsätze für das vor ihm liegende Jahr gefaßt. Gesundheitlich fühlt er sich, trotz des Fehltritts letzte Nacht, besser als überhaupt je zuvor. Seine privaten Verhältnisse sind sehr ordentlich, auch wenn ihn die eigene Frau für wohlhabender hält, als er tatsächlich ist, weshalb sie ihn immer häufiger des Geizes bezichtigt. Wenn sie wüßte. Oder wenn sie von dem Buch ahnte, mit dem er an diesem ersten Abend des neuen Jahres beginnt. Es ist ein Tagebuch, in dem er künftig alles von Belang aufschreiben will – aber chiffriert, so daß seine naseweise Gattin oder seine einzige Dienstmagd es auch nicht lesen könnten, wenn sie es einmal in ihre Hände bekämen. In den kommenden Jahren hält Pepys diesem Tagebuch mehr die Treue als seiner Frau. Er weiß selbst nicht, was die Triebfeder seines Schreibens ist. Aber es kommt, wie er es sich immer erträumte: Er macht Karriere. Plötzlich scheinen ihm die Sympathien der maßgeblichen Herren nur so zuzufliegen. Erst ist er Mitglied der Delegation, die König Karl II. aus seinem holländischen Exil zurückholt. Dann steigt er vom Sekretär im Flottenamt zum Friedensrichter auf und zieht von der Axe Yard in die angesehenere Seething Lane um, wo er bald darauf Zugang zur königlichen Gesellschaft erhält. Schließlich ernennt der König selbst ihn zum Leiter der Proviantabteilung im Flottenamt, eine gut besoldete und hoch angesehene Stellung. Stetig erklimmt er die Erfolgsleiter weiter nach oben. Aber manchmal wacht er morgens in seinem Bette auf und hat noch die schmutzigen Galoschen an den Füßen. Dann weiß er nicht, wann er in der Nacht nach Hause gekommen ist und wo er war.
Den fetten Jahren folgen Monate steter Furcht. Die Pest sucht London heim. Freunde, Nachbarn und Verwandte sterben. Pepys und seine Frau haben Glück. Als die Seuche wieder spürbar abebbt, sind sie noch am Leben. Scheinbare Normalität kehrt ins Stadtbild zurück. Jetzt beunruhigt fast nur noch der Krieg gegen die Holländer Bürgerschaft und königliches Gefolge. Pepys schöpft Hoffnung, daß sich seine Glückssträhne fortsetzt. Dieser Optimismus hält an bis zu jener Nacht am Kanal, als er in der St. Bartholomew’s Street auf ein Mädchen trifft, ein hübsches Ding, das ihm auf Anhieb den Kopf verdreht und die Sinne vernebelt. Und … dessen Gift ihm die Augen öffnet … ihm die Erinnerung zurückgibt an Silvester 1659 und an das, was dort am Teich von Downings Haus wirklich geschah. Wirklich? Er erstickt fast an diesem Wort und seiner Lüge! Wirklich … das gibt es überhaupt nicht! Nicht mehr … für ihn! Für Kyle, der Pepys ist. Und für Pepys, der Kyle war/ist/immer-sein-wird. Immer! Noch so ein Wort, das eine Lüge ist …
* Dienstag, 28. August 1666 Kyle litt immer noch wie ein räudiger Hund, und er hatte das Haus nicht mehr verlassen, seit er von Ruby heimgekehrt war und jeden Menschen dort zur Ader gelassen hatte! Heimgekehrt … Was für ein Hohn! Dies ist nicht mein Zuhause! machte er sich drastisch bewußt. Ich bin kein Mensch, und schon gar nicht der, für den ich mich jahrelang hielt …!
ICH BIN NICHT SAMUEL PEPYS! Was für eine heimtückische, was für eine paralysierende Erkenntnis: ein Wesen zu sein, das nach Blut lechzt – BLUT –, und dessen Vergangenheit bis zu jener Nacht vor sieben Jahren eine einzige Aneinanderreihung von Siegen gewesen ist … Was war geschehen? Wo waren seine Brüder und Schwestern, wo war Koogan, sein Oberhaupt … Wo? Warum hatte keiner von ihnen ausreichende Nachforschungen angestellt, um sein Verschwinden aufzuklären? Warum hatte die Sippe ihn so schmählich im Stich gelassen? Ein Vampir verschwand nicht einfach von der Bildfläche. Hin und wieder geschah zwar das Ungeheuerliche, daß ein Mächtiger aus diesem oder jenem Grunde trotz seiner kelchgegebenen Unsterblichkeit und Stärke einer Verschwörung oder einem Unglücksfall zum Opfer fiel, doch stets löste sein Tod einen signifikanten Impuls aus, der jeden Angehörigen seiner Sippe wie eine Schockwelle erreichte und zum Ort der Vernichtung rührte. Du bist aber nicht gestorben, du Narr, begreif es endlich! Du bist … nur ER geworden – ein Mensch … Kyle krümmte sich hinter dem Schreibtisch seines erst kürzlich völlig neu eingerichteten Arbeitszimmers. Er wollte kein Mensch sein. Und er glaubte auch nicht, daß er einer geworden war, obwohl er im Spiegel ein Bild erhalten hatte, das absurderweise dem von Pepys, wie er ihn auf Downings Fest kennengelernt hatte, entsprach! Wie ging das zu? Eine Taufe, wie er, Kyle, sie empfangen hatte, war nicht rückgängig zu machen – niemals mehr! Der Staub fiel ihm ein. Der viele Staub, den Pepys sich vom Anzug geklopft hatte, als er den anderen zurück zu Downings Haus gefolgt war. Staub … Asche? Reste seines Körpers …?
Vor ihm auf dem Tisch lag das Tagebuch, Samuel Pepys Tagebuch, in dem er seit dem gestrigen Tag fast unaufhörlich las; nur ab und zu von kleinen Pausen unterbrochen, in denen er sich einen »Imbiß« gönnte, vorzugsweise aus Simpsons Adergeflecht, so als wäre Kyles alte Vorliebe für männliches Bouquet ebenso wie die Erinnerung an die wahre Identität wiedergekehrt. Die letzte Tagebucheintragung datierte auf den 24. August; sie war belanglos und drehte sich ausschließlich um Pepys’ Begeisterung für sein von Grund auf renoviertes Arbeitszimmer. Für Kyle war dieser Eintrag – wie auch alle vorherigen – ein unumstößliches Indiz, daß das Ereignis am Teich sein eigenes Bewußtsein dem von Pepys untergeordnet hatte. Vermutlich würde es immer noch in irgendwelchen verschütteten Klüften dahinvegetieren, wenn nicht ein erneuter Schock es dort hervorgelockt hätte. Rubys ungenießbares Blut! Aber warum gerade ihres? Was hatte damals versucht, sich in Downings Garten zu materialisieren, Sylvester 1659? War es seinetwegen gekommen – oder aus ganz anderem Grund? Kyle fühlte, daß die Antwort auf diese Frage vielleicht auch zur Klärung anderer ungelöster Rätsel beigetragen hätte. Aber ihm fehlte jede Vermutung über Herkunft und Absicht des beobachteten Phänomens. Ein gehörntes Ungeheuer mit einem zyklopischen Facettenauge widersprach selbst der landläufigen Ansicht, wie das Gesicht des Teufels beschaffen war, den die Menschen erfunden hatten, um das Böse zu benennen. Aber wann immer Kyle an das Satanische dachte, das er gefühlt hatte, als er von der Urgewalt umgebracht worden war, erzitterte er hinter Pepys Schreibtisch. (Ich bin nicht tot!) Etwas von ihm hatte die Attacke aus dem Nichts überdauert. Seine Seele? Aber hatte ihnen Koogan, das Familienoberhaupt, nicht stets versichert, ihre Seele sei bei der Taufe im Bodensatz des Lilienkelchs
zurückgeblieben – als Pfand jener Macht, die sie in den Stand der einzig Mächtigen erhoben hatte? Beides mochte unwahr sein, denn für Kyle stand nach seinem Erlebnis fest, daß sie bei weitem nicht die einzigen und schon gar nicht die mächtigsten waren, die hier auf dieser Erde wandelten, um die Geschicke der Menschen nach ihrem Willen zu bestimmen. Es mußte noch eine andere Macht geben, deren Bild hinter der Blase aus Feuer und Licht eine Täuschung gewesen sein mochte – aber die Stärke, die die Erscheinung demonstriert hatte, konnte keinem Betrug entsprungen sein. Sie zumindest war echt und fürchterlich gewesen. Zum Fürchten, selbst für einen Vampir! Kyle ließ auch den ganzen Dienstag verstreichen, ohne daß er sich der dringenden Geschäfte widmete, die ein Samuel Pepys zu erledigen gehabt hätte. Eine Audienz beim König beispielsweise, der ihn und Lord Brouncker wegen einer Beschwerde der Generäle über die mangelhafte Bereitstellung von Proviant für die Flotte zu sich bestellt hatte. Pepys und Brouncker waren heftig und persönlich angegriffen worden, sie hätte mangelhafte Arbeit geleistet, schwerwiegende Fehler begangen … Brouncker würde sich bereits gerechtfertigt haben. Und Pepys? Dieser beschissene Pepys ist mir egal! dachte Kyle in hilfloser Wut, denn zugleich wußte er, daß ihm diese Hülle, in die es ihn verschlagen hatte, als sein eigener Körper unterging, nicht halb so gleichgültig sein durfte, wie er es sich gewünscht hätte. Aber er würde die Dinge schon wieder geraderücken, sobald er mit sich selbst ins Reine gekommen war! Sobald er sich daran gewöhnt hatte, ein Vampir zu sein, dem die Zähne gezogen worden waren … Kyle klappte das Tagebuch zu, das mit dem Eintrag vom 24. endete, packte es mit Pepys Hand und schlug es krachend auf den Tisch. Dann sprang er auf und eilte zu einem der wandhohen Spiegel, die in regelmäßigen Abständen die Reihen der Bücherregale in Pepys
Arbeitszimmer unterbrachen. Überall waren Spiegel, in denen sich Pepys hatte betrachten können, und nun, da Kyle sich über seine wahre Identität bewußt geworden war, ahnte er, daß mehr als pure Eitelkeit dahintergesteckt hatte. Da sich normalerweise kein Vampir in einem Spiegel sehen konnte, mochte Pepys, von einem solchen besessen, ganz besonders fasziniert von seinem Bild darin gewesen sein … Kyle war es jedenfalls, auch wenn das Bild im Glas nicht sein Wunschbild war. Er hätte viel lieber sich selbst gesehen, die Hülle, in der er einst seine unheilige Taufe empfangen hatte. Aber sie war unwiederbringlich zerstört, soviel schien sicher – – – Er fühlte einen Schwindel, als er sich des Denkfehlers bewußt wurde, den er die ganze Zeit über beging. Seine Hände preßten sich gegen den Spiegel und verhinderten, daß er stürzte. Sein Mund ließ das Glas beschlagen. Und Kyle wußte plötzlich, daß alles noch viel komplizierter war, als er es vermutet hatte. Er wußte es, weil er die ganze Zeit verdrängt hatte, wie er aus der Absteige geflohen war, in der er das Mädchen Ruby besucht hatte … Wie hatte er das vergessen können? ER WAR GEFLOGEN! Und er hatte auch nicht nur mit Pepys primitivem Gebiß nach Rubys Blut geschürft, sondern mit spitzen langen Vampirzähnen. Er war immer noch der Metamorphose mächtig! Wie ging das zu? Der Boden unter seinen Füßen schien sich in rotierenden Wahnsinn zu verwandeln. Was hatte das Ding am Teich tatsächlich mit ihm angestellt? Keuchend stemmte sich Kyle von der Glasfläche ab und wankte zu seinem Schreibtisch zurück, wo er sich in den bequem gepolsterten Sessel fallenließ und nach dem metallenen Siegelöffner griff, der auf einem Dekret des Königs lag. Ohne Zögern rammte er sich die Spitze der scharfen Klinge in den linken Unterarm.
Der Schmerz war fühlbar. Zumindest diese Seite seines Wesens gehörte Pepys. Aber das Blut, das zäh und schwer und auch nur für einen überaus kurzen Moment aus der Wunde hervorquoll, ehe sich diese wie von Geisterhand geheilt wieder schloß, war schwarz! Kyle stöhnte. Und für einen flüchtigen Moment war er versucht, sich den Siegelöffner wie einen Pflock ins Herz zu stoßen, um zu ergründen, was dann geschehen wäre. Doch letztlich widerstand er dieser Verlockung, die nichts anderem als seiner Verzweiflung entsprang. WER BIN ICH? Er sank mit dem Kopf nach vorn und blieb minuten-, vielleicht stundenlang in dieser Haltung liegen. Die Augen geschlossen, dachte er nach, wie das weitergehen sollte, was mit Ruby begonnen hatte. Ruby. Irgendwann überkam ihn eine vage Ahnung, warum gerade ihr Blut den Knebel um seine Erinnerung aufgebrochen hatte, obwohl er vermutlich in vielen Nächten zuvor auch schon auf die Jagd nach seinem Elixier gegangen war, ohne daß Pepys sich anderentags daran hatte noch entsinnen können. Vielleicht war Ruby der Schlüssel. Ihr Blut hatte Kyle nicht zufällig an das Monstrum erinnert, das ihm all dies angetan hatte. Ruby war selbst ein Monster – und dem im Garten von Downings Haus erschütternd ähnlich …
* Zur gleichen Zeit, unter der Brücke von London Cutter brach das Brot in zwei Teile und reichte eine der beiden Hälften dem Lumpenmädchen, über dessen Beine er vorhin gestolpert war.
Nun saß es mit angezogenen Knien, den Rücken gegen den steinernen Stützpfeiler der Brücke gelehnt, neben ihm, griff bereitwillig zu und nickte dankbar zu dem freundlichen alten Mann hoch, den die einbrechende Dunkelheit hierher getrieben hatte. Das Gesicht unter dem Schal, der wie ein Kopftuch umgebunden war, glänzte tränenfeucht. Cutter hatte sofort gesehen, daß das Mädchen weinte. Er hatte es im Widerschein der Signalfeuer erkennen können, die sich im Fluß brachen und vom Tower her die Nacht dürftig erhellten. Unter der Brücke war ein guter Platz, selbst bei grimmigster Kälte. Das wußten viele. Entsprechend gefragt waren die Plätze unter den Bettlern der Stadt. Cutter hatte sich neben das Mädchen gesetzt, und nun räusperte er sich, nachdem er gerade herzhaft in seine Brotkante gebissen hatte. Ein paar Krümel purzelten aus dem Mund auf den Mantel. Er gab sie nicht verloren. Akribisch sammelte er sie mit Daumen und Zeigefinger ein, als handelte es sich um die größten Kostbarkeiten. Schließlich hielt er kurz in seinem Mampfen und sagte am Essen vorbei: »Ich hab’ dich noch nie hier gesehen, Mädchen, und ich komm’ jeden Abend her zum Schlafen.« Sie schien seine Bemerkung nicht als Aufforderung zu verstehen, zumindest nicht verstehen zu wollen. »Haben sie dir die Zunge herausgeschnitten, oder warst du schon immer stumm?« Cutters Ton zeigte keinerlei Veränderung. Das Mädchen neben ihm hörte auf zu kauen. Nach kurzem Überlegen hielt es Cutter das angebissene Brotstück wieder vor die Nase und sagte so herablassend, wie Cutter noch niemanden hatte reden hören: »Da! Wenn es nur mit quatschen geht, will ich dein Almosen nicht, Alter! Mir geht’s nicht gut, sonst wär’ ich bestimmt nicht hier. Ich wollte Ruhe – nur meine Ruhe! Aber wenn du …« Cutter schob ihre Hand weg. »Das ist in Ordnung. Mir geht’s oft
nicht anders. Iß weiter. Ich werd’ mein Maul schon halten. Und wenn ich abhau’n soll …« Das Lumpenmädchen schüttelte den Kopf. Es ließ das Brot fallen. Dann trat es Cutter so fest in die Seite, daß er meinte, einen Eisennagel in die rechte Niere geschlagen zu bekommen. Er verschluckte sich an dem, was er noch im Mund hatte, und fing zu japsen an, nach vorn auf den Boden gesunken. Das Lumpenmädchen trat noch einmal zu. Cutters Gesicht schlug auf die Steine. Schmerz mischte sich mit einem nie erlebten Kälteempfinden. Aber er war nicht in der Lage, etwas zu seinem Schutz zu unternehmen. Gottergeben kauerte er da und krümmte sich unter jedem weiteren Tritt. Aufhören! dachte er. Warum tust du mir das an, du giftige kleine Kröte? Niemand kam ihm zu Hilfe, obwohl er hier unten bekannt war. Alle, die in der Nähe hockten oder lagen, sahen weg! Vielleicht, wenn er laut genug geschrien hätte … aber er war nur zu einem Röcheln fähig, obwohl das Brot inzwischen aus der Luftröhre herausgehustet war. Der ganze Brustkorb tat ihm weh, jede Stelle, wo sie ihn mit ihren spitzen Schuhen malträtiert hatte … Das Lumpenmädchen ließ erst von ihm ab, als er schlaff in sich zusammensank. Dann stieg es die steinernen Stufen hinauf zur Fish Street, von niemandem behelligt, nicht einmal von zwei grobschlächtigen Kerlen, die sich gerade ächzend die Treppe herabquälten. Es war, als wäre es unsichtbar, zumindest aber unnahbar. Ein Mädchen wie eine Krankheit – die man besser mied …
* Ruby war kaum weniger hungrig als zuvor. Der Bissen Brot hatte sie � nicht annähernd gesättigt, und sie bedauerte, den Alten nicht ausge-
plündert zu haben, bevor sie gegangen war. Erstaunlicherweise war es hier oben zwischen den Häusern der Fish Street nebliger als direkt dort unten am Wasser der Themse. Ruby hatte die Arme über Kreuz verschränkt und die Hände rechts und links unter den Achselhöhlen eingeklemmt. Aber der Stoff des schäbigen Mantels wärmte kaum. Es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn irgendein Kerl gekommen wäre und ihr ein warmes Bett für eine Gefälligkeit angeboten hätte – aber keiner der Herren, die ein Bett besaßen, ließ sich blicken. London bei Nebel erinnerte an einen gigantischen Friedhof. Staksend setzte Ruby Schritt vor Schritt. Rechter Hand überragten die Mauern der St. Magnus Church die Gebäude des Straßenzugs. Ruby hatte noch nie etwas für Kirchen übrig gehabt, deshalb überraschte es sie selbst, als sie sich in diese Richtung wandte. Von irgendwoher dröhnte das Horn eines Schiffes, dessen Kapitän verrückt genug war, den Hafen unter widrigen nächtlichen Verhältnissen anlaufen zu wollen. Aber vielleicht hätte er noch mehr riskiert, nur um endlich wieder einen Ankerplatz zu finden, der vor den Holländern sicher war … Ruby verfolgte den Gedanken nicht weiter. Krieg war immer etwas Abstraktes für sie geblieben. Der Tod nicht, wohl aber alles Sterben, das mit Kanonendonner, Flintensalven und Säbelgerassel zusammenhing. Als sie den dunklen Kirchenmauern schon sehr nahe gekommen war, hatte sie plötzlich das Gefühl, von einer aus dem Himmel herabstoßenden Faust getroffen und zu Boden geschmettert zu werden. Nach einer Weile kam sie benommen wieder zu sich und lag tatsächlich auf den kalten Pflastersteinen! Sie wußte nicht, was über sie gekommen war, aber ihr war plötzlich so schlecht wie in der Nacht, als sie Pepys kennengelernt hatte. Die absurde Erinnerung an den Mann, der sie erst aufgegabelt und dann zu töten versucht hatte, war noch taufrisch. Genauso gegen-
wärtig wie die Art und Weise, mit der er sich aus dem Staub gemacht hatte: Erst war er aus einer Höhe aus dem Fenster gestürzt, die ihm alle Knochen im Leib hätte zertrümmern müssen – und dann war er, von Flügelrauschen begleitet, verschwunden! Wenn Ruby eines sicher wußte, dann dies: Pepys war kein Engel gewesen! Folglich mußten die Schwingen, die ihn davongetragen hatten, aus den Schultern eines anderen Ungeheuers gesprossen sein! Eines anderen …? … UNGEHEUERS! bestätigte sie sich selbst. Dann wurde sie von einem Geräusch aufgeschreckt. Vielleicht bohrte es sich nicht wirklich hörbar in die Nacht, aber für Ruby klang es, als würde ein riesiges Gebäude mit Getöse in sich zusammenstürzen! Sie rappelte sich auf und schüttelte sich. Das stählerne Kreuz auf der Turmspitze der St. Magnus Church schien einen Moment in stechend grelles Licht getaucht zu sein, als hätte ein Blitz genau dort hineingeschlagen! Ruby, die gerade nach oben geschaut hatte, zuckte heftig zusammen. Es dauerte eine Weile, bis die Blendung nachließ und die schwarzen Funken nicht mehr über ihre Augen stoben. Was war das? dachte sie und konzentrierte sich auf ihre Füße. Meldeten sie ein Beben? Nein, sie fühlte keinerlei Erschütterung – einmal abgesehen vom Schlag ihres Herzens, das sich plötzlich wie wild gebärdete. Die St. Magnus Church war in ihrer Pracht und Eindruckskraft sicher nicht mit St. James vergleichbar. Dennoch wußte Ruby vom Hörensagen, daß das Gotteshaus während der ersten Pestwochen des vorigen Jahres fast jeden Tag brechend voll von Leuten gewesen war, die sich dort den Schutz des Herrn erfleht hatten. Viel genützt konnte es ihnen indes nicht haben, denn die Quote der Pesttoten unter denen, die als eifrige Kirchgänger gegolten hat-
ten, war ganz gewiß nicht niedriger ausgefallen als unter denjenigen, die an gar nichts glaubten außer an sich selbst … Ruby atmete ein paarmal im Takt der Bilder ein und aus, die vor ihrem geistigen Auge tanzten und wieder erloschen. Szenen des fast ausgestorbenen Londons. Sie unterdrückte den Wunsch, es möge wieder so werden. So still und verlassen. So menschenleer und unkrautüberwuchert. Die Stadt hatte ihr fast allein gehört! Wie schade, wenn es nie mehr so käme. Wie ewig schade … Das Kreuz auf der Turmspitze erlosch. Dafür schien ein Licht hinter den Mosaiken der Kirchenfenster aufzuflammen. Ein gespenstischer Schein, der Ruby unwiderstehlich anlockte …
* Ned Joyce war der Küster der St.-Magnus-Kirche und somit verantwortlich für deren ordnungsgemäßen Zustand. Lärm – vielleicht auch noch einiges andere mehr, was er aber nicht sogleich realisierte – weckte ihn aus dem Schlaf. Er schlug die Augen auf und entzündete eine Kerze auf dem Nachttisch seiner Schlafstube in der Küsterei. Schon während damit beschäftigt war, die Dunkelheit in ihre Schranken zu verweisen, merkte er befremdet, daß er über Gebühr schwitzte und dabei heftig zitterte. Das Linnenhemd klebte wie eine zweite, kalte Haut an ihm. Als er aus dem Bett stieg, schwoll das Fauchen, das ihn geweckt hatte, noch an. Außerdem stiegen jetzt scharfe Gerüche, wie von ätzenden Dämpfen, in die Nase des frommen Mannes. Ned Joyce war ein halbes Jahrhundert alt, wovon er beinahe zwanzig Jahre im Kirchendienst verbracht hatte. Er war noch sehr rüstig. Anderenfalls hätte man ihn auch gewiß schon längst seines Amtes enthoben gehabt. Das Glockenläuten beispielsweise war eine
Schwerstarbeit, die einiges an guter Konstitution verlangte. Zuerst glaubte Ned Joyce, ein Sturm sei aufgezogen, der nun draußen um die Kirchengemäuer heulte. Aber schon bald erkannte er die unheimliche Dimension dieses Tobens, das für ein normales Unwetter viel zu sehr in der Kirche und nicht außerhalb wütete … Barfüßig und mit den Ereignissen hadernd begab er sich zur Tür seiner Kammer, und die Haare im Nacken sträubten sich ihm. Er bekam eine Gänsehaut, von der er aber nicht ausschließen mochte, daß sie auch auf sein ungebührliches Schwitzen zurückzuführen war. Abwechselnd heiß und kalt wurde ihm. Jenseits der Tür lag ein schmaler kurzer Gang, und dort am Ende noch einmal eine Tür, durch die man direkt in den hinteren Bereich des Kirchenschiffs gelangte. Ned Joyce schloß sie auf – – und fand sich in ein Licht getaucht, das den Schein der Kerze in seiner Hand mühelos überstrahlte. Die Glieder wurden dem Küster taub und schwer, denn der von einem begnadeten Steinmetz gestaltete, in schlichter, aber doch sakraler Eleganz gehaltene Altar leuchtete! Er glühte wie ein viel zu heftig geschürter Ofen! Ned Joyce schwitzte nun noch stärker, aber das merkte er kaum – ebensowenig wie es ihm ins Bewußtsein drang, daß er schnurgerade immer weiter auf den Altar zuging, als würde er von etwas dort angezogen. Seine Schlaftrunkenheit war immer noch nicht gewichen, ganz im Gegenteil. Mit jedem Schritt, den er tat, hatte er das Gefühl, eine Meile zurückzulegen, so sehr erschöpft fühlte er sich. Am Ende rutschte er nur noch auf Händen und Knien durch den Mittelgang, hin zu der Stelle, wo der Bischof von London an manchen Sonntagen persönlich zu predigen pflegte. Ned Joyce hatte inzwischen kaum noch Zweifel, daß das Fauchen und auch das abseitige Glühen seinen Ursprung entweder in der
Geisterwelt hatte – oder als Gotteszeichen zu werten war. Beide Möglichkeiten ließen ihn gleichermaßen zusammenschaudern. Über seine gefühllos gewordenen Lippen rann Gebet um Gebet. »Allmächtiger Vater …« Näher und näher rückte der Altar. Und obwohl ihn jeder Meter, den er zurücklegte, ein Jahr seines Lebens kostete, vermochte Ned Joyce nicht mehr innezuhalten oder sich gar zur Flucht zu wenden. Das, was sich die St.-Magnus-Kirche ausgesucht hatte, um eine Vermählung des Gestern mit dem Heute herbeizuführen, war eine überaus grausame Kraft. Barmherzigkeit war ihr fremd. Das Schicksal einzelner rührte sie nicht. Und so kam es, daß das letzte, was der Küster verschwommen wahrnahm, ehe seine Augen ihren Dienst versagten, etwas war, das auf dem Altartisch zu liegen schien. Etwas, das einen Moment zuvor noch nicht da gewesen war. Und das … sich bewegte und sich … aufrichtete? In der Haut von Ned Joyce klafften plötzlich überall Risse. Wasser, dachte er, von der Rasanz seines Siechtums völlig überrumpelt. Ich brauche … Wasser … Durst … Herr, gib mir … Dann war es zu Ende. Nacht, der kein Tag mehr folgen würde, senkte sich über Geist und Verstand des Küsters. Er hauchte sein Leben aus, und selbst dieser allerletzte Atemzug wurde ihm begierig von den Lippen gerissen und entführt … dorthin, von wo im Gegenzug auch etwas gekommen war. Angekommen. Etwas mit nur noch neun Fingern an zwei grundverschiedenen Händen …
*
cutter schleppt sich mühsam zu seinem gewohnten schlafplatz. blut und tränen verschmieren sein gesicht. er steht noch ganz unter schock. die bösartigkeit des lumpenmädchens macht ihn fassungslos, obwohl er gewalt – auch gewalt gegen sich – gewohnt ist … er hat doch nur freundlich sein wollen! wimmernd wie ein mißhandeltes tier kauert er unter der london bridge. was er gegessen hat, erbricht er sauer. ihm ist schlecht, sterbenselend. zu den schmerzen, die die tritte hinterlassen haben, gesellen sich auch noch andere, absonderlichere, die cutter nicht zuordnen kann, bis … bis er die schwellungen entdeckt, die keine normalen beulen sind. schwellungen, die nicht nur seinen untergang bedeuten, sondern einen jeden mitreißen werden, der ihm nahe kommt! cutter kennt sich aus – wie jedermann im london dieser jahre. aber er ist immer noch ein grundguter, ein freundlicher mensch, der anderen nichts böses will. er ist auch nicht mehr jung, er hat sein leben gelebt. gegen die noch zunehmende übelkeit und schwäche ankämpfend, kriecht er durch die nebelsuppe hin zur themse. das wasser ist kalt, eisig. cutters herz stottert. der schwere mantel saugt sich voll und zieht ihn in die tiefe eines grabes, dessen stille wie eine wundervolle melodie in cutters ohren rauscht. seine letzte sorge gilt den fischen. wenn sie klug sind, denkt er, mißtrauen sie dem köder …
* Von einer Nacht in die andere 1635-1666 … WAS HABE ICH GETAN? Für einen Moment, der ewig zu währen schien, fühlte sich Lilith Eden wie an unzähligen Fäden aufgehängt – schwebend in einer
Sphäre, in der es weder Licht noch Dunkelheit gab, obwohl Lilith meinte, um sie herum würden Sonnen geboren und sterben! Sie … fiel. Sie war in diese absurde »Lücke« gesprungen, die sich im Heerlager der Franzosen neben Beth – Beth! – aufgetan hatte und durch die ihr der Satan vorausgeeilt war …!* Seither stürzte sie. Endlos. Außerhalb von Zeit und Raum, keines Atemzugs und keines klaren Gedankens mächtig. Erstarrt. Die Stasis erstickte sie in ähnlicher Weise wie das Geschöpf, das Lilith aus seinem Grab befreit hatte, damit es sich mit Gott versöhnen möge – die Urmutter der Vampire! Adams erste Frau, die Hohe Wesen ins Uruk der Sumerer geboren hatte: Landru, Enlil, Adad, Ischtar … die Stammväter und -mütter aller Vampire, die sich die Menschen Untertan gemacht hatten … und über die die eigene Mutter schließlich das Todesurteil gefällt hatte. Gottes Strafe hatte die Vampire des ausgehenden 20. Jahrhunderts ausgerechnet aus dem Lilienkelch ereilt, der zuvor ein Born vampirischen Lebens gewesen war. Bis auf die Sippenoberhäupter und einige Ausnahmefälle hatte die »Purpurseuche« die Vampire rings um den Erdball dahingerafft. Und Lilith hatte den Auftrag erhalten, die letzten »Überlebenden« zu finden und ebenfalls von ihrem widernatürlichen Los zu erlösen. Von den Hütern abgesehen, waren alle Vampire ursprünglich als Menschen geboren worden, aber im zarten Kindesalter einem magischen Ritus, in dessen Mittelpunkt der Lilienkelch stand, unterzogen worden. Dabei mußten sie das Blut des Sippenoberhaupt aus dem Kelch trinken. Nach der »Gnade des ersten Todes« erwachten sie zu Wiedergän*siehe VAMPIRA T21: »Die Spur des Tieres«
gern, die fortan vom Blut der Menschen anhängig waren, um ihr eigenes abstruses Leben zu erhalten. Normale Nahrung war ihnen fremd, Blut der einzige Nektar, der sie unsterblich machte, solange sie sich in seinen Besitz bringen konnten. Zu diesem Zweck war ihnen die Gabe der Metamorphose verliehen worden, und dank ihrer sonstigen Magie vermochten sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – den Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Inzwischen wußte Lilith allerdings, daß es neben den Vampiren noch einen anderen Feind der Menschen gab, den man als das Böse schlechthin bezeichnen konnte. Diesem Urbösen war sie das erste Mal leibhaftig im Heidelberg des Jahres 1635 begegnet, wohin es sie nach der Passage des Tors im Monte Cargano verschlagen hatte. Allerdings nicht in ihrem eigenen Körper – der war in einem Zwischenreich hinter dem Tor zurückgeblieben –, sondern als bloßes Bewußtsein, das seither den Körper Kathalenas, einer kleinen Hexe aus dem Bayerischen, beseelte. In diesem Körper war sie auf den Teufel geprallt. Auf den Satan in Gestalt eines zyklopenhaften TIERS, das zuvor im Kampf gegen Salvat und die Bruderschaft der Illuminaten erheblich geschwächt worden war. Lilith und ein Jüngling namens Tobias hatten sich in Salvats Auftrag an die Fersen des flüchtigen Ungetüms geheftet und es im grenznah zu Deutschland gelegenen Frankenreich schließlich aufgespürt. Dort hatte Lilith es mit einer Hand attackiert, die ursprünglich einem Heidelberger, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, als Ersatz für dessen im Krieg verlorene Hand geschenkt worden war. Aber als Kathalena bei der Auseinandersetzung zwischen Salvat und dem Teufel ebenfalls eine Hand abgetrennt worden war, hatte sich die Teufelsgabe an ihren Armstumpf geheftet. Im Aufeinanderprall mit dem TIER hatte sich gezeigt, daß sich das einstige Satansgeschenk in eine Waffe gegen den Teufel verwenden
ließ. Kurz vor dessen Flucht durch einen Riß in der Wirklichkeit hatte Lilith ihm den Mittelfinger wie einen Dorn in die Brust gebohrt. Dabei hatte sie diesen Finger verloren. Und nun … ZZZUUUWWW! Vielleicht klang das Geräusch, mit dem der freie Fall endete, nur zufällig wie jenes Brausen, mit dem der Satan sich vor seiner Schwächung fortbewegt hatte. Aber letztlich war dies unerheblich. Lilith merkte erst, daß ihre Lider geschlossen gewesen waren, als sie die Augen aufschlug und in das sonderbare Licht, welches sie mitgebracht hatte, noch einmal hineinschrie: »Verzeih Uruk!«
* Verzeih Uruk …! Diese beiden Worte hatte sie Beth noch zugerufen, als sie sich an ihrer ehemaligen Freundin vorbei in den Abgrund geworfen hatte, der von Beth erzeugt worden war. Von einer Toten! Denn Beth war eigentlich im Uruk der Zukunft, im Uruk des Jahres 1996, gestorben! Lilith hatte der blonden Reporterin, ganz im Bann und Einfluß des Lilienkelchs stehend, das Genick gebrochen und sie dort am Beginn des magischen Korridors zurückgelassen, um allein den schweren Weg zum Anfang der Zeit zurückzulegen …* Für Lilith war es immer noch unbegreiflich, wie eine Frau, die absolut der toten Beth glich, in dieser Vergangenheit hatte auftauchen und sogar ein Kind gebären können: Charles Belier, den Sohn des Teufels, der dessen Wiedervereinigung aus drei Gestalten in Heidelberg vorbereitet hatte!** *siehe VAMPIRA H46: »Der bittere Kelch« � **siehe VAMPIRA T20: »Die Loge der Nacht« �
Belier war inzwischen tot. Und Beth, die der Satan mit sich aus Heidelberg fortgeschleppt hatte, schien bis eben nicht geahnt zu haben, wer sich tatsächlich im Körper der kleinen brünetten Hexe Kathalena verborgen gehalten hatte. Lilith hatte nicht voraussagen können, was sie in dem Riß erwartete, den Beth ihr mit den Worten: »Ihm nach! Los! Ich … weiß nicht, wie lange ich es noch … aufrechterhalten kann …« zugänglich gemacht hatte. Denn der Satan war auch ihr Peiniger gewesen, nicht ihr Freund! (Obwohl sie mit ihm gebuhlt hat?) Lilith widerstand der böswilligen Einflüsterung. VERZEIH URUK! Sie trug dieses Uruk seit damals wie ein Zentnergewicht mit sich herum, überallhin, wo auch immer sie ihrer Bestimmung zu folgen versuchte. Es war, als wäre sie zu einem Mord unter Hypnose gezwungen worden und könnte sich nun trotzdem nicht frei von Schuld sprechen, da es ja ihre Hände gewesen waren, die dieses Verbrechen begingen – noch dazu an ihrer besten Freundin, mit der sie zuvor so viele Gefahren gemeinsam bewältigt hatte. Beth hätte etwas anderes verdient gehabt – das machte es so schrecklich! Das Licht, das mit Lilith gekommen war, versiegte nicht; es hing der veränderten Umgebung, in der sich die Halbvampirin im Körper Kathalenas wiederfand, noch eine Weile an: Eine Kirche! Nicht mehr das freie Feld, der Bach und das Zeltlager der vergreisten französischen Soldaten, in dem Lilith und Tobias auf das gejagte Wild gestoßen waren! Nach Tobias suchte Lilith vergeblich. Vermutlich war er ihr nicht ins Ungewisse gefolgt. Aber unmittelbar bei ihr lag – ein Gerippe am Boden! Ein menschliches Skelett! Und während der ersten Atemzüge, die Lilith – umgeben von
mächtigen Mauern – tat, hielt sie es für möglich, daß es sich dabei entweder um die sterblichen Überreste von Beth oder von Tobias handelte … Die Knochen, obwohl bleich und morsch, konnten noch nicht lange hier liegen, denn die Kirche machte ansonsten einen sehr sauberen und gepflegten Eindruck. Als Lilith merkte, daß sie auf dem Altar zu sich gekommen war, schwang sie die Beine zum Boden und kniete neben dem Skelett nieder. Es war umflockt von schwärzlicher Schlacke, bei der es sich um die Überbleibsel verbrannter Kleidung handeln konnte. Aber verbrannt wovon? Was war hier geschehen, und – Ein Geräusch ließ sie erstarren. Aber nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann schnellte sie in den Stand und orientierte sich in die Richtung, aus der das Geräusch gedrungen war. Plötzlich glaubte sie zu wissen, wer den Skelettierten umgebracht hatte. In ihrer Blickrichtung lag ein Beichtstuhl, dessen beide Türen verschlossen waren. Hinter der einen hielt sich normalerweise der Beichtvater auf, hinter der anderen der um Vergebung bittende Sünder. Lilith war überzeugt, daß sich dort momentan nur einer verbergen konnte: der Schrecken, dem sie bis hierher – wo immer hier auch sein mochte – gefolgt war! Die von ihr aus gesehen linke Tür war nicht ganz verschlossen, wie sie im Näherkommen bemerkte. Aber bevor Lilith sie erreichte, wurde sie von der Hand abgelenkt, der sie auf dieser Seite des Abgrunds noch keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Nun also erwachte die vierfingrige Monstrosität, zerrte Lilith nicht auf die linke, sondern auf die rechte Tür zu, riß sie auf – und packte ohne Zögern das Mädchen, das dort verängstigt kauerte, bei der Kehle. Sie drückte so vehement zu, daß Lilith meinte, den Knorpel knirschen zu hören!
* � Ruby hatte Einlaß in die Kirche am Rand der Fish Street gefunden. Nicht über den gewöhnlichen Weg, sondern indem sie das Fenster der Küsterei eingeschlagen hatte und dort hineingeklettert war. Die widernatürliche Helligkeit, die sie schon durch die farbigen Mosaike der Scheiben hatte sehen können, durchdrang auch ungehindert die Wohnung des Mesners, weil die Verbindungstür zur Kirche weit offengestanden hatte. Ohne zunächst zu ahnen, daß sie nur wenige Minuten hinter dem Kirchendiener folgte, hatte sich Ruby der Anziehungskraft dieses düsterglühenden Lichtes ergeben. Aber den auf allen vieren zum Altar kriechenden Küster hatte sie erst bemerkt, als dessen Gestöhn aufgeklungen war. Und dann war das nackte Grauen über Ruby gekommen. Der Alte, der sich über den Steinboden der Kirche schleppte, war nicht einfach nur hochbetagt, er war uralt, und noch während Ruby ihn ansah, schien er weiterzuwelken – sichtbar! Fast hatte es den Anschein, als würde er inmitten seiner verzweifelt anmutenden Vorwärtsbewegung schrumpfen. Aber das lag nur daran, daß sein Körpergewebe wie unter enormer Hitze eintrocknete, regelrecht verdorrte und einfiel, als würde die Luft aus einem aufgeblähten Sack entweichen! Wenige Schritte vom Altar entfernt brach der Kirchendiener endgültig zusammen. Ein paar letzte Zuckungen, und er blieb reglos liegen, die Arme fast flehend nach vorn gestreckt. Der grausige Verfall hörte aber auch dann noch nicht auf. Selbst die mumienhaften Hautreste, die das Skelett überspannten, lösten sich von den Knochen – und das erst dunkle Gerippe samt Totenschädel darunter bleichte mit unfaßbarer Geschwindigkeit aus! Irgendwann griff ein vom Altar herüberzuckender Blitz nach der Kleidung des Toten und setzte sie in Brand. Ebenso wie der sonstige
Spuk fraß das Feuer das Nachthemd des Kirchendieners in einer jeder Erfahrung spottenden Weise: rauchlos und unter Freisetzung eines untypischen, schwefligen Gestanks! All dies ereignete sich inmitten des gespenstischen Schimmers, der seinen Ausgangspunkt beim Altartisch zu haben schien. Und als Ruby ihre Blicke von den weiß gebleichten Gebeinen endlich dorthin lenkte, vermutete sie zunächst eine weitere Sinnestäuschung (denn auch das, was mit dem Küster geschehen war, konnte nur ein Traum sein, oder?), weil sich dort aus dem wabernden Licht die Umrisse einer festen Gestalt herauszuschälen begannen. Rasend schnell gewann die Erscheinung an Substanz, und schließlich floh Ruby in den Beichtstuhl, der ihr näher als die Küsterei lag. Sie wollte sich verbergen. Doch in ihrem Eifer warf sie, als sie gegen das kleine Tischchen unterhalb der Verbindungsluke zur Nebenkammer stieß, eine Bibel zu Boden. Es klatschte ohrenbetäubend laut, als das ledergebundene, schwere Buch zu Boden fiel – zumindest kam es Ruby entsetzlich laut vor. Auf jeden Fall war es gehört worden, denn wenig später hörte sie Schritte auf den Beichtstuhl zukommen. Und dann –
* Bis Lilith endlich begriff, was die fremde Hand an ihrem Arm zu tun versuchte, hatten die drei Finger und der Daumen das Mädchen schön beinahe erwürgt. Es war blau im Gesicht, und seine Augen quollen weit hervor, bis sich Lilith endlich zu wehren begann. Sie verweigerte die Komplizenschaft! Mit aller Kraft warf sie sich nach hinten und stemmte sich gegen den verderblichen Einfluß jenes Dings, das viel mehr war als nur eine lebendige Prothese!
Was hatte Salvat damit getan? Mit welchem Gift hatte er diese Faust aus dem Arsenal des Teufels geimpft? Lilith wußte es ebensowenig wie sie Salvats Rolle bis ins letzte durchschaute. Als altehrwürdiger Vorsteher des Ordens der Illuminati war er ihr in der Zukunft begegnet – als zürnender Racheengel war er im Heidelberg des Jahres 1635 der Satansbrut aus dem Spinnenkokon zu Leibe gerückt! Und noch während Lilith sich abmühte, die Umklammerung um die Kehle des Mädchens zu lösen, sprang eine andere Angst sie an: die Angst, einen schrecklichen Fehler zu begehen. Was, wenn sie sich nur von einer Maske des Satans täuschen ließ? Wenn dieses Mädchen nicht halb so unschuldig war, wie es nach außen schien …? Salvat hatte keinen Zweifel an der Verwandlungsfähigkeit des gestaltgewordenen Bösen gelassen. Es konnte beliebige Form annehmen! Jeden Menschen imitieren. Sicher reagierte die Faust nicht ohne Grund so heftig auf dieses so harmlos anmutende, verwahrloste Geschöpf, das sich in die Ecke des Beichtstuhl gekauert hatte! Aber war dieser vom Satan geschaffenen Hand zu trauen? Nein! Liliths Antwort kam aus tiefstem Herzen. Und dann … … sah sie das, was sie sicher machte, es nicht mit dem Satan zu tun zu haben – weil es keinen Sinn machte, daß er sich in solcher Weise tarnte! Den Blick auf das Vampirmal am Hals des Mädchens gerichtet, mobilisierte Lilith Widerstand und Durchsetzungsvermögen, das selbst der fremden Faust gewachsen war. Die Umklammerung wurde gesprengt. Lilith wurde von ihrem eigenen Schwung nach hinten gerissen und schlug so unglücklich mit dem Hinterkopf auf die Steinfliesen, daß sie augenblicklich das Bewußtsein verlor.
Sie sah nicht mehr, wie das nach Luft schnappende Mädchen sich aufrichtete, aus dem Beichtstuhl herauswankte, kurz innehielt, sich umsah, seine Wahl traf, eine schwere Skulptur von einem Wandsockel hob und damit zu der Frau am Boden ging, um ihr den Schädel einzuschlagen.
* Mittwoch, 29. August 1666 Ledrige Schwingen durchpflügten die Lüfte jenseits der Mitternacht. Kyle nutzte seine wiederentdeckten Fähigkeiten und machte sich damit das Element Untertan, durch das er sich, einem Vogel gleich, bewegte. Die uralte Kraft, die ihn schon zu Zeiten der Magna Carta durchpulst hatte, war neu in ihm erwacht und schien sich nicht daran zu stören, daß dies ja eigentlich nicht sein Körper war, den sie in die Fledermaus-Maskierung zwang, sondern der Leib eines Menschen! Kyle wußte immer noch nicht, was genau in Downings Garten mit ihm geschehen war. Aber zweifellos war nicht nur sein Bewußtsein in Pepys Hülle übergeflossen und hatte dort die insgeheime Herrschaft an sich gerissen, nein, auch seine Magie hatte darin überdauert …! Was für ein Irrsinn, dachte er. Und erhöhte seine Geschwindigkeit. Er hatte sein – Pepys’ – Haus wohlversorgt zurückgelassen, den Menschen darin Erinnerungen aufgepfropft, die ihnen und allen, die vielleicht zu Besuch kamen, Normalität vorgaukeln würden, während er selbst unterwegs war. Unterwegs, um Antworten zu finden. Er wollte es wissen! Nun, da er sich über seine wahre Identität gewiß war, ertrug er die Unklarheit, was aus seiner Familie geworden war, nicht länger. Bei
Nacht und Nebel hatte er sein Heim verlassen und sich zu den Sternen aufgeschwungen … Gerade zog unter ihm die Ruine des Mitras-Tempels vorbei, der noch aus der Römerzeit stammte und einem Kult entsprungen war, der von den Angeln und Sachsen nicht weiterbetrieben worden war. Aber dafür, dachte Kyle ernst, hat sich ein für uns Vampire sehr viel entsetzlicherer Kult mit seinen Tochtergeschwulsten über London und die ganze Welt ausgebreitet! Wie zur Bestätigung tauchte im rasenden Flug vor ihm nicht nur die Guildhall, sein Ziel, sondern auch die Spitze der benachbarten Kirche St. Lawrence Jewry auf. Automatisch ging er tiefer und landete kurze Zeit später unmittelbar vor dem Portal des Gebäudes, in dem nicht nur die wichtigsten Zünfte ihre Verwaltung unterhielten, sondern auch das Rathaus untergebracht war. Und, noch wichtiger … … unser Versammlungsgewölbe, dachte Kyle. »Heda, wer seid Ihr?« Der Ruf eines der beiden Hellebardiere, die den Eingang der Guildhall bewachten, beeindruckte Kyle, der sich in den Schatten zurückverwandelt und aufgerichtet hatte, nicht im mindesten. »Schweigt!« raunte er den Wächtern scharf entgegen. Und fügte hinzu: »Öffnet mir das Tor. Ich bin in Eile!« Sie gehorchten. Was blieb ihnen auch übrig? Kyle zelebrierte seine Macht und war im Weitergehen sogar versucht, die Wachen aufzufordern, sich ihre Hellebarden gegenseitig in die Bäuche zu stoßen. Doch dann erschien ihm dies ein gar zu sinnloses Töten, das unter seiner Würde war. Wenn Koogan davon erfahren hätte … Kyle durchschritt ungehindert das Gebäude, das mit den Bannern der Zünfte, den Namen der Lord Mayors und den Wappen der Herrscher geschmückt war. Im Westflügel lag der Zugang zum unterirdischen Versammlungs-
raum der Sippe. Kyle fand ihn magisch versiegelt, was entweder bedeutete, daß gerade eine Zusammenkunft stattfand, bei der die Mächtigen der Stadt nicht gestört werden wollten – oder daß keiner von ihnen anwesend war. Nach kurzer innerer Beratung brach Kyle das Siegel. Die Treppe im Boden wurde sichtbar, und er stieg hinab in das von achteckigen Säulen getragene Gewölbe, das – wie insgeheim befürchtet – leer und verlassen war. Die Traurigkeit, die den Vampir daraufhin überkam, überraschte ihn selbst. Aber dann durchschaute er ihren Grund: Die finstere Halle, in der Kyle zu sehen vermochte, als betrachtete er sie noch mit seinen eigenen Augen, erweckte den Anschein, schon lange nicht mehr besucht worden zu sein. Seit Jahren nicht mehr … Seit sechs Jahren …? stellte er sich die bange Frage. Dann erinnerte er sich der Angewohnheit Koogans, hier unten die aktuellen Ausgaben der Zeitungen aufzubewahren und zu studieren, die in London in Umlauf waren. Durch das Gewölbe, das ihm wie eine Ödnis erschien, orientierte sich Kyle um den runden Tisch herum zum Thron des Sippenführers, der wie eine knöcherne, hohle Hand geformt war. Unter der steinernen Tischplatte gab es Fächer, und die verstaubte Zeitung, die zuoberst auf dem Stapel lag, datierte vom – – 31. Dezember 1659! � Dem Tag, an dem Kyle mit Pepys verschmolzen war! � Und seine Brüder und Schwestern …? � Kyle zollte dem jähen Schwächegefühl, das ihn übermannte, Tribut und ließ sich auf Koogans Thronsitz sinken. Zu anderen Zeiten hätte er dergleichen nicht gewagt – niemand hätte dies. Aber die Zeiten … waren anders geworden. Welches Schicksal hatte seine Familie in der Silvesternacht vor sechs Jahren erlitten?
Hatte der Zyklop vom Teich jedes einzelne Mitglied der Sippe heimgesucht, es entweder vernichtet oder verstümmelt und seiner Erinnerung beraubt, wie es mit ihm, Kyle, geschehen war? Wandelten auch die anderen Kelchkinder seither mit gefälschtem Gedächtnis durch die Straßen der Stadt und führten tagsüber ein Leben, als seien sie Menschen, obwohl sie doch zu weit Höherem bestimmt waren …? Unruhig rutschte Kyle auf Koogans Sitz hin und her. Sein Blick streifte den Platz, der Kyd gehört hatte, mit dem er trotz seines Hangs zum Einzelgängertum manchen nächtlichen Streifzug unternommen hatte – manche Jagd im Mondenschein … Vorbei! Kyd war wie alle anderen verschwunden. Wo seid ihr? dachte Kyle. Wo kann ich nach euch suchen? Unweigerlich drifteten seine Gedanken erneut zu Ruby. Kyle hatte kaum noch Zweifel, daß es das Blut des Mädchens gewesen war, was ihm nach all den Jahren die Augen geöffnet und die Erinnerung an sein Vorleben als Kind des Kelchs zurückgegeben hatte. Etwas in Rubys Blut hatte das Vergessene nach oben geschwemmt. Etwas … »Ich habe keine Wahl«, murmelte Kyle. Seine Worte waren an keinen anderen Zuhörer als an sich selbst gerichtet. »Ich muß sie wiederfinden. Und wenn ich sie foltern müßte, sie wird mir ihr Geheimnis lüften, oder …« Über das Oder machte er sich noch keine weiteren Gedanken. Dafür war später immer noch Zeit. Das Phantom, als das er die Guildhall betreten hatte, verließ das Gebäude nach kurzem Aufenthalt auch wieder. Zuvor hatte Kyle noch das Siegel vor dem Gewölbe erneuert. Die nächste Station seiner Nachforschungen war jene Absteige in der Nähe von Pepys Haus, in der Ruby untergebracht gewesen war. Wie erhofft, machte es Kyle keine Mühe, dort die Witterung der schönen Blume aufzunehmen und ihrer Spur durch die warme Au-
gustnacht zu folgen …
* Ruby hetzte geduckt durch die Nacht. Fort! dachte sie. Nur fort von hier! Sie meinte immer noch die Hand an ihrer Kehle zu fühlen … und das völlig widersinnige Gefühl zu verspüren, von dieser Hand schon einmal (aber wann?) sehr viel zärtlicher berührt worden zu sein. Sie bekam immer noch nicht richtig Luft. Ihr Atem rasselte, als hätten die Finger heillosen Schaden angerichtet. Aus einem nahen Wirtshaus tönten Stimmen. Gelächter. Ruby war nicht zum Lachen zumute. Sie suchte verzweifelt nach einer Erklärung für das, was sie in der Kirche St. Magnus gesehen und erlebt hatte. Diese Fremde! Warum habe ich sie nicht umgebracht? Ich hätte sie … Ruby blieb stehen, als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen. Wo war sie hier? Die finstere Straße kam ihr bekannt vor, obwohl sie zugleich hätte schwören können, noch niemals hier gewesen zu sein. Wie absonderlich. Wie angewurzelt stand sie mitten auf dem Straßenpflaster. Die Stimmen aus der Schenke waren wieder leiser geworden. Die Dunkelheit drückte wie ein Gewicht auf Rubys Schultern. Plötzlich merkte sie, daß sie die ganze Zeit schon ein einzelnes Haus, höher als die meisten in seiner Nachbarschaft, anschaute. Mit angehaltenem Atem, als könnte sie auf diese Weise die Stimmen, die in ihr erwachten, klarer verstehen. Irgendwann setzte sie sich wieder in Bewegung und ging zielstrebig auf das Haus zu.
Sie war nun sicher, aus der Kirche nicht einfach blind in die Nacht hineingerannt zu sein. Sie kannte dieses Haus. Sie hatte es all die Jahre gemieden, aber nun war das, was sie ferngehalten hatte, von der Hand an ihrer Kehle weggefegt worden. Die Tür war verschlossen, aber Ruby war im Einbrechen nicht ungeübt. Und als sie durch den Holzrahmen des zertrümmerten Fensters im Hinterhof in die dahinterliegende Stube kletterte, wurde sie von einem Gefühl überwältigt, das sie in dieser Macht und Untrüglichkeit kaum mehr für möglich gehalten hätte. Aber es stimmte. Sie war heimgekommen.
* Der Schmiedehammer in ihrem Kopf weckte sie. Lilith öffnete die Augen. Zuerst nahm sie ihre Umgebung nur verschwommen wahr, aber nach ein paar Sekunden klärte sich der Blick. Sie begriff auch, daß das Hämmern nicht unter ihrer Schädeldecke stattfand, sondern seinen Ursprung am Kirchenportal hatte. Offenbar begehrte jemand lautstark Einlaß. Immer wieder schlugen Fäuste gegen das Holz und erschollen Rufe nach einem gewissen Ned … Ned Joyce … wenn Lilith es richtig verstand. Sie richtete sich schwankend vor dem leeren Beichtstuhl auf. Hinter sich erblickte sie das bleiche Gerippe, das immer noch im Mittelgang lag, und eine von nichts gestützte Ahnung sagte ihr, daß dies womöglich alles war, was von jenem Ned Joyce übriggeblieben war … Und das Mädchen? Lilith blinzelte gegen die Helligkeit, die durch die Kirchenfenster hereinströmte. Sonnenlicht.
Wie lange war ich bewußtlos? Ganz nah der Stelle, an der sie gerade noch gelegen hatte, lag eine zertrümmerte Apostelfigur. Wie sie dorthin gelangt war, blieb Lilith unklar. Unklar war auch noch immer, wo sie eigentlich war. Wie hieß diese Stadt? Und wieso war sie nicht wieder auf freiem Feld herausgekommen? Die Stimme draußen redete englisch, nicht deutsch. Aber war dies ein wirklich verläßliches Indiz, um auf ihren Aufenthaltsort rückzuschließen? Die Hand … Lilith betrachtete die Hand, die mehr eine Klaue war und die sie seit Heidelberg mit sich herumschleppte. Sie benahm sich wieder völlig passiv. Wie leblos … In diesem Augenblick drangen aus einem der Gänge, denen Lilith bisher keine Beachtung geschenkt hatte, mehrere Gestalten – am Ende zählte sie sechs – ins Kirchenschiff ein. Der Mann ganz zuvorderst entdeckte Lilith, ein anderer das Skelett im Mittelgang. Sofort schrien sie einander Warnungen zu, und im nächsten Moment verlangsamte sich der Vorstoß der Gruppe. Wahrscheinlich war es höchst ungewöhnlich, daß das Kirchenportal um diese Zeit noch verriegelt war, so daß sich einige besorgte Bürger zusammengerottet hatten, um nach dem rechten zu sehen. Offenbar hatten sie einen Weg gefunden, um das Hauptportal unversehrt zu lassen und dennoch ins Innere zu gelangen. »Wer bist du?« hörte Lilith einen Zuruf. »Rede! Und wo ist der Küster?« Lilith bewahrte Ruhe, obwohl sie sich nicht wohl fühlte. Sie trat den Männern entgegen. Die meisten trugen knielange Hosen, Strümpfe, Schnürschuhe mit hohen Absätzen, eine Bluse und einen Hut. Ihr Haare darunter war lang; manches fiel bis zu den Schulterblättern. »Wo bin ich?«
Sie war immer noch in der Lage, ein magisches Verhör durchzuführen. Sofort verfielen alle Anwesenden in eine Art Trance. Lilith griff sich den ihr am nächsten Stehenden, einen Schnurrbartträger, heraus. »Antworte!« Der sehr ansehnliche Mann zögerte keine Sekunde. »In der Kirche St. Magnus.« »In welcher Stadt?« Die Hypnose ließ keine Irritation zu. »In London.« »London …« Wie kam sie von Frankreich nach London? Und wenn sich schon der Ort so radikal geändert hatte, war es dann nicht auch möglich, daß …? »Welches Datum schreiben wir?« »Den neunundzwanzigsten August.« »August?« Anfang Oktober hatte sie das Heerlager der Franzosen erreicht. War sie in der Zeit rückwärts gegangen? Es gab noch eine Alternative, die fast noch haarsträubendere Gefühle in Lilith weckte. »Welches Jahr?« fragte sie. »Sechzehnhundertsechsundsechzig.« Einen Moment wünschte Lilith, sie hätte die Frage nie gestellt. Dann faßte sie sich wieder. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Ihr Informant konnte sie nicht belügen. Der Spalt, den Beth ihr und dem Teuflischen offengehalten hatte, hatte sie tatsächlich um gut dreißig Jahre in die Zukunft versetzt und von der gerade erst wiedergefundenen Beth entfernt. Es war nicht nur ein Riß in der Realität gewesen, in den sie sich gestürzt hatte, sondern ein Tunnel durch die Zeit! Aber wo war dann der Schreckliche, der ihr vorausgeeilt war? So einen großen Vorsprung hatte er nicht gehabt …
Falls das überhaupt eine Rolle bei dieser Art der »Fortbewegung« spielt, dachte Lilith. Wenn er nicht hier war, konnte er dann nicht auch unterwegs irgendwo … irgendwann … verlorengegangen sein? Lilith war nicht bereit, sich auf das dünne Eis solcher Hoffnung zu verlassen. »Warum seid ihr gekommen?« fragte sie. »Das Tor war zu. Ned gab keine Antwort …«, bestätigte der Gefragte die Vermutung, die sie schon selbst angestellt hatte. »Schon gut.« Sie schwankte, suchte und fand Halt an dem Mann. Ihre Rechte klammerte sich an ihm fest. Dann war die sonderbare Anwandlung, deren Ursache Lilith auf den magischen Transfer durch die Zeit schob, auch schon wieder vorbei. Lilith ließ los. »Habt ihr das Mädchen gesehen?« fragte sie und gab der Gruppe eine möglichst genaue Beschreibung der Gestalt, die sich im Beichtstuhl versteckt gehalten hatte. Alle verneinten. »Sonst etwas Ungewöhnliches?« Sie spielte auf das Satanswesen an, bekam aber wiederum ein entschiedenes Nein zur Antwort. Ende August 1666, sinnierte sie daraufhin. Wie hat Beth das gemacht? Wer hat ihr die Macht verliehen, die Zeit zu manipulieren? Und wo mag sie jetzt sein? Ob sie noch am Leben ist? Aber was für eine Art Leben wäre das gewesen? Lilith hatte schon einmal Umgang mit einem Freund gehabt, der, wenn auch unter gänzlich anderen Umständen, von den Toten zurückgekehrt war: mit Duncan Luther.* Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht würde sie nie Näheres über Beth’ Mysterium erfahren und sie so wenig wiedersehen wie Tobias Stifter, den sie gestern – vor drei Jahrzehnten – aus den Augen ver*siehe VAMPIRA Heftserie 20 und 21
loren hatte … Sie stoppte ihre düsteren Gedanken. Denn in diesem Moment nahm sie eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds, ganz am entgegengesetzten Ende des länglichen Kirchenschiffs, wahr. Sie fuhr herum und sah gerade noch den Schemen eines Mannes hinter einer Säule verschwinden. Offenbar hatte sie es versäumt, wirklich alle Bürger, die nach dem Befinden des Küsters hatten forschen wollen, unter ihre Kontrolle zu bringen. Aber als sie ihre magischen Fühler aussandte, fand sie keinen Widerhall. Neugierig ließ sie die Gruppe stehen und lief zu der Säule, hinter die der Unbekannte gehuscht war. Dort war niemand mehr, obwohl es keine Tür und keinen abzweigenden Gang in diesem Bereich gab – überhaupt keine Flucht- oder Versteckmöglichkeit! Wirklich nicht? Eher zufällig schweifte Liliths Blick nach oben, wo eine in das riesige Bogenfenster eingelassene kleine Lüftungsluke offenstand. Durch sie hätte jedoch höchstens ein Vogel entfliehen können. Oder eine – Gedankenverloren kehrte Lilith zu den Bürgern zurück, die mit lobenswerter Duldsamkeit in der Nähe des morschen Gerippes, das aller Wahrscheinlichkeit nach einmal jenem Ned Joyce gehört hatte, auf sie warteten. »Wie ist dein Name?« fragte sie den Mann, mit dem sie sich am häufigsten unterhalten hatte und dessen Äußeres ihr von allen am sympathischsten war. »William Wight.« »Schön, William. Hättest du wohl eine Bleibe für mich?« Er sah sie nur an, als wüßte er nicht, wie er ihre Frage verstehen sollte. »Wie groß ist deine Familie? Wer lebt alles in deinem Haus?«
»Ich bin verheiratet. Mit Deb …« »Deb?« »Deborah. Wir haben zwei Kinder: Helen und Evelyn.« Lilith nickte. »Ich werde versuchen, euch nicht allzusehr zu stören.«
* Unter Kyles Sohlen knirschten Scherben. Er lauschte. Hier endete die Spur. Ruby war in dieses Haus gegangen, aber nicht wieder herausgekommen, soviel war nach vampirischem Ermessen sicher, nachdem Kyle das Gebäude umrundet und das umliegende Terrain ausgelotet hatte. Seine Verwirrung war seit der Etappe, die ihn in die St. Magnus Church geführt hatte, nicht geringer geworden. Statt Ruby hatte er dort eine andere – blutjunge – Frau angetroffen. Sie war mit einer Gruppe Männer umgesprungen wie mit hörigen Sklaven. Kyle hatte sich nicht zu erkennen gegeben, aber seine Beobachtungen und das Verhör (er wußte nicht, wie er es anders nennen sollte), das er belauscht hatte, beunruhigten ihn zutiefst. Der direkten Konfrontation mit der Unbekannten hatte er sich entzogen. Aber im nachhinein waren bohrende Zweifel erwacht, ob dies das richtige Verhalten gewesen war. Immerhin war er auf der Suche nach Antworten, was aus den anderen Mitgliedern seiner Sippe geworden war. Und diese Frau mit der Gabe, sich andere Menschen zu unterwerfen … … konnte sie nicht sein wie er? Konnte sich hinter ihrer menschlichen Hülle nicht einer seiner Geschwister verbergen, den die fremde Macht ebenfalls mit einem Sterblichen verschmolzen hatte …? Wäre ihm die Idee früher gekommen, hätte er es wahrscheinlich auf eine Begegnung ankommen lassen.
Doch dann wäre er jetzt nicht hier gewesen. In Rubys Versteck. Von dem Mädchen mit dem Jaucheblut erhoffte er sich Aufklärung über die Ereignisse, die zum Verschwinden der Sippe und seinem Identitätsverlust geführt hatten. Ruby roch wie das Verhängnis, das damals über ihn gekommen war. Sie stank förmlich danach – zumindest seit sich seine Zähne in ihre Haut gebohrt hatten. Oh, sie war bei weitem nicht die Unschuld, die sie nach außen vorspiegelte und der er als Samuel Pepys auf den Leim gegangen war. Sie wußte entschieden mehr, als sie vorgab. Sie mußte mehr wissen – und er würde es schon aus ihr herausbringen …! Kyles Augen erfaßten das Zimmer, das auch Ruby als erstes gesehen haben mußte, als sie in dieses Haus eingebrochen war. Lange konnte das noch nicht her sein. Dennoch: Hier, in diesen vier Wänden, hielt sich weder sie noch eine andere Person auf. Es war das, was die Bürgerlichen ihre »gute Stube« nannten. Die meiste Zeit aber hielten sie sich – außer zum Schlafen – in ihren Eßküchen auf. Kyle öffnete die Tür, zu der er mit wenigen raumgreifenden Schritten gelangt war. Dahinter lag ein Gang. Finster und still. Aber nicht finster genug. Pepys’ veränderten Augen entging nichts. Magie machte sie sehend. Kyle nahm die Witterung auf. Er fühlte die Menschen im Haus. Auch Ruby. Weiter! trieb er sich an. Am Ende des Ganges: eine Treppe. Kyle hatte das Gefühl, schwerelos darauf zuzutreiben und auch die Stufen mit raubtierhafter Leichtigkeit, kaum zu bändigender Kraft zu erklimmen. Wie gut er sich fühlte. (Oder doch nur böse?)
Oben ein neuer Korridor, etwas breiter als der darunterliegende, aber parallel dazu verlaufend. Bilder an den Wänden; billige Gemälde von zweit- oder gar drittklassigen Künstlern. Kyle hatte einen Blick dafür. Dank Pepys, dessen komplettes Wissen und Leben jederzeit abrufbereit zu seiner Verfügung stand. (Existierte dieser Pepys noch? Neben ihm? Hatte er sich nur in einen fernen Winkel seines Gehirns verkrochen und hielt sich dort furchtsam vor dem ungebetenen Eindringling verborgen?) Aus einigen Zimmern, an denen Kyle vorbeihuschte, drangen auffällige Laute. Trotzdem hielt er sich nirgends auf. Er fühlte, wohin er zu gehen hatte. Und dann öffnete er die Tür, hinter der sie sich verschanzt hatte. Ruby sah ihm entgegen, ruhig und gefaßt. Und grauenvoll verändert.
* Donnerstag, 30. August 1666 Evelyn war fasziniert von der Hand und spielte damit, was Lilith mehr als eine Gänsehaut verursachte. Sie war überzeugt gewesen, die Verbote, die auch die monströse Prothese betrafen, klar formuliert und in den Bewohnern des Wight-Hauses verankert zu haben. Bei Evelyn hatte dieses Tabu jedoch von Anfang an nicht gefruchtet. Denn Evelyn war gerade einmal drei Jahre alt. Liliths hatte keinerlei Erfahrung mit hypnotischer Einflußnahme auf Kinder, die noch mitten in ihrer Entwicklung steckten. Sie hoffte aber inständig, keinen unverzeihlichen Schaden in den Wight-Kindern anzurichten. Helen, Evelyns Schwester, war schon sechs und interessierte sich kaum für ihren Gast. Und die hübsche Deborah Wight … Von dem Augenblick an, da ihr Mann William Lilith in sein Haus
geführt und mit seiner Familie bekannt gemacht hatte, war Lilith klar gewesen, daß sie nichts tun würde, was diese Gemeinschaft in irgendeiner Weise gefährdete. Zu amourösen Abenteuern stand ihr ohnehin nicht der Sinn. Vielmehr fragte sie sich, wie es weitergehen sollte. Nicht nur aktuell im London dieser Zeit, sondern auch längerfristig. Salvats Auftrag, dem Satan nachzujagen und dessen Genesung zu verhindern, brannte immer noch wie ein grelles Fanal in ihrem Bewußtsein. Es schien unauslöschlich. Vielleicht würde es sie noch in ferner Zukunft an ihre Mission gemahnen … Und an ihr Versagen? Lilith war jedenfalls nur noch verhalten optimistisch, die Kreatur, die das Urböse in sich zu tragen schien, ausfindig machen und besiegen zu können. Zu unsicher war der Weg, auf dem sie ihr gefolgt war. Der Zeitstrom hatte zahllose Abzweigungen. Wer konnte schon sicher sagen, an welcher der Teufel ihn verlassen hatte? Dort in der Kirche St. Magnus – den Namen hatte William ihr genannt – schien er jedenfalls nicht aufgetaucht zu sein, auch wenn das Schicksal des Küsters vielleicht ein Indiz dafür war. Aber dessen Dahinscheiden und Zerfall konnte auch gänzlich andere Ursachen haben. Vielleicht war er einfach dem Sog des von Beth erzeugten »Risses« zu nahe gekommen … Vieles schien möglich. Lilith hoffte, daß auch ihre Rückkehr in den eigenen Körper irgendwann möglich sein würde. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ihn eines Tages wiederzubeseelen … falls ihre Hülle überhaupt noch existierte und von Leben erfüllt war. »William kommt.« Lilith fielen die Schritte draußen vor der Tür erst um einiges später auf als Deborah, die sie darauf hingewiesen hatte. Alle im Haus waren sehr freundlich. Lilith verzichtete auf entwürdigenden Gehorsam. Sie wandte nur soviel Einflußnahme wie unbedingt nötig an.
Im Aufstehen setzte sie Evelyn, die auf ihrem Schoß gesessen hatte, auf den Fußboden. Sofort verfiel das Mädchen mit dem goldblonden, zu Zöpfen geflochtenen Haar in quengelnden Protest, bis ihre Mutter, die mit einer Stickerei beschäftigt war, es zu sich rief. Helen spielte abseits mit einer Puppe und achtete auch nicht auf die Heimkehr ihres Vaters. Sie war völlig in ihr Spiel vertieft. »Und?« bestürmte Lilith den Heimkehrer, kaum daß er die Tür hinter sich ins Schloß gezogen hatte. »Gibt es Neuigkeiten?« Sie hatte ihn losgeschickt, um sich nach ungewöhnlichen Vorkommnissen in der Stadt umzuhören. William Wight hob bedauernd die Schultern. »Alles scheint ruhig«, sagte er mit seiner volltönenden Stimme. »Es ist ein gutes Jahr. Allenthalben herrscht Zufriedenheit. Die Pestfälle werden immer weniger. Es heißt, unsere Flotte habe einen großen Sieg über die Holländer errungen, aber sonst …« Lilith trat enttäuscht einen Schritt zurück. Natürlich wünschte sie nicht, daß den Menschen etwas zustieß, aber sie wußte auch nicht, wie sie ohne Kunde von außergewöhnlichen Vorkommnissen die verlorene Fährte wieder aufnehmen sollte. Sie überlegte, ob es überhaupt Sinn machte, sich auf William und sein Gespür für Spektakuläres zu verlassen. »Keine Verbrechen, die sich durch besondere Grausamkeit oder Außergewöhnlichkeit auszeichnen? Keine Unruhe unter der Bevölkerung, weil ein Mörder ungesühnt sein Unwesen treibt, Leute verschwinden … oder irgend etwas in dieser Art?« William Wight schüttelte den Kopf. »Nur die Sache mit Ned Joyce erregt einige Gemüter. Daß er verschwunden und statt seiner ein Skelett in der Kirche abgelegt wurde … Man ist auf der Suche nach dem Grab, aus dem man das Gerippe gestohlen hat.« Lilith nickte. Ein wenig bewunderte sie die Leute dafür, wie »bodenständig« sie mit solchen Vorkommnissen umgingen. William arbeitete als Uhrmacher in einem Laden in der Fish Street.
Das Geschäft gehörte ihm allerdings nicht selbst. Er war nur darin beschäftigt, und da es viele Arbeitslose in der Stadt gab, hatte sich Lilith vorgenommen, ihren Gastgeber nur in den Abendstunden nach Dienstschluß zu entsenden, um für sie Augen und Ohren offenzuhalten. Der Zurückgekehrte zog eine zusammengefaltete, dünne Zeitungspostille aus der Rocktasche und reichte sie an Lilith weiter. »Die neueste Ausgabe. Darin steht alles, was in den letzten Tagen von Belang war. Es handelt sich hauptsächlich um Hofberichterstattung.« Lilith nahm das in unsauberem Druck gefertigte Blatt entgegen. Es berührte sie eigentümlich, daß es schon in dieser Epoche Zeitungsmacher gegeben hatte … … und unwillkürlich mußte sie schon wieder an Beth MacKinsey denken, die sie seinerzeit kennengelernt hatte, als ihre Freundin noch als Reporterin des angesehenen Sydney Morning Herald gearbeitet hatte. »Danke«, sagte sie. Dann zog sie sich in einen Nebenraum zurück, um allein zu sein. Einige Zeit später verließ sie die Wohnung in der Fish Street in einem von Deborahs Kleidern, das ihr perfekt paßte. Beim Umziehen hatte sie eine knotige Verdickung unter der linken Achsel entdeckt. Da sie nicht wehtat, hatte sich Lilith selbst beruhigt, daß es eine harmlose Schwellung sei. Mehrere Stunden, bis zum Einbruch der Dunkelheit, ging sie die Umgebung der Kirche St. Magnus ab und flanierte durch die Straßen, an hübschen kleinen Geschäften und anderem Sehenswerten vorbei. Dabei sah sie auch viel Not. Zustände, wie sie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert undenkbar gewesen wären – zumindest in den Ländern, die sich selbst mit dem Zertifikat Erste Welt belegt hatten. Weder auf den Verbleib des Mädchens aus dem Beichtstuhl, noch
auf das Wirken des Teufels fand sie Hinweise. Dafür erlebte sie bei ihrer Rückkehr zur Wight-Wohnung einen Schock. Die Tür des Hauses war amtlich versiegelt, die Wand daneben mit einem hingeschmierten Kreuz aus roter Farbe bemalt. Mit einem Prickeln in den Schläfen klopfte Lilith ans Nachbarhaus. Nach etlichen Versuchen fragte eine Stimme auf der anderen Seite der Tür, ohne jedoch auch nur einen Spalt weit zu öffnen: »Wer ist da? Verschwindet! Hier schlafen die Leut’!« Hier sterben die Leut’, dachte Lilith und zischte: »Mach auf!« Der Riegel wurde zurückgeschoben. Ein kleiner häßlicher Mann öffnete. Lilith sprach ihn auf den roten Schandfleck und das Siegel an. Der Mann bekreuzigte sich. »Die Pest«, keuchte er sodann. »Eines der Wight-Kinder soll die Pest haben. Die Familie wurde vorhin abgeholt und fortgebracht. Sie steht unter Quarantäne …« »Welches der beiden Kinder?« fragte Lilith, obwohl es eigentlich unerheblich war. »Die Kleinere.« »Evelyn?« Der Nachbar nickte. »Wohin wurden sie gebracht?« »Dorthin, wo alle neuen Fälle gesammelt werden – zum St. Thomas.« »Ist das ein Krankenhaus?« »Ja.« Noch während Lilith Fragen stellte und sich durch den Kopf gegen ließ, was ihr berichtet wurde, dachte sie: Es ist nicht wahr. Herr im Himmel, mach, daß es nicht wahr ist! Sie schickte den Nachbar in sein Haus zurück, ging wieder zur Wight-Wohnung, ignorierte das Siegel und trat in die verlassene
Stube. Das erste, was sie tat, bevor sie weiteres auch nur in Erwägung zog, war, sich splitternackt auszuziehen und Kathalenas Körper im Kerzenschein mit zwei Spiegeln zu inspizieren: einem Handspiegel und einem großen, der in Deborahs Waschtisch im Schlafzimmer eingelassen war. Was sie dabei fand, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen.
* Zur gleichen Zeit Kyle träumte sich Ruby so schön, wie sie es tatsächlich einmal gewesen war. Speichel troff ihm aus dem Mund. Er kicherte wie ein Idiot, machte unablässig Kratzfüße, brabbelte unverschämte Anzüglichkeiten, leckte mit der Zunge über den Fußboden oder schlug mit Fäusten und Kopf gegen die Wände. Seit vielen Stunden ging das so. Ruby saß auf dem Bett. Sie wimmerte leise, bewegte sich aber kaum. Ihre Augen waren geschlossen. Sie wollte nicht sehen, was aus ihr geworden war. Sie wollte es nicht … Der Panzer um ihr Gedächtnis hatte Sprünge bekommen, war löchrig geworden, aber er existierte noch immer. Pepys hatte nur an der Oberfläche gekratzt. Pepys. Hinter ihren geschlossenen Lidern sah Ruby immer wieder, wie dieser Mann mit flackerndem Blick auf sie zugekommen war. Wie er auf sie eingeredet und ihr befohlen hatte, ihm gefälligst Rede und Antwort stehen. Er hatte seltsame Dinge gefragt, die das Schicksal eines gewissen Kyle betrafen, aber mehr als einmal hatte Ruby den Verdacht gehegt, er meinte sich selbst damit.
Seine Fragen hatten überall in ihrem Körper ein Brennen erzeugt, als durchflösse kochende Lava ihre Adern. Auch Pepys war immer nervöser, immer unruhiger und fahriger geworden, bis er schließlich schreiend vor dem Bett, auf dem sie kauerte, zusammengebrochen war. Nach einer Weile hatte er sich wieder aufgerappelt, und seither spielte er höchst überzeugend verrückt, auch wenn seine verbalen Drohungen sich nur noch auf ein sinnentleertes Lallen beschränkten. Er spielt nicht verrückt, dachte Ruby, er ist wahnsinnig. Ein Teil von ihr dachte dies. Der bedeutendere Rest war damit beschäftigt, jene Risse zu kitten, die Pepys in dem Panzer hinterlassen hatte, der Ruby vor der Wahrheit und sich selbst schützen sollte. Der ganzen Wahrheit, die auch ihren eigenen Verstand heillos zerrüttet hätte …
* Evelyn hat mich angesteckt! Evelyn hat Kathalenas Körper mit der Pest infiziert …! Benommen versuchte sich Lilith über die Konsequenzen einer Erkrankung klarzuwerden. In ihrem eigenen Körper war sie gegen so gut wie jeden Erreger immun. Für Kathalena zählte das nicht. Kathalena war ein Mensch – und damit ebenso anfällig wie jeder x-beliebige Sterbliche! Trotz dieses Wissens fiel es Lilith schwer, sich mit der Realität einer solchen Infektion abzufinden. Dort, woher sie kam, war diese Plage besiegt, hatte ihren Schrecken verloren, wenngleich das Wort Pest in aller Munde und Synonym für sämtliches Übel der Welt geblieben war! Und hier und heute? Im Heute, das auch für Lilith galt, war sie der unersättlichste Menschenfresser, den man sich nur vorstellen konnte!
Hunderttausend, hatte William ihr erzählt, waren vom Schwarzen Tod in London allein im letzten Jahr dahingerafft worden. Hunderttausend! Damit war diese Plage gieriger als die, die von Lilith im allgemeinen bekämpft wurde – mitleidloser noch als die Vampire! Zwar kursierten überall dubiose, teils sogar unerschwinglich teure Wunderarzneien, mit denen hauptsächlich die Reichen geschröpft werden sollten, aber ein verläßliches Mittel gegen die Pest gab es in dieser Zeit noch nicht. Mit anderen Worten: Ich werde sterben, dachte Lilith. � Zumindest dieser Körper würde es. � Und ICH auch, falls meine wahre Hülle inzwischen zerstört worden ist! Auch Evelyn würde sterben. Mit William, Deb und Helen. Alle Gebete würden nichts mehr nützen! Diese Nacht war schwül. Lilith verzichtete darauf, sich wieder anzukleiden. Sie blieb wach, solange sie konnte, um das Wuchern ihrer Beulen zu beobachten. Selbst an ihren Armen und der rechten Hand hatten sich die ersten furunkelartigen Geschwüre gebildet. Die Linke hingegen blieb verschont. Die Linke kam ja auch vom Teufel …
* Kyle hatte sich noch nie so gut gefühlt wie in dieser aphrodisischen Nacht! Ganz London lag ihm zu Füßen. Die jungen Männer ebenso wie die gemiederten, in ihrem Schlankheitswahn so köstlich leidend wirkenden Frauen … Er war der König dieser Stadt, ihr heimlicher Herrscher – er allein! Auch wenn er vergessen hatte, woher er gerade kam, die Euphorie trug ihn wie auf Flügeln durch die Straßen seines Reichs. Er brauchte
die eigenen Schwingen nicht einmal zu entfalten, um … Um …? Kyle schrie heiser auf. Er wußte nicht mehr, worüber er weiter hatte schwelgen wollen – aber gleich, gleich würde es ihm wieder einfallen … Über den harten Linien der Dächer zeigte sich bereits ein fahles Band, aus Licht gewoben. Am Horizont dämmerte der Morgen. Aber das war kein Grund zur Eile. Kyle hatte Zeit; alle Zeit eines Unsterblichen. Er konnte jedes Haus besuchen, jeden Nektar probieren, der in den Adern seiner Untertanen bereitgehalten wurde, warm und köstlich. Und er konnte seinen Geschlechtstrieb ausleben, den das Kelchritual nicht erstickt hatte, im Gegenteil. Kyles Gedanken schweiften kurz zurück zu seiner Taufe. Im ausgehenden 12. Jahrhundert war er seiner Mutter gestohlen worden. Eines von fast dreißig Kindern, die wenige Nächte später dem Hüter vorgeführt worden waren, um … Um …? Kyle schrie erneut. Diesmal schnitt sein Schrei wie das Gebrüll eines auf Lanzen gespießten Tieres durch die scheidende Nacht. Sie mußten es hören – all die schläfrigen Bürger, deren einziger Lebenszweck darin bestand … Seine Gedanken stockten erneut. Wie geschah ihm? Er preßte die Fäuste gegen die Schläfen, in denen es von Herzschlag zu Herzschlag heftiger rumorte. Seine Augen lösten die Schwärze auf, die ihn umgab. Dann kehrte das Wohlgefühl zurück – wie eine Welle. Kyle atmete begierig die laue Stadtluft ein, die ab und zu von einer Brise vom Fluß her erfrischt wurde. Durst. Natürlich, der Durst quälte ihn und ließ jeden anderen Gedanken ins Stocken geraten!
Er horchte. Da waren Schritte. Ein Opfer! Aber obwohl er in die Richtung blickte, aus der die Geräusche kamen, konnte er niemanden entdecken. Spielten ihm nun auch seine Sinne Streiche? Kyle warf sich abrupt herum, weil er plötzlich das untrügliche Gefühl hatte, die Schritte kämen aus der genau entgegengesetzten Richtung. Aber auch hier war niemand. Vielleicht gab es verstohlene Blicke hinter Fensterläden, die auf der noch immer finsteren Straße ergründen wollten, wer um diese Zeit so fürchterlich schrie … Sonst war gar nichts da. Niemand, der den Durst, der Kyle aufwühlte und seinen Gaumen rauh wie Sandpapier machte, gestillt hätte. Er würde in eines der Häuser eindringen müssen, was nicht schwer war, sondern … Kyle krümmte sich. Wo hatte er sich nun schon wieder herumgetrieben und betrunken? Er schwankte. Der Rausch, der ihn seine Umgebung wie durch Watte ahnen ließ, widerte ihn an. Elizabeth würde sehr verstimmt sein, wenn er so zu ihr heimkam. Sie würde ihn schelten, und der Haussegen würde vermutlich den Rest der Woche schief hängen. Den Rest der … Welcher Tag war heute? Mittwoch, dachte Pepys. Nein, schon Donnerstag … früher Donnerstag …. machte er sich klar. Seine Kehle war trocken, pulvertrocken. Er hatte soviel gezecht, daß er schon wieder Nachbrand verspürte. Der Brunnen … Wo stand der nächste Brunnen? Wo bin ich überhaupt? Welche Gegend ist das? War ich nicht im »Windhund« und habe mich dort am Himbeerwein gelabt? Pepys verlor das Gleichgewicht und fiel, rollte sich auf den
Rücken und blieb eine Weile liegen. Himbeerwein. Roter, zäher Saft in seinem Mund. Himbeer …? Kyle richtete sich auf, so heftig, daß ihm schwarz vor Augen wurde. Sein Blick heftete sich auf ein Fenster schräg gegenüber im dritten Stockwerk eines Hauses. Kyle breitete die Arme aus wie Flügel. Kyle hatte Durst. Unbändigen Durst auf – Aber bevor er sich verwandeln konnte, um zu dem Fenster hinaufzufliegen und nach etwas zu suchen, das seinen Durst löschen konnte … … sagte eine Stimme hinter ihm: »Ich dachte, ihr wärt alle vor dem Gestank geflohen! Offenbar habe ich mich getäuscht …« Kyle fühlte sich, als hätte jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über ihm ausgegossen. Dennoch ließ er sein Erschrecken nicht erkennen. Langsam, mit einer Vorsicht, die ihm selbst neu war, drehte er sich um. Vor ihm stand ein Mann. Er nickte Kyle zu, aber es war kein Gruß. Und eine Bewegung, so schnell, daß Kyle ihr nicht einmal in bester Verfassung hätte entrinnen können, peitschte auf ihn zu, – und begrub ihn unter einem Gewimmel aus glatten, fingerdicken Strängen, die vornehmlich seinen Kopf wie wütende Tentakel umspannten, so fest, als wollten sie herausfinden, wieviel Druck es bedurfte, um die Schädelknochen zu zermalmen! Auch quer durch Kyles Mund flochten sich Stränge, und aus dem weit aufgerissenen Kiefer stahl sich kaum mehr als ein dumpfer Schrei, der sofort erstickt wurde. Plötzlich wurde Kyles ganzer Körper taub. Die Schmerzen ebbten ab, und etwas schien sich aus den Tentakeln in seinen Kopf zu schrauben. Etwas, das begierig alles aufsog, was ihn – IHN! – aus-
machte, zerrte und zehrte so lange daran, bis die Wurzeln, die sein Geist in diesem Körper geschlagen hatten, nachgaben, bis auch der letzte Anker in diesem Hafen, den Kyles Magie nach seinen Wünschen geformt hatte, barst und er leblos zu Boden fiel. Die Schritte, die sich entfernten, hörte er nicht mehr. Vielleicht waren es nicht einmal Schritte …
* Freitag, 31. August 1666 Ruby starrte auf die Tür. Sie stand offen, seit Pepys fortgegangen war – ein völlig übergeschnappter Pepys, der … ja, der was mit ihr getan hatte? Ruby wußte es nicht. Sie wußte nur, daß sich ihr Körper einen grausamen Scherz erlaubte, obwohl sie die Krankheit doch besiegt gehabt hatte! Warum war der Schwarze Tod in sie zurückgekehrt? Warum blühte er plötzlich wieder wie eine tödliche Blume …? Warum gerade jetzt? Was hatte diesen Rückfall ausgelöst? Graues Morgenlicht sickerte in die Dachwohnung, in die sich Ruby von ihrem Gefühl hatte führen lassen. Zwei alte Leute hatten darin gelebt. Sie lagen jetzt in der Küche. Gestern hatten sie noch ab und zu gewimmert, und heute? Heute hatte Ruby noch nichts von ihnen gehört. Wahrscheinlich hatte sie bereits die Pest geholt … In der Tür bewegte sich etwas. Rubys starrer Blick weichte auf wie eine Kruste. Angst überkam sie. Einen solchen Mann wie jenen, der dort auf der Schwelle stand, hatte sie noch nie gesehen. Nicht einmal Pepys war von einer vergleichbaren Aura umgeben gewesen. »Wer … bist du?« rann es über ihre wässernden Lippen.
»Das tut nichts zur Sache.« Er trat näher. Seine Füße schienen den Boden gar nicht zu berühren, und wo kam plötzlich dieser Wind her? Dieser Hauch, der sich wie ein kühles, Linderung versprechendes Tuch über Rubys Geschwüre legte. »Was willst du?« »Dich.« »Mich?« Sie bekam Panik. Der Tod war fast zur Normalität verkommen – aber nur der Tod anderer. Ruby rutschte auf dem Bett nach hinten, bis die Wand sie stoppte. »Du trägst seinen Geruch«, sagte der Mann. Vor dem Bett hielt er inne. Ruby hatte noch nie Blicke auf sich gefühlt, die diesen ähnlich gewesen wären. »Wovon redest du?« »Von ihm, den ich schon lange suche.« »Wer ist das?« »Der, der dich machte.« »M-machte …?« Ruby versuchte den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. »Machte«, bestätigte der Mann und fügte hinzu: »Du bist unsere erste heiße Spur seit über dreißig Jahren. Wir kannten weder den Ort, noch die Zeit, wo er sich wieder manifestieren würde. Aber wir wußten um die Folgen seines Wirkens. So war es nicht schwer, die Zeichen zu deuten, als der Schwarze Tod über London kam. Trotzdem benötigten wir noch über ein Jahr, um dich aufzuspüren.« »Wovon redest du? Ich verstehe nicht, wen du meinst!« begehrte Ruby auf – aber zu ihrer eigenen Überraschung kamen die Worte nicht sehr glaubhaft über ihre Lippen. Irgendwo tief in ihr, unter den Wunden, die Pepys aufgerissen hatte und die sie eilig wieder zu schließen suchte, wußte sie um die Bedeutung seiner Worte. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte.
Die Miene des Fremden war blanke Ablehnung. Ruby gewann den Eindruck, daß er der Ansicht war, schon zuviel gesagt zu haben. »Bitte, tu mir nichts!« flehte sie. »Geh! Geh, sonst wird die Pest auch dich fressen!« Er lächelte freudlos. »Seit wann warnst du deine Opfer?« Ruby kniff die Lippen zusammen. »Du hast sie alle angesteckt«, fuhr er fort, »alle, die deinen Weg kreuzten! Sie sterben und wissen nicht einmal, warum. Aber um mich mach dir keine Sorgen. Es gibt nur eine Seuche, die mir etwas anhaben könnte.« »Welche?« � »Er!« � »… der mich … machte?« � Der Besucher (was für ein Wort für diese erdrückende Erscheinung!) � sparte sich die Antwort. Einen Moment lang sah es aus, als würde er kleiner, aber vielleicht hörte er auch einfach auf … zu schweben und stand nun endlich auf seinen eigenen Beinen. Als er die letzte Distanz zu Ruby überbrückte, glaubte sie zu erkennen, daß er auf einem Bein hinkte. Aber das paßte nicht ins Bild. Nicht ins Bild eines solchen Mannes! »Bitte, faß mich nicht an. Ich bin –« »Die Pest?« Er beugte sich zu ihr hinab. »Ich weiß.« Ruby sah seine Hände auf sich zukommen. Hände? »Du könntest mir auch freiwillig sagen, wo er sich versteckt hält«, sagte der Mund zwischen den ausgestreckten Armen. »Aber könnte ich dir trauen? Dir, die seinen Odem ausatmet, als wäre er es selbst? Kurz zog ich es tatsächlich ins Kalkül, daß du er bist – in einer seiner Masken. Aber nun, da ich dir gegenüberstehe …« »Ich weiß nicht, von wem du redest! Wenn ich wüßte, wer der ist, den du suchst …« »Vielleicht weißt du es wirklich nicht – aber du wußtest es einmal.
Er ist klug. Er verwischt seine Spuren brillant. Man muß sehr tief graben, um ihn zu finden …« Ruby öffnete den Mund, aber es gelang ihr nicht, den Besucher länger hinzuhalten. Er berührte sie. Die zerplatzten Beulen, der infektiöse Schleim und die Fliegen, die sich daran labten, machten ihm nichts aus. Eigentlich waren es nicht wirklich seine Hände, die nach ihr griffen, sondern etwas, das hinter seinem Rücken hervorschnellte und sich durch ihre Augen in ihren Kopf hineinbohrte. Es machte dort weiter, wo Pepys aufgehört hatte, weil ihn die Natur der Barriere in Rubys Kopf den Verstand gekostet hatte. Wahnsinn und Tod lauerten dort. Auch für den Unbekannten, der kein Mensch sein konnte – und auch nicht dem ähnlich war, was Pepys verkörpert hatte. Ruby erfuhr es. Und noch viel mehr. Sie tauchte in die so lange verschlossen gehaltene Truhe voller Erinnerungen; eine Truhe, die alles beherbergte, was Ruby vergessen oder verleugnet hatte. Auch den Tag, an dem aus ihr das Pestmädchen geworden war …
* 13. Mai 1665 Das Jahr, in dem die Pest begann Das Verderben kam plötzlich, ohne Warnung. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und ein Blitz war es in der Tat. Die Wirklichkeit schien zu zerbersten in der kleinen Stube, die sich
Ruby mit ihrer Mutter teilte. Ein Riß, der die Luft mitten im Zimmer spaltete. Und hinter dem sich, von gleißendem Licht umflort, etwas bewegte, hinübergriff wie aus einer anderen Welt. ZZZUUUWWW! Das Geräusch zerriß die Stille wie ein unirdischer Donnerschlag und dröhnte in den Ohren der beiden Frauen – die eine wohl Ende dreißig, die andere noch fast ein Kind. Doch darunter, kaum vernehmlich, lag noch ein zweiter Ton, wie die Stimme eines Menschen und gegen die Urgewalt des Donners kaum mehr als ein Hauch: »Verzeih Uruk …« Uruk … Uruk … Uruk … hallte es in Rubys Ohren wider, während sie, betäubt von dem plötzlichen Geschehen, instinktiv zurückwich und ihre Hände gegen die Ohren preßte. Ihre Augen vermochte sie indes nicht zu schützen; geblendet starrte sie auf das Ding aus dem Nichts, das nun Anstalten machte, vollends aus dem Riß hervorzutreten. Doch erst als das Gleißen erlosch, konnte Ruby wirklich sehen, was nun wie ein gestaltgewordener Alptraum mitten im Raum hockte. Es war ein Anblick, dazu angetan, einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben, und nur der Umstand, daß Ruby nicht begriff, was vorging, bewahrte sie vor diesem Schicksal. Noch … Niemals zuvor hatte sie etwas Abstoßenderes gesehen. Es war ein Moloch mit schorfiger, lederner Haut, ungestalt und gleichzeitig doch geschmeidig in seinen Bewegungen, als er nun den Kopf drehte … und Ruby anglotzte. Sein einziges Auge troff von Nässe. Eine kaum verheilte Narbe spaltete es in zwei ungleiche Teile. In der Pupille flackerte ein schwarzes Licht. Ruby hörte einen Schrei gellen, konnte im ersten Moment jedoch nicht zuordnen, woher er erklang. Noch immer war sie gefangen in einem Zustand seltsamer Gleichgültigkeit. Erst nach Sekunden, als das Wesen den Blick von ihr nahm, erkannte sie, daß es ihre Mutter
war, die da schrie. Auch das Folgende entsetzte Ruby nicht in der Weise, wie es eigentlich hätte sein müssen. Der Zyklop fuhr herum. Einer seiner sehnigen Arme schnellte vor. Die vierfingrige Klaue an dessen Ende legte sich auf das Haupt der Frau – und deren Schrei verstummte wie abgeschnitten. Eine Weile lief noch ein Zucken durch ihren Leib, dann gab das Ungeheuer sie frei, und sie sank schlaff zu Boden. Panik und grenzenloses Entsetzen, gepaart mit Irrsinn, brodelte in Ruby. Hatte sie den Tod der Mutter miterlebt – des einzigen Menschen, der ihr etwas bedeutete, nachdem sie ihren Vater nie kennengelernt hatte? Doch noch bevor die Empfindungen ihren Verstand wirklich erreichen konnten … … blickte der Moloch sie abermals mit seinem vernarbten Auge an. Und die Panik gefror. Wurde zurückgedrängt in einen verborgenen Winkel ihres Verstandes, zusammen mit all den anderen Gefühlen, die Schmerz und Verlust und Angst bedeuteten, und umhüllt mit einem dichten Mantel des Vergessens. Ruby sah dem Monstrum ruhig entgegen und rührte sich auch dann nicht, als es mit ungelenken und doch ungeheuer kraftvollen Bewegungen näherkam. Die Welt um sie herum reduzierte sich auf jenes Auge, in dem ihr Verstand zu versinken schien. Alles war gut. Sie hatte nichts zu befürchten … Ruby spürte kaum, wie der Zyklop auch sie berührte. Nicht, um sie zu töten, sondern auf unmögliche Weise … behutsam. Sie fühlte, wie sich eine der langen, gebogenen Krallen auf ihre Kehle setzte – und langsam über Hals und Brustbein nach unten glitt. Ein wohliges Schaudern ging damit einher. Das Gewebe ihres einfachen Leinenkleides wurde zertrennt wie Spinngeweb. Es löste sich von Rubys Schultern und fiel zu Boden.
Nackt und schutzlos stand sie da, unfähig sich zu rühren, gefangen und festgehalten vom Blick des Zyklopen. Die Kralle löste sich von ihrer Haut. Die Hand des Monstrums schwang hoch und legte sich mit gespreizten Fingern auf Rubys Brustkorb. Ein Prickeln ging von der Berührung aus, und obwohl sie doch eigentlich Ekel und Entsetzen hätte verspüren müssen, entfuhr ihr ein wohliges Stöhnen. Dann klang die Stimme auf. Nicht wirklich, denn sie entstand direkt in Rubys Kopf. Es war ein Tonfall, der der fürchterlichen Erscheinung Hohn sprach: sanft, dunkel, beruhigend. »Du bist auserwählt«, sagte die Stimme. »Meine Botin sollst du sein in dieser Zeit.« Ruby wagte nicht zu antworten, gab sich ganz den Worten hin, die sich mit endlosen Echos bis in den entlegensten Winkel ihres Körpers fortzupflanzen schienen. Dann kam der Schmerz. Zunächst war es nur ein süßes Brennen, wie von Sehnsucht erzeugt, doch es wuchs schnell und füllte Rubys Brust bald mit eisigem Feuer. Von der Klaue ausgehend, überzog es ihre Haut, immer schneller und schneller, bis es das Mädchen vollends ausfüllte. Als die Pein schier unerträglich wurde, durchbrach sie für wenige Sekunden den Bann, den der Blick des Zyklopen über Ruby gelegt hatte. Sie blickte an sich herab – und hätte aufgeschrien, wenn das Entsetzen ihre Lippen nicht versiegelt hätte. Ihr eben noch makelloser Leib hatte sich auf grauenvolle Weise verändert. Jeder Zoll davon war mit eitrigen, schwarzen Beulen bedeckt – ein Schlachtfeld des Verderbens, zu schrecklich, um … »Sieh mich an!« donnerte die Stimme in Rubys Kopf, und im gleichen Moment gerann der Anblick zu Gleichgültigkeit. Wieder nahm das Auge sie gefangen. Die Schmerzen vergingen, das Feuer erlosch.
»Du wirst den Menschen meine Botschaft überbringen«, fuhr die Stimme fort, »die da lautet Tod und Verderben.« Damit löste sich die Pranke von Rubys Brust. Das nachtschwarze Wabern in der Pupille des vernarbten Auges loderte auf wie in einer lautlosen Eruption, drang gleichsam ein in Rubys Geist und brachte Dunkelheit und Vergessen. Mit einem Seufzen brach das Mädchen zusammen und blieb reglos auf den Dielenbrettern liegen …
* Sie hätte nicht sagen können, wieviel Zeit vergangen war, als sie erwachte. Sie wußte nicht einmal, was überhaupt geschehen war, warum sie nackt auf dem Boden lag. Rubys Körper schmerzte, als hätte ein Folterknecht ihn malträtiert. Ihre Zunge lag wie ein ausgetrockneter Fremdkörper in ihrem Mund, und ihre Augen tränten. Unsicher und mit verschleiertem Blick kam Ruby auf die Füße. Wie durch einen seidenen Vorhang sah sie nur wenige Schritte entfernt die Gestalt ihrer Mutter, die offenbar ebenfalls gestürzt war und nun auf den Dielen saß. »Was … ist passiert?« fragte Ruby und rieb sich die Augen. Ihre Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren. Die Antwort der Mutter verstand sie nicht. Es hörte sich an wie ein Lallen, als wäre sie nicht ganz wach oder berauscht vom Alkohol. Nachdem der Blick sich geklärt hatte, taumelte Ruby zu ihr hinüber. Jeder Schritt jagte stechende Schmerzen durch ihre Glieder, doch sie schien nicht verletzt; zumindest konnte sie keine Wunde ausmachen. »Was ist …«, begann sie erneut – und verhielt mitten im Satz, als sie in das Gesicht ihrer Mutter sah. Blanker Schrecken ließ sie einen
Schritt zurücktaumeln. Die Gesichtszüge der Frau vor ihr hatten mit denen ihrer Mutter kaum etwas gemein, obwohl sie es zweifellos war. Der Unterkiefer hing haltlos herab; Speichel troff daraus hervor und hatte bereits eine kleine Pfütze am Boden gebildet. Die Augen blickten stumpf und wirr und schienen Ruby nicht zu erkennen. Wieder quoll ein unverständliches Lallen aus dem schiefen Mund, gefolgt von tumbem Lachen, wie es nur Schwachsinnigen zueigen ist. Ein haltloses Zittern überkam Ruby. Ihre Knie wurden weich; sie mußte sich abermals auf den Boden niederlassen. Fassungslos starrte sie auf das menschliche Wrack, das einmal ihre Mutter gewesen war. Was um alles in der Welt war hier geschehen? Doch so sehr Ruby auch nach einer Antwort suchte, blieb die Erinnerung ihr doch verborgen …
* Freitag, 31. August 1666 Lilith hielt es nicht mehr aus, freiwillig in dieses Haus eingesperrt zu sein, dessen Bewohner fortgebracht worden waren. Am späten Vormittag wagte sie sich in einem dünnen Umhang und einem von Deborahs Hüten, der ihr Gesicht beschattete, hinaus auf die Straße. Im Grunde spielte es keine Rolle, ob sie hier oder an einer anderen Stelle auf den Tod wartete. Die Pest hatte ihren Gastkörper bereits mit einem abscheulichen Muster überzogen. Lilith legte jedoch Wert darauf, keine anderen Menschen in Gefahr zu bringen. Die Zeit kurz vor Mittag schien ihr dafür nicht übel gewählt. Die meisten Frauen waren zu Hause mit der Essenszuberei-
tung beschäftigt und ihre Männer auf der Arbeit. Vom Fenster aus hatte Lilith beobachtet, wie die Menge der Passanten allmählich geringer geworden war, und jetzt bewegte sie sich selbst unter ihnen. Falls durchschaut wurde, in welcher Verfassung sie war, würde sie sich nur dank ihrer hypnotischen Fähigkeiten davor bewahren können, zum St. Thomas oder einer anderen Sammelstelle für Pestkranke gebracht zu werden. Obwohl sie nicht wußte, wie solche Gettos genau beschaffen waren, zweifelte sie keine Sekunde daran, daß ihr das Elend dort das Herz gebrochen hätte. Denn wenn auch kleine Kinder wie Evelyn unter den Betroffenen waren, mußten die Verhältnisse fürchterlich sein. Lilith glaubte nicht ernsthaft, daß etwas Wirksames zur Erleichterung der Notleidenden unternommen wurde. Man hatte völlig falsche Vorstellungen, über welche Wege sich die Pest verbreitete. Daß Flöhe in den Fellen der überall huschenden Ratten neben den bereits Erkrankten die Hauptkrankheitsüberträger waren, auf diese Idee war offenbar noch niemand gekommen … Die Wight-Wohnung lag in der Fish Street. Lilith bog jedoch, einem unbestimmten Gefühl folgend, bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit ab und gelangte in eine Seitenstraße, die ein Schild als Pudding Lane auswies. In der Pudding Lane herrschte um diese Zeit noch weniger Verkehr. Kaum eine Droschke fuhr hier, und nur eine Handvoll Leute verteilte sich über die Länge der Gasse. Der Grund dafür war, daß es kaum einen Laden mit ansprechend dekorierten Schaufenstern gab. Nur ungefähr in der Mitte der Straße stand ein hohes Haus, vor dem ein Pferdefuhrwerk hielt, von dessen Wagen schwere Säcke abgeladen wurden. Manchmal staubten aus ihnen kleine weiße Wolken. Wahrscheinlich handelte es sich um Mehlsäcke, die ins Innere des Gebäudes getragen wurden, und je näher Lilith der Stelle kam, desto unverkennbarer duftete es nach frischem Backwerk.
Als sie auf der anderen Straßenseite an dem Haus vorbeilief, las sie über dessen Toreinfahrt die Aufschrift: KÖNIGLICHES BACKHAUS. Sie ging weiter, den Kopf leicht geneigt, um zu verbergen, was ihr im Gesicht und überall am Körper Schmerz bereitete. Aber nicht nur dieses Martyriums wegen fühlte sie sich ohnmächtiger als je zuvor in ihrem Leben. Am deprimierendsten war die Erkenntnis, die Jahre seit Heidelberg und der anschließenden Verfolgung des flüchtigen Satans völlig umsonst übersprungen zu haben. Hier war der Teufel nicht! Und selbst wenn doch, wie hätte sie ihn in diesem Zustand, in dieser Verfassung finden sollen? Lenas Körper war zu nichts mehr nütze und würde bald sterben. Und dann? Die Frage würde sich erst beantworten, wenn es soweit war. Fast hätte sie sich über ihre Ungeduld amüsieren können. Aber nur beinahe. Die Gasse, die sich Lilith trotz Übelkeit und Schwäche in den Gliedern entlangschleppte, mündete in die Tower Street, deren Verlängerung nach Westen hin zu einem Hügel mit einem mächtigen Turm führte. Lilith fühlte sich jedoch außerstande, bis dorthin weiterzugehen. Lieber kehrte sie um und lief die ganze Pudding Lane noch einmal genauso zurück, wie sie gekommen war. In Höhe der Backstube überkam sie ein eigenartiges Gefühl, das sie so ähnlich schon beim ersten Vorbeigehen empfunden, aber ignoriert hatte. Auch jetzt wußte sie nichts damit anzufangen und beeilte sich, weiterzukommen. Sie wollte nicht stehenbleiben, weil sie fürchtete, dann aus eigenem Antrieb nirgends mehr hinzugelangen. Ihr schwankender Gang mußte dem einen oder anderen Passanten schon auffallen, denn einige machten einen weiten Bogen um sie herum. Vielleicht entwickelte der Mensch in besonderen Zeiten auch
besondere Instinkte. Lilith beglückwünschte jeden, der ihr aus dem Weg ging – und sich selbst, weil sie die Wight-Wohnung schließlich doch noch erreichte. Nachdem sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, wankte sie in die Schlafstube und ließ sich auf das Bett der Eheleute fallen, wo sie augenblicklich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf versank und als letzten Gedanken beinahe hoffte, die Quälerei möge damit ein Ende finden. Wenigstens die Quälerei in dieser immer noch unwirklichen, jede Minute trostloser werdenden Zeit …
* Samstag, 1. September 1666 Lilith erwachte im eigenen Erbrochenen. Sie fühlte sich, als hätte jemand Kathalenas Gedärme ausgewrungen. Ihre Augen waren verklebt – ob von dem Sekret aus den Beulen oder einfach nur von getrockneter Tränenflüssigkeit, war nicht festzustellen und spielte auch keine Rolle. Die ersten Minuten war sie fast blind. Es dauerte unendlich lange, bis sich ihr Blick halbwegs klärte und sie ihre Umgebung wieder wahrnahm. Es war die Wight-Wohnung. Nichts hatte sich verändert, nur sie selbst. Die Krankheit war nicht stehengeblieben, sie hatte enorme Fortschritte gemacht! Ein Erstickungsanfall suchte Lilith heim. Erst als sie Unmengen schwärzlichen Schleims ausgehustet hatte, konnte sie wieder etwas besser atmen. Aber die Erschütterungen hatten sie so benommen gemacht, daß sie wieder längere Zeit brauchte, ehe sie sich vorsichtig vom Bett erheben konnte.
Schwankend begab sie sich zum Fenster. Draußen war es hell und heiß, der Sonnenstand fast unverändert, seit sie von ihrem kräftezehrenden Ausflug zurückgekehrt war. Das hieß entweder, daß sie nur eine verschwindend kurze Zeit geschlafen hatte – oder daß ein voller Tag verstrichen war. Nach dem geräderten Gefühl zu schließen, glaubte sie eher an die zweite Möglichkeit. Mehr Unheil als in den verstrichenen vierundzwanzig Stunden konnte die Pest in diesem Körper kaum noch anrichten! Lilith war geschockt, als sie sah, was aus den vereinzelten Geschwüren geworden war. Es gab kaum noch eine unversehrte Stelle. Die einzige Ausnahme bildete lediglich die Hand, die nicht zu diesem Körper gehörte und auf andere Weise verstümmelt war. Lilith bedauerte zutiefst, daß Salvat sie in der Kirche zu Heidelberg nicht hatte verbluten lassen. Es wäre ein unvergleichlich leichterer Tod gewesen als dieses unwürdige Sterben! Wieder fiel ihr Evelyn ein. In dieser Wohnung mußte sie ganz unweigerlich an das arme Mädchen denken. Vielleicht war es schon tot. Vielleicht lag es schon in der Grube, von der William Wight Lilith berichtet hatte: Am Stadtrand war während der Hochzeit der Pest ein gewaltiges Loch ausgehoben worden, in das man die Toten warf, weil die andauernden Leichenverbrennungen die Straßen mit erstickendem Rauch gefüllt hatten. Über jede Lage Leichname war eine Erdschicht geschaufelt worden, um den Verwesungsgestank zu unterdrücken. Diese Grube existierte immer noch, aber William zufolge waren die Pestfälle extrem rückgängig. Daß es ausgerechnet seine Familie – und die hier gestrandete Lilith – erwischt hatte, war ein aberwitziger Zufall. Lilith besaß nicht den erforderlichen Galgenhumor, um es zu würdigen. Sie starrte auf das Treiben unten in der Fish Street und wußte, daß das Leben auch dann ungebrochen weitergehen würde, wenn Kathalenas entstellter Körper tot auf dem Boden dieses Raumes lag.
Lange konnte es nicht mehr dauern. Hoffentlich nicht! In diesem Augenblick veränderte sich das Straßenbild. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis Lilith realisierte, was dort unten passierte. Menschen rannten und gestikulierten, als wären sie auf der Flucht. Flucht? Liliths trübe gewordene Augen wanderten den Strom der Leute zurück, und ein wenig beschleunigte sich ihr Herzschlag, als sie sah, daß der Aufruhr an der Einmündung zur Pudding Lane entstand, wo vereinzelte Bürger auf die Leute dort einredeten. Die Neuigkeit, die sie ihnen überbrachten, verursachte wohl die Flucht all derer, die sie hörten. Lilith ließ ihre Neugierde nur allzu bereitwillig unter der vordergründigen Beschäftigung mit ihrer Qual hervortreten. Was versetzte die Leute in solchen Tumult? Sollte jetzt, da Lilith bereits halb tot war, doch noch etwas passiert sein, was auf das Wirken des Satans in dieser Zeit und in dieser Stadt rückschließen ließ? Das hätte dem Irrsinn die Krone aufgesetzt! Dennoch … Ein greller Schmerz ließ Lilith zusammenfahren. Doch dieser Schmerz hatte nichts mit der Pest zu tun. Er hing mit dem zusammen, was Salvat in sie gepflanzt hatte, um sie unablässig an ihren Auftrag zu gemahnen! Und letztlich war es diese Mahnung, dieser abstrakte Stempel, den Salvat ihr und Tobias aufgedrückt hatte, der Lilith dazu zwang, die Wight-Wohnung noch einmal zu verlassen und die letzten verbliebenen Kräfte zu mobilisieren. Wie ein Gespenst taumelte sie auf die Straße hinaus. Die Mühe, ihr Antlitz zu verhüllen, machte sie sich nicht mehr. Jeder, der ihr auf ihrem torkelnden Lauf begegnete, sah, was mit ihr los war – und der
Strom der Passanten auf rätselhafter Flucht teilte sich vor ihr, wie einst Moses das Rote Meer geteilt hatte. Lilith erwartete bei jedem Schritt, daß ihr der Weg verstellt würde. Daß eine Kugel sie treffen und fällen würde. Oder daß irgend etwas passierte, was dieser Farce endlich ein Ende bereitete! Doch wider Erwarten gelangte sie ungehindert bis zum Beginn der Pudding Lane und sogar in die Gasse selbst, die zu diesem Zeitpunkt bereits fast verlassen dalag. Fast. Es war ein bizarrer Anblick. Vier alte Weiber in schwarzer Kleidung und mit kerzengeraden, meterlangen Stöcken in den Händen lagen in der Mitte der Gasse, unmittelbar bei der Backstube, die Lilith am Vortag entdeckt hatte, auf dem Straßenpflaster und flehten den Herrn schrill um Vergebung an. Nicht weit von ihnen befand sich noch eine fünfte Gestalt, von der Lilith der geringen Größe wegen zunächst glaubte, es handele sich um ein Kind, das auf einer seltsamen Holzkonstruktion mit Rädern hockte. Doch im Näherkommen sah sie, daß es ein beinloser Krüppel war, der in einer Bretterschale auf einer quadratischen Holzplattform hockte und sich darauf mit den Armen wie auf einem primitiven Rollstuhl vorwärtsbewegen konnte. Die runzligen Gesichter der Frauen wiesen die typischen Pestbeulen auf, das Gesicht des Krüppels nicht. Dennoch harrte er aus und machte keinerlei Anstalten, einer möglichen Ansteckung zu entrinnen. Er zeigte auch keine Angst, als Lilith auf ihn zukam und außer Atem, den Arm in Richtung der jammernden Weiber ausgestreckt, fragte: »Weißt du … was passiert ist?« Der Krüppel grinste. In seinem Haar fehlten stellenweise ganze Büschel, als wären sie herausgerissen. Dort schimmerte die weißliche Kopfhaut. Mit einer Begeisterung, die völlig deplaziert wirkte, rief er: »Die Leichenprüferinnen hat’s erwischt! Endlich! Ich roll’ zu
jedem Haus, das sie versiegeln, aber noch nie hat eine von diesen Vetteln etwas abgekommen … Das ist das erste Mal, und ich dacht’ schon, die seien unantastbar …« »Leichenprüferinnen?« wiederholte Lilith. Der Krüppel erzählte ihr, daß diese Aufgabe hauptsächlich ältere, alleinstehende Frauen verrichteten. Sie wurden zu Orten gerufen, wo man den Ausbruch der Pest vermutete. Mit ihren Stecken hielten sie sich noch lebende Infizierte vom Leib. Danach erstatteten sie in aller Regel den Behörden Bericht, die alle weiteren Schritte einleiteten. »Und du hast keine Angst?« erkundigte sich Lilith. »Was sollte der Schnitter mit einem Krüppel wie mir?« Lilith sparte sich den Kommentar, was sie von solcher »Logik« hielt. Stattdessen wandte sie sich den Leichenprüferinnen zu, die im selben Moment zu jammern aufhörten, als Liliths Hypnose sie erreichte. Sie näherte sich den vier Frauen nicht weiter, sondern befragte sie über die Distanz hinweg. Jeder Schritt kostete Lilith Kraft, und wäre Salvats Feuer nicht in ihr entbrannt, hätte sie sich vielleicht einfach zum Sterben zwischen die Weiber gelegt. »Wo wart ihr, als ihr euch angesteckt habt?« Sie zeigten auf das Haus neben der Backstube. »Wann war das?« »Wir wurden«, krächzte eine der Frauen, auf die sich Lilith konzentrierte, »vor einer Stunde gerufen. Doch es ist keine normale Pest!« »Was ist in diesem Haus?« Lilith dachte an Satan, in dessen Sog sie drei Jahrzehnte übersprungen hatte. Aber die Frau sagte mit brüchiger Stimme: »Tote … Fast ein Dutzend Tote über die Stockwerke verteilt … Alles Opfer der Pest … und ganz oben, unter dem Dach, liegt sie …« »Sie?«
»Ein totes Mädchen. Bei dem wir uns ansteckten.« Der Satan in einer seiner Masken? Aber tot …? Lilith spürte, wie die Kraft aus ihr wich. Aber etwas in ihr glaubte weiter, daß diese Dinge in Zusammenhang mit IHM standen. Etwas trieb sie auf das Haus zu, das die todgeweihten Weiber ihr gewiesen hatten. Und dessen Tür sperrangelweit offen stand …
* Zu diesem Zeitpunkt hält eine Kutsche in der Seething Lane 28 vor Samuel Pepys Haus. Zwei Männer steigen vom Kutschbock, einer läuft zur Tür, klopft und kehrt sofort wieder zu dem anderen zurück, der inzwischen den Verschlag der Kutsche geöffnet hat. Die Haustür schwingt auf. Eine Magd streckt den Kopf heraus. Die Männer winken sie herbei und fordern sie auf, in die Kutsche zu blicken. »Kennst du diesen Mann? Er behauptet, hier eine Adresse zu haben!« Das Dienstmädchen erbleicht. »Ich kenne ihn«, stammelt es verlegen. »Er ist mein Herr …« Sie schaut zurück zum Haus, wo in diesem Moment eine gutgekleidete, zierliche Frau mit desillusioniertem Gesicht erscheint. »Was ist?« ruft sie. Das Mädchen schweigt. Die Kerle, denen die Kutsche gehört, nicht. Sie fordern die Frau auf, sich um ihren Mann zu kümmern, den sie – halb bei Bewußtsein, inzwischen aber wieder schlafend – im Park aufgelesen haben. Außerdem verlangen sie zehn Schilling dafür, daß sie ihn heimbrachten. Zitternd kommt die Frau zu ihnen und trägt, nachdem auch sie in den Verschlag geschaut hat, der Dienstmagd auf, das Doppelte der
genannten Summe aus der Kasse zu nehmen und den Männern auszuhändigen. Mit dem zusätzlichen Betrag hofft sie sich ihre Diskretion zu erkaufen. Sie schämt sich. Samuel Pepys schämt sich auch, als er Stunden später in seinem Bett erwacht und in das steinerne Gesicht seiner Frau Elizabeth blickt. »Wie kannst du mich so bloßstellen?« fragt sie. Er schweigt. »Wo hast du dich herumgetrieben? Lord Brouncker hat zweimal nach dir gefragt. Der König soll sehr ungehalten sein …« Pepys starrt die Bettdecke an. Er versucht sich zu erinnern. Himbeerwein? denkt er. War ich nicht im »Windhund« …? Er ist sich nicht sicher. »Du sahst aus wie ein Landstreicher!« hält Elizabeth ihm vor. »Als hättest du dich geprügelt!« Hat er das? Erinnert er sich deshalb nicht mehr? Ist er mit dem Kopf irgendwo aufgeschlagen und in Wahrheit Opfer eines feigen Überfalls? Wie es seine Art ist, kehrt er den Spieß um, kaum daß er Morgenluft wittert. Er weiß weniger als seine Frau, aber das hindert ihn nicht, sich bitterlich über ihr Auftreten zu beklagen. Roch er denn nach Alkohol? »Nein«, gibt sie eingeschüchtert zu. »Na also!« Er jagt sie fort; der Rest, so meint er, wird sich finden. Sein Schädel brummt, als hätte er wider allem Anschein doch hemmungslos durchgezecht. Aber andere Störungen seiner Befindlichkeit sind eher untypisch dafür. Die verlorenen Stunden werden nicht wieder in sein Gedächtnis zurückkehren. Zeit seines Lebens nicht. Nachdem seine Frau gegangen ist, steht er auf und geht in sein Ar-
beitszimmer, das ihm so ausnehmend gut gefällt. Er nimmt sein Tagebuch und wundert sich über die fehlenden Niederschriften mehrerer Tage. Sogleich nimmt er Feder und Tintenfaß zur Hand und erfindet Belangloses, um die Lücke zu schließen. Von nun an pflegt er die Eintragungen wieder regelmäßig. Aber noch in Jahren werden ihn Träume plagen, die nie irgendwo in dieser Chronik ihren Niederschlag finden. Träume aus einer Zeit, als er sich sein Hülle noch mit einem anderen teilte, der ihm in jener Nacht, an die er keine Erinnerung mehr hat, ausgetrieben wurde. Von einem Engel, der den Teufel jagte …
* Schon das Treppenhaus roch nach Tod. Es war düster und klamm, trotz der Sommerhitze, die draußen herrschte. Lilith schleppte sich nach oben. Sie wußte nicht, warum sie sich dies mit ihren letzten Atemzügen antat. Selbst wenn dort oben Er gewartet hätte, sie hätte ihm nicht mehr die Stirn bieten können – womit auch? Etwa mit der Hand, die Salvat präpariert hatte, ehe er Tobias und Lilith dem Teufel hinterhergesandt hatte? Diese Hand hatte schon einmal versagt, und sie war der Grund, der Lilith das Sterben ein klein wenig leichter machte. Wenigstens ihr würde sie entkommen, wenn dieser Körper sein Leben aushauchte. Wenigstens diesem Horror … Aber sie wagte sich nicht vorzustellen, welche Heimsuchung vielleicht an seine Stelle treten würde. In der Hölle. In diesem fürchterlichen Reich, das sie vielleicht nie wirklich verlassen hatte. Womöglich hatte sie alles, was seit ihrem »Erwachen« 1635 ge-
schehen war, nur geträumt und träumte auch die Qualen der Pest nur … Vergiß es! Sie schleppte sich weiter. Ihr ganzer Körper war zu einer leprösen Masse geschwollen. Jeder physische Kontakt verursachte Schmerz, selbst die Berührung des Geländers, an dem sie sich hochzog. Sie machte nicht Halt, bevor sie das Dachgeschoß erreicht hatte. Tote gab es genug in diesem Haus, wenn man den Leichenprüferinnen glaubte. Aber Lilith suchte einen ganz bestimmten Kadaver. Kadaver? Sie hielt es immer noch für möglich, das Tier hier zu treffen. Bis zuletzt, als sie auf Knien über die Schwelle der Dachwohnung rutschte. Das Mädchen mit dem Vampirmal am Hals lag auf einem Bett – Lilith erkannte es sofort wieder, obwohl es furchtbar aussah und offensichtlich wurde, daß es nicht an der Pest gestorben war, die seinen Körper überwuchert hatte, sondern – an dem langen, golden glänzenden Ding, das jemand in ihr Herz gestoßen hatte. Dieses Ding pulsierte in einem sonderbaren Licht, das den Leichnam, in dem es steckte, angriff und langsam zerfallen ließ … Lilith starrte darauf und ahnte, daß gar nicht Evelyn, sondern dieses Mädchen sie mit der Pest angesteckt – und sie die Wights ins Verderben gestürzt hatte. Aber letztlich war es die Erkenntnis, daß ihre ganze Anstrengung, hierher zu gelangen, umsonst gewesen war, daß sie hier nie und nimmer denjenigen finden würde, den sie gejagt hatte, was ihr den Boden entzog und sie zusammenklappen ließ … Sie hatte das Gefühl, sehr viel tiefer zu fallen, als es der Wirklichkeit entsprach. Und auch der Aufprall war härter, als er es hätte sein dürfen. Aus, dachte sie. Ende. Aber sie irrte sich.
Ihr Sterben sollte noch viel schrecklicher vonstatten gehen, als sie es je für möglich gehalten hätte …
* Sie wurde wach von einem Rumpeln, eingekeilt zwischen anderen, schwammigen und nässenden Körpern, und war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Der Geruch, den sie selbst ausströmte, und der, der den Leichen entstieg, unter denen sie begraben lag, schnürte ihr die Luft ab. Aber sie brauchte nicht sehr viel davon – nicht mehr. Ihr Herz schlug so schwach, daß diejenigen, die sie aufgeladen hatten, dem Irrtum erlegen waren, sie sei auch schon tot. Daß es in Wirklichkeit immer noch nicht vorbei war, schockierte Lilith unbeschreiblich. Ebenso wie die Feststellung, daß sie nicht mehr in der Lage war, auch nur ihre Zunge zu bewegen. Die Lähmung überzog ihren kompletten Körper. Ihre Ohren waren fast taub, nur ihre Augen funktionierten noch notdürftig. Ein Vorteil war das nicht. So wußte sie nur, daß es hell war. Tag, nicht Nacht. Und daß der Karren vermutlich schon nicht mehr innerhalb Londons fuhr, sondern durch eine Landschaft ohne jedes Gebäude. Das zumindest glaubte Lilith durch eine Lücke zwischen den Leibern zu erkennen. Nach einiger Zeit begriff sie, was geschah. Mit ihr und allen anderen. Der Unterschied war nur, daß die anderen dies alles nicht mehr erleben und erleiden mußten, während sich Liliths Leid unvermindert fortsetzte … Und Leid war gar kein Ausdruck! Lilith ahnte, wohin sie gebracht wurde. Nein! wollte sie schreien. Seht doch hin! Seht ihr nicht, daß ich noch lebe? Ihr könnt doch nicht –
O doch, sie konnten. Irgendwann hielt der Wagen. Irgendwann wurde der Berg von Leichen abgetragen, und dann wurde auch Lilith gepackt. Von vermummten Gestalten, die hofften, sich durch ihre Vorsorge vor Ansteckung schützen zu können. Vielleicht gelang es ihnen tatsächlich – wahrscheinlich sogar, sonst hätte sich bald niemand mehr gefunden, der solche Fahrten unternahm. Lilith gelang auch jetzt noch nicht der leiseste Schrei, keine Regung, gar nichts! Ihre Augen standen offen zwischen den Geschwüren. Sie sah, aber sie wurde nicht gesehen – zumindest nicht das darin flackernde Leben. Ein Stück weit wurde sie durch Gras getragen. In der Ferne glaubte sie eine hohe Mauer mit Zinnen zu erkennen. London? Dann – übergangslos – fauchte Luft, die ihr Körper im freien Fall verdrängte. Sie fiel auf dieselben Schwämme, die sie auf dem Karren zugedeckt hatten. Leichen. Der Gestank schien zu explodieren, ihre Schleimhäute zu verätzen. Danach roch sie kaum noch etwas. Aber sie war immer noch bei Bewußtsein und Verstand. Und war es noch, als die Dunkelheit über die Grube kam. Als die Sterne im Schwarz des Himmels, zu dem sie aufblickte, zu leuchten … … und die Körper unter, neben, vor und hinter ihr sich zu bewegen begannen. Auch Lilith blieb von dieser Bewegung nicht ausgeschlossen, als wäre ein gigantisches Rührwerk tief unten in der Grube in Gang gesetzt worden.
Aber eine solche Mechanik konnte es nicht geben. Nicht hier, nicht jetzt. Doch die Bewegung hielt an, und nach einer Weile verschwanden die Sterne über Lilith. Sie sank tiefer. Das Gewicht, das auf sie drückte, nahm zu. Es würde sie zerquetschen. Es würde – – – WAS WAR DA UNTEN AM GRUND DER GRUBE? Die mögliche Antwort fiel Lilith ein, als sie schon in Agonie dahindämmerte. Sie fiel ihr ein, weil … … die von der Pest unbetroffene Hand an ihrem linken Arm plötzlich erwachte und mit dämonischem Geschick half, noch schneller nach unten zu gelangen! Als gäbe es dort etwas, was sie kannte. Was sie verloren und nun wiedergefunden hatte! ER, dachte Lilith mit dem letzten Funken Leben, der noch in ihr steckte. Hier hält er sich versteckt. Wie die Made im Speck schmarotzt er von den Toten, und hier wird er eines Tages wieder emporsteigen ans Licht, gestärkt, satt, unbesiegbar vielleicht, auf jeden Fall aber bereit, die Ernte einzuholen, an der er vor dreißig Jahren gehindert wurde … O Gott, und niemand ist da, der ihn aufhält! Niemand! Ein Geräusch, so schrecklich, daß nur Er es verursachen konnte, machte ihr bewußt, wie nah sie Ihm schon war. Lilith gerann das Blut in den Adern. Er würde sie wiedererkennen. Er würde seine Hand wiedererkennen. Und dann – wurde ihr schwarz vor Augen … … und im nächsten Moment drang gleißende Helligkeit in ihre Pupillen. In ihre Pupillen, nicht in die Lenas. Sie sah einen gewaltigen, schwarzen Monolithen, von dem sie sofort wußte, was er war. Und sie sah ihn, der auch ein Teufel war, aber nicht DER TEUFEL, und sie erkannte ihn mit der gleichen Sicherheit wie das Tor, obwohl
die Qual des Todes, den sie gerade gestorben war, sie schier zerriß. In seinen Augen loderten Haß und unbeugsamer Wille, als er auf Lilith herabblickte, und ein sardonisches Grinsen spielte um seine Lippen in einem eingefallenen Gesicht. »Willkommen zurück«, sagte Landru. ENDE
Pforten der Hölle � von Timothy Stahl Der furchtbare Tod ihrer Eltern hat in den Schwestern April und May ein unseliges Erbe geweckt. Seltsame Talente, die sie zu Außenseitern machen – und das Interesse der Illuminati erregen. Der Geheimbund in Diensten des Vatikans holt die beiden Mädchen ins Kloster Monte Cargano. Dort sollen ihre Fähigkeiten weiterentwickelt werden. Hier lernen sie Gabriel kennen – und das Unheil nimmt seinen Lauf. Das geheimnisvolle Kind hat seinen Plan, das mysteriöse Tor in den Tiefen des Klosters zu öffnen, noch nicht aufgegeben. Die Grenze, die seit Anbeginn Gut und Böse voneinander trennt, soll endgültig fallen! April und May sind der Schlüssel dazu …