Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 606 Anti-ES - Xiinx-Markant
Leitgeist von Hubert Haensel Auf der Basisi des ersten Z...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 606 Anti-ES - Xiinx-Markant
Leitgeist von Hubert Haensel Auf der Basisi des ersten Zählers Hidden-X ist nicht mehr! Und somit haben Atlan und die fast hunderttausend Bewohner der SOL die bislang gefährlichste Situation auf dem an Gefahren reichen Weg des Generationenschiffs fast unbeschadet überstanden. Doch was ist mit dem weiteren Weg der SOL? Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen –, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bemühen, sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besorgen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in neue, erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Indessen kommt bei Atlan der durch Wöbbeking ausgelöste »temporäre Reinkarnationseffekt« wieder zum Tragen, und der Arkonide und mit ihm die Solaner erfahren, was im Jahr 3587 und danach geschah, als Atlan zu den Kosmokraten gebracht werden sollte. Der Arkonide landet in der Namenlosen Zone – als Geisel von Anti-ES. Doch er bleibt nicht lange in Gefangenschaft – dafür sorgt LEITGEIST …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide als Gefangener von Anti-ES. Leitgeist - Ein Miniaturisierer. Quälgeist - Ein unbequemer Zeitgenosse. Anit-ES - Atlans großer Gegenspieler. Born - Ein Fragment von Anti-ES.
1. Das Glitzern seines Körpers wurde stärker – ein Feuerwerk explodierender Sonnen, die er sich so vorstellte und nicht anders. Wirklich gesehen hatte er allerdings nie einen dieser glühenden Gasbälle, die fremde Räume in gleißende Helligkeit und schier unerträgliche Hitze tauchten. Tief in seinem Innern lag eine Ahnung verborgen, was es hieß, andere Ebenen zu durchstreifen. Sooft Leitgeist jedoch versuchte, diese Gedanken zu fassen, so oft entzogen sie sich seinem Zugriff. Es gab nur die Schwärze ringsum … Aber obwohl die Finsternis weder Anfang noch Ende kannte, besaß sie Grenzen – Leitgeist und sein Pulk hatten dies deutlich zu spüren bekommen. Wütend? fragte einer seiner beiden weiteren Körper mit der lautlosen Stimme. Leitgeist erwiderte nichts. Dumpf brach die Erinnerung in ihm auf, daß es früher anders gewesen war. Früher? Wie lange lag das zurück? Damals hatte es Nahrung in Hülle und Fülle gegeben, auch wenn inzwischen niemand mehr ihren Geschmack kannte. Damals hatte er sich noch als Einzelwesen gefühlt und keine drei Körper besessen. Das Glitzern war wie ein Reigen stetig aufflammender Leuchtpunkte, die wirre Schatten warfen und Leitgeists Äußeres
zerfurcht erscheinen ließen. Er beobachtete sich selbst dabei, wie er durch die Schwärze trieb, ohne Ziel, aber von einem unwiderstehlichen Verlangen beseelt, das keinen seiner Art verschonte: Wo gibt es Nahrung? erklang die lautlose Stimme eines aus dem Pulk drängender als je zuvor. Du hast versprochen, uns zu führen. Tue ich das nicht? erwiderte Leitgeist gereizt. Die Begegnung mit dem Grenzwächter hatte ihm zu denken gegeben, weil jenes riesenhafte Geschöpf allen Bemühungen widerstand, den Weg in eine andere Ebene freizukämpfen. »Eure Aufgabe ist es, bei den Verbannten zu bleiben«, hatte er gesagt und die Miniaturisierer zurückgewiesen. Dabei wußten weder Leitgeist noch ein anderer aus dem Pulk etwas von einer solchen Aufgabe. Wir sollen Nahrung zu uns nehmen, das ist alles. Leitgeist verkrampfte sich. Das Braun seines materiellen Körperteils wurde merklich blasser und geriet in wallende Bewegung. Ich verspüre Hunger! Das konnte nicht sein. Kein Miniaturisierter kannte dieses Gefühl, obwohl sie die Namenlose Zone unablässig auf der Suche nach etwas durchstreiften, was sie sich einverleiben konnten. Das Dreifachwesen beschloß deshalb, den Einwand zu ignorieren. Hunger! erklang es nun weit drängender, begleitet von einer Fülle sensitiver Eindrücke. Viele im Pulk wurden allmählich unruhig. Aber weder änderte Leitgeist seinen Kurs, noch ließ er sich zu einer unbedachten Äußerung hinreißen, die seinem Ansehen geschadet hätte. Hier gibt es Nahrung, weil es auch früher Nahrung gegeben hat. Alles, was wir brauchen, ist ein fähiger Anführer. Leitgeist konnte seine mühsam zur Schau gestellte Ruhe nicht länger bewahren. Er schickte eine Flut telepathischer Impulse über den Pulk hinweg. Halte endlich deine Gedanken im Zaum, Quälgeist, oder ich werde dafür
sorgen, daß du kleiner wirst als ein einziger Lichtpunkt deines Körpers. Der solcherart Gerügte zuckte merklich zusammen. Von da an schwieg er … Aber sicherlich nicht für lange, denn das hatte er nie getan.
* Der Begriff Zeit war ihnen fremd. Seit Äonen durchstreiften sie die endlose Schwärze, von der sie nun wußten, daß Grenzen existierten, die zu überwinden ihnen verwehrt wurde. Es gab nur knapp hundert von ihnen. Ihre Herkunft blieb so dunkel wie ihr Ziel, und sie ahnten nur, daß es nicht immer so gewesen war. Viele von uns sind verhungert, behauptete Quälgeist. Wir sollten dich umbenennen, schlug jemand neben ihm vor. Ja? machte Quälgeist hoffnungsvoll. Hungriger Geist wäre weit treffender. Quälgeist dämpfte seine lautlose Stimme ein wenig zu spät. So blieb niemand verborgen, welch schamlose Erwiderung er dachte. Selbst rasche Flucht konnte ihn nicht vor dem spöttischen Gelächter bewahren. Als er seine Sinne endlich wieder dem Pulk zuwandte, war dieser in der Düsternis der Namenlosen Zone verschwunden. Furchtsam zog er sich zusammen – ein Ball leuchtender Energie, der einen braunen Masseklumpen umschloß. Sollen die anderen bleiben, wo sie wollen, dachte er. Ich weiß mir allein zu helfen. Und ich werde ihnen beweisen, daß ich Nahrung finden kann. Ein Gedankenstoß versetzte seinen Körper in irrlichternde Bewegung. Und als ein Gewirr flirrender, bunter Leuchterscheinungen trieb Quälgeist immer schneller dahin. Aber die Einsamkeit holte ihn bald ein. Wem sollte er sich
mitteilen, wem seinen Triumph offenbaren, wenn keiner in seiner Nähe weilte, der sich darüber ärgern konnte? Der Miniaturisierer fühlte sich zunehmend elend. Indem er die energetische Komponente seines Ichs umgruppierte, kam er zum Stillstand. Mit seiner lautlosen Stimme, die ihn auch zum Hören befähigte, lauschte Quälgeist ins Nichts hinaus. Deutlicher als zuvor spürte er eine fremde Strömung, die sein Unbehagen verstärkte. Zweifellos war da etwas, und nicht einmal weit entfernt. Es schien überwiegend aus Masse zu bestehen. Nahrung! Was sonst konnte es sein? Und er allein hatte sie gefunden. Quälgeist versetzte sich in die rotierende Bewegung der Freude. Seine Stimme eilte durch den Raum. Erst als Leitgeists leise Antwort ihn erreichte, wurde ihm bewußt, daß er sich mittlerweile sehr weit von den anderen entfernt hatte. Leitgeist befahl ihm unmißverständlich, zu warten, trotzdem pirschte er sich langsam näher an die Nahrung heran. Soweit die Erinnerung aller Miniaturisierer zurückreichte, sie hatten nie welche gefunden, ja, sie wußten nicht einmal, wie diese aussehen sollte. Und obwohl sie ihrer kaum bedurften, befanden sie sich immer auf der Suche.
* In endloser Reihe trieben große, unregelmäßige Körper durch die Namenlose Zone. Jeder von ihnen mochte gut das hundertfache Volumen von Quälgeist besitzen, doch das war kein Hindernis. Im Gegenteil. Gerade das wies darauf hin, daß er endlich gefunden hatte, wonach die Miniaturisierer seit endlosen Zeiten vergeblich suchten. Es lag in ihrem gemeinsamen Willen, alles fast grenzenlos zu verkleinern, und sie wußten, daß diese Fähigkeit für die Nahrungsaufnahme von besonderer Bedeutung war.
Quälgeists telepathischen Fühler tasteten durch den Raum. Vor Begierde heftig pulsierend, wuchs er dabei fast auf das Doppelte seiner vorherigen Größe an, und aus seinen materiellen Bestandteilen formte er einen weit vorgewölbten Trichter, der sich in Richtung Nahrung erstreckte. In diesem Zustand äußerster Erregung befand er sich noch, als endlich der Pulk bei ihm anlangte. Das ist mehr als genug für uns alle, jauchzte er. Kommt! Doch ein engmaschiges Netz versperrte ihm den Weg. Schimpfend formte er seine energetische Komponente um und wollte durch die Maschen schlüpfen, als etwas ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zurückzerrte. In Situationen wie dieser erschien ihm sein organischer Leib oft überaus lästig. Zu spät erkannte er, daß Leitgeists drei Bewußtseinsinhalte für das Netz verantwortlich waren. Mir steht das Recht zu, als erster Nahrung aufzunehmen, protestierte er. Leitgeists Glitzern wurde um mehrere Nuancen dunkler. Aber Quälgeist achtete nicht auf diese offensichtliche Warnung. Seine Sinne waren nur auf die vorübertreibenden Gebilde gerichtet. Er hatte so etwas nie zuvor gesehen. Von einem gemeinsamen Mittelpunkt ausgehend, strebten Dutzende durchscheinender Fäden kreisförmig auseinander. Hin und wieder bewegten sich einige, als müßten sie die Flugrichtung korrigieren. In der Mitte verschmolzen diese Fäden zu einer ebenfalls durchsichtigen, pulsierenden Röhre. Dunkle Flüssigkeiten strömten darin, und hin und wieder stiegen schillernde Blasen auf. Quälgeists Sinne konzentrierten sich auf den von dichten Fransen umgebenen Materieklumpen am unteren Ende der Röhre. Er spürte, daß unter einer unverdaulichen Kruste kosmischen Staubs die meiste Nahrung verborgen lag. Der fordernde Impuls, er solle sich endlich dem Pulk anschließen, um gemeinsam eine rasche Verkleinerung herbeizuführen, schreckte
ihn auf. Aber er war zu unkonzentriert, und vermutlich waren die anderen es ebenfalls. Die Aussicht, endlich ihre Bestimmungen erfüllen zu können, ließ ihre Fähigkeiten versagen. Unverändert trieben die bizarren Gebilde durch die Schwärze dieser Ebene. Du bist der Störfaktor, behauptete Leitgeist. Deine Gier überflügelt alle Vernunft. Das durfte ihm niemand vorwerfen – schon gar nicht jemand, der sich als unfähig erwiesen hatte, Nahrung aufzuspüren. Indem Quälgeist sein Volumen rasch verkleinerte, entfernte er sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Er beachtete die Rufe der anderen nicht, die ihn davor warnten, den nach wie vor großen Gespinsten zu nahe zu kommen. Als er sich auf die kreisförmigen Fäden herabsinken ließ, schienen diese vor ihm zurückzuweichen. Es machte ihm nichts aus. Während sein materieller Körper schwankend zur Ruhe kam, umfloß sein energetisches Potential einige der Fäden in glitzerndem Reigen. Er hätte wissen müssen, daß sie sich als unverdaulich erweisen würden. Die Miniaturisierer waren nur dann in der Lage, Nahrung aufzunehmen, wenn sie diese vorher verkleinert hatten. Das lautlose Gelächter des Pulks ließ Quälgeist noch ablehnender reagieren, als er dies ohnehin getan hätte. Ein flüchtiger Moment der Unachtsamkeit genügte, ihn in dem Gewirr der Fäden zu verstricken. Wütend auf sich selbst zog Quälgeist sich weiter zusammen. Zu seinem Entsetzen mußte er erkennen, daß nicht eine Ungeschicklichkeit ihn in diese Lage gebracht hatte, sondern daß die Fäden ihn unaufhaltsam mit sich zogen. Alle Anstrengungen, freizukommen, waren vergebens. Hilfe! gellte seine lautlose Stimme. Dann war Stille um ihn her, als er in die Röhre hineingezerrt wurde. Eine zähe Flüssigkeit spülte ihn
mit sich. Quälgeist konnte verschwommen erkennen, was ihn erwartete. Es schien alles andere als angenehm. Schlagartig herrschte Dunkelheit, nur aufgehellt vom Glitzern seiner energetischen Komponente. Er wußte, daß er sich nun in dem von Fransen umhüllten Materieklumpen befand. Obwohl er mit aller Kraft gegen die ihn umgebenden weichen Wände anrannte, gab es kein Entkommen. In regelmäßigen Abständen zog sein Gefängnis sich zusammen und dehnte sich wieder aus. Stets dann wurde eine unangenehm brennende Flüssigkeit freigesetzt. Quälgeist sah kleine Steine verdampfen, und die Erkenntnis durchzuckte ihn mit eisiger Kälte. Er, der Nahrung suchte, war selbst zur Nahrung für ein unbegreifliches Geschöpf geworden. Im ersten Anflug von Panik rannte er gegen die Wände an, ohne jedoch das geringste zu erreichen. Erst allmählich wurde er ruhiger und begann, überlegt zu handeln. Die unregelmäßig geformten Brocken, die einen Teil seines Gefängnisses ausfüllten, erwiesen sich als Klumpen kosmischen Staubes. Obwohl Quälgeist allein keine großen Kräfte besaß, schaffte er es, diese Steine auf ein Minimum zu verkleinern, und er schleuderte sie mit Wucht gegen die ihn umgebende halb organische Materie, in die sie tief eindrangen. Heftige Erschütterungen wirbelten ihn herum. Trotzdem gab er nicht auf. Das Schicksal, gefressen zu werden, erschien ihm so abscheulich, daß er nicht einmal daran zu denken wagte. Gasblasen stiegen auf. Von einer von ihnen ließ Quälgeist sich einhüllen, und ehe er es sich versah, wurde er in hohem Bogen ausgespien. Weit unter sich gewahrte er die Reihe der transparenten Organismen, die mit stetig wachsender Geschwindigkeit dahintrieben. Die lautlose Stimme Leitgeists erreichte ihn. Das ist keine Nahrung für uns … Quälgeist konnte nichts anders, als dem zuzustimmen.
Du wärst wohl für immer von uns gegangen, bemerkte einer aus dem Pulk. …es sind Lebenssporen, fuhr Leitgeist in seiner Erklärung fort. Niemand weiß, woher sie kommen und wohin sie ziehen, aber sie tragen Leben zu fernen Welten. Organisches Leben? machte Quälgeist. Dann sind sie von minderer Qualität. Sie eignen sich nicht einmal als Nahrung, weil sie sich nicht verkleinern lassen. Für eine Weile herrschte betretenes Schweigen. Natürlich war es Quälgeist, der sich als erster wieder telepathisch meldete. Ein riesiger, durchlöcherter Materieklumpen … glaubt ihr, daß dieser besser geeignet wäre? Leitgeist seufzte. Und wenn dieser Klumpen sogar von verschiedenen energetischen Erscheinungsformen durchsetzt wäre? fuhr Quälgeist ungerührt fort. Hör auf damit! dachte der Anführer des Pulks scharf. Da ist tatsächlich etwas, warf ein anderer ein. Natürlich ist da etwas! Quälgeist verwandelte sich in eine in allen Spektralfarben glitzernde Kugel. Wir werden Nahrung bekommen. Mehr als wir jemals benötigten. Der Materieklumpen war so riesig, daß selbst alle längst in der Schwärze verschwundenen Lebessporen zusammengenommen sein Volumen niemals erreicht hätten. Eine erloschene Sonne, meinte Quälgeist spontan. Wie kommst du darauf? Was sollte es sonst sein? Die Oberfläche ist taub und ohne jedes Leben. Allerdings umgab eine Hülle flüchtiger Moleküle den Klumpen wie eine weitgespannte Haut. Zu dünn, um verwertbar zu sein. Quälgeist war überzeugt davon, daß sämtliche Molekülketten ihren Zusammenhalt verlieren mußten, sobald die begleitende Materie aufgelöst wurde. Der Pulk änderte seine Richtung. Immer deutlicher verhießen die energetischen Impulse Nahrung.
Kaum merklich ließ Quälgeist sich zurückfallen. Eine schlechte Erfahrung genügte ihm vollauf. Diesmal sollten die anderen sich exponieren. Gerade weil er sich alle Mühe gab, seine diesbezüglichen Gedanken zu verbergen, zuckte er heftig zusammen, als Leitgeist sich an ihn wandte: Dem Entdecker gebührt die Ehre der ersten Erkundung. Quälgeist wehrte sich dagegen. Es gäbe andere, denen das Vertrauen des Pulks eher zustünde als ihm; er fühle sich noch zu schwach nach der Begegnung mit der Lebensspore. Aber alle Ausflüchte halfen wenig. Schließlich kapselte er sich ab, verbarg sich hinter einer schier undurchdringlichen Sphäre aus Energie, die seinen organischen Körperteil den Sinnen der anderen entzog. Doch mit Unterstützung des Pulks gelang es Leitgeist, den Schutzwall aufzubrechen. Quälgeist kam sich nackt und bloß vor, als das Dreiwesen plötzlich unmittelbar neben ihm schwebte. Du wirst diese Zusammenballung von Materie untersuchen, und Quellgeist und Jenseitsgeist werden dich begleiten. Er verzichtete auf jede Art von Erwiderung. Vielmehr war er froh, Leitgeists bedrückender Nähe entrinnen zu können. Die erloschene Sonne, für die er das riesige Gebilde inmitten der endlosen Leere noch immer hielt, war tot. Schroffes, zerklüftetes Gestein, das eine seltsame Kälte verstrahlte – mehr schien es in der Tat nicht zu geben. Nach drei Umrundungen auf verschiedenen Bahnen war Quälgeist kaum klüger als vorher. Wir sollten uns mit dieser Erscheinung vertraut machen, schlug Jenseitsgeist vor. Eine Berührung kann durchaus andere Eindrücke erwecken. Obwohl Quälgeist sich dagegen sträubte, zogen die beiden ihn mit sich. Aber dann war er der erste, der tief in dem lockeren Staub versank. Wo bist du? rief Jenseitsgeist aus.
Er antwortete nicht, lauschte vielmehr gebannt dem Flüstern ihrer lautlosen Stimmen. Irgend etwas heckten sie gegen ihn aus, das fühlte er überdeutlich. Als er endlich erkannte, was sie vorhatten, war es zu spät, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Er hatte genug damit zu tun, nicht selbst dem Prozeß der Verkleinerung anheimzufallen. Schlagartig verschwand der Staub um ihn her. Quälgeist wollte seinen beiden Begleitern all seine Verachtung entgegenschleudern, als ihm unvermittelt die Logik des Geschehens offenbar wurde. Nahrung ließ sich nicht nur verkleinern, sie mußte sogar in ihrem Volumen reduziert werden. Alle Miniaturisierer wußten das, auch wenn es sonst kaum etwas gab, was in ihrer Erinnerung haftete. Wenn nun die fremde Materie auf ein Minimum zusammengeschrumpft war, bedeutete das nichts anderes als … Nahrung! schrie Quälgeists telepathischer Sinn. Zugleich stürzte er sich auf das Häufchen Staub, das noch verblieben war. Warte! rief Quellgeist. Er achtete nicht darauf, umschloß vielmehr, von jäher Gier getrieben, die anorganischen Molekülketten. Im nächsten Moment wand er sich unter heftigen Krämpfen. Du mußt das Zeug ausspucken. Er begriff nicht, was Jenseitsgeist meinte. Steil stieg er in die Höhe, kam jedoch nicht weit. Ihm war, als sauge eine unheimliche Macht jedwede Kraft in sich auf. Seine energetische Komponente wurde zunehmend fahler. Quälgeist bemerkte mit Entsetzen, daß kaum mehr ein Glitzern von ihm ausging. …ausspucken! Das war leichter gesagt als getan. Vorübergehend schwanden Quälgeist die Sinne. Die durch den Verdauungsvorgang entstandene Energie vertrug sich nicht mit der seines Körpers. Es war fürchterlich, das erkennen zu müssen, doch blieb ihm keine andere Wahl, als einen Teil seines Ichs aufzugeben. Wie leicht konnten beide Energieformen sich ansonsten
neutralisieren, und lediglich als organische Materie weiterzuexistieren, war Quälgeist zutiefst zuwider. Eines war sicher: In Zukunft würde er jede vermeintliche Nahrung erst genauestens auf ihre Genießbarkeit hin überprüfen. Ein beklemmendes Gefühl, gut ein Viertel seiner selbst langsam in der Schwärze vergehen zu sehen. Zum Glück schwiegen seine Begleiter. Haltet euch nicht unnötig lange mit Unwichtigem auf, erklang Leitgeists telepathischer Befehl. Der Pulk hat inzwischen herausgefunden, daß ihr ins Innere des Materieklumpens eindringen müßt. Quälgeist war nun wirklich zu schwach, um zu widersprechen. In der Hoffnung, dies alles möge bald zu Ende sein, ließ er sich treiben. Der Materiebrocken war von unzähligen Höhlen durchsetzt. Manche von ihnen besaßen sichtbare Verbindungen zur Oberfläche, andere wieder schienen in sich geschlossen und zumindest von außen her unzugänglich. Da ist etwas Besonderes, bemerkte Jenseitsgeist. Der Ausgangspunkt der Strahlung blieb ungenau lokalisiert, schien jedoch tief unter dem tauben Gestein zu liegen. Quälgeist zögerte kurz, während seine beiden Begleiter in einer engen, düsteren Öffnung verschwanden, folgte ihnen dann aber in einigem Abstand. Das war kaum anders, als durch die Namenlose Zone zu fliegen, nur eben mit dem Unterschied, daß die umgebende dichte Materie bedrückend wirkte. Mehrmals mußten die Miniaturisierer umkehren, weil ihnen unvermittelt der Weg versperrt wurde, dennoch drangen sie zunehmend tiefer in die Kruste des zerfurchten Gebildes vor. Ein großer, halb aus der Wand herausragender Felsblock begann schlagartig zu schrumpfen, als Quälgeist seine besonderen Fähigkeiten anwandte. Die daraus resultierende Gewißheit, daß eine Flucht jederzeit möglich sein würde, beruhigte ihn. Vor uns ist Helligkeit, verkündete Jenseitsgeist. Ein vager Schimmer erfüllte den Hohlraum, der sich schließlich zu
einer riesigen Höhle weitete. Die Zuversicht, endlich wirkliche Nahrung gefunden zu haben, ließ Quälgeist an seinen Begleitern vorübertaumeln. Ein ungutes Gefühl sagte ihm allerdings, daß es erneut Probleme geben würde. Die Nahrung besaß ein überaus seltsames Aussehen. Zwei mächtige, dicke Säulen waren in den Boden gerammt. Allen Gesetzen der Schwerkraft Hohn sprechend, ruhte auf ihnen ein nicht minder massiger Block mit seitlich herausragenden, weiteren Säulen. Lange, helle Fransen bedeckten einen Großteil des abschließenden annähernd runden Gebildes. Quälgeist bemerkte überrascht, daß es sich bewegte, als er kurz entschlossen darauf zuflog. Rötlich glühende, irgendwie lebendig wirkende Vertiefungen richteten sich auf ihn. Und hätte er nicht Jenseitsgeists lautlose Warnung vernommen, die unvermittelt hochzuckende Säule hätte ihn wohl in zwei Hälften geteilt.
2. Irgendwo tropft Wasser von den Wänden. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Stelle ausfindig zu machen, habe ich es aufgegeben. Das Geräusch ist nicht laut, wirkt aber trotzdem zermürbend. Plop! Ich zähle die Sekunden. Zehn sind es, dann fällt der nächste Tropfen. Mittlerweile hat das Geräusch sich verändert und klingt, als sei bereits eine Lache entstanden. Selbst im Schlaf höre ich es. Einbildung! schimpfte mein Extrasinn. Ich reagiere nicht. Weshalb auch? Immerhin bin ich sicher, daß der Logiksektor nur darauf wartet, mir eine hieb- und stichfest
begründete Abfuhr erteilen zu können. Plop – plop … Die Unregelmäßigkeit zweier aufeinanderfolgender Tropfen läßt mich aufmerken. Das Geräusch kam von rechts. Ich weiß aber auch, wie sehr die zerfurchten Wände meines Verlieses den Schall verzehren. In den vergangenen Tagen hatte ich Zeit genug, das festzustellen. Meine Vorstellungen sind zerbrochen, meine Träume zerplatzt wie Seifenblasen im Wind. Dabei muß ich meinem Ziel schon so nahe gewesen sein. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch immer jenes Gebilde vor mir, das ich für die Materiequelle halte, und ich fühle, wie sie mich abstößt. Gegen was habe ich meine Freiheit eingetauscht? Gegen ein mehrere Quadratmeter messendes, stickiges Verlies, in dem nicht einmal eine Vorrichtung zur Verrichtung körperlicher Notdurft existiert. Gut formuliert, spottet mein Extrasinn. Aber im Turm der Bastille war es keinen Deut besser. »… bis auf die Ratten«, gebe ich zähneknirschend zurück. »Und ich vermisse den Geruch faulenden Strohs.« Das Extrahirn lacht. Dabei habe ich das untrügliche Gefühl, daß es selbst nicht weiter weiß. Seine Bemerkung hat mich jedenfalls daran erinnert, daß anderswo Freunde auf meine Rückkehr hoffen. Sie wissen nicht, was geschehen ist, werden es womöglich nie erfahren. Wie lange wird Perry Rhodan warten? Er, der am liebsten selbst in Begleitung des Roboters Laire zu den Kosmokraten aufgebrochen wäre, deren Wahl aber auf mich fiel. Warum? Ich weiß es nicht. Kälte durchströmt mich. Sie strahlt von den Felsen aus. Drei Tage bin ich nun schon hier. Drei endlos lange Tage, wie mir scheint. Wie lange wird Anti-ES mich als Geisel festhalten, falls die
Kosmokraten nicht auf seine Forderung eingehen? Für die verbannte Superintelligenz mögen hundert Jahre nur wie ein Tag sein. Du beginnst, dir in einer Art von Selbstbemitleidung zu gefallen, behauptet mein Logiksektor. Alles in dir war fieberhafte Erwartung, wie es wohl hinter der Materiequelle aussehen möge. Nun bist du enttäuscht. »Blödsinn«, erwidere ich heftig. »Ich kann sehr wohl einen Rückschlag hinnehmen, ohne deshalb in Depressionen zu versinken. Das ist es doch, worauf du anspielst?« Ich spreche meine Gedanken laut aus, um wenigstens den Klang einer menschlichen Stimme zu hören. Aber gerade das will der Logiksektor mir zum Vorwurf machen. In der Hinsicht gleichst du deinen heißgeliebten Barbaren. »Laß mich in Ruhe.« Wir sind beide gereizt. Vermutlich ist es Anti-ES' Nähe, die sich auf diese Weise auswirkt. Ich weiß schon jetzt, daß mir die Zeit der Gefangenschaft lang werden wird – verdammt lang. Soll ich aufgeben, mich vom Schicksal treiben zu lassen? Ich war noch nie untätig. Aber gerade das bedrückt mich. Meine Lage erscheint hoffnungslos. Ich kann keinen Ausweg finden. Und selbst wenn – wohin sollte ich mich wenden? Hundertfünfzig Meter massiver Fels schließen mich ein. Sie zu überwinden, nur mit einem Vibratormesser ausgerüstet, ist unmöglich. Was danach kommt, die Namenlose Zone, ist wohl das größte Hindernis. Ich habe einmal versucht, sie zu verlassen, und bin gescheitert. Trotz der belebenden Impulse meines Zellaktivators verspüre ich eine rasch aufkommende Müdigkeit. Die Lider werden mir schwer, ich wehre mich nicht dagegen. Wenigstens für eine Weile muß ich vergessen können. Es fällt unsagbar schwer, denn immer wieder tauchen vertraute Bilder vor
meinem inneren Auge auf. Aber ich schaffe es und fühle, wie ich allmählich in einen leichten Dämmerzustand verfalle. Die Grenze zwischen Gegenwärtigen und Vergangenem verwischt sich. Vielleicht ist es ein unbewußter Versuch, mich abzulenken – möglicherweise bemüht sich auch der Extrasinn, mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich bin zu müde, um gegen diese Bevormundung zu protestieren. Der flackernde Schein des hoch auflodernden Holzfeuers lullt mich ein. Dazu der Duft des über dem Spieß bratenden Ferkels. Es zischt, wenn Fett in die Glut tropft. Die Nacht ist sternenklar. Hoch über mir sehe ich den Großen Wagen. Mein Blick wandert weiter, sucht den Polarstern. Aber ich kann die unzähligen Lichtjahre nicht überbrücken – das Europa des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts kennt noch keine fortschrittliche Technik. Ich bin nur ein Gefangener, der hin und wieder lenkend in die Geschichte der Menschheit einzugreifen versucht. Der laue Nachtwind trägt uns das ferne Wiehern eines Pferdes zu. Meine Gefährten erstarren, lauschen hinaus in die Finsternis; es sind unsichere Zeiten. Einige von ihnen greifen zu den Waffen und verschwinden im dichten Unterholz des Waldes, die anderen werfen Sand und Erde auf das Feuer, das fast ohne Rauchentwicklung erlischt. »Merde!« schimpft jemand aus voller Überzeugung. Ich kann ihn nur zu gut verstehen, denn wer möchte schon unter dem Henkersbeil enden. Das Ferkel verkohlt mittlerweile zwischen den Glutresten. Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase. Es ist schade um den herrlichen Braten. Manchmal glaube ich, daß die Welt aus nichts anderem besteht als aus kriegerischen Auseinandersetzungen. Es muß diesen Barbaren, die sich selbst zivilisiert nennen, Vergnügen bereiten, sich gegenseitig abzuschlachten. Atlan! Ich benötige eine Weile, um zu begreifen, daß der Ruf meines Extrasinns mich aufgeschreckt hat. Und einige weitere Augenblicke vergehen, ehe ich endlich erkenne, wo ich mich befinde. Die Erde ist
sehr weit entfernt. Deine Erinnerungen helfen dir nicht, spottet der Logiksektor. Wahrscheinlich, weil er nicht weiter weiß. Oder weil du nahe daran bist, zu resignieren. Wo bleibt dein Tatendrang? Mein Traum zwischen Wachen und Schlaf ist verflogen, doch geblieben ist der Geruch, der mich würgen läßt. Anti-ES hat mich wieder mit Nahrung und Getränken versorgt. Scheinbar aus dem Nichts heraus entstanden, sehe ich das Zeug einige Schritte neben mir. Mein Gegner ist wohl auf Zermürbetaktik umgeschwenkt, denn jedesmal wird das Essen ungenießbarer. Verständlich, weshalb ich von Spanferkel am Spieß träume. Diesmal schwappt mir ein trüber, schleimiger Brei entgegen. Der Brei scheint synthetischen Ursprungs zu sein. Zögernd beginne ich zu essen – in der Annahme, daß es sich vorwiegend um Proteine handelt. Noch ist die Superintelligenz auf mich angewiesen, sie braucht mich, um ihre Freiheit wiederzuerlangen. Nur ist ziemlich sicher, daß die Kosmokraten auf keinen solchen Handel eingehen werden. Achtung! Mein Extrasinn hat die flüchtige Bewegung Sekundenbruchteile vor mir bemerkt. In der Höhlendecke befinden sich etliche enge Schächte, die der Luftzirkulation dienen. Aus einem von ihnen fällt ein seltsames Glitzern, verharrt für Sekunden und schwebt dann langsam auf mich zu. Ein Gefühl des Unbehagens beschleicht mich. Es riecht plötzlich nach Ozon, und die Luft scheint von elektrischen Entladungen durchsetzt. Eine zweite solche Erscheinung und gleich darauf eine dritte folgen. Ihr Leuchten taucht mein Verließ in ein unheimliches Zwielicht.
* Ich weiß beim besten Willen nichts mit diesen merkwürdigen Dingern anzufangen. Sie scheinen flüchtig wie verwehender Nebel und zugleich so materiell wie alles um mich her. In etwa faustgroß, ist jedes von ihnen von unregelmäßiger Form. Es hat sogar den Anschein, als würden sie sich unablässig verändern. Fast möchte man sagen, wir starren uns gegenseitig an. Dabei kann ich weder Wahrnehmungsorgane noch sonst etwas Auffälliges an ihnen feststellen. Am ehesten sind sie wohl mit riesenhaften Amöben zu vergleichen. Das bunte Glitzern, als würden die Luftmoleküle in einer aufflammenden Kettenreaktion vergehen, ist verlockend. Nur ein brauner Kern scheint wirklich von Bestand. Wer weiß, welche Bosheit Anti-ES wieder ausgebrütet hat. Die Erscheinungen umkreisen mich im Abstand von einem Meter. Ich verspüre ein ungutes Gefühl; meine Rechte tastet nach dem Messer, das in einer Tasche meiner Kombination steckt. Ein stechender Schmerz läßt mich zusammenzucken. Was schließlich bleibt, ist ein dumpfer Druck und ein nicht minder unangenehmes Ziehen im Nacken, als versuche jemand, meine Gedanken zu beeinflussen. Das ist nicht einmal so abwegig, bemerkt der Extrasinn. Erneut werfe ich den übergroßen Amöben mißtrauische, forschende Blicke zu. Als ich blitzschnell zupacke, weichen sie mir mit einer Behendigkeit aus, als hätten sie meine Absicht geahnt. Ich handle schon ganz so, als hätte ich denkende Wesen vor mir. Dabei mögen diese Gebilde eher eine Zusammenballung von Energie sein, die durch stete Entladungen sichtbar wird. Ihr Anblick jedenfalls ist faszinierend. Je länger sie mich umkreisen, desto weniger werde ich den Verdacht los, daß sie etwas von mir wollen. Soll Anti-ES seinen Spaß
haben. Die Superintelligenz hat sich lange nicht gemeldet. Vielleicht kann ich sie zu einer gewissen Verhandlungsbereitschaft animieren, wenn ich einfach alles ignoriere. Obwohl ich den Verdacht hege, daß dies kein besonders guter Einfall ist, wende ich mich wieder dem Synthobrei zu. Im nächsten Moment verschwindet die Schüssel vor meinen Augen. Eine der glitzernden halb-energetischen Erscheinungen schwebt herab. Ich werde sie »Minis« nennen – immerhin sind sie höchstens so groß wie meine Faust. Das Gebilde, das jetzt vor mir auf den Boden sinkt, ist sogar wesentlich kleiner. Überrascht halte ich den Atem an, denn die Schüssel mit dem Synthobrei ist noch da. Allerdings besitzt sie kaum mehr die Größe einer Fingerkuppe. Für wenige Augenblicke wird sie von einem aufflammenden Lichterreigen umflossen, dann ist sie endgültig verschwunden. Mit einem glucksenden Geräusch löst der Mini sich vom Boden. Er zittert, scheint sich auszudehnen. Der dumpfe Druck in meinem Hinterkopf nimmt an Stärke zu. Anfangs glaube ich noch, daß die flüsternden Stimmen meiner Einbildung entspringen, dann aber werden einzelne Bilder deutlicher. Ich erkenne eine seltsame, kompakt anmutende Statue von entfernt menschlicher Gestalt. Und ich sehe sie schrumpfen und die Minis über sie herfallen. Das sind zweifellos telepathische Impulse. Gehen sie von den glitzernden Erscheinungen aus, die mich mittlerweile regelrecht eingekreist haben? »Könnt ihr mich verstehen?« frage ich laut, um meine Gedanken intensiver werden zu lassen. Nichts geschieht, abgesehen davon, daß die visionäre Statue nun über helle Haare verfügt. Mit einer gehörigen Portion Phantasie kann ich mich selbst darin erkennen. Mir knurrt der Magen. Nein, nicht wirklich, das ist eher eine Art Assoziation, die mir aufgezwungen wird.
»Was hast du vor, Anti-ES, willst du mich von diesen lächerlichen Gebilden verschlingen lassen?« Nach wie vor erhalte ich keine Antwort. Beabsichtigt die Superintelligenz, mich aus der Reserve zu locken? Ich habe den Eindruck, daß die Minis sich näher heranwagen. Ihr Glitzern ist wie ein aufstiebender Funkenregen, sie haben etwas Unwirkliches an sich. Seufzend lasse ich mich in die Hocke sinken. Anti-ES erwartet wohl, daß ich etwas unternehme – ich sehe nicht ein, weshalb. Eine Erschütterung durcheilt den Fels, ich muß um mein Gleichgewicht kämpfen. Der Boden meines Verlieses war nahezu eben, jetzt erinnert er eher an eine zerfurchte Kraterlandschaft. Und die Wände scheinen sich himmelhoch aufzutürmen. Heftig schüttle ich den Kopf, um die aufkommende Benommenheit wieder loszuwerden. Noch während ich mit den Fingerspitzen meine Schläfen massiere, verändert sich meine Umgebung weiter. Risse durchziehen das Gestein, wegen des ständigen Wechselspiels von Licht und Schatten größer wirkend, als sie wirklich sind. Einer der Minis kommt mir ganz nahe. Er ist auf über einen Meter angeschwollen. Eindeutig geht der starke Ozongeruch von diesem Wesen aus. Als ich mich nach den anderen umwende, erschrecke ich. Mein Verließ erscheint mir riesig. Durch die großen Luftschächte könnte ich mühelos fliehen. Die Erkenntnis, daß nicht alles um mich her in einem Prozeß der Vergrößerung begriffen ist, sondern daß ich zunehmend kleiner werde, trifft mich hart. Endlich Nahrung! durchzuckte es mich. Das sind nicht meine eigenen Gedanken. Entsetzt starre ich die Minis an, die wie glühende Gasbälle über mir hängen. Wenn ich mir die Relationen vergegenwärtige, muß ich mittlerweile die Größe eines Däumlings erreicht haben. Flieh! rät der Extrasinn. Das ist wirklich der beste Ratschlag, den er
mir geben kann. Dreißig Meter entfernt ragt die rettende Felswand auf, die von Höhlen durchsetzt und mit unzähligen Vorsprüngen übersät ist. Der Schrumpfungsprozeß scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Ich bin nun endgültig überzeugt, es mit einer fremdartigen Lebensform zu tun zu haben. Als einer der Glutbälle auf mich herabstößt, beginne ich zu rennen. Aber ich komme nicht weit – eine breite Felsspalte versperrt mir den Weg. Auch ohne mich umzuwenden, weiß ich, daß der Mini (welch unglückliche Bezeichnung in dieser Situation) unmittelbar über mir sein muß. Sein elektrisches Potential läßt mir die Haare zu Berge stehen. Die Luft knistert. Bin ich bis hierher gelangt, nur um nun als Winzling mein Ende zu finden? Meine Rechte verkrampft sich um den Griff des Messers, das ich in einer Tasche meiner Kombination gefunden habe. Es sieht zwar aus wie die Allzweckklinge, die ich häufig bei mir trage, aber es muß eine Replik sein, denn immerhin war ich nackt und wurde vom Grenzwächter Ahratonn sozusagen neu eingekleidet. Weitere Ausrüstung besitze ich nicht, und ich weiß auch nicht, ob meine Waffe die Angreifer überhaupt gefährden kann, doch die Kälte des Metalls läßt mich ruhiger werden. Das alles ist wie ein böser Alptraum. Die erzwungene Ruhe nach den sich überschlagenden Geschehnissen der ersten Tage ging keineswegs spurlos an mir vorüber. Etwas Immaterielles streift mich und reißt mich von den Beinen. Ich stürze, breite die Arme aus, um mich abzufangen, doch ein jäh einsetzender Sturm wirbelt mich mit sich. Unmittelbar am Rand einer schmalen Spalte, die bisher nur ein unbedeutender Riß für mich war, schlage ich auf. Wie Geier kreisen die Angreifer über mir. Da ist ein Felsblock, mehr als viermal so groß wie ich. Ein Stein, wenn ich es richtig überlege, doch er kann mir Schutz bieten. Während ich aus den Augenwinkeln heraus die Minis näherkommen sehe, wälze ich mich herum und presse ich mich an
den Fels, so eng es geht. Plötzlich ist ein Glitzern und Gleißen ringsum wie ein Meer aus immer neu aufflammenden und wieder vergehenden Sternschnuppen. Die Helligkeit schmerzt den Augen und durchdringt selbst die geschlossenen Lider. Ich fühle, daß etwas nach mir tastet, und schlage blindlings mit dem Messer um mich. Doch schwache Stromstöße lassen meine Finger taub werden und meinen Arm zittern. So schaffst du es nicht, warnt der Extrasinn. Unvermittelt herrscht Ruhe. Ein letztes, zaghaftes Aufblitzen noch, dann ist nichts mehr. Trotzdem lasse ich das Messer nur zögernd sinken. Ich denke an das alte irdische Sprichwort von der Ruhe vor dem Sturm. Während ich mich aufrichte und den Staub von meiner Kombination klopfe, suchen meine Augen die Höhle ab. Alles scheint vorbei wie ein böser Spuk. Und ich wachse wieder, bin bereits halb so groß wie der Felsen neben mir. Narr! schreit mein Logiksektor. Du unterliegst keiner Veränderung. Der Felsblock schrumpft. Das bedeutet, daß ich einem weiteren Angriff schutzlos ausgeliefert bin. Zwei, drei Schritte Anlauf müssen mir genügen, um die Spalte zu überwinden, deren Grund in Finsternis verborgen bleibt. Mit aller Kraft stoße ich mich ab, unter meinen Füßen poltert Geröll in die Tiefe – Staubkörner, wenn ich es richtig sehe. Die Nahrung flieht! vernehme ich einen heftigen telepathischen Impuls, der nur mir gelten kann. Gleichzeitig werfe ich die Arme nach vorne und bekomme eine Abbruchkante zu fassen. Schmerzhaft bohren sich scharfe Splitter in meine Hände, aber ich verbeiße mir einen Aufschrei und suche mit den Füßen ebenfalls Halt. Keine Sekunde zu früh, denn schon bricht weiteres Gestein unter meinem Zugriff aus. Warum sträubst du dich? zuckte es durch meinen Schädel. Es ist unsere Bestimmung, jegliche Nahrung zu vertilgen. Mir ist nicht nach solchen Scherzen zumute. Nur Zentimeter um
Zentimeter kann ich mich in die Höhe ziehen. Unter mir ragen nadelscharfe Felsspitzen auf. Ich muß es schaffen. Sollen die Kosmokraten später sagen, sie hätten den Falschen erwählt? Da ist dieses Glitzern wieder. Unaufhaltsam kommt es näher, während ich mich endlich auf festen Boden schwingen kann. Fünfzehn Meter noch … Wie kleine Explosionen flammt es vor mir auf auf. Ich kann kaum mehr atmen; die Luft wird zum dickflüssigen Medium, das jeden weiteren Schritt zur Qual macht. »Anti-ES«, keuche ich und glaube, mein Brustkorb müsse zerspringen, »du hast deinen Spaß gehabt. Ein toter Arkonide eignet sich verdammt schlecht als Tauschobjekt.« Aber die Superintelligenz schweigt. Ich weiß keine andere Erklärung dafür, als daß sie im Augenblick nicht zur Gänze auf dem Planetoiden weilt. Ich werde die Nahrung zuerst verspeisen, hallt es in mir nach. Halte dich zurück, Quälgeist. Immerhin hast du sie eben entkommen lassen. Das klingt unwirsch. Ich glaube sogar, obwohl sie nicht wirklich sind, zwei verschiedene Stimmen unterscheiden zu können. Ich war vorsichtig, um nichts Unverdauliches aufzunehmen. Willst du mir das zum Vorwurf machen? Leitgeist soll entscheiden. Da ist eine dritte Stimme. Ich muß phantasieren, wenn ich annehme, daß die Minis … Haltet sie wenigstens fest. Ich habe nie Nahrung gesehen, die zu fliehen versucht. Du weißt nicht einmal, wie Nahrung aussieht. Das muß früher anders gewesen sein. Früher, wann war das? Wie lange ziehen wir schon durch die Namenlose Zone auf der Suche nach unserer Bestimmung? Es fällt schwer, das Gehörte zu verarbeiten. Die Arme vor den Leib gepreßt, taumele ich vorwärts. Ich sehe nichts mehr. Nur noch
grelles, blendendes Glitzern, das aber genausogut meinen überreizten Sehnerven entspringen kann. Aufhalten! Den Befehl vernehme ich so deutlich, als würde ihn mir jemand ins Ohr brüllen. Gleich darauf umschließt mich etwas Zähes, Nachgiebiges. Ich fühle mich hochgehoben, schlage mit Händen und Füßen um mich, doch die mich einhüllende Substanz ist ungeheuer weich. Die grellbunten Schlieren vor meinen Augen weichen allmählich einem beruhigenden Braun. Ich muß mich im Innern eines der Minis befinden, in dem vermutlich bioplasmatischen Gewebeklumpen, der zugleich die Verdauungsorgane dieses seltsamen Geschöpfs enthält. Sie beginnen sich tatsächlich zu streiten, wer das größere Recht auf mich besitzt. Verständlich, daß ich nicht darauf warten kann, zu wessen Gunsten die Entscheidung ausfällt. Daß ich mit dem Messer zustoße, ist wohl mehr ein verzweifelter Versuch, die Freiheit zurückzuerlangen. Ich nehme an, daß ich dieses überwiegend energetische Wesen nicht verletzen kann. Nicht damit gerechnet habe ich allerdings, daß ich telepathisch aufs Schärfste zurechtgewiesen werde. Hör endlich auf, oder weißt du nicht, wie Nahrung sich zu verhalten hat? Ich muß träumen. Erst das anstrengende Training unter Laires Aufsicht, dann der übereilte Aufbruch zur Materiequelle und der Schock, daß diese mich abstieß … Nicht einmal der Träger eines Zellaktivators ist grenzenlos belastbar. Irgendwann sieht man eben sogar weiße Mäuse. Diese Annahme ist unbegründet und unzutreffend, behauptet mein Extrasinn. Die Minis sind mittlerweile zu einem Entschluß gekommen, der alle zufriedenstellt. Sie wollen jeder ein Drittel von mir verspeisen und anschließend nach weiterer Nahrung suchen. Ich könnte jetzt die Nerven verlieren und mit den Fäusten auf die Zellwände trommeln. Ich weiß nicht, weshalb ich es nicht tue.
Möglicherweise, weil ich die Minis für intelligent genug halte, um doch noch eine Verständigung herbeizuführen. »Ich will nicht gefressen werden!« sage ich laut und deutlich. Du bist nicht gefragt, erklingt die Antwort spontan in meinen Gedanken. Ich habe ein Recht darauf … Nein. Das scheint endgültig. »Wer bist du?« will ich wissen. Quälgeist. »Gut. Dann werde ich dich so nennen.« Wenn es dir Spaß macht. Das ist Irrsinn. Am liebsten möchte ich hell auflachen, aber die Situation ist mehr als nur bedrückend. Ich bemühe mich, mir diesen Quälgeist vorzustellen, wie er unter schrecklichen Verdauungsbeschwerden leidet. Merkt er überhaupt, daß ich ihn meine? Fast eine Minute vergeht, ohne daß irgendeine Reaktion erfolgt. Dann – ein gedanklicher Aufschrei: Hör sofort auf damit. »Wieso?« Weil es mir Schmerzen bereitet. »Ich bin ungenießbar«, behaupte ich. »Sieh das endlich ein.« Quatsch. Es war leicht, dich zu verkleinern. »Was hat das damit zu tun?« Wir müssen unsere Nahrung verkleinern, ehe wir sie aufnehmen können. Ich seufze ergeben. »Wenn Anti-ES euch geschickt hat, sagt ihm, daß es inzwischen genug ist.« Anti-ES? Ist das ebenfalls Nahrung? Das klingt ehrlich. Ich glaube, ich bin tatsächlich auf Fremdwesen getroffen, deren Heimat die Namenlose Zone ist, und muß umdenken. Wir sind Wanderer auf dieser Ebene, bestätigt eine andere Stimme. Ich stelle fest, daß sie meine Gedanken lesen können, auch ohne daß
ich diese laut ausspreche. Viele von uns können sich anderen auf diese Weise mitteilen. »Dann siehst du endlich ein, Quälgeist, daß ich nicht die Art von Nahrung bin, die du und deinesgleichen benötigt?« Wieso sollte ich … Irgendwie reden wir aneinander vorbei. Mir ist alles andere als wohl zumute. Der Schweiß bricht mir aus sämtlichen Poren, als die Zellwände sich ruckartig zusammenziehen. »Sprichst du immer mit deiner Nahrung?« frage ich. Weiß nicht. »Was heißt das: weiß nicht?« Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas verdaut zu haben. Das wird immer verrückter. Kein Mensch würde mir diese Geschichte als wahr abkaufen. Eine übelriechende Flüssigkeit spritzt auf mich herab. Jede Berührung auf der Haut ruft einen höllischen Juckreiz und Rötungen hervor. Haltlos werde ich inmitten der weichen, zuckenden Masse von einer Seite auf die andere geschleudert. Wie Kuchenteig in einer automatischen Backform, schießt es mir durch den Sinn. Daß ich Quälgeist die fürchterlichsten Verdauungsbeschwerden prophezeie, scheint diesen nicht im mindesten zu interessieren. Er glaubt mir nicht, daß ich ungeeignet bin. Seit langer Zeit zum ersten Mal spüre ich wieder die belebende Ausstrahlung meines Zellaktivators. Über und über bin ich von Verdauungssäften bedeckt.
3. Schlagartig ebben die Kontraktionen des Verdauungstrakts ab. Dumpfe, glucksende Geräusche dringen an mein Ohr. Außerdem vernehme ich einen telepathischen Aufschrei, den zweifellos Quälgeist ausgestoßen hat.
Im nächsten Moment werde ich abermals herumgewirbelt; es fällt mir plötzlich leichter, wieder frei zu atmen. Der Mini spuckt mich aus. Noch ein wenig benommen richte ich mich auf und beginne, mich zu säubern. »Können wir endlich vernünftig miteinander reden?« frage ich. Du bist unappetitlich, behauptet Quälgeist. Das ist nicht gerade ein Kompliment. Andererseits – wenn ich an mir herabsehe, gewinnt diese Feststellung durchaus an Glaubwürdigkeit. Da ist etwas an dir, was dich leider unverdaulich macht, fährt Quälgeist fort. Traurigkeit schwingt in seinen Gedanken mit. Ich muß sagen, dieser Mini hat eine eigenwillige Art, sich beliebt zu machen. Scheinbar fällt es ihm unsagbar schwer, auf mich zu verzichten. Aber zumindest muß ich nicht länger befürchten, als besonderer Leckerbissen angesehen zu werden. Während ich unbewußt mit der Hand über meinen Brustkorb streiche, schreit Quälgeist auf. Das ist es. Das macht dich ungenießbar. Mein Zellaktivator. Ich muß lachen, als ich den Zusammenhang erkenne. Zugleich reift ein verwegener Plan in mir heran. »Ihr sucht Nahrung«, wende ich mich wieder an die Minis. »Mag sein, daß ich euch genug davon verschaffen kann.« Genug für alle? »Wie viele seid ihr?« stelle ich die Gegenfrage. Knapp hundert, antwortet Quälgeist, der noch immer unmittelbar vor mir schwebt. Dieses glitzernde Geschöpf ist gut dreimal so groß wie ich. »Wenn ich richtig verstanden habe, müßt ihr jede Form von Nahrung erst verkleinern, ehe ihr diese verdauen könnt.« Der Mini bestätigt das. »Dann verkleinert den Planetoiden, in dessen Innern wir uns befinden.« Du meinst die erloschene Sonne. Das ist unmöglich.
Es gibt einiges Hin und Her, ehe ich Quälgeist den Unterschied zwischen einer Sonne und einem kosmischen Felsbrocken plausibel machen kann. Dann, meint er, ist das natürlich etwas anderes. Auch wenn ich bereits nahe daran war zu resignieren, habe ich meine Gedanken an Flucht noch immer nicht aufgegeben. Grundsätzlich liegt mir daran, zu den Kosmokraten zu gelangen, obwohl ich weder weiß, wo sie sind, noch wie ich sie erreichen kann. Daß es mir keinesfalls möglich ist, Anti-ES zu besiegen, steht von vornherein fest. Allenfalls könnte ich diesem Wesen eins auswischen. Wie wird die Superintelligenz reagieren, wenn sie feststellen muß, daß ihre Geisel verschwunden ist? Du glaubst wirklich, daß die erloschene … der Planetoid für uns zuträglich ist? unterbricht Quälgeist meine Gedanken. »Natürlich«, bekräftige ich. »Ihr müßt ihn nur weit genug verkleinern. Ich darf davon aber nicht betroffen sein.« Der Mini zeigt sich skeptisch. Das behaupten die anderen auch immer, läßt er mich wissen. Aber ich bin ganz einfach vorsichtig geworden, das ist alles. Ich habe meine Gedanken sträflich vernachlässigt. Weshalb der Mini trotz meiner Mentalstabilisierung in der Lage ist, meine Überlegungen nachzuvollziehen, bleibt mir indes ein Rätsel. Du mußt dich damit abfinden, meint er. Allerdings ist es gut zu wissen, daß du die Wahrheit sagst. »Dann gib mir meine alte Größe zurück. Oder …«, ich stocke, »ist das unmöglich?« Augenblicke später beginne ich zu wachsen. Ich erkenne es an meiner Umgebung. Die Felsspalte wird zum Riß, und schließlich muß ich mich anstrengen, um sie überhaupt noch zu entdecken. Als ich meine normale Größe wieder erreicht habe, strecke ich beide Hände aus. Quälgeist versteht die Aufforderung und schwebt heran. Ein leichtes Prickeln auf der Haut, mehr verspüre ich nicht.
»Der Planetoid muß verkleinert werden«, sage ich nochmals. Meine Absicht ist es, erneut an Bord der ÜBERZONE zu gehen. In dem sicherlich entstehenden Durcheinander könnte mir die Flucht gelingen. Inzwischen weiß ich, was ich anders machen muß als bei meinem ersten Versuch. Gute Nahrung, wispert Quälgeist. Er löst sich von meiner Handfläche und verschwindet zusammen mit seinen beiden Begleitern in einem der Lüftungsschächte. Glaubst du wirklich an einen Erfolg? fragt mein Extrasinn. Ich weiß keine Antwort darauf.
* Die Zeit vergeht wie im Flug. Endlich darf ich wieder hoffen. Ich möchte nur das dumme Gesicht von Anti-ES sehen, wenn es von seinem Ausflug in die Namenlose Zone oder sonstwohin zurückkehrt und seinen Planetoiden auf einen Bruchteil verkleinert vorfindet. Oder ist es doch anwesend und hat nur noch nicht bemerkt, was geschieht? Allerdings fällt mir schwer, das zu glauben. Meine einzige wirkliche Sorge gilt der ÜBERZONE. Hoffentlich gehorcht dieses seltsame Raumschiff nun meinen Befehlen. Immerhin besitze ich in den Miniaturisierern ein gutes Druckmittel. Ich habe einen kurzen telepathischen Kontakt mit einem Mini namens Leitgeist, der sich als Anführer des Pulks bezeichnet. Er ist froh, endlich Nahrung gefunden zu haben und verspricht, daß ich von jeglicher Verkleinerung ausgenommen sein werde. Obwohl ich dieses Wesen nicht kenne, ist es mir von Anfang an sympathisch. Wir beginnen jetzt, läßt Leitgeist mich nach einer Weile wissen. Zugleich übermittelt er mir Bilder, so wie er sie sieht. Ich muß mich ganz darauf konzentrieren, denn ich empfange ein verwirrtes Durcheinander an Formen und Farben – ein psychedelisches Puzzle, das nur gänzlich andersgearteten
Wahrnehmungsorganen entsprungen sein kann. Leitgeist scheint meine Verwirrung nicht zu bemerken. Die Minis müssen im molekularen Bereich sehen. Wobei sie zweifellos nicht über Augen im herkömmlichen Sinn verfügen. Vermutlich senden ihre Körper Ortungswellen aus, die reflektiert und von einem entsprechenden Organ in brauchbare Tastmuster umgewandelt werden. Eine Art biologisches Radar im Mikrobereich. Ich vernehme ein belustigtes Lachen in meinen Gedanken. Quälgeists wispernde telepathische Stimme meldet sich wieder. Du bist wirklich zu schade, um verdaut zu werden. Stellst du oft solch spekulative Überlegungen an, in denen du der Wirklichkeit nahe kommst? Das klingt beinahe wie eine Aufforderung. Der Mini will etwas Bestimmtes von mir wissen. Richtig, pflichtet er bei. Wir ziehen wie Vagabunden durch die Namenlose Zone, ohne unsere Herkunft zu kennen. Er ist enttäuscht, als ich ihm darauf keine Antwort geben kann. Nur Leitgeist schickt mir noch immer Bilder, die sich allerdings rasch verändern. Das schier unbeschreibliche Gewimmel in düsterem Rot muß der Planetoid sein, dessen Molekularstruktur sich zusammenzieht. In geringem Abstand um diesen mehrere hundert Meter durchmessenden Körper haben sich die Minis gruppiert. Ihr Anführer läßt mich wissen, daß sie solch ein für ihre Verhältnisse riesiges Objekt nur gemeinsam verändern können. Ich verspüre erste Erschütterungen; Staub rieselt von der Decke. Erwartungsvoll blicke ich mich um. Mein Verlies besitzt keinen sichtbaren Zugang, ich warte jedoch darauf, daß eine der Wände reißt oder so dünn wird, daß ich sie durchbrechen kann. Falls AntiES mittlerweile nicht den gesamten Planetoiden umgestaltet hat, dürfte es mir nicht schwerfallen, den Weg zur ÜBERZONE zu finden. Wenn ich die Arme ausstrecke, kann ich fast schon die Decke
erreichen. Das ist für mich der erste sichtbare Beweis der fortschreitenden Verkleinerung. Ich frage mich, wie schnell es gehen wird. Wir müssen mit unseren Kräften haushalten, meint Leitgeist. Keiner weiß, wie es ist, ein Objekt dieser Größenordnung zu verändern. Hoffentlich mußt du sie nicht enttäuschen, wisperte mein Extrasinn. Wieso? gebe ich ebenso lautlos zurück. Anti-ES wird sich wehren. Ich glaube, du benutzt die Minis nur als Mittel zum Zweck. Das ist nicht wahr! protestiere ich. Und das ist meine ehrliche Überzeugung, denn irgendwie sind mir diese halbenergetischen Geschöpfe bereits ans Herz gewachsen. Aber das Problem läßt sich nicht leugnen. Ich habe ihnen Nahrung versprochen. Immer mehr Risse entstehen in den Wänden. Ich fürchte, der Asteroid bricht auseinander, lange bevor die Verkleinerung abgeschlossen sein wird. Ich muß mich beeilen. Mit Wucht trete ich gegen den Fels und fühle, wie er nachgibt. Faustgroße Steine poltern zu Boden. In der Gewißheit, endlich freizukommen, trete ich ein zweitesmal zu. Gut ein halber Quadratmeter Wandfläche kippt nach der anderen Seite. Sofort breche ich mit bloßen Händen weiteres Gestein heraus. Der Planetoid scheint aus unzähligen aufeinander basierenden Sedimentschichten zu bestehen. Ein enger, niederer Stollen schließt sich an. Ich muß den Kopf einziehen, um nicht anzustoßen. So schnell ich kann, haste ich weiter. Dieser Abschnitt ist mir unbekannt. Eine Treppe … Daran, daß ich vier Stufen mühelos auf einmal nehmen kann, erkenne ich, wie weit die Verkleinerung fortgeschritten ist. Ich habe das Gefühl, der Oberfläche des Planetoiden nahe zu sein. Dumpf verzerrt hallt das Geräusch meiner Schritte von allen Seiten
wider. Endlich erreiche ich einen Gang, der mir bekannt ist. Hier war ich, nachdem ich Anti-Homunk das Steuergerät entwendet hatte. Erstaunt bemerke ich, daß ich deutlich sichtbare Spuren im Fels hinterlasse. Die Verkleinerung scheint also nicht zugleich eine Verdichtung der Masse herbeizuführen. Das bedeutet, daß jedes einzelne Atom in sich schrumpft. Einem plötzlichen Impuls folgend, greife ich zu. Mühelos durchdringen meine Finger den Fels. Du führst dich auf wie ein Haluter, spottet mein Extrasinn. Ehe ich zu einer passenden Erwiderung ansetzen kann, hebt ohrenbetäubender Lärm an, der aus allen Richtungen zugleich zu kommen scheint. Ich habe das Gefühl, daß etwas Unsichtbares mich streift, doch diese Empfindung ist zu flüchtig als daß ich wirklich sicher sein könnte. Anti-ES ist zurückgekehrt, behauptet der Logiksektor. Sieh dich vor. Tatsächlich spüre ich das Böse, das sich in meiner Nähe manifestiert. Es scheint verwirrt zu sein. Zugleich meldet sich Leitgeist wieder und läßt mich wissen, daß irgend etwas den Planetoiden erreicht hat, das sich nun gegen die Miniaturisierer stellt. Wir können dagegen bestehen, behauptet er, weil die Verkleinerung bereits fortgeschritten ist. Ein wahnwitziger Gedanke ergreift von mir Besitz. Selbst wenn es nicht materieller Existenz ist, bestätigt Leitgeist, wird diese Intelligenz, die du Anti-ES nennst, der Schrumpfung ebenfalls unterliegen. Noch ist es zu früh, um zu triumphieren. Aber sollte es möglich sein, Anti-ES zu meinem Gefangenen zu machen, den Spieß praktisch umzudrehen? Dann wäre ich auf die ÜBERZONE nicht angewiesen. Euphorische Stimmung ist ebenso wenig angebracht, wie die Niedergeschlagenheit, die du während der letzten Tage gezeigt hast, warnt
mein Extrasinn. Die Verkleinerung schreitet nun rasch voran, und ein Effekt tritt auf, mit dem ich noch nicht gerechnet habe. Die Wände aus blankem Fels sind mittlerweile so dünn, daß ich sie mühelos durchbrechen kann. Außerdem hängt die Decke bereits so weit herab, daß mir nur eine krampfhaft gebückte Haltung möglich ist. Als ich mich aufrichte, durchstoße ich die Oberfläche des Planetoiden. Im ersten Moment zucke ich entsetzt zurück und halte den Atem an, aber Quälgeist teilt mir telepathisch mit, daß die flüchtigen Gasmoleküle von den Minis nicht beeinflußt wurden. Im anderen Fall hätte es ohnehin schon zur explosiven Dekompression kommen müssen. Ich darf also beruhigt durchatmen. Trümmerstücke baumeln davon und verlieren sich in der Schwärze des Alls. Ich überblicke weite Teile des Planetoiden. Zum Greifen nahe über mir schweben die Miniaturisierer. Welcher von ihnen mag Leitgeist sein? Hier? In meinen Gedanken entsteht das Abbild des Dreifachwesens, dessen Glitzern heller ist als das der anderen. Suchend sehe ich mich um. Ein eigenartiges, unwirkliches Gefühl, mit halben Körper aus einem kosmischen Trümmerstück herauszuragen. Das erinnert mich an die Geschehnisse in M-87, als Tschai Kulu, Ramdor und Jefferson zu Überriesen wurden und ganze Planeten unter ihren Händen zerbrachen. Doch das ist weit über tausend Jahre her. Ein Schimmer vager Helligkeit lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Etwas Leuchtendes schält sich langsam aus dem Planetoiden heraus und kämpft verzweifelt gegen die Verkleinerung an. Dennoch verliert es zunehmend an Größe. Beklemmend ist der Hauch des Bösen, der nach mir greift. Zweifellos hat er seinen Ausgang in diesem Leuchten. Hilf uns! schreit Quälgeist auf seine lautlose Art. Aber ich bin wie gelähmt und kann nicht eingreifen. Untätig muß ich dem
schemenhaften Kampf zwischen den Miniturisierern und dem leuchtenden Etwas aus dem Planetoiden beiwohnen. Mir ist klar, daß dies zumindest ein Teil von Anti-ES ist, vielleicht sogar die Superintelligenz selbst. Die Minis haben einen schweren Stand. Hin und her wogt der Kampf, ohne daß ich in der Lage bin, die Entscheidung zu beeinflussen. Einmal scheint Anti-ES die Oberhand zu gewinnen, und der Planetoid beginnt wieder zu wachsen, doch sofort ziehen die Minis sich enger zusammen. Wie willst du eingreifen? fragt der Logiksektor. Anti-ES mit bloßen Händen den nicht vorhandenen Hals umdrehen? Wenn ich mich wenigstens bewegen könnte. Aber es scheint, als übe die Superintelligenz einen verhängnisvollen Einfluß auf mich aus. Obwohl sie geschwächt ist, komme ich nicht dagegen an. Minuten vergehen, dann werde ich auf die Veränderung aufmerksam, die mit Anti-ES vor sich geht. Das helle Leuchten zieht sich an mehreren Stellen zusammen, zugleich beginnt es zu verblassen. Wie gebannt verfolge ich den lautlosen Vorgang. Das Glitzern der Minis bildet jetzt eine schier undurchdringliche Kugelschale um uns her. Anti-ES versucht verzweifelt, die unsichtbaren Fesseln abzuschütteln und Auswüchse zu formen. Es ist nun höchstens noch so groß wie ich. Ich vernehme Leitgeists triumphierenden Aufschrei. Zumindest teilweise fällt die Lähmung von mir ab. Schließlich steht ein dunkelglimmendes, halbtransparentes Ei fast zum Greifen nah vor mir. In dieser Form ist es am wenigsten angreifbar, behauptet der Extrasinn. Vorerst gibt es also eine Pattsituation zwischen den Gegnern, die sich aber rasch zuungunsten der Minis verändern kann: Ich spüre, daß die Superintelligenz, obwohl stark geschwächt, bereits wieder im Begriff ist, neue Kräfte aufzubauen.
Meine Hände sind nicht mehr taub, ich kann auch die Arme wieder bewegen. Leitgeist! rufen meine Gedanken. Haltet dieses Wesen noch eine Weile hin! Ich weiß nicht, ob der Mini mich verstanden hat, denn meine Aufmerksamkeit widmet sich dem hellen Kern, der wie ein Fremdkörper im Innern des Eies wirkt. Vermutlich ist dies das Gehirn von Anti-ES, zumindest kann ich mir nichts anderes vorstellen. Das wäre dann meine Chance. Ich taste nach dem Messer, der einzigen Waffe, die ich besitze. Es hat den Anschein, als würde Anti-ES im Augenblick kaum auf mich achten. Lächerlich, ein solch unbegreifliches Wesen mit blankem Stahl besiegen zu wollen, aber die belebende Kühle des Metalls in meiner Hand macht es mir leicht, mich über solche Bedenken hinwegzusetzen. Im letzten Moment wird die Superintelligenz aufmerksam; ein scharfer, geistiger Befehl läßt mich zusammenzucken. Wie mit glühenden Nadeln sticht es durch meine Schädeldecke hindurch. Anti-ES mobilisiert seine letzten Reserven. Ich vernehme einen entsetzten Aufschrei der Minis. Sie können meinen Widersacher kaum mehr zurückhalten. Schon zucken einzelne PseudoGliedmaßen aus dem Ei hervor und umklammern mein rechtes Handgelenk, daß ich unter dem schmerzhaften Zugriff aufstöhne. Mit der Linken versuche ich, mich aus dem erbarmungslosen Griff zu befreien. Anti-ES will mich zurückstoßen, was ihm aber ebenfalls nicht gelingt. Wir ringen miteinander – ein stummes, unerbittliches Kräftemessen. Mein Gegner weiß, daß ich nicht mehr zögern werde, ihn zu vernichten. Andererseits ist mir unklar, ob Anti-ES mich noch schonen wird. Vielleicht war es bei den Kosmokraten, und der Versuch, mich gegen seine Freiheit einzutauschen, ist gescheitert.
Dann bin ich ihm nichts mehr wert. Es gelingt mir, mit dem Messer zuzustechen. Blut fließt keines. Statt dessen bildet Anti-ES zwei neue Auswüchse, die sofort heranschnellen. Handelt es sich um normale Materie oder Formenergie? Wenigstens einen Teil meiner Bewegungsfreiheit habe ich zurückerhalten. Und ich kann mit der Waffe umgehen. Blitzschnell wechsle ich die Klinge von der rechten in die linke Hand und schlage zu. Einer der beiden Arme, der nach meinem Hals tastet, wird glatt abgeschnitten. Ohne zu zögern, werfe ich mich vorwärts. Anti-ES ist von diesem Angriff offensichtlich überrascht, denn es setzt mir nicht den geringsten Widerstand entgegen. Als das Messer in die mannsgroße, eiförmige Erscheinung eindringt, durchzuckt mich ein heftiger Stoß. Schwer schlägt das Herz in meiner Brust; ich ringe krampfhaft nach Atem. Anti-ES umschlingt mich mit vielen Gliedmaßen. Sie sind nicht wirklich, behauptet der Extrasinn. Du unterliegst einer Täuschung. Deine Psyche wird beeinflußt. Noch einmal steche ich zu. Das Geistwesen schreit gellend auf. Unbändiger Haß schlägt mir entgegen. Aber da ist auch ein anderes Gefühl, das Wärme und Zuversicht vermittelt. Und da sind die Minis, deren kollektiver Wille Anti-ES nach wie vor behindert. Leitgeist übermittelt mir seine Wahrnehmungen. Ich sehe das große Ei als grellbunte Ansammlung unzähliger Punkte, die wild durcheinanderwirbeln. Nur in seiner Mitte befindet sich eine begrenzte Zone der Ruhe – der helle Kern. Mein Messer hat ihn offensichtlich um eine Handbreit verfehlt. Instinktiv stoße ich ein weiteres Mal zu, und eine Welle positiver Empfindungen schlägt über mir zusammen. Verschwommen nehme ich wahr, daß der helle Kern durch die von mir erzeugte Öffnung schlüpft und Anti-ES verläßt. Scheinbar verwirrt flattert er wild
umher, während der Kampf zwischen der Superintelligenz auf der einen und den Minis und mir auf der anderen Seite an Heftigkeit gewinnt. Indes ich mich hochstemme, gelingt es mir, den auf allerhöchstens drei Meter Durchmesser zusammengeschrumpften Planetoiden zu verlassen. Leitgeist will mir etwas mitteilen, bricht jedoch unvermittelt ab. Ich nehme ebenfalls das Entsetzen wahr, das über uns zusammenschlägt. Anti-ES, das nur mehr aus Finsternis zu bestehen scheint, triumphiert. Die Minis sind mit ihrer Kraft am Ende, denn es bläht sich fast schlagartig zu gewaltiger Größe auf, während zugleich der Planetoid zu wachsen beginnt. Dein Gegner wird uns vernichten! Deutlich drückt sich Leitgeists Verzweiflung in diesen Gedanken aus. Nichts und niemand kann verhindern, daß Anti-ES sich wieder in den kosmischen Trümmerbrocken zurückzieht und somit unsichtbar wird. Ich habe erneut verloren.
* Was ist der helle, von Anti-ES abstammende Kern, der sich nun ebenfalls zu einem leuchtenden, aus sechseckigen Waben bestehenden Ei formt und dabei zu wachsen beginnt? Innerhalb weniger Augenblicke wird er fast mannsgroß. Eine beruhigende Ausstrahlung haftet ihm an. Da ist nichts Böses. Kaum mehr als fünf Meter voneinander entfernt, stehen wir uns auf dem Planetoiden gegenüber, als mich völlig unerwartet ein telepathischer Hilfeschrei der Minis erreicht. Sie sind offensichtlich entsetzt über etwas, was ich noch nicht wahrnehmen kann. Auch mein Extrasinn warnt mich. Bevor ich überhaupt Zeit finde, darauf einzugehen, brechen düstere Energien aus den Kratern des Planetoiden hervor und
hüllen diesen in Gedankenschnelle ein. Atlan, wir … Quälgeists Mitteilung bricht abrupt ab. Anti-ES schlägt mit seinen übermächtigen Energien zu und vernichtet den Pulk der Minis. Überall verblaßt das Glitzern und Gleißen, wird von Finsternis verschlungen. Die Todesschreie der Minis hallen in mir nach. Benommen raffe ich mich auf. Einzig und allein ich trage die Schuld an ihrer Vernichtung. Doch für Selbstvorwürfe ist es zu spät – ich hätte wissen müssen, daß Anti-ES nicht so leicht zu besiegen ist. Es tut mir leid, denke ich und weiß zugleich, daß keines dieser fremdartigen Geschöpfe mich noch hören kann. Plötzlich ist Helligkeit um mich her. Ich weiß nicht, was geschieht, aber ich könnte ohnehin kaum etwas dagegen tun. In eine transparente Blase eingehüllt, kann ich mitansehen, wie der Planetoid rasch unter mir zurückfällt und schon nach wenigen Sekunden völlig verschwindet. Ich bin nicht allein. Freude überkommt mich, als ich das Glitzern bemerke, nur weicht sie rasch erneuter Benommenheit. Sicher, ein Mini ist gerettet, doch das ist einer von annähernd hundert. Du hast es nicht gewollt, wispert seine lautlose Stimme in meinen Gedanken. Ich mache dir deshalb keinen Vorwurf. Der Miniaturisierer, der langsam auf mich zu schwebt, besteht aus drei aneinandergeklebten Körpern. Ich frage mich spontan, ob er somit auch über drei Bewußtseinsinhalte oder nur über eines verfügt. Ich bin Leitgeist, bestätigt er, ohne auf meine Überlegungen einzugehen. Wir verdanken es dem Ei, daß wir noch leben. »Wohin bringt es uns?« frage ich in der Hoffnung, Leitgeist möge die Antwort bereits herausgefunden haben. Aber der Mini weiß es ebenfalls nicht. Alles, was er mir mitteilen kann, ist, daß der Kern flieht (vermutlich vor Anti-ES) und daß sein Ziel irgendwo in der Namenlosen Zone liegen muß. Heißt das, daß ich einen potentiellen Verbündeten gefunden habe?
Noch sind die Vorgänge für mich rätselhaft, selbst mein Logiksektor liefert nicht mehr als Vermutungen. Was wirklich geschehen ist, davon habe ich keine Vorstellung. Die uns umgebende Hülle ist transparent. Sterne, nach denen ich mich orientieren könnte, sehe ich nicht, aber ich spüre ebenso wie Leitgeist die rasend schnelle Bewegung, mit der wir vorangetrieben werden. Der helle Kern schützt mich außerdem vor dem Vakuum des Raumes; die Luft, die ich atme, unterscheidet sich zumindest nicht merklich von der Atmosphäre des Planetoiden.
4. Leitgeist verhält sich schweigsam. Ich kann verstehen, daß er um seinen Pulk trauert. Stunden sind vergangen, in denen ich mehrfach vergeblich versucht habe, mit dem Kern Kontakt aufzunehmen. Mindestens ein Dutzendmal erwähnte ich die Kosmokraten und die Materiequelle, ohne jedoch eine erkennbare Reaktion zu erzielen. Inzwischen habe ich es aufgegeben. Wenn ich erfahren will, wohin die Reise geht, muß ich wohl oder übel abwarten. Auf jeden Fall bin ich Anti-ES entkommen. Zumindest vorerst, schränkt mein Extrasinn ein. Du meinst …? Anti-ES wird sich diese Schlappe nicht gefallen lassen. Wir verbergen uns an einem sicheren Ort, wispert es in meinem Hinterkopf. Das muß das leuchtende Ei sein. Doch zu mehr als dieser orakelhaften Erklärung läßt es sich nicht herab. Ich starre hinaus in die lichtlose Finsternis der Namenlosen Zone. Die Schwärze erscheint mir vollkommener als die des intergalaktischen Leerraums. Nicht einmal der weit entfernte Schimmer von Galaxien ist auszumachen. Überlegungen, wie ich von hier aus in den Einsteinraum zurückkehren könnte, wären
müßig. Außerdem wurde ich für eine Aufgabe auserwählt, und ich werde diese Aufgabe erfüllen. Die Schwärze ist endlos. Gibt es in der Namenlosen Zone überhaupt Entfernungen, die mit menschlichen Begriffen erklärbar sind? Irgendwo voraus taucht ein fahler Lichtschimmer auf. Er wird rasch größer. Ein Raumschiff? Ich fiebere förmlich dem Augenblick entgegen, da mehr zu erkennen ist. Der helle Kern bewegt sich nun genau darauf zu. Hat er sein Ziel erreicht? Das unbekannte Objekt scheint relativ groß zu sein. Drei oder vier Minuten vergehen, ehe ich erste Einzelheiten ausmachen kann: eine natürliche Landschaft mit Hügeln und Tälern, aus denen ein steiles Felsmassiv in die Höhe ragt. Woher das Licht kommt, ist nicht festzustellen. Erst auf den zweiten Blick bemerke ich die beiden Bauwerke, das eine mehr wie ein eckiger Kasten mit beleuchteten Kuppeln, das andere im Gegensatz dazu ein schlanker Turm mit aufgesetzter Plattform, der an Höhe dem Felsmassiv kaum nachsteht. Daß ich tatsächlich ein Raumschiff vor mir habe, sehe ich erst, als sich auch dessen Rumpf aus der Finsternis herausschält. Vom Äußeren her erinnert es an eine Plattform. Vier weitgeschwungene Vorsprünge am Bug verleihen ihm zusätzlich das Aussehen eines Insekts, das sowohl Fühler als auch Saugrüssel vorstreckt. Ich hoffe, meldet sich der helle Kern unerwartet, daß dieses Objekt unbewohnt ist. Wie er zu dieser Ansicht gelangt, ist mir ein Rätsel – sicher ist allerdings, daß sich bislang noch niemand gezeigt hat. Ich glaube, daß dieses Teilwesen, dem ich zur Flucht aus Anti-ES verholfen habe, sehr geschwächt ist. Vermutlich hofft es, hier ein Versteck vor unserem Verfolger gefunden zu haben. Das ist richtig, erhalte ich zur Antwort. Ich muß rasten und neue
Kräfte sammeln, sonst bin ich niemandem eine Hilfe. Hier können wir uns zumindest auf absehbare Zeit vor dem »dunklen Teil« verbergen. Wir haben uns dem unbekannten Raumschiff bis auf wenige hundert Meter genähert, als dort unten unvermittelt starke Scheinwerfer aufflammen. Scharf abgegrenzte Lichtkegel tasten durch die endlose Schwärze. Kein Zweifel: jemand sucht nach uns. Abrupt ändert der Kern seine Flugrichtung, läßt sich absinken und rast dicht unter einem vorstehenden Stachel vorbei. Das könnten Antennen sein, doch alles geht viel zu schnell, um eine wirkliche Feststellung zu erlauben. Die Scheinwerferkegel folgen uns unerbittlich. Wir gleiten jetzt unmittelbar an der Längskante des Schiffes entlang. So bekomme ich zumindest einen ungefähren Eindruck von der Höhe des Objekts, die ich auf drei- bis vierhundert Meter schätze. »Ist Anti-ES bereits vor uns hier?« spreche ich meine Befürchtung unwillkürlich laut aus. »Nein!« erwiderte der helle Kern bestimmt. »Ich weiß nicht, was geschieht, obwohl der Erste Zähler nicht auf seiner Basis ist.« »Basis?« frage ich. Aber die Stimme schweigt erneut. »Wohin bringst du uns?« will ich wissen. Nichts. Es ist, als würde ich gegen eine Wand reden. Im nächsten Moment steigt die Sphäre mit Leitgeist und mir wieder in die Höhe. Hügel tauchen vor uns auf und eine ausgedehnte Waldlandschaft. Alles geht jedoch viel zu schnell, als daß ich Einzelheiten erkennen könnte. Die mächtige Felswand huscht vorüber, dann sinken wir tiefer. Augenblicke später verschwindet das transparente Feld um uns her. Ich stehe inmitten einer blumenübersäten Wiese, und der Duft honigschwerer Blüten steigt mir in die Nase. Die Luft ist angenehm rein, wie sie der üppigen Flora entspricht. Keine noch so perfekte Umwälzanlage an Bord eines Raumschiffs vermag diese Frische zu erzeugen. Einbildung wispert der Extrasinn.
Nach der Gefangenschaft auf dem Planetoiden würde dir sogar eine Ammoniak Methan-Atmosphäre wohltuend erscheinen. Das ist natürlich stark übertrieben, aber in gewisser Weise hat mein zweites Ich durchaus recht. Es ist eben alles relativ. Ich bin mit Leitgeist allein. Der eiförmige helle Kern scheint verschwunden. Er weilt noch in der Nähe, läßt mich der Mini wissen. Unwillkürlich blicke ich mich um. Der Himmel über uns ist von einer geradezu vollkommenen Schwärze. Es gibt weder eine atomare Kunstsonne noch Scheinwerfer … …und ebenfalls keine Schatten. Das ist richtig. Breitet sich das Licht auf dieser Kunstwelt anders aus als gewohnt? Ist es vielleicht in der Lage, feste Materie zu durchdringen? Eine Hügelkette bildet den nahen Horizont; mir scheint, daß es dahinter noch heller ist, und daß in der entgegengesetzten Richtung ein wenig mehr Düsternis herrscht. Aber das kann genausogut Einbildung sein. Heisere Schreie lassen mich aufblicken. Hoch über uns kreist ein Schwarm großer Vögel. Wegen ihrer dunklen Zeichnung sind sie nur sehr schwer auszumachen. Ich habe das untrügliche Gefühl, daß sie uns beobachten. Und noch etwas kann ich erkennen: die leichte Wölbung eines Schutzschirms, der sich über diese Landschaft spannt. Er hindert die Atmosphäre, in den freien Weltraum zu entweichen, muß aber zugleich von außen her durchlässig sein. Im Stillen frage ich mich, wo es ein Versteck vor Anti-ES geben kann. Das Geisteswesen besitzt bestimmt die Möglichkeit, jeden an Bord dieses Schiffes aufzuspüren, selbst wenn er sich im hintersten Winkel des Maschinenraums verkriecht. Das habe ich jedoch keineswegs vor. Es geht weniger um dich, meldet sich unvermittelt der helle Kern. In erster Linie soll ich an einer weiteren Flucht gehindert werden. »Warum wartest du dann auf unseren Verfolger? Willst du mit
ihm kämpfen?« Dazu bin ich noch zu schwach. Erst scheint zwischen mir und Leitgeist die Luft zu flimmern, schließlich entsteht praktisch aus dem Nichts heraus eine gut drei Meter große, eiförmige Gestalt, deren Oberfläche aus aneinandergefügten leuchtenden Sechsecken besteht. Der helle Kern ist gewachsen. Die Zeit arbeitet für mich, meint er, ohne auf meine Feststellung einzugehen. Aus den Augenwinkeln heraus gewahre ich einen dunklen Schemen rasch näherkommen. Der Warnung meines Extrahirns bedarf es nicht, denn instinktiv werfe ich mich nach vorne. Ein mächtiges Krallenpaar verfehlt meine Schultern, und heiser krächzend strebt der Angreifer wieder in die Höhe. Ich schätze die Spannweite des Vogels auf gut drei Meter. Der Schwarm kreist jetzt noch höchstens zwanzig Meter über uns. Leitgeist muß wieder meine Gedanken gelesen haben, denn er läßt mich wissen, daß er bestimmt eines oder zwei der Tiere so weit verkleinern könnte, daß sie keine Gefahr mehr darstellen, keinesfalls aber alle. Auch mit dem Messer rechne ich mir keine große Chance aus. Es sind zu viele. Sie zu zählen fällt schwer, da sie beinahe wie ein großer Klumpen in der Luft hängen. Fünfzehn! meint der Extrasinn. Ich glaube ihm die Zahl unbesehen. Das leuchtende Ei ist verschwunden. Ich fürchte, daß wir von ihm am wenigsten Hilfe zu erwarten haben. Warum mußten wir ausgerechnet hier landen, auf der Basis des Ersten Zählers, was immer der Name bedeuten mag? Gibt es weit und breit keinen anderen Zufluchtsort, oder ist der Kern inzwischen zu erschöpft? Letzteres wäre wohl die plausibelste Erklärung. Mir bleibt keine Zeit mehr, um weiter darüber nachzudenken. Krächzend stoßen die Vögel herab. Renne! fordert mich der Extrasinn auf. Du hast keine andere Wahl.
Ich werfe mich herum und haste mit weiten Sprüngen vorwärts. Die Schwerkraft beträgt ungefähr ein g. Das Erdreich fällt sanft zu einer Talmulde hinab. Die hier wachsenden, halb mannshohen Büsche stehen dicht. Zu spät erkenne ich, daß es kein Durchkommen gibt. Federn stieben nach allen Richtungen davon, als der erste Angreifer heran ist und ich mit dem Messer zustoße. Aber dann trifft mich ein schmerzhafter Flügelschlag, der mich benommen taumeln läßt. Ins Gestrüpp, auch wenn deine Kombination dabei draufgeht, fordert der Extrasinn. Mir bleibt keine andere Wahl. Augenblicke später kauere ich zwischen knorrigen Ästen und dicken, feuchten Blättern am Boden. Hin und wieder stößt einer der über mir kreisenden Vögel herab und versucht, seine Fänge in das Buschwerk zu schlagen. Ich habe mich selbst in eine Falle hineinmanövriert, aus der ich nur schwer wieder entkommen kann. Ich bin gezwungen, die Dunkelheit abzuwarten. Ein Gefühl sagt mir jedoch, daß ich auf den Einbruch der Nacht lange warten muß. Vermutlich herrscht in dieser künstlichen Landschaft ewiger Tag. Einer der Tiere zeigt sich besonders hartnäckig und hackt mit dem Schnabel nach mir, wobei immer mehr Blätter und Holzstücke losgerissen werden. Ein Paar runder, schwarzer Augen funkelt mich tückisch an. So fest halte ich mein Messer, daß die Knöchel weiß unter der Haut hervortreten. Im nächsten Moment schnellt der Ast, auf dem der Vogel saß, in die Höhe. Das Gewicht, das ihn eben noch belastet hat, ist verschwunden. Ein kaum wahrnehmbares Piepsen läßt mich den Boden zwischen den Wurzeln absuchen. Da ist ein Küken, gerade so groß, daß es in meine Hand paßt. Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich im Stich lassen? höre ich, Leitgeists lautlose Stimme.
* Ich bin verwirrt. Die Vögel sind so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht sind. Der Himmel über mir ist leer und wolkenlos. Meine Kombination, obwohl schmutzabweisend, ist dreckverschmiert. Aber das interessiert mich im Augenblick herzlich wenig. Leitgeist schwebt neben mir. Sein Glitzern ist wie ein nicht enden wollender Funkenreigen. Das Ei ist verschwunden, teilt er mir mit. Ich weiß nicht, wohin. Das habe ich geahnt. Damit sind wir inmitten einer fremden Umgebung praktisch nur auf uns gestellt. Es ist keineswegs das erste Mal, daß du dich ohne Hilfsmittel irgendwo durchschlagen mußt. Aber nie hatte ich dieses flaue Gefühl im Magen. Ich fühle mich alleingelassen – von einem Wesen, über das ich nichts weiß. Sicher, seine Ausstrahlung ist durchaus positiv zu bewerten, aber zugleich entstammt es doch meinem ärgsten Gegner. Bist du sicher, daß es Anti-ES war? Die Frage meines Extrasinns verblüfft mich. Immerhin kommt es äußerst selten vor, daß er von mir etwas wissen will. Kurz entschlossen gebe ich mir einen Ruck. »Wir müssen herausfinden, was gespielt wird«, sage ich zu Leitgeist, der mir daraufhin einen bestätigenden Impuls schickt. Der hoch aufragende schroffe Fels ist einer von drei markanten Geländepunkten und der Grund, weshalb ich ausgerechnet in diese Richtung aufbreche, ganz einfach der, daß er meinen jetzigen Standort am nächsten liegt. An die Zone üppiger Vegetation schließt sich ein ausgedehntes Geröllfeld an. Ungehindert erreichen wir schließlich den Fuß des Felsen. Zum wiederholten Mal ertappe ich mich dabei, daß ich angestrengt zum pechschwarzen Firmament emporstarre. Aber alles bleibt ruhig.
Der Extrasinn macht mich auf etwas aufmerksam, an dem ich sonst wohl achtlos vorübergegangen wäre. Es sind die Überreste mehr als kopfgroßer Felsbrocken, zum Teil zu winzigen Splittern zermalmt. Einige Meter entfernt muß ein schwerer Dampfhammer den felsigen Boden aufgerissen haben. Ein tiefes Loch gähnt an dieser Stelle, und von unten her schimmert blankes Metall herauf. Er hat ganz schön gewütet … Ich achte nicht auf die Bemerkung, weil ich im Gestein senkrechte, parallel verlaufende Furchen entdeckt habe. Ohne Bedeutung können sie nicht sein. »Wer?« frage ich überrascht, als mir endlich klar wird, daß der Logiksektor womöglich auf etwas Bestimmtes hinweisen wollte. Der Haluter, läßt er mich wissen. »Natürlich«, erwidere ich spöttisch. »Wir sind vermutlich nur eine kleine Ewigkeit von Halut entfernt.« Dabei denke ich an Beyl Transot, dem ich erst vor kurzem begegnet bin, aber es erscheint mir nahezu ausgeschlossen, daß weitere dieser tonnenschweren Kolosse in die Namenlose Zone verschlagen wurden.
* Nur für Sekunden habe ich meine nähere Umgebung aus den Augen gelassen, schon läßt ein grollendes Geräusch mich herumfahren. Keine dreißig Meter entfernt, unmittelbar am Fuß des Felsens, kauert ein schwarzer Panther. Auch wenn die Ähnlichkeit nur flüchtig ist, drückt sich in dieser Bezeichnung doch die offensichtliche Gefährlichkeit des Tieres aus, dessen vier Beinpaare ihm eine große Sprungkraft verleihen mögen. Die Körperlänge beträgt ungefähr 2,50 Meter, die Höhe jedoch nur rund 40 Zentimeter. Deutlich sind fingerlange Reißzähne zu erkennen. Unwillkürlich versteife ich mich. Wenn der schwarze Panther angreift, gibt es keine Rettung.
Verhalte dich ruhig! mahnt der Extrasinn. Versuche vor allem nicht, den Helden zu spielen. Unentwegt starrt das Tier mich mit seinen funkelnden Lichtern an, daß ich mich eines gewissen Schauderns nicht erwehren kann. Dann stößt der Panther ein drohendes Fauchen aus und ist von einem Moment zum anderen verschwunden. Hat er sich mit einem kraftvollen Sprung zurückgezogen? Ich vermag es nicht eindeutig zu behaupten. Es wäre besser, die Basis des Ersten Zählers umgehend zu verlassen. In der ersten Überraschung schreibe ich diese Bemerkung dem Extrasinn zu, bevor ich die ungeheure Fremdartigkeit dieser Gedanken verstehe. »Wer bist du?« frage ich laut. Aber anstelle einer Antwort werde ich erneut aufgefordert, die Basis zu verlassen. Leitgeist bestätigt mir, daß auch er den Befehl vernommen hat. Trotz seiner telepathischen Gabe ist er jedoch in der Lage, den Unbekannten aufzuspüren. Vielleicht würde ich mich tatsächlich nach einem anderen Ort umsehen, wäre ich dazu in der Lage. Der helle Kern ist nach wie vor verschwunden.
* Es gibt keine Möglichkeit der Zeitbestimmung; keine Sonne steigt über den Rand der Basis des Ersten Zählers herauf. Auf Dauer wirkt die gleichbleibende Helligkeit sogar ermüdend. Wenigstens eine Stunde mag vergangen sein, während ich mich in der Nähe des Felsens umgesehen habe. Ich habe nichts gefunden, was mir irgendwie wichtig erschienen wäre. Nun bin ich auf dem Weg zu jenem großen, kastenförmigen Bauwerk. Leitgeist folgt mir wie ein treuer Hund. Ich kann verstehen, daß er Anhang sucht und wahrscheinlich auch
Bestätigung. Immerhin war es ein Schock für ihn, als er seinen Pulk verlor. Durch meine Schuld. Ich hätte voraussehen müssen, daß Anti-ES erbarmungslos zuschlagen würde. Du kannst nichts dafür. Das sagt der Mini immer wieder, und zweifellos meint er es ehrlich. Ein Flackern wie von flüchtigen energetischen Entladungen huscht über den schwarzen Himmel. Vorübergehend hat es den Anschein, als würde aus dem Nichts heraus ein mächtiges Gebilde entstehen, ich glaube sogar, die Andeutung einer eiförmigen Gestalt erkennen zu können, dann ist der Spuk so rasch vorüber, wie er erschien. Eine Erklärung dafür habe ich nicht, aber ich spüre förmlich, daß bedeutsame Ereignisse bevorstehen. Vor uns erstreckt sich ein kleiner Mischwald. Weit ausladende, blühende Laubbäume wechseln sich ab mit kegelförmigem, blutrotem Nadelgehölz, das ohne erkennbaren Stamm aus dem Boden sprießt. Es wird schwer sein, hier durchzukommen. Also muß ich einen Umweg in Kauf nehmen. Mein Ziel, das kantige, von Kuppeln bedeckte Bauwerk, kann ich nicht aus den Augen verlieren, denn es ragt über die Baumkronen hinaus. Kniehohes, saftiges Steppengras wogt sanft im Wind. Ich frage mich, wie er entstehen mag. Infolge des hügeligen Geländeverlaufs ist der Horizont scheinbar zum Greifen nahe. Dort beginnt die endlose Schwärze der Namenlosen Zone, als wolle sie die Basis des Ersten Zählers jeden Moment unter eisigen Fittichen ersticken. Pilze! macht der Logiksektor mich auf eine Ansammlung faustgroßer Fruchtkörper aufmerksam. Schlagartig verspüre ich Hunger. Es ist lange her, daß ich etwas gegessen habe, und das waren Konzentratwürfel und zuletzt dieser zähe Brei, den mir die Robotautomatik in Anti-ES' Planetoiden serviert hat. Eine Vergiftung brauche ich dank meinem Zellaktivator nicht zu befürchten, dennoch betrachte ich die Pilze mit den langen,
schlanken Stielen und den ausladenden fleischigen Kappen mit einer Mischung aus Skepsis und Zurückhaltung. Sie verströmen ein eigenartig süßes Aroma. Als ich einen der Fruchtkörper abschneide, erweist sich dieser als erstaunlich widerstandsfähig. Das Fleisch ist trocken und fast weiß. Ich säubere Stiel und Kappe und breche ein mundgerechtes Stück heraus. Der Geschmack ist nicht minder eigenartig als der Geruch. Selbst mein photographisches Gedächtnis erinnert sich nicht daran, daß ich jemals etwas Ähnliches gegessen hätte. Ringsum bricht der Boden auf. Zu Hunderten sprießen winzige Keimlinge aus der Erde. Sie wachsen erstaunlich schnell. Gleichzeitig beginnt das Gras zu welken. Da ich auf halber Höhe auf einem Hügel stehe, bietet sich mir ein einigermaßen umfassender Rundblick. Schon sind die Pilze gut dreißig Zentimeter hoch und sie wuchern weiter. Ihr Geruch hat etwas Beklemmendes an sich. Kalter Schweiß bricht mir aus allen Poren. Ich muß mich durch einen Urwald aus bereits halb mannshohen Pilzen hindurchkämpfen. Sie stehen dermaßen eng beieinander, daß es kaum noch ein Durchkommen gibt. Niemand, der nicht gerufen wurde, betritt die Basis des Ersten Zählers ungestraft. Die Reaktion darauf kann nur die Auslöschung der jeweiligen Daseinsform sein. Diese Warnung brennt sich förmlich in meine Gedanken ein. Die Wand aus Pilzen wird undurchdringlich. Selbst wenn ich alle Kraft anwende, gelingt es mir nicht, auch nur eine der Kappen zu zerstören. Du bist schuld daran! werfe ich meinem Extrasinn vor, erhalte jedoch keine Antwort. Mit Armen und Beinen zugleich stemme ich mich gegen die Pilze, die inzwischen Schulterhöhe erreicht haben. Es ist ein sinnloses Unterfangen. Obwohl ich ihn gerade jetzt dringender brauche als je zuvor, schweigt der Extrasinn. Er ist verwirrt. Wegen seiner
offensichtlichen Fehlleistung? Wohl kaum, denn selbst dafür ließe sich eine logische Erklärung finden. Leitgeist! schreien meine Gedanken. Hilf mir! Ich vermag mich nicht einmal mehr umzuwenden, um nach dem Mini Ausschau zu halten. Ich bin da, erreicht mich ein beruhigender Impuls. Aber … er versagt. Langsam werde ich zusammengequetscht, kann nicht einmal mehr die Arme bewegen. Warum schrumpfen diese verdammten Pilze nicht? Sind sie keine Nahrung für Leitgeist? Der Wächter ist stärker! Wer ist der Wächter? Es fällt mir schwer, das telepathisch Gehörte richtig aufzunehmen. Ich kann kaum noch atmen. Der beginnende Sauerstoffmangel ruft Halluzinationen hervor. Eine andere Erklärung dafür, daß ich plötzlich ein riesenhaftes Lebewesen auf mich zurasen sehe, habe ich nicht. Der Boden erzittert unter dem Gewicht dieses Monstrums. Nur verschwommen erkenne ich eine gut 3,50 Meter große und in den Schultern 2,50 Meter breite massige Gestalt mit einem halbkugelförmig auf den Schultern sitzenden Kopf. In gebückter Haltung kommt sie heran, wobei sie sich auch mit einem ihrer beiden Armpaare abstößt. Er ist es! stellt mein Extrasinn recht sachlich fest. Wer? Als die ersten Pilze entwurzelt nach allen Seiten davonfliegen, erkenne ich endlich, daß ich einen Haluter vor mir habe. Beyl Transot! behauptet mein zweites Ich erneut, während ich krampfhaft gegen eine beginnende Ohnmacht ankämpfe. Rücksichtslos zerfetzt der Koloß die Pilze um mich her. Und er fängt mich auf, als die Beine mir den Dienst versagen. Seine tiefe, dröhnende Stimme reißt mich jäh ins Wachsein zurück, bevor ich endgültig die Besinnung verliere.
5. Der Hügel ist bedeckt von den Überresten des Pilzfelds. Dicht über mir schwebt Leitgeist; sein Glitzern scheint mir neue Kräfte einzuflößen. Da ist auch der Haluter. Er wirkt starr und unbeweglich wie eine aus schwarzem Stein gehauene Statue. Ich nehme mir Zeit, ihn einer genauen Musterung zu unterziehen. Keine Zweifel, mein Extrasinn hat recht. »Beyl Transot«, spreche ich ihn an. Es fällt mir schwer, die Worte zu artikulieren, denn die Knochenplatte meines Brustkorbs schmerzt stark. Ein Terraner an meiner Stelle hätte wohl mehrere Rippenbrüche davongetragen. »Ich danke dir«, sage ich. »Aber wo sind die anderen? Ist allen die Flucht vom Grenzwächter Eppletonn gelungen?« Der Blick seiner drei Augen ruht unverwandt auf mir. Allerdings zeigt sich kein Erkennen in ihnen. Unbewußt habe ich mich des Interkosmos bedient. Nun versuche ich es auf halutisch. Transots Reaktion beweist zwar, daß er mich hört, keineswegs aber, daß er auch versteht, was ich von ihm will. Ich deute hinauf in die Schwärze der Namenlosen Zone: »Eppletonn …« Er lauscht dem verhallenden Klang, hebt seine beiden Augenpaare und läßt sie ruckartig wieder fallen. Deutlicher kann er kaum zu verstehen geben, daß er nicht weiß, wovon ich rede. Aber er muß sich doch erinnern können. Oder ist auf der Flucht vom Grenzwächter mehr geschehen, als ich jetzt noch ahne? Er weiß nichts, läßt Leitgeist sich vernehmen. Seine Gedanken liegen offen vor mir. Er kennt dich nicht. Das ist unmöglich. Nein, Atlan. In gewisser Hinsicht ist Beyl Transot wie ein Neugeborenes. Seine Erinnerung reicht nur wenige Stunden weit zurück.
Zu meiner Überraschung beginnt der Haluter endlich zu reden. »Freund?« kommt es grollend aus seinem Rachen. Rein gewohnheitsmäßig nicke ich, obwohl ich mir darüber klar sein sollte, daß er diese Geste nicht deuten kann. »Wir sind uns erst vor kurzem begegnet …« »Weiß nicht … kenne – dich nicht …« Beyl Transot spricht holpriges Interkosmo, als müsse er erst lernen, die Begriffe richtig zu gebrauchen. Wo sind die anderen, denen ich mein Versprechen gab, sie zu befreien? Was ist geschehen? Befindet sich die Basis des Ersten Zählers gar in unmittelbarer Nähe des Grenzwächters? – Fragen über Fragen, auf die ich schwerlich eine Antwort finden kann. Hier stinkt einiges, bemerkt folgerichtig der Logiksektor. Ich frage mich, ob er seine Verwirrung, oder was immer es war, inzwischen überwunden hat. Natürlich, läßt er mich wissen. Es bedarf nur einiger grundlegender Erkenntnisse, um jegliche irrationale Verhaltensweisen auszumerzen. Welcher Art diese Erkenntnisse sind, verschweigt mein zweites Ich jedoch. »Wo bin ich?« fragt der Haluter. »Auf der Basis des Ersten Zählers.« Er läßt seinen Blick schweifen. »Seit ich erwachte, frage ich mich, ob das der Leerraum ist. Ich kenne den Begriff, weiß aber nichts damit anzufangen.« »Wir haben unser Universum verlassen.« Beyl Transot starrt mich ungläubig an. »Manchmal glaube ich, auf dieser Welt geboren worden zu sein. Aber vielleicht lebe ich auch erst einige Jahre hier.« »Das ist unmöglich.« »Meinst du?« Beyl Transot hat sich völlig verändert. Die Unsicherheit paßt nicht zu ihm. »Wieso hast du mir geholfen, wenn du dich nicht an mich
erinnerst?« frage ich. Der Haluter stutzt. »Ich mußte es tun«, bringt er schließlich stockend hervor. Sein Interkosmo ist mittlerweile schon recht brauchbar. »Wieso ›mußtest‹ du es tun?« »Weil es mir befohlen wurde.« Abrupt läßt Beyl Transot sich auf seine kürzeren Laufarme nieder, und ehe ich reagieren kann, ist er hinter der Hügelkuppe verschwunden. Haluter können trotz ihrer rund 40 Zentner Lebendgewicht eine Spitzengeschwindigkeit von 120 Kilometer pro Stunde erreichen. Er denkt an ein kleines, vielgliedriges Lebewesen, das ihn aufgeweckt hat, teilt Leitgeist mir mit. Damit kann ich zwar nichts anfangen, doch es tut gut zu wissen, daß da jemand ist, auf den man zählen kann.
* Du belastest dich unnötig mit Fragen, auf die es zumindest vorerst keine Antwort gibt. Vermutlich meint der Extrasinn es gut mit mir. Trotzdem kann ich mir seine Einstellung nicht erklären. Hat er resigniert? Das alles ist so unwirklich, daß ich einfach auf diese Vermutung verfahren muß. Du solltest mehr auf deine Umgebung achten, als dich nutzloser Überlegungen hinzugeben. Unwillkürlich blicke ich mich um. Aber da ist nichts. Paß auf! Die Warnung ist so intensiv, daß ich die nahe Gefahr fast körperlich spüre. Eine jähe Berührung läßt mich zusammenzucken. Etwas ringelt sich um meine Beine. Es sind fast armlange, bleiche Würmer, die überall aus dem lockeren Erdreich hervorbrechen. Wie Schlangen
kriechen sie heran. Obwohl ich gelernt habe, allem Leben, und mag es noch so fremdartig erscheinen, positiv gegenüberzustehen, ist meine erste Reaktion Abscheu. Diese Würmer ziehen sich an meinen Stiefeln hoch und sondern dabei eine übelriechende Flüssigkeit ab. Schon hat der erste meine Hüfte erreicht. Als ich ihn berühre, durchzuckt mich ein rasender Schmerz. Ich habe das Gefühl, die Hand in kochendes Öl zu tauchen. Nur mühsam unterdrücke ich einen Aufschrei. Zugleich ertönt über mir heiseres Krächzen; schützend reiße ich die Arme hoch. Ein harter Flügelschlag trifft mich. Das ist die letzte Warnung! dröhnt es in meinen Gedanken. Verlasse die Basis des Ersten Zählers. Als ich aufsehe, ist alles wieder ruhig wie zuvor. Die Würmer fallen von mir ab und verschwinden in der Erde; die Vögel ziehen hoch oben ihre Kreise. »Was war das?« frage ich laut. Leitgeist, der nach wie vor als glitzernder Funkenreigen in meiner Nähe schwebt, weiß ebenfalls keine Antwort darauf; keine zumindest, die mich zufriedengestellt hätte. Wer immer auf dieser Welt lebt, Fremde scheinen ihm nicht gerade willkommen zu sein. Wie lange mag die Frist sein, die der Unbekannte uns noch gewährt? Gib dich keinen Illusionen hin, warnt mein Extrasinn. Du kannst der endgültigen Konfrontation nicht entgehen. Wenn ich wenigstens wüßte, wer unser Gegner ist. Die Bezeichnung »Wächter« sagt mir herzlich wenig. Aber es gibt etwas oder jemanden, der die Antwort kennen muß. »Du«, rufe ich nach dem hellen Kern. »Teil von Anti-ES, wo steckst du?« Nur in der Ferne huschen geisterhafte Leuchterscheinungen über den künstlichen Himmel. Ich muß einsehen, daß es so kein Weiterkommen geben kann. Und allmählich setzt sich die
Erkenntnis durch, daß der Extrasinn so unrecht nicht hatte. Die Basis des Ersten Zählers birgt ein Geheimnis – das fühle ich. Wenn mir Zeit dazu bleibt, werde ich alles daransetzen, es zu ergründen. Vielleicht bringt mich das auch meinem Ziel näher, die Materiequelle zu durchschreiten, um zu den Kosmokraten zu gelangen. Mir sind all diese Begriffe fremd, meint Leitgeist. So gerne ich dir helfen würde, ich kann es nicht. Es zieht mich weiter in die Richtung des kastenförmigen Bauwerks. Wenn ich irgendwo die Antworten auf meine Fragen finden kann, dann am ehesten dort, wo die Spuren des Wirkens intelligenter Lebewesen so deutlich zu finden sind. Vielleicht hundert Meter trennen mich noch von meinem Ziel, als eine heftige Erschütterung das Erdreich durchläuft. Ich kann förmlich sehen, wie der nächste Hügel vor mir sich aufwölbt. Mächtige Baumriesen knicken wie Streichhölzer. Die Erde tut sich auf. Immer neue Risse entstehen, die in scheinbar unergründliche Tiefe führen. Dabei ist mir klar, daß die künstlich aufgebrachte Humusschicht relativ dünn sein muß. Trotzdem gähnt mir das Nichts entgegen, als ich mich in letzter Sekunde durch einen Sprung zur Seite vor dem Absturz retten kann. Der Extrasinn will mir einreden, dies alles sei nur Illusion – ich finde, die Wirklichkeit ist verdammt real. Ungefähr zehn Meter entfernt bricht ein Teil des Hügels ein, darunter zeichnet sich etwas wie Schuppenhaut ab. Erde und sogar faustgroße Steine werden hoch aufgewirbelt und prasseln wie Hagel wieder herab. Eine krallenbewehrte Tatze, gut und gerne so groß wie zwei ausgewachsene Männer, zuckt aus dem Hügel hervor. Ihr folgt ein nicht minder starker, von braunen Schuppen bedeckter Lauf. Dann hebt sich auch die Hügelkuppe. Ein drohendes Fauchen läßt die Luft erzittern. Ich ahne, was kommen wird, und ziehe mich unwillkürlich zurück, obwohl ich
weiß, daß ich damit der Gefahr nicht entrinnen kann. Erde und Pflanzen ruckartig von sich abschüttelnd, fährt ein Drachenschädel steil in die Höhe. Das Tier ist mindestens vierzig Schritte lang. Drachen wie dieser sind in den Mythen vieler Völker lebendig. Und seltsamerweise gleichen sie sich alle. Auch dieser hier verfügt über zwei Köpfe, einen dünnen, biegsamen Hals und einen gedrungen wirkenden Körper. Ein lederartiges Schwingenpaar gestattet es der Kreatur, sich in die Luft zu erheben. Dem ersten Angriff entgehe ich, indem ich mich blitzschnell in einen Graben werfe. Das Monstrum zieht dicht über mich hinweg. Als ich mich umwende, stürzt es erneut aus großer Höhe herab. Zum Glück speit es kein Feuer. Ich habe den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als eine glutende Lohe nach mir greift. Sengende Hitze läßt mich für einen Augenblick glauben, alles sei aus. Unmittelbar vor mir sinkt der Drache herab, seine Krallen reißen tiefe Furchen ins Erdreich. Fauchend zucken die beiden Köpfe heran. Die Vorstellung, mit den gut dreißig Zentimeter langen Reißzähnen Bekanntschaft zu machen, läßt mich schaudern. Ich will nach Leitgeist rufen, doch der Drache ist mittlerweile so nahe, daß ich keinen Ton über die Lippen bringe. Der Grund deiner Seele kehrt sich an die Oberfläche, behauptet der Extrasinn. Ich verstehe nicht, was er damit ausdrücken will; wenn er jedoch meint, daß ich Furcht empfinde, dann hat er recht. Du solltest vor dir selbst Angst haben! Der Drache greift erneut an. Stinkender Atem schlägt mir entgegen. Übelkeit überkommt mich, während ich mich taumelnd aufraffe. Die Bestie folgt mir unerbittlich. Jeden Augenblick kann ich ihren Feueratem im Nacken spüren. Du bist zu verkrampft, meint der Extrasinn. So wirst du niemals gewinnen.
Dabei will ich keinen Kampf, weil mir klar ist, daß ich nur mit dem Messer keine Chance habe. Ich beginne zu rennen, so schnell meine Füße mich tragen. Panik kommt in mir auf – ein Gefühl, das ich bisher nicht kannte. Du fliehst vor dir selbst! behauptet der Logiksektor. Will er allen Ernstes, daß ich mich stelle? Noch hundert Meter trennen mich von dem Bauwerk, das ohnehin mein Ziel war. Hundert Meter, die zur Ewigkeit werden können. Eine Unachtsamkeit läßt mich straucheln. Ich stürze, strecke spontan die Hände vor, um mich abzufangen. Bevor ich wieder auf die Beine komme, schiebt sich ein mächtiger Leib über mich. Dabei habe ich das Gefühl, als würde unsichtbare Bande meinen Brustkorb einschnüren. Ich kann nur noch krampfhaft schlucken. Dir geschieht nichts, behauptete der Extrasinn mit einer solchen Überzeugung, daß ich ihm fast Glauben schenke. Doch schon ruckt einer der beiden Köpfe herab, und ein geiferndes Maul schließt sich um meinen Unterleib. Komm endlich zu dir, Atlan! Der Extrasinn scheint nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. Für mich ist eine völlig neue Erkenntnis, daß auch mein zweites Ich Angst um seine Existenz haben kann. Du mußt dich selbst überwinden. Ich verstehe nicht, worauf er anspielt. Bestialischer Gestank läßt mich würgen. Warum greift Leitgeist nicht endlich ein? Ich weiß nicht, was du meinst, meldet sich der Mini. Da ist keine reale Gefahr. Zweifel … Unsicherheit … das sind im Augenblick die mich beherrschenden Gefühle. Aber auch Furcht, die mich unschlüssig macht. Viel zu zaghaft setze ich mich zur Wehr. Doch ich kann nicht einmal mehr das Messer erreichen, weil mein rechter Arm festgeklemmt ist. Du Narr! schimpft der Logiksektor. Wo bleibt dein Blick für die
Realität? Ein fremder Einfluß hindert mich daran, über die Bemerkung nachzudenken. Ich spüre, daß ich nicht mehr Herr meiner selbst bin. Endlich erkennst du es. Aber da ist noch etwas. Von einem Augenblick zum anderen werde ich von einem hellen Leuchten eingehüllt. Beruhigende Impulse strömen von allen Seiten auf mich ein. Die beiden Mäuler des Drachen schnappen zu. Gegen die fingerlangen Reißzähne habe ich keine Chance. Doch schlagartig ist alles anders; ich finde mich unter dem rauschenden Blätterdach halbhoher Laubbäume wieder. Ungefähr fünfhundert Meter von dem Gebäude entfernt, in dessen unmittelbarer Nähe ich mich eben befand. Warme, wohltuende Gedanken überlagern meine eigenen Überlegungen. Es ist der helle Kern, der zu mir spricht, und er zeigt sich mir als weiter angewachsenes, leuchtendes Ei. Allerdings stabilisiert sich diese Erscheinung nicht vollständig. Ich habe mich in große Gefahr begeben, nur um dir zu helfen, vernehme ich vorwurfsvoll. Aber ich schulde dir diesen Dank. »Warte!« rufe ich schnell, weil ich den Eindruck habe, daß die Erscheinung rasch verblaßt. »Ich muß wissen, was auf der Basis des Ersten Zählers geschieht.« Nichts, worauf du Einfluß nehmen könntest, Atlan. »Das ist mir zu wenig.« Ich mußte dich vor dir selbst beschützen. Der Wächter, dessen Existenz mir fremd war, ist stark. Der Zusammenhang, den der helle Kern hier offenbar sieht, bleibt mir leider verborgen. Vergebens warte ich auf eine diesbezügliche Feststellung meines Extrahirns. Immerhin erkenne ich, daß auch der Kern voller Zweifel steckt. Ist trotz aller Stärke Furcht vor Anti-ES die ihn beherrschende Empfindung? Nenne mich nicht immer Kern. Das erinnert nur an die Zeit meiner
Unfreiheit. »Besitzt du einen Namen?« frage ich. Das inzwischen knapp vier Meter hohe Ei erstrahlt eine Nuance heller. Ich bin Born, läßt es mich wissen. Der Begriff erzeugt vertraute Assoziationen, von »geborgen« bis hin zur Umschreibung für eine bestimmte Art von »Quelle«. Oder gibt es eine gänzlich andere Bedeutung? Ein heftiger Impuls läßt mich erkennen, daß Born nicht mehr lange bleiben kann. Er befindet sich auf der Flucht. »Vor Anti-ES?« Ja, es ist, wie du vermutest. Das Wesen aus dem Planetoiden war wirklich Anti-ES. Und ich bin ein Teil von ihm, genauer gesagt ungefähr ein Hundertstel. »Aber du bist nicht wie Anti-ES …« Unruhig bewegt das Ei sich hin und her. Schließlich kommt es unmittelbar neben einem Baum zur Ruhe. Du sollst wissen, was ich bin, Atlan, obwohl ich befürchte, daß du dies alles sehr bald wieder vergessen haben wirst. »Ich verfüge über ein photographisches Gedächtnis, das keine noch so unbedeutende Kleinigkeit vergißt.« Born reagiert nicht auf meinen Einwand. Früher, als Anti-ES in die Verbannung geschickt wurde, gab es mich noch nicht. Erst im Lauf der letzten Zeiteinheiten bin ich langsam in ihm herangereift. Doch hat Anti-ES mich stets und mit Leichtigkeit unterdrückt. »Dann bist du in der Tat so etwas wie ein positiver Ableger der Superintelligenz, ihr Kind …« Kein Kind! Ich bin ein reales Fragment von Anti-ES! Der Einwurf zeigt mir, daß Born tatsächlich Furcht empfindet. Ich danke dir, daß du mir durch dein Eingreifen zur Freiheit verholfen hast. Jedoch wäre diese Tat ohne die Miniaturisierer niemals möglich gewesen.
Ich muß dich aber auch warnen, obwohl ich längst nicht alle Möglichkeiten kenne, die Anti-ES besitzt. Es wird versuchen, mich ihm wieder einzuverleiben und dich anschließend erneut zu seiner Geisel zu machen. Deshalb muß ich mich noch verbergen, Atlan, bis ich kräftig genug bin, um … Schlagartig endet die Gedankenflut, die zuletzt immer hektischer geworden war. Von einem Lidschlag zum anderen wird Born unsichtbar. Trotzdem bin ich nicht allein. Leitgeist schwebt neben mir. Für wenige Sekunden zerreißt ein vielfach verästelter Blitz die endlose Schwärze über der Basis des Ersten Zählers. Vergeblich warte ich auf einen dröhnenden Donner, der das Land erzittern läßt. Aber das sind fremdartige Energien, die im Zenit aufeinandertreffen. Ich beginne zu ahnen, daß sich ein flüchtiger Kampf abgespielt hat, eine Begegnung zweier unbegreiflicher Wesenheiten. Und ich hoffe, daß Born seine Freiheit behält.
* Noch während ich sinnend aufblicke, ertönt hinter mir ein bedrohliches Knurren. Zugleich vernehme ich langgezogenes Wolfsgeheul von jenseits des Wäldchens. Ein Schatten huscht heran. Die Wucht des Aufpralls wirft mich von den Beinen. Schon ist das Tier über mir – ein prächtiger Wolf mit pechschwarzem Fell und glühenden Lichtern, die Lefzen hochgezogen und so seine blutigen Reißzähne zeigend. Ich spüre den heißen Atem auf meiner Haut und ziehe die Knie an, um das Tier von mir zu stoßen. Aber es ist schneller und springt mit einem Satz über mich hinweg, allerdings nur, um sofort herumzufahren und erneut anzugreifen. Mir bleibt keine Zeit, auf die Beine zu kommen. Mit den Armen versuche ich, den Wolf abzuwehren und entgehe dabei nur knapp
den zuschnappenden Fängen. »Deine Frist ist abgelaufen …« Ich weiß nicht, ob ich diese Stimme wirklich höre; sie scheint aber nicht nur telepathischer Natur zu sein. Eher erzeugt das Rauschen des Windes im Blätterdach diese Laute. Auch das Erdreich flüstert. Das ist Unsinn, behauptet der Extrasinn. Ineinander verkrallt, wälzen wir uns über den Boden. Immer wieder versucht der Wolf, nach mir zu schnappen, nur habe ich nun seinen Unterkiefer fest im Griff und biege seinen Kopf weit in den Nacken zurück. Wieder ertönt das langgezogene Heulen. Aus allernächster Nähe diesmal. Plötzlich läßt der Wolf von mir ab und verschwindet pfeilschnell zwischen den Bäumen. Jeden Augenblick rechne ich damit, daß das ganze Rudel auftaucht, aber nichts geschieht. Leitgeist ist nach wie vor bei mir. Ich frage mich, weshalb er nicht eingegriffen hat. Weil das Tier, das du Wolf nennst, sich der Verkleinerung widersetzte, läßt er mich wissen. »Dann ist es keine Nahrung für dich?« Nein, ich glaube nicht. Mein Logiksektor lacht leise. Überraschend weigert er sich, mir den Grund dafür zu nennen. Ich glaube, er weiß selbst nicht, was um uns herum geschieht. Ich mag verwirrt sein, wispert es schließlich in meinen Gedanken. Aber du bist mit Blindheit geschlagen.
* Ich kann nur schätzen, wie lange ich mich inzwischen auf der Basis des Ersten Zählers befinde. Es gibt keine Anhaltspunkte, nach denen sich der Zeitlauf bestimmen ließe. Ein ganzer Tag ist es jedoch mit
Sicherheit. Rechterhand, nicht allzuweit entfernt, lodert ein unwirkliches Feuer. Rosafarbene und grüne Magma aus dem Krater eines brodelnden Vulkans. Von dort scheint auch ein Großteil der Helligkeit auszugehen, die alles überflutet. Es gibt keine Schatten auf der Basis des Ersten Zählers. Leider kann ich von meinem jetzigen Standort nicht allzuviel erkennen. Aber es ist egal, wohin ich mich wende. Jedes Ziel erscheint mir mittlerweile ebenso wenig erfolgversprechend wie das andere. Der Untergrund wird morastiger. Seltsam, wenn ich mir vorstelle, daß vielleicht schon in einer Tiefe von nur einem Meter blanker Stahl das Erdreich ablöst. Meine Stiefel hinterlassen zentimetertiefe Eindrücke, die sich rasch mit brackigem Wasser füllen. Der Pflanzenwuchs wird üppiger. Schlinggewächse kriechen über den Boden; zwischen ihren dicken, handflächengroßen Blättern verbergen sich unzählige kleine Tiere, die bei meiner Annäherung sofort die Flucht ergreifen. Dichtes Unterholz schließt sich an, das schon nach wenigen Metern in dschungelähnliche Vegetation übergeht. Der Geruch nasser Erde und faulenden Holzes liegt drückend über diesem Abschnitt. Es fällt mir schwer, vorwärts zu kommen. Ein Mangrovenwald ist diesem Dickicht noch am ehesten vergleichbar. Ein schier undurchdringlicher Vorhang aus Lianen und Luftwurzeln beschränkt die Sicht auf höchstens zwei Meter. Mehr zufällig entdecke ich eine Ansammlung kleiner bleicher Pilze. Zweifellos sind sie von derselben Art wie jene, mit denen ich bereits unliebsame Bekanntschaft geschlossen habe. So weit wie möglich weiche ich ihnen deshalb aus. Du wirst beobachtet, raunt der Extrasinn. Tatsächlich kann ich mich einer gewissen inneren Anspannung nicht erwehren. Für mich geht es darum, mit dem oder den
Unbekannten, die auf der Basis leben, in Verbindung zu treten. Schließlich komme ich nicht mehr weiter. Zu dicht sind die Pflanzen miteinander verwuchert. Sogar mit dem Messer eine Bresche zu schlagen, erscheint aussichtslos. Leitgeist muß mir helfen. Er hat sich zur kaum faustgroßen Kugel zusammengezogen und schwebt wie glitzernder Nebel inmitten dichtem Geäst. Sein anfänglicher Tatendrang weicht allmählich tiefer Verzweiflung, behauptet der Logiksektor. Und wenn der Mini erst erkannt hat, daß er für immer allein ist, wird diese Verzweiflung sogar in Haß umschlagen. Ich weiß keine Erwiderung darauf. Die Zeit wird zeigen, wie Leitgeist wirklich reagiert. Noch steht er jedenfalls auf meiner Seite, und die ersten Äste verschwinden, wie von Geisterhand fortgezaubert. Eine Lücke entsteht, durch die ich das unwirkliche Leuchten sehen kann. Vor mir zersplittern plötzlich mannsdicke Stämme. Ein schwarzer Schatten schiebt sich heran, sein drohendes Fauchen läßt mich erstarren. Das Messer in der Rechten warte ich darauf, daß der Panther angreift. Ich komme mir lächerlich vor. Ein Tier, das kräftig genug ist, Bäume zu entwurzeln, wird von einer nur eine Handspanne langen Klinge nicht zurückschrecken. Der gut einen Meter messende Schweif peitscht das Erdreich. Zwei der vier kräftigen Beinpaare stemmen sich gegen den Boden. Überdeutlich kann ich das Spiel der Muskeln erkennen und weiß, daß der Panther jeden Moment springen wird. Einen flüchtigen Augenblick vorher verengen sich seine Lichter; ich bin gewarnt. Instinktiv lasse ich mich fallen, während meine Hand mit dem Messer hochstößt. Ich fühle Widerstand, ein heftiger Ruck kugelt mir fast das Schultergelenk aus. Der Schmerz läßt mich aufstöhnen, während mein Arm wie gelähmt herabsinkt. Die Finger sind taub, das Messer ist ihnen entglitten. Eine Fleischwunde quer über den Handrücken blutet heftig.
Das Tier ist unangreifbar, gibt Leitgeist telepathisch zu verstehen. Ich kann dir nicht helfen. Auge in Auge stehen wir uns gegenüber. Mir scheint, daß der schwarze Panther spöttisch grinst, aber das ist wohl nur Einbildung. Auf jeden Fall hält er mein Messer zwischen den Zähnen, und als er kräftig zubeißt, zersplittert der gehärtete Stahl wie dünnes Holz. Abermals wird ein drohendes Knurren hörbar. Das Tier belauert mich, verstellt mir den Weg, als wisse es genau, wohin ich mich wenden wollte. Deutlicher könnte es mir gar nicht zeigen, daß ich hier unerwünscht bin. Ist es intelligent? Ausschließen kann ich das nicht, es besteht aber ebenso die Möglichkeit, daß es aus einem bestimmten Instinkt heraus so handelt. Vielleicht bin ich, ohne es zu wissen, seinem Bau zu nahe gekommen. »Was willst du von mir?« frage ich leise und bemüht, jedes Zittern meiner Stimme zu vermeiden. Der schwarze Panther legt den Kopf schräg, als lausche er. Gleich darauf schlägt er zornig fauchend mit zwei seiner Tatzen nach mir. Mir bleibt keine andere Wahl, als zurückzuweichen. Dabei ist mir unerklärlich, weshalb das Tier noch nicht über mich hergefallen ist. Ich will die Sache aber auch nicht auf die Spitze treiben. Rückwärts gehend, lasse ich den Panther nicht eine Sekunde lang aus den Augen, der lauernd jede meiner Bewegungen verfolgt.
6. Ich habe das Dickicht kaum verlassen, als heisere Schreie eine neue Gefahr ankündigen. Der Schwarm Vögel stößt wieder auf mich herab. Den zupackenden Fängen und nach mir hackenden Schnäbeln entgehe ich nur, weil ich mich instinktiv ins Gestrüpp fallen lasse. Vorübergehend bildet sich ein Gewirr aus Schwingen und gierig vorgereckten nackten Hälsen über mir. Das Krächzen
übertönt jedes andere Geräusch. Nun habe ich es endgültig satt, nur herumgestoßen zu werden. Eine unbändige Wut steigt in mir auf. Ich werde jetzt weder auf Vorhaltungen des Extrasinns noch auf irgendwelche Konventionen achten, die auf dieser Welt allem Anschein nach überflüssig sind. Ich will endlich wissen, was gespielt wird, und das erfahre ich wohl nur, wenn ich die Initiative ergreife. Entschlossen packe ich zu, bekomme einen hornigen Fang zu fassen und ziehe den sich heftig sträubenden Vogel zu mir herab. Federn stieben auf, als ich ihm mit einem schnellen Griff den Kopf umdrehe. Die anderen Tiere scheinen zu spüren, was geschieht. Jedenfalls steigen sie so hoch, daß ich sie kaum noch erreichen kann. Sie verhalten sich abwartend. Zwischen dem üppigen Wurzelwerk ragen scharfkantige Steine aus der Erde. Es gelingt mir, einige davon zu lösen. Der erste Wurf geht fehl, der zweite aber trifft, und kreischend stürzt einer der Vögel ins Dickicht. Augenblicke später wird der noch aus zwölf Tieren bestehende Schwarm von einem irrlichternden Glitzern eingehüllt. Das muß Leitgeist sein, auch wenn ich nicht verstehe, wieso er mit einemmal fast ins Riesenhafte angewachsen ist. Der Geist vermag vieles, vernehme ich seine gedankliche Stimme. Was du jetzt wahrnimmst, ist nur ein Teil meiner Existenz. Wir Geschöpfe der Namenlosen Zone bilden eine beständige Einheit von Geist, Energie und Materie. Die Vögel werden zusehends kleiner. Schon nach wenigen Augenblicken bedeuten sie keine Gefahr mehr. Leitgeist zieht sich ebenfalls wieder zu seiner ursprünglichen Größe zusammen und schwebt auf mich zu. Ich strecke die Handflächen aus, und die Zusammenballung dreier bräunlich schimmernder Materieanteile, umgeben von einem eigentümlichen Flimmern, in dem sich die ganze Unendlichkeit der Schöpfung auszudrücken scheint, läßt sich
herabsinken. Wärme durchpulst mich – ich verspüre Zuneigung zu diesem geradezu unbegreiflich fremdartigen Geschöpf. Wie gerne würde ich mehr über den Mini in Erfahrung bringen. Kann er mir helfen, die Materiequelle und damit den Weg zu den Kosmokraten zu finden? Vielleicht … läßt er mich wissen. Jene, die du Kosmokraten nennst, sind Gegner von Anti-ES? Hofft Leitgeist, Rache nehmen zu können? Er durchschaut meine geheimsten Gedanken. Irgendwann werden unsere Wege uns trennen, meint er. Dann werde ich allein sein und einsam. Und Einsamkeit tötet. Falls es noch irgendwo welche von deiner Art gibt … …sind sie dennoch unerreichbar für mich, denn dann leben sie in einer anderen Region der Namenlosen Zone. Nein, Atlan, die Vernichtung des Pulks hat auch mein Schicksal besiegelt. Leitgeist schweigt wieder, während ich eigenen Gedanken nachhänge. Die Basis des Ersten Zählers birgt ein Geheimnis, das ich herausfinden muß. Zögernd blicke ich mich um. Endlich habe ich Nahrung gefunden, teilt der Mini mir mit. Es ist bedauerlich, daß keiner des Pulks das noch erleben durfte. Er löst sich von meinen Händen und schwebt langsam zu den Büschen zurück, bei denen die Kadaver der beiden Vögel liegen. Eine Weile verharrt er, dann dringt sein Glitzern in das Dickicht ein. Blendende Helligkeit flammt zwischen den Ästen auf. Im ersten Schreck befürchte ich eine atomare Reaktion, aber schon erreichen mich beruhigende Impulse. Leitgeist hat gefunden, wonach er suchte. Ich muß die Augen mit den Handflächen abschirmen, doch die Lichtflut bricht auch zwischen den Fingern hindurch. Als der Mini wieder aufsteigt, sind die Kadaver verschwunden. Schlagartig sehe ich Leitgeist mit anderen Augen. Aufgrund seines Verhaltens ist anzunehmen, daß die Miniaturisierer nichts anderes sind als eine Art »Müllabfuhr« oder
»Abfallsvernichtungseinrichtung« der Namenlosen Zone. Deine Gedanken beinhalten etwas Abwertendes, vernehme ich die lautlose Stimme. Ich erschrecke. Eigentlich mehr über mich selbst als über Leitgeists Tadel. Immerhin hat jedes Lebewesen seine Daseinsberechtigung, egal, welchem Zweck es dient. Du glaubst wirklich, ich sei so etwas wie ein Aasgeier? Der Vergleich ist sicher unzutreffend, wenngleich er mir als erstes in den Sinn kam. Zweifel an Leitgeists Intelligenz sind völlig unberechtigt; womöglich ist die Namenlose Zone auf Wesen wie ihn angewiesen. Ist das der Sinn meines Daseins? werde ich gefragt. Habe ich dafür gelebt, ohne es zu wissen? Wieder ertönt Wolfsgeheul aus allernächster Nähe. Die Tiere haben mich eingekreist. Leitgeist macht mich auf eine annähernd runde Bodensenke aufmerksam, über der die Luft flimmert. Ich kann nicht erkennen, bis in welche Tiefe sie reicht, doch ist sie kaum natürlichen Ursprungs. Möglicherweise finde ich dort einen Weg ins Innere der Basis. Wovor fliehst du? erkundigt sich der Extrasinn spöttisch. Hast du vergessen, daß die Wölfe keine Nahrung für Leitgeist sind? Weil sie noch leben, gebe ich gereizt zurück. Dich konnte er auch verkleinern. Das ist etwas anderes … Willst du nicht begreifen – oder kannst du nicht? Leitgeist vermag nur Materie zu beeinflussen. Der Extrasinn übersieht dabei, daß auch Anti-ES diesem Einfluß unterlag, und die verbannte Superintelligenz besitzt offenbar keinen materiellen Körper. Atlan, erklingt es mahnend. Du irrst… Ich will nichts mehr hören und schreite zügig aus. Nicht weit entfernt sehe ich mehrere Wölfe. Sie sammeln sich.
Dichtes, blühendes Moos bedeckt den Boden wie ein federnder Teppich. Bedeutet dies, daß höhere Pflanzen hier wegen einer zu dünnen Krume nicht wurzeln können? Das würde meine Vermutung, einen Zugang zum eigentlichen Raumschiff gefunden zu haben, erhärten. Als ich die Senke erreiche, zähle ich bereits acht Wölfe, die rasch näherkommen. Der Schacht ist ungefähr vier Meter tief, die steil abfallenden Wände scheinen aus natürlichem Fels zu bestehen, und am Grund wuchert dürres Gras. Inzwischen habe ich kaum mehr eine andere Wahl, denn das Wolfsrudel besteht aus mindestens zwanzig Tieren. Also lasse ich mich in die Hocke niedersinken, suche nach einem einigermaßen festen Halt und schiebe mich über die Abbruchkante hinaus. Federnd komme ich auf, während von oben die ersten Wölfe zu mir herabblicken. Noch zögern sie, ebenfalls in die Tiefe zu springen, weil ihr Instinkt ihnen sagt, daß es dann keinen Weg zurück gibt. Allerdings weiß ich nicht, wann der Hunger ihre Scheu verdrängen wird.
* Nirgendwo finde ich Anzeichen technischer Einrichtungen. Wo immer ich mit bloßen Händen die Grasnarbe aufreiße, zeigt sich nur feuchtes, lehmiges Erdreich. Langsam beginne ich zu begreifen, daß ich mich selbst in eine Falle hineinmanövriert habe, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Vier Meter über mir fallen die ersten Wölfe übereinander her. Ich fürchte, daß der Blutgeruch sie in Raserei versetzt. Die Sinnlosigkeit meiner Bemühungen wird immer deutlicher. Hier unten scheint es nichts anderes zu geben als Gras, bleiche Pilze und feuchte Erde. Ich habe mich geirrt. »Verschwindet!« rufe ich zu den Wölfen hinauf und versuche, sie
mit wütenden Armbewegungen zu verscheuchen. Einige trotten tatsächlich davon, die anderen antworten mit heiserem Bellen. Seufzend lasse ich mich in die Hocke sinken. Der kühle Fels in meinem Rücken macht mich frösteln. Meine Gedanken rufen nach Born, doch der helle Kern, dem ich zur Freiheit verholfen habe, meldet sich nicht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, bis ich endlich die Vibrationen fühle, die das Gestein erschüttern. Sofort bin ich wieder auf den Beinen, und diesmal finde ich nach einigem Suchen einen haarfeinen Riß, der wahrscheinlich einen geometrisch exakten Kreis darstellt. Das muß der vermutete Zugang zur Basis sein. Von einer Sekunde zur anderen verschwindet der Fels. Ein großer, verwinkelter Raum liegt vor mir. Die nun noch deutlicher gewordenen Vibrationen gehen von fremdartig anmutenden Maschinen aus, über deren Funktion ich nicht einmal Vermutungen anstellen kann. Als würden die Wölfe ahnen, daß die bislang sicher geglaubte Beute zu entkommen droht, springt einer aus dem Rudel hinter mir her. Für mich gibt es nun kein Zögern mehr. Unbemerkt scheint sich beim Eintritt in die Halle ein Energieschirm hinter mir geschlossen zu haben, denn der Wolf wird zurückgeschleudert bei dem Versuch, mir zu folgen. Schmerzerfüllt jaulend klemmt er sich die Rute zwischen die Hinterläufe. Es riecht nach Ozon und kaltem Rauch. Licht aus verborgenen Quellen macht es leicht, die Halle zu überblicken. Irgendwie erweckt das Ganze den Eindruck einer Überwachungsanlage; die jenseitige Wand ist mit Bildschirmen übersät. Ich muß annehmen, daß die Basis des Ersten Zählers tatsächlich verlassen ist, denn nirgendwo zeigt sich Bewegung. Hinter einem ovalen Schaltpult liegt ein Roboterwrack. Teile des Roboters sind wie unter enormer Energieeinwirkung zerschmolzen. Ursprünglich muß er sowohl zwei Arme als auch zwei Beine besessen haben, geblieben sind davon nur verborgene
Stummel. Schon will ich weitergehen, als ein heiseres Krächzen aus dem Innern der Maschine kommt. Es wiederholt sich in kurzen Abständen. Einige Funktionen seines Sprachzentrums sind demnach erhalten geblieben. »Was ist hier geschehen?« frage ich, mehr für Leitgeist bestimmt als für mich selbst. »… geschehen«, kreischt der Roboter. »… ist geschehen.« Vielleicht kann ich mich sogar mit ihm unterhalten, wen er die Grundelemente meiner Sprache begreift. Zumindest muß ich es versuchen. Etliche Minuten vergehen, in denen ich alles erzähle, was mir gerade in den Sinn kommt. Auch Teile des eigens für den ersten Kontakt mit Fremdintelligenzen vorgesehenen Programms. »Genug!« knarrt der Roboter schließlich. »Du Atlan …« »Wo ist der Erste Zähler?« frage ich. »Weiß nicht … Du suchst auch?« Er meint, daß schon vor dir jemand nach dem Ersten Zähler gefragt hat. Nach einer ganzen Weile des Schweigens meldet sich mein Extrasinn mit einer derart unnötigen Feststellung, daß ich nur den Kopf schütteln kann. »Wer außer mir?« will ich von dem Roboter wissen. »Weiß nicht«, erklingt es blechern. »Bin nur ein Diener des Ersten Zählers.« »Ist dieser andere für deine Beschädigung verantwortlich?« Ehe ich eine Antwort erhalte, läßt ein Geräusch mich herumfahren. Ich glaube, meinen Augen nicht zu trauen. Alles habe ich erwartet, nur das nicht. Längst verschüttete Erinnerungen erwachen zu neuem Leben. Wesen wie dieses waren die gefährlichsten Gegner der Arkoniden während der Blütezeit des Großen Imperiums. Unwillkürlich weiche ich einige Schritte zurück. Aber sie sind inzwischen die besten Freunde der Menschheit, seit Rhodan im Jahr 2405 das Beistandsbündnis mit ihnen schloß, behauptet mein
Extrasinn. Ich verstehe nicht, was er damit erreichen will. Haß steigt in mir auf. Wenn ich jetzt eine Waffe hätte …
* Das Wesen ist ein Maahk; auf den breiten, stämmigen Schultern sitzt ein sichelförmiger Kopf. Als seine vier Augen mich erblicken, öffnet er die dünnen, verhornten Lippen und entblößt sein kräftiges Raubtiergebiß. »Arkonide!« faucht er verächtlich. Nur zu gut verstehe ich Kraahmak, die Einheitssprache, deren er sich bedient. Es ist unwichtig, wie er hierher gelangte, denn ich weiß, daß ich ihn besiegen muß. Er oder ich – eine andere Alternative gibt es nicht. Atlan, schreit mein Extrasinn. In welcher Zeit lebst du? Zum Glück schweigt er wieder, als ich ihn mit einem nicht eben feinen Ausdruck bedenke. Ich benötige eine Waffe. Aber da ist nichts, was sich als solche verwenden ließe, nur ein loses Verkleidungsteil des Roboters. Mit Wucht schleudere ich es dem Maahk entgegen, doch der entgeht dem scharfkantigen Geschoß durch eine geschickte Drehung. Maahks sind an hohe Schwerkrafteinflüsse gewöhnt und trotz ihrer plump wirkenden Gestalt schnell und beweglich. Ich fürchte, daß ich tatsächlich wider alle Vernunft handle. Aber ich kann nicht anders. Irgendwie fühle ich wie im Traum, als wäre ich selbst nur als Randperson an den Ereignissen beteiligt. Es ist, als liege über meinem Handeln dichter Nebel, den zu durchstoßen mir unmöglich ist. Oder fehlt mir nur der Wille dazu? Ich weiß nichts. Meine Gedanken bewegen sich im Kreis. Ein vertrautes Antlitz erscheint vor meinem geistigen Auge: Perry
Rhodan, den ich selbst kurz vor meinem Aufbruch zu den Kosmokraten noch für den größten Feind in meiner Vergangenheit, Orbanaschol, hielt. Auch die Maahks waren Todfeinde des arkonidischen Imperiums … Ich schlage diese Gedankenbrücke, ohne richtig zu verstehen, weshalb. Man kann beides nicht miteinander vergleichen. Oder doch? Werde ich beeinflußt, ohne es wahrzunehmen? Der Maahk kommt näher. Auch er ist waffenlos, nur darf ich die Kraft nicht unterschätzen, die in seinen biegsamen Armen steckt. Zögernd weiche ich zurück und bringe eines der größeren Aggregate zwischen uns. Der Methanatmer läßt sich davon nicht aufhalten, sondern schreitet mitten durch die Maschine hindurch. Für einige Sekunden verwischen sich seine Umrisse, dann steht er wieder vor mir. Seine sechsfingrigen Hände zucken heran; ich packe zu, setze zu einem Dagorgriff an, dem er jedoch mühelos widersteht. Weshalb, weiß ich nicht, ich habe keine Erklärung dafür. Erneut weiche ich aus, bis ich kaltes Metall im Rücken spüre. Eine armdicke Stange gleitet zur Seite, als hätte ich durch die Berührung einen unbekannten Mechanismus in Gang gesetzt. Entschlossen stemme ich mich dagegen, und nachdem ich einen deutlichen Widerstand überwunden habe, halte ich die knapp einen Meter lange Stange in Händen. »Bleib mir vom Leib!« rufe ich dem Maahk zu und hebe zum Zeichen meiner Entschlossenheit die Waffe. Im nächsten Moment wird sie mir von hinten entrissen. Ein zweiter Maahk! Wie er unbemerkt herankommen konnte, ist mir ein Rätsel. Jedenfalls durchschaue ich beider Absicht – sie wollen mich zum Ausgang zurückdrängen. Mir bleibt keine andere Wahl, denn jeder Zeitgewinn ist kostbar. Vielleicht kann Leitgeist mir helfen. Obwohl ich den Eindruck habe, daß der Mini gewachsen ist
(vielleicht infolge der Nahrungsaufnahme), scheint seine besondere Fähigkeit auch bei den Maahks zu versagen. Jetzt habe ich die Felswand wieder erreicht. Vom Innern der Halle her ist das kreisförmige Schott deutlich zu erkennen. Und auch der Öffnungsmechanismus. Trotzdem zögere ich, weil ich weiß, daß draußen die Wölfe auf mich warten. Andererseits sind die Methanatmer fast heran. Ihre Körperschuppen glänzen in der künstlichen Beleuchtung wie flüssiges Silber. Schlagartig weiß ich, daß ich etwas übersehen habe. Aber ein merkwürdig flaues Gefühl ergreift von mir Besitz, als solle ich daran gehindert werden, den Gedanken weiter zu verfolgen. Ist es das, worauf mein Extrasinn mich die ganze Zeit über aufmerksam machen wollte? Ich bin verwirrt. Methanatmer! Schießt es mir durch den Sinn. Die Maahks können nur in einer Atmosphäre aus Wasserstoff, Methan und Ammoniak leben. Sauerstoff ist für sie tödlich. Dennoch tragen sie keine Raumanzüge, die sie davor schützen. Hätte ich nicht bereits den Öffnungsmechanismus betätigt, ich würde es nun nicht mehr tun. Aber so löst sich der Fels auf, während ich mir erst darüber klar werde, daß ich von bloßen Projektionen genarrt wurde. Sechs oder sieben Wölfe haben sich draußen versammelt. Sie greifen sofort an. Auch sie müssen meinem Unterbewußtsein entsprungen sein. Unterliege ich tatsächlich einer äußeren Beeinflussung? Versucht der Wächter der Basis, mich zu schlagen, indem er längst verschüttete Ängste aus meinem Unterbewußtsein empor holt? Dann ergäbe vieles endlich einen Sinn: die scheinbare Verwirrung meines Extrasinns, Leitgeists Versagen … Kaum habe ich das erkannt, fallen Maahks und Wölfe plötzlich übereinander her; mich scheinen sie völlig vergessen zu haben. Zum erstenmal seit Tagen kann ich wieder lachen.
»Wächter!« rufe ich laut, »was hast du nun vor?«
* Die wenigen Pilze, die ich vorhin im Gras fand, sind inzwischen um gut dreißig Zentimeter gewachsen, und ich fürchte, sie sind die einzige reale Gefahr, mit der ich es zu tun habe. Hier unten könnten sie mich erdrücken. Kurz entschlossen trete ich deshalb zu. Einige Kappen zerbrechen unter meinen Stiefeln. Aber ich muß schnell handeln, weil die anderen schlagartig größer werden. Unvermittelt geht ein Ruck durch den Boden, dann steigt dieser langsam in die Höhe. Der Schacht ist demnach nichts anderes als ein einfacher Aufzug, mit dem vermutlich schwere Lasten transportiert werden können. Irgendwie muß ich den Mechanismus ausgelöst haben. Oder will der Wächter nur, daß ich diesen Ort verlasse? Weshalb? Was habe ich getan, das ihm schaden könnte? Die Pilze … Ich glaube kaum, daß sie von besonderem Wert sind. Trotzdem beeile ich mich, wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen, als die Plattform anhält. Nichts hat sich in der Zwischenzeit verändert. Höchstens das seltsame Leuchten am nahen Horizont ist intensiver als zuvor. Obwohl der Zellaktivator belebende Impulse aussendet, fühle ich eine stärker werdende Müdigkeit. Wie lange habe ich nicht mehr geschlafen? Ich weiß es nicht. Ich werde Wache halten, verspricht Leitgeist telepathisch. Mir ist jegliches Ruhebedürfnis fremd. Die Frage bleibt, ob es irgendwo einen Ort gibt, an dem ich vor dem Wächter sicher bin. Drei, vier Stunden Schlaf, mehr benötige ich gewiß nicht, um wieder zu Kräften zu kommen. Nicht allzuweit entfernt erhebt sich ein felsiger Hügel. Wenn mich nicht alles täuscht, sind die dunklen Flecken inmitten des ihn bedeckenden Grün Höhlenöffnungen. Fast automatisch lenke ich
meine Schritte in diese Richtung, die mich dem Rand der Basis nahe bringt. Ich habe mein Ziel noch nicht erreicht, als ein dumpfes Brummen hörbar wird. Im ersten Moment glaube ich an einen sich rasch nähernden Gleiter, dann entdecke ich die düstere, flirrende Wolke, die zweifellos Gefahr verheißt. Sofort werden Assoziationen an die Heuschreckenschwärme wach, die in früheren Jahrhunderten ganze Landstriche auf der Erde kahlgefressen haben. Mit etwas Ähnlichem scheine ich es hier zu tun zu haben. Oder ist das ein erneuter Streich, den mein Unterbewußtsein mir spielt? Ich will es nicht darauf ankommen lassen und nehme lieber die Beine in die Hand, um die schützenden Höhlen zu erreichen. Doch schon schwirrt und flattert es rings um mich her. Ich habe das Gefühl, in einem Meer gepanzerter Leiber zu versinken. Es sind faustgroße, sechsbeinige Tiere, mit Beißzangen und kräftigen Flügelpaaren ausgestattet. Der Lärm, den sie erzeugen, läßt mich fast taub werden. Schmerzhaft prallen sie gegen meinen Körper, ich bin gezwungen, schützend einen Arm über den Kopf zu legen. Mit der anderen Hand schlage ich um mich, ohne irgend etwas zu erreichen. Immer mehr Tiere verbeißen sich in meiner Kombination. Auch auf der Haut verspüre ich ihre unangenehmen Bisse. Mein Pulsschlag beschleunigt sich, vor meinen Augen tanzen mit einemmal farbige Ringe. Dafür gibt es nur eine Erklärung: die Biester sondern Gift ab. Hoffentlich wird der Zellaktivator damit fertig. Der Schwarm ballt sich so dicht zusammen, daß ich in meiner Bewegungsfreiheit immer mehr eingeengt werde. Da dringt ein Glitzern zu mir vor. Zunächst kann ich nicht recht erkennen, was geschieht, dann lichtet sich die Wand aus schwirrenden und beißenden Insekten. Immer mehr von ihnen sinken leblos zu Boden. Dabei besitzen sie kaum noch ein Viertel von ihrer ursprünglichen
Größe. Keine der sechsbeinigen Heuschrecken flieht. Blindlings stürzen sie ins Verderben. Vermutlich liegt es nicht einmal in Leitgeists Absicht, sie zu vernichten, denn als ich einige der Tiere aufhebe, sehe ich, daß ihr Chitinpanzer der Verkleinerung nicht standgehalten hat und an vielen Stellen regelrecht aufgeplatzt ist. Die Bißwunden auf meinen Händen und im Gesicht schwellen rasch an. Ein starkes Gift muß in meinen Körper gelangt sein. Nur so kann ich die Benommenheit erklären, die von mir Besitz ergreift. Aber ich kämpfe dagegen an, so gut es geht. Den Rest muß mein Zellaktivator erledigen, er hat mich bisher stets vor körperlichen Schädigungen bewahrt. Leitgeist schwebt nun unmittelbar über dem von Insektenleibern schwarzen Boden. Er schickt mir freudige Impulse, denn das ist Nahrung für ihn im Überfluß. Nichts bleibt zurück. Selbst die harte Chitinschicht wird aufgelöst. Deutlich erkenne ich, daß der Mini wächst. Nicht einmal mehr einer seiner drei materiellen Körper hätte nun noch in meinen Händen Platz.
* Ich sehe jetzt vieles anders, erklärt er mir. Wir haben unser Ziel erreicht, und ich schicke mich an, eine Geröllhalde hinaufzusteigen, an deren oberem Ende eine enge Höhlenöffnung gähnt. Vielleicht mußte der Pulk vernichtet werden, damit ich mit dir ziehe und endlich Nahrung finde. Ich fühle neue Kräfte in mir wachsen, von denen ich bislang nichts wußte. Ein durch Mark und Bein gehendes Zischen ertönt. Ein schuppenbewehrter Schädel schiebt sich aus der Höhle, und eine rauhe, gespaltene Zunge zuckt mir entgegen. Im ersten Schreck
springe ich zurück, komme auf dem lockeren Geröll ins Straucheln und stürze. Im Nu ist die Echse heran, schiebt sich ruckartig über mich, bevor ich wieder auf die Beine komme. Allein ihr Gewicht drückt mich nieder. Einige Meter entfernt ertönt ein herausfordernder Ruf. Abrupt hebt das Tier den Kopf und antwortet mit abgehackten Lauten. Ein Zittern durchläuft den massigen Körper. Wieder der andere Ruf … Die Echse achtet plötzlich nicht mehr auf mich. Mühsam rolle ich mich zur Seite, um nicht unter ihre krallenbewehrten Pranken zu geraten. Jedes der Tiere ist gut und gern drei Meter lang. Für eine Weile belauern sie einander, versuchen, sich gegenseitig einzuschüchtern. Aber keines will weichen. Woher das zweite so unverhofft kam, weiß ich nicht. Ihre muskulösen Schwänze peitschen das Geröll. Ich ziehe mich weiter zurück. Unmittelbar neben der Höhle ragt eine Felswand mehrere Meter weit steil in die Höhe. Keine der Echsen wird mir da hinauf folgen können. Leitgeist ist verschwunden. Allerdings bin ich überzeugt davon, daß dem Wesen aus Geist, Energie und Materie nichts geschehen kann. Die erste Echse entschließt sich zum Angriff. Mit aufgerissenem Maul stürzt sie sich auf ihr Ebenbild, und beide verbeißen sich ineinander. Im nächsten Moment mißt der Angreifer kaum noch fünfzig Zentimeter, während das andere Tier in einem aufwallenden Leuchten vergeht. »Leitgeist!« rufe ich überrascht aus. Inzwischen bin ich in der Lage, meinen Körper zu nahezu jeder gewünschten Form umzustrukturieren, vernehme ich die lautlose Stimme des Miniaturisierers, während er bereits im Begriff ist, die neue Nahrung aufzulösen. Das habe ich dir zu verdanken. Ich glaube, ich bin dem Sinn meiner Existenz … der einstigen Existenz des ganzen
Pulks, berichtigt er sich,…näher als je zuvor. Als ich mich umwende, steht vor mir ein seltsam anmutendes Geschöpf, das am ehesten einem aufrecht auf fünf Beinen gehenden Seestern ähnelt. Obwohl kaum einen Meter groß und keineswegs gefährlich aussehend, zeigt es keinerlei Furcht. Der von roten Haaren bedeckte Kopf besteht fast nur aus einem weit aufgerissenen Augenpaar, das mich interessiert mustert. Auf Anhieb fühle ich mich zu diesem Wesen hingezogen. Es hebt zwei seiner Arme und verschlingt sie ineinander. Vermutlich eine Geste für Freundschaft. »Ich bin Atlan«, sage ich und tippe mit dem Zeigefinder an meine Brust. Ein Schwall fremdartiger Laute antwortet mir. Darüber hinaus zeigt der braunhäutige Seestern jedoch nicht, daß er verstanden hat, was ich von ihm will. Ich wiederhole meine Geste und füge einige mehr oder minder belanglose Sätze hinzu. Zu meinem Erstaunen antwortet der Seestern daraufhin in einem holprigen, aber bei einiger Mühe durchaus verständlichem Interkosmo. »Fremd, nicht wahr?« »Das bin ich, und ich möchte, daß du mich zum Ersten Zähler führst oder mir zeigst, wo ich den Wächter finden kann.« Er schaut mich aus treuherzigen Augen an, als hätte er nicht das geringste verstanden. »Atlan, Kik, nicht wahr?« »Kik ist dein Name?« »Kik, Atlan.« Der Extrasinn erinnert mich sofort daran, woher ich den Namen kenne. Duusnorz, der überdimensionale Wassertropfen, erwähnte ihn während meines unfreiwilligen Aufenthalts im Grenzwächter Eppletonn. Nach seiner Beschreibung war Kik eine dumme Kreatur mit fünf sehr langen Extremitäten, und er war abgeholt worden. »Ich soll dich grüßen, Kik«, sage ich deshalb. »Von Duusnorz und
Paulau.« Er reagiert in keiner Weise darauf, sondern blickt mich nach wie vor unbewegt an. Allmählich gewinne ich auch den Eindruck, daß er nicht eben übermäßig intelligent ist. »Atlan Angst, nicht wahr?« Das ist es zwar nicht gerade, aber in gewisser Weise hat der Kleine doch recht. »Wächter paß auf, Atlan. Ist überall, nicht wahr?« »Du weißt, wo ich ihn finden kann?« frage ich schnell. »Atlan kennt Wächter.« Diesmal verzichtet der Seestern auf die Hinzufügung von »nicht wahr?«. Ich frage mich, woher er den Ausdruck kennen mag, da ich ihn nicht gebraucht habe. Aber womöglich verfügt auch er über eine geringe telepathische Begabung. Wie sonst hätte er so schnell Begriffe einer ihm fremden Sprache erlernen können? Will er mir klarmachen, daß ich dem Wächter schon begegnet bin? Ich kann mich jedenfalls nicht entsinnen. Kik sagte, er sei überall, erinnert der Logiksektor. Die Pilze? Einen umfassenderen Organismus gibt es kaum. Der Wächter ist überall zugleich und weiß alles, was auf der Basis des Ersten Zählers geschieht. »Ist er auch in der Höhle?« frage ich unwillkürlich. Kik zuckt mit seinen Armen, die zugleich die Funktion von Laufwerkzeugen erfüllen. »Nichts wächst auf Stein«, sagte er. »Nicht wahr?« Ich weiß nun also, wer mein Gegner ist, und die Frage stellt sich, wie ich gegen ihn bestehen kann. Doch zuvor brauche ich Schlaf. Ich fühle mich schlapp und elend, wie nach ein paar durchzechten Nächten. In der Tat muß ich schon seit etlichen Tagen ohne Schlaf ausgekommen sein, wenn nicht einmal die belebenden Impulse des Zellschwingungsaktivators verhindern, daß mir immer öfter die Lider zufallen.
»Atlan, Höhle ist sicher«, bestätigt Kik eifrig. Vor irgendwelchen Tieren brauche ich mich wohl nicht zu fürchten, nachdem die Echse sicher keine Untermieter in ihrer Nähe geduldet hat. Der wandelnde Seestern behauptet, auch später noch für mich da zu sein. Trotzdem verschwindet er, ehe ich ihn zurückhalten kann, zwischen den Felsen. Ich bin so müde, daß ich im Stehen einschlafen könnte. Nur fünf Minuten später habe ich mich unmittelbar hinter dem Höhlengang zusammengerollt. Der nackte Fels stört mich nicht – ich habe schon schlechter gelegen. Leitgeists lautlose Stimme ist das letzte, was ich wahrnehme. Er will mich wecken, sobald Unvorhergesehenes eintritt.
7. Ich erwache von einem schmerzhaften Druck auf mein Rückgrat. Meine Gelenke sind steif, und als ich mühsam hinter mich lange, ertaste ich einen faustgroßen, kantigen Stein. Wütend schleudere ich ihn von mir. Sein Aufprall löst vielfältige Geräusche aus, als würden Dutzende von Steinen bergab ins Rollen kommen. Wo bin ich? Überrascht blicke ich mich um. Da ist nackter, von Moosen überwucherter Fels, und fast zum Greifen nahe vor mir eine enge Öffnung, durch die heller Lichtschein fällt. Ich versuche, mich zu entsinnen, was geschehen ist, aber mir fehlt jede Erinnerung. Das heißt, ich weiß noch, daß ich in Begleitung des Roboters Laire zu den Kosmokraten aufgebrochen bin. Aber wo ist Laire? Habe ich die Materiequelle durchschritten? Ein Wust von Fragen tut sich auf, von denen ich nicht eine einzige beantworten kann. Vielleicht gehört das alles zu einem letzten, abschließenden Test, den die Kosmokraten mit mir durchführen. Ja, so muß es sein. Eine
andere Erklärung habe ich nicht. Als ich die Höhle verlasse, spannt sich über mir ein endloser schwarzer Himmel. Weder Sterne noch die Sonne zeigen sich, trotzdem herrscht angenehme Helligkeit. Zu meinen Füßen erstreckt sich dicht bewaldetes, hügeliges Land, und in der Ferne kann ich ein turmartiges Bauwerk erkennen. Du hast nicht lange geschlafen, Atlan, wispert eine angenehme Stimme. Überrascht wende ich mich um, aber da ist niemand, der zu mir gesprochen haben könnte. Ich bin hier! Ein eigenartiges Flimmern erfüllt die Luft. Es hat annähernd kugelförmige Gestalt und durchmißt gut eineinhalb Meter. Inmitten dieser Erscheinung schweben drei braune, aneinanderklebende Klumpen. »Was bist du?« frage ich. »Oder soll ich lieber sagen: wer bist du?« Die Vermutung, einen Vertreter der Kosmokraten vor mir zu haben, schiebe ich weit weg. Sie habe ich mir wirklich anders vorgestellt. Du erinnerst dich wirklich nicht? hallt es in meinen Gedanken nach. Ich bin Leitgeist, der letzte meines Pulks, ein Miniaturisierer. »Sollte ich dich kennen?« Born hat uns beide auf die Basis des Ersten Zählers gebracht. »Wer ist Born? Und wo ist Laire? Hat der Roboter seinen Auftrag nichterfüllt?« Ich spüre, daß vieles anders ist, als ich es erwartet habe. Mein Gefühl sagt mir, daß ich nicht erst seit wenigen Minuten auf dieser Welt weile. Womöglich sind es bereits Stunden. Aber was ist geschehen, daß ich mein Gedächtnis verloren habe? Es muß mit dem Aufbruch zu den Kosmokraten zusammenhängen, behauptet der Extrasinn. Von da an verliert sich alles im Dunst des Vergessens. »Ist das hier die Basis des Ersten Zählers?« wende ich mich an die irrlichternde Erscheinung und vollführe eine ausschweifende Bewegung.
»Du hast vieles vergessen«, bemerkt Leitgeist anstelle einer Antwort. In deinen Gedanken herrscht Leere. »Dann hilf mir, die Erinnerung wiederzufinden. Wie lange kennen wir uns schon?« Viele Tage deiner Zeitrechnung, Atlan. Vielleicht noch länger. Diese Aussage bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen. Mein Blick fällt auf ein kleines Päckchen, das auf einem Stein unmittelbar neben dem Höhleneingang liegt. »Was ist das?« will ich wissen. Kik hat es gebracht, erwidert Leitgeist. Er meinte, du würdest es brauchen können. »Wer ist Kik?« Der Miniaturisierer beschreibt mir ein Wesen, das in seinem Aussehen wohl einem übergroßen, aufrecht gehenden Seestern ähnelt. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals einem solchen Geschöpf begegnet zu sein. Auch einen gewissen Eppletonn, den Leitgeist erwähnt, kenne ich nicht. Mit zitternden Fingern öffne ich die Verschnürung des Päckchens. Etliche Konzentratwürfel und ein kleiner, aus losen Blättern zusammengehefteter Block sowie ein Schreibstift fallen mir entgegen. Kik vermutete, du könntest Hunger haben. Das ist in der Tat zutreffend. Während ich mir zwei der Nahrungswürfel in den Mund stecke, versuche ich mir vorzustellen, wie und wo ich meinem unbekannten Freund begegnet sein könnte. Die einzelnen Blätter des Blocks sind leer. Meine jäh aufflammende Hoffnung, dieser Kik könnte mir eine Nachricht hinterlassen haben, erweist sich als trügerisch. Vielleicht solltest du Notizen machen, behauptet der Extrasinn. Wozu? Ich weiß nichts, was des Aufschreibens wert wäre. Das ist es eben. Notiere, was du in Erfahrung bringst. »Genausogut kann ich es mir merken.« Vor Erregung spreche ich meine Gedanken laut aus.
Meinst du? Der Extrasinn bleibt gelassen. Diese Annahme basiert auf unvollständiger Logik. Sage mir, was gestern war, und ich akzeptiere deinen Einwand. Ich kann es nicht. Für mich ist gestern identisch mit den letzten Vorbereitungen zum Aufbruch. Danach war nichts mehr. Danach muß so vieles gewesen sein … Ein erschreckender Gedanke ergreift von mit Besitz: Glaubt Kik, ich würde erneut alles vergessen? Ich muß mich förmlich zu anderen Überlegungen zwingen, denn das ist ein Teufelskreis. Ähnlich wie die Geschichte von dem Zeitreisenden, der in die Vergangenheit geht und versehentlich seinen Großvater tötet. Folglich wird er nie gezeugt, kann, da er nicht existiert, seinen Ahnen nicht umbringen, wird also doch geboren und … Soll ich dir helfen? fragt Leitgeist. Sein Funkeln und Gleißen ist wie eine stumme Verheißung. Ich habe das Gefühl, daß wir beide schon sehr lange zusammen sind. Wir begegneten uns auf dem Planetoiden von Anti-ES. Der Name läßt mich zusammenzucken. Aber ich kann mich soweit beherrschen, daß ich Leitgeist nicht unterbreche. Nach und nach erfahre ich alles, was er von mir weiß und was wir gemeinsam erlebt haben. Ich befinde mich also in der Namenlosen Zone, die keinesfalls mit dem Lebensraum der Kosmokraten identisch ist. Anti-ES muß es irgendwie gelungen sein, mich abzufangen, ich wiederum konnte mit Hilfe der Miniaturisierer und dem von mir befreiten hellen Kern, der sich Born nennt und wohl ein positives Bruchstück von Anti-ES ist, fliehen. Vermutlich während ich schlief, muß ich mein Gedächtnis verloren haben. Jedenfalls gelangt Leitgeist zu diesem Schluß. Das würde auch Kiks Fürsorge erklären. Selbst wenn ich mich noch so sehr dagegen sträube, irgendwann muß ich wieder schlafen. Mich fröstelt bei dem Gedanken, daß ich dann erneut ohne
Erinnerung aufwachen werde. Mag sein, daß der Wächter Schuld daran hat, vermutet Leitgeist, von dem ich inzwischen weiß, daß er telepathische Fähigkeiten besitzt. Atlan, Kik hat gesagt, wenn du alles erfahren hast, soll ich dir das zeigen. Aber erst dann, denn sonst wäre es sinnlos, dir helfen zu wollen. Aus dem Glitzern, das wie ein immer neu aufflammender Lichterreigen ist, schält sich ein lederartiges Behältnis heraus. Ohne zu zögern, greife ich zu. Es ist ein einfaches, nur mit einer Schnur verschlossenes Säckchen. Sein Inhalt sind sechs faustgroße, sechsbeinige, geflügelte Insekten. Leitgeist hat sie mir vorhin beschrieben. Tiere wie diese haben uns vorhin angegriffen. Vermutlich sondern ihre Beißzangen ein starkes, lähmendes Gift ab. Was soll ich damit? Es gibt nur eine Erklärung, die jedoch nicht minder phantastisch als logisch erscheint: diese sechs toten Tiere werden mir helfen, den Wächter zu besiegen.
* Das Pilzmyzel ist überall, warnt der Extrasinn, während ich die sanft abfallende Geröllhalde hinuntereile. Du solltest nichts überstürzen. Doch was weiß er schon von den Gefühlen eines alten Arkoniden, der überraschend feststellen muß, daß man ihn um einen Teil seiner Erinnerung betrogen hat. Kniehohes Gras löst das Geröll ab. Ich sehe Bäume, wie ich sie in dieser Form und Farbe nie vorher zu Gesicht bekommen habe. Sie wirken wie flammende Säulen; eine üppige Blütenpracht ruft diesen Eindruck hervor. Da ist noch etwas … Überrascht bleibe ich stehen. Keine zehn Meter vor mir schwebt ein durchscheinendes, eiförmiges Gebilde, das gut doppelt so groß
ist wie ich. Seine Oberfläche besteht aus unzähligen nahtlos aneinandergefügten Sechsecken. Das ist Born! erklärt Leitgeist. Viele Fragen brennen mir auf der Zunge. Doch bevor ich auch nur eine davon aussprechen kann, erreicht mich ein starker telepathischer Impuls. Dafür ist keine Zeit. Ich bin gekommen, um dich zu warnen, Atlan. AntiES ist mit dem größten Teil seines Ichs auf dem Weg hierher. Wie soll ich das verstehen? Ehe ich über das Gesagte nachdenken kann, fährt Born in seiner Erklärung fort: Ganz kann Anti-ES ohne Einwilligung der Kosmokraten den Ort seiner Verbannung nicht verlassen. Auch muß es sich immer wieder in seiner Gesamtheit auf den Planetoiden zurückziehen. Bisher fiel es mir leicht, seinem Zugriff zu entgehen, weil nur ein geringer Bruchteil seine Existenz den Weg zur Basis gefunden hatte. Aber nun wird Anti-ES auch dich wieder als Geisel nehmen. Außerdem fürchte ich um den Ersten Zähler, der gewiß nicht ahnt, was ihn hier erwartet. Dort, wo der die Basis umgebende Energieschirm mit der Schwärze der Namenlosen Zone zusammentrifft, entsteht ein nebelartiges Wallen. Zum erstenmal habe ich den Eindruck, daß flüchtige Schatten über das Land huschen. Ein Hauch von Kälte streift mich. Auch Born spürt die Veränderung. Anti-ES ist näher, als ich dachte. Sieh dich vor, Atlan, denn noch bin ich zu schwach, um dir beizustehen. Du mußt deinen Weg allein gehen. Im nächsten Moment ist er verschwunden, hat sich praktisch in Nichts aufgelöst. »Born«, rufe ich, allerdings vergeblich. Du wirst ihn nicht finden, behauptet mein Logiksektor. Born ist endgültig vor dem herannahenden Anti-ES geflohen. Er hat sich auf der Basis des Ersten Zählers versteckt und dabei bestens getarnt. Wenn einer die Möglichkeiten der Superintelligenz kennt, dann er. Einen Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme habe ich nicht.
Aber es spricht sehr viel dafür. Unwillkürlich taste ich nach dem Block und dem Schreibstift, die ich beide in einer Tasche meiner Kombination verstaut habe. Meine Finger zittern, als ich zu schreiben beginne. Born ist mein Freund, lese ich dann. Warum ich gerade diesen Satz zu Papier gebracht habe, ist mir unklar. Aber irgendwie muß ich wissen, wem ich vertrauen darf, falls ich wieder das Gedächtnis verliere. Born ist ein Teil von Anti-ES …
* Wir nähern uns dem ungefähren Mittelpunkt des Geländes, der in der Nähe seltsamer Bauten liegt. Das große, kastenförmige Gebäude haben wir umgangen. Ein kleiner See erstreckt sich vor mir – seine Oberfläche ist bleiern. Auf den ersten Blick wirkt sie tatsächlich wie geschmolzenes Metall. Bis an den Uferrand reicht eine üppige, blütenreiche Vegetation. Winzige, in allen Farben des Regenbogens schillernde Insekten schwärmen zu Tausenden umher. Ich betrachte sie mit gemischten Gefühlen, muß ich doch befürchten, daß ihre Gleichgültigkeit mir gegenüber sich schlagartig ändern kann. Sie werden dir nichts anhaben, wispert Leitgeist. Gleich darauf schickt er mir einen überraschten Impuls. Da er hoch über mir schwebt, muß er etwas entdeckt haben, was meinen Sinnen noch verborgen bleibt. Halte dich links, Atlan. Mehr verrät er nicht. Ein schmales Rinnsal kreuzt meinen Weg. Es ist Wasser, das den See verläßt und vermutlich irgendwo im Erdreich versickert, um an anderer Stelle erneut an die Oberfläche gepumpt zu werden. Ich schreite einfach hindurch, wie auch durch das anschließende Buschwerk. Doch dann bleibe ich unvermittelt stehen. Vor mir, am Rand einer Lichtung, ragt ein gut einen Meter
messender Pilz auf. Das Summen der Insekten wird lauter. In dem Moment achte ich kaum darauf. Ich sehe zwei weitere Pilze, jeder fast genau fünf Meter von dem anderen entfernt. Ein flüchtiger Rundblick zeigt mir, daß es insgesamt sechs bleiche Fruchtkörper gibt, die zusammen einen Kreis bilden. Das kann kein Zufall sein. Mir wird klar, daß Leitgeist mich mehr oder weniger unauffällig an diesen Ort geführt hat, weil er mir stets einige Meter voraus war. »Woher wußtest du …?« Kik bat mich … Weiter kommt der Miniaturisierer mit seiner Erklärung nicht. Es ist, als erwache die Natur ringsum zu geradezu unheimlichem Leben. Von allen Seiten schwirren die Insekten herbei, im Gebüsch raschelt es, und Tiere, die ich vorher nicht zu Gesicht bekommen habe, brechen daraus hervor. Mit unverständlicher Wildheit greifen sie mich an. Manches Krallenpaar rutscht an meinen Stiefeln ab, doch es werden immer mehr Angreifer, die an mir hochspringen. Leitgeist ist jetzt ganz nahe. Sein Glitzern hält zumindest die Insekten fern. Ich brauche keinen weiteren Beweis, um zu wissen, daß ich den Wächter gefunden habe. Geh! hämmert es in meinem Schädel. Ein schmerzhaftes Ziehen strahlt von den Schläfen bis weit in den Nacken aus. Ich habe den Eindruck, wie ein Betrunkener herumzutorkeln. Aber mein Extrasinn behauptet, ich würde dastehen wie angewurzelt. Sechs Pilze … Und sechs giftige Tiere trage ich in dem ledernen Beutel bei mir. Ein Dummkopf, dem der Zusammenhang verborgen bleibt. Vor meinen Augen verschwimmt alles. Mühsam taste ich mich vorwärts. Leitgeist will mich beruhigen. Es ist, als müsse ich gegen einen mentalen Orkan ankämpfen, der über mich hereinbricht. Blindlings schlage ich um mich.
Bleischwer wird mein Arm, als ich das erste der sechsbeinigen Tiere, das sich nur zaghaft bewegt, auf die Pilzkappe werfe, der ich am nächsten bin. Sofort verbeißt es sich, doch kann ich keine Reaktion erkennen. Fünf Meter weiter steht der nächste! schießt es mir durch den Sinn. Ich kann nicht beschreiben, wie mir zumute ist, als würde mein Innerstes nach außen gekehrt. Ich stolpere vorwärts, während um mich her ein wahres Chaos im Entstehen begriffen ist. Der zweite Pilz … Ein Maahk stellt sich mir entgegen, aber er ist nicht viel mehr als ein Schemen, den ich mühelos durchschreite. Entweder bin ich inzwischen gegen diese Art der Beeinflussung meines Unterbewußtseins gefeit, oder aber ich nehme nicht mehr richtig wahr, was geschieht. Ich schlage um mich, ich fluche und schreie, stürze, raffe mich wieder auf, fühle, daß Leitgeist neben mir ist, spüre seine Mut machenden Gedanken … Wie Blitzlichter brennen sich die Sekunden in meine Erinnerung ein, in denen ich jeweils eines der giftigen Insekten in Händen halte. Der Extrasinn behauptet, daß ich wie ein Besessener schreie. Ich glaube, er übertreibt. Ich weiß nur, daß ich dieses Chaos durchstehen muß. Nur dieser eine Gedanke erfüllt mein Bewußtsein. Plötzlich ist Stille – eine bedrückende, fast tödliche Stille. Der lederne Beutel ist leer, ich habe ihn weggeworfen. Das letzte Tier in meiner Hand beginnt zu zappeln. Mit einemmal fürchte ich, daß ich es nicht schaffen könnte. Zwei Schritte noch, dann brauche ich nur den Arm auszustrecken … Eine unsagbare Erleichterung ergreift von mir Besitz. Ich habe es durchgestanden. Das hast du, bestätigt Leitgeist. Auch wenn es Stunden deiner Zeitrechnung gedauert hat. Die Pilze verändern ihre Farbe; sie verdorren förmlich und brechen innerhalb weniger Augenblicke zusammen. Ist der Wächter tot? frage ich mich.
Ganz sicher nicht, meint Leitgeist. Das Myzel wurde von den Verfallserscheinungen nur teilweise erfaßt. Durch das Gift wird es allerdings daran gehindert, erneut Fruchtkörper auszubilden, und diese Wirkung dürfte relativ lange anhalten.
8. Die Tierwelt achtet nicht mehr auf mich; ein deutliches Zeichen, daß der Wächter zumindest aktionsunfähig ist. Endlich kann ich mich daranmachen, eine Antwort auf all jene Fragen zu suchen, die mich nun brennender als zuvor beschäftigen. Leitgeist begleitet mich auch weiterhin. Aber er hat sich verändert. Ich spüre, daß er mutlos geworden ist. Dies mag durchaus eine verspätete Reaktion auf die Vernichtung seines Pulks sein. Leitgeist sieht in seinem Dasein keinen Sinn mehr, und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll. Das kannst du nicht, meint er. »Aber du hast viel für mich getan …« Die Umstände sind gegen uns, Atlan. Unsere Wege werden sich wohl bald für immer trennen. Weiß er etwas, was er mir verschweigt? Ich kann mich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Mir ist der Blick in die Zukunft ebenso verschlossen wie dir. Er hat meine flüchtigen Gedanken aufgefangen, sonst würde er das nicht erwähnen. An einem kleinen Rinnsal mache ich Rast. Das Wasser ist erfrischend kühl. Nachdem ich meinen größten Durst gestillt habe, esse ich einen der Konzentratwürfel. Leitgeist schwebt neben mir. Sein Durchmesser beträgt gut eineinhalb Meter. »Kannst du irgendwelche Gedanken wahrnehmen?« stelle ich die Frage, die mir schon lange auf der Zunge brennt. Von Kik einmal
abgesehen, muß es auf der Basis intelligentes Leben geben. Da sind einige Wesen, meint der Miniaturisierer schließlich, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben. Mehr recht als schlecht leben sie auf der Oberfläche. Aber niemand weiß, was im Innern der Basis geschieht. Auf die Dauer wirkte die stets gleichbleibende Helligkeit zermürbend. Von einer inneren Unruhe geplagt, breche ich schnell wieder auf. Ich will endlich wissen, woran ich bin, und niemand wird mich daran hindern, einen Weg ins Schiffsinnere zu finden. Das Land könnte ein Paradies sein. Doch ich achte kaum auf die unzähligen blühenden Pflanzen, die meinen Weg säumen. Plötzlich wird Leitgeists Glitzern derart intensiv, daß ich mich abwenden muß, um nicht geblendet zu werden. Da ist etwas, vernehme ich seine lautlose Stimme. Es kommt aus weiter Ferne, nähert sich aber sehr schnell. »Kannst du erkennen, um was es sich handelt?« Angestrengt suche ich das Firmament ab, ohne jedoch das geringste zu entdecken. Wenige Sekunden später zucke ich zusammen. Nun spüre ich es auch. Eine Aura des Unheimlichen … Atlan, dröhnt es in mir. Ich komme, um Born wieder zu einem Teil meiner Existenz und dich erneut zu meiner Geisel zu machen. Dröhnendes Gelächter folgte diesen Worten. Unbewegt starre ich hinaus in die Schwärze der Namenlosen Zone, aber nichts ist zu sehen. Habe ich überhaupt eine Chance? Wenn, dann muß ich rasch handeln. Warum willst du fliehen? Das ist wieder Anti-ES. Du solltest wissen, daß du mir nicht entkommen kannst. Ich werde dich dafür bestrafen, Atlan. Zu verlieren habe ich nichts. Im Gegenteil. Ich bewege mich jetzt auf den Rand der hügeligen Landschaft zu. Vielleicht ist es mir dort möglich, ins Innere der Basis vorzudringen. Wenn ich wirklich gegen Anti-ES bestehen will, benötige ich technische Hilfsmittel. Ein starker Wind kommt auf, der mich frösteln läßt. Vorübergehend wird die Wölbung des Schutzschirms hoch über mir
sichtbar, dann ist alles wieder wie zuvor. Mit einer Ausnahme: ich weiß, daß Anti-ES nun ebenfalls auf der Basis des Ersten Zählers weilt, wenn auch nicht mit seinem gesamten Potential. Etwas folgt uns, bemerkt Leitgeist. Ich verfalle in einen raschen Laufschritt, den ich notfalls stundenlang durchhalten kann, ohne zu ermüden. Linker Hand liegt die Quelle der hellen Lichterscheinungen, doch das Gelände wirkt in dieser Richtung nahezu undurchdringlich. Es kommt näher! Vereinzelte Buschgruppen behindern mich. Ich bin gezwungen, Haken zu schlagen. Dann sehe ich meinen Verfolger. Auf den ersten Blick ähnelt er einer übergroßen Spinne, doch besitzt er lediglich vier stelzenförmige Beine. Der völlig glatte Körper, gut zwei Meter lang, ist von ovaler Form. Möglicherweise vorhandene Sinnesorgane bleiben verborgen. Für dieses Wesen, oder was immer es sein mag, existieren keine Hindernisse, die es nicht überspringen könnte. Deutlich wird mir die Sinnlosigkeit einer weiteren Flucht offenbar. Die Spinne wirkt so unfertig, daß es sich nur um ein von Anti-ES erzeugtes Pseudowesen handeln kann. Sie greift im selben Moment an, in dem ich Leitgeists Warnung erhalte. Im Nu ist sie über mir, ein harter Schlag mit einem ihrer Beine treibt mir die Luft aus den Lungen. Ächzend, lasse ich mich vornüber sinken, weil ich darin meine einzige Chance erkenne. Der ovale Körper bildet zwei sechsfingrige Greifarme aus. Ich entgehe ihnen nur durch eine blitzschnelle Drehung zur Seite. Zugleich schlage ich mit der Handkante nach einem der Stelzenbeine. Meine Gegenwehr scheint die Spinne zu überraschen. Sie zögert den Bruchteil eines Augenblicks zu lange – vielleicht fehlen ihr auch die genauen Anweisungen, wie sie in diesem Fall vorzugehen hat. Jedenfalls genügt mir diese Spanne, um mit Wucht zuzutreten. Das Monstrum knickt ein, und Leitgeist senkt sich herab. Ich achte nicht
auf das, was geschieht, sondern hetze weiter. Minuten später hat der Miniaturisierer mich erneut eingeholt und läßt mich wissen, daß die Spinne kaum noch die Größe einer Faust besitzt. Das verschafft mir zwar vorübergehend Luft, befreit mich aber sicherlich nicht von Anti-ES' Nachstellungen. Ich empfange fremdartige Gedanken, meldet Leitgeist kurz darauf. Anti-ES hat zwei neue Jäger geschaffen, die sich auf deine Spur heften. Es ist wütend, weil Born sich seinem Zugriff entzieht. Es weiß, daß der helle Kern auf der Basis des Ersten Zählers weilt, doch es kann ihn nicht aufspüren. Eine Felsformation, die wie ein riesiger, schräg liegender Kristall aussieht, erhebt sich vor mir. Ich wende mich nach rechts. Täusche ich mich, oder flimmert dort die Luft? Mit dem Handrücken wische ich über meine Augen, aber die Erscheinung bleibt. Ich glaube, ich habe gefunden, wonach ich suche. Es muß ein Luftschacht sein, der hier mündet. Eine Röhre von wenig mehr als einem Meter Durchmesser ragt knapp fünfzig Zentimeter aus dem Erdreich hervor. Starker Ozongeruch macht sich bemerkbar. Ein Gitter deckt die Öffnung ab. Es ist fest verankert und läßt sich nicht bewegen. Warte! meint Leitgeist. Im nächsten Moment poltert die Abdeckung in die Tiefe. Ohne zu zögern, schwinge ich mich in die Röhre hinein, die glatt ist und nirgendwo Halt bietet. Die Füße fest an die gegenüberliegende Wand gestemmt, lasse ich mich in die Tiefe rutschen, wobei ich die Handflächen hinter mir auf das Metall presse, um nicht allzu schnell zu werden. Sechs oder sieben Meter lege ich auf diese Weise rasch zurück, bevor die Röhre dicht über einem galerieartigen Rundgang endet. Eine umlaufende Brüstung hindert mich daran, in die Tiefe zu blicken. Aber auch so sehe ich genug, um feststellen zu können, daß
ich in einer Klimaanlage herausgekommen bin. Die Luftumwälzung erfolgt über mächtige Turbinen. Ich weiß nicht, ob du hier sicher bist, warnt Leitgeist. Irgendwo muß es einen Weg geben, um weiter abzusteigen. Meine hastigen Schritte sind lauter als die herrschende Geräuschkulisse. Die Halle vor mir durchmißt gut hundert Meter, wenn ich die Biegung des Ganges richtig beurteile. Unvermittelt greift etwas nach meinen Beinen. Ich stürze, kann aber dennoch nicht erkennen, was da ist. Vermutlich ein energetisches Fesselfeld als Sicherungseinrichtung gegen ungebetene Besucher. Der Druck legt sich auch um meinen Oberkörper, ich vermag die Arme nicht mehr zu bewegen. Leitgeist greift ein. Einzelne Wandsegmente verlieren ihren Halt und brechen polternd auseinander. Flammen züngeln auf, es kommt zu kleineren Explosionen. Ich bin zwar wieder frei, doch muß ich mir sagen, daß die Zerstörungen zweifellos meine Verfolger auf den Plan rufen. Ohne mich umzuschauen, haste ich weiter, bis ich endlich einen Seitengang erreiche. Da das Schott verschlossen ist, weiß ich nicht, was mich dahinter erwartet. Du mußt es riskieren, bestätigt der Logiksektor. Auf der Galerie bist du nicht sicher. Der Öffnungsmechanismus ist blockiert. Aber wieder hilft Leitgeist, und schon nach wenigen Sekunden gleitet das Schott wenigstens so weit zur Seite, daß ich hindurchschlüpfen kann. An Stelle der elektronischen Verriegelung befinden sich jetzt Löcher im Rahmen. Ein schmaler Gang nimmt mich auf, weitet sich jedoch nach wenig mehr als fünfzig Metern zu einer neuen Halle. Dies muß ein Lagerraum sein, denn in endlos scheinenden Regalreihen stapeln sich die verschiedenartigsten Maschinenteile. An der Peripherie lagern ein gutes Dutzend stählerne Behälter, deren Verwendungszweck mir zumindest auf Anhieb unklar bleibt.
Sie haben Hohlräume, die groß genug für dich sind, behauptet Leitgeist. Ich spüre, daß die Verfolger nahe sind; du mußt dich verbergen, wie Born es getan hat. »Und du?« frage ich, weil der Miniaturisierer nur von mir spricht. Ich weiß, was ich zu tun habe. Mach schon, Atlan, oder es ist zu spät. Die kugelförmigen Behälter durchmessen gut fünf Meter, und sie verfügen über etliche Klappen, die offenbar für Wartungsarbeiten angelegt wurden. Eine davon öffne ich. Sofort wird ein schwaches Antigravfeld aktiviert, das mich in einen engen Schacht emporhebt. Um mich her ist ein Wust von Kabelsträngen, aber da sind auch einige kleine Luken, durch die ich nach draußen blicken kann. Die Klappe hinter mir hat sich bereits wieder geschlossen. Unvermittelt erklingt eine fremdartige Stimme. Im ersten Moment zucke ich zusammen und will herumfahren, doch der Schacht ist zu eng, als daß mir viel Bewegungsfreiheit bliebe. Ich kann nicht erkennen, von wo die Stimme kommt, aber sie wiederholt das eben Gesagte. Die Sprache ist mir unbekannt. Du wirst deinen Kampf gegen das Böse fortsetzen, Atlan, vernehme ich Leitgeists Gedanken. Ich wünsche dir viel Glück dazu. Das klingt beinahe, als wolle er Abschied nehmen. Was hat er vor? Nichts, was dich beunruhigen müßte. Und jetzt verhalte dich ruhig. Zum viertenmal wiederholt sich inzwischen die fremde Stimme. Da mir von ihr offensichtlich keine Gefahr droht, beschließe ich, sie einfach zu ignorieren. Das sind Arbeitsanweisungen, behauptet der Logiksektor. Ich finde keine Zeit, darauf zu antworten, weil mit Leitgeist eine erschreckende Veränderung vor sich geht. Seine drei materiellen Bestandteile scheinen miteinander zu verschmelzen, während sein Glitzern rasch verblaßt und sich zusammenzieht. Die Umrissen einer humanoiden Gestalt formen sich, die ungefähr meine Größe besitzt. Der Miniaturisierer bildet tatsächlich einen Menschen nach. »Nein!« schreie ich, weil ich seine Absicht durchschaue. »Tu das nicht!«
Aber er weist mich schroff zurecht: »Sei still, Atlan, oder willst du uns beide preisgeben?« Er ist nun ich. So jedenfalls bietet sich mir seine Erscheinung dar. Er trägt dieselbe Kombination, die gleichen Stiefel, sogar sein Haar ist nicht minder verfilzt als meines. In seinen roten Augen liegt ein Lächeln. Im nächsten Augenblick sind zwei der spinnenähnlichen Pseudowesen heran. Dem ersten weicht Leitgeist durch einen blitzschnellen Sprung zur Seite aus, dem zweiten kann er nicht entgehen. Das so unfertig wirkende Geschöpf ist über ihm, ehe er auch nur abwehrend die Arme hochreißen kann. Ineinander verkrallt wälzen sie sich über den Boden aus meinem Sichtfeld. Keine Angst, teilt er mir telepathisch mit. Ich werde es Anti-ES nicht zu leicht machen. Wie gern würde ich ihm beistehen. Aber die Vernunft rät mir, in meinem Versteck zu bleiben. Manchmal ist es wirklich verdammt schwer, vernünftig zu bleiben. Ich weiß, daß ich mit Leitgeist einen wirklichen Freund verlieren werde. Es ist hart, ihm nicht beistehen zu können. Endlich geraten sie wieder in mein Blickfeld. Leitgeist hat einem der Pseudowesen schwer zugesetzt, denn es hält sich kaum noch auf seinen langen Beinen. Trotzdem ist es ein aussichtsloser Kampf für ihn. So hat mein Tod wenigstens einen Sinn. Geh an die Oberfläche zurück, Atlan, denn hier unten kann Anti-ES dich aufspüren. Ich … Unvermittelt brechen die Gedanken ab. Auch ohne in die Halle hinauszuschauen, weiß ich, was geschehen ist. Leitgeist hat sich für mich geopfert. Sein Tod geht mir nahe – viel näher, als ich es je für möglich gehalten hätte. Die folgende Stille ist fürchterlich, doch wird sie sehr schnell unterbrochen. Ich werde euch vernichten, wie ich euch geschaffen habe, dröhnt es in meinem Schädel. Warum habt ihr Atlan getötet und mich damit um meine Geisel gebracht? Das war nicht mein Befehl.
Wut, Haß und Zorn drücken sich darin aus, und ich kann Anti-ES sogar verstehen. Wie soll es nun seine Freiheit wiedererlangen? Die Spinnenähnlichen vergehen; nur einige Plasmaklumpen bleiben zurück. Meine Lage hat sich damit ein wenig verbessert. Zumindest vorerst konnte ich dank Leitgeists Hilfe Anti-ES entkommen. Und ich werde alles daransetzen, daß dies so bleibt. Ich muß versuchen, Kik, Born oder den Ersten Zähler, wer immer sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt, zu finden. Aber irgendwann muß ich auch schlafen. Meine größte Frage ist: werde ich dann wieder vergessen?
ENDE
Der Atlan-Band der nächsten Woche befaßt sich wieder mit der SOL, die bekanntlich im Ozean von Terv festsitzt. Doch dann, unerwartet, bietet sich eine Chance zur Flucht, die gleichzeitig eine Chance für Cara Doz, das neue Pilotentalent, darstellt, sich erstmals zu bewähren. Mehr zu diesem Thema berichtet Arndt Ellmer im Atlan-Band 607. Der Roman trägt den Titel: MANIFEST B