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Letzter Termin: gestern
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
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C.H.GUENTER
Letzter Termin: gestern
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Nur Eingeweihte kennen den Platz. Er liegt fünfzehn Minuten von Chippenham in der englischen Grafschaft Wiltshire. Auf einer grünen Wiese grasen Kühe. Im Norden, wo das Gelände steil abfällt, stehen zwei massive scheunenähnliche Gebäude. Ein Bild des Friedens. Trotzdem ist das Ganze eine natürliche Festung, die sogar direkten Atombombe ntreffern widersteht. In dem stillgelegten Steinbruch am Rande der Kuhweide betreibt die Firma WSV ein Geschäft gegen die Angst. Die Reichen Europas kommen hierher, um ihre Wertgegenstände, egal ob es sich um echte Modigliani, Brillanten oder Mikrofilme handelt, diebstahlsicher einzulagern. Erst führt ein siebzig Meter langer Tunnel schräg in den Fels. Wo er endet, findet die Kontrolle statt. Eine Videokamera vergleicht das Gesicht des Besuchers mit einem registrierten Farbfoto. Gleichzeitig muß der Besucher seine zehn Fingerkuppen auf eine Glasscheibe pressen. Hat er dann noch die Karte mit der Codenummer vorgelegt und der Computer zeigt okay, bringt ihn ein Lift weitere zwanzig Meter tiefer. Dann allerdings gilt es, Stufen zu steigen. Insgesamt 144 Stück. Nun befindet sich der Besucher in den unterirdischen Safegewölben. Dort herrschen ständig gleichbleibende Temperaturen, konstante Luftfeuchtigkeit. Ein Angestellter begleitet den Kunden zu seinem Stahlfach. Der Angestellte wird den Besucher lediglich mit Sir oder Mylady ansprechen, denn nicht einmal die Manager von Wansdyke Security Vaults kennen die Namen ihrer Kunden. Nur dem Chef von WSV ist bekannt, wer sich hinter den Nummern auf der Identifikationskarte verbirgt. Die Aufzeichnungen darüber liegen ebenfalls in einem Safe, achtzig Meter unter der Erde. 3
Von einigen Räumen weiß nicht einmal der Chef, Mister Perrison, wer sie gemietet hat und wer den Mietpreis von 11000 Pfund jährlich überweist. Das Ganze ist eine Einrichtung für Präzisionsfanatiker. Alle wichtigen Systeme sind doppelt ausgeführt. Die Alarmvorrichtungen, die Grundwasserpumpen ebenso wie die Dieselgeneratoren für die Stromverbraucher. Man kann ohne Übertreibung sagen, die Anlage der WSV in Chippenham ist einer der sichersten Plätze auf der Erde. * Das Licht des Nachmittags fiel durch den Eichenwald. Zwei Männer traten auf eine Lichtung heraus. Obwohl sie beide Jagdanzüge trugen, unterschieden sie sich erheblich voneinander. Der Unterschied bestand nicht in der Figur. Beide waren sie schlank, etwa einsfünfundsiebzig groß und sportlich. Es lag am Altersunterschied. Der Rechtsanwalt Red Morley aus London war Mitte Dreißig, der andere Gentleman, ein Bankier aus Prince’s Street, weißhaarig und fast sechzig. Die Männer bewegten sich lautlos im hohen Farn, bis der Bankier die Rechte hob und auf das Unterholz deutete. Red Morley nickte nur und brachte sein Gewehr in Anschlag. Als er den Rotfuchs im Visier hatte, drückte der Bankier mit zwei Fingern seiner Hand den Lauf nach unten und schüttelte den Kopf. „Lassen Sie ihn leben, Red“, flüsterte er. „Füchse sind zum Abschuß frei, Sir.“ „Ein so hübscher Bursche und ein Hühnerdieb mehr oder weniger, was soll’s.“ Der Fuchs hatte die Stimmen der Männer gehört, nahm Witterung und verschwand blitzschnell in der Fichtenschonung. 4
„Der ist weg“, bedauerte Morley, „ich hätte ihn erwischt.“ „Ja, Sie sind ein guter Schütze, im Gegensatz zu mir“, sagte der Jagdeigentümer. Morley entlud die Flinte, weil er heute ja doch nicht mehr zum Schuß kam. „Warum“, fragte er den Bankier, „haben Sie mich eigentlich mitgenommen, Sir?“ Jetzt lächelte der Ältere. „Weil ich besser mit Geld umgehen kann als mit Schußwaffen. Im Gegensatz zu Ihnen, Red.“ Da ahnte der Anwalt, was es geschlagen hatte. Es ging um seine miserablen Finanzen. Genauer: um seine Schulden. „Ihre Praxis läuft doch ganz gut, Red“, fuhr der Bankier fort. „Eigentlich müßten Sie zu etwas kommen.“ „Nicht so gut wie es scheint“, erwiderte Morley. „Immer das alte Handikap. Geld kommt zu Geld. Die einträglichen Fälle gehen zu den Kollegen, die es eigentlich gar nicht nötig hätten. Und reich geboren bin ich schließlich auch nicht.“ „Nun, Sie haben durch Ihre Heirat Anschluß zu den besten Kreisen gefunden.“ „Leider stammt Zelda aus der verarmten Linie der Sommerlands, Sir.“ Der Bankier überquerte die Lichtung und trat wieder hinein in den lichtgefleckten Eichenwald. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich um. „Aber muß das denn sein, Red. Der Rolls-Royce, der Zweitwagen, die Motoryacht, der Golfclub, der Reitclub St. James, die Wohnung in Westend, das Haus auf dem Lande. Köchin hier, Butler da. Das alles geht doch weit über Ihre Verhältnisse.“ Der Anwalt lächelte ein wenig ratlos. „Und was ist ein Leben ohne Luxus?“ fragte er. „Ohne diesen Rahmen ergattere ich nur noch die kleinen Streitereien der Kneipenwirte und Zuhälter in Soho.“ 5
„Aber wenn Sie so weitermachen, wird das Ende bitter sein.“ „Ich komme schon noch groß heraus“, versicherte der Anwalt. „Stehe gerade vor einem Vertragsabschluß mit einer Immobiliengesellschaft, die mich als Syndikus haben will.“ „Wie heißt sie?“ fragte der weißhaarige Henry Westham. „London-Bahama Ltd.“ Daraufhin machte der Bankier ein betrübtes Gesicht. „Die LBL hat abgewirtschaftet, steht so gut wie vor dem Ruin. Lassen Sie die Finger davon, Red.“ Dieser Rat wirkte auf den jungen Anwalt wie ein Tiefschlag. Er brauchte Minuten, um es runterzuschlucken. Von Verdauung konnte nicht die Rede sein. „Mein Gott, das war meine ganze Hoffnung“, gestand er. „Ja, die Hoffnungen fliehen wie Füchse am Nachmittag.“ „Haben Sie einen Rat für mich, Sir?“ fragte er, als sie im Tal den Landsitz des Lords liegen sahen. „Ja, einschränken, Aufwand verringern, Konten abdekken“, sagte Westham. „Womit, Sir?“ Der Bankier ließ seinen jungen Freund erst eine Weile zappeln, dann sagte er: „Ich mag Sie irgendwie, Red. Sie und Ihre Frau. Sie haben Ähnlichkeit mit mir und meiner Frau. Ich habe auch mal bei Null begonnen. Nur setzte ich damals, als ich ins Bankgeschäft einstieg, aufs bessere Pferd. Ich mag Leute mit Ihrem Stil und Ihrer Dynamik, auch wenn sie Pech haben. Aber vielleicht kann man das in den Griff kriegen.“ Red Morley seufzte tief. „Und wie bitte, Sir?“ „Mal sehen, was ich für Sie tun kann“, deutete der Bankier an. In diesem Moment wußte Red Morley, daß er doch noch Chancen hatte, den Durchbruch als Anwalt zu schaffen, vorausgesetzt, er klaute anläßlich eines Dinners beim He rzog von Easterburry nicht ausgerechnet goldene Löffel. 6
Ebenso war er sich auch im klaren darüber, daß sein Gönner, der Bankier, das nicht uneigennützig für ihn tat. Auch in der Oberschicht wusch noch immer eine Hand die andere. * Am darauf folgenden Freitag war eine Musical-Premiere im New Astoria Theatre, die Dr. Morley auf keinen Fall ve rsäumen wollte. Er hatte alle Termine für diesen Abend abgesagt und ve rließ sein City-Büro kurz nach achtzehn Uhr. Im Hinausgehen hörte er noch das Telefon summen. Er dachte, es sei Zelda mit Garderobenproblemen, kehrte noch einmal um und hob ab. „Mein Name ist Appelcorn“, sagte eine langsame und auffallend leise Stimme. „Ich muß Sie dringend sprechen, Sir.“ „Dann rufen Sie bitte morgen früh an und lassen sich von meiner Sekretärin einen Termin geben.“ Der Mann lachte ebenso leise wie er sprach. Jetzt fiel Mo rley auch auf, daß sein Englisch eine holländische Klangfärbung hatte. „Der letzte Termin war gestern, Sir“, sagte der Anrufer. „Es muß gleich sein.“ „Dann tut es mir leid.“ „Ganz sicher wird es Ihnen leid tun“, erwiderte Mister Appelcorn, „in diesem Augenblick verlören Sie nämlich eine hübsche Menge Geld.“ Es konnte sich immer noch um einen Vertreter für Investmentzertifikate handeln, die hatten meistens solche Redensarten drauf. Trotzdem nahm Morley noch einmal den Bowler ab und setzte sich. „Um was handelt es sich bitte?“ „Um eine kleine Reise, Sir.“ „Hören Sie, ich bin Anwalt und nicht Tourist.“ 7
„Und noch etwas, Sir. Es handelt sich um eine Vertrauenssache hohen Grades.“ „Wer schickt Sie zu mir?“ „Sie stehen als Anwalt im Telefonbuch, Sir“, lautete die Antwort. „Ja, unter tausend anderen Anwälten. Ich meine, von wem wurde ich Ihnen empfohlen?“ „Von zwanzigtausend Pfund Sterling“, erklärte Mr. Appelcorn, „in bar. Die Hälfte vor der Reise, die Hälfte nach Rückkehr. Einverstanden?“ Der Mann mochte ein Spinner sein, trotzdem konnte er es ernst meinen. Das war rasch herauszufinden. Morley schaute auf die Uhr. Fünfzehn Minuten wollte er für den Klienten erübrigen. Die zwanzigtausend Pfund konnte er gut gebrauchen. Sie deckten seine Unkosten für ein halbes Jahr. „Wann sind Sie hier?“ fragte Morley. „Ich warte in der Garage bei Ihrem Wagen, Sir. Besser, man sieht uns nicht zusammen.“ „Hören Sie“, entgegnete Morley. Aber der Anrufer schnitt ihm das Wort ab. „Nicht, was Sie denken, Sir. Nichts Kriminelles. Nur eine Reise von zwei oder drei Tagen.“ „Wohin?“ Da war schon aufgelegt worden. Morley nahm Hut und Stockschirm, schloß sein Büro ab und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage. Neben seinem 74er Shadow lehnte ein rotgesichtiger untersetzter Mann mit schütterem Blondhaar. Er trug eine zerknautschte Flugkapitänsuniform von grünblauer Farbe. Wie der Besitzer von zwanzigtausend Pfund sah er nicht aus. Er lächelte Morley vertraulich an, als seien sie alte Freunde. Mit der flachen Hand klopfte er die dunkelblaue Motorhaube des Rolls. „Feines Autochen.“ 8
„Gebraucht gekauft“, sagte Morley. „Und noch nicht ganz bezahlt“, ergänzte Appelcorn grinsend. „Das wissen Sie?“ „Ich informiere mich stets über die Gentlemen, mit denen ich in Geschäftsverbindung trete.“ Morley mißfiel der Bursche von Anfang an. Aber das Honorar war ein dicker Fisch. „Noch ist es nicht soweit.“ Morley sperrte auf. Der andere kam herum und setzte sich neben ihn. Morley ließ an, nahm die Auffahrt und bog Richtung Leicester Square ab. „Über Tottenham Street sind Sie schneller am Regents Park“, sagte der sonderbare Mister Appelcorn. „Wer sagt Ihnen denn, daß ich dorthin will?“ „Nun, Sie wohnen dort und Ihre hübsche Frau Zelda erwartet Sie zu einem Theaterbesuch. Sie werden schon rechtzeitig zur Premiere kommen, Sir. Wir sind uns gewiß bald einig.“ Die Ampel stand auf Rot. „Reise wohin?“ fragte der Anwalt. „Hinter den Eisernen Vorhang, Sir.“ Morley zuckte zusammen. „Grün, Sir“, rief Appelcorn. „Aber was schreckt Sie an dem Reiseziel? Waren Sie mal politisch tätig?“ „Nein. Nur Pfadfinder, mehr nicht.“ „Und Sie haben auch niemals für einen Geheimdienst gearbeitet?“ . „Sie wissen doch ohnehin alles über mich. Warum fragen Sie dann?“ Morley drückte den Rolls um die Kurve in die Oxford Street. Dort ging es um diese Zeit einigermaßen flott vorwärts. „Kommen Sie etwa von einem Geheimdienst?“ Appelcorn winkte ab. „Sie reisen für mich am Montag nach Prag. Per Flugzeug. Am Dienstag übernehmen Sie an einem Platz, den ich Ihnen 9
nennen werde, zu Modalitäten, die Sie noch von mir erfahren, einen kleinen Wertgegenstand. Nicht viel größer als eine Puderdose. Kann sein, daß man Sie bei der Ausreise filzt. Das ist Ihr Risiko. – Überlegen Sie sich also schon, wie Sie das Ding unbemerkt über die Grenze bekommen. Das wäre alles, Sir.“ „Inhalt der Dose?“ fragte Morley. Appelcorn winkte ab. „Kein Heroin.“ „Was dann?“ „Das weiß ich nicht.“ „Was hat mit der Dose zu geschehen?“ „Weiß ich auch nicht, Sir. Erfahren Sie alles rechtzeitig.“ Sein Instinkt riet Morley, aus dem Geschäft auszusteigen und sei es im letzten Moment. Aber da griff Appelcorn in die Brusttasche seines Flieger Jacketts. Er entnahm ihr einen dicken braunen Umschlag aus festem Papier, dessen oberer Rand fingerbreit umgeschlagen war, damit das Kuvert in seine Tasche hineinpaßte. „Anzahlung zehntausend.“ Wie betäubt nahm Morley das Honorar entgegen. „Wie wünschen Sie den Rest, Sir? Dollar, Mark, Schweizer Franken?“ Das Pfund fällt, überlegte Morley. „Franken, wenn es geht“, sagte er mit belegter Stimme. Nun gab ihm Appelcorn den letzten Hinweis. „Dienstag, Punkt elf Uhr. Prag, Karlsbrücke. Vor der Gedenktafel, wo St. Nepomuk in die Moldau gestürzt wurde. Ein Mann schiebt ein defektes Jawa-Motorrad. Folgen Sie ihm.“ Morley nickte. Appelcorn deutete durch die Windschutzscheibe nach vorn. „Bei der Teestube dort steige ich aus. Bitte halten Sie, Sir.“ 10
Ein flockiger Himmel hing tief über der Hauptstadt der CSSR und färbte das Wasser des Flusses grau. Schon zehn Minuten nach elf Uhr. Red Morley blickte durch das kunstvoll geschmiedete eiserne Relief in der Mitte der Brücke auf die Moldau hinab. Dabei fiel ihm auf, daß die Gedenktafel einen Nepomuk zeigte, der in vollem Ornat ins Wasser fiel. Er erinnerte sich aber, daß man den Generalvikar auf Geheiß des König We nzel vorher in einen Sack genäht hatte. Eine falsche Darstellung also. Nepomuk war getötet worden, weil er sich als Beichtvater der Königin Sophie geweigert hatte, dem König das Beichtgeheimnis preiszugeben. Keine gute Geschichte. Hoffentlich stand seine Reise nach Prag unter einem besseren Stern. Morley schaute auf die Uhr. Viertel nach elf jetzt. Um Nepomuk zu vergessen, drehte er sich um. Auf der anderen Brückenseite beugte sich ein Mann über sein Motorrad. Gekleidet war er in schwarzes Leder und schwarzen Sturzhelm. Eine dunkle Brille verdeckte sein Gesicht. An der schweren 500er Jawa war offensichtlich die Kette aus dem Zahnkranz gesprungen, und der Mann wußte sich nicht zu helfen. Also schob er seine Maschine langsam in Richtung auf den Altstädter Brückenturm zu. Der Hradschin darüber war nur zu ahnen. Er lag im dunstigen Nebel. Bei der Salvatorkirche lehnte der Motorradfahrer die Jawa an den linken Pfeiler und versuchte sich erneut an der Schadensbehebung. Er betrieb die Reparatur aber nicht sehr ernsthaft. Um so mehr schien er sich zu orientieren. Als ihm die Luft rein genug war, richtete er sich auf und betrat die Kirche. Morley folgte ihm, ganz den kunsthistorisch interessierten Touristen spielend. Im dunklen Inneren der Kirche sah er den Mann zunächst nicht. Endlich bewegte sich vor dem Schimmer des Ewigen Lichtes etwas. Morley ging darauf zu, wurde am Arm gepackt und in die 11
Nische hinter eine Säule gezogen. Dort vernahm er ein Zischeln, als hätte man einem undichten Preßluftschlauch das Sprechen beigebracht. „Mister Morley aus London?“ „Bin ich.“ Morley bekam etwas in die Hand gedrückt. Unter dem Zeitungspapier fühlte es sich an wie eine Schuhcremedose mittlerer Größe. „Was soll ich damit?“ „Bringen Sie es in den Westen.“ „In Ordnung. Und dann?“ „Deponieren Sie es möglichst am sichersten Platz der Erde.“ „In einem Banksafe?“ „Es gibt weit bessere Plätze. Sie kennen einen. Ich sagte den sichersten Platz der Erde.“ „Was hat weiter damit zu geschehen?“ „Das Kennwort ist Labyrinth. Sie geben es nur auf Kennwort heraus. Labyrinth.“ Der Mann buchstabierte es förmlich. „Allright“, sagte Morley. Er hatte noch eine Frage, doch sie kam nicht an. Das Ohr, das sie erreichen sollte war weg. Es gab auch keinen Mund mehr, der sie hätte beantworten können. Der Mann war verschwunden. Die schwere Eichentür zur Sakristei schlug zu. Morley betrat sie wenige Sekunden später. Aber der Raum war leer. Und als er die Kirche verließ, war auch die Jawa fort. Red Morley ging in sein Hotel zurück. Die runde zentimeterdicke Aluminiumdose vom Durchmesser einer Kinderhand versteckte er in seiner Tabakbüchse. Sie paßte leicht hinein. Damit nicht Blech auf Blech klapperte, klebte er sie mit Seife fest. Danach streute er den duftenden Pfeifentabak darüber und steckte die Dose in die Tasche. Später delektierte er sich an Wellfleisch mit Kren und einem Palffy Knödel. Dazu trank er Pilsener Bier. 12
Den Abend verbrachte Morley in der Laterna Magica. Sie bot ein gemischtes Programm aus Theater, Ballett und Trickfilmen. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß er be obachtet oder beschattet wurde. Nach einer Stunde in der Jalta Bar in der Vaclavske namesti, wo ihm weder Programm noch Musik zusagten, kehrte er ins Hotel zurück. Sein Flugzeug nach London ging um 09 Uhr 30. Am Flughafen wurde Morleys Gepäck genau überprüft. Der Beamte faßte bis auf den Grund seines Reisekoffers. Morley geriet ins Schwitzen. Dann mußte er auch noch den Tascheninhalt vo rzeigen. Der Beamte schüttelte die Tabakdose, öffnete sie, drückte mit dem Daumen in den Krüllschnitt. Morleys Herz begann zu stechen. Doch der Beamte fand alles in Ordnung. Um 11 Uhr 25 landete die Maschine in London Heathrow. Zwei Stunden später entnahm Red Morley seinem Kanzleibriefkasten einen Umschlag, länglich, festes braunes Papier. Inhalt vierzigtausend Schweizer Franken. 2. Die Limousine stand auf der breiten Kaimauer des südenglischen Hafens Selses. Es herrschte Ebbe. Die Kuttter und Yachten lagen tief. „Also mir wäre sie zu dick“, sagte der Mann mit dem Fernglas zu dem mit der Kamera, schwächte sein Urteil aber ein wenig ab: „zu vollschlank.“ „Ich mag das“, bemerkte der andere und kurbelte die linke Türscheibe des Rover so weit herunter, bis sie völlig in der Gummidichtung verschwand. Jetzt konnte er die Kamera besser aufsetzen. „Ich schieße sie jetzt.“ „Warte doch, bis sie sich im Bikini zeigt.“ „Zu kühl dafür.“ „In der Sonne geht es.“ 13
die Sonne stand aber schon reichlich tief an diesem Oktobernachmittag. „Los, Baby, mach“, drängte der mit dem Fernglas, „laß die Klamotten fallen. Mein Kumpel möchte dich filmen.“ Doch die junge blonde Frau auf dem Motorsegler verschwand unter Deck und kam erst nach zwanzig Minuten wieder. Jetzt war noch weniger von ihr zu sehen. Vorher hatte sie einen Frotteekittel angehabt, der wenigstens ab und zu ihre Formen freigab. Nun trug sie blaue Segelhosen, und die verbargen bis zum Nabel alles. „Halt wenigstens fest, was sich unter dem T-Shirt wölbt“, riet der mit dem Fernglas. Die Kamera surrte. Vier Meter Film liefen durch. „Ich verbessere mich abermals“, sagte der mit dem Feldstecher, „sie ist lediglich gut durchwachsen.“ „Man kann nicht alles verlangen.“ „Erst recht nicht von Töchtern aus altem Adel. Die sind entweder zu fett oder zu mager.“ „Zu dumm oder zu gescheit.“ „Bei Frauen sind mir die doofen lieber.“ „Red Morley war da wohl anderer Ansicht“, sagte der mit dem Fernglas. „Er traute sich sogar zu, ‘ne Kunststudentin zu zähmen.“ „Ah so eine Zicke ist sie. Alle Mädchen, die was Besonderes sein möchten, studieren Kunstgeschichte. – Kostet nicht besonders viel Fleiß, bringt aber auch nicht viel.“ „Sie übt ihren Beruf nicht aus. Sie lernten sich beide in Oxford kennen.“ „Also Oxford-Absolventen. Meine Hochachtung.“ „Oxford soll auch nicht mehr das sein, was es mal war.“ „Das gilt für die meisten Universitäten. Sie erzeugen nur noch Fachidiotikas.“ Der Rothaarige setzte sein Glas jetzt ab. „Zelda macht Reinschiff.“ 14
„Damit der Kahn blitz und blank ist, wenn der geliebte Gatterich aus London kommt.“ „Hoffentlich kommt der geliebte Gatterich bald. Denn erstens sollen wir ihn auf den Film kriegen und nicht sie. Zweitens ist in fünfzig Minuten die Sonne futsch.“ „Und drittens ist er gar nicht so sehr der geliebte Gatte“, sagte der mit der teuren Beaulieu Präzisionskamera. „Ehekrise?“ „Sie hat wohl mehr von ihm erwartet.“ „Im Bett?“ „In der Brieftasche.“ „Morley ist doch auf und nieder der Typ Karriereanwalt.“ „Aber offenbar kein Geldmacher“, sagte der andere. „Wenn du wirklich erfolgreich Geld machen willst, dann mußt du erst mal eisern Penny auf Penny legen, bis du die ersten paar Hunderttausend beisammen hast. Die Million kommt dann von selbst.“ „Klarer Fall.“ „Morley gibt mehr aus als er verdient.“ „Und das mißfällt ihr. Woher weißt du das?“ „Basisinformation.“ Die stramme Blondine spülte mit einer Pütz voll Wasser die letzten Schaumreste von den Planken, schoß eine Leine auf und gab dem Festmacher etwas Lose, denn der Ebbstrom lief immer noch ab. Dann verduftete sie wieder kajütwärts. Inzwischen war es so dunkel, daß man Licht durch die Bulleys schimmern sah. In diesem Moment bog ein dunkelblauer Rolls-Royce bei der Werft um die Ecke. „Da kommt er ja.“ Der Kameramann setzte seine 5008-S-Multispeed an. Trotz des ausgesprochen hellen Suchers und der hervorragenden Bildqualität, die das Schneider-Optivaron-Objektiv lieferte, war es jetzt zu dunkel. „Sorry“, sagte der Kameramann und verstaute sein Gerät. „Packen wir ihn morgen bei Tag.“ „Da ist er auf See.“ 15
„Dann eben sonntags bei der Fuchsjagd zu Pferde.“ „Zu viele Leute.“ „Wie war’s am Dienstag beim Dinner im Club?“ Der Kameramann schüttelte den Kopf. „Ich bin ja gerne bereit, die Bäume im Park zu erklettern“, sagte er, „und durch die Fenster zu filmen, aber dazu brauche ich den hochempfindlichen neuen Kodak-Film. Und den gibt es nicht für die Super-acht-Millimeter.“ „Wo erwischen wir ihn dann?“ „Die Aufnahmen müssen bis Mittwoch im Kasten sein, egal wie. Sonst wird die Zeit zu knapp. Alles ist genau getimt. Jeder hat einen maximalen Zeitswing von 24 Stunden. Wird er überschritten, kommen wir am Ende ins Schleudern.“ „Dann laß uns nachdenken“, sagte der mit dem Fernglas. * Sie bekamen den Rechtsanwalt Red Morley am Mittwochmorgen beim Golf spielen. Mit einem älteren Gentleman, der ihnen als der CityBankier Sir Henry Westham-Reynolds bekannt war, marschierte Mo rley über den taunassen Rasen, wobei er mit einem komisch geformten Stock einen weißen Hartgummiball über die Bahn trieb. Immer, wenn es ihm gelang, mit möglichst wenig Schlägen den Ball ins Loch zu bekommen, kannte seine Freude schier keine Grenzen. „Ziemlich infantiles Rasenballspiel, wie“, sagte der Mann mit der Kamera zu seinem Partner. „Ich habe auch keinen Nerv für solche Späße. Stell dir vor, du mußt dich erstmal in die passende Kleidung reinschmeißen. Golfhose, Golfpullover, Golf Jacke, Golfschühchen. Du nimmst den schweren Sack mit den Schlägern auf den Ast, fährst ‘ne geschlagene Stunde, bis du auf der grünen Spielwiese angelangt bist, und dann gehts erst los. – Das Bällchen 16
schmettern, hinterhermarschieren. Bällchen wieder schmettern, hinterherlatschen. Nun geht Bällchen verloren. Also Bällchen suchen. Dann hast du das Bällchen gefunden, aber es eiert daneben, weil eine Windbö aufkam. – Ein anderer Golfheini ist besser als du. Das stinkt dir mächtig. Und für das Ganze blechst du noch einen Jahresbeitrag von tausend Pfund.“ „Absolut idiotisch.“ „Billard ist mir lieber.“ „Mir Weiber“, sagte der mit der Kamera und ließ sie laufen. Der Elektromotor zog den Film lautlos am Zoom vorbei. Sie mußten noch näher heran. Sie brauchten auch Morleys Stimme, seine näselnde Art zu sprechen. „Er ist kleiner als ich dachte“, sagte der Mann mit dem Richtmikrofon. „Auf die Figur kommt es nicht an. Nur auf das Gesicht.“ „Er ist höchstens einsvierundsiebzig.“ „Dann trabt unser Mann eben mit ganz flachen Absätzen an.“ „Oder barfuß.“ „Sei nicht albern. Hast du die Fingerabdrücke?“ „Zehn wundervolle Dinger. Lagen auf der Motorhaube wie hingemalt. Leicht fettig. Morley muß vor der Abfahrt den Ölstand kontrolliert haben. Das mit den Fingerabdrücken ist der heikelste Punkt.“ „Halb so schlimm“, erklärte der andere. „Man fotografiert sie, kopiert sie auf hautdünne fleischfarbene Gummifingerlinge, die mit einer lichtempfindlichen Schicht besprüht sind. Nach dem Entwickeln haben sie Morleys Papillaren angenommen und verdecken gleichzeitig die Prints des Trägers. Bei der Handkontrolle kann kein Computer die Fälschung feststellen.“ „Noch nicht.“ „Der in Frage kommende Kontrollcomputer kann es jedenfalls nicht.“ 17
„Bleibt also nur noch das Gesichtsproblem.“ „Unser Maskenbildner hat Studioerfahrung. Er wird schon wissen, worauf es ankommt. Im Kontrollcenter vergleicht eine Angestellte das Bild der TV-Kamera mit dem von dem Kunden vorliegenden Polaroidbild. Wir müssen also nur eine Kamera täuschen und nicht ein menschliches Auge, das räumlich sieht.“ Sie bekamen noch eine Unterhaltung Morleys mit dem Bankier Westham-Reynolds auf den Recorder, die lange und deutlich genug war, um Anhaltspunkte für Morleys Sprechweise zu gewinnen. „Er quatscht so geziert wie alle Oxfordaffen.“ „Plus Cambridge“, sagte der Kameramann. „Hoch drei.“ „Aber ja doch, Sör, aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Sör, dann bin ich der Meinung, Sör, daß mir jede Ansicht dazu mangelt, Sör.“ „Ja, genauso“, sagte der andere. „Arschlöcher.“ „Das sind die Typen, die hier irgendwann mal die Politik machen.“ „Gegen die meisten ist Morley noch Gold. Viele sind noch zickiger.“ „Da kannst du kaum gegen an.“ „Wir wollen ja nur, daß sie einiges kapieren.“ „Wäre gelacht“, sagte der andere, ließ aber offen, wie er es genau meinte. Sie arbeiteten sich durch das Buschzeug am Rande des Golfplatzes von Richmansworth, bestiegen ihren we ißen Rover, steckten sich Zigaretten an und fuhren stadteinwärts. „Jetzt noch die Wohnungsschlüssel.“ „Und den Safeschlüssel.“ „Und die Codekarte.“ „Aber wir liegen noch innerhalb der Zeit“, rechnete der Kameramann. „Wenn die anderen nur annähernd so gut sind, schaffen wir es.“ 18
„Das ist noch weit hin“, meinte sein Partner. Er dachte nicht nur an Chippenham, sondern an das Endziel. * Sie kamen mit dem Flugzeug. Der sicherste Platz auf Erden hatte selbstverständlich auch eine Landebahn für kleinere Maschinen. Kaum war die zweisitzige Beagle-Pup ausgerollt, machte auch der Propeller seine letzte Umdrehung. Ein Mann im grauen Flanellanzug verließ über die Tragfläche steigend den Tiefdecker. In der Hand einen Stadtkoffer aus schwarzem Boxcalf, eilte er zur Anmeldung hinüber. Dort mußte er zunächst das Kennwort der Codekarte in ein Mikrofon sprechen. Danach öffnete sich automatisch eine Gittersperre. Der Lift brachte ihn zur Sohle des Steinbruches, wo ihn ein Elektrowagen die Tunnelschräge abwärts bis zum Hauptlift transportierte. Der Fahrer des Elektrowagens schien ihn zu erkennen. „Schöner Herbst heuer, Sir“, sagte er. „Hier unten kann es Ihnen ziemlich egal sein“, lautete die unfreundliche Antwort. „Ja, leider, Sir.“ Der Besucher stieg ab. Er fühlte sich jetzt ein wenig sicherer. Seine Maske war offenbar gut, und seine Rolle hatte er auch gelernt. Nur die Fingerabdrücke blieben ein Problem. Die kritische Phase begann Minuten später im Kontrollcenter. Die Kamera schräg oben an der Decke tastete den Kunden mit zwei Schwenks ab. Er steckte die Codekarte in einen Schlitz, bis Gr ünlicht kam und die Aufforderung, die Hände mit gespreizten Fingern auf die Glasscheibe zu pressen. Der Kunde befolgte sie offensichtlich mit einigem Zögern, als habe er Angst, sich zu elektrisieren. 19
Ein Summton ertönte, eine Tür ging auf. Ein Uniformierter mit randloser Brille trat auf ihn zu. „Bei der rechten Hand“, sagte er, „zeigt der Identifikationscomputer leider negativ, Sir. Würden Sie bitte noch einmal so freundlich sein, Sir.“ Der Besucher wollte protestieren, tat es aber nur halblaut. „Hat schon ein bißchen Schimmel angesetzt, Ihr Rechner, wie?“ „Kaum, Sir. Der Raum ist vollklimatisiert.“ Der Besucher drückte die Fingerkuppen der beanstandeten Hand stärker gegen die Glasscheibe, obwohl man ihn davor gewarnt hatte. Bei ein bißchen zuviel Druck und Feuchtigkeit konnte es passieren, daß die dünne Fotoschicht der Papillaren auf dem Glas haften blieb. Der Uniformierte las die bunten Lampen des Kontrollgerätes ab. Er war unzufrieden. „Noch einmal, Sir, bitte.“ Hinter der Brille ve rspannte sich die Miene des Kontrolleurs. Doch dann schien er von sich aus die Entscheidung zu fällen. „In Ordnung, Sir. Schließlich waren Sie schon einmal da. Ich habe ein gutes Personengedächtnis.“ Wortlos drehte sich der Besucher um, nahm seinen Aktenkoffer und ging die lange Treppe hinab ins Safegewölbe. Minuten später stand er vor dem Stahlfach. Es enthielt nicht viel. Sein Raum war zu kaum zehn Prozent genutzt. In einer Holzkiste für Partagas-Zigarren lag, in gelbes Fernschreiberpapier gewickelt, eine Aluminiumbüchse. Sie war kaum handtellergroß und sehr flach. Den Rand zwischen Deckel und Boden verschieß ein Tesafilm luftdicht. Ob die Dose geöffnet worden war, konnte man leicht feststellen, denn es handelte sich um eine Sicherheitsfolie, bei der nach dem ersten Abziehen vorgeprägte Mäanderstrukturen, Kreise oder Wellenlinien sichtbar wurden. Die Markierung ließ sich nicht mehr löschen. Zwar konnte man das Klebeband wieder verwenden, aber die Figuren blieben 20
bestehen und bewiesen einen unbefugten Eingriff. In diesem Fall handelte es sich bei den Prägungen um eine Kette aneinandergehängter Dreiecke. * Am Freitag, kurz nach der Zehn-Uhr-Teepause, nahm Red Morleys Sekretärin einen Anruf für den Chef entgegen. Das war so üblich, denn Morley wollte stets vorher wissen, wer ihn zu sprechen wünschte. „Er nannte keinen Namen“, sagte die Sekretärin. „Aber Sie haben ihn danach gefragt.“ „Er ging gar nicht darauf ein, Sir. Er verlangte Sie persönlich. Ein sehr unangenehmer Gesprächspartner, Sir.“ „Stellen Sie durch, Betty“, entschied Mo rley. „Aber trennen Sie spätestens nach drei Minuten. Falls die Leitung dann noch nicht frei sein sollte, sagen Sie ein Ferngespräch aus Paris oder New York liege vor.“ Zu dieser Vorsichtsmaßnahme kam es nicht. Das Gespräch dauerte nur wenige Sekunden. „Mister Morley?“ vergewisserte sich der Anrufer. „Sie wünschen?“ „Kennwort Labyrinth.“ „Wie darf ich das verstehen?“ „L-a-b-y-r-i-n-t-h“, buchstabierte der Unbekannte. „Mo rgen, vierzehn Uhr Piccadilly.“ „Aber morgen ist doch Weekend.“ „Morgen vierzehn Uhr Piccadilly“, wiederholte der Namenlose und legte auf. Zuerst fluchte Red Morley auf die feine Oxfordart, dann ließ er alle Termine streichen und fuhr in die Grafschaft Wiltshire.
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3. Alles war unwirklich. Die Hitze flimmerte über dem Sand, ohne daß es wirklich heiß gewesen wäre. Aus dem Dschungel drang fürchterlicher Lärm. Tausende von Tieren schrien, krächzten, kreischten pausenlos. Aber es klang wie von einem Tonband. Und der Mann in der Bambushütte zwischen Meer und dem Urwald saß reglos da wie eine Puppe. Er wirkte wie mumifiziert. Endlich hatte er ihn. Endlich sah er es vor sich, dieses Phantom, das er um die halbe Welt bis auf diese Insel in der Südsee gejagt hatte. Aber noch trennten Bob Urban achtzig Meter Strand von Slim Potter. Wie sollte er unbemerkt durch die Sonne an ihn herankommen? Urban überlegte. Es fiel ihm schwer. Seine Gedanken bildeten ein unentwirrbares Knäuel. Du mußt die Hütte umgehen, sagte er sich. So schneidest du ihm den Fluchtweg ab. Du schneidest ihm den Rückzug in den Dschungel ab und kriegst ihn. Mit dem Boot kann er ja nicht fort. Das Boot ist kaputtgeschlagen. Aber sei vorsichtig, denn Potter wird schießen. Urban richtete sich auf, watete durch den feinkörnigen Sand, der aus dem Ofen zu kommen schien, und brauchte lange, sehr lange, endlos lange Zeit, um die Hütte zu umgehen. Als er aus der Deckung tauchte, war die Terrasse leer. Der Mann, den er von Pol zu Pol gejagt hatte, war weg. Verdammt. Abermals zu spät. Nur um Sekunden, aber zu spät wie immer. Wieder keine Chance, ihn zu identifizieren. Da fiel Urbans Blick auf eine fette Schnake. Sie saß auf der Verandabrüstung und war so dick, so voll von Menschenblut gesaugt, daß ihr das Fliegen schwerfiel. In diesem Moment durchzuckte es den Geheimagenten Bob Urban. Schnaken bevorzugten Menschenblut. Es hatte weit und 22
breit aber nur einen Menschen gegeben, nämlich Slim Potter. Also war es das Blut von Slim Potter, das sie aufgesaugt hatte. Wenn er die Schnake erschlug, ließ sich anhand des Menschenblutes in ihr endlich Potters Blutbi ld bestimmen. Die Gruppe, der Rhesusfaktor und all die anderen wichtigen Besonderheiten. Wenn die Analyse mit den Aufzeichnungen übereinstimmte, die vor elf Jahren von Potter im Hospital in Peking gemacht wurde – Slim Potter hatte immerhin Gruppe Null Rhesus positiv, was sehr selten vorkam –, dann hatte er den Beweis, daß Potter wirklich hier war. Und dann hatten sie endlich auch seine Fingerabdrücke. Dann waren nämlich die Prints auf der Bierdose die ersten jemals von Slim Potter gesicherten Fingerab… Bob Urban schlug zu. Mit der flachen Hand zerschlug er die Schnake. Das Mädchen schrie auf. Aber auf eine Weise, in der er noch nie einen Menschen hatte schreien hören. Ein fast tierischer Laut. Davon erwachte Bob Urban. Sie lagen nackt beieinander auf dem breiten französischen Bett. Durch die Ritzen der Jalousien fiel das Licht in Streifen. Er war sofort voll da. „Du hast geträumt“, sagte Clara. „Wovon?“ „Von dir.“ Urban faßte nach der Weinflasche, die neben dem Bett im Eiskübel schwamm. Ein Zeichen, daß sie fast leer war. Den Rest goß er ins Glas. „Du hast mich geschlagen“, sagte sie, „auf den Hintern. Ein Beweis, daß du mich im Unterbewußtsein haßt.“ „Dazu kenne ich dich viel zu wenig“, erwiderte er, „außerdem liebe ich dich.“ „Dann gib es mir schriftlich.“ „Wenn dir das mehr bedeutet als Umarmungen.“ „Männer lügen“, erklärte sie. „Dann lügen sie auch auf dem Papier“, bemerkte er. Sie nahm ihm das Glas weg, leerte es und lächelte ihn mit feuchten Lippen an. „Ich weiß wenig von dir, Peter“, sagte sie. 23
Wozu auch, überlegte er. Ihr Chevrolet war an der Autobahn liegengeblieben. Er hatte sie bis zur nächsten Tankstelle geschleppt. Pleuelschaden hatte sich herausgestellt. Irreparabel. Bis ein Austauschmotor kam, vergingen Tage. Also hatte er sie mitgenommen. Richtung Frankfurt. Der Nachmittag war gekommen. Hinter Würzburg war sie an seiner Schulter eingeschlafen. Als er nach einer Tankpause wieder anfahren wollte, hatte sie geflüstert, bring mich zu Bett. Das hatte er getan. Mehr nicht. – Er hatte gesagt, er heiße Peter. „Was tust du, Peter?“ fragte sie. „Was ich will.“ „Ich meine beruflich.“ „Ich bin ein unabhängiger wohlhabender ehemaliger Produzent von Gänsekielen. Ich verkaufte aber meine Fabrik an den größten Hersteller von Kugelschreibern, als Gänsekiele aus der Mode kamen.“ Wozu sollte er ihr sagen wer er wirklich war und was er tat, daß er Bob Urban hieß und für den Bundesnachrichtendienst arbeitete? Auf dem Gebiet hatte er schon die verrücktesten Sachen erlebt. Er hatte schon Spione am Hals gehabt, noch ehe ein Fall überhaupt in Sicht gekommen war. „Und du?“ fragte er. „Fotomodell.“ „So mit Busen vor der Kamera?“ „Nein, mit Telefonnummer in der Zeitung. Modell, tizianrot, schlank, amüsant. Für Ihre einsamen Stunden. Komme auch ins Haus.“ Das traf auf Clara wohl so wenig zu wie eine Fabrik für Gänsekiele auf ihn. Urban steckte sich eine MC an. Sie musterte die blaugoldene Packung. Offenbar hatte sie die Marke noch nie gesehen. „Gib es mir schriftlich“, bat sie ihn. Er richtete sich auf. „Ist das ein Tick von dir, Mäuschen?“ 24
„Ja, eine Art moralisches Korsett. Hab ich’s erst schriftlich von einem Kerl, dann komme ich mir nicht wie eine Nutte vor.“ Ihre Brüste vibrierten, als sie sich umdrehte, ihre Handtasche öffnete und Notizblock und Bleistift herauskramte. Sie reichte ihm beides. Er schrieb etwas hin. Sie nahm ihm den Zettel weg und konnte es nicht lesen. „Ist das chinesisch?“ „Mongolisch“, sagte er. „Ich lebte lange dort. Aus der Mongolei bezog ich die Gänsefedern für die Gänsekiele. Sie haben die besten der Welt.“ „Aber es bedeutet dasselbe, was da steht.“ „Klar“, sagte er, „Clara.“ Nun nahm sie aus der Tasche ein Feuerzeug aus Weißgold, ließ die Flamme springen, steckte den Zettel an und legte das brennende Stück Papier in den Porzellanascher. „Machst du das immer so mit deiner Buchhaltung?“ wollte er wissen. Sie deutete an die Schläfe. „Ich speichere sie hier“, sagte sie und deutete dann auf das Herz, „und da.“ Komische Vögel gibt es, dachte er. Er war ja selbst so einer. „Wovon hast du wirklich geträumt?“ erkundigte sie sich. „Von einer Sache, die viele Jahre zurückliegt.“ „Eine Sache mit Gänsekielen aus der Mongolei?“ „Nein, mit einen Ganoven in der Südsee.“ „Ich will gar nicht wissen wer du wirklich bist“, sagte Clara. „Dann frage auch ich nicht, was für ein animalischer Schrei das war, als ich dir den Klaps gab.“ „Das ist kein Geheimnis“, erklärte sie. „Ich bin Zoologin. Habe lange Jahre die Verhaltensweisen von Affen studiert. Speziell von Schimpansen. Ich habe regelrecht mit ihnen zusammengelebt. Man kann mit ihnen auskommen. – Der Schrei war ein Warnruf. Aus dem Unterbewußtsein.“ 25
„Lassen sich Schimpansen denn warnen?“ fragte Urban. „Der Schrei ruft die Gorillas herbei“, berichtete Clara. „Die einzigen Artgenossen, die die Schimpansen fürchten, sind die Gorillas wegen ihrer Kraft und ihrer Intelligenz.“ „Und wenn die Gorillas kommen, dann sagen sie: Grüß Gott, was kann ich für Sie tun.“ „Du wirst lachen, so ähnlich ist es. Nur in einem Punkt mußt du aufpassen. Sie sind unberechenbar. Sie tun das Gegenteil von dem, was du erwartest. Darin unterscheiden sie sich von den Menschen.“ „Unverbildeter Instinkt oder Raffinesse?“ „Tu das Gegenteil“, sagte Clara, „und du schaffst es immer.“ „Danke. Feiner Rat.“ Sie lag auf dem Bett und schaute ihm zu, wie er aufstand, wie er duschte, sich ankleidete und immer wieder die Uhr kontrollierte. „Schade, ich habe eine Verabredung.“ „Schon gut, Peter.“ „Die Rechnung ist bezahlt. Brauchst du Geld?“ „Kein Problem. Ich rufe mir später ein Taxi.“ „Prima“, sagte er. „Dann mach’s gut“ Sie hob die Hand: „Du auch“, rief sie, „wie las.“ Minuten später rollte sein BMW mit Hundertsechzig Richtung Spessart. Er hatte Slim Potter damals nicht bekommen. Sie hatten das Schnakenblut analysiert Es war Potterblut gewesen. Sie hatten seine Fingerabdrücke von der Bierdose genommen, hatten sie an alle Geheimdienste der Welt und an die großen Polizeiorganisationen wie Interpol und Interkrim weitergeleitet. Sie hatten sie an das FBI gegeben und auch an die Kriminaldirektionen jener Staaten, die keinem internationalen Fahndungssystem angehörten. Aber sie hatten Slim Potter nie bekommen. Urban schaute auf die Uhr. Wenn er weiter so bummelte, dann verfehlte er noch den Engländer. 26
Erst hatte er zuviel Zeit gehabt, jetzt hatte er zu wenig Zeit. Schuld daran war diese verrückte Schimpansen-Clara. Gewiß irgendein Zirkuskind von Sarrasani. Der Zufall hatte sie zusammengebracht. Sein Job war viel zu halsbrecherisch, als daß er solche Gelegenheiten ausließ. Schimpansenclara. Um den Engländer nicht zu verfehlen, erhöhte Bob Urban das Tempo. Der starke Sechszylinder beschleunigte mühelos auf hundertachtzig. * „Warum an diesem finsteren Parkplatz“, fragte Bob Urban, „warum nicht in der Flughafenbar in Frankfurt? Du bist doch über Frankfurt Airport gekommen, Patrick.“ Der Engländer, der aussah wie ein Kolonialoffizier, den die indische Sonne zusammengedörrt hat, weil man vergaß, ihn rechtzeitig abzuberufen, zwirbelte seinen roten Schnurrbart. „Ist besser, man sieht uns nicht.“ „Uns nicht oder dich nicht?“ fragte Urban. „Ich bin auf dem Wege nach Berlin. Muß dort einen Austausch vornehmen. Etwas, das die Iwans haben und das wir gerne hätten, obwohl es nichts taugt, gegen eine Sache, die wir haben, auf die aber die Regierung in Moskau scharf ist.“ „Obwohl sie ebenfalls nichts taugt“, bemerkte Urban. „Wie das Geschäft eben so läuft“, sagte der Mann von MI5 London, dem Inlandgeheimdienst ihrer britischen Majestät. „Alles was wir tun, ist immer nur begrenzt nützlich.“ „Und kurzfristig sinnvoll“, ergänzte Urban. „Aber Kriege dauern meist auch nur kurze Zeit und sind verdammt sinnlos.“ „Und wir sind das, was die Schweizer die Verhüterli nennen.“ Sie lachten beide gequält. 27
„Warum soll man uns nicht sehen, Patrick?“ wollte Urban wissen. „Könnte der Sache in Berlin schaden“, wich Patrick aus. „Vermutlich werde ich beschattet. Aber weil Berlin mit dem, was ich dir sagen möchte, nichts gemeinsam hat, möchte ich durch einen offiziellen Treff mit dir meine Operation Berlin nicht gefährdet sehen.“ „Verstandsky“, sagte Urban. „Was kann der BND also für dich tun?“ Der Engländer kam jetzt ohne Umschweife zum Thema. „Eine Londoner Anwaltsgattin wandte sich an uns. Ihr Gemahl geht ab.“ „Warum ging sie nicht zu Scotland-Yard?“ „Die Dame ist von Adel, hat Verbindungen zu Lord Babington von MI-6. Der schickte sie zu uns. Verbindungen, Empfehlungen, Verbindungen.“ Und weil jeder so seine Kontakte hatte, deshalb saß Patrick jetzt auch in Urbans BMW. „Ihr Mann sei in Gefahr, behauptete die Lady.“ Urban konnte noch nicht viel damit anfangen. Patrick ahnte es wohl. „Der Londoner City-Anwalt Red Morley verreiste nur kurz geschäftlich und kam nicht wieder.“ Urban fragte sich, wie lange das schon zurücklag. Wenn MI-5 mit der Sache herüberkam, hatten längst Sondierungen stattgefunden. „In einem seiner Notizbücher fand Zelda Morley einen Namen“, fuhr Patrick fort. Urban steckte sich eine MC an und hielt Patrick das Päckchen hin. Der winkte ab. „Danke. Vor neunzehn Jahren habe ich meine letzte Zigarette ausgedrückt.“ „Und als Ersatzlaster was gewählt? Whisky?“ „Brauche ich nicht. Ich bin immer von mir selbst besoffen.“ 28
„Von deinen merkwürdigen Geschichten?“ fragte Urban und gab damit das Signal zum Weitermachen. „Der Name in Morleys Notizbuch war kein Klientenname.“ Urban kombinierte, daß es möglicherweise ein deutscher Name war. Sonst hätte sich Patrick wohl nicht an den BND gewandt. „Hans Fritz Meier“, murmelte Urban. „Franz Lothar von Mecklenburg“, verbesserte der Engländer. „Und das mißfiel der Dame.“ „Sie fand die Notiz offenbar so undurchsichtig wie eine Panzerplatte“, bemerkte Patrick. Hier hakte Urban ein. „In London gibt es keinen Mecklenburg.“ „Nicht in ganz Großbritannien einschließlich des Commonwealth.“ Noch war es in Urban dunkel wie in einem Keller ohne Lichtschalter. Doch allmählich graute der Tag. „Es gibt auf der ganzen Welt nur einen Mann namens Franz Lothar von Mecklenburg“, behauptete Patrick. „Den Generalmajor“, bestätigte Urban. „Brillantester strategischer Kopf im Generalstab der ehemaligen großdeutschen Wehrmacht“, fügte Patrick hinzu. „Wird schon so sein, wenn es in euren Akten steht“, spo ttete Urban. „Steht aber auch drin, daß Mecklenburg anno fünfundvierzig starb?“ „Er geriet in amerikanische Gefangenschaft“, sagte Patrick. „Und starb dort.“ „Ist das amtlich?“ „Zumindest ist mir nichts anderes geläufig.“ Patrick atmete ein paarmal heftig durch die Nase. „Würdest du das mal überprüfen, Bob?“ „Wenn’s weiter nichts ist.“ 29
„Und wann höre ich von dir?“ fragte der Engländer. „Vor oder nach deiner Heiligsprechung?“ „Sankt Urban meldet sich, wenn er was hat mit einer Bo tschaft, die vom Himmel kommt. Auf der üblichen Pfingstsonntagswelle.“ Der Engländer war zufrieden. Er klopfte dem erheblich jüngeren Urban die Schulter seines Glenchecksakkos. „Bist ein intelligenter Junge.“ „Doof wäre ich mir lieber“, entgegnete Urban. „Doof sein kostet weniger Mühe.“ Das Ganze sah zwar nach nicht viel aus, aber die Sachen, die nach nichts aussahen, die hatten es meistens in sich. Patrick ging durch das Dunkel auf einen älteren DienstBentley zu. Urban ließ seinen Dreiliter mit Schlüsseldrehung kommen. Wendend ordnete er sich auf die Gegenfahrbahn Richtung München ein. Wenn er draufdrückte, vielleicht traf er dann Clara, den Schimpansentarzan, noch im Motelbett an. Als er die Ausfahrt Würzburg Randersacker erreichte ging es auf 01 Uhr. Und Clara war über alle Berge. * Im BND-Hauptquartier München-Pullach telefonierte Urban ein wenig herum. Es gab da eine Dienststelle des Roten Kreuzes, in der die Schicksale aller Vermißten und Kriegsgefangenen registriert wurden. Von dort erfuhr Urban nichts grundsätzlich Neues. Der Generalmajor von Mecklenburg war im April 1945 bei Schließung des Ruhrkessels durch die Alliierten in amerikanische Gefangenschaft geraten. Er entzog sich den Verhören durch Flucht und setzte sich nach Süden ab, geriet aber am 22. April in eine Patrouille von de Lattres Armee nahe Ulm. 30
Die Posten schossen auf ihn. An den Folgen der Verletzung soll er gestorben sein. „Soll“, kommentierte Urban. „Wurde seine Leiche identifiziert?“ „Anhand von Soldbuch, Erkennungsmarke, Uniform und Auszeichnungen“, hieß es. Damit mußte sich Urban zunächst zufriedengeben. Doch am späten Abend erreichte ihn ein Anruf des Sachbearbeiters der Vermißtenstelle Köln. „Kann ich Sie unter vier Augen sprechen?“ fragte der Angestellte. „Geht es nicht auch telefonisch?“ „Es handelt sich um eine vertrauliche Akte.“ „Wußte doch, daß so etwas existiert“, sagte Urban. „Woher?“ „Ein Mann wie von Mecklenburg, der trägt auf der Flucht nicht volles Ornat wie ein Weihnachtsmann, mit Ritterkreuz und Eichenlaub und Soldbuch in der Tasche. Das macht ein Mann, der untertauchen will, doch nicht.“ „Mag sein“, antwortete der Angestellte vom Suchdienst, „jedenfalls liegt uns eine bis heute nicht abgeschlossene Akte vor, derzufolge ein General Franz Lothar von Mecklenburg in russische Kriegsgefangenschaft geraten ist. Angeblich griff ihn die Rote Armee nach der Gesamtkapitulation der Wehrmacht im Mai auf seinem Gut in Flessenow am Schweriner See auf und verschleppte ihn.“ „Sibirien?“ „Nach Moskau.“ „Dann hielt man ihn für sehr wichtig.“ „Seine Ehefrau erstattete Vermißtenanzeige.“ „Hörte man je wieder etwas von ihm?“ „Nichts.“ „Wurden weitere Nachforschungen betrieben?“ „Nein. Seine Ehefrau verstarb siebenundvierzig. Keine weiteren Angehörigen. Das Gut wurde enteignet und Staatsbesitz der DDR. Neue Suchanträge wurden nicht gestellt.“ 31
„Und jetzt ist es reichlich spät dafür, schätze ich“, sagte Urban. „Heute nach dreißig Jahren? Der General war. damals schon ein hoher Fünfziger.“ „Dann wäre er heute hohe achtzig.“ Urban hielt es für unwahrscheinlich, daß Mecklenburg noch lebte. Aber irgend etwas mußte vor kurzem mit ihm passiert sein. Wie wäre sein Name sonst in das Notizbuch eines Londoner Anwalts gelangt? „Wenn Sie noch etwas finden“, sagte er, „bin Tag und Nacht am Empfang.“ „Ich suche weiter.“ „Sollten sie immer noch ein Gespräch unter drei Augen für notwendig erachten, dann komme ich selbstverständlich nach Köln.“ „Vielleicht muß man hier beide Augen zudrücken.“ „Dann schließen wir sie eben.“ „Und verlassen uns auf unseren Tastsinn“, witzelte der Mann vom Suchdienst und war aus der Leitung. Da rennt man durch die Gegend, dachte Urban, und hat keine Ahnung, wie blind man ist. 4. Der Kriegshafen Simonstown liegt am Kap der Guten Hoffnung, Afrikas südlichs tem Zipfel. Der Minister kam mit dem Regierungsflugzeug von der 2000 Kilometer entfernten Hauptstadt Pretoria nach Simonstown. Am Nachmittag versammelten sich in einem neuen zehnstöckigen Gebäude am Rande der Dockanlagen Politiker, Militärs und Techniker. Der Minister hielt eine seiner zündenden Reden. „Mit dieser Unterkunft“, sagte der Minister, „die unseren U-Boot-Fahrern nach hartem Einsatz im Südatlantik, im indischen Ozean und in den arktischen Meeren reserviert ist, 32
haben wir den Ausbau unserer Flottenbasis so gut wie beendet. Hier vom Kap aus, am Schnittpunkt der Weltmeere, kontrollieren wir die meistbefahrenen Schiffsrouten der Welt. Für den Fall eines globalen Konfliktes halten wir hier einen unverzichtbaren Stützpunkt des Westens. – Auch wenn uns unsere Freunde in Europa und Amerika immer mehr im Stich lassen. Angeblich wegen einer Politik, die sie nicht verstehen und die sie eine verabscheuungswürdige Art der Rassentrennung nennen.“ Der Minister griff eine Stimmlage höher und fuhr fort: „Aber für diese Schaumschläger und Schwächlinge in Europa und den USA mit ihrer erschlafften Verteidigungsbereitschaft wird eines Tages ein bitteres Erwachen kommen. Dann nämlich, wenn anderen diese Welt gehört und wenn die Freiheit dahin ist. Wir aber werden unsere Position verteidigen bis zum letzten Blutstropfen. Nicht nur gegen die Schwarzen, die ja immer unfähig waren, dieses wunderschöne große Afrika zu zivilisieren und zu nutzen, sondern auch gegen jene Kräfte, die hinter allem stehen und Afrika ihrem Machtblock eingliedern wollen.“ Der Minister nannte sie nicht beim Namen, aber jeder der Anwesenden wußte, an wen die Warnung gerichtet war. An Moskau und Peking. Applaus brauste auf. Lediglich einige europäische Journalisten saßen mit versteinerten Gesichtern dabei. Ihre Gesichter waren aber weniger Ausdruck ihrer eigenen Meinung, als der Meinung jener Zeitungen und Rundfunkstationen, von denen sie bezahlt wurden. Um den Journalisten die militärische Stärke Südafrikas zu demonstrieren, wurden sie überall herumgeführt. Man schleuste sie durch die Werften und Erweiterungsbauten. Man führte sie sogar hinab ins Befehlszentrum „Silver Mine“. In diesem tief unter Felsen verborgenen Betonklotz waren Tag und Nacht Dutzende von Technikern, Funk- und Com33
puterexperten damit beschäftigt, Meldungen auszuwe rten. Keine Bewegung im See- und Luftraum der südlichen Hemisphäre entging ihnen dabei. * Zwei Tage später lief eines der U-Boote den Stützpunkt Simonstown an. Nach sechswöchigem Wachtörn an der Packeisgrenze zwischen den Prinz-Edward-Inseln und der norwegischen Bo uvet-Insel kam es zerschrammt von Wind und Wetter gleich ins Trockendock. Der Kommandant des Bootes, der achtundzwanzigjährige Kapitänsleutnant van Steen aus Kapstadt, meldete sich unmittelbar nach dem Festmachen- zum Rapport. Der Flottillenchef empfing ihn schon im SimonstownHilton, wie sie das neue Quartier der U-Boot-Leute getauft hatten. Jovial bat der grauhaarige Flottillenadmiral den jungen Kommandanten Platz zu nehmen. „Nun. wie war die Reise?“ erkundigte er sich. „Wieder einmal E-Maschinenausfall“, berichtete der Kommandant bedauernd. Admiral Hendriks fluchte leise. „Unser größtes Problem sind diese französischen U-Boote. Nicht nur, daß die Besatzungen französisch lernen müssen, um sie bedienen zu können, sie taugen auch nichts.“ „Die deutschen U-Boote von Krupp Germania oder Blohm & Voss wären besser.“ „Die Deutschen liefern aber nicht an uns.“ „Sind wir denn ein Spannungsgebiet? Oder sind wir aussätzig?“ Der Admiral lächelte. „Abgesehen davon, daß wir jeden Tag zu einem Spannungsgebiet werden können, mußten sich die Deutschen gewissen Knebelungsverträgen unterziehen. Sie verbieten ihnen U-Boote, Korvetten, Panzer, Raketen und so 34
ihnen U-Boote, Korvetten, Panzer, Raketen und so weiter an Nicht-NATO-Mitglieder zu liefern.“ „Nun“, meinte der junge Kommandant, der lieber ein Boot deutscher Herkunft befehligt hätte, „warten wir die nächste Wirtschaftskrise ab. Wenn ihre Werften unterbeschäftigt sind, werden sie sich weniger hartleibig zeigen. Das ist ein Naturgesetz.“ Der Admiral fand, daß genug über Nebensächliches gesprochen worden sei. „Wie verhält es sich mit dieser XQ-Meldung?“ fragte er. Als XQ-Meldungen wurden alle Funksprüche bezeichnet, die sich mit Eisbewegungen befaßten. Mit der Drift von Eisbergen und Eisplatten aus der arktischen Zone nach Norden. „Eine riesige Scholle hat sich vom Ross-Schelf gelöst und treibt nach Norden“, berichtete Kommandant Van Steen. „Das kommt um diese Jahreszeit doch immer vor.“ „Sie ist ungewöhnlich groß, Herr Admiral“, sagte der Kommandant. „Man kann sie schon einen flachen Eisberg nennen. Abmessung mehrere Quadratkilometer.“ „Das ist ja ein Millionen-Tonnen-Monstrum.“ „Noch nie schwamm so ein Gigant so weit nördlich.“ Sie traten an die Wandkarte. Der U-Boot-Kommandant umriß eine Stelle nahe vierzig Grad Ost und fünfzig Süd, wo er auf die Scholle gestoßen war. „Geschwindigkeit etwa eine Meile“, sagte er. „Dazu kommt dann noch der Coriolis-Effekt“, erklärte der Admiral. „Grundsätzlich wandern Eisberge infolge der Erddrehung nach Westen.“ „Er kann also dicht ans Kap herankommen.“ „Vorausgesetzt, er taut nicht ab.“ „Jetzt, wo noch Winter ist?“ „Weiter beobachten“, murmelte der Admiral. „Wir werden noch ein paar Boote dort zusammenziehen.“ „Ob das genug ist, Herr Admiral“, erlaubte sich der junge Kommandant einzuwenden. 35
Admiral de Hendriks hob erstaunt die buschigen Augenbrauen. „Wie darf ich das verstehen?“ „Man sollte vielleicht Fernaufklärer losschicken.“ „Unnötiger Aufwand, schätze ich.“ Daraufhin brachte der U-Boot-Kommandant eine ergänzende Meldung vor, die er seinem Funkgerät nicht anvertraut hatte, weil er nicht ganz sicher war, ob seine diesbezügliche Beobachtung den Tatsachen entsprach. „Gemäß Vorschrift über Eisbergmarkierungen“, berichtete er seinem Chef, „tauchten wir in der Nacht nach Sichtung der Eisscholle auf, um eine Farbstoffrakete abzufeuern.“ Der Admiral öffnete eine Sandelholzkiste mit Havannazigarren und bot van Steen eine an. Der war eigentlich kein Zigarrenraucher, aber er wollte nicht unhöflich sein. Der Admiral schnitt sich auch eine Partagas zurecht und rollte das Ende zwischen den Lippen feucht, ehe er sie ansteckte. „Und weiter?“ „Wir näherten uns dem Eisberg bis auf Markierungsdistanz, etwa eine Viertelmeile. Die Unterwasserform ließ es zu. Das Echolot zeigte noch vierzig Faden Wasser. Wir schossen die Markierungsrakete und warteten mit laufenden Stoppuhren den Aufschlag ab. Er kam pünktlich. Aber dann glaubten wir das Geräusch eines Flugzeugs zu hören. Aus Nordost näherte sich eine langsam fliegende Maschine mit Propellerturbinenantrieb. Sie flog tief, umkreiste zunächst die Eisscholle und setzte dann zur Landung an.“ „Setzte sie nur an?“ „Sie muß gelandet sein, Herr Admiral“, sagte der U-BootKommandant, „denn das Turbinengeräusch hörte schlagartig auf.“ „Flugzeug mit Propellerturbinen? Was für ein Flugzeug?“ „Mein Erster Wachoffizier, der speziell für Flugzeugerkennung ausgebildet ist, tippt auf eine Transportmaschine. Mindestens viermotorig.“ 36
Der Admiral fand das gar nicht gut. „Und das bei Nacht. Wer landet schon auf so einem Ding und dann nachts?“ „Das fragten wir uns auch.“ Der Admiral machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Telefon. „Da muß ich sofort bei der Luftflotte rückfragen, ob vielleicht ein eigenes Flugzeug…“ Der Admiral hob das Telefon jedoch nicht ab. „Nein, das müßte ich wissen. Das wäre in jedem Fall eine kombinierte Operation gewesen, und davon weiß ich nichts.“ „Ich danke Ihnen, Commander van Steen.“ Der Offizier salutierte lässig. * Der Fliegeroberst kam extra aus Kapstadt herunter. Eine Stunde Autofahrt in der Hitze hatte seine Kehle ausgedörrt. Im Offizierskasino des U-Boot-Stützpunktes brauchte er erst einen Drink. Doch dann kam er zur Sache. „Schnallen Sie Ihren Sicherheitsgurt erst einmal fest, de Hendriks“, riet er dem U-Boot-Chef. „Danke, ich habe ausgezeichnete Seemannsbeine, bin standfest bei jedem Wetter.“ Der Stabschef der Luftaufklärung senkte die Stimme. „Es trifft zu“, berichtete er, „daß aus der antarktischen Region eine gewaltige Eisscholle auf uns zutreibt.“ „Normalerweise kein Grund für einen Südafrikaner, sich aufzuregen“, wandte Admiral de Hendriks ein. „Sechs mal vier Kilometer groß.“ „Also rund fünfundzwanzig Quadratkilometer. Hübsches Stück Eis. Aber immer noch keine besondere Scholle.“ „Unsere Experten verfolgen genau die Drift“, sagte der Fliegeroberst, „und messen die Geschwindigkeit. Sie ist 37
höher als ursprünglich angenommen. Sie beträgt maximal eins Komma fünf Knoten pro Stunde.“ Jetzt pfiff der Admiral zum ersten Mal. „Das nenne ich außergewöhnlich schnell. Muß an der Unterwasserform liegen.“ „Damit ist der Zeitpunkt abzusehen, wann sie sich irgendwo in die Ostflanke des Kaps bohren wird. In zwei Monaten schätze ich. Vielleicht schon in 50 Tagen.“ „So etwas kommt nur alle Jubeljahre einmal vor“, betonte de Hendriks. „Ja, eine recht brenzliche Situation, unter Umständen.“ „Meinen Sie wegen des Zusammenpralls, Oberst?“ Der Fliegeroffizier winkte ab. „Die Experten haben zwar errechnet, daß der Anprall mit einer Energie erfolgen wird, den ein Güterzug mit viertausend Waggons bei einer Geschwindigkeit von hundertfünfzig Stundenkilometern entwickelt, aber unser Kap der Guten Hoffnung scheint mir doch recht massiv, zu sein. Das ist es also nicht, was mich beunruhigt.“ Der Admiral zwirbelte die Enden seiner buschigen Brauen. „Worauf beruhen dann Ihre Befürchtungen?“ Der Fliegeroberst verringerte abermals seine Lautstärke. „Die Eisscholle ist bevölkert“, deutet er an. „Bewohnt, meinen Sie.“ Der Oberst nickte. „Von wem?“ „Ein Fernaufklärer brachte die ersten fotografischen Beweise. Die Leute auf der Scholle sind… leider… Russen.“ Admiral de Hendriks sprang auf und ging mit dem Longdrinkglas aufgeregt hin und her. Er bohrte die freie Linke in die Tasche, hob das Hammerkinn und stieß im skurrilen Kommandoton eines britischen Exerzierfeldwebels heraus, was ihn bewegte: „Das muß unbedingt geheim bleiben, muß das.“ „Ja, vorerst.“ „Bis wir mehr wissen.“ 38
„Das ist auch die Ansicht des Ministers.“ „In diesem Punkt sind wir uns also einig.“ „Völlig.“ „Was sagt denn der Geheimdienst dazu?“ erkundigte sich de Hendriks. „FOCUS hüllt sich wie immer in Schweigen.“ „Ja, damit FOCUS, wenn am Ende was schief geht, nichts damit zu tun hatte.“ Der Oberst winkte mit spöttischem Grinsen ab. „Diesmal werden sie sich nicht raushalten können.“ „Wir uns auch nicht“, sagte der Admiral, und setzte hinzu: „fürchte ich.“ * Paolo war siebzehn Jahre alt. Sein Hobby bestand im Abhören ferner Radio- und Funkstationen. Nachts, wenn die Empfangsbedingungen besonders gut waren, trat er mit der weiten Welt in Verbindung. Nachdem er die KW-Taste seines Gerätes ge drückt hatte, hörte er zunächst das rasche Tüten eines Schiffsfunkers. – Er drehte ein wenig weiter. Ein Südseesender berichtete in Französisch über Thunfischfang in der Lagune. Er drehte weiter. Sein modernes KW-Gerät hatte selbstverständlich Bandspreizung, die es ermöglichte, eng beieinanderliegende Kurzwellensender zu entzerren. So war jeder für sich klarer zu empfangen. Dazu kam noch die Kurzwellenlupe. Man brauchte sie, um die Frequenzen haargenau ablesen und einstellen zu können. Der siebzehnjährige Italiener Paolo Pirandese in Neapel fing mit seiner hohen Antenne Radio Peking und Radio Montreal ein. Er bekam auch Moskau und Bagdad, Tokio und Caracas. Am besten bekam er südafrikanische Frequenzen. Deshalb spezialisierte er sich auf sie. 39
Paolo Pirandese war ein sogenannter DXer und arbeitete mit allen gängigen Kürzeln. Er verwendete Begriffe wie OM, SWL oder YL als entstammten sie seiner Muttersprache. In dieser Nacht, gegen 02 Uhr, fing der Kurzwellenfan in Neapel einen interessanten Funkspruch auf. Er wurde offenbar von einem südafrikanischen Militärflugzeug abgesetzt und enthielt Meldungen über eine nach Nordwesten treibende Eisscholle, auf der Soldaten die russische Flagge gesetzt hatten. Weil in den Zeitungen nichts davon stand, nahm Paolo Pirandese an, daß er durch Zufall eine im Klartext durchgegebene Geheimmeldung aufgeschnappt hatte. Er bedauerte nur, daß er sich diese Meldung nicht per Postkarte vom Absender bestätigen lassen konnte, wie das unter DXern üblich war. Aber irgend etwas beschloß er mit dieser Meldung anzufangen, und wenn er nur seinem Freund Alessandro, dessen Vater Redakteur bei der Zeitung Il Giorno war, davon erzählte. „Das ist eine Ente“, lautete Alessandros Fachurteil am nächsten Morgen. „Was ist eine Ente?“ „Eine beabsichtigte Falschmeldung.“ „Vielleicht eine Ente“, erwiderte Paolo daraufhin, „jedenfalls war der Empfang glasklar.“ 5. „Darf man vielleicht erfahren, wohin die Reise geht?“ fragte Red Morley den konservativ gekleideten Gentleman neben sich im Fond des Jaguar. Man sah nicht viel von ihm, denn er trug eine dunkle Brille, die sein Gesicht zu einem Drittel verdeckte. Statt einer Antwort deutete der Mann zum Fenster hinaus. 40
„Sie meinen, als Engländer müsse ich das wissen“, bemerkte Morley. „Als Engländer und als Segler“, ergänzte sein Begleiter. Es war später Nachmittag, die Sonne stand tief über einer Kette bewaldeter Hügel. Sie fuhren auf die Sonne zu. Also ging es nach Westen. Von London aus waren sie immer nur nach Westen gefahren. Seit vier Stunden schon. Sie hatten etwa dreihundert Kilometer zurückgelegt und noch immer keine Küste erreicht. Der Chauffeur hatte alle größeren Städte gemieden. Sie waren immer nur durch kleine Ortschaften gekommen mit Herbergen im Tudorstil. Ab und zu sah man auch einen Landsitz versteckt zwischen Seen und Wäldern. Doch allmählich änderte sich das Bild der Gegend. Sie überzog sich mit den natürlichen Tarnfarben der Natur, mit dem Rot der Heide, mit dem Grün des Ginsters. Sie rollten durch felsige Täler, die von Bäumen und Buschwerk überwuchert waren. Später, bei der Abfahrt von einem Hügel, tauchte plötzlich die Küste auf, wild zerklüftet und buchtenreich. Ein Adler schwebte hoch im Aufwind. Das war Cornwall. Eine Welt für sich, wie die Engländer sagten. „Cornwall“, murmelte der Anwalt. „Na endlich hat es geklingelt“, bemerkte der Begleiter, mit dem Morley die Hälfte einer Handschelle verband. Morley versuchte immer wieder ein Gespräch zu beginnen. Es war jedoch äußerst mühsam. „Schön“, sagte Morley, „die Reise geht nach Cornwall. Darf man vielleicht hören, was uns dort erwartet?“ Der mit der Brille lachte leise in sich hinein. „Sie sind doch Akademiker, Morley.“ „Was hat das mit meiner Frage zu tun?“ „Von Akademikern nimmt man an, daß sie denken können. Von Juristen ganz besonders. Schätze, das kleine Ein41
maleins ist Ihnen noch geläufig. Also dann zählen Sie doch zusammen.“ „Was bitte?“ „Ihre Fehler.“ „Wer macht keine Fehler? Man macht ständig welche. Im Geschäft, im Privatleben, in der Gesellschaft, im Straßenverkehr.“ „Fehler im Sinne von Unregelmäßigkeiten.“ „Da bin ich mir keiner Schuld bewußt.“ „Haben Sie nicht gegen die Interessen eines Klienten gehandelt, der Vertrauen in Sie setzte und Sie fürstlich honorierte. Haben Sie ihn nicht hintergangen, Morley?“ Der Anwalt ahnte längst, um was es ging. Er war sogar ziemlich sicher, daß es sich um die Reise nach Prag handelte. „Ich bin mir keiner Schuld bewußt“, wiederholte er. „Nun, man wird sehen“, sagte der Gentleman und steckte sich eine Zigarette an. Zum Glück hatte er die Rechte frei. Geschickt brachte er die holländische Filter einhändig zum brennen. Gegen Ende der fünften Stunde, als sich die Nadel der Tankanzeige schon bedenklich der Reserve näherte, bog die Limousine von der Straße ab und rollte auf eine einsame, von bewaldeten Hügeln umschlossene Bucht zu. Oberhalb der Bucht stand ein altes schloßähnliches Gebäude mit Mauern, Tor, Turm und Wehrgängen. Sogar eine kleine Kapelle hatte man angebaut. Aber alles wirkte verkommen und verfallen. Nur ein Flügel schien bewohnbar. Lila Clematis überwucherten seine Fachwerkfront. Im Innern der alten Gemäuer war es feucht. Es roch nach Moder, nach Gruft und Tod. Der Raum hatte ein vergittertes, spitzbogiges Fenster und eine eisenbeschlagene Tür aus armdicken Schiffsplanken. Trotzdem pfiff der Wind durch die Ritzen. 42
Bevor Red Morley Fluchtmöglichkeiten analysierte, machte er eine Bestandsaufnahme. Was er fand, war nicht viel. Armbanduhr, Taschentuch, Haarbürste, Schlüsselbund, Brieftasche mit Driver-Licence, drei Visitenkarten und neunzig Pfund in Scheinen. Nicht einmal einen Kugelschreiber hatte er bei sich. * Als sie ihn einen Tag später abholten und über den Hof in eine Art Kellergewölbe führten, fühlte sich Morley geschwächt von Hunger und Durst. Im Keller stand ein Tisch und ein alter Sessel. Im Sessel kauerte ein Mann, den Morley bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Auf dem Tisch zischte eine weißbrennende Karbidlampe. Der Mann, ein dunkelhaariger Spaniertyp, ließ sich Zeit. Erst ging er noch die Papiere eines dünnen Schnellhefters durch. Schließlich legte er ihn weg und blickte auf. „Mister Red Morley?“ „Dumme Frage.“ „Antworten Sie nur mit ja oder nein, es sei denn, ich ve rlange ausführliche Angaben. Sie sind Anwalt, zugelassen bei allen Gerichten, Mitglied der Anwaltskammer von Großlondon. Seit dem Jahre einundsiebzig.“ „Genau.“ „Sie haben den Auftrag übernommen, in Prag einen bestimmten Wertgegenstand zu übernehmen, ihn nach England zu bringen und in der Chippenham-Anlage in einen Safe zu legen.“ „Richtig.“ „Das Honorar dafür betrug zwanzigtausend Pfund. Das Honorar wurde an Sie bezahlt.“ Morley nickte. „Eine Woche später erhielten Sie einen Anruf und wurden unter Angabe des Kennwortes aufgefordert, das Prager Ku43
riergut an einem bestimmten Ort zu bestimmter Stunde dem neuen Besitzer auszuhändigen.“ „Was auch geschah.“ Ohne daß der Mann Stimmlage oder Gesichtsausdruck veränderte, sagte er: „Leider mit völlig unzureichendem Inhalt.“ „Nicht mein Problem“, verteidigte sich Morley. „Wir sind da anderer Ansicht, Mister!“ „Der Inhalt war mir nicht bekannt.“ Morley traf ein Blick aus schmalen Augen. „Vielleicht doch.“ „Wollen Sie mir unterstellen…“, setzte Morley an, wurde aber mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht. Der Dunkelhaarige versuchte die Sache weiter zu präzisieren: „Hat man Sie in den letzten Wochen beobachtet, Morley?“ „Nicht daß ich wüßte.“ „Kann außer Ihnen jemand am Safe in Chippenham gewesen sein?“ „Die Anlage ist eine der sichersten der Erde.“ Der Dunkelhaarige fixierte Morley jetzt. Jedes Wort betonend, fragte er: „Haben Sie die Dose geöffnet, Morley?“ „Wie käme ich dazu?“ „Haben Sie mit irgend jemandem über diesen Auftrag gesprochen?“ „Nein.“ „Oder Notizen gemacht?“ „Nicht eine Silbe.“ „Wußte Ihre Frau von dieser Reise nach Prag?“ „Ich erklärte ihr, ich hätte in Schottland zu tun.“ Der andere kritzelte etwas auf ein Blatt Papier. „Haben Sie Schulden, Morley, Verpflichtungen?“ „Nur im Rahmen des üblichen.“ Der andere legte den Bleistift weg und stand ruckartig auf. „Sie haben mich“, sagte er fast freundlich, „nach Strich 44
und Faden belogen, Mister Morley. Wir werden Sie jetzt anders anpacken müssen. Wir werden Sie an den Lügendetektor hängen, und dann werden wir uns die Gnädigste vo rnehmen.“ Morley erblaßte. Sein Mund war trocken wie gebackener Sand. „Lassen Sie Zelda aus dem Spiel“, bat er leise. * Von Foltermethoden hielten sie offenbar nichts. Sie setzten Morley lediglich auf Nulldiät, die aber durch den Umstand, daß er nicht einmal klares Wasser zu trinken bekam, noch verschärft wurde. Als sie ihn vierundzwanzig Stunden später aus seinem Verlies holten, wirkte er schon wie ein Penner aus der UBahn. Seine Bartstoppeln sprießten, seine Wangen waren eingefallen, die Lippen, der ganze Mund bis zum Rachen ausgedörrt. Sein Anzug war verdreckt, das Hemd hatte dunkle Schwitzränder. Er fühlte sich klebrig und schwiemelig von oben bis unten. Entkräftet wankte er über den Hof in den Kellerraum. ,,’n Abend, Sir“, begrüßte ihn ein neuer Mann. Ein Typ dänischer Landpfarrer, hager, blond, knochiges Gesicht. Diese Organisation, was immer sie auch betrieb, hatte jedenfalls keinen Personalmangel. Morley wurde weich in den Knien. Unaufgefordert sackte er auf den Hocker. „Bisher“, erklärte der neue Gentleman, „war unser Verhalten Ihnen gegenüber ausgesprochen soft, Mister Morley. Wir können aber auch anders. – Nun, Sie haben uns gebeten, Ihre Ehefrau nicht in die Affäre hineinzuziehen. Das werden wir befolgen. Als Gegenleistung erwarten wir Ihre Mitarbeit. Oder genau gesagt, daß Sie es von jetzt ab ein wenig strenger mit der Wahrheit halten.“ 45
Der Skandinavier setzte sich auf den Tisch, kreuzte die Füße und blätterte in dem bekannten Schnellhefter. „Kann ich was zu trinken haben“, flüsterte Morley. Der Gentleman ging nicht darauf ein. „Sie sind Red F. Morley, wohnhaft London, Mitglied der Anwaltskammer, Mitglied im Royal Yachtclub, im Golfclub von Mittenham, dem Reiterverein, dem Aeroclub…“ Morley stöhnte. „Das hatten wir doch alles schon… Sir.“ Der andere nickte. „Schön, machen wir dort weiter, wo Sie versuchten, uns die Unwahrheit zu sagen.“ Offenbar stützte sich der Neue bei seinem Verhör auf Unterlagen, die ihm sein Vorgänger geliefert hatte. „Mister Morley, Sie haben die Ihnen übergebene Dose nicht geöffnet, bevor Sie sie in den Safe legten. Bleiben Sie dabei?“ Morley wußte, daß er nicht zögern durfte. Laut und deutlich sagte er: „Ja.“ Nun griff der hagere Blonde in den Schnellhefter und entnahm ihm einen nackten weißen Papierbogen. Auf dem Bogen war lediglich ein daumenbreiter, durchsichtiger, leicht gelblicher Folienstreifen aufgeklebt. „Dieser Sicherheitsstreifen“, erklärte er Morley, „ve rschieß die Dosenränder. Die Folie kann nur einmal verwendet werden. Bei mehrmaligem Abziehen treten vorgeprägte Sicherheitsstrukturen hervor. Hier sehen Sie die Vierecke, Kreise und Wellenlinien. Die Folie wurde also dreimal abgezogen und wieder aufgeklebt. Und mindestens einmal von Ihnen, Mister Morley.“ Morley starrte auf das Blatt mit dem Beweisstück, reichte es zurück und nickte kaum merklich. „Ich wollte wissen“, sagte er, „ob ich auch keine krimine lle Handlung vorgenommen hatte. Deshalb untersuchte ich den Inhalt.“ 46
Sein Gegenüber hakte sofort nach. „Und was fanden Sie?“ „Das wissen Sie doch.“ „Von Ihnen will ich es hören“, befahl eine überraschend schneidende Stimme. „Nun“, setzte Morley an, „ich mußte den Inhalt für ein Computerband halten, für eine Magnetaufzeichnung.“ Der andere wartete, aber es kam nichts mehr. „Warum“, bohrte er weiter, „erwähnen Sie die Mikrofilme nicht, Mister Morley? Ich will Ihnen sagen, warum Sie sie nicht erwähnen. Ihr Kanzleiarchiv wird zur Sicherheit mikroverfilmt. Sie verfügen also über ein Mikrofilmlesegerät. Mit diesem Gerät haben Sie die geheimen Unterlagen in dieser Dose selbstverständlich studiert.“ „Das ist…“ „… die Wahrheit“, ergänzte der andere. „Sie kennen den Inhalt.“ „Aber… ich habe ihn nicht verstanden.“ Der Blonde lachte kopfschüttelnd. „Soviel haben Sie begriffen, daß es sich um Generalstabspläne handelt, um strategische Ausarbeitungen, um langfristige Perspektiven, die künftigen Eroberungszüge einer Weltmacht betreffend. Ferner um ihre operativen Ziele in aller Welt und nicht zuletzt um einen gigantischen Zangenangriff, wie er in der Kriegsgeschichte noch nicht vorkam.“ „Ich habe nichts davon verstanden“, beteuerte Morley immer wieder. „Mann, Sie können doch Karten lesen, oder?“ „Ich verstand die Texte nicht.“ „Aber ein paar Namen haben sich Ihnen gewiß eingeprägt.“ „Zwangsläufig“, gestand Morley. Der Mann, der das Verhör führte, kam wieder zu der alten Fragenfolge zurück: „Hat man Sie in den letzten Wochen beobachtet?“ „Ja, ich hatte den Eindruck.“ 47
„Wann und wo?“ „Eigentlich überall. Mal in der City, mal beim Golfen, mal am Wochenende beim Segeln.“ „Vermissen Sie Schlüssel?“ „Ich hatte meinen Schlüsselbund einmal verlegt, fand ihn aber am nächsten Tag wieder.“ „Haben Sie mit irgend jemand über Ihre Reise nach Prag gesprochen?“ Morley nickte betreten. „Zelda, meine Frau fragte, woher das Geld auf dem Konto stamme. Sie war in Sorge, daß ich einen neuen Kredit aufgenommen haben könnte. Also sagte ich es ihr.“ „Alles?“ „Das Kuriergut erwähnte ich nicht.“ „Machten Sie Aufzeichnungen?“ „Nein.“ „Fertigten Sie vielleicht eine Aktennotiz an?“ Morley erklärte, daß er nicht die Absicht habe, das empfangene Honorar zu versteuern. „Ist Ihnen der Name Franz Lothar von Mecklenburg ein Begriff?“ fuhr der andere fort. Aus taktischen Gründen beschloß Morley, diesmal nicht zu lügen. „Ich glaube, ich las ihn mehrmals auf dem Mikrofilm.“ „Notierten Sie sich den Namen?“ „Ich glaube nicht.“ „Vielleicht unbewußt, automatisch, wie ein Anwalt eben alles mitschreibt, was für ihn von Wichtigkeit ist.“ „Ich glaube nein.“ „Er glaubt nein“, höhnte der andere. „Er glaubt nein. – Mann, Sie haben ja keine Ahnung was hier läuft.“ „Allerdings.“ „Diese Sache wird das Gleichgewicht in der Welt verändern.“ „Und das stört Sie, Sir“, konterte Morley. 48
„Es stört nicht nur, es vernichtet uns“, sagte der Mann, der aussah wie ein Wikinger. Morley kapierte noch immer nicht genau, was man von ihm wollte. „Ich werde schweigen“, versicherte er, „wie ein Stein.“ Jetzt lachte der andere hellauf. „Sie sind doch ein kleines Licht, Morley“, sagte er, „das in einer Sekunde ausgelöscht ist. Leider müssen wir befürchten, daß der Inhalt dieser Dose von einer anderen Gruppe verfälscht und manipuliert wurde. Wir blicken noch nicht ganz durch.“ „Und wie lauten die Konsequenzen für mich?“ wollte Morley wissen. Der andere steckte sich eine Zigarette an. „Vielleicht“, sagte er, „geschieht Ihnen gar nichts.“ „Und meiner Frau?“ „Der geht es noch relativ gut.“ „Sie dient Ihnen als Lockspitzel.“ „So ist es, als Fliegenleim.“ „Mein Gott, wo bin ich da bloß hingeraten.“ „Am schnellen großen Geld hängt immer ein gewisses Risiko“, erklärte der Mann, der ihn verhörte. „Kann sein, daß Sie mit heiler Haut davonkommen, Morley. Sie und Ihre hübsche Frau. Kann aber auch sein, daß wir Sie beseitigen müssen.“ „Zelda, mein Gott, sie kann doch nichts dafür, sie hat mit allem nichts zu tun.“ Da legte ihm der Landpfarrertyp wie besänftigend die Hand auf die Schulter. „Eines verspreche ich Ihnen, Morley“, sagte er. „Wenn es notwendig ist, dürfen Sie und Ihre Frau gemeinsam sterben. Und wir werden Sie nicht lange quälen. Es wird kurz und schmerzlos sein.“ „Das ist äußerst trostreich“, antwortete Morley. Er wurde über den Hof zurück in seine Kerkerzelle gebracht. Obwohl er ihnen alles gesagt hatte, setzten sie die 49
Hungerkur an ihm fort. Er konnte sich nicht erklären, warum. Er fragte sich immer wieder Tag und Nacht, was sie noch mit ihm vorhätten und welches Rädchen er in welcher Maschine darstellte. Nur eines wußte er: Es handelte sich um eine sehr geheimnisvolle Maschinerie. Wenn diese Maschine Zeiger hatte, dann standen sie gewiß auf Sturm, und wenn sie Hebel und Gestänge hatten, dann wirkten diese bis in ferne Länder. In seinen wirren Fastenträumen wuchs sich die Maschine zu einem Ungetüm aus, das von Cornwall bis zu den Sternen reichte. 6. Sie hatten ihn monatelang beobachtet. Sie hatten bis zuletzt gehofft, er würde sie zu einem sowjetischen Agentenring führen. Aber Boris war wachsam wie eine Alarmanlage und tat ihnen den Gefallen nicht. Seit dem Frühsommer war er überhaupt nicht mehr aktiv. Er hing in München herum, fuhr zum Wochenende in die Berge und besuchte von Dienstag bis Donnerstag jeden Abend eine andere Bar. Er machte sich an wildfremde Leute heran, an Schauspieler, an Maler, an Reporter von der Zeitung, aber mit Sicherheit an keinen, der ihm Informationen liefern konnte. Seine Beschatter hatten schon den Verdacht, Boris sei von seiner Zentrale abgehängt worden. Der Umstand jedoch, daß sie ihn nicht nach Moskau zurückriefen, ließ den Verdacht aufkommen, daß sie Boris opferten. Offenbar wollten sie dem Gegner einen ausgebrannten Mann hinwerfen, damit er den Rachen vollbekam und nicht wie ein hungriger Löwe scharf auf andere Beute wurde. Sie waren, was Boris betraf, echt unsicher. Aber dann traten Umstände ein, die sie zum Zugreifen zwangen. 50
Als sie ihn um 23 Uhr aus dem La Cave herausholten, kam es für Boris so überraschend wie eine Hagelbö an einem strahlenden Sonnentag. Boris schüttelte sich wie ein nasser Hund und sagte: „Zum Teufel, was wollen Sie von mir? Ich bin deutscher Staatsbürger und kenne meine Grundrechte. Zeigen Sie mir den Haftbefehl.“ „Wir nehmen Sie ja nur fest“, lautete die Antwort des Kriminalbeamten. „Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen. Was werfen Sie mir vor?“ Die Beamten lächelten. „Nur, daß Sie einen gefälschten Paß haben, Sotschenko, weil Sie nämlich Russe sind.“ Daraufhin schwieg Boris erst einmal. Doch plötzlich hatte der Festgenommene seinen großen Ausbruch. Er spielte den wi lden Mann. Er zauberte eine Pistole in die Hand und drohte ein Schlachtfeld anzurichten, wenn sie ihn auch nur berührten. Er griff sich eine Blondine vom Nebentisch, riß sie als lebenden Schutzschild vor sich und verließ mit dem Kugelfang das Lokal. „Das ist meine Geisel“, schrie er und preßte ihr die Waffe an die Schläfe. „Ich töte sie, wenn man mir folgt.“ Bis zu diesem Moment sah es aus, als würde er ihnen entwischen. Boris hatte nur einen Fehler gemacht. Er hatte die falsche Dame ausgewählt. Er hätte die Rothaarige nehmen sollen und nicht die Blonde. Die gehörte nämlich vor zwei Jahren noch zur deutschen Olympiaauswahl für modernen Damenfünfkampf. Als sie sich von ihrer Überraschung erholt und ihre Chancen abgewogen hatte, packte sie Boris’ rechten Arm, der die Waffe hielt, und brachte den Russen mit einem perfekten Überschlag zu Boden. Da lag er nun zwischen Tür und Theke auf dem Spannteppich. Ein Polizist schob seine Kanone blitzschnell mit dem Fuß weg. 51
„Verdammte Nazis!“ schrie Boris. „Wo bleiben da die Menschenrechte. So was würde in Moskau keiner mit mir machen.“ „Deswegen ist das Leben in der Sowjetunion ja auch so wunderwunderschön“, meinte der andere Beamte. Handschellen rasteten um Boris Gelenke. Sie führten ihn die Treppe hinauf zur Maximilianstraße. Dort schoben sie Boris in einen wartenden Polizei-BMW. „Was machen wir jetzt mit ihm?“ wollte einer der Beamten wissen. „Ruf diese Nummer an. Die sind scharf auf ihn.“ „Wem gehört die Nummer?“ „Dem Bundesnachrichtendienst“, sagte der Kriminalkommissar. * Der BND-Agent mit der Codenummer 18, Robert Urban, legte den Hörer des grauen Telefonapparates in die Gabel und blickte auf den Mann, der soeben sein Büro betrat. „Das war der letzte“, sagte Urban, „jetzt habe ich alle durch.“ „Fast alle“, verbesserte ihn Oberst Sebastian, der nur glücklich war, wenn er es besser wußte. Was selten genug vorkam. Aber er war schon zufrieden, wenn er es nur ein bißchen besser wußte. Urban zählte seine Kontakte der Reihe nach auf. „Die Franzosen haben nichts mit der Sache zu tun, die Belgier nicht und die Holländer nicht. Die Skandinavier wissen nichts und die Spanier, die Italiener, die Portugiesen, die Griechen und die Türken melden Fehlanzeige.“ Der alte Oberst trat ans Fenster und blickte auf die ablaubenden Ulmen. „Und die Amerikaner, was sagen die?“ Urban stand auf und goß Kaffee nach. 52
„Bei der Erwähnung des Namens Mecklenburg haben sie kurz geschluckt.“ Sebastian grinste schadenfroh. „Weil er ihnen damals entwischte.“ „Ja, sie hätten ihn zu gerne kassiert.“ „Kassiert und benutzt.“ „Sein brillantes Gehirn.“ „Mecklenburg war der größte Denker auf dem Gebiet militärischer Strategie, dem ich je begegnet bin“, versicherte der Oberst. „Selbst wenn Moltke, Gneisenau und Schlieffen noch lebten, er würde sie alle ausstechen. Er würde jede Simultanpartie blind gegen sie gewinnen. Er hat damals einundvierzig präzise den Ablauf des Rußlandfeldzuges vorhergesagt. Ich habe seine Studie gelesen. Sie war noch genauer als die späteren Frontberichte, könnte man sagen. Deshalb fiel er beim OKH auch in Ungnade und wurde kaltgestellt. Als Dozent an einer Kriegsschule in Holstein bildete er junge Infanterieoffiziere aus. Das ist dasselbe, als hätte man Chirurgen vom Kaliber eines Sauerbruch dazu verurteilt, Krankenschwestern das Anlegen von Fingerverbänden beizubringen.“ „Ja, deshalb hätten die Amerikaner ihn gerne gehabt“, fügte Urban hinzu. „Weil ein gutes Gehirn noch immer einen sehr guten Computer schlagen kann.“ Sebastian drehte sich um. Jetzt hatte er das Frühlicht im Rücken. Sein faltiges Gesicht, das sich immer deutlicher von Dackel in Richtung alter Boxerhund veränderte, lag im Schatten. „Keiner weiß also etwas über Franz Lothar von Mecklenburg.“ „Mit Ausnahme jener Leute, die ihn letztlich in die Hand bekamen.“ „Die Russen.“ „Der KGB.“ 53
Das Telefon summte. Urban hob ab, nahm eine Durchsage entgegen und legte wieder auf. „Boris ist verhörbereit.“ „Das war gute Arbeit, daß Sie ihn so schnell hatten“, lobte der Alte. „Man braucht nur die richtigen Leute“, erklärte Urban bescheiden. „Nun, die Vorarbeiten haben Sie geleistet. Sie haben den Burschen seit Monaten nicht mehr aus den Klauen gelassen.“ „Ich ließ die Vorarbeit leisten“, schränkte Urban seine Beteiligung noch weiter ein. „Im letzten Jahr habe ich selbst keine Stunde auf ihn verwe ndet.“ „Nun, Sie führten ihn an der langen Leine.“ „Ich hätte gerne mehr Zeit für das Sammeln von Beweisen gehabt.“ „Nehmen Sie sich die Zeit jetzt“, schlug Sebastian vor. „Hoffentlich kommt was dabei heraus.“ Der Oberst stand schon an der Tür und hatte den Griff in der Hand. „Das ist meine geringste Sorge“, sagte er. „Aber angenommen, dieser Londoner Anwalt ist mit seiner Sekretärin nur eben mal in die Irische See gesegelt, dann haben wir uns von MI-5 ganz schön verrückt machen lassen, für nichts und wieder nichts.“ „Vorher weiß man das nie.“ „Einsatz für die NATO-Freunde kostet meistens einen Haufen und bringt null Mark null Pfennig ein.“ „Aber die Ehre“, betonte Urban, „die Ehre, ihnen helfen zu dürfen.“ „Für die kann man sich nichts kaufen.“ Der alte Oberst gewann bisweilen einen überraschend klaren Durchblick, auch wenn er oft so tatterig wirkte, als hätte er Mühe, im Badewasser die Seife zu erwischen.
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Urban brauchte nicht weit zu fahren, nur vierzehn Kilometer über Land nach Süden. Auf einer Anhöhe am Ostufer des Starnberger Sees lag das gut gesicherte Gelände mit dem Haus. BND-intern nannten sie das Sanatorium Paradiso, abgekürzt S.P. Hier tankten im Einsatz lädierte Agenten wieder neue Lebensfreude. Hier wurden Feindagenten in langwierigen psychologischen Prozessen erst auseinandergenommen, dann wieder aufgebaut und umgedreht. Für viele war es wirklich das Paradies. Für einige aber auch die Hölle. Urban gab mit den Halogenscheinwerfern seines BMW 633 CSi ein Blinkzeichen, das ihm das Tor öffnete. Er rollte in den Park und den gewundenen Weg hinauf bis zur Villa. Unter den Rädern des BMW knirschte dürres Laub. Oben erwartete ihn der Chefpsychologe. „Na, wie sieht es aus?“ fragte Urban. „Netter Kerl, nur etwas stupide.“ „Das sind sie alle. Nett, aber stur.“ „Seien Sie vorsichtig, Bob“, riet der Arzt. „Boris ist auf der einen Seite hart im nehmen, auf der anderen empfindsam wie eine Mimose.“ „Wie alle, die sich für verkannte Genies halten.“ „Ein falsches Wort, und er ist tief beleidigt.“ „Jesses Maria“, seufzte Urban, „unsereinen, wenn die uns zu fassen kriegen, hängen sie zur Begrüßung erst einmal an zehntausend Volt Hochspannung.“ Sie gingen in das Büro des Psychologen, wo eine Reihe von Fernsehmonitoren das Innere der Appartements zeigte. Die Zimmer waren bequem eingerichtet, aber die Gitter vor den Fenstern redeten eine deutliche Sprache. Es handelte sich um Gefängnisse, wenn auch um feudale. Der Psychologe deutete auf den linken Bildschirm. „Das ist eine finnische Spionin, die der Verfassungsschutz in Düsseldorf fing und an uns überstellte.“ „Danke, interessiert mich nicht.“ 55
Urban stellte Bildschirm vier schärfer ein. „Boris Sotschenko“, murmelte er. „Er war einmal ein gefährliches Tier. Dann stutzte man ihm die Krallen. Und jetzt spielt er nur noch den Wilden.“ „Ja, er ist immer noch wütend. Er rast auf und ab wie ein Tiger im Käfig.“ „Der hat schon ganz andere Gefängnisse von innen gesehn“, sagte Urban. „Der tut nur so. Im Moment macht er auf entrüstet. Genaugenommen ist er ein abgeklärter Profi, den nichts aufregt, egal wie man ihm kommt, ob freundlich oder brutal. Er weiß, was er wert ist, und daß er sich immer irgendwie verkaufen kann.“ „Er wird Sie nach Strich und Faden belügen“, warnte der Psychologe. „Mag sein“, antwortete Urban, „aber mir ist einer, der lügt und die Hintergründe kennt, lieber, als zwei, die die Wahrheit sagen und keine Ahnung haben.“ Urban beobachtete Boris etwa zehn Minuten lang und ve rsuchte sich auf ihn einzustellen. Dann stand er auf. „Packen wir es, Doktor“, sagte er. * Urban trat ein. Hinter ihm fiel die Tür zu. „Hallo Boris“, rief er. „Ich bin nicht Boris“, antwortete der Russe patzig. Urban packte ihn gleich richtig. „Wollen wir hier eine Märchenvorstellung ablaufen lassen oder einen Dokumentarfilm, Sotschenko?“ Damit kam der Fahrplan des Russen offenbar völlig durcheinander. „Sie haben meine Festnahme veranlaßt, Dynamit.“ „Nur gewünscht.“ Sotschenko fuhr mit gespreizten Fingern durch sein extrem kurzes Haar. Er war nervös. 56
„Verstehe ich nicht. Das ist doch gegen alle Regeln.“ „Der Vernunft“, ergänzte Urban, „meinen Sie.“ „Ich bin doch so unergiebig wie eine Rosenfarm auf dem Mond. Geheimdienstmäßig gesehen.“ Urban lächelte verständnisvoll. „Warum schwitzen Sie dann, Boris.“ „Ich?“ „Wie eine Speckschwarte in der Sonne.“ Der Russe wischte sich über die hohe Stirn. Seine Hand war naß. „Dachte Sie bluffen, Oberst Urban.“ „Doch jetzt noch nicht, Boris.“ Der Russe riß eine Zigarette aus der Packung, steckte sie an, rauchte hastig. „Ein Verhör also. – Mich können Sie im Kreis herum verhören. Da kommt nichts dabei heraus.“ „Boris“, sagte Urban. „Sie kennen doch das Geschäft. Würden Sie denn, der Major Boris Sotschenko von der KGB-Zentrale in Moskau, einen Agenten verhören? Gewiß nicht. Dazu hat man Experten. Ich bin nicht der Verhörexperte des BND.“ Der Russe drückte nachdenklich die Zigarette aus. „Sie sind noch schlimmer als jeder Dreckskerl von einem Verhöroffizier.“ „Kommt darauf an“, meinte Urban zweideutig. „Erst der Honig, he, dann die Giftspritze.“ „Ich will nur, daß Sie sich erinnern.“ „Hab mein Gedächtnis verloren“, erklärte Boris verärgert. „Ja, es ist wie bei einem Tonbandgerät. Man nimmt die volle Kassette heraus, schiebt eine neue hinein.“ „Im Moment ist bei mir eine leere drin.“ Urban hatte etwas auf der Zunge, aber es wäre persönlich gewesen und hätte den Russen vielleicht beleidigt. Das wi ederum hätte Zeit gekostet. Unter Umständen sogar Tage. „Boris“, fuhr Urban fort, „Sie wissen, daß Sie immer eine Chance haben, hier herauszukommen.“ 57
„Tatsächlich?“ „Auf dem Tauschwege, falls man Sie drüben noch haben will.“ „Oder falls ich für Sie arbeite.“ „Nur ein bißchen Cooperation, Boris“, schlug Urban vor, „und man kann über eine Menge Erleichterungen reden. Es gibt hier nämlich Kategorien wie bei den Hotels. Von einem Stern bis Superluxusklasse.“ Der Russe sprang nicht darauf an. „Ich schlafe auch auf dem Fußboden. Mit einer Scheibe Brot und einer Tasse Wasser pro Tag bin ich schon zufrieden.“ „Aber nicht glücklich“, schränkte Urban ein. Er redete so lange um den Brei, bis Boris neugierig wurde und endlich wissen wollte, weshalb sich ein Spitzenmann wie Urban um ihn bemühte. „Was kann ich für Sie tun, Oberst?“ fragte er großzügig„Eine alte Geschichte, Boris.“ „Das mit Kain und Abel ist auch eine alte Geschichte. Sogar die ist bei uns noch streng geheim.“ Urban gab ihm ein Stichwort. „Kriegsende fünfundvierzig.“ Boris wirkte so erleichtert, daß er zu witzeln begann. „Ja, das ist allerdings Adam und Eva. Wie war das eigentlich mit dem Sündenfall. Wer hat nun wen vernascht? Er sie oder sie ihn?“ Offenbar war Boris locker genug, daß er es schlucken konnte. Urban kam zur Sache: „Der Mann heißt Franz Lothar von Mecklenburg, Generalmajor. Lange Zeit rechte Hand von Stabschef Halder.“ Boris starrte ihn an. „Nie gehört von dem.“ Er log, aber nicht überzeugend. Sein Verhalten verfolgte die Taktik, erst einmal mehr zu erfahren. Urban erzählte ihm einiges über Mecklenburg. „Er geriet in amerikanische Gefangenschaft. Konnte an 58
den Schweriner See auf sein Gut fliehen. Dort kassierte ihn die Rote Armee. Er kam nach Moskau. Einen Kopf wie seinen konntet ihr gut gebrauchen.“ „Wen wundert’s. Das war so üblich damals. Wissenschaftler, Ingenieure, alles wurde ausgepreßt.“ „Nur soviel“, fragte Urban. „Lebt Mecklenburg oder ist er tot?“ Der Russe kniff ein Auge zu. „Nur das?“ Boris ließ den Rauch der Zigarette vor dem Gesicht hochsteigen. Doch der Tarnschleier lichtete sich rasch. „Nur das“, bestätigte Urban. Boris schien zu überlegen, was Urban damit anfangen konnte und was für ihn heraussprang. Dann nickte er. „Tot“, sagte Boris. „Mecklenburg ist tot“ „Sicher?“ „Bekam sogar ein Staatsbegräbnis. Er ist Bürger der Sowjetunion geworden.“ „Wann war das?“ „Vor ein paar Jahren. Irgendwo in Westsibirien. Hübsche kleine Stadt Petropawlowsk, glaube ich. Angenehm zu leben dort. Universität et cetera. Nur ein bißchen kalt.“ „Im Winter“, ergänzte Urban, um irgend etwas zu sagen und den Fluß des Gesprächs vor dem Stocken zu bewahren. „Auch im Sommer.“ „Gewiß“, fuhr Urban fort, „las Mecklenburg an der Universität nicht über deutsche Literatur des frühen Mittelalters.“ „Das ist kein Fach an Armeehochschulen.“ „Er lehrte Taktik und Strategie.“ „Jeder, was er am besten kann.“ „Ja, das konnte er wirklich so gut wie kein anderer. Und nebenbei entwickelte er im Auftrag des Moskauer Verteidigungsministeriums weltweite strategische Konzepte für den Fall von Angriffs- und Verteidigungskriegen.“ 59
Boris grinste. „Mit Sicherheit sogar. Aber wenn Sie Genaueres wissen wollen, ich sage es Ihnen mit Sicherheit nicht, Urban.“ „Das alles ist auch ein bißchen zu geheim für KGBMajore, denke ich.“ Boris hob die Schultern. Wahrscheinlich tat er nur so, als wisse er etwas, um sich wichtig zu machen. „Fest steht zumindest“, fuhr Urban fort, „daß Mecklenburg dreißig Jahre lang für die Rote Streitmacht Pläne militärischer Operationen der raffiniertesten Art ausknobelte.“ „Das können Sie getrost annehmen.“ Nun setzte Urban den ersten Schock. „Fest steht weiter, daß die brisantesten davon in den Westen gerieten.“ Boris’ Gesicht wurde zur Maske, von der ganz allmählich der Gips abbröckelte. „Mecklenburgs Pläne“, fragte er bestürzt, „in den Westen?“ Urban hatte nur einen Versuchsballon gestartet. Noch wußte er nicht, in welchem Zusammenhang Mecklenburgs Name im Notizbuch des Londoner Anwalts stand. Aber um einen Erbstreit handelte es sich garantiert nicht. Da hatte die DDR einen Riegel vorgeschoben. Von den vorhandenen Kombinationsmöglichkeiten nutzte Urban also die nächstliegenden. „So ist es, in den Westen.“ „Unmöglich“, entgegnete der KGB-Agent. „Wieso?“ „Sie gehören zu den bestgesichertsten Erkenntnissen der UdSSR.“ „Es gibt immer noch Leute mit Schlüsseln, denen kein Safe widersteht.“ Boris hatte offenbar mitgedacht. „Es waren nicht eure Leute, Oberst.“ Urban antwortete nicht. 60
„Sonst wären wir jetzt hier nicht zusammen“, folgerte Boris. Urban trat ans Fenster und schaute auf den See hinaus. Ein paar unentwegte Segler kreuzten vor der Roseninsel. Sogar heute, mitten in der Woche an einem grauen Vormittag. „Woran“, fragte er, „arbeitete der General zuletzt?“ Boris würde es nicht preisgeben können, weil er es nicht wußte. Aber vielleicht brachte sie ein gemeinsames Gespräch der Sache näher. „Ist es der Angriff auf China“, überlegte Urban halblaut, „gehen die Truppenbereitstellungen in der Mongolei auf Mecklenburgs Konzeptionen zurück.“ „Warum nicht gleich der Vormarsch bis zum Rhein“, entgegnete Boris höhnisch. „Oder die Okkupation Jugoslawiens.“ Nichts, was im Bereich des Machbaren lag, ließen sie unerwähnt. „Oder die Besetzung Afrikas“, steuerte Boris bei. Gar nicht so schlecht, der Junge, dachte Urban, gar nicht so übel. Das Gespräch verlief flotter, als Urban ursprünglich erwartet hatte, aber kaum ergiebiger. Plötzlich, mitten in einem Thema, drehte sich Urban um. Schluß. Es kam nichts mehr heraus. Aber jede Minute war jetzt kostbar. „Sie gehen. Oberst Urban?“ fragte Boris erstaunt. „Leben Sie wohl, Sotschenko.“ „He, und was wird aus mir?“ Urban stand schon an der Tür. „Keine Ahnung“, sagte er. * Am nächsten Tag flog Urban nach London. Es war leicht gewesen, aus der Sache Mecklenburg auch Punkte herauszufischen, die das Interesse der Bundesrepu61
blik Deutschland berührten. Keiner vermochte die militärische Situation der BRD in geographischer, rüstungstechnischer und personeller Hinsieht besser abzuschätzen als der alte Generalstäbler Mecklenburg. Da nicht auszuschließen war, daß er an einem Plan „Eroberung Westeuropa“ durch die UdSSR maßgeblich beteiligt war, ging es jetzt auch um die Sicherheit Deutschlands. – Also stieg Urban voll ein. Patrick von MI-5 wußte über sein Kommen Bescheid, schickte aber keinen Wagen. Urban hatte ausdrücklich darum gebeten. Mit dem Taxi fuhr er von Heathrow nach Regents Park. Die Fahrt im Nachmittagsverkehr dauerte über vierzig Minuten, bis sie endlich die Prince Albert Road erreichten. Der Taxifahrer, der bisher kein Wort gesagt hatte, stellte plötzlich eine merkwürdige Frage: „Zuerst in Ihr Hotel, Sir?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Nun, weil die Nummer siebenundvierzig ein Privathaus ist und Sie nach dem Flug aus München vielleicht den Wunsch verspüren, sich frisch zu machen, Sir.“ Woher wußte der Driver, daß er aus München kam? Der Mann mit der Ledermütze rollte bis kurz vor den Zoologischen Garten und hielt dann an. „Da drüben, Sir“, sagte er und deutete auf ein Haus im viktorianischen Stil mit weißen Säulen vor rotem Backsteinmauerwerk. „Wo kann man telefonieren?“ fragte Urban. „Bei mir“, sagte der Taxifahrer, griff ins Handschuhfach seines Diesel und holte den Hörer heraus. „Welche Nummer bitte?“ , „Sind alle Londoner Taxis mit Autotelefon ausgerüstet?“ „Nein, nur Wagen, die für MI-5 fahren, Mister Dynamit“, antwortete der Fahrer ohne einen Gesichtsmuskel mehr als nötig zu bewegen. „Patrick konnte es also doch nicht lassen.“ 62
„Wir dachten, es sei besser so, Sir.“ Verständlich. Sie hatten immer gern den Daumen drauf. Der BND hielt es da nicht anders. „Sie kennen das Haus?“ fragte Urban. „Ja, es wird von uns seit einiger Zeit überwacht, Sir.“ „Wie ist die Nummer der Morleys?“ Der Fahrer drehte sich halb zu Urban um und bot auch weiterhin besten Secret-Service. „Vorausgesetzt ich irre mich nicht, Sir, dann möchten Sie sich wohl vergewissern, ob Mrs. Zelda Morley zu Hause ist. Im Moment ist sie nicht zu Hause, Sir.“ „Und woher wissen Sie das?“ Der Chauffeur machte eine Kopfbewegung nach links. „Sehen Sie das Haus an der Ecke zum Primrose Hill? Erster Stock, mittleres Fenster. Wenn die Jalousette geschlossen ist, ist Mrs. Morley weggegangen.“ „Gut organisiert“, erwiderte Urban. „Ja, so gut, daß wir allen Ernstes daran zweifeln, ob Sie uns hier überhaupt von Nutzen sein können, Sir.“ „Oder ob ich Ihnen nur im Wege bin.“ „In der Tat, Sir. Man stellt sich höheren Ortes die Frage, was Sie wohl bei Mrs. Morley noch herausfinden könnten, was uns entging.“ „Vor einer Woche dachte man darüber ganz anders.“ „Die Zeiten ändern sich, Sir.“ „Nur Morley“, erklärte Urban, „ist immer noch ve rschwunden. Mit seinem Untertauchen tauchte etwas auf, das auch uns drüben in West-Germany tangiert. Beruhigt Sie das?“ „Ich kenne den Fall zu wenig, Sir.“ „Grüßen Sie Patrick schön von mir.“ „Selbstverständlich, Sir. Und wann beabsichtigen Sie, nach München zurückzufliegen?“ Urban mußte lächeln. „Wie ich MI-5 einschätze, ist man dort über jeden meiner Schritte bestens informiert.“ 63
„Ich hörte, man stellt die Überwachung der Morley-Villa demnächst ein, Sir.“ „Gab es denn neue Anhaltspunkte?“ „Das entzieht sich meiner Kenntnis, Sir.“ Urban stieg aus und unterließ es, nach dem Preis zu fragen. „Ich bekomme noch sieben Pfund von Ihnen, Sir“, rief der Fahrer hinter ihm her. „Sieben Pfund zwei Schilling.“ Ohne zu bezahlen, schlenderte Urban mit seiner Reisetasche weiter. „Schicken Sie doch Patrick die Rechnung“, sagte er. * Die Tür hatte nur ein Schnappschloß. Wer brach in einem Haus am Regents Park schon ein und das am hellen Nachmittag? Urban fuhr mit dem Plastikstreifen in der Türfuge hoch. Nach zehn Sekunden stand er im Entree. Sieben weiße Marmorstufen endeten in einer runden Halle mit gekacheltem Boden. Von dort gingen dunkle Holztüren in die ve rschiedenen Wohnräume ab. Eine ebenfalls kreisförmig der Mauer folgende Treppe führte in die Obergeschosse. Auf den Fliesen lag ein ausgesprochen schöner indischer Seidenteppich in Königsblau mit Blumen. Hoch darüber hing ein Kronleuchter. Urban war sich völlig im klaren darüber, daß er eine Reihe von Gesetzen übertrat. Aber einmal fühlte er die schützende Hand des MI-5 über sich, außerdem pflegte er die Probleme stets auf seine Weise zu lösen. – Am erfolgreichsten war er immer dann, wenn er an Dinge dachte, an die die anderen Beteiligten möglicherweise nicht gedacht hatten. Außerdem hatte er nicht die Absicht, wertvolles Porzellan zu klauen. In der Bibliothek, die vom Hochparterre auf den Regents Park hinausging, machte er Bekanntschaft mit der Dame des Hauses. 64
Sie prankte als Farbfoto in einem Barockrahmen auf dem Schreibtisch. – Eine hübsche blonde Person mit Puppengesicht, aber ausdrucksvollen Augen, vielleicht Mitte Zwanzig. Sie trug Tenniskleidung, enges T-Shirt und kurzes we ißes Faltenröckchen. Ein Spitzenhöschen lugte vor. Das Haar, von einem Stirnband gehalten, reichte ihr bis zur Schulter. Sie war schlank und rank und hatte lange gebräunte Beine. In dem weißen Tennisröckchen wirkten ihre Beine recht sexy. Hinten auf dem Foto stand ein Datum. Die Aufnahme lag schon einige Jahre zurück. Inzwischen konnte sie sich ve rändert haben. Urban kam durch eine Art Speisezimmer wieder in die Halle, warf einen Blick in die Küche, in die Gästetoilette und ging dann nach ganz oben. Unter dem Dach fand er zwei Zimmer für die Hausangestellten. Dazwischen lag ein Raum, der als Kinderzimmer eingerichtet war, aber offenbar nicht benutzt wurde. Die Märchentapeten, das Bett und das Spielzeug machten einen fabrikfrischen Eindruck. Weiter unten im ersten Stock gab es zwei Schlafzimmer. Eine verschiebbare Wand machte bei Bedarf einen einzigen Raum daraus. Bei der Dame stand ein rosa Bett auf einem blauen Flauschteppich, bei dem Herrn ein dunkelbraunes auf einem cremefarbenen. Neben dem Damenschlafzimmer war ein begehbarer Wandschrank, neben dem Schlafzimmer des Hausherrn das geräumige Bad. Die eingelassene Wanne, die Duschkabine, das Doppelbecken, der wandgroße Spiegel waren im Stil keine Glanzleistung. Urban öffnete die Schranktüren. Mit Kennerblick ging er Morleys Anzüge und Schuhe durch. Alles Maßkl eidung aus der Savile-Raw. Sein Geschmack bei Schuhen war offenbar ein wenig indezent. Morley hatte allein drei Paar Krokoslipper mit Goldspangen. 65
Die Garderobe von Zelda Morley hing, feinsäuberlich durch einen Gang getrennt, auf der anderen Seite und war ziemlich komplett zu nennen. Sie enthielt die vollständigen Ausstattungen für mindestens fünf Sportarten, für Golf, Tennis, Segeln, Reiten und Skifahren. Auch die Schübe mit der feinen Unterwäsche waren gut bestückt. Jedes Hemdchen trug ihr Monogramm. Z.M. Eines jedoch fiel Urban sofort auf. Zelda mußte gewichtsmäßig ganz schön zugelegt haben. Ihre BHs schätzte er auf Nummer fünf, die Kleider auf Konfektionsgröße zweiundvierzig. Nach zwanzig Minuten etwa hatte er sich ein Bild gemacht, wie die Morleys lebten und am gesellschaftlichen Leben der Stadt teilnahmen. Die beiden hatten so gut wie alles. Bei Red fehlte weder Dinnerjackett noch Smoking noch Frack. Zelda hatte die Wahl unter nahezu einem Dutzend Abendkleider. Die Morleys mischten also tüchtig mit. So ein Leben war aufwendig. Unter einem Einkommen von fünftausend Pfund monatlich lief da nichts. Wenn man die britischen Steuern und Morleys Kanzleikosten berücksichtigte, mußte er mindestens das Dreifache davon umsetzen. Fünf zehntausend Pfund Umsatz waren sehr viel für einen mittelmäßigen Rechtsanwalt in London. Morley erreichte diesen Umsatz mit Sicherheit nicht. Soviel hatte Urban an Basismaterial längst vorliegen. Wie also finanzierte er seinen Lebensstandard? Zeldas Vater, die alte Lordschaft, hatte auch nur Schulden auf dem Landgut in Essex. Allmählich bereitete Urban seinen Rückzug aus dem Hause vor. Höhepunkte hatte der Besuch nicht erbracht. Vielleicht führte sein Gespräch mit Zelda weiter. Er sah auf die Rolex. Kurz vor siebzehn Uhr.
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Der Teppich auf den Marmorstufen der Treppe schluckte jeden Schritt. Langsam ging Urban zur Halle hinab. In diesem Moment merkte er zum erstenmal deutlich den starken Honigduft. Der Duft war so intensiv, daß man einen Quadratmeter Butterschnitten mit Honig hätte beschmieren müssen, um ihn zu erzeugen. Woher kam der betäubende Duft? Urban sah sich um. Nur die gelbroten Blumen »n der Vase konnten die Quelle sein. Es handelte sich um einen dichten Strauß mit leuchtenden artischockenartigen Blüten. Ein Botaniker hätte vielleicht gesagt: Schmetterlingsblütler mit dreizähligen Blättern und blattwinkelständigen Blütentrauben. Oder so ähnlich. Wenn Urban auf einem Gebiet erheblich Bildungslücken hatte, dann war es die Naturkunde. Am liebsten waren ihm Birken. Mit ihrer weißen Rinde konnte man sie kaum verwechseln. Und Rosen. Die waren meist rot und hatten Dornen. Viel weiter reichte sein Wissensstand nicht. Jedenfalls hatte er solche Blüten noch nie gesehen. Er näherte sich dem stark duftenden Strauß etwa auf Armlänge und wunderte sich, daß nicht ganze Bienenvölker auf ihm herumsummten, um sich zu sättigen. Plötzlich spürte Urban etwas hinter sich. Es war kein Ton, keine Erschütterung, die von einer Bewegung ausging, auch keine Veränderung im Licht. Es war einfach ein Signal von Gefahr. „Prothear“, sagte jemand mit sehr tiefklingender Stimme. Urban blieb stehen, wo er war, und drehte nur den Kopf so weit, daß er über die Schulter blicken konnte. Das gabs ja nicht. Einen Menschen in dieser Größe hatte er noch nie gesehen. Die kamen nur im Zirkus oder im Kino vor, und selbst dann hatten die Produzenten noch Mühe, so ein Exemplar auf zutreiben. Der Bursche mochte zwei Meter zehn messen, war ent67
sprechend breit gebaut mit Händen von Eierpfannenformat. Auf den massiven Schultern saß ein Kopf wie eine in die Länge gezogene Billardkugel. Die Augen standen unter buschigen Brauen, der einzigen Behaarung dieses Kopfes. „Prothear“, sagte der freundliche Mensch noch einmal. „Honigblume. Nationalblume.“ Urban faßte sich rasch. „Und ich hielt es für ordinären Klee.“ Damit war das Gespräch beendet und die Freundlichkeit des Riesen dahin. Mit dem Stampfen eines Dampfhammers marschierte er auf Urban los. Urban packte seine Reisetasche. Sie hatte einiges Gewicht. Vielleicht zwanzig Kilo. Im Falle eines Angriffes würde er sie dem Burschen als erstes ins Gesicht schleudern. Dann würde man weitersehen. Aber verdammt, wie zum Teufel kam das Unikum so lautlos ins Haus? Ein Typ wie der fiel doch auf wie ein frei herumlaufender Grislybär. Warum hatten Patricks Leute das nicht verhindert? Warum hatte man um nicht wenigstens gewarnt? Zum Military Intelligence Dienst gehörte der Goliath todsicher nicht. Diese überschlauen Knaben von Patricks Gruppe, sie hätten nur eines ihrer Autotelefone abzuheben brauchen, um bei den Morleys anzurufen. In Urban keimte ein böser Ve rdacht. Was nun, wenn der Taxifahrer gar nicht zu MI-5 gehörte? Urban wischte den Gedanken sofort weg. Der Mann war doch erstklassig im Bilde gewesen. Aber vielleicht stand er hier dem Bodenpersonal eines anderen Dienstes gegenüber, der MI-5 und CIA und BND in nichts nachstand. Um das durchzuchecken brauchte Urban etwa so lange wie der Gorilla brauchte, um einen Schritt zu tun. Beim Gehen öffnete und schloß der Riese die Fäuste. In der Rechten hatte er eine kleine Hantel aus Metall. So lche Dinger vervielfachten die Wucht eines Schlages bis zur tödlichen Wirkung. – Da wußte Urban, daß die Runde mit 68
diesem Goliath bitterer Ernst wurde. Der Koloß stand jetzt in einer Position, daß Urban jeden Augenblick mit seiner Explosion rechnete. Jetzt ging es ums Leben. Als sein Schatten auf Urban fiel, war ihm, als schlage über ihm der Sargdeckel zu. 7. Die Zeitungsleute löcherten den Sprecher des südafrikanischen Verteidigungsministeriums mit Fragen. Aber der sonst zugängliche Staatssekretär war heute hart wie Teakholz. Jede zweite Frage beantwortete er mit: Kein Kommentar. „Welche Richtung nimmt die Eisscholle?“ „Nördliche.“ „Da bekommen Sie ja einen Mammutkühlschrank vor die Tür geliefert.“ „Unnötig. In der Union besitzt jeder Haushalt bereits einen Frigidaire.“ „Auch die Hütten der Farbigen in den Reservaten von Lesotho-Land?“ „Kein Kommentar.“ „Hat die Eisscholle inzwischen einen Namen?“ „Nur eine Nummer.“ „Gab man ihr keinen Namen, weil das Recht der Namensgebung nur demjenigen Staat zusteht, der ein gewisses Te rritorium, und sei es eine schwimmende Insel aus Polareis, im Besitz hält?“ „Kein Kommentar.“ „Wie lautet die Nummer?“ „I-S vierzehn.“ „Was bedeutet das?“ „Eisstation vierzehn.“ „Die vierzehnte also, seitdem man anfing, die weit nördlich driftenden Schollen zu registrieren.“ „Ich denke, Sie können rechnen, Gentlemen“, sagte der aalglatte Staatssekretär. 69
„Station bedeutet aber besetzt“, warf ein Engländer ein. „Das ist sie ja auch.“ „Von wem?“ „Kein Kommentar.“ „Dann chartern wir uns ein Flugzeug und fliegen hin“, erklärte ein Amerikaner. „Man wird Sie abschießen.“ „Wer?“ „Das werden Sie dann schon merken.“ „Beim Start hier in Pretoria oder erst über der Insel?“ „Von uns zu uns kann jeder fliegen solange es ihm Spaß macht.“ „Warum, Sir“, schrie einer von ganz hinten, „hat die Regierung Südafrikas die Annäherung der Scholle nicht bekanntgegeben?“ Der Staatssekretär brachte endlich ein verkniffenes Lachen zustande. „Woher haben Sie die Information, wenn nicht von uns?“ „Von einem italienischen Amateur-DXer, der Ihren Funk abhörte.“ „Wenn die Angelegenheit streng geheim wäre, hätten, wir die Funkgespräche gewiß verschlüsselt.“ „Eine Panne vielleicht.“ Der Regierungssprecher sah auf die Uhr. „Noch eine Frage, Gentlemen?“ „Hundert.“ „Das sind siebenundneunzig zuviel. Noch drei Fragen bitte. Ich muß weg. Termin beim Präsidenten. Sie verstehen.“ „Zur Krisensitzung.“ „War das eine Frage?“ erkundigte sich der Ministerialbeamte spitz. „Antwort: Es gibt keine Krise, wenn man uns in Ruhe läßt.“ „Läßt man Sie denn?“ Der Sprecher der Regierung zögerte: „Offenbar nein.“ 70
„Wie werden Sie sich im Falle einer offensiven Aktion verhalten?“ „Wir werden uns wehren.“ „Haben Sie die nötigen modernen Waffen zur Verfügung?“ „Leider nein.“ „Woher gedenken Sie die Waffen zu beschaffen?“ „Das war eine Frage zuviel“, sagte der Regierungsspr echer. „Beantworten Sie sich die Frage selbst, Gentlemen, oder noch besser, stellen Sie diese Frage Ihren jeweiligen Regierungen. Guten Abend, Gentlemen.“ Trotz lauter Proteste verließ der Staatssekretär das Podium. Die Pressekonferenz war beendet, die Mikrofone wurden abgeschaltet. Mit Sicherheit würde alles haarklein in den nächsten Ausgaben der großen Weltblätter stehen: Daß sich die Südafrikaner im Falle einer Auseinandersetzung allein gelassen fühlten, daß sie keine modernen Waffen hatten und daß man sie wegen ihrer Apartheidpolitik wirtschaftlich boykottierte, obwohl es jetzt nicht um Rassenprobleme, sondern um das Schicksal Gesamtafrikas ging. Die westliche Welt sei nach Ansicht Pretorias verpflichtet, Afrika vor den immer drängender werdenden Okkupationsgelüsten der Ostmächte zu schützen. * Was die Russen auf der Eisinsel machten, wußte angeblich niemand so recht. Und der Geheimdienst FOCUS hüllte sich in Schweigen. In diesen Tagen der Unsicherheit schickte das Marineoberkommando ein als Fischlogger getarntes Küstenschutzboot aus. In der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag dampfte der Logger von der Insel Marion ab. Sein Kurs war Südwest. Mit acht Knoten arbeitete sich der Logger auf die Packeis71
grenze zu, von der sich I-S 14 gelöst hatte. Nach zweitägigem Kampf gegen die graue aufgepeitschte See, gegen Sturm und Wellen, erfaßte das Fischradar des Loggers den Eiskoloß. Tagsüber blieb man außer Sichtweite am Horizont. Erst bei Dunkelheit näherte man sich der Scholle. Die Loggerbesatzung, alles Angehörige der südafrikanischen Kriegsmarine in Zivil, machte den Kutter in einer Bucht fest, indem sie Ankerharpunen auf das Eis schossen. Der Spähtrupp ging an Land, kam aber nicht weit. Nach einer Viertelmeile wurde er abgefangen und beschossen. Mit zwei Verwundeten kehrte die Gruppe zurück. Gleichzeitig fing der Logger einen Funkspruch auf, der so stark war, daß seine Antennen fast schmorten. Er lautete: „Verlassen Sie sofort die Insel. Sie ist Hoheitsgebiet der UdSSR.“ Der Spruch wurde in Englisch und Africans wiederholt. Als Unterstreichung gab es Granatwerferfeuer, damit die Loggerleute etwas schneller machten. Die Salven lagen etwa sechzig Meter ab. Aber niemand auf dem Logger bezweifelte, daß die Inselbesatzung treffen würde, wenn sie die Absicht hatte. Inzwischen hatte das Loggerradar ein Bild der Insel eingefangen und auf Spezialpapier festgehalten. Für fotografische Aufnahmen war es leider zu diesig. Selbst durch die starken Marinegläser war nichts zu erkennen als flaches Eis, aus dem Nebel dampfte. Als der Logger ablegte, sagte der Steuermann kopfschü ttelnd zum Käptn: „Hoheitsgebiet der UdSSR?“ „Das bedeutet Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.“ „Es bedeutet, daß die Russen Territorium haben, das sich auf unser Land zubewegt. Dürfen die das denn?“ „Die fragen doch nicht lange.“ „Zum Glück ist es ein Territorium, das bald schmilzt.“ 72
„Wenn sie aber Mittel und Wege gefunden haben, um das Eis vor dem Schmelzen zu bewahren, was dann?“ „Dann muß unsere Regierung schnellstens Protest einl egen.“ „Das nützt doch nichts.“ Der Kapitän kratzte mit dem Pfeifenmundstück seinen Schifferbart. „Eine Stoppel davon, das sind wir“, sagte er, „der ganze Bart, das ist die UdSSR.“ Der Steuermann fluchte. * Bei Sonnenaufgang landete auf der Flugbasis Roodeport nahe Johannesburg ein Mirage-Aufklärer. Die zweisitzige B-1-Version hatte einen langen Einsatz hinter sich. Jetzt, nach fünftausend Kilometern Flug, waren die drei großen Außentanks fast leer. Die SNECMA-Turbine saugte die letzten Tropfen Kerosin aus den Leitungen. Der Schwenkflügel-Jet rollte zu den Hangars. Kaum hatte der Pilot das Triebwerk abgestellt und die Plexiglashauben geöffnet, machten sich die Bodenwarte am Rumpf zu schaffen. Sie klemmten die Kassetten der schweren Reihenbildkameras ab, um sie zur Auswertung zu bringen. „Halt!“ rief der Kampfbeobachter und kletterte über die Leiter zu Boden. „Das mache ich diesmal selbst.“ „Es ist aber unser Job, Major“, antwortete ihm einer der Bodenspezialisten. „Tut mir leid. Befehl ist Befehl.“ Der Kampfbeobachter des Aufklärers brachte die schwarzen Filmkassetten an sich und stieg in die wartende Limo usine. Ein Offizier fuhr sie. „Haben wir keine Fahrer mehr?“ fragte der Major den Stützpunktadjutanten. 73
„Befehl ist Befehl“, sagte dieser. „Sie sind heute ein wichtiger Mann, Major.“ Der Major schlug mit der flachen Hand auf eine der schwarzen Filmkassetten. „Was ich mitbrachte, ist wichtig. Die Sache ist wichtig, nicht die P erson.“ „Was war draußen los?“ erkundigte sich der Adjutant. „Wasser, nichts als Wasser. Zweitausend Kilometer hin, zweitausend zurück. „Und stimmt das Gerücht?“ „Welches?“ „Das von der besetzten, waffenstarrenden Eisinsel.“ „Ja, es gibt eine Eisinsel.“ „Wurden Sie beschossen?“ „Wir kamen aus der Sonne, als sie gerade aus dem Meer tauchte, und zischten mit eineinhalbfacher Schallgeschwi ndigkeit über das Ding weg. Sie kamen wohl nicht dazu, Ziel aufzunehmen.“ „Was haben Sie gesehen, Major?“ „Bei 1600 Stundenkilometern“, bemerkte der Major spö ttisch, „natürlich nichts. Aber das Auge der Kamera ist schneller und schärfer als das eines Habichts. Alles da drin in der Büchse.“ Die Ford-Limousine hatte einen weiten Bogen über das betonierte Flugfeld beschrieben und hielt jetzt vor der Luftbildauswertungsstelle. Der Major gab die Filmkassette gegen Quittung ab. Aber den Mann, der heute den Film übernahm, hatte er noch nie hier gesehen. „Wer ist das?“ fragte der Major den Horstadjutanten. Der machte ein bedeutendes Gesicht und flüsterte: „F O C U S, Geheimdienst. Aber offiziell weiß ich vo n nichts.“
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Der Film surrte durch die Entwicklungsmaschine. Der Techniker fühlte sich jedoch behindert. Bei jedem Handgriff, den er tat, stand ein Mann von FOCUS hinter ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Als der Film herauskam und über die Trockenrollen lief, sagte der vom Geheimdienst: „Bitte verlassen Sie jetzt das Labor.“ „Können Sie den Film denn weiterbehandeln?“ erkundigte sich der Techniker. „Abschneiden, meinen Sie. Abschnippeln kann jeder.“ „Hier wird das automatische Messer bedient“, erklärte der Techniker, „aber bitte ziehen Sie die weißen Handschuhe an. Das alles geht natürlich auf Ihre Verantwortung.“ Verärgert ging er hinaus. Wenige Minuten später folgte ihm der Geheimdienstmann mit einer flachen Mappe im Format 30 x 50, was den Abmessungen der Einzelbilder entsprach. Die Mappe war rot mit gelbem Querstreifen. Auf dem Querstreifen stand top secret. Der Geheimdienstmann betrat den Raum mit den Luftbildauswertungsgeräten. Erst bat er den anwesenden Sergeanten, ihm den neuen Zeiss-Stereobetrachter einzustellen. Dann schickte er auch ihn weg. Allein in der Kabine, legte er ein Bild nach dem anderen auf die Mattscheibe, ließ sie hochfahren und preßte dann seine Augen an die Optik. Was er sah, stellte ihn zufrieden. Er machte sich Notizen, ging alle Bilder von I-S 14 der Reihe nach durch und packte sie wieder ein. Die Mappe unter dem Arm, betrat er eines der Büros. „Ist die Leitung geschaltet?“ fragte er den NachrichtenCorporal. „Seit neun Uhr.“ „Dann stellen Sie durch.“ Auf einem der Apparate klingelte es. Der FOCUS75
Mann hob ab und schickte, bevor er zu sprechen begann, den Corporal hinaus. Dann gab er seine Meldung nach Pretoria durch. „Alles wie erwartet“, sagte er. „Auf der Scholle stehen etwa zwanzig kastenförmige Fertigbungalows. Polarausführung. Dazu noch dreißig große Zelte, vollisoliert, gegen Sturm verspannt. Hütten und Zelte dürften ungefähr hundert Mann als Unterkunft dienen. Ein Sendeturm in Gittermastausführung wurde errichtet. Der Schattenlänge nach zu urteilen ist der Turm vierzig Meter hoch. Ein Netzwerk von Elektrokabeln verbindet Zelte, Hütten und Turm mit zwei schweren Stromaggregaten auf Kettenfahrgestell.“ „Weiter“, drängte sein Abteilungschef. „Das präparierte und ausgeflaggte Flugfeld ist knapp eintausendneunhundert Meter lang, dürfte also ausreichen für die Flugzeuge und Hubschrauber, die auf der Eisinsel stationiert sind.“ „Welche Typen?“ fragte der Mann in Pretoria. Hier war der Auswerter nicht ganz sicher. „Vermutlich Antonow-22.“ „Schwere militärische Langstreckenfrachter also.“ „Ja, mit Propellerturbinen. Insgesamt vier Stück.“ „Hubschrauber?“ „Leider MI-24.“ Der Offizier in Pretoria pfiff leise vor sich hin. „Das werden auch die anderen kapieren. – Der MI-24 ist ein reiner Kampfhubschrauber und Kampfzonentransporter. Nun sieht die Sache schon kritischer aus, nicht nur nach einer rein zivilen Expedition.“ „Schätze, das ist richtig.“ „Und die Flagge?“ „Wie gehabt.“ „Rot, Hammer und Sichel. Sonst noch etwas?“ „Ja, einiges.“ Das Gespräch dauerte noch etwa vier Minuten. Dann beendete es der Mann in Pretoria mit folgender Weisung: 76
„Das alles bleibt streng geheim und unter Verschluß. Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich, Foster.“ „Ich gebe die Fotos nicht aus der Hand“, versicherte der FOCUS-Mann. * In den späten Abendstunden wurde der Verteidigungsminister beim Ministerpräsidenten der Republik vorstellig. Er hatte einen geharnischten Protest auf den Lippen, mäßigte seinen Zorn aber, als er das eingefallene, blasse Gesicht des Regierungschefs sah. „Ich habe Sorgen, Herr Präsident“, begann er. Eine müde Handbewegung war die Antwort. „Wir auch.“ Der Präsident pflegte von sich allein nie in der Mehrzahl zu sprechen. Also bezog er es auf das ganze Land. Daß der Präsident es anders meinte, erfuhr der Minister erst später. „Und im Detail, Pieter“, fragte der Präsident, „wie sehen Ihre Sorgen im Detail aus?“ „Die Insel“, sagte der Minister klipp und klar. Der Präsident versuchte ihn mit Lächeln zu besänftigen. „Die Russen führen wissenschaftliche Arbeiten aus. Spionieren oder angreifen wollen sie nicht.“ „Ich habe ganz andere Informationen vorliegen.“ Der Präsident runzelte die Stirn und wurde spöttisch. „Ach was, Sie haben Informationen, Pieter? Woher?“ Jetzt platzte dem Minister der Kragen. „Nachdem man den Verteidigungsminister dieses Landes im unklaren über die Vorgänge vor der Südküste läßt, sah ich mich gezwungen, eigene Aufklärung zu betreiben.“ „Die Insel ist noch nicht im Nahbereich.“ „Ein paar Wochen noch, und sie hat die Grenze der 200Meilenzone e rreicht.“ „Dann haben wir immer noch Zeit, um…“ Der Minister wartete, aber es kam nichts mehr. „Ich sehe die Lage kriti77
scher“, fuhr der Minister deshalb fort, „die Russen haben eine ganz schöne Streitmacht dort zusammengezogen. Kampfhubschrauber, Waffen, Depots. Das alles ist doch von langer Hand vorbereitet worden.“ „Sie sind ein Schwarzseher, Pieter.“ „Die russischen Strömungsexperten wußten genau, wohin die Eisinsel treiben würde.“ „Ihre Absichten sind friedlich“, versicherte der Präsident abermals. „Ja, sie bauen diese Scholle nur zu einer ganz friedlichen Versorgungsbasis für ihre Antarktis-U-Boote aus.“ „Dafür gibt es keine Hinweise.“ Jetzt senkte der Minister die Stimme und sprach sehr eindringlich weiter: „Und die tiefen Löcher, die von der Inselbesatzung ins Eis gebohrt werden, was ist damit? Dienen sie nur zur Zierde? – Wenn Sie mich fragen…“ Der Präsident unterbrach sein Kabinettsmitglied an dieser Stelle. „Ich frage Sie aber nicht, Pieter.“ „Dann kann ich ja auch zurücktreten“, entgegnete der Minister scharf. Der Präsident zuckte zusammen. Offenen Streit konnte er nicht gebrauchen. „Aha, jetzt, wo es brenzlich wird“, entgegnete er höhnisch. Der Minister wollte es auch nicht auf die Spitze treiben. „Schön, dann reden wir über die Löcher, die die Russen in die Insel bohren.“ „Nahrungsmitteldepots“, erklärte der Präsident, „was sonst“ „Ich halte die Löcher für Raketensilos.“ Plötzlich herrschte Stille im Büro des Präsidenten. Man hörte die alte holländische Wanduhr ticken. Sie tickte mit langsamem Pendelschwung alle zwei Sekunden einmal. Der Präsident blickte seinen Minister an, ging auf ihn zu, legte beide Hände auf seine Schulter und sagte feierlich: 78
„Richtig, Pieter, Raketensilos. Gar nicht so weit danebengegriffen. Nur eines müssen Sie noch wissen.“ Statt es auszusprechen, trat der Präsident an seinen Schreibtisch und drückte dort den Messingknopf in einer kleinen Marmorscheibe. Über den Draht lief das elektrische Signal in eines der Büros. Nach einer Minute etwa öffnete sich die gepolsterte Flügeltür. Ein Mann im grauen Anzug kam herein. Er war gekleidet wie ein einfacher Bürobeamter vom unteren Dienst, wie ein Mann, der sich lautlos bewegen konnte und es sich angewöhnt hatte, durch nichts aufzufallen. Er war einer von denen, die im Zwielicht lebten, es dort aber aushielten, weil es sie befriedigte, an den Fäden zu ziehen, mit denen die großen Dinge bewegt wurden. Es war der Geheimdienstchef von FOCUS. „Die Herren kennen sich ja“, sagte der Präsident. Eine Vorstellung erübrigte sich. Der FOCUS-Chef schien auf Anweisungen zu warten. „Setzen Sie den Minister ins Bild“, bat ihn der Präsident. „Voll?“ vergewisserte sich der Geheimdienstchef. Der Präsident nickte nur und wandte sich ab. Der Chef von FOCUS blickte sich prüfend um. Die schweren Veloursvorhange waren zugezogen. Alle Türen ve rschlossen. Trotzdem zog er den Minister in die Mitte des saalähnlichen Raumes. Er wollte sicher sein, daß man trotz elektronischer Schutzvorrichtungen ihr Gespräch nicht mithören konnte. Seine Stimme war leise, aber sehr klar. „Exzellenz“, begann der FOCUS-Chef, „mit dem, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, erweitert sich der Kreis der Ei ngeweihten von sechs auf sieben Personen. Es geht um das Überleben der Union. Wie geheim die Sache ist, mag Ihnen damit vor Augen geführt sein, daß die höchste Secret-Stufe, die wir haben, nämlich ,Cosmic’, nicht anwendbar ist. Sie wurde den Anforderungen in keiner Weise gerecht. Die Lage ist folgende…“ 79
8. Als der Glatzkopf mit seinem massigen Körper zwischen Urban und das Fenster trat, verdeckte er damit das Licht der schräg hereinfallenden Abendsonne. Schatten fiel auf Urban. Und es war ihm so, als schlage über ihm der Sargdeckel zu. Der Russe hob die Faust mit der wuchtvervielfachenden Bleihantel. Aber warum schlug er nicht zu? Urban wartete darauf, um im letzten Moment blitzschnell auszuweichen. „Worauf wartest du?“ fragte Urban. „Was kann ein Mann in deiner Lage schon noch tun?“ „Alles hinnehmen, denkst du.“ „Als sich begraben lassen.“ „Mir wird gleich warm ums Herz“, sagte Urban. „Oder kalt, ganz kalt, Sir.“ Die Augen in dem skurrilen Gesicht des Gorillas verengten sich. Er nahm das Ziel auf, visierte, schickte die Bereitschaftserklärung seiner Faust ins Zentrum des Gehirns, wo die Uhr lief. Drei… zwei… eins… Aber er schlug nicht zu. Er entspannte sichtlich und ließ die Faust sinken. Es kann nicht allein daran liegen, dachte Urban, daß du ihn grimmig angeguckt hast. Es muß daran liegen, daß der Bär keine Chance mehr sieht. Das Ungeheuer bewegte sich ein wenig zur Seite, als mü sse es sich über die neue Lage orientieren. Da sah Urban, daß der Riese umzingelt war. Sein Instinkt hatte ihn also gewarnt. Auf der letzten Treppenstufe vom Entree zur Halle stand jemand. Graublaues Tweedkostüm, Jacke im Tailorschnitt, Faltenrock, karierte Strümpfe. Ein langer Schal, um den Hals geschlungen, hing vorn bis zum Knie hinab. Die Dame hatte eine runde Strickmütze auf den blonden Locken und eine 7,65er Pistole in der Hand. Ein recht nied80
liches Ding, aber ausreichend, um auch den Herzmuskel eines Goliath zu durchlöchern. Offenbar zielte sie auf den Glatzkopf und nicht auf Urban. Urban nützte seine Chance. Blitzschnell trimmte er die Faust von butterweich auf steinhart und rammte sie dem Riesen ins empfindliche Dreieck unterhalb der Rippen. Er hatte gefürchtet, gegen eine Panzerplatte zu trommeln, aber die Faust ging zwei Zoll tief hinein. Die Wirkung war entsprechend verheerend. Der Herkules bekam Glotzaugen. Der Überdruck in seinem Inneren bahnte sich Luft. Er atmete aus wie ein angestochener Autoreifen. Dabei wurde er zusehends kleiner. Es kam daher, daß er sich vor Schmerz zusammenkrümmte und dabei keuchte, als müsse er sich übergeben. – Er bekam von irgend etwas den Mund voll, hielt aber krampfhaft die Lippen geschlossen und taumelte auf die Lady zu. Sie wich zur Seite und ließ ihn vorbei. „In meinem Haus dulde ich keine Schlägerei“, sagte sie entrüstet. Da war der Glatzkopf schon vor der Tür, riß sie auf und stürzte hinaus. * Die Lady blickte ihm nach, dann blickte sie Urban an. „Komisch“, sagte sie. „Ja sehr“, sagte Urban. „Diesen Gentleman kann ich wohl nicht mehr fragen, was er hier wollte“, bemerkte die Lady mit typischem upperclass-Näseln, „aber vielleicht hätten Sie die Güte, mich aufzuklären.“ Urban ging vorerst nicht darauf ein. „Sie sind Zelda Morley?“ „Anzunehmen, würde ich sonst das Hausrecht beanspruchen?“ „Zelda Morley, wie fein.“ 81
„Zweifeln Sie etwa daran?“ Sie stellte den Stockschirm in den vergoldeten Ständer und trug eine Tasche, die sie neben der Treppe abgestellt hatte, in die Küche. Natürlich war das Zelda Morley. Kein Zweifel. Das hübsche Puppengesicht, die großen Augen, das Haar und wie sie es trug, alles stimmte. Nur kam ihm diese Zelda deutlich schlanker vor. Sicher hatte sie aus Sorge um ihren Ehemann abgenommen. „Das Personal habe ich beurlaubt“, sagte sie. „Wie kamen Sie also herein?“ „Die Tür war offen“, log Urban. „Dann war der Glatzkopf vor Ihnen da?“ „So ist es.“ „Was wollte er?“ „Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Gnädigste“, sagte Urban. „Er interessiert sich nur für mich.“ „Und Sie, wofür interessieren Sie sich, mein Herr?“ „Für Sie, Gnädigste.“ Sie verstand nicht, zumindest wollte sie diesen Eindruck erwecken. „Für Sie“, wiederholte Urban, „dann für Mister Morley und General von Mecklenburg.“ Sie brauchte einige Sekunden, um ihm folgen zu können. Sie setzte sich auf einen Küchenhocker und schwang die Beine übereinander. Sie nahm eine Zigarette aus einem silbernen Etui mit Monogramm aus eingelegten Saphirsplittern. „Man hat Sie zu mir geschickt?“ „Auf Ihre Bitte hin, Gnädigste.“ „Wer?“ fragte sie. „Man“, sagte Urban. „Hat lange genug gedauert.“ Sie stand auf und ging voraus in die Bibliothek. „Einen Drink?“ „Bourbon, wenn es geht.“ „Kann Ihnen nur einen Sherry anbieten.“ 82
„Dann lieber gar nichts“, sagte er. „Und dieses Ungetüm wollte das verhindern, ich meine, daß wir zusammentreffen.“ „Ich konnte ihn leider nicht fragen. Sie kamen dazwischen.“ Zelda Morley lächelte jetzt. Dabei kräuselte sie ein wenig den Mund. „Seien Sie doch froh. Sie könnten tot sein.“ Urban nahm im angebotenen Sessel Platz, faltete die Hände und beobachtete sie über die zusammengepreßten Fingerspitzen hinweg. Offengestanden hatte er sich diese Frau anders vorgestellt. Pummeliger, weniger agil, weniger scharf in Sprache und Reaktion. Er hatte eine nette kleine Lady erwartet und fand eine Dame vor, die wußte, was sie wollte. „Erzählen sie mir von Red Morley“, bat Urban. „Das ist ein Buch mit tausend Seiten. Wo soll ich beginnen?“ „Was wußten Sie über seine Tätigkeit als Anwalt?“ „Wenig bis gar nichts.“ „Hatte er finanzielle Probleme?“ „Schulden. Das Wasser stand ihm bis zum Hals“, sagte Zelda, rauchte hastig und drückte die Zigarette schnell aus. „Dann akzeptierte er wohl jeden Auftrag, der Geld brachte. Auch gefährliche.“ „Hätten Sie das an seiner Stelle etwa nicht getan?“ „Nun, an ungewohnten Speisen überfrißt man sich leicht. Man überschätzt sich eben.“ „Bitte, überschätzen Sie mein Wissen in dieser Sache nicht, Sir.“ „Unternahm Ihr Ehemann vor seine m Verschwinden eine Reise?“ „Er war ständig unterwegs. Ein Klient hier, ein Fall dort.“ Urban wartete darauf, daß ihr sein Akzent auffiel. Er sprach ein vorzügliches Englisch und schulte sich auch ständig, um alles auszumerzen, woraus man schließen konnte, daß er Deutscher war. Ein Deutscher aus Franken. Solche 83
kleinen Akzente konnten sich oft lebensgefährlich auswi rken. – Aber Zelda Morley hörte ihn entweder nicht heraus, oder Urban hatte seinen besonders akzentfreien Tag. „Schwer weiterzukommen“, gestand er, „mit so wenig Anhaltspunkten.“ „Warum knöpft sich die Polizei nicht all die Leute vor, die mich ständig beobachten?“ „Weil die auch von der Polizei sind, Gnädigste.“ „Alle?“ Sie verschwand und kam mit einer dunkelbraunen Flasche wieder. „Konnte doch noch einen Bourbon auftreiben“, sagte sie und stellte ihm Flasche und Glas hin. Urban bediente sich. Der Bourbon war nicht besonders. Vermutlich deshalb, weil die Briten hauptsächlich Whisky in Form von Scotch zu sich nahmen. „Es ist einfach zu wenig“, sagte Urban, „was wir bis jetzt haben.“ „Wofür?“ „Um Morley zu finden.“ „Ihnen geht es doch gar nicht um Red.“ „Aber um den Zusammenhang mit dem Namen Franz Lothar von Mecklenburg.“ „Ein deutscher General, wie?“ Er hob eine Braue. „Sie haben sich informiert?“ Zelda überging den Einwand. „Die Geheimdienste wittern immer gleich globale Zusammenhänge. Stimmt’s?“ „Aus Erfahrung. Siebenter Sinn, Gnädigste.“ „Nur deshalb kümmern Sie sich um Red Morley.“ „Die Überwindung des Trägheitsmomentes, Gnädigste, kostet stets die meiste Energie. Aber rollt die Kugel einmal, dann ist sie nicht mehr aufzuhalten. Und jetzt rollt sie. Ich will ganz offen sein. Es geht uns tatsächlich um General Mecklenburg. Wie kommt der Name in die Akten Ihres 84
Mannes? Hängt das mit seinem Verschwinden zusammen? Ja, nein? – Deshalb müssen wir ihn finden.“ „Jetzt, wo die meisten Spuren kalt sind.“ „Vielleicht können Sie mir helfen.“ Sie stand vor ihm, ebenfalls mit einem Glas in der Hand. Es war nur zentimeterhoch gefüllt. Sie trank die Fingerhutmenge Alkohol und atmete tief durch. Ihr Busen, die kleinen spitzen Dinger, war höchstens Größe zwei. „Ja, ich kann Ihnen helfen“, sagte sie, griff in die Tasche ihrer Kostümjacke und entnahm ihr etwas Papierenes. Es handelte sich um ein rechteckiges pergamentfarbenes Stück Karton, halb so groß wie eine Zigarettenschachtel. Daran klemmte eine rostige Büroklammer. Der Karton war hinten beschrieben. Zelda Morley reichte ihn Urban. „Diese Visitenkarte“, sagte sie, „kam heute morgen mit der Post. Aber lesen Sie selbst.“ Urban entzifferte die winzige, nicht sehr geübte Handschrift halblaut: „Das fand ich heute auf dem Weg nach Zennor-Castle. – Die angeklemmte Zehnpfundnote betrachte ich als Geschenk. Unterschrift: Charles…“ Die restlichen Buchstaben waren unleserlich. „Ein Lebenszeichen von Morley“, sagte Zelda. „Irgendwie gelang es ihm…“ „Kein Zweifel.“ „Zennor-Castle ist draußen in Cornwall am äußersten Ende.“ Urban sah auf die Uhr. Es wurde Abend. Die Sonne war längst hinter den Bäumen von Regents-Park weggetaucht. „Begleiten Sie mich?“ fragte Zelda Morley unvermittelt. „Dasselbe wollte ich Sie auch fragen“, sagte Urban.
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Sie bewegte den superflachen Lotus Elite wie ein Profi durch den Londoner Abendverkehr. Man lag in dem weißen Renner mehr als man saß. Der Achtzylinder verrichtete unter der Haube deutlich seine Arbeit. Das Fahrwerk war beinhart gefedert. Nur, weil er einige Erfahrung mit Sportwagen hatte, verschonte Urban die Platzangst. „Macht über zweihundert“, sagte Zelda, „das Gerät.“ „Bodenfreiheit so gut wi e null.“ „Über eine Daily Mirror, der auf der Straße liegt, kommt man noch leicht weg.“ „Aber bei der Wochenendausgabe macht es schon Schwi erigkeiten.“ „Dafür hat die Stereoanlage vier Lautsprecher. So hört man weniger davon, wenn es bumst.“ „Ihre Nerven sind gut“, staunte Urban, „trotzdem.“ „Was meinen Sie mit trotzdem?“ fragte Zelda und prüfte bei hundertzwanzig auf der Ausfallstraße nach Staines ihr Make-up im Rückspiegel. „Wir nehmen die Autobahn bis Winchester“, entschied sie kurzerhand. „Sie kennen die Gegend?“ „Wir fuhren mal eine Saison lang jedes Weekend nach Cornwall zum Segeln.“ „Dann ist Ihnen Zennor-Castle ein Begriff.“ „Wir benutzten es hin und wieder als Landmarke, wenn wir in der St. Ives Bay kreuzten.“ Immer wenn er dachte, er bekäme sie in den Griff, jetzt könne er sie vielleicht erwischen, dann bekam er sie doch nicht. „Auf dem Foto haben Sie noch richtig Babyspeck dran“, bemerkte er wenig galant. „Man wird älter und modebewußt.“ Auf der Autobahn ließ Zelda den Lotus rennen. Sie trat das Pedal durch bis zum Anschlag. Es hatte geregnet, und der Straßenbelag trug einen Wasserfilm. 86
Urban tastete nach dem Anschnallgurt und hakte ihn fest. „Übernehmen Sie sich da nicht etwas?“ fragte er vorsichtig. „Angst?“ „Wenn ich nicht selbst fahre, immer.“ Sie lupfte den großen Zeh, nahm etwas Gas zurück und bewegte den Lotus nur noch mit hundertachtzig. In Andover tankten sie. Danach kam es Urban so vor, als wolle Zelda die verlorene Zeit unbedingt aufholen. Auf der stark befahrenen Straße raste sie wie der Teufel. Sie überholte, wo es ging und wo es eigentlich nicht mehr ging und fuhr die Gänge hoch aus. Einmal zischte sie so scharf an der Stoßstange eines Tanklastzugs vorbei, daß die Hinterräder wegwischten. Durch Gegensteuern fing sie den Wagen, der schon zu schleudern begonnen hatte. Und das bei vorbeidonnerndem Gegenve rkehr. „Können Sie das auch blind?“ fragte Urban beherrscht. „Wo Sie wollen. Unter Wasser oder in dreitausend Meter Höhe.“ Daraufhin steckte er sich eine MC an und gab es auf. „Mir auch eine, bitte.“ Er steckte zwei an, schob ihr ein Stäbchen zwischen die Lippen. „Was ist das denn für ein feines Kraut?“ „Kontinentalmarke.“ „Sie sind überhaupt ein bißchen sehr continental, wie mir scheint.“ Ab und zu kam so eine Bemerkung. Im übrigen sprach sie wenig. Alle zehn Kilometer vielleicht ein paar Sätze. Es wurde Nacht, es regnete. Zelda fuhr meist mit vollem Licht. Sie blendete rücksichtslos die Gegenkommer. Die Wischer arbeiteten monoton. Auf ihre Weise schaffte Zelda Morley die vierhundert Kilometer mit einem Rallyeschnitt von über hundert. Doch dann, an der Küste von Cornwall, zeigte sich, daß 87
alle Mühe umsonst war. Sie verfuhr sich. Dazu duschte es, was der Himmel hergab. Sie saßen in einem engen Waldweg fest. Vor ihnen war das Meer. Millionen von Quadratmeilen groß, aber zwischen den Bäumen gab es keinen Platz zum Wenden. Auch war der Lotus zu flach. Und Rückwärtsfahren war bei dem Regen und der Dunkelheit unmöglich. – Nur mit Schwung kam man überhaupt durch die Schmiere. „Schöne Bescherung“, sagte Urban. „Dachte, Sie kennen die Gegend.“ „Wir fragen uns durch“, schlug sie vor. „Irgendwo in einem der Nester wird schon noch ein Pub geöffnet haben.“ „Jetzt um Mitternacht?“ Sie überlegte. „Stimmt. Hat gar keinen Sinn. Warten wir also den Mo rgen ab. Hauen wir uns aufs Ohr.“ Sie öffnete das Handschuhfach, entnahm ihm eine Büchse mit Toffee-Bonbons und teilte sie ehrlich mit Urban. „Behalten Sie meine Portion“, sagte er. „Männer lutschen keine Bonbons, wie?“ „Ich würde Toffees im Notfall als Kraftnahrung betrachten“, erklärte er, „aber ich fühle mich noch nicht so schwach.“ Zelda hatte alle Lichter gelöscht. Urban spürte ihre Hand an seiner Hüfte. Im gleichen Moment knackte etwas, und seine Sitzlehne kippte in Liegestellung. Noch ein Knacken, und sie lag flach neben ihm. „Übrigens“, sagte sie, „Ihre Bemerkung vorhin, daß ich trotzdem gute Nerven hätte, möchte ich hiermit bestätigen. Mit trotzdem bezogen Sie sich wohl auf das Verschwinden von Red Morley.“ „Ich bin erstaunt, wie kühl und überlegen Sie die Suche nach ihm anpacken“, bestätigte er. „Es ist das letzte, was ich für ihn tun werde“, sagte Zelda. „Eheprobleme?“ erkundigte er sich. 88
„Das nicht“, antwortete sie, „denn unsere Ehe existiert nicht mehr. Sie wurde bereits vor einem halben Jahr geschieden. Wir haben aus Rücksicht auf Reds gesellschaftliche und berufliche Situation nur noch nichts darüber verlauten lassen. „Und der Grund für die Trennung?“ Sie brauchte einige Zeit mit der Antwort. „Eine Frau“, erklärte sie dann, „kann vielleicht mit einem Versager verheiratet sein, oder mit einem Blender, mit einem Bankrotteur oder einem Schürzenjäger, aber immer nur oder.“ „Vorausgesetzt, er weist nur einen dieser Mängel auf.“ „Richtig. Und nicht alle zusammen.“ „Ist Morley denn so ein Übelbold?“ „Noch viel Schlimmer“, gestand Zelda seufzend. „Er war die Enttäuschung meines Lebens. Aber jetzt bin ich drüber weg.“ Wie sehr sie es überwunden hatte, zeigte sich gegen Mo rgen, als es kühl wurde. Sie näherte sich ihm, drückte ihren Körper eng an den seinen, umarmte ihn und küßte ihn. „Mach mich warm“, flüsterte sie, „bitte.“ Urbans Hand tastete zum Zündschlüssel. Soviel er sich erinnerte, war der Wagen mit Heizung ausgerüstet. Man brauchte nur den Motor anzulassen und das Gebläse einzuschalten. Zelda fing seine Hand ab. „Auf die Idee kann jeder kommen. Aber ist meine nicht besser?“ „Gewiß.“ „Jetzt, wo die Scheiben so schön beschlagen sind.“ „Da gucken höchstens die Hasen rein. Wir parken ja nicht am Piccadilly Circus.“ „Würdest du es auch dort tun?“ „Kommt drauf an.“ Sie öffnete die Bluse, nahm seinen Zeigefinger und rieb ihn an ihren kleinen Brüsten. 89
„Und die zwei hübschen Dinger da, wären sie ein Grund?“ „Noch nicht unbedingt“, sagte er. Sie hatte die Schuhe abgestreift. Nun löste sie die sportlich gestrickten Strümpfe von den Strapsen. Vom Knie bis zu den Oberschenkeln war sie jetzt schon nackt. Er strich über die glatte, warmfeuchte Haut bis hinauf, half ihr, sich vom Höschen zu trennen. „Pack nur fest zu“, keuchte sie, „mit der ganzen Hand… ins Volle. Und dann…“ „Was dann?“ „Dann nimm bitte nicht nur die Hand.“ „Sondern?“ „Ich weiß was Besseres“, flüsterte sie. „Ich auch“, sagte er, „etwas sehr viel Besseres.“ „Und jetzt“, fragte sie später, als er tief in ihr war, „wü rdest du auch das am Piccadilly tun?“ „Nicht nur dort“, sagte Bob Urban, „sogar vor dem Buckingham Palace, mittags, wenn die neue Wache aufzieht.“ Sie war ausgehungert und auch sonst körperlich der Liebe sehr zugetan. Ihr Busen war kleinste BH-Größe, davon hatte er sich jetzt überzeugt, und ihr runder, fester Po brauchte höchstens Konfektionsgröße sechsunddreißig. * Am Morgen setzte sich Urban selbst ans Steuer. Er bewegte den Lotus rückwärts und trotzdem so zügig aus dem Wald, daß er nicht stecken blieb. Dann bestimmte er anhand von Natur und Karte ihren Standort. Zwanzig Minuten später rollten sie auf Zennor-Castle zu. Urban fuhr durch das offene Tor in den Hof der halbverfallenen Küstenbefestigung hinein. Niemand hielt sie auf, niemand ließ sich blicken. Zelda wartete im Wagen bei laufendem Motor. Urban beäugte den Turm, den Wehrgang, die Kapelle, das alte Burgherrenhaus. 90
„Keiner da“, rief er. „Weiß nicht“, sagte Zelda. Jetzt erst stellte sie ab und stieg aus, zögerte aber, ihm zu folgen, als habe sie Angst. Plötzlich entdeckte sie etwas. Sie deutete auf einen Draht, der über die Kapelle zu den Bäumen lief und dort herabhing. „Schau, eine abgeschnittene Telefonleitung.“ „Oder eine Antenne, Verehrteste.“ „Antenne für was?“ „Für besseren Funkverkehr.“ „Ja, aber wer funkte hier an wen?“ „Morley ist, wenn er hier war, doch nicht allein nach Zennor-Castle marschiert, oder?“ „Dann war das ein Stützpunkt irgendwelcher Leute.“ „Was dachtest du denn, Baby?“ Sie suchten das Gelände systematisch ab. Im verwilderten Garten fanden sie Reste eines Feuers, in dem eine Me nge Zeug verbrannt worden war. Nur Konservendosen und Weinflaschen hatte das Feuer nicht zu zerstören vermocht. Im Hof entdeckte Urban das Streifenmuster eines Laubrechens, mit dem man Reifenabdrücke unkenntlich gemacht hatte. Aus einem Restabdruck folgerte er, daß es sich bei dem Fahrzeug um einen mit sehr breiten Pirellis ausgerüsteten Sportwagen handeln mußte. Dann brach er die Tür zum Keller der Haupthausruine auf. Auf dem nackten Steinboden lag ein Mann. Halbverhungert, mit vor Durst aufgequollenen Lippen und total verdreckt, gab er nur noch geringe Lebenszeichen von sich. Urban blickte Zelda an. „Ist er es?“ Sie nickte nur. „Mein Gott.“ „Hol lieber etwas Wasser“, sagte er. Er horchte den Brustkorb Morleys ab. Im Vergleich zu seinem Gesamtzustand ging die Atmung erschreckend rasselnd und schnell. Das Herz hatte Übertouren. Der Mann 91
fieberte. Lungenentzündung, diagnostizierte Urban. Um das zu sehen, brauchte man kein Arzt zu sein. Morley spürte offenbar die Anwesenheit eines Menschen und schlug die Augen auf. Sie wirkten wie die eines Irren. „Warum quälen Sie mich denn noch“, keuchte er mühsam, „ich habe Ihnen doch alles gesagt.“ Urban erklärte Morley, daß er gekommen sei, um ihn aus seiner üblen Lage zu befreien. „Und die anderen?“ fragte der völlig erschöpfte Anwalt. „Fort“, sagte Urban. „Ein Wunder, daß Sie endlich da sind.“ „Kein Wunder. Ihre Visitenkarte, die Pfundnote, einer fand sie. Erinnern Sie sich?“ „Ich erinnere mich an nichts“, sagte Morley, „an gar nichts mehr.“ „Zelda ist auch hier. Sie kommt gleich.“ „Wasser“, flüsterte der Kranke. „Noch etwas Geduld, Morley. Wir bringen Sie ins Krankenhaus. Dort macht man Sie in wenigen Tagen wieder fit.“ Morley hob die Hand. Kraftlos fiel sie wieder zurück. „Vergebliche Mühe. Ich krepiere.“ „Sie werden ihnen den Gefallen nicht tun“, sagte Urban mit fester Stimme, um Morleys Lebensgeister zu wecken. „Rache ist süß, Morley. Wir kriegen die Bande schon eines Tages.“ Morley stieß ein ungläubiges Kichern aus, als glaube er nichts von all dem, was man ihm versprach. Er schloß die Augen und war wieder weg. Urban rüttelte ihn wach. „Morley, geben Sie mir nur ein paar Hinweise, ich bitte Sie.“ Morley bewegte stumm die Lippen. „Das alles noch mal von vorn, das schaffe ich nicht.“ „Stichworte wenigstens.“ „Was wollen Sie wissen? – Da kam ein Flugkapitän. – Zehntausend Pfund. – Die Reise nach Prag. – Eine Büchse…“ 92
„Inhalt?“ „Magnetplatten für Kleincomputer. – Mikrofilme.“ „Was war auf dem Film?“ „Weiß nicht.“ „Sie müssen es wissen, Morley. Warum brachte man Sie sonst hierher?“ „Landkarten“, murmelte er. „Kyrillische Buchstaben. Russische Pläne. Von Mecklenburg hat sie entworfen. Angriffspläne. Aus der Mongolei nach China. Aus Polen bis an die Doverstraße. Von Ungarn zur Adria. Vom Baikalsee über Persien bis Indien. Nun ganz… Afrika. Bis runter zum Kap… der… nein, es gibt keine gute Hoffnung mehr für mich.“ Das Sprechen hatte ihn sehr angestrengt, und er tauchte wieder weg. Urban fing ihn noch einmal ab, ehe er in tiefe Bewußtlosigkeit versank. „Morley, ich beschwöre Sie, was fanden Sie noch?“ Morley hob die Hand, wie um etwas anzudeuten. „Eisinsel“, murmelte er, „Eisinsel. Meeresströmung, Antarktisches Meer. Angriff. Neue Bombe. Neue Waffen. Neue Raketen.“ Plötzlich hatte er seinen Schuh in der Hand, einen weichen schwarzen Slipper aus Boxcalf. „Da“, sagte er, und noch einmal: „Da!“ Urban untersuchte den Schuh. Es hatte keinen Sinn. Um einen winzigen Mikrofilmpunkt oder dergleichen an einem Schuh zu finden, mußte man ihn zerlegen. In diesem Moment hörte er Zelda kommen. Er steckte den weichen Schuh in die Jackettasche. „Kein Tropfen Wasser“, bedauerte sie. „Der Brunnen ist verschüttet. Nur schmutziges lehmiges Regenwasser in den Pfützen.“ Urban richtete sich auf. „Im Augenblick braucht er es nicht. Er ist bewußtlos.“ „Wir müssen ihn in die nächste Ortschaft bringen.“ „Das strapaziert ihn zu sehr“, entschied Urban. „Du bleibst 93
bei ihm, Zelda, ich fahre los und organisiere einen Arzt, einen Rettungswagen, alles, was ich kriegen kann.“ „Ich danke dir. Du bist ein prima Bursche“, sagte Zelda leise, wie um Morley nicht zu wecken. „Halb so schlimm“, sagte Urban und ging. 9. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit lastete unerträgliche Hitze über der Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Die Wagen rollten mit geschlossenen Fenstern und laufenden Klimaanlagen durch die schattenlosen Straßen der Stadt am Potomac. Vor dem Haupteingang der Georgetown-Universität bog ein dunkelgrüner Ford Fairlaine auf den Parkplatz ab. Der Fahrer stieg aus und eilte zum Telefonhäuschen. Obwohl es zwischen den Bäumen der Parkanlage stand, quoll ein Schwall Hitze aus seinem Inneren, als er die Tür öffnete. Der Mann warf die Münze, drückte rasch eine Nummer in die Tastatur und bekam sofort Anschluß. „Habe schon auf Sie gewartet“, sagte der am anderen Drahtende. „Wird höchste Zeit.“ „Unser Flugzeug hatte Verspätung. Wie steht es?“ „Ich treffe ihn hier, heute, jetzt.“ „Und wo?“ „Kommen Sie zur Kongreßbibliothek.“ „Und wie finden wir dahin?“ „Ganz einfach“, sagte der Angerufene, ein Mann der offenbar in Washington wohnte und sich gut auskannte, „Sie orientieren sich an der Kuppel des Kapitols. Sie fahren darauf zu und dann in östlicher Richtung weiter. Sie werden an ein Gebäude im italienischen Renaissancestil kommen. Das ist die Bibliothek.“ „Wie sind Sie gekleidet?“ fragte der Mann in der heißen Telefonzelle. „Dunkelblaue Hose, weißes Hemd, weiße Baseballmütze.“ 94
„Danke.“ „Viel Erfolg“, wünschte der Angerufene. Das Gespräch war beendet. Die Münze fiel. Im kühlen Inneren der Limousine wurden zwei Zigaretten angesteckt. „Das ist geregelt. – Fotoausrüstung klar?“ Der Mann auf dem rechten Sitz holte einen ledernen Koffer auf die Knie, öffnete ihn und machte die Kamera schußbereit. „Farbfilm?“ „Schwarzweiß wirkt professioneller.“ „Lichtverhältnisse?“ „Gut. Nimm besser einen Gelbfilter.“ „Objektiv?“ „Zoom. Sein Gesicht muß sehr deutlich drauf sein. So, daß ihn jeder sofort erkennt.“ Der Kameramann setzte das schwere Objektiv vor die Contax RTS. Der Bajonettverschluß klickte. Er prüfte den Durchzug des Motors, der den Filmtransport besorgte. „Fertig.“ Sein Partner lenkte den Fairlane auf den breiten Boul evards zum Sitz des Repräsentantenhauses, dann nach links. Gegenüber der Kongreßbibliothek mußten sie in der glühenden Sonne parken. Nach zwanzig Minuten wurde der Mann mit der Kamera ungeduldig. „Wenn es so weitergeht, schmilzt mir noch die Filmemulsion.“ „Nicht mal dreißig Grad.“ Sie stellten das Frischluftgebläse stärker. Es drückte den Tabakqualm aus der Entlüftung im Dachpfosten. „Verdammt, wo bleibt er?“ Gleich darauf deutete der Fahrer nach rechts. „Dunkelblaue Hose, weißes Hemd, weiße Baseballmütze. Das ist er.“ Der andere hob die Kamera, visierte, wartete aber noch. Als der Bursche mit der Baseballmütze über die Treppen der Kongreßbibliothek schräg auf einen anderen zuging und ihm rasch, man konnte es verstohlen nennen, eine zusam95
mengefaltete Zeitung übergab, klickte der Kameraverschluß zum ersten Mal. Sie schossen mehrere Aufnahmen rasch hintereinander. „Das wär’s“, sagte der Kameramann den Apparat absetzend. Der Fahrer ließ an und rollte in Richtung Potomac davon. „Wir müssen darauf achten“, sagte der Mann am Lenkrad der Fordlimousine, „daß nur das Gesicht des Empfängers deutlich zu sehen ist.“ „Klar. Wir opfern doch unseren eigenen Mann nicht.“ „Also wählen wir ein Foto aus, auf dem unser Mann den Rücken zeigt und man nur den Empfänger erkennt.“ „Wer ist der Bursche überhaupt?“ „Hohes Tier bei der Intelligence-Division, einer Untergruppe der CIA.“ „Operationsabteilung?“ „Nein, er ist Boss in der Auswertung von Spionagematerial.“ „Keine Ahnung, wo das alles langgehen soll.“ „Auch gar nicht nötig. Das nennt man höhere Politik. Du entwickelst jetzt die Fotos. Ich liefere sie ab.“ „Wo?“ „Um 20 Uhr bei Sardis. Ich lege den Umschlag unter einen Teller mit Spaghetti.“ „In Ordnung“, sagte der Fotograf, „aber verkleckere ihn nicht mit Tomatensoße.“ * In Washingtoner Regierungskreisen wurden ein paar Leute nachdenklich. Aber nur die, die es eigentlich schon immer waren. Zu ihnen gehörte auch der Chefberater des Präsidenten. Zugleich aber wurde er höchst mißtrauisch. Deshalb rief er spätabends noch einmal bei der Embassy der südafrikanischen Union an. 96
„Ist der Botschafter zu sprechen?“ „Wir erwarten ihn augenblicklich zurück, Sir“, lautete die Auskunft. „Wo kann ich ihn erreichen? Es ist dringend.“ „Er speist, glaube ich, bei Sardis“, sagte der erste Sekretär. Der Präsidentenberater räusperte sich. „Übermitteln Sie ihm, daß ich das Memorandum studiert habe. Es gibt da noch einige Fragen. Deshalb möchte ich ihn gerne persönlich sprechen.“ „Geben Sie mir einen Termin, Sir.“ Der Präsidentenberater schlug vor, es nicht so förmlich zu machen. „Ich warte hier in meinem Büro.“ „Im Weißen Haus, Sir?“ „Ja, in der Amtswohnung des Präsidenten. Ich bin da, auch wenn es spät wird.“ Kurz nach Mitternacht fuhr der Dienstwagen des Botschafters am Weißen Haus vor. Wenige Minuten später saß der Diplomat dem Professor gegenüber, der den kürzesten Draht zum mächtigsten Mann der Welt hatte. Der Präsidentenberater kam sofort zur Sache. „Wir haben hier alles überprüft“, sagte er. „Das Mecklenburg-Material ist Wasser auf die Mühlen jener Leute, die immer vor einer Umarmung Afrikas durch den Ostblock warnten. Offenbar hat die Umarmung schon begonnen.“ „Es ist schon mehr ein Zangengriff, Sir“, bekräftigte der Botschafter, „die eine Backe greift in Äthiopien an, die andere am Kap der Guten Hoffnung.“ „Und wenn die Zange drei Backen hätte, dann säße die dritte wohl in Angola.“ „Angola gehört bereits den Kommunisten“, bemerkte der grauhaarige Südafrikaner mit grimmigem Lächeln. „Das sind natürlich beängstigende Ausgangspositionen. In der Tat.“ „Rund ein Drittel Afrikas“, erklärte der Botschafter mit dem Burenkopf, „ist gefährdet. Deshalb versteht man in 97
Pretoria offengestanden das Verhalten der USA nicht ganz. Ihre Regierung tut alles, damit in Frankreich, in Italien, in Portugal keine kommunistische Regierung an die Macht kommt. Auf der anderen Seite gibt sie Afrika fast kampflos…“ Der Berater des Präsidenten schob die Fäuste in die Taschen. „Was sollen wir tun, Exzellenz?“ „Niemand verlangt, daß uns die USA liebend an ihr Herz drückt. Aber wir brauchen Waffen.“ „Dabei bleibt es doch nicht.“ „Waffen, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Aufhebung des Embargos.“ „Das ist gegen die öffentliche Meinung Amerikas so schnell nicht durchzusetzen.“ Jetzt fängt er gleich an von unserer Apartheidspolitik zu sprechen, dachte der Botschafter. Dann muß ich mit dem Negerproblem kontern, und daß sie heute noch in Louisiana so etwas wie moderne Sklaverei dulden. Den ausgebeuteten Landarbeitern im Süden geht es heute doch mieser als zur Zeit von Onkel Toms Hütte. – Und wenn ich das sage, kann ich gleich wieder nach Hause gehn. „Dann“, sagte der Botschafter sich beherrschend, „schikken Sie uns wenigstens Waffen. Und Überschallbomber.“ „Zur Beförderung Ihrer Atombomben.“ „Die würden wir nur im äußersten Notfall einsetzen, Sir. Wenn uns das Messer am Halse sitzt.“ „Oder wenn sich die ominöse Eisinsel Ihrem Territorium nähert.“ Der Botschafter senkte die Stimme. „Sie trägt Silos voller Raketen. Raketen, deren Köpfe weiß Gott nicht hohl sind.“ Der Präsidentenberater nahm einen Schluck Kaffee aus einer winzigen Tasse und schielte über ihren Rand hinweg, ehe er sie absetzte. „Sehen Sie, Exzellenz, das ist es, was ich nicht verstehe.“ 98
„Wie meinen Sie das bitte, Professor?“ Der Berater des Präsidenten zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und entnahm ihr eine Reihe großformatiger Hochglanzfotos. „Sie dürfen nicht glauben, daß wir untätig sind“, sagte er. „Hier, diese Aufnahmen haben unsere Fernaufklärer gemacht. Ein Dutzend Fotos der Insel. Und nichts darauf zu sehen. Aber auch rein gar nichts anderes als Eis, Eis, Eis.“ Der Botschafter der Südafrikanischen Union nahm die Fotos, betrachtete sie und legte sie lächelnd weg. Dann entgegnete er: „Und Sie dürfen nicht annehmen, Sir, daß wir am Kap der Guten Hoffnung schlafen. Selbstverständlich haben wir in Moskau Protest eingelegt. Wir protestierten gegen die Okkupation der Eisinsel Nummer vierzehn durch sowjetische Streitkräfte. Daraufhin übersandte man uns ebenfalls Fotos. Sie gleichen den Ihren aufs Haar. Unsere eigenen Fotos sehen bekanntlich anders aus. Sie liegen Ihnen vor. Das alles zwingt uns zu dem Schluß, daß die Fernaufklärer der USLuftwaffe die Insel zu einem Zeitpunkt fotografierten, als auch die Flugzeuge der Roten Luftflotte sie ablichteten.“ „Welchen Zeitpunkt meinen Sie?“ erkundigte sich der Vorsitzende des Sicherheitsrates der USA. „Den Zeitpunkt, Sir“, präzisierte der Botschafter, „zu dem die Inselbesatzung bereits alle Anlagen unter das Eis gebracht hatte. Man sieht deshalb nichts auf den Fotos, weil sich die Russen perfekt zu tarnen verstehen und Neuschnee fiel. Seit Tagen spielt sich auf I-S 14 alles unter Eis und Schnee ab.“ Der Präsidentenberater bekam schmale mißtrauische Augen. „Seit wann haben sich die Russen die Tarnkappe übergezogen“, wollte er wissen. „Etwa seit dem Zehnten dieses Monats, Sir.“ „Dann war vor dem Zehnten, also um den Achten herum, noch alles ohne Tarnung.“ 99
Dies bestätigte der Diplomat. „Richtig. Man konnte die Zelte, die Hütten, den Sendeturm, die Kraftstation, die Depots, die Landepisten fast mit bloßem Auge erkennen.“ Wieder ging der Präsidentenberater zu seinem Schreibtisch und entnahm ihm ein anderes Foto. Bevor er es dem Diplomaten aushändigte, gab er eine Erklärung ab. „Dies ist eine Aufnahme unseres militärischen Beobachtungssatelliten Samos sieben. Aufgenommen am Vierten dieses Monats, als die Eisplattform noch südlich der Prinz Eduard Insel trieb. Akzeptieren Sie dieses von Samos zur Erde gefunkte Foto?“ „Darf ich sehen?“ fragte der Botschafter. Der Amerikaner übergab es ihm. Es zeigte die Insel in der bestmöglichen Vergrößerung. Man war bis an die Korngrenze gegangen. Kein Zweifel, es war I-S-14. Die Form stimmte einwandfrei. Doch auf der Insel war nichts zu sehen als eine makellos weiße Fläche. Der Botschafter nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und fragte: „Wie bitte, Sir, ist der Weg dieser Fotos vom Satelliten bis hierher?“ Der Amerikaner schwamm jetzt ein wenig. „Nun, der Satellit tastet die Aufnahmen ab und funkt sie herunter zu unserer Empfangsstation auf Feuerland. Von dort gehen die Bilder per Kurierpost nach Washington.“ „Zur CIA.“ „Natürlich zur Geheimdienstzentrale. Dort werden sie ausgewertet.“ „Von wem?“ „Ich glaube, das macht die Intelligence-Division, Abteilung sieben C.“ „Wer leitet sie?“ Da fühlte sich der Amerikaner überfragt. „Ist das denn wichtig?“ 100
„Sehr“, betonte der Botschafter. Also hängte sich der Amerikaner ans Telefon und holte sich von irgendwoher die Auskunft ein. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: „Der Leiter von ID ist Jim Manor.“ „Zuverlässiger Mann?“ „Ich kenne ihn persönlich.“ Daraufhin fand der letzte Austausch von Fotos statt. Der Botschafter von Südafrika entnahm der Innentasche seines dunkelblauen Jacketts eine gestochen scharfe Aufnahme. Sie zeigte einen Mann, der auf den Stufen zur KongreßBibliothek von einem anderen, dessen Rücken man nur sah, etwas entgegennahm. Nachdem der Vorsitzende des Sicherheitsrates die Fotografie betrachtet hatte, fragte der Botschafter: „Ist das Jim Manor von ID?“ „Ja, offenbar schon. Aber wer ist der andere?“ Der Botschafter lächelte. „Ein Agentenführungsoffizier des russischen Geheimdienstes KGB.“ Einen Moment schwieg der Berater vor Verblüffung. „Und was übergibt er da?“ „Eine Zeitung, in der sich ein Umschlag mit zehntausend Dollar in bar befindet.“ Der Amerikaner setzte sich erst einmal hin. „Und was bedeutet das?“ „Das Satellitenfoto von der Eisinsel vierzehn wurde vom Chef Ihrer Auswertungsstelle gegen hohes Honorar manipuliert.“ Der Professor tupfte sich den Schweiß ab. „Mein Gott.“ „Das Ihnen vorliegende Satellitenfoto ist einwandfrei retuschiert, Sir.“ „Das würde beweisen…“ „… daß die Eisinsel von den Sowjets besetzt ist und daß 101
sich diese Bedrohung unserem Territorium tagtäglich um hundert Meilen nähert, Sir.“ „Das ändert allerdings die Situation“, murmelte der Berater des Präsidenten. „Total.“ Der Botschafter erkannte, daß der Moment für einen guten Abgang gekommen war. Es konnte kaum besser werden. Er erhob sich und beugte sich vor: „Tragen Sie dem Präsidenten unsere Wünsche vor, Professor?“ „Gleich morgen früh, Exzellenz.“ „Und glauben Sie, daß sich die USA in diesem Fall entschiedener verhalten werden als im Falle Angola und Somalia?“ „Das möchte ich Ihnen fast zusichern“, erklärte der Sicherheitsberater. „Dann“, erwiderte der massige Südafrikaner, „war meine Mission nicht vergebens, Sir, denn wir sind in großer Gefahr. – Der letzte Termin für eine wirksame Unterstützung unseres Landes war eigentlich schon gestern.“ Eine Stunde nach Mitternacht verließ der Botschafter das Weiße Haus. Zu seinem Chauffeur sagte er: „Fahren Sie mich noch ein wenig durch die Stadt, Jan.“ Beim Fahren konnte er am besten nachdenken. Jetzt galt es, die richtigen Schritte zu tun. Immerhin hatten sie einen halben Sieg errungen. Der mußte gefestigt werden. Nach zehn Meilen durch das nächtlich ausgestorbene Washington kam der Botschafter zu dem Schluß, daß es am besten sei, wenn er alles Weitere seiner Regierung in Pretoria überließ. Dort hatten sie die klügsten Experten. Zehn Gehirnen fiel mehr ein als nur einem. Und wenn etwas schiefging, dann wirkte es sich wenigstens nicht auf seine Karriere aus. „Nach Hause, Jan“, rief der Botschafter seinem Fahrer zu. In der Botschaft empfing ihn sein Sekretär mit einer interessanten Nachricht. „Jim Manor“, berichtete er, „von ID sollte in seinem Ap102
partement festgenommen werden. Er ist spurlos verschwunden, Exzellenz.“ „Soso“, sagte der Botschafter nur. 10. Cornwall lag hinter ihm. Jetzt fuhr Urban schon auf den Straßen der Grafschaft Devon. Nachdem er Arzt und Krankenwagen aufgetrieben hatte und Red Morley in erfahrenen Händen wußte, hatte er sich in Penzance einen Mietwagen besorgt, um so schnell wie möglich nach London zurückzukehren. Der Mini klapperte, der Motor war lahm wie ein alter Gaul, und Urban wußte nicht wohin mit seinen langen Beinen in dem engen Gehäuse aus rostendem Blech. Aber der Ritt in dem Mini war immer noch eine Idee besser als der Bus. Rechterhand dehnte sich der Dartmoor Nationalpark. Die Sonne kam schon über die Pappeln heraus. Urban wurde müde. Um es nicht überhandnehmen zu lassen, fuhr er eine Parkbucht an, stieg aus und atmete die immer noch taufrische Luft. Beim Griff nach der Zigarettenpackung entdeckte er Mo rleys biegsamen Slipper in der Jackettasche. Er zog ihn heraus und durchsuchte ihn, was jetzt, bei Tageslicht kein Problem mehr war. Der Absatz, als Geheimversteck gewöhnlich am besten geeignet, ließ sich weder verdrehen noch verschieben. Er saß absolut fest, vernagelt und verklebt. Urban suchte im Innenfutter und im Gummizug unter der Lederspange. Entweder der Slipper war kein Geheimve rsteck, oder was immer er enthielt, befand sich in einer der vielen Zwischenschichten. Vielleicht im Fersenleder, im Oberleder oder zwischen der Brandsohle und der Lauf sohle. Doch dann fanden seine tastenden Finger etwas. Die Spit103
ze des Slippers war mit Watte ausgepolstert. Eigentlich machte man das nur, wenn ein Schuh sich geweitet hatte, oder wenn er von vornherein zu groß war. Maßschuhe paßten gewöhnlich wie angegossen. Also untersuchte Urban die Watte sorgfältig. Tatsächlich fand er darin ein Stückchen Zelluloid, nicht größer als ein Stubenfliegenflügel. Er klemmte den Mikrofilm zwischen die Blätter seines Notizbuches und fuhr weiter Richtung Exeter. Die Neugier, was sich auf dem Mikrofilm befand, quälte ihn immer mehr. Das nächste Mikrofilmlesegerät stand noch dreihundert Kilometer entfernt bei MI-5 in London. Aber auch ohne komplizierte Technik, mit einer Lupe, viel Sonne und einem Blatt Papier konnte man zur Not die Geheimnisse eines Mikropunktes lüften. In einem der Vororte von Exeter hielt Urban an, betrat einen Schreibwarenladen und verlangte eine Lupe. Lupen gab es nicht. Daraufhin verlangte Urban einen Fadenzähler. Fadenzähler hatten sie erst recht nicht. Im letzten Moment fiel ihm noch etwas ein. „Wie wär’s mit einem Brennglas?“ Brenngläser, Ausschußware aus der Linsenherstellung, waren als Spielzeug für Kinder überall sehr beliebt. Er bekam einen ganzen Karton hingestellt und wählte eines von den großen. Der Rand war schartig, das Glas nicht allzu unrein, aber stark gewölbt. Er bezahlte ein paar Penny dafür. Noch am Parkplatz machte er sich an den Versuch. Das System, das er improvisierte, entsprach dem des Diaprojektors. Er legte ein Blatt aus dem Notizbuch auf die Knie, nahm die Lupe in die linke Hand und klemmte den Mikrofilm in ein oben eingekerbtes Streichholz. Indem er Lupe und Film so hielt, daß ihre Linie in der Verlängerung auf die Sonne zeigte, veränderte er die Abstände von Lupe zu Mikrofilm und Lupe zur Papierebene so lange, bis auf dem weißen Blatt die Projektion erschien. Es war ein mühsames Verfahren. Aber es lohnte sich. 104
Sie trafen sich in der Bar des Claridge-Hotels kurz nach 18 Uhr. Patrick von MI-5 wirkte blasser und kleiner, als Urban ihn in Erinnerung hatte und ausgesprochen hohlwangig. Vielleicht lag es aber auch daran, daß seine Pfeife ve rstopft war und er die Backen nach innen saugte. Mit aufgesetzter Fröhlichkeit rief Patrick: „He Champ, wie wars in Cornwall?“ „A long way“, sagte Urban. „Und wie war es bei dir in Berlin?“ Kommentarlos winkte der MI-5-Mann ab. Vermutlich hatten sie ihn in Berlin hart auflaufen lassen. „So ist eben unser Geschäft. Mal Regen, dann bessert sich das Wetter und es hagelt nur.“ „Woher weißt du, daß ich in Cornwall war?“ fragte Urban. „Hast du mir einen Taxifahrer hinterhergeschickt, oder einen Mann mit Glatze und dreihundert Pfund Lebendgewicht?“ Erst sah Patrick ihn ein wenig verständnislos an, dann sagte er: „Das muß ein anderes Komitee gewesen sein. Wir beschäftigen weder Taxifahrer noch derart übergewichtige Glatzköpfe.“ „Dachte ich mir.“ Sie bestellten Drinks. Patrick etwas mit Scotch und Quellwasser, Urban etwas mit Bourbon und einem Spritzer Cinzano. Dann berichtete er Patrick in Stichworten von den Ereignissen seit ihrem Gespräch auf dem Autobahnparkplatz in Hessen. Patrick vergaß, an der Pfeife zu ziehen. Als Urban endete, war seine Pfeife kalt, und er steckte sie mit dem scharfen Flammenstrahl aus seinem Gasfeuerzeug wieder an. „Mecklenburg arbeitete also für die Russen.“ „Bis zu seinem Tode.“ „Und entwickelte alle möglichen strategischen Konzepte.“ „Zum Teil sehr häßliche.“ 105
„Du hast Beweise?“ Urban schaute sich erst um, ob sie auch unbeobachtet waren. Aber sie saßen ganz allein in der hintersten Ecke. „Ja und nein“, sagte er. „Zwar gibt es Aussagen eines ehemaligen KGB-Agenten, und dann noch diesen Mikr ofilm, den Morley aus der Prager Kurierpost an sich brachte, aber…“ „Was ist drauf?“ „Fotos von Dokumenten und Plänen, betreffend Angriffe auf China und die allmähliche Einbeziehung Europas und Afrikas in die sowjetische Machtsphäre.“ „Mit ein paar vorgeschobenen Kubanern wie in Angola ist das aber nicht zu machen.“ „Nein, es würde wohl etwas mehr Krieg bedeuten“, spielte Urban die Sache herunter. „In Rhodesien, in Südafrika.“ „Da läuft offenbar schon einiges.“ „Die Eisinsel?“ fragte Patrick jetzt direkt. Urban ließ sich nicht näher darüber aus, sondern nahm einen Schluck. „Nun, das sind doch Beweise“, sagte Patrick. „Und wiederum nicht“, schränkte Urban ein. „Wie darf ich das verstehen, bitte?“ Urban entnahm seinem Notizbuch ein herausgerissenes, mehrmals zusammengefaltetes Blatt, das zwischen den Seiten klemmte. „Inhalt ein Mikrofilm. Ich schenke ihn euch. Bitte eine Kopie an mein Hauptquartier.“ „Dieser Mikrofilm, ist er nun Beweis oder Gegenbeweis?“ „Das überlasse ich eurem Scharfsinn.“ „Und was fand dein Scharfsinn daran auszusetzen?“ wollte Patrick partout wissen. Urban erklärte es ihm. „Sämtliche Niederschriften erfolgten auf Dokumentenpapier des sowjetischen Geheimdienstes GRU.“ „Na und?“ 106
„GRU“, fuhr Urban fort, „heißt Gawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije.“ „Wie allgemein bekannt ist.“ „Am meisten bekannt müßte es natürlich den Herstellern des Dokumentenpapiers gewesen sein. Warum aber schrieben sie dann Raswedywatelnoje falsch. Nämlich mit i statt mit j?“ „Zufall. Ein Versehen.“ „Unmöglich.“ „Oder sie haben die offizielle Schreibweise geändert.“ Urban schüttelte den Kopf. „So etwas geht bei den Russen noch langsamer als bei uns. Ich weiß, daß in der Orthographie manche Unsinnigkeiten stecken, und daß diese allmählich ausgemerzt werden. Aber wenn wir in Deutschland hundert Jahre brauchen, um zur Kleinschreibung überzugehen, dann dauert jede Veränderung bei den Russen bestimmt fünfhundert Jahre. Im Grunde sind die Herren Revolutionäre nämlich konservativ wie eine gotische Kathedrale.“ Patrick hatte geschaltet. „Gefälschte Dokumente. Und diese auch noch absichtlich zugespielt. Das mißfällt dir.“ Damit waren sie beim nächsten Stichwort angelangt. „Was weiß man bei MI-5 über die Ehe des Anwalts Red Morley?“ fragte Urban. „Falls man sich überhaupt Gedanken macht, dann hält man sie wohl für intakt.“ „Sie ist geschieden“, erklärte Urban. Patrick pfiff tonlos. „Glaubst du daraus auf die Rolle der Morleys in diesem Spiel schließen zu müssen?“ „Ich will nicht voreilig sein“, sagte Urban. Patrick stopfte seine Pfeife neu, nachdem er sorgfältig den Kopf ausgekratzt hatte. Als die Tabakfüllung die richtige Festigkeit hatte, steckte er die Pfeife wi eder an. Allmählich hüllte ihn eine Wolke duftenden Rauches ein. 107
Urban schnupperte. Irgend etwas an dem Tabakduft löste ein Signal in ihm aus. „Honig“, rief er spontan. Patrick nickte. „Klar, Honig ist meistens dabei. Auch etwas Rum und andere Essenzen, die man bei der Fermentierung zusetzte.“ „Honig“, murmelte Urban, „die Honigblume.“ Patrick musterte ihn schräg. „Bei jedem anderen würde ich sagen, eine phantasievolle Ideenverbindung. Aber bei dir kommt diese Assoziation nicht von ungefähr.“ „Prothear“, gab Urban das nächste Stichwort. „Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben einen Prothearstrauß in Morleys Wohnung am Regents Park.“ Patrick nuckelte an seiner Pfeife, nahm sie aus den Zähnen, trank einen Schluck Scotch. „Nicht uninteressant“, sagte er. „Prothear blüht hier um diese Jahreszeit nämlich gar nicht. Das heißt, in England kommt Prothear meines Wissens überhaupt nicht vor.“ „Wo dann?“ erkundigte sich der botanische Analphabet Urban. „Das weißt du nicht?“ „Nun, oft ist zuviel wissen nur eine Belastung.“ Patrick grinste. „Prothear oder auch Honiggewächs genannt, ist die Nationalblume Südafrikas.“ Minutenlang saß Urban nachdenklich da und zählte zusammen, was er hatte. Er tat es mit soviel Intensität, daß er das Mädchen drüben auf dem Barhocker anstarrte, ohne wahrzunehmen, was für schöne hoch übereinandergeschlagene Beine es zeigte. Nylonfesseln, Nylonwaden, Nylonknie, Nylonschenkel, Nylonslip. – Ist ja doch alles nur aus Nylon, dachte er. Er hob das Kinn und grinste Patrick mit seinem Muske lschaden-Dauerlächeln an. 108
„Ich habe das Gefühl“, sagte Urban, „wir sollten ein Auge auf die Morleys haben.“ „Kann ja nicht allzu schwer sein.“ „Wenn Red wieder hochgepeppelt ist“, fuhr Urban fort, „muß man sich den Jungen noch einmal vorknöpfen.“ „Ich werde mich darum kümmern“, versprach Patrick. Sie tranken jeder noch einen Doppelten. Dann fuhr Patrick in sein Büro und Urban mit dem Lift auf sein Zimmer. Er war jetzt vierzig Stunden ohne rechten Schlaf. Wenn man von der kurzen Ruhepause auf dem Liegesitz in Zeldas Lotus absah. – Aber Beischlaf galt wohl nicht als vollwertiger Schlaf. Müde kippte Urban ins Bett. * Das Tosen des Straßenverkehrs nahm Urban nur im Unterbewußtsein wahr. Aber das Telefon machte ihn wach. Licht an, ein Blick auf die Uhr. Noch nicht einmal Mitternacht. Urban hob ab. MI-5 war an der Strippe, wer sonst. Aber Patrick riß ihn nicht ohne Grund aus dem ersten Schlaf. „Vor mir liegt eine Zeitung“, begann er, „Abendausgabe. Evening Star.“ „Na dann viel Vergnügen beider Lektüre.“ „Bin schon durch“, sagte Patrick. „Eigentlich war ich schon bedient, als ich die Seite zwei aufschlug.“ „Sinken deine Leyland-Aktien?“ „Hab nur zwei Stück, und tiefer können die gar nicht mehr fallen.“ „Was hat dich dann so erschüttert?“ „Ein Foto“, berichtete er, „zeigt einen Herrn und eine Dame. Beide in großer Abendtoilette bei einem Ball, den der Herzog von Devonshire gab.“ Urban stöhnte. „Bleib mir bloß vom Hals mit Gesellschaftsklatsch.“ 109
„Dieser wird dich interessieren.“ „Dann mach schnell, bevor ich restlos wach bin und dann wieder einen Schlaf-Drink brauche.“ Daraufhin knallte es ihm Patrick hin wie ein Elfmeterschütze dem Torwart den Ball. „Mister Red Morley, Rechtsanwalt, als Mitglied der Londoner Society bekannt, gemeinsam mit Ehefrau Zelda, geb. Sommerland, an der Nordküste Cornwall tot aufgefunden.“ Urban fluchte leise in die Daunendecke. „Soll ich dir den Kommentar vorlesen?“ fragte der Engländer. „Nein.“ „Dann hör zu, was sich der Zeitungsmensch aus den Fingern gesogen hat. – Da die Eheleute Morley als erfahrene Sportschiffer gelten, wird nach Lage der Dinge ein Segelunfall ausgeschlossen. Ein Mordanschlag ist nicht von der Hand zu weisen. Spezialisten von Scotland Yard sind in den späten Nachmittagsstunden nach Cornwall geeilt. Und so weiter und so fort…“ Weil Urban schwieg, fragte Patrick, ob er noch dran sei. „Das nennt man den Draht durchschneiden“, kommentierte Urban. „Glaubst du, der Draht zu Morley wäre ergiebig gewesen?“ fragte Patrick. Urban setzte sich im Bett auf, lehnte sich gegen die gepo lsterte Rückwand und sagte: „Morley hatte doch von Anfang an die falschen Karten.“ „Wie darf ich das verstehen?“ „Was seit Wochen mit ihm und um ihn herum passierte, war minutiös vorgeplant. Der Auftrag, seine Reise nach Prag, die Übernahme des Kuriermaterials, sogar seine Neugier, alles war vorausberechnet Sein Verschwinden, der Umstand, daß Zelda MI-5 um Hilfe bat und damit die Geheimdienste an die Geschichte heranbrachte und nicht zuletzt, daß jemand von uns den Mikrofilm in die Hand bekam, alles programmiert.“ 110
„Du glaubst doch nicht etwa…“, wandte Patrick ein. „Wir waren nur Marionetten“, sagte Urban. „Jetzt glaube ich so sehr daran, daß ich fast davon überzeugt bin. Mit dem Stichwort Mecklenburg sollte der BND eingeschaltet we rden. Wir sollten Nachforschungen anstellen. Unsere Erkenntnisse sollten die Pläne untermauern, die man uns in die Hand spielte.“ „Kann man“, fragte Patrick, „das denn so präzise timen?“ Urban lachte bitter auf. „Heutzutage ist vieles manipulierbar und noch mehr möglich.“ „Und zu welchem Zweck, wenn ich fragen darf?“ „Schätze, es geht um Südafrika“, erklärte Urban. „Die Russen haben uns das nicht eingebrockt.“ „Natürlich nicht. Es waren die Leute, denen es an den Kragen geht.“ „Was noch zu beweisen wäre.“ Urban hatte einen Einfall. „Morley war doch verschuldet.“ „Wie ein Gardeoffizier.“ „Erst borgt man ihm bereitwillig Geld, dann fordert man es plötzlich von einem Tag auf den anderen zurück und setzt ihn unter Druck.“ „So kann man einen Mann fertigmachen“, räumte Patrick ein. „Wer war sein Bankier?“ wollte Urban wissen. „Stellen wir fest“, versprach Patrick. „Melde mich wi eder.“ * Patrick riß Urban nicht noch einmal aus dem Schlaf. Urban hatte sich eine Flasche Champagner kommen lassen und ein paar gute Havannazigarren. Er rauchte die Partagas, süffelte den hervorragenden Sekt und grübelte und wartete auf den Anruf. Dieser kam prompt. 111
„Dein Tip war Klasse“, sagte Patrick. „Die Sache scheint tatsächlich aus dieser Kiste zu kommen.“ „Wie hoch waren Morleys Schulden?“ „Rund hunderttausend Pfund. Und nicht mal bankmäßig abgesichert.“ „Man brachte ihm großes Vertrauen entgegen“, spottete Urban. „Oder man präparierte ihn schon bei Zeiten zum Werkzeug.“ „Und wer sind die Präparatoren?“ „Diese City-Banker-Bande um Sir Henry Westham.“ „Welcher Art sind ihre Geschäfte?“ „Vorwiegend Goldhandel.“ Urban stieß beim Telefonieren mit dem Champagnerglas gegen die Zähne. Jeder Stoß eine neue Frage „Goldgeschäfte wickelt man doch vorwiegend mit der Südafrikanischen Union ab.“ „Westhams Gruppe kann man getrost die Hausbank der Südafrikaner nennen.“ „Also uralte Verbindungen.“ „Das ist nicht übertrieben.“ „Und wie erreicht man Sir Henry?“ „Er hält sich derzeit in Pretoria auf.“ Urban seufzte. „Wo sonst wohl. Merkst du was, Patrick?“ „Ja, allmählich.“ „Sie waren beide nur ihre Werkzeuge“, faßte Urban zusammen, „Morley und seine Frau. Man wischte sie weg, als man sich ihrer bedient hatte. Braucht man andere, wird man neue Werkzeuge finden.“ „So laufen die Dinge eben“, sagte Patrick. „Oder sie laufen auch nicht“, entgegnete Urban scharf. „Was hast du vor?“ „Koffer packen, abreisen.“ „Wohin?“ Darüber schwieg sich Urban zunächst noch aus. 112
„Alles ist fabelhaft präzise vorausberechnet. Sogar das Auftauchen der Eisinsel vor dem Kap der Guten Hoffnung, gespickt mit Russen und Raketen.“ „Damit stimmen sie sogar die Amerikaner um. Damit zieht Pretoria auch uns auf seine Seite.“ „Ich muß unbedingt nachprüfen“, fuhr Urban fort, „ob die verdammten Pläne auf dem verdammten Mikrofilm echt sind.“ „Wie denn?“ „Die Pläne“, erläuterte Urban, „erwähnen das Eisinselprojekt. Wenn diese Insel existiert, wenn es wahr ist, was über sie geschrieben wird, dann sind auch die Pläne echt. Logisch.“ „Ist ja ganz kinderleicht zu kontrollieren, ist das.“ „Klar, man muß nur hin. Schnellstens. Der letzte Termin war eigentlich schon gestern.“ „Dort unten ist es aber kalt.“ „Keine Angst“, sagte Bob Urban, „ich nehme Pulswärmer mit.“ 11. Über dem Flughafen München-Riem hing der Himmel tief. Es sah nach Regen aus. Etwas abseits auf dem Vorfeld parkte ein Lufthansa A-300 Airbus, ein bis zu dreihundertfünfzig Passagiere fassendes Verkehrsflugzeug. Ein VW-Tansporter rollte auf die Maschine zu. Sieben verhältnismäßig junge Männer verließen den Bus. Statt der Uniformen von Flugkapitänen trugen sie lässige Jeans, Rollkragenpullover und Nylonwindjakken. Trotzdem ergriffen sie von dem riesigen Flugzeug so selbstverständlich Besitz, als gehöre es ihnen. Auch die Männer vom Bundesgrenzschutz, die mit Stahlhelmen und umgehängter Maschinenpistole ihre Wachrunden gingen, nahmen kaum Notiz von ihnen. Sie waren da113
von unterrichtet, daß eine Gruppe Lufthansapiloten an diesem Morgen einen Erprobungsflug unternehmen würde. Das Innere des Flugzeuges wirkte leer und kalt und so gemütlich wie eine ungeheizte Turnhalle. Keine Stewardeß stand lächelnd da, keine Sweetmusik tröpfelte aus den Lautsprechern, keine Drinks wurden gereicht. Nur etwas Ladung, einen planenumhüllte Kiste, stand neben dem Schott. Drei der jungen Männer gingen sofort nach vorne ins Cockpit und trafen die Startvorbereitungen. Die Reservebesatzung machte es sich irgendwo in den Sesseln der ersten Klasse bequem. Nur einer, der siebente Mann, klappte ein Feldbett auseinander und legte sich der Länge nach darauf. Der Kapitän der Besatzung Nr. l sagte zu seinem Copiloten: „Wir machen den Start hier und das Zwischentanken in Kairo. In Nairobi übernehmen die Kameraden.“ „Roger“, bestätigte der Copilot und schaltete ein Dutzend Kipphebel. Lampen glühten auf. Anzeigegeräte bekamen Leben. Die Elektronik wurde warm. Die Zielkoordinaten wurden in den Navigationscomputer eingespeichert. Die Funkgeräte summten. Kurze Verständigung mit dem Tower. Motoren an. Die zwei GE-Triebwerke pfiffen los. Fertig zum Start. Der Kapitän gab mehr Power. Die Maschine rollte. Minuten später wurde der einhundertfünfzig Tonnen schwere Vogel von der titanischen Kraft seiner Turbinen steil in den Himmel gedrückt. Flughöhe neuntausend Meter. Langstrecken-Reisegeschwindigkeit 890 km/h. Kurs Südost. Funkverkehr mit Mailand, mit Rom, mit Athen. Passieren von Kontrollzonen auf vorbestimmten Luftstraßen. Nach vier Stunden Landeanflug auf Kairo. Die Wüste, die Stadt, der Nil. Das übliche Zeremoniell. Triebwerke drosseln, weit um die Stadt herum ausholen, Sinkflug. Alle 114
Klappen. Ein grauer Streifen Beton im gelbroten Sand. Aufsetzen, ausrollen. Engine cutten, Triebwerke abschalten. Schon kommt der Shellwagen heran, um sein Kerosin in die Tanks zu pumpen. Der Mann auf dem Feldbett schlief volle zwölf Stunden durch. Er verschlief die Landung in Nairobi und das letzte Zwischentanken in Durban. Er schlief, während zehntausend Kilometer weit der Kontinent Afrika unter ihm hinwegzog. Von diesem Geheimauftrag, der als Erprobungsflug getarnt war, interessierte ihn nur das Ankommen am Ziel. Als die A-300 mit dem blauen Kondor im ge lben Feld wieder Wasser unter den Flügeln hatte, diesmal den Indischen Ozean, stand der Kapitän der zweiten Besatzung von seinem Sessel im Cockpit auf und überließ die Maschine seinem Copiloten und dem Computer. „Muß mich um unseren Passagier kümmern, ob der noch lebt.“ „Schläft wie ein Toter.“ „Noch toter als tot“ Der Käptn schloß die Cockpittür hinter sich, schlenderte den Mittelgang hinunter bis zu der freien Stelle vor der Galley. „He, Oberst Urban“, rief er und rüttelte den Schläfer wach. Urban schlug die Decke zurück und war im Nu voll da. „Ist es soweit?“ „Noch neunzig Minuten.“ „Kann ich mich ja noch mal rumdrehn.“ „Ihre Nerven“, sagte der Lufthansakapitän kopfschüttelnd. „Warum Nerven“, fragte Urban. „Was glauben Sie, wie froh ich bin, daß diesmal andere Leute die Kiste fliegen. Ist mir geradezu eine Erholung. Sie sind es, die diese verdammte Eisscholle finden müssen. Ich springe nur ab.“ „Man wird Sie heiß empfangen.“ „Eher kühl“, meinte Urban. Der Lufthansapilot fläzte sich in einen der Passagierstühle. 115
„Die Russen werden sich ins Fäustchen lachen, wenn ein Topagent wie Sie vom Himmel heruntersegelt.“ Urban wischte sich die Schlaf falten aus dem Gesicht. „Die Russen sind doch gar nicht dort.“ „Das behaupten Sie. Die Südafrikaner behaupten das Gegenteil. Und die haben vermutlich genauere Informationen.“ Urban gähnte. „So steht Behauptung gegen Behauptung.“ „Keiner weiß nix Genaues.“ Urban steckte sich eine MC an und blickte versonnen in den aufsteigenden Rauch. „Und deshalb muß einer hin, Capitano.“ „Warum aber Sie?“ „Wen es eben trifft.“ Der Lufthansakapitän wollte es lieber nicht allzu genau wissen. Er war ganz froh, daß er nicht alles wußte, und vor allem war er froh, daß er in diesem sicheren angenehm klimatisierten Flugzeug bleiben durfte. Er ging weg und kam nach wenigen Minuten mit einer Karte wieder. „Das ist unser Standort“, sagte er, auf einen Punkt halbwegs zwischen dem Kap und den Prinz Edwards-Inseln deutend, „und hier muß laut letzter Peilung die Scholle treiben.“ Urban schaute auf die Uhr. „Sechzehn Uhr Ortszeit.“ „Wir erreichen das Ziel in der Dämmerung.“ „Nicht gut, aber auch nicht schlecht.“ „Jetzt um diese Jahreszeit wird es ja nie ganz dunkel.“ Urban hatte sich wieder zurückgelehnt. „Wie machen wir es mit Ihrem Rücktransport?“ fragte der Mann von der Lufthansa. „Gibt mehrere Möglichkeiten, denke ich.“ „Was uns betrifft, wir landen nach dem Absetzmanöver auf der Hauptinsel der Prinz-Edward-Gruppe. Wir täuschen 116
einen Hydraulikschaden vor und fordern ein Ersatzteil an. Das kann dauern. Dann warten wir auf Ihren Funkspruch.“ Urban zeigte verstanden. „Wie lange etwa werden Sie auf der Eisplatte zu tun haben, Oberst?“ Jetzt mußte Urban grinsen. „Stunden, Tage.“ „Sie kennen unsere Situation.“ „Klar. Sie können nicht unbegrenzt auf Prinz Edward rumhängen.“ „Und auf der Eisscholle landen, um Sie aufzupicken ist mit diesem Vogel auch nicht möglich. Unsere Minimumstartstrecke beträgt…“ Urban winkte ab. „Auf Eis geht das sowieso nur mit Kufen.“ „Wir schicken Ihnen auf jeden Fall eine kleine Chartermaschine rüber. Das ist bereits vororganisiert.“ „Na also“, sagte Urban, „bloß keine Panik.“ Wozu sollte er sich aufregen. Es konnte soviel schiefgehen, daß es keinen Sinn hatte alles zu berücksichtigen, was schief gehen konnte. „Noch ein kleines Problem, Käptn?“ „Einen Kaffee?“ „Haben Sie keinen Bourbon in der Bar?“ fragte Bob Urban. * Das Radar hatte die Eisinsel aufgefaßt. Als der Jet seine Reisehöhe verließ, wurde er bald von heftigen Böen durchgeschüttelt. Weit draußen vor den Cockpitfenstern schwankte der dunstige Horizont. „Da unten ist einiges los“, rief der Copilot. „Einiges“, bemerkte der Bordingenieur, „die Hölle würde ich sagen!“ 117
Erst auf Höhe tausend konnten sie im aufgewühlten Grau des Meeres das Weiß der Eisinsel erkennen. Sie glich einem Ei mit angeknackter Schale. Der Kapitän nahm das Mikrofon. „Wir umkreisen erst das Ziel“, gab er durch. „In wenigen Minuten werden Sie im Paradies sein, Oberst Urban.“ Sie gingen so tief wie nur möglich bis auf Sprunghöhe vierhundert. Dazu drosselten sie die Triebwerke und fuhren alle Gears und Flaps. Das riesige Flugzeug war jetzt nur noch wenig über zwe ihundert Stundenkilometer schnell und befand sich in einem lebensgefährlich instabilen Flugzustand. Die Instrumente gaben deutlich darüber Auskunft. „Noch zehn Sekunden“, signalisierte der Pilot. Drinnen öffnete die Reservebesatzung das Rumpfschott. Die A-300 näherte sich wieder der Insel, hatte sie bald erreicht und überflog sie gegen den Wind. Ladung raus. Passagier raus. Die große Kiste rutschte auf ihren Rollen ins Bodenlose, kippte weg, taumelte. Der Lastenfallschirm öffnete sich. Urban in Polar-Tarnanzug, fünfzig Kilo Ausrüstung auf dem Rücken, einen Fallschirm vorn, einen am Hintern, sprang hinterher. Die eiskalte Luftströmung peitschte ihn. Urban riß am Ring. – Drei Sekunden lang noch freier Fall, dann der Ruck, mit dem sich der Schirm öffnete und aufplatzte. Die strammenden Gurte fingen ihn ab. Dann sanftes Dahinschweben. Über ihm heulten die Flugzeugturbinen auf. Sie gaben Full Power. Von jetzt ab war er allein. Er hatte es gewußt, aber man spürte es. Komisches Gefühl. Nichts wie Eis und Meer bis in alle Ewigkeit. Als Urban in harschigem Schnee aufkam, war von dem Airbus nichts mehr zu sehen und zu hören. Nur der Polarsturm wütete. Und es war bitterkalt. Eiskri118
stalle zerkratzten im Nu sein Gesicht, als halte er es in ein Sandstrahlgebläse. * Gegen den Orkan gestemmt, Schneebrille vor den Augen, die Pelzhaube bis auf ein kleines Guckloch zugeschnürt, arbeitete sich Urban zur Abwurflast hin. Der Fallschirm tanzte gebläht auf und nieder und ging dabei langsam in Fetzen. Zuerst barg Urban den Schirm. Mit ihm konnte er sein Notzelt auspolstern. Fallschirmnylon in mehreren Schichten hielt vorzüglich Kälte ab. Dann versuchte er die Gurte von der Kiste zu lösen. Alles schon total vereist. Er mußte sie losschneiden. Eine geschlagene Stunde brauchte er, bis er die Kiste offen und den Motorschlitten betriebsbereit hatte. Ohne Motorschlitten, das hatten sie ausgerechnet, war es unmöglich, diese noch zwanzig Quadratkilometer große Fläche in ausreichend kurzer Zeit abzusuchen. Urban öffnete den Benzinhahn. Gemisch rann in den Ve rgaser, tropfte irgendwo über. Urban riß am Starter. Er riß so lange vergebens, daß er schon befürchtete, der Motor sei abgesoffen oder die Kerze naß. Dann endlich sprang der Motor an. Mit einer Drehung am Griff jagte er ihn hoch, um ihn warm und in Rundlauf zu bekommen. Dann schnallte er den Packsack hinten fest und kontrollierte den Sender auf Funktion. „Pinguin ist gelandet“, gab er immer wi eder durch. So lange, bis man ihn hörte und der LH-Jet den Empfang bestätigte. Dann schwang sich Urban in den Sattel des Motorschlittens und gab Gas. Mit dem Sturm im Rücken begann seine erste Inspektion der Insel. Er umrundete sie zunächst dicht am Rand, um später in spiralförmigen Suchkreisen langsam 119
ins Innere vorzustoßen. An einer Stelle, wo sich das Eis zu einem Hügel hochgeschoben hatte, hielt er an und nahm einen Rundblick vor. Im Glas zeigte sich nichts. Kein Sendemast, keine Kraftstation, kein Zelt. Aber die Sicht betrug im Kristallgestöber kaum zweihundert Meter. Langsam schlitterte er weiter. Große Spalten und Eislöcher umfuhr er, über scholliges Eisgeschiebe ließ er den Schlitten langsam klettern oder machte lieber kehrt, wenn es nicht weiterging. Als er das nördliche Ende der Insel erreicht hatte und sich wieder nach Süden wandte, erfaßte ihn der eisige Polarsturm wieder mit voller Brutalität. Urban schätzte die Temperatur auf minus zehn Grad. Dort wo er dem Sturm ausgesetzt war, lag sie noch tiefer. Das Atmen fiel ihm schwer. Der Sturm war wie eine Wand. Eine dichte Schneebö raste über die Insel weg. – Nullsicht. – Und plötzlich war die Luft wieder klar. Aber wie aus einem Tiefkühlaggregat. Der Halogenscheinwerfer des Schneemobils reichte jetzt beruhigende achtzig Meter weit. Langsam umfuhr Urban weiter die Insel. Unaufhaltsam fraß sich die tödliche Kälte durch alle Schichten hindurch und in ihn hinein bis auf die Knochen. * Es kann Tage dauern, hatte er zu dem LH-Captain gesagt. Er hätte es gern in Stunden geschafft. Aber nach der vierten Runde um die Insel, auf seinem Weg, der ihn immer weiter ins Innere führte, krachte der Motorschlitten in eine von Flugschnee überdeckte Rinne. Urban arbeitete bis zur Erschöpfung, um ihn wieder flott zu machen. Als er das vier Zentner schwere Ding endlich wieder auf festem Untergrund hatte und anließ, gab der Scheinwerfer kein Licht mehr. Birne und Reflektor hatte es 120
voll erwischt. Urban hatte noch eine schwere Stablampe dabei. Aber das Schneemobil fahren und die Lampe halten, erwies sich als wenig effektvoll. Bei jeder Runde mußte er das Gelände hundert Meter nach jeder Seite beobachten, um keine Spuren zu übersehen. Bis jetzt hatte er zwar nichts entdeckt, aber die Wahrscheinlichkeit, daß er etwas fand, wurde von Spiralwindung zu Windung größer. Es ging auf Mitternacht. In sechs Stunden würde es heller werden, wenn auch nicht sehr. Urban beschloß jetzt, ins Zentrum der Insel vorzustoßen. Das Eisoval trieb nach Nordwesten. Er mußte sich also nach Südwesten halten, um das Zentrum zu erreichen. Immer wieder kontrollierte er den Kompaß. Nach einigen Kilometern Fahrt hielt er an und ließ den Kegel der Stablampe kreisen. Weil das Eis hier sehr eben war, so glattgehobelt wie ein Brett, fiel ihm die warzenartige Erhöhung auf. Er gab noch einen Pull Gas, hielt darauf zu und stellte das Schneemobil im Windschatten des vier Meter hohen Eishügels ab. Offenbar war er kein Werk der Natur. Welchen Grund sollte sie auch gehabt haben, hier so ein Gebilde zu erschaffen. Es war weder physikalisch noch glaziologisch erklärbar. Urban umrundete den Hügel und leuchtete ihn ab. Dann erkletterte er ihn an einer geeigneten Stelle. Als er oben den Flugschnee beiseiteräumte, erkannte er die Fugen von Eisplatten. Ein Iglu also, von Menschenhand errichtet. Dann mußte es auch einen Zugang zu dem Schneehaus geben. – Nach einigem Suchen fand er ihn stark verweht auf der Ostseite. Er holte die Schaufel aus dem Gepäck und begann zu graben. Bald wurde der Schnee lockerer. Nachdem er den Stolleneingang freigelegt hatte, kam er schnell tiefer. Und als der Zugang zum Inneren des Iglu endlich vor ihm lag, legte er sich einen Augenblick erschöpft hin. 121
Das Ohr am Boden, vernahm er ein leises Knistern im Eis, dem ein krachendes Donnern aus der Tiefe antwortete. O verdammich, dachte er, der Insel wird es offenbar zu warm in diesen Breiten. Sie geht langsam aus den Fugen. Damit schienen auch die Erbauer des Iglus gerechnet zu haben. Sie waren wohl längst abgezogen. Zunächst hoffte Urban im Iglu aufschlußreiche Erkenntnisse sammeln zu können. Er wurde aber rasch enttäuscht. Alles, was er fand, war Plastikfolie. Schwarze dünne Plastikfolie, allerdings in jeder Menge und Ausführung. Die Folie war zu verschieden langen und dicken Paketen zusammengefaltet oder aufgerollt. Urban machte sich die Mühe, einige Pakete zu öffnen. Ausgelegt ergaben die schwarzen Folien Ovale, auch Vierecke oder andere bizarre Formen. Aber aus Zufall waren diese Formen nicht entstanden. Man hatte die Folien mit einem automatischen Messer scharf zurechtgeschnitten. Eine Folie war etwa Vier Meter breit, dem Umfang nach zu urteilen aber mindestens dreißig Meter lang und mit einem Schnittmuster versehen. Abgesehen von dem Folienlager fand Urban weder die Reste eines Feuers, noch Überbleibsel von menschlicher Nahrung oder Verdauung. Er fand keine Konservendose, keine Bierbüchse, keinen Brotkrümel und keine Zigarettenkippe. Er fand nur diese schwarzen Folien. Verdammt, was war los damit? Sie waren von Menschenhand bearbeitet, das stand fest. Nur eine hochtechnisierte Kunststoffindustrie verstand Plastik dieser Art herzustellen. Wozu hatte man die Dinger gebraucht und wer hatte sie nach Gebrauch hier versteckt? Und warum? Urban hockte sich in eine Ecke des Iglus, kaute ein Stück Hartwurst und nahm eine Scheibe Vollkornbrot dazu. Der Tee in der Thermos war noch warm. Er dachte lange nach. Als er sich eine MC ansteckte, glaubte er eine Erklärung für die Folien gefunden zu haben. Eine sehr einfache, aber 122
auch eine sehr überraschende. Mit den Folien hatte man etwas vorgetäuscht, was es gar nicht gab. Man hatte sie auf dem Eis ausgelegt. Aus großer Höhe fotografiert sahen sie aus wie Zelte, wie Hütten, wie Notstromaggregate und das lange Ding gar wie ein Funkmast. Zum Teufel ja, das war es. Aber es brachte ihn nicht weiter. Auf den Nikotingeschmack der Zigarette setzte er als Krönung einen Schluck Bourbon aus dem silbernen Flachmann, den er immer bei sich hatte. Und dann erfolgte dieser merkwürdige Knall. Aber er kam nicht aus dem Inneren der Eisinsel. Diesmal kündigte kein Donner ihre nahe Auflösung an. Dieser Knall war von Sprengstoff erzeugt worden. Urban entsicherte die Mauser und kroch ins Freie. * Das war nicht der Scheiterhaufen der Wintersonnenwende, was da hell loderte. Es war sein Motorschlitten. Mitsamt der Ausrüstung brannte er im Benzingemisch des geplatzten Tanks. Urban richtete sich auf und wollte hinausrennen, um zu retten, was es noch zu retten gab. – Da sah er die Gestalt. Ein dickvermummter Mensch in daunengefütterten Hosen, isolierten Stiefeln, Pelzparka bis zu den Nasenlöchern reichend. Um die linke Schulter hatte er eine Maschinenpistole hängen und ein Sprechfunkgerät. Aber was ihn viel gefährlicher machte, war das andere. Im Anschlag hatte er ein Gewehr mit spindelförmig ve rdicktem Laufende. Er visierte den Motorschlitten an. Ein Druck auf den Abzug, und die zweite Gewehrgranate fuhr hinein. Ihre Explosionsladung machte aus dem Schneemobil endgültig einen wertlosen Haufen aus glühendem Eisen, zerfetzten Gummi und schwelendem Kunststoff. 123
Ehe Urban auch nur zwei Schritte in Richtung auf den Schützen tun konnte, schwenkte dieser sein Gewehr herum und visierte ihn an. „Halt!“ Urban hatte die Mauser in der Hand. Aber was war eine 7,65er gegen Kaliber 22? „Kanone weg!“ Er zögerte. „Außerdem bin ich unverwundbar.“ Klar, daß diese Gestalt eine Panzerweste trug. Klar doch. Also, was soll’s? dachte er. Urban ließ die Mauser in den Schnee fallen und ging we iter. Er marschierte genau auf das Mündungsloch des Gewehrs zu. Die pelzvermummte Gestalt kippte den Lauf ein wenig ab, ohne den Finger vom Abzug zu nehmen. Aber man konnte jetzt das Gesicht sehen, zumindest Teile davon, einen Streifen Stirn, ein Stück der Nase, die Oberlippe. Zelda Morley sah jetzt ganz anders aus. Sie blickte Urban an und hatte ein abgefeimtes falsches Lächeln aufgesetzt. „Ich habe dich erwartet“, sagte sie. „Das war nicht schwer.“ „Es war sehr leicht. Du bist der gefährlichste Mann, den ich kenne. Jeder wäre uns recht gewesen, nur du nicht.“ Er tat so, als würde auch er es locker nehmen, ganz locker. Er grinste. „Du bist auch nicht von Pappe, Verehrteste.“ „Mag sein.“ „Und erst recht bist du nicht Zelda Morley.“ „Die ist tot.“ „Du tratest an ihre Stelle, um uns in die Irre zu führen.“ „Die ihr für die Wahrheit halten solltet.“ „Wer bist du?“ fragte er. Sie sagte es ihm wider Erwarten. 124
„Jerley de Pine“, stellte sich das blonde Mädchen aus London vor. „Jerley de Pine von FOCUS.“ FOCUS, das war der einzige Geheimdienst, bei dem er keinen Stein im Brett hatte. Bei FOCUS hatte er weniger Freunde als beim KGB. Urban fürchtete, daß sich das jetzt auszahlte. 12. Der Chefmeteorologe der Regierung meldete Warmlufteinbruch und damit günstige Verhältnisse. Die Geophysiker, in diesem Fall Eisspezialisten, hatten die Unterwasserform der Insel errechnet und graphisch dargestellt, basierend auf Schallmessungen von U-Booten. „Die Insel“, sagte der Teamleiter, „gleicht unter Wasser einem Katamaran, einem Doppelrumpfboot also. Links und rechts an den Flanken reicht sie weit in die Tiefe. In der Mitte ist sie dünn. Dort wird sie nur von einer Art Steg zusammengehalten.“ „Wie dick ist der Steg?“ „Vielleicht acht Meter.“ „Eis?“ „Ja, Eis.“ „Zu dick für unsere Bomben.“ „Es ist wie bei Glas“, erklärte der Experte, „man muß das Eis nur ritzen, dann bricht es unter dem Flankendruck.“ „Wie wollen Sie vier Kilometer Eis ritzen, Doktor?“ „Durch einen Bombenteppich. Reihenwurf, Exzellenz.“ „Ja, damit können wir sie auseinandersägen“, pflichtete ihm der General der Luftwaffe bei. „Dann drehen sich die zwei Hälften in eine neue Schwe rpunktlage und alles auf der Insel ersäuft.“ Der Minister wandte sich an den Chef von FOCUS. „Ihre Meinung?“ „Erst muß unser Mann von I-S 14 runter.“ „Liegt seine Meldung vor?“ 125
„Sie kam nach Mitternacht. Sie lautete: Auftrag ausgeführt. Die NATO-Geheimdienste haben wie erwartet einen Agenten abgesetzt. Er wird die Insel nie wieder verlassen.“ „Das ist sein Tod. Er wird mit ihr untergehen.“ „Hoffentlich.“ „Und wie kommt unser Mann von I-S 14?“ „Es ist übrigens eine Frau“, sagte der FOCUS-Chef. „Sie hat ein Rettungsgerät“ Der Minister fand den Umstand, daß FOCUS einen weiblichen Agenten eingesetzt hatte, zumindest merkwürdig, aber er mischte sich ungern in die Kompetenzen dieser ohnehin sehr selbstherrlichen Organisation ein. Sie würden schon ihre Gründe gehabt haben. „Start der Bomber?“ Die Experten begannen zu rechnen. Einige mit Kreisrechenschiebern, andere mit elektronischen Geräten. „Mit Sonnenaufgang.“ „Also gegen null sechs.“ „Null fünf Uhr fünfzig präzise.“ „Dann lasse ich die nötigen Befehle ausfertigen“, entschied der Verteidigungsminister. Zufrieden lehnte er sich zurück und steckte sich eine Zigarette an. Sie hatten fast ihr Ziel erreicht. Die Absichten der UdSSR waren jetzt weltweit bekannt und wurden offen diskutiert. Die Amerikaner würden ihre Politik gegen Südafrika ändern und auch die nötigen Waffen schicken. Die Bomben aber würden die Selbstzerstörung von I-S 14 beschleunigen. Und was immer sich auf ihr abgespielt hatte, es wurde zur Legende. „Wie lange fliegen die Bomber?“ fragte der Minister den Befehlshaber der Luftflotte. „Knapp zwei Stunden, Exzellenz.“ „Wenn es bekannt wird“, meinte der Minister nachdenklich, „wird man uns des Wahnsinns bezichtigen – eine Insel 126
zu bombardieren, auf der sich Truppen der Sowjetunion festgesetzt haben. Eigentlich ist so etwas ein Kriegsgrund.“ „In der Tat“, gestand ihm der Luftwaffengeneral zu, „wäre es so und nicht anders, wenn…“ „Ja, wenn die Regierung der UdSSR in Moskau nicht selbst dokumentiert hätte, daß die Insel nicht von ihren Truppen besetzt ist. Damit hat sie sich selbst aller Reaktionsmöglichkeiten beraubt.“ „Denn eine herrenlose unbesetzte Eisinsel kann nach internationalem Recht derjenige okkupieren oder auch zerstören, dessen Territorium sie sich nähert.“ Die zwei prominenten Staatsdiener zwinkerten sich zu. Man hatte einander auf höchster Ebene verstanden. Der Minister schloß wenig später die Sitzung des Siche rheitsrates. Längst gingen die Befehle über den Funkfernschreiber hinaus zu den Luftblasen. Auf den Militärflugplätzen in Kapstadt und Durban wurden die Düsenbomber startklar gemacht. * Jerley de Pine von FOCUS, die der BND-Agent Robert Urban so lange für Zelda Morley gehalten hatte, ließ das dreiläufige Gewehr noch weiter sinken. Was ist das für eine Waffe? überlegte Urban. Mit einem Lauf kann man Gewehrgranaten abfeuern und normale Stahlmantelgeschosse. Der zweite Lauf ist dick genug für Schrot. Aber der dritte Lauf in der Mitte unterhalb der beiden anderen kam ihm reichlich dünn vor. Er hatte höchstens vier Millimeter. Das entsprach dem Kaliber von Luftdruckgewehren. In diesem Moment riß Jerley einen der Abzüge durch. Es machte nur ff ff t… Sie hatte aus der Hüfte geschossen. Im gleichen Moment spürte Urban einen Stich im linken Oberschenkel. 127
Er faßte an die Stelle. Sein Handschuh bekam eine Art Stricknadel zu fassen, die mit dem oberen Ende aus seiner Hose ragte. Jetzt wußte er auch, was es mit dem dritten Rohr auf sich hatte. Damit verschoß man Narkosepatronen. Wer sich im Polarmeer auf so große Eisschollen wagte, der mußte damit rechnen, daß er Pinguinen begegnete. Gegen sie wirkte ein Narkoseschuß immer noch am sichersten. Urban zog mit den Zähnen den Handschuh von den Fingern, packte die Nadel in der dicken Daunenhose und riß sie aus dem Muskel. Er spürte keinen Schmerz. Also schon zu spät. Die Narkoseflüssigkeit begann sich bereits im Gewebe zu verteilen. Wärme breitete sich im Oberschenkel aus, zog in spürbaren Strömen bis hinauf ans Herz und machte ihn im Nu benommen. Das Narkosegift im Kreislauf legte eine Art Wolkenband um seine Sinne, beeinträchtigte aber nicht das Gleichgewicht und kaum die Fähigkeit sich zu bewegen. Er stand da und streckte beide Hände vor. „Jetzt noch fesseln“, forderte er sie auf. „Los, mach!“ „Geh in den Iglu“, befahl Jerley. „Geh voraus, ich komme nach.“ Er taumelte zum Eingang, kroch hinein und als er drinnen war, dachte er, jetzt schlägst du sie einfach nieder. Sie hat todsicher ein Rettungsgerät versteckt, irgend etwas, um von dieser lausigen Insel wegzukommen. – Du wirst es schon finden, aber erst muß sie auf null sein. Er nahm sich vor, es zu tun. Aber er war nicht fähig dazu. Der Wille drang nicht durch bis zu den Muskeln. Er hockte auf dem Eisboden des Iglus und starrte vor sich hin, bis ihn der Strahl ihres Handscheinwerfers voll traf. „Was immer du vorhast“, sagte Jerley, „es wird nur ein geträumter Plan sein. Für die nächsten acht Stunden beherrscht dich das Narkosegift. Bis dahin bin ich längst weg, und die Insel ist zerstört. Von unseren Bomben.“ 128
Noch einmal hielt er ihr seine Hände hin. Er hoffte, sie würde sie fesseln und er könnte sie packen und erwü rgen. Aber sie lachte wieder nur. „Du tust mir schon nichts, Bob Urban.“ „Bist du so sicher?“ „Jeder Mann, mit dem ich einmal geschlafen habe, den kenne ich durch und durch.“ „Nur Frauen haben diese Begabung“, entgegnete er wütend und verzweifelt. Er sprach sehr langsam, er konnte gar nicht anders. Aber vielleicht lief alles ganz normal ab und auch der Zeitlupeneindruck war nur eine Wirkung der Narkose. „Zum Glück“, sagte die Dame von FOCUS. Sie nahm die Pelzkappe ab, öffnete den Reißverschluß und zog die Handschuhe aus. Im Iglu mochte die Temperatur um null Grad liegen. Sie stieß zwei filterlose Zigaretten aus einer orangefarbenen Packung, steckte sie an und reichte Urban eine. „Ich habe nichts gegen dich“, betonte sie, „als Mensch. Du bist nur mein Gegner und mußt hier sterben. Aber bitte keinen Haß deswegen.“ „Wo denkst du hin“, antwortete er und rauchte langsam aus. Es bereitete ihm keinen Genuß. Seine Geschmacksnerven waren offenbar auch gelähmt. Jerley betätigte ein Funkgerät, das mit einem automatischen Geber gekoppelt war. Dann schaute sie auf die Uhr. „Gegen acht Uhr sind sie da.“ „Alles klar“, sagte er. „FOCUS kann gar nicht anders.“ „Jede Phase, jeder Schritt, jede Reaktion und Gegenreaktion waren vorausberechnet“, fuhr sie fort. „Auf die Stunde genau. Nun müssen wir uns auch, was das Ende der Insel und deinen Tod betrifft, an den Fahrplan halten.“ „Ja, es steht zuviel auf dem Spiel“, pflichtete er ihr bei. „Diese gewaltigen Anstrengungen, diese ungeheure Denkarbeit von Dutzenden von Gehirnen, die diffizilen Vorberei129
tungen und Fälschungen und Irreführungen und… und Morde. Die dürfen nicht umsonst gewesen sein.“ „Im Grunde“, sagte Jerley, „starben gar nicht einmal so viele.“ „Nun, das Ehepaar Morley.“ „Und ein CIA-Abteilungschef in Washington. Jim Moran.“ Urban hatte ihn gekannt. „Leitete er nicht die Satellitenbildauswertung der Intelligence-Division?“ „Wir stellten ihn als sowjetischen Spion hin, um die Aussage seiner Analysen zu entkräften.“ „Na fabelhaft. Ihr habt an alles gedacht.“ „Nur nicht daran, daß ein Mann wie Mister Dynamit mit dem Fall betraut werden könnte“, gestand die FOCUS-Agentin. „Nun wirst du leider zum Toten Nummer vier.“ „Vier Tote“, zählte Urban zusammen. „Keine hohe Verlustquote gemessen an dem, was erreicht wurde.“ Zelda, er nannte sie im Gedanken immer noch Zelda, nickte. „Ja, wir sind ziemlich aus dem Schneider jetzt.“ „Was das Waffen- und Wirtschaftsembargo betrifft“, schränkte Urban ein. „Jetzt hat ein anderer die Rolle des großen Buhmannes zu übernehmen. Die Sowjetunion.“ „War eine brillante trickreiche Aktion, wie Ihr den Russen das hingeschoben habt.“ Sie nickte beifällig und sprach offenbar nicht ungern darüber. „Zuerst suchten wir uns einen kompetenten Experten, den es tatsächlich gab, den Militärstrategen von Mecklenburg. Er betrieb für die Russen Planstudien bis er starb. Wir stellten Pläne her, die von seiner Hand stammen konnten und spielten sie auf unauffällige Weise den westlichen Geheimdiensten zu. Damit diese Wege absolut unverdächtig waren, 130
mußten sie umständlich sein. Deshalb wählten wir auf den Tip eines unserer Freunde…“ „Des Bankiers Sir Henry Westham“, unterbrach sie Urban. „… wählten wir den Anwalt Morley aus. Er nahm den Auftrag an, die Mikrounterlagen aus Prag zu holen und sie an einen sicheren Platz zu bringen. Das weckte natürlich seine Neugier. Wir manipulierten das Material nun unsererseits, um einen Grund zu haben, Morley zu entführen.“ „Daraufhin wandte sich seine Frau an den MI-5-Chef.“ „Die echte Zelda.“ „Die ihr dann ebenfalls abkassiertet.“ „Und ich trat an ihre Stelle, um die Herren Agenten, die ja bald auftauchen mußten, würdig in Empfang zu nehmen und gemäß unseren eigenen Absichten an einer unsichtbaren Leine zu führen.“ „Der Name Mecklenburg mußte logischerweise den BND alarmieren“, betonte Urban. „Klappte es etwa nicht?“ bemerkte Jerley spöttisch. „Sogar ganz vorzüglich“, sagte Urban. „Ich fand, nachdem dein billardköpfiger Leibwächter aus dem Wege geräumt war, mit deiner Hilfe, sprich Visitenkarte, Red Morley. Leider auch nicht den echten. Euer Mann war so vorzüglich präpariert, daß ich ihn wirklich für sterbenskrank hielt.“ „Jetzt hattest du den Mikrofilm. Das war die Hauptsache. Und die Morleys fand man später tot.“ „Nur wies der Mikrofilm einen winzigen Fehler auf.“ „Unsere Schuld.“ „Euer Fehler war auch der Honigblumenstrauß und dein leichter Akzent, der auf die Muttersprache Africans schließen ließ.“ „Ebenfalls mea culpa“, gestand die FOCUS-Agentin. „Aber inzwischen liefen die Entwicklungen so gut für uns, daß wir uns das Ausbügeln dieser Pannen für später aufheben konnten. Sobald der neugierige Mister Dynamit es für nötig hielt, die Insel zu inspizieren.“ 131
„Washington ist bereit, euch zu unterstützen“, stellte Urban nicht ohne Anerkennung fest. „So sieht es aus.“ „Man wird eine neue Politik betreiben, die die Russen massiv daran hindert, ganz Afrika unter ihren Einfluß zu bringen.“ „Herrschaft“, verbesserte sie ihn. „Herrschaft, nicht nur Einfluß.“ „Und den schlimmen Urban auszuschalten, das hob man sich bis zuletzt auf.“ „Bis hier und heute“, gab sie zu. Die Tatsache, daß sie alles so offen mit ihm erörterte, war ihm Beweis genug, daß er niemals von hier wegkam, daß er absolut keine Chance mehr hatte. Er sah sie an. Sie lächelte. Das Lächeln des Siegers, an dessen Brust schon die Orden funkelten. Urban wurde müde. Er kämpfte gegen die Droge in seinem Blut. Der Kampf war aussichtslos. Sanft schlummerte er ein. * Urban erwachte von einem dunklen Grollen, das aus dem Eis drang. Er kämpfte sich durch die vielen Schichten von Leim, die das Narkosemittel um sein Gehirn gelegt hatte, bis er einigermaßen klar war. Im Iglu brannte eine Art Hindenburglicht, eine Blechschale von Stearin, in dem ein Docht schwamm. Verdammt, die Bomber. Er schaute auf die Rolex. Nein, erst sieben Uhr. Sie konnten frühestens in einer halben Stunde hier sein. Wo war Jerley? Sie war weg. Wieder kam ein Grollen durch das Eis. Es schien mehr von einer Erschütterung an der Oberfläche ausgelöst zu werden. Urban versuchte sich aufzurichten. Es ging. Zumindest war er jetzt in besserer Form als unmittelbar nach dem 132
Schuß und nach dem Gespräch mit Jerley, als ihn das Gift einfach umgehauen hatte. Er fühlte sich um fünfzig Prozent besser. Er stand da, ging ein paar Schritte, suchte den Ausgang. Er kroch durch den Tunnel ins Freie. Die Reste des Motorschlittens stanken noch nach Gummi, nach Kunststoff, nach verschmorter Elektrik. Mit jedem Schritt wurde er sicherer auf den Beinen. Auf der anderen Seite des Iglus schimmerte etwas hell rötlich. – Die Sonne? Er lief herum und blieb stehen und mußte sich gegen die Eiswand der Hütte lehnen. Vor ihm, keine dreihundert Meter entfernt, spielte sich etwas ab, das ihm die allerletzte Hoffnung nahm. Auf dem Eis hatte ein kleines Flugzeug aufgesetzt, ein Hochdecker mit Kufen, rot und weiß. Eine Piper, eine Cessna, er konnte es nicht genau erkennen. Aber das Flugzeug brannte lichterloh. Unweit des Flugzeugs stand die FOCUS-Agentin, das Gewehr im Anschlag, und feuerte die nächste Granate in die Maschine. Eine Explosion hatte offenbar den Tank zerrissen. Das Feuer blowte hoch. Flammen spritzten auseinander und verbreiteten sich über das Eis, und das Eis brannte. Aus dem schwarzen Rauch, der den Hintergrund bildete, löste sich ein Mann. Er rannte um sein Leben vom Flugzeug weg. Kein Zweifel, es war der Pilot der Maschine. Urban setzte sich ebenfalls in Bewegung. Irgendwas mußte er tun. Besser was Falsches tun als gar nichts. Er lief los, sich zu jedem Schritt neu zwingend. Er steuerte Jerley an, die ihm den Rücken zuwandte. Jetzt schwenkte sie den Lauf des Gewehrs auf den fliehenden Piloten und schoß und schoß immer wieder. Die automatische Waffe hatte eine ungemein schnelle Schußfolge. Sie schoß, traf aber nicht, und folgerte daraus, daß die Entfernung schon zu groß war. 133
Deshalb lief sie hinter dem Piloten her, holte auf, blieb stehen, legte an und schoß erneut. Auf diese Weise näherte sie sich immer mehr dem westlichen Rand der Insel, und Urban stapfte hinter den beiden ungleichen Gegnern her. Diejenigen Teile seines Gehirns, die nicht damit beschä ftigt waren, den Knochen- und Muskelapparat in Gang zu halten, beschäftigten sich mit der Frage, weshalb das Flugzeug jetzt schon herübergekommen war. Es gab nur eine Erklärung: Als Jerley das Schneemobil zusammenschoß, mußte sein Funkgerät einen Stoß bekommen haben, der die selbsttätig arbeitende Notruffrequenz in Betrieb setzte. In der A-300, drüben auf Prince Edwards, hatten sie die Station besetzt gehabt und den Ruf aufgefangen. Daraufhin hatten sie sofort den Abholer starten lassen. Und das war nun das Ergebnis. Das Flugzeug im Eimer. Jerley hinter dem Piloten her. Noch ein Opfer. Und doch keine Chance auf Rettung. Urban hörte Schüsse. Er sah die beiden nicht mehr. Er konnte sich nur nach den Schüssen orientieren. Er lief weiter über die knirschende Schneeschicht, die die Insel bedeckte, mit dem Sturm im Rücken, der ihn vorwärts schob. * Der Westrand der Eisinsel tauchte auf. Ein harter Übergang von Weiß in Grau. Dort holte Urban die beiden ein. Den Jäger und den Gejagten. Breitbeinig stand Jerley da, schoß und traf den Piloten, bevor er in Deckung springen konnte. Doch sie gab sich damit nicht zufrieden. Sie eilte auf ihn zu, näherte sich dem dunklen Punkt im Eis mit gesenkter Waffe, jede Sekunde schußbereit. Urban hatte sich den beiden etwa bis auf fünfzig Schritte genähert. Es ging auf acht Uhr. Jede Minute konnten die 134
Bomber eintreffen. Eigentlich hätte Jerley längst von der Insel verschwunden sein müssen. Er sah sie, wie sie vor dem dunklen Haufen Mensch stand und den Körper mit dem Gewehrlauf umzudrehen versuchte. Da schrie Urban aus vollen Lungen: „Zelda!“ Die Agentin fuhr herum und sah ihn kommen. „Zelda, verdammt, laß es endlich genug sein“, schrie er. Aber diese Frau dachte nur an ihren Auftrag und ans Wegkommen. Sie hob das Gewehr, visierte Urban an. Und schoß. Aber die Kugel ging weit himmelwärts. Sie hatte den Lauf nach oben verrissen. Allerdings nicht freiwillig, sondern weil der Mann hinter ihr, seine Chance ahnend, aufgesprungen war und sie angehechtet hatte. Jerley packte die Waffe beim Lauf, schwang sie über sich und um sich herum. Sie drosch auf den Gegner ein, versuchte ihn abzuschütteln. Sie traf ihn offenbar auch, aber dann machte der andere eine typische Handbewegung, die Urban nur zu gut kannte. Es war die Bewegung, mit der ein Mann, der ein Messer in der Faust hatte, dieses dem Gegner von unten her in den Leib rammte. Da war Urban bei ihnen. Sie lagen übereinander. Jerley hatte schon Blutschaum vor dem Mund, aber ein völlig entspanntes Gesicht, während sie starb. Urban kümmerte sich um den Piloten. Es war einer der Lufthansakapitäne. „Mußte selbst her“, berichtete dieser mühsam. „Konnte keinen dazu überreden, es zu tun. Nicht für Geld und gute Worte. Verfluchte Scheißinsel.“ Urban untersuchte ihn. Es hatte ihn schwer erwischt. Einmal am Bein und irgendwo an der Hüfte. Er blutete stark. „Ohne Sie“, sagte Urban, „wäre nichts mehr gegangen.“ „Ohne Sie auch nicht, Bob. Ihr Schrei, das war die Re ttung.“ 135
Urban schleifte den Schwerverletzten bis zum Rand des Eises. Es bildete an dieser Stelle eine kleine Bucht. Dort legte er den Piloten hin und begann zu suchen. Es mußte etwas geben, womit die Agentin diese Insel verlassen konnte. Und es mußte hier sein. Sie hatte gewußt, daß es jetzt um Minuten ging und hätte den Piloten nicht verfolgt, wenn er sich in eine andere Richtung bewegt hätte. Urban kletterte über Schollen, sprang über eine Spalte, die schon voll Wasser war, watete durch Pfützen. – Da sah er etwas liegen, das sich anders bewegte als ein Stück Eis. Es war ein großes seegängiges Schlauchboot mit einer weißen Persenning abgedeckt. An Heck hing ein mächtiger Mercury Außenborder. Urban sprang von einer Scholle ins Boot, löste es vom Draggen, suchte ein Paddel und pullte das Ding bis zu dem schwerverletzten Piloten. Er wußte nicht mehr, wie er ihn ins Boot brachte, aber er schaffte es, wenn er auch selbst bis auf die Haut durchnäßt wurde. Endlich hatte er den Piloten unter der Persenning. Für jeden Handgriff, den er im Normalzustand mit links machte, brauchte er heute schon die Rechte und meistens sogar beide Hände. Er schaute auf die Uhr. 08 Uhr 14 zeigte die Rolex. Noch sah und hörte er die Flugzeuge nicht. Sie verspäteten sich. Vermutlich wegen des starken Gegenwindes. Glück für ihn. Plötzlich bekam er Angst. Nicht vor dem Sterben, sondern vor dem, was ihn immer ängstigte, nämlich auf sinnlose Weise sterben zu müssen. Jetzt, wo es schon wieder ein wenig Hoffnung für ihn gab. * Urban saß in dem großen gedeckten Schlauchboot. Sein Kopf ragte aus dem engen Loch, das die Persenning freiließ. Er gab dem mannhohen Mercury-Heckmotor Vollgas. Der 136
warf die Wucht seiner 180 PS auf die Schraube und trieb das Boot vorwärts gegen den Sturm, gegen die eiskalte Dünung des grauen Polarmeeres. Geschützt am Boden lag der schwerverletzte Pilot und hoch über Urban flogen die Düsenbomber an. Sie jaulten über ihn hinweg und klinkten, kaum eine Meile entfernt, ihre tödliche Last aus. In langen unregelmäßigen Ketten fielen die Bomben auf IS 14, zerbarsten dort in weißen Fontänen und zersägten sie in zwei Teile. Die Detonationen donnerten über das Meer heran. Die Druckwellen standen so gegen den Sturm, daß sich Urban sekundenlang wie in einer Windstille fühlte, wie im Auge eines Orkans. Dann packte und schüttelte ihn der Orkan erneut. Die Bomber flogen zweimal an, setzten ihre letzte explosive Fracht ab und gaben der berstenden Eisinsel den Rest. Die zwei Hälften von I-S 14 drifteten jetzt deutlich auseinander und begannen sich im Meer langsam herumzuwälzen, ihren neuen Schwerpunkt suchend. Die zwei Hälften hoben sich steil und kerzengerade aus dem Meer. Millionen To nnen Eis, von denen Millionen Kubikmeter Wasser herabtroffen. In diesem Moment ging die Sonne auf. Sie stand scharf gelb über dem Meer. Man konnte sie durch das Eis hindurch sehen, wie man oft durch die Röcke von Mädchen hindurchsehen konnte, wenn sie vor der Sonne flanierten. Urban floh mit Vollgas zunächst nach Norden und schlug dann einen Bogen nach Osten auf die Inseln zu. – Jetzt, wo er alles wußte über die Eisscholle, über die Vorgänge auf ihr, über die Vorgeschichte und wozu das gemacht worden war, jetzt ging es ihm nur noch um sein Leben. Er dachte nur noch an sich. Links stand ein Funkgerät in der Gummihalterung. Wenn er den Knopf drückte, sendete er automatisch einen Hilferuf. Aber auf diese Hilfe war er nicht erpicht. Denn wenn man statt der FOCUS-Agentin ihn 137
in dem Boot fand, mußten sie fürchten, daß er alles enthüllte. – Doch ob er das tun würde, er wußte es nicht. Nicht in diesem Augenblick. Zuviel gab es zu bedenken. Genaugenommen war das eine von den miesen Hintergrundaffären, an die man am besten ein Streichholz hielt, um sie zu verbrennen. Da arbeitete man an einer Sache, strampelte sich ab wie ein Idiot, und wenn man plötzlich klarsah, dann war es einem egal, all das Wissen, oder man bekam Skrupel, es an die große Glocke zu hängen. Urban war durchnäßt und fror. Er hatte Hunger, daß seine Eingeweide schmerzten. Er war noch benommen von der Injektion, und er war gar nicht überzeugt, ob er die rettenden Inseln je erreichen würde. Und wenn er hinkam, was erwartete ihn dann dort? Das ist vielleicht ein Leben, dachte er, ein feines Leben ist das. Das ist doch nie im Leben ein Leben, dachte er, wer will schon so ein Leben… ENDE
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