Höllenjäger Band 7 Leichen im Gemäuer von Des Romero
Richard Jordan I Wenn mich jemand fragen würde, wie viel Zeit ve...
48 downloads
509 Views
1000KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Höllenjäger Band 7 Leichen im Gemäuer von Des Romero
Richard Jordan I Wenn mich jemand fragen würde, wie viel Zeit vergangen war seit der Aktivierung meines transgenetischen Codes und dem Untergang der Erde bis heute, dann könnte ich diese Frage nicht direkt beantworten. Subjektiv mochten es um die zehn Jahre sein. Tatsächlich aber schienen auf der Erde wesentlich mehr vergangen zu sein. Die Erde... Ich hatte immer noch große Mühe mir vorzustellen, was auf dem blauen Planeten wirklich vorgefallen war. Ich erinnerte mich noch an den schwarzen Schleier, mit dem die Zysstho-Pest meine Heimat überzogen hatte. Nichts wäre ihren tödlichen Klauen entronnen, nichts hätten wir Menschen dem zersetzenden Würgegriff der dämonischen Allmacht namens Amalnacron entgegenzusetzen gehabt, wenn da nicht... ja, wenn da nicht die Höheren Mächte eingegriffen hätten. Die Priester - an den Anblick der plumpen Gestalten, die mich leicht um mehr als einen halben Meter überragten, konnte ich mich selbst nach dieser verhältnismäßig langen Zeit in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht gewöhnen -hatten mir erklärt, was geschehen war und ich musste es in Gedanken unzählige Male aufs neue herunterbeten, um den Vorgang adäquat verarbeiten zu können. Trotz allem bewegte er sich an den Grenzen meiner Vorstellungskraft und hatte rein gar nichts mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen zu tun, die mir in der Schule eingebläut worden waren und die sich im weiteren Verlauf meines Lebens zur allgemeingültigen Wahrheit erhoben hatten. Unsere Wirklichkeit bestand den Aussagen der Priester zufolge aus verschiedenen Ebenen, die jeweils auch eine Entwicklungsstufe des Menschen markierten. Und nur die Ebene, die seiner Entwicklung entsprach, konnte er erfassen. Alle anderen blieben ihm verschlossen. Das hatte mit der Geometrie des menschlichen Körpers zu tun. Leonardo da Vinci beispielsweise hatte diesen Umstand erkannt und in seiner berühmten Zeichnung von den Proportionen des Menschen veranschaulicht. Dass sich dem zeitgenössischen Betrachter sowie auch allen nachfolgenden die Essenz dieser Darstellung nicht erschlossen hatte und daher nur oberflächlich als anatomische Skizze interpretiert worden war, zeigte einerseits die ironische Veranlagung von Mutter 4
Natur und war andererseits Beweis genug für die Disharmonie menschlichen Lebens auf der gegenwärtigen Bewusstseinsebene sowie seinen begrenzten Horizont. Die Dimensionen ließen sich veranschaulichen als Noten auf einer Tonleiter, wobei die dritte Note dieser Oktave der dritten Dimension entsprach. Zwischen den einzelnen Noten befanden sich jeweils zwölf Obertöne und genau da hatten die Höheren Mächte - ich nannte sie in Ermangelung einer anderen, treffenderen Bezeichnung so - angesetzt. Sie hatten die Erde auf den nächst höherem Oberton verschoben und damit der Einflussnahme Amalnacrons entzogen. Philip Ravenmoor schon wieder eine Sache, an die ich mich nicht gewöhnen würde, denn mein ehemaliger Mentor wirkte in seiner neuen Erscheinungsform recht befremdlich auf mich - hatte dahingehend ergänzt, dass die Obertonverschiebung eigentlich ein ganz natürlicher Vorgang war, der eine ebenso natürliche Auslese unter den Menschen erreichte. Nur derjenige, der den Keim zur Fortentwicklung und Überwindung der eigenen Disharmonie in sich trug, konnte den Obertonwechsel überleben. Von daher gingen meine Bedenken hinsichtlich des Eingriffs in die Richtung, dass nun kaum ein Unterschied zwischen dem Wirken der Höheren und dem Dämon bestand. Ravenmoor hatte mich darauf hingewiesen, dass dieser - geringfügige - Unterschied immerhin annähernd 80 Millionen Menschen ausmachte. Eine Zahl, die mich beruhigen sollte und doch fast mehr erschreckte. Denn die Konsequenz daraus bestand im Verlust von weit über sechs Milliarden Lebewesen! Die schiere mathematische Größe ließ mich nicht zum ersten Mal am Schöpfungsgedanken zweifeln und die Frage nach Gott aufkommen, diesem offensichtlich gleichgültigen Etwas, dessen Handlungsweisen der Gläubige stets zu rechtfertigen wusste, egal, welche Begründung auch immer es zu konstruieren galt. Auch dieser Sachverhalt wurde mir eindringlich verdeutlicht. Mein zunehmendes Erkennen und Begreifen löste einen noch weitaus größeren Schrecken aus, als die beinahe vollständige Auslöschung der Menschheit. Doch es zeigte mir auch klar und deutlich meinen weiteren Weg. 5
Wenn ich es genau betrachtete, dann ging es mir insgesamt gut. Mein Körper hatte den Entladungsschock bei der Vernichtung Dominique Beaumonts ausgeheilt. Die Priester kümmerten sich rührend um mein Wohlergehen und hatten sogar aus dem Nichts eine hundertprozentige Identkopie der Jordan-Villa erzeugt. Mit allem, was dazugehörte. Außer den Menschen, die ihr einst Leben eingehaucht hatten und die nun allesamt nicht mehr da waren... Oft und lange hielt ich mich in der Bibliothek auf, um in den Büchern und Manuskripten meines Vaters zu lesen. Gerne kommunizierte ich daneben auch mit dem Schrein, der sozusagen die Steuerzentrale von Col'Shan-duur darstellte und alle Vorgänge überwachte und kontrollierte. Ich wollte mir nicht vorstellen, was er in Wirklichkeit war, sondern gestattete mir die Illusion, ihn als großväterlichen Freund zu sehen. Das entsprach wohl ebenfalls der Rolle, in der er sich selbst vorzugsweise präsentierte. Und was mich anfangs daran genervt hatte, das hatte ich über die Zeit hinweg an ihm lieb gewonnen. Der Schrein war mein Zugang zu den Archiven der dunklen Zitadelle, wie Col'Shan-duur in romantischer Verklärtheit bereits in ferner Vergangenheit bezeichnet worden war. Ebenso war er meine Augen und Ohren, wenn ich mich über die Zustände auf der Erde informieren wollte. Denn bei allem Schmökern in alten Schwarten durfte ich die Gegenwart und mein eigentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren: Mein transgenetischer Code war zersplittert und in Zeit und Raum verstreut. Ihn musste ich zurückgewinnen, um den T'ott'amh-anuq aktivieren zu können, der die mächtigste Waffe im ewigen Kampf gegen die negativen Kräfte war. Auch auf der Erde gab es eines dieser Bruchstücke. Bevor ich mich allerdings auf neues und damit unbekanntes Terrain wagte, wollte ich erst beobachten und analysieren. Und Gon'O'locc-uur - der Schrein - eröffnete mir die Welt...
1. Kapitel Gute Bekannte 6
Schweres, röchelndes Atmen klang von den nackten Wänden des kleinen Raumes wider. Auf dem Boden lag ein Mann auf dem Rücken, dessen Unterschenkel von einer Explosion abgerissen worden waren. Vor Minuten noch hatte er entsetzliche Schreie von sich gegeben, danach hyperventiliert, als wollte sein Herz in der nächsten Sekunde einfach aufhören zu schlagen. Das Blut war unaufhaltsam aus den Beinstümpfen gespritzt. Alles Klagen hatte die Adern jedoch nicht wieder verschließen können. Eine Viertelstunde noch, dann mochte auch das letzte Wimmern ersterben. »Das hast du dir bestimmt anders vorgestellt, Onkel Ole.« Alf Tjörnsen ging neben dem Verstümmelten in die Hocke. In seiner Stimme lagen weder Spott noch Verachtung. In den Augen des zwanzig Jahre alten Mannes spiegelte sich eine Reife, die auf ein Vielfaches seines physischen Alters schließen ließ und die er für gewöhnlich in diesem Stadium seines noch jungen Lebens nicht haben konnte. Nicht der Hauch von Genugtuung glomm in seinem Blick, auch wenn dies aus menschlichemotionaler Sicht mehr als verständlich gewesen wäre. Nein. Es war schlicht - Vergebung. »Du... du verspottest mich...«, keuchte Ole Tjörnsen. Ein Zittern erfasste seinen Körper und ein weiterer Schwall Blut vergrößerte die Lache auf dem kalten Stein weiter. Bevor er antwortete, wandte Alf den Kopf zu Go Nagashi. Der Japaner stand regungslos in der Tür. Selbst der halbe Ärmel seines amputierten linken Arms baumelte unbewegt über der Taillenschärpe. Das Schwert steckte wieder in der Scheide. Das Narbenmuster in seinem Gesicht um das zerstörte Auge hatte eine dunklere Färbung angenommen. Er nickte ehrerbietend und verließ den Raum. »Dieser Bastard...« Der Verstümmelte lachte hustend, spuckte Speichel und gelben Saft. »Die Distriktvorsteher... hätten ihn damals... abschlachten sollen. Ihr beide... ihr habt das geplant!« Die letzten Worte überschlugen sich, wurden in dem Gurgeln beinahe unverständlich. »Aber das stimmt doch nicht«, bemühte sich Alf mit gleichmütiger Stimme den Vorwurf zu entkräften. »Niemand ist für dein Leid verant7
wortlich zu machen - außer dir selbst. Hast du in diesem Leben denn gar nichts gelernt?« Die Frage beinhaltete keine Zurechtweisung, sondern war Ausdruck verhaltener Enttäuschung. »Du redest Dreck!« Ole Tjörnsen hob den Kopf an. »Du hast Nagashi gehasst!« Vor dem Mund und auf den Lippen hatte seine Spucke dicke Bläschen gebildet. »Wenn ich kein sterbender Krüppel wäre, würde ich dir deine Spiritualität Stück für Stück rausprügeln. Und am Ende würdest du sehen, dass das Fleisch immer stärker ist als der Geist!« Das Gift seiner Worte war ohne Unterbrechung aus seinem Mund gequollen. Im Anschluss setzte das krampfartige Luftholen wieder ein. Dabei verlängerte jeder Atemzug nur die Qual, denn der Tod war unausweichlich. Oles Neffe schüttelte mitleidig den Kopf. »Wie viel Energie du darauf verwendest, Dinge zu zerstören. Dein Denken wird von Tod und Vernichtung geprägt. Es ist nur natürlich, dass du selbst nun das Opfer deiner negativen Gedanken wirst.« »Erbärmliches Geschwätz!«, spritzte es in einem jämmerlichen Aufbäumen gegen das unvermeidliche Ende tief aus Ole Tjörnsens Kehle. »Das Böse wird mit jedem Tag stärker! Die Saat ist lange ausgebracht! Auch du und deinesgleichen können das nicht verhindern!« Der Sterbende würgte einen Teil seines Mageninhaltes hoch und erschlaffte im selben Augenblick. Alf vermeinte seine aufsteigende Seele wahrzunehmen, die lachend von den Finstermächten in Empfang genommen wurde, um sie in einem anderen Leib und einer anderen Zeit erneut loszuschicken, in ihrem Sinne Zwietracht und Verderben unter die Menschen zu bringen. Aus eigener Kraft würde es dieser Seele niemals gelingen, sich aus dem Bad der Wiedergeburt zu befreien. Und jedes neue Erwachen in der Welt trug bereits den Keim des Bösen im Gepäck, der irgendwann auch seinen Wirt in den Untergang treiben würde. Das Vermächtnis Ole Tjörnsens - alles, was von ihm in dieser Welt verblieben war - bestand lediglich aus den Worten, die er kurz vor seinem Tod wie einen Fluch ausgesprochen hatte. Das Böse wird mit jedem Tag stärker, wiederholte Alf in Gedanken. Sein Blick glitt fast mechanisch hinüber zu dem Koffer, den sein 8
Onkel bereits zum zweiten Mal mitgebracht und der von der Detonation zu Boden geschleudert worden war. Die Saat ist lange ausgebracht. Alf Tjörnsen packte den Henkelgriff mit festem Druck und hob den Koffer an. Um das Durcheinander in seinem Labor, das während des Kampfes entstanden war, wollte er sich später kümmern; es gab viel aufzuräumen und zu reparieren.
2. Kapitel Der alte Mann im Wald
Acht Jahre zurück
Es war ein herrlicher Sommertag, der mit Temperaturen um zweiundzwanzig Grad Mensch und Natur verwöhnte. Alf Tjörnsen hatte den kleinen Wald nahe beim Gehöft seiner Eltern hinter sich gelassen und stand auf einem Vorsprung der Bucht mit weitem Blick auf den Großen Belt, dessen Wasser eine blaue, spiegelnde Fläche war. Bei der Inselmasse, die den ganzen Horizont ausfüllte, handelte es sich um Langeland. Der Junge war einmal dort gewesen, als seine Eltern Fleisch zum Markt gefahren hatten, doch bleibende Erinnerungen hatte er von drüben nicht mitgebracht. Am besten gefiel es ihm zu Hause. Hier kannte er jeden Fußbreit Land, unterhielt sich mit den Tieren und konnte in der Abgeschiedenheit seiner Kammer ungestört meditieren. Seine Eltern Mats und Liv unterstützten ihren Sohn in jeder Beziehung bei der Entwicklung seines spirituellen Bewusstseins. Sie zwangen ihn weder zur Arbeit auf dem Hof, noch erwarteten sie seine Hilfe. Das neue Zeitalter hatte große Veränderungen mit sich gebracht und nur in den Tagebüchern von Mats Tjörnsens Großvater war noch über jene Zustände zu lesen, die ein mehr als finsteres Bild von diesem wunderschönen Planeten zeichneten. Der Wandel hatte wie mit einem Reinigungstuch den Schmutz der Vergangenheit vom Angesicht der Erde gewischt; nur wenige Relikte - darunter Bauwerke, ganz oder teilweise erhalten - hatten diese Säuberung überstanden. Und auch nur die wenigsten Menschen hatten es geschafft. Doch der Geist der Nachfolgegenerationen machte seitdem ungeheure Bewusstseinserfahrungen. 9
Der Wert des Materiellen hatte zugunsten der Spiritualität seinen hohen Stellenwert eingebüßt. All das war Alf bekannt und er konnte sich nur schwerlich eine Welt vorstellen, wie sein Vater sie beschrieb, wenn er mal wieder in den alten Tagebüchern gestöbert hatte. Menschen, die sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag spirituell schliefen und dann den Rest des Tages auch noch physisch - Alf fand keine Erklärung dafür, wie diese Menschen hatten überleben können. Ohne eine Verbindung zum Ursprung. Ohne eine Verbindung zu Gott. »A-half!« Von weit, weit her erreichte die Stimme als filigranes Echo den Zwölfjährigen. »Aaa - haaaalf!«
Mutter! Meine liebe Mutter. Sie ruft mich zum Essen. »Ich koo - mme schooon!«, rief er zurück. Sein immer noch helles Kinderstimmchen war nie von seiner Mutter gehört worden. Sie hatte ihm nur stets etwa fünf Minuten eingeräumt, am Mittagstisch zu erscheinen, bevor sie ihn ein weiteres Mal gerufen hätte. So hatte sie es ihm später einmal erzählt. Ohne Eile marschierte der Junge zurück zum Wald. Auf einer Baumwurzel saß ein Eichhörnchen, das bei seinem Anblick den Kopf schief legte und mit den Vorderfüßchen in der Luft scharrte. Alf ging neben dem possierlichen Waldbewohner in die Knie. Sein Zeigefinger kraulte den Nacken des Tiers. »Ich kann mich leider nicht mit dir beschäftigen. Aber ich komme zurück und dann spielen wir. Versprochen.« Wie als Antwort knipste das Eichhörnchen beide Augen ganz kurz zu, kletterte flugs am Stamm der Ulme hoch und verschwand im dichten Geäst. Machs gut, kleiner Freund. Alf hatte die Augen geschlossen und seinem kleinen Weggefährten diesen Gruß hinterhergeschickt. Schließlich stand er auf und setzte seinen Weg fort, bis er das Hauptgebäude des elterlichen Bauernhofs erkennen konnte. Der Junge verhielt und ließ die warmen Sonnenstrahlen auf sich wirken. Es war ein unglaub10
lich intensives Gefühl. Die Einheit mit der Natur wurde spür- und erlebbar. Von weitem erkannte Alf seine Mutter, winkte ihr zu. »Ich bin da aa!« und nahm die Beine in die Hand. Tatsächlich hatte er plötzlich Hunger und freute sich auf das, was seine Mutter tagtäglich zubereitete. Es gab wenig Gekochtes, dafür reichlich Rohkost, Körner, etwas Brot, gewässerten Hafer, Wasser, Milch und Tee. Dem Kind lief das Wasser im Munde zusammen. Während des Essens wurde kaum gesprochen; die Aufmerksamkeit galt der Nahrung. Das sorgte für eine bessere Verdauung und förderte die körpereigene Aufnahme der Inhaltsstoffe. »Wie heißt dieser Mann aus Japan?«, fragte Alf und kaute zum Nachtisch Blattsalat. »Go Nagashi«, antwortete Liv Tjörnsen. »Woher kennst du ihn?« »Torben von nebenan hat es mir erzählt. Der weiß es von seinem Freund Jon. Und dessen Vater kennt den Bruder von Freder.« Mit nebenan meinte Alf den immerhin drei Kilometer entfernten Wirtschaftshof der Anderssons. Ab und zu traf er deren Sohn Torben. Torben besaß zwar auch ein sehr ausgeprägtes, weites Bewusstsein, schulte sein meditatives Vermögen allerdings weitaus weniger als Alf. Das hatte zwangsläufig dazu geführt, dass sie wenig Zeit miteinander verbrachten. Und Freder - dessen voller Name Freder Berkvannsen lautete - war Vorsteher des Landrates. Er hatte großen Einfluss innerhalb der überschaubaren, schlichten politischen Struktur des Distrikts. Als Neusiedler hatte Go Nagashi sich beim Landrat vorgestellt. Die Gründe für das Verlassen seiner Heimat hatte er nicht genannt; es war auch nicht von Belang. Die Gemeinschaft war aufgeschlossen und nahm gerne neue Menschen auf. »Wie ist er so?«, fragte Alf weiter. »Mein Junge, wir kennen ihn ja selbst kaum.« Diesmal hatte Mats Tjörnsen, Alfs Vater, gesprochen. »Er soll sehr ruhig sein. Er hat sich eine Hütte gebaut am Bande des Distrikts und lebt sehr zurückgezogen.« 11
»Urgroßvater hat in seinen Büchern etwas über Japaner geschrieben. Sie suchen die Einheit von Körper und Geist. - Ob er viel meditiert?« Alf war ganz aufgeregt. »Aber das wissen wir doch nicht«, winkte Mats schmunzelnd ab und nippte an seinem Becher Tee. »Na gut.« Alf rückte seinen Stuhl zurück, stand auf und bog auch schon um die Ecke zur Treppe in sein Zimmer. »Ich gehe meditieren!«, rief er im Laufen nach unten. »Tu das!«, schallte es ihm von seiner Mutter nach. »In einer Stunde komme ich nach oben und wir üben Sprache und Mathematik.« »Ich werde mich um unsere Tiere kümmern.« Mats leerte den Becher, erhob sich und spürte plötzlich den Stich im Hals. Unwillkürlich musste er husten, so heftig, dass er sich am Tisch abstützte. »Verdammtes Asthma!«, presste er erstickt hervor; seine Lungen rasselten. Liv Tjörnsen schickte ihm einen mitfühlenden Blick zu und lächelte. »Ich komme dir gleich helfen.« * Alf grinste verschmitzt und klappte seine Lernmappe zu. »Ich gehe noch etwas in den Wald.« Liv Tjörnsen kniete ihrem Sohn gegenüber am Boden und musterte ihn kritisch. »Meinst du denn, wir sind schon fertig? Ich wollte noch ein wenig mit dir rechnen üben.« »Ich würde aber doch so gerne noch zu den Tieren in den Wald...« »Das glaube ich dir sofort«, meinte seine Mutter nachdenklich. Sie und ihr Mann trugen die alleinige Verantwortung für die schulische Ausbildung ihres Kindes, so wie es allgemein üblich war. Die Eltern brachten ihren Kindern das bei, was ihrem späteren Leben dienlich war und die Gemeinschaft bereicherte. Das hieß natürlich auch, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen, also einen festen Stundenplan beispielsweise. Andererseits wollten Liv und Mats die prächtige Entwicklung ihres Sprösslings nicht durch unnötigen Druck 12
hemmen. Es gab nichts, was sich nicht am darauf folgenden Tag wieder aufholen ließ. »Also schön, ab mit dir«, stimmte sie zu und bekam zum Dank einen Kuss auf die Wange. * Es war später Nachmittag, der Himmel wolkenlos. Es würde noch viele Stunden hell bleiben. Diese Zeit wollte Alf nutzen, um mit den Tieren des Waldes zu sprechen und in der freien Natur seinen Geist auf die Reise in höhere Sphären zu schicken. Dieser Sommertag war nicht nur außergewöhnlich schön, er würde auch einen außergewöhnlichen Verlauf nehmen. Erstmals sollte der Junge mit einem Phänomen konfrontiert werden, das ihn noch lange beschäftigen würde und das mehr war - viel mehr - als er sich zum gegebenen Zeitpunkt vorzustellen vermochte. Die Zeit verging sehr schnell. Alf hatte sich im Schneidersitz an den Stamm einer Buche gelehnt. Als er nach geraumer Zeit in das Hier und Jetzt zurückkehrte, da war er umringt von Tieren, die ohne Scheu seine Nähe suchten und unmittelbar vor und neben ihm lagen oder saßen. Auch sein kleiner Freund, das Eichhörnchen, hatte sich zu den anderen Waldbewohnern gesellt; Alf hätte es allein schon wegen der Kerbe im linken Ohr überall wieder erkannt. Der Junge verfügte zudem jedoch über die Fähigkeit, auch die Gesichter der Tiere anhand winzigster Nuancen auseinander zu halten. Ein Reh schmiegte seinen Kopf an Alfs Schulter, während dessen Gefährtin die Vorderläufe einknickte und sich direkt zu Alfs Füßen setzte. Gemeinsam atmeten sie die kraftvolle Atmosphäre der unberührten Natur ein. Längst schon hatte sich Dämmerschein über das Land gelegt. Das Blattwerk des Waldes ließ nur wenig von den letzten Strahlen der Sonne sichtbar werden und entsprechend war es dort, wo der Zwölfjährige mit seinen Tieren verweilte, noch dunkler. »Ich mache mich langsam auf den Weg, Freunde.« Alf kraulte dem Reh zu seiner Linken den Hals. Hoch über ihm stieß eine Eule 13
ihren typischen Ruf aus. Komm bald wieder, schien sie zu sagen. Alf nahm sich vor, sie nicht zu enttäuschen. Ziemlich ruckartig sprang er auf, was aber keines der Tiere im Mindesten aufschreckte. Ihre Instinkte waren auf die positive Aura des Jungen und seine lebensbejahende Einstellung ausgerichtet. Diese Informationen des morphogenetischen Feldes, das die Erde seit Urzeiten umgab, wogen stärker, als alles andere. Alf hatte noch nicht einen Schritt getan, da wurde seine Aufmerksamkeit eingefangen von einem matten Schimmer, der hinter einer Gesteinsformation aus dem Dunkel zwischen den Bäumen hervortrat. Was mochte das sein? Vorsichtig näherte er sich dem trüben Leuchten. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, dann konnte er über den Felsenrand hinwegsehen. Allerdings wurde der Schein dadurch nicht viel heller und als der Junge bemerkte, dass selbst die Tiere keinerlei Unruhe zeigten, da fasste er sich ein Herz und umrundete in zwei Sätzen den Steinblock. Zuerst wusste er gar nicht so recht, was er da sah. Die Helligkeit zeichnete ein rechteckiges Fenster mitten in das Dunkel. Es schloss mit dem Erdboden ab, reichte mehr als zwei Meter in die Höhe und durchdrang mit seiner Ausdehnung zu allen Seiten Baumstämme und dichtes Geäst, als wären diese nicht vorhanden. Die Kanten des Fensters zerfaserten im Dämmerlicht. Alfs Augen brannten. Mehrmals machte er sie auf und zu. Er ging näher heran an dieses Fenster, das den Eindruck erweckte, als könnte man geradewegs durch es hindurch in eine andere Welt eintreten, in eine... ja, in eine Halle. Da waren Kisten gestapelt. Ebenso konnte der Junge schwere Tische und Schränke jetzt deutlich erkennen. Auf einem zementierten Block standen Apparaturen, die an den Versuchsaufbau eines Chemieexperiments erinnerten; Gläser, Flaschen und Phiolen waren durch Röhrchen miteinander verbunden. Undefinierbare Flüssigkeiten brodelten in einigen Gefäßen, wohingegen sie sich in einigen weiteren nicht bewegten. Ganz nah ging Alf nun an das Fenster heran. Zögernd noch streckte er eine Hand aus. Was würde geschehen, wenn er das Leuchten berührte? Die Neugier war natürlich stärker als alle Furcht. So stieß 14
seine Hand vor, um in die fremde Welt einzutauchen - und prallte gegen ein Hindernis! Ein heller Schrei, nicht aus Erschrecken, sondern Enttäuschung. Flach klopfte seine Hand die Blockade ab, die aussah, als könnte man sie wie Wasser durchdringen. Doch die Wahrheit des Auges war eine andere als die seiner Finger. Es gab kein Hindurch kommen. Dafür kam jetzt jemand raschen Schrittes auf ihn zu! Alf war erschrocken, wusste im ersten Moment nicht zu sagen, ob die Person durch die Halle, die das Fenster ihm zeigte, ging oder ob sie auf dem Weg durch den Wald war und alsdann real vor ihm stehen würde. Ein alter Mann erschien - innerhalb des Fensters. Er war von hagerer Gestalt, besaß tausend Falten und Fältchen im Gesicht und wirkte überraschend freundlich. Alf war sicher, dass von diesem Mann keine Gefahr ausging. Der Alte hob die schwieligen Hände und tastete wie ein Pantomime die Innenseite des Bildfensters ab. Schließlich wedelte er lachend mit dem Zeigefinger und schüttelte energisch den Kopf.
Er will mir sagen, dass man nicht auf die andere Seite kann, überlegte Alf und fragte sogleich laut: »Wer sind Sie? Und wo kommen Sie her?« Der Mann auf der anderen Seite runzelte die Stirn. Dann hoben sich seine Brauen und er begann zu sprechen. Wenigstens bewegte er die Lippen, denn zu hören bekam der zwölfjährige Junge nichts. »Wir können uns nur sehen, aber nicht miteinander reden«, schlussfolgerte er. Weiterhin vermutete Alf, dass das eigenartige Phänomen für den Greis genauso neu und unverständlich war, wie für ihn selbst. Plötzlich lagen ihm viele Fragen auf der Zunge, etwa woher der Mann kam, wo er wohnte, was er machte, ob er ein Forscher war oder ein Geistwissenschaftler und so einiges mehr. Indes war der Junge nicht in der Lage, diese Fragen aus Sprache in Gestik zu übersetzen. Sein Gegenüber deutete immer wieder auf sich, dann auf Alf und sprach dazu lautlose Worte. Doch Alf fühlte sich nicht nur unfähig, das Gesehene zu verstehen, sondern auch etwas über sich selber mitzuteilen. Eine Begegnung voller Hindernisse und doch so interessant und die Neugier nährend, dass Alf sich vornahm, auch in den kommenden 15
Tagen wieder genau diese Stelle im Wald aufzusuchen, um das Rätsel um den alten Mann zu lösen. »Leider muss ich jetzt gehen«, sagte der Junge und unterstrich seine Worte mit einer Armbewegung zum Himmel, deutete anschließend auf seine Brust und ahmte mit Zeige- und Mittelfinger Gehbewegungen nach. Damit wollte er klar machen, dass es dunkel geworden war und er fort nach Hause musste. Der Alte beobachtete aufmerksam, nickte dann heftig und hob die Hand zum Abschied. Na bitte, resümierte Alf. Die Verständigung klappt doch prima. Er winkte seinem neuen, stummen Freund noch zu und verfiel in einen Laufschritt. Es war tatsächlich schnell dunkel geworden, schneller als erwartet. Hoffentlich hatten sich seine Eltern keine Sorgen gemacht. Dieser Gedanke rückte allerdings mehr und mehr in seinen Hinterkopf, je näher er dem heimischen Gehöft kam. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stand allein das Fenster im Wald. Schon jetzt überlegte der Junge fieberhaft, wie er sich über Gesten und Mimik dem Greis besser verständlich machen konnte. * »Träumst du, Alf?« Liv Tjörnsen legte ihr Lehrbuch in den Schoß und lächelte ihrem Sohn zu. Der zuckte leicht zusammen, als wäre er tatsächlich gerade von einem anderen Planeten auf der Erde angekommen. »Was? - Nein, ich... ich habe an etwas gedacht.« Seine Mutter schmunzelte. »Hoffentlich an etwas, das mit Mathematik zu tun hat.« »Entfernt«, wich Alf aus. »Trigonometrie scheint nicht deine große Leidenschaft zu sein.« »Ich weiß nicht, wozu sie gut sein soll. Sie ist so abstrakt und ich kann mir unter den Gleichungen nichts vorstellen.« »Ja, auf den ersten und zweiten Blick sieht das sehr verwirrend und auch unnütz aus, da hast du Recht. Du kannst allerdings äußerst nützliche Berechnungen anstellen für die Größe von Gefäßen, die einen 16
bestimmten Inhalt haben sollen. Wenn du möchtest, können wir nachher gerne ein paar Zeichnungen zu den Formeln anfertigen.« »Hm«, machte Alf und man brauchte kein Kinderpsychologe zu sein, um zu merken, dass sich seine Begeisterung arg in Grenzen hielt und er eigentlich viel lieber etwas ganz anderes unternehmen wollte. »Nun hab dich nicht so«, versuchte Liv ihn zu motivieren. »Das macht ganz viel Spaß.« Eine unfertige Zeichnung später sprang die Lustlosigkeit dem Zwölfjährigen förmlich aus dem Gesicht. Seine Mutter bemerkte es und streichelte ihm über den Kopf. »Lass mal gut sein, Alf. Du willst ja doch lieber nach draußen und wir sind so gut wie am Ende mit der Unterrichtsstunde. Morgen gibt's dann wieder Sprachübungen, okay?« »Okay.« Er dachte einige Sekunden nach. »Können wir mal etwas in Zeichensprache machen?« »Du meinst Sprache für Stumme und Gehörlose?«, fragte Liv Tjörnsen verwundert und schränkte dann ein: »Darüber weiß ich so gut wie gar nichts. Aber wenn du willst, kann ich mich sachkundig machen.« »Nein, nicht nötig. Das war nur so eine Frage von mir. - Ich gehe jetzt in den Wald, Mama.« »Aber bitte nicht mehr so lange wie gestern. Dein Vater hat sich schon fast auf die Suche nach dir gemacht. Komm bitte immer vor der Dunkelheit nach Hause.« »Mach ich! Bis später.« Zeichensprache, amüsierte sich Liv noch, als ihr Sohn bereits das Haus verlassen hatte. Wo er das wohl her hat. Vielleicht will er mit den
Tieren jetzt noch einen regen Gedankenaustausch betreiben... *
Die Meditationsphasen wurden weniger, die Übungsstunden uninteressanter und die Aufenthalte im Wald immer wichtiger. Alf war aufgefallen, dass das Fenster wohl den ganzen Tag über vorhanden war, man es bei Sonnenlicht allerdings kaum erkennen konnte. Umso ungedul17
diger war der Zwölfjährige den ganzen Tag über und konnte den Sonnenuntergang kaum abwarten. Alles, was nichts mit seinen abendlichen Ausflügen zu tun hatte, wurde zur lästigen Pflichterfüllung. Natürlich hielt er sich nicht an das Gebot, vor Einbruch der Nacht wieder daheim zu sein. Viel zu begierig war er auf seine Treffen mit dem alten Mann und viel zu schnell jagte die Zeit dahin, wo es doch so viel zu erfragen gab. Das führte zwangsläufig zu leichten Reibereien mit seinen Eltern, die seine plötzliche Unstetigkeit nicht einzuordnen wussten. Sie reagierten selbstverständlich nicht mit Strafen und Verboten, doch ließen sie ihren Spross schon wissen, was ihnen Kummer bereitete. Und das wiederum bedrückte Alf ein wenig, der sich in dem unvorhergesehenen Zwiespalt sah, einerseits Mutter und Vater keinerlei Sorgen bereiten zu wollen und - andererseits sein kleines Geheimnis zu bewahren. Denn irgendwie vermutete er, dass keiner von beiden seine ausdrückliche Genehmigung erteilen würde, des Nachts unerklärlichen Phänomenen nachzuforschen. Sicher würden sie darin eine Gefahr sehen und versuchen, ihn davon fernzuhalten. Diese Vorstellung überlagerte Alfs Denken und daher nahm er kleinere Zwistigkeiten in Kauf. Seines Erachtens hatte sich seine Sturheit schon ausgezahlt, denn er hatte einiges über den alten Mann in Erfahrung bringen können. Anscheinend beschäftigte dieser sich ebenfalls intensiv in spiritueller Hinsicht, schon von Kindesbeinen an (diesen an sich simplen Umstand zu verdeutlichen, hatte einiges an Geduld auf beiden Seiten erfordert). Und er war ein Forscher, der sich den Naturwissenschaften widmete. Alf hatte noch viele Nebensächlichkeiten in Erfahrung bringen können und war auch bemüht, Informationen über die eigene Person preiszugeben. Bisher war es dem Jungen jedoch nicht gelungen herauszufinden, woher der Mann kam, wie er hieß und was es mit diesem Fenster auf sich hatte. Die Lösung, gewisse Dinge einfach aufzuschreiben, war dem Alten bereits sehr früh eingefallen. Umso verwunderter wirkte er, dass Alf mit dem Geschriebenen nichts anfangen konnte. Wie auch! Aus den Hieroglyphen, die ihm der Greis zeigte, konnte doch kein Mensch schlau werden! Demgegenüber rätselte Alf, weshalb sein neuer Freund scheinbar verständnislos den Kopf schüttelte, immer dann, wenn der Junge ihm signalisierte, dass das Geschreibsel für ihn ein 18
Buch mit sieben Siegeln war. Nahm der Mann allen Ernstes an, irgendjemand könnte aus dem Kauderwelsch schlau werden? Oder sah eventuell der Greis etwas ganz anderes auf dem Papier und war deshalb fassungslos über Alfs Unverständnis? Diese Frage wurde nie geklärt! Denn es geschah etwas, das sie mit einemmal völlig unwichtig erscheinen ließ. * Wieder einmal konnte Alf es kaum erwarten, dass die Dämmerung einsetzte. Viele Tage nun schon war er jedes Mal zu jener besonderen Stelle im Wald gegangen, um dort sein ungewöhnliches Zwiegespräch mit dem Alten zu führen. Wieder einmal waren seine Fragen nicht oder nur ansatzweise beantwortet worden; Alfs Hartnäckigkeit fing gemächlich an zu bröckeln. Ebenso tat es das Wohlwollen seiner Mutter, die es ungerne sah, wenn ihr Sohn den elterlichen Unterricht vernachlässigte. Sie brachte bereits ein Übermaß an Verständnis auf und mittlerweile war sie an einen Punkt gelangt, wo sie sich fragte, ob nicht in Ausnahmefällen härtere erzieherische Maßnahmen zu rechtfertigen waren. Wenigstens vom Härtegrad der Sorte: »Heute Abend bleibst du im Haus und lernst.« Natürlich entschied sie sich dagegen. Dies geschah sogar zum größten Teil auf Anraten ihres Mannes, der sich ansonsten eher nebenher um die Erziehung kümmerte und auch nur selten die schulische Ausbildung übernahm. Er hatte jedenfalls die Meinung vertreten, dem Jungen nicht mit Blockaden in seiner Entfaltung zu begegnen, sondern die eigenen Ziele und Vorstellungen zugunsten der kindlichen Entwicklung zurückzustellen. Persönliche Eitelkeiten und Erfolgsstreben von Erwachsenen hatten in der Kinderwelt nichts verloren. Inzwischen senkte sich das Licht der Sonne zum Horizont. Alf hatte bereits den Nachmittag im Wald verbracht, nachdem er im Anschluss an seine Lernstunden noch etwas meditiert hatte. Zwischenzeitlich war er zum Abendessen schnell zurück zum Hof gegangen, nur, um nach dem Verschlingen der Mahlzeit das Haus schnellstmöglich wieder verlassen zu können. Liv Tjörnsen hätte ihm noch etwas 19
hinterher gerufen, was sich wie »Sei vor Einbruch der Nacht wieder zurück!« anhörte, doch der Junge hatte nicht mehr darauf reagiert und nur noch eines im Kopf: das Fenster im Wald! Als er die Stelle hinter dem Blockfelsen erreichte, da war das Fenster schon gegen das Dämmerlicht deutlich auszumachen und auch der alte Mann wartete bereits sichtlich ungeduldig. Er ging auf der Stelle auf und ab, als würde jegliches Stillstehen den Fluss der Zeit behindern. Dann sah er Alf, wollte förmlich auf ihn zuspringen, was durch die unsichtbare Barriere allerdings verhindert wurde. Hektisch gestikulierte der Mann vor Alfs Gesicht. Sein eigenes drückte sämtliche Zustände aus, die man empfindet, wenn man jemandem eine Sache zu erklären beabsichtigt, dabei aber vorher schon genau weiß, dass dieser sie nicht begreifen wird. Verzweiflung und Zorn wechselten sich in ihrem schillernden Farben- und Mienenspiel ab. »Was ist los?«, rief Alf erschrocken und wich nach hinten aus. »Habe ich etwas falsch gemacht?« Dem Jungen war nicht klar, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte. Der Greis schüttelte den Kopf, als hätte er die Worte seines Gegenübers verstanden. Nervös winkte er mit beiden Händen ab, sammelte sich und begann von vorne. Diesmal ruhig und gefasst. Er deutete auf Alf. Seine Lippen bewegten sich. Dann hielt er die Handfläche in einer Höhe, die Alfs Körpergröße entsprach. Wieder zeigte er auf den Jungen, führte seine Hände zum Kopf, zog an einigen Haarsträhnen und klopfte mit den Fingerspitzen auf seine Schultern. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was du meinst«, flüsterte Alf zögerlich. Er fürchtete, beim kleinsten sichtbaren Anzeichen von Unsicherheit den Zorn des Alten heraufzubeschwören. Irgendwie konnte sich der Junge keinen Reim darauf machen, warum sich der Mann derart verändert hatte. Was war geschehen? Hatte er sich in irgendeiner Form falsch verhalten und damit ohne es zu wollen eine Provokation bewirkt? Und wie sollte dieses Missverständnis – denn nur um ein solches konnte es sich handeln - wieder aus der Welt geschafft werden? Beim jetzigen Stand der Verständigung waren selbst alltägliche Angelegenheiten nur unzureichend darzustellen. Der Betrachter muss20
te ein ordentliches Maß an Phantasie und Einfühlungsvermögen mitbringen. Der Greis gab nicht auf. Er hielt die Handfläche im Neunzig-GradWinkel an seine Brust, symbolisierte vermutlich eine Person dieser Größe. Alf dachte zurück an die Darstellung der Haare. Lange, bis auf die Schultern reichende Haare. - Ein Mädchen! Nun zeigte der alte Mann auf dieses Mädchen und tippte sodann nachhaltig den Zeigefinger in Alfs Richtung und immer zwischen den beiden hin und her. »Ich treffe ein Mädchen!« Die Miene des Zwölfjährigen hellte sich schlagartig auf. Der Greis, der seinen jugendlichen Freund nicht aus den Augen ließ und jede noch so geringfügige Regung in dessen Gesicht registrierte, lachte und nickte aufgeregt. Bei aller Freude wurde er schnell wieder ernst. Seine vorgehaltene Handfläche forderte erneute Aufmerksamkeit und Konzentration. Plötzlich flimmerte die Luft. Das Fenster flackerte. Hatte Alf für einen flüchtigen Moment angenommen, dies sei auf das Wirken des Alten zurückzuführen, so sah er sich getäuscht, denn auch der zeigte sich überrascht und ließ den Kopf kreisen, um die Ursache des Phänomens zu ergründen. Er zog die Brauen hoch, wirkte verwirrt und wurde stets undeutlicher in dem stärker werdenden Farbrauschen. Einmal noch kam eine klare Verbindung zustande, einhergehend mit erleichtertem Aufatmen auf beiden Seiten des Fensters. Jedoch blieb sie lediglich einige Augenblicke stabil, um sich schließlich rapide vollständig aufzulösen. Zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht einmal richtig dunkel geworden. In den darauf folgenden Tagen wurde die Kontaktaufnahme beständig schwieriger; das Fenster blieb immer weniger lange stabil. Es gestaltete sich überaus mühselig, den Informationsstatus vom Vortag festzulegen, um genau an jener Stelle anzusetzen, an der man unterbrochen worden war. Oftmals gelang dies nicht und die Enttäuschung bei dem Jungen und dem Alten ging zunehmend in Frustration über. Was genau der Alte in seinem Flickwerklabor ihm nun hatte mitteilen wollen, war für Alf lediglich bruchstückhaft ersichtlich. Mehr und mehr keimte in dem Jungen jedoch der Verdacht, dass es sich um eine 21
Warnung handelte. Zuviel Ernst spiegelte sich im Gesicht seines Gesprächspartners, zuviel Hektik bestimmte sein Handeln. Beides im Zusammenspiel war unmissverständlich - allein fehlte die Basis für diese Auslegung. Wovor wollte man ihn warnen? Es zerrte selbst an den Nerven des Zwölfjährigen, diese Frage Tag für Tag unbeantwortet zu wissen, obwohl unglaublich viel Mühsal darin steckte, ihre Grundlagen zu formulieren. An diesem einen Abend lag die Antwort plötzlich greifbar nahe vor Alf. Er hatte bereits aufgeben und die geheimnisvolle Stelle im Wald nicht mehr aufsuchen wollen. Das zermürbende Gestikulieren und Rätselraten langweilte ihn schon länger und lenkte seine Aufmerksamkeit weit fort von den Dingen, die wirklich wichtig waren: der elterliche Unterricht und die Meditation. Ausgerechnet heute Abend zeigte sich das Fenster in ausnehmender Klarheit und ließ völlig störungsfrei den Blick in die Welt auf der anderen Seite zu. Der Greis hielt sich trotzdem nicht mit zeitraubendem Vorgeplänkel auf. Ansatzlos präsentierte er sich in einer Gestalt - vielleicht war ihm diese Idee über Nacht im Schlaf gekommen, denn er setzte seine pantomimischen Darstellungen von einer gänzlich anderen Warte aus fort - die Alf Tjörnsen unweigerlich an einen Krieger erinnerte. Zumindest war es identisch mit den Gedankenbildern, die sich in seinem Kopf nach den Erzählungen seines Vaters gebildet hatten. Ausfallschritt, die Arme im Halbkreis vor Brust und Gesicht zusammengeführt, die Hände um eine imaginäre Waffe geklammert. Übergangslos sauste das gedachte Schwert im Bogen nach unten.
Was stellt das dar? Alf zermarterte sich den Kopf. Der Alte hatte seine gewohnte Haltung eingenommen und schaute erwartungsvoll herüber. Ein Krieger. Wie heißen die noch? Wie hat Urgroßvater sie genannt? Alf schluckte hart, als sich die gerade noch losen Puzzleteile unter Höchstgeschwindigkeit aneinanderfügten. 22
Samurais! Von denen hat er gesprochen! Japaner! Es machte in
Alfs Gehirn so heftig ›Klick‹, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.
Go Nagashi! Der Immigrant!
Der alte Mann wertete die Benommenheit des Jungen als Zeichen seines Begreifens. Rasch versuchte er, die Gunst des Augenblicks zu nutzen und einige Gebärden zu ergänzen, um den ursächlichen Zusammenhang, den er hatte zeigen wollen, zu verdeutlichen. Erst als er sich bewusst machte, dass der Junge ihm gegenüber wie erstarrt dastand und seine Augen blicklos aus einem kalkweißen Gesicht stierten, kam es ihm in den Sinn, dass er möglicherweise eine irreführende Darstellung zum besten gegeben hatte. Sein jugendlicher Zuschauer mochte sich Fügungen zusammenreimen, die es nicht gab und die ihn auf eine falsche Fährte führten. Es würde nun noch wesentlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, ein eventuelles Missverständnis aus der Welt zu räumen... Der Alte wollte herzhaft seufzen, als ihm die Entscheidung über sein weiteres Vorgehen aus der Hand genommen wurde. Das Fenster geriet in Bewegung. Elektrischen Entladungen nicht unähnlich tanzten Blitze über das Bild, zeigten sich tausende Verästelungen, die sich millionenfach verzweigten. Dem Totalausfall folgte ein mattes Aufblitzen. Kurz noch nahm Alf das entsetzte Gesicht des Greises wahr, bevor ein unbegreiflicher Strudel alle Wahrnehmung mit sich riss. Schweren Gemüts trat Alf den Heimweg an. Ein beklemmendes Gefühl in seinem Innern regte sich und sagte ihm, dass er den Alten wohl nie wieder sehen würde. »Aber ein Gutes hat die Sache doch noch«, murmelte er vor sich hin, während er auf seine Schuhspitzen äugte und kleine Steinchen wegkickte. Es stand alles so klar vor ihm, als hätte es nie eine andere Lösung geben können. Auf der einen Seite war dieses Mädchen. Alf war sicher, er würde es in naher Zukunft kennen lernen, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, woher der Alte sein Wissen hatte. Auf der anderen Seite gab es diesen Japaner, der weiß Gott warum seine Heimat weit hinter sich gelassen hatte. Hier führte er das Leben eines Einsiedlers, lebte allein und zurückgezogen, pflegte kaum Kontakte zur 23
Außenwelt. Ideale Voraussetzungen, wenn man ungestört und unbeobachtet bleiben wollte. Das Resümee, das Alf Tjörnsen zog, war aus seiner Sicht unumstößlich und plausibel. Alles passte auf einmal zusammen. »Ich weiß jetzt, dass Go Nagashi ein Kindermörder ist.« * Liv Tjörnsen blickte ihren Sohn liebevoll an, als dieser zu Ende gegessen hatte und sich mit einem Tuch den Mund abwischte. »Ich freue mich aufrichtig, dass du dich wieder gefangen hast, Alf. Du wirkst wie ausgewechselt.« »Ja«, antwortete er. »Ich fühle mich auch so.« »Du gehst am Abend nicht wieder in den Wald?«, wollte sein Vater wissen. »Nein.« Alf hatte seinen Eltern von den Geschehnissen berichtet, von dem Fenster und dem alten Mann. Sie hatten es zur Kenntnis genommen und waren nicht weiter darauf eingegangen. Außer einem »Es gibt Dinge, die wir uns auf Anhieb nicht erklären können« schenkten Liv und Mats dem Thema keine weitergehende Beachtung. »Höchstens, um meine Freunde, die Tiere zu besuchen. Aber auch nicht lange. Ich bin vor Einbruch der Nacht wieder bei euch.« »Braver Junge«, lobte seine Mutter und streichelte ihm die Wange. »Was macht eigentlich Go Nagashi?«, fragte Alf mit einemmal. »Der hat's dir aber angetan«, witzelte Mats Tjörnsen, nahm einen Löffel voll gedünsteten Porrees und führte ihn vorsichtig zum Mund. »Na, was soll der denn schon machen? Den sieht man schließlich kaum. Tauscht nur hin und wieder Lebensmittel in der Stadt.« »Ich kann dir aber etwas anderes erzählen«, schaltete Alfs Mutter sich in die Unterhaltung ein. »Wir haben neue Nachbarn bekommen, die Vlaikönnens. Sie waren am Nachmittag kurz da, als du draußen warst. Kommen hoch aus dem Norden. Sehr nette Leute mit einer sehr hübschen, kleinen Tochter.« 24
»Ein Mädchen?!« Es war Frage und Antwort in einem. »Ja, stell dir mal vor, Alf. Ein Mädchen. Litta heißt es. Und sie würde sich bestimmt freuen, einen netten Spielkameraden zu haben.« Alf war völlig verdattert. Dass ihn die Vorhersage des alten Mannes derart schnell einholen würde, damit hatte er eigentlich nicht gerechnet. »Das würde sie ganz sicher«, ging er daher nur beiläufig auf die Feststellung seiner Mutter ein. Mats Tjörnsen lachte mit vollem Mund. »Du hast die Kleine noch nicht gesehen, da hat sie dir schon den Kopf verdreht. Ja, ja, die Frauen...« Was seine Mutter ihm noch sagte, war kaum mehr als ein gestaltloses Rauschen in seinen Ohren. Nach außen hin zeigte sich der Junge gefasst, doch in seinem Innersten ging es drunter und drüber. Wenn dieser Teil der Prophezeiung sich erfüllte, so würde es der andere auch tun. Nicht unbedingt jetzt gleich, jedoch in naher Zukunft. Der Atem der Vorsehung blies Alf Tjörnsen eiskalt ins Gesicht. Der Stein war ins Rollen geraten. Und direkt hinter ihm schickte sich eine ganze Lawine an, ihm nachzufolgen!
3. Kapitel Auf der Fährte der Bestie »Sie ist tot! Sie ist tot! SIE IST TOT!!!« Dreimal schrie es der Mann lauthals heraus, bevor er im Eingang der Baracke auf die Knie fiel, ein schluchzendes Bündel Mensch, gebrochen im Geist und physisch nicht in der Lage, das zu greifen, was ihn zerstört hatte. Seine Finger kratzten über die rauen Holzdielen, deren Splitter sich in die Kuppen bohrten und unter die Nägel schoben. Hinter ihm stand seine Frau, die sich nach außen hin besser unter Kontrolle hatte, jedoch all das ausstrahlte, was sich bei ihrem Gatten so offensichtlich Bahn brach. Ihr Gesicht war die Gussform modellierten Schreckens und schmerzender Leere. 25
Freder Berkvannsen war bereits aufgesprungen, als er die Tür polternd auffliegen hörte. Er war mit dem Ausfüllen einiger Dokumente beschäftigt, die er zur Vervollständigung seiner Kartei brauchte. Hochkonzentriert bei der Arbeit war er durch die unerwartete Störung mehr erschrocken, als es unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre. Eine unwirsche Bemerkung auf den Lippen, hatte er diese allerdings beim Anblick der beiden Personen zwischen den Zähnen zerbissen. Hier erlaubte sich niemand einen Scherz mit ihm. Diese Menschen benötigten dringend seine Hilfe. Entsprechend änderte sich seine Haltung in Betroffenheit. »Bitte, beruhige dich!«, redete er dem Mann zu, schob seine Papiere forsch beiseite und ging neben ihm in die Hocke. Der Körper des verkrümmt am Boden Liegenden zitterte heftig unter Berkvannsens Händen. Fragend sah er hoch zu der Frau, die noch keinen Ton gesagt hatte und wie aus Bronze gegossen dastand. Sie erwiderte den Blick, schaute jedoch durch Berkvannsen hindurch. Ihr Mund war ein schmaler Strich. Nur, wer sehr genau hinschaute, sah, dass ihre Lippen bebten. Berkvannsen ließ ab vom dem Mann und stand auf. Fest war sein Griff, als er das linke Handgelenk der Frau packte. In seinen Augen stand eine Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete. Er wollte helfen. Natürlich. Aber dazu musste er schon wissen, was vorgefallen war. »Würdest du mir jetzt bitte sagen, was dieser Überfall zu bedeuten hat, Ingvild? Wer ist tot? Wovon spricht dein Mann?« Ingvild und Sören Vlaikönnen lebten seit etwa einem Jahr im Distrikt Svendborg. Es waren hilfsbereite, ruhige und unauffällige Leute. Sie passten gut in ihre Gemeinde, waren fleißig und hatten ein hohes spirituelles Niveau erreicht. In ihrem Beisein zu meditieren war ein großer Gewinn. Die Frau antwortete nicht, auch als Freder seinen Griff verstärkte. Seine Pupillen huschten über ihre glanzlosen, trockenen Augäpfel, die selbst in höchster Pein keine Tränenflüssigkeit mehr gehabt hätten. Berkvannsen lockerte seine Finger an ihrem Gelenk, ließ schließlich 26
ganz los und wandte sich Sören zu, der lang aufstöhnte, einen Buckel machte und sich dann mühsam aufstemmte. Freder Berkvannsen, an sich kein schreckhafter Mensch, fuhr beim Anblick des verzerrten Gesichts zusammen. Seine Augen tasteten jede Furche ab, die Angst und Verzweiflung in dieses Spottbild menschlicher Physiognomie gegraben hatten. Aus den groben Poren quoll der Schweiß und mischte sich mit dem Staub auf der Haut, so dass ein schmutziger Film entstand, der sichtbarer Ausdruck des Seelenzustands dieses Mannes war: zerrüttet, befleckt, weit außerhalb jeglicher Konvention stehend und zu allem bereit, was ein Leben in einer geordneten Gemeinschaft mit festen Werten und unumstößlichen Prinzipien niemals zulassen würde. »Sören! Zum Teufel! Sieh mich an! Sieh mir in die Augen!« Freder Berkvannsen schüttelte Vlaikönnen heftig an den Schultern. »Wer ist tot? Sag es mir! Wer ist gestorben!?« Wenn er einen erneuten Gefühlsausbruch erwartet hatte, so sah er sich getäuscht. Sören Vlaikönnen führte seinen Mund ganz nah an das Ohr seines Gegenübers. Berkvannsen spürte deutlich den heißen Atem. Dann flüsterte die Stimme: »Litta... Er hat uns Litta genommen...« »Litta ist tot?« Freder war derart perplex, dass er für Sekunden vergaß, seinen Mund wieder zu schließen. »Woran... ist sie gestorben?« Er stellte die Frage rein mechanisch; seine Fassung hatte er noch nicht wieder gewonnen. »Nicht gestorben«, hauchte Sören. »Er hat sie geholt. Er hat sie ermordet...!« Berkvannsen schüttelte abgehackt den Kopf, seine Augen verengten sich. »Wer hat Litta mit sich genommen?« Allmählich kehrte sein Urteilsvermögen zurück. »Und wie kommst du darauf, dass sie ermordet wurde? Weißt du überhaupt, was du da von dir gibst? Niemand in unserer Gemeinde würde einem anderen Lebewesen, ganz gleich ob Mensch oder Tier, vorsätzlich Schaden zufügen.« »Er war es.« Auf jeder Silbe lag das Gewicht eines Steinquaders. Keine Armee von Gegenargumenten hätte die tonnenschwere Last, die 27
sich so geschmeidig über Ingvild Vlaikönnens Lippen hievte, auch nur um wenige Millimeter verschieben können. »Lasst uns erstmal wieder zur Besinnung kommen«, machte Freder einen Vorschlag, als er bemerkte, dass sich die Gemüter zu befrieden schienen. Er deutete voraus an einen Tisch. »Setzen wir uns.« Jeder rückte sich einen Stuhl zurecht. Ingvilds maskenhafte Miene verlor etwas von ihrer Starre und Blässe. Sören hielt die Augen geschlossen und suchte in einer Kurzmeditation die emotionale Balance. Freder Berkvannsen gewährte ihnen die nötige Zeit und wartete geduldig, bis die Vlaikönnens gesprächsbereit waren. »Ihr erzählt mir nun von Anfang an, was sich zugetragen hat, warum ihr diesen furchtbaren Verdacht erhebt und gegen wen er sich richtet.« »Go Nagashi«, beantwortete Sören die letzte Frage wie aus der Pistole geschossen. »Es war der Japaner.« Berkvannsen schwieg dazu. Nur sein ernster Gesichtsausdruck verriet, dass es in ihm arbeitete. »Bitte, erzähle weiter.« Sören Vlaikönnen warf einen unsicheren Blick hinüber zu seiner Frau. Anscheinend hatte sie ihm auf irgendeine Art und Weise, die sich einem Uneingeweihten entzog, ihre Zustimmung signalisiert, denn er fuhr in seinen Ausführungen fort. »Eines Abends kehrte Litta erst sehr spät nach Hause zurück...« * »Wo kommst du her, Kind? Es ist stockdunkel draußen.« Ingvild Vlaikönnen zog ihre Tochter ins Haus, schloss die Tür und schob den Riegel vor. »Entschuldige bitte, Mutter. Ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Es war doch so schön.« »Du warst mit diesem Jungen spielen, richtig? Alf heißt er doch.« Ingvild streichelte das Gesicht ihres Mädchens. Die Kinderaugen strahlten sie glücklich an. 28
»Ja, richtig. Und er ist so lieb, weiß soviel von dem Wald und den Tieren. Und in der Meditation kennt er sich viel besser aus als ich. Seine Eltern finde ich auch sehr nett. Liv und Mats heißen sie. Und die Liv, die kocht so lecker...« Schwärmerisch verdrehte die Elfjährige die Augen und beschrieb mit der Handfläche kleine Kreise über ihrem Magen. »Vergiss beim Erzählen nicht, Luft zu holen«, lachte ihr Vater, der vom Holzschuppen kommend durch den rückwärtigen Eingang die Wohnstube just in dem Moment betrat. »Nein, Papi«, lachte Litta zurück. »Sonst ersticke ich ja noch.« »Setz dich doch bitte eben zu mir auf die Bank«, wechselte Ingvild das Thema. Ihre Stimmlage signalisierte dem Mädchen, dass einige ernste Worte auf sie zukamen. So kletterte sie auf die halbrunde Sitzbank und hockte sich auf die Unterschenkel. Jeweils mit dem Fuß des anderen Beines streifte sie ihre leichten Sandalen ab. »Wenn wir dich bitten, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Hause zu sein, dann tun wir das nicht, um dich zu ärgern oder zu bevormunden oder um dir den Spaß am Spielen zu verleiden...« »Das habe ich auch gar nicht gedacht!« »... sondern um sicherzugehen, dass dir nichts passiert ist.« »Aber Mutter, was soll mir denn geschehen? Der Alf, der tut mir doch nichts. Und die Eltern vom Alf erst recht nicht.« »Von deinen Freunden reden wir natürlich nicht«, schaltete sich Sören Vlaikönnen in das Gespräch ein und setzte sich zu seiner Tochter auf die Bank. »Aber was meint die Mama dann?«, fragte Litta ratlos und schmiegte sich in die Seite ihres Vaters. »Ich fürchte mich doch nicht in der Dunkelheit.« »Das wissen wir, Schatz«, beruhigte Ingvild das Mädchen. Ihr fiel auf, dass das Gespräch sie beunruhigte und ihr Unverständnis gegenüber den elterlichen Anordnungen nicht gespielt war, sondern Ausdruck ihrer unerschütterlichen Naivität. Daher versuchte Ingvild die Sache anders anzugehen und einen neuerlichen, behutsamen Vorstoß zu wagen. 29
»Weißt du, mein Spatz, es ereignen sich einige - sagen wir mal drollige Dinge im Wald und in der näheren Umgebung. Dinge, die wir nicht als gefährlich ansehen, die uns jedoch etwas Sorge bereiten. Verstehst du das?« Litta nickte spontan. »Ja, der Alf hat mir davon erzählt. Er hat einen alten Mann im Wald gesehen. Aber der war nicht wirklich da. Eher wie ein Geist. Und sprechen konnte der, nur verstanden hast du nichts...« »Luft holen, Litta.« »... und komische Zeichen hat der gemacht. Der Alf meinte wohl, der Alte wollte ihm etwas über den Japaner sagen. Aber dann ist er verschwunden und bis heute nicht zurückgekehrt.« »Genau diese Art von Dingen meine ich«, bestätigte Littas Mutter. »Wir haben noch von weiteren Erscheinungen gehört, aber nichts Genaues. Alles kann ganz harmlos sein, trotzdem wollen wir sichergehen, dass dir nichts zustößt. Gerade in der Nacht sind die negativen Kräfte aktiv.« Einige Augenblicke guckte Litta ihre Mutter nur stumm an. »Du machst mir Angst, Mama.« Rasch fügte sie hinzu: »Der Alf sagt immer, dass jemand, der sich sorgt, egoistisch ist. Weil der dann nämlich nur große Angst hat, etwas für sich ganz persönlich zu verlieren.« »So was sagt dein Freund?«, wunderte sich Sören und es war nicht unbedingt ersichtlich, ob darin ein Vorwurf oder Anerkennung mitschwang. Ingvild Vlaikönnen hingegen beugte sich an dem einfachen Tisch weit nach vorne zu ihrer hübschen kleinen Tochter, nahm deren Gesicht zwischen ihre Handflächen und sah ihr eindringlich in die Augen: »Ich gebe es zu, Litta. Ja, ich bin egoistisch, denn ich will dich für mich behalten. Ich möchte dich immer um mich haben, dich lachen sehen und deine Heiterkeit und Lebendigkeit spüren. Du gibst meinem Leben einen Sinn. Und ich möchte auf allen deinen Wegen dein Schutzengel sein und alles von dir fernhalten, was dich traurig macht. Wenn es das ist, was dein Freund meinte, dann bin ich tatsächlich schuldig.« 30
Jetzt musste selbst Sören Vlaikönnen schlucken. Das leidenschaftliche Plädoyer seiner Gattin hatte ihn tief ergriffen. Littas Blick wurde feucht. Sie zog die Nase hoch, wischte mit dem Handrücken über ihre Augen und krabbelte auf den Tisch und zu ihrer Mutter. Herzlich schlossen sich beide in die Arme. Es wurde kein Ton gesagt. Die Innigkeit der Geste verlangte nicht nach Worten. Einige Minuten hielten Mutter und Tochter sich eng umschlungen. Als Sören sich erhob, um in den Nebenraum zu gehen, fand Litta die Sprache wieder. »Mutter, ich hab dich so lieb«, wisperte das Stimmchen. »Ich hab dich auch lieb«, kam es geflüstert zurück. »Und jetzt bringe ich dich ins Bett.« * »Die Zeiten sind neu und unsicher. Die Dunkelheit mag tausend Gefahren bergen.« Freder Berkvannsen drückte seine uneingeschränkte Zustimmung aus. »Ich hätte ebenso gehandelt.« Ingvild Vlaikönnens ausdrucksloses Gesicht schmolz immer mehr dahin, bis sie irgendwann hemmungslos in ihre zu Fäusten geballten Hände schluchzte. Was sie zuvor unterdrückt hatte, setzte sich nun Schub um Schub frei. Sören wollte seiner Frau zur Seite stehen, doch sie musste seine Absicht erraten haben und winkte ab. »Wie ging es dann weiter, Sören?« Freder war eher ein Mann der Tat und hielt sich nicht gerne länger als eben nötig mit Sentimentalitäten auf. Seine Eltern hatten noch die Ausläufer der alten Schule genossen. Und da war nicht die Rede von Meditation und Spiritualität und anderem überkandideltem Geisterzeugs. Da zählte nur der, der seine Ansichten auch gezielt durchzusetzen vermochte. Lediglich Gerede leistete in den wenigsten Fällen richtige Überzeugungsarbeit. Die neuen Strömungen nach der Wende waren daher auch nicht überall dankbar angenommen worden, auch wenn tendenziell der Geist den Körper dominierte. Verschiedentlich existierten durchaus entgegen gesetzte Neigungen. Es würde viele Generationen dauern, bis diese eingedämmt und korrigiert waren. 31
Berkvannsen würde es nicht mehr erleben und wenn er ehrlich war, kratzte es ihn kein bisschen. »Wenn ich dir helfen soll, muss ich die ganze Geschichte hören«, ließ Freder nicht locker, als Sören Vlaikönnen keinerlei Veranstaltungen unternahm, seinen Bericht fortzusetzen und stattdessen lieber seine Frau beobachtete, die ihr Gesicht in der Armbeuge versteckte. Die zweite Aufforderung zeigte Wirkung. * »Es vergingen ein paar Monate. Litta war immer pünktlich. Wie sie es uns versprochen hatte. Es dauerte allerdings nicht lange, da schien sie es mit ihrem Versprechen nicht mehr so genau zu nehmen. Die Nacht brach herein und unsere Tochter lief immer noch irgendwo draußen herum. Ich hatte im Schuppen ein Wagenrad repariert und als ich die Wohnung betrat, da sah ich Ingvild krankhaft gezeichnet vor verzehrender Sorge. Beinahe im selben Moment klopfte es mehrmals hart an die Tür...« Das Klopfen wiederholte sich, als nach angemessener Pause nicht geöffnet wurde. Diesmal noch stärker. »Ich werde aufmachen!«, setzte sich Sören in Bewegung. Er war verschwitzt vom Aufspannen des massiven Karrenrads. »Ich habe ein ungutes Gefühl«, äußerte sich Ingvild. Einerseits hoffte sie inständig, ein Lebenszeichen ihres Kindes zu erhalten, andererseits fürchtete sie, eine genau entgegen gesetzte Nachricht präsentiert zu bekommen. Sören Vlaikönnens Gedanken bewegten sich in eine andere Richtung. Wer immer um diese Zeit Einlass begehrte, der konnte nur der Überbringer wichtiger Kunde sein. Bevor es also ein drittes Mal klopfte, hatte der Hausherr die Tür entriegelt und aufgezogen. Und was immer er erwartet haben möchte - an seinen entgleisten Gesichtszügen ließ sich unschwer ablesen, dass er damit nicht gerechnet hatte. 32
»Nagashi!«, keuchte er entsetzt. In einer Reaktion, die der eines Hilfesuchenden am ehesten nahe kam, drehte er den Kopf zu seiner Frau. Auch sie trug den Schrecken offen im Gesicht. Die Vlaikönnens waren erst ein gutes Stück nach dem Japaner in diese Gegend gezogen. Sie hatten jedoch rasch bemerkt, dass es Mitglieder in der Gemeinschaft dieses Distriktes gab, die ihrer Aufgabe als Bestandteil derselben nur wenig gerecht wurden. Daher wurden solche Menschen fast automatisch in den Status ›sonderbar‹ versetzt; man kam ihnen nur mit größter Vorsicht entgegen und vermied es, nähere Kontakte zu knüpfen. Go Nagashi gehörte dieser Gruppe von Menschen an, die man zwar tolerierte, denen man aber nicht so recht über den Weg traute. Da kaum etwas über ihn und seine Vergangenheit bekannt war, umspann ihn ein Netz mysteriöser Geschichten und eigenartiger Gerüchte. Nichts Bedrohliches, nein. Das Übliche Geschwätz über absonderliche Alltäglichkeiten. Indes - es zeigte sich, dass der Odem geheimnisvoller Unnahbarkeit den Japaner umgab wie eine zweite Haut und sie erzeugte bei der geringsten Berührung Misstrauen und Abwehrhaltung. Günstigenfalls. Außerdem war die grimmige Erscheinung des Asiaten dazu angetan, den ohnehin negativen Eindruck deutlich zu verstärken. Vlaikönnen befand sich in einer Art Trance. Erst der spitze Freudenschrei seiner Frau Ingvild beförderte ihn in die Gegenwart zurück. »Litta!«, fuhr die Mutter hoch, um ihre Tochter von Nagashi fortzuziehen und in die Arme zu schließen. Argwöhnisch schaute sie aus der Hocke an dem Mann in den traditionellen Tuchgewändern hoch und sah zu, dass sie Abstand zwischen ihn und sich brachte. »Oh Gott, Schatz! Geht es dir gut? Hat dir jemand etwas getan?« Erwartungsvoll fixierte Ingvild ihr Mädchen, darauf lauernd, eine Regung in dem Kindergesicht zu entdecken, die ihr den gesuchten Hinweis lieferte, dass der Japaner sich in irgendeiner Weise an ihr vergangen hatte. Doch da war nichts dergleichen auszumachen; ebenso keine Wiedersehensfreude. In dem gesenkten Blick, der sich nun wagemutig dem der Mutter stellte, schimmerte nichts anderes als blankes Schuldbewusstsein und tiefe Scham, das Vertrauen der Eltern enttäuscht zu haben. 33
Vater Vlaikönnen stand im Türrahmen wie ein Statist. Go Nagashi verkörperte ein stolzes Monument, das sich keiner überflüssigen verbalen und nonverbalen Hilfsmittel zu bedienen brauchte; seine Existenz war Aussage genug. »Was... was hast du mit ihr gemacht?«, fragte Sören und verlieh damit seinen unhaltbaren Vermutungen Ausdruck, um den Tatsachen keine Beachtung schenken zu müssen. Die Situation überforderte ihn. »Mädchen spielt, wo keine gute Stelle ist für Kinderspiel«, antwortete Nagashi zackig und akzentlastig. »War sie alleine?«, schoss Ingvild die sie drängende Frage hinterher. »War sie nicht in Begleitung eines Jungen?« »Mädchen spielt alleine. Wald ist dunkel und voll Gefahr.« Der Japaner verbeugte sich und entschwand mit eleganten Bewegungen. Ingvild rief ihm noch ein »Danke für die Hilfe« nach, doch der Mann aus Fernost drehte sich nicht mehr um. Er strebte nicht nach Dank und Anerkennung und wollte sich auch nicht in einlullenden Lobeshymnen baden. Er hatte geholfen und auf die Gefahren hingewiesen, so dass die Menschen sich demnächst selber helfen konnten und er frei war für andere Aufgaben. »Unheimlicher Geselle«, murmelte Sören, dem die Situation nachträglich eher als Halluzination erschien. »Es stimmt schon, was die Leute so reden. Und hast du diesen Säbel gesehen, Ingvild?« Sie nickte und gab Litta einen Kuss auf die Wange. Gleich darauf drückte sie das Kinn ihrer Tochter in die Höhe, so dass sich beide in die Augen sahen. »Also, junge Dame, dann schieß mal los. Und keine Flunkereien!« * Es hatte sich alles so zugetragen, wie man es den kargen Mitteilungen Go Nagashis hatte entnehmen können. Litta hielt natürlich noch einige Details bereit, die an der Gesamtsituation jedoch nichts änderten. Sie hatte mit ihrem zwei Jahre älterem Freund Alf eine Kurzmeditation in dessen Zimmer abgehalten. Liv Tjörnsen hatte den Kindern eine Mahlzeit bereitet und dann waren sie zu den Tieren in den Wald 34
gegangen. Lange, sehr lange hatten sie sich dort aufgehalten. Es war schließlich Alf gewesen, der nach einem demonstrativen Blick in den Himmel zur Heimkehr mahnte. Litta hatte aber noch keine Lust gehabt; in ihrer kindlichen Einfalt hatte sie Alf aufgezogen, ihn als Muttersöhnchen tituliert und dazu gemein gelacht. Das alles hatte das reumütige, hübsche Mädchen seiner Mutter gebeichtet. Und es hatte auch nicht verschwiegen, dass Alf sie aufgrund der zwar harmlosen, doch zwischen guten Freunden verletzenden Neckereien allein im Wald zurückgelassen hatte und nach Hause gegangen war. Springlebendig wie sie war - und ein Trotzkopf obendrein, allerdings ein liebenswerter - war sie auch ohne Spielkameraden weiter auf die Pirsch gegangen. Immer tiefer sank die Sonne, bis schon das letzte Licht des Tages nicht mehr die Wipfel der Bäume überwinden konnte. Stockdunkel war es, als die knapp Elfjährige sich vorantastete in eine Richtung, von der sie nicht einmal sagen konnte, ob sie sie heimwärts oder immer weiter weg führte von zu Hause. Die Nacht flößte ihr keine Furcht ein. Geraume Zeit hatte Litta sogar überlegt, ob sie sich nicht eine Schlafstatt suchen und den Morgen abwarten sollte. Es sprach nichts dagegen. Zu den Eltern würde sie wohl kaum zurückfinden und bei Tageslicht sah die Angelegenheit dann schon völlig anders aus. Diese Überlegung ragte weit über den Horizont eines Kindes ihres Alters hinaus. Es hätte sich auch alles so abgespielt, wenn sie nicht über diese Luftwurzel gestolpert wäre. Ihr Aufschrei zerriss die herrschende Stille des Waldes, wandelte sich zu einem spitzen Schrillen, als sie aufschlug und der Boden unter ihr nachgab wie mottenzerfressenes Leinentuch. Litta schlug sich leicht den Kopf, rutschte auf losem Geröll steil abwärts und wäre über den Hang hinausgeschossen und unzählige Meter in die Tiefe, wenn sie nicht ein kräftiger Arm aus der Luft gefischt hätte. Der Arm des Japaners Go Nagashi. Was der Einsiedler genau an jener Stelle verloren hatte, hatte er nicht gesagt. Möglich, dass er Litta bereits länger beobachtet und nur darauf gewartet hatte, eingreifen zu können. Den ganzen Weg zurück zu den Vlaikönnens war keine Silbe über die Lippen des Mannes gekommen. Trotzdem hatte die Kleine sich ihm anvertraut. Ohne zu fra35
gen. Ohne sich zu widersetzen. Sie hatte gespürt, dass von dem schweigsamen Asiaten kein Unheil und nichts Böses ausging. Und mehr brauchte sie nicht zu wissen. Außer, dass er sie sicher nach Hause bringen würde. Ingvild und Sören Vlaikönnen fühlten sich erneut überlastet und unfähig einen Weg zu finden, das uneinschätzbare Temperament ihrer Tochter wenigstens insofern einzudämmen, dass sie unter allen Umständen bei Einsetzen der Dämmerung den Heimweg antrat. Ganz gleichgültig, wie interessant ihr Spiel auch sein mochte. Strafandrohung oder gar körperliche Züchtigung wies das Elternpaar weit von sich; der Zeitgeist betrachtete beides als überholte und unadäquate Relikte einer gewalttätigen Unterdrückerepoche. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als aufs neue Littas Versprechen einzufordern und an ihren jungen Verstand zu appellieren, ihre Lehren aus dem Erlebten zu ziehen. Eine Woche verging. Dann folgte der Tag, an dem Litta nicht mehr wiederkehrte. Die ganze Nacht nicht. Sören und Ingvild Vlaikönnen suchten mit Fackeln die Umgebung ab und gaben es schließlich auf. Die Müdigkeit ignorierend warteten sie trotzdem bis in die frühen Morgenstunden. Doch selbst die ersten Strahlen der Sonne brachten den leidgeprüften Eltern das verlorene Kind nicht wieder... * Freder Berkvannsen hielt den Kopf auf dem Ellbogen abgestützt; seine Finger tippten nervös gegen die Stirn. Irgendwie konnte er sich auf die Geschichte keinen Reim machen. Und das sagte er den Leuten. »Wo ist da der Beweis, dass Nagashi Litta ermordet hat? Ich tendiere eher zum Gegenteil. - Verstehe mich bitte nicht falsch«, setzte Freder nach, als Vlaikönnen sich ihm ruckartig zuwandte und ihn in einer Mischung aus Unverständnis und Abscheu musterte. »Der Japaner ist ein Sonderling und viele sähen es lieber heute als morgen, dass er sein Ränzlein schnürt und davonzieht.« 36
»Worin besteht dann das Problem?«, sagte Ingvild tonlos. Jedes Wort war gefrorener Hass. »Herrgott!«, entfuhr es Berkvannsen. »Was erwartet ihr von mir? Nur weil ich dem Landrat vorstehe - und das nicht alleine - habe ich doch keine Befugnis, unbescholtene Menschen aufgrund eines vagen Verdachts als Ketzer hinzustellen! Bei allem Leid, das euch widerfahren ist...« »Kannst du es nicht oder willst du es nicht...?« Ingvild Vlaikönnen hatte das Kommando übernommen. Nachdem sie vorher noch die wenigsten Lautäußerungen von sich gegeben hatte, schien sie nun die Entscheidungen von höherer Priorität vorantreiben zu wollen. »Gebt mir einen Grund!«, lenkte Freder Berkvannsen überlaut ein. »Gebt mir nur einen einzigen Grund, warum ich etwas gegen Nagashi unternehmen sollte!« Sören und Ingvild beratschlagten sich lautlos. Schließlich ergriff Vlaikönnen das Wort. »Am nächsten Tag waren wir bei den Tjörnsens. Na ja, weil Litta schließlich immer viel Zeit mit Alf verbrachte.« Er machte eine Pause, als wäre damit bereits alles gesagt worden. »Und was weiter? Zum Teufel, Sören, das war doch nicht alles!« Langsam aber sicher riss Freder der Geduldsfaden. »Alf hat es gesehen.« »Alf hat - was gesehen?« »Wie der Japaner, den du zu schützen versuchst, unsere Litta entführt hat!« Sörens Stimme hatte sich von gemäßigter Lautstärke zum anklagenden Schrei erhoben. »Jetzt reg dich wieder ab! Ich muss nachdenken. - Also, der Junge hat das wirklich alles beobachtet?« »Er hatte Angst einzugreifen und sich auf sein Zimmer zurückgezogen. Er stand unter Schock und konnte lange nicht darüber reden.« »Warum haben die Tjörnsens mich anschließend nicht benachrichtigt?« »Weil sie es nicht wussten. Sie haben es zur selben Zeit wie wir erfahren. Das ist keine drei Stunden her.« 37
Freder Berkvannsen wand sich, stand auf und ging einige Schritte auf und ab. »Wir werden Go Nagashi zur Verantwortung ziehen«, gab er alsbald bekannt. »Ich werde Borghese und Ollström in Kenntnis setzen. Eventuell noch Shi, die Schamanin.« Sekunden vergingen, Augenblicke, in denen sämtliche Fakten in geordneter Reihenfolge vor Berkvannsens geistigem Auge abliefen. Er konnte sich nicht helfen. Irgendwo fehlte ein wichtiges Puzzleteil. Ein letztes Mal wollte er die Vlaikönnens aus der Reserve locken. »Was ist, wenn der Junge gelogen hat?« Auf Ingvilds Miene zeigte sich eine Regung, die entfernt einem Lächeln ähnelte. Einem eisklirrenden Lächeln. »Warum sollte er so etwas tun...?«
4. Kapitel Der Blechanhänger Vom ersten Augenblick an verzauberte ihn Littas Anblick. Dabei hatte er dem Anstandsbesuch, den seine Eltern den Vlaikönnens machen wollten, eher mit gemischten Gefühlen entgegengesehen, denn er betrachtete die Zeit als verschwendet und hätte sie lieber in der vertrauten Umgebung seiner bepelzten und gefiederten Freunde verbracht. Während der Fahrt auf dem Eselskarren sprach er kaum eine Silbe und seine Eltern ließen ihn gewähren und unterhielten sich lediglich untereinander. Mädchen, pah!, hatte er so gedacht. Als wenn es nichts Wichtige-
res gäbe. Was ist an denen so interessant?
Die Vlaikönnens begrüßten die Tjörnsens aufs Herzlichste und baten sie in ihren Holzbau. Während die beiden Elternpaare langsam ins Gespräch miteinander fanden, hockte sich Alf draußen vor dem Haus auf einen Stapel Holzscheite und brütete vor sich hin, Litta Vlaikönnen hatte sich noch nicht blicken lassen. Gut so, dachte er. Je früher wir wieder fahren, desto besser. Kümmert sich eh keiner um mich. Andererseits ging ihm die Darstel38
lung des alten Mannes nicht mehr aus dem Kopf, der er entnommen hatte, ein kleines Mädchen kennen zu lernen. Kam jetzt die Bestätigung für den Wahrheitsgehalt dieser Annahme? In Gedanken versunken bemerkte er nicht das helle Stimmchen, das sich in den Kanon der Erwachsenen mischte und kurz darauf wieder verstummte. Ebenso nahm er die leichten Schritte in seinem Bücken, die ihm ganz nahe kamen, nur nebenher wahr. »Hallo! Du bist Alf, nicht?« Der Junge wirbelte herum. »Ich heiße Litta.« Barfuss und in ein knöchellanges, grob gewebtes Kleid gehüllt stand ein unwahrscheinlich hübsches blondes Mädchen vor ihm. Es lehnte den Kopf gegen die linke Schulter und streckte Alf die Hand am langen Arm entgegen. Die ist ja unheimlich süß, ging es dem Zwölfjährigen durch den Kopf. Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Scheu und bis in die Zehenspitzen verlegen nahm er ihre Hand und drückte sie. »Iiihhh, die ist ganz feucht!«, entzog sich Litta seinem seichten Griff. »Oh«, machte Alf nur und rieb die Handinnenfläche an seiner Hose ab. Dann sahen sich beide an und mussten gleichzeitig lachen. Litta nahm dies als Auftakt für eine schier endlose Reihe von Fragen. Frauen mussten schließlich immer genauestens Bescheid wissen. Der Wissensdurst eines Kindes indes stellte dieses Bestreben noch weit in den Schatten. Ungezwungen und fröhlich waren die Kinder immer noch miteinander beschäftigt, als sich die Tjörnsens auf die Heimreise begeben wollten. »Können wir nicht noch ein bisschen bleiben?«, wollte Alf wissen. »Wolltest du nicht eigentlich lieber daheim bleiben?«, stellte seine Mutter eine Gegenfrage. »Das war vor ein paar Stunden«, konterte der Junge. 39
»Lass es für heute mal gut sein«, redete Mats seinem Sohn gut zu. »Du wirst noch an so vielen Tagen Gelegenheit haben, dich mit Litta zu unterhalten. Wir möchten gerne fahren, denn es gibt noch einiges auf dem Hof zu tun.« Der Karren ruckte an, nachdem alle aufgesessen waren und der Esel sich mit typischem Blöken in Marsch setzte. Alf saß am hintersten Ende und winkte Litta noch lange nach. Er winkte sogar dann noch, als sie zu einem winzigen Punkt in der Ferne geschrumpft war und er nur noch ahnen konnte, wo sie stand. Zu Hause angekommen, stürmte er gleich in sein Zimmer im ersten Stock und warf sich aufs Bett. Mit weit offenen Augen starrte er an die Decke des Raums. Den ganzen langen Nachmittag ließ er noch einmal Revue passieren. Doch ständig überlagerte das Antlitz seiner neuen Freundin die Bilder des Tages. Alf war sich nicht sicher und horchte in sich hinein, forschte diesem Gefühl nach, das jede Faser seines Körpers und jeden Gedanken in seinem Kopf erfüllte und das wohl mit jenem identisch sein musste, was er zwar nicht aus eigener Erfahrung kannte, aber von dem ihm seine Mutter häufig erzählt hatte. Und dann glaubte er, endlich sicher sein zu können: Er hatte sich verliebt! * In den kommenden Wochen und Monaten verging kein Tag, an dem die Kinder sich nicht sahen. Ihre Freundschaft wurde enger und enger und schuf ein nahezu unzerstörbares Band. Alles teilten sie miteinander, lachten und weinten gemeinsam, erfreuten sich an der Schönheit der Natur und der Zuneigung der Tiere. Sie waren sich Bruder und Schwester, waren Verschwörer, Forscher, Entdecker und flammender Verteidiger des jeweils anderen bei den Eltern. Nichtsdestotrotz waren sie auch Kinder, die allmählich begannen, ihren Körper kennen zu lernen und Empfindungen wahrzunehmen, die nicht nur neu, sondern in höchstem Maße befremdlich waren. Beide sprachen sie nicht oder nur 40
vage darüber und jeder war insgeheim der Meinung, der andere verberge vor ihm ein Geheimnis. Es war in jenen Tagen, da Alf der Meinung war, seine Bindung zu Litta offen und für jedermann sichtbar zur Schau tragen zu müssen. Er ging ihr ein gutes Stück entgegen, denn zwischen den Häusern der beiden Familien lagen viele Kilometer. Am Wegesrand setzten sie sich auf den Boden und Alf kramte alsdann umständlich etwas aus seiner Hosentasche hervor. Beinahe andächtig hielt er direkt vor Littas Gesicht ein gegerbtes Lederband hoch, an dem ein gelochtes Stahlplättchen baumelte mit etwa dem doppelten Durchmesser eines Daumennagels. »Ist das für mich?«, fragte Litta und kannte selbstverständlich die Antwort. In ihren Augen zeigte sich ein freudiges Funkeln. »Das ist es«, bestätigte Alf. »Ich habe es extra für dich angefertigt.« Er sah sie selbstzufrieden an. Als sie nicht sofort wie erwartet reagierte, indem sie ihn überschwänglich lobte, schränkte er ein: »Na ja, das Band ist aus Schneideresten und das hier« - er schnippte gegen die glitzernde Münze, die in Wahrheit eine Unterlegscheibe war »habe ich hinter dem Wald am Seeufer gefunden. Aber zusammengesetzt habe ich's schon und so ganz einfach ist es auch nun wieder nicht gewesen.« Litta Vlaikönnen reckte dem Jungen ihren Kopf entgegen und ließ sich das Bändchen umhängen. »Es ist richtig schön«, bedankte sie sich. Nur ganz kurz bremste sie in der Vorwärtsbewegung, beugte sich letztlich entschlossen vor und gab Alf einen Kuss auf den Mund. Zum ersten Mal. Der Junge war verdattert und die Gefühle in seinem Innern, die einem plötzlichen Aktivierungsimpuls zu gehorchen schienen, steigerten diesen Eindruck beinahe schmerzhaft. Wenn Litta hingegen angenommen - vielleicht auch gehofft - hatte, die Lippen ihres Freundes würden ihre Zärtlichkeit erwidern, dann wurde diese Erwartungshaltung nicht bestätigt. Mehr oder weniger blieben die Gefährten jeder für sich isoliert zurück mit einer Vielzahl an Emotionen, die sie nicht einordnen und noch weniger aufeinander abstimmen konnten. 41
Sicherheit hingegen hatte Alf bei einer Sache schon: Litta gehörte jetzt ganz offiziell zu ihm. Er war immer für sie da und würde sie beschützen. Von nun an konnte sie nichts mehr trennen... * Er wusste nicht zu sagen, wie lange er bereits am Wegesrand hockte und auf Litta wartete, doch es musste eine ganze Weile sein; die Sonne war zwei Handbreit über das Firmament gewandert. Eine weitere Handbreit später machte Alf sich auf den Weg nach Hause. Litta würde wohl nicht mehr kommen und das nagte derart in seinem Innern, dass der Junge nicht einmal mehr Lust hatte in den Wald zu gehen und sich zu den Tieren zu gesellen. Noch vor gar nicht so langer Zeit hatte dies zu seinen wichtigsten und liebsten Beschäftigungen gehört. Insgesamt zwei Tage ließ sich Litta nicht blicken. Als Alf am dritten Tag schon zu den Vlaikönnens aufbrechen wollte, um sich nach seiner Freundin zu erkundigen, da kam sie ihm tatsächlich auf halbem Wege von zu Hause aus entgegen. Alf beschleunigte freudig seinen Schritt. Da war sie! Und es ging ihr gut! In wenigen Sekunden würde sich alles aufklären. Als sie sich gegenüberstanden machte Litta allerdings keinerlei Veranstaltungen, irgendwelche Erklärungen abzugeben. Im Gegenteil wirkte sie heiter und ausgelassen, als bestünde nicht im mindesten Bedarf, zumindest ihrem Busenfreund zu erklären, wo sie die vergangenen zwei Tage ausgeblieben war. »Hallo, Alf! Schön dich zu sehen!« Herzlich umarmte sie ihn und gab ihm, wie inzwischen gewohnt einen Kuss auf den Mund. »Ich freue mich auch«, erwiderte Alf, stutzte jedoch im selben Moment und deutete auf ihren Hals. »Was ist das?« »Schön, nicht?«, lächelte Litta. »Eine Perlenkette. Aber das Tollste ist der Anhänger. - Sieh mal!« Alf Tjörnsen konnte es nicht fassen. Litta hatte sein Halsband – sein Geschenk! - abgelegt und trug nun dieses... dieses - Etwas. Dabei tat sie so, als wäre es das Normalste von der Welt. 42
Mühsam unterdrückte er seinen anschwellenden Ärger, schluckte hart und sagte tonlos: »Zeig mal her.« Er drehte es zwischen den Fingern, erfühlte das Material - es war warm und schimmerte strahlend weiß - und betrachtete das Symbol auf der Vorderseite. »Weißt du, was das darstellt?«, fragte Litta aufgeregt und wartete eine Reaktion gar nicht erst ab. »Das heißt Yin und Yang. Es ist ein Zeichen dafür, dass alles aus zwei gegensätzlichen Dingen besteht, die zusammen ein Ganzes ergeben.« Litta nahm das zweigeteilte Amulett in ihre hohle Hand, nachdem Alf es losgelassen hatte und teilte mit: »Ich habe viel darüber nachgedacht und eine ganze Reihe Beispiele aus der Natur gefunden, die das bestätigen.« Alf konnte ihren Enthusiasmus über diese Feststellungen nicht teilen. Ihn plagten andere Sorgen. »Von wem hast du die Kette?« »Ja, stell dir vor, ich habe den Japaner, den Go Nagashi, besucht!« »Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«, japste Alf. »Wieso? Wo doch alle immer so komisch von ihm reden, da wollte ich mich halt selbst davon überzeugen.« »Du bist einfach zu ihm gegangen? Den weiten Weg?« »Klar. Was meinst du denn, warum ich die letzten Male nicht an unserem Treffpunkt war, hm?« Das kann doch alles nicht sein, überschlugen sich Alfs Gedanken.
Jetzt bin ich der Depp, weil ich nicht selbst drauf gekommen bin.
»Und der Go ist echt nett«, sprudelte es weiter aus Littas Mund. »Der hat sich auch gar nicht gewundert, als ich plötzlich vor der Tür stand.« »Was sagen denn deine Eltern dazu?« Der Junge konnte sich kaum vorstellen, dass sie Freudengesänge angestimmt hatten. »Ach, Alf. Das wissen die doch nicht. Ich habe nur mal kurz seinen Namen erwähnt und sofort gemerkt, dass die zwei nicht gut auf das Thema zu sprechen sind.« »Wo ist eigentlich mein... - der andere Anhänger?«, leitete Alf zu der zweiten Sache über, die ihm wesentlich mehr am Herzen lag. 43
»Ooch, den habe ich zu Hause.« »Wann wirst du ihn wieder tragen?« »Das olle Teil?« Sie sah, wie Alf erstarrte, spürte, dass sie ihn durch ihr unbedachtes Gerede verletzt hatte. »Ich werde ihn schon wieder tragen«, lachte sie, sprang auf und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Er ist schließlich von dir! - Komm! Lass uns was unternehmen!« So, wie Litta die Worte betonte, fühlte sich Alf wieder im siebten Himmel. Seine anfängliche Wut war verraucht. In seinem Hinterkopf allerdings nagten - momentan noch leise - Zweifel daran, ob zwischen ihnen beiden noch alles so lief wie zu Anfang. * Regungslos lag Alf auf seinem Bett, hielt die Augen geschlossen und sah den Bildern hinterher, die in seinem Geist an ihm vorbeirasten. Eine ganze Woche war es her, dass er Litta zum letzten Mal gesehen hatte. Eine ganze lange Woche! Seine liebe Freundin! Für die er alles getan hätte!
Pah! Sie soll mir gestohlen bleiben. Bestimmt hängt sie dem Japaner auf der Pelle. Soll sie doch! Ist ja eh alles besser und schöner, was er zu bieten hat. Ja, er war eifersüchtig. Wenn er anfangs noch geglaubt hatte, sein selbst gefertigtes Schmuckstück würde ein unzertrennliches Band zwischen ihm und Litta knüpfen, so hatte es nachträglich den Anschein, als wäre genau das Gegenteil eingetreten. Er selbst war mit einemmal uninteressant geworden. All die Zuneigung und Aufmerksamkeit, die eigentlich nur ihm alleine zustand, bekam nun Go Nagashi. Verdammter Kerl!, fluchte Alf und es kümmerte ihn überhaupt nicht, dass er solche Gedanken hegte, die ihm zu Zeiten regelmäßiger Meditation, die er sträflich vernachlässigt hatte, nie in den Sinn gekommen wären. Er hat mir Litta weggenommen! - Was wird sein,
wenn sie nichts mehr von mir wissen will...? 44
Für einen Moment war es Alf, als hätte er Türklopfen vernommen. Und tatsächlich hörte er selbst hier oben im ersten Stock kurz darauf das Krächzen der Scharniere, als die Haustür geöffnet wurde. Dann folgten laute Stimmen. Sehr undeutlich, aber auch sehr aufgeregt. Alf erhob sich vom Bett, ging in den kleinen engen Flur und kniete sich neben das Treppengeländer. Durch einen schmalen Spalt des Treppenaufgangs sah er Sören Vlaikönnen. Littas Vater gestikulierte heftig, auch Ingvild war in heller Aufregung. Seine eigenen Eltern baten die Besucher hinüber zum Tisch der Wohnküche. Das Gespräch wurde ruhiger und als der Name ›Litta‹ fiel, da wurde Alf mehr als hellhörig. Schon wollte er die Stufen hinunterstürmen, doch etwas hielt ihn zurück. Etwas, das ihm sagte, dass jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt war. Etwas, das ihm vorschlug, sich erst die geeignete Strategie zurechtzulegen. Litta war verschwunden! Das hatte Alf deutlich gehört. Sie war nicht nach Hause gekommen. Die ganze Nacht über. Und auch nicht am Morgen. Als nächstes machte Sören Vlaikönnen die Aussage - und Alf spitzte die Ohren wie nie zuvor, denn er konnte kaum glauben, was er da hörte - dass Go Nagashi Litta vor geraumer Zeit eines Nachts zu Hause abgeliefert hatte. Sie hätten sich zu diesem Zeitpunkt nichts dabei gedacht, waren sogar dankbar gewesen für die Hilfe. Nun aber bezweifelten Littas Eltern die Motive des Japaners, argwöhnten sogar behutsam, er könnte an dem Verschwinden Littas beteiligt gewesen sein.
Der Bastard hat sich also ganz offen an meine Freundin rangemacht!, peitschte der Stromstoß der Erkenntnis durch Alfs Bewusstsein und riss Barrieren ein, die den spirituell ausgerichteten Jungen nun nicht mehr daran hinderten, Dinge zu tun, die er sonst niemals erwägen würde und die er gleichsam verabscheute. Nichts hielt Alf Tjörnsen noch davon ab, die Treppe hinab zu steigen, zu den Erwachsenen herüber zu gehen und ihnen die Geschichte von Littas Entführung zu erzählen. Eine Geschichte, in der der Japaner Go Nagashi eine tragende Rolle spielte! 45
5. Kapitel Das Strafgericht
Shi, du hinterhältige Schlange! Nagashi hatte der Aufforderung des Kuriers Folge geleistet, ihn nach Svendborg zum Distriktvorsteher Berkvannsen zu begleiten. Der Bote hatte jedoch nicht verlauten lassen, dass der komplette Landrat einberufen worden war und dass es sich nicht um eine Anhörung handelte, sondern eher um einen Geschworenenprozess. Die ausdruckslosen Gesichter und die verschlossenen Münder ringsum in dem Verschlag, den sie Versammlungsraum schimpften, legten beredtes Zeugnis darüber ab, was sich hier in den nächsten Minuten - vielleicht auch Stunden - abspielen würde. Dass die Lage ernst war wurde durch die Anwesenheit der Schamanin Shi Itchiguronga deutlich. Nagashis indianischstämmige Landsmännin sollte mit ihren außersinnlichen Fähigkeiten dafür Sorge tragen, dass jede Unwahrheit augenblicklich aufgedeckt wurde. In ihrer Eigenschaft als ›Lügendetektor‹ war sie zwar noch nicht zum Einsatz gekommen - nicht in Svendborg jedenfalls doch ihre Behauptung, es zu können, wurde von niemandem bezweifelt, da sie sich bereits als hervorragende Fährtenleserin bewiesen und ebenso in vier Fällen die Ereignisse der näheren Zukunft beinahe exakt vorausgesagt hatte. Darunter übrigens für die Berkvannsens die Geburt eines sechsundfünfzig Zentimeter großen und viereinhalb Kilo schweren Stammhalters. Auch in Japan - natürlich - waren die Auswirkungen der Wende vor mehr als zwei Generationen überdeutlich sichtbar. Das Land der großen Traditionen hatte einen Kollaps erlitten wie nie zuvor. Alle Systeme, ob sozialer oder militärischer Natur, waren über Nacht aus den Angeln gehoben und wertlos geworden. Millionen Menschen waren verschwunden, so, wie auch 99 Prozent aller Bauwerke und technischer Errungenschaften. Der klägliche Rest an Überlebenden hatte praktisch nackt dagestanden, ohne Hab und Gut. Alles hatten sie sich 46
neu schaffen müssen - von der Kleidung am Körper über Wohnraum bis hin zu primitiven sozialen Strukturen. Die alten Werte und Gebräuche waren nicht in Vergessenheit geraten. Oftmals fanden sich sogar größtenteils unversehrte Schriftstücke aus der alten Zeit. Doch es hatte sich offenbart, dass das Bewusstsein der Menschen ein anderes geworden war. - Traditionelle Verhaltensweisen wurden als Stillstand in der menschlichen Entwicklung angesehen, wenn nicht oftmals auch als Rückschritt. Das Verständnis der Einheit von Körper und Geist und die Verlagerung der physischen Gewohnheiten auf die, geistige Ebene prägten den Menschen dieser neuen Epoche. Jedenfalls einen recht hohen Prozentsatz von ihnen. Einige Gruppierungen waren gegenteiliger Ansicht. Sie schätzten ihre Physis weiter höher ein als Geist und Intellekt. Dementsprechend hoch war auch ihre Bereitschaft zur Gewalt. Im letzten halben Jahrhundert mochte die Zahl der Stasisdenker - diese Bezeichnung eilte ihnen voraus, ließ sich in jede gesprochene Sprache übersetzen und hatte mittlerweile bereits sprichwörtlichen Charakter - rückläufig gewesen sein, doch ihr Kern existierte nach wie vor. Dies hatte dazu geführt, dass man sich im Lager der spirituell Orientierten Gedanken über eine Kooperation machte, um die Zwistigkeiten und teils blutigen Ausschreitungen zu unterbinden. Stark empathisch veranlagte Menschen wurden zu Mittlern beider Gruppen ausgebildet. Die Ausbildung umfasste die Beherrschung und Erweiterung der eigenen Übersinnlichkeit in Kombination mit logisch-emotionaler Pädagogik. Die Absolventen dieser Schulung wurden landläufig und ein wenig augenzwinkernd ›Schamanen‹ genannt. Shi Itchiguronga entstammte einem der jüngeren Jahrgänge von Absolventen. Im fernen Japan war Go Nagashi ihr zweimal begegnet. Ihre erste Begegnung ging über einen lapidaren Augenkontakt nicht hinaus. Damals hatten sie nicht einmal den Namen des anderen gewusst. Dramatisch war es erst geworden, als sie sich das zweite Mal über den Weg liefen. Nagashi war irgendwie zwischen die Fronten geraten. Die Kommunikation von Vertretern der Konservativen und der Progressiven entwickelte sich trotz der Empathischen in eine leicht entzündliche 47
Richtung. Als dann der Funke den Flächenbrand auslöste, da war es Go Nagashi, der mit seinem Schwert den Rückzug der Spirituellen decken wollte und doch nicht verhindern konnte, dass die Situation eskalierte und Dutzende Tote zu beklagen waren. Im weiteren Verlauf hatte die wortführende Schamanin - erstmals fiel der Name Shi Itchiguronga - ihr eigenes Versagen abschwächen und die Schuld Go Nagashi zuschieben wollen. Er habe mit unbedacht gewählten Worten die Konfrontation provoziert und anschließend einem Berserker gleich die Gegenpartei abgeschlachtet. Die Empathischen hatten sich vorher abgesprochen und bestätigten Shis Aussage. Go Nagashi wurde des Landes verwiesen. Selbst die modernen und aufgeschlossenen Gruppen des New Age kannten Strafen, denen sich Nagashi bei Verweigerung nicht unbedingt aussetzen wollte. Ohne Murren aber bis ins Mark gekränkt kehrte er dem Distrikt den Rücken und wenige Monate später gar dem Kontinent. Er hatte weitere Schamanen in anderen Ländern kennen gelernt und die Kunde von einer verurteilten Verräterin aus eigenen Reihen hatte sich rasch herumgesprochen. Anscheinend war Shi Itchiguronga doch noch der Falschaussage überführt und ebenfalls des Landes verwiesen worden. Go Nagashi hatte darüber nur mäßigen Triumph verspürt; zu weit lag das Ereignis zurück und zu sehr hatte sich sein Leben verändert. Dass er Jahre später die indianischjapanische Heuchlerin ausgerechnet im ehemaligen Dänemark wieder traf, konnte unmöglich ein Zufall sein und gehörte unzweifelhaft in den Bereich karimscher Bestimmung. Wer wusste schon zu sagen, wie sie sich ihre jetzige Position im Landrat erschlichen hatte. Sie war eine Frau mit überdurchschnittlicher Kombinationsgabe und ebensolchem empathischem Talent. Hellseherische Fähigkeiten allerdings besaß sie nicht. Momentan ruhte ihr Blick starr auf Go Nagashi wie auf einem Objekt minderer Wertigkeit, über dessen Entsorgungsprozedur debattiert werden sollte.
Shi, du bist und bleibst eine Hündin! *
48
Eine gute halbe Stunde befragten sie ihn nun schon, gruben mit kleinen Plastikschäufelchen in seiner Vergangenheit, die immer mehr die Konsistenz zähen Lehms annahm, je tiefer sie sich mit ihrem ungeeigneten Werkzeug vorwagten. Entsprechend waren die Mienen derer, die sich in Hufeisenform an kleinen quadratischen Tischen um den Japaner gruppierten, nicht freundlicher geworden. Für Go Nagashi nahm dieses Verhör - denn nichts anderes war diese Farce im Grunde genommen Ausmaße an, die seine Ehre irreparabel beschädigten. Keine Entschuldigung der Welt könnte auch nur annähernd in die Reichweite einer Wiedergutmachung gelangen. Doch von Anbeginn war klar, dass eine Entscheidung fallen musste. Für beide Seiten. Die Fronten waren aufgebrochen und erzwangen die offene Konfrontation. »Also noch mal von vorne, Go«, rollte Freder Berkvannsen das Thema auf. Die Fingerspitzen seiner kantseits auf der Tischplatte abgestellten Handfläche deuteten auf den Japaner, der scheinbar entspannt vor dem Tribunal auf einem Stuhl saß. Er besaß keinen Tisch, hinter dem er zumindest vor einem Teil der neugierigen Augenpaare Schutz suchen konnte; sein Körper wurde zur Zielscheibe unterschiedlichster Empfindungen, die über die Blicke der Versammelten auf ihn einstachen. »Du hast Litta vorgestern Abend - am Abend ihres Todes - nicht gesehen?« »Das Mädchen hat mich besucht«, brummte Nagashi gezwungen. »Das Mädchen? Kennst du nicht ihren Namen? Wir waren der Meinung...« »Litta«, sagte Go scharf. »Natürlich kenne ich ihren Namen!« Berkvannsen schaute über seine Schulter zu Shi, der Schamanin. Sie saß gleich neben ihm. Ihre Nacktheit, die sie lediglich mit diversen Ketten und Bändern bedeckte, war ausschlaggebender Bestandteil in der Praktizierung ihrer Fähigkeiten. Durch die Kleidung konnten abund eingehende Schwingungen gedämpft werden und damit ein verfälschtes Gesamtbild ergeben. Der empathische Scan einer Person würde keine exakten Resultate liefern. 49
Sie neigte den Kopf an Freders Ohr und wisperte: »Er fühlt eine starke Bindung zu dem Kind, versucht diese jedoch nicht zu zeigen.« »Und was könnte das bedeuten?«, flüsterte der Distriktvorsteher zurück. »Nun, das lässt einerseits darauf schließen, dass er etwas vor uns verheimlichen will. Vielleicht hat er sich Litta in allzu augenfälliger Weise offenbart und sie hat ihn abgewiesen; womit bereits ein Tatmotiv hergeleitet wäre.« Shi Itchiguronga räusperte sich vornehm. Es hatte fast den Anschein, als wollte sie Berkvannsen kein Gegenargument in die Hände spielen, mit dem er sich hätte schützend vor den Immigranten stellen können. »Andererseits könnte seine innige emotionale Bindung zu Litta auf die Aktivität gewisser Verteidigungsmechanismen hindeuten, die Nagashi förmlich dazu drängen, den Namen seiner kleinen Schutzbefohlenen aus Angelegenheiten herauszuhalten, die ihn nachträglich beschmutzen könnten.« »Gibt es Dinge, die ich nicht erfahren darf?« Go Nagashi hatte seine Worte streng hervorgebracht; nicht der Anflug von Sarkasmus, die ein westlicher Sprecher unter Umständen hineingelegt hätte, schwang darin mit. »Du wirst alles erfahren«, reagierte Freder Berkvannsen sofort. »Wenn du uns im Gegenzug die Informationen gibst, die wir von dir haben wollen.« »Dann solltest du deine Fragen klar und deutlich stellen. Meine Antwort wird diesen Attributen dann in keinster Weise nachstehen.« »Wie lange war Litta an dem besagten Abend bei dir?« »Eine Stunde. Vielleicht ein wenig länger.« »Wie viel ist ›ein wenig‹?«, kam es von links. Görgen Borghese hatte gesprochen. »Eine halbe Stunde.« »Weißt du das genau.« »Nein.« »Warum tischst du uns Dinge als Fakten auf, die dir selbst nicht bekannt sind?« 50
»Weil ich eine eindeutige Antwort geben wollte und es meines Erachtens keine Rolle spielt, ob zehn Minuten oder eine knappe Stunde vergangen sind.« »Dann erhalten wir von dir Antworten nach Gutdünken, die nur eher zufällig mit der Wahrheit übereinstimmen?« »Aber bitte, Leute«, fuhr Freder dazwischen und stand auf. »Das führt doch zu nichts!« »Das ist genau meine Meinung«, pflichtete Go Nagashi kehlig bei und erhob sich ebenfalls. »Ich möchte meine Bitte von eben korrigieren. Ihr solltet nicht nur klare und deutliche Fragen formulieren, sondern auch die richtigen. Ihr hattet genug Zeit, eurem beschämenden Verdacht nachzugehen...« Der Japaner blickte eisern in die Runde und schüttelte den Kopf. »Und was habt ihr getan? Nur belangloses Weibergewäsch ist aus eurem Mund gekommen. Gerne hört ihr euch reden, verkriecht euch hinter der Fassade eures Kleinbürgertums und zeigt mit Fingern auf die, die außerhalb Dinge von Wert errichten, während ihr bröckelnden Putz überstreicht!« »Es ist genug! Mäßige dich und beantworte unsere Fragen!« »Keine Fragen mehr!«, zerschnitt der Japaner mit einer drastischen Geste seines rechten Arms die Luft. Seine Hand geriet dabei in bedrohliche Nähe des Schwertgriffs. »Ich werde gehen und versuchen, die Schande, die ihr mir beigebracht habt, rein zu waschen!« »Du wirst nicht gehen!«, sprang Sund Ollström auf. »Du bist noch nicht entlassen!« Berkvannsen zerrte seinen Stellvertreter mit einem Ruck zurück in den Stuhl. »Lass ihn ziehen, in Dreiherrgottsnamen!«, zischte er rabiat. »Wenn du ihn provozierst, weiß nicht einmal der Allmächtige, wie das enden wird. Und falls du diesen Mann tatsächlich für einen Kindermörder hältst, dann solltest du ebenso einen Gedanken daran verschwenden, dass seine Klinge auch nicht vor einem Erwachsenen Halt macht.« Go Nagashi verließ den Versammlungsraum. Es herrschte betretenes Schweigen in der Runde. Aber nicht für lange. 51
* »Braucht ihr denn noch mehr Beweise?« Auffordernd sah Borghese zu Ollström hinüber, der ein anerkennendes Nicken zustande brachte. Beide waren dafür bekannt, eher radikale Ziele zu verfolgen; die feingeistige Auseinandersetzung in Anbetracht akuter Problemstellungen gehörte nicht zu ihrem Repertoire. »Von welchen Beweisen redest du?«, wollte Freder Berkvannsen es schon etwas genauer wissen. Ihn plagte plötzlich ein vager Verdacht, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickeln würde. »Nagashi weicht unseren Fragen aus. Ein deutliches Eingeständnis seiner Schuld. Shi kann es bestätigen.« »Du siehst da einen Zusammenhang, weil du ihn sehen willst. Außerdem hat Shi nichts herausgefunden, was deine Beweisführung unterstützt.« »Hat der Japaner dich bereits mit seinem hochgestochenen Gerede auf seine Seite gezogen?« »Jetzt komm mal wieder auf den Teppich!«, regte Berkvannsen sich auf. »Versuch bloß nicht, mir Befangenheit unterzuschieben. Die könnte ich wohl eher euch beiden attestieren.« Er schloss Sund Ollström, der sich bisher nicht zu Wort gemeldet hatte, in seine Geste ein. »Ich spüre deinen Zwiespalt«, grub Shi Itchiguronga ihm weiter das Wasser ab. »Du kennst die Lösung unseres Problems, scheust dich aber, den entscheidenden Schritt zu tun.« »Natürlich! Weil er falsch wäre!« Berkvannsen krallte sich in den Tisch. »Stehe ich hier vor Gericht?« »Dies ist kein Gericht, sondern nur ein Befragungsausschuss«, wies Görgen Borghese ihn zurecht. Die Art, wie er es sagte, strafte seine Worte Lügen. »Ihr wollt ihn also wirklich zur Strecke bringen«, sagte Freder schließlich kleinlaut. Er sah ein, dass er argumentieren konnte wie er wollte: die Zeichen hatten von vornherein auf Sturm gestanden. Go 52
Nagashi würde von diesem mittelalterlichen Tribunal alles bekommen, nur keine Gnade. Die große Wende, dachte er bitter. In Situationen wie dieser hinkt
der Mensch ihr ordentlich hinterher.
»Es wird Zeit, die üble Wurzel aus unserer Gemeinschaft zu entfernen«, plusterte Borghese sich auf, als wäre sein Vorhaben beschlossene Sache. »Wir sind es den Bürgern schuldig, endlich Taten sprechen zu lassen. Wir sind es den Vlaikönnens schuldig!« Zustimmendes Raunen. Selbst die, die bisher nicht durch Wortmeldungen aufgefallen waren, sahen die Dringlichkeit des Unterfangens. »Was habt ihr nun vor?«, wollte Berkvannsen wissen. Borghese grinste. Freder sah es und schmeckte den säuerlichen Saft, den sein Magen hoch pumpte. »Ich kann dir sagen, was wir vorhaben«, schloss er den Distriktvorsteher ein. Mittlerweile waren alle Anwesenden aufgestanden. Ihre Augen hingen gebannt an den Lippen Borgheses. »Tragt alles zusammen, was man als Waffe benutzen kann, Leute«, wandte Görgen sich an die Umstehenden. Und zu Freder Berkvannsen sagte er mit fester Stimme: »Wir bringen eine Ratte zur Strecke!« »Das ist Lynchjustiz!«, begehrte er auf. »Ihr wisst doch rein gar nichts von diesem Mann!« »Genau das beunruhigt all diese braven Leute hier«, antwortete Sund Ollström an Borgheses Stelle und zeigte damit auch sein wahres Gesicht. Jahrelang schienen sie auf eine Situation ähnlich dieser gewartet zu haben, um endlich ihr negatives Potential ausschöpfen zu können. Ein Behälter, der unter stetig steigendem Druck steht, wird zwangsläufig explodieren. »Go Nagashi hat Litta nicht getötet!«, schrie Freder gegen den einsetzenden Tumult an. »Dann war es vielleicht jemand von uns? Jemand, den wir gut kennen, ja? willst du das damit sagen?« »Er mag uns merkwürdig erscheinen und fremd«, überging Berkvannsen den Einwand. »Doch er ist kein Mörder!« 53
»Ich kenne ihn anders!«, Shi Itchigurongas spitze Stimme tönte auf. »Ich habe selbst erlebt, wozu Go fähig ist. Und ich sage euch: ein paar Harken und Sicheln halten diesen Mann nicht auf. Rohe, nackte Gewalt heißt das Mittel, mit dem man rohe und nackte Gewalt bekämpft!« »Ihr wollt den Teufel mit Satan austreiben!«, appellierte der Distriktvorsteher energisch an seine Gemeinde. »Hass schafft immer nur noch mehr Hass! Seht euch doch an: Ich erkenne euch nicht wieder! Was ist aus euch geworden?« »Wenn du außer geflügelten Worten, deren Sinn du nicht zu verstehen scheinst, nichts aufzubieten hast«, sagte Görgen Borghese in tödlichem Ernst, »dann solltest du uns jetzt besser aus dem Weg gehen!« Freder Berkvannsen trat zur Seite. Abscheu und Entsetzen hielten sich die Waage, wenn er die Menschen betrachtete, die sich von ihrem harten, entbehrungsreichen Leben mit zweifelhafter Unterhaltung ablenkten. Die Römer hatten es ebenso gehalten: Brot und Spiele. Der Cäsar hatte seinem Volk ein Ventil geboten, über das es den Frust von Knechtschaft und Unterdrückung ablassen konnte. Denn das eigene Leid wurde fast zur Nebensache, wenn man sich an noch größerem Leid weiden konnte. Freder Berkvannsen trat hinter der Meute aus dem Gebäude, auf das der Schatten der fast intakten Kirche St. Nikolai fiel. Es war beinahe so, als hätte sie ihren Segen zu der Hetzjagd gegeben. Wundern würde es ihn nicht... * Mitten auf einer Lichtung zwischen zwei bewaldeten Flurstücken holten sie ihn ein. Ihr Geschrei und Gezeter hallte weithin. Go Nagashi wusste, was sie von ihm wollten. Daher machte er auch keinerlei Veranstaltungen zu fliehen, sondern zog es vor, sich der aufgebrachten Meute zu stellen. Wenn es etwas zu regeln gab, so sah er keinen Grund, warum es nicht hier und jetzt sein sollte. 54
»Da ist er!«, rief Shi Itchiguronga und sprach aus, was sowieso alle sahen. »Ich spüre seine Furcht!« Go Nagashi blieb ungerührt.
Shi, du Tochter einer einäugigen Krähe.
Die Bauern zögerten, als sie den geübten Kämpfer in Erwartungshaltung dastehen sahen. Sein bloßer Anblick ließ sie an der Äußerung der Schamanin zweifeln. Es waren durchweg Männer, die ihr Brot mit Feldarbeit verdienten; nun bekamen sie Angst vor der eigenen Courage. Borghese und Ollström hatten damit gerechnet. Beide nahmen jeweils einen faustgroßen Stein und warfen ihn nach Nagashi, der sich allerdings nicht übermäßig anstrengen musste, um ihnen auszuweichen. »Los! Vorwärts! Gegen uns alle kommt er nicht an!« Das hatten die Leute gebraucht! Jemand, der sie anfeuerte und in die Schlacht führte und dafür sorgte, dass sie alle Bedenken vergaßen und sich einzig von Hass leiten ließen. Schon flogen weitere Steine dem Japaner entgegen. Allen konnte er diesmal nicht ausweichen, wurde hart in die Rippen und am Oberarm getroffen, taumelte zurück und ließ nicht zu, dass der Schmerz seine Muskeln betäubte und seine Sinne trübte. Die Bewegung, die Go Nagashi ausführte, war nicht zu sehen, ja, nicht einmal zu ahnen. Die Geschwindigkeit, mit der sie ausgeführt wurde, ließ sie für das menschliche Auge unsichtbar werden. So begriffen auch die Männer in der vorderen Angriffsreihe erst sehr spät, was geschehen war. Ihre Waffen fielen einfach wirkungslos zu Boden einschließlich der Gliedmaßen, die sie hielten! Das Schwert des Japaners steckte lange wieder in der Scheide, als das Jammern und Schreien aufbrandete. Die Bauern starrten entsetzt auf ihre Armstümpfe, die teilweise nicht einmal mehr über die Ellbogen hinausreichten. Doch selbst diejenigen, die ihre Unterarme behalten und nur die Hände verloren hatten, würden niemals mehr ihrer Arbeit nachgehen können. Sie würden nie mehr in der Lage sein, sich eigenständig zu ernähren, geschweige denn eine Familie mit Frau und Kindern. 55
Das Entsetzen lahmte sie und die Nachrückenden. Der Schock kühlte ihre Wut, ließ sie verharren, sich hilflos anstarren und die Werkzeugwaffen senken. Man eilte den Schwerverletzten zu Hilfe, denen das Grauen die Lungen zuschnürte. Für einige wenige Augenblicke hatte Go Nagashi wirklich den Eindruck, dass nun die Vernunft die Oberhand gewonnen hatte. Aufgestachelt durch grundlosen, blinden Hass hatten diese Menschen erfahren, wie das Zufügen von Leid immer nur noch größeres Leid erzeugte. Sie hatten am eigenen Leib erfahren, was einem anderen zugedacht war. Damit war der Schmerz über das Stadium bloßer Illusion hinausgewachsen und erlebbar geworden. Ein Krieger bezog daraus neue Kraft für den Kampf. Ein einfacher Landarbeiter hingegen würde unwillkürlich den Schwanz einziehen und in einer abgeschiedenen Ecke seine Wunden lecken. Wie bereits angedeutet: der Eindruck währte nur wenige Sekunden... »Da seht ihr es! Ich hatte Recht! Nagashi ist eine Bestie in Menschengestalt.« Shi Itchigurongas helle, schrille Stimme übertönte das Ächzen und Stöhnen, die unterdrückte Qual und die heraus gebrüllte Pein. »Worauf wartet ihr noch?!« Görgen Borghese schubste einen Mann vor und warf ihm dessen eigene Harke nach. »Wollt ihr warten, bis er uns alle zerstückelt hat? Bedarf es noch eines weiteren Anstoßes, bis ihr begreift, welcher Teufel sich in unserer friedlichen Gemeinde niedergelassen hat?« Sund Ollström unterstützte seinen Amtskollegen wirkungsvoll, peitschte die unentschlossenen Farmer an. Gemeinsam schafften sie es, das flackernde Licht ersterbenden Zorns allmählich in eine lodernde Flamme verzehrenden Hasses zu verwandeln. Sie griffen sogar selbst zu den Waffen, rannten einige Schritte vor, drehten sich zu ihrer Gefolgschaft um und riefen: »Her zu uns! Jetzt bekommt der Kindermörder seine gerechte Strafe!« Erst zögernd, dann forscher werdend griffen die Bauern nach ihren Spaten, Hacken und Sensen. Der unerschrockene Vormarsch ihrer Distriktvorsteher spornte sie an, degradierte sie selbst ja förmlich zu 56
Feiglingen, wenn sie ihnen nicht nacheiferten. Dem eigenen Ego war die Schmach der Feigheit unerträglich. Go Nagashi betrachtete die Entwicklung mit Sorge. Seine rechte Hand umfasste den Schwertknauf; sie wartete gelassen auf das Kommando zum Blankziehen. Der Japaner blickte durch die heranstürmende Meute hindurch und über sie hinweg, bis er an der Schamanin haften blieb. Sie kannte seine Gedanken, hatte sie längst erspürt. Wissend und in unverhohlenem Triumph lächelte sie ihm ins Gesicht. Ohne Gegenwehr wurde Nagashi niedergestreckt. Ein Holzscheit hatte ihn an der Stirn getroffen. Gleichzeitig riss ihm eine Stahlkralle Muskelfleisch aus der Armbeuge und zerriss eine Sehne. Der Erfolg dieser Attacke heizte die Gemüter weiter an; der Blutrausch verschleierte die Sinne wie eine Droge. Sie schlugen auf Go ein, stachen nach ihm, droschen mit allen erdenklichen Gegenständen auf ihn ein und belachten seine Hilflosigkeit. Einer riss das Schwert aus der Scheide, um es außer Reichweite zu befördern, stellte sich dabei derart ungeschickt an, dass er sich einen Finger ab- und zwei weitere bis auf den Knochen einschnitt. Als er schrie und alle das Malheur sahen, da wurde ihre Rage auf den Japaner noch viel größer, denn schließlich trug er die Verantwortung für das, was ihrem Kameraden widerfahren war. Die Attacken wurden noch heftiger, blindwütig und einzig vom triebhaften Willen zur Zerstörung beseelt. Keiner der mutigen Recken sah die Wahrheit, erkannte, dass ihr Feind sie alle ohne große Mühe hätte zur Strecke bringen können, ganz so, wie er es anfangs fast spielerisch demonstriert hatte. Go Nagashi hatte sich für den Tod entschieden. Er wollte nicht mehr kämpfen. In der Vergangenheit hatte er Fehler begangen. Natürlich. Shis Augen hatten die Erinnerung an die vergangenen Zeiten nur allzu deutlich zurück in sein Gedächtnis gerufen. Er hatte viele Menschen getötet. Das war eine Schuld, die er auch durch seinen eigenen Tod nicht aussühnen konnte. Wenigstens aber wollte er verhindern, dass sich ein solches Blutbad wiederholte. 57
Sein unsteter Blick war auf einen bestimmten Punkt am Himmel fixiert. Da war nichts Besonderes, doch er besaß nicht mehr die Kraft, anderswohin zu schauen. Dann brach das Licht seiner Augen... Shi Itchiguronga, Görgen Borghese, Sund Ollström und zwanzig weitere wandten sich ab von der Stätte der Gewalt. Die Absenkung des Hormonspiegels brachte den klaren Blick mit für die Wirklichkeit. Die meisten von ihnen hatten lediglich kleine und mittlere Blessuren davongetragen; nichts, über das sie sich Sorgen machen mussten. Vier unter ihnen hatten einen weitaus höheren Preis bezahlt und waren für immer entstellt und verkrüppelt. Allen gemein war jedoch ein ebenso schwerwiegender wie nicht mehr rückgängig zu machender Umstand: sie waren allesamt Mörder! Was ihnen heute noch wie das Erwachen aus einem bösen Traum erschien, würde mit Anbruch des neuen Tages nicht in Vergessenheit geraten sein. Und auch nicht am darauf folgenden und dem danach. Für diese verschworene Truppe würde die Welt kein bisschen anders aussehen und auch niemals mehr werden. Nur winzige Momente überaus entscheidende Momente - hatten den Rest ihres Lebens dauerhaft geprägt. Für den, der ein Gewissen sein eigen nannte, würde in diesem Leben die Sonne nicht mehr scheinen. Schweigend hingen sie ihren dunklen Gedanken nach, kehrten den Trümmern eines Menschen den Rücken, den sie freimütig für tot erklärten. * Jeder Gedanke an die leiseste Regung barg bereits unvorstellbaren Schmerz in sich. Oder manifestierte sich die Vorstellung lediglich zu ihrer physischen Entsprechung? Waren die Impulse, die sein Gehirn aus sämtlichen Regionen des Körpers empfing, tatsächlich Schmerzindikatoren oder eher das genaue Gegenteil? So verrückt sich diese Frage auch anhörte, war Go Nagashi nicht befähigt, eine Antwort darauf zu finden. Ebenso wie der Mensch naturbedingt versagt, Zustände wie ›heiß‹ oder ›kalt‹ präzise wahrnehmen zu können - er stellt einzig 58
Temperaturunterschiede fest, die er den Erfahrungswerten ›heiß‹ oder
›kalt‹ zuordnet, je nach dem, welche Ursache für ihn ersichtlich ist war sich der Japaner seiner akuten Lage nicht bewusst und hatte auch keine Möglichkeit, diese einzuschätzen. Er - oder das, was die aufgewiegelten Männer von ihm übrig gelassen hatten - lag einfach nur dort, wo er niedergestreckt worden war. Viele Stunden, vielleicht sogar Tage. Erst dann rührten sich einzelne Glieder. Ganz kurz nur. Ein Außenstehender hätte es nicht einmal bemerkt oder es mit einem Lidflackern abgetan. Go Nagashi versuchte seinen Geist zu sammeln, ihn von der Ablenkung durch die physische Pein fortzuführen. Auch hier vergingen die Stunden, scheiterten seine Versuche und setzte er trotzdem immer von vorne an, bis kleine Erfolge sichtbar wurden. Irgendwann konnten seine Hände zeitlupenartig seinen Körper ertasten, lieferten die Rezeptoren seiner Haut bruchstückhafte Informationen weiter, die das Gehirn zu einer Gesamtansicht vervollständigte. Und dieses Bild, das sich in seinem Geist formte, wollte alle Fortschritte der vergangenen Tage mit einem Schlag zerstören. Nagashi wischte es fort und ein lautloser Schrei hallte bis in den verstecktesten Winkel seines Selbst. Wollte er leben oder sterben? Wenn er sterben wollte, warum tat er es dann nicht? Wenn er leben wollte, aus welchem Grund? Für seine Rache? Nein. In, ihm war kein Hass und erst recht nicht der Wunsch, mit gleicher Münze heimzuzahlen. Wenn er leben wollte, dann nur aus dem Grund, um eben dieses Leben besser kennen zu lernen, seine tiefgründigen Facetten zu erforschen und es zu begreifen. Wie er seine Hütte schließlich erreicht hatte, konnte er nicht sagen. Wieder musste es viele Tage gedauert haben, diese endlose Strecke, die ein Wanderer in einer knappen Stunde bewältigte, zurückzulegen. Unterwegs musste er sich von Gräsern und Wurzeln ernährt haben, doch er hatte diese Informationen nicht gespeichert. Die Funktionen seines geschundenen Leibes waren auf ein Minimum herabgesetzt, erlaubten nur die nötigsten Handlungen und blockierten alles, 59
was darüber hinausging. Zu seiner eigenen Sicherheit. Die Regenerationsphase sollte durch nichts eingeschränkt werden. Der Japaner schaffte es, ein Feuer zu entzünden. In die schwelende Glut legte er mehrere Messer mit unterschiedlich ausgeformten Klingen. Seine unerschütterliche Ruhe täuschte über sein eigentliches Vorhaben hinweg. Wenn er den Wundbrand bekämpft hatte, dann musste er sich um jene Stellen kümmern, die nicht mehr zu reparieren waren. Sein linkes Auge war nur noch eine deformierte, geleeartige Masse. Er würde es herausschneiden und die Augenhöhle ausbrennen. Im Anschluss musste er seinen linken Arm über dem Ellbogen amputieren; der Unterarm baumelte nur noch an einer Sehne, einigen Adern und faserigem Muskelgewebe. Nur ein paar winzige Schweißperlen auf der Stirn Nagashis kündeten von seiner Anspannung. Er wollte nicht lange darüber nachdenken, was zu tun war. Das würde sein Vorhaben nur unnötig hinauszögern. Ja, er wollte leben! Dieses verrückte, von ständig wechselnden Gegensätzen geprägte Leben! Und er wollte an den Aufgaben, die es ihm aufbürdete, wachsen. Allmählich erst begriff er, dass die Schmerzensschreie, die sein Gehör folterten, seine eigenen waren. Sie drangen zu ihm vor wie Laute, die er durch eine Wand hindurch aufnahm, an die er sein Ohr presste. Er empfand sich als völlig unbeteiligt, war weder Auslöser der Schreie, noch kannte er deren Ursache. Bis ihr Echo verhallte und sie irgendwann ganz verstummten.
6. Kapitel Der verlorene Bruder
Zwei Jahre später...
Leise klopfte Mats Tjörnsen an die Zimmertür seines Sohnes und schob sie im gleichen Moment auch schon auf. Alf saß im Schneidersitz auf dem Bett und öffnete die Augen, als sein Vater eintrat. »Entschuldige bitte«, setzte Mats an. »Habe ich dich bei der Meditation gestört?« 60
»Nicht schlimm. Ich wollte sowieso runterkommen.« »Deswegen bin ich hier. Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Alf stutzte. Besuch auf dem Gehöft war eher selten. Selbst die Vlaikönnens ließen sich seit Littas Verschwinden so gut wie gar nicht mehr sehen. »Wer ist es?«, war Alfs Neugier erwacht. »Komm mit. Dann zeige ich ihn dir.« Gemeinsam gingen sie die Stiegen zum Wohnraum hinunter. Am Esstisch saßen Alfs Mutter und ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. Er wirkte äußerst hager; seine ganze Erscheinung deutete auf ein entbehrungsreiches Leben hin. Als Mats Tjörnsen in Begleitung seines Sohnes den Raum betrat, stand der Fremde gleich auf, lächelte den Jungen an und streckte ihm die Hand entgegen. »Hallo, junger Mann. Ich bin Ole, der Bruder deines Vaters.« »Ja«, ergänzte Mats, räusperte sich und unterdrückte den Hustenreiz. »Das ist dein Onkel.« »Immer noch nicht besser, dein Asthma, oder?«, wandte Ole sich besorgt an seinen Bruder. »Ich komme schon damit klar«, räumte Mats ein und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wer weiß, wie viele Jahre ich überhaupt noch habe.« »Da hast du Recht«, entgegnete Ole Tjörnsen vieldeutig. »Wer weiß das schon.« »Hallo, Onkel Ole«, lenkte Alf nun die Aufmerksamkeit auf sich und drückte die ihm gereichte Hand. »Ein kräftiger Männerhandschlag«, lachte Ole und setzte sich. »Das gefällt mir.« Mats setzte sich ebenfalls und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Weißt du, Alf, dein Onkel war lange fort, irgendwo im Herzen Europas. Er wird jetzt bei uns bleiben und bei uns wohnen.« »Hier im Haus?«, wunderte sich Alf. »Wo soll er denn schlafen?« »Nicht hier im Haus«, stellte sein Vater richtig. »Drüben in dem alten Schuppen.« 61
Alf nickte. Was er allerdings nicht verstand war, wieso Ole Tjörnsen so lange fort war, um dann plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen und sich bei ihnen einzuquartieren. Hatte er plötzlich familiäre Instinkte entwickelt oder steckte etwas gänzlich anderes dahinter. »Was hat dich zu uns nach Svendborg getrieben?«, fragte Alf dann auch prompt. »Und wo bist du die ganze Zeit über gewesen?« Täuschte sich der Junge oder lief da wirklich ein Schatten über das Gesicht seines Gegenübers? Alf gestand sich ein, dass der Onkel ihm schon irgendwie sympathisch war und dass diese oberflächlichen Eindrücke, die er in den beiden vergangenen Minuten eingefangen hatte, seine Einschätzung nicht trüben sollten. »Wir werden uns darüber unterhalten«, erklärte Ole. »Ganz unter uns, nur wir zwei.« Von dem Schatten war nichts mehr zu sehen. Was sollte es auch gewesen sein, außer einer flüchtigen Sinnestäuschung? Alf nahm sich vor, derartigen Eindrücken keine Beachtung mehr zu schenken. Wie zufällig landete sein Blick auf dem Koffer, der schräg hinter Ole Tjörnsen auf dem Boden stand. Ein eher unansehnliches, abgegriffenes Gepäckstück, das aus weichem Leder und dunklen Textilstreifen gefertigt und mit zwei umlaufenden Gurten versehen war. »Darin ist nichts, was für dich von Interesse wäre«, deutete Alfs Onkel dessen fragenden Blick. »Das ist alles, was dein Onkel mitgebracht hat«, fügte Mats Tjörnsen rasch hinzu, dem der energische Tonfall seines Bruders nicht entgangen war. »Manche Menschen brauchen halt nicht viel zum Leben.« Alf sah seine Mutter an. Sie hatte nicht ein Wort gesprochen und ihren Schwager nicht ein einziges Mal angesehen. Wieder hefteten sich die Augen des Jungen auf den Koffer und er revidierte seine soeben erst getroffene Entscheidung: einigen Eindrücken würde er erlauben, auch weiterhin seine Aufmerksamkeit zu erregen... * 62
Es war spät. Vor anderthalb Stunden bereits hatte sich Alf auf sein Zimmer zurückgezogen und versucht, Schlaf zu finden. Es war bei dem Versuch geblieben. Obwohl er durchaus müde war, hatte der Junge sich nur unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt. Bilder aus der Vergangenheit hatten sich in seine Gedanken gedrängt und offensichtlich seinen Wunsch nach einer erholsamen Nacht in der Prioritätenliste nach hinten gestellt. Deutlich und zum Greifen nahe sah er die hübsche Litta vor sich, wie sie um ihn herumtanzte und eine fröhliche Melodie sang. Viele gemeinsame Interessen hatten sie beide verbunden und oftmals hatte seine jüngere Freundin gebannt an seinen Lippen gehangen, wenn er von den Reisen berichtete, die er während der Meditation unternahm und die ihn weit fortgeführt hatten von der Erde. Annähernd ein Jahr waren sie zusammen gewesen. Viel Freude war ihnen in dieser unbeschwerten Zeit zuteil geworden und nur wenig Kummer. Dass sie Go Nagashis Amulett seinem Halsband vorgezogen hatte, trug in seinen Überlegungen schon kein Gewicht mehr. Alf hatte in dieser Phase ganz klar seine persönlichen Ansichten höher eingestuft, als die von Litta. Nachträglich konnte er über sein eigenes Verhalten nur verständnislos den Kopf schütteln. Er hatte ein einfältiges Eifersuchtsgebahren an den Tag gelegt, das man bei jemandem mit seiner spirituellen Aufgeschlossenheit nicht mehr erwarten durfte. Dann war der Tag gekommen, an dem Litta verschwand. Ohne eine Spur. Ohne ein letztes Wort des Abschieds. Ohne dass sie Alf die Möglichkeit gegeben hatte, sich bei ihr zu entschuldigen und um Verzeihung zu bitten. Erneut ein schwerer Schlag für das Ego, das haltlos in einem Strudel aus Ungewissheit und aufgestautem Reumut dahintaumelte, ohne sich dem Sog wirkungsvoll entziehen zu können. Auch dieser Zustand lag bereits zwei Jahre zurück. Damals hatte er Alf aus dem Gleichgewicht gebracht und seine Psyche stark belastet. Heute konnte er damit umgehen. Er konnte damit umgehen, dass zwischen ihm und Litta vieles unbeantwortet geblieben war, dass ihre Schwärmerei für Go Nagashi nichts an den Gefühlen geändert hatte, die sie für ihn, für Alf, empfand. Damals hatte er sich genau das 63
Gegenteil eingeredet. Weil es für ihn keine andere Erklärung gegeben hatte. Sein Streben nach Anerkennung hatte Litta schlicht überfordert. Je mehr er für sie zur Beschützerfigur aufgestiegen war, desto stärker hatte sie sich dagegen gesträubt. All das wusste der nun Fünfzehnjährige. Druck erzeugte stets Gegendruck. Und letztendlich war immer derjenige der Verlierer, der Druck ausübte. Auch diese Lektion lehrt das Leben, wenn man Augen hat, zu sehen und einen Verstand, zu begreifen. Melancholisch gestimmt drehte Alf sich auf die Seite und zog die Beine an. Litta war fort. Aber sie war nicht tot. Keine Sekunde lang hatte Alf daran geglaubt. Natürlich hatte er auch keine Auflösung dieses Widerspruchs gefunden. Es war ein reines Bauchgefühl, das ihn an der Vorstellung festhalten ließ, dass seine kleine Freundin nicht das Opfer eines gewissenlosen Mörders geworden war. Trotz allem mochte die Antwort näher liegen, als es momentan den Anschein hatte. Immer öfter nistete sich in diesem Zusammenhang das Bild des alten Mannes in seinen Geist ein, der ihm irgendetwas hatte mitteilen wollen und schlussendlich nicht mehr dazu gekommen war. Als unüberwindbar hatte sich die Barriere des Naturphänomens erwiesen, das es überhaupt erst ermöglicht hatte, dass sich der Greis und der Junge über den Weg gelaufen waren. Es hatte mit Litta zu tun! Davon ließ sich Alf nicht abbringen. Doch er hatte keine noch so abwegige Assoziationskette konstruieren können, die einen Kontext zu allen tatsächlichen und zu allen möglichen Geschehnissen herstellte. Der Japaner Nagashi hatte in Alfs Gedankenspielereien nie einen Platz gefunden. Alf war der festen Überzeugung, dass gerade dieser nichts mit Littas Verschwinden zu tun hatte. Wieder so eine gegenstandslose Behauptung, die sich alleine auf Alfs Intuition gründete. Die Intuition war ehrlich. Dass es sie überhaupt gab war Grund genug, ihr auch zu lauschen. Go Nagashis Schicksal hatte ihn anfangs wenig berührt; zu beschäftigt war er mit seinen eigenen Sorgen. Nach und nach hatte er seine Emotionen in den Griff bekommen und erst zu diesem Zeitpunkt 64
hatten ihm die Abscheulichkeiten der Ortsansässigen einen eiskalten Schauer über den Rücken gejagt. Sechs Monate nach der grausigen Tat waren sich Alf und Go im Wald begegnet. Beim Anblick des Japaners hatte sich Alfs Herz zu einem dumpf pochenden Fleischklumpen zusammengezogen. Unfähig, eine andersgeartete Reaktion zu zeigen oder einfach durch das schreckliche Gesicht hindurch zu sehen, zu grüßen und vorbeizugehen, waren die Züge des Jungen dergestalt entgleist, dass nur bei eingehender Betrachtung zu sagen gewesen wäre, bei wem es sich um den tatsächlich Entstellten handelte. Ironischerweise war genau diese Begegnung der Beginn einer recht seltsamen... Freundschaft. So sah Alf alsbald das Gesicht des Mannes aus Fernost auch mit den Augen eines Freundes. Zwei- bis dreimal im Monat trafen sie sich bei der Hütte Nagashis zur gemeinsamen Meditation. Sie sprachen kaum miteinander, wechselten nur wenige Blicke. Der Kamerad wurde mehr erfühlt und erkannt an seiner Aura. Es genügte, mit geschlossenen Augen am Boden zu sitzen und den Partner zu spüren. Es waren angenehme Momente gewesen, die sie gemeinsam verbracht hatten. Sie hatten ihnen geholfen, die Vergangenheit abzulegen und sich der Gegenwart - dem Hier und Jetzt - zu widmen. Immer noch innerlich aufgewühlt richtete sich Alf auf und schwang die Füße aus dem Bett. Er rieb sich über die Augen, gähnte und spürte die Müdigkeit. An Schlaf, das wusste er, war allerdings nicht zu denken. Barfuss tappte der Junge zur Tür, drückte sie auf, trat leise auf den schmalen Flur- und hörte gedämpfte Stimmen. Es waren seine Eltern, die sich im Flüsterton unterhielten. Sie waren trotzdem einigermaßen deutlich zu verstehen und auseinander zu halten. Was mochten sie zu bereden haben? Die Nacht war schon nicht mehr jung und die Arbeit des nächsten Tages ließ sich nicht verschieben. Schlagartig hatte die beginnende Müdigkeit seinen Körper verlassen. Alf hockte sich auf die Knie, stützte sich auf die Hände und kroch vorsichtig Stück für Stück vor zur Treppe. Wenn es etwas gab, was seine Eltern ihm verheimlichten - und alles deutete daraufhin - dann 65
wollte er keinesfalls durch ein unbedachtes Geräusch die Konversation unter- und schon gar nicht abbrechen. Näher, immer noch ein wenig näher rutschte er über den Boden zum Treppenabsatz und verhielt erst in der Bewegung, als er ziemlich sicher war, dass ein zusätzlicher Zentimeter ihn unweigerlich den Augen seiner diskutierenden Eltern Preisgeben musste. Er senkte den Kopf nach unten, bis er unter seinem Kinn Widerstand spürte. Dabei hielt er den Atem flach und lauschte konzentriert. »... in dem Steinbau macht!« Das war die Stimme von Liv Tjörnsen. »Was soll er schon machen? Er baut den alten Schuppen aus. Schließlich wohnt er darin.« »Aber doch keine drei Monate! Ich kann das Geräusch von dem Mörtelbottich nicht mehr hören! Es geht mir an die Nerven!« Der Steinbau lag gut zweihundert Meter vom Gehöft entfernt. Alf war dieses rührende, malmende Geräusch ebenfalls aufgefallen. Es hatte bereits den Charakter einer Hintergrundbeschallung, die man zwar ab und zu wahrnahm, der man jedoch keine weitere Aufmerksamkeit schenkte. Liv Tjörnsens Worte hatten den Jungen jedoch aufhorchen lassen. Ja, die Sache war wirklich merkwürdig. Was betrieb Onkel Ole so mutterseelenallein in dem Schuppen? »Und soll ich meinem Bruder jetzt sagen, dass er nicht mehr erwünscht ist?«, zischte Mats. Der scharfe Ton provozierte einen Hustenreiz. Der Asthmatiker keuchte mehrmals dumpf und setzte neu an: »Die Leute mögen ihn. Das weißt du. Er ist hilfsbereit und strebsam. Außerdem soll er mir auf dem Hof zur Hand gehen. In meinem gesundheitlichen Zustand können wir jede Hilfe gebrauchen.« »So schlimm ist es nicht«, sagte Alfs Mutter matt. Es war ihr anzumerken, dass hier allerdings die bloße Hoffnung Geburtshelferin ihrer Worte war. Sie beobachtete seit langem das Fortschreiten der körperlichen Eingeschränktheit ihres Mannes und das Ergebnis wussten auch die blumigsten Umschreibungen nicht zu beschönigen. Vielleicht hatte Mats Tjörnsen Recht. Vielleicht war das Auftauchen des verlorenen Bruders das Beste, was ihnen in dieser Situation widerfahren konnte. 66
»Ole ist sicher einerseits verschlossen«, fuhr Tjörnsen fort, »aber hat nicht ein jeder von uns seine Eigenarten?« »Er macht mir Angst.« »Das ist doch nicht dein Ernst, Liv!« »Lach mich nicht aus, Schatz. Ich meine es wirklich. Aber wenn du verlangst, dass ich dir irgendeinen plausiblen Grund dafür nennen kann, muss ich passen. Manchmal ist es sein Blick, der meine Nackenhaare aufstellt. Ein andermal seine Stimme, die kalt sein kann wie ein Grab.« »Beruhige dich, Liv«, gebot Mats seiner Frau Einhalt, die ihre Stimme, gerade noch ein lautes Wispern, deutlich erhoben hatte. »Und warum müssen wir flüstern?«, setzte sie aufgrund der Bitte ihres Gatten, sich zu mäßigen, triumphierend nach. »Damit wir unseren Sohn nicht aufwecken«, erhielt sie lapidar zur Antwort. »Nein, mein Lieber. Weil du befürchtest, er könnte ums Haus schleichen, uns beobachten und belauschen.« »Du redest Unsinn!« Mats sprach nun ebenfalls in Zimmerlautstärke, erkannte jedoch am Mienenspiel seiner Frau, dass sie eben diesen Umstand bereits als Eingeständnis wertete. Leiser äußerte er sich: »Welchen Vorteil hätte er davon? Was haben wir für Geheimnisse?« Liv Tjörnsen sah ihren Mann einige Sekunden schweigend und nicht minder intensiv an. »Er sucht keine Geheimnisse. Er ist doch selber eins. Nein, er will Informationen. Er sammelt Wissen. In naher oder ferner Zukunft wird er uns sagen, um was es ihm eigentlich ging. Warum er ausgerechnet hierher zurückkam. Aber dann wird es zu spät sein...« Alfs Puls hatte sich bei dieser Eröffnung beschleunigt. Der Atem war nicht mehr so leicht zu kontrollieren. Seine Mutter besaß die Angewohnheit, die Dinge beim Namen zu nennen. Ein schonendes Heranführen an die Fakten kannte sie nicht. Sie war keine Schwätzerin und keine Wichtigtuerin; ihre Meinung besaß Gewicht. Alf konnte sich nicht erinnern, dass sie in ihrem Leben einmal völlig daneben gelegen hatte. 67
Genau das war es, was den Jungen beunruhigte und nicht mehr losließ. »... weiß kein Mensch, was in diesem Koffer ist!«, schnappte Alf weitere Wortfetzen auf, die ihn aus dem Grübeln rissen. »Herrje! Was zum Anziehen wird drin sein!« Mats' Geduld näherte sich rapide ihrem Erschöpfungspunkt. »Es - sind - keine - Kleidungsstücke in diesem Koffer!«, betonte Liv Tjörnsen jedes einzelne Wort und signalisierte damit, keinen Widerspruch zu dulden. »Ja, ja, du weißt selbstverständlich wieder mehr als andere«, leierte Mats herunter und ignorierte damit vordergründig die unausgesprochene Forderung seiner Ehefrau. »Bist du blind, Mats? Ist dir nicht von Anfang an aufgefallen, wie dein Bruder den Koffer bewacht? Er lässt ihn nicht aus den Augen, auch wenn er sich den Anschein gibt, ihn nicht zu beachten. Er sieht ihn immer, ist ständig auf ihn fixiert. Niemand kommt in die Nähe des Schuppens, ohne dass mein herzallerliebster Schwager plötzlich aus dem Nichts auftaucht und einen abfängt, bevor man etwas sehen könnte, was besser im Verborgenen geblieben wäre...« »Ich habe jetzt genug von dem Krempel«, wandte Mats Tjörnsen sich ab. »Lass uns zu Bett gehen.« Livs Erwiderung ließ auf sich warten. Gerade so lange allerdings, um ihr nicht unterstellen zu können, etwas gesagt haben zu wollen, was sie hinterher bedauert hätte. »Ja«, flüsterte sie schließlich ergeben. »Lass uns zu Bett gehen.« Als sie oben an der Treppe ankamen und auf Zehenspitzen ihr Schlafzimmer aufsuchten, da lag ihr Sohn wieder auf seiner Schlafstatt. Die Müdigkeit rechnete sich diesmal höhere Chancen aus, von ihm Besitz zu ergreifen. Alfs Lider wurden in der Tat schwer, was eher verwunderlich anmutete, da er gerade erst dabei war, das soeben Gehörte zu verarbeiten. Der Körper indes forderte seinen Tribut für einen langen Tag voller Aktivitäten. So war das letzte, was ihn vor dem Eindämmern beschäftigte, ein Satz seiner Mutter, den sein Gedächtnis wie in einer Endlosschleife abspulte. 68
re...
... etwas sehen könnte, was besser im Verborgenen geblieben wä-
Die Worte schufen in dem Fünfzehnjährigen ein Gefühl höchster Beklemmung. Er hoffte inständig, niemals erfahren zu müssen, was sich hinter ihnen verbarg.
7. Kapitel Die Rückkehr der Bestie »Du willst Rache? Du willst seinen Tod?« Ole Tjörnsen schaute die Frau, die vor ihm im Schatten einer Mauernische stand, mit einer Mischung aus Überraschung und Befriedigung an. »Habt ihr dem Mann denn nicht schon genug angetan?« Es war keine Empörung, sondern reine Neugier, die seine Frage formulierte. »Es ist lange her«, antwortete die Frau, die ansonsten bis auf einige Ketten, Bänder und Lederwamse nackt war und dies als Ausdruck ihrer Verbundenheit zu Mutter Erde und zur besseren Nutzung ihrer Gabe der Gefühlsspionage propagierte. Jetzt trug sie allerdings einen Kapuzenumhang und Fellstiefel. »Du kannst das nicht verstehen, aber die Demütigungen, die er mir in der Vergangenheit zugefügt hat, nisten wie eine entzündete Wunde auf meiner Seele.« Verstohlen sah sie sich um. Es war niemand in der Nähe. Niemand, der sichtbar gewesen wäre. Sie schloss die Augen und scannte zum wiederholten Male die nähere Umgebung. Ihrem Gesichtsausdruck ließ sich entnehmen, dass sie zufrieden und die Luft rein war. »Du bist sehr wachsam«, meinte Tjörnsen. »Und wie es scheint sehr ängstlich.« »Ich möchte nur nicht, dass wir zusammen gesehen werden. Nicht an diesem Ort und zu dieser Zeit und schon gar nicht so kurz vor...« Shi zögerte. »Ja? Sag schon! Ich bin ganz Ohr.« »Du weißt verdammt genau, was ich von dir verlange!« 69
Ihr Tonfall missfiel Ole, ebenso das Wort ›verlangen‹. Er überging es, denn die Schamanin hatte selbstverständlich Recht. »Ich soll Nagashi beseitigen«, brachte er es auf den Punkt und in seiner Vorstellung spielte sich etwas viel Subtileres ab, als ein profaner Meuchelmord. Shi Itchiguronga hatte denselben Gedanken, wie ihre nachfolgende Äußerung deutlich machte. »Es soll ein Tod voller Qual und Erniedrigung werden.« Sie sagte es nüchtern, ohne Hass. So, als würde sie Zutaten für ein Kochrezept aufzählen. »Ich habe da eine ganz bestimmte Idee...« Ole Tjörnsen ging näher auf sie zu. Shi wollte zurückweichen, stieß jedoch gegen die Mauer. Zwei Handbreit war das Gesicht des Spätheimkehrers nun noch von dem ihren entfernt. Aus dem, was er sagte, sprachen tiefe Genugtuung, feste Entschlossenheit und hauchfeine Bedrohung, deren Adressat noch offen blieb. »Ich denke, unsere Interessen bewegen sich in eine gemeinsame Richtung.« Shi Itchiguronga fragte nicht, worin Tjörnsens Vorteil in der Angelegenheit lag. Allein seine Aufgeschlossenheit der Tat gegenüber und das Nichteinfordern irgendwelcher Belohnungen ließen jede überflüssige Bemerkung seine wahren Beweggründe betreffend an der Schwelle ihrer versiegelten Lippen zum Stillstand kommen. Wahrscheinlich hatte sie den Kontakt zu Tjörnsen vollkommen unbewusst genau aus dieser Motivation heraus hergestellt. Manchmal wunderte sie sich über ihre empathischen Fähigkeiten, die ab und an ein rätselhaftes Eigenleben zu entwickeln schienen und ihre Trägerin über gewisse Dinge im Unklaren ließen. Dann spürte sie einen kalten Schauer und sie erschienen ihr fremd und unheimlich. Genau der Eindruck, den sie von dem hageren Dänen hatte, der nah, viel zu nah bei ihr stand. Schon wollte die Schamanin sich abwenden, um zwischen Mauerresten und Rankpflanzen in der trüben Dämmerung zu verschwinden, da ließ sie die Stimme Tjörnsens noch einmal innehalten. »Warum bist du ausgerechnet zu mir gekommen?« Es war nicht ersichtlich, ob er die Antwort auf diese Frage bereits kannte und lediglich mit der vermummten Frau spielen wollte. Und 70
wenn es so war, dann entging es Shi Itchiguronga, die ernst und nachdenklich wurde. »Du weißt von meiner Begabung. Du weißt, was ich tun kann.« Eine Pause folgte, in der sie sich ihre weitere Erläuterung zurechtlegte. »Deine Aura war für mich anfangs eine unüberwindliche Hürde«, berichtete sie wahrheitsgemäß. »Bis ich lernte, sie zu überbrücken und hinter die Barriere zu schauen.« Ole Tjörnsen gab sich gleichmütig. Er zeigte weder Überraschung noch neigte sein Verhalten zu übertriebener Verharmlosung, wie es Leute an den Tag legen, die tatsächlich überrascht sind und sich ertappt fühlen. »Was ich dort sah, kann ich bis heute nicht begreifen, so unwirklich stellte es sich mir dar, dunkel und nicht von dieser Welt. Du bist ein außergewöhnlicher Mensch, mehr noch als ich. Oder wenigstens anders. Und du trägst etwas bei dir, das mich vor Grauen hat halb ohnmächtig werden lassen und doch eine unbezwingbare Anziehungskraft auf mich ausübte. Es dauerte nicht lange und ich war überzeugt, dass du der Richtige bist für die Aufgabe.« »Deine Ehrlichkeit ehrt dich, Shi«, gab Tjörnsen unumwunden zu. Mehr ließ er nicht vernehmen und schaffte dadurch weiten Spielraum für die Interpretation des Gesagten. Grußlos gingen sie auseinander. Shi Itchiguronga war absolut sicher, dass sie sich auf Tjörnsen verlassen konnte. Er war das geeignete Instrument ihrer Rache. Auf dem Rückweg zu ihrer Behausung fragte sie sich allerdings nicht nur einmal, ob sie mit ihrer Offenheit dem enigmatischen Komplizen gegenüber nicht einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen war. * Henrik war kerzengerade in seinem Bett hochgefahren. »Hast du auch gerade dieses komische Geräusch gehört?« 71
Sein Bruder Mikael murmelte etwas Unverständliches, reckte sich auf den Strohballen, die er mit Henrik teilte und sah ihn aus verkniffenen Augen an. »Nein. Ich hab nur dich gehört und das fand ich nicht komisch.« Flugs drehte er sich auf den Bauch und zog die leichte Sommerdecke bis über die Schultern. Einige Minuten vergingen. Henrik hatte all seine Sinne in die Dunkelheit und auf das Fenster gerichtet. Durch die Scheiben fiel silbrighell das Licht des Mondes. Das Geräusch war ganz in der Nähe des Fensters aufgeklungen. Etwas wie ein lang gezogenes Schaben, das in einem dumpfen Stoß geendet hatte. Jetzt blieb alles ruhig. Es wiederholte sich nicht. Der neunjährige Henrik hätte eine Menge dafür gegeben, wenn auch er sich wie sein ein Jahr älterer Bruder einfach hätte umdrehen und weiterschlafen können. Da jedoch mittlerweile alles wieder normal zu sein schien, kehrte auch bei Henrik die Ruhe ein. Er entspannte sich und legte sich auf den Rücken. Die Augen ließ er noch offen, damit ihm auch kein Detail der mondhellen Nacht entging. So glitt er gemächlich in einen Dämmerzustand. Die Augen fielen ihm immer öfter zu und die Abstände, zwischen denen er sie öffnete, um das Fensterkreuz zu betrachten und den gewohnten Zustand festzustellen, wurden von Minute zu Minute größer. Sein Schlaf konnte nicht lange angedauert haben. So jedenfalls kam es Henrik vor, als er unsanft wachgerüttelt wurde, die Müdigkeit abstreifte und erkannte, dass sein Bruder sich in heller Aufregung befand. »Was soll der Blödsinn?« »Kriegst du eigentlich gar nichts mehr mit?«, zischte Mikael vorwurfsvoll. »Was ist denn?« Henrik war verunsichert. Was hatte seinen Bruder aufgeschreckt? Ob es mit dem Geräusch von vorhin zu tun hatte? Mikaels nachfolgende Erklärung bestätigte diese Vermutung. »Da ist irgendwas beim Fenster.« Es war der Hauch einer Stimme, der die Angst beinhaltete, ein Untier wecken zu können, das bisher noch nicht auf sie aufmerksam geworden war. 72
»Hast du auch dieses Schaben gehört? Und den Schlag?« »Nein, nein! Ein Kratzen! Wie von Tierkrallen. Ich bin gucken gegangen...« »Was?! Du hast das Fenster...« »Ich habe es aufgemacht«, vervollständigte Mikael und führte den Zeigefinger zum Mund. Für seinen Geschmack redete sein jüngerer Bruder eine Spur zu laut. Henrik war gebannt wie selten zuvor. Er hatte sich aufgesetzt und saugte praktisch jede Silbe auf, die über Mikaels Lippen kam. Der hockte mit dem Rücken zur Wand gleich neben ihm, die Knie an der Brust und die Decke bis zum Kinn. »Und was weiter?«, drängte Henrik. »Ich... habe eine Stimme gehört«, sagte Mikael, nun wesentlich ruhiger. Unwillkürlich fröstelte es Henrik. Doch er sagte nichts. »Eine Männerstimme. Und sie kannte meinen Namen!« Jetzt spürte Henrik einen drückenden Klumpen im Magen. »Lass uns Mama und Papa Bescheid sagen«, schlug er vor. Es war ihm anzumerken, dass die Angst an ihm hoch kroch. »Ich bin doch kein Baby!«, wies ihn Mikael zurecht. »Außerdem lasse ich mich nicht anmeckern, weil ich sie im Schlaf gestört habe. Die glauben uns doch kein Wort!« »Was sollen wir dann tun?« »Warten. Wir warten, bis es hell wird und passen auf. Jeder auf den anderen.« »Hm.« Henrik fand den Vorschlag gar nicht einmal so schlecht. Und irgendwie war die Sache auch ganz schön spannend. Alles entwickelte sich wie in einer Abenteuergeschichte. »Miii-ka-eeel!« »Da! Da! Hast du gehört?!« Henrik sah, dass sein Bruder unter der Decke zitterte. »Ich sehe nach«, nahm er allen Mut zusammen. Wann hatte er sonst schon die Gelegenheit, sich vor dem Größeren zu beweisen? »Mach keinen Blödsinn«, kam es schwach. 73
»Was soll denn schon passieren, Mika?«, trumpfte Henrik auf. Je mehr Angst und Unsicherheit Mikael zeigte, desto selbstbewusster trat er selber auf. Das zweiflügelige Fenster ließ sich über einen Drehknauf öffnen. Der Neunjährige legte seine Hand darauf, drehte ihn nach rechts und zog beide Flügel nach innen. Seine Angst war einer befremdlichen Neugier gewichen und natürlich dem Wunsch, Größe und Stärke zu demonstrieren und sich Achtung zu verschaffen. Trotzdem zuckte er zusammen, als die fremde Stimme erneut nach seinem Bruder rief. »Miii-ka-eeel!« Es klang viel lauter als vorhin. Und dann war da ein Schatten zu sehen, der... Mikael unterdrückte einen Schrei, als er aus schreckgeweiteten Augen beobachtete, wie sein kleiner Bruder vornüber aus dem Fenster fiel. Nein, nicht fiel. Er war durch das offen stehende Fenster herausgerissen worden! Und er hatte keinen Ton dabei von sich gegeben. Alles war mehr oder weniger lautlos vonstatten gegangen. Sekunden herrschte Totenstille. Sekunden, die sich für den angstschlotternden Jungen endlos auszudehnen schienen. Die Gefahr, die dort draußen lauerte, gewährte ihm einen kurzen Aufschub. Und als er dann die Stimme aufs Neue nach sich rufen hörte, da war es wie eine Erlösung. Und gleichfalls die Ankündigung neuen Grauens. »Miii-ka-eeel!« Das Versteck spielen war vorbei. Eine dunkle Gestalt kletterte über den Sims direkt in das Zimmer der Geschwister. Nackte Furcht schnürte Mikael die Kehle zu. Selbst, wenn er gewollt hätte, wäre er nicht fähig gewesen zu schreien oder einfach wegzurennen. Sein gesamter Körper war gelähmt und dazu trug maßgeblich das Bündel bei, das der Einbrecher an seiner Hand baumeln ließ. Es war Henrik! Schlaff hingen seine Arme und Beine zu Boden. Er war nicht mehr bei Bewusstsein. Wenn nicht gar Schlimmeres mit ihm geschehen war. 74
Achtlos ließ der Fremde das Kind zu Boden gleiten und näherte sich den Strohballen, auf denen die Jungen geschlafen hatten. Mikael schloss die Augen fest zu. Er wollte dem Unausweichlichen nicht ins Angesicht sehen. Wahrscheinlich hätte sein Herz noch in derselben Sekunde aufgehört zu schlagen. Er war sich nicht darüber im Klaren, dass er sich keinen barmherzigeren Tod hätte wünschen können! * Der Raum füllte sich gemächlich mit Dunkelheit, die der kurze Wintertag am frühen Abend mit sich brachte. Finsternis hatte sich ebenfalls auf die Miene Freder Berkvannsens gelegt, der eine außerordentliche Sitzung des Landrates unter Ausschluss der Öffentlichkeit einberufen hatte. Dazu hatte er seine beiden Stellvertreter Borghese und Ollström geladen. Nicht, weil er ihren Rat schätzte oder sich ihrer Unterstützung versichern wollte. Es war nur so, dass er ohne sie nichts entscheiden konnte und - wie die Vergangenheit gerade im Fall Go Nagashis gezeigt hatte - durch ihren Mehrheitsbeschluss der Verantwortung enthoben wurde. Weiterhin hatte es sich die Schamanin Shi Itchiguronga nicht nehmen lassen, an den Gesprächen teilzunehmen. Irgendwie gehörte sie weder zum Rat noch zur Öffentlichkeit. Berkvannsen hatte sich erst wenig Gedanken darüber gemacht, wo die Frau, die schweigsam und scheinbar abwesend in der hinteren Ecke des Raumes am Boden saß, gesellschaftlich einzuordnen war. Vielleicht gehörte sie in keine der beiden Kategorien und repräsentierte ihr eigenes System. Im Moment spielte es keine Rolle. Freders Gedanken beschäftigten sich noch mit der Möglichkeit, Shis außergewöhnliches Talent im Verlauf der Gespräche eventuell zu seinem Vorteil nutzen zu können. Zu irgendetwas Sinnvollem musste sie schließlich gut sein, wenn sie sich schon selbst zu dieser Versammlung eingeladen hatte. Allerdings gestand sich Freder Berkvannsen ein, dass er keine Ahnung hatte, wie er in dieser Situation von ihren empathischen Fähigkeiten profitieren konnte. 75
»Acht Kinder aus sechs Familien innerhalb von einem Monat«, übersprang er jegliche Begrüßungsfloskel und schaute in die Runde. »Ich bin kein Detektiv oder Richter und ich muss euch sagen, dass ich nicht so genau weiß, was in einer solchen Situation zu tun ist und wie ich sie beurteilen soll.« »Wir haben bereits das Richtige getan. Go Nagashi ist eingesperrt. Nach meinem Geschmack übrigens viel zu spät.« Sund Ollström schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich garantiere euch, dass wir jetzt alle wieder friedlich schlafen können.« »Ich habe da so meine Bedenken«, warf Berkvannsen ein. »Die hattest du auch beim letzten Mal!« Görgen Borghese war ganz in seinem Element. »Die Ereignisse der Gegenwart zeigen doch, dass wir damals nicht konsequent genug vorgegangen sind. Der Japaner versucht sich nun an der Gemeinschaft zu rächen. Er ist vor unseren Augen genesen, konnte alles genau vorbereiten und schlägt gnadenlos zu. Wir alle haben das mitzuverantworten, weil wir ihn nicht wie einen tollwütigen Hund zur Strecke gebracht haben!« »Die Beweislage ist immer noch nicht geklärt«, gab Freder zu bedenken. »Daran hat sich bis heute nichts geändert.« »Die Beweise beißen dir schon in den Hintern und du kriegst davon nichts mit!«, regte Ollström sich auf. »Du hast uns zusammengerufen, um über unser weiteres Vorgehen zu beratschlagen. Und ich sage euch jetzt klipp und klar: Lasst den Bastard baumeln! Hackt ihn in Einzelteile und verbrennt ihn! Aber macht endlich Schluss mit diesem Theater! Es sind genug Kinder gestorben!« Freder Berkvannsen winkte ab. »Die Kinder stehen erstmal gar nicht zur Debatte, Sund! Ich will nur nicht einen Fehler wiedergutmachen, um dann sofort den nächsten zu begehen.« »Keiner wäre dir böse, wenn die Hinrichtung Nagashis sich irgendwann als Fehler herausstellen würde«, tat Borghese schon fast gelangweilt. »Natürlich nicht! Ihr hättet ja auch ein reines Gewissen! Ihr hättet die Entscheidung nicht zu verantworten!« 76
»Manchmal glaube ich, das Amt des Distriktvorstehers brauchte einen Mann wie Ole Tjörnsen.« Ollström beging einen mehr als offensichtlichen Affront. »Was soll das heißen?« Es fehlte nicht viel und Freder würde die Fassung verlieren. »Glaubt ihr, ich bin ungeeignet, weil ich nicht nach eurer Pfeife tanze?« »Reg dich nicht gleich auf«, schwächte Sund ab. »Aber so wie du dich aufführst, können einem schon mal solche Ideen kommen, oder? Außerdem ist Ole ein brauchbarer Typ. Und er hat vernünftige Ansichten. - Was meinst du, Shi?«, wandte er seinen Kopf der Schamanin zu, die immer noch bewegungslos am Boden saß und deren geschlossene Augen und die hin und wieder unabsichtlich zuckenden Finger- und Zehenglieder der Ansicht Nahrung verleihen konnten, sie würde von dem, was sich um sie herum ereignete, nichts mitbekommen. »Du kennst Ole Tjörnsen doch auch.« »Flüchtig«, zeigte sie, wenn auch knapp, dass sie der Unterhaltung durchaus folgte. »Warten wir doch einfach ab, was die nächsten Tage bringen«, schlug Berkvannsen vor. »Wenn es stimmt, was du behauptest, dann müsste die Mordserie ein Ende finden, jetzt, wo Nagashi eingesperrt ist.« »Und wie lange sollen wir warten?« Sund Ollström wirkte ungeduldig. Borghese klopfte ihm bestätigend auf die Schulter. »Ihr könnt es wohl nicht mehr abwarten, einen Menschen zu ermorden.« »Es ist kein Mord!«, verteidigten sich Ollström und Borghese wie aus einem Mund. »Er hat den Tod verdient. Er gehört nicht mehr unter Menschen. Er ist für uns alle ein unkalkulierbares Risiko und eine Gefahr.« »Eine Woche«, schloss der Distriktvorsteher die Diskussion ab. »Wir warten eine Woche. Dann sehen wir weiter.« »Nein!«, wiesen seine Stellvertreter ihn harsch zurecht. »Jetzt wird abgerechnet! Der Spuk muss beendet werden!« Freder Berkvannsen kam nicht mehr dazu, eine entsprechende Reaktion zu äußern. Die Tür des abgelegenen Besprechungszimmers 77
flog auf. Zwei Arbeiter, die bei der Sanierung von Wohngebäuden in Svendborg halfen, kamen atemlos hereingestürzt. »Der Japaner!«, keuchte der erste. »Er ist ausgebrochen!« * Die drei Vertreter des Landrates hetzten hinter den Arbeitern her. Shi Itchiguronga hatte es nicht so eilig. Durch Schnelligkeit ließ sich in der gegebenen Situation nichts ausrichten. Als sie nach einigen Minuten das Backsteingebäude erreichte, das kurzfristig zum Gefängnis umfunktioniert worden war, da war die allgemeine Ratlosigkeit bereits der Empörung über die Dreistigkeit des Vergehens gewichen. »Er hatte Hilfe von außerhalb«, konstatierte Freder Berkvannsen und kaute auf der Unterlippe. Kritisch musterte er die Stelle, an der vorher eine quadratische, gerade einmal kopfgroße Lüftungsöffnung in zwei Metern Höhe die Wand verziert hatte. Jetzt prangte dort ein Loch von einem knappen Meter Durchmesser. Einige Ziegelsteine hingen lose in den Fugen. »Unsinn!«, entgegnete Sund Ollström scharf. »Du willst doch nicht wieder Menschen aus unserer Mitte beschuldigen?« »Es sind keine Heiligen! Die richtige Motivation triebe so manchen zu Taten, die er sonst nicht begehen würde.« »Alles haltlose Verdächtigungen!«, kommentierte Borghese. Er stand zu einhundert Prozent auf Ollströms Seite. »Ich habe gehört, dass mit Hilfe fernöstlicher Kampftechniken selbst massive Wände eingetreten werden können.« Sein auffordernder Blick streifte die Schamanin. Sie stand mit nackten Füßen auf dem kalten Grund. Vor ihrem Mund bildeten sich weiße Schwaden. »Das entspricht durchaus der Wahrheit.« »Da habt ihrs!«, triumphierte Görgen. »Wenn man nur lange genug sucht«, erwiderte Freder abschätzend, »wird man an jeder Ecke Beweise finden, die die Richtigkeit der eigenen Ansichten untermauern.« »Wir trommeln jetzt ein paar Leute zusammen und räuchern die Ratte in ihrem Nest aus!« 78
»Hast du keinen Verstand?«, protestierte Berkvannsen. »Der letzte Ort, an dem du Nagashi finden wirst, ist seine Hütte. Der Mann mag ein Mörder sein, aber er ist kein Narr!« Obwohl seine Argumentation schlüssig war, wohnte ihr ein weiterer Beweggrund inne. Freder versuchte wie vor drei Jahren das Unabwendbare aufzuhalten. Er führte einen aussichtslosen Kampf gegen die Borniertheit seiner Mitmenschen. Damals hatte er Go Nagashi - von dessen Unschuld war er auch gegenwärtig überzeugt, aus Gründen, die nur als intuitiv bezeichnet werden konnten - nicht vor der wütenden Meute retten können. Und selbst wenn er alle seine Kräfte mobilisierte, so würde es nichts an seinem ganz persönlichen Scheitern ändern. Diese Konsequenz war er nicht bereit einzugestehen. Ebenso unzugänglich war er der Frage, ob er dem Japaner wirklich uneigennützig helfen wollte oder ob es schlussendlich nur darum ging, sein verletztes Ego aufzubauen, indem er sich gegen Borghese und Ollström durchsetzte. Die beiden Männer konnten sich jedenfalls durchsetzen. Das zeigten sie gerade im Augenblick, als sie ihn einfach stehen ließen, den zwei Arbeitern Kommandos gaben und einen Sammelpunkt festsetzten für den Suchtrupp. Tatenlos blieb der Distriktvorsteher zurück, der in diesen schicksalsträchtigen Momenten zum bloßen Animateur seiner Heuchlerei degradiert worden war. * »Ich habe dich hier noch nie gesehen? Kommst du öfter in den Wald?« »Manchmal. Aber nicht so oft.« Das Mädchen mochte fünf oder sechs Jahre alt sein. Schüchtern senkte es den Blick, schob die Finger beider Hände ineinander und bog sie in alle Richtungen. »Bist ein echt hübsches, kleines Ding«, lächelte Ole Tjörnsen sie an. »Wie heißt du?« »Svenjana.« Tjörnsen hatte mehr zufällig beobachtet, dass das Kind ganz in der Nähe seines Wohnschuppens einem Waldtier hinterhergelaufen 79
war. Er hatte sich dem Mädchen ganz offen genähert, um es nicht zu erschrecken und es bereits von weitem gerufen, damit es auf ihn aufmerksam wurde und sich nicht noch weiter entfernte. »Klingt nett. Du darfst Ole zu mir sagen.« Die Kleine hob den Kopf. »Ole Tjernsen?«, fragte sie unsicher. »Tjörnsen, ja.« Der hagere Mann konnte seine Verblüffung nicht verbergen. Svenjanas Miene erhellte sich. »Mein Papa hat mal deinen Namen erwähnt. Er arbeitet in Svendborg. Er ist Maurer.« Ole lachte. »Ich kann mich zwar nicht an deinen Vater erinnern, aber ich könnte ihn gut bei mir zu Hause gebrauchen. Ich werde einfach nicht fertig mit der Arbeit.« »Wo wohnst du denn?« »Oh, nicht weit. Gleich dahinten, wo der Rauch aufsteigt.« Er schien ein, zwei Sekunden angestrengt zu überlegen, ging vor dem Mädchen in die Hocke, das brav dastand und raunte ihr verstohlen zu: »Möchtest du vielleicht mit mir kommen? Ich denke, ich habe da etwas, was ich dir gerne zeigen möchte.« »Was ist es?« Die Neugier des Kindes war geweckt. »Sieh es dir an. Du wirst nicht enttäuscht sein. Es ist etwas ganz Besonderes.« »Meine Eltern haben gesagt, ich soll sehr vorsichtig sein und nicht mit Fremden reden.« »Erstens reden wir schon die ganze Zeit«, zerstreute Tjörnsen ihre Bedenken. »Und zweitens bin ich auch kein Fremder. Du kanntest sogar meinen Namen.« »Ja, Ole, stimmt«, war Svenjana überglücklich, dass es nun keinen Grund mehr gab, das lockende Angebot auszuschlagen. »Der Japanische ist nämlich ausgebrochen, sagen meine Eltern«, teilte Svenjana lehrmeisterlich mit. »Und der frisst kleine Kinder!« »Soso, tut er das?« Ole Tjörnsen konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. »Aber wie ein Japanischer sehe ich doch wohl nicht aus, oder?« 80
»Nein, hahaha, nein, tust du nicht.« Plötzlich wurde sie sehr leise. »Glaube ich. Wie sehen Japanische denn aus?« Tjörnsen hielt die Spitzen beider Zeigefinger an die Augenwinkel und zog sie nach außen hin lang. »So sehen Japanische aus, Svenjana«, alberte Ole rum, wackelte mit dem Kopf und ahmte ein Kinderstimmchen nach, als er zusammenhanglose, unsinnige Silben Pseudojapanisch daherplapperte, um das Mädchen zu belustigen. Sie lachte so anhaltend, dass ihr schon die Tränen in den Augen standen. Ole nahm ihre kleine Hand. »Und nun gehen wir uns was Schönes angucken.« Arglos ließ Svenjana sich mitführen. Vor dem Schuppen angekommen, wollte Ole gleich hinein, doch als ihm die Hand des Kindes entglitt, da merkte er, dass es stehen geblieben war. »Was ist los?« »Ist es wirklich schön? Ich meine, was du mir zeigen willst?« Natürlich konnte Tjörnsen dem Mädchen die Frage nicht verübeln. Das Äußere des Schuppens erweckte nicht den Eindruck, als dass es in seinem Innern etwas geben mochte, was auch nur entfernt attraktiv und für Kinderaugen begehrenswert sein könnte. Die notdürftig geflickte und verputzte Fassade schillerte in den unterschiedlichsten Abschattungen, je nachdem, mit welchen Mischstoffen Ole Tjörnsen seinen Zementmörtel angerührt hatte. »Lass dich nicht von dem hässlichen Anblick der Mauern ablenken. Was ich dir zeigen will, ist wohl mit Abstand das Außergewöhnlichste, was du jemals in deinem Leben sehen wirst. Wenn du aber doch lieber gehen möchtest...« Natürlich wollte sie nicht! Doch bereits während der ersten kleinen Schritte, die sie im Innern des Baus hinter sich brachte, bereute sie ihre vorschnelle Entscheidung. »Bah, hier stinkts!« »Das Gemäuer ist alt«, belehrte sie Ole. Er wies hoch zum Dachstuhl, der offen vor ihnen lag. »Das Holz ist morsch und stellenweise faul. Ich konnte noch nicht alles austauschen und reparieren.« 81
Svenjana war wenig überzeugt. Sie blieb stehen. Trotzig verschränkte sie die Arme. »Hier ist es schmutzig! Ich gehe nicht weiter!« »Bitte komm doch, Svenjana. Es ist gleich hier um die Ecke.« Treuherzig schaute er das Mädchen an. Spärlich fiel mattes Tageslicht durch einen Verschlag und tauchte Tjörnsens Gesicht in blassen Schein, der es irgendwie traurig aussehen ließ. Die Kleine gab sich einen Ruck und setzte sich wieder in Bewegung. Sie erklomm zwei Stufen, die in einen Raum führten, den sie von ihrer Position aus nicht einsehen konnte. Unter ihren Schuhen wirbelte Staub hoch, der sich entweder schon seit Monaten hier ablagerte oder derart hartnäckig war, dass er selbst bei wöchentlicher Reinigung nie für immer verschwand. Er biss in ihren Augen, die sie rieb und die ihr unvermittelt ein Bild zeigten, auf das Svenjana nur in einer Weise zu reagieren vermochte: Sie stieß einen langen, spitzen Schrei aus! Bevor sie noch weitere Schreie ausstoßen konnte, war Ole Tjörnsen bei ihr und presste mit seiner Handfläche ihren Mund zu. Sie zappelte und trat, konnte jedoch der Kraft eines Erwachsenen keinen wirksamen Widerstand leisten. Oles freie Hand drehte ihr einen Arm auf den Rücken, dass dem Mädchen fast augenblicklich vor Schmerz die Tränen hervorsprudelten; nicht nur aus den Augen, sondern auch durch Nase und Mund. »Tja, ich muss es zugeben«, sagte er wie beiläufig, während er Svenjana eisern festhielt, »es ist recht unordentlich. Man merkt leider deutlich, dass die helfende Hand einer Frau fehlt.« Das Mädchen spürte einen Einstich an seinem Hals. Ihr neuerlicher Schrei Sing im gedämpften Gurgeln freigesetzten Schleims und Speichels unter. Es dauerte auch nicht lange, bis sie merkte, wie sich die Hand von ihrem Mund löste. Sie wollte wie wild kreischen und alles im Umkreis mehrerer Kilometer zusammenrufen, doch außer einem stechenden Krächzen verließ nichts ihre Kehle. Svenjana wurde es schwindelig. Verschwommen sah sie die erstarrten Leichen zweier Jungen auf den Dielen liegen, deren Augen weit hervorquollen und mit denen etwas geschah, das mehr zu ahnen 82
als zu sehen war. Ihre Körper waren starr und reglos, die Haut dunkel verfärbt. Trotzdem gab es Bewegungen an oder in den Toten. Sie schaute hinter sich. Ole Tjörnsen wandte ihr den Rücken zu und ging zum Ausgang des Schuppens. Seine Gestalt war ein verschwommener, pulsierender Fleck und das letzte, was Svenjana vor ihrem Kollaps wahrnahm. Draußen vor dem Schuppen betätigte Ole Tjörnsen die Kurbel seiner Mörtelmischapparatur. Träge setzte sich der Bottich auf der Drehscheibe in Gang. Eine Unwucht ließ den Rührschlegel bei jeder vollen Umdrehung gegen die Außenwand donnern und erzeugte zu dem mahlenden, knirschenden Bewegungsgeräusch einen hohl klingenden, metallischen Schlag. Es hörte sich an wie Glockengeläut vor dem Jüngsten Gericht... * Liv Tjörnsen hatte sich ein für allemal vorgenommen, sich der Angelegenheiten, die ihren Schwager betrafen, selber anzunehmen. Für ihren Mann Mats war das Thema mittlerweile tabu; er wollte sich nicht über die Eigenarten seines Bruders unterhalten und war froh, dass dieser ihm gelegentlich bei der Hofarbeit half. Als sie ihren Gatten bei der Viehfütterung wähnte, unternahm sie einen Vorstoß in Richtung des Schuppens, den sich Ole als Behausung auserkoren hatte. Was gab es dort Geheimnisvolles zu verbergen, dass niemand eintreten durfte? Wieso lief zu den unmöglichsten Zeiten der Zementmischer? Ole hatte nicht davor zurückgeschreckt und ihn einmal sogar mitten in der Nacht angestellt. Genau davon wollte Liv sich auf die Schnelle ein Bild machen - und den lieben Bruder von Mats zur Rede stellen. Wenn er denn nach den ganzen langen Jahren zu seiner Familie zurückgekehrt war, dann sollte er sich auch mit dieser Familie beschäftigen. Das bedeutete schon ein wenig mehr, als dreimal täglich zu den Mahlzeiten zu erscheinen. Die normalerweise zurückhaltende, dafür sehr geradlinige Frau betrat den Schuppen und war gelinde gesagt enttäuscht, Ole nicht vorzufinden. Sie rief ihn einige Male, erhielt jedoch keine Antwort. An83
dererseits bot sich jetzt unverhofft die Gelegenheit, den abseits vom Hof liegenden Bau eingehend zu inspizieren. Es roch muffig. Und nicht nur das. Fäulnis lag in der Luft, vermischt mit einem herbsüßen Geruch, den sie nicht zuordnen konnte. Dieser Staub überall, machte sie in sämtlichen Ecken, die sie begutachtete, die gleiche Entdeckung. Na, ich muss hier schließlich nicht
leben.
Zwei Stufen ging es hoch. Auch hier dasselbe Bild. Modrige Feuchtigkeit in allen Ritzen, ein Wechselbad verschiedenster Gerüche der unangenehmen Art und... Liv Tjörnsen japste und zuckte unter dem Anblick unkontrolliert zusammen. »Um Himmels willen!«, entfuhr es ihr. Sie wankte ein Stück nach hinten, fand jedoch keinen Halt und bemühte sich, auf ihren wackligen Beinen stehen zu bleiben. Am Erdboden lag ein kleines Mädchen. Es sah aus, als wäre es von oben bis unten mit Sand eingerieben worden. Erst auf den zweiten Blick sah Liv, dass das Kind völlig nackt war und die poröse, grobkörnige Schicht wie eine zweite Haut an ihr lag. Schon wollte sich die sichtlich betroffene Frau nach der Toten bücken, als ihr in einer Nische weiter hinten im Raum ein Objekt auffiel, das ihr, seit sie es das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, nicht mehr aus dem Sinn gegangen war und sie oftmals beschäftigt und lange hatte wach liegen lassen, weil sie ein düsteres Geheimnis dahinter vermutete: Oles Koffer! Unscheinbar und - weitaus wichtiger - unbewacht schien er Liv Tjörnsen einzuladen: Komm her und mach mich auf! Schau dir an, was
in mir ist!
Das tote Mädchen wurde zur Nebensache. Der Koffer zog sie magisch und mit unwiderstehlicher Macht an. Schon war er zum Greifen nahe, brauchte die Frau nur ihre Finger auszustrecken, um ihn zu berühren, die Schnallen zu lösen und - endlich! - hineinzusehen... Ein dumpfer Laut riss sie herum und ging einher mit einem heftigen Stechen im Hinterkopf. Bevor sie allerdings registrierte, dass der Ursprung des Geräuschs ihrem Schädel entsprang, auf den ein stump84
fer Gegenstand wuchtig niedergesaust war, war es in ihrem Bewusstsein längst stockdunkel geworden. * »Na, teure Schwägerin, wieder unter den Lebenden?« Ole tatschte ein paar mal Livs Wangen, als sie sich zu regen begann. Wieder halbwegs beisammen, schossen ihre Blicke glühende Pfeile höchster Verachtung ab. Der lange verschollene Bruder ihres Mannes lächelte mild. »Da bist du mir doch tatsächlich auf die Schliche gekommen.« Es klang belustigt. Nicht, wie man es schlechthin erwartet hätte: konsterniert und nervös. »Es ist nicht weiter tragisch. Eigentlich wollte ich mich sowieso aus dieser Ecke der Welt verabschieden. Der Aufwand ist für meine Begriffe einfach zu groß.« Liv Tjörnsen zeigte sich ungerührt angesichts der Gelassenheit des Mannes. »Was zur Hölle treibst du hier bloß?« In der Betonung ihrer Worte spiegelte sich das ganze Maß ihrer Angewidertheit, die sie vor ihrem Gegenüber empfand. »Ich müsste sehr weit ausholen, um dir die komplette Geschichte zu erzählen, Liv und - oh!« Ole beobachtete, dass sie an den Fesseln zerrte, die sie erst bemerkt hatte, als sie nach einem Holzsparren greifen wollte, um ihn dem Kindermörder in den Kopf zu rammen. Die Unfähigkeit zu handeln, gepaart mit der zur Schau getragenen Überlegenheit ihres widerlichen Gastgebers entfachte ihre Wut in einer Art und Weise, dass die Frau sich selbst nicht mehr wieder erkannte. Tjörnsen ließ sie sich abreagieren. Die Fesseln bestanden aus Leder und zogen sich beim Rucken und Zerren nur enger zusammen. Es konnte nicht lange dauern, bis Livs Hysterie sich ganz von alleine legte. »Jetzt sieh dir das an! Du hast überall blutige Striemen an den Handgelenken.« Tjörnsen machte ein vorwurfsvolles Gesicht. Dann strahlte seine Miene wieder diese unnatürliche Heiterkeit aus. »An sich 85
ist es egal. Das verheilt sowieso nicht mehr, bis...« Er legte den Zeigefinger an den Mund, als wäre ihm just in diesem Augenblick eine Sache eingefallen, die er unbedingt noch loswerden wollte, bevor er sie erneut vergaß. »Du willst wissen, was in meinem Koffer ist, stimmt's?« Liv Tjörnsen nickte. Das wollte sie. Auch jetzt noch. Er hatte sie ja praktisch dabei ertappt, als sie ihn öffnen wollte. Und wenn Ole die Gespräche zwischen ihr und Mats belauscht hatte, dann wusste er es ohnehin. Wozu leugnen? Sie würde bald sterben; Oles Gehabe war nicht schwer zu deuten. Im Gegenzug wollte sie dann wenigstens noch ihren Wissensdurst befriedigen. Tjörnsen ruckte einen Tisch heran und stellte den Koffer anschließend darauf. Er zurrte an den Schnallen, ließ mehrere Verschlüsse hoch schnappen und klappte die Schalen auseinander. »In diesem Etui sind einige Spritzen, Ersatznadeln und Ampullen. Nichts Aufregendes. Das, was ich hingegen in die Spritzen hineinfülle, verdient besondere Aufmerksamkeit.« Er zog ein Bündel Schnüre auf, die ein weiteres, großes Fach aufklappen ließen. Darin kam ein Glasbehälter zum Vorschein, der von einem speziellen Verschluss nach oben hin versiegelt wurde. An den gegenüberliegenden Seiten des Behälters befanden sich zwei weitere, sehr schmale, etwa zwei Zentimeter vorstehende Öffnungen. Ole Tjörnsen - das bemerkte die gefesselte Frau auf Anhieb - behandelte den Behälter mit höchstem Respekt. Er vermied jede unnötige Berührung und achtete peinlichst darauf, den vorgewölbten Stümpfen nicht zu nahe zu kommen. »Wie du möglicherweise bereits vermutest, lagert in diesem Gefäß eine immens aggressive Substanz. Diese zwei Außenröhren sind so konstruiert, dass ihr interner Öffnungsmechanismus erst aktiviert wird, wenn eine dieser Spritzen am oberen Rand eingerastet ist. Eine überaus bedeutende Funktion, Liv.« »Alf hat gesehen, dass du das Pferd neulich in den Stall zurückgeführt hast«, lenkte Liv mit einemmal ab. Sie war sich nicht mehr so sicher, ob sie wirklich wissen wollte, was es mit diesem Behältnis auf sich hatte. »Wo bist du damit gewesen?« 86
»Euch entgeht nichts, oder?« Ole zeigte sein liebenswertestes Lächeln. »Weißt du, ich habe da diese Vereinbarung mit Shi Itchi...« »Die Schamanin?!« »Genau die. Also, sie will Go Nagashi weghaben. Ich beseitige ein paar Kinder. Der Verdacht fällt sofort auf ihn. Der Landrat buchtet den Japaner ein. Ich hole ihn aus dem Gefängnis raus. Dafür brauchte ich das Pferd. Für diesen Zweck habe ich eine Stahlvorrichtung aus zwei geschraubten Leisten konstruiert. Sie passt der Länge nach spielend durch die Lüftungsöffnung der ehemaligen Lagerhalle, in der sie Nagashi eingeschlossen haben. Er spreizt die Leisten auseinander, dass sie ein Kreuz ergeben und spannt sie vor das Loch. Das Drahtseil an dem Stahlkreuz ist mit dem Pferdegeschirr verbunden. Ich gebe dem Tier nur noch einen Klaps und...« »... es würde sich keinen Millimeter bewegen, du Bestie!« »Schon wieder ins Schwarze getroffen! Ich musste in der Tat ein wenig mehr nachhelfen...« »Und wozu das Ganze? Hat es der Hexe nicht gereicht, Nagashi eingelocht zusehen?« »Sie wollte seinen Tod«, wurde Ole Tjörnsen ernst. »Wir wussten nicht, ob sie ihn hinrichten würden. Shi war bei allen Unterredungen der Distriktvorsteher dabei. Die Stimmung war unentschlossen. Berkvannsen hat es bisher immer geschafft, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Nagashi musste die Möglichkeit zur Flucht haben. Das schaffte mir den Raum, weiter mit den lieben Kleinen zu hantieren. Shi hat eigentlich immer dafür gesorgt, dass ich unbehelligt arbeiten konnte in den vergangenen Wochen. Dass ausgerechnet du es bist, die mich enttarnt... das hat etwas von einer göttlichen Komödie.« »Himmel!«, keimte ein furchtbarer Verdacht in Liv auf. »Dann hat eventuell die Schamanin damals Litta ermordet, entsprechend beim Landrat interveniert, um anschließend Go Nagashi ans Messer zu liefern.« »Möglich ist alles. Aber so gut kenne ich Shi nicht, dass sie mir derartig pikante Details anvertraut.« »Du hast uns alle zum Narren gehalten! Ich habe dir nie getraut!« 87
»Und was hat dir dein Misstrauen eingebracht? Du hockst hier vor mir in der Erwartung eines scheußlichen Todes. Ich entwickle zwar von Zeit zu Zeit einen Hang zur Selbstdarstellung und Übertreibung, aber ich darf dir guten Gewissens versichern, dass die Todesart, die dir bevorsteht, das Entsetzlichste ist, was ich mir vorstellen kann. Sieh dich um. Ich habe am Ende des Raumes und weiter in die Tiefe gehend Nischen an den Wänden errichtet. Viele habe ich bereits zugespachtelt, aber ein paar sind noch offen. Auch für dich ist eine dabei.« »Ich kann mich nicht umdrehen, um nachzusehen«, versetzte Liv Tjörnsen voller Abscheu. »Doch ich glaube dir aufs Wort.« »Wie dumm. Ich vergaß. Nun, damit kommen wir wieder zum Inhalt dieses Behälters. Das - sagen wir mal - Plasma ist fürchterlich aggressiv. Manchmal glaube ich wirklich, es ist ein denkendes Lebewesen. Ich ziehe einen Teil davon mit der Spritze auf und injiziere es einem Menschen. Schlimme Geschichte, das Plasma ist ein zerstörerischer Parasit, der nicht einmal vor seinem Wirt halt macht und durch dessen Tod auch sich selbst vernichtet. Vorher aber frisst es ihn genüsslich von innen heraus auf. Ich konnte den Vorgang leider nicht lange genug beobachten, da das Plasma durch Körperöffnungen austreten könnte, um jemanden wie mich zu infizieren. Es kann durchaus einige Stunden ohne einen Wirtskörper überleben. Hat man mir jedenfalls gesagt. Daher muss ich jeden einmauern, um das Plasma einzudämmen und abzutöten. Zuletzt diese beiden Jungen. Eben noch das Mädchen. Ich habe daran gedacht, sie mit Mörtel gewissermaßen zuzukleistern, was mir im Nachhinein aber als zu unsicher erschien. Doch ich schweife ab. Was ich an sich sagen wollte ist, dass ein Mensch den Vorgang der inneren Zersetzung bei vollem Bewusstsein miterlebt. Er ist sozusagen Zuschauer und Hauptakteur im Drama seiner fleischlichen Aushöhlung.« »Gut hört sich das an. Darf ich da auch mitmachen?« »Liv! Du versetzt mich in Erstaunen! Mats hat mir nie erzählt, dass Sarkasmus zu deinen hervorstechenden Charaktereigenschaften zählt.« »Genauso wenig hat er mir erzählt, was du für ein penetranter Selbstdarsteller bist.« 88
»Gut, du hast dich mit der Lage abgefunden. Ich werde halt damit leben müssen, im Alter eine Spur zu exzentrisch zu sein. In Anbetracht der Tatsache, überhaupt am Leben zu sein, ein guter Kompromiss, finde ich.« »Sag mir nur eines: Warum tötest du? Wem nützt es? Wer hat dich zu seinem Speichellecker erzogen?« »Du entschuldigst, wenn ich bei der Beantwortung deiner Frage meiner Arbeit weiter nachgehe?« Ole Tjörnsen hatte dunkle Handschuhe übergestreift und legte sich Nadel und Injektionskolben bereit. »Es mag dich enttäuschen, doch ich bin ihm nie begegnet, ihm, der nicht mehr auf Erden wandelt, aber diesen Planeten aus den Angeln heben wird. Das Plasma ist ein Teil von ihm. Sein Blut. Du erinnerst dich an die Christuslegende, nicht wahr? Da war es ganz ähnlich. Er hingegen bleibt durch diese unergründliche Substanz ständig mit uns verbunden. Sie saugt das Leben und die Seele aus den jungen Körpern und stärkt ihn, damit er schon bald die Ketten abstreifen und hinab kommen kann zu uns auf die Erde. Wenn dieser Tag kommt, dann wird sein Schwert alle richten und nur die, die ihn verkündet haben, werden seinen unendlichen Großmut und seine allerhöchste Gnade erfahren.« »Du bist der letzte Abschaum!« Liv vergaß ihre Erziehung, ihren Glauben und alles, was es wert war, behütet zu werden und spuckte Ole Tjörnsen an. Es war das Höchste an Verachtung, was sie einem Lebewesen entgegenzubringen vermochte. Tjörnsen zuckte nur unmerklich zusammen, überging den Vorfall und zog unter größter Vorsicht die Spritze auf. Er stellte sich hinter Liv. Seine freie Hand legte er behutsam auf ihre Schulter. »So, Frau Tjörnsen«, sagte er sachlich. »Das kann jetzt etwas wehtun...« * Wohlwollend betrachtete Ole Tjörnsen sein Werk, schabte mit einer Kelle überquellenden Mörtel ab und warf das Werkzeug gleichgültig beiseite. Er griff nach dem Koffer, dessen Inhalt wieder fein säuberlich 89
verpackt war und der abreisebereit auf dem Tisch im Nischenraum stand. Eine vergnügliche Melodie pfeifend ging er ohne Eile zum Ausgang und trat ins Freie. »He! Ole!«, rief Mats aus der Entfernung. »Ist Liv bei dir?« Was wird denn das? Musste er sich jetzt auch noch um seinen dahinsiechenden Bruder kümmern? »Nein!«, rief Ole laut zurück. »Sie ist sicher im Haus!« Mittlerweile war Mats Tjörnsen so nahe gekommen, dass sie in gemäßigtem Tonfall miteinander reden konnten. »Da ist sie eben nicht!«, entgegnete er. »Weggefahren sein kann sie ebenfalls nicht; Pferd und Karren sind noch im Stall. Also kann sie doch nur hier sein.« Ole lachte. »Seltsame Logik. Aber gut. Bitte geh rein und sieh dich selbst um.« »Rein? Zu dir?« Mats war von den Socken. Gewöhnlich ließ sein Bruder niemanden in die Nähe des Schuppens, geschweige denn hinein. »Warum denn nicht?«, fragte Ole und verlieh seiner Stimme den Klang echten Erstaunens. »Ich habe alles soweit renoviert, dass ich Gäste ungeniert eintreten lassen kann.« »Ach so, deshalb.« Mats brauchte keine zweite Aufforderung und verschwand im Eingang. Ole blieb ihm dicht auf den Fersen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was im Kopf seines Bruders vorging, der die Räumlichkeiten begutachtete und wohl dabei war, Oles Sinn für Humor zu ergründen, mit dem dieser das Wort ›Renovierung‹ benutzte. »Schon ganz nett«, fällte Mats ein abschließendes, freundschaftliches Urteil. »Das freut mich«, ließ Ole vernehmen. »Denn du sollst dich in deinem zukünftigen Zuhause schließlich wohl fühlen.« »Hä? Was meinst du damit?« Mats, der die ganze Zeit über mit dem Rücken zu Ole gestanden hatte, drehte sich halb herum und genau hinein in die heran fliegende Faust. Er taumelte zurück, stolperte über seine Füße und knallte auf seinen Hintern. 90
»Hast du den Verstand verloren?«, stieß Mats hervor. Den Worten folgte ein trockenes Husten. Ole Tjörnsen gab keinen Kommentar ab, wähnte den Bruder hilflos und wollte ihm einen derben Tritt ins Gesicht verpassen. Er hatte weder mit der Schnelligkeit noch mit der Kraft des am Boden Kauernden gerechnet, der dem Tritt auswich und gleichzeitig Oles Unterschenkel packte, daran zog, dass es ihn aus dem Gleichgewicht brachte und auch auf die Bretter schmetterte. »Nicht schlecht, alter Mann«, zischte Ole, sprang katzengleich auf die Füße und baute sich vor Mats auf, der weit weniger durchtrainiert, aber inzwischen ebenfalls wieder hochgekommen war. »Ich werde dich nie wieder unterschätzen.« Er hatte es noch nicht ausgesprochen, da spürte Mats den nächsten Fausthieb schmerzhaft in der Magengrube. Die Luft blieb ihm weg und die Zeit, neue zu holen, denn Oles Faust krachte donnernd auf den Hinterkopf seines Bruders, zwang ihn in die Knie und in eine Position, in der Oles kraftvoller Fußtritt dem Geschundenen beinahe den Kopf abriss. »Lass gut sein, mein Freund«, verkündete Ole Tjörnsen gönnerhaft. »Ich muss jetzt auch los. Ach ja, bevor ich es vergesse: Wenn du die liebe Liv suchst, die findest du in dieser frisch verputzten Nische. So long.« Mats Tjörnsen blieb eine Zeitlang einfach nur auf dem Rücken liegen, bis er in der Lage war, sich auf die Ellbogen zu stemmen. Schon fühlte er, wie die Luft besser durch seine Lungen zirkulierte.
Liv! Warte noch einen Augenblick! Ich komme gleich zu dir! Er raffte sich auf. Das Blut lief ihm aus Mund und Nase und hatte auf seiner Brust einen großen Fleck gebildet. Inständig betete er, dass er nicht zu spät kam, dass seine Frau noch am Leben war. Was auch immer Ole mit ihr angestellt haben mochte. Der feuchte Putz bröckelte unter seinen Fingern. Die frisch verlegten Ziegel ließen sich leicht eindrücken. Es dauerte höchstens eine Minute und Mats sah das Antlitz seiner geliebten Liv vor sich. Sie sah ihn starr an. 91
Die Tränen in den Augen und den Dank an Gott gerichtet vergrößerte Mats Tjörnsen die Öffnung, riss die Ziegel heraus und konnte seine Frau gerade noch auffangen, als sie haltlos vornüber fiel. »Ich bin so froh, dich wiederzuhaben«, schluchzte der Mann, strich über die Stirn seiner Gattin und zog sie vollends aus der Nische. »Lass - mich - allein!«, krächzte Liv undeutlich und unter großer Mühe. Mats glaubte, sich verhört zu haben. »Was meinst du? Sprich lauter.« »Geh - weg! - Geh - weg!« »Nein! Rede nicht so! Gütiger Gott, was hat er dir nur angetan!« Liv Tjörnsen versuchte, sich aus dem Griff ihres Mannes zu winden, sträubte sich mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft und erreichte genau das Gegenteil. »Wehr dich nicht, mein Schatz. Du bist sehr krank. Ich bringe dich ins Haus. Ich kümmere mich um dich.« »Neeii - iiin!«, scheuerten entzündete Stimmbänder übereinander. »Es - wird – dich – fres - sen!« »Du bist verwirrt! Du redest...« Mats Tjörnsen geriet ins Stocken. Was lief da aus Livs Augenwinkel? Dunkel und zäh. Er wollte es berühren, doch annähernd kraftlose Finger krallten sich in seinen Unterarm, um ihn zurückzuhalten. »Fass - es - ni - icht an!« Liv weißte anscheinend genau, was mit ihr vorging. Mats Tjörnsen sah seine Frau nun genauer an. Das Leben wollte aus ihr weichen. Und trotzdem war Leben in ihr. Etwas war in ihr, das nicht sie selbst war und das vage unter der Haut und hinter den Spiegeln der Augen erkennbar wurde. Liebe wandelte sich in Befremdung. Und innerhalb kürzester Zeit wurde aus Befremdung Abneigung. Unsanft stieß er Liv von sich. Aus der Distanz betrachtete er ihren welken Leib, der mit jeder verstreichenden Minute mehr Ekel in seinem Innern erzeugte. Das war nicht seine Frau! Diese deformierte Marionette, die die Laute eines geistig zurückgebliebenen Tieres ausstieß!
Gott, warum tust du mir das an!
92
Ein stummer Schrei der Qual. Liv Tjörnsen war nicht mehr zu retten. Mats musste jetzt an die Menschen der Gemeinde denken und ihnen die Furcht vor der Zukunft nehmen. Er würde ihnen erzählen, was vorgefallen war und dass das Morden nun ein Ende hatte. Schauer jagten durch seinen Körper, als Mats Tjörnsen sich abwandte, den Arm vors Gesicht hielt und aus dem Schuppen rannte. Doch der rostigen Dissonanz der einst geliebten Stimme konnte er nicht entkommen. »I-c-h...«
Nein! Lass mich! Lass mich allein! »... l-i-e-b-e...«
Sag es nicht! Bitte! Mach es nicht noch schlimmer! »... d-i-c-h...!«
Stirb! Jetzt stirb doch endlich! Die Schuppentür flog auf und Mats stürzte stolpernd hinaus, fiel vom eigenen Schwung getragen der Länge nach hin. »Vater! Allmächtiger! Ist dir etwas geschehen?« Alf, Junge! Komm mir nicht zu nahe! Abwehrend erhob der Mann den linken Arm, während sein Körper von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. In diesen Sekunden sah Mats Tjörnsen seinen weiteren Weg ganz klar vor sich. Er hatte nur noch die Aufgabe, seinem Sohn die Sachverhalte begreiflich zu machen, an seine Vernunft zu appellieren und ihn sterben zu lassen. Denn dass er infiziert war, stand für ihn außer Frage. Er spürte die Veränderung bereits in sich. Dieses Ziehen, als würden lange dünne Schlangen sein Fleisch durchbohren, ihn zerfressen und aushöhlen. Er riss ein Stück Stoff aus seinem Hemdsärmel und presste es sich vor Augen, Mund und Nase. Alf hatte ihn derweil erreicht und nur unter Aufbietung all seines Willens gelang es Mats, den Husten zu unterdrücken, seine Aufmerksamkeit von dem Parasiten abzuwenden und seinem Jungen im Schnelldurchgang alles Wissenswerte zu vermitteln. Alf Tjörnsen sah es mit Fassung. Die Meditation hatte ihn die Kontrolle über Körper und Geist gelehrt. Ohne sie wäre er vermutlich an seiner Trauer und Hilflosigkeit, den Zweifeln an Gottes Allmacht und 93
dem lodernden Zorn über die grauenvolle Tat zugrunde gegangen. Und er hätte mit Gewalt den Versuch unternommen, seinem Vater in irgendeiner Form zu helfen; einzig aus dem Grund, um überhaupt etwas zu tun, auch wenn es sinnlos gewesen wäre. Als Früchte dieses Verhaltens hätte er seinen eigenen Tod geerntet, da der Parasit ihn bereits lange zuvor befallen hätte. Der Fünfzehnjährige wartete bis zum nächsten Morgen. Es war noch sehr früh, als er den Hof verließ, die Luft eiskalt, aber schneefrei. Mats Tjörnsen war tot. Seine Überreste erinnerten an die geschwärzten Ruinen eines niedergebrannten Hauses. Um seine Leiche verteilt gab es kleine und größere dunkle Pfützen. Es musste sich um das Plasma handeln, das ihm seine Eltern genommen hatte. Die Substanz war erstarrt, was jedoch nicht hieß, dass sie nicht mehr lebte. Alf wollte zuerst nach Svendborg gehen und den Landrat informieren. Wenn sie erneut die Hatz auf Go Nagashi eröffnet hatten, konnte er möglicherweise noch das Schlimmste verhindern und dessen Leben retten. Es hatte Alf schon sehr mitgenommen, als er von der Verhaftung des Japaners gehört hatte. Der anschließende Ausbruch musste die Lage drastisch zugespitzt haben. Im Gehen drehte Alf sich noch einmal um, machte ein paar Schritte rückwärts und zog mit den Augen einen weiten Kreis vom Gehöft hinüber zum Schuppen.
Wenn ich heimkehre, Vater, dann werde ich dich bei deiner Frau beerdigen, an einem Ort hinter dem Haus, der deine Seele, sofern sie verweilt, erfreuen wird. Er hielt an und sog die Besinnlichkeit des Augenblicks in sich auf. Schließlich zog er den Kragen seiner Jacke enger und setzte seinen Marsch in die Stadt fort.
8. Kapitel Aussaat des Schreckens Es kam äußerst selten vor, dass er in seiner im Ostflügel befindlichen Schreibstube Besuch erhielt. Allenfalls einmal von jemandem, der bei 94
ihm ein Buch suchte, das er zur Abschrift vorliegen hatte oder von Personen, die in den weitläufigen Gängen schlicht die Orientierung verloren hatten. Ole Tjörnsen wusste allerdings ganz genau, dass sich noch niemals zuvor einer der ›Hohen‹ angemeldet hatte. Als er am Morgen die Nachricht in der Rohrpost vorgefunden hatte, da stachen tausend glühende Nadeln gleichzeitig auf ihn ein. Ebenso viele Fragen waren ihm durch den Kopf geschossen. Den ganzen Tag über hatte er für seine Tätigkeit nicht die rechte Konzentration aufbringen können und sich immer mal wieder unabsichtlich von Gedanken über den bevorstehenden Besuch ablenken lassen. Tjörnsen konnte nicht umhin zuzugeben, dass er eine stetig wachsende Unruhe empfand. War es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, wenn die ›Hohen‹ sich ihrer Mitarbeiter annahmen? Kamen sie, um zu loben oder um auf schlecht ausgeführte Arbeiten hinzuweisen - und zu bestrafen! Der Fragenkatalog ließ sich beständig ausbauen. Tjörnsen hatte niemals zuvor einen der ›Hohen‹ zu Gesicht bekommen, auch nicht, als er sich um diese Stelle beworben hatte, die die Aufgaben eines Sekretärs mit denen eines Kalligraphen vereinte. Das, was man ihm zum damaligen Zeitpunkt gesagt hatte, hatte ausgereicht, den Wunsch, die ›Hohen‹ persönlich kennen zu lernen, für immer ad acta zu legen. So rankten sich die skurrilsten Gerüchte um ihr Wirken und irgendwann hatte Ole die Existenz der ›Hohen‹ sogar bezweifelt und ins Reich der Fabel verbannt. Mitarbeiter, so hatte er sich damals gesagt, ließen sich ausgezeichnet dirigieren, wenn sie an das Schreckgespenst einer übergeordneten Kontrollinstanz glaubten. Nun war die Fabel Realität geworden!
Ich habe mir nichts vorzuwerfen, überlegte Tjörnsen. An meinen Abschriften gibt es nichts auszusetzen. Wovor habe ich eigentlich Angst? Wieder eine Frage, die einer Antwort hinterherhinkte.
Der Ruf der ›Hohen‹ eilt ihnen voraus. Nur das ist es, was mich nervös macht. Ich fürchte mich vor Dingen, die geschickt in meinem Bewusstsein platziert wurden. Aber jetzt, da ich den Sachverhalt aufgedeckt habe, haben sie keine Macht mehr über mich. 95
Tjörnsens nächste Aktion, die ihn aufspringen und zur Tür eilen ließ, bewies eher das Gegenteil. Ich habe mich nicht verhört, dachte er unbehaglich. Da sind Schritte auf dem Flur. Fest hielt er das Ohr an das Holz gepresst. Dann wich er unwillkürlich einige Schritte zurück.
Wie soll ich mich verhalten? Soll ich die Tür öffnen oder warten bis es klopft? Vielleicht erwartet der ›Hohe‹ eine zuvorkommende Behandlung. Vielleicht aber auch demütige Distanz. Die eigene Entscheidungsfähigkeit wurde weiter und weiter in den Hintergrund gedrängt. Ole Tjörnsen bemerkte gar nicht, wie diese Person, die er erwartete und niemals zuvor gesehen hatte, bereits spürbaren Einfluss auf ihn ausübte und zu einem willfährigen Handlanger umfunktionierte. Es war eine Kurzschlussentscheidung, die keinem rationalen Denken entsprach, als Tjörnsen die schwere Tür mit einem Ruck aufzog. »Mir scheint, du kannst Gedanken lesen«, sagte der Mann in der rotbraunen Robe und eilte an Ole vorbei in die Kammer. Wenigstens, kam es diesem so vor, denn der ›Hohe‹ hatte nicht vor der Tür gestanden, sondern sich in einer Vorwärtsbewegung befunden und hätte daher unweigerlich vor die verschlossene Tür anrennen müssen, wenn Tjörnsen diese nicht, einem inneren Impuls folgend, aufgerissen hätte. »Ich hörte Schritte«, erklärte der Däne. Er lugte in den Gang, ob Begleiter des ›Hohen‹ in der Nähe waren, aber allem Anschein nach war der Mann alleine gekommen. Er hatte sich hinter, den Schreibtisch gesetzt, an dem Tjörnsen sein Tagwerk verrichtete und studierte die offen liegenden Aufzeichnungen. Somit bot sich eine erste Gelegenheit, diesen eigenwilligen Menschen näher in Augenschein zu nehmen. Die Auffälligkeiten beschränkten sich anfangs auf die dunkel getönte Brille und einige tiefe Furchen in dem Gesicht, das kalt und unerbittlich wirkte und auf diese Weise wohl schon die prägendsten Eigenschaften des Robenträgers unmissverständlich zum Ausdruck bringen sollte. Weiterhin fiel Tjörnsen ein Zucken auf, das in nicht zu kategorisierenden Intervallen die linke Gesichtshälfte befiel. Es konnte Dutzende Ursachen für diesen Spasmus geben, doch irgendwie weigerte Tjörnsen sich, im Zusammenhang mit seinem Gegenüber, das selbst96
gefällig den ihm zustehenden Arbeitsplatz eingenommen hatte, an eine natürliche Ursache zu glauben. »Wie darf ich dich ansprechen, Hoher?«, fragte Ole schnell, als der Mann gleich vor ihm den Blick hob und augenblicklich erkannt haben musste, dass sein Angestellter ihn eingehend begutachtet hatte. So ließ er sich mit einer Antwort genau jene Spanne Zeit, die gerade ausreichte, um den Glauben an die Richtigkeit dieser Vermutung wirksam werden zu lassen. »Mit einem Personalpronomen«, kam es lakonisch. »Bitte, wie soll ich das ver...?« »Wie ich es sagte. Du brauchst meinen Namen nicht zu kennen. Er hat keinerlei Bedeutung für dich. So, wie der Name seines Wärters für das Tier im Käfig ohne Belang ist.«
Spricht er in Gleichnissen? Will er mir zeigen, dass ich weniger wert bin als er? »Ich verstehe«, sagte Ole Tjörnsen nur und senkte den Kopf. Der Hohe setzte ein spartanisches Lächeln auf. »Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« Seine Lippen bewegten sich beim Sprechen kaum. »Aber ich bin nicht hier, um mit dir philosophische Grundsätze zu erörtern. Ich will mit dir über dich reden.« Ole Tjörnsen kam sich vor, als stünde er zur Bemusterung auf dem Wochenmarkt. Nichts wünschte er sich in diesem Moment sehnlicher, als die Sicherheit seines Schreibtisches, hinter dem er sich vor allzu neugierigen Blicken verschanzen konnte. Aber der Platz war ja bereits besetzt. »Über mich? Was gibt es da zu sagen? Du weißt doch sicher alles...« »Vieles«, berichtigte der Hohe. »Wir wissen vieles. Die Art, wie du die Schriftzeichen zu Papier bringst, sagt mehr über dich aus, als man in langen Gesprächen hätte erfahren können. Wir haben deine Abschriften genauestens geprüft.« Über das Ergebnis dieser Prüfung schwieg er sich aus. Stattdessen wechselte er das Thema. 97
»Was hat dich zu uns geführt? Du stammst nach eigener Aussage - diese ist protokolliert - aus eher... ländlichen Verhältnissen.« Seine Aussage war protokolliert? Wollte man ihn verunsichern oder ihm lediglich verdeutlichen, dass es keinen Zweck hatte, die Unwahrheit zu sagen? Wer interessierte sich für das Leben eines Archivars? »Meine Eltern starben früh. Ertranken bei einem Fährunglück. Mein Bruder und ich mussten uns bereits in jungen Jahren um das Gehöft kümmern...« »Du bist kein Landwirt, nicht wahr?« Wirkte der Hohe amüsiert? Tjörnsen hatte Zweifel, doch er fühlte sich nicht mehr so angespannt. »Ja«, lachte er. »Das ist richtig. Säen, ernten, Vieh versorgen - so habe ich mir das Leben nicht vorgestellt.« »Was ist deine Vorstellung vom Leben?« »Nun, ich denke... ich brauche ein Ziel. Ich brauche Verantwortung. Ich möchte etwas erreichen, was der Nachwelt erhalten bleibt.« »All das hattest du auf dem elterlichen Hof«, gab der Robenträger zu bedenken. »Das Ziel, die Zukunft deines Bruders und deine eigene zu sichern. Verantwortung für euch zwei und die euch anvertrauten Tiere. Dein Vermächtnis an die Welt: Eine friedliche Existenz im Einklang mit der Natur.« Ole Tjörnsen versuchte, den schattenhaften Schleier der Brillengläser zu durchdringen, um in den Augen des Mannes lesen zu können. Es war ein beklemmendes Gefühl, von diesen dunklen, runden Löchern angestarrt zu werden. »Vielleicht haben sich meine Forderungen an das Leben in eine andere Richtung orientiert...« »Und glaubst du, diese Richtung in der Ausübung deines jetzigen Berufes gefunden zu haben?« Tjörnsen überlegte. »Ich glaube, ich bin noch auf der Suche.« »Ich glaube«, sagte der Hohe und nur über seine linke Gesichtshälfte erfolgte eine Regung in Form eines Zuckens, »dir ist deine per98
sönliche Motivation nicht bewusst. - Warum hast du den Hof verlassen?« »Mein Bruder Mats hat sich eine Frau gesucht. Sie wohnte von da an bei uns. Ich war der Meinung, sie könne meine Arbeitskraft ersetzen. Nicht viel später habe ich mein Zuhause verlassen.« »Du hast gewartet, bis dich jemand ersetzen konnte, weil du deinen Bruder nicht im Stich lassen wolltest?« »Nein«, bekannte Ole leise. »Ich habe gewartet, weil ich eine endgültige Entscheidung gescheut habe. Als Liv kam hat sie mir die letzten Bezugspunkte zu meinem Bruder geraubt - und zu meiner Heimat. Einfach durch ihre Anwesenheit. Es war plötzlich nicht mehr dasselbe wie früher. Und da wusste ich, dass es Zeit war zu gehen. Alles andere wäre mir unerträglich gewesen.« Jetzt hatte es den Anschein, als wäre die Intonation des Hohen eine Spur vertraulicher: »Wir wissen sehr genau, wonach du strebst.« »Warum ist mein Bestreben für euch von so immenser Bedeutung?« Ole Tjörnsen verstand gar nichts mehr. Wohin führte diese Unterhaltung? Was wollte der Hohe in Wirklichkeit von ihm? »Du bist nicht zufällig hier«, erfolgte eine knappe Erklärung. »Niemand, der für uns arbeitet, tut dies rein zufällig.« Oles Gedanken wanderten zurück. Wochenlang hatte er das Land durchstreift, den Blick immer nach Süden gerichtet. In einem Dorf nahe der ehemaligen Metropole Rom war er ins Gespräch mit einem Mann seines Alters gekommen, der ebenfalls die Welt durchkreuzte und sich bei ihm als Gabriel vorstellte. Beide waren sich auf Anhieb sympathisch und beschlossen, einen Teil des Weges gemeinsam zu gehen. An der Peripherie des alten Roms berichtete Gabriel zum ersten Mal von der Residenz. Er hätte gehört, dass das Konsortium der Hohen Mitarbeiter für außergewöhnliche Aufgaben suchte. Für Tjörnsen hatte dies die Endstation auf seiner Wanderung markiert. »Wir senden Späher aus, die uns mögliche Kandidaten für die Ausübung gewisser Arbeiten bringen.« »Gabriel!«, stöhnte Ole auf. »Ja, vermutlich ist das einer von ihnen; ich kenne sie nicht alle mit Namen. Diese Späher sind exzellente Psychologen. Einige von ihnen 99
verfügen zusätzlich über eine empathische Begabung. Eine ideale Kombination, wenn ich innerhalb kürzester Zeit wissen möchte, mit wem ich es bei einem vollkommen Fremden zu tun habe.« »Gabriel hat mich ausgewählt und an euch weitergereicht.« »Er hat dich vorsortiert. Die endgültige Auswahl bestimmen wir.« »Und was ist dabei herausgekommen?« Die Miene von Tjörnsens Gesprächspartner versteinerte. »Ich hätte dich nicht aufgesucht, wenn du ungeeignet wärst. Dann säßest du auch nicht mehr auf diesem Posten. Ich habe wohl noch nicht erwähnt, dass unsere Späher sich ebenfalls auf das Beseitigen von Reinfallskandidaten verstehen.« Tjörnsen musste an sich halten, um nicht verzweifelt nach Luft zu schnappen. Er hatte die ganze Zeit über auf einem Pulverfass gesessen und es nicht gewusst! Jetzt erst hatte jemand die Lunte ausgetreten. »Wir wollen dich sehen«, setzte der Hohe übergangslos an. »Heute Nacht. In der Residenz.« Unfassbar! Ole Tjörnsen, der bäuerliche Schreiberling, würde die Residenz betreten, den Kernsektor der Hohen. Seine Handflächen wurden feucht, ohne dass er es verhindern konnte. Der Mann in der Robe erhob sich von Tjörnsens Arbeitsplatz und ging zur Tür. »Brauche ich denn kein Passwort?«, schrak Ole in einer plötzlichen Eingebung hoch. Fast hätte der Hohe vergessen, es ihm zu sagen.. Die Augen hinter den getönten Gläsern fraßen sich förmlich an Tjörnsen fest. Er konnte es nicht sehen, doch war es so deutlich spürbar wie eine physische Berührung. Außerdem schlich sich der Anflug eines Lächelns auf dieses gemauerte Antlitz. »Du wirst doch nicht annehmen, ein Passwort würde dir den Zugang zur Residenz eröffnen...?« * Bis in die späten Abendstunden hatte Ole Tjörnsen über seinen Abschriften gesessen. Da seine Gedanken laufend abschweiften und sich 100
mit der bevorstehenden Zusammenkunft beschäftigten, kam er nicht so schnell wie normal voran und hatte auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt - es war bereits dunkel und mehr als zwei Stunden nach Feierabend - nur mit Mühe und Not sein Pensum bewältigt. Der Vorteil dieser Arbeitsstätte lag andererseits darin, dass Tjörnsen sich nach Lust und Laune dort aufhalten konnte. Es gab keine Einlass- oder Auslasskontrolle; die Schreibstube war ihm stets zugänglich. Wenn er morgens kam, dann lagen die Bücher, die zur Abschrift vorgesehen waren, schon an seinem Platz. Meistens handelte es sich lediglich um einzelne Kapitel, die er kopieren sollte. Diese waren entweder durch ein Leseband markiert oder es wies sie ein Notizzettel zur Niederschrift aus. Ganz zu Anfang hatte Ole Tjörnsen sich noch gewundert und gefragt, warum die einzelnen Kapitel und auch Bücher nicht in chronologischer Reihenfolge erfasst wurden. Welchen Grund gab es für diesen Zickzack-Kurs, der es erst nach Wochen ermöglichte, ein Projekt vollständig abzuhaken? Nein, es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, darüber nachzudenken. Und nach und nach erlosch sein Interesse daran. Wann würden sie ihn rufen? Es war keine Zeit vereinbart worden. Tjörnsen glaubte auch nicht an ein Versäumnis des Hohen, der vergessen hatte, sie ihm mitzuteilen. Deutlich war ihm noch seine einfältige Frage nach einem Passwort im Gedächtnis. Eine weitere Stunde verging, in der sich der Däne nur halbherzig seinen Aufgaben widmete. Es war mittlerweile zu spät, seine Unterkunft aufzusuchen. Er würde genau hier warten, bis man ihn holte oder ihm Bescheid gab, sich in der Residenz einzufinden. Die Residenz! Sie war Aufenthaltsort der Hohen, Dreh- und Angelpunkt ihrer Unternehmungen - und damit in einer Welt befindlich, zu der der gewöhnliche Sterbliche keinen Zugang hatte. Heute Nacht sollte sich das ändern. Zumindest für Ole Tjörnsen. Noch eine halbe Stunde verstrich. Das Warten auf etwas, von dem er nicht wusste, wie es sich äußern würde, zermürbte Tjörnsen. Wollten die Hohen eventuell genau das erreichen? Wollten sie ihn zermürben, um ihn gefügig und zu einem willenlosen Werkzeug zu machen? 101
Ole war derart damit beschäftigt, sich auszumalen, was sein könnte, dass er beinahe übersah, was war. Es glich einem Signal, das sein intuitives Bewusstsein ansteuerte. Es bedurfte keiner weiteren Mitteilung, um Ole Tjörnsen wissen zu lassen, dass man ihn umgehend erwartete. Ohne Verzögerung setzte er sich in Bewegung, verließ seine Kammer und ging zielstrebig durch den Komplex, der ihn wie in einer enger werdenden Spirale näher und näher zum Zentrum führte. Als er an einer Mauer anlangte und verdutzt stehen blieb, da wurde ihm erst bewusst, dass er sich an den zurückgelegten Weg nicht erinnern konnte. Er hatte in völliger Trance gehandelt. Oder die Hohen hatten ihn ferngesteuert. Ole Tjörnsen strengte sich wirklich an, um wenigstens einige Details aus seiner Erinnerung abzurufen, doch da war nicht die geringste Spur zu entdecken, die darauf hinwies, welchen Weg er bisher genommen hatte. Ein lautes, dumpfes Grollen tief aus dem Innern der Erde erschreckte ihn. Respektvoll vergrößerte er die Distanz zu der Wand, die anfing, sich zu teilen. Fünf Meter und mehr mochte das Tor, das sich nun öffnete, in der Höhe messen. Scheinbar mühelos glitten die tonnenschweren Flügel beiseite. Tjörnsen konnte zwar nicht mit Bestimmtheit ausschließen, einen verborgenen Öffnungsmechanismus betätigt zu haben, doch es war seinen Erfahrungen entsprechend eher wahrscheinlich, dass er unter Beobachtung stand und jeder seiner Schritte genauestens verfolgt wurde.
Du wirst doch nicht annehmen, ein Passwort würde dir den Zugang zur Residenz eröffnen...? Die Worte des Hohen klangen mit ihrem verhaltenen Spott in seinem Kopf auf. Nein, das nahm er nicht an. Jetzt nicht mehr. Die Pforte hatte derweil ihren Schlund weit aufgerissen und wies voraus in lichtlose Finsternis.
Bitte, komm zu uns! Wer sprach da? Und woher? Ole Tjörnsen war nicht in der Lage zu beschreiben, aufweiche Art er die... Stimme? - gehört hatte. 102
Wir benutzen das elektrische Spannungsfeld deines Körpers als Schwingungsreferenz für unsere Kommunikation mit dir. Natürlich! Wie hatte er das übersehen können? Jetzt war alles klar! »Was bedeutet das?«, platzte es aus ihm heraus.
Dein Verständnis für interdimensionäre Vorgänge ist nicht Voraussetzung für das Begreifen des übertragenen Inhalts. »Ich verstehe kein Wort.«
Du wirst es verstehen. Zu deinem eigenen Nutzen raten wir dir, keine Fragen zu stellen, deren Beantwortung deinen begrenzten Verstand übersteigt. »Woher soll ich das vorher wissen?«
Das Eingeständnis fehlender Präkognition erzwingt die Einstellung weiterer Fragen deinerseits.
Die Art und Weise der Formulierung war gänzlich anders, als Ole Tjörnsen es von dem Hohen her kannte, der ihm am Nachmittag einen Besuch abgestattet hatte. Sie legte den Schluss nahe, dass hier jemand redete, der sich für gewöhnlich nicht in irdischen Idiomen zu äußern pflegte. Möglich auch, dass eine Maschine den Text vorgab, den ein Lebewesen ablas. Eine flirrende Lichtsäule schraubte sich von irgendwo weit über Tjörnsens Kopf zu ihm herunter, tauchte ihn in irrisierendes Grün. Und da war es ihm plötzlich, als hätte jemand das samtschwarze Tuch undurchdringlicher Dunkelheit einfach weggerissen. Helligkeit umgab ihn. Sie offenbarte ihm alles, was um ihn herum geschah. Er sah die in weite Roben gehüllten Gestalten und obwohl es nun taghell und jeder Winkel ausgeleuchtet war, konnte Ole doch die Gesichter der ihn Umstehenden kaum ausmachen. Sie zeigten sich unscharf, blass und konturlos. Je mehr der Däne die Augen zusammenkniff, um die Gesichter zu fokussieren, desto hartnäckiger verschleierten sie sich.
Deine Sinne sind nicht in der Lage, unsere Gestalt in ihrer Ursprünglichkeit wahrzunehmen, wurde Tjörnsens Anstrengungen die Basis entzogen. Was du zusehen glaubst ist das Bild, das wir auf Grundlage deines Gedächtnisspeichers generieren. Wann wollten sie denn nun endlich zur Sache kommen?
103
Wir analysieren dein Verhalten seit zwei Jahren. Die Muster schwankten stark, sind jedoch weitestgehend korrigiert. Unser Botschafter, der dich am heutigen Tage aufsuchte, berichtete von Motivationsspitzen, die im Bereich der für uns erforderlichen Toleranzen liegen. »Es tut mir leid, aber ich bin absolut überfordert.« Er stieß die Luft hörbar aus. »Wenn ihr mir der Einfachheit halber nur sagen würdet, warum ich hier bin...«
<Sprachgebrauch nicht akkomodabel. Sektionelle Impedanz der Modulweiche.>
Der Wortwechsel war für Ole Tjörnsen lediglich als atmosphärisches Bauschen vernehmbar, wie es entsteht, wenn ein Tuner sich zwischen zwei Senderfrequenzen befindet.
Wir hoffen, dass unser Sprachniveau nun dem deinen angeglichen ist. Vielleicht lässt du uns eine Bestätigung deiner positiven Wahrnehmung zukommen. »Besser«, schwindelte Tjörnsen, der sich langsam gut zu amüsieren begann. »Wirklich viel besser.«
Du wurdest auserwählt, als Agent des Neuen Friedens eine Mission zu erfüllen. Na, das war ja endlich mal Klartext. »Eine Mission?«, überlegte er laut. »Welche Art von Mission?«
Du wirst der Überbringer des Neuen Friedens sein. Viele von deiner Sorte werden in alle Länder der Erde aufbrechen, um die Botschaft des Konsortiums der Hohen für jedermann sichtbar zu machen. Ole Tjörnsen hatte sich schon für vieles gehalten. Die Rolle eines Wanderpredigers gehörte bisher nicht dazu. »Wieso seid ihr der Meinung, ich sei für diese Aufgabe der richtige?«
Weil du entsprechend konditioniert wurdest in den vorausgegangenen Jahren. Die Abschriften, die du zu tätigen hattest, wurden dir in einer exakt vorbestimmten Reihenfolge zugetragen. Das Potential deines latenten Herrschafts- und Machtanspruchs wurde gezielt ausgebaut. Außerdem liegt deine Heimat in einem Teil der Welt, der erst 104
noch vom Neuen Frieden kolonialisiert werden soll. - Wirst du uns zur Verfügung stehen? Was gab es da zu überlegen? Hatte denn nicht der Hohe in seiner Schreibstube dezent angedeutet, was mit Leuten geschah, die den Anforderungen nicht genügten? Wenn er ablehnte, dann war das sein sicherer Tod. Wenn er aber zusagte - und auch das hatte er herausgehört - mochte das seinen unterschwelligen Trieben entgegenspielen. Die Hohen hatten tatsächlich nicht unrecht: Tjörnsen besaß gewisse Herrschaftsinstinkte. In ihm schlummerten versteckte Machtgelüste. Er brauchte nur noch Menschen, an denen er sie ausleben konnte. Wie es schien, wollten die Hohen ihm diese Möglichkeit eröffnen. »Ich stehe euch uneingeschränkt zur Verfügung«, sagte Ole Tjörnsen voller Pathos.
Das war zu erwarten. Die Unsicherheit trotz Konditionierung lag in deinem freien Willen.
Damit konnte Tjörnsen nichts anfangen. Hatten denn die Hohen nicht die Mittel, seinen freien Willen zu manipulieren? Er verwarf den Gedanken, als zwischen ihm und den verwaschenen Gestalten ein Gegenstand materialisierte. Fast enttäuscht erkannte er eine Art Koffer. Dieser Koffer enthält die Botschaft des Neuen Friedens, wurde Ole Tjörnsen aufgeklärt. Er enthält ein einzigartiges Überbleibsel aus der
Welt vor der großen Veränderung. Komm nun bitte in unsere Mitte, damit wir dich instruieren können.
Kaum hatte er drei Schritte getan, da waren sie um und vor allem
in ihm. Rasend schnell ablaufende Bildfolgen wechselten in seinem
Geist einander ab. Er sah das Innere des Koffers, sah das schwarze Plasma in dem Sicherheitsbehältnis, erkannte beklommen dessen Herkunft und sah, wer und was die Hohen in Wirklichkeit waren. Die Erkenntnis trieb ihm Schauer durch sämtliche Glieder. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, welche Chancen sich ihm boten. Die Verschmelzung versetzte Ole Tjörnsen in ein regelrechtes Delirium, in dem sich die Realitäten für ihn untrennbar vermischten. Als der psychedelische Irrsinnstrip ihn schließlich entließ, da fröstelte es ihn und er kam sich klein und bedeutungslos vor in einer kalten, ab105
weisenden Welt. Dieser Zustand währte jedoch nur einige Augenblicke. Danach erfüllte ihn aus heiterem Himmel ein umgekehrt proportionales Gefühl, das ihm suggerierte, die Welt aus den Angeln heben zu können. Eisern und unnachgiebig waren die Finger, die den Tragegriff des Koffers umschlossen.
Geh zurück in deine Heimat. Geh zuerst zu deinen Freunden und Verwandten. Und wenn sie den Neuen Frieden geschaut haben, dann liegt der Planet zu deinen Füßen!
9. Kapitel Gegenüberstellungen Alfs zwanzigster Geburtstag lag noch nicht besonders lange zurück. Die Geschehnisse, die zum Tode seiner Eltern geführt hatten, beschäftigten den jungen Mann bei weitem nicht mehr in der Weise, wie sie es noch getan hatten, als die Erinnerung an deren schreckliches Sterben und den unmenschlichen Verrat seines Onkels noch frisch in seiner Erinnerung vorhanden gewesen waren. Immer seltener hatte er die Grabstätte zwischen den Ulmen ein Stück hinter dem Hof aufgesucht, um dort das Zwiegespräch mit den Verstorbenen zu suchen. Doch ganz allmählich hatte Alf Tjörnsen sich von der kindlichen Vorstellung gelöst, der physischen Existenz von Mutter und Vater nachzutrauern. Schließlich war das Leben nur eine Zwischenstation. Der Tod erst ermöglichte es den suchenden Seelen, in ihre angestammte Heimat zurückzukehren. Und so sehr es sich Alf auch manchmal wünschte, dass seine Eltern zu ihm zurückkehrten und sich alles nur als grauenvoller Traum entpuppte, wusste er doch mit seiner Selbstsucht umzugehen und sah zu allererst das Wohl der befreiten Seelen. Sie hatten zu Lebzeiten wertvolle Erfahrungen in der materiellen Welt gesammelt und damit einen weiteren Grundstein für ihre kosmische Entwicklung gelegt. Diese Zusammenhänge waren Alf im wesentlichen bekannt, wenn er das komplette Ordnungssystem im Schöpfungsakt des Universums auch noch nicht zu überblicken vermochte. 106
Relativ zurückgezogen und den engeren Kontakt zur Außenwelt meidend hatte sich Alf dem Studium der Tagebuchaufzeichnungen seines Urgroßvaters gewidmet. Abgesehen davon, dass sie meist sehr persönliche Erfahrungen und Sichtweisen vermittelten, gab es gleichfalls recht aufschlussreiche Darstellungen über das Leben vor der großen Wende. Tomas Tjörnsen hatte es in seiner Kindheit erleben dürfen und war damit praktisch der Sohn zweier Welten. Seine Aufzeichnungen drückten in oftmals unbeholfenen, aber einprägsamen Worten die innere Zerrissenheit aus, die die globale Veränderung mit sich gebracht hatte. Millionen und Abermillionen Menschen - darunter Freunde, Nachbarn, Verwandte - waren auf einen Schlag verschwunden, hatten sich in Nichts aufgelöst. Wohnungen, Häuser, öffentliche Gebäude, Kraftwerke, Schiffe, Flugzeuge, technische Gerätschaften aller Art - nichts davon existierte mehr. Lediglich Fragmente waren an verschiedenen Orten zurückgeblieben, Elektrogeräte, Generatoren, benzingetriebene Motoren, die allesamt zu nichts mehr taugten. Diesem Schock war ein höherwertiges, spirituelles Bewusstsein entsprungen. Die Suche nach einer Antwort auf die katastrophale Veränderung lag so nahe, dass sie wahrscheinlich aus genau diesem Grund übersehen worden war: das Schwingungsmuster der Erde hatte seine Frequenz geändert. Die gesamte Materie, die auf der Schwingungsmatrix der alten Erde aufbaute, war durch diesen simplen Kniff entfernt worden. Lediglich die Resonanzmuster einiger weniger waren kompatibel zu jenem der neuen Erde; sie hatten keinerlei Probleme beim Übergang gehabt. Findige Forscher hatten immer noch Jahre gebraucht, um zu dieser Lösung zu gelangen, die bereits vor einem Jahrzehnt durch das neue Verständnis der Quantenphysik vorbereitet worden war. Was die Überbleibsel aus der guten alten Zeit anging, so brachte Tomas Tjörnsen an mehreren Stellen den Vergleich von der Putzfrau, die mit ihrem Wischmob nicht bis in die letzten Ecken gekommen war. Alf musste über die holprige, jedoch einprägsame Analogie schmunzeln. Beim Arbeiten in seinem provisorischen Labor ertappte Alf sich an diesem Abend einmal mehr dabei sich vorzustellen, in welchem Jahr er lebte. Seit es eine Zeitrechnung gab, war diese festgehalten worden. 107
Alle geschichtlichen Ereignisse ließen sich exakt datieren beziehungsweise auf einer allgemeingültigen Zeitlinie fixieren. Alle Ereignisse seit der großen Veränderung würden nun aber lediglich den Zusatz ›nach 2012‹ tragen. Und irgendwann würde selbst dieser Begriff seltsam diffus und abstrakt klingen. Alf Tjörnsen schob den Stuhl zurück, ging um den Kastentisch herum und schaute aus dem Fenster. Die Sonne stand tief und erzeugte ein gelblilafarbenes Lichterspiel am Himmel. Die Stimmung fing den jungen Forscher unmittelbar ein und er versank für wenige Augenblicke in leichter Melancholie. Schwacher Luftzug brachte würzige, regenschwere Luft in den Raum... ... und eine Person, deren harter Gang Alf noch im selben Moment aus seiner Versunkenheit zurückholte! »Du?!«, keuchte er. »Nach all den Jahren wagst du es...!« »Ich bin gerührt, dass du mich auf den ersten Blick erkannt hast«, meinte Ole Tjörnsen zynisch. Er stand da wie ein Reisender, der auf die nächste Überfahrt wartete. Der Eindruck entstand wohl hauptsächlich durch den Koffer, den er am langen Arm mit sich führte. Tjörnsen bemerkte den fragenden, teils erschrockenen Blick, mit dem der Neffe nun das Gesicht des Onkels bedachte. »Sieht etwas unappetitlich aus, nicht wahr?« Es sieht entsetzlich aus, kommentierte Alf in Gedanken. Die Haut
um das linke Auge scheint komplett abgezogen zu sein. Ich sehe nur rotbraunes, ausgedörrtes und narbiges Fleisch. Selbst die Augenlider sind entfernt worden. Ein verschrumpeltes Glotzauge ist zurückgeblieben. Schrecklich!
»Die Narben sind von den Parasiten, die im offenen Wundfleisch genistet haben. Sie wurden später aus dem heilenden Fleisch wieder herausgeschnitten. Stück für Stück. Einige hatten sich schon weit vorgearbeitet. Der Eindruck täuscht nicht: Meine Auftraggeber waren nicht ganz zufrieden mit der Erledigung der Aufgabe, die ich hier zu erfüllen hatte.« »Eine Aufgabe?«, schüttelte Alf verständnislos den Kopf. »Wovon redest du?« 108
»Ich möchte das hier nicht unnötig ausdehnen«, gab Ole Tjörnsen sich dienstbeflissen, wischte mit der freien Hand barsch die Utensilien von dem Kastentisch, an dem Alf gerade noch gearbeitet hatte und stellte seinen Koffer darauf. »Du weißt, was ich mit mir trage, Junge. Es ist der Keim des Bösen. Sie legen großen Wert darauf, dass er sich erneut über die Welt ausbreitet. Sie erwarten, dass ich mein Werk vollende.« Er winkte ab, presste die Lippen aufeinander und wirkte plötzlich sehr ernst. »Aber ich will es mir auch nicht zu einfach machen. Schließlich trage ich große Verantwortung.« Der Faustschlag traf Alf ohne jede Ankündigung. Er krachte rücklings gegen das Fenster. Automatisch fuhr seine Hand hoch zum Kiefer, der bei dem Hieb hässlich geknackt hatte. Doch Ole Tjörnsen gab ihm nicht eine Sekunde Zeit zur Erholung. Mehrmals hintereinander rammte er seinem Neffen die Faust in den Magen, dass er wie ein Schnappmesser zusammenklappte und röchelnd zu Boden ging. Der anschließende Hieb in den Nacken schleuderte den Jungen nach auf die Erde. »Ich bin wirklich überrascht«, schaute Onkel Tjörnsen sich um. »Was du alles zusammengetragen hast. Das muss sehr mühselig gewesen sein. Anscheinend hast du dich zu einem richtigen Wissenschaftler entwickelt, auch wenn ich nicht weiß, was du eigentlich genau treibst.« Er schenkte Alf keinerlei Beachtung, wusste ganz genau, dass sein Opfer zu keiner Gegenwehr mehr fähig war. Als Tjörnsen sich ihm dann doch einmal kurz zuwandte, da tat er es nicht, um sich von seinem Zustand zu überzeugen, sondern um ihm hinter vorgehaltener Hand zuzuflüstern: »Weißt du, ich habe dich von Anfang an nicht leiden können.« Er lachte. »Aber nimm dir das nicht allzu sehr zu Herzen.« Wieder erfolgte Ole Tjörnsens Aktion völlig ansatzlos. Er zertrümmerte einen Versuchsaufbau aus Gläsern, Röhrchen, einer Pumpe und anderen Teilen, die er nicht kannte. Aus einem Regal zog er Blechdosen und Kunststoffbehältnisse hervor, die er mit Wucht an die Wände schmiss und ihr Bersten und Aufplatzen mit höhnischen Bemerkungen garnierte. Alfs Ohren dröhnten und der Schmerz, der seinen Körper durchströmte, wenn das Splittern und Krachen der sorgsam behüteten 109
Proben und Versuchsreihen ertönte, die sinnlos zertrümmert wurden, war im Gegensatz zur physischen Pein beinahe unerträglich. Das Zerstörungswerk endete. Irgendwann. Die Ruhe, die einkehrte, kam derart plötzlich, dass auch sie wiederum Anlass zur Sorge gebot. Alf rappelte sich auf. Und er sah sofort, dass sein Onkel nicht aus freien Stücken in seinem Vernichtungswahn innegehalten hatte. Go Nagashi, der Japaner, stand wenige Meter von Ole Tjörnsen entfernt, füllte gleich einem Fels die Tür aus und signalisierte dem Dänen unmissverständlich, dass es keinen Rückzug mehr gab. Der zeigte sich wenig beeindruckt, hielt jedoch respektvollen Abstand und taxierte seinen Gegner. Go, behalte bitte die Nerven!, wünschte Alf sich inständig. Denke
jetzt nicht daran, was mein Onkel uns allen angetan hat. Er wird dafür zur... Alf stockte. Mehr zufällig war sein Blick auf Tjörnsens Hosenbeine gefallen, die metallisch glänzten. Aluminiumspäne und Eisenrost!, schrak Alf zusammen. Er hat die
Kisten aufgebrochen und beides hat sich vermischt! Ein offenes Feuer kann eine spontane Explosion verursachen. Erleichtert rief er sich da
jedoch ins Gedächtnis, dass es in seinem bescheidenen Laboratorium so etwas nicht gab. Nagashi trat einen Schritt vor. Seine rechte Hand lag auf dem Schwertgriff. Noch steckte die Waffe in der Scheide, die an seiner linken Hüfte baumelte. Was hast du vor?, fragte sich Alf. Er wollte nicht daran glauben, dass der Japaner den Onkel einfach mit der Klinge niederstreckte. Wahrscheinlich wollte er ihm Angst machen. Aber töten? Nein. Go Nagashi hatte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Gewalt erzeugte Gewalt. Und es gab für sie keine Rechtfertigung, egal, wie unterschiedlich die Motive auch sein mochten, die sie begünstigten. Nur für einen winzigen Moment kreuzten sich Alfs und Gos Blicke. Die Erkenntnis ließ einen siedendheißen Schauer über den Rücken des jungen Mannes laufen: Er hat es auch gesehen! Und er weiß, was die
metallischen Substanzen bewirken können, wenn... 110
Blitzschnell zog der Japaner das Schwert blank. Es machte den Eindruck, er hätte es gar nicht gezogen, sondern von einem Lidschlag auf den nächsten hoch erhoben in der Hand gehalten. Der Bruch innerhalb der Handlungsabfolge unterstrich dramatisch die Gefährlichkeit des Fernöstlers. Nein! Das wird er doch nicht tun! Alf zitterte, überlegte, ob er eingreifen sollte und erkannte ernüchtert, dass es nichts gab, was er jetzt noch tun konnte. Auch Ole Tjörnsen war sich über die Bedeutung des Augenblicks durchaus im Klaren. Es gab kein Zurück! Erneutes Versagen würden die Hohen nicht tolerieren. Der Tod schien ihm gewiss. Warum ihm dann nicht mit Verachtung entgegengehen? Geschmeidig und raubkatzenhaft ging er einige Schritte auf Nagashi zu. Wenn er geschickt war, konnte er dem Stahl ausweichen und möglicherweise noch einen entscheidenden Schlag anbringen. Schon wollte Tjörnsen dem Sprungimpuls in seinen Muskeln nachgeben - da zerteilte die Klinge bereits scharf die Luft. Allerdings war sie nicht auf Ole gerichtet, sondern auf den Steinboden. Funken sprühten. Im letzten Licht des Tages wirkten sie wie eine gleißende Flamme, die ihre Glut in alle Richtungen verspritzte. Alf und Go warfen sich gleichzeitig zu Boden, während die Explosion Ole Tjörnsens Unterschenkel zerfetzte. Fleischstücke und Knochensplitter verbrannten noch in der Luft zu Asche und der Körper des Dänen wurde bis an die Decke katapultiert, krachte gegen die Holzverstrebungen und stürzte zurück auf den kalten Stein. Die Druckwelle hatte den Koffer vom Tisch heruntergeschleudert. Zu seiner Erleichterung stellte Alf fest, dass er noch fest verschlossen war. Go Nagashi stand bereits wieder auf den Beinen. Mitleidslos musterte er Ole Tjörnsen, der entsetzliche Schreie ausstieß und sich gleich einer Raupe auf der Erde wand. Die explosive Selbstentzündung hatte viele kleine Wunden versiegelt; die Arterien lagen jedoch weiter offen. Nicht lange und das Leben würde vollständig aus dem Körpergefäß hinausgelaufen sein. Der Japaner nickte Alf knapp zu und ging nach draußen. 111
Danke Go, dachte der junge Tjörnsen. Alles Weitere ist Familiensache. Ohne Vorurteile hockte er sich neben den sterbenden Onkel, ließ sich beschimpfen, verspotten und sogar drohen. Das alles ertrug er mit Gelassenheit und als die letzten Worte verklangen und das Röcheln erstarb, da nahm er den Koffer mitsamt seinem furchtbaren Inhalt, trug ihn hinaus und in den Schuppen, den sein Onkel zu einem Mausoleum lebendig Eingemauerter umgestaltet hatte. Dort wollte er ebenfalls die Überreste des Verstümmelten unterbringen und dann den Anbau zumauern. Abreißen würde er ihn nicht; er sollte mahnendes Sinnbild sein für die immer noch existierende Gefahr durch die dunklen Mächte. Daran wollte sich Alf Tjörnsen sein ganzes Leben über erinnern und durch seine Meditationen starke positive Impulse in die Welt schicken. Das war seine Art, gegen das lauernde Böse und alle seine negativen Einflüsse vorzugehen. Die Macht eines guten Gedankens stellte jene einer kämpferischen Auseinandersetzung weit in den Schatten. Er glaubte es nicht nur ganz fest - er wusste es! *
Ein halbes Jahrhundert darauf.
Alf Tjörnsen hatte die Siebzig bereits überschritten, als sich die Zwischenfälle erstmals ereigneten. Er war nicht darauf vorbereitet, obwohl es in seinem Gedächtnis weit zurückliegende Entsprechungen gab; er hatte sie so tief in seinem Bewusstsein vergraben, dass sie sich nicht einmal bemerkbar machten, als die Vergangenheit erneut lebendig wurde. Vielleicht lag es daran, dass er auch den letzten Menschen verloren hatte, der ihm über die Jahrzehnte ein unersetzlicher Vertrauter geworden war und einer der wenigen Kontakte zur Außenwelt: Go Nagashi. Mehr als zehn Jahre lag es zurück, dass Alf den Freund zu Grabe getragen hatte. Der Japaner hatte nicht das Ende eines Kriegers gefunden, sondern war sanft entschlafen als ein Mann, dem der Frieden als engster Verbündeter galt. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Tjörnsens Erinnerungsvermögen in der Einsamkeit gelitten und 112
die Erlebnisse der frühen Jugend zwar nicht gelöscht, jedoch unter einem sich ständig höher auftürmenden Berg neuer Eindrücke und gegenwärtiger Forschungsergebnisse begraben hatte. Denn in erster Linie war Alf immer noch Naturwissenschaftler. Das sah er als seine Bestimmung an. Und nach einem langen Leben konnte er nun mit Sicherheit sagen, dass er sich nicht geirrt hatte. Was aber geschah plötzlich in seiner unmittelbaren Umgebung? Er fand auf Anhieb keine plausible Erklärung für jene eigenartigen Fenster, die sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten öffneten. Je länger und intensiver er ihren Ursprung zu ergründen versuchte, desto mehr erhärtete sich die Erkenntnis, dass es ihm nicht gelingen würde. So beobachtete er lediglich. Dabei hatte er den Eindruck, Dinge aus vergangener Zeit zu sehen. Da war der Wald, so wie er ihn kannte, über den das Fenster sich als eine Art Linse gelegt hatte. Die Vegetation wechselte stark in der Ansicht, vermittelte den Eindruck eines Zeitraffers, der im Abstand weniger Tage die Jahre vorbeifliegen ließ, als wären sie bedeutungslose Momentaufnahmen. Mit der Zeit verlangsamte sich der Effekt, als justierte er sich neu ein, bis das Stillleben schließlich seine endgültige Form angenommen hatte. Eines Tages - abgesehen von ein paar Tieren waren in dem Fenster kaum Lebewesen und schon gar keine Menschen erschienen tauchte dieser kleine Junge auf. Er wirkte nicht minder überrascht als Alf es bei seiner ersten Begegnung mit dem Phänomen gewesen war. Es stellte sich heraus, dass sie sich zwar gegenseitig sehen konnten, jedoch keine Möglichkeit fanden, miteinander zu sprechen. Ihre Verständigung beschränkte sich auf reine Gestik, was zwangsläufig zu großen Schwierigkeiten führte, wollte man komplexere Zusammenhänge verdeutlichen. Tag für Tag wartete Alf nun in seinem zur Lagerhalle ausgebauten Labor, in das sich das Zeitfenster eingepasst hatte. Er wollte dem Jungen so vieles erklären und wurde gleichzeitig wütend über sein eigenes Unvermögen, sich ohne Worte ausdrücken zu können.
Ich Narr! Warum schreibe ich nicht einfach alles auf?
Bleimine und Papier waren schnell gefunden. Hastig kritzelte der Alte darauf: Ich heiße Alf Tjörnsen. 113
Triumphierend hielt er dem Jungen, den er auf zehn oder zwölf Jahre schätzte, den Zettel hin. Doch statt des erwarteten Begreifens schlug ihm nur Unverständnis entgegen. Er kann es nicht lesen!, dämmerte es Alf. Nicht, weil er es nicht gelernt hatte, entnahm Tjörnsen den pantomimischen Darstellungen des Kindes, sondern weil es für ihn keinen Sinn ergab. Der Naturwissenschaftler in Alf Tjörnsen nahm diesen befremdenden Umstand erst einmal als gegeben hin. Der Mensch hingegen war zutiefst erschreckt. Der Schrecken weitete sich noch aus, als dem Greis endlich aufging, wen er da vor sich sah. Die Erkenntnis blitzte kurz und hell in den dunklen Gewölben seines Gedächtnisses auf.
Ich bin es selbst! Ich sehe mich als kleinen Jungen! Ich versuche die ganze Zeit, mich mit mir selber zu unterhalten! Alf wurde bleich. Wie konnte ich das übersehen? Lüften sich jetzt die Geheimnisse, denen ich schon von Kindesbeinen an hinterher renne?
Noch ahnte Tjörnsen nicht, dass ihm der größte Schock erst bevorstand! * Rückblickend vermochte Alf Tjörnsen nicht zu bestimmen, was ihn an diesem einen Tag in die Nähe der verwaisten Hütte seines wortkargen Freundes Go Nagashi gelenkt hatte. Wollte er alte Erinnerungen auf frischen und sich in Wehmut ertränken? Sicher nicht. In seinem ausgewogenen Verstand war kein Platz für grobe Sentimentalitäten. Trotzdem hatte er sich entgegen seiner Gewohnheiten weit in den Wald vorgewagt - und diese Entscheidung beinahe teuer bezahlt! An einer leichten Steigung oberhalb eines ausgetrockneten Bachbetts glitt Alf auf feuchtem Laub aus. Er fiel auf die Knie und ergriff rein instinktiv einige Wurzeln, um nicht weiter abzurutschen. Die Wurzeln jedoch boten kaum Halt in dem lockeren Erdreich, rissen aus und wurden immer länger, je weiter Alf nach hinten kippte. Dann verlor er vollends den Halt, rutschte einige Meter abwärts bis in das laub- und pflanzenüberwucherte Bachbett. Panik stieg in dem alten Mann hoch, 114
der erste Anzeichen von Erschöpfung und Kurzatmigkeit bemerkte, als ihm klar wurde, dass seine unfreiwillige Talfahrt noch nicht beendet war. Bis zum Hals umrankten ihn die Gewächse, die eine trügerische Decke über einem Untergrund gebildet hatten, der sich in diesem Moment in Bewegung setzte. Tjörnsen krallte sich in den moosigen Boden, tastete verzweifelt nach einem Widerstand, um sich festzuhalten und nicht mitgerissen zu werden. Der tote Bachlauf hatte sich in eine reißende Lawine verwandelt, die ähnlich gefährlich wie Treibsand einen unentrinnbaren Sog erzeugte. Alf wunderte sich noch, dass außer dem lang gezogenen Rascheln und den Schleifgeräuschen, die sein Körper verursachte, kaum ein Laut zu hören war. Fünfzig Meter entfernt wäre einem der Vorgang nicht einmal aufgefallen. Mehrmals überschlug sich Tjörnsen, versuchte dabei laufend, irgendetwas zu packen, was seine mörderische Rutschpartie bremste. Und das war sein Glück! Die abschüssige Schneise endete unvermutet an einem steil abfallenden Hang. Weit schoss Tjörnsen darüber hinaus, hatte allerdings vorher noch allerlei Schlinggewächs greifen können, das seinen Vorwärtsschwung nun umkehrte und den arg gebeutelten Senior zurück an die wild überwucherte Hangwand schleuderte. Der Aufprall war zwar relativ weich, doch sah Alf bereits dunkle Schatten vor den Augen. Seine Kräfte erlahmten zusehends. Er wünschte sich, einfach loslassen zu können, um den ausgepumpten Muskeln endlich Linderung und Entspannung zu verschaffen. Doch das hätte unweigerlich seinen Tod bedeutet. Bis zum Boden mochten es noch dreißig, vierzig Meter sein, wie er nach einem vorsichtigen Blick feststellte. Nach oben ging es nicht, da das locker aufgeworfene Erdreich mit seiner Schicht aus faulenden Pflanzenresten kein Hochklettern erlaubte. Eiserne Entschlossenheit ergriff von Alf Tjörnsen Besitz. Er wollte noch nicht von der Bühne des Lebens abtreten. Es gab noch viele Dinge zu sehen und zu erforschen und das wollte er sich keinesfalls entgehen lassen. Also biss er die Zähne zusammen, mobilisierte die letzten Kraftreserven und hangelte sich langsam über Vorsprünge, Wurzelwerk und Pflanzengeflechte sicher bis ganz nach unten. Knapp zwei 115
Meter über dem Boden brach eine Klippe ab, auf die er sein gesamtes Körpergewicht verlagert hatte. Ein trockener, kurzer Aufschrei und Tjörnsen segelte nach unten. Die unsanfte Landung vermittelte ihm den Eindruck, sein Steißbein in Höhe des Nackens austreten zu spüren. Schmerz zeichnete seine Züge. Mehrmals hintereinander machte er die Augen auf und zu um die sprühenden Funken auf der Netzhaut zu vertreiben. Dann legte er sich vollends auf den Rücken und spreizte die tauben Arme ab, die sich wie Fremdkörper anfühlten. Verstohlen blinzelte er den Abhang hinauf, der ihm heute alles abverlangt hatte. Und da erhielt er plötzlich einen Energieschub, der ihn förmlich aufspringen ließ und die Anstrengungen mit einem Schlag vergessen machte!
Nein! Das ist doch nicht möglich! Es kann nicht sein! Die Schwäche, die Alf Tjörnsen jetzt überfallen wollte war nicht physischer Natur. Es war sein Geist, den lähmend das Grauen umfing. Das Grauen wandelte sich in Erkennen - und dem Erkennen folgten bittere Tränen. Hinter den Pflanzenranken, gleich in Bodennähe, schimmerten die verwitterten Knochen eines Skeletts. Wie magisch wurde der Alte von einem glänzenden Reflex angezogen. Seine Arme waren mit einemmal mechanische Werkzeuge, die das knorrige, verwachsene Wurzelgeflecht zerfetzten und schließlich das Knochengerüst vollständig freilegten. Tjörnsen bemerkte nicht den dumpf pochenden Schmerz in seinen Muskeln. Er hatte nur Augen für den Gegenstand, dessen Glanz ihn angelockt hatte und bei dessen Anblick sich eine nahezu unbegründete Vermutung in tragische Gewissheit transformierte. Liebevoll strichen Alfs Fingerkuppen über den löchrigen Schädel hinunter zu dem ledernen Band mit der Lochscheibe. Litta, flüsterten seine Gedanken. Dummes, unvorsichtiges Mäd-
chen.
Er lächelte. Du hast Nagashis Amulett wieder abgelegt und meinen Anhänger mit der Unterlegscheibe genommen. 116
Litta Vlaikönnen war seine Freundin gewesen. Nur seine. Bis in den Tod. Sie war wieder mal alleine im Wald gewesen, hatte die Stelle erkundet, an der Go Nagashi sie schon einmal vor einem Sturz in die Tiefe bewahrt und anschließend bei ihren Eltern abgeliefert hatte. Warum war sie zurückgekehrt, wenn sie um die offensichtliche Gefahr gewusst hatte? Das Spiel mit dem Feuer schien seine generelle Faszination auf den Menschen nicht eingebüßt zu haben. Dummes, kleines Ding, befanden sich Tjörnsens Gedanken in einer Endlosschleife. Dass der makabre Fund Go Nagashi praktisch vom Vorwurf des Kindermordes befreite, geriet zur Nebensache; Alf hatte sowieso nie an dem Japaner gezweifelt. Wichtig war einzig - selbst jetzt, nach weit über fünfzig Jahren - dass Litta ihren Freund nicht verraten und immer auf seiner Seite gestanden hatte... Aber halt! Es gab doch eine Möglichkeit, alles zum Guten zu wenden! Das Herz schlug Tjörnsen bis zum Hals. Das Zeitfenster! Wenn er dem Jungen - wenn er sich! - begreiflich machen konnte, was sich in der nahen Zukunft zutragen würde, dann konnte Litta gerettet werden! Dann musste sie nicht sterben! Es dauerte viel zu lange, bis der alte Mann zu Hause ankam. Es war bereits dunkel und damit genau die richtige Zeit, den Kontakt herzustellen. Der Junge kam immer erst nach Einbruch der Dämmerung. Alf Tjörnsen war innerlich aufgewühlt und in einem Zustand, den er selbst nicht von sich kannte. Er war besessen von der Idee, die Vergangenheit zu ändern und dem jungen Alf eine Zukunft mit seiner lieben Freundin zu ermöglichen. Natürlich geschah genau das, was er nicht erreichen wollte und was ihn an den Rand einer zornigen Ohnmacht trieb: Das Kind verstand ihn nicht! Alf versuchte im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen und Füßen den Sachverhalt darzustellen, gestikulierte, machte Zeichen und Bewegungen, die seines Erachtens den kindlichen Verstand erreichen sollten. 117
Alles war vergeblich. Und als dann doch der Funke des Verstehens endlich übergesprungen war, da hatte der Alte den Eindruck, dass sein jugendliches Abbild ihn missverstanden hatte, dass der Zwölfjährige Dinge in seine Äußerungen interpretierte, die ihn auf einen gänzlich falschen Weg führten. Sicher war es für den alten Tjörnsen besser, dass er niemals erfuhr; wie sehr er den Jungen mit seiner Darstellung beeinflusst hatte. So sehr, dass er aus Eifersucht Go Nagashi der Entführung und damit des Mordes an Litta bezichtigen würde. Tjörnsen gab es auf. Einige Tage noch versuchte er sich in Erklärungen, die aber nicht fruchteten. Außerdem wurde die Verbindung über das Fenster bei jedem Kontakt schlechter. Schließlich verlosch es ganz und tauchte auch nicht mehr auf. In seiner Funktion als Forscher blieb Alf Tjörnsen gar nichts anderes übrig, als aus dem Erlebten eine Grundsatzthese zu formulieren, die sich im Laufe der kommenden Jahre zur einzig gültigen Wahrheit verdichtete: Die Vergangenheit konnte nicht verändert, einmal getroffene Entscheidungen nicht rückgängig gemacht werden. Der Prozess appellierte an die Verantwortung des Einzelnen, derer er sich bewusst werden musste und aus der er sich nicht heraus stehlen konnte. Übrig blieb trotzdem noch die Frage, warum ausgerechnet ihm diese tief greifende Erkenntnis zuteil wurde. Alles nur ein Zufall? Dieses außergewöhnliche Phänomen musste einen Ursprung haben, eine Ursache. Natürlich würde er sie nie finden, auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Thema Tjörnsen noch bis zu seinem Lebensende immer wieder einmal beschäftigen sollte. Es gab immer eine Antwort. Und sie lag irgendwo dort draußen. Er würde sich auf die Suche nach ihr machen. Wenn nicht jetzt, dann im nächsten Leben... *
Richard Jordan II Die Wiedergabe endete. 118
Ich benötigte einige Zeit, um mich zurechtzufinden, so sehr hatte mich die Darstellung gefangen genommen. Der Schrein hatte in episodenhafter, geraffter Form ein ganzes Menschenleben vor mir ablaufen lassen und zwar aus der Sicht eines omnipotenten Erzählers, der sämtliche Fügungen und Verbindungen kannte, die einige seiner Protagonisten nicht einmal ahnten. Daher war mir auch sofort klar, worauf die Aufzeichnung Gon'O'locc-uurs anspielte. Amalnacron war nicht vernichtet worden! Ein mehr oder weniger unbewusster Teil seiner selbst - hervorgegangen aus der Zysstho-Pest und gegenwärtig ein lebens- und seelenverschlingendes Fressplasma wucherte immer noch zwischen den ahnungslosen Menschen. Schlimmer noch: Die Ausbreitung des mutierten Erregers wurde ganz gezielt und sogar organisiert vorgenommen! Ole Tjörnsen war dabei nur ein winziges Rädchen in einem gigantischen Räderwerk gewesen, dessen Wurzeln unmöglich auf der Erde zu finden waren. Die Geschehnisse verlagerten sich stets weiter nach außerhalb, fokussierten sich aber immer wieder neu auf den blauen Planeten, als wäre er ein Magnet für interkosmische Probleme und Auseinandersetzungen. Und genau dafür musste es einen Grund geben! Ich würde mich noch mit dieser Sache beschäftigen müssen. Aber nicht im Moment. Vordringlich war das Einsammeln meines transgenetischen Codes. Ein Splitter davon hatte ein eigenwilliges Eigenleben entwickelt und den armen Alf Tjörnsen in jungen Jahren sowie im hohen Alter in höchste Verwirrung gestürzt. Das Codefragment hatte sich seiner ungewohnten Umgebung anpassen müssen und Kompatibilitätsunstimmigkeiten über das von Tjörnsen so benannte ›Zeitfenster‹ abfließen lassen. Die Synchronisation mit dem Oberton des Planeten hatte punktuell eine starke Krümmung des Temporalgefüges hervorgerufen und die chronologische Abfolge der Ereignisse rückläufig kanalisiert. Das hatte mir der Schrein wirklich fabelhaft erklärt. In meiner stillschweigenden Begeisterung über soviel Offenheit und Transparenz beschloss ich, in den nächsten Tagen die Villa zu verlassen und die Priester aufzusuchen. Langsam musste ja mal einer die Initiative er119
greifen; ich hatte jetzt schließlich lange genug auf der faulen Haut gelegen. Mich beschäftigten natürlich auch Gedanken um meinen Status als Höllenjäger. Was war ich denn nun? Hatte das Initiierungsritual außerdem noch etwas zustande gebracht, als das von mir zu trennen, was ich am dringendsten benötigte? Vielleicht gehörten ja sämtliche Bestandteile jener Prozedur, die seit dem Tod meines Vaters auf mich eingestürmt waren, zur eigentlichen Prüfung dazu. Möglich, dass die Kontinuität in der Entwicklung erst das auslöste, was mich zum Höllenjäger machen würde - oder schon gemacht hatte? Warum war immer alles so verdammt kompliziert? Und warum gab es niemanden, der in der Lage war, auf eine klare Frage auch eine ebensolche Antwort zu geben? Ich würde mich wohl mit meiner eigenen Interpretation nach dem Sinn begnügen müssen. Vorerst... Ende
120