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Wilder Westen in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Gangster aller Spielarten, geübt im Umgang mit der Waffe, wittern in dem kleinen Provinzstädtchen Cowtown ein neues Eldorado. Der bislang unbedeutende Ort wird zu einem wichtigen Eisenbahnumschlagplatz. Neben professionellen Totschlägern ist auch der Falschspieler Greenwood nach Cowtown gekommen. Ein schwunghaftes Hypothekengeschäft hat ihn zu einem reichen Mann gemacht. Jetzt verzehrt sich sein Herz in Liebe nach der schönen Winnifred, der »Rose aus Chicago«, wie er die Tochter des Herausgebers der »Cowtown Fanfare«, Mr. Breakenridge, nennt. Aber Winnifred hat längst ihr Herz an einen der tapfersten Pistolenschützen, an Limonaden-Joe, verschenkt, der besser schießen und lieben kann als alle seine Nebenbuhler und dessen Wahlspruch lautet: »Ich vermag nichts, die Limonade alles!« Doch Joe wird von Greenwood in eine Falle gelockt. Schon steht er am Marterpfahl. Da rettet ihn die wundersame Pistole seines Onkels, und der Weg zum Herzen Winnifreds ist für ihn endgültig frei. Während sich ihre Lippen zu einem langen Kuß finden, tastet Joe mit seiner Hand nach der bauchigen, ihm so vertrauten Flasche und flüstert: »Wenigstens eine täglich …«
Limonaden-Joe Jiři Brdečka
Eulenspiegel Verlag Berlin
Titel des tschechischen Originals: Limonádový Joe Ins Deutsche übertragen von Karl Wandner
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Geh nach Westen, junger Mann! Sooft Horace später darüber nachdachte, mußte er sich sagen, daß eigentlich alles wie am Schnürchen gegangen war, solange es nicht einer der Spieler für gut erachtet hatte, das Spiel aufzugeben, obwohl er dabei viel Geld verlor. Dieser Mann sagte sich: Gegen Pech läßt sich weder mit Gold noch mit Tapferkeit kämpfen. Und deshalb überließ er seinen Platz einem Glücklicheren. Das war schließlich eine ganz vernünftige Überlegung, und jeder, der auch nur etwas vom Kartenspiel versteht, wird sie loben. Aber der Spieler irrte sich, wenn er seine Verluste dem Pech zuschrieb. Nein, die Leere seiner Brieftasche hatten die zehn schlanken Finger Mister Horace Jouett Greenwoods auf dem Gewissen, die zehn wunderbaren Eskamoteure, die aus dem Zylinder Karten auf den Tisch schmuggelten und die verschiedensten Variationen der Poker-Figuren mit einer Gewandtheit mischten, die sozusagen nach Schwefel roch. Freilich, was den Gestank des erwähnten chemischen Elements betrifft, handelt es sich nur um eine bildliche Redensart; in Wirklichkeit gab es hier nicht den geringsten warnenden Geruch, der die Spieler auf etwas Unlauteres aufmerksam gemacht hätte. Übrigens hatte sich Horace dank seiner reichen Erfahrungen eine untrügliche Kenntnis der Physiognomie der Kartenspieler erworben und wußte, wo er seinen
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betrügerischen Fähigkeiten die Zügel schießen lassen konnte. So typisierte er beispielsweise heute seine Gegner gleich von Anfang an als ausgesprochene »Wurzen« und verfuhr auch dementsprechend mit ihnen. Ja, alles lief großartig, bis ein stiller junger Mann den frei gewordenen Platz einnahm. Er fragte so höflich, ob er mitspielen dürfe, daß es keiner übers Herz gebracht hätte, ihn abzuweisen. Horace gefielen freilich die kalten, graublauen Augen des jungen Mannes nicht im geringsten. Sie erinnerten ihn an mehrere Männer im Grenzgebiet, deren intimster Freund ein verdächtig niedrig hängender Colt war. In jenen Jahren erlebte der Westen seine ruhmreichste Zeit. Saint Louis strotzte zwar nicht so von Totschlägern, daß man jeden blauäugigen Mann für einen Pistolenhelden halten mußte, jedoch bei dem Beruf, den Horace ausübte, war Vorsicht nie fehl am Platze. Deshalb gönnte Mister Greenwood seinen wunderbaren Fähigkeiten eine Zeitlang Ruhe und spielte höchst moralisch. Bald aber gewann er die Überzeugung, daß kein Grund zur Vorsicht bestehe. Der Fremde schenkte seinen Fingern nicht die geringste Aufmerksamkeit. Auch seine hellblauen Augen entbehrten völlig des für Pistolenschützen typischen Aufblitzens. Und so zog Horace wieder alle Register seiner unlauteren Kunst, stellte von neuem eine Verbindung zu seinem Vorratszylinder her und mischte die Karten, wie es ihm paßte. Unter solchen Umständen türmten sich vor ihm die Säulenreihen 6
der Jetons bald zu imponierender Höhe; sie boten in der Tat einen angenehmen Anblick. Aber die gute Laune verging ihm, als er den Kopf hob und bemerkte, daß er in den schwarzen Lauf eines Trommelrevolvers blickte, den der stille junge Mann auf ihn gerichtet hatte. »Ich erlaube mir, Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagte der junge Mann höflich, »wie wäre es, wenn Sie Ihren Gewinn zurückgeben? Oder, falls Ihnen das nicht paßt, wenn wir Ihren Hut einmal näher betrachten? Gewiß bietet Ihnen die erste Lösung mehr Vorteile. Das ist so sicher, wie ich Bat Masterson heiße …« Den Zylinder leicht in den Nacken geschoben, schlenderte Horace durch die Straßen von Saint Louis. Sein Stock aus Ebenholz wirbelte so rasch zwischen seinen Fingern, daß er ab und zu einen leuchtenden Kreis beschrieb. Mit dieser leichtsinnigen Pose harmonierten freilich keineswegs die besorgten Überlegungen, die Horace gerade durch den Kopf gingen. Seine Gedanken galten niemals der Vergangenheit. Deshalb machte er sich auch keine Vorwürfe, daß er nicht dem ersten instinktiven Eindruck gefolgt war, der ihn vor dem stillen jungen Mann gewarnt hatte. Natürlich war es lächerlich, einen berüchtigten Pistolenhelden für ein unschädliches Greenhorn zu halten, aber was geschehen war, war eben geschehen. Die Gedanken von Horace galten immer der Gegenwart. Er überlegte also, wie dumm es doch sei, sich plötzlich auf dem 7
trockenen zu befinden. Und da er manchmal an die Zukunft dachte, war ihm sein augenblicklicher finanzieller Zustand um so peinlicher, denn noch vor einer halben Stunde hatte er mit dem Gedanken gespielt, eine längere angenehme Reise in den Südwesten anzutreten, in jungfräuliche Gebiete, wo die Leute in den Spielsalons noch nicht die Möglichkeiten seines Zauberzylinders und die Schnelligkeit seiner beiden reizenden Derringers kannten, die in den Ärmeln seiner tadellosen Redingote verborgen waren. Hier erscheint es angezeigt, Mister Horace Greenwood näher unter die Lupe zu nehmen, denn dieser aalglatte Mann wird in unserer Geschichte keineswegs die geringste Rolle spielen. Düsteres und doch so erhabenes Schwarz umhüllte seine schlanke Gestalt. Der aparte Frack, dessen Revers mit schwerer Seide ausgelegt waren, die stutzerhaft geschnittene Hose, die schmalen, modischen Schuhe mit den hohen Absätzen sowie der Zylinder – all das war schwarz wie Kohle. Dieselbe Farbe hatten auch sein Stock, seine Handschuhe und sein Gewissen. Der geschätzte Leser, der auch nur flüchtig mit der Literatur über den wilden Westen vertraut ist, weiß natürlich, daß eine Kleidung in der Farbe der Nacht die inoffizielle Uniform der berufsmäßigen Kartenspieler gewesen ist. Das haben schließlich auch schon die vorangegangenen Zeilen verraten: Mister Horace Jouett Greenwood aus Tennessee gehörte zu jenem zahlenmäßig starken Stab der Gentlemen 8
des Zufalls, die, wenn sie die Schößel ihrer Kaiserfracks schwenkten, wie Kohlraben über dem Grenzgebiet kreisten und sich nur dort niederließen, wo ihre feinen Nasen Gold witterten. Man muß jedoch bemerken, daß ihr Gewerbe damals noch nicht jenen schlechten Ruf besaß, wie man vielleicht annehmen könnte. Auch seriöse Männer mit hervorragendem Charakter verschrieben sich diesem einträglichen, wenn auch etwas riskanten Beruf. In der Stadt nahmen sie oft die Stellung geschätzter Bürger ein und wurden mit der gleichen Hochachtung gegrüßt wie der Bürgermeister oder der Besitzer eines gutgehenden Freudenhauses. Nicht selten erlangten sie wichtige öffentliche Stellungen, und der Pharo-Bankier hielt oft auch die öffentliche Bank, indem er zur allgemeinen Zufriedenheit die Funktion des städtischen Schatzmeisters wahrnahm. Die Wertschätzung der Männer übertrug sich auch auf ihre Frauen, die nicht selten in den kirchlichen Zirkeln die erste Geige spielten. Zu dieser ehrenhaften Kategorie einer weniger ehrenhaften Profession gehörte Horace freilich nicht; dazu liebte er zu sehr das Abenteuer und verachtete zu sehr die engbrüstigen Spießer. Das aber hatte seine Ursache darin, daß er niemals seine Herkunft vergaß. Die Greenwoods aus Tennessee gehörten unstreitig zur Blüte der südlichen Feudalen. Die weitverzweigte Krone ihres Stammbaumes verkörperte in ihren Trieben viel von dem, was den alten Süden so reizvoll machte. Nun, und 9
einer der jüngsten Sprosse der Familie Greenwood, Horace Jouett, hatte die Überzeugung gewonnen, daß eine so weitverzweigte und erhabene Familie ein Mitglied brauche, das durch seinen Charakter und seine Taten ihren Namen noch berühmter machte; ihr fehlte einfach ein schwarzes Schaf, von dessen dunkler Farbe sich der helle, unbefleckte Schild der Familienehre um so strahlender abheben konnte. Von dieser originellen Überlegung ausgehend, entschloß er sich, aufopferungsvoll die undankbare Rolle eines solchen schwarzen Schafes auf sich zu nehmen; um so mehr, als er in sich schon seit langem überraschende Anlagen für diese Aufgabe erkannt hatte. Das waren wenigstens die Beweggründe, mit denen Horace in vertraulichen Augenblicken seine Taten begründete. Als der brudermörderische Sezessionskrieg der Konföderierten gegen die Unionisten entbrannte und die Söhne des Südens voll Begeisterung die grauen Jacken anzogen, meinte Horace, nun sei der geeignete Augenblick zur Verwirklichung seines Planes gekommen. Unter Verzicht auf die Zeremonien eines offiziellen Abschieds verließ er, um eine Handvoll Familienschmuckstücke schwerer, heimlich Tennessee und einige Tage später das Territorium der Staaten. Beim Aussprechen des Namens »Abraham Lincoln« hatte seinen Vater immer fast ein Schlaganfall getroffen; wenn sich also Horace jetzt einer so wichtigen vaterländischen Pflicht entzog, bedeutete das automatisch, daß er enterbt war. 10
Der erste Punkt seines Programms war somit verhältnismäßig leicht und erfolgreich verwirklicht. An einem Kaffeehaustischchen in Mexiko City las er dann erregt die Kriegsberichte vor, wobei er mit Sympathiekundgebungen für die wackere Armee des Generals Lee nicht sparte. Dann legte er die Zeitung mit einem Seufzer weg, weil es ihm das Schicksal bisher nicht vergönnt habe, aktiv an dem großen Geschehen teilzunehmen. »Manchmal ist es besser, für das Vaterland zu leben als zu sterben« – nur eine solche Sentenz war imstande, dieses patriotische südliche Herz zu trösten. Nach dem Kriege lockte ihn der Bau der Union Pacific Railroad. Das waren Zeiten! Myriaden von Greenhorns, die sich bereitwillig in jeder der 1440 Minuten des astronomischen Tages scheren ließen! Schießduelle gab es zu Dutzenden und aber Dutzenden! Bei der Erinnerung an diese bewegten Wochen, die in Pulverdampf gehüllt waren, kitzelte die Nüstern unseres Freundes Horace noch jetzt der scharfe Geruch von Schießpulver. Das durch seine Finger rinnende Gold war oft mit Blut bespritzt, das von seiner Hand vergossen worden war. Damals genügte wenig, daß ein Mann seine Pistole zog. Bald genoß Horace in den Spielerzelten entlang der ganzen Bahnstrecke den Ruf eines Totschlägers. Alles verstummte, wenn er den Saal betrat. Eine derartige Popularität erfreute ihn jedoch nicht besonders, weil sie auch die Aufmerksamkeit einiger scharfer Marschälle auf ihn lenkte; mit der
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Polizei aber wollte Horace nichts zu tun haben, auch wenn sie manchmal schlechter schoß als er. Deshalb verließ er noch vor der Verbindung der beiden Streckenabschnitte in Utah diese gefährlichen Gegenden und schlug sein Zelt an Bord der weißen Mississippidampfer auf. Diese neue Umgebung gewann er schon deshalb lieb, weil sie seiner Heimat so nahe war, an die ihn immer noch ein Band sentimentaler Erinnerungen fesselte. Die eleganten Männer, die schönen Frauen, die lauen Abende am Mississippi, wenn sich über den trägen Strom ein sehnsuchtsvolles Negerlied erhob, während sich das Stampfen der wirbelnden Schaufelräder mit dem Klimpern eines Banjos vermischte – was für eine wunderbare Medizin war das für die vom trockenen Knacken der Colts und der Büffelgewehre sowie vom Gekreische der Cheyenne-Indianer angegriffenen Nerven! Während seiner Flußreise befand er sich mehr als einmal in unmittelbarer Nähe seiner Heimatlandschaft, doch Zeit und Barttracht hatten sein Gesicht so verändert, daß er nicht erkannt werden konnte. Die Mississippi-Idylle dauerte so lange, bis er in Memphis einem Spieler begegnete, der ein völlig unnötiges Interesse an der Arbeit seiner Finger bezeugte. Die Kugel, die bald darauf im Kopf jenes Neugierigen steckte, entsprach genau dem Kaliber von Horaces Pistole. Das war freilich ein bedauernswertes Mißgeschick, um so mehr, da es der aristokratische Geist der Greenwoods aus Tennessee Horace nicht erlaubte, sich in den 12
Augen eines ungebildeten Sheriffs durch eine Erklärung dieses Mißgeschicks zu erniedrigen. Der Boden am Fluß begann ihm also unter den Füßen zu brennen, und er verschwand wie ein Geist. Erst einige Jahre später tauchte er in New York auf, in der Halle des Hotels Astor, umgeben von Gepäckstücken und Trägern, und sparte nicht mit Trinkgeldern und fürstlichen Manieren. Er hatte auch nichts gegen die Gerüchte einzuwenden, die behaupteten, er sei als Goldgräber in Kalifornien auf eine reiche Goldader gestoßen. Was freilich den Goldgräber betrifft, so mußte jeder, der auch nur einen Blick auf seine Hände warf, derartiges Gerede für einen guten Witz halten. Bisher hatte er mit dem Spiel seinen Lebensunterhalt gefristet, jetzt aber wollte er zu seinem Vergnügen spielen. Die Karten waren ihm zu alltäglich geworden, und deshalb spielte er an der Börse und spekulierte mit Eisenbahnaktien. Mister Jay Gould hielt sich zwar schon damals etwas abseits der Börse, doch leistete er sich ab und zu vermittels seiner Leute ein schönes Stückchen auf Kosten der Wall Street. Durch sein Zutun bemerkte Horace eines Tages, daß er sich in großer Verlegenheit befinden würde, wenn ihm die Hoteldirektion plötzlich die Rechnung präsentierte, und sei es auch nur für das verbrauchte Warmwasser. Aber er verlor nicht den Kopf. Dank seinem großartigen Auftreten hatte er sich auch unter den Unberührbaren genug Freunde erworben. Sie öffneten ihm bereitwillig die Türen der ehrenwertesten Clubs, wo einem 13
von der Flut weißer Westen die Augen übergingen. Eine Woche später steckte er das Doppelte jenes Betrages in die Tasche, den er an der Börse verspielt hatte. Dieses Geld hatte er von Mister Gould bei einer angenehmen Poker-Partie gewonnen. Nun war er wieder ein reicher Mann und abonnierte eine Loge im Metropolitan House. Obwohl er eine instinktive Abneigung gegen das Roulett hatte, das es ihm unmöglich machte, die wunderbare Fähigkeit seiner Finger zur Geltung zu bringen, setzte er dennoch eines Abends, weil ihn dazu eine Frau aufforderte, deren entblößte Schultern seine Sinne verwirrten. Als er schließlich den Spielsalon verließ, mußte er sich etwas borgen, um ein Trinkgeld geben zu können. Am nächsten Tag fälschte er eine Unterschrift auf einem Scheck, und sonderbarerweise ausgesprochen schlecht. Als die Detektive an seine Tür pochten, entfloh er über die Feuerleiter. So kehrte er in den guten alten Westen zurück, wo es keine Börse gab und keine uniformierte Polizei, wo er sich in seinem schwarzen Frack inmitten der rauhen Grenzer weit würdiger vorkam als in den Clubs der Fifth Avenue. Wieder führte er das angenehme, erregende Leben wie zu den Zeiten des Baues der Union Pacific Railroad. Er wanderte von Stadt zu Stadt, gewann oder verlor, wenn er einem scharfen Pistolenschützen begegnete, schoß und nahm Deckung vor Schüssen. Als er bereits eine zu populäre Persönlichkeit des Mittleren Westens geworden 14
war und die Zahl jener Männer allzusehr wuchs, die ihn nur zu gern, und sei es auch von hinten, aufs Korn genommen hätten, entschloß er sich, dem Südwesten einen Besuch abzustatten, der bisher noch nicht die Ehre gehabt hatte, sein aristokratisches Antlitz kennenzulernen. Um jedoch eine so weite Reise bequem zurücklegen zu können, warf er noch einen Blick nach Saint Louis, in das Paradies der Falschspieler. Dorthin kamen die Magnaten unter den Viehzüchtern und die gutbezahlten Bisonjäger, um im Luxus der städtischen Zivilisation den Staub der Prärie, das Brüllen der Rinder und das Stampfen der Büffelherden zu vergessen. Diese Leute ließen sich bei einer flotten Partie Poker oder Pharo ganz bereitwillig schröpfen. Freilich, alles hat seine Kehrseite. Der Arm des Gesetzes war in Saint Louis bereits recht stark, und die Polizei gönnte es den schwarzgekleideten Männern nicht, sich hier länger aufzuhalten. Es ist eigenartig, daß Horace in all den Jahren, die er im Grenzgebiet verbracht hatte, nie mit dem jungen Masterson zusammengetroffen war. Er hatte nur phantastische Dinge über ihn gehört. Nun, da er keinen Zweifel mehr daran gehegt hatte, sich für die nächsten Wochen eine ganz anständige Existenz gesichert zu haben, bewirkte dieser berühmte Mann der Hochebene, daß er, Horace Jouett Greenwood, wieder mit nur wenigen Dollars in der Tasche dastand, die kaum zur Bezahlung der Hotelrechnung reichten. 15
Mochte das Verbrechen auch manchen dunklen Schatten auf seine Lebensbahn geworfen haben, in gewisser Hinsicht blieb Horace unter allen Umständen ein Gentleman. Dem schwachen Geschlecht gegenüber betrug er sich immer als vollendeter Kavalier. Was sein Äußeres und sein Benehmen anlangte, konnte selbst der eleganteste Stutzer an ihm nicht das geringste aussetzen. Nie vergaß er auch seine Herkunft aus dem Süden. In Dodge City hielt er sich nur kurze Zeit auf, weil er hier in Shermans Tanzsaal bei einem großzügigen Gefecht zwischen den Spielern und der Besatzung des Forts einen YankeeSoldaten getötet hatte. Er besaß ein kleines und etwas kindisches Steckenpferd. Die in der Praxis so oft, wenn auch nicht sichtbar angewandten Kartentricks waren keineswegs das einzige, was seine geschickten Finger vollbrachten. Nein, nicht selten erheiterte er selbst die langweiligste Gesellschaft durch ein gut zusammengestelltes Programm einiger auserlesener Proben der Salonzauberei. Die Requisiten des Kleinen Bosko verließen ihn nie, ja während seines New Yorker Aufenthalts legte er eher die Derringer ab als das Zauberei oder die Scherzzigarre mit der Explosivfüllung. Horace überlegte im Gehen gerade voll verdrossener Ironie, daß jetzt selbst der wirksamste Trick nicht imstande wäre, das Geld in seine Tasche zu zaubern, das er vor wenigen Augenblicken verloren hatte, als er – er befand sich eben an der Stirnseite eines 16
Vergnügungsetablissements – das große Bild eines Mädchens erblickte, dessen Reize einen ganz erfolgreichen Kampf mit dem Mieder ihrer sehr knappen Toilette führten. Darunter verkündeten Buchstaben in unbescheidener Größe, der Liebling von Paris, Mademoiselle Melitta Rosé, auch die »Nachtigall der Champs-Elysées« genannt, habe Wurlitzers Theater mit ihrem Besuch beehrt und singe hier jeden Abend einige Lieder, die, ebenso wie sie selbst, zu einer Sensation für Saint Louis geworden seien. Am Klavier begleite sie der beliebte und populäre Eddie Kuhn. Horace pfiff überrascht durch die Zähne. »Die französische Lola!« brummte er vor sich hin. »Das Mädchen hat ja immer gesagt, daß es Karriere machen wird!« Er blickte noch eine Weile versonnen auf Melittas anspruchsvolle Reize, als hänge er angenehmen Erinnerungen nach, da zuckte ihm plötzlich ein Einfall durch den Kopf. Wenige Minuten später konnte man ihn bereits mit energischen Schritten einem festen Ziel zustreben sehen. In seinem Gesicht stand ein Ausdruck von Zufriedenheit und in seinem Notizbuch die Adresse von Mademoiselle Rose. Man braucht gewiß nicht zu betonen, daß Mademoiselle Melitta Rosé mit Paris etwa soviel zu tun hatte wie ein Wiener Schnitzel, das von einem chinesischen Koch auf Neufundland zubereitet wird, mit Wien. In Wirklichkeit hieß sie Nelly Wheeler und war mit 15 Jahren ihren Eltern, reinblütigen Yankees, mit einem Schauspieler aus einer Komödiantengruppe durchgebrannt, dessen 17
Mutter eine Französin war. Als sie ihr Liebhaber bald darauf verließ, beherrschte sie bereits einige französische Brocken, und in ihrer Muttersprache hatte sie sich sogar etwas angewöhnt, was sie als »französischen Akzent« bezeichnete. Horace hatte sie in der Medicine Bow kennengelernt, wo er sie von der Zudringlichkeit eines betrunkenen Iren befreite. Sie erwies sich ihrem galanten Beschützer dankbar, und keineswegs mit Geld. Damals nannte sie sich bereits »die französische Lola« und war außer ihrer Hauptbeschäftigung in einem zweifelhaften Etablissement Sängerin sentimentaler Lieder. Weil das Dekollete ihres Kostüms nicht nur gewagt, sondern verteufelt mutig war, bestanden die Vorzüge ihres Auftritts mehr in optischen als in akustischen Eindrücken. Wenn sie sang, schossen ihr die Männer sonderbarerweise nicht vor die Füße, was in ihr eine hohe Meinung von ihren stimmlichen Qualitäten hervorrief. Deshalb faßte sie den Entschluß, die erfolgreiche Laufbahn einer Künstlerin einzuschlagen. Seit seinem Weggang von der Union Pacific Railroad hatte Horace Fräulein Lola nicht mehr gesehen; aber das Plakat von Wurlitzers »Theater« zeigte ihm, inwieweit sich ihre Sehnsüchte erfüllt hatten. Durch geschickte Fragen an der Pförtnerloge erfuhr er, daß es seiner alten Freundin gelungen sei, sich einen einflußreichen Mann von der SüdwestEisenbahngesellschaft zu angeln, der angeblich
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nicht mit Geld spare, um sich ihre Gunst zu erhalten. In Horace festigte sich daher die Absicht, sie aufzusuchen und sie auf delikate Weise um eine kleine Anleihe zu bitten. Vielleicht würde er mit ihr in Erinnerung an alte Zeiten ein Schäferstündchen verbringen, ohne mit seinem in die Vergangenheit gewandten Blick die über die Stuhllehne geworfenen Kleidungsstücke – Kaiserrock, Weste und Hose – zu beachten. Zu seiner Befriedigung stellte er fest, daß NellyLola-Melitta in einer erstklassigen Pension wohnte. Eben wollte er an ihre Tür klopfen, als von drinnen ein durchdringender Alt ertönte, der ab und zu in einen hysterischen Diskant überschlug. Die Tür flog auf, und wie eine Kanonenkugel schoß ein schwarzes Mädchen in der Kleidung einer Kammerzofe heraus; zugleich zischte ein mit einer Feder geschmückter Hausschuh durch die Luft und schlug Horace den Zylinder vom Kopf. ›Ausgezeichnet, Lola ist zu Hause‹, dachte er, während er mit dem Ärmel den Staub vom Zylinder wischte. Dann ergriff er den Pantoffel; aber da er nicht wußte, ob dieser nicht der Gegenstand von Lolas Wut gewesen war, legte er ihn wieder weg. Mit wenigen Schritten durchquerte er den Vorraum und trat nach leichtem Klopfen ein. Zuerst erlitt seine Nase einen starken Schlag. Diesen versetzte ihr ein mit dem Geruch von geschmortem Speck und abgestandenem Bier zu einer erschrecklichen Duftessenz vermischtes 19
Parfüm, das selbst einen Elefanten umgeworfen hätte. Horace Jouett Greenwood hatte Jahre in dem zweifelhaften Milieu zweifelhafter Lokale zugebracht. Deshalb fiel ihm das Ordinäre dieses Bordell-Luxus nicht mehr auf, der für alle diese Spielhöllen, Salons und Tanzlokale typisch war. Wenn er jetzt beim Anblick dieser Flut von Lappen und Kinkerlitzchen erstarrte, so bedeutete das, daß er derartigen Orgien von Geschmacklosigkeit noch nicht begegnet war. Das entsetzte Auge suchte vergeblich ein kleines leeres Fleckchen, wo es sich von dem Schreck über diese Unmenge von Krimskrams erholen könnte. Jeder Fußbreit war mit Kissen, Gipsfiguren, Wandschirmen, Fotos, Stickereien, Taburetts, Deckchen und einer Kollektion der verschiedensten Gegenstände überladen, deren Zweckbestimmung man kaum erraten konnte. Auf der Klaviatur des Pianos, das mit einer Fülle von Überwürfen, Notenstapeln, Photos und Gipsbüsten geschickt drapiert war, stand ein Teller mit den Überresten einer fetten Speise und schmutzigem Besteck, wenig davon entfernt schüttete eine große Puderdose in Gestalt eines Schwans rosa Puder auf die schwarzen Tasten. Als sich Horace von diesem erschütternden Anblick einigermaßen erholt hatte, erblickte er inmitten des Zimmers einen Berg aus rotem Plüsch, der offensichtlich als Diwan angesprochen werden wollte. Den Rücken dieses purpurfarbenen Ungeheuers bedeckte ein Haufen von 20
Brokatkissen, auf deren Gipfel eine rundliche Brünette thronte, die, übrigens völlig ungenügend, in einen hauchdünnen, mit Spitzen besetzten Peignoir gehüllt war. In einer Hand hielt sie mit einer gewissen Würde ein noch halbvolles Glas Bier, während sie die andere in die Eingeweide einer riesigen Bonbonniere bohrte. Horace hatte nicht erwartet, daß sie ihn erkennen würde. Seit ihrer letzten Begegnung waren ja in das Meer der Ewigkeit die Tropfen von elf langen Jahren geflossen. Deshalb verbeugte er sich graziös und sprudelte eine Flut von Entschuldigungen wegen des unangemeldeten Besuches hervor. Wie groß war jedoch sein Erstaunen, als das Mädchen das Bierglas auf den Fußboden stellte, den Bonbon hinunterschluckte und sich ihm stürmisch in die Arme warf. Sie umfingen einander und empfanden eine leichte, keineswegs vorgetäuschte Rührung. Es waren zu viele Jahre vergangen, als daß die Erinnerung an die früheren Zeiten, die durch ihre Gesichter lebendig wurden, nicht ihre verkrusteten Herzen hätte erbeben lassen. Das Bierglas wurde von dem in einem rosa Pantoffel (dessen Zwillingsbruder vor einer Weile den Zylinder des Spielers bombardiert hatte) steckenden Fuß unauffällig fortgestoßen und verschwand unter dem Piano, worauf Lola auf dem Diwan eine malerische Pose einnahm, während es sich Horace in ihrer nächsten Nähe gemütlich machte, indem er sich auf ein weiches Taburett sinken ließ.
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Als die Kammerzofe, nachdem sie den unappetitlichen Teller von der Klaviatur entfernt hatte, mit einer kleinen Erfrischung antänzelte, konnte der Star von Wurlitzers »Theater« nicht mehr an sich halten und überschüttete Greenwood förmlich in einem Atem mit der blendenden Geschichte ihres Erfolgs. Aus ihrer Erzählung konnte man den Eindruck gewinnen, daß die verehrtesten Vedetten der Metropolitan-Oper vor Neid erblaßten, wenn sie auch nur den Namen Melitta Rosé hörten. Schließlich beendete sie diese großartige autobiographische Darstellung mit dem optimistischen Bild einer vielversprechenden Zukunft, die ihr dank einem Vertrag mit der führenden Music-Hall von New Orleans winkte. Erst danach hielt sie es für passend, Horace nach seinen Schicksalen und seinem augenblicklichen Beruf zu fragen. Was die zweite Frage anlangte, war sie sofort jedes Zweifels enthoben, denn Horace zog eben ein Taschentuch heraus, um sich die Lippen zu trocknen, und da fiel aus dessen Falten ein Pique-As, so daß sein Mund keine klarere Antwort hätte geben können. Beide lachten herzlich darüber. Dann erkundigte sich Lola bei Horace, wie ihm die Wohnungseinrichtung gefalle. Er antwortete diplomatisch, sie habe sicherlich viel Geld gekostet. Im übrigen ließ sie ihn kaum zu Worte kommen. Alles habe sie selbst ausgewählt, vom Piano bis zum letzten Nagel in der Wand.
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Horace versicherte ihr bereitwillig, daran habe er keinen Augenblick gezweifelt. »Aber warte, du kennst ja Grat noch nicht! Natürlich, das alles hat Grat bezahlt!« rief sie und lachte durchtrieben. Und schon sprang sie auf und kam mit einer prunkvoll gerahmten Photographie zurück. »Grattan Maurice Bennett!« stellte sie den Porträtierten mit scherzhafter Förmlichkeit vor. Horace erblickte einen seriösen Herrn mit einer Unmenge von Freimaurerabzeichen auf dem Rockaufschlag. Dieser Herr machte ein Gesicht wie ein Sklavenhalter, der in der Hochsaison der Baumwollernte auf seiner Plantage einen in die Lektüre von »Onkel Toms Hütte« vertieften Neger ertappt hat. Von seinem energischen Kinn ragte eine schwarze Schachtel vor; erst bei näherem Hinsehen erkannte man, daß es in Wirklichkeit ein bewundernswerter, sorgfältig geschnittener Vollbart war. »Er sieht nicht schlecht aus«, brummte Horace, der sich keine Mühe gab, etwas Schmeichelhafteres zu sagen. »Er liebt mich wahnsinnig«, versicherte ihm Lola. »Und er ist nicht knickrig! Selbst der Rahmen für dieses Photo ist aus vierzehnkarätigem Gold!« Das prägte sich Horace gut ein. »Und wie eifersüchtig er ist! Wenn er dich hier anträfe, würde er alles kurz und klein schlagen!« Horace dachte bei sich, dazu bedürfe es keines Anfalls von Eifersucht. Trotzdem fragte er lieber,
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ob es völlig ausgeschlossen sei, daß Mister Bennett jetzt zu Besuch käme. Die »Pariser Nachtigall« beruhigte ihn. Die Kammerzofe hatte sich inzwischen diskret entfernt, und Horace machte Mademoiselle Melitta den Vorschlag, er werde sich zu ihr auf den Diwan setzen, damit sie sich besser unterhalten könnten. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden und machte mit gewandter Bewegung das Tal zwischen ihren Brüsten, die durch ein Mieder geschnürt waren, noch verführerischer. Dann sagte sie zärtlich: »Mon cher« und strich ihm übers Haar. Er aber meinte prosaisch, sie brauche sich nicht mit französischen Brocken zu echauffieren; er wisse doch gut, daß sie sowenig eine Französin sei wie er ein Araber. Das sagte er allerliebst, und deshalb fühlte sie sich auch keineswegs gekränkt. Dann begannen sie, miteinander Erinnerungen an die alten Zeiten auszutauschen. »Noch jetzt schlägt mir das Herz wie bei einem erschreckten Vögelchen, wenn ich an den widerlichen Trunkenbold denke, dem du eine so rasante Lektion erteilt hast!« flüsterte sie versonnen. Horace hatte eben begonnen, sich mit ihrem Korsett zu beschäftigen, um festzustellen, ob ihr Herz wirklich so schlage wie bei einem erschreckten Vögelchen, als im Vorraum die Klingel schrillte und kurz darauf ein satter und durch die Antworten des Negermädchens erboster Baß ertönte. 24
Lola sprang, wie von einer Feder geschnellt, vom Diwan. »Das ist Grat!« zischte sie. »Wenn er dich hier sieht, schlage ich aus ihm keinen Cent mehr heraus!« Für diesen Grund hatte Horace tiefes Verständnis. In größter Hast raffte er Stock, Zylinder und Handschuhe zusammen und folgte mit einem Sprung Lola, die ihn zu einem großen Schrank zerrte. Gleich darauf befand er sich in dem nach Lavendel duftenden Dunkel, leicht gestreichelt von raschelnden Stoffen. ›Wie in einer französischen Farce‹, dachte er, ›hoffentlich dauert es nicht zu lange!‹ Der Schlüssel knarrte in dem Augenblick, als Lolas Finanzmann die Tür zum Boudoir öffnete. Horace stellte sich vor, wie dieser Mann, durch die Verlegenheit der Kammerzofe zur Vorsicht gemahnt, argwöhnische Blicke um sich warf, ohne jedoch etwas entdecken zu können. Er bemerkte auch, daß der Krösus nicht allein gekommen war, denn an sein Ohr drang noch eine näselnde Männerstimme. Das Verhältnis Mister Bennetts zu Lola war entschieden nicht sklavisch. Der Ton, mit dem er die Sängerin ansprach, verriet weit eher, wie sehr er sich dessen bewußt war, daß er in sie viel Geld investiert hatte. Er betrachtete sie gewissermaßen als sein Eigentum, als einen Luxusgegenstand, mit dem man nach Belieben verfahren kann. Die Federn des Fauteuils krachten unter der Last seines Körpers. Zuerst machte er Lola auf eine neue Sendung französischen Parfüms 25
aufmerksam, die bei Mazanovič eingetroffen sei. Jetzt sei die günstigste Zeit, sie anzusehen. Dabei war das Rascheln von Banknoten zu hören und das Schmatzen eines Dankkusses. Übrigens, fuhr er fort, warum sollte er es ihr nicht direkt sagen, er wolle hier mit Mister Harrison – sicherlich meinte er damit seinen näselnden Begleiter – ungestört sein; er habe mit ihm eine vertrauliche geschäftliche Angelegenheit zu besprechen und halte Lolas Boudoir für besonders geeignet zur Erledigung einer so höchst privaten Angelegenheit. Die trockene kommerzielle Unterhaltung würde sie gewiß langweilen, daran zweifle er keinen Augenblick. Außerdem lohnten auch die zauberhaften Hüte mit den schwarzen Straußenfedern in der Long Street einer Betrachtung. Wieder ein Rascheln von Banknoten, wieder ein schmatzender Kuß. Kurz und gut, sie solle nicht vor einer Stunde zurückkommen. Die Kammerzofe könne sie auch mitnehmen, – sie würden sich schon allein bedienen. Alle diese Wünsche wurden in einem ungemein kategorischen Ton vorgetragen, und Lola erhob keine Einwände. Da erinnerte sich Horace an ihr Neglige und befürchtete, sie müsse den Schrank öffnen, um ein Kleid herauszuholen, das doch zu diesem erzwungenen Spaziergang unerläßlich war. Lola wußte jedoch Rat und zog sich Sachen an, die sich offensichtlich außerhalb des gefährlichen Bereichs des Kleiderschranks befanden.
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In Bennetts Worte tönte ab und zu eine dumpfe Fanfare: Mister Harrison schnaubte sich geräuschvoll die Nase. Als der Finanzmann endlich seine in befehlendem Tone ausgesprochenen Vorschläge beendet hatte, ließ sich auch die näselnde Stimme seines Begleiters vernehmen: »Fräunein Nona hat es hier niednich, das näßt sich nicht neugnen.« Mister Bennett begann sich lebhaft dafür zu interessieren, wo man sich jetzt, mitten im Sommer, einen solchen Schnupfen holen könne, worauf Mister Harrison erwiderte: »Neider weiß ich das nicht.« Nach wenigen Augenblicken, wie sie für die Toilette einer Dame erforderlich sind, das heißt, nach etwa einer Dreiviertelstunde, rauschte Lola ab, wobei sie ihren Beschützer noch auf die Glatze küßte, nachdem sie ihn zuvor mit zahlreichen gesprochenen und wahrscheinlich auch greifbaren Liebkosungen bedacht hatte. Horace konnte einer so abgefeimten Kunst der Verstellung seine Anerkennung nicht versagen. Im übrigen aber begann sich seine Laune merklich zu verschlechtern, denn es sah aus, als solle er noch mehrere Stunden in diesem Schrank zubringen. Ihm war furchtbar heiß, und von den Düften der schweren Parfüms tat ihm der Kopf weh. Doch da begann Mister Bennett so interessante Dinge zu erzählen, daß die Ohren unseres Freundes Horace mit einem Schlage mehrere Zentimeter länger wurden und alle Müdigkeit wie weggeblasen war. 27
Der Finanzmann versicherte Mister Harrison zunächst, er habe ihn als den erfahrensten, gewandtesten und vor allem vertrauenswürdigsten seiner Agenten für diese Aufgabe ausersehen. Sie arbeiteten ja schon eine Reihe von Jahren zusammen, und man könne sagen: zu beiderseitiger Zufriedenheit. Die eine Seite führe alle Aufträge einwandfrei aus, die andere gewähre beachtliche Provisionen. Diesmal freilich handle es sich um das größte Geschäft, das sich ihnen bisher geboten habe. Nun, zur Sache! Mister Bennett holte tief Luft und begann: »Die letzte Station der Südwestbahn ist vorläufig Powderville. Die Prosperität dieser so lebensvollen Stadt ist vor allem durch den Viehtriftweg bedingt, der in Powderville endet. Die Cowboys treiben Hunderttausende Stück Vieh dorthin und verkaufen sie in der Stadt, von wo sie dann per Bahn in den Osten wandern. Einen beträchtlichen Teil der erzielten Einnahmen lassen sie freilich in den Taschen der Einwohner von Powderville. Südwestlich von Powderville, etwa in gleicher Entfernung von dem Viehtriftweg, liegen zwei unbedeutende Orte: Yellow Creek und Cowtown. Etwa vor einem Monat hat sich die Gesellschaft entschlossen, die Bahn bis Yellow Creek zu verlängern. Alle lokalen Zeitungen sind seither voll von Geschwätz über den unverhofften Aufschwung dieses Nestes. Aber inzwischen hat sich die Situation grundlegend geändert. Die Eisenbahn wird nicht nach Yellow Creek, sondern nach Cowtown geführt. Wer das so geändert hat, 28
braucht Sie nicht zu interessieren. Die Hauptsache ist, daß von der Aufgabe des ursprünglichen Planes bisher nur zwei oder drei Männer vom Vorstand der Gesellschaft etwas wissen. Sonst hat noch niemand eine Ahnung von dem künftigen Gesicht Cowtowns, das innerhalb eines halben Jahres die belebteste Stadt des Südwestens sein wird. Dorthin wird sich nämlich der ganze Viehhandel verlagern; denn wer wird seine Herde bis Powderville treiben, wenn er sie schon in Cowtown verkaufen kann? Die Gesellschaft wird zwar später die Eisenbahnlinie weiterführen, ihr aber einen scharfen Knick nach Norden geben, um so die ungangbaren Ausläufer der Purpurberge zu umgehen. Damit entfernt sich aber die Bahnlinie so weit von dem Weg der Cowboys, daß Cowtown seine Stellung als südwestlichster Viehmarkt weiterhin behält. Außerdem wird die Gesellschaft ihre Eisenbahnwerkstätten in Cowtown anlegen. Kurz und gut, aus diesem Nest wird das reinste Babylon, durch das ein Goldstrom fließt. Bisher weiß freilich niemand etwas davon. Am wenigsten die Einwohner von Cowtown.« Die Leute dort besäßen eine Unmenge Land, fuhr Mister Bennett fort, das heute keinen Wert habe. Sie ahnten nicht, daß sie eigentlich von nun an Besitzer einträglicher Parzellen seien. Kurz und gut: Mister Harrison solle nach Cowtown fahren und dort alles aufkaufen, was möglich sei. Für den Acker Boden solle er 2, 3, höchstens 4 Dollar zahlen, zuviel bieten dürfe er nicht, um nicht Verdacht zu erregen. Den Kauf könne er mit 29
irgendeinem Unsinn begründen, beispielsweise damit, daß er sich mit der Absicht trage, dort Melonenplantagen oder etwas Ähnliches anzulegen. Mister Bennett skizzierte den Plan der Stadt: »Hier wird der Bahnhof stehen, dort die Eisenbahnwerkstätten. Diese Straße hier, die freilich noch nicht gebaut ist, wird die Hauptstraße. Deshalb haben die Bauparzellen zu ihren Seiten den Wert von Goldklumpen. Ja, um diese Grundstücke handelt es sich vor allem«, schloß Bennett, um eindringlich fortzufahren: Was jedoch sehr wichtig sei, er, Grattan Maurice Bennett, als hoher Funktionär der Gesellschaft wisse nichts von dieser Spekulation, Mister Harrison kaufe alles für sich. Nun zur Geldfrage. Mister Harrison müsse alles bar bezahlen, denn es sei unerläßlich, daß er sich eines absoluten Vertrauens erfreue. Gewisse Umstände, die Mister Bennett jetzt nicht erläutern wolle, verhinderten jedoch, daß Mister Harrison den erforderlichen Betrag bereits jetzt aus seiner Hand erhalte. Er solle vielmehr noch heute mit dem Abendzug nach Kansas City fahren, wo ihn morgen im Schankraum von Sanders’ Hotel ein Mann erwarten werde, der ihm einen genauen Plan der Parzellen sowie 150 000 Dollar überbringe. Das müsse vorläufig genügen. Was diesen Mann in Kansas City anlange, so sei er auffällig rothaarig, und an der linken Hand fehle ihm der kleine Finger. Harrison müsse jedoch die Parole kennen, mit der er sich als Agent Bennetts legitimiere. 30
Diese Parole laute: »Geh nach Westen, junger Mann!« Mister Bennett behandelte noch etwa eine halbe Stunde lang mit Harrison einige Einzelheiten, die vor allem die Chiffrierung der Telegramme über das Ergebnis des Kaufes betrafen. Dabei wurde seine Stimme immer wieder von einem donnerartigen Niesen Harrisons unterbrochen, das die Möbel erzittern ließ und das Klavier zum Klingen brachte. Darauf verließen die beiden Lolas Wohnung in rosigster Laune, ohne freilich zu ahnen, daß es noch einen dritten Menschen gab, dessen seelische Lage von nicht geringerem Optimismus gekennzeichnet war. Schon lange vor dem Weggang der beiden Herren war nämlich in Horaces Kopf der Plan gereift, der alle Früchte der Bemühungen des Finanzmannes in seinen Schoß schütteln sollte. Im gleichen Augenblick, in dem das Aufsichtsratsmitglied der Eisenbahn dem Mister Harrison den Verlauf der ganzen Aktion erläuterte, sagte sich der Spieler, es wäre nicht schlecht, Mister Bennett einige der besten Grundstücke vor der Nase wegzuschnappen, doch brauchte man dazu etwas Geld. Aber woher nehmen? Plötzlich explodierte ein großartiger Gedanke in seinem Hirn wie ein bengalisches Feuerwerk. Geh nach Westen, junger Mann! Er kannte ja die Parole! Er besaß den Schlüssel zu dem lebenden Tresor, der mit 150 000 Dollar gefüllt war! Er brauchte Harrison nur um wenige Augenblicke zuvorzukommen, und diese 150 000 Dollar 31
würden sich in seiner Tasche befinden. Freilich würde er sich damit Bennetts Leute auf den Hals hetzen. Es blieb also nichts übrig, als Harrison und den Rothaarigen bei Sanders zum Schweigen zu bringen. Ja, man mußte sie um jeden Preis zum Schweigen bringen, selbst wenn Blut floß. Verdammt, dieser Versuch lohnte das! Das Leben gab ihm eine Chance, wie sie nie wiederkehren würde. Nur ein wenig Mut, und er war Herr einer betriebsamen Stadt, die von Stunde zu Stunde in einem Tempo wuchs, wie es nur der geliebte Westen kannte. Es war doch zum Verrücktwerden, hier in diesem Schrank zu hocken, während die kostbaren Minuten verrannen. Nur die eisige Kaltblütigkeit, mit der ihn sein gefährlicher Beruf begabt hatte, dämpfte das Pochen seines erregten Herzens. Kaum aber waren die Schritte der beiden Männer im Treppenhaus verhallt, zerschlug er mit einem mächtigen Schlag seiner Schulter die Angeln des Schrankes. Da erinnerte er sich, daß er keinen Cent besaß. Ohne sich mit kleinlichen Überlegungen über die Moral seiner Absichten aufzuhalten, blickte er sich um. Sein Blick blieb an Bennetts Photographie mit dem Rahmen aus vierzehnkarätigem Gold hängen. Er unterzog ihn einer genaueren Untersuchung und stellte fest, daß entweder Mister Bennett Lola angeführt oder Lola ihrer Phantasie zu sehr hatte die Zügel schießen lassen. Er stürzte also zum Toilettentischchen. Das Rosenholz krachte, die kleinen Schlösser gaben nach. Er mußte aber drei 32
Schubladen gewaltsam öffnen, bevor er zu der Überzeugung gelangte, daß ihm einzig und allein ein silbernes, mit Türkisen besetztes Brasselett eine angenehme Reise in das künftige Eldorado sicherte. Dann setzte er sich auf den Klavierschemel und kritzelte einige flüchtige Zeilen auf ein Blatt Papier, um das Werk seiner Verwüstung zu entschuldigen. Teure Lola! Unerwartete Umstände haben mich gezwungen. Dich ohne Abschied zu verlassen. Vielleicht vermißt Du eine Kleinigkeit. Die bewahre ich an meinem Herzen als liebes Andenken auf, das mich immer an Dein süßes Gesicht erinnern soll. Übrigens bin ich überzeugt, daß wir uns bald wiedersehen werden, und dann ersetze ich Dir alles, was heute meine Anwesenheit in eine gewisse Verwirrung versetzt hat. Dein Dich nie vergessender Horace Als er seinen Zylinder in dem unnachahmlichen weltmännischen Winkel aufsetzte, fiel ihm ein, daß er eigentlich keine Ahnung hatte, wie Mister Harrison aussah. Das störte ihn jedoch nur wenig. Aber als er sich zwei Stunden später auf dem Bahnhof durch die bunte Menge drängte, hoffte er bereits nicht mehr auf einen glücklichen Zufall, der ihm den näselnden Agenten Bennetts in den 33
Weg führen sollte. Seine Stimmung verschlechterte noch ein bieder dreinblickender Onkel vom Lande. Das Schicksal selbst führte den Absatz dieses Mannes und ließ ihn mit dem vollen Gewicht des massigen Körpers auf der glänzenden Spitze von Horaces Schuh landen. Das Gesicht des Spielers wurde rot vor Zorn, und sein Mund öffnete sich bereits, um ein verächtliches Schimpfwort auszustoßen, als sich der Mann vom Lande umdrehte und mit entschuldigendem Ton sagte: »Entschundigen Sie, es tut mir ehrnich neid!«
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Horace kann sich nicht beklagen Die untergehende Sonne übergoß gerade den Bahnsteig des Bahnhofes von Saint Louis mit Tomatensoße, als die Wände der Waggons von einem trockenen Knacken erzitterten. O nein, es handelte sich nicht um eine Schießerei! Es war nur das Krachen der zugeworfenen Waggontüren, denn der Zug sollte jeden Augenblick abfahren. Horace, schon mit einem Fuß auf dem Trittbrett, sog mit tiefen Zügen ganze Rauchschwaden aus den Eingeweiden einer teuren Zigarre, gustierte sich genießerisch an der Nikotinessenz und blies dann durch seine Nasenflügel eine Säule grauen Rauches aus. Auf seinem schmalen Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Er hatte aber auch allen Grund zu guter Laune. Dieser Grund saß bereits in Gestalt des gutmütigen Mannes vom Lande im Waggon und hieß Harrison. Als der Zugführer das Zeichen zur Abfahrt gab, warf der Spieler mit nonchalanter Geste den Rest der Zigarre weg; dessen Länge zeugte von dem großartigen Zustand seiner Geldbörse, der einen so verschwenderischen Umgang mit dieser Luxusware gestattete. Ohne Hast nahm er seinen Zylinder ab, tupfte sich mit einem Seidentüchlein die Stirn, setzte den Zylinder wieder auf, klopfte mit dem Goldknauf seines Stockes elegant gegen dessen Boden und sprang im selben Augenblick, da der Zug langsam anfuhr, auf die Plattform des Waggons.
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Schon wollte er in das Wageninnere treten, um seinen Mann zu bewachen, als hinter seinem Rücken ein klägliches Rufen zu vernehmen war, das sogar das Zischen der Lokomotive übertönte. Als er sich umblickte, sah er einen hageren Mann keuchend neben dem Trittbrett laufen. Dieser Mann, der schon ganz außer Atem war, schleppte einen riesigen Koffer mit, der seinen ausdauernden Spurt merklich behinderte. Greenwood, der diesem Wettlauf anfangs untätig zusah und tückischerweise so tat, als hindere ihn der Lärm des Zuges daran, die bittenden Zurufe des Armen zu verstehen, erbarmte sich seiner schließlich angesichts des verzweifelten Ausdrucks seiner vorgequollenen Augen. Er streckte seinen hilfreichen Arm aus, und der Mann nahm alle Kräfte zusammen und schleuderte sein Gepäckstück auf die Plattform. Greenwoods Einschreiten milderte zwar den Aufprall, vermochte jedoch nicht zu verhindern, daß bei dieser rauhen Landung die Kofferschlösser nachgaben, so daß der Deckel aufsprang und der Inhalt des Koffers auf den Fußboden rollte. Nun war es an Horace, Stielaugen zu machen. Zuerst rollte aus dem Koffer eine Kristallkugel heraus, unmittelbar gefolgt von einem gelblichen Menschenschädel, der lebhaft seinen mit Draht befestigten Unterkiefer auf- und zuklappte. Das Ungewöhnliche dieser Gegenstände unterstrich noch ein etwas verschmutzter Turban aus weißer Seide, ferner ein kurzer Säbel sowie einige andere Sachen und Sächelchen, die Horace sofort als die 36
üblichen Requisiten eines Zauberkünstlers erkannte. Indessen war der nun von seiner Last befreite hagere Mann auf die Plattform gesprungen. Er bückte sich, kroch eine Weile auf dem Fußboden herum und sammelte den verstreuten Krimskrams in den Koffer, schnellte dann aber plötzlich auf, ähnlich dem Teufel in einer Scherzschachtel, verbeugte sich tief vor dem Spieler und stellte sich ihm als Professor Dara Shikoh, Erforscher okkulter Erscheinungen und Yogi, vor, der eben im Begriff sei, eine Tournee durch den Wilden Westen zu unternehmen, um den materialistischen Grenzern zu zeigen, daß es viele Dinge zwischen Himmel und Erde gebe, von denen sie sich nichts träumen ließen. Ergriffen schüttelte er Horace die Rechte und dankte ihm für seine bereitwillige Hilfe. Die Ähnlichkeit seines Gesichtes mit dem unschädlichen Luzifer aus der Puppenspielerkiste verstärkten noch sein ebenholzschwarzer Spitzbart, der gewachste Schnurrbart sowie die Mähne blauschwarzer Haare. Als er jedoch vor Greenwood ein Panorama seiner bisherigen Erfolge auf dem Gebiete der schwarzen und der weißen Magie zu entfalten begann, deren Zeugen zumeist Kronprinzen, Gouverneure und Regierungspräsidenten gewesen seien, unterbrach ihn der Spieler unhöflich und trat in den Wagen, um sich zu vergewissern, ob sich inzwischen nicht mit Mister Harrison etwas ereignet habe. Entschieden durfte er ihn auch nicht eine Sekunde aus den Augen lassen, solange 37
er ihn nicht auf irgendeine wirksame Art an einem Zusammentreffen mit dem rotblonden Agenten in Mister Sanders’ Hotel verhindert hatte. Zu seiner Befriedigung fand er Harrison jedoch in großartigem Zustand vor, der nur durch die fast pausenlose Behandlung seiner feuchten Nase ein wenig getrübt wurde. Hinlänglich befriedigt, setzte sich Horace auf einen Platz, von dem aus er jede Bewegung von Bennetts Mann beobachten konnte. Erst dann blickte er sich nach den übrigen Mitreisenden um. Da hoben sich seine Augenbrauen leicht. Am gegenüberliegenden Fenster saßen einige Männer, die eifrig in Fächer von je fünf Karten blinzelten. ›Oh‹, dachte Horace bei sich, ›Fortuna ist heute groß in Form!‹ Ja, wenn er jemals beim Kartenspiel mehr Geld als bisher gewinnen konnte, dann war dieser Augenblick eben gekommen. Zwei der Spieler waren Horace nämlich bekannt, und er vermochte in Sekundenschnelle die Summe abzuschätzen, die man mit Leichtigkeit aus den beiden herauspressen konnte. Der eine, ein Herr mit grauen Schläfen und breiter Brille, glich zu sehr einem liebenswürdigen Reverenden, als daß er es wirklich gewesen wäre. Hinter seinem lammfrommen Aussehen verbarg sich einer der durchtriebensten Wölfe der KansasRailroads, der »Schwellenkönig« Mister Randolf Lowry Thunsdall. Noch mehr interessierte Horace freilich der zweite der Kartenspieler, weil er für ihn den 38
Idealtyp des Dummen verkörperte, dessen Taschen man leeren konnte. Ja, Ike Schiffkarten, ein gefürchteter Viehkönig, huldigte leidenschaftlich dem Pokerspiel, obwohl diese unselige Vorliebe chronisch seine Geldbörse leerte, die übrigens unerschöpflich zu sein schien. Der Ästhet in der Seele von Horace entschloß sich, diesen Mann mitleidlos zu scheren, denn sein Anblick bereitete einem die Schönheit liebenden Auge schier unerträgliche Qualen. Schon das Gesicht in der Farbe eines blutigen Beefsteaks und mit dem Ausdruck eines zurückgebliebenen Alligators verrieten hinlänglich Schiffkartens Beruf. Und dazu noch diese unmögliche Kleidung! Diese massive Kette, nur wenig dünner als eine Ankerkette, die auf seinem von einer buntgeblümten Weste umspannten Bauch klirrte, und dieser prunkvolle gelbliche Stetson! Mit Abscheu wendet sich der Blick von einem solch beispielhaften Ausbund von Dummheit und Roheit ab. Sein Äußeres mußte jedoch, so abstoßend es auch war, die Aufmerksamkeit des Betrachters durch eine wahrhaft bemerkenswerte Tatsache auf sich ziehen. Mister Schiffkarten fehlte nämlich ein Auge, das – wie es in solchen Fällen üblich ist – durch ein weit dauerhafteres Glasauge ersetzt worden war. Ein so landläufiges Material hätte jedoch das finanzielle Potential eines der reichsten Männer von Kansas nur schlecht repräsentiert. Deshalb hatte Ike in sein Glasauge einen kostbaren Saphir einsetzen lassen, der durch 39
seinen unheilverkündenden Glanz die gewöhnlichen Sterblichen an seinen krösushaften Reichtum gemahnen sollte. Dieser Edelstein war auch die Ursache dafür, warum der genannte Viehkönig im Munde der Westler nur als »SaphirIke« lebte. Die übrigen beiden Spieler schienen nicht annähernd so interessant zu sein, wenn Greenwood sie auch nach dem heutigen Debakel mit Masterson einer sehr eingehenden Betrachtung unterzog. Beide gaben durch Einzelheiten ihres Äußeren deutlich zu verstehen, daß sie sehr wohlhabend waren. An der Uhrkette des einen von ihnen hüpfte ein goldener Ohrlöffel, während die Finger des andern fast unter einer Kollektion funkelnder Ringe verschwanden. Horace betrachtete eine Weile die Karten in ihren Händen. Dann holte er seinen Koffer aus dem Gepäcknetz, öffnete ihn und schlug eine Schicht Wäsche zurück. Sorgfältig geordnet lagen hier Kartenspiele der verschiedensten Art und des unterschiedlichsten Alters. Jedem Spiel war bereits eine Figur beigemischt, die ihn – unter gewissen Umständen – für einige Zeit von unwürdigen Existenzsorgen befreien konnte. Er wählte eines dieser Spiele aus, schob es in eine in seinem Ärmel unmittelbar neben dem Derringer angebrachte Tasche und wartete auf einen günstigen Augenblick. Übrigens dauerte das gar nicht lange. Der Mann mit der Kollektion von Ringen gab das Spiel auf,
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ohne dabei einen übermäßig zufriedenen Eindruck zu machen. Da erhob sich Horace, trat zu den Kartenspielern und fragte mit gewählten Worten, ob er sich einem so interessanten Spiel anschließen dürfe. Keiner erhob Einspruch, aber es zeigte auch keiner übermäßige Begeisterung, doch das war ihm schließlich einerlei. Während ihn Schiffkarten mit seinem Krokodiläuglein unfreundlich anblickte, schlossen sich die wasserhellen Augen von Mister Lowry Thunsdall und maßen aufmerksam seine schwarzgekleidete Gestalt. ›Wenn er mich von irgendwoher kennt‹, dachte Greenwood erschrocken, ›dann würde ich aus diesen Dickwänsten schwerlich etwas herauspressen.‹ »Sie spielen oft Karten, nicht wahr?« fragte der Schwellenkönig in seiner freundlichen, priesterlichen Art. ›Schon ist es da!‹ sagte Horace zu sich, setzte jedoch die Maske imposantester Würde auf und erwiderte: »Karten spiele ich oft, gut und ehrlich!« »Das wird sich zeigen«, grunzte Saphir-Ike und verzog sein Gesicht zu einer teuflischen Fratze. Horace mußte an sich halten, um bei dieser dreisten Bemerkung nicht vor Zorn zu erröten. Er nahm sich vor, das Spiel nicht zu beenden, bevor er dem Viehzüchter nicht die Haut über die Ohren gezogen hatte. Glücklicherweise gab Mister Thunsdall keinen weiteren Laut von sich. 41
Die erste Partie begann also. Greenwood verfolgte taktisch einen vorher wohl durchdachten Plan. Zuerst gewann er eine kleine Summe, dann setzte er, als wäre ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen, prahlerisch hohe Beträge und stürzte sich mit schulmäßigen Bluffs in ein immer schwärzeres Verderben. Kurz, er spielte mit Genuß die Rolle eines Greenhorns, der glaubt, er müsse gewinnen, wenn er Poker wie ein gewöhnliches Hasardspiel betreibt. Da kam der Schaffner und machte den Versuch, gegen das Kartenspielen zu protestieren, aber ein gutes Trinkgeld stopfte ihm nicht nur den Mund, sondern machte ihn darüber hinaus zu einem begeisterten Kiebitz. Auch Professor Dara Shikoh verfolgte das Spiel und zwirbelte bei besonders bewegten Situationen wütend seinen pechschwarzen Magier-Schnurrbart. Bald ergaben sich im Waggon noch mehrere Partien, aber bei keiner wurde der Poker so hoch gespielt, und keine weckte so starkes Interesse. Bei einem spürbareren Mißerfolg Greenwoods begann Schiffkarten boshaft zu witzeln: Man könne zwar glauben, daß Mister Hudson (so hatte sich Horace vorgestellt) Poker ehrlich spiele, doch spiele er ihn entschieden nicht gut. Wenn er aber oft spiele, sei das für ihn ein großer Schaden, denn eine so teuer totgeschlagene Zeit könne er viel nutzbringender, beispielsweise mit dem Schnitzen eines Puppentheaters, verbringen. Der dumme Schweinezüchter ahnte nicht, daß er mit bloßen Füßen eine Natter reizte. 42
Seine Worte regten Horace wirklich an, mit gewinnbringender Arbeit zu beginnen. Zufällig blickte er zu Mister Lowry Thunsdall hin und bemerkte, daß sich in seinen dicken Brillengläsern – zwar verkleinert, aber deutlich – zwei von den fünf Karten spiegelten, die dieser kräftige Mann in der Hand hielt. Wieviel besser wäre es doch, wenn dieser Spiegel alle fünf Teufelsbilder einfinge! Deshalb machte Horace Mister Thunsdall darauf aufmerksam, er solle sein Blatt mehr zu sich kehren, man könne ihm in die Hand sehen, dadurch werde das Spiel unehrlich, und das ertrage sein ehrenhaftes Herz einfach nicht. Der listige Schwellenkönig ging sonderbarerweise auf diesen Leim. Er zeigte Horace sofort nicht nur in seinen verräterischen Brillengläsern die kompletten Karten, sondern bedachte ihn darüber hinaus noch mit schmeichelhaften Worten. »Mit einem Gentleman spiele ich immer gern«, sagte er herzlich, »und es macht mich doppelt traurig, daß diesmal das Glück nicht auf seiner Seite ist.« Horace verneigte sich und erwiderte, solch anerkennende Worte aus einem so würdigen Munde würden selbst einen zehnmal größeren Verlust aufwiegen. Sicherlich hätten sie einander bis zum Überdruß Komplimente gesagt, aber Schiffkarten unterbrach ihre Höflichkeitstiraden unwillig mit dem Hinweis auf eine hundertprozentige Erhöhung des Einsatzes.
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Es dämmerte bereits stark, als der Zug auf einer nicht gerade bedeutenden Station hielt. Ihr Name erweckte jedoch diesmal bei den Passagieren ein sehr lebhaftes Interesse, denn etwa vor einem Monat hatte Jesse James persönlich dieses Städtchen mit seinem Besuch beehrt und auf der Ersten Nationalbank, freilich gegen den Willen des Kassierers, mehr als 20 000 Dollar abgehoben. Die Banditen hatten diesen Bankraub mit derart wahnwitziger Kühnheit durchgeführt, daß es in den ganzen Staaten Unruhe auslöste. Es war deshalb kein Wunder, daß sich gleich mehrere Reisende an diesen Vorfall erinnerten. Alle drängten sich zu den Fenstern, um in der immer dichter werdenden Dunkelheit das Bankgebäude sehen zu können, eine sonderbare Kreuzung zwischen einem Lagerschuppen und einer gotischen Kapelle. Horace benutzte die eingetretene Verwirrung dazu, sich rasch mit einem vierten As zu versehen, das ihn für die erste Aktion der geplanten Offensive gegen den Viehzüchter wappnen sollte. Im übrigen war die Aufmerksamkeit aller gerade von dem kürzlichen Wirkungsort sowie der Person des legendären Räubers, der bereits seit mehr als zehn Jahren den ganzen Mittleren Westen von Kentucky bis Kansas terrorisierte, voll in Anspruch genommen. Der blonde Desperado wurde im Nu zum Mittelpunkt einer äußerst lebhaften Diskussion des ganzen Waggons. Die begeisterten Barden der James-Saga überboten 44
einander im Erzählen von Beispielen für den Mut und die Kaltblütigkeit des Verfemten. Sein Name war in aller Munde. Vor der Popularität dieses mordenden Baptisten verblaßte damals der Ruhm der härtesten Boxer und der beredtesten Politiker. Es hatte überhaupt den Anschein, als hätte sich in diesem Waggon ein Kreis der intimsten Freunde von James ein Stelldichein gegeben, denn alle nannten den Banditen ausschließlich beim Vornamen, den sie darüber hinaus noch in einem höchst familiären Ton aussprachen. Inzwischen hatten die Spieler die historische Stätte eingehend genug betrachtet und entschlossen sich, das Spiel fortzusetzen. Und eben da ereignete sich jene kleine Episode, deren Reichweite erst später richtig gewürdigt werden konnte: Professor Dara Shikoh, der sich mit solcher Leidenschaft dem Kiebitzen hingab, hatte wahrscheinlich eine sehr labile Haltung eingenommen, denn als sich der Zug plötzlich mit einem kräftigen Ruck in Bewegung setzte, fuchtelte er mit den Armen wild durch die Luft, suchte nach einigen Sekunden tastend einen Halt auf dem Bauch des Spielers mit dem goldenen Ohrlöffelchen, bevor er bei einem neuen Ruck Bekanntschaft mit dem Fußboden machte. Übrigens endete der Fall für ihn ganz glücklich, denn sein Kopf bohrte sich bei Mister Schiffkarten in die speckgepolsterten Ausläufer des Magens. Saphir-Ike japste nach Luft. Die Karten entglitten seinen Händen und fielen mit leichtem Klatschen zu Boden, wobei sie die gelangweilten 45
Gesichter von drei Königen und zwei Damen der Decke zukehrten. Als er darauf blickte, lief er vor Wut violett an. Ein königliches Fullhand! Begreiflich, daß er den unglückseligen Zauberkünstler mit den wüstesten Schimpfworten überschüttete, und es war wohl allein Thunsdall, der Shikoh auf die Beine half, zu verdanken, daß das Gesicht des Magiers vor einer unsanften Berührung durch Schiffkartens Faust bewahrt blieb. »Also Renonce«, brummte Ike dumpf, nachdem er sich mit seinem Schicksal abgefunden hatte. Horace wäre freilich am liebsten aus der Haut gefahren. Sein As-Poker war also für die Katz! Doch in seinem blassen Gesicht zuckte kein Muskel, als er sein so gutes und jetzt doch so nutzloses Blatt wegwarf, wobei er mit der anderen Hand das hilfreiche As geschickt im Hut verbarg. Der Zug ratterte indessen durch das bereits dichter gewordene Dunkel, aber das James-Thema erfreute sich noch immer großer Beliebtheit, wobei es freilich von den zahlreichen Erzählern eher in märchenhafter Form verarbeitet wurde. Leider war es gerade Mister Harrison, der die peinliche Behauptung aufstellte, was gutes Schießen anbelange, könne Jesse seinem Bruder Frank nicht das Wasser reichen. Die Reisenden straften den Lästerer mit der verdienten Verachtung, und fortan sprach niemand mit ihm auch nur ein Wort. Nur noch ein Photograph aus Topeca wagte zu behaupten, er habe vor einigen Monaten in 46
Abilene einen Mann getroffen, der sich wohl ebensogut auf Pistolen verstand wie Jesse James. Man habe ihn »Limonaden-Joe« oder ähnlich genannt. Dieser Mann habe mit einer Hand, mit einem einzigen Colt, also einem Trommelrevolver mit sechs Patronen, in weniger als einer Minute acht Pistolenschützen erledigt. Das sei in der Bar »Zur Zufriedenheit des Boss« geschehen. Der Limonaden-Joe habe sich auf die Theke gestützt und ein Glas Cola-Coca-Limonade getrunken, wie es seine Gewohnheit war. Plötzlich sei die Tür aufgeflogen, und auf der Schwelle hätten acht Totschläger gestanden, die Colts in der Hand. Augenblicklich seien alle Gäste unter den Tischen verschwunden, weil sie genau wußten, was kommen würde. Diese Burschen hätten nämlich mit Joe eine Rechnung zu begleichen gehabt. Sie wechselten kein Wort miteinander und setzten lieber gleich ihre Artillerie in Tätigkeit. Als das Ballern verstummte und die Gäste wieder den Rücken strafften, hätten sie kaum ihren Augen getraut. Der Limonaden-Joe habe noch immer mit seiner Limonade an der Theke gestanden, während vor der Tür die acht Burschen mit durchschossenen Köpfen lagen. Joe habe mit der Rechten die Pistole in die Tasche gesteckt und in der Linken ungezwungen das Glas gedreht, dessen obere Hälfte abgeschossen war. Dann habe er sich dem halbtoten Barkeeper zugewandt und gesagt: ›Geben Sie mir, bitte, noch ein Glas Cola-Coca-Limonade! Ich glaube, in diesem Glas sind Scherben. Wenn ich daraus tränke, könnte 47
mir vielleicht etwas zustoßen.‹ Alle hätten ihn wie einen Geist angestarrt, aber wie hätten sie erst gestaunt, als sie erkannten, daß er acht Männer mit sechs Patronen erledigt hatte. ›Ich wollte keine Munition verschwenden‹, habe er gesagt. ›Meine Mutter hat mich nämlich immer zur Sparsamkeit angehalten. Deshalb habe ich darauf geachtet, wenn zwei hintereinander standen, um sie mit einem Schuß unschädlich zu machen …‹ »Fürwahr«, schloß der Photograph aus Topeca, »wenn ich dieses Schießwunder nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es einfach nicht glauben.« Die anderen Reisenden hatten dieses Schießwunder jedoch nicht mit eigenen Augen gesehen, deshalb nahmen sie die Story des Photographen auch nicht ernst, sondern verwiesen sie ins Reich der Fabel. Gewiß, von diesem Pistolenschützen hatten sie schon mancherlei gehört, aber immer waren es so phantastische Geschichten gewesen, daß sie nur ein Kind glauben konnte. Überhaupt schien dieser geheimnisvolle Limonaden-Joe eher ein nebuloses Phantom zu sein, aus den Fäden leichtgläubiger Phantasie gewoben. Nein, ein seriöser Bürger verneigte sich da lieber vor einem Mann wie Jesse, der jeden Augenblick einen Kassierer von seiner materiellen Existenz überzeugte. »Ja, ja«, sagte verträumt ein dicker Mann mit so markantem Äußeren, daß man ihn sich allein hinter einem Barpult vorstellen konnte. »Jesse ist ein Glück für uns Gastwirte! Seine Besuche 48
erhöhen wesentlich den Tagesumsatz eines Unternehmens, davon kann ich ein Liedchen singen. Als er bei uns eine Bank ausnahm, vergaß er auf der Straße einen seiner Leute, der wie ein Sieb durchlöchert war. Ich ließ den Toten auf meine Kosten kämmen, rasieren und einbalsamieren und stellte ihn dann in das große Fenster neben der Tür zum Schankraum. Zu seinen Füßen lag ein Zettel: ›Was Sie nicht im Schaufenster finden, suchen Sie drinnen!‹ Die Leute kamen von weit her, um das zu sehen. Sie betrachteten den jungen Mann, folgten seiner scherzhaften Aufforderung und gingen auf einen Sprung in den Schankraum. Kurz und gut, ich hatte das Lokal gerammelt voll. Doch dann kam eine schreckliche Hitze, und ich mußte den Burschen rasch unter die Erde bringen. Wie gesagt: Jesse ist Gold wert.« Professor Dara Shikoh, der inzwischen dem erbosten Viehkönig geflissentlich aus den Augen gegangen war, lauschte aufmerksam den Banditen-Histörchen. Doch nun entschloß auch er sich, sein Scherflein zur Unterhaltung beizutragen. »Was uns Magier betrifft«, sagte er von oben herab, »sind uns solche Vögel, wie der alte, gute Jesse einer ist, völlig gleichgültig. Davon konnte ich mich schließlich selbst überzeugen.« Er machte eine effektvolle Pause, um das Interesse der Zuhörer zu gewinnen, holte mit einer Würde, die entschieden nicht der Marke dieses Krautes entsprach, eine Zigarre aus der Tasche, biß die Spitze ab und spuckte sie ans andere Ende des 49
Waggons. Schließlich beendete der große Magier die Zeremonie des Anzündens mit einigen tiefen Brustzügen und fuhr fort: »Auf dem Wege nach Wien, wohin ich mich auf Einladung des österreichischen Hofes begab, wurde mein Fiaker am Sankt-Gotthard-Paß von einem berüchtigten Straßenräuber überfallen. Die Grausamkeit dieser korsischen Briganten ist Ihnen zu gut bekannt, als daß ich mich darüber ausführlicher zu verbreiten brauchte. Freilich, jener bis an die Zähne bewaffnete Bandit, der unsere Arche aufs Korn nahm, hatte das Pech, daß ausgerechnet ich, Professor Dara Shikoh, der gelehrteste Schüler von Dr. Upanischade, Inhaber des Lehrstuhls für okkulte Wissenschaften an der Universität Kalkutta, im Wagen saß. Schon schien es, als hätten der Zuruf des Räubers und die beiden Läufe, die mit ihren dunklen Mündungen drohend auf ihre Bäuche gerichtet waren, den Kutscher und die übrigen Reisenden betäubt. Mir genügte es freilich, mein leichtes magisches Auge ersten Grades auf den Schurken zu richten, und schon fiel er wie ein lebloser Pflock auf den Boden. Im Hinblick auf einen bequemeren Transport ließ ich ihn zu einem ansehnlichen Eisquader einfrieren, um ihn dann einer Eskorte der populären SanktGotthard-Bernhardiner zu übergeben. Mit denen haben wir übrigens noch einige fröhliche Augenblicke verbracht, indem wir einander aus den Fäßchen, die sie um den Hals trugen, zutranken. Eine derartige Pazifizierung eines blutdürstigen Räubers war freilich eigentlich eine 50
Spielerei, unwürdig eines erwählten Meisters der Magie. Zu meiner Entschuldigung kann ich jedoch anführen, daß ich meine wunderbaren Fähigkeiten nur deshalb gebraucht – oder besser gesagt: mißbraucht – habe, um meine Nächsten vor Unheil zu bewahren.« Nach diesen Worten hüllte er sich geheimnisvoll in eine Wolke stinkenden Rauches, in der seine Teufelsfratze für einen Augenblick verschwand. Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Da flammten die Lampen auf und warfen auf die Köpfe der müden Passagiere einen trüben Schein, der allerdings noch weniger trüb war als das Gesicht Mister Schiffkartens. Horaces Finger hatten nämlich schon eine ganze Weile jene vernichtende Tätigkeit ausgeübt, die Ikes Börse gründlich, jedoch unauffällig ventilierte. Ein Laie hatte einfach den Eindruck, das Blatt hätte sich zu Ungunsten des Viehkönigs gewendet, aber wir wissen da besser Bescheid. Der durchtriebene Spieler gestattete zwar Schiffkarten, die Bank mit sechzig Dollar an sich zu raffen, doch gleich darauf nahm er ihm dreimal soviel ab. Dann und wann blinzelte er zu Harrison hinüber und bemerkte, daß der Geist dieses guten Mannes ins Reich der Träume geflogen war, wo er wohl bereits mit den schwerfälligen Landbewohnern phantastische Realitätengeschäfte abschloß. Dem Viehkönig war längst der Humor vergangen; wenigstens empfahl er Horace nicht mehr die Herstellung von Kasperlepuppen. Dabei ahnte er 51
noch nicht im entferntesten, was ihm noch bevorstand. Greenwood war schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß es höchste Zeit sei, diese Komödie zu beenden. Er wollte nämlich auch noch ein wenig schlummern, damit ihn der anstrengende morgige Tag in guter Kondition fände. Zuerst versetzte er also Ike in gute Stimmung, indem er ihn eine ordentliche Bank an sich reißen ließ, die freilich mehr von seinen Partnern als von ihm selbst finanziert war, dann vertauschte er gewandt das Kartenpäckchen. Das Spiel begann mit einem Einsatz von achtzig Dollar. Horace bemühte sich zunächst, Thunsdall und den anderen Spieler hinauszudrängen, denn die untergeschobene Karte war nur für zwei Spieler berechnet. Dabei half ihm übrigens Schiffkarten persönlich, der die Bank unchristlicherweise so hoch trieb, daß jedem, der nicht ein ganz besonders gutes Blatt hatte, die Lust zum Mithalten verging. Randolf Lowry Thunsdall sowie der Spieler mit dem Ohrlöffel hielten wahrlich ein so hoffnungsloses Pêle-mêle in der Hand, daß ihnen in der Tat jede Lust am weiteren Spiel verging. Da holte Horace aus der dunkelsten Tiefe seiner Lunge Luft und setzte die Maske eines hartnäckig bluffenden Verzweifelten auf. »Wieviel Karten wünschen Sie, Mister Schiffkarten?« »Ich brauche keine.« »Nun, ich nehme zwei. Wie Sie sehen, kann ich eine gute Karte brauchen.« In der Hand hielt er Spadenkönig, Ober und Unter. Er nahm noch die 52
Neun und die Zehn derselben Farbe hinzu. Natürlich war ihm so gut bekannt, was er kaufte, wie er von den vier Assen in der Hand des Viehkönigs wußte. Die Bank erreichte bald schwindelnde Höhe. Bei der Tausend-Dollar-Grenze schloß sich der immer größer werdende Kreis der Zuschauer enger, während Schiffkartens Gesicht allmählich die Farbe eines Kardinalshutes annahm. Zu seiner Befriedigung erhöhte Greenwood den Einsatz noch um fünfhundert Dollar. Nun wurde Ike doch nachdenklich. Dieser verdammte … Hudson kaufte zwei Karten. Das bedeutete, daß er entweder einen Dreier vortäuschte oder höchstens nach dem Poker griff, der natürlich niedriger als vier Asse war. Ja, so urteilte Saphir-Ike; eine andere Lösung hatte in seinem groben Viehzüchtergehirn keinen Raum. Er glich also Horaces Erhöhung des Einsatzes aus und übertrumpfte sie noch um tausend Dollar. Der Spieler legte diesen Betrag ebenfalls hinzu und dann noch tausend obenauf. Dabei glaubte Schiffkarten ein nervöses Zittern der Hand seines Gegners zu bemerken. Nun war ihm nicht mehr zu helfen. Seine Finger fuhren tief in die Brusttasche und angelten von dort ein dickes Banknotenbündel. Zunächst zählte er zehn Hundert-Dollar-Noten ab und legte sie auf den Tisch. Dann blickte er mit kühler Herausforderung Horace ins Gesicht. »Mister Hudson, ich möchte Ihnen gern beweisen, daß sich ein Löwenherz manchmal verdammt schlecht lohnt.« Damit schob er zu dem raschelnden Haufen bedruckter 53
Papierchen noch acht Fünfhundert-Dollar-Noten. »Und viertausend dazu, Mister Hudson!« Gespannte Erregung durchzuckte den Kreis wie ein Funke. Das war eine Partie von der Art, die im Spielsalon alle Tische außer einem leert. Dann kehrte Stille ein, die nur durch das regelmäßige Schnarchen Harrisons unterbrochen wurde, eine fragende Stille, denn niemand hatte die Karten gesehen, die Horace in der Hand hielt, und niemand wußte, was er jetzt tun würde. Greenwood griff, ohne zu überlegen, nach seinem Geld. Doch da bemerkte er zu seinem Schmerz, daß er auf dem trockenen saß, denn er hatte bereits seinen ganzen Gewinn in diese Partie investiert. Er machte also ein recht verdrießliches Gesicht, und wer weiß, wie er sich aus der Affäre gezogen hätte, wäre nicht Mister Thunsdall in Aktion getreten, der bisher diesem so erregenden Schauspiel schweigend zugesehen hatte. »Ich kenne Ihr Blatt nicht, Mister Hudson«, sagte der Schwellenkönig leise, »aber ich kann nicht zulassen, daß ein hohes Spiel hohem Geld weichen muß. Ihnen, Ike, aber sage ich, daß ich in diesem Falle für Mister Hudson mit meinem Namen und meinem ganzen Besitz bürge.« Beide Spieler blickten überrascht auf. Während Horaces starres Auge in keineswegs gespielter Dankbarkeit auftaute, machte Mister Schiffkarten ein Gesicht, als wolle er seine Umgebung erwürgen, erschießen, verbrennen und vierteilen und als könnte er sich überhaupt an ähnlichen Gewalttätigkeiten nicht genugtun. Dabei blinzelte 54
er wütend unter seinen finsteren Augenbrauen zu Thunsdall hinüber. Dieser starrköpfige Kuckuck erschrak jedoch nicht im geringsten vor dem ehrenwerten Mann. Im Gegenteil, er blickte über seine Brillenränder hinweg dem Wüterich direkt in die Augen und fragte ihn in seinem gewöhnlichen salbadernden Tonfall, ob er etwa irgendwelche Zweifel an seiner Garantie hege. Mister Schiffkarten erwiderte verdrossen, derartige Zweifel hege er nicht. Horace dankte zunächst Mister Thunsdall mit einigen kunstvoll gebauten Sätzen, kritzelte dann eine Ziffer auf ein Stück Papier und warf dieses lässig in die Bank. Saphir-Ike beugte sich begierig vor, um die Ziffer lesen zu können, und da erkannte er, daß sich der Spieler das Angebot Thunsdalls gründlich zu Herzen genommen hatte, denn nach diesem Beleg hatte er die Bank nochmals um fünftausend Dollar erhöht. Eine ganze Skala scharlachroter Streifen lief über das ohnehin gerötete Gesicht des Viehkönigs. Erst jetzt kam ihm der Gedanke, hier könne möglicherweise etwas nicht stimmen. Unentschieden pendelten die Schalen seines Urteils: Verbarg sich hinter Horaces Zuversicht eine hohe Karte, oder handelte es sich um einen großzügigen Bluff? Für Greenwood bot diese Begegnung freilich kein Geheimnis. Höchstens Thunsdalls Einschreiten wirkte auf ihn wie eine erfrischende 55
Überraschung. Weil er ruhig blieb, entging ihm nicht, daß der Zug plötzlich auf freier Strecke hielt und von irgendwo ein kurzer Schrei ertönte. Davon sah und hörte der zitternde Ike nichts. Die vier Asse in seiner Hand schienen zu gigantischen Ausmaßen anzuwachsen und verdeckten alles, was ringsum geschah. Deshalb nahm er auch nicht die Totenstille wahr, die sich plötzlich im Wagen ausbreitete. Seinen Blick in den Berg der Banknoten gebohrt, rief er sich eben die bisherigen Bluffs seines Gegenspielers in Erinnerung und bestärkte sich in der Überzeugung, er habe es auch diesmal nur mit einer frechen Lüge zu tun. Plötzlich sagte jemand hinter seinem Rücken: »Ein recht hohes Spiel, wie?« »Der hinterlistige Thunsdall muß das perfide Unterfangen, seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken, teuer bezahlen«, brummte Ike, als er die Erhöhung von Horace ausglich und weitere siebentausend Dollar zulegte. In der lautlosen Stille sprach wieder die Stimme über seinem Kopf: »Das ist schön von Ihnen, so ersparen Sie es mir wenigstens, Ihre Taschen zu durchsuchen.« Erst jetzt erwachte Schiffkarten aus seinem Pokerrausch. Er blickte auf Horace. Der saß da, die Arme erhoben, die Augen starr auf einen Punkt über seinem, Ikes, Kopf gerichtet. Da drehte sich der Viehkönig mit einem Ruck um und erblickte hinter seinem Rücken einen schlanken
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Mann mit einer schwarzen Maske vor dem Gesicht, in jeder Hand einen Matrosencolt. An der Tür stand ein zweiter Räuber, gleichermaßen maskiert und bewaffnet. Der hielt den ganzen Wagen in Schach. Seine Stimme zerriß plötzlich den Schleier der drückenden Stille: »Bleiben Sie nur schön ruhig sitzen, und alles ist in Ordnung!« Dem hinter Schiffkartens Rücken stehenden Desperado mangelte es sicherlich nicht an Sinn für Humor; er forderte die beiden Spieler auf, ihre Karten zu zeigen, denn er sei neugierig, wem ein so fetter Gewinn vor der Nase davonschwimme. Als er das königliche Flush und den As-Poker erblickte, schnalzte er anerkennend mit der Zunge, dann entschuldigte er sich bei Horace: Er sehe sich leider gezwungen, die Bank zugunsten des Unterstützungsfonds für die Witwen und Waisen der Eisenbahnräuber zu beschlagnahmen, die in Ausübung ihrer Pflicht das Zeitliche gesegnet hätten. Hierauf machte er noch einige faule Witze und musterte die Passagiere, als suche er jemanden unter ihnen. Schließlich gab er dem vor Angst schlotternden und im Gesicht ganz grün gewordenen Okkultisten einen Wink vorzutreten, steckte einen der Colts in die Tasche, warf einen Ledersack auf den Tisch und befahl dem Professor, die Bank darin zu verstauen. Horace beobachtete resigniert, wie das Geld im Sack verschwand. Der Gedanke, daß hier jemand sein durch gekonntes Falschspiel gewonnenes Kapital in die Tasche des Banditen stopfte, erfüllte 57
ihn mit leichtem Bedauern. Aber in den Jahren, in denen unser Spieler seine gefährliche Profession ausübte, hatte er vollkommene Selbstbeherrschung gelernt, und so konnte er ruhig in die eiskalten Augen blicken, die unter der schwarzen Maske blitzten. Doch da ereignete sich etwas wirklich Sehenswertes. Die Angst ließ die Hände Dara Shikohs zu sehr zittern, und so war es kein Wunder, daß der Sack seinen Fingern entglitt. Als er sich danach bückte, gefolgt vom wachsamen Lauf des Colts, fiel aus seiner Tasche die Uhr aus massivem Gold, die noch vor kurzem den Glanz von Schiffkartens ehrwürdigem Bauch erhöht hatte. Von einer fatalen Vorahnung getrieben, griff der Viehkönig nach seinem kostbaren falschen Auge. Doch wehe, es war weg! Wie hätte es sich auch in seiner Augenhöhle befinden können, wo es doch jetzt im Gefolge der Uhr auf den Fußboden fiel, zusammen mit dem goldenen Ohrlöffel und Horaces Familienring. Die Bestohlenen glotzten erstaunt auf die Schmuckstücke, um die sie mit solch wunderbar vollendeter Taschenspielerpraxis erleichtert worden waren. Auch der Räuber blickte voll Interesse auf den sich in peinlicher Verlegenheit windenden Magier. Sein Lachen erinnerte an das Quietschen einer rostigen Pumpe. Eben wollte er etwas banditenhaft Witziges sagen, als ein schrecklicher Knall den Wagen erzittern ließ.
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Bisher hatte nämlich Mister Harrison in Morpheus’ Armen geruht, völlig unberührt von den dramatischen Ereignissen, die sich um ihn herum abspielten. Jetzt aber reizte ein unabweisliches Kribbeln seine Nase derart, daß er mit gewaltigem Niesen erwachte, das nur ein sehr geübtes Ohr von einem Schuß der 18-Pfund-Sharp-Kanone »45-120-550« hätte unterscheiden können. Unser Desperado aber, dessen Nerven unaufhörlich auf die Folter verzweifelter Situationen gespannt waren, machte gar nicht erst den Versuch, nach der Herkunft dieser Detonation zu forschen. Er drehte sich blitzschnell um, entleerte das Magazin eines Colts in Harrisons Brust, ergriff geistesgegenwärtig den vollen Sack und ging rückwärts zum Eingang, die Pistole warnend in Hüfthöhe, während sein Kumpan wie verrückt in die Luft knallte. Kaum waren die Banditen verschwunden, stürzte Horace, in jeder Hand einen Derringer, zum Fenster, dessen Scheibe jedoch im gleichen Moment klirrte, zersplittert von einer Kugel, die sich unmittelbar darauf in die Holzdecke bohrte. Sofort preßten alle Passagiere ihre Nasen gegen den Fußboden. Draußen prasselten Schüsse, gefolgt von einem lausbübischen Pfeifen verirrter Kugeln. Schließlich war ein sich entfernendes Pferdegetrappel zu vernehmen, und die Schießerei verstummte, beendet von einem dröhnenden Ausrufezeichen aus einer alten Springfield. Die Menschen erhoben sich langsam vom Fußboden, ausgenommen Mister Harrison. Den 59
hätte wohl einzig und allein die Trompete eines Erzengels zum Aufstehen gebracht. Da lief der Schaffner in den Wagen. »Leute«, wieherte er voll Freude, »es war Jesse! Man hat ihn erkannt!« Der Mann, der vor einer halben Stunde James als wohltätigen Verbesserer der Einkünfte des Schankgewerbes gefeiert hatte, blickte unwillig auf den Leichnam. »So ein Unsinn!« brummte er. »Unsern Jesse derart zu verscheuchen! Seit Pinkertons Leute seine Mutter zum Krüppel gemacht haben, ist er schrecklich nervös!« Horace überlegte bei einem Blick auf Harrisons unbeweglichen Körper: ›Der Arme! Sicherlich hatte er sich schon gefreut, die Provision in der Tasche zu haben! Nun, wenigstens ist ihm eine grausame Enttäuschung erspart geblieben, wenn ich ihm das Geschäftchen vor der Nase weggeschnappt hätte. Was läßt sich machen, einmal müssen wir alle von hinnen!‹ Noch hatte sich der Rauch der Schüsse nicht verzogen, da stürzte sich auch schon der wütende Schiffkarten auf Dara Shikoh. Er packte ihn am Hals, schwenkte ihn wie eine Fahne hin und her und überschüttete sein Haupt mit einer Flut unerhört ordinärer Schimpfworte. Sein Gebrüll begleitete das Klatschen schallender Ohrfeigen, so daß der Kopf des Magiers dem Auge des Beobachters bald im linken, bald im rechten Profil erschien. Horace, der in der Tiefe seiner Seele aufrichtige Bewunderung für Dara Shikohs 60
Taschenspielergenie empfand, entfaltete alle physische Kraft und alle beruhigende Beredsamkeit, um den Armen aus den Krallen des Viehkönigs zu befreien. Alle Schmuckstücke lägen doch hier wie auf einem Teller, kein einziges fehle; was sei also geschehen? Nichts! Der Okkultist strich sich über den vom Würgegriff gezeichneten Hals und verfolgte mit wehmütigem Blick die zu ihren ursprünglichen Besitzern zurückkehrenden Schmuckstücke, wobei er beschwor, er habe es nur gut gemeint; als Hellseher habe er nämlich mit absoluter Sicherheit den Überfall vorausgesehen und daher aus Sympathie zu den Mitreisenden ihre Kleinodien bei ihm deponiert. Er habe gehofft, den Räuber mit seinem magischen Blick zu überwinden, ihn der Gerechtigkeit zu übergeben und die Schmuckstücke ihren Besitzern zurückzustellen. Allerdings habe er nicht mit der Möglichkeit gerechnet, daß James diesen okkulten Angriff durch sein supermagisches Auge maximaler Durchschlagskraft mit Leichtigkeit abschlagen würde. Und eben das sei eingetreten; denn der berüchtigte Schütze sei ein ebenso genialer Räuber wie souveräner Magier. Kurz und gut, hier sei er an den Unrechten geraten. Die ungewöhnliche Dummheit dieser Erklärung entwaffnete selbst Schiffkarten. Ratlos machte er eine wegwerfende Handbewegung und demonstrierte seine feindselige Einstellung gegenüber Dara Shikoh nur dadurch, daß er ihm den Rücken kehrte. 61
Horace sympathisierte wärmstens mit dem Langfinger und Zauberkünstler, erkannte er doch in ihm einen würdigen Kollegen, der nur auf einem etwas abgelegenen Gebiet praktizierte. Er war überhaupt gut aufgelegt. Zwar hatte ihm das Schicksal die Taschen gründlich geleert, aber das gleiche Schicksal hatte den Mann ausgeschaltet, der ihn um tausendmal mehr bringen konnte. Nein, er hatte sich entschieden nicht zu beklagen. Aber das Spiel war noch bei weitem nicht zu Ende. In der ersten Runde hatte er gesiegt. Aber wie würden die weiteren ausgehen?
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Die Rose aus Chicago Als Horace Jouett Greenwood an jenem Morgen auf die Fassade von Sanders’ Hotel blickte, dachte er bei sich, es könne sich in ganz Kansas City kaum ein verlotterterer Ort finden lassen. Im Hinblick auf die Schmutzigkeit der beabsichtigten Spekulation konnte sich Mister Bennett allerdings schwerlich ein geeigneteres Milieu wünschen. Horace besann sich nicht lange und betrat den dunklen Schankraum. Seine Nasenlöcher schlossen sich instinktiv, als sie sich dem Ansturm eines zwar schwachen, aber um so widerlicheren Gestanks ausgesetzt fanden, der von schlechtem Branntwein herrührte und schwer in der verbrauchten Luft lag. Für Greenwood genügte ein einziger Blick, und schon fiel ihm die Feuerkugel eines rothaarigen Kopfes auf, der sich über das grüne Tuch eines Billards beugte. Vorsichtig blickte er sich um. Das Lokal war so gut wie leer, nur hinter dem Schanktisch stand ein blasser junger Mann, der Gläser wusch, und an einem Ecktisch ganz hinten unterhielten sich halblaut zwei Männer. Der .Billardspieler übte mit einem solchen Feuereifer schwierige Karambole, daß er den neuen Gast gar nicht bemerkte. Deshalb konnte ihn Horace gründlich betrachten. Übermäßig gefiel ihm diese Bohnenstange mit dem Pferdegesicht, dem in die schmale Stirn gekämmten und pomadisierten Haar und der stutzerhaften
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Kleidung in der Art eines Vorstadtraufbolds freilich nicht. Unter dem hochgezwirbelten Schnauzbart ragte der Rest einer erloschenen Zigarre hervor, den er wütend mit seinen Zähnen bearbeitete, wenn das Gelingen eines Karambols an einem Faden hing. Ab und zu nahm er aus einem Glas einen Schluck Wein, wandte aber selbst dabei kein Auge von dem grünen Tuch. Horace bemerkte, daß an der Hand, die den Fuß des Glases umspannte, der kleine Finger fehlte. Damit waren die letzten Zweifel behoben. Der Kartenspieler trat also an den Billardtisch und sagte in ungezwungenem Ton, wie man in einer Gesellschaft über das Wetter spricht: »Geh nach Westen, junger Mann!« Der rothaarige, hochaufgeschossene Bursche blickte nicht einmal auf. Erst nachdem er eine schwierige Quart beendet hatte, legte er das Queue sorgfältig über den Tisch, zupfte die Manschetten zurecht und wandte sich Horace zu, wobei er ihn mit einem kühlen, ausgesprochen dreisten Blick maß, der Greenwoods Abscheu noch vervielfachte. Schließlich öffnete er den Mund, imitierte einige Sekunden lang einen Karpfen, der nach Luft schnappt, und stieß schließlich hervor: »K-k-kommen Sie m-m-m-mit in m-m-mein Z-zz-zimmer!« Als Horace über die schmutzige Hoteltreppe zum Zimmer des Rothaarigen hinanstieg, überlegte er, von welch sonderbaren Prinzipien sich Mister Bennett doch bei der Auswahl seiner engsten Mitarbeiter leiten ließ. 64
Der Raum, den sie betraten, wirkte noch abstoßender als der Ausschank. Wie ein Witz wirkte hier ein Wandspruch in einem ellipsenförmigen Rahmen, der an einer Seidenschnur hing. »Gott schütze dieses Haus!« verkündeten die verschnörkelten Buchstaben. Allerdings gab es nicht den geringsten Anlaß, warum Gott diese schmutzige Spelunke mit besonderer Gunst hätte auszeichnen sollen. Der rothaarige Mann unterbrach als erster das Schweigen und stellte sich als Leo Bushman vor, zur Zeit beschäftigt in der Firma Bennett and Bond. Dann setzte er sich auf den einzigen im Zimmer stehenden Stuhl, forderte seinen Gast auf, es sich auf dem Bett bequem zu machen, und ließ wieder seinen Blick, aus dem gewiß weder Bewunderung noch Hochachtung, ja selbst nicht Vertrauen sprach, auf Greenwoods Gesicht ruhen. Nach einigen mißlungenen Versuchen, ein Wort aus sich herauszubringen, fragte er Horace, ob er der avisierte »gutmütige, aber geriebene Mann aus Kansas mit einem scheinbar unschädlichen und leicht zu täuschenden Gesicht« sei. Der bissige Ton seiner Stimme verstimmte Horace derart, daß ihm selbst die ausgesprochen halsbrecherische Art, mit der Bushman die schwierigen Worte »leicht zu täuschend« hervorstieß, nicht seine gute Laune wiedergab. Nichtsdestoweniger bestätigte er kaltblütig seine Identität mit dem beschriebenen Mann.
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Daraufhin bemerkte der rothaarige Leo, er habe von der menschlichen Physiognomie eine ganz andere Meinung als sein Chef. Horace versicherte ihm jedoch trocken, er richte sich einzig und allein nach den Ansichten von Mister Bennett, während ihm andererseits die Meinung eines gewissen Mister Bushman völlig gleichgültig sei. Überhaupt stelle er mit Bedauern fest, daß trotz der gemeinsamen Ziele keiner von beiden die geringste Sympathie für den andern empfinde; deshalb sei es wohl am besten, wenn sie ihr Geschäft so rasch als möglich abwickeln und sich wieder trennen, ohne einander ihre gegenseitige Abneigung noch deutlicher zu zeigen. Leo Bushman zuckte mit breitem Lächeln die Schultern. Er öffnete einige Knöpfe seiner Weste, griff sich unters Hemd und angelte nach einer Weile einen Ledergürtel hervor. Aus jeder seiner Taschen zog er ein dickes Bündel Banknoten. Nachdem er sie überzählt hatte, streckte Horace die Hand aus, aber Bushmans Pranke umschloß sein Handgelenk mit eisernem Griff. »M-m-m-mom-m-ment! D-d-dazu haben Sie n-n-noch ge-gegenug Zeit in Cow-Cow-Cowtown! So-so-sobald dd-d-die Sa-Sa-Sache in Bu-Bu-But-ter ist!« Schon lange, bevor Leo diesen sonst ganz knappen Satz beendet hatte, dachte Horace, daß er eigentlich mit etwas Derartigem hätte rechnen müssen. Der Rothaarige ließ seine Hand los, griff in die Brusttasche und holte von dort ein zerknittertes Papier heraus, das er Horace vor die Nase hielt. 66
»S-S-Sie e-e-erkennen d-d-doch d-d-die Sch-SchSchrift d-d-des Chefs? D-d-das ist ge-ge-gestern ge-ge-gekommen!« Greenwood konnte natürlich nicht sagen, daß er die Schrift des Chefs zum erstenmal sah. Mit einem beklemmenden Gefühl betrachtete er den Brief, denn er befürchtete, hier auf die Quelle von Bushmans Mißtrauen zu stoßen, aber zu seiner Befriedigung enthielt der Brief nur den bereits zitierten Satz von dem gutmütigen Mann aus Kansas. In einem weiteren Absatz forderte der Finanzmann Bushman auf, er möge im Hinblick auf gewisse Gefahren des Reisens im Grenzgebiet seinen Exponenten nach Cowtown begleiten und ihm erst dort die bestellte Ware übergeben. Die geheimnisvollen Ausdrücke sowie die unbestimmte Stilisierung der Sätze machten es einer unberufenen Person völlig unmöglich, diesen Brief auf irgendeine Weise gegen Mister Bennett zu verwenden. Horace faltete das Schreiben wieder zusammen, gab es dem Rothaarigen zurück und sagte lächelnd: »Wie ich sehe, Mister Bushman, werden Sie also für einige Tage mein Reisebegleiter sein. Wenn es auch kaum möglich sein dürfte, daß wir vertraute Freunde werden, bedeutet das noch nicht, daß wir uns nicht gut vertragen könnten, nicht wahr?« Das sagte er im aufrichtigsten Tone, dessen er nur fähig war, doch in der Tiefe seiner Seele wiederholte er immer wieder: ›Diesen Kerl muß ich um jeden Preis loswerden!‹
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Wie es schien, verursachte das Gedankenlesen dem rothaarigen Stutzer nicht die geringsten Schwierigkeiten, denn er versicherte sofort, eine derartige Abmachung wäre für Horace sehr günstig, denn gewiß wäre es nicht Leo Bushman, der bei einem eventuellen Mißverständnis den kürzeren ziehen würde. Wie durch ein Wunder befand sich plötzlich in seiner Hand ein Colt vom Kaliber 44. Den wirbelte er mit rascher Bewegung um seinen Zeigefinger und schoß, ohne zu zielen. Die Kugel zerschlug die Schnur des Wandspruches, und die Bitte um Gottes Protektion sauste zu Boden. Mister Bushman lächelte wohlgefällig, machte noch einige gewandte spielerische Bewegungen mit der Pistole und steckte sie dann wieder unter den Rock in eine Tasche, die er in der Achselhöhle trug. Horace machte ein gleichgültiges Gesicht. In Wirklichkeit aber wußte er diesen Scherz mit der Pistole zu schätzen. Sicherlich würde es nicht leicht sein, einem solch scharfen Burschen auf die Schliche zu kommen. Mister Bushman meinte, ein Mensch brauche nicht unbedingt im Grenzgebiet geboren zu sein, um mit einer Kanone leidlich umgehen zu können. Er selbst sei beispielsweise ein geborener NewYorker, und doch habe er, was das Schießen anlangt, beim Regiment alle reinblütigen Westler in die Tasche gesteckt. Greenwood erkannte ihm huldvoll gewisse Anlagen für die Kunst des Pistolenschießens zu, erwähnte jedoch ganz nebenbei, daß es im 68
Grenzgebiet einige Dutzend Männer gebe, die Mister Bushman ruhig erlaubten, nach der Waffe zu greifen, noch bequem frühstückten und erst dann den Colt zögen, wohl wissend, daß ihr Schuß doch der erste sein würde. Während sich Leo neuerlich den Bauch mit dem wertvollen Gürtel schnürte, lachte er gutmütig und meinte: Diese Männer würde er doch recht gern einmal sehen … Die erste Unterredung zwischen Horace und Bennetts Agenten triefte also nicht gerade von herzlichen Freundschaftsbekundungen. Trotzdem war dem Spieler sofort klar, daß er eine andere Saite anschlagen mußte, wollte er das Mißtrauen des rothaarigen Pistolenschützen einschläfern. Und das gelang ihm tatsächlich, denn als die beiden am nächsten Morgen auf dem Bahnsteig auf und ab gingen, nahm Bushman Greenwood gegenüber bereits einen weit herzlicheren Standpunkt ein als vierundzwanzig Stunden zuvor. Wie hatte sich Horace seine Zuneigung erworben? Bei Leos Charakter und Beruf ließ sich annehmen, daß die Karten in seinem Leben eine nicht geringe Rolle spielten. Deshalb weckte der Kartenspieler zunächst sein Interesse, indem er vor ihm wie zufällig mit einigen effektvollsten Finessen des Falschspiels brillierte. Die Augen des Rothaarigen blitzten begierig auf, und als ihm Horace das Geheimnis von zwei oder drei besonders effektvollen Tricks verriet, strahlten die 69
Augen dieses hartgesottenen Mannes wie die eines Kindes, das um den Weihnachtsbaum hüpft. So schlenderten jetzt beide lässig über den Bahnsteig und beobachteten gelangweilt das lebhafte Treiben, aus dem Menschen vom Schlage eines Horace oder eines Leo nicht besonders hervorragten. Schließlich entschlossen sie sich zum Einsteigen. Sie näherten sich also ohne Hast den Waggons und rauchten noch gemütlich eine Zigarre. Horace hatte eben seinen Fuß auf das Trittbrett gesetzt, als er sich umdrehte, um Bushman auf irgendeine Belanglosigkeit aufmerksam zu machen. Aber das tat er nicht mehr. In diesem Augenblick entdeckte er nämlich ein so schönes Exemplar eines menschlichen und noch dazu weiblichen Wesens, daß er augenblicklich Bennetts Pistolenschützen, ja sogar die Parzellen von Cowtown vergaß. Das schwache Geschlecht war schon immer eine keineswegs weniger schwache Seite dieses Mannes gewesen, der zwar nie vor einem Verbrechen innehielt, wohl aber immer vor einer schönen Frau. Es hat keinen Sinn, jetzt abzuschätzen, was ihn an diesem reizvollen, dunkelhaarigen Wesen mehr fesselte: das süße Gesicht, die anmutige Gestalt oder die züchtige Grazie ihrer Bewegungen. Amors Flügel rauschten über seinem Zylinder, und der süße Liebesgott zog aus seinem Köcher den glühendsten Pfeil und durchbohrte damit das Herz des Spielers. Wie ein Mondsüchtiger blickte dieser auf die junge Frau, die, in ein dezentes Reisegewand gekleidet, 70
tändelnd mit einem leichten Sonnenschirm spielte und so ihren milchzarten Teint vor der zudringlichen Sonnenglut schützte. Den anderen Arm stützte sie auf einen hochgewachsenen Herrn mit rotem Gesicht und silbergrauen Schläfen, dem ein imposanter Backenbart ein besonders ehrwürdiges Aussehen verlieh. »D-d-das ist a-a-ber ein t-t-tolles Weib!« Diese vulgäre Bemerkung des Rothaarigen riß Horaces Geist wieder in die Niederungen der alltäglichen Wirklichkeit. Die bezaubernde Erscheinung der schönen Unbekannten verschwand zwar nicht, aber erst jetzt bemerkte Horace, wie Bushman genießerisch seinen roten Schnurrbart zwirbelte und gierige Blicke auf die jungfräulichen Reize des Mädchens warf. Horace Jouett Greenwood aus Tennessee schüttelte sich vor Ekel, als er plötzlich Auge in Auge einer solch rücksichtslos nackten Wahrheit gegenüberstand. Wie tief war er, ein Nachfahre einer geachteten Familie aus dem Süden, doch gesunken, daß er mit solch widerwärtigen Individuen verkehren mußte! Inzwischen hatten sich ihnen die Dunkelhaarige und ihr Begleiter auf wenige Schritte genähert, und da bemerkte Horace, daß sie Anstalten machten, in den Waggon zu steigen, vor dessen Trittbrett er noch immer wie ein Holzklotz stand. Rasch trat er zur Seite und zog den Zylinder mit einer solch noblen Geste, wie das nur ein Kavalier aus dem Süden zu tun vermag. Der mit dem Backenbart geschmückte Herr dankte freundlich, 71
und die Wangen des Mädchens überzogen sich mit einem reizvollen Purpurschein. Das Feuer dieser Röte sprang auf Horaces ausgedörrtes Herz über, das im Nu lichterloh brannte. Wie steigerte sich das erst, als das Mädchen, das sich fester auf den Arm des Mannes stützte, mit unaussprechlich züchtiger Gebärde ihren Rock schürzte, freilich nur, um ihr Füßchen auf die hohe Stufe setzen zu können! Dabei enthüllte sie, ob sie wollte oder nicht, vor den Augen des Pistolenschützen und des Spielers den reizendsten Knöchel, den er je gesehen hatte. Verträumt blickten beide auf ihren göttlichen Rist; und weil ihnen nicht vergönnt war, noch mehr zu sehen, bemühten sie sich keineswegs, das Spiel ihrer entflammten Phantasie zu zügeln. Während jedoch den Blick Bushmans eine ekelhafte Begierde trübte, empfand Horace eine weit reinere Leidenschaft, und als er schließlich selbst den Waggon betrat und einen Platz wählte, der es ihm gestattete, sich ohne Unterlaß der stillen Anbetung dieses göttlichen Profils hinzugeben, wurde er sich dessen bewußt, daß er eine solch brennende und doch beseligende Unruhe, wie sie jetzt sein Herz bedrückte, zum letztenmal vor zwölf Jahren verspürt hatte. Ja, so viel Zeit war verstrichen, seit er Eveline Saint Clair in unerfüllter Jugendliebe verehrt hatte. Jetzt war er sich dessen bewußt, daß ihm hier plötzlich etwas in den Weg getreten war, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte. Fürwahr, das war eine ganz unvorhergesehene Komplikation! 72
Aus seinem ergriffenen Träumen riß ihn jedoch bald ein Gewirr angeheiterter Stimmen, das immer näher kam. Er beugte sich wütend aus dem Fenster und erblickte eine Gruppe fröhlicher Herren, zumeist noch im Abendanzug. Alle flossen vor guter Laune über, die offensichtlich der Menge der geleerten Flaschen direkt proportional war. Der Alkoholdunst hatte die Kleidung und den Atem der lärmenden Kumpane so sehr durchdrungen, daß es genügt hätte, ein einziges Streichholz anzureißen, und sie wären wie eine Ölquelle explodiert. Nun, diese heitere Kohorte von Jüngern des Gottes Bacchus begleitete zwei Männer zum Zuge, die beide eine genauere Betrachtung lohnen. Der eine von ihnen, der jünger und größer war, kannte offensichtlich keine andere Sehnsucht als das Bett, so verschlafen und zerknittert sah er aus. Sein reiches, bis auf die Schultern niederfallendes kupferbraunes Haar sowie der goldfarbene Schnurr- und Kinnbart verliehen seinem Äußeren nicht nur ein ziemlich exzentrisches Aussehen, sondern auch einen gewissen Adel. Selbst die Müdigkeit vermochte nicht, die herrliche bronzene Färbung zu verdecken, die darauf hindeutete, daß die Heimat dieses Mannes nicht der entnervte Osten war, sondern die freien, grenzenlosen Plains. Er hing verzweifelt in seinem schwarzen Anzug von städtischem Schnitt und glich so einem wilden Präriehengst, den man vor einen Leichenwagen gespannt hat. Lediglich der bieder aufgestülpte 73
Stetson verriet die wahre Herkunft dieses interessanten Mannes. Sein Gefährte, ein älterer und kleinerer Mann mit einem Gesicht wie verwitterter Basalt, war wohl ein Erzspaßmacher, denn auf jeden Scherz wußte er eine so treffende Antwort, daß es die Zechkumpane fast vor Lachen zerriß. Er hinkte leicht und klimperte bei jedem Schritt mit seiner Fülle von Auszeichnungen und Freimaurerabzeichen, die sich leuchtend von seinem dunkelblauen Redingot halbmilitärischen Schnittes abhoben. Horace bemerkte, daß der dunkelhaarige Fremde die ungeteilte Aufmerksamkeit der Reisenden im Zug und auf dem Bahnsteig auf sich zog. Übrigens sagte ihm dauernd sein Gefühl, daß er diesem Menschen schon irgendwo begegnet sein müsse. Natürlich, vor etwa zehn Jahren hatte er ihn in Sheridan gesehen, nur war dieser Mann damals noch etwas schlanker gewesen und hatte eine schmierige Lederhose getragen. Er hatte dort mit seinen Freunden den Sieg über einen anderen, nicht weniger berühmten Büffeljäger, Bill Comstock, gefeiert und sich so den populären Namen Buffalo Bill erworben. Seit damals war er gar nicht so sehr gealtert, dieser Oberst William Frederick Cody-Pahaska, der so mit Ruhm getränkt war, daß man ihn förmlich aus ihm herauspressen konnte. Sein Name strahlte am Himmel des Wilden Westens in berückendem Glanz. Er gehörte zu den beliebtesten Mitarbeitern der Generäle Crook, Carr, Sherman, Miles und 74
Sheridan und hatte Custer gerächt, den die Sioux am Big Horn massakriert hatten, sowie die Gelbe Hand getötet, wodurch er zum vergötterten Idol des ganzen Volkes wurde. Es ist somit ganz begreiflich, daß der Kreis der geachtetsten Notablen von Kansas City anläßlich seines Besuches eine würdige Feier veranstaltete, die sich etwas in die Länge zog und im Laufe der Zeit ein wenig an Würde verlor. Trotzdem hielten es die ehrenwerten Bürger, obwohl sie nicht mehr fest auf den Beinen standen, für eine besondere Ehre, den geschätzten Gast zum Zug zu begleiten. Die Leute erkannten Cody sofort und überschütteten ihn mit zahlreichen Bekundungen der Hochachtung und der Sympathie. Die Väter beschworen ihre Söhne, sich die Gestalt dieses lebenden Extrakts der Grenzertugenden für alle Zeiten ins Gedächtnis einzuprägen, während die Frauen beim Anblick einer solchen Portion vollendeter Männlichkeit vor Erregung fast in Ohnmacht sanken. Schließlich gelang es Cody und seinem hinkenden Begleiter, sich den Händen der begeisterten Verehrer zu entreißen und in den Waggon zu steigen, die Hände vom herzlichen Schütteln rot geschwollen, die Köpfe bis zum letzten Augenblick bombardiert mit Wünschen für eine gute Reise sowie mit zahlreichen Ratschlägen, wie man den Kater am besten bekämpfen könne. Buffalo Bill ließ sich schwer auf eine Bank sinken, gerade dem seriösen Herrn mit dem 75
Backenbart gegenüber, und schlief sofort ein, während sich sein Freund, der immer noch eine ungewöhnliche Frische bewahrt hatte, in die Lektüre einer Zeitung vertiefte. Weil es noch früh am Morgen war und die Passagiere zumeist ein noch früheres Aufstehen nachzuschlafen hatten, herrschte allgemein eine schläfrige Stimmung. Diese war Horace sehr willkommen, um das Knäuel verliebter Gedanken weiter abzuwickeln und Dutzende nicht weniger verliebter Blicke auszusenden. Aber die Begierde, die in Bushman beim Anblick der Reize des Mädchens erwacht war, schloß nicht mehr ihre Augen und veranlaßte ihn, jetzt Greenwood mit dem Erzählen schlüpfriger Anekdoten zu langweilen. Der Spieler kochte in seinem Innern vor Wut. Er hatte nicht übel Lust, dem geilen Erzähler ein paar in die Zähne zu geben, doch tat er mit meisterlicher Selbstbeherrschung, als unterhalte er sich Gott weiß wie, ja er gab sogar selbst einige Anekdoten zum besten, so daß Leo loswieherte und zu Horaces Mißvergnügen die Aufmerksamkeit des ganzen Waggons auf sich zog. Das Wiehern des Pistolenschützen klang so laut, daß Cody einige Male kräftig schnaufte und schließlich erwachte. Eben wischte er sich die Augen, als sein Magen vernehmlich zu knurren begann. Der berühmte Trapper errötete wie ein junges Mädchen, das zum erstenmal ein Liebesgeständnis vernimmt, denn er war davon überzeugt, daß sein bezauberndes Gegenüber 76
diesen unästhetischen Ton gehört hatte. Um weitere unerwünschte Fanfarenstöße seiner hungrigen Eingeweide im Keime zu ersticken, stand er auf und machte sich daran, aus dem Gepäcknetz seinen Reisesack zu holen, der ein schmackhaftes Frühstück enthielt. Sein Gefährte tat es ihm übrigens sofort gleich, und so saßen sie eine Weile da, ganz auf das Kauen konzentriert. Im selben Augenblick, in dem Buffalo Bill den letzten Bissen verschlungen hatte und sich schon anschickte, eine geeignete Lage für ein weiteres Quentlein seines erfrischenden Schlafes einzunehmen, erhob sich der Begleiter des schönen Mädchens und stellte sich Cody als Zacharias Breakenridge, Journalist (früher Redakteur des kommunalpolitischen Teils der »Chicago Morning Post«, jetzt Chefredakteur der »Cowtown Fanfare«), vor, der mit seiner Tochter Winnifred reise. Er wäre zutiefst dankbar, wenn sich der Herr Oberst bereit fände, ihm einige kurze Fragen zu beantworten, die das Leserpublikum von Cowtown ungemein interessieren würden. Bevor Cody etwas sagen konnte, wozu er augenscheinlich keine besondere Lust hatte, sprang sein hinkender Begleiter auf und schüttelte dem Journalisten herzlich die Hand. »Ich heiße Oberst Judson, E. Z. C. Judson«, rief er jovial. »Möglicherweise ist Ihnen dieser Name nicht bekannt, aber sicherlich kennen Sie Ned Buntline, Dramatiker, Schriftsteller und Dichter des Wilden
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Westens. Natürlich, wie sollten Sie Ned Buntline nicht kennen! Sehen Sie, das bin ich!« Von dieser Bekanntschaft war Zacharias Breakenridge nur um ein geringes weniger erfreut als von der vorangegangenen. Denn eben hatte ihm jener bewundernswerte Mann die Hand gedrückt, der den originellen Einfall gehabt hatte, die drei berühmtesten Vedetten des Wilden Westens – Buffalo Bill, Texas Jack und den Wilden Bill – zu engagieren und sie die Hauptrollen in seinen Wildwest-»Dramen« spielen zu lassen. »Sie sind also Journalist?« jauchzte Oberst Judson. »Das freut mich aber! Wissen Sie, ich und Will schätzen nämlich die Journalisten sehr. Die Presse – das ist doch die siebente Großmacht. Nicht wahr, Will?« – »Hm«, brummte Cody, der bereits wieder langsam in süßen Schlummer versank. »Es überrascht mich keineswegs«, fuhr Buntline unermüdlich fort, »wenn Sie von mir für Ihr Blatt einige wahre Begebenheiten aus Wills Leben erfahren wollen. Sie sind ja ein Journalist, der für seine geliebten Leser unablässig auf der Jagd nach frischen Neuigkeiten ist wie eine fleißige Biene nach Honig. Nicht wahr? Sicherlich haben Sie noch nicht gehört, wie Will den General Marmaduke gefangengenommen hat. Soviel ich weiß, wurde diese Story bisher nirgends veröffentlicht. Ich werde sie Ihnen erzählen, sozusagen als Copyright für Ihre Zeitung, weil Sie mir sympathisch sind. Warten Sie, in welcher Form könnten wir sie veröffentlichen? Als Feuilleton? Als 78
Lokalspitze? Als Geschichte für die SonntagsUnterhaltungsbeilage? Wählen Sie, ich passe mich dem an! Ich glaube, als Feuilleton wirkt sie am besten. Ich werde nur knapp erzählen, Sie können dann alles weiter ausführen: Naturbeschreibungen, Schilderung der Seelenzustände und die ganze sonstige Soße. Zücken Sie Ihr Notizbuch und einen Bleistift und schreiben Sie: Obwohl die Schrecken des Bruderkrieges … Halt, da hätten wir doch beinahe das Wichtigste vergessen: einen prima Titel! Etwa so: ›Wildwestsaga im Eisenbahnkupee‹. Gut, wie? Oder: ›Erinnerungen eines Trappers im ratternden Expreß‹. Nun? Und der Untertitel? ›Die Glocke der Lokomotive dröhnt in die Erinnerungen eines Büffeljägers‹. Das ist doch etwas, nicht? Nun aber zur Sache! Also: Obwohl die Schrecken des Bruderkrieges das Gebiet unseres teuren Vaterlandes mit blutiger Spur durchzogen …« Was nun folgte, war eine im großen Stil vorgetragene Apotheose der Heldentaten Buffalo Bills. »Apropos, Kamerad«, rief Oberst Judson zum Schluß aus, »vergessen Sie nur ja zwei Dinge nicht! Vor allem können Sie zwischen den Zeilen erwähnen, daß alle Abenteuer Buffalo Bills von seinem intimen Freund Ned Buntline aufgezeichnet wurden (seine Bücher sind in allen Buchhandlungen erhältlich), und dann, wenn Sie Wills prächtiges Äußeres beschreiben, wäre es eine Todsünde, nicht dieses kleine Ding zu 79
erwähnen.« Damit zog er Cody eine in Form eines Bisonkopfes gestaltete Goldnadel von der Größe eines silbernen Halbdollarstücks aus der Krawatte. Er hielt sie dem Journalisten unter die Nase, um ihn mit den Diamanten und Rubinen zu blenden, mit denen sie besetzt war. Dann steckte er die wertvolle Nadel in die Krawatte zurück, wobei er Cody fast durchbohrt hätte, worauf er dem erwachenden Trapper den Rockärmel hochkrempelte, bis eine mit Gold und Edelsteinen besetzte Büffelstirn erglänzte, die diesmal die Manschette des Hemdes umspannte. »14 Karat«, sagte Judson gelangweilt. »Ein Geschenk des Großfürsten Alexis von Rußland. Wissen Sie, ein Jagdandenken. Seine Hoheit gehört nämlich zum Kreis der vertrautesten Freunde Wills. Nicht wahr. Will?« »Hm«, erwiderte Cody, der schon wieder in die rosafarbenen Gewässer des Schlafes versank. Judson schwatzte noch eine Weile, wobei er abwechselnd Will und sich selbst in den Himmel hob, und fragte dann Mister Breakenridge nach dem Ziel seiner Reise. »Ich fahre mit meiner Tochter nach Cowtown«, erwiderte der Journalist. »Einer meiner langjährigen Kollegen, mit dem ich einst vertrauten Umgang hatte, gibt in dieser Stadt eine vielgelesene Zeitung heraus, die er selbst redigiert. Nun hat er sich aber entschlossen, in den Osten zurückzukehren, und deshalb hat er mir sein Blatt und die Druckerei sehr billig verkauft. Ich und meine Tochter sind begeistert, 80
daß es uns vergönnt ist, in unserem goldenen, geistig aber bisher noch nicht fruchtbar gemachten Westen die Fackel der Kultur zu entzünden, deren Licht in dieser rauhen Gegend so dringend vonnöten ist. Dank solchen Männern, wie Sie einer sind, Oberst Cody, ist die blutgierige Rothaut ein für allemal aus diesen Gegenden vertrieben, und das Leben des friedlichen Ansiedlers erfreut sich in dieser Hinsicht völliger Sicherheit. Allmählich erlischt der Glanz der unsterblichen Ära der Indianerkriege, und hinter den Kämpfern mit der Waffe tritt die Armee der Kämpfer mit der Feder an, zu deren bescheidensten Fußsoldaten ich mich zu zählen wage. Diese Armee ist entschlossen, den Geist der Männer und der Frauen, die bisher durch den harten Kampf um das tägliche Brot in Anspruch genommen waren, zu veredeln und zu bilden. Wie viele wichtige Aufgaben bieten sich hier einem furchtlosen und unbestechlichen Journalisten! So wuchert beispielsweise bisher viel unerwünschtes Unkraut in diesem jüngsten Garten der Staaten; und es ist Pflicht eines ehrlichen Journalisten, als erstes zu seiner mitleidlosen Ausrottung beizutragen. Ja, die ›Cowtown Fanfare‹ will zur Zuchtrute und zum Pranger werden, mit denen jeder, der es wagt, die Grenzen von Recht und Moral zu überschreiten, rücksichtslos bestraft wird.« Nun ruhte das Auge von Codys Manager voll Hochachtung auf dem Gesicht des Journalisten. Oberst Judson erkannte, daß er es nicht mit einem 81
x-beliebigen Lokalredakteur zu tun hatte, der im Schweiße seines Angesichts einige schäbige Zeilen über den Selbstmord eines unbekannten Landstreichers im Stadtpark zusammenpfuscht, sondern daß er einen routinierten Leitartikler informierte, der sich durch das häufige Anhören von Wahlreden ein vollendetes Können in der Zubereitung eines so wunderbar aufgeblasenen rednerischen Auflaufs angeeignet hat. »Allerdings«, fügte Breakenridge mit gutmütigem Lächeln hinzu, tief befriedigt, daß es ihm gelungen war, einem so zähen Schwätzer wie Buntline zu imponieren, »bekenne ich, daß Cowtown wahrscheinlich nicht gerade ein Ort ist, in dem es von Banditen, korrupten Menschen und leichten Frauen nur so wimmelt. Wie es heißt, ist es ein verschlafenes Nest inmitten der Prärie, eine bedeutungslose Station der Viehtreiber auf dem Wege zur Eisenbahn.« Seit in der Rede des Journalisten zum erstenmal der Name Cowtown gefallen war, hörte Horace gespannt zu. Schon der Gedanke, daß er mit der schönen Brünetten ein gemeinsames Reiseziel hatte, erfüllte ihn mit Seligkeit. Breakenridges letzte Worte, wie »verschlafenes Nest« und »bedeutungslose Station der Viehtreiber«, veranlaßten ihn freilich zu einem heimtückischen Lächeln. Was würde dieser biedere Mann wohl sagen, wenn sich Cowtown vor seinen Augen zu einem Sündenbabel auswüchse? Darüber mußte Horace schon jetzt belustigt kichern.
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Es war bereits recht spät geworden, als der Zug keuchend den Bahnhof von Powderville erreichte, die letzte Station der Südwestbahn. Horace blickte beunruhigt auf die brodelnde Menge, um nicht jene zu verfehlen, die sich im Appartement seines Herzens wie zu Hause niedergelassen hatte. Einmal schien ihm, als habe er im Gedränge Professor Dara Shikoh erblickt, aber er war sich dessen nicht ganz sicher. Übrigens wimmelte es in diesen Gegenden von einem recht bunten Gemisch allerlei Gesindels; da verlor sich der diebische Magier leicht. Der Arm des Gesetzes, der im Nordosten so mächtig und muskulös war, reichte hierher nur mit einem verkrüppelten kleinen Finger, der zu ohnmächtig war, als daß er hier die Scharen professioneller Totschläger, Viehräuber, Falschspieler, Bank- und Straßenräuber, durch deren gemeinsames Verdienst das örtliche Klima übermäßig heiß geworden war, hätte zähmen können. Doch gerade das entsprach allen jenen Spitzbuben, die hier ihrem unlauteren Gewerbe mit dem einzigen Risiko nachgingen, einmal auf einen Banditen zu stoßen, dessen Finger den Abzug des Colts ein wenig früher betätigte. Die Höllenstadt, die sich nun hinter der Maske der Nacht verbarg, blitzte aus Dutzenden feuriger Augen in die Dunkelheit und berauschte sich am Bellen der Pistolen. In einer solchen Umgebung kam sich ein Fremder freilich unbedeutend und ratlos vor, selbst wenn der Dschungel der
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Kommunalpolitik von Chicago für ihn vielleicht nicht das geringste Geheimnis barg. Nun, in diesem Augenblick, als Horace Mister Breakenridge und Miss Winnifred erblickte und bemerkte, daß sie sich verzweifelt auf dem schmutzigen Bahnsteig umsahen, allseits von den Ellbogen der rauhen Reisenden gestoßen, begriff er, daß für ihn der Augenblick gekommen war, die Szene zu betreten. »Dieses friedliche Schießen braucht Sie nicht zu beunruhigen. Heute ist Zahltag, und die Männer feiern das glücklich erreichte Wochenende«, sagte Horace mit den sammetweichen Nuancen seines schönen Baritons, wobei er die einzelnen Wörter mit dem langgezogenen, melodischen Tonfall des südlichen Akzents schmückte. Das Mädchen errötete, als es fühlte, wie sich der brennende Blick des Spielers auf sie heftete. Aber Zacharias Breakenridge wandte sich ihm dankbar zu und fragte höflich, ob er ihm wohl ein Nachtlager empfehlen könne, das den Ansprüchen einer bescheidenen jungen Dame aus dem Osten wenigstens einigermaßen genügte. Horace öffnete bereits den Mund zu einer Antwort, als durch die Dunkelheit ein unmenschliches Brüllen ertönte. Ein Schuß knallte, und vom Kopf Mister Breakenridges flog der Zylinder herunter. Greenwood drehte sich um und sah im matten Schein einer Petroleumlampe einen grinsenden Cowboy, dessen Revolver noch rauchte. Horace genügte ein flüchtiger Blick, um die ganze Situation zu begreifen. »Es ist nichts 84
geschehen«, beruhigte er den erschrockenen Journalisten, »Sie sind nur einem ehrlichen Schützen in die Schußlinie geraten, der mit diesem, vielleicht etwas lauten Gruß Oberst Cody willkommen hieß.« Tatsächlich, die Kugel, die Breakenridges Kopf entblößte, hatte auch Buffalo Bills Stetson heruntergerissen. »Bronco Bill!« rief der Büffeltöter, den das mehrstündige Schläfchen bereits gründlich erfrischt hatte, und lief behend dem sonnenverbrannten Cowboy entgegen, völlig unähnlich jenem schlummernden Dornröschen aus dem Zug. Oberst Judson eilte ihm, bizarr hinkend, nach. Erst als sich Mister Breakenridge beruhigt hatte, beantwortete Horace die vorher ausgesprochene Frage. In dieser Stadt komme einzig und allein Berkowiczs Hotel in Betracht. Freilich müsse er bezweifeln, daß er hier ein Haus vorfinde, das wert sei, das gnädige Fräulein unter seinem Dach aufzunehmen. Dem galanten Spieler schien es hoch an der Zeit zu sein, sich vorzustellen. Er beabsichtigte, dies mit der Geste und dem Beiklang der südlichen, reizvoll altmodischen Höflichkeit zu tun. In diesem Augenblick aber ließ die Lokomotive mit großem Lärm eine zischende Dampfwolke ab, weshalb er die Worte, die er mit diskreter, aber würdevoller halblauter Stimme hatte sprechen wollen, nun wie ein wandernder Glaser brüllen mußte. 85
Dann gelang es ihm, zwei Eckensteher dazu zu überreden, für einen übertrieben hohen Preis, der freilich aus Breakenridges Tasche floß, das Gepäck des Journalisten in Berkowiczs Hotel zu tragen. Da er sich mit der Absicht trug, sich im selben Hotel einzuquartieren, wogegen Mister Bushman nichts einzuwenden hatte, begleitete er Mister Breakenridge und Miss Winnifred durch die lärmenden Straßen der Stadt. Die üblichen Begleiterscheinungen des für den Westen charakteristischen Lebens beachtete er dabei kaum, während diese den Journalisten und seine Tochter ungemein erregten. Horace verabschiedete sich erst in der Hotelhalle, wo er den Dank von Mister Breakenridge mit einem Gegenangriff feingeschliffener Phrasen abwehrte, mit dem klassisch einfachen Wunsch nach einer guten Nacht, um den ungeduldig wartenden Bushman zu besänftigen. Ich hoffe, der geneigte Leser hat diesen Gentleman noch nicht vergessen, obwohl von ihm schon lange nicht mehr die Rede gewesen ist. Leo bemerkte sofort, daß Horace bis über beide Ohren in die schöne Brünette verschossen war. Zuerst belustigte ihn das, weshalb er dem Spieler mit saftigen Witzen zusetzte, die dieser aber voll Verachtung ignorierte. Aber als der beunruhigte Bushman Greenwood nach dem Abschied von Breakenridge an seine eigentliche Aufgabe erinnerte, wobei er die Reize Winnifreds unsanft, ja man kann sagen, ordinär berührte, entschloß 86
sich der Romeo von Tennessee, den widerlichen Rotkopf so bald als möglich zum Schweigen zu bringen, so daß er dann seine Zoten nur einige Fuß tief unter der Erde, aus einem der öden Hügel des Powderviller »Friedhofs der Beschuhten«, hervorstottern konnte. Ja, so war Horace Greenwood. Es trifft zwar zu, daß er sich niemals den Kopf mit der Unterscheidung von Gut und Böse zerbrach, daß er auch niemals eine Ahnung von dem hatte, was man Gewissen nennt; aber ebenso wahr ist, daß die edle Beimischung romantischen südlichen Blutes in ihm die brennende Leidenschaft für das Schöne erweckt hatte – freilich vor allem für weibliche Schönheit. Und wenn diese im Demantschmuck unbefleckter Züchtigkeit erstrahlte, dann kräuselten den dunklen Sumpf seiner Seele Regungen aufrichtiger Scham und reumütiger Selbsterkenntnis, und er hätte keinen Augenblick gezögert, sein Leben für dieses Wunder auf Erden dahinzugehen. So war es auch diesmal. Doch kaum war Winnifreds Erscheinung seinen Blicken entschwunden, zerfloß auch der Zauber. Der mit einem Knockout dahingestreckte Teufel erwachte und schläferte den Himmelsgeist mit einem wahrhaft satanischen Direktschlag ein, um sodann Greenwood einige gutgemeinte Ratschläge ins Ohr zu flüstern, wie er sich Mister Bushman schnellstens vom Halse schaffen könnte. Ja, wie er ihn sich schnellstens vom Halse schaffen könnte. Darüber dachte Horace nach, 87
während er mit träumerischem Blick Bennetts Agenten betrachtete, der eben aus seinem Reisesack ein langes Nachthemd herausholte. Da einer den andern bewachte, hatten sich die beiden Abenteurer nämlich in einem Zimmer einlogiert, entschlossen, vor lauter Wachsamkeit die ganze Nacht kein Auge zuzutun. Der Spieler, der sich eben auf den Rahmen des auf die Straße führenden Fensters stützte, wandte sich angeekelt ab und blickte auf die gegenüberliegende Seite der Carson Street, von wo die Lichter des Lokals »Full Glass«, eines vor allem wegen seiner sehr guten Küche stark frequentierten Saloons, in die Dunkelheit leuchteten. Er erinnerte sich, bei seinem letzten Aufenthalt in Powderville dort ein großartig zubereitetes Beefsteak gegessen zu haben, und schlug deshalb Leo vor, dort zu Abend zu speisen. Bushman, der von seinem hungrigen Magen nicht wenig gepeinigt wurde, stimmte freudig zu. Und weil er nicht mit hellseherischen Fähigkeiten begabt war, ahnte er nicht im entferntesten, daß seine fröhliche Stimmung bald ganz anderen, hiervon völlig verschiedenen Empfindungen weichen sollte.
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Jemand bestellt sich Limonade In jenen Jahren war Powderville in der Tat eine fröhliche Stadt. Viele fühlten sich an Dodge erinnert, wie es sich im Jahre 1872 darbot, als dort gerade die Eisenbahn endete. Auch Powderville profitierte bereits seit einigen Jahren von derselben günstigen Lage. Binnen kurzem würde die Bahn freilich nach Südwesten verlängert und dem Viehtreiberweg entgegengeführt werden. Nun, dann mußte sich diese Stadt eben die Asche der Langeweile aufs Haupt streuen und das graue Kleid einer bedeutungslosen Station überziehen. Als ob sie das ahnte, lebte sie das fieberhafte Leben einer liederlichen Schwindsüchtigen, die weiß, daß ihre Stunden gezählt sind. Vorläufig aber schrieben noch die flammenden Läufe der Revolver die Geschichte von Powderville. Der heutige Tag war um so feuriger, weil die Cowboys aus Texas eben ihren Lohn erhalten hatten und nicht wußten, wie sie ihn am raschesten umsetzen konnten. Guss Nagle, ein krummbeiniger und sehniger Cowboy aus Panhandle, hatte schon den ganzen Nachmittag über alle Mittel erprobt, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Zunächst hatte er sich einen Stetson in schreienden Farben gekauft und sich damit photographieren lassen, und nun dachte er gerade daran, Fortuna mit einer Partie Monte zu reizen. Zunächst aber gehörte er noch
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zu jenen, die eine lärmende Girlande um das Barpult im Saloon »Full Glass« bildeten. Eben schickte er sich an, von diesem Lokal auf effektvolle Weise Abschied zu nehmen und den Lüster von der Decke zu schießen. Doch diesen Vorsatz konnte er nicht mehr in die Tat umsetzen, denn gerade, als er mit unsicherer Hand den Revolver zog, verstummte rings um ihn der Lärm und erstarrte augenblicklich zu eisiger Stille. Nur neben dem Cowboy flüsterte einer: »Brooks hat heute schon einen Mann zum Abendbrot verspeist. Aber er hat wohl noch Appetit auf einen zweiten.« Langsam blickte sich Guss um, doch rasch ließ er den Colt wieder in die Tasche fallen, als sei er glühend. Denn unter der Tür erblickte er einen Menschen mit gläsernem Blick und schwankender Haltung. Das war Billy Brooks. Guss verspürte keineswegs das Verlangen, in Gegenwart von Mister Brooks mit seinem Revolver zu spielen, denn der Ruf, der diesen Namen umgab, hatte die Farbe von Blut und den Geruch von Schießpulver. Billy Brooks, ein geborener Vogelfreier seinem Charakter und seinen Taten nach, gehörte in Dodge City des Jahres zweiundsiebzig zu den bedeutendsten Größen der Schießkunst. Erst vor wenigen Augenblicken hatte er Floyd McOdlum, den bewaffneten Begleiter von Kingsleys Transportgesellschaft, ins Reich der Schatten geschickt. Die Leute aus Texas lehnten es unter Hinweis auf sein Wüten ab, bei ihrer Ankunft in der Stadt die Waffen abzugeben. Nur ein einziger 90
Mann konnte sie dazu zwingen: Brooks. Aber der verlangte das von ihnen nicht, denn das ungeschriebene Gesetz der Pistolenschützen verbot es, unbewaffnete Menschen zu töten; das Töten aber war für ihn zum Lebensbedürfnis geworden. Und weil das alle wußten, waren sie mit ergreifender Ängstlichkeit bemüht, nicht seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Unter diesen Umständen versuchten also die Gäste des Saloons »Full Glass« einen möglichst friedlichen Eindruck zu machen, und Guss Nagle tat so, als wüßte er gar nichts von dem Revolver an seiner Hüfte. Billy Brooks taumelte eine Weile unter der Tür hin und her, worauf er unter lautloser Stille schwankenden Schrittes auf das Barpult zutorkelte, das noch vor wenigen Augenblicken von einer dreifachen Reihe durstiger Männer umlagert gewesen war, nun aber vor Leere gähnte. Nur zu beiden Seiten duckten sich einige Männer, die anscheinend Anspruch auf die Gloriole des Heldentums erhoben. Der Totschläger stützte sich schwer auf das Barpult, warf einen mexikanischen Dollar darauf und rief mit knarrender Stimme: »Ei-ei-einen Whisky mi-mi-mit Pf-Pf-Pfeffer!« Es ist wahr, daß Mister Brooks in nüchternem Zustand niemals stotterte, aber sobald er etwas getrunken hatte, verknotete sich seine Zunge wie ein Seil in den Händen eines gewandten Seemanns. Wie wir bereits bemerkt haben, war er jetzt entschieden nicht nüchtern; somit stotterte 91
er. Außerdem war er in trostloser Stimmung, die ihm die ganze Welt in besonders düsteren Farben erscheinen ließ. Er fühlte, daß in seinem trunkenen Hirn eine leise, aber um so verbohrtere Wut erwachte, sich zähneknirschend reckte und ihre blutige Konkubine, das Mordverlangen, aus dem Schlaf rüttelte. Mit finsterem Gesicht blickte er sich um, und jedermann, auf den dieser Schlangenblick fiel, begann über das nachzudenken, was man die letzten Dinge des Menschen nennt. Aber Mister Brooks entdeckte in allen Gesichtern denselben lammfrommen Ausdruck, daß er sich angeekelt wieder seinem Glas zuwandte, aus dem er, dumpf vor sich hinglotzend, den Whisky schlürfte. Eine frostige Stille hing über den Häuptern der Trinker wie ein Felsblock, der jeden Augenblick auf die angstvoll gebeugten Rücken niederzufallen drohte. Deshalb atmeten alle befreit auf, als die Flügeltür schlug und der Fußboden unter den Schritten von Neuankömmlingen knarrte. Einem von ihnen war offenbar die in diesem Saloon herrschende gedrückte Atmosphäre durchaus nicht nach Geschmack. Sein Mißfallen drückte er auch gleich mit folgenden Worten aus: »Da-da-da i-i-ist e-e-es a-a-aber lu-lu-lustig! Ww-wie b-b-bei einem Be-Be-Begräbnis!« Mister Brooks drehte sich langsam um. Aus seinen Augen blickte der Tod …
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Leo Bushman, Billy Brooks … Nie zuvor hatten sie einander gesehen. Deshalb hatten sie auch keine Ahnung, daß die stiefmütterliche Natur beiden eine gleich widerspenstige Zunge in den Mund gelegt hatte. Der Leser kennt bereits den Charakter der beiden, und so fällt es ihm nicht schwer zu erraten, wie diese Begegnung endete. Aber warum sollten wir den Ereignissen vorgreifen? Bennetts Pistolenschütze widmete also anfangs dem hämisch grinsenden Betrunkenen am Barpult nicht die geringste Aufmerksamkeit und ging ruhig auf den ersten leeren Tisch zu, wobei er sich schon im voraus an der Vorstellung eines saftigen Beefsteaks erfreute. Aus diesen materialistischen Trugbildern riß ihn aber der Schlag einer harten Hand, die mit Gewalt seinen Arm umklammerte. Er sah sich überrascht um und erblickte den Mann, der noch vor einer Weile an der Bar gelümmelt hatte, jetzt aber alle Kraft aufwandte, ihm den Arm auszurenken. Und da konnte er es sich zusammenreimen, daß die wütenden Grimassen ihm gegolten hatten. Billy Brooks hatte, auch wenn er nüchtern und in großartiger Laune war, niemals einen Überfluß an feinen Manieren. Man kann sich also vorstellen, wie er sich erst einem Fremden gegenüber verhielt, wenn er davon überzeugt war, daß ihn dieser wegen seines Stotterns verspottete. Ohne aufzuhören, Bushmans Schultergelenk zu quetschen, beugte er sich in einem gefährlich scharfen Winkel zu ihm und begann, ihm eine 93
beleidigende Rede ins Gesicht zu schleudern, deren Länge durch das hartnäckige Stottern mehr als verdoppelt wurde. Mister Bushman fühlte sich von dieser Ansprache unangenehm berührt, was übrigens durchaus begreiflich ist, denn im einleitenden Teil wurde er als rothaariger Idiot angesprochen, dann mit einer Reihe widerlicher, durchweg stinkender Tiere verglichen und schließlich vertraulich mit den von Brooks gehegten Absichten bekannt gemacht: Er, Leo Bushman, werde so ausgiebig mit Blei gefüttert werden, daß er keine Gelegenheit mehr haben werde, nach anderer Nahrung Verlangen zu tragen. Dabei klopfte der Totschläger bedeutungsvoll auf seine Revolvertasche und versicherte dem rothaarigen Schützen, ein voller Löffel Bleiragout liege schon für ihn bereit. Innerhalb weniger Augenblicke bildete Bushmans Gesicht ein einheitliches farbiges Ganzes mit seiner feurigen Mähne. Es fehlte also nicht viel, um seinen Truthahncharakter bis zur Unzurechnungsfähigkeit zu entflammen. Eigentlich genügte es schon, daß so ein Schnapsbruder es sich erlaubte, ihm auf die Schulter zu schlagen; und nun beleidigte ihn dieser Geiferer noch mit allerhand Tiernamen, wobei er sich über seine schlechte Aussprache lustig machte. Fürwahr, es bestand kein Grund, die Zeit mit leerem Geschwätz zu vergeuden, wo doch sein rascher Arm in derartigen Fällen eine weit nachdrücklichere Sprache beherrschte. Deshalb 94
riß er die Hand des Betrunkenen von seiner Schulter, sprang zurück und fuhr mit seiner Rechten unter den Rock. Mister Brooks hatte jedoch nur auf eine solche Bewegung gewartet und bewies nun sofort, daß er zu jenen gewandten Männern aus dem Grenzgebiet gehörte, die Horace in Sanders’ Hotel erwähnt und die Leo so sehnsüchtig zu sehen gewünscht hatte. Jetzt hatte er einen solchen Mann unmittelbar vor Augen, leider jedoch nicht lange, denn Brooks’ Finger drückten den Abzug in einer so kurzen Zeitspanne, daß der Tod Mister Bushman die Augen früher schloß, als er sich vergegenwärtigen konnte, mit was für einem guten Schützen er hier die Ehre hatte. Seine durchschossene Stirn schlug im selben Augenblick auf den Fußboden, in dem sein Finger den Elfenbeinschaft seines Revolvers berührte. Nun lag er hier starr ausgestreckt, blind für alle bleichen Gesichter ringsum, taub gegenüber der Stille, in deren unsichtbaren Schleier sich der Tod so gern hüllt. Aber vielleicht beschäftigen wir uns zuviel mit dem Ende dieses bedeutungslosen Pistolenschützen. Im Verlaufe dieser Erzählung wird es noch genug Leichen geben (und was für welche!), weshalb kein Grund besteht, daß wir uns bei jedem erschossenen Banditen lange aufhalten. Beachten wir lieber die wichtigeren Persönlichkeiten, die Leos Höllenfahrt zusahen!
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Als Mister Brooks seine Mordbegierde gestillt hatte, sah er keinen weiteren Grund, an einem solch ungemütlichen Ort, wie es jetzt der Saloon »Full Glass« war, länger zu verweilen. Deshalb ließ er seinen Colt in die Tasche sinken und taumelte, laut rülpsend, auf die Straße. Was Greenwood betrifft, so wäre dieser am liebsten auf einen Tisch gesprungen, hätte seinen Zylinder in die Luft geworfen und für alle Anwesenden eine Lage bestellt. Brooks’ Pistole hatte in Sekundenschnelle jenes schwierige Problem gelöst, mit dem er nur um den Preis einer neuen Belastung seines Gewissens fertiggeworden wäre. Noch war aber das Spiel nicht gewonnen. Noch immer ruhten die ersehnten 150 000 Dollar samt dem wertvollen Plan der Parzellen von Cowtown auf der erkaltenden Brust des toten Pistolenschützen. Nun galt es, Leos Überreste schnellstens beiseite zu schaffen, denn sonst könnte sich der ganze Vorfall unliebsam komplizieren. Horace fürchtete beispielsweise solche Leute wie den Leichenbeschauer, der den wertvollen Gürtel bestimmt bemerken würde. Das hätte an und für sich nichts zu bedeuten, aber wenn erst Mister Bennett anfing nachzuschnüffeln (und das würde er sicherlich tun), um den Mann auszuforschen, der ihm so schlau die Beute vor der Nase weggeschnappt hatte, dann könnte das Zeugnis des Leichenbeschauers seine Späher auf die richtige Spur bringen. Es kam also alles darauf an, die Leiche möglichst gleich und ohne das 96
geringste Aufsehen verschwinden zu lassen, bevor die Behörden ihre dumme Nase in die Sache steckten, was freilich in einer Stadt wie Powderville nicht ganz wahrscheinlich war. Greenwood entschloß sich also, die Rolle eines niedergeschlagenen Hinterbliebenen zu spielen, denn er trug sich mit der Absicht, den entschlafenen Mister Bushman als seinen Vetter auszugeben. Er wandte sich also an die Umstehenden und bat sie unter rührender Berufung auf Leos altes Mütterchen (sicherlich hatte er eins gehabt), ihm zu helfen, den Leichnam seines verewigten Vetters in Berkowiczs Hotel zu tragen. Es schien jedoch, als sei keiner der Anwesenden von dem Gedanken begeistert, sich mit dem schweren Leichnam zu schleppen. Die mangelnde Bereitwilligkeit der Gaffer begann Horace bereits nicht wenig nervös zu machen, als ihm jemand freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Er blickte sich um und sah einen untersetzten Mann, dessen dem Licht abgewandtes Gesicht er nicht gut erkennen konnte. Sofort aber erkannte er den schönen und satten Baß, der aus dem Munde jener massigen Gestalt wie ein Strom guten, schweren Bieres hervorsprudelte. »Du weißt doch, Herzog, daß ich dich niemals im Stich lasse. Pack ihn nur an den Armen, ich nehme ihn an den Beinen!« Eine solche Stimme hatte nur ein Mann auf der Welt. Und er allein neckte Horace mit Adelstiteln.
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So also war Mister Greenwood wieder mit Shamus O’Meara zusammengetroffen. In einem Zimmer des ersten – und zugleich letzten – Obergeschosses von Berkowiczs Hotel saß Winnifred auf ihrem Bett, die Knie zum Kinn hochgezogen, und beachtete nicht im geringsten die verführerischen Koteletts, die vor ihr auf einem Teller reizvoll ausgebreitet waren, wie eine Favoritin des Sultans, die mit Gold geschmückt und vom Duft von Bratkartoffeln umgeben ist. Sie hatte es abgelehnt, im Schankraum zu speisen, und so war Mister Breakenridge, begierig, das Leben und die Gewohnheiten der Grenzbewohner möglichst bald kennenzulernen, allein in diese Hölle hinabgestiegen, die unter ihren Füßen brodelte und explodierte, und hatte ihr eine baldige Rückkehr versprochen. Das Abendessen brachte ein krummbeiniger junger Mann, der dauernd in tiefes Nachdenken versunken zu sein schien, aus dem er nicht gerissen werden wollte. Er bemühte sich nicht im geringsten, den Titel eines Kellners zu verdienen. Gewiß ist, daß er Winnifred ein ebensolches Mißtrauen einflößte wie das ganze Hotel Berkowicz. Den Bewohnern dieser Eisenbahnstadt war es keineswegs lächerlich vorgekommen, als Mister Samuel Berkowicz seine hölzerne Bude als »Hotel« bezeichnete. Aber ein vom Osten verwöhntes Mädchen wie Winnifred betrachtete diese Bezeichnung als einen unverschämten Betrug. Hätte die Tochter des Journalisten freilich 98
die umliegenden Häuser bei Tageslicht gesehen, so hätte sie zweifelsohne das Selbstbewußtsein von Mister Berkowicz verstanden, aber die nächtliche Dunkelheit verhüllte alles außer den beleuchteten Fenstern und Eingängen und verhinderte so jeglichen Vergleich, aus dem das genannte Hotel unbestritten als Sieger hervorgegangen wäre. Und dabei war dieses Nest immerhin noch eine Stadt, durch die Brücke der Eisenbahn mit dem Komfort der Zivilisation verbunden. Morgen aber würde Winnifred in einem bauchigen Stellwagen Platz nehmen und zwei Tage in dessen ratternden Eingeweiden braten, bis sie die Straßen von Cowtown, ihrer künftigen Heimat, zu sehen bekam. Die Vorstellung dieser staubigen Ansammlung von Holzhütten, die sich in der Prärie verlieren, erfüllte sie mit Verzweiflung, die der Anblick ihrer trostlosen augenblicklichen Umgebung sicherlich nicht zerstreuen konnte. Der Weg vom Bahnhof zum Hotel hatte kaum fünf Minuten gedauert, und doch schien es Winnifred, als hätte sie im Laufe dieser dreihundert Sekunden zehnmal soviel gesehen wie während ihres ganzen bisherigen Lebens, das sie in einer stillen Vorstadt von Chicago verbracht hatte. Angesichts dessen empfand Winnifred Dankbarkeit gegenüber dem blassen Stutzer, der sich auf dem Bahnhof ihr und ihrem Vater vorgestellt hatte. Im übrigen interessierte sie sich für ihn nicht besonders, wenn auch sein 99
unverwandter Blick bewirkt hatte, daß ihr ein angenehmer Schauer über den Rücken lief. Die Anwesenheit dieses Mannes gab ihr eine gewisse Sicherheit; sie wußte, daß jemand hier war, der bei etwaigen Schwierigkeiten weit energischer eingreifen konnte, als es ihrem silberhaarigen Vater möglich wäre. Dagegen gefiel Miss Winnifred der Gefährte des Fremden keineswegs. Er gaffte sie immer so dumm an. Und dieser lächerliche Schnurrbart, diese pomadisierte Frisur! Fürwahr, ein komischer Kauz! Mister Breakenridge trank inzwischen unten am Barpult ein Glas anständigen Whisky für einen weit weniger anständigen Preis, wobei er seine Umgebung mit dem Blick eines erfahrenen Reporters beobachtete, dem nichts verborgen bleiben darf. Die Bar war so herrlich verraucht, daß sich das matte Licht furchtsam an die Lampen drückte und sie mit Kugeln eines roten Nebels umgab, während der Rest des Raumes in ein ungutes Halbdunkel getaucht blieb. Die Ausdünstungen der Menschen, die sich in ihrer privaten Beschäftigung überwiegend mit Rinderzucht und Raubzügen befaßten, verdichtete die heiße Luft zusammen mit den alkoholischen Dämpfen zu einem geradezu greifbaren Gemisch. Damit jedoch alle Sinne auf ihre Kosten kamen, klimperten noch die flinken Finger eines Mannes auf dem Pianino den sich endlos wiederholenden Refrain eines rauhen Gesanges. Durch die manchmal aufreißenden 100
Rauchfetzen taumelten gespenstische Schatten an den Tischen entlang, auf denen Giftpilze von Hasardspielen wucherten. Karten, Roulett und Weiber – das war eine zu mächtige Verschwörung gegen eine volle Geldtasche. Sonderbarerweise betrugen sich jedoch die Kartenspieler, die durchweg wilde Gesichter hatten, recht diszipliniert. An der Wand hing ein schön gerahmter Zettel, auf dem sich Zierbuchstaben – ein kalligraphisches Wunder der siebziger Jahre – zu folgendem Text zusammenfügten: »Schießen Sie, wie Sie wollen, aber erst auf der Straße!« Freilich hätte diese Empfehlung kaum die Leidenschaften der wilden Spieler im Zaume gehalten, aber die Büttel des Hotelbesitzers Berkowicz waren in der weiteren Umgebung wegen ihrer kräftigen Arme und ihrer vollendeten Schießkunst berühmt. Wenn ein Unverständiger sich naiv um einen Exzeß bemühte, spürte er sofort am Hosenboden und am Kragen die Berührung einer kräftigen Hand, die ihn leicht vom Stuhl hob und mit ihm die Tür aufstieß. War einer gar so verrucht, nach der Pistole zu greifen, spielte er Poker fortan höchstens mit den Engeln oder, was wahrscheinlicher ist, mit rücksichtslos bluffenden Teufeln. Mister Breakenridge bemerkte jedoch auch eine Gruppe von Männern, die sich von den übrigen Gästen durch ihre ehrlichen Gesichter und einen anständigen Gesprächston angenehm abhoben, nur sehr gemäßigte Schimpfwörter gebrauchten – 101
und selbst die nur in den dringendsten Fällen. Da sie durchweg auf städtische Art gekleidet waren, wenn der Schnitt ihrer Anzüge auch oft die Hand eines Provinzschneiders verriet, repräsentierten sie offensichtlich die moralische Blüte der Bevölkerung von Powderville. Wenn man Beruf und Stand der einzelnen Mitglieder dieser würdigen Gruppe auch nur schwer erraten konnte, so war man bei einem von ihnen keine Sekunde lang im Zweifel. Es war ein unrasierter, altersgrauer Mann mit einem recht niedrig hängenden Colt. Aber es genügte ein einziger Blick auf den gewaltigen Messingstern, der auf seiner offenen Weste glänzte, um zu erkennen, daß der Träger dieses Abzeichens die amtliche Berechtigung hatte, seine Fünfundvierziger so niedrig hängen zu haben. In der ganzen Gesellschaft dominierte jedoch ein Mann, der geradewegs aus den Seiten von »Onkel Toms Hütte« herausgesprungen zu sein schien, wo er bisher die Gestalt des wilden Sklavenhalters Legree verkörpert hatte. Majestätisch und braun wie ein Kupferkessel, drängte er alle Bürger einschließlich des unrasierten Marschalls in den Hintergrund. In der Versammlung dieser ehrwürdigen Notablen spielte schließlich Mister Ferd Kingsley verdientermaßen die erste Geige. Er spielte sie jedoch recht laut und vom Fußboden aus. Der Vorsitz in Kingsleys Transportgesellschaft war nur eine von vielen einträglichen Pfründen, die dieser ungekrönte König von Powderville mit der Wut eines vom Gold 102
besessenen Wahnsinnigen angesammelt hatte. In seinen Händen liefen schon seit Jahren die Fäden der Kommunalpolitik zusammen, und er herrschte über die Stadt mit rücksichtsloser Härte, wobei er weder mit Bestechungen noch mit Erpressungen sparte. Am heutigen Abend hatte er die bedeutendsten Konsulen hierher gerufen, damit sie über die chaotischen Zustände Rechenschaft ablegten, die in letzter Zeit auch in Powderville Einzug gehalten hatten. Bisher war es ihm gelungen, die Leute aus Texas im Zaum zu halten, wenn er ihnen das Gebiß auch so schonend wie möglich anlegen mußte, denn aus ihren Taschen lebte eine ganze Reihe von Vergnügungsbetrieben, die ebenfalls einen Teil von Kingsleys Besitz bildeten. Der Faden, an dem der Friede auf den Straßen von Powderville gehangen hatte, war zerrissen, als Billy Brooks hierher kam. Trotzdem war Ferd Kingsley ruhig geblieben, solange der Revolver des Totschlägers nur betrunkene Cowboys erledigt hatte. Heute aber hatte Brooks auf Floyd McOdlum geschossen, einen Spezialisten für die WinchesterPistole vom Kaliber 73, den Begleiter der Stellwagen von Kingsleys Transportgesellschaft. Diese Nachricht hatte den Cäsar von Powderville gerade in dem Augenblick erreicht, als er die Serie seiner Doppelkinne dem Messer von Mark Spinetti anvertraute, dem loyalsten Einwohner von ganz Powderville. Der Hofbarbier entfernte sogleich vorausschauend die scharfe Klinge von der verehrten Kehle. Tatsächlich 103
brachte das Referat von dem tragischen Zusammenstoß McOdlum versus Brooks die Galle Ferd Kingsleys zum Überlaufen. Erst die laue Berührung des schäumenden Pinsels besänftigte seinen Zorn ein wenig. Noch glitt der Alaunstein über die glattrasierte Wange, da beauftragte Kingsley bereits den devoten Figaro, unverzüglich die Funktionäre der Stadt in den Schankraum von Berkowiczs Hotel zu bestellen, zu dessen Erhaltung er sich vor kurzem verpflichtet hatte. Und Spinetti zerriß sich fast, um die ihm anvertraute Aufgabe zu erfüllen. Jetzt stand der allmächtige Tyrann also da und weidete sich an der Verlegenheit der ehrenwerten Männer, über deren Häupter er die ätzende Säure seines gefürchteten Witzes ausgoß. In dem Augenblick, in dem Mister Breakenridge seinen Beobachtungsstand einnahm, hatten bereits die meisten der Notablen ihren Teil abbekommen. Es blieb nur noch der Stadt-Marschall, Frank Hanray, übrig. Der Große Ferd begann tatsächlich, auf ihn das schwerste Kaliber seiner beißenden Ironie zu verfeuern. Zunächst gab er der Überzeugung Ausdruck, daß selbst der feigste Mann in Texas Frank Hanray weniger fürchte als den hölzernen Indianer vor Coughlins Gemischtwarenhandlung; er sei höchstens dazu gut, daß die Mütter mit ihm die kleinen Kinder schreckten, und selbst das gelinge nur bei den furchtsameren und geistig zurückgebliebenen.
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Das war in der Tat ein etwas starker Tobak selbst für eine so kräftige Natur, wie sie Frank Hanray besaß. Trotzdem spülte er den Sumpf des Spottes mit einem Glas Whisky hinunter und überraschte Mister Kingsley mit einer schlagfertigen Antwort. Es sei wirklich ein Pech, denn er könne tun, was er wolle, Mister Brooks sei nirgends zu finden. Bitte sehr, alle Aufgeblasenheit beiseite, aber es sehe wirklich so aus, als gehe ihm dieser Totschläger aus dem Wege, ja man könne das Kind ruhig beim Namen nennen: als habe er vor ihm Angst. So sei beispielsweise er, Frank Hanray, heute nur deshalb hierher geeilt, um hier Brooks zu treffen, doch der habe wohl Wind bekommen und sich gleich unsichtbar gemacht. »Ich bin davon überzeugt«, schloß der Marschall, der von seinen eigenen Worten entflammt war, »daß alles ganz ruhig abginge, ohne den geringsten Lärm. Ich würde Billy nur die Hand auf die Schulter legen und leise sagen: ›Billy, alter Junge, gib mir deine Kanonen! Na, mach schon, nur keine Dummheiten!‹« Die Vision dieser idyllischen Verhaftung blendete den redseligen Marschall derart, daß er das verzweifelte Gebärdenspiel von Mister Kingsley nicht wahrnahm, dessen zunächst zu einer belustigten Grimasse verzogenes Gesicht inzwischen eine sonderbare Veränderung durchgemacht hatte. Übrigens nahm Hanrays Gesicht den gleichen Ausdruck an, als plötzlich Billy Brooks vor ihm 105
stand. Der gefürchtete Pistolenschütze hatte schon einige Zeit hinter seinem Rücken gestanden und den prahlerischen Tiraden voll Interesse gelauscht. Schließlich entschloß er sich jedoch, die Szene zu betreten und den Marschall für sein unverschämtes Geschwätz nach Gebühr zu bestrafen. Zuerst hatte Bushmans Blut, dann aber die frische Abendluft sein von Trunkenheit getrübtes Gehirn gereinigt und damit auch seine stotternde Zunge gelöst. Nun stand er also vor Frank Hanray, ein böses Grinsen auf den Lippen, in der Hand den Colt, den er dem Marschall mit dem Schaft nach vorn überreichte. »Hier haben Sie ihn, Frank«, sagte Brooks und lachte wie eine joviale Klapperschlange, »entschuldigen Sie, daß ich das nicht schon früher getan habe! Bitte, nur keine falsche Bescheidenheit!« Mit diesen Worten hielt er dem Marschall die mit zahlreichen unseligen Kerben versehene Waffe unter die Nase. Der wagte freilich nicht einmal, den kleinen Finger zu rühren. Wäre in diesem Augenblick, Christoph Kolumbus am Barpult erschienen und hätte drei Finger hoch Branntwein bestellt, so hätte Frank Hanray nicht entsetzter dreinschauen können. Mister Brooks hörte nicht auf zu lächeln, auch als seine Faust ausholte und heftig auf dem Magen des Marschalls landete. Der Getroffene stöhnte schwer, aber sein Stöhnen wurde von einer dicken Schicht Johannisbeermarmelade gedämpft; diese hatte
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den Kuchen bedeckt, mit dem ihm Billy rasch das schmerzverzerrte Gesicht bepflasterte. Nachdem Brooks den Prahlhans bestraft und der Lächerlichkeit preisgegeben hatte, wollte er sich mit ihm nicht länger befassen. Er erlaubte ihm, sich zurückzuziehen, und beschleunigte höchstens seine Schritte durch einige energische Schüsse unter die Füße. Dann gedachte er, sich neuerlich dem schrankenlosen Genuß alkoholischer Getränke hinzugeben, der bekanntlich schadet. Die Schmähung des Marschalls erweckte jedoch in ihm die Lust zu weiterem Wüten. Er blickte sich daher hochmütig um und forderte die Umstehenden auf, ohne Umstände von der Theke zu verschwinden; er liebe nämlich die Einsamkeit, denn diese wecke in ihm poetische Gedanken und rege ihn zu frommen Überlegungen an. Man braucht wohl nicht zu betonen, daß sich alle beeilten, aus der Umgebung des gefürchteten Totschlägers zu verschwinden, der sich in tiefsinnige Meditationen versenken wollte. Der Barbier Spinetti floh sogar so überstürzt, daß er dabei die Schere verlor. Und so kam es, daß Mister Brooks, als er sich nun umblickte, niemanden mehr am Barpult sah – außer Mister Breakenridge, der ruhig am andern Ende der Theke sein Glas leerte. Da begriff der Pistolenschütze sofort, daß er es mit einer Ausnahmeerscheinung zu tun habe. »Hallo, Fremder!« rief er herausfordernd. »Wie es scheint, sind Sie etwas schwerhörig! Haben Sie 107
nicht vernommen, was ich eben über meine Freude an der Einsamkeit, über ihren Einfluß auf die Entstehung poetischer Gedanken und so weiter gesagt habe? Ich werde das nicht noch einmal wiederholen, das können Sie mir glauben.« Zacharias Breakenridge hob seine friedfertigen Augen und antwortete so, wie nur ein Mann seiner Veranlagung und seines Charakters antworten konnte. Er könne nicht einsehen, daß der mäßige Genuß von Spirituosen an der Theke einer öffentlichen Bar irgendwie gegen die Gesetze der Vereinigten Staaten verstoße. Aus der rechtlichen Zulässigkeit ergebe sich, daß ihm dies keine Amtsperson, geschweige denn eine Privatperson verwehren könne, ebenso, wie er sich durch niemanden von dem Platz vertreiben lasse, den er zur Zeit einnehme. Eine derartige Rede verschlug dem abgebrühten Gewaltmenschen den Atem, seine Zunge war wie Holz, und er rasselte nur einige Male wie ein Grammophon, das damals freilich noch nicht erfunden war. Da fiel sein Blick auf die auf dem Fußboden liegende Schere Spinettis. Das Auge des Pistolenschützen blitzte auf, und seine blutlosen Lippen verzogen sich zu einer häßlichen Grimasse. Unmittelbar danach bückte sich Billy Brooks, zog das Instrument des Friseurs aus dem Fußboden und schritt langsam auf den Journalisten zu, gefolgt von den Blicken der gespannten Menge. Zacharias Breakenridge wischte gerade seinen beschlagenen Zwicker ab, als ihm Mister Brooks 108
freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte und ihn mit biederen Worten ansprach: »Sie gefallen mir, sympathischer Greis, wollen wir nicht auf unsere Bekanntschaft trinken?« Der Journalist schob zunächst die robuste Hand von seiner Schulter und antwortete dann in einem äußerst kühlen und sachlichen Ton: Er könne sich nicht erinnern, Mister Brooks darum gebeten zu haben, ihn einen »sympathischen Greis« zu nennen. Im Hinblick auf den beträchtlichen Altersunterschied halte jedenfalls er eine derartige Anrede für äußerst unpassend. Was jedoch die Einladung anbelange, müsse er Mister Brooks zu seinem Bedauern mitteilen, daß er niemals mit Leuten anstoße, die die Autorität der Sicherheitsorgane besudeln. Nach diesen Worten, die eine solch stark persönliche Färbung aufwiesen, lüftete er höflich den Zylinder und schickte sich zum Gehen an. Doch da packte ihn die Pranke von Mister Brooks am Kragen. »Trotzdem würde ich gern mit Ihnen trinken, lustiger Alter«, wieherte der Pistolenschütze, mehr erheitert als erbost. »Im Ernst, Sie gefallen mir! Nur Ihr rechter Backenbart ist nicht ganz nach meinem Geschmack!« Ratsch! Die Backen der Schere klappten spöttisch, und das Gesicht von Mister Breakenridge hatte seine würdevolle Symmetrie eingebüßt, da es um eine silberne Backenbartsträhne ärmer geworden war. Ein verworfenes wieherndes Lachen dröhnte aus dem Munde des Schurken, denn der Totschläger war mit seinem Scherz höchst zufrieden. 109
Nun war die Reihe an dem Journalisten, vor Erbitterung nicht nur die Sprache zu verlieren, sondern auch die Herrschaft über seine Glieder; er stand regungslos da wie ein Prellstein, soweit ein solcher Prellstein freilich in der Lage ist, erbittertes Entsetzen auszudrücken. Brooks erfreute sich noch eine Weile an Mister Breakenridges komischem Ausdruck, zerrte ihn dann an dem verbliebenen Teil seines Vollbarts und sagte vertraulich: »Na, Bruderherz, jetzt steht wohl nichts mehr im Wege, daß wir ein Glas miteinander leeren!« Und schon rief er dem Barkeeper zu: »He, zweimal gepfefferten Whisky!« Da trat jemand an die Theke und sagte: »Und mir ein Glas Cola-Coca-Limonade!« Mister Frank Leslie alias Buckskin Frank, zur Zeit Barkeeper in Berkowiczs Hotel, beherrschte ebensogut die Bedienung rauher Gäste wie das rasche Schießen. Trotzdem zauberte die Bestellung einer alkoholfreien Limonade in diesem Lokal auf sein durchtriebenes Gesicht einen unglaublich dummen Ausdruck. In der Tat, er staunte nicht mehr, als wenn ihn der Unbekannte um ein halbes Dutzend Kinderwindeln gebeten hätte. Er brauchte sich jedoch seiner Verwunderung nicht zu schämen, denn die gleiche Erstarrung spiegelte sich jetzt in allen Gesichtern. Schon beim zweiten oder dritten Öffnen des Mundes redete sich der Fremde warm in die Herzen aller anwesenden Söhne des staubigen 110
Kansas, denn der langgezogene, melodische Klang der wenigen Worte, die er bisher gesprochen hatte, zeugte untrüglich von seiner Herkunft aus Kansas. Ja, er war in Tracht und Bewegung ein geborener Westler. Seine gepflegte und geschmackvolle Kleidung hatte jedoch nichts gemein mit der zweifelhaften Eleganz der aus dem Grenzgebiet stammenden Stutzer. Ebenso kontrastierten seine edlen Gesten aufs schärfste mit ihrer cowboyhaften Ungeschlachtheit. Nun, versuchen wir es, mit ein paar ausdrucksvollen Strichen die Erscheinung dieses sonderbaren Fremdlings zu skizzieren! Der nicht übermäßig breite Schirm seines Hutes beschattete ein ausdrucksvolles Gesicht, aus dem ein tiefes Auge leuchtete, während der mächtig gewölbte Brustkasten das feine Hemd blähte, von dem die Zipfel der malerisch herabfließenden dunklen Krawatte um so stärker abstachen. Zwei gewaltige Smith & Wesson blitzten unheilverkündend an seinen Hüften, die eine weiche hirschlederne Reithose umspannte. Seine strammen Schenkel, die frei waren von der säbelhaften Verkrümmung, wie sie für die Reiter im Grenzgebiet so charakteristisch ist, steckten in den weichsten Reitstiefeln, die man zwischen dem Rio Grande und den kanadischen Seen erblicken konnte. Doch genug der trockenen Beschreibung! Mögen für den Unbekannten lieber Taten sprechen! Wir haben bereits bemerkt, daß sein unverhofftes Erscheinen und vor allem die kuriose Bestellung die verdiente Aufmerksamkeit aller 111
Männer weckten, die an jenem Abend Berkowiczs Saloon bevölkerten. Was Bill Brooks anlangt, so hielt der noch immer den restlichen Backenbart von Mister Breakenridge fest, starrte jedoch trotzdem entsetzt auf den jungen Mann, der durch seine Anwesenheit am Barpult seinen kategorischen Wunsch der Lächerlichkeit preisgab. »Ha!« stieß der erstaunte Totschläger hervor, der in diesem Augenblick keinen deutlicheren Ausdruck seiner Gefühle fand. Der Fremde maß ihn mit ruhigem, aber kühlem Blick und sagte dann mit bedächtiger, angenehm klingender Stimme: »Mister Brooks, wenn ich nicht irre. Nun, Billy, schätze, Sie tun Ihrer Gesundheit etwas Gutes, wenn Sie augenblicklich aufhören, diesen ehrenwerten Gentleman zu belästigen, und sich wegen Ihres bisherigen Betragens höflich bei ihm entschuldigen.« »Ha!« schnaubte Brooks zum zweiten Male, und sein Gesicht nahm allmählich das Aussehen eines Truthahnes an, der einen rotgemalten Raum betritt. »Sie haben irgendwie die Sprache verloren, teurer Bill!« fuhr der Unbekannte fort und stützte sich nonchalant auf die Theke. »Ha!« schnaubte der Bandit zum dritten Male. Doch nun umklammerte seine Hand nicht mehr den Bart des Journalisten, sondern fuhr mit Windeseile zu der gefürchteten Last seiner Hüften. Doch bevor sie noch den Lauf berührte, drückten die Zeigefinger des Fremden bereits den 112
Abzug der Smith & Wesson und ließen die beiden alten Brüder liebreich aufbellen. Die Wirkung war so wunderbar und dabei belustigend, daß die ganze Bar von einem Tornado des Gelächters erschüttert wurde. Der erste Schuß durchschlug nämlich die Schnalle von Bills Revolvergürtel, so daß die todbringende Umgürtung, noch bevor seine Finger nach den Elfenbeinschäften greifen konnten, mit Getöse zu Boden fiel und ihren Träger wehrlos wie ein Lamm zurückließ. Der zweite Schuß machte den Banditen jedoch auf eine weit peinlichere Art lächerlich, denn er durchschlug den Riemen, der seine Hose in gehöriger Höhe hielt. Diese folgte jetzt dem Beispiel der beiden Revolver und sank rücksichtslos zu Boden. So stand der gefürchtete Schütze nun in einer lächerlichen, bis an die Knöchel reichenden Unterhose da, die schon lange nicht mehr mit reinigender Seife in Berührung gekommen war. Mit den Colts des Totschlägers sank jedoch auch die Angst zu Boden, die diese schrecklichen Feuerspeier bisher verbreitet hatten. Deshalb sauste, während Brooks noch mit großen Augen auf den wunderbaren Pistolenschützen glotzte, der schwere Schaft von Hanrays Colt auf seinen Scheitel nieder und ließ über seinem staunenden Bewußtsein den Vorhang barmherziger Ohnmacht sinken. Die Gehilfen des Marschalls bemächtigten sich dann gewandt des halberstarrten Körpers, um ihn auf schonende Art und Weise ins städtische Spritzenhaus zu bringen. 113
Im Nu umdrängten die Bäuche der Honoratioren von Powderville den Fremden, begierig, die Bekanntschaft dieses lebenden Schießwunders zu machen. Anerkennendes Schulterklopfen und inniges Händeschütteln wollten kein Ende nehmen. Der Pistolenschütze hörte sich mit höflicher Bescheidenheit nur soviel an, wie seine Leistung verdiente. Dann klopfte er mit seiner leicht angeschwollenen Rechten auf das Barpult und bestellte neuerlich ein Glas Cola-Coca-Limonade. Mister Leslie stotterte verlegen, leider könne er mit dem genannten Getränk nicht dienen. Einen andern hätte er wegen eines derartigen Wunsches gewiß mit rohem Spott überschüttet, aber das blitzartige Entkleiden von Mister Brooks weckte in ihm gehörigen Respekt vor dem Unbekannten, dem diese Antwort nur ein leicht verächtliches Lächeln auf die Lippen zauberte. Er sehe, so behauptete er, in dieser Gegend werde er wohl auf keinen anständigen Schützen treffen, denn nur dort, wo die Cola-CocaLimonade in Strömen fließe, könne man von einem guten Schießen sprechen. Ja, einzig und allein die Cola-Coca-Limonade, von der er täglich wenigstens ein Glas trinke, habe es ihm ermöglicht, dieses präzise und rasche Zielen vorzuführen, nur sie verleihe der Hand Festigkeit sowie dem Auge Schärfe, verwandle das Nervensystem in ein Netz einwandfrei funktionierender Telegraphendrähte und härte die Muskeln zu Stahlfedern. Schließlich sei nur sie … 114
Da verstummte er, da er nicht mehr länger die brennende Berührung eines magnetischen Strahls zu ertragen vermochte, der seinen mysteriösen Arm von irgendwo aus dem Dunkel des Hintergrundes nach ihm ausstreckte. Er wandte seinen Kopf, und da tauchte sein Blick in ein Augenpaar, das züchtig, aber auch voll bisher unerwachter, jedoch um so brennenderer Leidenschaft auf ihn gerichtet war. Ja, das war Winnifred Breakenridge, die, ohne der Gefahr zu achten, ihr Hotelzimmer verlassen hatte, um ihren Vater zu suchen. Nun hatte sie ihn auch wirklich gefunden, zwar um einen Backenbart ärmer, aber bereichert um die Erkenntnis, daß im Grenzgebiet ganz andere Gesellschaftsnormen gelten als im Osten. Miss Winnifred war gerade in dem Augenblick durch die Tür getreten, als die Hose von Mister Brooks blitzschnell zu Boden fuhr. Jungfräuliche Scham gebot dem Mädchen, augenblicklich ihr Gesicht von einem so gewagten Schauspiel abzuwenden. Sicherlich hätte sie das getan, wenn das Blickfeld ihrer Augen nur die Unterhose des Banditen umfaßt hätte, doch aus diesem Blickfeld leuchtete ihr auch noch das sympathische Gesicht des wunderbaren Schützen entgegen. Die Folge war – Liebe auf den ersten Blick. Diesen Prozeß, der seinem Wesen nach immer gleich ist, hat der Autor in belletristischer Form bereits in einem der vorangegangenen Absätze unserer Handlung geschildert, weswegen hier nicht der Ort ist, daß wir uns damit neuerlich befassen. Während jedoch 115
in jenem Falle die Gefühle der sich verliebenden Person unerwidert geblieben waren, loderten nun beide Herzen in einer einzigen mächtigen Flamme. Mit der wahren Selbstbeherrschung eines Pistolenschützen ermannte sich der Fremde jedoch soweit, daß er noch zusammenhängend den Schluß der Limonaden-Apotheose aussprechen konnte, deren Inhalt sich in die Worte zusammenfassen läßt: »Ich vermag nichts, die Limonade alles.« Mit ehrfürchtigem Schweigen lauschte ihm die ganze Bar. Erst einige Sekunden, nachdem sein beredter Mund verstummt war, ergriff Mister Kingsley das Wort: »Fremder, Sie werden es uns wohl nicht verübeln, wenn wir Sie nach Ihrem Namen fragen?« Der Unbekannte schwieg eine Weile. Dann sagte er mit verlegenem Lächeln leise: »Es ist ziemlich gleichgültig, wie ich heiße. Aber vielleicht genügt es Ihnen, wenn ich sage, wie man mich im ganzen Westen nennt: ›Limonaden-Joe‹.«
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Der Liebe Lust und Leid Die knallenden Drohungen der langen Peitsche erlaubten dem Dreigespann nicht, den scharfen Galopp auch nur für einen Augenblick zu mildern. Der Kutscher wußte, daß er einzig hier, auf dem sanften, sich meilenweit hinziehenden Abhang jene Zeitspanne einsparen konnte, die er gegen Abend bei der Bewältigung der Government mountains doppelt brauchen würde. Der Stellwagen von Kingsleys Transportgesellschaft unterschied sich in nichts von seinen ungefügen Kollegen, die damals den Staub der Straßen im Grenzgebiet aufwirbelten und im Rhythmus der knarrenden Räder einen der bedeutsamsten Verse aus der Poesie der Steppe ratterten. Diese bauchige und abgeschundene Arche hatte schon mancherlei erlebt, und dieses Mancherlei hatte an ihr auch sichtbare Spuren hinterlassen. Mister Kingsley hatte anfangs ängstlich darauf geachtet, daß die von den Kugeln gerissenen Löcher ebenso wie die von Indianerpfeilen stammenden Schrammen sofort aufs sorgfältigste retuschiert wurden, da er wußte, daß derartige Kleinigkeiten auf die Stimmung der Passagiere nicht gerade aufmunternd wirkten. Aber die Apachen von Mescaller und die Banditen erwiesen sich als so ausdauernd im Durchbohren der Stellwagen, daß Mister Kingsley die Vergeblichkeit seiner Reparaturbemühungen einsah und schließlich die Hände in den Schoß
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legte, ohne dem Werk dieser »MetallHolzwürmer« fernerhin Beachtung zu schenken. Doch die Gentlemen, die sich heute mit der Absicht trugen, den Bauch des ehrwürdigen Vehikels zu durchlöchern, ahnten nicht, daß ihnen sein flacher Rücken doppelt soviel Blei zurückschicken würde, wie sie an ihn verschwendeten. Auf dem hohen Bock saß nämlich neben dem Kutscher jener junge Mann, der am Abend zuvor auf solch scherzhafte Weise nachgewiesen hatte, daß Billy Brooks seine Unterwäsche nicht gerade oft wechselte. Unter dem Sitz eine altersgraue Henry-Flinte, auf den Knien ein Winchester-Gewehr und an den Hüften seine Smith & Wesson – so etwas konnte man schon »bis an die Zähne bewaffnet« nennen. Noch vor vier Tagen hatte hier Floyd McOdlum gesessen, umlagert von einer nicht geringeren Eisenladung. Sicherlich verstand er damit gut umzugehen, aber nach allem, was sich in der Bar von Berkowiczs Hotel ereignet hat, wird man einsehen, daß er mit Limonaden-Joe keinem Vergleich standhielt. Mister Kingsley hatte aber auch wie ein Wasserfall geredet und nachdrücklich mit den Banknoten geraschelt, um den famosen Schützen für seine Dienste zu gewinnen, denn er hatte die Absicht, ihn an die Stelle des entschlafenen McOdlum zu setzen. Doch selbst die süßesten Schmeicheleien und die verlockendsten Angebote wirkten auf Joe nicht. Ja, er werde zwar den Wagen bis nach Fort Mahon geleiten, das verspreche er, aber das tue er nur, weil er dort 118
eine Kleinigkeit zu erledigen habe. Nein, McOdlums Stelle könne er nicht wahrnehmen, wenn man ihm auch einen noch so großen Lohn anböte, denn … Das ausdrucksvolle Schweigen des Schützen spannte die Neugier aller bis zum Bersten; sie erregte der Schleier des Geheimnisses, das seine rätselhafte Gestalt umgab. Nun saß der berühmte Pistolenschütze also auf dem Bock, fürchterlich geschüttelt von den zahllosen Querrinnen und Holpern, deren Gesamtheit die Grenzbewohner in unbegreiflichem Idealismus als »Straße« bezeichneten. In seinem bronzefarbenem Gesicht zuckte kein Muskel, während sein Adlerauge immer wieder von dem ausgedörrten Horizont bis zur nächsten Umgebung streifte und die Gegend einer geradezu mikroskopischen Untersuchung unterzog. Also, wie gesagt, im Gesicht kein Zucken. Aber blicken wir ins Innere, unter die Hirschlederjacke, ja noch tiefer, unter die stolze Wölbung der männlich behaarten Brust! Dort sah es anders aus! Ein Sturm der Gefühle durchtobte sein edles Inneres. Ein Blitzschlag grenzenlosen Glückes blendete seinen Verstand, sooft er daran dachte, daß nur wenige Fuß unter seinen Lenden – das heißt im Wagen – Sie weilte, geschrieben mit dem größten, dem allergrößten S. Doch unmittelbar darauf kühlte ein Platzregen sein entflammtes Herz. Schon nach wenigen Stunden mußte er sie ja wieder verlassen, um ihr vielleicht nie wieder zu begegnen. 119
Oh, du Pfeil Amors, du schreckliches Geschoß, das mehr vermag als eine doppelte Portion gehackten Bleis aus einer gezogenen Flinte! Gestern abend hast du die Brust unseres Helden durchbohrt, als jener, der dich gesandt hat, es ihm bestimmte, Sie zu sehen. Wäre es bei dieser einzigen Begegnung geblieben, so hätte der unglückliche junge Mann seine Reise wohl mit einer blutenden Wunde im Herzen, durch deine Waffe gebohrt, fortgesetzt, mit einer schweren Wunde, die aber doch schließlich mit einem Pflaster des Vergessens, langsam, aber ausdauernd von der mildtätigen Hand der Zeit aufgelegt, geheilt worden wäre. Doch ach! Er sah sie noch einmal heute morgen. Ja noch mehr als das: Er sprach mit ihr. Und noch mehr: Er berührte sogar ihre süßen Finger. Das hätte nicht geschehen dürfen, denn die Stimme und die Berührung des geliebten Wesens wirkten auf ihn wie ein Blasebalg, fachten in seinem Herzen die Flamme an, die schon langsam im Erlöschen gewesen war und nur noch matt flackerte. Heute morgen war er also am Stellwagen gewesen und hatte sich näher mit dem Mechanismus der beiden ihm anvertrauten Gewehre vertraut gemacht, ab und zu nach den Reisenden blickend, die sich bereits einfanden. Zuerst schlenderten zwei Männer herbei. Sie schäumten von guter Laune über, die die Züge ihrer kreideweißen Gesichter erhellte. Wenn der erste durch die sorgfältige Eleganz seiner Kleidung und die Erlesenheit seiner Gesten überraschte, so 120
konnte man den zweiten nicht im entferntesten irgendwelcher Dandy-Gelüste verdächtigen. Gewiß, auch er war gut gekleidet, aber schlichte Biederkeit durchdrang seine angenehme Erscheinung bis zum letzten Molekül. Der einigermaßen gewitzte Leser hat sicherlich schon längst erkannt, mit wem er die Ehre hat. Aber man muß auch mit weniger gewitzten Lesern rechnen. Diesen sei also verraten, daß sie neuerlich Mister Horace Greenwood und seinen wiedergefundenen Freund Shamus O’Meara vor sich haben. Die schwarzen Fracks der beiden Fremden gewannen jedoch das Vertrauen des Limonaden-Joe nicht allzusehr. Um so wärmere Sympathien empfand er dagegen für einen Neuankömmling, einen grauäugigen Mann von schlankem Wuchs, der mit jeder Bewegung den echten Sohn des Westens verriet. Nach der unauffälligen, aber höchst zweckmäßigen Art, mit der dieser Mann seinen Colt befestigt hatte, erkannte er gleich, daß er einen erfahrenen Schützen vor sich hatte. Aber gerade, als er diesen Fahrgast einer eingehenderen Betrachtung unterziehen wollte, zwang ihn das Rascheln eines leichten Kleides, sich umzudrehen. So stand er unverhofft jener Auge in Auge gegenüber, deren Bild ihm heute eine schlaflose Nacht bereitet hatte. In unwillkürlicher Erregung stieß er gegen den Abzug der Winchester-Flinte, mit der er sich bisher beschäftigt hatte, so daß ein Schuß losging und dem Kutscher den Rest seiner Maispfeife vom 121
Munde schoß. Der Alte, der glaubte, es handle sich um einen gelungenen Scherz, lachte gutmütig, da er sich von der vermeintlichen Aufmerksamkeit des Pistolenschützen geschmeichelt fühlte. Diese heitere Episode half jedoch unserem Pistolenhelden keineswegs, seiner tiefen Verlegenheit Herr zu werden. Erst jetzt bemerkte er auch Mister Breakenridge, der Winnifred begleitete. Dieser gute Mann, der jetzt auch die zweite Hälfte seines Backenbartes geopfert hatte, stellte zunächst sich und seine Tochter vor und drückte sein Bedauern darüber aus, nicht schon gestern Gelegenheit gehabt zu haben, Limonaden-Joe für sein energisches Einschreiten zu danken, durch das ihn dieser den Krallen des Gewalttäters entrissen habe. Leider verströmte Mr. Breakenridge jetzt seine überschäumende Beredsamkeit vergeblich. Der Geist des Pistolenschützen flatterte nämlich inzwischen durch jene Gegenden, die man gewöhnlich als »siebenten Himmel« bezeichnet. Seine Rechte umschloß innig das zarte Händchen, dessen Berührung in jedem seiner Glieder eine Hitze entfachte, wie das ein Glas alkoholfreier Cola-Coca-Limonade niemals vermocht hätte. Der Journalist hörte jedoch nicht auf, seine rednerische Begabung zu verschwenden, wobei er den wütenden Brooks mit der dunklen Kehrseite des Lebens im Grenzgebiet verglich, Joe aber mit seiner strahlenden Vorderseite. Zum Schluß 122
erwähnte er noch das tiefe Gefühl der Sicherheit, das ihn bei dem Gedanken erfülle, daß der Stellwagen von einem solch unerschrockenen Mann begleitet werde. Sein Schwatzen beendete er schließlich mit der keineswegs rhetorischen Frage nach Joes Reiseziel. Ihm antwortete jedoch ein tiefes Schweigen, denn der Liebeszauber band noch die Sinne der beiden jungen Leute. Sie standen Hand in Hand und verschlangen einander förmlich mit leidenschaftlichen Blicken. Man braucht wohl kaum zu erwähnen, daß Mister Breakenridges erfahrenes Auge alles bemerkte. Er lächelte nachsichtig und hüstelte leicht. Als er jedoch merkte, daß dieser Hinweis zu diskret war, angelte er aus seinem Rockschoß ein Taschentuch von der Größe einer Tischdecke und schnaubte sich laut die Nase. Erst dieser martialische Klang war imstande, die Macht von Amors Blendwerk zu brechen, so daß die erwachten Liebenden eilig den Druck ihrer heißen Hände lösten, als liefe durch sie ein starker elektrischer Strom. Der Pistolenheld, der sich erst jetzt dem belustigten Journalisten zuwandte, verfiel in nachhaltiges Stottern, mit dem er wohl selbst den verewigten Bushman in den Schatten gestellt hätte. Aber Mister Breakenridge befreite ihn mitleidvoll aus jeglicher Verlegenheit, indem er sich mit seiner Tochter in den Wagen zurückzog, ohne freilich zu ahnen, daß er auf diese Weise das 123
Mädchen den leidenschaftlichen Blicken eines nicht minder verliebten Mannes aussetzte, sich selbst aber in neue Konversationsleistungen stürzte, denn seine angeborene Höflichkeit gebot ihm, Mr. Greenwood nochmals für die Liebenswürdigkeit zu danken, mit der sich dieser Kavalier gestern seiner Person und seines Gepäcks angenommen hatte. Der Kutscher hob bereits die Peitsche und sammelte Luft in die Lungen, um mit schrecklichem Gebrüll das Dreigespann in Galopp zu versetzen, als laut schreiend ein dürres Männlein mit Spitzbart gelaufen kam und mit einem riesigen Koffer winkte. Innerhalb weniger Augenblicke war jedoch dieser verspätete Passagier samt seinem Gepäck untergebracht, und der Stellwagen begann unter entsetzlichem Knarren und Stöhnen seine gefährliche Fahrt. Diese Bilder zuckten nun dem Schützen neuerlich durch den Kopf, und ihrer Lebendigkeit vermochten weder die mörderischen Erschütterungen, die die Knochen der Passagiere knacken ließen, noch die rauhe Stimme des Kutschers, der ein Grenzerlied brummte, irgendwie Abbruch zu tun. Joe durchlebte erneut jenen Augenblick, als Winnifreds warme Hand und ihr vor Liebe feuchter Blick seine Sinne verwirrten, genoß nochmals den Augenblick, als … Nein, er mußte an etwas anderes denken. Übrigens, was war eigentlich mit seinem Gedächtnis los? Wie kam es, daß er sich bisher nicht daran erinnern konnte, wo und bei 124
welcher besonderen Gelegenheit er zum erstenmal diesen lächerlichen Menschen mit den stechenden Augen und dem Spitzbart gesehen hatte? Das angestrengte Nachdenken ließ auf seiner Stirn eine tiefe Falte entstehen. Er blickte so konzentriert drein, daß es aussah, als schiele er. Ich hab’ kein Mädchen, ich hab’ kein Mädchen, ich hab’ kein Mädchen, mit dem ich scherzen kann. Das Krächzen des Kutschers, das man selbst beim besten Willen nicht als Gesang bezeichnen konnte, warf plötzlich in die Gedanken des Pistolenschützen eine Säule feurigen Lichts. … Ich hab’ kein Mädchen, mit dem ich scherzen kann … Ihm war, als hörte er noch jetzt das Klimpern des Banjos und die angenehme Stimme, die diesen Refrain sang. Und an die Oberfläche seiner Erinnerung tauchte ein stiller Sommerabend in Galleyville. Sprechen wir von Galleyville und im selben Atemzug von einem stillen Abend, so müssen wir den Begriff »still« freilich durchaus relativ verstehen. Galleyville war nämlich in jenen Jahren ebenso still wie Dodge, Abilene, Newton, Ogalala und wie alle diese Teufelsnester hießen. Der damalige Abend war freilich ausgesprochen ruhig, nur ab und zu knackten irgendwo einige trockene
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Schüsse, und das Schreien der Betrunkenen wirkte durchaus erträglich. An jenem Abend betrat Joe gut gelaunt Hammonds Weinstube und bestellte ein Abendessen. Bald darauf genoß er die Wonnen, die ihm ein herrlich gebratener Schinken mit Ei sowie das unerläßliche Glas Cola-Coca-Limonade boten. Das Gefühl des körperlichen Wohlbefindens ergänzte noch ein angenehmer Bariton, der von draußen hereindrang, begleitet von den abgehackten Akkorden eines Banjos. Joe stampfte erfreut den Takt mit, wenn auch die Worte des bereits erwähnten Liedes nicht gerade seinem Geschmack entsprachen, und kaute nach den Synkopen des schneidigen Rhythmus die delikaten Bissen, die er mit einem Schluck kräftigender Limonade anfeuchtete. Ja, er fühlte sich in großartiger Kondition. Plötzlich dröhnten auf der Veranda Schritte, die Tür flog auf, und herein traten, in ein lebhaftes Gespräch vertieft, einige ehrenwerte Einwohner von Galleyville. Sie begleiteten einen riesigen Mann. Der Fremde sprach mit seinen Begleitern sehr höflich und leise. Diese paßten sich seinem edlen Ton an und titulierten ihn mit nicht geringerer Höflichkeit: »Herr Oberst«. Joe bemerkte freilich auch sofort, wie bei dem Eintritt dieses Hünen jeglicher Lärm verstummte und sich alle Blicke voll bewundernder Hochachtung auf seine heroische Gestalt hefteten. Dann lief von Mund zu Mund ein erregtes Flüstern, 126
das immer wieder ein und dasselbe Wort wiederholte. Der Pistolenschütze brauchte seine Ohren gar nicht besonders zu spitzen, um es zu vernehmen. »Meiner Treu, das ist ja der Wilde Bill! Ich will gleich ein Chinese sein, wenn der Mann, der dort steht, nicht James Hickok ist!« Joe war sich seines Wertes durchaus bewußt. Trotzdem trat bei der Nennung dieses Namens in sein Gesicht der Ausdruck grenzenlosen Respekts. James B. Hickok alias Wilder Bill! Noch stand er hier, ein Mensch aus Fleisch und Blut, und doch hatte schon jetzt eine strahlende Legende sein Wesen einbalsamiert. Als man ihn später in Deadwood begrub, zersplitterten die Menschen sein Grabmal förmlich als kostbare Reliquien, so daß man ein neues errichten und es durch einen eisernen Käfig sichern mußte. Dieser tapfere Begleiter der Steppenkarawanen, dieser unerschrockene Kundschafter der Unionisten, dieser listige Trapper in den Indianerkriegen, dieser gefürchtete Marschall von Hays und Abilene, schließlich einer des leuchtenden Dreigestirns von Buntlines Theatergesellschaft, schien mit seinem Leben all dem ein großartiges Denkmal zu setzen, was aus dem Wilden Westen den wirklichen wilden Westen machte. Alle Banditen erbleichten beim Anblick dieser zarten weißen Hand, die niemals zitterte, und wurden aschgrau vor Angst. In der Tat verlor Bill Hickok in keiner einzigen Sekunde seines ruhmreichen
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Lebens die Nerven, weil er einfach keine besaß. Ja, so einer war James Butler Hickok. Wir brauchten uns also nicht zu wundern, daß die Anzahl der Neugierigen zusehends wuchs, bis sich schließlich um den Wilden Bill – freilich in ehrfürchtiger Entfernung – ein Kreis von Gaffern bildete, die ihn anglotzten, als wäre seiner Nase eben eine Kokospalme entsprossen. Hickok tat jedoch so, als bemerke er ihre zudringliche Aufmerksamkeit nicht, und unterhielt sich ruhig weiter mit zwei Bürgern von Galleyville. Plötzlich durchbrach ein brauner, mit einem riesigen Colt bewaffneter Mann die Reihen der Gaffer und näherte sich langsam, aber sicher dem berühmten Trapper. Man kann nicht sagen, daß er auf ihn zuging, denn er bewegte sich etwa so, als wäre der Fußboden von Hammonds Weinstube das Deck eines leichten Schoners, der von einem besonders lebhaften Uragan hin- und hergeworfen wird. Wahrlich, der Mann hatte an diesem Tage seine Kehle zweifellos mit einer ungeheuren Menge alkoholischer Getränke eingehend vertraut gemacht. Schließlich blieb er stehen, taumelte mit seinem schrecklichen Körper gefährlich in nächster Nähe Hickoks hin und her und zog seine Aufmerksamkeit durch eine riesige Alkoholfahne und durch gewaltiges Schnauben auf sich. »Ziehen Sie Ihre Schuhe aus, Wilder Bill!« rief er mit rauher Stimme. »Ich werde Ihnen gegenüber großmütig sein. Ja, ich gestatte Ihnen, diese Welt ohne Schuhe zu verlassen, wie es ordentliche Menschen tun.« 128
Sonderbarerweise deutete nichts darauf hin, daß dieser verrückte Befehl des anmaßenden Trunkenbolds den Pistolenschützen irgendwie erregt hätte. Er lächelte nur, legte seine Zigarre weg und sagte ruhig: »Erstens, Fremdling, merken Sie sich, daß ich für Sie kein Wilder Bill bin, sondern immer noch Mister Hickok. Und zweitens, hoffe ich, nachdem ich Sie so eingehend über die meiner Person zustehende Anrede unterrichtet habe, daß Sie mir die gleiche Information über Ihren Namen gewähren.« »Sehr gern!« wieherte der dreiste Schnapsbruder. »Nun, Mister Hickok, schätze, Sie erinnern sich von Hays her noch an Dan Walker, den Sie so gründlich festnahmen, daß Sie in seinem Körper alle sechs Patronen Ihrer Vierundvierziger vergaßen. Nun, sehen Sie, ich heiße Fred Walker und bin sein Bruder. Diesmal aber werde ich ein bißchen zerstreut sein und in Ihrem Körper eine Handvoll Blei vergessen.« Der Betrunkene hätte wahrscheinlich noch recht lange geschwatzt, wären seine unerhörten Schmähungen nicht durch ein lautes Rülpsen unterbrochen worden. Wie es schien, wurde Mister Hickok erst jetzt merklich blasser und trat erschrocken einen Schritt zurück. Trotzdem klang seine Stimme, als er zu sprechen begann, immer noch ebenso freundlich und höflich. »Was Ihren Bruder betrifft«, sagte er, »glaube ich, daß er für diese Welt nicht mehr bedeutet hat als ein paar Pfund nichtsnutzigen menschlichen Fleisches. Doch 129
schweigen wir lieber davon! Mir bereitet vorläufig der Zustand Ihres Magens große Sorge, dessen von Branntwein gesäuerter Inhalt, wie mir scheint, jeden Augenblick eine unerwünschte Berührung mit dem Chemisett meines sauberen Hemdes eingehen kann. Denken Sie nicht, Mister Walker?« Joe konnte nicht entscheiden, ob Mister Walker dachte oder nicht. Sicher ist, daß Hickoks Worte den Trunkenbold gründlich verwirrten. Außerdem war er nicht so betrunken, daß er nicht bemerkt hätte, wie nahe die zarten Hände des Pistolenschützen an den ziselierten Schäften lagen, als daß er auch nur ein halbes Prozent Hoffnung auf Erfolg gehabt hätte. Deshalb funkelte er nur wütend mit seinen blutunterlaufenen Augen, drehte sich taumelnd auf dem Absatz um und verschwand wieder in der Menge der Neugierigen, die die souveräne Ruhe und den feinen Humor des Exmarschalls priesen. Dem scharfen Blick Limonaden-Joes entging jedoch nicht, daß Hickok nach dem Verschwinden des Betrunkenen etwas unruhig wurde. Und da er selbst ein Pistolenschütze war, der im Grenzgebiet eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, begriff er diese Unsicherheit vollauf. In den Bars des Grenzgebietes gab es nämlich Dutzende Prahlhänse, die nicht zögerten, dem ersten berühmten Schützen eine Kugel in den Rücken zu feuern, um die Popularität eines Totschlägers zu gewinnen. Der Alkohol verstärkte
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ihren hinterhältigen Mut und verwandelte sie in gefährliche Raubtiere. Deshalb wandte sich Hickok mit dem Gesicht dem Lokal zu und setzte das unterbrochene Gespräch fort, wobei er jedoch die beiden Eingänge scharf im Auge behielt. Die Gaffer hatten ihre Neugier inzwischen zur Genüge befriedigt und zerstreuten sich. In eben jenem Augenblick betrat, wie sich Joe jetzt erinnerte, der lächerliche Zwerg mit dem Spitzbart die Szene. Dem aufmerksamen Leser genügt natürlich diese knappe Beschreibung, um in ihm augenblicklich Mister Dara Shikoh zu erkennen. Joe kannte damals weder seinen falschen Namen noch seinen wahren Beruf. Trotzdem fesselte der durchtriebene Magier seine Aufmerksamkeit bereits in jenem Augenblick, als er am Barpult einige Zigarren auswählte. Er setzte sofort eine davon in Brand und schickte sich zum Gehen an, als ihn anscheinend ein schreiender Farbdruck fesselte, der den Kampf der Trapper gegen einen Steppenbrand darstellte. Das Bild hing recht hoch an der Wand, und Dara Shikoh trat, um seinen Kunstwert besser einschätzen zu können, einige Schritte zurück, wobei er die zu einem Guckrohr gekrümmte Hand an das kennerisch blinzelnde Auge hielt. Bei diesem Krebsgang stieß er mit solcher Heftigkeit gegen Hickok, daß dieser den Inhalt seines Likörglases auf seinen kostbaren Frack verspritzte. Im Auge des Pistolenschützen blitzte eine Sekunde lang 131
zornige Mißbilligung, aber der Magier tupfte die bespritzten Stellen mit einem Zipfel seines Taschentuches ab und stammelte derart devote Entschuldigungen, daß ihm Hickok mit nachsichtigem Lächeln seine Ungeschicklichkeit nachsah. Der kleine Mann entfernte sich dann rasch und hinterließ nur den Gestank einer billigen Zigarre. Es vergingen wieder einige Minuten, und Joe schickte sich bereits an zu gehen, als die Flügeltür knarrte und auf der Schwelle ein taumelnder Schatten stand. Mister Walker war zurückgekehrt. Ein böses Grinsen loderte in seinem veilchenblauen Gesicht, und seine grauen Augen leuchteten vor Mordgier. Einige Stühle wurden krachend umgestoßen, und die Bretter knackten unter den dröhnenden Schritten der Männer, die eilends die Zone der voraussichtlichen Schießerei verließen. »Bill Hickok!« rief der Betrunkene mit heiserer Stimme. »Sie haben immer noch die Stiefel an? Meinetwegen, es ist Ihr Wille. Dann sterben Sie eben wie ein Geächteter!« Bei seinem letzten Wort griff der Bandit bereits nach dem riesenhaften Colt, der an seiner Seite hing. Hickoks Hände fuhren freilich unvergleichlich schneller zu seinen Hüften nieder, doch ach, sie umschlossen hier nicht die beiden silberbeschlagenen Pistolenschäfte, sondern nur die leere Luft, denn beide Pistolentaschen gähnten vor Leere. 132
Limonaden-Joe erkannte selbstverständlich sofort die fatale Situation, in der sich der berühmte Pistolenschütze befand. Man braucht wohl nicht zu erwähnen, daß er sofort Rat wußte. Ohne Zaudern schoß er gleich aus der Hüfte, und zwar gerade in dem Augenblick, in dem Walkers Zeigefinger den Abzug drückte und der Hahn auf das Zündblättchen zuschnellte. Aber er schlug nicht auf. Limonaden-Joes Geschoß traf ihn am Zapfen und schleuderte ihn zwischen die Gläser, wo er ein schreckliches Massaker anrichtete. Im ersten Augenblick wußte keiner, was eigentlich geschehen war. Geistesgegenwärtig setzte Joe mit einem einzigen Sprung über den Tisch und bettete den hinterhältigen Mörder mit einem heftigen Haken auf den bespieenen Fußboden. Erst jetzt begannen sich die Zungen zu lösen, und erstaunte Ausrufe ertönten. Doch wozu in aller Breite alle jene aufrichtigen Worte wiederholen, mit denen Hickok seinem Erstaunen und seiner Freude über die Bekanntschaft mit einem so hervorragenden Schützen Ausdruck verlieh? Wozu wörtlich die Rede des Helden anführen, in der dieser mit beispielhafter Bescheidenheit das Lob des Trappers zurückwies und ihm empfahl, seinen Dank an die konkurrenzlosen Eigenschaften der Cola-Coca-Limonade zu richten? »Sagen Sie, was Sie wollen, teurer Freund«, entgegnete Hickok lebhaft, »es ist wirklich einerlei, ob Sie mir das Leben gerettet haben oder 133
die Limonade in Ihrem Bauch. Kurz und gut, ich bin Ihr Schuldner. Aber glauben Sie mir, wenn es Ihnen einmal ganz schlecht geht, in einem Augenblick, in dem Sie es am wenigsten erwarten, wird James Hickok zur Stelle sein und seine Schuld mit gleicher Münze zahlen.« Beide Männer feierten dann ihre dramatische Bekanntschaft mit einem großen Gelage, bei dem die Cola-Coca-Limonade in Strömen floß. Der Wilde Bill, dessen Magen nicht an eine derartige Menge eines ihm bisher unbekannten Getränkes gewöhnt war, bekam am nächsten Tag eine starke Kolik, die ihn jedoch nicht daran hindern konnte, gemeinsam mit Joe in Rigsbys »Künstlerischen Photosalon« zu gehen und dort zur Erinnerung an diese denkwürdige Begegnung eine Aufnahme anfertigen zu lassen. Das Foto, das glücklicherweise im Archiv der Firma Rigsby & Matthews erhalten geblieben ist, zeigt Oberst Hickok, der ein Glas Cola-Coca-Limonade emporhebt und dabei den Blick seines Adlerauges in das goldene Glitzern dieser wunderbaren Flüssigkeit taucht, und ihm zur Seite unseren Limonaden-Joe. Die edle Körperhaltung sowie der hochintelligente Gesichtsausdruck geben das beredteste Zeugnis für die Qualitäten dieses großartigen Mannes. Unser Held hatte jedoch nie aufgehört, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wer dem wachsamen Trapper auf so wundersame Weise die beiden wertvollen versilberten Pistolen vor der Nase wegschnappen konnte. Die Gestalt Professor Dara 134
Shikohs erweckte in ihm neuerlich die Erinnerung an diese Begebenheit und zwang ihn, die Klinge seines Scharfsinns vergebens am Schleifstein des Pistolenrätsels zu wetzen. Schließlich mußte er der Lieblingsdevise des Magiers recht geben. Ja, es gab wirklich viele Dinge zwischen Himmel und Erde … Nach dem Mittagessen erreichte der Stellwagen die nächste Station. Die Pferde wurden umgespannt und die Reisenden mit einem kurzen, dafür aber ausnehmend schlechten Mittagessen gestärkt. Dann rumpelte der Wagen wieder bis zum Einbruch der Dämmerung fort. Da gingen sie in einer weiteren Station vor Anker, die ihnen nicht nur einen Tisch, sondern auch ein Bett bieten sollte. Das Essen stand schon bereit. Die Menschen verzehrten es fast schweigend, entkräftet vor Ermüdung, einige darüber hinaus mit heftigen Aufwallungen der entfesselten Gefühle. So merkte beispielsweise Joe kaum, was er eigentlich in sich hineinstopfte. Er saß nämlich Miss Winnifred gegenüber und hätte den Schweinebraten beinahe mit der Nase geschnitten, so tief beugte er seinen Kopf vor, da er sich nicht traute, dem Mädchen ins Auge zu sehen. Trotzdem entging ihm nicht, daß der schwarzgekleidete Stutzer schamlos durchdringende Blicke auf das Mädchen warf. Da biß er wütend in das durchwachsene Fleisch, denn die Eifersucht quälte ihn mit brennendem Stachel. 135
Die Nacht von Arizona schreckte furchtsame Herzen mit hunderterlei geheimnisvollen Tönen, die die Stille, die nur ab und zu durch das herzzerreißende Heulen eines Kojoten durchschnitten, noch ausdrucksvoller erscheinen ließen. Der Mond mußte jeden Augenblick aufgehen. Sein Kommen kündigte bereits ein unbestimmter, trüber Dämmerschein an, der die Dunkelheit über dem östlichen Horizont lichtete. Und gerade hier, von diesem heller gewordenen Himmel, grau wie die Haut eines Vampyrs, hob sich um so ausdrucksvoller das edel geschnittene Gesicht eines Mannes ab, der regungslos vor der wohlgeordneten Reihe der Zelte stand. Fürwahr, eine sympathische Silhouette! Eben sind die Wörter »edel geschnitten« und »sympathisch« gefallen. Der aufmerksame Leser hat natürlich bereits erraten, daß es sich um keinen andern handelt als um unseren Joe. Denn solch schmeichelhafte Wörter sind in dieser Erzählung einzig und allein ihm vorbehalten. Die Ursachen seiner Schlaflosigkeit waren zweifacher Art: die Liebe und das Schweinefleisch. Was die Liebe betrifft, haben wir sie so ausdrucksvoll kennengelernt, daß wir durchaus begreifen, wenn unser Held beim Gedanken an die schöne Tochter des Journalisten kein Auge zutun konnte. Die zweite Ursache, das stark durchwachsene Schweinefleisch, wird jeder anerkennen, der sich daran schon einmal übernommen hat. 136
Nun, jetzt stand er also in der frischen Luft und beschäftigte sich im Geiste abwechselnd mit Miss Winnifred und mit seiner schlechten Verdauung, denn da er nur ein gewöhnlicher Sterblicher war, konnte er nicht gleichzeitig an beides denken; immer herrschte einer der beiden Gegenstände vor. »Liebe geht durch den Magen«, sagt das Sprichwort. Nun, und ein verstopfter Magen verstopft eben auch diesen Weg. Deshalb wird die Tiefe seiner Liebe am besten gerade durch den Umstand bewiesen, daß er, sooft es ihm nur gelang, die erregten Eingeweide ein wenig zu besänftigen, im Geiste zu der Geliebten flog, die – Leise raschelte ein Kleid. Joe blickte sich rasch um und erblickte vor sich einen hellen Schatten, der gespenstisch aus der immer lichter werdenden Dunkelheit trat. Er brauchte keine Sekunde lang im Zweifel zu sein. Ja, das war SIE! Die Freude, dieser hervorragende Arzt, ließ seinen Magen gleich an seinen ursprünglichen Ort zurückkehren. Es erscheint vielleicht nicht passend zu betonen, daß nur die erste der oben angeführten Ursachen das Mädchen hierhergeführt hatte. Sie ahnte freilich nicht, wen sie hier finden würde. Sie war nur deshalb von ihrem Lager aufgestanden, um der Nacht und dem Mond den Liebeskummer zu beichten, der ihr Herz bedrückte. Joe hüstelte diskret. Aber selbst dieser zarte Hinweis erschreckte das Mädchen derart, daß es einen leisen Schrei der Überraschung und der Furcht ausstieß. 137
»Haben Sie keine Angst, Fräulein, ich bin es, Limonaden-Joe!« Diese wenigen Worte konnten natürlich nicht ohne die gehörige Reaktion bleiben. Miss Breakenridge stieß zwar keinen Laut mehr aus, doch überzog ihr Gesicht eine flammende Röte, die freilich die nächtliche Dunkelheit unsichtbar machte. Joe war derart verlegen, daß er überhaupt nicht wußte, was er sagen sollte. Es wäre vielleicht passend gewesen, eine Bemerkung zur Situation zu machen. Schon wollte er das tun. Erst im letzten Augenblick wurde er sich dessen bewußt, wie undelikat es wirken könnte, wenn er Winnifred fragte, ob ihr auch schlecht sei. Zum Glück befreite ihn jedoch die Natur selbst – oder besser gesagt: ihr erhabenes Antlitz – aus seinen Konversationsnöten. Über den gezackten Horizont der Government Mountains blickte nämlich eben der scharlachrote Scheitel des riesigen Mondes empor. Und das war in der Tat ein wundersames Schauspiel. Joe begriff sofort, daß es sehr günstig wäre, diesen hinreißenden Anblick mit einigen Worten zu glossieren. Weil er jedoch in Miss Breakenridge nicht nur ein reizendes, sondern auch ein gebildetes Mädchen verehrte, suchte er fieberhaft nach geeigneten Worten, die für sie auch ein Zeichen seines kulturellen Niveaus wären. Eine Weile herrschte also verlegene Stille. Erst dann sagte er, entschlossen schluckend: »Eine herrliche Nacht, Fräulein, nicht wahr?« 138
»Gewiß.« In dem Augenblick, als er weitersprechen wollte, heulte ein Kojote auf so schreckliche Art, daß Winnifred sich ganz instinktiv an das schmiegte, was sie jetzt als das sicherste Asyl für ein wehrloses Mädchen ansah – die Brust unseres wackeren Pistolenhelden. Das war freilich ein zu starker Tobak für einen wahren Mann, ob er nun Cola-Coca-Limonade trank oder Whisky pur. Joe empfand selbst mit der abgehärtetsten Faser seines Nervensystems die Berührung des elastischen Mädchenkörpers, und ihr Haar, das sie am Abend auf Papierwickel gedreht hatte, kitzelte ihn betörend an der Nase. Deshalb ist es nicht im geringsten zu verwundern, daß es unter diesen Umständen zu jener Erscheinung kam, die mit den klassischen Worten beschrieben zu werden pflegt: »Und ihre Lippen fanden sich …« Ja, ihre Lippen fanden sich, und ihre Nasen waren kalt. So kalt. Doch alles hat ein Ende. Selbst der längste Kuß. Winnifreds Köpfchen ruhte noch eine Weile an seiner Brust. Schließlich hoben sich zwei brunnentiefe Augen zum Gesicht des Pistolenhelden, und die noch vom Kusse feuchten Lippen flüsterten: »Wann werden wir heiraten?« Nichts. Stille. Armer Joe! Er wandte sein Gesicht zur Seite und stützte sich schwer auf den Balken eines Regendaches, das eine Feldküche bedeckte. Endlich fand er Worte, aber seine Stimme klang rauh und heiser: »Sie ahnen gar nicht, Winnifred, was für einen Schmerz Sie mir mit dieser Frage 139
bereiten! Ich komme mir vor wie ein von Hunger und Durst gepeinigter Mensch, zu dessen Füßen eine Schüssel mit reichlichem Essen und ein taufrischer Krug mit Wasser stehen, aber er kann nicht danach greifen, weil man ihn so gefesselt hat, daß es ihm nicht möglich ist, auch nur einen Finger zu rühren.« »So etwas wie die Qualen des Tantalus?« »Ja, genau so! Aber lassen wir die Mykologie! Nun, meine Teure, ich will zu Ihnen ganz offen sprechen: Ich kann nicht in Ihren Armen ruhen, solange ich nicht einen Schwur erfüllt habe. Einen schrecklichen Schwur!« »Um Gottes willen, was für ein Schwur ist das?« »Das ist eine lange Geschichte und wohl viel zu düster, als daß sie für Ihre zarten Ohren geeignet wäre, Darling!« »Ich verzehre mich nach ihr!« »Ach, die würde Sie nur langweilen! Und außerdem bin ich kein guter Erzähler, ich lasse lieber meine Colts für mich sprechen.« Winnifred wurde blaß. Aber das Raubtier der weiblichen Neugierde war bereits zu sehr gereizt, als daß sie sich mit einer Ausrede hätte befriedigen lassen. »Ihre Colts? Hu! Aber erzählen Sie nur! Ich versichere Ihnen, daß Sie kaum jemals einen aufmerksameren Zuhörer gehabt haben!« Mit diesen Worten setzte sie sich, den Blick begierig auf ihn gerichtet, auf den Lehmsockel der Feuerstelle. Auch Joe nahm eine für eine wirksame Erzählung geeignete Stellung ein. 140
Selbst der schelmische Mond beugte neugierig sein feistes Gesicht herunter. »Nun, so will ich Ihnen denn mit einfachen und ungeschminkten Worten, wie wir rauhen Bewohner von Kansas es gar nicht anders können, diesen Vorfall schildern. Weil ich nicht gern von mir spreche, genügt es wohl, wenn ich sage, daß ich meine Kindheit in Mittel-Kansas als Sohn zwar nicht vermögender, aber geachteter Eltern verbracht, habe. Durch ihr Verdienst wurde mir eine sorgfältigere Bildung zuteil, als es in jenen Gegenden üblich ist. Bald aber war ich ein Waisenkind. Glücklicherweise habe ich jetzt nicht soviel Zeit, Ihnen vom Tod meiner teuren Eltern zu erzählen, an dem ich leider nicht ganz schuldlos bin. Die Verwandten, die sich dann meiner annahmen, hatten nicht mehr ein so großes Interesse an der Ergänzung meines Wissens. Sie ermöglichten es mir, mich ganz dem Leben in der Steppe zu widmen, und hinderten mich auch nicht an der Freundschaft mit Billy Reidler, dem Sohn eines Ranchers im Dreifach, einem Tal in Form eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks. Billy Reidler! Was für eine sonderbare Geschichte ist das! Wir erblickten am selben Tag, zur selben Stunde, ja fast zur selben Minute im selben Raum das Licht der Welt, als meine Mutter Missis Reidler auf ihrer Ranch besuchte. Schon das kennzeichnete unser weiteres Schicksal durch etwas Besonderes, ja Geheimnisvolles. Damit alles noch beachtlicher wurde, gab es Leute, die 141
behaupteten, Billy und ich seien durch einen Irrtum der Amme vertauscht worden. Und so weiß ich nicht einmal, ob ich nicht in Wirklichkeit Billy bin oder Billy ich. Aber daran liegt wohl nicht soviel. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß wir unzertrennliche Freunde wurden, und das bereits in einem Alter, in dem wir Menschen nur unartikulierte Laute ausstoßen und vollkommenerer Äußerungen nicht fähig sind. Wir wuchsen also gemeinsam auf, und nichts vermochte uns zu entzweien. Dann gingen wir in die Schule, zusammengeschweißt durch eine so feste Freundschaft, daß selbst der auffallende Unterschied in den Leistungen (ich wurde bald der geliebte und gehaßte Primus, während sich Billy rasch zum Gegenteil davon emporarbeitete) unsere gegenseitige Zuneigung nicht ins Wanken zu bringen vermochte. Meine Mutter war über diese meine Freundschaft nicht sehr erbaut, was ich durchaus verstand, denn Billy bemühte sich mit allen Kräften, meinen Sinn von den Geheimnissen der Wissenschaft und der Kultur abzuziehen, indem er mir die ungebundene Pracht der Steppe und die Schönheit des Lebens in ihr vor Augen hielt. So verband ich mich ihm erst, als meine Mutter gestorben war und ich meinen Verwandten anvertraut wurde, die sich nicht die Bohne um die Erweiterung meines Wissens kümmerten und mir jegliche Freiheit gönnten, mit Billy sozusagen unbeschränkt. Dieser, der von seinem Vater schon seit den Windeln auf diesem Gebiet erzogen 142
worden war, weihte mich vor allem in alle Feinheiten der vollendeten Schießkunst ein, sei es mit der Pistole oder dem Gewehr. Und sonderbar: Ich vervollkommnete mich auf diesem Gebiet ebenso mit Meilenschritten wie vorher in den Unterrichtsfächern, so daß auch diesmal mein Lehrer, das heißt Billy, an mir seine helle Freude gehabt hatte. Mit siebzehn Jahren wußten wir unsere Pistolen bereits so geschickt zu gebrauchen, daß uns mancher erfahrene Pistolenschütze darum hätte beneiden können. Allerdings unterzogen wir uns in dieser Hinsicht auch einem sehr sorgfältigen und besonderen Training. Einer unserer Freunde war Schaffner auf der lokalen Eisenbahnlinie. Jeden Tag legten Billy und ich uns am Bahndamm in Deckung, und wenn der Expreß vorüberraste, begannen wir eifrig auf seine Fenster zu schießen, wobei wir die Hüte der erschrockenen Passagiere aufs Korn nahmen. Auf unseren Pferden überholten wir dann den Expreß und warteten auf der nächsten Station seine Ankunft ab. Dort meldete uns unser Freund, der Schaffner, wieviel Zylinder, Stetsons und Melonen wir durchschossen hatten, damit wir wußten, ob sich unsere Leistung gegenüber den vergangenen Tagen verschlechtert oder verbessert hatte. Mit der Zeit vertauschten wir die Hüte gegen eine schwierigere Zielscheibe, indem wir den Passagieren die Zigarren oder Pfeifen vom Mund wegschossen. Ja, das waren noch fröhliche Zeiten! Sie wissen ja – Jugend und Freude! 143
Als jedoch meine Verwandten unter dem Zwang gewisser Umstände nach Mittel-Dakota übersiedelten und ich, da ich noch minderjährig war, sie dorthin begleiten mußte, war auch der Zeitpunkt meiner Trennung von Billy gekommen. Und doch verabschiedeten wir uns so, als würden wir uns nach wenigen Stunden wiedertreffen, denn wir ahnten, daß der Allmächtige unser Schicksal zu einem Sternbild vereinigt hatte, das kein irdischer Zugriff zerschlagen konnte. Dakota! Eine rauhe Gegend, wo jedes Bleichgesicht schon beim Gedanken an eine Rothaut rot wurde und umgekehrt. Eine rauhe Gegend, ein rauhes Volk! In solcher Umgebung ging rasch der Samen auf, den die Schießlektionen auf der Ranch im Dreifach in meine Seele gesenkt hatten; und so fand ich mich, als ich erwachsen war, schon meilenweit von jener Lebensbahn entfernt, die mir der fromme Wunsch meiner Eltern vorherbestimmt hatte, und fristete meinen Lebensunterhalt als Büffeljäger, Kundschafter der Regierung, Assistent eines Sheriffs und auf andere Weise. Schließlich ging ich in einer lebhaften Stadt im südlichen Wyoming vor Anker, wo ich die angesehene und sehr anständig bezahlte Stellung eines bewaffneten Begleiters der Geldsendungen der Ersten Nationalbank einnahm. Auf dem Territorium dieses Staates leben Hunderttausende Mädchen mit dem schlichten, aber lieben Namen Mary. Nun, jene Mary, in die ich mich verliebte, überragte – nach meinem 144
damaligen Urteil – alle übrigen Marys etwa so, wie ein Diamant die Ziegenperlen überragt. Ich dachte an sie ohne Unterlaß und sah sie überall vor mir. Die Leichen der Straßenbanditen und der Zugräuber, denen meine Pistolen fast täglich den kürzesten Weg auf den ›Friedhof der Beschuhten‹ wiesen, nun, diese Leichen zeichneten sich durch einen roten Buchstaben aus, den ihnen meine Smith & Wesson in den Kopf oder in die Brust brannten, denn schon dieser bescheidene Buchstabe, der entfernt an ein Dromedar erinnerte, rief in mir die Vorstellung ihres Gesichtes hervor. Aber wehe, zur Liebe bedarf es zweier Menschen! Ich sage wehe, weil Mary meine Gefühle nicht im geringsten erwiderte und ihre Gunst Mister Habakuk Sheidler schenkte, dem wohlhabenden Besitzer der Speisegaststätte ›Zum Eck des reichgedeckten Tisches‹. Ihre hartnäckige Gleichgültigkeit erfüllte mich mit solcher Verzweiflung, daß ich – nein, ich schäme mich, es auszusprechen –, daß ich zu trinken begann. Ohne Unterlaß goß ich durch meine Kehle wahre Katarakte widerlichen Branntweins, in der Hoffnung, ihr Bild aus meinem Kopf zu verdrängen. Aber selbst das half nichts. Außerdem bemerkte ich voll Schrecken, daß im Nu die gefürchtete Sicherheit meiner Hand nachließ. Ja, oft, allzuoft, traf ich nun diesen oder jenen maskierten Banditen nicht zwischen den Augen, sondern etwas weiter seitwärts, über der rechten oder der linken Braue. Ja, teure Winnifred, zu solch unglaublichen Fehlleistungen kann der 145
verdammte Dämon des Alkohols einen routinierten Schützen bringen! Schließlich begriff ich, daß ich, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte, jenen verdammten Ort verlassen mußte, wo die Gefühllosigkeit der grausamen Mary und das Glück Habakuks mein Herz vierteilte, spickte und auf dem Rost der Höllenqualen schmorte. Deshalb schnürte ich eines Morgens mein bescheidenes Bündel, sattelte die mir so liebe Stute, um zerrissenen Herzens jenem unseligen Ort den Rücken zu kehren. Bald umfing meine Seele eine sonderbare Ruhe, und ich schlummerte auf dem schaukelnden Rücken meines Pferdes ein, ohne mich um die Richtung zu kümmern, die seine Schritte einschlugen. Als ich erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und briet mich auf der Pfanne der glühenden Steppe wie ein Kotelett. Eine derartige Hitze bot mir freilich den erwünschten Vorwand, einen aufmerksamen Blick in die Feldflasche zu werfen; sie war mit starkem Branntwein gefüllt, dessen großartige Eigenschaften mich bald so gefangennahmen, daß ich meine Lippen nicht mehr losreißen konnte. Da drehte sich zu meinem Entsetzen die Stute um, sah mich vorwurfsvoll an und sprach mit menschlicher Stimme: ›Gieße dir nur immer etwas unter die Nase, du ekelhafter Schnapsbruder! Schließlich wirst du auch die Flügel ausstrecken, wie es jetzt dein gelungenes Freundchen tut!‹ Nachdem sie das gesagt hatte, spitzte sie bedeutungsvoll die Ohren und widmete mir fortan keine Aufmerksamkeit mehr. 146
Sie werden verstehen, daß ich mich in diesem Augenblick nicht gerade sehr geistreich verhalten habe. Der Schrecken fuhr mir durch alle Glieder, die plötzlich steif waren, und die Flasche entglitt meiner erstarrten Hand. Ja, ich war starr wie gefrorene Wäsche und hinderte das Pferd nicht an seinem Weg. In solcher Lethargie kam ich gegen Abend in eine Stadt und ritt, noch immer unfähig jeder Bewegung durch die Straßen oder besser gesagt: wurde geritten, denn die Stute schritt, wie von der Hand des Schicksals geleitet, langsam, aber sicher einem mir unbekannten Ziele zu. Schließlich blieb sie vor einer Schenke stehen, vor deren Tür und Fenstern sich eine schweigende Menge von Gaffern drängte, die begierig die Hälse reckten, damit ihnen ja nichts von dem entgehe, was drinnen vorging. Da fiel mit einem Schlage von meinen Gliedern jene geheimnisvolle Starre. Von einer unseligen Vorahnung getrieben, sprang ich ab, drängte mich rücksichtslos durch die Menge und stürmte ins Innere. Inmitten einer düsteren Schar lag, regungslos ausgestreckt, auf einem Tisch voll Lachen von Schnaps und Blut ein Mann mit aschgrauem Gesicht und geschlossenen Lidern. Ich trat näher und sah – oh, ich hatte es geahnt – Billy! Als ich ihm zu Häupten stand, öffnete er die Augen. Der lebhafter werdende Ausdruck seines Gesichtes verriet, daß er mich augenblicklich erkannt hatte. Sonst aber zeigte er nicht die 147
geringsten Zeichen von Überraschung, als wäre er ganz sicher gewesen, daß ich komme. Zuerst gab er mir einen Wink, und ich beugte mich zu seinem Munde. Mit einer anderen, nicht minder sparsamen, aber beredten Geste forderte er die Umstehenden auf, ein wenig zur Seite zu treten. Dann sagte er mit sterbender Stimme: ›Ich habe keinen Augenblick lang daran gezweifelt, daß du kommst. Nun sterbe ich ruhig, denn ich weiß: Mein Blut, das auf diesem Tisch so unappetitlich mit Schnaps verdünnt ist – oh, der verdammte Alkohol, der das alles verschuldet hat! –, dieses Blut wird gerächt werden. Aber nun höre gut zu! Das Leben flieht meinen Körper zu rasch, deshalb werde ich dir nicht erzählen, was ich alles erlebt habe, bis ich an diesen Ort gekommen bin. Weil mir der Ruf eines erstklassigen Schützen voranging, wurde ich von der hiesigen Ersten Nationalbank sofort als bewaffneter Begleiter von Geldsendungen eingestellt. Und da habe ich mich sterblich in die schöne Nelly verliebt, die Tochter des hiesigen Leichenbeschauers. Anfangs entwickelte sich alles recht verheißungsvoll. Übrigens, sag selbst, nur ein Pistolenschütze konnte ihr seine Zuneigung auf so unnachahmliche Weise bekunden. Lag sie beispielsweise im Schatten eines buschigen Kirschbaumes, der mit goldenen Früchten überschüttet war, schoß ich ihr vom Baum das Obst unmittelbar in den Mund, wobei ich beim Flug noch aus dem süßen Fruchtfleisch den Stein herausschoß. Als es schon den Anschein hatte, 148
daß ich das ersehnte Ziel erreiche, kam ein schwarzgekleideter Fremder, ein Spieler und pomadisierter Stutzer, in die Stadt. Sein Äußeres wirkte ebenso wie seine gewandte Zunge derart auf das Herz des Mädchens, daß sie mir nicht mehr die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Zuerst versuchte ich, mit der unlauteren Konkurrenz so fertig zu werden, daß ich meine Hände nicht mit Blut befleckte. Beispielsweise verirrte ich mich eines Abends in ein liebliches Tal in der nahen Umgebung der Stadt. Wen sehe ich da? Jenen geckenhaften Kartenspieler, wie er gerade mit seinem verliebten Geschwätz Nelly den Kopf verdrehte! Ihre geröteten Wangen bewiesen, daß die Worte des Verführers ihr bei weitem nicht so dumm vorkamen wie mir, der ich mich im dichten Strauchwerk verbarg. In jenem Tal wuchsen schöne Wassermelonen. Als er sie bemerkte, rief er: ‚Schau nur, wie komisch – Arbusen!’ Doch ehe er diesen Satz aussprechen konnte, zog ich den Colt und drückte ohne zu zaudern ab. Dabei schoß ich dem Banditen die erste Silbe des Wortes ‚Arbusen’ vom Munde, so daß sein Ausruf nun so klang, als wolle er sie mit einem Hinweis auf ihre Reize verlegen machen. Doch selbst diese Meisterleistung half nichts, denn schließlich feierten die schlangengleiche Beredsamkeit und die weltmännischen Manieren dieses Galans doch Triumphe. Da begann ich zu trinken, zu trinken, bei Tag und Nacht, ohne Unterlaß. Natürlich schwand mit jedem Glas, das ich in mich hineinkippte, immer mehr die 149
Sicherheit meiner Hand. So kam es bald zur Katastrophe. Eines Abends betrat ich Goddals Spielsaal, als mein Nebenbuhler eben beim Pharo die Bank hielt. Zu meinem Bedauern muß ich vor ausschicken, daß ich in diesem Augenblick – und leider nicht nur in diesem Augenblick – stark betrunken war. Als Opfer einer AlkoholHalluzination erblickte ich plötzlich nicht einen, sondern zwei Nebenbuhler, Zwillinge. Du hast deinen Bruder gegen mich zu Hilfe gerufen! dachte ich bei mir. Aber das macht nichts. Trotzdem zerschlage ich dir die Bank, eventuell auch das Maul. Zum Konflikt kam es sofort als der Spieler ausgab. Ich protestierte dagegen, daß zwei gleichzeitig ausgaben, besonders, wenn sie in einem so engen verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander stehen. Ein Wort gab das andere, mein Colt und der Derringer des Spielers flogen aus den Taschen. Natürlich war ich schneller. Ich entschloß mich jedoch, zunächst auf den linken der beiden Brüder zu schießen, der mir der gefährlichere zu sein schien. Leider feuerte ich auf ein unkörperliches alkoholisches Phantom oder – ins Leere. Bevor ich jedoch den zweiten Schuß abgeben konnte, fütterte mich der Spieler mit etwas Blei aus seinem reizenden Spielzeug, wodurch ich völlig kampfunfähig wurde. Der Bandit nahm sofort Reißaus, und ich glaube nicht, daß er sich jetzt noch in der Stadt befindet. Wenn ich gewollt hätte, wäre ich schon vor einer Stunde tot gewesen. Aber ich habe auf dich gewartet, denn du mußt mich rächen. Dieser Bursche ist 150
blaß, schlank, hat dunkles Haar und dunkle Augen, eine Adlernase und spricht deutlich südlichen Akzent. Ich weiß, daß dir das nicht viel sagt, aber ich will mich mit diesem Porträt nicht anstrengen, weil ich dir ein besonderes Kennzeichen sagen kann, nach dem du ihn besser erkennst, als wenn ich dir sein Foto gäbe: Obwohl er Rechtshänder ist, hält er die Zigarre immer in der linken Hand, und zwar zwischen Ringfinger und kleinem Finger!‹ Hierauf verstummte Billy, denn er war schon zu schwach, um weitersprechen zu können. Und da, meine teure Winnifred, habe ich jenen Schwur geleistet, der mich daran hindert, Ihre süße Frage, wann wir heiraten werden, mit dem kurzen Satz zu beantworten: ›Meinetwegen schon morgen, Darling!‹ Ja, meine Süßeste, am Totenbett oder genauer gesagt: am Totentisch meines Freundes habe ich geschworen, daß ich mir keine Ruhe gönnen werde, solange ich nicht mit dem Blute des Mörders den Frieden seiner Seele erkauft habe. Allein so konnte ich ihm den Weg in das Reich der Träume erleichtern. Inzwischen hatte bereits die Hand des Todes, dieses schrecklichen Bildhauers, in dem aschfarbenen Gesicht die untrüglichen Zeichen des Endes deutlicher ausgeprägt. Da öffnete Billy noch einmal den Mund, aber seine Stimme lispelte nur noch, ›Du weißt doch, Joe‹, flüsterte er, ›was ich einst mit der Pistole geleistet habe! Und, siehst du, schließlich hat mich so ein Kerl geschafft, der es vielleicht nicht einmal verdient, mir die Schuhe 151
zu putzen. Aber das konnte gar nicht anders enden, da ich zuviel getrunken habe. Nun, wenn du die Welt weiterhin nur durch das Glas betrachten willst – nein, leugne es nicht, dein Atem überführt dich zur Genüge –, dann reserviere dir auf dem Friedhof einen schönen und trockenen Platz, auf dem man einmal dein durchbohrtes Gerippe betten kann! Aber wenn du entschlossen bist, deinen Schwur zu halten und die Seele dieses Banditen in das Lager der Firma Beelzebub & Co. zu expedieren, dann meide den Alkohol, sonst werde ich mich unruhig im Sarg hin und her wälzen!‹ Dabei nahm sein Gesicht einen besonders schmerzlichen Ausdruck an, denn er wurde sich dessen bewußt, daß er niemals mehr jenes köstliche Getränk genießen würde. Ich aber schwor neuerlich: ›Ich werde keinen Tropfen Alkohol zu mir nehmen, solange ich nicht deinen Mörder mit einigen tüchtigen Bleibissen gesättigt habe, die er mit nichts anderem hinunterspülen darf als mit seinem eigenen schwarzen Blut.‹ Während ich das sagte, sank Billy in die Tiefen des Todesschlafes, und die Worte meines Schwures klangen in seine immer tiefer werdende Ohnmacht wie ein süßes Wiegenlied. Er starb mit einem Lächeln auf den Lippen, unbeschuht, was bedeutet, daß er wie ein tapferer und ordentlicher Mann starb. Jener, der unsere Lebensschicksale durch solch geheimnisvolle Einzelheiten zusammengeschweißt hat, wollte zweifellos, daß unser Bund über das Grab hinaus dauert, denn er 152
wünscht die Erfüllung meines Versprechens. Er hat mir eine Flasche Cola-Coca-Limonade in den Weg gestellt, die meiner Hand und meinem Hirn bald die erforderliche Sicherheit und Kaltblütigkeit zurückgegeben hat. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte … So, Fräulein, nun wissen Sie alles!« Der Leser kann sich wohl die Wirkung vorstellen, die dieses ergreifende, ja erschütternde Bekenntnis auf die Tochter des Journalisten hatte. Ja, Sie haben es erraten – Miss Winnifred war in der Tat einige Augenblicke lang keines Wortes mächtig. Nur eine große Träne rann wie eine kostbare Perle aus Tausendundeiner Nacht aus ihrem Auge, balancierte einen Augenblick lang halsbrecherisch auf ihren Wimpern und zersprang dann auf dem schwellenden Mieder. Schließlich überwand das tapfere Mädchen heroisch ihre Bewegung und flüsterte: »Geh nur deines Weges, teurer Junge! Ich werde auf dich warten, bis du erfüllst, was du versprochen hast!« Eine unendliche Gefühlswallung überströmte den Pistolenhelden von Kopf bis Fuß. Er sprang erregt auf und stieß dabei mit dem Kopf gegen das Dach der Küche, daß es krachte. Winnifred erhob sich ebenfalls, aber weil sie kleiner war, geschah ihr nichts. Beide fanden sich in einem die Sinne betäubenden Kuß.
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Die Sterne leuchteten matt durch die Finsternis, und auf Limonaden-Joes Stirn wuchs rasch eine große Beule. Liebe ist nicht nur blind, sondern leider auch taub. Das ist gewiß so, sonst wäre Limonaden-Joe nicht das verdächtige Rascheln entgangen, das unter der Zeltleinwand, nur wenige Schritte von ihm entfernt, ertönte. Aber weil Liebe, wie wir bereits bemerkt haben, taub wie ein Baumstumpf ist, hörte Joe nichts. An dieser Stelle bitten wir den liebenswürdigen Leser, dieses verdächtige Geräusch gut im Gedächtnis zu bewahren. Es handelt sich nicht um irgendein beliebiges Geräusch, sondern um eins, das für unsere Handlung besonders bedeutungsvoll ist …
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Die Situation klärt sich Als der Stellwagen am nächsten Tag Fort Mahon erreichte, mietete sich Limonaden-Joe in einem kleinen, aber ordentlichen Hotel ein, wusch sich und wechselte das Hemd. Auch bei dieser Tätigkeit wurde er von einem Sturm einander widersprechender Gefühle hin und her gerissen. Inzwischen lauschte in der Bar »Zum erledigten Apachen« Professor Dara Shikoh, und zwar sehr aufmerksam, den mit leiser Stimme vorgetragenen Worten Mister Greenwoods. Endlich schloß Horace. Der Magier stellte noch einige Fragen und erhielt noch einige Antworten, doch seine letzte. Frage blieb unbeantwortet. Der Spieler blickte nämlich durch die Bartür auf den gegenüberliegenden Gehsteig, ohne sich weiter um die Worte des Langfingers zu kümmern. Dann nickte er zum Abschied, tippte mit weltmännischer Geste an seinen Zylinder und schwebte mit nicht minder weltmännischem Schritt davon. »Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle«, murmelte Dara Shikoh zwischen den Zähnen und blickte ihm nach. Seine Zähne wiesen übrigens so viele Löcher auf, daß ihm ein derartiges Murmeln ganz leichtfiel. In diesem Augenblick trat Limonaden-Joe ein. Außer Mister Dara Shikoh und dem mexikanischen Barkeeper fand er hier nur einen Cowboy von ganz gewöhnlichem, serienmäßigem Typus vor. Er
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trat also an die Theke und bestellte sich eine ColaCoca-Limonade. Der Mexikaner, der sofort erkannte, mit wem er die Ehre hatte, wand sich in geradezu schmerzlicher Verlegenheit. »Bedaure, Señor, Cola-Coca-Limonade ist nicht auf Lager.« Der Pistolenschütze erklärte daraufhin, er sei auch mit einem Glas Milch zufrieden. Als sich vor ihm ein Glas des gewünschten Getränkes befand, stützte er sich mit den Ellbogen auf die Theke und beugte sich zu dem Barkeeper. Dessen Rücken krümmte sich sofort zu einem Bogen untertänigster Ehrerbietung, und die Neugier drehte aus seinem Ohr eine begierige Tüte. Doch wenn er gehofft hatte, ein schreckliches Geheimnis zu erfahren, wurde ihm eine schmerzliche Enttäuschung zuteil. Übrigens begreifen wir diese Enttäuschung des Barkeepers aus den folgenden Fragen des Pistolenschützen. »Wie lange sind Sie schon hier, Kellner?« »Nun, etwa seit 6 Uhr, Señor.« »Schätze, Sie haben mich nicht verstanden, Kellner! Ich frage Sie, wie lange Sie bereits diese zweifellos sehr ehrenwerte Beschäftigung hier in der Bar ›Zum erledigten Apachen‹ ausüben?« »Drei Jahre, Señor.« »Ausgezeichnet, Boy, Sie sind sehr schlau. Hm, schauen Sie den Leuten auch gut auf die Finger?« »Jawohl, Señor. Ich habe sehr genau beobachtet, daß die überwiegende Mehrzahl der Besucher unserer Bar an jeder Hand fünf Finger 156
hat, was angesichts der Zahl der Arme bei jedem Mann zehn Finger ausmacht.« »Sehr gut, Boy, großartig! Ich sehe, Sie sind nicht nur sehr schlau, sondern auch gebildet. Und Sie haben ein großartiges Beobachtungstalent. Das kommt mir sehr gelegen. Nun, haben Sie nicht zufällig einen Mann gesehen, einen Spieler, der die Zigarre auf ganz besondere Art, ja auf sehr ungewöhnliche Art hält? Hielt er sie nicht zufällig mit der Linken, zwischen dem kleinen Finger und dem Ringfinger?« Armer Joe! Diese Frage stellte er nun schon seit einigen Jahren sozusagen täglich, ja manchmal sogar mehrmals am Tage, Kellnern, Pistolenschützen, Fuhrleuten und Cowboys, doch hatte er bisher immer nur verneinende Antworten erhalten. Leider hatte er auch diesmal kein Glück, denn der schlaue Mexikaner schüttelte nach einem mehrere Minuten dauernden angestrengten Nachdenken bedauernd den Kopf und sagte: »No, Señor.« Mister Dara Shikoh stand nur wenige Schritte von Joe entfernt. Als sich über das Gesicht Limonaden-Joes ein Flor der Enttäuschung breitete, trat der Magier auf ihn zu und blickte ihm in die Augen. Danach angelte er mit ungemein langsamer, bedächtiger Bewegung eine schlechte Zigarre aus der Brusttasche, biß die Spitze ab, spuckte sie aus, riß dann mit ungemein würdevoller Geste ein Zündholz an der Schuhsohle an und setzte die Zigarre feierlich in Brand. Hierauf stieß seine herrlich aufgeblähte Nase eine 157
Wolke undurchdringlichen Rauches aus, der dieses infernalische Gesicht gänzlich verhüllte. Ein wahrhaft teuflischer Gestank verbreitete sich ringsum, so daß Joe, der das Beginnen des Magiers voll Entsetzen beobachtete, fühlte, wie nahe er einer Ohnmacht war. Und da tönte es aus der Wolke: »Ich kenne diesen Mann!« Mit einer Handbewegung teilte Mister Dara Shikoh das stinkende Gewölk, machte dadurch sein Gesicht wieder sichtbar und fuhr ruhig fort: »Jawohl, diesen Mann kenne ich, Pistolenheld! Aber verzeihen Sie, daß ich Sie anspreche, ohne gefragt zu sein.« Dabei machte er ein schuldbewußtes Gesicht und schickte sich an, wieder zur Seite zu treten, um sich mit unbegreiflicher Perversität auch weiterhin dem Genuß der zweifelhaften Qualität seiner ekelhaften Zigarre hinzugeben. Aber die eiserne Hand, die auf seine Schulter niederfiel, machte diese Absicht zunichte. Vergebens suchte der Pistolenschütze seine Erregung zu verbergen. Seine Brust blies sich wie ein Schmiedebalg auf, und der Atem durchströmte seine Nüstern mit derartiger Gewalt, daß die Zipfel seiner Krawatte bei jedem Atemzug erzitterten. »Reden Sie!« dröhnte dumpf seine Stimme, und seine Augen schleuderten ganze Bündel von Blitzen. Mister Dara Shikoh schluckte hörbar, da er durch die sonderbare Erscheinung des 158
Pistolenschützen einigermaßen konsterniert war. Er nahm jedoch all seinen Mut soweit zusammen, daß es ihm gelang, die folgenden Worte mit ganz ruhiger und sachlicher Stimmfärbung hervorzubringen. »O bitte, bitte! Es freut mich, wenn ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein kann, Pistolenheld. Nun, mit Ihrem Mann bin ich vor etwa drei Wochen in Buffalo zusammengetroffen. Es ist ein eleganter, hagerer Bursche, nicht wahr?« »Allerdings. Und weiter! Was war weiter?« »Nun, ich habe mit ihm in Haros Spielsaal eine Partie Chuck and luck gespielt. Oder nein – ich glaube, es war im Union-Hotel, oder sollte es doch –« »Ach, darauf kommt es nicht an! Was war weiter? Wie heißt er?« »Natürlich, es war doch bei Haro. Ich habe gleich bemerkt, wie extravagant er die Zigarre hielt. Er hat sich mir vorgestellt. Hm, wie hat er sich mir doch gleich vorgestellt?« Das von der Rechten des Pistolenschützen, der so raffiniert auf die Folter gespannt wurde, krampfhaft umklammerte Glas zerbrach und verriet so Joes schreckliche seelische Spannung. Während sich Joes Blut mit der Kuhmilch vermischte, konzentrierte der Magier, das Gesicht in die Hände gestützt, sein unzuverlässiges Gedächtnis gewaltsam auf den vergessenen Namen. Plötzlich hob er den Kopf und rief mit freudigem Ausdruck: »Beim Nabel Cagliostros! Wozu hat mich die Natur mit wunderbaren Fähigkeiten begabt? Ich habe doch nicht umsonst 159
die Prüfungsgebühren am Lehrstuhl für okkulte Wissenschaften in Kalkutta bezahlt!« Mit diesen Worten holte er aus dem Rockschoß eine Kristallkugel, hob sie an die Nase und begann mit schrecklicher Miene zu zwinkern, wobei sich seine buschigen Augenbrauen wie zwei schwarze Blutegel krümmten und wanden. »Es ist nur ein kleines Reiseformat«, murmelte er, während sich seine Blicke unaufhörlich in das Innere des Kristalls bohrten. »Aber für unsere Zwecke genügt es völlig. Natürlich«, rief er plötzlich siegesbewußt, streckte seine riesige Nase vor und ließ die wunderbare Kugel in den Tiefen seines Rockschoßes verschwinden. »Hatfield – Ted Hatfield hieß er. Oder er hat wenigstens gesagt, daß er so heißt …«, fügte er vorsichtig hinzu. »Aber ich glaube«, fuhr er fort und gebot mit abweisender Geste dem begeisterten Ausbruch der Danksagungen des Pistolenschützen Einhalt, »daß ich Ihnen sagen könnte, wo er sich jetzt aufhält.« Damit verstummte Professor Dara Shikoh und klopfte langsam, ungemein langsam, die graue Aschenspitze seiner Zigarre ab. Joe zersprang fast vor Ungeduld. Seine Unruhe wirkte sich freilich keineswegs günstig auf die Bemühungen des Barkeepers aus, der die blutende Hand des Pistolenschützen diensteifrig mit einer Rolle Heilpflaster umwickelte. Nachdem der Magier seine Zigarre endlich für das weitere Rauchen vorbereitet und sie in den linken Mundwinkel geschoben hatte, fuhr er wohlwollend fort: »Hm, damals also hat dieser 160
Herr – Hatfield habe ich gesagt, nicht wahr? Nun, damals also hat mir Mister Hatfield anvertraut, daß er sich mit der Absicht trage, sein Glück so bald als möglich in Tombstone zu versuchen. Ich kenne diese Stadt nicht, aber, wie ich gehört habe, dürfte sie für Gentlemen seines Berufes wohl ein sehr günstiger Platz sein.« »Das wird sie ganz gewiß«, erwiderte Joe und lachte erleichtert, denn jetzt, da er alles wußte, befand er sich in großartiger Laune. Tombstone, dieses erst vor kurzem angelegte Goldgräber-Camp, stellte in letzter Zeit durch seinen blutigen Ruhm selbst die verrücktesten Städte des Westens in den Schatten. Es war deshalb ganz natürlich, daß sich ein Mann vom Schlage Hatfields entschloß, Tombstone einen Besuch abzustatten, wo auf den Tischen der Spieler ganze Ströme von Gold, an denen leider sehr oft Blut klebte, von Hand zu Hand rauschten. Joe kniff die Augen zu. Seine Gedanken verließen die unfreundliche Schankstube der Bar »Zum erledigten Apachen« und beschäftigten sich jetzt mit zwei ihm so teuren Seelen, von denen die eine in dieser, die andere in jener Welt weilte. Winnifred und sein Freund Bill. Schon bald, sehr bald, kannst du, teurer Junge, zu jener zurückkehren, wenn du vorher endlich den Tod dieses Mannes gerächt hast! Das bedeutete das Ende der Monate und Jahre rastlosen Umherschweifens, das Ende des freudlosen Lebens eines einsamen Wolfes. Das kam so plötzlich, daß sich der freundliche Leser nicht 161
wundern mag, wenn unser Held in diesem Augenblick ein wenig aus den Gleisen der unerschütterlichen Ruhe geriet, deren Bronze nur die Liebe zersplittern konnte (wie wir übrigens schon erkannt haben) oder aber die Freude über die eben beschriebene Enthüllung. Endlich pulste das Blut in seinen Adern langsamer. Da faßte er den Professor vertraulich am Arm. »Wie kann ich mich Ihnen dankbar erweisen, teurer Mann?« Mister Dara Shikoh krümmte sich in der abwehrenden Bewegung gut imitierter orientalischer Höflichkeit, die er, der aus San Francisco stammte, im dortigen Chinesenviertel gelernt hatte. »Ihre Freude ist für mich die größte Belohnung!« sagte er mit süßer Stimme und verneigte sich dabei mit auf der Brust gekreuzten Armen, womit er diese orientalische Bewegungsnummer stilvoll ergänzte. Joe, den es danach verlangte, sich sofort für die wertvollen Informationen erkenntlich zu zeigen, und sei es auch nur durch eine Kleinigkeit, öffnete eine Schachtel der beliebten Fruchtpastillen und bot sie dem Magier mit einem Lächeln an. Dieser verschmähte das Angebot nicht, legte die Zigarre beiseite und begann so intensiv das Bonbon zu knabbern, daß sein Bart wallte, aufgebläht wie von einem Erdbeben. »Kellner, wann fährt der Stellwagen nach Lordsburgh?« wandte sich Joe dem Mexikaner zu, der diesen bemerkenswerten Auftritt mit offenem Munde verfolgt hatte. 162
Der Bursche blinzelte überrascht, als hätten ihn die Worte des Pistolenschützen aus einem wundersamen Traum gerissen. Dann sprudelte er los, glücklich, daß er dem berühmten Mann doch einen Dienst erweisen könne, und sei es auch nur durch eine kurze Information. »Morgen früh um acht, Señor!« »Das paßt großartig! Also übermorgen in Lordsburgh … Ja, in vier Tagen bin ich in Tombstone.« Da lebte Mister Dara Shikoh merklich auf. »Das ist ja großartig!« rief er und rollte begeistert die Augen. »Hier in der Tasche habe ich einen Brief; es liegt mir ungemein viel daran, daß er meinem in Tombstone weilenden Freund persönlich eingehändigt wird. Es ist ein sehr vertraulicher Brief, der nicht in unberufene Hände kommen darf. Nun, Pistolenheld, wenn Sie mir wirklich irgendwie behilflich sein wollen, dann bitte ich Sie sehr: Besorgen Sie diesen Brief! Ihre Person ist für mich die beste Garantie dafür, daß alles in Ordnung geht.« Als Joe einige unzusammenhängende Empfindungswörter der begeisterten Zustimmung ausstieß, griff Mister Dara Shikoh in die Brusttasche und zog einen weißen Umschlag heraus, den er dem Pistolenschützen überreichte. Dieser überflog ganz instinktiv mit einem Blick die darauf geschriebene Adresse, und seine Brauen hoben und senkten sich vor Verwunderung. »Doc Holliday!« rief er überrascht aus. 163
»Sie kennen ihn?« fragte der Magier rasch und blickte Joe mit leicht zugekniffenen Augen an. »Nein, ich habe nur von ihm gehört«, erwiderte der Pistolenschütze, ohne seine Blicke von dem Namen des berühmten Pistolenhelden auf dem Umschlag zu heben. »Man hat mir in Dodge von ihm erzählt. Dort hat er einige Zeit gelebt. Er versteht es gut, mit Pistolen umzugehen, aber angeblich greift er zu oft danach.« »Dieses Schreiben übergeben Sie keinem anderen als Holliday«, fuhr Dara Shikoh fort. »Sie finden ihn bestimmt in Bob Hatchs Saloon!« »Verlassen Sie sich ganz auf mich, Professor!« sagte Joe lächelnd und verwahrte den Brief vorsichtig in der Innentasche seines Rockes.
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Tombstone-Geschichten Prospektor Ed Schieffelin kannte sich in den Bergen von Arizona aus. Die Huachucas und die anderen Gebirgsketten hatte er wiederholt durchstreift und war, obwohl man die in diesen Gegenden wohnenden Apachen gewiß nicht als Philanthropen bezeichnen konnte, jedesmal mit heilem Skalp zurückgekehrt. Einmal im Frühjahr brach er wieder in die Berge auf, nachdem er zuvor seinen Kameraden das Ziel seiner Expedition angegeben und beschworen hatte, daß ihn dort Millionen erwarten, die er nur auszugraben brauche. Sie überschütteten ihn mit gutmütigem Spott: Er werde dort höchstens seinen eigenen Grabstein finden. Aber schließlich war Schieffelin derjenige, der lachte, denn er stieß auf eine reiche Silberader. Um die Spötter zu ärgern, nannte er diesen Ort Tombstone, was soviel wie ›Grabstein‹ bedeutet. Ihm folgten andere, ließen sich dort nieder, und so entstand eine der berüchtigtesten Metropolen des Wilden Westens, die von blutrünstigen Geschichten umwobene Stadt Tombstone, die dann für viele tatsächlich zum Grabstein wurde. Vielleicht ist das eine Legende; aber wenn man die Atmosphäre jener Zeit und Gegend betrachtet, muß man zugeben, daß sie recht reizvoll und sogar sehr wahrscheinlich ist. Ihre mangelnde Verbürgtheit betrifft freilich nicht Ed Schieffelin, der sich tatsächlich Verdienste nicht nur um
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Tombstone, sondern um das ganze Gebiet von Cochis erworben hat. Ed gründete die Stadt zur rechten Zeit. Das alte Kansas hatte aufgehört, Kansas zu sein. Die Bisons und die Sioux waren ausgestorben, für Dodge und Abilene hatte es zwölf geschlagen, und die Romantik war schlafen gegangen. Nun strömte die Blüte der Pistolenschützen aus diesen Teufelsstädten nach Tombstone. Es kam Bat Masterson, es kamen Luke Short und Doc Holliday, es kamen die fünf Earps mit dem famosen Wyatt an der Spitze und mit ihnen eine Unmenge anderer, die ihre Pistolen ebensooft bellen ließen wie jene. Deshalb konnte Mark Smith, der langjährige Repräsentant Arizonas in Washington, in der Stadt bald vierzig gewerbsmäßige Totschläger zählen. Das Leben besaß hier keinen großen Wert. Dabei bewertete die öffentliche Meinung das Leben der Mexikaner am billigsten; ein toter Greaser war kein toter Mensch. Die Prospektoren litten sicherlich nicht an einem Überfluß feiner Sitten; trotzdem griff hier ein Element ein, das sie an Zügellosigkeit des Temperaments weit übertraf. Das waren die Schmuggler von gestohlenem Vieh, die ganze Herden durch die Cañons von Guadalgue und Sceleton in das Tal San Simon brachten. In Tombstone ruhten sie sich dann von ihrer nicht allzu anstrengenden Arbeit aus, und weil sie zumeist aus dem Süden stammten, ließen sie ihrem Haß gegen die Mexikaner und die Yankees 166
in Schießereien freien Lauf. Mit den Mexikanern hatten sie keine große Mühe, dafür erteilten ihnen die Yankees häufig eine grausame Lektion. Freilich, Pistolenschützen vom Kaliber Wyatt Earps zu reizen, das war nicht gerade ratsam. Die grausame Rivalität der beiden Lager trug wahrhaft blutige Früchte, die man – übrigens sehr ungenügend konserviert – einige Fuß tief unter der Erde auf dem örtlichen »Friedhof der Beschuhten« finden konnte. Schließlich nahmen die Earps ihre Zuflucht zu brutalem Terror, und am 26. Oktober 1881 massakrierten sie – gemeinsam mit Holliday – in der Fremont Street ein Häuflein ihrer Gegner, und zwar unmittelbar vor den Augen des Stadt-Sheriffs John Behan. Unbekannte Rächer ermordeten hierauf heimtückisch beim Billardspiel Virgil Earp, worauf die trauernden Hinterbliebenen bei der Rückkehr von seinem Begräbnis aus den Fenstern eines Zuges – freilich eines stehenden Zuges – den vermeintlichen Mörder niederschossen, der auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Tucson auf und ab ging. Danach mußten sie freilich die Stadt verlassen, um der Lynchjustiz zu entgehen. Dabei gerieten sie noch so ganz nebenbei – bei einer Schießerei auf große Entfernung – in eine Auseinandersetzung mit einer Gruppe von Viehschmugglern, wobei sie deren berühmten Anführer ›Locken-Bill‹ töteten. Doch bald danach ergriffen in Tombstone kräftige Hände die Zügel des Gesetzes, und die machten dem Treiben der Schmuggler und der 167
Cowboys bald ein Ende. Tombstone wurde eine stille Stadt. Der geneigte Leser möge dem Autor diesen Ausflug in die Geschichte von Tombstone verzeihen, einen Ausflug, der um so unentschuldbarer ist, weil sich die angeführten Fakten erst lange nach der Ankunft unseres Helden in der Stadt zugetragen haben. Nichtsdestoweniger sprechen gerade solche Fakten eine weit deutlichere Sprache als eine belletristische Passage aus einer noch so meisterlichen Feder. Gut informierte Grenzbewohner haben behauptet, Locken-Bill habe in Wirklichkeit William Graham geheißen. Andere, nicht minder gut informierte bezeichneten jedoch eine derartige Behauptung als Geschwätz; Bills wahrer Name sei William Broccius gewesen. Diese im übrigen bedeutungslose Kleinigkeit erwähnt der Autor nur, damit sich der Leser dessen bewußt werde, daß eine Stadt wie Tombstone ein Eldorado dunkler Existenzen war, die ihre Identität hinter oftmals sehr farbigen Beinamen verbargen. Jene Leute, die dem Leben – selbstverständlich: dem fremden – keinen übermäßig großen Wert beimaßen, taten dies dafür um so mehr bei dem Vergnügen. Für das Vergnügen sorgten übrigens auf großartige Weise zahllose gewandte Unternehmer. Die Allen-Street, den reinsten Markt der Eitelkeiten, säumten zu beiden Seiten Bars, Theater und Spielsäle, wo man für einen Jeton ausschließlich mit einer Zwanzig-Dollar168
Goldmünze zahlte. Alle diese Music-Halls und Tingeltangels waren nichts anderes als schreiend aufgemachte Spelunken, schillernd von Flittergold, das freilich die unverfälschte Gemeinheit dieser Stätten nicht zu maskieren vermochte, doch versuchten diese wenigstens durch ihre Namen Uneingeweihten die Vorstellung großartiger und dezenter Unternehmen vorzutäuschen. Der Leser urteile selbst: Crystal Palace, Alhambra, Cosmopolitan, Oriental – das klingt doch gar nicht schlecht! Jedes dieser Unternehmen hatte allerdings eine Spezialität aufzuweisen: Das CanCan-Restaurant war durch seine vorzügliche Küche berühmt, besonders das dort angebotene Hühnerfrikassee war konkurrenzlos; Schieffelins Saal war täglich von einem nicht sehr anspruchsvollen Publikum überfüllt, dem die Herren Ward und Hanford mit der drastischen Posse »Damon und Pythias« einen Augenkitzel bereiteten, aber den souveränen Primat hielt entschieden das Theater »Vogelkäfig«, in dem der unabsetzbare Zar der amerikanischen Komiker, der mit Lorbeeren bedeckte Eddie Foy, gastierte. Neben diesen Häusern prosperierten noch Dutzende Bordelle, die Tag und Nacht geöffnet waren, dort lächelten blonde Mädchen von junonischer Gestalt mit vollem, durch Schnürleibchen hochgehobenem Busen aufmunternd den Fremden zu, die Champagner bestellten. Wenn wir den »Vogelkäfig« bisher als Theater bezeichnet haben, dann nur deshalb, weil diese 169
Art von Vergnügungsetablissements in den Staaten zu jener Zeit diesen Namen trug. In Wirklichkeit war es ein unbestimmtes Konglomerat von Music-Hall, Tanzsaal und Bar, das einer hölzernen Scheune glich, überhäuft mit Freudenhausdraperien, abscheulichen Schnitzereien, schreienden Tapeten und obszönen Bildern. Kurz und gut, ein Extrakt von Bordellkitsch. So also sah die Stadt aus, die unser Apostel der Cola-Coca-Limonade betrat. Mehr als eine Woche schlenderte er nun schon durch die Straßen und die Bars von Tombstone und suchte vergeblich nach den Spuren des geheimnisvollen Spielers, der schon seit Jahren weder seiner noch Bills Seele Ruhe gönnte. Ja er hatte sogar noch nicht einmal den Brief des Magiers dem Adressaten übergeben können, denn Doc Holliday weilte, wie er von den Earps erfahren hatte, für kurze Zeit außerhalb der Stadt. Die Irrfahrt nach dem Schatten des Spielers hatte Joe heute in den »Vogelkäfig« geführt, in den er sonst keinen Schritt getan hätte. Nun blickte er auf die bunte Menge. Ab und zu verschwand sie hinter den Wolken von Tabakqualm, dessen Gestank – ebenso wie das widerlich süßliche Aroma der vergossenen Spirituosen – den Magen des Pistolenschützen hob. Plötzlich entdeckte Limonaden-Joe eine Gruppe wild aussehender Männer, die sich rücksichtslos zwischen den Tischen durchdrängten. Angeführt 170
wurden sie von einem untersetzten Cowboy mit braungebranntem, faltenübersätem Gesicht und niedriger Stirn, über der sich wie ein Schlangennest schwarzblaue Locken ringelten. Auf seinem Rücken hüpfte ein mexikanischer Sombrero. Überhaupt zeigte vieles an der Kleidung und Ausrüstung dieser Leute Spuren mexikanischer Arbeit. Im Gesicht des lockigen Fremden stand ein wilder Ausdruck, den übrigens seine vier Begleiter mit ihm teilten. Joe bemerkte, daß die meisten Besucher verstohlen nach den Neuankömmlingen schielten. Das bestärkte ihn in der Ansicht, daß es sich dabei um populäre Persönlichkeiten handle. Deshalb wandte er sich fragend an seinen Nachbarn, einen gutmütigen Goldgräber, der die Fremden mit nicht geringerem Interesse betrachtete. »Das ist Locken-Bill«, lautete die Antwort, »neben John Ring der berühmteste Viehschmuggler im ganzen Grenzgebiet! Jener häßliche Mischling im Lederanzug mit den Fransen heißt Indiana-Kid und dahinter – sehen Sie den Mexikaner, ja jenen, der eben seinen Sombrero mit den goldenen Rosen zieht –, das ist Leutnant Ben. Angeblich ist er erst vor kurzem aus der Kavallerie desertiert. Zum Teufel, Fremder, dieser Besuch gefällt mir nicht! Ich glaube, da bereitet sich etwas vor! Wenn ich nur wüßte, was! Die Earps sind doch nicht hier, auf wen haben sie es also abgesehen?«
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Schließlich nahmen die Schmuggler Platz, jedoch nicht an einem Tisch, sondern an verschiedenen Stellen des Saales. Limonaden-Joe kam das sonderbar vor, doch bald widmete er ihnen keine Beachtung mehr und setzte seine Nachforschungen fort, wobei er nach einem Raucher Ausschau hielt, der die Zigarre zwischen dem kleinen Finger und dem Ringfinger hielt. So verging eine weitere Viertelstunde, und das Programm drohte schon jeden Augenblick auszubrechen. Joe interessierte sich jedoch nicht für die vorbereiteten Sensationen des »Vogelkäfigs«, Eddie Foy selbst nicht ausgenommen. Sein Geist weilte jetzt weit von hier, hob sich über das teuere, zarte Köpfchen jener, die … Eine plötzlich eintretende Stille riß ihn aus seinen süßen Träumen. Wie ein Schlafender in einer Mühle erwacht, weil die Räder plötzlich stillstehen. Etwas Unheildrohendes hatte den fröhlichen Lärm verweht, der so sorglos um die geschnitzten Säulen und die staubbedeckten Draperien getost hatte. Als letztes verstummte das rasselnde Piano. Dann war kein Laut mehr zu hören. Alles verharrte regungslos, selbst der Rauch schien zu erstarren, und starr waren auch die Blicke, die plötzlich alle in eine Richtung gingen. Joe folgte dem allgemeinen Beispiel und wandte seinen Blick zur Tür. Zwischen den Angeln sah er einen schwarzgekleideten Pistolenschützen. Die 172
Lampenschirme, die das Licht daran hinderten, sich nach allen Richtungen auszubreiten, tauchten sein Gesicht in Dunkel, so daß er wie ein Gespenst ohne Kopf aussah. Da trat er einen Schritt vor. Der Schatten zerschnitt nun seinen Kopf und gab nur einen blutleeren Mund und die eingefallenen Wangen frei, ähnlich einem Totenschädel. Schließlich floß das ganze Gesicht in den Lichtkreis ein – und damit böse graue Augen, die tief in den dunklen Höhlen lagen. Bleiches Haar umwogte die wachsfarbenen Schläfen. Der Mann stand nun regungslos da und blickte starr auf das braune faltige Gesicht, das sich von einem mit Branntwein übergossenen Tisch zu ihm hob. Doch Locken-Bill hielt diesem Klapperschlangenblick stand und erwiderte ihn mit einem frechen Grinsen, denn ein stolzer Sohn des Südens senkt doch nicht seinen Blick vor irgendeinem Yankee. Mit jeder Sekunde wurde die Atmosphäre dichter, geschwängert von Erwartung des unausweichlichen Gewitters. Hinter dem Rücken des Cowboys raschelten leichte Schritte von Männern; diese verließen eilig die gefährliche Zone, die ein einziger Augenblick in einen Tummelplatz sausender Kugeln verwandeln konnte. Doch keiner sprach ein Wort. Plötzlich schüttelte ein schrecklicher Hustenanfall den unheimlichen Gast. Er krümmte sich, erschüttert von den krampfartigen Stößen seiner zerfallenden Lungen, und preßte fiebrig das 173
Taschentuch an den Mund. Als er es schließlich von den aschfarbenen Lippen entfernte, sah Joe auf seinen Falten Blutspuren. Durch dieses traurige Intermezzo entlud sich jedoch die Spannung, wenn auch nur zeitweilig. Der schwarze Pistolenschütze beachtete LockenBill nicht mehr, sondern trat an die Bar und bat um ein Glas Milch. Diese Bestellung erfüllte Joe begreiflicherweise mit tiefer Sympathie für die Person des Schwindsüchtigen. Schon wollte er seinen Informator befragen, als sich dieser selbst zu seinem Ohr neigte und flüsterte: »Also haben sie es auf Holliday abgesehen!« »Das ist Doc Holliday?« fragte Joe rasch. »Allerdings, hier sehen Sie ihn vor sich aus Fleisch und Blut, das heißt, von beidem hat er nicht mehr viel, aber das genügt ihm, um eine ganze Reihe von Männern dorthin zu schicken, wo sich um Fleisch und Blut nur noch die Würmer kümmern. Er knallt, ebenso wie die Earps, Cowboys und Schmuggler ab, sooft sich ihm dazu Gelegenheit bietet.« Joe hörte jedoch nicht mehr auf diese kernigen Erläuterungen, sondern angelte aus der Tasche den zerknitterten und beschmutzten Brief, den er ja ständig bei sich getragen hatte, hervor und trat zu Holliday, der mit düsterer Miene seine Milch trank. »Ich belästige Sie nur ungern, aber ich habe Ihnen einen Brief zu überbringen.« Mit diesen Worten überreichte er dem überraschten Totschläger die schmutzstarrende Epistel. 174
Doc dankte mit unwirschem Brummen und öffnete den Brief sofort. Rasch überflog er den Text und bedachte dann Joe mit einem sonderbaren Blick. Eine Weile sahen sie einander in die Augen. Schließlich wollte Limonaden-Joe, dem diese Situation kein besonderes Vergnügen bereitete, an seinen Platz zu dem noch nicht geleerten Glas Cola-Coca-Limonade zurückkehren. Doch da legte ihm Holliday seine Hand auf die Schulter. »Bleiben Sie eine Weile, Fremder! Ich würde mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten.« Wie die Krallen eines Adlers umklammerten die hageren Finger den Arm Limonaden-Joes. Ein unheilvolles Flämmchen glomm im Auge des Totschlägers auf und erlosch wieder – auf der Bühne öffnete sich der Vorhang. Die Szene mit dem gemalten Prospekt eines französischen Parks war leer. Nach einer Weile erschien Mister Titus Mossman, der das gut renommierte Theater »Vogelkäfig« sein eigen nannte, und führte mit galanter Geste ein Mädchen auf die Bühne, das in einen Mantel aus Paradiesvogelfedern gehüllt war. Beide verneigten sich vor dem Publikum. Mister Mossman nahm die Zigarre, die er bisher zwischen den Zähnen gehalten hatte, aus dem Mund und stellte dem P. T. Publikum von Tombstone Miss Tornado-Lou vor, den Liebling der Champs-Élysées, die nach einem Gastspiel in Paris in ihren geliebten goldenen Westen zurückgekehrt sei. Es bestehe kein Zweifel, daß sie die P. T. Gäste des 175
»Vogelkäfigs« ebenso für sich gewinnen werde, wie sie das erlesene Publikum der Seine-Metropole erobert habe. Zunächst werde Miss Tornado-Lou das bekannte und beliebte Lied »Hoch die Gläser, nah die Mädchen!« singen. Darauf nahm Mister Mossman der Sängerin mit effektvoller Geste den Mantel von den Schultern und begann in die Hände zu klatschen. Diese steckten in Glacehandschuhen, die einstmals weiß gewesen sein mochten. Das tat er, um auch beim Publikum gehörigen Applaus zu entfachen. Doch diesmal war sein sonst möglicherweise notwendiges Eingreifen völlig überflüssig, denn die Männer brachen beim Anblick eines solchen Körpers ganz von selbst in stürmische Ovationen aus. Die Reize dieser fülligen Brünette, die durch das eng anliegende Kostüm noch gesteigert wurden, verursachten einen solch erregenden Eindruck, daß flammende Leidenschaften die ohnehin schon recht heiße Atmosphäre im »Vogelkäfig« zur Weißglut erhitzten. Ein schwarzes, durch ein eingewirktes Korsett verstärktes Trikot, das mit blitzenden Schuppen übersät war, umschloß wie ein süßer Panzer einen herrlichen Busen sowie betörende Hüften und Schenkel. Einen nicht minder angenehmen Anblick boten die entblößten Arme und Beine, die in schwarzen, bis an die Hüften reichenden Seidenstrümpfen steckten. Auch das Gesicht war recht reizvoll. Kurz und gut, die ›Französische Lola‹ wirkte jetzt noch attraktiver als damals, als wir sie so dekorativ
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ausgestreckt auf dem Sofa ihres Boudoirs in Saint Louis gesehen haben. Joe, der freilich ständig das Bild der geliebten Winnifred vor Augen hatte, blieb gegenüber diesem reichlichen Angebot von Reizen kühl und beschäftigte sich mehr als mit den weiblichen Reizen mit der Erregung der Männer, die mit heißen Blicken diese lieblich abgerundete Erscheinung verschlangen. Holliday vor allem klatschte wie von Sinnen. Ein dunkles Rot überdeckte seine kalkweißen Wangen, und seine Pupillen glühten fiebrig im Schatten der eingefallenen Augenhöhlen. Die einer Baßgeige ähnliche Erscheinung ließ ihn offensichtlich alle Gefahren vergessen, die hier auf ihn lauerten. Endlich ebbte der Applaus ab, die Musik intonierte einige Takte einer lauten Introduktion, und als sie ein wenig ruhiger wurde, begann Miss Tornado-Lou zu singen. Glücklicherweise war ihre Stimme so schwach, daß sie die leidenschaftliche Verträumtheit nicht störte, mit der das männliche Publikum dem wirkungsvollen Spiel der Reize zusah, die durch die Gesten des Mädchens in Bewegung versetzt wurden. Die goldenen Fransen, die ihre entblößten Schultern säumten, erzitterten, der Busen wogte und bauschte den glitzernden Flitter, und die Bretter der Bühne ächzten unter der Last dieses junonischen Körpers, der sich in Tanzschritten und Sprüngen hin und her bewegte. Joe bemerkte voll Verwunderung, daß manches beredte Zwinkern, manche vielsagende Geste Holliday zugedacht 177
waren. Der stand da wie ein Mondsüchtiger, ohne die spöttischen Blicke wahrzunehmen, die ihm Locken-Bill und seine Suite verstohlen zuwarfen. Als das Fräulein geendet hatte, setzte die Musik mit Fortissimo ein und wiederholte gnadenlos den Refrain. Da hüpften aus den Kulissen sechs robuste Mädchen heraus, worauf sich auch Tornado-Lou in die Tanzkunst zu retten begann, die übrigens ihre gesanglichen Fähigkeiten in keiner Weise übertraf. Jetzt hatte der Fußboden erst zu leiden! Das tat er auch durch verzweifeltes Knarren und Quietschen kund, das zusammen mit dem Stampfen von sieben Paar sehr kräftigen Füßen fast das Orchester übertönte, in dem sich besonders ausgiebig, wenn auch etwas selbständig, eine kreischende Posaune bemerkbar machte. Aber alles hat einmal ein Ende; und so erschütterte in dem Augenblick, in dem TornadoLou mit ihrem Chor zum Schlußbild erstarrte, frenetischer Beifall und Pfeifen den »Vogelkäfig« bis in seine Grundfesten. Lola verneigte sich, und Hollidays Ausdruck verriet, daß die Bezeichnung Stielaugen durchaus nicht übertrieben ist. Da geschah etwas Unerwartetes. Indiana-Kid, der bisher applaudiert hatte, ergriff plötzlich ein Glas und schleuderte es nach Miss Lou. Er traf sein Ziel, aber die elastische Hüfte des reizenden Mädchens federte das Gefäß mit solcher Vehemenz ab, daß es ins Orchester flog, wo es dröhnend auf das Fell der großen Trommel schlug.
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Hollidays Hand fuhr mit Blitzesschnelle zum Gürtel. Seine Rechte hatte jedoch noch nicht den vernickelten Lauf berührt, als auch schon von der gegenüberliegenden Wand ein Schuß ertönte. Gleichzeitig bohrte sich eine Kugel in die Holzleiste über Docs Stirn. Eine Panik brach aus. Jene, die in der Nähe des Ausgangs standen, stürzten auf die Straße, die anderen warfen sich eilends zu Boden, wobei sie in ihrer Verwirrung Stühle und Tische samt den daraufstehenden Gläsern umrissen, während die Frauen hysterisch kreischten. Die Stimme der Fünfundvierziger-Pistole, die den Ablauf dieser dynamischen Szene eröffnet hatte, blieb jedoch nicht allein. Bald schloß sich weitere Artillerie an und übertönte alle Entsetzensschreie. Sieben Männer feuerten auf Holliday, denn zu Bills Begleitern hatten sich noch zwei Vaguers gesellt, bei denen der Pistolenschütze wohl irgendwelche alten Rechnungen zu begleichen hatte. Fest und breitbeinig stand Doc vor dem Barpult und verschmähte jegliche Deckung. Seine Rechte verharrte am Gürtel und umklammerte den Schaft, während die Linke mit ungemein raschen Bewegungen immer aufs neue den Abzug betätigte. Die Schüsse folgten so dicht aufeinander, daß die aus der Mündung des Laufes zischende Flamme gar nicht zu erlöschen schien. Das mörderische Feuer der Cowboys fegte hinter seinem Rücken ganze Reihen von Gläsern hinweg, zersplitterte ganze Batterien von 179
Flaschen. Glasfontänen explodierten, und Alkohol zersprühte zischend wie die Rosetten eines Feuerwerks. Holliday, der inmitten dieses Regens von Blei und Scherben unbewegt ausharrte, mähte mit düsterer Ruhe seine Gegner nieder, die ihn in einem breiten Halbkreis umringten. Von sechs Geschossen, die innerhalb so kurzer Zeit die Mündung seines Revolvers verließen, fanden mindestens drei ihr Ziel. Er arbeitete ungemein methodisch, indem er mit den ersten Schüssen die nächsten und damit gefährlichsten Gegner erledigte. Indiana-Kid stürzte mit durchschossener Stirn gerade in dem Augenblick zu Boden, als er den Abzug betätigte. Seine Kugel riß in den Fußboden eine tiefe Furche. Der stutzerhafte Mexikaner, der nur um den Bruchteil einer Sekunde später getroffen wurde, hielt sich krampfhaft an einem Vorhang fest. Im Niedersinken riß er das giftgrüne Stück Samt mit, das seinen Körper wie eine Kriegsfahne bedeckte. Dreier Geschosse bedurfte es jedoch, bevor Doc einen hageren Cowboy unschädlich machen konnte, der sich sorgsam hinter einer hölzernen Säule verbarg. Sicherlich hätte er die Liquidierung seiner Gegner fortgesetzt, wenn er nicht plötzlich von einem neuerlichen Anfall seines todbringenden Hustens überfallen worden wäre, dessen gewaltige Stöße ihm ein genaues Zielen unmöglich machten. Mit rauchendem Colt krümmte er sich zusammen und grunzte häßlich. 180
Erst jetzt blickte hinter der runden Platte eines umgestürzten Tisches das sonnenverbrannte Gesicht Locken-Bills hervor. Heimtückisch zielte er mit der Kaltblütigkeit eines echten Killers auf Holliday. Es bestand kein Zweifel – sein Schuß konnte für den Pistolenschützen schicksalhaft werden. Aber in dem Augenblick, in dem Kimme und Korn seines Colts bereits Docs Kopf deckten, pfiff eine Kugel und schlug dem Schmuggler die Waffe aus der Hand. Der zog sich rasch in das schützende Versteck des Tisches zurück, denn er erkannte, daß jetzt ein neuer, verteufelt gefährlicher Spieler in das Geschehen eingriff, dessen Karte das Trumpf-As sein konnte. Sofort nach dem ersten Schuß hatte sich Joe weitblickend hinter das Barpult zurückgezogen, von wo aus er den Verlauf der Auseinandersetzung verfolgte. Und was sah er? Einen Mann, der ohne jede Hilfe allein gegen sieben heimtückische Totschläger stand. Da zauderte sein ritterliches Herz nicht lange. Er zog seine Smith & Wesson gerade in dem Augenblick, als Doc von dem fatalen Hustenanfall geschüttelt wurde, und leerte, wie wir eben gesehen haben, zunächst Bills Hand. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Leutnant Ben zu. Der war, als er Holliday wehrlos sah, aus seiner Deckung herausgesprungen und näherte sich Schritt für Schritt dem in sich zusammengesunkenen Körper des Schwindsüchtigen. Seine Augen leuchteten rot vor 181
Mordgier. Schon hob er seinen Colt, als Joe einen schweren Messinglüster auf sein Haupt herabschoß. Leutnant Ben ließ zuerst den Revolver fallen, dann sank er, teuflisch grinsend, leise auf den Fußboden. Er ahnte nicht, daß das gleiche Los unmittelbar darauf den rotblonden Mann aus Texas ereilen würde, der gerade unter einem großen Bild stand. Limonaden-Joe schoß es herunter, und der Scheitel des Cowboys machte Bekanntschaft mit dem massiven Rahmen, der den Rotkopf in das Reich der Träume schickte. So blieb nur noch ein kleiner Mexikaner übrig, der hinter dem Klavier kauerte. Mit der Geschwindigkeit einer Eidechse fuhr seine Hand aus der Deckung und feuerte einen Schuß ab, der imstande gewesen wäre, seinem Gegner das Leben verdammt unangenehm zu machen. Joe, den eine solche Heimtücke anekelte, verwarf schließlich seine gewöhnlichen humanitären Tendenzen und durchschoß die Hand des Heimtückers bei einem ihrer blitzschnellen Ausflüge in die gefährliche Zone. Der mit Elfenbein verzierte Colt entfiel den gekrümmten Fingern und stieß mit dem Abzugbügel gegen die Tischkante. Der entsicherte Abzug knackte, und ein Schuß ertönte, der diesen Kampf mit einem bemerkenswerten Epilog beendete. Das Geschoß, das so aufs Geratewohl abgefeuert wurde, zerschlug nämlich über dem Kopf unseres Abstinenzlers eine Flasche hochprozentigen 182
Brandys, der nun mit mächtigem Strom sein Gesicht überschwemmte, ihm in die Ohren stürzte und in Mund und Augen drang, während ihm der Alkoholdampf in die Nase stieg und das orthodox abstinente Gehirn betäubte. Das Barpult, die Leiche des Mischlings, die umgeworfenen Tische, die absinthgrünen Vorhänge, all das begann sich wie ein schwindelerregendes Karussell im Kreise zu drehen. Durch die Watte des brausenden Nebels vernahm Joe das Zischen eines sich nähernden Geschosses und einen entsetzten Schrei; hierauf dröhnte noch – aus weiter, weiter Ferne – ein zerschlagenes Fenster, dann war Schluß. Die Wolke von Alkoholdampf wiegte seine Seele ein und versetzte sie in ein süßes Nirwana. Sein Körper glitt weich auf den bespieenen Fußboden, wo er eine etwas lächerliche Pose einnahm. Limonaden-Joe war ohnmächtig und lag regungslos wie ein Baumstumpf da. Versunken in den See der Ohnmacht, so lag er auf dem Grund, den unbestimmte Strahlen von Dingen und Erscheinungen entflammten … Wie lange? Eine Stunde? Eine Woche? Er wußte es nicht. Schließlich hellte sich die Dunkelheit auf, und er tauchte allmählich wieder an die Oberfläche des Bewußtseins empor. Als er die Augen öffnete, bemerkte er, daß er auf einer Ottomane lag. Daneben saß eine mollige dunkelhaarige Schönheit, verführerisch lächelnd. 183
Aber nicht nur verführerisch lächelnd, sondern ihm auch noch ein bis an den Rand gefülltes Glas Cola-Coca-Limonade reichend. Ohne auf die stupide Verwendung der eben angeführten Partizipien zu achten, hob der Pistolenschütze seine ausgedörrten Lippen an den Rand des Glases und begann, mit heftigen Zügen sein Lieblingsgetränk zu schlürfen. Erst als er das Glas bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, spürte er, wie sich die ursprüngliche Frische wieder in seinem Körper einnistete und seine Muskeln mit Kraft, seine Sinne mit Schärfe und seine Nerven mit Eisen begabte. Und da bemerkte er, daß er sich nicht in seinem Hotelzimmer befand, sondern in einem anderen, das dem seinen ganz unähnlich war. Die Art der Wäsche, der Kleidung sowie anderer Gegenstände, die diesen Raum in unvorstellbarer Unordnung füllten, ließen keinen Zweifel am Geschlecht seines rechtmäßigen Bewohners. Nun, es war eine Frau. Sein Blick glitt wieder über das Mädchen, das neben der Ottomane saß und in seiner etwas schwammigen Hand die Flasche Cola-Coca-Limonade hielt. Das pikante Gesicht sowie der von einem Schnürleibchen hochgehobene Busen kamen ihm sehr bekannt vor. Wo hatte er nur diese Limonaden-Hebe schon gesehen? Jetzt erst wurde er sich dessen bewußt, daß er bereits eine geraume Weile dumm in die Luft starrte und wie versteinert schwieg, was auf die junge Frau sicherlich keinen guten Eindruck 184
machte. Deshalb sagte er, leicht stotternd – denn der durchdringende Blick der schönen Unbekannten machte ihn recht verlegen –, voll ausgesuchter Höflichkeit: »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen sehr für diesen wohlschmeckenden und zugleich ausgiebig stärkenden Schluck, Fräulein, Fräulein – Fräulein –« »Nennen Sie mich Lola, edler Pistolenheld! Hier trete ich zwar als Tornado-Lou auf, aber das ist selbstverständlich nur mein Künstlername. Für meine Freunde bleibe ich immer nur Lola, die Französische Lola!« Joe erinnerte sich nun sofort an die Erscheinung in Schwarz, Rot und Gold, die das Publikum des »Vogelkäfigs« durch das Schmelzrohr unerhörter Reize in Weißglut versetzt hatte. »Ich danke Ihnen, Miss Lola!« sagte er mit innigem Ton. »Aber können Sie mir sagen, wo ich mich eigentlich befinde und auf welche Weise ich hierher gekommen bin?« »Gewiß, Joe. Das können wir Ihnen in der Tat sagen!« Limonaden-Joe sah sich überrascht um; er wollte den Sprecher erkennen, von dessen. Anwesenheit er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Aber noch bevor er den Mann erblickte, der die eben angeführten Worte mit so sonderbar umflorter Stimme gesprochen hatte, erinnerte er sich, dieselbe Stimme vor einer Stunde – oder war es vor einer Woche? – am Barpult des »Vogelkäfigs« zwischen zwei rasselnden Hustenanfällen gehört zu haben, die ihren Klang 185
annagten, wie ein Sprung im Metall den Ton einer Glocke annagt. Ja, es war Doc Holliday. Bereitwillig schloß er die Lücke, die infolge des Einflusses des verdammten Alkohols im Gedächtnis unseres Pistolenhelden klaffte. So erfuhr Joe, daß gerade in dem Augenblick, in dem er in die Alkohol-Ohnmacht sank, die Brüder Earp in den Raum stürmten und die Situation endgültig zu Docs Gunsten entschieden. LockenBill sei es freilich gelungen, durchs Fenster zu entfliehen, was jedoch nichts zu bedeuten habe, denn die Earps hätten feierlich gelobt, ihm seinen heutigen Auftritt nicht zu schenken. Joe war dann, steif wie ein Balken, in die Garderobe von Miss Lola getragen worden, wo er mehrere Stunden in tiefer Bewußtlosigkeit lag. Wyatt hatte inzwischen Holliday unterrichtet, mit wem er die Ehre habe. Deshalb sprach der schwindsüchtige Killer, als Limonaden-Joe erwachte, ihn mit gehörigem Respekt an. Freilich unterliegt es keinem Zweifel: Eine gehäufte Portion Hochachtung hatte ihm bereits die wunderbare Arbeit der Smith & Wesson eingeflößt. Die genügte schon an sich, daß Holliday erkannte: Hier hatte er mehr vor sich als einen Dutzend-Pistolenschützen, wie er sie von Zeit zu Zeit ohne Anstrengung auf den »Friedhof der Beschuhten« geschickt hatte. Nachdem Joe die Erzählung Docs angehört hatte, versuchte er aufzustehen, doch kaum hatten seine Füße den Boden berührt, erkannte 186
er, wie sehr er die Wirkung des schrecklichen Brandy unterschätzt und zugleich den augenblicklichen Stand seiner körperlichen Fähigkeiten überschätzt hatte. Der Fußboden, der sich ihm gegenüber ganz solid verhielt, schien plötzlich unter seinen Füßen zu schwanken, so daß Joe verzweifelt taumelte. Holliday und Lola sprangen hinzu, und einzig so gelang es ihnen zu verhindern, daß er eine nachdrückliche Bekanntschaft mit dem Fußboden machte. Mit Hilfe einiger bereitwilliger Arme transportierten sie Joe sodann in sein Hotelzimmer, wo er einige Tage bis zu seiner völligen Wiederherstellung verbringen sollte. Am nächsten Tag besuchten Holliday und die Earps den genesenden Pistolenhelden. Sie wurden von einer Gruppe von Freunden begleitet, die es danach verlangte, einer so bedeutenden Persönlichkeit die Hand zu schütteln. Die kräftigen Männer mit ihren Stetsons auf den wetterharten Köpfen und den mächtigen Schnauzbärten, die an den kantigen, glattrasierten Kinnen niederfielen, drängten sich in dem kleinen Raum und erfüllten ihn mit fröhlichem Lärm. Einige von ihnen waren berühmte Killer. Luke Short und Bat Masterson, denen wir gleich zu Beginn unseres Kapitels begegnet sind, hatten vor Jahren die Hauptrollen in den blutigen Dramen der unvergeßlichen Ära Dodge gespielt. Sheriff Johny Behan, Bob Paul und Shern McMasters lohnten ebenfalls eine genauere Betrachtung. In unseren geographischen Breiten und zu einer anderen Zeit 187
hätte zweifellos ein ordnungsgemäßes Gesetz diese Gesellschaft durch ein ganzes System von Gittern und schweren Schlössern von den friedlichen Bürgern getrennt. Aber hier im Grenzgebiet hielt man sie letztlich für ehrliche Männer und schränkte die Freiheit ihrer Bewegung und die Tätigkeit ihrer Colts keineswegs ein. Einzig Holliday genoß nicht gerade den besten Ruf, aber seine Freundschaft mit den Earps, von denen Virgil die Stelle eines Stadt- und Wyatt die eines Staatsmarschalls einnahm, gewährte ihm eine genügende Legitimation, daß er sich nicht vor jenen Verdrießlichkeiten zu fürchten brauchte, die aus der Übertretung des Gesetzbuches des Grenzgebietes erwuchsen. Die erwähnten Herren schleppten ganze Batterien von Flaschen Cola-Coca-Limonade an, die zur völligen Genesung unseres Helden so unerläßlich war. Da sie von Wyatt über Limonaden-Joes hundertprozentige Abstinenz unterrichtet worden waren, ließen sie ihre Zigarren in den Taschen und lutschten ostentativ seine Lieblingspastillen. Sie redeten laut, aber bieder, wählten rauhe, aber ausdrucksstarke Wendungen, farbige Redensarten, aus denen der eigenartige Humor des Westens wie eine pittoreske Fontäne sprudelte. Einige untersuchten neuerlich in fachmännischem Jargon die gestrige Leistung des Pistolenschützen, andere lasen laut ein eingehendes Referat über die Schießerei vor, das auf der ersten Seite des Lokalblattes veröffentlicht worden war, und machten Witze 188
über die blumigen Phrasen, mit denen der Reporter die Kampfschilderung ausgeschmückt hatte. Bat Masterson, ein schlanker junger Mann mit grauen Augen und hellem Haar, imponierte durch die ruhige Würde seiner Bewegungen. Mit achtzehn Jahren war er schon auf Büffeljagd gegangen, hatte für General Miles Trapperdienste geleistet und überhaupt das Leben eines echten Grenzers geführt. Später, nachdem er als Pistolenschütze Berühmtheit erlangt hatte, wurde er in Dodge zum Sheriff gewählt, was ihn jedoch nicht daran hinderte, weiterhin mit seinen Vierundvierzigern auch private Rechnungen zu begleichen. Bald gewann er die Freundschaft des einflußreichen Politikers Theodore Roosevelt, der sich lebhaft für den Schützen interessierte. Der spätere Präsident der Vereinigten Staaten bot Bat die Stelle eines Polizeibeamten in New York an, und Bat ging darauf ein. Ade, Romantik des Westens, ade Stetsons, ade, staubige Steppen, rotschimmernd im Purpurnebel der blutroten Sonne, die zögernd hinter dem so fernen und so flachen Horizont verschwindet! Dann aber ging es mit Masterson bergab. Er wurde Journalist. Wie man sieht, wurde er immer mehr von der Zivilisation durchdrungen. Schließlich starb er eines ganz natürlichen Todes mit der Feder in der Hand. Im Sarg war er von einem ehrenwerten Bürger nicht mehr zu unterscheiden. Das war freilich das Ende! Jedoch zu der Zeit, in der unsere Erzählung spielt, war er noch der 189
gefürchtete Meister des Colts, und keiner hatte eine Ahnung, welch düsteres Schicksal ihm bestimmt war. Eben unterhielt er sich herzlich mit Joe, und nur Hollidays Anwesenheit verdarb ihm ein wenig die Stimmung. Er haßte den streitsüchtigen Verfemten und warf Wyatt oft seine Freundschaft mit Doc vor. Aber Holliday hatte Earp in Dodge das Leben gerettet, und die Earps vergaßen ihm das nicht. Bat Masterson sagte: »In Leavenworth habe ich mit Major North mit der Vierundvierziger auf fünfzig und dreihundert Yards einen Wettkampf ausgetragen. Er schießt ausgezeichnet, aber im Vergleich zu Ihnen, Joe, – bah!« Dieses »bah!«, begleitet von einem verächtlichen Lächeln und einer bagatellisierenden Geste, sprach Bände, denn es deutete die Lächerlichkeit jeder Bemühung an, North und Limonaden-Joe auch nur entfernt miteinander zu vergleichen. Damit stellte Masterson unseren Limonaden-Joe auf ein besonders hohes Piedestal, denn Major Frank North, der Kommandant des Hilfskorps von Pawnee, dieser berühmten indianischen Abteilung der US-Army, war von allen ohne Ausnahme als bester Schütze des Westens in allen Kalibern anerkannt. Das bestätigen selbst seine Gegner. Luke Short sagte, er habe einige Male North im Wettkampf mit dem Wilden Bill gesehen. Oberst Hickok verlor gegen ihn immer, aber er machte sich nichts daraus; im Zielen auf ein Stück Papier überlasse er Frank gern den ersten Platz, wenn es aber um eine 190
lebende Zielscheibe gehe, dann gewinne er, der Wilde Bill, auf der ganzen Linie. Der berühmte Killer hatte recht. Das Töten eines Menschen erfordert gewiß andere Qualitäten als ein unschuldiges sportliches Vergnügen. So redete man über diesen und jenen Pistolenschützen, mit fachlichem Interesse wurden gewisse Spezialanfertigungen von Waffen besprochen, und man unterhielt sich über Vorrichtungen, die ein schnelleres und genaueres Schießen ermöglichten. Der eine feilte den Abzug ab, um die Arbeit des Schlagbolzens zu beschleunigen, ein anderer schliff den Lauf aus, ein dritter besorgte sich eine Tasche mit Stahlfedern, die ihm sozusagen den Schaft direkt in die Hand schleuderten. Die Gesichter dieser Revolverexperten glühten, als sie ihre als Killer erworbenen Erfahrungen austauschten. Dann war die Rede von bedeutsamen Raufhändeln auf dem Boden Tombstones, und damit ging das Gespräch ganz natürlich auf das fieberhafte Wachstum dieser unseligen Stadt über. Die Augenzeugen des berühmten Runs verfielen unwillkürlich in schier endlose Erinnerungen, was übrigens durchaus begreiflich war, denn Namen wie Abilene, Ogallalah und Newton hatte die Zeit unlösbar mit ihrer Jugend verknüpft. Unser Held, der von der Länge und dem Lärm des Besuches etwas ermüdet war, verlor allmählich das Interesse an der Konversation der Pistolenschützen, doch als das Wort Cowtown fiel, war er mit einem Schlage wieder munter. Bob 191
Paul erzählte, er sei gestern aus Powderville zurückgekehrt. Der in dieser Stadt ansässigen Kaufleute habe sich eine Panik bemächtigt. Die Südwestbahn solle nämlich bis zu dem staubigen Neste Cowtown verlängert werden, und das bedeute das Ende von Powderville. Schon jetzt bewegten sich ganze Wagenkolonnen nach Cowtown, und Powderville werde bald eine Stadt ohne Menschen und ohne Geld sein. Es war nur natürlich, daß Limonaden-Joe sofort an Winnifred dachte. Er hatte selbst schon einige Runs erlebt und wußte, was das bedeutete. Nun befand sich also Winnifred, diese zarte Blume, inmitten einer brodelnden Hölle, die für Tugenden nichts übrig hatte, ganz besonders nicht für jungfräuliche Tugenden. Dieser Gedanke beunruhigte ihn so sehr, daß er nicht einmal die heitere Geschichte vom mißglückten Ruhm Buffalo Bills aufnahm, die Wyatt Earp zum besten gab. Ende der sechziger Jahre hatte Oberst Cody in Kansas eine Stadt gegründet, der er eine große Zukunft prophezeite. Im Hinblick auf derartige Hoffnungen nannte er sie New Roma. Zweifellos erwartete er, daß unter seinen Händen etwas Großartiges aus dem Ei schlüpfe, etwas nach Art des kaiserlichen Roms. Diesem frommen Wunsch muß man übrigens eine gewisse Berechtigung zuerkennen, denn die Häuser wuchsen an den Straßen von New Roma wie die Pilze nach einem Regen empor, und jeden Tag nahm die Zahl der Siedler zu. Eines Morgens ritt Buffalo Bill auf die Büffeljagd. Als er sich zum letztenmal nach seiner 192
Stadt umblickte, zwirbelte er befriedigt seinen goldblonden Schnurrbart, denn New Roma sah in der Tat vielversprechend aus. Doch als er am nächsten Tag zurückkehrte … Im Theater hatte er oft Zauberkünstler gesehen, die auf der Bühne eine Person aus dem Publikum verschwinden ließen. Gut, das begriff er, aber er konnte trotz angestrengten Nachdenkens nicht hinter den Trick kommen, durch den New Roma aus der Prärie weggezaubert worden war. Ja, es war weg, völlig weg. Dort, wo es noch gestern gestanden hatte, dehnte sich jetzt eine menschenleere Steppe aus, aus der allein ein einziges Holzhaus herausragte, und das war seines. Seine Frau, die ihn schon sehnsüchtig erwartete, erklärte ihm das geheimnisvolle Verschwinden der so verheißungsvoll aufblühenden Siedlung. Die Gesellschaft zur Gründung von Städten an der Kansas-Pazifik-Eisenbahn hatte, nicht ganz eine Meile von New Roma entfernt, eine neue Stadt gegründet und den Kolonisatoren weit größere Vorteile versprochen, als ihnen Buffalo Bills Metropole bieten konnte. Und so hatten die Einwohner von New Roma ihre zusammenlegbaren Holzhäuser auf Wagen gepackt, und bis zum Abend blieb von Codys Stadt nur sein Haus übrig. Die Pistolenschützen lachten herzlich über diese Geschichte, obwohl sie diese zumeist schon kannten. Schließlich zog Sheriff Behan eine goldene Uhr von der Größe einer Kasserolle aus der Weste, studierte eingehend ihr Zifferblatt und 193
meinte dann, es sei höchste Zeit, sich zu erheben. Alle folgten seinem Beispiel. Als sie bereits gehen wollten, wandte sich Shern McMasters plötzlich dem Rekonvaleszenten zu. Erst jetzt habe er sich erinnert, daß er vor etwa vierzehn Tagen einem gewissen Hardin begegnet sei, dem berühmten Totschläger von Arkansas, der – Limonaden-Joe fiel ihm ins Wort: Ja, er wisse alles, dieser Mensch verfolge ihn durch die ganzen Staaten, aber wie es scheine, wünsche das Schicksal nicht, daß sie zusammentreffen. Nun, vielleicht würde das nicht immer so bleiben. Kaum war hinter dem letzten Pistolenschützen die Tür ins Schloß gefallen, da ertönte ein leises Klopfen. Es war Doc Holliday. Er trat dicht an Limonaden-Joes Bett heran, hustete trocken und fragte ihn, wie eigentlich die Sache mit Greenwood stehe. Joe blickte ihn erstaunt an. Er erinnerte sich nämlich an Horace nicht mehr. Bei ihrer lebhaften gemeinsamen Fahrt hatte er ihm nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt, denn all sein Interesse hatte er – ebenso wie der Spieler – auf Miss Breakenridge konzentriert. Deshalb sagte er jetzt auch nicht die Unwahrheit, als er Holliday erwiderte, er kenne überhaupt keinen Mister Greenwood. Übrigens antwortete ihm Doc, als er ihn fragte, ob er hier nicht etwas von einem Kartenspieler namens Hatfield gehört habe, nicht weniger verneinend. Unter dem Eindruck der 194
vorangegangenen Antwort aber machte er ein etwas verlegenes Gesicht; offenbar wollte ihm etwas nicht in den Kopf. Schließlich verabschiedete er sich von Limonaden-Joe, wobei er erzählte, er fahre nach Bensons, um dort einige Geschäfte zu erledigen. Zweifellos hatte er sehr ernste Gründe, sich auf allen Seiten ein unerschütterliches Alibi zu verschaffen. Am selben Abend überfielen nämlich einige maskierte Banditen den Stellwagen bei Drew Station, wobei von ihren Schüssen der Kutscher namens Philpot getötet wurde. Bob Paul, der die wertvolle Ladung auf dem Kutschbock begleitete, behauptete später, er habe in einem der Räuber Holliday erkannt; doch die Earps vertuschten alles. Aber diese Geschichte interessiert uns jetzt nicht. Holliday ging also weg, doch als er schon unter der Tür stand, drehte er sich plötzlich um und sagte zu Limonaden-Joe: »Nehmen Sie sich vor Horace Greenwood in acht, Pistolenheld! Schätze, er hätte lieber den Zahn einer Klapperschlange in der Ferse als Sie auf dieser Welt!« Damit verschwand er endgültig. Joe sah ihm verständnislos nach. Was für ein Horace? Was für eine Klapperschlange? Doch dann schüttelte er den Kopf, entkorkte eine Flasche Cola-Coca-Limonade und begann, sie zu konsumieren. Das herzliche Gluckern schuf in dieser wenig ansprechenden Räumlichkeit bald eine biedere Atmosphäre. Nachdem er delikat
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gerülpst hatte – schließlich war er ja allein –, versank er in einen kräftigenden Schlaf. Als Joe am nächsten Morgen die Augen auftat und seine Glieder streckte, wobei er hörbar mit den Knöcheln knackte, fühlte er sich munter wie ein Fisch im Wasser. Weil die Sonne schon recht hoch stand, sprang er mit beiden Beinen aus dem Bett, wusch ökonomisch nur einige Quadratdezimeter seiner Oberfläche und kleidete sich dann sorgfältig an. Nachdem er eingehend den Mechanismus seiner Smith & Wesson erprobt hatte, legte er den Gürtel um und ging in den Speisesaal hinunter. Man kann sagen, daß der Glanz seiner Stiefel die Helligkeit dieses Raumes, in dem es angenehm nach Kaffee und gebackenem Speck roch, wesentlich erhöhte. Nachdem er ausgiebig gefrühstückt hatte, leerte er sein übliches Morgenglas Cola-Coca-Limonade, worauf er auf die Straße ging, erfüllt von einer sonderbaren, neugeschöpften Hoffnung, daß er heute endlich jenen geheimnisvollen Spieler finden werde, der die Zigarre zwischen dem kleinen Finger und dem Ringfinger hielt. Eben schlenderte er durch die Fremont Street, als er plötzlich spürte, daß ein konzentrierter Blick auf seinem Rücken brannte. Weil seine Jacke schon zwischen den Schulterblättern zu qualmen begann, drehte er sich um, da er die Quelle dieses machtvollen Fluidums entdecken wollte. Im selben Augenblick vernahm er das Klirren von Porzellan, einen wütenden Schrei und das lebhafte Wiehern eines Pferdes. Als er die halbe Wendung vollendet 196
hatte, erkannte er, daß die Urheberin Miss Tornado-Lou war. Dieses temperamentvolle Mädchen machte nämlich an jenem Morgen eine Ausfahrt in einer leichten, eleganten Kalesche. Diese wurde von einem Paar herrlicher Vollbluthengste gezogen, die in einem Ziergeschirr aus gelbem Leder gingen. Den Wagen, die Pferde und das Geschirr hatte ihr Mister Mossman geliehen, und zwar mit großer Bereitwilligkeit, denn er hielt eine solche Fahrt durch die überfüllten Straßen der Stadt mit Recht für eine großartige Reklame, nicht nur für Miss Lou, sondern auch für sein Unternehmen. Wir brauchen wohl kaum zu betonen, daß Joe auf die Sängerin schon bei ihrer ersten Begegnung einen mehr als sympathischen Eindruck gemacht hatte. Zwar ließ sie sich von Holliday hofieren, doch hatte sie dafür durchaus rationelle Gründe. Einerseits fürchtete sie sich vor Doc, andererseits sicherte ihr seine Zuneigung wertvolle Geschenke, die ihr dem Luxus verfallenes Herz nicht missen konnte. Mit Limonaden-Joe verhielt es sich aber ganz anders. Das Gesicht, die Gestalt, die Stimme, die Bewegungen des Pistolenhelden, kurz: alles, woraus sich seine bewundernswerte Persönlichkeit zusammensetzte, ließ die Saiten von Lolas Innerem in einem erregenden Liebesakkord erklingen. Als sie ihn jetzt wiedersah, wie er mit elastischem und doch so männlichem Schritt über den hölzernen Gehsteig der Fremont Street schritt, versank sie beim Anblick seiner breiten 197
Schultern in süße Träume und ließ sich von ergötzlichen Vorstellungen fortreißen. Seine schmucke Erscheinung nahm sie derart gefangen, daß sie das Lenken der beiden Vollbluthengste ganz vergaß, die plötzlich, aus heiterem Himmel, der Eintönigkeit der Fahrbahn überdrüssig, auf den Gehsteig traten und in mäßigem Trab auf Slys Photoatelier zusprengten, wo sie eine gewisse Disharmonie verursachten. Mister Sly, der sich eben, den Kopf in ein schwarzes Tuch gehüllt, über eine Kiste von einer Riesenkamera beugte, bemerkte ihre Anwesenheit erst, als ihm eine feuchte Pferdeschnauze eine bauchige japanische Vase auf die Schulter warf. Schrecklich erregt, begann der Photograph ordinäre Schimpfworte auszustoßen. Tornado-Lou, die so unverhofft aus ihren süßen Träumen gerissen war, erschrak sehr und zeigte das aufrichtige Bestreben, die neugierigen Huftiere zum Rückzug zu bewegen. Weil sie aber nur einmal in ihrem Leben ein Pferd gelenkt hatte, und zwar nur ein hölzernes auf dem Karussell, erreichte sie lediglich, daß die Tiere die Pappbalustrade demolierten und die imitierten Kirschen vom Hut einer unvorsichtigen Kundin, die nicht rechtzeitig das Feld geräumt hatte, verzehrten. Dieses systematische Vernichtungswerk wäre zweifellos weitergegangen, wenn nicht plötzlich Limonaden-Joe das gelbe Riemenzeug erfaßt und die Pferde mit gewandtem Manövrieren aus dem Atelier hinausgeführt hätte. 198
Es ist schwer, die Wut des Photographen zu beschreiben. Sie hatte ihn so gepackt, daß er sich noch immer nicht aus dem schwarzen Tuch befreien konnte, was gewiß recht lächerlich wirkte. Schließlich gelang es Lola, ihn zu beruhigen, indem sie ihn an die Kasse von Mister Mossman verwies, der sicherlich gern für diese unvorhergesehenen Ausgaben bei der Reklamefahrt aufkommen werde. Joe wollte sich schon zum Gehen wenden, aber das Mädchen hielt ihn mit zarter Bewegung zurück. Sie wäre ihm so dankbar, sagte sie, wenn er ihr bei diesen starrsinnigen Tieren helfen könnte. Natürlich nur, wenn er nicht einer dringenden Angelegenheit wegen eile. Nein, eine solche Bitte konnte Limonaden-Joe nicht abschlagen. Hier brauchte eine schwache Frau seine Hilfe, und da kannte er keine dringende Angelegenheit. Deshalb sprang er auf den Bock, schnalzte leicht mit der Zunge und fuhr aus dem Kreis der Gaffer, die sich hier inzwischen angesammelt hatten. Wohin solle er die Pferde lenken? Tornado-Lou erwiderte, sie würde gern ein wenig in die Umgebung der Stadt fahren. Joe erwiderte: Eine derartige Spazierfahrt sei für eine junge Dame verdammt gefährlich, denn in der Umgebung wimmle es von Apachen. Darauf Lola: Oh, und wenn es zehnmal soviel wären, sie würde sich nicht ein bißchen fürchten, wenn er an ihrer Seite säße. 199
Joe fühlte, wie ihm das Blut in die Ohren stieg. Als Lou seine Verlegenheit sah, begriff sie, daß sie jetzt aus ihm kein Wort herausbekommen konnte. Um dem Pistolenschützen Mut zu machen, redete sie daher zunächst allein und erzählte ihm von ihren Erfolgen in Tombstone. Fürwahr: Sie kam, sang und siegte. Ihr phänomenales Debüt hatte Mister Mossman veranlaßt, sie gleich mit einer weiteren Nummer in das Programm aufzunehmen, unmittelbar nach Eddie Foy. Lou, die von ihrem Erfolg begeistert war, beschränkte sich nicht auf eine plastische Schilderung ihres Triumphes. Es sei nicht nur Tombstone, erklärte sie, das von ihr derart eingenommen sei, o nein, die berühmtesten Städte des Westens bewürben sich um ihre Person. Zum Beispiel sei ihr ein wahrhaft sensationelles Engagement vom Besitzer des exklusivsten Theaters in Cowtown, dieser zur Zeit lebhaftesten Stadt des Südwestens, angeboten worden, wenn sie sein Superunternehmen mit ihrem Auftritt beehre. Von Cowtown hätte sie freilich nicht sprechen dürfen, denn dadurch versetzte sie Joe in eine noch undurchdringlichere Verschlossenheit. Jetzt war mit ihm überhaupt nicht mehr zu reden; er saß mit sauertöpfischer Miene starr auf dem Kutschbock und nahm ihre verteufelt pikanten Reize überhaupt nicht wahr. Das begann sie schließlich zu ärgern, worüber wir uns keineswegs wundern.
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Inzwischen hatten sie die Stadt verlassen und befanden sich in einer nicht übermäßig reizvollen, rauhen und ausgedörrten Gegend. Schließlich aber erreichten sie doch ein Tal, das ein wenig frischer aussah, da eine Quelle seine Hänge mit Grün belebte. Lou meinte, hier würde sie gern etwas ausruhen. Joe hielt also an und kroch vom Bock, um Lou beim Absteigen behilflich zu sein. Das Mädchen wollte auch bereits abspringen, doch da bemerkte es, daß der Boden, auf den sie ihr Füßchen setzen sollte, mit großen scharfen Steinen bedeckt war, die ihre zierlichen Schuhe zerrissen und ihre zarten Fesseln verwundet hätten. Limonaden-Joe hatte zweifellos ihren ängstlichen Blick bemerkt, denn er bot der jungen Frau selbst seine Arme an, um sie bis zu einer gangbaren Stelle zu tragen. Das gefiel dem Mädchen freilich sehr. Mit ihrem warmen Körper ruhte sie weich auf den Armen des Pistolenschützen, legte ihren molligen Arm um seinen Hals und sah ihm tief in die Augen. Es war ein Blick, der das Blut des Mannes aus dem Westen zum Sieden brachte. Solch verführerische Listen hätten selbst einen Stein zum Schmelzen gebracht. Deshalb ist es kein Wunder, daß auch Joe schließlich merkte, wie seine Knie zu wanken begannen. Was das anlangt, müssen wir freilich bekennen: Hier spielte noch ein anderer Grund eine wesentliche Rolle. Wie 201
dem Leser bereits bekannt ist, hatte Miss Lou nichts mit einem ätherisch zarten Wesen gemein, das schließlich auch gar nicht dem Zeitgeschmack entsprach. In engstem Zusammenhang mit ihren massiven Formen stand auch ein nicht minder massives Gewicht, gegen das wir bestimmt nichts einzuwenden hätten. Dafür hatten die Knie unseres Limonaden-Joe, die schließlich immer noch die Knie eines Rekonvaleszenten waren, sehr viel dagegen einzuwenden. Und so bewirkten die erwachende Leidenschaft sowie die entschuldbare körperliche Schwäche, daß Joe tief aufatmete, als er Miss Lou mit einem Ruck ins tiefe Gras bettete. Die gefährliche Verführerin sah ihn erstaunt an. Ihre Verwunderung steigerte sich noch, als Joe, rot und schwitzend wie eine Maus, aus seiner Gesäßtasche eine flache Flasche hervorholte und daraus einen herzhaften Schluck tat. Erst danach ließ er sich, nachdem er höflich um Erlaubnis gefragt hatte, neben Miss Lou nieder. Diese gab die Erlaubnis freilich äußerst bereitwillig und fragte ihn, ohne einen Blick von der Flasche zu wenden, ob sich darin die berühmte Limonade befinde. Joe nickte, und da bat ihn Lou, ihr die Gründe zu sagen, die ihn zu einem so eingefleischten Abstinenzler gemacht hätten. »Ach«, brummte Limonaden-Joe, »das ist eine lange Geschichte und vielleicht auch etwas zu düster, als daß sie für Ihre zarten Öhrchen geeignet wäre.«
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»Zu düster? Für mich? Nein, lieber Freund, das Leben hat mich nicht in Baumwolle gepackt!« »Und dann, sie würde Sie langweilen. Außerdem bin ich kein guter Erzähler. Ich lasse lieber meine Colts für mich sprechen.« »Um Himmels willen, das weiß ich nur zu gut! Aber sprechen Sie, ich bin so schrecklich gespannt!« »Nun, so sei es! Mit ungeschminkten und einfachen Worten, wie wir rauhen Söhne von Kansas es gar nicht anders können, will ich Ihnen also diesen Fall schildern. Weil ich nicht gern von mir spreche, genügt es wohl, wenn ich bemerke, daß ich meine Kindheit in Mittel-Kansas verbracht habe, als Sohn nicht gerade vermögender …« und so weiter. Dieses »und so weiter« ist ganz am Platze, weil der Leser die Geschichte von Bills Tod und dem geheimnisvollen Kartenspieler bereits kennt. Als der Pistolenschütze jenes besondere Kennzeichen beschrieb, an dem der Mörder zu erkennen sein sollte, leuchteten Lolas Augen sonderbar auf. Joe hatte sich jedoch leider so sehr auf seine Erzählung konzentriert, daß er das nicht bemerkte. Das Mädchen war von seiner Geschichte jedoch wirklich ergriffen; es verharrte noch in bewegtem Schweigen, obwohl Limonaden-Joe seinen Bericht bereits vor einer geraumen Weile beendet hatte. Schließlich sagte sie, nun wisse sie also, warum er Spirituosen nicht einmal riechen könne; aber wie stehe es mit den weniger schädlichen Zigarren? 203
Warum gebe er Obstpastillen den Vorzug, wo doch eine ordentliche Zigarre so großartig zu seinem männlichen Mund passen würde? »Warum? Eine Zigarre, Miss Lola, hat meine Mutter getötet.« »Wie? Eine Zigarre? Ihre Mutter? Getötet?« »Ja, eine Zigarre. Und ein wenig auch ich. Und ein wenig Onkel Bud.« »Reden Sie, ich kann es kaum erwarten!« »Onkel Bud ist freilich eine neue Figur in meiner Erzählung. Bisher habe ich seine Existenz verschwiegen, denn sie wirft kein besonders günstiges Licht auf unsere Familie. Und doch bin ich noch heute davon überzeugt, daß die Natur den wirren Geist meines Onkels mit wunderbaren Fähigkeiten begabt hat. Bis heute strahlt in meinen Erinnerungen sein Schädel, der kahl war wie eine Melone. Er trug einen sorgfältig gewachsten Schnurrbart à la Napoleon III. dessen gekünstelte Form sonderbar mit der Lederkleidung des Trappers kontrastierte, die er nicht einmal in den Städten der zivilisierten Gegenden ablegte. Ja, Onkel Bud war ein Trapper, und zwar ein ganz großartiger Trapper, und doch war er nicht in der Wildnis aufgewachsen. Seine Eltern hatten ihm eine gute Erziehung angedeihen lassen, aber sein abenteuerlicher Charakter trieb ihn bald von der Wärme des sicheren heimischen Herdes in die Steppe und in die Berge, die damals noch von tückischen Rothäuten bewohnt waren.
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Dieser eigenartige Mann hatte ein Steckenpferd, das er in allen freien Augenblicken leidenschaftlich ritt, auch wenn er seine Jagdkleidung anzog: er interessierte sich lebhaft für die Mechanik von Schußwaffen. Auf diesem Gebiet hatte er ständig etwas zu basteln, selbst wenn ihm bei dieser Arbeit nur die matten Strahlen des Lagerfeuers leuchteten. Er behauptete immer, er arbeite an einer großen Erfindung, die eine Umwälzung in der Revolverproduktion bedeuten würde. Weil wir ihn jedoch als Schwätzer und Windmacher kannten, glaubte ihm keiner von uns. Buds bedenklichen Charakter beleuchtet jedoch am besten eine Geschichte, die er mir selbst mit nicht geringem Stolze erzählt hat. Als er einmal von einer großen Übermacht von Indianern gefangengenommen und an den Marterpfahl gebunden worden war, hatte er bereits seine Seele Gott und seinen Skalp dem Messer empfohlen, als er bemerkte, daß seine roten Peiniger mit sorgenvollen Gesichtern ein brennendes Thema besprachen, wobei sie verlegen auf seinen kahlen Schädel deuteten. Schließlich trat einer von ihnen, zweifellos der Häuptling, näher und gab ihm das Ergebnis der Beratung bekannt: der Stamm, in dessen Hände er gefallen sei, verabscheue kahle Skalps. Der Rat der Ältesten sei deshalb bereit, den Gefangenen freizulassen, wenn er eine Bedingung erfülle. Er solle sich ehrenwörtlich verpflichten, nach Jahr und Tag wieder an diesem Ort zu erscheinen, den Scheitel mit möglichst dichtem Haar bedeckt. Der 205
Gefangene könne dem Häuptling dankbar sein, daß er ihm hierbei seine volle Unterstützung angedeihen lasse, denn er schenke ihm ein nie versagendes Haarwuchsmittel, das im Laboratorium der bedeutendsten Medizinmänner des Stammes hergestellt worden sei. Er solle nur mit dem erwähnten Präparat täglich seine Glatze bestreichen, der Erfolg lasse nicht lange auf sich warten. So könne er nach einem Jahr an die vereinbarte Stelle zurückkehren, wo er dann ordnungsgemäß skalpiert werde. Ohne sich lange zu besinnen, versicherte der Onkel den Wilden durch Ehrenwort, im nächsten Jahr zurückzukehren, worauf er von den Fesseln befreit wurde und ein Gefäß mit einer Flüssigkeit erhielt. Doch kaum war er aus den Augen der Rothäute verschwunden, warf er das Fläschchen auf die Erde und sein Versprechen aus dem Kopf. Sie begreifen natürlich, daß ein Mensch, der sich so zynisch über ein gegebenes Ehrenwort hinwegsetzte, nicht viel wert sein konnte. Aber ebenso werden Sie verstehen, wie ungemein dem kleinen Jungen – das heißt mir – die schlanke, in Wildleder gekleidete Gestalt des Mannes imponierte, der mit Kid Carson und California-Joe Blutsbrüderschaft geschlossen hatte. Meine Mutter empfand, obwohl sie von Natur aus von liebenswürdigem Charakter war, zu ihm keine besondere Zuneigung, denn ihr, einer alteingesessenen und mit Bürgertugenden ausgestatteten Frau, war dieser Abenteurer, der bis weit in den Osten umherzog, Pelztiere jagte, 206
Steppenkarawanen begleitete, gegen die Indianer kämpfte, Stellwagen lenkte und einige Zeit mit dem berühmten Transkontinental-Pony-Expreß zwischen Saint Joseph und Sacramento fuhr, keineswegs nach Geschmack. Später leistete er, wie ich in Erfahrung brachte, unter Sherman, Carr und Miles Trapperdienste, arbeitete an der Seite von Texas-Jack, dem Wilden Bill, Baptist Pourierre und anderen berühmten Trappern. Aber nicht einmal diese Namen imponierten meiner Mutter, die bei den gelegentlichen Besuchen des Onkels ein kühles Gesicht zeigte. Vor allem aber haßte sie seine Raucherleidenschaft aus ganzem Herzen. Raucher – nein, dieses Wort trifft nicht im entferntesten die verblendete Leidenschaft meines Onkels. Er rauchte, glaube ich, selbst noch, wenn er schlief. Wie er behauptete, hatte er schon als Säugling beim Anblick einer rauchenden Zigarre kategorisch die Mutterbrust abgelehnt. Mit den Indianern versuchte er möglichst im guten auszukommen, nur um mit ihnen sooft wie möglich die große Friedenspfeife rauchen zu können. Selbstverständlich kam ihm, wenn er unser Haus besuchte, keineswegs in den Sinn, seine ewig brennende Zigarre auszulöschen. Hier paffte er ohne Unterlaß und verpestete alle Räume vom Keller bis zum Boden mit stinkendem Nebel, denn seine unerfreuliche finanzielle Lage erlaubte ihm nur den Kauf von Tabakwaren minderer Qualität. Der beißende Rauch kroch tückisch in jede Ritze 207
der Möbel, setzte sich in jedem Kleidungsstück fest und erfüllte jede Falte des Stoffes mit solch ekelerregendem Gestank, daß viel Zeit vergehen mußte, ehe sich dieses widrige Odeur wieder verflüchtigte. Meine Mutter rührte bei solchen Gelegenheiten fast der Schlag. Hatte sie es nötig, daß die Damen aus dem Kirchenzirkel, diese ehrenwerte Blüte der örtlichen Hautevolee, bei den obligaten Kaffeekränzchen am Freitag ihre nicht minder ehrenwerten Nasen rümpften, wenn sie die Spuren dieses vulgären Gestankes witterten? Aber der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Eines Sonntagmorgens bügelte meine Mutter gerade das gestärkte, mit Rüschen verzierte Chemisett meines Sonntagshemdes, dessen himmlisches Weiß am Nachmittag jenes Tages den Glanz meines Auftretens vor den Augen der örtlichen Hautevolee erhöhen sollte. Der Kirchenzirkel veranstaltete nämlich eine kleine Dankesfeier zu Ehren von Mister Rufus Terryton, Besitzer eines florierenden Freudenhauses, der der Kirche eine schöne Orgel geschenkt hatte. Höhepunkt der Feier sollte ein von mir nicht nur vorgetragenes, sondern auch verfaßtes Gedicht sein. Meine Mutter sah in diesem Auftreten den ersten Meilenstein meiner Lebensbahn, an deren Ende das Phantom des Präsidentenstuhles strahlte. Da trat mein Onkel in die Tür und schüttelte aus den Falten seiner Trapperkleidung den Staub auf die frisch geklopften Teppiche. Der Anblick seines 208
wetterharten Gesichtes, das einen ekelhaften Tabak kaute, zerriß roh das Gespinst der bezaubernden Visionen meiner Mutter. Sie begrüßte ihn daher mehr als kühl und reichte ihm ein weniger als bescheidenes Frühstück. Ich unterbrach sofort mein Memorieren, mit dem ich das Gedicht in meinem Gedächtnis festigen wollte, und überschüttete den Onkel mit einem ganzen Berg von Fragen, die die Erlebnisse seiner letzten Fahrt betrafen. Er antwortete mir zwar erst, nachdem er das kärgliche Frühstück zu sich genommen hatte, sparte dann allerdings nicht mit der Menge der getöteten Indianer. Damit ihm dieses Jägerlatein leichter vom Munde ging, streckte er sich auf dem Sofa aus und zündete eine seiner gefürchteten Zigarren an. Innerhalb weniger Minuten verstand es dieser bewundernswerte Mann, das luftige Speisezimmer in eine verqualmte Pökelkammer zu verwandeln, und ich glaube, er fühlte sich erst dann richtig zu Hause. Seine Siesta war jedoch nicht von langer Dauer. Für das wertvollste Stück unserer Wohnungseinrichtung, für eine unersetzliche Kuriosität, hielt meine Mutter ein Bild des Präsidenten Lincoln, das aus Schmetterlingsflügeln zusammengesetzt war. In einen stehenden Messingrahmen gesetzt, zierte es die Wäschekommode und war Gegenstand des Neides der zahlreichen Damenbesuche. Nun, als der Onkel seine Erzählung beendete, wie er dem Jubiläumskongreß der Nayaja-Stämme 209
widerstanden habe, indem er durch das Aufschlagen von Papiertüten den Geschützdonner einer regulären Militäreinheit nachahmte, blies er zur nachdrücklichen Beendigung dieser Geschichte einen großartigen Kringel in die Luft, der an ein Stück Gebäck erinnerte. Feierlich flog dieser phantastische RauchPfannkuchen durch das Speisezimmer, bis er zur Wäschekommode gelangte. Und da – Sie können es mir glauben oder nicht – sah ich voll Entsetzen, wie er gegen den Rahmen mit dem wertvollen Porträt stieß, ihn umwarf und sich gerade in dem Augenblick auflöste, in dem das Porträt des Präsidenten zusammen mit den Glasscherben auf dem Fußboden zu einem Häufchen Kehricht zerfiel. Ach, diese Folgen! Noch heute dröhnt mir der Kopf, wenn ich nur daran denke! Die durchdringende Stimme meiner Mutter: ›Hinweg aus meinem Haus, du nichtsnutziger Tagedieb!‹, das Brummen des Onkels: ›Na, na, es ist ja nichts geschehen!‹, seine in eine Wolke von Tabakrauch gehüllte Gestalt und die von ihm zugeworfene Tür, nachdem er zuvor die gewagte Behauptung aufgestellt hatte, meine Mutter könne – welch unerhörte Sache! – selbst beim Einatmen sprechen, sind mir unvergeßlich. Der Zorn meiner Mutter wuchs jedoch noch um ein vielfaches, als sie, von einem unheilverkündenden Gestank angelockt, einer mächtigen Rauchsäule Auge in Auge gegenüberstand. Diese stieg aus dem 210
durchgebrannten Hemd empor, das am heutigen Nachmittag vor den Blicken der Hautevolee unserer Stadt auf meiner Brust strahlen sollte. Die Arme rang schmerzlich die Hände, ohne zu ahnen, daß ihr der heutige Tag Gelegenheit zu einem noch schmerzlicheren Händeringen bieten sollte. Doch greifen wir den Ereignissen nicht vor! Nun, nach dem Mittagessen trat ich auf die Straße, herausgeputzt und pomadisiert wie ein Stutzer aus dem Osten. Meine Mutter war schon lange vor mir gegangen, da sie die Aufsicht über das Festbüffet hatte. Eben sagte ich mir noch einmal mein Gedicht vor und feilte ein letztes Mal die Schattierungen des Vortrages, als mich Onkel Bud anhielt, der wußte, daß ich für seine Schwächen weit mehr Verständnis hatte als meine Mutter. Freundschaftlich unterhielten wir uns über das Mißgeschick vom Vormittag. Schließlich bot mir mein Onkel, um mich völlig für sich zu gewinnen, seine Lieblingszigarre an. Geblendet von knabenhafter Eitelkeit, tat ich so, als gebe es für einen jungen Mann meines Alters nichts Angenehmeres, als eine starke Zigarre zu rauchen. Verlangen Sie nicht zu erfahren, was mein Magen durchgemacht hat, als ich mit kräftigen Zügen die Länge und die Dauer dieses schwarzen, fast fingerdicken Glimmstengels verkürzte, die in Knäueln herrlich blauen Rauches verendete! Kurz und gut, ich rauchte die Zigarre in weniger als
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einer Viertelstunde. Doch die ungezügelte Eitelkeit fand bald die verdiente Strafe. Als ich zur Versammlung kam, spürte ich bereits, daß mir schlecht war. Innerhalb weniger Augenblicke verhüllte ein Nebelschleier mein getrübtes Auge, und an mein Ohr drang nur noch ein undeutliches, brummendes Geräusch. Bis heute weiß ich nicht, durch welches Wunder ich mich endlich aufs Podium schleppte und die Eingangsverse schnarrte, auf die ich, wie ich glaube, noch immer stolz sein kann: Jetzt hören selbst die Mäuse der neuen Orgel Ton, die uns so gütig schenkte Herr Rufus Terryton. Erst da verstopfte mir der vergiftete Magen den Mund … Ich kam noch einmal zu mir, als meine Mutter in Ohnmacht lag. Nein, ich kann nicht die Einzelheiten dieses schrecklichen Skandals wiederholen, kann nicht mit glühendem Eisen in der noch immer offenen Wunde herumstochern. Ich sage Ihnen nur soviel, daß sich meine Mutter von dieser so schrecklichen Erschütterung nie wieder erholt hat. Und es war ihr Sterbelager, an dem ich einen Eid geleistet habe, dauerhafter als Stahl: Ich möge in Schuhen sterben wie ein verfluchter Ausgestoßener, wenn ich auch nur ein einziges Mal noch eine Prise Tabak anrühre! 212
Ja, wir beide haben diese arme Frau getötet: ich und die Zigarre meines Onkels.« Die letzten Worte stieß Joe bereits mit gepreßter Stimme hervor. Ja, er war ein Mann, jeder Zoll ein Mann, doch konnte sein edles, ungemein empfindsames Herz bei so grausamen Erinnerungen nicht unergriffen bleiben. Nun barg er also sein Gesicht in den Händen und biß die Zähne fest aufeinander, damit nicht etwa ein Beben des Kinns seine Erregung verrate. Dieser dramatische Kampf wirkte sehr gut, und deshalb dürfen wir uns nicht wundern, daß Tornado-Lou in den Pistolenschützen noch mehr verschossen war. ›Wie stark und zugleich zart er doch ist‹, überlegte sie. ›Er ist ganz anders als die übrigen, die bisher mein Herz zu erobern verstanden. Die verlangten nur nach Sinneslust. Dagegen dieser! Er wünscht nichts dergleichen. Leider! Aber gerade das erscheint mir an ihm besonders reizvoll! Er zuckt mit keinem Muskel, wenn er dem Tod ins Angesicht blickt, aber die Erinnerung an seine Mutter überwältigt ihn wie ein kleines Kind! Und das ist sicher – so innig er seine Mutter zu lieben versteht, so leidenschaftlich würde er auch seine Geliebte vergöttern. Mein Gott, wenn ich ihn so anschaue, muß ich gestehen, daß sein Anblick selbst einen Schneemann in Erregung versetzen könnte, natürlich einen Schneemann weiblichen Geschlechts! Dieses Spiel der langen, schlanken Muskeln unter dem sauberen Hemd, dieses 213
unwiderstehlich männliche Profil! Wahrlich, das ist der reinste Herd der Männlichkeit, aus ihm sprühen Kraft und jugendliches Feuer wie unerträgliche Glut. Und dabei die Hitze ringsum! Dieses erregende Summen der Insekten! Ach, das ist zuviel für ein schwaches Mädchen!‹ Tornado-Lou fiel in Ohnmacht, wobei sie auf den Pistolenschützen niedersank, der diesem Aufprall tapfer standhielt und darüber hinaus noch ihren massiven Körper gewandt auffing. Man könnte sagen, sie sei ihm wie eine welke, zarte Blüte in die Arme gefallen, aber weil wir mit dem Worte »welk« das frische Mädchen nur beleidigen würden, während die Zartheit im Hinblick auf ihre bemerkenswerten Proportionen überhaupt nicht am Platze ist, wollen wir von einem derartigen Vergleich lieber absehen. Joe schob also dieses schöne Stück verzweifelt von einem Arm auf den andern und zermarterte sich vergebens den Kopf, welche Vorschriften der Ersten Hilfe es für derartige Fälle gebe. Doch da flüsterte Lou aus tiefer Ohnmacht: »Das Mieder! Öffnen Sie das Mieder! Das wird mir das Bewußtsein wiedergeben!« Limonaden-Joe gehorchte bereitwillig und begann, vor Verlegenheit brennend, sich durch das Gewirr von Knöpfchen und Häkchen zum Korsett durchzukämpfen. Als er sich schließlich am Mieder befand, war er jedoch mit seinem Latein am Ende. Das komplizierte System dieses delikaten Bestandteiles der weiblichen Toilette machte ihn völlig ratlos. Mit aller Vehemenz 214
kämpfte er gegen die verdammte Verschnürung an und warf die Ohnmächtige wie ein Paket von einer Seite auf die andere. Die Arme hoffte noch immer, eine so pikante Situation würde in dem Pistolenschützen das gehörige Feuer wecken. Doch da irrte sie sich gründlich. Joe hatte nur seine Samariterpflicht im Auge. Als er schließlich sah, daß er beim Mieder nichts ausrichtete, entschloß er sich, Lou auf den Wagen zu laden und sie zur Stadt zu fahren, wo sicherlich ein berufener Fachmann die Dulderin von ihrem beengenden Panzer befreien würde. Er nahm also das Mädchen auf den Arm und taumelte, leicht schnaufend, zu dem Vehikel, gefolgt von den verwunderten Blicken der beiden Vollbluthengste. Und da blickte er – ganz zufällig – nach oben. Er blickte – und stand regungslos wie ein Prellstein da, denn er sah etwas Merkwürdiges. Am strahlenden Himmel erschien langsam, aber sicher das auf dem Kopf stehende Bild eines sorgsam gepflegten Gärtchens. Auf dem mit Kies bestreuten Weg konnte man einen Mann und ein Mädchen bemerken, selbstverständlich ebenfalls mit den Beinen nach oben. Joe fühlte sich durch diese Erscheinung keineswegs beunruhigt. Er wußte, daß es sich hier um eine bemerkenswerte Naturerscheinung handelte, eine Fata Morgana oder Luftspiegelung, die in jener Gegend auf Grund bestimmter meteorologischer Bedingungen recht häufig war.
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Leider erschien dieses interessante Phänomen unter dem Druck der ehernen Gesetze der Optik als umgekehrtes Bild, und so konnte Joe die Gestalt der beiden Personen nicht genau erkennen, doch überraschte ihn eine frappante Ähnlichkeit. Sozusagen im Bruchteil einer Sekunde keimte in ihm ein schrecklicher Verdacht. »Gütiger Himmel!« flüsterten seine plötzlich blaß gewordenen Lippen, »das ist doch nicht möglich!« Ohne vorhergehende Warnung ließ er Lola zu Boden fallen. Die mächtigen Fettpolster milderten den Aufprall des Mädchens gerade in dem Augenblick, als sich Limonaden-Joe auf seinen muskulösen Armen zu einem einwandfreien Handstand erhob, um die unselige Ahnung unter einem günstigeren Blickwinkel zu überprüfen. In der klaren Atmosphäre spielte sich inzwischen ein Drama ab, das ein wirkliches Geschehen widerspiegelte, wenn sich dieses auch Hunderte von Meilen entfernt vollzog. Kaum hatte der Pistolenschütze hingesehen, stieß seine Kehle zunächst einen Ton des Erstaunens aus, dann einen der Rachgier und schließlich einen der Wut. Was sah er? Er sah dieses: Das Mädchen, das auf dem Gartenweg dahinschritt, war in der Tat Miss Breakenridge. In beiden Händen trug sie einen großen Topf voll Melasse als Leckerbissen für ihre Kaninchen, deren Stall im Hintergrund zu sehen war. 216
Unmittelbar hinter dem Mädchen schritt ein herausgeputzter Stutzer. Voll Abscheu entdeckte Joe in seinem Auge, das nach dem Mädchen schielte, einen lasziven Glanz. Lange überlegte er, wo er diesen Burschen schon einmal gesehen habe. Schließlich erinnerte er sich: Das war doch kein anderer als jener schwarzgekleidete Stutzer in Kingsleys Stellwagen! Dieser Mann schlich hinter Winnifred her, warf schamlose Blicke auf ihre Taille und sog dabei an einer großen Zigarre. Limonaden-Joe kam gerade dieses Rauchen seltsam vor. Er sah genauer hin, und da bemerkte er, daß der Mann die Zigarre in der linken Hand hielt, zwischen kleinem Finger und Ringfinger! Der bereits erwähnte Aufschrei der Rachgier war nur die natürliche Reaktion auf eine derartige Entdeckung. Doch hören Sie, was weiter geschah! Der eben identifizierte Mörder Bills packte plötzlich die nichtsahnende Winnifred von hinten an den Schultern und versuchte, auf ihren weißen Nacken einen Kuß aufzupressen. Das Mädchen sprang jedoch flink zur Seite und stülpte dem Wüstling mit einer einzigen energischen Bewegung den Topf Melasse über den Kopf. Dann lief sie mit dem Schritt eines aufgescheuchten Rehs davon, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach dem Schurken umzublicken,
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der sich mit lächerlichen Bewegungen bemühte, den Kopf aus dem Gefäß zu befreien. Schließlich war sein verzweifeltes Bemühen von Erfolg gekrönt. Er sah sehr komisch aus, wie er so dastand, vor Wut ganz außer sich, während sich auf seinen süß duftenden Kopf ganze Schwärme von Insekten stürzten. Da begann das Bild zu verblassen, bis es völlig verschwand. Joe kehrte in die Normalstellung zurück, das Gesicht rot wie die Rinde von Edamer Käse. Man braucht wohl seine Gefühle nicht zu beschreiben. Es genügt zu wiederholen, daß er gesehen hatte, wie seine teuerste Winnifred von Bills Mörder belästigt wurde. Ja, das genügt völlig. Ohne auch nur einen Augenblick zu verlieren, sprang er auf den Kutschbock und schlug auf die Pferde ein, denn begreiflicherweise wollte er so schnell wie möglich die Reise nach Cowtown antreten. Tornado-Lou vergaß er dabei völlig. Die Fata Morgana sowie die wenigen unzusammenhängenden Ausrufe des Pistolenschützen verrieten der Chansonette alles. Sie hockte jetzt würdelos im Staube, weggeworfen gerade von dem Mann, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte. Man braucht nur einen Blick auf ihr Blitze schleuderndes Auge zu werfen, um zu begreifen, wie sich in ihr heftigste Zuneigung in heftigsten Haß verwandelte. Nein, niemand durfte TornadoLou ungestraft beleidigen!
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Jetzt solltest du ihr ins Gesicht blicken, Pistolenheld, dann würdest du begreifen, daß du für diesen Vormittag wirst büßen müssen, ja, schwer büßen. Totenblaß erhob sich die junge Frau vom Boden und klopfte ihren Cul de Paris ab. In der Ferne wurde das Knarren des Wagens immer schwächer.
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Als »Zar und Zimmermann« leise erklang Jerrold Creek, ein bedeutungsloses Nest an der Stellwagenlinie Tombstone-Cowtown, konnte sich einer einzigen Besonderheit rühmen, eines mechanischen Klaviers. Dieses Wunder der Technik stand in Benchleys Saloon, zu dessen Popularität es nicht wenig beitrug. Überladen mit reichlichen Schnitzereien, Gesimsen und Säulchen, lackiert, bronziert und geglänzt, thronte diese Klimperkiste gleich gegenüber dem Barpult, das es in einem großen Spiegel verdoppelte. Tatsächlich, weit und breit hätte man kein derartiges Klavier gefunden, schon aus dem einfachen Grunde, weil es weit und breit überhaupt kein Klavier gab. Wenn man es mit einem Nickelstück fütterte, gab es etwas aus seinem vielseitigen Repertoire zum besten. Gut aufgelegte Leute hörten am liebsten optimistische Gesänge, wie: »O, Susanna, klage nicht!« oder »Der alte Dan Tucker«, während sich einigermaßen patriotisch orientierte Besucher den »Yankey-doodle« wünschten. In dieser Hinsicht gaben die Männer aus dem Süden freilich dem schneidigen Marsch »Dixieland« den Vorzug, während einsame Trapper, ob nun emeritierte Unionisten oder Konföderierte, ergriffen dem wehmütigen Lied »Ach, Heimat, teure Heimat!« lauschten. Aber auch für Freunde der ernsten Musik war hier eine liebe 220
Überraschung bereit, denn Benchleys Klavier war in der Lage, neben den angeführten Kompositionen auch eine Arie aus der Oper »Zar und Zimmermann« zu spielen. Wir sind davon überzeugt, daß es Lortzing nicht im Traum eingefallen wäre, welch ungewöhnliche Interpretation sein Meisterwerk an einem so abgelegenen Ort finden würde. Als Joe an jenem Nachmittag Benchleys Saloon betrat, war dieser fast leer. Nur an der Bar hockten einige Trinker, und an einem der abgeschabten und wackligen Tischchen spielten drei Männer aus Texas »Sieben nach oben«. Zwei von ihnen, ältere Männer, die gelbliche Zigaretten rauchten, vermochten einen durch nichts zu fesseln. Um so größere Aufmerksamkeit verdiente der dritte von ihnen, ein blonder Jüngling von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sicherlich trieben sich damals im Grenzgebiet mehr fünfundzwanzigjährige blonde Jünglinge umher, die aus Texas stammten, aber der hier genoß entschieden eine gewisse Berühmtheit, denn die beiden älteren Mitspieler bewiesen ihm gegenüber eine zurückhaltende Hochachtung, die, wie jedem bald klar wurde, nicht etwa aus seiner Stellung herrührte, sondern eher von dem zweifelhaften Ruhm, der seinen beiden Colts voranging. Jetzt ruhten diese freilich untätig in Schmuckfutteralen an seinen Hüften. Man wurde den Eindruck nicht los, daß man es mit einem unschädlichen, fröhlichen jungen Mann zu tun habe. Er sprach und handelte zuvorkommend, 221
lächelte freundlich und geizte nicht mit scherzhaften Bemerkungen. Aber seine hellen Augen verunstaltete dabei ständig eine ausdruckslose, aber lauernde Starrheit, die Mißtrauen gegenüber dem Hirn erweckte, das dieses junge Auge mit einem Basiliskenblick versah, einem verworfenen Gehirn, in dessen dunkelsten Labyrinthen sich wohl schreckliche Leidenschaften der Blutgier verbargen. Nun, gerade ein solcher Blick berechtigte zu der Meinung, daß die beiden älteren Vaguers in ihm einen gefährlichen Totschläger respektierten. Joe dachte freilich nicht daran, sich mit der Analyse des Auges irgendeines Pistolenschützen zu befassen. Wenn er über irgendwelche Augen nachdachte, dann gehörten diese einzig und allein Miss Breakenridge. Aber die Zeit war – wie ihm die Fata Morgana klar angedeutet hatte – zu ernst, als daß er an Details von Winnifreds Wesen denken konnte, da finstere Gewalten das Ganze bedrohten. Der Aufenthalt des Stellwagens der Linie Tombstone-Cowtown dauerte etwa eine Dreiviertelstunde, eine Zeitspanne, die für unseren Helden gerade zu einer ausgiebigen Erfrischung genügte, selbstverständlich ergänzt durch das Leeren der unerläßlichen Flasche ColaCoca-Limonade. Joe setzte sich also an einen Tisch gerade neben dem Klavier und bestellte sich eine Portion Ham and Eggs. Bevor er das Essen erhielt, widmete er seine Aufmerksamkeit der Auswahl einer geeigneten 222
Komposition, die nicht nur seiner ernsten Stimmung entsprechen, sondern darüber hinaus auch seine Verdauung fördern sollte. Diese beiden Bedingungen schien das Liebesduett aus »Zar und Zimmermann« am besten zu erfüllen. Er tat also die notwendigen Griffe, um den Musikmechanismus in Gang zu setzen, warf ein Nickelstück in die Öffnung und wartete sehnenden Herzens auf Musik und Schinken. Beides kam gleichzeitig. Und beides erfüllte ihn mit höchster Wonne. Deshalb bestellte er, als der letzte Bissen in seinen Magen rutschte und der letzte Akkord in seinem Ohr verklang, eine zweite Portion Ham and Eggs und ließ neuerlich die Arie aus der Oper »Zar und Zimmermann« spielen. Der Schinken wurde aufgegessen, und die Sänger verstummten. Nun bestellte er sich keine dritte Portion mehr, ließ aber »Zar und Zimmermann« noch einmal erklingen. Da warf ihm der junge Mann, der »Sieben nach oben« spielte, einen Blick zu, den man beim besten Willen nicht als freundlich bezeichnen konnte. Aber unser Pistolenschütze, der völlig auf das Anhören der wertvollen Melodie konzentriert war, nahm diesen unfreundlichen Blick nicht wahr. Und als das Piano die Arie zu Ende gespielt hatte, setzte er es wieder in Tätigkeit. Diesmal dröhnte durch die Bar »Der alte Dan Tucker«. Dann ließ Joe die Arie aus der Oper »Zar und Zimmermann« spielen, denn nach dem Anhören des Liedes »Der 223
alte Dan Tucker« war er davon überzeugt, daß einzig Lortzings Musik seinem jetzigen seelischen Zustand voll entsprach. Der junge Mann aus Texas war in dieser Hinsicht freilich ganz anderer Meinung. Er warf die Karten auf den Tisch, sein Gesicht erinnerte auffällig an einen verstopften Krater, der jeden Augenblick mit hundertfacher Wut auszubrechen drohte. Es gelang ihm also ein Meisterstück der Selbstbeherrschung, wenn er seine Zunge zu durchdachten und ruhigen Sätzen zwang. »Wie wäre es, wenn Sie dem Piano eine Weile Ruhe gönnten. Fremder?« sagte er freundlich. Joe blickte ihn verständnislos an, denn sein Geist stieg eben erst von jenen überirdischen Höhen herab, auf die ihn die Schwingen der ergreifenden Opernmelodie getragen hatten, und er nahm also den Sinn der ausgesprochenen Frage nicht klar genug auf. »Ich möchte damit sagen«, fuhr der junge Mann mit anerkennenswerter Geduld fort, »daß dieses Piano ein armes, stummes Instrument ist, das Ihnen nicht sagen kann, daß Sie seinen gehetzten Rädern eine Weile Ruhe gönnen sollen. Ich aber bin nicht stumm, und deshalb kann ich Sie um ein bißchen Ruhe nicht nur für dieses Piano, sondern auch für meine gequälten Ohren bitten.« Nun war Joe bereits völlig bei Sinnen. Er maß den Sprecher mit unbeschreiblicher Verwunderung, denn er staunte, wie es möglich sei, daß eine so herrliche Arie jemandes Ohren 224
quälen könne. Deshalb trat er sofort als ihr entschiedener Verteidiger auf. »Ihren Widerwillen gegen diese Musik kann ich mir gut erklären, Pistolenheld«, sagte er mit sanfter Stimme. »Das ist kein leichtes Lied, dessen eingängige Melodie man sich rasch einprägt, die einem aber bald über wird. Nein, hier haben Sie es mit einer wertvollen, ernsten Musik zu tun, in die man sich hineinhören muß. Erst nach mehrmaligem Anhören erfaßt man ihre großen Vorzüge und verspürt bei ihren Klängen eine nie gekannte Wonne. Spitzen Sie nur schön Ihre Ohren, und ich zweifle nicht daran, daß Sie mir bereitwillig recht geben werden.« Damit warf er ein Nickelstück in den Schlitz. Das Piano räusperte sich gründlich und begann dann, im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten die Arie aus der Oper »Zar und Zimmermann« zu spielen. Nach wenigen Sekunden tobte im Gesicht des Mannes aus Texas ein wütender Kampf verschiedenster, völlig unterschiedlicher Gefühle. Eine Weile sah er aus, als sei er entschlossen, ganz Jerrold Creek in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, dann wieder machte er ein Gesicht, daß selbst das ängstlichste Kind sich nicht gescheut hätte, sich ihm aufs Knie zu setzen. Er wandte sich seinen Gefährten zu, die Joe mit offenem Mund angafften, und sagte zu ihnen: »Ich muß gestehen, Jungens, ich wollte ihm schon das Maul mit Blei stopfen, damit er nicht soviel quatscht, aber sein Gefasel hat es mir angetan. Es wäre eine Sünde, ihn zu unterbrechen, wenn er 225
uns mit noch kolossalerem Unsinn unterhalten kann. Übrigens empfehle ich euch, ihm nicht zu widersprechen. Ich glaube nämlich, er gehört zu jener Art von Menschen, die ab und zu behaupten, sie seien Julius Cäsar oder Napoleon, und das darf man ihnen nicht ausreden, sonst werden sie gefährlich!« Dann wandte er sich dem Limonaden-Joe zu: »Sie haben völlig recht, diese Musik ist in der Tat die reinste Wonne.« Eine bläuliche Ader schwoll auf der edlen Stirn unseres Pistolenhelden an. Er verstand es, zwischen den Zeilen zu lesen, und aus den Worten des jungen Mannes gewann er den Eindruck, daß er sich über ihn lustig machen wollte. Deshalb entschloß er sich, kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen und dem Mann aus Texas die Verachtung über seine musikalische Ignoranz ins Gesicht zu schleudern. Er sagte: »In der Tat, Pistolenschütze, wie es scheint, werfe ich, wenn ich den Versuch mache, Sie für Lortzings Musik zu gewinnen, Perlen vor die Säue. Damit Sie jedoch trotzdem etwas davon haben, mögen Sie wissen, daß Sie eben eine Arie aus der Oper ›Zar und Zimmermann‹ gehört haben, die zum ständigen Repertoire der berühmtesten Opernhäuser der Welt gehört!« Nach diesen Worten zog er ein Nickelstück aus der Tasche, warf es in den Schlitz und sicherte sich so den Genuß der Arie aus »Zar und Zimmermann«. Der Mann aus Texas wurde nun wirklich ernst. Seine Hände ankerten in unsympathischer Nähe 226
der beiden Colts, und auch das bereits beschriebene Aufleuchten seiner Augen wurde sehr häßlich. Er blickte Joe scharf an und brüllte: »Ich liebe die Zaren nicht, und was die Zimmerleute anlangt, so sind sie mir auch nicht sympathisch. Doch lassen wir das jetzt! Ich möchte Ihnen nur das eine sagen: Weil Sie ein Rädchen zuwenig oder zuviel im Kopfe haben, können Sie es sich noch nicht erlauben, andere Menschen straflos zu ärgern und sie zu zwingen, das Klimpern dieser heiseren Kiste anzuhören. Eigentlich wundere ich mich, daß ich hier mit Ihnen meine Zeit mit solch nutzlosem Gerede vergeude. In der Tat, Hut ab vor einem solchen Wunder von Engelsgeduld, wie ich eines bin. Ja, Fremder, ich sage Ihnen, Hut ab!« Und schon hielt er seine beiden Colts in der Hand und drückte sie gleichzeitig ab. Zwei Schüsse knallten, und dem Limonaden-Joe flog der Stetson vom Kopf. Joe hob ihn ruhig auf und wischte den Staub ab, ohne dabei den Mann aus Texas aus den Augen zu lassen. Der stand breitbeinig da, lächelte siegesbewußt und drehte – mit der Gewandtheit eines echten Pistolenschützen – die beiden noch rauchenden Vierundvierziger um die Zeigefinger. Joe lächelte ebenfalls. Den durchschossenen Hut hatte er bereits wieder auf dem Kopf, und doch blickte er noch immer auf den Schützen, der, wie es schien, endlich genug von dem geckenhaften Spiel mit den Kanonen hatte.
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Und da kam der Augenblick, den der Leser zweifellos schon begierig erwartet hat, denn es wäre wahrscheinlich eine Charakterlosigkeit, wenn der Autor einem Hergelaufenen erlauben würde, seinen Helden derart lächerlich zu machen. Nun, in dem Augenblick, in dem der Mann aus Texas die Colts in seine Taschen gleiten ließ, da er sich der abschreckenden Wirkung seines Einschreitens bewußt war, in diesem unmerklich kurzen Augenblick, in dem seine Finger die Schäfte der beiden Revolver losließen, in der Überzeugung, daß die Läufe bereits in ihre ledernen Lagerstätten glitten, feuerte Limonaden-Joe seine beiden Smith & Wessons ab, und vom Gürtel des jungen Mannes verschwanden die beiden Revolvertaschen, so daß die Colts, die keinen Halt mehr fanden, auf den Fußboden fielen und den Pistolenschützen aus Texas beklagenswert wehrlos hinterließen. Alle Anwesenden, einschließlich des Betroffenen, erstarrten, als würden sie mit langer Belichtungszeit photographiert, sofern ein seriöser Photograph nichts gegen das Festhalten so unglaublich dumm dreinschauender Objekte einzuwenden gehabt hätte. Joe gehörte freilich nicht dazu, denn er machte kein dummes Gesicht. Übrigens hatte er, wie der Leser eben gesehen hatte, hierzu auch nicht den geringsten Grund. Bescheiden lächelnd, ließ er sich unter Grabesstille noch einmal die Arie aus der Oper »Zar und Zimmermann« vorspielen,
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worauf er den Kellner mit wohlklingender Stimme um ein Glas Cola-Coca-Limonade bat. Der Mann aus Texas, der sich bisher nicht von seinem Staunen erholt hatte, tat dies plötzlich. Sein erstarrtes Gesicht taute zu einem glücklichen Lächeln auf, und er fragte begierig: »Sie sind also Limonaden-Joe?« Unser Pistolenheld nickte, einigermaßen irritiert durch diese unvorhergesehene Veränderung im Gesicht des Fragestellers. Aber gerade dieses Nicken ließ das Gesicht des Mannes aus Texas wie einen Weihnachtsbaum erstrahlen. Zufrieden atmete er auf und sagte: »Endlich habe ich Sie gefunden! Ich suche schon recht lange nach Ihrer Spur. Aber das macht nichts! Nur gut, daß die Sache so ausgegangen ist. Ich heiße Hardin, und Ihr Onkel hat mir aufgetragen, Ihnen eine Kleinigkeit zu übergeben.« Nach diesen Worten eilte der Mann aus Texas mit flinken Schritten auf die Straße. Bald darauf kehrte er, belastet mit einer großen Satteltasche, zurück. Nach kurzem Suchen holte er aus ihr einen länglichen Gegenstand heraus, der in weiches Leder eingepackt war. Bald erwies sich, daß es eine Pistole war, ihrem System nach sehr ähnlich den Erzeugnissen aus Colts Fabrik. »Das hier hat Ihnen Ihr Onkel vermacht«, brüllte Hardin und überschrie erfolgreich den Lärm des Pianos, das die Arie aus »Zar und Zimmermann« von Lortzing klimperte.
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»Wieso – vermacht? Wollen Sie damit vielleicht sagen, daß mein Onkel …« »Ja, Sie tun am besten, wenn Sie von allen seinen Taten in der Vergangenheitsform sprechen. Ach, er hatte schon einmal so ein Pech! Er kam in den Saloon und bestellte sich etwas zu trinken. Dabei verhielt er sich ganz ruhig. Übrigens verhielten sich alle ganz ruhig, denn dort saßen Ben Thompson und King Fisher, beide schon tüchtig angeheitert, und keiner stand um die Ehre, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihre Scherze glichen nämlich, auch wenn sie nüchtern waren, der Schlinge des Henkers. Wieviel mehr erst in solcher Stimmung! Ihr Onkel trank also schön leise, aber die Lampen schienen auf seine Glatze, und die strahlte, daß der Vollmond vor Neid schwarz geworden wäre. Natürlich fesselte sie sofort Fishers Aufmerksamkeit. Er war davon ganz außer sich. Davon gingen einem ja die Augen über, meinte er, es sei wie auf einer Promenade. Ja, diese Glatze sei so glatt, daß selbst eine Revolverkugel davon abrollen würde. ›Sie rollt nicht ab!‹ meinte Ben Thompson zwischen zwei Rülpsern. ›Sie rollt ab!‹ brüllte King Fisher. Dann wetteten sie um fünfzig Dollar. King brachte die Glatze Ihres Onkels mit Kimme und Korn seines Colts zur Deckung.« »Und rollte sie ab?« flüsterte Joe, der vor Spannung kaum atmete. Hardin ließ den Kopf hängen. »Sie rollte nicht ab …«
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Um seine Erregung zu verbergen, warf Joe wütend ein Nickelstück in den Schlitz des Pianos und erneuerte so die »Zar-und-Zimmermann«Orgien. Hardin schwieg eine Weile, da er nicht Joes Gedanken stören wollte, die sich sicherlich irgendwo hoch im Reich über den Sternen bewegten, an der Seite der Seele seines Onkels. Schließlich brach er aber doch sein schweres Schweigen: »Ja, er war ein prächtiger Mensch! Wir haben einige Zeit zusammen gearbeitet, und ich glaube, wir haben einander gut verstanden. Sie waren ihm wohl sehr ans Herz gewachsen, denn er hat sich Ihrer oft erinnert. Er hat mir ja auch diese hübsche Sache übergeben, daß ich sie Ihnen überbringe, wenn er nicht mehr sein wird. – Aber, Pistolenheld, Sie wissen ja noch gar nicht, welches Wunderding Sie da geerbt haben! Wie können Sie auch ahnen, daß die Pistole, die Sie eben in der Hand halten, keine gewöhnliche Pistole ist. O nein! Diese Pistole ist die Pistole Onkel Buds, was bedeutet, daß sie etwas Besonderes sein muß. Und das ist sie auch! Kurz und gut, diese Pistole schießt um die Ecke! Sehen Sie selbst!« Er nahm Limonaden-Joe Buds Colt aus der Hand und zielte mit ihr auf den verschlafenen Barkeeper, der bisher all jenen Geschehnissen, die die übrigen Zuschauer staunend erregten, mit dem Ausdruck unbeschreiblicher Langeweile zugesehen hatte. Ein Blick auf den drohend auf ihn gerichteten Lauf erfrischte den gelangweilten jungen Mann freilich 231
so sehr, daß er lautlos wie ein Geist unter der Theke verschwand. Bumm! In der Tat, es war das reinste Wunder. Der Spiegel hinter dem Rücken des Barkeepers zersprang nicht, sondern einem Viehzüchter aus Kansas, der wenige Schritte seitlich von Hardin stand, flog die linke Hälfte seines herrlich gezwirbelten Schnurrbartes ab. Da machten alle tellergroße Augen. Der betroffene Mann aus Kansas freilich begann unflätig zu schimpfen, aber zum Glück machte man ihn rechtzeitig darauf aufmerksam, von wem diese eben beschriebene Demütigung ausging, so daß er sich rasch beruhigte und nichts unternahm, was Hardin berechtigt hätte, in seine Pistole eine sechsundzwanzigste Kerbe einzuritzen. Joe hätte große Lust gehabt, sich weiter mit Hardin zu unterhalten. Ihn interessierte brennend das Schicksal seines verewigten Onkels, und er hätte gar zu gern aus dem Totschläger eine jener für Onkel Bud typischen Geschichten herausgeholt. Aber ein flüchtiger Blick auf seine Taschenuhr riet ihm, sich rasch zu empfehlen, denn der Stellwagen würde sicherlich nicht auf ihn warten. Deshalb verabschiedete er sich herzlich von Hardin, der trotz der fünfundzwanzig Gräber, die seine Lebensbahn säumten, auf ihn einen sehr guten Eindruck gemacht hatte, und begab sich zur Station, wo schon alles zur Abfahrt bereit war. Nach wenigen Augenblicken verringerten vierundzwanzig ausgeruhte Hufe jenen
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Zwischenraum, der ihn von dem geliebten Mädchen und dem Augenblick der Rache trennte. Aber unserem Limonaden-Joe erschien in diesem Augenblick nichts schnell genug; ja selbst die phänomenale Geschwindigkeit eines Lichtstrahls hätte er wohl nur ebenso hoch eingeschätzt wie die Bewegungsmöglichkeiten einer Schnecke. Und doch näherte er sich Cowtown ganz augenfällig. Aber gerade auf der letzten Station trat ein Ereignis ein, das für ihn beinahe schicksalhaft geworden wäre. Gerade als er den Wagen verließ, bemerkte er, wie aus dem Pferch ein gesatteltes Pferd herauslief, das bösartig hinter sich schielte. Dieses tückische Schielen galt der Tochter des Stationsvorstehers, in deren Obhut sich das davongaloppierende Pferd bisher befunden hatte, jedoch nach seiner offensichtlichen Entscheidung nicht länger zu befinden wünschte. Nachdem Joe die angeführten Fakten erfahren hatte, bat er um ein Pferd und ein Lasso und nahm die Verfolgung des Ausreißers auf, in der Hoffnung, ihn noch zu erwischen, bevor das Gespann gewechselt war. Die Jagd nach dem nichtsnutzigen Vierfüßler brachte ihn jedoch aus der Sichtweite der Station, und da widerfuhr ihm ein peinliches Mißgeschick. Während er mit dem Lasso manipulierte, verfitzte er sich so verzweifelt in seinen Windungen, daß er keinen Finger mehr krumm machen konnte. Für einen Mann seines Namens war das freilich eine skandalöse Situation. Deshalb gab er keinen 233
Laut von sich und verbrachte, zu einem Bündel zusammengeschnürt, die Nacht unter freiem Himmel, bis am Morgen eine von dem geflohenen Pferd herbeigeführte Hilfe eintraf. Dem Pferd hatte der hilflose Verfolger nämlich leid getan; es war zur Station zurückgaloppiert und hatte den Stationsvorsteher durch lebhaftes Gestikulieren veranlaßt, ihm an jene Stelle zu folgen, wo der zusammengeschnürte, bis auf die Knochen durchgefrorene Schütze lag. Ein schreckliches Niesen zeigte deutlich, daß Joe dieses Nachtlager mit einem starken Schnupfen würde bezahlen müssen. Aber weit mehr als unter der erhöhten Temperatur litt Joe unter seelischen Qualen, denn ach, er hatte einen wertvollen Tag versäumt; und so hatte Bills Mörder neue vierundzwanzig Stunden die Möglichkeit, die wehrlose Winnifred zu belästigen. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit unbeschreiblicher Verzweiflung. Deshalb bestieg er, ohne auf die Warnungen des Stationsvorstehers zu achten, den nächsten Stellwagen, obwohl ihn das Fieber verteufelt schüttelte. In Cowtown kam er erst am Abend an, so daß er keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregte. Der hölzerne Gehsteig schien sich vor seinen Füßen zu heben und zu senken, als er einige Fußgänger nach der Adresse von Mister Breakenridge fragte. Wer sucht, der findet. So fand auch Joe das Haus des Journalisten, obwohl seine tastenden 234
Schritte mehr von seinem sehnenden Herzen als seinem Gehirn geleitet wurden, das im übrigen das Fieber mit einer hitzigen Ohnmacht verdunkelte. Miss Winnifred saß eben im Schaukelstuhl und beschäftigte sich mit einer nützlichen Handarbeit, als ein krampfhaftes Pochen die rasche Bewegung ihrer Stricknadeln zum Stillstand brachte. Sie erstarrte einen Augenblick, doch dann trat sie, tapfer ihre Angst überwindend, zur Tür. »Wer ist da?« rief sie mit hohler Stimme. Ein heiseres Stöhnen war die Antwort. Da öffnete sie mit einem leichten Aufschrei, und ein fast lebloser Körper sank ihr in die Arme.
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Die Geschichte einer Stadt Cowtown gehörte zu jenen zahlreichen Orten der Erdoberfläche, die unbarmherzig von jedem erfrischenden Tau unerwarteter Ereignisse und erregender Abenteuer ausgeschaltet und mit dem grauen Schleier der Langeweile überzogen sind. Die Menschen, die Häuser und das Leben – alles schien hier stillzustehen. Hier fand man nichts Ungewöhnliches, nichts, was einen interessieren konnte. Übrigens wußte auch niemand, warum sich hier eigentlich Menschen niedergelassen hatten. Hier gab es weder Gold noch Petroleum, ja nicht einmal guten Boden. Und trotzdem verdiente es Cowtown, als Stadt angesprochen zu werden. Es besaß eine lange Hauptstraße von ansehnlicher Breite und vier weniger lange und nicht so ansehnliche Querstraßen. Ferner gab es hier drei Bars, eine Bank, eine Methodistenkirche und eine Zeitung. Es lag auch gar nicht weit von der belebten Viehtreiberstraße, die nach Nordwesten ging; aber alle Cowboys, die doch sonst bereit waren, ihr Geld in jedem Loch zu verjubeln, behaupteten, die leere und flache Steppe sei im Vergleich zu den Bars von Cowtown der reinste Vergnügungspark, und mieden die unglückselige Stadt wie die Pest. Deshalb tauchten hier nur selten einige Leute aus Texas auf, und das wohl auch nur, um sich davon zu überzeugen, ob die hiesige Langeweile wirklich auf jeden Mann mit einem Colt so
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verderblich wirke, wie das behauptet wurde. Nach einigen vergeblichen Versuchen, sich in einer Bar zu vergnügen, arrangierten sie einen Zusammenstoß mit dem einzigen schlechten Mann am Ort, Sam Bee, den die Einwohner von Cowtown übrigens selbst irgendwie künstlich päppelten, um den Ruf ihrer Stadt nicht durch lächerliche Makellosigkeit zu schänden, die doch jeder verachtete, der Wert darauf legte, als ordentlicher Westler zu gelten. Selbst diese Zusammenstöße fielen irgendwie lendenlahm aus. Bee wurde dabei zwar einmal verwundet, aber sogar diese Verwundung entsprach ganz dem unheroischen Genius der Stadt, denn eine zurückprallende Kugel verirrte sich in den linken Schenkel des konzessionierten Gewalttäters, was, wie jeder zugeben wird, bei weitem nicht so gut aussah, als wenn sie ihm beispielsweise durchs Herz geflogen wäre. Wir würden Cowtown unrecht tun, wollten wir nicht eine Schießerei zwischen einigen betrunkenen Mexikanern erwähnen. Ein gewisser Melguiades Semora vertrug sie sehr schlecht. Aber als er starb, wirkte das wieder so matt und so wenig dramatisch, wie wenn sich ein Bankbeamter nach ganztägiger anstrengender Arbeit zu einem ruhigen Schlummer hinlegte. Es tut uns sehr leid, aber dem Freund atemloser Erregung bot diese langweilige Provinzstadt Cowtown nichts, absolut nichts. An einem grauen Nachmittag nun sahen die Müßiggänger, die malerisch die Front des 237
Postamtes von Cowtown umlagerten, wie sich vom oberen Ende der Hauptstraße eine Staubwolke näherte, aus der das Stampfen galoppierender Pferde und heiseres Gebrüll zu vernehmen waren. Das veranlaßte sie jedoch keineswegs, den halbzerbissenen Strohhalm aus dem linken in den rechten Mundwinkel zu schieben, denn diese so geheimnisvoll geschilderte Staubwolke gehörte wieder nur zu den üblichen Erscheinungen: der Stellwagen aus Fort Mahon kam an. Die Müßiggänger verharrten auch dann noch in ihrer sumpfigen Ruhe, als dieser Arche laut schnaufend ein rotbackiger, äußerst dumm dreinschauender Mann und ein kleinerer mit tintenschwarzem Bart entstiegen. Doch gleich darauf änderten Sam Bee und die anderen ihre zerknitterte Haltung und versuchten, so auszusehen, wie ihrer Meinung nach ein Mann aussieht, auf den die Weiber fliegen. Die Eingeweide des Stellwagens entließen nämlich ein ungemein reizvolles Geschöpf ans Tageslicht, ein schönes, elegant gekleidetes Mädchen, das sofort mit großem Liebreiz einen Sonnenschirm aufspannte und ihr hübsches Gesichtchen in seinem Schatten barg, denn sie wußte ja nicht, daß selbst der feurige Helios über Cowtown sein Temperament einbüßte. Allerdings hatte das Mädchen einen Begleiter. Gleich hinter ihr stieg ein imposant wirkender weißhaariger Herr aus, in dessen Arm sie sich auch einhängte.
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Dieses Paar wurde sehr herzlich von Mister Brigham Young Pickaxe, dem Herausgeber der Zeitung »Cowtown Fanfare«, begrüßt. Er begleitete die Gäste sofort zu seinem Hause, das nicht nur als Wohnung des Redakteurs, sondern gleichzeitig auch als Redaktion, Druckerei und Administration diente, was freilich Mister Breakenridge – denn sicherlich hat der Leser bereits erkannt, um wen es sich hier handelt – mit nicht geringer Verwunderung erfüllte. Wo war da die gemütlich bespiene Bequemlichkeit der Redaktionsräume von Chikago! Brigham Young Pickaxe führte seinen Kollegen aus der Großstadt noch am selben Abend in Hobbens Bar, wo sich täglich die geachtetsten Bürger von Cowtown versammelten, und stellte ihnen seinen Nachfolger vor. Man muß sagen, daß sich Mister Breakenridge dank seines würdevollen Aussehens und seiner gemäßigt konservativen, patriotischen Ansichten, die mit einigen Glas leichtem Bier angefeuchtet waren, bei den ehrenwerten Bürgern verdientes Vertrauen und Hochachtung erwarb, weshalb er auch die Zusicherung auf ein ganzjähriges Abonnement sowie auf bedingungslose Unterstützung seiner verdienstvollen Tätigkeit erhielt. Als an diesem Abend die Blüte der Hautevolee von Cowtown in ihre Wohnungen zurückkehrte, zweifelte keiner von ihnen daran, daß er heute einen Mann kennengelernt habe, der für das Aufblühen der Stadt große Bedeutung haben werde. 239
Ein kleiner Irrtum, meine Herren! Jener, dem das Schicksal diese Rolle zugedacht hatte, betrat zwar am selben Tag den Boden Cowtowns, aber er glich Mister Breakenridge nicht im geringsten. Er sah ungemein gutmütig aus, hatte herrlich rote Wangen und quartierte sich im Hotel »Western Star« ein. Er hieß Shamus O’Meara. Wie bereits der Name Shamus O’Meara andeutet, stand seine Wiege – oder wenigstens die seiner unmittelbaren Vorfahren – am grünen Strande Irlands. Horace war mit ihm vor Jahren in Larnedo zusammengetroffen, als noch schier endlose Büffelherden den Staub der Stake Plains aufwirbelten und die mit Sechzehn-Pfund-SharpsWaffen ausgerüsteten Männer in Lederanzügen das Geld mit beiden Händen vergeudeten. Gegen Ende der siebziger Jahre wurden die Büffelherden freilich so selten, daß sich die Jagd auf sie nicht mehr lohnte, weshalb die Falschspieler aufhörten, die Büffeljäger als einträgliche Objekte zu betrachten, aus denen sie so lange Gold geschürft hatten. Aber als Horace damals mit O’Meara bekannt wurde, erreichte die Konjunktur auf den Stake Plains eben erst ihren Höhepunkt – für die Büffeljäger wie für die Kartenspieler. Mister Greenwood hatte damals ein lohnendes Opfer in Gestalt eines blonden, aus Wisconsin stammenden Riesen ausgemacht. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß diesem Mann eben von der Eisenbahngesellschaft eine Lieferung von 120 240
toten Büffeln bezahlt worden war. Deshalb war ihm der dicke und etwas schäbig gekleidete Mann recht zuwider, der sich ihm an Stelle dieses zweibeinigen Geldsackes aus Wisconsin aufnötigte. Dieser dicke Mann mit dem roten Gesicht, der sich damals an Horaces Spieltisch setzte, wirkte in der Umgebung der Saloons von Larnedo etwa so wie der Wilde Bill in einem Märchen von Andersen. Er sah aber so dumm aus, daß Greenwood schließlich einem sicheren Gewinn aus dessen vielleicht magerer Tasche den Vorzug vor der zweifelhaften Hoffnung gab, die der Büffeljäger bot, zumal unserem Spieler der kalte Blick dieses Mannes keineswegs gefiel. Aber schon nach einem Pokerspiel von fünf Minuten stellte Horace mit Entsetzen fest, daß er zehnmal besser falsch spielen müßte, um die Ehre zu haben, diesem dicken Gegner die Schuhe auszuziehen. Ja, Horace Jouett Greenwood aus Tennessee hatte seinen Meister gefunden. Nachdem die beiden Herren einander in aller Stille vor den Augen der nichtsahnenden Mitspieler die ausgesuchtesten Tricks ihrer Kunst vorgeführt hatten, blickten sie einander mit Augurenlächeln in die Augen und lachten herzlich. Von diesem Tage an arbeiteten sie zusammen. O’Meara diente dank seines großartig dummen Aussehens als Lockvogel. Im Laufe des Spiels lenkte Horace, dem sein Beruf mit allzu deutlichen Zügen ins Gesicht geschrieben war, die
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Aufmerksamkeit von Shamus ab, der dann um so ungestörter seine Tricks anwenden konnte. Auch Betrüger wissen, was Ehre ist. Ein lebender Beweis für diese Behauptung war gerade O’Meara, der beim Teilen der Beute Horace kein einziges Mal betrog. Solche Dinge vergißt man nicht. Deshalb war der Spieler aus Tennessee über die Begegnung in Powderville an der Leiche Bushmans um so mehr erfreut, wenn er überlegte, wie großartig ihm O’Meara bei seiner Grundstücksangelegenheit von Nutzen sein konnte. Er vertraute sich also seinem ehemaligen Gefährten bedenkenlos an und vereinbarte mit ihm einen Plan, in dem Shamus O’Mearas arglose Erscheinung wiederum die Rolle einer nie versagenden Leimrute spielte. Und so geschah es, daß eines Abends der rotwangige O’Meara in Cowtown auftauchte, während sich Horace nach Albuquerque wandte, wo er abwarten wollte, bis ihm sein Partner aus Cowtown ein Zeichen gab. Und dann besorgte er noch einige unerläßliche Kleinigkeiten, die für einen glatten Ablauf der weiteren Dinge notwendig waren, damit er seine Schritte endlich dem fruchtbaren Lande Kanaan, dem besagten Cowtown, zuwenden konnte, das keineswegs die geringste unter den Städten Arizonas sein sollte. Mister Shamus O’Meara quartierte sich also, wie wir bereits erwähnt haben, im Hotel »Western Star« ein. Bei der Vorstellung legte er sich den Titel eines Obersten zu und begann so dumm 242
daherzureden, daß selbst die dümmsten Zuhörer eine hohe Meinung von seiner Intelligenz gewannen. Noch am selben Abend bewirtete unser PseudoOberst alle anwesenden Bürger und entwickelte vor ihnen seine großartigen Pläne, die nur den hoffnungslosen Zustand jener Stellen seines Kopfes kennzeichneten, wo man bei anderen Menschen das Vorhandensein des Gehirns beobachten kann. Nun, er trage sich, so erklärte er, mit der Absicht, am Rande der Stadt riesige Erdbeerplantagen anzulegen und sich so um die Hebung des ganzen Gebietes verdient zu machen. In ungemein lebhaften Farben malte er vor allen diesen Gesichtern, die vor verhaltenem Lachen eine violette Färbung annahmen, ein Bild von Cowtown, umgeben von einem roten Gürtel süßer Früchte, während über die Dächer der reich gewordenen Stadt die Schornsteine von Fabriken emporragen, in denen diese köstlichen Früchte konserviert oder zu schmackhaftem Jam verarbeitet werden sollten. Ja, die Erdbeerprodukte von Cowtown würden dem Seehundjäger unter den Eskimos bald ebenso bekannt sein wie dem indischen Fakir, der ihnen sogar den Vorzug gegenüber der von ihm sonst so geschätzten Nahrung aus gedünsteten Nägeln oder Stecknadeln geben werde; und der Prinz von Wales würde sofort allen Appetit verlieren, wenn er nicht auf der traditionell gedeckten Tafel vor sich gefrorene Erdbeeren aus Cowtown sähe. Ja, die ganze Welt würde den Namen dieser Stadt 243
kennenlernen, wo inzwischen die berühmtesten Pomologen fieberhaft Tag und Nacht daran arbeiteten, wie sie die bekanntesten Sorten kreuzen und schließlich wunderbare Erdbeerfrüchte von der Größe eines Kalbskopfes erreichen könnten. Doch wozu diese Utopien? Shamus O’Meara kenne jeder als einen Mann der Tat! Wozu also lange reden? Kurz und gut, er sei bereit, allen rund um Cowtown brachliegenden Boden aufzukaufen; er zahle zwei Dollar für den Acker, was, wie jeder anerkennen werde, nicht schlecht sei. Jeder erkannte an, daß das wahrlich nicht schlecht sei, und keinem fiel auch nur im Traum ein, Shamus das zu sagen, was alle eben dachten: daß eher am Nordpol ein Hain von Kokospalmen wachsen würde als in Cowtown eine einzige Erdbeere. Übrigens hätten die Einwohner von Cowtown jetzt jeden verbrannt, zerstampft und erwürgt, der den Oberst auf diese winzige Kleinigkeit aufmerksam gemacht hätte, denn sie wußten, daß sich ihnen nie wieder eine Gelegenheit bieten würde, so leicht zu Geld zu kommen. Deshalb bestürmte Mister O’Meara, als er am nächsten Morgen im hinteren Raum der Schenke ein provisorisches Büro einrichtete und unter Assistenz eines Mannes mit Spitzbart und großer Nase – natürlich war das Mister Dara Shikoh – seine Geschäfte begann, eine solch große Menge von Interessenten, daß der Magier trotz seiner Pflichten als Sekretär und seiner kürzlichen 244
Verwundung sorglos in den Eingeweiden der Kleidung der verkaufswütigen Männer grasen konnte. Dann begab er sich in sein Zimmer, und sein Anzug wies Beulen von den prallen Taschen auf, ja er sank fast unter der Last der Uhren, Ketten, Nadeln, Goldgebisse, Zigarren, Geldbörsen zu Boden, doch er kehrte rasch zurück, um seinen wunderbaren Fischzug fortzusetzen und seine Aufgaben als Sekretär zu erfüllen. Nach wenigen Tagen war alles beendet, und der Oberst löste sein Büro auf, die Taschen leer, aber das Herz von Zufriedenheit überfließend. Ein einziger Schatten fiel auf die Sonnenseite seiner guten Laune. Diesen warf die knorrige Gestalt Liamo O’Connors, eines ewig betrunkenen Farmers, der inmitten seiner kleinen Felder in einer alten Hütte wohnte, die vom Zahn der Zeit und der Elemente angenagt war. Shamus lag sehr viel an diesen Grundstücken, denn sie erstreckten sich gerade dort, wo die Hauptstraße des neuen Cowtowns angelegt werden sollte. Er besuchte also seinen Landsmann in dessen windschiefen Hütte, und weil er wußte, was irischer Starrsinn ist, zeigte er sich keineswegs überrascht, als O’Connor cholerisch erklärte, er huste auf das Geld. Shamus tat, als habe er diese radikale Ablehnung überhört. Er erfüllte seinen schönen Baß mit der Musik eines reinen Keltisch und ließ ihn voll erklingen, hoffte er doch, durch dieses nationale Schmelzrohr eine Flamme zu entfachen, die das Eis der Unzugänglichkeit des Iren auftauen werde, und versuchte weiterhin, ihn zum Verkauf 245
zu bewegen. Nun, zunächst verließ O’Mearas Zylinder die ungastliche Stätte, unmittelbar danach sein Stock und schließlich er selbst. Die Spuren, die seine Hände und Knie im Kot hinterließen, waren recht tief, was sich durch sein Gewicht hinlänglich erklären läßt. Der Mißerfolg bei O’Connor war jedoch ein zu unbedeutendes Manko in der Gewinnspalte des Betrügers, als daß er sich wegen dieser Episode ernstlich bekümmert hätte. Lappalien dieser Art vermochten nicht, daß sich sein Melonengesicht in trübe Falten legte. Horace, der in einem unauffälligen Hotel in Albuquerque wohnte, erhielt noch am selben Abend ein Telegramm, das auf den Namen W. W. Winter lautete. Hastig riß er den Umschlag auf und überflog das Formular mit begierigem Blick. Er las: ÜBERBRINGEN SIE SOFORT DEN SAMEN STOP O’MEARA. Ein leichtes Lächeln hob den linken Winkel seines schönen Mundes. Dann klopfte er mit dem Stock an seinen Zylinder und begab sich augenblicklich in die Bar »Zum guten Schluck«. Dort sprach er einige Worte mit einem schmalköpfigen Mann, an dessen Seite er am nächsten Tag den Stellwagen bestieg. Die Hüter des Gesetzes in Albuquerque atmeten auf. Zwar wußten sie nicht, wer der schwarzgekleidete Fremdling war, der am heutigen Morgen ihre Stadt verlassen hatte, aber sie kannten gut seinen schmalköpfigen Begleiter, den Totschläger Clem Wolfsgesicht. Den sahen sie 246
nicht gern in ihrem Distrikt, denn er zog seine Pistole selbst in Fällen, in denen sich ein ordentlicher Mann damit begnügte, seine Hand bedeutungsvoll auf den Schaft zu legen. Als Horace wenige Tage später mit O’Meara in der Bar des Hotels »Western Star« zusammentraf, hätte jeder beschworen, daß sich diese beiden Herren zum erstenmal im Leben sahen. Schon nach drei Gläschen, die ihre höfliche Konversation über die augenblicklichen meteorologischen Verhältnisse würzten, setzten sie sich an den Spieltisch. Anfangs war der Poker niedrig, und der Oberst gewann, aber bald begannen die Augen der Zuschauer aus den Höhlen zu treten. Innerhalb von fünf Minuten hatte O’Meara alle gekauften Grundstücke verspielt. Horace machte ein Gesicht, als bereite ihm dieser Gewinn keine besondere Freude. Was solle er damit anfangen? Er, ein ewiger Wanderer, der jede Nacht in einem anderen Bett schlafe? Für einen, der an das lebhafte Treiben der brodelnden Städte gewöhnt sei, erscheine der Gedanke wenig angenehm, mit den Fangstricken von Immobilien an dieses verzweifelt langweilige Nest gefesselt zu sein. Gern würde er sich ihrer wieder entledigen, und sei es auch für einen Pappenstiel, sobald er sich hier nur ein wenig von seiner anstrengenden Reise erholt habe. Die Einwohner von Cowtown rieben sich die Hände und priesen im Geiste O’Mearas Beschränktheit und sein Pech. 247
Vielleicht erscheint diese Komödie, die die beiden Schlauberger so sorgfältig spielten, etwas überflüssig. Aber ihre Umsicht flüsterte ihnen weise zu, daß sie durch dieses Spiel ihr wahres Gesicht bis zum letzten Augenblick verbergen konnten. Eines Nachmittags – noch vor der Ankunft des Stellwagens aus Fort Mahon – hielt vor dem Haus des Bürgermeisters eine leichte Karosse. Der Mann, der heraussprang, schien einem Schlaganfall nahe zu sein; sein Gesicht war hochrot, sein Haar klebte an der Stirn, und seine Wangen waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt, durch die sich Schweißbächlein gewundene Pfade gebahnt hatten. Er warf die Zügel über die Brüstung der Veranda, keuchte hörbar und stürzte ins Haus. Wenige Augenblicke später stürmte in die Bar des Hotels »Western Star« eine Gruppe von Bürgern und blieb drohend vor Horace stehen, der eben eine Partie Solitaire spielte. Ohne sich von seinem Stuhl zu erheben, fragte der Spieler freundlich, ob er den Herren mit etwas dienen könne. Die Anwesenden meinten, das könne er gewiß. Er würde ihnen in der Tat einen großen Dienst erweisen, wenn er ihnen sofort die gewonnenen Grundstücke wieder verkaufe. Der Spieler lachte. Wie es scheine, hätten die Herren wohl auch erfahren, daß die Eisenbahn bis Cowtown weitergeführt werde. Er stemmte die Absätze gegen die Fußleiste des Tisches, 248
schaukelte auf den hinteren Stuhlbeinen und blickte belustigt in die rot angelaufenen Gesichter. Einer von ihnen, dessen Gesicht am rötesten schimmerte, ging drohend auf Horace zu, und dieser spürte, wie ihm ein kalter Lauf auf die Brust gesetzt wurde. Doch da bellte von hinten ein Schuß, und die zudringliche Pistole fiel Greenwood in den Schoß, während der Mann mit grotesk verzerrtem Gesicht auf den Fußboden sank. Neben Horace stand jetzt ein Mann mit schmalem Gesicht und blickte kalt auf die Bürger von Cowtown, deren Gesichter plötzlich weiß wie ein Leichentuch waren. Horace entnahm einem mit Saffian ausgefütterten Futteral eine lange Zigarre und setzte sie bedächtig in Brand. Dann erhob er sich endlich, blies dem Bürgermeister den Rauch in die vorquellenden Augen und sagte ironisch: »Bedaure, mein Herr, hier wird nichts verkauft!« Zu seinem düsteren Gefährten aber meinte er: »Wie ist es, Clem, wollen wir nicht zu Abend speisen? Ich habe heute besonders guten Appetit!« New Cowtown schoß empor wie ein Vulkan. Horace kannte den Westen gut. Schließlich war er ja kein Greenhorn. Er hatte viele Viehzüchterstädte emporwachsen und sterben sehen, und ihr barbarischer Ruhm sowie ihr unrühmlicher Fall hatten ihn immer ein wenig ergriffen. Oft hatte er sich durch eine überfüllte 249
Straße gedrängt, und kaum ein Jahr später sah er, daß dieselbe Straße von Gras überwuchert war. Aus verschiedenen Bars, die früher von dröhnendem Gelächter widerhallten, tönte jetzt das Quaken von Kröten. Aber er mußte sich eingestehen, daß das, was sich jetzt vor seinen Augen abspielte, alle seine Erwartungen übertraf. Noch war keine Woche verstrichen, seit ihn die Bürger von Cowtown so unsanft bei seiner Partie Solitaire gestört hatten, und schon stand die Hauptstraße fast in ihrer ganzen Länge. Es war, als hätten die Geister aus Tausendundeiner Nacht diese mit Zetteln beklebten abstoßenden Gebäude errichtet. Beim Morgenspaziergang bemerkte Horace immer neue hölzerne Gerippe, und am Abend sah er an dieser Stelle bewohnte Häuser. Die Sägen kreischten Tag und Nacht, und oft setzten die Leute die Gebäude aus ganzen Wänden zusammen, nur mit wenigen Handgriffen. Viel Geld verdiente ein Mann, der gleich in den ersten Tagen eine Lackierwerkstatt eröffnet hatte und nun, zusammen mit einem buckligen Gehilfen, bis zum späten Abend Hunderte Aushängeschilder mit unmöglich verschnörkelten, schmucküberladenen Buchstaben bedeckte, die man jedoch in jenen Jahren im amerikanischen Westen für sehr elegant hielt. Unter diesen Tafeln, die die sonderbarsten Namen und noch sonderbarere Gewerbe verkündeten, verschwanden fast völlig die häßlichen Gebäude mit den falschen Fassaden, die einen um so schrecklicheren Eindruck hinterließen, je besser 250
auszusehen sie sich bemühten. Und ständig wuchsen neue Häuser, neue Straßen. Vom Morgen bis zum Abend dröhnte Cowtown vom Pochen der Hämmer, vom Stampfen der Rammen und vom Kreischen der Sägen wider, während die Tritte der ankommenden Scharen ungeheuere Staubwolken aufwirbelten, die schwermütig über der lärmenden Stadt hingen. Die Nachricht vom Cowtown-Run verbreitete sich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Karawanen der sonderbarsten Verkehrsmittel spien täglich in die ohnehin schon überfüllten Straßen eine Flut von Neuankömmlingen. Die berühmten Pionierwagen mit den wulstigen Seitenteilen und dem über kreisförmige Reifen gespannten Segeltuch rumpelten neben Farmerkaleschen und mexikanischen Karren, die immer wieder anhalten mußten, wobei heisere Schimpfworte der Pferdelenker zu hören waren, denn die Verwirrung erreichte ein solches Maß, daß der langsame Strom all dieser Fahrzeuge, Menschen und Tiere jeden Augenblick in einem heillosen Durcheinander erstarrte. Die Stadt schluckte wie ein Saugrohr Siedler, Cowboys, Spieler, Geschäftsleute, Dirnen, Prediger, Handwerker, Bankiers, Totschläger, verkrachte Existenzen und hoffnungsvolle Anfänger in ihr brodelndes Zentrum. Auf ihren Gehsteigen und in ihren Bars feierte nun das Dodge aus dem Jahre zweiundsiebzig und das Abilene aus dem Jahre siebenundsechzig fröhliche Auferstehung. 251
Jeder wollte als erster hier sein, noch vor der Ankunft der Eisenbahn, um einen möglichst großen Bissen für sich zu erhaschen. Deshalb wuchs Cowtown schon lange, bevor die Schienen sein Randgebiet erreichten. Schließlich kam eines Tages eine Meute von Iren an, die mit unnötigem Lärm eine lange Reihe von Wagen begleitete. So betrat die erste Vorhut der Südwestbahn die Stadt. Ja, der Stahlstrang rückte immer näher. Wilde Gerüchte spannen sich um sein mit Blut und Schweiß getränktes Wachstum. An einem Präriestrom flog ein ganzer Transport Nitroglyzerin in die Luft, und noch weit von dort entfernt konnte man angeblich verstreute menschliche Gliedmaßen finden. Joe Hunt, ein wandernder Drucker, behauptete, er sei am Yellow Rock mit dem Fuß gegen den Kopf eines jungen Iren gestoßen, der noch die Pfeife in den zusammengebissenen Zähnen hielt. Und diese Pfeife war noch nicht erloschen! Kaum eine Meile von den Drei Quellen entfernt überfielen einige maskierte Männer den Postwagen mit dem Wochenlohn. Der Angriff wurde abgeschlagen und einer der Räuber erschossen. Als die anderen sahen, daß sie den Toten nicht mehr fortschaffen konnten, überschütteten sie sein Gesicht mit Schießpulver und zündeten dieses an, damit niemand ihren Gefährten erkenne. Das alte Cowtown hätte derartige Geschichten wohl mit atemlosen Erstaunen aufgenommen, aber das neue Cowtown hatte mit dem alten nichts gemein. 252
Viehhändler, rauhe Männer mit veilchenblauem Gesicht, eine Goldkette auf der Kuppel des Bauches, quartierten sich in den Hotels ein und warteten auf die ersten Herden, die übrigens nicht lange auf sich warten ließen. Leute aus Texas überfluteten die Bars. Riesige Herden von langhörnigem Rindvieh, deren Vorfahren vor einigen hundert Jahren aus Spanien importiert worden waren, drängten sich vor Cowtown und verzehrten das niedrige Steppengras. Sie wurden augenblicklich verkauft, und die Taschen der Cowboys füllten sich mit Gold. Ein Zyklon von Schießereien und Lärm tobte durch die Stadt. Es wiederholte sich die alte Geschichte aus den Viehzentren in Kansas; wo die Konföderierten aus Texas unablässig Händel mit den unionistisch eingestellten Büffeljägern suchten. Von diesen fand man hier nicht mehr viele, denn ihr Beruf verfiel um so hoffnungsloser, je rascher die letzten Büffel ausstarben, aber den Leuten von Texas genügte schließlich jeder Yankee. Übrigens kamen aus dem Nordosten viele Pistolenschützen hierher, die das Gleichgewicht der beiden Seiten wiederherstellten. Das Bellen der Pistolen erscholl durch die Nacht. Die Leute verschwanden rasch unter den Tischen oder preßten sich gegen die Wände, und aus den neuen Bars, die noch nach frischer Farbe rochen, trug man täglich regungslose Körper. Der Arzt hatte alle Hände voll zu tun, noch mehr aber der Leichenbeschauer. Am östlichen Stadtrand, in einem düsteren Kessel, wölbten in immer größerer 253
Zahl ominöse Hügel den Boden. Hier verscharrte man die toten Männer, in Schuhen, ohne Sarg – es war der berüchtigte »Friedhof der Beschuhten«. Aber die unbändige Fröhlichkeit, die sich in rauhen Witzen äußerte, vertrieb die Gedanken an den Tod. Die Menschen platzten fast vor Lachen, wenn sie die Geschichte vom Bruder Johnson und dem Geheimnisvollen Dave Mathers hörten: Durch seine gewaltigen Kanzelreden wurde der Prediger Johnson in den Städten des Westens berühmt. Mit feurigen Worten trieb er den Teufel aus den Seelen der verstocktesten Sünder, um an seine Stelle unverweilt den Engel des Heiles zu setzen, der dann schon für alles Weitere sorgte. Kurz nachdem er nach Cowtown gekommen war, veranstaltete er im größten Tanzsaal – denn die Kirche war zu klein – eine Reihe erfolgreicher Meetings. Er besuchte auch die Bars, wo die hoffnungsvollsten Kandidaten auf ewige Verdammnis verkehrten. Kaltblütig blickte er auf den Cul de Paris einer geschminkten Blondine, die sich so wie er bei den ersten Schüssen auf den Fußboden geworfen hatte, und sah den Geheimnisvollen Dave Mathers, der sich zum Schaden seiner Gegner gewandt mit zwei rauchenden Vierundvierzigern verteidigte und dabei sehr frivole Bemerkungen machte, die Bruder Johnson in der Überzeugung bestärkten, daß er es hier mit einem typischen Sünder schwersten Kalibers zu tun habe. Da keimte in ihm ein kühner Gedanke: Er werde dieses 254
Musterexemplar eines Verdammten auf den Weg der Tugend zurückführen und so seinen Lorbeeren als Prediger ein neues, besonders herrliches Blatt hinzufügen. Er lud Dave zur Sonntagspredigt ein. Der kam auch zur allgemeinen Verwunderung, nahm ruhig Platz und folgte den Ausführungen Johnsons mit großer Aufmerksamkeit. Der Prediger begann ruhig und süß, doch dann steigerte er die Kraft seiner Ausdrücke und seiner Stimme zu einem mitreißenden Furioso, daß die Gläser auf dem Barregal zitterten. Der Geheimnisvolle Dave Mathers schien tief ergriffen zu sein. Er vergrub seinen Kopf in den Händen und saß regungslos da, nur ab und zu von einem plötzlichen Schluchzen erschüttert. Nun geißelte der Prediger erbarmungslos seine Sünden. Schließlich krönte er, entflammt von der eigenen Beredsamkeit, seine Tiraden mit folgender Erklärung: Er, der Prediger Johnson, sei bereit, sein Leben – wenn es sein müsse, auf der Stelle – dahinzugehen, um den Totschläger und Verdammten Dave Mathers zu retten. Erregung bemächtigte sich auch der Diakone, die zu beiden Seiten des Propheten saßen. Sie erhoben sich einer nach dem andern, warfen dabei die Stühle um und boten, mitgerissen von seinem Feuer, auch ihr Leben als Preis für die Rettung dieser verirrten Seele an. Da hob Dave den Kopf, stand auf, steckte die Daumen in den Gürtel und sagte, er sei tief erschüttert von diesem Angebot und nehme es begeistert an, denn unter den eben genannten 255
Bedingungen verlange er in der Tat aufrichtig nach Rettung. Er werde ihnen nun Gelegenheit geben, ihr Wort in die Tat umzusetzen und ihr Leben für seine Rettung hinzugeben. Ja, alle würden ins Paradies eingehen, zuerst der sehr ehrenwerte Prediger Johnson, dann die weniger, aber immer noch ehrenwerten Diakone. Er, der Geheimnisvolle Dave Mathers, werde etwas später nachkommen. Daraufhin zog er seinen Colt und begann, dem Prediger Johnson und seinen Diakonen unter die Füße zu knallen. Der sehr ehrenwerte Prediger hatte es sich mit der Aufopferung seines Lebens offensichtlich überlegt, denn er sprang sofort durchs nächste Fenster, ohne darauf zu achten, daß es nicht geöffnet war. Die Behendigkeit, mit der er das tat, machte im Hinblick auf die priesterliche Würde seiner vorherigen Bewegungen in der Tat einen gewaltigen Eindruck. Auch die Diakone hatten es plötzlich ungemein eilig und benutzten in scherzhafter Hast die übrigen Fenster. Ja, das waren fröhliche Zeiten! Frauen sah man in Cowtown nicht viele. Aber sie verstanden es dafür, ihre unauffällige Minderheit durch um so auffälligere Farben der Schminken und der Toiletten aufzuwiegen. Natürlich kamen auch abgehärmte und von der großen Anstrengung erschöpfte Siedlerinnen hier an; aber die verloren sich völlig neben den parfümierten und blendenden Mädchen, die am 256
Nachmittag im offenen Wagen durch die Hauptstraße spazierenfuhren, wobei diese Wagen nur ein leichtes, mit Girlanden und Fransen verziertes Dach hatten. Den Dirnen folgte ein Gemisch von Düften, das die Nasen der von Staub, Viehgestank und Schweiß abgestumpften Männer erbeben ließ. Diese Frauen machten nicht nur viel Aufsehens mit modischen Kreationen von recht bizarrer Eleganz, sondern prunkten auch mit französisch klingenden Namen, wodurch sie mit allen Kräften eine Abstammung von Altansiedlern aus dem Süden oder aus Kanada vortäuschten. Die Töchter irischer Hafenarbeiter und italienischer Geschirrwäscherinnen stellten sich den Viehzüchtern von Kansas als Louise Lafleur, Viola Montessori oder Désiré Beuregard vor und hofften, so die Anerkennung ihrer Kunden zu entflammen, denn selbst das schmutzigste Bordell wagte es nicht, eine gewöhnliche Straßendirne nach demselben Tarif zu bezahlen wie die gefallene Tochter einer angesehenen Familie. Leider entwertete der Umstand, daß diese List schon recht abgenutzt war, ihre praktischen Ergebnisse. Die meisten Mädchen gehörten zum Inventar besserer oder schlechterer Tanzlokale, und ihre Erscheinung entsprach auch dem Luxus oder der Verkommenheit dieser Häuser. Unzweifelhaft der größten Achtung erfreuten sich die Mitglieder des Theaterensembles, das den Liebhabern der dramatischen Kunst in Cowtown nicht nur herzzerreißende Melodramen mit 257
abgefeimten Intriganten und bedrohten Pastorentöchtern sowie pikante Possen vorsetzte, ein fernes Echo der längst entschlafenen Commedia dell’arte, sondern auch Komödien Shakespeares. Gewiß hätte ein gewaltiger Schweißausbruch die Glatze des »Schwans von Avon« genetzt, wenn er gesehen hätte, welch ungeahnte Formen sein Werk in dieser Umgebung annahm. Das Theater war täglich überfüllt, obwohl die Tanzlokale und Tingeltangels vor der nach Unterhaltung dürstenden Masse einen reichen Fächer der verschiedenartigsten Schaustellungen entfalteten, denn der Run lockte große Scharen von Artisten, Tänzerinnen und Komikern an, die hier sofort Arbeit fanden. Erregung löste eine Ankündigung des »Elysiums« aus, die mit bombastischen Worten das Auftreten des unwiderstehlichen, unübertrefflichen Eddie Foy ankündigte. Henry Tremblay, genannt Marquis, gehörte zu den ersten, die ihr Zelt auf dem Boden von New Cowtown aufschlugen. Was das Zelt betrifft, so ist das wörtlich zu nehmen, denn Marquis Tremblay transportierte sein Spielzelt mit Erfolg durch die belebtesten Städte des Westens, schon seit den Zeiten des Baues der Union-Pacific-Railroad. Er hatte einen guten Riecher. Wo er sich niederließ, begann es bald heiß herzugehen. Deshalb betrachteten die Einwohner von Cowtown seine Ankunft als ein günstiges Vorzeichen, und die nächsten Tage zeigten, daß dies völlig zu Recht geschah. 258
Das Kartenspiel eroberte sich bald jenen Platz, den es an allen belebten Orten des Westens einnahm. Die schwarzgekleideten Männer traf man jetzt immer öfter, und die überwiegende Zahl der Morde spielte sich an Spieltischen ab. Die Inhaber der Spielsäle beklagten sich über den großen Verschleiß an Spielkarten, denn die Spieler lehnten blutbespritzte Karten ab, weil sie diese als gezinkt ansahen, und dagegen ließ sich wirklich nichts einwenden. Gespielt wurde alles, was imstande war, den Leuten die Taschen zu leeren. Selbstverständlich führten Poker (gezogener Poker war verboten!) und »Pharo«, aber auch »Sieben nach oben«, »Keno« und »Chuck-and-luck« fanden Anhänger, während die Mexikaner dem »Monte« den Vorzug gaben. Auch das Roulette hatte bald eine weitverzweigte Klientel. Die Karten klatschten, die farbigen Säulen der Jetons, dieser beredten Symbole der launischen Fortuna, wuchsen und verschwanden bald vor diesem, bald vor jenem Spieler. Die Gesichter wurden rot und blaß, und an erhöhter Stelle saßen gedungene Scharfschützen, die auf Ordnung im Spielsaal achteten. Aber ganz zuoberst saß der Teufel und rieb sich zufrieden die Hände. Er machte damals in der Tat großartige Geschäfte. Vielleicht kommt es dem Leser sonderbar vor, daß er inmitten dieser Hast und dieses Getriebes, von dem New Cowtown überschäumte, kein einziges Mal die Namen Horace Greenwood und Shamus 259
O’Meara gehört hat. Hatte sie der Run etwa aus dem Wege geräumt? Nein, seien Sie unbesorgt! Was O’Meara einmal in die Hand bekam, ließ er nie wieder los. Die Einwohner von Cowtown sahen mit Staunen und Entsetzen, wie sich der dümmliche Phantast als ein rücksichtsloser und ausgekochter Geschäftemacher entpuppte, der mit eherner Hand die Zügel seiner Absichten in Händen hielt. Jetzt durchschauten sie das listige Spiel, das er mit ihnen getrieben hatte, aber es war zu spät, und von den Neuankömmlingen hatte keiner Zeit, sie nach ihrer Meinung zu fragen. Die Grundstücke an der Hauptstraße verkaufte O’Meara nicht, sondern verpachtete sie nur. Viele schüttelten ob eines solchen Geschäftsgebarens den Kopf, doch weil sie ihren Anteil an der Beute erraffen wollten, blieb ihnen nichts übrig, als dieser Praxis zuzustimmen. Durch den Verkauf der entfernter liegenden Parzellen erwarb O’Meara viel Geld, das er wieder in Hypotheken anlegte. Doch bald wurde ihm klar, in welch gefährlichen Sumpf er da hineingeriet. Er wußte genau: Auf dem Gebiete von Finanzmanipulationen blieb er doch ein Dilettant; die Last der Anleihen, der Verträge und der Schecks konnte jeden Tag mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn niederstürzen und ihm das Genick brechen. Da erinnerte er sich eines Mannes in New Orleans, der ihm in diesen Dingen ungemein
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nützlich sein konnte. Unverzüglich sandte er ihm ein Telegramm. Wenige Tage später entstieg dem Stellwagen ein hagerer Mann mit mumienhaftem Gesicht, dessen Farbe von einer sich erfolgreich entfaltenden Leberkrankheit herrührte. Er trug einen steifen Hut sowie eine schneeweiße Weste und erkannte Shamus auf den ersten Blick, obwohl er ihn schon lange nicht gesehen hatte. Daraufhin brachte O’Meara seine Büros in einem neuen Gebäude unter, das er an seinen bisherigen Sitz anbaute. Große Fenster mit riesigen Glasscheiben durchbrachen die Fassade, auf der eine gewaltige Tafel verkündete: Greenwood – O’Meara & Syringo COWTOWNBANK Hypotheken Neben dem Eingang hing eine kleinere Tafel: O’Meara & Syringo Realitätengeschäfte
Offensichtlich hatte Horace bereits sein Interesse an Boden-Transaktionen aufgegeben und umgesattelt. Wie Greenwood O’Meara vertraute, so vertraute O’Meara dem Bankier Godefrey Syringo. Das entbehrt übrigens keineswegs einer pikanten Note, aber die menschlichen und geschäftlichen Verbindungen dieses ausgekochten dreiblättrigen
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Kleeblatts beruhten in der Tat auf herzlichem Vertrauen. Syringo hatte Ende der sechziger Jahre in der Wall Street gearbeitet, und O’Meara gehörte zum Stab seiner Winkeladvokaten. Jedoch im Jahre neunundsechzig fiel Godefrey auf den glänzenden Goldtrick Mister Goulds herein und verbrannte sich dabei die Finger so gründlich, daß er New York schnellstens verlassen mußte. Seither vegetierte er in New Orleans als bedeutungsloser Finanzmann, bis er das Telegramm seines ehemaligen Angestellten erhielt. Die zwinkernden Äuglein hinter dem goldenen Zwicker blitzten auf. Er begriff, daß ihn diese hilfreiche Hand wieder nach oben ziehen konnte. Deshalb liquidierte er sofort – zum Teil mit Verlust – seine Angelegenheiten in New Orleans und wandte sich gen Westen. Noch hatte er den Staub der Steppenwege nicht von den Schuhen geschüttelt, da ließ er sich auch schon die verborgensten Pfade durch den Dschungel von Cowtown erklären. Der alte Banklöwe stürzte sich mit der ganzen Verschlagenheit seines kühlen Verstandes in dieses Dschungel, und O’Meara erkannte bald, daß er das Geld nicht zu bedauern brauchte, das er für das Telegramm ausgegeben hatte. An dieser Stelle erscheint es notwendig, dem wahren Urheber von Horaces Erfolg, dem Großaktionär Bennett, ein stilles Gedenken zu widmen. Als er bemerkte, daß ein noch 262
Durchtriebenerer als er das Geschäft abgesahnt hatte, war er zuerst wütend, doch dann – kapitulierte er. Er wußte, daß er sich über niemanden beklagen konnte: Er hatte betrügen wollen und war betrogen worden. Er beklagte sich auch bei niemandem, denn er wußte, daß er nur Spott geerntet hätte. Friede seinen weiteren Betrügereien! Vor einer Weile fiel hier eine Bemerkung über ein Vergnügungsetablissement mit dem Namen »Elysium«. Dann wieder erlaubte sich der Autor eine Bemerkung über die Stärke von Mister Shamus. Wir können diese beiden Stellen identifizieren, denn Greenwood und O’Meara hatten sich in dem größten und darüber hinaus luxuriösesten Gebäude niedergelassen, das Cowtown bisher gesehen hatte, in einem Palast, den die zwei selbst errichteten und dem sie den Namen des antiken Paradieses gaben. Sie bauten ihn mit großer Sorgfalt und nicht geringem Aufwand, aber beides zahlte sich aus, denn der Ruhm des »Elysiums« wirkte bald wie ein Magnet, der nicht nur das Eisen an den Hüften der Grenzbewohner anzog, sondern auch das Gold in ihren Taschen. Das »Elysium«, ein riesiges Holzgebäude, ragte an der Ecke der Hauptstraße und einer Nebenstraße empor. Der Grundriß in Gestalt eines V teilte es in zwei gleiche Flügel. In dem einen richteten Greenwood und O’Meara einen Spielsaal ein, im anderen eine Bar und ein Tanzlokal. Die Eingänge zu beiden Sälen befanden sich an der 263
Ecke, dicht nebeneinander. Die Flügeltüren standen keinen Augenblick still, denn unablässig strömten die Leute von der einen Abteilung in die andere. Wenn einem das Glück hold war und er sich im Spielsaal die Taschen vollgestopft hatte, genügten wenige Schritte, und schon befand er sich im Tanzsaal, wo die Taschen bald wieder schlaff wurden. Um die ganze Stirnwand zog sich ein hölzerner Gehsteig, überdeckt mit einem gewöhnlichen Dach, das über den beiden Eingängen erhöht und von vier geschnitzten Säulen getragen wurde, so daß es hier eine Art dreifacher Pforte bildete. Dem Baumeister dieses Gebäudes kann man keineswegs eine gewisse Originalität absprechen, denn der klassische Name inspirierte ihn so sehr, daß er die drei erwähnten Bogen in streng gotischem Stil formte. Die Einrichtung des Tanzsaals zeigte Spuren besonderer Sorgfalt. Der Schanktisch stand gleich am Eingang und war so gedreht, daß man von ihm aus sofort alle Neuankömmlinge sehen konnte. Horace war nämlich kein Freund von Meuchelmorden. Die erste Woche wurde noch an einer groben, nur aus einigen Brettern zusammengenagelten Theke ausgeschenkt, aber dann brachte ein Lastwagen ein riesiges rotes Ungeheuer, eine Luxusbar aus imitiertem Mahagoni, das unmittelbar in Saint Louis bestellt worden war, mit reichgeschnitzten Füllungen, gedrehten Säulen, Schubfächern, Laden und Papierpalmen zu beiden Seiten, einer Emailleuhr 264
und einem riesigen Spiegel in der Mitte. Dieser hing an beweglichen Schnüren und konnte bei den ersten Schüssen in die sichere Zone hinter dem Pult hinabgelassen werden. An der ganzen Länge der Wand zog sich eine Reihe von Boxen hin. Vorhänge aus Holzkorallen teilten diese primitiven Séparées vom übrigen Raum ab. Am anderen Ende des Saales, der Bar gegenüber, stand ein niedriges Podium. Davor hing ein Vorhang, bemalt mit ungemein lebhaften Farben und üppigen Formen, auf dem der Urteilsspruch des Paris abgebildet war. Beachtung verdienten die Modefrisuren der molligen Göttinnen sowie der stutzerhafte Schnurrbart des Paris. Diese ausdrucksvollen Details zeugten von dem aufrichtigen Bemühen des Künstlers, seinen Zeitgenossen die ungewöhnliche Handlung des antiken Mythos nahezubringen. Vor dem Podium, auf dem täglich Sänger und Komiker auftraten, lärmte an jedem Abend eine Musikkapelle und spielte dem schwitzenden Getümmel aneinandergepreßter Paare auf, die sich hier nach den Schlägen des Tanzrhythmus im rötlichen Licht von fünf Petroleumlüstern drehten. Die Scheußlichkeit dieser Lüster vervielfachten noch Kristallketten aus farbigem Glas. Die Bewohner der Plains hielten diese Lüster freilich für überaus geschmackvolle Luxusgegenstände. Trotzdem erkannten sie an, daß ihre wenn auch hohen Qualitäten doch noch von zwei riesigen Bildern in breiten, goldbronzierten Rahmen 265
übertroffen wurden, denen O’Meara den Ehrenplatz an der Stirnwand zu beiden Seiten des Podiums eingeräumt hatte. Diese Meisterwerke stellten in Öltechnik zwei gesunde Damen dar, die unzweifelhaft gegen alles voreingenommen waren, was ihre überschäumenden Reize verhüllen konnte. Wahrscheinlich erfüllte sie aus dem gleichen Grunde auch der durchsichtige Lappen mit einer gewissen Unlust, der ihren rosafarbenen Schoß teilweise bedeckte. Rings um diese Damen lagen Unmengen von verschiedenem Obst einschließlich Südfrüchten, wovon sie aber wahrscheinlich schon reichlich gegessen hatten, denn sie widmeten dem Obst nur sehr geringe Aufmerksamkeit und streckten nur lässig ihre rundlichen Arme nach ebenso rundlichen Weintrauben aus. Rote Vorhänge und imitierter Plüsch vervollständigten das luxuriöse Aussehen des Raumes. Der Spielsaal war dagegen sehr einfach eingerichtet, denn das Drama des Kartenspiels kommt ohne luxuriöse Kulissen aus. Deshalb konnte sich der Spielsaal des »Elysiums« auch keiner Sache rühmen, die nicht das Inventar anderer Unternehmen dieser Art gleichfalls enthielt. Nur ein einziger Tisch ganz am Ende des Raumes machte einen luxuriösen Eindruck. Hier wurden die höchsten Partien der wohlhabendsten Gäste ausgetragen. Wer sich an diesen Tisch
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setzte, mußte eine sehr hohe Meinung von seinen finanziellen Möglichkeiten haben. Unmittelbar an der Wand dahinter befand sich eine erhöhte Stufe mit einem Sessel, auf dem vom Abend bis zum Morgen ein schweigender blonder Mann mit Fischaugen saß, die ins Leere blickten. In Wirklichkeit aber entging ihm keine einzige Bewegung im Spielsaal, und wenn die Taten oder die Worte eines Mannes nicht seinen Vorstellungen vom richtigen Verhalten am Spieltisch entsprachen, spielte er plötzlich mit einer großen Pistole, die gut zu zielen und rasch zu schießen verstand, was sie auch tat, wenn es der Augenblick erforderte. Dieser Pistolenschütze war Heck Handamschaft, und O’Meara hatte ihn ausgewählt, weil er seine geschätzte Stellung unter den Bewohnern von Texas kannte. Während der Sheriffzeit Ben Thompsons in Austin hielt man Heck für den einzigen würdigen Gegenkandidaten für den Posten des Sheriffs, und das hatte im Hinblick auf Thompsons Namen schon etwas zu bedeuten. Hier hatte er noch einige Gehilfen zur Hand, die zwar nicht so unangenehm aussahen, sich aber nichtsdestoweniger längst den Ruf professioneller Killer erworben hatten. Als einzigen Wandschmuck konnte man kalligraphisch ausgeführte Tafeln in Zierrahmen betrachten, die die Besucher zu ehrlichem Spiel und friedlichen Sitten ermahnten. Am praktischen Wert dieser gutgemeinten Ratschläge läßt sich freilich zweifeln. In Wirklichkeit war ein einziger 267
Blick auf den Schützen Handamschaft mehr wert als tausend noch so warnende Inschriften. Um jedoch ein vollständiges Bild des »Elysiums« zu gewinnen, und zwar von innen und von außen, darf man seine Nachbarschaft nicht außer acht lassen. Auf der einen Seite baute O’Meara später die Bank Greenwood – O’Meara & Syringo an, doch auf der anderen – oh, sooft Shamus nach der anderen Seite blickte, wurde ihm schwarz vor Augen, denn dort kauerte die Hütte des Dickkopfs O’Connor wie eine schamlos betrunkene Alte. Alle Angebote und alle Drohungen hatten den Starrsinn des Iren nicht gebrochen. Zuerst war Shamus einige Male in Wut geraten, was die Existenz von zwei Gläsern und einer Gipsbüste des Dichters Longfellow besonders hart berührte, doch dann schien er sich beruhigt zu haben. Aber wer ihn besser kannte, der wußte, daß sein Plan fertig war und sein Urheber nur auf eine günstige Gelegenheit wartete. Sicherlich hat der Leser bemerkt, daß in den letzten Abschnitten der Name Horace in den Hintergrund trat, während der O’Mearas dominierte. Das ist kein Zufall. Seit die CowtownSpekulation aufgehört hatte, ein gefährliches Abenteuer zu sein, und zu einer langweiligen Geschäftssache zusammengeschrumpft war, erlahmte Horaces Interesse. Vergessen wir nicht, daß dieser Mann mit den Yankee-Beutemachern nichts gemein hatte! Das Gift in seinem Blute hieß Abenteuer. Vermischt mit gewissen leichtsinnigen 268
Seiten eines nicht gerade festen Charakters, zeugte es oft Verbrechen. Ja, Horace hatte manchmal seine Seele befleckt, doch nie hatte er habgierig nach Reichtum getrachtet. Als von dem Cowtown-Unternehmen die letzten glänzenden Schuppen der Erregung abfielen, trat der Spieler leichten Herzens die Leitung der Finanzangelegenheiten an O’Meara ab. Ihm genügte es, wenn er soviel Geld hatte, um sich elegant kleiden, die teuersten Zigarren rauchen und sich aus dem Osten die besten Jahrgänge Portwein bestellen zu können. Übrigens verhielten sich ihm gegenüber alle mit dem nötigen Respekt, denn sie kannten sowohl seine Stellung in New Cowtown als auch seinen Begleiter mit dem schmalen Gesicht. In der Tat wirkte dieses ungleichmäßige Paar nicht übermäßig jovial. Der eine in einem vollendet genähten Tuxed, einen Brillanten in den Taft der Plastronkrawatte gebohrt, einen seidenen Zylinder auf der tadellosen Frisur, der andere nachlässig gekleidet, mit staubigen Stiefeln, einem zerdrückten Stetson und einem mit Elfenbein ausgelegten Colt, der drohend aus dem mexikanischen Gürtel hervorragte. Wenn Horace am Abend durch die Spielsäle und die Bars ging, gefolgt von seinem wolfsköpfigen Schatten, erwiderte er höflich die ehrerbietigen Grüße und fing auch eine Menge Blicke auf, von denen einige die Anwesenheit seiner Leibwache rechtfertigten. Ja, er war geachtet und gehaßt. Geschminkte
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Frauen gaben ihm sehr beredt ihr ungeschminktes Interesse zu verstehen, aber er verschmähte sie. Und damit sind wir am Kern der Sache. Jetzt kann ich verraten, warum Horace aufhörte, sich für Cowtown zu interessieren, und warum er doch in Cowtown blieb. Sicherlich erinnert sich der Leser noch des gewaltigen Eindrucks, den schon bei der ersten Begegnung Miss Winnifred Breakenridge auf ihn gemacht hatte. Nun, seit diesem Augenblick wurde ihm immer aufs neue klar, daß er etwas wirklich Besonderes erlebte. Denn obwohl er ein reifer Mann war, hatte er bisher die Liebe nicht kennengelernt, abgesehen von jener schwärmerischen Entflammung seiner Kinderjahre, deren Gestalt jedoch der Finger der Zeit verwischt hatte. Sein Leben verlief dann in einer Art von Abenteuerfieber, das sein Herz mit einer trockenen Rinde umgab. Er lernte nicht die Liebe kennen, nur die Kraft der Begierde. Nun aber empfand dieser kühle leidenschaftliche Mann etwas ganz Neues und wurde sich zugleich mit Schrecken dessen bewußt, daß eine unbekannte Flamme die Platten unberührbarer Gleichgültigkeit schmolz, mit denen er sich bisher gegen alle unerwünschten Seelenregungen gepanzert hatte. Am meisten entflammte ihn jedoch Miss Winnifreds Kälte. Einige Male hatte er beim Wohltätigkeitsbasar mit ihr getanzt, aber sie hatte seine Kavaliersaufmerksamkeiten abgelehnt, denn sie dachte nur an Joe. 270
Darüber hinaus wurde sie noch von ihrem Vater beeinflußt, der gegenüber dem usurpatorischen Duumvirat Greenwood–O’Meara einen sehr reservierten Standpunkt einnahm. Übrigens äußerte er ihn weniger reserviert in Leitartikeln der »Cowtown Fanfare«, doch davon später. Horace fühlte, wie sich seiner Verzweiflung bemächtigte. Erst wollte er sein Unglück vergessen, aber er fand nichts, womit er eine solche Aktion des Vergessens unterstützen konnte. Wie bereits gesagt, hatten die CowtownParzellen aufgehört, ihn zu interessieren. Die bunten Scharen, das Spiel, die Schießereien, all das, um dessentwillen er den Westen so sehr liebte, hatte für ihn seine Anziehungskraft verloren. Einmal erfuhr er vom Engagement der Französischen Lola in Tombstone. Da erinnerte er sich daran, daß er eigentlich allen seinen jetzigen Reichtum diesem gutmütigen Mädchen zu verdanken habe. Er schrieb ihr also einen sehr herzlich gehaltenen Brief, in dem er sie zu einer Reihe gut honorierter Auftritte im »Elysium« einlud. Doch da kam ein Tag, da er meinte, seine Hoffnungen seien nicht vergeblich. Miss Breakenridge züchtete Kaninchen, und Horace wußte das. An einem angenehmen Nachmittag fuhr er mit einer eleganten zweirädrigen Kalesche zum Tor von Winnifreds Garten, zwischen dessen Beeten sich das geliebte Mädchen zu schaffen machte und Blumen goß. Horace steckte die 271
Peitsche in den Messingring, sprang behend ab und trat ans Tor. Auf dem Kopf trug er einen herrlichen Panamahut und im Arm einen großen Topf Melasse für die »reizenden Langohren«, wie er ihre Kaninchen zu nennen pflegte. Ob er eintreten dürfe? Diesmal war Miss Winnifred von dem persönlichen Geschenk wirklich bezaubert, denn sie empfand für ihre langohrigen Lieblinge herzliche Zuneigung. Deshalb überwand sie ihren Abscheu und gestattete dem Spieler einzutreten, ja sie empfing mit reizvollem Erröten und flammendem Blick die Melasse aus seinen Händen. Der arme Horace ahnte nicht, daß der erwähnte Blick dem großen Topf galt, und eignete sich ihn mit der Einfalt eines hoffnungslos Verliebten ohne Zögern an. Er sprach über dies und jenes und verwandte dabei keinen Blick von Winnifred. Die Hitze seiner Leidenschaft wuchs von Minute zu Minute. Um seine Unruhe zu verbergen, bat er das Mädchen um Erlaubnis, rauchen zu dürfen. Er erhielt sie und zündete sich seine geliebte YuclanCorona an. Aber der aromatische Rauch verjagte nicht den Teufel der Versuchung. Plötzlich richtete sich Horace auf und warf energisch die Zigarre weg. Genug des Zögerns! Es galt, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Das Mädchen schritt jetzt vor ihm, ohne zu ahnen, was sich hinter ihrem Rücken vorbereitete. Schon zog der entschlossene Kartenspieler rasch seine weißen 272
Antilopenhandschuhe aus, um besser die Berührung des vergötterten Nackens auskosten zu können – dieser Lüstling! –, umschlang heftig die Schultern des Mädchens und drückte seine heißen Lippen dorthin, wo zwischen der Spitze des Kragens und einer duftigen Locke ein unvergleichlich zarter Hals schimmerte. Der Autor legt die Feder beiseite. Die so ausführlich im vorigen Kapitel beschriebene Fata Morgana hat dem Leser bereits den Schluß dieses Kapitels souffliert, während das kommende Kapitel schildern wird, wie … Aber was für ein Wie! Warte, Leser, kommt Zeit, kommt Rat!
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Ein Kapitel über Klapperschlangen Etwa vierzehn Tage nach Limonaden-Joes Ankunft in Cowtown trafen sich in O’Mearas Büro der Bank Greenwood – O’Meara & Syringo einige Herren, deren Namen man fast durchweg auf dem Firmenschild des eben erwähnten Unternehmens lesen konnte. Alle schwiegen. Horace Greenwood ging unruhig im Raum auf und ab und drehte in seinen nervösen Fingern ein Glas Sherry. O’Meara, in einem tiefen Sessel sitzend, die Hände in den Taschen, streckte seine robusten Beine weit von sich und blickte mit düsterer Miene auf ein Halbliterglas voll Bier. Dessen feuchter Boden hinterließ Ringe auf den Schriftstücken, die in schrecklicher Unordnung den ganzen Tisch bedeckten. Auch vor Syringo stand ein Glas, das jedoch nur mit Mineralwasser gefüllt war. Die eingefallenen Äuglein des Bankiers zwinkerten verzweifelt hinter den dicken elliptischen Gläsern der altmodischen Brille und sandten ergreifend ratlose Blicke auf die beiden Gesellschafter. In der Tat, in diesem Falle vermochte selbst die genialste Finanzmachination nicht zu helfen. Zwischen den Fenstern hing ein großer Farbdruck, der eine der vornehmsten Szenen aus dem Befreiungskrieg darstellte. Mister O’Meara hoffte nämlich, durch eine derartige 274
Ausschmückung den patriotischen Charakter seiner Geschäfte zu unterstreichen. General Lafayette blickte darauf ganz weltmännisch drein, während George Washington mit düsterem, verbissenem Ausdruck auf die seines Vermächtnisses unwürdigen Erben herabschaute. Dieser unfreundliche Blick galt vor allem dem vierten Teilnehmer der Besprechung, Professor Dara Shikoh, der unserem dreiblättrigen Kleeblatt nun als unschätzbares Faktotum diente. Es hatte jedoch nicht den Anschein, als störte den Zauberkünstler irgendwie die nicht gerade hohe Meinung Washingtons von seiner Person. Hämisch lächelnd, die Arme auf den Tisch gelümmelt, rauchte er eine miserable Zigarre und weidete sich voll Entzücken an der Bestürzung, die seine Nachricht bei den Anwesenden ausgelöst hatte. Der erste, der das Schweigen brach, war O’Meara. Er löste seine Augen von dem Halbliterglas und wandte sich Dara Shikoh zu. »Nun gut, was Sie uns jetzt gesagt haben, ist nach Horaces Ansicht ein verdammt starker Brocken. Trotzdem haben Sie nichts Genaues mitgeteilt. Sie müssen uns also recht detailliert berichten, wie und wann Sie ihn gesehen haben.« Der Magier qualmte mächtig im Bewußtsein seiner Wichtigkeit und unterrichtete dann die Herren über die näheren Umstände seiner sensationellen Enthüllung. Etwa vor einer Woche habe er in Hoskins Schanklokal die Worte »ColaCoca-Limonade« vernommen. Natürlich habe er sich sofort umgedreht und dabei Miss 275
Breakenridge erblickt, die zwei Flaschen dieses Getränkes in ihren Korb legte. Das sei ihm an mehreren Abenden passiert. »Schließlich habe ich die Richtung ihrer Schritte erkundet, und bei einem Blick durch das Kristallprisma sah ich …« »Sie wollen sagen, daß Sie Miss Breakenridge nachspioniert und dann durch das Fenster geschaut haben«, bemerkte O’Meara, der die hellseherische Ausdrucksweise des Magiers in die geläufige Umgangssprache übersetzte. Mister Dara Shikoh hatte wirklich durchs Fenster geschaut und im Lehnstuhl den blassen Joe sitzen sehen, der eben »Die letzten Tage von Pompeji« las. Winnifred küßte den genesenden Pistolenschützen auf die Stirn und reichte ihm mit einem Lächeln, dessen nur ein verliebtes Mädchen fähig ist, ein Glas Cola-Coca-Limonade, nach dessen Konsumierung die Blässe im Gesicht des Rekonvaleszenten ein wenig nachließ. Diese untergeordneten Details – Lehnstuhl, bleiches Gesicht, »Die letzten Tage von Pompeji« – änderten jedoch nichts an der Tatsache, daß sich Joe, der Rächer, in Cowtown aufhielt. Das erschütterte vor allem Horace, der freilich die triftigsten Gründe hatte, Limonaden-Joe zu fürchten. Er hatte alles so gut durchdacht. Er war es gewesen, der damals in der Nacht vor der Station sein Bekenntnis angehört hatte. Und wieder war er es gewesen, der Holliday den Brief geschrieben hatte. Joe war freilich der Inhalt dieses Briefes nicht bekannt; er wußte nicht, daß in diesen rasch hingeschmierten Zeilen sein 276
Todesurteil enthalten war. Unter Berufung auf wertvolle Dienste, der er Doc vor Jahren erwiesen habe, bat Horace den Totschläger, den Überbringer dieses Briefes so bald und so sicher wie möglich zu beseitigen. Natürlich ahnte er nicht, daß die Anschläge Locken-Bills der ganzen Sache eine völlig neue, unerwartete Richtung geben würden. Er vermutete nicht, daß Joe plötzlich Holliday das Leben retten und dieser, von Gefühlen der Dankbarkeit ergriffen, unserem Helden eine beinahe mütterliche Fürsorge angedeihen lassen würde. Nein, er ahnte nichts Derartiges und konnte es auch nicht ahnen. Auf O’Meara und Syringo machte die Enthüllung Dara Shikohs anfänglich nur geringen Eindruck. Aber der Spieler erklärte ihnen bald sehr verständlich, daß die Ankunft Limonaden-Joes ihren Machinationen rasch ein Ende bereiten werde. Da wurden sie ungemein ernst und nahmen die oben beschriebenen traurigen Posen ein. Nach dem Rapport des Magiers herrschte wieder Stille, die nur vom Knarren der Schuhe Horaces sabotiert wurde. Greenwood ging noch immer im Raum auf und ab und drehte das Glas mechanisch in den Händen. Schließlich stellte er es auf eine Tischecke und wandte sich seinen Gesellschaftern zu, die Lippen kühl lächelnd gekräuselt: »Ja, meine Herren, damit können Sie rechnen. Wenn Sie diesen Kerl nicht schnellstens aus dem Wege räumen, haben die Klapperschlangen gewonnenes Spiel!« 277
Es interessiert uns gar nicht mehr, wie die beiden Kumpane schließlich die Sache betrachteten. Hier ist nämlich ein neues Wort gefallen: »Klapperschlangen«. Natürlich wissen wir, daß man darunter gefährliche Reptilien versteht. Hier aber hat das Wort einen neuen Inhalt bekommen, der gründlich erläutert werden muß. Tun wir das! Vor allem müssen wir wieder zu Mister Breakenridge zurückkehren. Der Leser hat vielleicht gedacht, diese alte ehrliche Haut würde hier keine übermäßig bedeutende Rolle spielen. Das wäre auch nicht der Fall gewesen, wenn nach Cowtown nicht die Eisenbahn gekommen wäre und im Zusammenhang damit unsre guten Freunde Greenwood und O’Meara. Armer Zacharias! Wie hatte ihn Cowtown enttäuscht! Nein, dieses staubige Nest, das inmitten der endlosen langweiligen Plains schlummerte, hatte nichts gemein mit einem »idyllischen Städtchen, ausgebreitet auf dem duftigen, blütenreichen Teppich der Savanne, wo in weichen Gräsern Gazellen wohnen und durch die Mondnacht das Liebeslied der Präriehunde erklingt«. Mit diesen Worten hatte nämlich Mister Brigham Young Pickaxe, der frühere Chefredakteur der »Cowtown Fanfare«, in seinen Briefen die Stadt geschildert. Trotzdem verzweifelte Zacharias Breakenridge nicht. Vielleicht, um die unerfreuliche Umgebung 278
zu vergessen, begann er mit Feuereifer, die »Cowtown Fanfare« zu reformieren, weil ihm ihre Stimme recht schwach vorkam. Die erste derartige revolutionäre Tat war die Einführung einer Gesellschaftsrubrik, ganz nach bewährtem östlichem Muster. Solange Mister Pickaxe die »Cowtown Fanfare« redigiert hatte, konnte man beispielsweise folgende Nachricht lesen: Bei Mister Tom Cudihee (Gossip Street 21) erkrankte am vergangenen Sonnabend die Kuh Margie an Blähungen. Die erfolgreiche erleichternde Operation führte Mister Ezra Click durch, der mit seinen Eingriffen unseren Landwirten schon manches Stück Nutzvieh erhalten hat … Nein, Notizen dieser Art fanden in der Gesellschaftsrubrik von Mister Breakenridge keine Aufnahme. Hier erfuhr der Leser beispielsweise folgendes: In diesen Tagen weilt bei Mister Donald Cobb (Merill Avenue 15) Missis Rachel Redborn, die Gattin des Friedensrichters aus Eureka Springs, zu Besuch. Missis Redborn, eine Stiefschwester von Mister Cobb, hat die Küche ihrer Schwägerin, Missis Margareth Cobb, durch ein Rezept für Eibischsalat bereichert. Dieses Rezept wurde bei der turnusmäßigen Sonnabendzusammenkunft 279
des Frauenbildungsvereins sofort erprobt. Die anwesenden Damen waren einstimmig der Meinung, daß das Rezept von Missis Redborn ein wertvoller Beitrag für die Kochbücher unserer Hausfrauen sei. Der Unterschied zwischen den beiden Meldungen ist zu augenfällig, als daß wir ihre Schattierungen zu untersuchen brauchten. Wir konstatieren, daß dank der stilistischen Fertigkeit von Winnifreds Vater die Einwohner von Cowtown bald eine sehr hohe Meinung vom Niveau ihres gesellschaftlichen Lebens gewannen. Das ist durchaus begreiflich, denn selbst die sensationellsten Artikel über die an Blähungen leidenden Kühe von Mister Cudihee hatten ihr Selbstbewußtsein nicht allzu sehr zu heben vermocht. Somit ist es kein Wunder, daß Mister Breakenridge bald eine geachtete und beliebte Persönlichkeit wurde, ebenso wie Miss Winnifred, die von den Damen von Cowtown mit Einladungen zu allen möglichen Kränzchen und Zirkeln überschüttet wurde, wo man sie dann mit zahllosen Bekundungen schmeichelnder Aufmerksamkeit bedachte, in der Hoffnung, auf diese Weise das entsprechende Referat günstig beeinflussen zu können. Ja, alles entwickelte sich erfreulich. Da begann der Run … Es stimmt, daß Mister Zacharias Breakenridge damals trotz seiner langjährigen journalistischen Praxis zunächst von Ratlosigkeit und Verwirrung 280
übermannt wurde. In dieser Hinsicht konnte er wirklich auf keinerlei Erfahrungen zurückgreifen. Die Straßen des alten Cowtown blieben zwar bestehen, in ihren Häusern lebten auch weiterhin die gleichen Menschen, aber in Wirklichkeit stieß der schreckliche Wirbel des Runs all das in das Grab der Vergangenheit, einer für alle Zeiten toten Vergangenheit. Breakenridge erkannte jedoch bald, daß er, wenn er mit den neuen Verhältnissen Schritt halten wollte, die »Cowtown Fanfare« von Grund auf umgestalten mußte, selbst wenn er dadurch den Stamm seines alten Leserpublikums verlöre, auf das er übrigens keine Rücksicht nehmen konnte. Neue Erkenntnisse hätte er sicherlich sehr mühsam und in langer Zeit erwerben müssen, und bevor er sie dann hätte praktisch anwenden können, wäre er wahrscheinlich schon von der Konkurrenz überholt worden, mit deren Ankunft er ja unbedingt rechnen mußte. In diesen trüben Tagen schickte ihm Gott einen guten Engel, dessen Aussehen sich freilich von der üblichen Vorstellung einer Engelserscheinung ein wenig unterschied. Schon der Name dieses Cherubs klang sehr irdisch: Fuzzy Tree. Auch seine ganze Erscheinung war tief im materiellsten irdischen Leben verwurzelt. Aber das störte schließlich nicht, denn die himmlischen Geister nehmen oft die sonderbarste Gestalt an. Der Engel Fuzzy, der auf allen möglichen Gebieten gepfuscht hatte, kannte sich auch ein wenig im Zeitungssatz aus. Er hatte den ganzen 281
Westen kreuz und quer durchstreift und wußte, wie man eine Zeitung inmitten des Knallens von Schüssen und des Blökens tausendköpfiger Herden machen muß. Seine letzte Station war die großartig redigierte Zeitung »Tombstone Nugget« gewesen. Er selber hatte eine ganze Reihe bemerkenswerter Eigenschaften aufzuweisen, von denen nur eine genannt sei: er schielte teuflisch. Nur ein ganz hartgesottener Mann hielt es aus, ihm in die Augen zu schauen, ohne daß er selbst nach wenigen Augenblicken einen Schwindelanfall erlitt oder selbst zu schielen begann. Mit Hilfe von Fuzzy segelte Mister Breakenridge also rasch in die neuen Verhältnisse. Nun füllten die Spalten der »Cowtown Fanfare« melodramatische Schilderungen der Schießereien. Mister Breakenridge registrierte genau die Zahl der Toten und der Verwundeten. Witzig glossierte er die Ankunft bedeutenderer Totschläger und begleitete ihre Leichen mit drastischen Nekrologen auf dem »Friedhof der Beschuhten«. Mit Leichtigkeit eignete er sich den Stil an, der für die Journalistik des Grenzgebietes so typisch war, einen Stil, hart wie ein Dreschflegel und stark wie Branntwein. Aus den Seiten seiner Zeitung konnte man jetzt seidelweise Blut pressen, aber auch bis an den Rand gefüllte Eimer voll Humor schöpfen. Arme Winnifred! Obwohl sie sich über den Erfolg ihres Vaters freute, dachte sie doch voll geheimer Wehmut an jene schönen Zeiten, als die »Cowtown Fanfare« noch der ganzen Stadt den
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Ruhm eines Eibischsalats und des Frauenbildungsvereins verkündete. Die Stilkunst Mister Breakenridges erstrahlte in den leuchtendsten Farben bei einer Nachricht über eine Schießerei vor dem Büro von Wells Fargo, die dem Ruhm und dem Leben Clem Wolfsgesichts ein Ende setzte. Platzmangel hindert uns leider daran, den erwähnten Artikel wörtlich zu zitieren. Trotzdem sehen wir uns genötigt, die Gründe und den Verlauf jenes Kampfes zu skizzieren, weil hierbei eine wichtige Gestalt die Szene betritt. Nun denn: Einer der engsten Freunde Clems war ein gewisser Steve Duesha, ein Vetter jenes Charley Duesha, der sich später im Farmerkrieg so traurigen Ruhm erwarb. Eines schönen Nachmittags hielt Steve in Tremblays Spielzelt eine sehr hohe Bank. Da kam ein Fremder, das Kinn mit einem ungemein dichten hellen Vollbart bewachsen, hinter dem fast das ganze Gesicht verschwand. Er begann zu spielen, und weil ihm an diesem Tage das Glück wie ein treuer Hund zu Füßen kauerte, legte er nach kurzer Zeit Duesha mit geleerten Taschen aufs Kreuz. Der arme Steve konnte keinen Kredit mehr beschaffen, und so ging er lieber fort, wobei er ein recht unwilliges Gesicht machte. Etwa eine Stunde später trafen sich die beiden – der glückliche Gewinner und der unglückliche Bankhalter – vor dem Büro von Wells Fargo. Duesha, der von Clem Wolfsgesicht begleitet 283
wurde, überschüttete den Fremden mit Beschimpfungen und bezichtigte ihn des Falschspiels. Steves Rede bot dem bärtigen Mann gut ein Dutzend Gründe, den Colt zu ziehen. Er bewies jedoch eine ungemein friedliche Denkungsart und begnügte sich mit einem sauberen Haken, mit dem er Duesha wie einen Baseball gegen die Wand des Büros schleuderte. Dabei zeigte er eine ungewöhnliche Geistesgegenwart; denn während er mit einem Auge noch den davonfliegenden Ehrabschneider verfolgte, blinzelte er mit dem andern bereits nach Clems rechter Hand, die blitzschnell zum Gürtel niederfuhr und den Schaft des Colts berührte. Da machte der Arm des Fremden die gleiche Bewegung, lediglich mit dem Unterschied, daß er sich nicht lange mit dem Herausziehen der Pistolen aufhielt, sondern unmittelbar aus der Tasche feuerte, die im übrigen für derartige Stückchen präpariert war. Im Anschluß daran gab er noch zwei Schüsse ab, aber wie sich später zeigte, hatte schon der erste vollauf genügt, aus Clem einen toten Mann zu machen. Alles ereignete sich so rasch, daß – wenn wir Mister Breakenridge zitieren wollen – »Mister Dick Eagle nicht einmal Zeit hatte, sich hinter einem Wassertrog in Sicherheit zu bringen, sondern, ganz gegen seine Gewohnheit, auf dem Kampfplatz blieb«. Diese Bemerkung entbehrte nicht eines boshaften Beigeschmacks, denn Mister Dick Eagle versah die Stelle des Stadtmarschalls, und somit 284
wirkte es bestimmt nicht gut, wenn er gerade in jenen Augenblicken, in denen er heldenhaft in den Kugelregen treten und den Kampf verhindern sollte, seinen Kopf hinter einen Trog steckte. Als Greenwood und O’Meara vom Tode ihres Leibwächters sowie von der Schußfertigkeit des bärtigen Fremden erfuhren, suchten sie ihn sofort auf und gewannen ihn nach einer kurzen Unterredung gegen entsprechende Bezahlung dafür, den verwaisten Platz Clems einzunehmen. Horace kam der bärtige Mann immer irgendwie bekannt vor, nicht so sehr durch seine Gesamterscheinung als vielmehr durch Blick und Stimme. Trotzdem gelang es ihm nicht, sein widerspenstiges Gedächtnis zum Gehorsam zu zwingen. Von dem Unbekannten erfuhr er nichts. Der hatte offensichtlich gute Gründe, nicht von seiner Vergangenheit zu reden. Er sagte lediglich, er heiße Ted Grimpers, aber das war sicherlich ein erdachter Name. Alle ohne Ausnahme respektierten ihn jedoch und bildeten sich aus seinem erdachten Familiennamen einen Spitznamen; sie nannten ihn Grimpo. Doch wir sind noch immer nicht zu den Klapperschlangen gekommen. Bitte, nur noch ein wenig Geduld! Gleich werden sie auftauchen. Mister Zacharias Breakenridge war das Muster eines felsenfesten Charakters. Übrigens dürfte wohl keiner der Leser daran auch nur einen Augenblick zweifeln. Er erwies sich ja immer als ein ehrlicher Mann von echtem Schrot und Korn. 285
Deshalb erkannte er, als er Greenwoods und O’Mearas Grundstücksschwindel durchschaute, mit aller Deutlichkeit, daß es seine Pflicht sei – das heißt die Pflicht eines unbestechlichen Journalisten –, diese Gaunerei rücksichtslos anzuprangern. Klugerweise sagte er sich jedoch: Vorsicht ist nie fehl am Platze, weshalb er in einem seiner Leitartikel die Fühler nur ganz wenig ausstreckte und nur zwischen den Zeilen andeutete, daß er ebenso wie alle ehrlichen Einwohner von Cowtown wisse, wie man O’Mearas Transaktionen zu bezeichnen und was man von Mister O’Meara selbst zu halten habe. Schon hierbei sieht man, daß Horace, der eigentliche Urheber der ganzen Aktion, völlig in den Hintergrund getreten war. Nun, Shamus O’Meara wußte die dezent verhüllte Form des Angriffs zu schätzen und arrangierte daher seine Drohung auf nicht minder dezente Weise. Eines Nachts entbrannte vor der Redaktion der »Cowtown Fanfare« eine sehr lebhafte Pistolen-Diskussion. Tatsächlich, es wurden weit mehr Schüsse abgegeben, als es sonst bei ähnlichen Gelegenheiten üblich ist. Und doch zeigte es sich, als die Pistolen verstummten, daß trotz des wütenden Kreuzfeuers kein Tropfen Blut vergossen worden war, daß jedoch die Fassade und zum Teil auch die Einrichtung von Breakenridges Pressezitadelle beträchtlichen Schaden genommen hatten. Am nächsten Morgen besuchte O’Meara wie zufällig den zitternden Zacharias. Er ließ seinen herrlichen Baß ertönen und bedauerte den 286
Journalisten mit herzlichen Worten, blickte ihm dabei bedeutungsvoll in die Augen und meinte, eine derartige Verdrießlichkeit brauche sich nicht ein zweites Mal zu wiederholen. Mister Breakenridge verstand, und er verstand auch, daß er zunächst gegenüber einem so mächtigen Gegner nicht die geringsten Chancen hatte. Deshalb wartete er, wartete geduldig auf den Tag, an dem er, verstärkt durch mächtige Anhänger, deren Namen er freilich noch nicht kannte, mit der »Fanfare« das Signal geben werde, das die Ära von O’Mearas Hegemonie beenden würde. Es dauerte in der Tat sehr lange, bevor die reißende Strömung des Runs die scheinbar unerschütterlichen Grundfesten des Triumvirats Greenwood, O’Meara und Syringo abzubröckeln vermochte. Nach Cowtown ergossen sich nämlich ständig neue Scharen, und O’Meara konnte keine Parzellen mehr vermieten, weil er einfach keine mehr besaß; er hatte nicht mit einer derartigen Menge gerechnet. Und da kauften zahlreiche Zuwanderer Boden von jenen Einwohnern des alten Cowtown, die sich seinerzeit weder für die lockenden Angebote von »Oberst« O’Meara noch für seine Erdbeerplantagen interessiert hatten. So entwickelte sich hier bald eine Gruppe von Ansiedlern, die von den beiden Usurpatoren völlig unabhängig waren. Viele von ihnen gehörten zu jener Art Menschen, wie sie Mister Breakenridge bei seinen 287
sauberen Bemühungen brauchte. Nach Cowtown kamen ja nicht nur Desperados, Spieler und Vageurs, die am besten in den trüben Gewässern gesetzloser Städte fischten. Nein, hier faßten auch ehrliche, charaktervolle Menschen Fuß, friedliche Gewerbetreibende, Handwerker und bedächtige Kaufleute. Das waren die wahren Zivilisatoren; zwar nicht immer mit vollem Bewußtsein, aber ausnahmslos voll Verlangen nach Ruhe und Ordnung, die sie zur Entfaltung ihrer Gewerbe notwendig brauchten. Ihnen konnte es freilich keineswegs gefallen, wenn ihnen betrunkene Cowboys jeden zweiten Tag Schaufenster und andere Fensterscheiben zerschossen. Bald überzeugten sie sich davon, daß es gerade die ungekrönten Herrscher von Cowtown, O’Meara und Greenwood, waren, die schlauerweise diesen blutigen Mummenschanz von Gewalt und Verbrechen entfesselten und aus dem unübersichtlichen Tumult Gewinn zogen, denn unter solchen Verhältnissen verdienten sie am meisten, und nur bei solchen Wirrnissen konnten sie ihre souveräne Stellung bewahren. Sie bestachen den Sheriff, bestachen die Marschälle, bestachen die Richter, bestachen jedermann. In Dodge hatte die starke Hand des Gesetzes schließlich selbst die wütendsten Radaubrüder gezwungen, beim Betreten der Stadt ihre Waffen diszipliniert in Wrights Laden abzulegen. Männer vom Schlage eines Masterson und eines Daniel kümmerten sich darum. Nicht so in Cowtown. Hier konnten die Männer aus Texas alle Besucher eines 288
Tanzlokals ermorden – sofern es nicht Greenwood und Genossen gehörte –, ohne daß sie jemand zur Verantwortung zog. Die Freiheit der Gewalt konnte freilich ein zweischneidiges Schwert sein, das schließlich auch jene bedrohte, die es geschmiedet hatten. Deshalb unterhielten Greenwood und O’Meara eine ganze Kohorte von Totschlägern, die über die Sicherheit ihrer Firma wachten. An ihrer Spitze standen Grimpo und Heck Handamschaft. Wie wir bereits mehrmals wiederholt haben, hielt sich Horace von all dieser Jagd nach Geld und Macht fern, einer Jagd, die O’Mearas und Syringos Kräfte derart erschöpfte. Einerseits nahm ihm die unglückliche Leidenschaft für Winnifred das Interesse an derart schmutzigen Geschäften, andererseits entsprach ihm das angenehme und müßiggängerische Leben in einem Milieu, mit dem er unlösbar verwachsen war. Eine so vollendet aristokratische Erscheinung und das kavaliersmäßige Auftreten, durch das er fast jeden gewann, imponierten auch jenen Frauen, die vor den Spielern, den Bars und dem unordentlichen Leben Abscheu empfanden. Ihre Ehemänner, ordentliche Geschäftsleute mit ehrlichen Gesichtern, haßten diesen eleganten Taugenichts, und doch konnte kaum einer ablehnen, wenn ihm Horace mit bezaubernder Geste eine teure Zigarre anbot. »Er ist eben doch ein Gentleman«, sagten die Damen und setzten es schließlich durch, daß er zu all jenen Kuchenabenden, Wohltätigkeitsbasaren und Tanzunterhaltungen 289
eingeladen wurde. Da bewährte er sich als großartiger Gesellschafter, der die Anwesenden durch ein launisches illusionistisches Programm erheiterte. Unter stürmischem Lachen zog er aus der Brusttasche von Mister B. R. Watkins, Möbellager en gros, ein Damenstrumpfband und verwandelte den Schuh von Miss Winnifred Breakenridge in eine weiße Taube. Noch schwieg Zacharias Breakenridge – in seiner Zeitung, versteht sich. Umsichtigen Auges prüfte er jedoch die wachsende Anzahl jener, die sich nach einem geordneten und zivilisierten Cowtown sehnten. Er sprach mit fast allen Neuansiedlern und wußte daher, wen er für seine Sache in Betracht ziehen konnte. Er wartete nur, bis deren Entschlossenheit so weit angewachsen sei, daß er das Signal zum reinigenden Kampf blasen könne. Nur eines bereitete ihm Sorgen: Unter jenen, auf die er sich zu stützen hoffte, fand er keinen einzigen, den man als eine Führerpersönlichkeit ansprechen konnte. Keiner von jenen Kleinbürgern besaß hierfür den nötigen Mut und die erforderliche Kaltblütigkeit. Er selbst fühlte sich physisch einer solchen Aufgabe nicht genügend gewachsen, und dann wollte er nur der Fahnenträger, der Fanfarenbläser der ganzen Bewegung sein. Da kam Joe. Mit einem Schlage war alles klar. Unsicherheit und Zweifel verschwanden, denn der Führer war gefunden. Und so erschien etwa eine Woche nach seiner Ankunft in der »Cowtown Fanfare« ein Leitartikel, 290
den die Historiker von Cowtown als den Beginn einer neuen Epoche ansehen. Die Überschrift lautete: »Seid Klapperschlangen, wenn das erforderlich ist!« Diesmal ließ sich Mister Breakenridge Schlagkraft und angemessene Einfachheit des Stils besonders angelegen sein. Das Ganze erinnerte an eine kirchliche Predigt oder an eine Wahlrede Theodore Roosevelts, stand etwa in der Mitte zwischen beidem. Der Inhalt war annähernd folgender: Eine Klapperschlange ist ein ekelerregendes Reptil, das von der ganzen Schöpfung gehaßt wird. Mit ihrem Namen belegen die Leute aus dem Grenzgebiet böse Pistolenschützen. Und doch, wenn das Böse so mächtig wird, daß es nur durch Schlangengift überwunden werden kann, dürfen wir uns nicht fürchten, selbst Klapperschlangen zu sein. In Cowtown haben sich schreckliche Ungeheuer eingenistet: Gewalt, Verbrechen, Laster, Mißstände, die nur das stärkste Schlangengift besiegen kann. Nun, jeder, dem an ihrer Vernichtung liegt, jawohl, jeder möge die schreckliche Gestalt einer Klapperschlange annehmen und die Ungeheuer rasch und unbarmherzig bekämpfen! Keiner war genannt, und trotzdem verstand O’Meara sofort. Sein rotwangiges biederes Gesicht wurde plötzlich hart, und eine Sorgenfalte furchte seine Stirn, denn Shamus O’Meara, Spieler und Abenteurer, unterschätzte die Klapperschlangen keineswegs.
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Deshalb traf er noch am selben Nachmittag mit Greenwood und Syringo in seinem Büro zusammen, um mit ihnen eingehend alle Möglichkeiten zu erörtern, wie man auf leichteste und zugleich unauffälligste Art diese erwachende Bewegung zerschlagen könne. Eines nämlich wußte er mit Sicherheit: Diesen Aufstand des Guten mußte man bereits im Keim ersticken. Und dann: Der vorwitzige Journalist mußte für seine Perfidität bestraft werden, und zwar exemplarisch. Niemandem dürfe es mehr einfallen, in Cowtown eine Ordnung anderer Art einführen zu wollen als jene, die den Herren Greenwood, O’Meara und Syringo gefiel. Horace befand sich in peinlicher Verlegenheit. Nicht, daß er sich einer gewaltsamen Lösung widersetzt hätte, aber das Opfer des geplanten Verbrechens sollte der Vater jenes Mädchens sein, in das er um so hoffnungsloser verliebt war, je erbitterter er abgewiesen wurde. Doch Dara Shikohs Neuigkeit von Joes Ankunft enthob ihn dieser Sorge, denn damit trat Zacharias Breakenridge augenblicklich in den Hintergrund. Nun saßen also alle wie traurige Fossilien in O’Mearas Büro, unfähig eines zusammenhängenden Gedankens. Eine Fliege summte melancholisch und flog durch einen Strahl von Sonnenlicht, der durch das staubige Fenster auf den Fußboden fiel. Schließlich erhob sich O’Meara und trat mit einigen wiegenden Schritten zum Panzerschrank. Nachdem er das komplizierte Schloß geöffnet 292
hatte, tauchte er seinen Arm bis zum Ellbogen in eines der Fächer und holte von dort eine Flasche französischen Kognaks heraus. Er goß sich ein Glas ein und nahm einen kleinen Schluck. Dann hielt er die Spitze seiner brennenden Zigarre in die kostbare alkoholische Flüssigkeit, wartete, bis der Tabak genügend von dem edlen Aroma durchdrungen war, und begann schließlich, seine Zigarre mit großem Genuß zu Ende zu rauchen. Dieser wonnevolle Zug machte seinen Kopf wieder klar. Er nahm neuerlich in seinem Sessel die gewöhnliche Pose ein, legte seine Beine auf die Hypothekenpfandbriefe und sagte: »Du hast recht, Horace. Limonaden-Joe muß beseitigt werden, und zwar sofort! Dieser Abstinenzler bedeutet eine zu hohe Karte im Spiel der Klapperschlangen, und wir haben leider keine Figur in der Hand, die ein solches As übertrumpfen könnte!« »Ich werde es übertrumpfen!« Alle drehten sich um. Syringo derart rasch und so nervös, daß er sein Glas Mineralwasser umwarf. Die Tür stand sperrangelweit offen. In diesem schwarzen Rechteck stand ein dunkelhaariges Mädchen mit üppigen Formen und dramatischen Blicken. Miss Tornado-Lou war nach Cowtown gekommen. Eine sorgfältige Hand scheuerte den Fußboden, daß es eine Freude war. Deshalb mußte man sich 293
über den Sonnenstrahl wundern, daß er so mißmutig über die sauberen Dielen glitt. Wie es schien, vermochte er das weit besser auf der mit Tapeten beklebten Wand, die er verhältnismäßig bald bezwang, bis er mit Befriedigung auf einem Farbdruck ausruhte, der einen tödlich verwundeten Indianer darstellte. Dieser stieß mit der Hand am Mund den letzten Schlachtruf aus, während der siegreiche Weiße, in den Steigbügeln stehend, gespannt die letzten Augenblicke seines Erbfeindes verfolgte. Joe, der sich hier schon eine Reihe von Tagen in der Umarmung eines achtunggebietenden Lehnstuhls erholte, begrub endgültig Bulwers »Pompeji« unter der Lava des Vesuvs. Er klappte das Buch zu, streckte leicht seine Rekonvaleszentenglieder und schloß bei einem Blick auf die Lage des Sonnenstrahls, daß es etwa fünf Uhr sei. Dann blickte er mit einem unglaublich stumpfsinnigen Ausdruck, der die völlige Abwesenheit des Geistes bewies, ins Leere. Sein Geist war nämlich Miss Breakenridge auf einen langen Spaziergang gefolgt. Am heutigen Morgen hatte sich Winnifred von Joe mit einem innigen und unaussprechlich züchtigen Kuß verabschiedet, um ihren Geliebten, wenn auch nur für achtundvierzig Stunden zu verlassen. Sie war der Einladung eines ergebenen Anhängers ihres Vaters, Mister Pet Schnitzelbaum, eines biederen deutschen Farmers, nachgekommen und mit Mister Breakenridge auf seine Ranch gefahren, die nur wenige Meilen entfernt war. Von dort hoffte 294
sie bereits am nächsten Tag zurückzukehren, versehen mit den Gaben der Erde, mit denen die Natur Schnitzelbaums Boden so reich beschenkt hatte. Sie zweifelte nicht daran, daß sich der Farmer nicht lumpen lassen werde. ›Nun geht sie wohl schon zwischen den friedliebenden Kühen auf und ab, streichelt sie liebenswürdig über die breiten Stirnen, blickt aufmerksam in ihre klugen Augen und lauscht verständnisvoll ihrem poetischen Brüllen‹, dachte Joe, leicht ergriffen. Poch, poch! Ein kräftiges Klopfen am Fensterladen riß ihn aus seinen zärtlichen Gedanken. Er blickte auf und sah ein häßliches olivfarbenes Gesicht, das seine breite Nase gegen das Fensterglas preßte. »Señor Joe! Señor Joe!« drang von draußen eine ängstliche Stimme zu ihm. Mit noch schwachen Schritten trat Joe ans Fenster und öffnete es. Vor ihm stand in einem zerrissenen und ausgeblichenen Poncho ein mexikanischer Mischling, staubbedeckt vom langen Ritt. Schweißbäche rannen über sein schmutziges Gesicht. »Señor Joe!« lispelte er erschöpft. »Um Señorita Winnifred steht es schlecht! Man hat sie überfallen, entführt! Das habe ich mit eigenen Augen gesehen!« Mit einem einzigen Sprung befand sich Limonaden-Joe an der Tür und zog den Mischling ins Zimmer. 295
Kurz darauf wußte er alles.
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Erschütterndes Finale Noch einige Augenblicke schwamm der Schein der Dämmerung in der Dunkelheit, dann verlosch der Tag, und die Nacht begrub ihn. Eine halbzerlaufene Kerze, in einen Flaschenhals gesteckt, erleuchtete matt das Innere einer Hütte, die aus roter Erde errichtet war. Der einzige Laut, der bisher die Stille dieses Raumes belebte, war das Klatschen von Karten, denn die vier Spieler, die um einen roh zusammengezimmerten Tisch saßen, sprachen kein Wort. Ab und zu wehte ein leichter Luftzug. Dann flackerte die traurige Flamme der Kerze, und an den Wänden zitterten wie von Fieber geschüttelt die Schatten der spitzen Sombreros, die die Köpfe der schweigenden Männer bedeckten. Doch gleich war alles wieder regungslos, und selbst die Wolke von Zigarettenqualm, die über dem Tisch hing, erstarrte zu einem mysteriösen Baldachin. Plötzlich raschelten die gespenstischen Finger des Nachtwindes. Einer der Männer, ein von Blatternarben verunstalteter Mexikaner, hob rasch den Kopf und blickte hinaus in die Dunkelheit. Die Angst ließ in seinen Mandelaugen das Weiße hervortreten. Grimpo schaute ihn eine Weile voll Abscheu an, dann warf er die Karten auf den Tisch. »Zum Teufel, da habe ich mir aber tapfere Männer ausgesucht!« grölte er, und sein Gesicht zeigte
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einen verächtlichen Ausdruck, soweit freilich sein Urwaldbart überhaupt einen Ausdruck erkennen ließ. Aber der Blatternarbige blickte ihn besorgt an. »Señor Joe kann jeden Augenblick hier sein, Capitano, und wir spielen hier Monte, als hätten wir ihn schon zwanzig Fuß tief unter der Erde. Valgame Dios, das ist ja der reinste Teufel! Ich würde mich keinen Augenblick wundern, wenn er jetzt aus dieser Karte herausspränge.« Der dritte Spieler hob die Augen von seinem Blatt und betrachtete mißtrauisch die Karte, die der andere derart verdächtigte. Der mit Gold bestickte und mit Quasten gezierte Sombrero auf dem Kopfe dieses Mannes stammte sicherlich aus der Werkstatt eines berühmten mexikanischen Handwerkers, er selbst verriet jedoch durch seine Gesichtszüge die reinste Yankee-Abstammung. Dieser Mensch hieß Dick Hammond alias Dandy und hatte eine ruhmreiche Vergangenheit. Vor Jahren hatte er nämlich erfolgreich gemeinsam mit dem berüchtigten Henry Plumer als »Straßenagent« gearbeitet und war dem Strick in Alder Goulchi nur um ein Haar entgangen. Als er nun schließlich zu der Überzeugung gelangte, es sei ganz ausgeschlossen, daß Limonaden-Joe aus der erwähnten Karte herausspringe, brüllte er den Mexikaner wütend an: »Was winselst du dauernd, Manuel? Wenn Grimpo dich geschickt hätte, Joe zu holen, so versichere ich dir, daß wir hier nicht so ruhig säßen. Aber Jesus ist schlauer als ein
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Apache. Keiner von uns könnte das besser erledigen!« Telesphor Gabillondo, das letzte Glied dieses sauberen vierblättrigen Kleeblatts, sah schon infolge seines langgezogenen Rattengesichts mit den schmalen Pupillen und dem frechen Schnurrbart wie ein geborener Mörder aus. Übrigens stimmten seine Ansichten bemerkenswert mit diesem Aussehen überein: »Wozu solche Sperenzchen mit diesem Kerl, Amigos? Müssen wir ihn lebend bekommen? Hätte ihm nicht Jesus das Hemd mit einem ordentlichen Messerstich an den Schulterblättern anheften können? Er versteht doch damit so gut umzugehen! In Nogeles hat er zwei Zollbeamte erstochen, rascher, als sich ein hungriger Mönch vor dem Abendessen bekreuzigen kann!« »Das ist wahr«, sagte Grimpo, »aber ich will ihn lebendig haben. Dafür habe ich meine Gründe. Und nicht nur ich. Übrigens versichere ich dir, Telesphor, daß die Pulver selbst einen Hengst auf Brautschau einschläfern würden. Und dann, selbst wenn dieses Mittel versagen sollte – doch es versagt nicht –, liegt draußen noch Jeff, und der würde uns schon die Ankunft dieses verdammten Limonaden-Joe ankündigen.« »Quién sabe, compadre, quién sabe! Nicht, daß ich Angst hätte, aber ich finde keine Ruhe, bevor –« Das herzzerreißende Heulen eines Schakals drang aus der Dunkelheit. Manuels Gesicht wurde aschfahl, doch auch Grimpos Miene zeigte einen
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gespannten Ausdruck. Ohne zu atmen, blickten sie einander an. Der Schakal heulte neuerlich, und die Muskeln in Grimpos Gesicht lockerten sich. »Alles ist in Ordnung, da kommt unser Freund!« sagte Dick Hammond und ließ zwei schlanke Strahlen von Zigarettenrauch durch die Nasenflügel entweichen. Alle blickten nun auf die Tür, während sich von draußen kleine Schritte näherten. Schließlich knackte die Klinke, und herein trat eine Gestalt, die von Kopf bis Fuß in eine dunkelrote indianische Decke gehüllt war. Die Decke sank zu Boden, und vor den erstaunten Totschlägern stand – Tornado-Lou, einen großen Korb in der Hand. Ihre milchzarte Haut leuchtete weich aus dem dunklen Kleid. Der am Ausschnitt sichtbare Busen hob und senkte sich, denn der rasche Gang hatte diese stattliche Büste in Wallung gebracht. Die Männer glotzten das Mädchen dumm an. Auch wenn Grimpo wußte, daß die Idee dieser schändlichen Falle in ihrem Kopf entstanden war, staunte er doch über ihren Mut. Sich bei Nacht auf den Weg in eine solch unwirtliche Gegend zu machen, die jeden Augenblick eine Schar wütender Apachen ausspeien konnte, war zuviel für ein wehrloses Mädchen, mochte es auch noch so viel wiegen. Als Lou die grenzenlose Überraschung dieser Kumpane sah, ließ sie das erregende Lachen ihrer Altstimme hören und trat an den Tisch mit einem 300
Schritt, der die Männer alle Angst vergessen ließ. »Guten Abend, Männer! Bin ich denn ein achtbeiniges Füllen, daß Sie mich so entgeistert anstarren? Ich habe doch ein Recht, hierherzukommen! Oder etwa nicht? Schließlich wurde das alles in meinem Kopf ausgebrütet!« Niemand bestritt dem Mädchen ein solches Recht, deshalb schwiegen alle. Grimpo blickte sie mit verlegener Bewunderung an und kratzte sein bewachsenes Kinn, während sie Telesphor Gabillondo mit seinen Blicken noch des letzten Wäschestückes entkleidete, ohne darauf zu achten, daß es in der Hütte doch recht kühl war, was man nur als wenig rücksichtsvoll bezeichnen kann. Übrigens erinnerten Dick Hammond und Manuel Luna ebenfalls an genäschige Kater. Lou hatte inzwischen ihren Korb auf den Tisch gestellt und entnahm ihm eine große Flasche – Cola-Coca-Limonade. Dann blickte sie spitzbübisch die Desperados an, auf deren Gesichtern das Erscheinen dieses Getränks einen keineswegs geistreichen Ausdruck hervorzauberte. »Das schickt Ihnen Horace«, sagte sie. »Nach einem einzigen Schluck werden Ihnen die Kanonen von selbst in die Hand springen!« »Was ist das für ein dummer Scherz?« brummte Grimpo, ohne die Flasche zu berühren. Dafür griff Telesphor Gabillondo rasch nach ihr, schlug ihr ohne Zaudern den Hals ab und hielt sie an die Nase. Seine pechschwarzen Augenbrauen hoben sich. Unmittelbar danach setzte er das Gefäß an die Lippen, und die Arbeit seines 301
Adamsapfels verriet, daß er sich einen ordentlichen Schluck genehmigte. »San Jago di Compostella!« rief er sodann begeistert und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Einen so großartigen Brandy habe ich noch nicht getrunken! Der kommt wohl direkt aus der Privatkellerei von Señor Greenwood?« »Ach, ich rühre die Flasche nicht an!« knurrte Grimpo und betrachtete sie mit unvermindertem Mißtrauen. »Ich kenne Greenwoods Scherze. Ich wette meinen Hals, daß ein Abführmittel darin ist!« Der Totschläger hatte gewichtige Gründe, so zu sprechen. Er konnte es Horace nicht vergessen, daß ihn dieser vor den Mädchen aus dem »Elysium« dadurch lächerlich gemacht hatte, daß er aus seiner Revolvertasche Babywindeln herauszog. Dann aber blickte er wieder auf das Mädchen. »Wollen Sie etwa hier bis zum Ende ausharren, Miss Lou? Das, was sich hier in wenigen Stunden abspielen wird, ist bestimmt kein geeignetes Schauspiel für Mädchenaugen!« Lolas Gesicht wurde plötzlich sonderbar hart. Ihre Backenknochen traten scharf hervor, und in ihren Augen brannte eine düstere Flamme. »Das verstehen Sie nicht, Grimpo!« flüsterte sie. »Sie wissen ja nicht, was das ist – ein verschmähtes Frauenherz!« Wahrlich, wie sie jetzt dastand, dunkel und unheilverkündend, bot sie einen herrlichen Anblick, wenn auch auf besondere Art – eine Göttin der Rache oder etwas Ähnliches. Vor allem die anwesenden Lateinamerikaner wußten diese grausame Schönheit zu schätzen. 302
»Por Dios, das ist eine richtige Muchacha!« stieß Gabillondo durch die Zähne und wiederholte wohl schon zum fünften Male das imaginäre Entkleiden, diesmal jedoch mit einer gewissen Portion frommer Verehrung. Plötzlich erstarrten alle. Und doch vermochte kein einziger von ihnen den Klang genauer zu beschreiben, den sie eben hörten, oder besser: den sie zu hören vermeinten. War es der Wind, ein menschliches Wesen oder ein Geist? In ihren Händen befanden sich mit einem Schlage die Pistolen. Schließlich stieß Grimpo mit dem Fuß gegen die Tür, daß sie fast aus den Angeln fiel, und trat unerschrocken auf die Schwelle, die Zeigefinger an den Abzügen der in Zielstellung gebrachten Colts. »Quien es? Quien es?« rief er heiser. Nichts! Nur der Nachtwind lief mit Diebesfüßen durch die Blätter der Mesquitebäume. Dann herrschte wieder Stille. Als Grimpo zurückkam, stand Manuel Luna immer noch da und murmelte Gebete. Tornado-Lou streifte die bleichen Gesichter mit einem verächtlichen Blick. »In der Tat, Männer«, sagte sie mit bissigem Lachen, »eine solch vollendete Sammlung von Hasenfüßen und Schlappschwänzen habe ich noch nicht gesehen!« Grimpo gaffte noch immer vor sich hin, die Colts in der Hand. Schließlich ließ er sie mit bravouröser Drehung in die Pistolentaschen sinken. »Lou hat recht«, brummte er. »Ich glaube, es war nur das Rauschen der Kakteen im 303
Nachtwind.« Die ruhige Färbung seiner Stimme entbehrte jedoch nicht einer gewissen Gezwungenheit. Das Stöhnen war nicht mehr zu hören, jedoch spürten alle, daß die immer drückendere Stimmung ihre Kehlen zuschnürte und den sonst durch Bäder und Todesgefahren gestählten Geist lähmte. Dieses tückische Nocturno umwob sie immer dichter mit unsichtbaren Spinnwebfäden der Angst. Ja, etwas Erschreckliches lag in der Luft, hing unter der niedrigen Decke, schwebte im rötlichen Schein der trüben Kerze. »Schätze, jetzt könnten sie ihn schon jeden Augenblick bringen«, flüsterte Dick Hammond, der nicht mehr wagte, laut zu sprechen. Und doch sollte sein Flüstern erhört werden. Die Tür flog mit einem häßlichen Knarren auf, und herein stürzte mit dumpfem Fall ein längliches Paket. Es war der Wächter Jeff, die Hände gefesselt, im Mund einen Knebel, eine armselige, regungslose Masse, die sehr wenig mit dem gefürchteten Jeff Hollister, Zugräuber und Killer, zu tun hatte. Und hinter ihm stand Limonaden-Joe … Breitbeinig, seine Smith & Wessons drohend in den Händen, hob er sich vom nächtlichen Dunkel wie ein edles Standbild ab. Grimpo fiel bereits in diesem Augenblick die riesige Pistole ins Auge, die Joe in den Gürtel gesteckt hatte. Sie erinnerte ihn entfernt an ein altes Modell eines Matrosenrevolvers, doch
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beschränkte sich diese Ähnlichkeit auf einige äußere Details. »Guten Abend!« sagte Joe freundlich, ohne jedoch die drohenden Mündungen der Waffen, die niemals danebentrafen, zu senken. »Wie, Sie heben schon selbst die Arme hoch? Nun, meinetwegen, daran kann ich Sie nicht hindern. Es tut mir sehr leid, meine Dame und meine Herren, daß ich ungebeten in Ihre Gesellschaft treten muß. Oh, verzeihen Sie, ich habe ganz vergessen, natürlich hatten Sie mich eingeladen, Miss Lou, obwohl ich das erst erfahren habe, als ich mich schon auf halbem Wege zu Ihnen befand. In der Tat, ich schäme mich, wenn ich daran denke, daß Ihr Einladungskomitee diese reizende Enthüllung mit einer sehr handgreiflichen Beule bezahlt hat. Übrigens kann ich Ihnen versichern, daß diese Beule Señor Jesus Chavez sehr gut steht. Welch herrliche Farben spielt sie doch! Ja, er hatte Pech, der gute Jesus, und Sie mit ihm. Es genügte, einen einzigen Schluck seines Erfrischungsgetränkes zu genießen, schon war mir klar, wieviel es geschlagen hatte. Ich hatte nämlich vorher ein Glas Cola-Coca-Limonade getrunken, und die schärft, wie Sie wohl wissen, verdammt den Geschmack. Auch die anderen Sinne schärft sie. Wenn das beispielsweise Ihr Freund Jeff gewußt hätte, brauchte er sich jetzt nicht so unappetitlich herumzuwälzen, eher dem Kokon einer Seidenraupe ähnlich als einem ordentlichen Pistolenschützen. Doch genug der Scherze! Miss Lou, nehmen Sie doch den Herren 305
die Kanonen ab und legen Sie sie vor mich hin! Etwas rasch, wenn ich bitten darf!« LimonadenJoe sprühte vor einzigartigem Sarkasmus, sprühte wie ein Feuerwerk am Nationalfeiertag. Alle blickten ihn wie verhext an. Aber im Blick von Tornado-Lou stand noch etwas mehr. Die enttäuschte Rachgier hätte sie eigentlich mit gehässiger Wut erfüllen müssen. Das wußte sie auch, und doch spürte sie in ihrem Innern eine seltsame Befriedigung über diese so unerwartete Wendung. ›Was hat das zu bedeuten?‹, fragte sie ihr Herz, und das Herz antwortete: ›Ich soll doch gleich zu einem Stück Emmentaler Käse werden, wenn ich diesen wunderbaren Mann nicht auch jetzt noch liebe!‹ Während Miss Lou also den wütend die Augen rollenden Männern gehorsam die Colts aus den Taschen zog, ließ Joe mit souveränem Lächeln seine Augen durch die Hütte schweifen. Schließlich blieb sein Blick an der Flasche Cola-CocaLimonade hängen. Eine solche Entdeckung ließ freilich dieses edle Gesicht den Ausdruck seliger Verzückung annehmen. »Tatsächlich, ich sehe, daß Sie mit meinem Besuch gerechnet haben, meine Herren!« Mit diesen Worten, die mit unwiderstehlich ironischem Ton gesprochen wurden, hob er die Flasche zu einem spöttischen Zutrunk. »Sie kennen doch meine Devise, Pistolenschützen: Wenigstens eine Flasche ColaCoca-Limonade täglich! Nun, auf Ihr Wohl!« Lou wollte aufschreien, aber es war schon zu spät. Die Lippen des Pistolenschützen hatten noch 306
nicht Horaces Brandy berührt, als sein Körper zu Boden sank, überwältigt vom bloßen Einatmen des Alkoholgeruchs. Innerhalb weniger Sekunden war Joe entwaffnet und gefesselt. Und während die Flamme der Kerze noch flackerte, wandte sich Grimpo an Manuel Luna mit der Frage: »Hast du auch nicht das Messer und die Rasierseife vergessen?« »No, Señor!« Eine Grimasse teuflischer Freude verzerrte das Gesicht des Totschlägers. Das ließ sich selbst unter dem Bart erkennen.
* Ein breit ausladender dürrer Baum ganz am Rande einer felsigen Landzunge. Seine unbelaubten Zweige spiegelten sich regungslos im dunklen Wasser des Schwarzen Tümpels. Nur ab und zu beunruhigte ein geheimnisvolles Beben die Wasserfläche, und da schlugen alle, die es bemerkten, ein Kreuz, denn sie wußten, was diese Unruhe des feuchten Elements zu bedeuten hatte. Da furchte einer der berüchtigten Tigerblutegel die Wasserfläche und hielt Ausschau nach einem geeigneten Opfer. Ja, Myriaden – nein, das zwar nicht, wohl aber Zehntausende dieser schrecklichen Lebewesen, die zur Klasse der Ringelwürmer gehören, bewohnten den Schwarzen Tümpel. Wehe dem Geschöpf, das mit ihren kalten Mäulern in Berührung kam; innerhalb
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weniger Augenblicke war es wie eine Zitrone ausgesogen. Doch kehren wir lieber zu dem bereits erwähnten Baum am Rande der Landzunge zurück! Ähnlich einem Drachengerippe, spannte er kläglich seine toten, knotigen Arme aus, von denen längst das letzte Blatt abgefallen war. Nun, und eben an dieses widerliche Skelett war Limonaden-Joe mit so zähen Banden gefesselt, daß er nicht der geringsten Bewegung fähig war. Die Totschläger wußten das, und deshalb hatten sie ihm aus Spott seine Smith & Wessons wieder in die Pistolentaschen gesteckt und in seinen Gürtel jene sonderbare Pistole, in der die gewitzteren Leser wohl schon das wunderliche Erzeugnis des kahlköpfigen Onkels Bud erkannt haben. Natürlich zuckte unser Held mit keiner Wimper, obwohl er wußte, daß seine Peiniger für ihn schreckliche Dinge vorbereitet hatten. Zuerst rauchten diese Banditen freilich noch Zigaretten und ließen ihren Witz an dem wehrlosen Gefangenen aus. Da ist das Scherzen leicht, meine Herren! Wir sehen hier jedoch weder Grimpo noch TornadoLou. Da die Totschläger aber nicht nach ihnen Ausschau halten, ist wohl alles in Ordnung. »Und wozu dient eigentlich das hier, Compadre?« wandte sich Gabillondo an Dick Hammond und deutete auf einen großen Berg Heu, das unweit davon aufgeschichtet war.
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Der Gefragte antwortete: »Sobald LimonadenJoe in die himmlischen Saloons expediert ist, will Grimpo diesen Haufen anzünden. Das ist ein Zeichen für Mister O’Meara, der dann weitere Schritte unternehmen wird.« »Und mich würde wieder interessieren, Amigos«, sagte der blatternarbige Manuel Luna, »warum ich heute morgen Señor Grimpo das Messer abziehen und Wasser zum Rasieren wärmen mußte. An seinen Bart geht er doch nicht heran. Was will er also rasieren?« Diese Frage blieb jedoch unbeantwortet. Plötzlich knarrte aber die Tür der Hütte, und auf der Schwelle erschien ein Mann. Wir würden sagen: Grimpo – aber dieser Mensch hatte sich von dem eben Genannten nur Gestalt und Kleidung geliehen. Das Wichtigste, das Antlitz, gehörte Grimpo nicht, denn man sah ein bartloses, kaltes Gesicht mit grausamem Mund und harten Kinnladen. Der Unbekannte trat näher. Da zuckte Joe mit allen Wimpern. »Billy Brooks!« flüsterte er erstaunt. »Jawohl, Billy Brooks, Pistolenheld! Ich hatte geschworen, daß die Klinge meinen Bart nicht berührt, bevor nicht der. Augenblick der Rache gekommen ist«, kicherte der bartlose Mann, in dem jetzt auch wir den Totschläger wiedererkennen, dem Limonaden-Joe in Powderville die Hosenträger weggeschossen hatte. Er kam immer näher, einen Strohhalm zwischen den Zähnen, die Daumen am Gürtel, bis er Limonaden-Joe Auge in Auge gegenüberstand. 309
In den Reihen der Totschläger waren Flüstern und Ausrufe der Verwunderung zu vernehmen. Grimpo-Brooks studierte, unablässig am Strohhalm saugend, eingehend das Gesicht des Pistolenschützen, war jedoch einigermaßen enttäuscht, weil er dort nicht das fand, was er erwartet hatte, nämlich den bleichen Ausdruck von Angst. Er blickte also über seine Schulter auf die Fläche des Tümpels und sah, wie es darin von häßlichen Schatten nur so wimmelte. Da verzerrte ein ekliges Grinsen seinen Mund, und er wandte sich seinen Kumpanen zu, die inzwischen bereits seine Identität festgestellt hatten: »Verdammt! Heute beneide ich unsere Blutegel nicht gerade um ihr Frühstück. Schätze nämlich, daß das mit Limonade durchsetzte Blut dieses Greenhorns nicht der angenehmste Leckerbissen für diese reizenden Tierchen ist. Ha, ha, ha!« Er grölte, als hätte er einen wer weiß wie guten Witz gemacht, aber auch Jeff Hollister, Dick Hammond, Telesphor Gabillondo und Manuel Luna kicherten. Brooks, der wieder seine vor Haß flammenden Augen auf das Gesicht des Gefangenen heftete, schwelgte auch weiterhin in billiger Ironie: »Selbstverständlich werde ich dafür sorgen, daß ich ebenfalls auf meine Kosten komme, nicht nur diese Blutegel! Wissen Sie, zunächst will ich Ihnen beweisen, daß auch ich mich ein wenig im Umgang mit Pistolen auskenne. Damals in Powderville haben Sie mich von Gürtel und Hose 310
befreit. Sie werden mir wohl verzeihen, wenn ich Ihnen in dieser Hinsicht sozusagen näher auf den Leib rücke. Zunächst werde ich Ihnen die Ohren abschießen, dann die Nase und so weiter, bis ich Sie schön abgerundet habe. Aber auch dann werden Sie noch genügend bei Sinnen sein, um alle Annehmlichkeiten Ihrer Stellung auszukosten. Und Ihren schönen Körper werden wir dann ein wenig im Schwarzen Tümpel abkühlen, und die Mäuler dieser reizenden Tierchen werden Sie mit so leidenschaftlichen Küssen empfangen, daß Sie glauben werden, Sie seien im siebenten Himmel. Binnen kurzem werden Sie tatsächlich dort sein, tugendhafter Pistolenheld, daran besteht kein Zweifel!« Nach diesen Worten faßte Grimpo LimonadenJoes Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie mit einem Ruck zur Seite. Das wirkte sehr verächtlich. Aber auch sonst war diese Situation für Joe verdammt unangenehm, denn Grimpo beugte sich drohend über sein Gesicht und prustete heftig hinein. Schließlich trat Grimpo einige Schritte zurück. »Also, Achtung!« flötete er mit süßer Stimme. »Wir beginnen mit dem linken Öhrchen!« Langsam, ungemein langsam zog er den Colt. Hierauf prüfte er eingehend den Mechanismus, denn er wollte die Qualen des Gefangenen möglichst in die Länge ziehen. Dann zielte er mit der Bedachtsamkeit eines Schützen auf dem Schießstand, der genügend Zeit hat. 311
Keiner gab auch nur einen Laut von sich. Schon deckten Kimme und Korn des Colts regungslos das linke Ohr des Opfers. Der Schuß konnte jede Sekunde losgehen. Schreckliche Augenblicke! Sicherlich bleibt jetzt nur jener Leser, der sich den ergreifenden Glauben an ein Happy end bewahrt hat, ruhig. Plötzlich ließ Grimpo die Waffe sinken. Er beobachtete Joe mit bösartigem Lächeln, wirbelte den Colt einige Male um den Zeigefinger und ließ ihn dann in die Pistolentasche gleiten. Hierauf ging er mit endlos langsamen Schritten auf LimonadenJoe zu, den Blick auf seinen Gürtel geheftet. »Hm, Sie sind ja bis an die Zähne bewaffnet zu uns gekommen, Pistolenheld!« brummte er und betrachtete Limonaden-Joes Kollektion von Schußwaffen. »Gleich drei Kanonen! Sie haben damals mit Ihren eigenen Waffen auf mich geschossen. Sehen Sie, ich werde so großmütig sein, daß ich in diesem Falle auf die Vorteile der eigenen Colts, mit denen ich selbst im Dunkeln zu schießen verstehe, verzichte und mich einer Pistole aus Ihrer Artillerie bediene! Beispielsweise der da!« Mit diesen Worten riß er ihm Buds Pistole aus dem Gürtel, schüttelte verwundert den Kopf und betrachtete einige ungewöhnliche Details an ihrem Mechanismus. Dann nahm er wieder seine ursprüngliche Schießstellung ein und zielte neuerlich auf das linke Ohr des Gefangenen. Da bemerkte er, daß Joe ruhig vor sich hinpfiff, als habe er eben mit dem Schicksal einen 312
zweiseitigen Vertrag auf einige Dutzend Jahre abgeschlossen. Das erfüllte Grimpo mit Unbehagen. Er ließ die Waffe sinken und sah mißtrauisch in die Runde, um die Gründe herauszubekommen, die Joe mit solcher Sorglosigkeit erfüllten (und die wir im übrigen kennen). Aber er bemerkte nichts. So schickte er sich denn an, neuerlich zu zielen, als er vernahm, wie die Tür der Hütte knarrte und eine Frauenstimme schluchzte. Obwohl er wußte, wer es war, drehte er den Kopf in diese Richtung und zermalmte zwischen den Zähnen einen schrecklichen Fluch. Mit rotgeweinten Augen kam Miss Tornado-Lou langsam, aber sicher immer näher. Der Schmerz verlieh ihr geradezu antike Größe. Den Umschwung, der sich in dieser Nacht in ihrem Herzen vollzogen hatte, versteht jeder, den einmal Amors Geschoß getroffen hat. Schon im ersten Augenblick, als sie Joe über dem zu einem Bündel zusammengeschnürten Jeff hatte stehen sehen, war ihr klar geworden, daß es allein Liebe, verschmähte Liebe, gewesen war, die sie zu einer solch schrecklichen Tat veranlaßt hatte. Ja, nur ihr beleidigtes Herz hatte Limonaden-Joe in diese verderbliche Falle gelockt. Den Rest der Nacht hatte sie in einem Winkel der Hütte schluchzend zugebracht, zum sichtlichen Unbehagen Grimpos. Der achtete zwar in Lola die Dame, doch hätte er sie nichtsdestoweniger am liebsten zum Teufel gewünscht, weil ihm ein solches Heulen auf die Nerven ging. Deshalb atmete er auf, als Lou 313
gegen Morgen in apathische Erstarrung verfiel und später einschlief. Während sie also schlummerte, erweckten die Banditen Joe zum Leben, indem sie einen Eimer kalten Wassers über ihn ausgossen, worauf sie seinen Körper leicht mißhandelten und ihn schließlich rasch an jenem dürren Baum etablierten. Sie hofften, unseren Helden erledigt zu haben, bevor das Mädchen erwachte. Der Leser kann sich vorstellen, wie verärgert Grimpo war, als er jetzt diese Person erblickte, deren Anwesenheit keineswegs zu einem glatten Verlauf der Exekution beitragen konnte. Im übrigen zeigten die nächsten Augenblicke, daß er richtig vorhergesehen hatte. Wie bereits erwähnt, kam das Mädchen mit raschen Schritten näher. Plötzlich aber schrie sie auf, flog förmlich über die Strecke, die sie noch von Joe trennte, und warf sich ihm zu Füßen. »Können Sie mir verzeihen, Darling?« schluchzte sie und umfing seine ungeputzten Stiefel. Ein fast überirdisches Lächeln erstrahlte auf dem Gesicht des Pistolenhelden, als er sagte: »Armes Kind, ich verzeihe Ihnen!« Ein solches Übermaß an Großmut erschütterte die letzten noch unerschütterten Bereiche von Lolas Innerem. »Diese edle Seele verzeiht mir!« flüsterte sie, während zwei heiße Tränen über ihr schmerzzerfurchtes Gesicht rannen. Doch dann verließen sie die letzten Kräfte, und sie sank, zur teuflischen Freude Grimpos, in Ohnmacht. 314
»Um so besser für uns!« rief der Killer und deutete mit einer ungemein rohen Geste an, man solle den schönen, wenn auch zur Zeit regungslosen Körper fortschaffen. Dick und Manuel zogen Lou also beiseite, während Grimpo neuerlich zu zielen begann, überzeugt, daß nun nichts mehr die Bahn seiner Geschosse kreuzen könne. Die Desperados, die jetzt fast regungslos zu beiden Seiten ihres Führers standen, verwandten kein Auge vom Gesicht Limonaden-Joes, entschlossen, sich an seinen Todesqualen zu weiden. Aber sie kamen nicht auf ihre Rechnung, denn Joe blickte sie so freundlich und ruhig an, als wären sie mit Blumenstrauß und Kerzentorte gekommen, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Grimpo zielte noch immer. Langsam, ganz langsam, betätigte sein Finger den Abzug dieser sonderbaren Waffe… Bumm! Dick Hammond, der nur wenige Schritte von Brooks Colt entfernt stand, fiel ohne einen einzigen Laut mit durchschossener Stirn zu Boden. Buds wunderbare, um die Ecke schießende Pistole hatte also ihr Vernichtungswerk begonnen. Manuel Luna blickte kreidebleich, mit vorgequollenen Augen, auf den toten Dick. Bumm! Die zweite Kugel aus dem Revolver des Onkels drang ihm durch die Schläfe. Grimpo, zu sehr mit dem linken Ohr unseres Helden beschäftigt, das trotz seines genauen Zielens nicht seinen Platz verließ, bemerkte das 315
Massaker zu seiner Seite nicht. Er zielte also noch sorgsamer, stützte die Rechte mit der Linken ab und schoß zweimal nacheinander. Jeff Hollister, dessen Halsader durchschlagen wurde, taumelte und fiel über Telesphor Gabillondo, dem eben das vierte Geschoß ins Herz gedrungen war. Schrecklich winselnd, stürzte der Mexikaner auf den Heustapel, dessen Brand den Tod Limonaden-Joes ankündigen sollte. Die brennende Zigarette rutschte aus seinen Lippen und fiel auf die trockenen Halme. Erst Gabillondos Schreien veranlagte Grimpo, sich umzublicken. Die entsetzliche Hekatombe, die er da erschaute, ließ bei ihm Geist und Körper erstarren. Eine Weile glotzte er auf die Leichen seiner Gefährten, doch dann heftete er neuerlich seine blutunterlaufenen Augen auf Joe, der höhnisch lachte. Die schreckliche Erregung, die sich Grimpos bemächtigte, schlug sich wieder auf seine Zunge, so daß er zu stottern begann, wie damals in der Bar von Powderville, wo er Mister Bushman definitiv in die Horizontale versetzt hatte. »Teu-Teu-Teufel, mit d-d-deinen Z-ZZaubereien be-be-be-trügst d-d-du m-m-mich nn-nicht. Mei-mei-meine Pi-Pi-Pi-stolen w-wwerden d-d-deinen He-He-Hexereien n-n-nicht gehorchen!« Mit diesen Worten schleuderte er Buds Pistole in den Tümpel und riß die eigenen Colts aus den Pistolentaschen. Doch da bellte hinter seinem Rücken ein Schuß. Grimpo ließ die Waffen fallen und bohrte seine Finger in die durchschossene Brust. 316
Tornado-Lou, die krampfhaft mit beiden Händen den Revolver umspannte, dessen Lauf noch stickenden Rauch ausspie, sah ihn mit stierem Blick an. Erst vor wenigen Minuten war sie aus ihrer Ohnmacht erwacht. Die prekäre Situation, in der sich Joe befand, verlieh ihr bewundernswerte Entschlossenheit: Sie bemächtigte sich einer Pistole aus dem Gürtel der nächsten Leiche, feuerte rasch einen Schuß ab und machte so Grimpos Nachstellungen ein Ende. Der Bandit fand einen schrecklichen Tod, ganz so, wie er ihn durch sein elendes Leben verdient hatte. Jammernd und winselnd taumelte er auf den Gefangenen zu, und er hätte ihn wohl mit eigenen Händen erwürgt, wenn ihm nicht die Beine den Dienst versagt hätten, so daß er mit verzerrtem Gesicht schwankte, über den Rand des Felsens stürzte und mit schrecklichem Gebrüll in den Tümpel plumpste. Noch war das Glucksen nicht verstummt, kräuselte auch schon eine tückische Unruhe die Wasserfläche. Tausende dunkle, schlangengleiche Schatten kamen von allen Seiten herbei und zogen in Sekundenschnelle den Sterbenden unter Wasser. Widerlich saugende und schmatzende Töne gaben ein schreckliches Zeugnis für das Ende des blutgierigen Grimpo. Tornado-Lou durchschnitt inzwischen mit Telesphors Messer den letzten Strick, der den Pistolenschützen fesselte. Als das geschehen war, sank ihr Joe in die Arme, jedoch nicht etwa aus erotischen, sondern 317
aus ganz anderen – um es genauer auszudrücken: aus technischen – Gründen. Durch die lange und enge Fesselung waren nämlich seine zusammengeschnürten Glieder so abgestorben, daß er seine Beine nicht mehr spürte. Es dauerte eine geraume Weile, bevor er wieder einer Bewegung fähig war. Währenddessen hatten sich die Blutegel, nachdem sie ihr entsetzliches Werk vollendet hatten, auf den Grund des Tümpels zurückgezogen, um nach dem schrecklichen Diner ihren übersättigten Körpern im weichen Schlick die wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Und so sah Joe, als er auf die Wasserfläche blickte, dort nur eine blutleere, einer schlaffen Blase ähnliche Haut schwimmen, die sich sonderbar in den Kleidern jenes Mannes plusterte, der sich Brooks oder Grimpo genannt hatte. ›In der Tat‹, dachte er, während er seinen geschwächten Körper auf Lolas Arm stützte, ›dieser Anblick ist nur etwas für starke Nerven. Nur gut, daß ich die habe!‹ Dann verneigte er sich vor der Majestät des Todes, zog seinen Stetson, blickte auf die Überreste des Killers, die von den tändelnden Wellen hin und her geworfen wurden, und murmelte ergriffen: »Nun haben sie ihn ausgelutscht!« Hierauf wandte er seinen Blick von diesem so traurigen Schauspiel ab und wurde sich in vollem Umfange der Anwesenheit und der Funktion Lolas bewußt. »Sie haben mir das Leben gerettet, 318
Miss!« sagte er freundlich zu dem Mädchen, das sofort die Augen niederschlug. Dabei erzitterten ihre langen und dichten Wimpern, die mit dem hervorragenden Mittel »Wimpernglanz« künstlich gedüngt worden waren. »Beschämen Sie mich nicht, Sie großer, edler Mann«, erwiderte sie leise. Dann hob sie ihren innigen, reinen Blick zu ihm. »Vergessen Sie die alte Tornado-Lou!« fuhr sie fort. »Die ist heute morgen zusammen mit diesen Bösewichtern gestorben, um als eine andere, bessere wiedergeboren zu werden.« Der dankbare Händedruck, mit dem Joe die Rechte des Mädchens bedachte, war das beste Zeichen dafür, daß er ihr von ganzem Herzen verziehen hatte. Erst jetzt fiel den beiden ein leises Knistern auf, dem sie bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Als sie sich nach der Stelle, von der es ausging, umblickten, sahen sie den brennenden Heustapel, den Gabillondos Zigarette entzündet hatte. Die klare Flamme schlug mit rotgoldenen Zungen in die windstille Luft und sandte hoch über die Felsen eine Säule weißen Rauches. Die klare Flamme schlug also mit rotgoldenen Zungen in die windstille Luft und sandte hoch über die Felsen eine Säule weißen Rauches. Eine Meile von diesem Ort entfernt hockte in einer Basaltspalte ein Mann, bis an das Kinn in einen mit Fransen versehenen Poncho gehüllt. Kaum hatte er den Rauch erblickt, warf er seine 319
Zigarette weg, klomm einen Geröllhang empor und befand sich auch schon auf dem Rücken eines schnaubenden scheckigen Pferdes. Er gab dem armen Tier so energisch die Sporen, daß es losstürmte, als hätte es etwas von einem Roßschlächter gehört. Es verging nicht viel Zeit, und schon stand der Reiter vor O’Meara und meldete ihm das Ergebnis seiner Beobachtung. Der alte Betrüger freute sich wie ein kleines Kind. Er war völlig aus dem Häuschen. Auch Syringo blinzelte zufrieden hinter seiner Brille und strich sich beruhigt seinen langen Wuchererbart. Die größte Freude hatte freilich Horace, obgleich er seiner Genugtuung nur auf sehr dezente Weise Ausdruck gab. Unter anderem tat ihm der Umstand wohl, daß die Art, wie diese ganze häßliche Sache erledigt worden war, die Tochter des Journalisten vor allen Unannehmlichkeiten bewahrt hatte. Der Überfall auf das Mädchen existierte ja nur in den Worten des Mischlings Jesus; in Wirklichkeit hatte auf dem Wege zu Schnitzelbaums Farm niemand Winnifred belästigt. Freilich ahnte Horace nicht die Tiefe ihres Schmerzes, als sie bei ihrer Rückkehr ihren Geliebten nicht vorfand, obwohl sie das Haus von den Kleiderschränken bis zum Papierkorb durchsuchte. War er etwa, erregt durch das düstere Schicksal Pompejis, auf die Straße gegangen, um sich durch die frische Idylle einer 320
Schießerei zu beruhigen? Doch lassen wir das fruchtlose Theoretisieren! Nachdem das gelungene dreiblättrige Kleeblatt durch ein Sammelsurium der verschiedensten Geräusche und Gesten seiner Freude über den Tod Limonaden-Joes Ausdruck gegeben hatte, erhob sich O’Meara und sagte: »Nun, auf zur Jagd auf die Klapperschlangen!« Dann winkte er Dara Shikoh, der als vollendeter Sekretär nur im Schatten seiner Herren blieb, soweit er freilich nicht nach neuesten Nachrichten unterwegs war. »Und Sie, Professor, rufen mir sofort Heck Handamschaft, Alf Schneider und Charlie Zurta!« »Nun gut«, fistelte Syringo und wischte sich die Brille mit einem großen Taschentuch. »Ich vertiefe mich jetzt wieder ungestört in Strömsens Hypothekenpfandbriefe, die uns wohl um die Farm dieses dummen Schweden bereichern werden.« »Gut, daß du das sagst!« rief O’Meara aus. »Das erinnert mich daran, daß ich gleich mit dem dickköpfigen O’Connor abrechnen muß. Seine Hütte ist ja eine Schande für unsere ganze Straße!« »Ausgezeichnet!« sagte Horace und gab O’Meara Feuer für die Zigarre, die er ihm eben angeboten hatte. »Und ich kann mich, nun, meiner Sorgen ledig, beruhigt zu dem Picknick begeben, zu dem mich die Damen aus Haggards Theatergesellschaft eingeladen haben.« Mit diesen Worten ging er fort, um seinen Zauber-Redingot anzuziehen. Dieser war mit vielen Geheimtaschen versehen, in denen sich zahllose Requisiten eines 321
Illusionisten befanden. Nachdem hinter ihm die Tür ins Schloß gefallen war, hörte er noch die Explosion der Scherzzigarre, die er O’Meara geschenkt hatte. Weil er mit seiner Toilette bald fertig war, trat er noch in den Spielsalon des »Elysiums«, wo er die restliche Zeit verbringen wollte. Zu dieser frühen Morgenstunde war so gut wie niemand im Raum. Der bleiche Croupier, der eben die Wachsleinwand des Rouletts säuberte, begrüßte ihn ehrerbietig. Er stammte aus Charleston, und weil er gern Erinnerungen an den alten Süden nachhing, unterhielt sich Horace oft mit ihm. Außerdem beherrschte der Croupier großartig die Zubereitung eines Mint-Julep. Horace bat ihn auch jetzt um ein Glas jenes unnachahmlichen Getränks und konnte schon nach wenigen Augenblicken den eisgekühlten Alkohol schlürfen, der mit jungen Zweigen des Matestrauches gewürzt war. Dann begann er eine Partie Solitaire auszulegen. Bald beschäftigte ihn eine etwas kompliziertere Kombination des Spiels so sehr, daß er seine Umgebung ganz vergaß. Als er schließlich den Kopf hob, um einen Schluck zu tun, sah er über dem Rand des Glases einen Mann, der ihm gegenübersaß. Dieser Mann blickte ihn unverwandt an. Es war – LimonadenJoe. Die Eisstückchen klapperten, so sehr zitterte Horaces Hand. Aber in dem Augenblick, in dem der Spieler das Glas auf den Tisch setzte, spürte 322
er unter dem Ärmel am Handgelenk die metallene Kühle seines Derringers. Das beruhigte ihn einigermaßen. »Solitaire ist ein recht langweiliges Spiel, Mister Greenwood. Wie wäre es, wenn wir Poker spielten?« Mit diesen Worten legte Limonaden-Joe seinen Colt auf den Tisch. Horace erbleichte. Er spürte, daß ihm zum erstenmal in seinem Leben die Nerven durchgingen. »Unter diesen Umständen kann ich Ihr Anerbieten nicht ablehnen, Pistolenheld«, sagte er mit leichtem Lächeln. Doch dann schweifte sein Blick zu der berühmten Smith & Wesson, und er fuhr fort: »Aber ich weiß nicht, ob ein Gentleman so spielt.« »Sie wollen wohl sagen, daß so kein Gentleman mit einem Gentleman spielt, nicht wahr?« erwiderte Joe ernst. »Da bin ich der gleichen Ansicht. Aber wenn ein Gentleman mit einem Gauner spielt, ist das eine sehr notwendige Maßnahme!« Horace biß sich auf die Lippen. Er hörte, wie hinter seinem Rücken langsam die Menge der Neugierigen anwuchs. Hinter Joes Rücken aber konnte keine Menge anwachsen, denn der weitblickende Pistolenheld hatte sich so gesetzt, daß er vor sich den ganzen Saal und hinter sich die Wand hatte. Nun mischte Joe die Karten und blickte unverwandt auf Greenwood. »Grimpo ist tot«, sagte er leichthin, »alle sind sie tot.«
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Ein leichtes Zittern überflog das Gesicht des Spielers. Trotzdem tat er, als habe er die letzten Worte überhört. »Wie hoch ist Ihr Einsatz, Pistolenheld?« fragte er mit heiserer Stimme. »Ich setze nichts, aber Sie setzen in die Bank – Ihr Leben!« Dieser Satz ließ die Maske von Horaces Ruhe zersplittern. Totenbleich sprang er auf, gefolgt von dem blitzschnell zielenden Rachen der Smith & Wesson. »Sie dürfen mich nicht töten!« rief er verzweifelt. »Sie sind vogelfrei in fünf Staaten!« »Aber das hier ist der sechste!« »Larifari! Wenn Sie verspielen, begleite ich Sie mit Bestimmtheit in einen der fünf. Doch jetzt nehmen Sie ruhig wieder Ihren Platz ein! Hier haben Sie Ihre fünf Karten. Apropos, wir spielen ohne Bluffen. Die höhere Figur gewinnt!« Horace sank schwer auf den Stuhl nieder. Er nahm sein Blatt und betrachtete es mit der üblichen professionellen Bewegung. Und da wurde er sich dessen bewußt, daß ihn alles verlassen hatte: Glück, Ruhe und Humor. Er bekam eine schreckliche Wut auf dieses idiotische Gemisch niedriger Zahlen und zerschlagener Figuren, aus denen am dümmsten die Kreuz-Dame blickte. Er kaufte noch drei Karten hinzu, doch dadurch gewann er nichts, gar nichts. Sein Gesicht blieb zwar unbewegt, aber in seinem Innern schwirrten die Gedanken wie ein Schwarm aufgescheuchter Hornissen.
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›Da läßt sich nichts machen‹, überlegte er, ›ich muß um jeden Preis meine Kunst im Falschspielen anwenden. Wenn ich nur nicht so unruhige Finger hätte! Das ist doch wirklich zu dumm, daß mir die Nerven im entscheidenden Moment durchgehen! Nun, ich glaube, in meinem linken Rockschoß finde ich die richtige Karte!‹ Er tat, als suche er sein Taschentuch, und fingerte gewandt in den erwähnten Bereichen herum. Doch in diesem Augenblick glich sein Nervensystem einem von einem Sturmwind zerfetzten Spinnengewebe. So geschah es, daß er ganz den illusionistischen Inhalt seiner Taschen vergaß. Die Folgen waren bemerkenswert. Während er hoffte, aus dem genannten Rockschoß ein Herz-As hervorzuzaubern, erwischte er ein weißes Kaninchen an den Ohren. Die Exkursion in den rechten Rockschoß endete noch schlimmer – von dort flog eine schneeweiße Taube heraus, während sich in Horaces Hand ein riesiger Papierstrauß entfaltete. Binnen kurzem umringte Greenwood eine schnüffelnde und gurrende Menge von kleinen Tieren, dazu Papierschlangen, Kugeln und andere unerläßliche Requisiten des Kleinen Bosco. Da durchzuckte Horaces Kopf wie ein rettendes Licht ein einfacher und vielleicht gerade deshalb guter Einfall. Er erinnerte sich daran, daß der Revers seines Rockes in einer in das Knopfloch gesteckten Blüte eine scherzhafte Miniaturspritze voll Parfüm barg. Es genügte, diese Stelle zu
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berühren, und schon würde sich ein kräftiger Strahl auf seinen Gegner ergießen. Horace zauderte keinen Augenblick. Sein Finger näherte sich langsam der rettenden Region, und da merkte er, daß sich seine Gedanken, die bisher gleich aufgescheuchten Vögeln umhergeflattert waren, auf dem Astwerk der Überlegung niederließen. Jetzt legte er den Zeigefinger leicht auf die Rosette. Nun nicht mehr so leicht. Und nun… Ein starker Strahl einer klebrigen Flüssigkeit blendete den überraschten Joe, während der Derringer, der rasch aus dem Ärmel des Spielers herausfuhr, die Smith & Wesson vom Tisch fegte. Ziel des folgenden Schusses war die edle Stirn des Pistolenhelden. Doch gleichzeitig damit ertönte vom nächsten Fenster her ein Schuß, dessen sich Joe wahrlich nicht hätte zu schämen brauchen. Das Geschoß traf nämlich voll auf die von Greenwood abgefeuerte Kugel, die blitzschnell auf das Gehirn Limonaden-Joes zuraste, lenkte sie von der vorgeschriebenen Bahn ab und machte sie unschädlich. Der zweite Schuß des Unbekannten aber traf mit unheilverkündendem Pfeifen den Kopf des Spielers. Seine durchschossene Stirn fiel schwer auf den Tisch nieder. So war er also tot, Horace Jouett Greenwood aus Tennessee… Gott möge sich seiner armen Seele erbarmen, die schließlich nicht so schwarz
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war, wie es dem Leser manchmal geschienen haben mag. Die Blutlache wurde allmählich breiter, während Joe mit einem Blick auf den regungslosen Körper ergriffen flüsterte: »Bill, du bist gerächt!« Plötzlich wurde er sich dessen bewußt, daß eigentlich nicht er es gewesen war, der seinen Freund gerächt hatte. Und da blickte er zum Fenster. Der Pulverdampf der Schüsse zerstreute sich schon langsam, und da sah unser Pistolenheld durch den lichter werdenden Nebel einen hünenhaften, sorgfältig gekleideten Mann, der, seine Mähne kastanienbrauner, bis auf die Schultern niederwallender Haare schüttelnd, den beißenden Rauch aus der Trommel seines Colts blies. Nun schaute ihn dieser Mann mit seinen hellen Augen an, und da erinnerte sich Joe der Worte, die ihm einst der Wilde Bill Hickok gesagt hatte: »Wenn es Ihnen einmal ganz schlecht geht, in einem Augenblick, in dem Sie es am wenigsten erwarten, wird James Hickok zur Stelle sein und seine Schuld mit gleicher Münze zahlen!« Ohne seinen Blick vom Wilden Bill zu lassen, erhob sich Joe und trat ans Fenster. Auf seiner Nasenspitze glitzerte noch ein Tropfen von Horaces Parfüm. Der fiel gerade in dem Augenblick herab, als Joe mit ungemein feierlicher Geste seinem Retter die Hand schüttelte. »Ich danke Ihnen, Mister Hickok«, sagte er dabei mit
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einer Stimme, in der männliche Erregung mitschwang. Übrigens, was das betrifft, wird sich niemand darüber wundern. Es war in der Tat eine ergreifende Szene, das reinste lebende Bild. Eine verräterische Feuchtigkeit perlte selbst im Auge der abgehärtetsten Totschläger, von den weniger abgehärteten ganz zu schweigen. Leider verdarb alles der Setzer Fuzzy Tree. Er rannte über die Straße und brüllte, als stecke er am Spieß: »Leute, Leute, zu Hilfe! Heck Handamschaft macht aus unserer Druckerei einen Stapel Brennholz!« Dabei schielte er so schrecklich, daß jedermann sein Gesicht abwandte, als wäre ihm ein Medusenhaupt erschienen. Joe aber nahm diesen Augenfehler nicht wahr. Mit einer Flanke, die sich sehen lassen konnte, sprang er durchs Fenster, umklammerte Hickoks Arm und rief: »Wenn Sie diese Stadt noch heute von einigen Erzschurken befreien wollen, kommen Sie mit!« Der Wilde Bill Hickok nickte lebhaft. Weil die Ereignisse jener Augenblicke einander Schlag auf Schlag folgten, wollen wir von stilistischen Ausschmückungen absehen und nur das bleiche Gerippe der Fakten bewahren. Zur selben Zeit, als Horace, ohne noch die nächste düstere Zukunft zu ahnen, den ersten kühlen Schluck Mint-Julep schlürfte, betrat O’Meara, begleitet von Heck Handamschaft und seinen beiden Kumpanen, O’Connors 328
verkommenes Gehöft. Genau zwei Minuten später fielen darin zwei Schüsse. Mister O’Meara erläuterte wenig später dem Sheriff, »seinem« Sheriff, wie sich die Sache zugetragen hatte. Kurz, er sei zu O’Connor gekommen und habe ihm einen märchenhaft hohen Preis für seine Ruine angeboten. Der dickköpfige Ire aber habe dieses großzügige Angebot auf wenig schöne Weise beantwortet. Er habe eine Flinte mit gezogenem Lauf ergriffen und sie auf O’Meara gerichtet. Charlie Zurta habe diese Absicht natürlich nicht billigen können und O’Connor in Notwehr getötet. So lautete die übereinstimmende Aussage O’Mearas und seiner Schützen, eine Aussage, die der Sheriff bereitwillig glaubte. Gleich nach der Zeugenaussage kehrte O’Meara in sein Büro zurück, während die von ihm gut instruierten Totschläger Mister Zacharias Breakenridge einen Besuch abstatteten. Dieser befand sich gerade allein in seiner Druckerei, weil Fuzzy in der Küche Kartoffeln schälte. Miss Winnifred war ausgegangen, um bei Miss Cashell ein neues Mieder anzuprobieren. Heck trat also auf den Journalisten zu und überraschte ihn mit der Frage, ob er sich für eine Klapperschlange halte. Er wartete jedoch keine Antwort ab, sondern schlug ihm vor, er werde ihn den Schlangentanz lehren. Wieder wartete er nicht ab, ob dieser Vorschlag angenommen werde, sondern begann, dem ehrenwerten Journalisten unter die Füße zu knallen, was den alten Herrn zu 329
grotesken Sprüngen zwang, die große Ähnlichkeiten mit den Tanzsprüngen der Eingeborenen hatten. Inzwischen zerschlug Alf Schneider mit einer mitgebrachten Axt sämtliche Kästen. Fuzzy warf nur einen kurzen Blick in den Raum und ergriff sogleich das Hasenpanier. Übrigens tat er daran sehr gut. Als der Wilde Bill und Limonaden-Joe an den Ort des wüsten Treibens kamen, hatte Charlie Zurta eben damit begonnen, die Presse zu zerschlagen, und Winnifreds Vater verließen die letzten Kräfte. Hickok streckte, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, mit großartigen Schüssen das Raubgesindel nieder. Dann bat er den Journalisten um ein wenig Terpentin, weil er seine helle Hose mit Druckerschwärze beschmiert habe. Er war so sehr auf sein Äußeres bedacht, daß er nicht einmal am Abend an dem interessanten und fröhlichen Zeremoniell teilnahm, bei dem freilich manches Kleidungsstück der Teilnehmer beschädigt wurde. Die erfreuten Einwohner bestrichen nämlich Syringo und Dara Shikoh mit Pech, wälzten sie in Federn, setzten sie verkehrt auf einen Esel und trieben sie, so geschändet, aus der Stadt. O’Meara aber brachten sie ins Gefängnis. Später wurde er zu vielen Jahren Zuchthaus verurteilt. Wie der Leser sieht, hat das Böse die verdiente Strafe erhalten, was nur gerecht ist. Und das Gute?
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Am selben Abend, an dem Horace Greenwood, O’Connor, Heck Handamschaft und die anderen getötet wurden, saß Joe auf der Veranda von Breakenridges Haus und faßte seine Zukünftige um die Taille. Mit ihr hatte er sich vor einer halben Stunde während eines intimen Abendessens verlobt. An dieser Feier nahmen nur der Vater des Mädchens, Oberst Hickok und der Setzer Fuzzy teil, dessen Schielen – offen gesagt – dem Wilden Bill den Genuß am reichlichen Essen und die Freude an dem geselligen Milieu verdarb. Schließlich aber gewöhnte sich der Oberst so daran, daß er selbst zu schielen begann. Während die glücklichen Neuverlobten in den lauen Abend hinausgingen, erheiterte Hickok den Journalisten und den Setzer durch einen Bericht von seinen Mißerfolgen auf der Bühne von Buntlines Wandertheater. Was die beiden draußen betrifft: Es war stockfinster, und natürlich beteten sie nicht miteinander. Die begierigen Lippen fanden sich in einem langen Kuß. Plötzlich hob Joe den Kopf. Seine Hand tastete eine Weile im Dunkel, als suche sie etwas. Und sie fand es! Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, und Winnifred erkannte den Gegenstand, den Joe in der erhobenen Rechten hielt. Wie gesagt, es dauerte nur einen Augenblick, und sie erkannte die bauchige, ihr so vertraute Flasche.
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»Wenigstens eine täglich!“ klang durch die Dunkelheit diese so ungemein teure, männliche Stimme. Dann war nur noch ein gleichmäßiges, sattes Glucksen zu vernehmen.
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Nachwort An dieser Stelle endet das Buch, denn wenn wir die weiteren Schicksale unseres Helden vom Standpunkt der Liebhaber von Abenteuern betrachten, so sehen wir, daß seine Lebensbahn mit Greenwoods Tod ihren Höhepunkt erreicht hat. Er lebte noch viele Jahre in Cowtown an der Seite seiner geliebten Gattin und versah – selbstverständlich erfolgreich – die Stelle des Kreis-Sheriffs, wobei er Dutzende ausgekochter Banditen unschädlich machte. Doch an seinem fünfzigsten Geburtstage widerfuhr ihm ein kleines Mißgeschick. Die Firma Cola-Coca & Co. Herstellung alkoholfreier Obstgetränke, beschloß, den Geburtstag ihres so uneigennützigen Propagandisten würdig zu feiern, und lud ihn als Ehrengast ein, die Fabrik zu besichtigen und sich über die Produktion seines Lieblingsgetränkes zu informieren. Jedoch im Verlaufe dieser Besichtigung verschwand Joe, und noch so intensives Suchen blieb ohne Erfolg. Erst später, als beim Abfüllen der Flaschen eine Uhr, ein Verlobungsring und die Spangen von Hosenträgern nicht durch den engen Hals gehen wollten, wurden diese Gegenstände den zuständigen Stellen übergeben, wo man in ihnen das Eigentum Limonaden-Joes erkannte.
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Weil man unseren Helden zuletzt an einem großen Bottich mit dem in Produktion befindlichen kochenden Getränk gesehen hatte, besteht Grund zu der Annahme, daß Joe in die Limonade gefallen und darin zerkocht ist. Welch süßer Tod! Unser Held verfloß wortwörtlich mit dem, was ihm so unaussprechlich teuer war. In der Tat, er konnte sich keinen schöneren Tod wünschen. Zur Ehre der Firma Cola-Coca & Co. sei angeführt, daß diese mit größter Liebenswürdigkeit – kostenlos! – den trauernden Hinterbliebenen ein großes Glasgefäß überreichte, gefüllt mit Limonade aus dem bewußten Bottich, das dann pietätvoll auf dem Friedhof von Cowtown beigesetzt wurde. Dort ruht, leise plätschernd, unser geliebter Joe bis zum heutigen Tage. Friede seiner Flüssigkeit!
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Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1965 Eulenspiegel Verlag, Berlin Lizenz-Nr.: 540/19/65 ES 8 C Lektor: Horst Roatsch Einbandgestaltung: Eberhard Binder-Staßfurt Satz, Druck und Bindearbeiten: (87) BBS Rudi Arndt, 102 Berlin • 15 • 3156 EVP: 4,–