ROLF-PETER BERNHARD
Le Fort beschießt Waren
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gest...
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ROLF-PETER BERNHARD
Le Fort beschießt Waren
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gestaltet
Karten: Archiv, Faksimile: Aus ,,Kapp-Putsch in Mecklenburg" von Martin Polzin. Rostock 1966. S. 192
1.—70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Militarverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) — Berlin, 1974 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 LVS 0289 P 343/73
Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Karl Fischer Vorauskorrektor: Johanna Pulpit Korrektor: Eva Plake Hersteller; Ingeburg Zoschke Printed in the German Demokratie Republic Gesamtherstellung: 140 Druckerei Neues Deutschland Berlin
EVP 0,50
Anfang März 1920 kamen ein paar Radfahrer in das kleine mecklenburgische Dorf Federow. Vor der Kate des Gutsarbeiters Heinrich Wisten stiegen sie ab, schoben ihre Räder an die windschiefe Wand der armseligen Behausung. Es waren Arbeiter aus Waren, Mitglieder der USPD. Heinrich Wisten öffnete auf ihr Klopfen hin die Tür, die laut in den Angeln quietschte. „Mensch, Erich", sprach er den einen Mann an. „Was treibt dich denn in unsere Einöde?" Der Angesprochene knuffte den Gutsarbeiter in die Rippen. „Tag, Wisten. Haben dich schon auf dem Acker gesucht! Wir haben uns von Waren bis in dein komisches Kuhdorf gequält, und was sehen unsere Augen? Der Herr Knecht verschläft die Arbeit." Erich Glamann grinste ihn und die anderen lustig an. „Wir streiken schon seit heute früh", entgegnete Heinrich Wisten. „Heinrich, du bist tacko!" Paul Ksienzyk rieb das Schweißband seiner ausgeblichenen Schirmmütze trocken. „War das eine Tour! Godow, Kargow, Charlottenhof, Groß Dratow und jetzt Federow. Und das bei euren Wegen. Mannig, Mannig." „Kommt erst mal in die Küche", sagte der Gutsarbeiter. „Viel ist bei mir allerdings nicht zu holen. Die Frau ist krank. Ausgerechnet jetzt. Aber kommt 'rein." .
Die Männer traten gebückt durch die schmale Brettertür. Schwer ließen sie sich auf die Küchenhocker fallen. Vor Sonnenaufgang waren sie aufgebrochen; denn ihr Marsch führte sie halb um die Nordspitze der Müritz herum. „Hat euch Kunzendorf denn nicht gesagt, daß wir in Federow streiken?" Heinrich Wisten langte die Kornkruke aus dem Spind, stellte Gläser auf den weißgescheuerten Tisch und goß ein. „Wir sind früh los", sagte Paul Ksienzyk. „Dann kommt ihr nicht, das Maschinengewehr zu holen und die Karabiner?" „Nein." Erich Glamann schüttelte den Kopf. „Damit können wir uns nicht aufhalten. Wir müssen noch weiter. Nach Speck und nach Boek." „Mit zwei Mann nach Boek?" Die Warener nickten. „Wer hat denn das eingefädelt? Habt ihr in der Stadt alle geschlafen? Habt ihr nicht mitgekriegt, wer sich da im Hotel ,Rostocker Hof' mit dem Boeker Baron trifft? Dann will ich es euch sagen..." „Halt ein! Wir wissen es. Der Mühlenbesitzer Buggisch, der Molkereidirektor Dr. Wolter, der Tierarzt Dr. Evers und der Langhagener Forstmeister von Seckendorff." „Seit vorigem November geht das nun schon so. Dieser abgetakelte Ulanenrittmeister le Fort führt etwas im Schilde!" „Was kümmert uns der Baron le Fort." Paul Ksienzyk winkte ab. „Mit den Tagelöhnern wollen wir reden, mit den Waldarbeitern."
„In Boek?" Heinrich Wisten lachte bitter auf. „Gibt es dort überhaupt den Landarbeiterverband? Mich sollte es sehr wundern, wenn der Herr Baron das gelitten hat. Boek ist kein Gut wie jedes andere. Zwölf tausend Morgen überständiger Wald! Wißt ihr, was solch ein riesiger Forst abwirft?" „Na und?" „Na und! Le Fort kann eine Tanne nicht von einer Fichte unterscheiden. Der ist kein Landwirt und kein Forstmann. Der ist Offizier. Also hat er für alles seine Leute, und die hat er sich höchstpersönlich ausgesucht." „Heinrich, in fünf Dörfern sind wir gewesen. Lemke, dieses Großmaul von Groß Dratow, hat sich gefügt. Sogar in Godow wird gestreikt, und das ist ein Bauerndorf. Und da sollten wir mit dem Boeker Baron nicht fertig werden?" Mit den Brotkrumen wischte Erich Glamann auch die Bedenken vom Tisch. „Es hat sich ausgerittmeistert! Auch in Boek!" Heinrich Wisten wiegte nachdenklich den Kopf. „In die ersten zwei, drei Dörfer seid ihr noch wie der Blitz aus heiterm Himmel gekommen. Dann aber wurdet ihr allerorts angemeldet. Mit Namen und Adresse, mit Schnurrbart und Fahrradklingel. Ich sage euch bloß: Seht euch vor dem Baron vor!" „Wir legen diesen le Fort schon aufs Kreuz!" Erich Glamann krümelte sich einen Zigarrenstummel in die Pfeife. „Woher weißt du so gut Bescheid?" „Denkt nicht, wir vom Lande leben zu weit ab vom Schuß", sagte Hemrich Wisten. „Erst am siebenund-
zwanzigsten Januar neunzehnhundertzwanzig hat sich die ganze Bagage von Gutsherren und Großbauern in Güstrow getroffen. Der Federower war natürlich auch dort. Und als sie alle fein beisammen waren, da hat der Landrat Freiherr von Maltzahl-Moltzow des Kaisers gedacht. Alle, aber auch alle haben sich von den Plätzen erhoben, als wäre der Wilhelm tot. Und was bedeutet das? Die wollen wieder ein Kaiserreich. Die sind gegen die Republik. Die sind gegen uns! Die hassen uns!" „Das ist man klar. Was anderes will dieser Kapp nicht und der Reichswehrgeneral Lüttwitz", entgegnete Erich Glamann. „Wir Arbeitsleute sind stärker!" „Ja, das sind wir." Heinrich Wisten nickte. „Aber nur dann, wenn wir zusammenhalten, nur dann, wenn wir nicht mit Eichenknüppeln gegen ihre Maschinengewehre anrennen..." „Wir müssen weiter", mahnte Paul Ksienzyk. „Kipp noch einen ein, Heinrich. Ihr brennt einen passablen Korn in Federow, muß ich schon sagen." „Daß auch ausgerechnet jetzt die Frau krank werden muß! Ich wäre sonst mit euch gegangen." Heinrich Wisten stieß mit den Warener Maurern an. „Laßt von euch hören, wenn ihr zurück seid. Auch wenn es noch so spät wird, klopft ans Fenster. Auch über Nacht könnt ihr bleiben." „Wird gemacht", sagte Paul Ksienzyk. Heinrich Wisten sah den Männern nach."Er wußte, daß es im Mecklenburgischen auf die Landarbeiter ankam. Streikten sie nicht, konnte von einem Ge-
neralstreik keine Rede sein. Paul Ksienzyk und Erich Glamann hatten in sieben Dörfern östlich der Müritz den Kampf zu organisieren. In Neustrelitz, Fürstenberg, Feldberg, Woldegk, Friedland, Neubrandenburg, Stavenshagen, Malchin, Teterow, Waren, Malchow, Röbel und Penzlin sorgten die Mitglieder der KPD, der SPD und der USPD sowie die Gewerkschaften für die Durchführung des Generalstreiks. In vielen Orten, in denen die großen Güter standen, machte auch der Landarbeiterverband mit. Die Genossen, die wieder auf ihre Räder stiegen, konnten es sich einfach nicht vorstellen, daß das Landproletariat von Boek sich da heraushalten würde. Bald hatten sie Speck erreicht. Aber hier wurde bereits das Gut bestreikt. Der Streikausschuß stellte ihnen einen Landauer zur Verfügung; ausgeruhte Pferde wurden angespannt. Der Vorsitzende des Ausschusses meinte zu seinem Angebot: „Sonst kriegt ihr noch den Wolf zwischen die Beine. Ladet eure Drahtesel auf und euch dazu, dann seid ihr ausgeruht, wenn ihr nach Boek kommt. Mit dem Baron ist nicht gut Walzer tanzen." Erich Glamann erkundigte sich bei dem Vorsitzenden, wie die Stimmung in Boek sei. „Hm, ein paar von den Katnern würden schon mitstreiken. Aber le Fort hat schon seit zwei Jahren dafür gesorgt, daß dort keiner gegen ihn aufmuckt. Man munkelt, er beschäftige ehemalige Soldaten aus den Baltikumtruppen als Vorarbeiter und Antreiber. Seid also vorsichtig, Männer."
„Du meinst auch, daß die Boeker nicht streiken werden?" „Na ja! Wie das so ist, nichts Genaues weiß man da. Ich meine bloß, ihr solltet vor den le Fortschen Wäldern wieder auf die Drahtesel klettern. Die Hochzeitskutsche könnt ihr ja wieder zurückschicken. Aber seid vorsichtig, Männer, die baronschen Tomaten sind aus Blei!" „Danke!" Die Genossen warfen ihre Räder in die Kutsche und stiegen ein. Der Pferdelenker knallte mit der Peitsche. „Hü! Brauner, hü!" Eine Staubwolke aufwirbelnd, jagte das Gefährt aus dem Dorf. Zur selben Zeit bereitete le Fort seinen Krieg vor. Seit den Abendstunden des 13. März glich Boek schon einem Feldlager. Stielhandgranaten am Koppel, patrouillierten feldgraue Doppelposten durch das totenstille Dorf. Im falben Licht schimmerte ab und zu Metall von Karabinern, Koppelschlössern und Schnallen der Stahlhelmriemchen. Im Schloß ging es zu wie in einem Generalstabsquartier. Den großflächigen Eichentisch im Herrenzimmer bedeckte eine Generalstabskarte. Auf ihr war der Wirkungsbereich des Reichswehrdetachements Müritz abgesteckt. Er reichte weit über das Amt Waren hinaus, bis Bach Malchin und Teterow im Norden, Flau am See im Westen, Wittstock/Dosse im Süden und den Freistaat Mecklenburg-Strelitz im Osten. Eine zweite Karte glich einem Spinnennetz. Verbindungen zu sechzehn Städten und Gütern. Die Fäden
waren gespannt nach Spotendorf bei Laage zu Amtsverwalter Dr. Wendhausen, dem mecklenburgischen Kapp-Intimus, nach Berlin zu Sicherheitspolizeihauptmann Stennes und zu Reichswehrhauptmann Rannschow, nach Schwerin zum Ic der Reichswehrbrigade 9, Hauptmann von Specht... Die Spinne lag in Boek auf der Lauer. In dieses Zimmer befahl am Nachmittag des 15. März 1920 Rittmeister a. D. Baron Stephan le Fort seine engsten Vertrauten zur Lagebesprechung. Die Nachrichten, die er in den letzten Stunden erhalten hatte, machten ihn unruhig. Der Neustrelitzer Reichswehrgarnison war es nicht gelungen, den Sitz der Landesregierung einzunehmen. Obwohl hundert Soldaten mit schweren Maschinengewehren und Infanteriegeschützen gegen das Schloß vorgegangen waren, hatten die Arbeiter die Oberhand behalten. Gut, Staatsminister Freiherr von Reibnitz — le Fort wollte es nicht in den Kopf, daß ein Freiherr Sozialdemokrat sein konnte — hatte sich trotzdem dem Ultimatum gebeugt und die neue Reichsgewalt anerkannt. Aber von einem militärischen Sieg konnte keine Rede sein. Das erboste le Fort um so mehr, da sein Neffe, der Leutnant Baron Peter le Fort das Kommando geführt hatte. „Schillbach. Haben Sie endlich Verbindung zur Neustrelitzer Artilleriekaserne?" fragte le Fort. „Nein, Herr Baron." „Was heißt hier nein!" Le Fort lief nervös durch das Zimmer. „Stellen Sie unverzüglich eine Verbindung
zu Hauptmann Freitag her. Ich verlange Verstärkung. Er soll den Leutnant le Fort nach Boek kommandieren, wenigstens eine Kanone, einige Reiter." „Zu Befehl." „Wie ist die Lage in Waren?" Der Jurastudent Schillbach berichtete knapp. „Die Bewaffnung der Banditen?" „Bis gestern dreiundzwanzig Karabiner." „Präpariert?" „Jawohl." „Und Sie meinen, dieser Feldwebel ist zuverlässig?" fragte le Fort. „Er hat alle meine Aufträge exakt ausgeführt." „Und was ist in Röbel?" Leutnant zur See von Heimburg erhob sich, breitete ein Plakat aus und las pathetisch: „Bekanntmachung. Das recht- und verfassungswidrige Verhalten der bisherigen Machthaber hat zu ihrem Sturze durch das Volk geführt. Nationalgesinnte Männer sind mit der Leitung von Reich und Staat betraut. Die Reichswehr steht fest und entschlossen hinter ihnen. Die Regierungsgewalt in Schwerin liegt einstweilen in Händen unseres afrikanischen Helden, des Generals von Lettow-Vorbeck. Es wird hiermit ernstlich auf die bekannte Verordnung des Militärbefehlshabers General von Bernuth hingewiesen, welche Aufforderung zum Streik, Streik und Stillegung lebenswichtiger Betriebe mit den schärfsten Strafen bedroht. Bei Ordnung, Arbeit und Pflichterfüllung wird jedermann sein Brot erhalten und die Segnungen
tüchtiger und gerechter Regierungsführung sofort spüren. Im Auftrage der provisorischen Regierung des Freistaates Mecklenburg-Schwerin, gez. Baron le Fort, Bezirksleiter." — „Bis dato herrscht in Röbel Ruhe. Ihre Bekanntmachung hat also Wirkung gezeigt, Herr Baron", sagte der Leutnant. „Aber es gibt bereits einen sogenannten Aktionsausschuß, bestehend aus EbertLeuten, aber auch aus Unabhängigen..." „Was hat von Schulze-Bülow unternommen?" „Es liegt keine Meldung vor." „Verdammte Schweinerei! Wie lange will der Kerl noch warten. Er hat Röbel unverzüglich zu besetzen." Le Fort begann wieder auf und ab zu laufen. „Was soll diese Unentschlossenheit! Da haben wir alles zigmal bis in die kleinste Einzelheit durchgespielt, und doch klappt es nicht." „Ich werde mich mit Herrn von Schulze-Bülow ins Benehmen setzen", bemerkte von Heimburg. ,,Tun Sie das. Und richten Sie aus..." Le Fort winkte ab. „Gehen Sie an Ihre Arbeit, meine Herren." Mit Handschellen gefesselt, waren in diesen Stunden Erich Glamann und Paul Ksienzyk von zwei Gendarmen über die Müritz gerudert worden. Im Röbeler Amtsgericht sollten sie nun ein Protokoll unterschreiben, in dem sie sich des Hoch- und Landesverrats schuldig zu bekennen hatten. Natürlich verweigerten sie die Unterschrift. Das hatte zur Folge,
daß sie in eine der engen Zellen gesperrt wurden. Als der Gendarm, der sie eingeschlossen hatte, außer Hörweite war, meinte Erich Glamann: „Fliehen hätten wir sollen, als dem Landauer das Vorderrad abging. Die Gendarmen hätten uns nicht bei der hochwohlgeborenen Kutsche angetroffen. Bloß gut, daß der Kutscher mit seinen Zossen schon außer Sicht war. Fliehen hätten wir sollen!" Paul Ksienzyk schüttelte den Kopf. „Darauf hätten die beiden doch nur gewartet. Auf der Flucht erschossen... Nee, Erich, so billig möchte ich mir nun doch nicht meinen Balg durchlöchern lassen." Nach einer Weile meinte sein Genosse: „Wenigstens haben wir 'ne schöne Kahnpartie gehabt." Er lächelte schmerzlich. „Wann bist du schon mal in der Bolter Mühle gewesen!" „Mir wäre es lieber, die hätten uns nach Boek gebracht. Wer weiß, ob wir da noch mal hinkommen!" „Jetzt schaffen sie uns erst einmal nach Schwerin, zu Lettow-Vorbeck! Standgericht — Kugel — weg!" „Daraus wird nichts, Erich! Die Röbeler Genossen werden schon erfahren, daß wir eingesperrt sind. Die holen uns bestimmt 'raus!" Schritte kamen den Flur entlang. Ein Schlüsselbund klirrte. „Siehst du", sagte Paul. Die Tür ging knarrend auf. „So, ihr Galgenvögel, jetzt werden wir eine letzte Spazierfahrt antreten", höhnte der Wachtmeister.
,,Pfötchen vorstrecken! Seid hübsch brav, sonst..." „Was bis du nur für ein elender Kerl! Hast du deinen Eid auf die Republik geleistet, um uns an den Galgen zu liefern? Ein schöner republikanischer Polizist!" Erich Glamann spie dem verdatterten Wachtmeister vor die Stiefel. „Das ist, das ist..." Der Polizist holte aus, um den Arbeiter zu schlagen. „Schlag doch zu! Aber merk dir, Freundchen, wir zahlen hohe Zinsen!" Ein zweiter Polizist stürzte hinzu. „Keinen Aufruhr!" Sie zerrten Paul Ksienzyk und Erich Glamann in einen geschlossenen Wagen und transportierten sie zur Bahnstation. Der Zug fuhr nur ein kurzes Stück. In Ganzlin gellte ein minutenlanger Lokomotivenpfiff. „Streik!" Die Hände zu einem Schalltrichter geformt, rief der Heizer über den Bahnsteig: „Generalstreik! Nieder mit Kapp und Lüttwitz! Generalstreik! Es lebe die Republik!" Erich Glamann grinste. „So, wessen letzte Spazierfahrt war das?" „Laßt uns sofort frei!" verlangte Paul Ksienzyk. „Oder seht ihr immer noch nicht, was los ist?" „Schnauze!" herrschte der Wachtmeister angstbleich die Arbeiter an. „Wir haben Befehl." „Laßt uns erst wieder in Röbel sein, dann werden die Eisenbahner nicht nur der Lokomotive den Dampf ablassen", warnte Erich Glamann. „Dann werden wir die Plätze wechseln, ihr ins Kittchen, wir ins Wachlokal!"
Im Warener Restaurant „Heidelbach" herrschte Erregung. Heftig diskutierten die herbeigeeilten Arbeiter, um den Streikausschuß zu bewegen, nun endlich mit der Waffe in der Hand gegen Boek vorzugehen. „Bewahrt doch Ruhe, Genossen! Ich verstehe euch ja. Auch mir ist es nicht einerlei, daß Glamann und Ksienzyk noch nicht zurück sind. Aber wir dürfen nichts übereilen." Der Vorsitzende Kunzendorf, ein Mitglied der SPD, mühte sich, die erregten Arbeiter zu beruhigen. Deshalb sagte er noch einmal überflüssigerweise: „Wir dürfen da wirklich nichts übereilen." „Nichts übereilen, nichts übereilen! Wir quoosen uns hier die Zungen trocken, ob wir aufbrechen sollen oder nicht, ob mit 'm Gewehr oder ohne. Und da sprichst du, wir soll'n ja nichts übereilen! Ich habe das satt! In Boek baumeln unsre beiden Genossen vielleicht schon an der Linde!" rief Willi Gütschow. Zornig, aber sehr bestimmt schrie er: „Rodemann soll endlich die Waffen 'rausrücken!" „Jawoll! Gütschow hat recht", pflichtete der Dachdecker Röse bei. „Fragt doch ringsum die Tagelöhner, der Boeker Baron hat noch nie lange gefackelt." „Jetzt schon gar nicht. Es ist doch sein Neffe gewesen, den gestern die Arbeiter vor dem Neustrelitzer Schloß versohlt haben." „Ruhe, Genossen!" Kunzendorf fuchtelte mit den Armen. „Wir haben keinerlei Beweis dafür, daß die beiden Genossen in Boek festgehalten werden." „Und ob!" Alle schauten auf den Unbekannten, der sich zum Präsidiumstisch drängte. „Also, sie sind
gestern bei uns in Federow gewesen, bei Heinrich Wisten, unserem Verbandsobmann. Er hat sie gewarnt, aber sie sind weitergezogen. Wir haben sie nicht wiedergesehen. „Schluß jetzt!" überschrie Willi Gütschow das Stimmengewirr. „Ich verlange einen Beschluß."
Hennecke ließ abstimmen. Ohne sich umzublicken, reckten die Arbeiter die Arme hoch. „Gegenstimmen?' fragte der Vorsitzende. „Enthaltungen? — Keine? Wer führt den Trupp an?" „Gütschow!" „Gut", sagte der Maurer. „Den Federower nehme ich mit. Der kennt die Gegend. Und dann Röse..." „Ich habe auch ein Fahrrad", meldete sich der Forstarbeiter Hermann Meier. „Greinert ebenfalls." Kunzendorf trat auf Willi Gütschow zu. „Eines lege ich dir ans Herz: Verhandelt mit dem Baron le Fort nicht mit dem Gewehr im Anschlag! Macht kein Blutvergießen." „Wir nicht! Wenn geschossen wird, dann schießt le Fort sowieso zuerst." Kunzendorf schüttelte den Kopf. „Le Fort ist preußischer Offizier; er war Rittmeister im Zweiten Pommerschen Ulanenregiment Nummer neun. Schon deshalb wird er nicht auf Deutsche schießen lassen.'' „So?" Gütschow lächelte ironisch. „Du mußt ja die Demminer Ulanen gut kennen." In der Gaststätte „Stadt Rostock" gab der Polizeifeldwebel Rodemann den fünf Arbeitern die Karabiner heraus. „Was? Für jeden nur ein Magazin?" Rudolf Röse schüttelte den Kopf. „Es wird zu keinem Gefecht kommen", erwiderte der Feldwebel. „Jedenfalls nicht in Boek." „Das sagst du." „Meinetwegen. Nehmt ein zweites Magazin. Mehr
aber nicht. Wir müssen sparen." Anscheinend widerstrebend gab Rodemann nach. „Aber, halt, Männer! Erst gegenzeichnen!" „Noch mehr?" fragte Gütschow höhnisch. „Disziplin ist oberstes Gesetz jeder militärischen Formation." „Quassel nicht 'rum." Hämisch grinsend sah Rodemann den Davonradelnden nach. Dann rief er: „Wirt! Einen anständigen großen Kognak und einen halben Liter dazu! — Die schießen bestimmt nicht!" „Es ist Ausschankverbot. Sie selbst haben es angeordnet." „Und deshalb darf ich trinken. Noch einen. Sie auch? Prost." — Er zahlte mit großer Münze. „Verstanden. Ende." Leutnant von Heimburg hängte den Hörer ein. „So, Schillbach, jetzt wird's endlich interessant. Die Warener sind im Anmarsch!" Er ließ den Deckel seiner Taschenuhr aufspringen. „Um halb zwei, schätzungsweise, müßten sie hier sein." „Diesmal sind's viele?" „I wo, fünf oder sechs Mann. Aber bewaffnet." Von Heimburg rückte sich den steifen Offizierskragen zurecht. Wie alle Zeitfreiwilligen des Boeker Kommandos trug auch er Uniform; le Fort hatte es befohlen. „Ich gehe, dem Alten Meldung zu erstatten." Schillbach starrte vor sich hin. Überall haben wir nun einflußreiche, kriegserfahrene Leute, dachte er. Von Schewe in Canzow, von Heimburger in
Warener Wohld, von Gundlach in Leizen, von SchulzeBülow in Solzow. Alle haben sie Männer, die bereits im Osten gegen die Bolschewisten gekämft haben... Aber es kommt und kommt nichts in Fluß. Überall sind die Proleten in Vorderhand. Sie werfen die Trümpfe, wir müssen nachziehen. Wie lange noch? „Schillbach!" schreckte ihn die Stimme von Heimburgs auf. „Sofort zum Baron!" Mit müden Schritten stieg er mit dem Studenten die Treppen hinauf. Le Fort stand am Fenster, die Arme verschränkt. Ohne Schillbach anzusehen, fragte er: „Wann trifft Leutnant le Fort ein?" „Er rückt im Schütze der Nacht aus Neustrelitz ab, Herr Baron." „Also wird er erst gegen Morgen eintreffen." „Jawohl, Herr Baron." Le Fort schritt auf von Heimburg zu und blickte ihn scharf an. „Dann treffen Sie sofort alle Maßnahmen. Lassen Sie die Rebellen bis auf sichere Schußentfernung herankommen, und dann: Ohne Anruf schießen. Sofort auf den Mann." „Zu Befehl!" „Keiner entkommt. Verstanden?" „Keiner entkommt. Herr Baron." • „Gehen Sie jetzt!" wies le Fort den jungen Marineleutnant an. „Bringen Sie Ihre Männer auf Trab!" Von Heimburg machte eine Kehrtwendung und ging. Der Rittmeister ließ ihn kalt. Seit Kriegsende war er dessen Privatsekretär. Er kannte le Fort.
„Ein verläßlicher Mann dieser von Heimburg, aber eben ein Seefahrer", meinte der Baron. „Keinerlei Erfahrung im Feldgefecht. Wird Zeit, daß mein Neffe den Befehl übernimmt." Mit einer Handbewegung forderte er Schillbach auf, Platz zu nehmen. „Porter oder Kognak?" „Wie es Herrn Baron belieben", dienerte Schillbach. „Sagen Sie, ist dieser Lehrer aus Granzin unser Mann oder..." „Ich stand neben dem Lehrer Gößler, als er die Depesche an den Ic der Brigade absetzte." „Also, das verstehe ich nicht. Hauptmann von Specht hat mir in die Hand versprochen, daß er uns mit Übernahme der Reichsgewalt als Reichswehrkommando bestätigt. Zeitfreiwillige..." „Darf ich Herrn Baron auf eine weitere Möglichkeit der Kontaktaufnahme aufmerksam machen?" „Reden Sie schon." „In Lärz unterhält die Reichspost eine Funkversuchsstelle . Von dort müßten wir direkt General von Lettow-Vorbeck, also seinen Ic, erreichen. Was raten Sie?" Über das Gesicht des Rittmeisters huschte ein Lächeln. „Ich muß schon sagen, Schillbach, trotz ihrer Jugend haben Sie kluge Ideen! Sobald wir mit den Warener Strolchen aufgeräumt haben, reiten Sie nach Lärz. Ich verlange meine Legitimation als Bezirksleiter der Regierung und die Unterstellung der Neustrelitzer Garnison!" „Ich werde Ihr Vertrauen zu schätzen wissen, Herr
Baron." Schillbach griff zum Glas. „Auf Ihre Gesundheit." Wenige Minuten später beobachtete le Fort vom Fenster aus, wie von Heimburg und Schillbach die Vorbereitungen trafen, um die Warener Arbeiter in den Hinterhalt zu locken. Kapitänleutnant Dr. Hübner hat mich gut beraten, dachte le Fort. Schillbach wird der entscheidende Organisator der Orgesch von Mecklenburg-Schwerin werden. Mutig, gerissen, ein wenig verschlagen — der richtige Mann... Bis Federow kamen Willi Gütschow und seine Kollegen schnell voran. Nur hier und da mußten sie vom Rad. Heinrich Wisten kam dem Trupp entgegengelaufen. „Die Boeker waren hier! Ein Feldwebel und zwei Mann. Sie haben das Maschinengewehr geholt", erzählte er grimmig. „Warum nur hat Genosse Kunzendorf nicht auf meine Nachricht reagiert?" „Weshalb habt ihr denn nicht die Kugelspritze requiriert?" konterte Gütschow. „Fehlte euch das, was in die Hose gehört?" „Du hast klug reden, Willi." Heinrich Wisten winkte ab. „Du bist Maurer, ich bin Maurer. Schon als Lehrling hatten wir reine Wäsche. Und wie lange sind die Tagelöhner organisiert? Manche ein knappes Jahr, manche ein paar Wochen. Und dann..." „Stimmt", sagte Hermann Meier. „Wenn ein Tagelöhner aufmuckt, wird er mit Sack und Pack und Kind und Kegel bis zur Gemarkung gefahren, und
dann kann er sehen, wo er Hüsung findet. Das ist heute noch so wie bei Wilhelm. Nein, das Maschinengewehr hätten wir Stadtarbeiter wegholen müssen." „Die Karabiner haben sie nicht gefunden. Wir haben sie auf dem Kornboden versteckt. Nehmt sie mit." „Gut, Heinrich", antwortete Willi Gütschow. „Ich hab's vorhin nicht so gemeint. Aber schade ist es doch um die Spritze. Vielleicht werden sie uns mit ihr beharken..." Die Gewehre an die Räder gebunden, fuhren die Arbeiter weiter. Die Wege wurden immer schlechter. Hundert Meter und mehr mußten sie sich durch knöcheltiefen Morast schinden, bis sie wieder eine kurze Strecke fahren konnten. Es schummerte bereits, als sie vor Boek waren. „Alle auf einmal 'rein nach Boek, das ist nicht gut", sagte Gütschow. „Also Greinert und Meier, ihr bleibt hier zurück mit den Rädern. Wir anderen pirschen uns ins Dorf. Wir müssen' erst einmal wissen, wo sie Glamann und Ksienzyk eingebuchtet haben, 'raushauen können wir sie erst in der Dunkelheit. Klar?" „Anders geht's nicht", meinte Meier. Die Gewehre durchgeladen, schlichen sich Gütschow, Röse und Tamm in das Dorf, das dunkel war und ausgestorben schien. Von Baum zu Baum tasteten sie sich voran. Bis auf die Höhe der Kapelle waren sie gekommen, als die unheimliche Stille von Feuerstößen jäh zerrissen wurde.
„In den Graben!" „Verdammt, sie haben uns aufgespürt!" fluchte Tamm. „Was nun? Zurück?" „Nein! Im Graben sind wir sicher. Wir umgehen das MG und greifen es von der Flanke an", entschied Gütschow kurzentschlossen. „Weiter!" Das schwere Maschinengewehr ratterte. Querschläger jaulten über den Weg. Die Arbeiter krochen weiter. Willi Gütschow sah, wie sich zwei Schatten vom Kapellengiebel lösten. Er legte an. Klick. „Scheißmunition!" Er lud erneut durch. Wieder nur — klick. „Hände hoch! Gewehre wegwerfen!" Auch aus Fiete Tamms Gewehr brach kein Schuß. „Mit euren Musspritzen könnt ihr höchstens den Weibern unterm Hemde kitzeln. Schmeißt die Dinger weg, oder..." Die Arbeiter hoben die Hände. „Dalli, dalli, dalli!" Die Zeitfreiwilligen trieben Willi Gütschow und seine Genossen in die Kutscherkammer. Nach einer knappen halben Stunde wurde die Tür wieder aufgerissen, und Greinert und Meier stolperten in das stockdunkle Kabuff. „Verdammt! Wir konnten ihnen nicht mehr entkommen. Sie hatten Pferde..." keuchte Hermann Meier. „Aber warum habt ihr denn nicht zurückgeschossen? Wir haben nur immer das Maschinengewehr belfern gehört." „Warum nicht, warum nicht..." Willi Gütschow
erregte sich. „Entweder taugten die Patronen nichts, oder. „...es hat jemand an den Gewehren herumgebastelt." „Tatsächlich, Rose. Die Gewehre müssen kaputt sein. Anders kann ich mir das nicht vorstellen", meinte auch Fiete Tamm. „Die Boeker werden das 'rauskriegen und gegen Waren vorgehen!" „Und wir sitzen in der Rattenfalle!" „So schnell kommen wir hier nicht 'raus." „Hat noch einer was zu rauchen?" fragte Greinen. „Meinst du, die Bande hat nur dich so gefilzt?" fragte Rudolf Röse zurück. „Alles haben sie einem geklaut Pfeife, Tabaksbeulel, Taschenmesser. Vom Portemonnaie will ich gar nicht erst reden. Da waren nur noch knappe zwei Mark drin." Nach einer Weile fragte Fiete Tamm leise: „Wo mögen sie wohl Ksienzyk und Glamann eingebuchtet haben?" Diese bange Frage lastete auf den Männern. Was war aus ihren beiden Kollegen geworden, die sie freikämpfen wollten? Was war ihnen geschehen? Die Tür ging auf. Hinter einem zwirbelbärtigen Feldwebel trat Baron Stephan le Fort in der Uniform' der Demminer Weißulanen in die Kammer. Er fragte ironisch: „Ihr habt lange auf euch warten lassen, Leute?" „Na, auf Ihren herrlichen Wegen", erwiderte Willi Gütschow, „ist kein Durchkommen." „Herr Baron heißt das!" brüllte der Feldwebel. „Zumindest Herr Rittmeister, wenn du nicht wissen tust, daß der Herr Rittmeister der Herr Baron sind!" „Schon gut, schon gut", sagte le Fort. „Also, ihr habt
die Dreistigkeit gehabt, mit Karabinern durch meine Wälder zu streunen wie Wilddiebe. Ihr seid sogar auf meinen Hof vorgedrungen. Aber ihr habt Glück. Mittlerweile ist Krieg; ihr seid in meine Kriegsgefangenschaft geraten. Ich werde euch nach der Genfer Konvention behandeln." Le Fort setzte ein hämisches Grinsen auf. „Auf euren Kartoffelschnaps braucht ihr bei mir auch nicht zu verzichten," Willi Gütschow machte einen Schritt auf le Fort zu. „Ich habe eine Frage." „So?" „Warum sind wir nicht mit unseren Kameraden zusammen?" Le Fort tat erstaunt. „Wart ihr etwa noch mehr? — Feldwebel, wer ist da entwischt?" „Ich meine Ksienzyk und Glamann, die beiden Maurer aus Waren, die gestern..." Gütschow merkte zu spät, daß er hätte still sein sollen. Le Fort tat, als überlegte er. Dann meinte er: „Kenn' ich nicht. Die Namen habe ich noch nie gehört. Sie, Feldwebel?" „Nein, Herr Baron, Namen noch nie gehört." „Also, Leute, damit kann ich nicht dienen..." Die Tür krachte wieder ins Schloß. Die Nacht war unruhig in Boek. Reiter preschten vom Hof, Waffen klirrten, ein Pferdefuhrwerk rumpelte herbei. Durch eine schmale Türritze beobachtete Rudolf Röse das Treiben. „Willi", flüsterte er. „Guck mal, ist das nicht Lederer?"
„Tatsächlich, Lederer", bestätigte Willi Gütschow. „Und der da neben ihm steht, das ist Dr. Wolter, der Molkereidirektor." „Na, dann hat der Boeker Baron ja die richtige Truppe zusammen, Warens faulsten Eckensteher und den Milchpanscher..." Die Tür dröhnte unter Kolbenstößen. „Schnauze!" brüllte der Posten. „Die Bande wird nervös", kommentierte Hermann Meier. „Paßt auf, Rodemann ist im Anzug..." ,,... oder im Hemde!" Die Männer lachten. Wieder polterte der Posten gegen die Tür. „Euch wird das Lachen noch vergehen! Wenn ihr Hunde nicht die Schnauze haltet!" Eilige Schritte näherten sich knirschend. „Herr Leutnant! Melde keine besonderen Vorkommnisse!" „Und der Krawall?" . Stille. Die Tür wurde aufgeriegelt. Leutnant zur See von Heimburg leuchtete in die Kammer. „Bißchen dunkel, was? Aber einen echten mecklenburgischen Korn riecht die Nase auch im Dustern, und der Mund ist gleich darunter." Von Heimburg lachte. „Rittmeister Baron le Fort läßt ausrichten, daß er Wort hält. Wer war man noch euer Anführer? Vortreten!" Keiner rührte sich. „Auch egal. Hier ist euer Abendproviant." Es klirrte leise in dem Korb, den ein Zeitfreiwilliger auf den Tisch setzte.
„Wohl bekomm's", sagte von Heimburg. Als die Tür wieder verriegelt war, kontrollierte Fiete Tamm den Korb. „Kein Stück Brot. Nur Flaschen..." Rudolf Röse entkorkte sie. „Fusel! Pfui Deibel, ungereinigter Fusel!" „Weggießen!" „Einen kleinen Hieb könnten wir ruhig nehmen", meinte Willi Gütschow, „aber höchstens eine Daumenbreite." „Laß das, Willi", mahnte Greinert. „Wir hatten da in Flandern einen Kompaniechef, einen Bürgerlichen. Benkhoff hieß er. Großhändler war er oder so etwas Ähnliches. Der wollte sich einkratzen bei den Vonund-zus. Wir Muschkoten sollten ihm die Steigbügel sein. Vor dem Sturmangriff verteilte er Kognak, becherweise, erstklassigen französischen Kognak. Beuteware. Viele von uns fragten nicht viel. Sie hauten sich den Bauch voll — und eine Stunde später..." Die Männer schwiegen." „Guckt mal 'raus", sagte Rudolf Rose. „Sie haben das Maschinengewehr genau auf die Kammertür gerichtet!" „Die Heinis denken, wir saufen uns Mut an und brechen dann aus", meinte Hermann Meier. „Denen genügt es schon, wenn wir mit den Fäusten die Tür traktieren." Willi Gütschow goß den Schnaps auf den Lehmfußboden; eine Flasche nach der anderen.
Am späten Abend griffen Patrouillien von le Fort einen Reiter auf, der darauf bestand, nur dem Rittmeister persönlich eine Meldung zu überbringen. „Zu Herrn Baron le Fort?" Von Heimburg sah dem Unbekannten scharf in die Augen und schüttelte den Kopf. „Daraus wird nichts. Der Herr Baron hat sich zur Nachtruhe begeben. Ich bin sein Stabschef. Erstatten Sie also mir die Meldung." „Herr Leutnant, es ist etwas Furchtbares passiert. Die Röbeler Proleten haben das Gut Solzow überfallen." Von Heimburg zuckte zusammen. „Mit einer gewaltigen Übermacht rückten sie im Morgengrauen an, umzingelten das Herrenhaus und stürmten auf das Portal vor. Anführer war ein gewisser Heinrich Krüger, ein Maurerpolier. Er gab den Befehl: ,Hoch legt an!', und gegen jedes Fenster richteten sich die Gewehre. Sie schlugen so mächtig gegen die Tür, als wollten sie sie einschlagen. Der Herr öffnefe. Er fragte, was hier vorginge und wer die Männer seien. ,Das geht dich nichts an', hat dieser Krüger gebrüllt. Diese ungehörige Antwort hat den Herrn erregt. ,Ich habe Sie mit ,Sie' angesprochen!' rief er. ,Du sollst 'runterkommen, aber ein bißchen fix!' krakeelten die Proleten. Der Herr war plötzlich ganz ruhig. Er ließ die Türen öffnen und sagte: ,Na, dann sind wir eben per du.' Drei Männer stürzten ins Haus. Zwei von ihnen habe ich erkannt. Paul Franz und Hans Steinemann heißen sie. Und dann war noch ein Polizist dabei. Richtig in Uniform, die Pistole in der Hand."
Von Heimburg war aschfahl geworden. Wilhelm von Schulze-Bülow hatte sich also überrumpeln lassen. Er hatte gezögert, den Röbeler Rebellenausschuß festsetzen zu lassen, nun hatten die Proleten ihn auf seinem Gut in die Zange genommen. „Dieser Franz", berichtete der Reiter weiter, „richtete den Karabiner auf unseren Herrn. Der verwahrte sich dagegen und wehrte den Lauf ab. Da holte dieser Strolch doch aus und schlug dem Herrn die Faust ins Gesicht. Er hat aus Mund und Nase geblutet. Ich wollte zur Hilfe, aber da kriegte mich der Steinemann zu packen und kugelte mir beinahe den Arm aus." „Und der Polizist?" fragte Schillbach. „Der hat sich eigentlich ganz ordentlich benommen. Geschlagen hat er jedenfalls nicht. Aus Schwerin wollte er sein und im Auftrag der Landesregierung handeln." Schillbach atmete auf. „Was geschah dann?" „Das Pack hat das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Es ist zu dumm — einen Teil der Bewaffnung haben die Verbrecher gefunden. Vorknecht Schneeberg, der alte Mann, mußte anspannen. Den Landauer und zwei Kastenwagen. Sie haben die Waffen aufgeladen und die Munition. Zuletzt zwang der Polizist den gefesselten Herrn auf den Landauer. Paul Franz setzte sich neben den Kutscher. Dann fuhren sie ab in Richtung Röbel..." „Alles?" fragte von Heimburg. Der Fremde nickte.
„Gehen Sie in die Küche. Lassen Sie sich einen Grog brauen..." Schillbach stützte das Kinn in beide Fäuste. Das war nun die dritte Hiobsbotschaft innerhalb von zwei Stunden. Auch in Krümmel hatten Röbeler Arbeiter das Gut besetzt, nachdem es zu einem kurzen Schußwechsel gekommen war. Auch hier gingen die Waffen ausnahmslos verloren. In Wachstow gab der Gutsverwalter König freiwillig die Waffen heraus und sagte obendrein: „Man gut, daß der Dreck wegkommt!" Überall im Wirkungsbereich des Reichswehrdetachements Müritz schien es nicht nur so, als wäre die Initiative in die Hände der Streikenden übergegangen. Le Fort's Plan ging in die Brüche. „Wir müssen retten, was noch zu retten ist", sagte er mit tonloser Stimme. „Noch ist Waren unsere Hoffnung. „...und die Verstärkung aus der Reichswehrgarnison Neustrelitz", fügte von Heimburg hinzu. „Kollegen! Wir sind einfach nicht in der Lage, bewaffnet gegen Boek vorzugehen. Wir haben nur noch ; achtzehn Gewehre." „Und die reichen!" unterbrachen die Arbeiter Kunzendorf. „Willst du Glamann, Rose, Gütschow und die anderen in den Klauen des Boeker Barons lassen?" „Was sagst du dazu, Hennecke?" Der Apotheker hob beschwichtigend die Hand. „Denkt doch nicht, daß Kunzendorf Unsere Ka-
meraden in Stich lassen will. Nein, das will er nicht. Genau so wenig, wie wir alle es wollaa. Aber wir können nicht den ungleichen Kampf aufnehmen. In Boek soll es ein ganzes Reichswehrkommando geben." Hohngelächter unterbrach seine Rede. „Reichswehrkommando? Seit wann denn?" — „Du spinnst ja!" „Alle mal herhören!" Der Baß des Polizeifeldwebels Rodemann überdröhnte das Stimmengewirr. „Es ist ganz offensichtlich, daß der Baron le Fort ein starkes Kommando unter seinem Befehl hat; denn die Reichswehrbrigade Schwerin unter Lettow-Vorbeck hat ihn zum Bereichsleiter ernannt. Derselbe Baron hat mir über die Stadtverwaltung eine Depesche zugeschickt. Ja, direkt an mich adressiert. Ich soll sämtliche Waffen im Rathaus deponieren, ansonsten ich vor ein Kriegsgericht gestellt werde." „Hört, hört!" „Natürlich widersetze ich mich. Die Waffen bleiben in ,Stadt Rostock' zu unserer Verfügung." „Richtig!" „Sag endlich, wann wir gegen Boek vorrücken!" ertönte eine Stimme aus den hinteren Reihen. „Genossen! Wir haben als erstes die Pflicht, die Stadt Waren vor einem Überfall der Putschisten zu bewahren. Die Waffenrequirierung war nicht so ergiebig, wie wir sie uns vorgestellt hatten. Wir besitzen nicht ein einziges Maschinengewehr, wir haben kaum Handgranaten, zu wenig Gewehre." Rodemann sprach betont ruhig, beinahe beschwörend.
„Ich jedenfalls kann es nicht verantworten, ein weiteres Kommando gegen Boek marschieren zu lassen." „Haben wir Verbindung zu den Genossen in Röbel? Vielleicht sieht es dort günstiger aus." „...oder die Penzliner könnten helfen." Jetzt sah Kunzendorf für sich eine Chance. „Das sind kluge Vorschläge, Männer! Wir werden sofort den Ausschuß zusammenrufen. Wir werden euch über die Beratung und über die Entscheidungen informieren." Zögernd gingen die Arbeiter auseinander, wenig überzeugt von den Worten Kunzendorfs. Der Himmel begann sich schwach zu färben, als Leutnant Baron Peter le Fort mit seinem Trupp in Boek einrückte. Von sechs Pferden gezogen, rumpelte ein 75-mm-Infanteriegeschütz auf den Gutshof. Baron Stephan le Fort eilte seinem Neffen entgegen, der ihm militärisch exakt Meldung erstattete und seinen Trupp unter die Befehlsgewalt des Ulanenrittmeisters stellte. „Ich bin froh, dich bei mir zu wissen, lieber Neffe", sagte le Fort. „Wir haben schon Erfolge. Meine Leute haben einen Überfall der spartakistischen Rebellen vereitelt. Die Kerle sitzen hinter Schloß und Riegel." „Ich freue mich, daß ich an Ihrer Seite für die Befreiung des Reiches von Bolschewismus und Sozialdemokratie kämpfen darf, verehrter Onkel", erwiderte der Leutnant. „Die beste Geschützbedienung meiner Batterie. Ausgesuchte Leute. Absolut zuverlässig."
„Gut", sagte le Fort. „Von Heimburg wird die Männer in die Quartiere einrücken lassen. Wir gehen zu mir. Eine Stärkung wird vonnöten sein." Zwei Stunden später rief der Rittmeister seinen Stab zusammen. Le Fort machte einen aufgeräumten Eindruck. „Meine Herren, wir kommen der Entscheidung näher." In der Linken hielt er ein Schriftstück. „Also: An das Exekutivkomitee Waren. Erstens. Im ganzen Reich ist das Standrecht erklärt. Zweitens. Außerordentliche Kriegsgerichte sind zusammengetreten. Drittens. Wer ohne Auftrag der Regierung und ohne Anordnung der Reichswehrbrigade in Schwerin mit einer Waffe in der Hand betroffen wird, wird mit dem Tode bestraft. Viertens. Das Exekutivkomitee zieht unverzüglich alle in den Händen der Bevölkerung befindlichen Waffen ein und liefert sie an Dr. Wolter ab, welchen ich hiermit zum Bezirksleiter der Stadt bis zum Eintreffen der Reichswehr ernenne. Dr. Wolter bildet sofort aus zuverlässigen Elementen eine Einwohnerwehr, welche die S|adt bis zum Eintreffen der Reichswehr sichert. Mit dem Tode bestraft wird fünftens jeder, bei dem bei späteren Haussuchungen noch Waffen oder Munition gefunden werden, ohne einen Ausweis des Dr. Wolter oder einen ordnungsgemäßen Waffenschein zu haben. Sechstens. Der Bürgermeister unterstellt seine Polizei dem Befehl des Dr. Wolter. Es meldet siebtens sofort der Bürgermeister Dr. Wolter und das Exekutivkomitee, daß dieser Befehl sowie sämtliche von der Brigade
durchgegebenen Befehle unverzüglich befolgt werden und daß die Bevölkerung von den Befehlen in Kenntnis gesetzt ist. Achtens. Sollte der Anführer Rodemann dem gestrigen Befehl noch nicht nachgekommen sein, so ist er sofort zu verhaften und der im Anmarsch befindlichen Reichswehr zur beschleunigten Aburteilung durch das außerordentliche Kriegsgericht zu übergeben. Die Meldungen zu Punkt sieben sind telefonisch an das Reichswehrkommando Granzin, Nummer zwei (Boek) als dringende Staatsgespräche zu geben. Neuntens. Ich verbiete unter Androhung der schärfsten gesetzlichen Strafen, auch für den Versuch, daß Angehörige des Exekutivkomitees Waren andere Fernsprechverbindungen erhalten außer Granzin Nummer zwei. Dieser Befehl ist dem Postamt Waren durch Dr. Wolter zu übermitteln. Zehntens. Die Wiederaufnahme der Arbeit ist überall sofort anzuordnen. Boek, den siebzehnten März neunzehnhundertzwanzig. Gezeichnet Leutnant Baron le Fort, Führer des Reichswehrkommandos Boek. Gezeichnet Baron le Fort, Beauftragter der Reichswehrbrigade im Aushebungsbezirk Waren." Le Fort sah sich im Kreise um, aber auf den verschlossenen Gesichtern von Heimburgs und Schillbachs sah er nicht die erwartete Zustimmung. „Gibt es Fragen?" Leutnant zur See von Heimburg meldete sich. „Gilt Ihr Befehl auch bereits für die Strolche, die wir in
Gewahrsam haben, Herr Baron?" „Nein. Sie werden nach Neustrelitz expediert." „Sie hätten sie ja gestern bequem liquidieren können", bemerkte der junge le Fort. „Kein Wunder, daß bei der Marine solche Schweinereien passieren konnten — bei ihrer Gefühlsduselei." Schillbach druckste. „Und Sie, Schillbach?" „Mir scheint in einigen Punkten Ihr Befehl zu offen, Herr Baron. Wir nennen Herrn Dr. Wolter zu früh. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich ohne unsere direkte Einflußnahme in Waren durchsetzen kann. Es könnte geschehen, daß die Rebellen ihn festsetzen." Le Fort klopfte mit der Faust auf die Tischplatte. „Keiner wird es wagen, sich meiner Befehle zu widersetzen! Die Spartakisten sollen endgültig wissen, daß wir stärker sind als sie!" „Jawohl, Herr Baron", antwortete Schillbach. „Ich werde die Depesche mit Ihrem Befehl übermitteln lassen." „Und allesamt zuletzt wohnhaft gewesen im Amtsbereich Waren? Nein, Kamerad, da bist du hier an der falschen Adresse. Hier ist Freistaat Mecklenburg-Strelitz, deine Galgenvögel aber gehören zu Freistaat MecklenburgSchwerin. Für die sind wir nicht zuständig." Der Boeker Feldwebel ließ sich nicht abwimmeln. Fast den ganzen Tag war er mit den gefangenen Warener Arbeitern unterwegs gewesen. Wo sollte er nun hin mit ihnen? Wieder zurück? Laufenlassen diese Kerls?
„Rittmeister Baron le Fort, Bereichsleiter der Reichswehrbrigade neun, hat mir ausdrücklich aufgetragen. „Ist ja alles gut und schön, was du mir da erzählst", unterbrach ihn der Wachtmeister. „Aber was sollen wir tun mit den Leuten? Unser Knast ist wegen Überfüllung geschlossen. Na, gut. Ich will deine Sache dem Offizier vom Dienst vorstellig machen." Nach einer ganzen Weile kam ein Artillerieleutnant zur Wache vor. „Scherereien, nichts als Scherereien", fluchte er. „Ich nehme Ihnen die Kerls ab, Feldwebel. Aber künftig sollten Ihre Vorgesetzten die Gefangenen in eine Garnison im Bereich des Staates Schwerin bringen." „Zu Befehl, Herr Leutnant." Willi Gütschow und seine Kollegen wurden vom Kastenwagen gestoßen und über den Kasernenhof getrieben. Man sperrte sie zu den Neustrelitzer Arbeitern, die willkürlich von der Soldateska aufgegriffen worden waren. „Habt ihr denn keine Exekutive?" fragte Willi Gütschow. „Klar. Gute Genossen sind drin. Der Unabhängige Vogler beispielsweise, Landtagsabgeordneter. Mit ihm haben wir am Sonntag das Schloß besetzt und verteidigt. Ihr hättet sehen müssen, wie wir die Feldgrauen in Schach gehalten haben", erzählte einer der Arbeiter. „Dann aber..." „Sag's doch ehrlich heraus. Da war auch Verrat." „Nachdem wir gesiegt hatten, hat Reibnitz ohne unser
Wissen das Ultimatum des Reichswehroberleutnants Schulz angenommen und die Kapp-Leute als rechtmäßige Reichsregierung anerkannt!" ,,Freiher von Reibnitz, das sind nicht die Sozialdemokraten!" „Aber er ist doch ein Ebert-Mann! Ihr habt ihn doch zum Staatsminister gemacht, diesen Blaublütigen, diesen Genossen Freiherrn!" „Bleibt sachlich, Männer!" Willi Gütschow trumpfte auf. „Ebert ist ausgerissen, Bauer hat sich auf die Socken gemacht, Noske hat sich verflüchtigt. Aber sind die sozialdemokratischen Arbeiter geflohen? Sie sind da, streiken, kämpfen." „Streiken, kämpfen..." Ein ausgezehrter Arbeiter steckte die Fäuste in die Taschen. „Wenn ich hier lebend 'rauskomme, können mir alle am Hobel blasen, Ebert-Leute, Unabhängige, Kommunisten. Für mich gibt es nur noch den Verband, und die Arbeit schmeiße ich nur noch, wenn es um bessere Tarife geht." „So?" Rudolf Röse legte dem Neustrelitzer die Hand auf die Schulter. „Du hast die Schnauze voll. Ich auch. Aber du redest Quatsch. Wir Arbeiter werden nur dann etwas bestellen können, wenn wir uns endlich einig sind. Jeder für sich allein, das paßt doch nur den Krautern in den Kram." „Schon gut", meinte der Neustrelitzer. „Aber solche Leute wie Reibnitz passen nicht in unsere Reihen..." „Diese Tage werden die Spreu vom Weizen scheiden", sagte Willi Gütschow. „Verlaßt euch drauf,
wenn wir den Kapp und den Lüttwitz verjagt haben, dann verschwinden auch ihre Helfershelfer." „Aber nicht von allein. Wir müssen ihnen den Tritt geben", fügte Rudolf Röse hinzu. „Und dann, Spacker, dann bestimmen wir die Lohntarife!" Schillbach dechiffrierte das Telegramm, das Dr. Wolter gesandt hatte. „Hör' den Klartext, Lothar. Wolter schreibt: Rodemanns Aktion gescheitert. Waffenübergabe von Exekutivkomitee rigoros abgelehnt. Waren nach wie vor in der Hand der Republikaner." „Scheibenkleister. Aber das war ja vorauszusehen", ergrimmte sich von Heimburg. „Der Alte wird verrückt, wenn er das hört." „Ach, der fühlt sich ja allmächtig, seit er diese dämliche Kanone hat. Zwei Dutzend Kavalleristen, ein paar schwere Maschinengewehre, vielleicht auch ein Tank, ja, das wäre was. Aber ein Geschütz! Das ist doch u Humbug." Schillbach schüttelte den Kopf. „Der ist ja verkalkt", erwiderte von Heimburg. „Aber mach was dagegen." Schillbach lachte „Laß mich das nicht hören, wo ich doch jetzt so etwas wie der Militärrichter des Rittmeisters bin." „Rechtsverdreher..." Sporenklirrend kam Leutnant le Fort die Treppen herunter, munter pfiff er das Lied von den Demminer Weißulanen. „Wohl geruht, meine Herren?" „Danke der Nachfrage, Herr Baron", antwortete von
Heimburg. „Bitte, Herr Graf." Peter le Fort reichte beiden die Hand. „Heimburg, ich habe da mal eine Frage an Sie als Seeoffizier. Man kann doch eine Kanone auf ein Boot montieren?" „Wenn's kein Ruderkahn ist", konterte von Heimburg den vermeintlichen Scherz. „Wieso, le Fort? Wollen Sie Kanonenboot spielen?" „Ganz recht. Mein Onkel hat eine phänomenale Idee. Er will meine Kanone auf dem Wasserweg vor Waren bugsieren und dann ein paar Brocken über die Stadt wummern. Stellen Sie sich nur die moralische Wirkung vor!" Von Heimburg stand auf. Er musterte den Artillerieleutnant von unten bis oben. Tatsächlich, die le Forts meinten es ernst. „Haben Sie einen Prahm? Haben Sie einen Schlepper?" „Nun, solch ein schwimmender Untersatz wird doch wohl aufzutreiben sein." „Und wo?" „Sind Sie Offizier der Reichsmarine, oder bin ich es? Lassen Sie sich etwas einfallen, Herr Kamerad. Nur, schnell muß es gehen." Er ging, um seine Geschützbedienung zu inspizieren. Von Heimburg schüttelte immer wieder den Kopf. „Ist diese ganze Kanonengeschichte schon eine Blödsinnigkeit, so grenzt der Plan mit dem Prahm an hellen Wahnsinn", sagte er. „Nur gut, daß wir nie und nimmer einen Kahn auftreiben können, auf das dieses dämliche Ding montiert werden kann."
Schillbach zündete sich eine Zigarette an. „Lothar, der Alte ist auf die Idee gekommen..." „Die Sache ist einfach nicht durchführbar und basta. Und überhaupt. Wem nützt sie? Der Warener Pöbel ist so gut wie wehrlos. Also 'reingeritten in das Kaff und das Pack auseinandergejagt. Wozu da eine Kanone?'' Die Genossen des Röbeler Vollzugsausschusses der geeinten Arbeiterklasse kontrollierten das Stadtgefängnis und mußten feststellen, daß Wilhelm von Schulze-Bülow nicht mehr hinter Gittern saß. Die Justizbeamten hatten den Gutsbesitzer und Amtsrichter nach einer fingierten Vernehmung freigelassen, noch bevor dazu bei ihnen der Befehl des Rittmeisters Baron le Fort eingetroffen war. Paul Ksienzyk und Erich Glamann dagegen waren noch immer eingekerkert. „Diese Zelle ist belegt?" hörten sie eine forsche Stimme. — „Jawohl. Zwei zwielichtige Gestalten. Wahrscheinlich — ja, es sollen Wilddiebe sein." „So? Wahrscheinlich, sicherlich vielleicht... Wo haben Sie die Kerle denn aufgegriffen?" „Sie wurden unserer Gendarmerie überstellt aus Boek. Herr Baron le Fort..." „Aufmachen! Sofort aufmachen!" befahl die drohende Stimme. „Aber..." versuchte sich der Wachtmeister zu widersetzen. Es war der gleiche der Paul Ksienzyk und Erich Glamann nach Schwerin bringen wollte. „Wird's bald!"
Der Schlüssel knirschte im Schloß, die Tür wurde aufgerissen, und Heinrich Krüger stand vor seinen Warener Maurerkollegen. „Ihr?" „Krüger! Na, das wurde aber auch Zeit!" Paul Ksienzyk umarmte den Genossen. „Nimm's mir nicht öbel, ich bin ut Röbel!" uzte Erich Glamann. „Seit Dienstag hocken wir in diesem Loch, Junge. Das sind genau zwei Tage zuviel." „Wer konnte das ahnen!" Heinrich Krüger kratzte sich hinter dem Ohr. „Den Schulze-Bülow haben wir eingebuchtet, der ist 'raus. Von euch haben wir nichts gewußt. Wie seid ihr überhaupt hierhergekommen?" Erich Glamann erzählte. „Wie konntet ihr auch mit nur zwei Mann in die Rattenburg gehen? Das ist ja bald nicht zu glauben. Wir sind mit über achtzig Kollegen nach Solzow gezogen, um dem Schulze-Bülow das Fell über die Ohren zu ziehen. Der Schuft hatte Plakate kleben lassen, darauf stand: ,Wer nicht arbeitet, wird erschossen!'" Heinrich Krüger lachte. „Ich habe zu ihm gesagt, die Parole wäre eigentlich gar nicht so übel, ,Du hast doch noch nie gearbeitet', habe ich zu ihm gesagt, ,also wirst du dann als erster erschossen.' Sein Glück, daß er Reithosen anhatte, sonst wäre bestimmt was aufs Parkett gekleckert. Ja, Jungs, so hättet ihr Warener es auch mit dem Boeker Baron machen müssen." „In Boek sieht es ein bißchen anders aus", meinte Erich Glamann. „Dort haben die Kapp-Leute ein richtiges
Hauptquartier. Alles in Montur und Stahlhelm, Offiziere an der Spitze, einer sogar in Marineuniform..." ,,... wohl der Admiral der Müritzkriegsmarine des le Fort! Nun, wir werden uns darauf einstellen", erwiderte Heinrich Krüger. Die Fahrräder der beiden Warener fanden sich auf dem Amtsgerichtshof. Die Ventile waren herausgeschraubt. Heinrich Krüger packte die Wut. Er kriegte den Wachtmeister am Arm zu fassen, rüttelte ihn durch und gab ihm den Auftrag, in zehn Minuten die Räder wieder in Ordnung gebracht zu haben. Der Uniformierte jammerte von Familie und Befehlsnotstand, tat unterwürfig vor dem Maurerpolier. „War's nicht besser, diesen Lumpen festzusetzen?" fragte Erich Glamann. Heinrich Krüger zuckte die Schulter. „Ich weiß nicht recht. Er ist immerhin Staatsbeamter der rechtmäßigen Regierung." „Na, das haben wir erlebt! Heinrich, wenn wir so weitermachen, dann werden wir wohl auf dem halben Wege stehenbleiben. Hoffentlich stößt uns das nicht einmal ganz bitter auf." „Laß uns erst Kapp verjagt haben..." „Waren hat immer noch nicht Vollzug gemeldet?" Baron Stephan le Fort war wütend. Er schrie: „Und dieser Rodemann hat sich nicht durchsetzen können. Wo hat denn dieser Hundsfott von Polizeifeldwebel aktiv gedient, daß man ihm keinen Gehorsam eingebleut hat. Fallenlassen, den Kerl. Schillbach, Sie sorgen dafür, daß den Sozis gesteckt wird, daß dieser Mann für die Reichswehr gearbeitet hat!"
„Wenn wir jetzt nicht mit aller Gewalt zuschlagen, verschlechtern sich die Aussichten auf Erfolg", stellte sein Neffe fest. „Und wir schlagen zu! Wir schlagen so zu, daß noch die Enkel dieser vermaledeiten Bolschewisten ihr Leben lang daran zurückdenken!"
Der Baron kippte einen Weinbrand hinunter. „So, Schillbach, schreiben Sie: Telegramm nach Waren. An Bürgermeister oder Stellvertreter. Geheim. Reichswehrdetachement Müritz wird, falls die Brigadebefehle vom sechzehnten und siebzehnten nicht restlos erfüllt sein sollten, heute noch..." Er machte eine kurze Pause, starrte durch das Fenster, nickte und diktierte weiter: „...nach Artillerievorbereitung...", er hob triumphierend die Stimme, „mit stürmender Hand Waren nehmen. Für diesen Fall tragen Sie unverzüglich für die Einrichtung eines Lazaretts im dortigen Krankenhaus Sorge. Besetzung durch Arzt. Ein geeignetes Zimmer im Rathause zur Errichtung eines außerordentlichen Kriegsgerichts im gedachten Fall gleichfalls bereitstellen. Weitergegeben durch den Beauftragten des Militärbefehlshabers Boek." Schillbach zitterten die Hände, als er das Diktat wiederholte. Er sah verstohlen zu von Heimburg. Der grinste. „Damit die Depesche an Wucht gewinnt, lassen Sie sie von der Funkstation Lärz absetzen. Und keine Unterschrift! Sollen die Leute denken, was ihnen beliebt. Die Hauptsache, sie zittern!" „Heimburg! Lösen Sie Alarm aus!" „Zu Befehl! Alarm auslösen." „Sie werden Waren beschießen?" fragte Schillbach den jungen le Fort. „Wenn die Spartakisten nicht bedingungslos ka-
pitulieren — ohne jede Bedenken!" kam prompt die Antwort. „Lange genug haben wir sie gewarnt. Jetzt wird losgeschlagen, hart und erbarmungslos!" „Es ist Krieg, mein lieber Schillbach", fügte le Fort hinzu. „Reiten Sie jetzt nach Lärz." Auf dem Gutshof herrschte emsiges Treiben. Pferde wurden gesattelt, das Geschütz wurde aufgeprotzt, Maschinengewehre wurden auf Wagen verladen. „Eine gehörige Streitmacht, nicht wahr, Onkel? Ein Zug Infanteristen, eine MG-Gruppe, ein Geschütz..." „Na ja, na ja... Eine Schwadron Ulanen wäre mir trotz allem sicherer", meinte der Rittmeister. „Aber auch so ist mir um den Sieg nicht bange. Noch genau dreiunddreißig Minuten, dann rücken wir ab. Von Heimburg wird das Haus bewachen, Schillbach die Verbindung zu Dr. Weiter aufrechterhalten. Und zu Mittag, lieber Neffe, genehmigen wir uns im ,Rostocker Hof eine Flasche Champagner!" „Das walte Gott, verehrter Onkel." Peter le Fort streifte sich die Glacehandschuhe über. Heinrich Wisten quälte die Unruhe. Auch der Trupp, der nach Glamann und Ksienzyk forschen wollte, war nicht zurückgekommen. Fiete Tamm und seine Kameraden waren also auch von den Leuten des Barons überwältigt worden. Anders konnte es nicht sein. Gestern waren die Groß Dratower Landarbeiter nach Federow gekommen, um sich zu überzeugen, ob gestreikt wird. Auch sie waren nur mit Krückstöcken und Eichenknüppeln bewaffnet gewesen... „Ich versteh' ja nicht viel von Streik und so. Die
Stadtleute haben damit ja schon allerhand erreicht, aber wir vom Dorf..." „Wir hätten auch gestreikt, wenn Kapp mitten in der Erntezeit geputscht hätte", antwortete Heinrich Wisten dem Gärtner. „Ich bin sogar fest überzeugt, daß er sich dann nicht so lange gehalten hätte wie jetzt." „Du, Heinrich!" Der Gärtner packte den Gutsmaurer am Arm. Zwei Reiter trabten auf den Dorfplatz zu. „Der Boeker Baron in Ulanenuniform!" Heinrich Wisten mußte auflachen. „Wer ist der neben ihm?" „Ein Offizier in Feldgrau." „Reichswehr!" „Aber das ist ja der junge Baron, Heinrich. Dient der nicht in Neustrelitz bei den Artilleristen?" Die le Forts trabten vorüber, ohne die Arbeiter zu bemerken. „Die wollen zum Inspektor. Paß auf, Heinrich, die ordnen an, daß sofort wieder gearbeitet werden muß", sagte der Gärtner. „Die können uns am Tüffel tuten!" erwiderte Heinrich. „Aber hör mal." Von fern drang Gegröle herbei, von wütenden Hühhah-Rufen gemischt. „Le Forts Bande!" „Na na! Wenn das man nicht Reichswehr ist", meinte der Gärtner. „Guck! Eine Kanone!" „Das gilt Waren!" Der Gärtner versuchte Heinrich Wisten zurückzuhalten. „Bevor du in der Stadt bist, sind die dreimal da. Die sind doch beritten;.."
„Die auch?" Er wendete den Kopf der Kolonne entgegen: Sechs Pferde waren vor die Protze gespannt, zugkräftige, ausgeruhte Artilleriepferde; und doch mußten die Reichswehrleute in die Speichen greifen, um das Geschütz voranzubringen. „Die holen mich nicht ein." Mit weitausgreifenden Schritten eilte Heinrich Wisten davon. Eine halbe Stunde später waren die le Forts hinter ihm. „Heh! Mann! Stehenbleiben!" Er verlangsamte seinen Marsch. „Wer bist du?" fragte Stephan le Fort. „Wisten, Gutsmaurer auf Federow." „Keine Arbeit, Freundchen?" „Ich muß nach Waren. In die Apotheke. Meine Frau ist krank", antwortete Heinrich Wisten. „Soso." Le Fort grinste. „Ach, ihr schwindelt alle. Schon wenn eure Väter euch machen, überlegen sie, wie sie sich nach dem Spaß herausschwindeln können. Also, meinetwegen. Lauf weiter. Aber halte dich so, daß du hinter meinem Detachement bleibst." Heinrich Wisten setzte sich in den Graben. Ich hätte mir einfach ein Pferd aus dem Stall holen sollen, grimmte er mit sich. Der feldgraue Zug rückte heran, und Heinrich Wisten ging neben der Protze einher. „Wo wollt ihr denn hin?" fragte er. Der Fahrer sah stur gerade aus und gab keine Antwort. Heinrich Wisten ging etwas langsamer, ließ die Männer auf dem MG-Wagen herankommen und
wiederholte seine Frage. „Geht dich das was an? Willst wohl 'rumspionieren. was?" „Hast recht, was geht's mich an", lenkte er ein. „Ich bin nur froh, daß ich in diesen unsicheren Tagen nicht allein bis nach Waren muß." „Na, also", erwiderte der Feldgraue. Heinrich Wisten schwieg. Sie kamen durch Kargow-Damerow. Vor seinem Gehöft stand der Bauer Beese. Stephan le Fort ritt auf ihn zu. „Na, wollen Ihre Leute nicht arbeiten?" Der Bauer knallte die Holzpantoffeln aneinander. „Bestelle Wirtschaft mit eigenen Kräften, Herr Rittmeister. Habe nur Saisonarbeiter." „Aha. Name?" „Beese, Obergefreiter a.D., Großherzoglich Mecklenburgisches Füsilierregiment Nummer neunzig, Herr Rittmeister." „Gut, gut. Wird im Ort gestreikt?" Wieder straffte sich der Bauer. „Kümmere mich nicht um Politik, Herr Rittmeister." „Gut, gut." Le Fort schmunzelte. „Ganz recht. Ein Landmann sollte sich um die Kornpreise kümmern, das ist seine Politik." „Jawöll, Herr Rittmeister!" Heinrich Wisten schüttelte den Kopf. „Truppe ist gut marschiert", lobte Stephan le Fort nach einem Blick auf die Uhr. „Gute halbe Stunde vor der Zeit. Halten lassen." Leutnant le Fort fühlte sich geschmeichelt. „Ich sagte
bereits, es ist die beste Bedienung meiner Batterie..." „Nicht zu früh ins Horn gestoßen, lieber Neffe", unterbrach ihn le Fort. „Von guter Bedienung wird erst die Rede sein, wenn das Rathaus beim ersten Schuß zusammenfällt." Der Leutnant reckte sich in den Steigbügeln. „Und das wird sein, Onkel!" Ein Gefährt kam den Federower Weg herauf. „Das ist Evers." „Allein? Der traut sich aber was!" Stephan le Fort stieg vom Pferd und ging dem Tierarzt entgegen. „Nun, Doktor, wie ist die Lage? Übrigens, das ist Leutnant le Fort, mein Neffe. Hat sich schon in Strelitz mit dem Spartakistenpack geschlagen. Berichten Sie." „Herr Baron wissen noch nicht? Es ist durchgesickert, daß Reichskanzler Dr. Kapp und General von Lüttwitz nicht..." „Machen Sie doch nicht in Defätismus, Mann!" fuhr Stephan le Fort den Tierarzt an. „Noch haben wir die Macht, und die geben wir nicht her. Da!'" Erzeigte mit einer ausladenden Geste zu seinem Trupp hinüber. „Sehen Sie sich das an. Das ist unsere Macht.'" „Verzeihung, Herr Baron. In Waren, Herr Baron", Dr. Evers Gesicht zuckte, „in Waren hat niemand auf Ihren Befehl gehört. Das Exekutivkomitee existiert nach wie vor. Ich meine sogar allen Ernstes, daß Kunzendorfs und Henneckes Einfluß schmilzt. Die Arbeiter hören immer mehr auf die Unabhängigen. Immer lauter wird die Forderung, gegen Boek vor-
zugehen, um irgendwelche Leute zu befreien. Und, Verzeihung, es wird gerufen, Sie von Ihrem Rittergut zu vertreiben." „Was?" Stephan le Fort lief rot an. „Das hilft weiter nichts, es ist Krieg! Leutnant le Fort! Bringen Sie Ihr Geschütz auf dem Galgenberg in Stellung!" „Zu Befehl, Herr Rittmeister." Peter le Fort schwang sich in den Sattel. „Nach der Beschießung wird es ein leichtes sein, Waren im Sturm zu nehmen. Die Banditen werden fliehen. Und haben wir Waren, nehmen wir Röbel. Die Sache mit Schulze-Bülow vergesse ich den Schweinehunden nie. Ich werde das verdammte Pack lehren, was es heißt, die Hand gegen die Besitzer des Landes zu erheben!" Dr. Evers blickte in das Gesicht des Barons. Jetzt war er sich vollends sicher, daß le Fort keine unbedachten Drohungen ausstieß. Jetzt wußte er, daß dieser Rittmeister schießen wird. „Ich werde mich sofort wieder nach Waren begeben, um unsere Leute zu informieren. Wann beginnen Sie mit dem Beschüß, Herr Baron?" fragte er. „Zu Mittag", erwiderte le Fort. „Unmittelbar nach erster Granate Sturm von außen. Sie entwaffnen während des Beschüsses die Truppe Rodemanns. Macht der Kerl Sperenzien, fackeln sie nicht lange. Danach Postamt besetzen. Alles Weitere übernehmen meine Leute." „Zu Befehl." Mit einer leichten Verbeugung verabschiedete sich der
Tierarzt, stieg in das Break und gab dem Pferd die Peitsche. Hinter den Kirchentannen war der Arbeiter Fritz Wiedemann auf die Boeker Kolonne gestoßen. Er wollte mit dem Fahrrad nach Federow; denn er machte 'sich Sorgen um seine Eltern. Als ihm Heinrich Wisten sagte, daß alles ruhig sei, wollte er wieder umkehren. „Meinst du, die lassen dich jetzt in die Stadt zurück?" Heinrich Wisten schüttelte den Kopf. „Wir müssen erst genau wissen, was sie mit der Kanone vorhaben." „Was schon? Vielleicht setzen sie ein, zwei Granaten über die Stadt in den See, um die Leute einzuschüchtern." „Nein, dabei wird's nicht bleiben. Dem Boeker Baron ist alles zuzutrauen." „Aber die Soldaten sind doch auch Deutsche ..." „Auch Deutsche. Und wer hat Reichpietsch und Köbis erschossen? Wer hat in Berlin die Roten Matrosen gemeuchelt?" Heinrich Wisten flüsterte erregt. „Fritz, diese Kerle da denken nur an ihren Sold, damit sie saufen und die Weiber bezahlen können. Du warst froh, als du im November achtzehn mit heilen Knochen auf dem Schlamassel 'raus warst. Mir ging es nicht anders. Die da aber haben die Uniform anbehalten, weil sie die Lust an ehrlicher Arbeit verloren haben. Die zerbomben sogar das Altersheim, wenn le Fort den Befehl dazu gibt." Das Geschütz wurde auf den Galgenberg gezogen und abgeprotzt. Drohend reckte sich das Rohr der friedlichen Stadt entgegen.
Stephan le Fort versammelte einige seiner Leute um sich. Wenig später stiegen sie auf die Pferde und sprengten stadtwärts davon. Die Maschinengewehrschützen machten sich auf den Marsch. „Einmalige Gelegenheit, Leutnant le Forts Artillerie beim Scheibenschießen zu erleben", prahlte nun einer der Kanoniere. „Werdet sehen, dem Bürgermeister werden gleich die Tintenfässer um die Ohren sausen. Und wenn es so richtig rummst, dann ist im ,Heidelbach' das Schnapslager in die Luft geflogen." „Angeber!" provozierte Heinrich Wisten. „Was sagst du, du Zivilarsch? Meinst du vielleicht, wir haben die Fünfundsiebziger durch den Dreck geschleppt, um den Siegessalut zu schießen? In das, Kaff werden ein paar Sachen reingerotzt, auch wenn der Pastor das Hemd der heiligen Jungfrau aus dem Kirchturmfenster hängt!" „Du nimmst den Mund reichlich voll", sagte Fritz Wiedemann. „Baron le Fort ist ein alter deutscher Offizier. Der läßt nicht auf Frauen und Kinder schießen. Schon gar nicht mit Artillerie." Der Kanonier lachte schallend. „Sandlatscher gewesen, was? Merk dir, ein Kanonier ist nicht solch ein Schwein, der einen Menschen erledigt, dem er in die Augen sehen kann. Ein Kanonier bekämpft Ziele Kirchtürme, Schornsteine, Brücken. Wenn da nun gerade Menschen sind, wir können es doch nicht sehen." Er stopfte sich gemütlich eine Pfeife und ging. „Da hast du deinen Deutschen, der nicht auf Deutsche schießt", sagte Heinrich Wisten. „Wenn die Bourgeois
uns Arbeitern nicht mehr anders beikommen können, dann schießen sie auf uns. So ist das." Fritz Wiedemann nickte. „So, jetzt wird's Zeit, daß wir verduften. Schmeiß das Rad in die Büsche. Damit kommst du jetzt nicht weit." Jede Deckung nutzend, schlichen die beiden auf das nahe Gehöft zu. Zwei-, dreihundert Meter weit waren sie gekommen, da peitschte ein Schuß. „Weiter!" Ein zweiter Schuß brach. Zwei Fuß neben den Männern fetzte die Kugel in die Büsche. „Halt .dich weiter links!" rief Heinrich Wisten. „Ich umgehe rechts den Hof. Wir müssen durch!" „Genossen! Eine gute Nachricht! Kapp und Lüttwitz haben sich entzweit! Kapp soll nach Schweden geflohen sein!" Henneckes Worte gingen im Beifall unter. Seine Stimme überschlug sich. „Wir haben gesiegt! Wir können den Generalstreik als beendet betrachten!" „He, he! Nimm dien Mul nich so vul!" rief ein Arbeiter. „Mag ja stimmen, döß dieser Kapp ausrissen ist; genau weißt du es ja auch nich, Genosse Hennecke. Uns geht es nicht nur um Kapp und Lüttwitz. Uns geht's um mehr!" „Nieder mit Kapp und Lüttwitz! Weg mit Ebert und Noske!" — „Arbeiterräte brauchen wir!" — „Entwaffnung der gegenrevolutionären Offiziere!" „Ruhe!" Die Stimme des Arbeiters Richard Bruhn übertönte alles. „Genosse Hennecke, du sagst, wir
haben gesiegt. Und wo ist Glamann, wo ist Rose, wo ist Gütschow?" Hennecke winkte mit beiden Armen. „Ihr laßt eine ja nicht zur Worte kommen. Wir haben eine Depesche aus Röbel bekommen..." — Tumult. „Ruhe!" „Glamann und Ksienzyk sind in Röbel aufgehalten worden. Sie sind heil und unversehrt. Sie sind auf dem Heimweg." „Und das Telegramm aus Boek?" Ein Arbeiter drängte sich zu Hennecke. „Ich weiß, daß ihr ein Telegramm aus Boek gekriegt habt. Was steht da drin?" „Genossen..." „Der Boeker Baron kommt!" gellte es plötzlich in den Saal. „Er hat auf dem Galgenberg Artillerie aufgefahren. Er will die Stadt beschießen!" Für Sekunden herrschte eisige Stille. Hennecke wurde kreidebleich. Er blickte zu Kunzendorf. Der zuckte die Schultern. „Waffen!" — „Rückt die Gewehre 'raus!" „Das Exekutivkomitee tritt sofort..." Henneckes Worte gingen im Brodeln unter. „Waffen!" „Waffen!" - „Vorwärts! Zum Galgenberg!" Die Arbeiter stürmten auf die Straße. „So ein Irrsinn!" fluchte Alfred Voß. „Die Exekutive hat ihren Sitz im ,Heidelbach', die Gewehre liegen in ,Stadt Hamburg'." „Da ist was faul..."
Am Judenfriedhof an der Feldstraße stießen vier Arbeiter auf die ersten Boeker. „Halt! Stehenbleiben! Keinen Schritt weiter! Ich schieße!" „Lederer! Du Düskopp kannst ja gar nicht mit einem Gewehr umgehen." Ernst Heise sprang auf den Zeitfreiwilligen zu und entriß ihm den Karabiner. Der zweite Söldner setzte sich energischer zur Wehr. Ein Faustschlag streckte ihn zu Boden. Ein Schuß löste sich. „Sieh mal einer an, der Herr Milchpanscher Wolter. Auf solche Art und Weise mischt sich also ein Molkereidirektor unter das Volk." Dr. Wolter hob die Hände. „Gnade!" winselte er. „Ich wollte doch gar nicht schießen..." „Kann der noch immer sien Mul auftun?" Heinrich Stier packte den Direktor im Genick und stieß ihn vorwärts. „Ab ins Kittchen und dann vor's Gericht." Zur gleichen Zeit versuchten vier Reiter, durch die Strelitzer Straße in die Innenstadt zu gelangen. Ein Steinhagel empfing sie. Frauen gössen kochendes Wasser auf die Straße. Kinder warfen Blumentöpfe aus den Fenstern. Auf scheuen Pferden nahmen die Boeker Reißaus. Im Gasthaus „Stadt Hamburg" rissen die Arbeiter dem Polizeifeldwebel Rodemann die Karabiner aus der Hand. Vor dem Hause formierte sich die kleine Schar. Ganze achtzehn Mann. „Halt!" „Was ist nun wieder los?"
„Kontrolliert alle eure Gewehre! Meins ist hinüber. Die Schlagbolzenspitze fehlt!" rief der Arbeiter. „Verflucht, hier auch!" „Auch mein Gewehr ist kaputt!" „Rodemann! Wo ist Rodemann?" Rodemann war fort. Wie vom Erdboden verschluckt. „Verräter!" „Der Polizeier, hat unsere Gewehre zuschanden gemacht!" „Los! Faßt den Schweinehund!" Maschinengewehrfeuer flackerte auf. Hennecke ging mit Stadträten und Mitgliedern des Komitees dem Boeker Baron entgegen. Verhandeln wollte er, einen Vergleich erzielen. „Wahnsinnig geworden?" Baron Stephanie Fort tobte. „Wer hat euch den Befehl zum Rückzug gegeben?" „Herr Rittmeister, es ist absolut kein Durchkommen. Der Feind setzt sich verbissen zur Wehr." „Blödsinn!" fuhr Peter le Fort dazuwischen. „Womit denn? Mit faulen Eiern?" „Letzter Befehl! Ihr stürmt die Stadt, oder..." Der Rittmeister zog den Revolver und entsicherte ihn. „Kapiert! Also: Attacke!" Widerwillig, aber ohne aufzumucken, wendeten die Reiter und galoppierten erneut in Richtung Stadt. „Jetzt, Neffe, gilt's", sagte Stephan le Fort. „Schießen?" „Ja. Ist das Geschütz feuerbereit?" .„Jawohl!" antwortete der Reichswehrleutnant. „Also dann in Gottes Namen."
Kommandos hallten auf. Richtwerte wurden wiederholt. „Splittersprenggranate... ein Schuß..." Peter le Fort schlug die erhobene Hand nieder. „Feuer!" Das Mündungsfeuer des 75-mm-Geschützes flammte auf. „Abgefeuert!" Rittmeister le Fort preßte sich den Feldstecher an die Augen. Heinrich Wisten lief durch die Straßen. „In die Keller! Artilleriebeschuß! In die Keller!" Weiter hastete der Maurer und weiter. Keuchend gelangte er bis zum Markt. „Von der Straße! Von der Straße! Der Boeker Baron beschießt die Stadt!" Friseurmeister Schlieckert stand mit Musikdirektor Köhler vor seinem' Haus. Kopfschüttelnd sagte der Barbier: „Der scheint mall geworden zu sein. Was schreit er? Artilleriebeschuß?" „Der Baron von Boek beschießt eine offene Stadt wie Waren! Eine deutsche Stadt! In Friedenszeiten!" Köhler lachte. „Das ist wieder mal die Schlagzeile für den ,Voran' oder wie das Soziblättchen heißt." „Gibt's ja gar nicht. Le Fort ist alter Adel. Rittergutsbesitzer. Rittmeister im Demminer Ulanenregiment gewesen. Der Mann ist doch untadelig..." ,,'n bißchen schrullig ist er ja, aber, Gott, wir werden alle einmal alt, Meister Schlie..." Ein grellgelber Blitz zerfetzte die Mittagsruhe. Klinkerbrocken mischten sich mit zischendem glühendem Eisen. Entsetzt sah der Musiker, wie Karl Schlieckert hintenüber stürzte. „Mutter!"
„Mein Kind!" schrie Köhler auf. Helles Blut pulste aus dem Halse des jungen Mädchens und färbte den Rock des Mannes rot. „Zu Hilfe! Ein Arzt! Sie verblutet! Meine Tochter verblutet! Der Baron hat mein Kind gemordet! So helft doch, Leute..." Pfeifend und jaulend Buchte die zweite Granate ihr Ziel. „Treffer!" Baron Stephan le Fort setzte das Glas ab. „Massiver Bau, dieses Rathaus. Setzt noch eine Granate 'rein." Die Kanoniere luden das Geschütz. „Feuer!" Das zweite Geschoß schlug in den Dachstuhl des Hauses des Uhrmachers Czieltowski." „Etwas abgekommen", konstatierte der Baron. „Einen dritten Schuß?" „Geht nicht. Die Berittenen müßten jetzt den Markt erreichen. Könnten sie gefährden. Jetzt die Höhle der Spartakistenbande; die Kate von Lokal kracht auch ohne Volltreffer zusammen. — „Feuer!" „Paar Meter zu weit. Macht nichts. Moralische Wirkung bleibt. Möchte jetzt den Pillendreher Hennecke sehen. Dem wird das Sozispielen wohl schon vergangen sein." Le Fort befahl den nächsten Schuß: „Und noch einmal aufs ,Heidelbach'!" „Feuer!" „Abgefeuert!" Pulvergase krochen über den Galgenberg. „Da! Reiter! — Onkel, sehen Sie?" Le Fort wurde bleich. Er ließ das Glas sinken. „Das sind unsere. Ich habe es ja gleich gesagt, Ulanen fehlen mir, eine Schwadron Ulanen!" „Abrücken?" fragte Peter le Fort leise.
Der Rittmeister nickte schwach. „Stellungswechsel!" Mit gesenktem Kopf ritt Baron Stephan le Fort davon. Ihm folgte sein so stolzes Reichswehrdetachement Müritz. Die Arbeiter erstürmten den Galgenberg, aber sie fanden nur noch die vier Granathülsen. Die tief in den weichen Boden eingedrückten Spuren der Geschützlafette führten zurück nach Boek.' „Fünfundsiebzig-Millimeter-Sprenggranaten" stellte Paul Ksienzyk fest. „Wir werden die Hülsen mitnehmen; als Beweis sozusagen." „Meinst du, es wird einen Prozeß geben gegen den Baron und seine Banditen?" Erich Glamann schüttelte den Kopf. „Wir haben es doch selbst erfahren, was die Justiz dieser Republik wert ist!" „In Waren hat es nicht nur uns Arbeiter erwischt." „Na und?" „Wir müssen dem Baron nach!" rief einer aus der Menge, um den sich Arbeiter, Handwerker, Gesellen, und Meister geschart hatten. „Auf, nach Boek!" riefen sie immerfort. „Hört mal her, Kollegen!" rief Paul Ksienzyk. „Kaum einer brennt wohl mehr darauf, dem le Fort das Fell zu gerben als ich. Das könnt ihr mir glauben. Aber — wollen wir ein drittes Mal mit leeren Händen in den Boeker Busch? Zwei ordentliche Gewehre haben wir, nur zwei Gewehre!" „Rodemann, dieser Schuft, hat uns verraten. Er hat
mit den Boekern gemeinsame Sache gemacht." „Ja. Ein Polizeifeldwebel. Ein Beamter der Regierung, ein Untergebener Noskes." Erich Glamann lachte heiser. „Hatten wir keinen Arbeiter, der etwas vom Kriegshandwerk versteht? Schuld sind auch solche Leute wie Kunzendorf und Hennecke; denn die hatten unser Vertrauen." „Sammeln wir uns neu", rief Paul Ksienzyk, „organisieren wir uns neu! Der Generalstreik geht weiter!" Das Artilleriefeuer hatte Schillbach und von Heimburg vom Mittagstisch geschreckt. „Der Stoffel läßt tatsächlich schießen", sagte von Heimburg. „Das geht nicht gut aus." „Weißt du was, Lothar? Wir werden alle Papiere verbrennen, den Schriftwechsel, die Mannschaftslisten, den ganzen Organisationsplan. Nichts Handgeschriebenes, keine Unterschrift darf uns belasten. Ich will zu Ende studieren, meinen Doktor machen. Verstehst du das?" ' Von Heimburg nickte, wandte aber ein: „Dann hätten wir zwei Tage lang zu heizen..." In den Kaminen und Öfen verkohlte, Bündel um Bündel, das geistige Fundament der „Organisation Escherich", von Stephan le Fort und Heinz Schillbach in wochenlanger Kleinarbeit geschaffen. Am Spätnachmittag kehrte das Reichswehrkommando zurück nach Boek, niedergeschmettert, demoralisiert. Und von Heimburg konnte es sich nicht verkneifen, zynisch zu kommentieren: „Mit Mann und Roß und
Wagen hat sie Rot Front geschlagen." ,;Sie verbrennen die Unterlagen? Das ist gut", sagte Stephan le Fort müde. „Nichts darf dem Popel in die Hände fallen." „Herr Baron rechnen mit einem Überfall?" fragte Schillbach. Le Fort nickte. „Diesmal werden sie in Scharen anrücken. Von allen Seiten. Gnade uns Gott." „Nun, Herr Baron, wir werden uns schon unserer Haut zu wehren wissen", meinte von Heimburg. „Ein MG auf den unteren Flur, ein zweites oben in Schußrichtung Treppenaufgang. So gibt es keinen toten Winkel. Fensterwachen mit Handgranaten über allen Hauszugängen. Postenrunde. Wir igeln uns ein." „Gut, gut", erwiderte le Fort. „Halten Sie die Bolschewisten auf, solange Sie es vermögen. Fordern Sie. unverzüglich von der Garnison Neustrelitz Verstärkung an. Ich muß mich nach Berlin begeben, zu Rechtsanwalt Dr. Everling. Später gehe ich weiter nach Süden zu Escherich. Mein Neffe begleitet mich." „Wir harren aus", erwiderte'von Heimburg. „Ich werde bald zurück sein. Vertreiben lasse ich mich nicht. Noch in tausend Jahren werden le Forts die Herren des Waldes an der Müritz sein", sagte le Fort. „Kapp war wohl doch nicht die richtige Karte, auf die wir gesetzt haben. Vielleicht wird Ludendorff der Mann sein, vielleicht auch einer, der heute noch ganz unbekannt ist. Jedenfalls wird unsere Bewegung nicht ohne den Führer bleiben. Gott wird ihn uns senden und den Sieg." Stephan le Fort hängte den
bunten Rock an den Nagel, ließ die schnellsten Pferde einspannen und reiste mit seinem Neffen auf engen Waldwegen davon. Für sie kam ein Husarenrittmeister. Mit Sack und Pack. Auch auf der Flucht. Gutspächter Hans-Alberf Braesecke, Herr von Dambeck bei Kratzeburg. „Hier werden Herr Rittmeister schon gar nicht sicher sein", warnte Schillbach. „Stündlich erwarten wir die Roten. Nach dem Bombardement auf Waren werden sie kein Pardon geben; denn es hat Tote gegeben, zahlreiche Verwundete, zumeist sittsame Bürger." „Und nun?" fragte der Rittmeister. „Mein Rat wäre, zurück nach Dambeck. Und wenn ich eine Bitte äußern dürfte: Nehmen Sie mich mit. Gewähren Sie mir bis zum Semesterbeginn Asyl. Von meiner Existenz in Boek weiß in Waren niemand, nicht einmal Dr. Wolter und Dr. Evers." Auch von Heimburg verließ Boek. Die Zeitfreiwilligen tauchten unter. Zurück blieb nur, wer hier beheimatet war. Und wer zu le Fort gestanden hatte oder immer noch stand, verkroch sich in den Jagdhütten der weiten Wälder. Das Reichswehrdetachement Müritz hatte aufgehört zu bestehen. Bis Schmortburg bei Penzlin waren Willi Gütschow und seine Genossen gekommen, als sie erfuhren, daß Waren unter Artilleriebeschuß gelegen haben soll. „Der Boeker Baron hat sich also nicht umsonst die Kanone aus Strelitz kommen lassen", sagte Rudolf Rose. „Los, Leute, wir müssen weiter!"
In Neuschloen kamen ihnen Landarbeiter entgegen. Mit Karabinern waren sie bewaffnet, mit Jagdflinten, mit Heugabeln und geradegezogenen Sensen. „Wer seid ihr?" fragte einer der Männer. „Warener Arbeiter", antwortete Willi Gütschow, „einer auch aus Federow." „Wir kommen von Waren." „Sieht's schlimm aus?" „Schlimm. Sogar das Altersheim hat der Boeker Baron bombardiert. Tote hat es gegeben, eine Menge Verwundete." „Wißt ihr die Namen?" „Nein." „Erzählt weiter", forderte Rudolf Rose. „Das Bombardement hat dem Baron nichts genützt. Er hat die Stadt nicht nehmen können. Die Warener haben ihn verjagt", sagte der Landarbeiter. „Aber wir sind drauf und dran, ihm auf der Chaussee nach Stavenhagen den Weg abzuschneiden." „Wir kommen mit", entschied Willi Gütschow. „Ihr hattet keine guten Leute an der Spitze", meinte der Tagelöhner. „Rodemann?" „Nicht nur der. Auch Kunzendorf. Sicherlich auch Hennecke." ,,Wem erzählst du das?'' fragte Rudolf Röse grimmig zurück. „Gehen wir", entschied Willi Gütschow. „Der Baron darf uns nicht entkommen." Rings um Waren griffen die Landarbeiter zu den
Waffen. In Groß Dratow stürmten sie das Herrenhaus und nahmen sich die Gewehre, in Kargow formierten sie sich, in Torgelow, selbst im zwanzig Kilometer entfernten Cramon. Mit ungeheurer Wucht griff der bewaffnete Aufstand um sich. Das Öl, das Stephan le Fort in die Glut gegossen hatte, ließ die Flammen hochschlagen. Am 2I.März 1920 trug Waren die Opfer der Konterrevolution zu Grabe. Hinter den fünf Särgen schritten die Eisengießer und die Handwerksmeister, die Kaufleute und die Maurer, die Tagelöhner und die Beamten. Schweigen lag über dem Trauerzug. Es war ein drohendes Schweigen. Fast füllte die händevoll nachgeworfene Erde die Grüfte für den Arbeiter Joachim Dau, für den Kürschnermeister Paul Gerber, für den Friseur Karl Schlieckert, für... Und im Krankenhaus kämpften Arzt und Schwestern gegen den Tod. Den Rentner hatten die Granatsplitter getroffen und den Gastwirt, den Schuhmachermeister und den Kaufmann. Junge Mädchen lagen auf dem Operationstisch, alte Frauen, Greise. „Schutzhaft gegen die beiden le Forts. Ein Hohn jst das", sagte Paul Ksienzyk. „Anklage wegen fünffachen Mordes muß gegen sie erhoben werden...." ,,... und vollstreckt werden muß das Urteil dort, wo die Kanone gestanden hat, auf dem Galgenberg", fügte Rudolf Röse hinzu. „Hänge einen, den du nicht hast", meinte Fiete Tamm. „Der Boeker Baron ist geflohen, sein Neffe
mit ihm. Niemand wird ihn in Haft nehmen." „Niemand? Arbeiterräte werden wir bilden, Bauernräte", sagte Erich Glamann. „Mag man auch mit Kanonen auf uns schießen, die Sieger werden einst wir sein!"