Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Gerhard Harkenthal Lokaltermin
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Gerhard Harkenthal Lokaltermin
Kriminalroman
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In Tannrode, einem abgeschiedenen Harzdorf, wird die Postangestellte Karin Anrainer tot aufgefunden. Lebenslustig, auch den schwierigsten Dingen immer eine gute Seite abgewinnend, dem einen oder anderen zu leichtsinnig, leichtfertig – so kannte man die junge Frau. Ihr plötzlicher Tod berührt alle. Tatumstände und Spuren deuten zunächst auf Scheckbetrug und Tötung im Affekt, doch die mühevollen Ermittlungen der Kriminalpolizei erbringen Verdachtsmomente, die in eine andere, gänzlich unerwartete Richtung weisen. Man kreist schließlich einen Mann ein, der monatelang in einem gefährlichen Aggressionsstau dahingelebt hat, ohne daß seine Umwelt etwas davon ahnte, doch wer kann schon sagen, ob sich die seelischen Zwangsvorstellungen des Mannes schließlich in einem grausamen Mord entluden?
Gerhard Harkenthal
Lokaltermin _____________________________________
Verlag Das Neue Berlin
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1974 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/82/74 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622182 9 EVP 2,-
1 Die Tür zum Dienstzimmer von Leutnant Kröger, dem Abschnittsbevollmächtigten in Tannrode, wurde aufgerissen. Kröger, der den plötzlichen Luftzug verspürte, wandte sich um und erschrak: Am Türbalken lehnte schweißüberströmt ein Mann aus dem Dorf, Wilhelm Anrainer, Schlosser und Besitzer eines Grundstücks am Ausgang von Tannrode. Der sieht ja aus wie damals, als das mit seinem Sohn passierte, fuhr es Kröger durch den Kopf. Was ist nur geschehen? Dann mußte er sich um den nach Luft ringenden Anrainer kümmern. Er sprang hinzu, griff ihm unter die Achseln und schleppte ihn zum Stuhl. Der Mann war schwer, wohl weil er kraftlos in Krögers Armen hing, der alle Muskeln anspannen mußte, um ihn nicht fallen zu lassen. „Wilhelm!“ keuchte er. „Was hast du denn?“ Nach einer Weile schlug Anrainer die Augen auf. Sein Blick war starr, und Kröger wagte keine weitere Frage zu stellen, er ahnte, daß der Mann wieder einen Schlag hatte hinnehmen müssen, der ihn nicht weniger traf als vor Wochen der Tod seines Sohnes. Kröger kannte seine Dienstvorschriften, aber was er hier tun sollte, wußte er nicht. Dann endlich stöhnte Anrainer, und nach einigen Ansätzen stieß er hervor: „Karin liegt im Hausflur … erschlagen …“ Diese Nachricht stülpte alles um, Kröger fühlte wieder Boden unter den Füßen, ein Verbrechen war geschehen, jetzt kannte er seine Aufgabe, wenngleich er es auch noch nicht zu fassen vermochte, daß Anrainers Schwiegertochter ermordet sein sollte. Er setzte die Dienstmütze auf und schnallte das Koppel um. „Können wir gehen?“ fragte er ruhig. 7
Anrainer nickte und wollte offenbar etwas sagen, aber Kröger winkte ab. „Komm jetzt! Erzählen kannst du unterwegs.“ Sie gingen über das Geröll am Fuße des Berges und dann über die Brücke, der Weg zu dem Anrainerschen Anwesen verkürzte sich dadurch erheblich. Es war ein Montag im Oktober nach einer regenreichen Woche, der Fluß war angeschwollen. Die Männer schwiegen, Anrainer schien keine Kraft mehr zu haben, jetzt über Einzelheiten zu sprechen. Kröger hatte Verständnis dafür, aber nach einer Weile fragte er doch: „Hast du zu Hause abgeschlossen?“ „Ja.“ „Gut! Die Genossen von der MUK legen nämlich Wert darauf, daß der Tatort so schnell wie möglich gesichert wird.“ „MUK?“ fragte Anrainer. „Das ist die Abkürzung für Morduntersuchungskommission“, erklärte Kröger. Das Laub an den Bäumen zu beiden Seiten des Flusses hatte sich gelb, rot und bräunlich eingefärbt. Es war ein friedliches Bild, das sich ihnen bot. Aber es täuscht, dachte Kröger, am Dorf ende in der Poststelle liegt Karin Anrainer erschlagen, dieses junge Ding, nach dem sich die jungen Kerle die Hälse verrenkten, diese „etwas leichte Frauensperson“, wie es hin und wieder von ihr geheißen hatte. Kröger konnte es noch immer nicht fassen, daß die Frau tot sein sollte. „Warst du zu Hause, als es passiert ist?“ fragte er. „Ja.“ „Dann mußt du doch etwas gehört oder gesehen haben!“ „Nein.“ Kröger seufzte innerlich. Der ist am Ende, dachte er, mehr als ja oder nein kann er nicht herausbringen. Aber 8
die Genossen würden sich vor allem an ihn halten, er war schließlich zur Tatzeit in der Nähe des Tatortes gewesen. „Bist du gleich zu mir gekommen, nachdem du das Verbrechen entdeckt hattest?“ wollte er wissen. „Ja … und jetzt laß mich zufrieden!“ „Du mußt damit rechnen, daß die Genossen von der MUK Fragen stellen. Da kannst du auch nicht sagen, daß man dich zufrieden lassen soll.“ Wie Kröger das sagte, klang es sachlich und nüchtern, aber als sie dann das Haus erreicht hatten und Anrainer die Tür aufschloß, als beide den dämmerigen Flur betraten und Kröger die Ermordete liegen sah, da würgte es ihn doch. Sein Blick irrte über die Leiche, schließlich sah er das Beil, das vor der Hoftür lag. Er steckte die Daumen hinter das Koppel, räusperte sich vor Erregung und konzentrierte sich dann auf den Tatort. Links führte eine Treppe empor zu den Wohnungen der alten Anrainers und der Ermordeten. Unter der Treppe ging es in den Keller, der Haustür gegenüber befand sich die Hoftür, zwischen beiden Türen erstreckte sich ein Flur, dessen rechte Seite eine Bretterwand bildete. In die Wand waren ein Schalterfenster und eine Tür eingelassen, dahinter lag das Postzimmer mit einem weiteren Fenster zur Straße hin. Karin Anrainer war die Leiterin der Poststelle gewesen. „Du kannst heute nacht bei mir schlafen“, sagte Kröger leise. Er wußte, daß Anrainers Frau verreist war. Der alte Mann schüttelte ablehnend den Kopf. Kröger schwieg verlegen und räusperte sich wieder. Er hätte das nicht sagen sollen, schließlich waren sie Männer. Er blickte sich aufs neue um, ging zur Hoftür, die offenstand, betrat den Hof und lief dann weiter bis zum Garten. 9
Anrainer sah ihm nach und bog den Kopf nach hinten, als Kröger erregt zurückkam. „Im Garten sind Fußspuren“, sagte er, „ganz frisch … Und du hast niemanden gesehen? Nichts gehört? Der ist doch nicht geschlichen, der ist gerannt, so was hört man doch!“ Anrainer starrte nur stumm vor sich hin. Kröger klopfte ihm sacht auf die Schulter, aber er fragte nicht weiter. Dieser Mann, das sah er, stand noch zu sehr unter dem Schock des Verbrechens, als daß er jetzt schon hätte sprechen können. „Ich gebe erst einmal eine Meldung an die Kriminalpolizei durch“, sagte der Abschnittsbevollmächtigte schließlich, „die müssen einen Fährtenhund mitbringen wegen der Spur da draußen …“ Und wie zur Beruhigung setzte er hinzu: „Die Genossen kriegen den Mörder schon, verlaß dich drauf, Wilhelm!“ Dann ging er ins Postzimmer, um zu telefonieren, und als sich das Volkspolizeiamt gemeldet hatte, erstattete er Bericht. Während er sprach, sah er auf die Armbanduhr. Es war kurz vor sechzehn Uhr dreißig. Anrainer hatte das Verbrechen, wenn er tatsächlich sofort zu ihm gekommen war, wahrscheinlich gegen sechzehn Uhr fünfzehn entdeckt. Nachdem Kröger den Hörer aufgelegt hatte, atmete er ein paarmal tief durch. Anrainer stand noch immer draußen im dämmerigen Flur, den Kopf gegen die Scheibe des Schalterfensters gelehnt und die Augen geschlossen. Der Abschnittsbevollmächtigte betrachtete ihn eine Weile, dann wanderte sein Blick zu der Ermordeten. Plötzlich kniff er die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, was die Tote in der Hand hielt. Ein Blatt Papier schien es zu sein, nicht größer als eine halbe Heftseite. Er ging in den Hausflur zurück 10
und stieß die Hoftür noch weiter auf, damit es heller würde, dann besah er sich das Papier. Es war ein Scheck.
2 Keiner von beiden sprach, doch die Unruhe in ihnen wuchs von Minute zu Minute. Sooft sich ihre Blicke trafen, verzerrte sich Anrainers Gesicht zu einer Grimasse, die Angst und Hilflosigkeit ausdrückte, und jedesmal, wenn der Zeiger der elektrischen Uhr, die im Postzimmer hing, vorrückte und klickte, wurden sie sich der Qual ihres Wartens bewußt. Es war kurz vor siebzehn Uhr. Die Poststelle hätte jetzt geöffnet sein müssen. Hin und wieder wurde von draußen auf die Klinke gefaßt, aber Kröger hatte abgeschlossen. „Hast du einen Verdacht?“ fragte der Abschnittsbevollmächtigte unvermittelt. Anrainer wurde fahl und begann zu schwanken. „Wilhelm!“ rief Kröger und griff ihn am Arm. „Ich hätte dir schon längst einen Stuhl anbieten sollen! Komm, setz dich ins Postzimmer.“ Dort stand der Stuhl, auf dem Karin immer gesessen hatte. Anrainer sträubte sich zunächst, aber Kröger drückte ihn sacht auf den Sitz. Auf dem Tisch lagen Dienstpapiere und ein aufgeschlagenes Heft mit Zahlenund Buchstabenreihen. „Du darfst nichts anrühren!“ mahnte Kröger, aber er war sich bewußt, daß er dies ebensogut zu einer Wand hätte sagen können. „Ja, in der letzten Zeit war’s zuviel für dich“, fügte er hinzu, dabei legte er ihm wieder die Hand 11
auf die Schulter, eine Geste, die ausdrücken sollte, daß Anrainer Freunde habe, auf die er sich verlassen könne. Endlich klopfte es, wie verabredet, dreimal gegen die Tür. „Die Genossen aus Quedlinburg“, sagte Kröger aufatmend. Gut, daß sie da waren und ihn aus der Einsamkeit mit Anrainer erlösten. Er schloß die Haustür auf. Oberleutnant Gruber, Staatsanwalt Brunner und ein Wachtmeister mit einem Fährtenhund traten ein. Sie umfaßten den Tatort mit einem ersten Blick. Es bedurfte keiner langen Untersuchung, um den Tod der Postangestellten festzustellen. Kröger zeigte auf das Fenster, hinter dem Anrainer saß. „Er ist der Schwiegervater der Ermordeten“, sagte er zu Gruber. „Hat den Mord entdeckt, so gegen sechzehn Uhr fünfzehn. Im Garten habe ich frische Fußspuren gesehen.“ Sie nahmen den Tatort näher in Augenschein, den Flur, den Hof, den Garten mit den Fußspuren – der Fluchtweg des Mörders schien eindeutig, die Spuren auf Anrainers Grundstück lockten geradezu, ihn weiter zu verfolgen. „Zügeln wir uns“, sagte Staatsanwalt Brunner, ein hagerer, etwas gebückter Mann, „die Genossen von der Bezirksbehörde müssen bald hier sein, sie fahren über den Harz, das kürzt die Strecke ab.“ Er ging langsam durch den Hausflur. Die Glühbirne in der Deckenfassung hatte zwar hundert Watt, dennoch wirkte der Korridor grau, vielleicht weil die Männer dunkle Schatten an die Wände warfen. Brunner hätte das an der Hoftür liegende Beil in der Abenddämmerung übersehen, wenn er nicht von Kröger darauf aufmerksam gemacht worden wäre. Blut und Knochensplitter sprachen eine deutliche Sprache. 12
Brunner betrat das Postzimmer. „Sie haben das Verbrechen entdeckt“, wandte er sich an Anrainer. „Können Sie sich erinnern, wann das gewesen ist?“ Anrainer hob bedauernd die Schultern. „Ich bin gleich zu Kröger gelaufen. Vielleicht weiß der, wie spät es war.“ „Wo hielten Sie sich auf, bevor Sie das Verbrechen entdeckten? Waren Sie im Haus, oder kamen Sie von draußen herein?“ „Ich war in meiner Wohnung.“ Brunner blickte zur Treppe. Drei, vier Meter, höher war sie nicht. Überhaupt wirkte hier im Hause alles klein, gedrängt, aber das mochte auch an dem ungünstigen Lichteinfall liegen. „Wenn Sie oben waren, müssen Sie doch etwas gehört haben“, sagte er. „Das hier kann nicht lautlos vor sich gegangen sein.“ „Einen Schrei habe ich gehört …“ Anrainer brach ab und verbarg das Gesicht in den Händen. „Ihm sitzt der Schock noch in den Gliedern“, bemerkte Kröger. Brunner sah den Abschnittsbevollmächtigten stirnrunzelnd an. Ein Zeuge durfte nicht von vornherein ermutigt werden, zu schweigen oder nur zögernd auszusagen. Kröger, der den Blick des Staatsanwalts sehr wohl verstand, setzte hinzu: „Sie wissen noch nicht alles, Genosse Staatsanwalt.“ „Deshalb sind wir ja hier!“ beschied Brunner ihn trocken. „Herr Anrainer, ich möchte Sie bitten, jetzt in Ihre Wohnung zu gehen. Wir werden später noch einige Fragen an Sie richten müssen. Ich hoffe, daß Sie sich bis dahin etwas beruhigt haben. Genosse Kröger, bringen Sie Herrn Anrainer hinauf.“ 13
Kröger legte sacht seine Hand auf die Schulter des alten Mannes. „Komm, Wilhelm!“ Anrainer stand mühsam auf. Er schleppte sich in den Hausflur, dort sagte er zu Kröger: „Ist schon gut! Ich brauche niemanden.“ Dann stieg er die Treppe hinauf. Nachdem er in der Wohnung verschwunden war, fragte Brunner den Abschnittsbevollmächtigten: „Also, was wissen Sie mehr?“ „Anrainer hat vor einigen Wochen seinen Sohn, den Ehemann der Ermordeten, durch Selbstmord verloren. Deshalb sollten Sie Rücksicht auf ihn nehmen.“ Der Staatsanwalt hob überrascht die Brauen. „Dann verstehe ich manches“, sagte er, „zwei solche Schläge kurz hintereinander …“ Gruber trat zu ihnen. „Die Hoftür ist nicht verschlossen. War das zur Tatzeit auch so?“ „Als ich kam, stand sie offen“, antwortete Kröger. Gruber leuchtete, denn inzwischen war es dunkel geworden, mit der Taschenlampe den Hof und den Garten ab, der bergan stieg und oben von einem Waldstück begrenzt wurde. Brunner, der zu dem Oberleutnant getreten war, sagte: „Sie haben wahrscheinlich auch bemerkt, daß die Tote einen Scheck in der Hand hielt.“ „Ja, und daß im Postzimmer das Sperrverzeichnis aufgeklappt auf dem Tisch liegt“, erwiderte Gruber. „Vielleicht war der Mörder ein Scheckbetrüger, den die Ermordete erkannt hatte. Sie verfolgte ihn, und er erschlug sie im Hausflur.“ Brunner antwortete nicht sofort, er schaute sich um, dann sagte er langsam: „Und woher hat er so schnell das Beil zur Hand gehabt? Das trug er doch bestimmt nicht bei sich, als er in die Poststelle kam.“ 14
„Diese Frage stelle ich mir auch“, meinte Gruber. Er sah auf die Armbanduhr. „Warten wir ab, was die Genossen aus Halle ermitteln.“
3 Hauptmann Schreiber und Leutnant Jost trafen mit dem Arzt und dem Kriminaltechniker kurz vor achtzehn Uhr ein, sie mußten wie der Teufel gefahren sein. Schreiber war mittelgroß, zur Fülle neigend; wegen einer Schußverletzung zuckte das rechte Augenlid hin und wieder, dadurch kam manchmal Unruhe in das Gesicht, aber innerlich war Schreiber ausgeglichen und bedachtsam; er überlegte sich stets genau, was er sagen wollte. Jost, der dem Alter nach sein Sohn hätte sein können, war impulsiver und schnell geneigt, seine Meinung zu äußern, was ihm schon manchen Verweis des Hauptmanns eingebracht hatte; dennoch begegnete Jost seinem Vorgesetzten mit uneingeschränkter Achtung, er bewunderte Schreibers kriminalistische Fähigkeiten und nahm die kritischen Hinweise des Hauptmanns ernst. „Man sieht sich selten“, begrüßte Schreiber die Kollegen aus der Kreisstadt. „Man sollte sich überhaupt nicht sehen!“ brummte der Staatsanwalt. „Mord!“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er das Verbrechen nicht wahrhaben. Der Hauptmann betrachtete die Tote und ließ sich dabei von dem Arzt erste Erläuterungen geben. Der Exitus war offenbar durch die Zertrümmerung des Schädels eingetreten, doch alle Anwesenden waren sich einig, daß erst eine Obduktion letzte Klarheit verschaffen konnte. 15
„Machen wir zunächst die Aufnahmen!“ entschied der Hauptmann. „Können Sie uns schon Näheres über die Tote sagen?“ fragte er den Staatsanwalt. „Genosse Kröger hat mir einiges berichtet.“ Schreiber winkte Kröger zu sich. „Kennen Sie die Tote oder ihre Familie näher?“ „Wir sind miteinander groß geworden, der Wilhelm und ich.“ „Wilhelm? Wer ist das?“ fragte Jost. „Ich meine Wilhelm Anrainer“, entgegnete Kröger, „den Schwiegervater der Ermordeten. Sein Sohn Lutz hat vor einigen Wochen Selbstmord verübt.“ Staatsanwalt Brunner nickte, als ob die Auskunft genüge, aber Kröger fuhr fort: „Da war ein gewisser Herbert Sparr. aus Steiger im Spiel. Er hatte ein Verhältnis mit der Ermordeten. Darüber redeten alle in Tannrode.“ „Waren die jungen Eheleute geschieden?“ fragte Schreiber. „Ja“, sagte Kröger, „wußten Sie das schon?“ „Nein“, erwiderte Schreiber, „aber es erschien mir nicht ausgeschlossen.“ Der Techniker kam und bat sie, das Postzimmer zu verlassen, weil er Aufnahmen machen mußte. Schreiber nutzte die Zeit, um sich von Kröger die Lage der Zimmer und des Hofes mit den Stallungen und dem anschließenden Garten erklären zu lassen. Zuletzt sah er sich die Mordwaffe an. „Das Beil gehört dem alten Anrainer, soviel ich weiß“, meinte der Abschnittsbevollmächtigte. „Merkwürdig“, sagte Jost, „wenn er nicht der Mörder ist – wie kam es dann in die Hand des Täters?“ „Das müssen Sie Anrainer fragen.“ 16
Schreiber, der sich inzwischen schweigend umgesehen hatte, winkte ab. „Beginnen wir mit den Untersuchungen!“ Der Techniker hatte die Situationsaufnahmen gemacht. Jost nahm den Scheck, den die Tote in der rechten Hand gehalten hatte, und ging damit ins Postzimmer. „Franz Holbeck, Halle, Gartenstraße sechs“, las er vor, er nannte auch die Nummer des Personalausweises und den Betrag: dreihundert Mark. „Das Geld wollte er sich offenbar auszahlen lassen“, meinte er, während er in dem Sperrverzeichnis nachsah, ob der Scheck zu einer gesperrten Serie gehörte. Die Nummer war nicht vermerkt. „Dann hätte sie den Scheck also einlösen dürfen?“ fragte der Abschnittsbevollmächtigte zögernd, und als Jost nickte, setzte er verblüfft hinzu: „Warum ist sie dann hinterhergelaufen?“ „Ist sie das?“ fragte Schreiber ruhig. „Ich möchte erst einmal Herrn Anrainer sprechen.“ Sie gingen die Treppe hinauf. Dabei kam Brunner wieder auf den Selbstmord des jungen Anrainer zu sprechen. „Jetzt fällt’s mir ein“, sagte er, „Selbstmord …“ Er schüttelte den Kopf. „Es handelte sich um einen durch Trunkenheit selbstverschuldeten Verkehrsunfall. Wir mußten die Leiche zur Bestattung freigeben.“ Eine Treppe höher klopfte Kröger an die Tür. „Wilhelm!“ rief er. Anrainer Öffnete. „Hier sind die Genossen von der MUK, erinnerst du dich? Ich habe vorhin schon von ihnen gesprochen.“ „Dürfen wir eintreten?“ fragte Jost. „Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Anrainer trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung. 17
Sie betraten die Küche, weil – wie Anrainer entschuldigend sagte – das Wohnzimmer nicht auf geräumt sei. „Meine Frau ist verreist“, fügte er hinzu. Jost meinte beruhigend, sie kämen nicht von der Jugendhilfe oder Fürsorge, er solle sich darüber keine Gedanken machen. Sie nahmen um den Tisch herum Platz, Schreiber, Jost, Gruber und Brunner. Kröger war im Parterre bei dem Wachtmeister mit dem Hund geblieben. Anrainer setzte sich auf einen Stuhl neben dem Herd. „Wir werden Sie später noch eingehend vernehmen müssen, weil Sie zur Tatzeit im Haus waren“, begann Schreiber. „Jetzt geht es mir zunächst einmal um die Frage, wieso der Mörder Ihr Beil als Waffe hat benutzen können. Wo bewahren Sie es gewöhnlich auf? Und hat es auch heute dort gelegen oder …“ Anrainer unterbrach ihn mit einem tiefen Seufzer, seine Kiefer mahlten, dann sagte er leise: „Hätte ich das geahnt! Pohl – das ist mein Nachbar – hatte es sich ausgeborgt. Das Beil ist noch bester Stahl. Und weil er verreisen will, hat er’s mir heute zurückgebracht. Ich hab’s dann wieder hinter die Kellertür stellen wollen, wie üblich, aber irgendwas ist dazwischengekommen …“ Anrainer starrte zu Boden und machte eine Handbewegung ins Leere, als er fortfuhr: „Da habe ich es einfach aus der Hand gelegt. Aber wo?“ Er schüttelte den Kopf und deutete damit an, daß er sich nicht mehr erinnern könne. Schreiber beobachtete ihn schweigend. Der Mann ist durcheinander, dachte er, den hat’s aus der Bahn geworfen. Nicht nur der Mord, sondern auch die Tatsache, daß er die Tote als erster entdeckt hat. Schließlich fragte er: „Sie haben einen Schrei gehört, nicht wahr? Genosse Kröger hat uns das erzählt.“ 18
Anrainer nickte. „Können Sie uns mehr dazu sagen?“ fragte Jost. „Nein“, antwortete Anrainer entrückt, „ich kann das alles noch nicht fassen, ich bin so durcheinander.“ „Sagt Ihnen der Name Holbeck etwas?“ Anrainer hob langsam den Kopf. „Holbeck?“ „Ja“, mischte sich Schreiber ein, „kennen Sie einen Mann dieses Namens?“ „Kennen? Nein … aber der Name …“ Es schien, als mühte sich Anrainer, seine Gedanken zu ordnen. „Mir ist, als ob ich den Namen schon mal gehört hätte … Vielleicht hat jemand diesen Namen gerufen …“ „Ihre Schwiegertochter?“ fragte Jost. Anrainers Gesicht erhellte sich. „Ja, Karin hat den Namen gerufen! Kurz bevor ich ihren Schrei hörte …“ „Können Sie etwas ausführlicher erzählen?“ bat Schreiber. „Ich hatte ein bißchen geschlafen“, erinnerte sich Anrainer, „plötzlich hörte ich etwas, aber ich kann nicht sagen, was es war … Ich habe hier auf dem Sofa gelegen.“ Er spielte es jetzt sogar vor, indem er sich hinlegte, dann wieder aufrichtete, eine Weile sitzenblieb und schließlich aufsprang. Seine Worte kamen jetzt schneller, sie überstürzten sich. „Es muß ein Wortwechsel gewesen sein, durch den ich wach geworden bin … Holbeck … doch, den Namen hat sie gerufen. Und dann …“ Jetzt verlor er die Beherrschung und begann wieder zu schwanken wie eine halbe Stunde zuvor, als Kröger ihn auffangen mußte. Nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte, erholte er sich ein wenig, aber er hatte nicht mehr viel zu berichten. Nach dem Wortwechsel, und als Karin Anrainer den Namen Holbeck gerufen hatte, war ein Aufschrei bis 19
in das Obergeschoß gedrungen. „Ein Schrei, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde! Und dann war da ein Poltern. Wahrscheinlich das Beil, das der Mörder weggeworfen hatte. Ich bin die Treppe hinuntergeeilt, bis auf die dritte oder vierte Stufe; das, was ich dort sah, hat mich buchstäblich festgenagelt … und dann bin ich zum ABV.“ Sie schwiegen und blickten voller Mitleid auf den Mann, der innerhalb so kurzer Zeit den Sohn und die Schwiegertochter verloren hatte. Endlich fragte Schreiber, ob Anrainer sich erinnern könne, durch welche Tür der Täter das Haus verlassen habe. „Durch die Haustür … Wo denn sonst?“ antwortete Anrainer. „Wir werden das noch untersuchen. Als Genosse Kröger hierher kam, war auch die Hoftür unverschlossen.“ „Aber da oben geht es doch in den Wald!“ „Eben!“ Schreiber sagte es mit einem Anflug von Lächeln, aber Anrainer war sich nicht klar über die Bedeutung seiner Aussage, für ihn bot die offene Hoftür keinen Tatbestand, den es zu untersuchen galt. Die Kriminalisten inspizierten schließlich noch die Wohnung der Ermordeten. Anrainer erklärte ihnen die Lage der einzelnen Zimmer, hielt sich aber im Flur auf, während Schreiber und Jost durch die Räume gingen. Sie fanden nichts Außergewöhnliches, das in Zusammenhang mit dem Mord hätte gebracht werden können. Dann stiegen sie wieder hinunter in das Parterre und betraten den Hof, der rechts und links von Stallungen und Bretterverschlägen begrenzt wurde. Holz lag kunstvoll gestapelt unter einem Wellblechdach, daneben standen dreistöckige Kaninchenställe. Dem Hof schloß sich der Nutzgarten der Anrainers an. Der Zaun war so niedrig, daß man ihn mit einem Schritt übersteigen konnte. Die 20
Tür darin erinnerte an die Tür in der Zirkusmanege bei einer Clownnummer, sie war völlig überflüssig und nur „der Ordnung halber“ vorhanden. Oberleutnant Gruber ließ wieder die Taschenlampe aufblitzen. Der Lichtkegel huschte ein paar Meter in den Garten hinein. Die Männer gingen der Spur nach, die quer durch den Graben bis hinauf an den Zaun lief und sich dahinter im Wald verlor. War es die Spur des Mörders? Wer außer ihm sollte Grund gehabt haben, das Haus auf diesem Weg zu verlassen? Die Kriminalisten erwogen diese Möglichkeit, aber keiner redete davon, weil sie alle fürchteten, eine Hoffnung auszusprechen, die sich später vielleicht als trügerisch erwies. Falls jemand auf dem gegenüberliegenden Berghang gewesen wäre, hätte er ein spärliches Feuerwerk auf dem Anrainerschen Grundstück beobachten können. Die Nachbarn konnten besser ausmachen, was vor sich ging, sie sahen den Fotografen und einige andere Männer im Garten, und sie ahnten, daß ein Zusammenhang zwischen dem Tun der Kriminalisten und dem vorzeitigen Schließen der Poststelle bestand. Inzwischen hatte der Kriminaltechniker festgestellt: Bei den Fußspuren handelte es sich um den Abdruck eines Herrenschuhs, Größe 40.
4 Die Spuren waren gerade durch Aufnahmen und einen Gipsabdruck gesichert worden, als Anrainer plötzlich auftauchte. Er wollte wissen, ob die Kriminalisten Holbeck wirklich für den Mörder hielten. 21
„Wie kommen Sie denn darauf?“ fragte Schreiber überrascht. „Können Sie uns mehr über diesen Herrn sagen?“ Anrainer wurde wieder still, verschlossen. Er sagte nur noch leise: „Nein … bloß weil sie seinen Namen gerufen hat.“ Schreiber nickte und wechselte das Thema. „Können Sie mir sagen, was es mit Herrn Sparr auf sich hat? Er soll Beziehungen zu Ihrer Schwiegertochter unterhalten haben.“ Anrainer lachte verächtlich, aber er schwieg verbissen. „War er auch öfter bei Ihnen im Haus?“ fragte Schreiber ruhig. „Das war er!“ stieß Anrainer hervor. „Auch heute?“ „Warum nicht?“ „Haben Sie ihn gesehen?“ Nach längerem Zögern antwortete Anrainer kurz: „Nein.“ Der Wachtmeister mit dem Fährtenhund kam und fragte, ob man jetzt die Spurensuche außerhalb des Grundstücks aufnehmen wolle. „Ja, gehn wir!“ sagte Schreiber und nickte Anrainer zu, der daraufhin bat, man solle ihn mitgehen lassen. „Ausgeschlossen!“ erklärte Kröger ihm. Aber Anrainer ließ die blanke Angst erkennen, er wolle nicht zurück ins Haus, sagte er, solange die Tote noch dort läge. „Verstehen Sie mich doch!“ bat er flehentlich. Schreiber wußte, daß der Alte des entsetzlichen Schocks noch immer nicht Herr geworden war, dafür hatten sie Verständnis, trotzdem konnten sie ihn nicht mitnehmen. „Begreifen Sie doch“, sagte er, „Sie würden die Ermittlungen stören.“ 22
„Kommen Sie“, sagte Oberleutnant Gruber, „ich bringe Sie ins Haus zurück. Sie sind dort nicht allein, der Arzt und unser Techniker haben noch im Parterre zu tun. Und ich, Genosse Hauptmann, werde mich dann in der Nachbarschaft umhören, ob jemand irgendwelche Hinweise geben kann.“ Die anderen Kriminalisten machten sich an die Verfolgung der Spur. Der Zaun am Waldrand war etwas höher als der unten im Hof; hier mußten die Männer sich schon sportlich betätigen, um das Hindernis zu nehmen, das der Hund mit beneidenswerter Leichtigkeit übersprang. Dann quietschte moderndes Laub unter ihren Füßen. Der, Boden war glitschig, und von den Zweigen troff der letzte Regen. Das Licht der Taschenlampe irrte zwischen den Stämmen umher, ein heller Ausschnitt inmitten der Dunkelheit, denn der Vollmond, den der Kalender auswies, war von Wolken verdeckt, die neuen Regen erwarten ließen. „Sauwetter!“ knurrte Jost. „Die Nässe verdirbt alles.“ Der Wachtmeister, der immer um zwei, drei Schritte voraus war, blieb stehen, weil der Hund vorübergehend die Fährte verloren hatte und neue Witterung nehmen mußte. Sie stiegen steil bergan. Das machte sich leichter bei dem glatten Boden, obwohl ihnen die Luft knapp wurde. Aber dann standen sie oben auf dem Kamm und hatten die Schlucht vor sich. Unten gurgelte der Fluß. Bei Tage hätten sie einen schönen Ausblick über eine der Hochebenen des Harzes bis zum Brocken gehabt, jetzt jedoch war alles nur schemenhaft auf etwa fünf Meter erkennbar, dahinter lag nichts als gestaltlose Schwärze. „Wenn er über den Fluß ist“, sagte Kröger, „können wir einpacken, dann streikt der Hund.“ 23
Der Hund schnüffelte zunächst wieder lebhafter, er riß den Wachtmeister mit sich den Abhang hinunter, die anderen vermochten kaum zu folgen, sie rutschten mehr, als sie gingen. Ein kalter Wind biß in ihre Gesichter, und manchmal glaubten sie den Flügelschlag irgendwelcher Nachtvögel zu verspüren, obwohl die noch in ihren Forsten und Schlupflöchern hockten; es waren nur die leichten Hiebe von Ästen und Dornenzweigen. Immer näher kam das Rauschen des Wassers. Kein Zweifel, die Spur führte direkt auf das Flußbett zu, der Hund stand mit hechelnder Zunge und steifen Ohren, er witterte noch eine Weile nach rechts und links, aber die Kriminalisten wußten schon, daß er die Fährte verloren hatte. „Mist!“ fluchte Jost. Schreiber sagte ruhig: „Hatten Sie etwa gedacht, wir würden den Mann bis in sein Bett verfolgen können und dazu noch das Glück haben, daß er tatsächlich der Mörder ist?“ Also mußten sie wieder bergan. Mißlaunig klappten sie die Kragen hoch. Wie sie jetzt den Berg hinauf keuchten, bei der Pfadsuche nur hin und wieder durch Krögers Taschenlampe unterstützt, wie sie sich die kalte Nässe aus dem Gesicht wischten und die feuchten Hosenbeine an den Knöcheln spürten, wie sie es rascheln hörten, wenn ihre Füße das Laub zerteilten – da überkam sie der Wunsch, den Fall im warmen Zimmer bei einer Zigarette besprechen zu können, mit Beweisstücken arbeitend, die sorgsam auf dem Tisch ausgebreitet lagen, und mit einer Karte, die an der Wand hing und auf der man in Ruhe den Weg des Mörders verfolgen konnte. Statt dessen umpfiff sie der Wind, je näher sie wieder dem Grat kamen. 24
Schreiber blieb ein Stück zurück. Jost vermutete, daß er mit ihm sprechen wollte, anders konnte er sich das längere Schweigen des Hauptmanns, das einer gezielten Frage vorauszugehen pflegte, nicht erklären. Der Leutnant arbeitete noch nicht lange im Dezernat II der Bezirksbehörde, aber sie hatten schon genug Tuchfühlung miteinander gehabt, so daß Jost zu wissen glaubte, wenn der andere etwas von ihm wollte. „Sie möchten gern hören, was ich von dem Fall halte, Genosse Hauptmann, stimmt’s?“ platzte er heraus. „Ach was“, knurrte Schreiber, „mir ist einfach die Puste ausgegangen. Von dem Fall halten … dazu ist es doch noch viel zu früh!“ „Aber man macht sich schon seine Gedanken darüber!“ widersprach der Leutnant. Schreiber lachte gutmütig. „Na, dann schießen Sie mal los!“ Jetzt, zum Sprechen aufgefordert, erkannte Jost, wie schwer das war. „Sie haben recht“, gab er zu. „Für Kombinationen ist es noch zu früh.“ „Jetzt wird nicht gekniffen!“ Schreiber blieb hart. „Nun gut. Wir wissen, daß die Tote einen Scheck in der Hand hielt, der nicht zu einer gesperrten Serie gehört; daß sie den Namen Holbeck gerufen haben soll, wie Herr Anrainer behauptet; Spuren im Garten deuten darauf hin, daß jemand das Haus auf ungewöhnliche Weise verlassen hat … Ja, weiter fällt mir nichts ein.“ „So?“ sagte Schreiber, und leiser Tadel klang aus seinen Worten. „Das ist schlimm, Genosse Leutnant!“ Er rieb sein rechtes Auge, das wegen des scharfen Windes tränte. „Wir wissen noch mehr: zum Beispiel, daß die Ermordete geschieden war; wir kennen wahrscheinlich auch den Grund für die Trennung – Karin Anrainer soll 25
Beziehungen zu einem anderen Mann unterhalten haben; von ihrem Ehemann wissen wir, daß er nach übermäßigem Alkoholgenuß tödlich verunglückt ist.“ „Ja, verdammt, hat denn das etwas mit dem Mord zu tun?“ zweifelte Jost. „Können Sie etwa behaupten, daß es nichts damit zu tun hat?“ fragte Schreiber zurück. Jost blieb stehen. Die übrigen waren bereits auf der anderen Seite des Berges verschwunden, nur er und Schreiber standen noch hier, in völliger Dunkelheit. „Ich hab’ Lust auf eine Zigarette“, sagte er, aber der Versuch, sie anzuzünden, mißlang, der Wind blies zu heftig. Er steckte das Päckchen wieder in die Tasche. „Sie sind recht still geworden, Genosse Leutnant“, spöttelte der Hauptmann. „Vielleicht war es eine Kurzschlußhandlung“, sagte Jost zögernd. „Die Brutalität bei der Ausführung der Tat spricht doch eigentlich dafür, nicht wahr? Das war kein raffiniert vorbereiteter Mord.“ „Sie sollten nicht so voreilig sein“, mahnte Schreiber, „auch ein brutaler Mord kann raffiniert angelegt gewesen sein. Jost, was wir wissen, ist Stückwerk. Hat die Ermordete wirklich den Namen Holbeck gerufen, oder bildet sich Anrainer das nur ein? Ich glaube schon, daß er die Wahrheit sagen möchte, aber kann er das? Kann dieser Mann heute überhaupt einen klaren Gedanken fassen? Und die Spuren im Garten …“ „Richtig!“ unterbrach ihn Jost. „Die Tote liegt mit dem Kopf zur Haustür, der Mörder hat sie von vorn erschlagen. Der kürzeste Fluchtweg wäre durch die Haustür gewesen.“ „Gehen wir lieber“, sagte Schreiber, „bevor Sie noch mehr solcher Gedankensprünge machen.“ „Wieso?“ 26
„Für Sie war es doch eine Kurzschlußhandlung“, seufzte Schreiber kopfschüttelnd, „also dürfen Sie dem Mörder nicht unterstellen, daß er vernünftig überlegt hat. Das Beil lag ja auch nicht an der Haustür, sondern nahe der Hoftür.“ Der Wolkenvorhang riß auf. Sie standen im Mondlicht vor einem bewaldeten Hang. „Ich brauch’ jetzt einen Grog!“ sagte Schreiber.
5 Der Kriminaltechniker empfing sie mit der Nachricht, daß die Leiche abgeholt und der Arzt mitgefahren sei. Dann wies er sie auf die Fingerabdrücke hin, die er von dem Scheck, dem Beil und von den Türrändern und Klinken genommen hatte. Die auf Folien abgezogenen Spuren machten zwar die Abdrücke deutlich, ließen aber auch eine verwirrende Fülle sich kreuzender und überschneidender Linien und Schleifen erkennen, vor allem auf dem Beil. „Mist!“ sagte Jost heute zum zweitenmal. „Das konnte doch gar nicht anders sein“, tröstete Schreiber. „In der Poststelle gibt einer dem andern die Klinke in die Hand. Das Beil hatte Anrainer, wie er selbst gesagt hat, oft verborgt, auch hier mußten wir mit verwischten Fingerabdrücken rechnen. Und wie sieht es mit dem Scheck aus?“ „Vermutlich drei verschiedene Abdrücke“, antwortete der Techniker. Schreiber überlegte einen Augenblick, dann erkundigte er sich, ob auch von Anrainer schon Abdrücke genommen worden seien. 27
„Nein, noch nicht.“ „Dann holen Sie bitte Herrn Anrainer, Genosse Leutnant. Seine Fingerabdrücke brauchen wir unbedingt.“ Jost ging die Treppe hinauf und klopfte oben an die Tür. Anrainer öffnete sofort; es sah aus, als hätte er gelauscht, vielleicht von Neugier gepeinigt, ob die Kriminalisten schon etwas entdeckt hatten. Er war bereit, noch einmal in die Poststelle herunterzukommen, und stieg vor Jost die Treppe hinab. „Fühlen Sie sich etwas besser?“ fragte Schreiber. „Noch nicht so richtig“, antwortete Anrainer. Als er hörte, was die Kriminalisten von ihm wollten, gab er sich bestürzt und ablehnend. „Das sieht ja gerade so aus, als ob ich …“ „Aber nicht doch“, sagte Jost, „wir brauchen Ihre Abdrücke, um sie von den anderen unterscheiden zu können.“ „Ach so!“ Anrainer sah zu Schreiber hinüber. „Wirklich nur deshalb?“ fragte er mißtrauisch. Der Hauptmann lächelte. „Sie können ganz beruhigt sein.“ Anrainer ließ sich die Finger mit Stempelfarbe bestreichen und drückte sie auf ein Blatt weißes Papier. Als er wieder in seine Wohnung zurückgegangen war, kam Oberleutnant Gruber zurück. Schreiber sah ihm gespannt entgegen. „Na, irgend etwas von Belang?“ Gruber schüttelte den Kopf. „Die Nachbarn, die ich angetroffen habe, konnten mir nur wenig sagen, sie haben nichts Auffälliges beobachtet.“ „Was ist mit Herrn Pohl? Ist er verreist?“ „Schon möglich“, antwortete Gruber, „das Haus war verschlossen. Ich hatte mich vorher erkundigt, wo er wohnt.“ 28
Schreiber hob die Schultern. „Schade“, sagte er, „ich hätte ihn gern noch heute vernommen. Leutnant Jost, Sie werden sich weiter darum kümmern. Sobald Pohl wieder in Tannrode ist, möchte ich ihn sprechen.“ Sie waren nun fertig mit der Untersuchung des Tatortes. Die Leiche würde wahrscheinlich noch am selben Abend obduziert werden, spätestens am nächsten Morgen. Das Ergebnis war eigentlich vorauszusehen, selbst wenn man noch einige Überraschungsmomente einkalkulierte: Es würde bei der ersten Feststellung bleiben, daß der Tod durch Zertrümmerung des Schädels eingetreten war. Anrainer an diesem Abend noch eingehender zu vernehmen hatte keinen Sinn, der Mann mußte zunächst den Schock überwinden, den die Entdeckung des Verbrechens in ihm ausgelöst hatte. Sie verabschiedeten sich von ihm, Kröger klopfte ihm noch einmal auf die Schulter. Draußen standen ein paar Leute, Neugierige, die den Leichenwagen hatten kommen und wieder wegfahren sehen und die sich an die Spurensuche im Garten erinnerten. Jetzt stand es für sie fest: Ein Mord mußte geschehen sein, hier in Tannrode, wo einer den andern kannte, wo man sich gegenseitig in die Fenster schaute, wo man tagsüber zusammen in der LPG oder im volkseigenen Sägewerk arbeitete und sich abends in der HO-Gaststätte „Klippmühle“ bei einem Glas Bier traf. Nur wer das Opfer war, wußten sie noch nicht. Man sollte vielleicht den Wilhelm fragen, der in der Haustür stand und den abfahrenden Kriminalisten nachschaute. „Du, Wilhelm!“ riefen sie. „Wilhelm, sag mal …“ Aber Anrainer trat rasch zurück in den Flur und zog die Tür hinter sich zu; sie hörten, wie der Schlüssel sich im Schloß drehte. Jetzt lag das Haus, ohnehin das letzte am Ortsausgang, plötzlich vereinsamt, scheinbar nicht mehr 29
Tannrode und seinen Menschen zugehörig. Die Landschaft schien es ausgespien zu haben als einen schwarzen Brocken, der den Abhang heruntergekollert und abseits von den andern Häusern liegengeblieben war. Ringsum sah man erleuchtete Fenster, nur bei Anrainer blieb es dunkel. Gruber und Brunner stiegen in den Dienstwagen und nahmen den Wachtmeister und den Hund mit. Schreiber und Jost hatten beschlossen, in der „Klippmühle“ Quartier zu nehmen, wo es hoffentlich nicht nach muffigen Betten roch und die Öfen schon beheizt wurden. Vorher aber wollte Schreiber sich im Gemeindebüro nach Holbeck erkundigen. Vielleicht war der als Feriengast registriert und hielt sich sogar noch in Tannrode auf. Kröger, der bei ihnen war, wiegte den Kopf. „Wenn er mit dem Mord zu tun hat, wird er über alle Berge sein.“ „Wenn …“, sagte Schreiber. Sie trennten sich. Der Hauptmann bog rechts auf einen steilen Weg ab, der zum Gemeindebüro führte, Jost wandte sich an den Abschnittsbevollmächtigten: „Ich möchte noch etwas über die Familie Anrainer erfahren. Darf ich Sie ein Stück begleiten?“ „Kommen Sie mit zu mir! Ja, den Wilhelm kenne ich schon lange, wir sind derselbe Jahrgang … Links, wenn ich bitten darf, dort in dem Eckhaus wohne ich.“ Über zwei ausgetretene Stufen gelangte man in den Hausflur, von dem aus rechter Hand eine Tür in das Büro führte. „Einen Kaffee?“ fragte Kröger, und als Jost dankbar nickte: „Ich sage nur schnell meiner Frau Bescheid. Nehmen Sie schon immer Platz.“ Jost sah sich flüchtig um. Nichts Besonderes hier, er kannte diese Art Zimmer mit einem Bild an der Wand, einer Karte und einem Spruch über das sozialistische 30
Recht, er hatte schon oft mit Abschnittsbevollmächtigten zu tun gehabt. Kröger erschien wieder. „Der Kaffee kommt gleich“, sagte er, und ohne jeden Übergang fuhr er fort: „Ja, wir sind ein Jahrgang, der Wilhelm und ich. Er arbeitet schon seit Kriegsende als Schlosser im Gußwerk. Ist wirklich ein arbeitsamer Mensch.“ Jost konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Schon gut! Ich habe doch gar nichts gegen ihn.“ Kröger schüttelte den Kopf. „Sie haben mich nicht ausreden lassen, Genosse. Der Wilhelm, meine ich, ist ein Mensch, der ein besseres Los verdient hätte. Die Karin …“ Kröger schwieg und bot seinem Gast eine Zigarette an, seine Frau war ins Zimmer gekommen und goß den Kaffee ein. So mußte Jost eine ganze Weile warten, bevor er erfuhr, was mit Karin Anrainer gewesen sein sollte. Er nahm einen Schluck aus der Tasse, nickte Frau Kröger anerkennend zu und sagte dann: „Also, was ist mit Karin Anrainer?“ Frau Kröger war in der Tür stehengeblieben, aber ihr Mann warf ihr einen Blick zu, daß sie gehen solle. Als die Männer allein waren, fuhr Kröger fort: „Karin war etwas leicht, wie man so sagt. Ich habe Ihnen schon erzählt, daß sie mit Sparr ein Verhältnis hatte.“ Jost unterbrach ihn. „Wie heißt das Nest, in dem er wohnt?“ „Steiger. Da brauchen Sie bloß zu fragen, den Sparr kennt jeder.“ Jost stellte die leergetrunkene Tasse auf den Tisch. Als Kröger nachschenken wollte, lehnte er dankend ab, statt dessen zündete er sich eine neue Zigarette an. Er blies den Rauch durch die Nase und blickte dem blauen Gekräusel nach. „Eines ist mir noch nicht klar“, sagte er 31
schließlich. „Sie sprachen davon, daß Karin Anrainers Ehemann Selbstmord begangen hat, aber Staatsanwalt Brunner meint, es habe sich um einen Unfall nach übermäßigem Alkoholgenuß gehandelt.“ „Nein, nein“, antwortete Kröger, „für mich steht bombenfest, daß er sich das Leben genommen hat. Erst Alkohol, dann aufs Motorrad, in der Kurve ist er gegen einen Baum gerast und in den Abgrund gestürzt … Und er hatte es vorher angekündigt! Alle, die mit ihm an der Theke gestanden haben, wußten es. Keiner hat ihm geholfen, ich meine, ihn zurückgehalten.“ Kröger schwieg eine Weile, dann setzte er bitter hinzu: „Hier wäre eine schöne Gelegenheit gewesen, sozialistisches Bewußtsein zu zeigen!“ „Das ist ja beinahe Beihilfe!“ erregte sich Jost. Kröger winkte ab. „Das Motorrad hatte er natürlich zu Hause, das hat er sich erst geholt … Tja, Genosse, nun werden Sie verstehen, warum ich den Wilhelm so behutsam behandele. Jetzt ist er auch noch allein, seine Schwiegermutter ist erkrankt und muß von seiner Frau gepflegt werden. Kein Wunder, wenn der Mann beinahe zusammenbricht!“ „Wie lange ist das eigentlich her, die Scheidung und der Selbstmord?“ fragte Jost. Kröger überlegte. „Die Scheidung … die mag so vor einem dreiviertel Jahr gewesen sein, der Selbstmord vielleicht vor acht oder zehn Wochen.“ „Kümmern Sie sich weiter um Anrainer, Genosse Kröger“, bat Jost. Er stand auf, um sich zu verabschieden. „Ihre Frau kocht wirklich einen guten Kaffee!“ sagte er. Dann fiel ihm ein, daß er sich noch nach Pohl erkundigen wollte. „Sie waren vorhin nicht dabei, als Anrainer uns sagte, daß er seinem Nachbar das Beil geborgt hatte und daß der es heute mittag zurückgebracht habe.“ 32
Kröger lächelte bedauernd. „Pohl ist in der ČSSR. Nur für ein paar Tage, Kurzreise, vor Donnerstag abend wird er nicht zurückkommen.“
6 In Tannrode konnte man sich nicht verlaufen, auch dann nicht, wenn man zum erstenmal hierherkam. Es gab eigentlich nur eine Straße, die sich zwischen den Bergen hinschlängelte und in weitem Bogen um einen Wiesenhang auf die Landstraße mündete, die in die Kreisstadt führte. Es waren stattliche Gehöfte mit Scheunen und weiträumigen Koppeln, die sich an der Straße breitmachten; nur die kleineren Häuser, in denen früher Guts- oder Gemeindearbeiter gewohnt hatten, lagen etwas höher, in Bergmulden versteckt. Jetzt wurde das alles mit Hilfe einer durchdachten, wenn auch nicht immer funktionierenden Organisation zusammengehalten. Das Vieh in den Ställen, die Ernte in den Scheunen und Silos, der Wald und die Weiden, soweit sie nicht zum staatlichen Forst gehörten, waren Eigentum der LPG „Harzland“; es gab eigentlich nichts in Tannrode, was die Menschen, die hier wohnten, hätte veranlassen können, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Natürlich, wenn sie in der „Klippmühle“ einen zuviel kippten, einen „Berggeist“ oder einen anderen Rachenreißer, und nicht nur einen, auch nicht nur zwei oder drei, sondern zehn bis fünfzehn und noch mehr, und wenn sie außerdem ihre Biere tranken, und noch eines und immer noch eines, weil die Runden ausgeknobelt wurden und jeder dachte, verdammt, es muß doch mal den andern 33
treffen, das Bezahlen nämlich, und weil sich das steigerte und die Miene des Objektleiters sich immer mehr erhellte, obwohl er schon längst hätte Schluß bieten sollen – ja, deshalb gab es auch in Tannrode gelegentlich eine Schlägerei. Nicht oft, nicht etwa an jedem Wochenende, nein, nur hin und wieder, aber schon das störte den Abschnittsbevollmächtigten, dieses Hin und Wieder. Sonst lebte man in Tannrode sehr ruhig, vielleicht zu ruhig, was auch wieder nicht gut war und den Genossen Kröger ebenfalls störte. Nach Tannrode verirrte sich keine BeatGruppe und kein Sound-Ensemble, und die Jugend mußte erst zehn Kilometer weit laufen, wenn sie Lust zum Tanzen verspürte. Wenn sie lief. Wenn sie es nicht machte wie Lutz Anrainer: erst Alkohol, dann aufs Motorrad. An diesem Abend gab es in der „Klippmühle“ viel Unruhe. Leutnant Jost, der an den erleuchteten und nicht verhängten Fenstern vorbeiging, konnte die Männer beobachten, wie sie, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, das Bierglas in der Hand, eifrig diskutierten. Er ahnte, wovon sie sprachen. Nachher würde er sich zu ihnen setzen und die Ohren aufsperren. Kröger hatte ihm einiges über das Leben der Ermordeten erzählt. Jetzt galt es, noch mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Gerade weil hier einer den andern kannte, würden die Nachrichtenquellen reichlich fließen. Zu reichlich vielleicht, man würde nicht alles vorbehaltlos glauben dürfen. Jost bog jetzt ebenfalls in den steilen Weg ein, der ins Gemeindebüro führte; dort wollte er sich mit dem Hauptmann treffen, so war es vereinbart. Er spürte grobes Pflaster unter den Füßen, bucklige und spitze Steine, die locker umherlagen und unter seinen Schuhen wegrutschten. Vom Wiesenhang kam der Wind heruntergetrudelt, nicht mehr ganz so heftig, dafür aber mit 34
Spritzern durchsetzt. Herbstregen. Ja, Hauptmann Schreiber hatte schon recht: Sauwetter! Sie begegneten sich vor der Tür des Gemeindehauses. Eine junge Frau hatte den Hauptmann hinausbegleitet, es war die Gemeindesekretärin. Schreiber machte sie mit seinem Mitarbeiter bekannt, dann verschwand sie wieder im Haus. „Holbeck ist natürlich weg!“ begann Schreiber. „Angeblich aus familiären Gründen. Ganz plötzlich müsse er abreisen, hat er bei der Abmeldung gesagt.“ „Und wann hat er sich abgemeldet?“ fragte Jost gespannt. Schreiber lächelte, als er sagte: „Vor dem Mord.“ „Das läßt alles offen“, meinte Jost. „Ja“, fuhr Schreiber fort, „ich habe bereits unsere Dienststelle telefonisch informiert, daß noch heute ein Genosse versuchen muß, mit Holbeck zu sprechen. Die Adresse auf dem Scheck stimmt mit der überein, die er bei der Anmeldung angegeben hatte.“ „Und was machen wir inzwischen?“ fragte Jost. „Ich hoffe, daß es sich nur um eine rhetorische Frage handelt“, antwortete Schreiber. „Sie wissen doch wohl, was zu tun ist.“ „Sparr?“ „Natürlich! Wir fahren sofort nach Steiger, um ihm ein paar Fragen zu stellen.“ „Wenn wir ihn antreffen!“ schränkte Jost ein. Dann berichtete er über sein Gespräch mit dem Abschnittsbevollmächtigten. Während sie noch sprachen, gingen sie zum Wagen. Wachtmeister Zeller saß schlafend am Steuer. Auf dem Sitz neben ihm lag ein Kriminalroman mit zerknickten Seiten, auf dem Umschlag ein blasses Gesicht mit angstverzerrten Augen. Der Hauptmann klopfte 35
an die Scheibe. Zeller schrak hoch, schnitt eine Grimasse, um sich zu ermuntern, und stieg aus. „Sie können gleich wieder einsteigen“, sagte Schreiber, „wir müssen noch mal weg. Nach Steiger. Geradeaus, dann hinter dem Dorf rechts ab. – Bücher sollte man übrigens pfleglicher behandeln!“ tadelte er den Wachtmeister im Scherz und zeigte dabei auf das Heft. „Ist doch bloß ’n Krimi!“ antwortete Zeller. Der Hauptmann schlug die Hände zusammen. „Bloß ein Krimi! Haben Sie das gehört, Jost, bloß ein Krimi! Eine Geschichte, die von unserer Arbeit handelt! Oder spielt sie etwa drüben?“ „Nein“, sagte Zeller, „hier bei uns, und es kommt auch ein Hauptmann drin vor und ein Leutnant. Aber der Fahrer ist schon Hauptwachtmeister, also was Besseres als ich.“ Sie starteten. Links und rechts vom Lichtkegel war tiefe Dunkelheit, als sie die Poststelle hinter sich gelassen hatten und rechts abbogen, in den Wald, die Bergstraße hinauf, die nach Steiger führte. „Sagen Sie“, fing Schreiber wieder an, „interessieren Sie sich wirklich nur für die Ränge der Kriminalisten in dem Roman?“ Zeller wandte leicht den Kopf. „Wieso nur für die Ränge? Natürlich interessiere ich mich vor allem für die Handlung.“ „Also für das Verbrechen.“ Zeller nickte. „Wozu liest man denn sonst einen Krimi?“ „Und haben Sie sich eigentlich schon mal gefragt, wieso es bei uns noch Verbrechen gibt?“ Zeller schaltete herunter, weil der Motor die plötzliche Steigung hinter einer Kurve nicht schaffte. Das hinderte ihn, sofort zu antworten; aber auch als der Wagen in ruhigem Zug den Berg hinauffuhr, schwieg er. 36
„Sie genieren sich wohl?“ stichelte der Hauptmann. „Vielleicht hat der Mörder, den wir suchen, erst neulich im Westfernsehen einen Krimi gesehen, und nun geht er gleich hin und erschlägt die Poststellenleiterin. Befriedigt Sie das? Oder könnten die Wurzeln für das Verbrechen nicht auch tiefer liegen?“ „Meine Güte!“ stöhnte Zeller. „Daran soll man nun denken, wenn man einen Krimi liest. Dann hat man ja gar keinen Genuß mehr von der Handlung!“ „Er meint Genuß vom Verbrechen!“ sagte Schreiber seufzend. Vor ihnen tauchten die Lichter eines Vorwerks auf, das Dorf Steiger lag erst hinter einer Biegung, aber wenig später hatten sie schon die ersten Häuser erreicht, und Schreiber ließ halten, um einen Mann, der vorüberging, nach der Wohnung von Sparr zu fragen. „Rechts, das letzte Haus“, sagte der Mann und tippte an die Mütze. „Genosse Zeller, warten Sie hier“, entschied der Hauptmann, „die paar Schritte gehen wir zu Fuß.“ Minuten später standen sie vor einem zweistöckigen Fachwerkhaus mit einer wuchtigen Tür, die einen altmodischen, behäbig wirkenden Klopfer hatte. „Macht direkt Spaß!“ sagte Jost und ließ den Griff auf die Metallplatte fallen. Es gab einen lauten Ton, der die Stille zerstörte – und auch die Behäbigkeit, dachte der Leutnant. Obwohl man einen Schläfer damit hätte wecken können, rührte sich zunächst nichts im Haus. Jost wiederholte das Spiel, bis sie endlich eine Stimme hörten: „Ich komme ja schon!“ Die Haustür wurde geöffnet, eine ältere Frau fragte recht mürrisch, was sie wollten. „Ich war hinten aufm 37
Hof“, erklärte sie, „darum hat’s ein bißchen gedauert.“ Schreiber und Jost wiesen sich aus. Die Frau wurde plötzlich unruhig. „Polizei?“ fragte sie ängstlich. „Wir möchten Herrn Herbert Sparr sprechen“, sagte Schreiber, dem die Veränderung im Verhalten der Frau nicht entgangen war. „Das ist mein Sohn“, erklärte Frau Sparr, „aber er ist jetzt in der Schicht … Was woll’n Sie denn von ihm?“ „Eine Auskunft.“ Die Frau nickte stumm und ließ die Kriminalisten nicht aus den Augen. Sie nestelte an ihrer Schürze. „Bitte, kommen Sie ’rein!“ sagte sie schließlich. Sie ging voraus in die Stube, in der ein ausgesessenes Plüschsofa stand, davor ein Tisch, zwei Sessel und zwei Stühle und natürlich in der Ecke ein Fernsehgerät. „Wir wollen Sie nicht lange aufhalten“, sagte Schreiber. „Seit wann ist Ihr Sohn in der Schicht?“ „Seit vierzehn Uhr.“ „Und in welchem Betrieb?“ „In der ‚Silberhütte‘. Aber was woll’n Sie für ’ne Auskunft von ihm, sagen Sie es mir doch“, bat sie. „Ihr Sohn kennt Frau Anrainer aus Tannrode, nicht wahr?“ „Ach, deshalb!“ sagte Frau Sparr aufatmend. „Haben Sie geglaubt, wir kommen aus einem anderen Grund?“ fragte Jost. Frau Sparr seufzte. „Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß mein Sohn schon mal gestohlen hat?“ Schreiber schüttelte den Kopf. „Nein, und darum geht es uns heute auch nicht. Wissen Sie Näheres über die Beziehungen zwischen Ihrem Sohn und Frau Anrainer?“ „Was heißt ‚Näheres‘! Ich weiß, daß er immer mit ihr zusammensteckt, schon damals hat er das getan, als ihr 38
Mann noch lebte. Gut, er muß wissen, was er tut … auf mich hört er ja doch nicht, aber daß er deswegen immer die Anna schlägt …“, wieder ein mutloser Blick und dann die Frage: „Kommen Sie etwa deswegen?“ „Anna?“ antwortete Schreiber mit einer Gegenfrage. „Ja, Anna Hüttner“, erklärte Frau Sparr, „wirklich ein feines Mädchen.“ „Warum schlägt Ihr Sohn Fräulein Hüttner?“ „Wenn er sich über Frau Anrainer geärgert hat, läßt er seine Wut an dem Mädchen aus, das ihm trotzdem immer wieder nachläuft.“ „Schlägt er denn auch Frau Anrainer manchmal?“ fragte Jost scheinbar leichthin, aber Frau Sparr wurde sofort mißtrauisch. „Also die hat Sie geschickt!“ stieß sie hervor. „Nein, davon weiß ich nichts I Ich denke, Sie wollten bloß eine Auskunft von meinem Sohn. Oder hat Frau Anrainer ihn angeschwärzt, na?“ „Beruhigen Sie sich“, antwortete Schreiber, „Frau Anrainer hat Ihren Sohn nicht angeschwärzt, wir möchten wirklich nur eine Auskunft von ihm.“ Er stand auf. „Bitte, sagen Sie ihm, er möchte morgen um halb zehn in die ‚Klippmühle‘ kommen, aber pünktlich!“ Sie verabschiedeten sich und verließen das Haus. „Mist!“ fluchte Jost an diesem Abend zum drittenmal, während sie zurückfuhren. „Warum ärgern Sie sich?“ fragte Schreiber. „Weil alles so gut zueinander gepaßt hätte, wenn Sparr nicht in der Schicht gewesen wäre? Er hat Fräulein Hüttner geschlagen, nicht wahr, warum also nicht auch Frau Anrainer? Und vielleicht hat er sie sogar …“ „Nein!“ unterbrach ihn Jost beinahe schroff. „Nicht deshalb, sondern weil wir nun auch noch in die ‚Silber39
hütte‘ müssen.“ Schreiber nickte lächelnd. „So gefallen Sie mir schon besser, viel besser, als wenn Sie nur fluchen“, sagte er. Sie fuhren bis zu einer Abzweigung, von der aus eine holperige Zufahrtsstraße mitten durch hohen Tannenwald zur „Silberhütte“ führte. Von fern sahen sie ein Licht blinken, das aus der Pförtnerloge kam. „Halten wir hier“, sagte Schreiber zu Zeller, „ich möchte noch keinen Wirbel machen.“ Er ging die letzten hundert Meter allein zu Fuß bis zum Werkeingang. Der Pförtner hatte gerade ein Stück von seiner Schnitte abgebissen und nahm einen Schluck aus der Thermosflasche. Als er Schreiber sah, wischte er sich mit dem Handrücken über den Walroßbart. Der Hauptmann tippte an die Hutkrempe. „Ich bin ein Bekannter von Herrn Sparr“, sagte er, „von Herbert Sparr aus Steiger.“ „Kenne ich“, antwortete der Pförtner, „der war mal in der Fußballmannschaft. Was is’n mit dem?“ „Möchte nur wissen, ob er in der Schicht ist.“ Der Pförtner rülpste ungeniert, stellte die Thermosflasche auf den Tisch und erhob sich. „Mal nachgucken“, sagte er, „ob er die Stempelkarte gedrückt hat.“ Er ging zur Wand, an der die Stempeluhr hing, und sah in dem Kasten mit den Karten nach, dann drehte er sich um: „Ja, Herbert ist hier.“ Dabei schielte er über den Brillenrand, als erwarte er noch eine Erklärung von dem späten Gast. Aber Schreiber nickte nur dankend und verschwand in der Dunkelheit. Der Pförtner hörte das Auto anfahren. „Da stimmt doch was nicht!“ brummte er vor sich hin.
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7 Leutnant Keppler bog in die Gartenstraße in Halle ein. Die Straße verdiente ihren Namen nicht, denn die Häuser waren schmutzig, verrußt, der Putz bröckelte von den Fassaden, und was das Wort Garten betraf – von Bäumen keine Spur. Keppler betrachtete eine Weile das Haus Nummer sechs. Spiegelbild der Hausgemeinschaft oder der Situation auf dem Baumaterialienmarkt, dachte er. Oder vielleicht beides? Dann drückte er auf den Klingelknopf. Franz Holbeck war zu Hause, ein beleibter, untersetzter Mann, etwa Mitte Dreißig, mit Stirnglatze, Vollbart und dicker Brille. Keppler blickte auf die Brillengläser, in denen sich das Flurlicht spiegelte, die Augen des Mannes blieben ihm verborgen. Der Leutnant stellte sich vor. „Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Herr Holbeck?“ „Bitte! Kommen Sie ’rein.“ „Ich weiß“, sagte Keppler, „daß sie soeben erst aus Tannrode zurückgekehrt sind …“ Holbecks Miene erhellte sich. „Kommen Sie wegen meines Personalausweises?“ „Personalausweis?“ wiederholte Keppler tastend. Holbeck öffnete eine Tür; in dem Zimmer standen zwei Koffer, einer aufgeklappt neben dem Tisch, der andere, ebenfalls geöffnet und offenbar durchwühlt, vor der Couch. Der Leutnant blieb stehen. Holbeck trat neben ihn und nickte. „Den vermisse ich nämlich … meinen Personalausweis.“ Es roch muffig in dem Zimmer, als ob längere Zeit nicht gelüftet worden sei. „Ein ganz verquerer Tag!“ erzählte Holbeck. „Meine Mutter ist plötzlich erkrankt, deshalb habe ich den Urlaub abbrechen müssen. Und hier 41
entdecke ich auf einmal, daß ich meinen Ausweis verloren habe. Es ist zum Verzweifeln!“ Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. „Setzen Sie sich doch!“ Keppler nahm Platz. „Ich komme nicht wegen Ihres Ausweises“, sagte er. Holbeck schob überrascht die Lippen vor. „Nicht? Weswegen dann?“ „Heute nachmittag wurde versucht, in der Poststelle Tannrode einen Scheck über dreihundert Mark einzulösen. Der Scheck trug Ihre Unterschrift.“ Holbeck, der sich gerade gesetzt hatte, fuhr wieder hoch. „Einen Scheck? Mit meiner Unterschrift? Das ist doch ausgeschlossen! Das ist doch …“ Er ging zu dem Koffer, der neben dem Tisch stand, wühlte zwischen den Sachen, schüttelte fortwährend den Kopf und wiederholte das gleiche mit dem Koffer vor der Couch. Schweratmend ließ er sich schließlich auf die Knie fallen. Nach einer Weile wuchtete er sich wieder hoch, schüttelte noch immer den Kopf und sagte: „Auch weg! Das Scheckheft, meine ich … Ist denn das die Möglichkeit? Ausweis und Scheckheft verloren …“ Plötzlich erinnerte er sich: „Sagten Sie nicht eben, in Tannrode hat einer versucht, einen Scheck mit meiner Unterschrift einzulösen? Über dreihundert Mark? Wer war denn das?“ Keppler hob beide Hände. „Zunächst dachten wir natürlich, Sie selbst wären es gewesen. Das stimmt offenbar nicht.“ „Keine Spur!“ entrüstete sich Holbeck. „Aber Ihre Unterschrift … falls sie echt ist …“ „Eine Marotte von mir, solche Blankoschecks.“ „Den Verlust des Ausweises haben Sie erst jetzt be42
merkt?“ „Das sage ich doch! Ich ziehe die Jacke aus, die dort über der Stuhllehne hängt, fasse in die Tasche – nichts! Sonst stecke ich den Ausweis immer in diese Tasche. Nanu, denke ich, ist er etwa im Koffer? Ich denke … Entschuldigen Sie bitte, ich bin etwas durcheinander … schon beim Packen war ich das, in Tannrode, weil meine Mutter plötzlich erkrankt ist …“ Keppler lehnte sich zurück. „Kennen Sie die Leiterin der Poststelle in Tannrode?“ fragte er ruhig. „Frau Anrainer?“ Keppler nickte. „Was heißt ‚kennen‘!“ sagte Holbeck. „Ja, wir kennen uns … das heißt … nein …“ Keppler sah ihn an. Hinter die Gläser müßte man gucken können, dachte er, aber er konnte den Mann schließlich nicht bitten, die Brille abzunehmen. „Einer weiß vom anderen, wie er heißt“, fuhr Holbeck fort, „seitdem ich einmal den Empfang einer Postsendung in Tannrode quittiert habe. Dadurch hat Frau Anrainer meinen Namen erfahren, und ihren wußte ich von dem Schild, das auf ihrem Tisch steht, aber sonst … kennen … ich meine, daß wir näher … nein, das nicht.“ Holbeck reckte sich und rückte an seiner Brille. „Warum fragen Sie? Hat Frau Anrainer das mit dem Scheck gemerkt?“ „Die Umstände deuten darauf hin.“ „Was für Umstände?“ wollte Holbeck wissen. Keppler ging nicht auf die Frage ein. „Wann haben Sie Frau Anrainer das letzte Mal gesehen?“ fragte er. Holbeck rückte wieder an seiner Brille. „Wann? Heute nicht. Gestern. Ja, gestern, da habe ich mir eine Zeitung gekauft. Warum denn das nun wieder?“ 43
„Sie sind also, wenn ich Sie richtig verstehe, heute überhaupt nicht in der Poststelle gewesen.“ „Nein.“ „Sind Sie schon zeitig von Tannrode weggefahren?“ „Zeitig? Mit dem Bus sechzehn Uhr dreißig. Das ist nicht zeitig.“ Keppler sagte: „Da haben Sie recht! Das ist nicht zeitig.“ Nach dem Mord, dachte er. Dann stand er auf. „Halten Sie sich bitte weiter zu unserer Verfügung, Herr Holbeck. Vielleicht müssen wir Sie dem Scheckbetrüger gegenüberstellen.“ „Hauptsache, er hat kein Geld erhalten!“ sagte Holbeck, und seine Stimme klang plötzlich unsicher.
8 Der Hauptmann fühlte sich so müde, daß er sich nach seinem Bett in der „Klippmühle“ sehnte. Er hatte, bevor sie nach Steiger aufgebrochen waren, mit der Hand auf die Matratze gedrückt und zufrieden festgestellt: „Weich wie’n frischgekochtes Ei! Und prima eingenistet wie ’ne Hasensasse.“ Das Zimmer machte einen wohnlichen Eindruck. Es hatte fließendes Wasser und Nachttischlampen, die sogar funktionierten. „Das habe ich gar nicht erwartet!“ sagte der Hauptmann. „Aber jetzt erst mal ordentlich durchlüften!“ Er öffnete das Fenster und setzte sich rittlings auf einen Stuhl. Nachdenklich musterte er seinen Mitarbeiter, der rauchend am Fenster stand, hinter sich den klaren Sternenhimmel, der eine Reifnacht ankündigte. 44
Jost löste sich vom Fenster und strich sich das Haar aus der Stirn. „Ist es noch immer zu früh, sich über den Fall zu äußern?“ Mit diesen Worten spielte er auf ihr Gespräch an, das sie während der Verfolgung der Fußspur geführt hatten. Schreiber lachte. „Wir äußern uns doch schon seit Stunden. Alles, was wir bisher getan haben, ist eine Äußerung.“ „Getan haben!“ wiederholte Jost unzufrieden. „Wir treten noch immer auf der Stelle. Ich bleibe dabei, daß es eine Explosionstat gewesen ist. Von Vorsatz kann man nicht reden, denn der Täter hätte dann sein Verbrechen nicht für diese Zeit und für diesen Ort eingeplant, weil er damit rechnen mußte, daß jemand von der Straße ins Haus kam, etwa ein Postkunde. Deshalb scheidet für mich auch der alte Anrainer aus, obwohl er zur Tatzeit am Tatort war. Ein Motiv für eine Kurzschlußhandlung ist bei ihm nicht ersichtlich. Für Sparr gäbe es eines – Eifersucht beispielsweise –, aber er war in der Schicht. Bleibt bis jetzt nur Holbeck, der aus einer plötzlich entstandenen Situation heraus gehandelt haben kann.“ „Versuchter Scheckbetrug?“ fragte Schreiber. „Ja“, sagte Jost. „Stellen wir uns vor, Holbeck präsentierte den Scheck, Frau Anrainer schöpfte aus irgendeinem Grund Verdacht, Holbeck, kein routinierter Verbrecher, lief weg, Frau Anrainer verfolgte ihn, Holbeck griff in seiner Erregung nach dem Beil, das Anrainer dort hatte liegenlassen, und schlug zu.“ Der Hauptmann stand auf und reckte sich. „Eine, wie mir scheint, sehr konstruierte Geschichte“, meinte er, „aber unmöglich – nein, unmöglich ist sie nicht, trotzdem …“ „Trotzdem?“ fragte Jost ungestüm, weil Schreiber plötzlich schwieg. „Trotzdem gefällt sie mir nicht.“ 45
„Und warum nicht?“ „Weil Holbeck den Scheck wieder an sich genommen hätte, um keine Spur zu hinterlassen.“ Jost lachte herausfordernd. „Das hätten Sie getan“, sagte er, „Hauptmann Schreiber von der Kriminalpolizei, aber der kopflos gewordene Holbeck …“ Schreiber winkte ab. „Eins zu null für Sie“, gab er zu. „Doch die Frage, ob überhaupt ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Vorlage des Schecks und dem Mord besteht, bleibt offen. Vielleicht hatte Frau Anrainer den Scheck nur gerade zur buchmäßigen Bearbeitung in die Hand genommen, als irgend etwas sie veranlaßte, aufzustehen und in den Hausflur zu gehen.“ „Eins zu eins!“ gestand Jost zu. „Natürlich kann es auch so gewesen sein.“ Es klopfte an der Tür. Eine dralle Serviererin bat den Hauptmann, ans Telefon zu kommen. „Das wird der Genosse aus Halle sein“, sagte Schreiber, „ich hatte ihn gebeten, mich noch heute abend über das Gespräch mit Holbeck zu informieren.“ „Ich komme mit“, sagte Jost. Der Apparat stand auf einem Tisch im Flur der oberen Etage, sie brauchten also nicht erst in die Gaststube hinunterzugehen. Der Hörer war bereits abgenommen. Schreiber meldete sich. Er blinzelte dem Leutnant zu, während er sich Bericht erstatten ließ. „Ich komme morgen in die Dienststelle“, sagte er zum Schluß, „schönen Dank und auf Wiedersehen!“ Er legte auf, sah Jost eine Weile schweigend an und sagte schließlich: „Holbeck hat heute angeblich seinen Personalausweis und sein Scheckheft verloren und war nicht in der Poststelle. Frau Anrainer will er nur dem Namen nach kennen – oder gekannt haben … .“ 46
„Mager!“ sagte Jost. „Sehr!“ bestätigte Schreiber. „Ich werde morgen mit dem Scheck zur Sparkasse gehen und die Unterschrift prüfen lassen. Und dann werde ich selbst noch einmal mit Herrn Holbeck sprechen. Seine Mutter soll plötzlich erkrankt sein, deshalb hat er angeblich vorzeitig seinen Urlaub abgebrochen. Das klingt natürlich alles ein bißchen – na, sagen wir – verdächtig. Sie, Genosse Jost, kümmern sich inzwischen um die Herren Anrainer und Sparr“, er lächelte, „aber jetzt gehen Sie erst mal Ihr Bier trinken. Ich steige ins Bett. Dem Zeller sagen Sie bitte noch, daß er mich morgen nach Halle fahren muß. Er soll bei Milch bleiben.“
9 Die Gaststube war ein verräuchertes, dunkel getäfeltes Zimmer mit Deckenbalken. An den Wänden hingen Geweihe und ausgestopfte Wildschweinköpfe mit Hauern, die aus blutrot angemalten Rüsseln hervorragten. Und dann natürlich gruselige Landschaftsbilder mit Jägern und bleichsüchtigen Madeln, die sich im Nebel verirrt hatten. Das Lokal war gut besucht. Es handelte sich vor allem um jüngere Leute, die von der Arbeit „auf ein Bier“ gekommen waren und sich nun festgesetzt hatten. Am sogenannten Stammtisch in der Ecke, unter einer Lampe, die den Ritt einer Hexe zum Brocken darstellte, spielten vier Männer Skat, aber das Spiel wurde immer wieder durch Gespräche unterbrochen, die sich hier wie anderswo um das Verbrechen drehten. 47
Leutnant Jost sah sich vergebens nach Zeller um. Wahrscheinlich bosselte der am Auto, auf der Rückfahrt von Steiger hatte die Zündung ein paarmal ausgesetzt. Plötzlich hörte er, wie irgend jemand rief: „Macht mal Platz für unseren Leutnant!“, und als er sich umdrehte, sah er, daß einer der Skatbrüder ihm zuwinkte, ein kleiner, schmächtiger Mann mit dichtem grauem Haar und zupackendem Blick. Jost ahnte, daß es Neugier und nicht Gastfreundschaft war, die den Mann getrieben hatte, ihn an seinen Tisch zu bitten. Die Leute wollten hören, wie man die Tote gefunden hatte und von wem sie umgebracht worden war, und dann wollten sie natürlich wissen, warum sie ermordet worden war. Dieses verfluchte Warum! Hier hörte die bloße Neugier auf, da ging es schon um mehr, da drehte es sich bereits um die Frage, auf die der Hauptmann schon im Auto angespielt hatte: Weshalb gab es in unserer Gesellschaft noch Verbrechen? „Sie stören uns gar nicht!“ rief der Grauhaarige und warf seine Karten auf den Tisch. Dieser Filou! Er hatte schlecht im Skat gefunden und mußte damit rechnen, das Spiel zu verlieren. „Wir unterhalten uns gern mal mit Ihnen. Kommen Sie ruhig her!“ Sie rückten enger zusammen, alle lüstern auf Sensationen. Jost klopfte zum Gruß mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. „Vielen Dank, es geht schon.“ Er setzte sich auf die äußerste Kante der Bank und bestellte einen Korn und ein Bier. „Früher schon mal hiergewesen?“ fragte der Grauhaarige. „Durchgefahren.“ „Aha! Na, was uns betrifft“, er machte eine ausholende 48
Bewegung in die Runde, „wir sind alle von hier. Die meisten jedenfalls. Wir kennen uns alle untereinander.“ Er legte eine Pause ein, aber nicht zum Atemholen, sondern um einen Köder auszulegen. „Wenn Sie was wissen wollen“, fuhr er fort, „wir können Ihnen manches sagen, manchen Tip geben.“ Warum nicht, dachte Jost. Er lächelte freundlich. Die Serviererin brachte seine Getränke. „Prost!“ sagte der Grauhaarige und hob sein leeres Glas. Jost goß den Korn hinunter und spülte mit einem Schluck nach. Alle starrten ihn an, auch die von den Nebentischen, weil sie die plump-vertraulichen Worte des Grauhaarigen gehört hatten. Der Leutnant streckte die Beine aus, stieß dabei den Grauhaarigen an und entschuldigte sich. „Macht nichts, Herr Leutnant! Sie haben einen schweren Tag hinter sich, oder …?“ „Doch, da haben Sie schon recht.“ Der Grauhaarige gab sich wichtig. „Dienstgeheimnis!“ trompetete er in die Runde. Und zu Jost: „Ist aber schon was durchgesickert. Scheck über dreihundert Mark …“ Er lehnte sich zurück, bevor er hinzufügte: „Und deswegen ein Mord! Und das passiert bei uns, Herr Leutnant! Ich finde, da wären die Bankräuber drüben eher berechtigt …“ Er wischte sich Speichel aus dem Mundwinkel. Zum erstenmal schien er verlegen. „Na gut, vielleicht nicht, aber Sie wissen ja, was ich meine. Daß einer um dreihundert Mark mordet, wirft doch unsere schönen Theorien völlig über den Haufen. Wir sagen doch immer, daß bei uns …“ Jost unterbrach ihn. „War es denn ein Mord um dreihundert Mark?“ fragte er scharf. „Na, Anton, du Klugscheißer! Nun verschlägt’s dir wohl die Sprache, was?“ sagte ein Mann Ende der Fünfzig. 49
„Jedenfalls war es ein Mord!“ verteidigte sich der Grauhaarige. „Aber nicht ums Geld, sondern aus Eifersucht!“ behauptete der andere. „Was die Gemeindesekretärin erzählt, ist doch bloß Quackelei.“ Also daher weht der Wind, dachte Jost verärgert. Diese schwatzhafte Pute! Der Mann, der dem Grauhaarigen widersprochen hatte, fuhr fort: „Wer die Karin gekannt hat, der weiß Bescheid. Die ganze Familie hat sie ins Unglück gestürzt und sich dazu.“ Er trank sein Glas, das noch fast voll gewesen war, auf einen Zug leer. „Wodurch denn ins Unglück gestürzt?“ fragte Jost. „Na, durch die Scheidung. Der Lutz hätte sich doch nie von ihr getrennt!“ Jost winkte der Serviererin. „Bitte, noch mal dasselbe!“ Der Grauhaarige meldete sich wieder. „Ich habe einen Cousin, der ist Schöffe. Wenn der so erzählt – also … nein! Bei ’ner Scheidung kann man jedes Urteil begründen, sagt der, ganz gleich, ob Scheidung oder Nichtscheidung. Ihr müßt mal so’n Rechtsanwalt hören, sagt mein Cousin. Heute vertritt er den Ehemann, der geschieden sein will, weil er ’ne andere Frau hat. Da sagt der Anwalt: Die Ehe ist kaputt. Zerrüttungsprinzip …“, der Grauhaarige sah sich grinsend um, „und morgen vertritt derselbe Rechtsanwalt ’ne Ehefrau, die nicht geschieden sein will, obwohl der Mann ebenfalls ’ne andere hat. Da haut er auf die Pauke, der Anwalt, weil’s ihm plötzlich um die Moral geht, nicht mehr um die Zerrüttung. Das sind sehr schwierige Fälle, sagt mein Cousin.“ „Zum Glück entscheidet nicht der Anwalt, sondern das Gericht“, sagte Jost kurz. 50
„Ich meine ja auch bloß“, versuchte der Grauhaarige einzulenken, „schwierig ist das doch, auch für ein Gericht.“ Der Mann Ende der Fünfzig machte eine wegwerfende Handbewegung. „Als ob das unseren Leutnant interessierte! Der sucht einen, der gemordet hat. Vielleicht Sparr! Lehre du mich die Menschen kennen, Anton!“ Der Grauhaarige wollte sich gerade zu einer Antwort aufschwingen, als sich noch ein Dritter ins Gespräch mischte. „Herbert Sparr, der Arbeitsbummelant?“ fragte er neugierig. Achtung, signalisierte es in Jost. Er stellte sein Glas auf den Tisch zurück. „Ich will ja nichts gesagt haben!“ Der Mann gab sich plötzlich schüchtern. „Ich habe damit nur ausdrücken wollen, daß Herbert Sparr oftmals bei Frau Anrainer gewesen ist …“ „Stimmt aufs Haar!“ bestätigte der Grauhaarige. „Den habe ich auch häufig in der Poststelle verschwinden sehen.“ In Jost war eine plötzliche Unruhe, er atmete hastig. Sparr, ein Arbeitsbummelant – das mußte überprüft werden. Alle vier Gäste ruckten mit den Köpfen, als Jost rief: „Bitte, zahlen!“ Die Serviererin kam, um zu kassieren. „Einen schönen Abend noch!“ sagte Jost. „Für mich war’s ein schwerer Tag heute, ich bin müde.“ Er ging zwischen den Tischen hindurch. Wo eben noch getrunken, gespielt oder geklatscht wurde, war es auf einmal still, man warf verstohlene oder offene Blicke auf den Leutnant.
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10 Nun kommt der Zeller doch um sein Glas Milch, dachte Jost. Er trat hinaus ins Freie. Es war kalt. Von der Seite her roch es nach den Pissoirs, die gleich um die Ecke auf dem Hof der „Klippmühle“ standen, ein Überbleibsel, dessen Beseitigung im Perspektivplan vorgesehen war. Rechts, hinter dem hellen Kreis, den die über der Tür baumelnde Lampe warf, ließ Zeller gerade die Kühlerhaube zuklappen. Jost ging zu ihm. „Können wir noch mal los?“ Zeller, der sich die Hände an einem Lappen abwischte, brummte: „Wohin?“ „Zur ‚Silberhütte‘.“ „Schon wieder?“ Jost strich sich das Haar aus der Stirn und überlegte. Zellers Frage war nicht unberechtigt. Wozu wollte er eigentlich noch einmal zum Werk fahren? Sparr hatte die Karte in die Stempeluhr gedrückt, war also im Betrieb gewesen und kam deshalb als Täter nicht in Frage. Das war eine Tatsache, mit der man sich abfinden mußte, auch wenn sie einem nicht gefiel. „Ich möchte Sparr nur mal sehen“, antwortete er, um überhaupt etwas zu sagen, „ich weiß nicht, ich habe so eine Unruhe in mir …“ Zeller warf ihm einen aufmerksamen Blick zu und wurde auf einmal mitteilsam. „Ein Glück, daß die Zündung wieder hinhaut! Morgen, wenn’s nötig ist, kann ich mit dem Chef nach Halle …“ „Es ist nötig!“ antwortete Jost. Zeller grinste und öffnete die Wagentür. Als sie losfuhren, traten vier Männer aus dem Lokal. Es waren die Skatbrüder, mit denen der Leutnant am Stammtisch 52
gesessen hatte. Auch der vierte, der überhaupt nichts gesagt hatte, war dabei. „Neugierige Elstern!“ brummte Jost, aber dann dachte er: Ich will nicht ungerecht sein, schließlich haben sie mir einen Tip gegeben … Arbeitsbummelant. Er sah auf die Armbanduhr. Es war zehn Minuten vor Schichtende. Wenn sie Glück hatten, konnten sie Sparr noch erwischen. „Sie haben einen gekippt, Leutnant, ich schnuppere es!“ sagte Zeller nach einer Weile. „Neidisch?“ Zeller seufzte. „Ich weiß schon gar nicht mehr, wie Alkohol schmeckt. Entwöhnung – Berufskrankheit.“ „Daran leiden noch viel zuwenig Kraftfahrer!“ entgegnete Jost und erzählte von den Statistiken über Trunkenheit am Steuer. „Ja, von der Entwöhnung kann man leider allzu schnell geheilt werden“, sagte Zeller. Die Straße, die wieder bergan führte, war beidseitig mit hohen Bäumen bestanden, deren Kronen sich begegneten, ineinander verschlangen und den Himmel verdeckten. Selbst am Tage war es hier düster, jetzt hatten sie das Gefühl, als führen sie durch einen Tunnel. „Wozu wollen Sie Sparr denn heute noch einmal sehen?“ fragte Zeller unvermutet. Jost hob die Schultern. „Einfach so, aus Neugier“, sagte er. „Ich weiß zwar nicht, was er mit dem Scheck zu tun gehabt haben soll, aber an den Fußspuren könnte er schon beteiligt gewesen sein. Der war doch in der Poststelle so gut wie zu Hause.“ Die Scheinwerfer leuchteten so hell, daß sie jedesmal, wenn der Wagen in eine Kurve bog, das Strauchwerk und die Bäume wie eine undurchdringliche Wand vor ihnen auftauchen ließen. Getier huschte über den Weg, Rehe, 53
Kaninchen, Raubwild. Das Licht blendete sie und ließ sie tolle Sprünge vollführen, ehe sie, von Todesangst getrieben, mit einem Satz im Dunkel verschwanden. Der Lichtkegel erwischte eine Katze, die auf einem Ast hockte. Zeller behauptete, es sei eine Wildkatze, er habe vor kurzem gelesen, daß es die noch im Harz gäbe. „Schon möglich!“ antwortete Jost zerstreut. Ihm fiel die Ermordete ein. Vielleicht war es gar nicht so abwegig, an sie zu denken, wenn von einer Wildkatze die Rede war … Jetzt gabelte sich die Straße, rechts ging es nach Steiger, links zur „Silberhütte“. Die Uhr zeigte schon zehn Minuten nach Schichtende, und sie waren noch zwei oder drei Kilometer gefahren, als ihnen der erste Bus begegnete, der die Arbeiter nach Hause brachte. „Wenn er drin sitzt, hat er ’n Alibi“, sagte Zeller. Als der Leutnant den Pförtner am Werktor fragte, ob er noch jemanden aus der Spätschicht sprechen könne, bekam er mit einem geradezu vorwurfsvollen Blick und einer Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete, zu hören: „Aber doch jetzt nicht mehr! Das Schlußlicht da ist vom letzten Bus.“
11 Hauptmann Schreiber und Wachtmeister Zeller fuhren wieder über den Harz, wie am Tag zuvor. Es hatte gereift, der Wald sah schon winterlich aus. Jetzt, im frühen Oktober. Schreiber fühlte sich unausgeschlafen. Von wegen: das Bett sei „weich wie’n frischgekochtes Ei“! Es gab eben auch hartgekochte. Und dann die „Hasensasse“! Er 54
war eben kein Hase, sondern ein etwas fülliger Mann, der abends sein richtiges Bett brauchte. Deshalb war er auf der Fahrt recht einsilbig. Zeller gab den Versuch, ihn in ein Gespräch hineinzuziehen, bald auf. Dem spukt der Mörder im Kopf ’rum, dachte er. Das schlechtgefederte Bett kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Er hatte geschlafen. Und wie! Es war noch nicht neun Uhr, als sie vor dem Haus der Bezirksbehörde aus dem Wagen stiegen. Schreiber suchte sofort den Kriminaltechniker auf, der ihm die Aufnahmen vom Tatort bereits vorlegen konnte. Das, was dabei herausgekommen war, stimmte wenig erfreulich. Sie hatten gewußt, daß sie mit Fingerabdrücken kaum würden arbeiten können; zwar fanden sich Anrainers Abdrücke auf dem Beil, er hatte es fast jeden Tag in der Hand gehabt, aber daneben war eine Vielzahl von Linien und verschnörkelten Windungen zu erkennen, die kein klares Bild ergaben. Und das an der Mordwaffe! Der Hauptmann war trotz aller bereits herabgeschraubten Erwartungen enttäuscht. Der Techniker peinigte ihn dazu noch mit dem Hinweis, daß auch die Abdrücke an den Türen und Klinken nicht eindeutiger seien. „Ist doch klar“, sagte er, „bei dem Verkehr in der Poststelle!“ Er zeigte Schreiber die Aufnahmen. Krater, Tapetenmuster – so sah das aus. „Und der Scheck?“ fragte Schreiber. „Ich habe drei unterschiedliche Abdrücke feststellen können. Einer davon stammt von der Ermordeten. Die anderen beiden …“ Der Techniker zuckte mit den Schultern. „Und hier ist der Schuhabdruck aus dem Garten.“ Bedauernd ergänzte er: „Was fehlt, ist der Schuh!“ Schreiber machte eine Bewegung des Unmuts. 55
„Was denn, was denn“, sagte der Techniker, „Sie haben schon weniger gehabt.“ „Schönen Dank für die Blumen!“ antwortete Schreiber. Dann kam Leutnant Keppler. Schreiber betrachtete ihn prüfend, sie kannten sich noch nicht. Nach den üblichen Begrüßungsformeln fragte er den Leutnant, welchen Eindruck er von Holbeck habe. „Schwierig zu sagen“, meinte Keppler, „der Mann hat die Ermordete gekannt, hat Tannrode zu einer Zeit verlassen, als das Verbrechen schon begangen war, und was Personalausweis und Scheckheft betrifft – wer kann uns beweisen, daß er beides wirklich verloren hat? Vielleicht hat er’s bloß versteckt und spielt uns etwas vor.“ „Vielleicht, vielleicht!“ sagte Schreiber, nun schon kribbelig. Sie fuhren zunächst zur Zweigstelle der Stadt- und Saalkreissparkasse. Im Schalterraum warteten keine Kunden. Schreiber legte einer Angestellten den Scheck vor. Ja, das sei Holbecks Unterschrift, aber Text und Zahlen hätte er nicht geschrieben. So behauptete es die junge Frau auf Anhieb. „Herrn Holbecks Schrift kenne ich genau!“ Der Hauptmann hielt ihr entgegen, daß Unterschrift und Text immer voneinander abwichen und die Unterschrift häufig unleserlich sei. „Damit man sie nicht so leicht kopieren kann“, erläuterte er. Die Angestellte schüttelte den Kopf. „Das ist nicht seine Schrift!“ „Na schön …“, sagte Schreiber resigniert. „Wäre der Scheck gedeckt gewesen?“ „Da muß ich erst nachsehen.“ Die Angestellte ging in die Buchungsabteilung. Schreiber trommelte nervös auf der Schalterplatte. Als er sah, wie sich der Leutnant darüber amüsierte, 56
zwang er sich zur Ruhe. „Wenn es nicht seine Schrift ist …“, begann er. „Was versteht denn das Mädchen davon!“ sagte Keppler wegwerfend. „Schließlich kann man seine Schrift auch verstellen.“ „Kann man“, gab der Hauptmann zu. „Aber doch nur, wenn man Grund dazu hat. Wollen sehen, ob Holbeck Geld zum Abheben auf seinem Konto gehabt hat!“ Die Angestellte kam mit dem Bescheid zurück, daß der Scheck nicht gedeckt gewesen sei. „Also hat Herr Holbeck ihn auch nicht ausgeschrieben!“ meinte sie spitz. „Natürlich nicht!“ sagte Schreiber. „Entschuldigen Sie bitte, das wäre alles.“ „Eine Logik hat die!“ flüsterte Keppler, als sie die Bank verließen. „Zum Umwerfen!“ „Sie ist ja auch nicht von der Kriminalpolizei“, meinte Schreiber. „Ihr Benehmen ist ganz einfach Kundendienst. Aber zur Sache: Das ist alles noch nicht Fisch und nicht Fleisch. Wir werden einen Sachverständigen mit der Prüfung beauftragen.“ Schreiber winkte auf der Straße nach dem Wagen und sagte dabei zu Keppler: „Vielleicht hat Holbeck schon etwas auf dem Kerbholz. Ehe wir ihn aufsuchen, werden wir uns beim Staatsanwalt erkundigen.“ Sie fuhren in die Kleine Steinstraße zum Staatsanwalt der Stadt Halle, trafen dort aber nur eine Sachbearbeiterin an, weil der Staatsanwalt einen Straftermin wahrnehmen mußte. Die Kollegin sah in der Personalregistratur nach. „Holbeck, Franz?“ fragte sie und zog eine Karte heraus. Schreiber nickte und sah sie gespannt an. „Ja, hier steht der Name. Moment bitte, ich hole die Handakte.“ 57
Schreiber blickte erregt zu Leutnant Keppler, ein Vorgang war vorhanden, vielleicht ließ sich ihm etwas entnehmen, das sie in ihrer Arbeit voranbrachte. Als die Kollegin zurückkam, sagte sie: „Vor drei Jahren wegen Scheckbetruges zur Bewährung verurteilt.“ Sie gab dem Hauptmann die Akte und fügte hinzu: „Der Strafvermerk ist gelöscht, aber aus der Akte ergibt sich, daß er früher schon einmal straffällig geworden war. Diebstahl im Selbstbedienungsladen. Das hat ihm einen öffentlichen Tadel eingebracht.“ „Immerhin eine Steigerung!“ meinte Leutnant Keppler. „Vom öffentlichen Tadel zur Bewährung.“ „Trotzdem braucht die nächste Stufe nicht Mord zu sein!“ sagte Schreiber. Dabei fiel ihm ein, daß Jost eine Explosionstat vermutete. „Fahren wir zu Holbeck!“ Eine Viertelstunde später hielten sie kurz vor dem Grundstück Gartenstraße sechs.
12 Sparr fror erbärmlich. Er war eine Haltestelle zu früh aus dem Bus gestiegen, weil er geglaubt hatte, daß alle Fahrgäste ihn anstarrten und durchhechelten. Also war er ein ziemliches Stück zu Fuß gegangen, am Waldrand entlang, über die Wiese, unter einer roten, kalten Sonne, nicht warm genug angezogen, so daß er durchfroren die „Klippmühle“ betrat. Er ging an die Theke und sagte zu der Büfettdame: „Mein Name ist Sparr, ich bin herbestellt worden.“ „Ich weiß! Der Herr, der Sie sprechen möchte, sitzt 58
dort in der Ecke.“ Jost hatte gehört, was an der Theke gesprochen worden war, er stellte die Tasse auf den Tisch, erhob sich und kam näher. Sparr warf noch einen kurzen, sehnsuchtsvollen Blick auf die Batterie Flaschen im Büfettschrank, Blue River, Castell, Brandy, Vinprom, dann wandte er sich um. „Herr Sparr?“ „Bin ich.“ „Leutnant Jost. Schön, daß Sie gekommen sind.“ Sie gingen in das Nebenzimmer und setzten sich an einen Tisch. „Können Sie sich denken, warum wir Sie gebeten haben, zu uns zu kommen?“ begann Jost das Gespräch. Sparr senkte den Kopf, antwortete leise: „Ich hab’s gehört. Im Bus.“ Dann hob er das Gesicht. „Furchtbar! Wann ist es denn passiert?“ „Gegen sechzehn Uhr“, sagte Jost, „als Sie in der Schicht waren … Ja, darüber habe ich mich schon informiert, Sie haben Ihre Stempelkarte gedrückt.“ Sparr nickte mit weit aufgerissenen Augen. „Sie sollen Frau Anrainer gut gekannt haben“, fuhr Jost fort, „deshalb möchte ich ein paar Auskünfte von Ihnen haben.“ Sparr seufzte. „Muß ich jetzt noch darüber sprechen? Es ist doch alles vorbei.“ „Nicht alles“, sagte der Leutnant. „Ach so! Nun gut, die Karin hat mich eigentlich bloß genommen, um ihren Mann zu ärgern … weil der immer …“ Sparr zeigte nach der Theke. „Und Sie haben das Spiel so ohne weiteres mitgemacht?“ fragte Jost. „Obwohl Sie wußten; daß Sie nur eine Art Lückenbüßer waren?“ 59
„Ich hab’ mir eben die Rosinen rausgepickt!“ erklärte Sparr. „Aber nach dem Tode ihres Mannes hatte Frau Anrainer keinen Grund mehr, ihn zu ärgern“, hielt Jost ihm vor. Sparr schwieg. „Öder bestanden seitdem keine Beziehungen mehr zwischen Ihnen und der Ermordeten?“ Bei diesem Wort schloß Sparr die Augen. „Bestanden diese Beziehungen noch, oder haben Sie Schluß gemacht?“ wiederholte Jost. Sparr nickte. „Ich kam einfach nicht los von ihr.“ „Und Frau Anrainer?“ Sparr schwieg verbissen. „Hat es auch mal Streit zwischen Ihnen gegeben?“ „Auch! Und einmal sogar Schläge“, sagte Sparr widerwillig. „Wann war das?“ „Jedenfalls nicht gestern. Gestern habe ich sie überhaupt nicht gesehen.“ „Haben Sie irgendwelche Vermutungen, die uns weiterhelfen könnten?“ Sparr schüttelte den Kopf. „Kann ich jetzt gehen?“ fragte er. „Ja, Sie können gehen. Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.“ „Ich habe Ihnen ja doch nicht nützen können. Schade!“ Jost hob die Schultern. Sparr verließ die „Klippmühle“, und der Leutnant sah ihm nach, wie er die Straße hinunterging. Auch die Büfettdame blickte ihm hinterher. „Jetzt geht er zu seiner Anna“, bemerkte sie anzüglich. „Ach ja“, sagte Jost, „die wohnt ja hier in Tannrode.“ Er stand auf. „Ich mache noch einen kleinen Spaziergang.“ 60
Er blieb Sparr auf den Fersen, wieder aus dieser unerklärlichen Neugier heraus, die ihn am Abend zuvor ein zweites Mal zur „Silberhütte“ getrieben hatte. Sparr ging in Richtung der Poststelle, bog aber kurz vorher in eine Gasse ein, die aufs freie Feld führte. Schlehen wuchsen am Hang und Hagebutten, auch ziemlich dichtes, buntbelaubtes Strauchwerk, das einen Späher ausreichend tarnte. Man konnte genau in die Stube eines Hauses sehen, das am Ende der Gasse stand. Das Fenster war offen, eine junge Frau saß am Tisch bei einer Handarbeit. Eine Glocke schepperte, die Frau blickte nach der Tür, legte die Handarbeit auf den Tisch und erhob sich. Sparr trat ein. Beide standen sich gegenüber, ohne ein Wort zu sagen. Die Frau drehte dem Leutnant, der sich hinter dem Strauchwerk am Wegrand verborgen hielt, den Rücken zu, aber Sparrs Gesicht konnte Jost sehen; er konnte wahrnehmen, wie Sparr sich mühte, Gleichmut zu heucheln, wie ihm das aber immer weniger gelang, bis er plötzlich die Faust auf den Tisch knallte. „Was starrst du mich denn so an!“ sagte er laut. „Setz dich!“ sagte die Frau. „Nun wirst du ohne sie leben müssen.“ „Die Polizei war gestern abend noch bei uns. Aber ich bin in der Schicht gewesen. Jetzt komme ich von der ‚Klippmühle‘ … Ich hab’ mit dem Leutnant gesprochen.“ „Du sollst dich setzen!“ wiederholte die Frau. Sie selbst stand aber auch noch, als ob sie auf einen Angriff vorbereitet sein wollte. Sparr zog einen Hocker heran und setzte sich. Die Frau ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem sie schon zuvor gesessen hatte. „Worüber hast du denn mit dem Leutnant gesprochen?“ fragte sie. 61
„Kannst du dir doch denken! Aber ich hab’ ihm erzählt, daß ich bloß dich gern habe. Die Karin, habe ich ihm gesagt, die wäre mir ganz gleichgültig gewesen.“ Jost hörte ein spöttisches Lachen. „Und von den Schlägen hast du ihm nichts gesagt?“ „Doch! Im Dorf wissen sie ja sowieso davon.“ „Von welchen Schlägen sprichst du denn jetzt? Hast du dem Leutnant erzählt, daß du nicht nur mich, sondern auch die Tote geschlagen hast?“ Sparr nickte. „Na und? War das für den Leutnant kein Grund, noch mehr zu fragen?“ wollte die Frau wissen. „Zum Beispiel, ob du vielleicht gestern …“ Jost sah, wie Sparr sich mit überlegenem Lächeln zurücklehnte. „Da bin ich in der Schicht gewesen.“ Die Frau legte die Handarbeit auf den Tisch, stand auf und schloß das Fenster. Jost konnte nun nichts mehr verstehen. Er zog sich ein paar Dornen aus der Haut und kroch dann hinter dem Strauchwerk hervor. Vom Kirchturm schlug es halb elf. Die Töne verhallten hinter den Bergen, danach war Stille. Jost machte sich langsam auf den Weg zur „Klippmühle“. Schade, dachte er unterwegs, daß ich das Gespräch nicht weiterverfolgen konnte, die Frau schien allerhand auf dem Herzen zu haben, und gewiß war sie noch lange nicht am Ende. In der Gaststube wartete ein Mann auf ihn, der seinen achtjährigen Sohn mitgebracht hatte. „Sind Sie der Leutnant, der den Mordfall bearbeitet?“ fragte er. Jost nickte. „Mein Name ist Schrader. Ich bin freiwilliger Helfer der VP. Gestern waren wir ab halb fünf Uhr nachmittags nicht in Tannrode, von dem Verbrechen habe ich also erst 62
heute morgen gehört, sonst wären wir schon eher gekommen.“ Er gab seinem Sohn einen leichten Klaps. „Nun erzähl mal, Uwe, was du gesehen hast!“ Der Junge war sich seiner Wichtigkeit offensichtlich bewußt. Er hob den Kopf und sprach, als ob er’s einstudiert hätte: „Gestern nachmittag, so gegen sechzehn Uhr, habe ich einen Mann bei Anrainers über den Zaun steigen sehen, dann ist er in den Wald gemacht.“ Jost, von diesem Satz in Unruhe versetzt, packte den Jungen an der Schulter. „Ein Mann, sagst du? Kannst du ihn beschreiben?“ „Klar!“ sagte der Steppke. Und als er den Mann schilderte, sah Jost plötzlich Sparr wieder vor sich, so wie er ihn vor wenigen Minuten erst gesehen hatte, dieselbe Kleidung, dasselbe Haar … Aber das mußte ein Irrtum sein, Sparr war in der Schicht gewesen, er hatte doch die Stempelkarte gedrückt. „Irrst du dich bestimmt nicht?“ zweifelte Jost. „Nöö!“ sagte der Junge. Jost versuchte gleichmäßig zu atmen, aber als er dann sprach, klang seine Stimme doch erregt: „Sie entschuldigen mich bitte, Genosse Schrader“, sagte er, „ich hab’s eilig! Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.“ Schrader und sein Sohn blieben verdutzt zurück. „War das alles?“ fragte der Junge. „Ich glaube, es war mehr, als wir ahnen“, antwortete sein Vater. Jost lief wieder durch das Dorf bis zu der Gasse, die ins freie Feld führte. Er klingelte an der Haustür, zog die Unterlippe zwischen die Zähne und bemühte sich, Haltung zu bewahren. Drinnen klappte eine Tür, Schritte näherten sich, die Haustür wurde geöffnet. Die junge Frau, die er kurz zuvor beim Gespräch mit Sparr beobachtet hatte, 63
stand vor ihm. „Leutnant Jost“, stellte er sich vor. „Kann ich Herrn Sparr sprechen, Fräulein Hüttner?“ Die Frau schüttelte zunächst stumm den Kopf, sie musterte den Leutnant, dann sagte sie: „Der ist nicht hier … nicht mehr. Warum wollen Sie ihn denn sprechen?“ „Ich habe noch eine Frage auf dem Herzen“, entgegnete Jost. „Wohin er gegangen ist, können Sie mir wohl nicht sagen?“ Die Frau hob bedauernd die Schultern. Sehr gesprächig ist sie nicht, dachte der Leutnant, vielleicht macht sie sich Sorgen wegen Sparr. „Dann entschuldigen Sie bitte die Störung!“ sagte er schließlich. „Keine Ursache!“ Sie schwieg einige Sekunden, aber dann brach es aus ihr heraus: „Woher wußten Sie eigentlich, daß er hiergewesen ist?“ „In Tannrode weiß man so was“, sagte Jost lächelnd. Zum zweitenmal ging er wenig später zur „Klippmühle“ zurück, aber diesmal war die Unruhe in ihm noch stärker geworden. Ich muß ins Werk, dachte er. Der kleine Schrader kann sich nicht geirrt haben, kann nicht … darf nicht!
13 Es traf sich, daß er mit einem Lastkraftwagen mitfahren konnte. Der Fahrer war ein vierschrötiger, gutmütiger, etwas redseliger Mann um die Sechzig. Gleich nach der Abfahrt kam er auf den Mordfall zu sprechen. „Scheußliche Sache, die gestern hier passiert ist. Schon was entdeckt?“ Seine Stimme klang mitfühlend, nicht herausfordernd. 64
„Wissen Sie es von der Serviererin aus der ‚Klippmühle‘?“ fragte Jost. Der Fahrer nickte. „So was läßt sich nicht verheimlichen.“ „Es soll auch nicht verheimlicht werden“, erwiderte Jost. „Bei uns gibt es noch Verbrechen. Nur sieht man sie hierzulande nicht als etwas Alltägliches an, und Gott sei Dank haben sie auch schon abgenommen. Natürlich bleibt noch viel zu tun.“ „Ich fahre fünfundzwanzig Jahre unfallfrei“, sagte der Fahrer, „und mich berührt’s nicht mehr, wenn so’n junger Schnösel darüber lacht, daß ich nicht mal ’n Bier kippe. Aber gehören tut sich das nicht. Von dem Schnösel, meine ich. Denn wenn der denkt, ich wär’n Schwächling – den könnte ich mit ausgestrecktem Arm zum Fenster raushalten!“ Weil Jost schwieg, fuhr der Mann fort: „Aber wir tun manchmal so, als ob es solche Kerls nicht mehr gäbe. Das halte ich für verkehrt. Nicht bloß immer Friede, Freundschaft, Eierkuchen, wenn sich einer benimmt, als wär’ er im Western-Saloon.“ Er hat ja recht, dachte Jost, aber er war froh, daß sie die Abzweigung erreicht hatten, wo er aussteigen mußte. So war er einer Antwort enthoben. „Das letzte Stück gehe ich zu Fuß“, sagte er, „vielen Dank fürs Mitnehmen!“ „Gern geschehen! In ’ner halben Stunde fährt ein Bus zurück, vielleicht erreichen Sie den. Tschüs!“ Jost wies sich an der Pforte der „Silberhütte“ aus und ließ sich telefonisch bei der Kaderleitung anmelden. „Über den Platz, dann rechts die Baracke“, erklärte der Pförtner; es war ein anderer als am Abend zuvor. Die Fahrzeuge hatten das Terrain zermahlen, der Boden war schlammig und mit Ruß bedeckt und blieb an 65
den Stiefeln haften, auch wenn man hin und wieder eine Pfütze durchwaten mußte. Die Produktion ging vor, deshalb hatte man noch keine Zeit gefunden, die Zufahrtsstraßen zu pflastern. Ringsum waren bewaldete Hänge, die den Wind abhielten – auch ein Grund dafür, daß die Feuchtigkeit nicht abtrocknete. Leiter der Kaderabteilung war eine Frau. Nachdem Jost sich vorgestellt hatte und um eine Auskunft über Herbert Sparr gebeten hatte, entschuldigte sie sich zunächst damit, daß sie ihre Funktion erst seit vierzehn Tagen ausübe. „Ich kenne noch nicht mal alle Mitarbeiter in dieser Baracke“, sagte sie. „Alles ist neu für mich. Auch diese Umgebung!“ Mit hochgezogenen Brauen sah sie sich um. Der Raum war häßlich. Die abgelaufenen Dielen, die rohen Bretterwände, die verschmutzten Scheiben machten wahrlich keinen einladenden Eindruck. „Vielleicht genügt schon ein Blick in die Kaderakte“, meinte Jost. „Ich werde sofort nachsehen.“ Die Frau ging in das Nebenzimmer. Demut hieß sie, aber wie sie sich gab, hätte sie eher Mutter Courage heißen können. Kurzgeschnittenes Haar, strammer Schritt und anscheinend auch den Mut zur Offenheit. „Viel ist hier nicht drin!“ bremste sie, als sie mit der Akte zurückkam. „Bewerbung mit Lebenslauf und ein Verweis wegen Arbeitsbummelei.“ Sie legte die Akte auf den Tisch und setzte sich. „Rauchen Sie?“ „Gern. Aber dann gestatten Sie bitte …“ Jost reichte ihr eine von seinen Zigaretten und zündete sich auch eine an. Frau Demut klappte die Akte auf. „Aus dem Lebenslauf ersehe ich, daß Kollege Sparr schon einmal bei uns war, dann zum Studium delegiert wurde, aber aufgeben mußte. 66
Relegiert. Wegen Diebstahls. Nach dem Rausschmiß ist er wieder zu uns gekommen.“ „Arbeitsbummelei!“ wiederholte Jost. „Ist er denn gestern in der Spätschicht gewesen?“ Frau Demut überlegte. „Wenn es Sie interessiert …“, sagte sie gedehnt; offensichtlich wartete sie darauf, daß Jost sich näher erklären würde. Aber der Leutnant nickte nur. „Sehr mitteilsam sind Sie nicht“, meinte sie zwischen zwei Zügen. Jost lächelte harmlos. „Wer nichts weiß, kann sich nicht mitteilen.“ Jetzt lächelte auch Frau Demut. Dann nahm sie den Hörer ab und ließ sich mit dem Pförtner verbinden. „Kaderabteilung, Demut. Kollege, könnten Sie mal nachsehen, ob der Kollege Herbert Sparr gestern um vierzehn Uhr die Karte gedrückt hat? – Ja, Sparr …“ Sie hielt die Hand vor die Muschel, während sie wartete, und sah zum Fenster hinaus. „Ja? – Hat gedrückt? Danke!“ Sie legte auf. „Sie haben es gehört, Genosse Leutnant.“ Jost bereitete es Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen, obwohl er mit dem Ergebnis hatte rechnen müssen, denn bei seinem ersten Besuch in der „Silberhütte“ hatte ihm der Pförtner dasselbe gesagt. „Wenn Sie mehr über ihn erfahren wollen“, sagte Frau Demut, „würde ich Ihnen empfehlen, mit seinem Brigadier zu sprechen. Das ist Kollege Franz Kahl, Unterfelddorf.“ „Und wie komme ich dorthin?“ „Mit dem Bus.“ Frau Demut sah auf die Uhr. „Der fährt in fünf Minuten. Richtung Tannrode-Unterfelddorf.“ Sie brachte ihn bis an die Tür der Baracke. „Na dann!“ sagte sie. Das sollte wohl soviel heißen wie: Bleiben Sie nicht stecken! 67
Nachdem Jost die Pforte passiert hatte, strich er sich die Schuhe auf einer Grasnarbe sauber. Dann wartete er auf den Bus nach Unterfelddorf.
14 Hauptmann Schreiber und Leutnant Keppler standen in der Diele, vor ihnen Holbeck, diesmal mit Filzpantoffeln und Hosenträgern, die Brille vor den Augen, den Vollbart nicht ausrasiert. Er entschuldigte sich mit einem verlegenen Lächeln. „Bin erst spät aus Morl gekommen.“ Er wandte sich an den Leutnant. „Sie erinnern sich wohl, meine Mutter ist krank.“ „Ich weiß“, sagte Keppler. Er stellte den Hauptmann vor. „Ist es immer noch wegen des Schecks?“ „Ja“, antwortete Schreiber. Holbeck ließ die beiden Kriminalisten an sich vorbei ins Zimmer gehen, dann huschte er nach vorn, um ein paar Kleidungsstücke zusammenzuraffen, die verstreut auf dem Sofa und auf einigen Stühlen lagen. Mit den Fingern der linken Hand strählte er den Bart. Schreiber legte ihm den Scheck vor. Holbeck rückte an seiner Brille, prüfte die Schrift und gab zu, daß es ein Scheck aus seinem verlorenen Scheckheft sei, daß auch die Unterschrift von ihm stamme, nicht aber der Text und die Zahlen. „Sie sind Buchhalter, Herr Holbeck, ein Mann, der etwas von Bankgeschäften versteht, nicht wahr?“ „Ganz recht.“ „Und dann schreiben Sie Blankoschecks aus?“ 68
Holbeck hob bedauernd die Schultern. „Ich werd’s mir merken. Es ist schon so, daß man erst durch Schaden klug wird.“ „Waren Sie gestern wirklich nicht in der Poststelle in Tannrode?“ fragte Schreiber. Holbeck verneinte. „Warum fragen Sie?“ „Weil Frau Anrainer gegen sechzehn Uhr Ihren Namen gerufen haben soll.“ „Meinen Namen?“ „So sind wir unterrichtet worden.“ „Aber das muß ein Irrtum sein. Ich bin gestern wirklich nicht …“ Die Kriminalisten schwiegen. Der Hauptmann betrachtete Holbeck nachdenklich. „Auf dem Scheck befinden sich drei verschiedene Fingerabdrücke“, sagte er schließlich. „Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir feststellen müssen, ob einer davon zu Ihnen gehört.“ Es war plötzlich still im Zimmer. Draußen lärmte es, Kinder spielten, ein Müllauto ratterte, Kübel polterten. Holbeck seufzte unvermutet. Er nahm die Brille ab. Zum erstenmal sahen sie seine entzündeten Lider, als er sachte mit Daumen und Zeigefinger die Augen rieb. „Sagen Sie schon, weshalb Sie gekommen sind!“ begann er leise. „Weil Sie mich verdächtigen, daß ich einen Scheckbetrug begehen wollte … doch, doch! Das nehmen Sie an. Warum auch nicht? Einmal hab’ ich’s ja schon versucht. Und wer’s einmal gemacht hat, der macht’s auch noch mal … oder etwa nicht? Das ist doch Ihre Devise?“ „Nein“, sagte Schreiber. Holbeck stand auf und lachte verkrampft. „Nun sagen Sie bloß, ich wär’n Engel!“ „Das sagen wir nicht. Wir sind gekommen, um den Fall zu überprüfen. Wenn nicht Sie den Scheck präsen69
tiert haben, muß es ein anderer gewesen sein, und es besteht die Vermutung, daß derjenige, der den Scheck einlösen wollte, noch eine andere Straftat gegangen hat. Es liegt also in Ihrem Interesse, wenn wir Ihre Fingerabdrücke nehmen und wissen wollen, wie Sie den gestrigen Tag in Tannrode verbracht haben.“
15 Der Bus fuhr durch eine Haarnadelkurve. Rechts öffnete sich ein schrundiger Abgrund, und tief unten lag ein kleiner Flecken. Die Schaffnerin, die Jost gebeten hatte, ihm Bescheid zu sagen, rief: „Unterfelddorf!“ Es dauerte noch eine Weile, ehe sie das Dorf erreichten. Die Straße wand sich in Serpentinen, wodurch die Strecke zwar erheblich verlängert wurde, aber Jost erfreute sich bei jeder Biegung, die den Blick auf die roten Dächer des Dorfes freigab, an dem reizvollen Landschaftsbild. Hier müßte man mal Urlaub machen, dachte er. Das Haus, in dem der Brigadier Kahl wohnte, lag gleich neben der Haltestelle, das hatte er von der Schaffnerin erfahren. Auch hier Fachwerk, von Balken eingerahmte Fenster, dahinter Geranien und Zwergrosen. Jost hatte Glück, Kahl war zu Hause. Als er hörte, daß ihn ein Leutnant der Volkspolizei sprechen wolle, machte er nicht gerade ein freundliches Gesicht. Er ließ Jost eintreten und fragte neugierig: „Worum handelt’s sich denn?“ 70
„Um Herbert Sparr“, sagte Jost. „Ich hätte gern ein paar Auskünfte über ihn, er ist doch Mitglied Ihrer Brigade.“ „Wieso gerade von mir? Warum nicht von der Kaderabteilung?“ Jost warf einen Blick durch das Fenster auf den Garten. Pflaumenbäume, entblätterte Rosenstöcke, Kohlpflanzen … „Hübsch haben Sie’s hier!“ meinte er. „Doch, ja … aber nun nehmen Sie erst mal Platz!“ „Aus der Kaderakte ist nicht viel zu entnehmen“, erklärte Jost. „Von einem früheren Diebstahl ist da die Rede. Können Sie mir Näheres sagen?“ Es schien, als ob Kahl aufatmete. „Das war wegen Frauen.“ Er holte einen Tabaksbeutel und die Pfeife von einem kleinen Tisch, „Ist’s gestattet?“ „Aber natürlich!“ Kahl stopfte umständlich die Pfeife und paffte dann dicke Wolken ins Zimmer. „Die Weiber haben ihm wohl eine ganze Menge Scherereien gemacht!“ fuhr er fort. „Die kosten Geld, und deshalb hat er damals gestohlen. Nach dem verkrachten Studium ist er wieder zu uns gekommen. Ein begabter Kerl. Jetzt hat er ’ne Freundin, die Anna Hüttner aus Tannrode, und daneben noch diese Frau Anrainer – auch aus Tannrode, der muß meschugge sein! Sie werden ja davon gehört haben …“ „Habe ich“, bestätigte Jost. „Und wie steht’s mit seiner Arbeitsdisziplin?“ Kahl wich dem Blick des Leutnants aus und fummelte an der Pfeife herum. „Er hat doch deswegen schon einen Verweis bekommen, stimmt’s?“ Kahl, immer noch mit gesenktem Blick, nickte. 71
Jost schnippte die Asche von seiner Zigarette. Irgend etwas war hier nicht in Ordnung, das spürte er, denn Kahl wich ihm aus. „Können Sie nicht etwas mehr aus sich herausgehen?“ bat er. „Wie denn! Er kommt ja jetzt so gut wie regelmäßig.“ Jost lächelte. „So gut wie … Wie gut ist denn das?“ Kahl holte erst einmal Luft, bevor er sagte: „Na ja, in den letzten Wochen hat er nicht gefehlt.“ Jost hatte das Gefühl, als sei da ein Unterton in Kahls Stimme. „Wissen Sie mehr über seine Beziehungen zu Frau Anrainer?“ fragte er. Kahl wurde wieder gesprächiger. „Es soll schon mal zu Tätlichkeiten gekommen sein. Wenn es stimmt, dann war sie bestimmt nicht schuldlos. Meine Meinung!“ „Sie haben wohl noch nichts gehört von dem …?“ fragte Jost vorsichtig. „Gehört? Was denn?“ „Was gestern nachmittag in Tannrode passiert ist.“ Kahl wurde unruhig, er wischte sich ein paarmal mit der Hand über den Schenkel. „Ich bin seit vierzehn Uhr in der Schicht gewesen“, sagte er schließlich, „bin um zweiundzwanzig Uhr nach Hause gekommen, noch später sogar, und seitdem nicht wieder draußen gewesen. Meine Frau ist nicht da … Ja, was soll denn passiert sein?“ „Frau Anrainer wurde gestern gegen sechzehn Uhr in der Poststelle ermordet.“ Stille. Kahl, mit blasser Stirn, auf der sich Schweißperlen bildeten, ließ die Pfeife in den Aschenbecher fallen. „Also deswegen fragen Sie nach Sparr!“ brachte er mühsam hervor. Jost, der die plötzliche Veränderung des Brigadiers aufmerksam registriert hatte, nickte. „Ich möchte mich 72
über ihn informieren, bevor ich Sparr selbst nach den Beziehungen frage, die er zu der Ermordeten gehabt hat“, und lächelnd setzte er nach einer winzigen Pause hinzu: „Als Täter kommt er ja nicht in Frage, weil er gestern nachmittag in der Schicht gewesen ist, wie Sie sagen.“ Es dauerte auffallend lange, ehe Kahl antwortete, dann gab er mit gesenktem Kopf leise zu: „Er ist gestern nicht in der Schicht gewesen.“ Jost war kaum überrascht, seine Ahnung hatte ihn also nicht getrogen, trotzdem rief er: „Was denn, Sparr war nicht in der Schicht?“ Kahl ächzte. „Wie hab’ ich denn ahnen können, daß so etwas passieren würde!“ „Jetzt erzählen Sie mal schön der Reihe nach!“ forderte Jost ihn auf. Aber so schnell ging das nicht, Kahl mußte sich erst sammeln und beruhigen, ehe er zusammenhängend berichten konnte: „Wir haben schon viel Trödel mit Herbert gehabt. Der Verweis damals hat uns den Titel ‚Kollektiv der sozialistischen Arbeit‘ gekostet. Das hat natürlich Stunk gegeben! Rausschmeißen wollten sie ihn, aus der Brigade, meine ich. Damals bin ich für ihn eingetreten. Eine Weile ging’s gut, bis er wieder anfing zu bummeln. Was hab’ ich mit ihm schon geredet! Gestern war’s das zweite Mal …“ Kahl hob den Kopf und versuchte ein Lächeln. „Da habe ich eben gemogelt und für ihn die Karte gedrückt. Die andern wissen das. Verstehen Sie doch: Natürlich müssen wir mal reinen Tisch machen, aber wieder umsonst geschuftet zu haben, wieder keinen Titel, bloß weil der Herbert …“ Kahl brach ab. Jost konnte nicht sofort auf diese Beichte antworten, jetzt war er tatsächlich überrascht. 73
Nachdem Kahl ihn mit einem verzweifelten Blick geradezu aufgefordert hatte, sich endlich zu äußern, sagte er sachlich: „Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Die Tatsache, daß Sparr gestern der Schicht ferngeblieben ist, besagt natürlich noch nicht, daß er der Mörder ist. Es gibt blinde Zufälle, die nichts miteinander zu tun haben. Ich muß Sie deshalb bitten, über unser Gespräch strengstes Stillschweigen zu bewahren.“ „Und wenn der Herbert heute in die Schicht kommt?“ „Dann hinterlassen Sie bitte Nachricht beim Pförtner, nichts weiter.“ „Maul und Nase sperr’n meine Leute auf, wenn die hör’n, was wir uns eingebrockt haben!“ sagte Kahl. Den Brigadier mußte es hart getroffen haben. Jost bemerkte, daß Kahl ihn hinter der Gardine beobachtete, als er auf den Bus nach der Kreisstadt wartete. Der Leutnant hielt es für notwendig, den Staatsanwalt zu unterrichten.
16 Es ging schon auf den Nachmittag, als Schreiber endlich das Protokoll aufnahm. Holbeck hatte seinen Lebenslauf erzählt und dabei auch die Vorstrafen erwähnt, obwohl diese bereits gelöscht waren. „Davon kommt nichts ins Protokoll“, sagte der Hauptmann. Holbeck schilderte den Verlauf des Tages, an dem er aus Tannrode abgereist war, folgendermaßen: „Ich bin so gegen acht Uhr aufgestanden. Dann habe ich mich rasiert“ – dabei zupfte er sich mit unsicherer Hand am Vollbart, wahrscheinlich fühlte er sich ungepflegt –, „habe mich gewaschen und angezogen, habe Kaffee getrunken und 74
mir dabei für alles, wie an jedem Tag im Urlaub, Zeit genommen, und anschließend bin ich spazierengegangen. Fast den ganzen Vormittag. Soll ich sagen, wo ich gewesen bin? In der Poststelle war ich nicht. Das mit der Zeitung war schon vorgestern, daran erinnere ich mich jetzt genau. Kurz vor Tisch bin ich wieder in der Pension gewesen, das kann meine Wirtin bezeugen, die hat einen Vertrag mit dem FDGB … Ach so, auf dem Spaziergang habe ich einen alten Mann getroffen und mich mit ihm unterhalten. Das hat eine ganze Weile gedauert. Der Mann läßt sich bestimmt finden, wenn es notwendig sein sollte … Nach Tisch habe ich mich hingelegt, ich war müde. Dann kam der Brief von meiner Schwester, und seitdem war alles aus, ich meine, seitdem wußte ich überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Packen, wann fährt der Bus, abmelden und so weiter und so fort … Man will ja auch nichts vergessen, keine Schulden hinterlassen. Es war schließlich so gegen sechzehn Uhr zwanzig, als ich zur Haltestelle vor der ‚Klippmühle‘ gegangen bin. Sechzehn Uhr dreißig fährt der Bus.“ „Waren Sie da noch im Glauben, den Personalausweis und das Scheckheft bei sich zu haben?“ fragte Schreiber. „Ja! Sonst hätte ich doch schon in Tannrode danach gesucht.“ „Und Sie können sich nicht erklären, warum Frau Anrainer Ihren Namen gerufen hat?“ „Überhaupt nicht. Ich bin ja nicht in der Poststelle gewesen. Fragen Sie Frau Anrainer danach! Warum haben Sie das nicht überhaupt schon …“ Holbeck hielt überrascht inne, weil er bemerkte, daß Schreiber und Keppler einander einen Blick zuwarfen. „Was ist denn?“ fragte er unsicher. 75
Schreiber sah auf Holbecks Brillengläser. „Wir können Frau Anrainer nicht mehr fragen.“ Holbeck lehnte sich ganz langsam auf dem Stuhl zurück. Seine Zunge fuhr über die Lippen zwischen dem Bartgekräusel. „Nicht mehr fragen? Soll das etwa heißen, daß Frau Anrainer nicht mehr …“ Schreiber nickte. „Sie wurde gestern nachmittag ermordet.“
17 Jost fuhr mit dem Bus von der Kreisstadt nach Tannrode zurück. Es war vierzehn Uhr, genau die Stunde, zu der die Nachmittagsschicht in der „Silberhütte“ begann. Der Bus fuhr durch die Haarnadelkurve, jetzt lag Unterfelddorf zur Linken, seine roten Dächer schimmerten durch das bunte Laub. Den Leutnant überkam das Verlangen nach einem Fußmarsch. Es gab Tage, an denen er keine zweihundert Meter zu Fuß ging, und er empfand dies so stark als einen Mangel, daß er darunter litt. Rasch entschlossen stieg er an einer Abzweigung aus. Bis nach Tannrode seien es noch drei Kilometer, rief ihm der Busfahrer hinterher. Jost pumpte sich die Lungen voll frischer Luft und marschierte los. Was Sparr betraf, so hatte er vorgesorgt. Mal sehen, welche Neuigkeiten der Hauptmann aus Halle mitbrachte … Dort war der steile Wiesenhang, und gleich hinter der Wegbiegung lag die Poststelle. Die alte Frau, die am Straßenrand Futter sichelte, hätte aus einem Breughelschen Bild stammen können. Sie trug ein geblümtes Kopftuch über dem runzligen Gesicht, einen weiten 76
schwarzen Rock und darüber eine bunte Schürze, die sie beim Arbeiten hochgerafft hatte. Jost blieb stehen. Die kennt Anrainers wahrscheinlich genau, überlegte er, hier würde es sich vielleicht lohnen, Fragen zu stellen – mehr jedenfalls als in der Stammtischrunde der „Klippmühle“. Die Frau fühlte sich beobachtet. Sie wandte den Kopf, hielt in ihrer Arbeit inne und richtete sich langsam auf. „Hier im Graben ist noch keine Technik“, sagte sie, „alles mit der Hand. Aber ’s Futter wird gebraucht.“ Sie kam näher und betrachtete Jost genauer. „Sind Sie nicht einer von die Kriminalen?“ „Ja, ja, das bin ich. Und Sie sind wohl die Nachbarin von Anrainers?“ Die Frau nickte. „Schade um die beiden jungen Menschen!“ sagte sie. „Ich hab’ mir manchmal meine Gedanken gemacht, aber daß es mal so kommen würde! Die Karin war ja ’ne Fremde, aber den Lutz habe ich schon gekannt, da war er noch so …“ Sie hielt die flache Hand etwa dreißig Zentimeter über der Erde. „Das war ’n guter Junge, doch, doch … bloß hier oben“, sie tippte sich an den Kopf, „da hat’s gehapert.“ Jost stellte den linken Fuß auf einen Feldstein, beugte den Rücken und legte die Arme auf den Oberschenkel. Die Frau strich ihre Schürze glatt. In der rechten Hand hielt sie noch immer die Sichel. „Aber was der Wilhelm ist, der Vater vom Lutz selig, der wollte partout was aus ihm machen. Der Junge sollte nicht bloß Schlosser bleiben, das war Wilhelms Wunsch.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken einen Tropfen von der Nase. „Schuld daran ist bloß die verfluchte Technik, da können Sie sagen, was Sie woll’n. Jeder soll heute studieren. Lutz sollte Injenör werden. Aber wenn’s doch dazu nicht reicht!“ 77
Sie tippte sich wieder an den Kopf. „Damals war viel Krach bei Anrainers. Zwischen den beiden Männern, meine ich. Martha, dem Wilhelm seine Frau, die hatte ja noch nie viel zu bestellen, das sage ich ganz offen, und dem Wilhelm habe ich auch schon oft gepredigt, daß er ’n bißchen zuviel den Schandarm spielt …“ „Ist der Lutz denn nun Ingenieur geworden?“ fragte Jost. „Durchgefallen isser!“ trompetete die Frau. „Ich hab’ das gleich gewußt.“ Jost nahm den Fuß von dem Stein. Er fühlte die Kälte, die vom Wind den Hang heruntergetragen wurde und ihm bis auf die Haut kroch. „Durchgefallen? War er da schon verheiratet?“ „Das war’s doch!“ sagte die Alte. „Sonst wär’ vielleicht alles nicht so gekommen. Daß die Karin mit anderen Männern, meine ich … Dem Wilhelm hat das freilich nicht gepaßt, obwohl … er hatte ja dem Lutz die Suppe eingebrockt, mal deutsch gesprochen. Der Junge stand nu’ da mit sein’m bißchen Grips. Die Karin, ja, die hatte mehr im Kopp. Die Oberste von der Post in Tannrode, das ist schon was!“ Die Alte wischte einen neuen Tropfen weg. „Nischt gegen die Schlosser, lieber Herr. Natürlich muß es die geben. Aber Lutz, der stand genau da, wo er vorher gestanden hatte. Keinen Schritt weitergekommen war der. Das hat den Wilhelm gegiftet, und nicht zu knapp! Und dann“, sie zwinkerte und machte die Bewegung des Trinkens, „schlimm war das manchmal! Aber warum sich die Karin zuletzt an diesen Sparr gehängt hat, versteht bloß der liebe Gott. Dieser Windhund! Damit meine ich den Sparr, nicht etwa den lieben Gott, verstehn Sie mal richtig.“ Jost lächelte. Diese Frau konnte gut beobachten! „Haben Sie auch gestern hier gesichelt?“ 78
„Gestern?“ wiederholte die Frau. „Ich weiß, was Sie meinen: Sie wollen wissen, ob ich was gemerkt habe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Gestern war ich bei meiner Tochter in Harzgerode.“
18 Nachdem Jost sich verabschiedet hatte, ging er in Richtung der Poststelle weiter. Als er um den Hang gebogen war, sah er Anrainer kommen, der eine Einkaufstasche bei sich trug. Jost begrüßte ihn und sagte aufmunternd: „Na, wie geht’s denn? Eingekauft?“ „Muß ich doch!“ „Stimmt, das Leben geht weiter, Herr Anrainer.“ „Das sind so kluge Sprüche. Mir ist noch immer so … Wollen Sie zu mir?“ „Ich hätte mich gern noch einmal mit Ihnen unterhalten.“ Anrainer seufzte. Er schloß die Haustür auf. „Bitte!“ sagte er und ließ Jost eintreten. „Aber ich kann Ihnen heute auch nicht mehr sagen als gestern.“ Im Flur blieb er stehen und sah sich um. „Für Sie ist das bloß Routine“, fuhr er fort, „aber für mich … Da, die Steine hab’ ich blank gescheuert, aber das Blut sehe ich immer noch, ich rieche es …“ Er trat ganz dicht an Jost heran, daß der seinen Atem spürte, und flüsterte: „Ich rieche es, und ich seh’ auch die Karin noch liegen. Da!“ Er zeigte auf die Stelle, wo die Ermordete niedergeschlagen worden war. 79
Jost legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter. „Von solchen Vorstellungen müssen sie sich frei machen!“ sagte er. „Wieder so’n kluger Spruch!“ stieß Anrainer hervor. „Von Vorstellungen frei machen! Kann ich mich umkrempeln und die Erinnerung abbürsten, als wär’s Dreck?!“ Jost fühlte sich hilflos, obwohl er von Psychologie einiges zu verstehen glaubte; nur eines wußte er: Gegen das Trauma dieses Mannes halfen wirklich keine schönen Worte, die nach Gesundbeten geklungen hätten. Sie standen noch eine Weile unbeweglich, bis Anrainer schließlich sagte: „Also kommen Sie schon!“ Oben in der Küche stellte er die Tasche ab, dann setzte er sich mit Jost an den Tisch. „Ich hab’ gestern was von Holbeck geredet, oder wie der Mann heißt“, fing er unvermutet an. „Den Namen hat sie gerufen, ja, das stimmt, aber …“ Er sah Jost an, preßte die Lippen aufeinander und kniff die Augen zusammen. „Aber?“ wiederholte Jost vorsichtig. Anrainer entspannte sich. „Ich wollte bloß sagen, daß ich den Holbeck nicht für den Mörder halte.“ „Und warum nicht?“ „Warum nicht! Den Menschen kenne ich überhaupt nicht, wie kann ich ihm da so was anhängen?“ „Ach, deshalb!“ sagte Jost enttäuscht. „Ich dachte, Sie wüßten etwas Genaueres.“ „Aber Sparr kenne ich!“ sprach Anrainer weiter, als habe Jost nichts gesagt. Wieder sah er ihn an, auch diesmal mit aufeinandergepreßten Lippen und zusammengekniffenen Augen. Alles an ihm strahlte Ablehnung aus. „Sie mögen ihn nicht?“ fragte Jost. Anrainer lachte kehlig auf. „Auch noch mögen?“ „Und was meinen Sie damit, daß Sie ihn kennen? 80
Wollen Sie damit sagen, daß Sie ihm die Tat zutrauen?“ Anrainer ballte die Hände zu Fäusten. „Der ist an allem schuld! An allem“, stieß er unbeherrscht hervor. „Er soll ein Liebesverhältnis mit Ihrer Schwiegertochter gehabt haben.“ „Ja, und da lebte mein Sohn noch, als das anfing“, sagte Anrainer dumpf. „Ist es nicht ein Widerspruch“, meinte Jost, „daß Herr Sparr einerseits Ihre Schwiegertochter gern hatte, andererseits aber ihr Mörder sein soll?“ „Das zu klären ist nicht meine Sache“, antwortete Anrainer, „ich bin doch nicht die Kriminalpolizei.“ „Mit Vermutungen kommen wir nicht weiter“, hielt Jost ihm vor, „wir brauchen Tatsachen. Haben Sie Herrn Sparr gestern hier in der Poststelle gesehen?“ Anrainer schüttelte den Kopf. „Also sprechen wir nicht mehr von ihm, sondern von Ihnen“, entschied Jost. „Ist Ihnen inzwischen schon eingefallen, wo Sie das Beil im Hausflur abgelegt hatten?“ Wieder schüttelte Anrainer den Kopf. „Sie müssen versuchen, sich zu erinnern!“ forderte Jost. „Das Beil hatte Ihr Nachbar zurückgebracht, haben Sie uns gestern gesagt.“ „Ja, Otto Pohl.“ „Bitte, schildern Sie das genauer.“ „Er kam kurz nach Mittag und hat mir das Beil hier in der Küche übergeben. Dann ist er wieder gegangen, er hat sich gar nicht aufgehalten. Als er fort war, wollte ich das Beil hinter die Kellertür hängen, wo es hingehört, deshalb bin ich runtergegangen …“ „Und?“ drängte Jost. „Ich kann mich eben an das Weitere nicht erinnern. Weg, aus …“ 81
Jost betrachtete Anrainer längere Zeit, dann sagte er langsam, eindringlich: „Ich muß Sie noch einmal bitten, sich ernsthaft Mühe zu geben. Bis jetzt wissen wir nur eines ganz sicher: daß Sie am Tatort gewesen sind.“ Anrainer sprang auf. Er keuchte und zitterte am ganzen Körper. „Sie wollen doch nicht etwa …“ Jost hob begütigend die Hand und vollendete ruhig den Satz: „… behaupten, daß Sie den Mord begangen hätten? Aber Herr Anrainer, ich möchte Ihnen nur klarmachen, daß wir ohne Ihre Hilfe nicht weiterkommen. Wenn nicht einmal Sie uns etwas sagen können, wer kann es dann? Der Mörder natürlich, aber den finden wir nur mit Ihrer Unterstützung. Wann sind Sie also mit dem Beil hinuntergegangen, um es hinter die Kellertür zu hängen? War das unmittelbar vor dem Verbrechen?“ „Ach was! Dann hätte ich doch jemanden sehen müssen. Ich bin wieder nach oben gegangen und hab’ mich hingelegt. Ich war müde, vielleicht kann ich mich deshalb nicht mehr erinnern, was mir in die Quere gekommen ist.“ „Hat vielleicht Herr Pohl erwähnt, daß er jemandem begegnet sei?“ „Nein, er hat nichts erwähnt. Wieso denn auch? In der Poststelle trifft man fast immer jemand. Wenn man jedesmal davon sprechen wollte …“ „Vielen Dank!“ sagte Jost, wenig befriedigt. „An das meiste erinnern Sie sich noch ziemlich genau. Schade, daß Ihnen ausgerechnet nicht einfallen will, wohin Sie das Beil gelegt haben.“ „Meinen Sie, ich freue mich darüber?“ fragte Anrainer. „Diese verfluchte Gedächtnislücke – wenn ich die 82
bloß ausfüllen könnte! Herr Leutnant, es wäre mir doch ein leichtes, Ihnen irgendwas zu erzählen, bloß um Sie zu beruhigen. Aber Sie woll’n die Wahrheit hören, und die … die kenne ich nun mal nicht.“
19 Hauptmann Schreiber traf gegen achtzehn Uhr wieder in der „Klippmühle“ ein. Es war Dienstag, ein Tag war seit dem Mord bereits vergangen. Jost saß in der Gaststube an dem Ecktisch, an dem er sich am Abend zuvor mit den Skatspielern unterhalten hatte. Er blickte dem Hauptmann entgegen, als der mit Zeller hereinkam und sich nach dem Leutnant umsah. Josts Blick verriet, daß er eine Neuigkeit loswerden wollte, aber Schreiber tat seinem Mitarbeiter nicht den Gefallen zu fragen. „Ich glaube, Holbeck hat mit der ganzen Sache nichts zu tun“, sagte er nach kurzer Begrüßung. „Abschließendes werden wir freilich erst feststellen können, wenn das Gutachten des Schriftsachverständigen vorliegt. Bitte, Fräulein, ein Helles!“ „Mir bitte auch!“ rief Zeller. Jost hob warnend die Hand. „Später!“ Beide sahen ihn erstaunt an, Jost lächelte betont harmlos. Die Bedienung brachte das Bier und stellte es vor dem Hauptmann und dem Wachtmeister auf den Tisch. Jost zog das für Zeller bestimmte Glas an sich. „Prost!“ sagte er grinsend und nahm einen Schluck. „Ihm bitte ein Glas Milch, auf meine Rechnung“, wandte er sich an die Serviererin. 83
„Vielleicht erklären Sie uns, was das zu bedeuten hat“, forderte der Hauptmann ihn endlich auf. „Wir müssen noch mal weg“, antwortete Jost. „Tun Sie nicht so geheimnisvoll! Reden Sie schon!“ Jost wischte sich den Bierschaum vom Mund, zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und gab es dem Hauptmann. Zeller bekam seine Milch serviert. „Schlimmer als ’n Häftling!“ knurrte er. Schreiber, der inzwischen den Inhalt des Blattes überflogen hatte, tippte erregt auf das Papier und fragte: „Wie sind Sie denn daraufgekommen?“ „Durch einen Steppke namens Uwe Schrader, einen höchst unkorrekten Brigadier, durch Fräulein Anna Hüttner und, um es etwas poetisch zu garnieren, durch einen Schlehenbusch vor einem offenen Fenster“, erwiderte Jost, Dann berichtete er über den Verlauf des Tages und erwähnte dabei auch seine Gespräche mit der alten Frau am Wiesenhang und mit Anrainer. „Sparr ist jetzt wirklich in der Schicht“, sagte er zum Schluß, „ich habe mich erkundigt.“ Hastig tranken sie ihre Gläser leer, dann fuhren sie ein zweites Mal nach Steiger. „Wenn Frau Sparr hört, warum wir diesmal kommen, wird sie wahrscheinlich die Nerven verlieren“, sagte Schreiber unterwegs, und seufzend setzte er hinzu: „Wie oft habe ich es schon bedauert, daß wir immer wieder ganz unbeteiligten Personen Kummer zufügen müssen. Nehmen wir mal an, Sparr wäre der Mörder – das allein würde genügen, seine Mutter todunglücklich zu machen, aber nein, zuvor müssen wir auch noch ihr Haus durchsuchen.“ Er wandte sich zu Jost um. „Denken Sie daran: Wenn die Frau uns öffnet, wollen wir ihr etwas behutsam begegnen.“ 84
In Steiger ließen sie das Auto in einiger Entfernung von dem Haus halten und gingen den Rest des Weges zu Fuß. Jost betätigte den Klopfer. Der Ton verhallte, nach einer Weile hörten sie Schritte hinter der Tür. Schreiber atmete unwillkürlich noch einmal tief durch. Frau Sparr öffnete, und nachdem sie die Kriminalisten erkannt hatte, trat sie schweigend und mit niedergeschlagenen Augen einen Schritt zurück. „Dürfen wir hineinkommen?“ fragte Schreiber. Frau Sparr nickte. „Aber mein Sohn ist wieder nicht da“, sagte sie, „er hat die ganze Woche Nachtschicht.“ „Ich weiß“, antwortete Schreiber. Die Frau ließ ihn und Jost in den Hausflur treten, dabei drückte sie sich eng an die Wand. „Und warum kommen Sie dann?“ fragte sie bebend. „Wahrscheinlich haben Sie inzwischen erfahren, was geschehen ist“, sagte Schreiber teilnahmsvoll. Da schlug Frau Sparr die Hände vor das Gesicht und weinte. „Aber Herbert“, stammelte sie, „Herbert kann das doch nicht getan haben!“ Schreiber versuchte sie zu beruhigen. „Bitte, Frau Sparr, fassen Sie sich. Wir müssen den Mörder finden, und dabei läßt es sich nicht vermeiden, daß wir uns auch hier umsehen. Das gehört einfach zu unseren Aufgaben. Bitte, machen Sie es uns nicht unnötig schwer.“ Er zeigte ihr den Hausdurchsuchungsbefehl, den sich Jost am Nachmittag vom Staatsanwalt hatte ausstellen lassen und mit dem er den Hauptmann in der „Klippmühle“ überrascht hatte. Frau Sparr lehnte noch immer bleich an der Wand. Ihr Atem rasselte. Schreiber und Jost standen schweigend neben ihr, sie warteten, bis die Frau sich etwas beruhigt hatte, dann sagte Schreiber: „Wir müssen noch 85
eine zweite Person hinzuziehen, so ist es Vorschrift. Ist jemand im Haus?“ „Meine Mutter.“ Schreiber nickte zustimmend. Frau Sparr winkte die Männer wortlos in die Wohnstube und ging ihre Mutter holen, eine noch rüstige Frau von etwa fünfundsiebzig Jahren, die von ihrer Tochter offenbar unterrichtet worden war. Sie erschien sehr aufgeregt. „Unser Herbert? Was soll denn der …“ „Bitte, zeigen Sie uns sein Zimmer“, lenkte Schreiber ab. Frau Sparr ruckte mit dem Kopf. „Eine Treppe höher.“ Sie gingen hinauf. Die Frauen setzten sich und starrten vor sich hin. Das Spiel ihrer Finger verriet ihre Unruhe. „Wo bewahrt Ihr Sohn seine Schuhe auf?“ fragte Schreiber. Frau Sparr zeigte wortlos auf den Kleiderschrank. Aber sie fanden nicht, was sie suchten: ein Paar schmutzige Schuhe, an denen Gartenerde oder Reste vom Waldboden hafteten. Nein, was hier stand, war blitzblank, Slipper, Schnürschuhe, Schaftstiefel. Jost nahm einen Schuh heraus. „Größe vierzig“, sagte er. Schreiber nickte nur. Es wäre zu billig gewesen, das Paar, das Sparr gestern getragen hatte, in einem Zustand vorzufinden, der selbst einem Advokaten die Sprache verschlagen hätte. Plötzlich stand Frau Sparr auf. Zitternd stützte sie sich mit der Linken auf den Tisch. „Sagen Sie mir um Gottes willen die Wahrheit! Die Wahrheit, Herr Hauptmann! Hat er die Karin …?“ „Agnes!“ schrie ihre Mutter entsetzt. „Die Wahrheit kennen wir selbst noch nicht“, antwortete Schreiber. „Aber Ihr Sohn kann uns vielleicht 86
wichtige Hinweise geben.“ Nach ein paar Atemzügen fuhr er fort: „Frau Sparr, Ihr Sohn wird nach Schichtschluß nicht nach Hause kommen. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, wir müssen uns noch einmal eingehend mit ihm unterhalten … Und jetzt woll’n wir uns hier ein bißchen umsehen.“ Es war kaum etwas von Bedeutung unter den Dingen, die sie entdeckten. Im Schrank lag oben auf einem Brett ein Umschlag mit Bildern: Karin Anrainer in allen Stellungen, im Bikini und nackt, und ebenfalls in allen Stellungen die Anna, die Jost in Wirklichkeit attraktiver erschienen war. Der Leutnant zuckte bedauernd mit den Schultern, als wollte er sagen: Nichts! Aber dann, als er das Schubfach des Nachtschranks aufgezogen hatte, sah er plötzlich einen Brief. Von Frau Anrainer! Sie schrieb, daß Sparr sie gefälligst in Ruhe lassen solle, sie habe keine Lust, alles noch einmal durchzumachen. Offenbar meinte sie damit ihre Ehescheidung, denn sie erwähnte: „… die ekelhaften Termine in meiner Sache …“ Der Brief stammte vom letzten Samstag, war also zwei Tage vor dem Mord geschrieben worden. Er steckte in einem Kuvert und war frankiert, eine Postsendung. „Den müssen wir mitnehmen“, sagte Schreiber. Frau Sparr schlug die Hände vor das Gesicht. Ihre Mutter mummelte lautlos. Jost fertigte ein Protokoll über die vorläufige Beschlagnahme des Briefes an und ließ es von den Frauen unterschreiben. Schreiber und Jost machten nicht viele Worte, als sie sich verabschiedeten, es wären ins Leere gesprochene Sätze geblieben. Als die Haustür hinter ihnen ins Schloß fiel, sagte Schreiber: „Jetzt zur ‚Silberhütte‘!“ 87
20 Während der Fahrt schwiegen sie. Der Wald huschte an den Scheiben vorbei, die nachtgrauen Hänge, die Schneisen mit den von den Holzfällern zerfahrenen Wegen, in denen das Regenwasser stand. Hin und wieder begegnete ihnen ein Fahrzeug mit grellen Scheinwerfern. Die Straße war schmal und die Ränder so verschlammt, daß Zeller bei Gegenverkehr jedesmal herunterschalten mußte. Sie achteten mehr auf die Strecke, als daß sie an ihren Fall dachten. Aber plötzlich sagte Jost: „Die Tote hat nur noch eine Verwandte, die Mutter, eine Frau Löbau. Sie wohnt in Köthen. Genosse Kröger hat das dortige Kreisamt durch Fernschreiber verständigt.“ „Also wird sie kommen“, erwiderte Schreiber. „Wir hätten ohnehin mit ihr sprechen müssen. Keine leichte Aufgabe, mit der Mutter der Ermordeten zu reden. Möchten Sie’s übernehmen, Jost?“ Der Leutnant blieb die Antwort schuldig. „Silberhütte“, sagte Zeller nach einer Weile. „Wir sind am Ziel. Soll ich bis zur Pforte fahren?“ „Bitte!“ antwortete Schreiber. „Diesmal ja.“ Am Tor wiesen sie sich aus. „Geben Sie bitte Herrn Kahl Bescheid, er möchte Herrn Sparr herausschicken“, sagte Schreiber zu dem Pförtner. „Dann muß ich schon selbst gehen“, erklärte der, „ich kann die Brigade nicht telefonisch erreichen.“ „Einverstanden. Aber ohne jedes Aufsehen.“ „Worum handelt es sich denn?“ fragte der Pförtner. „Um eine Auskunft.“ 88
„Ach so!“ Sie sahen es dem Mann an, daß er es weder glaubte noch mit der Antwort zufrieden war. „Ist sonst ’n ganz ruhiger Bürger, der Sparr“, meinte er. „Sonst würden wir ihn ja nicht um eine Auskunft bitten“, parierte Schreiber. „An Rabauken können wir uns in solchen Fällen nicht wenden.“ „Na dann!“ Der Pförtner kam aus seinem Häuschen und blieb stehen. Ihm war nicht ganz geheuer zumute, weil er seinen Platz verlassen sollte. Dieser Fall war ihm noch nicht vorgekommen. Verlegen rückte er an seiner Dienstmütze. Schreiber und Jost sahen ihn abwartend an. Der Mann stand da‚‚auf sich selbst gestellt. Er schniefte. „Wenn ’s Telefon klingelt …?“ „Nehmen wir ab“, versprach der Hauptmann. „Wenn Sie zurückkommen, ist noch alles so wie jetzt …“ „Sie brauchen gar nicht zu spotten!“ sagte der Mann. Er bewegte sich unter Bogenlampen dahin, zwischen Baracken und Hallen, bis sie nur noch einen zerdehnten Schatten sahen, während der Mann schon um die Ecke verschwunden war. „Wohl ist dem nicht“, frotzelte Jost. „Nicht bloß, weil er durch den Dreck muß. Ich kenne das.“ Es war schon empfindlich kühl. Sie fröstelten und waren froh, als sie den Pförtner zusammen mit Kahl und Sparr endlich aus der Dunkelheit auftauchen sahen. „Wir möchten nur noch ein paar Fragen an Sie stellen, Herr Sparr“, sagte Jost. Dem Brigadier nickte er grüßend zu. Schreiber hielt sich im Hintergrund. „Sie können hier in meinem Zimmer …“, erbot sich der Pförtner. „Vielen Dank, aber wir haben Sie schon genug von der Arbeit abgehalten“, erwiderte Jost. „Herr Sparr, Sie 89
begleiten uns bitte.“ Er machte eine Handbewegung zum Auto hin. „Aber ich habe doch schon alles …“, fing Sparr an. „Nicht hier!“ sagte der Leutnant. Sie stiegen ein, zuletzt der Hauptmann, der Wagen wendete. Kahl sah den Männern mit einem Blick nach, der zu sagen schien: Den Sparr bekommen wir so schnell nicht wieder! „Ihr müßt euch endlich mal ’ne Telefonleitung legen lassen!“ raunzte der Pförtner. „Ich kann hier nicht wegen jedem Quark meinen Arbeitsplatz verlassen.“ Er ging kopfschüttelnd in sein Häuschen.
21 „Was woll’n Sie eigentlich noch?“ fragte Sparr unterwegs. „Wenn’s wieder wegen Frau Anrainer ist, da kann ich Ihnen nicht helfen.“ „Vielleicht doch“, erwiderte Jost. Dann schwiegen sie, bis sie die „Klippmühle“ erreicht hatten. Es war dunkel im Fond des Wagens. Sparr saß neben dem Leutnant. Er ließ die Arme zwischen den Beinen schlaff nach unten hängen, völlig reglos hockte er da, gegen die Polster gelehnt. Als sie an der Poststelle vorbeifuhren, wandte er den Kopf nach der anderen Seite. Jost tat, als habe er es nicht gemerkt. Der Wagen hielt vor dem Gasthaus. Sie stiegen aus, Schreiber wies mit der Hand zum Eingang, sie nahmen Sparr in die Mitte. 90
Schreiber hatte den Wirt um ein Zimmer gebeten, in dem sie die Vernehmung durchführen konnten. Es lag zu ebener Erde und hatte zum Hof hinaus ein Fenster, das jetzt nur angelehnt war. Sparr setzte sich zwischen Tisch und Fenster. Er hielt den Kopf gesenkt und starrte auf seine Schuhe. Jost, am andern Ende des Tisches, machte die Maschine schreibfertig. „Wir vernehmen Sie als Zeuge, Herr Sparr“, begann der Hauptmann. Sparr gab seine Personalien zu Protokoll: … geboren 14.2.1946 in Dessau, ledig, wohnhaft Steiger, Nr. 23. Erlernter Beruf: Dreher … Dann schilderte er seinen Lebenslauf. Sein Vater war 1960 in der „Silberhütte“ tödlich verunglückt. Sparr, der Jüngste von drei Brüdern, sollte vom Betrieb gefördert werden. „Nach dem Abitur ging ich auf die Technische Hochschule Dresden. Aber dann wurde ich wegen Diebstahls relegiert und kam für sechs Monate in den Knast, wegen guter Führung vorzeitig entlassen mit Arbeitsplatzbindung in der ‚Silberhütte‘. Da arbeite ich heute noch!“ „Haben Sie nicht versucht, noch einmal richtig von vorn anzufangen?“ fragte Schreiber. „Mit sechsundzwanzig haben Sie doch alles noch vor sich.“ Sparr nickte und seufzte, antwortete aber nicht. „Wann und bei welcher Gelegenheit lernten Sie Frau Anrainer kennen?“ „Durch den Sport, Fußball. Zunächst natürlich ihren Mann, der war aber kein Aktiver; später, im Herbst vorigen Jahres, auf einem Vergnügen, auch die Karin. Ich hab’ ein paarmal mit ihr getanzt und gemerkt, daß sie mit ihrem Mann verkracht war. Der hatte an dem Abend so seine drei Promille intus und hing bloß noch an der Theke, stehen 91
konnte der schon nicht mehr. Ich weiß nicht, wie sie ihn nach Hause gekriegt hat. Später bin ich mal wie zufällig in die Poststelle gegangen. Ich wußte, daß sie dort arbeitete, hab’ aber getan, als wär’s ’ne Überraschung für mich.“ „Wann war das?“ Sparr überlegte. „November, Dezember vorigen Jahres. Jedesmal hatte sie was Neues zu erzählen von ihrem Mann, der durch seine Trunksucht immer mehr abrutschte. Er war, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, durchs Examen gefallen und konnte das wohl nicht verwinden. Ich hab’ ihr natürlich erzählt, was mit mir los ist, von der TH geflogen und so. Ich hätte aber wenigstens Köppchen, hat sie gesagt, ihr Lutz, der bliebe nun für ewig Schlosser, aber ich könnte – na, eben das, was Sie vorhin gesagt haben, Herr Hauptmann – noch mal von vorn anfangen. Ihr Mann dagegen wär’ ’ne Niete.“ Sparr unterbrach sich und blickte die Kriminalisten mit selbstgefälligem Lächeln an. „Niete, das war ihr Ausdruck … Ich hab’s gern gehört, versteht sich … Dann lernte ich die Anna kennen. Die war hinter mir her … doch, ohne jede Angabe, und ich hab’s mir gefallen lassen. Aber in Wirklichkeit war ich für die Karin. Bei der bin ich mir vorgekommen wie … wie’n Held. Ihr Mann ’ne Niete und ich mit Köppchen, vielleicht war das Unsinn, aber ich hab’s so empfunden … Sie tat mir auch leid. Ihr Mann fast immer betrunken, der ewige Krach zwischen den beiden, auch Schläge, jedenfalls hat sie ein paarmal davon gesprochen, da hab’ ich sie dann getröstet, das darf man wohl sagen.“ „Wußte Herr Anrainer von diesen Beziehungen?“ „Klar! Seit Jahresende bin ich mit der Karin beinahe jeden Tag zusammen gewesen, das hat er natürlich spitzgekriegt.“ 92
„Und seine Reaktion?“ Sparr hob die Schultern. „Noch mehr Alkohol … bis es dann zur Scheidung kam, im Januar ist das wohl gewesen.“ Sparr machte eine Pause. Sein Gesicht zuckte. Schreiber ließ ihn gewähren, um nicht den weiteren Fluß der Vernehmung zu stören oder gar zu beenden. „Ich weiß nicht“, fuhr Sparr schließlich langsam fort, „so richtig gefreut habe ich mich darüber nicht. Als ob ich etwas geahnt hätte … Ende Juni, Anfang Juli geschah’s ja dann auch, daß er verunglückte …“ Sparr verlor allmählich seine Ungezwungenheit. Er sprach jetzt vorsichtiger, tastender. „Seitdem kühlte unser Verhältnis merklich ab. Vielleicht, daß sie sich mitschuldig fühlte am Tode ihres Mannes, obwohl sie niemals so etwas zugegeben oder auch nur angedeutet hat. Eine reine Annahme von mir …“ „Dann ging also die Abkühlung von Frau Anrainer aus“, warf Schreiber ein. „Vielleicht, ja, wegen der Anna“, sagte Sparr, „ich weiß nicht.“ „Frau Anrainer soll von Ihnen geschlagen worden sein, haben Sie heute morgen in der ‚Klippmühle‘ dem Leutnant erzählt.“ „Das stimmt. Aber nur einmal!“ Sparr sah zu Jost hinüber. „Das habe ich doch gleich hinzugefügt, stimmt’s?“ Jost nickte. Nach einer Weile fragte Schreiber: „Herr Sparr, wann waren Sie das letzte Mal mit Frau Anrainer zusammen?“ Die Sekunden verrannen. Jost hatte die Arme auf die Maschine gestützt, Schreiber pochte leicht mit den Fingern auf die Platte. „Erinnern Sie sich nicht mehr?“ fragte er endlich. „Ich glaube, es war am Sonntag“, antwortete Sparr 93
zögernd, „vielleicht auch am Samstag. Wer merkt sich das schon!“ „Vielleicht derjenige, der einen Brief bekommen hat“, sagte der Hauptmann. Er sah, wie Sparr zusammenzuckte. „Haben Sie einen Brief erhalten?“ „Nicht, daß ich wüßte.“ „Doch!“ sagte Schreiber und legte den beschlagnahmten Brief auf den Tisch. Sparr atmete schwer, während er auf das Kuvert starrte. „Woher …“ „Aus Ihrem Nachtschrank“, sagte Schreiber. Er zeigte ihm den Hausdurchsuchungsbefehl und das Beschlagnahmeprotokoll. Sparr wagte nicht aufzusehen. „Herr Sparr, ich wiederhole meine Frage: Wann waren sie das letzte Mal bei Frau Anrainer?“ „Jedenfalls nicht gestern!“ antwortete Sparr heftig. „Der Leutnant weiß doch, daß ich gestern in der Schicht gewesen bin und meine Stempelkarte gedrückt habe!“ „War es nicht Herr Kahl, der das für Sie besorgt hat?“ konterte Jost. Sparr fiel gegen die Stuhllehne zurück. Er kaute auf der Unterlippe. „Wenn Sie nicht in der Schicht gewesen sind“, fragte Schreiber, „wo waren Sie dann?“ „In Halberstadt“, erwiderte Sparr leise. „Wo dort?“ „Überall. Eben in der Stadt. Und ganz zuletzt im ‚Weißen Schwan‘.“ „Seit wann?“ „Seit Nachmittag.“ „Und wann haben Sie das Anrainersche Grundstück verlassen?“ 94
„Verlassen …“ „Ja, Sie haben mich richtig verstanden.“ Sparr ruckte plötzlich, offenbar im Innersten getroffen, mit dem Kopf. „jemand hat Sie dabei beobachtet“, fuhr Schreiber mit einem Gleichmut fort, der eindringlicher als laute Worte wirkte. „Mich …“ „Ja, Sie!“ Sparr verfärbte sich jäh. „Hat Ihnen das Fräulein Hüttner gesagt?“ fragte er niedergeschlagen, enttäuscht. „Nein“, erwiderte Schreiber. „Warum denn Fräulein Hüttner? Weiß es die etwa auch?“ Ein Motorrad fuhr auf den Hof. Man hörte Stimmen. „Laß den Schlüssel stecken“, sagte jemand, „wir fahren gleich weiter.“ „Heben Sie bitte Ihren rechten Fuß“, forderte Schreiber plötzlich Sparr auf, ohne weiter darauf zu beharren, daß der seine Fragen beantwortete. Sparr stutzte. „Bitte!“ wiederholte der Hauptmann. Sparr gehorchte widerwillig. Schreiber zog eine Fotografie aus der Tasche: das Bild von dem Sohlenabdruck in Anrainers Garten. Sie glichen sich aufs Haar, die Sohle und das Bild. „Na also“, sagte Schreiber, jetzt aber härter als bisher, „wollen Sie noch immer leugnen?“ Sparr riß sich den Hemdkragen auf und zerrte an seinem Schlips. Wütend gab er zu: „Ja, ich war bei ihr. Ich wollte mit ihr sprechen, über den Brief … Ein Wort gab das andere, wir wurden laut … Durchs Fenster sah ich, daß Leute kamen, vielleicht Postkunden. Die mußten uns schon gehört haben … auch der alte Anrainer, wenn er zu Hause war. Ich wollte nicht, daß mich jemand sah, ich 95
wollte keinem begegnen, deshalb bin ich …“ Er brach ab. „Und das Beil?“ „Welches Beil?“ „Mit dem Frau Anrainer erschlagen wurde …“ „Aber das hab’ ich doch nicht in der Hand gehabt! Wirklich nicht … Warum denn auch …“ „Herr Sparr“, sagte der Hauptmann, „hiermit eröffne ich Ihnen, daß ein Ermittlungsverfahren gegen Sie eingeleitet wird. Sie stehen im Verdacht, Frau Anrainer getötet zu haben. Von jetzt ab gilt Ihre Aussage als die eines Beschuldigten.“ Sparr schien völlig entkräftet. Sein Blick irrte umher. „Kann ich eine Zigarette haben?“ bat er leise. Schreiber wandte sich an Jost. Im selben Augenblick flüchtete Sparr durch das Fenster. Schreiber hörte das Geräusch klirrenden Glases und fuhr herum, da flog ihm eine Leergutkiste entgegen. Sparr war bereits bei dem abgestellten Motorrad. Er startete – und war im Nu verschwunden. Sie hörten nur noch das Knattern des Auspuffs. „Zeller!“ brüllte Jost, dem das Haar jetzt fast in die Augen hing. Die Tür wurde aufgerissen. „Genosse Hauptmann!“ Schreiber schüttelte den Kopf. „Wenn der das Licht ausschaltet und in die erstbeste Schneise fährt, ist er für heute entkommen.“ Noch klang seine Stimme brüchig, aber schnell hatte er seine Beherrschung zurückgewonnen. „Der Harz ist kein Urwald. Den finden wir schon! Leiten Sie die Fahndung ein, Genosse Leutnant!“
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22 Die Kriminalisten hatten eine schlechte Nacht hinter sich, vor allem der Hauptmann. Wenn auch der Harz kein Urwald war, wenn sie Sparr auch finden würden, wenn auch die Fahndung inzwischen eingeleitet worden war (am selben Abend noch über Krögers Fernschreiber) – es hätte nicht passieren dürfen, daß Sparr sie derart überrumpelte! Die zweite Nacht ohne Schlaf für den Hauptmann, aber diesmal nicht wegen der harten Matratze; und das Frühstück wollte heute überhaupt nicht rutschen, obwohl es appetitlich angerichtet serviert wurde. Sie sahen aneinander vorbei, der Hauptmann und der Leutnant, und wechselten kaum ein Wort miteinander. Schreibers Auge zuckte verdächtig, er war sehr erregt, obwohl er sich beherrschte; Jost ließ seinen Unmut eher erkennen, indem er mißlaunig die Brötchen auseinanderriß und das Ei mit einem derartigen Knall aufschlug, daß Schreiber ihm einen wenig freundlichen Blick zuwarf. „Ja, ja, ich weiß“, knurrte Jost, ohne den Hauptmann dabei anzusehen, „aber es würgt mich, daß wir uns von Sparr so haben hinters Licht führen lassen!“ Und nach einer Weile, etwas ruhiger: „Andererseits können wir aus seinem Verhalten schlußfolgern, daß er ein schlechtes Gewissen hat, vielleicht sogar, daß er der Mörder ist.“ Schreiber, der die Tasse gerade zum Munde führte, setzte sie ab, ohne getrunken zu haben, und sagte: „Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Kurzschlußhandlung.“ „Nun sagen Sie bloß noch, Genosse Hauptmann, daß wir den Fall einem Elektriker übergeben müssen!“ raunzte Jost. „Kurzschluß bei Mord, Kurzschluß bei Sparrs Flucht …“ 97
Zeller erschien; sie hatten ihn noch vor dem Frühstück zu Anna Hüttner geschickt, damit er ihr ausrichtete, sie solle in etwa einer halben Stunde in die „Klippmühle“ kommen. Er nickte schon an der Tür zum Zeichen, daß er sie angetroffen hatte. „Hat sie etwas gesagt?“ fragte Jost. „Das schon“, erwiderte Zeller, „aber natürlich nichts von Sparr.“ „Wahrscheinlich weiß sie noch gar nichts von seiner Flucht“, sagte Schreiber. „Vielleicht ist er bei ihr sogar untergekrochen!“ widersprach Jost. „Der wird sich hüten, ganz gleich, welche von den drei Möglichkeiten zutrifft – ob Kurzschluß, schlechtes Gewissen oder sogar Mord. Er wird sich doch nicht der Frau anvertrauen, die er geschlagen und hintergangen hat. Fräulein Hüttner kommt also?“ fragte der Hauptmann Zeller. Der nickte. „Wir hätten Glück, hat sie gesagt, daß sie gerade Urlaub hat.“ Sie waren eben mit dem Frühstück fertig geworden, als Anna Hüttner die Gaststube betrat. Schreiber und Jost wiesen sich aus, dann gingen sie mit ihr in das Zimmer, in dem sie am Tag zuvor Sparr vernommen hatten. Die junge Frau war vollschlank, sie hatte dichtes kastanienbraunes Haar und im reizvollen Kontrast dazu blaue Augen; Jost fragte sich im stillen, welche Fehler sie wohl haben mochte, daß Sparr sich nicht mit ihr allein begnügt, sondern auch noch Beziehungen zu der Ermordeten unterhalten hatte. „Nehmen Sie Platz, Fräulein Hüttner“, begann Schreiber, „wir möchten Sie bitten, uns einige Fragen zu beantworten.“ 98
Die Frau nickte schweigend, sie war unruhig, das spürten die Kriminalisten. „Haben Sie Frau Anrainer näher gekannt?“ Jetzt zwang Anna Hüttner ein Lächeln auf ihr Gesicht, als ob sie eine Erinnerung lebendig werden ließ. „Näher gekannt nicht, aber ich habe sie gemocht.“ Die Männer waren überrascht. „Gemocht? Karin Anrainer war schließlich Ihre Nebenbuhlerin!“ fragte Jost zweifelnd. „Ja, stimmt“, sagte Anna Hüttner ruhig. „Das können Sie wohl nicht verstehen, wie?“ Sie richtete ihren Blick auf den Leutnant: „Die Frau hat’s doch nicht leicht gehabt zu Hause, der Mann ein Versager und deshalb ewig betrunken, seine Eltern meistens noch auf der Seite des Mannes, da kommt eine Frau schnell auf dumme Gedanken …“ „Sie meinen damit die Beziehungen, die Frau Anrainer zu Herrn Sparr hatte?“ Anna Hüttner schwieg eine Weile. Schließlich sagte sie sehr offen: „Das habe ich ihr natürlich nicht verziehen.“ „Haben Sie es Herrn Sparr verziehen?“ fragte Jost. Anna Hüttner funkelte ihn an. „Natürlich auch dem nicht! In Schutz nehme ich sie beide nicht, wenn Sie das meinen.“ „Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, ob Zusammenhänge bestehen könnten zwischen dem Mord und dem Fakt, daß Herr Sparr etwa zur Tatzeit das Grundstück durch den Garten über den Zaun verlassen hat?“ fragte Schreiber. Dabei sah er der Frau voll ins Gesicht. „Das wissen Sie?“ erschrak Anna Hüttner. Schreiber nickte. Die Frau strich sich fahrig über die Wangen. „Sie wissen es also … bloß … darüber kann ich Ihnen wirklich nichts sagen.“ 99
„Fräulein Hüttner, wenn sich Herr Sparr bei Ihnen melden sollte, müssen Sie uns benachrichtigen. Es ist wichtig.“ „Müssen?“ „Ja! Herr Sparr ist flüchtig.“ Sie schloß die Augen. „Wenn er es getan hat, will ich nichts mehr von ihm wissen“, sagte sie leise. „An dem Fall ist mehr, als wir zunächst annehmen konnten“, meinte Schreiber, nachdem die Frau gegangen war.
23 Auf dem Hang hinter der Poststelle weidete eine Schafherde. Der Schäfer, mit Schlapphut und Allwetterpelerine, stand unbeweglich auf seinen Stecken gestützt; er verschwendete kaum einen Blick für die Landschaft, die Fremde immer wieder entzückte, vor allem in dieser Jahreszeit, die bunten Wälder ringsum, die Hänge, von denen der herbe Geruch verbrannten Kartoffelkrautes bis hinunter ins Dorf zog, die Gärten im Tal mit den roten Beeren und den leuchtenden Farben der Herbstblumen; er beobachtete nur die Hunde, die die Herde umkreisten, aber auch das tat er selten, denn auf die Tiere war Verlaß, da genügte ein Pfiff oder ein Wort, und schon wurden die Schafe in die gewünschte Richtung getrieben. Ja, als Schäfer hatte man Zeit zum Nachdenken, da konnte man seine Gedanken Spazierengehen lassen, konnte diesen und jenen in Gedanken verfolgen und sich seine Vorstellungen darüber machen, wie der eine oder andere lebte. Die Karin Anrainer zum Beispiel, bei der hätte er voraussagen können, daß es einmal ein schlechtes Ende mit ihr 100
nehmen würde – die Poussage mit Herbert Sparr, schon zu Lebzeiten ihres Mannes, ihr verbitterter Schwiegervater, Anna Hüttner, alles verfitzt und eines Tages nur mit Gewalt zu lösen. Allerdings war es zuletzt doch anders gekommen, als er vorausgesehen hatte, denn dem Mord lagen – wenn man den Gerüchten glauben durfte – ganze andere Ursachen zugrunde; da war etwas mit einem Scheck, den ein Betrüger bei der Karin hatte einlösen wollen, so tuschelten sie jedenfalls in der „Klippmühle“ und im Gemeindebüro, aber schließlich das Ende, ob so oder so, das hatte er kommen sehen, bloß darüber gesprochen hatte er nicht. Nein, nein, mit so etwas kam man ins Gerede, dann hieß es womöglich noch … „Prinz!“ Der Hund wälzte sich im Schafdreck, jetzt stank er wieder, na, der würde heute abend unter die Pumpe kommen. Und was hatte der Flox da oben zu schnobern? Mal nachsehen, dachte der Schäfer, der vergräbt doch kein Aas oder gerissenes Wild, da muß was anderes sein! Er ging auf das Waldstück zu, wo der Hund unter einem Strauch scharrte, bückte sich und hielt einen Personalausweis in der Hand; dann griff er ein zweites Mal zu, ein Scheckheft! Sekundenlang verharrte der Schäfer in gebückter Haltung, erschrocken über seinen Fund. „Flox, weg da! Verdammter Köter, laß das Schnappen!“ Also, wenn das nicht … wenn das nichts mit dem Mord zu tun hatte, dachte der Mann. Auf wessen Namen lautete der Ausweis? Holbeck? Er hatte den Namen noch nicht gehört, er sagte ihm nichts, aber er erwog die Möglichkeit, ob der Ausweis dem Mörder gehörte, wenngleich es unwahrscheinlich schien, daß jemand seinen Ausweis wegwarf … vielleicht hatte er ihn verloren … 101
Der Schäfer richtete sich auf. Er wurde damit nicht fertig, es war auch nicht seine Sache. Er würde Ausweis und Scheckheft abliefern – mochte die Polizei herausfinden, ob ihr die Dinge weiterhalfen oder nicht. Aber dort weidete die Herde, und er pflegte sie eigentlich erst immer in gut zwei Stunden heimzutreiben. Zwei Stunden – nein, so lange durfte er den Fund nicht zurückhalten! Zwei Stunden waren eine Menge Zeit, da konnte viel passieren. Wenn die Polizei nicht wußte, was er entdeckt hatte, konnte sie beide Fundstücke nicht in ihre Arbeit einbeziehen. Möglich, daß dem Täter dadurch ein weiterer Vorsprung gelang. Er pfiff den Hunden, daß sie die Schafe zurücktreiben sollten. Den Mörder aufzuspüren – das war im Augenblick wichtiger als der volle Pansen der Tiere, die würden nicht gleich verhungern. Als er in Tannrode über die Dorfstraße zog, guckten die Leute auf ihre Uhren. Manche stellten sie auch vor. Denn daß August Krawuttke einmal früher als sechzehn Uhr nach Hause kam, hatten sie bis jetzt noch nicht erlebt – also mußten ihre Uhren nachgehen … Vor der „Klippmühle“ machte er halt. Er klopfte an ein Fenster, die Büfettdame kam heran und öffnete. „Aber August“, sagte sie mit gespieltem Vorwurf, „Alkohol auf der Straße und in der Arbeitszeit?“ „Schick mir einen von den Polizisten heraus“, fertigte der Schäfer sie kurz ab. „Ich kann die Tiere hier nicht allein lassen. Wenn ein Auto kommt …“ Wenig später erschienen Hauptmann Schreiber und Leutnant Jost. „Ich hab’ was gefunden“, sagte der Schäfer. Er hielt ihnen den Ausweis und das Scheckheft hin, beides in ein Taschentuch gewickelt. „Wegen der Fingerabdrücke!“ 102
„Recht so!“ lobte Schreiber. „Wo haben Sie das gefunden?“ „Wenn Sie mal ’n Augenblick herauskommen, kann ich’s Ihnen zeigen.“ Schreiber und Jost traten auf die Straße hinaus. „Da oben, sehen Sie dort die Eiche?“ fragte der Schäfer und schielte zu den Kriminalisten hinüber. „Sie wissen doch, was ’ne Eiche ist – oder? Also, von dort etwa hundert Meter nach rechts, da hat das Zeug unter einem Strauch gelegen.“ „Da also“, sagte Schreiber und zeigte nach dem Waldrücken oberhalb der Wiese. „Ja … Holbeck stand im Ausweis. Hieß der Mann so?“ Schreiber nickte. „Wie lange geht man etwa von hier bis zu der Stelle?“ „In weniger als zehn Minuten schaffen Sie das nicht.“ „Hin und zurück also zwanzig Minuten.“ „Mindestens!“ „Vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen!“ sagte Schreiber. Der Schäfer nickte lächelnd und pfiff dann den Hunden. Die Kriminalisten rieben sich heimlich die Nasen, als die Herde vorübergezogen war, über der Straße stand eine Wolke Hammelgestank. Sie gingen zurück in die „Klippmühle“. Nachdem sie sich im Gastzimmer an den Ecktisch gesetzt hatten, fragte Schreiber seinen Leutnant: „Was sagen Sie nun?“ Jost warf einen Blick auf die Fundstücke, die auf dem Tisch lagen. „Holbeck scheidet also aus“, erwiderte er, „den Ausweis hätte er gebraucht, wenn er den Scheck hätte einlösen wollen. Zwar hat Frau Anrainer ihn gekannt, aber sie hätte prüfen müssen, ob auf der Rückseite des Schecks die richtige Nummer des Ausweises angegeben 103
war. Zwanzig Minuten von hier bis dort oben und zurück – das hätte Holbeck nie geschafft. Der Mord wurde kurz nach sechzehn Uhr verübt. Holbeck kann also nicht noch die Wiese hinaufgelaufen sein, am Waldrand seinen Personalausweis und das Scheckheft weggeworfen haben, zurückgelaufen und mit dem Bus um sechzehn Uhr dreißig weggefahren sein. Schon gar nicht ein Holbeck, wie Sie ihn mir geschildert haben: unsportlich, dicklich, stark sehbehindert. Und dann: der Koffer! Den hätte er mit auf die Anhöhe schleppen müssen, denn aus der Pension hätte er ihn nicht noch holen können.“ Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Etwas in ihren Blicken verriet, daß sie neue Hoffnung schöpften. Dann seufzte Schreiber: „Wissen Sie eindeutig, ob Holbeck mit dem Bus um sechzehn Uhr dreißig gefahren ist?“ „Also erkundigen wir uns!“ sagte Jost kurz entschlossen. Sie fragten die Büfettdame, wann der Bus, der nach Quedlinburg fuhr, aus der entgegengesetzten Richtung an der „Klippmühle“ vorbeikäme. Die Serviererin sah auf die Uhr. „Wenn er pünktlich ist, muß er in fünf Minuten in Tannrode sein.“ Sie gingen zur Haltestelle. „Hoffentlich ist es derselbe Fahrer!“ sagte Jost. Sie hatten Glück. Es war derselbe Fahrer, und der Mann konnte sich sogar noch erinnern. „Vorgestern? Hier an der ‚Klippmühle‘? Ja, da ist ein Mann zugestiegen, auf den Ihre Beschreibung paßt, Vollbart, dicke Brille.“ „Mit Koffer?“ Der Fahrer nickte. „Mit Koffer.“ „Ist vielleicht auch noch ein anderer Mann zugestiegen? Einer, den wir allerdings nicht beschreiben können …“ „Nein“, antwortete der Fahrer nach kurzer Überlegung. „Der mit dem Vollbart war der einzige Mann. Ich 104
weiß es genau, weil er ziemlich aufgeregt war und sich vordrängelte. Die Frauen haben geschimpft. ‚Ein Kavalier von heute!‘ hat eine gesagt. Also, es war kein anderer Mann im Bus, und auch oben ist keiner zugestiegen.“ „Oben? Wo oben?“ Der Fahrer zeigte in Richtung der Eiche, wie zuvor der Schäfer. „Hinter dem Waldstück ist noch ’ne Haltestelle. Auf der Hauptstraße.“ Die Kriminalisten peilten sich mit Blicken an. „Und dort hält auch der Gegenbus?“ fragte Schreiber. „Ja, Sechzehn fünfundvierzig. Der kommt gleich hier vorbei.“ Sie warteten auch auf diesen Bus, dessen Fahrer zwar ebenfalls an dem Tag, an dem der Mord geschehen war, Dienst gehabt hatte, der ihnen aber nichts Wesentliches sagen konnte; ihm war weder ein Mann mit Vollbart noch ein anderer Mann aufgefallen. „Bei mir ist überhaupt keiner mehr zugestiegen, weder da oben noch hier an der ‚Klippmühle‘“, erklärte er. Holbeck war also außer Verdacht. Diesem Ermittlungsergebnis mußten sie sich fügen, wenn sie nicht in die Irre gehen wollten. „Dann hat ein anderer versucht, den Scheck einzulösen, einer, den wir noch nicht kennen“, sagte Schreiber. Der Leutnant schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Mensch, Jost, was bist du Esel doch für ein Kamel!“ „Sind Sie wirklich so vielseitig?“ fragte der Hauptmann. „Deshalb hat sie natürlich den Namen Holbeck gerufen, Genosse Hauptmann! Weil sie wußte, daß der Mann, der den Scheck vorlegte, nicht Holbeck war.“ Jost hatte sich erregt. Er holte kurz Atem, dann fuhr er fort: „Ich habe mich immer gefragt, warum sie den Namen gerufen hat. Daß der Scheck nicht gedeckt war, wußte sie nicht, 105
er stand ja nicht im Sperrverzeichnis. Also hätte sie keinen Grund gehabt, hinter Holbeck, wenn er es gewesen wäre, herzulaufen und seinen Namen zu rufen. Aber er war es eben nicht! Am Schalter erschien ein völlig fremder Mann und präsentierte einen von Holbeck unterschriebenen und mit seiner vollen Anschrift versehenen Scheck. Das machte die Frau stutzig. Sie gerieten in einen Wortwechsel. Sie sagte ihm, er sei nicht Holbeck, er sei ein Schwindler. Der Mann fühlte sich ertappt und flüchtete. Die Frau rannte hinter ihm her. Da verlor der Mann die Nerven – er sah das Beil, ergriff es und schlug zu …“ „Und was ist mit Sparr?“ fragte Schreiber herausfordernd. „Ja, freilich … Sparr! Mit dem Scheck hat er nichts zu tun, aber vielleicht mit dem Mord … er oder der Unbekannte, einer von beiden ist es gewesen.“
24 Bewegte er sich, oder kam der Wald auf ihn zu, die Kreuzungen und Abzweigungen, die Schilder …? Sparr hätte es nicht zu sagen vermocht. Er saß verkrampft auf dem Motorrad, einer MZ, den Kopf eingezogen, denn es war hundekalt. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, die Augen brannten, seine Hände waren erstarrt, er fühlte sie kaum noch. Die Kälte durchfloß ihn wie ein Eisstrom. Er hatte kein Gefühl mehr, auch nicht dafür, ob er sich überhaupt noch vorwärts bewegte. Er sah nur Stämme vorüberflitzen, Felsbrocken, Zweige mit Blättern, und wenn ihm ein Fahrzeug entgegenkam, schien es ihm, als stünde er still, während gelbe Glotzaugen auf ihn zueilten. 106
Hin und wieder sah er sich um, aber bloß für einen kurzen Augenblick. Ein Auto überholte ihn. Die Straße war schmal, es raste knapp einen Meter seitlich vorbei. Jetzt haben sie dich, dachte er, aber dann sah er nur noch die Schlußlichter. Anna, das Miststück! Die hatte ihn verpfiffen. Woher sollte die Kripo sonst wissen, daß er gestern gegen sechzehn Uhr über den Zaun gestiegen war? Aber konnte er es ihr verdenken? So wie er sie behandelt hatte und betrogen mit einer anderen Frau! Nein, so eine wie die Anna würde er nicht wieder finden, die sich so viel gefallen ließ … er selbst war schuld! Durch den Garten über den Zaun! Und die Nachbarn hingen immer in den Fenstern! Das wußte er doch, er hätte daran denken müssen! Ach was, alles Quatsch! Karin war schuld. Nur sie! Warum mußte sie ihm diesen Brief schreiben? Er kam ja fast jeden Tag zu ihr, so daß sie ihm hätte sagen können, es sollte Schluß mit ihnen sein. Aber nein, sie muß ihm schreiben, damit’s die Kripo findet, schwarz auf weiß! Hätte sie es ihm gesagt, wäre alles anders gekommen. Man hört die Stimme, man hört, wie die Worte klingen, weiß, wie sie gemeint sind. „Laß mich in Ruhe“ – gesprochen kann es weich, sogar bittend klingen, als ob man sich noch entschuldigen wolle. Aber geschrieben heißt das soviel wie „Scher dich weg!“ Und dann ist man natürlich in Zorn. Was hieß hier „Scher dich weg“? Monatelang war man gut gewesen, hatte sich bei den Leuten ins Gerede gebracht, auch bei der Mutter und den alten Anrainers, von Anna ganz zu schweigen! Und jetzt, da der Weg frei gewesen wäre, gab sie ihm ’n Tritt! Sparr blendete ab, als er den Berg hinunterfuhr. Im Tal lag die Kreisstadt. Vielleicht wußte die Polizei dort schon Bescheid und kontrollierte jeden Motorradfahrer. 107
Er bremste scharf und kam ins Rutschen, fing die Maschine aber ab und zog sie nach rechts auf ein Plantagengrundstück. Er schaltete das Licht aus, stieg ab und ließ das Motorrad stehen. So, jetzt war er ein ganz unauffälliger Bürger. Sie konnten nicht jeden anhalten, so viele Polizisten gab es gar nicht. Er erreichte die erste Straße. Dunkel. Man sparte mit Licht, hier genauso wie in Tannrode. Bei anderer Gelegenheit hätte er geflucht, jetzt war es ihm recht. Man ging aneinander vorbei, sah sich kaum an, beeilte sich womöglich, schnell wegzukommen in die Dunkelheit. Keine Tuchfühlung, kein Erkennen … An einer Kreuzung bog er rechts ab, ging bis zum Bahnhof, kämpfte die Versuchung nieder, in der Mitropa einzukehren, und löste am Schalter eine Fahrkarte nach Jävenitz. Den Namen mußte er buchstabieren. „Liegt zwischen Stendal und Gardelegen“ erklärte er. „Heute abend noch?“ fragte die Fahrkartenverkäuferin. „Mal sehen, ob’s klappt.“ Zunächst mal weg von hier, dachte er. „Bis Halberstadt schaffen Sie’s noch, aber ob weiter …?“ Er lachte durch die Scheibe. „Fahren Sie mit, dann habe ich Gesellschaft.“ Das junge Mädchen lachte zurück. „Ich kann nicht hundertmal am Tag mitfahren.“ Dann hatte sie ihn schon vergessen. So anziehend war er nicht, daß sie ihn im Gedächtnis behalten hätte. Endlich saß Sparr im Zug nach Halberstadt. Das Abteil war leer, auch hier nur trübes Licht. Er kuschelte sich in eine Ecke. Dampf wurde abgelassen, quoll an der Scheibe vorüber, zerflatterte, als der Zug sich in Bewegung setzte. Immer die Weiber, zürnte er. Warum mußte ich schon wieder mit der Kleinen hinter dem Schalter quatschen! 108
Unverdächtig bleiben, war seine Devise. Raucherabteil. Aber er hatte sich keine Zigaretten gekauft. Vergessen. Das hätte nicht passieren dürfen. Er mußte seine Gedanken besser zusammenhalten. Verzichten, wo es not tat – mitnehmen, was er brauchte. „Mit sechsundzwanzig haben Sie doch noch alles vor sich!“ hatte der Hauptmann gesagt. Aber was hat man denn vor sich, wenn man unter Mordverdacht steht? Scheiße! Es wurde eine lausige Nacht. Sparr gehörte zu den Reisenden, die der Fahrplan zum Mitternachtsaufenthalt im Wartesaal des Halberstädter Bahnhofs verurteilt hatte. Da hockte man nun und soff schales Bier oder labbrigen Kaffee, bis man glaubte, das Zeug würde einem über die Lippen laufen wie über den Rand eines Fasses. Aber man mußte einen klaren Kopf behalten. Da war zum Beispiel eine VP-Streife, die zwischen den Tischen immer näher kam. Man hatte sich Zigaretten gekauft und die NBI. Man saß vor einer Tasse Kaffee und schielte zu dem Polizisten hin. Man beruhigte sich bei dem Gedanken an den gültigen Personalausweis und die Fahrkarte nach Jävenitz. „Liegt zwischen Stendal und Gardelegen“, erklärte er auch der Streife, obwohl die das gar nicht interessierte. Wieder eine unkontrollierte Handlung! Der Volkspolizist wollte weder den Ausweis noch die Fahrkarte sehen, aber Sparr glaubte, er müßte es ihm geradezu aufs Butterbrot schmieren, daß er unschuldig nach Jävenitz fuhr. Jetzt hätte man die Schicht hinter sich und läge im warmen Bett, allein oder mit der Anna. Und morgen, nicht sehr früh, eher etwas später, würde man sich rasieren und vor dem Spiegel Grimassen schneiden, und dann würde man – ja, dann würde man Zeit haben für sich. Ohne Angst. Möglich auch, daß man sich steif machte bei dem Gedanken, wie sie am Tag zuvor in der Brigade 109
einen Vorsprung erarbeitet hatten. Man würde sich stolz fühlen. Man würde zur Anna sagen: „Paß auf, ich schaff’s doch wieder!“ Und die Anna würde einen mit ihren blauen Augen ansehen und gar nichts sagen, sondern einen Kuß … Sparr zuckte zusammen und riß die Augen auf. Nicht einschlafen! Nicht im Schlaf sprechen! Von wegen: dem Hauptmann eine Leergutkiste entgegengeworfen, aufs Motorrad und weg. Nein, stark machen! Nicht auf die Uhr sehen, deren Zeiger festgeklebt zu sein scheinen … Und dann kam endlich der neue Tag, der Mittwoch, der die Übermüdeten ihrer Warterei enthob und wieder Züge fahren ließ. Auch den nach Jävenitz. So nahe schon war Sparr dem Ort, daß er den Namen nicht mehr zu buchstabieren brauchte. Hier wußte jeder, wo Jävenitz lag. Was die Leute nicht wußten und auch nicht zu wissen brauchten: Dort wohnte eine Tante von ihm, eine Witwe, eine Schwester seiner Mutter. Man schrieb sich zu den Geburtstagen und zum Jahreswechsel, und jedesmal hatte Herbert Sparr versichert, daß er sie „mal besuchen komme“. Jedesmal hatte er dabei gegrinst. Ausgerechnet Tante Olga besuchen! Das wär’ ja wohl das letzte! Und jetzt war er auf dem Weg nach Jävenitz und froh, daß es dort eine Tante gab! Jetzt zahlte sich auch das Warten in Halberstadt aus, denn er kam zu einer Zeit, die nicht mißtrauisch machte. Er brauchte nicht zu mitternächtlicher Stunde an den Fensterladen zu klopfen, als müsse er heimlich um Aufnahme bitten. Nein, er kam gerade recht zum Frühstück. Das klappte ausgezeichnet, wie Tante Olga meinte. Aber dann wunderte sie sich doch, und ihr hagerer Kopf ruckte ihm entgegen. „Gar kein Gepäck? Keine Tasche, nichts?“ 110
Sparr rang sich ein Lächeln ab. „Hier steht dein Neffe Herbert, völlig ausgeplündert. Die Menschen sind schlecht, Tante Olga. Aus dem Gepäcknetz haben sie’s mir geklaut, die Schweine!“ „Nein, so was!“ entrüstete sich die Tante. Und dann wurde gefrühstückt.
25 Wachtmeister Zeller fuhr an diesem Mittwoch nach Halle, um dort noch am selben Tag eine Suchmeldung in die Wege zu leiten. Es ging um Sparr, von dem ein Bild in der Presse veröffentlicht werden sollte, und um eine weitere, noch unbekannte Person, die sich unter verdächtigen Umständen am Montag zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr in der Nähe der Poststelle in Tannrode aufgehalten hatte. Während Jost noch dem Auto nachblickte, trat eine schwarzgekleidete Frau auf ihn zu und fragte, ob sie in der „Klippmühle“ vielleicht die Herren sprechen könne, die den Fall ihrer Tochter bearbeiteten. „Frau Löbau?“ sagte Jost zögernd. „Ja.“ Sie sah ihn an, als ob sie Hilfe von ihm erwartete. Es brachte ihn so schnell nichts aus der Fassung, aber wie die Frau da vor ihm stand, verhärmt und mit bittenden Augen, überflutete den Leutnant heftiges Mitleid. Nur ein Wort wollte sie hören, das wußte er, nur ein tröstliches Wort; vielleicht daß ihre Tochter sich nicht lange hatte quälen müssen oder daß die Kriminalisten den Mörder bereits gefunden hatten, um ihn der gerechten Strafe zuzuführen. 111
Er legte behutsam den Arm um ihre Schultern und führte sie in das Gasthaus. „Ich bringe Sie zu Hauptmann Schreiber“, sagte er, „ich bin sein Mitarbeiter, heiße Jost.“ Er mußte noch etwas sagen, und sei es auch nur eine winzige Belanglosigkeit! Die Frau sollte das Gefühl bekommen, daß sich noch viele Fäden spannen zwischen ihr und den Menschen um sie herum, obwohl sie die Tochter verloren hatte. „Sie waren sicherlich schon bei Herrn Anrainer“, fuhr Jost deshalb fort. „Er hat uns sofort von der Sache verständigt.“ „Ich wohne für ein paar Tage bei ihm“, antwortete die Frau leise, „er ist ganz verzweifelt …“ Sie stiegen die Treppe hinauf. Schreiber öffnete die Tür. „Das ist Frau Löbau“, sagte Jost. Der Hauptmann gab ihr mitfühlend die Hand und ließ sie eintreten. „Bitte, nehmen Sie Platz! Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen lassen?“ Die Frau lehnte stumm ab. „War Karin Ihr einziges Kind?“ fragte Schreiber. „Ja“, sagte sie leise. Ihr Blick irrte durch das Zimmer. „Dürfen wir ein paar Fragen an Sie stellen?“ Die Frau hob den Kopf und antwortete mit unvermuteter Entschlossenheit: „Deshalb bin ich doch gekommen. Ich habe damit gerechnet …“ Dann zaghafter: „Haben Sie schon einen Verdacht?“ Schreiber und Jost wechselten einen Blick. Man mußte der Frau etwas Hoffnung geben, ein Vorgriff auf die Lösung des Falles war keine Anmaßung. „Einen Verdacht schon … Bitte, erzählen Sie uns etwas über Ihre Tochter, über den Verlauf ihrer Ehe …“ „Ich weiß“, seufzte die Frau, „daß Sie an Karins Beziehungen zu Herrn Sparr denken. Aber Sie dürfen Karin 112
nicht verurteilen …“ „Das liegt uns fern“, beruhigte Schreiber sie. „Wir haben schon einiges in Erfahrung gebracht. Wie lange, glauben Sie, war die Ehe glücklich?“ „Nicht lange … geheiratet haben sie am zwanzigsten Januar neunzehnhundertsiebzig in Köthen, wo Lutz die Ingenieurhochschule besuchte. Daß er das Examen nicht bestanden hat, wissen Sie wohl schon … Ich verstehe ja auch nichts davon, aber Karin hat mir einmal gesagt, daß Lutz die Mathematik nicht begreife. Für meine Tochter war das eine Enttäuschung, Karin war klug …“ Frau Löbaus Stimme versagte. Sie wischte sich mit einem Taschentuch über die feuchten Augen. „Alle Prüfungen in der Post mit Eins bestanden … und ihr Mann? Wilhelm, der Vater von Lutz, war genauso niedergeschlagen. Er hatte aus seinem Sohn immer etwas machen wollen. Sie dürfen nicht denken, daß ich dem Wilhelm jetzt irgendwie Vorwürfe … er hat’s ja auch nur gut gemeint in seinem Stolz. Bloß eines fand ich nicht schön: Er wollte meine Tochter dafür verantwortlich machen, daß Lutz sein Studium hat aufgeben müssen. Sie hätte ihn verführt!“ Frau Löbau schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Karin war schwanger gewesen und hat eine Fehlgeburt gehabt“, fuhr sie fort. „Aber wer wird wohl mehr darunter gelitten haben, Lutz oder meine Tochter? Vielleicht war’s auch ein bißchen Neid bei Wilhelm, weil Karin in ihrem Beruf sehr tüchtig gewesen ist. Als feststand, daß die jungen Leute nach Tannrode ziehen, hat sie sich um die Leitung der Poststelle beworben und sofort die Zusage gekriegt.“ Durch das Fenster drang das Gackern der Hühner und das dumpfe Muhen der Kühe. Frau Löbau, vom Schmerz wieder überwältigt, brauchte einige Minuten, bevor sie 113
weitersprechen konnte. „Es hätte ja alles noch gut werden können“, sagte sie schließlich. „Die beiden hatten nichts auszustehen, sie verdienten gut und hatten ihre Möbel, eine Waschmaschine, einen Kühlschrank, den Garten und ein Schwein im Stall, beides gemeinsam mit den Schwiegereltern … wie das eben so ist auf dem Dorf.“ Das allein macht aber das Leben nicht aus, dachte Jost, und auch eine Ehe erschöpft sich nicht im kompletten Hausrat, zur Ehe gehört schon etwas mehr, mindestens die gegenseitige Anerkennung. „Und weshalb hat er angefangen zu trinken?“ fragte der Leutnant unvermutet laut. „Weshalb?“ wiederholte Frau Löbau. „Weil er durchs Examen gefallen war. Ja, deshalb! Und nicht etwa, weil Karin mit diesem Sparr … sie hätte das nicht tun sollen, gewiß nicht, aber das war nicht der Grund, weshalb Lutz angefangen hatte zu trinken. Umgekehrt war’s, so hat’s mir meine Tochter erzählt. Sie ist oft allein gewesen, und wenn sie mal ausgingen, hat er sich meistens an der Theke aufgehalten. Er hat sich treiben lassen. In diesem Punkt waren sie so verschieden wie Tag und Nacht, Karin und Lutz, er hatte keinen Ehrgeiz, keinen Mumm, wie man so sagt …“ Frau Löbaus Blick irrte wieder durch das Zimmer. „Vielleicht hätte auch der Wilhelm ein bißchen mehr Courage haben sollen.“ „Wieso?“ fragte Schreiber. „Er hat bloß immer auf meiner Tochter rumgehackt. Dem Lutz hat er gar nichts gesagt, obwohl er dem auch nicht mehr grün war … bloß immer auf Karin rumgehackt …“ Sie schluchzte verzweifelt. Schreiber fühlte Josts Blick auf sich gerichtet, aber er erwiderte ihn nicht. Er sah die Frau an und suchte nach 114
einem tröstenden Wort. Auch diesmal fand er keines, wie so oft, wenn er mit den Angehörigen eines Ermordeten sprach. Und eigentlich war er sicher, daß es für Frau Löbau keinen Trost bedeuten würde, wenn sie ihr sagten, sie hätten den Mörder gefunden.
26 Die Tür knarrte, dämmeriges Licht fiel in den Hausflur. Jost näherte sich der Treppe und stand schon vor der ersten Stufe, als aus der oberen Etage gerufen wurde, wer da sei. „Leutnant Jost!“ Erst nach einer Weile antwortete Anrainer, der oben am Geländer stand, wenig einladend: „Kommen Sie schon ’rauf!“ Es hörte sich an, als ob er sich dazu hatte überwinden müssen, aber Jost konnte sich irren. Die beiden alten Leute, Frau Löbau und Anrainer, hatten vielleicht den Vormittag über nur vom Tod ihrer Kinder gesprochen, und der Mann war aufs neue verbittert. „War Frau Löbau bei Ihnen?“ fragte Anrainer. „Ja“, antwortete Jost, „nach unserem Gespräch wollte sie ein Stück Spazierengehen, sie wollte ein bißchen allein sein.“ Anrainer sah über den Leutnant hinweg, der die Treppe heraufkam. „Allein sein!“ wiederholte er. „Das bin ich immer, das brauche ich nicht erst zu … Ach, lassen wir das, bringen Sie was Neues mit?“ „Wir haben die Fahndung nach Sparr eingeleitet.“ Anrainer lachte unfroh. „Hätte ich ihn doch früher schon die Treppe runtergestürzt, wenn er zur Karin kam! Das hätte uns vieles erspart.“ 115
„Ihnen nicht!“ meinte Jost. Anrainer wandte sich stumm ab und ging voraus. Über die Schulter gewandt, sagte er nach einer Weile: „Sie wissen ja hier Bescheid. Wir gehen in die Küche.“ Als Jost eingetreten war, fragte Anrainer: „Also was möchten Sie nun eigentlich?“ „Ermitteln“, antwortete Jost leise. „Bei mir?“ „Es geht immer noch um das Beil. Wo hatten Sie es vorgestern im Hausflur abgelegt?“ „Es hängt hinter der Kellertür“, sagte Anrainer. „Aber am Montag war es nicht dort!“ widersprach Jost. „Bestimmt nicht zur Tatzeit. Hinter der Kellertür hätte es der Mörder ja gar nicht sehen können.“ Sie saßen einander am Tisch gegenüber. Anrainer starrte mit verkniffenen Lippen vor sich hin. Jost konnte nicht ausmachen, ob der Mann sich überhaupt Mühe gab, seine Fragen zu bedenken. Vielleicht, dachte der Leutnant, reagiert so ein Mensch, der einen ungewöhnlich heftigen Schock erlitten hat, der in einem seelischen Trauma lebt, das genauso verheilen muß wie eine körperliche Wunde … Eine blasse Sonne schien durch das Fenster und malte zitternde Kringel auf den Tisch. Darüber tanzten Stäubchen, ein lautloser Tanz, ein stiller Wirbel nicht zu fassender Teilchen. Die Männer sahen zu. Auf Anrainers Gesicht zuckte es. Plötzlich stieß er den Arm nach vorn, griff ins Leere und öffnete die Hand. Lange sah er auf die runzlige Haut. Dann seufzte er. „Ich weiß es nicht“, sagte er mit einer Stimme, die klang, als ob man zwei Pappstücke gegeneinanderschlüge. „Ich weiß nicht mehr, wo ich das Beil abgelegt hatte.“ Er blickte den Leutnant an. Seine Stimme wurde leiser. „Ich 116
gebe ja zu, daß ich mich mitschuldig gemacht habe. Ich hätt’s nicht irgendwohin legen sollen, aber ich frage Sie: Hätten Sie das vorausgesehen?“ „Natürlich nicht!“ gab Jost zu. „Es macht Ihnen ja auch niemand einen Vorwurf.“ Anrainer schlug die Augen nieder und räusperte sich. „Es ist schon so genug!“ sagte er gequält. „Gewiß. Ich kann mir gut vorstellen, wie Ihnen und Frau Löbau zumute ist. Wir möchten ja auch nichts weiter, als daß Sie uns vielleicht mit einem Hinweis unterstützen. Nehmen wir an, Sparr wird nach seiner Festnahme von uns erneut befragt, dann müssen wir natürlich wissen, wo das Beil gelegen hat. Wie sollen wir ihm sonst nachweisen, daß er lügt?“ „Das wissen Sie doch sowieso!“ erwiderte Anrainer mürrisch. „Aber wir müssen’s ihm beweisen“, sagte Jost geduldig. „Sonst können wir den Mörder Ihrer Schwiegertochter nicht überführen.“ Anrainer atmete kurz und mühsam. „Und was ist mit meinem Sohn?“ fragte er schließlich dumpf. „Von dem red’ niemand mehr!“ Das also war es! Anrainer hatte das Empfinden, daß man dem Tod seiner Schwiegertochter mehr Interesse und Anteilnahme entgegenbrachte als dem seines Sohnes. Ein Gefühl der Kränkung, des verletzten Stolzes beherrschte ihn. Jost legte ihm über den Tisch hinweg eine Hand auf die Schulter. „So dürfen Sie das nicht sehen!“ sagte er. „Hier geht es um ein Verbrechen. Das hat nichts mit dem menschlichen Wert der Toten zu tun. Wir machen bei unseren Ermittlungen keine Unterschiede.“ Und behutsam setzte er hinzu: „Erinnern Sie sich …“ 117
Gemeint hatte der Leutnant, daß Anrainer versuchen sollte, sich zu erinnern, wohin er das Beil gelegt hatte; aber der alte Mann war so versunken in familiäre Erinnerungen, daß er zu erzählen anfing, wie Lutz und Karin sich kennengelernt hatten. „Das war damals, als Lutz in Köthen studierte. Wir erfuhren es zuerst aus einem Brief, den er uns schrieb, ‚Ich habe ein Mädchen kennengelernt, das bei der Post beschäftigt ist …‘ Er hatte sich bis dahin nie etwas aus Mädchen gemacht.“ Anrainer fuhr sich mit der Hand über den Mund, bevor er weitersprach. „Dazu hatte er in der Schule keine Zeit. Er hat ziemlich büffeln müssen. Ich wußte, daß er etwas schwer lernte, deshalb war ich immer ein bißchen hinterher. Lutz sollte doch vorwärtskommen. Sein Klassenlehrer hatte zwar zu einem soliden Handwerk geraten, aber …“ Anrainer machte eine Handbewegung, als wollte er etwas vom Tisch fegen. „Und dann, mitten im Studium, der Brief. Mußte er gerade jetzt damit anfangen? Als er auf Urlaub kam, sprach ich mit ihm. Er wich mir aus … bis eines Tages …“ Anrainer lehnte sich auf dem Stuhl zurück, er hob den Kopf und starrte gegen die Decke. „Sie wurde schwanger. Er brachte sie zum Wochenende mit nach Tannrode …“ Der alte Mann bewegte lautlos die Lippen. Jost ließ ihn gewähren. Er mußte sich eine Last von der Seele reden, dann würde man von ihm vielleicht auch Näheres über die Situation erfahren, wie sie zur Tatzeit bestanden hatte, über Vorgänge im Hausflur und vor dem Postschalter, über Gesprächsfetzen irgendwelcher Anwesender. Noch war das alles in Anrainer verschüttet, es mußte erst freigelegt werden. Unvermutet fuhr er fort: „Wenn man eine übergroße Liebe zu seinem Kind empfindet, dann sorgt man häufig 118
bloß dafür, daß es einen glatten Weg geht, man kümmert sich zuwenig darum, wohin der Weg führt … etwa in den Abgrund … Lutz war unser Einziger …“ Anrainers Stimme glitt ab in ein Schluchzen. Nur mühsam konnte er weitersprechen. „Er liebte das Mädchen, das wußten wir. Wir hofften, es würde eine glückliche Ehe werden, obwohl ich gleich erkannte, daß Karin nicht zu ihm paßte. Aber den eigentlichen Grund kann ich auch heute noch nicht nennen … Verstehen Sie?“ Jost nickte. „Haben Sie mit den beiden darüber gesprochen?“ fragte er. „Mehr als nur einmal. Mit ihr und mit meinem Sohn. Karin habe ich gefragt, ob Lutz der richtige Mann für sie sei. Wissen Sie, was die geantwortet hat?“ Anrainer ballte eine Hand zur Faust. „‚Wer das schon vom andern weiß!‘ hat sie gesagt.“ „Eine Redensart!“ meinte Jost. „Warum hat sie dann den Sparr genommen?“ „Sie sprachen vorhin von einer Schwangerschaft“, lenkte Jost das Gespräch zurück. Anrainer rieb die Zähne gegeneinander. „Fehlgeburt! Das hat unseren Lutz aus der Bahn geworfen. Mit dem Studium war’s auf einmal vorbei, jetzt mußte geheiratet werden, als ob er Angst gehabt hätte, sie könnte ihm weglaufen … Die hat in ihm doch sowieso bloß den künftigen Ingenieur gesehen. Er hätte noch zwei Semester machen müssen, aber dazu kam’s dann nicht mehr, und damit wurde er uninteressant für die Karin.“ „Hat er einfach aufgehört?“ fragte Jost, obwohl er es besser wußte. Zu seinem Erstaunen antwortete Anrainer: „Ja, aufgehört …“ Das war eine offenkundige Lüge, wahrscheinlich wieder 119
aus verletztem Stolz. Sie würden sich in Köthen erkundigen, routinehalber. „Jetzt bin ich müde“, sagte Anrainer mit matter Stimme. „Nur noch eine Frage“, bat Jost. „Wußte Herr Sparr, daß das Beil für gewöhnlich hinter der Kellertür hing?“ „Schon möglich“, antwortete Anrainer. Jost sah keine Möglichkeit mehr, noch weiter in den alten Mann zu dringen. „Ich will Sie nicht länger belästigen“, sagte er zum Abschied, „aber versuchen Sie bitte, sich zu erinnern, wo Sie das Beil …“ „Ja, ja!“ sagte Anrainer. Es klang wie: Nun geh schon!
27 Donnerstag. Der dritte Tag nach dem Mord, die Peripetie, wenn das Verbrechen bald aufgeklärt sein sollte. Je weiter sich die Ermittlungsarbeit vom Zeitpunkt der Tat entfernte, desto mehr ließ das Erinnerungsvermögen der Zeugen nach. Objektive Beweismittel behielten zwar ihren Wert, aber sie hatten nur den Scheck und das Beil, und weder das eine noch das andere hatte ihnen bisher weitergeholfen. Schreiber und Jost besprachen den Fall in ihrem Hotelzimmer. Als verdächtig galten Sparr und jener Unbekannte, der den Personalausweis und das Scheckheft weggeworfen hatte. Die Kriminalisten waren sich jedoch klar darüber, daß Sparrs Flucht nicht als schlüssiger Beweis für seine Schuld gewertet werden durfte. Sie konnte ebenso als Zeichen seiner Unschuld gelten – wenn es nämlich eine Kurzschlußhandlung war. Sparr fühlte sich durch den gegen ihn erhobenen Verdacht gefährdet, sah 120
sich schon vor Gericht gestellt und verurteilt – und verlor die Nerven. Das wäre nichts Neues gewesen. Was sprach sonst gegen ihn? Sein Geständnis, daß er kurz vor dem Mord in der Poststelle gewesen war und mit Karin Anrainer Streit gehabt hatte, sein Fluchtweg durch den Garten … Aber immer wieder: Da war der Scheck! Mit ihm hatte Sparr wirklich nichts zu tun, darüber brauchten sie nicht noch zu diskutieren. Trotzdem mußte der Scheck mit dem Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden, dafür sprach die Situation, in der die Kriminalisten die Tote unmittelbar nach der Tat vorgefunden hatten. Also konnte der Täter auch die unbekannte Person sein, die den Scheck zur Einlösung vorgelegt hatte. Schreiber und Jost erhielten den schon am Vortag telefonisch durchgegebenen Bericht über das Ergebnis der Obduktion. Das gerichtsmedizinische Gutachten gab als Todesursache eindeutig Zertrümmerung der vorderen Schädeldecke mit einem stumpfen, etwas breitem Gegenstand an, „vermutlich mit der Breitseite des am Tatort gefundenen Beils“, wie es wörtlich hieß, „wegen der am Beil befindlichen Knochensplitter und Blutspuren und weil die Breite der Zertrümmerung der Schädeldecke mit der Breite des Beils als übereinstimmend beurteilt werden kann.“ Der Tod war wenige Augenblicke nach dem Schlag mit dem Beil eingetreten. Andere Verletzungen wies die Ermordete nicht auf, Spuren, die durch den Sturz hervorgerufen worden waren, hätten keinesfalls den Tod zur Folge haben können. Das Gutachten war exakt, aber für die Morduntersuchungskommission brachte es nichts Neues, es half ihr kaum weiter. Die Frage, wer den tödlichen Schlag geführt hatte, blieb nach wie vor offen. 121
„Wie lange tappen wir noch im dunkeln?“ seufzte Schreiber. Er trat ans Fenster. „Wir müssen warten, ganz einfach warten, bis unsere Minen hochgehen, die Notiz in der Zeitung und das Fahndungsersuchen.“ Er wandte sich um und nickte Jost mit säuerlichem Lächeln zu. „Bestimmt ist das Ersuchen schon in Berlin, aber ehe es von dort in das Informationsblatt kommt und bis das dann bei den Dienststellen eintrifft – da vergeht noch ein bißchen Zeit, und wenn vorher nichts geschieht, müssen wir Nerven wie Stricke haben, um durchzuhalten.“ Aber schon wenige Stunden später geschah etwas. Gegen Mittag meldete sich ein Bürger in der „Klippmühle“; er erklärte, er könne einen Hinweis geben zu dem Mordfall, der in Tannrode passiert sei. Er war salopp gekleidet, wie einer, der täglich Auto fährt, Lederjacke, Jeans und Pulli. Dem Leutnant, dem er in der Gaststube zuerst begegnete, sagte er, er heiße Grundmann. „Ich komme wegen der Notiz, die heute in der Zeitung gestanden hat.“ Jost fühlte ein Kribbeln in den Ohren. „Gehen wir zu Hauptmann Schreiber, er ist oben auf seinem Zimmer.“ Grundmann wollte unterwegs schon Einzelheiten erzählen, aber Jost bat ihn, damit noch zu warten. „Damit Sie’s nicht zweimal sagen müssen“, meinte er. „Das würde mir gar nichts ausmachen“, antwortete Grundmann gesprächig. Nachdem er im Zimmer von Schreiber begrüßt worden war, fing er gleich wieder an, ungeniert zu erzählen, noch ehe er sich auf einen Stuhl gesetzt hatte. „Es handelt sich nicht um diesen Sparr, von dem ein Bild in der Zeitung gewesen ist, ich komme vielmehr wegen der unbekannten Person, die Sie auch noch suchen. Am Montag hab’ ich mir überhaupt noch nichts 122
dabei gedacht. Anhalter ist ja heute eine moderne Art des Reisens, gerade bei jungen Leuten. Also, ich fahre am Montag mit meinem Wartburg oben auf der Straße … ja, oberhalb der Wiese, hinter der Poststelle … ganz recht, da wo die Bushaltestelle ist; es muß kurz vor siebzehn Uhr gewesen sein. Festlegen möchte ich mich nicht, aber ungefähr wird’s stimmen, denn es war Viertel nach fünf, siebzehn Uhr, meine ich, als wir in Quedlinburg vor dem Bahnhof hielten, und für die Strecke braucht man etwa zwanzig Minuten. Na schön! Also da oben winkt mir ein junger Mann zu. Ich halte, und er fragt, ob er mitfahren könne, er wollte nach Quedlinburg und von dort mit dem Zug nach Wernigerode. Ich mache so was nicht gern, wegen der Schadenshaftung, falls mal was passiert, ich bin darauf nicht versichert, aber weiß der Teufel, ich war irgendwie in Stimmung, und dann war’s ja man auch bloß ’n kurzes Stück. Vor dem Bahnhof steigt der Mann aus, verabschiedet sich und geht in den Schaltervorraum. Mir fällt ein, daß ich mich nach einem Zug aus Halberstadt erkundigen wollte, weil nämlich meine Schwägerin … na, das interessiert Sie wohl nicht. Aber jetzt kommt’s! Ich sehe den Mann durch die Sperre verschwinden, gucke ihm nach, irgend so’n Gefühl, wissen Sie, und da steigt der doch in einen Zug, der nach Aschersleben fährt! Merken Sie was? Von wegen: nach Wernigerode! Albern, denke ich, laß ihn schwindeln, als ob’s mich was angeht, wohin der will.“ Grundmann reckte sich auf dem Stuhl. Schreiber und Jost merkten, daß jetzt ein neues Kapitel beginnen sollte. „Heute morgen lese ich nun Ihren Hinweis. Dunnerlittchen, denke ich, das war doch der Kerl! Und nun fallen mir auch wieder Einzelheiten ein, Kleinigkeiten, wissen 123
Sie, auf die man nicht Obacht gibt, wenn’s nicht drauf anzukommen scheint. Ich erinnere mich beispielsweise, daß der Mann sehr aufgeregt war, was er aber zu vertuschen suchte. Immer lustig, immer fidel! Krampf, meine Herren, nur Krampf! Ja, jetzt weiß ich auch, daß ich am liebsten gesagt hätte, er solle aussteigen. Aber ’s war ja bloß ’n kurzes Stück. Dann das Rauchen. Ich bin Nichtraucher und hab’s auch nicht gern, wenn in meinem Wagen gequalmt wird. Aber der Kerl – entschuldigen Sie bitte den Ausdruck –, also der junge Mann steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, so schnell konnte ich gar nicht Luft holen, dann – jetzt hör’n Sie mal schön zu! – steckte er sie mit einem Streichholz an, und da sah ich seine Hände zittern, und … Blut sah ich an seinen Fingern! Trocknes Blut, ohne daß er verletzt gewesen wäre! Also heute morgen, ich denke, mich rührt der Schlag!“ Schreiber unterbrach ihn sacht. „Woher wissen Sie denn, daß es Blut war?“ Grundmann riß die Brauen hoch. „Es gibt auch rote Farbe“, meinte Schreiber, noch immer zurückhaltend, um den Mann nicht zu verstimmen. „Vielleicht war’s Farbe“, räumte Grundmann großmütig ein. „Aber gelogen hat er, daran gibt’s nun nichts zu rütteln. Vorausgesetzt natürlich, daß er der Mann ist, den Sie suchen! Dann wird er ja wohl Grund gehabt haben, einen Haken zu schlagen wie’n Hase, wenn der Hund hinter ihm her ist. Mal offen gesprochen: Sie würden ihn jetzt in Wernigerode suchen, wenn ich nicht gesehen hätte, daß er in Richtung Aschersleben gefahren ist. Stimmt doch, nicht wahr? Wohin er gefahren ist, weiß ich natürlich nicht, er kann ja auf der nächsten Station wieder ausgestiegen sein. Aber dafür sind Sie ja die Kripo! Sie werden ihn schon finden.“ 124
Grundmann lächelte. . Schreiber lächelte zurück. „Und wie sah er aus?“ Grundmann klatschte sich auf den Schenkel. „Verdammt noch mal!“ rief er. „Natürlich! Sonst nützt Ihnen ja mein ganzer Hinweis nichts. Also: mittelgroß, sagen wir, eins sechzig bis eins siebzig, schmächtig, Vollbart, noch jung, denn alte Männer gehen heute glattrasiert, schätze so fünfundzwanzig, braune Kutte mit vier aufgesetzten Taschen – ich bin aus der Textilbranche –, Reißverschluß, und … ja, eine schwarze Ledermütze mit einem Knopf obenauf. Die hat mir gleich nicht gefallen, die wirkte direkt brutal. Auf mich jedenfalls. Der Knopf … das sind so Emotionen“, gab sich Grundmann wichtig. „Der Mann ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe, in einen bereitstehenden Zug gestiegen?“ „Genau, Herr Hauptmann!“ Schreiber griff nach seiner Aktentasche, nahm das Kursbuch heraus und schlug nach. „Es müßte sich um den Zug ab Quedlinburg siebzehn Uhr neunundvierzig handeln.“ „Ja, um diese Zeit fährt einer nach Aschersleben“, bestätigte Grundmann. „Vielen Dank! Sie haben uns sehr geholfen“, sagte Schreiber. „Sofort alle Abschnittsbevollmächtigten auf der Strecke Quedlinburg – Aschersleben benachrichtigen!“ ordnete Schreiber an, nachdem Herr Grundmann gegangen war. „Übrigens, Genosse Hauptmann“, sagte Jost, „Frau Anrainer ist gestern abend zurückgekommen. Ich hab’s vorhin von der Gemeindesekretärin gehört, die mit ihr gesprochen hat. Frau Anrainer hatte, als sie von dem 125
Mord erfuhr, einen Herzanfall erlitten und konnte nicht früher heimkehren … Soll ich mit ihr sprechen?“ Schreiber schüttelte den Kopf. „Fahren Sie erst mal nach Köthen.“
28 „Warum eigentlich nach Köthen?“ fragte Wachtmeister Zeller unterwegs. „Sie sind doch hinter dem Unbekannten her? Und überhaupt, was hat es denn mit dem Mord zu tun, ob der junge Anrainer damals durch das Examen gefallen ist oder nicht?“ „Wir wissen von dem Mord“, entgegnete Jost, „aber wir wissen noch nichts über das Warum.“ „Das werden Sie in Köthen auch nicht erfahren“, prophezeite der Wachtmeister. Jost belehrte ihn scherzhaft mit erhobenem Zeigefinger. „Ein Wegweiser ist noch nicht das Ziel, aber er gibt die Richtung an.“ Es war eintöniges Land, über das sie fuhren, eine reizlose Gegend, leere Ackerflächen, Nieselregen beschlug die Scheiben, auf den Straßen lag Rübenschlamm. Alles wirkte trostlos, die Stimmung, das Wetter … und morgen, am Freitag, sollte die Ermordete beigesetzt werden. Schlechter Tag, dachte Jost. Die Bahnübergänge häuften sich; die Kriminalisten hatten mindestens schon zwanzig Minuten durch Warten verloren. Jost sah beunruhigt auf die Uhr. Jedesmal, wenn die Schranken hochgingen, befanden sie sich in einer Kolonne von etwa fünfzehn Fahrzeugen, an deren Spitze mit Sicherheit ein Trecker das Tempo angab. 126
Trotzdem trafen sie in der Ingenieurhochschule in Köthen noch den Direktor für Erziehung und Ausbildung an, der Jost die gewünschte Auskunft geben konnte. „Ja“, sagte er, „der Fall Anrainer, ich erinnere mich …“ Als sie zurückfuhren, fragte Zeller zweifelnd: „Kennen Sie nun das Warum?“ „Nein“, antwortete Jost einsilbig und in Gedanken versunken. Zeller nickte, weil er sich bestätigt sah. „Das habe ich mir gedacht! Stimmt wenigstens die Richtung im großen und ganzen?“ Jost riß sich zusammen. „Im Augenblick halte ich es für das beste, wenn Sie die Richtung kennen“, sagte er ausweichend.
29 Sparr hatte den Mittwoch in Jävenitz verbummelt. Gegen neunzehn Uhr machte er sich auf, um ein verräuchertes Lokal zu besuchen. Die paar Mark, die er in der Tasche trug, stammten von Tante Olga. „Du mußt aber Anzeige erstatten!“ hatte sie verlangt. „Solchen Spitzbuben darf man nichts durchgehen lassen.“ „Wenn man sie hat!“ war seine Antwort gewesen. Jetzt saß er an einem gescheuerten Tisch, befeuchtete die Finger in Biertümpeln und malte Figuren auf die Platte. Wie sollte es weitergehen? Drei junge Burschen setzten sich zu ihm. Sie schüttelten ihre Mähnen, daß ihm Staub in die Augen flog. Wieder dachte er: Bei anderer Gelegenheit hätte ich Krach geschlagen, aber in meiner Lage bleibe ich besser still. 127
Die Burschen bestellten Würstchen mit Salat. Sie aßen nicht sittsam, aber mit einem Mordsappetit. Neidisch sah Sparr zu. Ihm schmeckte kein Essen mehr; das Frühstück, das Mittagessen – beim Kauen wurde alles wie Gipsbrei im Munde. Tante Olga hatte sich über sein mäkliges Gesicht besorgt gezeigt und gemeint, er sei überarbeitet. „Die verlangen heute zuviel von den Menschen!“ hatte sie kritisiert. „Du mußt mal ausspannen, Herbertchen, ganz blaß siehste aus!“ Die Burschen kippten einen Doppelten, tranken ihr Bier, zahlten und gingen. Ganz normale Bürger. Der Wunsch, so zu sein wie diese drei mit ihren langen, nicht sonderlich gepflegten Haaren, überwältigte Sparr derart, daß er sich auch ein Würstchen mit Salat, ein Bier und einen Doppelten bestellte. Er roch nach Alkohol, als er zu Tante Olga nach Hause kam. „Essen und trinken kannst du bei mir!“ nörgelte sie. Ihre Reaktion überraschte ihn nicht. Daß sie so war, wußte er von seiner Mutter. Deshalb war es ja von seiner Seite auch immer nur bei der Ankündigung eines Besuches geblieben. Aber da er nun einmal hier war, mußte er sich anpassen. „Mich hat einer eingeladen“, log er, „dem habe ich einiges über das Lang-Drehen erklärt. Eine schwierige Sache, bei der die Vorschubbewegung parallel zur Längsachse des Werkstücks erfolgt.“ „Was du nicht alles weißt!“ staunte die Tante. „Man merkt, daß du ein Studierter bist.“ Sparrs Mutter hatte ihr damals zwar von der Aufnahme des Studiums geschrieben, aber nicht von dem wenig rühmlichen Ende. Er tat, als mache ihn ihr Lob verlegen. „Och …“ Tante Olga schaltete das Abendprogramm des Fernsehens ein. „Wir sehen bloß West“, sagte er. 128
„Wenn du willst“, meinte sie augenzwinkernd und schaltete auf den andern Kanal um. Sie wußte nicht, daß er befürchtete, es könnte eine Suchmeldung durchgegeben werden. Gelangweilt saß sie vor der Bildröhre, der Bericht Über Mietwucher und Preisauftrieb interessierte sie herzlich wenig. Sie nickte ein. Sparr betrachtete sie, während er auf der Lippe kaute. Seit vierundzwanzig Stunden war er flüchtig … flüchtig … flüchtig. Er bekam Ohrensausen vor Erregung und zerrte an dem Schlips – wie am Abend zuvor bei der Vernehmung. Es hatte sich nichts geändert, gar nichts! Tante Olga wachte auf, sie rekelte sich und sagte, sie wolle zu Bett gehen. „Ich richte dir das Sofa her“, fügte sie hinzu. „Mach dir bloß keine Umstände, Tantchen!“ „Aber Junge! Ich freue mich doch, daß du mal gekommen bist!“ Sie rückte den Tisch an das Sofa – „Damit du nicht ’runterfällst“ – und stellte ihm einen Aschenbecher hin. „Obwohl du nicht so viel rauchen solltest, das ist schädlich für die Lunge.“ „Du bist wirklich rührend, Tantchen. Sag mal, wann kommt hier morgens eigentlich die Zeitung?“ „Gegen zehn.“ „Gegen zehn also!“ Er gähnte. „Na dann, gute Nacht, Tantchen!“ Ein Glück, daß sie mir nicht noch’n Kuß gegeben hat, dachte er, nachdem ihn die Tante verlassen hatte. Er legte sich angekleidet auf das Sofa. Das Licht der Deckenlampe störte ihn, doch als er es ausgeschaltet hatte, war es ihm wieder zu dunkel. Noch so ’ne beschissene Nacht, und ich drehe durch, sagte er sich. Aber das Licht knipste er nicht wieder an. Er zog sich aus und lag nun im Dunkeln, nur das Glühen der Zigarette und den flackernden 129
Schein des Streichholzes sah er, wenn er sich eine neue anzündete. Er rauchte viel und hastig und bekam allmählich Kopfschmerzen. Schlafen konnte er nicht, er war viel zu aufgeregt, und deshalb konnte er auch keinen klaren Gedanken fassen – etwa, wie es mit ihm weitergehen sollte. Es ging nicht an, daß er sich immer nur in Jävenitzer Kneipen herumtrieb, er mußte auch mal bei der Tante bleiben, und dann würde sie Fragen stellen, Fragen, du lieber Gott! Bis auf den Pips konnte die fragen. Und dann – die Zeitung! In Tannrode hatte sich die Kripo bestimmt schon etwas einfallen lassen und es in die Presse gebracht: „Gesucht wird …“ Also mußte er morgen vormittag höllisch aufpassen, daß er das Blatt als erster in die Hand bekam. Gegen zehn … als erster … als erster … Langsam kam der Schlaf über ihn. Es war schon hell, als er am andern Morgen erwachte, aus der Küche roch es bereits nach frischem Kaffee. „Gut geschlafen?“ fragte die Tante, die den Kopf zur Tür hereinsteckte. „Ausgezeichnet!“ log er. „Ich mach’ mich gleich fertig.“ Hungrig setzte er sich an den Frühstückstisch, aber auch heute wollte das Essen nicht rutschen. Er ließ sich nichts anmerken. Heimlich sah er auf die Uhr, es war neun Uhr dreißig. Bis jetzt hatte Tante Olga nur von sich erzählt, aber nun fragte sie, ob er nicht ein bißchen Spazierengehen wolle. „Doch“, sagte er, „nachher.“ „Ich muß in die Waschküche, Herbertchen. Bist nicht böse, wenn ich mich heute morgen nicht um dich kümmern kann, ja?“ „I wo, Tantchen! Soll ich dir helfen?“ fragte er anstandshalber. 130
„Ausruhen sollst du dich!“ gab Tante Olga betulich zurück. Ihm brannte es wie Feuer unter dem Hintern, aber endlich war es soweit, daß sie in der Waschküche verschwand. Er trat ans Fenster, die Augen abwechselnd auf die Uhr und auf die Straße gerichtet. Als die Postzustellerin auftauchte, ging er ihr entgegen, hinaus in den Vorgarten mit Liebstöckel und Bohnenkraut. „Post für meine Tante?“ fragte er. „Für Frau Meißner?“ „Nur die Zeitung.“ Er heuchelte Gleichmut, aber kaum war er wieder in der Stube, schlug er das Blatt auf. Da – sein Bild! Das Zimmer drehte sich, er stieß gegen die Tischkante und rutschte auf einen Stuhl. Schweiß rann ihm in die Augen. Er hörte die Tante draußen rumoren, sie schien näher zu kommen. Schnell versteckte er die Zeitung unter der Jacke. Tante Olga trat mit einer klitschnassen Schürze ins Zimmer, eigentlich nur, um nach ihrem Herbertchen zu sehen, wie sie sagte, aber nun, da sie ihn erblickte, erschrak sie. „Jungchen“, rief sie, „was hast du denn?“ „Ach, ach, ach“, mimte Sparr, „meine Galle! Das habe ich öfter in der letzten Zeit.“ „Warst du denn noch nicht beim Arzt?“ erkundigte sich Tante Olga. Sparr schüttelte den Kopf. „So was darf man nicht vernachlässigen, Herbertchen! Jetzt legst du dich ’ne Weile hin, dann gehst du ins Ambulatorium. Nicht auszudenken, wenn du bei mir die Gelbsucht kriegst!“ Sie band die Schürze ab und rollte sie zusammen, dann sah sie durch die Fensterscheibe zum Briefkasten, der an der Gartentür hing. „Nanu“, wunderte sie sich, „ist die Zeitung noch nicht da? Sonst ist sie doch immer pünktlich.“ 131
Sparr rappelte sich hoch. „Ich geh’ jetzt, Tantchen“, sagte er und versuchte dabei zu lächeln. „Doch, doch! Es ist schon viel besser.“ „Trotzdem“, beharrte die Tante, „du mußt zum Arzt. Die Straße ’runter, dann rechts, da siehst du’s gleich. Wirst wohl ’ne Weile warten müssen, im Ambulatorium ist immer Betrieb.“ Sie strich ihm übers Haar. „Ach ja“, fiel ihr dann noch ein, „anschließend geh mal zum ABV, wegen deiner Tasche oder was sie dir gestohlen haben.“ Als er mittags nicht zurückgekommen war, begann sie sich Sorgen zu machen. Es hielt sie schließlich nicht länger zu Hause, vielleicht hatte man ihn sofort operieren müssen … Eine Viertelstunde später wußte sie überhaupt nicht mehr, woran sie war. Im Ambulatorium war er nicht gewesen und auch nicht beim Abschnittsbevollmächtigten, um Anzeige zu erstatten. „Wie soll er heißen?“ vergewisserte sich der Mann. „Herbert Sparr … Ja, ganz richtig, aus Steiger im Harz.“ Der Abschnittsbevollmächtigte sah Tante Olga mitleidsvoll an, dann sagte er: „Frau Meißner, Ihr Neffe wäre wahrscheinlich der letzte, der Anzeige erstatten würde.“ „Aber warum denn?“ wollte Tante Olga wissen. Da zeigte er ihr das Bild in der Zeitung.
30 Jost stand rauchend vor dem geöffneten Fenster, der Hauptmann saß wieder rittlings auf dem Stuhl. Sie konnten den Hang noch ausmachen, der der „Klippmühle“ gegenüberlag, aber die Kapelle, die Grabsteine und die 132
Einfassungen sahen sie nur schattenhaft. „Es hätte vielleicht alles nicht zu geschehen brauchen“, begann Jost seinen Bericht über die Fahrt nach Köthen. „Lutz Anrainer hat das Studium nicht aufgegeben, um zu heiraten, wie mir sein Vater erzählt hat. Das alles war viel später, Karins Fehlgeburt und das Examen … Die Eheschließung scheint tatsächlich übereilt zustande gekommen zu sein. Lutz Anrainer soll damals geäußert haben, er müsse heiraten, um das Mädchen nicht in seiner Schande sitzenzulassen, sein Vater wolle es so … Man darf das wohl glauben. Der alte Anrainer lebt, was seine Auffassung von Anstand und Sitte betrifft, heute noch in der Welt von gestern, in der er aufgewachsen ist. Ich höre ihn geradezu, wie er seinem Sohn ‚die Schande‘ vorwirft. Seinem Einzigen! Seinem Stolz, den er als Akademiker sehen wollte!“ Jost schnippte die Asche zum Fenster hinaus. Aus dem Gastzimmer kamen ein paar Männer getorkelt. Singend und sich friedlich umarmend, verschwanden sie hinter der Ecke. Man hörte sie lachen, als sie ihr Wasser abschlugen. „Gut, Genosse Jost“, sagte Schreiber, „Sie waren in Köthen, Sie haben wiederholt mit Herrn Anrainer gesprochen, und Sie werden mir jetzt Ihre Meinung darlegen, keine zusammengetüftelte, sondern eine, die sich auf Ihre Ermittlungen stützt.“ Josts Auge leuchteten vor Stolz und Genugtuung. „Danke, Genosse Hauptmann!“ sagte er. „Also, noch einmal zu dem Punkt, warum Lutz Anrainer durchs Examen gefallen ist: Mit seiner Heirat und Karins späterer Fehlgeburt hatte dieses Versagen so gut wie nicht zu tun. Es mangelte ihm einfach an Hilfe durch das Kollektiv. Der Leiter der Arbeitsgemeinschaft soll recht überheblich 133
gewesen sein. Gegen ihn wurde später ein Disziplinarverfahren eröffnet; man hat ihn von der Hochschule verwiesen. Für Lutz Anrainer aber ist es zu spät gewesen. Die Art, wie ihn dieser Mann behandelt hat, muß in ihm die letzte Energie abgewürgt haben. Verlust der Selbstsicherheit, dadurch Angst vor dem Stoff, der bewältigt sein wollte, und vor allem – Furcht vor der Prüfung.“ Jost schwieg und überlegte. Schließlich fuhr er fort: „Ich erinnere mich an ein Wort des Genossen Kröger: ‚Hier wäre eine schöne Gelegenheit gewesen, sozialistisches Bewußtsein zu zeigen.‘ Damit hat er gemeint, daß jeder, der in der Gaststätte gewesen war, Lutz Anrainer vor dem Selbstmord hätte bewahren können. Auch in Köthen haben sie die Gelegenheit verpaßt. Die immer schlechter werdenden Noten vor dem Examen hätten jeden alarmieren müssen. Lutz Anrainer war nach allem, was ich gehört habe, eine labile Persönlichkeit, das erkennt man doch, wozu haben wir denn unsere Kader? Aber man ließ den Dingen ihren Lauf.“ Schreiber stand auf und reckte sich. „Und ganz am Schluß der Entwicklung stand Sparr?“ ergänzte er fragend. „Ja“, sagte Jost, „und wäre es der nicht gewesen, dann ein anderer.“ Er sah zum Friedhof hinüber, wo jetzt nur noch die Umrisse der Kapelle in der Dämmerung sichtbar waren. Morgen würde darin der Sarg mit der Ermordeten stehen. „Man ließ den Dingen ihren Lauf“, fuhr Jost fort. „Die Entwicklung verlief folgerichtig. Das ist auch ein Satz, den wir oft im Munde führen, tatsächlich aber zuwenig im Kopf haben. Lutz Anrainer, dem man heute bestätigt, daß er bei etwas besserer Anleitung das Examen hätte bestehen können, fiel durch. Damit zerbrach etwas, was ihm bisher den notwendigen Halt gegeben hatte. Dann die Fehlgeburt seiner Frau … Ich weiß nicht, 134
ob es zutrifft, aber … vielleicht glaubte er, auch mit der Heirat einen Fehler begangen zu haben. Durch die Fehlgeburt war ja die Schande ausgelöscht. Jetzt war es eine andere Schande, die ihm zu schaffen machte – er glaubte sich vor seiner Frau blamiert zu haben, weil er das Studienziel nicht erreicht hatte. So kam eben eines zum andern. Lutz Anrainer suchte Trost im Alkohol. Ein neues Kapitel. Auch hier hat ihm niemand geholfen, seine Frau nicht, seine Freunde nicht, seine Eltern nicht – trotz großer Worte, die sie wahrscheinlich verschwendet haben. Am allerwenigsten die Gastwirte! Sie verstehen mich, Genosse Hauptmann, da wird immer und immer wieder eingeschenkt, obwohl man sieht, daß der andere bereits zum Überlaufen voll ist. Seine Frau fühlt sich vernachlässigt. Mit Recht, wie man zugeben muß. Innere Einsamkeit einer Frau führt allzu leicht auf Abwege. Karin Anrainer wendet sich Herbert Sparr zu. Der Mann trinkt weiter. Jetzt gerade! Weil die Frau einen anderen hat – das ist seine Rechtfertigung. Die Frau hat einen anderen Mann, weil der Ehemann trinkt – das ist ihre Rechtfertigung … Das Ende ist der Friedhof. Zuerst für Lutz Anrainer, dann für seine Frau.“ „Durch Sparr?“ warf Schreiber ein. Jost hob die Schultern. „Ob durch Sparr oder den Unbekannten, der ihr den Scheck vorgelegt hat, wissen wir noch nicht. Aber eines steht fest: Ihr Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn Lutz Anrainer sein Studium mit Erfolg beendet hätte. Ganz sicher wäre es nicht in Tannrode zu Ende gewesen.“ „Spannen wir den Bogen vielleicht etwas zu weit?“ fragte Schreiber. „Ich meine, was das Motiv für den Mord betrifft … erfolgloses Studium, Alkohol, Sparr – das sind doch Ihre Eckpfeiler.“ Der Hauptmann zündete 135
sich eine Zigarette an und trat ebenfalls ans Fenster. Draußen war es vollends dunkel geworden, das Leben auf der Straße war nur noch irgendwelchen Geräuschen zu entnehmen. Dumpfes Klopfen verriet, daß die Männer im Gastzimmer wieder ihren Skat droschen. „Ja, dieser verfluchte Scheck!“ knirschte Jost. „Der verdirbt Ihnen das Konzept“, sagte Schreiber ernst. „Aber hüten Sie sich davor, einen Sachverhalt zu konstruieren, der Ihren Vorstellungen entspricht, nur weil Sie es so wünschen!“ „Trifft mich dieser Vorwurf?“ verteidigte sich Jost. „Ich denke doch an den Scheck! Ich weiß genau, daß wir zur Zeit noch zweispurig fahren.“ „Dann ist’s ja gut!“ sagte Schreiber.
31 Leutnant Glas, Abschnittsbevollmächtigter in M., einer Gemeinde an der Bahnstrecke Quedlinburg – Aschersleben, wußte, daß ein Mann gesucht wurde, der mittelgroß sein sollte, eins sechzig bis eins siebzig, von schmächtiger Figur, bekleidet mit einer braunen Kutte, die vier aufgesetzte Taschen hatte und einen Reißverschluß. Der Mann sollte einen Vollbart haben und eine schwarze Ledermütze tragen mit einem Knopf obenauf. Ich kann mich irren, dachte Glas, aber machen wir die Probe aufs Exempel! Er nannte seiner Frau die Merkmale des Gesuchten und bekam prompt zur Antwort: „Fritz Löser! Was hat der denn wieder angestellt?“ „Lassen wir das einstweilen“, sagte Glas. „Wenn er es ist, müßte er am Montag gegen achtzehn Uhr fünfund136
vierzig mit dem Zug aus Quedlinburg gekommen sein. Ehe ich das nicht festgestellt habe, ist jedes weitere Wort voreilig.“ Glas fuhr mit dem Moped zum Bahnhof, der außerhalb des Ortes lag. Die Bahnstrecke lief hier durch eine Ebene zwischen der hoch gelegenen Landstraße und den Bergen, die von einer Burg gekrönt waren. Eike von Repkow hatte vor etwa siebenhundert Jahren seinen lateinisch geschriebenen Sachsenspiegel in dieser Burg ins Niederdeutsche übersetzt – das erste Gesetzbuch in deutscher Sprache. Da ist noch ein gewisser Sparr, der außer dem Unbekannten gesucht wird, überlegte Glas. Sollte es wirklich Löser sein, gäbe es keinen Unbekannten mehr, dann könnten sich die Genossen von der Morduntersuchungskommission freuen … Der Leutnant war guter Laune, weil er hoffte, daß ein Mordfall seiner Lösung entgegenging. Fritz Löser, kein unbeschriebenes Blatt, im Gegenteil, ein Bürger, der sich immer wieder hartnäckig der sozialen Ordnung zu entziehen suchte. Ja, hartnäckig. Und vielleicht hatte man bisher zuviel Geduld mit ihm gehabt. Ganz plötzlich war die gute Laune des Abschnittsbevollmächtigten verflogen. Wenn Löser mit drinhängt, dachte er, sind wir nicht ganz schuldlos. Das steigert sich von Mal zu Mal, und wir dürfen uns nicht den Wunderbeutel umhängen, wenn am Schluß ein Kapitalverbrechen steht. Glas steuerte das Moped nach rechts, an der Gaststätte vorbei. Er stellte es ab und ging zum Bahnhofsgebäude. Dort klopfte er an eine Scheibe, auf der das Wort „Stationsvorsteher“ stand. Ein Mann mit einer roten Mütze ließ sich hinter dem Fenster sehen. Als er den Leutnant erkannte, winkte er ihm zu. „Kommen Sie ’rein!“ 137
Im Kanonenofen prasselte Feuer. „Guten Abend, Genosse Bärmann!“ grüßte der Leutnant. „Guten Abend! Lausig kalt ohne Heizung“, sagte der Stationsvorsteher, während Glas sich die Hände über dem Ofen rieb. „Wo brennt’s denn, um im Bild zu bleiben?“ „Sie kennen doch den Löser, Fritz Löser …“ „Und ob!“ sagte Bärmann. „Der ist bei mir vor einiger Zeit in die Laube eingestiegen. Aber die Schiedskommission hat bloß …“ Glas winkte ab. „Ich weiß. Man wollte ihm noch einmal eine Chance geben.“ „Noch einmal?“ knurrte Bärmann. „Wieder! Wie oft bloß noch?“ „Na, na!“ bremste Glas. „Er hat ja auch schon Arbeitserziehung gehabt.“ „Na und? Auf das Schadenersatzgeld warte ich heute noch. Bei dem ist doch nichts zu holen. Und jetzt? Weshalb fragen Sie nach ihm?“ „Ist er vielleicht am Montag mit dem Achtzehnfünfundvierziger aus Quedlinburg gekommen?“ „Tut mir leid“, antwortete Bärmann, „das weiß ich nicht, am Montag hatte ich dienstfrei. Sie müßten die Kollegin Spillner fragen, aber die ist bis morgen verreist.“ Glas biß sich auf die Lippe. Ich könnte auch den Löser fragen, dachte er, aber so, wie ich ihn kenne, muß ich damit rechnen, daß er mich belügt. „Morgen!“ wiederholte er. „Das können vierundzwanzig Stunden sein.“ „Nicht doch! Fräulein Spillner hat um zehn Uhr schon wieder Dienst“, sagte Bärmann. Er legte ein paar Holzscheite in den Ofen. Funken stoben aus der Klappe. Über die Schulter fragte er: „Worum geht’s denn?“ 138
Glas sah zu, wie Bärmann in der Glut herumstocherte. „Worum? Wahrscheinlich um mehr als bei Ihnen in der Laube.“ Bärmann schob die rote Mütze in den Nacken. „O lala! Haben Sie’s gelesen? Oben im Harz suchen sie auch zwei Männer.“ „Ich weiß.“ Bärmann blickte auf die Uhr. „Schade!“ meinte er. „Ich muß ’raus, hätte aber gern mehr gewußt. Wenn Sie noch ’n bißchen Zeit haben …“ „Hab’ ich leider nicht“, antwortete Glas. Bärmann schaltete die Bahnsteigbeleuchtung ein. Dann gingen die Männer hinaus. Die feuchte Kälte machte sie frösteln. Von der „Hohe“ – so hieß die Straße, die zum Harz führte – blies ein scharfer Wind über die Ebene. Bärmann lief zur Schrankenanlage und begann zu kurbeln. „Man hört noch gar nichts“, sagte Glas, der in die Dunkelheit lauschte. „Nein“, sagte Bärmann, „sonst wär’s ja auch zu spät! Man muß sich schon Zeit zur Vorsicht nehmen.“ „Ich werd’s mir merken“, sagte Glas, dann verschwand er neben den Schranken. Der Mann mit der roten Mütze sah ihm nach. Das hättet ihr bei Löser schon längst beherzigen müssen, dachte er. „Na, ist’s der Löser?“ fragte Frau Glas neugierig, als ihr Mann zurückkam. „Ich hoffe es! Aber genau weiß ich es noch nicht.“ Er rief die „Klippmühle“ in Tannrode an und verlangte Hauptmann Schreiber zu sprechen. Schreiber hatte gerade gesagt: „Dann ist’s ja gut!“, als er ans Telefon gebeten wurde. 139
32 Herbert Sparr trug noch immer die Zeitung unter der Jacke. Wohin mit dem Blatt, das eine sengende Hitze auszuströmen schien? Wenn er an seine Tante dachte, wurde ihm beinahe übel. Die würde Augen machen, wenn sie erfuhr, was mit ihm los war! Kein Studierter! Keiner, dem etwas gestohlen worden war oder der’s mit der Galle hatte! Nein, ein Mann, der unter Mordverdacht stand! Er beeilte sich, aus dem Ort zu kommen. Obwohl ihn niemand kannte, glaubte er, daß jeder ihn nach dem Bild in der Zeitung erkennen müsse; und nicht nur hier in Jävenitz, sondern überall mußte er damit rechnen. Punkt halb zehn war ihm blitzartig klargeworden: es gab kein Entrinnen. Ob heute oder morgen oder übermorgen – eines nicht mehr fernen Tages würden sie ihn entdecken, und dann galt er als einer, der sich seiner Verantwortung durch die Flucht hatte entziehen wollen. Der Himmel war bedeckt. Die Heide, die im Frühling oder Sommer sehr schön sein mochte, war jetzt eine glatte Öde aus nassem Sand. Aber hinter ihr lag die feste Straße, die F 188, die über Stendal nach Rathenow führte. Das ist zu weit, dachte er verzweifelt, ich muß in Richtung Süden zur F 71, von dort schaffe ich’s heute vielleicht noch bis Magdeburg oder noch weiter. Sie werden mir nicht schon jetzt nachspüren, Tante Olga wird hoffentlich dichthalten … Er klappte den Kragen hoch. Die innere Hitze wärmte nicht, sie nahm ihm allenfalls den Atem. Das Herz schlug gegen die Rippen – so kam es ihm wenigstens vor –, 140
auch dann noch, als er die Zeitung in einen Waldweg geworfen und zertrampelt hatte. Sein Bild hatte er mit dem Absatz zerfetzt. Ein Glück, daß er Zigaretten bei sich hatte, Zigaretten und Streichhölzer. Ein Glück auch, daß er bei Tante Olga gefrühstückt hatte. Landschinken und Eier. Er hätte noch mehr essen sollen, ob mit oder ohne Appetit, vor allem essen! Er trat aus dem Wald auf die Fernstraße. Es war um die Mittagszeit, die Fernfahrer saßen in den Rasthäusern oder hatten die Fahrzeuge abgestellt, um ein Nickerchen zu machen, jetzt war Flaute für Anhalter. Er ging in Richtung Salchau-Tangerhütte. Rechts und links erstreckte sich Wald, flach, schorfig und irgendwie ausweglos. Dann hörte er hinter sich ein Brummen. Er trat zur Seite und winkte. Zu spät erkannte er, daß das, was da kam, ein kleiner Lieferwagen war. Das gefiel ihm nicht, das war zu intim, da wurde zuviel geschwatzt, anders als in einem großen Transporter mit Radio und so, aber dann fiel ihm ein: Radio! Die Volkspolizei bittet die Bevölkerung … Der Wagen hielt, am Steuer saß ein Mann von höchstens zwanzig Jahren, das Haar kurz geschnitten. Was half’s – wenn er nicht auffallen wollte, mußte er zusteigen. „Nach Magdeburg?“ fragte Sparr. „Bloß bis Wolmirstedt“, sagte der junge Mann. „Von da aus müssen Sie sehen, wie Sie weiterkommen.“ „Mein Kumpel liegt mit’m Motorschaden fest“, log Sparr, „ich muß zurück zum Betrieb wegen Abschleppen … Zigarette?“ Der Fahrer griff zu und ließ sich Feuer geben. Er machte einen tiefen Zug. „Hab’s lange entbehren müssen.“ „Wieso?“ „Knast gehabt.“ 141
„Ach …“ „Jetzt möchten Sie wohl aussteigen?“ „Quatsch!“ sagte Sparr. „Hab’ auch schon gesessen, ich weiß Bescheid.“ Sie lachten beide, und es wurde eine lustige Fahrt. In Wolmirstedt tat es ihnen leid, daß sie sich trennen mußten. Dann saß er in einem Moskwitsch neben einer grauhaarigen Dame, die ihn bis Magdeburg mitnahm. Ihr erzählte er wieder das Märchen vom Motorschaden und daß er sich zum erstenmal in seinem Leben mit einem früheren Strafgefangenen unterhalten habe. „Ich verstehe nicht“, sagte er, „wie jemand so was machen kann.“ Die Dame lächelte nachsichtig. „Ich bin Oberrichterin“, verriet sie ihm, „ich habe es bei manchem nicht verstanden.“ „Ein schöner Wagen, der Moskwitsch!“ Sparr wechselte abrupt das Thema. Sie unterhielten sich bis Magdeburg über Fahrzeugtypen, dennoch wurde er das Gefühl nicht los, daß die Dame ihn durchschaut hatte. Nicht, daß sie die Wahrheit gekannt hätte, aber es mußte sie zumindest stutzig gemacht haben, daß er sofort, nachdem sie ihren Beruf genannt hatte, auf die Technik umgestiegen war, anstatt verständliche Neugier zu zeigen. Sie wünschte ihm beim Abschied alles Gute. Von Magdeburg fuhr er mit der Bahn. Er hatte es einfach satt, immer wieder neue Ausreden erfinden zu müssen. Er wollte endlich ein Mensch sein wie die anderen – wie früher. Als er die Harzberge auftauchen sah, dämmerte es bereits. Jetzt kam das schwerste Stück des Weges. Er hatte zwar schon eine klare Vorstellung von dem, was er tun wollte, aber dabei durfte ihm niemand in die Quere kom142
men, bevor er nicht dem Hauptmann gegenüberstand. Also zu Fuß nach Tannrode! Kälte und Nässe. Die Knie wurden ihm steif, ehe er sich warm gelaufen hatte. Immer bergauf. Das Herz pumpte wieder. Der Wald war schwarz und lautlos. Hin und wieder zischte ein Auto vorbei, aber Sparr wich jedesmal rechtzeitig aus, er wollte nicht gesehen und schon gar nicht aufgefordert werden zuzusteigen. Kein Hut, kein Mantel. Er war naß bis aufs Hemd vom Schweiß und vom Regen. Die Zigaretten hatte er längst aufgeraucht. Sparr war sonst kerngesund, und den Weg wäre er zu anderer Zeit gewiß mit Spaß gelaufen, jetzt aber war es seine verteufelte Situation, die ihm jede Freude nahm. Müde, erschlafft lehnte er sich gegen einen borkigen Stamm. Er wischte sich über das feuchte Gesicht. Wenn ich jemals aus dieser Scheiße herauskomme, dachte er – nie wieder! Weiß Gott, der Tag war aufregend genug gewesen, und so verschieden die Menschen, mit denen er zu tun gehabt hatte! Tante Olga, trotz ihres spitznasigen Gesichts eine Frau mit Herz und Gemüt, vielleicht ein wenig verkannt von ihrer Familie; der junge Kraftfahrer, vorbestraft, aber in seinem Wesen vertrauenerweckender als mancher selbstgefällige Brigadier; die Dame am Steuer, selbstbewußt und nachsichtig den Unsinn belächelnd, den er geschwatzt hatte … Sparr sah auf die Uhr. Noch zwei Stunden bis Mitternacht. Er hatte eine lange Zeit gebraucht für die Strecke von Jävenitz bis hierher, heute flog man in knapp drei Stunden bis Moskau. Er konnte seine Lage beurteilen, wie er wollte, immer schlug es zu seinem Nachteil aus. Ein Leben, wie er es bis heute gelebt hatte, lohnte nicht. Weiter! Von irgendwoher kamen Glockenschläge. Er blieb 143
stehen, um mitzuzählen, wußte aber, daß es nur eine Ausrede vor sich selbst war: er wollte ausruhen! Dann gaukelte er sich Bilder vor. Das Zimmer von der Anna, ein gedeckter Tisch … das gab ihm neuen Auftrieb. Endlich stand er oben am Wiesenhang. Nun hatte er keine Eile mehr. Das Ziel lag vor ihm, Tannrode. Die Häuser und Höfe waren dunkel jetzt, die Menschen schliefen. Nur in einigen Ställen brannte noch Licht. Vor der „Klippmühle“ schaukelte das Lämpchen. Ein Fenster war erleuchtet. Ob die Kriminalisten in diesem Zimmer wohnten? Vielleicht brüteten sie gerade einen Plan aus, wie sie ihn fangen konnten … Und da war die Poststelle. Finster lag sie da, unheimlich, aber das machten wohl die Erinnerungen, die sich mit diesem Haus verbanden, der Mord, die alten Anrainers, der Garten, in dem er seinen Sohlenabdruck hinterlassen hatte … Ja, seit Karin in sein Leben getreten war, hatte er manche Dummheit begangen, nicht nur die Flucht über den Zaun! Zur Rechten das Haus, in dem Anna wohnte. Sparr konnte es nicht sehen, aber er wußte: Dort war es, und dort würde er für diese Nacht Zuflucht finden. Er lief noch eine Weile auf dem Ramm entlang und schlich sich dann von dort in den Hohlweg, wo die Schlehenbüsche und Hagebuttensträucher wuchsen. Er durfte es nicht wagen, von der Gasse aus ins Haus zu gehen und dabei der Wirtin vielleicht direkt in die Arme zu laufen. Das Wetter war günstig – kalt, dunkel, naß. Kein Mensch ließ sich sehen. Sparr stieg über den Zaun, war mit ein paar Sprüngen am Fenster und klopfte zaghaft gegen die Scheibe. Wenn Anna das Klopfen nicht hört – das Pochen meines Herzens muß sie hören, bildete er sich ein. Wie lange das dauerte! Ob sie überhaupt 144
im Zimmer war? Er klopfte noch einmal. Die Gardine wurde beiseite geschoben. Dahinter das verschlafene Gesicht der Anna, das sich sofort belebte, als sie den Mann erkannte, der draußen stand und stumm ein Zeichen gab. Sie rieb sich die Augen, fuhr durch das Haar, das in dichten Wellen nach vorn hing. Ganz klar war ihr noch nicht geworden, was ihr diese mitternächtliche Stunde bescherte. Sie zog den Morgenrock, den sie übergeworfen hatte, zusammen und schob das Gesicht näher an die Scheibe. „Herbert!“ flüsterte sie. „Um Gottes willen, was ist denn?“ „Laß mich ’rein!“ bat er leise. Sie sah hinter sich in die dunkle Stube, als ob noch jemand im Raum wäre, eine unwillkürliche Bewegung. Dann öffnete sie das Fenster und trat zurück. Sparr zwängte sich durch den Rahmen, nicht das erste Mal, aber unbeholfener als sonst. „Du bist ja klitschnaß!“ sagte sie erschrocken. Sie lehnte gegen den Tisch, Sparr stand vor ihr mit hängenden Armen, das Haar strubbelig, die Hose zerknautscht, die Jacke durch den Regen aus der Form geraten. Beide schwiegen. Sie erinnerte sich: Vor wenigen Stunden erst hatte sie zu Hauptmann Schreiber gesagt: ‚Wenn er es getan hat, will ich nichts mehr von ihm wissen.‘ „Hast du sie umgebracht?“ fragte sie jetzt jäh und drängend. Er ging zurück und schloß das Fenster. „Morgen vormittag wird sie beigesetzt“, fuhr Anna fort. Sie hatte noch immer keine Anstalten gemacht, ihn zu begrüßen. Plötzlich fragte sie: „Bist du verrückt? Wie kannst du es wagen hierherzukommen? Wenn dich der Hauptmann …“ 145
Da war er schon bei ihr, riß sie in die Arme und küßte sie. „Anna!“ Der Klang seiner Stimme ließ sie aufhorchen. So rief ein Verzweifelter. Sie löste sich von ihm, aber aus den Armen ließ er sie nicht. „Glaubst du wirklich, ich hätte sie ermordet?“ Sie drehte das Gesicht zur Seite und sprach ins Dunkle: „Wenn nicht – warum bist du dann geflohen?“ „Ich kann es dir sagen, aber verstehen wirst du mich nicht. Verstehen kann das nur, wer etwas Ähnliches durchgemacht hat.“ „An schönen Worten bist du nie knapp gewesen“, sagte sie. „Glaub mir doch!“ Sie sah ihn an. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, sie konnte jetzt auf seinem Gesicht lesen, wie ihm zumute war. „Mein Glaube nützt dir gar nichts“, sagte sie hoffnungslos, „wenn die von der Kripo dir nicht glauben. Sie wissen alles. Auch, daß du über den Zaun gestiegen bist, etwa zu der Zeit, als Karin …“ Sie brach ab und schwieg. „Hast du eine Zigarette?“ fragte er. „Ja … und möchtest du was Heißes trinken?“ Er lächelte schwach und nickte. Sie hatte in der Thermosflasche noch heißen Tee mit Zitrone, den sie ihm nun eingoß. Gierig trank er die Tasse leer, dann zündete er sich die Zigarette an. „Behalt das Päckchen“, sagte sie. „Kann ich über Nacht hierbleiben?“ „Jetzt bin ich wohl gut genug …“ „Anna!“ Er griff nach ihrer Hand. „Morgen stelle ich mich der Polizei.“ Im warmen Bett kehrten seine Kräfte zurück. 146
Nackt schliefen sie nebeneinander, bis sie die Wirtin rumoren hörten. Es war kurz nach sieben Uhr. „Bleib noch ein bißchen liegen“, sagte Anna, „und nachher, wenn du aufgestanden bist, verhalte dich ruhig.“ Sie wusch sich und zog schwarze Strümpfe an. „Was soll denn das?“ fragte er. „Ich gehe zur Beerdigung.“ Überrascht richtete er sich auf. „Sie hat mir oft leid getan“, sagte Anna. „Und dieses Ende …“ Sie trat an das Bett und sah von oben auf ihn herab. „Du vergißt hoffentlich nicht, daß du mir versprochen hast, zur Polizei zu gehen!“ „Bestimmt nicht! Sobald du zurück bist!“ Sie machte ein paar Schnitten. „Nachher frühstücken wir richtig“, sagte sie. „Steh jetzt auf und zieh dich an. Solange ich hier bin, fällt das nicht auf.“ Als sie ging, legte sie ihm ein Buch hin. Später versuchte er zu lesen, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Wie eingesperrt kam er sich vor, Anna hatte die Tür abgeschlossen. „Vorsichtshalber, damit Frau Borras nicht reinguckt“, hatte sie erklärt. Nicht einmal das Fenster durfte er öffnen. Er legte sich auf das Bett, rauchte und döste. Dann hörte er die Friedhofsglocke …
33 Hauptmann Schreiber hatte am Morgen mit dem Schriftsachverständigen in der Bezirksstadt telefoniert. Die Expertise besagte, daß Holbeck zwar die Unterschrift auf 147
dem Scheck geleistet hatte, der übrige Text und die Zahlen aber von einem anderen geschrieben worden waren. „Damit dürfte Holbeck endgültig außer Verdacht sein“, sagte Schreiber zu Jost, nachdem er aufgelegt hatte. Er lächelte. „Es trifft uns nicht so hart, weil wir mit Löser vielleicht den Mann finden, der den Scheck ausgeschrieben und vorgelegt hat.“ „Das schon“, bestätigte Jost, „aber ob er auch der Mörder ist?“ „Warten wir ab!“ sagte Schreiber. Er hatte sich vom Staatsanwalt den Antrag auf Erlaß eines Haftbefehls gegen Löser besorgt. Sie fuhren in die Ebene hinunter und von dort auf die „Hohe“. Zur Rechten lagen die Harzberge, eingehüllt in leichten Dunst, den erst die Mittagssonne auflösen würde. Sie sahen die Bahnstrecke und von weitem auch das Stationsgebäude und die Gastwirtschaft von M. Auf der Kreuzung bogen sie rechts ab auf die Zufahrtsstraße zur Ortschaft. „Bitte, zum Genossen Glas“, sagte Schreiber zu Zeller, „wir sind dort angemeldet.“ Sie erkundigten sich am Ortseingang, und Minuten später standen sie vor dem Abschnittsbevollmächtigten. Der tippte auf seine Uhr und sagte: „Pünktlich!“ „Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten Fräulein Spillner schon um sechs Uhr sprechen können“, entgegnete Schreiber. Leutnant Glas nickte voller Verständnis. „Ich glaube schon, daß es Ihnen auf den Nägeln brennt“, sagte er. „Aber heute ist erst Freitag, der vierte Tag nach dem Mord.“ Sie fuhren die Straße zurück bis zur Abzweigung zum Bahnhof. Die Bahnstrecke war frei, sie würden sich also mit Fräulein Spillner unterhalten können. 148
„Was gibt es da zu unterhalten!“ warf Jost ein. „Entweder sie erinnert sich, oder sie erinnert sich nicht.“ „Es wäre schon gut, wenn wir einen Zeugen hätten“, gab Glas zu bedenken, „gerade weil ich Löser kenne. Der fühlt sich als Profi.“ „Was treibt er denn so?“ erkundigte sich Schreiber. „Er arbeitet auf der LPG.“ „Mitglied?“ „Die werden sich hüten!“ „Wie gehabt!“ zürnte Jost. „Ein Mensch, um den sich niemand kümmert …“ Er schwieg und sah Schreiber an, der ihm zunickte. Beide dachten an Lutz Anrainer. Fräulein Spillner war blond, pausbäckig, hatte die rote Mütze keck auf das Ohr geschoben und trug eine Diensthose, die mindestens eine Nummer zu klein war. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick aus den Nähten platzen. Leutnant Glas hatte sie noch nicht verständigt. Als sie hörte, worum es ging, zeigte sich, daß sie nicht nur blond und pausbäckig war, sondern ihr hübsches Köpfchen auch zum Denken benutzen konnte. Sie gab sich nicht wichtig, sie überlegte. So schnell war sie bei der Sache, daß sie die Genossen noch nicht einmal gebeten hatte hereinzukommen; sie standen alle noch auf dem Bahnsteig. Jost besah sich das Panorama, die Kalkfelsen unter der „Hohe“, die bewaldeten Bergrücken und die Täler, die von hier aus nur als Trennlinien zwischen den Bergen zu erkennen waren. Er wußte: Wenn Löser am Montag mit dem Zug gekommen war, würden sie es von Fräulein Spillner erfahren. Es mußte sich in den nächsten Sekunden entscheiden. „Ja“, hörte er sie sagen, „das stimmt, Löser ist am Montag mit dem Achtzehnfünfundvierziger aus Quedlinburg gekommen.“ 149
„Und weshalb erinnern Sie sich so genau daran?“ fragte Schreiber. Er wollte sichergehen, denn wenn sie Löser nur mit Beweisen überführen konnten, mußten diese wirklich hieb- und stichfest sein. Fräulein Spillner lächelte. „Den Löser kenne ich doch! Von dem weiß ich, daß er gern faulenzt. Also hab’ ich ein bißchen gestichelt. ‚Blauen Montag gefeiert?‘ hab’ ich ihn gefragt.“ Schreiber atmete sichtlich erleichtert auf. Impulsiv gab er Fräulein Spillner die Hand und bedankte sich bei ihr. „Hat Löser Ihnen darauf geantwortet?“ fragte Jost noch. „Nur mit einem Grinsen.“ „Wohin jetzt?“ erkundigte sich Zeller, der vom Eifer der Genossen angesteckt war. Leutnant Glas hob die Schultern. „Eigentlich müßte Löser in der LPG sein, aber …“ „Also los!“ entschied der Hauptmann. „Fräulein Spillner, nochmals vielen Dank! Schade, daß es keine Berufszeugen gibt, Sie wären dafür geeignet.“ „Wir wollen Löser nicht gleich mit Mißtrauen begegnen“, sagte er im Wagen, „deshalb zur LPG.“ Glas wies ihnen den Weg. „Aber Sie werden sehen, daß er nicht dort ist!“ sagte er. Der Leutnant behielt recht mit seiner Prophezeiung. In der Verwaltung erklärte ihnen ein junges Mädchen, Fritz Löser sei krank. „Liegt eine Krankmeldung vor?“ fragte Schreiber. Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Sind ja noch nicht drei Tage.“ „Und woher wissen Sie’s?“ „Von seiner Mutter.“ Draußen sagte Glas: „Frau Löser ist gar nicht so, aber sie steht völlig unter dem Einfluß ihres Sohnes. Wenn der 150
sagt, er sei krank, glaubt sie es.“ „Gehen Sie zu ihr“, erwiderte Schreiber. „Wenn er zu Hause ist, bringen Sie ihn mit. Wir fahren zu Ihnen ins Büro.“ Fritz Löser saß behaglich im Garten und ließ sich von der Oktobersonne bescheinen. Auf dem Tisch stand eine Flasche Bier, lag ein Päckchen Zigaretten, lagen Wurstschalen und Brotkrümel auf einem Teller. Als er Stimmen im Hausflur hörte, wandte er halb den Kopf, die Augen vor der Sonne geschlossen. Er kannte beide, die wehleidige Stimme seiner Mutter und die rauhe des Abschnittsbevollmächtigten. Mit Glas hatte er oft genug zu tun gehabt. Wirklich, der konnte ihm auf die Nerven gehen mit seinen ideologischen Unterweisungen! Freude an der Arbeit, Arbeit als Quelle aller menschlichen Entwicklung! Lachhaft! Im Arbeitserziehungslager hatten sie schuften müssen, und wie! Aber Freude, nein, die hatte er dabei nicht verspürt. Alles Unsinn, dachte Löser, dieses Gequackel! Er gähnte, dann richtete er sich auf. Er wußte natürlich, warum Leutnant Glas gekommen war. Vorhaltungen wollte der ihm machen wegen der Bummelei. Er kannte das und würde es auch dieses Mal überstehen. Der Abschnittsbevollmächtigte schien heute seinen gemütlichen Tag zu haben. „Geht’s einigermaßen?“ fragte er freundlich nach der Begrüßung. „Ich bin für die Naturheilmethode“, antwortete Löser. „Sonne tut immer gut.“ „Die könnten Sie auch auf dem Acker haben“, meinte Glas. „Und jetzt ziehen Sie sich bitte an, und kommen Sie mit!“ „Anziehen!“ sagte Löser betont. Er schielte zu seiner Mutter, die in der Hoftür stand und ihre Schürze zerknüllte. 151
„Mach schon!“ sagte sie leise. „Dein krankes Kind schickst du weg!“ warf er ihr vor, dann ging er zum Haus. Glas blieb dicht hinter ihm; er stellte in Rechnung, daß Löser zu fliehen versuchen würde, denn der wußte, was er am Montag in Tannrode getan hatte. Aber Löser schob ganz ruhig und sacht seine Mutter beiseite und ging in die Kammer hinter der Hoftür. „Er hat’s manchmal im Kreuz“, entschuldigte Frau Löser ihren Sohn. „War er schon beim Arzt?“ fragte der Abschnittsbevollmächtigte. „Er wollte nachher hingehen.“ „Du brauchst mich nicht zu verteidigen!“ rief Löser aus der Kammer. Die Frau schlug die Augen nieder. Sie warteten. Glas kannte die Räumlichkeiten; aus der Kammer war eine Flucht unmöglich, dafür war das Fenster zu klein. Löser erschien in seiner nach Kuhstall riechenden Arbeitskluft. Er hielt dem Abschnittsbevollmächtigten einen Ärmel unter die Nase. „Von wegen ‚die Sonne könnte ich auch aufm Acker haben‘!“ sagte er. „In der frischen Luft arbeiten andere, mich kommandieren sie in’n Stall.“ „Gehen wir!“ sagte Glas. „Auf Wiedersehen, Frau Löser!“ Die Frau sah hinter ihnen her. Die weiß von nichts, dachte Glas, sonst hätte sie mehr lamentiert. Schreiber hatte das Auto abseits vom Büro des Abschnittsbevollmächtigten parken lassen, Löser bemerkte es nicht. Er betrat mit stumpfem, etwas frechem Lächeln das Dienstzimmer und blieb dann überrascht stehen, als er die zwei Männer sah. 152
„Hauptmann Schreiber und Leutnant Jost – der Bürger Fritz Löser“, machte Glas sie bekannt. „Tut mir leid, daß Sie krank sind“, begann Schreiber, noch ehe Löser sich richtig besinnen konnte. „Vielleicht können Sie uns aber doch ein paar Fragen beantworten.“ „Fragen?“ Glas schob Löser einen Stuhl hin. Unterdes schloß Schreiber das Fenster. Der Abschnittsbevollmächtigte konnte sich nicht erklären, warum Jost dabei lächelte. „Ja“, fuhr Schreiber fort, „zum Beispiel, wo Sie sich am Montag aufgehalten haben?“ „Am Montag?“ Löser roch an seinem Ärmel. „Im Kuhstall“, sagte er. „Aber doch wohl nicht den ganzen Tag.“ „Nöö …“ „Also, wo waren Sie außerdem noch?“ Löser, langsam und unruhig: „Daran erinnere ich mich nicht mehr.“ „Denken Sie mal an den sogenannten blauen Montag!“ half Schreiber nach. „Es hat Sie doch jemand gefragt, ob Sie blauen Montag gemacht hätten.“ „Mich gefragt? Wer?“ „Fräulein Spillner vom Bahnhof.“ Löser lachte verkrampft. „Ach so, die … Ja, stimmt …“ „Es war am Montag, als Sie mit dem Zug achtzehn Uhr fünfundvierzig aus Quedlinburg kamen.“ Schweigen. Leutnant Glas hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt, Jost lehnte dagegen. Der Hauptmann stand vor dem Fenster und überlegte. „War es sofort Ihre Absicht, von Quedlinburg nach Hause zu fahren, oder wollten Sie zunächst nach Wernigerode?“ erkundigte er sich nach einer Weile. 153
Löser hob betroffen den Kopf. Auf seinem Gesicht zuckte es. „Wie komm’ Sie’n darauf?“ „Weil Sie zu Herrn Grundmann gesagt haben, Sie wollten nach Wernigerode fahren.“ „Grundmann? Wer ist’n das?“ „Der Herr, der Sie von Tannrode aus in seinem Auto mitgenommen hat.“ „Sie trugen eine schwarze Ledermütze mit einem Knopf obenauf und eine braune Kutte mir vier Taschen und einem Reißverschluß“, fügte Jost hinzu. „Nach Wernigerode wollte ich überhaupt nicht, das hab’ ich bloß so gesagt“, platzte Löser unüberlegt heraus. „Sie waren also in Tannrode!“ stellte Schreiber fest. Löser schwieg wieder. Er hatte rote Flecken am Hals und atmete hastig. „Na, Fritz, nun sag schon!“ forderte Glas ihn auf. „Wir kennen uns doch lange genug. Ich weiß, daß du manchmal einen Rippenstoß brauchst.“ Er wandte sich an Schreiber. „Er ist kein schlechter Kerl, er muß bloß hin und wieder mal zurechtgerückt werden.“ Schreiber und Jost spürten, daß der Abschnittsbevollmächtigte Löser durch dieses dicke Lob gesprächig machen wollte. Löser nickte denn auch tatsächlich. „Sehr vernünftig von Ihnen, daß Sie’s zugeben“, meinte Schreiber, „wir hätten Sie sonst Herrn Grundmann gegenüberstellen müssen. Nun seien Sie auch weiterhin so vernünftig, und sagen Sie uns die Wahrheit. Zum Beispiel: Warum haben Sie Herrn Grundmann erzählt, daß Sie nach Wernigerode fahren wollten?“ Löser bleckte die Zähne und hob die Schultern. „Bloß so!“ stieß er hervor. „Na, na!“ zweifelte Schreiber. „Grundmann war so 154
freundlich, Sie bis Quedlinburg mitzunehmen. Warum sollten Sie ihn bei einer derart harmlosen Frage beschwindeln?“ Sekunden verrannen. Löser rührte sich nicht auf seinem Stuhl. Er starrte geradeaus. „Oder war das Ganze doch nicht harmlos?“ fragte Jost in die Stille. „Was soll nicht harmlos gewesen sein?“ „Die Antwort auf Grundmanns Frage, wohin Sie fahren wollten.“ „Weil Sie vielleicht Ihre Spur zu verwischen trachteten“, ergänzte Schreiber. „Spur verwischen?“ echote Löser. „Weil in Tannrode etwas geschehen war, das niemand erfahren sollte.“ „Was war geschehen?“ „Die Fragen stellen wir, Herr Löser!“ sagte Schreiber leise, aber eindringlich. „Erzählen Sie uns bitte, was Sie in Tannrode getan haben. Warum sind Sie überhaupt hingefahren?“ „Bloß so!“ sagte Löser wieder. „Herr Grundmann hatte den Eindruck, daß Sie aufgeregt waren.“ „Warum’n aufgeregt?“ Schreibers Stimme klang härter, als er jetzt sagte: „Herr Löser, es wäre schade, wenn wir Sie erst durch Fingerabdrücke überführen müßten.“ Löser erhob sich langsam; er stand, die Knie gebeugt, ließ sich dann aber wieder zurückfallen. „Sie wollten einen Scheck über dreihundert Mark einlösen!“ behauptete Schreiber aufs Geratewohl. Löser widersprach nicht. Also stimmt es, dachte Schreiber. „Erzählen Sie’s uns!“ 155
forderte er Löser auf. „Von Anfang an. Wie Sie zu dem Scheckheft und zu dem Personalausweis gekommen sind!“ „Gefunden hab’ ich beides. Und dann bin ich zur Post und hab’ den Scheck vorgelegt.“ „Bitte, etwas genauer: Wo haben Sie die Sachen gefunden? Wann? Und weshalb sind Sie auf den Gedanken gekommen, den Scheck vorzulegen, der doch nur die Unterschrift des Scheckheftinhabers trug. Das andere haben Sie eingesetzt!“ Löser ließ den Kopf hängen. Merkwürdig, die Kriminalisten hatten Fragen gestellt, obwohl sie im voraus wußten, wie die richtige Antwort lauten mußte. Das verwirrte ihn. Wieviel wußte die Polizei wirklich? Die Postangestellte war tot, die konnte man nicht mehr befragen, und die hatte man auch am Montag nicht mehr fragen können. Für das, was in der Post geschehen war, gab es keinen Zeugen … Wer also konnte ihm beweisen, daß er log? „Ja“, fing er stockend an, „also, das war so: Ich wollte mal ’raus aus’m Mief. Deshalb bin ich losgefahren mit’m Bus. Irgendwohin. Zufällig war’s Tannrode. Da bin ich ausgestiegen und rumgebummelt und schließlich in die ‚Klippmühle‘ gegangen. War aber nicht viel los in dem Schuppen. Hab ’n paar Bier und Schnäpse getrunken und bin dann wieder ’raus und rumgebummelt …“ Er hob den Kopf. Schreiber lächelte ihm zu. „Bitte, weiter!“ „Ja, und dann … dann komme ich auf’n Waldweg mit’m Hang dahinter, und da sitzt einer und sonnt sich. Der macht’s genau wie du, denk’ ich, der faulenzt. Ich bleibe stehen und beobachte ihn. Aber der hat mich nicht gesehen. Dann steht er auf, schüttelt die Jacke aus, zieht sie an und geht weiter …“ „Wie sah der Mann aus?“ fragte Schreiber. 156
„Hatte ’n Vollbart, Glatze und Brille.“ Schreiber nickte. „Und wie ich da hinkomme“, fuhr Löser fort, „wo der gesessen hat, seh’ ich was im Gras liegen. Ich bücke mich, ’n Ausweis, denke ich, und ’n Scheckheft. Mann, und sogar mit ’ner Unterschrift!“ Er grinste. „Das hab’ ich ja nu gelernt! Im Lager hatten wir einen, der hatte so was schon gemacht, sich von der Post Geld auf Schecks geben lassen. Der hat’s uns genau erklärt. Mann, denk’ ich, da kannste was machen! Also hab’ ich dreihundert Mark eingesetzt, das ist nämlich erlaubt, der Betrag, meine ich … und dann bin ich zur Post. Den Mann hatte ich vorher in’m Haus verschwinden sehen. In der Post war kein Mensch … das heißt doch … ich meine …“ Löser geriet wieder ins Stocken, strich sich mit der Hand über die roten Flecke am Hals. Die anderen warteten gespannt. Jost, der etwas sagen wollte, wurde von Schreiber durch eine vorsichtige Handbewegung zum Schweigen aufgefordert. „Ich will nichts Falsches erzählen“, fuhr Löser unsicher fort, „aber … aber hinten, nach’m Hof zu, ich glaube, da war einer … oder oben. Da führt doch ’ne Treppe ’rauf … Irgendwo war einer, ich weiß bloß nicht, wo … also bestimmt, einer war da, das hab’ ich gespürt. Ich hab’ den Scheck durchs Fenster geschoben. Da saß ’ne Frau, die hat den Scheck angeguckt, dann den Ausweis, dann mich. Na, denk’ ich, ob das wohl gut geht? Die guckte nämlich so komisch. Und dann kam’s auch schon! ‚Holbeck!‘ ruft sie, und noch mal: ‚Holbeck?‘ Die Frau springt auf wie ’ne Wilde, schreit, ich wär’n Betrüger und solle stehenbleiben. Aber ich natürlich – nischt wie weg! Die Sache war geplatzt. Jetzt bloß noch schalten, 157
denk’ ich, und aufpassen, daß du wegkommst! Also Ausweis und Scheckheft geschnappt, damit die Frau nichts in den Händen hat – bis auf den Scheck natürlich, und da kommt sie auch schon aus der Tür gestürzt, auf mich zu, und ich ’raus …“ „Das müssen Sie genauer erzählen!“ sagte Schreiber. „So schnell waren Sie sicherlich nicht draußen.“
34 Über die Straße und die Hänge hinweg tönte das Geläut der Friedhofsglocken, während sich der Trauerzug zum Grab bewegte. Halb Tannrode nahm an der Beerdigung teil, und aus der Kreisstadt waren Vertreter der Post gekommen. Es war ein sonniger, herbstbunter Tag, das Wetter hatte sich mit einem Schlag geändert, der Himmel strahlte in festlichem Blau. Man konnte vom Friedhof aus das Dorf überblicken und in die Höfe sehen. Das Haus am Ende der Straße war die Poststelle. Das graue Schieferdach glitzerte in der Sonne, im Garten leuchteten die letzten Blumen des Jahres. Auf dem Wiesenhang weideten die Schafe. Der Schäfer stand auf seinen Stecken gestützt und schaute hinüber zum Friedhof; von weitem sah er wie eine aus Holz geschnitzte Figur aus. Etwa in der Dorfmitte lag die „Klippmühle“, vor der mehrere Männer Fässer abluden. Gleich daneben ging es die Gasse hinauf, in der Anna Hüttner wohnte, und ziemlich am anderen Ende der Straße, aber diesseits des Flusses, befand sich Krögers Haus; es war vom abfallenden Hang des Friedhofes fast verdeckt. 158
Schweigend, gemessenen Schrittes näherte sich die Trauergemeinde der letzten Ruhestätte Karin Anrainers. Hinter dem Sarg gingen die Schwiegereltern der Toten, die Frau Löbau in die Mitte genommen und eingehakt hatten. Frau Löbaus Gesicht war grau, eingefallen, ihr Blick leer. Sie hatte sich am Morgen bei Anrainers und bei der Trauerfeier in der Kapelle mit letzter Kraft beherrscht, kein Wort hatte sie gesprochen, aber auch keinen Laut der Klage hören lassen. Stumm hatte sie getan, was getan werden mußte; alle Versuche Frau Anrainers, mit ihr ins Gespräch zu kommen, hatte sie kopfschüttelnd zurückgewiesen. Ihr Verhalten schien sich auf Anrainers, die auch nur das Notwendigste miteinander geredet hatten, übertragen zu haben. Am Abend zuvor hatte Wilhelm Anrainer erklärt, daß er zur Beisetzung nicht mitkommen werde, es übersteige seine Kräfte, am Grab der Ermordeten zu stehen – nach allem, was er durchgemacht habe. „Aber Wilhelm“, hatte seine Frau gesagt (und sich dabei scheu umgeblickt, ob Frau Löbau auch nichts gehört hatte), „Wilhelm, das kannst du doch nicht machen! Was sollen denn die Leute denken! Für Lieschen ist es noch schwerer als für uns, Karin war ihr Kind …“ Anrainer hatte den Kopf gesenkt und geschwiegen. Den größten inneren Abstand zu dem Ereignis wahrte Frau Anrainer. Sie, die stets geduckt neben ihrem Mann dahingelebt hatte, hatte jetzt das Gefühl, es sei eine Last von ihr genommen. Die Kinder waren tot, die Quelle, aus der ihr Mann immer wieder neuen Streit geschöpft hatte, war endgültig zugeschüttet. Der Zug erreichte das Grab. Der Pfarrer trat vor, sprach ein kurzes Gebet, dann wurde der Sarg in die Grube hinuntergelassen. Der Geistliche warf die erste Handvoll 159
Erde und trat zurück. Schweigend vollzog sich die Zeremonie des Abschiednehmens von der Toten. Man schaute ins Grab hinunter, der Erde nach, die man geworfen hatte, drückte den Hinterbliebenen die Hand, hob den Kopf, blickte in den blauen Himmel … Und plötzlich stand Anna Hüttner am Grab. Niemand hatte sie bisher gesehen, sie war nicht mit in der Kapelle gewesen und auch nicht im Trauerzug. Ihr Erscheinen wirkte schockierend auf die nächsten Beteiligten, auf Anrainers und die Nachbarn; Frau Löbau und die Kollegen von der Post wußten nicht, welche Rolle diese Frau im Leben der Ermordeten gespielt hatte. Sie musterten sie mit gleichgültigen Blicken. Anna Hüttner sah lange in die Grube, länger als die anderen vor ihr. Lautlos bewegten sich ihre Lippen, während sie nach der Schaufel griff, die auf dem mit Erde gefüllten Becken lag. Sie stand unmittelbar neben Wilhelm Anrainer und ahnte, woran der dachte: an das Dreiecksverhältnis zwischen ihr, der Ermordeten und Sparr. Aber nichts an ihrer Haltung verriet, was in ihr vorging. Leichte Unruhe entstand, weil Anna Hüttner sich nicht von der Stelle rührte, nachdem sie die Erde hinuntergeworfen hatte. Wilhelm Anrainer starrte ausdruckslos auf den Sarg, er vermied es, die Frau mit einem Blick auch nur zu streifen. Martha Anrainer fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie vermochte es nicht zu glauben, daß Anna Hüttner ihrer Nebenbuhlerin die letzte Ehre erwies. Die Hüttner, die mit dem Mörder der Toten im Bett gelegen hatte! Dachte sie denn gar nicht an Sparr? Nachdem der letzte Trauergast vom Grab zurückgetreten war, löste sich der Zug auf. Einzeln und in Gruppen gingen die Leute durch die Gräberreihen. Leise unterhielten sie 160
sich, über das Wetter, die Abfahrtszeiten der Busse, daß es Schuhe gab im Konsum … Nur die allernächsten Nachbarn gingen zusammen mit Anrainers und Frau Löbau in die Poststelle zurück. Anna Hüttner hatte es, wie tuschelnd festgestellt wurde, doch tatsächlich fertiggebracht, den drei Hinterbliebenen die Hand zu drücken! Gerade wollte sie die Familie überholen, als sich ein Mann an ihr vorbeidrängte und seine Hand auf Anrainers Schulter legte. „Wilhelm“, sagte er, „wie sich aber auch alles gegen dich verschworen hat …“ Anna Hüttner ging vorbei. Sie wußte, daß der Mann Kutzner hieß und ein Nachbar der Familie Anrainer war, er galt als geschwätzig und würde gewiß noch einmal alles aufrühren. Sie hatte sich schon einige Meter von den Hinterbliebenen entfernt, als sie plötzlich das Wort „Beil“ auffing. Daraufhin verlangsamte sie ihre Schritte.
35 „Was soll ich’n noch genauer erzählen?“ fragte Löser. „Ich hab’ doch schon alles gesagt.“ „Gegen Sie wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet“, erklärte Schreiber. „Urkundenfälschung und versuchter Scheckbetrug werden Ihnen zur Last gelegt. Dazu brauchen wir genauere zeitliche Angaben. Wann haben Sie den Ausweis und das Scheckheft gefunden?“ „Nachmittags vielleicht.“ Löser tat, als erinnere er sich nicht mehr genau. „Vormittags!“ stellte der Hauptmann richtig. „Woher woll’n Sie das wissen?“ fragte Löser bockig. 161
„Von dem Mann, dem beides gehört. Herr Holbeck ist nachmittags nicht wieder spazierengegangen, also können Sie ihn nur vormittags beobachtet und die Dokumente an sich genommen haben.“ „Dann eben vormittags.“ „Und wann waren Sie in der Post, um den Scheck einzulösen?“ „Gleich danach.“ Schreiber und Jost wechselten einen Blick. Auf diesen Zeitpunkt kam es an, das wußten sie. „Stimmt das?“ fragte der Hauptmann. „So etwas will schließlich überlegt sein. Sie sind doch sicherlich erst mit sich zu Rate gegangen.“ Löser schmatzte mit trockenen Lippen. Er schien nachzudenken. Leutnant Glas, der den Ermittlungsvorgang nicht so genau kannte, daß er abzuschätzen vermochte, worauf es ankam, wollte wieder nachhelfen, aber Schreiber legte den Finger auf den Mund. Löser hatte das nicht bemerkt, er rutschte auf dem Stuhl hin und her, die Flecken am Hals waren größer geworden, sie zogen sich über den Unterkiefer bis zu den Wangen hinauf. „Warum soll’n das nicht stimmen?“ fragte er schließlich matt. „Weil wir einen Zeugen dafür haben, daß die Postangestellte den Namen Holbeck nachmittags gerufen hat. Sofort danach verließ sie den Dienstraum und ist zur Haustür gelaufen.“ „Ach so!“ „Das war nach sechzehn Uhr.“ „Möglich …“ „Sie geben also zu, daß Sie nach sechzehn Uhr in der Post gewesen sind“, stellte Schreiber fest. „Dann erzählen Sie bitte noch …“ „Hab’ ich doch schon!“ unterbrach Löser ihn. „Als die 162
Frau hinter mir hergelaufen kam, bin ich ’raus. Ich bin die Wiese ’rauf, und oben hab’ ich das Zeug weggeworfen. Nach ’ner Weile kam der Wartburg, dem hab’ ich gewinkt.“ Wieder war Stille, unterbrochen nur von Lösers kurzen, heftigen Atemzügen. Plötzlich sagte Jost: „Vielleicht sollten wir jetzt die Postangestellte fragen, wie es wirklich gewesen ist, Genosse Hauptmann.“ Löser zuckte zusammen und wurde käseweiß. Er schwankte auf dem Stuhl, als sei ihm übel. „Was haben Sie denn?“ fragte Schreiber. Löser japste. „Ich hole ihm ein Glas Wasser“, sagte der Abschnittsbevollmächtigte. Schreiber und Jost beobachteten Löser, dessen Augen jetzt verschleiert waren, als ob er sich erbrechen müßte. Leutnant Glas kam zurück. „Hier“, sagte er, „trink, wenn’s auch kein Schnaps ist!“ Löser schlürfte das Wasser, dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ist Ihnen wieder besser?“ fragte Schreiber. Löser nickte. „Was hat Sie denn so plötzlich erschüttert?“ Löser starrte zu Boden. „Die ist doch tot“, sagte er leise. „Ermordet!“ bestätigte Jost. „Eben zu der Zeit, als Sie in der Post gewesen sind. Nach sechzehn Uhr.“ „Ich sagte schon, da war noch einer!“ stieß Löser hervor. „Im Garten oder oben … Ganz bestimmt war da noch einer!“ „Bis jetzt wissen wir nur, daß Sie dort gewesen sind“, sagte Schreiber. „Im Hausflur. Ganz nahe bei der Frau, die erschlagen wurde.“ 163
36 Während die Glocke läutete, peinigte ihn die überklare Vorstellung, die er von den Geschehnissen auf dem Friedhof hatte. Ganz deutlich sah er den Sarg, den Pfarrer, die Trauergemeinde … Seine Finger streckten sich, die Zigarette fiel auf den Fußboden. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich dessen bewußt wurde und sie aufhob. Er zerdrückte sie im Aschenbecher, dann sank er zurück auf das Bett. Er sah Anna Hüttner am Grabe stehen. Man würde sie mit Blicken durchbohren, sie am liebsten an der Kleidung packen und wahrscheinlich fragen, ob sie wisse, wo sich Sparr aufhalte. Sparr, der Mörder … Das Geläut klang schwächer, der Wind mußte sich gedreht haben. Aber er hörte es noch immer, und er sah in Gedanken, wie der Sarg in die Grube hinuntergelassen wurde und der alte Anrainer ganz vorn stand und hinunterstarrte. Der hatte ihm die Pest an den Hals gewünscht, nicht allein wegen der Karin, sondern vor allem des Sohnes wegen, den Sparr durch seine Beziehungen zu Karin entehrt hatte. Sie hatten kaum jemals einen Satz gewechselt, aber Anrainer hatte ihm mit Blicken zu verstehen gegeben, was er von ihm hielt. Einmal war er so weit gegangen, ihm das Haus zu verbieten – ein Verbot, das er nicht durchsetzen konnte, und das hatte den Alten noch mehr in Wut versetzt. Frau Anrainer hatte Sparr kaum zu sehen bekommen, sie war eine stille, unzufriedene, abseits lebende Frau, das wußte er von Karin. Und dann Frau Löbau … ihr war er einmal begegnet, als sie sich 164
besuchsweise in Tannrode aufhielt. Sie hatte ihn prüfend angesehen, als wollte sie feststellen, ob Karin ihr die Wahrheit erzählt hatte und welcherart die Beziehungen zwischen ihm und ihrer Tochter künftig sein würden. „Karin ist mir zu schade für eine Liebelei!“ hatte sie ihm gesagt. Nichts weiter, aber dieser Satz hatte ihn lange verfolgt. So wie man die Gleise stellt, dachte Sparr, so verläuft das Leben. Es hätte mit uns, vernünftig betrachtet, gar nicht anders kommen können. Irgendwann mußten unsere Beziehungen mit einer Katastrophe enden, so wie wir sie eingerichtet hatten. Ihm wurde eng um die Brust. Er stand auf und ging ans Fenster. Draußen lockte ein sonniger Tag. Das Glöckchen war verstummt, die Leute hatten also endgültig Abschied von Karin genommen. Aber mit ihrem Tod hatte sich nicht alles erledigt! Sparr drückte das Gesicht gegen die kühle Scheibe. Wieder war die Hitze in ihm, die er schon nachts, auf dem Rückweg nach Tannrode, gespürt hatte. Er hörte die Wirtin das Haus verlassen und sah auf die Uhr. Wenn Anna sich beeilte, mußte sie bald zurück sein. Er hatte plötzlich Sehnsucht nach ihr, sie erschien ihm anders als bisher, begehrenswerter, schon seit jenem Dienstagabend, an dem er flüchtig geworden war. Immer wieder hatte er sie sich vorgestellt, und er hatte sehr stark das Gefühl, als könnte er bei ihr Ruhe und Geborgenheit finden. Draußen schlug die Glocke an; das geschah immer, wenn die Haustür geöffnet wurde. Er hörte Schritte. Das war Anna, er kannte ihren Gang. Aber er blieb in der Stube. Es hätte sein können, daß sie nicht allein kam. Sie schloß auf. Es hielt ihn nicht länger, er stürzte ihr entgegen und nahm sie in die Arme. „Du mußt mir 165
glauben!“ sagte er. Nur das. Er ließ offen, ob er seine Liebe zu ihr meinte oder den Mord. Sie küßte ihn, machte sich los, zog den Mantel aus und hängte ihn in den Schrank. Dabei fragte sie: „Ist Frau Borras weggegangen?“ Er nickte. Sie ordnete mit ein paar Handbewegungen ihr Haar. „Du fragst gar nicht, wie es gewesen ist auf dem Friedhof.“ Er sah weg. „Wozu noch? Abschied, Tränen … Ich will endlich davon loskommen!“ „Ich habe was gehört“, sagte sie, „das vielleicht wichtig ist. Ich erzähl’s dir, während wir frühstücken, du hast bestimmt Hunger.“ Sie setzte Kaffeewasser auf, und während sie die Frühstücksteller hinstellte, sagte sie: „Je offener du die Karten auf den Tisch legst, desto eher werden sie dir glauben. Das Beil …“ Sie erzählte ihm, was sie auf dem Friedhof gehört hatte.
37 Löser saß wie betäubt. Nur er war am Tatort gewesen! Er hätte streiten können, aber sie wußten bereits alles. Alles! „Haben Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen?“ fragte Schreiber. Löser kannte seine Lage. Nicht zum erstenmal saß er vor einem Untersuchungsführer. Je mehr er sagen würde, um so stärker würde er sich verheddern. Die behielten alles im Kopf, was er ihnen erzählte, und wenn er’s dann wiederholte, aber anders als zuvor, lächelten sie ihn so überlegen an: Jetzt haben wir dich! Also würde er 166
schweigen und abwarten, wie es weiterging. „Wenn Sie uns nichts mehr zu sagen haben“, fuhr Schreiber fort, „muß ich Ihnen eröffnen, daß wir Sie in Haft nehmen.“ „Haftbefehl?“ Löser verriet seine Gesetzeskenntnis. Doch ein Profi, dachte Glas. „Sie werden dem Haftrichter vorgeführt. Hier ist der Antrag.“ Löser warf kaum einen Blick auf das Papier. Die hatten also schon alles vorbereitet gehabt, als sie zu ihm gekommen waren. Und der ABV fragte noch, wie’s ihm gehe. Dieser scheinheilige Bulle! Dem wird er mal abends begegnen … Er stand auf. „In der Kluft soll ich mitkommen? Die stinkt ja.“ „Warum haben Sie sich vorhin nicht die Kutte angezogen?“ wies Jost ihn zurecht. „Auch noch fein machen, was?“ Aber sie fuhren doch noch einmal zu ihm, damit er sich umziehen konnte. Frau Löser verhielt sich ruhig, beinahe abgestumpfte als ob sie etwas geahnt hätte. Der Fritz hatte ihr wieder und wieder Sorgen gemacht, aber so viele Kriminalisten wie diesmal waren noch nie gekommen, um ihn zu holen. Es mußte etwas Ernstes sein. Sie wandte das Gesicht ab, damit man ihre Tränen nicht sehen konnte. Löser, jetzt in der Kutte, die schwarze Ledermütze auf dem Kopf, tätschelte ihr die Schulter. Er tat großspurig, aber man sah, wie seine Hand dabei zitterte. „Mach’s gut, Mutter!“ sagte er mit belegter Stimme. In der Dorfmitte verabschiedeten sie sich von Leutnant Glas. „Schade um den Jungen“, sagte der Abschnittsbevollmächtigte leise zu Schreiber, der für einen Augenblick 167
mit ausgestiegen war. „Der Vater hat Frau und Kind sitzenlassen, lebt drüben in der Bundesrepublik. Die Frau hat’s allein eben nicht geschafft.“ „Was heißt ‚allein‘?“ fragte Schreiber bitter. Glas hob die Schultern. „Freilich! Später weiß man immer, daß man gleich am Anfang hätte richtig steuern müssen … Jugendkommission, Schiedskommission, Gericht. Sie werden’s ja nachher hören in Quedlinburg.“ Während der Fahrt unterhielten sich die Kriminalisten kaum. Zeller dachte an den Roman, den er neulich gelesen hatte; in der Geschichte waren die Kriminalisten am Ende mit dem Mörder zum Haftrichter gefahren. Könnte hier auch so sein! Jost hätte sich gern mit dem Hauptmann unterhalten, aber in Lösers Beisein war das nicht möglich, der hätte Kapital daraus geschlagen, wenn sie über das Versagen der Gesellschaft debattiert hätten. Zwar wäre es übertrieben gewesen, der Gesellschaft alle Schuld zuzuschieben – jeder mußte für das einstehen, was er getan hatte –, aber ein Körnchen Wahrheit wäre doch daran gewesen. Die „Summe von Beziehungen“, wie man die Gesellschaft definiert, war in der Mordsache Karin Anrainer nicht aufgegangen … Sie fuhren in den kopfsteingepflasterten Vorhof des Kreisgerichts. Der Stuck des Hauses verriet, daß hier vor Zeiten Redouten und arkadische Spiele gefeiert worden waren; Wände und Decken waren geschmückt mit Masken, breit lächelnden Satyrn und schalmeienblasenden Putten. Die ausgetretenen Holzstiegen knarrten. Der Richter, von Leutnant Glas telefonisch verständigt, erwartete sie bereits. „So schnell sehen wir uns also wieder“, sagte er zu Löser, nachdem er ihn und die beiden Kriminalisten begrüßt hatte. „Ich wär’ nicht gekommen!“ muffelte Löser. 168
Schreiber und Jost setzten sich auf eine Bank neben der Tür. Der Richter las den Antrag auf Erlaß eines Haftbefehls durch. „Urkundenfälschung und versuchter Scheckbetrug! Ich sehe, Sie machen Fortschritte.“ „Jeder soll sich qualifizieren!“ entgegnete Löser frech. Der Richter kannte den Mordfall und ahnte, daß es nicht bei den bis jetzt zugegebenen Delikten bleiben würde. „Bestätigen Sie Ihre Aussage vor der Polizei?“ „Muß ich ja wohl!“ „Nur, wenn sie richtig ist. Sie haben ja leider schon wiederholt Gelegenheit gehabt, sich mit der Strafprozeßordnung vertraut zu machen. Sie wissen also, daß nur die Wahrheit gilt.“ Löser rieb seine Nasenspitze. „Ich gebe alles zu.“ Der Richter sah ihn eine Weile an. „Alles? Ist das alles: Urkundenfälschung und versuchter Scheckbetrug?“ „Genügt das nicht?“ fragte Löser verstockt. „Für den Haftbefehl schon!“ antwortete der Richter.
38 Nach der richterlichen Vernehmung brachten sie Löser in ein Zimmer, das verschlossen werden konnte. Schreiber und Jost wollten von dem Richter mehr über ihn erfahren, ohne daß er Zeuge des Gesprächs wurde. „Aber zunächst möchte ich eine Frage stellen“, sagte der Richter. „Halten Sie ihn für den Mörder?“ Schreiber hob die Schultern. „Er behauptet, es sei noch einer dagewesen.“ „Glauben Sie ihm?“ 169
„Es ist zu früh, diese Frage eindeutig mit ja oder nein zu beantworten.“ Der Richter klärte sie auf. „Löser ist leider mit allen Wassern gewaschen, asozial, ein Dieb und Gewalttäter. Wir haben uns schon dreimal mit ihm befassen müssen. Das erste Urteil lautete zur Bewährung; er hatte aus einer Gaststätte Zigaretten und Alkohol gestohlen. Schon vorher mußte er sich vor einer Schiedskommission wegen Diebstahls verantworten; deshalb haben wir lange beraten, ob wir ihn zu Freiheitsentzug verurteilen oder auf Bewährung setzen sollten. Aber der Wert der gestohlenen Sachen war gering, also blieb er auf freiem Fuß. Im zweiten Verfahren verhandelten wir gegen ihn wegen Körperverletzung, die er nach reichlichem Alkoholgenuß begangen hatte. Der Geschädigte war drei Wochen arbeitsunfähig. Acht Monate Freiheitsentzug. Vorher hatte Löser bereits öfter gebummelt, nach der Strafverbüßung nahm er seine Arbeit gar nicht erst wieder auf. Das ging so über fünf bis sechs Wochen. Das dritte Verfahren: Arbeitserziehung …“ Der Richter seufzte. „Es scheint, als ob er noch immer nichts gelernt hat … Urkundenfälschung, versuchter Scheckbetrug … wenn es dabei bleibt!“ „Wir müssen seine Fingerabdrücke untersuchen lassen“, sagte Schreiber. „Vielleicht hilft uns das doch weiter.“ „Sie meinen, man könnte möglicherweise herausfinden, ob er das Beil in der Hand gehabt hat?“ Schreiber nickte. „Viel Hoffnung besteht nicht bei diesem Wirrwarr.“ Er klärte den Richter über das bisherige Ergebnis der Spurensicherung auf. „Herr Anrainer hat uns bis jetzt nicht sagen können, wo er das Beil abgelegt hatte“, meinte er abschließend. 170
„Löser ist also schon früher gewalttätig geworden“, mischte sich Jost jetzt ein. „Hat er dabei einen Gegenstand benutzt?“ „In der Gaststätte? Ja, ein Bierglas“, antwortete der Richter. „Und er kann von Glück sagen, daß es nicht schlimmer ausgegangen ist. Auf diese Weise ist schon mal jemand tödlich verletzt worden.“ „Bierglas oder Beil“, überlegte Jost laut, „der Täter benutzt den Gegenstand in jedem Fall als Waffe. Es wäre also nicht abwegig, Löser zu verdächtigen, er habe Frau Anrainer erschlagen.“ „Vor allem dann nicht“, bestätigte der Richter, „wenn man die Situation berücksichtigt, in der er sich befunden hat.“ „An dem beißen wir uns noch die Zähne aus!“ prophezeite Schreiber. „Leutnant Glas, der Abschnittsbevollmächtigte, nennt ihn einen Profi. Herr Kollege, würden Sie bitte die Haftanstalt anrufen, daß man Löser abholt. Sie, Leutnant Jost, werden sich noch einmal mit Anrainer unterhalten. Er muß sich erinnern! Wir brauchen eine ganz genaue Vorstellung davon, wie es zur Tatzeit am Tatort ausgesehen hat.“ Später, auf der Rückfahrt nach Tannrode, besprachen die Kriminalisten den Fall. „Als Scheckbetrüger haben wir Löser überführt“, sagte Schreiber. Er ließ den Satz verklingen, als ob er noch nicht zu Ende sei. Jost fragte denn auch: „Aber als Mörder, meinen Sie, noch nicht?“ Schreiber sah ihn lächelnd an. „Überführt, das wissen Sie so gut wie ich, schon gar nicht! Wo hat das Beil gelegen?“ Der Hauptmann lehnte sich gegen die Polsterung. „Rekonstruieren wir mal den Vorgang: Wenn Sie von der Straße aus in den Hausflur kommen, liegt rechts 171
die Poststelle. Frau Anrainer rannte aus der Tür ihres Kabuffs, wie Löser sagt. Diese Tür befindet sich etwa in Höhe der Treppe, hinter dem Schalterfenster, nach der Hoftür hin. Löser muß demnach zwischen Frau Anrainer und der Haustür gestanden haben. Wenn nun er der Mörder ist, muß auch das Beil zwischen der Frau und der Haustür gelegen haben; denn Löser, der zunächst fliehen, nicht morden wollte, wird der Frau nicht entgegengelaufen sein, etwa um das Beil auf der Treppe oder sonst irgendwo zu ergreifen. Aber: Wenn das Beil nicht dort, sondern weiter hinten gelegen hat, kann ich mir nicht erklären, daß Löser der Mörder ist. Immer wieder kehren wir zu der Frage zurück: Wo hat sich das Beil befunden? Das ist für die Lösung des Falles entscheidend. Daß die Tote mit dem Kopf zur Haustür hin gelegen hat, halte ich für weniger wichtig; sie kann sich im Fallen gedreht haben.“ „Ich werde mir Mühe geben, es von Anrainer zu erfahren“, sagte Jost. „Allmählich wird er sich beruhigt haben. Die Tote ist unter der Erde, das Leben geht weiter.“ „Sonst“, fuhr der Hauptmann in seinen Überlegungen fort, „kommt möglicherweise doch Sparr als Mörder in Frage. Auch er wird am Montag nicht mit der Absicht zu Frau Anrainer gegangen sein, sie zu töten. Aber im Verlauf der Auseinandersetzung kann er diesen Vorsatz gefaßt haben …“ „Ja“, ergänzte Jost, „und zwar nachdem Löser geflohen war, denn die Tote hielt den Scheck in der Hand, so daß Sparr damit rechnen konnte, der Scheckbetrüger würde als Mörder in Verdacht geraten.“ Schreiber nickte zwar, aber er schien doch unzufrieden mit den Kombinationen zu sein. 172
39 Sparr lief Spießruten, als er durch das Dorf ging. Ganz ungeniert blieben die Leute stehen, um ihm nachzublicken. Der eine oder andere sprach ihn auch an, so die alte Frau, mit der Jost sich zwei Tage zuvor unterhalten hatte. „Sie in Tannrode?“ Es klang, als ob sie sagen wollte: So eine Frechheit, daß Sie zurückgekommen sind! Und dann: „Aber bei der Beerdigung habe ich Sie nicht gesehen!“ Sparr musterte sie von oben bis unten. „Darüber haben Sie sich doch bestimmt nicht gewundert“, sagte er ruhig, „nach allem, was Sie von mir denken.“ Verdattert blieb die Alte zurück. Er ging zur „Klippmühle“. Die Büfettdame, die auch heute Dienst tat, erstarrte, als Sparr eintrat. Sie war dabei, Flaschen auf das Bord zu stellen, und hatte gerade zwei Castell in den Händen, die sie jetzt erschrocken gegen ihren Busen drückte. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, hilfesuchend sah sie sich um. „Neulich waren Sie aber netter!“ sagte Sparr. „Einer von uns beiden muß sich verändert haben.“ „Rühren Sie mich nicht an!“ keuchte die Frau. „Auf die Entfernung?“ höhnte Sparr. Ach, es war zum Kotzen, wie sie ihn behandelten! Aber schließlich hatte er es sich selbst eingebrockt. „Ist Hauptmann Schreiber im Haus?“ Die Frau schüttelte stumm den Kopf. „Aber er kommt doch zurück?“ Sie nickte. „Ich möchte ihn nämlich sprechen.“ „Bitte!“ sagte die Frau beziehungslos. Er hätte mir schon 173
längst etwas antun können, wenn er es wollte, dachte sie. „Bringen Sie mir eine Cola!“ Er setzte sich an den Ecktisch. Außer ihm war niemand in der Gaststube. Die Frau brachte die Flasche und ein Glas, das sie vorsichtig auf den Tisch stellte. Noch immer wagte sie Sparr nicht anzusehen. Sie goß das Getränk ein. Er sah lächelnd zu. „Vielen Dank! Was ist eigentlich aus dem Motorrad geworden?“ Diese Frage, die persönlich klang, machte sie zutraulicher. Sie setzte sich, wenn auch nur auf eine Stuhlecke. „Damit fährt der Franz schon wieder“, antwortete sie. „Franz?“ „Unser Ökonom.“ „Wenn Sie ihn treffen, sagen Sie ihm bitte, daß es saudumm von mir gewesen ist. Ich bezahle ihm natürlich den Sprit.“ „Was woll’n Sie denn vom Hauptmann?“ fragte sie schüchtern. „Unbefugtes Benutzen eines Kraftfahrzeuges!“ „Nur das?“ wagte sie sich weiter hervor. Er nahm das Glas, trank und sah sie über den Rand hinweg an. „Wenn Sie’s getan hätten, würden Sie sich bestimmt sagen, es reicht.“ „Da haben Sie recht.“ Nun war der Gesprächsfaden wieder gerissen. „Ich muß an meine Arbeit!“ sagte sie. Er nickte und dachte an seine Fehlschichten. Kahl würde sauer sein, überhaupt die ganze Brigade. Ob er das jemals wieder ausbügeln konnte? Vielleicht, wenn der Hauptmann und der Leutnant ein gutes Wort für ihn einlegten … „Hat sich inzwischen was Neues ereignet?“ fragte er die Büfettdame. 174
„Wahrscheinlich haben sie den, der den Scheck einlösen wollte.“ Sparr ließ sich zurückfallen. Er schloß die Augen. Von jetzt ab sprach er kein Wort mehr. Die Büfettdame beobachtete ihn hin und wieder wie ein Ausstellungsstück, neugierig, verständnislos. Allmählich füllte sich die Gaststube. Es ging auf fünfzehn Uhr. Jeder, der Sparr am Ecktisch sitzen sah, blieb stehen und machte erstaunte Augen. Sparr nickte nur immer stumm, einmal sagte er: „Ja, ich bin’s, der Sparr!“ Der andere lächelte daraufhin dümmlich. Draußen fuhr ein Auto vor. Sparr erhob sich und sah aus dem Fenster. Ja, das waren die Kriminalisten, die da gerade aus dem Wagen stiegen. Er mußte lächeln, als er daran dachte, was für Augen sie machen würden, wenn sie ihn hier vorfanden – und nicht nur sie, sondern auch die andern, die schon im Gastraum saßen. Sparr hatte recht; der Hauptmann blieb in der offenen Tür stehen, als er den Flüchtling sah. Jost prallte gegen ihn. „Das ist doch wohl nicht möglich!“ murmelte Schreiber. Sparr ging ihnen entgegen. Im Gastzimmer war es totenstill geworden. „Ich melde mich zurück!“ sagte er, seine Stimme klang plötzlich verkrampft. Schreiber machte es kurz. „Kommen Sie mit!“ Sie gingen zu dritt in das Zimmer, in dem sie Sparr am Dienstag vernommen hatten. Dort sagte Schreiber: „Sie erwarten hoffentlich nicht, daß wir Sie gerührt an unsere Brust drücken!“ „Nein, ganz gewiß nicht“, antwortete Sparr, „ich weiß, daß gegen mich ein Ermittlungsverfahren läuft. Aber wie ich gehört habe, soll der Mann, der den Scheck vorgelegt hat, von Ihnen festgenommen worden sein.“ Schreiber nickte. „Stimmt! Aber den Mörder suchen 175
wir noch.“ „Der bin ich nicht!“ „Dasselbe behauptet der Scheckbetrüger. Nach den bisherigen Ermittlungen kann es jedoch nur einer von Ihnen beiden gewesen sein.“ „Dann sind die Ermittlungen falsch!“ behauptete Sparr. Schreiber musterte ihn eine Weile, ehe er fragte: „Wo sind Sie überhaupt gewesen?“ Sparr berichtete über seinen Fluchtweg und über die Rückkehr. „Nie wieder! Das habe ich mir geschworen“, sagte er. „Was meint Fräulein Hüttner eigentlich dazu?“ wollte Jost wissen. „Daß ich alle Karten auf den Tisch lege.“ „Sehr vernünftig!“ sagte Schreiber. „Und welche Karten sind das?“ „Ich weiß nicht, ob ein Trumpf dabei ist“, antwortete Sparr, „aber vielleicht kann Ihnen Pohl, der Nachbar von Anrainers, weiterhelfen. Er hatte sich nämlich das Beil ausgeliehen und es am Montag zurückgebracht. Ich weiß wirklich nicht, wo es gelegen hat, aber Anrainer und Pohl werden es Ihnen sagen können.“ Jost zog ein säuerliches Gesicht. „Trumpf-As ist das wirklich nicht!“ sagte er. Schreiber nickte zwar zustimmend, aber insgeheim beschäftigte ihn die Frage, was Sparr nach Tannrode zurückgetrieben haben mochte. Ob er vielleicht nur bluffen wollte? Dann sollte ihm klargemacht werden, daß das keinen Zweck hatte, deshalb sagte der Hauptmann schließlich: „Der Verdacht gegen Sie ist noch immer nicht entkräftet. Sie sind zur Tatzeit am Tatort gewesen, haben das Grundstück nicht durch die Tür verlassen, wie es sich gehört hätte, sondern sind über den Zaun gestiegen. Und später sind Sie auch noch flüchtig 176
geworden, darüber brauche ich ja wohl kein Wort mehr zu verlieren.“ Ja, so leicht, wie Sparr sich die Darlegung seiner Unschuld gedacht haben mochte, war es nicht; er starrte auf die verschlossenen Gesichter der Kriminalisten und sah seine Felle wegschwimmen. „Ich gebe ja zu, daß es dumm von mir gewesen ist“, erhitzte er sich, „sogar saudumm! Aber verstehen Sie mich doch: Wenn man unschuldig in Mordverdacht gerät, dreht man eben durch!“ „Zugegeben“, antwortete Schreiber, „aber den Verdacht entkräftet man dadurch nicht. Glauben Sie uns, Herr Sparr, Sie wären nicht der erste, der uns zu belügen versuchte.“ „Ich bin doch nicht so idiotisch, daß ich zurückkomme, bloß um Sie zu belügen.“ Sparrs Augen flackerten, während er dies sagte. Der Leutnant stand an der Tür, der Hauptmann am Fenster. Diesmal gab es keinen Fluchtweg. „Daß wir Sie eines Tages finden würden, haben Sie gewußt“, entgegnete Schreiber. „Vielleicht wollten Sie uns nur zuvorkommen. Oder Sie sind ganz einfach am Ende Ihrer Kräfte und geben auf.“
40 Jost, der sich erkundigen wollte, ob Pohl schon von seiner Reise in die Tschechoslowakei zurückgekehrt sei, rief Wachtmeister Zeller ins Zimmer. „Nehmen Sie meinen Platz ein“, sagte er mit einem warnenden Blick auf Sparr. Zeller nickte und faßte breitbeinig Posten. Jost brauchte nur wenige Minuten, um das Haus zu erreichen, in dem Pohl wohnte; es lag an der Straße, auf 177
der Rückseite zog sich ein Garten am Hang empor. Die Tür war nicht verschlossen. Jost betrat den Hausflur, die Hoftür stand offen, und er konnte sehen, wie Hühner auf dem Hof in den Fugen zwischen den Steinen scharrten. Er hörte Schweine grunzen und einen Eimer klappern, dann näherten sich Schritte, ein Schatten fiel durch die Tür, eine junge Frau mit einem Kopftuch kam herein. Jost stellte sich vor und fragte nach Herrn Pohl. „Das ist mein Großvater“, antwortete die Frau, „ich heiße König.“ Sie strich die Haare zurück, die sich unter dem Kopftuch hervorgeschoben hatten. Die Nase war von einem Sommersprossensattel bedeckt. Ihre Augen waren hell. „Schade“, fuhr sie fort, „Großvater ist noch nicht zurück, er kommt erst heute nacht.“ „Würden Sie ihm bitte bestellen, er möchte morgen gegen neun in die ‚Klippmühle‘ kommen oder in die Poststelle. An einem der beiden Orte sind wir bestimmt.“ Frau König nickte, ihr Blick verriet, daß sie eine Frage auf dem Herzen hatte. Jost ermunterte sie mit einem Lächeln. „Handelt es sich um das Beil?“ fragte sie. „Beil?“ Jost tat erstaunt. „Weil sie alle davon sprechen.“ „Wer sind denn alle?“ „Na, die Leute im Dorf“, sagte die junge Frau achselzuckend. „Und was erzählen sie?“ „Daß Großvater das Beil ausgerechnet am Montag zurückgebracht hat.“ „Das stimmt doch“, antwortete Jost langsam, dann aber setzte er herausfordernd hinzu: „Oder …“ „Doch“, sagte die Frau, „ich glaube, es stimmt.“ „Wissen Sie Näheres?“ 178
Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand, irgend etwas beunruhigte sie an der Frage des Leutnants. „Näheres weiß ich nicht“, erwiderte sie, „ich bin zu der Zeit nicht zu Hause gewesen, und nachher ging alles so schnell, damit Großvater den Bus erreichte, er ist nach Prag gefahren, eine Auszeichnung vom Betrieb.“ „Dazu kann man ihm gratulieren“, sagte Jost, dann gab er Frau König zum Abschied die Hand. Er ging zu Anrainers. Die Poststelle war wieder besetzt, eine ältere Frau, die früher im Zustellungsdienst gearbeitet hatte, sorgte für den notwendigen Geschäftsablauf. Jost wies sich aus und sagte, er wolle für einen Augenblick das Dienstzimmer betreten, um etwas zu überprüfen. Die Frau, die ständig ihre Brille auf der Nase zurechtrückte, war sehr betulich, sie bot ihm den einzigen Stuhl an, aber Jost lehnte ab; er wollte durch das Fenster auf die Straße sehen, die man ziemlich umfassend überblicken konnte. Wenn Sparr später wieder behauptete, er habe Leute kommen sehen, vielleicht Kunden, dann mußte man ihm glauben. Jost wandte sich zum Gehen. Die Frau schaute ziemlich enttäuscht drein, offensichtlich fühlte sie sich zu kurz gekommen, denn sie fragte, ob das alles sei. „Ja. Vielen Dank!“ Jost stieg die Treppe hoch und klopfte bei Anrainers an die Wohnungstür. Frau Löbau öffnete, hinter ihr erschien Frau Anrainer. Jost sah sie zum erstenmal, ein verhärmtes Wesen, es mochte an der Aufregung dieses Tages und an der Schwere des Schicksalsschlages liegen, der sie getroffen hatte, daß sie grau und verfallen wirkte. „Kann ich Ihren Mann sprechen?“ fragte er Frau Anrainer. „Der ist unten im Garten. Ich rufe ihn, einen Augen179
blick bitte!“ Sie gingen zu dritt in die Küche. Frau Anrainer öffnete das Fenster. „Wilhelm! Der Herr Leutnant ist hier.“ Dann bot sie Jost einen Stuhl an. Anrainer trat wenig später ein. Er hatte sich schon umgezogen und trug eine Joppe, die er jetzt in der Küche über die Stuhllehne hängte. „Sie haben sicherlich schwere Stunden hinter sich“, begann Jost, „aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir noch ein paar Fragen beantworten würden.“ „Immer wieder dasselbe!“ sagte Anrainer. Er ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, legte die zu Fäusten geballten Hände auf den Tisch und schnaufte. „Du sollst dich nicht immer so aufregen!“ sagte seine Frau besorgt. „Wollen wir nicht in die Stube gehen?“ „Bitte, keine Umstände!“ wehrte Jost ab. „Ich will mich nicht lange aufhalten. Leider habe ich Ihren Nachbarn, Herrn Pohl, noch nicht angetroffen, sonst hätte sich mein Besuch vielleicht erübrigt … Ja, Herr Anrainer, es geht mir um den genauen Zeitpunkt, zu dem Herr Pohl Ihnen das Beil zurückgebracht hat. Bis jetzt haben Sie sich nicht daran erinnern können, aber …“ „Ich kann’s auch heute nicht“, unterbrach ihn Anrainer. Beide Frauen sahen den Mann gespannt an, Frau Löbau faltete unwillkürlich die Hände. Anrainer hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch. „Wenn bloß die Leere nicht wär’ in meinem Kopf. Bloß nicht die Leere … Wann? Dazu wird Ihnen auch Pohl nicht viel sagen können, der hat bestimmt nicht auf die Uhr geguckt. Der hat das Beil gebracht und fertig! Mein Gott, hundertmal ist das passiert, kein Mensch hat sich was dabei gedacht.“ 180
„Sie werden recht haben“, gab Jost zu, „aber wir müssen auch dem kleinsten Hinweis nachgehen.“ „Ja, bitte!“ flehte Frau Löbau. Vielleicht erwartete sie noch ein tröstendes Wort, aber Jost schwieg. Er stand auf. „Übrigens – Herr Sparr ist wieder da“, sagte er. Anrainer ruckte mit dem Kopf. „Der? Dann fragen Sie den, wo das Beil gelegen hat! Der hat’s doch …“ Anrainer brach ab, als er Frau Löbaus schreckgeweitete Augen sah. „Haben Sie ihn gefangen?“ fragte sie zwischen Angst und Hoffnung. Jost sah sie an, nachdem er einen Blick auf Anrainer geworfen hatte. „Nicht gefangen“, sagte er dann, „Herr Sparr hat sich freiwillig gestellt.“
41 Zeller war nicht gerade gut auf Sparr zu sprechen. Er hörte noch heute den Leutnant brüllen: „Zeller!“, und er sah in der Erinnerung den Hauptmann resigniert den Kopf schütteln. Dieses windige Bürschchen, der Sparr, hatte ihn und seine Genossen damals aufs Kreuz gelegt. Nicht zu glauben! Und wie der Hauptmann den jetzt behandelte. Wie’n Gentleman, freundlich, zuvorkommend, keine Spur von Übelnehmen. Schreiber sah den fragenden Blick des Wachtmeisters, ließ ihn aber unbeantwortet. Statt dessen wandte er sich an Sparr, forderte ihn auf, noch einmal zu erzählen, was sich am Montag in der Poststelle ereignet hatte. „Ich kann Ihnen nur immer wieder dasselbe sagen“, begann Sparr. „Weil mich der Brief gefuchst hatte, bin 181
ich am Nachmittag zur Karin gefahren. Ein Wort gab das andere, wir sind beide sehr hitzig geworden … das heißt, Karin hat hin und wieder ‚Pscht!‘ gemacht, weil sie sich vielleicht dachte, daß der alte Anrainer an der Treppe …“ Sparr zuckte mit den Schultern. „Ich konnte mir natürlich auch denken, daß der Alte oben stand und lauschte …“ Er tippte sich mit der Hand an die Stirn, als überlege er. „Na klar“, fügte er hinzu, „jetzt weiß ich’s wieder: Stimmen habe ich gehört.“ Er sah den Hauptmann an und nickte. „Ich hab’ Ihnen doch erzählt, daß Pohl das Beil zurückgebracht hatte. Vielleicht war’s der?“ Schreiber behielt vorerst für sich, daß Anrainer ausgesagt hatte, Pohl sei viel früher dagewesen. Sparr wischte mit der Hand durch die Luft. „Kurz und gut“, fuhr er fort, „Karin forderte mich auf, ihr Zimmer zu verlassen. Ich sah durchs Fenster einen Mann kommen, der wahrscheinlich in die Post wollte, dann hörte ich oben eine Tür klappen. Mir wurde mulmig, also bin ich hinten ’raus.“ „Können Sie den Mann beschreiben, den Sie durchs Fenster gesehen haben?“ fragte der Hauptmann. Sein Gesicht verriet, wie gespannt er auf die Antwort wartete. „Braune Kutte, schwarze Ledermütze“, erwiderte Sparr ohne Besinnen, „und dazu ’nen Vollbart.“ Sie schwiegen eine Weile, schließlich sagte Schreiber: „Ich möchte wiederholen: Von draußen kam ein Mann, der wahrscheinlich in die Post wollte, braune Kutte und so weiter, oben klappte eine Tür, und es waren Stimmen zu hören, und Sie – hinten ’raus, wie Sie behaupten.“ „Genauso war’s!“ bestätigte Sparr. „So kann es gewesen sein!“ bremste Schreiber. „Wie denn sonst?“ wollte Sparr wissen, wobei er Schreiber einen abwehrenden Blick zuwarf. 182
Der Hauptmann antwortete nicht sofort, er gab zunächst den Blick zurück, bis Sparr unsicher wurde, dann sagte er: „Vielleicht so, daß Sie erst viel später das Haus durch den Garten verlassen und sich bis dahin hinter der Treppe versteckt gehalten haben.“ Sparr schlug die Hände vor das Gesicht.
42 Jost trat ein und besah sich sekundenlang die Szene, wie Sparr das Gesicht mit beiden Händen bedeckte, dann winkte er dem Hauptmann. „Lassen Sie den Mann nicht aus den Augen!“ befahl Schreiber dem Wachtmeister. „Darauf können Sie Gift nehmen!“ knurrte Zeller. Schreiber und Jost verließen das Zimmer. „Was haben Sie erfahren?“ fragte der Hauptmann draußen. Jost war ungehalten. „Pohl ist noch immer nicht da! Alles müssen wir zwei-, dreimal machen.“ Er berichtete von seinen Gesprächen mit Anrainer und Frau König. Schreiber hörte ihm zu, sah ihn aber nicht an, als er leise konstatierte: „Wir pumpen Luft in einen durchlöcherten Schlauch.“ „Das ist mir zu hoch“, gestand Jost. Sie gingen ein Stück abseits, weg von den Toiletten, die sich im Hausflur befanden und ständig von krakeelenden Gästen aufgesucht wurden. Als sie stehenblieben, konnten sie über den Hof in das Zimmer schauen, in dem Sparr hockte, noch immer das Gesicht in den Händen vergraben. „Überlegen Sie mal“, begann Schreiber, „Sparr will Löser gesehen haben. Das wird auch stimmen, denn woher 183
sollte er sonst wissen, daß der eine braune Kutte trug. Er will jedoch auch Stimmen gehört haben und glaubt, Anrainer und Pohl hätten sich unterhalten; aber Pohl soll nach Aussage von Herrn Anrainer viel früher dagewesen sein, nicht erst unmittelbar vor der Tat, Löser hingegen will erst kurz vor dem Mord die Szene betreten haben – mag er nun der Täter sein oder nicht. Hier ist das Loch im Schlauch. Pohl war keinesfalls mehr im Haus, als das Verbrechen geschah, wir müssen sogar davon ausgehen – vorausgesetzt, daß wir nicht ihn für den Mörder halten –, daß er auch niemanden gesehen hat, sonst hätte er sich bestimmt schon gemeldet. Er ist auf eine strafrechtlich unbedeutende Art mit dem Mord verbunden, er hatte das Beil zurückgebracht; deshalb ist anzunehmen, daß er den Fall verfolgt und sein Scherflein zur Aufdeckung beitragen würde, wenn er etwas wüßte. Aber Pohl weiß offenbar nicht mehr als das, was uns Anrainer schon mitgeteilt hat: nämlich daß er die spätere Mordwaffe irgendwann vor der Tat zurückgegeben hat. Wenn andererseits stimmt, daß Sparr Stimmen gehört hat, muß bei Anrainer noch ein anderer als Pohl gewesen sein – oder Sparr lügt.“ „Nehmen wir ihn doch beim Wort“, meinte Jost, noch überlegend, „lassen wir ihn Stimmen gehört haben. Dann soll er uns sagen, wann er in die Post gekommen ist. Zu diesem Zeitpunkt müßte nämlich Anrainers Besucher schon oben in der Wohnung gewesen sein, denn Sparr hat bisher nicht behauptet, daß nach ihm noch jemand gekommen ist. Er will nur Löser durchs Fenster gesehen haben, und Löser war draußen … Sparr muß endlich Farbe bekennen!“ „Gut“, räumte Schreiber ein, „befragen wir ihn noch einmal. Anschließend bringen wir ihn in die Haftanstalt, und dort vernehmen wir Löser. Aber …“ 184
„Schon wieder ein Aber!“ seufzte Jost. „Aber ich meine, daß wir ohne Tatrekonstruktion nicht auskommen werden“, antwortete Schreiber. „Es scheint sich wirklich nur um einen Zeitraum von Minuten zu handeln, in dem die Geschehnisse ineinandergriffen und das Kommen und Gehen der Personen sich ablöste.“
43 Sparr sah kaum auf, als die Kriminalisten wieder ins Zimmer traten, er machte einen müden, resignierten Eindruck. Zeller, auf einem Stuhl sitzend, die Beine fest auf den Fußboden gespreizt, den Oberkörper lässig nach hinten gelehnt, ließ mit der rechten Hand seinen Autoschlüssel kreisen. Auch er hob kaum den Kopf, er blickte unverwandt auf den Mann, der – so jedenfalls empfand es Zeller – sein schlechtes Gewissen deutlich zur Schau trug. Es war eine ganze Weile still im Zimmer, Schreiber und Jost machten sich Gedanken über Sparr. Falls der den Mord begangen hatte, nachdem Löser aus der Poststelle geflohen war, konnte er von vornherein einkalkuliert haben, daß alle Umstände auf Löser als den Täter deuten würden. Jost erinnerte sich sehr wohl seiner Worte bei Anrainer, daß Sparr nicht zum Mörder an der Frau, die er geliebt hatte, geworden wäre, aber das war natürlich nur eine Herausforderung gegenüber Anrainer gewesen, um diesen zum Sprechen zu bringen. „Herr Sparr“, sagte Schreiber endlich, „wir müssen noch ein paar Fragen an Sie richten.“ „Hätte ich das gewußt!“ sagte Sparr leise, mit zitternden Lippen, die seine Erregung verrieten. 185
Jost, in der Erinnerung an die Flucht an jenem Dienstagabend, vollendete: „… wären Sie nicht zurückgekommen, wie?“ Schreiber winkte heimlich ab, derartige Querelen hatten keinen Sinn und führten zu nichts. „Wenn Sie unschuldig sind“, sagte er zu Sparr, „war es die einzig richtige Entscheidung. Natürlich ist das hier keine EiapopeiaSzene, Sie haben sich in etwas eingelassen, das ernste Folgen hat, und die müssen Sie durchstehen.“ „Fangen Sie schon an!“ verlangte Sparr. Schreiber zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Rauchen Sie?“ fragte er. Sparr nickte, und der Hauptmann bot ihm eine Zigarette an. Er rauchte hastig, ohne Genuß, das erkannten Schreiber und Jost sehr leicht. „Sie waren also am Montagnachmittag bei Frau Anrainer in der Poststelle“, begann der Hauptmann. „Mich interessieren genaue Zeitangaben: Wann sind Sie gekommen, wann wieder gegangen … um nicht das Wort Flucht zu gebrauchen?“ „Aber das weiß ich eben nicht!“ antwortete Sparr unwillig. „Da habe ich doch nicht auf die Uhr gesehen …“ Er zog wieder an der Zigarette und streifte die Asche in die Hand, weil kein Aschenbecher dastand. Zeller schob ihm schweigend einen zu, Sparr schüttete die Asche hinein. „Ich bin auch keine Kamera“, fuhr er fort, „die alles genau festhält …“, seine Stimme wurde kratziger, „ich gebe ja zu, daß ich mich über den Brief geärgert hatte, daß ich wütend war und ihr ein paar Takte sagen wollte, aber da kümmert man sich doch einen Dreck drum, wie spät es ist!“ „Aber man ist auch nicht sorglos“, widersprach Jost, „in einer Poststelle bricht man keinen privaten Streit 186
vom Zaun, ohne sich vorher zu vergewissern, ob die Luft rein ist.“ „Die war rein!“ behauptete Sparr. „Trotz der Stimmen?“ hielt Schreiber ihm vor. „Stimmen?“ Sparr wiederholte das Wort, als ob noch nie davon die Rede gewesen wäre. „Sie wollen doch welche gehört haben.“ „Ja, so habe ich es vorhin gesagt, aber wenn ich es mir recht überlege …“ Schreiber ließ seinen Unmut erkennen. „Herr Sparr, wir werden uns noch sehr oft und sehr lange mit Ihnen unterhalten müssen, wenn Sie etwas daherreden, ohne es sich vorher überlegt zu haben. Sie haben vorhin keinen Zweifel daran gelassen, daß ein Mann in einer braunen Kutte von der Straße auf die Post zugekommen ist und daß oben in Anrainers Wohnung Stimmen zu hören waren. Daraufhin ist Ihnen mulmig geworden, und Sie sind hinten ’raus durch den Garten. Ihre Worte: ‚Genauso war’s!‘ – Wie war es denn nun wirklich?“ „Das mit dem Mann stimmt, dem Kuttenträger … das andere, da kann ich mich irren.“ Zeller schien nicht überzeugt zu sein, aber Schreiber und Jost wußten: ein todsicheres Gedächtnis war immer verdächtig – sei es nun das des Beschuldigten oder das des Zeugen; wer alles „ganz genau“ wußte und es wie aus der Pistole geschossen vortrug, verdiente, daß man ihm mit Zweifeln begegnete. Es war also möglich, daß Sparr zuerst Gedächtnislücken „ausgefüllt“ hatte – nicht um die Polizei irrezuführen, sondern um sie klarer sehen zu lassen, vorausgesetzt, ihm war daran gelegen! „Gut“, sagte Schreiber, „lassen wir das einstweilen! Aber Sie werden sich bestimmt daran erinnern, ob jemand zu Herrn Anrainer kam, als Sie schon bei Frau 187
Anrainer waren.“ „Da ist niemand gekommen.“ „Auch nicht Herr Pohl?“ „Den kenne ich gar nicht, aber das spielt ja keine Rolle, weil sowieso niemand gekommen ist.“ „Trotzdem könnten Sie Stimmen gehört haben“, betonte Schreiber, „wenn nämlich jemand im Hause war, bevor Sie kamen.“ „Das hätte mir Karin bestimmt gesagt, als ich laut wurde.“ „Auf jeden Fall war das Beil schon wieder zurückgebracht worden!“ provozierte Jost. Sparr spürte den Schlag und sprang auf. Sofort war Zeller zur Stelle. Die beiden standen einander gegenüber, der keuchende Sparr und der überlegene, ruhige Zeller, der wieder den Autoschlüssel kreisen ließ. Schreiber wußte, daß keine Gefahr bestand; Sparr würde sich hüten, zum zweitenmal einen Fluchtversuch zu unternehmen oder gar tätlich zu werden. Aber der Hauptmann war sich noch immer nicht klar, weshalb Sparr so empfindlich reagierte. Jost, der für diese Szene verantwortlich war, hob geringschätzig die Schultern und sagte: „Ich würde mich nicht so theatralisch benehmen, Herr Sparr – es sei denn, wir hätten einen Nerv bei Ihnen getroffen. Vielleicht haben Sie doch hinter der Kellertür gewartet?“ „Das müssen Sie mir erst mal beweisen!“ schrie Sparr. Jost nickte und sagte leise, aber betont: „Sehen Sie, das müssen wir Ihnen beweisen! Diesen Satz haben wir schon oft zu hören bekommen, aber immer nur von denen, die schuldig waren. Ein Unschuldiger, Herr Sparr, antwortet auf einen Vorwurf schlicht und einfach: ‚Das ist nicht wahr!‘“ 188
Sparr wirkte jetzt wieder matt und kraftlos, als er sagte: „Sie haben immer nur auf der einen Seite gestanden, Herr Leutnant, Sie wissen ganz genau, was ein Polizist denkt. Aber von dem, was ein Beschuldigter denkt, haben Sie keine Ahnung, dazu müßten Sie erst mal auf der anderen Seite gestanden haben.“ Schreiber, dessen Auge plötzlich zu zucken begann, äußerte sich nicht; Jost mußte allein mit Sparrs Vorwurf fertig werden.
44 Sie fuhren mit ihm nach Quedlinburg, um den Haftbefehl gegen ihn zu beantragen. So apathisch Sparr sich bis jetzt gegeben hatte – plötzlich wurde er lebhaft, aufsässig. „Sie können mich nicht verhaften!“ tobte er. „Ich bin unschuldig!“ Jost sah Schreiber fragend an, ob er darauf etwas erwidern wollte, und als der Hauptmann den Kopf schüttelte, sagte er: „Wenn noch nie ein Unschuldiger verhaftet worden wäre, gäbe es kein Gesetz über Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft.“ Für Sparr war das kein Trost. Staatsanwalt Brunner, der gerade aus einer Verhandlung kam, ließ seine Genugtuung erkennen, als er hörte, weshalb die Kriminalisten erschienen waren; als er aber Näheres erfahren hatte, zeigte er sich skeptisch. „Ob das dem Richter genügen wird?“ gab er zu bedenken. Hauptmann Schreiber, der mit ihm allein im Zimmer war, während Jost und Zeller mit Sparr nebenan warteten, fragte, ob er seine Verdachtsmomente noch einmal 189
zusammenfassen dürfe. „Bitte!“ sagte Brunner, hängte seinen Mantel in den Schrank, kramte ein paar Akten beiseite und setzte sich hinter den Schreibtisch. Obwohl Schreiber sich seiner Sache sicher war, was die Begründung des Haftbefehls betraf, spürte er doch Unruhe in sich. „Sparr erklärt, er sei unschuldig“, begann er, „aber wir dürfen folgendes nicht außer acht lassen. Erstens: Sparr befand sich zur Tatzeit am Tatort; er hat Löser gesehen, und der ist erst kurz vor dem Verbrechen erschienen. Zweitens: Sparr war am Tatort, um Frau Anrainer ‚ein paar Takte zu sagen‘, weil die Frau ihm brieflich die Beziehungen aufgekündigt hatte. Es ist am Tatort zu einer ‚hitzigen Aussprache‘ gekommen, wie Sparr ebenfalls zugibt. Drittens: Sparr ist schon vorher gegen Frau Anrainer tätlich geworden. Er hat es zugegeben, doch soll es nach seiner Darstellung nur einmal der Fall gewesen sein. Viertens: Sparr hatte bereits mit Mordabsichten gedroht. Das hat Fräulein Hüttner ihm am Dienstag in ihrer Wohnung vorgehalten. Fünftens: Das Beil lag bereits im Hausflur, bevor Sparr in die Poststelle kam; es muß dort gewesen sein, weil Pohl es ziemlich früh am Nachmittag zurückgebracht hatte. So hat Anrainer es erklärt. Pohl konnte zwar noch nicht vernommen werden, er wird jedoch nichts anderes sagen können, denn wenn das Beil nicht schon im Hausflur gelegen hätte, hätte es der Mörder nicht benutzen können. Sechstens: Sparr hätte keinen Grund gehabt, durch den Garten zu fliehen, wenn ihn nicht irgend etwas kopflos gemacht hätte; er hätte, ohne Aufsehen zu erregen, die Post durch die Haustür verlassen können. 190
Siebentens: Seine Flucht am Dienstag soll ganz außer Betracht bleiben, obwohl auch sie als Verdachtsmoment gelten könnte. Möglicherweise ist er zurückgekehrt, weil der Scheckbetrüger Löser inzwischen festgenommen wurde. Angenommen, Sparr wäre der Täter – dann hätte er den Mord äußerst raffiniert begangen, nämlich so, daß der Verdacht unbedingt auf Löser fallen mußte. Als Löser flüchtete und von Frau Anrainer verfolgt wurde, hat Sparr, der sich hinter der Kellertreppe oder im Hof versteckt hielt, die Gelegenheit genutzt, sich an der Frau zu rächen, die ihm den Laufpaß geben wollte. Er stürzte in den Flur, wahrscheinlich gar nicht zur Mordtat entschlossen, sondern nur, um ihr ‚eins zu versetzen‘, aber dann sah er das Beil, ein Rausch überkam ihn, der ihn affektiv machte, er griff nach der Mordwaffe und schlug zu.“ Schreiber schwieg, er warf einen Blick, der Spannung verriet, auf den Staatsanwalt. Brunner hatte fast ohne Wimperzucken zugehört, jetzt lehnte er sich zurück, erwiderte den Blick des Hauptmanns und sagte: „Sie geben also Ihren bisherigen Verdacht auf?“ „Daß Löser der Mörder ist?“ vergewisserte sich der Hauptmann. Brunner nickte. Schreiber antwortete nicht sofort, er wußte aber genau, daß der Antrag gegen Sparr seinen bisherigen Verdächtigungen zuwiderlief. Dabei spielte es keine Rolle, daß der Haftbefehl gegen Löser nur wegen versuchten Scheckbetruges und Urkundenfälschung erlassen worden war; im Hintergrund hatte zweifellos auch der Mordverdacht gestanden, nur war es noch zu früh gewesen, ihn zu äußern. Brunner hatte den Hauptmann noch nicht wieder aus den Augen gelassen und begann plötzlich auf der Tischplatte zu trommeln. 191
„Das will überlegt sein!“ sagte Schreiber schließlich, und dann fügte er entschieden hinzu: „Nein, auch gegen Löser gebe ich den Verdacht noch nicht auf. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß mehrere Personen verdächtig sind oder verdächtigt Werden. Es ist auch nicht ungewöhnlich, daß man sie deswegen in Haft nimmt; natürlich müssen Voraussetzungen für einen Haftbefehl vorhanden sein. Soweit es um den Mord geht, ist dies bei Sparr der Fall. Abgeschlossen sind die Ermittlungen allerdings noch nicht. Wir müssen Pohl befragen und ebenfalls Löser noch einmal, und es wird auch nicht ohne Lokaltermin abgehen, das heißt, wir müssen die Tat an Ort und Stelle rekonstruieren.“ „Sie räumen also ein“, seufzte Brunner, „daß uns das letzte, aber wichtigste Glied der Beweiskette noch fehlt – nämlich die Kenntnis, wer den tödlichen Schlag geführt hat.“ Er schwieg und setzte nach einer Weile hinzu: „Hoffen wir, daß der Täter beim Lokaltermin die Nerven verliert und sich verrät: Sparr oder Löser.“
45 Sparr verlor die Nerven nicht, als sie ihn dem Richter vorführten und der ihm die Punkte vorhielt, die Schreiber soeben dem Staatsanwalt dargelegt hatte. Der Richter war von Staatsanwalt Brunner telefonisch verständigt worden und hatte sie in seinem Arbeitszimmer erwartet, es war nach Dienstschluß. Er kannte Sparr nicht; der war für ihn ein neues Gesicht, ein neuer Mensch, ein neues Leben, und er besah sich den jungen Mann sehr lange, bis Sparr, der vor ihm auf einem Stuhl saß, unruhig zu werden begann. 192
„Sie wissen nunmehr, was Ihnen zur Last gelegt wird“, sagte der Richter schließlich, „bitte, äußern Sie sich dazu!“ „Das habe ich schon getan“, antwortete Sparr, als ob es sich um ein ziemlich unwichtiges Gespräch handelte, „mehr habe ich nicht zu sagen.“ „Damit bleiben die Verdachtsmomente unwidersprochen!“ stellte der Richter fest. Es klang, als ob er Sparrs Gleichgültigkeit bedauerte. Sparr hob die Schultern. Eine Weile war Stille, Sparr sah zu Jost hinüber, zwischen beiden stand ein Tisch, und plötzlich nickte er und sagte: „Habe ich nicht recht? Sie sind auf der anderen Seite. Was wissen Sie schon von einem Menschen, der unter Mordverdacht steht!“ „Gerade das sollte Sie zum Sprechen bewegen!“ riet ihm der Richter. „Wenn Sie unschuldig sind, müssen Sie uns davon überzeugen … was natürlich nicht heißt, daß Sie Ihre Unschuld beweisen müßten“, setzte er schnell hinzu. Sparr lächelte dünn. „Darf ich also zu Protokoll nehmen, daß Sie bei Ihren Aussagen vor der Kriminalpolizei bleiben?“ „Ja.“ Dann unterschrieb Sparr die Vernehmungsniederschrift und stand auf. Wieder kreuzte sich sein Blick mit dem des Leutnants, und er sah auch dem Hauptmann in die Augen, aber es wurde kein Wort mehr gewechselt, nachdem der Richter den Haftbefehl verkündet hatte. „Sie können innerhalb einer Woche Beschwerde einlegen.“ „Danke!“ sagte Sparr unbeteiligt, als gelte es nicht ihm. Sie fuhren zur Untersuchungshaftanstalt. Es war schon dämmerig, auf der Straße herrschte viel Verkehr, grelles, undurchdringliches Licht kam ihnen entgegen, 193
nur rechter Hand konnten sie die Ausläufer der Harzberge als blaue Schatten erkennen. Jost, der im Fond neben Sparr saß, dachte immer wieder dasselbe: einer von beiden … einer von beiden … einer von beiden … Sparr oder Löser. Sie standen vor der Gefahr, den Unschuldigen anklagen zu lassen, falls er es war, der die Nerven verlor. Man lernte, studierte, büffelte, bewies sich in der Praxis und wußte doch von Irrtümern, die einem unterlaufen konnten. Da bekennt sich ein Beschuldigter zu der ihm vorgeworfenen Tat und widerruft sein Geständnis in der Gerichtsverhandlung, es gibt Unruhe unter den Richtern, beim Staatsanwalt, hin und wieder auch beim Verteidiger, wenn es diesen unerwartet trifft, daß das Geständnis falsch war. Warum hat der Verhaftete zunächst gestanden? Eine Frage und tausend mögliche Antworten … Schreiber, der vorn neben dem Wachtmeister saß, hielt die Augen geschlossen, Zeller sollte ruhig denken, er schlafe, aber er sah vor sich zwei Menschen, von denen der eine den anderen verfolgte. „Zur Strecke bringen“, dieses Wort löste, sooft er es las oder hörte, Ablehnung in ihm aus, und er hatte vorhin daran denken müssen, als Sparr von der „anderen Seite“ gesprochen hatte. Wir freuen uns nicht, einen Verbrecher überführt zu haben, dachte Schreiber, wir freuen uns vielmehr, wenn sich herausstellt, daß der Verfolgte unschuldig ist … dennoch: In ihrem Fall, das wußte er, war einer schuldig, einer hatte den Mord begangen, einer von beiden … Sparr oder Löser. Es war völlig dunkel geworden, als sie die Stadt erreichten. Sie fuhren den Berg hinunter, bogen am Fuß rechts ab, dann wieder links, hatten jetzt den Fluß zur Rechten und hielten wenig später vor der Haftanstalt. 194
Die Zellen waren erleuchtet. Sparr, den die Kriminalisten nach dem Aussteigen in die Mitte nahmen, überflog das Gebäude mit einem kurzen Blick und erinnerte sich, was ihn schon bei seiner ersten Strafhaft an den hellen Fenstern gestört hatte: die Gardinen fehlten! Und dann hörte er, sich erinnernd, den Hauptmann sagen: „Mit sechsundzwanzig hat man doch noch alles vor sich!“ Vor sich hatte er nun die Mauern aus roten Ziegelsteinen, symmetrisch unterbrochen von kahlen, durchlässigen Rechtecken, die mit Eisenstäben ausgefüllt waren. Aber das, wußte er, hatte der Hauptmann nicht gemeint.
46 Nachdem die Aufnahmeformalitäten erledigt und die Effekten registriert waren, nachdem Sparr sich von den Kriminalisten mit verzerrtem Gesicht verabschiedet hatte, wurde Löser von einem Wachtmeister vorgeführt. Fritz Löser, der Profi, erschien in Filzlatschen, buntem Hemd und ausgebeulter Hose. Er gab sich aufgeräumt, als sei der Besuch eine willkommene Abwechslung, so kurz vor der Nachtruhe. In der für Vernehmungen reservierten Zelle standen ein Tisch und mehrere Stühle. Jost nahm das Protokoll handschriftlich auf, er hatte die Blätter, denen Lösers erster Blick galt, auf den Tisch gelegt. „Schon wieder?“ fragte Löser. 195
„Diesmal vielleicht etwas mehr“, antwortete Schreiber. „Wie’n das?“ „Herr Löser, schildern Sie uns bitte noch einmal genau, was sich am Montag abgespielt hat, nachdem Sie mit dem Ausweis und dem Scheckheft die Poststelle in Tannrode betreten hatten.“ „Ich werd’s Ihnen noch mal genau schildern“, sagte Löser, „aber was Neues wer’n Sie nicht hören.“ Dann begann er seinen Faden zu spinnen. Nein, gesehen habe er niemanden, weder vorher noch nachher, weder außerhalb der Post noch vor dem Schalter. „Ich bin reingegangen, habe den Scheck vorgelegt, gewartet und dabei … ja, dabei habe ich ein Geräusch gehört.“ „Stopp!“ bremste Schreiber. „Was für ein Geräusch?“ Löser kratzte sich hinter dem Ohr. „Weiß ich nicht mehr. Dann ging’s doch los, mit der Frau, meine ich, die mich anpeilte wie ’ne Katze den Vogel und dann mit ihrem Holbeck kam. Holbeck, Holbeck! Da hab’ ich auf nischt mehr gehört, da war’s doch Sense, ich mußte abhaun, aber nicht zu schnell, damit’s nicht auffiel, und dann war da noch der Ausweis und das Scheckheft, ich Dussel, hätt’ ich’s bloß liegenlassen, aber nee, ich mußte danach grapschen, also nee, das weiß ich wirklich nicht, was für’n Geräusch.“ „War das für Sie eine Warnung?“ „Was, das Geräusch? I wo! Ich hatte schon soviel Zeit verlor’n, da mußte ich sehn, daß ich abschwirrte, ich …“ „Ja, bitte weiter!“ „Also, die Frau kommt aus ihr’m Kabuff, ich geb’ ihr eins vor den Magen, daß sie kippt, und dann ab, ’raus, meine ich …“ „Und im Hausflur liegt die Frau mit zertrümmertem Schädel!“ sagte Schreiber nach wenigen Sekunden des 196
Schweigens. Löser erhitzte sich: „Dafür kann ich doch nicht!“ „Wir müssen aber noch einmal darüber sprechen“, erklärte Schreiber. „Herr Löser, wir haben einen Zeugen – vielleicht hat sogar er das Geräusch verursacht, das Sie in der Poststelle hörten –, dieser Zeuge also hat auch etwas gehört: nämlich daß Frau Anrainer den Namen Holbeck gerufen hat. Zu diesem Zeitpunkt befanden Sie sich also noch in der Post. Und nachdem die Frau den Namen gerufen hatte, soll sie aufgeschrien haben.“ „Weil ich ihr eins versetzt hatte“, unterbrach ihn Löser. Schreiber winkte ab und schüttelte den Kopf. „Es war ein Schrei, den der Zeuge sein Lebtag nicht vergessen wird, wie er sagt. So schreit niemand, der nur eins vor den Magen kriegt. Dabei stöhnt man, aber man schreit nicht so, daß einem anderen das Blut gefriert. Dann hörte der Zeuge ein Poltern, wahrscheinlich sei es das Beil gewesen, das der Mörder weggeworfen hatte, sagte er aus. Er eilte die Treppe hinunter – und sah die Ermordete liegen …“ Löser glotzte stumpf, mit herabgelassenen Lidern. „Sie haben angeblich niemanden gesehen“, fuhr Schreiber fort, „weder vorher noch nachher … aber wenn man berücksichtigt, daß der Zeuge sofort nach dem Schrei die Treppe herunterkam und die Ermordete sah, während Sie Sekunden zuvor noch am Tatort waren – berücksichtigt man dies, so können nur Sie derjenige sein, der den tödlichen Schlag geführt hat.“ „Hab’ ich nicht!“ brüllte Löser. „Ihr Schweine! Ihr wollt mir was unter die Weste jubeln!“ Schreiber ließ ihn austoben, bis er nur noch zitterte und schniefte, dann sprach er ruhig und beruhigend auf ihn ein: „Wir wollen Ihnen gar nichts unter die Weste jubeln, Herr Löser, wir wollen, daß Sie uns helfen, den 197
Mörder zu finden. Bitte, überlegen Sie: Sie hatten Streit mit der Frau, die Ihren Betrügereien auf die Spur gekommen war, und kurze Zeit später wird diese Frau erschlagen aufgefunden. Wer hat sie erschlagen? Wenn nicht Sie es waren – wer dann? Es ist niemand sonst am Tatort gewesen, Sie haben ja keinen gesehen.“ „Vielleicht war doch einer da“, sagte Löser weinerlich. „Da war noch ’ne Tür, nach’m Hof ’raus … oder unter der Treppe?“ „Haben Sie jemanden gesehen? Ja oder nein?“ Löser knabberte auf den Lippen. „Nicht mit dem großen Unbekannten kommen!“ warnte Schreiber. „Den nehmen wir Ihnen nicht ab. Wenn Sie jemanden gesehen haben, müssen Sie ihn beschreiben.“ Löser ließ den Kopf hängen. Er bot einen traurigen Anblick, nichts mehr von Filzlatschenbequemlichkeit und forschem Bekennertum, nichts mehr davon, daß er ein Ding hatte drehen wollen, das dann leider geplatzt war. Schreiber legte ihm die Hand auf die Schulter. „Überschlafen Sie alles noch einmal, Herr Löser. Morgen früh holen wir Sie nach Tannrode, dann spielen Sie uns alles so vor, wie es sich am Montag ereignet hat.“ „Ohne die Frau?“ fragte Löser. „Die spiele ich“, sagte Jost.
47 „Wie wollen Sie es fertigbringen, morgen die Frau zu spielen?“ fragte Schreiber auf der Rückfahrt nach Tannrode. Jost war zunächst geneigt, die Frage mit einem Lachen zu beantworten, aber dann vergegenwärtigte er sich, daß 198
alles, was sie „rekonstruieren“ würden, von Sparrs und Lösers Angaben abhing; sie hatten keine objektiven Anhaltspunkte und auch keinen Zeugen; Anrainer mußten sie ausklammern, denn der hatte die Szenerie erst betreten, als der Mord schon geschehen war. Egal, ob Sparr oder Löser schuldig war – beide würden versuchen, ihre Haut zu retten. „Sie werden sitzen, wie Löser es anweist“, fuhr Schreiber fort, „Sie werden aufstehen und hinauslaufen, wenn Löser den Zeitpunkt für richtig hält, und Sie werden auch so weit hinter ihm zurückbleiben, wie er es zuläßt.“ „Wozu dann alles?“ fragte Jost entmutigt. Der Hauptmann schwieg zunächst, dann sagte er leise: „Vielleicht kommt es so, wie der Richter hofft; einer von beiden verliert die Nerven. Sonst wissen Sie, was uns bleibt.“ „Ja“, antwortete Jost, „der Indizienbeweis.“ „Und der“, setzte Schreiber hinzu, „ist nicht nur der schwächste, sondern auch der gefahrvollste Beweis zugleich … Justizirrtum! – Wenn ich daran denke …“ „Es wäre falsch, jetzt schon so zu denken“, widersprach Jost. „Wir haben die Ermittlungen ja noch gar nicht abgeschlossen. Warten wir ab, was der morgige Tag bringt.“ Die Tatsache, daß sie sich überhaupt mit diesen Fragen beschäftigten, verriet ihre Unruhe, ihre Zweifel, und am anderen Morgen lagen sie schon mit offenen Augen im Bett, als es noch dunkel war und der Trecker, der die Milchkannen von der Sammelstelle holte, vorübertuckerte. Sie standen zeitig auf, machten Toilette, ließen sich das Frühstück servieren und warteten dann auf das Auto, das Sparr und Löser bringen sollte; sie hatten es für neun Uhr bestellt, obwohl der Mord am Montag kurz nach sechzehn Uhr begangen worden war. Weil aber die Lichtverhältnisse 199
bei der Klärung des Falles keine Rolle spielten, durften sie sich die zeitliche Verschiebung erlauben. Es ging jetzt darum, die Ermittlungen so schnell wie möglich zu Ende zu führen, sie durften nicht noch den Tag verstreichen lassen. Die Dorfstraße lag still und vereinsamt, die Leute arbeiteten in den Ställen, auf den Höfen oder den Feldern, und Jost hoffte, daß sich auch später, wenn sie den Lokaltermin durchführten, nur wenige Neugierige einfinden würden. „Natürlich stören die Leute“, meinte Schreiber, „andererseits kann sich auch eine Wendung ergeben, falls der eine oder andere doch etwas beobachtet hat, von dem wir noch keine Ahnung haben.“ Jost winkte mit der Hand ab. „Etwas beobachtet! Was denn? Der Betreffende hätte sich doch schon längst gemeldet.“ „Vielleicht war er verhindert. Wie Pohl, den wir auch frühestens heute sprechen können“, gab Schreiber zu bedenken. „Wenn das unsere ganze Hoffnung ist!“ resignierte Jost.
48 Sie hatten die Poststelle erreicht. Anrainer wartete im Hausflur auf sie, die Festangestellte sah wißbegierig durch das Fenster. „Herr Anrainer, würden Sie bitte der Kollegin erlauben, sich in Ihrer Wohnung aufzuhalten?“ sagte Schreiber. „Und Sie selbst warten am besten auch oben. Wenn wir Sie brauchen, rufen wir Sie.“ 200
„Versprechen Sie sich überhaupt was von denen?“ fragte Anrainer. „Von wem?“ „Na, von Sparr und Löser. Die schwindeln doch alle beide.“ Jost lachte unwillig. „Wenn wir nur die Täter überführen würden, die von Anfang an die Wahrheit sagen, wäre es schlecht um uns bestellt.“ Anrainer schüttelte den Kopf und zog dazu ein Gesicht, als wollte er sagen: Eure Zuversicht möchte ich haben! Sie hörten ein Auto vorfahren, und Schreiber ging hinaus. Zunächst sicherten einige Genossen mit Schutzhunden die Umgebung des Anrainerschen Hauses ab, auch das Waldstück hinter dem Garten gehörte dazu, dann stiegen Sparr und Löser aus; Löser wirkte verschlossen und unzugänglich, es war schwer zu entscheiden, ob seine Muffigkeit echt oder gespielt war. Sparr sah müde und abgespannt aus. Wie schon am Tag zuvor warf er auch heute dem Hauptmann einen Blick zu, den Schreiber nicht deuten konnte – Vorwurf, Verstocktheit oder hinterhältiges Abschirmen? Sie gingen in die Poststelle. Löser, der außer den beiden Kriminalisten niemanden kannte, nahm keine Notiz von Anrainer. Er machte Kaubewegungen, als habe er ein Bonbon im Munde. Aber Sparr und Anrainer maßen einander mit Blicken voller Verachtung und Haß, so daß Jost aus einem plötzlichen Gefühl heraus Anrainer am Arm festhielt; er fürchtete, daß der alte Mann sonst auf Sparr losstürzen und ihn niederschlagen könnte. „Herr Sparr“, sagte Schreiber, „Sie gehen ins Postzimmer, Leutnant Jost wird dort den Platz einnehmen, 201
den Frau Anrainer am Tage ihres Todes innehatte. Sie werden uns das zeigen … Und Sie, Herr Anrainer, begeben sich nun bitte endlich nach oben, wie ich es bereits gesagt habe.“ Jost und Sparr verschwanden im Postzimmer, Anrainer stampfte die Treppe hinauf. Immer wieder sah er sich um, und auf dem obersten Treppenabsatz blieb er stehen. „Karin … Frau Anrainer hat so gesessen“, erklärte Sparr, während er sich auf den Stuhl setzte, mit dem Rücken zum Fenster. Er erhob sich aber gleich wieder, sagte: „Und ich stand hier“ und stellte sich dabei mit dem Rücken gegen die Tür. Jost nahm den ihm zugewiesenen Platz ein. „Wo befand sich in diesem Augenblick Herr Anrainer?“ fragte Schreiber. „Das weiß ich nicht, ich habe ihn nicht gesehen. Niemanden habe ich gesehen. Wie oft soll ich das noch wiederholen!“ „Bis auf Herrn Löser!“ hielt Schreiber ihm vor. „Ja, den.“ „Bitte, schildern Sie uns, wo Herr Löser sich befand, als Sie ihn gesehen haben.“ „Wir hatten uns also gestritten, die Karin und ich“, Sparr fuchtelte mit den Armen, um die Erregtheit der Unterhaltung auszudrücken, „dann sah ich diesen Mann kommen.“ Er wies auf Löser. Jost wandte sich um und sah durch das Fenster. „Nein“, sagte Sparr, „die Karin hat sich nicht umgedreht, die wußte doch nicht, daß da einer kam.“ „Sie müssen uns noch einen Eindruck vermitteln, wie laut das Gespräch zwischen Ihnen und Frau Anrainer am Montag gewesen ist“, verlangte Schreiber. „Bitte, reden Sie so laut wie neulich! Was haben Sie zu ihr gesagt?“ 202
Sparr blickte Jost eine Weile unschlüssig an, es war ihm offensichtlich unangenehm, einem Mann gegenüber die Worte zu wiederholen, die er zu der Frau gesagt hatte, aber schließlich schrie er den Leutnant an: „Hättest du mir das nicht sagen können! Mußt du mir in einem Brief schreiben, daß es aus sein soll zwischen uns? Aus! Aus!“ Er schrie immer lauter, fuchtelte mit den Armen, schaute zum Fenster hin und brach jäh ab. Zu Schreiber gewandt, sagte er: „Das war der Augenblick, als ich Löser kommen sah.“ Schreiber ging zur Treppe, um Anrainer zu rufen, und erblickte ihn auf dem Podest vor der Wohnung. „Ich hatte Sie gebeten, in die Wohnung zu gehen!“ sagte er scharf. „Am Montag haben Sie ja auch noch nicht dort gestanden, als sich Herr Sparr und Frau Anrainer stritten. Haben Sie damals etwas von der Unterredung gehört, ich meine, im Zimmer?“ „Nein, nichts“, antwortete Anrainer. „Danke!“ sagte Schreiber. „Nun gehen Sie endlich in Ihre Wohnung!“ Dann zu Löser: „Sie werden jetzt auf die Straße gehen und dort stehenbleiben, wo Herr Sparr es Ihnen zeigt.“ Der Wachtmeister ging mit Löser hinaus. Vor dem Fenster blieben sie stehen. Sparr winkte mit der Hand, daß sie weitergehen sollten. „Der Mann war noch ziemlich an der Biegung“, erklärte er. Der Wachtmeister und Löser entfernten sich von der Poststelle, sie liefen am Hang entlang. Jetzt hatten sich auch schon Neugierige eingefunden; angelockt durch das grüne Auto, wollten sie sehen, was da vor sich ging. Löser lächelte sie an, stumpf, ohne Verlegenheit. „Stehenbleiben!“ rief Schreiber ihnen durch das offene Fenster zu, dann wandte er sich an Sparr: „Und jetzt?“ 203
„Als ich den Mann dort gesehen habe“, sagte Sparr, „bin ich abgehauen.“ „Das müssen Sie uns vormachen!“ Jost saß noch auf dem Stuhl, mit dem Rücken zum Fenster, Sparr stand dicht vor ihm, jetzt warf er einen Blick auf die Straße. „So war’s“, sagte er, „wie jetzt, ich sah den Mann und …“ Er machte kehrt und rannte hinaus in den Flur. „Ohne ein Wort zu Frau Anrainer zu sagen?“ fragte der Hauptmann verwundert. „Ohne ein Wort.“ „Haben Sie nicht mal gesagt, daß Sie zurückkehren würden, um sich weiter mit ihr zu unterhalten?“ „Nein!“ behauptete Sparr. Schreiber rieb sich die Augenwinkel. „Warum eigentlich nicht?“ fragte er. „Sie waren doch gekommen, um, wenn ich mich so ausdrücken darf, reinen Tisch zu machen.“ „Genau!“ „Eben! Und dann laufen Sie weg, nur weil in ziemlicher Entfernung ein Mann auftaucht, von dem Sie gar nicht wissen, ob er in die Post will?“ „Er kam aber gerade auf uns zu!“ Schreiber gab dem Wachtmeister auf der Straße durch ein Zeichen zu verstehen, daß er mit Löser langsam näher kommen solle. „Und jetzt sagen Sie uns, wann Sie losgelaufen sind“, forderte der Hauptmann Sparr auf. Sparr sah durchs Fenster. „Halt!“ rief er. „Stehenbleiben! Dort war der Mann, als ich getürmt bin.“ Sie maßen die Strecke; es waren noch etwa dreißig Meter bis zur Post, und so wie Löser stand, mit dem Gesicht zum Haus, konnte angenommen werden, daß er tatsächlich in die Poststelle hatte gehen wollen. „Gut“, sagte Schreiber, „laufen Sie weg.“ 204
Sparr rannte in den Hausflur zurück, dann durch die Hoftür, über den Hof, setzte mit einem Sprung über den Zaun, lief quer durch den Garten, dort entlang, wo sie die Spur gefunden hatten, und blieb an dem oberen Zaun stehen. Die Luft war ihm knapp geworden, er japste, während er den Kriminalisten mit der Hand andeutete, daß er zuletzt durch den Wald gelaufen sei. „Und Frau Anrainer?“ fragte Schreiber. „Die war im Postzimmer geblieben.“ „Haben Sie auf Ihrem Fluchtweg jemanden gesehen?“ Sparr, noch immer außer Atem, schüttelte den Kopf. Der Hauptmann warf einen Blick zum oberen Stockwerk empor. Dort stand Anrainer am offenen Küchenfenster, hinter ihm die Frauen. „Haben Sie Herrn Sparr laufen sehen?“ rief Schreiber hinauf. „Aber nein!“ sagte Anrainer. „Wie sollte ich denn! Ich bin ja erst wach geworden, als die Sache mit Holbeck passierte, ich meine, das mit dem Scheck, als Karin den Namen Holbeck gerufen hat, da erst bin ich …“ Schreiber winkte ab. „Danke! Darauf kommen wir noch zurück.“ Anrainer hob die Schultern und verschwand vom Fenster, an dem jetzt nur noch Frau Löbau zu sehen war. Sparr kehrte zurück und ging mit den andern in die Poststelle. „Jetzt zu Herrn Löser!“ sagte Schreiber. Jost stand auf. Es war still im Haus. Sparr und der Wachtmeister hielten sich im Hintergrund, Schreiber befand sich bereits im Flur, um zu Löser zu gehen, da trat Jost auf ihn zu. „Zufrieden?“ provozierte er leise. Der Hauptmann sah ihn mit einem Blick an, der alles verriet: Bis jetzt hatten sie nichts Neues erfahren. Sparr, zwar aufgeregt, hatte die Nerven nicht verloren. Er hatte 205
seine Rolle glatt durchgespielt; wenn er bei seinen Aussagen blieb, konnten sie ihm den Mord an Karin Anrainer nicht nachweisen, auch der alte Anrainer konnte ihnen hierbei nicht helfen. So würden sie sich vielleicht mit Sparrs Behauptung abfinden müssen, daß er Karin Anrainer verlassen hatte, ohne ihr auch nur ein Haar gekrümmt zu haben. Und wer vermochte denn mit Sicherheit zu sagen, daß Sparr nur eine Rolle spielte? Vielleicht war das, was er erzählt hatte, die Wahrheit.
49 Sie traten vor das Haus, wo Löser mit dem Wachtmeister noch immer an der Stelle stand, die Sparr ihnen zugewiesen hatte. Inzwischen waren noch mehr Neugierige hinzugekommen. Löser fühlte sich offenbar als Mittelpunkt des Geschehens. Einige Leute lachten, wenn er schnüffelte und beifallheischende Blicke um sich warf. Schreiber machte kein Aufhebens, die Szene auf der Straße war sowieso zu Ende, Löser würde jetzt in der Post den weiteren Verlauf der Geschehnisse schildern müssen. „Kommen Sie!“ sagte Schreiber. „Wohin?“ fragte Löser. Schreibers Auge zuckte vor Unmut. „In die Post, wohin sonst!“ „Ich denke, ich soll’s so machen, wie’s war?“ „So war es doch“, erwiderte Schreiber. „Aber nicht gleich. Ich bin hierhergekommen, das stimmt, aber dann hab’ ich Schiß gekriegt und bin wieder zurück.“ 206
„Sie sind also noch einmal zurückgegangen?“ vergewisserte sich Schreiber. „Ja, bis hinter die Ecke. Da habe ich eine Weile gestanden, dann bin ich wieder zurückgelaufen und in die Post!“ Schreiber überlegte und entschied sich dann für die Wiederholung des genauen Hergangs. „Gehen Sie noch einmal zu der Biegung“, sagte er, „und versuchen Sie die Zeit einzuhalten, genau wie am Montag.“ Löser nickte und grinste den Wachtmeister an. „Retour!“ befahl er. Schreiber begleitete die beiden, während Jost wieder das Haus betrat. Hinter der Wegbiegung marschierte Löser noch etwa zwanzig Meter, dann sagte er schnaufend: „Hier habe ich mich hingesetzt.“ „Sie brauchen sich nicht zu setzen“, erklärte Schreiber, „nur auf die Zeit sollen Sie achten.“ „’s war ja auch nicht lange“, meinte Löser, „jetzt muß ich wohl schon wieder zurück.“ Nachdem sie zum zweitenmal die Biegung passiert hatten, diesmal in Richtung auf die Post, blieb Löser wieder stehen, um sich zu bücken. „Das hab’ ich nämlich gemacht, weil’s Schnürband aufgegangen war.“ „Sie geben sich wirklich Mühe!“ lobte Schreiber, aber insgeheim bedauerte er den Zeitverlust, den diese Pausen einbrachten. Nach einer Weile richtete Löser sich auf. „So, dann bin ich weiter.“ Nun endlich verließen sie die Straße und betraten die Poststelle. Im Hausflur war es dämmerig wie am Montag, Jost saß hinter dem Schalter auf dem Stuhl, dicht neben ihm standen Sparr und der Wachtmeister. „Kennen Sie diesen Mann, oder haben Sie ihn früher 207
schon einmal gesehen?“ fragte Schreiber und zeigte dabei auf Sparr. „Nein“, sagte Löser. „Gut! Dann also zur Sache!“ Löser trat an das Schalterfenster. „Soll ich’s nun so machen, wie’s gewesen ist?“ „Ja, das sollen Sie.“ „Dann muß ich das Scheckheft und den Ausweis haben!“ Schreiber übergab ihm beides. Löser schob den Scheck durch das Fenster, ließ das Scheckheft auf dem Holzbrett liegen und behielt den Ausweis in der Hand. Jost nahm den Scheck, las die Vorderseite, drehte ihn um. „Und jetzt?“ fragte er. „Sie hat mich angeguckt und sich den Ausweis geben lassen.“ Löser schob den Ausweis hinterher. „Dann hat sie so’n Heft aufgeschlagen mit lauter Zahlen.“ Jost klappte das Sperrverzeichnis auf. „Das hat ’ne ganze Weile gedauert“, erzählte Löser, „aber nun müssen Sie mich wieder angucken, so wie’s die Frau gemacht hat, und aufstehen müssen Sie auch.“ Jost erhob sich, er hielt noch den Scheck in der Hand und sah fragend durch das Fenster. Löser trat von einem Bein auf das andere. „Mich hat’s nämlich gekribbelt“, erklärte er, „und jetzt müssen Sie rufen: ‚Holbeck? Holbeck?‘ Und dabei müssen Sie rauskommen.“ Schreiber, der neben Löser im Flur stand, bemerkte, daß Anrainer jetzt wieder auf dem Treppenabsatz stand. „Sind Sie denn zu diesem Zeitpunkt schon dort gewesen?“ fragte er den alten Mann. „Nein.“ „Was treibt Sie denn bloß immer wieder auf den Flur?“ 208
„Das interessiert mich eben!“ gab Anrainer mürrisch zur Antwort. „Gewiß. Aber Sie haben sich an unsere Anweisungen zu halten! Wir rufen Sie, wenn es soweit ist.“ Schreiber wandte sich wieder an Löser: „Bitte, weiter!“ „Der Leutnant muß jetzt rauskommen, hab’ ich gesagt. Los, rennen! Und ich …“ Während Jost aus dem Postzimmer stürzte, griff Löser durch das Fenster nach Ausweis und Scheckheft, die beide – so hatte er es verlangt – noch auf dem Brett lagen. Er hatte sie gerade an sich genommen, als Jost sich neben ihn stellte. Schreiber winkte ab. „War es so?“ „Genau!“ „Und nun?“ Löser lächelte verlegen. „Nu hab’ ich ihr eins versetzt.“ Im selben Augenblick stieß er Jost die Faust in die Magengrube. Der Leutnant flog hart gegen die Wand. Wieder unterbrach Schreiber den Vorgang. „Hat Frau Anrainer auch so reagiert?“ „So ähnlich. Hingefallen ist sie nicht.“ „Hat sie geschrien?“ „Was ich da gestern erzählt habe, war falsch. Sie hat nicht geschrien. Ich bin nu ’raus. Ausweis und Scheckheft hatte ich ja.“ „Aber der Zeuge Anrainer“, Schreiber deutete nach oben, „hat einen Schrei gehört und gleich danach ein Poltern.“ „Aber das war nicht, solange ich hier drin gewesen bin!“ behauptete Löser. „Herr Anrainer!“ rief Schreiber. Sofort erschien der alte Mann an der Treppe. „Was ist?“ 209
„Sie haben doch gehört, daß Ihre Schwiegertochter den Namen Holbeck gerufen hat?“ „Stimmt!“ „Wie lange hat es dann noch bis zu dem Schrei gedauert?“ „Überhaupt nicht lange“, antwortete Anrainer. „Karin hatte kaum den Namen gerufen, als sie auch schon aufschrie … und dann war das Poltern.“ „Herr Löser, Sie haben gehört, was der Zeuge sagt. Es kann also nicht so gewesen sein, wie Sie es uns erzählen.“ „So war’s aber!“ „Danke, Herr Anrainer!“ sagte Schreiber. „Bitte, gehen Sie wieder in Ihre Wohnung.“ „Ich bleibe dabei!“ rief Anrainer. „Der Mann lügt, wenn er behauptet, daß Karin nicht sofort …“ „Ja“, beruhigte Schreiber ihn, „Sie werden dazu noch ausführlich vernommen.“ „Dann ist’s gut!“ sagte Anrainer. Schreiber sah ihm einen Augenblick nach. Und ich habe geglaubt, er hätte sich in Sparr verbissen, schoß es ihm durch den Kopf.
50 Anrainer betrat das Zimmer, in dem die drei Frauen saßen. „Das da unten wird im Leben nichts!“ sagte er. „Die glauben denen aufs Wort, diesen Schwindlern …“ „Du weißt doch gar nicht, ob sie schwindeln“, wandte seine Frau schüchtern ein. Anrainer lachte verächtlich. „Na, guck dir bloß mal den Sparr an! Der hat wohl immer die Wahrheit gesagt, 210
was? Das ist mir ein Ehrenmann! Du solltest dich schämen, ihn noch in Schutz zu nehmen!“ „Aber das habe ich doch gar nicht“, verteidigte sich Frau Anrainer. „Es hat aber so geklungen, und darauf kommt’s schließlich an. Wie fein die beiden zu singen wissen, der Sparr und der Löser! Wo’s nötig ist, werden sie laut, dann säuseln sie wieder, und weil’s so schön klingt, nimmt’s die Polizei ihnen ab.“ „Ich glaube nicht, daß die Kriminalisten sich ein X für ein U vormachen lassen“, sagte Frau Löbau. „Ich auch nicht“, schaltete sich nun auch die Postangestellte ein, „die werden bestimmt sehr genau fragen.“ Anrainer erregte sich wieder. „Bloß daß Sparr und Löser ungenau antworten!“ polterte er. „Einer muß schließlich lügen. Einer muß doch den anderen gesehen haben … Ich meine, wenn schon Löser die Karin nicht erschlagen hat, sondern Sparr, dann muß der doch bereits gekommen sein, als Löser noch im Hausflur stand, weil ja alles so schnell …“ „Unsinn!“ antwortete die Postangestellte. „Sparr wird die Karin doch nicht erschlagen, wenn einer dabei ist. Und für Löser gilt dasselbe!“ „Also bleibt es auf Löser sitzen“, sagte Frau Anrainer. „Sparr war schon weg, Löser war allein mit der Karin und hat sie …“ Anrainer winkte ab. „Nun hör schon auf!“ Unten klappte die Haustür. „Jetzt wird der Löser ihnen vormachen, wie er weggelaufen ist“, setzte er hinzu. „Weggelaufen! Unschuldig!“ Er lachte gallig.
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51 „Sie bleiben also dabei“, wiederholte Schreiber, „daß Sie Frau Anrainer in den Magen geschlagen haben und dann weggelaufen sind?“ „Ja, dabei bleibe ich. Ich bin über die Wiese ’rauf auf die Straße. Unterwegs habe ich den Ausweis und das Heft weggeworfen. Oben habe ich ein Auto gestoppt und bin bis Quedlinburg mitgefahren, und von da …“ „Ja, ja, ja!“ sagte Schreiber ungeduldig, enttäuscht. Sie standen in dem dämmerigen Flur, der Hauptmann und der Leutnant, die beiden Wachtmeister, Sparr und Löser, sie standen am Tatort, hatten gefragt und Antwort erhalten und waren doch nicht einen Schritt weitergekommen, nicht einen Schritt. Schreibers Auge zuckte verdächtig, diesmal war das Zucken wirklich Ausdruck seiner Erregung. Jost kämmte mit den Fingern die Tolle aus der Stirn. Beide schwiegen, sie durften nicht reden, denn die Beschuldigten würden sofort merken, wie es um die Sache bestellt war. Unsicherheit des Untersuchungsführers war Gift für die Ermittlungen; sobald der Beschuldigte witterte, daß man keine Handhabe gegen ihn hatte, fühlte er sich überlegen, und seine Lügen bekamen den Anschein der Wahrheit. Während sie noch unschlüssig dastanden, öffnete sich plötzlich die Haustür. Ein älterer Mann steckte den Kopf herein, die Hand auf der Klinke, als getraue er sich nicht einzutreten. „Mein Name ist Pohl“, sagte er, „ich soll mich hier melden.“ Wozu noch, fragte sich Schreiber. Ein Zeuge, der nichts wußte, weil er zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen war. Trotzdem sagte er: „Bitte, kommen Sie herein.“ 212
„Sie müssen schon entschuldigen“, begann Pohl, „daß ich nicht früher …“ Dann sah er zu Löser hinüber und schwieg plötzlich. Es war ganz still im Flur, aber keine friedliche Stille, eher schien es, als ob sich Unheil zusammenballe. Schreiber und Jost hatten sofort erkannt, daß der Blick, den Pohl auf Löser geworfen hatte, etwas bedeutete. „Kennen Sie diesen Mann?“ fragte der Hauptmann. Pohl, den Blick immer noch auf Löser gerichtet, antwortete mit einer Gegenfrage: „Hat der mit der Sache etwas zu tun?“ „Warum wollen Sie das wissen?“ „Den habe ich nämlich gesehen, als er …“ „Halt!“ rief Schreiber. Pohl fuhr zusammen und sah verdutzt auf den Hauptmann. Schreiber lächelte. „Herr Pohl, bitte, gehen Sie in die ‚Klippmühle‘, wir kommen sofort nach.“ „Darf ich wenigstens Wilhelm Anrainer begrüßen?“ „Wir befinden uns mitten in den Ermittlungen“, sagte Schreiber, „Sie müssen verstehen …“ „Ist schon gut!“ erwiderte Pohl. „Also, dann in der ‚Klippmühle‘!“ Er verließ das Haus und schloß die Tür hinter sich. Nun war es wieder still, aber auch diesmal herrschte keine friedliche Stille, sondern noch immer war es eher so, als ob sich etwas zusammenballte. „Herr Löser, haben Sie zugehört? Der Zeuge hat Sie gesehen.“ „Wo?“ „Das wird er uns gleich erzählen. Wenn es erforderlich ist, werden Sie von uns erfahren, was er ausgesagt hat. Haben Sie ihn gesehen?“ 213
„Nein, verflucht!“ Schreiber seufzte heimlich. „Na schön! Bitte, Genosse Wachtmeister, bringen Sie die Untersuchungsgefangenen in den Wagen zurück. Sie dürfen nicht miteinander sprechen.“ Zu viert verließen sie das Haus, die Wachtmeister, Sparr und Löser. Pohl war nicht mehr zu sehen, aber es standen noch viele Neugierige herum. Löser schritt erhobenen Hauptes zum Auto. „Zu meiner Braut, der grünen Minna!“ erklärte er den Gaffern. „Mann“, sagte der eine Wachtmeister, „daß der noch so lustig sein kann! Der müßte doch das Gefühl haben, die Schlinge zieht sich zu.“ „Der und Gefühl!“ meinte der andere Wachtmeister.
52 Schreiber wartete im Flur, während Jost zu Anrainers hinaufging, um ihnen zu sagen, daß der Lokaltermin beendet sei. Die Treppe knarrte, Anrainer kam ihm aus der Küche entgegen. „Schon fertig?“ fragte er. „Ja, ich wollte Ihnen gerade Bescheid sagen“, antwortete Jost. „Und? Hat’s was genützt?“ Jost hob die Schultern. „Mir woll’n Sie ja nicht glauben“, sagte Anrainer. „Bis jetzt haben wir Ihnen doch geglaubt.“ „Ich meine, daß Sparr …“ „Ach, das! In diesem Punkt nützt kein Glaube, da werden Beweise verlangt.“ 214
„Kommen Sie, Genosse Leutnant!“ rief Schreiber von unten. „Brauchen Sie mich noch mal?“ fragte Anrainer. „Vielleicht. Dann sagen wir Ihnen rechtzeitig Bescheid.“ „Finden Sie nicht auch, Genosse Hauptmann, daß die Welt wieder heller aussieht?“ begann Jost, als er mit Schreiber zur „Klippmühle“ ging. Schreiber wiegte den Kopf. „Ich verstehe Sie doch richtig: Sie beziehen Ihre Worte nicht nur auf die Sonne, nicht wahr?“ „Sie verstehen richtig.“ Es war ein warmer, bunter Herbsttag, die Berge leuchteten in satten Farben, ein Tag, der einem ins Blut gehen und Hoffnung machen konnte. Dennoch bremste Schreiber: „Wenn Pohl den Löser oben auf der Landstraße gesehen hat, nur mal als Beispiel genommen, nützt uns das gar nichts.“ Pohl, der im Gastzimmer der „Klippmühle“ auf sie wartete, war klein und schmächtig, mit spärlichem Haarwuchs und schlechten Zähnen. Er hatte sich ein Bier bestellt, es aber noch kaum angerührt. „Ich bin ganz aufgeregt“, sagte er, als Schreiber und Jost an seinen Tisch traten, „der Kerl vorhin …“ „Bitte, nicht hier“, schnitt ihm Schreiber das Wort ab; an den Nebentischen saßen Männer, die ihr Frühstück verzehrten, dazu Brause tranken und offenbar von Pohl darauf vorbereitet waren, daß die Kriminalisten hierherkommen würden; ihre Gesichter verrieten Neugier. „Wir gehen am besten auf unser Zimmer“, schlug der Hauptmann vor. Pohl goß sein Bier hinter, wischte sich den Schaum vom Mund und stand auf. „Ich trinke nachher noch eins“, sagte er zu der Büfettdame. 215
Das Fenster des Zimmers war geöffnet, die Sonne hatte die Luft erwärmt, und Schreiber genoß für Sekunden das Panorama der Hügel und Wiesen. Aber wirklich nur für Sekunden, er war nicht weniger aufgeregt als Pohl, wenngleich aus anderen Gründen, deshalb fing er sofort an: „Wo haben Sie Herrn Löser gesehen?“ „Da, wo’s um den Hang ’rumgeht“, antwortete Pohl, „da stand er gebückt und knotete sein Schnürband.“ Schreiber und Jost waren überrascht. Wenn zutraf, was Pohl soeben gesagt hatte, dann mußte er Löser unmittelbar vor der Tat gesehen haben, denn Löser hatte ausgesagt, daß er beim zweiten und endgültigen Anlauf einen Augenblick stehengeblieben sei, um das Schnürband zuzubinden. Aber der Hauptmann wollte sich noch einmal vergewissern. „Stand er in Richtung Post?“ fragte er. „Genau. Ich hatte dem Wilhelm gerade das Beil zurückgebracht und das Haus verlassen, da sehe ich den Mann …“ „Himmel!“ platzte Jost heraus, schwieg aber sofort wieder, denn er hatte einen unwilligen Blick des Hauptmanns aufgefangen. Pohl kroch vor Verlegenheit förmlich in sich hinein. Er schmatzte ein paarmal und sagte dann: „An den hätte ich auch dann nicht gedacht, wenn ich nicht verreist gewesen wäre. Der war doch so weit weg, mindestens fünfzig Meter von der Poststelle entfernt.“ Das mochte stimmen, sagte sich Schreiber. Als Löser auf Sparrs Anweisung stehengeblieben war, betrug die Entfernung bis zu Anrainers Haus etwa dreißig Meter, und das war etwa die Hälfte des Weges von der Post bis zur Biegung. Pohl lächelte einfältig. „Ich hätte bestimmt gedacht, 216
der Sparr wär’s gewesen. Auf den anderen wäre ich wirklich nicht gekommen; wenn ich ihn vorhin nicht gesehen hätte, wäre er mir im Leben nicht mehr eingefallen.“ Schreiber verbarg kaum noch seine Erregung; als er sich eine Zigarette anzündete, bemerkte Jost das Zittern seiner Hände. Der Hauptmann rauchte schweigend und hastig. Jost hatte seine Gedanken längst umgeschaltet; eben noch verärgert über Pohl, der erst jetzt mit seinen Beobachtungen kam, überlegte er nun, welche Schlußfolgerungen sich daraus ergaben, daß Pohl und Löser etwa zur selben Zeit am Tatort oder doch in seiner Nähe gewesen waren. Doch der Leutnant wagte keine Frage zu stellen, ohne sich vorher mit dem Hauptmann zu verständigen. Er hatte begriffen, daß sie jetzt sehr bedachtsam vorgehen mußten. „Erzählen Sie, wie es bei Herrn Anrainer gewesen ist. Sie hatten ihm das Beil zurückgebracht“, begann Schreiber endlich. „Ja, darüber haben wir uns unterhalten.“ Obwohl das Schreiber kaum interessierte, ließ er Pohl gewähren; er sollte ohne Hemmung berichten. „Der Wilhelm hat’s schon so bereut, daß ich’s ausgerechnet an dem Tag zurückbringen mußte und dadurch dem Mörder … Ich nehme ja fest an, daß es Sparr gewesen ist, der hielt sich bestimmt hinten irgendwo versteckt und ist dann … ich meine … ich wollte sagen, weil’s dadurch der Mörder in die Hand gekriegt hat, das Beil. Hätt’ ich’s erst am Abend gebracht oder am nächsten Tag … Na, ’s ist nun mal passiert, das konnte keiner ahnen. Ich komme zu Wilhelm, der wollte gerade weg, hatte sich schnieke gemacht, wir haben ein paar Worte gewechselt, ich bin dann 217
wieder los, ja, und draußen habe ich den Mann gesehen, den … Wie heißt er doch gleich?“ „Löser.“ „Ja, den. Aber noch mal, Herr Hauptmann, nicht ’ne Spur habe ich daran gedacht, daß der etwa …“ „Ich mache Ihnen ja auch keinen Vorwurf“, sagte Schreiber. „Wenn ich vorhin ein bißchen heftig geworden bin, müssen Sie das entschuldigen.“ Dann bat er Pohl, etwas genauer zu erzählen, was sich bei Anrainers zugetragen habe. „Sind Sie jemandem im Hausflur begegnet?“ „Nur der Karin“, sagte Pohl, „sonst keinem. Ich hab’ ihr zugewinkt, ich hatte ja nichts gegen sie. Natürlich hab’ ich gewußt, was da so im Gange war, aber …“ „Und dann sind Sie die Treppe hinaufgestiegen?“ „Ja. Oben habe ich geklopft, an die Küchentür, und bin dann gleich ’rein, wir machen hier nicht viel Federlesen, wir sind hier wie ’ne große Familie.“ „Und Herr Anrainer, sagen Sie, wollte weggehen?“ „Ja, der zog sich gerade das Jackett an. Wohin er wollte, weiß ich nicht, wir haben nicht darüber gesprochen, aber weil er weg wollte, habe ich mich nicht aufgehalten. Sonst, wissen Sie, wird ’n bißchen geklönt oder ’n Glas Stachelbeerwein getrunken, der geht einem gewaltig in die Beine, das kann man bloß machen, wenn Feierabend ist. Ja … und dann habe ich ihm also das Beil gegeben. Er hat’s auf den Küchentisch gelegt, ‚Ich nehm’s gleich wieder mit ’runter‘, hat er gesagt. Und dann bin ich gegangen.“ „Allein? Oder hat Herr Anrainer Sie hinunterbegleitet?“ Pohl schüttelte den Kopf. „Nein, der ist oben geblieben, hatte wohl noch was zu tun, das Gas abdrehen oder so … Seine Frau war doch nicht da, Wilhelm mußte alles allein machen.“ 218
„Schnieke gemacht hatte er sich, wie Sie sagen. Wie denn?“ „Na, weißes Hemd, Schlips.“ Schreiber nickte, dann fragte er: „Haben Sie etwas Besonderes bemerkt, als Sie wieder unten im Flur waren?“ Pohl überlegte eine Weile. „Bemerkt? – Nein! Die Karin saß in ihrem Zimmer am Tisch. Was sie gemacht hat, weiß ich nicht, irgendwas mit Briefmarken, vielleicht abgestimmt. ‚Wiedersehen!‘ hab’ ich zu ihr gesagt.“ Pohl wurde leiser. „Wiedersehen!“ Er seufzte. „Sie hat bloß genickt, kaum hochgeguckt. Ja, und draußen … draußen war auch weiter nichts, bis auf den Mann, den Löser, aber den habe ich gar nicht …“ „Danke!“ sagte Schreiber. „Das wissen wir.“ Er ging im Zimmer auf und ab, blieb einen Augenblick am Fenster stehen, sah hinaus und wandte sich dann wieder zu Pohl. „Wann haben Sie eigentlich mit Herrn Anrainer über den Mord gesprochen? Sie sind doch schon am Montag in die ČSSR gefahren, als Sie noch gar nichts von dem Verbrechen wissen konnten.“ „Ich bin gestern abend zurückgekommen“, antwortete Pohl, „und habe natürlich sofort zu hören gekriegt, was hier passiert ist. Daraufhin bin ich zu Wilhelm gegangen und hab’ mich mit ihm darüber unterhalten.“ Schreiber nickte gedankenverloren, sah zu Jost hinüber, und plötzlich fragte er: „Hat Ihnen Herr Anrainer gesagt, ob er noch weggegangen ist, nachdem Sie ihm das Beil zurückgebracht hatten? Er wollte doch gerade weggehen, sagten Sie vorhin.“ „Stimmt. Aber gestern hat er davon nichts erzählt. Nur wie er oben ’n Schrei und dann ein Poltern gehört hat und wie er dann runter gelaufen ist.“ 219
„Hat er den Schrei und das Poltern gehört, kurz nachdem Sie Anrainers Haus verlassen hatten?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Pohl seufzend. „Ein bedauernswerter Mensch, der Wilhelm! Überlegen Sie mal, Herr Hauptmann: Legt das Beil im Hausflur irgendwohin, und der Mörder braucht bloß zuzugreifen! Da muß einer ja … bestimmt, da muß man ja schwermütig werden.“ „Ich verstehe“, sagte Schreiber, „erst der Sohn, dann die Schwiegertochter.“ „Eben! Und deswegen hat’s der Wilhelm auch in’n Kopf gekriegt. Stell’n Sie sich vor, meine Enkelin hat mir erzählt, daß er am selben Abend noch, ich meine den Montag, daß er also da seinen Garten umgegraben hat, nicht alles, aber ’n Stück. Was heißt ‚Abend‘? Nach zweiundzwanzig Uhr war das. Meine Enkelin hätte ihn ansprechen können, aber sie traute sich nicht. Laß ihn graben, hat sie gedacht, da kommt er vielleicht auf andere Gedanken! Meine Enkelin wußte ja inzwischen, was passiert war.“ Pohl seufzte wieder. „Ja, so’n feiner Kerl, der Wilhelm, und so’n Unglück! – Aber ich hab’s kommen sehn“, fuhr er nach einer Weile fort, „wenn auch nicht so. Der Wilhelm, hab’ ich immer gedacht, und der Sparr … Sie verstehen? Davor hatte ich Angst, daß sich der Wilhelm an Sparr die Hände blutig machen könnte. Nun aber hat’s die Karin getroffen, und an den, der’s getan hat, an den Löser, hat kein Mensch gedacht! Nicht mal gekannt hat man ihn bis dahin. Wenn er’s überhaupt war, meine ich! Aber so ist das Leben, Herr Hauptmann, krumm und schief.“ „Ich danke Ihnen, Herr Pohl!“ sagte Schreiber, um dem Wortschwall ein Ende zu machen. „Werde ich dem Löser noch gegenübergestellt?“ „Nein, das ist nicht notwendig.“ 220
„Um so besser! Einem Mörder so direkt ins Gesicht gucken müssen – brrr!“ Jost fertigte das Protokoll und legte es Pohl zur Unterschrift vor; nachdem der Zeuge das Zimmer verlassen hatte, lehnte er sich mit dem Rücken gegen das Fensterbrett. Er schwieg, auch Schreiber sagte kein Wort. Unten zog die Herde vorüber, Staub wirbelte herauf, es roch nach Hammel. Jost wandte sich um, winkte dem Schäfer zu und sagte über die Schulter: „Er hat den Stein ins Rollen gebracht, er und Grundmann.“ Schreiber lächelte kopfschüttelnd. „Pohl war’s!“ sagte er.
53 „Und was geschieht jetzt?“ fragte Jost. „Was notwendig ist. Wir müssen sofort zum Genossen Kröger gehen.“ „Darf ich ihm die Frage stellen?“ bat Jost. Schreiber nickte. „Damit ich sehe, daß auch Sie erkannt haben, was noch geklärt werden muß. Das wollten Sie doch damit sagen, stimmt’s?“ „Stimmt!“ sagte Jost. Sie gingen über die Straße, auf der noch Staubfahnen wehten, über die Brücke zur anderen Seite des Dorfes. Es war um die Mittagszeit, und Frau Kröger buk gerade Kartoffelpuffer. „Darf ich Sie einladen?“ fragte sie freundlich. Schreiber und Jost blickten sehnsüchtig in die Pfanne, in der die Puffer aus neuen Kartoffeln knusprig wurden, und sie leckten sich die Lippen nach dem frischen, kühlen 221
Apfelmus, aber der Hauptmann zwang sich schweren Herzens dazu, mit einem „Schade, schade, schade!“ für sich und den Leutnant abzulehnen. „Wir möchten nur eine Frage mit Ihnen klären“, sagte er zu Kröger, der sich insgeheim darauf gefreut hatte, die Genossen bewirten zu dürfen. „Können wir in Ihr Dienstzimmer gehen?“ „Wenn’s sein muß!“ meinte Kröger. „Sie wissen wohl überhaupt nicht mehr, was es heißt, mal so richtig am Tisch zu sitzen und Hausgemachtes zu essen?“ „Von Ihrer Antwort hängt es ab, ob wir uns das heute noch leisten können“, sagte Schreiber. Fünf Minuten später, sie hatten sich in aller Eile von Frau Kröger verabschiedet, gingen sie zu dritt denselben Weg, den der Abschnittsbevollmächtigte am Montag mit Anrainer gegangen war, nachdem dieser das Verbrechen gemeldet hatte; es war der kürzeste Weg zur Post, wie Kröger den Genossen versicherte. Natürlich hatte auch er Kartoffelpuffer Kartoffelpuffer sein lassen. Diesen letzten Schritt zum Ziel mußte er mitgehen. Sand und kleine Steine knirschten unter ihren Sohlen. Auf dem Hang oberhalb des Dorfes sahen sie die Herde und den Schäfer, der sich auf seinen Stecken stützte. Gegenüber lag der Friedhof, auf dem am Tag zuvor die Ermordete beigesetzt worden war; neben Anrainers Grundstück, etwas abseits, stand das Auto mit den beiden Untersuchungsgefangenen, die in den Einmannzellen saßen. Die Kriminalisten betraten das Haus der Familie Anrainer. Hinter dem Schalter saß die Postangestellte, aber es standen keine Kunden im Flur. „Sind Anrainers in ihrer Wohnung?“ fragte Schreiber. Die Frau nickte nur. Mit diesen Herren kam man nicht ins Gespräch, das glaubte sie nun zu wissen, die stellten 222
nur knappe Fragen, blickten mal kurz durch das Fenster auf die Straße, überlegten dabei, und das war auch schon alles. Zu dritt stiegen sie die Treppe empor; Kröger, der als erster ging, klopfte oben an die Küchentür. Frau Löbau öffnete, „Sie?“ Das klang überrascht, aber auch hoffend. „Dürfen wir eintreten?“ fragte Kröger. „Natürlich!“ Frau Löbau gab die Tür frei. Anrainer kam aus der Stube in die Küche. „Was gibt’s denn noch?“ erkundigte er sich. „Wir haben ein paar Fragen an Sie“, sagte Schreiber. „Die Herren Sparr und Löser streiken wohl?“ „Frau Löbau, würden Sie so freundlich sein und uns allein lassen?“ sagte der Hauptmann, ohne Anrainers Nörgelei zu beachten. Frau Löbau verließ die Küche, jetzt waren sie mit dem alten Mann allein. „Wir müssen noch einmal Ihre Angaben überprüfen“, begann Schreiber, „wir glauben, daß Sie sich in der Zeit geirrt haben.“ „Ich habe nie behauptet, daß ich mich genau erinnern könnte … Habe ich das jemals gesagt, Kröger?“ Anrainer setzte sich auf einen Stuhl neben dem Herd und wies den anderen mit einer Handbewegung einen Platz zu. „Es geht jetzt weniger um Ihre Erinnerung als vielmehr um die genau ermittelte Zeit“, fuhr Schreiber fort. „Wir haben uns inzwischen mit Herrn Pohl unterhalten.“ „Der weiß auch nicht, wie spät es war, hat er mir gesagt“, fiel Anrainer dem Hauptmann ins Wort. „Das nicht, aber er hat Herrn Löser gesehen.“ Anrainer ballte die Hände zur Faust und legte sie auf die Schenkel. „Auf einmal hat er also Löser gesehen?“ zweifelte er. „Davon hat er mir bis jetzt kein Wort gesagt.“ 223
„Richtig“, bestätigte Jost, „es ist ihm auch erst heute beim Anblick des Herrn Löser wieder eingefallen.“ Noch ehe Anrainer sich dazu äußern konnte, hielt Schreiber ihm vor: „Sie müssen sich auch irren mit Ihrer Behauptung, Sie hätten geschlafen. Herr Pohl hatte Sie kaum verlassen, da betrat Herr Löser die Poststelle. Danach hat es ja nur noch Sekunden bis zu dem Streit zwischen Ihrer Schwiegertochter und Herrn Löser gedauert.“ „Schon möglich“, sagte Anrainer kopfnickend. „Ich bringe eben alles durcheinander. Alte Leute werden überhaupt vergeßlich.“ „Sie wollten sogar ausgehen, hat Herr Pohl erzählt. Sie trugen ein weißes Hemd mit Schlips“, fuhr Jost fort. „Aber als du zu mir gekommen bist, um den Mord zu melden, hattest du ein buntes Hemd an“, setzte Kröger hinzu. Anrainer strich sich mit der Hand über die Stirn. „Ach ja, jetzt fällt es mir ein, ich wollte dann doch nicht weggehen und habe mich umgezogen.“ „Das hat sicherlich eine Weile gedauert“, meinte Schreiber. „Na ja, eh’ man’s auszieht, das andere holt und anzieht …“ „Und während der ganzen Zeit befand sich das Beil hier auf dem Küchentisch, wo Sie es – wie uns Herr Pohl erzählte – hingelegt hatten.“ „Ist denn das so wichtig?“ fragte Anrainer, dessen Atem zu rasseln begann. „Sehr wichtig!“ erklärte Schreiber. „Weil es Herr Löser nämlich gar nicht benutzt haben kann, wenn es nicht im Hausflur lag.“ Anrainer sprang mit einem Satz in die Höhe, der Stuhl kippte um. „Sie haben schon ein paarmal solche Bemer224
kungen gemacht, als ob ich … Das mit den Fingerabdrücken war doch bereits so gut wie’n Verdacht, und dann, Herr Leutnant, wie Sie zu mir gesagt haben, Sie wüßten nur eines ganz sicher – daß ich am Tatort gewesen wäre …“ „Trotz Ihrer Vergeßlichkeit erinnern Sie sich an diese Bemerkung recht gut“, sagte Jost. „Dann wissen Sie vielleicht auch, wann Sie nun wirklich das Beil in den Hausflur gebracht haben.“ „Gleich nachdem Pohl gegangen war …“ „Da haben Sie sich doch erst umgezogen, sagten Sie. Inzwischen war Löser längst im Haus; da können Sie es nicht mehr hinuntergebracht haben, sonst hätte Loser Sie sehen müssen – und Sie ihn selbstverständlich auch. Schon deshalb hätte er nie den Mord verübt.“ „Oder wechselten Sie das Hemd aus einem anderen Grund, als Sie angegeben haben?“ fragte Schreiber unvermittelt. „Aus was für ’nem Grund denn?“ „Vielleicht war das weiße Hemd voller Blut?“ sagte Jost. „… nachdem Sie Ihre Schwiegertochter mit dem Beil erschlagen hatten“, vollendete Schreiber den Satz. Anrainers Gesicht war mit kleinen Schweißperlen übersät und dunkelrot, seine Augen verrieten Wut und Haß. „Zeigen Sie mir doch das blutige Hemd!“ schrie er plötzlich. Im Zimmer nebenan wurde es laut, man hörte Stimmen, die Tür wurde geöffnet, Frau Anrainer stand auf der Schwelle. „Wilhelm!“ rief sie. „Was ist denn? Warum …“ Kröger schob sie sacht zurück und schloß die Tür. „Ich hoffe, daß wir das Hemd finden“, sagte Schreiber ruhig, „aber auch ohne dieses spricht vieles gegen Sie … Kommen Sie mit in den Garten.“ Kröger verließ als erster die Küche, ihm folgten Jost, dann Anrainer, den Schluß bildete der Hauptmann. Die 225
Postangestellte schielte neugierig-zaghaft durch das Fenster; sie hatte Anrainers laute Stimme gehört, und nachdem die Männer durch die Hoftür gegangen waren, schlich sie sich in den Hausflur. Auf dem Treppenabsatz erschien Frau Anrainer, hinter ihr Frau Löbau, beide Angst und Verwirrung in den Gesichtern. Eine Ahnung hatte sie gepackt, gegen die sie sich noch wehrten, weil es furchtbar werden würde, wenn sie sich bewahrheitete. Die Blicke der drei Frauen begegneten einander. Sie schwiegen, die Postangestellte ging leise, fast auf Zehenspitzen, in ihr Zimmer zurück. „Was woll’n wir denn im Garten?“ fragte Anrainer die Kriminalisten. Er hatte sich noch nicht beruhigt; die Wut, die ihn seit Beginn des Gesprächs erfüllte, schien sich von Minute zu Minute zu steigern. „Herausfinden, weshalb Sie am Montag spätabends, so gegen zweiundzwanzig Uhr, in Ihrem Garten gegraben haben.“ „Wer sagt denn das!“ brauste Anrainer auf. „Frau König, die Enkelin von Herrn Pohl. Sie hat es gesehen“, antwortete Schreiber. „Gesehen!“ schrie Anrainer, jetzt völlig außer sich. „Gesehen! Sagen Sie lieber, sie hat mir nachspioniert!“ Schreiber erwiderte nichts. Dieser Mann, das wußte er, fühlte sich mehr und mehr in die Enge getrieben. Kröger, der sich auf Anrainers Grundstück auskannte, holte einen Spaten aus dem Schuppen, dann gingen sie in den Garten. „Da“, sagte Kröger, der sich aufmerksam umgeschaut hatte, „da ist erst vor kurzem gegraben worden.“ Schreiber nickte ihm zu, Kröger setzte zum ersten Spatenstich an. Im selben Augenblick brach Anrainer zusammen. 226
54 Er lag auf der Seite, das Gesicht in dem angewinkelten Arm verborgen. Kröger hielt im Graben inne und sah fragend den Hauptmann an. Schreiber rief ihm zu: „Machen Sie weiter, Genosse!“ Jost kniete neben Anrainer, der schwer atmete, sich aber schon wieder aufrichtete; er zog die Beine an und richtete sich, von Jost gestützt, taumelnd auf. Jetzt griff auch Schreiber zu, sie hakten ihn unter und führten ihn ins Haus. Die Postangestellte, die von dem Vorfall nichts mitbekommen hatte, wunderte sich über den Aufzug; die Frauen hatten zwar vom Küchenfenster aus beobachtet, wie Anrainer plötzlich zusammengebrochen war, kannten aber die Zusammenhänge nicht und fühlten sich irgendwie unsicher. Als die Männer die Küche betraten, irrte Frau Löbaus Blick von einem zum andern, blieb jeweils für Sekunden haften und wandte sich dann dem nächsten zu, als erwartete sie Antwort auf ihre stumme Frage. Frau Anrainer lamentierte laut und zügellos. „Wilhelm! Immer hab’ ich dir gesagt, du sollst dich schonen, aber nein …“ „Lassen Sie uns bitte allein“, sagte Schreiber ungehalten. „Warum denn?“ „Gehen Sie!“ Die Frauen zogen sich unzufrieden und mißtrauisch in die Stube zurück. Der Hauptmann schob dem alten Mann einen Stuhl hin, Anrainer ließ sich kraftlos auf den Sitz fallen und 227
sah die Kriminalisten müde und gebrochen an. Auf diese Stunde hatten Schreiber und Jost gewartet: daß der Mörder ein Geständnis ablegen würde. Dann war der Fall gelöst, und sie hatten sich einmal mehr als erfolgreiche Kriminalisten erwiesen. Konnte dies nicht ein Grund zur Freude sein? Nein, sie vermochten sich nicht zu freuen, wenn sie an die Ermordete dachten und an ihren Mann, der seinem Leben durch Selbstmord ein Ende gesetzt hatte. Freude lag ihnen auch fern, wenn sie den alten Anrainer dort hocken sahen, der beide auf dem Gewissen hatte, den Sohn ebenso wie die Schwiegertochter. „Lutz war unser Einziger“, begann Anrainer zu flüstern, er sah zu dem Stuhl, auf dem Schreiber saß, und fuhr fort: „Dort hat er immer gesessen, als er noch zur Schule ging und auch später, wenn er von Köthen zu Besuch kam. Dann hat ihm meine Frau jedesmal Heidelbeerkompott vorgesetzt, das mochte er nämlich so gern. Das war meine glücklichste Zeit, als ich es geschafft hatte, daß Lutz Student geworden war. Der wird mal was Besseres als ich, hab’ ich stolz gedacht.“ Anrainer legte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf. Er schluchzte leise. „Wie es dann weiterging, wissen Sie: das Mädel, die Schwangerschaft, Hochzeit, Fehlgeburt – seitdem war’s aus mit dem Studium.“ Anrainer hob den Kopf, seine Augen stierten. „Aus!“ rief er, und noch einmal: „Aus!“ Er ließ sich nach hinten gegen die Lehne fallen und starrte zur Decke empor. „Schuld daran war nur die Karin! Geahnt hab’ ich’s schon immer, aber von dem Tag an, als Kröger mir mitteilte, daß Lutz tödlich verunglückt sei, war ich ganz sicher. Selbstmord, wie sich bei näherer Untersuchung herausstellte. Selbstmord, weil seine Frau mit Sparr ein Verhältnis hatte!“ 228
Anrainer setzte sich aufrecht hin und legte die geballten Hände wieder auf den Tisch. Seine Kiefer mahlten. „Ich will jetzt alles sagen“, fuhr er fort, „damit mir leichter wird. Sie wissen ja nicht, was ich durchgemacht habe. Seit dem Tod meines Sohnes habe ich die Karin gehaßt und ihr tausendmal den Tod gewünscht. Sie hatte uns alles genommen, alles, unseren Sohn und unsere Ehre … töten wollte ich sie. Aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Nicht gleich. Der Entschluß mußte erst reifen. Es war schwer zu ertragen, glauben Sie mir, dieses immer stärker werdende Würgen in der Brust, als ob sich dort etwas zusammenballte, was sich entladen wollte. Manchmal blieb mir die Luft weg, so stark war der Druck. Und dazu kam, daß ich die Karin täglich vor Augen hatte und sie lachen hörte, wenn sie mit Sparr oder mit den Kunden sprach. Das konnte mich rasend machen. Meinen Sohn hab’ ich dann immer tot auf der Straße liegen sehen, und Sparr hab’ ich gesehen, der die Frechheit besaß, in mein Haus zu kommen, und Karin hab’ ich gesehen, die ihn in ihr Zimmer mitnahm – immer hab’ ich sie gesehen, es war ein richtiger Totentanz, den die beiden um meinen Sohn vollführten. Einmal, das wußte ich seit langem, würde ich zuschlagen.“ Anrainer schwieg erschöpft. Schreiber und Jost betrachteten ihn nicht ohne Mitgefühl. Von nebenan hörte man die Schritte der beiden Frauen, die voller Angst und Sorge im Zimmer umhergingen. Dann trat Schreiber an das Fenster und sah in den Garten hinunter, wo Kröger noch beim Graben war. Plötzlich sagte Anrainer: „Wollen Sie nicht wissen, warum ich’s gerade am Montag getan habe?“ Schreiber nickte ihm schweigend zu, und Anrainer fuhr fort: „Ich hatte an diesem Tag in alten Bildern gekramt, weil ich allein war – 229
das war ich übrigens immer, auch wenn meine Frau neben mir saß, seit dem Tod meines Sohnes war ich immer einsam –, ich hatte also in alten Bildern gekramt, es waren Fotos von meinem Sohn. Sparr war kurz vorher bei Karin gewesen, sie hatten sich gezankt, es war höllisch laut im Hausflur, und mir kam an diesem Tag zum erstenmal der Gedanke, ob Sparr sie vielleicht auch töten wollte, weil sie ihn nicht mehr mochte … Ich war erregt und wurde wieder von Erinnerungen gequält. Da brachte Pohl das Beil zurück. Als er gegangen war, hörte ich im Parterre meine Schwiegertochter rufen: ‚Holbeck? Holbeck?‘ Ich ging hinaus auf den Treppenabsatz und sah, wie sie aus ihrem Dienstzimmer gelaufen kam, ein Blatt Papier in der Hand. Der Mann, dem sie nachlief – heute weiß ich, daß er Löser heißt –, war schon an der Haustür. Wenn er sie doch jetzt erschlagen würde, wünschte ich mir insgeheim, wenn er sie doch jetzt erschlagen würde …“ Anrainer sprach jetzt, als habe er eine Vision, sein Blick war entrückt: „Während ich das noch denke, renne ich schon die Treppe ’runter. Der Mann ist bereits auf der Straße, und ich merke erst jetzt, daß ich das Beil in der Hand halte, ich muß es in der Küche wie im Traum gegriffen haben, ich stehe vor Karin, sie schreit mich an, ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat, vielleicht hatte sie Angst, weil sie das Beil in meiner Hand sah oder weil mein Gesicht verzerrt war – ich schlage zu. Der Mann war’s, dachte ich, und irgendwie fühlte ich mich dabei erleichtert, und ich wußte, daß ich’s anzeigen mußte. Mein Hemd war blutverschmiert, ich rannte wieder nach oben, riß es mir in der Küche vom Leibe, zog ein buntes an, das andere habe ich in die Ecke geworfen, dann bin ich zu Kröger gelaufen … Wie es weiterging, wissen Sie. Ja, ich bin der Mörder.“ 230
Anrainer hob den Kopf und sah die Kriminalisten an, aus seinem Blick sprach Verzweiflung. „Jetzt“, wimmerte er, „jetzt, nachdem es geschehen ist, weiß ich erst, was ich meinem Sohn und der Karin angetan habe. Helfen wollte ich ihm, sich eine Existenz aufzubauen und ein glückliches Leben zu führen, aber jetzt weiß ich, daß ich immer nur meinen verfluchten Stolz im Kopf hatte und mit meinem studierten Sohn vor den Leuten glänzen wollte. Deshalb bin ich schuld gewesen an seinem Tod, nicht seine Frau, wie ich’s mir immer eingeredet habe.“ Er ließ den Kopf hängen und sagte leise: „Ich weiß, daß diese Einsicht zu spät kommt.“ Schreiber fragte behutsam und sachlich: „Und das blutbefleckte Hemd haben Sie später im Garten vergraben?“ Noch ehe Anrainer antworten konnte, betrat Kröger die Küche. Er legte ein blutbesudeltes Oberhemd auf den Tisch. „Ich hab’s genau dort gefunden, wo wir es vermutet haben“, sagte er erschüttert, dabei warf er Anrainer einen Blick zu, in dem sich Verwunderung, Staunen, Entsetzen mischten. Da saß also ein Mann, der sich jahrelang sein Freund genannt und neben ihm gelebt hatte, ohne im Innersten von Kröger erkannt worden zu sein. „Das letzte Beweisstück!“ sagte Schreiber. Anrainers Lippen färbten sich blau. „Bitte“, sagte er, nun vollends gebrochen, nach längerem Schweigen, „ich möchte jetzt niemanden sehen.“
55 Jost ging, um Zeller mit dem Auto zu holen. Schreiber, Kröger und Anrainer blieben in der Küche zurück. Es 231
war still. Die Gedanken des Hauptmanns und des Abschnittsbevollmächtigten kreisten um diesen Menschen Anrainer, der als ehrbarer Bürger gegolten hatte, der ernst und gewissenhaft seiner Arbeit nachgegangen war und immer für seine Familie gesorgt hatte – der aber vieles nur um seiner selbst willen, aus übersteigerter Selbstsucht getan hatte: Seht her, so anständig und pflichtbewußt bin ich, ich und nochmals ich! Und die Umwelt hatte ihm beifällig zugenickt. Und ich habe davon gewußt, dachte Kröger schuldbewußt: von dem Ärger mit Lutz, der nicht studieren wollte; von dem Druck, den Anrainer auf seinen Sohn ausübte, damit der die Karin heiratete; von Lutz’ Selbstmordabsichten, von den Beziehungen zwischen Karin und Sparr und von Anrainers zunehmender Wut … alles habe ich gewußt. Kröger stand auf und trat an das Fenster, er wollte jetzt niemandem ins Gesicht sehen. Dann hörten sie, daß Jost zurückkam. Schreiber stand ebenfalls auf. „Herr Anrainer“, sagte er, „wir müssen Sie mitnehmen. Wollen Sie sich noch von Ihrer Frau verabschieden?“ Anrainer schüttelte kaum merklich den Kopf. „Dann komm, Wilhelm!“ sagte Kröger, während er ihm die Hand auf die Schulter legte. Ihm fiel ein, daß er dieselben Worte am Tag des Verbrechens gesagt hatte, als er mit Anrainer zur Poststelle gegangen war. Schreiber informierte die Frauen, die wohl gelauscht hatten, denn sie standen dicht hinter der Tür. Sein erster Blick galt Frau Löbau, er drückte ihr die Hand. Frau Anrainer, die ihr Lebtag nichts zu sagen gehabt hatte, blieb auch jetzt stumm, sie war endgültig zerbrochen. Jost und Anrainer saßen bereits im Auto, als der Hauptmann hinzukam. „Ich muß dort noch Bescheid 232
sagen“, erklärte er und wies auf den Wagen der Untersuchungshaftanstalt. Kröger begleitete ihn die paar Schritte über die Straße. „Vielleicht hätte ich einiges tun können, um das zu verhindern“, sagte er bedrückt. Schreiber erwiderte nichts, er ließ die Tür des Autos und danach die Türen zu den Zellen von einem Wachtmeister aufschließen. Löser blinzelte. „Besuch? Doch nicht etwa die ganze Chose noch mal?“ „Bei Ihnen bleibt’s beim Haftbefehl wegen Urkundenfälschung und versuchten Scheckbetrugs“, sagte Schreiber. „Uff!“ stöhnte Löser. Dann fragte er grinsend: „Und wer ist der Mörder?“ Schreiber wandte sich an Sparr: „Sie …“, dann unterbrach er sich, weil der junge Mann blaß geworden war, und setzte lächelnd hinzu: „Nein, der Mörder sind Sie nicht. Sie werden noch heute entlassen.“ Sparr erhob sich von der Bank, taumelte und fiel gegen die Zellenwand. „Aber, aber!“ sagte Schreiber. „Ein Mann wie Sie wird doch wohl Haltung bewahren.“ „Entlassen?“ wiederholte Sparr mit kratziger Stimme. Schreiber nickte. „Was werden Sie jetzt tun?“ „Gleich zu Fräulein Hüttner!“ erwiderte Sparr. „Und dann zur ‚Silberhütte‘! Mit meinen sechsundzwanzig Jahren habe ich ja noch alles vor mir, Herr Hauptmann!“
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Alan Winnington
HERZVERSAGEN Kriminalroman der DIE-Reihe aus dem Englischen von Elga Abramowitz Demnächst bei Ihrem Buchhändler erhältlich
Leseprobe Die diensthabende Schwester nahm den Hörer ab. „Penn Hospital, Unfallstation.“ Eine Männerstimme rief hastig: „Ich möchte einen Unfall melden. Sieht nach Fahrerflucht aus. Ich …“ Die Schwester unterbrach ihn: „Die Einzelheiten bitte!“ Sie machte eine Kopfbewegung zu einem Assistenten hin: „Verkehrsunfall. Rufen Sie die Ambulanz an!“ Die Stimme sagte: „Ich fuhr gerade vorbei an …“ „Nein, nein“, sagte die Schwester. „Wo liegt er? Alles andere hat Zeit.“ „Fahren Sie die Hauptstraße entlang in Richtung Buckingham. Nach etwa fünf Meilen kommen Sie an eine Eisenbahnbrücke, die die Straße überquert. Rechts von der Straße ist der Bahndamm, und gleich dahinter ist wieder eine Straße. Dort liegt er. Ich habe ihn zuge …“ „Augenblick bitte.“ Die Schwester drehte sich zu dem Assistenten um und wiederholte die Angaben des Anrufers. Der Mann eilte hinaus. „Haben Sie die Polizei verständigt?“ fragte sie ins Telefon. „Hallo! Hallo!“ „Tatsächlich Fahrerflucht“, kommentierte sie. „Er selber war’s. Nicht die schlimmste Sorte. Hat wenigstens angerufen.“ Sie wählte die Polizeinummer. 234
Mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern und blitzendem Warnlicht raste der Krankenwagen durch den Regen und verlangsamte seine Geschwindigkeit erst, als die Eisenbahnbrücke in Sicht kam. Der Fahrer hielt auf der dritten Fahrspur, als im Scheinwerferlicht eine Gestalt sichtbar wurde, die zwanzig Meter vor dem Wagen am Straßenrand lag. Der Doktor lief voraus, während der Fahrer und ein Assistent mit der Trage nachkamen. Der Mann lag auf dem Rücken, und der Regen fiel auf sein schlimm zugerichtetes Gesicht. Die Decke, mit der man ihn zugedeckt hatte, war klatschnaß. „Scheint tot zu sein“, sagte der Arzt. „Kein Puls. Keine Atmung mehr festzustellen. Sofort in den Wagen.“ „Das Gesicht sieht ja schaurig aus“, bemerkte der Assistent. Der Arzt knurrte. Im Krankenwagen schlossen sie den Verunglückten an das Beatmungsgerät an und schalteten es ein. In diesem Augenblick erschien die Polizei. „Was ist los, Doktor?“ fragte der Sergeant. „Tut mir leid, keine Zeit jetzt. Kritische Situation. Los, spritzen Sie Adrenalin“, fuhr der Arzt den Assistenten an und begann die Brust des Patienten zu massieren. Der Assistent öffnete eine Ampulle, zog die Lösung in einer Spritze auf, drückte auf den Kolben, um die Luft herauszutreiben, die vielleicht darin war, und gab dem Patienten eine Injektion. Dreißig Sekunden lang geschah nichts. Der Arzt horchte mit dem Stethoskop das Herz ab. „Uh“, knurrte er. Das Herz flatterte, stand still, flatterte wieder, begann zuerst unregelmäßig und dann schwach, aber regelmäßig wieder zu schlagen. 235
„Gut“, sagte der Arzt. „Geben Sie ihm eine intravenöse Injektion.“ Der Assistent nahm eine Glasflasche mit Salzlösung aus einem Schrank, wo sie auf Bluttemperatur gehalten wurde, und klammerte sie in dem Haltegerät über dem Patienten fest. Mit schnellem, sicherem Griff setzte er einen Schlauch darauf und preßte die Luft heraus. Wenn Luft im Schlauch blieb, würde sie in den Blutkreislauf gelangen und konnte unter Umständen ein Blutgefäß im Herzen oder im Hirn verstopfen, was den Tod des Patienten zur Folge hätte. Er gab dem Arzt die Spritze in die Hand, die am Ende des Schlauchs befestigt war. Dann klammerte er eine Aderpresse um den Oberarm des Patienten und desinfizierte die Ellbogenhöhle mit einem alkoholgetränkten Wattebausch. Die Aderpresse ließ die Venen anschwellen, so daß sie wie Schnüre herausstanden. Der Arzt stieß die Nadel in die Venen und ließ sie in der Vene entlanggleiten. Blut floß in die Spritze, als er den Kolben zurückzog. „Fertig“, sagte er. Der Assistent befreite den Arm von der Aderpresse. Sie sahen zu, wie die Salzlösung aus der Glasflasche langsam in die Venen des Patienten floß. Der Puls wurde regelmäßiger, kräftiger. „Weiter können wir jetzt nichts tun“, sagte der Arzt. „Alles andere dann im Krankenhaus!“ Er stieg aus und ging zu dem wartenden Sergeanten. „Hören Sie“, sagte er, „wir wissen nur, daß jemand angerufen und gemeldet hat, an dieser Stelle sei ein Unfall passiert. Fahrerflucht, sagte der Anrufer. Der Mann war mit dieser Decke zugedeckt. Eine Autodecke vermutlich.“ 236
„Ich verstehe, Doktor. Bei diesem Wetter können wir nicht damit rechnen, viel zu finden. Haben Sie irgendwas entdeckt, das uns helfen könnte, den Mann zu identifizieren?“ „Hatte noch keine Zeit nachzusehen. Es stand auf des Messers Schneide. Tut mir leid, aber ich muß ihn sofort ins Krankenhaus bringen.“ „Besteht immer noch Gefahr?“ „Wahrscheinlich wird er’s nicht überleben. Genaues kann ich erst nach der Untersuchung sagen.“ „Ich möchte gern in seinen Taschen nachsehen – vielleicht hat er Papiere bei sich.“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Sergeant. Ich darf ihn nicht schon wieder bewegen. Er hat eine schwere Kopfverletzung. Wenn wir ihn ins Krankenhaus gebracht haben, können Sie seine Sachen kriegen. Okay?“ „Wenn Sie als Arzt das sagen, Doktor! Ich fahre hinter Ihnen her.“ Ward stöhnte und nahm den Hörer ab. Ein kleiner Wecker mit Leuchtziffern zeigte an, daß es zwei Uhr nachts war. „Nein, nein“, sagte er in den Hörer. „Nicht schon wieder.“ Es war Dr. Wilmott. „Kommen Sie sofort her, Ward“, sagte die blecherne Stimme. „Sieht aus, als könnte es diesmal wirklich was für uns sein.“ „Am Mittwoch hat’s auch so ausgesehen.“ „Soll ich Ihnen Zeit geben, richtig wach zu werden, und Sie später anrufen?“ fragte der Pathologe spöttisch. „Oder wollen wir es bis zum Morgen lassen?“ „Okay, Wilmott. Ich habe verstanden. Erzählen Sie mir alle Einzelheiten über den Fall!“ 237
„Fein, mein Lieber. Es ist ein Mann, siebenunddreißig Jahre alt, Name: Edward Pierpoint Jackson. Ja. Komischer Name, nicht? Ist offenbar gerade aus dem Ausland zurückgekommen, trug seinen Paß in der Tasche. Auch die Adresse. Seine Wirtin hat ihn identifiziert. An seiner Identität besteht kein Zweifel. Es handelt sich eindeutig um Fahrerflucht. Die Polizei würde keine Schwierigkeiten machen. Sie sagt, sie kann ihre Nachforschungen auch so anstellen. Der Leichenbeschauer hat seines Amtes gewaltet – er wurde jedenfalls geweckt – und sein Urteil abgegeben. Tod durch Unfall. Der Körper gehört uns.“ „Wie steht’s mit der Pathologie?“ fragte Ward. „Ich nehme an, da ist alles in Ordnung, sonst hätten Sie mich nicht angerufen.“ „Nach den Angaben der Zentralen Medizinischen Datenbank können die Hauptfaktoren kaum besser sein, einschließlich des Rhesusfaktors. Als man Jacksons Daten in den Computer einspeiste, kam nur ein Name heraus – Fairfax – anstelle von verschiedenen Alternativen. Ja, natürlich ist es so programmiert. Trotzdem muß ich noch meine eignen Tests machen. Ich kann mich nicht auf diese verdammte Kiste verlassen.“ „Wo ist er?“ „Im Penn Hospital in Norfolk. Ich habe mit dem Krankenhaus telefoniert. Sie schicken ihn, wenn wir ihn haben wollen.“ „Erst brauchen wir die Genehmigung. Diesmal müssen wir sichergehen.“ „Kein Problem. Er hat vor einiger Zeit im Penn Hospital gelegen und dort die übliche Erklärung unterschrieben. Wir brauchen uns nicht die Mühe zu machen, die nächsten Angehörigen rauszufinden.“ „Ist das sicher?“ 238
„Ganz sicher, nach den Auskünften des Penn Hospital.“ „Dann lassen Sie ihn herschaffen. Ich komme sofort.“ „Gut.“ „Ach, Wilmott, noch eins: Man soll Terry und Marchmont verständigen. Wenn wir ohne die Einwilligung der nächsten Angehörigen vorgehen, möchte ich doppelt sicher sein.“ Mr. Graham Terry, der Hirnspezialist, und Dr. Selby Marchmont, der Herzspezialist, waren gekommen, hatten den Körper von Edward Pierpoint Jackson untersucht und waren wieder gegangen. Das übliche hohe Honorar für ihre Konsultation würde Fairfax bezahlen, wenn er am Leben blieb, und im Fall seines Todes würden es seine Erben tun. Mr. Terry und Mr. Marchmont hatten Jackson für klinisch tot erklärt. Dr. James Wilmott, eine der Koryphäen der Pathologie – und keineswegs billiger als Terry und Marchmont –, beendete gerade seine Testserie, um entscheiden zu können, ob Jacksons Gewebe wirklich so beschaffen war, daß Fairfax’ Körper das neue Herz aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sofort abstoßen würde. Ward hatte keine Lust, in der Pathologie zu warten, und ging in seine eigene Abteilung, wo Edward Pierpoint Jackson bereits im A 2 auf dem Operationstisch lag. Sein Gesicht war von dem Beatmungsgerät und dem Verband fast völlig verdeckt. Er war schon für die Operation vorbereitet worden, seinen Körper hatte man mit einem sterilisierten Leinentuch zugedeckt. Im A 1, dem angrenzenden Operationssaal, traf Dr. Mabel Benton, die Anästhesistin, ihre letzten Vorbereitungen. Sie machte eine Kopfbewegung zu Jackson hin. „Hervorragende Verfassung“, sagte sie. 239
Zwischen den zwei Operationstischen saß Eric Keyes, mager, nervös, aber außerordentlich erfahren, zwischen der komplizierten Apparatur der Herz-Lungen-Maschine. Ward mußte sich darauf verlassen, daß dieses Gerät beide Patienten am Leben erhielt, während er ihnen den Brustkasten öffnete und das Herz herausnahm. Die Sprechanlage summte. „Hallo, Ward.“ Es war Wilmott. „Sie können anfangen, Ward“, sagte er. „Ein besseres Herz finden Sie nirgends. Soll ich Ihnen die Unterlagen rüberbringen?“ „Ist jetzt nicht nötig. Schreiben Sie alles hinein, mein Freund. Und vielen Dank.“ „Dann fangen Sie jetzt also an?“ „Ja. Jetzt oder nie.“ „Haben Sie was dagegen, wenn ich zusehe?“ „Bitte, kommen Sie.“ In seinem Zimmer auf der Intensivstation wurde Fairfax geweckt; man erklärte ihm, er brauche eine Injektion. Niemand sagte etwas von einer Operation. Er war immer noch im Halbschlaf, als man ihm eine Ampulle Thiopental spritzte und ihn in einen euphorischen Betäubungszustand versetzte. Wenig später wurde er, mit einem Tubus in der Luftröhre, in den A 1 gerollt. Dr. Mabel Benton gab dem Patienten die Vollnarkose mit einem LachgasSauerstoff-Gemisch und Halothan, einem angenehm riechenden Inhalationsnarkotikum, das die Schleimhäute nicht reizte. Ward traf die allerletzten Vorbereitungen, wusch sich die Hände, zog den Operationskittel an, überprüfte seine Gummihandschuhe. Assistenten, Ärzte und Schwestern standen bereits auf ihren Plätzen, rings um die beiden Körper, und warteten. 240
Als Ward in den Operationssaal kam, gab es eine dramatische Pause. Es schien plötzlich unmöglich, die Stille zu unterbrechen, mit der ersten Phase einer Handlung anzufangen, die, einmal begonnen, auch zu Ende geführt werden mußte – in stundenlanger komplizierter Arbeit am Rande des Todes. Sie rückten um den Operationstisch des A 1 zusammen, damit Ward Bewegungsfreiheit hatte, und eine Schwester reichte ihm ein Skalpell. Fairfax’ Leistengegend lag frei, Ward machte den ersten Schnitt in den Oberschenkel, und ein stummer Seufzer entspannte die Atmosphäre. Der Anfang war gemacht. Im richtigen Augenblick und an der richtigen Stelle wurde Ward eine Kanüle gereicht, die er in die Oberschenkelarterie einführte, um dadurch den Blutkreislauf umzuleiten und Fairfax’ Herz und Lungen von der Blutzirkulation auszuschließen. Das Blut mußte außerhalb des Körpers in die Herz-Lungen-Maschinen geleitet werden; dort würde es von Kohlendioxyd befreit, mit Sauerstoff versorgt und dann wieder in den Körper zurückgepumpt werden. Durch eine in die Armarterie eingeführte Kanüle konnte Dr. Eric Keyes ständig den Blutdruck des Patienten kontrollieren. Ward machte einen Schnitt am Brustbein entlang. Er benutzte dazu ein diathermisches Messer, das während des Schneidens den Blutfluß stocken ließ. Mit einer winzigen Säge zertrennte er unterhalb dieser Schnittlinie den Knochen. Als die beiden Hälften des Brustbeins zurückgeklammert waren, lag das Herz frei – ein stark vergrößertes Herz, das in seiner Hülle aus dünner Haut unregelmäßig schlug. Ward öffnete den Herzbeutel und sah zum ersten Mal das Organ, das er seit so langer Zeit kannte und behandelte. Er hatte recht gehabt: Keine 241
Operation hätte diesen verbrauchten, deformierten Muskel wieder funktionstüchtig machen können. Es gab nur die Wahl zwischen Tod und Transplantation. Nachdem Fairfax’ Blutkreislauf über die HerzLungen-Maschine geleitet worden war, konnten Pr. Keyes und Dr. Benton beginnen, die Körpertemperatur zu senken. Dadurch verlangsamte sich der Stoffwechsel, der Sauerstoff- und Narkotikabedarf nahm ab, so daß die Belastung für Fairfax’ geschwächten Organismus geringer wurde. Ward befahl, das Beatmungsgerät im Operationssaal A 2 abzuschalten. Jackson machte seinen letzten Atemzug, und drei Minuten später schlug sein Herz zum letzten Mal. Ward wartete noch fünf Minuten. Der Neurologe unterrichtete ihn: keine Herztätigkeit, keine Hirntätigkeit, keine Reflexe, keine Spontanatmung. Jackson war tot. Jetzt mußte Ward schnell weiterarbeiten, denn nun war die Operation in ihre gefährlichste Phase getreten: In toten Körpern unterliegen Organe einem rapiden Verfall. Eine Schwester spritzte Jackson Heparin in die Vene, um die Blutgerinnung zu verhindern. Der Brustkasten wurde rasch geöffnet und das Herz freigelegt, ein doppelfaustgroßer intakter Muskel. Schnell und präzise schloß das Operationsteam im A 2 Jacksons Blutsystem an eine andere Herz-LungenMaschine an, und Blut floß wieder durch seinen toten Körper, der nicht mehr atmete. Das Blut war gekühlt, die Körpertemperatur sank rasch. Ward trennte die Aorta und andere Arterien und Venen ab und hob Jacksons Herz sacht aus dem Brustkorb. Eine Schwester trug es in einem mit Ringer-Laktatlösung gefüllten Becken in den Operationssaal A 1. 242
Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich erneut auf Fairfax. „Arteriendruck normal“, meldete Keyes. „Temperatur?“ ‚,Einunddreißig.“ „Ich brauche dreißig.“ Eine Minute verging. „Dreißig“, sagte Keyes. „Sie können weitermachen.“ Seine Stimme verriet keinerlei innere Bewegung. Auch keinem anderen Mitglied des Operationsteams war Erregung oder Unruhe anzumerken. Alle arbeiteten wie eine automatisierte Werkzeugmaschine; ihre Tätigkeit glich dem perfekten Zusammenspiel der einzelnen Teilchen in einem Kaleidoskop. Die Erlösung von der Spannung des Wartens und von den aufreibenden Vorbereitungen für dieses Ereignis – zum dritten Mal, seit Brenda Simms auf diesem Tisch gelegen hatte – hatte Ruhe zur Folge, eine kalte, distanzierte Selbstkontrolle. Jetzt ging es nur noch um eine Demonstration ihres Könnens, ihrer fachlichen Tüchtigkeit. Es waren Augenblicke, die keiner von ihnen je vergessen würde. Sie hatten keine Zeit, den dramatischen Höhepunkt auszukosten, als Jacksons Herz in einem Becken in den Saal gebracht wurde. Man mußte es sofort an eine Koronarleitung der Herz-Lungen-Maschine anschließen und sauerstoffreiches Blut in sein Gewebe pumpen. Nun wandte Ward sich Fairfax zu. Bequem vornübergebeugt, sah er Mabel Benton an. Sie nickte. Noch ein Schnitt mit dem Skalpell, und es gab kein Zurück mehr. Wenn er die Operation jetzt, an diesem Punkt, abbrach, würde er später immer einen plausiblen Grund dafür finden, daß er Fairfax’ Brustkasten geöffnet hatte. Fairfax würde zwar nach einiger Zeit sterben, 243
aber nicht infolge einer rufmörderischen erfolglosen Herzoperation. Als Ward das Herz untersuchte, sah er so unbewegt aus, als träfe er Vorbereitungen, ein Furunkel zu öffnen. Es gab nicht die Spur eines Zögerns, eines Zitterns, als sein Skalpell quer durch die Aorta fuhr. Jetzt konnte er nicht mehr zurück. Bedächtig, mit der Schnelligkeit des virtuosen Könners, durchschnitt er die übrigen Arterien und Venen, ließ, ebenso wie bei Jacksons Herz, viel „Material“ zurück, um das Einpassen und Aneinanderfügen zu erleichtern. Fairfax’ Herz wurde herausgenommen und beiseite gelegt. Seine Arbeit war für immer getan. Ein lebender Mensch ohne Herz lag auf dem Tisch. Von diesem Moment an verfügte Ward nur über die Erfahrung, die er bei der Transplantation von Tierherzen gesammelt hatte. Aber er verließ sich auf die Gründlichkeit seiner Vorbereitungen und auf sein Können. „Ich kann Barnard schlagen“, hatte er einmal zu Wilmott gesagt, „aber dazu brauche ich Ihre Hilfe. Sie sind viel weiter auf dem Gebiet der Pathologie und der postoperativen Immunologie als irgendwer in Südafrika. Ich möchte, daß Fairfax drei oder fünf Jahre am Leben bleibt. Denken Sie daran!“
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