Elmar Drieschner · Detlef Gaus (Hrsg.) Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung
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Elmar Drieschner · Detlef Gaus (Hrsg.) Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung
Elmar Drieschner Detlef Gaus (Hrsg.)
Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17927-8
Inhalt
Pädagogische Liebe. Anspruch oder Widerspruch von professioneller Erziehung? Detlef Gaus und Elmar Drieschner ..................................................................... 7
I.
Pädagogischer Eros zwischen Zuneigung, Vertrauen und Missbrauchsgefahr
Wie der pädagogische Eros erfunden wurde. Eine Geschichte von Männerphantasien und Machtspielen Detlef Gaus ........................................................................................................ 29 Eros und Polititk. Von Blüher zu Platon und retour Sabine Seichter .................................................................................................. 75 Pädagogischer Eros und effektiver Unterricht Reinhard Uhle .................................................................................................... 85
II. Liebe zwischen bindungspsychologischer und kulturhistorischer Perspektive Bindung in familialer und öffentlicher Erziehung. Zum Zusammenhang von psychischer Sicherheit, Explorationssicherheit und früher Bildung im geteilten Betreuungsfeld Elmar Drieschner ............................................................................................ 105 Loving in Oblivion. Die Marginalisierung bürgerlicher Vaterliebe im Zeitalter der Professionalisierung. Eine kulturhistorische Skizze Nina Verheyen ................................................................................................. 157
III. Sozialpädagogische Professionalisierung zwischen personaler Liebe und Inszenierungen von Nähe Liebe und sozialpädagogische Professionalität. Reflexionen im Gegenlicht des emotionstheoretischen Ansatzes nach Martha Nussbaum Michael Tetzer ................................................................................................. 179 Pflegefamilien zwischen öffentlicher und privater Erziehung. Eine Form professioneller Liebe? Bettina Hünersdorf und Tobias Studer ............................................................ 209
IV. Philosophische und erziehungstheoretische Reflexionen zur Liebe "Nur der ist etwas, der etwas liebt." Zu Ludwig Feuerbachs dialogisch-ontologischer Philosophie der Liebe Udo Kern ......................................................................................................... 239 Erziehung als Interaktion und Kommunikation auf der Grundlage von Liebe Gürkan Ergen .................................................................................................. 261
Autorinnen und Autoren .................................................................................. 283
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Pädagogische Liebe. Anspruch oder Widerspruch von professioneller Erziehung? Detlef Gaus / Elmar Drieschner
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Erziehung als Beziehung
Kinder und Jugendliche benötigen liebevolle Beziehungen und dauerhaft emotional zugewandte Bezugspersonen, um sich entwickeln zu können. Erziehung wird deshalb in moderner Pädagogik als eine besondere Form der fürsorgenden Beziehung begriffen, die durch reflexive und verantwortungsbewusste Teilhabe des Erziehenden am Leben und an der Entwicklung des Kindes gekennzeichnet ist. Aus dieser Teilhabe erwachsen gegenseitiges Vertrauen und Verbundensein. In pädagogischen und psychologischen Diskursen wird aus vielfältigsten Perspektiven betont, dass Vertrauen und Verbundensein Grundvoraussetzungen erfolgreichen Lernens wie gelingender Persönlichkeitsentwicklung sind. Kinder lernen besser und sind eher bereit, erzieherischen Aufforderungen von Eltern wie von professionellen Pädagogen Folge zu leisten, wenn sie sich geborgen und angenommen fühlen. Von daher ergibt sich für professionelle Pädagogik bereits eine wesentliche Aussage. Es ist die erste und grundlegendste personale Voraussetzung professioneller pädagogischer Berufstätigkeit, Kinder zu mögen, sich für ihre Weltsicht zu interessieren und sie ausgehend von ihren Lernvoraussetzungen auf ihrem Bildungsweg zu begleiten und aktiv zu unterstützen. Mit dieser Behauptung ist aber bereits ein Paradox formuliert: Pädagogische Professionalität verlangt nicht nur fachspezifische Handlungskompetenzen alleine. Sie ruht auf einem personalen Fundament emotionaler Zuwendung, die niemals vollständig, niemals völlig widerspruchsfrei mit professionstheoretischen Konzeptualisierungen erfasst werden kann. Wenn erzieherisches Handeln untrennbar durch eine solche besondere personale Qualität der Zuwendung gekennzeichnet ist, dann bedeutet das etwa im schulpädagogischen Kontext – um beispielhaft nur ein professionelles Feld zu nennen – dass Lehrerinnen und Lehrer nicht zuvorderst Unterricht halten, sondern Kinder beim Lernen und zum Lernen begleiten und anleiten. Lehrer unterrichten keine Fächer, Lehrer unterrichten Kinder. Dafür benötigen sie zwar Fachwissen und Fachkompetenzen, die sich auf rational bestimmte Didaktik, Methodik und Berufsethik beziehen und aus
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
diesen herleiten. Unbestritten ist Erziehen und Unterrichten aber auch und vor allem ein Geschehen zwischen Personen, das auf Gefühlsbindungen wie Vertrauen und Zuneigung basiert. Solches wird vor allem daran sichtbar, dass Lust am Lernen nicht technisch evoziert werden kann, sondern vor allem durch enthusiastische Lehrerpersönlichkeiten geweckt wird, die sich liebevoll den Kindern zuwenden und von ihrem Fach begeistert sind. Wenn Schülerinnen und Schüler von einer Lehrkraft fasziniert sind, begeistern sie sich leichter für das, was den Lehrenden wichtig ist, wovon diese ihrerseits fasziniert, begeistert und überzeugt sind. Sie sind aber auch eher bereit, Anstrengungen in Kauf zu nehmen sowie Regeln und Rituale einzuhalten, wenn sie eine Lehrkraft mögen und schätzen. Gelingt es einer Lehrkraft nicht, eine durch Vertrauen und im Idealfall auch durch Begeisterung gekennzeichnete Beziehung zu den ihr anvertrauten Kindern aufzubauen, wird sie wahrscheinlich erzieherisch scheitern. Als typische Formen von Erziehungsversagen bzw. -verweigerung gelten daher einerseits Beziehungslosigkeit und andererseits die Ausübung von Zwang, Druck und Disziplinierung. Der Gedanke von Erziehung als Beziehung ist somit unmittelbar evident und erscheint auf den ersten Blick als trivial. Dennoch lauern hinter ihm diverse Abgründe der Diskussion. So gerät diese fundamentale personale Dimension pädagogischen Handelns z.B. in Zeiten eines stark technologisch ausgerichteten Verständnisses von Erziehung und Unterricht in den Randbereich des gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Die neuen Ausbildungsregelungen etwa, die seit den KMK-Vereinbarungen aus dem Jahr 2004 die Reform der Lehrerausbildung bestimmen, sehen Kompetenzen wie diagnostische Kompetenz, didaktischmethodische Handlungskompetenz, Beurteilungskompetenz und Beratungskompetenz im Mittelpunkt gelingender Berufstätigkeit von Lehrkräften, ganz so, als ob deren alltägliche Berufsarbeit ein Komplex von Problemlösungsaufgaben im Rahmen einer Entwicklungsaufgabe lernender Organisationen sei (vgl. SEKRETARIAT DER STÄNDIGEN KONFERENZ DER KULTUSMINISTER DER LÄNDER IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 2004). So muss denn auch ausgerechnet ein Fachfremder, der bekannte Schweizer Pädiater und Entwicklungsforscher REMO LARGO, in seinen auflagenstarken Erziehungsratgebern an eine Tradition personaler Pädagogik erinnern, die mit dem Begriff der pädagogischen Liebe verbunden ist. Er schreibt: „Die Grundvoraussetzung für eine kindgerechte Lehrtätigkeit ist für mich der Eros paedagogicus“ (LARGO 2009, S.195). Die Begriffe pädagogischer Eros und pädagogische Liebe verwendet LARGO im Anschluss an den traditionalen Diskurs in einem doppelten Sinn. Danach wird zum einen das Gelingen erzieherischer Einwirkung durch stabile und positiv emotional verankerte Beziehungen wahrscheinlich gemacht. Doch es geht mit diesen Begriffen nicht nur um Folgebereitschaften. Vielmehr wird zum anderen hervorgehoben, dass im
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Rahmen persönlicher Bindungen zwischen den Erziehenden und den ZuErziehenden Selbstbildungspotenziale freigelegt werden, da Lernen vor allem als ein Beziehungsgeschehen zu begreifen sei. Wird allerdings solchermaßen, gleichsam naiv, von pädagogischer Liebe, gar von pädagogischem Eros gesprochen, so werden sämtliche Gefahren, Fallstricke und Abgründe ausgeklammert, die auch mit dem Begriff der Liebe im pädagogischen Kontext verbunden sind. Gerade weil die personale Beziehung zwischen Erzieher und Zögling eine derartig existenziell aufeinander verwiesene, auf ihre Weise, in Hinblick auf das Lernen, auch immer intime ist, ist ihr die Gefahr unterschiedlichster Dimensionen von Missbrauch immer schon logisch mit eingeschrieben. Welches Ausmaß das Missbrauchspotenzial der pädagogischen Liebe im schlimmsten Falle annehmen kann, wurde erst in jüngster Vergangenheit in der Breite seines Ausmaßes vor allem in katholischen Schulen, Internaten und Landerziehungsheimen der reformpädagogischen Tradition sichtbar. Vor diesem Hintergrund wiederum diskutiert die heutige professionelle Pädagogik nur ungern über Liebe. Vielmehr werden vermeintlich psychologisch und soziologisch mehr abgesicherte Begriffe wie Wohlwollen, Wertschätzung, Nähe (in Regulation mit Distanz) und Bindung verwendet. Diese sollen zum einen gewissermaßen die Dimension von professioneller Arbeit in der Beziehungsarbeit von Pädagogen betonen. Desweiteren werden so Konnotationen von Liebe als Begehren vermieden, die im Umgang mit Kindern tabu sind. Die aktuellen Fälle von Kindesmissbrauch in öffentlichen Erziehungseinrichtungen führen in dramatischer Weise die traumatisierenden Folgen pädophiler Kindesliebe vor Augen. Zum anderen schließlich wird so eine idealtypische Trennung nahegelegt. Während ‚Liebe‘ zu Kindern mit dem privaten, intimen Bereich familialer Erziehung in Verbindung gebracht wird, wird von diesem ein Bereich rollenförmig angelegter öffentlicher Erziehung geschieden. So einfach ist die Sache nun wiederum aber auch nicht. Keine gelingende Erziehungskonstellation, sei sie noch so professionell geplant und gestaltet, kann auf einen rein rollenförmigen Umgang zielen. Lernen, Bildung und Biographieentwicklung sind eben keine ‚Sachen‘, die vor einer Art ‚pädagogischem Gericht‘ einzig mit verteilten Rollen und unter Absehung persönlich-ganzheitlichen Involviertseins verhandelt werden. So entfaltet sich ein spannungsreicher Hintergrund: Einerseits wird positive Affektivität in der pädagogischen Beziehung einmal als zentrales Erziehungsmittel, ein anders Mal als Grundlage bzw. Ziel von Bildung, noch zu anderen Malen als beides zugleich wahrgenommen. Andererseits aber steht diese sich zuwendende Affektivität in einem Balanceverhältnis zu bewussten professionell inszenierten und reflektierten rollenförmigen Distanznahmen, damit ‚Nähe‘ bzw. ‚Liebe‘ nicht übergriffig und missbräuchlich werden.
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Dieser Band setzt es sich daher zum Ziel, die traditionell mit dem Begriff der ‚Liebe‘ assoziierte besondere Form der positiv affektiven Zuwendung zum Kind in verschiedenen pädagogischen Settings sowohl in ihren Chancen als auch in ihren Grenzen und Gefahren zu thematisieren. Grundlegend für alle Beiträge seien im Folgenden historisch und systematisch fundierte Differenzierungen zwischen Liebe im familialen und im öffentlichen Erziehungskontext eingeführt. Im Kontext familialer Erziehung ist es seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem das Ideal der Elternliebe, an das hohe Erwartungen in Bezug auf eine gesunde Entwicklung der Kinder geknüpft werden. Im Diskurs über öffentliche Erziehung war lange, etwa seit 1800, ein Begriffspaar von Liebe und Autorität in vielfältigen Differenzierungen und Ausprägungen diskursbestimmend. Von diesen Begriffen ist in Zeiten immer fortschreitender pädagogischer Professionalisierung allerdings mehr und mehr eine Abkehr festzustellen. Insbesondere seit den 1970er Jahren ist, angestoßen vor allem durch Diskurse der sich professionalisierenden Sozialen Arbeit, eine neuere professionsbezogene Diskussion um Ersatzbegriffe der Regulation von Nähe und Distanz festzustellen. Im allerjüngsten Kontext der Vor- und Früherziehung ist es demgegenüber vor allem der Begriff der Bindung, mit dem der Zusammenhang von Beziehung, Erziehung und Bildung thematisiert wird.
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Liebe in familialer Erziehung
Der kulturgeschichtliche Ursprung des modernen Verständnisses von sorgender Liebe zum Kind liegt in der bürgerlichen Kleinfamilie des 18. Jahrhunderts. Diese Familienform avancierte sozialschichtübergreifend nach und nach zum familialen Leitbild. Das Ideal der Liebe, speziell der Mutterliebe, erhob sich mithin zur moralischen und ethischen Norm des Umgangs mit Kindern. Diese emotionalisierte Beziehung vor allem der Mütter, aber auch, wenn auch nachgeordnet, der Väter zu ihren Kindern sowie die damit verbundene Ausbildung einer kindzentrierten Haltung war für den amerikanischen Kindheitsforscher LLOYD DE MAUSE die zentrale Voraussetzung für die Entstehung moderner Kindheit als eigenständiger sozialer Lebensphase (vgl. DE MAUSE 1980). Sozial- und kulturhistorische Forschung hat inzwischen viele einzelne Aussagen von DE MAUSE differenziert und anders akzentuiert. Dennoch gilt die Kernposition nach wie vor als bewährte Hypothese: Aus kultursoziologischer Perspektive kann Mutterliebe als ein kulturelles Deutungsmuster interpretiert werden, das sich in der entstehenden bürgerlichen Kleinfamilie erstmals institutionalisierte und insbesondere durch die Erziehungsliteratur der Aufklärung Verbreitung fand. Wie YVONNE SCHÜTZE betont, besteht die Funktion des normativen Konstrukts Mutterliebe an
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diesem sozialhistorischen Ort darin, „die im Gefolge der neuen Einsichten über die Natur des Kindes entstehenden Handlungsprobleme in Einklang zu bringen mit der sich gleichzeitig herausbildenden Struktur der bürgerlichen Familie, gemäß der die Frau weitestgehend für die Belange dieser Familie freigesetzt wird“ (SCHÜTZE 1991, S.7). Die moderne bürgerliche Kleinfamilie als privater und intimisierter Lebensbereich entwickelte sich im Prozess der Modernisierung aus der traditionalen, räumlich verbundenen Lebenswelt des so genannten Ganzen Hauses als umfassendem Sozialisationszusammenhang. Das Ganze Haus als Produktionsgemeinschaft gilt in der Forschung weder als ein Ort der Liebe zwischen Mann und Frau noch als ein „Schutz- und Schonraum, der Heranwachsende von der Erwachsenen- und Außenwelt abschirmt, sondern als Element der Integration in diese Erwachsenenwelt“ (SPEITKAMP 1998, S.20). Kinder arbeiteten von Beginn an mit, um das Familieneinkommen aufzubessern. Die hohe Säuglings-, Kinderund Müttersterblichkeit in der traditionalen Gesellschaft sowie die wegen des Kindbetttodes oft gegebenen Stiefmutterverhältnisse bedingten eine ‚Versachlichung‘ bzw. ‚Entemotionalisierung‘ der Eltern-Kind-Beziehung. Erwachsene traten, so die freilich inzwischen nach Zeiten, Regionen und sozialen Schichten weiter differenzierte Forschungslage der 1970er Jahre, Kindern mit nur geringer Empathie und Feinfühligkeit für deren Seelenleben und Bedürfnisse gegenüber. Die Liebe zum Kind sei angesichts der enormen Mortalität in den ersten Lebensjahren und der Allgegenwart des Todes auch über diese Zeit hinaus nur schwer vorstellbar (vgl. HUNT 1972; DE MAUSE 1980; SHORTER 1986). DE MAUSE zufolge mangelte es Eltern im Mittelalter an emotionaler Reife bzw. Empathie für ihre Kinder; statt Unterstützung sei frühe Weggabe der Kinder außer Haus die typische Beziehungsform gewesen (vgl. DE MAUSE 1980). Noch schärfer urteilt EDWARD SHORTER über diese Zeit: Die elterliche Einstellung zum Kind sei durch Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit und durchaus auch Böswilligkeit gekennzeichnet gewesen. Die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit sei unmittelbare Folge bewusster Vernachlässigung der Sorge für das Wohlergehen des Kindes (vgl. SHORTER 1986). Die These der gering ausgeprägten Liebe bzw. Liebesfähigkeit von Eltern in der traditionalen Gesellschaft blieb in der neueren Forschung nicht unwidersprochen. So geht z.B. der französische Historiker EMANUEL LEROY LADURIE nicht von einer geringeren, vielmehr aber von einer anderen Qualität vormoderner Elternliebe aus: Eltern liebten ihre Kinder aufgrund ihrer materiellen Bedeutung als Arbeitskräfte und Altersvorsorge. Die direkte intergenerationale Abhängigkeit in der organischen Fürsorgebeziehung ließ Eltern durchaus Trauer und Verzweifelung beim Tode eines Kindes verspüren (vgl. LEROY LADURIE 2000). Neben historischen Studien ist zudem auf Erkenntnisse aus der Humanethologie
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und Bindungstheorie zu verweisen, die kulturübergreifend das Phänomen des ‚intuitiven Parenting‘ nachweisen. Hierzu erläutert etwa UWE KREBS, dass die „Hilflosigkeit des menschlichen Säuglings ... die differenzierten Pflegemöglichkeiten der menschlichen Mutter bereits [antizipiert; D.G., E.D.], vergleichbar etwa mit einem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Aus wahrscheinlich stammesgeschichtlich vorprogrammierter Pflegebereitschaft und beiderseitigen Bindungsmechanismen zwischen Mutter und Säugling wird in der Regel eine Pflegegewissheit, die man mit dem Begriff der ‚Mutterliebe‘ sprachlich treffend von anderen Zuwendungsformen abgrenzt“ (KREBS 2001, S.117). Auch wenn vor diesem Forschungshintergrund heute mehr und mehr Konsens darüber besteht, dass auch Eltern in vormodernen Gesellschaften die Fähigkeit besaßen, Kinder zu lieben und über ihren Tod zu trauern, so setzte sich die moderne Vorstellung von Kindheit als Moratorium, als Lebensphase eigenen Rechts, die im emotionalen Binnenraum der Kernfamilie lokalisiert ist, historisch erst mit der Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie im 18. Jahrhundert durch. Die Kleinfamilie basiert auf starken Gefühlsbindungen. Romantische bzw. passionierte Liebe, die in der traditionalen Lebensgemeinschaft nicht als Grundlage der Ehe gefordert wurde, avanciert zum zentralen ehestiftenden Motiv. Neben der ‚Gattenliebe‘ bildet die ‚Mutterliebe‘ eine zentrale Sozialnorm innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie. Die Familie wurde so zum sozialen Ort für Gefühlsbedürfnisse in einer mehr und mehr kontingenten, fluktuierenden und rationalisierten gesellschaftlichen Umwelt. Die im Vergleich zur vormodernen organischen Gemeinschaft zunehmende Distanz, Kühle und Anonymität zweckrationaler gesellschaftlicher Rollenbeziehungen und rationaler Lebensführungen findet in der Familie einen emotionalen, an tiefen menschlichen Bindungen orientierten Ausgleich (vgl. LUHMANN 1982; PEUCKERT 2002). Die Liebe zum Kind ist in der bürgerlichen Kleinfamilie untrennbar mit dem Gebot seiner optimalen Förderung verknüpft. So bildete sich eine Deutung des Kindseins als Vorbereitung auf das Erwachsenenleben durch Spielen und Lernen unter gezielter pädagogischer Lenkung heraus. Wie GÜNTER ERNING betont, führten die Entstehung der bürgerlichen Familienkindheit sowie die Erziehungsvorstellungen des aufgeklärten Bürgertums insgesamt zu einer „sich langsam wandelnden Einstellung zur frühen Kindheit: Diese wurde als eine Zeit besonderer Obhut und Fürsorge für die jetzt entdeckten und respektierten kindlichen Bedürfnisse gesehen“ (ERNING 1987, S.19). Diese neue Sensibilität für kindliche Belange im emotionalen Binnenraum der bürgerlichen Kleinfamilie steht motivgeschichtlich in einem engen Zusammenhang mit der Sorge um den Statuserhalt der bürgerlichen Familie, der eine möglichst optimale Förderung des Nachwuchses erforderlich machte. Nicht zuletzt deshalb fand die auf JEAN-JACQUES ROUSSEAU zurückgehende ‚Entdeckung‘ der besonderen ‚Natur des Kindes‘ und mit
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ihr das aufkommende Verständnis für die Eigenart der Entwicklung und der Bedürfnisse von Kindern im Bürgertum schnell Verbreitung. Die Erkenntnis, dass Kindheit der Status einer eigenständigen Entwicklungsphase zukommt, mithin von einer Erwachsenen-Kind-Differenz auszugehen sei, führte zu der für modernes pädagogisches Denkens zentralen Einsicht, Erziehung auf die Entwicklung des Kindes zu beziehen und Kinder von entwicklungsgefährdenden gesellschaftlichen Einflüssen abzuschirmen. So fand der ebenfalls auf ROUSSEAU zurückgehende Gedanke von ‚Kindheit als Schonraum‘ in der bürgerlichen Kleinfamilie einen sozialen Ort. Maßnahmen einer bewussten und kindgemäßen Erziehung zeigen sich z.B. in der Einrichtung von Kinderzimmern, ausgestattet mit kindgerechtem Spielzeug und pädagogischer Kinderliteratur. Die veränderte Haltung gegenüber Kindern wurde von Seiten der sich als Wissenschaften und Professionen konstituierenden Medizin und Pädagogik gestützt. Die Medizin erschloss sich mit der Versorgung von Schwangeren, der Geburtshilfe sowie der entwicklungsförderlichen Pflege von Kindern neue Aufgabenbereiche, für die sie gegenüber den tradierten lebensweltlichen Praxen Deutungshoheit beanspruchte (vgl. SCHÜTZE 1991). Die sich sukzessive aus der Gebundenheit an Theologie, Kirchenlehre, Staatslehre und Philosophie herauslösende Pädagogik schärfte den Blick für eine an den Grundsätzen der Vernunft ausgerichtete Erziehung. Kritiklos übernommene autoritätsgläubige und traditionsgeleitete Handlungsorientierungen wie z.B. ‚Großmütterweisheiten‘ oder die ‚väterliche Verfügungsgewalt‘ wurden von nun an dem Wahrheits- und Richtigkeitsanspruch einer neu entstehenden Disziplin unterworfen. Als zentrale pädagogisch-anthropologische Neuorientierungen des 18. Jahrhunderts gelten der Blick auf die Vernunftbegabung des Menschen durch IMMANUEL KANT sowie der Gedanke der Entwicklungsplastizität und Perfektionierbarkeit des Menschen, der z.B. von ROUSSEAU durch die Ablehnung der Erbsündenlehre und das Konzept der perfectibilité sowie von JOHN LOCKE durch die Tabula-rasaAnthropologie vertreten wurde. Vor diesem Hintergrund wurden die Einflüsse bereits der (frühen) Kindheit z.B. von JOACHIM HEINRICH CAMPE, JOHANN HEINRICH PESTALOZZI oder FRIEDRICH FRÖBEL als lebensprägend wahrgenommen, so dass der materiellen und personellen Umwelt des Kindes eine entscheidende Entwicklungsbedeutsamkeit beigemessen wurde. Als primäre und entscheidende Umwelt des Kindes – hier schließt sich wiederum der Kreis zu den Entwicklungen hin zur bürgerlich gestifteten Kleinfamilie – galt in erster Linie der Binnenraum der Familie. In ihm wiederum wurde insbesondere der Emotionalität der Mutter-Kind-Beziehung eine große Bedeutung beigemessen. Dies wird auch an der frühpädagogischen Literatur dieser Zeit sichtbar. So präsentiert z.B. PESTALOZZI seine Elementarmethode für die Frühe Bildung von Kindern
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unter dem Titel „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Ein Versuch, den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten“ (PESTALOZZI 1801/1956). In der fortgeschrittenen bzw. modernisierten Moderne steigen die Ansprüche, die an Liebe im Kontext bürgerlich-familialer Erziehung gestellt werden. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts machen zunächst die Psychoanalyse, später die Bindungsforschung und die Entwicklungspsychologie und neuerdings vor allem die Hirnforschung auf die Bedeutsamkeit von starken Gefühlsbindungen und emotional-interaktionellem Beziehungsgeschehen für die gesunde Entwicklung von Kindern aufmerksam. Seit den 1980er Jahren wird zudem eine zunehmende Pädagogisierung und Inszenierung des Kinderlebens aus Liebe zum Kind konstatiert. Liebe ist hier nicht nur auf das Glück und Wohlbefinden des Kindes in seiner Gegenwart fokussiert, sondern richtet sich auch auf optimale Förderung sowie die Beseitigung und Korrektur von Mängeln und die Stärkung möglichst aller Anlagen und Fähigkeiten. Nach HEINZ GÜNTER HOLTAPPELS und PETER ZIMMERMANN absolvieren „nicht wenige Kinder heute zahlreiche Trainings, Kurse und Förderprogramme. Dies betrifft sicherlich in erster Linie Kinder von meist gut verdienenden Eltern. Solche Kinder haben alles, was zur modernen Kindheit gehört: pädagogisch wertvolles Spielzeug, Computer-Lernsysteme, aber auch eine schicke Garderobe. In den internationalen, unverschämt teuren ‚Learning Centers‘ werden vierjährige ‚Genies‘ am Flügel oder an der Geige ausgebildet. Es gibt Eltern, die wollen schon ihren acht Monate alten Säuglingen mit Lernkarten das Zählen beibringen. ‚Head start‘ heißt das Zauberwort. Im Kleinkindalter werden heutige Kinder zum Karrierevorsprung angetrieben, und Erziehung verkommt dann zum Wettrennen um die ersten Plätze in unserer Gesellschaftshierarchie“ (HOLTAPPELS/ZIMMERMANN 1990, S.166).
Liebe im Kontext familialer Erziehung steht daher vielleicht heute mehr denn je vor dem grundlegenden erziehungsethischen Problem, das Kind einerseits in seiner Gegenwart und Wirklichkeit zu lieben, es andererseits auch im Hinblick auf seine Zukunft zu fördern, ohne das Recht auf sein unmittelbares Glück im Augenblick aufzuopfern.
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Liebe als Problem professioneller Erziehung
Liebe gilt also in familialen Erziehung als unverzichtbar. Ist Liebe aber auch im Kontext öffentlicher Erziehung erwartbar und wünschenswert? Die Beantwortung dieser Frage setzt einen Blick auf die Struktur pädagogischen Handelns und den Diskurs über personale Pädagogik voraus. NIKLAS LUHMANN und KARL EBERHARD SCHORR bescheinigen der Erziehungswissenschaft und der professionellen Pädagogik ein strukturelles Technologiedefizit. Für psychische und soziale Systeme gibt es keine Kausalgesetzlichkeit der Natur, mithin auch keine ob-
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jektive Technologie, die man nur identifizieren und anwenden müsste (LUHMANN/SCHORR 1979). In der Geschichte pädagogischer Theoriebildung ist diese Erkenntnis nicht neu. Lernen wird bereits bei Klassikern der Aufklärungspädagogik als selbstbezüglicher, erfahrungsabhängiger und eigenaktiver Prozess beschrieben. Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten können nicht übertragen werden, sondern müssen von den Lernenden eigenaktiv aufgebaut werden. Das bedeutet für die Pädagogik, dass fehlende Technologien durch pragmatische Hilfsmittel substituiert werden müssen. Zum einen kann Lernen durch die Gestaltung einer Bildungsumwelt und durch die Anwendung von Methoden und Techniken des Lehrens und Erziehens angeregt werden. Der Pädagoge unterbreitet also Lernangebote, die freilich von den Subjekten ihres Lernprozesses immer auch ausgeschlagen oder anders als erwartet verwendet werden können. Pädagogisches Handeln ist daher konstitutiv von der Eigentätigkeit, Lernbereitschaft und dem Mitwirken der Adressaten abhängig (vgl. DRIESCHNER 2007). Angesichts der Eigenaktivität des Lernens und der Nicht-Instrumentalisierbarkeit pädagogischen Handelns entwickelten sich in der Theoriegeschichte der Pädagogik Positionen, die Erziehung als auf Liebe und Vertrauen basiertes Handeln zwischen zwei Subjekten konzipierten. Für die Aufklärungspädagogik sei beispielhaft AUGUST HERMANN NIEMEYER herangezogen. Er beantwortet die Frage: „Was könnte an sich wünschenswerter sein, als von seinen Zöglingen geliebt zu werden?“ mit dem Satz: „Man hat dann die halbe Arbeit mit ihnen; man findet in ihrer Anhänglichkeit oft den einzigen Lohn, und namentlich der Hauslehrer oft die einzige Entschädigung für alles, was ihn sonst seine Lage drückend machen würde“ (NIEMEYER 1879, S.242). Von Schülern geliebt zu werden, erhöht demnach die Chancen erfolgreicher Belehrung. Hier zeigt sich also ein frühes Beispiel für die Thematisierung von Liebe als pragmatischem Erziehungsmittel. Der gezielte, professionell dosierte Einsatz von liebevollen Näheangeboten erhöht die Wahrscheinlichkeit einer lernförderlichen Atmosphäre zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Erzieher und Zögling. Allerdings nimmt NIEMEYER auch Gefahren wahr, die dann auftreten, wenn sich Lehrende um Liebe und Zuneigung ihrer Schülerinnen und Schüler bemühen. Wird das Mittel Liebe falsch dosiert, so kann die Zuneigung der Lernenden überbordend werden. Solcher Gefühlsüberschwang aber ist für eine lernförderliche Atmosphäre wiederum hinderlich. Die Zuneigung der Schülerinnen und Schüler darf nicht zur Schwärmerei für ihren Lehrer ausarten. Umgekehrt dürfen auch Lehrkräfte sich nicht hinreißen lassen. So dürfen sie bei ihrem Bemühen um die Gunst ihrer Schülerinnen und Schüler nicht Nachgiebigkeit gegenüber deren Wünschen zeigen. Sie dürfen Einzelne nicht begünstigen oder gar betteln und buhlen um deren Gunst. Vielmehr muss das Bemühen von Lehrenden um
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die Zuneigung ihrer Schülerinnen und Schüler immer davon geleitet sein, dass man das Beste für sie will, auch wenn diese das nicht unmittelbar einsehen. Wird so aus aufklärerischer Tradition auf das Erziehungsmittel ‚Liebe‘ geschaut, erscheint es also erstmals als professionell zu gestaltendes Beziehungsmoment. Neben der Frage, wie dieses Mittel zu gestalten ist, ergibt sich aus einer professionellen Perspektive damit die zweite Frage, von welcher Basis aus und auf welches Ziel hin dieses Mittel zu gestalten ist. Um 1800 setzte sich erstmals JOHANN FRIEDRICH HERBART mit dieser Frage auseinander. Er systematisierte, ähnlich wie sein Zeitgenosse FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, dass erzieherische Aufforderungen immer in der Gegenwart des Kindes liegen, aber immer auch auf die Zukunft des Kindes gerichtet sind. Insofern ist es mit guter Wahrscheinlichkeit möglich, dass professionell reflektierte und initiierte pädagogische Initiativen mit unmittelbaren Interessen und Befindlichkeiten des Kindes oder des Jugendlichen in seiner Gegenwart kollidieren können. Dementsprechend stellt JOHANN FRIEDRICH HERBART der pädagogischen Liebe die Autorität des Erziehers qua Aufgabe und Amt zur Seite. Der Erzieher ist – professionsethisch, nicht professionssoziologisch zu verstehen – eine Art Anwalt des Kindes im zeitlichen Kontinuum zwischen Gegenwart und Zukunft. Seine professionelle Autorität kann im Beziehungsgeflecht zwischen Erzieher und Zögling nur durch das Vertrauen des Zöglings einerseits und durch die Verantwortungsübernahme für den Zögling andererseits mandatiert sein. Dieser Doppelaspekt gehört für HERBART zur ‚Regierung‘, durch die erst die Voraussetzungen von ‚Erziehung‘ geschaffen werden. Das Mandat des Vertrauens aber muss durch den Zögling vergeben werden, um dieses Mandat muss der Erzieher werben. Insofern gehört das Erziehungsmittel Liebe zu den vertrauensbildenden Maßnahmen, über die ein professioneller Erzieher handlungsorientierend zu verfügen habe. Damit ist aber bereits eine Erweiterung der Diskussion angedeutet. Denn so verstanden ist Liebe nicht mehr nur, wie in der Aufklärungspädagogik, Mittel des Erziehungsprozesses. Sie ist zugleich auch implizit eines seiner Ziele. Nur dort, wo eine liebevolle Beziehung entsteht, ist jenes Vertrauen dauerhaft gegeben, welches die Mandatierung des Erziehers im professionell gestalteten personalen Bildungsverhältnis dauerhaft sicherstellt. Erst die Kombination aus pädagogischer Autorität und Liebe kann, nach dieser Argumentation, dem pädagogischen Handeln eine dauerhaft feste Basis geben (vgl. HERBART 1965, S.49). Die Diskussion um Liebe als Ziel von Erziehung gewann etwa 100 Jahre später, nach 1900, insbesondere in der Jugendbewegung und der sich formierenden Reformpädagogik eine weitere, ganz anders akzentuierte Bedeutung. Vor dem Hintergrund neuer Deutungen und Interpretationen insbesondere der Kulturtheorie, der Psychologie und der Soziologie wurden neue Themen interesseleitend.
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Von der Kulturkritik wurden die Strukturen und Prozesse der modernen Industriegesellschaft in Frage gestellt. ‚Jugend‘ wurde das Potenzial zugesprochen, diese aufbrechen zu können. Jugendliche Gemeinschaft wurde so gegen die interessenteilige Gesellschaft in Front gebracht. Das jugendbewegte Motiv des ‚Jugend erzieht Jugend‘ verwies auf die Hoffnung einer generationellen Erneuerung: Junge Menschen nehmen selber ihr Leben in die Hand, solidarisch und engagiert, frei und doch in ihrer Gemeinschaft gebunden machen sie sich auf den Weg in ein gänzlich neues Leben, so das Gefühl. Hier war eine Art ‚erotischen Feuers‘ für Gruppenbeziehungen, für das Schwärmen an sich ausgebrochen, an dessen Flamme sich viele wärmen wollten. Zugleich entdeckten die Psychologie und die Soziologie das Jugendalter als nicht nur eigenständiges, sondern auch eigenwertiges Lebensalter. Insbesondere die Psychoanalyse revolutionierte mit ihrer Entdeckung kindlicher und jugendlicher Dimensionen von Sexualität den Blick auf die nachwachsenden Generationen. Im pädagogischen Reformmilieu wie im ‚Wandervogel‘ verknüpften sich diese Aspekte zu einem ganz neuen Moment. Liebe wurde zum Ziel von personalen Bildungsprozessen. In dieser Thematisierung von Liebe kam auch all‘ das Verdrängte wieder zum Tragen, das während des 19. Jahrhunderts mit der inzwischen zum gesellschaftlichen Leitbild avancierten Codierung von Intimität in den Geleisen der bürgerlichen Kleinfamilie ins soziale und psychische Dunkel gedrängt worden war. Die Wiederentdeckung von Erotik wurde viel weiter gefasst als in der bürgerlichen Fixierung auf den ehelichen Begattungsakt. Erotik umfasste die Begeisterung für gemeinsame Erlebnisse, die Möglichkeit, Gemeinschaft und Nähe auch zu mehreren, ja vielen Menschen erfahren zu können, die Zuwendung und Zuneigung auch zwischen Menschen unterschiedlicher Generationen ebenso wie zwischen Menschen des gleichen Geschlechts. Solche Hoffnung auf rauschhafte Verbindung zwischen Menschen in den unterschiedlichsten Dimensionen sollte in jugendlicher Gemeinschaft Gestalt gegen die rationale Ordnung der rationalisierten modernen Gesellschaft annehmen. Solche erotische Befreiung von Jugend bedeutete freilich, im Gegenzug, auch die Gefährdung des sexuellen Moratoriums, das Kinder und Jugendliche in den Deutungen über Liebe seit dem 18. Jahrhundert schützte. Wenn der erotische Rausch wesentliches Ziel aller Bildungsbestrebungen sein sollte, wenn intergenerationelle, außerfamiliale, gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht mehr per se obsolet waren, so bedeutete dieses nicht nur eine Befreiung und Bereicherung von Jugend, sondern auch deren Gefährdung. Die Frage stand an, wie Kinder und Jugendliche vor Übergriffen professioneller Erzieher zu schützen sein könnten; umgekehrt war zu klären, wie professionelle Erzieher einerseits die erotische Dimension jugendlichen Lebens anerkennen können, ohne sich andererseits an diese zu verlieren.
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So ist es nicht zufällig, dass die Geisteswissenschaftliche Pädagogik die Thematisierung von Erziehung als Begegnung und Bildungsgemeinschaft zu einem ihrer Hauptthemen machte. Beziehungsmerkmale wie Liebe, Vertrauen, Zuwendung, aber auch Eifersucht, Misstrauen und Enttäuschung zwischen Erzieher und Zögling sowie pädagogische Autorität werden mit dem Gedanken der Bildung als Persönlichkeitsentwicklung verbunden. Viele Konzepte wurden in diesem Zusammenhang entwickelt. Besonderen Bekanntheitsgrad hat HERMAN NOHLS Verständnis der Grundlage von Erziehung erhalten, der diese definierte als ‚das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und zu seiner Form komme‘ (vgl. NOHL 1978). Mit dieser Definition nimmt NOHL, seinerseits insbesondere die psychologischen Erkenntnisse ALFRED ADLERs zur psychosexuellen Entwicklung des Kinder- und Jugendalters rezipierend, u.a. den theoretischen Bezugspunkt von ‚Liebe‘ und ‚Autorität‘ wieder auf, der schon bei HERBART festgestellt worden war. Seine Definition, die zugleich eine Forderung ist, zielt mit ihren normativen Bestandteilen des ‚leidenschaftlichen Verhältnisses‘ insbesondere auf eine weitere Festigung des Ethos von Pädagogen. Dieses ist freilich, paradox nur auf den ersten Blick, erklärlich vor dem Hintergrundleuchten einer Vorstellung von wechselseitiger Bildung als Persönlichkeitsentwicklung auf den zweiten Blick, niemals völlig zu professionalisieren. Es ist kein Professionsethos im engen Sinne, das hier angesprochen ist. Vielmehr verweist das Ethos auf die Persönlichkeit des Erziehers selber zurück. Das Verhältnis des beruflichen Erziehers zu seinem Zögling hat demnach doppelt bestimmt zu sein ‚von der Liebe zu ihm in seiner Wirklichkeit und von der Liebe zu seinem Ziel: dem Ideal des Kindes.‘ Gegen deterministische Annahmen pädagogischen Handelns wird auf die Individualität und Autonomie des Zöglings, aber auch des Erziehers sowie die daraus resultierende Dynamik von Bildungsprozessen verwiesen. Hierfür hat NOHL die Rede vom ‚Eigenrecht des Kindes‘ entwickelt. Ein solches ‚leidenschaftliches‘ Verhältnisses ist mindestens in zweierlei Hinsicht problematisch. Es ist problematisch, weil der Erzieher zum einen selber als ganze, als liebende Person, nicht nur als Rollenträger dem Zögling gegenüber tritt. Es ist problematisch, weil sich das ganze Chaos, das sich aus einer solchen Konstellation ergeben kann, nicht in symmetrischen Partner-, sondern in asymmetrischen Abhängigkeitsbeziehungen ereignet. Legitim sein kann ein solches Verhältnis also nur, wenn zwei Bedingungen eingehalten werden. Einerseits muss es sich fügen in den ritualisierten Rahmen eines Autoritätsverhältnisses, das von beiden Seiten nicht in Frage gestellt wird. Andererseits ist unbedingte Voraussetzung das feste Ethos einer Erzieherpersönlichkeit, welches, gegen alle eventuellen Aufwallungen des eigenen Gefühls, ihr gesamtes Streben darein gibt, dieses pädagogische Verhältnis ebenso wie die eigene Person durch Unterstüt-
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zungsleistungen für die Selbständigkeit des Zöglings sobald als möglich überflüssig zu machen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie zentral der Aspekt der Beziehungsdynamiken in der pädagogischen Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Generell betonte, auch jenseits von NOHL, die Geisteswissenschaftliche Pädagogik die Dynamiken von Beziehungsgeflechten als wesentliches Konstituens pädagogischer Prozesse. So thematisierte, um nur einige wenige weitere Beispiele in Erinnerung zu rufen, THEODOR LITT die unauflösbare Dialektik von Führen und Wachsenlassen, Behüten und Freigeben, Unterstützen und Schützen, in der Erziehungsverhältnisse und -handlungen stehen (vgl. LITT 1927). Durch die helfende Kraft einer bewusst gestifteten und unbewusst bejahten Bindung sollte das Gelingen erzieherischer Einwirkungen wahrscheinlicher gemacht werden. Dieses Bemühen war freilich, wie etwa EDUARD SPRANGER ausgeführt hat, als nicht technologisches, als niemals vollständig professionell operationalisierbares immer dem ‚Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen‘ unterworfen (vgl. SPRANGER 1969). Solche Thematisierungen von Liebe und Beziehung als unauflösliche Voraussetzung pädagogischer Beziehungen gerieten mit den Reformen zum Ausbau des Bildungssystems und der damit verbundenen weitergehenden Verwissenschaftlichung der akademischen Pädagogik zur Erziehungswissenschaft in die Defensive. Seit den 1960er Jahren geriet die Redeweise von der ‚pädagogischen Liebe‘, wie sie zu Zeiten der Aufklärungs- und Reformpädagogik thematisiert worden war, in ein Spannungsverhältnis zum pädagogischen Professionalisierungsdiskurs. Dieser Diskurs kann als Nachfolger des Diskurses um Liebe und Autorität begriffen werden. Professionen sind, wie schon die klassische, aus dem Amerikanischen kommende, berufssoziologische und -historische Professionstheorie herausgearbeitet hat, im sozialen Ausdifferenzierungsprozess entstandene Instanzen. Diese dienen der Bearbeitung von Krisen und Problemen der Lebenspraxis durch Bereitstellung von Konsens, Therapie oder Wahrheit. Wahrheit, Konsens und Therapie gelten als Funktionsvoraussetzungen von Gesellschaft, deren Herstellung nach BERNHARD KORING ein „soziales Dauerproblem“ der Moderne darstellt (KORING 1989, S.66f.). Hierzu entwickelten sich im Prozess der Modernisierung von Staat und Gesellschaft soziale Funktionsstrukturen. Eine solche Funktionsstruktur zeigt sich demnach in den klassischen Professionen der Moderne wie denen der Ärzte oder Juristen. Analog können auch Erziehung und Bildung als zentrales Lebensproblem in der Kontingenz voraussetzenden wie befördernden Moderne aufgefasst werden. Freilich wurde schon von TALCOTT PARSONS, dem Hauptvertreter des klassischen Strukturfunktionalismus, der relevante Unterschied zwischen Ärzten und
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Juristen auf der einen Seite und Lehrern und Erziehern auf der anderen Seite herausgearbeitet. Geht es Professionen, die den klassischen Definitionskriterien entsprechen, immer darum, die Besonderheiten der individuellen Problemlage in die ritualisierte und routinisierte Fallbearbeitung innerhalb ihrer Institutionen im Gesundheitssystem und Rechtssystem zu übertragen, müssen Beziehungsarbeiter wie Lehrer und Erzieher solche Arbeit im Bildungssystem zwar auch leisten. Es bleibt in ihrer Arbeit aber immer das Moment, das Einmalige, Besondere, Idiosynkratische auf die Person des Schülers, des Hilfe- und Entwicklungsbedürftigen zurück zu beziehen. Zugleich liegt die Besonderheit jener der Professionalität zugeordneten Institutionen Schule und Jugendhilfe, anders als der Institutionen des Gesundheits- und Rechtspflegesystems, darin, nicht als ‚Andere‘ den lebensweltlichen Systemen gegenüber zu treten. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, Wahrscheinlichkeiten der Passung zwischen diesen zu erhöhen. PARSONS konkretisiert seine Sicht der Dinge in seiner These zur Feminisierung des Grundschullehrerberufs. Demnach liegt die professionelle Aufgabe, die in der Grundschule zu leisten ist, darin, Kinder, die aus den Strukturen der Familie kommen, in denen die Intimität situationsabhängiger, diffuser, emotional grundierter Vertrautheitsbeziehungen vorherrscht, vorzubereiten auf die Strukturen der arbeitsteiligen Gesellschaft, in der die Abstraktheit strukturbedingter, regelgeleiteter, rollenförmiger Rechtsbeziehungen vorherrscht. Dementsprechend ist es für PARSONS logisch, dass der Beruf des Grundschullehrers mit der Modernisierung der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zu dem der Grundschullehrerin wurde: In der Inszenierung von ‚Mütterlichkeit als Beruf‘ – wie sie, aus ganz anderen Traditionen kommend, auch am Beginn der Sozialpädagogik in der deutschen Debatte um 1900 thematisiert wurde – holen Frauen Kinder gewissermaßen aus der familialen Systemlogik ab. Sie bleiben aber nicht bei der liebevollen Beziehung stehen, sondern überführen diese schrittweise in die rollenförmigen, rechtlich regulierten Beziehungsformen der außerfamilialen Welt (vgl. PARSONS 1968). In dieser These, die aus Sicht der historischen Bildungsforschung freilich inzwischen um einiges zu differenzieren wäre, wird wieder das Motiv von Liebe als Erziehungsmittel dominant. Die mütterlich liebevolle Grundschullehrerin inszeniert ein wohnstubenartiges Setting, um den Schritt der Kinder aus der Familie hinein in die Gesellschaft zu erleichtern. Dieses ist eine verantwortungsvolle, freilich im Sinne der klassischen Professionssoziologie keine professionelle Aufgabe, insofern ihr die Klarheit distanzierter Fallbearbeitung abgeht. Wie oben bereits eingeführt: Gute Lehrer unterrichten immer Kinder, niemals Fächer.
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Dieser strukturfunktionalistische Ansatz nach PARSONS ist auch ULRICH OEVERMANN bekannt, er wählt allerdings einen anderen Weg zu seiner weiteren Argumentation. Er diskutiert Bildung und Erziehung in Strukturanalogie zur professionell betriebenen Therapie. Dementsprechend betont er, über die klassische Professionssoziologie hinausgehend, das von PARSONS beschriebene Problem produktiv aufnehmend, nicht die Fallartigkeit alleine, sondern vielmehr sehr wohl die Dialektik von diffusen, d.h. auf die gesamte Person ausgerichteten, und universalistischen, d.h. rollenförmigen, zeitlich und räumlich begrenzten und an bestimmte Ziele gebundenen professionellen Handlungsformen. Diese sind für alle personenbezogenen Professionen konstitutiv, für pädagogische Professionalität ist ihre Betrachtung von besonderer Bedeutung. Im Effekt führt aber auch dieses Analysemodell von Professionalität OEVERMANN zur Annahme eines grundlegenden pädagogischen Professionalisierungsdefizites. Dieses sieht er darin, „dass die Lehrer diese widersprüchliche Einheit von Diffusität und Spezifizität nicht aufrechterhalten können, sondern entweder zur distanzlosen ‚Verkindlichung‘ des Schülers oder zum technologischen, wissensmäßigen und verwaltungsrechtlichen Expertentum zerfallen lassen“ (OEVERMANN 2002, S.155).
OEVERMANN geht es also, darin folgt er PARSONS durchaus, um eine strukturale, handlungslogische Beschreibung von Erziehung. Neben der Wissens- und Normenvermittlung kommt Erziehung aus strukturaler Sicht auch eine prophylaktisch-therapeutische Funktion zu. Da Schülerinnen und Schüler in der Regel vor Abschluss der Pubertät entwicklungsbedingt nur bedingt zwischen diffusen und spezifischen Rollenbeziehungen trennen können, betrifft die partikular angelegte Vermittlung von Wissen und Normen immer auch ihre gesamte Person, mit OEVERMANN gesagt: ihre ‚psychosoziale Integrität‘. Aufgabe von Erziehung ist folglich die Förderung der psycho-sozialen Gesundheit von Kindern und der Versuch der Vermeidung krisenhafter Entwicklungsverläufe. Ein Strukturmerkmal professioneller Beziehungskonstitutionen liegt also darin, dass sich in professionell angeleiteten Verhältnissen anders als in der Familie diffuse und rollenförmige Anteile in der Sozialbeziehung mischen. Professionelle Handlungskompetenz zeigt sich vor diesem Hintergrund als Fähigkeit zur Regulierung von Nähe und Distanz. Insbesondere in der Sozialpädagogik, welche seit ihrer akademischen und professionellen Aufwertung seit den 1970er Jahren die Notwendigkeit sah, sowohl konzeptuell-theoretische als auch professionsanleitende Orientierungen zu entwickeln, wurde dieses Begriffspaar aufgenommen und vielfältig weiter diskutiert. Von hier aus substituierte dieses Begriffspaar, auch auf andere pädagogische Berufsfelder zurückwirkend,
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im Professionalisierungsdiskurs die ältere pädagogische Rede über Liebe und Autorität. Grundlage des Handelns in der professionellen Praxis sind nicht ergebnissichere Interventionen, sondern stellvertretende Deutungen. Diese sind für OEVERMANN zunächst das naturwüchsige Grundprinzip erzieherischer Interaktionen, in denen Eltern ihren Kindern den in Interaktionen erzeugten Sinn deuten, damit ihrer Sinninterpretationskompetenz vorgreifen und ihnen somit wichtige Orientierungen im Subjektaufbau geben. Professionelle stellvertretende Deutungen setzen diese lebensweltliche Praxis mit Bezug auf wissenschaftliche Rationalität fort. Sie sind eingebettet in Arbeitsbündnisse als Figurationen von Nähe und reflexiver Distanz. Auch im Kontext pädagogischer Professionalisierungstheorie wird somit, wie zuvor im Diskurs der Aufklärungs- und Reformpädagogik, die Abhängigkeit des Pädagogen vom freiwilligen Mitwirken und Mitmachen seiner Adressaten als Kennzeichen pädagogischen Handelns beschrieben. Dieser Selbstreferenz des Lernens wird mit dem Gedanken des pädagogischen Arbeitsbündnisses im Sinne einer freiwilligen und eigenmotivierten Kooperation begegnet (vgl. OEVERMANN 2002). Die professionell betriebene pädagogische Gestaltung und Aufrechterhaltung eines solchen Arbeitsbündnisses setzt auf Seiten des Professionals voraus, Nähe zu zeigen und Vertrauen zu wecken. So gehört es zu seinem Professionsethos, das Nicht-Wissen, Nicht-Können und Nicht-Wollen des Kindes bzw. des Klienten nicht zum Gegenstand einer negativen Einschätzung zu machen. Vielmehr ist es demnach professionelle Aufgabe, Kindern und Jugendlichen Lernund Deutungsangebote zu unterbreiten, mit denen Wissens-, Könnens- und Motivationsdefizite überwunden werden kann. In gewisser Weise ergibt sich aus dieser Entwicklung der Professionsdebatten in Bezug auf Nähe eine erstaunliche Strukturanalogie zu den am Beispiel von NIEMEYER und HERBART angedeuteten Debatten über Liebe um 1800: Während im ersten Schritt sehr klar über Liebe/Nähe als Erziehungsmittel diskutiert wurde, führten weitere Schritte der Diskussion auch hier wieder zu einer impliziten Hereinnahme des Aspektes von Liebe/Nähe als Bildungs- bzw. Erziehungsziel. Ähnliche Phänomene des Changierens zwischen diesen beiden Polen sind auch bezüglich der Interpretation neuester Forschungsergebnisse aus der Hirnforschung zu beobachten. Ihre Ergebnisse legen nahe, dass Lernen unter Druck und Zwang eine Form pädagogischer Beziehungsgestaltung ist, welche mit vielerlei unerwünschten Nebenwirkungen belegt ist. Umgekehrt verweisen vielfältige Forschungen aus verschiedenen Disziplinen klar auf eben positive Lerneffekte durch freiwillige Kooperationen. Als bewährtes Wissen dieser Forschungsrichtungen kann heute gelten, dass kognitives Lernen immer auch emotional gefärbt
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ist. So werden negative Begleitemotionen wie Angst und Furcht beim Lernen eines Inhaltes immer mitgelernt. Zuletzt hat die Hirnforschung auf die Rolle des Mandelkerns (Amygdala) in der emotionalen Bewertung von äußeren Reizen verwiesen. Wird eine Situation als angst- und furchtauslösend eingestuft, reagiert die Amygdala mit der Ausschüttung von Neurotransmittern, welche die Organe des Körpers in einen Alarmzustand versetzen. Insofern führt die Aktivierung der Amygdala zu einer kognitiven und emotionalen Verengung, durch die das Lernen sowie das freie, kreative und flexible Denken beeinträchtigt werden (vgl. SPITZER 2009, S.165). Im Zuge des Aufkommens dieser neuen Forschungsrichtung ist wiederum zu beobachten, dass zuerst, kommt die Diskussion auf Beziehungsaspekte, die Dimension von Beziehungsgestaltung als Mittel diskutiert wird. Bevor sich diese aktuelle Diskussion zur Ziel-Diskussion fortentwickeln wird, wird es allerdings interessant sein zu beobachten, wie sie mit einer anderen Debatte interagieren wird: Hier ist nämlich festzuhalten, dass sowohl vor dem theoretischen Hintergrund OEVERMANNs wie vor dem empirischen Hintergrund der Hirnforschung Nähe und Bindung zentrale, für die positive Entwicklung förderliche Faktoren sind. Demgegenüber sind Disziplin und Angst umgekehrt als emotional negativ gefärbt zu problematisieren. Dem aber steht ein Diskurs öffentlicher Bildungskritik gegenüber, der eigentlich ein Diskurs konservativer Kulturkritik ist. So wird derzeit, um nur Beispiele zu nennen, im Anschluss an BERNHARD BUEB das ‚Lob der Disziplin‘ gesungen oder, im Anschluss an MICHAEL WINTERHOFF die Krisenrhetorik über das Vernachlässigen von Grenzsetzung als Erziehungsaufgabe angestimmt (vgl. BUEB 2007; WINTERHOFF 2008). Inwieweit sich die professionsorientierte und theoretische Debatte um Liebe und Nähe, welche an Bedeutung der Bindung und freiwilliger Kooperation festhält, gegen die öffentlichen Krisenrede von Disziplin und Zwang durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Professionell-pädagogisches Handeln, so lässt sich zusammenfassen, wird sowohl in klassisch pädagogischer Theoriebildung als auch in der neueren Professionalisierungstheorie als in unauflösliche Dialektiken eingebunden gesehen. Übergreifend gilt es bei der Beobachtung von Debatten zunächst immer zu beachten, ob Liebe bzw. Nähe als Mittel oder als Ziele von Erziehung und Bildung betrachtet werden. Des Weiteren sind schon aus dem hier geleisteten kurzen Überblick grundlegende Antinomien in der Aufgabenzuschreibung für professionell veranstaltete Pädagogik deutlich geworden. Für den Umgang mit diesen Antinomien muss mit GABRIELE BEHLER zudem, schlagworthaft, immer gelten: Professioneller Ethos geht vor Pädagogischen Eros (vgl. BEHLER 2010, S.75).
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Erstens müssen Pädagogen Nähe zu ihren Adressaten zeigen und verdeutlichen, dass ihnen deren Wohlergeben wichtig ist, um eine vertrauensvolle Grundlage für Kooperationen zu schaffen. Andererseits ist auch Distanz zu signalisieren, damit etwa Lehrerinnen oder Lehrer ihre Schülerinnen und Schüler nicht zu sehr an sich binden und Liebe nicht übergriffig bzw. manipulativ wird. Wenn eine Kindergartenerzieherin ein Kind auf den Schoß nimmt, eine Grundschullehrerin über den Schopf eines Schülers streicht oder ein Heimerzieher einen Heranwachsenden in den Arm nimmt, dann hat diese Nähe äußerlich den Anschein der Unmittelbarkeit. Tatsächlich aber darf sie gerade kein Ausdruck einer unmittelbaren Liebe, vergleichbar etwa der von Eltern, sein. Zweitens ist die unüberwindliche Spannung zwischen emotionaler Unmittelbarkeit und professioneller Inszenierung liebevoller bzw. nähehaltiger Verhältnisse zu beachten. Einerseits muss gelten: Professionelle Erzieherinnen und Erzieher beobachten ihr Handeln aus einer Metaperspektive und können und wollen dieses kritisch reflektieren. Eine solche bewusst herbeigeführte Distanzierung durch die Metareflexion des eigenen Handels ist ein wichtiges professionelles Sicherungsmoment, um Verführungs- und Missbrauchsgefahren zu begegnen. Andererseits muss aber auch gelten: Ohne ein Moment unmittelbaren Zugewandtseins, ohne Interesse am Gegenüber, an seinem Wohlergehen, ohne die ganzheitliche personale Grunddimension eines unmittelbaren AufeinanderVerwiesenseins lässt sich das Bildungsziel gelingender Liebe nicht erreichen und bleibt die Inszenierung des Erziehungsmittels Liebe hohle Phrase. Dabei ist drittens zu beachten, dass professionell-pädagogisches Handeln immer in die Spannungen zwischen Anthropologie und Kultur eingebunden ist. Die Bedürfnisse nach Bindung, Liebe und emotionalen Interaktionen können einerseits als anthropologische Grundkonstanten des Menschseins betrachtet werden. Insofern sind sie als immer schon Vorauszusetzendes in pädagogische Arbeit zu integrieren. Andererseits kommen sie in je unterschiedlichen historisch-kulturell bestimmten Ordnungen als immer Wandelbares immer unterschiedlich zum Ausdruck. Insofern müssen sie auch, je konkret, immer wieder neu, auf die jeweils vorfindlichen Um- und Zustände hin neu diskutiert und bewertet werden. Diesen genannten Spannungsfeldern widmen sich die Aufsätze des vorliegenden Bandes, wenn sie Liebe im pädagogischen Feld zwischen Vertrauen und Missbrauch, Bindungspsychologie und Kulturtheorie, emphatischer Vertrautheit und professionell inszenierter Nähe sowie Philosophie und Erziehungstheorie beschreiben und analysieren.
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I. Pädagogischer Eros zwischen Zuneigung, Vertrauen und Missbrauchsgefahr
Wie der pädagogische Eros erfunden wurde. Eine Geschichte von Männerphantasien und Machtspielen Detlef Gaus
Ich kann ihm nichts vermitteln, er liebt mich nicht. Aristoteles
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Einleitung
Das vorangestellte Zitat verweist auf eine Selbstverständlichkeit. Erziehung ist in ihrer unmittelbarsten Form immer Beziehung. Zwar bestimmen in der Gegenwart die Fragen nach der Qualität von Bildungssystemen und nach der Kompetenz von professionellen Lernhelfern die Diskussion. Aber dennoch: Selbst die prominentesten Vertreter dieser anderen um professionell-distanzierte Handlungskompetenz und institutionell-organisatorische Qualitätsentwicklung bemühten Richtung innerhalb der Bildungswissenschaften kommen nicht umhin, das letzte Geheimnis jenes im Falle von Lernen gelingenden Beziehungsdreiecks wechselseitiger Anregung, Begeisterung, Durchdringung und Anverwandlung zwischen Lehrer, Lerner und Gegenstand, jenes Faszinosum einer Liebe von Lehrern, einer Liebe zwischen Lehrenden und Lernenden, einer Liebe zum zu erlernenden Wissen, einer Liebe zum zu Entdeckenden, noch im Dunkel des Möglichen Verborgenen anzuerkennen. Diese 2400 Jahre alte Denkfigur geht schon auf PLATON zurück. Der von jenem erstmals propagierte und seither immer wieder in Variationen, in Ergänzungen und Abgrenzungen umspielte pädagogische Eros entfaltet eine klassische pädagogische Theoriefigur, die von einem Entwicklungsgedanken ausgeht. Vergeistigung, Begeisterung, Liebe zum Wissen und schließlich zur Weisheit, sei das Ziel jener spezifischen Beziehungsform, die wir Erziehung zu nennen uns angewöhnt haben. Bevor diese aber sich derartig vergeistigen, für Höheres ‚be-geistern‘ kann, ist sie in ihrem Entstehungsmoment eine Liebe des Lehrers zum Schüler, eine Liebe des Schülers zum Lehrer. Solche Liebe, auf dieser grundsätzlichen Ebene noch nicht einmal zwingend zu scheiden nach HURV, í oder DJDSH, ist bis heute für die unterschiedlichsten Theoretiker von WILHELM REICH bis zu PAPST BENEDICT XVI. die erste
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Quelle des Lebens, jenes Numinosum, das dem Menschen sein Menschsein erst schenkt. So ist die Liebe zum Menschen, des Lehrers zum Schüler, des Schülers zum Lehrer die vorauszusetzende Basis, dass Begeisterung entstehe. Begeisterung selber ist gereinigte, selbstlose Liebe zur Sache, Hinwendung zum Gegenstand des Lernens. Geliebt werden muss aber auch die Zukunft, die Verbesserung. Denn zum ‚Besten’ soll es dienen, dass die Sache geliebt wird, um ihrer selbst willen erfasst wird, dass die Mühen des Lernens zur Begeisterung sich schließlich entfalten. Eine dreifache Liebe also, zum Menschen, zur Sache, zur zukünftigen Verbesserung, kommt in diesem pädagogischen Eros zusammen. Diese Trias aber wird gekrönt von einer vierten Dimension, welche die pädagogische Liebe über eine Frage der glücklichen Fügung, der Neigung und Fähigkeit und des Ethos hinaus als eine ars armandi kennzeichnet. Sind die ersten drei Dimensionen von Lehrer und Schüler gleichermaßen zu erarbeiten, so ist diese vierte Dimension dem Lehrer alleine anheim gestellt. Es ist dieses die Liebe des Liebens, die pädagogische Liebe, diese amour fou, immer wieder zu versuchen. PLATON hat im ‚Symposion’ für die Absurdität und dennoch unausweichliche Notwendigkeit dieser lehrerseitigen Kunst des Umgangs, die zuallererst eine Kunst des Umgangs mit sich selber ist, eine schrecklich-schöne Bildsprache gefunden: Am Ende dieser liebevollen Konversation über die liebevolle Konversation lässt er Alkibiades auftreten, den Schönen, den Vielgerühmten, den als Jüngling schon Begehrten, den schon jung zu den schönsten Hoffnungen Berechtigten und Berechtigenden, den einstigen Schüler, um den sich der einstige Sokrates so sehr bemüht hatte. Auf tritt ein gewalttätiger, ordinärer, besoffener Prunkprotz, dessen innere wie äußere Verfasstheit den Leser schaudern macht. Und dennoch, gerade deshalb vielleicht – am anderen Morgen lässt PLATON seinen Sokrates in Symposion 222b-223d vom Lager sich erheben, um erneut seinem Tagewerk nachzugehen – dem Tagewerk der ent-deckenden, der einbildenden, der be-geisternden, eben der pädagogischen Liebe. Der Philosoph und Essayist LUDWIG MARUCSE findet für die Notwendigkeit dieser primären pädagogischen Haltung als kulturerhaltender wie kulturstiftender Kunst pathetische Worte: „Ich glaube an die Macht des Vorbildes, des ganz individuellen und sehr sterblichen Ideals; an den beispielgebenden Einzelnen, den man in früheren Zeiten einen Helden nannte. Ich glaube, dass man in unseren Zeiten sich der Pflicht, musterhaft zu sein, entzieht mit der Ausrede, es gilt den Führern zu entgehen und die Institutionen zu verbessern. Man soll das nur tun; doch werden sie niemanden zur Selbstständigkeit erziehen, zum Mut, zu denken, was man denkt, zu fühlen, was man fühlt, zu wollen, was man will. Der beste Weg zum Selbst ist die Faszination durch ein anderes Selbst; die lebende Illustration, wie einer sich traut, er zu sein.“ (MARCUSE 1975, S.25).
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Dieser Jargon des Heldischen, diese Anbetung der pädagogischen Führerfigur, diese „Liebe zum Helden“ als Basis sowohl von Pädagogik wie von Politik, wie HANS BLÜHER sie genannt hat, verstört bei einem, der von den Nationalsozialisten zur Flucht gezwungen, dessen Familie ermordet wurde (BLÜHER 1917ff., 1, S247). Und doch passt er zu einem, der ein Linker war, aber ‚die Linke’ verachtete, der ein Verehrer FRIEDRICH NIETZSCHEs war und ‚seinen’ NIETZSCHE gegen die Vereinnahmung durch die zunächst kulturreaktionäre, später nationalsozialistische Rechte immer rein zu bewahren versuchte, der ein Bildungsbürger war, hineingestellt in eine bildungsbürgerliche Deutungswelt. Dieser Jargon vom pädagogischen Heldenführer sei als Ausgangspunkt dieser Darstellung gewählt. Denn unterstellt wird in den folgenden Ausführungen, dass MARCUSE hier mehr als nur idiosynkratrische Einschätzungen eines literarisch Gebildeten über den fachlichen Komplex ‚Erziehung‘ zum besten gibt. Vielmehr bringt er ein Deutungsmuster zum Klingen, das typisch und aussagekräftig für die gebildeten Eliten seiner Generation war. Dieses Deutungsmuster ist bis heute insofern wirkmächtig, als es den Slogan vom ‚pädagogischen Eros‘ bis in die jüngste Gegenwart hinein mit sehr praktischen und konkreten Folgen am Leben erhält. SABINE SEICHTER arbeitet in diesem Band aus systematischer Perspektive heraus, dass und weshalb ein theoretischer Bezug auf PLATONs Konzept eines ‚pädagogischen Eros‘, angereichert um jugendbewegte Vorstellungen männlicher Bünde aus der Wandervogeltradition BLÜHERs, aus moderner Perspektive weder der psychologischen Forschung noch demokratietheoretischer Überlegung zu überzeugen vermag. Deshalb kommt SEICHTER zu dem Ergebnis, dass – normativ – ein solcher Bezug abzulehnen sei. In den folgenden Ausführungen soll demgegenüber – historisch – darüber aufgeklärt werden, wie, weshalb und warum ein Bezug auf PLATON – und zwar, genauer, auf einen in bestimmter Weise gelesenen und verstandenen PLATON – gerade in der deutschen Kultur- und Sozialgeschichte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts so wirkmächtig werden konnte. Unterstellt wird hier, anders als von SEICHTER, das ‚Platon‘ seinerseits nicht als Autor, sondern als rekontextualisierte historisierende Chiffre zu verstehen ist. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, einige historische Annotationen über Momente des Entstehens dieser Chiffre beizusteuern.
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Platons ‚Symposion‘ – Neuschöpfung eines Textes
Im Jahre 1911 erschien ein Aufsatz von KURT HILDEBRANDT, einem studierten Psychiater mit altphilologischen Interessen: ‚Romantisch und dionysisch‘ sollte die Auseinandersetzung mit der Antike im Allgemeinen und mit PLATON im Besonderen werden (vgl. HILDEBRANDT 1911/1912). Diese Forderung holte, wie 31
KLAUS VON SEE erläutert, ein damals schon 39 Jahre altes Kostümstück neuerlich auf die Bühne: Es war nämlich im Jahre 1872 gewesen, dass NIETZSCHE eine neue, eben dionysische Lesart der Antike gefordert hatte, welche die Wesenskerne des Magischen, des Kultischen, des Ekstatischen als Basis der griechischen Kultur hervortreten lassen sollte. Ins Bewusstsein treten sollte, welch‘ erotisches Fest die Zeugung der europäischen Kultur einst gewesen war. NIETZSCHE hatte damals, ein Jahr nach dem Aufstand der Pariser Commune, erstmals seinen nur vordergründig kulturhistorischen, tatsächlich aber auch eminent politischen Gedanken entfaltet. Für ihn war die gesamte europäische Geschichte zu verstehen als ‚Stände- und Classenkampf‘ Kultur hervorbringender Herren einerseits und kulturloser Knechte andererseits. Für ihn, den Geistesaristokraten, bestand eine permanente Gefahr für die europäischen Kultur darin, dass die ‚Herde‘ des ‚Pöbels‘ sich der Macht nicht nur über die sozialen Verhältnisse, sondern vor allem auch über die kulturellen Deutungen versichere. Solche Prozesse gewahrte er nicht nur auf der Makroebene der Systeme, auf welcher er die ‚Sklavenmoral‘ der jüdisch-christlichen Kultur gegenüber der ‚Herrenmoral‘ der griechischen Antike auf der Siegerstraße wähnte, sondern auch auf der Mikroebene der historischen Phänomene, auf welcher er den aristokratischen Ursprung der mythisch orgiastisch orientierten griechischen Adelskultur dem rational-republikanischen Logos gegenüber stellte, der mit den SOPHISTEN Einzug gehalten und schließlich mit dem Handwerker SOKRATES weltenstürzende Bedeutung erlangt hatte. SOKRATES, der logisch Mythen Hinterfragende, der Nüchterne, der Nicht-Orgiastiker, der Zerstörer der adeligekstatischen Mythenwelten, war für ihn der Vorläufer der Communarden aller Zeiten und Welten. Gegen seine Aufklärungsarbeit – in der Sicht NIETZSCHEs: gegen sein Zerstörungswerk – sollte alle Kraft sich richten (vgl. LOSURDO 2009). Gegen diesen Überschwang, gegen diese Überfrachtung der Antikenforschung mit allerlei kulturaristokratisch-kulturreaktionärer Zeitkritik war seinerzeit ein junger, gleichwohl schon zu den schönsten Hoffnungen berechtigender Wissenschaftlicher, ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLENDORF mit Namen, angetreten, welcher NIETZSCHEs romantischem Genie-Wollen die Handwerkszeuge altphilologischer Vivisektionen vorgeführt hatte. Jener WILAMOWITZMOELLENDORF war als akademischer Sieger vom Felde gegangen und in den folgenden Jahrzehnten zum unangefochtenen Doyen der deutschsprachigen Altphilologie aufgestiegen (vgl. SEE 1990, S.95). In den Jahren um 1910 aber, NIETZSCHE war schon lange tot, WILAMOWITZ-MOELLENDORF hingegen Ordinarius und Präsident der preußischen Akademie der Wissenschaften, lag eine neuerliche Beschäftigung mit dieser alten These in der Luft. Es ging bei vielen um eine Neubestimmung des Verhältnisses von – dionysischem – Mythos und – apollinischem – Logos. Hatte der 32
wissenschaftliche Logos, der sich berief auf seine Anfänge bei den SOPHISTEN und bei SOKRATES, den Mythos lange verachtet, galt dieser ihm auf einmal nicht mehr als bloßes Hirngespinst. Vielmehr erschien er auf einmal als Mittel der Wahrsagung im wahrsten, das Wahre sagenden Sinne des Wortes. Man vergegenwärtigte sich, darin auf NIETZSCHE Bezug nehmend, eine vorsokratische Tradition, in der der Logos der pragmatische Denkmodus der alltäglich Schaffenden gewesen war, der Mythos aber der Deutungsmodus der kulturellen Eliten. Durch instrumentellen Verstandesgebrauch alleine lassen sich, so die kulturkritische Deutung um 1900, Maschinen bedienen und Untergrundbahntrassen planen, Krankenkassen organisieren und Telephone installieren. Aber solche Art von Verstand war weder in der Lage, menschliches Leid zu lindern, menschliche Freude zu steigern noch gar, den wahren Sinn dieses ganzen neuen, rasanten, komplizierten Lebens verständlich zu machen. Auf einmal stand die Frage im Raum, ob nicht doch auch der Mythos, gerade er, gerade unter den immer komplexeren Bedingungen der sich rasant modernisierenden Industriegesellschaft, geeignet war, moralisch bedeutsame Aspekte des menschlichen Lebens zu erhellen; ob nicht überhaupt die in ihm angelegte MetaErzählung des Tragischen Weltdeutung ermöglichen könnte. Nicht zufällig wandten sich SIGMUND FREUD und CARL GUSTAV JUNG in der entstehenden Psychoanalyse oder ERNST CASSIRER in der entstehenden Kultursoziologie zunächst den Mythen der Antike zu. Als Mythos galt ihnen allen jenes, das einmal geschah, aber immer wieder geschehen wird. Es ging ihnen allen in den Jahren um 1910 um Geschichten von Helden; um Geschichten, die vom Leiden der Helden, vor allem aber vom heldenhaften Überwinden des Leidens, von tragischem Scheitern und triumphalem Überwinden, von paradigmatischen Lösungen scheinbar unauflöslich verstrickter Strukturen berichten. Im Interesse am Heldischen des Mythos war die Kontinuität zur älteren Vorlage NIETZSCHEs gegeben. Es lag also etwas in der Luft, als die eigentlich schon seit Jahrzehnten ausgestandene Kontroverse zwischen NIETZSCHE und WILAMOWITZ-MOELLENDORF schließlich von einem akademischen Außenseiter wieder hervorgeholt und neuerlich expliziert wurde. Bereits im Jahre 1910 hatte HILDEBRANDT, wie VOLKER GERHARDT, REINHARD MEHRING und JANA RINDERT detailgenau rekonstruieren, WILAMOWITZ-MOELLENDORF mit einem ersten Aufsatz frontal angegriffen (vgl. HILDEBRANDT 1910). Den vorläufigen ersten Höhe- und Schlusspunkt seiner Attacke aber ritt er im Jahre 1912: Jetzt beließ er es nicht mehr bei Kritik, sondern unternahm es, die europäische Geistesgeschichte neu zu schreiben. Er bot eine eigene Übersetzung des ‚Symposion‘ von PLATON. Dieser stellte er eine eigene programmatische Vorrede voran, die zu einer völlig neuen, anderen Platon-Deutung aufforderte (vgl. HILDEBRANDT 1912; zum Gesamtzusammenhang: GERHARDT/MEHRING/RINDERT 1999, S.249ff.). 33
Die Avantgarde ritt also ein Irrenarzt. Ihm aufs akademische Schlachtross geholfen hatte ein Dichter. Es war der am Vorabend des Ersten Weltkrieges außerordentlich erfolgreiche Symboliker STEFAN GEORGE, welcher den Nervenheiler protegierte. GEORGE selber war wohl um 1910 auf PLATON aufmerksam geworden und hatte sich die platonischen Dialoge mit Jüngern seines Kreises dialogisch erarbeitet (vgl. RAULFF 2010, S.126ff.). Bemerkenswert ist, dass GEORGE selber, nach den Ergebnissen von MARITA KEILSON-LAURITZ, als Dichter PLATON nicht in den sehr dicht gefügten Verweisungshorizont seiner Textwelten eingebaut hat. Er selber hat im veröffentlichten Werk immer davon abgesehen, sich direkt auf jenen zu beziehen. Dieser Bezug wurde im Spannungsfeld der von KEILSON-LAURITZ so genannten Verbindung von ‚Homosozialität‘ und ‚Homotextualität‘ erst von seinen ihn im männerbündischen Kreise umgebenden, ergebenen Jüngern geleistet (vgl. KEILSON-LAURITZ 1987, S.80, 94). Das Aufschimmern dieses Hintergrundleuchtens allerdings hat GEORGE durchaus gefördert. Vor diesem Hintergrund war es, dass GEORGE, von HILDEBRANDTs neuer Platon-Lesart angetan, diesem in seiner neu begründeten Kulturzeitschrift ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ eine Plattform gab. HILDEBRANDTs Darstellung PLATONs, die diesen als eine Art Dichterfürsten sah, der in Dankbarkeit bald mehr und mehr die Züge GEORGEs annahm, erschien den zeitgenössischen Lesern als Sensation. Der Philosoph EDMUND HUSSERL, der Sozialpädagoge PAUL NATORP, Lehrer CASSIRERs, der Theologe ERNST TROELTSCH und der damalige Orientalist und nachmalige preußische Kultusminister CARL HEINRICH BECKER, um nur die wenigsten zu nennen, zeigten sich begeistert. In seiner Vorrede zum 'Symposion formulierte HILDEBRANDT das radikal Neue einer Platon-Lesart, die so gar nicht zur philologisch-philosophischen Exegese passen wollte: Das Gastmahl sei kein akademischer Text, sondern ein Mythos der Heldenliebe, es „will nicht begrifflich analysiert, es will gefeiert sein, und einem strengen Asketen möchte der Zugang schwerfallen.“ PLATON sei „mit blossem wissen … nicht beizukommen, wenn nicht die seele über jahrtausende hinweg zur seele spricht.“ Nein, PLATON sei „priester und dichter“, „könig im reich der seele und schöpfer einer welt“, „zufälliges wissen“ aber, wie das der vernünftelnden Wissenschaften, sei ihm weniger denn nichts gewesen (HILDEBRANDT 1912, S.12; 1910, S.111f.). Da war sie also, die dionysisch-romantische Deutungsvorgabe. Da war sie also, die Vorstellung vom pädagogischen Helden. Dass das ‚Symposion‘ selber eine Runde von Alkohol- und Sexualitätsverweigerern vorstellt, welche sich der Aufgabe stellen, das Gefährliche, das Gefährdende der Liebe apollinisch-idealistischer Klärung und Reinigung zuzuführen, dass ein Sokrates dargestellt wird, welcher der pädagogischen Liebe als einem nüchternen Tagwerk im eigentlichsten Sinne der Worte nach-
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geht, mag von Philologen eingewendet werden – jedoch sollen jene, wie ULRICH RAULFF herausarbeitet, von nun an von der Deutung ausgeschlossen werden: „Vor das Gastmahl … pflanzt Kurt Hildebrandt eine Verbotstafel, auf der geschrieben steht: Kein Zutritt für Philosophen! Wer aber genau hinsieht, gewahrt darunter ein kleineres Schild, auf dem steht: Außer für echte. Die echten Philosophen erkennt man daran, dass sie nicht zergliedern und kritisieren, sondern das Ganze erfassen und feiern“ (RAULFF 2010, S.131).
Der ‚echte Philosoph‘, der hier zu tanzen anhebt, trägt in der auf diese Exposition zahlreich folgenden Literatur jener Jahre unverkennbar die Züge NIETZSCHEs und GEORGEs, in den Jahren vor 1933 mehr und mehr auch die ADOLF HITLERs. Die Philosophie-Historikerin THERESA OROZCO rekonstruiert, dass und wie dieses durchgängige Motiv von nun an bis mindestens 1933 zum geteilten neuen Deutungshorizont nicht nur der Philosophie, sondern, viel wichtiger hier, auch der philosophisch interessierten gebildeten Öffentlichkeit werden sollte. Die Platon-Deutung verschob sich dabei in bemerkenswerter Weise weg von den Erträgen einer philologischen Auseinandersetzung in der Nachfolge FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHERs und einer philosophisch-idealistischen Diskussion in der Nachfolge IMMANUEL KANTs hin zur Diskussion eines pädagogischen PLATON in der Nachfolge NIETZSCHEs. Dabei wurde nicht einmal zuerst das Spätwerk der ‚Nomoi‘ in den Blick genommen. In den ‚Gesetzen‘ kommt der späte PLATON ja tatsächlich zu relevanten, für seine Zeit visionären, bis heute des Diskutierens werten Gedanken zum Aufbau eines institutionalisierten Bildungssystems, das auf die Ausschöpfung von Begabungsreserven abzielt. Gerade dieser Aspekt eines wirklich und dezidiert bildungspolitisch argumentierenden PLATON fand im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aber eine anders kontextualisierte Rezeption. Im gleichen Jahre 1912 ging die SPD als Wahlsiegerin aus den letzten Reichstagswahlen vor dem Ersten Weltkrieg hervor. Noch nichts vom kaiserlich verkündeten und sozialdemokratisch ratifizierten ‚Burgfrieden‘ des Augustmondes 1914 ahnend, war jedem bildungspolitisch Interessierten klar, welche Entwicklungen im Bildungssystem mit diesem sozialdemokratischen Wahlsieg zur Umsetzung anstanden: Immer drängender waren in diesen Jahren die bildungsreformerischen Forderungen hinsichtlich der Möglichkeiten einer auch faktischen Teilhabe im sowie der objektiv überfälligen Systematisierung, Modernisierung und Leistungssteigerung des Bildungssystems geworden. Vor dem Hintergrund solcher tagespolitisch sehr aktueller Positionen war dieser Gedanke eines so bildungssystemisch denkenden PLATON für konservativbürgerliche Rezeption nicht anschlussfähig. Vielmehr ging es diesem Rezeptionsmilieu darum, eingebunden in das Klima eines immer weiter ausgreifenden Militarismus und Nationalismus, Erziehungsstaatsutopien mit ihren Forderungen nach politischer Bildung als Staatser35
ziehung aufzurüsten. Es ging im Effekt, wie OROZCO ein Zitat von TROELTSCH verwendet, um die „Einordnung“ des Einzelnen „in die organisatorischen Bedürfnisse des Ganzen“ (OROZCO 1994, S.149). Diesem bürgerlich-kulturkritischen Zeitgeist entsprechend, wurden in pädagogischer Hinsicht im wesentlichen drei Aspekte aus PLATONs Schriften zu einem neuen pädagogischen Leitprogramm amalgamiert: Das Moment der Selbst-Bildung als Ein- und Unterordnung unter die politische Aufgabe, wie es im – bis heute in seiner Authentizität nicht gesicherten – sog. 7. Brief, einem autobiographischen Fragment, ausformuliert wird, das Moment der Staatserziehung insbesondere der Wächter und der Philosophen, wie es in der Erziehungsstaatsutopie der ‚Politeia‘ (insb. 376c ff.) entfaltet wird, und das Moment eines Liebesbundes als Grundlage wie als Mittel von Erziehung von und für FührerEliten, wie es dem ‚Symposion‘ als Anliegen unterstellt wurde. Diesem Text kam dabei, anders als im ursprünglichen Zusammenhang der Schriften PLATONs – das Symposion entstand um 380 v. Chr., somit Jahre vor den ‚Nomoi‘ –, die Funktion als Schlussstein im neu entstandenen Theoriegewölbe zu. Eine solche Deutung PLATONs im Allgemeinen und des ‚Symposion‘ im Besonderen war schon vor dem damaligen philologischen Kenntnisstand nicht haltbar. Sie fußte auf mehreren Annahmen. Zum einen wurde die Hilfskonstruktion eines geheimen Platon bemüht. „Nicht als denker, sondern als lebendige gestalt war er begründer des geistigen reiches und die unterhaltungen auf der strasse, sein scherz beim werben um jünglinge … waren zugleich handlungen seines geistigen reiches… In der Akademie schuf er sich den lebendigen geistigen staat“ (HILDEBRANDT 1911/1912, S.90, 93).
Demnach war der idealistische Systematiker PLATON nur eine vor der Hand operierende Autorenfigur, der mit den Mitteln des Logos gar nicht beizukommen sei. Demgegenüber sei der ‚eigentliche‘ PLATON als Mythos zu verstehen. Erzählt wurde der Mythos eines politischen Künstlers inmitten eines Kreises von Jüngern, den die Entwicklung einer Verbindung von Staats-, Liebes- und Erziehungskunst als Mittel zur Überwindung der attischen Demokratie umgetrieben habe. Der Schüler des logozentrischen Republikaners SOKRATES, der selber zum geistesaristokratischen Meister geworden war, wollte demnach, ausgehend von der pädagogischen Provinz seiner Akademie, den remythologisierten ästhetischkünstlerischen Entwurf seines geistigen Reiches in den politischen Kampf um den Aufbau eines hierarchisch gegliederten, von Eliten angeleiteten Gemeinwesens integrieren, so die mit dieser verqueren Deutung verbundene Vorstellung (vgl. HILDEBRANDT 1911/1912, S.90ff.). Damit in Verbindung stehend, wurde das Erbe des klassischen Bildungsdenkens um 1800 umgedeutet. Dieses geschah insbesondere mit der Annahme 36
des Dritten Humanismus, eines Konzeptes, das nach ANDREA FOLLAK insbesondere ab 1921 von WERNER JAEGER systematisch ausformuliert werden sollte (vgl. FOLLAK 2005, S.128ff.).1 Demnach meinte der klassische Bildungsgedanke unter Rückschau auf die Erziehungsstaatsutopien von JOHANN GOTTLIEB FICHTE immer weiter zurück in immer ältere Tradition, letztendlich tatsächlich zurück bis zur ‚Politeia‘, die Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft einer nicht naturrechtlich, sondern metaphysisch gesetzten Ordnung. In diesem Kontext wurde zugleich, zeitgleich mit PLATON, auch der Gedanke der Entfaltung des Individuums im Sinne WILHELM VON HUMBOLDTs und der Ideen geselliger Bildung um 1800 neu amalgamiert (vgl. GROPPE 1999, S.171, GAUS 2010, S.323ff.). In Bezug auf die neu konstruierte antike Tradition wurde, noch vor die ‚Politeia‘ zurückgreifend, unterstellt, dass der um 1800 im neuhumanistischklassisch-frühromantischen Zusammenhang ausformulierte Gedanke der ‚Bildung‘ einen Wiedergänger der ‚Paideia‘ in der vorsokratisch-klassischen Tradition der Einordnung in die Polis meine. So wurde eine Komplementarität von ‚Griechentum‘ und ‚Deutschtum‘ unterstellt, die in der Erfüllung einer weltgeschichtlichen Heilserwartung aus kultureller Mission liege. So, wie im ‚Griechentum‘ die europäische Kultur zu sich selber gekommen sei, erneuere sich diese im ‚Deutschtum‘. In dieser quasi hegelianischen Denkfigur wurde GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGELs Idealismus durch einen idealisierenden NeoPlatonismus zugleich auf die Spitze getrieben und zur Seite gestellt. Diese Hybris einer ‚deutschen‘ Kulturaufgabe gegenüber einer als dekadent unterstellten ‚westlichen Zivilisation‘ reihte sich, wie übergreifend GEORG BOLLENBECK herausgearbeitet hat, in ein seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer mehr ausgreifendes nationalistisches Deutungsmuster ein (vgl. BOLLENBECK 1994). In dieser Deutung erschien, drittens, die Krise der Polis, auf welche der historische PLATON reagiert hatte, als Vorschein einer Krise der modernen industrialisierten Massengesellschaft. Diese Verknüpfung von Kultur- und Gesellschaftskritik entwickelte durch die Zuspitzung des Generationenphänomens ‚Jugend‘ eine besondere Dynamik. Einerseits war ‚Jugend‘ um 1900 „zu einer magischen Formel geworden, die sich weniger historisch, als biologisch und vor allem ästhetisch artikulierte“ (BRUNOTTE 2004, S.17). Andererseits war der „Jugendmythos der Jahrhundertwende“, wie CAROLA GROPPE überzeugend darlegt, nicht nur ein kulturkritisches „Denkmuster, sondern Ausdruck einer eminenten realen ‚Verjugendlichung‘ und auch eines neuen Selbstbewußtseins der deutschen Gesellschaft“ (GROPPE 1998, S.109f.; GROPPE 2005, S.312). Der demo1 JAEGER war in seiner Neudeutung des Griechentums von der Sache recht nahe bei HILDEBRANDT und weiteren hier noch vorzustellenden George-Jüngern. Allerdings verhinderte die Tatsache, dass er der Lieblings- und Meisterschüler des VON WILAMOWITZ-MOELLENDORF war, ein engeres Verhältnis oder gar eine tatsächliche Zusammenarbeit.
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graphische Wandel seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte dazu geführt, dass reichsweit beinahe zwei Drittel der Bevölkerung jünger als 30 Jahre waren; gerade in den boomenden Industrieregionen des Westens und in den rasch wachsenden Großstädten war die Bevölkerung noch jünger. So wurde die Beachtung der ‚Jugend‘ auf der Deutungs- wie auf der Handlungsebene zu einem realen Problem, aber auch zu einer realen Option, die neu entstandene Industriegesellschaft positiv zu gestalten. Diese sozialgeschichtlich real vorfindliche Verjugendlichung des Sozialen und des Kulturellen erschien, deutungsgeschichtlich, den erwachsenen Eliten als Gefahr wie als Gefährdung, aber auch als Chance. Der pädagogischen Sicht wuchs damit eine verschärft formulierte gesellschaftspolitische Aufgabenstellung zu: Wenn nur neue, junge Generationen in der Lage sind, das Alte, Morsche zu überwinden, dann wird deren Ansprache und ‚Zucht‘, verstanden hier durchaus im doppelten Sinne von Eugenik und JOHANN FRIEDRICH HERBART, zur vordringlichsten Aufgabe von Politik, so der Schlussstein des neuen kulturkritischen Deutungshorizontes (vgl. UHLE/GAUS 2002, S.94). So ergänzte die Diskussion um ‚das Blut‘ die idealistische Betrachtung ‚des Geistes‘, Und so, wie die Diskussion der Zuchtwahl Politeia 376 vorbereitet, musste in einer solchen Lesart geradezu zwingend logisch das ‚Symposion‘ als Zielperspektive der gesamten neuen Platon-Lesart erscheinen (vgl. OROZCO 1994, S.153ff.). So wurde das ‚Symposion‘ in einen neuen Zusammenhang gesetzt. Der ursprüngliche Text ist eine Diskussion insbesondere um die kulturstiftende Dimension von ‚Liebe‘. Als kulturstiftend wurde von PLATON die Liebe zur Erkenntnis und, diese wiederum voraussetzend, auf ihr aufbauend, insbesondere, die Liebe zur Weisheit verstanden. Die emotionale und soziale Dimension von Liebe bleibt in PLATONs Erläuterungen demgegenüber peripher. Auch diese Schwerpunktsetzung des Ursprungstextes wurde jetzt anders rekontextualisiert. Die kulturstiftende Größe von Liebe wurde von nun an, folgenreich für die gesamte deutsche Diskussion des 20. Jahrhunderts, in den Zusammenhang von Erziehung als Einführung in Gemeinschaft gesetzt. Erziehung wurde dabei nicht im modernen Sinne als Unterstützung bei der Entfaltung von Individualität verstanden. Vielmehr wurde der „geistige Eros“ des Hervorbringungsaktes dem Bildungsziel des „geistigen Staat[es, D.G.]“ untergeordnet; in der Liebe des dionysisch-romantischen Führers zum Jüngling als zukünftigem Führer einer Gemeinschaft, „im Gegensatz ebenso zum politischen Staat wie zur abstrakten Wissenschaft“, offenbare sich die neue Schicksalsgemeinschaft (HILDEBRANDT 1912, S.32). Diese Deutung, der noch das Einführungszitat von MARCUSE verpflichtet ist, wurde erstmals 1914 als kanonisiertes Denkgebäude von HEINRICH FRIEDEMANN zusammengeführt. Dieser war ein Junglehrer jenseits der akademischen Disziplin, aber im Herzen GEORGEs, in dessen ‚Blättern für die Kunst‘ er sein 38
Platon-Amalgam vorstellen durfte. Auch sein Buch über ‚Platon. Seine Gestalt‘ wurde sofort ein großer Publikumserfolg. Die ‚Urkraft des Lebens‘ werde unter dem Wirken des Bildnerisch-Plastischen zum kultisch Verbundenen des Gemeinschaftlichen veredelt. Der schöne Leib des schönen Jünglings offenbare dessen schöne, heldische Seele. So diene er zur Inspiration der schönsten Hoffnungen des Helden, des Dichters, des Denkers, des Philosophen, des Poeten, der von ihr aus zum bildnerischem Tun am Jünglinge angeregt werde, auf dass er ihn meißele nach seinem Bilde, ihn schleife in der brennenden Hitze seiner Lust und ihn schließlich neu erschaffe und stähle unter dem Druck der verschworenen Liebesgemeinschaft (vgl. FRIEDEMANN 1914, S.31ff, S.44). Gerade von Angehörigen des George-Kreises wurde diese Deutung in jenen Jahren vor dem Ersten Weltkriege systematisch vorangetrieben. Sie selber verstanden sich als Wiedergänger eines so gelesenen PLATON. Werden sollten sie so zum arkanen Orden eines Geheimen Deutschlands, wie der Jünger KARL WOLFSKEHL den verschworenen Liebesbund von Meister und Schülern erstmals 1910 genannt hat; GEORGE selber sollte diesen Begriff 1920 autorisieren. Der schwüle Kitsch solcher verklemmter Jünglingsadorationen wie in FRIEDEMANNs Platon-Traktätchen erschließt sich dem systematischen Leser selbst bei größter Anstrengung nicht als pädagogische Lesart des Symposions. Für den Systematiker aber war sie ja auch nicht geschrieben, jener erschien dem Kreis der Neu-Deuter ja nur als historistischer Wissenschaftssklave. Wie tönt es bei HILDEBRANDT?! Solche „heroische Größe“ sei „nun einmal gegen des Wilamowitz Geschmack“, jenen so gänzlich unheroischen Un-Geist, wie ihn wohl nur Akademiker haben (vgl. HILDEBRANDT 1910, S.141, 146). Ach nein, nicht nur Akademiker, so wurde im George-Kreis gehöhnt. Es sei halt „ein Platon für Dienstmädchen“, der mit Argumenten analysiert werden soll (SEE 1990, S.98). Tatsächlich, Gegenrede gegen solche Texte sei doch nach Auffassung der Herren, so BLÜHER, „liberal … und aufgeklärt“, kurz: „ordinär“ (BLÜHER 1916, S.17f.). Nein, liberal und aufgeklärt war der von FRIEDEMANN imaginierte PLATON wirklich nicht; vielmehr Ausdruck einer zeitgenössisch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchaus verbreiteten Mischung von tönendem Wilhelminismus und düsterer Kulturkritik. Dennoch: Relevant ist die argumentative Volte, die hier unter Verweis auf den imaginierten Platon-Arcanus geschlagen wurde: Nach dieser Deutung stand jener für eine Substanz sinnhaft erfüllten Lebens, die um große Führerpersönlichkeiten im Medium der Kultur jenseits von Rollen, Funktionen und Professionalität konzentriert sei und deren Geheimnis qua bildnerischen Tuns im Wandel der Generationen an hoffnungsvolle Persönlichkeiten, zukünftige Führer, weiterzugeben sei. ‚Substanz‘ war für die Georgianer eine immaterielle Größe des kulturellen Zusammenhalts einer Sozialordnung, eine Art mental-kultureller Kitt. 39
Diesen sahen sie durch den okzidentalen Prozess der Rationalisierung, Modernisierung und Individualisierung zerbröseln, durch „die Amerika-welt, die ameisenwelt“, der sie prognostizierten, dass sie um die Mitte des Jahrhunderts in der Katastrophe untergehen würde (GROPPE 1997, S.413). Diese ‚Substanz‘ aber war nicht mit akademischen, kultursoziologischen oder historischen, Kategorien systematisch zu analysieren. Vielmehr sei sie nur zu erleben. Eben deshalb aber bleiben apollinische Systematiker auf ewig von solchem Raunen ausgeschlossen, wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen, akademische Kleinlichkeit taugt nicht zur ‚Persönlichkeit‘, wie sie ‚Führer‘, ‚Herrscher‘, ‚Meister‘ auszeichnet, welche der ‚Substanz‘ zum Medium, zum tanzenden Schamanen sich anheim geben (vgl. GROPPE 1998, S.120f., GROPPE 2005, S.317). Hatten tatsächlich einst Philologen und Historiker darüber geforscht, ob es denn nun da gewesen sein mag, jenes Schild über der Akademie, auf dem einst gestanden haben soll: ‚Lasst niemanden eintreten, der nicht der Geometrie kundig ist‘? Egal! Über der neuen Akademie müsste ein Schild hängen, auf dem stünde: Lass niemanden herein torkeln, der nicht noch über den missratensten Poemen dilettierender Herzensbeklemmung in heiße Tränen ausbrechen kann! Nein, hier war nicht von ‚Bildung‘ die Rede, auch nicht von SDLGHLD im strengen klaren Sinne des ursprünglichen PLATON. Vielmehr wurde eine neue bildnerische Lesart des Textes in den Blick genommen. ‚Bildnerisch‘ ist hierbei, im schillernd-mehrdeutigen Sinne des Wortes, als ‚Bildende Kunst verfertigend‘, als plastizierend, als ‚Gebilde‘ hervorbringend sowohl im biographischen Sinne der Meißelung einer Persönlichkeit wie im künstlerischen Sinne einer neuen Kunst wie im politischen Sinne einer neuen Gemeinschaft zu verstehen, als ‚Fügung‘, wie sie im romantischen Sinne nach FRIEDRICH HÖLDERLIN in jenen Jahren ebenfalls neu gedeutet wurde (vgl. RAULFF 2008, S.8). Auch EDUARD SPRANGER hatte sich um 1910 PLATON zugewandt; in der Gestalt des frisch gebackenen Privatdozenten wanderte das Thema nun auch in die ernstzunehmende Bildungsphilosophie ein. SPRANGER neigte zwar seinerseits eher der Platon-Deutung JAEGERs zu, suchte aber gleichwohl über BECKER auch die Nähe zum George-Kreis und dessen Platon-Deutung. So machte auch er sich in seiner Neu-Deutung des pädagogischen Eros, bei allen noch zu betonenden Unterschieden, diesen einen von beiden Richtungen geteilten Gedanken zu eigen: Die Diskussion um ‚Liebe‘, um ‚pädagogischen Eros‘ habe immer auszugehen von der fordernden Liebe, vom idealisierenden „So musst Du sein, denn so verstehe ich dich!“ In gleichzeitiger Umdeutung des neuhumanistisch-frühromantischen geselligen Bildungsgedankens zielt demnach die Anwaltschaft des ‚Bildners‘ auf die ‚Kultur‘, auf die Vorherrschaft ‚objektiver geistiger Mächte‘. Es gibt „keine Beliebigkeit. Im Gegenteil“ (SPRANGER 1965, S.96ff., S.99). Die ewigen geistigen Mächte, die Kulturgebiete und ihre Gebote fordern ihren Tri40
but, ihnen den Zögling entgegenzuführen ist die Aufgabe des ‚Bildners‘, sie muss er zumindest ebenso lieben wie den Zögling. Die Forderungen des ‚Bildners‘ bleiben im Binnenverhältnis zum Zögling einseitig. Vom Liebeswollen und Liebenkönnen des Zöglings ist an keiner Stelle die Rede. Gerade in diesem zentralen Aspekt verkürzt die Rekontextualisierung der ‚pädagogischen Liebe’ zwischen 1910 und 1914 den ‚platonischen Eros’, wie er ursprünglich im ‚Symposion‘ formuliert war. Auch dieser sieht auf das jenseits der Gegenwart liegende, auch dieser fordert den So-Seienden zu seiner eigenen, inneren Transzendenz, jedoch: Der ‚platonische Eros’ geht von einer Bildungsgemeinschaft der sich wechselseitig Liebenden aus. Insofern, so sehr SPRANGER betont, dass keine Vorstellung der seinigen so nahe kommt wie die PLATONs (vgl. ebd, S.106), tritt hier ein wesentlicher Unterschied zutage. ‚Platonische Liebe’ meint eben keine verordnete asymmetrische Erziehungs-, sondern eine freiwillig unter Partnern konstituierte symmetrische Bildungsgemeinschaft.. Genau dieser Aspekt aber wurde mit der Rekontextualisierung des ‚Symposion‘ in den Jahren seit 1910 in sein Gegenteil verkehrt (vgl. GAUS 2007). So war die diskursive Rekontextualisierung des ‚Symposion‘ vollzogen. Nicht mehr SCHLEIERMACHER, KANT und HUMBOLDT, sondern FICHTE, HÖLDERLIN, NIETZSCHE und GEORGE gaben die Referenzautoren ab. Nicht von Bildung sollte die Rezeption ausgehen, sondern vom Bildnerischen. Nicht Erziehung im liberalen Sinne, sondern Unterweisung in neu herauszubildende kulturelle Ordnungssysteme sollte die Zielperspektive sein. Damit war die Perspektive auf das ‚Symposion‘ neu gerichtet. Recht eigentlich handelt diese Lesart überhaupt nicht von Bildung und Erziehung im Sinne neuzeitlicher Pädagogik. Die neue Lesart des ‚Symposion‘ handelte von Politik. Sie handelte, genauer, von der Frage nach Führung in der modernen Gesellschaft. Sie handelt nicht vom bildenden Wert einer Liebe zur Weisheit, sondern vom Bildnerischen als Mittel der Heranzüchtung einer jungen Führerelite. Sie handelte, noch genauer, von einer Hoffnung auf die Wiederkehr jener Art der Führung, welche MAX WEBER, posthum 1922 veröffentlicht, die charismatische genannt hat. Charismatiker ist demnach jener, der seiner Anhängerschar als mit „außeralltäglichen“ Kräften und Fähigkeiten ausgestattet erscheint, als außergewöhnlich, begnadet, frühvollendet und deshalb als „gottgesandt oder als vorbildlich“ empfunden wird. Der sozialpsychologische Typus des Charismatikers und die soziale Form der gestifteten Gemeinschaft als Gefolgschaft bedingen einander. Ohne Charismatiker keine Anhängerschar, ohne Anhängerschaft keine Entfaltung des Charismas. Der Charismatiker steht in einem Zenit der Bewunderung einer gläubigen Gemeinschaft. Insofern gehört diesem Idealtypus immer eine heroische Weltsicht zu, ist er doch zwangsläufig Führer, Avantgardist, Visionär, Held. Die Begeisterung fürs Heldische ist das idealistische Komplement zur 41
Gemeinde-Bildung als sozialer Voraussetzung des Charismatikers: Nur wo es eine Gemeinde gibt, die ihren Helden verehrt, kann der Charismatiker sich entfalten. Charisma konstituiert sich in der Interaktion zwischen ‚Führer‘ und ‚Gefolgschaft‘, Heilskünder und Gemeinde. Auf den Charismatiker richtet sich eine messianische Heilserwartung seiner Jünger (vgl. HERBST 2010). Charismatiker ist nach WEBER jener, der keiner Kontrolle seines Handelns unterworfen ist, der keinen Verfahrensregulierungen gehorchen muss, der keinen gesellschaftlich gesetzten Rollenerwartungen gerecht werden muss, der alle Akteure im institutionalisierten Feld zur Seite drängen kann, der alleine durch das Schillern seiner Persönlichkeit den okzidentalen Prozess der Institutionalisierung hintanstellen kann. Der Charismatiker muss nach seinem eigenen wie nach dem Verständnis seiner Gefolgschaft keine Regeln oder Absprachen beachten. Den Charismatiker, dem seine Gefolgschaft über bewundernde und liebendverehrende Anhängerschaft verbunden ist, kann es in der Moderne recht eigentlich gar nicht mehr geben. WEBER selber entfaltet seinen Idealtypus an den Beispielen der alttestamentarischen Propheten sowie protestantisch-puritanischer Sekten und ihrer fanatischen Glaubensführer. Unter den Bedingungen der Moderne kann der Charismatiker als anachronistischer Wiedergänger nur mehr in solchen sozialen Prozessen wiederaufscheinen, in denen die Zerstörung formaler Koordinationsverfahren der Bürokratie mit der Selbststilisierung des Charismatikers als zentraler Koordinationsinstanz eines Kreises, einer Gemeinschaft einhergeht (vgl. WEBER 1922, III, §10). Unter solchen Bedingungen freilich kann das vormodern Sektiererische unvermittelt neue Bedeutung erlangen. ULRIKE BRUNOTTE fasst zusammen, dass in der Vorstellung des charismatisch gestifteten Bundes, gerichtet gegen die Struktur- und Prozessartigkeit komplexer moderner Gesellschaft, vier Aspekte zusammenfließen. Im Kern aller charismatischen Bünde steht demnach das antiinstitutionalistische Performative, jenes Rituelle, Kultische, Arkane, das einzig im immer neu, quasi schamanistisch zu inszenierenden Vollzug, in der Dramatisierung, in der ästhetisierenden Überhöhung konstitutives Moment der Gemeinschaft wird. Es zielt auf rauschhafte Emotionalität anstelle von reflexiver Vernunft, zu welchem Zwecke es sich mit zwei weiteren Aspekten verbindet: Es sind dieses diejenigen der bündisch zusammenschweißenden Erotik sowie des gemeinschaftlichen Erlebnisses (vgl. BRUNOTTE 2004, S.99). Gerade GEORGE allerdings und seinem Kreise hat WEBER die Ehre verweigert, sie wirklich als Künder eines neuen Charismas ernst zu nehmen: SEE verweist darauf, dass die folgend zitierte mokante Einschätzung WEBERs gezielt auf GEORGE gemünzt war: Es sei nur „konsequent, wenn moderne charismatische Bewegungen künstlerischen Ursprungs ‚selbständige Berufslose‘ (in der Alltagssprache ausgedrückt: Rentiers) als die normalerweise qualifizierteste Gefolg42
schaft des charismatisch Berufenen bezeichnen“ (WEBER 1922, zit. nach SEE 1990, S.99). Freilich: WEBER war ja auch Professor, somit waren ihm die Tore dieser Weltweisen sowieso auf ewig verschlossen. Wird so von außen mit WEBER auf den schwülen Kult geschaut, der hier mit PLATON getrieben wurde, so wird das spezifische, nicht pädagogische, sondern politische Verständnis von Erziehung evident, auf das in der Binnenperspektive der Anhängerschar um GEORGE mit der Umdeutung des ‚Symposion‘ gezielt wurde. GROPPE weist auf eine weitere Textpassage bei WEBER hin, die ebenfalls aus gutem Gründen als mokante Anspielung auf das das Kreisprojekt eines ‚Geheimen Deutschland‘ aus dem Geiste eines neu verstandenen ‚pädagogischen Eros‘ gelesen werden kann: „Heldentum und magische Fähigkeiten gelten zunächst nicht als lehrbar. Sondern sie können nur, wo sie latent vorhanden sind, durch Wiedergeburt der ganzen Persönlichkeit geweckt werden. Wiedergeburt und dadurch Entfaltung der charismatischen Qualität, Erprobung, Bewährung und Auslese der Qualifizierten ist daher der genuine Sinn charismatischer Erziehung. … Eintritt in eine besondere Erziehungsgemeinschaft, Umgestaltung der gesamten Lebensführung, Askese, körperliche und seelische Exercitia …, endlich stufenweise feierliche Rezeption der Erprobten in den Kreis der bewährten Träger des Charisma“ (WEBER 1922 ebd., vgl. GROPPE 1998, S.137).
Hier verweist WEBER auf einen zentralen Aspekt, der besondere Beachtung verdient: Im eigentlichen Sinne geht es beim pädagogischen Eros nicht um Pädagogik. Nicht der Prozess der Erziehung, sondern der Moment der Initiation steht im Mittelpunkt charismatischer Phantasmagorien. Recht eigentlich geht es hier um die Neuinszenierung archaischer Initiationsrituale, wie sie einst, vor Jahrtausenden in vorhochkulturellen Sozialformen, von Medizinmännern und Schamanen durchgeführt wurden. Diese wurden jetzt neu, in letzter Konsequenz gegen das dialogische Prinzip von Erziehung, als Archetypen überzeitlich, ahistorisch zu begründen versucht. Der pädagogische Eros zielt in seinem tiefsten Kerne auf die Negation der prozesshaft mit Sozialisation und Enkulturation verwobenen Erziehung durch die Imagination einer im magischen Moment, durch magische Substanz die Macht inkorporierenden Initiation in verschworene bündische Gemeinschaft (vgl. BRUNOTTE 2004, S.101ff.). Eine verschworene Gemeinschaft, die sich als Schule der Persönlichkeit versteht. Sektenartige Einschließung junger Menschen unter der Führerschaft großer Persönlichkeiten, auf dass die Jungen dereinst selber Führer werden. ‚Persönlichkeit‘ im Dienst der ‚Gemeinschaft‘. Auseinandersetzung mit Ästhetik und Kultur als parareligiöser Ersatz beim Weihedienst des Kreises für die verbindende ‚Idee‘, welche die interessenteilige Gesellschaft der Mediokren hinwegfegen soll. In solchen Assoziationen scheint der Gedanke des Helden auf, der hier gepflegt wurde. Diese Hoffnung auf den Erlöser, auf den Meister, ‚D.M.‘, wie das 43
‚Geheime Deutschland‘ ihn raunend umschwärmte, war ein typisches Phänomen antimoderner Modernisierungsreaktion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, er sollte bald schon ganz anderen Gestalten als GEORGE oder PLATON zur Aufmerksamkeit verhelfen. Dieses also war die neue Lesart des Symposions. Damit rückte diese ursprüngliche Erkenntnisphilosophie der Liebe in den neuen Kontext einer Machtphilosophie der Liebe. Das Bildnerische, das in diesem Deutungszusammenhang mit dem Wort des ‚pädagogischen Eros‘ umspielt wurde, meinte kein Erzieherisches, kein Pädagogisches. Es meinte vielmehr eine auf Initiation zielende neoantikisierende politische Päderastie im Medium des Männerbundes. „Der Stern des Bundes war“, so fügt es THOMAS KARLAUF in Worte, „der ungeheuerliche Versuch, die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“ (KARLAUF 2007, S.394).
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Männer und ihre Liebeslieder
Soweit sei die erstaunliche Karriere und Umdeutung des ‚pädagogischen Eros‘ aus dem Geist eines neu und anders gelesen ‚Symposion‘ geschildert. Damit könnte das Erzählte sein Bewenden haben, denn nichts als die Wolkenschiebereien einiger weniger Publizisten sind bis hierher vorgestellt worden. Hiermit aber ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Zu klären ist im Folgenden, wie es sein konnte, dass einer eigentlich von ihrer logischen Überzeugungskraft her als bei den Apokryphen der Platon-Deutung abzulegenden Position solche diskursive Bedeutung für das Deutungsmuster eines ‚pädagogischen Eros‘ zuwachsen konnte. Die Antwort auf diese Frage kann kürzer und länger ausfallen. Zunächst sei sie kurz in drei Zitaten gegeben: So formulierte SPRANGER 1919, auf GUSTAV WYNEKEN, BLÜHER und GEORGE sowie deren gleichermaßen durch die Faszination für hübsche Jünglinge verbundenen Kreise schauend, in gehässiger Geschwätzigkeit, hier werde mit PLATON eine große Kunst getrieben, jedoch hätten jene „unter Kunst verstanden, ihren Seelenschlamm abzusondern“, diesen ganzen Aufwand hätten sie nie getrieben „wenn im Seelengrunde alles gerade gewachsen wäre“ (SPRANGER 1919/1925, S.256). Auch heute noch kann RAULFF sich nicht enthalten, den in Klatsch und Tratsch Gebildeten unter den Verächtern dieser Umdeutung ähnliche Formulierungskünste mit auf den Weg zu geben: „Der Reputationsgewinn, der sich vermittels solcher Deutungskapriolen einstreichen ließ, war nicht gering… sittenpolizeilich einschlägige Praktiken mauserten sich zu noblen Gesten.“ Freilich kann er auch etwas vornehmer: Es ging hier um „das ganze schwierige Beziehungsgefüge von Ehe, Familie und Staat. All die heiklen Fragen aus dem Bereich dessen, was Hegel das Reich der 44
Sittlichkeit nannte, wurden einem Haupttext der antiken Philosophie anvertraut – und traten verwandelt wieder daraus hervor, glänzend vom Morgenlicht des Mythos“ (RAULFF 2010, S.132). Mit Ausnahme von SPRANGER waren alle bisher Vorgestellten – ebenso wie alle, die in diesem Texte noch vorzustellen sind – der männlichen Schönheit mindestens ebenso erlegen wie der weiblichen, die meisten von ihnen alleinig der amour bleu. Aber noch mehr: Viele konnten auch mit männlicher Schönheit nicht viel anfangen und fanden ihre Wollust nur im Gebrauch von Kinder- und Jugendkörpern erfüllt. Die Antwort kann und muss allerdings auch länger ausfallen, Klatsch und Tratsch über die diskursiven Spiele einiger sexuell Interessierter alleine kann noch nicht verständlich machen, auf welchem Wege die Neuerfindung des pädagogischen Eros eine solche Deutungskarriere machen konnte. Die Spurensuche nach diesem Erfolg verweist auf die Erträge der Gender-Geschichte. So erläutert etwa CLAUDIA BRUNS, dass und wie der öffentliche Diskurs um etwas Homosexualität Genanntes gerade in jenen Jahren an öffentlicher Bedeutung gewann (vgl. BRUNS 2008, S.163). Das Aufkommen des Begriffes ‚Homosexualität‘ stand, so erläutert GROPPE, im Zusammenhang mit der Durchsetzung des kleinfamilialen Liebesideals seit dem 19. Jahrhundert. Hochgradig emotionalisierte Beziehungen zwischen nicht-verheirateten, nicht zwangsläufig gegengeschlechtlichen, nicht zwangsläufig einer Alterskohorte angehörigen Personen gerieten damit schnell und schneller, mehr und mehr unter den Verdacht (klein-)bürgerlicher Vorstellungen zur Gestaltung von Beziehungen und Sexualmoral (vgl. GROPPE 1997, S.423f.). Noch um 1800 hatten demgegenüber Konzepte wie das der Geselligkeit oder das der Freundesliebe gleichrangig mit dem Modell der Kleinfamilie um Anerkennung gerungen (vgl. GAUS 1998). Um 1900 aber waren alle diese alternativen Möglichkeiten der Codierung von Intimität durch Pathologisierung niedergerungen. Insbesondere im damals noch relativ neuen psychiatrischen Begriff der ‚Homosexualität‘ fand ihre inhaltliche Verkürzung auch ihre disziplinäre Heimat, aus der heraus sie aber andererseits in die Gesellschaft als Deutungsangebot zurückwirken konnte. Einer breiten Öffentlichkeit wurde das neue Wort nicht durch differenzierende Fachdiskurse, sondern durch weitere Verkürzungen der Skandalpresse bekannt gemacht. Im Jahre 1895 berichtete diese europaweit von der Verurteilung des englischen Schriftstellers OSKAR WILDE, der wegen seiner Beziehung zu Lord ALFRED DOUGLAS mit Zuchthaus bestraft wurde. 1902 wurde ausführlich über die Capri-Amouren des kaiserlichen Kanonen-Industriellen ALFRED KRUPP berichtet, kurz darauf über das Attentat eines veritablen Berliner Landgerichtsdirektors auf einen Lustknaben, der ihn zu erpressen suchte, wiederum bald danach über den Selbstmord des Millionärs HERMANN ISRAEL, dem ein Verfahren wegen Vergehens gegen den Paragraphen 175 ins Haus stand. Den Höhe45
punkt dieser neuen Art von Enthüllungsjournalismus inszenierte jedoch MAXIMILIAN HARDEN mit dem Skandal um den Fürsten PHILIPP ZU EULENBURG UND HERTEFELD, welcher die deutsche Politik über Jahre hinweg bis hin zu dem Vorwurf erschütterte, der Reichskanzler sei homosexuell und der Kaiser von einer Camarilla von Homosexuellen umgeben. EULENBURG, der wohl tatsächlich Männer bevorzugte, war ein Studienfreund WILHELMs II., der diesen in privatem Kreise auf seinem Landgut mit weiteren Freunden, allesamt adeligen Offizieren, zusammenbrachte. In entspannter Ferienlaune frönte man dort dem künstlerischen Dilettantismus und veranstaltete insbesondere Liebhaberaufführungen von Musik und Theater (vgl. BRUNS 2008, S.163ff.). Inwieweit die dort versammelten Freunde neben EULENBURG tatsächlich homosexuell waren, ist nicht geklärt, es ist für diesen Zusammenhang auch gar nicht wichtig. In allen Fällen, hier sind nur die spektakulärsten genannt, wurde bei der Inszenierung medialer Empörung nach einem historisch damals neuen Muster verfahren. Dieses Konstruktionsprinzip sollte sich im 20. Jahrhunderts als ebenso erfolgreiches wie folgenreiches Muster publizistischer Kampagnen durchsetzen. Das berühmteste, am größten angelegte Projekte dieser Art sollte die unter Federführung von MAXIM GORKI seit 1934 gestreute Kampagne um ‚Homosexualität und Faschismus‘ sein, mit der gezielt versucht werden sollte, Arbeiterschaft und Kleinbürgertum im sich etablierenden Nationalsozialismus gegen das sich festigende Regime aufzubringen. Es wurde ein ‚gesundes Volksempfinden‘ gegen eine Perversion zu aktivieren gesucht. Diese ‚Entartung‘ der ‚Degeneration‘ abgelebter Führungsschichten sei sozial gefährdend, weil sie zur Bildung von untergründigen, dem ‚anständigen‘ Auge verborgenen, Verschwörer-Kreisen führe. Jenseits tatsächlich vollzogener oder auch nur intendierter sexueller Handlungen wurde eine Art Charakterologie ‚des‘ Homosexuellen unterstellt, der hochgradig gefährlich sei, insofern er die bürgerliche Ordnung untergrabe. Das Untergraben der von der Natur gewollten Einheit von Familie und Staat durch eine Art der „Verbündelung“, wie BRUNS sie nennt, sei, so wurde medial wieder und wieder vermittelt, Kennzeichen und Gefahr solcher Kreise für die Öffentlichkeit (BRUNS 2008, S.184). Es war ausgerechnet der nicht für seinen geistigen Scharfsinn gerühmte WILHELM II., der schon in seiner Grabrede für KRUPP dem Mechanismus des ideologischen Verzweckungszusammenhanges auf der Spur war, welcher hier zu wirken begann. Dabei neigte er seinerseits freilich zu Überspitzungen, insofern er pauschal die sozialdemokratische Presse einer klassenkämpferischen Hetzkampagne zieh. Relevant ist aus Gender-Perspektive aber tatsächlich, dass in allen diesen Skandalen immer nur vordergründig von ‚Homosexualität‘ die Rede war. Tatsächlich ging es, auch international, in allen Fällen um eine Auseinandersetzung der (klein-)bürgerlichen, auch der sozialdemokratischen, Presse mit 46
Angehörigen des Großbürgertums, der intellektuellen Avantgarde, des Adels und des Offizierscorps (vgl. BRUNOTTE 2004, S.86). Der Sozialhistoriker GEORGE L. MOSSE verweist darauf, dass in diesen Kreisen die älteren, der geselligen Tradition des Decorum entstammenden, Verhaltenscodices der Zeit um 1800 selbst noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts virulent waren. Während es zum Selbstverständnis der seit dem frühen 19. Jahrhundert sich durchsetzenden bürgerlichen Ordnung gehörte, den eigenen Körper und die eigenen Sozial- und Sexualverhältnisse im Medium der Kleinfamilie zu ordnen und zu kontrollieren, war jene großbürgerlich-aristokratische Tradition völlig anders bestimmt. Es gehörte, für (klein-)bürgerliches Verständnis paradox, zum Ritterlichen, auch und gerade so zu sein, wie es in den aufstrebenden Schichten nur mehr der ‚weiblichen‘ Sphäre der Frauen zugesprochen wurde. Ein Mann von Welt hatte tanzen zu können, formvollendete Manieren vorzuweisen, sich in Fragen von Mode, Kunst und Kultur auszukennen und sich für diese auch zu interessieren, jenseits unmittelbarer kleinfamilialer Bindungen lockere, von Sympathie, gegebenenfalls auch von erotischer Tändelei getragene unverbindlich-verbindliche, eben gesellige Beziehungen eingehen und auch intensive Freundschaften pflegen zu können – so wollte es die Tradition. Die nach Corsagen verlangenden taillierten Ausgehuniformen junger Offiziere, welche ganz selbstverständlich in den Tanzstunden miteinander tanzten, die in ihren Casinos exklusiv für sie veranstaltet wurden, ohne dass dieses als sexuelles ‚Vorspiel‘ von ihnen verstanden worden wäre, die innigsten und doch unverbindlichen, auch internationalen, Brieffreundschaften, die deshalb nicht gleich ‚Brautbriefe‘ oder Geschäftsbriefe waren, die gemeinsamen ‚Buden‘, die man bewohnte, ohne gleich das Lager zu teilen, waren nur vereinzelte Ausdrücke dieser ganz eigenen langen Tradition, der (klein-)bürgerlich codierte Gefühlswelten verständnislos gegenüber standen. Wo das neue (klein-)bürgerliche Bild den nietzscheanischen ‚Willen‘ feierte, der in schöpferischer Kraft alles und jedes kontrollieren, ja, neu erschaffen konnte, da hielt die Tradition des Decorum am ‚Stil‘, an der ‚Haltung‘ fest, sich zunächst einmal geschmeidig in kulturelle Traditionen unterschiedlichster Art einleben zu können.2 Wo das neue (klein-)bürgerliche Verständnis mit einem Konzept von ‚Identität‘ und ‚Sexualität‘ operierte, da kannte die Tradition des Decorum noch changierende Identitäten und Erotiken (vgl. MOSSE 1997, S.27ff., S.135). Dieses Changieren aber galt dem Geist der Zeit als verdächtig, als jenseits einer inzwischen als ‚natürlich‘ verinnerlichten sozialen Ordnung, als ‚weibisch‘, oft auch verbunden mit ‚krankhaft intellektualistisch‘. Hier liegt, wie die Gen-
2 In diesem Sinne ist übrigens das historische Symposion des PLATON eindeutig der aristokratischen Decorum-Tradition, nicht aber dem neuen bürgerlichen Leistungsgedanken zuzuordnen.
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der-Geschichte herausgearbeitet hat, eine wesentliche Verbindung zum zeitgenössischen Antisemitismus: Was im letztgenannten Falle hasserfüllt als ‚jüdisch‘ denunziert wurde, wurde im erstgenannten Falle als ‚homosexuell‘ denunziert (vgl. BRUNOTTE 2004, S.103ff.). Was in diesen öffentlichen Debatten als ‚homosexuell‘ denunziert wurde, meinte also nicht zwangsläufig eine sexuelle Orientierung, sondern vielmehr die soziale (Ein-)Stellung einer Elitenfiguration von Angehörigen alter und neuer Oberschichten. Problematisch, um zur Umdeutung des platonischen Eros zurückzukommen, war diese Entwicklung freilich für jene, die den inkriminierten sozialen Kreisen angehörten und tatsächlich um eine entsprechende sexuelle Orientierung in sich wussten. So nimmt es nicht wunder, dass in der entstehenden Homosexuellen-Literatur jener Jahre gerade die Diskussion einer besonderen ‚Virilität‘ des mann-männlich orientierten Mannes eine immer drängendere Bedeutung gewann (vgl. UHLE/GAUS 2002, S.100). Diese Diskussion führte ihrerseits wiederum in die Diskussion um den Männerbund. Jene Diskussion wiederum war eingebunden in die triebtheoretischen Debatten, welche die Jahre um 1900 bestimmten (vgl. zum Gesamtkontext: REULECKE 1990). Das Triebmodell FREUDs war damals bei weitem noch nicht kanonisiert, sondern eines von mehreren konkurrierenden Modellen (vgl. UHLE/GAUS 2002, S.101ff.). In diesem Kontext traf seit 1902 die Untersuchung ‚Altersklassen und Männerbünde‘ des Ethnologen HEINRICH SCHURTZ auf große Beachtung. SCHURTZ ging von einer Dichotomie der Gesellungsformen aus. Anhand ethnologischen Materials versuchte er seine These zu belegen, dass es zwei Ausprägungen bipolarer Triebstruktur gäbe, die einerseits auf ‚Familie‘, andererseits auf ‚Bund‘ hinausliefen. Schlichter formuliert: Frauen lieben ihre Familie, Männer ihren Verein. Verantwortlich für diesen von ihm als anthropologisch konstruierten Unterschied war für SCHURTZ ein a-sexueller ‚Gesellungstrieb‘, der dem Manne einzig inne wohne. Dieser sorge dafür, dass der Mann alleine in der Lage sei, zum Aufbau höherer, komplexerer sozialer Ordnungen beizutragen. Denn wo die Frau es liebe daheimzubleiben, die Nachkommen zu versorgen und das Heim zu verschönern, da treibe es den Mann hinaus, zu den Freunden, mit denen er gesellige Verbindungen organisiere, welche alleine die Welt gestalten und verändern (vgl. SCHURTZ 1902). Diese triebtheoretische Begründung einer kulturstiftenden Macht männlicher Freizeitgestaltung fand begeisterte Aufnahme in einer Zeit, da die Frauenemanzipation sich anschickte, ihren Anteil an der Modernisierung der Welt einzufordern. Noch nie war deutsche Vereinsmeierei so schön erklärt und auf ein so hohes Podest gestellt worden. Freilich ging diese anthropologische Behauptung in einem Punkte weit über die politisch-soziale Betrachtung des deutschen Vereinsmenschen hinaus: Historisch war die Gesellung in Vereinen eine freiwillige, 48
jederzeit wieder lösbare Kooptation Einzelner, Freier und Gleicher, die ihren Ursprung in der europäischen Bewegung des Liberalismus hatte. Gerade dieses Moment der freien und freiwilligen reversiblen Vereinigung aber wurde hier, aus der Anthropologie heraus, gegen Liberalismus und Errungenschaften westlicher Zivilisation argumentierend, zu einer existenziellen, verschworenen, nicht auflösbaren Schicksalsgemeinschaft im Medium des Bündischen uminterpretiert (vgl. SEE 1990, S.93). Allerdings war diese Annahme zunächst, in dem Maße, in dem die triebtheoretische Debatte sich klärte, als ernsthaft zu diskutierendes Erklärungsmodell nicht haltbar. Umso mehr sorgte ein gerade einmal 24-jähriger Doktorand der Kulturgeschichte bei HEINRICH RIEHL in Basel, der Stadt NIETZSCHEs, für Aufsehen, als er 1912, wiederum im selben Jahr also, da jenes neue, oben vorgestellte Hildebrandt-Lied sein recht eigenes Lob des ‚Symposion‘ sang, mit der ‚Wandervogel-Bewegung als erotisches Phänomen‘ eine Neuinterpretation des Männerbundes vorstellte. Erst durch BLÜHER sollte die Männerbund-Ideologie zum festen „Bestandteil der deutschen Kulturdebatte“ werden (SEE 1990, S.94). Es ist davon auszugehen, dass sich BLÜHER selber erst später als die bisher Genannten einer vertieften Auseinandersetzung mit PLATON zuwenden sollte. Ein Traktat von ihm unter dem Titel ‚Die Wiedergeburt der Platonischen Akademie‘ ist erst für das Jahr 1920 nachweisbar (vgl. BLÜHER 1920). Vielmehr kam er nach eigener Aussage durch die oben dargestellten Sensationsberichte der Massenpresse, insbesondere durch den Eulenburg-Skandal, zu diesem Thema (vgl. BLÜHER 1917, S.3ff., 1919, S.36). Diese Lektüreerlebnisse der Skandalisierung von ‚Homosexualität‘ amalgamierte er wohl mit den Thesen von SCHURTZ, an denen ihn als Wandervogel insbesondere die Annahme einer nicht gestifteten, sondern existenziellen Gemeinschaft faszinierte. So stieß er, in den Debatten um Männerbund und Jugendbewegung beheimatet, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg also eher zufällig auf den zu entfaltenden Problemkreis. Allerdings wurde er vom gebildeten Lesepublikum von vorne herein in diesem Zusammenhang rezipiert. BLÜHERs Schrift über den ‚Wandervogel‘, ein Lektüre-Amalgam aus NIETZSCHE und ARTHUR SCHOPENHAUER, aus PAUL DE LAGARDE und LUDWIG GURLITT, aus SCHURTZ und FREUD, war eigentlich ebenfalls von eher geringer Qualität. Dennoch sorgte diese Schrift, ebenso wie die 1917 und 1919 nachgelegten Bücher zum gleichen Thema, für heute kaum mehr vorstellbare Furore. BLÜHER, der ehemalige Gymnasiast aus Steglitz, dem Ursprungsort des Wandervogels, selber Wandervogel der ersten Stunde, behielt in seinen Schriften den Gedanken eines Männerbundes als kulturstiftender Größe bei, variierte ihn aber gegenüber SCHURTZ in einer Hinsicht entscheidend. Das überlegene Triebmodell FREUDs annehmend, unterstellte er den männlichen Gesellungswunsch in nicht49
familialen Zusammenhängen als sublimierte homoerotische Neigung. Durch diese Annahme war sein Modell des Männerbundes auch für das Symposion PLATONs zu analogisieren. Schon PLATON hatte ja tatsächlich, noch ohne freudianische Terminologie, im Symposion den Gedanken einer Sublimierung von Triebenergien entfaltet. Dort steht zum ersten Male das Modell einer Differenzierung zwischen einer ‚gemeinen‘, unmittelbar sich verausgabenden, sowie einer ‚himmlischen‘, sich selbst versagenden Liebesform zur Diskussion. Während die eine Form der Triebabfuhr, positiv sozial gestaltet, zu Familiengründungen führen kann, sei aber nur die andere, sich selbst im Hinblick auf höhere Erkenntnis in Zucht nehmende Liebe, darüber hinausgehend positiv kulturell zu gestalten, insofern sie alleine von der Subjekt-Subjekt-Beziehung zwischen Menschen abstrahiere und zu einer Art interesselosen Interesses an der Weisheit voranschreite. Schon PLATON behauptet in diesem Zusammenhang, dass diese ‚himmlische‘ Form der – modern gesprochen – Sublimierung ein besonderes Kennzeichen der sich selbst entsagend in Zucht nehmenden Männerliebe sei. Bei BLÜHER aber ging die Argumentation noch sehr viel weiter und vor allem in eine ganz andere Richtung als bei PLATON. Solche Sublimierung der Neigung war für ihn nämlich keine reine Entscheidung des Willens alleine, noch weniger eine Frage des Ethos. Vielmehr interpretierte BLÜHER, seinen kleinbürgerlichen Nietzsche- Popanz radikalisierend, diesen ‚Willen‘ nicht nur als Entscheidung zur entsagungsvollen Erkenntnis, sondern als Willen zur Macht in sozialen Beziehungen, als Willen, wie er anlagebedingt nur ‚Männerhelden‘ möglich sei, welche von ‚reinem‘ Geblüte und ‚reiner Rasse‘ sein müssten (vgl. UHLE/GAUS 2002, S.99ff.). Mit dieser Annahme eines durch ‚Blut‘ und ‚Rasse‘ angelegten und nietzscheanisch überformten sublimierten ‚Willens‘ fügte BLÜHER der Rede vom ‚pädagogischen Eros‘ jene katastrophale rassistischantisemitische Komponente bei, die freilich, das ist zuzugestehen, dem GeorgeKreis fremd war. Andererseits aber, in Bezug auf die philologische Tradition, war BLÜHER durch diesen argumentativen Kniff in der Lage, eine bei PLATON selber problematisch gebliebene Bruchstelle der Argumentation zu überwinden. PLATON selber ficht nämlich einerseits im Kugelmythos in Symposion 189d-191d für die Anerkennung sowohl der mann-fraulichen wie der frau-fraulichen wie der mannmännlichen als gleichberechtigten und gleichwertigen Spielarten menschlicher Liebe als Subjekt-Subjekt-Beziehungen. Hier folgt er der Codierung Mann-Frau. An anderer Stelle aber, insb. in Symposion 180c-181e, führt er die Codierung Alt-Jung ein. Hier problematisiert er durchaus kritisch die Wollust des Alternden am jungen Fleisch als ethisch prinzipiell nicht vertretbare Größe. Gleichwohl führt er eine weitere Differenzierung ein. Die Codierungen Alt-Jung und Mann50
Frau gehen im Ursprungstext, wie in alle Folgediskussionen, unsystematisch durcheinander. PLATON begeht, wohl vor dem Hintergrund seiner Zeit, in der Mädchen mit dem Beginn der sexuellen Reifung im Hause verborgen wurden, einen bis heute immer wieder behaupteten kulturalistischen Fehlschluss. Er behauptet nämlich, dass – in modernen Begriffen gesprochen – die Pädophilie eine Untergliederung der Homosexualität sei, insofern diese, so die Pausanias-Rede 181ff., zumeist nur in Bezug auf Knaben zu beobachten sei. Sodann führt PLATON aber noch eine weitere Trennung ein, nämlich die zwischen einer Pädophilie im engeren und einer Ephebophilie im weiteren Sinne, welche ihre Lustobjekte erst „mit der Zeit des ersten Bartwuchses“ (181e) entdeckt. Die Pädophilie im engeren stellt für PLATON eine sozial gefährdende Abirrung dar, psychologisch ähnlich zu beurteilen, ethisch und juristisch ähnlich abzulehnen und zu ahnden wie die Nötigung und Vergewaltigung freigeborener Frauen – „man müßte aber auch den sinnlichen Liebhabern dasselbe aufzwingen, so wie wir sie ja auch nach Kräften zwingen, sich mit ihrer Liebe von freigeborenen Frauen ferne zu halten“ (182a).3 Demgegenüber ist die Ephebophilie als unterstellte Untergliederung der Homosexualität für ihn in dem Falle vertretbar, ja sogar anzuerkennen und zu fördern, in dem sie entsexualisiert, aber durchaus erotisiert, in einer kulturell überformten Übung der Päderastie als Beginn einer í „für das ganze Leben vereint“ (181e) agiert. Insofern enthomosexualisiert PLATON die Pädophilie als schlechte Gewohnheit, homosexualisiert hingegen die Ephebophilie in der Päderastie, hier verstanden als die kulturell wiederzubelebenden idealtypische Form eines initiatorischen Patenschaftsverhältnisses aus archaischer Zeit (vgl. WINTERLING 1990, S.19). Diese Konstruktion ist kühn und systematisch unsinnig. Ganz beiseitegelassen sei an dieser Stelle, dass die Bildungsfähigkeit von Mädchen hier, anders als später in den Nomoi, nicht thematisiert wird. Beiseite gelassen sei auch, dass hier kulturalistische, historische, ethische, psychologische, juristische und politische Erwägungen durcheinander gehen. Es bleibt aus pädagogischer Sicht der Kernfehler der falschen Unterstellung, dass die Codierung Alt-Jung in der Codierung Mann-Frau als Unterform des Verhältnisses Mann-Mann aufgehe. Heutige psy3 Aus heutiger Sicht bemerkenswert, weil die Fremdheit der Antike hervortreten lassend, ist PLATONs Begründung für die Straf-Bewehrung von Vergewaltigung und Pädophilie. Es geht ihm nämlich nicht um den Schutz von Frauen und Kindern. Vielmehr geht es ihm – mit MICHEL FOUCAULT – um eine kluge Ökonomie der Lüste. Frauen und Kinder sind ihm keine Subjekte ihres eigenen Begehrens, nicht einmal Schutzbefohlene, sondern einzig Objekte männlichen Begehrens. Insofern zielt das Verbot der Vergewaltigung von Frauen und des Missbrauchs von Kindern für ihn einzig auf die kluge Verwendung der Begehrensenergie des Mannes, des freien Bürgers. Die Macht über die Lüste spiegelt die Macht des freien Mannes in der Polis. Es sei reine Verschwendung, wenn ein Freigeborener „so viel Mühe aufs Ungewisse hin vergeude“, Frauen sind eh verheiratet, bei Kindern sei ja noch völlig „ungewiss, wohin ihre weitere Entwicklung … zuletzt ausschlagen wird“ (181e).
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chologische Forschung weiß, dass die Neigung zu Jüngeren eine ebenso manifeste Begehrensweise an und für sich darstellt wie die erwachsen-geschlechtliche, gleich, ob gegen- oder gleichgeschlechtliche. Was die erwachsen-geschlechtliche Begehrensweise angeht, so kann diese in eine gleichberechtigte Subjekt-SubjektErgänzung führen, jenes Ideal, das PLATON selber im Kugel-Mythos entfaltet. Da der jugendliche Mensch hingegen über noch keine entwickelte genitale Sexualität verfügt, ist für eine Subjekt-Subjekt-Balance zwischen Alten und Jungen aber eben gerade keine sexuelle Basis vorstellbar. Aus pädagogischer Sicht ist, jenseits der zeitgenössischen Skandalisierungen um 1900, das eigentliche Skandalon der hier zur Diskussion stehenden Redeweise ja nicht die Tatsache mannmännlichen Zugetan-Seins. Was hier in Rede steht, ist der Zugriff des Älteren auf den Jungen, den Abhängigen, den Ausgelieferten. Das Problem liegt nicht in der Homosexualität, es liegt in der Pädophilie. Die Codierung Mann-Frau unterliegt kulturellen Wandlungen, die Codierung Alt-Jung hingegen verweist, verletzt sie die biologischen Grenzen der Pubertät, auf ein überkulturelles Tabu. Dieses letztlich von PLATON selber zwar erkannte, aber durch die Trennung von pathologischer Pädophilie und politisch-kulturell gestifteter wie stiftender Päderastie dann doch wieder gedanklich umgelenkte Problem wird dem gebildeten Publikum nun von BLÜHER scheinbar vermittelt, mehr noch, es wird umgekehrt. Zum einen wird der Altersunterschied unter Bezug auf das ‚Jugend erzieht Jugend‘ der Jugendbewegung argumentativ relativiert. Zum anderen und vor allem aber wird die Deutung des auf Junge, auf Jungen zielenden Begehrens der Älteren geradezu provozierend umgekehrt. Indem nicht auf die Subjekthaftigkeit der Liebenden, sondern auf die bündische Gemeinschaft der Liebenden und die Dimension der Initiation in diesen Bund als zentralen Punkt abgehoben wird, kann BLÜHER eine weitergehende Lösung anbieten. Die ausgelebten mann-männlichen Beziehungen der ‚Homosexuellen‘ gelten BLÜHER als Ausdruck der vom modernen Individualismus angekränkelten Schwäche solcher, die er keine Scheu hat, dem psychiatrisch bestimmten Diskurs unter dem Wirken einer (klein-)bürgerlich repressiven Codierung von MannFrau auszuliefern. Sie sind Opfer ihrer Triebe, keine Täter der Geschichte. Sie werden argumentativ analogisiert mit jener angeblichen ‚jüdischen‘ Räsoniersucht‘, die nach antisemitischem Vorurteil Vernünftelei vom ‚gesunden Menschenverstand‘ des angeblichen arischen Herrenmenschen trennt (vgl. BRUNOTTE 2004, S.103f.). Das Tabu über der Codierung Alt-Jung hingegen sucht er systematisch zu entwerten. Sein ‚Männerheld‘ muss geradezu seinen von ‚Rasse‘ reinen und durch ‚Willen‘ sublimierten Eros auf den Jungen richten, verlangt doch die Gemeinschaft des Männerbundes das Fortbestehen der Generationenfolge. Im Erkennen und Fördern des Jungen als zukünftigem Helden zeugt sich der Alte fort, im Alten zeugt sich die Kultur fort. So gedacht, ist freilich die ho52
mosexuelle Beziehung ein Skandalon, die pädophile hingegen, kulturell überformt als päderastische, erscheint als kulturgebärende Notwendigkeit. Es ist geradezu Last und schwere verantwortungsvolle Bürde einer Kulturaufgabe in schwerer Zeit, an Jungen sich zu vergehen. Wie hier eine unglücklich-tragische sexuelle Disposition zur historischen Kulturmission geadelt wird, ist wohl nur mehr psychologisch auszuleuchten. Mit dieser kruden Annahme des Männerhelden wurde BLÜHER gleichwohl für die virile Fraktion der Homosexuellenbewegung wie für die politische Rechte gleichermaßen lesbar. Für die einen erschien er interessant, weil sein ‚Männerheld‘ die Nähe von ‚Homosexualität‘ und ‚Weibischem‘ negiert und genau umgekehrt die Gemeinschaft stiftende Kraft des Mannes betonte. Für die anderen erschien er interessant, weil er mit der Kategorie des ‚Blutes‘, antisemitischen Deutungen Vorschub leistend, den reinen Willensakt, der noch NIETZSCHEs Kulturkritik umtreibt, als voluntaristische Tändelei eines ‚übersteigerten Intellektualismus‘ abtun konnte.4 Nach dieser Deutung entschied das ‚Blut‘ darüber, ob und wem es gelang, die Neigung zu veredeln. Besonders an BLÜHERs Konstruktion war, dass er als Vertreter des Wandervogels auftrat und mit der Thematisierung der Selbstorganisation der Jugend als kulturell relevanter Größe eine diskursive Flanke abdeckte, welche in der Platon-Verehrung aus dem Umfeld des George-Kreises bisher offen geblieben war. Die Erneuerung der Kultur aus dem Geiste der Jugend wurde hier, zumindest publizistisch, geleistet, der Generationenkonflikt der jüngeren mit der älteren Generation nicht nur ausgehalten, sondern produktiv gelöst. Auch hierbei waren, so ist BRUNS zu folgen, Projektionen der interessierten Öffentlichkeit wie des Autors im Spiel. Gerade Steglitz, jene bildungsbürgerliche BeamtenSchlafstadt vor den Toren Berlins, war ein durchaus reformfreudiges Milieu. GURLITT war Lehrer am dortigen Gymnasium, dessen Direktor der neuen Wandervogelbewegung positiv gegenüber stand, HUGO REINHOLD KARL JOHANN HÖPPENER – genannt FIDUS – lebte vor den Toren der Stadt und verbreitete durchaus mit der Sympathie der Anwohner seine Ideen von Vollwertkost und FKK, BLÜHERs eigener Vater unterstütze die Wandervogelei seines Sohnes auch finanziell (vgl. BRUNS 2008, S.206ff.). Die antibürgerliche Generationenrevolte war wohl eher Wunschprojektion; diese Bürgerkinder revoltierten nicht, sondern gaben einer auf dem Gebiete der Kultur durchaus reformwilligen bildungsbürgerlichen Schicht ein Bild möglicher Erneuerung der Kultur ab. Gerade dieses aber war, in Ergänzung zu PLATONs ‚Symposion‘, so wichtig, denn die Genera4 Dem Blick auf die weitere Biographie BLÜHERs ist die Mühelosigkeit bemerkenswert, mit der er sich in seinem weiteren Leben zwischen homosexuellen, pazifistischen, lebensreformerischen, linksund rechtsextremistischen Kreisen bewegt und dabei ein kleinbürgerliches Familienidyll mit Frau und zwei Kindern entfaltet hat.
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tionenfrage, das kulturell neue Phänomen der – mit SPRANGER – ‚Kulturpubertät‘ konnte beim besten Willen nicht in ihn hineingelesen werden. Die Aufnahme BLÜHERs war stark, laut und genuin positiv. Zwar gab es einige Kritik, einerseits aus dem Wandervogel selber, andererseits aus der radikal völkischen Rechten (vgl. zur Rezeption in der Jugendbewegung grundlegend: GEUTER 1994). Der Wandervogel musste seine Reputation noch erkämpfen und hatte somit seine Schwierigkeiten mit der Unterstellung, die Jugendbewegung sei nichts als ein Ausdruck sexueller Verwirrtheiten.5 Die kleinbürgerlichen Völkischen hingegen konnten mit der Vorstellung, dass ihr Germanentum auf ‚griechischer‘ Spielart der Liebe beruhen sollten, beim besten Willen nichts anfangen. Viel mehr ins Gewicht fällt aber, dass BLÜHERs Traktate in den meisten Publikations- und Rezeptionskreisen durchaus positiv aufgenommen wurden. Diese Tatsache gilt sowohl für die entsprechenden Fachpublika wie für das bildungsbürgerliche Publikum generell. Nicht nur, dass in Philologen- und Kulturzeitschriften durchaus positive Besprechungen erschienen, auch und gerade die neuen Fächer der Sexualwissenschaft, der Völkerkunde und der Psychologie nahmen diese Thesen mit Interesse zur Kenntnis. Umso mehr gilt die Aussage positiver Rezeption für die bildungsbürgerliche Öffentlichkeit. Insbesondere sein ‚Wandervogel‘ von 1912 fand von links bis rechts, von GUSTAV LANDAUER bis HEINRICH HIMMLER, vor allem aber ganz oben im intellektuellen Zenit, bei THOMAS und HEINRICH MANN, bei RAINER MARIA RILKE, beim nun schon textnotorischen GEORGE und seinen Jüngern begeisterte Aufnahmen. Geadelt wurde so viel Aufmerksamkeit durch die anerkennende Zustimmung FREUDs, der in BLÜHERs Thesen tiefen Sinn zu entdecken meinte (vgl. BRUNS 2008, S.332ff.). So waren nicht nur HILDEBRANDT und BLÜHER Brüder im Geiste, sondern vor allem ihre Deutungen des Symposions und des Wandervogels als Männerbund Nachbarn in den Bücherregalen der intellektuellen Eliten im Deutschen Reich. Es ist, wie SEE bemerkt, eine der wundersamen Allianzen in der deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass GEORGE und seine Mannen auf der einen Seite, großbürgerlich-aristokratische Kreisbildner, und BLÜHER auf der anderen Seite, aus dem aufgestiegenen Kleinbürgertum stammender Einzelgänger, sich in der von ihnen gemeinsam initiierten Debatte um Eros und Männerbund so kongenial ergänzten (vgl. SEE 1990, S.94f.). Persönlich gekannt haben die beiden sich nicht, verbunden waren sie zunächst nur über ihre NietzscheBegeisterung. Was GEORGE anging, so hat er, wie immer raunend, trotz seiner zustimmenden Haltung offiziell zu BLÜHER geschwiegen und persönlich Distanz gehalten. Umgekehrt aber hat BLÜHER selber sein Schreiben bald gezielt auf den
5 Zu notieren ist, dass BLÜHER, soweit die Akten es noch hergeben, schon als Jugendlicher selber kurz vor dem Ausschluss aus dem Steglitzer Wandervogel gestanden hat.
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George-Kreis ausgerichtet und von da an leitmotivisch Elemente dessen Denkens in seine Texte eingebaut (vgl. STEINHAUSEN 2001, S.87). Philologisch genauer kann präzisiert werden, dass als erster Versuch der Annäherung und Ehrerbietung eine direkt an HILDEBRANDT anknüpfende Wilamowitz-Invektive aus dem Jahre 1916 überliefert ist (vgl. BLÜBER 1916). Eine solche Annäherung war nur folgerichtig. Denn tatsächlich ergänzten sich ein neu gedeuteter Wandervogel und ein neu gelesenes ‚Symposion‘ aufs Trefflichste. Den publizistischen Schlussstein des neuen Deutungskonstruktes setzte, allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg, der Sozialphilosoph HERMAN SCHMALENBACH. Dieser war während der hier interessierenden Zeit Lehrer an der Dürerschule, einer Reformschule in der Gefolgschaft von WYNEKEN. Auch er gehörte zum weiteren Umfeld des George-Kreises. Er sollte 1922 erstmals den ursprünglich theologisch besetzten Begriff des ‚Bundes‘ in die soziologische und philosophische Fachdiskussion einführen. Dort wollte er ihn, in Auseinandersetzung mit FERDINAND TÖNNIES einerseits und WEBER andererseits, als dritten Typus neben ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ gestellt wissen. Dabei war für ihn der ‚Bund‘ prinzipiell näher der ‚Gemeinschaft‘ verwandt, wies allerdings in einem entscheidenden Punkt über jene hinaus: ‚Gemeinschaft‘ sei demnach eine vorausgesetzte, nicht mehr gefühlte Einheit sei, „wenn es zu Gefühlen kommt, seien sie niemals primär fundierend, sondern immer sekundär und abgeleitet“. Gegenüber dem ungefragt Vorausgesetzten der Gemeinschaft gelte für den Bund, dass für diesen „aktuelle Gefühlserlebnisse konstitutiv“ seien. Es „lodern die Jünglinge, die gemeinsam ein hohes Ideal umschwärmen, in einem ‚Bunde‘“. In intensiven „Gefühlserlebnissen“, „ekstatisch-orgiastisch“ würden die „Individuen zusammengeschweißt“ (SCHMALENBACH 1922, S.59-64). Die Erneuerung der Massengesellschaft aus dem Geist des generationenverbindenden Männerbundes schien möglich – so sangen es die Sirenen der kulturpessimistischen Eliten. Das Schöne an diesem Gedanken: Er war zugleich bürgerlich und antibürgerlich in seinem Changieren zwischen ‚Willen‘ und ‚Haltung‘, zwischen Kokettieren mit ‚Homosexualität‘ und Unterdrückung des ‚Sexus‘, zwischen neoantikisierender Kulturtradition und kultureller Zerstörung – und so hielt er für alle etwas bereit: Für die Jungen wie für die Eltern, für die Linken und Liberalen wie für die Nationalkonservativen und Reaktionären, für die Jungen wie für die Alten, für die Bildungs- wie für die Großbürger. Es war, mit NORBERT ELIAS, der zum Sprachspiel geronnene statuserhaltende Elitenkompromiss, auf den sich aristokratisch-großbürgerliche Eliten mit dem Bildungsbürgertum einigen konnten. Was hier zu Werke ging, war, zum letzten Male vielleicht in dieser Klarheit, eine Männerperspektive als Machtperspektive; wir schreiben immer noch das Jahr 1912, das Jahr des großen historischen Wahl-
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siegs der SPD, eben jener Partei, die auch das Frauenwahlrecht durchsetzen wollte. Hier galt es zusammenzustehen wie ein Mann.
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Akzeptanz des Inakzeptablen
Immer noch aber steht die Frage im Raum, wie diese krude Neuerfindung eines ‚Eros‘ solche Anerkennung finden konnte. Zwar ist inzwischen deutlicher als vorher geworden, an welche generellen kulturkritischen Vorbehalte sie anknüpfen konnte. Damit ist aber immer noch nicht geklärt, wie diese Deutung in die pädagogischen Debatten im engeren Eingang finden konnte. Denn es sei nicht vergessen: Alle diese Debatten hatten Objekte, denen ein eigener SubjektCharakter nicht zukam. Gut dokumentiert ist in der Forschung der George-Kreis als eine um einen sich selber charismatisch deutenden Führer gruppierte Gemeinschaft, in der über Generationen hinweg Jünglinge dem Alten zugeführt wurden. Alles Geschehen war bis ins Kleinste ritualisiert: das Ansprechen hübscher Jungen auf der Straße, Photographien, die im Kreis begutachtet wurden, Besuche bei den Eltern, die ihren ganz offiziellen Segen zur Initiation in den Kreis geben sollten, sodann Tee-Zeremonien bei D.M. (vgl. KARLAUF 2005). Schließlich die Einkleidung ins ‚Süßenhemd‘, zuletzt dessen Auskleidung, die Nacktheit und endlich die Fellatio, auf dass sich das ‚Zeugen im Schönen‘ erfülle (vgl. RAULFF 2010, S.515). Freilich, so war das im ‚Symposion‘ wohl gerade nicht gemeint gewesen (vgl. Symposion 207-209). Auf gewisse Weise allerdings, so ist mit MICHEL FOUCAULT zu relativieren, vollendete sich hier dann doch die argumentative Struktur PLATONs in jener letzten Konsequenz, vor der dieser selber zurück geschreckt hatte. Denn nicht geht es, so FOUCAULT, im Diotyma-Mythos um das Objekt der Liebe, um die Vollendung des Jünglings. Vielmehr geht es in diesem Textabschnitt einzig um die Vollendung dessen, der liebt. Die Offenbarung der Wahrheit seines Begehrens ist die Voraussetzung seiner Subjektwerdung (vgl. FOUCAULT 1986, S.307).6 Im Laufe der Jahrzehnte wuchs dieser Kreis zu einem in Filiationen sich aufsplitternden Bund, der mehrere Richtungen an mehreren Orten mit jeweils mehreren Generationen umfasste. Überall aber wurde am Ritual permanenter Verführung festgehalten. Die Auswahlprinzipien, welche die Burschen in die 6 Dieses Problem treibt die Philologie seit der Übersetzung durch SCHLEIERMACHER um. Diskutiert wird bis heute, ob im Diotyma-Mythos als speziellem Teil des ‚Symposion‘ von einem ‚Zeugen und Empfangen im Schönen‘, also von einer reziproken Subjekt-Subjekt-Beziehung, oder aber von einem ‚Zeugen im Schönen‘ als einer selbstreflexiven Tat eines Denker-Subjekts in Bezug auf ein SchülerObjekt die Rede ist.
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Fänge des Bundes geraten ließen, sind von GROPPE in stupender Archivarbeit rekonstruiert worden. Denn noch immer ließ sich GEORGE stetig berichten. So erfährt man in eben jenem Jahre 1912 aus einem Brief von ERNST MORWITZ an den Meister über einen Jungen, von dem jener sich so viel versprochen hatte: „Es ist leider nichts. Ein kleiner Mensch mit stark gebogenem Rücken, Blindschleichenkopf, Stupsnase – sehr neugierig… Ist etwa 20 Jahre alt, studiert Sanskrit … Ich glaube, sein Vater ist eben geadelt worden. Der körperliche Zustand ist jedenfalls unterdurchschnittlich … Ich halte ihn für anständig – aber unkünstlerisch sehr substanzlos … und ohne angeborenes Wissen“ (MORWITZ an GEORGE 1913, zit. in: GROPPE 1998, S.125). Das war nichts. Mehr Anlass zur Hoffnung gab da schon der neue Liebling von FRIEDRICH WOLTERS, der junge BALDUIN VON WALDHAUSEN, der leider acht Jahre später im Wahnsinn enden sollte. FRIEDRICH GUNDOLF hält den Meister über dessen Vorzüge auf dem laufenden: „Er ist ein netter feiner wacher und nobler Junge, 19 Jahre alt, im ersten Semester, klassische Philologie, Offizierssohn,..“ (GUNDOLF an GEORGE 1912, zit. in: ebd.). Na, das klingt schon besser. Was aber konnte solch‘ vorsichtiges Lob gegen die Neuigkeit sein, mit der ERNST KANTOROWICZ ‚D.M.‘ 1913 erfreuen konnte: „Nun zum schluss noch die mitteilung – dass mich bald nach weihnachten ein wirklicher voll-S[üsser] – von seinem Vater geschickt [sic! D.G.] – besuchte. Er ist derzeit noch in schulpforta – macht aber jetzt sein abitur – um dann architektur-archäologie zu studieren: ein ungewöhnlich schöner bub … mit strahlendblauen augen – gross – schlank – mit einem durchtrainierten körper – schönen händen und gelenken – … Das erfreulichste ist die völlige unberührtheit…“ (KANTOROWICZ an GEORGE 1913, zit. in: GROPPE 1997, S.429). Hier also wurde der neue pädagogische Eros praktisch. Die Zahl solcher Beispiele könnte immer so fortgehen. Nach all‘ den schwindelerregenden Höhenflügen philosophisch-psychologischer und pseudophilosophisch-küchenpsychologischer Art in die schwüle Hitze voll-süßer Bengel-Sonnen tritt der kalte Schweiß des Absturzes auf die Stirn. Alle Dokumente folgen demselben, geradezu stupide erscheinenden Muster: Immer geht es um Anwerbungsversuche, die wie Spinnennetze über die Welt sich legen. Letztes Kriterium ist immer nur das eine, ‚voll süß‘ müssen die Bengel sein: Keine runden Rücken, keine ‚Blindschleichenköpfe‘ bitte, statt dessen ‚schön‘, ‚schlank‘ und ‚durchtrainiert‘ und vor allem, welche Lust, ‚völlig unberührt‘. Nicht einmal einen Namen haben die Jungen in diesen Briefen, sie sind Fleisch, benutzbares, benutztes Fleisch, sonst nichts. Ähnliches könnte man bei WYNEKEN finden, überwunden oder auch nicht war es vielleicht bei BLÜHER, mühsam niedergerungen wohl bei HAHN oder GEHEEB. Gerade am Beispiel des George-Kreises aber wird auch jenes eine Element besonders deutlich, das Kreise wie diesen von den Zirkeln anderer Pä57
dophiler unterschied. Der Kreis fungierte als ein Netzwerk, das stetig auf der Suche war: Die jungen Burschen wurden systematisch beobachtet und ausgewählt. Hierbei waren von vorne herein ein Ausschließungs- und ein Optionskriterium noch vor der sexuellen Attraktivität entscheidend: Aus guter Familie im Zwischenfeld von Adel, Großbürgertum, intellektueller Elite und Offizierscorps mussten die Jungen sein, die formalen Stufen höherer Bildung mussten sie durchlaufen haben, auf eine veritable Karriere mussten sie hoffen lassen. Wurde ein Junge in den Kreis kooptiert, hatte dieser die Verantwortung, für dessen weiteres Fortkommen in einflussreiche Spitzenpositionen hauptsächlich von Wissenschaft und Kultur, idealerweise aber auch von Politik und Militär zu sorgen. Es ging um die sozialisatorische Züchtung einer neuen „Jugendelite“ (vgl. GROPPE 1998, S.123ff., S.123). Diese war verbunden durch die erotisch verbrämte und-traumatische erfahrene Initiation. Vor dem Hintergrund dieses EliteIdeals, welches gewöhnliche Jungen vom Missbrauch ausschloss, konnten die Kreismitglieder sich einreden, keinen gewöhnlichen Missbrauch zu begehen, sondern einem bildnerischen Tun nachzugehen.
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Wege eines geflügelten Wortes – Versuch einer Spurenauswertung
Wird abschließend versucht, die Wege zu rekonstruieren, auf dem der das Tun überformende Slogan vom ‚pädagogischen Eros‘ im ‚Männerbund‘ aus solchen Missbraucher-Kreisen ins Jargon-Repertoire der Pädagogik des 20. Jahrhunderts überwechseln konnte, so wird die Spurensuche vielfältig. Grundsätzlich ist die massive Textproduktion zu betonen, welche das Umfeld für das hier diskutierte Sujet bildete. Aus dem Kreis der George-Jünger liegen aus den hier behandelten sowie den Folgejahren mindestens 26 PlatonSchriften vor, die damit das deutschsprachige Bild des PLATON im 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt haben (vgl. GROPPE 1997, S.412). Diese Platon-Schriften waren ihrerseits wiederum eingebunden in, so gibt es die Archivlage her, gezielt aufeinander bezogene Produktionen weiterer analog gestalteter Veröffentlichungen: Unterhalb des dionysisch-erotischen Universalgottes angesiedelt, wurden weitere Götter am Himmel über den Sparten der Disziplinen und des Buchmarktes zum Leuchten gebracht: WILLIAM SHAKESPEARE, JOHANN WOLFGANG VON GOETHE und HÖLDERLIN in der Literatur, NIETZSCHE in der Philosophie, NAPOLEON und der Stauferkaiser FRIEDRICH II. in der politischen Geschichte. Alle diese aufeinander abgestimmten Publikationen überschwemmten den Buchund Zeitschriftenmarkt nach dem einheitlichen Konzept einer ‚Gestaltbiographie‘ (vgl. GROPPE 2000, S.52). Geleistet werden sollte die permanente Indoktrination des Publikums zu einer Vorstellung von charismatischen Erotikern eines 58
imaginierten Erziehungsstaates, die in ihrer ‚Gestalt‘ Fachgrenzen, Disziplinen und soziale Ordnungen sprengten. In solchen Männern habe die ‚Substanz‘ sich erfüllt, in ihrer historischen Folge sei die Geburt des ‚Geheimen Deutschland‘ vorbereitet worden. Im permanenten publizistischen Erziehungstun sollte dem ‚Dritten Humanismus‘ des ‚Tatmenschentums‘ der Weg geebnet werden. Neben dem publizistischen ist der akademische Verbreitungsweg als zweite wesentliche Säule des Erfolgs zu benennen. Wohl wichtigster Wegbereiter sollte in den 1920er Jahren der preußische Kultusminister BECKER werden. Dieser war einerseits mit JAEGER und SPRANGER befreundet und teilte insofern die ernst zu nehmende bildungs- und geschichtsphilosophische Ausprägung des zeitgenössischen kulturkritischen Deutungsmusters. Zugleich aber adorierte er mehr und mehr den George-Kreis, dessen jüngeren Mitgliedern er tatkräftig auf akademische Positionen verhalf. Vordergründig nahm BECKER den zeitgenössischen Jargon auf, welcher in jenen Jahren HUMBOLDT zum Slogan einer ‚Humboldtschen Universitätsreform‘ als rückwärtsgewandte Projektion vereinnahmte (zur Erfindung des bildungspolitischen Mythos ‚Humboldt‘ vgl. grundlegend PALETSCHEK 2001, 2002, 2006; GAUS 2010). Unter der Hand aber füllte er diesen Humboldt-Homunculus in seiner Konzeptualisierung der Hochschulpolitik mit dem Platon-Satyr der Georgianer. Auf ‚humanistisches‘ ‚Tatmenschentum‘ habe das Studium zu zielen, dem Studienziel der ‚Persönlichkeit‘ habe es sich zu unterwerfen. Da war sie wieder, die charismatische Ver-Führerfiktion. Zukünftiger Beruf und politische Lagerung der an der Universität zu züchtenden Elite waren ihm nebensächlich; ihm kam es darauf an, in allen Berufen, quer durch alle politischen Lager eine männerbündisch verbundene Elite zu installieren, welche die Erneuerung seines deutschen Vaterlandes über eine Revolutionierung der Denkungsart sicherstellen sollte. Demensprechend war es sein Ziel als Hochschulpolitiker, die Fachgrenzen der disziplinär sich differenzierenden Universitäten zugunsten einer neuen emphatischen ‚Einheitskultur‘ zu überwinden. Über die vertikale Strukturierung einer modern differenzierten Republik wollte er qua Hochschulpolitik die horizontale Schichtung eines bildungsaristokratisch stratifizierten Elitenetzwerkes legen. BECKER adelte in öffentlichen Reden immer wieder GEORGE und dessen Jünger, indem er ‚Eros, Kairos, Weihe und Schönheit‘ als die Kernaufgaben einer hochschulpolitischen Revolutionierung der Moderne aus dem Geiste der Antike vertrat (vgl. GROPPE 2000, S.50f.). Politisch wirksam wurde dieses Gedankengut durch direkte Initiativen. So förderte BECKER, durchaus mit Sympathie der geisteswissenschaftlichen Fächer, nach Kräften die Einführung ‚synthesebildender‘ Institute und Studiengänge, welche die fachwissenschaftliche Orientierung universitärer Studien und Fachdiskurse aufheben sollten. Seine besondere Aufmerksamkeit aber galt der Beru59
fungspolitik. Nicht nur schuf er den Berliner Lehrstuhl für SPRANGER, welcher erstmals die bildungsphilosophische Auseinandersetzung mit Themen wie dem hier behandelten auf höchstem Niveau der Mandarine ermöglichen sollte. Sein besonderes Augenmerk galt jedoch der Ebene der Privatdozenten und Extraordinarien. Unter jenen vermutete er, wohl nicht zu Unrecht, viele Anhänger solcher hier vorgestellter Ideen, die in den üblichen fakultätsinternen Berufungsverfahren kaum eine Chance hatten. Nicht in jedem Einzelfall hatte BECKER Erfolg. So zeigte ihm etwa die Berliner Altphilologie seine Grenzen auf, als er 1926 versuchte, die Habilitation HILDEBRANDTs an der Universität Berlin durchzudrücken. Noch einmal entfaltete der Emeritus WILAMOWITZ-MOELLENDORF seinen ganzen Einfluss; HILDEBRANDT scheiterte im Verfahren, die venia wurde ihm verweigert. An diesem Beispiel wird freilich auch die massive Parteinahme BECKERs für die George-Jünger deutlich. Denn in Folge beauftragte der Minister höchstselbst 1929 den nicht habilitierten Oberarzt der Irrenanstalt mit der selbständigen Vertretung der Philosophie in Berlin7 (vgl. RAULFF 2010, S.137). Jenseits des prominenten Einzelfalles aber hatte BECKER auf breiter Linie durchaus Erfolge. Nach den von GROPPE ausgewerteten Zahlen ist es ihm gelungen, gezielt die akademische Karriere gerade von George-Jüngern systematisch zu fördern (vgl. GROPPE 1997, S.543, 2000, S.53). Bezüglich pädagogischer Diskurse im engeren ist zunächst keine direkte Wirkungskette im Medium fachlicher Diskussion festzustellen. JÜRGEN OELKERS hat nachgewiesen, dass der Diskurs der Reformpädagogik in kleinen und kleinsten Konventikeln zersplittert war (vgl. OELKERS 1989, 1999). Hierbei lassen sich zwar, etwa um HAHN oder WYNEKEN, sozialgeschichtlich strukturell ähnliche Kreisbildungen finden. Ideengeschichtlich kann auch bezüglich dieser Genannten festgehalten werden, dass sie sich ebenfalls alle etwa ab 1910 verstärkt mit PLATON auseinandergesetzt haben. Einzig bei GEHEEB lässt sich eine vertiefte Auseinandersetzung nicht belegen (vgl. NÄF 2006, S.183). Für HAHN lässt sich demgegenüber die Beschäftigung sogar recht genau für die Jahre zwischen 1908 und 1913 nachweisen. Insgesamt steht eine genaue philologische Erforschung der Rezeptionswege PLATONs im gesamten Feld reformpädagogischer Kreise aber noch aus.8 Gleichwohl kommt GROPPE, die sich mit den Re7 Es war dieses die Wegmarke einer formal akademischen Karriere im engeren. 1934 sollte HILDEBRANDT, inzwischen strammer Parteigänger der Nationalsozialisten geworden, zum Lehrstuhlinhaber in Kiel berufen werden, wo er 1945 emeritiert wurde. Noch bis zu seinem Tode im Jahre 1966 blieb er einer der Hauptvertreter der hier in Rede stehenden Platon-Lesart. 8 Jüngst hat OELKERS den Philologen OTTO KIEFER, Lehrer an der Odenwald-Schule GEHEEBs, als ersten dezidiert aus der Landerziehungsheimbewegung kommenden Verwender der standing expression ‚Pädagogischer Eros‘ in dessen Beitrag von 1924 für die Homosexuellen-Zeitschrift ‚Der Eigene‘ behauptet (vgl. OELKERS 2010). Diese These ist allerdings noch weiter durch historische Forschung zu prüfen. Sollte OELKERS sich mit seiner Behauptung auf die Darstellung von MARTIN NÄF
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zeptionen aus den Kreisen der Reformpädagogik intensiv beschäftig hat, zu dem Ergebnis, dass sich kaum eine direkte Rezeption oder von GEORGE oder BLÜHER ausgehende Anregung in die Kreise um die publizistisch relevanten Vertreter der Reformpädagogik finden lässt. Die meisten sind wohl ihre eigenen Wege der Neuinterpretation PLATONs gegangen. Dabei ist zwar nach bisherigem Forschungsstand eine starke strukturelle Ähnlichkeit der Rezeption auf der Basis eines geteilten kulturkritischen Deutungsmusters, aber keine direkte Ableitung der Argumentation von den hier aufgezeigten Publikationen und ihren Publikationswegen zu unterstellen. So bleibt zu vermuten, dass weder der George-Kreis noch die Traktate BLÜHERs einen direkten Einfluss auf die Reformpädagogen hatten. Es hat sich hierbei, wie GROPPE in Anlehnung an THOMAS MANN glücklich formuliert, um eine „hermetische Pädagogik“ gehandelt (vgl. GROPPE 1998, S.315ff.; 1997, S.412). Über GROPPE hinausgehend, soll hier allerdings eine Ausnahme betont werden, welche für die Diskurstradition nach dem Ersten Weltkrieg folgenreich werden sollte. Nach den neueren Archivauswertungen von KARLAUF hat WYNEKEN, freilich erfolglos, immer wieder versucht, sich GEORGE anzudienen. Diese Annäherungsversuche sind bis zum Jahre 1906 zurück, also für eine Zeit schon vor der Rekontextualisierung des ‚Symposion‘, nachweisbar. Nachdem PLATON aber in den Mittelpunkt der Debatten gerückt war, hat WYNEKEN tatsächlich seine Lesart des Philosophen direkt in den hier vorgestellten Bezug gestellt; ohne dass er allerdings jemals vor den Augen GEORGEs Gnade und Anerkennung gefunden hätte (vgl. KARLAUF 2007). Zudem sollte der ‚pädagogische Eros‘ durch die skandalträchtigen Umstände im Zusammenhang mit den Verfahren gem. §174 StgB, unter denen WYNEKEN seine Fortschreibung PLATONs zum Zwecke der Selbstverteidigung seit 1921 betrieb, auch für den unbedarftesten Leser seine letzte eventuell noch vorhandene Unschuld verlieren; bei WYNEKEN sollte offenbar werden, was bei GEORGE immer diskret unter der Decke aristokratisch-großbürgerlicher Delikatesse geblieben war. Freilich sollten eben diese umstrittenen, im Gegensatz zum George-Kreis offen zutage liegenden Umstände der Thematisierung bei WYNEKEN zu verschärften Debatten führen. In diesen sollte der vor dem Ersten Weltkrieg noch pauschalisierend verwendete ‚pädagogische Eros‘ durch SPRANGER als ‚fordernde Liebe‘, durch HERMAN NOHL, der sich bereits seit 1914 von BLÜHER und WYNEKEN abzusetzen begonnen hatte, als ‚Pädagogischer Bezug‘ und schließlich von MARTIN BUBER als ‚umfassende Liebe‘ weiter differenziert werden (vgl. UHLE/GAUS 2002, S.98ff.). In diese Debatten floss zudem die Rezeption auch der spätestens seit 1903 datierbaren,
beziehen, so findet sich dort nämlich der Hinweis auf ein sehr viel früheres Traktat KIEFERs über die ‚Bedeutung der Jünglingsliebe‘ bereits aus dem Jahre 1902 (vgl. NÄF 2006, S.183, FN 234).
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gänzlich anders, nämlich neokantianisch inspirierten sozialpädagogischen Lesart PLATONs durch NATORP ein, auf die FOLLAK und BETTINA HÜNERSDORF verweisen (vgl. FOLLAK 2005; HÜNERSDORF 2007). Festzuhalten aber bleibt, dass auch solche pädagogische Auseinandersetzung mit dem ‚pädagogischen Eros‘ im wesentlichen erst in den 1920er Jahren einsetzte und auf einen relativ engen akademisch-bildungsphilosophischen Kreis beschränkt blieb. Gegenüber der Annahme eines pädagogischen Diskurszusammenhanges sind aber noch weitere Rezeptionswege zu betonen. Da die fachwissenschaftliche Rezeption nicht direkt, eindeutig und widerspruchslos erfolgte, ist zu überlegen, ob und inwieweit die Verbreitung dieser Annahme eines ‚pädagogischen Eros‘ vielmehr in diesem eher diffus aufeinander verwiesenen Deutungshorizont gesellschaftlicher Eliten ihren Grund und Ursprung hatte. Bis hierher sind alle genannten Punkte feststellbar. Von hier an gleiten die Überlegungen dieser Abhandlung freilich hinüber auf das Feld des nur mehr Behauptbaren. Zum einen ist behauptbar, der Männerbund, von dem hier so viel die Rede war, sei eine historisch bzw. ethnologisch auffindliche Tatsache. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, ob es sich beim auch päderastisch agierenden Männerbund um Realität handelt oder nicht doch vielmehr nur um eine Projektion. Für diese Deutung steht BRUNS. Sie re- und dekonstruiert, wie seit dem 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen des bürgerlichen Projekts der Moderne die Redeweise von der ‚Männlichkeit‘ biologistisch anthropologisiert wurde. Die Diskussion um Männerbündelei unterliegt damit aber einem nicht auflösbaren Problem. Sie unterstellt eine biologisch grundierte, vergleichend-ethnologisch oder kulturhistorisch aufweisbare Gemeinsamkeit ‚des‘ Männlichen, die so tatsächlich weder strikter methodologischer und klarer theoretischer Prüfung standhält. Der Nachweis eines einheitlichen Typus ‚Männerbund‘ ist aus solch‘ dekonstruierender Gender-Perspektive nicht möglich (vgl. BRUNS 2008). Ganz anders hingegen, wenn ein Kreis wie derjenige um GEORGE tatsächlich als Bund betrachtet wird, indem er im Sinne WEBERs und im Nachvollzug SCHMALENBACHs als ein Idealtypus unterstellt wird. Dieses ist dann möglich, wenn konstruktivistisch dort ein Männerbund unterstellt wird, wo Männer sich als solchen Bund verstehen. So getan, wäre der ‚pädagogische Eros‘ die Chiffre einer real vorfindlichen Gruppierung, deren diskursiven Erfolg philologisch nachzuzeichnen sein müsste. Damit steht die Frage im Raum: Hat es das ‚Geheime Deutschland‘ gegeben? Und ist die Durchsetzung der Rede vom ‚pädagogischen Eros‘ letztendlich Ergebnis einer mehr oder minder wohlwollenden Elitenverschwörung gegen den ‚Pöbel‘? Wird der auf immensen Archivbeständen aufgetürmten Darstellung von RAULFF gefolgt, so ist diese Frage zu bejahen. Nach RAULFF waren es nicht einmal GEORGE oder BECKER selber, die einen solchen Bund, wie sie ihn sich 62
erträumt hatten, geschaffen haben. Ihnen wurde beiden die Gnade zuteil, im Herbst 1933 sterben zu dürfen, so dass sie nicht mehr erleben mussten, was die Nationalsozialisten wohl mit ihnen letztlich angestellt hätten. Ebenso wie GEORGE hatte aber auch BECKER im Ministerium einen Kreis attraktiver junger Männer aus großbürgerlichen Verhältnissen um sich geschart. Beide, die George-Jünger wie die so genannten ‚Beckerjungen‘ sollen nach RAULFF insbesondere in den Jahren nach 1945 in der nun ihrerseits betriebenen Anwerbung junger Männer die gemeinsame Durchsetzung der „platonische(n) Provinz“ betrieben haben (RAULFF 2010, S.418). Diese zweite und erst recht die dritte Generation schließlich sollten, so RAULFF, die Schismen der Zeit vor 1914 überwinden und in den Medien der Landerziehungsheimbewegung, der Organisationsformen der politischen Bildungsstätten, der Heimvolkshochschulbewegung, etc. ihre Zirkel immer weiter festigen. CARLO SCHMITT, die „tief verschwiegene Georgine“ verstarb recht früh; eine der Zentralfiguren sollte der zu seinem Jünglingskreis gehörende HELLMUTH BECKER, Sohn C. H. BECKERs, werden, eine weitere GEORG PICHT, Neffe von ADOLF REICHWEIN, welcher in den 1930er Jahren ebenfalls den Zugang zu den George-Erben gesucht hatte, auch sie alle wiederum mit der üblichen Corona männlicher Jugend um sich (RAULFF 2010, S.417). Publizistischer Angelpunkt sollte das bildungspolitische Blatt der ZEIT werden, initiiert von MARION GRÄFIN DÖNHOFF, eine der wenigen Frauen, welche den George-Erben in diversen Konstellationen auf das Engste verbunden war. Als die bildungstheoretische Referenzfigur SPRANGER zu alt wurde, baute sie in ihrem Blatt systematisch den damals noch jungen HARTMUT VON HENTIG, den sie schon aus Kinderzeiten kannte, der noch auf dem Schoß von GEORGE gesessen hatte, zum bildungstheoretischen Stichwortgeber der Bundesrepublik auf. Dieser wurde assistiert von seinem Lebensgefährten GEROLD BECKER, der als Schulleiter über die reformpädagogische Praxis und als Herausgeber der ‚Neuen Sammlung‘ über eines der zentralen Publikationsorgane der deutschen Erziehungswissenschaft wachte. Währenddessen hielt sich auf dem Birklehof wie in der Odenwaldschule wie überall, wo Georgianer beisammen waren, die Übung, der Platon-Sammlung einen Schrein im Herzen des Hauses einzurichten, einen Schrein, in dessen Herzen wiederum das ‚Symposion‘ die Mitte bildete. Und über allem thronte RICHARD VON WEIZSÄCKER, Freund der meisten schon aus Kindertagen, auch er noch als Knabe der Ehre anheimgefallen, GEORGE vorgeführt zu werden, einst Adlatus von HELLMUTH BECKER, später Manager bei Boehringer-Ingelheim, der Firma jenes schweizerischen George-Jüngers ROBERT BOEHRINGER, welcher den George-Nachlass verwaltete, später Politiker, Kirchentags- und schließlich Bundespräsident (vgl. RAULFF 2010, S.426ff.). Ist das jetzt die ‚wahre‘ Geschichte? Ist die Geschichte des ‚pädagogischen Eros‘ letztlich nichts als der Aufweis der Diskursdominanz einer aristokratisch63
großbürgerlichen Clique mit klaren und dezidierten Vorstellungen einer eigenen Sendung zum charismatischen Führer? Fast scheint es so. Wird heute etwa auf die seit 80 Jahren größtenteils bis in detaillierteste Begriffsverwendungen identischen Redeweisen geschaut, mit denen selbst ernannte Elite-Hochschulen wirtschaftsorientierter Provenienz junge ‚Elite‘ zu studentischer ‚Persönlichkeit‘ schulen wollen, auf dass sie ‚Humanismus‘ und ‚Handlungsorientierung‘ entfalten, so fällt auf, dass der von diesen avisierte, in Elite-Netzwerken existenziell verwobene ‚Symbolanalytische Wissensarbeiter‘, wie er neuerdings unter Hereinnahme amerikanischer Elitendiskurse diskutiert wird, nichts anderes ist als der Wiedergänger des schamanistischen Charismatikers. Wird darauf geachtet, über welche Organisationswege sich diese selbsternannten Symbolanalytiker vernetzen in der immer gleichen STIFTUNG MERCATOR oder dem immer gleichen STIFTERVERBAND FÜR DIE DEUTSCHE WISSENSCHAFT, jenes ursprünglich als NOTGEMEINSCHAFT DER DEUTSCHEN WISSENSCHAFT begründeten Bundes, auf den schon C. H. BECKER gesetzt hatte, wird vor dem publizistischen Trommelfeuer Deckung gesucht, das wöchentlich in entsprechender Weise bis heute aus den Schützengräben des Chancen-Blattes der ZEIT abgegeben wird, so muss hier doch ein verschwörerisches ‚Geheimes Deutschland‘ gegen die Demokratie der Bundesrepublik und die Autonomie ihrer Pädagogik am Werke sein? Oder ist das alles doch nur eine nach dem klassischen Muster von Verschwörungstheorien gebaute Geschichte, die sich dramatisierender Versatzstücke akademischen Tratsches bedient? Ist die aktuell so viel beachtete Darstellung RAULFFs nur wieder ein weiteres Beispiel des kleinbürgerlichen Klassenkampfes von unten, eine Art Neuauflage des inszenierten Eulenburg-Skandals – viel Lärm um nichts? Ist die sinistre Beiläufigkeit, mit welcher die Diskussion um den ‚pädagogischen Eros‘ eben durch solche Darstellungen selber sexualisiert wird, indem mokant auf die überzufälligen Häufungen spezifischer sexueller Interessen an jungen Burschen in den entsprechenden Kreisen bis heute mit dem Finger gezeigt wird, nicht doch nur ein Wiedergänger der Skandalkampagnen HARDENs oder GORKIs? Siegt hier nicht einfach nur aufs Neue der Katholik HELMUTH KOHL über den Protestanten WEIZSÄCKER, der verklemmte Kleinbürger über die aristokratisch-großbürgerliche Nonchalance HENTIGs, die Neurose über die freie Sexualität, der autoritäre Charakter des Angestellten über das Charisma des Herren, die Fachhochschule für die Experten über das Elite-College a la Oxbridge, die kleinlich philologische Erziehungswissenschaft über die große Würfe machende Pädagogik? Zu dunstverhangen ist das Feld, als das auf diesem Wege eine Antwort möglich wäre. So sollen an dieser Stelle abschließend einige kleine Überlegungen angestellt werden, welche nicht die Wirkungsabsichten etwaiger Protagonisten, sondern die Nutzungsinteressen der Rezipienten in den Mittelpunkt stellen. 64
Deutlich geworden ist in der bisherigen Argumentation zum einen, dass sich die Diskussionen um Eros und Männerbünde entlang sozialgeschichtlich darstellbarer Linien in sozialen Anerkennungs- und Abwehrkämpfen zwischen aufstrebenden Schichten und adelig-großbürgerlichen Eliten vollzogen hat. Zu prüfen ist, inwieweit der am Beispiel von HARDEN entfaltete denunziatorische Diskurs über männerbündische Erotik von diesen Eliten selber durchaus positiv anverwandelt wurde. Positiv zu unterstellen ist in diesem Falle, dass die hier angedeutete pädophile Praxis mancher Diskutanten hinter dem männerbündischerotischen Ideal von der Öffentlichkeit dieser Führungseliten gar nicht einmal in den Blick genommen wurde. Vielmehr ist anzunehmen, dass für sie das Moment einer positiv konnotierten inkorporierten Verbindung von Spiritualität, Charismatik, Elite- und Bundesidee besonders attraktiv war. Diese Tatsache ist zunächst einmal als ein übergreifendes Phänomen der gesamten zivilisierten Welt zu erkennen. Die Männerbundforschung macht darauf aufmerksam, dass Diskurse über und Modelle des Männerbundes überall für die Jahre nach 1900 nachweisbar sind. Dieses geschah, wie BRUNOTTE erläutert, „nicht zufällig parallel zur folgenreichen europäischen Entdeckung des ‚Rituals‘ im kolonialen Grenzdiskurs.“ Das entscheidende Moment des deutschen Sonderwegs aber war, dass hier keine soziologische Untersuchung ethnologischer Befunde stattfand. Vielmehr gingen Eros, Ritual und Männerbund in der deutschen Debatte eine dezidiert kulturkritische, antimoderne, konservativ-reaktionäre Verbindung ein. „Gemeinsam war allen Theorien … die große Rolle, die den kollektiven Affekten, ja dem Rausch oder der ‚Orgie‘ als Movens von Gemeinschaft zugesprochen wurde“ (BRUNOTTE 2004, S.12). Vor dieser Hintergrundillumination gab es augenscheinlich im gebildeten Publikum in den Jahren um 1910 ein weit verbreitetes Interesse an einer NeuAufnahme PLATONs ebenso wie an der Männerbundideologie. Beides ist generell als politische Reaktion auf die von den Eliten als Statusbedrohung erlebte dynamische Modernisierung der Gesellschaft zu verstehen (vgl. REULECKE 1990). Deren Profiteur war in den Jahren der Hochkonjunktur vor 1914 insbesondere das Kleinbürgertum, dem steigender Wohlstand und wachsende gesellschaftliche Teilhabe nicht mehr zu verweigern waren (vgl. GROPPE 1997, S.156f.). Die hier umfänglich vorgestellten Skandalisierungen nicht-kleinbürgerlicher Gesellungsformen unter dem Schlagwort ‚Homosexualität‘ durch die Publikumsblätter sind auch als Ausdruck einer Reaktion der Medienkonzerne auf neues Selbstbewusstsein und neue Bedeutung aufstrebender Schichten zu interpretieren. Gegen diese schlossen sich aristokratisch-militärische, intellektuelle sowie groß- und bildungsbürgerliche Eliten wie zu einem intellektuellen Schutz- und Trutzbund zusammen. Der Sozialhistoriker WOLFGANG WIPPERMAN weist darauf hin, wie rasant und grundstürzend in dieser neuen Figuration der Jahre zwi65
schen 1900 und 1914 das ältere, noch aristokratisch fundierte, Ideal des ‚Ehrenmannes‘ durch ein neues diffuses Elitenideal des ‚Kriegers‘ in dessen archaischer Überhöhung abgelöst wurde (vgl. WIPPERMANN 2010). Auch dieses Modell knüpfte wiederum am erotisch-ritualistischen Bundes-Phantasma an. Im Kern ging es immer um die Hoffnung auf charismatisch legitimierte Führung, welche die Herren selbstverständlich sich selber zugestanden, um die Sehnsucht nach einer nicht verrechtlichten, nicht institutionalisierten Form nochmalig unangefochtener Herrschaft. Solche Hoffnung setzt, wie WEBER herausgearbeitet hat, sozialpsychologisch die Annahme einer existenziellen, über alles normale Maß hinausgehenden Krise geradezu voraus, aus der heraus erst das Verlangen nach schamanischen Erlöserfiguren wachsen kann (vgl. WEBER 1922, III, §10). Hierfür wurde PLATON als ein Beispiel rekontexualisiert. Das mit der Hoffnung auf charismatische Herrschaft verbundene Komplementärphänomen war die Faszination durch die Männerbündelei. Diese war in bemerkenswerte Weise eine die Generationengrenzen überschreitende Tatsache. Auch und gerade die nachwachsende Generation wandte sich in den verschiedenen Formen der Jugendbewegung, insbesondere im Wandervogel, diesem männerbündischen Prinzip zu. Freilich ist auch hier zu beachten, dass die organisationsförmige Vertiefung einer ‚Bündischen Jugend‘, ebenso wie die begriffliche Klärung durch die Bildungsphilosophie im engeren, erst in den 1920er Jahren zu beobachten sein sollte. Ein zweiter Gedanke ist zu prüfen. Es sei auch hierfür nochmals positiv unterstellt, dass es elitären Öffentlichkeiten bei der Weiterverbreitung des ‚pädagogischen Eros‘ nicht um pädophile Abirrungen, sondern um das päderastische Verhältnis im ursprünglichen und besten patenschaftlichen Sinne des Wortes ging. Zu denken ist in diesem Falle an nichts Verwerfliches, sondern an das göttlich inspirierte und von Weisheit wie Freundesliebe geleitete Ideal von Mentor in seiner Verantwortung für Telemachos, wie HOMER es einst, lange vor PLATON, entfaltet hat. Die Wiederaufnahme dieses idealisierenden Gedankens ist einerseits historisch erklärlich und andererseits systematisch zu diskutieren. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus der Historischen Bildungsforschung kann sie ideologiegeschichtlich erklärt werden. Von dem zyklischen Aufschwung des Bildungswachstums vor dem Ersten Weltkrieg profitierte insbesondere wiederum das Kleinbürgertum. Insbesondere bezogen auf die Strukturen und Prozesse im Bildungssystem ist dieses Ergebnis aber schon für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zu radikalisieren. Das höhere Bildungssystem entwickelte sich in eine Überfüllungskrise hinein, welche insbesondere durch das zunehmende Drängen kleinbürgerlicher Schichten hin zu höheren Bildungsabschlüssen ausgelöst worden war (vgl. TITZE 1990; NATH/DARTENNE 2008). Hierin zeigte sich die prinzipielle Offenheit, die als Struktureigentümlichkeit der deutschen Bildungssystementwicklung im Gegensatz etwa zu Frankreich 66
oder Großbritannien innewohnt. Dort geschieht die Eliten-Reproduktion über sich von vorne herein exklusiv verstehende, für eine großbürgerlich-aristokratische Elite reservierte Internate und hochschulische Kollegien, in denen systematisch ein spezifischer Habitus inkorporiert wird. Distinktionskategorien werden hier ganz offen über die Formierung männnerbündisch inszenierter Strukturen von Knabenbeinen an in solchen familienfernen Internaten und Colleges zelebriert (vgl. BURKE 1990). Diese übernehmen, am Elternhaus vorbei, über das Elternhaus hinaus, eine dezidiert erzieherische Aufgabe. Über die moderne Aufgabenzuschreibung hinaus enthüllt der ethnologische Blick aber eine mindestens ebenso wichtige tatsächliche Funktion. In ganz atavistischer Weise werden hier Rituale der Initiation in eine verschworene Gemeinschaft zukünftiger ‚Häuptlinge‘ geleistet. Dieser Kreis, ob als Bund oder als Herrenclub imaginiert, braucht keine Erziehung, keine Bildung, er braucht das magische, das arkane Ritual der Initiation. Die Initiation ist – idealtypologisch betrachtet – sehr viel älteren Schichten der Bildungsgeschichte zugehörig; sie hat spätestens mit der Beschulung von Priester-Schülern im alten Mesopotamien ihre kulturelle Bedeutung eingebüßt. Die ‚Höhere Schule‘ in den deutschen Staaten etwa hat in einem so verstandenen Sinne keinen Erziehungs-, schon gar keinen Initiations-, sondern vielmehr einen isolierten Auftrag zu wissenschaftlich-propädeutischer Bildung. Diese war um 1900 endgültig, mit WEBER, zur Vorbereitung des modernen Fachmenschentums geworden, welches, zumindest auf der Ebene des institutionalisierten Funktionsideals, keine Kulturdistinktion mehr anerkennt. Der inkorporierte Habitus der sich bedroht fühlenden Oberschichten fand somit in den Höheren Schulen keinen Ankerpunkt mehr. Bei allen sozialen Ungleichheiten, welche die Höhere Schule bis heute reproduziert, ist sie doch zugleich von ihrem Ideal her prinzipiell offen. Einmal den Zutritt zu dieser Welt geschafft, war jede Höhere Schule seit 1900 abiturführend, seit 1908 auch für Mädchen, egal, ob Oberrealschule oder Humanistisches Gymnasium, ob in der Großstadt oder in der Kleinstadt, ob das Kleinbürgerkind oder den Aristokratenspross beschulend. Diese flächendeckende Gleichheit zeigt, systematisch betrachtet, den enormen Modernisierungsvorteil des deutschen höheren Schulwesens gegenüber anderen europäischen Staaten an. Zugleich aber, historisch betrachtet, wurde er von den statusbedrohten traditionellen Eliten verängstigt als Gleichmacherei verächtlich gemacht. Von daher wuchs in diesen Kreisen das Interesse an sozialen Distinktionen jenseits des Gleichheit herstellenden Abiturs an. So gelesen, sind die ethnologische Re-Interpretation des englischen EliteColleges als Knaben- und Männerhaus für einen Männerbund, die Wiederentdeckung der atavistischen Initiation gegenüber der modernen Erziehung sowie die Überhöhung des Mentoren-Verhältnisses als eines in der Antike wurzelnden 67
päderastischen Bundes unmittelbar verständlich (vgl. GROPPE 1998, S.108). Insofern war die Idee einer Art erneuerter ‚Heiliger Schar‘ sowohl dem Sein akuter Statusbedrohung als auch dem Bewusstsein antimoderner Kulturkritik in den bedrohten Eliten anschlussfähig (vgl. NATH 2008). Die Vorstellung einer nicht durch Qualifikation erreichbaren, nicht durch Zertifikate zu vergebenen, sondern in etwas Ungefährem wie der ‚Persönlichkeit‘ vorgegebenem Auserwähltheit musste für diese Kreise nachgerade attraktiv erscheinen. So gesehen wäre die Weiterverbreitung der Rede vom Eros als mehr oder weniger bewusster Ausdruck einer antimodernen Strömung von oben zu verstehen, die sich gegen Freiheit, Inklusion und Beteiligung als Grundfesten der Aufklärung wie als Legitimationsprinzipien moderner Gesellschaften richtete. Über eine solche ideologiekritische Betrachtung hinausgehend kann aber auch eine noch weiter ausgreifende systematische Erläuterung versucht werden. Wird so geschaut, so kann die im 19. Jahrhundert rasant verlaufende Ausprägung eines immer mehr Bereiche inkludierenden, immer eigendynamischer werdenden Bildungssystems mit CHRISTEL ADICK als ‚evolutionäre Universalie‘ bezeichnet werden (vgl. ADICK 1992). Im historisch-systemischen Vergleich sind menschheitsgeschichtlich zwei Idealtypen der Unterweisung von nachwachsenden Generationen festzuhalten. Deren eines ist das Meister-Lehrlings-, Ritter-Knappe-, Mentor-Zöglings-Modell. Deren anderes ist das Modell der Beschulung. Das Beschulungsmodell war über die größten und längsten Zeiten und Bereiche der (abendländischen) Bildungsgeschichte ein Funktionsmodell, welches im Wesentlichen nur der Unterweisung literaler Funktionseliten diente. Demgegenüber war das mentorierende Modell der Meisterlehre, das im Ideal mit einem arkanen Initiationsritual wie der Meisterehre oder dem Ritterschlags endet, bis ins 19. Jahrhundert hinein das weitestgehend dominierende kulturell anerkannte und sozial ausgeübte. Während im Mentor-Zögling-Verhältnis ganzheitlich, nicht rollendifferenziert in sozialen und kulturellen Bezügen mitlebend konkrete Erfahrungen tradiert werden, um im heiligen Moment der Initiation schließlich auf magische Weise neu durch den Initianden inkorporiert zu werden, ist das Schulmodell durch zeitlich gleichförmige, fragmentierte, rollenförmige Beziehungen in sozial und kulturell dekontextualisierten Institutionen gekennzeichnet, in denen Lernen auf Vorrat ermöglicht werden kann. Eben diese Dimension des dekontextualisierten abstrahierenden Lernens auf Vorrat war der evolutionäre Vorteil, welcher dem Modell von Beschulung und Unterricht, wie ANNETTE SCHEUNPFLUG an ADICK und ALFRED K. TREML anknüpfend ausführt, gegenüber dem über Jahrtausende dominanten Modell der mitlebenden Meisterlehre mit dem Aufkommen der Moderne so rasante und allumfassende Bedeutung zuwachsen ließ (vgl. SCHEUNPFLUG 2000, TREML 2000).
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Dieser Prozess kann aus evolutions- und systemtheoretischer Perspektive in Hinblick auf die kontingent gewordene Zukunft moderner Gesellschaften als Fortschritt gedeutet werden. Er ist allerdings dialektisch auch aus seinem gegenläufigen Aspekt zu verstehen. Verloren ging das Lernen in konkreten Praxiszusammenhängen, wie es für vormoderne Gesellschaften typisch war, verloren ging vor allem dessen emotionale Einbettung in persönliche, ‚ganzheitliche‘, nicht rollenförmige Beziehungen. Es entstand so jene dialektische Spannung, die SPRANGER mit dem Wort von der ‚Kulturpubertät‘ charakterisiert hat: In ihr bleibt die ganze Welt, die im Initiationsritual ihre Geheimnisse offenbart hatte, nichts als ein Rätsel. Während einerseits eine Verlängerung und Verallgemeinerung der Erziehungsphase durch die Institutionalisierung eines modernen Bildungssystems zu konstatieren war, ging diese andererseits mit einer Entemotionalisierung und Dekontexualisierung einher; das Schulsystem selber wurde zum Übungsfeld arbeitsteiliger Sozialsysteme. Diese dekontextualisierende, fragmentierende Entemotionalisierung war gerade für aristokratische und großbürgerliche Kreise besonders negativ erfahrbar. Sozial- und kulturgeschichtlich ist daran zu erinnern, dass die Übung einer kulturell überformten Päderastie, wohl gemerkt nicht als eines sexuellen Abhängigkeits-, sondern als eines wahlverwandtschaftlichen Patenschaftsverhältnisses, in den Kreisen des Adels und des Großbürgertums durchaus verbreitet war. Im Adel hatte sich die antike Übung einer patenschaftlichen Päderastie in der Courtoisie-Tradition ritterlichen Knappen- und Pagenzeit über die Zeiten gerettet. Schon im Mittelalter war es üblich, Knaben mit dem Alter von 7 Jahren auf eine befreundete Burg zu geben, auf dass sie dort, unter der Obhut eines Oheims ihre adelige Ausbildung beginnen konnten. Vor dem Hintergrund anderer Tradition zeigten großbürgerliche Erziehungspraxen seit der frühen Neuzeit ähnliche Strukturen. Hier war es Brauch, Söhne mit dem Anbruch der Pubertät in befreundete Häuser, unter die Aufsicht patenschaftlich agierender Handelsherren, zu geben, auf dass sie dort die Usancen des internationalen Geschäftes lernten. In den adelig-großbürgerlichen Kreisen hatte das Mentor-Zöglings-Verhältnis also eine Jahrhunderte alte und kulturelle ausdifferenzierte Tradition. Diese Tradition der ‚Höflichkeit‘ und der ‚Weltbürgerlichkeit‘ hatte ideengeschichtlich in einem klaren Bezug zum Aufkommen des klassischen Bildungsbegriffs um 1800 gestanden (vgl. GAUS 1998). Somit wäre gerade für diese adelig-großbürgerlichen Kreisen die Erfahrungsmöglichkeit für jenen Verlust zu unterstellen, der mit der Abwertung, ja Abschaffung solcher tradierter Mentor-Verhältnisse durch die institutionalisierte Realität eines neuen normierenden Gymnasial- und Universitätsmodells einher ging. Für die Jahre nach 1900 schärft sich dieses Bild noch weiter: Zum einen wurde mit der Modernisierung und Rationalisierung der Lebenswelten der abwe69
sende Vater nicht nur in aristokratischen und großbürgerlichen, sondern auch in bildungsbürgerlichen Familien zum realen Phänomen. Gerade in BeamtenSchlafstädten wie etwa Steglitz, von wo aus die Väter des Morgens in die Großstadt hineinfuhren, wo der Wandervogel sich gründete, war diese Tendenz unmittelbar zu beobachten. Diese Tatsache wurde sowohl von der Eltern- wie von der Jugendgeneration als Verlust erlebt. Insofern wurde die Bereitschaft älterer Bekannter und Verwandter, im Rahmen eines patenschaftlichen, mithin im ursprünglichen, nicht sexuellen Sinne Homers eines ‚päderastischen‘ Mentorenverhältnisses pädagogische Verantwortung zu übernehmen, von beiden Generationen gleichermaßen durchaus positiv konnotiert. So verstandene Hochschätzung solcher Päderastie konnte nur von neidvollen Kleinbürgern mit der Unterstellung der Pädophilie kritisiert werden, den Gebildeten hingegen gab sie zunächst einmal keinen Anlass der Problematisierung, im Gegenteil: Anhand der Bildungsbiographien vieler junger Männer jener Generation lässt sich rekonstruieren, wie anerkannt und wichtig die Mentorenperson in den Jahren vor 1914 war (vgl. GROPPE 1998, S.113). Vor diesem Hintergrund mag schließlich eine besondere Sensibilität für einen mit der Rede vom ‚pädagogischen Eros‘ verbundenen Problemkreis verbunden sein, die ideologisch grundiert, aber dennoch systematisch fundiert war. ULRICH OEVERMANN sollte Aspekte dieses Problemkreises sehr viel später theoretisch ausformulieren, indem er auf die Doppelstruktur von universalistischen und partikularistischen Anteilen in der pädagogischen Beziehung verwies. Aus dieser Tatsache ergibt sich die generelle Frage nach der Professionalisierbarkeit bzw. der Professionalisierungsbedürftigkeit pädagogischen Handelns. Aufgrund der Verletzlichkeit der jungen Seelen bis in das Jugendalter hinein ist mit ihm pädagogisches Handeln als ein prophylaktisches Handeln zu beschreiben, das niemals in einem rein rollenförmig verstandenen Lehrer-Schüler-Verhältnis alleine zu begreifen sein wird. Aus Sicht des Heranwachsenden ist das pädagogische Verhältnis ganz zwangsläufig, ganz selbstverständlich immer auch eine Begegnung zwischen Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit. Freilich, damit sind die Gemeinsamkeiten zwischen OEVERMANN heute und Eros-Anbetern damals erschöpft. Mit ihm ist auf entwicklungspsychologische ebenso wie auf professionalisierungstheoretische Anknüpfungen zu verweisen, die allesamt den ‚pädagogischen Eros‘ als nicht den Professionalisierungsdebatten kompatible Größe zur Seite legen (vgl. OEVERMANN 1996). Und dennoch: Der Seitenblick auf einen systematischen Theoretiker offenbart ein wichtiges Moment. Die rollenförmigen Institutionalisierung des Lehrens und Lernens im Modell von Schule und Unterricht ist in letzter Konsequenz nicht völlig systematisch durch zu deklinieren, weshalb die ‚evolutionäre Universalie‘ Schulsystem dann eben doch ein Unbefriedigtsein zurücklässt. Nicht 70
abzudecken ist in ihm die Dimension von Begegnungen zwischen Ich, Du und Welt, wie sie in der traditionellen Konzeption des Mentorenverhältnisses idealisiert ist. Das Auswandern des weise und liebevoll sorgenden Mentors aus der modernen Kultur und seine Ersetzung durch einen in lebenslänglicher Versorgung installierten Lernhelfer-Beamten mit philologischem Staatsexamen ist eben auch eine Verlustgeschichte – trotz aller Effektivitätssteigerungen von Lehren und Lernen in Schule und Unterricht. Dieser Gedanke, diese Verlusterfahrung wiederum war auch für nicht aristokratisch-großbürgerliche Kreise unmittelbar anschlussfähig. Insofern mag es sein, dass sich die Rede vom ‚pädagogischen Eros‘ in immer weitere an Themen der Bildungsreform interessierte Kreise ausweiten konnte. So verstanden, verweist die Rede vom ‚pädagogischen Eros‘ auf das eingangs mit ARISTOTELES benannte Grundproblem: Ich kann ihm nichts vermitteln, er liebt mich nicht.
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Eros und Politik. Von Blüher zu Platon und retour1 Sabine Seichter
1
Einleitung
Wann immer der Begriff der pädagogischen Liebe zur Sprache kommt, trifft man früher oder später auf eine verhängnisvolle Blickverengung. Von PLATON bis heute wird in Wissenschafts- und Alltagssprache pädagogische Liebe oft wie selbstverständlich mit Eros gleichgesetzt. Darin tradiert sich hartnäckig eine platonische Erblast. Dieses Erbe wirkt auch irritierend auf unser Verständnis von Politik im Allgemeinen und von demokratischer Erziehung im Besonderen. Der Gedanke, den ich im Folgenden entfalten möchte, setzt 1. bei dem Verständnis von Eros und Politik in der Jugendbewegung ein – ich werde dabei HANS BLÜHER als Kronzeugen aufrufen –, zeigt 2. die verengende Wirkung PLATONs auf den pädagogischen Liebesbegriff, wird 3. diese Verengung kritisieren, um 4. über einen erweiterten Begriff von pädagogischer Liebe und ein Verständnis des Menschen als Person zu einem personorientierten Verständnis von Demokratie und demokratischer Erziehung hinzuführen.
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Der politisierte Eros bei Hans Blüher „Ein Erlebnis: Nachts im Landheim: ein Junge, der sehr an mir hängt (14,5), ist noch spät abends nachgekommen, und legte sich neben mich. In der Nacht wache ich auf, er streichelt meinen Kopf wie wild und kommt ganz herübergekrochen. Ich erwidere seine Liebkosungen, er ist nackt, hat nur eine Decke über sich. Ich streiche langsam an seinem Körper herunter, und der Junge ist wie im Fieber, umfasst mich, presst sich an mich und will gar nicht wieder loslassen. Sein Penis war erigiert, und die Berührung regte ihn noch mehr auf; so dass ich Angst bekam, die andern würden aufmerksam werden. Nur mit Mühe brachte ich den Jungen wieder zur Ruhe. Solche Geschichten hat er noch ein paar Mal gemacht, weiter gegangen bin ich aber nicht, Onanie haben wir nicht getrieben“ (BLÜHER 1922, S.65).
1 Bei diesem Text handelt es sich um einen Vortrag, den ich am 15.03.2010 auf dem DGfE Kongress gehalten habe.
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Dieses Zitat steht nicht bei PLATON und auch nicht in einer antiken Lobrede auf die Knabenliebe, sondern es findet sich in BLÜHERs Schrift „Der Wandervogel als erotisches Phänomen“ von 1912. In diesem Buch verfolgt BLÜHER – neben GUSTAV WYNEKEN zweifellos eine der herausragenden Gestalten der Jugendbewegung und ein Wegbereiter des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik – ein zweifaches Ziel (vgl. hierzu SONTHEIMER 1978). Zum einen geht es ihm darum, die Wandervogelbewegung von dem Stigma eines ‚Päderastenklubs‘ und von dem öffentlich erhobenen Vorwurf reinzuwaschen, sie erschöpfe sich in der Pflege homosexueller Beziehungen. Zum anderen wollte er – gestützt auf die Trieblehre FREUDs – die ‚Inversion‘, also die Abwendung von der heterosexuellen Beziehung und die ‚Umwendung‘ zu einem mann-männlichen Eros, als eine kulturelle Höchstleistungen ermöglichende psychosoziale Notwendigkeit aufzeigen. In dieser Inversion nämlich sah BLÜHER die Quelle schlechthin für die schöpferische Kraft der Griechen. Demgegenüber hielt er der seiner Ansicht nach rein konventionell bedingten Überbetonung der heterosexuellen Beziehung entgegen, diese wirke wegen ihrer Tendenz zur isolierenden Familiengründung weder kulturschöpferisch noch staatsbildend. Dafür meint BLÜHER einen empirischen Beleg zu finden, nämlich die Erfahrung der Wandervögel, „daß in der heterosexuellen Liebesrichtung die Tendenz zur Absonderung liegt, zur Familienbildung, die sich naturgemäß darin äußert, daß das verliebte Paar sich abschließt und dem Gemeinleben verloren geht“ (BLÜHER 1922, S.39). Dagegen habe ihn eine zehnjährige Erfahrung und davon „sechs (Jahre) einer bewussten und systematischen Beobachtung“ (ebd.) gelehrt, daß man Eros nicht auf Sexualität – erst recht nicht auf die heterosexuell-genitale – beschränken darf (vgl. ebd., S.22). Vielmehr sei er in einem weit gefassten platonischen Sinne als geistige Zeugungskraft und als Hinwendung zum Wahren, Guten und Schönen zu begreifen. Von daher erschienen Eros und Logos nicht als feindliche Brüder, sondern als Geschwister. Diese These entfaltete BLÜHER später 1919 in seinem zweibändigen „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“ in aller Breite. Dabei hebt er sich zunächst von einem vermeintlich falschen und vermeintlich konservativen Denken ab, welches „Erosdinge geistig zu begründen“, also Eros zu rationalisieren und intellektuell aufzuheben sucht (BLÜHER 1919, Bd. 1, S.230). Dem stellt er entschieden sein eigenes neukonservatives Denken entgegen, welches, vom Formwillen des Eros durchtränkt, Gesellschaftsverhältnisse aus Erosgründen heraus gestalten will (ebd., S.226ff.). Da diese Gestaltungskraft aber nur dem mann-männlichen Typus inversus innewohnt, lässt sich die vollkommene, weil aus dem Eros heraus erwachsene Gesellschaft nur als ein Männerbund denken. Hierzu hat sich BLÜHER Gedanken in Form des Versuchs einer Theorie der männlichen Gesellschaft gemacht – dieser Begriff ist eine Wortschöpfung von
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ihm. BLÜHER schreibt kategorisch: „Gäbe es im menschlichen Geschlechte nur die Familie, so wäre nichts weiter gewährleistet als die Erhaltung der Art. Die Staatsbildung kommt erst durch das Einsetzen eines zweiten Poles mit soziologischer Begabung zustande. Und dieser zweite Pol ist die männliche Gesellschaft“ (BLÜHER 1919, Bd. 2, S.91). Solche männliche Gesellschaft definiert BLÜHER näher als „eine Gesellschaft von Männern unter Vorherrschaft des Typus inversus und seiner Abwandlungen“ (ebd., S.102). Im Begriff des Männerbundes, den BLÜHER von dem Volkskundler HEINRICH SCHURTZ übernahm, bündeln sich zwei Gedankenstränge: Zum einen geht es hier um ein Verständnis des Mannes als Natur- und Kulturwesen, im Gegensatz zur Frau als einfachem Naturwesen. Zum anderen wird die Idee des Bundes vorgetragen. Dieser wird als staatsschöpferische Lebensform idealisiert, welche von einem Eros getragen sei, der „die Berechnungen überflügelt und mit einem Schlage aus einer Mehrzahl einzelner Menschen einen lebendigen Organismus schafft“ (ebd., S.108). Die Verbindung beider Gedankenstränge erzeugt zwangsläufig ein undemokratisches Denken. Das gilt zum einen, weil sie von einem Exklusionsgedanken getragen wird, zum anderen, weil sie die naturalistisch-romantische Vorstellung von einer organologischen Gemeinschaft unbesehen auf das politische Feld von Gesellschaft und Staat überträgt. An der Spitze eines Bundes steht nicht ein mehrheitlich Gewählter, sondern ein von der Natur ausersehener oder von einer göttlichen Macht gesandter charismatischer „Führer“ – quasi ein „Großindividuum“ (BRUNS 2002, S.137). Die politische Willensbildung geschieht nicht durch Aufklärung und Entscheidung, sondern durch Identifikation mit dem ‚Geist‘ des Ganzen und durch Gefolgschaft.2 Über ‚Führer und Volk in der Jugendbewegung‘ schrieb BLÜHER 1917: „Wer wirklich zum Führertypus gehört, dem ist eigen, daß er wenigstens ein Stück jenes Doppelabgrundes Eros – Logos dauernd in sich herumträgt, und gerade dieses Stück, seinen wesentlichsten und gehalthaftesten Kern, niemals durch den Prozeß der Verbürgerlichung anfressen lässt. Führer sind demnach immer irgendwie tragische Menschen, in ihnen treibt immer ein bittres Korn, sie sind niemals ausgeglichen, harmonisch, niemals gemüthaft aufgelöst, sondern immer gespannt. Sie haben aber trotz aller Leiden jene merkwürdige, höher geschichtete Art von Glück, das den Bürgerlichen unverständlich ist, das aber die vorbürgerlichen Menschen, also die Jugend ergreift und in Bewegung bringt“ (BLÜHER 1917, S.3f.).
2 Selbst ein so linksgerichteter Bund wie der Bund entschiedener Schulreformer dachte während der gesamten Zeit der Weimarer Republik nicht daran, einen Vorsitzenden zu wählen oder mehrheitlich über die Bundesziele abzustimmen. Diese bestimmte unangefochten PAUL OESTREICH, der im Konfliktfall als Lösung auch zum Ausschluss aus dem Bunde griff.
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Solches Gedankengut war in den jungkonservativen Kreisen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts durchaus geläufig. Über die Bundesidee schrieb der Historiker HEINZ-DIETRICH WENDLAND im Jahre 1924: „Der Bund soll ‚zur Vorschau eines deutschen Staates der Zukunft werden, der auf diesem Erbe (des mittelalterlichen und preußischen Menschen und Staates) bauend, es aus dem Wollen der heutigen Jugend erneuert‘. Damit ist der Gegensatz zur Masse und zur Formaldemokratie gegeben“ (WENDLAND zit. n. PROSS 1964, S.302). Und zum Sankt-Georgs-Tag 1921 formulierte MARTIN VOELKEL programmatisch: „Darum fort mit aller Willkür, aller Zusammenballung durch äußeren Anreiz oder menschliche Einwirkung, wodurch nur Massen gehäufelt werden. Und fort auch mit der Nachahmung auskristallisierter Organisationsformen, seien sie bürokratisch oder militärisch, vereinsmäßig oder ordensähnlich, die für ihre Zwecke höchst vorzüglich und vollkommen sein mögen, aber das lebendige Wachstum vergewaltigen“ (VOELKEL zit. n. PROSS 1964, S.320).
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Platons Verengung des Liebesbegriffs
Die Politisierung des Eros war freilich keine Erfindung BLÜHERs, nicht einmal erst eine Hervorbringung der Jugendbewegung. Vielmehr gehörte seine Instrumentalisierung schon zum Grundbestand philosophisch-politischen Denkens in der griechischen Antike. PAUL W. LUDWIG beginnt seine profunde Untersuchung über Eros und Polis in der griechischen Antike mit einer klaren Aussage: „Eros, the most private of passions, was believed by ancient political thinkers to be of the utmost public relevance“ (LUDWIG 2002, S.1). Eros diente den antiken Autoren dabei auch als Bindeglied zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre. Sowohl PLATON als auch ARISTOPHANES waren von der Möglichkeit fasziniert, sich die politische Gemeinschaft als einen großen Haushalt vorzustellen, in dem die Mitglieder der Polis durch gegenseitige affektive Bindungen zusammengehalten werden. Das ursprünglich sehr weite semantische Feld des Wortes Eros bei HOMER und HESIOD machte es zudem für die politische Terminologie tauglich. Dabei gewann Eros zunehmend die Bedeutung eines leidenschaftlichen Begehrens – im privaten und im öffentlichen Bereich. Sowohl PLATONs Beschreibung der ‚Seelenkraft‘ des Philosophen als auch THUKYDIDES’ Darstellung des Peloponnesischen Krieges bedienen sich des Begriffs Eros, um die gleiche Leidenschaftlichkeit des Suchens nach Wahrheit und des Kampfes um Freiheit auszudrücken. Dabei reicht aber – wie LUDWIG kritisch anmerkt – dieser Erosbegriff nicht so weit, dass er auch die moderne Liebesidee im Sinne von Caring und Altruismus einschlösse.
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In den sieben Reden des ‚Symposions‘ werden von PLATON die verschiedenen Bedeutungsebenen des Eros-Begriffs entfaltet und miteinander konfrontiert. Für den politischen Diskurs über Eros sind dabei vor allem zwei Dimensionen maßgebend: Die Rede vom Eros ist konnotiert mit politischer Päderastie einerseits sowie der Vorstellung von Männerbünden als einem politischen und militärischen Gut andererseits. Die politische Päderastie beruhte auf der Vorstellung, dass eine Liebesbeziehung zwischen einem erwachsenen Mann und einem Knaben bzw. einem Jüngling „mit erstem Bartwuchs“ (181d) darauf gerichtet sei, diesen schrittweise zur Männlichkeit zu führen und auf staatsdienliche Aufgaben in der Polis vorzubereiten. Gleichzeitig vertrat man zu jener Zeit die psychologische Auffassung, dass die Nähe des Geliebten den Liebenden selbst zu einem entschiedeneren politischen Handeln anspornen würde (178c-179b). Aus einer im Symposion getroffenen Unterscheidung zwischen einer ‚gemeinen‘ und einer ‚himmlischen‘ Liebe erwuchs die politische Vision vom Staat als einem Männerbund. Während die ‚gemeine‘ Liebe sowohl zwischen Männern und Frauen möglich ist und sich primär auf Körperliches richtet, ist die ‚himmlische‘ Liebe auf philosophische Erkenntnis und politische Tugend ausgerichtet. Solche veredelte Liebe kann es für PLATON nur zwischen Männern geben. Das heterosexuelle Liebesverhältnis wie ebenso jenes zwischen zwei Frauen dagegen erscheinen in seinem politischen Erosverständnis als keiner weiteren Erörterung wert; Frauen hatten im antiken Athen generell im öffentlichen Leben kaum Bedeutung. Das gilt insbesondere für das perikleische Zeitalter, als der Erosbegriff auf die Stadt Athen selbst bezogen und zur Basis des Patriotismus erklärt wurde.
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Die Kritik an Platons verengtem Liebesbegriff
In seiner ideologiekritischen Analyse von PLATONs Eros-Begriff hat GREGORY VLASTOS einige Einwände vorgebracht, von denen zwei unseren Gedankengang weiterführen können. Der erste zielt darauf, dass es sich bei PLATON immer nur um eine „Nutzen-Liebe“ handelt: „[D]er Arzt, der Reiche, der Weise – sie alle werden von jemandem, der ihrer bedarf, um des Vorteils willen geliebt, den die liebende Person aus ihnen ziehen kann. Es wird kein einziger Grund dafür angeführt, weshalb wir jemanden lieben könnten unabhängig davon, was wir von dieser Person bekommen können“ (VLASTOS 2000, S.21). Innerhalb des Staates wird man geliebt, sofern man nützlich ist, und vom Staat wird der am meisten geliebt, der dem Staat am meisten nützt. Bekanntlich hat KARL POPPER hier von einem ‚Kollektivismus‘ und einem ‚politischen Utilitarismus‘ gesprochen und PLATON vorgeworfen, dass er im Grunde nur einen Maßstab anerkenne, nämlich das Interesse des Staates (vgl. POPPER 1957, Bd. 1). Diese These POPPERs hat
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ihrerseits viel Kritik auf sich gezogen. Für unseren Zusammenhang, also im Hinblick auf die politische Rezeption PLATONs durch BLÜHER, erscheint unbestreitbar, dass sie zumindest für ein organologisches Verständnis der politischen Gemeinschaft im Sinne eines Bundes oder eines Volksganzen zutrifft. Der zweite Einwand von VLASTOS ist kein politischer, sondern ein ganz und gar philosophisch-pädagogischer. Nach VLASTOS zielt die platonische Frage immer darauf, was geliebt wird, und nicht darauf, wer geliebt wird. Eros liebt immer etwas Objektives: den Staat, die Stadt, die Weisheit, die Tugend, die Schönheit, den Jüngling, also etwas A-Personales, genau genommen: die Idee des Staates, die Idee der Schönheit, die Idee des Jünglings, von denen ein wirklicher Staat, ein konkret schöner Mensch und ein individueller Jüngling gemäß PLATONs Ideenlehre immer nur ein bloßes Abbild ist. VLASTOS’ Kritik gipfelt in der Aussage: „Freundlichkeit, Zärtlichkeit, Mitgefühl, das Gespür für die Freiheit und die Achtung vor der Integrität der geliebten Person als wesentliche Bestandteile der höchsten Form interpersonaler Liebe spielen bei Platon kaum eine Rolle“ (VLASTOS 2000, S.41).
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Die Untauglichkeit des Eros für einen Begriff von pädagogischer Liebe
Mit dem Begriff der interpersonalen Liebe bezeichnet VLASTOS genau den Punkt, an dem die Verengung von PLATONs Liebesbegriff am prekärsten deutlich wird. Gleichzeitig markiert er damit auch den Punkt, von dem eine Revision des platonischen Liebesbegriffs auszugehen hat, wenn man zu einem Begriff von pädagogischer Liebe und von demokratischer Erziehung gelangen will. Zum einen nämlich führt die Gleichsetzung von Eros und Liebe nur zu einem einfältigen, pädagogisch und politisch höchst fragwürdigen Liebesbegriff, weil sie die zwei anderen Dimensionen des abendländischen Liebesdiskurses vernachlässigt – jene der Philia in der aristotelischen und jene der Agape in der jüdischchristlichen Tradition. Zum anderen erweist sich die Gleichsetzung von Eros und Liebe als pädagogisch völlig untauglich und unakzeptabel, weil sie das Objekt der Liebe prinzipiell verdinglicht, während doch Pädagogik und Erziehung ebenso wie die Politik es grundsätzlich nicht mit Dingen, sondern mit Personen zu tun haben.3 Ein pädagogisch und politisch akzeptabler Liebesbegriff kann also von keinem anderen Prinzip ausgehen als von einem Verständnis des Menschen als Person.4 Einen solchen Denkansatz hat im 20. Jahrhundert vor allem der moder3 4
vgl. hierzu: STERN 1906-1924 und SEICHTER 2009. vgl. dazu: SCIBORSKI 2003; BÖHM 1998, sowie DERS. 2007.
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ne Personalismus vorgeschlagen. Er entwickelte sich just in der Auseinandersetzung mit den pädagogischen und politischen Konsequenzen, die die ErosHypertrophie von PLATON bis BLÜHER nach sich gezogen hat. Genauer gesagt artikulierte er sich in der Auseinandersetzung mit den depersonalisierenden Tendenzen in Faschismus, Nationalsozialismus und Kollektivismus auf der einen und einem ungebremst neoliberalen Kapitalismus auf der anderen Seite. Entsprechend wirft etwa EMMANUEL MOUNIER, der Begründer dieses modernen Personalismus, in seinem ‚Personalistischen Manifest‘ von 1936 den genannten politischen Systemen vor, die Gesellschaft zu vergeistigen bedeute für sie, „dumpfe maßlose Gefühle, die den Menschen mit der ganzen Leiblichkeit seiner nächsten Beziehungen verknüpfen, auf die Ebene des öffentlichen Lebens [zu; S.S.] übertrage[n]“ (MOUNIER 1936, S.226). Und weiter heißt es in seinem personalistischen Programmentwurf: „Wir werfen dem Faschismus nicht vor, daß er das Geistige vernachlässige oder leugne, wohl aber, daß er es auf eine ständige Trunkenheit der blutvollen Leidenschaften beschränkt und dadurch stillschweigend an die Stelle der höheren Werte die schwersten ‚Geistigkeiten‘ und die zweideutigsten ‚Mystiken‘ setzt. Der römische Faschismus berauscht sich entsprechend der Überlieferung des römischen Weltreichs mehr an der ein wenig rohen Lehre von einem Staat, der sich selbst als lyrische Macht bildet. Der Nationalsozialismus nimmt das geschichtliche Erbe der germanischen Romantik wieder auf und macht sich eine noch unklarere Metaphysik der Erdkräfte und der dunklen Seite des Lebens zurecht“ (ebd., S.38).
Mit dem Problem einer Verdinglichung des Menschen hat sich in unserem Zusammenhang vor allem die nordamerikanische Philosophin MARTHA C. NUSSBAUM befasst. Sie reifiziert Liebe, ähnlich wie das Begehren und die Fürsorge, nicht naturalistisch, sondern begreift diese vielmehr als eine Konstruktion. Von daher sind für sie reine Gefühle gar nicht denkbar, sondern immer schon von einem vernunftgeleiteten Urteil bzw. von einer rationalen Stellungnahme abhängig (vgl. hierzu NUSSBAUM 2002). Dementsprechend sind für sie drei normative Kriterien für jede Reflexion über pädagogische Liebe unerlässlich: compassion (Mitleid), reciprocity (Wechselseitigkeit) und individuality (Personalität) (vgl. hierzu NUSSBAUM 2001). Als Indikatoren für die Verdinglichung von Personen nennt sie deren Instrumentalisierung, die Leugnung der personalen Autonomie, ihre Trägheit und Passivität, ihre Austauschbarkeit mit anderen Dingen, ihre aufgrund mangelnden Respekts mögliche Verletzbarkeit, die Reduzierung des zwischenmenschlichen Verhältnisses auf ein Besitzverhältnis und damit schließlich die Leugnung ihrer Subjektivität (vgl. hierzu NUSSBAUM 2002, S.90-162). Dem analytischen Philosophen HARRY G. FRANKFURT nach schließt die Liebe zu einer Person (im Unterschied zum Begehren einer Sache) vier notwendige Momente ein: erstens die interessefreie Sorge um das Wohl oder Gedeihen der geliebten Person; zweitens den damit verbundenen unausweichlich persona-
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len Charakter, insofern die Person einzig um ihrer selbst willen geliebt wird; drittens identifiziert sich der Liebende partiell mit dem geliebten Wesen; und viertens bindet diese Liebe seinen Willen (FRANKFURT 2005, S.86). ROBERT SPAEMANN hat in diesem Zusammenhang die blickerweiternde Unterscheidung zwischen „etwas“ und „jemand“ ins Spiel gebracht und die These vertreten, dass wir, wann immer wir von wirklicher, auch von wirklicher pädagogischer Liebe sprechen, dieses nicht im Bezug auf ein verallgemeinerndes Man, sondern immer im Hinblick auf ein bestimmtes und konkretes personales Du tun (SPAEMANN 1996, S.253).
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Fazit und Ausblick
An diesem Punkt hat unser Gedankengang seine Klimax erreicht, und es erscheint dringend geboten, wenigstens auf zwei Einwände einzugehen, die gegen unseren Befund vorgebracht werden könnten. Erstens könnte gefragt werden, wie es um den Begriff der pädagogischen Liebe in der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik steht. Schließlich wird dort das erzieherische Verhältnis allgemein als ein liebevolles Eingehen auf junge Menschenseelen gefasst, bei EDUARD SPRANGER als ‚warme Hingabe‘ charakterisiert und in der berühmten Formulierung HERMAN NOHLs als das „leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen“ (NOHL 1957, S.134) definiert. Gewiss sind solche Formulierungen sehr missverständlich, vor allem, wenn man sie vor dem Hintergrund der verhängnisvollen Gleichsetzung von pädagogischer Liebe und Eros liest. Lässt man allerdings den reformpädagogischen und jugendbewegten Sprachduktus geisteswissenschaftlicher Pädagogen beiseite, dann wird man kaum in Frage stellen können, dass die Geisteswissenschaftliche Pädagogik – grosso modo – zu einem Begriff von pädagogischer Liebe gekommen ist, der die Verengung auf den Eros überwunden und das erzieherische Verhältnis als ein interpersonales begriffen hat. Dessen konstitutive Momente lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: die durch Umfassung und Distanz gekennzeichnete Ich-Du-Beziehung, die bejahende Annahme des Zöglings in seiner Ganzheit, die gedoppelte Verantwortung des Erziehers für Gegenwart und Zukunft des zu Erziehenden und das vertrauensvolle und dialogische Hinführen zu seiner endlichen Selbstbestimmung, Freiheit und Mündigkeit. Die Betonung der Personalität verweist dabei direkt auf den Gedanken der Menschenrechte und der Demokratie. Menschenrechte sind nicht die Rechte eines anonymen Man, sondern immer die Rechte einer konkreten Person (siehe dazu BÖHM 1995). Personsein wiederum kommt jedem Menschen zu, unabhän-
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gig von Geschlecht, Alter, Nationalität und Religion etc. und führt die Visionen eines mann-männlichen Eros und eines Männerbundes ad absurdum. Ein zweiter Einwand könnte gegen den generalisierenden Gebrauch des Personbegriffs und den Gedanken des Interpersonalen vorgebracht werden. Gilt der Anspruch des Personalen nicht nur für den engsten Bereich sozialer Beziehungen? Und kann er ohne Weiteres auf das große Feld von Gesellschaft und Politik übertragen werden, ohne einer utopischen Überschätzung zu verfallen? Mit diesem Problem hat sich der französische Philosoph PAUL RICOEUR auseinandergesetzt, einer der profiliertesten Personalisten. Ausgehend von einer phänomenologischen Mehrdimensionalität der Person – der Mensch als sprechender, handelnder, verantwortlicher und erzählender – hat RICOEUR jeder dieser horizontalen Dimensionen des Personseins eine vertikale Triade zugeordnet, welche das Prinzip des Personalen jeweils von dem engsten individuellen Bezug über den gemeinschaftlichen Austausch bis zu den Verfestigungen in Institutionen aufstuft: vom Sprechen über das Gespräch zur Sprache als Institution; (im Bereich der Ethik) von der Selbstachtung über die Fürsorge für andere zu gerechten Institutionen; (im Bereich des Handelns) von dem Bewusstsein, Urheber seiner eigenen Handlungen zu sein, über die soziale Interaktion zur Festlegung von Regeln des Handelns; (im Bereich des Narrativen) von der Ich-Erzählung über ihre Kontextualisierung mit anderen Lebensgeschichten zur narrativen Identität von Institutionen. Mit diesem differenzierten Modell hat RICOEUR das Prinzip Person in alle Bereiche des Gesellschaftlichen und Politischen ausgedehnt (vgl. dazu RICOEUR 2002, S.17-35). Mit diesem Vorgehen zeigt er zugleich der Pädagogik ein Prinzip auf, das ihren Horizont nicht einengt, sondern erheblich erweitert, denn „[g]erade der Handlungsmöglichkeiten wegen muss“ – wie KLAUS MOLLENHAUER schon vor 40 Jahren der Pädagogik ins Stammbuch geschrieben hat – „alles daran gelegen sein, Erziehungswissenschaft nicht zur Bildungssoziologie oder zu einem Anwendungsfall politischer Ökonomie schrumpfen zu lassen“ (MOLLENHAUER 1972, S.13).
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Pädagogischer Eros und effektiver Unterricht Reinhard Uhle
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Einleitung
Noch vor 50 Jahren, vor allem aber im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, war ‚Liebe‘ in der Form des ‚pädagogischen Eros‘ ein selbstverständlicher Bestandteil pädagogischer Semantik nicht nur in der Sozialpädagogik, sondern auch in der Schulpädagogik. Spätestens seit der Existenz schlagzeilenträchtiger Diskussionen über sexuellen Missbrauch auch in Landerziehungsheimen ist diese Semantik in Verruf gekommen. Denn die Rede vom ‚pädagogischen Eros‘ ist vor allem mit dem reformpädagogischen Hintergrund der Gründung solcher Heime verbunden.1 Mit der Rede vom ‚Eros‘ sollte in diesen Einrichtungen die Besonderheit einer charismatisch-begeisternden Pädagogik hervorgehoben werden. Ziel war es, Bildungserlebnisse bei Heranwachsenden zu ermöglichen, die über eine bloße Optimierung des Erwerbs von Wissen und Können hinausgehen. Es sollte ein bestimmtes Erzieher-Zögling- bzw. Lehrer-Schüler-Verhältnis aufgebaut werden, das sich als Verbundenheit in Gemeinschaft und nicht als bloße administrativ bestimmte geschäftliche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden verstand. Mit solchem Denken wurde in der Reformpädagogik ein ursprünglich in der Aufklärungspädagogik wurzelnder Gedanke anders akzentuiert. Schon im 18. Jahrhundert war thematisiert worden, dass Lehren und Lernen für die Beteiligten einfacher wird, wenn Lehrende Lernende und Lernende Lehrende mögen, in diesem Sinne einander ‚lieben‘. Jetzt aber wurde eine gelingende persönliche Bindung zwischen den Beteiligten diskutiert, die mehr als eine Zweckgemeinschaft für die Initiierung von Bildungsprozessen sein sollte. Schon seit längerem aber ist nicht nur dieser ‚Eros‘, sondern generell auch die aufklärerische ‚Liebe‘ als beidseitige wohlwollende Haltung von Lehrenden und Lernenden ein thematisches Tabu in der Pädagogik. Verwissenschaftlichung der pädagogischen Semantik ebenso wie die Professionalisierung der Berufe im Erziehungs- und Bil-
1 Vergleiche zur historischen Rekonstruktion des Aufkommens dieser Redeweise weiterführend den Beitrag von DETLEF GAUS in diesem Band.
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
dungssystem führten und führen dazu, den schillernden Ausdruck durch eine andere Semantik zu ersetzen bzw. besonders zu akzentuieren. Begründet ist dieser semantische Wandel dadurch, dass ‚Liebe‘ zwar einerseits mit Zuneigung, Mögen, Schätzen, Zärtlichkeit, Mitgefühl, Anteilnahme und Wertschätzung übersetzbar ist. Andererseits enthält dieser vielschichtige Begriff aber auch Dimensionen, die mit Sexualität in den Formen sexueller Bindung, sexueller Hingabe, sexueller Leidenschaft, Erotik, Intimität verbunden sind. Kurz: ‚Liebe‘ ist mit Begehren, mit Trieben verbunden. Wieder andererseits aber hat ‚Liebe‘ auch mit Freundschaft, Sympathie, Wohlwollen, Wertschätzung, Sich-sorgen um jemanden zu tun. Die lange philosophische, literarische, künstlerische, theologische, psychologische und nicht zuletzt auch pädagogische Tradition der Beschäftigung mit Liebe brachte eine Fülle von semantischen Differenzierungen hervor. Immer ging es darum, den Ausdruck in seiner Verwobenheit mit Trieben, mit positiven und prosozialen Gefühlen, ethischen Ansprüchen, Erfordernissen von Zusammenleben usw., aber auch mit Verletzungen, Übergriffen, Leid usw. zu akzentuieren. Schon in der griechischen Antike wurden ‚Eros‘ als die erotische Liebe und ‚Mania‘ als die obsessive, gar besitzergreifenden Liebe von anderen Liebesformen unterschieden. Als ‚Agape‘ wurde Liebe zur umfassenden christlichen Gottes- und Menschenliebe. Als ‚Pragma‘ wurde Liebe zu einer realistischen, gegenseitige Verpflichtung betonenden Zuneigung. Mit ‚Storge‘ wurde die familiale bzw. freundschaftliche Form der Liebe akzentuiert. Auch lateinische Differenzierungen zwischen dem ‚amor concupiscentia‘ als dem sexuellen Begehren, dem ‚amor complacentia‘ als dem Begehren ausgewählter seelischer, geistiger oder ästhetischer Aspekte eines Gegenüber, dem ‚amor amicitia‘ (philia) als der freundschaftlichen Zuneigung zu Anderen und dem ‚amor benevolentia‘ und der ‚caritas‘ als einer Tugend der Bejahung von Anderen und der Hilfsbereitschaft machen darauf aufmerksam, dass ‚Liebe‘ schon in der Antike als ein sehr unterschiedliches Medium von Formen der Vergesellung begriffen wurde. Schwierig zu begreifen – und ebenso schwierig mit ihr zu leben – ist die Liebe, weil sie als Eigen- oder Selbstliebe, als Egoismus und Narzissmus, als Geschlechter- oder Partnerliebe, als Eltern-, Mutter-, Vater- oder Freundesliebe, als Gottes-, Wahrheits-, Tier-, Heimat-, Vaterlands- und andere Liebe auftritt. Die in der europäischen Tradition formulierte Unterschiedlichkeit des Liebens artikuliert dieses Phänomen einerseits als ein Begehren, als Lust und Verlangen und andererseits als Wertschätzung von Menschen und Welt. Wenn Pädagogik als Reflexionsform sich in diesem semantischen Feld bewegt, dann ist sie all‘ den unterschiedlichen Konnotationen ausgesetzt, die mit diesem semantischen Feld gegeben sind. Die Frage ist allerdings, aus welchem
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leitenden Interesse sich Reformpädagogik oder andere Pädagogiken auf die Begrifflichkeit von ‚Liebe‘ und ‚Eros‘ bzw. deren verschiedene Übersetzungen und Differenzierungen beziehen, wenn damit auch immer Gefahren der Legimitation von Übergriffen verbunden sind. Ist es nicht sinnvoller, die traditionelle Semantik durch eine andere zu ersetzen? Im Folgenden soll an heutiger schulpädagogischer Problembearbeitung dieser Semantik aufgezeigt werden, dass ein solches Ersetzen im Vergleich von alter und neuer Semantik notwendigerweise mit Veränderungen des Verständnisses, vor allem aber mit Verlusten von Erziehungsund Bildungsambitionen verbunden ist. Diese These sei hier am Beispiel des Problems der Effektivität von Unterricht und Unterrichten erläutert.
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Zum Problem einer Veränderung der Semantik von ‚Liebe‘ im Kontext effektiven Unterrichts
Unterricht wird – durchaus berechtigt und notwendig – unter vielfältigen Aspekten, Sichtweisen, Wertentscheidungen usw. thematisiert. Eine besondere Akzentuierung findet sich in der Lehr-Lernforschung als Forschungs- und Aufgabenbestimmung: Unterricht soll durch Verbesserung von Mitteln, Wegen, Strategien, Einstellungen usw., die Lehrende verwenden, einen erkenn- und messbaren Zuwachs an zielbestimmtem Lernen ermöglichen, kurz: Lehren soll effektiv sein. Zu den vielen Faktoren, die in der Schul- und Unterrichtsforschung als Bedingungen von Effektivität gelten, gehören Umgangsformen von Lehrenden mit Lernenden. Zentrale Momente solchen Umgangs von Lehrenden und Lernenden zählt ROLF DUBS auf: Demnach braucht es auf Seiten des Lehrenden „Enthusiasmus“ bzw. „Engagement“ für Inhalte und Unterrichten, außerdem „Wertschätzung“ von bzw. „Zuneigung“ zu Schülern, auch Vermittlung von „Wärme“ im Unterrichtsgeschehen, ebenso „Caring“ im Sinne einer Verantwortungsübernahme für Schüler sowie Hilfe bei Schwierigkeiten, Ängsten und Hilflosigkeit, nicht zuletzt aber auch zum Zwecke der Förderung von Entwicklung und des Wohls von Lernenden (DUBS 2009, S.96ff.). Eine solche Übersetzung von ‚Liebe‘ bzw. ‚Eros‘ als Leidenschaft von Lehrenden für ihre Fächer und Themen, als deren Mögen von Lernenden sowie schließlich als deren Interessiertsein an Schülerleben, als Sich-Sorgen und SichKümmern um Lebensprobleme gilt als unverzichtbar für den Aufbau einer vertrauensvollen Lehrer-Schüler-Beziehung. Diese wiederum wird als starke Motivation für Lernende wahrgenommen, Lernleistungen zu erbringen. Eine solche Übersetzung von ‚Liebe‘ wird im Alltagsverständnis zunächst als unproblematisch wahrgenommen. Dieses gilt nicht nur, weil ‚Liebe‘ hier als Bestandteil der Effektivierung von schulischer Belehrung verstanden wird. Die-
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ses gilt auch, weil über Indikatorenbildung für Verhaltenskundgaben von Wertschätzung, Enthusiasmus und Caring das Verstörende an der ‚Leidenschaft‘ für etwas und für Andere sowie am ‚Mögen‘ und an der ‚Zuneigung‘ generell systematisch ausgeblendet werden kann. Enthusiasmus von Lehrenden für Lerngegenstände wie für Lernende zeigt sich nämlich im Kontext von personalen Qualitäten eines effektiven Lehrers. Es zeigt sich nach JAMES H. STRONGE in dessen Signalen des Interesses an Lehrthemen, der Freude am Lehren und der Teilnahme an Lerntätigkeiten von Schülern auch außerhalb von Schulräumen (vgl. STRONGE 2002, S.110). Ebenso zeigt es sich in Signalen von Blickkontakten, Gesten und Sprechweisen (vgl. DUBS 2009, S.100). Als Indikatoren von Wertschätzung und Zuneigung, wie Lehrer sie zeigen sollen, werden lobende und ermutigende Worte, das Aufgreifen von Schüleräußerungen, reversible Handlungen usw. hervorgehoben. Als methodische Zugriffe des Carings stehen einem an Effektivität seines Unterrichts interessierten Lehrer die Ausdrucksformen des aktiven Zuhörens, der Besorgnis um das Wohlergehen von Schülern und des Bemühens um deren Wohlfühlen im Unterricht zur Verfügung (vgl. STRONGE 2002, S.110). Caring umfasst das Aufgabenfeld, Schüler als Individuen wahrzunehmen, sie zu verstehen, ihren Lernfähigkeiten und -schwierigkeiten ebenso Aufmerksamkeit entgegenzubringen wie ihren Lebensproblemen und ihren Zukunftshoffnungen; schließlich umschreibt es die Bereitschaft, den Lernern in Gespräch und Beratung zur Verfügung zu stehen (vgl. DUBS 2009, S.102). Insgesamt gibt es also eine Vielzahl von Konzepten effektiven Unterrichtens, die alle auf jeden Fall Indikatoren für die genannten unterschiedlichen Formen eines Mögens von Lernenden im Kontext eines effektiven Unterrichts definieren. Wichtige Grenze ist hierbei konzeptuell die Setzung von Signalen, welche den Kontakt zum Körper vermeiden. Der bereits genannte Grund für die besondere Hervorhebung von Wertschätzung, Enthusiasmus und Caring als zentralen personalen Faktoren effektiven Unterrichts liegt in deren Bedeutung für den Aufbau einer Atmosphäre des Sich-Wohlfühlens von Schülern im Unterricht. Die Aufgabe der Herstellung einer Basis solchen Wohlgefühls wird der Lehrperson zugewiesen. Diese Aufgabe soll die Lehrperson erfüllen, indem sie vertrauensvolle Beziehungen zwischen sich und den Lernenden entwickelt. In der Semantik effektiven Unterrichts wird dabei die Kategorie des Vertrauens in einer sehr speziellen und verkürzenden Weise aufgefasst. Es geht in solchen Konzepten nicht um eine Gegenseitigkeit des Vertrauens, die OTTO FRIEDRICH BOLLNOW als Vertrautheit, als ein Sich-aufeinander-verlassenkönnen ohne jegliches Misstrauen versteht (vgl. BOLLNOW 1958, S.177). Vielmehr wird hier ein einseitiges Vertrauen angesprochen: Lehrende sollen Lernen-
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den etwas zutrauen. Sie sollen das Zutrauen in jene entwickeln, auf dass jene etwas leisten können und wollen, damit genau dieser Effekt eintritt. Wertschätzendes Verhalten wird schon in den Ratschlägen des Freiherrn ADOLPH FRANZ FRIEDRICH LUDWIG KNIGGE ‚Über den Umgang mit Menschen‘ aus dem Jahre 1788 gefordert. Er rät Vorgesetzten zu Wertschätzung als zentrale Kategorie für gelingende Beziehungen zwischen „Über- und Untergeordneten“ (KNIGGE 1948, S.158f.). Diese gelte, wenn es ihnen darum gehe, „von denen, die für ... [sie; R.U.] arbeiten, geliebt zu werden“ (ebd., S.160). Als zur Zielerreichung der Wertschätzung geeignetes Verhalten gilt ihm „Liebe und Freundlichkeit, ... , weise Überlegung in der Zuteilung der Arbeit, ... . Aufmerksamkeit und Aufopferung des eigenen Interesses, wenn man Gelegenheit hat, ... [den Untergebenen; R.U.] ein besseres Schicksal zu verschaffen" (ebd.). Hintergrund dieses Rates für den Umgang mit Menschen in Abhängigkeitsbeziehungen ist bei KNIGGE noch die traditionelle, auf die Antike zurückverweisende Semantik von ‚Liebe‘ als ‚amor benevolentia‘, als ‚Wohlwollen‘ bzw. ‚Wertschätzung‘. Allerdings wird diese Benevolenz in Abhängigkeitsbeziehungen in spezifischer Weise beeinträchtigt. Denn das Kennzeichen dieser Liebesform ist ihre Ausrichtung darauf, dass ein Wohlwollender einem Anderen bei dem hilfreich zur Seite zu steht, was dem Anderen wichtig ist. Ein Wohlwollender achtet und unterstützt Andere in ihren Lebensentwürfen. Dieses bedeutet aber nicht Altruismus als Selbstlosigkeit. Vielmehr beinhaltet dieses Wohlwollen immer auch Eigeninteresse. Dieses Eigeninteresse liegt in der Tatsache begründet, dass auch für den Wohlwollenden selber wichtig ist, Anerkennung für diese Einstellung durch sein Gegenüber oder Andere zu erfahren. Diese Art der wohlwollenden Liebe unterscheidet sich in ihrer Doppelgesichtigkeit deshalb prima vista vom ‚amor concupiscentia‘. Der begehrenden geht es im Unterschied zur wohlwollenden Liebe einzig um das eigene Ich, nicht jedoch um das Wohlergehen des Anderen als Anderen. Diese Unterscheidung geht auf die Begriffsbestimmungen durch ARISTOTELES zurück. Der Philosoph ROBERT SPAEMANN vertritt jedoch die Annahme eines nicht trennscharfen Unterschiedes zwischen begehrender und wohlwollender Liebe. Er vertritt demgegenüber die These, dass begehrende Liebe dann vorliegt, wenn „ich den Anderen als Teil meiner Welt liebe, wegen des Vergnügens an seiner Gesellschaft oder irgendwelcher Vorteile“. Insofern enthalten die Wertschätzung im Allgemeinen und damit auch die Wertschätzung eines effektiven Lehrers bzw. einer effektiven Lehrerin gegenüber Schülern und Schülerinnen im Besonderen nicht nur Aspekte der Benevolenz, sondern zwangsläufig immer auch schon Aspekte des Begehrens. Denn in diesem aristotelischen Verständnis von begehrender Liebe wird nicht nur der Lustcharakter von Liebe angesprochen, sondern auch das Interesse an Vorteilen, das mit solcher Art des Liebens verbunden ist. Ein Anderer „wird
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geliebt in einer Funktion, nur insofern er sie erfüllt. Sonst wird er fallengelassen“ (SPAEMANN 1989, S.129). Genau eine solche Funktionalisierung von Mögen liegt in der schulpädagogischen Akzentuierung von Wertschätzung als Wohlwollen vor: Wohlwollen soll als Mittel dem Zweck der Steigerung von Lernleistungen dienlich sein. Dabei interessiert den effektiven Lehrenden an Lernenden nur dieser Aspekt und nicht mehr. Von daher wird das ‚Fallenlassen‘ von Lernenden bei Nichterfüllung der Funktion zur Gefahr. Eine andere Problematik des Aufgreifens und Übersetzens traditionaler Semantik von Liebe zeigt sich auch bei der Diskussion um Enthusiasmus als für die Erzielung von Lerneffekten positives Lehrerverhalten. Schon die Werbung zeigt, dass ein Zusammenhang zwischen Liebe und Enthusiasmus gegeben ist. Dabei bedient sie sich des alltäglich erfahrbaren Phänomens, dass das Zeigen von Begeisterung für etwas auf Andere ansteckend wirkt, so dass auch Andere sich für dieses etwas begeistern können. Wenn eine Lebensmittelkette ihre Angestellten voller Inbrunst mit dem Slogan: ‚Wir lieben Lebensmittel!‘ in der Werbung auftreten lässt, dann wird zunächst sichtbar, dass Enthusiasmus etwas mit Lieben zu tun hat. Indem das Unternehmen sich in seiner Werbung der Liebessemantik zuwendet, hegt es die Hoffnung, dass sich auch Käufer für das Lebensmittelangebot ihrer Kette intensiv interessieren werden, ja, dass eine Kundenbindung erzeugt wird. Als Hintergrund solcher Hoffnungen lassen sich in der traditionellen Semantik von Liebe die ‚amor amicitia‘ oder die ‚philia‘, die Freundesliebe, in bestimmter Akzentuierung identifizieren. Zwar gelten Freunde vor allem deshalb als Freunde, weil sie in den unterschiedlichsten Lebenslagen einander beistehen, weil man sich auf Freunde verlassen kann. Aber ein wichtiger Bestandteil von Freundesliebe ist, wie schon KNIGGE feststellt, auch das Phänomen, dass Freunde „Freude finden an dem, was uns freut“ (KNIGGE 1949, S.147). In der noch älteren Semantik nach ARISTOTELES über philia oder amor amicitia ist nach SPAEMANN Freundschaft das Lieben eines Anderen um des Anderen willen (vgl. SPAEMANN 1989, S.130). Ein Freund wird nicht deshalb geliebt, weil er für jemanden nützlich oder angenehm ist. Er wird alleine um seiner Vorzüge willen geliebt, die ihn für jemanden liebenswert machen. Es kommt zu einer Erfahrung von Glück alleine durch die Gegenwart des Freundes, ohne, dass man dieses Glück intendiert. Ein zentrales Merkmal ist dabei das gegenseitige Wohlwollen durch Teilhabe an einem gemeinsamen Dritten. Freunde teilen Interessen, Vorlieben, Anlässe, Probleme usw., nicht nur um mehr Spaß an dem zu gewinnen, was man gemeinsam tut und bespricht, insofern genau dieses gemeinsame Tun die Freude am Tun erhöht. Vielmehr ist das eigentliche Ziel freundschaftlicher Teilhabe an etwas die Erfahrung von Gemeinsamkeit der Teilhabe. Nicht zufällig
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wird von Jugendlichen die Teilnahme an Events oder Public Viewings als Gemeinschaftserleben beschrieben. Das Kennzeichen von amor amicitia hinsichtlich der Freude und der Begeisterung an gemeinsamem Tun liegt also nicht in den Vorteilen, die man gewinnen kann, auch nicht in den Zwecken, die man gemeinsam besser angehen kann. Vielmehr geht es in ihr, wie der Philosoph ROBERT NOZIK formuliert, darum, dass sich ein Ich und ein Anderer miteinander verbinden, insofern sich „jeder in einer engen Beziehung zu vielen Dingen, zu denen ein anderer Mensch eine ebenso enge Beziehung hat“, wiederfindet. Darum besteht das freundschaftlichgemeinsame Lieben von etwas, der gemeinsame Enthusiasmus für etwas vornehmlich in der Teilhabe an Gemeinsamkeit von Ich und Du, von Ego und Alter (NOZIK 1991, S.91). Wenn in Konzepten effektiven Unterrichts von Lehrenden Enthusiasmus für Lehrinhalte und Unterrichtstätigkeit gefordert wird, dann wird dieses Moment in einer entscheidenden Hinsicht gegenüber den Ursprungsdiskursen verändert. In solchen Konzeptualisierungen geht es um Ermöglichung eines gemeinsamen Handelns von Lehrenden und Lernenden, es geht um Kooperation. Jedoch ist nicht die enge Bindung von Ich und Freund auf der Basis gemeinsamer engagierter Beschäftigung mit Dingen das Ziel. Vielmehr ist hier die Erweckung des Interesses und Engagements von Lernenden an der Beschäftigung mit Lerngegenständen im effektiven Unterricht intendiert. Führt im Kontext von Freundesliebe diese Liebe dazu, dass man die gleiche engagierte Beziehung zu Dingen teilt oder aufbaut, wird in Konzepten effektiven Unterrichtens unterstellt, dass das Zeigen von Begeisterung für den Lerngegenstand durch den für das Unterrichtsgeschehen verantwortlichen Beteiligten für andere Beteiligte sozusagen ansteckend wird. Wenn Lehrende sich für ihre Lehrinhalte begeistern, dann besteht die erhöhte Chance, dass auch Lernende sich dafür begeistern. Damit wird ein generelles Interesse von Menschen unterstellt: Demnach möchten prinzipiell Menschen etwas, einen Gegenstand, ein Thema, eine Beschäftigung, mit anderen Menschen teilen. Dieses Teilen muss nicht zwangsläufig ein freundschaftliches Teilen der Beziehungen zu den Dingen sein. Menschen bemühen sich deshalb nach NOZIK „auch über den Bereich der persönlichen Freundschaft hinaus um Anteilnahme“ an Welt, weil sie in vielfältigen Weisen und nicht nur freundschaftlich mit Anderen verbunden sind (ebd.). Und diese Verbundenheit zeigt sich vor allem in Gemeinsamkeiten der Partizipation an Sprache und Kultur, an Wissen von und an Können zu etwas. Im effektiven Unterricht wird genau dies als Motivation von Lernenden unterstellt. Lernende wollen demnach an dem Anteil haben, was dem Lehrenden als dem Vertreter eines institutionellen Auftrags der Vermittlung von Wissen und Können wichtig ist. Die philia in der Form einer besonderen Gestaltung der Be-
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ziehung von Ich und dem Freund durch gemeinsam intensiv geteilte Beziehungen zu etwas wird hier zweckhaft zur Erfüllung eines Auftrags verwendet. Indem ein Lehrender seine Freude und sein Engagement für Lehrgegenstände dem Konzept effektiven Unterrichts gemäß zeigen soll, soll er mit erhöhter Wahrscheinlichkeit seine Absicht umsetzen können, dass sich Lernende mit der Beschäftigung mit Unterrichtsinhalten anfreunden. Hier wird der entscheidende Unterschied zum philosophischen Ursprungskonstrukt der amor amicitia deutlich: Jener ging es um das eigene Wohlergehen eines Ich, das mit dem des Freundes verbunden ist. Indem und weil sich beide gemeinsam für etwas begeistern, weil sie jeweils das Engagement des Gegenüber leibhaftig miterleben, vollendet, vertieft und transzendiert sich ihre Freundschaft. Gegenüber diesem Enthusiasmus der Freundschaft geht es hier jedoch um ein eher anonymes, abstraktes, entpersonalisiertes gemeinsames Interesse von Lehrenden und Lernenden an Initiation in Kultur, an Lehren und an Lernen. Das jeweilige Befinden von Lehrenden bzw. Lernenden wird durch das Zeigen von Begeisterung nicht verändert, so dass das Vorliegen eines Mehr oder Wenigers an Interesse für die Teilhabe an Kultur Bedingung der Möglichkeit wird, dass Enthusiasmus Effekte zeigt. So sind also Wertschätzung als unterrichtstechnologisch funktionalisierte Benevolenz und Enthusiasmus ohne Bindung nur mehr Schrumpfformen ursprünglicher Konzepte. Diese Begrenztheit der Verwendung macht es erforderlich, dass die personalen Qualitäten für effektiven Unterricht eine weitere Ergänzung erfahren. Diese wird in Konzepte effektiven Unterrichtens im Caring erblickt, das effektive Lehrer verwenden sollen. Denn Caring wird hier als „Übernahme von Verantwortung für jemanden und von Aufbau einer positiven emotionalen Beziehung zu dieser Person“ verstanden (DUBS 2009, S.101). Dabei endet diese Verantwortung von Lehrenden nicht mit dem Unterricht, wie es bei Wertschätzung der Fall sein kann. Vielmehr bezieht sich Caring auf das generelle, auch außerschulische Wohl von Lernenden. Dem Caring liegt nicht nur der Gedanke des einseitigen Zutrauens, sondern vielmehr die Idee einer Ermöglichung gegenseitigen Vertrauens zugrunde. Es geht dementsprechend nicht um Kulturinitiation im Sinne der Partizipation an gemeinsam Geteilten wie bei Enthusiasmus. Vielmehr zielt Caring auf die Anteilnahme an und Solidarität mit Anderen. Begründet wird Caring als Moment effektiven Unterrichts damit, dass effektiver Unterricht auch außerschulische Barrieren der Förderung von Lernen in Rechnung zu stellen hat. Wichtig dabei ist, dass ein fürsorglich-verantwortliches Handeln zum Zwecke der Erhöhung von Effektivität nicht aufdringlich wirkt und an Grenzen stößt. An diesen Grenzen wird Hilfeleistung an andere Stellen der Beratung und Hilfestellung weitergegeben. In alter Semantik von Liebe erscheint das Caring als caritas, als sorgende Liebe bis hin zur agape als Gottes- und Menschenliebe. Nicht zufällig wird diese
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fürsorgliche Liebe an der Mutter-Kind-Beziehung verdeutlicht, wie sie JOHANN HEINRICH PESTALOZZI als ‚wahre Liebe‘ von instinkthafter Brutpflege abgrenzt (vgl. UHLE/GAUS 2002, S.90ff.; SEICHTER 2007, S.77ff.). Im Umkreis mütterlicher bzw. väterlicher Beziehungen zu kleinen Kindern geht es darum, wie BOLLNOW hervorhebt, für das Kind eine „Atmosphäre von Vertrauen, Dankbarkeit und Liebe“ zu schaffen, in der dieses Kind Geborgenheit, Verlässlichkeit sowie Zugehörigkeitsgewissheit erfährt und damit Lebensvertrauen, Vertrauen zu Anderen und zur Sinnhaftigkeit von Welt (BOLLNOW 1958, S.180). Solche caritas bemüht sich um die Schaffung eines verlässlichen, geordneten, geregelten, geschützten Raumes der Entfaltung von Lebensmöglichkeiten für Andere. Zu ihr gehört die Intimpflege ebenso wie die körperliche Berührung, weil die fürsorgliche Liebe im Kontext von familaler Verbundenheit und Vertrautheit steht. Außerhalb dieses familialen Kontextes steht caritas nicht nur für karitative Hilfe und Anteilnahme am Leben Anderer, sondern für generelle Nächstenliebe als Anspruch und Zeichen einer solidarischen Gemeinschaft der Anerkennung von Ansprüchen, die auch Fremde und nicht nur Nahestehende an ein Ich stellen. Caring im Kontext effektiven Unterrichts greift einerseits den Gedanken der Anteilnahme am Leben Anderer auf. Dieses gilt insofern, als hier auf Hilfe für einen solchen Lebensvollzug von Lernenden gezielt wird, welcher für die Effektivität von Lernen nicht hinderlich sein soll. Caring in diesem Sinne bezieht sich auf die Ermöglichung von Lernchancen als Bedingungen der Effektivität von Unterricht. Deshalb muss es als eine derartige Fürsorge ausgestaltet werden, die nicht aufdringlich ist, sondern ein Angebot an Lernende darstellt. Auch Behinderungen von Lernen sollen von effektiv Lehrenden als Lehraufgabe wahrgenommen werden, ohne dabei wie in elterlicher sorgender Liebe für die ganze Person verantwortlich zu sein. Andererseits hat Caring aber doch auch etwas mit der Trias von Liebe, Vertrauen und Dankbarkeit im familialen Kontext von caritas zu tun. Denn zur Bedeutung elterlicher sorgender Liebe für das Kind gehören nicht nur der Gewinn von kindlichem Vertrauen zu sich selbst und zur Welt, sondern auch Dankbarkeit als Gegenschenk der elterlichen sorgenden Liebe durch das Kind. Solche Dankbarkeit aber zeigt sich darin, dass auch dem Kind am Wohlergehen der Eltern gelegen ist und es Folgebereitschaft zeigt, insofern solche Bereitschaft und Behütung für das Wohlergehen von Eltern wichtig sind. Ähnliche Hoffnungen kann der effektive Lehrer hegen: Seine Fürsorglichkeit mag zur Folge haben, dass Lernende ihre Dankbarkeit durch erhöhte Lernanstrengungen zu zeigen versuchen. Zusammenführend ist also festzuhalten, dass in allen Übersetzungen von neuer Semantik effektiven Unterrichtsmanagements in traditionale Semantik um ‚Liebe‘ immer ein und dasselbe sichtbar wird: Immer geht es um jene Vorzüge der Bindung von Menschen durch Liebe, die für die Steigerung effektiven Unter-
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richtsgeschehens von Interesse sein können. Lehren kann zum Lernen nur durch Zeigen, Modellieren, Vormachen, Auffordern, Aufgaben stellen usw. anregen, weil Lernen ein selbstreferenzielles Tun von Lernenden ist. Demenentsprechend ist die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Chancen im Unterrichtsgeschehen, die Bereitschaft und Möglichkeit zur Kooperation von Lernenden mit dem effektiv Lehrenden zu steigern, einer der wichtigen Faktoren erfolgversprechender Unterrichtung. Insofern Liebe den Zusammenhalt von Menschen fördert, wird auch Kooperationsbereitschaft gefördert. Allerdings geht es der traditionalen Semantik von Liebe um Bindung als Ziel. In der neuen unterrichtstechnologischen Semantik hingegen wird diese Bindung als Mittel zum Zweck der Erzielung von Effekten thematisiert. Schon um 1800 haben Aufklärungspädagogen zu diesem Zweck ‚Liebe‘ in den pädagogischen Diskurs gebracht (vgl. UHLE/GAUS 2002, S.86ff.). Bei JOHANN FRIEDRICH HERBART, dem Begründer einer wissenschaftlichen Pädagogik, gelten Liebe und Ansehen von Lehrenden als Vorstufe dafür, dass Lernende sich auf Lehrambitionen von Lehrenden einlassen. Allerdings stellt ‚Liebe‘ in diesem klassischen Konzept nur eine Vorstufe von Erziehung, aber noch keine eigentliche Erziehung dar. Erst wenn Liebe als Erziehungsziel und -mittel begriffen wird, kommt es zu einer anderen Akzentuierung von Liebe als in den Übersetzungen traditionaler Semantik durch eine neue (vgl. HERBART 1965, S.180).
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Zum Problem der pädagogischen Verwendung einer Semantik von ‚Liebe‘ als ‚pädagogischer Eros‘
Als generelles Kennzeichen aller Semantik von Liebe, sei sie erotischer, freundschaftlicher, sorgender oder anderer Art, sofern sie über ein bloßes egozentrisches Begehren hinausgeht, begreift NOZIK die Schaffung eines ‚Wir‘ (vgl. NOZIK 1991, S.76ff.). Ich und Du, Ego und Alter bilden ein aufeinander bezogenes Wir. Bei diesem ist das Wohlergehen des Einen von dem des Anderen existenziell abhängig. Diese Abhängigkeit bedeutet eine Erweiterung, gleichzeitig aber auch Begrenzung und Einschränkung autonomer Lebensentscheidungen und Lebensweisen. Teil eines Wir zu werden und zu sein, bedeutet eine neue zusätzliche Identität zu erwerben. Ein Ich richtet sein Leben auf das Wohlergehen eines anderen sowie auf die Gestaltung der Verbundenheit zwischen sich und dem Gegenüber aus. So schreibt NOZIK: „Wenn wir uns das individuelle Ich als eine geschlossene Figur vorstellen, deren Grenzen durchgehend und solide sind, und das, was innen ist, von dem trennen, was außen ist, dann können wir das Wir als zwei Figuren darstellen, zwischen denen die Grenzlinie dort, wo sie zusammenkommen, ausgelöscht ist“ (ebd., S.79).
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Aufgrund dieses generellen Kennzeichens erhält die Semantik von Liebe in dem Moment eine andere Bedeutung als die eines Beitrags zur Ermöglichung kooperativen Zusammenlebens, in dem ein Leben im Wir als durch sozialen Wandel gefährdet wahrgenommen wird. Solche Neuakzentuierung geschah in soziologischen, kulturtheoretischen und pädagogischen Kontexten um 1900 im Medium eines kulturkritischen Diskurses. Dieser thematisierte Modernisierungsprozesse der Gesellschaft mit den Momenten von Individualisierung, Differenzierung, Pluralisierung und Rationalisierung negativ (vgl. UHLE 2007, S.108ff.). Als Gefahren des Zusammenhalts von Gesellschaft wurden damals vor allem drei Aspekte wahrgenommen: Gefürchtet wurden die Gefahren der Individualisierung, die auch als Selbstliebe egoistisch werden kann, der Pluralisierung, die auch als Partikularismus zum Schwund des Eingebundenseins in gemeinsame Kulturüberzeugung führen kann, sowie der Rationalisierung der Lebensführung, die auch als Leben ohne vitale, d.h. fühlende, empfindende, erlebende Lebensgestaltung mit engen Bindungen gesehen werden kann. Die Bildung eines Wir als einem starken Zusammenhalt von Menschen wurde in einem solchen kulturkritischen Verständnis als kulturelle und pädagogische Aufgabe der kulturellen, sozialen und pädagogischen Krisenreaktion begriffen. Damit kamen Themen wie, neben weiteren, die Gestaltung und Ermöglichung von Wärmebeziehungen des Vertrauens, der Geborgenheit, der Dankbarkeit, oder eben der Liebe als Problemlösungen in den Blick. Allen diesen Diskursen war und ist bis heute gemein, dass sie die Vergemeinschaftung, nicht aber die Vergesellschaftung von Individuen zu ihrem Ziel haben (vgl. UHLE 1995). Im Rahmen dieser Diskussionen um Pflege und Aufbau von WirGemeinschaften, die auch eine zentrale Aufgabe des Bildungssystems sei, wurde die Semantik von ‚pädagogischem Eros‘ in der pädagogischen Fachdiskussion heimisch. Noch heute sind diese Wurzeln hörbar, wenn etwa auf die schulpädagogischen Redeweisen von der ‚Klassengemeinschaft‘ als wichtigem Anliegen unterrichtlicher Vergesellung oder von ‚Arbeitsgemeinschaften‘ als Beschreibung für unterrichtliche Ergänzungsangebote die Rede ist. Vor allem GEORG KERSCHENSTEINER brachte 1921 in einem Vortrag über die ‚Seele des Erziehers‘ die Verbindung von schulischer Vergemeinschaftung und pädagogischem Eros zum Ausdruck. Er forderte für den Lehrberuf „‚Pestalozzinaturen‘, die ‚das Herz, die Liebe, die Leidenschaft, der pädagogische Eros‘ ... zu ihrem Beruf antreibe" (UHLE/GAUS 2002, S.92f.). Dabei sieht er Schule nicht als äußerliche Organisationsstruktur des Lehrens und Lernens, sondern als „wirksame Gestaltung des kollektiven Bildungssubjektes“ (KERSCHENSTEINER 1926, S.395). Wird Schule so als Kollektivsubjekt verstanden, wird in der Konsequenz Schulkultur Gestaltungsmittel zur Hervorbringung einer Schule als community. In damaliger Sprache ging es um die Gestaltung eines ‚Schulorga-
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nismus‘, der durch Teilhabe an gemeinsamem Sinn, durch ein geistiges Band als Einheitsmoment geprägt ist. Schule soll in solcher Perspektive nicht nur als Organisation, nicht nur als etwas durch Verordnungen, Regeln, Dienstvorschriften u.a. bestimmtes begriffen werden. Nicht Kontrollen von Schulaufsicht oder Rechtsbestimmungen sollen Einheitlichkeit, also Standardisierung der Aufgabenerfüllung von Schule als Organisation garantieren. Das ‚Eigentliche‘, das ‚Wesenhafte‘, wie es in der Sprache der Reformpädagogik genannt wurde, sei vielmehr die Selbstregulierung der Schulgemeinschaft durch eine gemeinschaftlich gestaltete und Gemeinschaft gestaltende Schulkultur. Nicht rationale Kooperationsregeln, sondern gerade auch affektive Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden sollen unterrichtliche Interaktionen bestimmen. Ein solcher Unterricht, aufgefasst als kognitiv, affektiv und voluntativ gestaltete Interaktion, und eine solche Schule, aufgefasst als organische Einrichtung, brauchen Lehrende, die den Erziehungs- und Bildungsgeist – im modernen Jargon: den ‚spirit‘ – der Organisation Schule repräsentieren und lehrend zeigen. Den für solches Tun idealen Lehrer beschreibt KERSCHENSTEINER unter Rekurs auf die Kulturpädagogik EDUARD SPRANGERs (vgl. Gaus 2007). Es ist ein bestimmter Typus Lehrer, der eine „Persönlichkeit“ darstellt. Dieser Lehrer sucht erstens Lernende als Individuen in ihrer Besonderheit und nicht nur in ihrer Rolle als Schüler zu verstehen. Zweitens verfügt er über die Fähigkeit zur „schenkenden Liebe“, also zum amor complacentia, dem es um die seelischen und geistig-kulturellen Interessen von Lernenden geht und um den Willen, diese zu unterstützen. Drittens enthält diese Art der Liebe in bestimmter Hinsicht religiösen Charakter, insofern mit dieser Unterstützung ein Heilswille verbunden ist: Ein solcher Lehrer will das Leben von Lernenden „von seinem niederen Sein erlösen“ (KERSCHENSTEINER 1926, S.397). Und viertens muss dieser Lehrende über Vorverständnis, über theoretisches Wissen um Bedingungen, Möglichkeiten und Effekte von Lehren im Sinne des amor complacentia verfügen. Als Repräsentanten dieses Lehrers verweist KERSCHENSTEINER auf eine Imagination von PESTALOZZI, in welcher sich für ihn dieser Typus von Lehrer erfüllt. Dieser imaginierte, idealisierte PESTALOZZI zeigt die genannten vier Merkmale des idealen Lehrers. Über die Ansammlung der genannten Merkmalen hinaus zeigt er aber auch Persönlichkeit, insofern ihm die aus diesen Merkmalen erwachsenden Handlungen zur Herzensangelegenheit werden, zum ‚pädagogischem Eros‘ als Willensrichtung. Wichtig ist dabei das ‚Naturell‘ des imaginierten PESTALOZZI. Pädagogischer Eros ist einerseits als Kombination aus Benevolenz, Enthusiasmus und Caritas zu begreifen. Andererseits soll das Zeigen dieser Liebesformen nicht als Bemühen, als Professionsanstrengung oder als zweckhaftes Tun, sondern vielmehr als selbstzweckhaftes Miteinander von Ich und Du, d.h. als Wir begriffen werden. KERSCHENSTEINER beschreibt dieses Wir-Sein
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von Lehrenden und Lernenden als „Gleichklang der Synenoesis, d.h. der Sympathie oder der Gleichgerichtetheit in den Wertmöglichkeiten“ (ebd.). Pädagogischer Eros ermöglicht einen solchen ‚Gleichklang‘ von Lehrenden und Lernenden, ein solches ‚Orchester- oder Chorergebnis‘ aber nur dann, wenn – wie es ein von KERSCHENSTEINER imaginierter PESTALOZZI zeigt – die Triebbasis von Liebe kultiviert und nicht nur als bloßer berufsethischer Anspruch von Benevolenz, Enthuiasmus und Caring wahrgenommen wird. Wenn – wie MARTIN BUBER sagt – „menschliches Lieben ... ebenso den in die Philia eingebetten Eros wie die vom Eros erfüllte Philia“ umfasst und „ohne die Philia ... der Eros im Untermenschlichen [versinkt; R.U.], während die Philia ohne den Eros ins Übermenschliche entschwindet“, dann beinhaltet auch die Freundesliebe libidinöse Momente (BUBER 1948, zit. n. SEICHTER 2007, S.42). Ebenso gilt dann, dass elterliche sorgende Liebe auch kultivierte Brutpflege und caritas auch eine höhere Form des natürlichen Mitleids mit den Benachteiligten und Bedrängten ist. Auf ein Naturell von Lehrenden mit pädagogischem Eros zu verweisen bedeutet, dass eine Wir-Gemeinschaft in Unterricht und Schule nur dann entstehen kann, wenn sich die Energie solcher Triebe auch in deren kulturell geregelten Ausdrucksformen erhält. Was hier artikuliert wird, kann man neudeutsch als Vision eines classroomund Schulmanagements bezeichnen, das sich der Potenziale von Liebeskraft bedient. Im Prinzip unterscheidet sich die Semantik rund um den pädagogischen Eros nicht von jener rund um Wertschätzung, Enthusiasmus und Caring als Momenten des Verständnisses von effektivem Unterricht. Im Prinzip beinhalten daher die Überlegungen KERSCHENSTEINERs keine anderen Handlungsaufforderungen an Lehrende als jene, die als Indikatoren in den Forschungen zum effektiven Lehrer verwendet werden. Die Differenz zwischen der Liebessemantik im Konzept effektiven Unterrichts und in der Lehrertypologie KERSCHENSTEINERs liegt einerseits in der Differenz der Bestimmungen von Schul- und Unterrichtsmanagement der jeweiligen Ansätze und andererseits in der Regulierung von Nähe und Distanz als Ausdruck der Zuneigung von Lehrenden zu Lernenden. In der Vorstellung KERSCHENSTEINERs eines idealen Lehrers als Chor-, evt. auch als Korpsleiter wird vor allem Visionäres zum Ausdruck gebracht. Ab 1900 gab es in weiten Schichten der Bevölkerung eine Sehnsucht nach Überwindung der eben erwähnten Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse, eine „Bewegung zur Synthese“, wie sie der Historiker FRITZ K. RINGER genannt hat (RINGER 1983, S.344). Diese Sehnsucht nach einem Leben im Wir artikulierte sich seinerzeit in verschiedenen Bewegungen von unten, z.B. in Siedlungsgenossenschaften, in Zusammenschlüssen von Menschen als Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften, in der Erlebensgemeinschaft der Jugendbewegung oder in Kulturgemeinschaften religiöser und anderer Art.
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Auch in der Gegenwart sind für Schule und Unterricht Lehrende gefragt, welche die Hoffnung auf ein Leben im Wir, neudeutsch formuliert, über visionäres Classroom- und Schulmanagement, über die Schaffung von communiy in Schule als Organisation einbringen. Unterstellt werden kann, dass Lehrende wie Lernende um 1900 an solchen Vergemeinschaftsbewegungen Anteil hatten. Für eine beträchtliche Anzahl der Lernenden war es erlebtes Leben, in der Jugendbewegung auf Fahrten gemeinschaftliches Aufeinanderangewiesensein zu erfahren oder als Führer und später als Lehrender in Jugendverbänden ein solches Gemeinschaftserleben angeregt und gepflegt zu haben. Vor diesem konkreten Sozialisationshintergrund mussten seinerzeit Liebesformen wie Wertschätzung, Enthusiasmus und Caring nicht als Sozialtechniken von Classroom- und Schulmanagement beschrieben werden. Es kam gewissermaßen nur mehr darauf an, die Erfahrungswerte gelingender Gemeinschaftsbildung etwa aus der Jugendbewegung als schulpädagogische Vision auszuformulieren. Solche Visionen hatte in der Folge einen starken Motivationscharakter, wenn und insofern sie als Heils- und Erlösungswissen erschienen. Es ging in solchen Visionen um nicht mehr und nicht weniger als um ein zukünftig besseres Leben im Wir, für das ein Ansprechen und ein Angesprochenwerden durch den pädagogischen Eros auch in Organisationen institutionalisierten Lehrens und Lernens als grundlegend erachtet wurde. Allerdings bleibt das systematische Problem bestehen, dass ein Lehrender bei Lernenden eine Sehnsucht nach Bindung als immer schon gegeben unterstellen muss, soll Liebe als pädagogischer Eros nicht als eine unerfüllbare Utopie verstanden werden.2 Pädagogische Liebe als Eros hat Züge charismatischer Bindung; sie bedarf einer Anhängerschaft, einer Gemeinde von Überzeugten. Mit solcher Unterstellung kann Liebe in heutigen Konzepten effektiven Unterrichts aber nicht mehr arbeiten. Im Gegenteil: Gefordert werden die in solchen Konzepten genannten Formen von Liebe gerade aufgrund von Unterrichtsstörungen, Disziplinproblemen, Lernverweigerungen usw. (vgl DUBS 2009, S.507). Konstatiert wird in der gegenwärtigen Literatur also gerade die nicht gegebene Existenz von Lehr-Lerngemeinschaften. Wertschätzung, Enthusiasmus und Caring sollen diese erst herstellen. Dabei entsteht eine paradoxe Diskussionslage. Einerseits gilt als gesichert, dass das Zeigen solcher Liebesformen das Sich-wohlfühlen im Unterricht erhöht und Lernbereitschaften erzeugt. Andererseits aber lassen sich die Merkmale dieser Liebesformen „nur oberflächlich definieren“ und durch Forschung kaum „gesicherte Erkenntnisse über Verhaltensweisen ... erbringen, mit denen sich [z.B.; R.U.] die Wertschätzung einer Lehrkraft gegenüber Ler-
2 Vergleiche zu den bindungstheoretischen Grundlagen weiterführend den Beitrag von ELMAR DRIESCHNER in diesem Band.
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nenden genau erfassen ließe" (ebd., S.96). Effektive Ausdrucksformen von Liebe im Konzept effektiven Unterrichts sind mithin eine terra incognita. Sie müssen es schon deshalb bleiben, weil die Artikulation von Wohlwollen, Enthusiasmus und Caring auch in diesen Konzepten noch als Ausdruck von Persönlichkeit verstanden wird - was immer das heißen mag. Diese Ausdrucksformen zuwendenden Verhaltens können aber als Classroom- oder Schulmanagement nicht ohne eine Vision von Wir und letztlich auch nicht ohne körperliche Zuwendung implementiert werden. Die ursprüngliche Semantik um den pädagogischen Eros wusste um diesen systematischen Zusammenhang, die gegenwärtige Semantik aber versucht ihn zu umgehen oder gar zu negieren. Pädagogischer Eros im oben geschilderten Sinne ist mit einer Imagination verbunden, die nicht zufällig mit einem vorgestellten PESTALOZZI verbunden ist. Grundlegende Wahrnehmungsfolie ist letztlich ein familiales Verständnis sorgender und sehender Liebe. Eltern und Kinder zeigen körperlich und affektiv, dass ihr Wohlergehen von dem des Anderen abhängig ist. Es sind die kleinen Gesten von Vertraulichkeit und Vertrautheit, von Umarmung und Streicheln, von Beruhigung und Mitfreude, die Vertrauen als gegenseitiges Vertrauen sichtbar werden lassen. Im Kontext institutionell organisierten rollenförmigen Lehrens und Lernens aber entsteht für den Gedanken eines pädagogischen Eros gerade an dieser Stelle das unhintergehbare Problem von Nähe und Distanz, das durch nicht-körperliche, d.h. ‚oberflächliche‘ Indikatoren von Wertschätzung, Enthusiasmus und Caring im Konzept des effektiven Unterrichts systematisch auszublenden versucht wird. Nicht zufällig schildert die Lehrerin und Schulbuchautorin BARBARA BITTNER kleine Szenen des Schulalltags, in denen die Folgeprobleme solcher Versuche der Ausblendung sichtbar werden. Angesichts einer medialen Diskussion um Missbrauch wendet sie sich gegen ein Vergessen und gegen eine Abwehr familialer Liebesbekundungen auch in öffentlichen Bildungseinrichtungen. Solche Ausdrucksformen erst ermöglichen die Trias von Vertrauen, Liebe und Dankbarkeit als Kennzeichen von interaktioneller gegenseitiger Anerkennung. Eine der geschilderten Szenen verdeutlicht dies exemplarisch: „Die dreizehnjährige Carina lebt seit zwei Jahren von der Mutter getrennt beim Vater. ‚Ich will sie nicht sehen‘, sagt sie, als sich die Mutter zur Sprechstunde angemeldet hat. Die Pause ist beendet, der Unterricht beginnt. Carinas Platz ist leer. ‚Wo ist Carina?‘ – ‚Die hat sich in der Toilette versteckt‘, antworten Mitschülerinnen. Dort also sitzt sie zitternd. Beruhigende Worte. Carina steht auf, geht auf die Lehrerin zu, umarmt sie, um sich festzuhalten und Trost zu finden. Es bedarf keiner Fragen und Erklärungen, die Lehrerin weiß um die traumatischen Erlebnisse mit der Mutter. Nach langem juristischem Ringen gibt die Mutter ihr Einverständnis, dass Carina mit Vater und Bruder ins Ausland ausreisen darf. Carina schreibt einen Abschiedsgruß: ‚Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung in der Schule und in den anderen Sachen, in denen Sie unserer Familie geholfen haben. Sie waren nicht nur eine Lehrerin für mich, sondern auch eine
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Mutter. Ohne sie hätte ich nicht die Kraft gehabt, es so lange auszuhalten. Danke! Lots of love, Carina‘“ (BITTNER 2010, S.38).
Hier geht es nicht um Effekte der Erhöhung von Lernleistungen, ebenso wenig um einen missionarischen Auftrag zur Erzeugung von Schulkultur im Sinne eines Schulorganismus. Was hier angesprochen wird, ist schlicht das grundlegende Merkmal einer Semantik von Liebe. Das Befinden von Anderen, von Carina, wird einem Ich, hier der Lehrerin, selbst wichtig, wird Teil ihres Wohlbefindens. Gerade weil ein Gegenüber wahrgenommen wird als jemand, der Anspruch auf ein Sich-sorgen hat, kommt es zu Dankbarkeit und Gegenliebe. Darüber hinaus entsteht so etwas wie Enthusiasmus in der Berufsausübung, wenn die Autorin resümiert: „Wie viel Nähe und wie viel Distanz sind in der Schule notwendig? Wie viel Gefühl und wie viel Gefühlskälte dürfen oder müssen sich Lehrer erlauben? Der Lehrberuf ist notwendigerweise ein Beziehungsberuf. Die Beziehungen, die Lehrer zu ihren Schülern aufbauen, sind oft sehr nachhaltig. Für jeden Pädagogen ist das eine große Verantwortung – aber auch eine Quelle und Erfüllung im Beruf“ (ebd.).
Es lassen sich gewiss viele Szenen ähnlicher Art eruieren, die von Zuwendung im Schulalltag berichten. Möglich wäre es, diese Tatsache einerseits als Weiterwirken einer Tradition reformpädagogischen Denkens im Schulalltag, aber auch andererseits als eklektisches Aufgreifen von Wohlwollen und Caring in Konzepten zum Berufsethos zu begreifen. BITTNER greift die Vorstellung solcher Szenen unter der Frage nach Grenzen im Lehrerberuf angesichts von Verunsicherung in Lehrerkollegien nach Missbrauchsdebatten auf. „Darf ich bei Atemübungen einem Schüler überhaupt noch die Hand auf die Brust legen?“, lässt sie als Ausgangspunkt ihrer Reflexionen einen Sportlehrer fragen (ebd.). Damit wird deutlich, dass die Beschäftigung mit pädagogischer Liebe zur Frage nach Grenzen von Verhaltenskundgaben von solcher Liebe wird. Grenzen aber gibt es – wie erläutert – nicht nur in den Signalen, den Indikatoren von Liebe, sondern auch im pädagogisch-reflexiven Rekurs auf den Sinn und die Bedeutung dieses Phänomens für Schule und Unterricht. Im Mythos erscheint Eros als Kind der Gottheiten poros und penia. Er ist das Kind der Repräsentanten von Erfindungskunst und Reichtum einerseits sowie von Mangel und Armut andererseits. Von PLATON wird er auf dem Hintergrund dieses Mythos einerseits als nach dem Guten und Schönen strebend und andererseits als grob und unschön charakterisiert (vgl. SEICHTER 2007, S.37). Wenn Pädagogik, sei ihr an effektivem Lehren oder an Schulcommunity gelegen, auf die Semantik von Liebe rekurriert, kann sie von pädagogischer Liebe Reichtum an Erhöhung von Bindungsqualitäten zwischen Lehrenden und Lernenden erhoffen. Sie muss aber
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in diesem Zusammenhang immer auch zugleich deren Mangel und möglichen Missbrauch in Rechnung stellen.
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II. Liebe zwischen bindungspsychologischer und kulturhistorischer Perspektive
Bindung in familialer und öffentlicher Erziehung. Zum Zusammenhang von psychischer Sicherheit, Explorationssicherheit und früher Bildung im geteilten Betreuungsfeld Elmar Drieschner
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Problemstellung: Die Bindungsforschung im Überschneidungsfeld von familialer und öffentlicher Erziehung
Die Bindungsforschung beschreibt und analysiert die Auswirkungen von Beziehungsqualitäten auf die psychische Entwicklung von Kindern. In kritischer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse entwickelt der Psychiater JOHN BOWLBY ab den 1950er Jahren die Grundlagen dieses Forschungsansatzes. Theoriearchitektonisch ist das Bindungsparadigma durch die Integration von psychoanalytischen, verhaltens- und evolutionsbiologischen Perspektiven auf frühe Fürsorgebeziehungen gekennzeichnet. Forschungsmethodisch eröffnet die Orientierung an der Biologie den Anschluss an Verfahren der empirischen Forschung. So können ursprünglich in der Psychoanalyse aufgeworfene Fragen nach dem Verhältnis von Mutter und Kind u.a. im Kontext von Ablösung und Trennung im Rahmen einer erfahrungswissenschaftlichen, auf systematischen Beobachtungen beruhenden Theorie transparent und überprüfbar erklärt werden. Ursprünglich bezieht sich die Bindungstheorie also auf affektiv geprägte familiale Fürsorgebeziehungen speziell zwischen Mutter und Kind. Erst in späteren Weiterentwicklungen seit den 1970er Jahren wird sie auch auf die öffentliche Erziehung in Krippe und Kindergarten bezogen und in Ansätzen professionell pädagogisch konzeptualisiert. Der Begriff der Bindung betont hier eine besondere personale, an positiver Affektivität orientierte Qualität der professionell pädagogischen Beziehungsgestaltung. 1.1 Das bindungsbedürftige Kind und die sorgende Liebe der erwachsenen Bezugsperson. Zur Anthropologie des Bindungsparadigmas Die Bindungsforschung beruht auf dem Bild eines bindungsbedürftigen Kindes, das auf liebevolle Zuwendung, Versorgung, Unterstützung, Verhaltensregulie-
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
rung und Anregung angewiesen ist. Komplementär dazu wird in der klassischen Theorieanlage auf Seiten der Bezugsperson eine Fürsorgebereitschaft konstatiert, die mit Mutter- und Vaterliebe im Sinne von ‚Brutpflege’ in Verbindung gebracht wird. Fürsorge meint hier nicht nur die Pflege, sondern auch die erzieherische Unterstützung und Evokation von Entwicklungsfortschritten in Richtung selbstständiger Lebensbewältigung. Das komplementäre Zusammenspiel zwischen dem Bindungsverhaltenssystem des Kindes und dem Fürsorgeverhaltenssystem seiner Bezugspersonen gilt als Entstehungsbedingung für eine gelingende Bindungsbeziehung. Diese wird wiederum als primäre grundlegende Voraussetzung für die gesunde Entwicklung eines Kindes in sozialer, emotionaler, kognitiver und moralischer Hinsicht beschrieben. Daher richtet sich das Forschungsinteresse vor allem auf die frühen Interaktionserfahrungen des Kindes mit seinen Bezugspersonen. Dabei werden qualitativ unterschiedliche Bindungsmuster differenziert, je nachdem, ob und in welchem Ausmaß die psychischen Grundbedürfnisse des Kindes wie Sicherheit, Kompetenz und Autonomie in der Beziehung befriedigt werden. Mit dieser Akzentuierung der Bindungsbedürftigkeit des Kindes und der sorgenden Liebe der Bezugspersonen bricht die Bindungstheorie auf der Ebene des Bildes vom Menschen bzw. vom Kind mit der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschenden psychologischen Anthropologie, die Säuglinge als wenig sozialfähig, inaktiv und triebgesteuert erscheinen lässt. So hält WILLIAM JAMES, der Mitbegründer der wissenschaftlichen Psychologie in den USA, kleine Kinder für „unbewusste, unempfindliche und lernunfähige Wesen“ (JAMES, zit. nach BUCHER 2008, S.91). Eine ähnliche Defizitzuschreibung nimmt auch SIGMUND FREUD, der Gründervater der Psychoanalyse, vor. Ihm zufolge befinden sich Neugeborene in einem Zustand des primären Narzissmus. Nach dieser Auffassung können sie die Umwelt psychisch noch nicht repräsentierten, weshalb sie die für alles Verhalten konstitutive Triebenergie auf das eigene Wesen hin vereinigen (FREUD 2002). Ähnlich befinden sich nach MARGARET MAHLER Säuglinge in einem Zustand des ‚normalen Autismus‘. Eine starke Reizschwelle verhindere ihre Wahrnehmung der Außenwelt in den ersten ca. sechs Monaten fast vollständig, weshalb sie weder Konzepte von anderen noch von sich selbst besitzen (MAHLER 1975). Ein gleichsam defizitäres Bild vom Kind vertreten zu dieser Zeit auch führende Pädiater und Biologen mit z.T. gravierenden medizinischen und psychischen Folgen für das Kind, die später unter pädagogischen Vorzeichen erneut wirksam werden. So werden etwa medizinische Behandlungen und Operationen an Neugeborenen ohne Narkose vorgenommen, da man meint, dass sie noch keinen Schmerz empfinden könnten. Ebenso wird das Weinen eines kleinen Kindes häufig als aggressives, triebgesteuertes Verhalten und nicht als
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Ausdruck seines Grundbedürfnisses nach Zuwendung und Trost interpretiert (vgl. DRIESCHNER 2007a, S.72). Die sukzessive Hinwendung zur Liebesbedürftigkeit des Kindes und der allmähliche Aufweis seiner bereits früh ausgeprägten sozialen Interaktionskompetenzen lassen sich in der Psychoanalyse selbst nachweisen. So beschreibt ERIK ERIKSON die Bildung eines Urvertrauens in die Welt als grundlegende Aufgabe des Kindes in seiner psychosexuellen Entwicklung (ERIKSON 1966). Der Gedanke des Urvertrauens findet sich in BOWLBYs Konzept der sicheren Bindung wider. Einschneidender und weitgehender als ERIKSON spricht BOWLBY dem Sicherheits- und Bindungsbedürfnis des Kindes eine paradigmatische Bedeutung für eine neu aufzustellende Entwicklungstheorie zu (BOWLBY 1969). Im Unterschied zu pädagogischen Implikationen der klassischen Psychoanalyse gilt ihm nicht länger „die Unterdrückung von Trieben zugunsten der Forderungen der Welt, sondern die intuitiv ablaufenden gefühlsmäßigen Interaktionen zwischen Kind und Betreuungsperson“ als entscheidend für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung (GEBHARDT 2009, S.20). In ihrer historischen Kontextualisierung der Genese des Bindungsparadigmas parallelisiert MIRIAM GEBHARDT die Revision der Anthropologie des Kindes mit sozialstrukturellen, kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen im westlichen Kulturraum in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ihren Analysen zufolge erwächst der Wunsch nach einem durch ‚wahre Menschlichkeit‘ geprägten, liebesbedürftigen Kind und einem optimistischen Entwicklungskonzept vor dem Hintergrund des Gräuels des Zweiten Weltkriegs. Sie verweist darüber hinaus auf den in den 1960er und 1970er Jahren konstatierbaren gesellschaftlichen Modernisierungs- und Individualisierungsschub, der kultursoziologisch als Übergang in eine sogenannte postpatriarchale Kultur interpretiert wird. Die Industriegesellschaft, deren Aufbau durch die Internalisierung von Autorität, Mäßigung und Anstrengung vorangetrieben wurde, bedarf für die weitere Expansion mehr Konsumorientierung und Fähigkeiten zu Genuss und Flexibilität. Die Mutter-Kind-Bindung sowie der Blick auf kindliche Bedürfnisse werden mithin zu Ausgangspunkten einer sich wandelnden gesellschaftlichen Ordnung (vgl. GEBHARDT 2009, S.166ff.). Die Bindungs-Welle führt in der Konsequenz zu einer gesellschaftlichen Wiederbelebung des traditionell bürgerlich normativen Deutungsmusters der Mutterliebe, gar „zu einer nie da gewesenen gefühlsmäßigen Unabkömmlichkeit der Frauen in der Familie“ (vgl. ebd., S.166). Daher kann die Genese des Bindungsparadigmas wissenssoziologisch in eine gesellschaftlich ambivalente Entwicklung eingeordnet werden, die durch eine zunehmende Emotionalisierung der Eltern-Kind-Verhältnisse und den sukzessiven Niedergang patriarchaler Strukturen gekennzeichnet ist. Die von der Mutter verkörperte Liebe tritt an die Stelle väterlich autoritärer Dominanz. Die Bin-
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dungs-Welle führt in der Konsequenz zu einer gesellschaftlichen Wiederbelebung des traditionell bürgerlich normativen Deutungsmusters der Mutterliebe, gar „zu einer nie da gewesenen gefühlsmäßigen Unabkömmlichkeit der Frauen in der Familie“ (ebd.). 1.2 Die Bindungstheorie als Beschreibungsmuster sorgender Liebe in familialer und öffentlicher Erziehung Bisher wurde deutlich, dass die klassische Bindungstheorie mit ihren Grundaussagen und ihrem Fundament – dem Bild des bindungs- und liebebedürftigen Kindes – im Spannungsfeld zwischen kulturellen Dynamiken und anthropologischen Grundannahmen auf der Basis von Forschungen zur Eltern-Kind-, speziell zur Mutter-Kind-Beziehung entwickelt wird. Ihr Ausgangsinteresse gilt damit dem Einfluss von elterlicher, hauptsächlich mütterlicher Liebe, Feinfühligkeit und Zuwendung. Die Forschungen richten sich auch auf die psychischen Folgen von Vernachlässigung, Abneigung, Misshandlung und Trennung. Mit dieser Ausrichtung liefert die Bindungstheorie einen adäquaten Beschreibungs- und Analysehintergrund für Erziehung in der Familie. Bindung gilt danach als affektive Voraussetzung von Beziehungs- und Erziehungsfähigkeit. Im Vergleich zu universalistischen gesellschaftlichen Rollenbeziehungen sind innerfamiliale Beziehungen durch ihre affektive Orientierung gekennzeichnet. In der modernen Gesellschaft differenziert sich die Familie als Ort der Liebe (sowohl der Gatten-, Geschwister- als auch der Elternliebe) aus. Im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess wurde sie zum sozialen Ort für die Befriedigung von Gefühlsbedürfnissen in einer mehr und mehr kontingenten, fluktuierenden und rationalisierten gesellschaftlichen Umwelt (vgl. LUHMANN 1982). Liebe in der Familie umfasst Gefühlskomponenten wie Zuneigung, Mögen, Sinnlichkeit, Verliebtheit und Intimität. Intimität entsteht in der Paarbeziehung durch seelische und körperliche Nähe. Auch die fürsorgliche Interaktion mit dem kleinen Kind ist ganzheitlich angelegt; symbiotische Komponenten sind z.B. das Stillen, Pflegen, Streicheln, Herzen, Schmusen und Küssen. Sorgende Elternliebe zeigt sich allerdings altersabhängig auf unterschiedliche Weise. So reduzieren sich z.B. symbiotische Aspekte in der Eltern-Kind-Interaktion, je älter ein Kind wird. An ihre Stelle treten vermehrt andere Formen der Zuwendung wie Mögen, Schätzen, Verbundenheit und Verantwortlichkeit z.B. für die Erfüllung der schulischen Pflichten des Kindes. Verstärkt ab den 1970er und 1980er Jahren wendet sich die Bindungsforschung der Frage zu, ob das Kind neben den leiblichen Eltern auch Bindungen zu weiteren sekundären Betreuungspersonen wie Tagesmüttern, Erzieherinnen oder anderen vertrauten Personen aufbauen kann. Diese neuen Forschungsperspektiven sind von besonderer politischer und gesamtgesellschaftlicher Rele-
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vanz. Sie korrespondieren mit der zunehmenden Öffnung und Teilung des kindlichen Sozialisationsfeldes und der Pluralisierung von Familienformen (vgl. RAUSCHENBACH 2009). Dabei berühren sie gesellschaftspolitisch kontrovers diskutierte Fragen u.a. nach dem Einfluss elterlicher Berufstätigkeit auf die kindliche Entwicklung, der Verarbeitung von Scheidungen, dem Entzug des elterlichen Sorgerechts im Falle von Kindesmisshandlung und den Chancen und Risiken von öffentlicher Kindertagesbetreuung (vgl. RITTELMEYER 2005, S.48). Für die Pädagogik der Frühen Kindheit ist in diesem Forschungszusammenhang vor allem die Frage nach dem Verhältnis von innerfamilialer und öffentlicher Erziehung professionspolitisch relevant. Die damaligen Studien zur Kindertagesbetreuung liefen darauf hinaus, dass auch Erzieherinnen zu sicherheitsgebenden Bindungspersonen für Kinder werden können, wobei sie in der Hierarchie der Bindungsbeziehungen gegenüber den Eltern in der Regel sekundäre Bindungspersonen sind. Zudem wurden strukturell bedingte Unterschiede bezüglich des Aufbaus und der Aufrechterhaltung von Bindungen konstatiert. Das dyadische Erziehungsverhältnis in der Familie mit seinem kindzentrierten Fokus steht der Gruppensituation im Kindergarten gegenüber, aus der heraus sich Erzieherinnen dem einzelnen Kind zuwenden. Wenn aber Kinder ihr Bindungsbedürfnis nicht nur an Eltern, sondern auch an Erzieherinnen richten, dann ist aus ihrer Sicht von einem fließenden Übergang zwischen den Beziehungsformen in familialer und öffentlicher Erziehung auszugehen. Dies entspricht dem entwicklungspsychologischen Befund, dass Kinder erst langsam lernen, zwischen affektiven (familienorientierten) Beziehungen und universalistischen (öffentlichen) Rollenbeziehungen zu unterscheiden. In der Regel ist die Fähigkeit zum Rollenhandeln erst im Jugendalter vollständig entwickelt (vgl. OEVERMANN 1996). Beziehungen im Bereich der frühkindlichen Bildung sind daher noch stark affektiv geprägt, auch wenn professionellen Pädagogen die Aufgabe zukommt, sukzessiv und behutsam mit den Kindern Grundlagen des Rollenhandelns einzuüben. Mit der Betonung der affektiven Dimension der pädagogischen Beziehung steht die Bindungstheorie in Diskrepanz zu kriterienorientierten Ansätzen der pädagogischen Professionstheorie, die aus dem strukturfunktionalistischen Paradigma der Soziologie hergeleitet werden und stärker die Differenzen zwischen familialer und öffentlicher Erziehung in den Mittelpunkt rücken (vgl. DEWE/ FERCHHOFF/PETERS/STÜWE 1986, S.170). Die professionell-pädagogische Beziehung ist aus Sicht dieser Ansätze nicht so sehr an engen gefühlbasierten Bindungen ausgerichtet, sondern vielmehr universell, spezifisch und affektneutral angelegt. Wenn hier von pädagogischer Liebe oder Liebe zum Kind die Rede ist, dann eher in der Form von Wohlwollen, Sympathie zeigen, Helfen, Unterstützen und Changieren zwischen Nähe und Distanz. Erziehen und Bilden als Berufstätigkeit brauchen demnach neben personalen insbesondere professionelle Qualitä-
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ten, die man nur über die Akademisierung erreichen kann. Denn performativ zeigt sich professionelles Handeln in kritischer Reflexivität, Orientierung an Berufsethik und distanzierter Fallbearbeitung. Eine Erzieherin in der Krippe oder im Kindergarten als potenzielle Bindungsperson zu betrachten, ist möglich, steht jedoch immer in einem zu klärenden Spannungsverhältnis hinsichtlich des Gedankens von pädagogischem Handeln als professionelle Fallbearbeitung. Nicht zuletzt aus diesem Grund erscheint die Verwendung des Bindungsbegriffs im frühpädagogischen Diskurs als strittig. Einige Autoren insbesondere aus der Provenienz der empirischen Bildungsforschung sehen in ihm eine Fortsetzung des Gedankens der geistigen Mütterlichkeit als vorprofessionelles Berufskonzept von Frühpädagogen. Sie ziehen es deshalb vor, allgemein von pädagogischer Beziehung zu sprechen, die bestimmten professionellen Qualitätsstandards Genüge leisten soll. Bindungsbezogene Anteile der Erzieherinnen-Kind-Beziehung werden infolgedessen im frühpädagogischen Qualitätsdiskurs zumeist nicht explizit gekennzeichnet bzw. empirisch erfasst. Das Konzept der Bindung entspricht professionstheoretisch eher dem, was in der Tradition (reform)pädagogischen Denkens als personale Qualität pädagogischer Professionalität diskutiert wird. So ist etwa für den Begründer der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik WILHELM DILTHEY das liebevolle Verständnis von Kinderseelen und die Begeisterung für die zu vermittelnde Sache die conditio sine qua non pädagogischer Berufstätigkeit. Die Macht der Einwirkung auf Heranwachsende ist, so betont DILTHEY „in der Macht unwillkürlicher Regungen im Gemüt gegeben. Man bemerkt, dass die Anziehungskraft, die ein Mensch auf andere ausübt, durch die Art, wie er sich hingibt, bedingt ist. Impulsive Naturen allein üben eine solche Macht. Wo nun solche starken Gefühle Kindern gegenüber empfunden und von diesen leidenschaftlich erwidert werden, da ist eine elementare Anlage vorhanden. Zunächst ist jede Beobachtung von Kinderseelen auf diesen Gefühlsregungen begründet. Sie ist nicht eine Sache bloßer intellektueller Operationen. Wir verstehen einen Menschen nur, indem wir mit ihm fühlen, seine Regungen in uns nachleben; wir verstehen nur durch Liebe. Und gerade an ein unentwickeltes Leben müssen wir uns annähern durch die Kunst der Liebe, durch ein Mindern unserer eigenen Gefühle in das Dunkle, Unentwickelte, Kindliche, Reine. Alles Raisonnement tritt nur als sekundär hinzu. Hiermit hängt zusammen, dass in dem pädagogischen Genius Gemüt und Anschauungskraft vorherrschen, gar nicht der Verstand“ (GS IX, S.201).
DILTHEY bestimmt die pädagogische Beziehung doppelt durch das liebevolle Verständnis zum Kind und die Begeisterung zur Sache. Die These eines untrennbar miteinander verwobenen Person- und Sachbezugs in Prozessen der Weltaneignung und einer damit begründeten besonderen personalen Qualität der pädagogischen Beziehungsgestaltung kann jedoch jenseits des Postulats rationaler Professionalität in der pädagogischen Theoriebildung speziell im Bereich der Frühpädagogik bis heute Gültigkeit beanspruchen (vgl. SCHÄFER 2010). Hiermit
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ist ein Anknüpfungspunkt gegeben, um das Bindungskonzept in Abgrenzung zur Familie professionell pädagogisch zu erschließen. In der Familie wird die affektive Bindung zum Kind in der Regel stärker gewichtet als der Sachbezug von Erziehung. Umgekehrt ist der gesetzlich verbürgte Bildungsauftrag konstitutiv für öffentlich organisierte Erziehung in Krippen, Kindergärten, Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Neuerdings wird der Sachbezug in der pädagogischen Arbeit auch in Krippen und Kindergärten durch Bildungspläne curricular strukturiert und inhaltlich orientiert. Ihrer Forschungsherkunft aus dem Bereich der familialen Beziehungen ist geschuldet, dass die Bindungsforschung traditionell stärker den affektiven Bezug, d.h. die Befriedigung emotionaler und sozialer Grundbedürfnisse von Kindern in den Mittelpunkt stellt. Die ältere Bindungsforschung verharrt mit dieser Ausrichtung gewissermaßen bei der familienpädagogischen Frage, wie viel liebevolle Zuwendung ein Kind mit Blick auf die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit braucht (vgl. BOWLBY 1951; 1969). Entsprechend wurde der Sachbezug pädagogischer Beziehungen zu wenig gewichtet, der auch in der familialen, aber aufgrund gesetzlicher Bestimmungen vor allem in der öffentlichen Erziehung eine zentrale Rolle spielt. Es wurde mithin zu wenig berücksichtigt, dass die frühkindliche Bindungsbeziehung auch als ein Geschehen der kulturellen Weitergabe betrachtet werden kann, denn in ihr „konstruiert und reproduziert sich das Kulturelle“ (GEBHARDT 2009, S.13). Kinder als Kulturneulinge brauchen enge emotionale Interaktionen mit vertrauten kulturerfahrenen Bezugspersonen, um sich aktiv die gesellschaftlich geteilten Sinn-, Wert- und Bedeutungszusammenhänge zu erschließen. Bindungsbeziehungen können insofern als Keimzellen kulturellen Lernens betrachtet werden. Wie aktuelle neurobiologische Forschungen zeigen, haben die über Bindungen kulturell vermittelten Erfahrungen Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung bis hinein in die Hirnphysiologie des Kindes. Die Frage nach dem Zusammenhang von Bindung und kognitiver Entwicklung, mithin die Frage nach der Bildungsbedeutsamkeit von Bindungsbeziehungen, blieb jedoch lange Zeit ein Desiderat. Zwar betont schon BOWLBY die Reziprozität zwischen der Bindungsqualität und der Ausprägung des kindlichen Explorationsverhaltens (vgl. BOWLBY 1969). Inwiefern aber Interaktionen mit den Bindungspersonen dem Kind darüber hinaus einen interessanten und für die kognitive Entwicklung maßgeblichen Zugang zur kulturellen Welt eröffnen, wurde nicht näher spezifiziert. Erst neuerdings wird von einigen Forschern ein erweiterter Bindungsbegriff vertreten, der auch die Unterstützung und Assistenz des kindlichen Neugier- und Erkundungsverhaltens umfasst und mithin eine Bezugsgröße für eine professionell pädagogische Gestaltung von Bindungsbeziehungen offeriert (vgl. BOTH u.a. 2003).
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1.3 Vorgehen und Zielsetzung Der vorliegende Aufsatz rekonstruiert Grundthesen der Bindungsforschung mit Blick auf ihre Bedeutung als Beschreibungs- und Analysefolie für innerfamiliale wie auch öffentliche Erziehung. Dementsprechend wird zunächst aus historisch und systematisch fundierter Perspektive nachgezeichnet, dass und wie sich der Fokus der Bindungsforschung weg von der Analyse der Exklusivität der MutterKind-Bindung hin zu den vielfältigen Beziehungen und Beziehungskonstellationen im geteilten Betreuungsfeld wendet (Abschnitt 2). Um Überschneidungen und Unterschiede in der Gestaltung von Bindungsbeziehungen in der Familie und in öffentlichen Betreuungseinrichtungen kenntlich zu machen, wird in den Abschnitten 3 und 4 zwischen einem einfachen und einem erweiterten Bindungsbegriff unterschieden. Diese heuristische Unterscheidung beruht sowohl auf Forschungsentwicklungen in der Bindungspsychologie als auch auf pädagogisch-professionstheoretischen Überlegungen. Der einfache Bindungsbegriff zielt auf die Vermittlung psychischer und explorativer Sicherheit. Er wurde vorwiegend im Rahmen familienbezogener Forschungen entwickelt, aber auch bezogen auf das Verhältnis zwischen Kind und Erzieherin bestätigt. Demnach kommt sowohl Eltern als auch frühpädagogischem Fachpersonal die Aufgabe zu, die psychischen und körperlichen Grundbedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Die daraus erwachsende Qualität der Bindungsbeziehung nimmt über die Aktivierung des Explorationsverhaltens starken Einfluss auf den Bildungsprozess des Kindes (Abschnitt 3). Der erweiterte Bindungsbegriff akzentuiert stärker die Bildungsbedeutsamkeit von Bindung als didaktisch zu gestaltender Beziehung. Im Unterschied zur Unmittelbarkeit familialer Beziehungen wird hier stärker auf die Inszenierung, die didaktische Gestaltung und die Vermittlung des Person- und Sachbezugs in professionell-pädagogischen Beziehungen abgehoben. Bindung wird somit als Erziehungsmittel betrachtet, um die kognitive Entwicklung von Kindern gezielt zu fördern. Die bisher erst in Ansätzen entwickelten theoretischen und empirischen Beiträge, die dezidiert aufzeigen, dass und wie sich kognitive Bildungsprozesse in Interaktionen mit vertrauten erwachsenen Bezugspersonen vollziehen, werden als Zugänge zu einem solchen erweiterten Verständnis von Bindung vorgestellt. Konkret werden Explorationsunterstützung und -assistenz, gemeinsames Spiel, geteilte Aufmerksamkeit und gemeinsames Denken (‚sustained shared thinking‘) als Beziehungsaufgaben im Rahmen eines erweiterten Verständnisses von Bindungen thematisiert. Dies geschieht vor dem Hintergrund von Forschungsperspektiven und Theoriemodellen im Verbund von Bindungsforschung, evolutionärer Anthropologie und beobachtender Säuglings- und Kleinkindforschung (Abschnitt 4). Die Überlegungen zu einem einfachen und einem erweiterten Bindungsbegriff werden abschließend noch einmal unter der
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Fragestellung aufgegriffen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede im feinfühligen Beziehungsaufbau zwischen Eltern und Erzieherinnen festgestellt werden können (Abschnitt 5).
2
Zur Übertragung des Bindungskonzepts auf die öffentliche Erziehung
Die traditionelle Anlage der Bindungstheorie orientiert sich implizit am Leitbild der leiblichen Mutter. Dies bedingt eine Ausblendung des differenzierten Beziehungsgefüges von Kindern. So vertritt BOWLBY zunächst die Auffassung, „dass der Vater […] von keinerlei Bedeutung für die Entwicklung des Kleinkindes (ist), er kann nur insofern von indirektem Wert sein, als er die finanzielle Absicherung gewährt und oft eine emotionale Stütze für die Mutter ist“ (BOWLBY, zit. nach DRINCK 1999, S.23). Auch der Stellenwert öffentlicher Betreuung im Leben von kleinen Kindern wird nicht hinreichend anerkannt. BOWLBY geht anfangs davon aus, dass das Kind in den ersten Lebensjahren dazu neige, nur eine tiefe emotionale Bindung zu entwickeln (‚Monotropieprinzip‘). Wie kultur- und wissenschaftshistorische Rekonstruktionen belegen, werden mütterliche Verhaltensattribute zwar nicht zwingend nur der biologischen Mutter zugeschrieben. Diese gilt jedoch immer als Ur- und Vorbild. In der Geschichte der Fürsorge und Jugendwohlfahrt legen Begriffe wie ‚Ersatzmutter‘ oder ‚geistige Mütterlichkeit‘ hiervon Zeugnis ab. Insgesamt erwartet man in den Anfangsjahren der Bindungstheorie eher von der leiblichen Mutter als von anderen Personen, dass sie sich feinfühlig und hingebungsvoll an die Bedürfnisse des Kindes anpassen kann (vgl. RITTELMEYER 2005, S.51; SCHÜTZE 1991). Beispielhaft deutlich wird dies in einem Gutachten zur Rolle primärer Bezugspersonen, das BOWLBY im Jahre 1951 im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellt. Darin entwickelt er die These, dass sich Muttererwerbstätigkeit und Fremdbetreuung negativ auf Kinder auswirken, da die konstante Verfügbarkeit der Mutter als Sicherheitsbasis notwendig sei für den Aufbau und die Aufrechterhaltung einer sicheren Bindung (vgl. BOWLBY 1952). Obgleich BOWLBY diese Annahme später relativiert, auf die Phase der ‚Kleinstkindheit’ begrenzt und die Auswirkungen der Fremdbetreuung von der Feinfühligkeit des Betreuungspersonals abhängig macht, bleibt ein langer Nachhall. Insbesondere die deutsche bindungstheoretische Fachdiskussion der 1950er bis 1960er Jahre ist durch massive Vorbehalte gegenüber der öffentlichen Kleinkinderziehung gekennzeichnet, die sich z.B. in der verzerrten Interpretation der Hospitalismus-Studien von RENÉ SPITZ offenbaren. SPITZ untersucht das Verhalten von Kleinkindern im Alter zwischen sechs bis acht Monaten, die aufgrund unausweichlicher äußerer Zwänge über einen Zeitraum von mehreren Monaten
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von ihren Müttern getrennt in Säuglingsheimen untergebracht werden mussten. Bei diesen Kindern stellt er anfangs ein ‚weinerliches Verhalten’ fest, das in Kontaktverweigerung, Abwendung von der Umwelt und Apathie übergeht. Im späteren Verlauf beschreibt er eindeutige kognitive, emotionale und somatische Entwicklungsrückstände. Dieser problematische Entwicklungsverlauf wird mit der anregungsarmen klinischen Umwelt (Reizdeprivation) und mit der Trennung von der Mutter erklärt (Mutterdeprivation). Mit Bezug auf diese Forschungen zur Mutterdeprivation kritisieren Pädiater und Psychologen in den darauf folgenden Jahren Muttererwerbstätigkeit und Fremdbetreuung, ohne zu berücksichtigen, dass eine stundenweise Betreuung nicht mit der Situation in einem sogenannten ‚Findelheim’ damaliger Prägung vergleichbar ist. Die uneingeschränkte Beziehung zwischen der leiblichen Mutter und ihrem Kind gilt ihnen als primäre Voraussetzung für eine gesunde kindliche Entwicklung (vgl. PATERAK 1998). Im Zuge der Individualisierung junger Mütter und durch den Bedarf an (weiblichen) Arbeitskräften steigt in den 1970er Jahren das Interesse an differenzierten Forschungen zu den Auswirkungen von Fremdbetreuung, die bisherige, aus der klassischen Bindungstheorie abgeleitete Vorbehalte kritisch auf den Prüfstand stellen sollen. Nach HEIKE PATERAK ist eine „Verabsolutierung der Mütter im Sozialisationsprozess“ nicht länger aufrechtzuerhalten. Die Forschungen jener Jahre relativen die zeitliche Abwesenheit der Mutter als nur eine von vielen Variablen, die den Entwicklungsprozess von Kindern beeinflussen. Forschungen zur Kinderbetreuung durch Tagesmütter verweisen zudem erstmals auf den Einfluss der Qualifikationsmerkmale von Betreuungspersonen. Eine gute pädagogische Qualität der Betreuung lässt sogar Chancen für Jungen und Mädchen aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien erkennen, da herkunftsbedingte Entwicklungsrückstände und Verhaltensprobleme partiell kompensiert werden konnten (ebd., S.193). Auch die groß angelegte und viel zitierte „Study of Early Child Care“, die in den 1990er Jahren vom US-National Institute of Child Health und Human Development (NICHD) durchgeführt wird, konnte bei 15 Monate alten Kindern keinen Zusammenhang zwischen Müttererwerbstätigkeit, Fremdbetreuung und der Qualität der Mutter-Kind-Bindung feststellen. Kinder, die ausschließlich von ihren Müttern betreut wurden, unterschieden sich in ihren Bindungsmustern nicht signifikant von Kindern, die teilweise oder ganztags unter der Obhut anderer Personen standen. Demnach ist nicht nur die Länge der gemeinsam verbrachten Zeit ausschlaggebend für die Qualität und Art der Bindung, sondern vor allem die Zuwendung und Feinfühligkeit der Bezugspersonen. Daraus folgt, dass sich bei Tagesbetreuung die „Wahrscheinlichkeit einer unsicheren Bindung nicht erhöht, wenn diese nicht bereits zuvor durch eine wenig sensible Mutter-KindInteraktion erhöht war“ (DATLER u.a. 2002). In der ebenfalls renommierten und
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viel zitierten Michigan-Studie „Mothers at work: Effects on Children’s WellBeing“ korrelierten Muttererwerbstätigkeit und Fremdbetreuung mit positiven kognitiven Entwicklungen der Kinder: „Töchter von berufstätigen Müttern zeigen bessere Leistungen in der Schule, haben mehr Erfolg in ihrer späteren Berufskarriere, entscheiden sich häufiger für unübliche Berufslaufbahnen“ (HOFFMANN 2002, S.82). Vergleichbare positive Ergebnisse wurden auch für Jungen nachgewiesen. Zusammenfassend kann festgestellt werden: „Trotz der weit verbreiteten Bedenken über die Folgen der Berufstätigkeit der Mutter für die Kinder fand die Forschung in den vergangenen 50 Jahren mehr positive als negative Folgen der Erwerbstätigkeit“ (ebd.). Diese Befundlage relativiert die Exklusivität der Mutterrolle und führt zu einem zunehmenden wissenschaftlichen Interesse an der gesamten Beziehungskonstellation von Kindern. Anthropologische Grundlagenforschungen in archaischen Kulturen konnten keine Urform der Kinderbetreuung feststellen. Stattdessen fand man von Gemeinschaft zu Gemeinschaft unterschiedliche Betreuungspraxen. Aufgrund ihrer intuitiven Fürsorge nahm die leibliche Mutter in den untersuchten Betreuungspraxen durchweg eine zentrale, keinesfalls aber immer exklusive Rolle ein. Aufgefunden wurden auch dem traditionell europäischmodernen Modell entgegengesetzte multiple Betreuungssysteme, die sich aus verschiedenen Personen bilden können. Im Kontext dieser Forschungen wird die These diskutiert, dass ein flexibler Umgang mit dem Betreuungsproblem in den unterschiedlichen menschlichen Gesellschaften eine zentrale Voraussetzung für die kulturelle Evolution im Sinne der Schaffung neuer Lebensräume und Lebensbedingungen ist (vgl. AHNERT 2010; HRYDY 2000). Beobachtet wurde – komplementär zur Offenheit und Variabilität der Betreuungssysteme – die Neigung des kleinen Kindes, Bindungsbeziehungen zu mehreren Personen einzugehen, unabhängig davon, ob ein biologisches Elternschaftsverhältnis besteht oder nicht. Offene Betreuungssysteme korrespondieren mit dieser Möglichkeit des Kindes, dauerhafte emotionale Beziehungen zu mehreren Bezugspersonen auszubilden. Die Bindungsbeziehungen, die Kinder in den ersten Lebensjahren eingehen, sind hierarchisch gegliedert. An oberster Position steht die sogenannte primäre Bindungsperson. Zentrale Faktoren für die Stellung einer Bezugsperson in der Bindungshierarchie sind die Zeit, die sie mit dem Kind verbringt, die Qualität ihrer Zuwendung, ihr emotionales Engagement und ihre Verfügbarkeit (vgl. FONAGY 2009, S.16f.). Mit Blick auf das Beziehungsgefüge des Kindes richten sich aktuelle Forschungsperspektiven auch auf die Vater-Kind-Bindung im westlichen Kulturraum. Damit wird der Veränderung der Vaterrolle in den vergangenen Jahrzehnten Rechnung getragen. Diese ist geprägt durch einen Wandel weg von einem autoritären, an den Funktionen des Zeugens, Beschützens und Ernährens ausge-
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richteten Rollenverständnis hin zu einer aktiven Beteiligung an der Pflege, Betreuung und Erziehung der Kinder (vgl. WERNECK 1998). Die Vaterforschung weitet den Blick von der Mutter-Kind-Dyade zum triadischen Verhältnis von Vater, Mutter und Kind. Erforscht werden die besonderen Spezifika des väterlichen bzw. männlichen Fürsorgeverhaltens. Wie z.B. die Bielefelder Studien von GROSSMANN und GROSSMANN zeigen, ist die Fürsorgetätigkeit der untersuchten Väter vor allem durch die intensive Stimulierung und Herausforderung der Kinder beim gemeinsamen Spielen, Erkunden und Problemlösen gekennzeichnet (‚Spielfeinfühligkeit‘). Die Qualität der väterlichen Zuwendung wird im Wechselspiel von aktivem Herausfordern und vertrauensvollem Gewährenlassen gesehen. Dadurch werden Entwicklungsfortschritte des Kindes in Richtung selbstständiger Problemlösung evoziert und unterstützt (vgl. GROSSMANN u.a. 2002; AHNERT 2010, S.86). Das System der Bezugspersonen von Kindern erweitert sich im geteilten Betreuungsfeld. Krippen und Kindergärten sind heute grundlegende und selbstverständliche frühkindliche Sozialisationsinstanzen, denen juristisch nicht nur ein Erziehungs- und Betreuungs-, sondern auch ein Bildungsauftrag zukommt. Es ist davon auszugehen, dass die lebensgeschichtliche und alltägliche Verweildauer in diesen Einrichtungen weiter zunehmen wird, da „die Gesellschaft der Moderne … dabei (ist), … die Organisation des Auf- und Hineinwachsens in die Gesellschaft … der Tendenz nach fundamental umzustellen: von privat auf öffentlich, von naturwüchsig auf geplant“ (RAUSCHENBACH 1998, S.17). Vor diesem Hintergrund steigt das Interesse an der Frage, ob das Bindungskonzept auch auf die Beschreibung und Analyse von Beziehungen in der öffentlichen Kindertagesbetreuung übertragen werden kann. Diskutiert wird diese Frage im Spannungsfeld von Anthropologie und Kultur. Im Mittelpunkt steht das Problem, ob bindungsähnliche Beziehungseigenschaften auch aufgebaut werden können, wenn diese Prozesse nicht biologisch-hormonell z.B. durch das mütterliche Fürsorgesystem gestützt sind. Inzwischen liegt eine hohe Forschungsevidenz vor, dass auch Beziehungen zu Tagesmüttern, Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen bindungsspezifische Eigenschaften aufweisen können: „Stabil betreuende Erzieherinnen scheinen tatsächlich eine sicherheitsgebende Funktion erfüllen zu können und zu Bindungspersonen zu werden, deren Nähe vom Kind auch eingefordert wird. Es kann deshalb keinen Zweifel geben, dass das Bindungskonzept auch auf Erzieherinnen angewendet werden kann und dass die Beziehungen, die sie mit den Kindern eingehen, als Bindungsbeziehungen zu werten sind“ (vgl. AHNERT 2007, S.32). Nach LIESELOTTE AHNERT bestehen strukturelle Unterschiede im Aufbau und in der Aufrechterhaltung von Bindungsbeziehungen im familialen und öffentlichen Betreuungssetting. Während die Eltern ihrem Kind häufig ungeteilte
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Aufmerksamkeit schenken, fällt es der Erzieherin zu, sowohl für die Gesamtgruppe Beziehungssystem zu gestalten als auch individuelle Beziehungen zu entwickeln. AHNERT zufolge ist inzwischen empirisch gut fundiert belegt, dass für den Bindungsaufbau in Krippe und Kindergarten nicht nur ein familienähnliches, kindzentriertes Erziehungsverhalten entscheidend ist, sondern auch und vor allem ein empathisches, gruppenbezogenes Handeln der Erzieherinnen. Variablen wie das Temperament und Geschlecht des Kindes oder Persönlichkeitseigenschaften der Erzieherin beeinflussen diesen Prozess, und erst im Zusammenspiel von individueller Zuwendung und empathischer Ausrichtung auf das gesamte Gruppengeschehen entwickelt sich für die Kinder ein Gefühl von Sicherheit. Es besteht jedoch weiterer Forschungsbedarf, um diese Dialektik von Gruppenregulierung und individueller Zuwendung als professionelle frühpädagogische Handlungsanforderung näher zu verstehen (vgl. AHNERT 2007; 2008). In empirisch fundierten und validierten Eingewöhnungskonzepten wird zudem die Notwendigkeit der Relationierung der verschiedenen Bindungsbeziehungen des Kindes hervorgehoben. Die leiblichen Eltern, die Pflege- oder Adoptiveltern sind in der Regel die Hauptbindungspersonen. Zu ihnen baut das Kind im ersten Lebensjahr idealerweise eine entwicklungsförderliche Bindung auf, die den Boden für weitere Beziehungen zu sekundären Bezugspersonen bildet. Der Aufbau einer Bindungsbeziehung zu jeder weiteren Person wie etwa der Krippenerzieherin setzt ein intensives, feinfühlig gestaltetes und stabiles Pflegeverhalten voraus. In der Eingewöhnung gilt diese neue Bindung erst dann als stabil, wenn sich das Kind in Gegenwart der Hauptbindungsperson von der Erzieherin u.a. füttern, wickeln, schlafenlegen und trösten lässt. Hinsichtlich der institutionellen Rahmenbedingungen hängt die Qualität der Betreuung von einem möglichsten geringen Schlüssel ab, der nach internationalen Maßstäben zwei bis drei Kleinkinder pro Erzieherin nicht überschreiten soll. Auch Kindergartenerzieherinnen gelten als sekundäre Bindungsfiguren. Voraussetzung für den Bindungsaufbau ist auch hier eine gelingende Eingewöhnung sowie eine konstante emotionale Verfügbarkeit und Feinfühligkeit. Strukturell wird dies durch einen Betreuungsschlüssel von maximal sechs bis acht Kindern pro Erzieherin gestützt (vgl. BRISCH 2010, S.131ff.). Neben der emotionalen Pflege wird die Bedeutung der Erzieherin-KindBindung vor allem in der Stimulierung und Herausforderung kindlicher Spielaktivitäten und Bildungsprozesse gesehen. Dies entspricht in etwa den gewährenden und herausfordernden Kompetenzen des Fürsorgeverhaltens, die in der Vaterforschung sichtbar wurden. Hieran anschließend, aber zugleich auf die Differenz von privater und öffentlicher Erziehung rekurrierend, wird professionspolitisch gefordert, dass in Erzieherinnen-Kind-Bindungen stärker noch als in familialen Bindungen die Aufforderung zu und die Begleitung von Bildungsprozes-
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sen als Ausgangspunkt der pädagogischen Beziehungsgestaltung gewählt werden sollte. Diese Beziehungsqualität entspricht dem Bildungsauftrag der Elementarpädagogik und dem professionellen Selbstverständnis von Erzieherinnen als Anregerinnen und Begleiterinnen von Selbstbildungsprozessen (vgl. AHNERT 2007, S.31ff; DIES 2010, S.246ff.). Eine gelingende Integration der verschiedenen frühkindlichen Lebenskontexte Familie, Krippe und Kindergarten ermöglicht Kindern vielfältige Erfahrungen. Auf dem Hintergrund eines breiten Bindungsnetzes können Kindern „sowohl emotional als auch in ihren kognitiven Fähigkeiten gefördert werden … und eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und -reifung durchlaufen bis zum Erwachsenenalter“ (BRISCH 2010, S.144).
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Bindung als Struktur psychischer und explorativer Sicherheit – Grundzüge des Bindungskonzepts und ihre Bedeutung für familiale und öffentliche Erziehung
Die Grundthesen der Bindungsforschung zum Zusammenhang von psychischer und explorativer Sicherheit, die im Folgenden vorgestellt werden, beanspruchen in ihrer Allgemeinheit sowohl für die familiale als auch für die öffentliche Erziehung Gültigkeit. Ursprünglich im familialen setting erforscht – inzwischen auch im öffentlichen Betreuungskontext bestätigt – gehört das Zusammenspiel von Bindung und Exploration zum Grundbestand bindungspsychologischer Theoriebildung, der zunehmend in die Aus- und Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte Einzug hält (vgl. z.B. DRIESCHNER 2011). 3.1 Bindung und Fürsorge als komplementäre Verhaltenssysteme Im Anschluss an BOWLBY wird Bindung als eine asymmetrische Beziehung zwischen zwei Individuen verstanden, bei der die eine Person eine große emotionale Bedeutung für die andere hat und deshalb nicht substituiert werden kann. Das bekannte deutsche Forscherehepaar KARIN und KLAUS E. GROSSMANN definiert den Begriff als „imaginäres Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S.71). Bindung wird als Verhaltenssystem eigener Art beschrieben und leitet sich nach diesem Begriffsverständnis nicht aus anderen Trieben wie dem Nahrungsbedürfnis oder dem Sexualtrieb ab. Die Eigenständigkeit dieses Verhaltenssystems zeigt sich z.B. darin, dass Füttern bzw. das Gefüttertwerden in keinem Kausalzusammenhang mit Bindung steht. Ein weiterer Hinweis ist die Tatsache, dass
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ein Kind auch zu einer misshandelnden Bezugsperson eine Bindung aufbauen kann (vgl. FONAGY 2009, S.14). Bindung richtet sich also weder auf die Mutter als libidinöses Objekt noch auf Triebbefriedigung; ihr Ziel ist vielmehr der Gefühlszustand der psychischen Sicherheit, der durch die Nähe entsteht. Für BOWBLY wird Sicherheit wesentlich durch emotionale Zuwendung gewährleistet; einige neuere Autoren trennen dagegen zwischen Sicherheit und Zuwendung als eigenständige Funktionen von Bindung, weil Sicherheit prinzipiell auch ohne zwischenmenschliche Wärme gewährleistet werden könne (vgl. MACDONALD 1992). Werden sowohl Bindungsbedürfnisse nach Sicherheit und Zuwendung als auch körperliche Grundbedürfnisse nach Wärme, Sauberkeit und Schlaf von einer Bezugsperson befriedigt, erlebt ein Kind das Gefühl von Geborgenheit (vgl. LARGO 2006, S.102). Das Verhaltenssystem Bindung bildet sich evolutionär bei höher entwickelten Tierarten aus, primär bei Vögeln und Säugetieren. Die Evolution erfolgt in Anpassung an die Lebensbedingungen unterschiedlicher Arten. So wird z.B. bei Herden- bzw. Fluchttieren eine sofortige Bindung des Jungtiers an die Mutter beobachtet, damit es nicht verlorengeht. Im Vergleich zu allen anderen Säugetierarten wird der menschliche Säugling zu einem außerordentlich frühen Entwicklungszeitpunkt geboren. Biologisch-anthropologisch wird er daher im Anschluss an ADOLF PORTMANN auch als ‚extrauterine Frühgeburt‘ und das erste Lebensjahr als die ‚Zeit des sozialen Uterus‘ bezeichnet. Basale Körper- und Verhaltensfunktionen sind bei der Geburt noch nicht ausgebildet, sondern entwickeln sich bis zur vollständigen lebenserhaltenden Funktionsfähigkeit erst in einem langfristigen und komplexen Prozess von Reifung und aktiver Erfahrungsbildung. Daher umfasst die über Bindung hergestellte Nähe zu Bezugspersonen einen relativ langen Zeitraum. Der Bindungsaufbau beim Kind ist insofern nicht auf zeitlich fixierte sensible Prägungsphasen begrenzt, sondern vollzieht sich vermittelt über vielfältige Interaktionen mit denjenigen Personen, die seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse kontinuierlich und verlässlich befriedigen (vgl. LARGO 2006, S.128). Bindungen stellen nicht nur emotionale, sondern auch soziale und kulturelle Bezüge sicher, die ein Menschenkind in seiner Entwicklung benötigt, um seine Anlangen und Potenziale verwirklichen zu können. Wenn (gelingende) Bindungsbeziehungen somit eine gesunde Entwicklung in sozialer, emotionaler und kognitiver Hinsicht gewährleisten, dann ist Vernachlässigung, das Gegenteil von Bindung, ein „System menschlichen Verschleißes“ bzw. die Verschüttung einer „großen anthropologischen Möglichkeit“ zu starken und affektiv verankerten Sorgebeziehungen zwischen Individuen (GROSSMANN 2004, S.24; HASSENSTEIN 1977, S.56). Ein Mangel an Geborgenheit und Zuwendung führt zu kognitiven, emotionalen wie auch physischen Schäden. Fälle von Kindesmisshandlung, in
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denen Kinder in Verließen eingekerkert vegetieren, führen dies in dramatischer Weise vor Augen. Auch die Einzelschicksale sogenannter ‚wilder Kinder’, die ohne menschlichen Kontakt von Tieren ‚adoptiert‘ aufgewachsen sind, zeigen, dass Menschsein eine Anlage ist, die sich nur im Rahmen menschlicher Kultur und menschlicher Bindungen entfaltet. Insofern gehört beim Menschen das Streben nach Bindung und komplementär dazu nach einer im Rahmen von Bindungen erwachsenen Autonomie zur genetischen Ausstattung. Bindung und Autonomie sind aber nur Potenziale (Möglichkeiten), also nicht nur grundlegende Bedürfnisse, sondern zugleich Entwicklungsaufgaben (vgl. LIEGLE 2006, S.40). Mit der Betonung des evolutionär bzw. genetisch vorprogrammierten Bindungsverhaltens von Kindern grenzt sich die Bindungsforschung von der älteren, auf EMIL DURKHEIM zurückgehenden sozialisationstheoretischen Vorstellung ab, das Neugeborene sei eine Art ‚sozialer Tabula Rasa’ und erlange erst über Sozialisations- und Enkulturationsprozesse Sozialfähigkeit und Sittlichkeit. Dagegen wird Bindungsverhalten als „soziale Vorangepasstheit“ bereits des Säuglings verstanden, die den Ausgangspunkt für Sozialisation bildet (HOPF 2005, S.27f.). In der Bindungstheorie wird das Bindungssystem auch in einen Zusammenhang mit weiteren Verhaltenssystemen gestellt, so geht man von einer Interdependenz mit dem Furchtsystem aus. Furcht aktiviert Bindungsverhalten, wobei die Nähe zur Fürsorgeperson die Furchtreaktion z.B. in unbekannten Situationen abschwächt. Charakteristika von Bindungsbeziehungen sind demzufolge die Aktivierung von Bindungsverhaltensweisen wie z.B. Weinen, Rufen, Anklammern, Nachfolgen bei Angst und Protest beim Verlassenwerden (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S.70). Das Kind sucht die Nähe zur Bindungsperson aber nicht nur bei Aktivierung des Furchtsystems, sondern auch wenn es gut gestimmt ist. Dies führt man auf ein sogenanntes Sozial- und Affektverhaltenssystem zurück. Das Kind bedient sich seiner bereits früh entwickelten sozialen Kompetenzen, um die Nähe zu Bezugspersonen herzustellen. Dazu zählt die zunehmend bewusst eingesetzte Fähigkeit, selbst Interaktionen zu initiieren, dabei Kommunikationstechniken wie Blickkontakt und Lächeln anzuwenden und Bedürfnisse zu signalisieren. Auch die früh entwickelte Vorliebe des Kindes für die menschliche, insbesondere die mütterliche Stimme, die Präferenz für Gesichter, die Fähigkeit, in Mimik und Gestik Gefühlsausdrücke und speziell die Zuwendungsund Betreuungsbereitschaft der erwachsenen Bezugspersonen zu erkennen, leisten einen Beitrag zur Entwicklung und Erhaltung von Bindungen mit Fürsorgepersonen. Die in der heutigen Diskussion über frühkindliche Entwicklung häufig einseitig hervorgehobene Kompetenz von Säuglingen und Kleinkindern – man denke an Buchtitel wie ‚Der kompetente Säugling‘ (DORNES 1993) und ‚Forschergeist in Windeln‘ (GOPNIK u.a. 2006) – sollte daher auf ihre existenzielle Abhängigkeit von Bezugspersonen rekurrieren, wie bereits BOWLBY grundlegend
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hervorhob. Anderenfalls würden Kompetenzen getrennt von ihren psychischen Grundlagen thematisiert (vgl. AHNERT 2010, S.110; DRIESCHNER 2007a; METZGER 1999; AHRBECK 2004). Als komplementäres System wird auf Seiten der Bezugspersonen ein fürsorgliches Verhaltenssystem angenommen. Dieses „arbeitet theoretisch wechselseitig mit dem Bindungssystem des Kindes zusammen“ (FONAGY 2009, S.16). Im Vergleich zur Bindungsbereitschaft des Kindes, die als bedingungslos beschrieben wird, wird in der neueren Forschung kontrovers über die Frage der Stabilität des fürsorglichen Verhaltenssystems diskutiert. Unterschiedlich gedeutet wird dabei die angeborene Sozialkompetenz von Menschenbabys vor dem Hintergrund des natürlichen Selektionsdrucks, der phylogenetisch auf ihnen laste. Einerseits kann aus der universellen Bindungsbereitschaft des Kindes und der gegenseitigen Anpassung der Verhaltenssysteme von Kind und Bezugspersonen auf eine tendenzielle Umweltstabilität insbesondere der mütterlichen Zuwendung geschlossen werden. Ist dieser Schluss zutreffend, waren „im Laufe der Evolution misshandelnde und vernachlässigende Mütter wohl immer die Ausnahme gewesen“ (SCHLEIDT 1999, S.693). Andererseits kann das Verhältnis zwischen der mütterlichen Bezugsperson und dem Kind auch als weitaus spannungsreicher beschrieben werden. Diese neuere „Post-Bowlbysche-Denkweise“ deckt auch Interessenkonflikte in der Mutter-Kind-Beziehung auf. Beispielsweise können Ziele aus anderen Lebensbereichen mit der Bedürfnisbefriedigung eines Säuglings konkurrieren. In diesem Zusammenhang wird argumentiert, dass Mütter menschheitsgeschichtlich beim Aufziehen von Kindern Ressourcen und Risiken mit Blick auf die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Kindes abgewogen haben. Aus dieser Perspektive setzten Babys ihre soziale Interaktionskompetenz dazu ein, der Mutter und anderen Bezugspersonen zu gefallen. Säuglinge sind für SARAH HRDY daher vor allem „Mütterexperten“. Sie evozieren durch ihr niedliches Aussehen (Kindchen-Schema) und ihre Interaktionen Zuwendung, Unterstützung, Schutz und Anregung, weshalb menschheitsgeschichtlich von einer Umweltvariabilität der mütterlichen Zuwendung auszugehen sei (HRDY 2002, S.446). Aufgrund dieses phylogenetischen Erbes lösen auch heute noch z.B. früh geborene, nicht ohne medizinisch-apparative Hilfe lebensfähige Kinder das mütterliche Fürsorgesystem in weniger verlässlicher Weise aus als voll ausgetragene Kinder. In der Vermittlung der verschiedenen Forschungsmeinungen lässt sich sagen, dass offenbar eine humangenetische Prädisposition besteht, Kinder zu pflegen, für ihr Wohlbefinden zu sorgen, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und ihre soziale, emotionale und kognitive Entwicklung zu begleiten. Begriffe wie „intuitive parenting“ (PAPOUŠEK/PAPOUŠEK 1987) oder die „intuitive Elternvernunft“ (TSCHÖPE-SCHEFFLER 2003) beschreiben diese zwar genetisch grundge-
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legte, sich aber erst in komplexen Interaktionsprozessen mit dem Kind herausbildende und damit auch störanfällige Verhaltensausprägung. Beeinträchtigungen ergeben sich z.B. durch negative Lebensumstände, psychische Erkrankungen und einen unsicheren bzw. gestörten Bindungshintergrund der Bezugsperson. Im Dialog mit dem Kind scheinen Schlüsselreize wie z.B. der Blick- und der Körperkontakt entscheidend für die – über das Hormon Oxytocin vermittelte – Aktivierung des Fürsorgeverhaltens zu sein, das in einem reziproken Prozess wiederum zur Aufrechterhaltung des Dialogs beiträgt. Im Idealfall fungieren somit Bindung und Fürsorge als ein sich selbst aufrechterhaltendes System. 3.2 Bindungsqualitäten und Bindungsmodelle Die Bindungsbereitschaft des Kindes ist umweltstabil, die jeweilige Ausgestaltung der Bindung erwächst aber erst in Interaktionen mit den primären Bezugspersonen. Die forschungsleitende Grundannahme BOWLBYs ist, „dass Unterschiede in der Art und Weise, wie sich solche Bindungen entwickeln, … im wesentlichen bestimmen, ob eine Person psychisch gesund aufwächst oder nicht“ (BOWLBY 1995, S.20). In der für die weitere Forschung richtungweisenden Baltimore-Studie unterscheidet AINSWORTH zwischen verschiedenen Mustern bzw. Qualitäten der Bindung (‚patterns of attachment’): der ‚sicheren Bindung’, der ‚unsicher-vermeidenden Bindung’ und der ‚unsicher-ambivalenten Bindung’ (AINSWORTH 1964/2003); diese Einteilung wird von später von MARY MAIN um den Typ der unsicher-desorganisierten Bindung erweitert (MAIN 1995). AINSWORTH geht davon aus, dass das Ausmaß, in dem die Bezugsperson als Sicherheitsbasis wahrgenommen wird, für die Entwicklung der Bindungsqualität entscheidend ist. Das Erkennen der Bindungsqualität setzt die Aktivierung des Bindungssystems voraus. Das bekannteste und inzwischen weltweit replizierte experimentelle Untersuchungsdesign, in dem die vier verschiedenen Bindungsmuster festgestellt werden können, ist die sogenannte ‚Fremde Situation‘. In diesem 20-minütigen Experiment befindet sich ein zwölf Monate altes Kind gemeinsam mit seiner Mütter in einem interessanten, mit Spielzeug ausgestatteten Raum. Dieser ist unvertraut und damit aus der Sicht des Kindes potenziell mit Gefahren verbunden. Diese Raumstrukturierung ruft ebenso Neugierde wie das Bedürfnis nach Sicherheit hervor; die beiden komplementären Verhaltenssysteme Bindung und Exploration werden also abwechselnd stimuliert. Im Verlauf des Experiments wird die Unsicherheit in verschiedenen Episoden erhöht: Das Kind wird zwei dreiminütigen Trennungen von der Mutter ausgesetzt und mit einer hinzutretenden fremden Person konfrontiert. Seine unterschiedlichen Reaktionen auf diese Belastungen werden analysiert, um die Bindungsqualitäten zu bestimmen.
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Ein als sicher gebunden klassifiziertes Kind ist in der Fremden Situation in der Lage, seine Mutter als Sicherheitsbasis für seine Explorationen zu nutzen. Ein typisches Verhalten ist die interessierte Erkundung der neuen Umgebung mit Rückversicherungen über die Anwesenheit der Mutter. Das Kind ist bekümmert und protestiert, wenn die Mutter den Raum verlässt. Es begrüßt sie bei ihrer Wiederkehr freudig, lässt sich trösten und beruhigen, um sodann sein Spiel fortzusetzen. Schutz und Trost wird bei der fremden Person nicht gesucht, als Spielpartner wird sie jedoch akzeptiert. Ein unsicher-vermeidend gebundenes Kind zeigt indes in seinem Verhalten keinen Kummer, wenn die Mutter den Raum verlässt. Die äußerliche Gelassenheit ist jedoch kein Indiz für frühe Selbstständigkeit, denn physiologisch lässt sich mit der Ausschüttung von Cortisol und der dadurch ausgelösten erhöhten Herzfrequenz ein hoher Stresspegel nachweisen. Die Rückkehr der Mütter löst nur schwache Reaktionen aus. Das Kind erweckt einen resignativen und emotional zurückgezogenen Eindruck. Dieses Verhalten wurde seit den 1960er Jahren unterschiedlich interpretiert. Heute wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass es sich um keine Pathologie handelt, sondern um eine Bewältigung von abweisendem, aufdringlichem oder stark kontrollierendem Elternverhalten. Um die Beziehung zu seinen tendenziell abweisenden Eltern nicht zu gefährden, verbirgt ein Kind seine negativen Emotionen. Charakteristisch für ein unsicher-ambivalent gebundenes Kind sind sein geringer Hang zum Explorieren und seine massive Verunsicherung, wenn die Mutter den Raum verlässt. Bei Trennung und Wiederkehr mischen sich ausgeprägte Bindungsverhaltensweisen und aggressiv-abwendendes Verhalten. Dieses Bindungsmuster wird mit inkonsistentem Elternverhalten erklärt. Desorganisierte Kinder lassen kein einheitliches Verhalten in der Fremden Situation erkennen. Die Mutter scheint den Kindern nicht das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Sie löst vielmehr Angst aus, was auf Deprivation, Misshandlung und traumatische Erfahrungen schließen lässt (vgl. AHNERT 2010, S.50ff.; HOPF 2005, S.48ff.; GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S. 81ff.). Entgegen eines verbreiteten Missverständnisses verweist die Qualität einer Bindung nicht auf ihre Stärke. Ein Kind bindet sich bedingungslos an die Personen, die es versorgen. Die Qualität der interaktiv hergestellten Bindung hat aber einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl sowie das Selbst- und Weltverhältnis des Kindes und damit auch auf seine weitere soziale, emotionale und kognitive Entwicklung (vgl. LARGO 2006, S.128). In zahlreichen Studien erhärtete sich die These AINSWORTHs, dass die Feinfühligkeit (‚Sensitivität’) der Bezugsperson die Schlüsselvariable für Bindungssicherheit ist (zum Forschungsüberblick vgl. AHNERT 2008; GROSSMANN/GROSSMANN 2005). Indikatoren von Feinfühligkeit sind die Aufmerksamkeit gegenüber
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dem Kind, die Wahrnehmung und empathische Deutung seiner Gefühlslagen und signalisierten Bedürfnisse sowie die Bereitschaft zu adäquaten Reaktionen. Feinfühligkeit setzt Empathiefähigkeit voraus. Die Bezugsperson fühlt sich in die Perspektive des Kindes ein, um angemessen fürsorglich handeln zu können. Dies geschieht auf einem Kontinuum zwischen Intuition und Reflexion. So empfindet beispielsweise eine feinfühlige Bezugsperson intuitiv die Notwendigkeit, den Kontaktruf des Säuglings (beim Aufwachen) zu beantworten (‚Ja, ich komme’, ‚Ich bin da’), woraufhin der nun beruhigte Säugling diesen Laut nicht abermalig hervorbringt (HASSENSTEIN 1977, S.60). Ist nicht gleich zu erkennen, warum ein Baby schreit, muss die Bezugsperson zunächst erschließen, was der Anlass ist, um es dann zu beruhigen. Die Beispiele machen deutlich, dass das Verhalten und Erleben des kleinen Kindes Responsivität und externe Regulierung verlangt. Je älter ein Kind wird, desto stärker müssen auch seine Autonomiebestrebungen berücksichtigt werden. Feinfühliges Verhalten passt sich also dem Entwicklungsprozess des Kindes an. In der Forschung wurden empirisch abgesicherte Feinfühligkeitsskalen erstellt, die Ausprägungsgrade und zugeordnete Kennzeichen feinfühligen Verhaltens unterschieden. Insgesamt scheinen für den Aufbau sicherer Bindungen eine ‚hinreichende Feinfühligkeit‘ bzw. eine ‚hinreichend gute Bezugspersonen‘ auszureichen. Dieser Befund macht deutlich, dass der menschliche Beziehungsalltag immer auch fehlerhaft und konfliktträchtig ist und dass gelegentliche Missverständnisse bzw. unangemessene Reaktionen nicht ausbleiben. Der Aufbau von sicheren Bindungen wird hierdurch nicht beeinträchtigt, wenn auf Seiten der Bezugspersonen die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion, zum Eingestehen von Fehlern und zur Selbstentwicklung besteht (vgl. SUESS/BURATHIEMER 2009, S.76). Feinfühligkeit gilt zwar als Schlüsselvariable für den Aufbau sicherer Bindungen, sie ist jedoch mit anderen Einflussfaktoren zu relationieren. Allgemein wird dabei zwischen sozialen und psychischen Faktoren unterschieden. Statistisch zeigt sich einerseits eine Korrelation mit der sozio-ökonomischen Situation der Familie: „Mütter, die unter besonders schwierigen ökonomischen und sozialen Bedingungen leben, haben häufiger als andere unsicher gebundene Kinder, was durch ungünstige Betreuungsverhältnisse außerhalb der Familie noch verstärkt werden kann“ (HOPF 2005, S.80). Andererseits finden sich Belege für signifikante Auswirkungen des Bindungshintergrundes der Bezugsperson auf die Qualität ihres feinfühligen Verhaltens. So zeigt eine Metaanalyse zahlreicher Forschungen, dass die verinnerlichten Bindungserfahrungen erwachsener Bezugspersonen nicht nur deren feinfühliges Verhalten steuern, sondern auch zentral die Beständigkeit und Verlässlichkeit der liebevollen Fürsorge beeinflussen (vgl. SUESS/BURAT-HIEMER 2009, S.79).
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Damit ist eine innere Repräsentation von Bindung in sogenannten Bindungsmodellen unterstellt. Diese entwickeln sich nach allgemeiner Forschungsmeinung bereits in frühester Kindheit. BOWLBY verwendet den Begriff des inneren Arbeitsmodells (‚internal working model’), um die kognitive und emotionale Repräsentation von Interaktionserfahrungen mit Bezugspersonen zu bezeichnen. Auf Basis dieser geistig-emotionalen Struktur bildet das Kind Erwartungen, wie andere auf die Bekundung eigener Bedürfnisse z.B. nach Bindung und Exploration reagieren werden. Ein Arbeitsmodell ist ein nicht direkt beobachtbares Konstrukt, das nur aus dem Verhalten, den Äußerungen und Emotionen einer Person erschlossen werden kann. Es bezieht sich in der klassischen Bindungsforschung auf Vertrauen, Sicherheit und Stressregulation, die als höchst bedeutsam für eine gelingende frühkindliche Entwicklung erachtet werden. Ein wünschenswertes inneres Arbeitsmodell vermittelt dasjenige psychische Erleben, das ERIKSON Urvertrauen nennt. Diese ins Unbewusste eingeschriebene Erfahrung der Verlässlichkeit der Bezugspersonen betrachtet er als „Eckstein der gesunden Persönlichkeit“ (ERIKSON 1966, S.63). Analog beschreiben GROSSMANN und GROSSMANN Bindungssicherheit als Gewissheit, dass „die Bindungsperson […] prinzipiell verfügbar (ist) und bereit zu reagieren und zu helfen, wenn es gewünscht wird und – komplementär – man […] selbst eine im Grunde liebenswerte und wertvolle Person (ist), die es verdient, daß man ihr hilft“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S.72). Dagegen spiegelt sich eine unsichere Bindung in einem Arbeitsmodell, bei dem ein Kind nicht mit Resonanz und Unterstützung rechnet und sich als wenig selbstwirksam und liebenswürdig erlebt. Arbeitsmodelle sind also transaktional angelegt, sie betreffen Beziehungen zu anderen Personen, aus denen sich das Verhältnis zum eigenen Selbst herausbildet (Selbstkonzept). In kognitionspsychologisch orientierten Theorieperspektiven wird die These vertreten, dass sich die innere Bindungsrepräsentation auf aktuelle psychische Prozesse wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Erinnern auswirken. Demnach begrenzen z.B. unsicher-vermeidende Bindungsmodelle den Zugang zu bindungsbezogenen Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen, wohingegen andere Bindungsmodelle einen verzerrten oder übertriebenen Zugriff eröffnen. Nach dieser Auffassung ist „der kognitive ebenso wie der emotionale Zugang zu bindungsrelevanten Informationen von der Qualität der früheren Beziehung zwischen Kind und Bindungsfigur abhängig“ (FONAGY 2009, S.22). Darüber hinaus werden Auswirkungen von Bindungsrepräsentationen auf die Entwicklung psychischer Charakteristika festgestellt. So beeinflussen die sich seit frühester Kindheit entwickelnden Bindungsmodelle im Erwachsenenalter die Qualität der Beziehung zu Partnern, Freunden und Kindern. Anscheinend werden Bindungsqualitäten häufig von einer zur nächsten Generation tradiert. So konnte ein enger Zusammenhang zwischen den Bindungsmodellen von Eltern – die über Erwach-
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senen-Bindungsinterviews (‚Adult Attachement Interviews‘; abgekürzt AAI) erhoben werden – und der in der Fremden Situation beobachteten Qualität der Beziehung zu ihren Kindern festgestellt werden. Analog zu den Bindungsmustern in der Kindheit werden bezogen auf das Erwachsenenalter sicher-autonome, unsicher-präokkupierte (verwickelte), unsicher-distanzierte Modelle sowie unverarbeitete Traumata unterschieden. Dazu werden die halb standardisierten AAIs nicht hinsichtlich ihres Inhalts, sondern ihrer Kohärenz ausgewertet. Nach klinischen und therapeutischen Erfahrungen ist das Kohärenzgefühl in der eigenen Biographie ein zentraler Indikator für Bindungssicherheit bzw. eine erfolgreiche Verarbeitung von Kindheitserfahrungen. Kohärenz zeigt sich in der Logik, Nachvollziehbarkeit, Ausgewogenheit und Offenheit der Darstellung von Erfahrungen mit den eigenen Eltern. Als Hinweise für sichere Bindungsmodelle und kohärente Verarbeitungen gelten der Zugang zu positiven wie negativen Kindheitserinnerungen, die realistische Deutung des erinnerten Elternverhaltens, Überlegungen zur eigenen psychischen Entwicklung im sozialen Kontext sowie die Bereitschaft, offen und ehrlich über Stärken und Schwächen im Umgang mit den eigenen Kindern nachzudenken. Unsicher-verwickelte Bindungsmodelle zeigen dagegen darin, dass Erwachsene ihre negativen Erfahrungen mit Bezugspersonen nicht kohärent aufgearbeitet haben. Sie können sich nicht von den zahlreich erinnerten negativen Kindheitserlebnissen distanzieren. Bei Personen mit unsicher-distanziertem Bindungsmodell tritt eine abstrakte Idealisierung der Eltern an die Stelle einer realistischen Erinnerung. Sie werten die Bedeutung von Beziehungen für ihr Leben ab, ebenso wie die Einflüsse früher Erfahrungen auf die Persönlichkeitsentwicklung abgestritten werden. Ein unverarbeitetes Trauma führt dagegen zu absonderlichem Verhalten unterschiedlichster Art, wenn ein Elternteil im Umgang mit seinem Kind an frühe traumatische Erlebnisse wie z.B. Verlust einer Bezugsperson oder Missbrauch erinnert wird. Am Grade der Kohärenz einer biographischen Erzählung lässt sich also erkennen, ob ein differenziert-realistischer oder nur ein verklärter oder abwertender Blick möglich ist. Sichtbar wird mithin, wie ambivalenzfähig und autonom gestaltungsfähig eine Person ist (vgl. SUESS/BURAT-HIEMER 2009, S.90ff.). Die genannten Bindungsmodelle werden jedoch nicht durch Kindheitserfahrungen unabwendbar determiniert. Nicht die Kindheit an sich, sondern die über den Lebenslauf erworbenen Bindungsmodelle beeinflussen die Beziehung der Erwachsenen zu ihren Kindern. So können „neue, emotional sichere Erfahrungen in bindungsrelevanten Interaktionen“ mit Bezugspersonen außerhalb des Elternhauses emotionale Heilungsprozesse“ in Gang setzen (BRISCH 2010, S.127). Im Rahmen solcher emotional relevanten Beziehungen und durch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Introspektion und Selbstentwicklung kann ein problematischer
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Bindungshintergrund bewältigt und in ein sogenanntes verdient-sicheres Bindungsmodell überführt werden. Da mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass unsichere Bindungshintergründe von Eltern und Pädagogen die Gestaltung der Beziehung zum Kind negativ beeinflussen, kann eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Bindungshintergrund als eine zentrale Entwicklungsaufgabe aller erzieherisch tätigen Personen betrachtet werden. Erhärtet wird dies durch Forschungen zu benachbarten professionellen Handlungsfeldern, die hohe Korrelationen zwischen Bindungshintergrund und beruflichem Erfolg bei Psychotherapeuten, Heimerziehern und Pflegeeltern nachweisen konnten (vgl. SUESS/BURAT-HIEMER 2009, S.79ff.) 3.3 Bindung und Exploration als interdependente Verhaltenssysteme Theoretisch begründet und empirisch bestätigt ist der enge entwicklungslogische Zusammenhang von Bindungs- und Explorationsverhalten. Letzteres dient der Erfahrungs- und Wissenserweiterung und zeigt sich in dem Bestreben des Kindes, seine soziale und materielle Umwelt zu erkunden. Beiden Verhaltenssystemen liegen entgegengesetzte Motivationen zugrunde. Dennoch besteht zwischen ihnen eine starke wechselseitige Beeinflussung. Wie in der Fremden Situation paradigmatisch erkennbar ist, führt die Aktivierung des einen Systems zur Deaktivierung des anderen. Wenn die Konfrontation mit neuen Situationen und Herausforderungen Angst hervorruft, erhöht sich das Sicherheitsbedürfnis und Bindungsverhalten setzt ein. Während Sicherheitsbedürfnisse bestehen, ist die Explorationsmotivation gering. Doch nicht nur die Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen, sondern auch die gemeinsame Explorationstätigkeit von Kind und Bezugsperson ist ein zentraler Faktor für die Entstehung von Bindungssicherheit. So geht FONAGY von einer „subtilen Verknüpfung“ des erkundenden Verhaltenssystems und Bindung aus, „wobei die Bindungsfigur die unabdingbare sichere Basis bietet, von der aus das Kind die Welt erkundet. Das Explorationsverhalten bricht abrupt ab, wenn das Kind feststellt, daß die Bezugsperson vorübergehend abwesend ist. Die Abwesenheit der Bindungsfigur verhindert die Exploration. Deshalb kann man davon ausgehen, daß sich eine sichere Bindung vorteilhaft auf eine Reihe kognitiver und sozialer Fähigkeiten auswirkt“ (FONAGY 2009, S.15). FONAGY betont, dass das Explorationssystem erst auf Grundlage von Bindungssicherheit und ihrer kognitiven und emotionalen Repräsentation voll aktiviert werden kann. Danach ist Bindungssicherheit zentral für eine optimale Ausnutzung geistigen Potenzials. Bindung erscheint als Ausgangspunkt von kognitiver Entwicklung, insofern die Bindungsperson als sichere Basis für Selbstbildungsprozesse fungiert (‚sichere Exploration‘). Das Kind muss bildlich gesprochen gewiss sein, in den sicheren Hafen (‚haven of safety’) zurückkehren zu können, wenn es seine soziale und materielle Mit- und Umwelt erkundet:
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„Wenn eine Person gleich welchen Alters sich sicher fühlt, wird sie sich sehr wahrscheinlich erkundend von ihrer Bindungsfigur wegbewegen. Wird sie erschreckt, ängstlich, müde oder fühlt sie sich unwohl, fühlt sie ein starkes Bedürfnis nach Nähe. So sieht das typische Muster von Interaktionen zwischen Eltern und Kindern aus, nämlich die Erkundung von einer sicheren Basis aus“ (BOWLBY 1995, S.21).
Dieses antithetische Beschreibungsmuster wurde vielfach aufgegriffen und avancierte zum Grundaxiom des gesamten Forschungsfeldes. So formuliert z.B. MARGRET SCHLEIDT in enger Anlehnung an BOWLBY: „Um als Kind, aber auch später als Erwachsener unabhängig und neugierig die Welt erobern zu können, braucht man in der frühen Kindheit die Erfahrung, sich in eine Geborgenheit zurückziehen zu können, wenn die ‚Welt draußen’ zu gefährlich wird“ (SCHLEIDT 2001, S.98). Dieser dynamische Zusammenhang von Bindung und Exploration, mithin von Nähe und Distanz, aus dem heraus das Kind zunehmend Selbstständigkeit und Autonomie entwickelt, wird auch „Zirkel der Bindungssicherheit“ genannt. Mit diesem Begriff wird im Sinne BOWLBYs deutlich unterstrichen, „dass das Bindungssystem nicht dazu eingerichtet wurde, dass ein Kind dauerhaft am Rockzipfel der Mutter hängt. Die Bindung soll die Kleinen mit dem nötigen Mut für eine eigenaktive Erkundung ausstatten und unter keinen Umständen der natürlichen Neugier im Weg stehen“ (AHNERT 2010, S.44). Explorations- und damit vermittelt Autonomiefähigkeit kann daher auch als Funktion von Bindungssicherheit beschrieben werden. Das Verhältnis von Bindung und Exploration ist kein statischer Regelkreis. Vielmehr ist es in ein höchst dynamisches, komplexes und interindividuell differentes Interaktionssystem zwischen Kind und Bezugsperson(en) eingebettet, das mit Blick auf die Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes kontinuierlich neu ins Gleichgewicht gebracht werden muss. Dieser Konnex wird in der Literatur auch mit dem Begriff der Bindungs-Explorations-Balance beschrieben (vgl. JUNGMANN//REICHENBACH 2008, S.18). So ist beispielsweise eine rasante Zunahme explorativen Verhaltens im Alter von zwei bis drei Jahren zu konstatieren. Dieses wachsende Bedürfnis nach Handlungswirksamkeit und Selbstständigkeit fordert die Regulierung der Balance von Bindung und Exploration in besonderer Weise heraus. Die nun gehäuft auftretenden eigenständigen Willensbekundungen hängen mit dem Bestreben zusammen, Dinge zunehmend selbstständig zu tun und mithin auch die Grenzen des eigenen Einflusses zu erfahren. Anders als durch ‚Trotz‘ ist dieses Austesten der eigenen Handlungsgrenzen nicht möglich, da das Kind entwicklungsbedingt noch nicht über Fähigkeiten zur rationalen Verhandlung verfügt. Die geforderte Feinfühligkeit der Bezugspersonen ruht hier vor allem in einem autoritativen Erziehungsstil, der einerseits entwicklungsangemessene Verhaltensgrenzen setzt und damit Sicherheit vermittelt
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und andererseits einen geschützten Freiraum für die Umsetzung von Explorationsbedürfnissen, Wünschen und Interessen lässt. Das Kind erfährt dadurch, „dass die Eltern zwar letztlich entscheiden, aber ihm in diesem Rahmen Freiraum zubilligen und seine Selbstständigkeit fördern. Für das Kind sind Eltern, die Grenzen bestimmen können, gleichzeitig auch stark. Von starken Eltern beschützt zu sein, ist etwas sehr Wichtiges gerade auch in der Phase der beginnenden Eroberung der Welt“ (SCHLEIDT 2001, S.103). Nicht nur durch die Beobachtungen in der Fremden Situation (vgl. 3.2), sondern auch durch vielfältige weitere Untersuchungsdesigns u.a. auch im Rahmen von Längsschnittstudien wurden der Nexus von Bindung und Exploration sowie seine Auswirkungen auf die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung bestätigt. Grundlegend verdeutlicht IRENE HERZBERG mit Bezug auf verschiedene empirische Studien, dass die Entwicklung von Akteurskompetenzen von Kindern auf der Bindung zu ihren Bezugspersonen beruht und auf dem „was sie ihren Kindern ermöglichen, zu was sie ihnen raten, was sie unterstützen und was sie gut heißen“ (HERZBERG 2003, S.67). An anderer Stelle führt die Autorin aus, dass ungeachtet der heute in der Kindheitsforschung und in der Erziehungspraxis zu Recht betonten Eigenständigkeit von Kindern nicht zu verkennen ist, „wie stark ihre Tätigkeiten gebunden sind an das, was in ihrem Elternhaus (vor)gelebt wird“ (HERZBERG 2001, S.79). Zwar ist Entwicklung ein selbsttätiger Aufbauprozess von Anfang an, dieser ist jedoch nur in sozialen Zusammenhängen möglich. Das Kind ist somit einerseits Architekt seiner selbst, andererseits „sind Kinder nicht allein aus sich heraus und kraft ihrer genetischen Mitgift eigenständige und kompetente Lebenskonstrukteure. Lieferanten für Bausteine und Mörtel zur Selbstkonstruktion sind vor und neben den Peers, Erwachsene mit ihren Anregungen, Unterstützungen, ihrer gewährten Zuwendung und Verlässlichkeit, ihrer Förderung oder Behinderung der sozialen Eigenständigkeit und Selbstentfaltung des Kindes“ (ebd., S.357). In der bindungspsychologischen Literatur werden zahlreiche Einzelbelege angeführt, um die Bindungsabhängigkeit des Kompetenzerwerbs zu untermauern. So erwies sich z.B. eine sichere, durch feinfühlige und reziproke Interaktionen gekennzeichnete Mutter-Kind-Bindung bereits am Ende des ersten Lebensjahres als förderlich, insofern sich bei den Kindern differenziertere und subtilere Kommunikationsmöglichkeiten zeigten. Im Alter von zwei Jahren konnte kompetenteres Problemlöseverhalten auf soziale Ressourcen (z.B. die Mutter) zurückgeführt werden. Auch im Kindergartenalter zeigten sich Verhaltens- und Entwicklungsdiskrepanzen zwischen sicher und unsicher gebundenen Kindern. Kinder mit sicherer Bindungsqualität zeigten deutlich weniger aggressives und feindseliges Verhalten gegenüber anderen Kindern. Sie waren weniger emotional isoliert oder abhängig von den Erzieherinnen, dafür sozial-kompetenter im Um-
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gang mit anderen Kindern (insbesondere in Konfliktsituationen), zudem auch konzentrierter im Spiel. In der Vorschule benötigten sie deutlich weniger Unterstützung von den Lehrkräften, da sie selbstständiger arbeiteten und ein positiveres Selbstkonzept von ihren Fähigkeiten hatten. Derartige Unterschiede, die offensichtlich auf verschiedene Bindungsqualitäten zu relevanten Bezugspersonen zurückgehen, konnten auch bei Schulkindern und Jugendlichen nachgewiesen werden. Die soziale Kompetenz, die positive soziale Wahrnehmungsfähigkeit und das beziehungsorientierte Verhalten in Freundschaften und Paarbeziehungen waren signifikant stärker ausgeprägt (vgl. BECKER-STOLL 2007, S.27f; HOPF 2005, S.135f.). Auch negative Beispiele verdeutlichen die Entwicklungsbedeutsamkeit von Bindungen. So berichtet ROLF GÖPPEL über Kleinkinder mit einem unsichervermeidenden Bindungsmuster zu ihren Eltern, die vordergründig selbstständig erscheinen, da sie beim Fortgehen der Mütter nicht protestieren, ihr Spiel fortsetzen und unproblematisch mit fremden Personen interagieren konnten. In der Kindertagesstätte war bei ihnen jedoch eine besondere Anhänglichkeit an die Erzieherinnen auffallend ebenso wie ein mangelndes Vermögen, selbstständig auf produktive Weise Konflikte zu lösen (vgl. GÖPPEL 2002, S.35). Besonders dramatisch sind Beobachtungen aus der Hospitalismusforschung, die nicht nur körperliche, soziale und emotionale, sondern auch kognitive Beeinträchtigungen bei Deprivation aufzeigen, die bis hin zu einer sekundären (erworbenen) Behinderung reichten. So führte z.B. der Mangel an liebevoller Betreuung und kognitiver Anregung bei Kindern in rumänischen Waisenhäusern zu schwerwiegenden und irreversiblen intellektuellen Defiziten. Dies gilt auch für andere Unzulänglichkeiten der Pflege und Erziehung bis hin zu Missbrauch und Vernachlässigung des Kindes. Negative Auswirkungen auf die geistige Entwicklung können auch von Defiziten in der öffentlichen Kinderbetreuung wie etwa dem ständigen Wechsel des Betreuungspersonals ausgehen, der den Aufbau und die Aufrechterhaltung von entwicklungsnotwendigen Bindungen strukturell verhindert (vgl. BRAZELTON/GREENSPAN 2008, S.12ff.). 3.4 Zur Neurobiologie der Bindungsbeziehung Die Einflüsse der Qualität von Bindungsbeziehungen auf die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern werden durch Befunde der Hirnforschung bestätigt. Es gilt als gesichert, dass sich frühe emotionale Erfahrungen mit vertrauten Bezugspersonen auf den Strukturaufbau des Gehirns und mithin auf die weitere geistige Entwicklung von Kindern auswirken. Demnach besteht ein Wechselverhältnis zwischen sozialer Erfahrung und organischer Entwicklung. GREENSPAN und BENDERLEY sprechen daher von der „emotionalen Architektur des Geistes“ (GREENSPAN/BENDERLEY 1997, S.27). Analog nennt GE-
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RALD HÜTHER das Gehirn ein „Sozialorgan“ (HÜTHER 2004, S.489). Das Interesse an solchen neurobiologischen Zugängen zur Bindungsbeziehung wächst in dem Maße, in dem die Neurowissenschaften zu öffentlichkeitswirksamen Leitwissenschaften aufsteigen. Die Ergebnisse der Hirnforschung bleiben jedoch in ihren psychologischen und pädagogischen Implikationen bisher noch recht allgemein (vgl. BECKER 2010). Im Folgenden werden daher ausgewählte Befunde und Erklärungsmodelle der Hirnforschung als zusätzlicher Legitimationshintergrund für die oben dargestellten Thesen der klassischen Bindungstheorie speziell zum Zusammenhang von Bindung, Stressreduktion und Exploration beschrieben. Die neuronale Perspektive auf die Bindungsbeziehung geht grundlegend vom Konzept der neuronalen Plastizität aus. Neuroplastizität meint die lebenslange Eigenschaft des Gehirns, auf körperliche und geistige Aktivitäten mit biologischen Veränderungen zu reagieren. Das Gehirn baut sich demnach in seinen neuronalen Strukturen nutzungs- und erfahrungsabhängig auf. Soziale Beziehungserfahrungen scheinen dabei eine Schlüsselrolle zu spielen (vgl. SPITZER 2009; ROTH 2003; HÜTHER 2004). Diese Differenzierung synaptischer Verbindungen zwischen Neuronen wird als das neurobiologische Substrat von Lernerfahrungen beschrieben. Die Ontogenese des Lernens stellt sich dabei als ein Prozess der immer spezifischeren Differenzierung bzw. Reorganisation von Synapsen dar, die bei der Geburt noch unspezifisch verbunden sind, d.h. „frühe Sinneseindrücke, Erfahrungen und Lernprozesse werden in einem hirnbiologischen Sinn dazu benutzt, die Entwicklung und Ausreifung der noch unreifen funktionellen Schaltkreise im Gehirn zu optimieren“ (BRAUN/HELMEKE 2008, S.282). Dabei kommt es zu einer Selektion überschüssiger Synapsen im kindlichen Gehirn. Nicht genutzte Verbindungen werden eliminiert, häufig genutzte Verbindungen werden verstärkt (‚neuronaler Darwinismus‘). In diesem Reorganisationsprozess spielt die Qualität der Erfahrungen eine wichtige Rolle für ihre Repräsentation im Gehirn. So werden Erfahrungen, die multimodal (d.h. über mehrere Sinneskanäle) ins Gehirn gelangen, nachhaltiger neuronal repräsentiert, da Neuronen stärker auf diese Reize reagieren. Auch müssen Erfahrungen regelhaft sein und in ähnlicher Weise wiederkehren, damit sie Spuren im Gehirn hinterlassen. Das Gehirn speichert also Erfahrungen nicht additiv, sondern die hinter den Erfahrungen stehenden Regeln. Aus hirnphysiologischer Sicht ist Lernen daher nur als Anschlusslernen möglich. Die über neuronale Netzwerke in der Hirnstruktur verankerten kumulativen Erfahrungen sind die Grundlage für alle weiteren Lernprozesse. Anschlusslernen kann als Festigung bzw. Ausdifferenzierung einer kognitiven Struktur verstanden werden. Die Plastizität des menschlichen Gehirns besteht über die gesamte Lebensspanne, ist aber in der Kindheit besonders stark ausgeprägt. Evolutionsbiologisch wird dies mit der Fähigkeit des Menschen zur Anpassung an wechselnde Um-
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welten erklärt. Aus hirnbiologischer Sicht wird Anpassungsfähigkeit erst durch die Wechselwirkung zwischen Bindungs- und Sozialisationserfahrungen und morphologischen bzw. physiologischen Veränderungen der Gehirnarchitektur möglich. Darin liegt ein entscheidender evolutionärer Vorteil, insofern das überlebensrelevante Wissen und Können, je nach historischen und soziokulturellen Umweltbedingungen, in die ein Kind hineingeboren wird, ontogenetisch durch die Art der Nutzung bestimmter Verschaltungen im Gehirn verankert wird. Die Plastizität des Gehirns ist so gesehen die anthropologische Voraussetzung für die Herausbildung von Kultur als evolutionärer Überlebensstrategie. Das plastische, offene, lernfähige und strukturell noch minder festgelegte Gehirn von Kindern ist insofern im Vergleich zu Erwachsenen besonders ‚formbar’, infolgedessen aber auch besonders ‚verformbar’. Der Begriff der ‚Formbarkeit’ ist hier freilich nicht mechanisch, sondern im Sinne eines besonders großen Plastizitätspotenzials in der frühen Kindheit und eines umwelt- und gebrauchsabhängigen Aufbaus des Gehirns zu verstehen, das darauf angelegt ist, aus Erfahrungen Regelmäßigkeiten herauszufiltern und neuronal zu repräsentieren (vgl. HÜTHER 2004, S.489). In tierexperimentellen Studien konnte gezeigt werden, dass ein vielfältiges, aber nicht chaotisierendes Milieu, das sowohl wiederkehrende als auch neue Erfahrungen ermöglicht, zu komplexeren neuronalen Vernetzungen führt als ein diesbezüglich eher monotones (vgl. SACHSER 2004, S.479; RITTELMEYER 2002, S.137). Mit JEAN PIAGET ausgedrückt kommt es offenbar auf ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Erfahrungen an, die einerseits bestehende Strukturen festigen (Assimilation) und andererseits Strukturmodifikationen herausfordern (Akkomodation). Die „Qualität der Milieuerfahrung“ manifestiert sich über längere Zeiträume durch die Anregung und Selektion des Synapsenwachstums in der „Qualität der Zytoarchitektur“. Dieses enge Verhältnis von Außen- und Innenwelt, das bereits die pränatale Entwicklung des Kindes kennzeichnet, beschreibt RITTELMEYER als „Inkorporation der Umweltinformation“ bzw. als neuronale „Individualisierung“ (RITTELMEYER 2002, S.135, 137). Deutlich wird, dass die moderne Hirnforschung die Perspektive des Lernens gegenüber genetischen Determinationen der kognitiven Entwicklung betont und damit einem dynamischen Begabungsbegriff entspricht. Doch sind diese tierexperimentellen Befunde auf den Menschen übertragbar? In der Laborforschung wird von einer prinzipiellen Übertragbarkeit ausgegangen, da Nervenzellen und Synapsen speziell unter Säugetieren vergleichbare Funktionsweisen aufweisen (vgl. BRAUN/HELMEKE 2008, S.282). Ist dies zutreffend, dann geben auch tierexperimentelle Forschungen zur Qualität von Bindungsbeziehungen und ihren Auswirkungen auf die Hirnarchitektur wichtige Hinweise auf ähnliche Prozesse beim Kind. So konnte in experimentellen Versuchen an Ratten gezeigt werden, dass durch Trennungserlebnisse ausgelöster
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chronischer Stress den Strukturaufbau des Gehirns negativ beeinflusst. Gleiches ist auch bei einem Mangel an mütterlicher Zuwendung zu beobachten. Über einen längeren Zeitraum ausgeschüttet wirken Stresshormone wie Cortisol im Gehirn toxisch. Festgestellt wurden u.a. eine Verminderung des Volumens des Hippocampus, eine Dysfunktion in der Synapsenbildung und eine fehlerhafte funktionale Differenzierung von Neuronenverbänden. Dies beeinträchtigt kognitive und emotionale Funktionen wie Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Motivation, Effort (Einsatz) und Regulierung von Affekten und Stress. Man kann also sagen, dass Trennung und Vernachlässigung sogenannte ‚Stressnarben‘ im sich entwickelnden Gehirn hinterlassen. In diesem Zusammenhang ist auch der Befund relevant, dass die Ausbildung des neuronalen Regulierungssystems von Stresshormonen, das durch Rückkoppelungsschleifen zwischen Gehirn und Nebennierenrinde die Ausschüttung von Stresshormonen reduziert, durch Hormone initiiert und begleitet wird, die in Folge liebevoller Interaktionen in Bindungsbeziehungen ausgeschüttet werden. Bei einem Mangel solcher Beziehungserfahrungen bleiben die für die Stressregulierung zuständigen Hirnzentren unspezifisch vernetzt. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass sichere Bindungserfahrungen eine zentrale Voraussetzung für eine effiziente neuronale Vernetzung bilden. Demnach ist also die externe Stressreduktion, durch die der Aufbau eines eigenen neuronalen Stressregulierungssystems überhaupt erst initiiert wird, die grundlegende Voraussetzung für eine spätere Selbstregulierung von Stress und damit auch für eine erfolgreiche Adaptation an die Umwelt (vgl. RITTELMEYER 2005, S.76ff.; AHNERT 2010, S.64ff.). Diese Befunde untermauern neurologisch die bereits von BOWLBY grundlegend beschriebene Bedeutung von Bindung, Trennung und Verlust. KATHARINA BRAUN und CARINA HELMEKE referieren zahlreiche weitere experimentelle Befunde, die den Einfluss früher Bindungserfahrungen auf die funktionelle Architektur des Gehirns insbesondere im limbischen System belegen (BRAUN/HELMEKE 2008). Auch HÜTHER betont, dass die Hirnforschung in den letzten zehn Jahren vor allem mit Hilfe bildgebender Verfahren nachweisen konnte, „welch nachhaltigen Einfluss frühe Bindungserfahrungen darauf haben, wie und wofür ein Kind sein Gehirn benutzt, und welche Verschaltungen zwischen den Milliarden Nervenzellen deshalb besonders gut gebahnt und stabilisiert und welche nur unzureichend entwickelt und ausgeformt werden“ (HÜTHER 2004, S.489). Die Hirnforscher HÜTHER und SACHSER fundieren insbesondere die entwicklungslogische Verzahnung von Bindung und Exploration unter neurobiologischen Aspekten. Danach korrespondiert die entwicklungsphysiologische Angewiesenheit der höheren Hirnfunktionen auf Erfahrungsbildung eng mit dem angeborenen Explorationsbedürfnis des kleinen Kindes: „Neugier und Spiel sowie deren Verwobenheit mit dem Lernen (stellen) ein altes Säugetiererbe dar
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und gehören aus neuro-, verhaltens- und evolutionsbiologischer Sicht zweifellos zur ‚Natur des menschlichen Kindes‘“ (SACHSER 2004, S.482). HÜTHER stellt insbesondere die über Bindungen vermittelte Sicherheit für Explorationen heraus. Er sieht die hirnphysiologische Funktion von Bindungen im Vertrauen, das die sichere Basis für die kindliche Lernlust und Entdeckerfreude bereitet. Dagegen steigt die Unruhe und Erregung im kindlichen Gehirn durch Angst, Stress, Verunsicherung, Über- und Unterforderung, Verwöhnung und Vernachlässigung, was sich negativ auf Lernen und Gedächtnisleistungen auswirkt. Nach HÜTHER können Sinneserfahrungen dann nur schwer mit bereits neuronal repräsentierten Erfahrungen in Verbindung gesetzt werden: Der grundlegende hirnphysiologische Mechanismus des Lernens und damit die Ausbildung komplexer neuronaler Netzwerke ist nachhaltig gestört (vgl. HÜTHER 2004, S.491ff.). HÜTHER hebt zudem die besondere entwicklungsbezogene Bedeutung der Eigeninitiativität explorativen Verhaltens hervor: „Die besten Anregungen für noch zu knüpfende und stabilisierende Vorschaltungen im Gehirn sind diejenigen, die das Kind von innen, also aus sich selbst heraus, entwickelt (HÜTHER 2006, S.75). Analog akzentuiert auch WOLF SINGER, dass „das Gehirn eines jungen Menschen von sich aus aktiv an die Umwelt heran(tritt) und [...] seine Fragen (stellt)“ (SINGER 1999). Dieses explorative bzw. „implizite“ Lernen durch Spiel und Erkundung kann vom „intentionalen“ und „strategischen“ Lernen abgegrenzt werden, das sich nach LUDWIG LIEGLE erst ab dem sechsten Lebensjahr herausbildet und für das schulische Lernen zentral ist (vgl. LIEGLE 2008, S.108). Eine an diese Befunde anknüpfende frühpädagogische Beziehungsdidaktik wird daher Bindung und Exploration als Grundlage von Erziehung und Bildung nutzen und ihr Augenmerk auf die sensible Wahrnehmung, Unterstützung und kulturelle Herausforderung kindlicher Tätigkeiten richten. In der folgenden Skizze eines erweiterten Bindungsbegriffs wird die pädagogische Unterstützung von Explorationsprozessen, von Spiel, geteilter Aufmerksamkeit und gemeinsamem Denken näher herausgearbeitet.
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Bindung als didaktische Beziehung – Grundzüge eines erweiterten Bindungsbegriffs speziell für die öffentliche Erziehung
Das Bindungs- und Explorationsverhalten von Kindern ist unhintergehbar auf die Beantwortung durch erwachsene Bezugspersonen angewiesen (‚Responsivität‘). Nach bindungspsychologischer Anthropologie werden Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen nicht jenseits von Beziehungen, sondern in Verbundenheit erworben. Selbstständigkeit und Autonomie als übergeordnete Ziele der Persönlichkeitsentwicklung werden daher auch als Funktion von Bindungen
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gedacht. Vor diesem Hintergrund formulieren NANCY WEINFIELD u.a.: „ … infants who are effectively dependent will become effectively independent“ (WEINFIELD u.a. 1999, S.76). Bindung ist somit grundlegendste Voraussetzung für Bildung in ihrem klassischen Verständnis als „Entfaltung der Möglichkeiten und Potenziale eines Individuums in aktiver Auseinandersetzung mit seiner sozialen und materiellen Umwelt […] mit dem Ziel, einen individuellen Welt- und Selbstbezug im Denken, Fühlen und Handeln zu entwickeln“ (DRIESCHNER/ GAUS 2010, S.17). Bisher wurde deutlich, dass die über Bindungen vermittelte psychische Sicherheit und das daraus erwachsene gesunde Selbstvertrauen als zentrale soziale Gelingensvoraussetzungen von Bildungsprozessen in Familie, Krippe und Kindergarten betrachtet werden können. Den Zusammenhängen von Bindung und Bildung soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. Rekurriert wird dabei auf aktuelle Konzeptualisierungen eines erweiterten Bindungsbegriff, der nicht nur die Sicherheits- und Zuwendungsfunktion, sondern darüber hinaus auch die didaktische Funktion von Bindungen in der Übermittlung von Kultur umfasst. Als Beispiele für didaktische Inszenierungen bzw. Gestaltungen von Bindungsbeziehungen werden die aktive Unterstützung von Exploration und Spiel, das Teilen von Aufmerksamkeit und das gemeinsame Denken mit dem Kind vorgestellt. Ziel ist es herauszuarbeiten, dass und weshalb speziell die Rezeption des Bindungskonzepts in der Elementarpädagogik die didaktischen und bildungsbezogenen Funktionen von Bindung besonders akzentuieren sollte, wenn es darum geht, Anschlüsse zum aktuellen Diskurs über frühkindliche Bildungsförderung herzustellen und dem Vorwurf der ‚Mütterlichkeitspädagogik’ zu begegnen. 4.1 Explorationsunterstützung und Spielfeinfühligkeit Die Thesen der klassischen Bindungstheorie zum Zusammenhang von Bindung, Fürsorge und Exploration sind unmittelbar einleuchtend und leiten das Handeln vieler selbstreflexiv agierender Eltern und professioneller Pädagogen. Auch zahlreiche bekannte internationale und nationale Erziehungsprogramme wie ‚Steps toward effective and enjoyable Parenting (STEEP)‘, ‚Sichere Ausbildung für Eltern (SAFE)‘ oder ‚Starke Eltern, starke Kinder‘ vom Deutschen Kinderschutzbund sind bindungstheoretisch orientiert. Die klassische Theorieanlage wie auch ihre pädagogische Rezeption fokussiert jedoch im Kern die Sicherheitsund Zuwendungsfunktion von Bindungsbeziehungen. Dies geht nicht selten mit einem verkürzten Verständnis von Exploration als Selbstaneignung von Wissen und Kultur einher. Nicht hinreichend bedacht wird dabei, dass Kinder und Bezugspersonen in gemeinsamen Lernsituationen auch zu Explorationsverbündeten, zu gemeinsamen Entdeckern von Welt und mithin zu Ko-Konstrukteuren von Wissen und Wirklichkeit werden. Das Konzept der Bindung betont zwar in
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vielerlei Hinsicht die soziale Existenz des Menschen und seine Angewiesenheit auf andere in Versorgungsbeziehungen. Die sozialen und interaktiven Prozesse bei der Aneignung der natürlichen, kulturellen und sozialen Um- und Mitwelt durch das Kind bleiben in der klassischen Theorieanlage jedoch in erstaunlicher Weise theoretisch und empirisch unterbestimmt. Im Rahmen einer frühpädagogischen Konzeptualisierung der Bindungstheorie ist die nicht weiter zu vernachlässigende Frage nach der bildungsbezogenen Ausgestaltung von Bindungsbeziehungen entscheidend. Das pädagogische Interesse richtet sich hier im Kern darauf, wie das Explorationsverhalten des Kindes mit der gezielten Unterstützung durch die Bezugsperson in Verbindung gebracht werden kann. Weiterführend erscheint an dieser Stelle ein Blick auf die frühpädagogische Didaktik, speziell auf diejenigen Ansätze, die unter dem Label ‚Bildung als Selbstbildung‘ oder ‚Didakik der indirekten Erziehung‘ zusammengefasst werden. Die Parallele dieser Ansätze mit einem bindungstheoretischen Blick auf die pädagogische Beziehung besteht in der gemeinsamen Akzentuierung selbsttätigen, explorativen, inzidentellen und impliziten Lernens (vgl. SCHÄFER 2010a; LIEGLE 2010). Theoretisch begründet wird dieses Verständnis frühpädagogischer Didaktik als Anregung von Selbstbildungsprozessen hauptsächlich mit Bezug auf konstruktivistische Lern- und Entwicklungstheorien (vgl. DRIESCHNER 2010). Empirische Legitimation erfährt es vor allem durch das „Pre-PrimaryProjekt“, einer international angelegten Längsschnittstudie zum Einfluss frühpädagogischer Umwelten auf die sprachliche und kognitive Kompetenzentwicklung von Kindern. Die Befundlage dieser Studie spricht dafür, „die von Kindern initiierten Aktivitäten stark zu gewichten (emphasize) und auf die ganze Gruppe gerichtete Unterweisung schwach zu gewichten (de-emphasize)“ (MONTI/XIANG/ SCHWEINHART 2006, S.330; zit. nach LIEGLE 2010, S.16). Wie in der didaktischen Diskussion der Frühpädagogik nachdrücklich betont wird, ist Selbstbildung jedoch nicht als Von-Selbst-Bildung misszuverstehen, ebenso wenig wie indirekte Erziehung die intentionale Gestaltung einer pädagogischen Umwelt und den bewusst gestalteten Dialog zwischen Erwachsenen und Kindern ausschließt. So betont GERD ELMAR SCHÄFER, dass der Begriff der Selbstbildung die eigenaktive Weltaneignung des Kindes in sozialen Bezügen meint. Entscheidend für den Selbstbildungsprozess ist die soziale Vermittlung der kindlichen Erfahrungsbildung (vgl. SCHÄFER 2008). Übersetzt in die Terminologie der Bindungstheorie fungieren Erwachsene dabei – wie bereits oben dargestellt – als Sicherheitsbasis, „indem sie Kindern einen sozialen und sachlichen Rahmen vorgeben und sichern, der ihnen gestattet, ihr jeweiliges Können so weit wie möglich einzusetzen und es – vornehmlich in Alltagszusammenhängen – weiterzuentwickeln“ (ebd., S.8). Allerdings ist die Gestaltung einer sicheren Entwicklungsumwelt nur die eine zentrale bildungs-
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funktionale Dimension von Bindungen. Darüber hinaus akzentuiert SCHÄFER insbesondere die bildungsfunktional viel weiter gehende aktive Unterstützung von Exploration und aktiver Erfahrungsbildung: „Damit Erfahrungen bewusst werden und denkend genutzt werden können, braucht das Kind Menschen, die auf seine Erfahrungen eingehen, sie auf unterschiedliche Weise spiegeln und sie schließlich auch in Worte fassen. […] Daraus ergibt sich, dass kleine Kinder für ihre Bildungsprozesse vertraute Menschen benötigen, die ihre frühen Erfahrungen mit ihnen teilen“ (ebd.). In den didaktischen Überlegungen SCHÄFERs werden Konturen eines erweiterten Bindungsbegriffs erkennbar, der gegenwärtig im internationalen wissenschaftlichen Diskurs entwickelt wird. So fordern etwa CATHRYN BOOTH u.a., der eigenständigen Bedeutung der Unterstützung kindlicher Erkundung und geistiger Auseinandersetzung mit der Umwelt in der Bindungstheorie stärkere Berücksichtigung zu geben (vgl. AHNERT 2010, S.47). Sie entwickeln ein Modell von fünf Bindungseigenschaften, das die Befriedigung von Bindungs- wie auch Explorationsbedürfnissen in einen Zusammenhang stellt. Dieses Modell soll dazu dienen, Bindungsbeziehungen in den verschiedenen Lebenskontexten von Kindern zu beschreiben:
Zuwendung: Feinfühlige, liebevolle und emotional warme Kommunikation mit dem Kind und wechselseitige Freude an der gemeinsamen Interaktion bilden die Grundlage einer sicheren Bindungsbeziehung. Sicherheit: Die Bezugsperson vermittelt dem Kind Sicherheit in den verschiedenen Situationen des Alltags. Das Gefühl von Sicherheit, insbesondere bei konstanter Verfügbarkeit der Bezugsperson, äußert sich in intensivem Spiel und aufgeschlossenem Explorationsverhalten. Stressreduktion: Die Bezugsperson hilft dem Kind, negative Emotionen wie Kummer, Angst, Ärger und Enttäuschung zu regulieren, damit es zu einer positiven emotionalen Stimmungslage zurückfindet. Explorationsunterstützung: Die Bezugsperson kommt dem Anspruch der Explorationsunterstützung nach, indem sie einerseits zu neuem Erkunden animiert und ermutigt, andererseits bei Unsicherheiten und Angst als sichere Basis zur Verfügung steht. Assistenz: Das Kind benötigt die Kooperation mit Erwachsenen, wenn es bei schwierigen Herausforderungen an die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit stößt. Liegt eine sichere Bindung vor, so wird sich das Kind zuallererst bei seiner Bindungsperson Hilfe suchen bzw. auch angebotene Hilfe von ihr annehmen (vgl. AHNERT 2007, S.34f.)
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Eine solche funktionell differenzierte Sicht auf Bindung korrespondiert mit einer differenzierten Betrachtung von Feinfühligkeit. Ebendiese gilt, wie oben erläutert wurde, als Schlüsselvariable für den Aufbau von Bindungssicherheit. Feinfühligkeit im Kontext eines erweiterten Bindungsbegriffs zeigt sich auf einer ersten allgemeinen Ebene in der Fähigkeit der erwachsenen Bezugsperson, die genannten Bindungseigenschaften in Abhängigkeit vom Lebensalter und der Individualität des einzelnen Kindes in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Feinfühligkeit meint also die situativ und altersabhängig adäquate Gewährleistung von Zuwendung, Sicherheit, Stressreduktion, Explorationsunterstützung und Assistenz. AHNERT konstatiert eine zunehmende Bedeutung von Explorationsunterstützung und Assistenz, je älter ein Kind wird: „Stehen im Kleinst- und Kleinkindalter noch sicherheitsgebende und stressreduzierende Aspekte im Vordergrund der Beziehungsgestaltung, so sind es im Vorschulalter die erzieherischen Unterstützungen bei kindlichen Erkundungen und beim Erwerb von Wissen, die eine sichere Bindungsbeziehung ausmachen“ (ebd., S.39). Altersübergreifend ist es in der Gestaltung einer Bindungsbeziehung zu einem Kind wichtig, nicht nur dessen Verhalten richtig zu interpretieren, sondern auch angemessen darauf zu reagieren (vgl. 2.4). Ist ein Kind beispielsweise unzufrieden, weil es bei einer schwierigen Aufgabe an die Grenzen seiner Handlungskompetenzen stößt, kann es mitunter unangemessen sein, nur Trost zu spenden. Eine dem Explorationsbedürfnis angemessene Reaktion könnte vielmehr darin liegen, dem Kind Assistenz bei der Lösung des Problems zu bieten. Denkbar wäre auch eine Mischform aus Trost als Hilfe zur Bewältigung negativer Gefühle und Assistenz als Hilfe zur Problemlösung und zur Erweiterung der Handlungskompetenz des Kindes. Zu bedenken ist dabei, dass bei kleinen Kindern Sicherheits- und Zuwendungsbedürfnisse durchaus mit dem Streben nach Selbstständigkeit in einen innerpsychischen Konflikt geraten können. Auf Verhaltensebene spiegelt sich dies u.a. in sogenannten Trotzreaktionen wider. In solchen Situationen bildungsbezogen mit Blick auf die Balance von Bindung und Exploration das richtige Maß an Geborgenheit zuzugestehen, aber auch Selbstständigkeit zu gewähren, zu unterstützen und ggf. zuzumuten, kann als feinfühlige Erziehungsaufgabe beschrieben werden. Entscheidend ist es also, feinfühlig auf bekundete Sicherheits- und Zuwendungsbedürfnisse zu reagieren, zugleich einem Kind aber auch Bestätigung und Anerkennung im Rahmen angemessener Handlungsspielräume zu ermöglichen (vgl. AHNERT 2010, S.59f.; GÖPPEL 2007, S.109ff.; DRIESCHNER 2007b). Darüber hinaus sind Merkmale zu bestimmen, an denen Explorationsunterstützung und Assistenz sichtbar wird. Auf der Ebene der pädagogischen Haltung ist sie eng mit der erzieherischen Achtung der Individualität und zunehmenden Autonomie des Kindes verbunden. Solchermaßen achtendes Verhalten ermöglicht es einerseits dem Kind, Erfahrungen zu machen, und ermöglicht es anderer-
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seits, diese mit ihm zu teilen. Auf der Ebene der konkreten Interaktion zeigt sich Explorationsunterstützung und Assistenz vor allem im feinfühligen Spiel mit dem Kind. Spiel- und Explorationsverhalten lassen sich analytisch nicht voneinander trennen. Exploration ist ein Prozess der aktiven, selbstinitiierten und selbstmotivierten Erfahrungsbildung. Man kann daher das Spiel als originäre Form des frühkindlichen Explorations- und mithin Bildungsprozesses betrachten (SACHSER 2004, S.475; DRIESCHNER 2010b, S.190ff.). Spielfeinfühligkeit kann folglich als eine besondere Form der Fürsorge gelten, die der Explorationsunterstützung und -assistenz dient. Sie wurde bisher vor allem bei Vätern erforscht. Zwar sind auch Mütter und Erzieherinnen wichtige Spielpartner für ihr Kind, offenbar besteht aber bei Vätern ein besonders enger Zusammenhang zwischen dem gemeinsamen Spiel und dem Bindungsaufbau. Während die Qualität der Mutter-Kind-Bindung vor allem mit der feinfühligen Reaktion auf die Bindungssignale des Kindes korreliert, scheint sich die Vater-Kind-Bindung komplementär dazu eher aus der Qualität seiner Unterstützung der kindlichen Exploration zu entwickeln. Wie verschiedene bei GROSSMANN und GROSSMANN zusammengefasste Studien belegen, begegnet ein feinfühliger Vater seinem Kind „als interessanter, weil andersartiger Interaktionspartner, der andere und oft aufregendere Dinge mit dem Kind macht als die Mutter …; als Herausforderer, der das Kind auffordert, Neuartiges zu tun, das es sich ohne seine Hilfe nicht zutrauen würde; als Vermittler von Bereichen der Umwelt, die ohne seine sorgende Umsicht für das Kind zu gefährlich wären …, als Vermittler von Spielen und Festivitäten der jeweiligen Kultur; als Lehrer und Mentor, um dem Kind sein eigenes Können und Wissen zu vermitteln …“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S.232). Solche Studien sind jedoch in ihrem historischen Kontext zur reflektieren und zu relativieren: Ihnen liegt die klassische geschlechtsspezifische Rollenteilung zugrunde, wonach die Mutter den Großteil der Betreuungsleistungen erbringt, somit auch für die emotionale Grundversorgung der Kinder zuständig ist, und sich der Vater eher auf die spielerische Interaktion beschränkt. Um anthropologischen Festlegungen zu entgehen und den gesellschaftlichen Rollenwandel zu berücksichtigen, wären weiterführende Studien wünschenswert, die Spielfeinfühligkeit und Explorationsunterstützung im geschlechtsspezifischen Vergleich untersuchen. Möglicherweise würden diese Studien zeigen, dass die interpersonellen Unterschiede zwischen Vätern und Müttern, Erziehern und Erzieherinnen größer sind als der Durchschnittsvergleich der Geschlechter. Unabhängig von der Frage ihrer eher weiblichen oder männlichen Konnotation zeigen sich Indikatoren von Spielfeinfühligkeit in der Fähigkeit der erwachsenen Bezugsperson, den Spielfluss nicht zu unterbrechen, auf die Wünsche des Kindes einzugehen, das Kind angemessen kognitiv anzuregen und bei Herausforderungen im Spiel ohne vorwegnehmende Hilfe zu unterstützen. Unter diesen Voraussetzungen
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kann ein Kind seinen Erfolg internal als eigene Leistung attribuieren, wodurch sein Selbstkonzept und seine Selbstwirksamkeitserwartungen nachhaltig gestärkt werden. Derart gestaltete spielerische Interaktionen sind durch ein kooperatives, gegenseitig aufeinander bezogenes Handeln gekennzeichnet. Eine Längsschnittuntersuchung von GROSSMANN und GROSSMANN belegt, dass sich die feinfühlige Unterstützung und Herausforderung von Kindern im Spiel bis hinein in das 22. Lebensjahr positiv auf die Entwicklung des Bindungsverhaltens und sozialemotionaler Kompetenzen auswirkt (ebd.). Mangelnde Spielfeinfühligkeit unterbindet dagegen Explorationsambitionen, Selbsttätigkeit und Kooperation. Sie korreliert mit überbehütendem oder auch autoritärem Erziehungsverhalten, das von einem defizitären Bild vom Kind ausgeht. Insbesondere eine dauerhafte Suggestion von Inkompetenz (‚Das kannst du nicht / … darfst du nicht / … verstehst du nicht‘) wirkt sich negativ auf die Ausbildung von Könnenserfahrungen, Selbstvertrauen und Kontrollüberzeugungen aus und kann im schlimmsten Fall zu einer erlernten Hilflosigkeit führen (vgl. SELIGMANN 1999). Insgesamt steht hinter einem erweiterten Bindungsbegriff die Erkenntnis, dass Kinder sowohl Sicherheit als auch Explorationsunterstützung brauchen. Im gelingenden Bindungsprozess nehmen daher negative Gefühle wie Hilflosigkeit, Ohnmacht und Versagen ab, dagegen steigen Bewältigungskompetenzen, Selbstwert und Glück. In diesem Zusammenhang konstatiert ANTON BUCHER aus glückspsychologischer Sicht: „Sicher gebundene Kinder neigen eher zu Tätigkeiten, die Glückspotenzial in sich bergen: Exploratives Verhalten, Neues erkunden und kennenlernen, sich Herausforderungen stellen. Darüber hinaus sind sicher gebundene Kinder auch ‚biegsamer‘, resilienter“ (BUCHER 2010, S.5). Eltern, Pflegeeltern, Erzieherinnen und anderen Bindungspersonen kommt deshalb die Aufgabe zu, den Kindern feinfühlige Resonanz auf ihre Sicherheits-, Zuwendungs- und Explorationsbedürfnisse zu geben. Diese Bindungseigenschaften müssen von der Bezugsperson ausbalanciert bzw. von verschiedenen Bindungspersonen in unterschiedlicher Gewichtung repräsentiert werden. Bezogen auf die Beziehungsgestaltung in Krippe und Kindergarten wird professionspolitisch argumentiert, dass Erzieherinnen-Kind-Bindungen einerseits eine sicherheits- und zuwendungsorientierte, andererseits aber auch und insbesondere eine explorativ-kognitive Dimension umfassen müssen (vgl. AHNERT 2007, S.31ff.; AHNERT 2010, S.246ff.; BECKER-STOLL 2008, S.121f.). Diese professionspolitische Forderung wird durch empirische Forschungen von AHNERT gestützt, in denen die Eigenschaften von Eltern-Kind- und ErzieherinnenKind-Bindungen vergleichend erhoben wurden. Demnach gründet sich „die ErzieherIn-Kind-Bindung – neben einer emotionalen Zuwendung im Interaktionsgeschehen – vorrangig auf ein assistierendes und Exploration unterstützendes Erzieherverhalten“ (AHNERT/GAPPA 2010, S.115). Eine solche Beziehungsquali-
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tät entspricht dem gesetzlich verankerten Bildungsauftrag der Elementarpädagogik und dem professionellen Selbstverständnis von Erzieherinnen als Anregerinnen und Begleiterinnen von Selbstbildungsprozessen. Das begriffliche Inventar der Bindungstheorie scheint allein aber nicht auszureichen, um theoretisch und empirisch zu erfassen, in welchen Formen sich Bildungsprozesse in Bindungsbeziehungen interaktiv vollziehen. Insbesondere die Bildungsbedeutsamkeit kooperativer Explorationssituationen in ihrer triadischen Struktur, in der Personen ihr Verhältnis wechselseitig zueinander und zu Sachen bestimmen, müsste differenzierter herausgearbeitet werden. Die bisherigen Überlegungen zu Explorationsunterstützung, -assistenz und Spielfeinfühligkeit sollen daher im Folgenden ergänzt werden um Forschungen aus der evolutionären Anthropologie und der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung zum Phänomen gegenseitigen Verstehens, geteilter Aufmerksamkeit und gemeinsamen Denkens. 4.2 ‚Geteilte Aufmerksamkeit‘ und ‚gemeinsames Denken‘ Die Struktur einer gemeinsamen Explorationssituation ist durch ein Dreiecksverhältnis zwischen dem Kind, der Bezugsperson und dem Gegenstand bzw. Inhalt der Interaktion bestimmt (‚didaktisches Dreieck‘). Der bisher nicht näher betrachtete gemeinsame Fokus auf den Gegenstand der Exploration ist von besonderem Interesse im Rahmen einer frühpädagogischen Gestaltung von Bindungsbeziehungen. Grundlegend ist hier geteilte Aufmerksamkeit und gemeinsames Denken vorauszusetzen. Die anthropologischen Voraussetzungen und entwicklungspsychologischen Bedingungen von geteilter Aufmerksamkeit hat zuerst der Evolutionsbiologe MICHAEL TOMASELLO experimentell erforscht und theoretisch expliziert. Insofern kann sein Ansatz wichtige Perspektiven eröffnen, wenn es darum geht, die Bedeutung von Bindung für die kognitive Entwicklung differenzierter zu begreifen. TOMASELLO betrachtet geteilte Aufmerksamkeit als Triebkraft der kognitiven Entwicklung sowie der sozialen und kulturellen Weitergabe (vgl. TOMASELLO 2006). Dies zeige sich schon darin, dass Kinder bereits sehr früh motiviert seien, ihre Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen zu teilen. Über die Resonanz der Erwachsenen erhielten sie wichtige Impulse für ihre Entwicklung. Bereits MARTIN BUBER formulierte in diesem Zusammenhang – im Übrigen grundlegend für die moderne Sozialisations- und Identitätstheorie – dass der Mensch am Du zum Ich wird (Buber 1979). Die Fähigkeit zur gemeinsamen Konzentration auf äußere und innere Ereignisse und ihre gemeinsame Interpretation ist dem Menschen genetisch gegeben. Sie entsteht, wenn ein Kind im Alter von ca. neun Monaten aus der egozentrischen Perspektive heraustritt und sich selbst wie auch den anderen als intentionalen Akteur wahrnimmt. Geteilte Aufmerksamkeit ist insofern unauflöslich mit der Entstehung von Ich-Bewusstsein und sozialem
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Verstehen verknüpft. Diese qualitative Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses nennt TOMASELLO Neunmonatsrevolution. In Anlehnung an DANIEL STERN sowie STANLEY GREENSPAN und BERYL BENDERLY lassen sich folgende Entwicklungsschritte auf dem Weg zu diesem neuen Niveau der Wahrnehmung unterscheiden:
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Elementar setzt geteilte Aufmerksamkeit voraus, eine andere Person als ähnliches Wesen wahrnehmen zu können. Der experimentelle Befund, dass bereits Neugeborene die menschliche Stimme und ab ca. 3 Monaten auch das menschliche Gesicht gegenüber anderen akustischen und optischen Reizen präferieren, deutet darauf hin, dass sie über die Fähigkeit verfügen, Menschen als Menschen wahrzunehmen. Aus den experimentell beobachteten Gefühlsäußerungen, den mimischen Ausdrücken von Interesse, Neugier und Überraschung, der differenzierten Wahrnehmung und dem aktiven Kommunikationsverhalten wird auf eine psychische Repräsentanz dieses Verhaltens im Sinne eines elementaren Selbstbewusstseins, Selbstkonzepts und Objektbezuges geschlossen. Demnach verfügen bereits Neugeborene über eine erste Vorstellung von ihrer eigenen Existenz und Zugehörigkeit zur Welt. Dieser Schluss basiert auf der Annahme, dass ein differenziertes äußeres Verhalten auch mit einem differenzierten inneren Erleben einhergeht. Der Säuglingsforscher STERN erklärt dies damit, dass es vor allen Sozialisationserfahrungen ein Zentrum, eine Potenz, anders ausgedrückt: einen ‚Subjektkern‘ gibt, von dem aus das Kind seine Umwelt eigenaktiv wahrnimmt, organisiert, interpretiert und mit anderen Menschen Beziehungen aufnimmt. So spricht STERN von einem bereits pränatal emergierenden Selbstempfinden (‚Empfinden des auftauchenden Selbst‘). Er verweist darauf, dass die Sinnesorgane und Sinneszentren des Gehirns in den letzten Schwangerschaftswochen bereits aufnahmefähig sind. Postnatal erlebt sich das kindliche Subjekt schon bald als Akteur seiner Handlungen, insofern es z.B. dank der früh entwickelten intersensorischen Koordinationsfähigkeit unterscheiden kann, ob es sich selbst einen Schnuller in den Mund steckt oder ob dieses jemand anderes tut. Für GREENSPAN und BENDERLY bildet sich das erste Gefühl von Intentionalität und Selbstwirksamkeit, aber auch von Kausalität, Realität und Logik, wenn vertraute Bezugspersonen feinfühlig auf die Wünsche und Bedürfnisse reagieren. Demnach haben zentrale Denkkategorien einen emotionalen Ursprung und eine emotionale Grundlage. Das basale Selbsterleben geht mit dem voll ausgeprägten Unterscheidenkönnen von Sich und Anderen ab dem zweiten postnatalen Lebensmonat in ein eigenständiges Persönlichkeitsempfinden über. Der Säugling agiert jetzt
zielgerichtet, indem er z.B. gezielt nach Gegenständen greift oder über das Ausstrecken seiner Arme signalisiert, dass er hochgehoben werden will. STERN sieht darin intentionale Aktivität, die mit einem Willensgefühl einhergeht und spricht von der ‚Empfindung eines Kernselbst‘. Die Fähigkeit zur Objektpermanenz als Voraussetzung für die Entwicklung innerer Modelle von sich und anderen Personen bildet sich zwischen dem vierten und dem sechsten Monat heraus. Ab dem neunten Lebensmonat differenziert sich das kindliche Selbst weiter aus, indem es nun zwischen eigenen psychischen Zuständen und denen von anderen Personen unterscheiden kann. In dieser Phase des Empfindens eines ‚subjektiven Selbst‘ sieht STERN den ontogenetischen Ursprung von Intersubjektivität und Empathie. Das Kind versteht, dass das Erleben anderer nicht mit den eigenen Gefühlen identisch ist. In der Gestik und Mimik des Säuglings lassen sich nun Mitteilungsabsichten erkennen (vgl. STERN 2000; GREENSPAN/BENDERLY 1997).
Die entwicklungspsychologische Voraussetzung dieses neuen Niveaus von IchBewusstsein und sozialer Wahrnehmungsfähigkeit ist TOMASELLO zufolge die genetisch gestützte, aber erst im Rahmen von Bindungsbeziehungen realisierte Fähigkeit, andere Personen als intentionale Akteure wie sich selbst zu verstehen und deren Motivation, Absicht und Aufmerksamkeit bei der eigenen Handlungsplanung zu berücksichtigen. Er bezieht sich dabei auf das klassische hermeneutische Verständnis von Verstehen als Analogiebildung zum eigenen Selbst (WILHELM DILTHEY): In den ersten sieben bis acht Monaten erlebt sich das Kind als Lebewesen mit der Fähigkeit, Dinge zu verursachen; folglich betrachtet es andere Personen in der gleichen Weise. Sobald es sich ab dem Alter von neun Monaten zunehmend bewusst als intentional handelndes Subjekt erfährt – das z.B. zur Erreichung eines Handlungszwecks zwischen verschiedenen Mitteln auswählen kann – versteht es andere Personen auch so (vgl. TOMASELLO 2006, S.100f.). Erkannt wird dabei auch, dass die Intentionen des Anderen von den eigenen abweichen können. Der Andere wird also als dem eigenen Selbst ähnlich, aber doch unterschiedlich erkannt. Wie die TOMASELLO-Interpretin ULRIKE PEUKERT u.a. mit Bezug auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse erläutert, ist „der Höhepunkt dieser sogenannten ‚Neun-Monats-Revolution‘ aber erst erreicht, wenn das Kind sich seinerseits von den anderen als zu eigenen Intentionen fähig wahrgenommen und anerkannt und entsprechend behandelt sieht. … Erst dann ist Intersubjektivität in ihrer vollen, triadischen Struktur entdeckt, in der Personen ihr Verhältnis wechselseitig zueinander und zu Sachverhalten bestimmen können. Der Schritt zum Ich-Bewusstsein ist also zugleich der Schritt in eine neue Form von Sozialität. Von diesem Zeitpunkt an verlieren genetische Faktoren für Lernund Entwicklungsprozesse gegenüber kulturell-sozialen Determinanten an Ge-
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wicht; der konkrete Umgang mit dem Kind nimmt also eher an Bedeutung zu“ (PEUKERT 2010, S.201; Hervorhebungen im Original). Im Verständnis von Intentionalität und Kausalität sieht TOMASELLO den wesentlichen Unterschied innerhalb der sonst ähnlich ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten von Menschen und anderen Primaten. Zwar verstehen alle Primaten relationale Kategorien (vor allem im sozialen Bereich) und sind intentionale und kausale Wesen, die Interpretation der Welt in intentionalen und kausalen Bezügen und die Wahrnehmung der Artgenossen als intentionale und geistbegabte Akteure ist jedoch eine spezifisch menschliche Fähigkeit. Dies konnte im Rahmen zahlreicher Experimente mit nichtmenschlichen Primaten wie auch durch Verhaltensbeobachtungen in ihrer natürlichen Umgebung gezeigt werden. So deuten nichtmenschliche Primaten ihren Artgenossen gegenüber nicht auf äußere Gegenstände, sie halten keine Gegenstände hoch, um sie anderen zu zeigen, sie versuchen nicht, andere an bestimmte Orte zu führen, um ihnen etwas zu zeigen, sie bieten anderen keine Gegenstände an und bringen anderen nicht intentional neue Verhaltensweisen bei. TOMASELLO deutet dies so, dass nichtmenschliche Primaten ihre Artgenossen als Lebewesen mit Fähigkeit zu spontaner Selbstbewegung, aber nicht als intentionale Akteure verstehen (TOMASELLO 2006, S.34). Dieses distinktive Merkmal menschlicher Primaten ist insofern gravierend und folgenreich, als sich dadurch die Möglichkeit kulturellen Lernens von und durch Erwachsene eröffnet. Nach TOMASELLO bildete sich die Wahrnehmung des anderen als intentionalen Akteur vor ca. 200-250000 Jahren heraus und bereitete den Weg für eine sich beschleunigende kulturelle Entwicklung (ebd., S.27). Ontogenetisch spiegelt sich das erwachende Verstehen der Bezugspersonen als intentionale Akteure ab dem neunten Monat in vermehrt auftretenden Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit. Diese Situationen sind Schlüsselmomente der kognitiven Entwicklung. Das bisher ausschließlich dyadisch angelegte Interaktionssystem zwischen Bezugsperson und Kind wird um die gemeinsame Perspektive auf etwas Drittes erweitert. Das kleine Kind folgt zunächst dem Blick vertrauter Erwachsener, bis es dann im Alter von 13-15 Monaten die Aufmerksamkeit der Bezugspersonen selbst in eine bestimmte Richtung lenkt. Dabei blickt es zwischen dem Gegenstand oder Ereignis und der Bindungsperson hin und her. Über den Gesichtsausdruck der Bezugsperson erschließt es sich die emotionale Bedeutung der Situation. Indem das Kind z.B. erst auf einen Gegenstand zeigt und dann die Bezugsperson ansieht, diese dann freundlich und aufmunternd zurückblickt, macht das Kind nicht nur eine rein individuelle und unmittelbare Erfahrung mit dem Gegenstand, sondern „eine Erfahrung des Gegenstandes in seiner sozialen Einbettung durch die Bezugsperson“ (SCHÄFER 2008, S.8). Person- und Sachbezug sind hier unmittelbar miteinander verknüpft. Die Bindungsperson gibt der Erfahrung zunächst eine emotionale Resonanz. Durch
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Mimik und Gestik ermuntert sie die sensumotorische Exploration und kann auf subtile Weise signalisieren, dass ein Gegenstand z.B. ungefährlich, spannend, interessant oder wertvoll ist. Die Lernerfahrung des Kindes wird emotional gefärbt, wobei von einem engen Zusammenhang zwischen positiven Gefühlen, Explorationstätigkeit und Lernerfolg ausgegangen werden kann. In solchen Situationen geteilter Aufmerksamkeit spielt nicht nur die emotionale Resonanz, sondern auch die kognitive Anregungsqualität eine zentrale Rolle. Wenn ein Kind eine Handlung bei anderen beobachtet, kann es ab dem Alter von neun Monaten zunehmend zwischen der ihr zugrunde liegenden Intention und den eingesetzten Mitteln differenzieren. Dieses ist entscheidend für kulturelles Lernen, das sich „auf intentionale Phänomene (richtet), bei denen ein Organismus das Verhalten eines anderen oder dessen Perspektive auf etwas Drittes übernimmt“ (TOMASELLO 2006, S.72). Das Verstehen von Intentionen ermöglicht kooperatives Verhalten, das die Qualität gemeinsamer Aktivitäten von Kind und Bezugsperson erhöht. In gemeinsamen Aktivitäten imitiert das Kind also zunehmend nicht das äußere Verhalten des Spielpartners, sondern die Absicht dahinter. So übernimmt beispielsweise ein Kind eine besondere Technik des Aufeinanderschichtens von Bauklötzen, die es in einer gemeinsamen Spielsituation mit einer erwachsenen Bezugsperson wahrnimmt, weil es die dahinterstehende Motivation erkennt; nämlich die Steine so zu setzen, dass der Turm stabil steht. Das Verstehen von Intentionen umfasst aber auch das Verständnis „der intentionalen Dimension von Artefakten“, d.h. kulturell manifestierter Intentionen und des ebenso manifestierten Wissens (ebd.). So erkennt es z.B., dass mit dem Gegenstand Pinsel eine bestimmte Intention verbunden ist. Die durch Personen und Artefakte verkörperten kulturellen Traditionen werden jedoch nicht passiv und mechanisch übernommen. In der Erschließung der Intentionalität einer beobachteten Handlung bzw. eines Artefaktes liegt auch der ontogenetische Ursprung des Verständnisses von Kontingenz, d.h. von Möglichkeitsspielräumen für funktional modifizierte oder äquivalente Handlungsmittel. Imitation ist demnach nicht nur äußerliches Nachahmen von Verhalten, sondern hat eine reflexive und innovative Komponente, auf der die kumulative kulturelle Evolution beruht. In dieser Erkenntnis spiegelt sich der vielleicht grundlegendste erziehungsethische Grundsatz moderner Pädagogik, den KLAUS MOLLENHAUER in der Tradition FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHERs wie folgt formuliert: „Der Vorgang des Überlieferns soll immer auch ein Verändern des Überlieferten sein, und zwar nicht als bewusstloser Prozess, sondern in der ausdrücklichen Anerkenntnis, dass die Spontaneität der jungen Generation einen produktiven Beitrag darstellt, auch dort, wo die erziehende Generation nicht mehr folgen kann (MOLLENHAUER 2001, S.42).
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Ein signifikanter Faktor der Anregungsqualität ist die kognitive Resonanz, die Bezugspersonen einem Kind vor allem durch die Verbalisierung seiner Erfahrungen geben. Dadurch lernt das Kind sukzessiv, sich seiner Erfahrungen bewusst zu werden, sie zu benennen, zu deuten und einzuordnen. Szenen geteilter Aufmerksamkeit können insofern als Schlüssel für das Eindringen des Kindes in die Sinn- und Bedeutungszusammenhänge (s)einer Kultur und den Spracherwerb gelten. GROSSMANN und GROSSMANN erläutern anschaulich, dass die Sprache dazu dient, „die gemeinsam gemachten Beobachtungen zu benennen und zu kommentieren. Im Bilderbuch bekommen alle Personen, Tiere und Gegenstände Namen, und dazu werden Geschichten erzählt. Bei Blitz und Donner werden auch Gefühle benannt, die sich im Gesicht zeigen, z.B. ‚Angst‘, und sie werden in Geschichten einbezogen“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2008, S.285f.). Für TOMASELLO sind daher sprachliche Bezeichnungen soziale Handlungen, mit denen eine Person die Aufmerksamkeit einer anderen auf etwas in der Welt lenkt. Aus dieser Sicht verlangt der Spracherwerb von einem Kind, dass es „andere als intentionale Akteure versteht; an Szenen geteilter Aufmerksamkeit teilnimmt, die den sozio-kognitiven Hintergrund für Akte symbolischer, einschließlich sprachlicher Kommunikation abgeben; nicht nur Absichten, sondern auch kommunikative Absichten versteht, durch die jemand versucht, seine Aufmerksamkeit auf etwas innerhalb der Szene geteilter Aufmerksamkeit zu lenken; und im kulturellen Lernprozess mit den Erwachsenen die Rollen tauscht und somit ihnen gegenüber dasselbe Zeichen gebraucht, das sie ihm gegenüber gebraucht haben, wodurch das intersubjektiv verstandene kommunikative Symbol oder die Konvention erzeugt wird“ (TOMASELLO 2006, S.140). Das Verstehen und in einem zweiten Schritt die Anwendung intentionaler sprachlicher Zeichen durch ein Kind basieren auf einer engen emotionalen Beziehung zu vertrauten Erwachsenen, gegenüber denen es seine Wünsche und Bedürfnisse ohne Angst vor Zurückweisung zum Ausdruck bringen kann (vgl. auch GREENSPAN/BENDERLY 1997, S.50ff.). Der Erwerbsprozess setzt zudem eine kontinuierliche Interaktionsdichte zwischen Bezugsperson und Kind in immer wiederkehrenden Szenen geteilter Aufmerksamkeit in Alltagsaktivitäten und im Spiel voraus. Dabei scheint im Alter zwischen zwölf und achtzehn Monaten die sprachliche Begleitung des kindlichen Aufmerksamkeitsfokus durch die Bezugsperson das Gerüst für den frühen Spracherwerb zu bilden (‚scaffolding‘), insofern dem Kind das Erkennen kommunikativer Absichten erleichtert wird. So verweist TOMASELLO auf korrelative und experimentelle Belege, „daß Mütter, die Sprache beim Versuch verwendeten, der Aufmerksamkeit ihrer Kinder zu folgen (d.h. über einen Gegenstand zu sprechen, der schon im Brennpunkt des Interesses und der Aufmerksamkeit des Kindes stand), Kinder mit einem größe-
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ren Vokabular hatten als Mütter, die Sprache beim Versuch verwendeten, die Aufmerksamkeit des Kindes auf etwas Neues zu lenken“ (ebd., S.144). Wenn das Kind im Erkennen kommunikativer Absichten geübt ist, gewinnt die aktive Aufmerksamkeitslenkung an Bedeutung für die sprachliche, emotionale und kognitive Entwicklung. Vertrauten Bezugspersonen kommt in Episoden geteilter Aufmerksamkeit die Aufgabe zu, das Kind in bedeutungsvolle Zusammenhänge einzuführen, die hinter den Ereignissen liegen. Von einem bindungstheoretischen Standpunkt ist es dabei entscheidend, dem Kind zu helfen, eine Kongruenz zwischen sprachlichem Ausdruck, innerer Repräsentation und äußerem Ereignis herzustellen: „Für die Intelligenzentwicklung ist es wichtig, dass die Beziehung zwischen verinnerlichten Repräsentationen und ihren äußeren Bezügen klar sind. … Für die Bindungstheorie ist darüber hinaus wichtig, dass eine solche Übereinstimmung nicht nur für die kognitiven Repräsentationen hergestellt wird, sondern besonders auch für die Gefühle und ihre äußere Korrespondenz in den Ereignissen und ihren sprachlichen Darstellungen. Der Grund ist: Wenn der Zusammenhang zwischen innen und außen gestört ist, dann kommt es zu Desorganisation, Fehlwahrnehmungen und Fehlinterpretationen; es kommt zu Inkohärenz in den Erlebnissen und in den narrativen Geschichten und schließlich zu Konflikten im Umgang mit anderen und mit der Welt, weil die verinnerlichten Arbeitsmodelle von Bindungsbeziehungen nicht mehr passen – und vielleicht nie gepasst haben“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2008, S.287). Die referierten Befunde machen deutlich, dass frühkindliche Bildungsprozesse von der sensumotorischen bis zur symbolischen Ebene unhintergehbar in Situationen geteilter Aufmerksamkeit mit vertrauten Erwachsenen eingelagert sind. Bildungsprozesse im Bereich der Vor- und Früherziehung sind daher grundsätzlich anders zu gestalten als in der schulischen Didaktik. Wenn Bezugspersonen Kindern Bindungssicherheit vermitteln, Explorationsunterstützung gewähren und ihnen in Situationen geteilter Aufmerksamkeit emotionale und kognitive Resonanz auf ihre Erfahrungen geben, dann ist dies eine grundsätzlich andere Lern- und Beziehungsform als die zielgerichtete Instruktion, die das schulische Lernen charakterisiert. Die hier referierten Forschungsansätze zeichnen vielmehr das Bild eines sich eigenaktiv in sozialen Beziehungen bildenden Kindes. Ist dieses Bild zutreffend, kann in der professionellen Didaktisierung von geteilter Aufmerksamkeit eine wesentliche theoretische und praktische Aufgabe der Frühpädagogik gesehen werden. In der internationalen Forschung zur frühpädagogischen Qualität weist das professionelle Interaktionsprinzip des sustained shared thinking (SST) in diese Richtung (vgl. SYLVA 2003; SIRJA-BLATCHFORD 2009). Im Mittelpunkt der gemeinsamen Aufmerksamkeit steht hier die pragmatische Problemlösung: „Sustained shared thinking is an effective paedagogic interaction where two or more
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individuals ‚work together‘ in an intellectual way to solve a problem, clarify a concept, evaluate an activity, extend a narrative etc. Both parties must contribute to the thinking and it must develop and extent the understanding. It was found that the most effective settings encourage ‚sustained shared thinking‘ which was most likely to occur when children were interacting 1:1 with an adult“ (SIRJABLATCHFORD 2009). Im Rahmen des groß angelegten britischen EPPE-Projekts (Effective Provision of Pre-School Education Project) zur Qualität frühpädagogischer settings konnten signifikant positive Effekte von SST auf die Kompetenzentwicklung von Kindern nachgewiesen werden: „Enhanced interaction, dialogue and sustained shared thinking in early childhood has been identified as strongly associated with children’s learning and development in the home and the pre-school setting” (SYLVA 2003). Im Unterschied zur sozialen Situation des Unterrichts sind pädagogisch gestaltete Interaktionen, die dem Prinzip des SST folgen, dialogisch ausgerichtet; sie dienen der Förderung, Forderung und Aufrechterhaltung der eigenaktiven Lern- und Entwicklungsprozesse von Kindern durch die gemeinsame Entwicklung und Weiterführung von Gedankengängen. Die Initiative z.B. in Gestalt von Fragen kann sowohl von den Kindern wie auch von der Erzieherin ausgehen. Da hier wechselseitig intentional kommunikativ interagiert wird, ist davon auszugehen, dass dieser Interaktionskontext die sprachliche Entwicklung des Kindes nachhaltig anregt. Die gemeinsamen Denkbewegungen mit der Bezugsperson geben dem Kind ein gedankliches Gerüst für seine Erfahrungen, sie evozieren kognitive Konflikte und tragen zur qualitativen Weiterentwicklung des kindlichen Denkens im Sinne der Zone der proximalen Entwicklung LEV WYGOTSKYs bei. Diese Form der pädagogischen Beziehungsgestaltung verlangt von Erzieherinnen Aufmerksamkeit und genuines Interesse an den Bildungsthemen von Kindern, die über Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren systematisch erhoben und reflektiert werden können. Dahinter steht eine professionelle Haltung, die in der deutschen Fachdiskussion mit dem Ausdruck „Erzieherinnen als Forscherinnen“ zusammengefasst wird. Dabei ist mit Forschung nicht wissenschaftliche Objektivität gemeint, sondern „Neugier und Interesse für die Vielfalt von Bedeutungen, die mit den Aktivitäten von Kindern verbunden sein können“ (LEU 2008, S.176). Auf dieser Basis kann eine Erzieherin in eine kooperative und ko-konstruktive Situation gemeinsamer Aufmerksamkeit mit einem Kind übergehen. Wichtig ist dabei ihre Fähigkeit und Bereitschaft zum kindzentrierten Denken und zum Anschluss an die Gedankengänge des Kindes. Eine Videostudie von ANKE KÖNIG deutet kritisch darauf hin, dass eine solche Unterstützung von Lernprozessen offenbar in der deutschen Kindergartenpraxis unterentwickelt ist. KÖNIG fordert daher die theoretische und praktische Entwicklung einer frühpädagogischen Handlungsdidaktik, die ihr Augenmerk
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auf die Tiefenstruktur der pädagogischen Interaktion richtet (vgl. KÖNIG 2009). In diesem Zusammenhang kann in der Zusammenschau des Bindungsparadigmas, der Theorie der Geteilten Aufmerksamkeit und des Ansatzes des SST festgehalten werden, dass Kinder im vorschulischen Alter für ihre kognitive Entwicklung feinfühlige Bezugspersonen brauchen, mit denen sie in direkten Interaktionsbeziehungen ihre Aufmerksamkeit teilen und gemeinsam denken können.
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Schlussbemerkung
Das Bindungskonzept wird sowohl mit Blick auf das familiale als auch das öffentliche Betreuungssetting diskutiert. Insbesondere der Zusammenhang von Bindung und Bildung ist ein gemeinsames Thema in der familien- und elementarpädagogischen Fachliteratur. Eine unreflektierte Übertragung des Bindungskonzepts aus dem familialen auf den öffentlichen Kontext wäre insofern problematisch, als damit überkommenen Vorstellungen von Mütterlichkeitspädagogik Vorschub geleistet werden könnte, die hinter den aktuellen frühpädagogischen Professionalisierungsdiskurs zurückfallen. Deshalb sollen im Folgenden noch einmal Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den jeweiligen Bindungsbeziehungen zusammengefasst werden. Unterschiede bestehen zunächst in der Hierarchie der Bindungsbeziehungen, die ein Kind eingeht. In der Regel sind die Eltern die primären emotionalen Bezugspersonen. Eine Erzieherin ist aus Sicht der aktuellen Bindungsforschung keine Ersatzfigur für eine Mutter, wie das alte Berufsideal der ‚geistigen Mütterlichkeit’ suggeriert. Zwar entsteht die Erzieherin-Kind-Bindung relativ unabhängig von den familialen Erfahrungen des Kindes. Auch kann eine Erzieherin durchaus feinfühliger sein als manche Mutter oder mancher Vater und so einem Kind sichere Bindungserfahrungen ermöglichen, die seine emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklungschancen bereichern. In der Regel wird die Erzieherin jedoch zu einer nachgeordneten (sekundären) Bindungsperson, wenn ein Kind erfährt, dass es sich z.B. hilfe- und trostsuchend an sie wenden, von ihr aus sicher explorieren kann und in ebendieser Welterkundung feinfühlig unterstützt wird. Dazu ist eine behutsame, durch die Hauptbindungsperson begleitete Eingewöhnungszeit in den außerfamilialen Betreuungskontext nötig. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind auch zwischen elterlichen und professionell frühpädagogischen Kompetenzen auszumachen. Übereinstimmend wird die Qualität von Bindungsbeziehungen mit der Feinfühligkeit sowohl der Eltern als auch der frühpädagogischen Fachpersonen in Verbindung gebracht. Feinfühligkeit bildet die Grundlage eines kindzentrierten Erziehungsverständnisses. Gemäß bindungspsychologischer Anthropologie ist Feinfühligkeit auf einer
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ersten grundlegenden Ebene als intuitiv gegebene personale Qualität zu denken, die auf dem biologisch basierten Fürsorgeverhalten beruht. Aufgrund biologischer und erfahrungsbedingter Unterschiede ist Feinfühligkeit bei Erwachsenen unterschiedlich stark ausgeprägt. Die primäre grundlegende Aufgabe aller Bindungspersonen ist es, feinfühlig auf die Verhaltensbekundungen des Kindes zu reagieren, um ihm das Gefühl psychischer Sicherheit zu vermitteln. Die daraus erwachsende Bindung zeigt sich im emotionalen Wohlbefinden und in der Aktivierung des Explorationsverhaltens des Kindes. Dieser Zusammenhang von feinfühliger Zuwendung, Bindung und Exploration wurde in Abschnitt 3 als ‚einfaches‘ Bindungskonzept beschrieben, das sowohl auf die familiale als auch die öffentliche Erziehung anwendbar ist. Wenn Männer und Frauen demnach biologisch auf die feinfühlige Versorgung kleiner Kinder vorbereitet sind, dann stellt sich die Frage, warum Erzieherinnen und Erzieher professionell pädagogische Handlungskompetenz erwerben sollten. Gegen die Rationalisierung und Akademisierung der elementarpädagogischen Tätigkeit wurde vielfach eingewandt, dass sie die intuitive Fürsorglichkeit und Feinfühligkeit verstellen könnte. Dieser Einwand greift allerdings zu kurz. Aus bindungspsychologischer, pädagogisch-systematischer und professionstheoretischer Sicht sind nicht nur Parallelen, sondern auch Differenzen und besondere Akzentuierungen feinfühligen Verhaltens von Eltern und Erzieherinnen zu beachten. Deshalb wurde in Abschnitt 4 ein ‚erweiterter Bindungsbegriff‘ theoretisch begründet und in seinen praktischen Implikationen skizziert. Dieser basiert auf dem Gedanken, dass Bindung nicht nur auf der gefühlsmäßig intuitiven Interaktion mit dem kleinen Kind beruht, sondern auch als Bildungsbeziehung gestaltet bzw. inszeniert werden kann. In den Mittelpunkt wird hier der Gedanke von Bindungsaufbau durch Explorationsunterstützung gestellt. Wie Forschungen zur Spielfeinfühligkeit und zur Erzieherin-Kind-Bindung übereinstimmend zeigen, ist Exploration nicht nur Ausdruck sicherer Bindungen. Die feinfühlige Weckung und Unterstützung von Exploration ist zugleich eine Entstehungsbedingung von Bindung. Aus diesem Grunde wurden Explorationsunterstützung, Spielfeinfühligkeit, gemeinsame Aufmerksamkeit und gemeinsames Denken als Dimensionen eines erweiterten Bindungsbegriffs vorgestellt. Professionspolitisch bietet es sich an, diese bildungsfunktionale Sicht auf Bindung in das Zentrum der pädagogischen Beziehungsgestaltung in Krippe und Kindergarten zu stellen. Der Unterstützung der Exploration eine Schlüsselrolle in der pädagogischen Interaktionsqualität beizumessen ist eine Möglichkeit, den gesetzlich verankerten Bindungsauftrag des Kindergartens einzulösen. Die Erzieherin als Explorationspartnerin muss demnach kindliche Bildungsprozesse erkennen und herausfordern können. Die feinfühlige Unterstützung des kindlichen Spiels, die Gestaltung eines geteilten Aufmerksamkeitsfokus sowie gemeinsamer Denkpro-
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zesse können insofern als Basiskompetenzen im Rahmen frühpädagogischer Professionalität bestimmt werden. Dabei ist einerseits auf die individuellen und geschlechtsspezifischen Bedürfnisse der Kinder einzugehen, andererseits sind diese dyadischen Interaktionsformen aus einem empathischen Gruppenfokus heraus zu entwickeln. Konkret ist dies mindestens mit folgenden Handlungsanforderungen verbunden:
Die Erzieherin versteht sich als Bindungsperson und bietet sowohl hinsichtlich Bindungs- als auch Explorationsverhalten Resonanz in individuell und altersabhängig angemessener Weise. Die Erzieherin gestaltet einen geschützten Raum, der zu explorativen Tätigkeiten auffordert (vorbereitete Umgebung). Die Erzieherin hält inne, lässt Kinder selbstständig tätig sein und sichert die Exploration durch ihre persönliche Verfügbarkeit. Die Erzieherin ist gegenüber der Weltsicht von Kindern aufgeschlossen, fragt nach und bemüht sich, die erfahrungsgebundenen Eigentheorien von Kindern in ihrer Eigenlogik und Eigenwertigkeit zu verstehen. Die Erzieherin nimmt an den Erlebnissen der Kinder teil, spiegelt diese in Gesprächen und gibt den Erfahrungen der Kinder mithin emotionale und kognitive Resonanz. Die Erzieherin teilt ihre Aufmerksamkeit mit einzelnen Kindern, denkt mit ihnen gemeinsam in Problemlösungszusammenhängen und unterstützt Spiel und Exploration. Die Erzieherin fördert die Engagiertheit von Kindern, initiiert neue Tätigkeiten und interveniert, wenn Selbstbildungsprozesse ins Stocken geraten. Die Erzieherin beobachtet und dokumentiert die Lern- und Entwicklungsprozesse von Kindern. Dabei nimmt sie Abstand von vorschnellen Deutungen und entwickelt vielmehr eine forschende Haltung zur reflexiven Durchdringung von Bindungs- und Explorationsprozessen (vgl. DRIESCHNER 2011).
Für die Entwicklung einer solchen feinfühligen Gestaltungsfähigkeit bildungsbezogener Bindungsbeziehungen wurden didaktische Vorschläge für die Aus- und Weiterbildung von Erzieherinnen entwickelt, die auf der Arbeit an Fallstudien und best-practice-Beispielen basieren. Ausgehend von der Komplexität und Ambivalenz des pädagogischen Alltags geht es darum, Ausdrucksformen von Bindungs- und Explorationsverhalten sowie Indikatoren von Feinfühligkeit in pädagogischen Interaktionen sichtbar zu machen (ebd.). Ein solches Verständnis von Beziehungsgestaltungsfähigkeit wird demnach als professionalisierungsfähig und -bedürftig wahrgenommen. Feinfühligkeit ist in diesem Zusammenhang
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nicht nur eine intuitive und unmittelbare Eigenschaft, sondern korrespondiert mit dem, was in der Aus- und Weiterbildung von Frühpädagogen als Entwicklung einer forschenden Haltung diskutiert wird (vgl. LEU 2008). Danach benötigen Erzieherinnen Kompetenzen zur reflexiven bzw. erforschenden Durchdringung von Bindungsbeziehungen und Explorationsprozessen, um Bildungsprozesse anregen zu können. Die reflexive Distanz sowohl gegenüber dem Verhalten der Kinder einer Gruppe als auch gegenüber dem eigenen Bindungs- und Bildungshintergrund verstellt nicht intuitive Fürsorglichkeit, sondern erhöht Empathiefähigkeit und Feinfühligkeit. Eine forschende Haltung gewährleistet somit einerseits eine affektive Beziehungsgrundlage, andererseits beugt sie der Gefahr einer affektiven Verwicklung z.B. in Gestalt von ‚Projektionen‘ oder ‚Umkehrungen‘ vor, die durch zu große Nähe, affektive Abhängigkeit und unbewusstes Aufrütteln eigener Kindheitskonflikte gegeben ist. Das bedeutet, dass der pädagogische Blick von Erzieherinnen im Vergleich zu dem Blick der Eltern zwar auch durch emotionale Beteiligung gekennzeichnet, aber durch bewusst herbeigeführte Reflexionen zugleich stärker distanziert ist. Erzieherinnen müssen mithin in der Lage sein, auf der Grundlage von theoretischem Wissen, biographischer Reflexivität und Neugier gegenüber der Weltsicht von Kindern aus einer Metaperspektive auf ihre Interaktionen zu schauen. Die Kernaufgabe der Erzieherinnenbildung wird deshalb darin gesehen, die Bereitschaft und Fähigkeit zu kontinuierlicher Reflexion der eigenen Praxis und speziell der Bildungsförderung im Kontext von Bindungsbeziehungen zu den Kindern zu erhöhen.
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Loving in Oblivion? Die Marginalisierung bürgerlicher Vaterliebe im Zeitalter der Professionalisierung. Eine kulturhistorische Skizze1 Nina Verheyen
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Einleitung. Die Liebe der Väter
‚Die Liebe der Väter‘, das betont der jüngst erschienene Roman von THOMAS HETTCHE, ist wertvoll. Und sie ist en vogue. Literaten und Journalisten, Politiker, Wissenschaftler und Pädagogen heben seit einigen Jahren die Bedeutung einer auch in emotionaler Hinsicht engen und liebevollen Vater-Kind-Beziehung hervor. Der gute Vater, lautet eine Quintessenz, hat Sehnsucht nach seinem Kind, eine enge emotionale Bindung ist ihm wichtig und sie scheint auch für das Wohlergehen des Nachwuchses unerlässlich zu sein. In diesen Punkten sind sich Soziologen und die Aktivisten von Männergruppen, die für Väterrechte streiten, erstaunlich einig. Im schönen Einklang sowohl mit der jüngeren wissenschaftlichen Vater-Literatur wie mit jüngsten Verschiebungen hegemonialer Männlichkeit kämpft daher HETTCHES Protagonist um einen guten Draht zu seiner Tochter nach vielen Jahren der Trennung von der früheren Freundin (vgl. HETTCHE 2010; CONNELL 1987; FTHENAKIS 1999; DERMOTT 2008; THOMÄ 2008). Diese öffentliche Ausleuchtung und Wertschätzung väterlicher Liebe ist in vielerlei Hinsicht ein Novum, aus dem auch das Schlagwort von den ‚Neuen Vätern‘ seine Kraft bezieht. Andererseits hat es in der Geschichte durchaus Phasen gegeben, in denen väterliche Gefühle Ansehen und Aufmerksamkeit genossen, öffentlich ausgestellt und eingefordert wurden. Wie in diesem Aufsatz erstens skizziert werden soll, war die kulturelle Denkfigur der ‚Vaterliebe‘ in deutschsprachigen, gebildeten Diskursen an der Schwelle zur Moderne fest verankert. Bürgerliche Kreise um 1800, die in vielerlei Hinsicht ein ‚modernes‘ Familienleitbild kultivierten, definierten den Mann auch über seine Familie und
1 Dieser Text wurde am Forschungsbereich ‚Geschichte der Gefühle‘ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Berlin) erarbeitet. Für Unterstützung bei der Literatur- und Quellenrecherchen danke ich MARIA ROST.
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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tiert keine fertigen Ergebnisse, sondern entwickelt Hypothesen und zielt darauf, auf diese Weise umfassendere Forschungsarbeiten anzuregen.
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Im Zentrum von Familie und Männlichkeit. Bürgerliche Vaterliebe im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert
Wenn im Folgenden von bürgerlicher Männlichkeit und bürgerlichen Männern die Rede ist – etwa Lehrern, Kaufleuten, Medizinern oder Juristen – darf die enorme Heterogenität ‚des‘ deutschen und europäischen Bürgertums im 19. Jahrhundert nicht unterschätzt werden. Die letzten Jahrzehnte des 18. und die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts werden in der Forschung als Konstitutionsphase des Bürgertums im Sinne einer Sozialformation beschrieben, die sich vor dem Hintergrund sozialer, ökonomischer und kultureller Prozesse jenseits feudal-ständischer Strukturen erst herauszubilden begann. Auch nach Abschluss dieser formativen Phase blieben die verschiedenen bürgerlichen Berufe in ökonomischer Hinsicht aber sehr unterschiedlich gestellt. Hinzu kamen regionale Differenzen, denen der vorliegende Beitrag durch eine starke Fokussierung auf das pietistisch, kaufmännisch und städtisch geprägte Bürgertum Hamburgs Rechnung trägt. Trotz dieser regionalen und ökonomischen Heterogenität kristallisierte sich seit der Zeit der Aufklärung aber eine verbindende „Kultur und Lebensführung“ heraus, die um die Ideale der Bildung, Leistung und Selbständigkeit kreiste und ein in vielerlei Hinsicht modernes Familienideal einschloss (KOCKA 1995, S.17). Auch und gerade dieses Familienideal strahlte im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf breite Bevölkerungskreise aus, es prägt normative Vorstellungen ‚guten‘ Familienlebens bis in die Gegenwart. Allerdings war das bürgerliche Familienideal keineswegs monolithisch und statisch, sondern in sich hochgradig ambivalent – und es war im Verlauf des 19. Jahrhunderts starken Änderungen unterworfen (vgl. ROSENBAUM 1982; SCHÜTZE 1988; BUDDE 1994; TREPP 1996a; HABERMAS 2000). In Bezug auf die Figuren des Vaters und der Vaterliebe treten die Verschiebungen des bürgerlichen Familienleitbildes besonders deutlich hervor. Als sich dieses im 18. Jahrhundert herauszubilden begann, verlangten aufklärerische und pädagogische Schriften eine Sentimentalisierung sowohl der Mann-Frau- als auch der Eltern-Kind-Beziehung. Der Nachwuchs wurde in die idealiter auf Liebe begründete Gefühlsgemeinschaft der Erwachsenen einbezogen, was Nähe und Zärtlichkeit implizierte (vgl. ROSENBAUM 1982, S.263ff.). Trotzdem ging die Forschung lange davon aus, dass die Sozialbeziehungen innerhalb der Familie keine gleichmäßige Emotionalisierung erfahren hätten. In feministischer Perspektive reduzierte die aufklärerische Pädagogik im Verbund mit Naturrechtsphi-
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losophie und Anthropologie die Mutter auf das Kind, während sie zugleich den Vater aus der Eltern-Kind-Symbiose ‚befreite‘. Mit dem Zwang zur Mutterliebe, so die prominente These der französischen Philosophin und Feministin ELISABETH BADINTER, legte JEAN-JACQUES ROUSSEAU die Frau auf eine zeitintensive Versorgung und Betreuung der Kinder fest und verwehrte ihr den Anspruch auf bürgerliche Partizipation (vgl. BADINTER 1981, S.192ff.). In eine ähnliche Richtung lässt sich das in den 1970er Jahren entwickelte einflussreiche Narrativ einer Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ lesen. Nach der prominenten These von KARIN HAUSEN, einer Pionierin der deutschen Frauen- und Geschlechterforschung, ordnete ein im 18. Jahrhundert entworfenes, patriarchalisches Ordnungsprogramm den Geschlechtern die physio-psychologischen Merkmalskombinationen weiblich-emotional-passiv einerseits und männlich-rational-aktiv andererseits zu. Es verwies in einer dichotomen Logik auf die Sphären privater Reproduktion versus öffentlicher Produktion und strukturierte auf diese Weise geschlechtliche Ungleichheit – in diskursiver wie in sozialer Hinsicht (vgl. HAUSEN 1976). Die Distanz zur familiären Gefühlswelt, in deren Mittelpunkt die Mutter mit dem Säugling saß, bildete in dieser Perspektive eine zentrale Chiffre bürgerlicher Männlichkeit und patriarchalischer Herrschaft. Die jüngere Forschung hat allerdings darauf verweisen, dass sich die Ausdifferenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit nicht nur auf der Ebene sozialer Praxis, sondern ebenso auf der Ebene bürgerlicher Normen bestenfalls im Verlauf des 19. Jahrhunderts langsam herausbildete. Um 1800 waren Öffentlichkeit und Privatheit eng verschränkt (vgl. HABERMAS 2000). Bürgerliche Männer waren, so ANNE-CHARLOTT TREPP, ‚anders als ihr Geschlechtscharakter‘ (vgl. TREPP 1996b). Sie strebten nach einer Formulierung Freiherr ADOLF FRANZ FRIEDRICH LUDWIG KNIGGEs nach ‚häuslicher Glückseligkeit‘, vielleicht sogar – mit FRIEDRICH SCHLEGEL – nach jener ‚sanften Männlichkeit‘, welche die romantische Literatur entwarf (vgl. TREPP 1996a). Wie schließlich die Frühneuzeithistorikerin CLAUDIA OPITZ betont, positionierten sowohl der Rechtsdiskurs als auch die schöne Literatur aus der Zeit der Aufklärung den Vater im Zentrum familialen Lebens. Analog zu den Beobachtungen BADINTERs, so OPITZ, könne man von einer regelrechten „Erfindung der Vaterliebe“ sprechen, wenngleich sich das Rousseausche Ideal des „‚vollamtlich‘ liebenden Vaters“ im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht durchsetzte (OPITZ 2000, S.97f.; vgl. OPITZ 1998, S.25ff.). Was aber war mit dem Konstrukt einer ‚Vaterliebe‘ im bürgerlichen Kontext um 1800 überhaupt gemeint? Schaut man in zeitgenössische Wörterbücher, so ist zunächst festzuhalten, dass diese den Terminus ‚Vaterliebe‘ immerhin führten, während man ihn etwa in WAHRIGs Deutschem Wörterbuch von 2002 vergebens sucht (WAHRIG 2002). „Vaterliebe“, so war im von JOHANN CHRISTOPH ADELUNG herausgegebenen
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‚Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart‘ von 1801 zu erfahren, sei „die Liebe, welche ein Vater gegen seine Kinder hat“ (ADELUNG 1801, S.978f.). Das rund zehn Jahre später von dem Pädagogen JOACHIM HEINRICH CAMPE bestellte ‚Wörterbuch der Deutschen Sprache‘ brachte eine sehr ähnliche Definition (vgl. CAMPE 1811, S.256). Beide Wörterbücher hatten unter dem Terminus ‚Vaterliebe‘ also nicht die Liebe zum Vater, sondern ausschließlich die Liebe des Vaters im Blick. Auf die nicht unerhebliche Bedeutung, die dieser stets vom Erwachsenen auf das Kind zeigenden Zärtlichkeit zugesprochen wurde, weisen auch semantisch ähnliche Worte wie ‚Vaterherz‘ und ‚Vatersinn‘ hin, die ebenfalls als eigenständige Einträge figurierten. Über das „Vaterherz“ las man beispielsweise bei CAMPE: „das Herz eines Vaters, besonders als der Siz liebender und sorglicher Gefühle für die Kinder“ (CAMPE 1811, S.255). Und der „Vatersinn“ war durch ADELUNG definiert als „das Gemüth, die Gesinnung eines Vaters gegen seine Kinder“ (ADELUNG 1801, S.979). Die Gefühle der Mutter wurden analog bestimmt – oder sogar unter Verweis auf ihr maskulines Gegenüber, das also keineswegs als defizitäre Variante, sondern als Muster fungierte. So erläuterte ADELUNG das „Mutterherz“ mit den Worten: „das zärtliche Herz einer Mutter gegen die Kinder, wie das Vaterherz des Vaters.“ (ADELUNG 1801, S.345). Und die Beispiele zur Verwendung des Wortes „Herz“ kamen sogar erst auf den Vater und dann erst auf die Mutter zu sprechen: „Ein Vaterherz, ein Mutterherz, ein Bruderherz, ein Tiegerherz haben, empfinden, wie ein Vater u.s.f.“ (ADELUNG 1796, S.1146). Wenn Autoren um 1800 von ‚Vaterliebe‘ sprachen, dann nutzten sie also einen Terminus, der im Alltagswissen der Zeit oder zumindest in dessen Wörterbüchern fest verankert war. Auf die relative Geläufigkeit des Wortes im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert speziell in bürgerlichen Kontexten verweisen auch Selbstzeugnisse, vor allem Briefe und Tagebücher. So beschrieb der 1755 geborene Hamburger Senator JOHANN ARNOLD GÜNTHER in einem Brief, den er 1779 als Junggeselle an einen Freund schickte, irgendwann käme wohl auch bei ihm die Zeit, „wo ich mich sehnte je eher je lieber in die einfältigen Freuden der Herrlichkeit, in die Arme eines guten Weibes, ... um all die Seligkeit ganz einzutrinken, die da liegt in dem Wort Eigen Haus und Herd, eheliche Liebe, Vaterliebe....“ (MARCHTALER 1966, S.34). Und der rund zwanzig Jahre später geborene Jurist FERDINAND BENEKE, der ebenfalls in Hamburg lebte, beschrieb 1808 in seinem Tagebuch voller Empathie, wie ihm das erste Kind geboren wurde, mit dem er sich schon kurz nach der Geburt innig verbunden fühlte: „‚Ein Mädchen, ein gesundes, starkes, wohlgestaltetes Mädchen‘ rief man von allen Seiten – Nun trat ich herzu. Es schrie. Es schien mich aus seinen blauen Augen anzusehen, und verstummte – Dieser Augenblick war entscheidend; er gebahr meine Vaterliebe.“ (Staatsarchiv Hamburg, 622-1, Fa., BENEKE C2, 22.11.1808).
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Auch in Autobiografien, mit denen sich Bürger von vornherein öffentlich in Szene setzten, finden sich Passagen, in denen die Autoren die emotionale Bindung zu ihren Kindern zum Thema machten und positiv hervor strichen. Das tat etwa der Hamburger Senator MARTIN HIERONYMUS HUDTWALCKER, geboren 1787, dessen publizierte ‚Erinnerungen‘ allerdings eine Kompilation autobiografischer Erinnerungen einerseits und eingeschobener Tagebucheinträge andererseits darstellten und so die Grenze zwischen dem Genre des Tagebuchs und dem der Autobiografie von vornherein auflösten. Der Senator bezeichnete seinen früh verstorbenen Sohn als „Wonne meines Herzens“ und räsonierte: „Daß ich ihn zu lieb habe, sagte ich mir schon früher selbst, er erwiederte es auch, und war bei niemand so gern als bei mir“ (HUDTWALCKER 1864, S.71). Dass auch und gerade Männer ihre Gefühlsfähigkeit öffentlich in Szene setzten, ist symptomatisch für bürgerliche Kreise der Zeit um 1800. Bekanntlich war das 18. Jahrhundert nicht nur ein Zeitalter der Vernunft, sondern brachte auch einen Kult des Gefühls hervor. Unter anderem erfuhren Emotionen in den bürgerlichen Dramen der Empfindsamkeit eine nachhaltige Aufwertung. Gegen die aristokratische Privilegierung äußerer Formen, das starre höfische Zeremoniell und die barocke Maskenhaftigkeit theatralischer Affekte wurden dem bürgerlichen Individuum ‚natürliche‘ Gefühle zugeschrieben, die es zum ‚ganzen Menschen‘ komplettierten und jenseits feudal-ständischer Strukturen qualifizierten (vgl. SCHINGS 1994). Die frühromantische Dichtung wendete das Gefühl in das Ideal eines radikalen Subjektivismus und steigerte seine Überhöhung bis hin zur Sakralisierung. Emotionalität avancierte in diesem Kontext nicht zuletzt zu einer symbolischen Ressource bürgerlicher Kultur und Lebensführung und zwar geschlechtsübergreifend. In der Literatur der Empfindsamkeit und Romantik standen sich Männlichkeit und Gefühl daher keineswegs dualistisch gegenüber. In Figuren wie dem ‚Werther‘ von JOHANN WOLFGANG VON GOETHE oder den bereits erwähnten Schriften SCHLEGELs verschmolzen sie (vgl. GOETHE 1774/1998; SCHLEGEL 1799/1996). Der Aufbruch des Gefühls war allerdings umkämpft. So warnte etwa CAMPE, Vertreter der aufklärerischen Pädagogik, vor einer Verzärtelung der Kinder, wobei ihm die „Empfindelei“ nicht als geschlechtsübergreifendes, sondern vor allem als maskulines Problem galt: „Das Weib, geboren zum Dulden, darf und soll empfindsamer seyn, als der man“ (CAMPE 1779, S.38f.). Diese geschlechtsspezifische Differenzierung erklärte sich nicht nur über die Logik physiopsychologischer ‚Geschlechtscharaktere‘, welche die Frau als von Natur aus emotionaler sah als den Mann, sondern auch über dessen soziale Funktionen. Durch naturrechtliche Ideen hatte die Aufklärung der väterlichen Gewalt ihre traditionelle Legitimation entzogen, sie bestätigte den Vater aber in seiner innerfamiliären Vormachtstellung. Als ein durch Vernunft qualifiziertes Oberhaupt
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der Familie oblag ihm Durchsetzung und Kontrolle bürgerlicher Tugend und Sittlichkeit, die intellektuelle und moralische Erziehung seiner Kinder sowie die Fürsorge- und Aufsichtspflicht (vgl. SCHÜTZE 1988, S.119ff.; OPITZ 1998, S.20ff.; OPITZ 2000, S.96ff.). Ein gewisses Maß an Gefühlskontrolle war für diese soziale Rolle unerlässlich. GOTTHOLD EPHRAIM LESSING allerdings präsentierte in seinem bürgerlichen Trauerspiel ‚Miß Sara Sampson‘ von 1755, dem ersten dieser Gattung, einen bürgerlichen Vater, der seiner Tochter eine unbotmäßige Liaison verzeiht, obwohl solches im Kontrast zu seinen Aufgaben als sittlicher Kontrollinstanz steht. Aber, so der ‚alte Sampson‘: „Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter als von keiner geliebt sein wollen“ (LESSING 1755/1999, S.6). Damit präsentierte LESSING einen Bürger, der die Familie so radikal als Gefühlsgemeinschaft auffasste, dass er für sein Bedürfnis nach Liebe selbst deren tugendhafte Ordnung Preis gab. Väterliche Liebe und väterliche Pflicht ergänzten sich damit nicht, sondern standen im Konflikt. Während LESSINGs empfindsames Drama den nachsichtigen Vater ambivalent bewertete, geriet dieser in den von der Aufklärung geprägten bürgerlichen Trauerspielen des ausgehenden 18. Jahrhunderts massiv unter Druck. Jetzt wurde dem Publikum gezeigt, wie schwache Vaterfiguren ihre Familien ungewollt ins Verderben führten. Positiv wurden dagegen jene Väter in Szene gesetzt, die Gefühlsbeziehungen zu den Kindern entlang sittlicher Pflichten objektivierten und ihre Zöglinge, wenn sie vom Pfad der Tugend abkamen, konsequent bestraften und verstießen (vgl. BIRK 1964, S.28ff.). Zugleich stand der Vater geradezu im Zentrum der im bürgerlichen Trauerspiel ausgemalten Familien, während dieses Genre die Mutter nachgerade ‚vergaß‘ (vgl. MÖHRMANN 1996). Gerade in pädagogischer Hinsicht war Vaterliebe aber nicht nur ein Risiko, sondern auch höchst funktional. Der liebende Vater war auch ein solcher, der sich aus der Liebe heraus für seine Kinder interessierte und sie selber erzog, anstatt diese Aufgabe anderen zu überlassen. Genau das warfen bürgerliche Autoren sowohl den Unterschichten als auch dem Adel vor. „Warum“, fragte die umfassende ‚Enzyklopädie‘ von JOHANN HEINRICH ZEDLER schon 1734, habe die Natur den Eltern „… die hefftige Neigung zu denen Kindern eingepräget, wenn sie nicht die Erziehung derer Kinder dadurch wolte befördert wissen? Würde gleich Kinder von denen Fremden oft besser als von ihren Eltern erzogen, so rühre dieses aus der Verderbniß her, und würde bey unverderbten Eltern die Erziehung eben so gut u. dabey noch leichter, wegen der dabey sich findenden Liebe, von statte gehe. Was leichter geschieht ist der Natur gemässer“ (ZEDLER 1734/1961, S.938).
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Über den Rekurs auf eine angeblich in der Natur begründete Liebe wurden hier also beide Elternteile zur Erziehung aufgefordert – nicht nur die Frauen, sondern ebenso die Männer. Vaterliebe war in pädagogischer Sicht aber nicht nur als Antrieb, sondern auch als Element väterlicher Erziehungspraxis funktional. Die auf Buchlektüre gestützte väterliche Erziehung sollte sich keineswegs aus furchteinflößender Distanz realisieren, denn Furcht galt als Hindernis kindlicher Lernprozesse. Statt in – so KNIGGE – „feyerlicher, strenger Entfernung“ sollte der Vater seinem Nachwuchs vielmehr in „freundschaftlicher Vertraulichkeit“ gegenübertreten. Denn: „Man liebt den nicht, an welchen man kaum hinaufzuschauen wagen darf, man vertrauet sich dem nicht an, der immer mit steifem Ernste Gesetz predigt“ (KNIGGE 1796/200, S.149). Dabei sollten die Regungen des Vaterherzens den Kindern nicht verborgen bleiben, sondern durften sich in körperlicher Nähe und Zärtlichkeit manifestieren. Zumindest stellten empfindsame Familiendramen und aufklärerische Kinderbücher des späten 18. Jahrhunderts Väter dar, die ihre Kinder umarmten, küssten und streichelten und ihre Zuneigung empathisch verbalisierten (vgl. WILD 1987, S.142ff.). Aber nicht nur die Literatur beschrieb bürgerliche Väter, deren Liebe zu den Kindern das Bedürfnis nach körperlichem Kontakt einschloss. Vor allem in Briefen an ihre Ehefrauen setzten sich bürgerliche Männer mitunter höchst empathisch in Szene, auch wenn sie aus beruflichen Gründen fern der Familie weilten. So schrieb der vorübergehend in Manchester arbeitende Hamburger Kaufmann CARL MEISTER 1831 seiner Frau: „Die Nachrichten über unsere herrlichen Buben“, , „machen mir immer unaussprechliche Freude, mir kommen immer unwillkürlich die Thränen in die Augen wenn ich Deine lieben Schilderungen lese. Wenn ich hier Knaben in dem Alter der unsrigen sehe, so möchte ich sie küssen und ihnen etwas zu Gute thun. In dem Hause wo ich wohne, logirt ein Doctor, der viel zu thun hat. Neulich kam eine Frau mit einem kranken Kinde, als er grade nicht zu Hause war. Ich nöthigte die Frau in mein Zimmer und wünschte nichts mehr, als ein Doctor zu seyn, um dem Jungen, der im Fieber lag, helfen zu können. Die arme Frau konnte gewiß nicht begreifen, weshalb ein fremder Herr ihr und ihrem Kinde so viele Aufmerksamkeit erzeigte“ (MEISTER 1912, S.101).
Die hier beschriebene Sehnsucht, mit einem unbekannten kleinen Jungen ‚Doktor‘ zu spielen, könnte bei heutigen Leserinnen und Lesern leicht den Verdacht der Pädophilie aufkommen lassen. Wie die Ehefrau MEISTERs auf diese Briefpassage reagierte, ist nicht überliefert. Aber ihm selbst schienen die Worte nicht verdächtig, sondern adäquat zu sein, um sowohl seine Emotionalität als auch seine sehnsuchtsvolle Wertschätzung des Familienlebens deutlich zu machen. Schon weil MEISTERs Briefe in großer räumlicher Distanz zur Familie verfasst wurden, verweisen sie allerdings nicht auf ‚alltäglich praktizierte‘ Vaterschaft. Auch in anderen bürgerlichen Berufen als dem des Kaufmanns zog das Erwerbs-
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leben der väterlichen Familienpräsenz auf der Ebene sozialer Praxis bereits im frühen 19. Jahrhunderts enge Grenzen, wenngleich sich die Sphären der Familie, des Erwerbs und der Öffentlichkeit noch keineswegs ausdifferenziert hatten, die Arbeitszeiten im Vergleich zu später noch verhältnismäßig kurz waren und viele bürgerliche Männer ihre Arbeitsplätze zu Hause oder zumindest nur unweit der Familie hatten (vgl. TREPP 1996a, S.213ff.; HABERMAS 2000). Zumindest der oben bereits zitierte Jurist BENEKE, dem in der Ehe insgesamt sechs Kindern geboren wurden, war seiner eigenen Wahrnehmung zufolge sogar stark in das Familienleben integriert. BENEKE legte in seinem Tagebuch regelmäßig Zeugnis über die Entwicklungsschritte seiner Kinder ab und schrieb sich besondere Nähe zu ihnen zu. Zufrieden konstatierte er 1808 über den erstgeborenen Säugling, die kleine Tochter: „Zu mir scheint sie eine besondere Instinktmäßige Neigung zu haben. Wenn keiner die Schreiende beschwichtigen kann, so brauche ich sie nur auf den Arm zu nehmen, u. ihr vorzusingen, so ist sie still, und sogar voll Behagens...“ (Staatsarchiv Hamburg, 622-1, Fa., BENEKE C2, 18.12.1808). Auch als die Kinder größer wurden, stand BENEKE ihnen alltäglich nahe und widmete sich ihnen im innigen Spiel – so jedenfalls machte er es im Tagebuch glauben. Nach dem Essen, notierte er 1810, rufe ihm seine kleine Tochter „Pilen! Pilen! Pater!“ zu und dann habe „das Tanzen kein Ende.“ Ebenso berichtete BENEKE, wie seine Tochter ihn zuweilen provoziere, bis er sie „hasche, und mit Küssen bestrafe“ (ebd., 1810, Beilage Nr. 38; TREPP 1996b). Der Aufbruch des Gefühls im sentimentalen Säkulum, das bleibt an dieser Stelle festzuhalten, prägte auch Vorstellungen von Männlichkeit und Familie und verschaffte der ‚Vaterliebe‘, verstanden als Liebe des Vaters zu seinen Kindern, enorme Wertschätzung. Es wäre zwar überzogen, einen ‚vollamtlich‘ liebenden Vater als hegemonialen Entwurf bürgerlicher Vaterschaft in den Jahrzehnten um 1800 zu interpretieren. Jene Jahre waren die einer bürgerlichen „Experimentierphase“ zwischen Spätaufklärung und Biedermeier (KASCHUBA 1995, S.95). In Ihnen bildeten sich bürgerliche Lebensentwürfe erst heraus, sie wurden intensiv und konträr diskutiert. Dabei lässt sich eine Koexistenz und Konkurrenz von mehreren, in sich ambivalenten Vaterentwürfen festhalten. Dem empfindsamzärtlichen stand ein aufklärerisch-distanzierter Vater gegenüber. Aber auch letzterer sollte seine Kinder lieben und diese Liebe zum Ausdruck bringen. ‚Vaterliebe‘ wurde also durchaus unterschiedlich ausgelegt, unzweifelhaft aber stand sie im Zentrum bürgerlicher Entwürfe von Familie und Männlichkeit.
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Vom Zentrum an den Rand? Bürgerliche Vaterliebe im Verlauf des 19. Jahrhunderts
Während bürgerliche Gruppen um 1800 ihren Lebensstil noch suchten und ihn sowohl nach ‚unten‘ wie nach ‚oben‘ gegenüber Hof und Adel abgrenzten, wozu sich auch die ostentative Inszenierung liebevoller Vaterschaft eignete, gehörten sie rund hundert Jahre später selbst zur Elite der Nation. Das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich war eine in ökonomischer Hinsicht ungemein moderne Gesellschaft. Es verbanden sich Urbanisierung, Industrialisierung, Technisierung und Professionalisierung als sozioökonomische Tendenzen des 19. Jahrhunderts mit einer eher zögerlichen Demokratisierung, dafür aber mit einer umso auffälligeren Militarisierung. Hinzu kam – zumindest in bürgerlichen Kreisen – eine hohe Wertschätzung der Familie, die immer expliziter als Privatsphäre gedacht und von der Öffentlichkeit abgeschlossen wurde. Entworfen als Gegenstruktur zum dynamischen, zuweilen auch als feindlich empfundenen Erwerbsleben, sollte die Familie zweckfreie Harmonie jenseits ökonomischer Rationalität und politischer Interessen bieten. Gleichwohl sind die bürgerlichen Familien des Kaiserreichs nicht zuletzt für bittere Familienkonflikte berüchtigt, wie sie die expressionistische Literatur vor allem zwischen Vätern und Söhnen in Szene setzte, wobei die Väter als gefühlskalte Patriarchen in Erscheinung traten (vgl. ERHART 2001, S.353ff.). Wer aber zum Beispiel 1875 in der ‚Gartenlaube‘ blätterte, einer in hohen Auflagen produzierten bürgerlichen Familienzeitschrift, der konnte auf die „Erlebnisse und Empfindungen“ eines höchst empathischen Vaters stoßen. Es handelte sich um die Ankündigung für ein Buch mit dem Thema ‚Das Kind. Tagebuch eines Vaters‘, das als „Werkchen gewissenhaftest beobachtender Vaterliebe“ gepriesen und den Lesern mit der mahnenden Bemerkungen empfohlen wurde: „[W]ie viele Tausende gehen kalt und theilnahmslos an der ganzen Kinderwelt vorbei?“ Der Buchautor hatte nach eigenen Angaben die „erste Träne“ des Neugeborenen „geschlürft“ und die ersten Entwicklungsschritte des Kindes in einem Tagebuch notiert, das er mit dem vorgelegten Buch in gekürzter Form publizierte. Hintergrund der schriftlichen Ambitionen war auch die Diagnose eines sozialen Missstandes. Der Autor richtete sich an Menschen, welche „in der Zerstreutheit der Geschäfte, die heutigen Tages den Mann nur zu sehr in Anspruch nehmen, oft nicht die Muße und die offene Stimmung finden, ihr eigenes Glück zu genießen und das Leben des Kindes mitzuleben.“ Vielleicht könne ihnen das Tagebuch „als Wegführer in dem Paradiese ihrer Häuslichkeit“ dienen, vielleicht schärfe es „ihre Empfänglichkeit für die Freuden, die das Kind den Eltern bereitet“ (ANONYMUS 1875, S.822f.).
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Auch im Deutschen Kaiserreich setzten Männer ihre väterlichen Gefühle also mitunter wortgewaltig und öffentlich in Szene, wobei der eben zitierte Bürger ganz offenbar nicht den Eindruck hatte, im Einklang mit dem Zeitgeist – mit pädagogischen Expertendiskursen und jüngsten Verschiebungen hegemonialer Männlichkeit – zu schreiben. Stattdessen schrieb er gegen diesen Zeitgeist an. Während bürgerliche Männer um 1800 in einer Zeit lebten, in der sowohl die gebildeten Eliten im allgemeinen als auch die pädagogischen Experten im besonderen Vaterliebe als wichtiges Gut in Szene setzten, befand sich der Gartenlaube-Autor in einer Phase, in der Vaterliebe auf beiden Ebenen nach und nach eine Abwertung erfuhr oder sogar in Vergessenheit geriet – so ist jedenfalls auf der Grundlage der bislang vorliegenden, wenngleich noch dünnen Literatur zu schlussfolgern. GUNILLA-FRIEDERIKE BUDDE, die auf breiter Quellenbasis die Erziehungspraktiken in englischen und deutschen Bürgerfamilien von ca. 1840 bis 1914 herausgearbeitet hat, zieht für die deutsche Seite das Fazit, dass sich der Vater seinen Kindern kaum genähert habe; wenn es überhaupt zu solchen Annäherungen kam, dann vollzogen sie sich nicht auf der emotionalen Ebene. Gegenüber ihrem Nachwuchs, vor allem dem männlichen, unterdrückten die untersuchten Protagonisten ihre Gefühle. „Ihre Säuglinge“, so BUDDE, „hatten bürgerliche Väter im Sinne von PHILIPPE ARIÈS noch keineswegs entdeckt.“ Und „Emotionen jeglicher Art mußten, da dem männlichen Charakter widersprechend, zumindest vor der Öffentlichkeit unterdrückt werden“ (BUDDE 1994, S.152f., 156). Diese These fällt womöglich zu scharf aus, wobei eine eigentliche Analyse bürgerlicher Vaterliebe im deutschen Kaiserreich noch aussteht, dringend angegangen werden müsste und Überraschungen zutage fördern könnte. So könnten bürgerliche Männer nicht nur trotz, sondern auch wegen beruflicher Okkupation noch spielerisch-liebevollen Umgang zu ihren Kindern gesucht haben. Diesem wäre dann allerdings keine pädagogische, sondern vor allem eine kompensatorische Funktion für den nach langen Arbeitstagen heimkehrenden Bürger zugekommen (vgl. zu Hinweisen auf diese These u.a. TOSH 1999, S.79ff.; RAHDEN 2000). Das schließt eine gewisse emotionale Marginalisierung der Vaterfigur aber nicht aus, die sich zumindest für die Ebene der öffentlichen Repräsentation bürgerlichen Familienlebens klar abzeichnet. Familienporträts zeigen, wie sich Familien selbst sahen und wie sie von anderen Menschen – etwa den häuslichen Besuchern aus dem Freundes- und Bekanntenkreis – gesehen werden wollten. Väter auf Familienporträts aus der bürgerlichen ‚Experimentierphase‘ um 1800 standen oft Seite an Seite mit ihren Ehefrauen im Bildmittelpunkt und hatten körperlichen Kontakt zu ihren Kindern. Im 19. Jahrhundert aber rückten die Vatergestalten buchstäblich in den Hintergrund. Mit strengem Gesichtsausdruck und ohne körperlichen Kontakt standen sie nun öfter abseits der zärtlich ausgemalten Mutter-Kind-Dyade – zuweilen
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von Arbeitsutensilien symbolträchtig an den Rand gedrängt (vgl. Beispiele bei LORENZ 1995; CHRISTIANSEN 2000). Auf solchen Bildern deutet sich an, dass die Nähe zwischen Mutter, Vater und Kindern, die den emotionalen Binnenraum der bürgerlichen Familie im späten 18. Jahrhundert idealiter begründet hatte, immer mehr auf eine zärtliche Mutter-Kind-Dyade zusammenschmolz. Der Vater wurde ihr als Vertreter der Sphäre des Erwerbs und des in ihr wirksamen Rationalitätsprinzips zur Seite gestellt. Insofern dieser bildnerische Wandel in irgendeiner Weise mit Verschiebungen auf der Ebene sozialer Praxis korrespondierte, ließe sich die Geschichte der Väter sowohl als maskuline Sieger- wie auch als Verlierergeschichte fassen. Aus feministischem Blickwinkel fällt Licht auf die beruflichen Ambitionen bürgerlicher Männer, die sich immer expliziter über ihre außerhalb des Hauses erbrachten Leistungen definierten und im Namen der Karriere ihre Frauen mit den Kindern allein bzw. hinter sich ließen. Ebenso lässt sich der Vater aber auch als Opfer einer sich wandelnden Erwerbssphäre sehen, damit bedeutet seine Verdrängung aus familiärer Intimität Verlust. Beide Perspektiven verweisen auf die Interdependenz von Familien- und Erwerbssphäre, deren konkurrierende Anforderungen in der Figur des Vaters aufeinander stießen und in seiner Gefühlswelt austariert wurden. Es wäre allerdings voreilig, die Ebene sozioökonomischen Wandels als dominanten Faktor zu fassen und davon auszugehen, dass immer längere Arbeitszeiten, ein modernes Berufsethos und die Einrichtung von Arbeitsplätzen fern der Familie den männlichen Bürger buchstäblich aus der Familie als Sphäre des Gefühls herauskatapultierten. Denn wie eben bereits gezeigt, geriet der liebevolle Vater lange vor den Prozessen der Industrialisierung und Professionalisierung unter Druck – und zwar nicht nur auf der Ebene sozialer Praxis, sondern auch auf der Ebene bürgerlicher Debatten. Eventuell wurde die Dynamisierung der Berufswelt durch die diskursive Herauslösung des Mannes aus der Familie sogar begünstigt und vorbereitet. In der Konstitutionsphase des Bürgertums genoss Vaterliebe zwar als Ausdruck bürgerlicher Kultur eine enorme Wertschätzung – nicht zuletzt in der Transformation der Vaterrolle manifestierte sich der bürgerliche Aufbruch spezifisch männlichen Gefühls. Aber Vaterliebe galt auch als ein riskantes Gut, das der Verzärtelung der Kinder und der Entsittlichung der Familien Vorschub leisten konnte. In pädagogischen Schriften des 19. Jahrhunderts manifestierte sich dann – erstens und noch geschlechtsübergreifend – eine Verschärfung der Erziehungsnormen. Die von ROUSSEAU programmatisch aufgehobene Distanz zwischen Eltern und Kindern wurde Schritt für Schritt reinstalliert. Einflussreiche Pädagogen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten damit immer weniger auf die Formel einer ‚negativen‘ Erziehung, die die freie Entfaltung des Kindes ermöglichte, sondern auf Unterordnung und Gehorsamspflicht von klein an. Die Auf-
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rechterhaltung der familiären Ordnung schien Strenge und Härte dem Kind gegenüber zu erfordern. Dessen Furcht wurde kaum mehr als Hemmschuh kindlicher Liebe gedeutet. Damit verknüpft wurde – zweitens – die funktionale Ausdifferenzierung väterlicher und mütterlicher Erziehungspflichten vorangetrieben. Unter Rekurs auf das Ordnungsprogramm der ‚Geschlechtscharaktere‘, welches Wesensdifferenzen zwischen den Geschlechtern ebenso polarisierte wie naturalisierte, wurde die Frau mit Gefühl und Reproduktivität identifiziert. Entsprechend ordneten bürgerliche Denker die physische und psychische Nähe zum Nachwuchs als eine von der Natur privilegierte Sozialbeziehung immer ausschließlicher der Mutter zu. Der durch Rationalität definierte Vater wurde demgegenüber auf seine Funktion als kontrollierendes Oberhaupt sowie als intellektueller Lehrer der älteren männlichen Kinder festgelegt (vgl. SCHÜTZE 1988, S.123ff.). Die bürgerliche Pädagogik des 19. Jahrhunderts beschränkte ihn damit auf jene Pflichten, für die Gefühlskontrolle notwendig, die Hingabe an das Gefühl dagegen hinderlich war. Das Vaterherz, so lässt sich zugespitzt formulieren, verlor vor diesem Hintergrund zunehmend seine pädagogische Notwendigkeit und seine innerfamiliäre Funktion. Hinter der Abwertung des Vaterherzens stand aber auch ein neues Männlichkeitsideal, das schon vor den Militarisierungstendenzen des Kaiserreichs immer expliziter auf die Kontrolle der Gefühle beharrte. Gefühlskontrolle war bereits zentraler Aspekt des in der deutschen Aufklärung entwickelten Programms einer intentionalen und von innen gesteuerten Zivilisierung des Selbst gewesen. Indem die Distanz zur Sphäre des Gefühls als bürgerlich und männlich gedacht wurde, avancierte sie zu einem Strukturelement sozialer und geschlechtlicher Ungleichheit (vgl. KESSEL 2000). Diese Tendenz, die um 1800 längst angelegt war, verschärfte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, wobei Männern bestimmte Emotionen weiterhin zugeschrieben wurden. Diese galten als von besonderer Qualität, nämlich nicht als sanft und passiv wie die weiblichen Emotionen, sondern als aggressiv und aktiv. Prägnant bemerkte der Philosoph GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL schon 1830, „der Kitzler ist das untätige Gefühl überhaupt“. Er verknüpfte den „männliche[n] Testikel“ einerseits mit dem „tätigen Gehirn“, aber auch mit dem „tätige[n] Gefühl“, dem „aufschwellende[n] Blut“ (HEGEL 1830/1970, S.518f.). Nicht zuletzt das eruptive und aggressive Potenzial männlicher Emotionalität machte deren qua Rationalität zu leistende Kontrolle vermutlich so dringlich. Allerdings wäre der Eindruck vorschnell, dass bürgerliche Männer nun gar keine sanften, empathischen Gefühle mehr zum Ausdruck bringen durften. Eher ist anzunehmen, dass maskuline Sensibilität auf ganz bestimmte Praxisfelder reduziert wurde – etwa die Sphäre der Kunst und Hochkultur, aber auch das Feld der ehelichen Liebe und der männerbündischen Freundschaft (vgl. BORUTTA/
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VERHEYEN 2010). Parallel dürfte es für die Akteure immer schwieriger geworden sein, die zwischen Kultivierung und Kontrolle eingeforderte ‚Balance der Gefühle‘ zu finden (vgl. KESSEL 1996). Eine enorme Unsicherheit im Umgang mit väterlichen Gefühlen oder zumindest mit deren öffentlicher Darstellung lässt die Autobiografie des 1849 in Hamburg geborenen und aufgrund beruflicher Verdienste geadelten Bankiers MAX VON SCHINCKEL erahnen. Seine in der Weimarer Republik publizierten ‚Lebenserinnerungen‘ stellten in erster Linie den erfolgreichen beruflichen Werdegang dar, aber punktuell setzte SCHINCKEL seine Vita auch zur Welt der Gefühle in Beziehung. In einer Passage über den Tod seiner Mutter strich er explizit die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind als eine durch die Natur privilegierte Sozialbeziehung heraus: „Mögen uns noch so enge Bande mit Frau und Kindern verknüpfen, so einzig und eigenartig wie das Verhältnis zwischen Mutter und Kind ist kein anderes. Ein Mutterherz liebt, betet, dulded für sein Kind, es verlangt wenig und verzeiht alles“ (SCHINCKEL 1929, S.45). Im Umgang mit seinen eigenen, im Kaiserreich geborenen Kindern, hierarchisierte er das mütterliche und das väterliche Herz entsprechend, was auch pädagogischer Einsicht zu entsprechen schien: „Den Kindern gegenüber mußte ich, wie es sich gehört, die elterliche Strenge vertreten; das Herz der Mutter blieb ihnen, immer Nachsicht übend, geöffnet“ (ebd., S.192). SCHINKELs Vaterliebe, das suggerieren diese Zeilen, war durchaus vorhanden, aber im Rahmen geschlechtsspezifisch verteilter, komplementärer Erziehungsfunktionen durfte er sie nicht zeigen. Trotzdem fand sich in der Autobiografie eine ungewöhnlich ausführliche Passage, die SCHINCKEL als empathischen Vater zeigte. Allerdings präsentierte er sich dabei als Mann, der temporär sowohl die Kontrolle über seine Gefühle wie über seinen Nachwuchs verlor und der Situation insgesamt nicht mehr gewachsen war. Nach der Geburt von drei Kindern in den 1880er Jahren stand dem Paar 1895 wieder Familiennachwuchs bevor: Zwillinge. Der „doppelte Kindersegen wirkte zunächst verblüffend. Ich betrachtete mir im Nebenzimmer die zuerst erschienene kleine Elisabeth daraufhin, ob sie auch alle Finger und Zehen habe, als die Wärterin durch den Schmerzensruf: noch ein Kind! abgerufen wurde. Die Wärterin legte mir das nackte, spaddelnde Kind in die Arme und verschwand. In meiner Angst, daß das Baby mir entgleiten könnte, wußte ich mir nicht anders zu helfen, als mit dem kleinen Finger auf den Knopf der elektrischen Glocke zu drücken und das aus dieser Sphäre verbannte Stubenmädchen Meta herbeizuklingeln. Sie nahm mir das Kind ab, und wir versuchten, es ohne Beschädigung in seine Wiege einzukuscheln“ (ebd., S.200).
Ähnlich wie der vorne beschriebene Kaufmann BENEKE hatte SCHINCKEL also schon unmittelbar nach der Geburt Kontakt zum Säugling. Aber dieser Moment gebar – der schriftlich und ex post vollzogenen Introspektion zufolge – nicht das Glücksgefühl unbändiger Vaterliebe, wie BENEKE es seinem Tagebuch anver-
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traut hatte. SCHINCKELs coram publico vollzogener Erinnerung zufolge hatte er das Neugeborene zwar in den Armen, aber er hatte es nicht im Griff, sondern bekam „Angst“, es könne ihm „entgleiten“. Mit dem Säugling drohte auch die Situation insgesamt außer Kontrolle zu geraten, und es bedurfte des Stubenmädchens, um der Lage Herr zu werden. Die hier humoristisch zugespitzte Überforderung des Bürgers als Vater stand im starken Kontrast zu SCHINCKELs sonstiger Selbstdarstellung als souveräner Berufsmensch. Dramaturgisch zeigte die Passage dem Leser an, dass sich SCHINCKEL temporär in ein fremdes Terrain begeben hatte, das Terrain der Gefühle und der Kinder, das er entsprechend auch sehr bald wieder verließ – zumindest in seiner Autobiografie. Väterliche Gefühle verwiesen in dieser Darstellung weniger auf ein integrales und selbstverständliches Moment männlich-bürgerlichen Seins, wie es noch das Tagebuch BENEKES in Szene gesetzt hatte, sondern eher auf das amorphe und schwer kontrollierbare Andere einer um Erwerb und Ratio kreisenden bürgerlichen Männlichkeit. Vaterliebe wurde in diesem Text angedeutet, aber ihr haftete etwas diffus Ungeschicktes an, das eher auf den prekären Rand bürgerlicher Männlichkeit deutete als auf dessen Zentrum.
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Ausblick
Die vorliegenden Skizze zur Kulturgeschichte väterlicher Gefühle bezieht sich nicht auf die Frage, wie Männer als Väter ‚tatsächlich‘ fühlten, sondern darauf, wie sie fühlen sollten und wie sie ihre Gefühle selber beschrieben und in Szene setzten – öffentlich in Autobiografien, semi-öffentlich auf Familienporträts oder privat in Briefen und Tagebüchern. Wir wissen nicht, ob BENEKE beim ersten Anblick seiner Tochter das Gefühl der ‚Vaterliebe‘ durchströmte, ob SCHINCKEL bei der ersten Berührung mit seiner Tochter ‚Angst‘ bekam und ob der von der ‚Gartenlaube‘ angepriesene Autor im emotionalen Überschwang die erste Träne seines Kindes ‚schlürfte‘. Wir wissen nur, dass sie genau dies behaupteten. Allerdings wäre es gerade in der Geschichte der Gefühle vorschnell, die Ebene des vermeintlich ‚echten‘ Empfindens einerseits mit der Ebene bürgerlicher Diskurse und ‚unechter‘ Gefühlsrepräsentationen andererseits starr zu kontrastieren. Denn die Vorstellung, dass Gefühle im ‚Inneren‘ des Individuums angelagert seien, gleichsam in der ‚Natur‘ des Menschen ankerten, von wo sie mit aller Kraft nach außen strömen, wobei es dem Individuum obliegt, diese Kräfte qua Willensanstrengung und kultureller Prägung zu kontrollieren oder zu kanalisieren und Gefühle authentisch oder verzerrt zum Ausdruck zu bringen, ist selber historisch gewachsen und verweist auf jene westliche Moderne, die Gegenstand der Untersuchung ist. Schon um diesem zeitgenössischen Deutungsho-
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rizont zu entkommen, anstatt ihn zu reproduzieren, bietet sich eine gemäßigt sozialkonstruktivistische Perspektive an, die Gefühlsausdrücke nicht auf ihre Echtheit zu überprüfen sucht, sondern als performative Praktiken fasst, mit denen Emotionen konturiert und konstruiert, hergestellt und modelliert, gestützt oder gestutzt werden (vgl. LUTZ 1988; VERHEYEN 2010). Vor diesem Hintergrund steht die Geschichte des Fühlens mit der Geschichte von Gefühlsausdrücken und Gefühlsansprüchen in engster Beziehung. Denn anders als bürgerlichen Männern um 1800 stand bürgerlichen Vätern des späten 19. Jahrhunderts, so scheint es, eventuell kein legitimes Verhaltensmuster mehr zur Verfügung, um ihre Liebe für die Kinder in Gesten und Worte zu gießen, um diese Liebe also sich selbst und anderen zu beglaubigen und darüber auch zu festigen oder überhaupt erst herzustellen. Die daraus resultierenden Unsicherheiten könnten sowohl den betroffenen Männern als auch den an ihrer Liebe eventuell zweifelnden Kindern zu Last geworden sein. Vor allem aber prägten sie das Bild hegemonialer Männlichkeit. Diesem waren zwar sowohl die Heterosexualität als auch die Familität in den Dimensionen von Ehe und Vaterschaft eingeschrieben, nicht mehr aber der liebevoll-zärtliche Umgang mit Schutzbefohlenen. Väter, die expressiv ihre Kinder liebten, verwiesen damit auf die Ränder maskulin-bürgerlicher Subjektkonstruktionen, oder auch auf ihre Fähigkeit, das im Kern um Rationalität, Beruf und öffentliches Wirken kreisende Ich temporär zu überwinden und es auf diese Weise um das zu komplettieren, was ihm tendenziell fehlte: Gefühl. Hier wird die Differenz von Mutterliebe und Vaterliebe besonders deutlich: Die Mutterliebe schien als natürliche Disposition zur bedingungslosen Liebe von Hilfsbedürftigen allen Frauen – nicht einmal nur den tatsächlichen Müttern – biologisch eingeschrieben. So wurde sie den Frauen in den Praxisfeldern der Familie, aber auch der Pflege oder der Erziehung nachgerade zum ‚Beruf‘. Der Vaterliebe hingegen fehlte sowohl solche Verankerung in der ‚Natur‘ als auch in der ‚Kultur‘ der bürgerlichen Gesellschaft. Anders als dieses wohl um 1800 der Fall gewesen wäre, eignete sich Vaterliebe damit um 1900 nicht mehr, um als Verhaltensmuster von der Familie auf andere Praxisfelder übertragen zu werden. Schon innerhalb der Familie war sie amorph und ambivalent, außerhalb der Familie aber wurde sie fast unsichtbar.
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III. Sozialpädagogische Professionalisierung zwischen personaler Liebe und Inszenierungen von Nähe
Liebe und sozialpädagogische Professionalität. Reflexionen im Gegenlicht des emotionstheoretischen Ansatzes nach Martha Nussbaum Michael Tetzer
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Liebe und sozialpädagogische Professionalität
Die Thematisierung von ‚Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung‘ löst intuitiv skeptische Zurückhaltung aus. Zu zahlreich sind die Skandale in pädagogischen Einrichtungen, die aktuell im Zusammenhang mit ‚Liebe‘ und ihren verschiedenen Ausdrucksformen in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Da sind zunächst die verschiedenen Formen sexueller Gewalt in von christlichen Trägern geführten oder von reformpädagogischen Ideen geprägten Internaten. Daneben belegt u. a. die aktuelle Forschung zu ehemaligen Heimerziehungszöglingen der 1950er bis 1970er Jahre, wie im Namen christlicher Nächstenliebe, einem vormals zentralen Motiv (professionellen) helfenden Handelns, jungen Menschen Gewalt angetan wurde und diese jungen Menschen zu Arbeitszwecken ausgebeutet wurden (vgl. WENSIERSKI 2006; KUHLMANN 2008).1 Ein systematischer Aspekt kommt hinzu: Religiös begründete Nächstenliebe realisierte sich über Jahrhunderte als praktizierte christliche Liebestätigkeit, als caritas, als spezifische Dimension der Liebe zu einem Gott. In der Waisenund Armenfürsorge des Mittelalters war sie so die Vorläuferin von Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Im Kontext einer von pluralen Werten und pluralen religiösen Orientierungen geprägten Gesellschaft aber kann solche nicht mehr als
1 Fraglich ist allerdings, ob die verschiedenen Formen von Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, ausschließlich Ausdruck einer jeweils spezifisch ausgeübten Liebestätigkeit sind oder nicht vielmehr ebenfalls im weiteren Kontext der in jeder pädagogischen Beziehung strukturell angelegten Asymmetrie und Machtungleichheit diskutiert werden müssen. Dass die angedeuteten Problemkreise nicht nur ein ausschließliches Phänomen westdeutscher, durch christliche Liebestätigkeit motivierter Erziehungs- und Bildungsinstitutionen sind, belegen wissenschaftliche Untersuchungen wie die von HANS-ULRICH KRAUSE, aber auch autobiografische Erzählungen von ehemaligen Waisenkindern in Ostdeutschland, wie sie z.B. jüngst PETER WAWERZINEK in seinem Roman ‚Rabenliebe‘ vorgelegt hat (vgl. KRAUSE 2004; WAWERZINEK 2010).
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handlungsleitendes Movens einer sich im Professionalisierungsprozess befindlichen Sozialpädagogik verstanden werden. ‚Christliche Liebestätigkeit‘ einerseits, ebenso wie der in reformpädagogischer Tradition verankerte ‚pädagogische Eros‘ andererseits, stehen in der großen Gefahr, das zentrale sozialpädagogische Problem einer sorgfältig auszutarierender Balance von ‚Nähe und Distanz‘ in professionell-pädagogischen Beziehungen nur unzureichend zu konzeptualisieren (vgl. DÖRR/MÜLLER 2007). Von daher scheinen sie sich nicht als Leitmotive für moderne professionelle Verständnisse (sozial-)pädagogischen Handelns zu eignen. ‚Liebe‘ ist in Zeiten pädagogischer Professionalität in Verruf geraten; sie gefährdet eher sozialpädagogische Professionalität, als dass sie dieser Orientierung geben könnte. Für eine Fundierung (sozial-)pädagogischer Professionalisierungsprozesse und professioneller sozialpädagogischer Handlungsformen durch ‚Liebe‘ lässt sich jedenfalls vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse und Diskussionen kaum argumentieren. Insgesamt stellt sich so die Frage, ob ‚Liebe‘ überhaupt noch als ein notwendiges Moment sozialpädagogischer Professionalität erachtet werden kann oder ob ‚Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalität‘ nicht vielmehr als unzeitgemäßes Moment professionellen Handelns kritisiert werden muss. Dabei waren es doch gerade zwei der bedeutendsten sozialpädagogischen Klassiker, welche einst Liebe, der eine praktisch, der andere theoretisch, zum zentralen Moment erzieherischen Handelns erhoben haben. Der stark von JEAN-JACQUES ROUSSEAU beeinflusste JOHANN HEINRICH PESTALOZZI maß Gefühlen im Allgemeinen und Liebe im Besonderen eine zentrale Bedeutung hinsichtlich seiner Erziehungspraxis im Waisenhaus von Stans bei. Er räumte „belebten Gefühlen jeder Tugend dem Reden von dieser Tugend“ bei der „sittlichen Elementarbildung“ den Vorrang ein. Liebe wurde insgesamt eine herausragende Rolle beim erzieherischen Handeln zugesprochen. Sie war für PESTALOZZI Ausgangspunkt sämtlicher pädagogischer Praxis. „Ich kannte keine Ordnung, keine Methode, keine Kunst, die nicht auf den einfachen Folgen der Ueberzeugung meiner Liebe gegen meine Kinder ruhen sollten“ (PESTALOZZI 1998, S.16, 19, 25). In dem Konzept des pädagogischen Bezuges argumentierte HERMAN NOHL gut hundert Jahre später ähnlich wie PESTALOZZI für Liebe als wesentliches Element jeglicher pädagogischen Praxis. Der für die Erziehung nach NOHL so grundlegende pädagogische Bezug wurde von ihm als ein „leidenschaftliches Verhältnis“ charakterisiert (NOHL 1933, S.22). Allerdings handelt es sich nach NOHL bei der wahren pädagogischen Liebe nicht um eine begehrende, sondern um eine hebende Liebe, die sich auf das im Kind angelegte Ideal richtet. Der pädagogische Bezug zeichnet sich durch eine Gegenseitigkeit aus, die vom Erzieher aus durch „Liebe und Autorität“ und von der zu erziehenden Person durch
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„Liebe und Gehorsam“ getragen wird. Des Weiteren zielt die pädagogische Liebe nicht auf ein dauerhaftes Fortbestehen der pädagogischen Beziehung, sondern auf deren Auflösung (NOHL 1933, S.23ff.). Diese wird eintreten, wenn sich das asymmetrische Verhältnis zu einem symmetrischen entwickelt hat. In aktuellen Theorieansätzen der Sozialpädagogik verliert Liebe ihre vormals so prominente Hochschätzung für sozialpädagogisches Handeln jedoch fast vollständig. Die Überlegungen MICHAEL WINKLERs zu einer Theorie der Sozialpädagogik führen dazu, sozialpädagogisches Handeln vor allem als „Ortshandeln“ zu konzipieren (WINKLER 1988, S.263; vgl. WINKLER 1999). Aus dieser Sicht auf die Aufgaben von Sozialpädagogik wird betont, dass neben der personalen Begegnung wesentliche professionelle Aufgabe die Bereitstellung von Orten ist. An diesen können von der Klientel nicht nur Schutz, Geborgenheit und Versorgung erfahren werden; vielmehr sollen junge Menschen auch selbsttätig über diese Orte verfügen. Zudem werden sozialpädagogische Orte als wichtige Momente gelingender Moralentwicklung betrachtet. Es wird davon ausgegangen, das Orte nur dann sozialpädagogische Orte sein können, „… wenn sie eine moral community begründen …: wenn an ihnen Solidarität erfahren und eingeübt wird, vielleicht sogar eine Art staatsbürgerlicher Gesinnung entsteht. Die pädagogischen Orte, daran besteht kein Zweifel, werden in Zukunft ihre Bedeutung besonders darin haben, dass sie Demokratie erfahren lassen“ (WINKLER 1999, S.322). Fraglich bleibt bei diesem Theorieentwurf aber, ob sich die Entwicklung einer solchen moral community nicht eben doch erst durch die Erfahrungen personaler Beziehungen mit dem sozialpädagogischen Personal und anderen jungen Menschen realisieren lässt, ob also nicht doch eher die ‚personale Dimension sozialpädagogischen Könnens‘, wie HERBERT ERNST COLLA sie genannt hat, in den Vordergrund zu rücken ist (vgl. COLLA 1999). Allerdings wurde das dieser Fragerichtung Leitlinien vorgebende Konzept NOHLs zum pädagogischen Bezug inzwischen aber vielfacher Kritik unterzogen. Vor allem wurde hinterfragt, ob und wie sich die in diesem Konzept formulierte hohe emotionale Dichte durch Studium und Ausbildung überhaupt professionalisieren lasse (vgl. GIESECKE 1999, S.253). Trotz dieser Kritik wird der pädagogische Bezug aber weiterhin als ein notwendiges Element sozialpädagogischen Handelns erachtet, das es für die verschiedenen sozialpädagogischen Handlungsfelder zu ‚justieren‘ gilt (vgl. COLLA 1999, S.352f.). Beispielsweise wird der pädagogische Bezug immer noch als eines der Arbeitsprinzipien sozialpädagogischen Handelns einer bewältigungsorientierten Sozialpädagogik der Lebensalter aufgefasst (vgl. BÖHNISCH 2005b, S.314; vgl. auch BÖHNISCH 1996). Die von NOHL für seinen pädagogischen Bezug so bedeutsame Liebe findet in dieser Argumentation allerdings keine Erwähnung mehr.
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Was bleibt, ist die Einsicht in eine emotionale Grundierung sozialpädagogischen Handelns, welche vom professionell sozial Handelnden eine sozioemotionale Kompetenz erfordert. Schaut man darüber hinaus auf die AdressatInnen Sozialer Arbeit , so findet diese emotionale Grundierung sozialen Handelns ihre Entsprechung in dem für den Ansatz einer Sozialpädagogik der Lebensalter zentralen Konzept der Lebensbewältigung. „Lebensbewältigung meint … das Streben nach subjektiver Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenssituationen, in denen das psychosoziale Gleichgewicht – Selbstwertgefühle und soziale Anerkennung – gefährdet ist“ (BÖHNISCH 2005a, S.202f.). Betont wird, dass dieses Streben nach Handlungsfähigkeit nicht kognitiv-rational, sondern vorwiegend emotional strukturiert sei (vgl. BÖHNISCH 2005a, S.203; BÖHNISCH 2005b, S.34). Bei den vier Grunddimensionen des Lebensbewältigungsparadigmas ist es vor allem die durch die Positionen ERIK HOMBURGER ERIKSONs, DONALD WOODS WINNICOTTs und ARNO GRUENs begründete „Erfahrung des Selbstwertverlusts“, die auf diese emotionale Beteiligung beim Streben nach Handlungsfähigkeit hinweist (Böhnisch 2005b, S.55). Auch im von HANS THIERSCH entwickelten Konzept der Alltags- bzw. Lebensweltorientierung, das durch den ‚Achten Kinder- und Jugendbericht‘ für die sozialpädagogische Praxis so folgenreich geworden ist, wird betont, dass sich ohne eine Vergewisserung über Gefühle und Emotionen lebensweltliches Handeln nicht rekonstruieren lässt (vgl. THIERSCH 2009b, S.290). Allerdings wird in den entsprechenden Diskussionen keine abschließende Klärung geleistet, wie und auf welche Weise Emotionen den Alltag oder die Lebenswelt konstituieren. Der derzeitige sozialpädagogische Theoriediskurs berücksichtigt also, so viel ist bis hierher festzuhalten, zwar Emotionen; er weiß aber mit der Liebe im Zusammenhang professionell sozialpädagogischen Handelns derzeit nicht viel anzufangen. Eine derartige Perspektive verleitet dazu, Liebe, und mit ihr auch gleich verschiedene andere Gefühle, ausschließlich unter ihren gefährlichen und gefährdenden Aspekten für sozialpädagogische Professionalität zu betrachten und aus dem sozialpädagogischen Theorie- und Professionalisierungsdiskurs auszuschließen. Dementsprechend werden Gefühle in der Sozialen Arbeit eher als nebensächlich oder sogar als einer sozialpädagogisch fachlichen Rationalität entgegengesetzt diskutiert. Demgegenüber betont aber COLLA, dass Sozialpädagogen in ihrer Praxis mit Emotionen konfrontiert werden können, die sich nicht ohne weiteres kontrollieren oder umdefinieren lassen (vgl. COLLA 1999, S.359). Dementsprechend dürfen Emotionen insgesamt als konstitutiver Bestandteil sozialpädagogischer Professionalität in Studium, Theorie und Praxis nicht vernachlässigt werden. Eine zeitgemäße Betrachtung sozialpädagogischer Professionalität hat demnach anzuerkennen, dass sozialpädagogisches Handeln auch
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emotionales Handeln ist. Professionelles sozialpädagogisches Handeln ohne Emotionen ist nachgerade nicht vorstellbar. Unübersehbar ist, dass Gefühle gegenwärtig eine intensive Beachtung in verschiedenen Diskursen relevanter Nachbardisziplinen wie z.B. der Psychologie, den Neurowissenschaften und der Philosophie erfahren (vgl. DÖRING 2002, S.15; HARTMANN 2005, S.36; ENGELEN 2007; DÖRING 2009b). Im Vergleich dazu berücksichtigt der sozialpädagogische Diskurs die theoretische und praktische Bedeutung von Gefühlen nicht hinreichend. Am ehesten erfolgt eine solche Diskussion noch in einer psychoanalytisch orientierten Sozialpädagogik, wie sie derzeit von MARGRET DÖRR und BURKHARD MÜLLER vertreten wird. Diese erkennen in der emotionalen Wahrnehmung eine vergessene Perspektive sozialpädagogischer Professionalität und Forschung (vgl. DÖRR/MÜLLER 2005; DÖRR/MÜLLER 2007). Daneben wird zwar der Bedarf einer Diskussion „zur Kultivierung von Gefühlen in der Spannung von Notwendigkeit und Missbräuchlichkeit“ in der Sozialpädagogik angemahnt (THIERSCH 2009d, S.7), jedoch ohne, dass dies bislang zu einer systematischen Erörterung geführt hätte. So werden also durch die aktuellen theoretischen Ansätze der Sozialpädagogik zwar in verschiedener Weise und in unterschiedlicher Gewichtung Emotionen als relevant sowohl für sozialpädagogisches Handeln wie für das Handeln der AdressatInnen erachtet. Welcher Emotionsbegriff dem aber zugrunde gelegt wird, bleibt dabei zumeist diffus. Wenn gefordert wird, dass Emotionen in sozialpädagogischen Diskursen eine stärkere Thematisierung erfahren müssen, dann stiftet die Begriffsvielfalt von Gefühl, Emotion, Empfindung, Affekt, Stimmung oder Leidenschaften zunächst Verwirrung. Sie wirft die Frage auf, wie sich diese Begriffe semantisch voneinander abgrenzen lassen. Im Alltagsverständnis werden die Begriffe Gefühl und Emotion weitestgehend synonym verwendet. Emotionen enthalten zwar auch Empfindungen, werden aber als etwas Umfassenderes betrachtet. Eine einheitliche Begriffsdefinition von Gefühl lässt sich nicht ohne weiteres vornehmen. So ist es z. B. strittig, ob es sich bei Gefühlen lediglich um aktuelle Zustände handelt oder um zeitlich längerfristige Dispositionen. Im letzten Fall wird damit eine Beschreibung vorgenommen, die sich auf zeitlich überdauernde Persönlichkeitsmerkmale bezieht. Wenn jemand etwa als besonders liebevoller Mensch bezeichnet wird, muss er zwar nicht in jedem Augenblick liebevoll sein, aber diese Eigenschaft lässt sich häufig in den unterschiedlichsten Situationen zu verschiedenen Zeiten erkennen. MARTIN HARTMANN schlägt ein flexibles Verständnis von Gefühlen vor. Demnach erzeugen Zustände Dispositionen und umgekehrt; Dispositionen können zu bestimmten Zuständen führen (vgl. HARTMANN 2005, S.30ff.). Stimmungen dagegen, so ist mit EVA-MARIA ENGELEN zu ergänzen, sind weniger intensiv als Emotionen; sie erstrecken sich aber über
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einen längeren Zeitraum. Stimmungen sind latent vorhanden, sie sind nicht intentional auf etwas oder auf eine Person gerichtet (vgl. ENGELEN 2007, S.11). Zentrale Fragestellungen, die im Diskurs über Gefühle wiederkehrend diskutiert werden, beschäftigen sich damit, ob einzelne Akteure bloß passiv Gefühlen unterworfen sind oder ob sich diese Gefühle auch aktiv (professionell) beeinflussen lassen. Sind Gefühle bloße körperliche Erregungszustände und damit biologisch disponiert, oder sind sie der sozialen Beeinflussung zugänglich? Lässt sich ein kulturübergreifendes Repertoire von Gefühlen und deren Erleben für bestimmte Situationen feststellen oder sind sie jeweils individuell spezifisch? Ein aktueller theoretischer Ansatz, der für Emotionen als integralen Bestandteil einer umfassenderen ethischen Konzeption argumentiert und sich deswegen eignet, die Bedeutung von Emotionen für das Handeln von AdressatInnen der Sozialpädagogik sowie das Handeln der sozialpädagogisch Professionellen zu diskutieren, wurde von der amerikanischen Philosophin MARTHA CRAVEN NUSSBAUM entwickelt. Er soll im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. Die Bedeutung von Emotionen für die Sozialpädagogik lässt sich mit diesem Ansatz auf verschiedenen Ebenen verorten. Zunächst verweist dieser Ansatz auf einer anthropologischen Ebene darauf, dass Emotionen ein notwendiger Bestandteil des Mensch- und Menschlichseins sind. Mit dieser anthropologischen Grundannahme lässt sich auf einer sozialethischen Ebene argumentieren, warum Sozialpädagogik die emotionale Entwicklung ihrer AdressatInnen berücksichtigen und unterstützen muss. Daneben konzipiert dieser Ansatz auf einer rationalitätstheoretischen Ebene Emotionen als Werturteile und damit als integrale Bestandteile menschlicher Rationalität. Emotionen leiten demzufolge die Wahrnehmung und das Handeln von Akteuren und ermöglichen insofern auch überhaupt erst moralisches Handeln. Diese Annahme weist darauf hin, dass moralische Entwicklung mit emotionaler Entwicklung in einem Zusammenhang zu begreifen ist (vgl. NUSSBAUM 2003, S.233). Das hat Implikationen, die AdressatInnen wie Professionelle der Sozialpädagogik gleichermaßen betreffen. Werden schließlich Emotionen mit dieser Interpretation als zentrale Bestandteile einer ethischen Konzeption aufgefasst, dann ist schließlich anzunehmen, dass sich mit diesem Ansatz auch die Bedeutung von Liebe für den sozialpädagogischen Professionalisierungsdiskurs erläutern lässt.
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Befähigung zu Emotionen
Die Frage nach den Emotionen steht in Zusammenhang mit der allgemeinen Frage nach den menschlichen Fähigkeiten, denn ohne die Befähigung, Emotio-
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nen zu haben und sie zu entwickeln, könnte ein Leben nicht als ein gutes menschliches Leben bezeichnet werden (NUSSBAUM 2007, S.136, S.174). Diese Position entwickelt NUSSBAUM im Rahmen des capabilities approach. Hier hat sie eine Liste von zehn zentralen Befähigungen ausgearbeitet, die ein Leben zu einem guten menschlichen Leben machen und die so auch unter einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive zu berücksichtigen sind. Eine von diesen zehn Befähigungen ist die Befähigung zu Emotionen. „Emotions. Being able to have attachments to things and people outside ourselves; to love those who love and care for us, to grieve at their absence; in genera, to love, to grieve, to experience longing, gratitude, and justified anger. Not having one´s emotional development blighted by overhelming fear and anxiety, or by traumatic events of abuse or neglect. (Supporting this capability means supporting forms of human association that can be shown to be crucial in their development)” (NUSSBAUM 2000b, S.79).
Emotionen sind konstitutiver Bestandteil des Mensch- und Menschlichseins. Insofern lässt sich gerechtigkeitstheoretisch argumentieren, dass die Aufgabe öffentlicher Einrichtungen, und damit auch sozialpädagogischer Hilfe- und Unterstützungsleistungen, darin besteht, Menschen die Entwicklung zur Fähigkeit von Emotionen zu ermöglichen. Diese Aussage gilt unabhängig davon, ob es sich um positiv bewertete Emotionen, wie z.B. Liebe, Freude oder Dankbarkeit, oder ob es sich um negativ bewertete Emotionen, wie z.B. Scham, Zorn oder Wut, handelt. Im Sinne des capabilities approach ist es vielmehr als grundlegendes Problem zu interpretieren, wenn Menschen auch nur irgendeine dieser Emotionen in einer entsprechenden Situation nicht empfinden können, obwohl alle Umstände das Empfinden einer solchen Emotion nahe legen. Die Pädagogik der Moderne, so MICHA BRUMLIK, begann mit der Behauptung: „Die Subjekte, um die es jedenfalls der Pädagogik geht, sind Kinder, Heranwachsende und auch Erwachsene und somit empfindsame, ja leidenschaftliche Wesen“ (BRUMLIK 2002, S.65). Insofern Emotionen zum Mensch- und Menschlichsein gehören, verfügen sie zunächst einmal über einen intrinsischen Wert. Eine Sozialpädagogik, welche die emotionale Entwicklung ihrer AdressatInnen nicht berücksichtigen würde, brächte sich um eine wichtige fachliche Perspektive, wenn es ihr um das Verstehen der Lebenswelt von AdressatInnen und, auf dieser Basis, um die Ermöglichung eines relativ zur Ausgangssituation gelingenderen Alltags geht (vgl. THIERSCH 1995). Vergleichbares gilt aber auch für die professionellen SozialpädagogInnen. Auch deren professionelle Handlungen sind emotional gefärbt. Vielleicht waren Emotionen als Thema in bisherigen Diskussionen um sozialpädagogische Professionalität deshalb unterrepräsentiert, weil sie als ausschließlich individualpsychologische Phänomene verstanden wurden, während ihre sozialen Entwicklungsbedingungen sowie Wahrnehmungs- wie Ausdrucks-
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möglichkeiten dabei vernachlässigt wurden. Eine solche individualisierende Perspektive eignet sich kaum, die Bedeutung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen bei der Entwicklung von Emotionen hinreichend zu würdigen. Mit der Konzeptualisierung der Emotionen nach NUSSBAUM wird aber deutlich, dass sich die emotionale Entwicklung nicht nur auf einen kleinen privaten Kreis, der maximal noch familiale Lebensformen mit einschließt, beschränken lässt. Vielmehr muss sie in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext, der selbst politische Institutionen berücksichtigt, betrachtet werden (vgl. NUSSBAUM 2003, S.225f.; 2007, S.164). Wird dieser Annahme zugestimmt, besteht die Aufgabe der sozialpädagogischen Profession nicht nur darin, die emotionale Entwicklung durch helfende Interaktionen zu unterstützen. Vielmehr ist diese Dimension bereits bei der Konzeption von sozialpädagogischen Einrichtungen zu berücksichtigen. Emotionen entwickeln hier für ein gutes menschliches Leben eine derartige Bedeutung, weil sie aus einer emotionstheoretischen Perspektive nach NUSSBAUM ,neben ihrem intrinsischen Wert, auch als integrale Bestandteile menschlichen Denkens sowie als funktional für moralisches Handeln begriffen werden.
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Der kognitiv-evaluative Ansatz der Emotionen nach Martha C. Nussbaum
Ihren emotionstheoretischen Ansatz hat NUSSBAUM zusammenhängend und in umfassender Form in ‚Upheavals of thought. The Intelligence of Emotions‘ dargelegt (vgl. NUSSBAUM 2003).2 Eine stärker anwendungsbezogene Diskussion zur Bedeutung von Emotionen für die Rechtsprechung – unter besonderer Berücksichtigung der Emotionen Ekel und Scham – hat sie in ‚Hiding from Humanity. Disgust, Shame and the Law‘ geführt (vgl. NUSSBAUM 2006). NUSSBAUMs Ansatz wird den kognitivistischen Theorien zugeordnet. Diese verstehen Emotionen als intentional und repräsentational sowie als einen integralen Bestandteil rationalen Urteilens und Handelns. Emotionen sind für solche Ansätze nicht einfach nur bloße Naturereignisse. Vielmehr haben Emotionen einen Gegenstand, ein Objekt, auf das sie gerichtet sind. Die physische Basis und Manifestation von Emotionen wird in dieser Richtung nur nachrangig diskutiert (vgl. DÖRING 2009a, S.20). Zwar wird eine biologische Grundlage emotionalen Erlebens anerkannt. Im Vordergrund steht hier aber nicht das körperliche Fühlen. Zwar können durchaus auch mess- und beobachtbare körperliche Phänomene wie z.B. eine erhöhte Herz- oder Atemfrequenz oder eine erhöhte Schweißproduktion mit Emotionen einhergehen. Umgekehrt 2 Eine kurze Darstellung findet sich in NUSSBAUM 2004.
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aber sind bestimmte körperliche Reaktionen nicht notwendigerweise in einen kausalen Zusammenhang mit einer bestimmten Emotion zu bringen. Angst ist beispielsweise häufig verbunden mit einer erhöhten Herzfrequenz. Es lassen sich aber umgekehrt nicht zwingend 140 Herzschläge pro Minute als Ausdruck von Angst interpretieren. Ebenso könnte es sein, dass eine Person Freude empfinden, frisch verliebt ist oder gerade einer sportlichen Betätigung nachgegangen ist. Alle diese und viele weitere denkbare Ereignisse könnten Gründe für die beobachtbare erhöhte Herzfrequenz sein. Emotionen wirken sich demnach zwar auch körperlich aus, sie lassen sich aber aus theoretischer Perspektive nicht auf bloße körperliche Erregungszustände reduzieren (vgl. NUSSBAUM 2004, S.150; NUSSBAUM 2003, S.25). Emotionen lassen sich nicht anhand ihrer gefühlten Qualität erkennen und voneinander unterscheiden. Dies geschieht erst über ihren kognitiven Inhalt. Dieser ist mit Überzeugungen und Urteilen über Wert, Wichtigkeit und Bedeutung von Dingen und Personen in der Welt verbunden (vgl. NUSSBAUM 2002). Mit dem stoischen Denker CHRYSIPPOS vertritt NUSSBAUM die Auffassung von Emotionen als „Weisen, die Welt zu sehen. Sie haben ihren Platz im Kern des eigenen Wesens und bilden den Teil, mit dem man sich die Welt begreiflich macht“ (NUSSBAUM 2007, S.149). Sie selbst bezeichnet ihren Ansatz als „neostoic“ (NUSSBAUM 2003, S.27). Zwar geht sie wie die Stoiker davon aus, dass Emotionen sehr eng mit Urteilen verbunden oder sogar mit ihnen identisch sind. Doch anders als die Stoiker vertritt sie nicht die Auffassung, dass diese Emotionen rationale Urteile verfälschen würden und somit zu vermeiden seien. Dagegen vertritt NUSSBAUM die Auffassung, dass Emotionen nicht als etwas der Rationalität Gegensätzliches und damit vernünftige Urteile Störendes verstanden werden dürfen. Vielmehr möchte sie Emotionen als integralen Bestandteil von Rationalität und vernünftigem Urteilen verstanden wissen. Emotionen sollten nach NUSSBAUM „nicht als blinde und rohe, sondern als intelligente Formen einer wertenden Wahrnehmung aufgefasst werden, die entweder identisch mit Überzeugungen oder eng mit ihnen verknüpft sind“ (NUSSBAUM 2007, S.166). Wird dieser Gedanke auf die Frage nach einem professionellen Verständnis sozialpädagogischen Handelns zurückbezogen, so ist daraus herzuleiten, dass Emotionalität in Konzepte sozialpädagogischen Handelns zu integrieren und dabei als ein Bestandteil sozialpädagogischer Rationalität aufzufassen ist. In einer zentralen Textpassage beschreibt NUSSBAUM Emotionen metaphorisch als jene Kraft, welche die Erhebungen unseres Lebens formt. „Emotions shape the landscape of our mental and social lives. Like the ‘geological upheavals’ a traveler might discover in a landscape where recently only a flat plane could be seen, they mark our lives as uneven, uncertain, and prone to reversal“ ... „the geography of the world as
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seen by the emotions has two salient features: uncontrolled movement, and differences of height and depth“ (NUSSBAUM 2003; S.1, S.88).
Indem Emotionen die Wahrnehmung von Differenzierungen ermöglichen, indem sie das Denken leiten, ihm eine Richtung geben und schließlich so auch zum Handeln motivieren können, sind sie nach diesem Bild notwendiger Bestandteil des Denkens. Durch ihre kognitive Beschaffenheit sind Emotionen umgekehrt aber auch durch Denken gestaltbar. Die Antwort auf die Frage, wie und mit welcher Intention sie auf ein Objekt gerichtet sind, ist der Veränderung zugänglich.3 Insofern muss Emotionalität als ein notwendiger Bestandteil auch sozialpädagogisch-professioneller Rationalität berücksichtigt werden. Daneben sind Emotionen auch durch ihren evaluativen Gehalt für sozialpädagogisches Handeln von Bedeutung: Durch Emotionen lassen sich Aussagen über den Wert und die Wichtigkeit von Dingen, anderen Personen oder Geschöpfen und Handlungen treffen. „Ein Intellekt ohne Emotionen ist sozusagen wertblind; ihm fehlt der Sinn für die Bedeutung und den Wert von Menschen, der in den Gefühlen innewohnenden Urteilen enthalten ist“ (NUSSBAUM 2007, S.157). Emotionen sind mit Überzeugungen verbunden, die Dingen oder anderen Personen bzw. deren Handlungen einen großen Wert zuschreiben. Diese Wertzuschreibungen unterliegen nicht unmittelbar der eigenen Kontrolle. Damit implizieren sie auch eine Anerkennung der eigenen Bedürftigkeit und Unvollkommenheit. Emotionen „stellen das Eingeständnis von Bedürftigkeit und Abhängigkeit dar, das Eingeständnis, daß Dinge für den Menschen wichtig sind, die außerhalb seiner selbst liegen und von ihm nicht völlig gesteuert werden können“ (NUSSBAUM 2007, S.168). Aus all‘ dem ergibt sich übergeordnet, dass Emotionen ein notwendiger Bestandteil einer ethischen Konzeption sind: Aus dieser theoretischen Perspektive beeinflussen sie nicht nur moralisches Handeln in positiver oder negativer Weise. Vielmehr sind sie, noch grundlegender, notwendige Bedingung moralischen Handelns. Sie erst befähigen Menschen zur Wahrnehmung von Wert und Wichtigkeit in der Welt (vgl. NUSSBAUM 2000a, S.113). Die Bedeutung von Emotionen für moralisches Handeln lässt sich durch die Betrachtung abweichenden Verhaltens im Grenzbereich von Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie verdeutlichen. Sozialpädagogik ist hier mit verschiedenen Formen abweichenden Verhaltens in unterschiedlichen graduellen Abstufungen befasst. Im theoretischen wie professionellen Kontext abweichenden Verhaltens wird ein Zusammenhang zwischen Problemen nicht normkonformen Verhaltens, der Aneignung von Normen und Werten in gegebe3 Durch ihre Gestalt- und Veränderbarkeit stehen Emotionen allerdings zugleich in der Gefahr der Manipulierbarkeit (vgl. NUSSBAUM 2002, S.326).
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nen gesellschaftlichen Verhältnissen und der emotionalen Entwicklung einzelner Akteure diskutiert. Dieser Zusammenhang von emotionaler und moralischer Entwicklung ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen im Spannungsfeld von Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, wie sie beispielsweise zur Frage der ‚Störungen des Sozialverhaltens‘ geführt werden. Die Ergebnisse des vom Robert-Koch-Institut in Berlin durchgeführten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey, der sogenannten KIGGS-Studie, in der insgesamt 17.641 junge Menschen von der Geburt bis zum Alter von 17 Jahren sowie deren Eltern untersucht wurden, weisen eine ‚neue Morbidität‘ aus. In dieser Studie wurde einerseits eine Verschiebung weg von somatischen Krankheiten hin zu psychischen Störungen beschrieben. Andererseits wurde der relative Rückgang akuter Erkrankungen bei gleichzeitiger Zunahme chronischer gesundheitlicher Beeinträchtigungen erkannt (vgl. ERHART u.a. 2007). Eine der im Jugendalter häufig vorkommenden psychischen Störungen ist die Störung des Sozialverhaltens. Bei diesem Störungsbild handelt es sich nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD 10 um ‚ein sich wiederholendes und andauerndes Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens‘ (vgl. DILLING 2010). Probleme in der emotionalen Entwicklung können dazu führen, dass (junge) Menschen zu AdressatInnen sozialpädagogischen Handelns werden. Ein der Störung des Sozialverhaltens verwandtes, aufgrund seiner fehlenden stringenten klassifikatorischen Systematik allerdings nicht unumstrittenes Störungskonzept ist das der Psychopathie. Mit diesem wird normabweichendes Verhalten im Zusammenhang mit der emotionalen Entwicklung diskutiert. Für diese Position gibt es Vorläufer. Von der Sozialarbeiterin RUTH VON DER LEYEN wurden bereits in dem lange Zeit maßgeblichen, von NOHL und LUDWIG PALLAT herausgegebenen ‚Handbuch der Pädagogik‘„Gefühl, Wille und Intellekt“ als „drei widerstreitende Faktoren im psychopathischen Kind“ angesehen (VON DER LEYEN 1929, S.158). In einem anderen Band des ‚Handbuchs‘ gelangte der Psychiater RUDOLF THIELE zu einer ähnlichen Annahme, indem er die „psychopathischen Erscheinungen … als Störungen des Gefühls- und Willenslebens bei Unversehrtheit der intellektuellen Funktionen“ beschreibt (THIELE 1929, S.222). Dieses Störungskonzept ist einerseits, politisch, aufgrund der weiteren Geschichte seiner späteren Verwendung in der Zeit des Nationalsozialismus nicht unproblematisiert zu übernehmen, diente es während dieses Zeitraums doch auch der Begründung von Vernichtung menschlichen Lebens. Zudem blieb andererseits, theoretisch, die Klärung der Frage schwierig, ob es überhaupt auf junge Menschen, die sich noch in der Entwicklung befinden, bezogen werden kann. Es fällt aber auf, dass auch der aktuelle Psychopathiebegriff, der sich hauptsächlich auf
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die Arbeiten von ROBERT D. HARE bezieht, ebenfalls den Zusammenhang emotionaler Aspekte mit abweichendem Verhalten betont (vgl. HARE 2005). Psychopathie wird hier als eine Störung der Persönlichkeit beschrieben, „d.h. als ein spezifisches Muster von überdauernden, vom Normalen abweichenden Persönlichkeitseigenschaften, das sich schon in frühem Alter manifestiert. Psychopathien zeichnen sich nach diesem Verständnis durch Beeinträchtigungen üblicher zwischenmenschlicher Affekte, vor allen Dingen Empathie und Schuldgefühle, durch fehlende Berücksichtigung der Interessen und Rechte anderer und das Brechen üblicher sozialer Verhaltensnormen aus“ (SCHMIDT-FELZMANN 2006, S.340).
Dieses Störungsbild kennzeichnet typische Persönlichkeitsmerkmale. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie sich insgesamt auf einer interpersonellen Ebene durch den Mangel an dauerhaften Beziehungen und Empathie und auf der emotionalen Ebene durch das Fehlen von Scham, Schuldgefühlen und Angst aufzeichnen (vgl. SCHMECK/SCHLÜTER-MÜLLER 2009, S.21). Ein fehlendes oder wenig entwickeltes Verständnis für Emotionen anderer, vor allem für die Furcht anderer Menschen, wie für das Fehlen eigener Schuldgefühle scheint Psychopathen das Verständnis für moralisches Handeln und dessen Realisierung zu erschweren. Dieses Phänomen wird in einem Zusammenhang mit einer unzureichenden Entwicklung ausreichend tiefer und dauerhafter emotionaler Bindungen an andere Personen diskutiert. Bei Psychopathen scheint die Fähigkeit unterentwickelt zu sein, auf das Leiden anderer emotional zu reagieren und dabei Gefühle wie Schuld oder Scham zu erleben. Diese aber sind als eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Moralität zu unterstellen. Insofern ist es fraglich, ob Psychopathen für ihre Handlungen überhaupt moralisch verantwortlich sein können (SCHMIDT-FELZMANN 2006, S.345ff.). Die allgemeinen Annahmen über die Bedeutung von Emotionalität für moralisches Handeln lassen sich nicht nur auf die AdressatInnen sozialpädagogischer Hilfen beziehen. Durch ihre evaluative Bedeutung erfüllen Emotionen eine handlungsleitende Funktion, die für AdressatInnen wie auch für Professionelle zu berücksichtigen ist. Professionelles sozialpädagogisches Handeln bedarf emotional gebildeter Professioneller, die hinreichend befähigt sind, ihre eigene emotionale Verfassung und deren Bedeutung für ihr Handeln zu erkennen. Sozialpädagogische Professionalität setzt eine entwickelte und reflektierte Emotionalität voraus; gleichzeitig besteht eine wichtige Aufgabe sozialpädagogischer Professionalisierung in der Entwicklung von Emotionen. Bereits während der Ausbildung, aber auch in der späteren Praxis, sollten daher Möglichkeiten zur Entwicklung dieser Fähigkeiten geschaffen werden.4 4 Verschiedene Formen ‚emotionaler Weiterbildung‘ sind in derzeitigen sozialpädagogischen Praxen z.B. im Bereich von Supervision und kollegialer Beratung zu konstatieren. Mit dem kognitiv-
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Zusammenfassend lassen sich Emotionen dadurch charakterisieren, dass sie erstens einen intentionalen Gegenstand haben, zweitens sehr komplexe Annahmen über diesen Gegenstand darstellen und drittens diesen Gegenstand als etwas erachten, was einen Wert hat (vgl. NUSSBAUM 2004, S.146f.). Der kognitivevaluative Ansatz der Emotionen ist für die Sozialpädagogik auch deshalb so interessant, weil er Emotionen als entwicklungsfähig und damit als veränderbar begreift. NUSSBAUM lässt sich von der Annahme leiten „… that a change in thought will lead to changes not just in behavior but also in emotion itself, since emotion is a value-laden way of seeing“ (NUSSBAUM 2003, S.232). Durch die kognitivistische und sozial-konstruktivistische Perspektive wird deutlich, dass Emotionen einer durch sozialpädagogische Hilfeprozesse unterstützten Entwicklung zugänglich sind. Emotionen sind nicht bloß unbändige Kräfte, die dem Selbstbestimmungsvermögen vollständig entzogen sind. Vielmehr entwickeln sich Emotionen im biographischen Prozess und sind durch Erfahrung der Veränderung zugänglich. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich aus dem dargestellten Ansatz der Emotionen ein Anspruch auf Perfektionierung von Emotionen oder einer technischen Bearbeitung durch eine Art von ‚Emotionsmanagement‘ formulieren ließe, wie es vielleicht die Diskussion um das Neuro-Enhancement nahelegen würde. Bedürftigkeit und Unvollkommenheit sind vielmehr grundlegende Konstanten menschlichen Lebens, die auch durch die Emotionalität eines Menschen zum Ausdruck kommen. Durch eine Betrachtung der Emotionalität ist es aber möglich, eine tiefere Einsicht über die Bedeutung von Emotionen für biografische Prozesse zu gewinnen und diese so auch gelingender durch die einzelnen Akteure gestalten zu lassen. Emotionen sind aber nicht nur funktional. Vielmehr haben sie immer auch einen Wert an sich. Sie gehören existenziell zum Menschsein. Demnach lässt sich theoretisch begründen, dass Sozialpädagogik in Theorie wie Praxis die Entwicklung von Emotionen, egal, ob sie sozial und kulturell positiv oder negativ besetzt sind, in ihren Denk- und Handlungsweisen mit berücksichtigen muss. Zusammenfassend ist bis hierher festzuhalten, dass der vorgestellte emotionstheoretische Ansatz eng mit jenen Konzepten verbunden ist, welche Emotionen als soziale Konstruktionen auffassen (vgl. NUSSBAUM 2007, S.166). Zudem besteht eine große Nähe zu solchen Konzepten, welche der Zeit der frühen Kindheit eine herausragende Bedeutung für die emotionale Entwicklung beimessen. Den für den sozialpädagogischen Kontext wesentlichen Kern von Annahmen fasst NUSSBAUM selber wie folgt zusammen:
evaluativen Ansatz der Emotionen lässt sich aber auch, darüber hinausgehend, für eine Integration dieses Bereichs bereits in die Erstausbildung argumentieren.
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„Emotionen vermitteln dem heranwachsenden Kind ein Bild der Welt. An seinen Emotionen erkennt das Kind, wo wichtige gute und schlechte Dinge zu finden sind – und auch, dass diese guten und schlechten Dinge von außen kommen. Sie zeigen also die Grenzen auf, die seiner eigenen Kontrolle gesteckt sind. Angst, Freude, Liebe und sogar Wut teilen die Welt ein und situieren zugleich das kindliche Selbst in dem Maße, in dem die ersten Bewertungen, die von den eigenen inneren Bedürfnissen nach Sicherheit und Wohlbefinden ausgelöst wurden, in Verbindung mit dem aktiven Bemühen um Kontrolle und Manipulation, immer mehr verfeinert werden“ (NUSSBAUM 2000a, S.101).
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Sozial konstruierte Emotionen: Entwicklungsfähigkeit und Entwicklungsnotwendigkeit von Emotionen
Eine kostruktivistische Theorieperspektive bestreitet nicht die biologische Grundlage von Emotionen. Allerdings werden Emotionen als über körperliches Fühlen hinausgehend und als biologisch nicht vollständig prädeterminiert begriffen. Die Arten und Weisen, wie Emotionen in verschiedenen Kontexten erlebt werden, wie mit ihnen umgegangen wird, welchen Inhalt sie haben bzw. worauf sie gerichtet sind, werden hier hauptsächlich als kulturell vermittelte Resultate sozialer Konstruktionen betrachtet. Damit wird jedoch kein ‚radikaler‘ Sozialkonstruktivismus verfochten, der ausschließlich gesellschaftliche Faktoren als Entwicklungsursachen anerkennt oder sogar, nochmals radikaler, darauf hinausläuft, Emotionen aus der Analyse menschlichen Lebens auszublenden. Im Gegensatz dazu geht NUSSBAUM von einer „allgemeinen Struktur menschlichen Lebens“ aus, die ihren elementarsten Ausdruck in Bestimmungen wir Sterblichkeit und Bedürftigkeit findet (NUSSBAUM 2007, S.167). Dementsprechend könne auch mit guten Gründen unterstellt werden, dass sich Emotionen wie z.B. Liebe, Freude oder Trauer als anthropologische Konstanten in jedem kulturellen Kontext vorfinden lassen. Anthropologisch sind sie als Bestandteil der menschlichen Natur zu betrachten; erst aufbauend auf dieser Basis können ihre konkreten Ausprägungen auch als Ergebnis varianter sozialer Konstruktionen gedacht werden. Kultur- oder kontextspezifisch ist dagegen die Art und Weise, wie diese Emotionen empfunden werden, wie sie zum Ausdruck kommen, mit welchen Inhalten sie verknüpft werden und auf welches Objekt sie gerichtet sind. Damit ist auch die Gender-Perspektive berührt, insofern davon auszugehen ist, dass Emotionen „nur aus kontingenten gesellschaftlichen Gründen geschlechtsspezifisch ausgeprägt sind“ (NUSSBAUM 2007, S.171). Dieser Ansatz betont aber nicht nur die Bedeutung von Emotionen, wie sie als immer schon gegebene, vorfindliche bei AdressatInnen wie Professionellen in sozialpädagogischen Hilfeprozessen immer mit zu bedenken sind. Vielmehr zielt diese Perspektive, handlungsorientiert gewendet, auch darauf ab, Emotionen
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durch von sozialpädagogischer Hilfe unterstützte Entwicklungsprozesse zu gestalten. Nicht nur die Entwicklungsfähigkeit, sondern zugleich auch die Entwicklungsnotwendigkeit von Emotionen wird in den Blick genommen, wenn es darum geht, moralisches Handeln zu ermöglichen oder zu fördern. Eine herausragende Bedeutung für solche Unterstützungsprozesse kommt dabei insbesondere sicheren Bindungen in der frühen Kindheit zu. Daneben rückt aber auch die Notwendigkeit der weiteren Kultivierung von Emotionen durch Erziehungs- und Bildungsprozesse in den Blick, wie sie in öffentlichen Erziehungs-, Unterrichtungs- und Bildungsinstitutionen5 nicht zuletzt durch die bildende Auseinandersetzung mit Werken der Kunst, Musik, Malerei und vor allem der Literatur geleistet wird (vgl. NUSSBAUM 2002). Gegenüber den bindungstheoretischen Positionen im Anschluss an WINNICOTT und JOHN MOSTYN BOWLBY setzt der kognitiv-evaluative Ansatz der Emotionen, wie er von NUSSBAUM vertreten wird, einen etwas anderen Akzent. Hier wird in den Mittelpunkt der weiteren Überlegungen gerückt, dass die emotionale Verfassung einer Person in einem wesentlichen Zusammenhang mit ihrer emotionalen Entwicklung in der frühen Kindheit steht.6 Durch die Interaktion mit der sozialen, natürlichen und kulturellen Umwelt entwickeln sich die Arten und Weise, wie Emotionen im Verlauf der Biografie empfunden und auf welche Objekte sie gerichtet werden (NUSSBAUM 2007, S.171). Die erfahrene Liebe durch bedeutsame Bezugspersonen bildet dabei eine der wesentlichen Grundlagen für die emotionale Entwicklung. „Bis zu einem gewissen Maß entwickeln sich also die Emotionen des Kindes im Austausch mit einer relativ stabilen Umwelt, die der Entwicklung von Staunen und Freude und auch dauerhafter Liebe und Dankbarkeit Raum lässt“ (NUSSBAUM 2000a, S.103). Aktuelle Erkenntnisse der Bindungstheorie und empirischen Bindungsforschung, die auf den Arbeiten von BOWLBY und MARY D. SALTER AINSWORTH aufbauen, stützen diese Annahme. Auch sie betonen den Zusammenhang von Bindungen, emotionaler und moralischer Entwicklung (vgl. HOPF/NUNNER-
5 Diese Tatsache ist u.a. ein wesentlicher Grund, aus dem NUSSBAUM die derzeitige Entwicklung an Hochschulen – und damit implizit auch die Studienreformen in der Sozialpädagogik / Sozialarbeit / Sozialen Arbeit – einer umfassenden Kritik unterzieht. Diese zielt in der Hauptsache auf die einseitige strukturelle wie inhaltliche ökonomistische Orientierung von Hochschulen. In dieser einseitigen Orientierung, die auf ökonomischen Nutzen und technische Fähigkeiten enggeführt wird, verfehlen Hochschulen ihren umfassenden Bildungsauftrag, der auch demokratietheoretisch darin besteht, junge Menschen dazu zu befähigen, sich als BürgerInnen in und für demokratische Gesellschaften zu engagieren (vgl. NUSSBAUM 2010). 6 Der Bedeutungszuwachs, den die Elementarerziehung derzeit in der öffentlichen Diskussion erfährt, der sich nicht zuletzt auch in der Vermehrung entsprechender Studienprogramme an sozialpädagogischen Fachhochschulen zeigt, ist insofern nicht alleine als Zeitgeistphänomen zu kritisieren, sondern aus der Perspektive eines solchen Ansatzes der Emotionen auch zu begründen.
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WINKLER 2007, S.23). Mit diesen Erkenntnissen lassen sich die Aussagen NUSSBAUMs allerdings nicht nur stützen, sondern auch kritisieren. Insofern nämlich NUSSBAUM die körperlich-biologischen Grundlagen von Emotionen nur peripher in den Blick nimmt, berücksichtigt sie zu wenig, dass sich Bindungen in der frühkindlichen Entwicklung auch durch die körperliche Erfahrung, durch das Fühlen der eigenen und fremden Leiblichkeit entwickeln. Nähe und Distanz werden eben zunächst körperlich erleb- und erfahrbar. Als Grundlage von Werturteilen tragen Emotionen wesentlich zur Entwicklung der Möglichkeit moralischen Handelns bei. Für ihre Entwicklung sind sie auf sichere Bindungen angewiesen. Demnach könnte ein Erfolgskriterium professionellen sozialpädagogischen Handelns darin bestehen, jungen Menschen in sozialpädagogischen Hilfemaßnahmen die Erfahrung von sicheren, belastbaren und verlässlichen Bindungen zu ermöglichen.7 Neben der personalen Begegnung in der frühen Kindheit misst NUSSBAUM der Kultivierung von Emotionen durch die Auseinandersetzung mit den Werken der Kunst in Musik, Malerei und vor allem der Literatur eine prominente Bedeutung bei. Durch Erzählungen und Geschichten lernen Subjekte die Inhalte, Strukturen und Dynamiken von Emotionen und damit Wert und Wichtigkeit von Dingen und Handlungen kennen. Werke der Kultur können unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben vorstellen, sie können auf unterschiedlichste Art und Weise vorstellen, wie das Leben empfunden und betrachtet werden kann (vgl. NUSSBAUM 2002, S.287). Ganz ähnlich hat in der Sozialpädagogik schon BRUNO BETTELHEIM, ein aufgrund seiner Praxis vielfach kritisierter, aber wegen seiner Arbeiten zum ‚therapeutischen Milieu‘ einflussreicher Klassiker der Heimerziehung, solche Bedeutung von Geschichten für die moralische Entwicklung junger Menschen benannt. Eine moralische Erziehung bedarf der Geschichten. Diese veranschaulichen die Vorteile moralischen Handelns (vgl. BETTELHEIM 1984, S.11). Konkret ist unter Einbeziehung von vielfältigen Erfahrungen und Konzepten der offenen Jugendarbeit und Jugendkulturarbeit in diesem Zusammenhang an die gesamte Spannbreite von Hip-Hop-Projekten bis hin zu Theater-, Museums-, Bibliotheks- und Konzertbesuchen zu denken. Die Integration von Kunst und Kultur in ihren verschiedensten Variationen in sozialpädagogische Handlungskonzepte lässt sich mit diesem Ansatz zweifach begründen. Erstens kann Kunst dem Ausdruck, der Vergewisserung sowie der 7 Das in vielen stationären Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe bestehende System von BezugsbetreuerInnen kann als Versuch gedeutet werden, der hohen Bedeutung von Bindungen gerecht zu werden. Umgekehrt sind die vielfachen Einrichtungswechsel und die damit verbundenen Abbrüche und Wechsel von sozialen Beziehungen bei jungen Menschen, die zwischen den verschiedenen Hilfesystemen von Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie wechseln, als Hinweis auf den Misserfolg von Jugendhilfemaßnahmen zu kritisieren.
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Ordnung der eigenen emotionalen Verfassung dienen. Zum anderen kann die Beschäftigung mit Kunstwerken auch eine allgemeine Betrachtung von Emotionen und ihrer Bedeutung für moralisches Handeln unterstützen. Wird SozialPädagogik allerdings als Bildungsarbeit verstanden, muss daneben und darüber hinaus auch immer berücksichtigt werden, dass die Beschäftigung mit Kunst und Kultur im sozialpädagogischen Kontext nicht nur instrumentell hinsichtlich biographischer Entwicklungsprozesse aufgefasst werden darf, sondern auch dem Vergnügen und der Erbauung dienen mag. Emotionalität und, darauf aufbauend, Moralität lassen sich nicht auf eine individuelle biologische Disposition und/oder auf familiale Interaktionen zurückführen. Vielmehr entwickelt sich Emotionalität in einem biografischen Prozess, in dem individuelle Disposition, Entwicklungsgeschichte sowie sozio-kultureller historischer Kontext durch die einzelnen Akteure verknüpft werden. Die Bedeutsamkeit emotionstheoretischer Einsichten lässt sich exemplarisch entwickeln, wenn man sich aus sozialpädagogischer Perspektive dem Phänomen der Scham und ihrer Bedeutung für die Subjektentwicklung zuwendet. Aus verschiedenen Gründen wird Scham in sozialpädagogischen Kontexten als eine problematische Emotion angesehen. So hat etwa Scham sicherlich auch dazu beigetragen, dass Fälle von sexueller Gewalt und Misshandlungen an jungen Menschen in Schulen und Heimeinrichtungen erst so spät öffentlich und diskutiert wurden. Emotionen wie Angst und Scham tragen so dazu bei, dass Formen sexueller Gewalt in (sozial-)pädagogischen Einrichtungen überhaupt erst ermöglicht werden. So kann Scham zur Vermeidung der Inanspruchnahme sozialpädagogischer Unterstützungsleistungen führen. So kann etwa auch die aktuell diskutierte Altersarmut verbunden mit der Scham, auf staatliche Hilfeleistungen zurückzugreifen, ebenfalls als ein Hinweis auf diesen Zusammenhang verstanden werden. Des Weiteren sind sozialpädagogische Interventionen, wenn sie aus Gründen des Kinderschutzes in die Privatsphäre von Familien eingreifen, häufig mit Beschämungen verbunden. „Scham … ist begründet in der Differenz von dem, was ich bin, tue und erleide, zu dem, was möglich wäre, was ich und was die Gesellschaft erwarten kann; Scham meint das Leiden an dieser Erfahrung als Beschämung, Irritation, Kränkung und Demütigung. Scham und Beschämung sind eine anthropologische und gesellschaftliche Grundgegebenheit“ (THIERSCH 2009c, S.161; vgl. auch NUSSBAUM 2000a, S.99). Sozialpädagogik kommt hier die Aufgabe zu, solche Scham zu verhindern, um bei der (potenziellen) Klientel die Bereitschaft, Hilfe annehmen zu können, zu fördern. Umgekehrt können aber auch der Mangel an Scham oder die unterentwickelte Fähigkeit, Scham zu empfinden, problematisch sein. Dieser Gedanke ist unmittelbar in Bezug etwa auf Fälle des Lügens oder Stehlens einsichtig. Ein solcher Mangel an Scham kann sozialpädagogische Hilfeprozesse erst erforder-
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lich machen oder aber diese erschweren. Bei manchen Personen führt der Mangel an Scham zu einem von gesellschaftlichen Normen abweichenden Verhalten, das als veränderungsbedürftig diskutiert wird. Insofern kann Scham ebenfalls eine nützliche Funktion hinsichtlich moralischen Handelns erfüllen. Zwar stellt Scham eine wichtige Emotion dar, jedoch ist zwischen Graden ihrer Entwickeltheit zu unterscheiden. Durch Scham verdeutlicht sich die eigene Unvollkommenheit, Bedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen Personen. „For shame involves the realization that one is weak and inadequate in some way in which one expects oneself to be adequate“ (NUSSBAUM 2003, S.196; vgl. auch NUSSBAUM 2000a, S.99). Ein auf Beschämung ausgerichtetes Handeln würde allerdings diesen Aspekt der Unvollkommenheit einer Person zu stark gewichten. NUSSBAUM argumentiert gegen Beschämung, denn diese würde aufgrund ihrer einseitigen Orientierung auf Unvollkommenheit und Abhängigkeit zu Rigidität führen, dadurch wiederum würde die weitere emotionale Entwicklung eher gehemmt. Ein solches Ergebnis wäre aus sozialpädagogischer Perspektive fatal. Dementsprechend plädiert NUSSBAUM dafür, Beschämungen durch Bestrafung zu vermeiden und stattdessen auf einzelne Handlungen von Personen zu fokussieren (vgl. NUSSBAUM 2003, S.216; NUSSBAUM 2006, S.213).8 Beschämungen von AdressatInnen sind demnach in sozialpädagogischen Hilfeprozessen zu vermeiden.9 Wohl aber kann es durchaus professionelle sozialpädagogische Aufgabe sein, durch Formen des Aufzeigens von Gegebenem und Möglichem AdressatInnen dabei zu unterstützen, ihr Handeln auch durch die Vorstellung von Scham leiten zu lassen. Eine weitere in diesem Zusammenhang zu diskutierende Emotion ist der Ekel. Auch der Ekel entwickelt sich, wenn auch später als die Scham, bereits in der frühen Kindheit; auch er kann folgenreich für die weitere moralische Entwicklung sein. Während sich Scham aber auf das eigene Selbst richtet, orientiert sich Ekel nach außen (vgl. NUSSBAUM 2003, S.220). Sozialpädagogisch relevant wird der Ekel, wenn z.B. Personen oder Gruppen anderen Personen das Menschsein absprechen; wenn ihr Widerwille so tief wird, dass sie zu Gewalthandlungen gegenüber anderen Menschen motiviert sind. In solchen Fällen ist ein deutlicher sozialpädagogischer Interventionsbedarf 8 Ob vor diesem Hintergrund eine Perspektive zu fordern ist, welche Person und Verhalten voneinander trennt, wie es nach LOTHAR BÖHNISCH durch eine bewältigungsorientierte Sozialpädagogik der Lebensalter als wichtiges Arbeitsprinzip formuliert wird, muss allerdings bezweifelt werden (vgl. BÖHNISCH 2005b, S.314). Emotionen und durch sie bedingtes Verhalten lassen sich nicht von Personen und deren Entwicklungsgeschichte trennen. Vielmehr können Emotionen und Handlungen als spezifischer Ausdruck dieser je konkreten Person mit ihrer je konkreten Biografie verstanden werden, welche sich auch durch diese je konkreten Handlungen von anderen Personen unterscheiden lässt. 9 Aus dieser Perspektive erscheint es mehr als fraglich, ob verschiedene Elemente einer Konfrontativen Pädagogik wie z.B. der ‚Heiße Stuhl‘ adäquat sind.
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markiert. Weiter gefasst, kann sozialpädagogischem Handeln dann angeraten sein, wenn Personengruppen aufgrund ihres Aussehens und/oder ihres Verhaltens stigmatisiert und damit von gesellschaftlichen Teilhabeprozessen ausgeschlossen werden.10 Es lässt sich aber ebenso wenig ausschließen, dass SozialpädagogInnen selber in ihrem professionellen Alltag mit Situationen konfrontiert werden, in denen sie sich ekeln (vgl. THIERSCH 2009a, S.114). Als ein früher Hinweis hierfür kann sicherlich PESTALOZZIs Beschreibung der Kinder in seinem sogenannten Stanser Brief: „Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, daß sie kaum gehen konnten, viele mit aufgebrochenen Köpfen, viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren…“ (PESTALOZZI 1998, S.5). In verschiedenen sozialpädagogischen Handlungsfeldern, wie z.B. der Arbeit mit obdachlosen jungen Menschen oder der Sozialpädagogischen Familienhilfe, dürften SozialpädagogInnen auch heute und immer wieder mit Bildern konfrontiert werden, die sich so oder so ähnlich beschreiben lassen. So können das Aussehen, Verhalten oder der Geruch anderer Menschen, aber auch die gesamte spezifische Situation, Ekel hervorrufen, den es zu überwinden, nicht aber zu ignorieren gilt. Denn der Ekel kann in solchen Fällen auch als ein wichtiger Hinweis auf eine Situation genutzt werden, in der sozialpädagogischer Hilfe erforderlich ist. So verstanden, sind auch aversive Emotionen, die einem professionellen Selbstverständnis von SozialpädagogInnen zunächst widersprechen mögen, mit zu berücksichtigen und in ein professionelles Handlungsverständnis von Sozialpädagogik zu integrieren. Ekel kann aber ebenfalls die Gefahr bergen, Fähigkeiten zu Empathie und Mitleid nicht entwickeln oder sie zumindest nicht realisieren zu können. Eine gelingende emotionale Entwicklung ist angewiesen auf sichere Bindungen in der frühen Kindheit sowie auf eine weitere Kultivierung von Emotionen. Diese mag sich in personalen Begegnungen, durch Erziehungs- und Bildungsinstitutionen sowie durch die Aneignung der kulturellen Umwelt ergeben. Das Lebensalter der frühen Kindheit und die weitere emotionale Entwicklung erweist sich als folgenreich für die Entwicklung von moralitätskonstitutiver Empathie, von Mitleid und der Fähigkeit zur Fürsorge.
10 Ein aktuelles Beispiel für diese Tendenz ist etwa das in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen handlungsleitende Inklusionsparadigma, das als Ziel eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe anstrebt.
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Empathie, Mitleid und Liebe
Die Entwicklung von Empathiefähigkeit als wesentlicher Voraussetzung prosozialen oder moralischen Handelns kann als eine wichtige Aufgabe sowohl in Hinblick auf die AdressatInnen als auch in Hinblick auf die Professionellen sozialpädagogischer Hilfeangebote betrachtet werden. Hinsichtlich sozialpädagogischer Professionalität wird Empathie als elementare Notwendigkeit im direkten AdressatInnenkontakt erachtet. Sie ist notwendig, um die Situation der AdressatInnen einschätzen und dementsprechend sozialpädagogische Handlungen planen und durchführen zu können. Unter anderem durch CARL RANSOM ROGERS wurde die Bedeutung von Empathie als einer der drei notwendigen, aber auch hinreichenden Beratervariablen der klientenzentrierten Gesprächsführung hervorgehoben (vgl. ROGERS 2009). Eine professionell gestaltete Empathie bedarf aber ebenfalls der durch Theorie geleiteten Reflexion. Um fachlich verantwortbar zu sein, muss gelten: „Einfühlen ist durch Nachdenken zu justieren“ (RAMB/COLLAMÜLLER 1989, S.52). Mitte der 1990er Jahre wurden in der Hirnforschung durch GIACOMO RIZZOLATTI und seine Mitarbeiter Spiegelneuronen als hirnphysiologische Grundlage der Empathiefähigkeit, sozialen Verbundenheit und intuitiven Kommunikation entdeckt. Diese Nervenzellen werden nicht nur bei eigenen Körperbewegungen aktiviert und entwickelt, sondern ebenfalls bei Beobachtungen von körperlichen Bewegungen oder sogar emotionalen Reaktionen anderer Menschen. Spiegelneuronen haben zwar eine genetische Grundlage, bedürfen aber zu ihrer Entwicklung sozialer Faktoren, wie z. B. positiv besetzte frühe Erfahrungen mit sozialen Beziehungen (vgl. DENNER/HERMANS 2009, S.74f.). Die Entwicklung der hirnphysiologischen Grundlagen von Empathie mündet allerdings nicht schon zwangsläufig in prosozialem Handeln: „Empathy is not morality, but it can supply crucial ingredients of morality“ (NUSSBAUM 2010, S.37). Im Extremfall kann die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, seine Position einzunehmen, sogar gezielt dazu genutzt werden, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen oder einer anderen Person Nachteile zu schaden. Insofern ist die Entfaltung hirnphysiologischer Grundlagen zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung von Empathie. Dennoch ist Empathie eine bedeutsame Voraussetzung für eine professionelle Einschätzung und ein professionelles Verständnis der Situation, in der sich ein anderer Mensch befindet. Es kommt darauf an, sich darüber bewusst zu sein, dass diese Person ein anderer Mensch ist, der sich in dieser konkreten Situation befindet, und dass er damit in einer anderen Lage ist als man selbst. Empathie beinhaltet aber zunächst noch keine Bewertung der Situation. Sie ist erst einmal neutral gegenüber einer Einschätzung der Situation, in der sich eine andere Per-
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son befindet. Durch das Hineinversetzen in einen anderen Menschen und das Verstehen einer anderen Person kann Empathie funktional für Mitleid sein. Mitleid ist eine Emotion, mit der eine bestimmte Situation, in der sich ein Anderer befindet, als schlecht erlebt und bewertet werden kann. Mitleid bedeutet hierbei die Anteilnahme an dem Leiden anderer und kann dazu motivieren, durch eigenes Handeln an dem Leid des Anderen etwas zu verändern. Mitleid kann so als eine Voraussetzung prosozialen Handelns verstanden werden. Unter Bezug auf ARISTOTELES und ROUSSEAU weist NUSSBAUM drei notwendige Bedingungen für Mitleid aus: „Compassion, then has three cognitive elements: the judgment of size (a serious bad event has befallen someone); the judgment of nondesert (this person did not bring the suffering on himself or herself); and the eudaimonistic judgment (this person, or creature, is a significant element in my scheme of goals and projects, an end whose good is to be promoted)“ (NUSSBAUM 2003, S.321; vgl. auch NUSSBAUM 2007, S.153).
Mitleid zeigt nach diesem Verständnis eine grundlegende interpersonale Verbundenheit. Mitleid motiviert dazu, an der für andere Personen schlechten Situationen etwas zu verändern. Eine Emotion wie Mitleid kann damit zur Grundlage prosozialen, moralischen Handelns werden, weswegen Mitleid als integraler Bestandteil einer ethischen Konzeption anzusehen ist. Durch Liebe wachsen der Verbundenheit und Beziehung zu anderen Menschen nochmals neue Dimensionen zu. Diese Steigerung kann allgemein für moralisches, im engeren Sinne aber auch für professionell sozialpädagogisches Handeln zu weiteren Schwierigkeiten führen. ENGELEN arbeitet in Anlehnung an HARRY GORDON FRANKFURT, der Liebe aber nicht als ein emotionales, sondern als ein volitionales Phänomen auffasst, sieben allgemeine Merkmale von Liebe heraus, die diese Schwierigkeiten verdeutlichen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Liebe entzieht sich einer unmittelbaren, willentlichen Kontrolle. Liebe ist auf eine andere Person um ihrer selbst willen gerichtet, die nicht durch eine andere ersetzbar ist. Liebe ist eine Bindungskraft ohne Pflicht. Die kontingenten Notwendigkeiten der Liebe motivieren zum Handeln, wie dies auch durch Gefühle und Wünsche geschieht. Liebe ist verbunden mit Hingabe an die geliebte Person. Von dem geliebten Wesen wird man persönlich berührt. Liebe ist häufig mit anderen Gefühlen, wie Freude, aber auch Furcht und Leid, verbunden (vgl. ENGELEN 2007, S.43).
Methodisch abgesicherter Erzeugung, Kontrolle und Steuerung, wie es professionelles Handeln in der Sozialpädagogik eigentlich erfordert, ist Liebe offenbar
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nicht zugänglich. Insofern erscheint sie als ungeeignet für die Fundierung (sozial-)pädagogischer Hilfebeziehungen, bei denen es auch um intersubjektive Überprüfbarkeit von Handlungen sowie um deren Begründung geht. Somit lässt sich sozialpädagogisches Handeln nicht durch Liebe rechtfertigen, Liebe lässt sich nicht einfordern und somit auch nicht vertraglich festlegen. Liebe, so lässt sich weitergehend kritisch anmerken, lenkt die gesamte Aufmerksamkeit eben gerade nicht auf den Fernsten, sondern doch nur auf eine Person und verhindert Unparteilichkeit im Handeln gegenüber dritten (vgl. NUSSBAUM 2007, S.141). Dennoch lässt sich Liebe nicht als unbedeutende Randgröße aus Reflexionen über sozialpädagogische Professionalität ausschließen. Für NUSSBAUM entwickelt Liebe, bei allen Problemen, die auch sie sieht, eine wichtige Qualität hinsichtlich moralischen Handelns. „Die engen Beziehungen von Liebe und Dankbarkeit zwischen einem Kind und seinen Eltern, die sich in der frühen Kindheit herausgebildet haben, scheinen der unverzichtbare Ausgangspunkt für die Fähigkeiten eines erwachsenen Menschen zu sein, sich für soziale Belange einzusetzen. Diese anfängliche Fürsorge muß zweifellos weiterhin gepflegt werden; aber sie muß vorhanden sein, wenn etwas Gutes entstehen soll“ (NUSSBAUM 2007, S.158).
Erfahrene Liebe und Dankbarkeit im privaten Bereich sind demnach eine notwendige Voraussetzung für die Wahrnehmung von Bedürfnissen anderer Menschen und für prosoziales Verhalten überhaupt. Bezüglich sozialpädagogischer AdressatInnen lässt sich Liebe so als eine notwendige Voraussetzung prosozialen Handelns interpretieren. Diese Tatsache kann bei der Problematisierung abweichenden Verhaltens nicht einfach ausgeblendet werden. Umgekehrt, auf die sozialpädagogischen Professionellen bezogen, kann Liebe auch indirekt als notwendige Voraussetzung professionellen Handelns betrachtet werden: Erst durch in der eigenen Biographie erfahrene Liebe sind die psychologischen und sozialen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Professionelle die Bedürfnisse anderer Menschen angemessen wahrnehmen und entsprechende professionelle Handlungsoptionen entwickeln können. NUSSBAUM formuliert drei Kriterien für einen systematischen Begriff von Liebe, der dieser Emotion ihren Platz in einer universell gültigen ethischen Konzeption zuweist und von den oben beschriebenen Merkmalen von Liebe abweicht. Erstens muss eine ethisch relevante Liebe Mitleid ermöglichen. Dies gilt aber nicht nur exklusiv für bestimmte Personen oder Personengruppen. Vielmehr müssen alle drei oben angeführten Aspekte von Mitleid in einer generellen und umfassenden Weise von der ‚Nächsten-‘ zur ‚Fernstenliebe‘ führen. Zweitens muss dieser Begriff von Liebe ein reziprokes Verständnis von Beziehungen repräsentieren. In keiner Beziehung dürfen die einzelnen Akteure, wie ‚wohlwollend‘ es auch immer gemeint sein mag, wie Objekte behandelt werden. Vielmehr muss für einen solchen ethisch fundierenden Liebesbegriff der Subjektstatus
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eines jeden Menschen unhintergehbar sein. Drittens hat ein ethisch relevanter Begriff von Liebe die Individualität von Menschen zu berücksichtigen (NUSSBAUM 2003, S.478ff.). Das bedeutet einerseits, jeden Menschen sein eigenes Leben mit seiner eigenen Biografie, eigenen Wünschen und Hoffnungen führen zu lassen. Das konkrete Leben des Einen kann nicht in dem konkreten Leben des Anderen aufgehen. Andererseits erfordert die Anerkennung von Individualität die Berücksichtigung der Tatsache, dass Menschen sich voneinander unterscheiden. „However similar people are in their qualitive properties, the fact that each has just one life, that person´s own life, is a very salient ethical fact. However much influenced by another, or wrapped up in another, only I can live my own life“ (NUSSBAUM 2003, S.481). Dieser systematische Begriff einer ethisch relevanten Liebe zeichnet sich dadurch aus, dass er der emotionalen Verbundenheit und Zuneigung zu anderen Menschen eine kultivierte Emotionalität respektvoller Zurückhaltung und Distanz gegenüber anderen Personen zur Seite stellt. Auch in sozialpädagogischen Professionsdiskursen wird bezüglich der professionell gestalteten Liebe in ähnlicher Weise angenommen, dass sie sich zu beschränken und Distanz zu wahren wisse. Eine professionelle Liebe, etwa in der Heimerziehung, so eine Annahme, „verfügt über Distanz, weil sie nicht in eine gemeinsame Geschichte und einen gewachsenen, gemeinsamen Kampf verwickelt ist, wie es Eltern sind“ (THIERSCH 2009a, S.115). An dieser Stelle ist THIERSCHs Auffassung allerdings zu relativieren. Auch das Personal der Heimerziehung befindet sich in Auseinandersetzungen und zeitweise ebenfalls im Streit mit den im Heim lebenden jungen Menschen. Auch sie verbindet durch den gemeinsam gelebten Alltag bereits eine geteilte Geschichte, in der Freude aber auch Ärger erlebt werden können. An diesem Beispiel wird deutlich, wie zielführend es sein kann, sich NUSSBAUMs Systematisierungen zur Emotion Liebe anzueignen. Allerdings gibt ein solches Konzept alleine noch keine Antwort auf die grundlegenden professionellen Fragen, auf welche Weise, auf welchen Wegen und mit welchen Methoden eine professionelle Regulierung von Nähe und Distanz aufgebaut werden kann, die unabdingbare Voraussetzung fachlicher Reflexion ‚des Falles‘ ist. Denn es bleibt ein elementares Charakteristikum von Liebe, dass sie sich einer willentlichen Kontrolle entzieht. Somit lässt sich das Problem eventueller Distanzlosigkeit nie von vornherein ausschließen; einzelne Grenzüberschreitungen aber können wiederum zum Ausgangspunkt von weitreichender grenzmissachtender Respektlosigkeit werden. Ob sich ‚Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalität‘ als Leitmotiv und konstitutives Moment sozialpädagogischen Handelns eignet, wie NOHL im Zusammenhang mit seinem „pädagogischen Bezug“ argumentiert, muss daher bezweifelt werden. Zu umfassend, zu weit in die beteiligten Personen hineinrei-
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chend, zu unkontrollierbar mit der damit verknüpften Passivität scheint diese Emotion zu sein, als dass Liebe Motivation, Aufgabe und Methode sozialpädagogischer Fachlichkeit sein könnte.11
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Liebe: ein nicht zeitgemäßes Moment sozialpädagogischer Professionalität
Das Thema ‚Liebe’ lässt sich nicht aus den Reflexionen über sozialpädagogische Professionalität ausschließen. Dies gilt trotz der Skepsis, die die aktuell diskutierten Geschehnisse in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen hervorrufen. Ordnet man Liebe in ein weiter ausgreifendes Konzept von Emotionen ein, lässt sich eine Perspektive entwickeln, in der Emotionen als ein nicht zu vernachlässigendes und sogar notwendiges Moment erkennbar werden, um professionelles sozialpädagogisches Handeln zu fundieren. Im Fachdiskurs ist unstrittig, dass Emotionen sozialpädagogisches Handeln begleiten und sogar begründen können. Ohne das Wissen über die allgemeine Bedeutung von Emotionen sowie über die emotionale Verfassung und Entwicklung sowohl von AdressatInnen als auch von SozialpädagogInnen kann sozialpädagogisches Können nicht gelingen. Die Wahrnehmung, Aufklärung und Gestaltung von Emotionen muss in professionstheoretischer Hinsicht als notwendiges Moment sozialpädagogischer Professionalität verstanden werden, das auch auf eine entsprechende sozialpädagogische Theoriebildung angewiesen ist. Dieser Hinweis auf Dimensionen emotionaler Beteiligung an sozialpädagogischem Handeln soll dabei nicht darauf hinauslaufen, eine Dominanz von Emotionen in professionellen sozialpädagogischen Interaktionen einzufordern. Ohne sozialpädagogisch-theoretisch fundierten Reflexionsrahmen, ohne die Kenntnis eines methodischen Repertoires, ohne deren Rückbezug auf verschiedene Handlungsfelder und ohne den Einbezug der durch empirische Forschung fundierten Kenntnisse über Lebenslagen und Lebensformen von AdressatInnen Sozialer Arbeit lässt sich sozialpädagogisches Handeln nicht gestalten. Die grundlegende Bedeutung, die Emotionen für sozialpädagogisches Handeln besitzen, wurde bereits in der Vergangenheit immer wieder durch verschie11
Umgekehrt aber bedeutet ein solcher Verzicht auf die Integration von Liebe in ein Konzept sozialpädagogischer Professionalität aber noch nicht schon gleichzeitig die Sicherheit, dass Gewalttaten, Unterdrückungen und Manipulationen jeglicher Art in sozialpädagogischen Hilfebeziehungen und Einrichtungen für ausgeschlossen gehalten werden können. Die für professionell gestaltete sozialpädagogische Beziehungen unvermeidliche Asymmetrie kann jederzeit, wenn diese nicht professionell gestaltet und begleitet werde, zu Machmissbrauch führen, der seinerseits wiederum in Gewalt in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen münden kann.
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dene sozialpädagogische Theorieansätze betont. Allerdings ist es der Disziplin bisher nicht gelungen, die Rolle von Emotionen systematisch in ihre jeweiligen Theoriekontexte einzuordnen. In diesem Aufsatz wurde deshalb für eine weitere Prüfung kognitivistischer und sozialkonstruktivistischer Ansätze der Emotionstheorie, wie sie exemplarisch von MARTHA NUSSBAUM vertreten werden, durch die Sozialpädagogik plädiert. Dieser Ansatz diskutiert Emotionen im Kontext einer ethischen Konzeption. Dadurch erscheint es möglich, Emotionen in ihrer Bedeutung für moralisches Handeln im Kontext gelingenden individuellen und sozialen Lebens theoretisch zu fassen. Eine solche Aneignung kann nicht ungeprüft erfolgen. So wird etwa häufig kritisch gegen NUSSBAUM eingewendet, dass sie in ihrer Emotionstheorie körperliche und phänomenale Aspekte von Emotionen nicht berücksichtigt. Eine ausschließlich sozial-konstruktivistische Perspektive nehme die biologische Grundlage von körperlichen Erregungszuständen nicht ausreichend zur Kenntnis, die erst die Basis von Emotionen bilden könnte. Da etwa aktuell die hirnphysiologische Forschung auf den Zusammenhang von biologischer Disposition und soziokultureller Umwelt aufmerksam macht, sollte NUSSBAUM, so wird ihr vorgehalten, der biologischen Dimension von Emotionen deutlichere Berücksichtigung zukommen lassen als in ihrer bisherigen Theoriebildung geschehen. Bei dem in diesem Aufsatz in Beispielen immer wieder herangezogenen Psychopathiekonzept ist es z. B. aus Sicht der Forschung noch ungeklärt, ob Psychopathen aufgrund ihrer biologischen Disposition und/oder aufgrund ihrer Entwicklung in der frühen Kindheit eine gestörte Gefühlswelt haben, ob sie überhaupt Emotionen wie Scham oder die Fähigkeit zur Empathie entwickeln können, letztendlich, ob oder in welchem Maße sie vor diesen Hintergründen moralisch für ihr Handeln verantwortlich sein können. Diese Einwände sind ernst zu nehmen und weiter theoretisch und empirisch zu untersuchen. Solche Einwände sprechen aber nicht gänzlich gegen den Ansatz, ein bis in ethische Überlegungen hinein verlängertes Konzept von Emotionen zur Ergänzung sozialpädagogischer Theoriebildung und Professionsorientierung zu nutzen. Besondere Beachtung wächst dabei der ethischen Grunddimension des ‚Capabilities Approach‘ für die normative Seite sozialpädagogischer Theoriebildung zu. Wenn es richtig ist, dass ein gutes, gelingendes Leben in sozialen Bezügen die Verfügung über grundlegende Dimensionen des Menschseins voraussetzt, dann ist es Aufgabe professionell betriebener Sozialpädagogik, die Entwicklung solcher grundlegenden ‚capabilities‘ zu befördern. Von daher ist es ein zentrales Aufgabenfeld von Sozialpädagogik, die generelle Forderung, dass alle Menschen Befähigungen zu Emotionen entwickeln sollten, auch und gerade für alle jene AdressatInnen der Sozialpädagogik bearbeitbar zu machen, denen ihr soziokultu-
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relles Umfeld Entwicklungshemmnisse für ihre psychosozialen Entwicklung in den Weg stellt. Darüber hinaus leisten Emotionen einen funktionalen Beitrag zur Moralentwicklung und moralischem Handeln. Die Entwicklung von Moral setzt die Entwicklung von Emotionen von der frühen Kindheit an voraus. Hierfür ist wiederum eine wichtige Voraussetzung die erfahrene Liebe in sicheren Bindungen in der frühen Kindheit. Liebe ist aufgrund ihrer Bedeutung für moralisches Handeln sicherlich ein wichtiger Bestandteil menschlichen Lebens; ein Leben ohne Liebe ließe sich kaum vorstellen. Liebe lässt sich aber nicht im Rahmen sozialpädagogischer Professionalität einfordern. So bleibt zu hoffen, dass AdressatInnen der Sozialpädagogik Liebe in ihren verschiedenen Varianten erfahren können. Dieses bleibt aber eine Hoffnung, hier wird die Diskussion zurückverwiesen auf private Beziehungen. Im Rahmen professionellen sozialpädagogischen Handelns sind hier die Grenzen erreicht. Aufgrund der spezifischen Charakteristik von Liebe lassen sich keine ausreichenden Begründungen formulieren, Liebe als Moment professionellen sozialpädagogischen Hilfehandelns zu begreifen. Vielmehr können sich aus der verlässlichen, belastbaren und kontinuierlichen Sorge für und aus dem Kümmern um einen anderen Menschen Sicherheit und Vertrauen bei einer Person entwickeln, die es ihr ermöglichen mögen, ihr Leben und ihren Alltag gelingender zu gestalten.
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Pflegefamilien zwischen öffentlicher und privater Erziehung. Eine Form professioneller Liebe? Bettina Hünersdorf / Tobias Studer
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Einleitung
Liebe zu thematisieren kann die andere Seite – den (sexuellen) Missbrauch – nicht ausblenden, ohne dass dadurch der Verdacht entsteht, zu einem Verdeckungszusammenhang beizutragen. Von dieser Gefahr sind nicht nur, wie im Moment allseits in den Medien diskutiert, die (Reform-)Schulen betroffen. Gleiches gilt vielmehr auch für sozialpädagogische Institutionen wie die Heimerziehung und insbesondere solche, die sich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bewegen: die Pflegefamilien. Gerade bei letzteren wird insbesondere das eingefordert, was sich im Kontext der Reformschulen als potenzielles Problem heraus kristallisiert hat: Gemeint ist die Liebe1, die eher in Pflegefamilien als in öffentlichen Institutionen erwartet werden kann, selbst wenn diese für die Erziehung und Betreuung von Kindern finanziell entschädigt werden. Die Übergänge zwischen entwicklungsfördernder Liebe und missbräuchlicher Liebe sind fließend und nicht immer klar und eindeutig zu bestimmen. Sie sind abhängig von historischen und situativen Kontexten, innerhalb dessen ähnliche Handlungen anders erscheinen. Deshalb ist es wichtig, sich auch historisch zu vergewissern, was unter Liebe verstanden wird und welche Bedeutung diese im Kontext von Pflegefamilien erhält. In Deutschland sind die Pflegefamilien aus der Rettungsbewegung in öffentliche Erziehung überführt worden (vgl. UHLENDORFF 2003). Damit wurde Liebe zu einem Bestandteil öffentlicher Erziehung. In der Schweiz kann von einer derartigen Transformation des Pflegekinderbereichs nicht gesprochen wer-
1 Bei der Orientierung am Kindeswohl werden analog zur britischen Welfare Checkliste Grundbedürfnisse benannt, die erfüllt werden sollten, wenn es um das Wohl des Kindes geht: Zu diesen Grundbedürfnissen des Kindes werden auch Liebe, Akzeptanz und Zuwendung neben vielen anderen (wie die Möglichkeit, stabile Bindungen einzugehen, das Bedürfnis nach Ernährung und Versorgung, das Bedürfnis nach Gesundheit, den Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung, das Bedürfnis nach Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung) gezählt (vgl. ZITELMANN 2001, S.128).
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
den. Insbesondere die Schweizer Verhältnisse auf dem Land waren bis ins 19. Jahrhundert davon geprägt, dass Waisenkinder entweder innerhalb der Verwandtschaft in die eigene Familie aufgenommen oder als Hilfskräfte an den Mindestfordernden ‚verdingt‘ wurden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sorgten private, gemeinnützige Armenfürsorgevereine für eine Reduktion der Verdingung von Pflegekindern (vgl. SCHOCH u.a. 1989, S.37ff.; FACHSTELLE FÜR DAS PFLEGEKINDERWESEN 2001). Die öffentliche Kontrolle von Pflegeverhältnissen ist in der Schweiz bis heute Aufgabe von ehrenamtlich tätigen und demokratisch legitimierten Behörden. Damit wird zugleich die Ambivalenz deutlich, die für Pflegefamilien entscheidend ist: Zwar scheint Familie Privatsache und mit dem Schild ‚Zutritt verboten‘ gekennzeichnet zu sein (vgl. NASSEHI 2003). Dennoch nimmt die öffentliche Kontrolle über Familien und insbesondere über Pflegefamilien deutlich zu, so dass die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit im Verschwinden begriffen sind. Was bedeutet das aber für Liebe? Gilt der Ausspruch und gleichnamige Titel BRUNO BETTELHEIMs ‚Liebe allein genügt nicht‘ (vgl. BETTELHEIM 2007)? Oder kann letztendlich auf Liebe verzichtet werden, zumal sie schnell in Verdacht gerät, dass die (körperliche) Nähe und damit Abhängigkeit und Macht missbraucht werden? Müsste Liebe nicht vielmehr durch die professionstheoretisch gestützte Diskussion um Nähe und Distanz ersetzt werden (vgl. DÖRR/MÜLLER 2007)? Oder sind letztlich nicht beide Diskussionen Versuche, Arbeitsbündnisse zwischen Adressaten und Erziehern zu errichten und zu begründen (vgl. GAUS/UHLE 2009)? Ziel unserer Ausführungen ist die Ambivalenzen aufzuzeigen, die mit dem Konzept der Liebe in den Pflegefamilien einhergehen, aber auch die Frage zu stellen, welche Bedeutung einer Professionalität im Falle von Pflegefamilien zukommt. Wie lässt sich also die für die Familie spezifische Kommunikationsund Interaktionsform der Liebe auf die Soziale Arbeit und hierbei im Spezifischen auf die Pflegefamilien übertragen?2 Im ersten inhaltlichen Abschnitt wollen wir Liebe ganz allgemein als Kommunikations- und Interaktionsform einführen und deren Bedeutung für Familien aufzeigen. Dabei soll Liebe ebenfalls historisch im Kontext der Sozialpädagogik eingeordnet und aufgezeigt werden, welche ambivalenten Konsequenzen sich aus diesem Verständnis von Liebe für Pflegefamilien vermuten lassen. Im zweiten Abschnitt wird gesondert auf das dem Artikel vorliegende Professionalitätsverständnis eingegangen und die Pflegefamilien hierin wie auch im Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Erziehung verortet. Das inhalt-
2 Dieser Artikel basiert auf einer ersten punktuellen Auswertung empirischer Daten aus der Dissertation von TOBIAS STUDER, welcher sich im Schweizerischen Kontext mit dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit in Pflegefamilien auseinandersetzt.
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lich dritte Kapitel befasst sich mit der Darstellung einer komparativen empirischen Analyse von Interviews mit zwei Pflegeeltern. Hierbei geht es insbesondere darum, die Semantik der Liebe ernst zu nehmen und sie in ihrer performativen Hervorbringung zu beobachten, ohne sie gleichsam emphatisch zu übersteigern. Sie soll am empirischen Material in Form von Interviews beobachtbar gemacht werden, aber nicht wie bei JANUSZ KORCZAK aus der Perspektive des Pädagogen bzw. der Pädagogin, sondern vielmehr aus der Sicht des Erziehungswissenschaftlers bzw. der Erziehungswissenschaftlerin (vgl. KORCZAK 1999). Wir wollen durch den Bezug auf Interviews mit Pflegeeltern beobachten, wie in diesen das Thema Liebe explizit bzw. implizit verhandelt wird. Dabei wollen wir auch die Bedeutung des körperlichen Ausdrucks von Liebe beachten, denn einerseits wird Berührung als etwas für die kindliche Entwicklung Bedeutsames wahrgenommen (vgl. PIPER/STRONACH 2008, S.1ff.). Andererseits aber gilt Körperlichkeit auch als riskant. Die Übergänge zwischen liebevoller Berührung und sexuellem Missbrauch sind nicht immer leicht zu identifizieren.3 In den Interviews können diese Berührungen selbstredend nicht gesehen werden, aber die Analysen von gewählten Metaphern können Aufschluss darüber geben, wie sehr das ‚Gerührtsein‘ sich Ausdruck verschafft, aber auch wie ambivalent die Situation wahrgenommen wird. Ein abschließendes Fazit bezieht sich auf die Ausgangsfragen nach Liebe und Professionalität im Kontext von Pflegefamilien.
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Liebe als Kommunikations- und Interaktionsform: Die Bedeutung der Liebe für die Familie
Die romantische Liebe entwickelte sich im 18. Jahrhundert und wird meistens nur auf das Verhältnis von Mann und Frau bezogen, nicht aber auf das Verhältnis von Mutter und Kind. Aber auch der letzte Aspekt kann nach WERNER FAULSTICH zur romantischen Liebe gezählt werden (vgl. FAULSTICH 2002, S.37). Die 3 Die Gefahr sexueller Ausbeutung trägt in der öffentlichen Erziehung potenziell dazu bei, dass Erwachsene sich von Kindern distanzieren und sich einer ständigen Kontrolle unterwerfen. Damit geht einher, dass die Bedürfnisse der Kinder, berührt zu werden, potenziell nicht erfüllt werden. Die Einführung von Richtlinien wie ‚man‘ sich zu verhalten hat, ist dabei wenig hilfreich. „Any attempt to legislate in advance for what will and will not count as ‚moral’ conduct undercuts the interpretive procedures that people use to ‘read off’ morals and intentions from behaviour. Touch policing disables the socio-cultural ressources that people would otherwise have mobilised in order to deal with these issues on a case-by-case basis” (PIPER/STRONACH 2008, S.146). Problematisch ist, Berührung zu unterbinden und sich auf ein Risikomanagement einzulassen, welches das eigene persönliche Risiko, schuldig zu sein, durch Einhaltung von Standards zu minimieren versucht. Vielmehr sollte immer der leib-situative Kontext herangezogen werden, der erkennen lässt, ob jemand übergriffig gewesen ist oder nicht.
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romantische Liebe zum Kind zeigt sich in einer Hingabe der Mutter zu diesem, in der Hoffnung, dass dadurch das Kind die Mutter liebt und durch die Identifikation mit der Mutter die mit ihr verbundenen Normen internalisiert (vgl. LUHMANN 1996, S.174). Das Besondere an der romantischen Liebe ist, dass das, was der andere einem zumutet, als dessen Eigenart aufgefasst wird, ohne das Verhalten sofort in Konformität und Abweichung aufzulösen (vgl. LUHMANN 1990, S.211). D.h., dass das Schreien des Kindes oder der ‚Tick‘ einer geliebten Person hingenommen werden, während das gleiche Verhalten bei jemand anderem dazu führen würde, sich darüber aufzuregen.4 Man versucht der Liebe wegen den anderen auch dann zu achten, wenn man eigentlich dazu geneigt ist, aufgrund einer bestimmten Verhaltensweise dieses nicht mehr zu tun. Die Differenz von Sein und Schein soll nicht aufgegriffen und aufgezeigt, sondern taktvoll mit ihr umgegangen werden. Dadurch wird in der Familie durch das Vorhandensein der Liebe der geliebte Mensch zum Erscheinen gebracht. Dieses ist nur ein mögliches Verständnis von Liebe. Jeweils differenzierend muss aber berücksichtigt werden, was je konkret kulturell unter Liebe verstanden wird (vgl. IVANY/REICHERTZ 2002, S.10).5 Als kultureller Ausdruck ist Liebe nicht natürlich, sondern künstlich hergestellt und stellt eine gesellschaftliche Komponente menschlichen Zusammenlebens dar. Da diese aber habitualisiert ist und von daher unbewusst, kann sie als natürliche Künstlichkeit bezeichnet werden. Was unter Liebe verstanden wird, muss deshalb über bestimmte Medien vermittelt werden und kann nicht einfach vorausgesetzt werden: Deswegen verwundert es auch nicht, wenn das Thema Liebe in den sozialpädagogischen Schriften immer wieder aufgegriffen wird, so z. B. bei JOHANN HEINRICH PESTALOZZI in seinen Büchern ‚Lienhard und Gertrud‘ und ‚Wie Gertrud ihre Kinder lehrt‘. Diese Texte sind ein wichtiger Hinweis darauf, dass das wechselseitige Liebesverhältnis nicht immer selbstverständlich war, sondern vielmehr erst seit einer bestimmten kulturellen Phase als anzustrebendes Ziel angesehen werden kann. Die in den Romanen immer wieder als natürlich dargestellte Liebe bedarf in der Realität eine Vermittlungsform, damit sie sich vollzieht: Bücher wie die 4 In den Worten THEODOR WIESENGRUND ADORNOs könnte davon gesprochen werden, dass Liebe die Fähigkeit ist, Ähnliches an Unähnlichen wahrzunehmen: Liebe also als Anerkennung des Anderen als der ganz Andere (vgl. ADORNO 1969, S.253). 5 Der kulturelle Ausdruck von Liebe kann sich historisch sehr stark unterscheiden, wie man insbesondere an der Bedeutung der Schläge im Kontext der familiären Erziehung erkennen kann. In der Salomonischen Spruchsammlung, welche für die Erziehung seit der Neuzeit eine große Bedeutung bekommen hat, ist zu lesen: „Wer seinen Stock schont, hasst seinen Sohn, wer ihn aber liebt, sorgt für seine Unterweisung“ (SPRÜCHE SALOMONIS, 13, 24). Hingegen besagt die Neufassung des entsprechenden Paragraphen im Bürgerlichen Gesetzbuch aus dem Jahr 2000: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“ (BGB, §1631, Abs.2).
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genannten lehren etwas über die symbiotischen Mechanismen, die nötig sind, um zur Stabilisierung der Liebesbeziehung beizutragen. Symbiotische Mechanismen geben Auskunft über „1. die sozial zulässige Verwendung des Körpers, 2. die kommunikative Interpretation körperlichen Verhaltens und 3. die kausalen Einflüsse der ‚Semantik des Körpers‘ auf ‚Körperempfinden und Körperverwendung‘“ (SCHERR 2001, S.264; vgl. auch LUHMANN 1991, S.341). Im Kontext der Liebe in der Partnerschaft ist die Sexualität die soziale Verwendung des Körpers, die die Funktion der Reproduktion hat. Sie dient nicht nur der Haltung und Steigerung der Liebe, sondern darüber hinaus der Reproduktion der Menschheit (vgl. LUHMANN 1996, S.188). Im Kontext der Mutterschaft gilt es, Kinder zur Beruhigung zu berühren. Dabei lernen sie, dass der Körper nicht nur dazu da ist, eigene Bedürfnisse zu stillen, sondern dass er zugleich die Voraussetzung zur Ausbildung von Sozialität bildet, da die Liebe zur Mutter von den Bedürfnissen wie z. B. Hunger ablenken kann. Dadurch trägt die Berührung zur Reproduktion der sozialen Ordnung bei, die später durch Kommunikation ersetzt werden kann. Die Romantik setzt Befriedigungsaufschub voraus, damit der Körper als Medium für Sozialität zur vollen Erfüllung in der Liebesbeziehung führen kann (vgl. LUHMANN 1996, S.193). Aber nicht nur in der Familie wird Liebe künstlich hergestellt, sondern auch jenseits der Familie wurde auf mit ihr verbundene Semantiken zurückgegriffen. Schon allein der für den Beginn der Sozialen Arbeit relevante Begriff der ‚geistigen Mütterlichkeit‘6 verweist deutlich auf die Analogie von Familie und Sozialer Arbeit (vgl. SACHßE 1994). Die geistige Mütterlichkeit übernimmt die kulturellen Zuschreibungen der Frau in der Familie, indem die Sozialarbeiterinnen die, wie ALICE SALOMON es formuliert hat, ‚Fernstenliebe‘ zur Darstellung bringen (vgl.
6 „Die ‚Vergeistigung‘ des Menschen hatte immer etwas vom Göttlichen an sich; sie blieb eine Kategorie der Vergöttlichung des Menschen... Der Körper [war; B.H., T.S.] für das Geistige ein wertvoller Aufenthaltsort, da die menschliche Gestalt unter den ‚natürlichen Formen‘, eine hohe Stellung einnahm… Körper und Geist verschmelzen in der Aisthesis und bilden die Quelle für Schönheit.... Das ‚Geistige‘ [hatte; B.H., T.S.] eine umfassendere, zwischenpersönliche Bedeutung‘. Der Bereich des Geistigen umfasste auch das, was zwar nicht ‚wirklich‘ (im Sinne von ‚empirisch existen‘, ‚faßbar‘), aber trotzdem für die Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung war (d.h. Ideen, Bilder der Vorstellungskraft, Utopien usw.). Soweit das zwischenpersönliche Geistige in der je einzelnen Person angesiedelt war, stellte es den ‚allgemeinen Teil‘ im Besonderen dar... Drittens wurde ‚das Geistige‘, obwohl es vom Begriff her nicht mit dem ‚Intellektuellen'‘ synonym ist, zunehmend mit dem Rationalen identifiziert“ (FEHÉR/HELLER 1995, S.13). Weiterhin ist das Geistige nicht wirklich vom Körper zu trennen, sondern die Trennung ist das Produkt eines analytischen Gedankens (vgl. ebd., S.14). FERENC FEHÉR und AGNES HELLER wenden sich gegen die Vorstellungen des biopolitischen Körper, da dieser ideologisch motiviert sei. Das symbolische mythologische Wesen diene der hermeneutischen Selbstbedienung für diejenigen, die ihn vorantreiben. Empirische Gegenbeweise werden nicht zur Geltung zugelassen. Vielmehr sagen solche nur aus, dass sie nicht dazugehörig sind (vgl. ebd., S.26).
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SALOMON 1908/1997). Als bloße Möglichkeit der Frau wirkte die geistigmütterliche Liebe, indem sie die Tätigkeiten der Frauen regulierte, ohne dass die Frauen selbst Mutter gewesen wären. Im Bereich der Pflegefamilien wurde diese Semantik besonders früh hervorgebracht. Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium für die Familie generalisierte sich auf eine Art und Weise, dass sie als geistige Mütterlichkeit auch im Hilfesystem für vernachlässigte Kinder zentrale Bedeutung erlangen konnte. Hintergrund war, dass die Grenzen der Familie sich nicht nur in Bezug auf die Ausbildung ausdifferenzierten, wo sich mit der Einführung der Schulpflicht und der Ausdifferenzierung eines Bildungssystems eine Prozessdynamik entwickelte, die den Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts in Anspruch nahm. Vielmehr wurde Familie darüber hinaus auch in Bezug auf die Umwelt der anderen Funktionssysteme in einer Weise gefordert, wie sie diese aber nicht mehr bewältigen konnte. Im Effekt differenzierte sich ein zweites System – die Organisation der Ersatzfamilien – heraus. Die Ersatzfamilien als Pflegschaften verwendeten aber noch genauso wie die ‚Ursprungsfamilien‘ das symbolisch generalisierte Medium der Liebe bezogen auf das Kind: Man sollte das Kind so lieben, als ob es ein eigenes wäre, eben so, dass die Nächstenliebe in Ansätzen zur ‚Fernstenliebe‘ werden sollte: „In dem Rettungsverein kam naturgemäß eine ganz andere Fürsorge- und Erziehungsmentalität zum Ausdruck als bei den staatlichen Zwangserziehungsbehörden... die ‚Care-Attitüde’ war – ganz in der Tradition Johann Hinrich Wicherns – von einem sittlichen Erziehungsgedanken geprägt: Man wollte Kinder, die in schlechten (kriminellen oder ‚liederlichen‘) Milieus aufwuchsen, einer sittlich vorbildlichen Familienerziehung zuführen. Nicht die staatliche Behörde, sondern der Rettungsverein war der Schutzpatron des gefährdeten Kindes; nicht die Anstalt, sondern die sittlich einwandfreie Pflegefamilie bildete den Garanten guter Erziehung“ (UHLENDORFF 2003, S.264).7
Mittels Liebe sollte das Kind zur sittlichen Entwicklung ermuntert werden. Damit wird deutlich, dass die kulturelle Konstruktion der romantischen Liebe eine Transformation erfuhr: Anstatt Selbstzweck zu sein, wurde sie Mittel zum Zweck der (öffentlichen) Erziehung (vgl. GAUS/UHLE 2009, S.33ff.). Liebe ist, wie DETLEF GAUS und REINHARD UHLE in ihrem historischen Aufriss zur Liebe in der Sozialpädagogik aufzeigen, schon um 1800 nicht nur positiv wahrgenommen, sondern durchaus auch schon problematisiert worden. Sie zeigen anhand der Schriften AUGUST HERMANN NIEMEYERs auf, dass schon um 1800 mit Liebe einhergehend die Gefahr der unrechtmäßigen Begünstigung,
7 Im Kontext der Rettungsbewegung in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde insbesondere im ländlichen Randmilieu das vernachlässigte Kind in den Blick genommen, das ‚gerettet‘ werden sollte (vgl. UHLENDORFF 2003, S.264, vgl. PEUKERT 1986, S.47).
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der Verweichlichung etc. gesehen wurde, wenngleich ihr aber zugleich als Erziehungsmittel eine nicht zu unterschätzender Bedeutung zugesprochen wurde (vgl. GAUS/UHLE 2009, S.25). Da im Kontext der Pflegefamilie Liebe (noch) unwahrscheinlicher ist als in der Familie an sich, bestand zur Problemlösung die Notwendigkeit, die Macht als anderes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium einzuführen.8 Damit vollzog sich aber eine Transformation, indem die Pflegefamilien aus dem Quasi-Privaten heraustraten und in gewisser Weise zu öffentlichen Institutionen wurden. Diese hatten die Pflicht, das Wohl des Kindes deutlicher in den Blick zu nehmen, als es sonst in der Familie üblich ist. Hintergrund dieser öffentlichen Kontrolle war nicht zuletzt das Wissen darum, dass Pflegefamilien eine besondere Herausforderung zu bewältigen haben und die Inszenierung von Ablehnung bei Pflegekindern eine nicht einfach zu bewältigende und anspruchsvolle Aufgabe ist (vgl. STEIMER 2000). Der mit dieser Entwicklung einhergehende defizitäre Blick auf das Kind wurde in der Folge wiederum zum Anlass genommen, in der Sozialpädagogik – im Aufwind der Reform- und der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik – die Bedeutung der Liebe besonders zu betonen.9 Sie wurde gleichsam als Gegenmittel zur individualisierenden Gesellschaft dargestellt, ohne dass die Gefahren, die damit einhergingen, systematisch thematisiert wurden (vgl. GAUS/UHLE 2009, S.29). Sie sollte kitten, was gesellschaftlich in Unordnung gerät. Liebe galt als „Hoffnungspotenzial“ (vgl. ebd., S.30). Es vollzog sich noch deutlicher als zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Pädagogisierung des Liebeskonzeptes, in dem der Widerspruch deutlich wird, im Kontext von Erziehung lieben zu sollen und zugleich Liebe nicht einfordern zu können (vgl. KORCZAK 1999). Deswegen entgegnet KORCZAK dieser Bewegung auch mit seinem Buch ‚Wie das Kind lieben‘, in dem er darauf hinweist, dass das Kind ein Recht hat, das zu sein, was es ist (vgl. KORCZAK 1999, S.45). Dieses ist die diametrale Position etwa zu
8 Dementsprechend ist – beispielsweise – seit 1877 für Hessen und seit 1878 für Preußen die Überführung der Rettungsbewegung in eine öffentliche Aufgabe im hessischen Zwangserziehungsgesetz zu rekonstruieren (vgl. UHLENDORFF 2003, S.264; PEUKERT 1986, S.49f.). 9 Das gilt sowohl für HERMAN NOHLs pädagogischen Bezug als auch für PAUL NATORP, wenn auch auf eine andere Weise. Letzterer sieht sehr deutlich die Überforderung, die in diesem Konzept liegt: „Familie in ihrer jetzigen Gestalt ist als Erziehungsform rückständig. Sie war lange fast das letzte Asyl gegen die Losreißung von der Gemeinschaft. Aber so wie sie heute ist und wirkt, bietet sie dagegen keinen irgend genügenden Schutz mehr, geschweige daß sie die Kraft hätte, die zerrissen Bande der Gemeinschaft neu zu knüpfen“ (NATORP 1920, S.143). Entsprechend fordert NATORP einen Ersatz für die Familie, welcher der Idee der Gemeinschaft näher kommt. Daraus leitet sich aber bei ihm keine Forderung nach einem Sozialstaat ab. Im Gegenteil steht er diesem, aufgrund seiner vertragsrechtlichen Regulierung, eher kritisch gegenüber, da solche der Idee der Gemeinschaft widerspräche (vgl. hierzu auch SEICHTER 2007).
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HERMAN NOHL, dem es um den Menschen geht, der das Kind werden soll. In gewisser Weise rekurriert KORCZAK sehr viel deutlicher, als es sonst in der Rede von der ‚pädagogisierenden‘ Liebe üblich ist, auf das romantische Konzept der Liebe. Er bemüht sich systematisch darum, die Perspektive des Kindes als Gegenüber in seiner Eigenart einzunehmen und die Dinge so zu verstehen, wie es sich aus dessen Perspektive zeigt. Wie das geht, bleibt allerdings offen, da jegliche Konkretisierung wiederum dazu beitragen würde, die Liebe zum Erziehungsmittel werden zu lassen (vgl. STENGER 2007, S.191). In diesem Spannungsfeld werden die Ambivalenzen in Pflegefamilien deutlich: Liebe gegenüber Pflegekindern ist nicht selbstverständlich gegeben, wie das in der Familie noch annähernd der Fall sein mag. Pflegefamilien sind durch die öffentliche Kontrolle gezwungen, Privatheit und Öffentlichkeit im familiären Kontext herzustellen und zu vermitteln. Die bei der emotionalen Liebe vorausgesetzte Körperlichkeit ist bei den Pflegefamilien nicht vorgesehen und wird seitens der öffentlichen Kontrolle gegebenenfalls problematisiert. Die daraus folgenden Konsequenzen für Liebe als Kommunikationsmedium in Pflegefamilien gilt es im Folgenden zu diskutieren.
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Professionalität von Pflegefamilien zwischen öffentlicher und privater Erziehung
Diskussionen um Professionalisierung können nach DIETER NITTEL sowohl die Entwicklung einer Profession in Richtung von zunehmender Akademisierung und Verwissenschaftlichung, als auch Prozesse der Verberuflichung problematisieren. Aktuell lässt sich nach NITTEL eine Verwendung der Redeweise über Professionalisierung als berufspolitischem Kampfbegriff beobachten (vgl. NITTEL 2000). „Während Professionalisierung einen prozess- und machttheoretischen Zugriff evoziert, verlangt der Begriff Professionalität eine dezidiert handlungstheoretische Betrachtungsweise“ (NITTEL/SCHÜTZ 2005, S.55). Professionalität meint also das spezifische, wissenschaftlich gesicherte Handlungswissen von Akteuren innerhalb bestimmter Berufskontexte. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang die Frage nach der Fachlichkeit, der Qualität und der Wirkung im Falle von Fremdplatzierungen debattiert (vgl. HÜNERSDORF/STUDER 2008). Wie URSULA RABE-KLEBERG zeigte, hat sich die Soziale Arbeit vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Ungleichheit der Geschlechter nur zu einer SemiProfession entwickelt (vgl. RABE-KLEBERG 1997). Die Soziale Arbeit wurde lange nicht professionalisiert, da die in ihr anfallenden Tätigkeiten dem Bereich des Privaten zugerechnet wurden.
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Im Falle von klassischen Pflegefamilien kann nicht von einer beruflichen Tätigkeit gesprochen werden, da die Pflegeeltern in den wenigsten Fällen über eine einschlägige pädagogische Ausbildung verfügen, sondern die Kinder nur für ein geringfügiges Entgelt und meistens ehrenamtlich aufnehmen. Da NITTEL auch auf die Möglichkeit hinweist, Professionalität jenseits der Einbindung in berufliche Kontexte zu denken, soll im Folgenden dieser Begriff auch für den Kontext der Pflegefamilien verwendet werden. Gemeint sind dann Handlungsformen und -strukturen, die es ermöglichen, eine als krisenhaft erlebte Situation zu bewältigen (vgl. NITTEL 2004, S.351). Was bedeutet es aber, wenn Pflegefamilien durch Weiterbildung qualifiziert werden sollen? In der Tendenz widerspricht das dem die älteren Diskurse bestimmenden Konzept der Liebe. In Bezug auf sozialpädagogische Professionalität wird daher von MARGRET DÖRR und BURKHARD MÜLLER vorgeschlagen, eher von Regulierungen von Nähe und Distanz zu sprechen (vgl. DÖRR/MÜLLER 2007). Mit der Focussierung auf diese Antinomie können sehr viel mehr die Gefahren und die mit dem Konzept verbundenen Ambivalenzen in den Blick genommen werden, als dies mit den Redeweisen über Liebe und den pädagogischen Bezug in der Tradition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik möglich war. Diese Position bezieht sich auf die Psychoanalyse, durch welche die psychosoziale Dynamik entschlüsselt werden kann, welche selbst aber nicht mehr unbedingt viel mit Liebe zu tun hat. In der sozialpädagogischen Professionalität geht es nicht um eine positiv affektiv befriedigende Nähe, sondern um eine Nähe, die sich mit Ängsten und Aggressionen auseinandersetzt. Es geht demnach zentral darum, die Verführungen und die eigenen aggressiven Tendenzen unter Kontrolle zu halten (vgl. MÜLLER 2007, S.141, FN 2). Durch die diffusen Sozialbeziehungen in vielen sozialpädagogischen Settings wie z. B. der Heimerziehung ist die Schwierigkeit, einerseits nah und andererseits distanziert zu sein, deutlich stärker ausgeprägt als in anderen professionellen Kontexten. Möglichkeiten der Distanznahme sind aber in diesen Kontexten immer noch in deutlich höherem Maße durch Supervision, Teambesprechungen, etc. gegeben, als dies bei Pflegefamilien der Fall ist. Pflegeeltern können zwar auch Beratung in Anspruch nehmen, müssen dies aber nicht unbedingt tun. Was bedeutet das aber in der Konsequenz für die Regulierung von Beziehungen in Pflegefamilien? Geht es in ihnen eher um persönliche Liebe denn um professionell arrangierte Nähe? Sofern dem so ist: Woher resultiert diese Liebe, wenn ihre Grundlage nicht eine romantische Konzeption von Liebe ist? Gibt es vielleicht sogar weitere Formen von Liebe oder Nähe, die bisher noch gar nicht auf einen Begriff gebracht worden sind? Interessant erscheinen uns diese Fragen auch vor dem Hintergrund, dass ehrenamtlich tätige Pflegefamilien größtenteils gegen ihr Selbstverständnis einer
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Professionalisierung unterworfen werden.10 Pflegeeltern müssen sich qualifizieren, bevor sie ein Pflegekind aufnehmen können (vgl. KRÖGER 2008, S.67, RISTAU-GRZEBELKO 2009). Diese Tatsache resultiert aus der Erkenntnis, dass die Gefahr von Fehleinschätzungen der Eltern und daraus resultierender Überforderung des Pflegefamiliensystems hoch sind. Dadurch kommt es in vielen Fällen zu einem Abbruch des Pflegeverhältnisses (vgl. KRÖGER 2008, S.100).11
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Eine Empirie der Liebe
Mithilfe der Auswertung von Interviews mit Pflegeeltern lässt sich der Verlauf der Beziehungen von Pflegeeltern und Pflegekindern nachvollziehen. Ebenso ist es möglich, auf diesem Wege die zu bewältigenden Aufgaben bei der Aufnahme von Pflegekindern aus der Perspektive von Pflegeltern auszuleuchten. Ein Interview ist zu verstehen als ein „gegenwartsbasierter, vergangene Ereignisse beobachtender Text“. Dieser Text macht, im vorliegenden Fall, den Verlauf der Integration des Kindes in die Familie zum Thema. Ein Interview entwickelt und rekonstruiert so eine „Realität eigener Art“. Die Erzählung im Interview trägt dazu bei, dass der Verlauf der Integration des Kindes in der Familie und der Diskurs über diesen Verlauf individualisiert werden, indem sie als intentional dargestellt werden (vgl. LUHMANN 2004, S.268f.). Diese Bewusstmachung geschieht, indem durch die „temporale Einheit des Bewusstseins“ das Gewordensein nachzeichnet wird. Solches geschieht, „um sich im Lichte temporal geordneter Ereignisse selbst zu identifizieren. In eine solche Beschreibung gehen jedoch nicht alle erlebten und gelebten Ereignisse ein, sondern nur eine vom Bewusstsein selbst vorgenommene Auswahl, wobei unter Auswahl keineswegs ein quantitativer Teil eines substanziell vorhandenen Kontingents von Erfahrungen zu verstehen ist, sondern eine aus einer Erinnerungsgegenwart resultierende,
10 Für Schweizer Verhältnisse wurde untersucht, inwiefern sich Pflegeeltern mehr als zivilgesellschaftliche Akteure denn als professionelle Akteure Sozialer Arbeit verstehen (vgl. STUDER u.a. 2010). Zudem kann in Bezug auf die Schweiz festgehalten werden, dass ein großer Teil der Pflegeeltern verwandtschaftlichen Ursprungs ist. Entsprechend widerständig sind Pflegeeltern auch gegenüber staatlichen Versuchen der Einflussnahme durch Aus- und Weiterbildungen. Es kann an dieser Stelle nicht auf die kantonalen Unterschiede im Pflegekinderbereich eingegangen werden, welche von der föderalistischen Struktur der Schweizer Kinder- und Jugendhilfe herrühren. 11 Positive Effekte einer Qualifizierung von Pflegefamilien sind aber nur bei ‚Foster-Care-Programmen‘ empirisch zu beobachten. Pflegeeltern werden hier „als professionelle Fachkräfte in der therapeutischen Arbeit mit dem Kind integriert und erhalten eine deutlich höhere Bezahlung als herkömmliche Pflegeeltern“ (BOVENSCHEN/SPANGLER 2008, S. 60). Dadurch bekommen sie einerseits eine Distanz zur Unmittelbarkeit der diffusen sozialen Beziehungen, welche sie zu reflektieren lernen. Andererseits aber verwischt dadurch die Differenz zu den sozialpädagogischen Professionellen.
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qualitativ völlig neu zu bewertende Realität eigner Art“ (NASSEHI 1995, S.29). Diese Realität eigener Art, die so konstituiert wird, zeichnet sich dadurch aus, dass eine individuumsspezifische Selektion von Ereignissen vorgenommen wird. In der erzählten Geschichte erscheinen die Ereignisse als nicht zufällig. Vielmehr scheinen sie notwendigerweise aufeinander folgend zu sein, was einer „Beweisführung“ gleichkommt, dass die Dinge nur so und scheinbar nicht anders haben laufen können (vgl. LUHMANN 2004, S.269). Die erzählte Geschichte ist eine fiktionale Erzählung, die nicht wirklich Geschehenes mit dem Anschein von Wahrheit wiedergibt; vielmehr werden dem Forscher gegenüber Details besonders hervorgehoben und andere weggelassen. Die in den Interviews mit Pflegeeltern dargestellten Geschichten bezüglich der platzierten Kinder beziehen sich nach aller Erfahrung auf Krisen als signifikante Kristallisationspunkte (vgl. BÖHNISCH 1997, S.29). Solche Krisenerfahrungen stellen „Gefahrenpunkte“ für eine kontinuierliche Fortschreibung der Selbstbeschreibung heraus, da sie auf eine Diskontinuität hinweisen. Die Diskontinuitäten, die sich in der Erzählung zeigen, sind erinnerte Erfahrungen, die sich selbst reproduzieren (vgl. NASSEHI 1995, S.33). Dabei werden vor allem zwei Themenkomplexe deutlich: Einerseits werden vor allem Probleme dargestellt. Andererseits wird der Umgang mit diesen Problemen entweder durch Liebe oder aber durch sanktionierende Macht thematisiert, die in einem Spannungsverhältnis zu einander stehen. „Die Spannung fungiert gewissermaßen als Realitätsäquivalent“ (LUHMANN 2004, S.292). Die Thematisierung zurückliegender Probleme ermöglicht es den Pflegeeltern, Rückschlüsse auf Ressourcen und Risikofaktoren hinsichtlich ihrer Selbstbeschreibung als liebende Eltern zu ziehen. Ressourcen sind diejenigen Darstellungen, in denen sich ihre Erwartungsstruktur erfüllt hat und ihnen in Krisen soziale Unterstützung zukam. Risikofaktoren sind die Darstellungen, die auf eine sanktionierende Macht hinweisen und die in der Gefahr einer ‚Verlaufskurve des Erleidens‘ stehen (vgl. SCHÜTZE 1995). Solche Risikodynamiken können bis zum Missbrauch oder Abbruch von Pflegebeziehungen führen. Der Interviewtext gibt aber „nicht einen objektiven ehemaligen Handlungsverlauf wieder, sondern nur eine aus einer Gegenwart heraus produzierte perspektivische ‚subjektive‘ Sicht von ,objektiven‘ Hilfeverläufen“ (NASSEHI 1995, S.34). Sowohl die Ressourcen als auch die Risiken weisen aufgrund ihrer Schlüsselfunktion häufig eine Metaphorik auf, die durch eine Metaphernanalyse aufzuschlüsseln ist.12 12 Wir folgen in Ansätzen der Metaphernanalyse von RUDOLF SCHMITT, der sich auf GEORGE LAKOFF und MARK JOHNSON bezieht (vgl. JOHNSON 1980; SCHMITT 1997). Hier werden metaphorische Modelle als Möglichkeiten verstanden, komplexe oder abstrakte Erfahrungsräume wie z.B. Liebe durch den Rückgriff auf ganzheitliche Erlebnisqualitäten zu strukturieren, die sowohl körperlich verankert wie kulturell geprägt sind. Es wird davon ausgegangen, dass die Auswahl von Meta-
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4.1 Einführung in das empirische Material Am Beispiel von Interviewauswertungen zweier Pflegefamilien soll im Folgenden kontrastierend dargelegt werden, was unter Liebe in Pflegefamilien verstanden werden kann. Für das Verständnis der Ausführungen gilt es zu berücksichtigen, in welchem Kontext diese Interviews stattgefunden haben: Die Gespräche wurden in Form von leitfadengestützten Interviews zur Evaluation einer neu installierten Pflegekinderfachstelle erhoben (vgl. STUDER u.a. 2010). Im Vordergrund der Interviews stand die Erzählung über die Platzierungsprozesse spezifischer Kinder und Jugendlichen in die Pflegefamilien. Dabei wurde ein besonderes Gewicht auf die Geschichte bis zur Platzierung der Pflegekinder gelegt. Die beiden Pflegefamilien und deren Lebenssituation zum Zeitpunkt der Platzierung der Pflegekinder werden eingangs jeweils kurz vorgestellt. Anschließend wird versucht, an ausgewählten Interviewstellen die Integration von Pflegekindern und die damit einhergehenden Gefahrenpunkte aufzuzeigen. Durch ein sequenzanalytisches Vorgehen im Sinne einer Narrationsstrukturanalyse kann die durch die Erzählung generierte eigene Realität rekonstruiert werden. In Rahmen dieses Aufsatzes steht weniger die vollständige Analyse der Interviews im Vordergrund als vielmehr die Diskussion der Frage, wie sich jeweils eine Form von Liebe in den beiden Pflegefamilien manifestiert.13 4.2 Pflegefamilie Martin (1) Das Interview mit dem Pflegevater Herrn MARTIN14 zeichnet sich durch eine hohe Narrativität und Metaphorik aus. Bereits in der Eingangssequenz werden die wichtigsten Eckpunkte der familiären Situation der Pflegefamilie MARTIN thematisiert: - Der Pflegevater Herr MARTIN war mit seiner Frau in der stationäphern eine unverwechselbare Gestalt aufweist. Die Metaphernanalyse erlaubt es, biografische Analysen um die Analysen von ‚Projektionen und impliziten Selbstthematisierungen zu bereichern‘. Dabei wird in der metaphorischen Erzählung eine Szene konstruiert, in der Subjekt und Objektkonstruktionen verwischen. Metaphern decken aber nicht nur auf, sondern sie tragen genauso auch dazu bei, etwas zu verdecken. Beides muss in der Analyse zum Thema gemacht werden. In diesem Artikel wird aber nur in Ansätzen eine Metaphernanalyse im Sinne von RUDOLF SCHMITT vorgenommen, da konzeptuelle Metaphern nur ansatzweise in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zur Analyse herangezogen werden. Hier wäre noch ein deutlich höherer Detaillierungsgrad denkbar, wenn es einzig und allein um eine systematische Metaphernanalyse ginge (vgl. SCHMITT 1997). 13 Die Interviews wurden im Kanton Zürich im Schweizer Dialekt durchgeführt und zur besseren Verständlichkeit für diesen Artikel ins Hochdeutsche überführt. Wo ein Begriff hinsichtlich seines Sinngehalts nicht zufriedenstellend in die deutsche Schriftsprache übersetzt werden konnte, wird er in [eckigen Klammern] angehängt. Bei den einzelnen Interviewsequenzen werden Zeilenangaben ohne Literaturangaben gemacht. Diese Zitation hat ihren Grund darin, dass das Datenmaterial zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Aufsatzes noch nicht veröffentlicht wurde. 14 Sämtliche Namen sowie Ortsangaben wurden im Rahmen der Transkription der Interviewaufnahmen anonymisiert.
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ren Drogentherapie tätig. Hier waren sie in erster Linie in der klinikinternen Gärtnerei, nicht aber im therapeutischen Bereich tätig. In diesem Kontext waren sie mit einem an AIDS erkrankten Paar befreundet und übernahmen deren anderthalbjähriges Mädchen PETRA, als die Mutter starb. Es handelte sich hierbei um einen Freundschaftsdienst, welchen sie dem zurückbleibenden Vater erbrachten. Damit wurde das Verhältnis zur Pflegetochter PETRA dahingehend geklärt, dass sie wieder zum leiblichen Vater zurückkehren sollte, sobald sich dieser wieder in der Lage sieht, das Kind aufzunehmen. Tatsächlich ging PETRA nach anderthalb Jahren wieder zum Vater und dessen neuen Partnerin zurück. – Eine andere Situation stellt sich mit den Pflegekindern DORIS und ROLF, welche als Pflegekinder in die Familie aufgenommen werden sollten. Hierbei handelt es sich um eine Kindeswegnahme, die in der Schilderung von Herrn MARTIN aber nicht über die notwendigen behördlichen Instanzen verlief. Dies äußert sich darin, dass die psychisch kranke Mutter die Kinder nur „in einem guten Moment“ an die Pflegeeltern abgab. Entsprechend ist die Beziehung zur Mutter von DORIS und ROLF durch Konflikte geprägt. Diese gipfeln darin, dass die Mutter die Pflegefamilie beschuldigt, ihr die Kinder weggenommen zu haben. – Diese Platzierung muss im Weiteren vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass das Ehepaar MARTIN keine eigenen Kinder mehr bekommen konnte, eine mögliche Adoption von Kindern ablehnte und letztlich Pflegekinder aufnehmen wollte. Dem geht die Tatsache voraus, dass mit der medizinischen Diagnose ein Familientraum „das Loch runter geht“. Am Datenmaterial kann gezeigt werden, dass die Pflegekinder eine Art Stellvertreterfunktion für den verloren gegangenen Familientraum einnehmen. Im Folgenden soll vor allem am Verhältnis der beiden Pflegekinder DORIS und PETRA der Umgang mit Liebe innerhalb dieser Pflegefamilie dargestellt werden. (2) Um die Bedeutung der Pflegekinder in der Familie MARTIN verstehen zu können, ist es zunächst notwendig, die Bedeutung von Familie für die MARTINs zu verstehen. Familie wird seitens Herrn MARTIN als eine idyllische Form des Zusammenlebens dargestellt: „M: „und als da klar gewesen war, dass wir keine eigene Kinder mehr gekriegt haben (1) ist natürlich zuerst für uns auch eine Welt zusammengebrochen (1) also v- (.) noch viel mehr als ich das eigentlich erwartet hätte (3) so der Traum vom Schönen der Familie und (.) idyllisch und weiß nicht was, ist alles das Loch hinunter (3)“ [isch alles s Loch ab]“ (127-130)
Die Familie ist biographisch mit Vorstellungen einer Großfamilie verbunden. Eine Adoption von Kindern kommt für die Eltern nicht in Frage. Im Verlauf des Interviews wird deutlich, dass die Aufnahme von Pflegekindern als eine Art Familienprojekt verstanden wird, welches nicht scheitern darf. In Analogie zu einer natürlichen Gewachsenheit wird Familie in einer naturnahen – vermutlich
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religiösen – Gemeinschaft gelebt. Indem PETRA zurück zu ihrem Vater und der neuen Partnerin geht, wiederholt sich das Trauma der unvollkommenen Familie. Mit dem Weggang von PETRA erfolgen ein Berufs- und ein Wohnortswechsel der Familie MARTIN. (3) Hinsichtlich der Beziehungen zu den beiden Pflegekindern DORIS und ROLF lassen sich unterschiedliche Bewältigungsformen ausmachen, wie auf diese familiäre Situation reagiert wird. Während bei PETRA die Rahmenbedingungen geklärt sind, scheint DORIS der Status der eigenen Tochter zugeschrieben zu werden.15 Die Beziehungen zu den beiden Pflegekindern werden in metaphorischer Form beschrieben: „M: „wir haben auch gewusst, die Petra wird nie (1) bei uns (1) also (2) wir haben ja die Gärtnerei, meine Frau ist Gärtnerin (1) ich nicht (2) für uns war es immer ein wichtiges Ding (.) Geranien werden eingetopft (.) die verwurzeln in einem Kistchen die sind sind dort ein Teil von dem (1) Doris und der Rolf (.) die sind bei uns (.) wir haben gewusst, die werden bei uns ganz (1) gründlich tiefe solide Wurzeln haben (1) die Petra wird nach einer Zeit [na eme Ziitli] wieder ausgetopft werden (1) wenn nämlich ihr Vater wieder heiraten würde (.)““ (58-63).
Die Schilderung bricht an der Stelle ab, an Herr MARTIN vermutlich sagen würde, dass PETRA nie bei ihnen bleiben würde. An dieser Stelle verwendet er die klassische pädagogische Metapher des Gärtners und der hochzuziehenden Pflanze. Er bezieht sich aber insbesondere auf die Wurzeln und auf den Vorgang des ‚Eintopfens‘ und ‚Wurzeln-Schlagens‘. Das Schlagen der Wurzeln wird als naturhafter Prozess betrachtet und damit von Interaktionen befreit. Erziehung und Sozialisation ist damit nicht mehr ein Interaktionsprozess, sondern vielmehr eine naturhafte Entwicklung. Nur das Ein- und Austopfen wird als Interaktion einbezogen. Er verwendet für die Kinder die Blumenart der Geranien. Solche sind Zierpflanzen, die sinnbildlich für kleinbürgerliche Haushalte stehen, in denen sie im Sommer repräsentativ vor den Fenstern aufgestellt werden und im Winter in den Heizungskeller verstaut werden. Die verwendeten Metaphern konstituieren also eine logische Richtungsfolge von der Natur über den Garten bis hin zum Eintopfen als Zierpflanzen. Geranien als Zierpflanzen haben mit der Natur gebrochen, sie sind für die Menschen da und dienen in erster Linie dem Bild nach außen, respektive der Selbstdarstellung. In dieser pädagogischen Metapher des Wurzelschlagens drückt sich ein einverleibendes Denken aus, das im Folgenden konkretisiert wird. Die Metapher des Kuckucks, der anderen Wirtsvögeln ein Ei ins Nest legt, dient Herrn MARTIN zur Beschreibung ihrer familiären Situation:
15 An einer anderen Interviewstelle verweist Herr MARTIN bei der Nennung beider Pflegekinder auf „die“ PETRA und „unsere“ DORIS.
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„M: „das ist unser Ziel (2) ist der Weg mit diesen Kindern (2) wir haben auch, das Bild ist bei uns einmal aufgetaucht (2) es gibt ja (2) einen Vogel in unserem Breitengrad (3) in unseren Breitengraden tut seine Eier anderen ins Nest (1) glaube s’ist der Kuckuck (2) oder die Lerche I: Kuckuck M: der Kuckuck tuts bei anderen rein (1) bei viel kleineren bei Singvögeln (3) und bei uns (.) haben wir das Gefühl sind die (2) sind zwei Eier in unser Nest gekommen (.) weil die in ihrem eigenen Nest (3) es ist irgendwie nicht gegangen (2) und die sie sind jetzt da reingekommen und sind in der Wärme von unserem Nest (2) konnten sie aufwachsen und wenn man jetzt an der Doris schmeckt (3) an dem Vögelchen schmeckt das Vögelchen wie alle andere Vögel (2) oder (1) sie hört es nicht gern (2) ich habs ihr auch schon gesagt (.) sie hört das gar nicht gern weil sie weiß dass es so ist oder (2) aber ä (.) sie schmecken nach uns [sie schmöcked nach üs] (2)““ (STUDER u.a. 2010, 1232-1243).
Die Metapher des Kuckucks illustriert die Situation, dass der Familie jemand untergeschoben wurde, dass ihnen also etwas Fremdes ins „warme Nest“ reingelegt wurde. Damit soll auch zum Ausdruck gebracht werden, dass für das Ei – in diesem Falle also DORIS – kein umsorgendes Nest vorhanden war, weswegen ein anderes gesucht wurde. Die Metapher des Kuckucks beinhaltet aber auch, dass das Fremde das Eigene beeinflusst, die Eier des Wirtsvogels werden bisweilen aus dem Nest geworfen, getötet oder letztlich gar gegessen. Wenn von einem warmen Nest gesprochen wird, deutet sich eine Beziehungsdimension an, die positiv gedeutet werden kann. Es ist nicht ein leeres, schon kaltes Nest, sondern vielmehr ein durch die Liebe zu den eigenen Kindern noch gewärmtes Nest. Herr MARTIN umschreibt das Bild so, als wäre es im eigenen Nest des Kuckucks „irgendwie“ nicht mehr gegangen. Dabei wird aber nicht mit bedacht, dass die Mutter ihre Kinder nicht freiwillig weggegeben hat. In der Aussage, dass DORIS nach ihnen schmecke, kommt eine Unmittelbarkeit seitens des Pflegevaters zum Ausdruck. Nach HELMUTH PLESSNER sind Geschmack und Geruch Formen sinnlicher Wahrnehmung, die sich dadurch auszeichnen, dass sie keine Form der Distanzierung ermöglichen. PLESSNER wertet aber diese Distanzlosigkeit nicht negativ; vielmehr fragt er nach deren Sinn. Aus seiner Perspektive handelt es sich um eine Form der „Vergegenwärtigung des eigenen Körpers, die nötig ist, wenn Körper und Geist in der Einheit der Person, sei es in der Art des Ausdrucks, sei es in der der Handlung zusammenwirken sollen“ (PLESSNER 1980, S.273). Die Vermittlung zwischen Körper und Geist würde sich dabei über die Seele vollziehen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob diese Vermittlung für beide Seiten gleichermaßen gelungen ist. In der Aussage, das Pflegekind wolle nicht hören, dass sie nach ihnen schmecke, kommt etwas Übergriffiges zum Vorschein. Diesem sinnlichen Akt des Schmeckens oder Riechens kann sich DORIS nur schwer entziehen. Dem Riechen kann argumentativ nicht begegnet werden.
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Es ist eine Form der Einverleibung wider ihren Willen.16 Es ist eine metaphorische Form der Darstellung des symbiotischen Mechanismus der Liebe. Damit wird die Gewalt des Kuckucks, der zu Unrecht das warme Nest für seine eigene Brut benutzt, mit einer Gegengewalt der Einverleibung beantwortet. DORIS ist nicht anders als die anderen in der Familie. Zwar ist sie von einer anderen ‚Art‘, aber die Ursprungsfamilie erkennt sie nicht mehr, da sie einen fremden Geruch/Geschmack angenommen hat und deswegen ‚aus der Art geschlagen‘ ist. Vergleicht man diese Beziehung zu DORIS mit derjenigen zu PETRA, so wird deutlich, dass dort eine größere Distanz dargestellt wird. PETRA wird zu ihrem Kind durch einen Freundschaftsdienst. Formen der Einverleibung sind hier nicht zu beobachten. (4) Von den platzierenden Behörden wird erwartet, dass sie das Pflegeverhältnis legitimieren und stützen. Die Vormundschaftsbehörde gibt ein kinderpsychiatrisches Gutachten in Auftrag, welches bestätigt, dass das Pflegekind DORIS bei der eigenen Mutter nicht gut aufgehoben ist. Vor dem Hintergrund von Überlegungen zum Kindeswohl zielt ein solches Verfahren darauf, Rationalität in den Prozess der Pflegschaftsübernahme einzuführen, welche die Pflegefamilie in ihrer Tätigkeit als Pflegefamilie bestätigen kann. – Von Seiten des Pflegevaters MARTIN aber wird dieses Verfahren kritisch wahrgenommen, da es für ihn ein Misstrauen gegenüber der Einschätzung der Pflegefamilie symbolisiert. Die Pflegefamilie weiß am besten, was für DORIS gut ist, da sie in seinem Erleben ein einverleibter Teil dieser Familie ist. Von außen kann demnach das, was einverleibt ist, gar nicht so gut erkannt werden wie von innen. Diese Perspektive offenbart ihren Sinn darin, dass die Pflegekinder ebenso wie Adoptivoder leibliche Kinder wahrgenommen werden und somit stellvertretend für das gemeinsame Familienprojekt stehen. Was als Familie im Falle von DORIS einen naturhaften Charakter haben soll, kann durch öffentliche Instanzen letztlich nicht vollumfänglich gestützt werden. Beide Platzierungen der Pflegekinder scheinen weitgehend unter Ausschluss staatlicher Institutionen abgelaufen zu sein17: Während es sich bei PETRA um einen Freundschaftsdienst handelte, welcher entsprechend zeitlich begrenzt war und unter wechselseitigen Abmachungen stattfand, scheint die Öffentlichkeit im Falle von DORIS (und ROLF) für die Pflegefamilie
16 Auf solche Formen körperlicher Einverleibung erfolgen möglicherweise auf Seiten des Kindes Gefühle wie Ekel als Form unvermittelter Distanznahme oder auch Scham, da sie durch die Einverleibung gedemütigt und in ihrem Innersten verletzt sein könnte (vgl. RAUB 1997, S.39). Scham ist eine Form der Reaktion, wenn eine als wichtig empfundene Distanz aufgehoben wird. Das scheint hier der Fall zu sein, da die Herkunft von DORIS verleugnet wird. 17 Ergänzend ist zu erläutern, dass dieses in der Schweiz nicht unbedingt eine Seltenheit darstellt: Ein großer Teil der Pflegeverhältnisse ist verwandtschaftlicher Art und wird dementsprechend des Öfteren erst nachträglich durch staatliche Instanzen bewilligt.
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MARTIN eher eine Gefahr darzustellen, was angesichts der vorher dargestellten Situation – der ‚Einverleibung‘ von DORIS – nicht verwunderlich ist. (5) Am Beispiel der Pflegefamilie MARTIN wird deutlich, dass und inwiefern sich die biographische Ambivalenz der Pflegefamilie in ihrem Familienverständnis und in ihrem Verhältnis zu den Pflegekindern widerspiegelt: In der fehlenden Distanziertheit zu DORIS („Sie schmeckt nach uns“) manifestiert sich die Schwierigkeit, DORIS als eigenes Kind in die Familie zu integrieren. Zur Stabilisierung dieser Beziehung wird DORIS’ Mutter abgewertet („Paradiesvogel“, „jemand, die schnell Männer findet“). Es fehlt an Reflexivität über die besondere familiäre Situation. – Diese mangelnde reflexive Durchdringung der komplexen (Pflege-)Familienstruktur führte letztlich zu einem Zusammenbruch der Eltern: Der eigene Sohn informierte schließlich die Behörden darüber, dass seine Eltern mit der Situation nicht mehr zu Recht kamen. 4.3 Pflegefamilie Zurbuchen (1) Das Interview mit der Pflegemutter Frau ZURBUCHEN ist geprägt durch eine geringere Narrativität und auffallend viele langen Pausen und Unterbrechungen. Es kommen über weite Teile des Interviews keine längeren Erzählungen oder Beschreibungen zustande. Auch fällt auf, dass die eigene Familie aus der Erzählung weitgehend ausgeklammert wird und eigentlich nur an den Stellen kurz eingeführt wird, an denen es um die Entscheidungsfindung zur Aufnahme eines Pflegekindes geht. Bei näherem Hinschauen fällt auf, dass Frau ZURBUCHEN sich einer metaphorischen Sprache bedient, wenn es um den Ausdruck emotionaler Sachverhalte geht. – Bei Frau ZURBUCHEN handelt es sich um eine Pflegemutter, welche selber vier Kinder hat, als Tagesmutter eingestiegen ist und über längere Zeit regelmäßig SOS-Pflegekinder aufnimmt.18 Frau ZURBUCHEN ist als Jugendliche selber in einem Heim aufgewachsen, genaueres zu ihrer Biographie thematisiert sie nicht. Sie selber versteht ihre Tätigkeit als SOS-Pflegemutter als Dienstleistung. Sie macht die Aufnahme von Pflegekindern davon abhängig, dass diese keine Babies mehr sind und im Alter zwischen ihren eigenen Kindern stehen. Das Beschäftigungsverhältnis charakterisiert sich aus der Sicht der Pflegemutter durch deren Bewusstsein, dass die Pflegekinder bei Problemen auch wieder aus der Familie genommen werden können. Sie betont aber, dass das bis anhin noch bei keinem Pflegekind der Fall gewesen sei. Gegenüber einem Fami-
18 SOS-Pflege wird bisweilen auch Bereitschaftspflege genannt. Sie umfasst im Schweizer Kontext in erster Linie kurzzeitige (nicht länger als drei Monate dauernde) Pflegeverhältnisse. Diese dienen in den meisten Fällen einer Intervention oder einer Übergangslösung, um für die jeweiligen Kinder und Jugendlichen eine passende Lösung oder eine adäquate Fremdplatzierung zu finden.
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lienverständnis, aus deren Zusammenhang es grundsätzlich kein „Entrinnen“ gibt, kann das Dienstleistungsverhältnis auch wieder gekündigt werden. (2) Die Pflegemutter äußert den konkreten Bezug auf ihre persönliche Geschichte und ihre biographische Erfahrung eines Heimaufenthalts. Vor diesem Hintergrund entwickelt sie die Erzählung von drei spezifischen Umgangsweisen mit ihrem persönlichen Leben. Sie weisen die Verlaufsform einer Entwicklung von der bürgerlichen Kleinfamilie hin zu einer verstärkten Öffnung der eigenen Familie auf: Frau ZURBUCHEN konkretisiert dies im ersten Schritt durch die Idee einer großen Familie, welche aufgrund der eigenen vier Kinder verworfen wird. In einem zweiten Schritt wird dieses Modell zugunsten der Aufnahme eines Tagespflegekindes revidiert. Hierbei wird die Kritik geäußert, dass von Tagespflegefamilien in erster Linie Frauen profitieren würden, welche arbeiten und ihre Kinder loswerden wollten. So nimmt sie in einem dritten Schritt ihre Tätigkeit als SOS-Pflegemutter auf, als welche sie in konkreten Notlagen aktiv werden und für die Kinder da sein kann, wenn sie gefragt ist. Das Beziehungsangebot für diese Kinder und Jugendlichen ist auf die gesetzlich bestimmte Maximalfrist von drei Monaten eingeschränkt. Wenn diese Frist zu Ende ist, wird die platzierende Stelle darauf hingewiesen, dass für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine andere Lösung gefunden werden muss. (3) Der klare zeitliche Rahmen schafft für Frau ZURBUCHEN einen Möglichkeitsraum, innerhalb dessen sie für die Pflegekinder vollständig da sein und ihre Kraft „voll investieren“ kann. Sie ist „einfach für die Kinder da“, als eine Art Freundin, eine Ansprechperson auf Zeit. Ihr Dasein für die Kinder entfaltet für sie darin seinen Sinn, diesen Kindern einen Ort, ein Moratorium anbieten zu können, in dem diese vor dem Druck äußerlicher Krisenerfahrungen einen gewissen Schutz erfahren dürfen. „Z: „Bei dieser Familie bin ich jetzt einfach““ (399f.).
Die Ambivalenz des Beziehungsangebots – oder in ihren Worten: dessen Dilemma – über die Zeit der drei Monate äußert sich einerseits darin, vorgängig möglichst wenig über die Kinder erfahren zu wollen, damit die Trennung auch möglichst schmerzlos nach drei Monaten wieder vollzogen werden kann. Wenn aber andererseits die Trennung tatsächlich schmerzlos vollzogen wird, bedeutet dieses zugleich, dass keine wirkliche Bindung eingegangen wurde. So wird, das wird gerade im Vergleich zur Familie MARTIN bzw. insbesondere zu deren Beziehung zur Pflegetochter DORIS deutlich, keine Einverleibung vollzogen, sondern lediglich ein Ort für einen Gast geschaffen. – Wieder anders herum aber handelt es sich beim Schaffen dieses Moratoriums auch um eine ganz bewusste pädagogische Tätigkeit im Hier und Jetzt und unter konkreten zeitlichen Rahmenbedingungen: Das Kind ist jetzt und hier in dieser Familie, jetzt müssen
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‚wir‘ – Pflegemutter und Pflegegeschwister – zusehen, wie gemeinsam mit dieser Situation „zurecht [zu] kommen“ ist. Mit dieser Sprachwahl deutet Frau ZURBUCHEN zum einen an, dass eine schwierige Situation zu bewältigen ist. Zum anderen deutet sie an, worin das Herausfordernde dieser Situation für sie besteht: Es geht darum, eine gemeinsame Lösung zu finden, in der jeder und jede zu seinem und ihrem Recht kommen. Drittens deutet sich an, dass mit dem ‚zurechtkommen‘ noch nicht gesichert ist, dass wirklich jeder ‚zu seinem Recht kommt‘. Es scheint vielmehr so, als ob die Familie sich mit der Unordnung, die mit der Aufnahme des Pflegekindes zunächst einhergeht, als auf sich gestellt erlebt. Die Vergangenheit wird etwas zurückgestellt, das pädagogische Schaffen konzentriert sich auf die Bewältigung der Situation im Hier und Jetzt durch die einzelnen Familienmitglieder. Die Pflegemutter spricht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit mit den Pflegekindern von einem Liebesdienst gegenüber den Kindern: „Z: „auch wenn man halt öfters nicht sieht aber das ist ja bei (3) bei meinen Kindern auch so oder (.) also (4) ist ähm (4) ist es wirklich (1) ich betrachte [luege] das irgendwo als Liebesdienst einfach dann für das Kind das da ist (3) dass die Zeit (.) gut überbrückt werden kann I: mhm Z: auch die die Chance hat um ein gutes Plätzchen [Plätzli; Verkleinerungsform von Platz] zu finden nachher auch wenn es wieder heim geht (.)““ (497-502).
Ihre Tätigkeit als Pflegemutter ist, wie sie an einer vorangehenden Interviewstelle erläutert, für Frau ZURBUCHEN mit der Hoffnung verbunden, dass sich die Pflegekinder an sie zurückerinnern werden, dass sie den Aufenthalt in ihrer Familie als ein gutes Erlebnis in Erinnerung behalten werden. Sie ist davon überzeugt, dass die Erfahrung in ihrer Familie für die Pflegekinder „gut sein muss“; gut für den Weg und die weitere Geschichte des Kindes. Der Aufenthalt in der Pflegefamilie soll zu einem positiven Schlüsselerlebnis in der Biografie der Kinder werden. Nach dieser Erläuterung über ihr Sinnverständnis ihres Tuns folgt in der Erzählung die Rede vom „Liebesdienst“, den sie dem Kind gegenüber erbringe, welches während dieser Zeit in ihrem Haus ist. Im Begriff des Liebesdienstes ist eine Widersprüchlichkeit enthalten: Einerseits werden hier Konnotationen von Liebe als romantischer Liebe angesprochen. Andererseits verweist die Rede vom Dienst auf die von ihr angebotene Dienstleistung, der die Käuflichkeit eines Dienstleistungsangebots zugrunde liegt. Liebe als romantische Liebe kann nicht gekauft werden, käufliche Liebe wäre analog zur Prostitution zu betrachten, auch wenn die angebotene Dienstleistung hier weniger auf Körperlichkeit als vielmehr
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auf emotionale Zuwendung zu beziehen ist.19 Eine weitere Deutung der Rede vom ‚Dienst‘ muss auf den diakonischen Aspekt abzielen. In der älteren Tradition von agape bzw. caritas kommt auch im reformierten Christentum der Diakonie, also dem Dienst am Menschen, eine Funktion als Gottesdienst zu: Der Mensch dient Gott, indem er dessen Geschöpfen mit Gutem dient. Durch den Bezug auf Gott wird es möglich, sich eben dem Verdacht einer Art ‚emotionaler Prostitution‘ zu entziehen, da so verstandener Liebesdienst in eine soziale Beziehung zu einer höheren Idee bzw. Instanz eingebettet ist. In diesem Fall handelt es sich in der Tradition der christlich geprägten Kultur um die Idee, selbst etwas zu opfern, um etwas Höheres – eine engere Bindung zu Gott – zu erwarten. Eine zentrale Rolle scheint bei Frau ZURBUCHEN die eigene biographische Erfahrung des Heimaufenthaltes einzunehmen. Familie wird von ihr eher als eine Wohngemeinschaft verstanden. Vor dem Hintergrund ihrer Heimbiographie könnte dies als eine Abwehr gegen die einengende bürgerliche Familie verstanden werden: Die Familie wird immer wieder auf den Kopf gestellt, mit neuen Kindern entsteht Unordnung. Solche Unordnung bringt Möglichkeiten und Gefahren zugleich für die Familie mit sich. Die Familie kann gefestigt hervorgehen, da sie gemeinsam die Krise überstanden hat, die Familie kann aber auch in ihren Grundfesten erschüttert werden. An der Enge einer bürgerlichen Familie würde Frau ZURBUCHEN möglicherweise ersticken, da mit einer solchen eine Bindung einhergeht, die sie nur bedingt zulassen kann, da sie sie wahrscheinlich selbst kaum erfahren hat. Die dreimonatigen Pflegeverhältnisse erfordern aber keine langfristigen Bindungen, sondern vielmehr ein hohes Engagement in der Situation. Bei Frau ZURBUCHEN findet weder eine Idealisierung der Familie oder der Kinder statt, noch wird die Beziehung zwischen ihr und den Pflegekindern in irgendeiner Form idealisiert: „Z: „ich meine die Chemie stimmt oftmals sicher mit einem Kind sicher nicht oder““ (115f.).
Wenn ‚die Chemie nicht stimmt‘, hält man normalerweise jemanden auf Abstand. Auch diese Redeweise ist ebenfalls, wie schon in dem Fall MARTIN, ein metaphorischer Ausdruck, welcher die emotionale Beziehung zu den Kindern unter Rückbezug auf körperliche Dimensionen umschreibt. Im Unterschied zum Fall MARTIN liegt in diesem Fall jedoch eine emotional negativ konnotierte Vorstellung vor. Wenn die Chemie nicht stimmt, vollzieht sich eine Abstoßung, die
19 Unter Prostitution verstehen wir eine gesellschaftliche Institution, die den Aspekt der Befriedigung sexueller Lust aus einer gefühlsbezogenen Beziehung heraustrennt. Sexualität wird in spezifische Muster sexuellen Verhaltens übersetzt, das der kollektiven Vorstellung darüber, was psychophysisch als lustvoll wahrgenommen werde, folgt (vgl. BRÜCKNER/OPPENHEIMER 2006).
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normalerweise nicht gesteuert werden kann. Im Alltagssprachgebrauch wird die Metapher benutzt, um eine Trennung zu legitimieren. Frau ZURBUCHEN sieht zwar das Problem, erkennt aber, dass der „Liebesdienst“ trotzdem möglich ist. Damit wird deutlich, dass in den meisten Fällen keine Form romantischer Liebe vorliegt, sondern dass Nähe erst künstlich hergestellt werden muss. Jemanden in die Familie zuzulassen, wenn die Chemie nicht stimmt, verweist noch einmal deutlicher auf den Dienstcharakter, sei es zur emotionalen Befriedigung des Kindes, sei es aus der Beziehung zu Gott. In den folgenden Ausführungen wird deutlich, dass es sich bei Frau ZURBUCHEN potenziell eher um eine Form emotionaler Prostitution handelt. Für sie ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich keine körperliche Annäherung vollzieht. Es fällt ihr entsprechend schwer, körperlich zuwendungsbedürftige Kleinkinder als Pflegekinder aufzunehmen: „Z: „und und ich merke das äh (2) ja auch auch äh (3) sich auch als Person hingeben also wirklich auch können (2) knuddeln und weiß ich was oder und (2) das ist nicht so meine (2) kann ich auch (1) aber nicht (1) eben darum hab ich nicht so gerne Babys oder I: ja Z: weil das kommt mir zu nahe“ (2)“ (531-536).
Sie schützt sich davor, mit den Kleinkindern eine Beziehung einzugehen, da sie sich ihnen gegenüber als ganze Person einbringen müsste. Dazu gehört „knuddeln“ als eine Form körperlicher Zuwendung. Die Babys würden ihr zu nahe kommen und damit würde die Trennung für sie selber zu schmerzhaft werden. Frau ZURBUCHEN scheint sich durchaus bewusst zu sein, dass sie nur für eine gewisse eingeschränkte Zeit und auf der Basis einer gewissen Distanz ein Beziehungsangebot machen kann. Deswegen ist es ihr sogar lieber, eventuell eine Person in ihrer Nähe zu haben, mit der ‚die Chemie nicht stimmt‘, denn dieser gegenüber ist die Möglichkeit der Distanz gegeben. Damit knüpft sie an eigene Erfahrungen an, da sie aufgrund ihrer ‚Heimgeschichte‘ ebenfalls keine langfristigen stabilen Bindungen in ihrer Kindheit erlebt hat. (4) Was in der Familie geschieht, scheint von ihr als Privatsache aufgefasst zu werden. Es soll weder gegenüber den Behörden noch in der Interviewsituation thematisiert werden. Das Ausklammern der familiären Privatheit ermöglicht den Kindern und Jugendlichen einen Schutzraum vor der öffentlichen Gewalt. Frau ZURBUCHEN ermöglicht in ihrer Selbstzuschreibung den Kindern und Jugendlichen für die kurze Zeit der Platzierung eine Art Moratorium, in dem diese andere Erfahrungen als die bisher ihre Biographie bestimmenden machen dürfen. (5) Gleichzeitig steckt in dieser Ausklammerung des Privaten aber auch eine Gefahr der fehlenden Kontrolle des Pflegeverhältnisses. Hierin liegt auch ein Gefährdungspotenzial für die Pflegekinder. Frau ZURBUCHEN findet einen Umgang mit der Öffentlichkeit, der darauf abzielt, sich selber ebenfalls zu schützen:
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„Z: „(2) und ähm (2) das ist dann manchmal ein bisschen (3) die Frage wie macht man das oder (1) auch schon habe ich (3) hats meinen Mann verjagt bei einem Jugendlichen (1) wo es wirklich dann auch sehr laut geworden ist (1) wirklich deftig (2) das sind dann einfach Sachen die melde ich einfach sofort [grad] (2) da gibt es ein Mail (.) und ich schreibe die Situation auf (.) und und sage da (.) haben wir irgendwo auch unsere Kompetenzen (.) überschritten oder““ (STUDER u.a. 2010, 194-199).
Die Pflegemutter macht mögliche Fehler oder Fehlentscheidungen gegenüber den fachlichen Instanzen und der Betreuung öffentlich. Dieses geschieht in den Fällen, in denen ihr Konflikte emotional sehr nahe gehen, wie wiederum ihre metaphorische Sprache („deftig“) andeutet. Sie distanziert sich aus der Situation. Die Gestaltung solcher Distanzierung erfolgt aber nicht etwa über eine fachliche Beratung, sondern vielmehr über eine Benachrichtigung per E-Mail. Dadurch entzieht sie sich einem unmittelbaren Austausch. Sie nimmt eine mögliche Kritik vorweg und beugt damit einem möglichen Eingreifen der Behörden vor, insofern sie auf diesem Wege Selbsteinsicht signalisiert. Es handelt sich somit um ein Anzeigen, nicht aber um eine Aufarbeitung der Situation.
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Fazit
Die beispielgebende Analyse dieser beiden Interviews macht deutlich, dass Liebe in Pflegefamilien nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Liebe kann aber ermöglicht werden, selbst wenn es von der Ausgangslage der Pflegefamilien her unwahrscheinlich ist. Im Falle der Frau ZURBUCHEN fehlt ein symbiotischer Mechanismus: Es besteht das umgekehrte Verhältnis, als es bei der käuflichen Liebe der Prostitution zu finden ist. Sie ‚verkauft‘ emotionale anstelle der körperlichen Liebe, aber allen Beteiligten ist klar, dass es sich nicht um ‚wirkliche‘ Liebe im Sinne der romantischen Liebe handelt.20 Für die kurze Zeit einer SOS-Pflegeplatzierung erscheint diese Situation als funktional. Dem interpretierenden Blick erscheint es so, als ob vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen Bindungsschwierigkeiten als sehr nahe liegend zu vermuten sind. Interessanterweise sind diese bei solchen kurzzeitigen Platzierungen sogar als Ressource zu vermuten, da kaum Ansprüche an Bindung gestellt werden. Von daher kann der Status der Pflegefamilie als vorübergehende familiäre Institution von vorne herein von allen Beteiligten akzeptiert werden. 20 Analog zur professionellen Prostitution – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen – muss mit dem Widerspruch umgegangen werden, emotionale Liebe zu vermitteln, ohne körperliche Nähe damit zu vereinen (vgl. SCHUSTER 2001/2002).
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Die Pflegemutter ist bereit, Liebe künstlich, d.h. performativ herzustellen, indem sie mit Abweichungen nicht bestrafend umgeht, sondern vielmehr – auch wenn die Chemie nicht stimmt – Zuwendung gibt. Damit kann Liebe in der Pflegefamilie, obwohl sie unwahrscheinlich ist, einerseits durch den symbolischen Code möglich werden. Andererseits aber kann ihr Anspruch nie vollständig erfüllt werden, da der symbiotische Mechanismus, der erst mit dem Zulassen auch von Nähe in und durch Körperlichkeit verbunden ist, zur Stabilisierung fehlt. Die Situation in solch‘ einer Pflegefamilie ist nicht gänzlich ohne Gefahren. Das hier als Beispiel erläuterte Interview weist auf weiter zu untersuchende problematische Konstellationen hin. Diese können darin liegen, dass in solch‘ eher distanzierten Verhältnissen die Aufarbeitung von Überforderungsphänomenen und -erfahrungen in schwierigen Situationen nur bedingt erkennbar ist. Einerseits scheint Frau ZURBUCHEN um ihre Stärken und Schwächen zu wissen. Von daher wählt sie entsprechend ihres Potenzials die Kinder bzw. Jugendliche aus und vermag so, ein Passungsverhältnis herzustellen. Andererseits erscheint es aber so, als ob es für sie bei der Bewältigung schwieriger Situationen um ein Durchstehen und Aushalten geht. Die Möglichkeit, sich durch die erfahrene Krise zu entwickeln, wird von ihr kaum wahrgenommen. Ihre Bewältigungsstrategie, bei einer Überforderung ‚Vorfälle‘ zu melden, entspricht einem Lebensmotto, dass Angriff die beste Form der Verteidigung sei. Auch vom Beispiel der Familie MARTIN ausgehend können Hinweise auf weitere mögliche Problemkonstellationen abgeleitet werden. In dieser Familie gibt es – im Gegensatz zur Distanz wahrenden Pflegemutter ZURBUCHEN –einige Hinweise auf symbiotische Mechanismen: Diese werden in einer irritierenden, möglicherweise sogar missbräuchlichen Art und Weise gebraucht. Dadurch wird auch hier ein romantisches Ideal familialer Liebe nicht zur Darstellung gebracht. Vielmehr steht im Fokus der Aufmerksamkeit die ‚Einverleibung‘ des Pflegekindes. Diese wird von den Pflegeeltern schon zu einem Moment angestrebt, in dem noch völlig unklar ist, ob das Kind noch einmal in die Ursprungsfamilie zurückkehren wird. Hierin deutet sich eine Gewaltförmigkeit der Beziehung an, die dem Konzept von romantischer Liebe widerspricht, obwohl gerade diese Vorstellung zum Ausdruck gebracht werden soll. Die ‚Notwendigkeit‘ der ‚Einverleibung‘ ergibt sich einerseits aus der Interaktionsdynamik mit der Ursprungsfamilie, die um DORIS kämpfte, sowie andererseits aus der Erfahrung mit PETRA, die den Pflegeeltern wieder genommen wurde, drittens schließlich aber auch aus dem nicht erfüllten Kinderwunsch21.
21 Diese weiterführenden Informationen ergeben sich aus der ausführlichen Analyse des gesamten Interviews, welches aus Platzgründen hier nicht dargestellt werden kann.
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Dieses dynamische Interaktionsgefüge verweist, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen, auch in diesem Beispiel wieder auf die Fragilität der Situation in Pflegefamilien. Es wird beispielgebend deutlich, wie sehr äußere Bedingungen in Pflegefamilien hineinwirken, zugleich aber auch, wie sehr etwa der eigene Kinderwunsch der Pflegeeltern auf Pflegekinder zurückwirkt. Zwischen beiden Polen entsteht eine Dynamik, die einen positiven Beziehungsaufbau zwischen Pflegekind und Pflegeeltern belasten, wenn nicht gar unmöglich macht. Am Beispielfall wird die grundlegende Problematik in aller zugespitzten Schärfe sichtbar: Die Distanzlosigkeit der Pflegeeltern, gegründet auf der Angst, das Pflegekind wieder zu verlieren, führt im Effekt der innerfamilialen Interaktionsprozesse zu genau dem Ergebnis, das die Pflegeeltern befürchten: Eine Distanzierung von Seiten der DORIS, welche das Potenzial hat, das Pflegeverhältnis zu beenden. Eine ‚Einverleibung‘ von Pflegekindern, wie am Beispiel von DORIS in der Familie MARTIN gezeigt werden konnte, stellt die Ursprungsfamilie in Frage. So wird in diesem Beispielfall die soziale Wirklichkeit des Pflegekindes nicht mehr anerkannt. Als Reaktion entzündet sich der Widerstand des Pflegekindes. Schon vor dem Vorliegen solchen empirischen Untersuchungsmaterials haben WALTER GEHRES und BRUNO HILDENBRAND auf die grundlegende pädagogische Schlussfolgerung hingewiesen, die zu ziehen ist: Eine Pflegefamilie kann keine Ersatzfamilie in dem Sinne sein, dass sie unter dem kulturellen Code eines romantischen Ideals familialer Liebe zu verstehen sei. Solche Vorstellungen und entsprechende Forderungen setzen Pflegefamilien nur unnötig unter erheblichen Konkurrenzdruck (vgl. GEHRES/HILDENBRAND 2008). Auf der Basis des bisher ausgewerteten empirischen Datenmaterials kann festgehalten werden, dass romantische Liebe in Pflegefamilien unwahrscheinlich ist. Vielmehr handelt es bei den Verhältnissen in Pflegefamilien um Ambivalenzen künstlich hergestellter Liebe. Diese am meisten charakteristische Ambivalenz scheint nach dem vorliegenden Datenmaterial die Gleichzeitigkeit von emotionaler Nähe bei gleichzeitigem Ausschluss von körperlicher Nähe und Vertrautheit zu sein. In diesem Spannungsfeld scheint das größte Scheiterungspotenzial von Pflegeverhältnissen zu liegen: Während die körperliche Nähe im Falle von Herrn MARTIN zu einer missbräuchlichen Liebe zu werden droht, vermag Frau ZURBUCHEN sich der körperlichen Nähe durch ihren religiösen Glauben zu entziehen. Dadurch entsteht aber der Verdacht einer emotionalen Prostitution, mit der eine Distanziertheit gegenüber den Pflegekindern einhergeht. Wird diese beispielhaft vorgestellte Grundproblematik verallgemeinert, so ist die weitere Forschungshypothese zu formulieren, dass der Umgang mit Körperlichkeit ein Indiz für die Beziehungsqualität in Pflegefamilien sein kann.
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Am bisher ausgewerteten Material ist zudem zu erkennen, dass die diffusen Sozialbeziehungen, welche in den beiden vorgestellten Pflegefamilien deutlich werden, oftmals nicht ausreichend reflektiert werden können. Es fehlt auf Seiten der Pflegeeltern eine systematische Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten und den individuellen Erwartungen an eine befriedigende Nähe im Kontakt mit Pflegekindern. An dieser Stelle rückt zum Abschluss die Diskussion um sozialpädagogische Professionalität und ihre Aufgabe der Regulierung von Nähe und Distanz wieder in den Focus der Aufmerksamkeit: Sozialpädagogische Professionalität umfasst eben gerade die kritische Reflexion von Nähe und Distanz im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Die Abgrenzung von Pflegeverhältnissen in einem Familienkontext gegenüber einer sozialpädagogischen Professionalität hat die nachteilige Konsequenz, dass Pflegefamilien Krisen nur erschwert als Lernmöglichkeiten nutzen können. Professionalität von Pflegefamilien könnte somit bedeuten, Pflegefamilien verstärkt in ihrem konkreten Alltagshandeln zu begleiten und dabei eine Reflexion über die Spannungen in der Familie wie auch über den damit verbundenen Umgang mit Liebe gegenüber den Pflegekindern zu erhöhen.
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IV. Philosophische und erziehungstheoretische Reflexionen zur Liebe
„Nur der ist etwas, der etwas liebt.“ Zu Ludwig Feuerbachs dialogisch-ontologischer Philosophie der Liebe Udo Kern
1
Basis der Philosophie der Liebe: Der Mensch – das dialogische Wesen
Grundlegend für LUDWIG ANDREAS FEUERBACHs Philosophie der Liebe ist deren anthropologisch-dialogisches Fundament (vgl. KERN 2006, S.90ff.). FEUERBACH hat als Philosoph mit seinen grundlegenden Ausführungen zur Dialogizität des Menschen elementar und prinzipiell entscheidend Bedeutsames geleistet. Die fundamentale und profilierte Entdeckung der Ich-Du-Dialogizität des Menschen durch FEUERBACH, also dessen dialogischer Anthropologie, ist für MARTIN BUBER, den Protagonisten des Dialogischen Personalismus, „ein elementares Ereignis“. Für BUBER ist diese Entdeckung menschlicher Dialogizität „die ‚kopernikanische Tat‘ des modernen Denkens“, die ebenso „folgenschwer … wie die IchEntdeckung des Idealismus“ ist. Sie setzt demnach einen „zweiten Neuanfang des europäischen Denkens“ der neueren Philosophie und transzendiert den cartesianischen Ansatz der neueren Philosophie (BUBER 1952, S.62). Jedoch ist auch zu bedenken, was die russische, jetzt in den Vereinigten Staaten arbeitende Philosophin MARINA BYKOVA über die Philosophie FEUERBACHs schreibt: FEUERBACHs Denken ist „als leib- und dialogzentrierte Anthropologie“ zu verstehen, „deren Hauptprinzip eine neu formulierte und entwickelte Konzeption der Subjektivität ist.“ Nach BYKOVA ist für FEUERBACH das „wirkliche Subjekt“ dasjenige „Ich, dem das Du – ein Ich als Objekt für ein anderes Ich – gegenübersteht. Dieses Ich ist ein Lebewesen, das sich in der eigenen Lebenstätigkeit offenbart, die sich im Prozess der menschlichen Kommunikation in der realen Naturwelt entfaltet.“ Dieses Wesen ist das „beleibte Ich“, welches isolierter Subjektivität entgegensteht. Es ist das Ich resp. die Subjektivität, die bzw. das „inmitten der Welt in einem immer schon gegebenen Konnex mit den Dingen und Mitmenschen“ substantial verortet ist (BYKOVA 2006, S.118). Fragt man nach dem Menschen, präzise danach, was der Menschen wesentlich ist, so ist dieses gemäß FEUERBACH nicht in den Qualitäten des Einzelnen zu finden – seien es selbst die denkerischen oder die moralischen. Nach FEUERBACH hat „(d)er einzelne Mensch für sich … das Wesen des Menschen nicht in sich,
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weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen“ (GPZ, GW 9, § 61, S.338f.1). Allein als ens commune ist der Mensch essentiell denkend zu begreifen. „Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten“ (GPZ, GW 9, § 61, S.339). Isolierte einsame Existenz birgt keine essenzielle quidditas des Menschen. Die Einsamkeit ist nicht der Ort entfalteter wahrer menschlicher Existenz, denn die „Wahrheit“ dessen, was der Mensch ist, „existiert nicht im Denken, nicht im Wissen für sich selbst. Die Wahrheit ist nur die Totalität des menschlichen Lebens und Wesens“ (GPZ, GW 9, § 60, S.338). Es kommt darauf an, den Menschen nicht als isoliertes Einzelnes in seinem Menschsein substanzial engzuführen, nicht Verderben bringend zu marginalisieren. Die Einheit von Ich und Du konstituiert substantial ontologisch das Wesen des Menschen. Pointiert formuliert FEUERBACH: „Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit. Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); der Mensch mit Mensch – die Einheit von Ich und Du – ist Gott“ (GPZ, GW 9, § 62, S.339). Dialogische Einheit macht die wahre dialogisch-dialektische Einheit des Menschen aus. „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du“ (GPZ, GW 9, § 64, S.339). Des Menschen wahre und wirkliche Einheit ist keine unterschiedslose, sozusagen idealistisch ideale, die Differenz diskreditierende Einheit. Sie ist vielmehr eine differentdialogische, eine „die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt“ (GPZ, GW 9, § 61, S.339). Da Ich als Mensch ein dialektisch-dialogisches Wesen bin, bedarf Ich unbedingt des von mir unterschiedenen Du, um Mensch unter Menschen sein zu können. „Der andere ist per se der Mittler zwischen mir und der heiligen Idee der Gattung“ (WCh, GW 5, S.278). Das ist der andere als der tatsächlich andere, als 1 Für die Zitation der von mir in meinem Beitrag benutzten Schriften Ludwig Andreas Feuerbachs verwende ich folgende Siglen: Anf.: Einige Bemerkungen über den „Anfang der Philosophie“ von Dr. J.F. Reiff, (Rez.) [1841], GW 9, S. 143-153; Bac.: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza [1833], GW 2; BWCh: Zur Beurteilung des „Wesens des Christentums [Replik], GW 9, S. 229-242; BlWCh: Beleuchtung einer theologischen Rezension vom „Wesen des Christentums“ [1842], GW 9, S. 177-228; Br. IV: Ludwig Feuerbach, Briefwechsel (1853-1861), GW 20; Br. V: Ludwig Feuerbach, Briefwechsel (1862-1868) Nachträge (1828-1861), GW 21; EWR: Ergänzungen und Erläuterungen zum "Wesen der Religion" [1846], GW 10, S. 80-121; GPZ: Grundsätze der Philosophie der Zukunft [1843], GW 9, S. 264-341; GTU: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit [1830], GW 1, S. 175-515; SMW: Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit [1866], GW 11, S. 53-186; Theog.: Theogonie nach den Quellen des klassischen, hebräischen und christlichen Altertums, GW 7; Tod: Über meine "Gedanken über Tod und Unsterblichkeit", GW 10, S. 284-308; TRP: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie [1843], GW 9, S. 243-263; VWR: Vorlesungen über das Wesen der Religion [1851], GW 6. WCh: Das Wesen des Christentums [1841], GW 5.
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„ein qualitativer, kritischer Unterschied“ (WCh, GW 5, S.278, Anm.1). Der andere ist strenge Implikation des Ich. Dementsprechend kann der Mensch essentiell nur mit und nie ohne den anderen adäquat in seinem Sein und Wesen bestimmt werden. Wahres von der dialektisch-dialogischen Differenz geprägtes Menschsein – und damit für FEUERBACH: Personsein – erweist sich in dem energisch vitalen Verhältnis von Mann und Frau. Letztere sind wesentlich different durchdringend bis in Mark und Bein substantial durch ihr Mann- bzw. ihr Weibsein von einander unterschieden und zugleich nach FEUERBACH essentiell auf einander zu einander verwiesen. Die dialogische unterschiedene Verschiedenheit von Mann und Frau ist für FEUERBACh als ursächliche wesentliche nicht zu ersetzende Kapazität die Grundlage menschlicher Persönlichkeit, menschlichen Menschseins. „Die Persönlichkeit ist daher nichts ohne Geschlechtsdifferenz; die Persönlichkeit unterscheidet sich wesentlich in männliche und weibliche Persönlichkeit. Wo kein Du, ist kein Ich; aber der Unterschied von Ich und Du, die Grundbedingung aller Persönlichkeit, alles Bewusstseins, ist nur ein realer, lebendiger, feuriger als der Unterschied von Mann und Weib“ (WCh, GW 5, S.177f.). „Die Geschlechterdifferenz“ zwischen Mann und Frau „ist keine oberflächliche oder … beschränkte“; sondern „eine wesentliche“ (WCh, GW 5, S.177). Dieses ergibt sich daraus, dass sie die Leiblichkeit der menschlichen Natur manifestiert und realisiert. „Der Leib ist der Grund, das Subjekt der Persönlichkeit“ des Menschen (WCh, GW 5, S.177). Ohne die Geschlechterdifferenz, die essenziell Ich-Du-dialogisch ausgelegt ist, ist die Persönlichkeit nichts (vgl. weiterführend zum Aspekt der Leiblichkeit KERN 2009, S.59ff.). Dem korreliert das wichtige Grunddatum von FEUERBACHs neuer Philosophie: „Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen; der Leib gehört zu meinem Wesen; ja, der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber“ (GPZ § 37, GW 5, S.320). In der differenten Verbindung von Ich und Du bei Mann und Frau wird nach FEUERBACH das für den Menschen unumgängliche Menschen- als Weltverhältnis evident manifest: „Der andere Mensch ist das Band zwischen mir und der Welt. Ich bin und fühle mich abhängig von der Welt, weil ich zuerst von andern Menschen mich abhängig fühle. Bedürfte ich nicht des Menschen, so bedürft ich auch nicht der Welt“ (WCh, GW 5, S.165). An dem anderen von mir unterschiedenen Menschen wird originell mein Weltbewusstsein geboren. Dieses gilt exklusiv: „Nur an dem anderen wird der Mensch sich klar und selbstbewusst; aber erst wenn ich mir selbst klar [bin; U.K.], wird mir die Welt klar“ (WCh, GW 5, S.165). Ohne den andern verliert sich der Mensch „selbstlos und unterschiedslos in dem Ozean der Natur“, erfasst er „weder sich als Menschen noch die Natur als Natur“ (WCh, GW 5, S.165). Indem der andere Mensch „(d)er erste Gegenstand
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des Menschen ist“, erschließt sich dem Menschen klar und selbstbewusst „das Bewusstsein der Welt als Welt“ (WCh, GW 5, S.165f.). Insofern hat der Mensch ein demütigendes Bewusstsein der Welt: „Das Bewusstsein der Welt ist ein demütigendes Bewusstsein – die Schöpfung war ein ‚Akt der Demut‘ – aber der erste Stein des Anstoßes, an dem sich der Stolz der Ichheit bricht, ist das Du, der alter ego. Erst stählt das Ich seinen Blick in dem Auge eines Du, ehe es die Anschauung eines Wesens erträgt, welches ihm nicht sein eignes Bild zurückstrahlt“ (WCh, GW 5, S.165). Eine dreistufige „Herausforderung“ des Menschen „angesichts des Anderen“ in FEUERBACHs anthropologischer Philosophie konstatiert SUSANNE RÜTTER: 1. die Herausforderung „durch das Andere in ihm [dem Menschen; U.K.] selbst“, 2. die Herausforderung angesichts des anderen dem Menschen entgegenstehenden Menschen und 3. die Herausforderung durch „Gott“ als das menschlich absolut andere Wesen. Diese dreifache Herausforderung ist die wahre Religion – von FEUERBACHs auf die Menschwerdung fokussierte Inkarnation in der Christologie konstruiert –, definiert als religio, das heißt als Rück-Bindung zur Menschheit, zur Gattung (RÜTTER 2000, S.161-163). „Die dreifache Herausforderung ist letztendlich die eine, dass der Mensch zu sich komme: der Mensch zu sich in der Individualität, der Mensch zu dem anderen Menschen in der Kommunität, der Mensch zu der Menschheit in der Humanität.“ Und so gilt also: „Der einzelne Mensch bildet sich zum ganzen Menschen heraus, indem er sich in seiner Individualität an die in ihr liegende Kommunität und in der Kommunität an die in ihr liegende Humanität rückbindet und so erst ganz zur Liebe erwächst oder erwacht, in der die Menschen nach dem Gesetz der Natur schon verbunden sind“ (RÜTTER 2000, S.163). Grunddaten seiner dialogischen Anthropologie fasst FEUERBACH gut im Paragraphen 42 seiner ‚Grundsätze der Philosophie der Zukunft‘ zusammen: 1. Dass der Mensch Mensch ist, verdankt er grundsätzlich und nichtsubstituierbar dem ontologisch-essentiellen begegnenden kommunikativen Austausch mit einem anderen Menschen: „Zwei Menschen gehören zur Erzeugnis des Menschen – des geistigen so gut wie des physischen.“ 2. Vernünftiges Wesen ist und wird der Mensch nicht aus sich selbst, sondern allein in lebendiger Konversation des (sinnlich beleibten) Ichs mit dem (sinnlich beleibten) Du, durch den ontologisch essenziellen Austausch mit einem anderen Menschen: „Nur durch die Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt.“ 3. Wahrheit und Universalität des Menschseins generieren sich kritologisch-urteilend für den Menschen in der Kommunikation mit anderen Menschen: „Die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium von Wahrheit und Allgemeinheit.“ 4. Epistemologisch und onto-
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logisch wird dem Menschen Daseinsgewissheit durch die lebendige Verbindung mit dem anderen Menschen vermittelt: „Die Gewissheit … selbst von dem Dasein anderer Dinge außer mir ist für mich vermittelt durch die Gewissheit von dem Dasein eines andern Menschen außer mir“ (GPZ § 42, GW 9, S.324). „Das Wesen des Menschen“ manifestiert sich nach HANS-JÜRG BRAUN bei FEUERBACH essenziell „in der Doppelrelation Ich-Du und Du-Ich.“ Nach BRAUN sind bei FEUERBACH „Ich und Du … als transzendierende“ verstanden, deren „Transzendieren … sich aus dem Wesen der Empfindung und Liebe“ ermöglicht (BRAUN 1971, S.119).
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Theologische Verifizierung der trinitarischen Artikulation der selbstbewussten gemeinschaftlichen Dialogizität des Menschen
Dass der Mensch wesentlich Ich-Du-strukturiert ist, west und existiert, wird nach FEUERBACH im Christentum als trinitarischer Religion offenbar (vgl. KERN 2006, S.96ff.). „Die Religion aber ist das Bewusstsein des Menschen von sich in seiner lebendigen Totalität, in welcher die Einheit des Selbstbewusstseins nur als die beziehungsreiche, erfüllte Einheit von Ich und Du existiert“ (WCh, GW 5, S.132, Var.C). Das mysterium trinitatis erweist sich als das Geheimnis von Ich und Du: „Das Geheimnis der Trinität ist das Geheimnis des gesellschaftlichen gemeinschaftlichen Lebens – das Geheimnis von Ich und Du“ (WCh, GW 5, S.500, Var.B und C). Das Christentum, als essenziell trinitarische Religion gefasst, manifestiert den Menschen als ein durch und durch ontologisch ich-dustrukturiertes Wesen. FEUERBACH bekräftigt dementsprechend in Jahre 1842: „Nach meiner Schrift [‚Das Wesen des Christentums‘; U.K.] ist gerade dies das Wesen der Trinität, dass Gott in Beziehung auf sich selbst Vater und Sohn, ein Bund sich innigst liebender Personen, ist“ (BeWCh, GW 9, S.231). Die Trinität hat für FEUERBACH höchste anthropologische Relevanz. Sie ist ihm 1. Ausdruck des Geheimnisses, des Mysteriums des Menschen.2 2. Bewusstsein des ganzen Menschen, des Menschen in seiner Totalität ist für FEUERBACH die Trinität.3 3. In der religiösen Trinität ist das Bewusstsein des Menschen nicht wie das philosophische4 ein abstraktes, sondern vielmehr ein empirisches oder 2 „Das Geheimnis dieses Mysteriums [der Trinität; U.K.] ist nichts anderes als das Geheimnis des Menschen selbst“ (WCh, GW 5, S.131). 3 „Kurz, nur ein Wesen, welches den ganzen Menschen in sich trägt, kann auch den ganzen Menschen befriedigen. Das Bewusstsein des Menschen von sich in seiner Totalität ist das Bewusstsein der Trinität“ (ebd.). 4 „Das Bewusstsein in seiner abstrakten Bedeutung ist nur Sache der Philosophie.“ (WCh, GW 5, S.132).
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lebendiges. 4. Die Einheit und das Selbstbewusstseins des Menschen, wie es in der Trinität verortet ist, bestimmt und fokussiert dieses ausschließlich als relational existierende Einheit von Ich und Du (WCh, GW 5, S.132 und Anm.4). 5. Damit ist der Trinitätsglaube des Menschen ursprüngliche Wahrnehmung des essenziellen Unterschieds des Menschen.5 6. Trinitarisch gesehen ist nur gemeinschaftliches Leben wirklich authentisches der natürlichen Wahrheit entsprechendes Leben: „Gemeinschaftliches Leben nur ist wahres, in sich befriedigendes, göttliches Leben, Gott ist ein zoon politikon – dieser einfache Gedanke, diese dem Menschen natürliche immanente Wahrheit ist das Geheimnis des übernatürlichen Mysteriums der Trinität“ (WCh, GW 5, S.136f., S.137, Anm.1). 7. Die trinitarisch definierte „Totalität“ des menschlichen Lebens ist eine zwischen Ich und Du aufgespannte und in der Liebe pneumatologisch fokussierte und zusammengefasste: „Gott ohne Sohn ist Ich, Gott mit Sohn ist Du. Ich ist Verstand, Du ist Liebe. Liebe aber mit Verstand und Verstand mit Liebe ist Geist: Geist aber die Totalität des Menschen als solchen, der totale Mensch“ (WCh, GW 5, S.136, Sternchenfußnote). FEUERBACH geht es nachdrücklich um den ganzen Menschen. Dem korreliert streng die Trinität, sodass „(d)as Bewusstsein des Menschen von sich in seiner Totalität … das Bewusstsein der Trinität" und das mysterium trinitatis, „nichts andres als das Geheimnis des Menschen“, präzise: des ganzen Menschen, ist (WCh, GW 5, S.131). Trinität als Basis-Spezifikum christlicher Gottesrede vindiziert dem Christentum ein gemeinschaftliches = kommunistisches Gottesund Menschen-Verständnis.6 Das mysterium trinitatis ist „das Geheimnis des gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Lebens – das Geheimnis der Notwendigkeit des Du für das Ich – die Wahrheit, dass kein Wesen, es sei ... nun Mensch oder Gott oder Geist oder Ich, für sich selbst allein ein wahres, ein vollkommnes, ein absolutes Wesen, dass die Wahrheit und Vollkommenheit nur ist die Verbindung, die Einheit von ... wesensgleichen Wesen. Das höchste und letzte Prinzip der Philosophie ist daher die Einheit des Menschen mit dem Menschen“ (GPZ § 65, GW 9, S.340). Ein gemeinschaftlicher, ein kommunistischer Gott ist der trinitarische Gott. Trinität besagt: „Gott ist ein gemeinschaftliches Leben, ein Leben und Wesen der Liebe und Freundschaft. Die dritte Person der Trinität drückt ja nichts weiter aus als die Liebe der beiden göttlichen Personen zueinander, ist die Einheit des Vaters und Sohns, der Begriff der Gemeinschaft, ... als ein persönliches, besonders Wesen gesetzt" (WCh, GW 5, S.137). Mit AUGUSTIN deutet FEUERBACH die 5 „Die Trinität ist … ursprünglich … der Inbegriff der wesentlichen Grundunterschiede, welche der Mensch im Wesen des Menschen wahrnimmt“ (WCh , GW 5, S.387). 6 Zu FEUERBACHs originären Verständnis von Kommunismus, das sich wesentlich von dem von KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS unterscheidet, vgl. weiterführend KERN 2006, S.85-103.
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Trinität relational. Der Heilige Geist als vinculum amoris zwischen Vater und Sohn „repräsentiert ... nichts andres als die Liebe" (WCh, GW 5, S.138). FEUERBACH plädiert für eine bewusste protestantische Interpretation der Trinität (vgl. KERN 2006, S.96f.). Diese sei zu Recht durch das christologische pro-me dominiert. Auf das gemeinschaftliche, das kommunistische Prinzip von Ich und Du hin wird hier menschliches Dasein entworfen. „Die zweite Person [der Trinität; U.K.] ist ... die Selbstbejahung des menschlichen Herzens, das Prinzip des gemeinschaftlichen Lebens, der Liebe“ (WCh, GW 5, S.139). Dass „nur gemeinsames Leben Leben ist“ – das ist das mysterium trinitatis und die veritas trinitatis (BWCh, GW 9, S.232). Jedoch die Trinität ist nicht nur Artikulation des Gemeinschaftlichen, sondern imgleichen auch – und das steht im philosophischen Focus (WCh, GW 5, S.132) – Indikation des Selbstbewusstseins des Menschen. Als Vergegenständlichung des Selbstbewusstseins widerfährt dem Menschen der trinitarische Gott: „Gott denkt, und zwar denkt er sich, erkennt er sich, und das Gedachte, das Erkannte ist Gott selbst. Die Vergegenständlichung des Selbstbewusstseins ist das erste, was in der Trinität uns begegnet“ (WCh, GW 5, S.131). Trinitarisch relational-personal denkt Gott sich (Krt., GW 8, S.194). Das trinitarisch-relationale Sich-Selbst-Denken generiert Selbstbewusstsein. Die sich in drei Momente differenzierende Tätigkeit des Selbstbewusstseins (Krt., GW 8, S.194) entspricht der trinitarischen Tätigkeit des Selbstbewusstseins Gottes. „Inbegriff der wesentlichen Grundunterschiede, welche der Mensch im Wesen des Menschen wahrnimmt“ ist die Trinität (WCh, GW 5, S.387). Das Selbstbewusstsein ist eine in drei Momente sich unterscheidende Tätigkeit. „Aber weil das Subjekt über sich selbst als über ein anderes Wesen spekuliert, so verselbständigt, verobjektiviert es diese Momente oder Gedankenunterschiede als drei Substanzen, Personen, die nichts anderes sind als ebendiese Gedankenunterschiede“ (Krt, GW 8, S.194). Trinität darf aber theologisch und philosophisch nicht auf das denkende Selbstbewusstsein isoliert und beschränkt werden. Trinitarisch ist das Selbstbewusstsein vielmehr wesentlich zu relationieren und zu verorten zu bzw. in der gemeinschaftlichen Einheit von Ich und Du. Das „Bewusstsein des Menschen von sich in seiner empirischen oder lebendigen Totalität, in welcher die Identität (Einheit) des Selbstbewusstseins nur als die beziehungsreiche, erfüllte Einheit von Ich und Du existiert“, das ist die Religion (WCh, GW 5, S.132, B/C-Vers.). Als trinitarisches zoon politikon offenbart Gott – der als trinitarischer Gott „gemeinschaftliches Leben, ein Leben und Wesen der Liebe und Freundschaft“ ist – das grundlegende Faktum: Leben ist nur als gemeinschaftliches göttliches und wahres Leben (WCh, GW 5, S.136f.). Die Religion realisiert und lokalisiert trinitarisch das Selbstbewusstsein des Menschen im gemeinschaftlichen, d.i. im Feuerbachschen Sinne ‚kommunistischen‘ Wesen des Menschen. So wird von
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der abstrakten isolierten Denkexistenz der neueren idealistischen abstrakten Denk-Philosophie Abschied genommen, die nach FEUERBACH ihren absoluten Höhepunkt bei GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL hat. „Die Vollendung der neueren Philosophie ist die Hegelsche Philosophie“ (GPZ § 19, GW 9, S.295; vgl. hierzu auch weiterführend KERN 1998, S.26ff.). So wird das Selbstbewusstsein als ein aus der gemeinschaftlichen Ich-Du relationierten Daseinsweise des Menschen Generiertes begriffen.
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Die neue Philosophie ist die empfindend im Jetzt verortete leibliche Philosophie der Liebe
Die neue Philosophie, also die Philosophie, die FEUERBACH als seine eigene authentische entwirft und versteht, ist die Philosophie der Liebe. Die Grundlinien dieser neuen Philosophie hat FEUERBACH in seiner Schrift ‚Grundsätze der Philosophie der Zukunft‘ von 1843 skizziert (vgl. GW 9, S.264-341). Diese der Wirklichkeit grundkorrelierende Philosophie – und auf sie ist FEUERBACH gründend aus – trifft epistemologisch und ontologisch die Realität, verortet philosophisches Denken nicht auf isoliertes Denk-Bewusstsein, sondern orientiert nicht substituierbar auf das wirkliche Sein und damit auf die Liebe, denn „(d)as Sein ist … Geheimnis der Anschauung, der Empfindung, der Liebe“ (GPZ § 34, GW 9, S.317). Schon früh, in seinen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit von 1830 schreibt FEUERBACH: „Sein ist erst Sein, wenn es Sein der Liebe ist“ (GTU, GW 1, S.216, Anm.4). Die von FEUERBACH inaugurierte für ihn allein authentische Philosophie, die er die neue Philosophie nennt, hat als Grundlage das wirkliche essenzielle Sein (vgl. GPZ § 34, GW 9, S.317). Als solche ist die neue Philosophie also Philosophie der Liebe, da die Liebe wirklich ontologisch dem Sein essenziell korreliert. „Die neue Philosophie … berücksichtigt das Sein, wie es für uns ist, nicht nur als denkende, sondern als wirklich seiende Wesen – das Sein also als Objekt des Seins – als Objekt seiner selbst.“ Das Sein als Objekt des Seins selbst, also „(d)as Sein als Gegenstand des Seins – und nur dieses Sein ist erst Sein … – ist das Sein des Sinns, der Anschauung, der Empfindung, der Liebe“ (GPZ § 34, GW 9, S.317). Das Pro-nobis-esse, das Für-uns-Sein der neuen Philosophie der Liebe ist in ihrem Pro-me- bzw. Pro-nobis-sein protestantische auf MARTIN LUTHERs Schultern aufliegende Philosophie (vgl. GPZ § 34, GW 9, S.317; hierzu weiterführend: KERN 2009, S.64ff.). Die neue Philosophie hat die Liebe als ihr Fundament. Sie „stützt sich auf die Wahrheit der Liebe, die Wahrheit der Empfindung“. Als Philosophie der Liebe hat die neue Philosophie der Liebe anthropologisch-universale Validität
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und Dimension, denn „(i)n der Liebe, in der Empfindung überhaupt gesteht jeder Mensch die Wahrheit der neuen Philosophie ein“. Als „das zum Bewusstsein erhobene Wesen der Empfindung“ ist die neue Philosophie der Liebe nichts Extraordinäres, nur für bestimmte Menschen Reserviertes, sondern allen Menschen Zukommendes, denn „sie bejaht nur in und mit der Vernunft“, was jeder wirklich Mensch seiende Mensch „im Herzen bekennt.“ So ist diese Philosophie zu verstehen als „das zu Verstand gebrachte Herz“ (GPZ § 35, GW 9, S.319). Die neue Philosophie, d.i. die Philosophie der Liebe, unterscheidet FEUERBACH eindeutig von der alten (einschließlich der in HEGEL vollendeten neueren) Philosophie: Die „alte Philosophie“ sagt: „Was nicht gedacht ist, das ist nicht“, die neue Philosophie: „Was nicht geliebt wird, nicht geliebt werden kann, das ist nicht.“ (GPZ § 36, GW 9, S.319). Liebe, die selbstverständlich auch „verzehrendes Feuer“ ist, darf nicht reduziert werden auf „konservative Lebenswärme“ (GTU, GW 1, S.216, Anm.4). KARL LÖWITH irrt und kennt FEUERBACHs Philosophie der Liebe nicht, wenn er dessen philosophisches Verständnis der „‚Liebe‘ eine sentimentale Phrase ohne jede Bestimmtheit“ nennt (LÖWITH 1953, S.94). Auch FRIEDRICH ENGELS diskreditiert FEUERBACHs Philosophie der Liebe. Er spricht bezüglich FEUERBACH von „der überschwänglichen Vergötterung der Liebe“ (MEW 21, S.272). Er sieht eine in der Liebe gipfelnde physiologische und psychologische Anthropologie (MEW 3, S. 541). Die Liebe sei FEUERBACHs über alle Schwierigkeiten hinweghelfender „Zaubergott“ (MEW 21, S.289). Für FEUERBACH dagegen gilt: „Die Liebe erzeugt und vernichtet, gibt Leben und nimmt Leben; sie ist Sein und Nichtsein in einem, Leben und Tod als ein Leben“. Fundamental-ontologische Bedeutung hat die Liebe: „Du bist nur, wenn du liebst, Sein ist erst Sein, wenn es Sein der Liebe ist“. Der Liebe kommt also ontologische affirmative Konstruktion zu. Jedoch Liebe dekonstruiert ontologisch „abgesondertes Für-dich-Sein“. „Du bist nur noch in dem geliebten Gegenstand, alles außer ihm, du selbst ohne ihn bist dir nichts. Die Liebe ist die Quelle aller Freuden, aber auch aller Schmerzen. Was ist aber die Freude? Gefühl des Seins, darum selbst Sein, Bejahung. Was der Schmerz? Gefühl des Nichtseins, der Verneinung, darum selbst Nichtsein… Du hast also die Liebe ebenso als den Grund deines Todes, deines Nichtseins zu erkennen, als du sie als den Grund deines Daseins, deines Lebens anerkennst“ (GTU, GW 1, S.216, Anm.4). Selbstverständlich hat Liebe bei FEUERBACH mit menschlichen Empfindungen zu tun. Denn ja, die Liebe inkorporiert für ihn als Liebe epistemologisch und ontologisch das Empfindungspotenzial. Aber Empfindungen dürfen nach FEUERBACH hier aber eben nicht im Sinne der alten metaphysischen Transzendenzphilosophie empirisch-anthropologisch missverstanden werden: „Die menschlichen Empfindungen haben … keine empirische, anthropologische Bedeutung im
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Sinne der alten Transzendenz“. Vielmehr haben die menschlichen Empfindungen „ontologische, metaphysische Bedeutung“. Und weil das so ist, sind „in den alltäglichen Empfindungen … die höchsten Wahrheiten verborgen“ (GPZ § 34, GW 9, S.318). Hoch wertet FEUERBACH die Empfindung: „Dasein habe ich allein in der Empfindung“. Ich als bestimmtes Individuum „Ich bin Empfindendes“ (GTU, GW 1, S.243). Empfindung und damit die diese inkorporierende Liebe erweist mein Dasein stets 1. als bestimmtes Dieses bzw. bestimmte Person, 2. als Ganzes, 3. als im Jetzt gegenwärtiges und 4. als zeitlich vergänglich. „Ich fühle immer nur Bestimmtes, aber in diesem bestimmten Gefühl bin ich immer selbst, das ganze Individuum, meine ganzes Sein enthaltend, denn jedes Gefühl ist zugleich Gefühl meiner selbst, mein ganzes Sein in einer besonderen Bestimmtheit“. Die Empfindung vergegenwärtigt mein ganzes Sein in einem bestimmtem Jetzt: „(I)ch fühle … nur dadurch, dass mein ganzes Sein gesammelt …, getrieben und gedrängt ist in einen einzelnen Zeitpunkt, dass in einem Jetzt mein ganzes Sein geeint und in dieser Sammlung gegenwärtig ist.“ Mein ganzes Sein ist zusammengedrängt im „Feuer der Empfindung“. FEUERBACH verwendet die Metapher des solis lumen für die Empfindung: „Wie das Sonnenlicht, zusammengedrängt und gesammelt, Feuer wird, brennt, so entsteht nur durch die Zusammendrängung meines ganzes Seins auf den Brennpunkt eines Augenblicks in mir das Feuer der Empfindung“. Empfindung eignet Vergänglichkeit. Das zeitliche Jetzt der Empfindung ist kein der Zeit enthobenes, sondern als in der Zeit definiertes vergänglich. „Außer der Zeit ist keine Empfindung“, das heißt: „nur ein Objekt, das in der Zeit ist, kann in dem Subjekt und für es vergehen, und es kann nur in dir, in der Empfindung vergehen, weil es in der Zeit vergeht.“ Anderseits ist die Zeit „ein Empfindungsvermögen selbst. Wo keine Zeit, da ist kein Individuum, keine Empfindung“ (GTU, GW 1, S.244). Jedoch gilt auch umgekehrt, dass mit dem Aufhören der Zeit damit dem in der Zeit verorteten empfindenden Individuum das Ende gesetzt ist. „Wo also die Zeit aufhört, da hört auch die Empfindung und mit dieser die Individualität auf. Dieses Wesen, dieses Individuum bist du nur in dieser Zeit“ (GTU, GW 1, S.245f., Anm.2). FEUERBACH urgiert die Originalität der Empfindung. „Leben, Empfindung, Denken ist etwas absolut Originales und Geniales, Unkopierbares, Unersetzliches, Unveräußerliches – ist in Wahrheit das nur durch sich selbst erkennbare … Absolute“ (SMW, GW 11, S.126). Die Empfindung manifestiert die ontologische Grundkategorie des „Dieses“. FEUERBACH begreift so das Sein als „Geheimnis der Anschauung, der Empfindung, Liebe“. Die Empfindung bzw. die Liebe, besser die Empfindung implizierende Liebe rezipiert das „‚Dieses‘“, das ist: „diese Person, dieses Ding“ in ihrem ursprünglichen Dieses-dasein. Und da sie dieses tut, d.h. indem sie grund-
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fokussiert auf das Dieses diesem „absoluten Wert“ vindizieret – weil sie dieses Dieses, d.i. diese Endliche, als das Unendliche begreifet – eignet der „Liebe unendliche Tiefe, Göttlichkeit und Wahrheit“ (GPZ § 34, GW 9, S.317). Die Liebe abstrahiert nicht von dieser Person, diesem Ding. Sie realisiert sich ontologisch in diesen. Losgelöst von Diesem hat sie keine Realität. Erst in dieser Person und diesem Ding kommt ihr Seinsrealität zu, ist sie. Leidenschaft, die das „empfindungs- und leidenschaftslose abstrakte Denken“ der bisherigen Denkphilosophie entbehrt und damit den „Unterschied zwischen Sein und Nichtsein“ aufhebt, propriert dagegen der Liebe und hat damit ontologische Qualität: „Die Liebe ist Leidenschaft, und nur die Leidenschaft ist das Wahrzeichen der Existenz. Nur was … Objekt der Leidenschaft, das ist“. Liebe heißt des Unterschieds zwischen Sein und Nichtsein tatsächlich innewerden. „Wer nichts liebt“, kennt nicht wirklich diesen Unterschied. Darum ist es ihm „völlig gleichgültig, ob was ist oder nicht ist“ (GPZ § 34, GW 9, S.318). Der empfindende Schmerz und die empfindende Freude der Liebe realisieren ontologisch den Unterschied zwischen Sein und Nichtsein. Der Schmerz in der Liebe ist die notwendige empfindende Differenz von Sein und Nichtsein. „Das, dessen Sein dir Freude, dessen Nichtsein dir Schmerz bereitet, das nur ist“ (GPZ § 34, GW 9, S.318f.). „Ich denke, ich empfinde nur als Mann oder Weib“. Das im Geschlechtsunterschied denkende Erkennen garantiert die menschliche Erkenntnis des sich unterscheidenden Dieses. FEUERBACH verbindet philosophisch die ontologische Frage nach dem, was ist, mit der der Geschlechterdifferenz, sodass diese nicht ohne jene und vice versa adäquat funktionieren. Die Frage: „Ist die Welt nur eine Vorstellung und Empfindung von mir oder auch eine Existenz außer mir?“ verknüpft FEUERBACH analytisch mit der Frage: „Ist das Weib oder der Mann nur eine Empfindung von mir oder ein Wesen außer mir?“ (SMW, GW 11, S.173). Das als Mann- oder Frau-Denken diversifizierte Denken des Menschen macht dem Menschen elementar sein ontologisch auf-anderes-gegründetes Sein klar. „(D)as Sein geht dem Denken voran; im Denken bringe ich mir zu Bewusstsein, was ich ohne Denken schon bin: kein grundloses, sondern ein auf anderes gegründetes Wesen“ (SMW, GW 11, S.172f.). Mein denkendes Ich als Mann setzt das der Frau (und umgekehrt) in meinem Mensch- und Weltsein gründend voraus. „Das wirkliche Ich ist nur weibliches oder männliches Ich, kein geschlechtloses Das, denn der Geschlechtsunterschied ist nicht nur auf die Geschlechtsteile beschränkt …, er ist … ein allgegenwärtiger, unendlicher … Unterschied“ (SMW, GW 11, S.173). Aus dieser grundlegenden Wechselseitigkeit folgt: „Ich setzte nur ein Objekt, ein Du außer mich, weil an und für sich mein Ich, mein Denken ein Du, ein Objekt voraussetzt“ (SMW, GW 11, S.172). Das genau geschieht in der Geschlechterdifferenz des Menschen, die das wirkliche menschli-
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che Ich ausmacht, denn „(d)as wirkliche Ich ist weibliches oder männliches, kein geschlechtsloses Das“ (SMW, GW 11, S.173). Für FEUERBACH ist die Geschlechterdifferenz des Menschen nicht zu reduzieren auf eine materielle sozusagen tierische Naturgegebenheit. Sie ist ihm eine wesentliche, das ganze Menschsein durchdringende. FEUERBACH redet vom „Sauerstoff der Geschlechterdifferenz“, ohne den der Mensch nicht ist. „Die Geschlechterdifferenz ist keine oberflächliche oder nur auf gewisse Körperteile beschränkte; sie ist eine wesentliche; sie durchdringt Mark und Bein.“ Das Wesen bzw. die „Substanz des Mannes ist die Männlichkeit, die des Weibes die Weiblichkeit. Sei der Mann auch noch so geistig und hyperphysisch – er bleibt doch immer Mann; ebenso das Weib“ (WCh, GW 5, S.177). So ist das auch dem Menschen essenzielle Personsein nicht ohne den dem Menschen eignenden Geschlechtsunterschied: „Die Persönlichkeit ist … nichts ohne Geschlechtsdifferenz; die Persönlichkeit unterscheidet sich wesentlich in männliche und weibliche Persönlichkeit.“ Sie fußt auf dem geschlechtsdifferenten „Unterschied von Ich und Du“ als der „Grundbedingung aller Persönlichkeit“. Entscheidend für das Menschsein und „Grundbedingung“ seines Personseins, seines Bewusstseins überhaupt ist der geschlechtsspezifische „Unterschied von Ich und Du“ wie er sich allein manifestiert als „ein realer, lebendiger, feuriger als der Unterschied von Mann und Weib“ (WCh, GW 5, S.178). Die die Geschlechterdifferenz realisierende Ich-Du-Beziehung in der Philosophie der Liebe offenbart das Ich des Menschen als ein beleibtes. „Das Ich ist beleibt“ (Anf., GW 9, S.150). Als beleibtes ist das Ich in der Welt: „Im Leib sein heißt in der Welt sein“. Als beleibtes ist das Ich, „also durch den Leib, der ‚Welt offen‘“. Die Weltoffenheit des Ich ist demnach „keineswegs ‚durch sich selbst’ als solches“, sondern qua Leiblichsein des Ichs. Aus der Leiblichkeit des Ichs manifestiert sich das Ich als ego passivum und ego activum. „Das Ich ist beleibt – heißt…: Das Ich ist nicht nur ein activum, sondern auch passivum. ‚… Das passivum des Ich ist das activum des Objekts. Weil auch das Objekt tätig ist, leidet das Ich“ (Anf., GW 9, S.151). Damit hat die neue Philosophie der Liebe als Fundament und Prinzip: „Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen; der Leib gehört zu meinem Wesen; ja, der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber“ (GPZ § 37, GW 9, S.320). Damit ist dem menschlichen Ich unmittelbare Gewissheit geben, nämlich da es als leibliches „Objekt des Sinns, der Anschauung, der Empfindung ist (GPZ § 38, GW 9, S.320). Durch ontologische Leiblichkeit wird das Ich zum dialogischen, zu dem, das sich kommunitär in der IchDu-Relation entfaltet. Die Leiblichkeit des Menschen ist dessen Sinnlichkeit (vgl. zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Leiblichkeit weiterführend KERN 2009, S.61ff.). „Alles ist … sinnlich wahrnehmbar, wenn auch nicht unmittelbar, doch mittelbar, wenn
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auch nicht mit den pöbelhaften, rohen, doch mit den gebildeten Sinnen, wenn auch nicht mit den Augen des Anatomen oder Chemikers, doch mit den Augen des Philosophen“ (GPZ § 42, GW 9, S.324). Das gilt jedoch für FEUERBACH nur, wenn 1. Sinnlichkeit nicht missverstanden wird als „das Profane, das auf platter Hand Liegende, das Gedankenlose, das sich von selbst Verstehende“ (GPZ § 44, GW 9, S.325), sondern 2., wenn folgende Definition der Sinnlichkeit konstitutiv ist: „Sinnlichkeit ist … nichts andres als die wahre, nicht gedachte und gemachte, sondern existierende Einheit des Materiellen und Geistigen, ist daher … ebensoviel wie Wirklichkeit“ (VWR, GW 6, S.19). Wissenschaft und insbesondere die Philosophie haben die Aufgabe, zur Sinnlichkeit als der existierenden Einheit von Geistigem und Materiellem, zur sinnlichen Anschauung zu führen und damit „das den gemeinen Augen Unsichtbare sichtbar, d. i. gegenständlich, zu machen“ (GPZ, GW 9, S.325f.). Die gemeinen Menschen „sehen zuerst die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen, nicht, wie sie sind“ (GPZ § 44, GW 9, S.325). Sie sind von den Einbildungen, ihrer bei sich selbst bleibenden sinnlichen Vorstellung bestimmt. Sie müssen aber zur sinnlichen Anschauung gebracht werden, denn „in der Vorstellung bleibt er (der Mensch) bei sich“ und das ist epistemologisch und ontologisch zerstörend. „In der Anschauung [dagegen; U.K.] ist der Gegenstand die handelnde und redende Person“. In ihr wird mit „den Dingen im Original, in der Ursprache“ gesprochen. Nur so kommt man „zur sinnlichen, d. i. unverfälschten, objektiven, Anschauung des Sinnlichen, d. i. Wirklichen“ und damit erst wirklich auch „zu sich selbst“ (GPZ § 44, GW 9, S.326). Sinnlichkeit ist „keine Schranke der Vernunft“, da „Sinnlichkeit mit Wahrheit und Wesentlichkeit identisch ist“ (Bac., GW 2, S.456). In ihr gestehe ich dem andern wie mir reales Subjektsein zu: „(I)ch lasse den Gegenstand sein, was ich selber bin – Subjekt, wirkliches sich selbst betätigendes Wesen“ (GPZ § 25, GW 9, S.304). Indem die Philosophie der Liebe als Philosophie der Leiblichkeit Sinnlichkeit als die existierende Einheit des Materiellen und Geistigen philosophisch epistemologisch und ontologisch nichtsubstituierbar artikuliert, werden Ich und der andere als wirkliches Subjekt, d.i. wirkliches sich selbst betätigendes Wesen, tatsächlich erkannt.
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Liebe als Inkorporation und Manifestation des höchsten philosophischen Prinzips und als das Wahrzeichen der Existenz
Im Paragraphen 65 seiner programmatischen Grundsätze der Philosophie der Zukunft schreibt FEUERBACH: „Das höchste und letzte Prinzip der Philosophie ist … die Einheit des Menschen mit dem Menschen. Alle wesentlichen Verhältnisse – die Prinzipien verschiedener Wissenschaften – sind nur verschiedene Arten
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und Weisen dieser Einheit“ (GPZ § 65, GW 9, S.340). Die Philosophie der Liebe durchwaltet das höchste Prinzip der Philosophie – die Einheit des Menschen mit dem Menschen – durch und durch. Sie entspricht diesem essenziell, indem sie monologischer isolatorischer Einsamkeit und Beschränktheit widersteht und totaliter auf dialogische Existenz setzt. Zwar ist die Natur das erste Prinzip und Basis der Philosophie im Sinne eines unvordenklichen Anfangs, jedoch nicht deren höchstes und letztes Prinzip. Das ist vielmehr „die Einheit von Ich und Du. ‚Ich ist Verstand, Du ist Liebe. Liebe aber mit Verstand und Verstand mit Liebe ist Geist’“ (BlWCh, GW 9, S.227). In FEUERBACHs Philosophie der Liebe gelangen die oben (in Abschnitt 1) von mir genannten vier Grunddaten seiner dialogischen Anthropologie zur philosophischen Realisation. Das Menschsein des Menschen gründet in der Ich-DuDialogizität des menschlichen Seins. Diese Basis des Menschseins wird durch die Philosophie der Liebe heuristisch, epistemologisch und ontologisch erschlossen. Die Philosophie der Liebe urgiert gemäß der ihr zugrunde liegenden anthropologischen Dialogizität:1. Das Menschsein des Menschen ist nichtsubstituierbar ontologisch dialogisch begründet. 2. Dass der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, verdankt er der „Konversation“ von Ich und Du. 3. Erstes Prinzip und Basiskriterium der Wahrheit und Universalität des Menschseins ist die auf aus der Ich-Du-Dialogizität entfaltete Gemeinschaft des Menschen. 4. Daseinsgewissheit seiner eigenen Existenz und die andere Dinge geschieht dem Mensch allein durch die Vermittlung der ihm zuteilwerdenden Daseinsgewissheit eines außer ihm seienden anderen Menschen (vgl. GPZ § 42, GW 9, S.324). Die sinnlich-rationale Dialogizität, wie sie die Philosophie der Liebe als neue Philosophie artikuliert, offenbart die wahre Dialektik als allein solche, die im Dialog zwischen Ich und Du west, nicht aber als eine im wie auch immer gearteten Ich geborene. (GPZ § 64, GW 9, S.339). Die wahre in der Beziehung von Ich und Du generierte Dialektik hat ihren anthropologisch-universalen Ort in der gemeinschaftlichen Begegnung des Ich-Du-bestimmten Menschen. Diese Dialektik ist deshalb wahre Dialektik, da sie dem feuerbachschen Grundkriterium der Wahrheit entspricht: „Die Wahrheit ist nur die Totalität des menschlichen Lebens und Wesens“ und ganz und gar nicht eine allein „im Denken“ und „Wissen für sich selbst“ existierende (GPZ § 60, GW 9, S.338). Die in der dialogischen Dialektik der Liebe sich manifestierende Wahrheit ist zugleich eine solche, die der Wirklichkeit korreliert, da sie qua Leiblichkeit sinnlich ist. Denn: „Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch.“ Wahrheit gründet auf der Wirklichkeit und diese west aus der Sinnlichkeit. „Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen“ (GPZ § 32, GW 9, S.316). Allein die Sinnlichkeit als die „existierende Einheit des Geistigen und Materiellen“ (VWR, GW 6, S.19) ist „Wahrheit und Wirklichkeit“ (GPZ § 32,
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GW 9, S.316). Diese Wahrheit und Wirklichkeit, auf Sinnlichkeit gebaut, entspricht der Realität des Ich-Du-Verhältnisses. Das darf jedoch unter keinen Umständen sensualistisch-physikalisch missverstanden werden. Vielmehr gilt, dass Wahrheit und Wirklichkeit mit der in der in der Ich-Du-Relation definierten Wahrheit und Wirklichkeit identisch sind. FEUERBACH schreibt in einem Brief vom 27.11.1860 an den Schriftsteller und Philosophen JULIUS DUBOC: „Ich gehe … bei der Frage von der Realität und Objektivität der Sinne nicht vom Ich gegenüber dem physikalischen oder natürlichen Ding aus, sondern [von] dem Ich, welches außer sich und sich gegenüber ein Du hat, und selbst gegenüber einem andern Ich ein Du, ein selbst gegenständliches sinnliches Wesen ist. Und dieses, obwohl sinnliche, empirische Ich ist meist der Wahrheit des Lebens nach, wonach sich allein die Wahrheit d[es] Denkens richtet, das wahre Ich...“ Also gilt: „Kein Sinn, kein Ich, denn es gibt kein Ich, das nicht Du, aber Du ist nur für den Sinn. Ich ist die Wahrheit des Denkens, aber Du die Wahrheit der Sinnlichkeit. Was aber vom Menschen dem Menschen, das gilt auch von ihm der Natur gegenüber. Er ist nicht nur das Ich, sondern auch das Du der Natur gegenüber“ (Br. IV, GW 20, S.311). Die Philosophie der Liebe ist als solche Philosophie der ontologischen Leidenschaft. Die empfindende Leidenschaft der Liebe besitzt nach FEUERBACH metaphysische Dignität und ist das Wahrzeichen der Existenz. „Die Liebe ist Leidenschaft, und nur die Leidenschaft ist das Wahrzeichen der Existenz. Nur was – sei es nun wirkliches oder mögliches - Objekt der Leidenschaft, das ist. Das empfindungs- und leidenschaftslose abstrakte Denken hebt den Unterschied zwischen Sein und Nichtsein auf, aber der Liebe ist dieser dem Gedanken verschwindende Unterschied eine Realität. Lieben heißt nichts anderes als diesen Unterschied innewerden“ (GPZ § 34, GW 9, S.318). Was – wie das in der Liebe stets der Fall ist – realer oder potenzieller Gegenstand der Leidenschaft ist, dem ist philosophisch-ontologisch das esse, das Ist zu vindizieren. Liebe bedeutet ontologisch das Innewerden der Differenz zwischen Sein und Nichtsein. Philosophie der Liebe negiert nicht, wie die abstrakte Nur-Denkphilosophie es tut, wenn sie das Sein thematisiert, die ontologische Leidenschaft des Seins, sondern integriert sie. Das leidenschaftslose abstrakte, d.i. sich von der Wirklichkeit losreißende Denken ist deswegen unzureichende, die Realität ontologisch verfehlende Philosophie, weil dieser Philosophie die Leidenschaft ontologisch verlustig ist. Philosophie der Liebe setzt dagegen auf die empfindende Leidenschaft der Differenz zwischen Sein und Nichtsein. Lieben als das leidenschaftliche Innewerden dieses Unterschieds verortet den Menschen und seine Wirklichkeiten leiblich-sinnlich konkret ontologisch. Der Nichtliebende ist durch völlige Gleichgültigkeit hinsichtlich des Seins oder Nichtseins eines immer wie gearteten Gegenstandes geprägt (vgl. ebd.).
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Zweierlei Ontologisch-Fundamentales wird mir als Menschen „nur durch die Liebe, die Empfindung überhaupt“ zuteil: 1. das „Sein im Unterschied zum Nichtsein“ und 2. „ein Objekt im Unterschied von mir“ (GPZ § 34, GW 9, S.318). Hier hat auch der Schmerz der Liebe seine philosophische Relevanz. „Der Schmerz ist eine laute Protestation gegen die Identifizierung des Subjektiven“ im bzw. und Objektiven (GPZ § 34, GW 9, S.318 und Anm.3). Die Protestation des Schmerzes richtet sich damit gegen die Einebnung, die Nivellierung von Ich und Du, von Denken und Sein. Indem der Schmerz sich nachdrücklich einstellt bei defizitärer ontologischer Option, kommt ihm als Schmerz der Liebe höchste metaphysische Bedeutung zu. „Der Schmerz der Liebe ist, dass das nicht in Wirklichkeit ist, was in der Vorstellung ist.“ „Selbst der animalische Schmerz spricht … diese Differenz aus. Der Schmerz des Hungers besteht nur darin, dass nicht Gegenständliches im Magen … ist“ (GPZ § 34, GW 9, S.318). Der Schmerz der Liebe hat als solcher realitätsrelevante ontologische Bedeutsamkeit. „Der Unterschied zwischen Objekt und Subjekt, … Sein und Nichtsein ist ein ebenso erfreulicher als schmerzlicher Unterschied“ (GPZ § 34, GW 9, S.318f.).
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Der metaphysische Egoismus der Liebe
Als elementares Bedürfnis hinsichtlich eines andern schließt Liebe Verderben bringende egoistische Selbstständigkeit als destruierende incurvatio in se ipso (Verkrümmung in sich selbst) aus: „(W)er liebt, gibt seine egoistische Selbständigkeit auf; er macht, was er liebt, zum Unentbehrlichen, Wesentlichen seiner Existenz" (WCh, GW 5, S.436).7 Liebe als Empfindung ist „das Wahrzeichen der Existenz“ (GPZ § 34, GW 9, S.318). Indem sie dieses ist, wird in ihr dem einzelnen liebenden Individuum Profil gegeben. In der Philosophie der Liebe wird zwar, wie wir sahen, das Ich als poröses Ich durch und durch dialogisch verstanden. Das bedeutet aber keine Nivellierung des einzelnen liebenden Subjekt, das seinerseits stets zum Du werden kann. Das liebende Ich darf nicht nur nicht verdampfen in der Dialogizität der Liebe, sondern es wird profiliert Ich. Es muss ontologisch-konturiert Ich bleiben. Um das markant zum Ausdruck zu bringen, spricht FEUERBACH vom notwendigen metaphysischen Egoismus als dem der menschlichen Vernunft notwendiges Sich-selbst-Geltendmachen in der Philosophie der Liebe. FEUERBACH versteht unter metaphysischem Egoismus der Liebe – in strenger Abgrenzung von dem durch „Rücksichtslosigkeit im Denken und Handeln“ den eigenen 7 Mit Bezug auf 1. Joh. 4,8 (‚Gott ist die Liebe‘) ratifiziert FEUERBACH das theologisch, indem er die Aseität Gottes aufhebt zu Gunsten von dessen Pro-me-sein (WCh, GW 5, S.436).
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Vorteil suchenden moralischen Egoismus „des Philisters und Bourgeois“ – das der Natur des Menschen „und folglich – denn die Vernunft des Menschen ist nichts als die bewusste Natur des Menschen – seiner Vernunft gemäße“ unbedingt notwendige „Sich-selbst-Geltendmachen, Sich-selbst-Behaupten des Menschen“ (VWR, GW 6, S.60f.). Der metaphysische Egoismus ist essenziell für das Dasein, für das Leben des Menschen: „Leben ist Egoismus. Wer keinen Egoismus will, der will, dass kein Leben sei. Nur der Tote ist ohne Egoismus“ (EWR, GW 10, S.82). Nichtersetzbare Wurzel und Grund des Menschen ist der Egoismus. „Was nicht im Egoismus des Menschen wurzelt, hat keinen Grund und Boden“ (Theog., GW 7, S.118). Entbehrt der Mensch dieser gründenden Basis, verliert er sich selbst und wird der Destruktion seines Menschseins ausgeliefert. Der metaphysische Egoismus ist kein auf Grund von Eigenbegierde konstruierter, welche moralisch Verderben bringt, kein dem Menschen akzidentiell hinzugefügter. Metaphysischer Egoismus ist vielmehr als notwendiger „unerlässliche(n)r Egoismus … nicht moralische(n)r, sondern metaphysische(n)r“. Solches gilt deswegen, weil er „im Wesen des Menschen ohne Wissen und Willen begründete(n)r Egoismus“ ist. Dieser ist nichtsubstituierbarer, da essenzieller Egoismus, ohne welchen der Mensch nicht leben kann. Er ist jener Egoismus der dem Menschen notwendigen Liebe zu sich selbst. Entsprechend definiert FEUERBACH den Egoismus der Liebe zu sich selbst: „Ich verstehe unter Egoismus den notwendigen, den unerlässlichen Egoismus, den … nicht moralischen, sondern metaphysischen, d. h. im Wesen des Menschen ohne Wissen und Willen begründeten Egoismus, den Egoismus, ohne welchen der Mensch gar nicht leben kann – denn um zu leben, muss ich fortwährend das mir Zuträgliche zu eigen machen, das mir Feindliche und Schädliche vom Leibe halten -, den Egoismus …, der selbst im Organismus, in der Aneignung der assimilierbaren, der Ausscheidung der nicht assimilierbaren Stoffe liegt.“ Dieses ist der Egoismus der zu sich selbst in der Tat unersetzbaren Liebe. So versteht also FEUERBACH „unter Egoismus die Liebe des Menschen zu sich selbst, d. h. die Liebe zum menschlichen Wesen, die Liebe, welche der Anstoß zur Befriedigung und Ausbildung aller der Triebe und Anlagen ist, ohne deren Befriedigung er kein wahrer, vollendeter Mensch ist und sein kann.“ Dieser Egoismus der Liebe zu sich selbst ist zugleich – und das ist für FEUERBACH fundamental – zutiefst jener Egoismus, welcher die Gattung Mensch, genauer den Menschen als Menschen, grundsätzlich substantial auszeichnet. Er erst konstituiert die Kommunikation des Menschen mit dem Menschen. FEUERBACH versteht so „unter … Egoismus die Liebe des Individuums zu Individuen seinesgleichen – denn was bin ich ohne sie, was ohne die Liebe zu Wesen meinesgleichen?“ Der Egoismus des Ichs als liebender Egoismus zu und mit anderen Menschen kann jedoch nur konstituiert werden
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qua Korrelation mit der indirekten Selbstliebe. Denn „jede Liebe eines Gegenstandes, eines Wesens [ist; U.K.] eine indirekte Selbstliebe“, da „ich nur lieben (kann), was meinem Ideal, meinem Gefühl, meinem Wesen entspricht.“ Egoismus ist für FEUERBACH der legitime und unbedingt notwendige essenzielle „Selbsterhaltungstrieb“ des Menschen. Er ist gegründet auf Verstand, Sinn und Leib(lichkeit) des Menschen und manifestiert authentisch Menschsein des Menschen (VWR, GW 6, S.61). Für FEUERBACH ist der für ihn gebotene unerlässliche (metaphysische) Egoismus (1) das der Vernunft und Leiblichkeit gemäße lebensnotwendige „Sichselbst-Geltendmachen“ des Menschen, (2) „die Liebe des Menschen zu sich selbst, d.h. die Liebe zum menschlichen Wesen“, mit ihr (3) „die Liebe des Individuums zu Individuen seinesgleichen" und (4) das „Sich-selbst-Behaupten gegenüber allen unnatürlichen und unmenschlichen Forderungen“ (die sich auf Grund „theologischer Heuchelei , […] religiöse(r) und spekulative(r) Phantastik“ und „politische(r) Brutalität und Despotismus“ ergeben (VWR, GW 6, S.60f.).
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Zusammenführung: Kernaussagen Feuerbachs zur Philosophie der Liebe
1. „(N)ur der ist etwas, der etwas liebt“ (GPZ § 36, GW 9, S.319). Dieser Satz ist der ontologischer Hauptsatz FEUERBACHs. Die neue Philosophie, also die Philosophie, die FEUERBACH als seine eigene authentische versteht, ist die Philosophie der Liebe. Diese Philosophie ist „das zu Verstand gebrachte Herz“ (GPZ § 35, GW 9, S.319). 2. Anthropologischer Grund der Philosophie der Liebe ist „(d)as höchste und letzte Prinzip der Philosophie“, nämlich „die Einheit des Menschen mit dem Menschen“ (GPZ § 65, GW 9, S.340). 3. Substantial-ontologisch wird das Wesen des Menschen durch die dialogisch-dialektische Einheit von Ich und Du konstituiert. Wahre dialogische Dialektik, wie sie die Philosophie der Liebe als neue Philosophie artikuliert, hat ihren Ort und west allein im Dialog von Ich und Du und wehrt solipsistischer incurvatio (Verkrümmung). 4. Philosophie der Liebe ist essenziell leiblich. Der Leib ist dem Menschen basisfundamental. „Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen, der Leib gehört zu meinem Wesen; … der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, ist mein Wesen selber“ (GPZ § 37, GW 9, S.320). 5. Als leibliche Philosophie ist die Philosophie der Liebe „die offenherzig sinnliche Philosophie“ (GPZ § 37, GW 9, S.320). Dabei ist Sinnlichkeit als die existierende Einheit von Geistigen und Materiellen zu verstehen.
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6. Leiblichkeit und Persönlichkeit des Menschen bedürfen des „Sauerstoff(s) der Geschlechterdifferenz“, denn die Geschlechterdifferenz zwischen Mann und Frau ist keine begrenzte, akzidentielle; sondern „eine wesentliche“. Als solche manifestiert und realisiert die Leiblichkeit das menschliche Personsein. „Der Leib ist der Grund, das Subjekt der Persönlichkeit“ des Menschen. „Die Persönlichkeit ist daher nichts ohne Geschlechtsdifferenz; die Persönlichkeit unterscheidet sich wesentlich in männliche und weibliche Persönlichkeit. Wo kein Du, ist kein Ich“ (WCh, GW 5, S.177f.). 7. Indem die Philosophie der Liebe als Philosophie der Leiblichkeit Sinnlichkeit als die existierende Einheit des Materiellen und des Geistigen philosophisch epistemologisch und ontologisch nichtsubstituierbar artikuliert und ich als in der Philosophie der Liebe Erkennender daran teilnehme, generiere ich mich und auch den anderen als wirkliches Subjekt, d.i. wirkliches sich selbst betätigendes Wesen. 8. Mein Weltbewusstsein wird an dem anderen, von mir unterschiedenen Menschen, „(d)er erste(r) Gegenstand des Menschen ist“, originell geboren. Es ist insofern ein demütigendes Bewusstsein der Welt als es den „Stolz der Ichheit bricht“ (WCh, GW 5, S. 165f.). 9. Den Menschen als ein durch und durch ontologisch ich-du-strukturiertes Wesen manifestiert das Christentum als essenziell trinitarische Religion. Der Mensch als Geschöpf des kommunikativen trinitarischen Gottes korreliert substantial dem gemeinschaftlich-dreieinigen Gott. „Das Geheimnis der Trinität ist das Geheimnis des gesellschaftlichen gemeinschaftlichen Lebens – das Geheimnis von Ich und Du“ (WCh, GW 5, S.500, Var. B und C). Trinität besagt: „Gott ist ein gemeinschaftliches Leben, ein Leben und Wesen der Liebe und Freundschaft“ (WCh, GW 5, S.137). Dass „nur gemeinsames Leben Leben ist“, das ist mysterium et veritas trinitatis (BWCh, GW 9, S.232). „(D)ie „Selbstbejahung des menschlichen Herzens, das Prinzip des gemeinschaftlichen Lebens, der Liebe“ ist die zweite Person der Trinität. Die Wahrheit der Trinität gründet in der Tatsache, dass „nur gemeinsames Leben Leben ist“ (WCh, GW 5, S.139). 10. „Sein ist erst Sein, wenn es Sein der Liebe ist“ (GTU, GW 1, S.216, Anm.4). Die neue Philosophie hat als Grundlage das wirkliche essenzielle Sein (GPZ § 34, GW 9, S.317). Als solche ist sie „Realisation der … bisherigen Philosophie“(GPZ § 20, GW 9, S.295), aktuelle und „unvermeidliche (Philosophie), die Philosophie, die man nicht aufgeben kann, ohne aufzuhören, Mensch zu sein“ (Br. V, GW 21, S.309). 11. Das die neue Philosophie der Liebe charakterisierende Pro-nobis-esse, das Für-uns-Sein (GPZ § 34, GW 9, S.317) ist in seinem Pro-me- bzw. Pronobis-sein eine protestantische, auf LUTHERs Schultern aufliegende Philosophie.
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12. Liebe ist 1. ontologische Affirmation: „Du bist nur, wenn du liebst, Sein ist erst Sein, wenn es Sein der Liebe ist.“ Liebe ist zugleich 2. aber auch ontologische Dekonstruktion: Sie zerstört „abgesondertes Für-dich-Sein“ (GTU, GW 1, S.216, Anm.4). 13. Die neue Philosophie ist die empfindend im Jetzt verortete leibliche Philosophie der Liebe. FEUERBACH begreift das Sein als „Geheimnis der Anschauung, der Empfindung, der Liebe“ (GPZ § 34, S.317). Die Empfindung verortet die Liebe im Jetzt. Empfindung hat epistemologisch-ontologische Relevanz. Sie relationiert fundamental den Erkennenden mit der ontologischen Grundkategorie des „Dieses“. In ihrem originären Dieses-dasein der „Dinge“, – das ist: „diese Person, dieses Ding“ – rezipiert die die Empfindung streng implizierende Liebe. Grundfokussiert auf das Dieses als „absoluten Wert“ - weil sie dieses Dieses, d.i. diese Endliche, als das Unendliche begreift – eignet der „Liebe unendliche Tiefe, Göttlichkeit und Wahrheit“ (ebd.). Nicht abstrahiert die Liebe von dieser Person, diesem Ding, sondern vielmehr realisiert sie sich ontologisch leiblich in diesen. Von „Diesem“ losgelöst hat die Liebe keine Realität. Seinsrealität kommt ihr erst in dieser Person und diesem Ding zu; in diesen ist sie. 14. „Ich denke, ich empfinde nur als Mann oder Weib“ (SMW, GW 11, S. 173). Die menschliche Erkenntnis des sich unterscheidenden ‚Dieses‘ garantiert das im Geschlechtsunterschied denkende Erkennen. Dass der Mensch ontologisch auf anderes gegründetes Sein ist, wird dem Menschen in seinem als Mannoder Frau-Denken diversifizierenden Denken klar gemacht. 15. „Die Liebe ist Leidenschaft, und nur die Leidenschaft ist das Wahrzeichen der Existenz. Nur was … Objekt der Leidenschaft, das ist“ (GPZ § 34, GW 9, S.318). Als Leidenschaft wird die Liebe des Unterschieds zwischen Sein und Nichtsein tatsächlich inne. Der empfindende Schmerz und die empfindende Freude der Liebe realisieren ontologisch den Unterschied zwischen Sein und Nichtsein. Der Schmerz in der Liebe ist die notwendige empfindende Differenz von Sein und Nichtsein. „Das, dessen Sein dir Freude, dessen Nichtsein dir Schmerz bereitet, das nur ist“ (GPZ § 34, GW 9, S.318f.). 16. Daseinsgewissheit erhält das personale Ich des Menschen durch profiliert anderes. Sowohl hinsichtlich seiner eigenen Existenz als hinsichtlich der anderen Dinge geschieht dem Menschen Daseinsgewissheit nur durch die Vermittlung der ihm zuteilwerdenden Daseinsgewissheit eines extra se seienden anderen Menschen. 17. Metaphysischer, nicht jedoch moralischer in sich selbst verkrümmter, Egoismus ist essenziell unerlässlich für das Dasein, das Leben des Menschen: „Leben ist Egoismus. Wer keinen Egoismus will, der will, dass kein Leben sei. Nur der Tote ist ohne Egoismus“ (EWR, GW 10, S.82). Ohne den unerlässlichen, den quasi „organischen“ Egoismus, der Aneignung bzw. Assimilierung des mir
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„Zuträglichen“ und Ausscheidung bzw. des Schädlichen, geht der Mensch tatsächlich zu Grunde. FEUERBACH spricht vom Egoismus der Liebe: „Ich verstehe unter Egoismus die Liebe des Menschen zu sich selbst, d. h. die Liebe zum menschlichen Wesen, die Liebe, welche der Anstoß zur Befriedigung und Ausbildung aller der Triebe und Anlagen ist, ohne deren Befriedigung er kein wahrer, vollendeter Mensch ist und sein kann“ (VWR, GW 6, S.61).
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Erziehung als Interaktion und Kommunikation auf der Grundlage von Liebe Gürkan Ergen
Das Sein-zur-lieben ist nicht ein Attribut des Menschseins neben anderen, sondern es ist das Menschsein selbst. Der Mensch ist gerade so viel Mensch, als er in der Liebe ist. Der Grad seiner Entfremdung von der Liebe ist der Grad seiner Unmenschlichkeit. Heinrich Emil Brunner
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Einleitung
Interaktion als wechselseitiges aufeinander Einwirken von Menschen ist nicht nur Ausdruck menschlichen Zusammenlebens, sondern eine der elementarsten Voraussetzungen und Vorbedingungen des menschlichen Seins. Ohne Interaktion kann sich der Mensch weder seiner Selbst bewusst werden noch überhaupt existieren. In diesem Sinne ist Wechselwirkung bzw. Interaktion ein dauerhafter und dynamischer Prozess, der im Zusammenhang mit menschlichen Erziehungsund Kommunikationsprozessen zu reflektieren ist. Es gibt keinen Moment, in dem Menschen ihre Umwelt nicht beeinflussen oder durch sie beeinflusst werden. Daher ist es aus sozial- und erziehungsethischer Sicht wichtig, sich bewusst zu machen, aus welcher Grundmotivation bzw. -einstellung heraus und in welcher Weise ein Individuum diesen ständigen Prozess der Wechselwirkung bzw. Interaktion mitgestaltet. Kulturkritische Analysen der gesellschaftlichen Funktionssysteme wie z.B. Politik, Wirtschaft und Arbeitswelt ebenso wie der alltäglichen Lebenswelt verweisen immer wieder auf die Diskrepanz zwischen menschlichen Bedürfnissen wie Bindung, Sicherheit und Autonomie und den realen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen. Um im Interaktions- und Kommunikationsprozess den Mitmenschen und darüber hinaus allem Seienden Liebe, Würde und Respekt entgegenzubringen, muss – so die hier vertretene These – die Dynamik der Wechselwirkung auf der Grundlage einer kritisch-reflektierten Liebe gestaltet werden. Jede Interaktion und Kommunikation auf der Grundlage kritisch-reflektierter Liebe deutet auf einen hochwertigen, alle Potenziale eines Individuums fördernden Sozialisations- bzw. Erziehungsprozess hin. Umgekehrt werden Sozialisa-
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
tion und Erziehung ohne solch eine Grundlage leicht zu einer Manipulation, die kritisch zu hinterfragen ist. Daraus folgt, dass die Pädagogik sowohl als Theorie als auch als Praxis von Erziehung und Bildung auf der Grundlage einer kritischreflektierten Liebe fundiert werden sollte. Damit sich Erziehung und Bildung in diesem Sinne zu einer Kunst des selbstlosen Aufdeckens und Entwickelns der Potenziale eines jeden heranwachsenden Menschen weiterentwickeln können, bedarf es kritisch-reflektierter und liebevoller Hingabe. Das menschliche Leben kann nicht nur als ein bloßes Dahinleben ohne fühlende, empfindende und erlebende Lebensgestaltung gesehen werden. Es bedeutet Vitalität, d.h. Lebendig-Sein im Sinne einer aktiven Mitgestaltung der Umwelt. Wie wir unsere Umwelt mitgestalten, wird von unserer Vorstellung über das Leben, über die Welt, unserem Menschenbild und schließlich unseren Zukunftsvorstellungen beeinflusst. Negativer Ausdruck einer instrumentellen Weltsicht ist, alles Seiende als Mittel für eigene Zwecke in Anspruch zu nehmen. Gegen solche Verzweckung wurde in romantischen Geistesströmungen das Bild des Lebens als eines ‚Meisterwerkes‘ gesetzt. Ein Meisterwerk kann aus dem Leben dann entstehen, wenn dessen Gestaltung als eine Kunst wahrgenommen wird. Um in einer Kunst Meister zu werden, muss man sich nach ERICH FROMM dieser Kunst liebevoll hingeben (FROMM 1999, S.17). Nur so kann das Leben zu einer Kunst der selbstlosen Mitgestaltung der Umwelt emporgehoben werden. Dieser Gedanken einer liebevollen und wohlwollenden Hingabe an das Leben in seinen sozialen Bezügen sei hier auf die Rolle des Lehrers übertragen. Wird solches getan, so impliziert dies die Forderung nach einer pädagogischen Meisterlehre liebevoller Erziehungskunst. Um solch ein Künstler zu werden, bedarf es mehr als nur technologischen Professionswissens bzw. effektiver Professionalität. Ebenso wie in der Kunst professionelles Wissen nur eine Voraussetzung, aber keine hinreichende Bedingung ist, um ‚Meister‘ zu werden, so genügt auch in der pädagogischen Interaktion und Kommunikation das bloße Beherrschen von professionellen Techniken und Standards des Lehrens nicht, um der kreativschöpferischen Dimension der pädagogischen Beziehung gerecht zu werden. Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen zwei Hauptthesen: 1. Alle Interaktions-, Kommunikations-, mithin auch Sozialisations- und Erziehungsprozesse sind Dimensionen ein und desselben Prozesses, nämlich der Wechselwirkung. 2. Alle Dimensionen dieses Prozesses sind dann menschlich und können ‚menschliche Meisterwerke‘ hervorbringen, wenn sie auf der Grundlage der kritischreflektierten Liebe aufgebaut werden. Jede Wechselwirkung hingegen, die nicht durch eine kritisch-reflektierte Liebe bestimmt ist, hat manipulativen Charakter, der die Frage der Humanität und moralischen Legitimität aufwirft. Reform- wie auch antipädagogisch motivierte Erziehungskritik hat sich in diesem Zusammenhang zu Recht gegen Bevormundung, Indoktrination und Ideologie in der Erzie-
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hung ausgesprochen. Diese Diskurse berücksichtigen jedoch nicht hinreichend, dass der Prozess der Wechselwirkung unhintergehbar ist. Anstelle der faktisch unmöglichen Negation von erzieherischer Einwirkung ist es eine viel wichtigere theoretische und praktische Aufgabe, sich bewusst zu werden, wie wir in diesem ständigen Prozess auf die Mitmenschen und die Umwelt einwirken.
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Prozess der Wechselwirkung im Zyklus der Liebe
2.1 Kritisch-reflektierte Liebe Das hier vertretene Konzept einer kritisch-reflektierten Liebe unterscheidet sich von den früheren pädagogischen Konzepten, die von REINHARD UHLE und DETLEF GAUS sowie von SABINE SEICHTER historisch rekonstruiert und systematisch dargestellt werden, dadurch, dass es die pädagogische Liebe als eine Leistung hervorhebt, die auch der Vernunft bzw. der Rationalität und Erkenntnis bedarf (vgl. UHLE/GAUS 2002, SEICHTER 2007, dagegen SCHELER 1955, KRANZ 1972, BADER 1988, KERN 2001, ENGELEN 2003). Eine weitere Differenz zu früheren Konzepten pädagogischer Liebe besteht darin, dass Liebe anthropologisch als eine Determinante aller menschlichen Leistungen inkl. pädagogischer Leistungen betrachtet wird. Sie umfasst mithin eine Grundmotivation für eine Humanisierung der Welt. Wie schon das Eingangszitat von HEINRICH EMIL BRUNNER deutlich macht, stellt die Liebe aus dieser Perspektive das höchste menschliche Wertpotenzial überhaupt dar. Aus ihm erst sind alle anderen Werte wie Würde, Achtung, Wohlwollen, Empathie, Selbstlosigkeit, Solidarität, Verlässlichkeit, Verantwortung usw. abzuleiten. Umso erstaunlicher und bedauerlicher, dass die Liebe lange Zeit und vielfach auch noch heute auf bloße Gefühle bzw. romantische Liebe reduziert wird. Wenn man die genannten Werte hin zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt, stellt sich heraus, dass sie ohne Liebe ihre Bedeutung und ihr Potenzial verlieren. Liebe bzw. die aus ihr abgeleiteten Werte entfalten sich in den höchsten geistigen Leistungen des Menschen. Das Attribut ‚geistig‘ meint hier alle menschlichen Bewusstseinskräfte zusammengenommen als Einheit von Gefühl, Vernunft und Wille. Emotion, Kognition und Volition können demnach nur analytisch getrennt werden, im Erleben und Verhalten sind sie aufs engste miteinander verknüpft: „Emotionalität und Rationalität können nicht alternativ zueinander diskutiert werden. Sie stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander, Emotionalität erscheint als ein Aspekt von Rationalität und umgekehrt“ (TETZER 2009, S.116; vgl. auch GOLEMAN 1995, HÄNZE 1998). Bestätigt wird die Annahme eines solchen Kausalzusammenhanges von Emotion und Kognition auch durch die neuere Hirnforschung (vgl. z.B. SPITZER 2009,
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S.158ff.). Vor diesem Hintergrund kann gesagt werden, dass von außen aufgenommene Sinnesreize nur mit Bezug auf das Wertesystem eines Menschen zu Informationen transformiert werden. Lernen meint hier den Prozess der Verinnerlichung dieser Informationen zu Erkenntnis, Wissen, Kompetenz, Fähigkeit und Fertigkeit. Die Liebe kann in diesem Kontext als das höchste unausschöpfbare Wertpotenzial, die höchste emotional-kognitive Leistung des Menschen begriffen werden, welche nur durch entsprechende Praxis konkret zum Ausdruck kommt. Um solch‘ einem Wertpotenzial wie dem der Liebe situationsund sachgemäß Ausdruck geben zu können, bedarf es einer kritischen Reflektion. Deutlich sollte sein, dass hier weder von einer romantischen, blinden, narzisstischen Liebe noch von der Libido im Sinne SIGMUND FREUDs die Rede ist (vgl. STENDHAL 1950, BIERHOFF/GRAU 1999, LAUSTER 2003). Unter kritischreflektierter Liebe wird hier mindestens eine gelungene Vereinigung aller menschlichen Bewusstseinskräfte zu einer Einheit von Emotion, Kognition, Vernunft und Wille verstanden. Solche Einheit bestimmt das Wesen des Menschen, das sich in Haltungen wie nachhaltigem Respekt, Verantwortung, Kritikfähigkeit, Wohlwollen, Vergebung, Selbstlosigkeit, Einfühlsamkeit, Zuwendung, Verlässlichkeit, Hingabe, Fürsorge und Solidarität zeigt. Solche Einheit ist nicht zuletzt auch die Grundlage einer interessierten Haltung zu nachhaltiger Erkenntnissuche, die im Dienste der Menschlichkeit durch kritisch-reflektierte Auseinandersetzung und Praxis ständig weiter zu entwickeln ist (vgl. ERGEN 2008). 2.2 Interaktion und Kommunikation Neben dem Begriff Kommunikation existiert in der Soziologie, Psychologie und Pädagogik auch der Begriff Interaktion. FRIEDEMAN SCHULZ VON THUN verwendet beide Begriffe synonym, HEIN RETTER sieht bei aller Gemeinsamkeit dennoch eine begriffliche Differenz. Nach RETTER ist der Begriff Interaktion weiter gefasst als jener der Kommunikation: „Übersetzt man den englischen Terminus interaction wörtlich ins Deutsche, bedeutet Interaktion zwischenmenschliches Handeln oder auch Handeln zwischen Menschen. Dabei ist nicht nur das realisierte aktuelle Handeln gemeint, sondern ebenso (und vor allem) die Beziehungsstruktur, die solches Handeln ermöglicht. So gesehen muß nicht jede Art der Interaktion immer gleichzeitig Kommunikation sein, Kommunikation ist aber immer Interaktion“ (RETTER 2000, S.10). Nach MANFRED FAßLER kann auch ein soziales Zuordnungsverhältnis, d.h. die wechselseitigen Beziehungen in einer Gruppe, als Interaktion gekennzeichnet werden (FAßLER 1997, S.166). Obwohl hier grundsätzlich der Position von RETTER und FAßLER gefolgt wird, bedarf es m.E. einer weiteren Ausdifferenzierung dieser Begriffe. Wie eingangs erwähnt, sind Interaktions- und Kommunikationsprozesse eine Dimension des Wechselwirkungsprozesses. Wechselwirkung ist aus dieser Sicht der umfang-
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reichste Begriff und bezeichnet sämtliche Formen gegenseitigen Einwirkens (auch mit Blick auf das Universum als Ganzes). Alles Seiende, ob lebendig oder nicht, wirkt gegenseitig aufeinander ein. Der Naturtheoretiker EDWARD N. LORENZ illustriert diesen Gedanken mit dem Schmetterlingseffekt. In diesem Sinne gibt es keinen Moment, in dem wir nicht unsere materielle und soziale Umwelt beeinflussen oder durch sie beeinflusst werden (vgl. LORENZ 1963).1 In einem so verstandenen Sinne bezeichnet Wechselwirkung die abstrakteste Dimension des gegenseitigen Einwirkens, die auch die Einwirkungen etwa der Geschichte auf die Gegenwart und die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Epochen, Paradigmen, Religionen, Kulturen und Philosophien usw. umfasst. Der Mensch wird, so re-aktualisiert die sozialpädagogische Debatte diesen Gedanken, in eine Lebenswelt hinein geboren, er findet sich in einem Gefüge von Raum, Zeit, Beziehungen und symbolisch-kulturellen Ausdrucksformen, von Bedeutungen, Normen, Regeln, Selbstverständlichkeiten und Routinen (THIERSCH/THIERSCH 2009, S.13). Die Zeit, Gesellschaft und Kultur, in die wir hinein geboren werden, bestimmt unsere Wahrnehmung, Denkweise, unser gesamtes Wesen als Persönlichkeit (vgl. dazu auch MEAD 1995, GARZ 1989). Wechselwirkung bezeichnet in diesem Sinne die Makrodimension, d.h. das umfangreichste und unübersichtlich komplexe Beziehungsgeflecht alles Seienden. Interaktion ist somit nur eine Dimension dieses generellen Wechselwirkungsprozesses, nämlich die zwischenmenschliche. Interaktionsfelder sind vor allem die Familie (Eltern, Verwandte), das soziale Umfeld (Nachbarn), Schule und Peergroups. In diesem Sinne bezeichnet Interaktion die Mesodimension, d.h. ein übersichtliches, aber dennoch komplexes Beziehungsgeflecht zwischen Menschen. Das Hineinwachsen in die Interaktionsfelder wird, wie aus der Soziologie und Pädagogik bekannt, als Sozialisation bzw. auch als informelles Lernen oder funktionale Erziehung bezeichnet. Kommunikation bezeichnet schließlich die Mikrodimension, d.h. die persönliche Ebene des gezielten Informationsaustausches. „In einer neutralen, gleichsam ‚technischen‘ Ausdrucksweise gesprochen, bedeutet Kommunikation im weitesten Sinne die Übermittlung von Information, wobei ‚Übermittlung‘ ein formales Strukturmoment, ‚Information‘ ein inhaltliches Moment bezeichnet. Der Begriff ‚Übermittlung‘ setzt (mindestens einen) ‚Sender‘ und (einen oder mehrere) ‚Adressaten‘ der Information (=Empfänger) voraus. Zeichen werden vom ‚Sender‘ codiert, d.h. mit Sinn unterlegt, sie werden vom ‚Empfänger‘ decodiert, d.h. ihr Sinn wird entschlüsselt“ (RETTER 2000, S.7).
Eine weitere Differenzierung des Kommunikationsbegriffs ist an dieser Stelle nicht notwendig (weiterführend: vgl. WATZLAWICK 1990, SCHULZ V. THUN 1 Es ist pädagogisch interessant, dass MARIA MONTESSORI einen ganz ähnlichen Gedanken schon in ihrer ‚Kosmischen Erziehung‘ entwickelt hat (vgl. MONTESSORI 1988, S.21).
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1992). Eindeutig ist, dass wir, ob mit pädagogischer Absicht oder nicht, auf unsere Kommunikationspartner einwirken, indem wir ihnen mit bestimmten Absichten Informationen mitteilen. Kommunikation in diesem Sinne geschieht nur unter der Bedingung der wechselseitigen Wahrnehmung der Kommunikanten, daher kann sie als die direkte und personale bzw. die Mikrodimension der Wechselwirkung beschrieben werden. Bis hierhin kann Folgendes resümiert werden: Wechselwirkung als Makrodimension bezeichnet die allumfassende, universelle Dimension des gegenseitigen Einwirkens; Wechselwirkung als Mesodimension bezeichnet die soziale Dimension, d.h. die Interaktion; Wechselwirkung als Mikrodimension bezeichnet schließlich die personale Dimension, d.h. die Kommunikation. Graphisch dargestellt würde dieses Modell wie folgend aussehen. Abbildung 1:
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Dimensionen der Wechselwirkung
Die sozialökologische Theorie der menschlichen Entwicklung von URIE BRONFENBRENNER zeigt das komplexe Beziehungsgeflecht gegenseitiger Wechselwirkung deutlich auf. „Die Ökologie der menschlichen Entwicklung befasst sich mit der fortschreitenden gegenseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche. Dieser Prozess wird fortlaufend von den Beziehungen dieser Lebensbereiche untereinander und von den größeren Kontexten beeinflusst, in die sie eingebettet sind“ (BRONFENBRENNER 1981, S.37).
Zentral für die Strukturierung von Wechselwirkungen ist die Unterscheidung zwischen Makro-, Exo-, Meso- und Mikrosystemen:
Mikrosysteme umfassen die Beziehungen eines Menschen zu anderen Menschen oder zu Gruppen, also beispielsweise die Beziehung zum Partner, zur Wohngemeinschaft, zur Lerngruppe etc. Auf dieser Ebene der persönlichen Beziehungen gestalten Menschen ihre eigenen Entwicklungsbedingungen mit. Die Kommunikationsweise bzw. das sich mit der Umwelt In-Beziehung-Setzen wird durch Geschlecht, Alter, Gesundheit, Weltanschauung usw. grundlegend beeinflusst. Mesosystem bezeichnet die Gesamtheit der Beziehungen bzw. Wechselwirkungsprozesse eines Menschen, d.h. die Summe der Mikrosysteme und die Beziehung zwischen ihnen. Hier gestaltet sich die Wechselwirkung vor allem als Interaktion. Dem Menschen müssen die Bezüge der einzelnen Mikrosysteme sichtbar und transparent werden. Das Exosystem ist das Beziehungsgeflecht, dem eine Person nicht direkt angehört, welches sie aber indirekt beeinflusst, da ihm Bezugspersonen der Person angehören. Das Makrosystem bezeichnet die Gesamtheit aller Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft, mithin auch die interaktiv herausgebildeten Normen, Werte, Gesetze, Ideologien etc. In globaler Hinsicht bedarf die Beschreibung von BRONFENBRENNER einer Ergänzung: Die Gesamtheit aller Beziehungen muss um internationale politische, kulturelle, juristische und finanzielle bzw. interstaatliche Wechselwirkungen ergänzt werden. Chronosysteme umfassen die zeitliche Dimension der Entwicklung. Diese Analysekategorie bezieht sich sowohl auf den gesamten Lebenslauf als auch auf einzelne biographisch markante Zeitpunkte. So unterscheidet BRONFENBRENNER zwischen ‚normativen‘ Chronosystemen, d.h. gesellschaftlich institutionalisierten Stationen des Lebenslaufs wie dem Schuleintritt, und ‚non-normativen‘ Chronosytemen, d.h. durch Zufall oder Schicksal induzierten Lebenskrisen oder -ereignissen.
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Abbildung 2:
Systemebenen der Wechselwirkung
Diese Darstellung erläutert die These, dass alles Seiende auf uns einwirkt bzw. uns beeinflusst. Da die Natur ohne Werturteile einwirkt, kann man die Meinung vertreten, dass die Entwicklungsgeschichte der Natur, der Erde und des Sonnensystems absichtslos, d.h. weder ‚liebevoll‘ noch ‚lieblos‘ auf die Menschheit einwirkt. Anders dagegen liegen dem gesamten Kulturerbe der Menschheit bestimmte Werturteile zugrunde. Je nachdem, wie diese motiviert sind, ob bewusst oder unbewusst, liebevoll durch würdigende Werte oder lieblos durch entwürdigende Unwerte, wirken sie auf unterschiedliche Weise auf den Menschen ein. Es
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bedarf daher der kritischen Reflektion über die eigene Weltbezogenheit, d.h. darüber, wie der Mensch sich mit der Welt, den Menschen und Lebewesen in Bezug setzt. 2.3 Erziehung als soziales Handeln und pädagogische Praxis Wenn im Folgenden pädagogische Praxis als Erziehung sowie soziales Handeln als Sozialisation thematisiert werden, dann bewegen wir uns innerhalb der ersten zwei Dimensionen des Wechselwirkungsprozesses: Pädagogische Praxis als Kommunikationszusammenhang verläuft in der Mikrodimension der Wechselwirkung (Mikrosystem); soziales Handeln als Sozialisationsprozess in der Mesodimension der Wechselwirkung (Meso- und Exosystem). Zu bedenken ist, dass die pädagogische Praxis nur eine Dimension menschlicher Tätigkeit bzw. Kommunikation darstellt. Interaktion und Kommunikation sind zwar ohne erzieherische Absicht möglich, Erziehung bzw. Bildung ohne Interaktion und Kommunikation sind jedoch nicht denkbar. Erziehung lässt sich in intentionale und absichtslos einwirkende funktionale Erziehung unterteilen. Diese beiden Unterklassen lassen sich wiederum je nach Bezugs- bzw. Interaktions- und Kommunikationspartner gliedern. Allgemein lässt sich Erziehung als eine Form sozialen Handelns beschreiben. „Dem sozialen Handeln übergeordnet ist Handeln als ‚zielbestimmte Tätigkeit‘, die sich von nicht zielbestimmten Tätigkeiten unterscheidet. Tätigkeit, menschliche Aktivität, bildet den obersten Begriff“ (RETTER 2000, S.66f.) So lässt sich, RETTER folgend, die Erziehungsdefinition im nachfolgend dargestellten Ableitungsschema veranschaulichen. Diese schematische Darstellung der logischen Begriffsableitung bietet nur einen allgemeinen formalen Analyserahmen. Die weitere inhaltliche Bestimmung des Erziehungsbegriffs unterscheidet sich je nach philosophischer, politischer, pädagogischer, soziologischer, psychologischer Perspektive, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.
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Abbildung 3:
Handlungsschema der Erziehung Tätigkeit
zielbestimmte Tätigkeit (Handeln)
soziales Handeln
Erziehung
nicht zielbestimmte Tätigkeiten
technisches Handeln (z.B. Werkzeuggebrauch)
andere Formen sozialen Handelns (z.B. Krankenpflege)
intentionale Erziehung funktionale Erziehung durch Eltern
Pädagogen
Medien Peer Group relevante Erfahrungen in Freizeit und Ausbildung
Sowohl die hier dargestellte Konzeption von Dimensionen der Wechselwirkung als auch das Ableitungsschema von Erziehung machen die Komplexität von Erziehung als Interaktion und Kommunikation deutlich. Die heutige Diskussion über pädagogische Professionalität ist demgegenüber durch eine Reduktion von Komplexität gekennzeichnet: So wird der professionelle Lehrer heutzutage zumeist als Experte für das Lehren und Lernen, d.h. als Fachkraft für die effiziente Vermittlung von Lehrstoff oder für das Training von Kompetenzen aufgefasst. Nur im Kontext einer solchen Reduzierung der Aufgabenkomplexität haben Bezeichnungen von Pädagogik als Beruf bzw. Profession einen Sinn. Eine kritisch reflexive Form der Pädagogik, sei es, um nur Beispiele zu nennen, in der Tradition einer Erziehung des Menschen zur Menschlichkeit im Sinne von JOHANN AMOS COMENIUS, einer Pädagogik der Kommunikation im Sinne von THEODOR BALLAUFF und KLAUS SCHALLER, einer kritisch-kommunikative Bildung im Sinne WOLFGANG KLAFKIs, einer Bildung im Sinne des UNESCOBerichts zur Bildung für das 21. Jahrhundert oder einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung im Sinne der UN-Weltdekade 2005-2014 aber sind durch alle beruflichen Fertigkeiten alleine nicht zu erreichen (vgl. etwa: BALLAUF 1970; SCHALLER 1987; KLAFKI 1995; DELORS 1997). Professionell-pädagogische Kommnikation, professionelle Berufskenntnisse, technologisches Erziehungs-
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verständnis, professionelle Solidarität, professionelles Wohlwollen und Caring im Dienste des Lernens; kurz zweckrationale professionelle Berufssemantiken und Berufspolitiken reichen auf keinen Fall. Sie können ihre Begrenztheit aus sich selber heraus nicht überwinden. Erziehungs- und Bildungsziele, wie sie im Zentrum etwa der genannten Konzepte stehen, können nur durch verinnerlichte Liebe und Respekt vor dem Menschen und seinen Potenzialen erreicht werden. Sie basieren auf einer Haltung zur Professionalität, welche sich nicht aus operationalisierbaren pädagogisch-beruflichen Kompetenzen, sondern vielmehr nur aus der kritisch-reflektierten Liebe ableiten lässt. Einer heranwachsenden Person dabei zu helfen, ihre Potenziale im Medium kritisch-reflektierter Liebe nachhaltig weiterzuentwickeln, verlangt mehr als nur professionelle Kenntnisse. So verstanden ist Pädagogik bzw. Erziehung eine Kunst. Die Pädagogik als Theorie ist eine aus der Liebe abgeleitete Theorie der Menschlichkeit, Erziehung als pädagogische Praxis ist eine Kunst des aus Liebe, in Liebe und für die Liebe Interagierens und Kommunizierens. Die Wechselwirkung in all ihren Dimensionen vom Makrosystem bis hin zur pädagogischen Kommunikation aufzudecken und so zu gestalten, dass sie in kritischreflektierter Liebe und für die kritisch-reflektierte Liebe verlaufen, wäre wohl die höchste menschliche Kunst. In diesem Sinne ist das Leben eine Kunst – um Lebenskünstler hervorzubringen, die sich solch einem Meisterwerk widmen, muss man erst selbst einer sein. Um ein Meister in dieser Kunst zu werden, muss man sich dieser Kunst hingeben, d.h. professionelle Kenntnisse sind nur eine Voraussetzung, jedoch nicht hinreichend. Hingabe aber setzt Liebe voraus. Nur solch ein Künstler, der sich einem Meisterwerk widmet, liebevoll hingibt, kann dieses Beziehungsgeflecht der Wechselwirkung durchschauen und alle diese Prozesse bzw. die Erziehung menschenwürdig und liebevoll gestalten. Wie sind die Wirkungen pädagogischen Handelns in diesem Zusammenhang einzuschätzen? Erziehung ist keine wirkungssichere Technologie, sie unterliegt vielmehr, wie schon EDUARD SPRANGER es ausgedrückt hat, dem Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen. Es ist von daher sinnlos, ihr eine Allmacht zuzusprechen. Evident ist aber auch, dass der Prozess der Wechselwirkung in all seinen Dimensionen auf keinen Fall unterschätzt werden darf. Einer Pädagogik der kritisch-reflektierten Liebe fehlen in diesem Sinne keine pädagogischprofessionell handelnden ‚Lehrer’, der Welt fehlen die Meister der Kunst des ‚Interagierens und Kommunizierens auf der Grundlage der Liebe‘ u.a. auch mit erzieherischer bzw. pädagogischer Absicht.
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Liebevolle Haltung, gleichgültige Haltung, lieblos verneinende Haltung als Determinanten des Wechselwirkungsprozesses
Wie zuvor erwähnt, wirken das menschliche Handeln und Denken und alle seine kulturellen Manifestationen in einem Spektrum von liebevoll würdigender Weise bis hin zu lieblos entwürdigender Weise auf die Umwelt ein. Die Qualität des menschlichen (Ein-)Wirkens wird von seiner Weltbezogenheit bestimmt, d.h. dadurch, wie der Mensch sich mit seiner sozialen Mit- und materiellen Umwelt in Bezug setzt. Diese Frage, ‚wie‘ und in ‚welcher Weise‘ dies geschieht, ist die Frage nach dem ‚Elementaren‘ – dem Ursprünglichem und dem tragend Bewahrenden. Es ist die Frage nach den Determinanten aller Beziehungen und Wechselwirkungen. Diese fundamentalste Beziehung des Menschen zu allem Seienden, aus der sich alles Denken, Fühlen und Handeln ableitet, verwirklicht sich primär in drei Wahrnehmungen bzw. Haltungen: 1. die liebevoll würdigende Haltung als wohlwollende Hingabe bzw. positiv-produktive Aktivität (persönlichkeits- und lebensfördernde Bezogenheit); 2. die gleichgültige Haltung als unreflektierte bzw. unbewusste Aktivität, da eine Beziehung bzw. Wechselwirkung nur passiv als ‚Nichtstun‘ und ‚Nichtsempfinden‘ existiert und somit mindestens als unbewusste Bestätigung des Seienden interpretiert werden kann. 3. schließlich die lieblos entwürdigende, verneinende und im extremen Fall hassende Haltung als Aktivität mit bewusst negativen bzw. entwürdigenden Absichten im Sinne einer das Leben, die Persönlichkeit verzehrenden missachtenden Bezogenheit (vgl. ERGEN 2008, S.192ff.). Diese drei fundamentalen Haltungen determinieren unsere Wechselwirkungen in den Mikro-, Meso- und Makrodimension. Eine respektvolle, wohlwollende, vertrauliche, solidarische, einfühlsame etc. Kommunikation setzt eine liebevolle Haltung mindestens auf der Ebene der Mikrodimension der voraus. Das bedeutet, dass in einer gleichgültigen oder verneinenden Haltung, wie sie oben beschrieben wurde, mindestens in der Mikrodimension der Wechselwirkung, d.h. im Mikrosystem, eine respektvolle, wohlwollende, vertrauliche, solidarische, einfühlsame etc. Kommunikation unmöglich ist. Dementsprechend setzt eine respektvolle, wohlwollende, vertrauliche, solidarische, einfühlsame etc. Interaktion eine liebevolle Haltung mindestens in der Mesodimension der Wechselwirkung, d.h. im Meso- und Exosystem voraus. Dass alle Wechselwirkungsprozesse vor allem im Meso- und Makrobereich als Interaktions- und Kommunikationsprozesse durch diese drei fundamentalen Haltungen determiniert werden, kann anhand des Nachrichtenquadrats nach FRIEDEMANN SCHULZ VON THUN erläutert werden. Mit diesem wird deutlich, dass es auch in der Kommunikation nicht nur um die Vermittlung von Sachinhalten geht. Kommunikation beinhaltet vier verschiedene Problembereiche: (1.) den
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Sachinhalt, d.h. das, worüber ich informiere (der Inhalt der Nachricht); (2.) die Selbstoffenbarung, d.h. das, was ich von mir kundgebe (Absichten, Gefühle u.a.); (3.) die Beziehung, d.h. das, was ich von meinem Gegenüber halte und wie wir zueinander stehen und (4.) den Appell, d.h. das, wozu ich den anderen veranlassen möchte (vgl. SCHULZ VON THUN 1992).
Abbildung 4:
Das Nachrichtenquadrat Sachinhalt
SENDER ==> Selbstoffenbarung
Appell ==>EMPFÄNGER Beziehung
Nach diesem Modell würde eine professionell sauber ausgeführte, gleichwohl misslingende pädagogische Kommunikation im Unterricht, welche entweder durch eine gleichgültige oder durch eine lieblos entwürdigende Haltung gekennzeichnet ist, wie folgt aussehen: 1. Sachinhalt: Lehrstoff, 2. Selbstoffenbarung: ‚Mein Job ist mir wichtig‘, 3. Beziehung: ‚Du hast das zu tun, was ich dir sage‘, 4. Appell: ‚Lerne alles, was ich dir beibringe‘. Pädagogische Professionalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang: ‚Qualifiziere dich dahingehend, den Stoff anhand bekannter Lehr- und Lerntheorien bzw. anerkannter Lehr- und Lernmethoden möglichst effektiv beizubringen, ohne dabei dich selbst und deine Beziehung zum Lernenden zu offenbaren‘. Eine Kommunikation, welche von einer liebevoll würdigenden Haltung abgeleitet wird, würde hingegen wie folgt aussehen: 1. Sachinhalt: Thema, 2. Selbstoffenbarung: ‚Jeder Mensch ist einzigartig und hat seine eigene, unveräußerliche Würde‘, 3. Beziehung: ‚Da du mir als eine Persönlichkeit wichtig bist, tue ich mein Bestes, um Dir dabei zu helfen, alle deine Potenziale voll und ganz entwickeln zu können‘, 4. Appell: ‚Verwirkliche alle deine Potenziale im Dienste einer humaneren Welt’. In diesem Zusammenhang bedeutet pädagogische Professionalisierung eine Kunst, sich dem Prozess des pädagogischen Begleitens bzw. Beratens zu widmen. Das Ziel lautet: ‚Lerne durch Selbstoffenbarung und durch Offenbarung deiner Beziehung der menschlichen Würde in höchstmöglichem Maße zu entsprechen, indem du alle deine Potenziale für Deinen Schüler wie für eine humanere Welt einsetzest‘. Ohne Wechselwirkung ist unsere menschliche Existenz nicht denkbar. Wie auch SCHALLER betont, steht und fällt
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unsere Existenz mit diesem ‚präkommunikativen‘, d.h. Kommunikation erst ermöglichenden Mit-und-in-Welt sein (vgl. SCHALLER 1987). Schon allein die anthropologische Tatsache, dass der Mensch in der Entfaltung aller seiner Anlagen und Potenziale auf den Anderen angewiesen ist, kann als hinreichender Grund dafür gewertet werden, dem Anderen mit einer liebevoll würdigenden Haltung zu begegnen und sich mit Welt in liebevoll würdigender Haltung in Bezug zu setzen.
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Berechnend professionelle Höflichkeit oder liebevoll würdigende und wohlwollende pädagogisch professionelle Hingabe
Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wie z.B. Kindergarten, Schule und Jugendhilfe sind wichtige Sozialisations- und Erziehungsinstanzen. Sie stellen einen sozialen Erfahrungskontext dar, der das Denken, Fühlen und Handeln von Kindern und Jugendlichen beeinflusst (vgl. HOFMANN/SIEBERTZ-RECKZEH 2008). Sowohl Sozialisation als auch Erziehung sind Prozesse, welche die Persönlichkeitsentwicklung grundlegend bestimmen (vgl. GEULEN 2005; HURRELMANN 2006; OELKERS 2001; TILLMANN 2006; WEINERT 2006). Gesellschaftlich wünschenswerte Wertorientierungen und Verhaltensbereitschaften werden durch diese Prozesse vermittelt. Durch berechnend professionelle Höflichkeit – unter diesem Begriff verstehe ich zweckrationale, instrumentelle und technologische Interaktions- und Kommunikationsstrategien – können jedoch Werte wie Respekt, Würde, wohlwollende Hingabe, Empathiefähigkeit, Solidarität etc. nicht vermittelt werden. Damit solche Werte den Heranwachsenden nahegebracht werden können, müssen sie erfahrbar und wahrnehmbar werden. Kein Gesetz und keine (curriculare) Vorschrift können diese Erfahrung ermöglichen. Da solche Werte Ableitungen kritisch-reflektierter Liebe sind, können sie auch nur durch eine von kritisch-reflektierter Liebe erfüllte professionelle Hingabe vermittelt werden. An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie eine berechnend professionelle Höflichkeit in eine liebevoll würdigende und wohlwollende pädagogisch professionelle Hingabe transformiert werden kann? Deutlich ist, dass bloße wiederholte Entäußerungen kulturell vermittelter, üblicher Erscheinungsformen von Liebe, Respekt und Würde auf keinen Fall diese Größen selber herstellen bzw. erfahrund wahrnehmbar werden lassen. Dazu bedarf es, weitergehend, einer kritischen Reflektion vor allem über die Liebe und ihre Entäußerung sowie vor allem über die eigene Haltung. Der Blick auf sie macht den Weg zu der Frage frei, aus welcher Motivation heraus wir uns mit der Welt in Bezug setzen. Erst solche kritische Reflektion ermöglicht, dass sich jeder Heranwachsende bzw. jede Person
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durch liebevoll würdigende Haltung mit der Welt in Bezug setzt, d.h. einen liebevoll würdigenden und wohlwollenden Habitus entwickelt. Habitus bezeichnet nach PIERRE BOURDIEU spezifische, durch Interaktion mit dem sozialen Feld entwickelte Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata von Menschen, mit denen sich soziale Akteure Phänomene erschließen und diese verarbeiten. Darüber hinaus erklärt Habitus die stilistische Einheitlichkeit dieser Schemata, welche eine Gruppe von sozialen Akteuren miteinander verbindet und von anderen Gruppen unterscheidet (vgl. BOURDIEU 1998, S.21). Nur über die Verfeinerung einer Kunst der liebevoll würdigenden und wohlwollenden pädagogisch professioneller Hingabe bzw. einer Pädagogik der kritischreflektierten Liebe, welche das Ziel hat, alle Potenziale des Heranwachsenden für eine menschlichere Welt aufzudecken und voll und ganz weiter zu entwickeln, kann ein persönlicher Habitus der liebevoll würdigenden und wohlwollenden Haltung entfaltet werden. Eine durch die Liebe determinierte Interaktion und Kommunikation als Meso-Dimension der Wechselwirkung kann einen sozialen Habitus der liebevoll würdigenden und wohlwollenden Haltung im Meso- und Exosystem bewirken. Dieses wiederum kann der erste Schritt dazu sein, dass diese Haltung auch die Wechselwirkung determiniert und damit einen universellen Habitus der liebevoll würdigenden und wohlwollenden Haltung auch im Makro- und Chronosystem bewirkt. Solcher Habitus hätte, durch die Entwicklung stilistisch einheitlicher Schemata einer liebevoll würdigenden und wohlwollenden Haltung, die Potenziale, die ganze Menschheit mindestens in und für solch‘ eine Liebe miteinander zu verbinden. Der Habitus dient als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen gerade auch jenseits vom Bewusstsein und diskursivem Denken (vgl. BOURDIEU 1987). Gerade deshalb könnte das menschliche Dasein durch eine liebevoll würdigende und wohlwollende Haltung grundlegend bestimmt werden. Da auch die Wahrnehmung und Beurteilung von Situationen und die in ihnen ausgeführten Handlungen zunächst spontan und intuitiv erfolgen, kann Habitus als eine intuitive Handlungsform aufgefasst werden. Selbstverständlich ist auch der Habitus ohne emotionale Disposition nicht denkbar, dies macht deutlich, dass und weshalb diese Intuition nicht ausschließlich auf theoretischem Wissen, sondern auch auf emotionalen Qualitäten basiert (vgl. TETZER 2009). In Falle des pädagogischen Habitus müsste die emotionale Qualität grundlegend von einer liebevoll würdigenden und wohlwollenden Emotion bestimmt sein. Erziehung als Interaktion und Kommunikation auf der Grundlage von Liebe bzw. einer Pädagogik der kritisch-reflektierten Liebe könnte aus der Perspektive von Wechselwirkungsprozessen parallel zum universellen, sozialen und persönlichen Habitus einen Wechselwirkungshabitus im Makro- und Chronosystem, einen Interaktionshabitus und Kommunikationshabitus im Meso-,
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Exo- und Mikrosystem ermöglichen. Dies nämlich ist eine der Voraussetzungen sowohl für eine Entwicklung einer Pädagogik der kritisch-reflektierten Liebe als auch für eine Entwicklung eines liebevoll würdigenden und wohlwollenden pädagogischen Habitus. Sowohl die intentionale als auch die funktionale Erziehung wie überhaupt die menschliche Tätigkeit als Gesamt wären somit hauptsächlich bestimmt, d.h. determiniert durch eine liebevoll würdigende und wohlwollende Haltung. Damit wäre der Zyklus der Liebe – Interaktion-Kommunikation-Erziehung – erstellt. Wir dürfen nicht vergessen, dass Sprache immer begrenzter ist als die Erscheinungen, welche sie zu beschreiben versucht (vgl. MASET 2009). In diesem erkenntnistheoretischen Sinne deuten Begriffe wie Liebe, Würde, Respekt, Gerechtigkeit etc. eher als Ahnungen denn als Definitionen auf nicht zu erschöpfende Grundwerte des Menschlichen an und für sich hin. Daher sind solche Begriffe auch sehr ‚grandios‘, ‚prachtvoll‘ und ‚verzaubernd‘. Sie sind jedoch zum bloßen Verbalismus verdammt, solange sie nicht von jeden einzelnen Menschen als Haltung verinnerlicht und durch konkretes Verhalten zum Ausdruck gebracht werden. Um solche unerschöpfbaren Werte je nach Bedarf am effektivsten zum Ausdruck bringen zu können, ist ihre ständige kritische Reflektion notwendig. Mit dem hier dargestellten Konzept einer Pädagogik der kritisch-reflektierten Liebe bzw. Erziehung als Interaktion und Kommunikation auf der Grundlage der Liebe ist beabsichtigt, den Heranwachsenden bzw. den Menschen über die Dimensionen der Liebe und ihrer Wahrnehmung aufzuklären und ihm so bei seiner persönlichen Weiterentwicklung zu unterstützen (vgl. ERGEN 2008, S.172ff.). Die durch solche Liebe determinierte (pädagogische) Kommunikation und ihr personengebundener Habitus als Mikro-Dimension der Wechselwirkung würde die persönliche Dimension der Liebe bzw. die psychologische Liebe und ihre Wahrnehmung nachhaltig fördern (vgl. ebd., S.176f.). Die Interaktion und ihr sozialer Habitus als Meso-Dimension der Wechselwirkung würde schließlich die soziologische bzw. soziale Liebe und Wahrnehmung nachhaltig fördern und damit zuletzt die Wechselwirkung und deren universellen menschlichen Habitus als Makro Dimension einer kosmischen Dimension von Liebe und deren Wahrnehmung nachhaltig fördern (vgl. ebd., S.177ff.).
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Resümee und Ausblick
Einige Philosophen wie z.B. IMMANUEL KANT vertreten die Auffassung, dass die Liebe eine Sache der Empfindung, nicht aber eine des Wollens sei. Demnach ereignet sich Liebe kaum geplant, vielmehr eher spontan. KANT betont, dass man nicht lieben kann, weil man will, und noch weniger, weil man soll. Aus Pflicht
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kann man nicht lieben, umgekehrt geschieht nicht aus Liebe, was man aus Pflicht bzw. Zwang tut. Es ist KANT zuzustimmen, wenn man mit ihm über das Gegenbild einer romantischen Konzeptualisierung von Liebe spricht. Zu Recht betont er in solchem Zusammenhang, dass Liebe nicht von außen erzwungen werden kann. Eine romantische Konzeptualisierung von Liebe alleine fasst aber das hier in Rede stehende Thema nicht in seiner ganzen Tiefe. Wie dargestellt, sind die menschliche Liebe – verstanden als universale Größe einer würdigenden und wohlwollenden Haltung – sowie die aus ihr abgeleiteten Werte aber die höchsten geistigen Leistungen des Menschen überhaupt. MICHAEL TETZER mahnt daher zu Recht an, dass Emotionalität und wissenschaftliche (sozial-)pädagogische Rationalität nicht als sich gegenseitig ausschließende Größen betrachtet werden dürfen: „Emotionalität ist eine wichtige Erkenntnisweise, die komplementär zu wissenschaftlicher Rationalität ‚gedacht‘ werden muss“ (TETZER 2009, S.117). Ihre Verbindung zeigt sich etwa in einem aufgeklärten Fühlen und Wollen. Demnach sind Gefühle gestaltbar und veränderbar und müssen nicht als etwas Gegebenes, Unberechenbares hingenommen werden (vgl. ebd., S.117f.). Selbstverständlich kann eine Person ihre Gefühle nur selbst neu gestalten und verändern; genau aus diesem Grund ist Liebe nicht erzwingbar, d.h. kein anderer kann jemanden zum Lieben verpflichten. Aber jede Person kann die eigenen Gefühle gestalten, verändern und weiter entwickeln. Dieses bedeutet in der letzten Konsequenz, dass jede Person, vor allem jede, die Liebe erfahren hat, sich aus eigener Einsicht zu kritisch-reflektierten Liebe bekennen und sich für solch eine Liebe aus eigener Einsicht verpflichten kann. Kurz: Aus äußerer Pflicht kann nicht geliebt werden – wenn man jedoch einmal liebt, verpflichtet die Liebe zu vielem, mindesten aber zu einer wohlwollend würdigenden Haltung bzw. zu einer kritisch-reflektierten Liebe. Der Lern-, Erfahrungs- und Sozialisationsprozess, die Schulleistung und das Unterrichtsklima sind Bereiche, die durch unübersichtlich viele Faktoren beeinflusst werden und nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Eine Übersicht zu den Publikationen und Forschungen zu diesen Themen kann hier nicht geleistet werden. MATTHIAS VON SALDERN fasst aber die wichtigsten Aspekte bisheriger Forschungen zu diesem Feld wie folgt zusammen, die alleine schon die Vielfalt denkbarer Einflussfaktoren illustrieren: x x x x x
„Einflüsse der Kultur, Epoche, Gesellschaft; Einflüsse von Schulsystem und Schulart; Einflüsse der Binnenorganisation von Schulen und Klassen (Klassenstufe, Schulund Klassengröße, Schulfächer); Einflüsse der objektiven innerschulischen Umwelt (materielle Umwelt, Lehrermerkmale, Schülermerkmale, Interaktionsverhältnisse); Beziehungen zu anderen Umwelten von Schulmitgliedern (z.B. Familie);
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x x x
Schulklimawahrnehmungen: Prozesse, Inhalte, Strukturen; Einflüsse von Schulklima auf Schülerleistungen; Einflüsse von Schulklima auf Schülerpersönlichkeit und Befinden“ (SALDERN 2008, S.574).
Von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bzw. von distalen Variablen bis hin zur proximalen Variablen wie Schüler- und Lehrermerkmalen sowie pädagogischer Kommunikation, Unterrichtsqualität und Unterrichtsquantität können Determinanten schulischer Leistung und schulischen Sozialisation diskutiert werden (vgl. HOFMANN/SIEBERTZ-RECKZEH 2008, S.22; SCHRADER/HELMKE 2008). Wohlwollen, Respekt, Vertrauen und emotionale Wärme sind Determinanten, welche auch die Qualität schulischer, noch genereller pädagogischer Organisation, Interaktion und Kommunikation bestimmen (vgl. TAUSCH/TAUSCH 1998, TAUSCH 1982, 2005; WITTERN/TAUSCH 1983). Das hier dargestellte bi-dynamische zyklische Konzept von Erziehung als Interaktion und Kommunikation auf der Grundlage der Liebe (Liebe – Interaktion –Kommunikation – Erziehung bzw. Erziehung – Kommunikation – Interaktion – Liebe) berücksichtigt, dass die Qualitätsfrage eine wichtige und mehrdimensionale ist. Im Sinne einer solchen zyklisch-dynamischen Annahme muss nämlich nach den jeweils nachfolgenden Qualitäten gefragt werden. So ist z.B. die Qualität der pädagogischen Kommunikation zu hinterfragen hinsichtlich der Qualität von Fachwissen, Beratungs- und Sozialkompetenz. Auch ist die Kommunikationsqualität z.B. zu reflektieren in Bezug auf die generelle Qualität der Beziehungen und der Kommunikationskompetenz. Des Weiteren ist z.B. die Interaktionsqualität mit Blick auf die Qualität des Schulklimas und des Schulsystems auf den Prüfstand zu stellen. Auf der Makroebene ist z.B. die Wechselwirkungsqualität zu hinterfragen hinsichtlich der Qualität der Kultur, der Epoche und der Gesellschaft und ihrer Ausdrucksformen von Liebe, Respekt und Würde in allen ihren entsprechenden Dimensionen. Die Qualität eines jeden einzelnen Moments steht in direktem Bezug zu allen anderen Qualitäten, auf die sie direkt förderlich oder hinderlich einwirkt. So stellen etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, FRITZ REDL und DAVID WINEMAN in ihrer Arbeit ‚Children who hate‘ fest, dass ein Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten junger Menschen und seit deren frühen Kindheit fehlenden positiv emotional besetzten Beziehungen zu Erwachsenen besteht (REDL/WINEMAN 1951, S.219f.). Vertrauen und Sicherheit sind die Nährböden für einen alle Potenziale fördernden Entwicklungs-, Lernund Sozialisationsprozess. Liebe findet ihren stärksten Ausdruck in Respekt und Würde – Respekt und Würde, welche aus der Liebe erwachsen, sind die Grundlage für Vertrauen. Liebe bedeutet für pädagogische Diskurse zuallererst Verantwortlichkeit. Verantwortlichkeit ist nach FRANZ-XAVER KAUFMANN in allen Zusammenhän-
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gen gefragt, in denen herkömmliche „Mittel der Definition und Kontrolle von Pflichten“ versagen. Verantwortlichkeit appelliert an die Selbstverpflichtung des Verantwortungsträgers im Sinne einer „nichtprogrammierbaren Handlungsbereitschaft“ (KAUFMANN 1992, S.75). Der Würde, dem Respekt kann man sich nur aus Liebe überantworten. Nur unter ihrer Voraussetzung kann eine Begleitung des Heranwachsenden durch einen Erwachsenen mit erzieherischer bzw. pädagogischer Absicht als ein menschenwürdiger Prozess für legitim gelten. Am Anfang dieser Ausführungen stand ein Zitat von EMIL BRUNNER. Dieses Zitat verweist auf eine Grunddimension menschlicher Würde. Wir Menschen entsprechen umso mehr der uns möglichen wie aufgegebenen Würde, desto mehr wir unsere Aktivitäten bzw. Kommunikations-, Interaktions- und Wechselwirkungsprozesse durch eine kritisch-reflektierte Liebe bestimmen lassen, desto mehr wir alle unsere Tätigkeiten aus bzw. in und für die Liebe und Menschlichkeit verwirklichen. Eine Erziehung als Interaktion und Kommunikation bzw. überhaupt Interaktion und Kommunikation auf der Grundlage der Liebe könnte dazu beitragen, dieser Liebe und menschlichen Würde gerecht zu werden.
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Autorinnen und Autoren
ELMAR DRIESCHNER, Dr. phil., 1. und 2. Staatsexamen Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen, Postdoc-Stipendiat und Lehrender an der Leuphana Universität Lüneburg, Mitglied im Forschungskolleg Frühkindliche Bildung der Robert Bosch Stiftung GÜRKAN ERGEN, Dr. phil., M.A., Assistenz-Professor für Erziehungswissenschaft an der Çanakkale Onsekiz Mart Üniversitesi DETLEF GAUS, PD Dr. phil. habil., M.A., Dipl.-Bibl., Vertretungsprofessor für Allgemeine Pädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg BETTINA HÜNERSDORF, Prof. Dr. phil. habil., Professorin für Erziehungswissenschaft und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin UDO KERN, Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Professor (em.) für Systematische Theologie an der Universität Rostock SABINE SEICHTER, Dr. phil., Dipl.-Päd., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main TOBIAS STUDER, lic. phil., wissenschaftlicher Assistent an der Universität Zürich MICHAEL TETZER, Dipl.-Sozialpäd. (Univ.), Doktorand an der Leuphana Universität Lüneburg REINHARD UHLE, Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Professor a.D. für Allgemeine Pädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg NINA VERHEYEN, Dr. phil., M.A., wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Institut für Geschichte der Universität Wien
E. Drieschner, D. Gaus (Hrsg.), Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, DOI 10.1007/978-3-531-92680-3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011