OTTO ZIERER
BILD DER JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
ERBEN DES KAISERS Das ist der...
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OTTO ZIERER
BILD DER JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
ERBEN DES KAISERS Das ist der Titel des soeben erschienenen 16. Bandes der neuartigen Weltgeschichte, der das 9. Jahrhundert behandelt. Ein Prozeß der Teilung, Lösung und Neuordnung vollzieht sich. An Stelle der überkommenen West-Ostrichtung der griechischen Antike und des alten rom'schen Imperiums tritt die Verbindung des germanischen Nordens mit dem romanischen Süden durch das abendländische Kaisertum Karls des Gioßen. Aber das Reich des Riesen ist zu groß für die Erben. In machtigen SchoUen — die Landmassen der späteien Nationalstaaten — fällt das Karls-Imperium auseinander. Die Normannen brennen und plündern an den Küsten des kampfdurchtobten Europas.
Auch dieser Band ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthalt wieder ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten. Er kostet in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM 3.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatslieferungen jederzeit begonnen werden. Auf Wunsch werden auch die bereits erschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert. Erschienen ist seit Dezember 1950 monatlich ein Band
Prospekt kostenlos vom
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
KLEINE BIBLIOTHEK DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U L T U R K U N D L I C H E
Karlheinz
HEFTE.
Dobsky
LEONARDO DA VINCI Maler Erfinder Baumeister
Signature Not Verified
Mannfred Mann
Digitally signed by Mannfred Mann DN: cn=Mannfred Mann, o=Giswog, c=DE Date: 2005.01.25 17:21:07 +01'00'
VERLAG SEBASTIAN LUX * MURNAU / MÜNCHEN
Toskanischer Frühling! In Blau und Gold wölbt sich der Himmel über dem Monte Albano! und die weißen Häuser, die sich an die sanften Hügel schmiegen, blinzeln verschlafen in die Sonne. Dunkle Zypressen recken sich in die milde Luft, und die Menschen dieser Landschaft, Etrusker nach Antlitz und Rasse, ziehen die Pflugschar durch die fruchtbare Erde ihrer Felder •— heute wie einst. Heute wie einst ragt das Kastell von Vinci über die Dächer des gleichnamigen Städtchens, wie ein Lerchentriller schwingt sich der schlanke Glockenturm über die verschatteten Gassen. Ein schmaler Fußweg führt in steilen Windungen den Berghang hinauf. Etwas abseits der Straße, die nach Prato und Pistoja führt, steht, noch im Umkreis der Stadtgemarkung, ein schlichtes, weißgetünchtes Haus. Eine Marmortafel kündet von der Stirnwand dieser früheren Schankwirtschaft, daß hier am fünfzehnten April des Jahres 1452 zum Ruhme Italiens der Meister Leonardo da Vinci geboren wurde. Aber das schlichte Anwesen ist nicht Leonardos Vaterhaus, in dem er groß wurde. Die da Vinci hatten ihre Wohnung im alten Viertel an der Stadtkirche. Leonardos Vater, der junge Notarius Piero di Ser Antonio, stammte aus einer alteingesessenen Juristenfamilie, die nach Sitte und Brauch den Namen ihrer Heimatstadt „da Vinci" zu führen berechtigt war. Als angesehene und sittenstrenge Bürger wirkten die da Vinci viele Jahrzehnte hindurch als
Notare und Kanzler in der Stadt. Einfach und anspruchslos, waren sie mit häuerischer Zähigkeit auf Vermehrung ihres Besitzes bedacht, nach außen hin sparsam, bescheiden in der Lebenshaltung und eifrig bemüht, zu Neid und Mißgunst keinen Anlaß zu geben. Der junge Notar Piero hatte sich das arme, verwaiste Bauernmädchen Caterina erwählt, und sie hatte ihm den Sohn Leonardo geschenkt. Es war zu erwarten, daß die da Vinci-Familie diese Verbindung als nicht „standesgemäß" ansah. So trennte sich Herr Piero auf die Vorhaltungen seiner Verwandten hin von Caterina, um statt ihrer eine Tochter aus vornehmem und wohlhabendem Hause zu heiraten; sie wurde also Leonardos zweite Mutter. Die schnöde verlassene Caterina wurde einem einfachen Mann namens Accatabriga angetraut, und so konnte Leonardos Großvater im Jahre 1457 in ein Familienverzeichnis des Florentiner Stadtarchivs eintragen: „Leonardo, Sohn des Piero da Vinci und der Caterina, jetziger Ehefrau des Accatabriga del Vacca, fünf Jahre alt". Leonardo wurde ein vollwertiges Mitglied der Familie da Vinci, trug ihren Namen und stand in der besonderen Obhut der Großmutter. Man entzog ihn bewußt dem Lebenskreis seiner Mutter, und Caterinas Name wurde im Hause da Vinci niemals genannt. Die Landschaft der Provinz Toskana, an deren Nordrande das Städtchen Vinci liegt, wird zum stärksten und bestimmenden Erlebnis des Knaben Leonardo, der das einsame Umherschweifen in Wald und Flur dem ohnehin spärlichen Unterricht in der kleinen Schule von Vinci vorzieht. Der Vater, ehrgeizig und emsig, weilt oft in Berufsgescha'ften in Florenz; die Großmutter ist schon zufrieden, wenn der Knabe abends heil nach Hause kommt, im Bündel seltsames Pflanzenzeug und Getier, das ihm der eingehenden Untersuchung wert erscheint. Er ist gern und viel allein, er verschließt sich in sein kleines Zimmer mit seinen Knabengeheimnissen, so wie wir später den Mann Leonardo meist allein finden, über Zeichnungen und Notizen grübelnd und forschend. Von den frühesten zeichnerischen Versuchen des Kindes ist uns nichts erhalten geblieben. Die Überlieferung erzählt von einer bemalten Holzscheibe, auf der Leonardo ein sagenhaftes Ungeheuer so schrecklich und furchteinflößend abgebildet habe, daß die Beschauer vor dem Spuk entsetzt zurückgewichen seien. Der Sinn für das Groteske, das phantastisch Übersteigerte, findet später seinen Niederschlag in zahlreichen Zerr- und Fratzenbildern, an denen Leonardo alle Ausdrucksmöglichkeiten des Menschenantlitzes bis zur schauerlichen Grimasse studiert. Die Lust und Begabung zum Zeichnen bleibt selbst dem vielbeschäftigten Vater nicht verborgen.
Im Oktober des Jahres 1468, als der Notar da Vinci in Florenz ein eigenes Anwaltsbüro eröffnet und aus dem Landstädtchen in die Hauptstadt übersiedelt, gibt er dem Sohn den Weg frei in die' Werkstatt des Andrea di Cione, der sich Verrocchio nennt. Es mag nicht leicht geworden sein, bei Leonardo auf den in der Familie überlieferten Notarsberuf zu verzichten, aber Neigung und Veranlagung treiben den Knaben so eindeutig zum Künstlertum, daß der Vater seinem Drängen und dem Rat der Freunde und Kenner sich zuletzt nicht mehr verschließt. * Andrea del Verrocchio war einer der „geschätztesten Lehrer in der Unterweisung jeglicher Künste", er arbeitete immer an irgendeiner Skulptur oder Malerei, und Vasari, der später über die Kunst dieser Zeit geschrieben hat, sagt von ihm, daß sein Fleiß noch größer sewesen sei als seine natürliche Begabung. Seine Liebe gehörte der Geometrie, und an dieser Leidenschaft entzündete sich auch sein neuer Schüler, der der Raumlehre zeitlebens tiefgründige Untersuchungen gewidmet hat. In Leonardos Lehrzeit fiel der Beginn des perspektivischen Sehens und Malens, das die mittelalterliche Kunst nicht gekannt hatte. Gegenstände und Innenräume, die bis dahin nur als Flächen und in Umrißlinien wiedergegeben worden waren, wurden nun als wirkliche Körper und Räume dargestellt, indem der Maler sie nach der Tiefe hin in fortschreitender Verkürzung zeichnete. Von Florenz aus erfaßte dieses neue Raumgefühl und diese neue Seh- und Malweise ganz Italien, und auch nördlich der Alpen horchte man auf. Ein Rausch der Entdeckerfreude erfüllte alle Werkstätten und beflügelte die Künstler, so daß der Maler Uccello noch im Traum beseligt flüsterte: „Was für eine köstliche Sache ist doch die Perspektive!" Mit nachtwandlerischer Sicherheit hatten die Maler der Renaissance dieses Neuland betreten, tiie geometrischmathematische Begründung für die künstlerische Perspektive erbrachte die Wissenschaft erst, nachdem die Künstler schon längst praktisch danach arbeiteten und gelernt hatten, die räumliche Vertiefung nicht nur durch die zeichnerisch verkürzten Linien zu erzielen, sondern auch durch die Abstufung von Licht und Schatten und selbst durch die allmähliche Veränderung der Farbtöne — ihrer Auflösung in Grau und Blau. Das Florenz der Zeit, in der Leonardo da Vinci in der Werkstatt des Verrocchio arbeitete, bildete mit seinem blühenden Gewerbe, seinem hochentwickelten Bankwesen einen der mächtigsten Stadtstaaten Italiens, dessen Währung, der Florin, in ganz Europa anerkannt und geschätzt wurde. Dante hatte diese seine Heimatstadt
geliebt, die ihn vertrieben und geächtet und erst nach seinem Tode als einen ihrer größten Söhne gefeiert hat. Der Dichter der „Göttlichen Komödie" war ein Opfer der Machtkämpfe und des Parteihaders, die seit hundert Jahren durch die Gemeinde loderten, über der nun das Wappenschild mit den sechs roten Kugeln im goldenen Felde — das Wahrzeichen der Medici — aufzusteigen begann. Die Medici waren Kaufleute und Bankiers aus altem florentinischem Bürgergeschlecht. Seit langem schon beherrschten sie durch ihre einflußreiche Stellung und ihren Reichtum den Rat der Stadt, ohne aber nach außen als die wahren Regenten von Florenz zu erscheinen. Erst als die allgemeine politische Situation ihren Plänen günstig war, übernahm die mächtige Familie offen die Führung des Staatsgeschäftes, geriet aber schon bald in eine leidenschaftliehe Gegnerschaft zu dem ebenfalls geldkräftigen Kaufherrengeschlecht der Pazzi. Unberührt von den Machtkämpfen blieb die „Akademie" von Florenz, wo sich in dieser Zeit die bedeutendsten Geister sammelten, deren seelische Weite die sich prunkvoll entfaltende Herrschaft der Medici ebenso wie die düstere Bußwelt de"s Predigers Savonarola in sich einbezog. Die erregten Auseinandersetzungen der geistigen Köpfe, die Gedanken der wiedererwachten Antike» und erste Ahnungen von neu heraufsteigenden Welten jenseits der Meere strahlen stark in die Werkstatt Verrocchios, wo der junge Leonardo da Vinci, überwältigt von der Fülle neuer Eindrücke und Erlebnisse, sinnt und zeichnet . . . Sein Lehrmeister hat über Mangel an Aufträgen nicht zu klasen. Bildhauerarbeiten und Malereien für Kirchen und Paläste, Dekorationen und Kostüme für die glanzvollen Feste der Medici, Werkzeichnungen für die Bauten und technischen Anlagen, — überall müssen die Schüler fleißig mit zupacken, und auch Leonaldo schont sich nicht. Er hilft mit beim Guß des Kreuzes für die Domkuppel, er formt in Ton und Metall, er experimentiert in allen Techniken des Malens und Zeichnens, und kein Ding ist ihm zu gering, um nicht abgezeichnet und in Form und Gestalt liebevoll nacherlebt zu werden. „Auf Papier zeichnete er so fleißig und sauber, daß keiner ihn hierin je an Zartheit erreicht hat", so berichtet Vasari und schwärmt weiter von Leonardo: „Gott hatte über diesen Geist eine große Anmut ausgegossen, verbunden mit einer außerordentlichen Darstellungsgabe und einem klaren Verstand, dem sein stets zuverlässiges Gedächtnis überall zu Hilfe kam. Er konnte in Zeichnungen seine Gedanken so deutlich ausdrücken, daß er imstande war, durch seine Gründe zu verwirren."
Die Nachwelt liebt es, das Bild ihrer Helden zu überhöhen, — der Ruhm vergrößert vor unserem geistigen Auge die Gestalten, die wir bewundern. Auch Leonardos Erscheinung wird von der Überlieferung übersteigert und zu unirdischer Schönheit verklärt. „Mit der Herrlichkeit seines Anblickes erheiterte er jede niedergeschlagene Seele" läßt sich Vasari von denen erzählen, die ihn noch kannten, und der Historiker Giovio gibt ihm .,das schönste Gesicht der Welt". Hochgewachsen und schlank, edel und vornehm erschien er den Zeitgenossen, und von seinen Körperkräften erzählten die Anekdoten. * Ganz langsam wandelt sich das Verhältnis zwischen Lehrherrn und Schüler. Mit der Beherrschung -des Handwerks, der technischen Fertigkeit, beginnt eine wundersame Zeit des gegenseitigen Anregens und Steigerns; die viel größere Spannweite Leonardos reißt auch Verrocchio zur Befreiung aus der kunsthandwerklichen Enge hinauf in die Höhen freier Meisterschaft. Auf ein Taufbild des Meisters malt Leonardo — als ungenannter Gehilfe — einen knieenden Engel, sein frühestes uns erhaltenes Bild. Diese Engelgestalt, in der damals noch neuen öltechnik in Verroeehios Temperabild eingefügt, begründet den Ruhm des Jünglings, und auch Verrocchio erkennt, daß hier untea" seinen führenden und fördernden Händen ein Größerer erstanden ist. Im März 1478 erhält Leonardo den ersten großen Auftrag, ein Altarbild für die Bernhardkapelle der stolzen Stadtburg des Palazzo Vecchio. Und hier schon beginnt das tragische Verhängnis, das Leonardos Leben und Werk überschattet: Er nimmt den Auftrag an und auch das Geld, das die Signorina, die Stadtbehörde, ihm im voraus bezahlt, — aber er führt den Auftrag nicht aus. Das Bild wird nie geliefert. Wir kennen die Gründe nicht genau, die ihn von dieser Arbeit fernhielten, aber wir werden immer wieder im Leben des Meisters dieses Zögern und Hinausschieben mit Bestürzung erkennen, das Unzuverlässige und Sprunghafte und das Hinwenden vom Unvollendeten zu immer iieuen Aufgaben, an denen sein Geist sich gerade entflammte. Leonardo hat es seinen Auftraggebern nie leicht gemacht, aber seine Macht über Menschen war groß; denn immer wieder gelang es ihm mit dem Zauber seines Wesens, der Würde und Anmut seiner Erscheinung und mit dem betörenden Klang seiner Stimme, die Grollenden zu versöhnen. Und wie zur eigenen Einsicht und Belehrung schreibt er sich aus einem alten Kalender ab: „Kannst Du nicht, wie Du willst, so wolle wie Du kannst.. ."
Das Arnotal, Zeichnung des 21jahngen, dauert vom 21. August 1473
Das Ungewitter einer Verschwörung der Pazzi, das sich im Jahre
1478 über Florenz entlud, wird auch Leonardos Schaffen nicht förderlich gewesen sein, und es spricht manches dafür, daß die Nichterfüllung seines großen Auftrags für den Stadtpalast zum Teil durch die sich überstürzenden Ereignisse dieses bewegten Florentiner Jahres erklärt werden kann. Die beiden Brüder Giuliano und Lorenzo di Medici hatten durch Mißwirtschaft und anmaßendes Gebaren die Mißstimmung der Bürger bis zur Empörung gesteigert. b-iuüano di Medici fiel einem Attentat im Dom zum Opfer, wahrend Lorenzo dem Gemetzel entfloh, mit seinen Parteigängern zurückkehrte, den Aufstand blutig niederrang und se ine Herrschaft aufs neue festigte. Der Morder seines Bruders konnte zunächst bis nach Konstantinopel entfliehen, wurde aber von den Türken auf Verlangen Lorenzos an Florenz ausgeliefert und am 2. Dezember 1479 am Palazzo del Capitano gehenkt. Leonardo da Vinci hat sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen und die Todeszuekungen des Verurteilter, mit dem Zeichenstift festgehalten, kühl und registrierend. Und nichts ist ihm entgangen, nicht das wehe Erschlaffen des verzerrten Mundes, nicht die gioteske Hilflosigkeit der baumelnden
Füße, nicht das Kleid und die Schuhe, deren Farben er sich unter der Zeichnung notiert wie bei einer naturwissenschaftlichen Studie . . . Das ist- der Leonardo, dem höchste Schönheit und niedrigste Häßlichkeit nur zu einem dienen, zur Wahrheit, den ein Mutterlächeln ebenso-fesselt wie ein Mördergrinsen, der heimlich zu anatomischen Studien Leichen seziert, der sich überall nicht mit dem Schein begnügt, sondern rastlos zu ergründen sucht, was dahinter sein könnte. Die mißlungene Verschwörung der Pazzi brachte aber auch in der Folge Mordbrand und Kriegsnot über Florenz. In den Wirren des Aufstandes war der Erzbischof der Stadt ermordet worden, der Papst hatte wegen dieser Bluttat die Mediceer mit dem Bannfluch belegt. Päpstliche Truppen belagerten die Stadt, hin und her brandete das Kriegsglück. Waffen und Kriegsgeräte waren wichtiger nun als Altarbilder, und in den Skizzenbüchern des Meisters .Leonardo weichen in dieser Zeit die Engel und Madonnen vor den unzahligen Konstruktionszeichnungen und Ideenskizzen des Technikers Leonardo da Vinci. Die Probleme der Physik und Mechanik hatten ihn seit frühester Jugend beschäftigt. Er bastelte gern. Unter seinen Notizen aus der ersten Florentiner Zeit finden sich Skizzen zu Schleifmaschinen und Walzwerken, zu Meßgeräten und Mühlen, Entwürfe für Tunnelbohrmaschinen, Kanalbauten und für Hebewerkzeuge zum Umsetzen ungeheurer Lasten. Wie weit seine.Gedanken ausgriffen, dafür zeugt sein Projekt, die Kirche San Giovanni, so wie sie dastand, um mehrere Meter emporzuheben. Im Laufe der Jahrhunderte war die Umgebung des Gotteshauses durch Anschüttungen ständig erhöht worden und die Kirche immer tiefer eingesunken. Leonardo entwarf eine Konstruktion von Hebegeräten, die das gesamte Mauerwerk solange tragen sollten, bis ein neuer Unterbau darunter gesetzt und neue Zugangstreppen geschaffen wären. Das kühne Vorhaben kam nicht zur Ausführung, und Leonardo drängte auch nicht darauf. Ihm genügte es schon, ein schwieriges Problem anzugehen, es geistig zu bewältigen — dann legte er Skizzen und Berechnungen in seine Mappen", die angefüllt waren mit solchen Studien. Und dazwischen fanden sich kurze Anmerkungen und Beobachtungen, mit der Linken in Spiegelschrift hingeworfen und oft nur ihm allein verständlich. Immer wieder kreiste sein Denken um außerordentliche, ungewöhnliche, ja für seine Zeitgenossen ungeheuerlich erscheinende Dinge, deren meiste erst spätere Zeiten möglich gemacht haben. (Ein Beispiel der Spiegelschrift Leonardos zeigt die Abbildung Seite 23.) 8
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Bei solchen Studien stützte sich Leonardo selten auf die Arbeiten seiner Vorgänger. Seine Einsichten gewann er aus sich selbst, durch die Beobachtung. Er war kein Theoretiker, der auf andere lauscht»
er nannte sich selbst einen „discipolo della sperienza", einen Schüler der Erfahrung. „Wer sich in der Diskussion auf eine Autorität beruft, gebraucht nicht seinen Verstand, sondern sein Gedächtnis"', sagte er. Verständlich, daß ein so kritischer Geist für die Scheinwissenschaften, die sein Zeitalter liebte, nur Verachtung hatte. Weder Astrologie noch Alchimie konnten ihn auch nur zur Prüfung verlocken, und in den über 6000 Manuskriptseiten, die noch erhalten sind, findet sich darüber kein Wort, keine Zeile, keine Skizze. Wohl aber finden sich darin Grundgedanken für Unterwasserfahrzeuge, für den Fallschirm, für wasserbautechnische Anlagen und den Städtebau und eine scharfsinnige Darstellung aller Einzelheiten des Vogelfluges, die so modern anmutet, daß sie auch gegenüber den in Jahrhunderten äußerst verfeinerten Beobachtungs- und Kontrollmöglichkeiten bestehen kann. In diesen Bemühungen um die Erkenntnis des Vogelflugs lebt der uralte Ikarustraum vom fliegenden Menschen, dem Leonardo sich in vielen Stunden hingegeben hat. Luftschrauben, die mit Pedalantrieben bewegt werden sollten, zog
er in den Kreis seiner Berechnungen, und einmal scheint es auch — unter größter Geheimhaltung und mit außerordentlichen Vorsichtsmaßregeln — zu einem wirklichen Flugversuch mit einem seiner Apparate gekommen zu sein. Es muß ein Fehlschlag gewesen sein, denn das ganze Unternehmen wurde sorgfältig vertuscht, und wir wissen, daß Leonardo diesen Versuch nicht wiederholt hat. Ein Jahr lang tobte indessen der Kampf um Florenz, und es war ein ungleicher Kampf; denn die Florentiner waren bessere Kaufleute als Soldaten, und der Heldentod lockte sie viel weniger als der schwunghafte Handel über die Mauern hinweg mit den Belagerern. -„Es genügte, daß ein Pferd den Kopf zum Schwanz umdrehte, und schon brach eine Panik aus", so kennzeichnet Macchiavelli verächtlich den Kampfesmut seiner Landsleute. Vielleicht war es der heimliche Gedanke Leonardos, zur Stärkung der florentinischen Kampfkraft als Ingenieur des Hofes in die Dienste der Mediceer zu treten; aber Lorenzo di Medici ließ sich von den •vielen schönen Konstruktionszeichnungen, die Leonardo ihm vorlegte, nicht beeindrucken, obwohl sich darunter Salvengeschütze, Kampfwagen und raffinierte Geräte zur Abwehr von Belagerern befanden. Der Großkaufmann Lorenzo brachte die Kriegssache durch Verhandlungen zu Ende. Er brauchte Leonardo für diese Aufgabe nicht. Militäringenieur des Hofes blieb Sangallo, auch er ein Künstler, dem die Technik nur ein Teilgebiet seines Schaffens ausmachte. Kunst und Technik waren ja in der Renaissance noch nicht getrennte Begriffe; das Wort „arte", Kunst, bedeutete beides, wie in der Antike. Es darf hier daran erinnert werden, daß um diese Zeit droben jenseits der Alpen Mathis Gothart Nithart, genannt Grünewald, lebte und wirkte, der ebenfalls Maler, Wasserkunstmacher und Baumeister zugleich war, und daß in Nürnberg der Meister Albrecht Dürer sich neben der Malerei mit Befestigungslehren und allerlei Meßkünsten beschäftigte. Als endlich der Friede ausgehandelt war und die päpstlichen Truppen nach Rom zurückkehrten, bewahrte Leonardo seine kriegs- und bautechnischen Pläne und Skizzen sorgfältig für spätere Zeiten und wendete sich wieder der Malerei zu. Wohl auch durch Vermittlung seines Vaters, der sieh „guter Beziehungen" erfreute, erhielt er nun lohnende Aufträge. Aus dieser .Zeit stammt die von den Mönchen von San Donato bestellte Altartafel mit der Anbetung der Heiligen Drei Könige, die aber wieder nur — bezeichnend für Leonardo — bis zur Untermalung gedieh. Fünfzehn Jahre lang warteten die guten Mönche auf ihr Bild, dann hatten sie es endgültig satt und vergaben den Auftrag an Filippino Lippi, der 10
pünktlicher lieferte. Auch sein zweites Hauptwerk dieser Jahre, Der Heilige Hieronymus mit dem Löwen, blieb unvollendet. So ergab sich, daß Leonardos vielseitiges Talent in Florenz nicht mehr recht zur Entfaltung kam. Der Aufenthalt in der unrastigen Stadt war dem jungen Meister verleidet. Enttäuschung und Bitternis klingen aus den Worten, die er niederschrieb: „Deine Kraft, Künstler, liegt in der Einsamkeit. Nur wenn Du ganz allein bist, gehörst Du ganz Dir selbst. Wenn Du durchaus Freunde haben mußt, so seien es Genossen und Schüler aus Deiner Werkstatt. Jede andere Freundschaft ist gefährlich. Denke immer daran, Künstler: Deine Kraft liegt in der Einsamkeit!" Man erzählt, Leonardo habe in dieser Zeit eine silberne Leier gebaut, ein beliebtes Musikinstrument jener Tage, in Form eines edlen Pferdekopfe«, dessen Zähne zum Stimmen der Saiten dienten. Lorenzo di Medici soll diese Leier dem befreundeten Herrscher von Mailand. Lodovico Sforza, geschenkt und sie durch Leonardo mit einem schmeichelhaften Empfehlungsschreiben nach Mailand habe bringen lassen, am Ende des Jahres 1482, da der Meister das dreißigste Lebensjahr vollendet hatte. Was Leonardo in Mailand erhofft, das legt er in einem Briefe nieder, der für den mächtigen Herzog der Lombardei bestimmt ist. Der Meister, der dieses Schreiben zusammen mit dem Empfehlungsschreiben des Lorenzo di Medici und der silbernen Lyra dem Herzog Lodovico Sforza, dem „Mohren", in Mailand überreicht, kann sich sehr wohl auch am Mailänder Hofe sehen lassen. Hochgeireckt und schlank steht Leonardo da Vinci im Audienzsaal des Herzogs, über dem schwarzen Wams einen dunkelroten Mantel mit edlem Faltenwurf nach Florentiner Schnitt. Blütenweiß ist die Wasche aus kostbarem flandrischem Linnen, schmucklos das schwarzsamtene Barett. Haar und Bart sind seidenweich und gepflegt wie die sehmalen, feinnervigen Hände. Und Leonardo führt sich aufs beste ein; er weiß die Menschen zu behandeln: „Wenn Du zu Menschen sprichst, bei denen Du Wohlwollen suchst, kürze Deine Reden ab! Wenn Du sehen willst, woran einer Vergnügen findet, ohne ihn erst reden zu hören, so sprich zu ihm, indem Du verschiedene Male den Gegenstand wechselst, und wo Du ihn aufmerksam bleiben siehst, ohne Gähnen, Stirnrunzeln oder andere Gebärdon, sei sicher, daß jene Sache, von der gerade gesprochen wird, ihm das meiste Vergnügen bereitet!" Mit solch abwägender Rede hofft Leonardo auch den Mailänder Fürsten Lodovico Sforza zu gewinnen. Der träge, ein wenig ver11
schlagene Blick des Herzogs ruht wohlgefällig auf der Gestalt des Florentiners, der mit gemessenen Bewegungen und wenig Worten Skizzen Und Entwürfe vor ihm ausbreitet. Die neuartigen Waffen interessieren ihn; der Mann ist zu gebrauchen, erkennt er sofort. So bleibt Leonardo in Mailand, in der Hoffnung, daß ihm der Herzog das Ingenieurwesen des Staates übertragen werde. Lebensgenuß und Daseinsfreude beherrschen diese Stadt, von deren Reichtum Europa spricht. Seit 1386 bauen die Mailänder an ihrem Dom aus weißem Marmor, und noch bei Leonardos Ankunft schmiegen sich die Gerüste um das unvollendete Bauwerk. Aus luftiger Tiöhe vernimmt man das Hämmern der Steinmetze, und immer neue Marmorblöcke rollen heran. Achtzehntausend Häuser zählt Mailand, zahlreiche Kirchen und Paläste; überall wird gebaut, und der Dom soll Krönung und Mittelpunkt werden. Arbeit gibt es also für jeden, der arbeiten will. Aber für Leonardo beginnt eine quälende Zeit des Wartens und Harrens; denn die Ernennung zum Militäringenieur bleibt aus, und der „Mohr" zeigt sich bei aller Gewogenheit zunächst nicht als der großzügige Mäzen, den sich der Meister nach dem wohlwollenden Empfang am Hofe erhofft hat. Aber es drängt ihn zu neuem Werk. Leonardo beteiligt sich deshalb am Wettbewerb um die Gestaltung der Domkuppel, aber die Entscheidung fällt — da Einheimische bevorzugt werden —• zugunsten des Lombarden Amadeo aus. Bald sind die aus Florenz mitgebrachten Ersparnisse verbraucht, —• dankbar nimmt Leonardo das Obdach an, das ihm ein Freund teils aus Mitleid, teils aus Klugheit bietet, denn der ist selbst Maler, Hofmaler sogar, und er errechnet sich aus der Zusammenarbeit mit dem berühmten Florentiner geschäftlichen Gewinn. Porträtaufträge gibt es immer, und an mancher Arbeit beteiligt sich Leonardo, der froh ist über jeden Dukaten, den er verdient. Lodovico bleibt freundlich und leutselig und sieht den Meister gern, aber er hört sich lieber sein Saitenspiel und seine kunstvollen Fabeln und Geschichten an als seine Vorsehläge für das Reiterstandbild, das in der Phantasie des Künstlers allmählich ins Gigantische wächst. Es soll das größte Denkmal aller Zeiten werden, den Ruhm der Sforza noch fernsten Geschlechtern kündend. Der Herzog läßt den Schwärmer reden und ergötzt sich an seiner Begeisterung und Fabulierkunst. Er kann ja so gut erzählen, der blonde Maler aus Florenz, die Damen des Hofes sind entzückt von seinen Geschichten und seiner einschmeichelnden Stimme. Aber dieses Warten, dieses Ausweichen und Hinhalten wird immer 12
mehr zur Qual. Der Meister kommt sieh vor wie ein Mensch, der > langsam von den Rädern des Hofgetriebes zermalmt wird. Zweifel überfallen ihn, ob seine Reise nach Mailand nicht ein Fehlschlag zu werden drohe. „Auf einer Anhöhe zur Seite der Straße", so schildert Leonardo sinnbildlich seinen Zustand, „dort, wo ein Zaun den Garten begrenzte, lag, von Bäumen, Moos, Blumen und Gräsern umgeben, ein Stein. Eines Tages gewahrte er auf der Straße eine große Menge anderer Steine, und da er sich zu ihnen hinsehnte, sprach der Stein zu sich selbst: ,Was soll ich hier unter all diesen zarten, vergänglichen Geschöpfen, Blumen und Gräsern! Viel lieber wäre ich unter meinen Brüdern und Verwandten, Stein unter Steinen!' — Und so wälzte er sich denn den Abhang hinab auf die Landstraße und mischte sich unter diejenigen, die er als seine Verwandten und Brüder ansah. Auf der Straße aber fuhren alsbald die schweren Räder der Lastfuhrwerke über ihn hinweg, die Hufe der Esel und Maultiere, die eisenbeschlagenen Schuhe der Wanderer schlugen ihn und ritzten ihm die Haut. Gelang, es ihm aber einmal, sich ein wenig aufzurichten, um freier atmen zu können, so wurde er mit Schmutz bespritzt, oder die Tiere ließen ihren Unrat auf ihn fallen. Da blickte er traurig nach seinem früheren Platz am Gartenzaun, den er nicht mehr erreichen konnte, und dieser erschien ihm als ein wahres verlorenes Paradies. So geht es dem, der seine Einsamkeit und die stille Betrachtung aufgibt und sich unter die Menge mischt mit ihren bösen Leidenschaften!" Aber dann erfüllt sich endlich sein Hoffen. Der Herzog beginnt den schon Verzweifelnden bei ersten künstlerischen Unternehmen zu Rate zu ziehen. Und schon erwacht von neuem der Wille, Großes zu schaffen. Die wieder gewonnene Sicherheit des Lebens gibt dem Meister auch die Muße, an seinem gewaltigen Gedankenbau weiterzubauen und die Menschen, die ihm nahestehen, an seinem innereii Reichtum teilnehmen zu lassen. Das Problem der Kunst und vornehmlich der Malerei bewegt ihn jetzt am meisten. Was er erkennt, trägt er im Kreise der neugewonnenen Freunde vor. Man hört dem Meister zu und ist bezaubert von der Tiefe seiner Einsichten. Allen voran Cecilia Gallerani, die Freundin des Herzogs, die selber ein wenig „dichtet" und ganz hübsch musiziert. Sie schätzt die Gesellschaft Leonardos sehr und läßt sich auch von ihm malen. Das Bild wird unter dem Titel „Die Dame mit dem Hermelin" berühmt; über das „Porträt der Madonna Cecilia von der Hand des Meisters Leonardo" erscheint eine zierliche Dichtung. Ja, den Meistertitel haben ihm die Mailänder von Anfang an zugestanden, eine Auszeichnung, mit der sie gegenüber ihren eigenen Künstlern 13
immer geizen. Das künstlerische Hauptwerk jener Tage aber ist die „Madonna in der Felsengrotte", eine Gemeinschaftsarbeit mit Ambrogio de Predis. Dieses Altarbild wird im Auftrage der Bruderschaft der Heiligen Empfängnis im Jahre 1483 begonnen, im Geburtsjahr Raffaels . . . Leonardo aber hat sieb noch höhere Ziele gesteckt. Zulange haben ihn die Hofleute mit Aufgaben belastet, die für ihn nur schöpferische Spielereien, aber nicht Lebensaufgabe sind. Zwar erweist er sieh unübertrefflich im Arrangieren von Festlichkeiten, in der Entfaltung seiner mechanischen Künste, in täglichen Überraschungen, die seine unerschöpfliche Erfindungsgabe zu bieten weiß — aber es kränkt ihn, daß man bei Hofe seine Spielereien mehr schätzt als seine Bilder und sein ernsthaftes Arbeiten. So dankt er es dem Herzog sehr, als er ihm im alten Palazzo eine Werkstatt einräumt und einrichtet. Hier kann er in Ruhe und Abgeschiedenheit seine Studien treiben für Bilder und Maschinen und für das große Reiterstandbild, das ihn nicht losläßt. In der Stille der Werkstatt erholt er sich vom launischen Getriebe des Hofes, an dem der Dolch so locker sitzt und der Gifttrank so billig ist wie an' allen Höfen der Renaissance. Machtkämpfe und Liebesgeschichten füllen das Dasein des Hofadels und des Herzogs aus, der seine Gunst einmal schnöde verweigert und dann wieder verschwenderisch austeilt. Oft muß Leonardo um den rückständigen Lohn betteln, so wie Bramante, der Baumeister vieler Mailänder Kirchen, bettein muß. Es haben sich Bruchstücke von „Mahnbriefen" erhalten, aus denen durch alle Ergebenheitsfloskeln und geschmeidigen Wendungen doch die Enttäuschung über des „Mohren" Verhalten deutlich erkennbar ist. Aber der Meister schreibt nicht nur Mahnbriefe, er beginnt seine Abhandlung über die Perspektive, und in den Truhen vermehren sich die Notizen zu seinem großen Buch über die Malerei. Wenn einmal die Geldsorgen den Fortgang der Arbeiten hemmen, mahnt er sich selbst: „Gib acht, daß nicht die Gier nach dem Golde die Liebe zur Kunst in dir ersticke! Vergaß nicht, daß der Besitz des Buhmes unendlich viel mehr ist als der Ruhm des Besitzes. Das Andenken des Reichen erlischt mit seinem Tode, das Andenken des Weisen aber erlischt niemals. Liebe den Ruhm und fürchte dich nicht vor der Armut. Die Wissenschaft verjüngt die Seele und versüßt die Bitternis des Alterns. Alles Schöne vergeht im Leben, aber nicht in der Kunst." Den Sinnenden und Grübelnden, der in der Stille seiner Malerwerkstatt das Wesen der Kunst von allen Seiten und aus jeder Tiefe zu ergründen sich müht und in überraschende und auch uns noch erregende Worte zu fassen weiß, treibt es wie in Jünglingsjahren oft 14
hinaus aus den beengenden Mauern, wenn sie die Fülle seiner Gedanken nicht mehr fassen. Steht er draußen unter dem Gewölbe des nächtlichen Himmels, der sternenfunkelnd weithin die lombardische Ebene überspannt, dann überkommt ihn die Gewißheit, daß die Gesetze der Kunst göttliche Ausstrahlungen jener Harmonien sind, die das Weltall erfüllen. Der Verstand des Künstlers — so denkt der Meister — braucht sich nur den Ideen zu öffnen, die in der Natur walten, um zum Dolmetscher zwischen der Natur und der Kunst zu werden. Ist zum Beispiel die Wissenschaft von der Perspektive nicht die gleiche Wissenschaft, aus der auch der Astronom die geometrischen Mittel zur Durchdringung des Weltraumes gewinnt' Die Perspektive, die Tochter der Malerei, ist auch die Gehilfin des Sternenforschers; denn wie die Linien sich in der Raumtiefe1 eines Gemäldes sammeln, so sammeln sich auch die Sehlinien des Astronomen in der Tiefe des Himmels. Mit dem Leitseil und Steuer der Perspektive verbreitet der Maler wie der Himmelsforscher sich über die Flächen, Farben und Figuren der von der Natur geschaffenen Dinge, mögen sie nahe oder in astronomischen Fernen sein. Beide suchen an diesem Leitseil die Wirklichkeit und Wahrheit in ihrem ganzen Umfang zu erfassen und zur Darstellung bringen. Erschließen uns so die philosophischen Niederschriften dieser Zeit hier und da die Gedankenwelt, in der sich Leonardo in den Mailänder Jahren bewegte und die er wie ein Herrscher selber bewegte, so wird sein ganz persönliches, privates Leben durch die Zeitdokumente nur spärlich erhellt. Unter den wenigen Aufzeichnungen dieser Jahre finden wir eine Notiz, durch die wir noch einmal an Leonardos Mutter erinnert werden. Die Eintragung ist nur kurz: „Caterina am 16. Juli 1493 eingetroffen". War es vielleicht seine Mutter, die Bauernmagd aus Vinci, die kurz vor ihrem Tode noch einmal den Sohn sehen wollte? Die in der Notiz genannte Caterina starb kurz darauf in Mailand, und Leonardo richtete ihr ein prunkvolles Begräbnis, dessen Kosten er genau in seinen Büchern vermerkte, ohne aber das Wort „Mutter" zu nennen. Es wird niemals geklärt werden können, ob seine Mutter überhaupt von dem Aufenthaltsort und von dem ruhmvollen Aufstieg ihres Sohnes gewußt hat. Wenn aber jene Caterina nicht seine Mutter war •— was könnte sonst Leonardo veranlaßt haben, eine Magd oder Haushälterin mit soviel Aufwand zu Grabe zu bringen? So bleibt es uns überlassen, an diese späte Begegnung zwischen Mutter und Sohn zu glauben und das Schicksal zu preisen, das zuletzt doch vielleicht zwei Menschen, die zueinander gehörten, in den Kreislauf der Herzen zurückgeführt hat. * 15
Ungefähr um die Zeit, für die diese nicht ganz greifbare Wiederbegegnung von Mutter und Sohn in Leonardos Notizen verzeichnet ist, vollendet der Meister den „Koloß", das Modell des Reiterstandbildes für Francesco Sforza. Die Aufstellung wird ein Triumph für Leonardo und für seinen Herzog, der ihn jetzt mit neuen Aufträgen überhäuft. Lodovico hat von Bramante Kirche und Refektorium des Klosters Sta. Maria delle Grazie neu erbauen lassen und vermittelt Leonardo da Vinci einen Malauftrag für die Mönche. Als die Bauarbeiten im Jahre 1495 zu Ende sind, soll er die Stirnwand des Klosterspeisesaales mit einer Darstellung des „Letzten Abendmahls" bemalen. Und hier vollzieht sich das in der Kunstgeschichte Einmalige: Ein großes Thema wird von einem großen Künstler so zur reifsten Form gestaltet, daß es mit gleicher oder annähernder Gültigkeit nicht noch einmal dargestellt werden kann. Leonardos Abendmahl ist d a s Abendmahl. — Unzählige haben nach ihm um neue Lösungen gerungen, „tausendmal ist dieser Gegenstand behandelt worden, aber kein Künstler ist dem ewigen Gehalt des Augenblicks jemals wieder so nahe gekommen. Das Bild ist über Völker- und Bekenntnisgrenzen hinweg ein Band der Christenheit geworden, so allgemein wie das Vaterunser." * Das „Abendmahl" Leonardos in Mailand ist seit langem eine Ruine, die Zerstörungen des letzten Krieges haben es wohl dem gänzlichen Verfall anheim gegeben. So ist es dem heutigen Betrachter schwer, aus dem nur kümmerlich Erhaltenen noch den Glanz des Originals zu erkennen. Besonders wertvoll ist uns deshalb eine Schilderung Goethes, der das „Abendmahl" auf einer italienischen Reise noch in einem Zustand besserer Erhaltung gesehen und es uns eingehend beschrieben hat. Audi das Refektorium stand damals noch, so wie es die Möndishandwerker auf Geheiß Lodovico Sforzas im Jahre 1495 gebaut hatten. „Als Reisende", so sdireibt Goethe, „haben wir dieses Speisezimmer noch ungestört gesehen. Dem Eingang an der schmalen Seite gegenüber stand die Tafel des Priors, zu beiden Seiten die Mönchstische, sämtlich auf einer Stufe vom Boden erhöht; und nun, wenn der Hereintrelende sich umkehrte, sah er an der vierten Wand über den nicht allzu hohen Türen den vierten Tisch gemalt, an demselben Christus und seine Jünger, eben als wenn sie zur Gesellschaft gehörten. Es muß zur Speisestunde ein bedeutender Anblick gewesen sein, wenn die Tische des Priors und Christi als zwei Gegenbilder aufeinander blickten und die Mönche an ihren Tafeln sich dazwisdien eingeschlossen fanden. Und eben deshalb mußte die Weisheit des 16
leonardos .Abendmahl" in Mailand (Zustand vor den Zerstörungen des letzten Krieges)
Malers die vorhandenen Mönchstische zum Vorbild nehmen. Auch ist gewiß das Tischtuch mit seinen Falten, gemusterten Streifen und aufgeknüpften Zipfeln aus der Waschkammer des KloBters genommen, Schüsseln, Teller, Becher und sonstiges Gerät gleichfalls denjenigen nachgeahmt, deren sich die Mönche bedienten, Christus sollte sein Abendmahl bei den Dominikanern zu Mailand einnehmen." Nun wendet sich Goethe der Betrachtung des Gemäldes und der dreizehn Figuren selber zu, und bewundernd rühmt er den Künstler, der seinem Bilde kräftige Erschütterung und leidenschaftliche Bewegung eingehaucht habe. Die Erschütterung, wodurch der Künstler „die ruhig heilige Abendtafel erregt" — so schreibt Goethe, und wir folgen ihm nun, weil seine Deutung unübertrefflich ist — „sind die Worte des Meisters: Einer ist unter euch, der mich verrät! Ausgesprochen sind sie, die ganze Gesellschaft kommt darüber in Unruhe; er aber neigt sein Haupt, gesenkten Blickes; die ganze Stellung, die Bewegung der Arme, der Hände, alles wiederholt mit himmlischer Ergebenheit die unglücklichen Worte, das Schweigen selbst bekräftigt: Ja, es ist nicht anders! Einer ist unter euch, der mich verrät. Die Gestalten zu beiden Seiten de? Herrn lassen sich drei und drei zusammen betrachten. Zunächst an Christi rechter Seite Johanne«, Judas und Petrus. Petrus, der Entfernteste, fährt nach seinem heftigen Charakter, als er des Herrn Wort vernomme-n, eilig hinter Judas her, der sich, erschrocken aufwärts sehend, vorwärts über den Tisch beugt, mit der rechten, festgeschlossenen Hand den Beutel hält, mit der linken aber eine unwillkürliche krampfhafte Bewegung macht, als wollte er sagen: Was soll das heißen? — Was soll das werden? Petrus hat indessen mit seiner linken Hand des gegen ihn geneigten Johannes rechte Schulter gefaßt, hindeutend auf Christus und zugleich den geliebten Jünger anregend, er solle fragen, wer denn der Verräter sei. Diese Gruppe kann als die zuerst gedachte des Bildes angesehen werden; sie ist die vollkommenste. Wenn auf der rechten Seite des Herrn mit mäßiger Bewegung unmittelbare Rache angedroht wird, entspringt auf seiner linken lebhaftes Entsetzen und Abscheu vor dem Verrat. Jakobus der Ältere beugt sich vor Schrecken zurück, breitet die Arme aus, starrt, das Haupt niedergebeugt, vor sich hin, wie einer, der das Ungeheuere, das er durchs Ohr vernimmt, schon mit Augen zu sehen glaubt. Thomas erscheint hinter seiner Schulter hervor, und sich dem Heiland nähernd, hebt er den Zeigefinger der rechten Hand gegen die Stirn. Philippus, der dritte zu dieser Gruppe Gehörige, rundet
sie aufs lieblichste; er ist aufgestanden, beugt sich gegen den Meister, legt die Hände auf die Brust, mit größter Klarheit aussprechend: Herr, ich bin's nicht! Du weißt es! Du kennst mein reines Herz. Ich bin's nicht! Und nunmehr geben uns die benachbarten drei letzteren neuen Stoff zur Betrachtung. Sie unterhalten sich untereinander über das schreckliche Vernommene. Matthäus wendet mit eifriger Bewegung das Gesicht links zu seinen beiden Genossen, die Hände hingegen streckt er mit Schnelligkeit gegen den Meister und verbindet so durch das unschätzbarste Kunstmittel seine Gruppe mit der vorhergehenden. Thaddäus zeigt die heftigste Überraschung, Zweifel und Argwohn; er hat die linke Hand offen auf den Tisch gelegt- und die rechte dergestalt erhoben, als stehe er im Begriff, mit dem Rücken derselben in die linke einzuschlagen, eine Bewegung, die man wohl noch von Naturmenschen sieht, wenn sie bei unerwartetem Vorfall ausdrücken wollen: Hab' ich's nicht gesagt! Habe ich's nicht immer vermutet! — Simon sitzt höchst würdig am Ende des Tisches, wir sehen daher dessen ganze Figur; er, der älteste von allen, ist reich mit Falten bekleidet, Gesicht und Bewegung zeigen, er sei betroffen und nachdenkend. Wenden wir nun die Augen sogleich auf das entgegengesetzte Tischende, so sehen wir Bartholomäus, der auf dem rechten Fuß, den linken übergeschlagen, steht, mit beiden ruhig auf den Tisch gestemmten Händen seinen übergebogenen Körper unterstützend. Er horcht, wahrscheinlich zu vernehmen, was Johannes vom Herrn ausfragen wird; denn überhaupt scheint die Anregung des Lieblingsjüngers von dieser ganzen Seite auszugehen. Jakobus der Jüngere, neben und hinter Bartholomäus, legt die linke Hand auf Petrus Schulter, sowie Petrus die Schulter Johannis, aber Jakobus mild, nur Aufklärung verlangend, wo Petrus schon Rache droht. Und also wie Petrus hinter Judas, so greift Jakob der Jüngere hinter Andreas her, welcher als eine der bedeutendsten Figuren mit halbaufgehobenen Armen die flachen Hände vorwärts zeigt, als entschiedenen Ausdruck des Entsetzens." Goethe, der das große Werk Leonardos in der Bewegtheit seiner Gestalten und in der Bändigung des Seelischen durch die Gebärden so klar durchschaut hat, klagt aber zugleich über „die zunehmende Verderbnis" und hält das Bild schon „so gut als verloren", da es „mehr oder weniger getrübt erscheint". Den beginnenden Verfall hat Leonardo noch erlebt. Obwohl er dauernd mit neuen Farben und Bindemitteln experimentierte, immer neue Lasuren und andere Behelfe erfand, um die Leucht-
kraft der Farbe zu steigern, achtete er zu wenig darauf, daß sein Werk auch die Zeit ohae Veränderung überdauerte. Er malte das „Abendmahl" wider alle herkömmlichen Regeln nicht in Freskomani«r mit Wasserfarben auf den feuchten Kalkverputz der Wand, sondern in öl, und so widerstand es nicht der Feuchtigkeit und dem Moder, der durch die Mauer drang. Die in aller Welt verbreiteten Nachbildungen des „Abendmahls" sind zumeist nach alten Kopien entstanden, die schon bald nach der Entstehung des Gemäldes von den Malern geschaffen wurden. Doch besitzen wir zahlreiche Studien zu dem Bild aus der Hand Leonardos; auch der Christuskopf auf dem Umschlag dieses Heftes ist eine dieser Skizzen des Meisters. Leonardo hatte am Hofe der Sforza eine Stellung errungen, wie er sie sich gewünscht, als er von Florenz nach Mailand gegangen war. Harmonie, Ruhe und Ausgeglichenheit, die Lebenssehnsucht des Meisters, schienen sich in diesen Jahren auch im Materiellen der Erfüllung zu nähern. Im April 1499 schenkte ihm der Herzog ein Gut. Stille und Wohlstand, stetig strömendes Schaffen, — so vieles, was er kaum zu erhoffen gewagt, trat nun greifbar vor ihn hin, aber wieder wollte es das Schicksal anders. Das Schicksal hieß Krieg. Lodovico Sforza stürzte durch Verrat, die Franzosen besetzten die Stadt, und um die Wende des Jahrhunderts floh Leonardo aus Mailand. »Der Herzog verlor den Staat, sein Gut und die Freiheit, und keines seiner Werke wurde von ihm vollendet." * Über Mantua und Venedig kehrt Leonardo im April 1500 zurück in die Stadt seiner Lehrjahre, nach Florenz. Als Fremder kehrt er heim, begleitet von seinem Ruhm. Mißtrauisch und erstaunt beobachten die Florentiner seine Lebenshaltung, die Lebenshaltung eines vornehmen Reichen, der sich Öiener und Pferde hält. Doch das ist wohl mehr eine schöne Täuschung, denn obwohl er Ersparnisse hat, — über 30 000 Goldlire liegen auf der Bank, — sieht Leonardo sich bald nach Aufträgen um. Für das Kloster der Servitenmönche, die ihm und seinem Diener auch Wohnung und Werkstatt bieten, beginnt er mit den Arbeiten am Altarbild der „Heiligen Anna Selbdritt". Noch in Mailand hatte Leonardo sich mit diesem beliebten Thema der Volksfrömmigkeit beschäftigt, das seit dem 14. Jahrhundert Gegenstand vor allem des deutschen Kunstschaffens war. Zum erstenmal erscheint nun dieser Stoff des „Selbdritt"-Motives — es sind die drei Gestalten der hl. Anna (der Mutter Marias), Marias und des Jesukindes — als Gemälde eines italienischen Meisters, 20
Wsschmtt aus dem Gemälde .Heilige Anna Selbdntt"
erregt höchstes Aufsehen und sichert Leonardo wieder die Zuneigung seiner Landsleute. Aber ihre Hoffnungen auf baldige Fertigstellung des Werkes erfüllen sich nicht. Auch dieses Werk gedeint zunächst nur bis zur durchgearbeiteten Zeichnung — erst zehn Jahre später sollte es abgeschlossen werden. Doch schon die Zeichnung verrät, daß auch hier Leonardo nicht nur im Bildinhalt, sondern auch in der Art, wie er ihn darstellt, einen neuen Weg beschritten hat. Die Gruppe der Figuren auf diesem Bilde ist in die Landschaft gesetzt, aber keiner vor Leonardo war auf den Gedanken gekommen, eine Landschaft anders darzustellen a-ls „bei schönem Wetter". Was er bei der .,Madonna in der Felsengrotte" und auch in der in Mailand entstandenen „Alpenlandschaft" schon begonnen, führt der Meister im Bilde der „Heiligen Anna Selbdritt" zur Vollendung, indem er die Natur, die ja nicht ewig übersonnt ist, auch in ihrem Ernst und ihrer Schwere wiedergibt und die Stimmung der Natur mit der Stimmung des jeweiligen Bildgegenstandes zusammenklingen läßt. Und noch etwas anderes lassen uns dieses in eine „wahre" Naturumgebung gestellte Bild und die noch erhaltenen vorbereitenden Skizzen zu ihm erkennen: den Botaniker Leonardo da Vinci. Er studiert und zeichnet die Wachstumsgesetze von Baum und Strauch, um auch die Pflanzenwelt auf dem Bilde wahr und wirklich wiederzugeben. Er fertigt Wachsabdrücke einzelner Blätter an, um den Linien des Geaders der Rippen nachzuspüren und beobachtet genau den Wandel und Wechsel im Farbenspiel der Wälder und Fluren: „Mache es nicht wie so viele, die die Blätter an Bäumen jeglicher Art und Gattung, auch wenn dieselben gleich weit von dir entfernt stünden, mit einerlei Grün malen. Im Frühherbst male die Bäume so, daß die Blatter eben anfangen, blaß zu werden, und zwar nur die an den ältesten Ästen, und mehr oder weniger blaß, je nachdem der Baum an einem dürren oder an einem fruchtbaren Fleck vorgestellt i«t. Dasselbe gilt von den Wiesen und dem anderen Gelände, von Gestein und Wurzeln und von den Stämmen der Bäume. Wähle fortwährend andere Farben und Formen, denn die Natur ist veränderlich bis ins Unendliche!" Über diesen Naturstudien ist das Anna Selbdritt-Bild liegengeblieben. Ohne Rücksicht darauf, daß er diesem Auftrag Wohnung und Werkstatt verdankt, verliert sich Leonardo ganz an die botanischen Studien, nimmt auch seine geliebten geometrischen Arbeiten wieder auf, experimentiert mit Dampfmaschinen und Flugapparaten und arbeitet an großen technischen Plänen. 22
Sie empfehlen ihn dem um diese Zeit wie ein Komet aufsteigenden Cesare Borgia, der in "Mittelitalien ein Königreich zu errichten beginnt und auch Florenz unter seine Gebietshoheit gebracht hat. Leonardo, der von großen Bauaufgaben träumt, tritt in Cesares Dienste. Vom Jahre 1502 ist das Schreiben datiert, in dem Meister Leonardo mit weitreichenden Vollmachten für die Verwaltung der Schlösser und Festungen versehen wird.
Konstruktionsskizze zu einem Bagger darunter Anmerkungen in Spiegelschrift
Es ist ein schöner Geleitbrief, und Leonardo kann nun nach Herzenslust auf den „Schlössern und Festungen" vermessen, untersuchen und prüfen; aber leider hat Cesare Borgia die meisten Schlösser und Festungen noch nicht in seiner Hand, und das mindert ein wenig den Wert der vielversprechenden Urkunde . .. Das Abenteuer des Cesare ist zudem bald vorüber, und Leonard^ kehrt im Jahre 1503 wieder nach Florenz in seine stille Werkstätte zurück. Mit Freuden übernimmt er hier den ehrenvollen Auftrag der Signoria, im Rathaussaal ein Wandbild mit der Schlacht von Anghiari zu malen, einem in der florentinischen Geschichte denkwürdigen Reitersieg über die Mailänder. Eigensinnig verwendet er wieder Ölfarben, trotz der schlechten Erfahrungen beim Bilde des Abendmahls, und wieder mißlingt der Versuch, und das hat schlimme Folgen. Die Signoria beschuldigt den Maler öffentlich der Unterschlagung von Staatsgeldern, denn er hat schon Vorschußzahlungen für das begonnene und nie vollendete 23
Werk erhalten. Diesmal hat er es mit den Florentinern endgültig verdorben. „Die Handlungen Leonardos", heißt es in einem Schmähbrief, der von Hand zu Hand geht, „sind unehrenhaft. Nachdem er große Summen im voraus entnommen hatte, hat er die kaum begonnene Arbeit im Stiche gelassen und sich also wie ein Verräter an der Republik benommen." Verräter, — das ist ein böses Wort, und Leonardo muß es nicht zum erstenmal hören. Zu vielen Herren hat er schon gedient, Freunden und Feinden. Verräter, — das muß er nun auch in der Stadt seiner Jugend hören, muß es hören auch von dem, dessen beginnendes Werk er bisher mit hoher Bewunderung beobachtet hat — von Michelangelo Buonarroti. Michelangelo nennt Leonardo einen Vagabunden und Tagedieb und erhebt vor Papst Leo X. die schwersten Anklagen gegen den Meister. Wir wissen nicht, was Leonardo zu dieser Feindschaft beigetragen hat, die wie alle Feindschaft zu gleichen Teilen aus Schuld. Mißverstehen und Verhängnis besteht. „Zwischen Leonardo und Michelangelo herrschte große Abneigung, und der Wettbewerb zwischen beiden War schuld, daß Michelangelo Florenz verließ", berichtet Vasari. Es muß zu heftigen und erbitterten Auseinandersetzungen in aller Öffentlichkeit gekommen sein. Michelangelo zürnt dem Gegner wegen des niemals ausgeführten Mailänder SforzaDenkmals und beschuldigt ihn, viel zu beginnen und dann schnöde im Stich zu lassen, ein Vorwurf, der Leonardo um so schmerzlicher trifft, weil er nicht ganz unberechtigt ist. Aber bei Leonardo ist es nicht Saumseligkeit, Bequemlichkeit oder der Gedanke, seine Auftraggeber zu hintergehen, wenn er so oft Geplantes nicht beginnt, Begonnenes nicht zu Ende führt, oder zu Ende Geführtes nicht in die Hände der Auftraggeber gelangen läßt. Einer der größten Entdecker der Geistes- und Kunstgeschichte, ist er ständig nach neuen Eilanden unterwegs. Immer erwartet er hinter dem Horizont größere Welten des Geistes und der Kunst, und in dieser Erwartung hält er das, was er eben geschaffen und erreicht hat, oft für unvollkommen und weit von den selbst gesteckten Zielen entfernt. Und allzu oft wird er bei einer Arbeit überwältigt von Ideen, die ihn alles andere vergessen, ja verachten lassen. Michelangelo hat Leonardo zu wenig gekannt, um diese Besonderheit an ihm zu begreifen. Leonardo hat übrigens in dem bis zu seinem Tode währenden Streit die bessere Haltung bewahrt, nie hat er auch nur mit einem Wort Michelangelos Werk herabgesetzt. Von ihm wird das schöne und gültige Wort überliefert: „Man kann keine größere Herrschaft haben als die über sich selbst." 24
In dieser Zeit empfängt Leonardo den Besuch des Gesandten der Markgräfin von Mantua, Isabella d'Este, die bei ihm seit Jahren um ein Bild bettelt. Aber der Gesandte zieht unverrichteter Dinge ab. Leonardo hat jetzt anderes zu tun. Vasari berichtet uns, daß der Meister an einem Bildnis der Lisa di Antonio Maria di Noldo Gherardini malte, der dritten Frau des reichen Florentiner Bürgers Bartolommeo del Giocondo. Nur langsam, mit Unterbrechungen, reifend wie eine köstliche Frucht, wächst das Porträt; denn Frau Giocondo, Madonna Lisa, die man abkürzend Mona Lisa nennt, ist eine gute Hausfrau und hat nicht oft Zeit zum Modellstehen. Die „Mona Lisa" ist eines der vielen Rätsel, die Leonardo der Nachwelt aufgegeben hat, und das abenteuerliche Schicksal dieses Bildes, das im Jahre 1911 von seinem Platz im Louvre zu Paris entwendet und im Jahre 1913 in Florenz wieder aufgefunden wird, hat ebenso zu seiner Volkstümlichkeit beigetragen wie seine Schönheit. Die Entstehungszeit läßt sich nur annähernd bestimmen, der Name Mona Lisa, der wohl für alle Zeiten mit dem Bildnis verbunden bleiben wird, beruht auch mehr auf Überlieferungen als auf dokumentarischen Nachweisen. In keiner Aufzeichnung des Meisters ist dieser Name zu finden, und der blühende Legendenkranz um dieses Werk hängt eigentlich nur an Vasaris Erzählung. Daß der Maler Vorleser und Musikanten ins Haus kommen ließ, um sein schönes Modell immer bei gleichbleibender Stimmung zu halten, wollen wir deshalb nur mit Vorsicht zur Kenntnis nehmen, aber daß er vier Jahre daran gearbeitet hat, glauben wir ihm aufs Wort. Leonardo selbst wird das Bild immer als unvollendet empfunden haben, denn er liefert es dem Auftraggeber nie ab, sondern nimmt es später mit nach Frankreich, wo es in den Besitz Franz des Ersten und schließlich in die große Staatssammlung des Louvre kommt. Alle, die es in der Zeit seiner Entstehung sehen, auch der junge Raffael, ahnen, daß das Bildnis eine neue Art der Menschendarstellung heraufführt; nicht Hoheit, Würde und Pracht, wie in den üblichen Bildnissen, dieser Zeit, sondern Menschlichkeit, Herzenseinsamkeit und das Wissen um das Rätselspiel des Lebens sind in ihm zum Ausdruck gekommen. Und auch in der „Mona Lisa" hat Leonardo durch die Stimmung der Landschaft unterstrichen, was er im Bild der Dargestellten zur Aussage bringen will. * Im Frühling des Jahres 1506 ist Leonardo wieder in Mailand. Der König von Frankreich, der die Lombardei besetzt hält, hat ihn als Hofmaler und Ingenieur verpflichtet und läßt ihm auch die Zeit zu Studien und Forschungen. 25
Auch das Reiterdenkmal soll nun fertigwerden. Aber noch bevor Leonardo mit der Ausführung beginnt, müssen die Franzosen Mailand wieder jäumen. Mit den letzten Truppen, die nach langer Gegenwehr aus der Stadt rücken, nimmt auch Leonardo für immer Abschied. SeineJSuflucht ist Rom. Die Ewige Stadt aber wartet nichl auf Leonardo. Zu viele Künstler haben hier die Aufträge an sich gezogen. Der Baumeister Bramante, mit dem Leonardo zusammen vor vielen Jahren in Mailand um die spärlichen Zahlungen des Mohren gebettelt, ist der große Herr der Künstlerschaft, Baumeister des Petersdoms, Generalintendant der schönen Künste, unnahbar, umschwärmt und umschmeichelt. Wer erinnert sich schon gern der Zeiten beschämender Armut? — Bramante hat den Gefährten von einst vermutlich überhaupt nicht empfangen. Ein anderer hat das Herz und die Gunst des mächtigen Baumeisters gewonnen, der junge schöne Maler Raffael aus Urbino, der in Florenz so oft um die Werkstatt Leonardos herumgestrichen war. eifrig bedacht, etwas von dessen neuen Arbeiten zu erspähen, was man vielleicht nützlich verwenden könne. Hier in Rom hat er bereit« mit der „Schule von Athen" und dem „Disput um das Heilige Sakrament" hohe Anerkennung gefunden, und Papst Leo X. ernennt ihn zum Nachfolger Bramantes, als dieser stirbt. Auch Michelangelo ist am Papsthofe tätig. Auch von ihm hat der alternde Leonardo nichts zu erwarten. Während Michelangelo an der Kuppel des Petersdoms arbeitet, während Raffael die Wände der vatikanischen Stanzen bemalt, baut Leonardo — welch herrlicher Anlaß für Michelangelo, über die Leidenschaft seines Feindes für kolossale Pferde zu spotten! — in Rom einen Pferdestall. Dem Meister des Abendmahls bietet Rom keine größere Aufgabe, kein Amt. Mehr geduldet als begehrt, darf er einen Prägestock für die päpstliche Münze entwerfen, und Raffael verschafft ihm großzügig einige Bestellungen auf kleinere Bilder, die ihn selbst nicht locken. Nur Giuliano di Medici, der in der Ewigen Stadt weilt, hält treu zu ihm, sichert auch seinen Lebensunterhalt, richtet ihm Wohn- und Anbeitsräume im vatikanischen Gartenpalast des Beivedere ein, in denen neben den Arbeiten am Buch der Malerei, am Anatomiewerk und am Geometriebuch allerlei Maschinen und optische Geräte entstehen. Die unwürdige Behandlung steigert Leonardos Menschenscheu allmählich zur Menschenverachtung. Er ist nicht mehr der glänzende Unterhalter, der geschmeidige Hofmann, der einst mit Saitenspiel und anmutigen Geschichten die Damen entzückt hat. Ein Mann, der in Leichen herumwühlt und Tierkadaver in seine Werkstatt im 26
Belvedere bringen läßt, ein Mann, von dem Gerüchte besagen, daß er sich wie ein Vogel in die Luft erheben wolle, wirkt eher unheimlich als anziehend auf die Gesellschaft und man rechnet ihn nun zu den Sonderlingen, die man am besten in Ruhe läßt. Ein Schüler ist es, der ihm in dieser Zeit immer wieder Sicherheit und neue Zuversicht gibt, einer der vielen Schüler, die durch Leonardos Werkstatt gegangen sind. Es ist Francesco Melzi, Sohn einer reichen Mailänder Familie, der die Malerei ursprünglich nur als anmutigen Zeitvertreib betrachtet hat, darüber in den Bann des Meisters geraten ist und nicht mehr von seiner Seite weicht. Melzi ist ein unbedeutendes Talent, aber ein reicher und lauterer Mensch, der seine schwärmerische Verehrung für den Lehrer offen bekennt und den Einsamen wie ein Sohn liebend umsorgt und betreut. Er ordnet die losen Blätter mit den Skizzen und Aufzeichnungen und überwacht die Gesellen, die an den Ziehbänken und SchraubenschneideMaschinen im Belvedere nach Leonardos Anweisung arbeiten; nicht immer ehrlich, nicht immer fleißig, so daß der Meister viel Kummer hat und sich in einem langen Brief an Giuliano di Medici bitter über die Untreue seiner Arbeiter beklagt. Der aber liegt jetzt krank in Florenz; mit seinem Tode verliert Leonardo 1516 den letzten Gönner und Freund seiner römischen Jahre. Und wieder ist es ein Spielzeug, das dem Meister zu einer neuen Stellung — der letzten — verhilft. Er verfertigt für den französischen König Franz den Ersten einen goldenen Löwen. Ein kunstvoller Mechanismus läßt das Tier majestätisch durch den Saal schreiten, sich auf die Hinterbeine erheben und weiße Lilien — die Wappenblumen der französischen Krone — zu Füßen des Königs niederlegen. Im Frühjahr 1516 folgt Leonardo, begleitet von dem treuen Francesco Melzi, einem Rufe des Königs nach Frankreich. * Das Schloß Amboise, in der fruchtbaren Landschaft der Touraine, ist Lieblingsaufenthalt Franz des Ersten von Frankreich, dessen königliche Bauleidenschaft die Ufer der Loire bis hinunter zur atlantischen Küste mit einer Perlenkette köstlicher Schloßbauten geschmückt hat. Leonardo fühlt sich bald heimisch in dieser lieblichen Landschaft und empfindet dankbar die verständnisvolle Rücksicht des Königs, der ihm das stille einsame Schlößchen Cloux als Wohnsitz angewiesen und für seine Zwecke eingerichtet hat • — etwas abseits vom Lärm und Getriebe der Hofhaltung. Hier in Cloux entsteht vermutlich die jetzt in Turin befindliche Rötelzeichnung mit dem ergreifenden Selbstbildnis, das auf der folgenden Seite 28 abgebildet ist. In Cloux malt Leonardo auch 27
Selbstbildnis Leonardo da Vincis (Rötelzeidinung)
sein letztes Bild, Johannes den Täufer. Audi das Schicksal dieses Bildes ist so wunderlich und verworren wie das Leben und Schicksal dessen, der es gemalt hat. Im 17. Jahrhundert vertauschen fremde Hände das Kreuz in den Armen der schönen Gestalt mit dem Bacchusstab; denn man glaubt in dem Bild eher den heiteren Gott Bacchus zu erkennen als den Vorläufer des Herrn; man schmückt das Haupt des Johannes mit einem Kranz aus Weinlaub und schlingt ihm ein Pantherfell um den Leib. Die Baulust des königlichen Freundes gibt Leonardo wieder willkommenen Anlaß zu phantastischen Plänen. Ein neues Schloß soll in Amboise erstehen, mit riesigen Höfen für Feste und Turniere, mit kunstvollen Wasserspielen und prächtigen Gärten nach italienischer Mode. Zur gleichen Zeit befiehlt der König weitere Neubauten an der Loire; viele alte, halb verfallene Schlösser werden umgebaut und erweitert, —• es ist zu vermuten, daß Leonardo an diesen Bauten beteiligt war. Das Schloß von Blois zeigt deutlich italienische Einflüsse, ebenso Chambord, das bedeutendste profane Bauwerk dieser Epoche. Auch in dem fremden Land, das ihm nun letzte Heimat geworden ist, versucht Leonardo seine alten Träume^von Wasserstraßen und Flußregulierungen zu verwirklichen, die große Liebhaberei seines Lebens. „Wenn man den 'Nebenfluß der Loire in den Fluß von Romorantin mit s,einem trüben Gewässer leitet, wird er die Felder fett und das Land fruchtbar machen, so daß es seine Bewohner ernähren kann, und der Kanal wird schiffbar sein und dem Handelsverkehr dienen." In langen und ausführlichen Denkschriften, mit Kostenanschlägen und vielen sorgfältigen Zeichnungen versehen, schildert er dem jungen König beredt und in rosigsten Farben den gewaltigen Nutzen, den Krone und Land aus diesen Bauten gewinnen werden. Melzi muß aus den schweren Truhen, die Leonardo von Mailand nach Rom, von Rom nach Frankreich mitgeschleppt hat, die alten Florentiner Entwürfe heraussuchen, die Zeichnungen von Pumpen und Stauwerken, von Baggern und Kränen, die er nun "einsetzen will. „Jeden Tag machte er Entwürfe und Modelle, um mit Leichtigkeit Berge zu versetzen und zu durchbrechen; — dieser Kopf hörte nie auf, die wunderlichsten Einfälle hervorzubringen." Aber es bleibt bei den Träumen, heute wie damals, als er für Cesare Borgia den Hafen von Poro Cesenatico mit der Hauptstadt der Romagna durch einen schiffbaren Kanal verbinden, da er mit Tauchern und Unterseebooten die türkische Flotte vernichten wollte, die Venedig bedrohte. 29
In Schloß Cloux besucht den Landsmann ein italienischer Kardinal, dessen Sekretär uns einige Aufzeichnungen hinterlassen hat, aus denen hervorgeht, daß Leonardo in dieser Zeit die Bilder der Mona Lisa, der Heiligen Anna Selbdritt und Johannes des Täufers noch in seinem Besitz hat. Auch die Blätter des großen Anatomiewerks lassen sich die Gäste zeigen, und der Sekretär berichtet weiter von unzähligen Bänden mit Manuskripten, die „einmal höchst nützlich und ergötzlich sein werden, wenn sie ans Licht kommen". Francesco Melzi ist in den letzten Monaten nicht mehr nur Schüler, sondern auch der Vertraute und Pfleger des Meisters, dessen rechter Arm seit einem Schlaganfall gelähmt ist. Er ordnet und sichtet die vielen Manuskripte und Skizzen mit der Spiegelschrift, an der kommende Jahrhunderte herumrätseln und herumdeuteln werden, ohne sie ganz entziffern zu können. Mit der Linken nimmt Leonardo manchmal eines der Blätter, die Melzi auf dem Tische ausbreitet. Ach, wie vieles ist Plan und Entwurf geblieben! Die Anbetung der Heiligen Drei Könige, die Anghiari-Schlacht, die Mailänder Domkuppel und das große Reiterstandbild, zu dem die Mappen zahlreiche Skizzen über die Anatomie des Pferdes enthalten. Es sind Trümmer und Grundsteine, und das Vollendete — wie das Abendmahl — verfällt und verwandelt sich Immer hat Leonardo geglaubt, erst am Anfang zu sein, und er glaubt es jetzt noch; doch aus dem Spiegel blicken ihn Alter und Siechtum an. Dann denkt er zurück an die Heimat. Die sanften Hügel der Landschaft an der Loire werden im Träumen und Dahindämmern zu den Bergen der Toskana, und wenn er im Park den schaffenden Landleuten zusieht, erinnert er sich wohl auch an das Bauernmädchen Caterina, das seine Mutter war. „Hast Du beobachtet, wie sehr die armen Bauernfrauen aus dem Gebirge mit ihren groben, ärmlichen Gewändern die Reichgekleideten an Schönheit übertreffen"? schreibt er in seinem Buch über die Malerei, und das ist so gütig und warmherzig niedergeschrieben, daß wir daiin ein Bekenntnis zu jener Magd sehen dürfen, die seine Mutter war. In der Stille einer königlichen Umgebung neigt sich das reiche und unstete Leben des Meisters seinem Ende zu. Noch immer fällt ihm das volle Haupthaar bis über die Sjchultern, doch es ist silberweiß wie der wallende Bart. Scheu blicken die Dorfleute auf den vornehmen Fremden, wenn sie ihn in Begleitung Melzis durch die Gärten des Schlosses wandeln sehen, und sie verneigen sich 4tief vor dem Gast ihres Königs. „Sieht er nicht aus wie ein Prophet? ', sagen sie, wenn er vorüber gegangen ist, und sie wissen nicht, wie sehr sie die Wahrheit sprechen. Der Köng, der nur selten nach Amboise 30
kommt, behandelt ihn mit großer Ehrerbietung und nennt ihn „Vater" und „Meister". Leonardo, der den Tod nahe weiß, schreibt sein Testament. Mit betonter Genauigkeit beachtet er alle Formeln, die ihn als treuen und gehorsamen Sohn und Diener der Kirche bestätigen. Er weiß sehr wohl um die vielen Gerüchte der Ketzerei und des Unglaubens, die ihn zeitlebens umgeben und auch den Weg nach Frankreich gefunden haben. „Es geschehen mehr Morde durch böse Zungen als durch den Dolch", — die bittere Erfahrung des oft Verleumdeten, oft Mißverstandenen spricht aus diesem Wort. Seinen gesamten künstlerischen Nachlaß vermacht er Francesco Melzi, „Edelmann aus Mailand, für die Dienste, die er ihm in der Vergangenheit gütigst geleistet hat, alle Bücher, Bilder und Geräte, die sieh auf seine Kunst und seinen Malerberuf beziehen —". Er hätte keinen Würdigeren finden können als diesen Stillen und Treuen, dessen bewundernde Liebe noch seine letzte Stunde verklärt. Francesco erscheint als zuverlässiger und glaubwürdiger Zeuge, als er berichtet — viel später erst und nur wenigen Vertrauten —, der Meister sei einen schweren und bitteren Tod gestorben. Der Hof ist fern von Amboise an jenem 2. Mai 1519, da Leonardo da Vincis Leben erlischt. Francesco überbringt die Nachricht in die Residenz nach Saint Germain, und der König von Frankreich schämt sich seiner Tränen nicht. Zwischen den Königsgräbern in der Schloßkirche von Amboise bereitet man dem großen Toten seine Ruhestatt— nicht seine letzte! In den Tagen der französischen Revolution, als man die Monumente schändet, werden auch die Gebeine Leonardo da Vincis aus dem Sarge gezerrt. Irgendwo unter den Bäumen des Schloßparkes liegen sie zerstreut in der Erde.
Umsdilaggestaltung: Karlheinz Dobsky Auf der Vorderseite des Umschlags: Christuskopf aus dem „Abendmahl", auf der Rückseite r Tonmodell zum Sforza-Denkmal
, L u x - L e s e b o g en 124 ( K u n s t ) - H e f t p r e i s 25 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, MurpauMünchen — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg
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