Oskar Lafontaine
Das Herz schlägt links
ECON
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Oskar Lafontaine
Das Herz schlägt links
ECON
Der Econ Verlag ist ein Unternehmen der Verlagshaus Goethestraße GmbH & Co. KG ISBN 3-430-15947-4 & 7999 Verlagshaus Goethestraße GmbH & Co. KG München Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Gesetzt bei Franzis print & media GmbH, München Druck und Bindung: Graphischer Großbetrieb Pößneck
Inhalt
Vorwort Die Nachfolge Willy Brandts Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik Steuersenkungswettlauf Die Wahlkampagne Rote Socken - Rote Hände Wer wird Kanzlerkandidat? Die Männerfreundschaft mit Gerhard Schröder Die Erarbeitung des Regierungsprogramms Aufstellung der Regierungsmannschaft Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung Die rot-grüne Koalition Überflüssiger Fehlstart Die Hessen-Wahl Deutschland und Frankreich Internationale Finanzpolitik Der Rücktritt Der Kosovo-Krieg Die Mediengesellschaft Der flexible Mensch Der dritte Weg ist ein Holzweg Ausblick Personenregister
Vorwort Unmittelbar nach meinem Rücktritt hatte ich nicht die Absicht, die Gründe darzulegen, die zu diesem Entschluss geführt haben. Die Verpflichtung zur Solidarität mit der eigenen Partei und ihrem Führungspersonal schien mir wichtiger als Klarstellungen. Sie werden allzu oft vom politischen Gegner missbraucht. Ich dachte an die Europa-, die Landtags- und Kommunalwahlen und wollte keinen Streit, der die Partei belastet hätte. Daher gab ich einige Tage nach meinem Rücktritt nur ein kurzes Interview, in dem ic h im wesentlichen auf das schlechte Mannschaftsspiel der Regie rung hinwies. Ich war der Auffassung, dass der Hinweis deutlich genug sei und die eigene Partei und die Anhänger der SPD sich durchaus ihren Reim darauf machen könnten. Hierin sollte ich mich täuschen. Auch als der Rücktritt von einigen mir weniger wohlgesonnenen Zeitgenossen so dargestellt wurde, als hätte ein pflichtvergessener Mensch einfach die Arbeit niedergelegt, änderte ich meine Auffassung nicht. Der Ministerrücktritt als politische Entscheidung ist ein fester Bestandteil demokratischer Kultur. Ein Minister sollte nicht nur dann zurücktreten, wenn die Medien ihn aufgrund eigenen Fehlverhaltens dazu drängen, sondern insbesondere dann, wenn er mit der Politik seines Regierungschefs oder seiner Regierung nicht mehr einverstanden ist. Doch dies scheinen Teile der deutschen Öffentlichkeit völlig vergessen zu haben. Der Rücktritt Gustav Heinemanns beispielsweise vom Amt des Innenministers wegen der Wiederbewaffnung der Bundeswehr und des autoritären Führungsstils Adenauers - der Kanzler denkt in Form autoritärer Willensbildung - war in diesem Sinne klassisch. Damals war die Diskussion um die demokratische Verfassung unserer Republik in den Köpfen der Menschen offensichtlich noch so lebendig, dass nie mand auf den Gedanken der Pflichtvergessenheit gekommen wäre. Auch der gleichzeitige Rücktritt vom Amt des Parteivorsitzenden war unvermeidlich. Ein ständiger Streit zwischen Bundeskanzler und Parteivorsitzendem hätte der Regierung und der SPD sehr geschadet. Nach meinem Rücktritt hat die Politik der rot-grünen Koalition eine Entwicklung genommen, die ich nicht für möglich gehalten hätte und die mich mit großer Sorge erfüllte. Dass ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung die Bundesrepublik Deutschland sich zum ersten Mal an einem Krieg beteiligte, der das Völkerrecht missachtete und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar war, ist schwer zu verkraften. Der Kosovo-Krieg rührt an den Nerv des sozialdemokratischen Politikverständnisses. Spätestens als am 8. Juni 1999 kurz vor der Europawahl in London das Schröder-Blair-Papier vorgestellt wurde und Hans Eichel sein Zukunftsprogramm 2000 vorlegte, fühlte ich mich herausgefordert. Wir hatten mit dem Versprechen einer anderen Politik, mit dem Versprechen, mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Land zu verwirklichen, die Wahl gewonnen. Gerhard Schröder distanzierte sich vier Monate nach meinem Rücktritt von meiner Finanzpolitik: »Ich denke schon, dass es sehr richtig gewesen wäre, Eichels Finanzpolitik von Anfang an zu machen.« Und: »Wenn das als Kritik verstanden wird, dann ist das auch so gemeint«. Diese Äußerungen offenbaren einen Mangel an Fairness und Wahrhaftigkeit. Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. Das Kabinett beschließt mit der Stimme des Bundeskanzlers den Haushaltsentwurf, und der Bundestag verabschie det den Haushalt endgültig. Schröder, Fischer und Eichel hatten mich ausdrücklich gebeten, vor der Hessen-Wahl keine unpopulären Entscheidungen zu treffen. Als ich den Bundeskanzler etwas später vor den Bauern den eisernen Sparkanzler spielen sah, musste ich daran denken, dass er mich wenige Monate vorher aufgefordert hatte, diesen keine Steuersubventionen zu streichen. Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke, wäre sonst gar nicht nach Bonn gekommen. Dem Bundeshaushalt fehlten dadurch jährlich 1,7 Milliarden DM. Auch die nachgeschobene Feststellung Schröders: »Ich habe die Auseinandersetzung mit der Bundesbank immer für unsinnig gehalten... Doch ich habe nichts gesagt«, ist falsch. Kurz nach seiner Wahl zum Bundeskanzler hatte er auf einem Gewerkschaftskongress gesagt: »Bei allem Respekt, den ich vor der Bundesbank habe; sie sollte jetzt nicht nur allein auf die Geldwertstabilität achten, sondern versuchen, auch ihrer Verantwortung für das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland gerecht zu werden.« Über mangelnde Fairness und Wahrhaftigkeit mir gegenüber könnte ich hinwegsehen, schweigen kann ich aber nicht, wenn das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler durch einen politischen Richtungswechsel missbraucht wird. Mein Buch wendet sich daher gegen den radikalen Kurswechsel der rot-grünen Koalition zum Neoliberalismus und gegen das Vom-Tisch-Nehmen der Wahlversprechen. Das Regierungsprogramm, das wir den Wählerinnen und Wählern versprochen haben, ist von mir mit erarbeitet worden und ich
fühle mich weiter im Wort. Sozialdemokraten haben nur dann eine Chance, politische Mehrheiten in der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen, wenn sie die Interessen der Arbeitnehmer, Arbeitslosen und Rentner vertreten. Im Unternehmensbereich müssen sie sich vor allem um kleinere und mittlere Betriebe kümmern. Wenn sie auf das Gerede einer Minderheit hereinfallen, die seit Jahren nach dem Motto verfährt, Reformen und Verzicht stets bei den sozial Schwächeren einzufordern und selbst bei hohem Einkommen und Vermögen möglichst wenig Steuern zu zahlen oder möglichst viel Geld ins Ausland zu schaffen, dann werden sie ihren Auftrag verfehle n. Die letzten Jahre stehen für die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden politischen Welten. Da ich mittendrin stand, will ich die Auseinandersetzungen noch einmal schildern. Dabei hoffe ich, dazu beitragen zu können, dass sich Deutschland nicht noch weiter auf den Irrweg des Neoliberalismus begibt. Vor allem darf die SPD ihre Seele nicht verkaufen. Die folgenden Seiten sind daher auch nicht meine Memoiren. Es geht mir um den fundamentalen Richtungsstreit in der SPD. Bei der Schilderung unserer Diskussionen und Entscheidungen werde ich die Fehler, die ich gemacht habe, benennen. Ich habe die Fehler anderer oft kritisiert, manchmal mit beißendem Spott. Am meisten geärgert aber habe ich mich immer über die eigenen. In meinem Haus hängt für die Besucher sichtbar eine Karikatur von Peter Gaymann: Auf der Hühnerleiter sitzen brav die Hühner, nur ganz oben sitzt ein Schwein. Und ein Huhn fragt das andere: »Ich möchte einmal wissen, wie man ganz nach oben kommt, ohne zum Schwein zu werden.« Mit ironischer Distanz wollte ich der Gefahr vorbeugen, bei der Verfolgung eigener Ziele die Wünsche und Interessen anderer zu wenig zu beachten. Oskar Lafontaine Herbst 1999
Die Nachfolge Willy Brandts DER VÄTERLICHE FREUND
Willy Brandt sah ich zum ersten Mal 1966. Er war zu jener Zeit noch Regierender Bürgermeister von Berlin und hielt in der ATSV-Turnhalle in Saarbrücken eine Rede, in der er einer großen Koalition eine klare Absage erteilte. Wenige Tage später wurde die große Koalition geschlossen, und Willy Brandt Außenminister. So erlebte ich bereits als junger Student, dass in der Politik das gesprochene Wort nicht immer für bare Münze zu nehmen ist. Als Außenminister gewann Brandt schnell Vertrauen in der Welt. Er setzte die Entspannungspolitik der kleinen Schritte fort, die er in Berlin erfolgreich auf den Weg gebracht hatte. Maßgeblich unterstützt wurde er dabei von Egon Bahr. Für uns Studenten wurde Brandt bald zur Leitfigur, hatte er doch, im Gegensatz zu vielen anderen Politikern, aktiv Widerstand gegen die Nazis geleistet. Als junger Mann war er 1933 nach Norwegen emigriert und nach dem Krieg nach Berlin zurückgekehrt. Von vielen Mitläufern wurde er diffamiert, weil er Nazideutschland verlassen hatte, und Adenauer griff ihn an, weil er ein uneheliches Kind war. Seine erste Regierungserklärung als Bundeskanzler 1969 stand unter dem Motto »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Damit hatte er die Hoffnungen der jungen Generation auf den Punkt gehracht. Und tatsächlich: Der sozialliberalen Koalition gelang es, eine Reihe wichtiger Reformen durchzusetzen. Willy Brandts Regierungserklärung war kein leeres Versprechen geblieben. 1979 wurde ich in den Parteivorstand der SPD gewählt und kam dadurch mit Brandt näher in Kontakt. Die Notwendigkeit weiterer atomarer Aufrüstung lehnte er ab. Er glaubte nicht, dass es aus Gründen des militärischen Gleichgewichts notwendig sei, gegen die sowjetische SS zo in Deutschland und Westeuropa Cruisemissiles und Pershing-II-Raketen zu stationieren. Damit stand er in spürbarem Widerspruch zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt. Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Bonner Wirtshaus, bei dem er spontan sagte: »Ein größerer Industriestaat müsste sich einmal aus dieser ewigen Spirale des Vor- und Nachrüstens verabschieden.« Aufrüstung im Zeitalter des atomaren Overkills widersprach seinen politischen Vorstellungen. In den Weihnachtsferien 1981 lud mich Willy Brandt ein, mit ihm Urlaub auf Zypern zu machen. Hier erfuhr ich, welch große Achtung, ja Verehrung ihm international entgegengebracht wurde. Der zypriotische Präsident Spyros Kyprianou hatte die Hoffnung, Willy Brandt könnte in der ZypernFrage vermitteln. Basil Mathiopoulos, ein griechischer Journalist, der zur Zeit der Obristen politisch verfolgt wurde, hatte die Organisation der Reise übernommen. Er hatte durch Vermittlung Brandts wieder nach Deutschland ausreisen können, als die Obristen ihn während eines Aufenthalts in Athen einsperren wollten. In Zypern lernte ich den Menschen Willy Brandt besser kennen. Er war verschlossen und gab nur selten seine Empfindungen und Gefühle preis. Persönliche Nähe herzustellen fiel ihm schwer. Wir schwammen gemeinsam im Meer und bereisten die Insel. Willy Brandt führte politische Gespräche, ich saß als Lehr junge daneben. Wie so oft bei solchen Auslandsreisen war das Programm so überfrachtet, dass es Willy Brandt zuviel wurde. Als nach vielen offiziellen Terminen ein Mitglied der zypriotischen Friedensbewegung um ein Gespräch bat, setzte er sein bekanntes Lächeln auf und sagte: »Oskar, das ist jetzt dein Bier.« So konnte ich stolz eine erste diplomatische Mission erfüllen und im Auftrag Willy Brandts dieses Gespräch führen. In jenen Tagen rief der polnische Ministerpräsident Jaruzelski den Ausnahmezustand aus, da er eine russische Invasion befürchtete. Im Hotel erfuhren wir über eine Tickermeldung, dass Bettino Craxi, der damals stellvertretender Vorsitzender der Sozialistischen Internationale war, diese Entscheidung Jaruzelskis verurteilte. Er hatte diese Aussage gemacht, ohne Brandt, der Vorsitzender der Sozialistischen Internationale war, vorher zu konsultieren. Brandt hielt Jaruzelski für einen Patrioten und wollte in keinem Fall die Entscheidung Jaruzelskis vorschnell verdammen. Als wir gemeinsam am Strand spazieren gingen, konnte er sich nicht beruhigen. Mit Blick auf Craxi entfuhr ihm die Bemerkung: »Ausgerechnet dieser Strolch!« Später konnte ich in Mitterrands Memoiren nachlesen, dass auch er die damalige Situation ähnlich wie Brandt einschätzte. Über seine Begegnung mit Jaruzelski am 9. März 1990 schrieb der französische
Staatspräsident: »Ich hatte nicht mehr den Mann des Kriegszustands vor mir, der mir damals das Dilemma schilderte, in dem er steckte. Sollte er den Ruhm der Verweigerung wählen um den Preis der Vernichtung seines Vaterlands oder davon retten, was zu retten war, indem er sich Moskaus Befehlen unterordnete. Held oder Verräter? Verräter vielleicht für seine Zeitgenossen. Sicher Held für die Geschichte. Er wusste, dass er gegen den Widerstand seiner Mitbürger hart vorgehen musste und dass er die Bürde des Hasses und der Verachtung zu tragen hatte. Er nahm sie auf sich. Das war, so sagte er mir, seine Pflicht. Statt die Sowjetarmee erneut besetzen und nach Willkür agieren zu lassen, diktierte ihm sein Pflichtgefühl, dem zuvorzukommen, um wenigstens das Schlimmste zu verhüten.« Ich lernte, dass bei der Beurteilung internationaler Fragen ein vorsichtiges Abwägen besser ist als ein vorschnelles Urteil. Heute bin ich sicher, dass Willy Brandt mit seiner Einschätzung Jaruzelskis richtiger lag als viele andere Politiker und Journalisten im Westen, die sofort das übliche Protestgeschrei angestimmt hatten. Nach dem Urlaub auf Zypern waren wir uns menschlich nähergekommen. Willy Brandt lud mic h mit Familie im Sommer 1984 in sein Sommerhaus in die Cevennen ein. Als besonderes Zeichen seiner Zuneigung werte ich, dass die Brandts uns ihr großes Bett zur Verfügung stellten, da wir unseren zweijährigen Sohn Frederic dabeihatten und für uns drei das Gästebett zu klein war, in dem Willy Brandt und seine Frau Brigitte für die Dauer unseres Besuchs schliefen. Ich kaufte jeden Morgen frisches Baguette, Wurst und Käse ein und bereitete das Frühstück. Darüber hinaus gaben wir uns Mühe, die Brandts gut zu bekochen. Das rief allerdings den Missmut von Brigitte hervor. Sie achtete stets auf die Figur Willy Brandts und war der saarländischen Neigung, gut zu essen und zu trinken, weniger gewogen als ihr Mann. Als wir einmal ohne vorherige Absprache eine Lammkeule braten wollten, wäre es beinahe zum Streit gekommen. Das war aber nicht der Anlass dafür, dass es später zu einer Entfremdung zwischen Brandt und mir kam.
DIE ENKEL
Brandt hatte sich vorgenommen, einen Generationenwechsel in der Partei durchzusetzen. Er wollte mich 1987 zu seinem Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden vorschla gen und sprach in diesem Zusammenhang von seinen »Enkeln« - eine damals sicherlich listige Formulierung, mit der er geschickt die Generation der Söhne übersprang. Später sollte dieses Wort für uns alle - gemeint waren unter anderem Fierta Däubler-Gmelin, Hans Eichel, Björn Engholm, Karl-Heinz Hiersemann, Klaus Matthiesen, Uli Maurer, Rudolf Scharping, Gerhard Schröder, Heide Simonis, Heidemarie WieczorekZeul und ich - zu einer Belastung werden. Obwohl wir uns dem Alter von Großmüttern oder Großvätern näherten, wurden wir in der Presse immer noch »die Enkel Willy Brandts« genannt. Willy Brandts Plänen stand ich selbst skeptisch gegenüber. Zu jener Zeit traute ich mir den SPDVorsitz schlicht und einfach nicht zu. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Brandt selbst und Egon Bahr, Horst Ehmke, Erhard Eppler, Peter von Oertzen, Johannes Rau, Hans-Jochen Vogel, HansJürgen Wischnewski und die anderen Politiker dieser Generation einen SPD-Vorsitzenden Lafontaine akzeptieren würden. Das Jahr 1990 sollte mir zeigen, dass ich mit dieser Einschätzung richtig lag. Ich spürte damals instinktiv, dass nur derjenige die Partei führen kann, der aufgrund seiner Erfahrungen und Leistungen von der Mehrheit des Führungspersonals akzeptiert wird. Jedenfalls war es Mitte der achtziger Jahre nicht vorstellbar, dass einer aus meiner Generation den Parteivorsitz übernehmen würde. 1987 kam es dann zum überraschenden Rücktritt Willy Brandts, als viele in der Partei sich weigerten, die parteilose Griechin Margarita Mathiopoulos zur Pressesprecherin der SPD zu machen. Am Abend vor seinem Rücktritt hatte Willy Brandt die »Enkel« in Norderstedt in Schleswig-Holstein versammelt, um über seine Nachfolge zu beraten. Bei diesem Treffen warb er mehr oder weniger offen dafür, dass ich seine Nachfolge antreten sollte. Ich lehnte damals aus den genannten Gründen ab, was ihn wohl tief enttäuschte. Seit dieser Zeit spürte ich eine wachsende Distanz zwischen uns, die sich 1990, im Jahr der Deutschen Einheit, noch vergrößern sollte. Auch die Enkel waren verstimmt. Als ich 1990 zum zweiten Mal den Parteivorsitz ausschlug, wandten sich einige von mir ab und entzogen mir ihre Unterstützung. 1987 wurde Hans-Jochen Vogel zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gewählt. Johannes Rau und ich wurden seine Stellvertreter. Ich übernahm darüber hinaus den Posten des Geschäftsführenden Vorsitzenden der Programmkommission. Sekretärin dieser Kommission war Christa Müller. Die neue Aufgabe bereitete mir trotz mancher Mühen auch viel Freude. Ich lernte vor
allem sehr viel. Das neue Grundsatzprogramm, das wir erarbeiteten und das auf dem Berliner Parteitag 1989 verabschiedet wurde, verpflichtete die Partei auf internationale Zusammenarbeit, auf die Gleichstellung der Frau in Beruf und Gesellschaft, auf die ökologische Modernisierung der Wirtschaft und auf die Strukturreform der Arbeitsverhältnisse und der sozialen Sicherungssysteme. Die Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich, längere Maschinenlaufzeiten und um Wochenendarbeit brachten mir in der Öffentlichkeit den Ruf des »Reformers« und »Modernisierers« ein. In der Partei bekam ich den Widerstand der Gewerkschaften zu spüren. Die Regelung der Wochenendarbeit und Maschinenlaufzeiten sollte nach unseren Vorstellungen aber stets einvernehmlich mit Betriebsrat und Belegschaft getroffen werden. Das heute weitverbreitete »einheitliche Denken«, das nur noch die Gesetze des Marktes gelten lässt, hatte sich noch nicht in dem Maße durchgesetzt, dass das Recht auf Mitbestimmung und Mitbeteiligung einfach vernachlässigt wurde. Meine Arbeit als Geschäftsführender Vorsitzender der Programmkommission führte dazu, dass ich als Anwärter auf die Kanzlerkandidatur der SPD im Jahre 1990 gehandelt wurde. Klugerweise ließ HansJochen Vogel diese Frage lange Zeit offen. Das war auch in meinem Sinne, denn ich hatte bei der Ausrufung von Johannes Rau zum Kanzlerkandidaten im Jahr 1986 die Erfahrung gemacht, dass es falsch ist, den Kanzlerkandidaten zu früh zu benennen: Irgendwann gewöhnt sich die auf Neuigkeit und Sensation getrimmte Öffentlichkeit an den Namen, und ab einer gewissen Zeit wird der Kandidat, wenn er zu lange Kandidat ist, eher kritisiert als unterstützt. Der Wahlsieg der SPD an der Saar im Jahr 1990 mit einem Wahlergebnis von 54,4 Prozent hatte dann zur Folge, dass ich am Z9. Januar 1990 vom Parteivorstand zum Kanzlerkandidaten der SPD für das Jahr 1990 ausgerufen wurde. Nach der Landtagswahl 1990 reiste ich mit Christa nach Granada. Im berühmten Parador der Alhambra beschäftigten wir uns intensiv mit den wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Konsequenzen der deutsch-deutschen Währungsunion, die von einigen aus der SPD zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme in den neuen Ländern vorgeschlagen worden war. Egon Bahr faxte uns ins Hotel ein Papier von Kurt Biedenkopf, in dem dieser den schnellen industriellen Aufschwung in den neuen Bundesländern voraussagte. Christa und ich hatten erhebliche Zweifel an die ser Prognose. Wir waren der Meinung, dass in der Einheitseuphorie simple wirtschaftliche Überlegungen in den Wind geschlagen wurden. Ich telefonierte aus Granada mit Helmut Schmidt, Karl Otto Pöhl, Jacques Delors, Franz Steinkühler und vielen anderen, um mir ein fundiertes Urteil bilden zu können. Fast alle meine Gesprächspartner standen dem Projekt einer Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 ablehnend gegenüber, insbesondere die Gesprächspartner aus den europäischen Partnerländern. Aber öffentlich wurde die Kritik weniger deutlich geäußert. Mich wunderte, dass Bundesbankpräsident Pöhl nach der Entscheidung Kohls, die Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 auszurufen, nicht sofort zurücktrat. Bundeskanzler Kohl hatte ihn nicht nur nicht konsultiert, sondern regelrecht überfahren. Mir war klar, dass diese Entscheidung schlagartig die Wirtschaft in den neuen Ländern konkurrenzunfähig machte und Millionen Arbeitslose in Ostdeutschland zur Folge hätte. Ebenso stand für mich fest, dass es zu Steuer- und Abgabenerhöhungen kommen müsste und dass der Westen gezwungen sein würde, über Jahre viele Milliarden zu zahlen, um den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern zu finanzieren. Ich begann nach dem Aufenthalt in Granada die Partei behutsam auf meine abweichende Meinung vorzubereiten, bis das Attentat vom 25. April alles völlig veränderte. In einer Zeit, in der die Weichenstellung für den Wahlkampf 1990 erfolgte, wurde ich daran gehindert, die politischen Entscheidungen mitzubestimmen. Als ich das Krankenhaus verlassen konnte, war die Festlegung der Bundestagsfraktion auf das Ja zur Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 nicht mehr umkehrbar. In einem Spiegel-Gespräch mit Dirk Koch und Klaus Wirtgen trug ich noch einmal meine Bedenken vor. Aber die Bundestagsfraktion war fest entschlossen zuzustimmen. So war ich nicht nur durch das Attentat seelisch und körperlich schwer angeschlagen, sondern musste mich auch damit abfinden, dass die Partei mir in den entscheidenden Fragen der deutsch-deutschen Wirtschafts- und Währungsunion nicht folgte. Ich entschloss mich daher, meine Kanzlerkandidatur zurückzuziehen, und setzte folgenden Brief auf: »An die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands! Im Vorfeld der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur habe ich an Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Björn Engholm und Walter Momper die Frage gerichtet, ob sie bereit wären, diese Aufgabe zu übernehmen. Jeder hatte gute Gründe abzulehnen.
In der Endphase des saarländischen Landtagswahlkampfs haben Hans-Jochen Vogel, Herta DäublerGmelin und Johannes Rau mich öffentlich zum Kanzlerkandidaten vorgeschlagen. Nach der Landtagswahl hatte ich während eines Kurzurlaubs Zeit, darüber nachzudenken, ob ich diese Aufgabe übernehmen könnte. Aufgrund der starken Belastung der letzten Jahre hätte es meinen Interessen entsprochen, weniger in die Pflicht genommen zu werden. Ich habe mich gegen meine Interessen und für unsere gemeinsame Sache entschieden. Nach dieser Entscheidung hielt ich es für wichtig, auf dem Parteitag der SPD in Leipzig und in den letzten Tagen des Wahlkampfs zur Volkskammerwahl in der DDR meine Bedenken gegen die schnelle Einführung der DM in der DDR vorzutragen. Ich wusste, dass dies unpopulär war. Es ging mir aber um die persönliche Glaubwürdigkeit, die Grundlage längerfristiger Wahlerfolge ist. Ich dachte an die Fragen, die die Menschen im Herbst dieses Jahres in der DDR und der Bundesrepublik stellen werden, und an die finanziellen, ökonomischen und sozialen Probleme der dann folgenden Jahre. Die Alternative zur abrupten Einführung der DM in der DDR war die Herstellung der Konvertibilität der Ostmark und das Anpeilen eines festen Wechselkurses. Nach der Volkskammerwahl hat mich der Parteivorstand einstimmig zum Kanzlerkandidaten vorgeschlagen. Ich hatte vor meiner Nominierung darum gebeten, dass die Mehrheit der Partei und der Kanzlerkandidat in wichtigen politischen Fragen zusammenbleiben, weil dies die Voraussetzung für eine erfolgreiche Wahlkampagne ist. Dabei hatte ich meine ablehnende Haltung gegenüber der schnellen Einführung der DM zum i. Juli in der DDR deutlich gemacht. Am 27. März 1990, auf der Parteiratssitzung in Hannover, habe ich vor meiner einstimmigen Nominierung noch einmal meine Argumente gegen die überstürzte Einführung der DM in der DDR vorgetragen. Auch hier hatte ich darauf hingewiesen, dass die Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf ist, dass die Mehrheit der Partei und der Kanzlerkandidat in wichtigen politischen Fragen zusammenbleiben. Am 25. April wurde ich Opfer eines Attentats auf einer Wahlkampfveranstaltung in Köln. Dieses Attentat war für niemanden vorhersehbar, hatte aber für mich zwangsläufig zur Folge, dass ich noch einmal darüber entscheiden musste, ob meine Kräfte ausreichen würden, die Kanzlerkandidatur aufrechtzuerhalten. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, die Partei zu bitten, diese Aufgabe einer anderen oder einem anderen aus unseren Reihen zu übertragen. Erleichtert, nicht herbeigeführt wurde diese Entscheidung durch die Haltung der SPDBundestagsfraktion zur Einführung der DM zum i. Juli in der DDR. Die Fraktion ist, wie mir alle Gesprächspartner versichert haben, mit großer Mehrheit entschlossen, der Einführung der DM zum i. Juli in der DDR - das ist der Kernpunkt des Staatsvertrags - zuzustimmen. Dabei beanspruchen die Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion das von mir respektierte Recht, nicht gegen ihre Überzeugung im Bundestag zu stimmen. Daraus ergibt sich, dass die Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion auch zustimmen werden, wenn der Spitzenkandidat der Partei das Recht für sich in Anspruch nimmt, nicht gegen seine Überzeugung einen Wahlkampf zu führen. In den nächsten Monaten und Jahren wird deutlich werden, dass die Entscheidung der Bundesregierung zur Einführung der DM zum i. Juli zu einer Verschärfung der sozia len Spannungen und damit zu einer Vertiefung der sozialen Spaltung in der Gesellschaft der Bundesrepublik und der DDR führen wird. Auf dem Berliner Parteitag hatte ich deutlich gemacht, dass die Idee des Nationalstaats nicht mehr die Grundlage für eine zukunftsweisende Politik im ausgehenden 20. Jahrhundert sein kann. Vielmehr ist heute eine Politik gefordert, die an die Tradition des sozialdemokratischen Internationalismus anknüpft und die die sozialen und ökologischen Fragen der nationalen Frage überordnet. So steht es in unserem Grundsatzprogramm. Viele Mitglieder in unserer Partei haben mir in den letzten Wochen geschrieben und mir ihre Unterstützung angeboten. Ich bin dankbar dafür. Vie le haben mich gebeten weiterzumachen, aber eingeräumt, dass ich nach dem Attentat von Köln die für mein weiteres Leben wichtige Entscheidung selbst treffen muss.« Den Brief schickte ich nicht ab, weil Hans-Jochen Vogel zu diesem Zeitpunkt auf Auslandsreise war und ich nicht wollte, dass er dort davon erfuhr. In der Zwischenzeit hatten meine Freunde in Bonn Wind von meinen Überlegungen bekommen. Viele besuchten mich mit dem Ziel, mich umzustimmen. So tauchten an einem Abend fast alle »Enkel« in meiner Wohnung auf. Selbst Willy Brandt reiste an. Er zürnte mir schon, da er ebenfalls die Währungsunion befürwortete und sich mit Ibrahim Böhme für eine Einführung im Juli 1990 stark gemacht hatte, damit die ostdeutschen Landsleute mit der DM in Urlaub fahren könnten. Auch sein Anliegen war, mich von meinem Schritt abzuhalten. Ich wiederum bat ihn, die Kanzlerkandidatur der SPD selbst zu übernehmen, da er ja bei den Ostdeutschen in hohem
Ansehen stand. Auf diese Idee hatte mich nicht zuletzt ein Brief des Kölner Künstlers Georg Meistermann gebracht, der mir nach dem Attentat schriftlich vorgeschla gen hatte, doch in dieser außerordentlichen Situation Brandt die Kanzlerkandidatur anzutragen. Willy Brandt lehnte ab und war genauso wenig wie Hans-Jochen Vogel oder Mitglieder der Enkelriege, bei denen ich noch einmal vorgefühlt hatte, bereit, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen. In seinen Memoiren Nachsichten schreibt Hans-Jochen Vogel über die damalige Situation: »Viele haben mich danach gefragt, warum ich so weit gegangen bin und es nicht auf einen Rücktritt von [Lafontaines] Kandidatur habe ankommen lassen. Aber ich hatte manchmal den Eindruck, mich an der Grenze meiner Selbstachtung zu bewegen. Dennoch glaube ich unverändert, richtig gehandelt zu haben. Und das aus einer ganzen Reihe von Gründen. Zuerst und vor allem hatte Oskar Lafontaine nach dem Trauma seiner lebensgefährlichen Verletzungen Anspruch auf einen Umgang, der dem Rechnung trug. Deshalb war es für mich selbstverständlich, dass ich nach Saarbrücken fuhr und die Gespräche dort stattfanden. Dass in den Medien von Wallfahrten die Rede war, störte mich nicht. Dann hätte Lafontaines Rücktritt die Partei in eine schwere Krise gestürzt. Er besaß in der Partei - und auch darüber hinaus - eine sehr motivie rte Anhängerschaft, die einen solchen Schritt nicht kampflos hingenommen hätte. Der neue Kandidat - und das hätte nach den Umständen nur ich sein können hätte folglich einen Zweifrontenkrieg führen müssen und die Partei in der Auseinandersetzung mit Helmut Kohl nur zu einem Teil hinter sich gehabt.« Nachdem niemand aus der SPD-Führung bereit war, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen, wusste ich, dass ich jetzt einen schweren Gang zu gehen hatte, denn ich war ein Feldherr ohne Truppen. Meine Vorbehalte gegenüber der überstürzten Währungsunion zum Kurs von i: i wurden mir als Gegnerschaft zur Deutschen Einheit ausgelegt. Dabei hatte ich immer so argumentiert: Das Wichtigste sei nicht, dass die Menschen in einem Staat zusammenlebten, sondern dass sie in einer Demokratie in Freiheit leben könnten, die gleichen Lebensverhältnisse hätten, nicht arbeitslos würden und dass dadurch im besten Sinne des Wortes der Fall der Mauer zu einer deutlichen Verbesserung ihrer Lebensmöglichkeiten führen würde. Ich erinnerte mich in jenen Tagen öfter daran, dass Konrad Adenauer schon 1958 vor dem Bundestag eine Österreich-Lösung für die DDR ins Gespräch gebracht hatte. 1962 hatte er erklärt, die Bundesregierung sei bereit, über vieles mit sich reden zu lassen, wenn »unsere Brüder in der Zone« ihr Leben so einrichten könnten, wie sie es wollten. »Überlegungen der Menschlichkeit spie len hier für uns eine noch größere Rolle als nationale Überlegungen.« Mir schwebte ein ähnlicher Weg vor wie 1955 im Saarland: Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde dort mit einer Verzögerung von vier Jahren vollzogen, um der Saarwirtschaft die notwendige Zeit zur Umstellung einzuräumen. Doch was die ehemalige DDR betraf, so war die große Mehrheit anderer Meinung und wollte es anders. Für Helmut Kohl war der Umtausch der Ostmark in DM zürn Kurs 1 : 1 der Wahlkampfknüller. Als sich später herausstellte, dass die euphorischen wirtschaftlichen Erwartungen alle auf Sand gebaut waren, griff man zu der Entschuldigung, zu der man immer greift, wenn die Dinge so fürchterlich schief gehen: »Wir hatten keine andere Wahl.«
DAS ATTENTAT
Nach meinem Rücktritt von allen politischen Ämtern im März 1999 schrieb der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer im Spiegel: »Der Rücktritt Oskar Lafontaines kam für fast alle aus heiterem Himmel und war in seiner Radikalität so unverständlich wie dem Nichtjapaner ein Harakiri. Einen Weg, diesen Entschluss nachzuvollziehen, eröffnet die Trauma - Psychologie... Solange es darum ging, die SPD in Bewegung zu setzen und zu halten, ihre unterschiedlichen Strömungen zu integrieren und den Machtwechsel in Bonn voranzutreiben, hat Lafontaine Qualitäten entwickelt, die zu seinem jüngsten Schritt nicht zu passen scheinen... Die häufigste Spätfolge einer seelischen Traumatisierung scheint eine gesteigerte seelische Verwundbarkeit, verbunden mit einem Anspruch, sich niemals mit weniger als Perfektion zufrie denzugeben... Lafontaine wurde mitten in seiner Karriere als Politiker, subjektiv auf dem Weg zum einflussreichsten Amt in Deutschland, aus einer jubelnden Masse heraus schwer verletzt. Wir haben nichts vom Wesen der psychischen Traumatisierung verstanden, wenn wir annehmen, nach der erfolgreichen Behandlung der Stichwunde sei ein solches Erlebnis erledigt. Es drückt aus, wie wenig verlässlich Macht, Anerkennung, politischer Erfolg sind;... Damals hat er in übermenschlicher Anstrengung die seelische Verletzung verdrängt, so gut und rasch es eben gehen wollte. Er tat es wohl,
um seine Freunde nicht zu enttäuschen... Es ist zu vermuten, dass der Schwung, den Lafontaine nach seiner Wahlniederlage in die Partei brachte, mit einer kompensatorischen Anstrengung zusammenhängt... Der subjektiv vom Attentat aus dem Rennen geworfene Kanzlerkandidat von 1990 hatte taktisch richtig und ohne Rücksicht auf die eigenen Emotionen einem anderen Kanzlerkandidaten Platz gemacht. Seit dem Wahlsieg war Lafontaine nicht mehr Teil einer Bewegung, sondern Gekreuzigter eines Machtsystems, das seine Visionen geringschätzte und seine praktischen Bemühungen entwertete.« Ich bin oft gefragt worden, wie ich das Attentat verarbeitet habe, und glaube, mit gebührendem Abstand heute dazu etwas sagen zu können. Den Anschlag habe ich sehr bewusst erlebt. Mir war auch im Moment des Attentats völlig klar, was passierte. Noch eine Zeitlang war ich bei Bewusstsein. Ich bat die sich über mich beugenden Helfer und Sicherheitsbeamten, den Notarzt zu rufen. Angesichts des starken Blutverlusts konnte mein Leben schnell zu Ende sein. Ich dachte an Christa, meinen Sohn Frederic, meine Mutter, meinen Bruder und an Menschen, die mir wichtig sind; Stationen meines Lebens schössen mir durch den Kopf, bevor ich das Bewusstsein verlor. Dieses einschneidende Erlebnis sollte mich fortan nicht mehr loslassen. Als ich in der Klinik aufwachte und die Ärzte ihre Arbeit erledigt hatten, wusste ich, dass ich davongekommen war. Den Sicherheitsbeamten, die kreidebleich an der Wand standen und mich beobachteten, zwinkerte ich aufmunternd mit dem rechten Auge zu. Ich konnte bald Besuch empfangen. Es kamen als erste Christa und Reinhard Klimmt und dann viele andere. Gut in Erinnerung ist mir, wie am Abend nach der Operation der kompetente und sympathische Oberarzt Prof. Müller mir sagte: »Damit Sie besser einschlafen können, kann ich Ihnen eine Tablette geben, oder Sie können ein Glas Rotwein trinken.« Die Wahl fiel mir nicht schwer. Ich erzähle diese Geschichte, um zu verdeutlichen, dass sich bei mir, neben der Freude, davongekommen zu sein, das Bedürfnis einstellte, das neugewonnene Leben noch intensiver zu leben. In den darauffolgenden Tagen kam mir der ganze Alltagskram völlig unwichtig vor, auch die täglichen Nachrichten bedeuteten mir nichts. Ich fühlte mich wie ein Wanderer, der das Meer erreicht hat und nichts sieht als die unendliche Weite des Wassers und das Blau des Horizonts. Ich hatte erfahren, wie wenig verlässlich Macht, Anerkennung und politischer Erfolg sind. Nach sieben Tagen wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Sehr schnell stellte ich fest, dass die körperlichen Folgen des Attentats leicht zu überwinden waren, es aber viel schwerer sein würde, die seelischen Folgen zu bewältigen. Das Attentat hatte mich verändert: Konkret hatte ich erfahren, dass das Leben von der einen zur anderen Minute zu Ende sein kann. Ich hatte mein bisheriges Leben Revue passieren lassen und Bilanz gezogen: Von nun an wollte ich nur noch das machen, was ich mit gutem Gewissen vor mir vereinbaren konnte. Auch wollte ich mir in keinem Fall vorwerfen, Frau und Kinder zu stark zu vernachlässigen. Tatsächlich habe ich das durchgehalten. Selbst in Zeiten schwerer beruflicher Belastung fand ich immer wieder Wege, die Familie nicht zu kurz kommen zu lassen. Auch die endlose Routine von Wahlkämpfen, Sitzungen, Pressekonferenzen und Interviews habe ich immer wieder von neuem hinterfragt und geprüft, ob ein solcher Einsatz, sich lohnt. Allein meine starke politische Motivation war Grundlage dafür, die vielen Entbehrungen auf mich zu nehmen, die mit den Aufgaben eines Spitzenpolitikers verbunden sind. Der Wunsch, einen Beitrag zur Bewahrung des Friedens, zur Erhaltung der Umwelt, zur gleichberechtigten Teilnahme der Menschen am gesellschaftlichen Leben und zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit leisten zu können, trieb mich an. Nach dem Attentat schielte ich sicherlich öfter als Gleichaltrige bei den Todesanzeigen auch auf das Geburtsdatum der Verstorbenen. Und immer wieder stellte ich fest, dass natürlich darunter Leute waren, die nach mir geboren waren. Auch den frühen Tod von Karl-Heinz Hiersemann und Klaus Matthiesen habe ich wohl anders wahrgenommen als viele meiner gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen in der Politik. Bei öffentlichen Veranstaltungen fühlte ich mich weitaus weniger sicher als in den Jahren zuvor. Wenn sich Unbekannte mir näherten, war ich stets in Alarmbereitschaft. Denn mir war klar, dass ich bei größerer Wachsamkeit den Messerstich der Attentäterin hätte abwehren können. Die Grenzerfahrung des Attentats und seine Verarbeitung sind auch eine Erklärung dafür, dass ich vor dem Mannheimer Parteitag 1995 wenig Neigung spürte, den Vorsitz der SPD zu übernehmen. Wer nicht über meinen Erfahrungshintergrund verfügt, für den mag dies unglaubwürdig klingen. Auch unter der Bonner Käseglocke fühlte ich mich in dieser Angelegenheit immer missverstanden. Meine Gesprächspartner unterstellten mir, dass mein Verweis auf die veränderte Lebenseinstellung nach dem Attentat eine
Schutzbehauptung sei, um meinen überbordenden Ehrgeiz zu kaschieren. Zu Christa hatte ich in den ersten Monaten nach Mannheim immer wieder gesagt, sobald wir bei Meinungsumfragen 40 Prozent erreicht haben, werde ich den Stab weitergeben. Als wir uns dann ein gutes Jahr vor der Bundestagswahl in den Meinungsumfragen bei 40 bis 42 Prozent einpendelten, setzte ich dieses Vorhaben nicht in die Tat um, obwohl durch die Geburt von Carl Maurice im Februar 1997 eine Veränderung in meinem Leben eingetreten war, die einen solchen Schritt zusätzlich gerechtfertigt hätte. Beflügelt durch die Umfrageergebnisse hatte ich mir vorgenommen, die Scharte, die die Wahlniederlage des Jahres 1990 für mich und die SPD bedeutet hatte, wieder auszuwetzen. Ich wollte meinen Anteil dazu beitragen, dass wir den Regierungswechsel endlich schafften. Zudem hatte ich ein neues Projekt. Ich war davon überzeugt, dass die sozialdemokratischen Parteien eine Antwort auf die Anarchie der Finanzmärkte finden mussten. Die aus dem Ruder gelaufene weltweite Währungsspekulation stürzte ganze Volkswirtschaften in die Krise und brachte vielen Menschen Elend und Massenarbeitslosigkeit. Der Kampf gegen diesen Kapitalismus pur musste das große Thema der europäischen Sozialdemokratie und der Sozialistischen Internationale werden. Um einen europäischen Beschäftigungspakt zu verwirklichen, war ich mittlerweile auch bereit, eine Aufgabe in der Regierung zu übernehmen. Ich hatte meinen engeren Freunden in der Parteiführung aber immer gesagt, und das machte meine Stärke aus, dass ich, falls meine politischen Vorstellungen in der Partei nicht mehrheitsfähig wären, jederzeit bereit wäre, einem anderen den Vorsitz zu überlassen. Der Gedanke, mein Leben so einzurichten, dass ich mir bei einem plötzlichen Ende keine zu starken Vorwürfe machen müsste, ließ mich nicht mehr los. So gesehen war mein Rücktritt von allen politischen Ämtern auch eine Spätfolge des Attentats aus dem Jahre 1990.
POLITIK UND FAMILIE
Wer in der Politik Verantwortung übernimmt, der kann die se Aufgabe nur sehr schwer mit dem Familienleben in Einklang bringen. Schließlich finden an Samstagen und Sonntagen wichtige Veranstaltungen statt, die besucht werden müssen. Dass die Abende werktags auch mit Terminverpflichtungen verplant sind, ist ohnehin selbstverständlich. Wo die Familie da noch Platz haben soll, darüber macht sich keiner Gedanken. 1998 war ein schweres Wahlkampfjahr, das mich als Parteivorsitzenden völlig in Anspruch nahm. An Urlaub war nicht zu denken. Nach den anstrengenden Koalitionsverhandlungen und den Wochen der Regierungsbildung hatten Christa und ich beschlossen, mit Carl Maurice wenigstens vierzehn Tage Weihnachtsurlaub in Mexiko zu machen. Wie immer hatten wir uns für ein Hotel mit wenig Touristen entschieden, um uns in Ruhe erholen zu können. Europäische Hotels kamen für uns nicht in Frage, da ich dort so häufig angesprochen wurde, dass kaum Urlaubsstimmung aufkam. Als die Reise schon gebucht war, hatte der damalige Vorsitzende der europäischen Finanzministerkonferenz, der österreichische Finanzminister Rudolf Edlinger, die Idee, eine Art Silvesterball in Wien zu organisieren. Die europäischen Finanzminister sollten dorthin eingeladen werden, um zum Jahreswechsel symbolisch den Euro aus der Taufe zu heben. Da dieser Silvesterball in Wien stattfinden sollte, musste ich zwangsläufig an den Wiener Opernball und die damit verbundene Berichterstattung denken. Ich riet daher von einer solchen Veranstaltung ab. Das Thema war zunächst damit erledigt. Kurze Zeit später aber setzte mein Freund Dominique Strauss-Kahn durch, dass sich die Finanzminister in Brüssel treffen sollten, um das Glas Champagner auf den Euro zu heben. Sollte ich nun meinen Urlaub unterbrechen und zu Lasten der Steuerzahler von Mexiko nach Brüssel und wieder zurück fliegen, nur um mit meinen Kollegen auf den Euro anzustoßen? Ich hielt es für vernünftiger, meinen Vertreter in der Bundesregierung, Bundeswirtschaftsminister Werner Müller, zu bitten, mich zu vertreten, und unterbrach meinen Urlaub nicht. Obwohl der Euro schon bei vielen Gelegenheiten staatstragend gefeiert worden war, wurde mein Fernbleiben scharf verurteilt. Oppositionspolitiker bezeichneten es als Schande für Deutschland. Sogar Parteifreunde empörten sich hinter vorgehaltener Hand. Aufrechte Kommentatoren, die selbstverständlich nie daran dachten, auf Urlaub zu verzichten, taten ihr Missfallen kund. Zu fragen, was es gebracht hätte, wenn auf dem Foto zu dieser Feier statt des Bundeswirtschaftsministers der Bundesfinanzminister abgebildet worden wäre, auf die Idee kam so gut wie niemand. Wäre ich von Mexiko angeflogen, hätte sicherlich zumindest eines der einschlägig bekannten Nachrichtenmagazine sein Unverständnis darüber geäußert, dass der Finanzminister für ein Glas Champagner so viel
Steuergeld verschleudert. Auch ein Spitzenpolitiker sollte das Recht haben, ungestört ein paar Tage mit seiner Familie verbringen zu können. Und selbst in Mexiko war ich nicht nur als Privatmann. Der mexikanische Präsident Ernesto Zedillo hatte nämlich von meinem Aufenthalt erfahren und mich für einen Tag nach Mexico City geladen. Er war ein liebenswürdiger Gastgeber, und wir unterhielten uns über die Krise des internationalen Finanzsystems. Die Erfahrungen mit der Peso - Krise konnte er mir aus erster Hand schildern. Ich war erstaunt, wie groß unsere Übereinstimmung bei der Beurteilung des internationale n Finanzsystems war. Am darauffolgenden Tag ließ mir der Präsident ein Buch an meinen Urlaubsort bringen: Es war The acddental theorist von Paul Krugman. Ich freute mich darüber. So wie zum Jahreswechsel 1998/99 habe ich im Laufe meiner jahrzehntelangen politischen Tätigkeit leider immer wieder erfahren müssen, dass unser heutiger Politikbetrieb ein normales Familienleben nicht zulässt. Hermann Hesse empfiehlt uns, »suchen Sie mit allen Kräften eine Ihnen gemäße Lebensform, auch wenn Sie alle Pflichten dafür versäumen. Die Pflichten beziehen einen großen Teil ihrer Heiligkeit, wenn nicht die ganze, aus einem Mangel an Mut im Kampf um ein Privatleben.« Viele Kollegen haben mir erzählt, sie hätten zuwenig Zeit für ihre Kinder gehabt. Ich wollte das anders machen. Während ich Bundesfinanzminister war, setzte ich mich manchmal gegen 20 Uhr ins Auto und ließ mich noch nach Saarbrücken fahren, um Christa, Carl Maurice und Frederic zu sehen. Während der zweistündigen Fahrt hatte ich selbstverständlich noch Zeit, zu arbeiten, zu lesen und zu telefonieren. Oft erreichte ich Saarbrücken erst nach 2.3 Uhr. In der Presse konnte ich dann so gehässige Bemerkungen lesen wie: »Waigel saß aber länger im Ministerium!« Bei Geburtstagen und Jubiläen wird nach der ausdrücklichen Würdigung des Geburtstagskinds oder Jubilars üblicherweise auch seiner Gattin gedankt, weil ohne ihre Unterstützung der Gelobte seine bedeutenden Leistungen wohl niemals vollbracht hätte. In der Regel wird ihr ein Blumenstrauß überreicht, und die Anwesenden applaudieren gerührt. Häufig weilt aber bei solchen Feierlichkeiten die Zweitfrau des so pflichtbewussten Menschen, seine Büroliebe, unter den Gästen, denn der Gepriesene muss ja in irgendeiner Form mit seinen emotionalen Entzugserscheinungen fertig werden. Die ganze Veranstaltung wirkt dann eher peinlich. Ich bin seit langem zu der Einsicht gekommen - dazu bedurfte es nicht der Erfahrung des Attentats -, dass in allen Berufen, auch in der Politik, keine gute Arbeit geleistet werden kann, wenn nicht genügend Raum für Familienleben, Partnerschaft und Kinder vorhanden ist. Bei der gegenwärtigen Organisation des Politikbetriebs ist es auch kein Wunder, dass Politiker, wenn sie öffentlich über Partnerschaft, Kinder oder Familienleben reden, eher unglaubwürdig wirken. Ich habe mich oft gefragt, ob Politik so organisiert sein muss, wie sie heutzutage organisiert ist. Ist es nicht lächerlich, wenn im Wahlkampf nach amerikanischem Stil die Familienmitglieder aufs Foto gedrängt werden? Unsere Mediengesellschaft verlangt nach solchen Bildern, heißt es. Aber wird da nicht allzu oft eine Familienidylle vorgegaukelt? Mir fiel es immer sehr schwer, aus dem Haus zu gehen, wenn Carl Maurice weinend die Anne nach mir streckte und mich nicht gehen lassen wollte. Dieses Bild hatte ich manchmal vor Augen, wenn ich mich in den wichtigen Sitzungen in Bonn zu langweilen begann. Auch die Vorstellung, dass wir bei einem Umzug nach Berlin meine 84jährige Mutter nicht mehr, wie bisher, hätten betreuen können, bedrückte mich. Christa bekocht sie und organisiert den fahrenden Mittagstisch. Vieles hätten wir sicherlich über Dienstleistungen organisieren können, aber Dienstleistungen können die Familie nicht ersetzen.
DIE BUNDESTAGSWAHLKÄMPFE
Im Lauf des Bundestagswahlkampfs 1990 entfremdete ich mich immer mehr von Willy Brandt. Empört war ich, als er am 30. September mit Helmut Kohl in der ARD auftrat und für die Politik des Kanzlers warb. Als Kohl sagte: »...die ökonomisch-wirtschaftlichen Fragen werden viel schneller gelöst, als viele glauben... in drei bis fünf Jahren werden wir dort wirklich Landschaften vor uns sehen, die dem Gesamtstatus der Gesamtrepublik entsprechen...«, erwiderte Brandt: »Ich glaube, dass in der Tat in einem halben Jahrzehnt ein wesentlicher Teil der heutigen DDR das modernere Deutschland sein wird, weil unsere Firmen, wenn sie investieren, nicht altes Zeug dorthin schleppen, sondern moderne Technologie ...« Der Abnabelungsprozess, der schon seit einiger Zeit bei mir eingesetzt hatte, wurde durch Willy Brandts Verhalten im Wahlkampf beschleunigt. Nie vergessen
werde ich auch den 3. Oktober, als wir vor dem Reichstag standen und den ersten Jahrestag der Deutschen Einheit begingen. Als die Nationalhymne verklungen war, gab Willy Brandt allen Umstehenden, dem Bundespräsidenten Weizsäcker, Bundeskanzler Kohl, Stoltenberg, Blüm und auch Heiner Geißler die Hand, um zur Einheit zu gratulieren. Demonstrativ verweigerte er mir als einzigem den Handschlag. Zwar ließ ich mir an jenem Abend wenig anmerken, und wir suchten noch gemeinsam einen reservierten Raum im Reichstag auf, um, wie geplant, ein Glas zu trinken, aber danach redeten wir nicht mehr miteinander. Willy Brandt war zu einer offenen Aussprache unter vier Augen nicht bereit, vielleicht auch nic ht fähig. Er setzte auf subtile Andeutungen und Gesten und vertraute darauf, dass sein Gegenüber ihn schon verstehen würde. Aber es gibt Situationen, in denen eine klärende Aussprache notwendig ist. Nach der verlorenen Wahl im Jahr 1990 kam der Parteivorstand in Bonn zusammen. Hans-Jochen Vogel schlug mich dort für den Parteivorsitz vor - worüber er mich schon in Saarbrücken bei der Abschlusskundgebung informiert hatte. Aber die herbe Wahlniederlage sowie die Tatsache, dass sich die Partei in Teilen von mir abgewandt hatte, konnte ich nur schwer verwinden. Als sei das noch nicht genug, kritisierte Willy Brandt in dieser Vorstandssitzung meinen Wahlkampf in ungewöhnlich heftiger Form. Erschöpft und seelisch zermürbt, teilte ich dem Parteivorstand der SPD mit, dass ich für das Amt des Vorsitzenden nicht zur Verfügung stünde. Björn Engholm wurde nach meinem Verzicht zum Vorsitzenden der SPD gewählt. Die Verstimmung zwischen Willy Brandt und mir bela stete mich. Als er im Oktober 1991 erkrankte, schrieb ich ihm einen Brief und schickte ihm eine Kiste Rotwein. Ein Jahr später, am 24. September 1992., ließ ich dem Todkranken nur einen Satz zukommen: »Lieber Willy, ich denke oft an Dich und bin mit meinem Herzen bei Dir.« Ich hatte mir in der Folgezeit die politische Arbeit gut eingerichtet. Im Saarland hatte ich eine satte Mehrheit. Die Aufgabe des stellvertretenden Parteivorsitzenden genügte mir, um auf Bundesebene mitzusprechen, ohne in der ersten Reihe stehen zu müssen. Aber die Dinge kamen anders. In der Folge der Barschel-Affäre entschloss sich 1993 Björn Engholm, vom Amt des Parteivorsitzenden zurückzutreten. Da die Nachfolge auf niemanden eindeutig zulief, wurden die Mitglieder aufgerufen, den Parteivorsitzenden der SPD per Urwahl zu bestimmen. Zur Wahl standen Heidemarie Wieczorek-Zeul, Rudolf Scharping und Gerhard Schröder. Gerhard Schröder erklärte, dass er nicht nur das Amt des Parteivorsitzenden, sondern auch das Amt des Kanzlerkandidaten anstrebe. Ich geriet während einer Parteivorstandssitzung heftig mit ihm aneinander und sagte, dass ich mit ihm nicht zusammenarbeiten könnte. Über die Tatsache, dass er schon vor dem erklärten Rücktritt Björn Engholms Anspruch auf seine Nachfolge erhoben hatte, war ich empört. Zudem war ich enttäuscht darüber, dass er, den ich lange Jahre gegen den Widerstand vieler unterstützt hatte, sich immer mehr von mir abwandte. Die Saar - SPD unterstützte Scharping, weil es schien, dass er bereit war, mir erneut die Kanzlerkandidatur der SPD anzutragen. Peter Glotz erinnert sich in seinem Buch Die Jahre der Verdrossenheit an den Abend des 17. Mai 1993: »Am Abend sitzen wir bei dem Saarländer zusammen und trinken, acht oder neun Vorstandsmitglieder. Das Ziel ist klar: Wir wollen Scharping dazu bringen, Lafontaine als Kanzlerkandidaten zu akzeptieren. Ein Tandem. Schröder bleibt ausgeklammert. Er ist berauscht von der Idee, dass der Moschusgeruch der Macht die Leute betäube. Deswegen wiederholt er täglich sechsmal die Formel >Ich will alles*. - Also muss man dafür sorgen, dass er gar nichts bekommt. Heidi Wieczorek-Zeul, die natürlich genau begreift, was gespielt wird, bleibt ein wenig säuerlich. Es geht hin und her, her und hin. Nach ein paar Stunden sind wir alle angetrunken, Scharping ausgenommen. Klaus Matthiesen bedrängt ihn mit immer neuen Attacken. Er sieht aus wie ein Oberbootsmannsmaat auf großer Fahrt. Gleich, denke ich mir, wird er singen: >Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord.< Er singt aber nicht, er brüllt. Scharping bleibt kalt, vorsichtig. Da weiß ich: der will auch alles, er sagt es nur nicht.« Heidemarie Wieczorek-Zeul wurde insbesondere in den eher linken Landesverbänden und Bezirken und von den Frauen unterstützt. Aus der Wahl ging Rudolf Scharping mir 40,3 Prozent als Sieger hervor. Gerhard Schröder erreichte 33,2 Prozent und Heidemarie Wieczorek-Zeul erreichte 26,5 Prozent. Nach der Wahl erklärte Rudolf Scharping: »Tandem bin ich noch nie gefahren.« Dieser Satz ist ein Beleg dafür, warum Rudolf Scharping im Parteivorsitz an sich selbst gescheitert ist. Er suchte zuwenig das Gespräch und die Zusammenarbeit. Ich erinnere mich noch, dass ich Johannes Rau einmal anrief und sagte: »Johannes, kannst du mir helfen? Der Rudolf redet zuwenig mit mir. Vielleicht kannst du herausfinden, was die Ursache ist, und dazu beitragen, dass wir besser
miteinander ins Gespräch kommen.« Johannes Rau lachte am anderen Ende der Leitung und sagte auf seine unnachahmliche Art: »Da musst du dir nichts draus machen, der redet mit mir auch nicht.« Rudolf Scharping war als Parteivorsitzender gut gestartet und wurde von der Presse mit sehr viel Vorschußlorbeeren bedacht. Es war klar, dass ihm niemand die Kanzlerkandidatur verwehren konnte, wenn er sie wünschte. Er wurde auf dem Parteitag in Halle am 22. Juni 1994 mit 95 Prozent der Stimmen zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt. Nach den Erfahrungen des Jahres 1990 hatte ich mir vorgenommen, meinen Anteil bei der Unterstützung des Kanzlerkandidaten durch die Partei beizusteuern. Die mangelnde Unterstützung von Teilen der Partei hatte mir im Wahlkampfjahr 1990 arg zugesetzt. Gunter Hofmann, Leiter des Berliner Büros der Zeit, urteilt über diese Jahre: »Lafontaine blieb im Hintergrund. Kein geringschätziges oder unfaires Wort aus seinem Mund hat man im Ohr, mit dem er zu Engholm oder Scharping, den jeweiligen Vorsitzenden, auf Distanz gegangen wäre. Oft feilte er Kompromisse mit (Asylgesetz), gelegentlich blockierte er eine Kehrtwendung der Politik (den Ausstieg aus der Kernenergie wollte er nicht aufgeben, und gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr am Balkan sträubte er sich) ... Manchmal konnte man fast meinen, er habe die Lust an der Politik verloren. Als stellvertretender Parteivorsitzender und als Ministerpräsident wirkte er zwar im Hintergrund mit, aber Ambitionen schien er nicht mehr zu haben. In dieser Zeit avancierte Gerhard Schröder zum heimlichen, später dann sogar offenen Rivalen Rudolf Scharpings - und zum neuen >Helden< der SPD, der ganz offensichtlich Kanzler werden wollte. Manchmal entstand der Eindruck, Schröder verachte geradezu seine eigene Partei, er galt jetzt unversehens als der kleine Franz Josef Strauß der SPD, nicht mehr Lafontaine. Er schien der destruktive Charakter zu sein, der Unfrieden stiftet, während Lafontaine in die Rolle des stillen Moderators geriet.« Ich unterstützte Rudolf Scharping nach Kräften. Im Wahlkampf 1994 hatte ich nach einem Bericht der Bild am Sonntag von allen Politikern das größte Pensum im Parlament und im Fernsehen auf mich genommen. Leider zeigte sich auch bei diesem Wahlkampf, wie schon bei den Bundestagswahlen davor, dass es ein Fehler der SPD war, den Kanzlerkandidaten zu früh zu bestimmen und auszurufen. Auf einer Pressekonferenz war Rudolf Scharping nach dem Steuerkonzept der SPD gefragt worden. Er sollte auch beantworten, ab welchem Einkommen die SPD eine Ergänzungsabgabe einführen wolle. Da wir diese Grenze noch nicht festgelegt hatten, geriet Rudolf Scharping ms Schleudern. Dies wurde ihm dann ungerechterweise so ausgelegt, als hätte er brutto und netto verwechselt. Danach wandelte sich das öffentliche Meinungsbild. Diejenigen, die vorher seine Eigenschaften - eine gewisse Langsamkeit, Beständigkeit und Verlässlichkeit - gut beurteilt hatten, kamen jetzt zu dem Ergebnis, er sei langweilig, ideenlos und hätte wenig Temperament. Zudem machte Rudolf Scharping im Verlauf der Wahlkampagne eine Reihe von Fehlern. Am Z3- Mai 1994 schafften wir es nicht, dass Johannes Rau zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Roman Herzog setzte sich durch. In der Rau-Biographie von Rolf Kleine und Matthias Struck heißt es dazu: »Unter dem Eindruck der Herzog-Wahl begeht die SPD gleich am nächsten Tag einen schweren taktischen Fehler. Enttäuscht, dass seine Rechnung nicht aufgegangen ist, rückt Parteichef Rudolf Scharping das Ergebnis der Wahl vor der Bundespressekonferenz in die Nähe eines Aktes von zweifelhafter politischer Legitimität. Nicht von dem Bemühen, den Besten zu wählen, sei die Mehrheit getragen worden, >sondern lediglich von machtpolitischem Kalkül von Helmut Kohl<. Nach dem Verhalten der Liberalen, im entscheidenden Durchgang mehrheitlich für den Unions-Kandidaten zu votieren, stelle sich die Frage, >wer denn die FDP eigentlich noch braucht«. Das Medienecho auf Scharpings Auftritt ist verheerend. Von >bösem Nachtreten« ist die Rede, von schlechten Verlierern«, die nicht begreifen wollten, dass sie von vornherein keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Selbst in der SPD löst der Auftritt des Vorsitzenden Kopfschütteln aus. Man solle jetzt >nicht nachkarten«, warnt Fraktionschef Hans-Ulrich Klose, >unser politischer Gegner heißt Helmut Kohl und nicht Roman Herzog«. Intern fällt die Kritik sogar noch heftiger aus. >Wie ein trotziges Kind< habe der Parteichef reagiert und damit ohne Not politisches Porzellan zerschmissen«, rügen Präsidiumsmitglieder. Die SPD und ihr Kanzlerkandidat Scharping sind aus dem Tritt geraten.« Was auch schief ging, alles wurde nun Scharping zur East gelegt. Im Gegenzug hatte es Gerhard Schröder verstanden, sich durch Kritik an der Politik der Partei und der Person Rudolf Scharpings als neuer Hoffnungsträger der SPD zu empfehlen. Insbesondere die Hamburger Presse war ihm wohlgesonnen. Als wir sahen, dass die Umfrageergebnisse für die SPD immer schlechter wurden, kam mir die Idee, Gerhard Schröder für die Regierungsmannschaft zu gewinnen. Rudolf Scharping stimmte nach einigem Zögern zu und nahm das Gespräch mit Gerhard Schröder auf. So entstand die Troika.
Der Eintritt Gerhard Schröders in die Wahlkampfmannschaft verhinderte ein weiteres Absinken der SPD in den Umfragen, sicherlich auch, weil jetzt das von der Presse gewünschte neue Gesicht im Wahlkampf auftauchte. »Das ist ein genialer Coup von Rudolf Scharping«, kommentierte die Hamburger Morgenpost. Und unter der Überschrift »Scharpings bester Schachzug« schrieb Martin E. Süskind in der Süddeutschen Zeitung: »Dies alles kann nur bedeuten, dass jetzt, da der Liebling der Nation eingreift, der Wahlkampf einen kräftigen neuen Anstrich bekommen wird.« Vier Tage vor dem Wahltag sorgte Schröder noch einmal für Aufregung. In einem Interview erklärte er sich bereit, auch im Falle einer großen Koalition unter Kanzler Kohl als Wirtschaftsminister nach Bonn zu kommen, und fügte hinzu, Kohl sei für ihn »nie eine Unperson« gewesen, sondern »ein Mann, dessen politische Lebensleistung ich nie in Abrede gestellt habe«. Einen Tag später sagte Theo Waigel zu mir im Bundesrat: »Schönen Gruß vom Kohl: Den Schröder nimmt er nicht.« Das saß! Das Wahlergebnis aber reichte nicht aus, um die Regie rung Kohl abzulösen. Zwar hatte Gerhard Schröder nach den ersten Hochrechnungen die Bildung einer großen Koalition angeregt und gesagt: »Es steht doch fest, dass man Deutschland mit einer so lächerlichen Mehrheit nicht regie ren kann.« Aber die Koalition aus CDU/CSU und FDP war auf Weitermachen festgelegt. Die Enttäuschung war entsprechend groß. Defätismus machte sich breit. Die SPD, so meinten einige, sei strukturell nicht mehrheitsfähig und könne in Deutschland keine Wahlen mehr gewinnen. Helmut Kohl, so meinten wiederum andere, sei ein unschlagbarer politischer Profi, und insbesondere in der Endphase des Wahlkampfs würde er immer wieder das Rennen machen. Damals kam das Wort von der Kohl-Kurve auf: Zu Beginn eines Wahlkampfs lag Kohl immer zurück, um dann während des Wahlkampfs mächtig aufzuholen und am Ende die Nase vorn zu haben. Kohl gewann 1994 nicht, weil er so gut war, sondern weil wir so viele Fehler gemacht hatten. Nach der Bundestagswahl ließ uns vor allen Dingen Gerhard Schröder wissen: »Ich hätte es gepackt.« In den darauffolgenden Monaten kam es zu einem regelrechten Dauerkrieg zwischen Rudolf Scharping und Gerhard Schröder, der die Partei stark beschädigte. Ich hatte Rudolf Scharping immer wieder nahegelegt, auf die Angriffe Gerhard Schröders nicht zu reagieren, da er bei diesem Spiel nur verlieren könne. Rudolf Scharping sah das anders. Höhepunkt der Auseinandersetzung war die Entlassung Gerhard Schröders als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD, obwohl Johannes Rau und ich davon abgeraten hatten. Die Partei hatte zwischenzeitlich bei Meinungsumfragen sehr schlechte Ergebnisse. Dazu kam, dass ich mich beim Thema Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb des Nato-Vertragsgebiets genötigt sah, Rudolf Scharping öffentlich zu widersprechen. Die Partei hatte auf dem Parteitag in Bremen 1991 einem Antrag zugestimmt, den Björn Engholm und ich zusammen mit den Außen- und Sicherheitspolitikern ausgearbeitet hatten. In diesen Beschluss wurde die Beteiligung der Bundeswehr an Blauhelmmissionen der UNO befürwortet. Ausdrücklich abgelehnt hatte die Partei Kriegseinsätze der Bundeswehr außerhalb des Nato-Vertragsgebiets. Diese Festlegung wollte Rudolf Scharping verändern. In einem Brief an die Mitglieder des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion schrieb er im Dezember 1994: »Eine deutsche Beteiligung an Nato-Maßnahmen zum Schutz eines eventuellen Abzugs der UN-Blauhelme ist nicht nur eine Verpflichtung gegenüber den Entsendestaaten, sondern unzweifelhaft auch eine Bündnisverpflichtung, wenn die Nato einen entsprechenden UN-Auftrag erhält.« In einem Aufsatz im Spiegel trat ich dieser Auffassung entgegen. Ich spielte über die Bande und kritisierte nicht Scharping, sondern die Bundesregierung: »Jetzt bietet die Bundesregierung Tornados an, um Hilfsflüge zu schützen und, falls nötig, beim Abzug von Blauhelmen serbische Stellungen zu bombardieren. Als verhängnisvoll für die zukünftige Außenpolitik erweist sich, dass die Bundesregierung ihr absurdes Angebot mit unserer Verpflichtung zur Bündnissolidarität begründet, obwohl die Nato in ihren vertraglichen Verpflichtungen gar nicht gefordert ist.« Ich konnte mich dabei auch auf Helmut Schmidt berufen, der bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung gemahnt hatte, darauf zu achten, dass weder die Europäische Union noch die Nato zum Spielball kurzfristiger Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrats gemacht würden. Man könne die Nato dadurch sehr schnell demontieren. Ganz auf dieser Linie schrieb er einige Jahre später: »Gegenüber den Weltproble men des nächsten halben Jahrhunderts ist der von Washington betriebene Ausbau der Nato zu einer weltweit operationsfähigen Interventionsstreitmacht wenig hilfreich. Sie könnte weder die zukünftigen Krisen in Asien, noch in Afrika noch in Lateinamerika bewältigen. Auch im Kosovo und auf der BalkanHalbinsel insgesamt kann sie Konflikte zwar gewaltsam unterdrücken, aber nicht dauerhaft lösen. Die westliche militärische Allianz kann mit einer Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit verglichen
werden, keiner der Partner möchte sie aufs Spiel setzen. Dennoch ist sie kein Instrument zur Lösung aller Probleme außerhalb der Territorien der Partnerstaaten. Eine öffentliche Debatte über eine generelle Ausweitung der Aufgaben der Nato (Out of Area) hat es bisher kaum gegeben. Dennoch muss ein Demokrat eine tiefschürfende öffentliche Debatte dringend wünschen.« In der Bundestagsfraktion kam es 1995 zu heftigen Diskussionen um die Frage des Einsatzes von Bundeswehrtornados zur Zerstörung serbischer Stellungen. Ein Teil der Bundestagsfraktion stimmte mit der Regierung Kohl für den Einsatz. Die SPD blieb bei der bis dahin vertretenen Linie. Die Bombardements der Nato in der Krajina hatten schlimme Folgen. Die Kroaten nutzten sie, um etwa 2oo ooo Serben aus der Krajina zu vertreiben. Horst Grabert, ehemaliger Kanzleramtschef bei Willy Brandt, schreibt: »Die Idee, das Kosovo von Albanern zu säubern, stammt vom früheren Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien Cosic und war seine Antwort auf die Vertreibung der Serben in der Krajina. Damit sollte Platz zur Ansiedlung der vertriebenen Serben geschaffen werden. Das hat einen durchaus realen Hintergrund, denn Serbien ist das Land mit den meisten Vertriebenen. Überall gibt es Flüchtlingscamps, in denen auch viele Serben leben, die aus dem Kosovo vertrieben wurden. Milosevic hat sich ungefähr fünf Jahre gegen diesen Vertreibungsplan gewehrt. Aber im Zusammenhang mit der Hereinnahme des Ultranationalisten Seselj in die Regierung hat er seinen Widerstand aufgegeben. Als die Bombardierungen der Nato begannen, stand er vor der Frage, wie lange die auszuhalten sind. Und er ist zu dem Schluss gekommen, dass die Vertreibungen in dieser Zeit erledigt sein müssen.« Wegen des Nato-Bombardements im Jahr 1995 und der brutalen Vertreibung der Serben aus der Krajina kam ich zu der Überzeugung, dass es falsch ist, als Kriegspartei in einen Bürgerkrieg einzugreifen. Das ist auch heute noch meine Meinung.
DER PARTEITAG VON MANNHEIM
Im Lauf der ersten Hälfte des Jahres 1995 hatte ich immer stärker das Gefühl, dass sich Rudolf Scharping in den von ihm beanspruchten Funktionen des Parteivorsitzenden, Fraktionsvorsitzenden und Kanzlerkandidaten zuviel vorgenommen hatte. Ich drängte also in vielen Gesprächen darauf, gemeinsam eine Neuverteilung der Aufgaben zu suchen. Dabei dachte ich daran, Johannes Rau noch einmal zu bitten, den Parteivorsitz zu übernehmen. Zwar wusste ich, dass er da oder dort auf Vorbehalte stieß, aber immer noch war es so, dass die große Mehrheit sein ausgleichendes Wesen und die Fähigkeit, Menschen zusammenzuführen, sehr schätzte und dass er über ein gehöriges Maß an Autorität verfügte. Gerhard Schröder wollte ich den Parteivorsitz nicht antragen. Er hatte mir einmal gesagt, er sei nicht geeignet, diese Aufgabe zu übernehmen. Eine Zeitlang spielte er damals mit dem Gedanken, sich um das Amt eines EU-Kommissars zu bewerben. Ich lud Rudolf Scharping und Johannes Rau zu mir nach Hause ein, um sie dafür zu gewinnen, die Führungsspitze der SPD neu zu bilden. Das Abendessen brachte aber nicht den gewünschten Erfolg. Johannes Rau und Rudolf Scharping blockten ab. Sie wollten nichts verändern. Am folgenden Tag fragte ich Christa, ob ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt hätte. Sie sagte mir, ich sei überdeutlich gewesen, aber die Bereitschaft von Johannes Rau und Rudolf Scharping, auf meine Gesprächsangebote einzugehen, sei nicht vorhanden gewesen. So beschloss der Vorstand mit großer Mehrheit, Rudolf Scharping erneut zum Parteivorsitzenden vorzuschlagen. Nach den Meinungsumfragen hätten zu diesem Zeitpunkt nur noch rund 30 Prozent der Wähler bei einer Bundestagswahl der SPD die Stimme gegeben. Christa und ich fuhren nach Mannheim in der festen Gewissheit, dass sich nichts ändern würde. Aber es kam anders. Rudolf Scharping hatte bei seiner Rede einen schlechten Tag erwischt. Wer auch immer ihn beraten hatte, er stand allein auf der Bühne, wie von aller Welt verlassen, und trug eine nur mäßige Rede vor. Anschließend machte sich so etwas wie Ratlosigkeit unter den Delegierten breit. Am darauffolgenden Tag sollten in Diskussionsrunden mit Gästen wirtschafts- und sozialpolitische Fragen erörtert werden. Eingeladen waren unter anderem Jacques Delors, Dieter Schulte, Klaus Zwickel und Hans-Peter Stihl. Ursprünglich war geplant, die Gäste nach der Rede von Jacques Delors auf verschiedenen Foren zu den wichtigsten politischen Themen diskutieren zu lassen. Danach sollte die Antragsberatung beginnen. Als ich sah, dass sich der Saal immer mehr leerte und die Aufmerksamkeit immer geringer wurde, schlug ich Ulrich Maurer, der im Präsidium war, vor, mit meinem Bericht aus der Antragskommission früher zu beginnen. Ich hatte die Hoffnung, dass sich das Plenum wieder füllen würde, da in der Regel meine Beiträge auf den Parteitagen auf größere
Aufmerksamkeit stießen. Mein Bericht der Antragskommission wurde zur mittlerweile bekannten Rede von Mannheim, die ich mit dem Satz schloss: »Es gibt noch Politikentwürfe, für die wir uns begeistern können. Wenn wir selbst begeistert sind, können wir auch andere begeistern. In diesem Sinne: Glückauf.« Das Protokoll vermerkt: »Lebhafter, langanhaltender Beifall, die Delegierten erheben sich.« Erst während der Rede war mir klargeworden, dass ich etwas in Gang gesetzt hatte. Die hinter vorgehaltener Hand geführte Diskussion darüber, ob Rudolf Scharping der richtige Vorsitzende sei oder nicht, war nun offen ausgebrochen. Mehrere Delegierte forderten mich am selben Tag auf, für den Parteivorsitz zu kandidie ren. Ich selbst zögerte. Zwar hatte Christa bei unseren Diskussionen zu Hause immer auf mich eingeredet, ich könne doch nicht tatenlos zusehen, wie die Partei immer weiter in den Meinungsumfragen abrutsche. Ich hatte entgegnet, dass die Übernahme des Parteivorsitzes unser Familienleben erschweren werde. Da die Aufgabe des Parteivorsitzenden viel Zeit in Anspruch nähme, müsste ich häufiger unterwegs sein. Außerdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass es zu einem Wechsel im Parteivorsitz kommen könnte. Abends saß ich mit Gerhard Schröder an der Bar des Hotels, und er redete ebenfalls auf mich ein zu kandidieren. Auch bei dieser Unterredung, die von vielen so gesehen wurde, als hätten sich die Putschisten zum letzten Mal verschworen, hatte ich mich nicht entschließen können. Noch bis in die späte Nacht erreichten mich in meinem Zimmer Anrufe, die zum Ziel hatten, mich zur Kandidatur zu bewegen. Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Am anderen Morgen bat Rudolf Scharping um ein Gespräch. Er hatte sich mit Freunden beraten und war zu dem Ergebnis gekommen, mich ultimativ zur Kandidatur aufzufordern. Ich wollte nicht mehr ausweichen und sagte zu, ebenfalls zu kandidieren. Über den Ausgang machte ich mir weniger Gedanken. Eine Niederlage wäre kein Beinbruch gewesen. Vor dem Parteitag sagte Scharping später laut Protokoll: »Wir haben jetzt eine Situation, in der man etwas klären muss. Ich habe deshalb heute morgen Oskar gefragt, ob er bereit sei, für das Amt des Parteivorsitzenden zu kandidieren ... Oskar hat auf meine Frage hin gesagt, dass er kandidieren wird.« Er war zu diesem Zeitpunkt fest davon überzeugt, auf dem Parteitag eine Mehrheit zu erhalten. Richtig war seine Einschätzung, dass eine solche Mehrheit, wenn sie auch knapp gewesen wäre, seine Position eher gestärkt als geschwächt hätte. Das Ergebnis war mit 32,1 zu 190 Stimmen unerwartet deutlich. Zum ersten Mal in der Geschichte der SPD war ein amtierender Vorsitzender abgewählt und ein neuer gewählt worden. Ich empfand eine große Verantwortung und sah in dem neuen Amt eine schwere Bürde. Schließlich musste die Partei aus einer Talfahrt herausgeholt werden, und die Zusammenarbeit der Führung ließ viele Wünsche offen. Ich sagte am Schluss des Parteitags an die Adresse der anderen Mitstreiter im demokratischen Wettbewerb: »Zieht euch warm an, wir kommen wieder! << Obwohl Rudolf Scharping mich ultimativ aufgefordert hatte zu kandidieren, gelang es ihm, sich in der Folgezeit als Märtyrer darzustellen. Die Medien stürzen sich auf solche Geschichten. Wenn ein aufrechter Parteivorsitzender von bösen Buben, an der Spitze Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, durch gezielte Intrigen und Absprachen weggeputscht wird, so ist das viel spannender als eine Geschichte, deren Pointe lautet: Rudolf Scharping wurde abgewählt, weil die Partei in einem Tief war und weil er den Parteitag falsch eingeschätzt hatte. Auch 1998 sollte Rudolf Scharping noch einmal in die Märtyrerrolle schlüpfen. Doch davon später. Da Personalentscheidungen stets den höchsten Aufmerksamkeitswert in der Öffentlichkeit haben, wurde die Debatte nach dem Mannheimer Parteitag davon zunächst völlig überlagert. Die schöne Story vom gelungenen Putsch sollte noch lange in der Partei nachwirken. Als ich später im Seniorenrat über die Vorgänge in Mannheim berichtete, war der aufrechte Schorsch Leber völlig überrascht, als er erfuhr, dass Rudolf Scharping mich zur Kandidatur aufgefordert hatte. Mir war es aber zu billig, immer wieder zu versuchen, den wahren Sachverhalt darzustellen. Viele Dinge erle digen sich im Lauf der Zeit von selbst. Traurig war ich allerdings darüber, dass ich nach meiner Wahl zum SPD-Parteivorsitzenden Bebels goldene Uhr nicht bekam. Willy Brandt schreibt in seiner Autobiographie Links und frei: »Schweizer Freunde brachten mir eine goldene Uhr, die Bebel hinterlassen hatte. Sie ging noch gut. Meine Partei hat sie mir zu treuen Händen überlassen. Sie wird an die nächsten Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten weitergegeben.« Ich konnte Bebels goldene Uhr daher auch meinem Nachfolger im Parteivorsitz nicht übergeben.
Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik
Die Personalentscheidung lenkte davon ab, dass ich in meiner Rede in Mannheim eine Wende in der unklar gewordenen Wirtschafts- und Finanzpolitik der SPD eingeleitet hatte. Die neoliberale Wirtschaftslehre und der Monetarismus hatten auch die wirtschaftspolitischen Vorstellungen von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern immer stärker beeinflusst. So wie Richard Nixon als amerikanischer Präsident einmal sagte, wir sind alle Keynesianer, so hätten vie le in Deutschland oder Europa sagen können, wir sind alle Neoliberale und Angebotspolitiker. Die SPD-Politiker und Gewerkschafter, die Anhänger der neoliberalen Ideen und angebotspolitischen Vorstellungen waren, wurden in der Presse »Modernisierer« genannt. Im Vorfeld des Mannheimer Parteitags hatte ich in der Saarvertretung zur Vorbereitung des wirtschaftspolitischen Antrags führende Parteifreunde versammelt. Zu den »Modernisierern« gehörten Gerhard Schröder, Henning Voscherau, Wolfgang Clement, Dieter Spöri, Siegmar Mosdorf und andere. Der ursprüngliche Entwurf unseres wirtschaftspolitischen Leitantrags gab das weitverbreitete Standort - Gejammer wieder. Es hieß darin: Deutschland sei ein schlechter Standort und nicht mehr wettbewerbsfähig. Wir müssten alles tun, um den Anschluss an die führenden Industrienationen wieder zu erreichen, und wir seien insbesondere gegenüber den asiatischen Tigerstaaten hoffnungslos zurückgefallen. Ich lehnte mich auf dieser Sitzung weit aus dem Fenster, denn ich hatte zusammen mit meinem späteren Staatssekretär Heiner Flassbeck, der damals Leiter der Konjunkturabteilung des DIW war, das Papier völlig umformuliert: »Objektive Fakten zeigen, dass Deutschland nach wie vor ein erstklassiger Wirtschaftsstandort ist: Der Handelsbilanzüberschuss wird sowohl 1995 als auch 1996 rund 100 Milliarden DM betragen; ein Überschuss wird sogar mit den Billiglohnländern Osteuropas erzielt, und der Handel mit den asiatischen Tigern ist ausgeglichen. Pro Kopf der Bevölkerung ist Deutschland Exportweltmeister. Die anhaltende Aufwertung der D-Mark ist ebenfalls ein Zeichen für die Stärke des Standorts Deutschland. Das Beispiel Japan zeigt auch, dass hohe Auslandsinvestitionen einer Volkswirtschaft kein Beweis für den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, sondern Ausdruck der Stärke der Unternehmen dieses Landes sind. Deshalb sagen wir: Wenn wir uns auf die Stärken unseres Landes besinnen, wird Deutschland die neuen Herausforderungen bestehen. Wir müssen darauf setzen, was unsere Wirtschaft stark und leistungsfähig gemacht hat: auf die Qualifikation und Motivation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auf den Erfindergeist unserer Techniker und Ingenieure, auf die Flexibilität und Innovationsfähigkeit des Mittelstands, auf die Entscheidungskraft und Risikobereitschaft der Unternehmer und Manager, auf die hohe Produktivität der Unternehmen, auf eine leistungsfähige Infrastruktur, auf soziale Stabilität und auf die Lernfähigkeit der Gesellschaft... Wir setzen auf eine Doppelstrategie aus Angebots- und Nachfragepolitik.« Ich wies die SPD-Führung darauf hin, dass diese Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik für mich das wichtigste Anliegen des Mannheimer Parteitags sei. Die Standortdebatte war von den Wirtschaftsverbänden pole misch und einseitig zugespitzt und von allen Wirtschaftsredaktionen, in denen die Jünger der Angebotspolitik in der Mehrheit waren, täglich millionenfach verbreitet worden. Dies hatte zur Folge, dass immer mehr Leute glaubten, Deutschland sei nicht mehr wettbewerbsfähig. Es war also Zeit dagegenzuhalten. Das Programm der Standortpropheten - Lohnzurückhaltung, Kürzung der sozialen Leistungen, Senkung der Unternehmenssteuern, Abbau von Arbeitnehmerrechten -, das zum Projekt der Modernisierung verklärt wurde, taugte nach meiner Einschätzung niemals dazu, die Sozialdemokratische Partei auf Bundesebene mehrheitsfähig zu machen. Wenn es darum ging, Arbeitnehmerrechte abzubauen, Lohnzurückhaltung zu predigen und soziale Leistungen zu kürzen, waren die Liberalen und die CDU/CSU immer »besser«, als die Sozialdemokraten es je sein konnten. Zudem hatte mich die Lektüre von Schriften so renommierter Ökonomen wie der Nobelpreisträger Paul Samuelson, James Tobin, Franco Modigliani, Bob Solow und des nobelpreisverdächtigen Paul Krugman, alle vom berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT), in meiner Auffassung
bestärkt, dass die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland völlig neben der Sache lag. Natürlich befallen einen in der Minderheitenposition immer Selbstzweifel. Zunächst konnte ich mir nicht vorstellen, dass eine wirtschaftspolitische Mode so weit ging, Daten und Fakten einfach zu ignorieren. Ich suchte bei mir selbst immer wieder nach Fehlschlüssen, weil ich nicht verstehen konnte, warum ich so stark von der Mehrheitsauffassung abwic h. Aber von der Naturwissenschaft hatte ich gelernt: Über Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Theorie entscheiden Zahlen und Experimente. Zwar ist die Volkswirtschaftslehre keine exakte Wissenschaft, aber auch sie kommt durch die genaue Beobachtung der Wirklichkeit und das Aufschreiben verschiedenster Messdaten zu Schlussfolgerungen. Wie die Naturwissenschaftler können also auch Ökonomen an Zahlenreihen und Daten ihre Auffassung überprüfen. Dass sich Wirtschaftsverbände als Interessenverbände einseitig äußern, ist üblich und verständlich. Dass aber Wissenschaftler und viele Publizisten und Politiker dieses modische Gerede übernehmen, ist erstaunlich. In Amerika hatte vor allem Paul Krugman die einheimischen Standortpropheten angegriffen. Er hatte folgendes erkannt: »Die Geschichte der Wirtschaftsdoktrinen zeigt nämlich, dass jene Denkweise, die ich als Ideologie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bezeichnet habe, stets von neuem wiederkehrt. Die Ökonomen können noch so oft darauf hinweisen, wie irrig die Vorstellung vom Welthandel als einer Art von Krieg ist (den die Exportländer angeblich gewinnen und die Importländer verlieren); sie mögen noch so oft erklären, dass sich der wirtschaftliche Erfolg eines Landes nicht von der Handelsbilanz ablesen lässt; sie können noch so oft hervorheben, dass das Wohlergehen anderer Länder in den allerseltensten Fällen den Wohlstand des eigenen Landes schmälert - die Versuchung, zu einer primitiven Sicht des Welthandels zurückzukehren und ihn als Nullsummenspie l um Märkte zu betrachten, scheint einfach unausrottbar zu sein... Außerdem spielen heute die Medien eine beträchtliche Rolle. Viele Zeitungs- und Zeitschriftenherausgeber stützen sich lieber auf die Meinung der Flachgeister der populärwissenschaftlichen Fraktion, als sich mit den leider komplexen Gedankengängen derer auseinander zusetzen, die von der volkswirtschaftlichen Gesamtrechung etwas verstehen und wissen, dass die Handelsbilanz auch etwas mit der Differenz zwischen Sparen und Investieren zu tun hat... Beim Studium der sehr umfangreichen Literatur zum Thema Wettbewerbsfähigkeit erstaunt mich immer wieder, wie sehr von hochintelligenten Autoren das Einmaleins der Ökonomie missachtet und wie sorglos mit den Fakten umgegangen wird. Es werden Behauptungen aufgestellt, die den Anschein quantifizierbarer Aussagen über messbare Größen erwecken, doch die Autoren halten es nicht für nötig, diese mit entsprechenden empirischen Daten zu belegen. So entgeht ihnen wohl, dass die Fakten in Wirklichkeit eine andere Sprache sprechen.« Das gleiche Urteil lässt sich auch über die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland fällen. Es war schon beeindruckend, dass die exportstärkste Industrienation der Welt am lautesten darüber jammerte, dass sie nicht mehr wettbewerbsfähig sei. Nachdem die Kurskorrektur vom Mannheimer Parteitag beschlossen worden war, machte ich mich daran, den neuen wirtschafts- und finanzpolitischen Ansatz in der Partei zu verbreiten. Dabei hatte ich eine interessante Begegnung. Der Vorstand der Jusos hatte mich zu einem Gespräch gebeten, um über die zukünftige Politik der SPD zu diskutieren. Ich stellte den Kern meiner wirtschafts- und finanzpolitischen Auffassung vor und musste zu meiner Überraschung feststellen, dass sich die Jusos wie ein Publikum verhielten, dem man altbekannte Hüte präsentiert. Was ich nicht wusste, war, dass sich bei den Jusos Leute durchgesetzt hatten, die zur gleichen Zeit wie ich zu der Ansicht gekommen waren, dass es zwei Wörter gibt, die der Volkswirt kennen muss: nämlich Angebot und Nachfrage. Manch älterer Genösse hätte diese Tatsache vielleicht zürn Anlass genommen, die eigenen Vorstellungen kritisch zu hinterfragen. Ich hatte aber schon früher die Erfahrung gemacht, dass die Jüngeren oft eher zukünftige Entwicklungen erfassen und aufnehmen als die Älteren. Insofern war ich erfreut, ja die inhaltliche Übereinstimmung bestärkte mich sogar eher in meiner Auffassung, als dass sie mich zweifeln ließ. Und trotzdem war es natürlich sehr schwierig, diese Wende überall in der SPD populär zu machen. Die damalige Situation schilderten Richard Meng und Helmut Lölhöffel in der Frankfurter Rundschau: »Die aktuelle politische Grundlinie der SPD, die die neue Konfrontationsstrategie der Regierung Kohl nun voll annehmen will, ist in der Fraktion breit akzeptiert. Lafontaines Umorientierung in der Standort-Diskussion, mit der der Parteichef vom begonnenen sozialpolitischen Dumpingwettbewerb der Nationalstaaten wegführen will, wird bei Parteilinken als die zentrale Konsequenz des Führungswechsels von Scharping zu Lafontaine gefeiert. Die SPD will sich jetzt
stärker von den neoliberalen Denkansätzen abgrenzen und damit auch wieder Identität schaffen. Allerdings: Das programmatische Kunststück, der Bonner Koalition dabei nicht in eine andere Falle zu gehen und als unmodern vorgeführt zu werden, steht erst noch bevor.« Die Medien spielten immer noch eine andere Melodie. Über den Weltwirtschaftskrieg zu schreiben und Stories darüber zu verfassen, wer diesen Krieg wie gewinnen würde, das war viel spannender, als sich mit nüchternen Zahlen auseinander zusetzen und zu der Einsicht zu kommen, dass viele wirtschaftliche Fehlentwicklungen wirklich hausgemacht waren. Lustigerweise warfen uns die angebotspolitisch orientierten Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion vor, die verstaubten Rezepte der siebziger Jahre zu propagieren. Ging doch ihr Credo, jedes Angebot schaffe auch seine Nachfrage, auf den französischen Theoretiker Jean Baptiste Say zurück. Er wurde am 5. Januar 1767 in Lyon geboren und ist am 15. November 1832 in Paris gestorben. Da ich auf empirische Fakten und weniger auf Glaubensbekenntnisse setze, hielt ich den selbsternannten »Modernisierern« immer entgegen, sie könnten sich glücklich preisen, wenn wir heute die Arbeitslosenzahlen der siebziger Jahre hätten. Arbeitslosenzahlen sagen nämlich viel über die Wirtschafts- und Finanzpolitik aus. Wenn die Arbeitslosenzahlen immer weiter ansteigen, ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik falsch. Alles andere ist ideologisches Geschwätz, das nur noch denen leicht über die Lippen geht, die von der Arbeitslosigkeit nicht betroffen sind oder sich in einem bestehenden Wirtschaftssystem mit Unterbeschäftigung gut eingerichtet haben. Wer wie ich der Ansicht ist, dass die Nachfrage eine entscheidende wirtschaftliche Größe sei, wurde als Keynesianer abgetan. Aber viele, die über Keynes urteilen, haben keine Zeile des britischen Nationalökonomen gelesen. Zu Juso-Zeiten spotteten wir über den einen oder anderen, der Marx allenfalls von Klappentexten oder aus der Sekundärliteratur kannte. Auch John Maynard Keynes erfährt eine ähnliche Rezeption. Seine Lehre wird in der öffentlichen Debatte auf die These reduziert, der Staat müsse Schulden machen, um die Wirtschaft anzukurbeln, nach dem Motto »Wir buddeln ein Loch und graben es anschließend wieder zu«. Dieses »deficit spending« ist nach Meinung der meisten die Quintessenz bei Keynes. Dabei hätte schon ein Blick auf den Titel seines Hauptwerks zu der Erkenntnis führen müssen, dass Keynes nicht über die Theorie der Beschäftigung und »deficit spending« geschrieben hatte, sondern über »Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes«. Das heißt, Keynes wies der Geldpolitik eine zentrale Bedeutung bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu - eine Auffassung, die von einigen amerikanischen Nobelpreisträgern der Ökonomie und P. Krugman geteilt wird. Krugman schreibt: »Ungefähr alle sechs Wochen tritt der Offenmarktausschuss zusammen, um über den Zielkorridor für die US-Zinssätze zu beschließen. Diese Entscheidungen besitzen eine viel größere Auswirkung auf die Arbeitslosenquote als jede Außenhandelspolitik. Außerdem stellen sie eine Reaktion auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten dar. Die Entscheidung zur Erhöhung oder Absenkung der Zinssätze beruht auf einer Abwägung zwischen dem Wunsch, die Beschäftigungslage zu verbessern (Gas zu geben, um möglichst rasch zum Ziel zu kommen), und der Angst, dadurch die Inflation anzuheizen (Gefahr eines Strafzettels). Die Fed verkalkuliert sich dabei häufig, so dass am Ende mehr Inflation oder weniger Beschäftigung als vorgesehen herauskommt. Doch so oder so - ob richtig oder falsch - zählen die Maßnahmen der Fed zu den wichtigsten Einflussfaktoren im Hinblick auf das Beschäftigungswachstum in den USA.« Die Auflassung, dass die Entscheidungen der Zentralbank /u den wichtigsten Einflussfaktoren im Hinblick auf das Beschäftigungswachstum zählen, ist das genaue Gegenteil der momentan vorherrschenden europäischen Ideologie. Diese basiert auf folgendem, völlig veraltetem Schubladendenken: Die Geldpolitik sei für die Preisstabilität zuständig, die Lohnpolitik für den Beschäftigtenstand und der Staat für Rahmenbedingungen, die die Wirtschaft nicht behindern sollten. Diese Sichtweise ist einfach und gefällig, und zu ihrer Verbreitung trugen im wesentlichen Zentralbanker bei. Wer ärgert sich nicht schon mal über den Staat, und wem gefällt dann nicht die Plattitüde, der Staat solle sich möglichst aus der Wirtschaft heraushalten? In einer Zeit aber, m der vernetztes Denken und Handeln als unverzichtbar gelten, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen, ist merkwürdigerweise in der Wirtschaftspolitik noch Schubladendenken angesagt. Die Bundesbank pries ihre Stabilitätskultur und war stolz darauf, dass sie sich im Vertrag von Maastricht niederschlug. Übersehen wurde und wird aber, dass diese Stabilitätskultur der Bundesbank die Hauptursache für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland und Europa ist. Es ist noch nicht klar, ob die europäischen Zentralbanker diese falsche Ideologie weiterhin zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen. Auf jeden Fall aber möchte sich der Zentralbankrat weiterhin in alle öffentlichen Ange-
legenheiten einmischen, in die Haushaltspolitik, die Steuerpolitik, die Sozialpolitik, die Tarifpolitik usw. Aber wehe, es wagt einer, sich in die Angelegenheiten des Zentralbankrats einzumischen. Dieses vordemokratische Verständnis der Geldpolitik in Europa erschwert eine rationale Wirtschaftspolitik. Wird an diesem Privileg gekratzt, so ruft dies auch noch pubertäre Trotzreaktionen der Zentralbanker und ihrer gläubigen Anhängerschaft hervor. Dabei wurde der ideologische Beton doch schon im Maastricht-Vertrag aufgeweicht: Der Geldpolitik wird hier auch die Aufgabe zugewiesen, Wachstum und Beschäftigung zu fördern, sofern keine Inflationsgefahr besteht. In Artikel 105 des Maastricht-Vertrags heißt es: »Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen.« Aufgabe der Gemeinschaft ist es nach Artikel 2 »... ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern«. Aber die vorherrschende Meinung der Zentralbanker ist nach wie vor: Wir sind für die Geldwertstabilität zuständig, basta! Da der Abbau der Arbeitslosigkeit zentrales Anlie gen einer sozialdemokratischen Bundesregierung ist, musste ich dieser ideologischen Borniertheit den Kampf ansagen. Dass dabei die »Glaubensgemeinde« über mich herfallen würde, hatte ich einkalkuliert. So habe ich unmittelbar nach meinem Amtsantritt als Finanzminister die Forderung nach Zinssenkungen wiederholt, um Wachstum und Beschäftigung in Europa in Gang zu bringen. Dabei wurde ich von einer Reihe von europäischen Finanzministern unterstützt. Auf einem Gipfeltreffen in Pörtschach im Herbst 1998 waren sogar die europäischen Regierungschefs mutig geworden. Sie erklärten den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu ihrem Hauptanliegen. Für dieses Ziel, so meldete die Nachrichtenagentur Reuters, scheuten sie sich nicht, bei den Zentralbanken um eine Senkung der Zinsen anzuklopfen auch wenn ihnen dies, wie sie selbst einräumten, gar nicht zustünde. Schwedens Ministerpräsident Goran Persson schwärmte, Europa sei nach links gedriftet. Und Reuters meldete, auch Gerhard Schröder habe die Parteikollegen nicht enttäuscht. In einer Rede vor einer dichtgedrängten Menge von Journalisten machte er sich für gemeinsame Anstrengungen der Europäischen Union gegen die Arbeitslosigkeit stark und wetterte gegen überzogenes Spekulantentum auf den internationalen Finanzmärkten. Dass damit ganze Volkswirtschaften zerstört würden, sei nicht zu akzeptieren. Tony Blair sagte, die Risiken der internationalen Finanzkrisen sollten mit einer gemeinsamen Strategie begrenzt werden. Die Europäische Union müsste auch in den internationalen Finanzorganisationen geeignete Maßnahmen ergreifen. Das Risiko sei derzeit nicht die Inflation, sondern die schwache Nachfrage. Darüber müsse mit den nationalen Notenbanken und der Zentralbank geredet werden. Auch Massimo d'Alema forderte massiv eine Zinssenkung. Ich konnte also zu dieser Zeit davon ausgehen, dass meine Appelle an die Notenbanken und die europäische Zentralbank, die Zinsen zu senken, von der Mehrheit der europäischen Regierungschefs unterstützt wurden. Claus Noe hatte, als er noch nicht Staatssekretär war, einen polemischen Aufsatz geschrieben, der in der Zeit veröffentlicht wurde, als er bereits Staatssekretär war. Darin hieß es: »Nun behauptet Tietmeyer, der Euro sei entpolitisiertes Geld<, denn die Europäische Zentralbank werde >bewusst unabhängig von politischen Einflüssen der Regierungen, der Parlamente und europäischen Institutionen operieren<... Selbstverständlich gehört Geldpolitik in den öffentlichen Raum. Jeder mag sich dort äußern - der eine besser leise, der andere forscher. Es dient dem Ansehen der Währungsbehörden nicht, wenn manche zum Schweigen raten: Öffentliche Aufforderungen, Zinsen zu senken oder zu erhöhen, würden die Zentralbanker mit Nichtstun beantworten - um zu zeigen, wie eigenmächtig sie seien. Das schmeckt nach Trotz und der Bereitschaft, Sachgerechtes nicht zu tun, weil andere es öffentlich verlangt haben. Autonom handeln heißt, die als richtig erkannte Sachentscheidung zu treffen. Niemand kann Notenbanker absetzen. Das ist ihr Privileg. Dafür haben sie, bitte schön, öffentlich Rede und Antwort zu stehen. Nur wer sich für unfehlbar hält, kann glauben, dass der öffentliche Diskurs nic ht der Erkenntnis diene.« Das war eine Polemik, die Tietmeyer und seine Kollegen als Beweis dafür ansahen, dass ihre Unabhängigkeit bedroht sei.
Und dann passierte etwas, was das deutsche Gemüt so richtig in Wallung brachte. Meine Frau plädierte in einer Talk-Show ebenfalls für Zinssenkungen und wies darauf hin, dass die Kehrseite der Unabhängigkeit der Notenbank ein Mangel an demokratischer Kontrolle und Rechenschaftspflicht sei. Nun gab es kein Halten mehr. Was fiel der Frau des Finanzministers ein, sic h in die Angelegenheiten der Geldpolitik einzumischen? Unausgesprochen lag vie len kritischen Kommentaren das Vorurteil zugrunde, Ehefrauen von Ministern hätten sich aus öffentlichen Angelegenheiten gefälligst herauszuhalten - auch dann, wenn sie jahrela ng auf dem Gebiet, für das ihr Mann ministerielle Verantwortung trägt, gearbeitet haben. Mein Charakterbild schwankte nun mächtig in der veröffentlichten Meinung: War ich vor dem Wahlsieg der große Integrator und während der Koalitionsverhandlungen der große Diktator, so war ich jetzt der große Pantoffelheld. Der öffentliche Chor, der dem Bundesfinanzminister vorwarf, sich in inkompetenter Weise in die Geldpolitik einzumischen, wurde immer lauter. Sacheinwände waren nicht zu hören, aber drei Meinungen, besser Vorurteile, dominierten: 1. Die Politik hat gefälligst keine Aussagen zur Geldpolitik /u machen und sich nicht einzumischen. Vergessen waren die Zeiten, in denen Ludwig Erhard und Karl Schiller als Wirtschaftsminister ihr Veto gegen die Leitzinserhöhung der Bundesbank eingelegt hatten. Ein solches Veto hat aufschiebende Wirkung. 2. Jetzt werden es die Zentralbanker dem Lafontaine einmal zeigen, denn sie lassen sich in ihre Angelegenheiten nicht hineinreden. Wer diese Meinung vertrat, behandelte die Zentralbanker wie Kleinkinder, nach dem Motto: Wenn jemand eine richtige Forderung stellt, wird dieser Forderung nicht nachgegeben, um ja nicht als abhängig /u gelten. 3. Politik des »lockeren Geldes« kann ohnehin nicht dazu beitragen, Wachstum und Beschäftigung anzukurbeln. Diese Meinung steht im krassen Gegensatz zur amerikanischen Auffassung. Auch in Deutschland ging der wirtschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft 1983 noch davon aus, - dass die Geldpolitik einen wichtigen beschäftigungspolitischen Beitrag leisten kann und leisten muss«. Zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme plädierte er für eine Konsenslösung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Aber während sich die USA - nach der negativen Erfahrung mit Hochzinspolitik und hartem Dollar Ende der achtziger Jahre - von der monetaristischen Geldpolitik verabschiedeten, hielten die europäischen Zentralbanken daran fest. Dementsprechend sanken die Arbeitslosenzahlen in den USA, während sie in Europa immer weiter anstiegen. George Soros schreibt: »In der Praxis hat der Monetarismus relativ gut funktioniert, aber vor allem deshalb, weil man die Theorie ignorierte.... Die Bundesbank hegt jedoch nach wie vor die Illusion, es genüge, sich ausschließlich an monetären Kernzielen zu orientieren. Im Gegensatz dazu ist die amerikanische Zentralbank eher agnostisch und gesteht offen ein, dass Geldpolitik eine Sache des Urteilsvermögens sei.«
Steuersenkungswettlauf
Neben dem Standortgerede und der ideologisch verhärteten Geldpolitik stand die Steuerpolitik im Zentrum der wirtschaftlichen Debatte. Die Steuerpolitik sollte zu einer Auseinandersetzung zwischen der Regierung Kohl und der SPD führen, die große Bedeutung für den Gewinn der Regie rungsmehrheit im Jahre 1998 hatte. Der populäre Politiker verspricht dem Volk mannhaft Steuersenkungen, da jeder eine solche Botschaft gern hört. Oft steht die Wirklichkeit solchen Versprechungen aber entgegen. So erfuhren beispielsweise George Bush, John Major, Jacques Chirac und Helmut Kohl, dass leichtfertige Steuersenkungsversprechen vor der Wahl in Steuererhöhungen nach den Wahlen endeten - was ihre Glaubwürdigkeit bei der Wählerschaft untergrub. Die FDP vermittelte den Eindruck, als fiele ihr außer Steuersenkungen nichts mehr ein. Auch das Leiden vieler Journalisten an ihren Steuersätzen führte dazu, dass die Forderung nach Steuersenkungen täglich wiederholt wurde. Dabei werden vor allem die USA immer als Vorbild hingestellt. Aber auch das stimmt nicht. Im Juli 1999 offenbarte uns die FAZ: Der Gehaltsvergleich zweier Ingenieure zeige, dass die Abgabenbelastung in den USA höher sei. Dem amerikanischen Ingenieur bliebe nach allen Abzügen weniger als die Hälfte seines Bruttoeinkommens. Der deutsche Ingenieur behielte nach Abzügen und Zulagen zwei Drittel seines Einkommens für sich. Wer hätte das gedacht? Hinzu kam der Wunsch, das Steuerrecht zu vereinfachen. Das Motto war: Steuervergünstigungen streichen, Steuersätze runter, um mehr Steuergerechtigkeit zu erreichen. Eine Kommission unter der Leitung von Prof. Bareis hatte im Jahr 1994 den Vorschlag gemacht, die Steuersätze zu senken und Steuersubventionen zu streichen. Immer wieder trieben wir die Koalition aus CDU/CSU und FDP mit der Forderung vor uns her, auf das Bareis - Gutachten zurückzugreifen und ein entsprechendes Steuergesetz vorzulegen. Ich wusste um die Schwierigkeiten, die mit einem solchen Steuergesetz verbunden waren. Es machte mir aber Vergnügen, die Regie rungsparteien mit ihren eigenen Parolen und Versprechungen in Verlegenheit zu bringen. Theo Waigel hatte die Fallstricke erkannt, die mit dem Vorschlag der Bareis - Kommission verbunden waren, und wollte eine solche Steuerreform nicht in Angriff nehmen. Innerhalb der CDU/CSU setzte sich aber vor allem Wolfgang Schäuble durch, der zusammen mit der FDP das »Petersberger Modell« vorlegte. Dieses Modell war unseriös, da es eine Lücke, je nach Schätzung, von 30 bis 50 Mrd. DM aufwies. Das »Petersberger Modell« sah auch eine Mehrwertsteuererhöhung vor. Dieser Sachverhalt war den Koalitionsparteien vor der Bundestagswahl unangenehm. Also bestritten sie während des Wahlkampfs ihre wahren Absichten. Zu allem Unglück verplapperte sich die Familienministerin, Claudia Nolte, kurz vor der Wahl und erinnerte noch einmal an die geplante Mehrwertsteuererhöhung. Durch ihre Wahrheitsliebe zur falschen Zeit zog sie sich den Zorn ihrer Parteifreunde zu. Die Petersberger Steuerreformer hatten uns zwei wunderbare Vorlagen geliefert. Sie hatten keine Einzelfallberechnung gemacht. Daher war es ihnen entgangen, dass eine ganze Reihe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - insbesondere Schicht - und Facharbeiter, Busfahrer und Krankenschwestern - bei diesem Steuerreformvorschlag zu den Verlierern gehörten. Und sie wollten eine Reihe von sehr populären Steuersubventionen streichen. Darunter die Kilometer-Pauschale, die Arbeitnehmer-Pauschale und die Steuerfreiheit der Nacht-, Schicht- und Wochenendarbeit. Ebenso beabsichtigten sie, die Versicherungen und die höheren Renten zu besteuern. Das Petersberger Modell bot uns eine hervorragende Möglichkeit, bei unserer Stammwählerschaft die Regierung Kohl vorzuführen. Die Koalitionsparteien gerieten sichtbar in die Defensive. Intelligenterweise konterten sie mit der Aufforderung an die SPD, ein eigenes Steuerkonzept vorzulegen, eine Forderung, die sich die Öffentlichkeit sehr schnell zu eigen machte. Wir reagierten: Ich gab die Devise aus, dass sich unser Vorschlag an den Petersberger Konzepten orientieren solle. Gleichzeitig nahmen wir die Grausamkeiten gegenüber den Arbeitnehmern .ins unserem Steuerkonzept heraus und achteten darauf, dass die Finanzierung unseres Steuerkonzepts seriöser war als die der Koalitionsparteien. Im nachhinein sehe ich es als einen Fehler an, dass wir uns an dem Petersberger Modell orientiert hatten. Das deutsche Steuerrecht war auf eine solch unglaubliche Art und Weise verkompliziert worden, dass von Steuergerechtigkeit wirklich nicht mehr die Rede sein konnte. Wir brauchten eine
Steuerreform, die das Steuerrecht so radikal vereinfacht, dass es jeder versteht. Aber die öffentliche Debatte ließ es ratsam erscheinen, dem Petersberger Konzept der Regierung Kohl ein SPD-Konzept gegenüberzustellen, das ähnliche Strukturen aufwies, aber gleichwohl, für jeden überprüfbar, deutlich vom Konzept der Koalition abwich. Am 14. Februar 1997 wurde mein Sohn Carl Maurice geboren. Da ich hochgradig erkältet war, konnte ich nicht im Krankenhaus sein. Ich hatte Angst, Kind und Mutter anzustecken. Gerade hatte ich die freudige Nachricht aus dem Krankenhaus erfahren, da klingelte das Telefon. Helmut Kohl war am Apparat. Er wurde unfreiwillig zum ersten Gratulanten zur Geburt meines Sohnes. Er lud zu Parteiengesprächen über das Steuerreformgesetz ein, da er wusste, dass die SPD-geführten Landesregierungen im Bundesrat einem wie auch immer gearteten Steuergesetz zustimmen mussten. Es war aber ein unentschuldbarer Fehler der Regie rung Kohl gewesen, diese Abstimmung nicht im Vorfeld, auf dem üblichen vertraulichen Weg, versucht zu haben. Die Bereitschaft bei uns, ein Steueränderungsgesetz zu verabschieden, war sehr groß. Insbesondere die »Modernisierer« in der SPD waren gewillt, Steuervorschläge der Wirtschaftsverbände zu übernehmen. Durch die Veröffentlichung des Petersberger Konzepts aber, ohne Abstimmung mit dem Bundesrat, hatte sich die Regierung Kohl in eine schwierige Lage manövriert. Wir konnten publikumswirksam unser Konzept dagegen halten. Es war, angefangen von der Erhöhung des Kindergelds über die Absenkung des Eingangssteuersatzes und die Vermeidung der vielen Grausamkeiten gegenüber der Arbeitnehmerschaft, weitaus populä rer als das Konzept der Koalition. Ich war fest entschlossen, nur dann einem Steuerkompromiss zuzustimmen, wenn wesentliche Forderungen der SPD nach mehr Steuergerechtigkeit erfüllt würden. Bei den Verhandlungen musste ich ständig aufpassen, dass unsere Verhandlungskommission, das waren Rudolf Scharping, Heinz Schleußer und Henning Voscherau, der anderen Seite nicht zu weit entgegenkam. Ich legte, um sicherzugehen, den Parteivorstand auf unser Steuerkonzept fest. Im Streitfall hätte ich den Parteitag einberufen, um ein starkes Abweichen von diesem Konzept zu verhindern. Insbesondere der Fraktionsvorsitzende Scharping war immer wieder versucht, der CDU steuerpolitisch sehr weit entgegenzukommen. Von der Presse und den Koalitionsparteien wurde er dafür gelobt. Ich setzte aber darauf, dass sich unser steuerpolitisches Profil der sozialen Gerechtigkeit durchsetzen würde, und war nicht bereit, einem Steuerkonzept zuzustimmen, das in wesentlichen Teilen auch noch die Handschrift der FDP trug. Meine Rechnung ging auf. Die CDU/CSU konnte sich aus der Umklammerung der FDP nicht befreien. Meinungsbefragungen zeigten, dass unsere Steuerpolitik deutlich populä rer war. Die Auseinandersetzungen hatten für die Regierung Kohl eine unangenehme Begleiterscheinung. Sie wollte sich vor den Wahlen als Regierung der inneren Reformen profilieren. Die Bürgerinnen und Bürger erfuhren aber über die Auseinandersetzungen um die Steuerpolitik, dass diese Regierung eine »lame dug« war - eine lahme Ente. Unabhängig vom Scheitern der Steuerreform herrschte in der Steuerpolitik der letzten Jahre hektische Betriebsamkeit, in der wir Sozialdemokraten teilweise mitgewirkt hatten. Eine der Ursachen für diese hektische Betriebsamkeit war der internationale Steuersenkungswettlauf. Nach jedem Zug eines vermeintlichen Wettbewerbers sahen sich die anderen Staaten Forderungen ausgesetzt, ähnliche Steuersenkungsbeschlüsse herbeizuführen. So habe ich im Zug der innerparteilichen Diskussion auf Drängen der »Modernisierer« zugestimmt, die Gewerbekapitalsteuer und die betriebliche Vermögensteuer abzuschaffen, obwohl diese Maßnahme für Klein- und Mittelbetriebe nicht greifen konnte, da sie aufgrund der hohen Freibeträge kaum zu solchen Steuern herangezogen wurden. Nach der gewonnenen Bundestagswahl machten wir den Fehler, die Hektik in der Steuerpolitik durch den engen Zeitplan fortzusetzen. Nach meinem Rücktritt war es dann wieder wie in den schlimmsten Zeiten der Regierung Kohl. Fast täglich versuchten Steuerpolitiker aller Parteien mit neuen Vorschlägen auf sich aufmerksam zu machen. Neben der großen Steuerreform war die ökologische Steuer und Abgabenreform ein zentrales Projekt sozialdemokratischer Politik. Hier ging es nicht, wie bei der großen Steuerreform, um mehr Steuergerechtigkeit, sondern darum, ein Steuerrecht, das sich über viele Jahrzehnte so entwickelt hatte, wie es war, dem Erfordernis des Umweltschutzes anzupassen. Dabei war zu beachten, dass der Benzinpreis -relativ zu vielen anderen Preisen - gefallen war. Auf der anderen Seite aber war der Benzinpreis, wie Gerhard Schröder es immer wieder formulierte, so etwas wie der Brotpreis des Volkes. An der Benzinsteuer herumzufummeln war immer unpopulär. Um die Arbeitnehmerschaft für eine solche Änderung des Steuersystems zu gewinnen, suchten wir nach einem Weg, die Vorteile einer solchen Veränderung deutlich zu machen. Es gab zwei Möglichkeiten: einmal gleichzeitig
Steuersenkungen bei der Lohn- und Einkommensteuer, die den Arbeitnehmern zugute kamen, zum ändern gab es die Möglichkeit, die ärgerlich hohen Sozialbeiträge herabzusetzen. Nachdem wir uns 1990 noch für direkte Steuersenkungen entschieden hatten, nahmen wir nun ins Programm auf, die Sozialversicherungsbeiträge gleichzeitig mit der Einführung der Öko-Steuer zu senken. Das Projekt war dennoch unpopulär, und insbesondere unsere »Modernisierer« taten sich immer wieder hervor, in Interviews den Nutzen der Steuer- und Abgabenreform in Frage zu stellen. Überhaupt ist das Wort »Modernisierung« oder »Moderne« zu einem Modebegriff verkommen, unter dem sich jeder alles vorstellen kann. Versucht man herauszufiltern, was diejenigen, die heute als »Modernisierer« gelten, unter »Moderne« verstehen, so ist das nichts anderes als die ökonomische und gesellschaftliche Anpassung an die vermeintlichen Zwänge der Globalisierung. Der Begriff der »Moderne« wird auf ökonomische Kategorien verkürzt. Die Angelsachsen haben keinen Kündigungsschutz, also sind wir modern und bauen den Kündigungsschutz ab. In vielen Ländern werden soziale Leistungen gekürzt, also sind wir modern und kürzen auch soziale Leistungen. In vielen Ländern werden Unternehmenssteuern gesenkt, weil sonst die Unternehmer weglaufen und irgendwo anders hingehen, Also sind wir modern und senken die Unternehmenssteuern. Die Amerikaner haben kaum eine Beschränkung bei der Gentechnik, also sind wir modern, übersehen die Risiken und heben Beschränkungen beim Einsatz der Gentechnik auf. Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Modernität ist zur schlichten Anpassung an wirtschaftliche Zwänge verkommen. Die Frage, wie wir zusammenleben wollen, welche Gesellschaft wir wollen, ist schon unmodern und wird gar nicht mehr gestellt. Der Begriff der »Moderne« ist für die Sozialdemokraten aber ein ganz anderer. Er hat nichts zu tun mit bloßer Anpassung an wirtschaftliche Zwänge. Er steht in der Tradition der Aufklärung und stellt auf die Freiheit des einzelnen ab. Modern im Sinne des sozialdemokratischen Begriffs ist jede Strukturreform, die die Freiheit des einzelnen fördert, das heißt Abhängigkeiten abbaut und Entscheidungsspielräume neu eröffnet. Würde die SPD einen Modernitätsbegriff übernehmen, der letztendlich Anpassung und damit Verzicht auf politische Gestaltung meint, dann würde sie sich selbst aufgeben.
Die Wahlkampagne
Als wir uns im kleinen Kreis - der Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering und ich mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - darüber unterhielten, wie wir die Wahlkampagne anlegen sollten, befanden wir uns in einer denkbar ungünstigen Situation: Die Partei war bei Meinungsumfragen in den Keller gerutscht, galt als veraltet und reformunwillig. Kurzum, wir hatten ein ziemlich graues Image. Neben der inhaltlichen Erneuerung, die notwendig war, weil die Partei mehr und mehr ihr sozialdemokratisches Profil verloren hatte, musste das Erscheinungsbild der alten Tante SPD aufgefrischt werden. Ein wichtiges Anlie gen war es mir, die Jungsozialisten und die jungen Leute für unsere Wahlkampagne zu gewinnen. Die SPD hatte in den Jahren zuvor den Fehler gemacht, die Jungsozialisten allzu sehr zu vernachlässigen. Die Parteivorsitzenden waren gar nicht erst auf deren Kongressen erschienen. Ein wirklicher Dialog mit ihnen fand nicht statt. Das war erstaunlich, weil sich die platte Einsicht, dass ohne die Jugend die Zukunft nicht zu gewinnen sei, auch in den Führungsgremien der großen Volksparteien herumgesprochen haben sollte. Unmittelbar nach meinem Amtsantritt nahm ich also das Gespräch mit den Jungsozialisten auf. Es war ein Glücksfall, dass mit Andrea Nahles eine junge Frau an die Spitze der Jungsozialisten gerückt war, die ein starkes politisches Engagement auszeichnet. Darüber hinaus war sie ein neues Gesicht, das frischen Wind in die SPD brachte. Natürlich beschäftigten sich die Jungsozialisten schwerpunktmäßig mit dem Thema der Jugendarbeitslosigkeit. Sie hatten Vorschläge entwickelt, wie der Mangel an Ausbildungsplätzen abgebaut werden könnte. Von Betrieben, die nicht ausbilden, forderten sie eine Umlage, um damit jene Betriebe zu unterstützen, die der gesellschaftlichen Aufgabe der Ausbildung junger Menschen nachkommen. »Wer nicht ausbildet, wird umgelegt«, hieß ihre Parole. Zusätzlich warben sie, ebenso wie die Bundestagsfraktion, dafür, ein Hunderttausend - Arbeitsplätze - Programm für Auszubildende und jugendliche Arbeitslose direkt nach der Bundestagswahl aufzulegen. Um der Öffentlichkeit bewusst zu machen, dass die Mitarbeit junger Leute in unserer Partei erwünscht und die Beteiligung an ihren Entscheidungen kein Lippenbekenntnis ist, veranstalteten wir am 25. November 1996 in Köln einen Jugendparteitag. Bei den Vorbereitungen zu dieser Veranstaltung standen sich »Traditionalisten« und »Modernisierer« gegenüber, aber die Rollen waren vertauscht. Es bereitete mir Vergnügen, in doppelter Weise als Modernisierer tätig zu werden, Franz Müntefering hatte für den Ablauf des Parteitags einen ziemlich braven Vorschlag gemacht. Als Hauptredner waren neben mir Johannes Rau und Franz Müntefering vorgesehen. Ich widersprach ihm und argumentierte, dass wir drei sicherlich noch jugendfrisch daherkämen, dass sich der Durchschnittsbürger aber unter »Jugend« etwas anderes vorstelle. Meine Idee war, die Juso-Vorsitzende Andrea Nahles sollte gleichberechtigt mit dem Parteivorsitzenden ein Hauptreferat auf dem Parteitag halten, und zwar gleich zur Eröffnung. Das hatte es nun tatsächlich in der SPD noch nicht gegeben. Ich erntete zunächst Stirnrunzeln bis hin zu offener Ablehnung. Nach einiger Zeit wurde mein Vorschlag dann doch akzeptiert. Franz Müntefering und ich hatten uns darüber hinaus verständigt, das äußere Erscheinungsbild des Parteitags zu erneuern. Franz Müntefering hatte die gute Idee, Studentinnen und Studenten des Fachbereichs für Design der Fachhochschule Köln zu engagieren. Den für einen SPD-Parteitag völlig neuen Rahmen fand ich sehr gelungen. Am Vorabend ließ ich es mir nicht nehmen, mit einer Gruppe junger Leute auf einer Bühne einen Techno-Tanz aufs Parkett zu legen. Dieser Auftritt war ein gefundenes Fressen für die Fotografen, wirkte ich doch mit meinen grauen Haaren und meiner Leibesfülle leicht deplaziert. Die spöttischen Kommentare, die die Selbstironie meiner Verrenkungen geflissentlich übersahen und mir noch nicht einmal positiv anrechneten, dass ich versucht hatte, mich rhythmisch zu bewegen, waren dazu angetan, mein Selbstbewusstsein zu beschädigen. Es freute mich sehr, dass auch die anreisenden Delegierten am neuen Parteitagsdekor Gefallen fanden. Der Parteitag verlief nach unseren Vorstellungen. Andrea Nahles, in schwarzer Lederjacke, hielt eine kämpferische Rede, die mit viel Beifall aufgenommen wurde. Ihr Gesicht war am anderen Tag in allen deutschen Zeitungen. Der Parteitag debattierte heftig über die Ausbildungsplatzabgabe. Insbesondere Gerhard Schröder und Wolfgang Clement, die »Modernisierer« und Freunde der Wirtschaft, waren
gegen diese Abgabe. Ich akzeptierte die mangelnde Bereitschaft vieler Betriebe, ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen, nicht und befürwortete deshalb eine Abgabe. Ich war auch der Meinung, dass es sich hier um eine strategische Weichenstellung für den Bundestagswahlkampf handelte. Die aktiven Jugendlichen, insbesondere die Jugend in den Gewerkschaften und die Jugend der Kirchen und der Verbände, mussten für unsere Kampagne gewonnen werden. Das ging nur über Inhalte, das heißt über die Entscheidung, die Ausbildungsplatzabgabe ins Regierungsprogramm der SI'D zu übernehmen. Dabei stellten wir klar, dass diese Abgabe nur im Fall des Ausbildungsplatzmangels erhoben werden sollte. Anders ausgedrückt: Die Wirtschaft hatte die Chance, durch die Bereitstellung von genügend Ausbildungsplätzen die Abgabe obsolet zu machen. Der Parteitag summte mit überwältigender Mehrheit diesem Programmpunkt zu. Die Jungsozialisten hatten sich durchgesetzt. Nach dem Beschluss gingen erstmals La-Ola-Wellen durch den Parteitag, an denen sich zunächst die jugendlichen Delegierten, dann aber mehr und mehr die älteren Parteifreunde beteiligten. Ich selbst war mit diesem Ergebnis sehr zufrieden. Es war von entscheidender Bedeutung, dass die Parteijugend die Politik mitgestaltet hatte. Einmal in Fahrt gekommen, begannen wir, das öffentliche Erscheinungsbild der Partei weiter aufzupolieren. Dafür musste eine gute Werbeagentur gefunden werden. Die SPD hatte über eine Reihe von Jahren die Agentur RSCG, Butter und Rang als Hausagentur verpflichtet. Natürlich nutzen sich die Bilder, die die Agenturen für die Parteien entwickeln, im Lauf der Zeit ab. Mit Franz Müntefering war ich daher EINig, eine neue Agentur zu beauftragen. Wir forderten mehrere Agenturen auf, ein Angebot zu unterbreiten. Eine Agentur hatte ihr Werbekonzept deutlich auf meine Person zugeschnitten. In der Werbekampagne dominierten soziale und ökologische Motive. Mir selbst war dieses Konzept sehr sympathisch. Aber ich hatte schon längst entschieden, meine eigenen Interessen im Interesse des Wahlerfolgs zurückzustellen. Die erfolgreiche Agentur KNSK BBDO, Hamburg stellte ein Werbekonzept vor, das deutlich auf den Kandidaten Gerhard Schröder zugeschnitten war. Im Mittelpunkt stand der Kandidat, der bei der Vorstellung des Konzepts durch den Schauspieler Michael Douglas dargestellt wurde. Ich bin nic ht sicher, ob Franz Müntefering das bemerkte. Auf jeden Fall plädierten wir gemeinsam für diese Agentur, da wir beide den Ablauf der Wahlkampagne schon im Hinterkopf hatten. Der Agentur gelang es, durch eine Anzahl witziger Pla kate, die teilweise an bekannte Kinoplakate anknüpften, schnell die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Neben frischen Werbeanzeigen kam es vor allem darauf an, während der Wahlkampagne über die Fernsehbildschirme das neue Gesicht der SPD zu zeigen. Wir wandten für diese Präsentation erheblich mehr Geld auf als die konkurrierende CDU/CSU. So wie der Wahlkampf angelegt war, war Gerhard Schröder der ideale Kandidat. Sein Auftreten passte nahtlos zur Kampagne und wurde von der Öffentlichkeit mit großer Zustimmung aufgenommen. Mit Helmut Kohl sah die Konkurrenz bei der Präsentation ihrer Veranstaltungen wesentlich schlechter aus. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass eine Wahlkampagne durch ihr Design die Wahl entscheiden kann. Ohne die Bereitschaft zum Wechsel nützt die beste Kampagne nichts. Doch wenn die Bereitschaft zum Wechsel vorhanden ist, kann die Art der Kampagne den Wunsch, eine neue Regie rung zu wählen, verstärken. Das war unser Ziel, und rückblickend kann gesagt werden, dass wir dieses Ziel erreicht haben. Unser Wahlkampf stand unter dem Motto »Die neue Mitte«, ein Begriff, den Willy Brandt im Oktober 1972 eingeführt hatte: »Dort, wo die Einsicht in die Notwendigkeit ... vom Bewahren durch Veränderung verstanden worden ist, dort ist die neue politische Mitte.« Gerhard Schröder und ich hatten gemeinsam dafür plädiert, bevor die Kandidatenfrage entschieden war. Gerhard Schröder befand sich sowieso nach Meinung der Öffentlichkeit in der »neuen Mitte«, und im Fall meiner Nominierung hätte der Slogan mitgeholfen, mein Image dort aufzubessern, wo es in der öl (entliehen Wahrnehmung Schwachstellen hatte. Zuvor hatten wir in Hannover schon den Slogan »Die neue Kraft« getestet. Wir mussten aber feststellen, dass dies auch ein Werbespruch der Firma Siemens war. »Die neue Kraft« wurde Sinnens überlassen, und wir blieben bei »Die neue Mitte«. Franz Müntefering hatte vorgeschlagen, die SPD solle den Begriff »Innovation« besetzen, und die Werbefachleute hatten ausgetestet, dass dieser Begriff bei der Bevölkerung sehr gut ankam. Mit dem Begriff »soziale Gerechtigkeit« wurde die SPD ohnehin identifiziert. So kam es, dass wir sehr früh als Begriffspaar Innovation und Gerechtigkeit in den Vordergrund unserer Darstellung rückten. Nach der Kandidatenentscheidung schrieb die Presse Gerhard Schröder den Begriff der Innovation zu, mir den
Begriff der Gerechtigkeit. Das Klischee, hier der Modernisierer, dort der Traditionalist, wurde durch diese beiden Begriffe gefestigt. Zur Vorbereitung des Wahlkampfs hatte Franz Müntefering mit seinen Mitarbeitern in Amerika den Wahlkampf Clintons studiert. Dabei war er zu der Auffassung gekommen, dass es richtig wäre, nach amerikanischem Vorbild eine neue Wahlkampfzentrale der SPD aufzubauen. Er plädierte dafür, sie räumlich vom Erich-Ollenhauer-Haus zu trennen. Die neue Wahlkampfzentrale, kurz Kampa genannt, war in der Partei umstritten. Insbesondere, und dafür hatten wir Verständnis, die Stammbelegschaft im Ollenhauer-Haus fühlte sich übergangen. Franz Müntefering und ich waren aber überzeugt von diesem Konzept und setzten es durch. Im April 1998 war die Kampa eingerichtet und die Werbekampagne angelaufen. Die Kampa arbeitete gut, und Franz Müntefering spielte hervorragend auf diesem Klavier. Da die Arbeit der Kampa häufig Gegenstand der Berichterstattung war, waren wir der politischen Konkurrenz stets eine Nasenlänge voraus. Insbesondere hatte es sich bewährt, junge Leute und Studenten zu engagieren, die frischen Wind in die Arbeit brachten. Die Kampa war so erfolgreich, dass ohne große Diskussion zur Vorbereitung des Europawahlkampfs eine solche wieder eingerichtet wurde. Dass der Europawahlkampf nicht zum gewünschten Wahlergebnis führte, hatte mit der Kampa allerdings nichts zu tun.
Rote Socken - Rote Hände
Zu einem Wahlkampf gehört es, Strategie und Taktik des Gegners zu beobachten. In der Regel ist es nicht ratsam, alle vier Jahre Wahlkämpfe nach dem gleichen Muster zu führen. 1994 hatte die CDU/CSU Teile der SPD-Anhänger-Schaft mit der Roten-Socken-Kampagne stark verunsichert. Die SPD reagierte nicht gerade geschickt. Obwohl in Ostdeutschland auf kommunaler Ebene alle Parteien, insbesondere die früheren Blockparteien CDU und FDP, mit der IM zusammenarbeiteten, meinte vor allem der Parteivorsitzende Scharping, er müsse nun jeden Tag erklären, dass eine Zusammenarbeit mit der PDS nicht in Frage käme. In ihrer Vorstandssitzung fuhr ich ihn deshalb einmal an: Hast du sonst wirklich kein anderes Thema mehr?« Ich habe nicht geglaubt und glaube auch heute nicht, dass diese Roten-Socken-Kampagne der CDU viel gebracht hat. Im Osten wirkte sie eher abstoßend. Wenn überhaupt, dann war es ein Erfolg, dass es der CDU gelungen war, die Diskussion in die Reihen der SPD zu tragen. Erfreut war ich allerdings, als die CDU auch 1998 die Roten-Socken-Kampagne in Gestalt der Roten Hände wiederbeleben wollte. Die Zeit war über solche Versuche, die PDS zu stigmatisieren, hinweggegangen. Von all denen, die immer wieder von sich sagten, die Einheit des Vaterlands sei eines ihrer wic htigsten Politikziele, musste man erwarten, dass sie eine Antwort auf die Frage suchten, wie mit den Wählern und Mitgliedern der PDS umgegangen werden sollte. Als erster hatte Gerhard Schröder dafür plädiert, die PDS an einer Länderregierung zu beteiligen. Er wies richtigerweise darauf hin, dass in einer Länderregierung die PDS in der Verantwortung sehr schnell ihren handgestrickten Populismus aufgeben müsste. Die PDS-Minister würden Fehler machen, und die PDS würde auch im Osten Deutschlands bald wie eine normale Partei betrachtet werden. Es mussten aber noch einige Jahre vergehen, bis Ende 1998 in Mecklenburg-Vorpommern die erste Landesregierung mit der PDS gebildet wurde. Der zweite, der dafür plädiert hatte, die PDS in die Verantwortung zu nehmen, war Richard von Weizsäcker. Auch er warb dafür, mit den Wählerinnen und Wählern der PDS anders umzugehen. Er schrieb: »Wenn es aber um eine Kommunal- oder Landtagswahl in den östlichen Bundesländern einschließlich Berlin geht, dann dient die PDS als Wahlkampfkeule in der Hand der einen westlichen Partei, um mit ihr auf das Haupt der anderen westlichen Partei einzuschlagen. Ohne Zweifel hat dies dem einen dieser beiden Lager kurzfristig Erfolge gebracht, zumal es das andere Lager tief verunsichert und in die Defensive gebracht hat. Am meisten aber hat es der PDS selbst genutzt... Aber haben wir denn nicht alle gemeinsam die Aufgabe und die Kraft, jedermann für die Demokratie zu gewinnen... Aber was heißt da postkommunistisch, wenn ein junger Brandenburger oder Berliner einen Weg zum Sozialismus auf den demokratischen Prüfstand stellen will? Es wird vielleicht schwer für ihn sein, sich damit zu bewähren, aber soll er es nicht als Demokrat versuchen dürfen? Und muss sich ein junger Ostbürger, der am 9. November 1989 noch unmündig war, zuerst für die schrecklichen Mauerschüsse entschuldigen, bevor man ihn zum demokratischen Wettbewerb zulassen will?... Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die größere der demokratischen Volksparteien bekämpft die kleinere Volkspartei hinsichtlich des Themas PDS mit dem Erfolg, dass die kleinere demokratische Volkspartei geschwächt und die PDS gestärkt wird. Das kann doch nicht reiner Zufall sein.« Weizsäcker hatte, klarer als viele meiner Parteifreunde, die Strategie der CDU durchschaut. Dass er sie auch noch öffentlich entlarvte, verdient Respekt und Anerkennung. Als SPD-Vorsitzender verfolgte ich konsequent das Ziel, die plumpe Stigmatisierung der PDS durch die CDU/CSU aufzubrechen. Wie Richard von Weizsäcker richtig feststellt, lag die Stigmatisierung der PDS im parteipolitischen und machtpolitischen Interesse der CDU. Da die kleinen Parteien FDP und Bündnis 9o/Die Grünen im Osten kaum eine Rolle spielten, hatte die CDU dort keinen Koalitionspartner außer der SPD. Die SPD aber war nach meiner Auffassung gut beraten, den Versuch zu unternehmen, die PDS schrittweise an Länderregierungen zu beteiligen, und so dazu beizutragen, dass die PDS die Rolle einer normalen Partei in der Demokratie finden würde. Mit Gregor Gysi führte ich ab und zu Gespräche. Sie stießen am Anfang auf großes Medieninteresse. Ich fragte ihn immer wieder, was eigentlich das längerfristige Ziel seiner Politik sei. Eine sozialdemokratische Politik gäbe es bereits, so argumentierte ich, eine kommunistische Politik wolle er nicht mehr machen. Ich warf auch die Frage auf, ob nicht die Geschichte dieses Jahrhunderts die
Lehre bereithielte, dass die Linke um so schwächer sei, je mehr sie sich von verschiedene Parteien aufspalte. Meine Auffassung war immer, dass eine starke große linke Volkspartei eine entscheidende Voraussetzung dafür sei, um Arbeitnehmerinteressen in einer Demokratie durchzusetzen. Im Zuge der Globalisierungsdebatte und des Vordringens der neoliberalen Philosophie waren die Gewerkschaften überall auf der Welt, auch in Deutschland, geschwächt worden. Es war kein Zufall, dass in den USA Investoren mit dem Hinweis angelockt wurden, dass es sich um gewerkschaftsfreie Zonen handeln würde. Gysi widersprach dieser Überlegung nicht grundsätzlich. Er wies aber darauf hin, dass die PDS noch einige Jahre brauche, um ihre Rolle zu finden. Längerfristig, so hatte ich den Eindruck, war auch er der Meinung, dass es nicht sinnvoll sei, im Osten Deutschlands zwei Parteien zu haben, die mehr oder weniger sozialdemokratische Ziele verfolgten. Die Koalition in Mecklenburg-Vorpommern, die nach der Bundestagswahl gebildet wurde, war daher durch eine lange Debatte vorbereitet und somit eine logische Konsequenz der Absicht, die PDS und ihre Wähler im Osten in die Verantwortung einzubinden. Obwohl Deutschland und Frankreich nicht vergleichbar sind, hatte ich stets in Erinnerung, wie Mitterrand mit der kommunistischen Partei Frankreichs umgegangen war. Er hatte sie in die Regierung aufgenommen und dadurch nicht etwa gestärkt, sondern deutlich geschwächt. Auch in der Parti Socialiste Frankreichs führte das damals zu heftigen Debatten. Mitglieder der Parti Socialiste befürchteten, dass ihre Partei im Bündnis mit den Kommunisten Schaden nehmen würde. Aber Mitterrand setzte sich durch, und die Entwicklung gab ihm recht. Auch Lionel Jospin führt heute eine Regierung, an der die vom Stalinismus geläuterten französischen Kommunisten beteiligt sind. Als in Sachsen-Anhalt im Juni 1998 erneut die Tolerie rung der Regierung Höppner durch die PDS anstand, wären wir beinahe wieder ins Straucheln gekommen. Schröder und ich waren der Meinung, dass wir in Sachsen-Anhalt mit einer großen Koalition der CDU jede Möglichkeit genommen hätten, die PDS im Bundestagswahlkampf noch einmal zu instrumentalisieren. Sehr schnell aber stellten wir fest, dass vor Ort die Bereitschaft zu einer großen Koalition nicht bestand. Im nachhinein tut es mir leid, dass ich diese Entwicklung nicht früher erkannt habe. Die Sozialdemokraten in Sachsen-Anhalt jedenfalls sagten, dass es im Osten nicht verstanden würde, wenn sie von der Parteiführung verpflichtet würden, mit dem großen Wahlverlierer CDU eine Regierung zu bilden. Bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt zeigte sich auch wie der, dass die Wähler im Osten, wenn sich soziale Unzufrie denheit breit machte, aus Protest rechtsradikalen Parteien, in diesem Fall der DVU, die Stimme gaben. Die Beobachtung französischer Kommentatoren, dass die PDS im Osten auch ein zu starkes Aufkommen rechtsradikaler Parteien verhindere, halte ich für richtig. Als ich die Widerstände im Westen sah und die Argumente meiner Freunde aus Sachsen-Anhalt hörte, riet ich der Parteiführung, zu der alten Linie zurückzukehren. Wir sagten, im Osten wird vor Ort entschieden, welche Koalitionen gebildet werden. Ein Beharren der Parteiführung auf einer großen Koalition in Sachsen-Anhalt hatte uns in der Bundestagswahl wirklich Schwie rigkeiten gemacht und wäre im Osten nicht verstanden worden. Reinhard Höppner bildete erneut eine Regierung, die von der PDS toleriert wurde, und in Mecklenburg-Vorpommern wurde nach der Bundestagswahl die erste, von einer SPD/PDS-Koalition gebildete Landesregierung installiert. Ich bin der Überzeugung, dass die CDU durch ihre Rote – Hände - Kampagne mit dazu beigetragen hat, dass die SPD bei den Bundestagswahlen im Osten gut abschnitt. Die Kampagne wurde von Mitgliedern der Ost-CDU auch deutlich kritisiert. Das konnte uns nur recht sein, denn aus eigener Erfahrung wussten wir, dass Parteien, die während einer Wahlkampagne über die Richtigkeit ihrer Strategie streiten, in der Regel ein schlechtes Ergebnis haben. Es sollte sich herausstellen, dass diese Vermutung zutraf. Während des Wahl kämpf s hatte ich darauf zu achten, dass die bekannten Kräfte des Seeheimer Kreises der CDU/CSU nicht wieder auf den Leim gingen. Es war in früheren Jahren für die CDU/CSU ein leichtes gewesen, mit dem Thema PDS heftige Diskussionen in der SPD hervorzurufen. Es gelang 1998, nach der Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt, solche Diskussionen weitgehend zu vermeiden. Zudem wiesen wir immer wieder darauf hin, dass gerade CDU/CSU und FDP nicht den geringsten Anlass hatten, die Zusammenarbeit der SPD mit der PDS zu kritisieren. Sie arbeiteten selbst, was jeder wusste, mit der PDS in den Gemeinden, Landkreisen und mehr und mehr auch in den Landtagen zusammen, und sie hatten sich die ehemaligen Blockparteien einverleibt. Immer noch waren in den Landtagen und Kommunalparlamenten Aktive vertreten, die schon zu DDR-Zeiten in den Blockparteien Mandate ausgeübt hatten. Auch Ost-CDU und Ost - FDP hatten zu DDR-Zeiten Mauer und Stacheldraht gerechtfertigt. Die Kampagne der CDU/CSU und der FDP war also verlogen. Die
Älteren hatten darüber hinaus noch in Erinnerung, dass die CDU/CSU bei der Abgrenzung gegen die Nazis nicht so sorgfältig war: Hans Globke, den Kommentator der Judengesetze, hatte Adenauer ins Kanzleramt geholt. Auch Kurt Georg Kiesinger und Karl Carstens waren NSDAP-Mitglieder, von Hans Filbinger ganz zu schweigen. Vor diesem Hintergrund waren die ständigen Diffamierungen der PDS wenig glaubwürdig. Zudem gab es in der PDS nicht nur die Altkader, sondern, wie jeder sehen konnte, neue Mitglieder, die beim Fall der Mauer noch Kinder waren. Interessant war auch, dass bei der Bundespräsidentschaftswahl die Kandidatin der Union, Dagmar Schipanski, nur dann eine Chance gehabt hätte, wenn auch die PDS für sie gestimmt hätte. Sie sprach das offen an, und es ist kein Geheimnis, dass das auch die CDU-Führung gerne gesehen hätte. Aber an dieser Stelle wird in Deutschland kräftig geheuchelt und gelogen. Auch Teile der veröffentlichten Meinung machten dieses Spiel mit. Sie akzeptierten schlicht und einfach, dass die CDU, obwohl sie mit der PDS in vie len Kommunalparlamenten zusammenarbeitete, stets erklärte, sie würde mit der PDS nicht zusammenarbeiten. Ich halte angesichts der immer noch hohen Zustimmung, ihr die PDS in Ostdeutschland erfährt, nicht nur eine Beteiligung dieser Partei an Landesregierungen für richtig, sondern ich hätte auch keine Probleme, die PDS an der Bundesregierung zu beteiligen, wenn man sich mit ihr auf eine gemeinsame Politik verständigen könnte. Die Absage an eine Beteiligung der PDS auf Bundesebene begründete ich im Wahlkampf 1998 daher inhaltlich. Die PDS lehnte den Euro ab. Die Befürwortung der Wirtschaftsund Währungsunion oder des Euro war aber wesentlicher Bestandteil unserer Europapolitik. Die PDS hatte eine kritische Einstellung zur Nato. Das Ja zur Nato war aber zentraler Bestandteil unserer Sicherheitspolitik. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen der PDS waren schlicht und einfach nicht finanzierbar. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen war aber Ziel unseres Regierungsprogramms. Wir wollten uns mit der PDS in der Sache auseinandersetzen. Da ich immer versucht habe, Politik in langen Zeiträumen zu denken, will ich an dieser Stelle von einem Vorhaben berichten, das ich im Jahr 1990 leider nicht durchsetzen konnte. Entgegen den Wünschen von Brandt und Vogel halle ich es für klüger gehalten, noch für lange Zeit eine eigene OstSPD als Schwesterpartei zu haben. Sie hätte dann noch besser, als unsere Freunde es derzeit tun, die Interessen der Ostdeutschen vertreten können. Ihre Aufgabe wäre es auch gewesen, sich mit der PDS hart, aber fair auseinander zusetzen. Ein Bündnis der Ost - SPD mit der PDS wäre im Westen anders aufgenommen worden als ein Bündnis der SPD mit der PDS. Natürlich hatte ich bei diesen Überlegungen langfristig .null immer im Kopf, das Nebeneinander zweier Parteien, dir sich zu sozialdemokratischen Zielen bekennen, zu überwinden. Richard von Weizsäcker hat schon recht: »Was heißt >postkommunistisch<, wenn ein junger Brandenburger oder Berliner einen Weg zum Sozialismus auf den demokratischen Prüfstand stellen will?« Und Parteien verändern sich hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft im Lauf der Jahre und Jahrzehnte. Einen willkommenen Nebeneffekt hätte das Beibehalten der Ost - SPD gehabt: Bei Fernsehdiskussionen wäre die SPD mit zwei Vertretern präsent gewesen - wie die CDU/CSU. Die ungerechtfertigte Bevorzugung der CSU in den Medien wäre durch die Ost - SPD ausgeglichen worden.
Wer wird Kanzlerkandidat?
Da die menschliche Natur so ist, dass Personalentscheidungen weitaus interessanter sind als Sachentscheidungen, stand die Frage, wer Kanzlerkandidat der SPD werden würde, natürlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Nach meiner Wahl zum Parteivorsitzenden der SPD wurde sofort die Frage gestellt: Ist damit auch die Frage der Kanzlerkandidatur entschieden? Ich hatte in der Partei dafür geworben, diese Frage nicht vorzeitig zu klären, und dachte nicht daran, mir von der Öffentlichkeit die Entscheidung allzu früh aufdrücken zu lassen. Zudem wollte ich in keinem Fall den Eindruck erwecken, dass persönlicher Ehrgeiz das Motiv meiner Arbeit als Parteivorsitzender sei. Nach Attentat und Nie derlage im Jahr 1990 hatte ich zu solchen Fragen eine andere Einstellung gewonnen. Bei meinem Vorgänger Rudolf Scharping konnte ich beobachten, dass sein ständiges Beharren darauf, dass er der beste Kanzlerkandidat sei, ihm eher ihr Arbeit als Parteivorsitzender erschwert hatte. Als langjähriger Stellvertreter im Parteivorsitz hatte ich die Erfahrung gemacht, dass sich aus der zweiten Reihe manchmal besser etwas bewegen ließ als vom ersten Platz aus. Eine zu frühe Festlegung hätte zudem diejenigen vergrätzt, die sich zutrauten, ebenfalls das Amt des Kanzlerkandidaten zu übernehmen. Da war nicht nur Rudolf Scharping, der seine Niederlage von Mannheim nicht verwunden hatte. Da war vor allem Gerhard Schröder, der Scharping in keinem Fall noch einmal den Vortritt gelassen hätte und der mir signalisiert hatte, dass er immer noch an der Kanzlerkandidatur interessiert sei. Zwar hatten alle die Erklärung abgegeben, dass der Parteivorsitzende das Recht des ersten Zugriffs habe, aber solche Erklärungen hatten nur geringen Wert. Nicht nur Rudolf Scharping und Gerhard Schröder hielten sich für die Aufgabe des Kanzlerkandidaten geeignet. Auch der eine oder andere Ministerpräsident und die schleswig-holsteinische Kollegin Heide Simonis wurden von der Presse ins Gespräch gebracht. Ich war also gut beraten, die Frage offen zuhalten. Das Bonner Pressekorps wettete, dass mir das nicht gelingen würde. Zeitweilig war der öffentliche Druck, die Entscheidung frühzeitig zu treffen, sehr stark. Ich war aber nicht zu beeindrucken und hielt an dem Plan fest: Zuerst die programmatische Erneuerung und dann die Personalentscheidung, hieß meine Formel. Im nachhinein war dieses Vorgehen für den Wahlsieg der SPD von strategischer Bedeutung. Solange die spannende Personalentscheidung offen war, blieben wir interessant. Im Lauf der Zeit stellte sich immer deutlicher heraus, dass die Entscheidung nur zwischen Gerhard Schröder und mir getroffen werden konnte. Gerhard Schröder hatte in den Meinungsbefragungen eine hohe Zustimmung bei der Bevölkerung erreicht. Er hatte die Unterstützung der Presse. Insbesondere Spiegel, Focus, Stern, Bild am Sonntag, Die Woche und mit Einschränkungen auch Bild wetteiferten darin, ihn als den idealen Kandidaten der SPD darzustellen. In persönlichen Gesprächen versuchten mich Chefredakteure davon zu überzeugen, dass die Entscheidung für Gerhard Schröder die einzige Möglichkeit sei, die Wahl zu gewinnen. Ärgerlich für mich war, dass in dem Maß, in dem Gerhard Schröder hochgeschrieben wurde, ich in verletzender Weise herabgesetzt wurde. Ein Chefredakteur brüstete sich damit, dass er persönlich Fotos aussuche, die für mich besonders nachteilig seien. Auch das Meinungsforschungsinstitut Forsa stellte sich in den Dienst dieser Kampagne und veröffentlichte wöchentlich hohe Sympathiewerte für Gerhard Schröder und schlechte für mich. Ich stand vor einer schwierigen Entscheidung. Es war kein Zweifel, dass Gerhard Schröder, was bei einer Wahlkampagne von hoher Bedeutung ist, im Fernsehen die bessere Figur machte. Es war kein Zweifel, dass mit Unterstützung der Hamburger Presse die Wahl eher zu gewinnen war als gegen sie. Auf der anderen Seite hatte ich die inhaltliche Arbeit der SPD der letzten Jahre wesentlich bestimmt und verfügte über größere Erfahrung in der Führung der Regierungsgeschäfte. Im Gegensatz zu meinen Kollegen war ich seit 1985 Ministerpräsident und vorher fast zehn Jahre lang Oberbürgermeister von Saarbrücken. Meine Arbeit als Oberbürgermeister und Ministerpräsident war von den Wählerinnen und Wählern immer mit absoluten Mehrheiten honoriert worden. Die eigentliche Schwierigkeit aber bestand darin, dass ich,
wenn ich zustimmte, dass Gerhard Schröder Kanzlerkandidat der SPD werden würde, in doppelter Weise über meinen Schatten springen musste. Einmal war ich der Meinung, dass der Kanzlerkandidat der SPD von den aktiven Mitgliedern der Partei getragen Werden müsste. Diejenigen, die tagaus, tagein die Arbeit vor Ort machen, müssen sich in der Person und der Politik des Kanzlerkandidaten wiederfinden. Diese Voraussetzungen bot Gerhard Schröder nicht, da er sich die Zustimmung der Medien dadurch erworben hatte, dass er sich immer wieder abfällig über die Partei und ihr Programm äußerte. Das war zwar mediengerecht, aber konnte von der Partei nicht auch noch belohnt werden. Meine Sorge war, dieses Beispiel würde Schule machen. Der Zusammenhalt der Partei musste auf Dauer beschädigt werden, wenn einzelne sich das Recht nahmen, ihre Popularität auf Kosten der Partei zu steigern. Zudem stellte sich mir eine Frage von demokratischer Qualität. Ist es zulässig, dass die Medien den Ausschlag darüber geben, wer eine Partei in den Bundestagswahlkampf führen soll? Gab die SPD, wenn sie diese Frage bejahte, nicht zuviel an eigener Zuständigkeit auf? Waren wir dann nicht auf dem besten Weg, die deutsche Politik zu amerikanisie ren? In Amerika sind die Parteien weniger wichtig. Die Kandidaten müssen fernsehgerecht sein und das notwendige Geld im Rücken haben, um die Kampagne erfolgreich durchführen zu können. Erschwerend kam hinzu, dass der Vormann des potentiellen Koalitionspartners Bündnis 9o/Die Grünen, Joschka Fischer, ein ähnliches Verhältnis zu seiner Partei hat wie Gerhard Schröder zur SPD. Charlotte Wiedemann schrieb in der Woche: »Der Aufstieg des Medienlieblings Fischer folgte über die Jahre einem schlichten Modell: Die Partei verachtend, die ihn auf den Karrierepfad schob, profilierte er sich durch die öffentliche Kritik am eigenen Laden. Die Grünen ließen es zu und begannen die Unterwerfung zu lieben.« Waren wir nicht schon lange auf dem Weg von einer Parteiendemokratie hin zur Mediendemokratie? Die Entscheidung war nicht leicht. Ausschlaggebend für mich, Gerhard Schröder die Kanzlerkandidatur anzubieten, waren letztlich drei Überlegungen: Einmal wollte ich mich in keinem Fall dem Vorwurf aussetzen, dass mein persönlicher Ehrgeiz einem Wahlsieg der SPD im Weg gestanden hätte. Zum zweiten war ich sicher, dass die Entscheidung, Lafontaine bleibt Parteivorsitzender und Schröder ist Kanzlerkandidat, zur Folge hatte, dass die SPD im Wahlkampf geschlossen auftreten würde. Ich traute mir aufgrund der großen Zustimmung, die mir meine Arbeit mittlerweile eingebracht hatte, zu, die Partei auch hinter Gerhard Schröder zu versammeln, zum dritten war ich davon überzeugt, dass eine Entscheidung gegen Schröder dazu geführt hätte, dass wir im Wahlkampf nicht geschlossen aufgetreten wären. Der Kanzlerkandidat der SPD braucht Freunde, die während der Kampagne Solidarität und Unterstützung für ihn organisierten. Gerhard Schröder wäre im Falle meiner Kandidatur nicht in der Lage und auch nicht bereit gewesen, diese Aufgabe zu übernehmen. Rudolf Scharping ebenfalls nicht, und Johannes Rau, der es gewollt hätte, scheute nach meinen Beobachtungen - und in persönlichen Gesprächen räumte er dies auch ein - die Konflikte, die man eingehen musste, um die Disziplin in den eigenen Reihen sicherzustellen. Alles m allem hatte ich praktisch keine andere Wahl, als Gerhard Schröder die Kanzlerkandidatur anzubieten. Die große Unterstützung, die er in den Medien hatte, war ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Meinen Mitarbeitern sagte ich oft: Sie haben ihn jetzt so hochgeschrieben, dass es unmöglich ist, ihn während des Wahlkampfs wieder runterzuschreiben. Schröder warnte ich: »Diejenigen, die dich jetzt hochjubeln, werden die ersten sein, die nach der Wahl über dich herfallen.« Neben der Frage »Parteiendemokratie oder Mediendemokratie stellte sich mir im Zusammenhang mit der Kandidatenentscheidung auch die Frage: »Macht, aber wozu?« Da ich schon viele Jahre politische Ämter bekleidete, hatte ich mir auch immer darüber Gedanken gemacht, ob all diese Anstrengungen, die Wahlkämpfe, ja politische Arbeit überhaupt einen Sinn und Zweck hätten. Zwar wird den Politikern oft unterstellt, das eigentliche Antriebsmoment ihrer politischen Arbeit sei die Befriedigung persönlicher Eitelkeit und Machtgelüste. Dem will ich nicht widersprechen, aber ich nehme für mich in Anspruch, im Lauf der Jahre mehr und mehr der inhaltlichen Arbeit den Vorrang eingeräumt zu haben. Ich wiederholte daher immer wieder, dass wir nicht nur einen Regierungswechsel, sondern einen Politikwechsel anstreben würden. Diese Formel brachte mich in Schwierigkeiten, da es offenkundig war, dass Gerhard Schröder der Programmarbeit wenig Bedeutung beimaß. Er hatte Freude an der Ausübung des Regierungsamts, sah sich selbst als Pragmatiker und konnte der Programmarbeit kaum etwas abgewinnen. Sein Ziel war eher die Zustimmung der veröffentlichten Meinung, weniger die Entwicklung neuer Programme zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger. Im übrigen gibt es Beispiele
dafür, dass diejenigen, die Politik mit programmatischen Ansprüchen verbinden, anfangs oft gegen die Öffentlichkeit entscheiden müssen. Zwei will ich nennen: Willy Brandt setzte seine Ost-Politik durch, obwohl sie am Anfang nicht populär war. Helmut Kohl hat die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und damit die Einführung des Euro durchgesetzt, obwohl diese Entscheidung auch in der Wählerschaft der CDU/CSU auf große Widerstände stieß. Ich setzte darauf, dass Gerhard Schröder im Fall des Wahlsiegs zu einer Zusammenarbeit finden würde, die mir als Parteivorsitzendem die Möglichkeit gab, unbeschadet der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers die politischen Entscheidungen der Regierung und der Koalition wesentlich mitzubestimmen. Ich wollte eine Arbeitsteilung, in der jeder seine Fähigkeiten voll einbrachte. Dabei wusste ich auch, dass die von mir für richtig gehaltene Wirtschafts- und Finanzpolitik einen wirklichen Politikwechsel darstellen würde und dass sie auf erhebliche Widerstände treffen würde. Im geheimen stellte ich mir daher oft die Frage, ob Gerhard Schröder als Bundeskanzler bereit wäre, einem solchen Druck standzuhalten. Ohne es zu wissen, wirkte auch Helmut Kohl bei der Entscheidung um die Kanzlerkandidatenfrage der SPD mit. Ich fühlte mich von ihm im sportlichen Sinn nach der verlorenen Wahl im Jahr 1990 schlecht behandelt. Immer wieder brüstete er sich damit, wie viele Enkel Willy Brandts er im Laufe der Zeit schon ausgesessen und besiegt hätte. Dabei erwähnte er Engholm, Scharping und mich. Mich kränkte, dass er nicht die sportliche Geste aufbrachte, seinen Wahlsieg über mich im Jahr 1990 zu relativieren. Einmal, und das konnte ihm nicht entgangen sein, war ich durch das Attentat schwer angeschlagen und konnte nur noch mit halber Kraft fahren. Zum anderen war wohl kein Wahlkämpfer vor ihm so vom Glück begünstigt gewesen wie er. Er war Kanzler der Deutschen Einheit und brachte den Ostdeutschen die heißbegehrte DM. Ich dachte mir während des Bundestagswahlkampfs 1990 manchmal, er habe eigentlich die optimale Voraussetzung, um eine absolute Mehrheit zu erreichen. Darüber hinaus hatte das Bonner Pressekorps seine Einstellung gegenüber Kohl geändert. Galt er bis zur Deutschen Einheit noch als Tölpel oder Bauernbub, der nicht ernst zu nehmen war, so wurde er nach der Deutschen Einheit zum allseits bewunderten Kanzler. Der Nimbus der Unschlagbarkeit wurde ihm zugeschrieben. Beim fünften Bier sagte ich daher Freunden immer wieder, mein Ziel sei es, den Dicken jetzt endlich auf die Matte zu bringen. Ich konnte seine zur Schau getragene Selbstgewissheit und seine hochmütigen Äußerungen über die Enkel Willy Brandts oft schwer ertragen. Zudem hatte ich den Spruch Henning Vorscheraus im Ohr: »Unsere Generation muss aufpassen, dass sie nicht zur Fußnote der SPD-Geschichte wird.« Also ging ich auf Nummer Sicher und entschied mich, Gerhard Schröder den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur zu überlassen. Vorher musste aber noch die Niedersachsen-Wahl gewonnen werden, und es durfte ihm selbst nicht zu deutlich werden, dass ich bereits verzichtet hatte. Hätte er gewusst dass ich mic h für seine Kanzlerkandidatur entschieden hatte, dann hätte er größere Schwierigkeiten bei der Koordination der Arbeit im Bundesrat gemacht. Eine handlungsfähige SPD im Bundesrat aber war nach den Querelen der Zeiten Engholms und Scharpings Voraussetzung für den Wahlerfolg der Partei. In der Steuer- und Sozialpolitik oder bei Gesetzen zur Inneren Sicherheit wie etwa beim Lauschangriff bedurfte es immer wieder großer Anstrengungen, sicherzustellen, dass Gerhard Schröder mit den übrigen sozialdemokratisch geführten Ländern stimmte. Dass ich es für richtig hielt, dass Gerhard Schröder vorher die Hürde des Wahlsiegs in Niedersachsen nehmen musste, hatte mehrere Gründe. Einmal brauchte ich gegenüber einer starken Gruppe in der Partei, die es lieber gesehen hätte, wenn ich die Kanzlerkandidatur übernommen hätte, ein überzeugendes Argument. Ein solches war ein deutlicher Wahlsieg in Niedersachsen. Zum zweiten wollte ich sichergehen, dass sich die Popularität Gerhard Schröders auch in Wählerstimmen für die SPD niederschlagen würde. Das ist nicht selbstverständlich. Schon oft haben wir auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene beobachtet, dass sich die Popularität des Spitzenmanns nicht unbedingt in guten Wahlergebnissen der Partei niederschlägt. Schröder selbst hatte sich die Meßlatte niedrig gelegt. Er wollte die Kanzlerkandidatur nicht antreten, wenn er mehr als 2 Prozent in Niedersachsen verlieren würde. Für besonders klug hielt ich das nicht. Einmal ließ diese Festlegung vermuten, dass es nicht darum ging dazuzugewinnen, sondern darum, möglichst wenig zu verlieren. Nicht gerade ein motivierendes Wahlkampfziel! Wenn Schröder in Niedersachsen mehr als zwei Prozent verloren hätte, sah es zum anderen dann so aus, als sei der Kanzlerkandidat der SPD, im Zweifel der Parteivorsitzende, nur ein Ersatzkandidat.
Zudem hatte Gerhard Schröder seine Nominierung durch eine unsinnige Verdächtigung zusätzlich erschwert. Im Januar wurde bekannt, dass die Düsseldorfer Preussag AG die Preussag Stahl an die österreichische Voest Alpine Stahl AG verkaufen wollte. Schröder reagierte schnell und verhinderte den Verkauf, indem er durch Telefax Dr. Frenzel von der Preussag mitteilte, dass das Land Niedersachsen anstelle des Voest - Konzerns das Stahlunternehmen kaufen werde. Das war zwar nicht unbedingt die Handlungsweise eines „Modernisierers“, aber eine richtige Entscheidung im Hinblick auf den niedersächsischen Wahlkampf, die ihm die Zustimmung der Belegschaft der Preussag Stahl AG sicherte. Außerdem gewann er durch dieses Vorgehen die Unterstützung der IG Metall, die ihm bis dahin eher skeptisch gegenüberstand. Empört war ich aber darüber, dass Schröder die Sache so darstellte, als sei die Absicht der Düsseldorfer Preussag AG, ihren Stahlbereich zu verkaufen, eine Intrige von Johannes Rau, um ihm die Kanzlerkandidatur zu vermasseln. Diese Vorstellung war so absurd, dass man sie nur als Folge der hohen Nervosität interpretieren kann, die oft einen Spitzenmann im Wahlkampf befällt. An solchen Tagen erwog ich, eine überraschende Wendung vorzuschlagen, die ich mir für den Fall ausgedacht hatte, dass Gerhard Schröder von der Partei nicht akzeptiert worden wäre oder die Wahl in Niedersachsen verloren hätte. Ich wollte dann eine Frau vorschlagen, um im Wahlkampf mit einer Frau als Kanzlerkandidatin der Union und Helmut Kohl in einer schwer angreifbaren Aufstellung gegenüberzutreten. Ich führte in absoluter Diskretion Gespräche und sondierte diese Möglichkeit. Später sollte die Nominierung der völlig unbekannten Thüringer Professorin Dagmar Schipanski durch die Union zeigen, dass Frauen auch dann sehr schnell Zustimmung finden, wenn sie eigentlich für die Öffentlichkeit noch ein unbeschriebenes Matt sind. Aber während des niedersächsischen Wahlkampfes hatte ich die Gewissheit gewonnen, dass Gerhard Schröder einen deutlichen Wahlsieg erringen würde, und verfolgte die Absicht, ebenfalls eine Frau vorzuschlagen, nicht weiter. Am Donnerstag vor der Landtagswahl traf ich mich nach einer gemeinsamen Wahlkundgebung in Braunschweig mit Gerhard Schröder im Restaurant »Ritter St. Georg«. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm nun Gewissheit geben musste und die Entscheidung nicht mehr länger aufschieben konnte. Sein zProzent-Kriterium schob ich beiseite. Ich sagte ihm: »Wenn du das Wahlergebnis der letzten Niedersachsen-Wahl erreichst oder zulegst, bist du der Kandidat, wenn nicht, entscheidet die Partei.« Das hätte bedeutet, dass ich Kanzlerkandidat geworden wäre. Mir war aber an diesem Abend klar, dass ich ihm die Kanzlerkandidatur überlassen hatte. Bundesweit wurde die SPD seit Monaten in den Meinungsumfragen zwischen 40 und 42 Prozent gehandelt. Niedersachsen wählte immer über dem Bundesdurchschnitt, und Gerhard Schröder hatte sicherlich einen persönlichen Bonus. Wir besiegelten die Absprache mit einem Schnaps und versprachen uns in die Hand, alle wichtigen Entscheidungen künftig gemeinsam zu treffen. Am frühen Nachmittag des Wahlsonntags in Hannover erfuhr ich, dass die Umfragen vor den Wahllokalen ein Ergebnis in der Nähe von 48 Prozent für Gerhard Schröder signalisierten. Ich rief ihn an und sagte: »Na, Kandidat?« Gerhard Schröder war immer noch misstrauisch, aber das Wahlergebnis war eindeutig. Schröder hatte bewiesen, dass sich seine hohe Popularität auch in Wählerstimmen für die SPD auszahlt. Am Abend des Wahlsiegs ärgerte mein Freund Gerd mich schon wieder. Mein kameradschaftliches »Na, Kandidat« stellte er im Fernsehen so dar, als hätte ich ihn gebeten, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen und als sei er dieser Bitte gerne nachgekommen. Ich saß vor dem Fernseher und trank gemütlich ein Glas Rotwein. Davon, dass ich ihn gebeten hätte, konnte nun wirklich keine Rede sein. Aber häufig hatte ich beobachtet, dass diejenigen, die am meisten drängeln, Wert darauf legen, sie seien gebeten worden. Die Entscheidung war gefallen, jetzt half nur noch beten. Der Abend gab mir aber auch Gelegenheit, für ein typisch saarländisches Produkt, den MispelSchnaps, zu werben. Er heißt im Volksmund »Hundsärsch«. Die Journalisten hatten, wie häufiger in den Jahren zuvor, mein Haus belagert. Sie wollten live eine Stellungnahme des SPD-Vorsitzenden zur Niedersachsen-Wahl bekommen. Da es kalt war, taten sie mir leid. So ging ich brav vor mein Haus und servierte den frierenden Belagerern die saarländische Spezialität. In ganz Deutschland stieg danach die Nachfrage nach dem saarländischen »Hundsärsch«.
Die Männerfreundschaft mit Gerhard Schröder
Mein Verhältnis zu Gerhard Schröder beschäftigte natürlich im Vorfeld der Entscheidung über den Kanzlerkandidaten in vielfältiger Form die Presse. Wilde Spekulationen wurden angestellt, man erwartete, dass über die Entscheidung zur Kanzlerkandidatenfrage die Männerfreundschaft in die Brüche gehen werde. Dabei war die Basis für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit stark genug. Wann ich Gerhard Schröder zum ersten Mal gesehen hatte, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Im Rahmen der Treffen der Enkel Willy Brandts und auf Parteitagen lernten wir uns kennen. Sehr bald gehörten wir beide, wie die anderen Enkel auch, zu den Hoffnungsträgern der Partei. Schon im niedersächsischen Wahlkampf 1986 waren wir häufig zusammen, da ich die Kampagne Gerhard Schröders nach besten Kräften unterstützte. Ich lernte in dieser Zeit auch seine Frau Hillu kennen und bewunderte, wie sie ihrem Mann im Wahlkampf zur Seite stand. Während einer Wahlveranstaltung in Niedersachsen machte ich eine Beobachtung, die mir später öfter in den Sinn kam. Zum Schluss der Veranstaltung, auf der Gerhard Schröder und ich gesprochen hatten, wurde nach sozialdemokratischer Tradition ein Lied gesungen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob es das Lied »Brüder zur Sonne, zur Freiheit« oder das Lied »Wann wir schreiten Seit an Seit« war. Zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass der vor mir stehende Sänger Gerhard Schröder in keiner Weise in der Lage war, richtig zu singen. Er stand auch noch direkt vor dem Mikrophon, so dass ich ihm zuflüsterte: »Geh etwas vom Mikrophon weg, du singst ja fürchterlich!« Später, beim Bier, räumte er ein, unmusikalisch zu sein. Ich sagte ihm, wenn wir in Zukunft politisch zusammenarbeiten wollten, müsste die Harmonie aber größer sein. Das blieb jedoch ein frommer Wunsch. Häufig gab es kräftige Dissonanzen. Mehr und mehr hatte ich den Eindruck, dass Gerhard Schröder harte Auseinandersetzungen lieber waren als die oft quälende Suche nach Kompromissen. Kompromisse aber sind die Grundlage jeder verlässlichen Zusammenarbeit. Seinen Erzählungen zufolge musste er sich als Kind armer Leute durchs Leben schlagen und wurde so zum typischen Einzelkämpfer. Diese Haltung hat er bis heute beibehalten. In persönlichen Begegnungen kann er aber ein richtiger Kumpel sein und Charme versprühen. Diese Begabung setzt er immer wieder mit Erfolg ein. 1986 ging die Wahl in Niedersachsen verloren. Gerhard Schröder wurde Oppositionsführer in Niedersachsen. Ich amtierte als Ministerpräsident in Saarbrücken. Während des Bundestagswahlkampfs 1987, in dem Johannes Rau unser Kanzlerkandidat war, hatte sich Gerhard Schröder für lange Zeit die Sympathien von Johannes Rau verscherzt, weil er damals öffentlich darüber räsonierte, ob nicht Oskar Lafontaine der bessere Kanzlerkandidat sei. Im Jahr 1990 sollten wir enger zusammenrücken. Ich hatte fest vor, diesmal als Kanzlerkandidat der SPD meinen Beitrag zu leisten, dass Gerhard Schröder die Niedersachsen-Wahl beim zweiten Anlauf gewann. Als die CDU zur Verbesserung ihrer Wahlchancen Ernst Albrecht und Rita Süssmuth als Spitzenkandidaten in Niedersachsen aufbot, war er ziemlich deprimie rt. Ich erinnere mich deshalb gut daran, weil ich Gerhard Schröder am 14. März zu einem Besuch bei Präsident Mitterrand mitgenommen hatte. Er war sehr verunsichert. Selbst am Abend, im berühmten Pariser Drei-SterneRestaurant »Lucas Carton«, taute er nur langsam auf. Ihn belastete sicher auch, dass er in Teilen der Partei wenig Unterstützung hatte. Zudem trauten viele ihm den Wahlsieg nicht zu. Ich erinnere mich noch, wie ich mit Richard von Weizsäcker fast aneinander geriet, weil er in einem Gespräch sagte, dass Gerhard Schröder keine Chance habe, Ernst Albrecht zu besiegen. Nach dem Attentat hatte ich Besuch von Hans-Jürgen Wischnewski, der auch auf der Veranstaltung war, in der die Attentäterin mich als Opfer ausgesucht hatte. Ich glaube, ich habe mir die Achtung Wischnewskis bei dieser Begegnung dadurch erworben, dass ich, so kurz nach dem Attentat, nach dem gemeinsamen Genuss einer Flasche Condrieux, eines Weißweins aus dem Rhone-Gebiet, die der Koch der Saar-Vertretung, Heinz-Peter Koop, mir gebracht hatte, in seinen Augen beachtliches Stehvermögen bewies. Während der Unterhaltung äußerte er die Gewissheit, dass Gerhard Schröder
die Wahl nicht gewinnen würde. Er hatte ihm gegenüber große Vorbehalte. Ich widersprach ihm, und es wäre beinahe zu einer Verstimmung gekommen. Am 13. Mai gewann Gerhard Schröder die Niedersachsenwahl mit einem Ergebnis von 44,2 Prozent. Ich freute mich sehr. Wir telefonierten am Wahlabend miteinander. In seinem unnachahmlichen Charme sagte er mir: »Der Stich in den Hals hat zwei Prozent gebracht.« Nach dem Attentat versuchte Gerhard Schröder mir in kameradschaftlicher Weise zu helfen und mich zu unterstützen. Er reiste mit Hillu an, und wir verbrachten ein gemeinsames Wochenende in Saarbrücken und in Lothringen. Ich habe diese Tage in guter Erinnerung, und sie trugen sicherlich auch dazu bei, dass ich später von meinem Vorhaben abließ, die Kanzlerkandidatur zurückzuziehen. Bei der Abstimmung zur deutschen Währungsunion stimmte Gerhard Schröder als einziger sozialdemokratischer Ministerpräsident mit mir. Das habe ich ihm immer hoch angerechnet. Meine Argumente gegen die übereilte Einführung der DM hatten auch ihn überzeugt. Genau wie ich musste er später mit dem Vorwurf leben, er habe die Deutsche Einheit nicht gewollt beziehungsweise den Ostdeutschen die DM nicht gegönnt. Nach der verlorenen Bundestagswahl 1990 gehörte Gerhard Schröder zu denjenigen, die mich massiv bedrängten, den Parteivorsitz der SPD zu übernehmen. In der entscheidenden Sitzung des Parteivorstands machte er aber den Fehler, die Sitzung vorzeitig zu verlassen. Ich selbst war verstimmt, denn gerade in dieser Sitzung, in der nicht zuletzt Willy Brandt massiv meinen Wahlkampf kritisierte, hätte ich seine Unterstützung gebraucht. Nach meiner zweiten Absage, den Parteivorsitz zu übernehmen, war auch Gerhard Schröder enttäuscht. Ich spürte, wie die freundschaftliche Beziehung Risse bekam. Als der Spiegel einen Beamtenrechtler fand, der der Auffassung war, dass meine Bezüge als Ministerpräsident und der aufgrund meiner Ansprüche aus meiner Oberbürgermeisterzeit gefundene Verrechnungsmodus nicht in Ordnung seien, hatte ich, unbeschadet der Tatsache, dass andere Juristen gegenteiliger Auffassung waren, meine Pensionsaffäre. In der Zeitung las ich damals, dass Gerhard Schröder gesagt hatte: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Als der Spiegel einige Zeit später herausfand, dass ich mich in den siebziger Jahren öfter in Saarbrücker Nachtlokalen herumgetrieben hatte, beschäftigte dies als Rotlichtaffäre dir deutsche Presse und führte zu den absurdesten Spekulationen und Verdächtigungen. In der Enkelriege, so auch hei Gerhard Schröder, setzte sich damals wohl die Einsicht durch, dass jetzt andere an der Reihe seien. Das Verhältnis zu ihm blieb durch die Auseinandersetzung um die Engholm-Nachfolge belastet und gespannt. Der Niedergang der Partei in der Zeit Rudolf Scharpings brachte uns wieder näher zusammen. Als die SPD in den Meinungsumfragen immer weiter abstürzte, sprach auch er mich öfter an und sagte, wir könnten diesem Treiben nicht weiter zusehen. Wenn die Partei nach den Umfragen nur noch die Unterstützung von ungefähr 30 Prozent der Wähler habe, sei Feierabend. Als frisch gewählter Parteivorsitzender suchte ich eine enge Zusammenarbeit mit ihm. Das Land Niedersachsen war im Bundesrat wichtig, und die Bundestagswahl war nur zu gewinnen, wenn Gerhard Schröder mitmachte. Unsere Zusammenarbeit wurde wieder besser. Am Abend des 3. März 1996 rief Gerhard Schröder an und informierte mich über die bevorstehende Trennung von Hillu. Für mich war das ein Zeichen des Vertrauens. Am anderen Tag war die Presse voll davon. Die bevorstehende Trennung von Hillu und die neue Liebe zu Doris Köpf waren der Stoff, den Journalisten lieben. Doris Köpf kannte ich aus ihrer Zeit als Journalistin in Bonn. Im August 1997 kamen die beiden zu einem Besuch ins Saarland. Es entstanden die bekannten Fotos an der Saarschleife. Wir versprachen uns noch einmal in die Hand, die Kanzlerkandidatur bis zur Niedersachsen-Wahl offen zuhalten. Wir gingen gemeinsam im Saargau spazieren, und Doris Köpf erwies sich als eine charmante und kluge Frau, die auch später immer wieder eine positive Rolle spielen sollte. Die Abfälligkeit, mit der sich da oder dort die Presse über sie ausließ, steckte sie souverän weg. Meiner Beobachtung nach hat sie mehr politischen Verstand als mancher ihrer ehemaligen Kollegen. Wenn es einmal schwierig wird, hat sie die Gabe, die richtigen Worte zu finden. Christa und Doris verstanden sich gut. Die beste Männerfreundschaft nimmt Schaden, wenn die Frauen sich nicht mögen. Die Voraussetzungen, die Bundestagswahlen durch eine gemeinsame Wahlkampagne zu gewinnen, waren also auch von der menschlichen Seite gegeben. Dabei war mir sehr früh klar, dass ich Gerhard Schröder angesichts seiner Persönlichkeitsstruktur bei der Kanzlerkandidatur den Vortritt hissen musste, wenn die Sache funktionieren sollte. Während des Wahlkampfs arbeiteten wir reibungslos zusammen. Noch heute glaube ich zu spüren, wie ich schwitzte, als Gerhard Schröder seinen letzten
entscheidenden Auftritt in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestags hatte. Ich hatte am Vortag einen guten Tag erwischt und die Debatte für uns gewonnen. Alles kam jetzt auf Gerhard Schröder an. Wir saßen einträchtig auf der Bundesratsbank. Kohl griff an, und Schröder konterte hervorragend. Wir hatten diese entscheidende Runde gemeinsam gewonnen. Solche Erfahrungen schweißen zusammen, und ich hoffte, dass auch nach der gewonnenen Bundestagswahl die Zusammenarbeit Bestand haben würde.
Die Erarbeitung des Regierungsprogramms
Es ist üblich, dass Parteien vor Wahlen ein Regierungsprogramm erarbeiten. Darin soll festgelegt werden, welche Maßnahmen im Fall eines Wahlsiegs in den kommenden vier Jahren durchgeführt werden. Natürlich stehen solche Programme immer unter gewissen Vorbehalten. So ist es klug, einen Finanzierungsvorbehalt zu machen, weil die besten Absichten nicht weiterführen, wenn es nicht gelingt, die Vorhaben zu finanzieren. Außerdem ist es notwendig, Verlässlichkeit anzustreben. Wir wollten einigermaßen sichergehen, dass wir unsere Wahlversprechen auch nach den Wahlen einhalten konnten. In der Situation, in der sich die SPD befand, gab es aber darüber hinaus eine Besonderheit. Das Programm sollte künftige Auseinandersetzungen von vornherein mildern beziehungsweise unterbinden. Mit anderen Worten: Es war unsere Absicht, im Programm relativ klar festzulegen, wie die Regierungsarbeit in den nächsten Jahren aussehen sollte. Daher beauftragten wir die Büroleiterin Gerhard Schröders, Sigrid Krampitz, und meinen Büroleiter, Joachim Schwarzer, sowie weitere Mitarbeiter, das Material zu sichten und zu sammeln und den Programmentwurf zu erarbeiten. Ich legte Wert darauf, dass in dem Programmentwurf das sozialdemokratische Profil deutlich wurde. Wir hatten, so war meine feste Überzeugung, deshalb an Zustimmung in der Wählerschaft gewonnen, weil die Zeit der Konturlosigkeit vorüber war. Wir hatten seit dem Mannheimer Parteitag systematisch daran gearbeitet, unser Profil zu schärfen. Zentrale Bedeutung hatten dabei die Sozialpolitik und die Steuerpolitik. In der Steuerpolitik standen wir für mehr Gerechtigkeit und für die Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen sowie der kleinen und mittleren Unternehmen. In der Sozialpolitik standen wir für den Erhalt des Sozialstaats. Nachdem Norbert Blüm bereits stolz vorgerechnet hatte, dass er bei Rentnern und Arbeitslosen aufs Jahr gerechnet 98 Milliarden DM eingespart hatte, waren weitere Kürzungen bei Rentnern und Arbeitslosen nicht mehr hinnehmbar. Wir schrieben ins Programm: »Die SPD-geführte Bundesregierung wird dafür sorgen, dass der Generationenvertrag zwischen Alt und Jung erhalten bleibt. Die von CDU, CSU und FDP beschlossene Kürzung des Rentenniveaus macht viele Rentnerinnen und Rentner zu Sozialhilfeempfängern. So darf man mit Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, nicht umgehen. Die SPD-geführte Bundesregierung wird das Rentengesetz von CDU, CSU und FDP umgehend korrigieren. Wir werden für die dauerhafte Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung sorgen, damit die Menschen im Alter einen angemessenen Lebensstandard haben. Wir werden auch Voraussetzungen dafür schaffen, dass die gesetzliche Rente durch private Vorsorge, Betriebsrenten und durch eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital ergänzt wird. Wir wollen, dass alte Menschen nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind: Wir werden eine soziale Grundsicherung einführen, die im Bedarfsfall die Rente so erhöht, dass Armut im Alter verhindert und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe vermieden wird.« Interessanterweise beschloss die CDU/CSU vor der bayerischen Landtagswahl am 13. September 1998, dass die Rentenkürzung nicht für Langzeitversicherte gelte. Sie war von vielen Leuten, die seit über 45 Jahren Versicherungsbeiträge zahlen und nicht bereit waren, die Kürzungen hinzunehmen, zu dieser Entscheidung gedrängt worden. Das war zwar im Hinblick auf die Anerkennung der Lebensleistung dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begründbar, zeigte aber auch auf, in welchem Ausmaß der CDU/CSU das Gespür für soziale Gerechtigkeit verlorengegangen war. Denn diese Festlegung hieß: Bei den höheren Renten setzen wir die Kürzung aus, bei den kleineren Renten wollen wir sie aber anwenden. Ich war wirklich empört. Das Ganze ging im Wahlkampfgetümmel unter. Die CDU/CSU wurde von der konservativen Presse dafür kaum gescholten. Dabei war selbst den hartgesottensten konservativen Kreisen in Deutschland klar, dass man nicht nur bei den niedrigen Renten kürzen konnte.
Diese Wende führte aber dazu, dass auch wir unsere Zusagen an die Rentnerinnen und Rentner präzisieren mussten. Die etwas weiche Formulierung, »wir werden das Rentengesetz korrigieren«, die uns mehrere Optionen offen ließ, wurde in der Folgezeit ersetzt durch »wir werden die Rentenkürzung rückgängig machen«. Wir konnten ja im bayerischen Landtagswahlkampf nicht sagen, dass wir die Rentnerinnen und Rentner, die lange gearbeitet hatten und vie le Versicherungsjahre nachweisen konnten, schlechter behandeln wollten, als es die CDU/CSU vorhatte. Im übrigen hatten wir bei den Renten immer wieder versucht, nicht zuletzt auf Verlangen unseres Experten Rudolf Dressler, einen Konsens der großen Parteien zustande zu bringen. Dieser Konsens wurde immer schwieriger, weil sich die CDU/CSU in der babylonischen Gefangenschaft der FDP nicht auf einen Konsens mit der SPD einlassen wollte. Am Ende stellte sich aber heraus, dass es ohne uns doch nicht ging, denn der Rentenkasse fehlten wieder Milliarden. So waren wir es, die über den Bundesrat die Finanzierung der Rentenkasse dadurch ermöglichten, dass wir der Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Punkt zustimmten und ebenfalls zustimmten, dass diese Mehreinnahmen voll der Rentenkasse zugute kamen. Damit widerlegten wir den oft gegen uns gerichteten Vorwurf der Blockade im Bundesrat. Heute frage ich mich, ob bei anders verteilten Rollen kurz vor der Wahl CDU/CSU und FDP einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Sanie rung der Rentenkasse zugestimmt hätten. Für uns auf jeden Fall war es selbstverständlich, dass wir an dieser Stelle wahltaktische Argumente zurückstellen und der Finanzierung der Renten den Vorzug geben mussten. Nach der Bundestagswahl stellte sich heraus, dass das Institut Allensbach die besten Prognosen zur Bundestagswahl vorgelegt hatte. Allensbach hatte aber auch ermittelt, dass die soziale Gerechtigkeit das entscheidende Thema dieser Wahl war. Nach Meinung des Instituts wurde die Regierung Kohl deshalb abgewählt, weil sie beim Volk den Eindruck erweckte, es ginge in Deutschland nicht mehr gerecht zu. Es kam für uns darauf an, im Regierungsprogramm Vorstellungen festzuschreiben, deren Verwirklichung nach unserer Überzeugung von der großen Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler erwartet wurde: eine gerechte Steuerpolitik, das Absenken des Eingangssteuersatzes, die Erhöhung des Kindergelds, Entlastungen für den Mittelstand und das Absenken der Sozialversicherungsbeiträge. Diese steuerpolitischen Vorstellungen waren verbindlich, nachdem die Auseinandersetzungen um das Steueränderungsgesetz durch Mehrheitsbeschlüsse der Parteigremien beendet worden waren. Wir versprachen auch, die gröbsten Fehlentscheidungen in der Regierung Kohl zu korrigieren. Eine dieser Fehlentscheidungen war die Aussetzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ich glaube, dass die Regierung Kohl einen entscheidenden Fehler machte, als sie das Bündnis für Arbeit nicht zum Erfolg führte. Jede konservative Regierung hätte gut dagestanden, wenn es ihr gelungen wäre, zusammen mit den Gewerkschaften ein Bündnis für Arbeit zu verabreden, in dem die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Strukturmaßnahmen, auf die sich Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften verständigten, erleichtert worden wäre. Insoweit war der Ansatz des Bündnisses für Arbeit richtig. Aber die Regierung Kohl verließ irgendwann die Rolle des Schiedsrichters zwischen Unternehmensverbänden und Gewerkschaften und vereinbarte einseitig mit den Unternehmensverbänden den Abbau der Lohnfortzahlung. Folgerichtig stiegen die Gewerkschaften aus dem Bündnis für Arbeit aus. Wir nutzten diese Situation und nahmen die Wie derherstellung der Lohnfortzahlung als zentralen Programmpunkt auf. Zwar waren die »Modernisierer« unter uns von dieser Vorstellung nicht so sehr begeistert. Für die Mehrheit des Parteivorstands aber war klar, dass die Wiederherstellung der Lohnfortzahlung zu einem zentralen Bestandteil des Regierungsprogramms werden musste. Dasselbe galt für die Wiederherstellung des Kündigungsschutzes in kleineren Betrieben. Obwohl in ganz Europa und auch in der Bundesrepublik im Zuge der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte die Möglichkeit sehr stark ausgeweitet worden war, Zeitarbeitsverträge an die Arbeitnehmer zu vergeben, meinte die Regierung Kohl, sie müsste die Forderung der Unternehmensverbände aufgreifen und den Kündigungsschutz in kleineren Betrieben einschränken. Dabei wurde immer wieder auf die Praxis von »hire and fire« in Amerika verwiesen. Der Kündigungsschutz aber berührt einen zentralen Bestandteil des Gesellschaftsvertrags, der in Europa über viele Jahre entwickelt worden ist. Europa ist an dieser Stelle nicht mit Amerika vergleichbar. In einem Land wie den Vereinigten Staaten, in dem Zuwanderer und Siedler die soziale Kultur entwickelt haben, sind andere Regelungen im Arbeitsschutz möglich. Europa hat eine gewachsene gesellschaftliche Tradition. Der Kündigungsschutz ist cm fester Bestandteil der europäischen Sozialkultur.
Im übrigen würde auch keiner der Unternehmensleiter, die sich in Verbandsvorständen für den Abbau des Kündigungsschutzes stark machen, selbst bereit sein, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. In der Regel sind die Verträge dieser Herren auf fünf Jahre angelegt und vorzeitige Kündigungen mit hohen Ablösesummen verbunden. Hier zeigt sich wieder, dass in unserer Gesellschaft der Satz »Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem ändern zu« in der Diskussion über die Reformen im Wirtschaftsleben nicht berücksichtigt wird. Ich habe in meinen Wahlkampfreden dieses Sprichwort immer wieder verwendet und fand damit große Zustimmung beim Publikum. Es traf genau das Empfinden der Bevölkerung. Mangelnde Sensibilität gegenüber dem Kündigungsschutz, die sich nicht zuletzt auf das Betreiben der FDP in der Regierung Kohl durchsetzte, zeigten andere konservative europäische Parteien nicht. So sagte der christsoziale Premierminister von Luxemburg, Jean-Claude Juncker, immer wieder, in Europa dürfe es keinen Wettbewerb darüber geben, wer die schlechtesten Kündigungsschutzbestimmungen habe. Eine wohltuende Erklärung, die sich von dem abhob, was auf konservativer Seite in Deutschland zum Allgemeingut geworden war: Der Standortwettbewerb verpflichte uns, überflüssige soziale Regeln abzubauen und bei diesem Abbau in einen Wettbewerb mit anderen Ländern einzutreten. Erst relativ spät erkannte die Regierung Kohl, dass die SPD mit ihrem Hinweis auf gemeinsame soziale Standards in Europa die Stimmung des Volkes weitaus eher getroffen hatte als die neoliberalen Standortpropheten. Die se konnten vor allem die Frage nicht beantworten, wo dieser Wettbewerb um den Sozialabbau eigentlich aufhören solle. Die Wiederherstellung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben war also eine zweite wichtige Forderung unseres Regierungsprogramms. Der dritte Punkt war die Wiedereinführung des Schlechtwettergelds. Hier sprachen wir den Teil der Arbeitnehmerschaft an, der in besonderem Maß Opfer der Öffnung der Grenzen geworden war, nämlich die Bauarbeiter. Was sich alles bei der illegalen Beschäftigung in Deutschland abspielt, ist unvorstellbar. So gingen Meldungen durch die Zeitungen, dass ukrainische Bauarbeiter in Zelten nächtigten und für Stundenlöhne beschäftigt wurden, die unter einer Mark lagen. Wenn das marxistische Wort von der schamlosen Ausbeutung eine Bedeutung hat, dann gilt es für die Praktiken im Baugewerbe. Hier war die Sozialdemokratische Partei gefordert. Wir sahen in den Bauarbeitern unsere Ansprechpartner. Wir wollten das Schlechtwettergeld, eine Errungenschaft, die die Bauarbeiter über viele Jahre erkämpft hatten, nicht preisgeben. Wir unterstützten daher die Baugewerkschaft und nahmen ihre Forderung nach Wie derherstellung des Schlechtwettergelds in unser Regie rungsprogramm auf. In diesem Zusammenhang gelang es uns, den Vorsitzenden der Gewerkschaft IG Bauen, Agrar, Umwelt, Klaus Wiesehügel, für eine Bundestagskandidatur zu gewinnen. Wir wollten einen profilierten Gewerkschafter in der neuen Bundestagsfraktion haben. In unserem Regierungsprogramm formulierten wir: »Sozialdumping, Lohndumping, illegale Beschäftigung und systematische Schwarzarbeit untergraben die sozialen Sicherungssysteme, höhlen die Tarifordnung aus und bedrohen die Existenz legal arbeitender Unternehmen. Wir wollen neue Beschäftigungsformen auf dem Arbeitsmarkt, aber wir werden weder einen unfairen Wettbewerb noch die Flucht aus der Sozialversicherung zulassen. Wir werden Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt wiederherstellen. Wir werden mit einem Aktionsprogramm illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit wirksamer als bisher bekämpfen. Zur Verhinderung von Sozialdumping muss das Prinzip >gleicher lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort< durch nationale und europäische Regelungen durchgesetzt werden.« Denjenigen, insbesondere aus der FDP, die gegen diese politischen Vorstellungen zu Felde zogen, hielt ich immer entgegen, der Mensch sei keine Ware. Zwar könne man beim Bananenimport oder beim Import von irgendwelchen Industriegütern sehr wohl das Prinzip des Wettbewerbs hochhalten. Aber die Löhne und Arbeitsbedingungen der Menschen seien nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs zu betrachten. Das entspräche nicht dem sozialdemokratischen Grundverständnis von Politik. Ich war auch zornig auf Politiker in Deutschland, die sich trotz der miserablen Arbeitsbedingungen und Stundenlöhne gegen das Entsendegesetz wandten. Das Entsendegesetz sollte sicherstellen, dass auf deutschen Baustellen keine Arbeitslöhne gezahlt werden, die weit unter dem Existenzminimum lagen. Politikern von FDP, CDU, aber auch „Modernisierern“ in den eigenen Reihen hielt ich entgegen, dass der eine oder andere von ihnen erst wach würde, wenn auch im Deutschen Bundestag polnische oder portugiesische Parlamentarier sitzen könnten, die für ein Zehntel der Diäten bereit wären, die Parlamentsarbeit zu machen. Mit diesem Hinweis hatte ich jedenfalls auf
Wahlversammlungen immer die Lacher auf meiner Seite. Auch hier wurde wie der deutlich, dass die »Modernisierer« Reformen für »den kleinen Mann« vorschlugen, die sie für sich selbst nie akzeptiert hätten. Neben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Rentnerinnen und Rentnern wollten wir auch die Jugendlichen direkt ansprechen. Wir nahmen in das Regierungsprogramm ein Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit auf. Es hieß: »Mit einem Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit werden wir dafür sorgen, dass 100000 jugendliche Arbeitslose so schnell wie möglich in Ausbildung und Beruf kommen. Wir wollen, dass alle Jugendlichen, die länger als sechs Monate arbeitslos sind, einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz erhalten. Für die Finanzierung des Programms werden die Mittel eingesetzt, die sonst für die Bezahlung der Jugendarbeitslosigkeit ausgegeben werden müssten. Unser Grundsatz heißt: Ausbildung und Arbeit statt Jugendarbeitslosigkeit.« Diese Verpflichtung war wichtig, weil sie insbesondere für die Jugendorganisationen eine Möglichkeit bot, bei den jungen Menschen für einen Regierungswechsel zu werben. Dazu kam, dass die Ausbildungsplatzabgabe in das Regie rungsprogramm aufgenommen wurde. Ich legte Wert darauf, dass sie Bestandteil unseres Regierungsprogramms war. Es hieß: »Wirtschaft und Öffentlicher Dienst müssen in eigener Verantwortung für ein ausreichendes Lehrstellenangebot sorgen. Anderenfalls wird auf gesetzlicher Grundlage ein fairer bundesweiter Leistungsausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben notwendig.« Hier musste eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung Flagge zeigen. Eine Gesellschaft, in der sich ein Privatvermögen von 14,5 Billionen Mark angehäuft hatte, musste in der Lage sein, jedem Jugendlichen, der es wollte, einen Ausbildungsplatz anzubieten. Das war nicht eine Frage ökonomischer Rationalität, sondern eine Frage gesellschaftlicher Natur. Wie wollen wir zusammen leben und arbeiten? Ist es zulässig, jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu verwehren? Unsere Antwort war eindeutig. Wir wollten es nicht bei unverbindlichen Formulierungen lassen, sondern klare, überprüfbare Zusagen machen. Auch in der Gesundheitspolitik bestand Korrekturbedarf. Jeder weiß, dass der volkstümliche Satz »Ich wünsche dir Glück, vor allem aber Gesundheit« nicht einfach dahergesagt ist. Alles wird belanglos und alles wird unwichtig, wenn plötzlich ein Familienmitglied oder ein Freund von einer schweren Krankheit heimgesucht wird. In diesen Zeiten lernt man die Bedeutung eines guten Gesundheitswesens schätzen. Auf jeden Fall kann eine sozialdemokratische Partei nicht einer Entwicklung tatenlos zusehen, die darauf hinaus läuft, dass bestimmte medizinische Leistungen nur noch von denen in Anspruch genommen werden können, die ein hohes Einkommen haben. Daher haben wir die Absichtserklärung in das Regierungsprogramm aufgenommen, die gesetzlich festgelegte Steigerung der Zuzahlungen bei den Arzneimitteln wieder zurückzunehmen. Wir nahmen ebenfalls ins Programm auf, dass Jugendlichen wieder die Finanzierung des Zahnersatzes zustehen sollte. Auch diese beiden Versprechen spielten im Wahlkampf eine wichtige Rolle. Ich war erleichtert darüber, dass wir es geschafft hatten, ein klar sozialdemokratisch profiliertes Regierungsprogramm aufzuschreiben und dass dieses Programm die Unterschrift des Kanzlerkandidaten und des Parteivorsitzenden trug. Es sollte nach der Wahl keinen Streit darüber geben, welche Politik zu machen war. Es war interessant zu beobachten, dass im Wahlkampf genau diese Programmpunkte eine entscheidende Rolle spielten und von der sozialdemokratischen Anhängerschaft als das Markenzeichen der SPD angesehen wurden. Natürlich fehlte es nicht an Kommentaren, dass diese Versprechen dem »Modernisierer« Schröder von dem »Traditionalisten« Lafontaine und seinem Anhang aufgezwungen wurden seien. Es war für mich aber erfreulich, dass sich alle sozialdemokratischen Wahlkämpfer einschließlich des Kanzlerkandidaten in ihren Reden auf diese Programmpunkte bezogen, weil ihnen dann eine entsprechende Resonanz beim Publikum gewiss war. Mit Sprüchen wie: Die sozialen Leistungen sind zu hoch, die Löhne sind zu hoch, die Arbeitsbedingungen müssen noch flexibler werden, und die Arbeitnehmerrechte müssen weiter abgebaut werden, kann kein Sozialdemokrat Wahlkämpfe bestehen. Man kann mit solchen Parolen vielleicht bei Versammlungen von Unternehmern und Gewerbetreibenden punkten. Diese ärgern sich oft über Kündigungsschutzbestimmungen oder über die sozialen Ansprüche der Arbeitnehmerschaft. Das ist menschlich alles verständlich. Man findet mit
solchen Sprüchen auch Beifall in der Presse. Aber eine sozialdemokratische Wahlkampagne kann nur mit sozialdemokratischer Politik geführt werden. Und wenn es eines Beweises bedarf, dann erbrachte ihn der Bundestagswahlkampf des Jahres 1998. Für mich war es wichtig, dass das Regierungsprogramm auch zur ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft klare Aussagen machte. In Deutschland hatte sich die falsche Meinung durchgesetzt, Modernisierung und ökologische Erneuerung seien ein Widerspruch. Da der Begriff der »Modernisierung« auf Sozialabbau, auf den Abbau von Arbeitnehmerrechten und auf eine falsch verstandene Flexibilisierung des Arbeitsmarkts ausgerichtet war, schien alles Ökologische dem Modernisierungsgedanken zu widersprechen. Interessanterweise übersahen diejenigen, die sich in Deutschland auf Tony Blair und seine Modernisierung beriefen, dass der Vordenker Tony Blairs, Anthony Giddens, die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft zum zentralen Projekt der Moderne erklärt. In seinem Euch Jenseits von rechts und links nennt er die Umweltbewegung die bedeutsamste Bewegung der letzten Jahre. In seinem Buch Der dritte Weg schreibt er: »Modernisierung ist grundle gend für die neue Politik. Ökologische Modernisierung ist ein Bestandteil von ihr neben anderen. Tony Blairs Reden etwa sind mit dem Wort nur so gespickt. Was soll man darunter verstehen? Zum einen natürlich die Modernisierung der Sozialdemokratie selbst. Das Abrücken von klassischen sozialdemokratischen Positionen.[ Giddens zielt hier auf die Verstaatlichungsideen der Labour-Party, die die SPD schon im Godesberger Programm aufgegeben hatte.] Eine allgemeine Modernisierungsstrategie kann jedoch nur Erfolg haben, wenn die Sozialdemokraten ein anspruchsvolles Verständnis des Konzepts haben. Eine ökologisch sensibilisierte Modernisierung kann nicht nach dem Motto mehr und immer mehr Modernität verfahren. Es gilt vielmehr, die Brüche und Grenzen des Modernisierungsprozesses selbst in Rechnung zu stellen. Modernisierung hat angesichts des unberechenbaren Wandels, der von der prinzipiell unvorhersehbaren Dynamik der wissenschaftlichen und technologischen Innovation geprägt ist, die Aufgabe, für ein gewisses Maß an Kontinuität zu sorgen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.« Anthony Giddens käme es nicht in den Sinn, ökologische Forderungen als unmodern oder wirtschaftsfeindlich abzutun. Es käme ihm noch weniger in den Sinn, den Abbau von Arbeitnehmerrechten ins Zentrum der Modernisierung zu rücken, denn dies würde den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« nicht gerade stärken. Das Regierungsprogramm enthielt daher eindeutige Forderungen zur ökologischen Modernisierung. Wir versprachen die ökologische Erneuerung des Steuer- und Abgabensystems. Die Arbeit war in Deutschland zu teuer geworden. Der Umweltverbrauch war relativ billig. Da das Steuer- und Abgabensystem die wichtigen Rahmendaten beinhaltet, die der Staat festsetzt, um die soziale Marktwirtschaft zu ermöglichen, ist die ökologische Modernisie rung dieses Steuer- und Abgabensystems ein wesentliches Projekt der Modernisierung. Wir forderten die Energiewende und den Ausstieg aus der Atomkraft. Einen Zeitplan legten wir nicht fest. Viele praktische Argumente sprachen dagegen. Es hieß in unserem Programm, dass wir die Nutzung der Atomkraft so schnell wie möglich beenden wollen. Die Energiewende überschrieben wir mit: »Wir wollen die Brücke ins Solarzeitalter bauen. Das ist unsere Vision für das 21. Jahrhundert. Die erneuerbaren Energien sollen ein Eckpfeiler der Energieversorgung werden. Der Anteil der regenerativen Energien an der gesamten Energieversorgung soll schrittweise erhöht werden. Dazu gehören faire Einspeiseregelungen für Strom aus erneuerbaren Energiequellen, das gilt sowohl national als auch europaweit. Die industrielle Massenfertigung für moderne Solartechnologien muss ausgebaut werden. Wir werden ein Hunderttausend-DächerProgramm initiieren und den Export der Solartechnologie in Entwicklungsländer besonders unterstützen.« Die beiden Worte »Innovation« und »Gerechtigkeit« waren keine leeren Worthülsen. Wir hatten uns im Regierungsprogramm klar festgelegt, und zwar so, dass auch die einfachen Mitglieder die wesentlichen Punkte des Programms vermitteln konnten. Es nützt nichts, langatmige Programme zu schreiben, die nur die Autoren verstehen. Es ist wichtig, im Dialog mit den Wählerinnen und Wählern ein allgemeinverständliches Programm zu formulieren, das den Wünschen der Mehrheit Rechnung trägt und finanzierbar ist.
Aufstellung der Regierungsmannschaft
Die Aufstellung der Regierungsmannschaft ist immer eine heikle Angelegenheit. Diejenigen, die berufen werden, sind zufrieden. Diejenigen, die nicht berufen werden, sind enttäuscht. Daher geht kein Kandidat gerne an die Aufstellung einer Regierungsmannschaft. Gerhard Schröder und ich hatten deshalb vereinbart, eine Kernmannschaft vorzustellen, um uns offen zulassen, im Fall der Regierungsbildung zusätzliche Kolleginnen und Kollegen für Regierungsämter vorzuschlagen. So mussten wir uns nicht exakt darauf festlegen wer im Fall eines Wahlsiegs einen Anspruch auf ein Regierungsamt haben würde und wer nicht. Dies diente der Befriedigung der Partei und wurde letztendlich auch so angenommen. Natürlich versteht es sich, dass der Kanzlerkandidat und der Parteivorsitzende der Regierungsmannschaft angehören. Ich erklärte mich bereit, die Verantwortung für die Bereiche Finanzpolitik und Europapolitik zu übernehmen, ohne dass das eine endgültige Festlegung war. Schon damals war darüber gesprochen worden, dass ich auch das Amt des Fraktionsvorsitzenden übernehmen könnte, um dem zukünftigen Bundeskanzler die notwendige Rückendeckung zu geben. Vor allem ehemalige Bundesminister wie Horst Ehmke und Herbert Ehrenberg rieten zu dieser Lösung. Wir waren uns klar darüber, dass die Regierungsarbeit nur erfolgreich sein könnte, wenn Parteivorsitzender und Bundeskanzler eng zusammenarbeiteten. Überlegungen, die vielerorts angestellt wurden, ob die zusätzliche Übernahme des Amtes des Fraktionsvorsitzenden durch mich nicht eine unzulässige Verschiebung der Machtbalance gewesen wäre, waren im Prinzip richtig. Sie änderten aber nichts an meiner Sicht der Dinge, dass nur auf der Grundlage einer fairen und kameradschaftlichen Zusammenarbeit die Regie rungsarbeit funktionieren konnte. Rudolf Scharping übernahm die Bereiche Außenpolitik und Sicherheitspolitik. Auch das war keine endgültige Festlegung, da Rudolf Scharping weiterhin interessiert war, Fraktionsvorsitzender zu sein. Er war sogar oft gekränkt, wenn Gerhard Schröder oder andere öffentlich darüber redeten, dass der Parteivorsitzende auch Fraktionsvorsitzender werden könne, wenn er es denn wolle. Gerhard Schröder hatte mir in einem der vielen Gespräche, die wir führten, für den Fall der Regierungsbildung auch die Position des Außenministers angeboten. In diesem Amt hatte sich Willy Brandt einst internationales Ansehen erworben. Doch nicht nur mich hätte dieses Amt gereizt - auch Scharping wollte Außenminister werden, und Fischer war auf die ses Amt geradezu fixiert. Der Finanzminister hat dagegen eine Aufgabe, bei der man eigentlich nur verlieren kann. Theo Waigel rangierte, von mir nicht unbemerkt, am unteren Ende der Popularitätsskala. Aber ich hatte mir nun einmal vorgenommen, meinen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten. Es war seit vielen Jahren jedem, der sich näher mit der Sache befasste, aufgefallen, dass der Finanzminister für den Abbau der Arbeitslosigkeit weitaus mehr tun konnte als der Wirtschaftsminister. Helmut Schmidt wollte das Wirtschaftsministerium ganz auflösen, weil es nur noch für Messeeröffnungen und Subventionen zuständig sei. Ich hatte im übrigen als finanzpolitischer Koordinator der SPD im Bundesrat lange Zeit die Finanzpolitik der SPD geprägt. Darüber hinaus war es nur ehrlich, wenn derjenige, der die Wende in der Partei zu einer neuen Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgesetzt hatte, auch in der Regierungsarbeit dafür gerade stehen würde. »Unsere Antwort auf die Globalisierung der Wirtschaft ist eine Politik der inneren Reformen und der internationalen Zusammenarbeit«, schrieben wir, und weiter: »Einen Kostensenkungswettlauf gegen die Billiglohnländer dieser Welt kann Deutschland nicht gewinnen. Wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, dann müssen wir einfach produktiver und besser sein als unsere Konkurrenten. Spitzenprodukte und Spitzenqualität zu wettbewerbsfähigen Preisen, darin liegt die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Wir wollen auch einen Leistungswettbewerb um das weltweit beste Bildungssystem, die leistungsfähigste Forschung, die neuesten Technologien und die modernste Infrastruktur. Die globalisierten Märkte brauchen eine neue und faire Weltwirtschaftsordnung, die sich an den Grundsätzen der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft orientiert. Mit einer klugen und pragmatischen Kombination von Angebots- und Nachfragepolitik wollen wir für mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze sorgen.« Dazu versprachen
wir steuerliche Entlastung, vor allem für Arbeitnehmer und Familien, eine konjunkturgerechte Finanzpolitik mit einer Verstetigung öffentlicher Zukunftsinvestitionen auf möglichst hohem Niveau und einer Verdoppelung der Zukunftsinvestitionen für Bildung, Forschung und Wissenschaft. Das war in wenigen Worten der Gegenentwurf zur Angebotspolitik, die auf Unternehmensteuersenkung, Lohnzurückhaltung, Kürzung sozialer Leistungen und den Abbau von Arbeitnehmerrechten setzte. Die Angebotspolitik beruht auf dem Konzept des Standortwettbewerbs, das Volkswirtschaften mit Betrieben gleichsetzt und Kostensenkung, Steuerwettbewerb und den Abbau sozialer Leistungen zur Voraussetzung für neue Investitionen und Arbeitsplätze erklärt. Unser Regierungsprogramm war eine Absage an die herrschende angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die das Arbeitslosendesaster herbeigeführt hatte. Es bot sich daher an, dass ich selbst die Verantwortung für die se Aufgabe in der Regierung übernehmen würde. So berief ich später mit Heiner Flassbeck und Claus Noe zwei Männer zu Staatssekretären, die für diese neue wirtschafts- und finanzpolitische Konzeption standen. Dass sie dabei anecken würden, war vorauszusehen. Sich brav in die herrschende Meinung einzuordnen ist in der Regel leichter und von mehr öffentlichem Beifall begleitet. Dass Hans Eichel später über die beiden herzog mit den Worten, der eine hat das Ministerium, der andere die Welt gegen sich aufgebracht, war nicht gerade fair, zumal er es in Rekordzeit fertiggebracht hatte, Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner gegen sich aufzubringen. Heiner Flassbeck hatte bei seinen Vorstößen meist die Unterstützung der Franzosen und Japaner. Dass die Angelsachsen und Tietmeyer nicht mit ihm übereinstimmten, sprach nicht unbedingt gegen ihn. Claus Noe ist ebenfalls ein konsequenter Befürworter einer Wirtschaftspolitik, die Angebot und Nachfrage in gleicher Weise berücksichtigt. Auch er traf daher auf Widerstände. Die Kontinuität des Finanzministeriums stellte der langgediente Staatssekretär Manfred Overhaus sicher. Mit Barbara Hendricks und Karl Diller als Parlamentarische Staatssekretäre hatten wir eine gute Mannschaft zusammen. Die Kritik, dass in den ersten Monaten das Ministerium nicht perfekt funktionierte, ist nicht falsch, fällt aber auf die Kritiker zurück. Leute, die von sich behaupten, sie bekämen ein großes Ministerium innerhalb kürzester Zeit in den Griff, offenbaren nur ihre Ahnungslosigkeit. Es gibt aber Minister, die das Ministerium innerhalb kürzester Zeit im Griff hat. Sie übernehmen meist, ohne es zu merken, die Politik ihrer Vorgänger, die das Ministerium ebenfalls fest im Griff hatte. Für den Bereich der Justiz schlug Gerhard Schröder Däubler-Gmelin vor, die im Präsidium die einzige war, dir ihn mehr oder weniger offen bei der Kanzlerkandidatur unterstützt hatte. Für den Bereich Forschung, Bildung und Umwelt verständigten wir uns auf Edelgard Bulmahn. Ursprünglich wollte ich in Abstimmung mit Manfred Stolpe Matthias Platzeck für die Kernmannschaft vorschlagen. Er hatte sich bei der Oder-Flut weit über Brandenburg hinaus einen Namen gemacht und sollte für den Bereich Umwelt zuständig sein. Seine Kandidatur für das Amt des Oberbürgermeisters von Potsdam führte jedoch dazu, dass wir dieses Vorhaben aufgaben. Gesetzt für die Regierungsmannschaft war Christine Bergmann aus Berlin, die mehrere Vorzüge in sich vereinigte. Sie repräsentierte den Osten, war eine attraktive Frau und hatte sich als Berliner Senatorin Fachkompetenz erworben, so dass sie für den Bereich Jugend und Familie in die Wahlkampfmannschaft aufgenommen wurde. Rolf Schwanitz war im Wahlkampfteam für den Aufbau Ost zuständig. Er hatte sich in der Bundestagsfraktion als Anwalt der Ostdeutschen einen Namen gemacht. Auf dem Leipziger Parteitag hatte ich mich mit Gerhard Schröder verständigt, Walter Riester in die Regierungsmannschaft zu nehmen. Er war als ein als reformfreudig bekannter Gewerkschafter eine gute Besetzung für das Amt des Arbeitsministers. Willy Brandt hatte die Tradition begründet, führende Gewerkschafter in die Regierung zu berufen. Ich war und bin der Überzeugung, dass erfolgreiche sozialdemokratische Politik nur in engem Schulterschluss zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern möglich ist. Im den Bereich der Innenpolitik einigten wir uns auf Otto Schily. Otto Schily hatte sich meine Wertschätzung dadurch erworben, dass er die schwierigen Verhandlungen über den großen Lauschangriff gut geführt hatte. Er musste dabei auch viel Kritik aus der eigenen Partei einstecken. Letztendlich erwies er sich aber als jemand, der klare Vorstellungen hatte und in der Lage war, sie Stück für Stück umzusetzen. Er hatte ein Gespür dafür, welcher Kompromiss für die jeweils Beteiligten vertretbar war. Auch Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering gehörte dem Wahlkampfteam an. Wir hatten vor, ihn zum Chef des Bundeskanzleramts zu machen. Als besonders schwierig stellte sich die Suche nach dem Kandidaten für das Amt des Wirtschaftsministers dar. Gerhard Schröder hatte in einem seiner Interviews angekündigt, einen unabhängigen Fachmann zu berufen.
Ich selbst stand dieser Absicht skeptisch gegenüber. Die in der Öffentlichkeit stets positiv aufgenommene Formel von einem Fachmann von außen unterstellt, dass es in den Parteien zu wenig Fachleute gäbe. Meine Erfahrung war aber die, dass weder wissenschaftliche noch unternehmerische Qualifikation ausreicht, um in der Politik für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich zu sein. Die Führung eines Lehrstuhls ist eine Sache. Die Führung eines Unternehmens verlangt ebenfalls eine besondere Begabung. Ganz anders sind aber die Anforderungen, die an die Führung eines Ministeriums gestellt werden. So erwerben sich die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der jeweiligen Parteien nicht nur im Laufe der Jahre die notwendigen Fachkenntnisse, sondern auch die notwendigen politischen Kenntnisse, um in einer parlamentarischen Demokratie ein Ministerium führen zu können. Auch in den vergangenen Jahren hatte man mit der Berufung unabhängiger Fachleute - auch hier war Willy Brandt in der SPD Vorreiter - nicht unbedingt die besten Erfahrungen gemacht. Schröder war aber im Wort, und weil sich die Suche lange hinzog, wurde er in der Öffentlichkeit immer wieder mit der Frage konfrontiert, wann endlich der unabhängige Fachmann oder der erfolgreiche Unternehmer präsentiert würde. Was einen unabhängigen Unternehmer oder Manager anging so standen der Berufung auch Eigeninteressen entgegen. Einmal ist die Annahme eines Regierungsamts in der Regel mit einem drastischen Rückgang des persönlichen Einkommens verbunden. Zum anderen läuft die Kandidatin oder der Kandidat Gefahr, im Fall einer Wahlniederlage In den eigenen Kreisen an Ansehen zu verlieren und für die misslungene Bewerbung auch noch mit Spott und Häme konfrontiert zu werden. Im Juni aber war es dann soweit. Schröder rief mich an Und sagte mir, er habe jetzt den richtigen Mann. Einen jungen erfolgreichen Unternehmer aus der Computerbranche. Wir vereinbarten ein gemeinsames Treffen, und am Freitag, dem 19. Juni, lernte ich Jost Stollmann in der Bonner Saarvertretung kennen. Er machte einen guten Eindruck und schilderte seine berufliche Karriere. Er war mit seiner Kerpener Firma CompuNet zum Umsatzmilliardär aufgestiegen und 1990 zum Euromanager des Jahres gewählt worden. Er hatte an der Bostoner Harvard Business School studiert. Sein Unternehmen, das er an den US-Konzern General Electric verkauft hatte, machte zum Schluss einen Umsatz Von 1,9 Milliarden DM und hatte 1800 Mitarbeiter. Das Unternehmen galt als arm an Hierarchien, schnell, beweglich und dynamisch. Stollmann, der Vater von fünf Kindern ist, war also aufgrund seines bisherigen Lebenslaufs ein idealer Kandidat für Gerhard Schröders Politik der neuen Mitte, die sich ja vor allem an junge Aufsteiger wenden wollte. Ich hatte gleichwohl ein ungutes Gefühl, denn ich merkte schnell, dass der Politikbetrieb Jost Stollmann sehr fremd war. Ich bat daher Gerhard Schröder, die Entscheidung nicht vorzeitig bekannt zugeben, da ich noch das Präsidium für diesen Plan gewinnen wollte. Ich hatte es als Parteivorsitzender zu meinem Prinzip gemacht, in schwierigen Fragen das Präsidium entscheiden zu lassen. Es war aber bereits zu spät. Am nächsten Tag stand der Name Jost Stollmann in allen Zeitungen. In den darauffolgenden Wochen ging die Freude erst richtig los. Jost Stollmann gab eine Reihe von Interviews. Er lobte Helmut Kohl für seine phantastischen Leistungen. Er hatte eine sehr kritische Einstellung gegenüber der Mitbestimmung und dem Sozia lstaat. Pfarrer Hintze feixte: »Prost, Jost!« Und Helmut Kohls Kanzleramt spottete: »Das ist unser Mann im Ollenhauer-Haus.« Wir waren erleichtert, als Jost Stollmann seinen Urlaub nahm. Mitte August berief Helmut Kohl als Antwort auf Jost Stollmann seinen alten Widersacher, Lothar Späth, zum Vorsitzenden eines Beraterkreises für Zukunft und Innovation. Das sah aus wie der Griff nach dem letzten Strohhalm. Ein Regierungschef, der kurz vor der Wahl einen Beraterkreis für Zukunft und Innovation braucht, stellt sich selbst das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Der Wahlsieg rückte immer näher. Wir stellten in dieser Zeit auch Überlegungen an, wie wir Gerhard Schröders Ansehen in Frankreich verbessern könnten. Die Franzosen hatten den Eindruck, er sympathisiere eher mit der angelsächsischen Kultur. Zudem hatte er die Regierung Jospin mit der schnodderigen Bemerkung brüskiert, die Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich sei gut für Deutschland. Wir reisten zusammen nach Paris und machten auf »gut Wetter«. Meine Beziehungen zur Parti Socialiste sind sehr eng und sehr freundschaftlich. Ich hatte eine Zeitlang erwogen, für das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien in der Regierung Schröder, das später Michael Naumann übernehmen sollte, Jack Lang vorzuschlagen. Ich bin sicher, dass Jack Lang eine solche Aufgabe, wenn man ihn nur nachdrücklich darum gebeten hätte, auch übernommen hätte. Es wäre ein in Europa einmaliges Experiment gewesen und hätte sicherlich neue Impulse für die deutsch-französischen Beziehungen gebracht.
Eines Tages überraschte mich Gerhard Schröder mit dem Vorschlag, Brigitte Sauzay, die mir als Dolmetscherin Mitterrands begegnet war, zu einer Art Frankreichbeauftragten im Kanzleramt zu machen. Mir ist bis zum heutigen Tage nicht klargeworden, was sich Gerhard Schröder von dieser Berufung versprach. Da die Angelegenheit auch nicht mit dem französischen Außenministerium besprochen war, kam es zu einer zusätzlichen Versammlung. Schon bald war ich gezwungen einzugreifen. Brigitte Sauzay hatte für Gerhard Schröder ein Treffen mit Partnern der bürgerlichen Opposition in Paris organisiert. An eine gleichzeitige Begegnung mit unseren Freunden in der Parti Socialiste, um Missverständnisse auszuschließen, hatte sie nicht gedacht. Als ich davon Wind bekam, unternahm ich große Anstrengungen, dass Gerhard Schröder auch Jospin im Matignon aufsuchte. Auf meine Bitte hin strich Jospin kurzfristig einige Termine, und ein Eklat war vermieden. Schröders gutgemeinter Vorschlag, die Briten sollten künftig stärker an der deutsch-französischen Zusammenarbeit teilhaben, führte in Paris nicht gerade zu freundlichen Reaktionen. Ich hätte mir für die Festigung der deutsch-französischen Zusammenarbeit eine andere Vorgehensweise vorstellen können.
Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung
Die Kenner der Bonner Szene wissen, dass schon vor der Bundestagswahl ein heftiges Gerangel um Posten und Positionen einsetzte, obwohl wir es anders vereinbart hatten. Das ist menschlich nur verständlich. Der Wahlsieg ist das Ergebnis der Arbeit vieler, die sich in den unterschiedlichsten Funktionen für die Partei engagiert und ihre Beiträge geleistet haben. Vor der Bundestagswahl nahm ich das noch mit Humor und schickte alle zu Peter Struck. Ich sagte: »Peter nimmt die Bewerbungen entgegen und vergibt die Posten.« Die bereits vorher getroffenen Absprachen wurden aber direkt nach dem Wahlsieg zum Problem. Ich hatte die Parole ausgegeben, dass wir zuerst die Koalitionsvereinbarung zustande bringen und dann die endgültige Verteilung der Ämter und Funktionen vornehmen sollten. Aber die Bundestagsfraktion hielt sich nicht daran. Wolfgang Thierse hatte schon lange sein Interesse für das Amt des Bundestagspräsidenten bekundet. Dagegen war nichts einzuwenden, denn er hatte in jedem Fall die persönlichen Voraussetzungen für dieses Amt. Er ist nach meinem Eindruck mittlerweile auch zu einem allseits geschätzten Bundestagspräsidenten geworden. Als Parteivorsitzender hatte ich aber stets das Gesamte im Auge zu behalten und zu bedenken, dass wir für das Amt des Bundespräsidenten Johannes Rau vorschlagen wollten. Johannes Rau ist einer der beliebtesten und erfahrensten Politiker der Bundesrepublik Deutschland. Die Verfassung weist dem Bundespräsidenten neben der Repräsentation in schwierigen Situationen der parlamentarischen Demokratie durchaus beachtliche Entscheidungskompetenzen zu. Gerhard Schröder hatte zugestimmt, Johannes Rau für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen. Daher plädierte ich für eine Frau als Bundestagspräsidentin. Es wären mehrere Sozialdemokratinnen in Frage gekommen, so unter anderen auch Anke Fuchs. Die ehemalige Ministerin für Arbeit und Soziales im Kabinett Schmidt war Bundesgeschäftsführerin zur Zeit Hans-Jochen Vogels und lange Zeit stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion. Es ist also keine Frage, dass sie in der Lage gewesen wäre, nach Annemarie Renger die zweite sozialdemokratische Bundestagspräsidentin zu werden. Anke Fuchs hatte sich aber, sicherlich aus guten Gründen, dafür entschieden, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags zu werden. Auch Christel Hanewinckel aus Halle wäre geeignet gewesen. Sie hielt vor der Bundestagsfraktion eine überzeugende Vorstellungsrede. Aber die Entscheidung stand fest, da es Vorabsprachen gab. Dazu kam, dass Rudolf Scharping entgegen unseren Vereinbarungen schon vor der Bundestagswahl daranging, bei den Abgeordneten und bei der Presse dafür zu werben, dass er das Amt des Fraktionsvorsitzenden behielte. In der Endphase des Wahlkampfs schrieb er an die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion und an die Kandidatinnen und Kandidaten der SPD für die Bundestagswahl: >> Ich habe im Einvernehmen mit den Fraktionsgremien unsere Planungsgruppe beauftragt, gemeinsam mit den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktion und auf der Grundlage unseres Wahlprogramms sowie der bisherigen Arbeit der Fraktion und im Vergleich mit den Absichten der anderen Parteien die Grundlagen für Koalitionsverhandlungen präzise vorzubereiten, damit wir sofort nach dem Wahltag am 27. September unsere Arbeit beginnen können. Nach dem Abschluss von Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung können wir dann auch die notwendigen Entscheidungen innerhalb der Fraktion treffen. Für die letzten Tage des Wahlkampfs wünsche ich Euch eine weiterhin so sachliche und engagierte Arbeit wie bisher sowie uns allen die Mehrheit für ein zukunftsfähiges und gerechtes Deutschland. Ich freue mich auf die Fortsetzung unserer gemeinsamen Arbeit und sende Euch allen einen herzlichen Gruß, Rudolf Scharping.« Der Brief wurde so verstanden, wie er gemeint war. Als rechtzeitige Bewerbung Rudolf Scharpings für den Fraktionsvorsitz. Mir blieb nichts anderes übrig, als diese illoyale Vorgehensweise in der Endphase des Wahlkampfs zu ignorieren.
Auch für den Fraktionsvorsitz wäre es denkbar gewesen, eine Frau vorzuschlagen. Herta DäublerGmelin hatte sich um dieses Amt schon früher beworben. Anke Fuchs oder Ingrid MatthäusMaier wären ebenfalls in Frage gekommen. Ingrid Matthäus-Maier, die ich im Lauf der Zusammenarbeit immer mehr schätzen gelernt hatte, war eine hervorragende Finanzpolitikerin und eine unserer besten Rednerinnen im Parlament. Sie kann aber mit Gerhard Schröder nicht, der sie in Hintergrundgesprächen »Ingrid Matthäus-Müller« nannte. Sie hatte daher weder das Amt des Finanzministers angestrebt, noch sah sie es als sinnvoll an, für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren. In beiden Funktionen war eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzler gefordert. Sie suchte daher eine andere Aufgabe. Heute ist sie Vorstandsmitglied bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Scharping dagegen war es während der Koalitionsverhandlungen, die uns sehr in Anspruch nahmen, gelungen, durch intensive Gespräche mit Abgeordneten und Journalisten seine Kandidatur für den Fraktionsvorsitz weiter voranzutreiben. Ich hatte daran gedacht, für den Fall, dass die Bundestagsfraktion eine Frau als Bundestagspräsidentin akzeptiert hätte, Franz Müntefering für das Amt des Fraktionsvorsitzenden vorzuschlagen. Er hat Parlamentserfahrung, war schon einmal Parlamentarischer Geschäftsführer und hatte sich als Parteimanager ein hohes Ansehen in Partei und Fraktion erworben. Als wir uns zum ersten Mal der neuen Bundestagsfraktion vorstellten, wurde er mit sehr viel Beifall begrüßt. Er galt zudem als ein Mann, der weder Schröder noch mir besonders verbunden war. Er pflegte in einer für mich fast provozierenden Weise zu sagen, ich bin nicht der Geschäftsführer des Vorsitzenden, sondern der Geschäftsführer der Partei. Die Hartnäckigkeit Rudolf Scharpings machte diese Plä ne zunichte. Immer wieder kündigte er ohne Rücksprache mit Gerhard Schröder und mir an, dass er darauf bestehen würde, Fraktionsvorsitzender zu bleiben. Hier war die Autorität des Parteivorsitzenden gefordert. Ich bat Rudolf Scharping zu einem Gespräch und teilte ihm mit, dass ich seine Vorgehensweise als Bruch unserer Absprachen ansehen müsse. Abgesehen davon sei ich nicht der Auffassung, dass er in der jetzigen Konstellation der geeignete Fraktionsvorsitzende sei. Ich erinnerte an die verletzenden Auseinandersetzungen, die er im Jahr 1995 mit Gerhard Schröder hatte. Ich erinnerte daran, dass er gegen den Rat von Johannes Rau und mir Gerhard Schröder als wirtschaftspolitischen Sprecher der Partei abberufen hatte. Ich wusste, dass solche Verletzungen tief sitzen und dass in Situationen, in denen es einmal schwieriger würde, der Fraktionsvorsitzende unbedingt loyal zum Kanzler und zum Parteivorsitzenden stehen musste. Aufgrund der Tatsache, dass Rudolf Scharping die von ihm selbst provozierte Abwahl in Mannheim nicht verwunden hatte, war sein Verhältnis zu mir stets gespannt. Darüber konnte die parteiintern gepflegte Höflichkeit nicht hinwegtäuschen. Wie zu meiner Bestätigung schrieb die Süddeutsche Zeitung nach meinem Rücktritt dazu: »Sein Urteil über den eigentlichen Meuchelmörder von Mannheim hatte er längst gefällt. Schon vor dem Gerangel mit Lafontaine um den Fraktionsvorsitz. Frühzeitig lud er so viel Schuld und so viel persönliche Abneigung wie möglich auf die Schultern seines Nachfolgers als SPD-Chef, um auch psychologisch Raum für eine Zusammenarbeit mit Schröder in einer SPD und einer Regierung ohne Lafontaine zu haben.« Der psychologische Raum war im Sommer 1999 schon wieder so groß geworden, dass Minister Scharping jeden wissen ließ, dass er sich für geeignet hielt, Bundeskanzler zu werden. Meine Argumente beeindruckten Rudolf Scharping nicht. Er blieb dabei, dass er als Fraktionsvorsitzender kandidie ren werde. So war ich gezwungen, zum letzten Mittel zu greifen und anzukündigen, dass ich in diesem Fall mich ebenfalls um dieses Amt bewerben würde. Gleichzeitig lud ich den Parteivorstand der SPD ein, um eine Empfehlung in dieser Frage einzuholen. Scharping zog zurück, und es wurde die gesichtswahrende Formel gefunden, dass Gerhard Schröder den Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine und den Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping gebeten habe, ins Kabinett einzutreten. Rudolf Scharping, der die Absprachen gebrochen hatte, war es gelungen, diesen Vorgang so hinzustellen, als sei er zum zweiten Mal vom Parteivorsitzenden gedemütigt worden. Die Bundestagsabgeordneten, die nicht informiert waren, übernahmen teilweise diese Lesart. Die Berliner Zeitung hatte dagegen für jeden, der es wissen wollte, die Vorgehensweise Rudolf Scharpings genau beschrieben: »Scharping hat
vorgebaut. Vom Wahlabend an verfolgte er eine konsequente Strategie, um sich mit allen Mitteln auf dem Stuhl des Fraktionschefs zu halten. Den hält er für einflussreicher als einen Posten im Kabinett. Mit Hilfe offensiver, wenngleich diskreter Pressepolitik ließ Scharping in Bonn seinen Willen durchsickern, dass er keinesfalls nachzugeben gedenke. Zugleich alarmierte Scharping alle verfügbaren Truppen in der Fraktion, die ihm öffentlich zu Hilfe eilten. Scharpings Strippenzieher und Pressesprecher aktivierten alle Drähte. So stand bald in den Zeitungen zu lesen, Scharping habe die Mehrheit der SPD-Abgeordneten hinter sich. Scharping und Lafontaine, da stehen sich zwei Menschen gegenüber, die ihre wechselseitigen Emotionen seit dem Mannheimer Parteitag nicht mehr in den Griff bekommen. Hinter allem, was der jeweils andere erklärt, vermuten sie finstere Absichten, häufig zu Recht. Deshalb glaubte Scharping den Versicherungen Lafontaines, er diene der Partei besser als Verteidigungsminister, keine Sekunde. Schon weil Lafontaine das Angebot aussprach, musste Scharping es als Versuch ansehen, ihn ins politische Abseits befördern zu wollen. Nur sah Scharping sich diesmal, anders als in Mannheim, bestens vorbereitet. Zunächst hatte er sich mit dem Kanzlerkandidaten und künftigen Kanzler Gerhard Schröder versöhnt. Nach zahlreichen Wahlkampfterminen in Niedersachsen besuchte Scharping Ende Februar seinen einstigen Rivalen in dessen Wohnung in Hannover. Schröder entschuldigte sich für vielerlei Verletzungen, seither gilt ihr Verhältnis als bereinigt. Ähnlich verfuhr Scharping im Bundestagswahlkampf. Um sich Rückhalt in der Fraktion zu sichern, absolvierte Scharping in Wahlkampftermine allein in den letzten fünf Wochen vor dem 27. September bei seinen Abgeordneten vor Ort. Er hofft, dass sich das auszahlt bei seiner Wahl zum Fraktionschef. Auch soll es Verabredungen für bestimmte Posten geben, falls Scharping bleibt... Darum reagierte Scharping auch ungerührt, als Lafontaine ihm am vergangenen Mittwoch wie 1995 in Mannheim mit seiner Gegenkandidatur drohte. Anders als damals ist Scharping überzeugt, beim Zählappell der Wahlberechtigten vorn zu liegen. Darum spitzte Scharping den Konflikt mit öffentlichem Druck auch an diesem Wochenende weiter zu.« Aber wie in Mannheim hatte er die Lage wieder einmal falsch eingeschätzt. Ich stellte fest, dass nach der gewonnenen Bundestagswahl die Dinge anders waren. Ich hatte mich hinsichtlich meiner Möglichkeiten, die Weichen richtig zu stellen, getäuscht. Zudem hatte sich Gerhard Schröder in der Frage des Bundestagspräsidenten, er selbst lehnte Wolfgang Thierse ab, und in der Frage des Fraktionsvorsitzenden nicht engagiert. Die Berliner Zeitung schrieb dazu: »Ansonsten achtet der künftige Kanzler genau darauf, in den Konflikt der Kampfhähne nicht hineingezogen zu werden. Zwar unterstützt er Lafontaines Wunsch, Scharping möge Verteidigungsminister werden. Aber er äußerte dies erst spät und ohne Leidenschaft. Die Personalfragen, sagt Schröder gelassen, die solle ruhig der Parteivorsitzende regeln.« Das war nicht gerade eine kameradschaftliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit, auf die ich nach der gewonnenen Wahlschlacht gesetzt hatte. Als ich auch bei der Parlamentarischen Linken spürte, dass sie den Erzählungen Rudolf Scharpings auf den Leim gegangen war, musste ich einsehen, dass meine Vertrauensbasis als Parteivorsitzender geringer war, als ich es mir nach den drei Jahren der Zusammenarbeit und der Integration vorgestellt hatte. Die Entscheidung um den Vorsitz der Bundestagsfraktion war auch mit der Frage verbunden, wer als Kanzleramtschef das Kanzleramt leiten sollte. Gerhard Schröder hatte mich während des Wahlkampfs darüber informiert, dass er daran denke, Gerd Andres, den Sprecher des Seeheimer Kreises, zum Kanzleramtschef zu machen. Ich konnte ihm dieses Vorhaben ausreden. Gerd Andres tat sich zwar beim fraktionsinternen Intrigen- und Ränkespiel hervor, war aber ansonsten nicht positiv aufgefallen. Ich hatte während des Wahlkampfs die Zustimmung Gerhard Schröders, dass Franz Müntefering Chef des Bundeskanzleramts werden sollte. Nach einer gemeinsamen Sitzung, in der es um die Festlegung der Plakate ging, die wir im Endspurt des Wahlkampfs kleben wollten, waren Gerhard Schröder und Franz Müntefering aber heftig aneinandergeraten. Am darauffolgenden Tag erklärte mir Franz Müntefering: »Mit dem mache ich das nicht.« Ich schlug Gerhard Schröder daraufhin vor, Peter Struck anzutragen, Chef des Bundeskanzleramts zu werden. Peter Struck hatte sich für diese Aufgabe interessiert und verfügt über hervorragende parlamentarische Erfahrung. Als Fraktionsmanager hatte er insbesondere in den Zeiten den Betrieb am Laufen gehalten, als die Fraktion mit ihrem Vorsitzenden Rudolf Scharping äußerst unzufrieden war.
Obwohl Gerhard Schröder zunächst maulte, »der quatscht mir zuviel«, und obwohl beide kein gutes Verhältnis zueinander hatten - Schröder hatte sich immer über das Mittelmaß in der Fraktion lustig gemacht und die Abgeordneten kritisiert, die noch nicht einmal in der Lage wären, einen Wahlkreis zu gewinnen -, stimmte er schließlich zu. Anschließend informierte ich Peter Struck. Unbeschadet dieser Zusage überraschte mich Gerhard Schröder eines Tages mit der Mitteilung, dass Bodo Hombach Chef des Kanzleramts werden solle. Ich war verärgert darüber, dass eine Zusage, die ich, auch in seinem Namen, Peter Struck gegeben hatte, jetzt wieder rückgängig gemacht werden sollte. Zudem brach Schröder die entscheidende Absprache, die wir im »Ritter St. Georg« in Braunschweig mit einem Schnaps besiegelt hatten. Wichtige Personalentscheidungen wollten wir künftig gemeinsam treffen. Der Chef des Bundeskanzleramtes musste, wenn die neue Regie rung Erfolg haben wollte, das Vertrauen des Bundeskanzlers und des Parteivorsitzenden haben. Ich konnte nicht erkennen, welche besonderen Fähigkeiten Bodo Hombach für das Amt des Chefs des Bundeskanzleramts qualifizierten. Er ist sicherlich ein fähiger Wahlkampfmanager. Aber er hatte gerade erst das Düsseldorfer Wirtschaftsministerium übernommen. In den letzten Jahren hatte er in der Bundespolitik keine Rolle gespielt. Die fachlichen Diskussionen bei Steuer- oder Sozialgesetzen und im Bereich der Inneren Sicherheit waren an ihm vorbeigegangen. Ein Chef des Bundeskanzleramts aber, der die Arbeit der Regierung koordinieren soll, braucht dringend einen tiefer gehenden, auch fachlichen Überblick über die verschiedenen Politikbereiche. Diese Voraussetzungen waren bei Bodo Hombach nicht gegeben. Unglücklicherweise kam hinzu, dass Frank Steinmeier, der Chef der Staatskanzlei in Hannover, auch davon ausging, dass er Chef des Bundeskanzleramts würde. Als Administrator ist Frank Steinmeier ein hervorragender Mann. Wir schätzten seine Arbeit, insbesondere die geräuschlose Art, mit der er auch schwierigere Probleme meisterte. Bei den Koalitionsverhandlungen war ich dankbar, dass er für den zukünftigen Bundeskanzler die administrative Seite übernahm. Er ist ein gründlicher Mensch und hatte stets den Überblick über die getroffenen Vereinbarungen. Aufgrund der unterschiedlichen Temperamente, hier der Verkäufer und Überflieger Hombach, dort der seriöse Arbeiter Steinmeier, konnte die Arbeit im Kanzleramt nicht funktionieren. Da Hombach sich als ein Peter Mandelsohn der deutschen Politik verstand, sah er sich als Ideengeber und Spindoctor. Er stellte eine Reihe von Leuten ein, die ihm dabei behilflich waren. Bei dem ehemaligen amerikanischen Außenminister James A. Baker las ich einmal, dass Reagans außenpolitischer Apparat oft die reinste Hexenküche aus Intrigen, Ellbogengerangel, Egotrips und der Jagd nach persönlichen Zielen war. An diese Beschreibung musste ich oft denken, wenn ich die Arbeit der Entourage des Kanzleramtsministers in der Presse verfolgte. Die Arbeit dieser Truppe, ganz nach dem angelsächsischen Vorbild der Spindoctors, bestand aus Indiskretionen und Desinformationen. Selbstverständlich traute sich niemand, den Parteivorsitzenden offen anzugreifen. Aber es war mir immer klar, woher die Sticheleien in der Presse kamen. Ich hatte Bodo Hombach bei einem Gespräch in der Saarvertretung gesagt, dass ich ihm eine faire Chance geben wolle. Er hatte zugesagt, sich ebenfalls um eine korrekte Zusammenarbeit zu bemühen. Nach zwei Monaten jedoch sagte ich Gerhard Schröder, dass ich diesem Treiben nicht mehr lange zusehen würde, er möge es unterbinden. Natürlich versicherte Bodo Hombach immer wieder, dass er sich korrekt verhalte und mit diesen Intrigen nichts zu tun habe. Ich wies Gerhard Schröder mehrfach daraufhin, dass Hombach bei der Koordinierung der Regierungsarbeit versage. Gerhard Schröder änderte aber nichts. Es wäre Bodo Hombach aber zuviel Ehre angetan, wenn man ihn, wie eine Reihe von Sozialdemokraten nach meinem Rücktritt vermuteten, als den Hauptschuldigen für meinen Rücktritt ansehen würde. Verantwortlich dafür, wenn die Regierungszentrale nicht funktioniert, ist nicht der Chef des Bundeskanzleramts, sondern letztlich der Bundeskanzler. Wenn er sieht, dass der Amtschef seine Aufgaben nicht richtig erfüllt, muss er ihn auswechseln. Am 2,5. Juni 1999 titelte Bild: »Hombach auf den Balkan.« Er solle nach dem Willen des Bundeskanzlers Koordinator des Balkan-Stabilitätspakts werden. Schröder hatte viel zu spät begriffen, dass angesichts des Widerstands, der sich gegen seinen Kanzleramtsminister gebildet hatte, die Entscheidung unvermeidlich war. Natürlich wurde versichert, dass Hombach eine politische und unternehmerische Traumaufgabe übernehme und Schröder seinen wichtigsten Mann für diese Aufgabe abstelle. Am Rande des Kölner G-8-Gipfels hatte Schröder mit Bill Clinton über die
Besetzung des Postens geredet. »Da habe ich eine Vibration in mir gespürt und gedacht, das ist ja doll«, vertraute Bodo Hombach der Bild-Zeitung an. Am härtesten fiel der Nachruf auf Bodo Hombach im Schröder nahestehenden Blatt Die Woche aus: »Das System Hombach war freilich schon nach einem halben Jahr gescheitert: an seiner Sucht nach Publizität, seiner Leidenschaft für Intrigen und seiner Unfähigkeit zu diskreter, vorausschauender Planung. Die Bilanz: Das Verhältnis zu SPD-Fraktion, Grünen und wichtigen Kabinettsmitgliedern unrettbar zerrüttet, die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter in den Sand gesetzt, das Bündnis für Arbeit durch Eigenprofilierung fast blockiert. Einzig Hombachs Medienarbeit funktionierte wie geschmiert; doch seine persönlichen Kontakte zu wichtigen Journalisten in noch wichtigeren Blättern wurden so eng, dass die Fäden im politischen Puppentheater schließlich für jedermann sichtbar waren. Am Ende wurde Bodo Poppenspäler selbst vom Faden geschnitten.« Im nachhinein muss ich schon anerkennend sagen: Die Art und Weise, in der Hombach es verstand, Journalisten, auch Chefredakteure, einzuwickeln, war meisterhaft. Als er ging, erklärte Hans-Olaf Henkel, die deutsche Wirtschaft verliere im Kabinett »eine verlässliche Stütze und den Minister mit der höchsten Wirtschaftskompetenz. Hombach habe Entscheidendes zur Kehrtwende der Bundesregierung in der Finanz- und Sozialpolitik beigetragen.« Als ich das las, kamen mir die Tränen. Wie schwer sich Gerhard Schröder tat, durch Personalentscheidungen sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Parteivorsitzenden und dem Bundeskanzler reibungslos funktionierte, zeigt folgendes: Kenner der Bonner Szene wussten, dass ich mich im Bundesrat stets auf den Bevollmächtigten des Saarlands beim Bund, Pitt Weber, stützte. Er war einer der Männer im Hintergrund, die vie les bewirken, das Eicht der Öffentlichkeit aber meiden. Durch geschicktes Verhandeln brachte er es immer wieder fertig, dass die sozialdemokratischen Länder im Bundesrat einheitlich agierten. Er bot an, für Gerhard Schröder im Kanzleramt, wie Anton Pfeifer für Helmut Kohl, die Koordination im Bundesrat zu übernehmen. Obwohl Gerhard Schröder diesem Angebot zunächst positiv gegenüberstand, führte die Presseberichterstattung über die Koalitionsverhandlungen und meine angebliche Dominanz in diesen Verhandlungen dazu, dass Schröder davon nichts mehr wissen wollte. Ein Lafontaine-Mann im Kanzleramt, das hätte nach seiner Meinung bei dieser Presselage zu weiteren Missverständnissen geführt. Zum besonderen Problem wurde erwartungsgemäß Jost Stollmann. Er beteiligte sich an den Koalitionsverhandlungen, obwohl er, da er nicht Mitglied in der Partei und nicht im Präsidium war, nicht zu unserer Verhandlungsdelegation gehörte. Wir hatten aber, um die Koordination der Arbeit auch in dieser Phase sicherzustellen, von Fall zu Fall die Ministerkandidaten hinzugebeten. Es war ihm auch nicht vorzuwerfen, dass er das Parteiprogramm der SPD und die Details der Steuer- und Sozialpolitik nicht kannte. Schließlich konnte er sich einarbeiten. Zum Problem aber wurde die Aufgabenverteilung zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium. Nicht zuletzt die Auftritte Jost Stollmanns während des Wahlkampfs hatten mich dazu veranlasst, von Gerhard Schröder zu verlangen, dass das Finanzministerium, wenn ich es leiten sollte, zu einer Art Treasury nach angelsächsischem Vorbild ausgebaut werden müsste. Ich verwies auf die Ministerien des amerikanischen Finanzministers Bob Rubin, des englischen Schatzkanzlers Gordon Brown und des französischen Finanzministers Dominique Strauss-Kahn. Mit der Vorstellung, zusammen mit Jost Stollmann, nach dem Vorbild Waigels und Rexrodts, im Ecofin - Rat zu sitzen, konnte ich mich schlecht anfreunden. Ebenso wenig behagte mir der Gedanke, dass ich eine Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik im Finanzministerium einleiten und Jost Stollmann gleichzeitig im Jahreswirtschaftsbericht alle neoliberalen und angebotspolitischen Klischees herunterbeten würde. Ich bestand also darauf, dass die zuständigen Referate und Abteilungen in das Finanzministerium integriert werden sollten. Gerhard Schröder wollte dieser Entscheidung eine Zeitlang ausweichen. Jost Stollmann war ständig mit Journalisten im Gespräch, und in den Zeitungen war nachzulesen, dass er sich gegen Lafontaine durchgesetzt habe. Mit dem mir eigenen Humor sagte ich ihm, er solle nicht alles glauben, was in den Zeitungen stünde. Wie ich später feststellen konnte, hat er die se Ironie nicht verstanden. Vor die Wahl gestellt, Jost Stollmann zu verlieren oder ein Kabinett zu bilden, dem der Parteivorsitzende nicht angehörte, rang Gerhard Schröder sich schließlich dazu durch, den Ressortzuschnitt nach meinen Wünschen vorzunehmen. Jost Stollmann warf das Handtuch, die Partei atmete auf, und der parteilose Werner Müller, der Gerhard Schröder schon bei den Energiekonsensgesprächen als ehemaliger VEBA- Manager beraten hatte, übernahm nach einem kurzen Telefonat mit Gerhard Schröder das Wirtschaftsministerium.
Zum entscheidenden Eklat zwischen Gerhard Schröder und mir kam es aber, als es nach all diesem Gerangel um die Frage ging, wer jetzt Fraktionsvorsitzender werden solle. Peter Struck hatte rechtzeitig sein Interesse angemeldet. Aber auch der Saarländer Ottmar Schreiner, ein profilierter Sozialpolitiker der Fraktion, zeigte Interesse. Schreiner hatte in der Fraktion hohes Ansehen und erreichte bei den Wahlen zürn Fraktionsvorstand immer eines der besten Ergebnisse. Als diese Bewerbung in der Presse berichtet wurde, kamen wir morgens zum üblichen Vorgespräch vor den Koalitionsverhandlungen in der nordrhein-westfälischen Landesvertretung zusammen. Gerhard Schröder kam später und machte ein Gesicht, als wolle er die ganze Welt vergiften. Er setzte sich grußlos hin. Nachdem ich das Wort weitergegeben hatte, flüsterte ich ihm zu: »Was ist denn los?« Er antwortete: »Du willst mir den Schreiner als Fraktionsvorsitzenden unterjubeln.« Ich erwiderte ihm, das sei Quatsch und wir müssten sofort darüber reden. Er fauchte mich an, er habe jetzt keine Lust, mit mir zu reden, und ging wortlos aus dem Raum, wie er es immer tut, wenn er zornig ist oder die Einsamkeit des großen Staatsmanns demonstrieren will. Erst mittags gelang es mir, ihn zur Rede zu stellen. Ich sagte ihm, ein zweites Mal würde ich mir eine solche Behandlung nicht gefallen lassen. Unsere Zusammenarbeit könne nur funktionieren, wenn Kameradschaft und Vertrauen die Grundlagen seien. Ich wisse nicht, wer ihm die fixe Idee eingeredet habe, ich wolle ihm Ottmar Schreiner unterjubeln. Ich könne daraus aber nur entnehmen, dass er das Vertrauen mir gegenüber nicht aufbrächte, das notwendig sei, um erfolgreich in Regierung und Partei zusammenzuarbeiten. Am Nachmittag jenes Tages war ich zu dem Ergebnis gekommen, nicht in die Regierung einzutreten, da Gerhard Schröder die Vermutungen derjenigen bestätigt hatte, die mir immer vorausgesagt hatten: Gerhard Schröder sei nach der gewonnenen Wahl nicht zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit fähig. Ich war tief enttäuscht, hatte ich doch, unter Zurückstellung eigener Interessen, ihm den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur gelassen und die Partei im Wahlkampf mit großer Geschlossenheit hinter ihm versammelt. Nach Saarbrücken zurückgekehrt, teilte ich Christa meinen Entschluss mit. Am späten Abend klingelte das Telefon, und Doris Schröder-Kopf war am Apparat. Sie fragte mich, was los sei. Ihr Mann sei bereits übel gelaunt zu Bett gegangen. Ich erzählte ihr von dem Streit und meiner Absicht, gar nicht erst in die Regierung einzutreten. Dann überließ ich Christa den Hörer. Die Frauen redeten lange miteinander, Gerhard Schröder wurde aus dem Bett geholt und murmelte mir gegenüber eine Entschuldigung. Schließlich gab ich das Vorhaben auf, die Bundespressekonferenz einzuberufen, um mitzuteilen, dass ich dem Kabinett Schröder nicht angehören wolle. Ich rechtfertigte diese Entscheidung vor mir damit, dass ich in der Doppelfunktion als Parteivorsitzender und Finanzminister sicherstellen konnte, dass die im Regie rungsprogramm gegebenen Versprechungen auch umgesetzt würden. Vielleicht spürte ich schon damals, dass Schröder, wenn ich einmal nicht mehr präsent wäre, sehr schnell von diesen Versprechungen abrücken würde. Ich wollte aus der Position des deutschen Finanzministers auf eine Neuordnung der Weltfinanzmärkte hinwirken, um die Währungsspekulation zu bekämpfen. Ich fühlte mich als ehemaliger Ministerpräsident des Saarlands verpflichtet, wichtige regionalpolitische Weichenstellungen wie die Einrichtung einer deutschfranzösischen Hochschule in Saarbrücken, den Anschluss des Saarlands an das Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn, die Teilentschuldung in Höhe von 5 Milliarden Mark und die Einhaltung des Kohlekompromisses durchzusetzen. Also biss ich noch einmal die Zähne zusammen. Während dieser turbulenten Tage trat etwas ein, was ich schon Jahre vorher erwartet hatte und was zu meiner eigenen Verwunderung bis dahin ausgeblieben war. Ich träumte in mehreren Nächten das Attentat von Köln nach. Immerhin acht Jahre später. Ich erzählte nur Christa und Gerhard Schröder davon. Letzterem in der Absicht, ihm deutlich zu machen, dass die Anstrengungen des Wahlkampfs und die Personalentscheidungen auch bei mir Spuren hinterlassen hatten. Die Koalitionsverhandlungen liefen reibungslos. Sowohl die Sozialdemokraten als auch die Grünen wollten schnell zu einem Ergebnis kommen. Diskussionen gab es bei der Steuerreform. Die Grünen wollten einen niedrigeren Spitzensteuersatz. Bezahlen sollten diese Wohltat die Arbeitnehmer. Das konnten wir nicht mitmachen. Die Vereinbarungen zum Atomausstieg wurden von Gerhard Schröder, Jürgen Trittin und ihren Mitarbeitern ausgehandelt. Gerhard Schröder hatte sich über Jahre mit der Energiepolitik befasst und eine Reihe von Sachverständigen der Energie branche konsultiert. Ich unterstützte ihn nachdrücklich in dem Bemühen, keine unrealistischen Zielvorgaben hinsichtlich der Ausstiegsfristen zu machen. Wir schrieben in die Koalitionsvereinbarung: »Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie wird innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich geregelt... Die neue Bundesregierung wird die Energieversorgungsunternehmen zu Gesprächen einladen, um eine neue
Energiepolitik, Schritte zur Beendigung der Atomenergie und Entsorgungsfragen möglichst im Konsens zu vereinbaren. Die neue Bundesregierung setzt sich hierfür einen zeitlichen Rahmen von einem Jahr nach Amtsantritt. Die Koalition wird nach Ablauf dieser Frist ein Gesetz einbringen, in dem der Ausstieg aus der Kernenergienutzung entschädigungsfrei geregelt wird; dazu werden die Betriebsgenehmigungen zeitlich befristet. Der Entsorgungsnachweis wird angepasst.« Ein weiterer Streitpunkt war das neue Staatsbürgerschaftsrecht. Otto Schily gelang es, zusammen mit den Grünen einen Kompromiss zu vereinbaren, der von uns mitgetragen werden konnte. Aber wie schon bei der Steuerreform hatten wir uns auch hier zuwenig Zeit genommen. Wir hätten darüber reden müssen, ob es sinnvoll ist, einen solchen Kompromiss nur mit der Mehrheit der rot-grünen Koalition im Bundestag und Bundesrat durchzusetzen. Über das außenpolitische Kapitel des Koalitionsvertrags wurde ebenfalls heftig diskutiert. Die SPD musste zu weit gehende Forderungen des pazifistischen Flügels der Grünen, der während der Koalitionsverhandlungen noch vehement seine Interessen vertrat, abwehren. Wie sich Wochen später herausstellte, hätten wir uns diese Diskussionen sparen können. Zu einem großen Problem wurde die Berichterstattung der Presse. Der Tenor war einheitlich. Lafontaine dominiert die Koalitionsverhandlungen und setzt sich durch. Der Spiegel machte einen Titel »Der Kanzler und sein Schatten«. Unter der Überschrift »Sieger und Souffleur« stellte er fest, dass Oskar Lafontaine »die Konturen von Schröders großangelegter Steuerreform verwischt habe«. Auch der Spiegel hätte wissen können, dass das Steuerreformkonzept von allen Steuerexperten aus Bund und Ländern erarbeitet und vom Parteivorstand mit der Stimme Gerhard Schröders und meiner Stimme verabschiedet worden war. »Schuld am halbherzigen, verwässerten Konzept«, schrieb der Spiegel, »da sind sich fast alle einig, ist der Mann hinter - neben, vor? - dem Kanzler: der SPDVorsitzende Oskar Lafontaine, Schröders roter Schatten. Selbst in der neuen Koalition machen manche den heimlichen Rivalen für den Fehlstart verantwortlich. Der >Umverteiler< Lafontaine, ärgert sich der grüne Haushaltsexperte Oswald Metzger, treibe das Land mit seinem >Vulgärkeynesianismus< ins Unglück. Sein Kollege Fritz Kühn klagt, die Grünen hätten mit einer >strukturkonservativen Partei< verhandelt. Gegen Lafontaine >waren die reformerischen Kräfte in der SPD zu schwach<... Der neue Kanzler nimmt es schwerer. Denn die Enttäuschung über die Steuerreform, das Gezänk um den Ausbau von Lafontaines Finanzressort zu einem Schatzamt, der öffentliche Streit mit Ex-Fraktionschef Rudolf Scharping und der Abgang des designierten Wirtschaftsministers Jost Stollmann, an dessen Stelle Werner Müller tritt, haben ihm den Amtsantritt verdorben. >Der Start<, sagt Schröder mit gebremstem Unmut, >hätte besser sein können.< Der strahlende Sieger sieht sich plötzlich einem schwelenden Verdacht ausgesetzt: Schröder stehe als Kanzler auf der Bühne, sein Souffleur aber sei Lafontaine. Mit seiner Regierungserklä rung in der übernächsten Woche will sich Kanzler Nummer sieben deshalb noch einmal als Schröder pur präsentieren: einer, der die >Leistungsträger im High-Tech-Bereich< anspricht, die sich zuvor noch nie nach einem Sozi umgedreht haben; einer, der eine neue >Gründermentalität< in die verschlafen-verknöcherte Republik bläst.« Gerhard Schröder litt sichtlich unter der Berichterstattung der Presse. Wir haben jetzt ein Darstellungsproblem, pflegte er immer wieder zu sagen. Dabei war das von ihm und mir unterschriebene Wahlprogramm Grundlage der Koalitionsverhandlungen. An zwei Stellen war ich Gerhard Schröder entgegengekommen. Ich hatte auf seine Bitte hin nicht darauf bestanden, dass die Wiedereinführung der privaten Vermögensteuer in die Koalitionsvereinbarungen geschrieben wird. Ich hatte auch davon Abstand genommen, zu verlangen, dass die Ausbildungsplatzabgabe in den Koalitionsvertrag geschrieben wurde. Man hätte durchaus auch da oder dort schreiben können, Lafontaine ist Schröder bei Vermögenssteuern und Ausbildungsplatzabgabe entgegengekommen. Aber die Story, Lafontaine setzt sich durch, war wohl angesichts der Tatsache, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt, für die Medien schöner. Dieses Erklärungsmuster, wer sich wo durchgesetzt hatte, Lafontaine oder Schröder, lebte auch nach meinem Rücktritt weiter. Bei mehreren Entscheidungen, die die Bundesregierung nach dem n. März traf, wurde darüber spekuliert, ob Oskar Lafontaine diese Entscheidung mitgetragen hätte oder nicht. Beim Zukunftsprogramm 2ooo war oft zu lesen, das wäre mit Oskar Lafontaine nicht zu machen gewesen. Zwar war das von vielen Wirtschaftsjournalisten kritisch gemeint, aber ich fühlte mich geschmeichelt und von der Presse mal wieder so richtig gewürdigt. Ja, das wäre mit mir nicht zu machen gewesen.
Die Wahl des Fraktionsvorsitzenden verlief ziemlich problemlos. Peter Struck und Ottmar Schreiner hatten kameradschaftlich miteinander gesprochen. Der Fraktionsvorstand schlug Peter Struck vor, und er wurde dann auch mit deutlicher Mehrheit gewählt. Diese Entscheidung erwies sich während der vier Monate, in denen ich der Regierung angehörte, als eine gute Entscheidung. Peter Struck war stets zum Kompromiss bereit, suchte auszugleichen und erlag nicht der Versuchung, die Fraktion gegen den Kanzler oder einzelne Regierungsmitglieder in Stellung zu bringen. Franz Müntefering regte an, Ottmar Schreiner zum Bundesgeschäftsführer zu machen. Ich griff den Vorschlag gerne auf. Die Personalentscheidungen fielen dann so, wie wir es bei der Vorstellung unserer Regierungsmannschaft angekündigt hatten. Heidemarie Wieczorek-Zeul übernahm das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Franz Müntefering das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Für die Grünen waren Joschka Fischer als Außenminister und Jürgen Trittin als Umweltminister gesetzt. Eine längere Diskussion gab es um das Gesundheitsministerium. Rudolf Dressler, der lange Jahre für die Fraktion federführend die Sozialpolitik gemacht hatte, war sehr interessiert, das Gesundheitsministerium zu übernehmen. Die Grünen schlugen Andrea Fischer vor. Gerhard Schröder hatte keine sonderlichen Sympathien für Rudolf Dressler. Persönliche Sympathien oder Antipathien sollten aber nicht allein Grundlage von Personalentscheidungen sein. Rudolf Dressler stand als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen für einen wichtigen Teil der SPD und hat, da er viele Jahre die Sozialpolitik beackert hat, einen hohen Sachverstand. Nach seinem tragischen Verkehrsunfall wirkte er auf mich manchmal etwas depressiv. Ich hätte es daher gerne gesehen, wenn wir ihm das Gesundheitsministerium übertragen hätten. Die neue Aufgabe hätte ihn sicherlich beflügelt. Aber da ich sowieso schon täglich lesen konnte, dass ich die Sach- und Personalentscheidungen dominierte, gab ich schließlich nach. Auch heute noch bin ich darüber nicht glücklich. Andrea Fischer wurde Gesundheitsministerin. Nun stand noch die Wahl des Bundeskanzlers bevor. Gerhard Schröder hatte trotz allem Bammel vor dieser Wahl. Er wusste, dass er sich in der Bundestagsfraktion in einer Reihe von Jahren viele Gegner gemacht hatte. Auch war er nicht sicher, ob alle Grünen den Automann Gerhard Schröder unterstützen würden. Ich war relativ gelassen. Nicht nur deshalb, weil die Mehrheit ausreichen musste, sondern weil auch davon auszugehen war, dass wir ein paar Stimmen von der FDP und von der PDS dazubekämen. Tatsächlich hatte Gerhard Schröder mindestens sieben Stimmen von der Opposition bekommen. Er wurde mit 351 Ja-Stimmen von insgesamt 666 Abgeordneten gewählt. Die rot-grüne Koalition hat im Bundestag 344 Abgeordnete. Ich fiel ihm um den Hals. Es war eine spontane Geste. Nichts war daran künstlich. Gleichzeitig schob ich ihm eine Kiste Cohiba-Zigarren, die mit einer roten Rose verziert war, hin. In diesem Moment vergisst man alles Trennende. Jeder Sozialdemokrat ist Mitglied einer großen Familie. Diese große Familie hatte einen großen Tag. Den Tag der Wahl des dritten sozialdemokratischen Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Darauf hatten wir viele Jahre hingearbeitet. Es war der Tag, an dem manifestiert wurde, dass die Enkel nicht zur Fußnote der Geschichte geworden waren, wie Henning Voscherau einmal vor Jahren befürchtet hatte. Auch der Wahlsieg war ja nicht von Pappe. Die SPD war nicht nur zum zweiten Mal stärkste Partei im Deutschen Bundestag, sondern »die Enkel« hatten es geschafft, die CDU deutlich auf den zweiten Platz zu verweisen. Die SPD erreichte 40,9 Prozent, die CDU/CSU 35,1 Prozent. Wir hatten die CDU um 5,8 Prozent überrundet. Das hätten unsere Altvorderen nicht für möglich gehalten. Insofern fühlten wir uns berechtigt, diesen Wahlsieg mit dein großen Wahlsieg Willy Brandts im Jahr 1972 zu vergleichen. In der Reihe derer, die dem neuen Bundeskanzler gratulierten, fehlten auch nicht die Wahlverlierer Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Theo Waigel, Klaus Kinkel und andere Politiker der Opposition. Nachdem Heiner Geißler Gerhard Schröder gratuliert hatte, gratulierte er auch mir. Auf meinen erstaunten Blick sagte er: »Das war Ihr Sieg« und ging. Zwar haben andere Politiker der heutigen Opposition mir ähnliche Komplimente gemacht, aber das Wort des Strategen Heiner Geißler zählt. Schließlich hatte er sehr früh erkannt, dass die CDU das Thema der sozialen Gerechtigkeit preisgegeben hatte, was für eine Volkspartei tödlich ist. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass nach meinem Rücktritt die rot-grüne Koalition alle Fehler wiederholte, die zur Abwahl der Koalition von CDU/CSU und FDP geführt hatten.
Jetzt blieb noch die Aufgabe, nach Gustav Heinemann zum zweiten Mal einen sozialdemokratischen Bundespräsidenten zu wählen. Für mich als Parteivorsitzenden der SPD hatte dieses Ziel eine hohe Bedeutung. Ich war der Meinung, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bei der Besetzung des höchsten Staatsamts nicht ausreichend berücksichtigt worden war. Ich war ebenso der Meinung, dass gerade dieses Amt aus dem Parteienstreit herausgehalten werden sollte. Daher bemühte ich mich sehr früh, auch die Zustimmung von CDU/CSU und FDP für Johannes Rau zu erhalten. Ich sprach auch mit Gregor Gysi. Es ist bedauerlich, dass CDU/CSU und Teile der FDP nach Heuss, Lübke, Heinemann, Scheel, Carstens, von Weizsäcker und Herzog nicht bereit waren, einen Sozialdemokraten zu unterstützen. Die Idee der CDU/CSU, mit Dagmar Schipanski eine ostdeutsche Frau ins Gespräch zu bringen, hatte ihren Reiz. Nachdem das Amt des Bundespräsidenten bisher nur von Männern wahrgenommen wurde, ist es an der Zeit, dass einmal eine Frau in dieses Amt berufen wird. Aber in der SPD hatten wir die Weichen schon anders gestellt. Schließlich hatte Johannes Rau auch gegen Roman Herzog kandidiert. Als einige Sozialdemokratinnen sich dafür stark machten, jetzt eine Frau für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen, war es zu spät. Eine solche Entscheidung will gründlich vorbereitet sein. Der Vorschlag, Jutta Limbach zur Bundespräsidentin zu wählen, war allein schon deshalb nicht die Lösung, weil es gut war, dass auch an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts einmal eine Frau stand. In Teilen der Presse gab es eine massive Kampagne gegen Johannes Rau. Man versuchte auch mit unlauteren Mitteln und durch persönliche Herabsetzung die Kandidatur des langjährigen nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten zu hintertreiben. Ich ließ mich nicht beirren. Die Gremien der Partei entschieden mit großer Mehrheit, Johannes Rau erneut als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen. Am 23. Mai 1999 wurde Johannes Rau zum achten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Ich verfolgte die Wahl im Fernsehen und bedauerte, nicht dabei sein zu können. Mit Johannes Rau verbindet mich seit dem Attentat mehr, als es gemeinhin unter Politikern üblich ist. Wir standen Seit an Seit, und die Attentäterin hatte zunächst vor, statt meiner Johannes Rau zu töten. Ich habe noch sein Gesicht in Erinnerung, als ich bereits am Boden lag und die Sicherheitskräfte ihn von der Bühne drängten. Johannes Rau betrachtet das Amt des Bundespräsidenten als die Krönung seiner politischen Laufbahn. Der Predigersohn aus Wuppertal, aufgestiegen vom Oberbürgermeister seiner Heimatstadt über den Fraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag zum Ministerpräsidenten des größten Bundeslandes, ist für diese Aufgabe geradezu prädestiniert. Seine politische Arbeit hat er immer unter das Motto »Versöhnen statt spalten« gestellt. Freunde und Gegner nennen ihn »Bruder Johannes«. Er hatte als erster von der SPD als Schutzmacht der kleinen Leute gesprochen. In seiner Antrittsrede als Bundespräsident sagte er: »Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe bleibt nach meiner Überzeugung, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist in erster Linie Aufgabe der Unternehmen. Die Politik muss für Angebot und Nachfrage den richtigen Rahmen setzen und die richtigen Impulse geben ... Für unsere Zukunft wird entscheidend sein, dass wir die Arbeit so organisieren und fortentwickeln, dass die Bedürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen des Wirtschaftens in Übereinstimmung gebracht werden. Die Arbeit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt ihr unmittelbar einen Wert. In ihr - das gibt ihr einen weiteren Wert - entfalten sich aber auch menschliche Fähigkeiten. Darum hat Hans Küng recht, wenn er sagt >Ohne sinnvolle Arbeit geht ein Stück Menschenwürde verloren<... Darum ist es alles andere als eine akademische Betrachtung, auf den Wert der Arbeit für das Selbstwertgefühl von Menschen und für den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft hinzuweisen. Wer in der Arbeit nur einen reinen Kostenfaktor sieht, dessen Preis soweit wie möglich gedrückt werden muss - so wichtig der Anteil der Löhne am wirtschaftlichen Prozess auch ist -, der handelt mit sozialem Sprengstoff und rüttelt an den Grundfesten unserer westlichen Zivilisation - ob ihm das bewusst ist oder nicht.« Ich war Johannes Rau dankbar für diese Worte. Der Neoliberalismus, der den Arbeitnehmer auf eine Kostenstelle reduziert, hantiert mit sozialem Sprengstoff und rüttelt an den Grundfesten unserer westlichen Zivilisation. Teneo, quia teneor. Ich halte stand, weil ich gehalten werde, lautet eine Lebensweisheit, die Johannes Rau für sich immer wieder in Anspruch nimmt. An diese Lebensweisheit musste ich denken, als ich nach meinem Rücktritt sagte: »Mannschaftsspiel verlangt, dass man Rücksicht aufeinander nimmt und
dass man auch zueinander steht - auch in der Öffentlichkeit - und dass Teamgeist die Regierungsarbeit bestimmt.« Wochen vor meinem Rücktritt war ich fest entschlossen, direkt nach der Wahl des zweiten sozialdemokratischen Bundespräsidenten zurückzutreten. Das Maß dessen, was ich mit meiner Selbstachtung vereinbaren konnte, war längst überschritten. Absprachen wurden nicht gehalten, die Regierungsarbeit wurde nicht koordiniert, der für eine erfolgreiche Regierungsarbeit notwendige Teamgeist war nicht vorhanden. Ich wollte keinen Streit und meiner Partei nur erklären, dass mein Auftrag als Parteivorsitzender nach Mannheim jetzt erfüllt sei. Nach vielen Jahren war ein Sozialdemokrat Bundespräsident und ein Sozialdemokrat Bundeskanzler. Aber es kam bekanntlich anders.
Die rot-grüne Koalition
Die rot-grüne Koalition ist das Ergebnis eines langen Meinungsbildungsprozesses in der SPD. Zu Beginn war die Mehrheit der Sozialdemokraten der Auffassung, dass die Grünen nur eine vorübergehende Erscheinung im Parteien-Spektrum der Bundesrepublik sein würden. Natürlich verbot es sich, mit dieser Partei eine Koalition einzugehen. Die Grünen selbst hatten heftige Auseinandersetzungen über die Frage, ob sie außerparlamentarische Opposition bleiben oder parlamentarische Opposition mit der erklärten Absicht, sich nicht an der Regierung zu beteiligen, werden sollten. In meinem 1985 veröffentlichten Buch Der andere Fortschritt setzte ich mich mit dieser Haltung auseinander und schrieb unter der Überschrift »Verantwortung statt Verweigerung«, dass die Verweigerungshaltung der Grünen eine apolitische Einstellung sei, dass derjenige, der sich in die politische Debatte einmische, sich nicht auf diese Verweigerungshaltung zurückziehen dürfe, sondern notfalls auch bereit sein müsse, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Im Jahr 1985 erklärten die Grünen an der Saar, dass sie nicht bereit seien, im Fall einer rot-grünen Mehrheit Regie rungsverantwortung zu übernehmen. Das Ergebnis war, dass die Saar- SPD eine absolute Mehrheit erreichte und die Grünen, obwohl sie vorher in andere Parlamente eingezogen waren, an der Saar nicht im Landtag vertreten waren. Im Dezember 1985 wurde Joschka Fischer als hessischer Minister für Umwelt und Energie vereidigt. Führende Mitglieder der Grünen waren ehemalige Mitglieder der SPD. Die Auseinandersetzungen innerhalb unserer Partei um die Nachrüstung und um die Kernenergie führten zur Abspaltung und zur Gründung der Partei der Grünen. Erhard Eppler vor allem hatte für die SPD Positionen formuliert, die auch im Programm der Grünen standen. Wir wollten eine Energieversorgung ohne die Risiken der Stromerzeugung aus Kernenergie. Wir wollten das ewige Vor- und Nachrüsten, vor allem im atomaren Bereich, beenden. Wir wollten den umweltgerechten Umbau der Industriegesellschaft. Schon auf dem Kongress der IG Metall Anfang der siebziger Jahre war der Umweltschutz das Thema. Willy Brandt hatte bereits in den sechziger Jahren einen Wahlkampf geführt, in dem er verlangte, dass der Himmel über der Ruhr wieder blau werden solle. Aber ein starker Teil der Partei sah allzu lange im Umweltschutz eine Gefährdung der Arbeitsplätze. Daher kam die SPD bei der ökologischen Modernisierung ihres Programms viel zu langsam voran. Im Gegenzug entstand die Partei der Grünen. Sie hatte vier Grundsätze. Ihre Politik sollte ökologisch, gewaltfrei, sozial und basisdemokratisch sein. Nach der Gründung der Partei nahm ich sehr schnell Gespräche mit den Grünen auf. Auf den großen Friedensdemonstrationen begegnete ich Petra Kelly und Gerd Bastian. Ich habe beide sehr geschätzt. Der tragische Tod der beiden machte mich tief betroffen. Früh lernte ich auch Joschka Fischer kennen. Ich bewunderte seine politische Begabung und sein rhetorisches Talent. Als es in der rot-grünen Koalition in Hessen kriselte, nahm er Kontakt mit mir auf. Er wurde zu meinem wichtigsten Ansprechpartner. Otto Schily hatte die Grünen 1989 verlassen und war in die SPD eingetreten. Eine regelrechte Freundschaft verbindet mich über die Jahre mit Antje Vollmer, der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Ich lernte sie und ihren Sohn Johann auf einer großen Friedensdemonstration in Bonn kennen. Nach dem Kölner Attentat 1990 besuchte sie mich in Saarbrücken. Sie war eine der wenigen, die sich in einfühlender Weise mit den körperlichen und seelischen Folgen des Attentats auseinandergesetzt hatte. Im schwierigen Wahlkampf 1990, vor allem in den Bundestagsdebatten, spürte ich ihre Zuneigung und Unterstützung. Dass die SPDBundestagsfraktion bei ihrer Wahl zur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags so ungeschickt operierte, bedauere ich sehr. Auch nach meinem Rücktritt von den politischen Ämtern ist sie mir eine verlässliche Freundin. Programmatisch hatte sich unter dem Einfluss Fischers der sogenannte Realo-Flügel durchgesetzt. Die Realos waren bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Die SPD hatte bei der Bundestagswahl 1987 auf Vorschlag von Johannes Rau eine Koalition mit der Partei der Grünen ausgeschlossen. Johannes Rau war der Auffassung, dass sich nach seinem grandiosen Wahlsieg in
Nordrhein-Westfalen - er erreichte die absolute Mehrheit - ein solcher Wahlsieg auch auf Bundesebene wiederholen lasse. Die Wahlkampfstrategie ging nicht auf, und nach der verlorenen Wahl 1987 war in der SPD eine Koalition mit der Partei der Grünen auf Länderebene kein Thema mehr. Je nach örtlicher Situation und Einstellung der Sozialdemokraten zu der Partei der Grünen wurden lokale Koalitionen geschlossen. Es besteht kein Zweifel, dass die Partei der Grünen auch die Programmatik der anderen Parteien verändert hat. Immer wenn eine neue Partei entsteht, die - sofern sie nicht eine rechtsradikale oder linksradikale Partei ist - Wählerinnen und Wähler zu sich herüberzieht, fragen sich die Volksparteien, was sie falsch gemacht haben. Dann werden Programmpunkte der neuen Partei übernommen. Die Wählerkonkurrenz treibt sie dazu, ein möglichst breites Spektrum der Wählerschaft anzusprechen. Natürlich ist nicht nur das Sammeln von Wählerstimmen Motiv für programmatische Veränderungen. Neue Ideen breiten sich aus, gewinnen Anhänger, und die ökologische Idee gewann mehr und mehr Anhänger in allen Parteien. Den Grünen gelang es, auf Länderebene die FDP als dritte Kraft abzulösen. Immer häufiger wurden rot-grüne Koalitionen auf Länderebene geschlossen. Dass auch 1995 in Nordrhein-Westfalen eine rotgrüne Koalition vereinbart und Johannes Rau der Regierungschef wurde, zeigt, was sich seit 1987 alles verändert hatte. Es war daher fast programmiert, dass im Fall eines Wahlsiegs in Bonn ebenfalls eine rot-grüne Koalition die Regierung bilden würde. Da CDU und FDP sich täglich versicherten, dass sie auch nach der Bundestagswahl zusammenbleiben wollten und dass sie nicht daran dächten, eine Zusammenarbeit mit der SPD einzugehen, musste die rot-grüne Koalition eine glaubwürdige Option für Bonn bleiben. Kritisch wurde es, als in Nordrhein-Westfalen die rot-grüne Koalition auseinander zubrechen drohte. Sie war wegen des Braunkohleabbaus - Garzweiler II - heftig in Streit geraten. Der inzwischen verstorbene sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen Landtag, Klaus Matthiesen, hatte keine Einstellung zu den Grünen gefunden. Er lastete ihnen an, dass er im April 1979 in Schleswig-Holstein nicht Ministerpräsident geworden war. Ihm fehlten 1287 Stimmen, weil die Partei der Grünen in Schleswig-Holstein kandidiert und 2,4 Prozent der Stimmen gewonnen hatte. Zudem setzte in meiner Partei ein Gerangel um die Nachfolge von Johannes Rau als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen ein. Es begann das übliche Spiel von Indiskretionen und Intrigen. Die rot-grüne Koalition durfte aber vor der Bundestagswahl nicht auseinanderbrechen. Das hätte unsere Wahlchancen deutlich geschwächt. Daher redete ich immer wieder mit allen Beteiligten, um ein Auseinanderbrechen der Düsseldorfer Koalition zu verhindern. Im Weihnachtsurlaub 1997/1998 war ich auf Madeira. Auch hier war ich mit dem Düsseldorfer Krisenmanagement beschäftigt. Dabei stimmte ich mich immer mit Joschka Fischer ab. Ich erreichte ihn während dieser Tage in Paris, und wir besprachen unser weiteres Vorgehen. Es gelang uns, die rot-grüne Koalition wie der zu stabilisieren. An einem Samstagnachmittag im März 1998 besuchte mich Johannes Rau in Saarbrücken. Gerhard Schröder hatte inzwischen die niedersächsische Wahl gewonnen. Johannes Rau informierte mich darüber, dass er seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten ankündigen wolle. Ich hatte während dieses Gesprächs Johannes Rau gesagt, dass ich, unabhängig von seiner Entscheidung in Nordrhein-Westfalen, an meiner Absicht festhalte, ihn erneut in der Partei für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen. Ich informierte Gerhard Schröder, der einverstanden war. Nach der Stabilisierung der Koalition in Düsseldorf wurde die Ablösungsperspektive einer rot-grünen Koalition für Bonn immer glaubhafter. Joschka Fischer hatte mich mehrfach darum gebeten, Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten der SPD vorzuschlagen. Er sagte mir, er wisse zwar, dass ich der Alpha-Wolf in der SPD sei, aber so wie die Medienlandschaft einmal sei, wäre es erfolgversprechender, den Mann der Medien, Gerhard Schröder, zum Kanzlerkandidaten vorzuschlagen. Vorher hatte ich durch die übliche Indiskretion der Medien erfahren, dass Joschka Fischer in Hintergrundgesprächen verbreitete, ich hätte den bösen Blick und sei daher nicht in der Lage, Bundestagswahlen zu gewinnen. Am meisten geärgert hatte mich Fischer, als er eines Tages, natürlich öffentlich, feststellte, die Enkel könnten es nicht. Kr rief mich damals an und meinte, wir sollten nach dem Modell des Olivenbaums in Italien einen deutschen »Prodi« als Kanzlerkandidaten nominieren. Er schlug mir ernsthaft vor, einmal bei Helmut Werner, dem ehemaligen Mercedes-Vorstand, vorzufühlen, der gerade bei Mercedes ausgeschieden war. Ich begann an Fischers politischem Urteilsvermögen zu zweifeln. Ich giftete, dass
»Pflaumenbaum« sicherlich eine attraktivere Bezeichnung wäre. Wir müssten nur noch die Oberpflaume suchen. Im übrigen: einen Automann hätten wir auch. Es war die Zeit, in der die Grünen bei Wahlen - relativ gesehen - besser abschnitten als die SPD. Nicht nur Fischer äußerte sich damals abfällig über uns, sondern auch andere führende Politiker der Grünen. Ich verzichtete später darauf, als es umgekehrt lief, sie daran zu erinnern. Ich war fest entschlossen, im Fall einer ausreichenden Mehrheit aus politisch-inhaltlichen Gründen die rot-grüne Koalition nach der gewonnenen Bundestagswahl zu vereinbaren. Vor allen Dingen in der Steuerpolitik, aber mehr noch in der Sozialpolitik - ich denke an die Verbesserung beim Kündigungsschutz und der Lohnfortzahlung -, in der Gesundheitspolitik und bei der Rentengesetzgebung waren die Grünen uns näher als CDU/CSU oder die FDP. Aber es gab immer wie der Querschüsse. Die Grünen hatten auf ihrem Magdeburger Parteitag im März 1998 vorgeschlagen, in zehn Jahren den Benzinpreis auf 5,- DM zu erhöhen. Darüber hinaus hatte eine Grüne vorgeschlagen, Ferienflüge nach Mallorca zu regulieren. Es hagelte Kritik aus den Reihen der Sozialdemokraten. Gerhard Schröder erklärte die Grünen schlicht für nicht regierungsfähig. Ich bat ihn in mehreren Gesprächen, die Worte etwas sorgfältiger zu wählen, weil ich überzeugt war, dass es nach der Bundestagswahl zu einer rot-grünen Koalition kommen würde. Im März war auch die deutsche Wirtschaft zu der Auffassung gekommen, dass eine rot-grüne Koalition immer wahrscheinlicher wurde. Der Präsident des DIHT, Stihl, gab jetzt Interviews unter der Überschrift: »Mit Rot-Grün in die Steinzeit«. Bei einem Treffen in München stellten sich Henkel, Hundt, Philipp und Stihl auf die Seite von Kohl. Sie versprachen 500000 neue Arbeitsplätze und lobten auf einmal die Politik der Bonner Koalition. Plumper ging es nun wirklich nicht mehr. Ich wollte die Grünen als Partner, weil ich in ihnen im Bereich der Energiepolitik, der Verkehrspolitik und vor allen Dingen in der Friedenspolitik die Gewähr dafür sah, sozialökologische Reformpolitik machen zu können. In meiner Partei gab es Kräfte, die eher neoliberalen Gedanken anhingen, sich dem vordergründigen Modernisierungsgerede angeschlossen hatten und beispielsweise der ökologischen Steuerreform ablehnend gegenüberstanden. Dieser Teil der Partei hielt auch den Einsatz der Kernenergie zur Stromerzeugung für richtig und befürwortete militärische Kampfeinsätze der Nato außerhalb des Nato-Vertragsgebiets. Mein Kalkül, dass die Grünen mich in dem Versuch unterstützen würden, die Koalition auf sozialökologischem Reformkurs zu halten, ging nicht auf. Die Grünen waren kaum an der Regierung, da waren sie bereit, wichtige Positionen aus Gründen des Machterhalts preiszugeben. Ich hatte Fischer praktisch eine Garantie gegeben, dass es zu einer rotgrünen Koalition kommen würde, wenn eine ausreichende Mehrheit da sei. An seinem fünfzigsten Geburtstag, am 12. April 1998, war ich als einziger führender Sozialdemokrat zu seiner Fete in Frankfurt eingeladen. Ich sagte ihm zu vorgerückter Stunde in einer kurzen Ansprache: »Joschka, wenn die Mehrheit da ist, dann machen wir es.« Mein Ausscheiden aus der Bundesregierung ist auch dadurch verursacht worden, dass ich im Lauf der Regierungsarbeit sehr schnell feststellen musste, dass die Grünen den aufrechten Gang verloren haben. Dass wir bei der Neufassung des Staatsbürgerschaftsrechts aufgelaufen waren, weil in Hessen CDU und FDP die neue Regierung stellten, lässt sich noch verstehen. Und dass hier die Grünen eingelenkt und einem Kompromiss mit der FDP zugestimmt hatten, war schlüssig. In keinem Fall aber war für mich akzeptabel, wie sich die Grünen beim Kernenergieausstieg behandeln ließen und wie Fischer, kaum Außenminister geworden, an den Lippen von Madeleine Albright hing und geradezu von ihr schwärmte. Ich beobachtete mit einem gewissen Erstaunen, wie er mannhaft Militäreinsätze befürwortete und die Bündnistreue zur Grundlage der deutschen Außenpolitik erhob. Ich hätte von ihm erwartet, dass er bei aller Bündnistreue die geplanten Maßnahmen des Bündnisses kritisch hinterfragen würde, insbesondere die amerikanische Position. Im Bundeskabinett wäre Helmut Schmidt nach den Vorträgen Fischers und Scharpings unangenehm aufgefallen und hätte als Störenfried gewirkt. Helmut Schmidt hatte, wie er schrieb »Mühe, Zweifel an der Urteilskraft der heutigen außenpolitischen Führungspersonen in Washington zu unterdrücken... Denn die zumeist innenpolitisch motivierte Rücksichtslosigkeit, mit der Washington seine aktuellen Interessen und seine Präponderanz durchsetzt, wird vielen Europäern zunehmend auf die Nerven fallen... Die illusionäre Vorstellung von der Weltmacht Amerika, die als globaler Friedensrichter und Friedensmacher mit Hilfe der Nato die Welt in Ordnung hält, darf die Erinnerungen an Korea oder Vietnam, an >Desert Storm< und andere mit Waffeneinsatz und Waffendrohung gespickte >Friedensprozesse< nicht verdrängen.« Den Atomausstieg hatte Gerhard Schröder zur Chefsache gemacht. Ich war an den Verhandlungen nicht beteiligt. Auch dieses Vorgehen widersprach unseren Verabredungen.
Gerhard Schröder hatte gute Kontakte zur Energiewirtschaft und war anfangs sicherlich entschlossen, zu einem Kompromiss zu kommen. Es traten aber sehr schnell Reibungsverluste auf. In den Kabinettssitzungen schoben sich die Beteiligten gegenseitig die Schuld zu. Trittin machte das Kanzleramt für Pannen verantwortlich und umgekehrt das Kanzleramt Trittin und sein Ministerium. Der auch wegen der Energiekonsensgespräche zum Wirtschaftsminister berufene Werner Müller beschwerte sich mehrfach bei mir als Parteivorsitzendem der SPD, dass er an den Verhandlungen nicht ausreichend beteiligt sei. Er könne nicht erkennen, in welche Richtung die Verhandlungen gingen und wer sie koordiniere. Er habe seinen Rücktritt erwogen, um gegen diese Handlungsweise zu protestieren. Ich riet ihm, den Bundeskanzler direkt anzusprechen und auf einer Verfahrensweise zu bestehen, die er für zielführend halte. Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, mit welcher Geduld die Grünen es ertrugen, wie Jürgen Trittin in der Öffentlichkeit zum Buhmann gemacht wurde. Die Spindoctors des Kanzleramts leisteten ihren Beitrag, und Gerhard Schröder selbst griff Trittin mehrfach öffentlich an. Ich habe Gerhard Schröder gesagt, dass der Regierungschef sich immer vor die Minister stellen müsse und dass er es auch dann tun müsse, wenn er in verschiedenen Punkten ihre Vorgehensweise missbillige oder anderer Auffassung sei. So verstehe ich die Rolle eines Regierungschefs. In keinem Fall aber halte ich es für vertretbar, dass derjenige, der unter massivem öffentlichem Beschuss steht, vom Regierungschef auch noch öffentlich verprügelt wird. Die Karnevalisten registrierten das natürlich und nannten Jürgen Trittin in ihren Reden »Tritt - ihn«. Diese Verballhornung seines Namens traf den Sachverhalt ziemlich genau. Ich hatte immer Sorge, dass Jürgen Trittin die Konsequenzen ziehen würde, und versuchte, einen guten Gesprächskontakt zu ihm aufrechtzuerhalten. Ich hatte kein Verständnis dafür, dass weder Joschka Fischer noch andere aus der Partei und der Fraktion der Grünen größere Anstrengungen unternahmen, um ihrem bedrängten Parteifreund zur Seite zu stehen. Als ich zur Begründung meines Rücktritts ausführte: »Ohne ein gutes Mannschaftsspiel kann man nicht erfolgreich arbeiten. Mannschaftsspiel verlangt, dass man Rücksicht aufeinander nimmt und dass man auch zueinander steht - auch in der Öffentlichkeit - und dass Teamgeist die Regierungsarbeit bestimmt«, fiel Joschka Fischer dazu nur ein, dass er von einem schlechten Mannschaftsspiel nichts bemerkt habe. Fischer spürt Demütigungen wohl nur, wenn sie ihm selbst widerfahren. Wenn andere gedemütigt werden, nimmt er das offensichtlich kaum zur Kenntnis. Als Jürgen Trittin Ende Juni 1999 auf Geheiß des Bundeskanzlers gegen seine eigene Überzeugung die Altautoverordnung der Europäischen Union kippte, habe ich ihn nicht mehr verstanden. Einige seiner Parteifreunde fragten ihn, ob er noch in den Spiegel gucken könne, weil er so vorgeführt wurde. Andere gingen so weit, seinen Rücktritt zu fordern. Noch enttäuschender war die Haltung Fischers und der Partei der Grünen im Kosovo-Konflikt. Die Partei der Grünen, die einmal angetreten war, um zu demokratischeren Entscheidungsfindungen zu kommen, und deswegen das Rotationsprinzip erfunden hatte, beteiligte sich an der Debatte so gut wie nicht. Sie überließ alles Joschka Fischer. Er aber hatte sich sehr früh dazu entschieden, Bündnissolidarität mit der Konsequenz militärischen Eingreifens zur Grundlage seiner Politik in Jugoslawien zu machen. Der Krieg im Kosovo wurde von ihm moralisch begründet. Wer Realpolitik zur Grundlage seiner Entscheidungen macht, weiß, dass moralische Normen nicht allein das politische Handeln bestimmen können. Wer aber moralische Prinzipien zur Grundlage seiner Entscheidungen macht, verliert sehr schnell den notwendigen Abstand und gerät politisch auf Abwege. Ich habe mich während der ganzen Monate, auch nach meinem Rücktritt, gefragt, was in der Außenpolitik anders gelaufen wäre, wenn Helmut Kohl und Klaus Kinkel noch die Außenpolitik zu verantworten hätten. Ich muss der Wahrheit die Ehre geben und sagen, dass mir wenig dazu einfällt. Ich hatte gehofft, insbesondere in der Frage von Krieg und Frieden, einen Bündnispartner bei den Grünen zu haben, der mithelfen würde, eine Minderheit in meiner Partei in Schach zu halten, die schon immer militärische Interventionen auch außerhalb des Nato-Vertragsgebiets befürwortet hatte. Allerdings hatten auch diese Teile der SPD stets auf einem UNO-Mandat bestanden. Dass es einmal so weit kommen würde, dass bei der Befürwortung solcher militärischer Einsätze auch ohne UNOMandat Joschka Fischer sogar Rudolf Scharping übertreffen würde, habe ich nicht vorausgesehen. Eine andere Frage wird in den nächsten Jahren zu beantworten sein. Die Frage nämlich, wo sich im Parteienspektrum die Partei der Grünen positionieren wird. Jochen Buchsteiner schrieb in der Zeit: »Die Grünen von einst gibt es nicht mehr. Was aber ist es dann für eine Gruppierung, die unter dem
grünen Label Politik macht? Die Partei von heute ist entwurzelt, rückständig, gespalten und erstarrt. Die Macht ist vielleicht ihr letztes Projekt.« Die ökologische Frage wird zwar auch die zentrale Frage des nächsten Jahrhunderts sein, findet aber derzeit in der Wählerschaft ein geringes Interesse. Dem Pazifismus hatten die Grünen spätestens auf ihrem Bielefelder Sonderparteitag zum Kosovo-Krieg im Mai 1998 adieu gesagt. Fischer und der Realo-Flügel erreichten zum ersten Mal in der Geschichte der Partei eine knappe Mehrheit. Jürgen Trittin, Ludger Volmer und Angelika Beer hatten sich staatstragend auf ihre Seite geschlagen. Charlotte Wiedemann schrieb dazu in der Woche: »Die Grünen sind umständehalber Kriegspartei. Wäre die Bundestagswahl um ein paar Haaresbreiten anders ausgegangen, dann säßen auf den Podien der Republik spätestens in dieser achten Kriegswoche kundige, eloquente Kritiker der Nato. Sie hießen Angelika Beer, Ludger Vollmer, Kerstin Müller, wahrscheinlich auch Fischer. Und erst Trittin!« In der Wirtschafts- und Finanzpolitik gewannen Vorschläge an Zustimmung, die auch von der FDP befürwortet wurden. So plädierte eine ganze Reihe von Grünen für einen niedrigeren Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer und machten dies zum Thema der Koalitionsverhandlungen. Da sie dabei zur Gegenfinanzierung Vorschläge machten, die gegen die Arbeitnehmerschaft gerichtet waren, mussten wir sie auflaufen lassen. Dass selbst die USA Anfang der neunziger Jahre die »Besserverdienenden« zur Kasse gebeten hatten, weil so der Konsum nicht gedämpft wurde, hatten die Grünen nicht mitbekommen. Darüber hinaus gab es schwäbische Grüne, die Finanzpolitik auf das Wort »sparen« reduzierten. Es war nicht zu übersehen, dass die Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, die ich in der SPD mehrheitsfähig gemacht hatte und die auch kreislaufwirtschaftliche Zusammenhänge in Rechnung stellte, bei den Grünen kaum diskutiert worden war. Auch nach der Regierungsbildung gab es in dieser Partei niemanden, der für diese Fragestellungen größeres Interesse zeigte. Natürlich werden die Vertreter der Grünen, die mit braven Sparappellen an die Öffentlichkeit treten, in der Presse gelobt, da in Deutschland jeder gelobt wird, der bei den öffentlichen Haushalten Zum Sparen mahnt. Diskussionen darüber, wie das Kürzen öffentlicher Leistungen sich auf die Investitionsbereitschaft der Unternehmen oder auf die Gesamtnachfrage auswirken würde, führten die Grünen nicht. Deutlicher noch wurde diese Neuorientierung der Grünen nach den verlorenen Wahlen in Hessen. Ich hatte ein längeres Gespräch mit Joschka Fischer im Finanzministerium. Angesichts der dramatischen Einbrüche der Grünen in Hessen fragte ich ihn, wie die Partei sich zukünftig programmatisch profilieren wolle, um ihre Position im Parteienspektrum zu behaupten. Zu meiner Überraschung sagte Joschka Fischer, dass die Partei sich mit wirtschaftsliberalen Positionen profilieren müsse. Als er wieder gegangen war, musste ich tief durchatmen. Im Wirtschaftsliberalismus sollte die Partei, die aus der Ökologiebewegung hervorgegangen war und auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen hatte, ihre Zukunft finden? Es war ohnehin in vielen Debatten vor der Bundestagswahl, aber auch danach, erkennbar, dass FDP und Grüne in besonderer Rivalität zueinander standen. Offensichtlich glaubten sie, um deckungsgle iche Teile der Wählerschaft buhlen zu müssen. Das Liebäugeln der Grünen mit dem Liberalismus wurde nach meinem Rücktritt noch deutlicher. Eine Reihe von Grünen sprachen davon, dass nunmehr die Koalition die Chance eines zweiten Neuanfangs hätte. Im Juni forderten junge Politiker der Grünen eine radikale Entrümpelung des Programms der Partei. Sie schrieben: »Das Grüne- Programm gleiche mittlerweile einem Dachboden: Alles, was einem früher gut gefallen habe, aber längst ausrangiert sei, lande dort, da man nie wisse, wozu es noch gebraucht wird ... Die Zeit des Burgfriedens und der Formelkompromisse ist vorbei - es bedarf einer klaren Entscheidung über den richtigen Weg der Partei in der Zukunft. Wir treten dabei ein für eine klare, machtbewusste, pragmatische Positionierung, aber auch für eine teilweise Auswechslung der Mitgliedschaft... Es geht um eine Neudefinition der sozia len Marktwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung. Individuelle Freiheit und soziale Sicherheit müssen in ein neues Verhältnis gesetzt, die Kräfte des Marktes und gesellschaftliche Anforderungen in Einklang gebracht und die Rechte kommender Generationen ökologisch wie ökonomisch berücksichtigt werden ... Wir wollen das brachliegende geistige Erbe des verantwortungsvollen Liberalismus aufnehmen und mit dem Eintreten für Ökologie und Generationengerechtigkeit verbinden.« Eine andere Gruppe jüngerer Politiker der Grünen antwortete in einer vierseitigen Schrift mit dem Titel »Raus aus der neuen Mitte«: Sie schreiben, »die Zukunft der Grünen ist die einer pragmatischen Linkspartei«. Die Partei habe in neun Monaten Regierungsverantwortung bei der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse versagt. Umweltpolitik müsse wieder ein Markenzeichen der Partei
werden. Die Grünen müssten sich stärker auf soziale Gerechtigkeit und auf die Hoffnungen der Jugend konzentrieren. Das Papier der jungen Realos wurde als der wahrscheinlich längste FDPAufnahmeantrag, den die Welt je gesehen hat, bezeichnet. Eine der Sprecherinnen der Grünen, Antje Radcke, sagte: »Unsere Identität ist uns flötengegangen.« Niemand wisse mehr, wofür die Grünen eigentlich stehen. Zu jedem halbwegs wichtigen Thema gäbe es in der Öffentlichkeit unterschiedliche Meinungen. Das sei verheerend und könne so nicht weitergehen. Die Diskussion um das Erbe des Liberalismus mutet in einer Zeit, in der die FDP bei Landtagswahlen keine 5 Prozent erreicht, merkwürdig an. Es sah so aus, als hätten SPD und Grüne sich vorgenommen, möglichst viele ihrer Wählerinnen und Wähler zu vertreiben. Das war nun wirklich ein Neuanfang. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Partei der Grünen weiterentwickeln wird. Wenn Fischer mit seinem Ansatz durchkommt, die Grünen dadurch »zu modernisieren«, dass sie wirtschaftsliberale Positionen übernehmen, dann wird die Partei an Bedeutung verlieren. Das zur Identität der Grünen gehörende Eintreten für mehr Umweltschutz ist im Regierungsalltag kaum sichtbar. In der Außenpolitik beschwören die Grünen die Bündnisloyalität. Aus Bündnis 90/Die Grünen wurde: »BündnisTreue/Die Grünen«. Zur Rechtfertigung der rot-grünen Koalition diente mir, dass die Grünen in der Sozialpolitik ähnliche Wahlversprechen gemacht hatten wie die SPD. Wenn dieses Bindeglied wegbricht, dann ist es schwer zu begründen, warum die Partei der Grünen für die SPD ein besserer Koalitionspartner sein solle als die CDU/CSU oder die FDP. Immerhin hatten mich die Altvordern der FDP dadurch beeindruckt, dass sie in der Frage des großen Lauschangriffs Standfestigkeit bewiesen. Männer wie Genscher und Lambsdorff hatten deutlich gemacht, dass sie dem Lauschangriff auf besonders sensible Gruppen wie Journalisten, Ärzte, Drogenberater und andere nicht zustimmen würden. Um sie zum Schwur zu bringen, verwiesen wir das Gesetz über den großen Lauschangriff aus dem Bundesrat wieder in den Bundestag zurück. Da die Gruppe um Genscher und Lambsdorff standhaft blieb, gelang es uns, der Regierung Kohl unmittelbar nach der Niedersachsen-Wahl eine schwere parlamentarische Niederlage beizubringen. Die Koalition hatte im Bundestag keine Mehrheit mehr. Der Deutsche Journalistenverband sprach von einem großen Sieg der Pressefreiheit. Das war für mich eine Genugtuung, galt ich doch nach der Novellierung des Saarländischen Pressegesetzes, in dem wir das Gegendarstellungsrecht verbessert hatten, als Gegner der Pressefreiheit. Es hatte mich große Anstrengungen gekostet, Gerhard Schröder, den Medienliebling, für diese Freistellung der Journalisten vom Lauschangriff zu gewinnen. Nach dem fulminanten Sieg in Niedersachsen wog diese Abstimmungsniederlage der Regierungskoalition schwer. Die Stimmung in der Union drohte zu kippen. Jetzt diskutierte die Union darüber, ob mit Helmut Kohl noch die Wahl zu gewinnen sei. Und, kein Wunder, die FDP ging erkennbar auf Distanz zu Kohl. Darauf hatte ich hingearbeitet. Es galt, Kohls Nimbus der Unschlagbarkeit zu zerstören. Dieser Nimbus saß tief im Herzen manches Sozialdemokraten, und das Bonner Pressekorps glaubte immer noch an die Kohl-Kurve, das heißt: Kohl liegt zwar am Anfang des Wahlkampfs zurück, hat am Ende aber doch die Nase vorn. Als Johannes Rau dann erklärte, den Stab an Wolfgang Clement weiterzugeben, verstärkte sich der Druck auf Helmut Kohl. Die Diskussion, ob Kohl der richtige Kanzlerkandidat der Union sei, hielt bis zum Wahltag an. Noch neun Tage vor der Wahl sagte Wolfgang Schäuble im Playboy, es sei politisch ungeschickt gewesen, ihn nach dem Leipziger Parteitag zum Nachfolger auszurufen. Dass es uns gelungen war, in der Union die Zweifel am Kanzlerkandidaten Kohl zu schüren, trug zu unserem späteren Wahlerfolg bei.
Überflüssiger Fehlstart
Mit Aufnahme der Regierungsarbeit stellte sich immer deutlicher heraus, dass wir ein strukturelles Problem hatten. Gab es vorher ein klares Entscheidungszentrum, nämlich das Präsidium der Partei, so hatten wir jetzt vier Zentren: das Präsidium der Partei, das Bundeskanzleramt, die Bundestagsfraktion und den Bundesrat. Von Anfang an hätte also eine enge Koordination dieser Entscheidungszentren sichergestellt werden müssen. Das wäre nur durch eine konsequente Zusammenarbeit zwischen Gerhard Schröder und mir möglich gewesen. Davon konnte aber keine Rede sein. Das ging schon bei der Regierungserklärung los. Sie wurde von engen Mitarbeitern Gerhard Schröders wohl unter der Federführung Bodo Hombachs geschrieben. Eine Abstimmung mit dem Parteivorsitzenden gab es nicht. Gleichwohl schaffte ich es, mir die Regierungserklärung am Vorabend zu besorgen und kurz zu überfliegen. Ich bemängelte daran, dass sie nicht mit dem Entwurf der neuen Politik Gerhard Schröders begann. Der richtige Auftakt zum Start der neuen Regierung wäre doch gewesen, gleich zu Anfang zu sagen, das und das wollen wir für unser Land in den nächsten Jahren erreichen. Statt dessen wurde schon auf Seite zwei über die zu hohe Schuldenlast gejammert, welche die Regierung Kohl hinterlassen hatte. Ich sagte den Mitarbeitern von Gerhard Schröder meine Bedenken, aber geändert wurde nichts. Als Gerhard Schröder dann folgende Passage der Regie rungserklärung vortrug, sträubten sich mir die Haare: "Auch deshalb werden wir die sogenannten 63o-Mark-Jobs nicht einfach abschaffen. Aber wir werden sie angemessen m die Sozialversicherungspflicht einbeziehen. Die Grenze werden wir auf 300 DM festlegen. Da wir gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werden diese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert. Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt ausdrücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher Beschäftigungsverhältnisse an: sowohl für die Arbeitgeber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Verbraucher. Aber wir wollen gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften den Missbrauch, der mit dieser Regelung betrieben worden ist, ernsthaft bekämpfen.« Es ist mir bis heute nicht gelungen herauszufinden, wer dem Kanzler das ausgeschrieben hatte. Diese Passage war ein glatter Bruch der Versprechungen, die Gerhard Schröder und ich im Wahlkampf gemacht hatten. Insbesondere mit Blick auf die Arbeitnehmerfrauen, die sich, wenn die Kinder aus dem Haus sind, ein kleines Zubrot verdienen, hatten wir immer wieder betont: Wir wollten die 630-Mark-Jobs sozialversicherungspflichtig machen, aber so, dass die jenigen, die auf das Geld angewiesen sind, keine finanziellen Einbußen erleiden würden. Dabei waren wir uns der Tatsache bewusst, dass für Besserverdienende im Steuer- und Abgabenrecht ungleich größere Begünstigungen verankert waren. Die 630-Mark-Jobs hießen nicht umsonst»die Steueroase des kleinen Mannes«. In der Bundestagsfraktion erinnerte ich mit Nachdruck an dieses Wahlkampfversprechen und sagte, dass die zwischen den Sozialpolitikern der Fraktion, dem Arbeitsministerium und dem Kanzleramt ausgehandelte Lösung von mir nicht mitgetragen werden könne. Am nächsten Tag las ich in einigen Zeitungen, Gerhard Schröder habe mich bei den 63o-Mark-Jobs gestoppt. Während ich in der Fraktion für die Besserstellung der Leute kämpfte, die auf die 63o-Mark-Jobs angewiesen sind, hatten die Spindoctors die Presse wie der einmal falsch informiert. Es kam zu einem Krisengespräch im Kanzleramt. Wir vereinbarten, die Grenze nicht, wie vom Kanzler in der Regie rungserklärung gesagt, auf 300 Mark, sondern auf 630 Mark festzulegen, um zumindest die Frauen aus Arbeitnehmerhaushalten nicht schlechter als bisher zu stellen. Am nächsten Morgen trug Gerhard Schröder im Parlament selbst die neue Regelung vor. Das Problem war aber, dass darüber nicht ausreichend diskutiert worden war und die Überprüfung durch die Fachministerien noch nicht vorlag. Ich war sehr verärgert über diese Fehler, hatten wir doch in der Partei schon weitergehende Konzepte erarbeitet. Es lag eine Reihe von Vorschlägen vor, die auch auf Vorarbeiten von Fritz Scharpf,
Joachim Mitschke und der Friedrich-Ebert-Stiftung zurückgingen. Der Staat sollte beispielsweise Einkommen unter 1500 Mark als Niedriglohneinkommen ganz oder teilweise von Sozialabgaben befreien, um einfache Arbeiten attraktiver zu machen. Diese Vorschläge hätten auch das Problem der 63o-Mark-Jobs gelöst. Sie wären dann unter die Regeln des größer gewordenen Niedriglohnsektors gefallen. Zum Ausgleich für die ausgefallenen Sozialversicherungsbeiträge hätte man die Ökosteuer heranziehen können. Anders ausgedrückt: Die Ökosteuer wäre nicht dazu verwandt worden, generell die Sozialversicherungsbeiträge zu senken, sondern sie hätte dazu gedient, den Niedriglohnsektor zu öffnen und finanziell attraktiv zu machen. Dem Verkaufsgenie Bodo Hombach gelang es, im Mai 1999 diese Vorstellungen als »neu« zu verkaufen. Unter der Überschrift »Aus Schröders Schublade der Plan - Radikalkur gegen die Arbeitslosigkeit« berichtete der Spiegel von einem umfassenden Umbauplan: »Ziel ist die Einführung eines generellen Freibetrags für Sozialabgaben bei niedrigen (Stunden-)Verdiensten, mit degressiver Beitragsentlastung bis zu einer Schwelle, jenseits derer die vollen Beiträge fällig sind. Eine solche Lösung wäre weder befristet noch ziel-gruppenorientiert; insoweit wäre sie einer allgemeinen Steuersenkung ähnlich. Erlassene Beiträge und Beitragsanteile der Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden der Sozialversicherung vom Staat ersetzt. Damit bleiben die begünstigten Arbeitnehmer voll sozialversichert.« So wurde die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bodo Hombach sei Dank, wenn auch etwas verspätet, durch einen Spiegel-Titel gewürdigt. Der Wegfall der Pauschalsteuer, den der Kanzler ohne Absprache in der Regierungserklärung festgelegt hatte, stellte nicht nur den Bundesfinanzminister vor Probleme. Da auch die Länder an dieser Steuer beteiligt sind, gab es einen über mehrere Monate andauernden Krach mit den Länderfinanzministern. Es gelang mir nur mit Mühe, die sen beizulegen, wobei ich insbesondere von meinem alten Freund Heinz Schleußer, dem nordrhein-westfälischen Finanzminister, unterstützt wurde. Bei der Neuordnung der nicht sozialversicherten Beschäftigungsverhältnisse und dem Öffnen eines neuen Niedriglohnsektors ging es um eine grundsätzliche Frage: Sollen wir es zulassen, dass immer mehr Menschen scheinselbständig sind, schwarzarbeiten oder Billigjobs annehmen und damit nichts zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen, gleichwohl aber Anspruch auf Sozialhilfe haben? Um die Zustimmung der Bevölkerung zu den Reformen zu erlangen, war sorgfältige Arbeit gefragt. Da nichts richtig koordiniert wurde, kamen weitere schwere Fehler hinzu. Gerhard Schröder hatte noch vor der Regierungsbildung am 4. Oktober 1998 ein Interview in Bild am Sonntag gegeben. Der Aufmacher war: »Schröder: Erstes Machtwort! Benzin nicht mehr als 6 Pfennige teurer!« Die Festlegung auf sechs Pfennige war unter keinem Gesichtspunkt vertretbar. Die Benzinpreise waren innerhalb eines Jahres um über zehn Pfennige gefallen. Unter ökologischen Gesichtspunkten machten wir uns geradezu lächerlich. Ich wunderte mich darüber, dass die Opposition nicht in diese Kerbe hieb, sollte man den Gegner doch immer auf dem eigenen Terrain stellen. Die Oppositionsparteien, die selbst Konzepte zur ökologischen Steuer- und Abgabenreform vorgelegt hatten, glaubten vielmehr, beim Wähler gut anzukommen, wenn sie diesen bescheidenen Schritt als billiges Abkassieren diffamierten. Schäuble, Repnik, Sohns und andere wollten sich an ihre eigenen Vorschläge zur ökologischen Steuer- und Abgabenreform nicht mehr erinnern. Glaubwürdig war das nicht. Die sechs Pfennige wurden aber auch für die Regierung ein Problem, weil wir nun eine neue Steuer, die Stromsteuer, einführen mussten. Die ökologische Steuerreform wurde durch dieses Kanzlermachtwort zu einem Torso. Fritz Scharpf meldete sich und fragte, warum die ursprüngliche Absicht aufgegeben worden wäre, die ökologische Steuer zur Finanzierung des Niedriglohnsektors heranzuziehen. Er machte einen schriftlichen Vermerk, den ich sowohl Mitgliedern der Bundestagsfraktion als auch dem Kanzleramt zur Kenntnis brachte. Aber wegen der vielen Festlegungen, Machtworte und Koordinatoren fiel dieser vernünftige Vorschlag zunächst einmal unter den Tisch. Erschwert wurde unsere Arbeit auch dadurch, dass die Wirtschaft erwartungsgemäß sofort gegen beide Reformen Sturm lief. Durch das zu hohe Tempo und die mangelnde Koordination waren bedauerlicherweise gleich zwei zentrale Reformprojekte der rot-grünen Koalition in Misskredit geraten: die ökologische Steuer- und Abgabenreform und die Neuordnung des Niedriglohnsektors. Erschwerend für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung kam hinzu, dass unsere „Modernisierer“ nicht zu diesen Projekten standen. Gegen die ökologische Steuer- und Abgabenreform wetterten sie im Hintergrund ebenso wie gegen die Neuordnung der nicht Sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. Es ist
aber nicht möglich, für Reformprojekte in der Bevölkerung Zustimmung zu finden, wenn immer wieder »Modernisierer« aus den eigenen Reihen als Kronzeugen gegen diese Reformprojekte auftreten. Am 8. November i 998 gab Gerhard Schröder wieder ein Interview in Bild am Sonntag. Wir lasen dort: »Schröder: Volle Rente schon mit 60«. Das war wieder aus der Hüfte geschossen, hatten wir doch im Hinblick auf die demographische Entwicklung in unserem Rentenpapier empfohlen, das Renteneintrittsalter anzuheben, sobald die Arbeitslosigkeit zurückgegangen sei. Zudem war auf den ersten Blick erkennbar, dass ein solches Vorhaben nicht finanzierbar war. Bei der Schnelllebigkeit und Vergesslichkeit der veröffentlichten Meinung gelang es, diesen Vorschlag Walter Riester zuzuschieben. Er wurde dann in den darauffolgenden Wochen ausgiebig dafür gescholten. Natürlich musste irgendwann eingeräumt werden, dass ein solcher Vorschlag nicht finanzierbar war. Aber auch hier fragte ic h mich, wer die Interviews des Bundeskanzlers gegenlas und überprüfte. Die Rentendiskussion der SPD jedenfalls war an diesen Mitarbeitern spurlos vorübergegangen. Durch die Fehler bei den 63o-Mark-Jobs, bei der ökologischen Steuer- und Abgabenreform und beim Atomausstieg, die alle bei besserer Koordination und Fachkenntnis im Kanzleramt hätten vermieden werden können, wurde die gute Aufbruchsstimmung, die der Regierungswechsel ausgelöst hatte, spürbar beschädigt. Diese Fehler überlagerten auch die Reformentscheidungen, die wir bewusst an den Anfang der Regierungsarbeit stellten, um der Arbeitnehmerschaft deutlich zu machen, dass eine neue arbeitnehmerfreundliche Regierung die Arbeit aufgenommen hatte. Das waren die Wiederherstellung der Lohnfortzahlung und des Kündigungsschutzes, die Rücknahme der Rentenkürzung und die Verbesserungen im Gesundheitswesen. Das schwierigste Reformprojekt aber war die Steuerreform. Hier ist mir während der Koalitionsverhandlungen ein schwerer Fehler unterlaufen. Ich hatte zugelassen, dass die Steuerreform unter unnötigem Zeitdruck über die parlamentarische Bühne gebracht wurde und dass die Finanzpolitiker der Koalition aus Bund und Ländern während der Koalitionsverhandlungen eine Reihe von Vorschlägen gemacht hatten, die vom ursprünglichen SPD-Konzept abwichen und uns sehr viel Ärger bereiten sollten. Vor allem gegen die Einschränkung der Teilwertabschreibung, die Besteuerung der Veräußerungsgewinne und die Einschränkung des Verlustvortrags lief die Lobby Sturm. Von allen Seiten wurden wir unter Druck gesetzt, das Steuerreformgesetz nicht zu verabschieden. Die Herren Henkel, Stihl und Hundt sahen, wie immer, den Untergang des Abendlands und das Ende des Standorts Deutschland nahen. Mir bereitete diese Auseinandersetzung durchaus sportliches Vergnügen, da das Steuergesetz ein wirklich sozialdemokratisches Gesetz war. Es entlastete die Arbeitnehmer und Familien mit über 20 Milliarden Mark. Es entlastete den Mittelstand nach vielen Korrekturen um 5 Milliarden Mark, es belastete die Großwirtschaft, die sich in den vergangenen Jahren gebrüstet hatte, kaum oder keine Steuern zu zahlen, mit über 10 Milliarden Mark. Besondere Verdienste um die Realisierung des Steuergesetzes erwarb sich meine Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks. Sie hatte sich als ehemalige Pressesprecherin von Heinz Schleußer ein entsprechendes Fachwissen angeeignet und genoss in der Bundestagsfraktion Vertrauen. In einem regelrechten Sitzungsmarathon brachte sie das Gesetz durch die Ausschüsse. Da die Streichung jeder Steuersubvention, es waren insgesamt über siebzig, auf Widerstände stößt, kann man sich vorstellen, welche Arbeit zu leisten war. Bei der Bundespressekonferenz referierte ich am 10. Februar 1999 zum damaligen Stand der Steuergesetzgebung, während gleichzeitig Barbara Hendricks im Finanzausschuss einige Veränderungen durchsetzte. Ich war in der schwierigen Lage, nicht zu wissen, wie die Beratungen des Finanzausschusses ausgehen würden, und hatte daher auch kein Papier dabei, das zu jeder einzelnen Position den aktuellsten Stand wiedergab. Ich eierte daher an einigen Stellen herum, da ich keine exakte Auskunft geben konnte. Diese Panne nutzten meine Gegner dazu aus, in Hintergrundgesprächen zu streuen, ich sei offensichtlich mit dem Amt des Finanzministers überfordert. Das Steuerreformgesetz konnte sich am Schluss durchaus sehen lassen, weil es mehr Steuergerechtigkeit herstellte, Arbeitnehmerfamilien und Mittelstand entlastete und eine Reihe von Steuersubventionen abschaffte. Der viel zu enge Zeitplan wurde zum Vorteil. Trotz der verlorenen Wahl in Hessen erreichte das Steuergesetz die notwendigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, denn Hans Eichel vertrat bei der Schlussabstimmung noch das Land Hessen. Zu einer besonderen Geschichte des Steueränderungsgesetzes wurde die Belastung der Energiewirtschaft und der Versicherungswirtschaft. Erwartungsgemäß wehrten sich die Spitzenverbände dieser beiden Wirtschaftsbereiche und rechneten die zu erwartenden
Mehrbelastungen künstlich hoch. Der Bundeskanzler wurde nervös. Er glaubte, dass eine zu starke Belastung der Energiewirtschaft seine Chefgespräche zum Atomausstieg gefährdeten. Wir kamen sowohl der Versicherungswirtschaft als auch der Energiewirtschaft entgegen. Durch diese Korrekturen am Steueränderungsgesetz war aber leider der Eindruck entstanden, man müsse nur energisch genug im Kanzleramt vorstellig werden, und schon würden bestimmte Dinge wieder zurückgenommen. Zusätzliche Verwirrung stiftete, dass die Belastung der Energiewirtschaft einmal für einen ZehnJahres-Zeitraum, zum anderen für einen Vier-Jahres-Zeitraum ausgerechnet wurde. Das bemerkten natürlich nur die Fachleute. Für die Unkundigen ergab sich eine weitere Möglichkeit, zu stänkern und zu behaupten, das Finanzministerium kenne seine eigenen Zahlen nicht. Das Ende vom Lied war, dass nach meinem Rücktritt, o Wunder, die Energiewirtschaft zu dem Ergebnis kam, dass die Zahlen, die das Bundesfinanzministerium in Abstimmung mit der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung vorgelegt hatte, richtig waren. Die Regierungserklärung hielt für mich eine weitere Überraschung bereit. Der Bundeskanzler sagte, »wir werden auch die Unternehmensbesteuerung grundlegend reformie ren, Unternehmenseinkünfte sollen mit höchstens 35 Prozent besteuert werden«. Davon stand nichts in unserem Regierungsprogramm. Im Steueränderungsgesetz, das schon in Arbeit war, hatten wir vorgesehen, den Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne von 45 auf 40 Prozent ab dem i. Januar 1999 und den Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkünfte von 47 auf 43 Prozent ab dem i. Januar 2000 zu senken. Die aus dem Hut gezauberte Zahl von 3 5 Prozent stellte natürlich die im Steueränderungsgesetz vorgeschlagenen Unternehmensteuersätze sofort wieder in Frage. Zu Recht wiesen Kritiker darauf hin, was es eigentlich solle, im Steueränderungsgesetz den Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne auf 40 Prozent und für gewerbliche Einkünfte auf 43 Prozent zu senken, wenn der Kanzler in seiner Regierungserklärung versprochen habe, die Unternehmenseinkünfte mit höchstens 35 Prozent zu besteuern. Wiederum war nichts abgestimmt. Als dann im Handelsblatt der Druck dadurch verstärkt werden sollte, dass erneut die Zahl von 35 Prozent auftauchte, während wir doch gerade für andere Zahlen im Steuergesetz kämpften, rastete ich in der Bundestagsfraktion aus. Ich ließ meinem Unmut freien Lauf und sagte, so könne man nicht regie ren. Dies wurde dann in der Presse ausführlich berichtet. Spätestens hier hätten bei all denjenigen die Alarmsirenen schrillen müssen, die sich zwei Wochen später von meinem Rücktritt völlig überrascht zeigten. Die erste Steuerreform war noch nicht in trockenen Tüchern, da wurde die nächste Steuerreform angekündigt. Im Zukunftsprogramm 2000 sollen Rentner und Arbeitslose das Absenken der Unternehmenssteuern finanzieren. Dabei wäre es richtig gewesen, nach dem Steueränderungsgesetz, das ein wirklicher Durchbruch war, zunächst keine weiteren Steueränderungsgesetze ins Auge zu fassen. Allenfalls hätte man sich vornehmen können, für das Ende der Legislaturperiode noch einmal eine größere Kraftanstrengung zu unternehmen. Was immer an Argumenten zur Steuerpolitik vorgetragen wird, es gilt die Regel: Man kann nicht ununterbrochen Steueränderungsgesetze einbringen. Das schafft kein Vertrauen bei Investoren und Verbrauchern und schadet der konjunkturellen Entwicklung. Insbesondere die Investoren sind auf länger festgelegte klare Rahmenbedingungen angewiesen. Ein weiteres Argument ist, dass die Steuerharmonisierungsversuche auf europäischer Ebene laufen. Je nach Ausgang müsste dann wieder ein Steueränderungsgesetz aufgelegt werden. Offensichtlich sind manche Fehler so attraktiv, dass sie immer wiederholt werden. Hans Eichel erklärte bei der Vorlage des Zukunftsprogramms 2000, dass die Vermögensteuer nicht wieder eingeführt werde. Dabei hatten wir im Regierungsprogramm die Wiedereinführung der privaten Vermögensteuer aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit versprochen. Hier muss ich erwähnen, dass derselbe Hans Eichel mich während der Koalitionsverhandlungen immer wieder gebeten hatte, darauf zu bestehen, dass die private Vermögensteuer sofort wie der eingeführt werden solle. Da die Vermögensteuer den Ländern zugeht, wollte Eichel mit diesem Geld Bildungs- und Forschungsausgaben in Hessen aufstocken und diese im Wahlkampf den Wählerinnen und Wählern versprechen. Da Gerhard Schröder dagegen war, setzte ich Hans Eichels Forderung nicht durch. Ironie der Geschichte: Nach der für die rot-grüne Koalition verlorenen Landtagswahl gab der neue Ministerpräsident von Hessen, Koch, eine Pressekonferenz, um nach hundert Tagen Bilanz zu ziehen. Die FAZ berichtete: »In den Mittelpunkt ihrer Hundert-Tage-Bilanz stellten Koch und Frau Wagner die Bildungspolitik. Sowohl mit dem Nachtragshaushalt als auch mit dem neuen Schulgesetz und dem Hochschulgesetz seien >ganz schnell erste Voraussetzungen geschaffen worden, um Hessen zum Bildungsland Nummer eins zu machen<. Zum neuen Schuljahr nach den Sommerferien würden so
viele Lehrer neu ihren Dienst in den hessischen Schulen antreten wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Durch 1400 neue Lehrer, durch Personalumschichtungen und durch Finanzmittel für Vertretungsunterricht in der Größenordnung von jeweils 300 Stellen verbessere sich die schulische Grundversorgung um rechnerisch insgesamt 2000 Stellen. Hinzu komme noch eine Ausweitung der Referendarstellen.« Während Hans Eichel in Bonn »sparen, sparen, sparen« rief, machte sein Nachfolger in Hessen Angebotspolitik von links.
Die Hessen-Wahl
Die Hessen-Wahl ist für die SPD immer etwas Besonderes. Wir haben bei diesen Wahlen schon manches Mal eine Überraschung erlebt. Ich denke an den Wahlsieg Walter Wallmanns, den viele von uns nicht erwartet hatten. Wir waren also für den 7. Februar 1999 vorgewarnt. Im nachhinein muss ich milde lächeln, wenn ich daran denke, dass Hans Eichel mich immer wieder gebeten hatte, vor den Hessen-Wahlen keine Grausamkeiten zu begehen, das heißt kein Sparpaket aufzulegen. Ich hänselte ihn und sagte: »Hans, dir ist doch bekannt, dass ich Machiavellist bin. Grausamkeiten begeht man am Anfang.« Als ich ihn nach der Auflage seines Sparprogramms auf seinen Gesinnungswechsel ansprach, erwiderte er verlegen, er habe mich ja nur gebeten, im Januar 1999 keine Grausamkeiten zu begehen. Das war kläglich. Der Haushalt 1999 wurde, wie auch Hans Eichel weiß, im Januar vom Kabinett beschlossen. Die Spargesetze, die ich im November oder Dezember eingebracht hätte, wären im parlamentarischen Verfahren gewesen und hätten den Wahlkampf in Hessen bestimmt. Warum hat Hans Eichel als Finanzminister in Bonn nicht bedacht, dass Richard Dewes, Reinhard Klimmt, KarlHeinz Kunkel, Walter Momper und Manfred Stolpe genauso wie er von der sozialdemokratischen Bundesregie rung erwarten könnten, dass ihr Wahlkampf nicht unnötig belastet wird? Aus Bonn jedenfalls kam bei der Hessen-Wahl von der Wirtschafts- und Finanzpolitik kein Gegenwind. Der Gegenwind blies plötzlich aus einer anderen Richtung. Otto Schily hatte den Auftrag, ein neues Staatsbürgerschaftsrecht zu entwickeln. In der Koalitions-Vereinbarung stand dazu: »Im Zentrum unserer Integrationspolitik wird die Schaffung eines modernen Staatsangehörigkeitsrechts stehen. Dabei sind insbesondere zwei Erleichterungen umzusetzen: • Kinder ausländischer Eltern erhalten mit Geburt in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil bereits hier geboren wurde oder als Minderjähriger bis zum 14. Lebensjahr nach Deutschland eingereist ist und über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt. • Unter den Voraussetzungen von Unterhaltsfähigkeit und Straflosigkeit erhalten einen Einbürgerungsanspruch - Ausländerrinnen und Ausländer mit achtjährigem rechtmäßigem Inlandsaufenthalt, - minderjährige Ausländerrinnen und Ausländer, von denen wenigstens ein Elternteil zumindest über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt und die seit fünf Jahren mit diesem Elternteil in familiärer Gemeinschaft in Deutschland leben, - ausländische Ehegatten Deutscher nach dreijährigem rechtmäßigem Inlandsaufenthalt, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren besteht. In beiden Fällen ist der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht von der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit abhängig. Wir werden Einbürgerungen auch dadurch erleichtern und beschleunigen, dass wir auf überflüssige Verfahren verzichten.« Otto Schily hatte gerade mit der Ausarbeitung der Gesetzesentwürfe begonnen, als die CDU ein Wahlkampfthema unter dem Stichwort »Doppelpass« witterte. Schon der Begriff war unglücklich gewählt, weil einige darunter verstanden, dass Ausländer mehr Rechte bekämen als Deutsche. Es wurde sehr emotionsgeladen diskutiert. Jeder müsse sich zu seinem Staat bekennen. Es könne nicht sein, dass sich ausländische Mitbürger aus den jeweiligen Rechten und Pflichten zweier Staaten die Rosinen herauspickten. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und ständiger sozialer Kürzungen ist die Akzeptanz ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger ohnehin geringer. Diese latente Abwehrhaltung gegenüber Fremden kann in unserer Gesellschaft auch in aggressive Ausländerfeindlichkeit umschlagen. Die Brände in den Asylbewerber- und Aussiedlerheimen und die Tatsache, dass Ausländer von Jugendlichen gejagt und totgeschlagen wurden, sind Zeugnis dafür. Diejenigen, die keine Arbeit finden, sehen in den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Konkurrenten, die ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen,
und das noch zu sehr niedrigen Löhnen. Das unverantwortliche Lohndumping vieler Firmen schürt diese Stimmung zusätzlich. Ich habe immer dafür geworben, dass man selbst einmal versuchen sollte nachzuempfinden, was es heißt, wenn ein deutscher Bauarbeiter von einem ausländischen Kollegen verdrängt wird, der für ein Drittel seines Lohnes oder weniger arbeitet. Während meiner Zeit als Bürgermeister kamen Familien zu mir, die jahrelang auf die Zuweisung einer staatlich geförderten Wohnung gehofft hatten und dann erlebten, dass Asylbewerber in diese Wohnungen eingewiesen wurden. Durch solche Entscheidungen der Gemeinden, die aus der Not geboren sind, entsteht Ausländerfeindlichkeit. Da vie le ausländische Familien in der Regel mehr Kinder haben als deutsche Familien, rechnen insbesondere ältere Menschen bei jeder Kindergelderhöhung vor, was das für ihnen bekannte Ausländerfamilien bedeutet. Wenn solche Entscheidungen noch mit Rentenkürzungen verbunden sind, kann sich jeder ausmalen, wie ältere Mitbürger reagieren. Ich habe stets genau hingehört, wenn sich meine mittlerweile 84Jährige Mutter mit ihren gleichaltrigen Freundinnen unterhielt, um zu erfahren, wie diese Generation bei solchen sozialpolitischen Entscheidungen denkt. Ich gehöre daher zu denen, die viele Jahre lang in der SPD darauf hingearbeitet haben, dass es in der Asylfrage zu einem Kompromiss zwischen den großen Parteien kam. Wolfgang Schäuble hatte die sogenannte Drittstaaten-Regelung vorgeschlagen, die Grundlage des gefundenen Kompromisses war. Ich halte mein Eintreten für diesen Kompromiss auch im nachhinein für gerechtfertigt. Eine zu starke Zuwanderung macht eine Integration der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger fast unmöglich. Es war für mich schmerzhaft, dass viele meiner Freunde anders dachten. Ich nenne beispielsweise Günter Grass. Auch die Linke in der SPD konnte diesem Kompromiss wenig abgewinnen. Mein Einwand war neben dem Integrationsargument, dass die Hauptbetroffenen der Zuwanderung die sozial Schwächeren sind. Reiche haben unter der Zuwanderung nicht zu leiden. Sie sind eher Nutznießer, denn sie können billigere Arbeitskräfte einstellen. Ich bin darüber hinaus der Überzeugung, dass ohne den Asylkompromiss die SPD ihre Mehrheitsfähigkeit in der Bundesrepublik verloren hätte. Obwohl der Kompromiss Anfang der neunziger Jahre zustande kam, war er auch Grundlage unseres Wahlerfolgs im Jahre 1998. Vor diesem Hintergrund hielt ich es nicht für klug, das Staatsbürgerschaftsrecht mit der rot-grünen Mehrheit im Bundestag durchzuziehen. Schon von der Sache her ist es einsehbar, dass das Staatsbürgerschaftsrecht in seinen wesentlichen Ele menten von einer großen Mehrheit des Volkes getragen werden muss. Ich plädierte zunächst leise und dann lauter dafür, mit der anderen großen Volkspartei, der CDU/CSU, Gespräche aufzunehmen. Aber im Gefühl des großen Wahlsiegs vom September waren einige meiner Freunde nicht bereit, darauf einzugehen. Ich sprach mehrfach darüber mit Gerhard Schröder und Otto Schily. Beide waren der Meinung, dass die Grünen eine solche gemeinsame Lösung mit der CDU/CSU nicht mitmachen würden. Die CDU/CSU hatte bereits im Januar mit ihrer Unterschriftenkampagne begonnen, die natürlich an die ausländerfeindlichen Instinkte der Bevölkerung appellierte. Noch soviel Rabulistik und frommes Reden der CDU/CSU konnten von diesem Sachverhalt nicht ablenken. Und sie hatte Erfolg. Zu den Ständen der CDU/CSU kamen Menschen, auch Wähler von uns, und fragten, wo man hier gegen die Ausländer unterschreiben könne. Andere fragten, wo man hier gegen die Türken unterschreiben könne. Beunruhigt trug ich auch Hans Eichel meine Idee vor, eine gemeinsame Lösung mit der CDU/CSU zu suchen. Aber auch er ging nicht darauf ein. Die Parteifreunde, die jetzt für die von der Koalition geplante Lösung an den Wahlkampfständen um Zustimmung warben, würden einen solchen Schwenk nicht verstehen. Ich schlug dem Präsidium daher vor, die beiden großen Kirchen gewissermaßen als Moderatoren zwischen den beiden großen Parteien für das neue Staatsbürgerschaftsrecht zu gewinnen. Die Idee gefiel zwar einigen, aber letztlich setzten sich diejenigen durch, die der Meinung waren, wir sollten mit den Grünen allein das neue Staatsbürgerschaftsrecht verabschieden. Vor der Hessen-Wahl hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich wusste, was es bedeuten würde, wenn wir kurz nach der siegreichen Bundestagswahl in einem Vorzeigeland verlieren würden. Hessen hatte noch bessere Wirtschaftsdaten als Baden-Württemberg und Bayern. Hans Eichel und seine Mannschaft hatten gute Arbeit geleistet. Da in Hessen eine rot-grüne Koalition regierte, waren die Wirtschaftsdaten Hessens auch ein Gegenargument gegen das in bürgerlichen Kreisen durchaus
gepflegte Vorurteil, Rot-Grün könne keine erfolgreiche Wirtschaftspolitik machen. Während des hessischen Wahlkampfs aber spürte ich, wie verunsichert die eigenen Parteifreunde waren. Entscheidend war, dass die CDU-Wähler weitaus stärker motiviert waren als unsere Wähler. Die Kampagne der CDU/CSU war ein voller Erfolg, obwohl es darüber innerhalb der CDU/CSU zu heftigen Diskussionen gekommen war. Sie wurde auch von vielen braven Mitgliedern der CDU/CSU als ausländerfeindlich und daher unanständig empfunden. Einzelne Landesverbände und Ortsvereine lehnten es ab, sich daran zu beteiligen. Aber wie so oft in der Politik, heiligt der Erfolg die Mittel. Die CDU/CSU war rundum zufrieden, und wir hatten in Hessen verloren. Wir gaben im Vergleich zur Bundestagswahl etwas nach. Wir hatten in Hessen bei der Bundestagswahl 41,6 Prozent erreicht und erreichten bei der Landtagswahl 39,4 Prozent. Da die Grünen aber einbrachen, reichte es nicht mehr zur Bildung einer rot-grünen Landesregierung. Dass wir im Vergleich zur Bundestagswahl nur wenig verloren hatten, ist auch ein Beweis dafür, dass trotz der vom Kanzleramt zu verantwortenden Fehler unsere Politik bis dahin im Volk akzeptiert wurde. Hätten die Sozialdemokraten bei den Landtagswahlen in Brandenburg, im Saarland, in Sachsen und in Thüringen im Vergleich zu ihren Bundestagswahlergebnissen nur 2,2. Prozent abgegeben, dann stünden sie heute blendend da. Aber in der Zwischenzeit hatte die Regierung Schröder den Kurswechsel eingeleitet, und die Wählerinnen und Wähler kehrten uns den Rücken. Sofort nach der Hessen-Wahl machte ich die notwendige Kurskorrektur, diesmal bewusst ohne Absprache mit Gerhard Schröder. Unser Arbeitsverhältnis war schon belastet, und ich hatte mich darüber geärgert, dass er einige Wochen vor der Wahl eine viel zu geringe Bereitschaft gezeigt hatte, auf meine Vorschläge einzugehen. Ich wollte auch vermeiden, dass innerhalb der rot-grünen Koalition eine endlose Diskussion nach dem Motto »jetzt erst recht« einsetzte. Die Grünen knickten sehr schnell ein, schneller als ich erwartet hatte. Es kam zu der Kompromisslösung, die die Landesregierung von Rheinland-Pfalz, eine sozialliberale Koalition, vorgelegt hatte. Der Rückschlag in Hessen machte mir zu schaffen, da ich mich dafür als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands verantwortlich fühlte. Die Tatsache, dass ich rechtzeitig Vorschläge gemacht hatte, wie eine solche Wahlniederlage zu verhindern gewesen wäre, war für mich keine Entschuldigung dafür, dass ich mich nicht durchgesetzt hatte. Auch die Parteilinke hatte, wie schon beim Asylkompromiss, an dieser Stelle wenig Verständnis für meine Vorgehensweise. Obwohl die Mehrheiten im Bundesrat sich geändert hatten, war sie ebenfalls zornig auf mich, weil ich so schnell die Reißleine gezogen hatte.
Deutschland und Frankreich Als Saarländer habe ich aus der Geschichte gelernt, dass die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland auch die Grundlage der europäischen Einigung ist. Eine Konstante der französischen Politik war es, dass sie das Aufkommen einer starken Zentralmacht in Europa verhindern wollte. Berühmt ist das Wort von Francois Mauriac: »Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich zufrieden bin, dass es zwei gibt.« Als ich Francois Mitterrand zum letzten Mal anlässlich der Verleihung des Medienpreises in Baden-Baden sprach, stellte ich ihm die Frage, welche der historischen Figuren Frankreichs ihm am meisten imponiert hätten. Ich versprach mir davon eine Auskunft über die längerfristige Grundlage der Mitterrandschen Deutschland- und Europapolitik. Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: »Mazarin.« Sofort erinnerte ich mich daran, dass er seiner Tochter den Namen »Mazarine« gegeben hatte. Mazarin stand ganz in der Tradition seines Lehrmeisters Richelieu, der das Aufkommen einer starken Zentralmacht in Europa fürchtete. Aber in Frankreich hieß es 1635 auch, »Riche-lieu-la-Guerre, Mazarin-la-Paix«. Richelieu war zu wütendem Hass fähig, Mazarin war unfähig zu hassen. Durch seine außenpolitischen Erfolge im Westfälischen Frieden 1648 und im Pyrenäen-Frieden 1659 sicherte er Frankreichs Hegemonie über Europa. In seinem Buch De l'Allemagne, de la France, das in Deutschland bezeichnenderweise unter dem Titel Über Deutschland veröffentlicht wurde, schreibt Francois Mitterrand: »Ich träume von der Vorherbestimmung Deutschlands und Frankreichs, dass sie durch die geographische Lage und ihre alte Rivalität dazu auserwählt sind, das Signal für Europa zu geben. Haben beide Länder in sich das Beste von (.lern bewahrt, was ich, ohne zu zögern, ihren Instinkt für Größe nenne, werden sie begreifen, dass es sich dabei um ein Projekt handelt, dessen sie würdig sind. Sie werden sich zunächst einmal selbst überzeugen müssen. Frankreich, stets der Versuchung ausgesetzt, sich auf sich selbst zurückzuziehen, der epischen Illusion von der Größe in Einsamkeit; Deutschland, stets zwischen seinen Bestimmungen schwankend, einer in der Einheit Europas verankerten Nation oder einer uneingestandenen Erbin imperialer Ambitionen. Man wird mir entgegenhalten: Das ist eine Utopie! Doch was ist eine Utopie? Entweder eine Absurdität, und dann wird die Zeit sich darum kümmern, uns zu antworten. Oder aber nur die Antizipation eines neuen möglichen Zustands. Wenn sich in diesem Augenblick, da alles in Europa möglich ist, ein Sprung des Willens vollzieht, dann wird die Utopie zur Realität werden. Und viele unter Ihnen werden sie kennen lernen.« Den Imperativ der klassischen französischen Außenpolitik, das Aufkommen einer zentralen Macht in Europa zu verhindern, setzte Mitterrand um, indem er den Vertrag von Amsterdam und die Wirtschafts- und Währungsunion forcierte. Ich hatte in den Sitzungen der Führungsgremien der SPD immer wieder auf diese Zusammenhänge hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass die Deutsche Bundesbank zur starken europäischen Zentralmacht geworden war. »La BUBA«, wie die Bundesbank in Frankreich genannt wurde, war zur Europäischen Zentralbank geworden, und die europäischen Staaten, auch Frankreich, waren gezwungen, den Entscheidungen der Deutschen Bundesbank zu folgen. Dies führte insbesondere nach der Deutschen Einheit zu großen Problemen, weil die Bundesbank den Diskontsatz auf den Rekord von 8 3/4 Prozent hochschraubte, um im Einigungsboom Preisstabilität zu erzwingen. Durch die se harte Vollbremsung steigerte sie die Massenarbeitslosigkeit und brachte die Wirtschaft in eine Rezession nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Mit anderen Worten: Die Bundesbank war längst zu einer mächtigen europäischen Institution in deutscher Alleinzuständigkeit geworden. Da das nationalstaatliche Gegeneinander keine Zukunft mehr hatte, war die Politik Mitterrands sinnvoller als die Politik Maggie Thatchers, die die Deutsche Einheit verhindern wollte. In ihren Memoiren schreibt sie: »Ebenso bewusst nahm ich eine andere Strömung in der europäischen Gemeinschaft wahr, die sich bereits von Anfang an abgezeichnet hatte, ihre Entwicklung prägte und Großbritanniens Einflussmöglichkeiten drastisch einschränkte - die enge Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich. Obwohl es den Anschein hatte, dass diese Beziehung durch ein besonderes persönliches Verhältnis zwischen Präsident Giscard d'Estaing und Kanzler Schmidt bzw. Präsident Mitterrand und Kanzler Kohl bedingt war, so dürften letztendlich doch eher historische
Tatsachen und langfristige Interessen entscheidend gewesen sein. Schon seit langem fürchtete Frankreich die Macht der Deutschen und hoffte, diese Macht mit Hilfe des überlegenen gallischen Intellekts in einer Weise kanalisieren zu können, die für die Franzosen von Vorteil war.« An anderer Stelle schreibt sie im Hinblick auf ein föderales Europa: »Es ist doch wahrscheinlich, dass Deutschland in einem solchen Gefüge die Führungsrolle einnehmen würde, denn ein wiedervereinigtes Deutschland ist schlichtweg viel zu groß und zu mächtig, als dass es nur einer von vielen Mitstreitern auf dem europäischen Spie lfeld wäre.« Konsequenterweise wollte Margaret Thatcher die deutsche Wiedervereinigung verhindern, da es ihr in der Tradition der englischen Außenpolitik um ein Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent ging. Die von Maggie Thatcher geäußerten Befürchtungen wurden auch außerhalb Europas geteilt. So hat George F. Kennan, der 95 Jahre alte amerikanische Diplomat, immer wieder daran gezweifelt, ob ein vereintes Deutschland in der Mitte Europas eigentlich wünschenswert sei. Noch im Mai 1999 schrieb er: »Die Gründe meiner Befürwortung einer deutschen Teilung lagen daher nicht vorrangig darin, dass ich uns Nichtdeutsche in irgendeiner Weise als moralisch höherstehend empfunden hätte. Sie entsprachen eher dem Zweifel, ob die übrige europäische Gemeinschaft sich jemals mühelos und vollständig mit dem Schauspiel würde abfinden können, dass Deutschland als Großmacht... des europäischen Festlands auftritt. Solange sich die anderen Europäer in ihrem Verhältnis zu Deutschland nicht wohl fühlen, so lange werden umgekehrt sich die Deutschen sich in ihren Beziehungen zu den anderen kaum wirklich wohl fühlen. Indem sie versuchen, die Nato der EU als Brennpunkt der europäischen Einigung überzuordnen, und indem sie zugleich Deutschland dazu ausersehen, zusammen mit den Vereinigten Staaten als die größte Militärmacht auf dem europäischen Kontinent zu fungieren, begehen die Nato-Führer meiner Auffassung nach einen Fehler von historischen Ausmaßen. Sie versuchen, all die verstörenden Geister aus der Vergangenheit des modernen Europa wiederzubeleben. Und wenn der Preis für die Vermeidung dieses Fehlers darin bestünde, die deutsche Einheit zu opfern, wäre ich auch heute dafür.« Ich bin der festen Überzeugung, dass Mitterrand und Kohl auf diese Befürchtungen und auf die historische Frage die richtige Antwort gegeben haben. Sie trieben die europäische Einigung weiter voran und vertieften die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich. Wenn die deutsche Außenpolitik diese Lehre missachtet, wird es in Europa zu großen Problemen kommen. Nicht zuletzt deshalb beobachte ich mit Sorge, dass sich Außenminister Joschka Fischer eher an Madeleine Albright anlehnt und Bundeskanzler Gerhard Schröder immer wieder seine Sympathie für Tony Blair bekundet. Das deutschfranzösische Verhältnis hatte sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Man denke an die nicht abgestimmte Entscheidung Chiracs, die Atomwaffenversuche wiederaufzunehmen, aus der Wehrpflichtarmee eine Berufsarmee zu machen und an den Streit um den Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Es war daher unsere Aufgabe, Voraussetzungen für eine erneute Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich zu schaffen. Dazu trug ich bei, indem ich mit Dominique Strauss-Kahn, dem französischen Wirtschafts- und Finanzminister, eine äußerst enge Zusammenarbeit pflegte. Dominique Strauss-Kahn ist der Sohn eines elsässischen Juden und einer Tunesierin. Er ist in Agadir aufgewachsen, und da er eine deutsche Amme hatte, spricht er gut Deutsch. Ich hatte ihn im Rahmen der Treffen mit der Parti Socialiste schon öfter gesehen, lernte ihn aber auf saarländischem Boden näher kennen. Sein »chef du cabinet« ist Frangois Villeroy, der aus der saarländischen Keramikdynastie Villeroy & Boch stammt. Die Villeroys haben in Wallerfangen an der Saar ihren Familiensitz. Der Familienchef Claude Villeroy lud in das Schloss zu einem Diner mit Dominique Strauss-Kahn und seiner charmanten Frau Anne Sinclair, der bekannten französischen Moderatorin, ein. Dominique Strauss-Kahn und ich stellten sehr schnell fest, dass wir in ökonomischen Fragen ähnlich dachten. Strauss-Kahn bezeichnete mich nach meinem Rücktritt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung als seinen Freund und hob sich damit wohltuend von denen ab, die politische Freundschaften an das Innehaben eines Regierungsamts binden. Ich telefonierte öfter mit Lionel Jospin. Ich hatte ihn bereits als ersten Sekretär der Parti Socialiste kennen- und schätzen gelernt. Über meinen alten Freund Andre Bord, den ehemaligen Generalsekretär der gaullistischen Sammlungsbewegung, hielt ich auch Kontakt zu Jacques Chirac. Gerhard Schröder hatte erkennbar Schwierigkeiten, dazu beizutragen, dass sich das deutsch-französische Verhältnis verbesserte. Ich nahm es ihm übel, dass er der Einladung des französischen Staatspräsidenten zur Feier anlässlich des Endes des Ersten Weltkriegs nicht folgte. Aus meiner Sicht war das eine Instinktlosigkeit. Zwar gockelten auf dem Gipfel in Potsdam Jacques Chirac und Gerhard Schröder
noch mit »eher Gerard« und »lieber Jacques« wie zwei frisch Vermählte, aber Schröder hatte übersehen, dass in der Kohabitation sowohl der gaullistische Staatspräsident als auch der sozialistische Premier in gleichem Maß von dem deutschen Bundeskanzler hofiert werden mussten. Nach dem Potsdamer Gipfel sprach ich mit Gerhard Schröder darüber. Er lud Lionel Jospin und seine Frau daraufhin nach Quedlinburg ein, um die Dinge wieder etwas auszubügeln. In jenen Tagen stellte ich mir öfter die Frage, was Willy Brandt zu alldem gesagt hätte, und hatte immer Brandts Urteil über Schumacher im Kopf: »Hinreichendes Verständnis für Europa und die Welt hat er nicht.« Im Vorfeld der Beratungen zur Agenda 2.000 gerieten die Freunde Jacques Chirac und Gerhard Schröder aneinander. Gerhard Schröder hatte sich in Saarbrücken weit aus dem Fenster gehängt und über das viele Geld gewettert, das in Europa verbraten würde. Er hatte, treu auf den Spuren Edmund Stoibers wandelnd, die zu hohen Beiträge der Deutsehen zur europäischen Kasse lautstark moniert. Auf der anderen Seite hatte er es versäumt, mit Frankreich rechtzeitig einen Kompromiss zu finden, der auf europäischer Ebene mehrheitsfähig gewesen wäre. Da ich über die besten Kontakte nach Frankreich verfügte, konnte ich nur staunen, wie wenig koordiniert das Kanzleramt auch in der Frage der Agenda 2ooo vorging. Die Quittung kam: Das ausgehandelte Ergebnis war im Blick auf die wortgewaltigen Ankündigungen eher mager. Es war ein Fehlschlag. Die Vorbereitung des Berliner Gipfels ist ein Lehrbeispiel dafür, wie man es in Europa nicht machen soll. Der Schröder wohlgesonnene Spiegel schrieb: »Die EU-Ratspräsidentschaft von Gerhard Schröder endet, wie sie begonnen hat: mit großen Sprüchen. Die angekündigten Erfolge blieben aus. Aus dem Streit um die Agenda 2ooo des Berliner Gipfels im März ging Frankreich als großer Gewinner bei den Agrarsubventionen hervor, Blair verteidigte erfolgreich seinen Milliardenrabatt, Spanier, Finnen und Iren holten mehr als erwartet bei den Förderfonds heraus.« Die Veröffentlichung des gemeinsamen Papiers von Tony Blair und Gerhard Schröder vor der Europawahl war im Hinblick auf Frankreich ein schwerer Fehler. Das Papier war von Hombach hinter meinem Rücken im Auftrag Schröders unter Missachtung der Zuständigkeit des Parteivorsitzenden vorbereitet worden. Ich hatte vor der französischen Wahl und dem Wahlsieg Jospins ein gemeinsames Papier mit Lionel Jospin in Le Monde veröffentlicht. Weil wir vor dem Wahlsieg Jospins freundschaftlich zusammengearbeitet hatten, war es für Jospin selbstverständlich, auch nach seinem Wahlsieg diese Zusammenarbeit fortzuführen. Unsere französischen Freunde hatten daher große Hoffnungen, als wir in Bonn an die Regierung kamen. Ein sozialistischer Premier im Matignon und ein deutscher Sozialdemokrat im Kanzleramt, das schien vielen Mitgliedern der Parti Socialiste die beste Voraussetzung dafür, das soziale Europa endlich voranzubringen. Doch auf die Aufbruchsstimmung folgte die große Enttäuschung. Das gemeinsame Papier von Schröder und Blair wurde in Paris mit viel Misstrauen aufgenommen. Es war ein Sammelsurium von Allgemeinplätzen und eine schlechte Wiedergabe der in Europa seit langem bekannten Thesen von Anthony Giddens. Es beschäftigte sich im wesentlichen mit der Wirtschaftspolitik und erhob den Anspruch, eine neue angebotsorientierte politische Agenda für die Linke vorzulegen. Jeder konnte aus dem Papier herauslesen, was er wollte. Das Papier wurde in Deutschland als Absage an die Politik verstanden, mit der die SPD die Wahlen gewonnen hatte. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach schrieb: »Die Sozialdemokraten Europas sollen offensichtlich in einen Taumel des Neuen, Modernen, der Anpassung und der Fle xibilität hineingetrieben werden. Neu gegenüber wem? Modern, wie? Angepasst, an was? Flexibel, warum? Solche Fragen werden gebetsmühlenartig mit dem Hinweis auf objektiv veränderte Bedingungen, wirtschaftliche und sozia le Veränderung, den immer rascheren ökonomischen Wandel, neue Technologien und immer raschere Globalisierung beantwortet. Wie Naturereignisse oder Schicksalsschläge registriert man sie. Dass sie Folge fehlgeleiteter Politik oder Gegenstand politischer Umsteuerung sein könnten, kommt den Autoren nicht in den Sinn.« Wieder einmal wurde die künstliche Debatte von -Modernisierern« und »Traditionalisten« in Deutschland hochgekocht - wobei die Hauptakteure in Politik und Medien durch totale Unkenntnis der Fakten glänzten. Blair hat viele neoliberal klingende Reden gehalten, aber keine neo-liberale Politik gemacht. Vielmehr hat er zunächst die größeren Unternehmen höher besteuert so wie wir in Deutschland zu Beginn der Regierungsarbeit. Er hat ein staatlich finanziertes Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Bildung, Gesundheit und Infrastruktur gehörten zu den Prioritäten bei Tony Blair und Gordon Brown. Die Schulklassen waren viel zu groß, die Wartelisten für Operationen wurden immer länger, und die marode Londoner U-Bahn war zum öffentlichen
Sicherheitsrisiko verkommen. Das Finanzministerium sprach von einer Tradition der Unterinvestition im Staat. Die Modernisierung des Schul- und Gesundheitswesens und der öffentlichen Infrastruktur war daher das erklärte Ziel der Labour-Regierung. Blair hat die Ausgaben für Gesundheit und Bildung erhöht. Er hat die Rechte der Gewerkschaften in den Betrieben wieder leicht verbessert, einen proeuropäischen Kurs eingeschlagen und sich für die europäische Sozialcharta ausgesprochen. Ein Gesetz der Regierung Major hat er übernommen. Darin ist geregelt, dass Jahr für Jahr der Benzinpreis angehoben wird, um andere Steuern und Abgaben zu senken. Die Benzinpreise in England sind die höchsten in der Europäischen Gemeinschaft, und sie würden in Deutschland ein großes Geschrei heraufbeschwören. Die selbsterklärten »Modernisierer« Deutschlands würden sagen, der Untergang des Wirtschaftsstandorts Deutschland stehe unmittelbar bevor. Trotz dieser Abkehr von der Politik Maggie Thatchers und John Majors mehren sich mittlerweile die Stimmen, die nach den Ergebnissen der Politik von New Labour fragen. Unter der Überschrift »Der Leichtfuß aus der Downing Street gerät kräftig ins Stolpern« schreibt das Handelsblatt am 20. Juli 1999: »Mit der Ablieferung der Ergebnisse hapert es jedoch. Die Modernisierung des staatlichen Gesundheitswesens kommt nicht recht voran, die Warteschlangen vor den Krankenhäusern sind kaum kürzer geworden. Überall fehlen Ärzte und Schwestern. Das demoralisierte Personal klagt über schlechte Bezahlung und hohe Arbeitsbelastung. Ähnlich trist sieht es in den Schulen aus. /war versucht die Regierung entschlossen, höhere Lehrstandards durchzusetzen, scheitert damit jedoch oft an der Lethargie der Lehrer oder an den zu großen Klassen. Völlig desolat ist die Lage im öffentlichen Personenverkehr. Die privatisierte Eisenbahn ist nach Aussage des zuständigen Transportministers John Prescott eine „nationale Schande“ Veraltete Züge und Gleisanlagen, überfüllte Wagen und große Verspätungen bestimmen nach wie vor das Bild. Die Londoner U-Bahn steht aus ähnlichen Gründen vor dem Zusammenbruch. Wer dem Chaos entfliehen will, muss sich ebenfalls anstellen: Das von Siemens installierte Computersystem der nationalen Passstelle war dem Ansturm der Urlauber nicht gewachsen - ein Fiasko für die von Blair propagierte >public private partnership<.« Sollen wir nach diesem Bild das »moderne Deutschland« schaffen? Inzwischen warnt Ärztepräsident Prof. JörgDietrich Hoppe im Streit um die Gesundheitsreform vor englischen Verhältnissen. Das SchröderBlair-Papier wurde zudem von Leuten verfasst, die Giddens' Modernisierungsvorschläge nur unzureichend verarbeitet hatten. Vier Vorschläge der Modernisie rung kennzeichnen seine Arbeit. Erstens, die Globalisierung verlangt eine stärkere internationale Zusammenarbeit der Nationalstaaten. Davon war im Schröder-Blair-Papier so gut wie nicht die Rede. Dabei hatte Anthony Giddens in seinem in Deutschland 1999 erschienenen Buch Der dritte Weg ausdrücklich gegen den weltweiten Marktfundamentalismus gewettert und erklärt: •• Die Regulierung der Finanzmärkte ist seit der Mexiko-Krise und den darauf folgenden Schwierigkeiten in Südostasien zum allerdringendsten Problem geworden. Auch hier ist Reregulierung nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Und ein weltweiter freier Handel bedarf eher der Regulierung als des Verzichts auf Regulierung.« Er analysiert richtig, dass von den täglichen Devisengeschäften im Wert von 1 Billion Dollar nur 5 Prozent mit Handel zusammenhängen. Die anderen 95 Prozent, so schreibt er, sind Spekulationen und ArbitrageGeschäfte, weil Händler, die große Summen bewegen, schnelle Profite im Gefolge von Wechselkursschwankungen und Zinsgefälle machen wollen. Diese Aktivitäten verzerren die Signale, die Märkte den langfristigen Finanzierungsinstrumenten und dem Handel vermitteln. Es wäre gut gewesen, wenn insbesondere Blair, der einige Monate vorher die Reform der Bretton-Woods-Institutionen gefordert hatte, in diesem Papier daraufgedrängt hätte, die se wichtige Frage zumindest zu erwähnen. Problemlos hätte hier der in Le Monde und in der Zeit veröffentlic hte Aufsatz von Strauss-Kahn und mir herangezogen werden können. Neben der internationalen Zusammenarbeit sieht Giddens die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft als eine große Aufgabe der Modernisierung an. Die Mitarbeiter von Blair und Schröder formulierten dazu in ihrem Papier Belangloses. Das dritte große Projekt der Modernisierung ist nach Giddens die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft. In dem Schröder-Blair-Papier steht nur Dürftiges wie: »Wir müssen Verantwortung für die Umwelt mit einem modernen marktwirtschaftlichen Ansatz verbinden. Was den Umweltschutz anbelangt, so verbrauchen die neuesten Technologien weniger Ressourcen, eröffnen neue Märkte und schaffen Arbeitsplätze.« Das vierte Projekt von Giddens ist die Modernisierung des Sozialstaats, wobei er die skandinavischen Ansätze einer aktiven Arbeitsmarktpolitik übernommen hat. »Back to work« heißt die englische
Formel, was bedeutet, Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen bereitzustellen, um Arbeitslosen neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu geben. Das Papier wäre im Grunde genommen nicht der Rede wert, wenn es nicht der modischen Debatte entgegengekommen wäre, die die deutsche Öffentlichkeit schon seit fahren beschäftigt. Zu Recht sagte der Vorsitzende der Jungsozialisten, Benny Mikfeld, das Papier sei eine Aneinanderreihung von soziologischen Banalitäten und gemäßigt neoliberaler Polemik. Und für den DGB erklärte Heinz Putzhammer, dass die Autoren die erforderliche Modernisie rungsdebatte mit einer historisch blinden Diffamierung des Sozialstaats begonnen hätten. Ralf Dahrendorf sprach von einem inhaltsleeren Dogmatismus voller glänzender, aber hohler Wörter, die nicht mehr erkennen ließen als den Willen zur Macht. Blair und Schröder mussten bei der Europawahl große Verluste hinnehmen, während der »Traditionalist« Jospin gewann. Roger De Weck höhnte in der Zeit: »Der Franzose schafft Vertrauen, während der Deutsche und der Brite inzwischen ein glamourös entzaubertes Medienpaar bilden, wie Claudia Schiffer und David Copperfield. Sie treten immer mal gemeinsam auf, aber wo ist die Substanz?« DieZeit machte sich lustig, indem sie Teile des Godesberger Programms unter der Überschrift »Geheimpapier der SPD« abdruckte: »Ein wesentliches Kennzeichen der modernen Wirtschaft ist der ständig sich verstärkende Konzentrationsprozess (Stichwort: Fusionen!). Die Großunternehmen bestimmen nicht nur entscheidend die Entwicklung der Wirtschaft und des Lebensstandards, sie verändern auch die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft. Wer in den Großorganisationen der Wirtschaft die Verfügung über Millionen werte und über Zehntausende von Arbeitnehmern hat, der wirtschaftet nicht nur, der übt Herrschaftsmacht über Menschen aus; die Abhängigkeit der Arbeiter und Angestellten geht weit über das Ökonomisch-Materielle hinaus... Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluss auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht. Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheit und Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft sind. Die Bändigung der Macht der Großwirtschaft ist darum zentrale Aufgabe einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik. Staat und Gesellschaft dürfen nicht zur Beute mächtiger Interessengruppen werden ... Gemeineigentum ist eine legitime Form der öffentlichen Kontrolle, auf die kein moderner Staat verzichtet. Sie dient der Bewahrung der Freiheit vor der Übermacht großer Wirtschaftsgebilde. In der Großwirtschaft ist die Verfügungsgewalt überwiegend Managern zugefallen, die ihrerseits anonymen Mächten die nen. Damit hat das Privateigentum an den Produktionsmitteln hier weitgehend seine Verfügungsgewalt verloren. Das zentrale Problem heißt heute: wirtschaftliche Macht.« Das war die richtige Antwort auf dieses dünne Papier, das im Grunde genommen normalerweise unter modischem Schnickschnack abgetan worden und im Papierkorb gelandet wäre. Ausgerechnet in einer Zeit, in der ein neuer sozialdemokratischer Politikentwurf, eine Weltinnenpolitik notwendig wäre, wird die Selbstbeschränkung der Politik gefordert. Giddens hatte gerade erklärt, die Globalisierung erfordere nicht weniger, sondern mehr Politik. Jospin distanzierte sich von dem Papier. Unter dem Jubel seiner Parteifreunde sagte er: »Wir sind anders, weil wir uns selbst treu sind. Wir gehen als moderne Linkspartei unseren eigenen Weg.« Dabei konnte er es sich nicht verkneifen, auf die besseren Wirtschaftsdaten in Frankreich hinzuweisen. Im Juli 1999 schrieb das sozialistischer Umtriebe unverdächtige Manager-Magazin: »Es scheint, als könne der deutsche Kanzler von den Rezepten der Pariser Genossen manches lernen. Als vorübergehenden Ausreißer lässt sich der Höhenflug kaum mehr klein reden ... Vergangenes Jahr wuchs Frankreichs Wirtschaft so kräftig wie seit 1989 nicht; 1999 dürfte die Rate zum zweiten Mal in Folge um einen hinkt höher liegen als in Deutschland. Besonders beeindruckend fällt die Bilanz auf dem Arbeitsmarkt aus. Hierzulande sind derzeit gut 300000 Menschen weniger beschäftigt als 1994. Beim Nachbarn hingegen kamen in diesen fünf Jahren 750 000 Jobs hinzu... Im Prinzip setzt Jospin, ähnlich wie Rot-Grün in Bonn, auf soziale Gerechtigkeit oder eine stärkere Nachfrage. Gestiegen sind seit i 997 neben dem Mindestlohn auch die Beamtenpensionen und das Schulgeld. Um die staatliche Schuldenaufnahme zu senken, hob die Regierung Unternehmenssteuern an; für einen Teil der Sozialabgaben müssen seit 1997 auch Selbständige und Anleger aufkommen ... Bei der Konsolidierung des Staatshaushalts verzichteten sie auf allzu harte Einschnitte. Gerade in diesem bedächtigeren Kurs sehen Beobachter allerdings auch ein Erfolgsgeheimnis.«
Wem müssen da nicht die Ohren klingen? Nach meinem Ausscheiden aus der Regierung ließ auch die Zusammenarbeit zwischen Dominique Strauss-Kahn und Hans Eichel zu wünschen übrig. Die Franzosen gewannen den Eindruck, dass wieder kritiklos neoliberale angebotspolitische Positionen übernommen wurden und Hans Tietmeyer wieder das Sagen hatte. Zum deutsch-französischen Verhältnis schrieb das Handelsblatt: »Der Europawahlkampf treibt seltsame Blüten. Ende Mai versammelten sich die sozialdemokratischen Regierungschefs in Paris, um für ein soziales Europa<< zu werben. Gastgeber Jospin, Kanzler Schröder und Premier Blair machten in Harmonie. Eine Woche später der erste Paukenschlag: Beim EU-Gipfel in Köln fiel das soziale Europa unter den Tisch - der Beschäftigungspakt wurde ausgehöhlt. Und nun der dritte Akt: Schröder und Blair outen sich als radikale Liberale, die die Wirtschaft von staatlichen Fesseln befreien wollen. Beschäftigung ist kein Thema mehr, Europa wird liberal und erst danach - vielleicht - sozial. Eine derart rasante und waghalsige ideologische Wende hat es wohl noch nie gegeben. Die Sache hat nur einen kleinen Haken: Der Kanzler macht sich bei Wählern und Partnern im In- und Ausland unglaubwürdig. Es ist einfach nicht seriös, im Herbst 1998 gegen >soziale Kälte< zu Felde zu zie hen, um im Frühjahr 1999 die Sozialdemokratie zu verabschieden. Eine erste Konsequenz dieser unseriösen, auf Showeffekte reduzierten Politik dürfte eine empfindliche Abkühlung des deutschfranzösischen Verhältnisses sein.« Auch die Grünen-Minister in der Regierung Schröder agierten im Hinblick auf Frankreich nicht gerade glücklich. Fischers berechtigte Forderung nach einem Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen wurde von der Nuklearmacht Frankreich ungnädig aufgenommen. Und Trittins undiplomatischer Auftritt Mitte Januar 1999 in Paris provozierte einen Aufschrei der Empörung. Seine Ankündigung, Deutschland wolle die Verträge von La Hague unter Berufung auf höhere Gewalt kündigen, ohne einen Franc Entschädigung zu zahlen, brachte das Fass beinahe zum Überlaufen. Zu den Verstimmungen, die die Politik hervorrief, kamen Verstimmungen, die durch Entscheidungen bewirkt wurden, die nicht direkt in ihrem Einflussbereich liegen. Ich denke an das Hin und Her bei den Verhandlungen zwischen der DASA und der Aerospatiale, an die Vereinbarung zwischen den Finanzplätzen Frankfurt und London und an die Verhandlungen zwischen der Deutschen Telekom und der France Telecom. Selbst bei der Fusion von Hoechst mit dem französischen Pharmakonzern RhönePoulenc war von Quasi-Annexion die Rede. Die Franzosen beschwerten sich, dass für einen gemeinsamen Aufklärungssatelliten von Bonn kein Geld zur Verfügung gestellt werde. Umgekehrt meinte Fischer während der Verhandlungen von Rambouillet, dass er von den Franzosen und Briten ausgetrickst werde. Wie auch immer man die einzelnen Vorgänge bewertet: Die Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen ist mit schweren Nachteilen für Europa verbunden. Ob man der angelsächsischen oder der französischen Kultur den Vorzug gibt, ist uninteressant. In der Außenpolitik zählen nüchterne Abwägung und die klare Definition des eigenen Interesses. Kein Land ist so auf den Fortschritt der europäischen Einigung angewiesen wie Deutschland. Wir können die europäische Einigung nur im Zusammenwirken mit Frankreich vorantreiben. Großbritannien wird auf absehbare Zeit noch eine Sonderrolle spielen. Dabei hatte es so gut angefangen. Dominique Strauss-Kahn und ich hatten uns klar zur Notwendigkeit einer europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik geäußert. »Europa hat sich nun auf eine der ehrgeizigsten Unternehmungen seiner Geschichte eingelassen, die Schaffung des Euro als einheitliche Währung. Er verschafft uns neue Möglichkeiten, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zu fördern, den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen und zur finanziellen Stabilität und Entwicklung in der Welt beizutragen... Wir lassen die Stabilität aber nicht als Entschuldigung dafür gelten, dass die Regierungen und die Notenbanken ihre Rolle bei der Konjunktursteuerung und ihre Verantwortung für Beschäftigung übersehen ... Der Arbeitslosigkeit muss • auf europäischer Ebene begegnet werden durch die Schaffung eines wachstumsorientierten makroökonomischen Umfelds und durch bestmögliche Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien; • auf internationaler Ebene, indem wir, auf der Einführung des Euro aufbauend, zusammen mit unseren G-7-Partnern die Weltwirtschaft bei nachteiligen Schockeinwirkungen stabilisieren. In antiquierten Debatten werden die Verfechter von Strukturreformen immer noch in Gegensatz zu den Befürwortern makroökonomischer Steuerung gesetzt. Dies lenkt lediglich von den vor uns liegenden politischen Aufgaben ab, da eine erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine Doppelstrategie erfordert:
• Wir brauchen einen geeigneteren makroökonomischen policy mix, um ein nichtinflationäres Wirtschaftswachstum zu unterstützen und ein Klima des sozialen Friedens aufrechtzuerhalten. Dies verlangt eine optimale Kombination aus Lohn- und Einkommensentwicklung, Geldpolitik und Haushaltskonsolidierung. Das zwanghafte neoliberale Beharren auf der Deregulierung des Arbeitsmarkts hat mehr zur Blockierung der Reformen beigetragen als zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Wir sind überzeugt, dass das soziale Modell Europas ein Plus und kein Minus darstellt ... Des weiteren ist ein neuer transatlantischer Dialog erforderlich. Der Euro und der Dollar werden zusammen den Großteil der weltweiten Finanztransaktionen abdecken. Das bedeutet, dass die Wechselkursentwicklungen zwischen Dollar und Euro die Weltwirtschaft bestimmen werden ... Wir müssen innerhalb der Euro11-Gruppe die Wechselkursentwicklungen überwachen und eine kohärente Haltung formulieren. Wir sollten auch in der Lage sein, diese Haltung den Märkten gegenüber gemeinsam zu vertreten und erforderlichenfalls von den vertraglichen Bestimmungen Gebrauch machen, die die Möglichkeit vorsehen, allgemeine Leitlinien für die Wechselkurse herauszugeben. Dies ist im Rahmen der Einführung des Euro von besonderer Bedeutung: Marktteilnehmer sollten wissen, dass wir eine übermäßige Aufwertung des Euro nicht begrüßen... Wir sollten uns gemeinsam für Wechselkurssysteme mit den Schwellenländern in Asien, Lateinamerika sowie Mittel- und Osteuropa einsetzen, die sich durch eine ausgewogene Mischung aus Flexibilität und Disziplin auszeichnen, wie sie für ihre Entwicklung notwendig ist. Die Europäische Union sollte die Zusammenarbeit mit neuen Beitrittskandidaten im Währungsbereich ausbauen.« Wir, das waren Carlo Ciampi, Dominique Strauss-Kahn und ich, waren wie Helmut Schmidt der Meinung, »dass der Internationale Währungsfonds (IWF) allzu stark unter den Einfluss des amerikanischen Finanzministeriums und der Wall Street geraten war«. Daher schmiedeten wir Pläne, das Abstimmungsverhalten unserer Länder in den Bretton-Woods-Institutionen, insbesondere im Internationalen Währungsfonds, zu bündeln. Das wäre eine große Veränderung. So könnten die Europäer verhindern, dass der Währungsfonds dazu eingesetzt wird, um vor allem die Risiken amerikanischer Anleger mit öffentlichen Mitteln abzudecken. Wie richtig wir mit dieser Idee lagen, bestätigte Werner Meyer-Larsen im Juli 1999 im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt, als er den neuen amerikanischen Finanzminister Larry Summers porträtierte: »In ihrem wirtschaftspolitischen Credo unterscheiden sich die beiden, Rubin und Summers, nicht einmal nuancenhaft: offene Grenzen für den Kapital- und Güterverkehr, Deregulierung und Abbau nationaler Bürokratien, jedoch leistungsfähige internationale Institutionen. Weltbank und Weltwährungsfonds betrachten sie unisono als Organe amerikanischer Globalpolitik, jedenfalls solange sie ein europäisches Management dieser Art weder sehen noch ernst nehmen können. Einer wie Lafontaine hatte ihnen gerade noch gefehlt.« Rubin und Summers hatten sehr wohl erkannt, dass Dominique Strauss-Kahn und ich dabei waren, ihrer einseitig die amerikanischen Interessen berücksichtigenden Politik ein Gewicht entgegenzusetzen. Wir hatten unter Hinzuziehung Gordon Browns vereinbart, unsere Fiskalpolitik besser zu koordinieren. Zumindest Ciampi, Strauss-Kahn und ich hielten von der Weisheit des von den konservativen Regierungen durchgesetzten Stabilitätspakts wenig. Auch der italienische Premier Massimo d'Alema hatte sich dahingehend geäußert. Konsolidieren kann man nur im Wachstum. Wer bei zurückgehender Konjunktur konsolidiert, wird scheitern. Es gibt weltweit kein Beispiel dafür, dass es gelungen wäre, bei zurückgehender Konjunktur die Haushalte durch verschärfte Sparprogramme zu konsolidieren. Auf einem deutsch-französischen Kolloquium in Saarbrücken hatte ich nach meinem Ausscheiden aus dem Amt darauf hingewiesen, dass es ein Unding ist, dass sich auf einem deutsch-französischen Gipfel die Teilnehmer nicht in der jeweils anderen Sprache verständigen können. Entweder benötigen sie einen Dolmetscher, oder sie unterhalten sich in gebrochenem Englisch. Zwar gibt es Ausnahmen wie Roland Dumas, Pierre Chevenement und Dominique Strauss-Kahn, die sehr gut Deutsch sprechen. Aber auf unserer Seite sieht es eher noch dürftiger aus. Nichts erschließt einem nach meinen Erfahrungen die Kultur eines Landes so sehr wie die Sprache. Es wäre daher notwendig, gemeinsame deutsch-französische Institutionen zu schaffen, um Führungseliten auszubilden, die besser für die deutsch-französische Zusammenarbeit gerüstet sind. Eine wirkliche deutsch-französische Universität oder Forschungsinstitute, die hälftig von Deutschen und Franzosen bestückt sind, würden helfen. Ich würde sogar so weit gehen, eine deutsch-französische Ecole Nationale d'Administration zu gründen, in der nach dem Muster der ENA administratives und
politisches Führungspersonal beider Länder ausgebildet wird. Ein Neubeginn der deutschfranzösischen Zusammenarbeit, wie er in Potsdam noch euphorisch auf dem Papier gefordert wurde, ist dringend erforderlich, um die Dinge in Europa voranzubringen. Zum vieldiskutierten Schröder-Blair-Papier schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Was Schröder wohl mehr als Blair zu fürchten hat, ist der Sozialdemokratismus des Volkes. Die weitverbreitete Wut über die Beschneidung der kleinen Freiheit der 630-Mark-Jobs sollte nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass die Deutschen in ihrer Mehrheit wild seien auf die große Freiheit des postsozialstaatlichen Zeitalters. Die wird kommen. Dass Sozialdemokratie das nicht verhindern kann und klugerweise auch den Versuch dazu unterlassen sollte, haben Blair und Schröder ausgesprochen. Die mächtigsten Führer der europäischen Sozialdemokratie haben das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters ausgerufen. Das Zeitalter aber lässt sich Zeit, diesem Ruf zu folgen.« Die Wahlen in Bremen und die Europawahlen haben gezeigt, dass Schröder und Blair den Sozialdemokratismus des Volkes zu fürchten haben. Schon bei den Wahlen in Bremen verlor die SPD, gemessen an der Bundestagswahl, 7,6 Prozent. Weil sie vorher aufgrund einer Abspaltung noch schlechter abgeschnitten hatte, war die öffentliche Reaktion erstaunlich. Die SPD wurde als große Siegerin in Bremen gefeiert, und ich las in mehreren Zeitungskommentaren, dass die SPD wieder siegen könne. Bei dem Verlust von 7,6 Prozent - im Vergleich zur Bundestagswahl - in Bremen war aber vorauszusehen, dass die SPD bei der Europawahl, bei der die Mobilisierung der SPDWählerschaft traditionell schwach ist, um die 10 Prozent verlieren würde. Genauso ist es gekommen. Nach der verlorenen Europawahl las ich in den Zeitungen, Gerhard Schröder sei zu der Einsicht gekommen, dass wir durch die Erfüllung unserer Wahlversprechen bei Steuern, Kindergeld, Renten, Gesundheit, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung ökonomische Kompetenz verloren hätten. Gleichzeitig hatte der gewiefte Taktiker Wolfgang Schäuble in der Globalisierungsdebatte des Bundestags vom 16. Juni 1999 den Finger in die Wunde gelegt und darauf hingewiesen, dass Gerhard Schröder gegenüber Rentnern und Arbeitslosen Wahlversprechen brechen wolle. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung jammerte: »Das Gefecht, das sich daraus entwickelte, muss allerdings jeden, dem an einer durchgreifenden Modernisierung Deutschlands gele gen ist, in schiere Verzweiflung stürzen. Wenn Sozialdemokraten regieren, spielen die Bürgerlichen in der Opposition Sozialdemokratie: Die Union als Schutzmacht der kleinen Leute, Hüterin der heiligen Rente. Schäuble jedenfalls war am Mittwoch Lafontaine rhetorisch näher, als Schröder es war.« Die Wahlergebnisse und Meinungsbefragungen geben Wolfgang Schäuble recht. Der Sozialdemokratismus ist dem Volk einfach nicht auszutreiben.
Internationale Finanzpolitik
Die in den achtziger Jahren durchgeführte Liberalisierung der weltweiten Kapitalmärkte war eine politische Entscheidung. Es ist wichtig, das festzustellen, weil oft so getan wird, als sei diese Entwicklung gottgegeben. Es wurde immer mehr /ur Mode, Entscheidungen gegen die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Satz zu begründen: »Wer nicht so handelt, den bestrafen die Märkte.« Gemeint sind die internationalen Finanzmärkte. Eine Revolution hatte sich vollzogen: Das (leid wurde international nicht mehr umgetauscht, um den Warenverkehr oder die Investitionen zu finanzieren, sondern um kurzfristig spekulative Gewinne zu machen. Ein weltweites Spielcasino war eröffnet. In diesem Casino verspielten die Leute aber nicht, wie im normalen Spielcasino, ihr eigenes Geld, vielmehr hatten sich insbesondere die Hedge- Fonds Geld von den Banken geliehen und setzten es international zu Zwecken der Spekulation ein. Wenn etwas schief ging, waren nicht nur die HedgeFonds dran, sondern auch die Banken, die das Geld gegeben hatten. Hedge- Fonds sind hochspekulative, auf makroökonomische Entwicklungen setzende Investmentfirmen, die in der Lage sind, kurzfristig mit Summen zu operieren, die weit über das Einlagekapital hinausgehen. Longterm Capital Management (LTCM), der Star unter den Hedge- Fonds, hätte im September 1998 beinahe das Weltfinanzsystem zum Einsturz gebracht. Im Spielcasino hatte LTCM besonders hoch gewettet. Auf der Basis einiger Milliarden US-Dollar Eigenkapital stand die Wette zeitweise bei 100 Milliarden US-Dollar. Als Russland im August 1998 zahlungsunfähig wurde, verloren seine Staatspapiere drastisch an Wert. LTCM und andere wurden zum Verkauf von sogenannten LongPositionen gezwungen, deren Preise in den Keller rutschten. Es entstand ein Teufelskreis sinkender Preise und kollabierender Bankenbilanzen. Praktisch alle großen Hedge- Fonds und alle großen Banken waren beteiligt. Es drohte ein Gau des internationalen Finanz- und Kreditsystems. Retter in der Not war die Amerikanische Zentralbank, die eine Reihe von Großbanken zwang, LTCM über Wasser zu halten. Rasche deutliche Zinssenkungen in den USA taten ein übriges. Als ich las, dass sich Alan Greenspan und Bob Rubin um die Bankenaufsicht stritten, hatte ich schnell eine Erklärung. Beide hatten erkannt, dass sich die amerikanische Bankenaufsicht nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte. Noch toller trieben es die Hedge- Fonds in Hongkong. Sie hatten sich organisiert und gegen den Hongkong-Dollar spekuliert. Die Branche spricht von organisierter Spekulation. Angesichts der Folgen dieses unverantwortlichen Handelns wäre es allerdings zutreffender, von organisierter Kriminalität zu sprechen. Die Krisen in Mexiko, Asien und anschließend Brasilien und Südamerika führten dazu, dass immer mehr Staatsmänner versicherten, sie wollten eine neue Weltfinanzarchitektur schaffen, in der solche Fehlentwicklungen vermieden werden sollten. Alan Greenspan, nicht so marktgläubig wie seine europäischen Kollegen, warnte schon vor Jahren vor einem irrationalen Überschwang der Märkte. Die meisten Anhänger der deregulierten weltweiten Finanzmärkte übersehen, dass auf diesen Märkten die Preisbildung nicht den Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage folgt. Vielmehr richtet sie sich nach Zukunftserwartungen und psychologischen Faktoren. Sie ist daher oft irrrational und führt zu großen wirtschaftlichen Verwerfungen. Seit auch das Prinzip des »Shareholder Value« die Vorstände der Banken vereinnahmt hat, vernachlässigen sie ihr klassisches Geschäft. Wer Renditen von 15 Prozent oder mehr anstrebt, kommt mit dem klassischen Bankgeschäft nicht aus. Er muss sich der Währungsspekulation zuwenden, um das schnelle Geld zu machen. Zu meinem Erstaunen beschäftigten sich die sozialdemokratischen Parteien wenig damit, was die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte für die Politik bedeutete. Auch ich hatte lange Jahre von dem Treiben auf den internationalen Finanzmärkten nicht den blassesten Schimmer, erst im Rahmen der Standort- und Globalisierungsdebatte begann ich mich genauer mit den Auswirkungen zu beschäftigen. Sozialdemokratische Politik wird in Zukunft nur noch möglich sein, erkannte ich, wenn sich die Funktionsweise der Weltfinanzmärkte ändert. Schon die Gründungsväter der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien wussten, dass eine Gesellschaft dann nicht gerecht ist, wenn die Gewinne privatisiert, die Verluste aber sozialisiert werden.
Genau das geschieht aber auf den internationalen Finanzmärkten. Ganz deutlich wurde das in der Mexiko-Krise. Insbesondere amerikanische Anleger hatten spekuliert, um hohe Renditen zu erwirtschaften. Als der Peso unter Druck geriet, wurden die mexikanischen Steuerzahler zur Kasse gebeten und der Internationale Währungsfonds zu Hilfe gerufen. Die Europäer, die ebenfalls Mitglied im Internationalen Währungsfonds sind, mussten mehr oder weniger abnicken, was die Amerikaner vorschlugen. Der Internationale Währungsfonds verwaltet aber nicht das Geld der Anleger, sondern das Geld der internationalen Völkergemeinschaft, das heißt das Geld der Steuerzahler. Mit ihrem Geld wurden die finanziellen Risiken der amerikanischen Anleger abgesichert und dramatische Konsequenzen für das amerikanische und internationale Bankensystem vermieden. Oder anders ausgedrückt: Die unverantwortliche Spekulation und die fahrlässige Kreditvergabe der Banken wurden mit Steuergeldern risikofrei gestellt. Hier wird deutlich, dass die zum Selbstzweck erhobene Deregulierung in der Aufhebung der Marktwirtschaft, das heißt in der Verstaatlichung des Risikos der Marktteilnehmer, endet. Ähnliches wie in Mexiko sollte sich in Asien wiederholen. Das hinter diesen Entwicklungen liegende politische Problem musste aber jeden Sozialdemokraten auf den Plan rufen. Es kann nicht angehen, dass international die Verluste der Geldanleger sozialisiert werden, während ihre Gewinne privatisiert bleiben. Diese Forderung kam interessanterweise auch von konservativen Privatbankern und Notenbankern, die schlicht und einfach erkannten, dass solche Entwicklungen nicht weiter hingenommen werden können. Der Chairman einer Londoner Bank schrieb mir dieser Tage: »Ich möchte Ihnen sagen, dass ich in meinem bisherigen beruflichen Leben immer Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte unterstützt habe. Ich habe alles getan, um dieses Konzept auf dem internationalen Finanzmarkt durchzusetzen. Auf der anderen Seite bin ich aber schockiert, wenn ich in den letzten fünf Jahren sehe, wie sehr dieses System durch rücksichtslose Spekulation missbraucht wurde, durch Marktteilnehmer, die nicht zögern, ganze Volkswirtschaften, Länder und deren Bevölkerung in die Krise zu stürzen. Gutmeinende Politiker, die Deregulierung und Liberalisierung unterstützen, unterschätzen total manche Auswirkungen des deregulierten weltweiten Finanzsystems. Obwohl ich überzeugt bin, dass die Allokation des Kapitals zu großen Teilen dem Markt überlassen werden muss, weiß ich, dass die sogenannte unsichtbare Hand ergänzt werden muss durch eine sehr sichtbare Hand der Regierung, um die Märkte wieder ms Gleichgewicht zu bringen.« Es wird schon seit längerem gefordert, die privaten Geldgeber an den Risiken zu beteiligen, aber diese Forderung wurde bis heute in der Praxis nicht umgesetzt. Die jüngsten Krisen in Asien, Lateinamerika und Russland haben nach Einschätzung der sieben Staats- und Regierungschefs und ihrer Finanzminister deutlich gemacht, dass die internationale Staatengemeinschaft ihre Verfahren zur Krisenvermeidung und -bewältigung verbessern und sie stärker an die Rahmenbedingungen offener Kapitalmärkte anpassen muss. Sie erklärten auf dem G-7-Gipfel 1999 auch: Die finanziellen Lasten schwerer Krisen wie in Südostasien und in Lateinamerika dürften nicht mehr länger nur von öffentlichen Finanzinstitutionen wie dem Währungsfonds oder der Weltbank und damit letztlich aus Steuermitteln bezahlt werden. Deshalb müsse die Erwartungshaltung privater Gläubiger dahingehend beeinflusst werden, dass sich diese mehr der eigenen Verantwortung ihrer Investitionsentscheidungen bewusst würden. Private Kreditvergabeentscheidungen müssten wieder stärker auf einer Einschätzung der potentiellen Risiken und Renditen einer Anlage beruhen und nicht auf der Erwartung, dass die öffentliche Hand im Zweifelsfall die Gläubiger vor nachteiligen Entwicklungen schützen werde. Geändert hat sich bisher aber so gut wie nichts. Eine Möglichkeit, die internationale Spekulation einzudämmen, besteht auch darin, den kurzfristigen Kapitalverkehr zu verlangsamen. Nicht Deregulierung ist das Gebot der Stunde, sondern Regulierung. Der Nobelpreisträger James Tobin hat daher vorgeschlagen, eine Steuer auf den kurzfristigen Kapitalverkehr zu erheben, um ihn einzudämmen. Chile beispielsweise reguliert den kurzfristigen Kapitalverkehr und hat damit gute Erfahrungen gemacht. In einer Reihe von Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen betonte ich immer wieder, dass in der Regulierung des kurzfristigen Kapitalverkehrs der Schlüssel läge, um der weitweiten Finanzspekulation Herr zu werden. Wurde ich anfänglich deshalb insbesondere von der angebotspolitischen Glaubensgemeinde noch heftig angefeindet, so konnte ich im Mai 1999 lesen, dass auch der amerikanische Finanzminister Bob Rubin und der Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer für eine Kontrolle des kurzfristigen Kapitalverkehrs plädieren. Die Kritik, die meine Vorstellungen in Deutschland erfuhren, ließen Objektivität und Sachlichkeit vermissen. Nirgendwo wurde das angebotspolitische Credo der Deregulierung so inbrünstig nachgebetet wie in Deutschland.
Die Frankfurter Allgemeine giftete, wir würden uns allmählich lächerlich machen. Richtig los gingen die Schmähungen erst, als wir zur Stabilisierung der Wechselkurse vorschlugen, Bänder- oder Zielzonen durch internationale Absprachen, insbesondere zwischen Dollar, Euro und Yen, einzurichten. Es schien fast so, als hätte es das europäische Währungssystem nie gegeben, in dem mit Erfolg Bänder- oder Zielzonen für die europäischen Währungen vereinbart worden waren. Dabei wurde die Herkunft dieses Vorschlags trickreich verschwiegen. Eine Kommission unter dem ehemaligen amerikanischen Notenbankpräsidenten Paul Volcker hatte 1994 Wechselkurszielzonen vorgeschlagen. In der Kommission saßen renommierte Finanzfachleute aus aller Welt, aus Deutschland beispielsweise der ehemalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl. Natürlich hatte die Kommission auch darauf hingewiesen, dass eine Annäherung der jeweiligen Wirtschaftspolitiken die Voraussetzung für stabilere Wechselkurse sei. Sie empfahl, auf nationaler Ebene durch abgestimmte Geld- und Finanzpolitik für nachhaltiges Wachstum, Preisstabilität und stabile Wechselkurse zu sorgen. Insbesondere eine keynesianische Finanzpolitik würde zu mehr Stabilität beitragen. Die Zusammenarbeit der Industriestaaten sollte auf internationaler Ebene verstärkt werden mit dem Ziel, eine größere makroökonomische Konvergenz zu erreichen. Mittelfristig müssten gemeinsame Wachstums- und Stabilitätsziele festgelegt werden. Dazu gehöre auch, die Asynchronität der Konjunkturzyklen zu beseitigen. Weil Bob Rubin und Alan Greenspan den Plänen der Volcker-Kommission skeptisch gegenüberstanden, berief man sich in Deutschland gerne auf die beiden, wenn man meine Vorschläge kritisierte. Interessant für mich war aber, dass auch auf dem G-7-Gipfel in Bonn im Februar 1999 die Amerikaner die Einführung von Zielzonen bei den Wechselkursen nicht so heftig ablehnten, wie das in Deutschland behauptet wurde. Schließlich hatten sie noch das Plaza- und das Eouvre-Abkommen im Kopf, die in eine ähnliche Richtung gingen und nicht zuletzt auf Wunsch Amerikas zustande gekommen waren. Greenspan und Rubin sprachen sich während der interessanten Diskussion eher für eine engere Zusammenarbeit der Notenbanken aus. Man solle sich aber vor öffentlichen Festlegungen hüten. Falls die Notenbanken intervenierten, müsste das überraschend geschehen. Öffentliche Festlegungen würden nur die Spekulationen anheizen. Diese Argumentation war für mich aufgrund der weltweit gemachten Erfahrungen überzeugend. Irritationen gab es, als im Jahreswirtschaftsbericht zu lesen war, die Bundesregierung strebe die Einführung von Wechselkurszielzonen nicht an. Ich konnte diese Textstelle nicht mehr korrigieren, weil der Jahreswirtschaftsbericht bereits gedruckt und veröffentlicht war. Der Bericht rief nach den Erklärungen der vorangegangenen Wochen Verwirrung hervor. Als ich die Fachleute aus dem Ministerium darauf ansprach, erklärten sie, dass unter Wechselkurszielzonen zu sehr ein Konzept der amerikanischen Ökonomen Fred Bergsten und John Williamson verstanden würde. Dieses komplizierte Konzept sollten wir uns aber ausdrücklich nicht zu eigen machen. Die Begründung war zwar fachlich nachvollziehbar, öffentlich aber schwer vermittelbar, so dass wir an dieser Stelle unnötig in die Defensive gerieten. Etwas besser sah es dann wieder aus, als sich der japanische Finanzminister Kiichi Miyazawa und sein Stellvertreter Eisuke Sakakibara zu unserem Konzept bekannten. Die Stabilisierung der Wechselkurse ist im übrigen auch ein Anlie gen der kleineren aufstrebenden Volkswirtschaften. Diese sind wirtschaftlich und politisch von den Entscheidungen der Finanzmärkte immer abhängiger. Im Juli 1999 war unter der Überschrift »Argentinischer Präsidentschaftskandidat verdirbt Stimmung Wall Street reagiert auf Diskussion über Schulden-Moratorium negativ« in der FAZ zu lesen: »Das hohe Niveau der amerikanischen Aktienkurse macht die Finanzmärkte derzeit selbst für kleinste Anzeichen schlechter Nachrichten sehr anfällig. So bedarf es nur einer einzigen wirtschaftspolitischen Äußerung des argentinischen Präsidentschaftskandidaten der Peronisten, Eduardo Duhalde, um die durch die guten Quartalsergebnisse amerikanischer Untenehmen eigentlich positive Grundstimmung an der Börse wieder zu verschlechtern. Wenn er die Wahl gewinne, wolle er zusammen mit dem Papst ein einjähriges Schuldenmoratorium für Argentinien durchsetzen, hatte der Kandidat gesagt. Wall Street erinnerte sich daraufhin daran, dass die Vereinigten Staaten ein Fünftel ihres Außenhandels mit Lateinamerika abwickeln und Argentinien die drittgrößte Volkswirtschaft in der Region ist. In einer ersten Reaktion wurden vor allem die Aktien der Banken, die viele Geschäfte in Lateinamerika tätigen, mit einem Risikoabschlag versehen.« Gleichzeitig meldeten die Agenturen, dass Goldman-Sachs die beiden argentinischen Präsidentschaftskandidaten und ihre voraussichtlichen Wirtschaftsminister nach New York eingeladen hatte, um die Investoren zu beruhigen. Aber ist es wirklich die Aufgabe einer Wall-Street-Firma, die
argentinischen Präsidentschaftskandidaten in New York zu präsentieren und ihnen klarzumachen, dass der zukünftige Präsident Argentiniens gut daran täte, auf die Meinung der Wall Street Rücksicht zu nehmen? Ich konnte mir nicht helfen. Als ich diese Nachricht las, tauchte vor meinein geistigen Auge das Gesicht von Bob Rubin auf, der, cool wie immer, lächelte. Er war Chairman von Goldman-Sachs, bevor er amerikanischer Finanzminister wurde. Der eigentliche Grund für die von Bob Rubin geförderten Bemühungen der Wall Street ist die Tatsache, dass der Boom der Konsumnachfrage in den USA wesentlich auf die zu hoch bewerteten Aktien zurückzuführen ist. Es besteht daher in den Vereinigten Staaten ein breiter Konsens zwischen Regierung, Zentralbank und politischen Parteien, alles zu unterlassen, was den Höhenflug des Dow Jones abrupt beenden konnte. Interessant ist, dass nicht nur die Demokraten, die schon immer von der Wall Street finanziert wurden, diese Politik unterstützen, sondern auch die Republikaner. Diese wurden traditionell von der Industrie finanziert. Seit aber das Shareholder-Value-Denken in der Industrie dominiert und die Gehälter der amerikanischen Industriebosse an den Shareholder Value gekoppelt sind, müssen auch die Republikaner auf die Interessen der Wall Street Rücksicht nehmen. Die Süddeutsche Zeitung schreibt unter der Überschrift •Der gekaufte Präsident«: »Es wäre naiv zu glauben, dass ein Kandidat oder eine Partei Millionen sammelt, um anschließend nur die eigenen Ideale und Programme zu verfechten ... Ein Wahlkampf, der auf Dollar gebaut ist, lässt dem zukünftigen Präsidenten der USA gar keine andere Wahl, als sich später erkenntlich zu zeigen. Den Preis zahlen letztlich die Bürger, und er wird immer höher.« Hinzuzufügen ist, dass den höchsten Preis die Bürger der Länder zahlen, die die Hauptleidtragenden der internationalen Finanzkrisen sind: die Bürger Südostasiens, Russlands und Südamerikas. Die Diskussion über die Wechselkurse zwischen Dollar, Euro und Yen sollte wenige Wochen nach meinem Rücktritt wieder aktuell werden. Die deutsche Glaubensgemeinde jammerte gerade darüber, dass der Euro zu schwach werde, obwohl unsere Exportwirtschaft von dieser Entwicklung erheblich profitierte, da lasen wir, dass die japanische Notenbank am Devisenmarkt intervenierte. Der Schritt wurde von Eisuke Sakakibara damit begründet, dass ein zu starker Yen die konjunkturelle Erholung Japans erheblich gefährde. Die Japaner, so schien es, hatten sich ein Wechselkursziel vorgegeben. Der Yen-Kurs sollte gegenüber dem Dollar bei 120 Yen gehalten werden. Im September stieg der Kurs des Yen zum Dollar weiter, da die Anleger auf eine Erholung der japanischen Wirtschaft setzten. Die japanische Zentralbank intervenierte erneut. Mit klammheimlicher Freude beobachtete ich, wie die Mitglieder der Europäischen Zentralbank sich in Widersprüche verwickelten, als sie gefragt wurden, ob sie bei ihrer Geldpolitik auch ein Wechselkursziel verfolgten. Denn gerade die Europäische Zentralbank hatte besonders heftig die Überlegungen des deutschen Finanzministers zu Wechselkurszielzonen kritisiert. Natürlich ist es richtig, wenn gesagt wird, die Notenbank müsse in erster Linie die Preisstabilität im Inneren sichern. Aber genauso klar ist, dass sie überschießenden Reaktionen der Finanzmärkte, die negative wirtschaftliche Folgen haben, nicht tatenlos zusehen kann. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Europäische Zentralbank einräumen musste, dass ihr der Wechselkurs nicht völlig gleichgültig sein kann. Im Juni 1999 wurde das dann auch deutlich. Die Europäische Zentralbank bestätigte, dass sie auf Bitten der japanischen Zentralbank in das Marktgeschehen eingegriffen hatte. Sie hatte Euro gekauft und Yen verkauft, so dass sich der Kurs des Yen von 123 auf 12.5 Yen für einen Euro abschwächte. Am 21. Juli intervenierte die japanische Zentralbank erneut, um einen Kursgewinn des Yen zum Dollar /u verhindern. Auch die amerikanische Zentralbank griff ein und kaufte in Absprache mit der japanischen Zentralbank Dollar gegen Yen. Während der Pulverdampf der verbalen Schlachten über die Stabilisierung der Wechselkurse noch nicht verzogen ist, arbeiten die wichtigsten Zentralbanken vernünftigerweise zusammen, um die Wechselkurse zu stabilisieren. Nichts anderes hatten wir gefordert. Den größten Zorn der schreibenden Jünger des Neoliberalismus zog ich mir aber zu, als ich an ein Tabu rührte. Ich wagte es, Zinssenkungen der europäischen Notenbanken zu befürworten. Zwar hatten zuerst einige Chefvolkswirte deutscher Geschäftsbanken Zinssenkungen gefordert. Nachdem ich ähnlich argumentiert hatte, rückten sie davon ab und behaupteten, ich würde den Euro schwach reden. Dabei hatten sie richtig erkannt, dass bei der einbrechenden Exportnachfrage ein starker Euro nicht im europäischen Interesse liegen konnte, und sie hatten ebenfalls richtig erkannt, dass Zinssenkungen in der Regel nicht dazu führen, dass eine Währung stärker wird. Aber da ich der Buhmann der Orthodoxie geworden war, waren sich nun alle in dem Urteil einig: Oskar Lafontaine ist
schuld an der Schwäche des Euro. Dabei war der Euro-Kurs schlicht Ausdruck der realwirtschaftlichen Entwicklung in Amerika und in Europa. In Amerika brummte die Konjunktur, in Europa lahmte sie. In Amerika waren folglich die Zinsen höher und die zu erzie lenden Renditen damit attraktiver. Also gingen die Anleger lieber in Dollar als in Euro. Ein zusätzliches Argument lieferte kürzlich die Investmentbank Lehman Brothers: Die steigende Zahl von grenzüberschreitenden Unternehmensübernahmen und -Zusammenschlüssen beeinflusse zunehmend die Devisenkurse. Der Wechselkurs des Euro zum Dollar sei davon am stärksten betroffen und könne teilweise die derzeitige Schwäche des Euro erklären. Denn europäische Unternehmen erwerben mehr amerikanische Gesellschaften als umgekehrt. Erfolgt der Kauf in bar, so löse dies eine zusätzliche Nachfrage nach Dollar aus. Auch bei einem Erwerb durch Aktientausch werde die Währung beeinflusst. Denn durch die Ankündigung einer Übernahme wird das gekaufte Unternehmen für die Anleger meist attraktiver. Das zusätzliche Interesse an Aktien dieses Unternehmens löse weitere Kapitalströme aus, die die Devisenkurse veränderten. Nach meinem Rücktritt wurde der Euro kurzfristig etwas höher bewertet und fiel dann immer weiter. Als ich in Frankfurt Horst Ehmkes Buch Der Euro-Coup vorstellte, spottete ich über meine Gegner. Ich teilte dem Auditorium mit, ich sei nun völlig frustriert, dass der Euro trotz meines Rücktritts weiter falle. Mein Selbstwertgefühl sei schwer beschädigt. Ich hätte mich, ebenso wie meine Gegner, völlig überschätzt. Auf dem G-7-Gipfel im Februar 1999 in Bonn kam es zu zwei lustigen Episoden. Zunächst verstieg sich Hans Tietmeyer zu der Behauptung, nicht nur die Nominalzinsen, sondern auch die Realzinsen seien auf einem Rekordtiefstand. Der Leitzins lag damals bei 3,3 Prozent. Ich widersprach ihm und bot ihm eine Wette an, denn ich hatte die Zinskurven sehr wohl im Kopf. Wir hatten in früheren Jahren niedrigere Realzinsen. Unter dem Feixen und Grinsen der übrigen G-7-Teilnehmer sah sich Hans Tietmeyer nicht in der Lage, meine Wette anzunehmen. Es kam aber noch schöner. Wim Duisenberg hatte auf die Frage der Amerikaner, was in Europa getan werden könne, um die Binnenkonjunktur anzukurbeln, die übliche Antwort gegeben. Die Geldpolitik habe das Ihre getan, die Haushalte müssten konsolidiert werden, und die Arbeitsmärkte brauchten Strukturreformen. Da platzte dem kanadischen Finanzminister Paul Martin der Kragen. Er sagte, er höre hier immer wieder dieselbe Platte. Die Finanzminister würden sagen, wegen des europäischen Stabilitätspakts hätten sie keinen Spielraum, und die Geldpolitik würde sagen, sie habe alles getan, nur Strukturreformen auf den Arbeitsmärkten könnten weiterhelfen. Da die Amerikaner mit einer expansiven Finanz- und Geldpolitik ihre Konjunktur angekurbelt hatten, konnte sie die Argumentation von Tietmeyer und Duisenberg nicht überzeugen. Beide waren sichtlich in der Defensive. Kiichi Miyazawa, Dominique Strauss-Kahn und ich genossen die Situation. Auf der anschließenden Pressekonferenz deutete ich an, dass meine Position und die der Amerikaner nicht allzu weit auseinander lägen und dass insbesondere mein ständiges Plädoyer für eine Stärkung der Binnennachfrage in Europa von den Amerikanern ohne Einschränkung geteilt würde. Als Hans Tietmeyer dann aber die Weisheit von sich gab, dass die Erwartungshaltung der Investoren das Entscheidende sei, lächelten die Wirtschaftsjournalisten wieder glücklich, weil sie sich in ihrem Vorurteil bestätigt sahen und Tietmeyer es mir mal wieder so richtig gegeben hatte. Die Weisheit, dass derjenige, der irgendwo eine Kneipe oder einen Laden aufmacht, sich erst fragt, ob er genug kaufkräftige Kunden hat, ist der angebotspolitischen Glaubensgemeinde nicht zu vermitteln. Sie ist fest davon überzeugt, dass die Investoren Vertrauen schöpfen, wenn soziale Leistungen gekürzt werden, in den öffentlichen Haushalten gespart und Lohnzurückhaltung geübt wird. Auf europäischer Ebene ergab sich ein anderes Bild. Durch die Zusammenarbeit von Dominique Strauss-Kahn und mir hatten sich die beiden wirtschaftlich wichtigsten Länder der Euro-Zone von der Orthodoxie gelöst. Häufig berieten wir darüber, wie wir die Europäische Notenbank dazu bewegen könnten, nach dem Vorbild der amerikanischen Zentralbank eine expansive Geldpolitik zu machen. Wir versprachen brav, den Stabilitätspakt einzuhalten, um den Notenbankern kein Argument zu geben, die Zinsen nicht zu senken. Ende 1998 sprachen alle ökonomischen Daten für eine Zinssenkung. Nachdem meine Forderung nach Zinssenkung heftigst gescholten worden war, einigten sich die europäischen Notenbanken Ende Dezember auf einen Leitzins von 3,0. Ich hatte am selben Tag eine Reise nach Ottawa und Washington angetreten, um mit dem kanadischen Finanzminister Paul Martin und dem amerikanischen Finanzminister Bob Rubin erste Gespräche zu führen. Im Flugzeug sagte ich dann den mitreisenden Journalisten in Anlehnung an die idiotische Diskussion zum Stabilitätspakt: »3,0 ist 3,0 auch beim Leitzins.« Die Tatsache aber, dass entgegen den
lautstarken Bekundungen die Zinsen gesenkt worden waren und damit meine ökonomisch begründete Forderung bestätigt wurde, brachte mir, wie so oft, keine Freunde. Die Vertreter der Wirtschaftspresse, die vorher mit ihrem selbstbehaupteten höheren Sachverstand meine Zinssenkungsforderung als unbegründet zurückgewiesen hatten, teilten jetzt mit, dass sie schon immer dieser Meinung gewesen seien. Gle ichzeitig lauerten sie auf die nächste Gelegenheit, ihre Vorurteile und Abneigungen mir gegenüber zu pflegen. Obwohl mir die kindische Forderung, Finanzminister dürften sich zur Geldpolitik nicht äußern, um die Unabhängigkeit der Notenbank nicht zu gefährden, nicht im mindesten einleuchtete, suchte ich jetzt das Gespräch unter vier Augen. Wirn Duisenberg sagte ich, dass nach meiner Auffassung die Notenbank mehr tun müsse. In Amerika habe der kurzfristige Realzins im Konjunkturtief o betragen und nicht 2,3, wie die Europäische Zentralbank in ihrem Geschäftsbericht im März 1999 festgestellt hatte. Er sagte, dass die Notenbank, wenn die Konjunktur zurückginge und wenn für die Preisstabilität keine Gefahr bestünde, sicherlich etwas tun würde. Er hat sich mit der Entscheidung vom 8. April 1999, den Leitzins auf 2,5 Prozent zu senken, an diese Aussage gehalten. Die Europäische Notenbank wurde sofort von der deutschen Glaubensgemeinde kritisiert. Diese befürchtete, einen geldpolitischen Paradigmenwechsel nach dem Muster der amerikanischen Zentralbank. Dabei ist ein solcher geldpolnischer Paradigmenwechsel die Voraussetzung dafür, um in Europa die Arbeitslosigkeit abzubauen. Er müsste also nicht befürchtet, sondern herbeigesehnt werden. Mein Vorgänger Theo Waigel griff sofort zur Feder und schrieb: »Die EZB hat ihr Pulver verschossen. Der Geldpolitik könne nicht länger der Vorwurf einer konjunkturellen Bremse gemacht werden.« Es bleibt aber festzuhalten, dass auch ein realer Kurzfristzins von 1,6 Prozent immer noch nicht vergleichbar ist mit einem von o Prozent. Diesen hat die amerikanische Zentralbank zur Stimulierung von Wachstum und Beschäftigung in den Jahren 1992 und 1993 festgelegt. Zu dieser Zeit war die Arbeitslosigkeit in den USA und in Deutschland noch gleich hoch. Danach fiel sie in den USA, während sie in Deutschland immer weiter anstieg. Meine massive Kritik an der verfehlten Geldpolitik der Europäischen Zentralbanken unter der Führung der Deutschen Bundesbank wurde und wird in Deutschland immer noch als isolierte Meinung eines Einzelgängers dargestellt. Daher zitiere ich neben Paul Krugman einen Mann der Praxis, den Chefökonomen der amerikanischen Investmentbank Goldman-Sachs in London, Gavyn Davies. »Die Fed, die Europäische Zentralbank und wohl auch die Bank von Japan müssen sich ihrer globalen Verantwortung bewusst werden. Bisher sehen alle drei Notenbanken das nicht ein. Statt dessen konzentrieren sie sich lieber auf die Entwicklung zu Hause. Wenn die globalen monetären Bedingungen falsch gesetzt sind, kann es sein, dass die Fed zum Handeln gezwungen ist, obwohl sie das nicht möchte. Ich bin überzeugt, dass die globale Geldpolitik in den vergangenen drei Jahren zu restriktiv war... Die Bundesbank hat in den vergangenen zwei Jahren eine Geldpolitik gemacht, die viel zu restriktiv war. Sie hat sich nicht rechtzeitig auf die fallenden Inflationsraten eingestellt. Statt dessen hat sie den Kampf der siebziger und achtziger Jahre weitergeführt. Die Fed hat diesen Fehler nicht gemacht... Die EZB hat mich noch in einem anderen Punkt enttäuscht: Es mangelt ihr offenbar an Transparenz. Eine moderne Zentralbank sollte kein Geheimnis aus ihrer Politik machen. Genau das tut die EZB aber. Sie macht es uns daher schwer, sie in unsere Demokratien einzubetten.« Aber solange Wim Duisenberg für Aussagen wie: »Es ist ganz normal, dass Politiker hin und wieder ihre Auffassung über die Zinspolitik der Währungshüter äußern. Aber es ist ebenso normal, dass wir nicht darauf hören«, gefeiert wird, ist Hopfen und Malz verloren. Obwohl Wim Duisenberg von der Meinung der Politiker über die Geldpolitik nichts hält, bleibe ich dabei: Wim Duisenberg war als holländischer Finanzminister nicht dümmer als heute. Wo der Geldwert vor der Beschäftigung rangiert, ist die Notenbank wichtiger als die demokratisch gewählten Regierungen. Unter dieser »Stabilitätskultur« werden die europäischen Arbeitslosen noch lange zu leiden haben. Dass der ökonomische Verstand sich nicht völlig aus Deutschland verabschiedet hat, zeigt das IFOInstitut in seinem Bericht im Juli 1999. Es weist darauf hin, dass Impulse zur Festigung der Konjunktur in erster Linie von der Geldpolitik kommen, der niedrige Euro-Kurs den Export begünstigt und der Anstieg der Reallöhne die Binnenkonjunktur stärkt. Genau diese ökonomische Entwicklung haben wir in den ersten Monaten angestrebt. Im März 1999 schrieb das Handelsblatt: »Der Optimismus hat sich verfestigt... Getragen wird dieser positive Stimmungstrend der Konsumenten von der Erwartung, dass sich ihre Einkommenssituation in
den nächsten zwölf Monaten weiter verbessern wird... Sollte sich dieses im Augenblick gute Konsumklima in den nächsten Monaten fortsetzen, wird der deutsche Einzelhandel mit Sicherheit davon profitieren, denn in der Vergangenheit gab es immer einen statistisch abgesicherten Zusammenhang zwischen Konsumneigung und dem tatsächlichen Kaufverhalten der Bundesbürger.« Aber dann hieß es wieder: Nullrunden bei Renten und Löhnen und sparen, sparen, sparen bei den öffentlichen Haushalten. Neben der Geldpolitik war die Steuerpolitik zentrales Thema der Diskussion auf europäischer Ebene. Insbesondere Frankreich und Deutschland stimmten darin überein, dass eine weitere Steuerharmonisierung notwendig sei. Wir hatten einen für die europäischen Arbeitnehmer unhaltbaren Zustand erreicht. Die Steuern auf Geld, also auf Zinsen, auf Vermögen und auf Unternehmensgewinne tendierten im europäischen Steuersenkungswettlauf immer weiter nach unten. Die Lohnsteuern, Verbrauchssteuern und die Sozialabgaben hingegen gingen immer weiter in die Höhe. Die Arbeitnehmer waren die Verlierer des Steuersenkungswettlaufs in Europa, und die steuerliche Fehlentwicklung wirkte sich auch nachteilig auf die Konjunktur aus. Das steuerliche Durcheinander in Europa ist Anreiz zu massiver Steuerhinterziehung. Die deutschen Geschäftsbanken waren dabei zum Teil behilflich. Die Ermittler wurden fündig. Vorstandsmitglieder wurden verurteilt, und Banken mussten Geldbußen zahlen. Der Vertrag von Amsterdam war nicht weit genug gegangen. Man hätte die Steuerharmonisierung verbindlicher festschreiben müssen. Insbesondere die Nutznießer des Steuerdumpings, beispielsweise Luxemburg oder Irland, versuchen immer wieder, die Steuerharmonisierung zu verzögern. Am schlimmsten führten sich die Briten auf. Als ich die ökonomisch begründete Forderung nach Steuerharmonisierung vortrug, ernannte mich die SUN zum gefährlichsten Mann Europas. Etwas später wurden Dominique Strauss-Kahn und ich zusammen mit Joschka Fischer und dem belgischen Finanzminister Jean-Jacques Viseur als »Gauleiter« bezeichnet. Auf dieses Geschrei reagierte New Labour ziemlich hasenfüßig. Die Entwicklung wird zeigen, dass die englische Wirtschaft auf Dauer Schaden nimmt, wenn Großbritannien der Euro-Zone nicht beitritt. Entgegen der deutschen Diskussion bleibt auch festzuhalten, dass die englische Wirtschaft nach den Thatcher-Reformen zu den schwächsten der europäischen Gemeinschaft gehört. Im Kreis der europäischen Finanzminister wurden Dominique Strauss-Kahn und ich vor allem von Carlo Ciampi unterstützt, der als langjähriger Chef der italienischen Notenbank unsere wirtschaftspolitischen Überlegungen weitgehend teilte. Dieser Mann ist mir auch deshalb schnell sympathisch geworden, weil er charmant und humorvoll ist und menschlic he Wärme verbreitet. Nichts kennzeichnet die liebenswürdige Persönlichkeit des neuen italienischen Staatspräsidenten mehr als folgende kleine Episode, die in Europa erzählt wird: Als der französische Präsident Chirac mit den übrigen Regierungschefs stundenlang darüber stritt, wie lange die Amtszeit Wim Duisenbergs dauern und wann sein Favorit Claude Trichet Nachfolger Duisenbergs als Präsident der Europäischen Zentralbank werden solle, meldete sich Carlo Ciampi zu Wort. Alle blickten erstaunt auf ihn, was er denn jetzt zu diesem Konflikt Erhellendes beitragen könne. Und Ciampi entspannte die Diskussion, indem er sagte: »Nehmt doch mich, ich bin bereits 77.« Es war das Ziel von Dominique Strauss-Kahn, Carlo Ciampi und mir, die straffen Regeln des Stabilitätspakts nach den Gesetzen der ökonomischen Vernunft zu interpretieren. Der Stabilitätspakt war eine Kopfgeburt der angebotsorientierten Orthodoxie. Der mittlerweile ausgeschiedene Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer hat eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung des Stabilitätspakts gespielt. Niemand ist ihm so sehr in die Parade gefahren wie Helmut Schmidt. Er erinnerte Tietmeyer daran, dass er Jas sogenannte Lambsdorff- Papier entworfen hatte, um die ökonomische Wende einzuleiten. Tatsächlich sei aber die öffentliche Gesamtverschuldung auf das Vierfache gestie gen, die Steuer- und Abgabenlast so hoch wie niemals zuvor, und die Arbeitslosigkeit habe ein unerhörtes Maß erreicht. Tietmeyer habe 1990 als persönlicher Berater des Kanzlers Kohl für Fragen der deutsch-deutschen Währungsunion Mitverantwortung für schwere Fehler und utopische Versprechungen. Helmut Schmidt erinnerte Hans Tietmeyer daran, dass er an der Zinserhöhung der Bundesbank nach i 990 führend beteiligt war, die die Arbeitslosigkeit in ganz Europa erhöht hatte. Und er war mitverantwortlich an der regelwidrigen Verweigerung der durch die Zinserhöhung notwendig gewordenen Anpassung der DM-Wechselkurse innerhalb des europäischen Währungssystems. Die Bundesbank habe die Formulierung der Maastrichter Konvergenzkriterien durchgedrückt, ohne dass jemals öffentlich begründet worden sei, warum die Gesamtschuld eines Teilnehmerstaats nicht höher sein soll als 60 Prozent seines laufenden Sozialprodukts.
Ebenso sei das andere schuldenrelevante Kriterium ökonomisch nicht begründet worden, dem zufolge die jährliche Kreditaufnahme eines Teilnehmerstaats nicht höher sein soll als 3 Prozent seines Sozialprodukts. Wenn ein Staatsvolk viel spart, dann kann der Staat durchaus höhere Kredite aufnehmen, ohne damit die Finanzierung privatwirtschaftlicher Investitionen zu behindern. Helmut Schmidt fährt fort: »Wenn aber ein Volk wenig oder gar überhaupt nichts spart, dann sind 3 Prozent als Grenze für staatliche Kreditaufnahme viel zu hoch! Die amerikanische private Sparquote liegt bei 4 Prozent, die deutsche bei n Prozent, die japanische bei über 16 Prozent - trotzdem kann sogar Japan heute wegen des 3-Prozent-Kriteriums theoretisch nicht als Teilnehmerstaat für den Euro in Betracht kommen. Das 3-Prozent-Kriterium kann bei guter Konjunktur leicht unterschritten werden, in einer Rezession dagegen liegt die Schwelle zu hoch. Die Flexibilität des Artikels 104 c ist also notwendig.« Helmut Schmidts Diskussionsbeitrag aus dem Jahre 1996 ist heute immer noch höchst aktuell. Die amerikanische Sparquote ist mittlerweile negativ. Das heißt die Amerikaner geben mehr Geld aus, als sie sparen! Da sie Budgetüberschüsse haben, finanzieren die Ausländer den privaten Sektor. In Deutschland wurden 1998 von den privaten Haushalten 266 Milliarden DM auf die hohe Kante gelegt. Das Vermögen der privaten Haushalte betrug 14,5 Billionen DM, das reine Geldvermögen 5,7 Billionen DM. Dieses »riesige Vermögen« wird an die Kinder vererbt. Wer erklärt den neuen Berliner Sparaposteln, dass die hohen Ersparnisse der privaten Haushalte und der Unternehmen wirtschaftlich genutzt werden müssen und dass derjenige, der das, was in der Vergangenheit gespart wurde, in Form von Krediten nutzt, nicht auf Kosten der Zukunft unserer Kinder lebt? Das Problem der öffentlichen Haushalte ist der zu hohe Anteil der Zinsausgaben, der die Handlungsfähigkeit des Staates einschränkt. Daher muss im Aufschwung konsolidiert werden, um die Handlungsfähigkeit des Staates zurückzugewinnen. Das Problem für die Sozialdemokraten ist die ungleiche Verteilung der Vermögen. Denn mit der Staatsschuld verhält es sich so: Die Arbeitnehmer und ihre Kinder zahlen die Steuern, während die Vermögenden und ihre Kinder die Zinsen bekommen, die oft nicht versteuert werden. An dieser Stelle ein längst fälliges Wort zu Helmut Schmidt: Hatte die Linke ihre ökonomischen oder sozialen Konzepte in den vergangenen Jahrzehnten im nationalstaatlichen Rahmen entwickelt, so verlangt das Zeitalter der Globalisierung, dass sie jetzt ihre Konzepte anpassen muss. Es geht um die politische Antwort auf die Herausforderungen der postnationalen Konstellation, wie Jürgen Habermas schreibt. Nicht die »Märkte«, sondern demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente müssen die Entscheidungen treffen, die die Zukunft unserer Gesellschaft bestimmen. Schritt für Schritt muss eine auf internationaler Zusammenarbeit aufbauende Weltinnenpolitik die Antworten auf die Globalisierung geben. Vor dieser historischen Aufgabe muss die Rolle Helmut Schmidts auch aus Sicht der Linken neu bewertet werden. Akzeptiert man den Markt als Ordnungsprinzip, so war er der erste, der die Herausforderung der postnationalen Konstellation erkannte. Zusammen mit Giscard d'Estaing initiierte er 1975 in Rambouillet den ersten Wirtschaftsgipfel der großen Industrienationen. Beide waren sich dann einig, dass entscheidende wirtschaftliche Fragen nur noch durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden konnten. Nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton-Woods schufen sie das europäische Währungssystem. Während die europäische Linke noch mit Vietnam, Nicaragua und der Dritten Welt beschäftigt war, gab Helmut Schmidt erste sozialdemokratische Antworten auf die neue Situation, die durch die Deregulierung der Weltfinanzmärkte entstanden war. In seinem Buch Globalisierung schreibt er: »So wie im internationalen Seeverkehr sich langsam, aber sicher auf der ganzen Welt gemeinsam akzeptierte Verkehrsregeln und Sicherheitsvorschriften durchgesetzt haben, so wie noch viel umfassender im Luftverkehr, so braucht auch der internationale Geld- und Kapitalverkehr Regeln. Er braucht Aufsicht und Kontrolle.« Gegenwärtig fehle es noch an Einsicht, er würde sich aber nicht wundern, wenn man versuchte, zum System fester Wechselkurse, jedenfalls zwischen Dollar, Euro und Yen, zurückzukehren. Die Aktien in den USA sind nach Meinung Helmut Schmidts total überbewertet. Es seien Psychopathen, die die Kurse nach oben trieben, dreißigjährige Händler und vierzigjährige Fondsmanager. Diesen fehle der Gesamtüberblick über die Welt und die Weltwirtschaft und auch die Verantwortung, die sich daraus ergebe. Zusammen mit den Vermögensverwaltern der Handelsund Investmentbanken bestimmen die Fondsmanager die Entwicklung der Weltwirtschaft in größerem Umfang als Regierungen und Parlamente. Im ersten Schritt muss der organisierten Spekulation die koordinierte Intervention der Notenbanken gegenübergestellt werden. Die kurzfristigen Kapitalströme müssen reguliert werden. Der Zufluss bleibt offen, aber der Abfluss muss durch Ventile geregelt werden.
Der Rücktritt
Auf der Kabinettssitzung am 10. März 1999 kam es zum ersten Mal zu einer Aussprache über die Vorhaben der einzelnen Ressorts. Ich hatte Gerhard Schröder immer wieder gebeten, nicht nur die in der Tagesordnung vorgesehenen Punkte anzusprechen. Bei diesem Verfahren war die Kabinettssitzung stets sehr schnell zu Ende. Viel wichtiger erschien es mir, dass aufgrund der laufenden Koordinationsmängel und Pannen die Minister im vorhinein über ihre Planungen und ihr Vorgehen berichten sollten. Nach Möglichkeit sollten die Vorhaben im Kabinett vorgestellt werden, bevor die Presse sie unters Volk brachte. So konnte nach meinen Erfahrungen als Ministerpräsident rechtzeitig die Koordination mit den anderen Ressorts und der Fraktion sichergestellt werden. Gerhard Schröder nahm gleich am Anfang das Wort und wandte sich an Jürgen Trittin. In der Presse waren Berichte erschienen, dass Jürgen Trittin eine neue Smog-Verordnung vorbereite. Dies nahm Gerhard Schröder zum Anlass, Jürgen Trittin noch einmal nachdrücklich zu ermahnen, keine weiteren wirtschaftsfeindlichen Projekte zu verfolgen. Der von ihm schon öfter öffentlich Gedemütigte wehrte sich nur schwach und versprach, vor einer endgültigen Veröffentlichung die Abstimmung mit den übrigen Ressorts herbeizuführen. Danach wandte sich Gerhard Schröder an Christine Bergmann, von der in der Presse zu lesen war, dass sie den Erzie hungsurlaub flexibler gestalten wolle. Auch hier sah der Bundeskanzler die Gefahr, dass die Wirtschaft die Kritik an seiner Regierung verstärken würde. Sein Beitrag schloss mit dem Satz, dass man das Land nicht gegen die Wirtschaft regieren könne und dass eine Politik gegen die Wirtschaft mit ihm nicht zu machen sei. Ich versuchte, in der anschließenden Diskussion dem Ganzen die Spitze zu nehmen, indem ich bestätigte, dass durch die massive Kritik der Wirtschaftsverbände die Stimmung in der Wirtschaft auch bei Handwerkern und Selbständigen schlecht sei. Schröder habe daher recht mit seiner Auffassung, dass man nicht übertreiben dürfe. Für mich bestand zwar kein Zweifel, dass eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung Entscheidungen treffen musste, die den Herren Henkel, Stihl und Hundt missfielen. Aber es war selbstverständlich, dass man mit den Wirtschaftsverbänden im Gespräch bleiben und bei den notwendigen Reformen das richtige Tempo einschlagen musste. Ich wies darauf hin, dass die Wirtschaft von der Senkung der Lohnnebenkosten profitiere und dass die Steuerreform den Mittelstand um etwa fünf Milliarden entlaste. Erwartungsgemäß konnte man über diese Kabinettssitzung am nächsten Tag in den Zeitungen lesen, vor allem in der Bild-Zeitung. Der Informant der Bild, wer immer es war, hatte wahrheitswidrig weitergegeben, dass diese Kritik des Bundeskanzlers auch an mich gerichtet war. Auf der ersten Seite der Bild war in den bekannten großen Buchstaben zu lesen: »Schröder droht mit Rücktritt.« Darunter etwas kleiner gedruckt: »Ich lasse mit mir keine Politik gegen die Wirtschaft machen. Es wird einen Punkt geben, wo ich die Verantwortung für eine solche Politik nicht mehr übernehmen kann.« Und weiter wurde berichtet, dass die Kritik des Kanzlers dem Finanzminister und Parteivorsitzenden galt. Schröder hatte aber in der Kabinettssitzung kein kritisches Wort an mich gerichtet. Sicherlich hatte er seit längerem bemerkt, dass meine Distanz zu ihm weiter gewachsen war. Zudem haben Menschen wie er ein feines Gespür dafür, wann sie angreifen können. Meine Stimmung war seit längerem so, dass ich jeden Angriff Schröders im Kabinett sofort mit einer harten Erwiderung pariert hätte. Im übrigen hatte ich mir ausgebeten, dass Kritik aneinander stets unter vier Augen erfolgen sollte. Nach der Kabinettssitzung traf ich im Finanzministerium die Sprecher der Parlamentarischen Linken, Gernot Erler, Detlef von Larcher, Michael Müller und Andrea Nahles. Auch Ottmar Schreiner war dazugestoßen. Während wir die politischen Entscheidungen der nächsten Monate diskutierten, wurde mir der Artikel der Bild-Zeitung über die angeblichen Rücktrittsdrohungen Gerhard Schröders hereingereicht. Ich bat meine ebenfalls anwesende Pressesprecherin Dagmar Wiebusch, Uwe-Karsten Heye anzurufen. Der Kanzler müsse dementieren. Sie kam zurück mit der Antwort, Heye dementiere bereits auf allen Kanälen. Auf die Idee, dass hier der Kanzler gefordert war, kam Gerhard Schröder nicht. Ein laues Dementi des Regierungssprechers Uwe-Karsten Heye genügte nicht mehr. Es war ja schließlich nicht alltäglich, dass in den Zeitungen stand, dass ein Kanzler mit Rücktritt gedroht habe, weil ihm die
wirtschaftsfeindliche Politik des Parteivorsitzenden und Finanzministers nicht gefiele. Am nächsten Morgen beschloss ich, den für den Tag der Bundespräsidentenwahl fest geplanten Rücktritt vorzuziehen. Ich wollte nicht länger einem Kabinett angehören, das nicht zur notwendigen Zusammenarbeit fand und in dem der Regierungschef den Grundsatz missachtete, seine Minister vor allem in der Öffentlichkeit zu stützen. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Norman Birnbaum bewertete die ersten vier Monate unserer Regierung wie folgt: »Niemand jedoch hatte die anfängliche Courage der neuen Regierung mehr erschreckt als das Kanzleramt selbst. Unkritisch gegenüber Tony Blairs lauter Propaganda eines inhaltslosen dritten Weges, ungeachtet der ökonomischen und sozialen Kosten von Clintons Arbeitsplatz-Maschinerie, ließ sich das Kanzleramt von dem einzigen Sozialdemokraten in Panik versetzen, der seine Legitimation vom Wählerwillen ableitete statt von den Herrschern über die deutsche und internationale Wirtschaft. Die internationale Elite der multinationalen Konzerne beherrscht nicht nur die Produktionsmittel, sondern inzwischen auch die Mittel zur politischen Willensbildung. Selten wurde in einer Demokratie ein hoher Politiker zum Objekt eines so fein abgestimmten Angriffs wie Lafontaine. Seine Kollegen reagierten mit größter Illoyalität.« Den kritischeren Journalisten war aber schon seit längerem aufgefallen, dass das Ganze Methode hatte. Immer wenn durch falsche Vorgaben des Kanzlers, wie bei den 630-Mark-Jobs, bei der Ökosteuer, bei den Renten oder bei der Unternehmensteuerreform, etwas schief lief, sprach der Kanzler ein Machtwort oder Klartext mit dem Tenor, dass andere für diese Fehlentscheidungen verantwortlich seien. Der Stern, der viel dafür getan hatte, dass Schröder Kanzlerkandidat der SPD wurde, schrieb: »Einige Medien machen die >Bremser< (Bild) oder die >Sozialmafia< (Der Spiegel) in der SPD-Fraktion und den Gewerkschaften dafür verantwortlich, dass die rot-grüne Reformpolitik nicht auf Touren kommt und die Arbeitslosigkeit, bereinigt um Saisoneinflüsse, sogar leicht steigt. Alle sind schuld - nur nicht der strahlende Held. >Kanzler im Chaos< titelt Die Woche, obwohl die richtige Zeile längst >Der Chaos-Kanzler< heißen müsste. Denn in der Sozialpolitik, dem Schlüsselbereich für die Erneuerung des Landes, hat Schröder nicht nur kein Konzept, er hat oft einfach zuwenig Ahnung. Kaum ein Tag vergeht, an dem der Möchtegern-Modernisierer nicht die Fakten durcheinander wirft.« In den folgenden Monaten konnte man beobachten, wie Walter Riester regelrecht gemobbt wurde. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Innerhalb eines Kabinetts muss es ölt auch heftige Diskussionen geben, und selbstverständlich ist der Regierungschef aufgefordert, dort Kritik anzubringen, wo er sie für notwendig hält. Aber das systematische Durchstechen an die Presse mit der Folge, dass alle Schaden nahmen, auch diejenigen, die meinten, sie glänzten besonders, wenn andere herabgesetzt würden, war nicht hinnehmbar. Die nächste Kabinettssitzung hätte notwendigerweise zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gerhard Schröder und mir führen müssen. Diese wären selbstverständlich mit der notwendigen Garnierung wieder an die Presse weitergegeben worden. Der Fairness halber muss ich anführen, dass Gerhard Schröder mir Wochen vorher vorgeschlagen hatte, den Fraktionsvorsitz zu übernehmen. Er war, wie ich, zu der Auflassung gekommen, dass meine Pflichten als Finanzminister mir zunehmend Schwierigkeiten bereiteten, meine Aufgaben als Parteivorsitzender so wahrzunehmen, wie es gerade in dieser Zeit notwendig war. Peter Struck war eingeweiht und hatte auch zugestimmt. Es ist also falsch, wenn nach meinem Rücktritt Kommentatoren zu dem Urteil kamen, mein Ausscheiden aus der Politik sei das Ziel von Gerhard Schröder gewesen. Einmal war es meine eigene Entscheidung, ob ich Parteivorsitzender bleiben würde oder nicht und ob ich das Parlamentsmandat behalten würde oder nicht. Zum anderen hätte die Übernahme des Fraktionsvorsitzes durch mich zu dem von vielen gewünschten Ergebnis geführt, dass ich in der Doppelfunktion als Partei- und Fraktionsvorsitzender die Politik der Regierungskoalition noch stärker bestimmt hätte. Ich war aber schon seit Wochen zu dem Ergebnis gekommen, dass es aufgrund der unterschiedlichen politischen Auffassungen und unterschiedlichen Arbeitsmethoden eine Lösung nur geben konnte, wenn einer von uns beiden seine Ämter aufgab. Das konnte nach Lage der Dinge nur ich sein. Gerhard Schröder war unser Spitzenkandidat im Wahlkampf, und unsere Verfassung sagt, der Bundeskanzler, nicht der Parteivorsitzende, bestimmt die Richtlinien der Politik. Ich war mir sicher, dass Gerhard Schröder nach meinem Rücktritt auch nach dem Amt des Parteivorsitzenden greifen würde. Darin sah ich wirklich die Chance eines Neuanfangs. Als Parteivorsitzender, so hoffte ich, würde er auf die Partei zugehen und seine bisherige Gewohnheit aufgeben, sich auf Kosten der Partei zu profilieren. Nur so konnte nach meiner Einschätzung eine sozialdemokratische Politik aus einem Guss entstehen.
Ich diktierte meiner langjährigen Mitarbeiterin Hilde Lauer drei kurze Briefe mit folgendem Wortlaut: An Gerhard Schröder: »Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, hiermit trete ich von meinem Amt als Bundesminister der Finanzen zurück. Mit freundlichen Grüßen« An Wolfgang Thierse: »Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, hiermit lege ich mein Amt als Mitglied des Deutschen Bundestags nieder. Mit freundlichen Grüßen« (Die Mandatsniederlegung wurde anschließend noch notariell vollzogen.) An die Mitglieder des Vorstands der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: »Liebe Parteifreundinnen und Parteifreunde, hiermit erkläre ich meinen Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Ich danke Euch und den Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für die freundschaftliche Zusammenarbeit und das Vertrauen. Ich wünsche Euch für die Zukunft eine erfolgreiche Arbeit für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Euer Oskar Lafontaine« Der letzte Brief fiel mir am schwersten. Schließlich ist es nicht alltäglich, dass ein Parteivorsitzender der SPD zurücktritt. Schumacher und Ollenhauer starben als Parteivorsitzende der SPD. Brandt trat zurück, weil er sich am Ende seiner Amtszeit zuwenig von der Partei unterstützt fühlte und weil die Partei der Berufung von Margarita Mathiopoulos zur Pressesprecherin nicht zustimmen wollte. Hans-Jochen Vogel nannte in seinem Buch Nachsichten mehrere Gründe dafür, dass er 1991 nicht erneut kandidierte: »Einmal erschien mir der Generationswechsel an der Spitze jetzt geboten. Im Falle meiner erneuten Kandidatur wäre meine Ablösung wohl erst wieder nach der dann folgenden Bundestagswahl in Frage gekommen; dann wäre ich aber schon über siebzig gewesen und die für meine Nachfolge in Betracht kommenden Jüngeren auch schon wieder ein Stück älter. Ich hielt auch meine Kraft nicht für unerschöpflich, und mir war kein Gedanke mehr zuwider als die Vorstellung, andere würden ein Nachlassen meiner Präsenz, Konzentration und Leistungsfähigkeit konstatieren können. Schließlich brauchte die Partei nach drei aufeinanderfolgenden Niederlagen bei Bundestagswahlen einen sichtbaren personellen Neuanfang. Programmatisch war sie mit dem Berliner Grundsatzprogramm auf der Höhe der Zeit. Jetzt musste auch eine neue Person an der Spitze der Partei deutlich machen, dass die Phase des Übergangs beendet und die deutsche Sozialdemokratie bereit war, die Konservativen mit langem Atem herauszufordern und abzulösen. Eine solche Entscheidung würde gerade nach der neuerlichen Niederla ge auch die Handlungsfähigkeit der Partei unter Beweis stellen.« Björn Engholm trat zurück, weil er im Untersuchungsausschuss falsche Angaben über den Zeitpunkt gemacht hatte, zu dem er von den Machenschaften Barscheis erfahren hatte. Rudolf Scharping wurde auf dem Mannheimer Parteitag abgewählt. Meine Entscheidung, vom Amt des Parteivorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zurückzutreten, war mit innerem Schmerz verbunden. Ich bin 1966 der SPD beigetreten. Dass ich 29 Jahre später einmal ihr Vorsitzender sein würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Viele Jahre waren seitdem ins Land gegangen, und mein Leben hatte sich untrennbar mit der SPD verbunden. Für mich, wie für die anderen Mitglieder, ist die Partei auch Heimat und Familie. Die Menschen suchen auch in der heutigen Zeit Wärme und Geborgenheit. Gerade die SPD, die von Bismarck unterdrückt und von den Nazis verfolgt wurde, hat die Tradition, ihren Mitgliedern das Gefühl zu geben, dass sie in einer Gemeinschaft von Menschen angekommen sind, die füreinander einstehen wollen. Aus dieser Tradition heraus erklärt sich die Anrede Genossinnen und Genossen. Solidarität und Mitmenschlichkeit müssen das Innenleben der SPD bestimmen. Wie oft versagen wir dabei durch Gleichgültigkeit oder Selbstsucht. Meine Zeit als SPD-Vorsitzender ist danach zu beurteilen, ob wir in dieser Zeit ein Mehr an Miteinander erreicht haben. Es ist uns gelungen, die Partei personell und inhaltlich geschlossen in die Bundestagswahl 1998 zu führen. Das Regierungsprogramm wurde mit großer Mehrheit verabschiedet. Die Personalentscheidungen zum Kanzlerkandidaten und zur Mannschaft erfolgten ohne Streit. Wir erreichten einen auch in der Höhe historischen Wahlsieg. Voller Hoffnung hatte ich darauf gesetzt, nach diesem glänzenden Wahlsieg zusammen mit Gerhard Schröder eine Reformpolitik gegen den vorherrschenden Neoliberalismus auf den Weg zu bringen. Als die Hoffnung zerbrach und ich zu der Einsicht kam, dass ich gehen musste, weil die Wählerinnen und Wähler Gerhard Schröder das Vertrauen gegeben hatten, fiel ich in ein tiefes Loch. Gegen 16 Uhr setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Saarbrücken. Auf der Autobahn erreichte mich ein Anruf von Marianne Duden, der Sekretärin des Bundeskanzlers, die mir sagte, der Bundeskanzler
wolle mich sprechen. Ich antwortete ihr, dass die Entscheidungen getroffen seien und daran nichts mehr zu ändern sei. Sie möge Gerhard Schröder herzlich grüßen. Als die Nachrichtenagenturen die Meldung von meinem Rücktritt verbreiteten, machten sich viele Fernsehteams auf, um mein Haus am Hügel zu belagern. Die Belagerung dauerte fünf bis sechs Tage. Ich hatte meinen Rücktritt nicht begründet. Ich wollte Abstand gewinnen und wollte die Begründung so abgeben, dass möglichst wenig Schaden für die SPD entstand. Nach einer schmerzhaften Trennung ist der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Er will nicht sprechen, will zu sich selbst kommen und Abstand gewinnen. Unsere Mediengesellschaft aber hat für solche Sprachlosigkeit nicht das mindeste Verständnis. Unisono tönte es aus den Medien, dass die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf habe zu erfahren, was die Gründe für meinen Rücktritt waren. Meine naive Vermutung, dass die Öffentlichkeit vor meinem Rücktritt die Fernsehsendungen und Zeitungsberichte verfolgt hatte und dass ihr nicht entgangen sein konnte, wie sich Kanzler und Parteivorsitzender immer mehr auseinander lebten, war falsch. Auch der reißerische Aufmacher der Bild-Zeitung über die vorausgegangene Kabinettssitzung und die Rücktrittsdrohung des Kanzlers haftete wohl nicht im Gedächtnis. Die Fernsehteams belagerten rücksichtslos mein Haus. Gerüchte, ich hätte mit Euro oder Aktien spekuliert oder sei Stasi-Spitzel gewesen, kursierten und wurden genüsslich verbreitet. Entnervt rief ich am Sonntag, dem 14. März, den Korrespondenten der ARD und saarländischen Journalisten Norbert Klein an, den ich seit vielen Jahren kannte, und sagte ihm, ich würde eine kurze Stellungnahme abgeben. Der ARD gab ich dann folgendes Interview: Frage: Herr Lafontaine, was ist denn das Hauptmotiv für Ihren Rücktritt gewesen. Auf die Antwort auf diese Frage wartet ja jeder. Antwort: Ich habe natürlich einen gewissen Abstand zu meiner Entscheidung gebraucht. Ich glaube, das wird jeder verstehen, der nachvollziehen kann, was eine solche Entscheidung bedeutet. Ich möchte zunächst sagen, dass die Entscheidung nichts zu tun hat mit der Richtung der Politik, die wir in den letzten Monaten gemacht haben. Wir sind stolz darauf, dass wir viele Versprechungen gehalten haben, das ist etwas Neues in der Politik. Denn allzu oft waren die Wählerinnen und Wähler enttäuscht, weil die Versprechungen nicht eingehalten wurden. Wir wollten sozia le Gerechtigkeit, wir wollten Politik für Arbeitnehmer und Familien machen. Diese Politik haben wir in Gang gesetzt, und wir finden auch sehr viel Zustimmung dafür. Der Grund meines Rücktritts ist das schlechte Mannschaftsspiel, das wir in den letzten Monaten geboten haben. Ohne ein gutes Mannschaftsspiel kann man nicht erfolgreich arbeiten. Mannschaftsspiel verlangt, dass man Rücksicht aufeinander nimmt und dass man auch zueinander steht - auch in der Öffentlichkeit - und dass Teamgeist die Regierungsarbeit bestimmt. Ein Beispiel: Während wir die Mittelständler um fünf Milliarden entlasten, diskutiert die Mannschaft darüber, ob wir eine wirtschaftsfeindliche Politik machen. Das verstehe, wer will. Wenn die Mannschaft nicht mehr gut zusammenspielt, muss man eine neue Mannschaftsaufstellung suchen. Dazu ist mein Schritt die Voraussetzung gewesen. Die neue Mannschaftsaufstellung ist bekannt. Ich wünsche der neuen Mannschaft mit Gerhard Schröder Erfolg bei der Arbeit. Frage: Was hat das mit dem Kapitän die ser Mannschaft zu tun? Ich wich aus und antwortete: Die Frage, die sicherlich angesprochen werden wird, ist, warum ich mich jetzt erst äußere. Ich sagte, ich brauchte etwas Abstand. Und vor allen Dingen wollte ich vermeiden, dass aus der Erklärung eine Selbstrechtfertigung wird. Ich wollte auch ein Beispiel dafür geben, dass man auch nach dem Rückzug sich nicht dadurch entlastet, dass man andere belastet. Ich sage also noch einmal: Die Fehler, die gemacht wurden, haben wir alle gemacht, und ich glaube, das ist eine Herangehensweise, die jeder akzeptieren kann. Ich hatte mich schon als Parteivorsitzender über diejenigen Freunde geärgert, die zurückgetreten waren oder nicht mehr im Amt waren und ab und zu durch Erklärungen die Partei belastet haben. Denn solche Erklärungen sind bekanntlich besonders erwünscht. Nun noch eine Erklärung für die Partei selbst. Der Schritt ist mir natürlich nicht leichtgefallen. Ich bin 33 Jahre in dieser Partei. Seit dreißig Jahren habe ich Führungsämter inne. Das ist eine längere Zeit, als viele andere Politiker sie begleitet haben. Das heißt, die Partei ist ein Stück meines Lebens. Ich habe mir seit dem Attentat von Köln natürlich immer wieder die Frage gestellt, inwieweit ich diese große Belastung auch mit meiner Familie verbinden kann, mit meinem Privatleben. Und ich habe mich jetzt eben nach vielen Jahren für das Privatleben entschieden, mit all den Gründen, die ich vorgetragen habe. Ich hoffe, dass die Partei dafür Verständnis hat. Ich möchte auch heute noch einmal für viel Vertrauen danken, das mir entgegengebracht worden ist, für viel Zuneigung sogar. Das hat mich über
viele Jahre motiviert, diese schwierige Arbeit zu machen. Ich wünsche der Partei weiterhin einen guten Weg. Ich werde ihn aufmerksam mitverfolgen, ich gehöre zu dieser Partei. Und eines soll sie nicht vergessen: Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt, aber es hat einen Standort. Es schlägt links. Ich danke Ihnen. Natürlich war diese Erklärung, die mit der Passage über das Mannschaftsspiel deutlic h genug war, nicht das, was die sensationslüsterne Presse erwartet hatte. Im Interesse der Medien wäre es gewesen, wenn ich sofort den Bruderkrieg mit Gerhard Schröder begonnen und heftige Kritik an der rotgrünen Koalition geübt hätte. Aber noch hatte der Kosovo-Krieg nicht begonnen, und noch gab es kein Schröder-Blair-Papier und kein Zukunftsprogramm 2ooo. Darüber hinaus ärgerte manche Journalisten, dass ein Politiker aus freien Stücken zurückgetreten war, ohne dass die Presse ihn dazu gezwungen hatte. Man darf den Jagdtrieb der Medien nicht unterschätzen. Journalisten hatten sich bei mir schon oft gebrüstet, den oder den zu Fall gebracht zu haben. Immer wieder gibt es unter den Journalisten solche, die es sich zum Ziel setzen, Politiker zum Rücktritt zu zwingen. Die Quittung wollten sie mir dadurch geben, dass sie den Rücktritt, der in einer Demokratie selbstverständlich sein sollte, wenn Politiker zu der Auffassung kommen, dass sie unter den gegebenen Umständen ihre Arbeit nicht mehr erfolgreich machen können, zur Fahnenflucht erklärten. Nicht genug damit, verstiegen sich einige dazu, mir auch jedes Recht abzusprechen, nach dem Rücktritt mich zu politischen Themen zu äußern. Ich litt darunter, dass viele Parteifreunde meinen Rücktritt nicht verstanden. Vor allem die Parteilinke warf mir vor, sie im Stich gelassen zu haben. Seltener wurde ich gefragt, ob ich mich nicht ausreichend unterstützt gefühlt hätte. Die vie le bewegende Frage, wie es mit der Linken weitergehen werde, thematisierte Claus Koch in der Süddeutschen Zeitung wie folgt: »Die Wut, die viele Freunde des Parteivorsitzenden nach dessen Befreiungsschlag erfüllt, kann man verstehen. An diesem Rücktritt werden sich alle kommenden Rücktritte, die bald folgen werden, messen lassen müssen. Was Lafontaine sich geleistet hat, lässt sich nur unterbieten. Dass ein Sozialdemokrat so virtuos seine Partei vorführt und die Peinlichkeit ihrer Situation demonstriert, gilt unter Genossen als unanständig. Die ganze Partei muss sich von ihrem Einiger als dequalifiziert betrachten. Und wenn Klaus Zwickel von der Feigheit dieses Fahnenflüchtigen spricht, so ist es vielmehr dieser, der die Feigheit der Sozialdemokratie einschließlich ihrer Linken bloßstellt. Lafontaine erklärt mit dem Rücktritt ja nichts anderes, als dass auf absehbare Zeit eine Alternative zum politischen Einheitsdenken und -handeln nicht verfügbar ist, dass sich die bewusste A-Politik Blairs und Schröders durchgesetzt hat. Er gibt also die moralische Konkurserklärung für die SPD ab. Wenn ein Links von der Mitte vor einem Jahr vielleicht noch konstruiert werden konnte, so herrscht mit Schröder nun eindeutig die Rechte. Denn die Mitte ist immer rechts. Wer jetzt mit linken Lebenslügen noch weitermacht, so muss Oskar Lafontaine verstanden werden, ist zum bloßen Karrierismus unter dem bekennenden Karrieristen Schröder verurteilt. Die Parteilinken haben einzusehen, dass sie, nachdem sie vom Politik-Imitator Schröder missbraucht worden waren, nun auch von Lafontaine abgeschrieben sind. Es blieb ihm, da dies ein sehr politischer Rücktritt war, nichts anderes übrig.« Die Konkurserklärung der Linken wollte ich nicht abgeben. Sehr wohl aber wollte ich durch den Rücktritt auch darauf hinwirken, dass die Partei erneut über ihren Kurs entscheidet. Das Schröder-Blair-Papier und das Zukunftsprogramm 2000 zeigen, dass eine erneute Kursbestimmung unumgänglich ist. In jenen Tagen erinnerte ich mich oft an den Rücktritt Willy Brandts vom Amt des Parteivorsitzenden. Der äußere Anlass war sein Vorschlag, die parteilose Griechin Margarita Mathiopoulos zur Parteisprecherin zu machen. In Wirklichkeit hatte insbesondere die Parteirechte seit längerem seine Ablösung betrieben. Der Spiegel berichtete, dass der ehemalige SPD-Finanzminister Hans Apel den Genossen eine Automarke empfahl: »BMW, Brandt muss weg« und fragte: »Willy Gaga?« Bild, wie konnte es anders sein, sah in Willy Brandts Vorschlag einen Beweis für seine Liebe zu Frauen. »Immer diese Frauen«, hieß es wörtlich, und die Boulevard-Presse bildete Willy Brandt mit verschiedenen Frauen ab, die angeblich sein Schicksal bestimmt hatten. Margarita Mathiopoulos wurde zu »Brandts schöner Grie chin«. Selbst die Frankfurter Rundschau schrieb über »Brandts Sirtaki mit der Griechin«. In seiner Abschiedsrede hatte Brandt noch einmal auf die Diskussion in der eigenen Partei Bezug genommen. »Manches, was ich bei der Gelegenheit zu hören und zu lesen bekam, war so erschreckend, dass sich in mir alles gegen eine Wiedergabe sträubt. Mit sozialdemokratischem Stallgeruch hatte das nichts zu tun. Und ich muss dringend darum bitten, nicht nur abstrakt, sondern Bedürftige auch ganz konkret daran zu erinnern, dass die SPD eine europäische Partei ist und unter dem Gesetz der Völkerverständigung zu wirken begann. Fremdenfeindlichkeit dürfen wir nie
unwidersprochen lassen. Wir müssen ihr so entgegentreten, dass auch Banausen merken, woran sie bei uns sind.« Zwar schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen über seinen Rücktritt unter der Überschrift »Ein fröhlicher Abschied«: »Die formelle Verabschiedung ging auf einem außerordentlichen Parteitag Mitte Juni 1987 in der Bonner Beethovenhalle vor sich. Die Versammelten sparten nicht mit Blumen, auch nicht im übertragenen Sinne des Wortes... Ich blickte nicht im Zorn zurück, sondern dankbar für viele schöne Jahre, und ich blickte guten Mutes und fröhlichen Herzens voraus. Der Abschied war mir leichtgefallen.« Diese Darstellung Willy Brandts habe ich nie geglaubt. Dafür kannte ich den Alten dann doch zu gut. Der Abschied vom Parteivorsitz der SPD ist ihm, dem größten Vorsitzenden dieser Partei in diesem Jahrhundert, in Wirklichkeit sehr schwer gefallen. Verglichen mit Willy Brandt, dem viel widerwärtiger Dreck hinterhergeworfen wurde, war ich noch relativ gut davongekommen. Christa und ich hatten beschlossen, in den ersten Tagen nicht mehr ans Telefon zu gehen. Der Anrufbeantworter war überlastet. Viele Freunde aus der Partei meldeten sich am Telefon und wollten Erklärungen. Einfache Mitglieder, Abgeordnete und Funktionsträger schrieben mir rührende Briefe. Egon Bahr schrieb: »Du musst schreckliche Stunden hinter Dir haben. Ich wünsche Dir Genesung von den Verwundungen und Abstand, um Kraft für Neues /u gewinnen.« Ich war ihm dankbar für diese Worte. Auch führende Politiker anderer Parteien riefen an oder schrieben mir Briefe. Von der CDU Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Norbert Blüm, von der FDP Hans Dietrich Genscher und Günter Rexrodt, von den Grünen Antje Vollmer. Auf einem unserer Anrufbeantworter teilte uns ein Mitarbeiter von Joschka Fischer mit, dass dieser mich sprechen wolle. Zu einem Gespräch ist es nicht gekommen. Auch Gregor Gysi meldete sich. Ebenso Hans Modrow, den ich in der Zeit der DDR als Bezirksvorsitzenden der SED von Dresden kennen- und schätzen gelernt hatte. Von den Vertretern der europäischen Mitgliedsparteien rief als erster mein langjähriger Freund Alfonso Guerra aus Spanien an. Alfonso Guerra war lange Zeit Stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung von Felipe Gonzalez gewesen. Er hatte seit 1974 zusammen mit ihm die PSOE in Spanien aufgebaut. In der Franco-Zeit war er Buchhändler in seiner Heimatstadt Sevilla, die auch die Heimatstadt von Felipe Gonzalez ist. Die noch heute existierende Buchhandlung heißt Antonio Machado. Sie ist nach einem spanischen Dichter und Schriftsteller benannt, der 1939 am Ende des Spanischen Bürgerkriegs in Frankreich elend ums Leben kam. Mein saarländischer Landsmann Gustav Regler hat in seiner Autobiographie Das Ohr des Malchus darüber berichtet. Antonio Machado ist der Lieblingsschriftsteller Alfonso Guerras. Guerra pflegt zu Weihnachten und Neujahr seinen Freunden anspruchsvolle literarische Texte zuzuschicken. Ich habe im Lauf der Jahre zu Alfonso Guerra eine wirkliche Freundschaft entwickelt. Als mein Sohn Carl Maurice zur Welt kam, schrieb er ihm den ersten Brief. Guerra hatte sich nach vielen Jahren mit Gonzalez in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch in ideologischen Grundsatzfragen überwerfen und war im Januar 1991 ausgeschieden. Er war tief enttäuscht darüber, dass ich zurückgetreten war, zumal Christa und ich wenige Wochen vorher in Madrid unser Buch Keine Angst vor der Globalisierung vorgestellt hatten, das auch ins Spanische übersetzt wurde. Die Buchvorstellung, die von meinem langjährigen Freund Dieter Koniecki, dem Leiter des Friedrich-Ebert-Büros in Madrid organisiert worden war, war ein großer Erfolg. Mehr als 900 Zuhörer waren gekommen, die in ihrer großen Mehrheit Hoffnung schöpften, weil ein deutscher Finanzminister mit seiner Frau dem neoliberalen Einheitsdenken eine solch schnörkellose Absage erteilte. Dominique Strauss-Kahn meldete sich aus Paris, bestellte Grüße von Lionel Jospin und wollte die Gründe für meinen Rücktritt wissen. Ich sagte ihm, was ohnehin bekannt war, dass ein Schiff nicht zwei Steuermänner haben könne, die in unterschiedliche Richtungen wollten. Dominique StraussKahn lud meine Frau und mich nach Paris ein. Auch Jack Lang, der langjährige Kultusminister Frankreichs, der uns im Bundestagswahlkampf unterstützt hatte, rief an. Er fragte mich, ob ich nicht doch Präsident der Europäischen Kommission werden wolle, nachdem ich nun durch kein Amt an der Übernahme dieser Aufgabe gehindert sei. Ich sagte ihm, dass ich mich gerade dafür entschieden hätte, mehr Zeit für meine Familie zu haben. Ich konnte mir aber die Bemerkung nicht verkneifen, dass der deutsche Bundeskanzler über seinen Vorschlag sicherlich hellauf begeistert wäre. Ende 1998 waren in der Presse Berichte aufgetaucht, nach denen ich das Amt des Europäischen Kommissionspräsidenten anstreben würde. Nichts davon war wahr. Ich konnte mich nur retten, indem ich erklärte, ich wolle Papst werden. Nachdem die Geschichte einmal in der Welt war, sprach mich
tatsächlich Dominique Strauss-Kahn in Berlin an und sagte, Frankreich würde es unterstützen, wenn ich Kommissionspräsident werden wolle. Ich sagte ihm, er solle es selbst machen. Da wir in der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik an einem Strick zogen, wäre er für mich eine hervorragende Besetzung gewesen. In je nen Tagen sagte auch Gerhard Schröder zu mir, wenn ich wolle, würde er mich zum Kommissionspräsidenten vorschlagen. Aus den Vereinigten Staaten schrieb mir Bob Rubin. Er würdigte meine Bemühungen, in Europa Wachstum und Beschäftigung zu unterstützen, und dankte mir für die Zusammenarbeit. Das war gentlemanlike. Von den vielen Zeichen der Freundschaft, die ich von den europäischen Sozialdemokraten erhielt, möchte ich noch einen Brief meines langjährigen Freundes Heinz Fischer erwähnen, der Präsident des österreichischen Nationalrats ist: »Die Tatsache, dass Du Dich zu einem so radikalen Schritt entschlossen hast, deutet für mich darauf hin, dass Du es mit sehr schwierigen Abwägungen und grundsätzlichen Entscheidungen zu tun hattest. Nicht einmal im nachhinein kann man beurteilen, ob die Entscheidung richtig (vielleicht sogar unvermeidbar) war, wenn man Deine Motive nicht ganz genau kennt und auch die Rahmenbedingungen nicht kennt, unter denen diese Entscheidung getroffen wurde. Ich bin aber sicher, dass Du Dir alles sorgfältig überlegt hast. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass nicht nur die Entscheidung selbst schwierig war, sondern auch die nachfolgende gigantische Umstellung schwierig war und immer noch ist.« Besonders erfrischend war ein Telefongespräch mit Helmut Kohl, das ich dem Leser nicht vorenthalten möchte. Der ehemalige Bundeskanzler versicherte mir zunächst seinen Respekt und seine Sympathie. Dann erkundigte er sich, ob wir tatsächlich einen Bauernhof gekauft hätten. Ich sagte ihm, dass wir in Verhandlungen stünden und diese noch nicht zum Abschluss gekommen wären. Helmut Kohl versprach mir für den Fall des Erwerbs eines Bauernhofs, einen jungen Stier zu stiften. Dann fragte er weiter, oder wollen Sie lieber einen Löwen oder einen Tiger. Nachdem ich etwas verlegen die Frage stellte, was ich damit anstellen solle, fasste er nach und wollte wissen, ob ich die Preise kenne, zu denen junge Löwen und Tiger angeboten werden. Auch hier musste ich passen. Ich erfuhr von ihm, dass die Preise bei 250 DM liegen und dass die Tiere deshalb so günstig angeboten werden, weil immer mehr Zoologische Gärten in Deutschland den Nachwuchs der Raubkatzen ohne Proble me großziehen können. Meine Unkenntnis der Preise für Tiger- und Löwenjungen quittierte Helmut Kohl mit der Bemerkung: »Ich wusste schon immer, dass Sie vom wirklichen Leben keine Ahnung haben!« Anschließend vereinbarten wir, bei Gelegenheit ein Glas Wein zu trinken. Ich schildere dieses Gespräch, weil es den weniger Eingeweihten zeigt, auf welch schlitzohrige Art Helmut Kohl seine jeweiligen Gesprächspartner einzuwickeln versucht. Kohl war, was nachher von niemandem mehr bestritten wurde, allgemein unterschätzt worden. Die Fähigkeit, mit der er die anfänglichen Demütigungen der Presse wegsteckte, hat stets meine Bewunderung hervorgerufen, und immer wenn die Presse über mich herfiel, erinnerte ich mich daran, dass Helmut Kohl über viele Jahre noch übler mitgespielt worden war. Gerhard Schröder demonstrierte nach meinem Rücktritt Handlungsfähigkeit. Er sagte sinngemäß, dass die Arbeit nun weitergehe und er zügig einen Nachfolger vorschlagen werde. Gleichzeitig erklärte er in internen Gesprächen seine Bereitschaft, den Parteivorsitz zu übernehmen. Seine Zwiespältigkeit gegenüber diesem Amt kam in seinem Satz zum Ausdruck: »Ich habe an den Gittern des Kanzleramts gerüttelt, nicht aber an der Tür des Ollenhauer-Hauses.«
Der Kosovo-Krieg
Zwölf Tage nach meinem Rücktritt, am 2.3. März 1999, beschloss die Nato, Serbien anzugreifen, um Milosevic zu zwingen, Mord und Vertreibung im Kosovo zu beenden. Gerhard Schröder gab eine Erklärung im Fernsehen ab. Er sagte: »Heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern ... Die Militäraktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk. Dies möchte ich gerade auch unseren jugoslawischen Mitbürgern sagen. Wir werden alles tun, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden.« Wie wir heute wissen, ist keines dieser Ziele erreicht worden. Weder gelang es der Nato, die humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, noch konnte sie Verluste unter der Zivilbevölkerung Serbiens vermeiden. Selbstverständlich richtete sich der Krieg, bei dem die serbische Wirtschaft und Infrastruktur zerstört wurde, auch gegen das serbische Volk. Während des Krieges kamen mir Zweifel, ob es richtig war, gleichzeitig mit dem Rücktritt vom Amt des Bundesfinanzministers auch den Vorsitz der SPD abzugeben. Die Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts war für mich, wie für viele andere, einer der wesentlichsten Gründe gewesen, der SPD beizutreten. Die Zustimmung zur Kosovo-Politik Gerhard Schröders war mir von Anfang an schwergefallen. Nach dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition lud uns die Regierung Kohl ein, um unsere Zustimmung zu einer Entscheidung des alten Deutschen Bundestags zu erreichen: Sie wollte beschließen, für die Alarmbereitschaft von Nato-Verbänden auch deutsche Truppenteile zur Verfügung zu stellen. Als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei warf ich bei diesem Gespräch die Frage auf, ob ein solcher Beschluss des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung eine Automatik in Gang setze, die keine politische Konsultation mehr zuließe, bevor es zu einem militärischen Angriff komme. Die Antworten der beteiligten Minister, des Verteidigungsministers Volker Ruhe und des Außenministers Klaus Kinkel, waren unterschiedlich. Während Ruhe sagte, es bestehe keine politische Möglichkeit mehr, nach dieser Entscheidung einen Angriff der Nato zu verhindern, erklärte Kinkel das Gegenteil. Wolfgang Schäuble blickte peinlich berührt in den Garten des Kanzleramts. Ich verlangte eine klare Antwort. Ich ließ mir am selben Tag vom Außenministerium schriftlich bestätigen, dass eine solche Entscheidung des Deutschen Bundestags keine Automatik in Gang setze. Es war also möglich, bevor es zu einem Angriff kam, noch einmal politisch zu beraten und zu entscheiden, ob, nachdem die Truppen in Alarmbereitschaft waren, ein Angriffsbefehl gegeben würde. Nach dieser Zusicherung habe ich als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands dem Bundestagsbeschluss zugestimmt. Es wäre nicht richtig gewesen, nach all den Vorbereitungen und nach all dem, was vorher von den Regierungen Europas und den Vereinigten Staaten auf den Weg gebracht wurde, zu diesem Zeitpunkt bereits ein Veto einzulegen zumal die Regierung Kohl noch im Amt war. Ich habe dann während der Verhandlungen von Rambouillet darauf bestanden, dass es, bevor es zu einer Zustimmung Deutschlands zu einem militärischen Angriff käme, zu einer ausführlichen Erörterung der militärischen Planungen im Kabinett kommen müsse. Ich war der Auffassung, dass es nicht möglich sei, Militäreinsätzen zuzustimmen, ohne die Planungen und deren Auswirkungen zu kennen. Während der Verhandlungen von Rambouillet sagte Fischer im Kabinett, dass die Nato entschlossen sei, im Fall des Scheiterns mit den Luftschlägen zu beginnen. In Erinnerung an den Vermerk des Auswärtigen Amtes war mir sofort klar, dass jetzt erneut politisch entschieden werden musste. Nachdem Fischer seinen Vortrag beendet hatte, sagte Gerhard Schröder, an Fischer und Scharping gewandt: »Wenn es soweit ist, telefonieren wir miteinander.« Ich meldete mich zu Wort und sagte, dass das so nicht gehen könne. Wenn Deutschland zum ersten Mal in einen Krieg eintrete, müsse zumindest eine Kabinettsberatung stattfinden, die zu einem Kabinettsbeschluss führen müsse. Kriegseintritt per Telefon, das sei wohl nicht das richtige Verfahren. Ich sagte, zu Gerhard Schröder gewandt, es müsse doch auch in seinem Interesse sein, wenn das Verfassungsorgan »Bun-
desregierung« die Entscheidung mittrage. Joschka Fischer unterstützte mich, und Gerhard Schröder war schnell überzeugt. Es wurde vorsorglich das Datum für diese Kabinettssitzung festgelegt. Zu ihr kam es aber nicht, weil die Nato direkt nach den Verhandlungen von Rambouillet doch nicht eingreifen wollte. Vor meinem Rücktritt vorn Amt des Finanzministers wurden also die militärischen Überlegungen und Planungen der Nato nicht mehr erörtert. Daher kann ich nur im nachhinein urteilen. Die militärische Vorgehensweise der Nato war überhaupt nur zu rechtfertigen, wenn man darauf setzte, dass Milosevic nach kurzer Zeit unterschreiben würde. Wenn damit aber nicht zu rechnen war, und es sprach einiges dafür, dann war die Vorgehen s weise der Nato unverantwortlich. Bei den langjährigen Debatten in der SPD über die Zulässigkeit solcher Militäraktionen hatte Christoph Zöpel einmal argumentiert, Militäreinsätze, die die Verletzung von Menschenrechten verhindern sollen, seien eher als Polizeieinsätze zu betrachten. So kann man das sehen. Was würde man aber von einer Polizei halten, die, wenn sie erführe, dass Verbrecher von A nach B zögen, um in B zu plündern und zu morden, Polizeikräfte nach A schicken würde, um dort die Infrastruktur zu zerstören? Die Verantwortlichen würden sofort zum Teufel gejagt. Aber bei grenzüberschreitenden Polizeieinsätzen ist das offensichtlich anders. Ein unverzeihliches Versäumnis muss ich mir selbst anla sten. Ich habe mich nicht um den Vertragstext, der in Rambouillet vorgelegt wurde, gekümmert. Ich verließ mich auf den Außenminister. Vom Annex B dieses Abkommens, das die Stationierung von Nato-Streitkräften mit unbeschränkten Durchmarsch- und Bewegungsrechten in ganz Jugosla wien vorsah, erfuhr ich erst später aus der Presse. Die völkerrechtliche Frage, ob jemand mit der Androhung militärischer Gewalt zum Abschluss eines Vertrags gezwungen werden darf, wurde im Kabinett nicht erörtert. Zu Recht urteilte Rudolf Augstein: »Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.« Als der Angriff begann, war ich erleichtert, dass ich der Regierung nicht mehr angehörte. Es ist zwar problematisch, im nachhinein zu sagen, wie man sich im Fall des Falles entschieden hätte. Aber angesichts der Tatsache, dass ich ohnehin fest entschlossen war zurückzutreten, wird man es mir abnehmen, dass ich den Kriegseintritt unter diesen Bedingungen ebenfalls zum Anlass eines Rücktritts genommen hätte. Selbst wenn man den Militäreinsatz als unvermeidbar ansah, war die politische und militärische Vorgehensweise der Nato fahrlässig und verantwortungslos. Ich machte mir in den ersten Tagen des Krieges Vorwürfe, dass ich aus falsch verstandener Loyalität den drohenden Kosovo-Krieg in der SPD nicht früher thematisiert hatte. Zu lange hatte ich darauf gesetzt, dass die Nato ihre Drohungen nicht wahr machen würde. Nur mit einem eindeutigen Beschluss der Partei im Rücken hätte ich den Gang der Dinge vielleicht noch beeinflussen können. Ich habe allerdings Zweifel, ob ein solcher Parteitagsbeschluß ausgereicht hätte. Wahrscheinlich hätte ich nur als Bundeskanzler den Beginn des Krieges aufhalten können. Ich hätte darauf bestanden, den UNO-Sicherheitsrat, Russland und China einzubinden und militärische Planungen nicht zu akzeptieren, die, statt Mord und Vertreibung zu beenden, das Gegenteil bewirken. Die deutsche Öffentlichkeit hätte diesen deutschen Sonderweg am Anfang sicherlich heftigst kritisiert. Aber einen solchen Gegenwind muss ein Politiker, der zu seinen Überzeugungen steht, aushaken. Schließlich steht in unserem Regierungsprogramm: »Die Nato ist und bleibt ein Verteidigungsbündnis. Das globale Gewaltmonopol zur Sicherung des Weltfriedens liegt ausschließlich bei den Vereinten Nationen. Einsätze der Nato, die über ihren kollektiven Verteidigungsauftrag hinausgehen, bedürfen eines Mandats der Vereinten Nationen oder der OSZE; (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa).« Die Koalitionsvereinbarung war noch eindeutiger. In ihr heißt es: »Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren und die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu stärken.« Nie hätte ich geglaubt, dass nach einigen Monaten nichts von alledem mehr Gültigkeit hatte. Am 1. Mai 1999 sprach ich auf einer Maikundgebung des DGB Saar in Saarbrücken. Die Veranstaltung fand große Aufmerksamkeit. Die Presse erwartete eine Abrechnung mit der Regierung Schröder. Viele meiner Parteifreunde und Kollegen in den Gewerkschaften interessierten sich dafür, was ich zum Kosovo-Krieg zu sagen hatte. Ich wollte in keinem Fall den Eindruck erwecken, als hätte ich eine Patentantwort, aber ich wollte deutlich machen, dass ich die Vorgehensweise der Nato verurteilte.
Ich sagte: »Wenn ich zum Krieg in Jugoslawien heute Stellung nehme, dann möchte ich daran erinnern, dass dies nicht der einzige Krieg auf dieser Erde ist, dass Not und Elend, Tod und Vertreibung leider in vielen Ländern dieser Erde den Alltag bestimmen. Ich denke an Afrika, ich denke an Algerien, ich denke an Äthiopien, ic h denke an den Sudan, ich denke an Ruanda, ich denke an das Kongo-Gebiet, ich denke an Asien, ich denke auch an die verfolgten Kurden. Die Türkei ist ein Mitgliedsstaat der Nato. Ich denke an Tibet, an die Verfolgten dort, ich denke an Afghanistan, an viele andere Länder dieser Erde, in denen großes Unrecht geschieht und in denen die Menschen leiden. Heute möchte ich mich mit Jugoslawien beschäftigen. Ich möchte das differenziert tun, weil niemand von uns einfache, fertige Antworten haben kann. Was aber im Vordergrund aller Überlegungen stehen sollte, ist nach meiner Auffassung, wie kann das Leid der Menschen dort möglichst schnell gelindert werden. Wie kann dort möglichst schnell Frieden hergestellt werden. Dabei geht es nicht um Gesichtswahrung, wie ic h das da oder dort lesen muss. Es geht immer und allein um das Leid der Menschen, um die Bewahrung menschlichen Lebens. Natürlich denken wir alle an die Menschen im Kosovo, die Vertreibung erleiden, die getötet wurden. Aber wir denken auch an die Menschen in Serbien, die sich ängstigen, die darunter leiden, dass bombardiert wird. Wir denken an die Menschen in Serbien, die Opfer der Bombardements geworden sind. Und ich denke auch an die Deserteure der Armeen, die verfolgt werden, weil sie sich nicht am Krieg beteiligen wollen... Dass Fehler gemacht worden sind in Jugoslawien, wissen wir mittlerweile. Die Fehler liegen teilweise Jahre zurück. Ich höre so oft, dass die Deutschen keinen Sonderweg beschreiten sollten, aber ich muss dann daran erinnern, dass sie zu Beginn einen Sonderweg beschriften haben, als sie gegen die Widerstände in Paris, in London und in Washington die Anerkennung der Teilstaaten durchgesetzt haben, weil man die Begriffe von Freiheit und Selbstbestimmung falsch verstanden hat. Freiheit und Selbstbestimmung vertragen sich nicht mit ethnischer Ausgrenzung. Das ist das Missverständnis dieser Politik. Freiheit und Selbstbestimmung sind überhaupt nur vorstellbar, sind überhaupt nur erfahrbar und erlebbar, wenn sie mit Solidarität und Mitmenschlichkeit verbunden sind. Deshalb war es falsch, dieser Kleinstaaterei, die auf völkischer Ausgrenzung beruhte, auch noch Anerkennung zu geben. Ein Fehler war es auch, dass durch das Bombardement der Nato vor einigen Jahren in der Krajina ermöglicht wurde, dass die Kroaten die Serben vertrieben haben. Auch daran möchte ich heute erinnern, wenn wir über den Krieg in Jugoslawien sprechen. Es wäre falsch, wenn man zu der Auffassung käme, dass nur ein Volksteil des Vielvölkerstaats in Jugoslawien Vertreibung erlitten hat. Auch die Serben haben Vertreibung erlitten ... Ich höre jetzt oft den Satz: Die Nato müsse ihr Gesicht wahren, sie könne jetzt nicht anders, sie müsse jetzt siegen. Nietzsche schrieb in Also sprach Zarathustra: >Euer Friede sei ein Sieg.< Ich frage aber, wessen Sieg wäre dieser Sieg eigentlich? Was bedeutet eigentlich Gesichtswahrung gegenüber dem Elend der Menschen, die unter diesem Krieg leiden.« Ich forderte einen sofortigen Stopp der Bombardierung und die Aufnahme politischer Verhandlungen. 78 Tage und Nächte hat die Nato Jugoslawien bombardiert. Die Luftwaffe flog 36000 Einsätze. Zurückgeblieben ist ein zerstörtes Land. Niedergebrannte Ortschaften im Kosovo, zerstörte Schulen, Krankenhäuser, Fabriken, zerstörte Straßen, Brücken, Energie- und Wasserversorgungsanlagen in Serbien sind neben Tod und Vertreibung die Bilanz des Krieges. Das peinliche Feilschen um die Verteilung der Wiederaufbaulasten hat begonnen. Die Europäische Kommission schätzt, dass 60 Milliarden DM notwendig sind, um das zerstörte Jugoslawien wiederaufzubauen. Die Amerikaner, die die Hauptlast des Krieges getragen haben, sagen, dass jetzt die Europäer dran sind. Hans Eichel hat sofort erklärt, dass wegen des Kosovo-Krieges keine Steuererhöhungen in Frage kämen. Theo Waigel war da weniger zimperlich. Als ihm nach dem Golf-Krieg die Rechnung von 13 Milliarden DM aus Washington präsentiert wurde, erhöhte er die Mehrwertsteuer. Unmittelbar nach dem Einstellen der Kriegshandlungen zeigte sich, dass Waffenstillstand nicht gleichzusetzen ist mit Frieden. In früheren Reden hatte ich immer den Satz eingeflochten: »Unter Bombenteppichen wächst kein Friede.« Die Serben werden jetzt aus dem Kosovo vertrieben. NatoOberbefehlshaber Wesley Clark musste den Serben Schutz vor albanischen Racheakten zusichern. Er sagte: »Die Nato ist bereit, zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen erneut in Jugoslawien militärisch einzugreifen.« Für uns Unbeteiligte ist es wahrscheinlich nicht vorstellbar, was es nach all den Grausamkeiten für Albaner und Serben bedeutet, nun wieder zusammenleben zu müssen. Dieser Krieg hat Deutschland verändert, und ich hoffe, dass wir jetzt die richtigen Lehren ziehen. Es ist schon bezeichnend, dass es so gut wie keine Friedensdemonstrationen gab. Zwar organisierte die
PDS einige Veranstaltungen, vor allem in Berlin, aber größere Demonstrationen blie ben aus. Das ist auch kein Wunder, wenn die beiden Großorganisationen, die durch ihr Programm und ihre Tradition gehalten sind, für den Frieden und gegen den Krieg einzutreten, nämlich die SPD und die Gewerkschaften, der Regierung Schröder nicht in den Rücken fallen wollten. Zornig war ich auch über die Rolle der Grünen. Ich hatte die rot-grüne Koalition gewollt, weil ich hoffte, für eine auf friedliche Lösung setzende Außenpolitik die Unterstützung der Grünen zu erhalten. Aber die Grünen hatten, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung schrieb, den Pazifismus aus ihrem Souffleurkasten vertrieben. Fragen mit pazifistischem Grundansatz galten in den Fraktionssitzungen der Grünen als degoutant. In der Debatte um den Kosovo-Krieg tauchte das Problem der Konvertiten auf, das ich aus Katholizismus und Protestantismus kannte. Der Konvertit wird vom Saulus zum Paulus. Er tauscht seinen Glauben, seine Weltanschauung gegen eine neue aus und vertritt diese mit noch größerer Überzeugung. Aus dem Slogan »Frieden schaffen ohne Waffen« wird »Frieden schaffen mit aller Gewalt«. Joschka Fischer beispielsweise hatte einmal gesagt: »Ich wünsche mir, dass unsere Partei die Kraft hat, dass dort genügend Pazifisten sitzen, um eine andere friedensbezogene Außenpolitik ohne Militär machen zu können.« Während des Kosovo-Krieges sagte er: »Ich habe nicht nur gelernt, nie wieder Krieg, sondern auch, nie wieder Auschwitz. Die Bomben sind nötig, um die >serbische SS< zu stoppen.« Rudolf Scharping sprach vom »Blick in die Fratze der deutschen Vergangenheit, von Völkermord, Selektierung, Konzentrationslagern«. Und weiter: »Wer dem Grauen keinen Ausdruck gibt, macht die davon betroffenen Menschen klein und austauschbar.« Und er zeigte täglich im Fernsehen die Bilder des Grauens. Immer neue Gräuelfotos von ermordeten Albanern. Während die Bundesregierung, wie dargestellt, argumentierte, sagte der Schriftsteller Peter Handke: »Wir wollen ein neues Auschwitz verhindern. Gut, jetzt hat die Nato ein neues Auschwitz erreicht... Damals waren es Gashähne und Genickschusskammern; heute sind es Computer-Killer aus 5000 Meter Höhe.« Ich empfand es als wohltuend, dass CDU-Politiker vor der moralischen Überhöhung des deutschen Kriegsbeitrags warnten. Denn politisch ist die übermoralisierende Begründung des Krieges im Kosovo ein Sprengsatz. Wer so argumentiert wie Fischer und Scharping, kann nicht mehr begründen, warum er Mord und Vertreibung in vielen anderen Teilen der Welt nicht militärisch bekämpft. Nüchtern abwägende Politiker können begründen, warum das nicht geht. Moralisch argumentierende Politiker haben auf die Frage, warum sie in anderen Teilen der Welt nicht eingreifen, keine Antwort. Wenn wir Menschenrechtsverletzungen wie im Kosovo ahnden wollten, müssten wir die halbe Welt bombardieren. Es steht jedem selbstverständlich frei, seine Meinung zu ändern, aber ein radikaler Kurswechsel birgt immer die Gefahr der Übertreibung. Die Gleichsetzung der schrecklichen Vorgänge im Kosovo mit Auschwitz, das Umwandeln von »Nie wieder Krieg« in »Nie wieder Auschwitz« war eine solch unzulässige Übertreibung. Die Kriegspropaganda machte die Serben zu den Bösen und die Albaner zu den Guten. Heißt aber »Nie wieder Auschwitz« nicht auch, dass nie wieder ein ganzes Volk als die alleinige Ursache des Bösen dargestellt werden darf? Auch wenn Fischer später zurückruderte, so kann ich seine Rolle im Kosovo-Konflikt im nachhinein nicht gut heißen. Zwar hatte er frühzeitig die Kehrtwende vollzogen und auf dem Bielefelder Parteitag der Grünen den Beschluss durchgesetzt, dass auch militärische Gewalt zum Erzwingen des Friedens notwendig sei. Er hatte aber die Koalitionsvereinbarung unterschrieben und versprochen, sich dafür einzusetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren. Musste er all die schlimmen Fehler mitmachen, obwohl er als Außenminister die Gelegenheit hatte, massiv dagegenzuhalten? Es war unverzeihlich, den Amerikanern zu folgen und die UNO zur Seite zu schieben. Wer Frie denspolitik machen will, muss das internationale Recht stärken. Er darf es nicht schwächen. Genau das aber ist im Kosovo-Krieg geschehen. Es war unverzeihlich, nicht darauf zu bestehen, dass Russland eingebunden wird. Wie Gerhard Schröder Primakow behandelt hat, war völlig unangemessen. Erst als das Kind schon im Brunnen lag, erkannten Schröder und Fischer, dass ohne Russland keine europäische Friedensordnung möglich ist. Wir brauchen in der Außen- und Sicherheitspolitik ein koordiniertes europäisches Handeln. Zumindest Deutschland und Frankreich müssen wie zu den besten Zeiten Giscards und Schmidts oder Mitterrands und Kohls an einem Strang ziehen. Aber Gerhard Schröder findet keine richtige Einstellung zur französischen Politik. Zudem kann man nicht behaupten, dass die »Kohabitation« zwischen Chirac und Jospin die Handlungsfähigkeit der französischen Politik verbessert. Der britische Premierminister
Tony Blair kann wenig zur europäischen Handlungsfähigkeit beitragen. Er kämpft mit der traditionellen britischen Europafeindlichkeit und setzt auf Events und Infotainment. Bezeichnend war auch, dass China zuwenig einbezogen wurde, obwohl China als Atommacht ein Vetorecht im UNSicherheitsrat hat. Die, soweit man heute weiß, unbeabsichtigte Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad verschärfte die Situation. Anerkannt werden muss, dass Gerhard Schröder bei seinem Besuch in Peking den richtigen Ton traf und erreichte, dass sich die Dinge im Verhältnis zu China wieder zum Besseren wendeten. Der so unglücklich verlaufene Kosovo-Krieg gibt jetzt die Möglichkeit, die Out-of-AreaEinsatzplanungen der Nato neu zu überdenken. Zu viele Fragen bleiben unbeantwortet, wenn man der Nato diese neue Aufgabe geben will. Dass Soldaten zur Verteidigung ihres Landes und ihrer Familien ihr Leben einsetzen, braucht nicht begründet zu werden. Dass sie diese Verpflichtung auch für ein anderes Land im Rahmen eines gegenseitigen Beistandspakts übernehmen, kann ebenfalls begründet werden. Warum aber sollen sie ihr Leben einsetzen, um als Schlichter oder Polizisten in einem Bürgerkrieg für Ruhe und Ordnung zu sorgen? Einen richtigen Hass, wie man ihn vielleicht spüre, wenn das eigene Land angegriffen werde, hätten sie nicht gefühlt, sagten Bundeswehrsoldaten nach ihrem Einsatz im Kosovo. Die Zweifel führten zu der Strategie der Luftschläge. Man wollte vermeiden, dass Nato-Soldaten ihr Leben ließen. Der Luftkrieg minimierte zwar das Risiko für die eigenen Soldaten, steigerte aber das Risiko der Albaner und der Serben. Ein MenschenrechtsInterventionismus, der aus verständlichen Gründen das Leben der eigenen Soldaten schont, aber das Leben anderer Menschen um so mehr gefährdet, stößt auf Skepsis und Ablehnung. Kürzer formuliert, im Namen der Menschenrechte unschuldige Menschen umzubringen, ist auch dann nicht begründbar, wenn solch tragisches Geschehen als Kollateralschaden bezeichnet wird. Hier zeigt sich wieder einmal, dass im Krieg nichts so verräterisch ist wie die Sprache und dass das erste, was auf der Strecke bleibt, die Wahrheit ist. Kann sich irgend jemand vorstellen, dass der Nato-Sprecher Jamie Shea, der mich allein schon deshalb erschreckte, weil er oft so heiter und locker wirkte, den Tod der eigenen Frau oder der eigenen Kinder als Kollateralschaden bezeichnen würde? Ulrich Beck schrieb dazu: »Aus alledem geht hervor, wie groß die Verwirrung ist, die das globale Zeitalter im Felde der Gesellschaft und der Politik stiftet. Die grenzenlose Selbstermächtigung eines militärischen Humanismus der Menschenrechte ist äußerst gefährlich. Die Befugnis, mit moralischem Anspruch in anderen Staaten einzufallen, kann zur Quelle eines neuen Kreuzrittertums der Menschenrechte werden. Es ist in einer Welt voller Diktatoren die Einladung zum unendlichen Krieg, ein Freibrief zum Missbrauch. Und dies im Zeitalter einer technizistischen Militär-Chirurgie, welche die operative Kontrollierbarkeit des Krieges in der Weltrisikogesellschaft vorgaukelt.« Den gegenteiligen Standpunkt formulierte Vaclav Havel. Er schrieb in einem Essay mit dem Titel »Das Kosovo und das Ende des Nationalstaats«: Die Bombardierung Jugoslawiens, für die es kein UN-Mandat gab, habe »die Menschenrechte über die Rechte des Staates gestellt. ... Dies geschah jedoch nicht in unverantwortlicher Weise, als aggressiver Akt oder in Missachtung des internationalen Rechts. Im Gegenteil. Es geschah aus Achtung vor dem Recht, einem Recht, das höher steht als jenes, das die Souveränität der Staaten schützt. Die Allianz hat aus der Achtung vor den Menschenrechten gehandelt, wie es sowohl das Gewissen als auch internationale Rechtsdokumente gebieten.« Dieses »höhere Recht« habe seine »tiefsten Wurzeln außerhalb der wahrnehmbaren Welt«. »Während der Staat ein Werk des Menschen ist, ist der Mensch ein Werk Gottes.« Anders gesagt: Die Nato durfte internationales Recht verletzen, weil sie als unmittelbares Werkzeug des >höheren Rechts< Gottes handelte. Es bedarf keiner großen Phantasie um sich auszumalen, was in Asien, Afrika oder Südamerika alles möglich wird, wenn sich dort Interventionsstreitkräfte auf das höhere Recht Gottes berufen. Während des Kosovo-Krieges beging die Nato den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Nordatlantik-Vertrags. Die Atlantische Allianz hatte sich nicht nur als militärisches Bündnis verstanden. Sie hielt sich immer auch für eine Wertegemeinschaft. Das kann man im Nato-Vertrag nachlesen. Hier bekennen sich die Partner zu den Grundwerten der Freiheit in der Demokratie und des Rechtes. Sie verpflichten sich, • in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zu handeln, • jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Weg zu regeln, • den Frieden, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht zu gefährden und • sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zu enthalten.
Im Kosovo-Krieg hat die Nato alle Verpflichtungen über Bord geworfen. Sie handelte gewaltsam, ohne ein erforderliches Mandat der UNO. Die Militäreinsätze erfolgten unter Bruch des Völkerrechts und standen im Gegensatz zu den Verpflichtungen des Nato-Vertrags. Das moderne Kriegsvölkerrecht hat seine Grundlagen in den Genfer Abkommen von 1949 und den Zusatzprotokollen von 1977, die ebenfalls im wesentlichen gewohnheitsrechtlich von den Völkern anerkannt sind. Das erste Zusatzprotokoll bestimmt, dass weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen Ziele von Angriffen sein dürfen. Gewaltanwendung mit dem »hauptsächlichen Ziel«, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten. Genau das aber war das Ziel der Bombardie rung durch die Nato. Konnte sich die Bundesregierung anfangs noch auf eine hohe Zustimmung der Bevölkerung zu den Bundeswehreinsätzen im Kosovo stützen, so änderte sich mit jedem Tag des Krieges das Meinungsbild. Die Anzeichen verdichteten sich, dass der Krieg die Zahl der Menschenrechtsverletzungen nicht verringert, sondern gesteigert hatte. Im Europawahlkampf war die Stimmung schon eine andere geworden. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnte die Vorgehensweise der Nato ab. Zu einer Zeit, in der schon wieder über Rentenkürzungen und Kürzungen von Arbeitslosengeld geredet wurde, klang es in den Ohren der Bürgerinnen und Bürger merkwürdig, dass wir in Jugoslawien Straßen, Brücken, Schienenwege, Energieversorgungs- und Wasserversorgungsanlagen bombardierten und zerstörten, um sie direkt, wenn die Waffen schwiegen, mit dem Geld der ohnehin gebeutelten Steuerzahler wiederaufzubauen. Die Zerstörung der jugoslawischen Wirtschaft und Infrastruktur war auch eine Folge der Kriegführungsstrategie der Nato. Rückblickend müssen wir uns fragen, wo wir hinkommen, wenn internationales Recht missachtet wird und das Grundgesetz bis zur Verbiegung interpretiert wird, weil man sich, ob ausgesprochen oder nicht, auf ein archaisches Recht stützt: das Recht des Stärkeren. Niemand kann in einer Welt des Rechts zugleich Ankläger, Richter und Henker sein. Wer so handelt, darf sich nicht wundern, wenn das international Schule macht. Der Kosovo-Krieg war für die internationale Staatengemeinschaft ein Rückschritt. Wenn man diese Politik fortsetzen wollte, dann wäre die erste Konsequenz, die Verteidigungsministerien wieder so zu benennen, wie sie früher einmal hießen: Kriegsministerium. Ein Verteidigungskrieg war der Kosovo-Krieg sicher nicht. Das Argument, wir müssen die Menschenrechte verteidigen, trägt allein deshalb schon nicht, weil man Menschenrechte nicht dadurch verteidigt, indem man unschuldige Menschen umbringt. In seinem Buch Die einzige Weltmacht schreibt der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski: »Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Das ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.« Die Weltpolitik braucht neben der einzigen Weltmacht ein starkes und geeintes Europa. Die einzige Weltmacht ist so leicht in Gefahr, wie Helmut Schmidt schreibt, »mit innenpolitisch motivierter Rücksichtslosigkeit ihre aktuellen Interessen durchzusetzen«. Eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, das hat auch der Kosovo-Krieg gezeigt, ist notwendiger denn je.
Die Mediengesellschaft
Dass sich die Bedingungen der Politik im Lauf der Zeit deutlich verändert haben, ist heute ein Allgemeinplatz. Unsere Gesellschaft ist eine Mediengesellschaft geworden. Es ist daher an der Zeit, über die Folgen, die die Mediengesellschaft für die Politik hat, nachzudenken. Meiner Auffassung nach sind es sehr nachteilige Folgen. Damit dieses Urteil nicht als eine persönliche Marotte des medienkritischen Oskar Lafontaine abgetan werden kann, zitiere ich Wolfgang Schäuble: »Politik im Medienzeitalter... steht unter permanenter Beobachtung und damit unter dauerndem Erfolgszwang. Das hat nichts mit dem Herstellen notwendiger demokratischer Transparenz zu tun, sondern es handelt sich um das Umfunktionieren normaler politischer Prozesse in eine Abfolge von scheinwerferbeleuchteten Ereignissen. Gerade bei Verhandlungen über schwierige Fragen, die ein Nachdenken über komplexe Zusammenhänge und diskursives Herantasten an sachgerechte Lösungen erfordern, also meistens zeitaufwendig sind, ist eine künstlich dramatisierte Ereignisöffentlichkeit der erste Schritt zur Negativsaldierung des Geschehens in der öffentlichen Wahrnehmung. Denn melden die beteiligten Politiker nach einem derart aufgeladenen Treffen nicht unmittelbar Vollzug, so gilt das Gespräch als gescheitert, oder die Nachricht lautet, man habe sich ergebnislos vertagt, was sozusagen ein halbes Scheitern ist. Die moderne Infotainment-Kultur huldigt lieber der fetzigen Überschrift, der flotten Schlagzeile und bestenfalls noch Fünf-Zeilen-Meldungen, in denen die komplizierte Wirklichkeit kaum eine Chance hat... Die Inszenierung von Politik wird als ihr Erfolg verkauft, die Substanz bleibt dann entbehrlich. Gerade das Fernsehen hat tiefe Spuren in unserer politischen Kultur hinterlassen, die nicht alle positiv sind: die Personalisierung und Skandalisierung der politischen Berichterstattung, was zu entsprechender Wahrnehmung und Bewertung des politischen Geschehens führt; die Distanzlosigkeit des Mediums gegenüber der Privatsphäre des einzelnen und des sich in die Öffentlichkeit Begebenden, was oft mit einem Verlust jeglicher Würde einhergeht.« Entscheidend ist, dass die Medien, vor allem das Fernsehen, unsere Wahrnehmung verändern und damit uns verändern. Der Einwand, es komme immer darauf an, was wir aus den Medien machen, ist bekannt. Aber dieser Einwand ist mehr als zweifelhaft. Er unterstellt, dass wir frei über die Technik verfügen können. Das ist aber eine Illusion. Natürlic h können wir über das Fernsehen an einem Gottesdienst teilnehmen. Wir konsumieren dann allerdings nur dessen Bild. Dieser Bilderbuch-Effekt ist aber das Gegenteil von dem, was wir bezwecken, nämlich beim Gottesdienst dabei zu sein. Hinzu kommt, dass solche Bilder, solange es nur das Medium Film gab, in der Gemeinschaft konsumiert wurden. Heute schauen wir Fernsehsendungen im Kreise der Familie oder mit Freunden an, noch öfter aber allein. Je einsamer die Menschen sind, um so länger sitzen sie vor dem Fernseher. Günther Anders schreibt, dass der Typ des MassenEremiten entstanden sei: »In Millionen von Exemplaren sitzen sie nun, jeder vom anderen abgeschnitten, dennoch jeder dem arideren gleich, einsiedlerisch im Gehäus' nur eben nicht, um der Welt zu entsagen, sondern um um Gottes willen keinen Brocken Welt zu versäumen... Keine Entprägung, keine Entmachtung des Menschen als Mensch ist erfolgreicher als diejenige, die die Freiheit der Persönlichkeit und das Recht der Individualität scheinbar wahrt.« Was bedeutet es, dass wir heute auch den Krieg live im Fernsehen erleben können? Charles Simic, der jugoslawische Lyriker schreibt: »Die Bombardierung von Städten gehört zu den großen Spektakeln des späten 20. Jahrhunderts. Das trifft heute im Fernsehzeitalter in noch viel höherem Maße zu als in den Tagen des Rundfunks und der Tageszeitungen, als vieles noch der Phantasie überlassen bleiben musste. Jetzt können wir uns mit einem kühlen Bier, einer Tüte Kartoffelchips auf das Wohnzimmersofa setzen und die nächtlichen Bombardements auf Bagdad oder Belgrad verfolgen. Ich bin sicher, dass die Bombardierung von Hiroshima oder Dresden live im Fernsehen übertragen worden wäre, wenn es die entsprechende Technologie bereits gegeben hätte. Heute sitzen wir in unseren Hausschuhen da und schauen uns solche Entsetzlichkeiten an.« Auch hier entsteht, wie bei der Übertragung eines Gottesdiensts die Illusion dabei zu sein. Aber wir sind eben nicht dabei, sondern trinken Bier oder essen Kartoffelchips. Unsere Wahrnehmung von den schrecklichen Geschehnissen wird verändert und daher auch unser Urteil. Schon den Krieg gegen den Irak erlebten die Fernsehzuschauer als »war game« aus der Computerwelt. Diese Veränderung der Wahrnehmung macht auch vor Staatsmännern nicht halt. Der französische Philosoph Paul Virilio
schreibt: »Heute ist die amerikanische Technologie für Clinton zu einer Art >Wonderland< geworden. Wie ein Kind auf dem Spielplatz, das nicht als schwach abgeschrieben werden möchte, will der Präsident alle seine wunderbaren Instrumente ausprobieren und vorzeigen. Was im Irak bereits durchgespielt wurde, wiederholt sich im Kosovo: Die große Supermacht muss einerseits auf dem Register des humanitären Mitleids spielen, andererseits ihrer globalen Vorherrschaft Geltung verschaffen. Also präsentiert sie ihr martialisches Arsenal: nicht nur die Marschflugkörper und die F107 die bereits im Irak eingesetzt wurden, sondern auch den B-2-Bomber - dessen Preis ungefähr dem Bruttosozialprodukt von Albanien entspricht.« Viel schlimmer aber noch ist, dass die perfekten Fernsehbilder den Anschein vermitteln, als sei der Krieg kontrollierbar. Fernsehkriegsteilnehmer müssen eine Einstellung zum Krieg haben, die elementar verschieden ist von der unserer Eltern. Sie haben die Schrecknisse des Krieges auf dem Schlachtfeld oder im Luftschutzbunker erlebt. Die Fernsehbilder verändern aber nicht nur unsere Wahrnehmung und unsere Erfahrung. Mehr und mehr bestimmen die Medien auch durch die Auswahl dessen, was sie zeigen, die politischen Entscheidungen. In Amerika nennt sich das »foreign policy by NBC«. Das Fernsehen bestimmt die Außenpolitik. Horst Grabert, ehemaliger Chef des Kanzleramts bei Willy Brandt und 1984 Botschafter der Bundesrepublik in Jugoslawien, schrieb, als der Kosovo-Krieg mit der Formel »nie wieder Auschwitz« begründet wurde: »Die Krajina liegt noch näher an Zentraleuropa als der Kosovo. Aber kaum jemand, der sich heute moralisch empört, hat bei der Vertreibung von immerhin rund 220000 Serben, die dort seit Maria -Theresia siedelten, nach den Menschenrechten gerufen. Was also ist eine Moral wert, die einen solchen Vorgang nicht registriert, den jetzigen aber dazu nutzt, militärisch anzugreifen? Diesen Vorwurf richte ich an die politisch Verantwortlichen und ausdrücklich nicht an die Menschen. Sie sind heute moralisch von der Vertreibung im Kosovo berührt, weil sie über die Medien persönlich damit konfrontiert wurden. Sie konnten es während der Krajina-Vertreibung nicht sein, weil die Medien nicht oder nur sehr wenig darüber berichtet haben.« Muss es uns nicht nachdenklich stimmen, dass die Entscheidung, ob ein Krieg begonnen wird, durch die Berichterstattung der Medien bestimmt wird? Henry Kissinger urteilt im Hinblick auf die im Kosovo-Krieg verantwortlichen Staatsmänner folgendermaßen: »So geschieht es, dass diese Politiker die Außenpolitik eher als einen mit ideologischen Zielen verbundenen Aspekt der Innenpolitik betrachten. Die Verfolgung strategischer Langzeitziele rückt dagegen in den Hintergrund. Sie wagten den Kosovo-Einsatz zumindest teilweise als Reaktion auf das öffentliche Entsetzen und die Fernsehbilder der Flüchtlinge. Doch eine ähnliche Furcht vor den Bildern alliierter Kriegstoter brachte sie andererseits dazu, eine militärische Strategie zu wählen, die auf perverse Weise die Leiden der Bevölkerung verstärkte, in deren Namen der Krieg angeblich geführt wurde.« Während Rudolf Scharping die täglichen Bilder des Grauens von ermordeten Albanern im Fernsehen zeigte, dachte ich an die Arbeit meiner Frau. Sie hat einen Verein (I)NTACT (Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen) gegründet. Weltweit sind 130 bis 150 Millionen Frauen beschnitten. Das Wort »Beschneidung« klingt harmlos. Doch weibliche Beschneidung bedeutet Folter. Denn die Geschlechtsorgane der Mädchen und Frauen werden auf schlimmste Art verstümmelt. Und sie bleiben es ein Leben lang, da der Eingriff nicht rückgängig zu machen ist. Das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit wird verletzt. Die Operationen werden nur in Ausnahmefällen in medizinischen Einrichtungen von geschultem Personal durchgeführt. Meist finden sie in einfachen Hütten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen statt. Die Operateure sind traditionelle Heilerinnen, Hebammen und Barbiere. Der Eingriff, der oft eine halbe Stunde dauert, wird ohne Narkose durchgeführt. Mehrere Frauen halten das Mädchen während der Operation mit Gewalt fest. Zwei Millionen Mädchen werden jährlich neu beschnitten. An den unmittelbaren Folgen sterben 5 bis 10 Prozent der Kinder. Das sind 100000 bis 200000 junge Mädchen jährlich. Ich stellte mir vor, was wohl passieren würde, wenn diese Bilder des Grauens täglich im Fernsehen gezeigt würden. Die Medien verändern aber nicht nur unsere Wahrnehmung, sie beeinflussen nicht nur unsere Entscheidungen, sondern sie formen auch die Akteure, die in den Medien auftreten. Die ständige Medienpräsenz führt zu narzisstischen Verhaltensweisen. Als Narzissmus bezeichnet der Psychotherapeut Alexander Löwen sowohl einen psychischen als auch einen kulturellen Zustand: »Auf der individuellen Ebene ist er eine Persönlichkeitsstörung, die gekennzeichnet ist durch eine
übertriebene Pflege des eigenen Image auf Kosten des Selbst. Narzisstische Menschen sind mehr daran interessiert, wie sie anderen erscheinen, als an dem, was sie fühlen. Tatsächlich leugnen sie Gefühle, die dem von ihnen angestrebten Image widersprechen. Da sie ohne Gefühl handeln, neigen sie zu verführerischem und manipulativem Verhalten und streben nach Macht und Herrschaft. Sie sind Egoisten, auf ihre eigenen Interessen ausgerichtet, aber ihnen fehlen die wahren Werte des Selbst nämlich Selbstausdruck, Gelassenheit, Würde und Integrität. Auf der kulturellen Ebene kann man den Narzissmus an einem Verlust menschlicher Werte erkennen - an einem Fehlen des Interesses an der Umwelt, an der Lebensqualität, an den Mitmenschen. Eine Gesellschaft, die die natürliche Umwelt dem Profit und der Macht opfert, verrät, dass sie für menschliche Bedürfnisse unempfindlich ist. Wenn Reichtum einen höheren Rang einnimmt als Weisheit, wenn Bekanntheit mehr bewundert wird als Würde, wenn Erfolg wichtiger ist als Selbstachtung, überbewertet die Kultur selber das >Image<, und man muss sie als narzisstisch ansehen.« Sehr früh hatte mich die Frage beschäftigt, warum ein Mann wie Ronald Reagan, der kein intellektueller Überflieger ist, amerikanischer Präsident werden konnte. Die Antwort: Er war ein Politiker, der im Medienzeitalter Politik als Infotainment verkaufte. Das konnte er hervorragend. Als Filmschauspieler wusste er sich im Fernsehen bestens in Szene zu setzen. Ja, er verstand es im Fernsehen eine Rede so vorzutragen, dass ich selbst, wie viele Fernsehzuschauer auch, auf den Trick hereinfiel. Da ich kein Manuskript sah, glaubte ich, Präsident Reagen hielte einen freien Vortrag, und war beeindruckt. Bis mir ein Medienfachmann erzählte, dass es einen auf dem Bildschirm nicht sichtbaren Teleprompter gebe, auf dem er die Rede ablesen konnte, und zwar so, dass der Zuschauer den Eindruck hatte, der Präsident spreche frei. Der Zuschauer wird also getäuscht. Und das scheint mir nicht unwesentlich zu sein. Ich selbst habe als Redner in kleinen oder größeren Versammlungen sehr schnell Kontakt zum Publikum gefunden, und mir gelang es oft, das Publikum zu begeistern. Das sah aber dann im Fernsehen, je nachdem, welcher Redeausschnitt gezeigt wurde, ganz anders, ja oft nachteilig aus. Ein Redner, der das Publikum erreichen will, muss ganz nahe bei dem sein, was er sagt. Er muss auch seine Leidenschaft äußern und versuchen, sein Publikum mitzunehmen. Im Fernsehen, insbesondere bei kurzen Ausschnitten, und nur solche werden in der Regel gesendet, kommt das ganz anders rüber. In seinem berühmten Aufsatz über die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks schreibt Walter Benjamin: »Noch bei der höchst vollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks; sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus... Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen und natürlich nicht nur der technischen Reproduzierbarkeit.« Vielleicht stört sich der eine oder andere bei diesen Sätzen an dem Begriff »Kunstwerk«. Doch schon im klassischen Altertum sprach man von der Kunst der Rhetorik. Ich kann verstehen, dass es heute schwer fällt, von der Kunst des Redens zu sprechen. Aber die Kunst des Redens ist eine Fähigkeit, die auch dann noch geschätzt werden sollte, wenn die Medien nur noch Halbsätze oder ein, zwei ganze Sätze in den Nachrichten übermitteln. Dass musikalische Erlebnisse nur unvollkommen durch Videos vermittelt werden können, ist mir beim andalusischen Flamenco aufgefallen. Während mich die Zeitungen in der Toskana wähnten, war ich über viele Jahre in Spanien, sehr oft in Andalusien. Ich war nicht nur von der Alhambra, der großen Moschee von Cordoba, von Sevilla oder Ronda begeistert, sondern vor allem vom Flamenco. Der Flamenco ist die ständige Suche nach einem gemeinschaftlichen Gefühl, dem der Interpret stellvertretend für seine Zuhörer Ausdruck verleiht. Er hat weniger den tosenden Applaus zum Ziel als vielmehr die direkte Kommunikation mit einem kleinen Publikum, in dem jeder sich angesprochen fühlt. Der Flamenco ist über viele Jahrhunderte eine reine Gesangskunst gewesen, doch er ist unvollständig ohne die Zurufe und das Händeklatschen der Zuhörer. Als Höhepunkt des Flamenco gilt, wenn das, was der Sänger in seinem Innern spürt, mit dem Gesungenen übereinstimmt. Der bereits von Benjamin beobachtete Verlust an Echtheit machte mir und sicherlich vielen meiner Kolleginnen und Kollegen in der Politik zu schaffen. Es entstand die Fensterrede, weil es ja nicht mehr darum geht, im Parlament in den Debatten die Abgeordneten zu überzeugen. Vielmehr geht es darum, möglichst gut auszusehen und bei den Fernsehzuschauern, die man nicht kennt und die man nicht sieht, gut anzukommen. Diesen Anforderungen entsprach Präsident Reagan in hervorragender Weise. Auch Bill Clinton verkörpert diesen Politikertyp. Er wirkt, wie Ronald Reagan, stets gut gelaunt und hat, wie in der Fernsehwerbung, immer ein aufmunterndes optimistisches Lächeln auf den Lippen. Reagan und Clinton haben viele Nachahmer in der Politik. Zwar gelingt das ständige Lächeln bei
weitem nicht jedem, aber einigen ist es doch zur zweiten Natur geworden. Peinlich wird es, wenn das Lächeln so zur Gewohnheit geworden ist, dass es auch dann noch gezeigt wird, wenn der Anlass ein trauriger, gar ein todtrauriger ist. So irritierte mich während des Kosovo-Krieges stets das Lächeln des Nato-Sprechers Jamie Shea. Ein Beobachter nannte seine Pressekonferenzen ein »virtuoses Verkaufsgespräch«. Mit Tony Blair betrat auch in Europa ein Politiker die Bühne, der fernsehgerecht war. Tony Blair sieht gut aus, lächelt stets fröhlich und optimistisch und verfügt über die Rhetorik eines guten Predigers. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint, Blair repräsentiere eher ein Marketingkonzept als ein politisches Konzept. Jean Baudrillard bescheinigt der politischen Klasse, dass sie keinen »spezifischen Charakter« mehr habe. »Ihr Ele ment ist nicht mehr Entscheidung und Handlung, sondern das Videospiel.« Ihre Intervention beschränke sich mehr und mehr auf »die Berechnung von Spezialeffekten«. Die Politiker verlören ihre »politische Aura« - und »könnten im Mediendenken der Massen durch Vertreter des Showgeschäfts oder des Sports ersetzt werden, das heißt durch echte Profis«. Das ist eine vernichtende Kritik an der Arbeit der Politiker unserer Zeit. Aber führen die heutigen Strukturen der Öffentlichkeit nicht notwendigerweise dazu, dass Politik nach den Gesetzen des Fernsehens und der Fernsehwerbung gemacht wird? Und was sind die Konsequenzen? Politik wird dann sehr kurzatmig, weil Bilder und Themen schnell wechseln. Es kommt darauf an, in den Fernsehnachrichten desselben Tages gut auszusehen. Es kommt darauf an, in den Schlagzeilen des folgenden Tages, insbesondere in denen der Boulevardpresse, gut wegzukommen. Politik wird dadurch zum Mediengeschäft und löst sich von längerfristigen Konzepten. So war Bill Clinton mit dem Vorhaben angetreten, sozialpolitische Reformen im Gesundheitsbereich, in der Sozialpolitik und im Bildungsbereich durchzuführen. Gelandet ist er bei einer Politik, die den neoliberalen Ansätzen der Republikaner entspricht. Auch seine Außenpolitik lässt ein strategisches Konzept vermissen. Erratisch wirkende Luftangriffe auf den Irak, auf den Sudan, auf Afghanistan und seine Entscheidung, im Kosovo-Krieg ähnlich vorzugehen, belegen das. Es versteht sich, dass Tony Blair derjenige war, der dem amerikanischen Präsidenten immer sofort zur Seite sprang. Charles de Gaulle nannte Großbritannien den Brückenkopf der Vereinigten Staaten in Europa. Tony Blair wiederum ist es gelungen, mit seinen Spindoctors in Europa den Eindruck zu vermitteln, als mache er eine ganz neue, nicht traditionell sozialdemokratische Politik. Inwieweit das Interesse der deutschen Wirtschaftsverbände, England als Musterbeispiel für neoliberale Politik hinzustellen, bei der Entstehung die ses Image geholfen hat, lasse ich einmal dahingestellt. Tatsache ist, dass die wirklichen Entscheidungen der Regierung Blair in der englischen Innenpolitik das Gegenteil von dem sind, was in unverbindlichen marktgerechten Kampagnen vorgegaukelt wird. Was auch immer die Regierung Blair macht, es wird mit den Etiketten »modern« und »neu« versehen, und schon ist es verkaufbar. »New Labour, New Europe, New everything«, lästert man selbst in der Downing Street. Vielleicht ist ein solcher Politikstil in unserer Mediengesellschaft unvermeidlich. Aber ich kann und will einem solchen Politikstil nichts abgewinnen. Nachhaltigkeit wäre heute nötig, nicht Kurzfristigkeit oder Kurzatmigkeit. Es ist sicherlich unvermeidbar, in Wahlkämpfen die Gesetze der Werbung zu beachten. Aber muss es so sein, dass in den Wahlkämpfen Versprechen gemacht werden, die nach den Wahlen wieder zurückgenommen werden? In der Steuerpolitik beispielsweise haben wir erlebt, wie Bush, Chirac oder Kohl in diese Falle tappten. Deshalb bestand ich darauf, dass die SPD solche Fehler nicht machen dürfe. Politischer Erfolg besteht nicht aus hohen Einschaltquoten oder hohen Popularitätswerten. Politischer Erfolg besteht für mich darin, in manchmal zäher und harter Arbeit Verbesserungen für die Lebensbedingungen der Menschen durchzusetzen.
Der flexible Mensch
Immer wenn Mitglieder einer nationalen Zentralbank gefragt werden, warum die Arbeitslosigkeit in Europa nicht abgebaut werden könne, antworten sie: »Die Geldpolitik hat ihre Aufgabe erfüllt, nur Strukturreformen auf den Arbeitsmärkten werden zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen.« Auf diese Standardformel lässt sich auch die Antwort der Europäischen Zentralbank reduzieren, wenn sie gefragt wird, warum die Arbeitslosigkeit in Europa so hoch ist. Kein Wort kennzeichnet besser die Fehlentwicklungen der Politik des zu Ende gehenden Jahrhunderts wie das Wort von der Flexibilität der Arbeitsmärkte. Schon das Wort »Arbeitsmarkt« verleitet zu der Vermutung, dass sich Arbeitskräfte, also Menschen, auf einem Markt feilbieten, auf dem dann irgendwelche Kaufwilligen, also Unternehmer, diese Menschen beschäftigen. Aber der Mensch ist keine Ware. Im Zusammenhang mit Menschen Wörter zu benutzen, die eigentlich nur auf Dinge anwendbar sind, zeigt den Verlust an Menschlichkeit in der Politik. Schon lange stört es mich, wenn auch Gewerkschaftskolle gen, die das nicht böse meinen, von »Arbeitsmarkt« sprechen. Und wenn ich selbst einmal im Eifer des Gefechts die ses Wort benutze, ärgere ich mich nachher darüber. Die menschliche Würde verträgt sich nicht mit einer solchen Sprache. Noch problematischer wird es, wenn das Wort «Arbeitsmarkt« ergänzt wird um das Wort »flexibel«. Gemeint ist, dass das Arbeitsrecht - die Bedingungen also, unter denen Menschen Arbeit finden - so verändert wird, dass mit Menschen disponiert werden kann wie mit Warenbeständen oder mit Geldbeträgen. An dieser Stelle wird die Auswirkung der Globalisie rungsdebatte am deutlichsten. Die Globalisierung wird als Waffe gegen die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft, des Sozialstaats, eingesetzt. Den europäischen Arbeitern wird erzählt, sie müssten sich dem Wettbewerb mit den Arbeitern auf der ganzen Welt stellen. Man verweist auf Länder, in denen es keinen Mindestlohn gibt, in denen rund um die Uhr gearbeitet wird, und das für einen Lohn, der nur ein Bruchteil des europäischen Lohnes ist. In diesen Ländern gibt es keine Gewerkschaften, und Kinder müssen ebenfalls arbeiten. Daher müssen wir auch in Europa flexibel sein, sagen die Neoliberalen. Sie vermeiden es, mehr Nachtarbeit, mehr Wochenendarbeit, mehr Überstunden und niedrigere Löhne zu fordern. Das Wort flexibel klingt so modern und hat eine verschleiernde Wirkung. Dabei ist es bezeichnend, dass die Vorschläge zur Flexibilität in der Regel von Berufsgruppen kommen, die nicht im Traum daran denken, für sich selbst flexible Arbeitsverhältnisse wie 630-MarkJobs oder Zeitarbeitsverträge auch nur zu erwägen, wie etwa von Mitgliedern der Zentralbankräte oder Professoren, die auf Lebenszeit Beamte sind. Das Normalarbeitsverhältnis, das dem Arbeitenden eine soziale Sicherung und einen Zeitrahmen gibt, in dem er sein Leben planen kann, ist eine wichtige kulturelle Errungenschaft der modernen Gesellschaft. Wie das Arbeitsverhältnis in der Zukunft aussehen soll, das ist eine zentrale Frage der Politik. An dieser Stelle entscheidet sich, ob Menschlichkeit und Humanität Grundlagen einer modernen Gesellschaft bleiben. Wenn das Normalarbeitsverhältnis immer weiter ersetzt wird durch flexible Beschäftigungsverhältnisse, dann geht der Gesellschaft etwas verloren. Schon Max Weber sprach davon, dass der Mensch ein Gehäuse brauche, um seine Zeit auszulegen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett sagt, dass Normalarbeitsverhältnisse der Charakterbildung dienen. Sie vermitteln Werte wie Treue und gegenseitige Verpflichtung. Sie befähigen, langfristige Ziele zu verfolgen. Umgekehrt führen fle xible Arbeitsverhältnisse, wenn kein anderer Ausgleich gegeben ist, nach seiner Meinung zur Zerstörung des Charakters und zum Verlust der Selbstachtung. Der Abbau der sozialen Sicherheit und des Kündigungsschutzes erzeugt bei den Menschen Angst, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Flexibilität und Mobilität führen dazu, dass Freundschaften flüchtig bleiben und die Eingebundenheit der einzelnen in die örtliche Gemeinschaft immer brüchiger wird. Auch auf die Familien wirken sich Flexibilität und Mobilität aus. Während die Familie Bindung fordert, fordern Fle xibilität und Mobilität, in Bewegung zu bleiben und keine Bindungen einzugehen. Das Wort »Beruf« hat etwas mit Berufung zu tun. Der Verlust der beruflichen Identität ist für die Menschen oft mit Schmerzen verbunden. Bei der Wiedervereinigung war zu beobachten, dass nicht nur materielle Wünsche der Ostdeutschen unerfüllt blieben. Vielmehr war oft zu hören, dass der Bruch in der Arbeitswelt und der Verlust des erlernten Berufs zu einem Gefühl der Wertlosigkeit geführt
haben. Von der Entwertung der menschlichen Fähigkeit war die Rede, und diese kann eben nicht in betriebswirtschaftlichen oder ökonomischen Kategorien ausgedrückt werden. Daher ist die Frage, unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten, heute eine Kernfrage der Gesellschaft. Und diese Kernfrage muss die Linke anders beantworten als die neoliberalen »Modernisierer«. Dieser Kernfrage kann man nicht ausweichen, indem man darauf verweist, dass ein Rentner mit einem 63o-Mark-Job seine Rente etwas aufbessern kann oder dass eine Hausfrau, nachdem sie die Kinder großgezogen hat, sich ein Taschengeld dazuverdienen kann. Um solche Fälle geht es nicht. Der Rentner hatte in der Regel ein identitätsstiftendes Normalarbeitsverhältnis, und für die Hausfrau war die Erziehung der Kinder und die Familienarbeit identitätsstiftend. Es geht vielmehr um die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses durch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und befristete Arbeitsverträge. Noch arbeiten in Deutschland 27,7 Millionen Menschen in Vollzeitarbeitsverhältnissen. Doch die Stammbelegschaften schrumpfen. 3,9 Millionen Arbeitnehmer haben bereits einen befristeten Vertrag. Auch die Zeitarbeit boomt. 1998 waren 575ooo Menschen als Leiharbeiter im Einsatz. Fünf Jahre zuvor waren es noch 266000. Viele hoffen, auf die sem Weg den Sprung in eine feste Anstellung zu schaffen. Die 63o-Mark-Jobs, deren Zahl auf 3 bis 6 Millionen geschätzt wird, repräsentieren in Deutschland einen breiten Niedriglohnsektor, der durchaus mit dem der viel gelobten Vereinigten Staaten vergleichbar ist. Dazu kommen die Scheinselbständigen. Wenn sie ihre Arbeit verlieren, bekommen sie weder Arbeitslosengeld noch eine gesetzliche Rente. Ein Kündigungsschutz besteht ebenfalls nicht. Wer entlassen wird, weil er krank oder zu alt ist, dem bleibt nur noch die Sozialhilfe. Bei der Scheinselbständigkeit herrscht das Gesetz des Marktes. Seltene Spezialisten, wie Informatiker, sind gefragt. Sie verdienen sehr viel und haben natürlich die Möglichkeit, sich privat gegen Risiken zu versichern. Diejenigen unter den neuen Scheinselbständigen aber, die Niedriglöhne erhalten, müssen jeden Arbeiter oder Angestellten um sein sicheres Gehalt beneiden. Die klassischen Selbständigen wie Ärzte und Anwälte, Handwerker und Architekten stehen nicht allein da. Sie haben sich in Kammern, Innungen und Berufsverbänden organisiert. Diese Einrichtungen helfen ihnen, wenn sie Probleme haben. Die neuen Selbständigen aber, insbesondere diejenigen, die zu sehr niedrigen Löhnen arbeiten, haben niemanden, der sich für sie zuständig fühlt. Es ist gut, dass Gewerkschaften sich jetzt um diese Leute kümmern. Die Rechnung, Sozialversicherungsbeiträge zu sparen, geht gesamtgesellschaftlich nicht auf. Was die Firmen sparen, zahlt die Gesellschaft, sobald ein Scheinselbständiger seine Arbeit verliert, als Sozialhilfe. Es war daher richtig, dass die rot-grüne Bundesregierung unmittelbar nach dein Machtwechsel daranging, die Auswüchse der Flexibilität in der Arbeitswelt zu begrenzen. Es war ebenso richtig, einen Trend zu stoppen, der darauf hinauslief, dass sich immer mehr Mitbürger der Pflicht, Beiträge an die sozialen Sicherungssysteme zu zahlen, entziehen wollten. Die sozialen Sicherungssysteme dienen dem Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie sollen auch denjenigen zugute kommen, die unverschuldet in Not geraten sind. Die sen zu helfen ist aber nicht nur Aufgabe eines Teiles der Gesellschaft. Ein Sozialstaat definiert sich gerade dadurch, dass alle Staatsangehörigen über die Sicherungssysteme einander Solidarität und Hilfe gewähren. Die neoliberale Auffassung, dass eine private Versicherung der Lebensrisiken einer sozialstaatlichen vorzuziehen sei, ist ein Rückfall in das Denken des 19. Jahrhunderts. Dieser Meinung sind in der Regel die Mitbürger, die nach menschlichem Ermessen nicht in die Situation existentieller und materieller Not geraten. Auffallend war nur, dass beim Frontalangriff auf die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und der Scheinselbständigkeit nur der Arbeitsminister und einige Abgeordnete der Bundestagsfraktion dagegen hielten. Es gelang der Regierung nicht, deutlich zu machen, dass es im Kern um den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft geht. Auch eine moderne Gesellschaft kann das, was in vielen Jahren an verlässlichen Beziehungen in der Arbeitswelt aufgebaut wurde, nicht preisgeben. Letztlich sind verlässliche Beziehungen Grundlage eines demokratischen Staates. Ohne verlässliche Bindungen kommt auch eine moderne, demokratische Gesellschaft nicht aus. Eine Job-Hopper-Gesellschaft, in der viele Menschen ohne soziale Absicherung zu ständiger räumlicher und beruflicher Mobilität verpflichtet sind, ist keine humane Gesellschaft. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass ungesicherte Arbeitsverhältnisse im Medienbereich dazu führen, dass die Mitarbeiter die Schere schon im Kopf ansetzen und die Beschränkungen einer eventuellen Zensur vorwegnehmen. Schließlich möchten sie ihren Arbeitsplatz behalten. Europaweit ist ein ähnlicher Effekt im Bildungsbereich zu beobachten. Die jungen Nachwuchskräfte werden zu
unsicheren Bedingungen eingestellt und erhalten ungenau definierte Arbeitsgebiete. Sie sind dadurch zu einer bestimmten Art von Konformismus verurteilt. Ähnliches wird auch für die Forschung beobachtet. Wenn der Trend zu ungesicherten Arbeitsverhältnissen weitergeht, wird die Gesellschaft eines Tages feststellen, dass die ökonomische Zensur schlimmer sein kann als eine politische Zensur. Sie hat weitreichende soziale Auswirkungen. Die Soziologen sprechen bereits von einer Mentalität der Unsicheren. Die Organisation des Arbeitsmarkts hat auch etwas mit Freiheit und Demokratie zu tun. Um frei zu sein, braucht man eine feste Arbeit. Der zeitlich befristet Beschäftigte muss bei allem, was er tut, daran denken, was die jenigen dazu sagen, die über seine Weiterbeschäftigung entscheiden. Es entsteht eine Art Unterordnung. Die Zensurmechanismen sind auf den ersten Blick nicht erkennbar. Claus Koch hat in der Süddeutschen Zeitung auf den mit der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse einhergehenden Verlust an Verantwortlichkeit hingewiesen: »Ein deutscher Männertyp, dem man immer seltener begegnet, der hagere Arbeiter ... Ein Mensch der Maschinenwelt und ihrer Arbeitsorganisation, daher autoritär im Dienst der Maschinen und Organisationsvernunft, aber auch zäh im Rebellieren. Ein Typ der Verantwortlichkeit ... Die Dienstleistungsgesellschaft kann mit einer Verantwortlichkeitsmoral dieser Art nichts anfangen, weil diese Autorität auch Erfahrung voraussetzt, somit auf Dauerhaftigkeit gestellt ist. Das ist den windschlüpfrigen Selbstvermarktern unbequem.« In einem Thesenpapier des wirtschaftspolitischen Diskussionskreises von Gerhard Schröder, das im September 1997 veröffentlicht wurde, wurden diese Zusammenhänge noch gesehen. Es hieß dort: »Die Menschen bei uns lehnen den Irrweg der konservativen Ideologien ab, also dem Anpassungszwang einer globalisierten Ökonomie durch Abbau der Arbeits- und der sozialen Beziehungen zu genügen. Denn die Phänomene sozialer Erosion in den USA und zunehmend auch in Großbritannien sind unübersehbar. Die angestrebte Synthese von hochmoderner Ökonomie und sozialer Integration ist dort nirgends in Sicht.« Und weiter heißt es: »Deshalb müssen wir die Rahmenbedingungen für einen effizienten Einsatz des Faktors Arbeit in Deutschland neu justieren. Angesichts des hohen Veränderungsdrucks von außen, angesichts des Verlusts traditioneller Sicherheiten werden die Menschen aber die von ihnen gewünschte, nie geforderte Mobilität und Flexibilität nur nachvollziehen, wenn sie sicher sein können, dass ihre existentielle Lebensgrundlage nicht bedroht ist. Nur in einem >Korridor der Verlässlichkeit< werden alte Positionen geräumt, werden neue Wagnisse eingegangen.« Die Verfasser dieses Schröder-Papiers waren Hombach und Mandelsohn weit voraus.
Der dritte Weg ist ein Holzweg
Nach meinem Rücktritt war die Reaktion der Presse fast einheitlich. Nun habe Gerhard Schröder die Chance, die »Modernisierung« endlich in Angriff zu nehmen. Allzu lange habe er Lafontaine und dem Parteiapparat nachgegeben. Der Spiegel schrieb: »Nun strebt Schröder eine schnelle Stimmungswende an. Mit neuem Elan wollen die SPD-Modernisierer ihre Projekte vorantreiben, unterstützt durch die Grünen, die am vergangenen Freitag rasant auf einen wirtschaftsliberalen Kurs einschwenkten: • Die Steuerreform, Teil eins, wird zwar durchgezogen. Aber schon zum i. Januar 2000 soll die Industrie kräftig von einer Reform der Unternehmenssteuern profitieren. Den Familien soll das Karlsruher Urteil zugute kommen. • Neuen Schwung versprechen sich die Schröder-Leute für das Bündnis für Arbeit und den Energiekonsens: ohne Buhmann Lafontaine kann Schröder mit wohlgesinnten Unternehmern rechnen. • Handwerklich saubere Arbeit fordert der Kanzler für die weiteren Reformvorhaben, die die Wirtschaft treffen: Gesundheit, Rente, Niedriglohn. Endlich soll verwirklicht werden, was der Kanzler nach dem Chaos der ersten 100 Tage versprochen hat: Genauigkeit vor Schnelligkeit. Lobbyisten und Wirtschaftsverbände triumphierten über Lafontaines Abgang, als gelte es, den zweiten Sieg des Kapitalismus über die Planwirtschaft zu feiern. >Das ist einer der schönsten Tage meines beruflichen Lebens<, jubelte Hans Schreiber, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes der Versicherungsunternehmen: Lafontaine war ein Kapital- und Arbeitsplatzvernichter.< Blendend gelaunt kommentierte auch Hans-Olaf Henkel die Nachricht. >Jetzt hat sich der Kanzler von einer Fußfessel befreit<, frohlockte der Industriepräsident, >nun hat er nur noch eine - und die heißt Trittin.< Die Börsen erlebten ein Kursfeuerwerk wie schon lange nicht mehr: Binnen sieben Minuten legte die europäische Währung gegenüber dem Dollar um zwei Cent zu; der Deutsche Aktienindex Dax kletterte am Freitag in der ersten Viertelstunde im Vergleich zum Vortag um über 300 Punkte, mithin um 6 Prozent - Vorschußlorbeeren für Schröder.« Die albernen Jungs des britischen Boulevardblattes Sun jubelten ebenfalls und taten so, als seien ihre dämlichen Überschriften der Anlass für meinen Rücktritt. Unter unseren Gegnern gibt es bekanntlich solche und solche. Fjodor M. Dostojewski, einer meiner Lieblingsautoren, schreibt: »Zudem gibt es ja verschiedene Opponenten: nicht mit jedem kann man sich in ein Gespräch einlassen. Ich will hierzu eine Fabel erzählen, die ich vor ein paar Tagen hörte. Man sagte mir, es sei eine uralte Fabel, womöglich indischen Ursprungs, was überaus beruhigend ist. >Einmal geriet ein Schwein mit einem Löwen in Streit und forderte ihn zum Duell. Nach Hause zurückgekehrt, besann es sich und bekam Angst. Die ganze Herde versammelte sich, man dachte nach und beschloss also: ,Siehst du, Schwein, hier in der Nähe ist eine Jauchegrube; geh hin, wälze dich in ihr herum, und erscheine dann so auf dem Kampfplatz. Dann wirst du schon sehen.' Das Schwein tat, wie ihm geheißen. Der Löwe kam, schnupperte, zog die Nase kraus und ging weg. Noch lange nachher rühmte sich das Schwein, dass der Löwe Angst bekommen hätte und vom Kampfplatz weggelaufen sei.<« Wäre es nur der Geruch der Jauchegrube gewesen, um in der uralten Fabel zu bleiben, so wäre ich nicht vom Kampfplatz gegangen. Ich war über dreißig Jahre auf dem Kampfplatz und habe den Geruch oft in der Nase gehabt. Widerstand hat mich nicht zur Resignation gebracht, sondern eher zu größeren Anstrengungen angespornt. Während des Bündnisses für Arbeit musste ich mich oft verstellen, um ein spöttisches Grinsen zu unterdrücken. Die ökonomischen Auffassungen der Verbandssprecher der Arbeitgeber halte ich, wie man mittlerweile weiß, für töricht. Es bereitete mir Vergnügen, ihnen ökonomische Daten entgegenzuhalten, die zumindest kurzfristig für Irritationen sorgten. Bei meiner Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge und meinem Plädoyer für die Abkehr vom Neoliberalismus müsste ich an mir zweifeln, wenn meine Politik nicht auf Widerstände stoßen würde. Ausschlaggebend für meinen Rückzug war, dass Gerhard Schröder das Mandat der Wählerinnen und Wähler hat und dass ein sozialdemokratischer Parteivorsitzender nicht die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler suchen kann.
Mit Verwunderung und Zorn verfolgte ich, wie nach meinem Rücktritt Gerhard Schröder versuchte, die SPD auf den Holzweg des sogenannten dritten Weges zu führen. Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass Teile der SPD-Führung, allen voran der neue Parteivorsitzende, nicht verstanden haben, womit und warum wir die Bundestagswahlen gewonnen haben. Besorgt schrieb der Vorsitzende der ÖTV, Herbert Mai, den Mitgliedern seiner Gewerkschaft, zu denen ich auch gehöre, am zz. März 1999 einen Brief: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklungen und Ereignisse der vergangenen Wochen haben eine Debatte darüber ausgelöst, ob die neue Bundesregierung einen Politikwechsel einleiten und dabei die Interessen der Wirtschaft stärker als bisher berücksichtigen solle. Dazu beigetragen haben massive Interventionen der Wirtschaftsverbände und bestimmter Branchen sowie deren einseitige publizistische Unterstützung durch konservative Medien. In dieser Situation in einen Wettbewerb zwischen SPD und Bündnisgrünen einzutreten und den Unternehmen in kurzen Abständen immer niedrigere Steuersätze sowie weitere Deregulierungen des staatlichen Ordnungsrechts anzubieten birgt das Risiko einer wachsenden Abhängigkeit der Regierungstätigkeit von Entscheidungen, die in Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden sowie einzelnen Konzernzentralen getroffen werden. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 27. September 1998 war eine deutliche Absage an die von CDU/CSU und FDP angekündigte Fortsetzung einer vornehmlich angebotsorientierten Wirtschafts-, Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. SPD und Bündnis 90/Die Grünen errangen die parlamentarische Mehrheit, weil beide Parteien versprochen haben, die Beschäftigungspolitik in den Mittelpunkt ihres Regie rungshandelns zu stellen, die materielle Umverteilung von unten nach oben zu beenden und für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen.« Damit man das Urteil von Eierbert Mai nicht als Vorurteil eines »Traditionalisten« zur Seite legen kann, zitiere ich das Institut für Demoskopie Aliensbach. Es kam im Juni 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter der Überschrift »Verlieren die sozialdemokratischen Konzepte an Glanz?« zu dem Ergebnis: nicht die Leitidee, sondern die Regierungspolitik wird abgelehnt: »Angesichts der Wahlergebnisse, die die SPD-geführte Regierung in diesem Jahr hinnehmen musste, stellt die Bevölkerung heute der SPD, nur wenige Monate nach dem triumphalen Ergebnis bei der Bundestagswahl, eine negative Prognose. Immer mehr erwarten, dass die SPD künftig weiter an Rückhalt verliert. Nimmt man die offene Distanzierung des Bundeskanzlers in dem gemeinsamen Papier mit Tony Blair von dem bisherigen SPD-Programm wie von der eigenen Politik der ersten neun Monate hinzu, drängt sich der Eindruck auf, dass sozialdemokratische Konzepte in der Gesellschaft heute nur noch so geringe Anziehungskraft ausüben, dass selbst der SPD-Vorsitzende sich damit keinen Erfolg mehr verspricht. Dabei kann keine Rede davon sein, dass klassische sozialdemokratische Leitideen in der Bevölkerung aus der Mode gekommen sind. Ein starker fürsorglicher Staat, ein weit ausgebautes soziales Netz und Gleichheitsideale haben in der Bevölkerung einen hohen Stellenwert. Der Ausgang der Bundestagswahl war ein Plebiszit für die Erhaltung des Sozialstaats, gegen die Reformpolitik der alten Regierung. Es ging den Wählern keineswegs, wie häufig angenommen, primär um neue Gesichter... Mehr Eigenverantwortung, weniger Staat - damit verbindet die Bevölkerung in erster Linie die Erwartung einer zunehmenden sozialen Differenzierung, mehr Kälte und Egoismus, wachsende Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und weniger Schutz für Benachteiligte und Minderheiten... Nicht nur ein starker Staat und ein möglichst umfassendes soziales Netz, sondern auch die Gleichheitsideale, die ein fester Bestandteil sozialdemokratischer Programmatik sind, finden durchaus nach wie vor breite Resonanz. Eine relative Mehrheit ist überzeugt, dass sich ein Land besser entwickelt, in dem nicht nur Chancengleichheit gewahrt wird, sondern das auch nach Gleichheit im Ergebnis strebt. Die wachsende Kritik an der Regie rung ist daher nicht darauf zurückzuführen, dass die klassischen sozialdemokratischen Konzepte in der Bevölkerung an Anziehungskraft verloren hätten.« Im Sommer 1999 wurden wieder Nullrunden bei den Löhnen oder eine Anhebung der Löhne nur im Rahmen des Inflationsausgleichs gefordert, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dabei wurde übersehen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland in genau der Zeit verstärkt anstie g, in der die Lohnquote am stärksten zurückging, nämlich in den letzten zwanzig Jahren. Dem DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte blieb nur noch eine grobe Antwort. Er sagte, es gebe gute und weniger gute Vorschläge, und es gebe blöde Vorschlä ge. Der Vorschlag, die Löhne nur im Rahmen des Inflationsausgleichs zu erhöhen, gehöre sicher zu den blöderen Vorschlägen. Der Juso-Landesvorsitzende von Mecklenburg-Vorpommern, Matthias Brodkorb, macht deutlich, dass die Diskussionsbeiträge der »Modernisierer« sich allmählich der Lächerlichkeit preisgeben. Er
spottete: »Wir fordern Solidarität von den Unternehmern. Ihre Gewinne sind alleine 1998 um 30,5 Prozent gestiegen. Wir schlagen vor, auch die Gewinnentwicklung an die Inflationsrate zu koppeln.« Er sprach mir aus dem Herzen. Es ist nicht zu fassen. Die Aktienkurse stiegen nach der Deutschen Einheit Jahr für Jahr, und der Dax steht auf historisch hohem Niveau. Die Gewinne der Unternehmen sind explodiert. Die Zahl der Milliardäre hat zugenommen. Große Vermögen werden jährlich vererbt. Die Deutsche Steuergewerkschaft sagt, dass mehr als 800 Milliarden Mark von den Deutschen am Staat vorbei in Steueroasen verschoben wurden. Der Internationale Währungsfonds schätzt solche Fluchtgelder in Steueroasen international auf sieben Billionen Dollar. Die Reallöhne der Arbeitnehmer stagnieren oder sinken, und da schwafeln sie schon wieder über Nullrunden. Leistung, das heißt Arbeit, lohnt sich immer weniger, Geldbesitz lohnt sich immer mehr. Welche Entwicklung hat zu dieser geistigen Verwirrung geführt, die uns täglich mit solch abenteuerlichen Vorschlägen konfrontiert? Erinnern müssen wir uns daran, dass schon die Regierung Kohl im Jahre 1982 gemerkt hat, dass etwas in unserer Gesellschaft nicht stimmte. Sie versprach eine geistig-moralische Wende. Sie versprach mehr Anstand, mehr Gemeinsinn, mehr Zusammenhalt. Und sie versprach selbstverständlich eine stärkere Orientierung der Gesellschaft an den konservativen Werten. Am Ende ihrer Regierungszeit waren die Dinge aber nicht besser geworden. Im Gegenteil: Heute sprechen viele von der Ellbogengesellschaft. Mobbing ist zum neuen Modewort geworden. Unter dem Deckmantel von Liberalität und Individualismus triumphieren Ichsucht und Selbstbezogenheit. Gesellschaftskritiker beklagen den fortschreitenden Verfall der Werte. Wer wie die Regierung Kohl die Politik auf Marktradikalismus und Deregulierung ausrichtete, musste den sozialen Konsens aufs Spiel setzen. Zu Recht sprachen wir vor der Bundestagswahl von der Entsolidarisierung der Gesellschaft. Dabei wussten wir, dass nicht die Politik allein die Ursache des gesellschaftlichen Wertewandels ist. Wenn sich aufgrund des gestiegenen Wohlstandes die Bindungen einzelner an herkömmliche Institutionen wie Familie, Kirche oder Gewerkschaften lockern, dann relativieren sich Normen und Werte. Die Homogenität früherer Gesellschaftsklassen und -schichten hat sich in eine Vielzahl sozialer Milieus aufgelöst. Entsprechend unterschiedlich sind Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen. Die Medien, voran die visuellen, helfen kräftig mit, aus Relativität Unverbindlichkeit, aus Pluralismus Beliebigkeit zu machen. Unter Liberalität wird verstanden, dass im Prinzip fast alles gleichermaßen gilt, fast alles gleichermaßen erlaubt ist. Gewertet wird in erster Linie nach dem Maßstab der Zuschauerquote. Was bewegt viele Menschen, die für ein paar Groschen ohne Anzeichen von Scham in Talk-Shows ihr Intimstes vor einer voyeuristischen Öffentlichkeit entblößen? Worin liegt der Reiz der vielen Filme, in denen Gewalt ästhetisiert oder verherrlicht wird? Und wie viel hat Politik dabei zu verantworten? Der individualistische Freiheitsbegriff des Neoliberalismus gefährdet ironischerweise sich selber. Er verkennt, dass individuelle Freiheit nur so lange gedeiht, wie sie in gesellschaftliche Solidarität eingebettet ist. Durch eine Auffassung von Freiheit, die die Individualität überbetont, aber die gesellschaftliche Solidarität vernachlässigt, werden die Menschen voneinander getrennt. Schon Alexis de Tocqueville, selbst ein Liberaler, hat eine solche Entwicklung vorausgesehen. »Ich will mir vorstellen«, schreibt er, »unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte: Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber: Seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden.« Über diese Masse von Vereinzelten, meint Tocqueville, könne man leicht eine absolute Herrschaft stülpen. Sie müsse nur Sicherheit, Ordnung und billige Vergnügungen garantieren und für die Einsicht sorgen, dass dies auch zum Glücklichsein ausreiche. »Der Despotismus«, schreibt er, »kann sich seines Fortbestands nie sicherer sein, als wenn es ihm gelingt, die Menschen voneinander abzusondern.« Nun ist die Gefahr eines wie auch immer gearteten neuen Totalitarismus keineswegs gebannt. Wenn heute zum Beispiel kritische Geister angesichts bestimmter Entwicklungen der Informationsgesellschaft vor einem möglichen Totalitarismus warnen, dann ähneln ihre Befürchtungen denjenigen Tocquevilles: In dem Maß, wie die isolierten und entsolidarisierten Individuen oder Grüppchen über die Bildschirme durch eine Flut seichter Unterhaltung und gefärbter Informationen zufrieden - oder zumindestens ruhiggestellt werden, könne die absolute politische Herrschaft in diesel-
ben Hände fallen, in denen die demokratisch unkontrollierte Verfügungsmacht über die Medien liegt. Die Wahl des Medienmoguls Berlusconi zum italienischen Ministerpräsidenten ist ein Signal. Am Ende des 20. Jahrhunderts entspricht die politische Ideologie des Neoliberalismus vordergründig einem Zeitgeist, der die Individualisierung der Gesellschaft verklärt. Die FDP beispielsweise gefällt sich deshalb in der Vorstellung, ihr gehöre die Zukunft. Verständlich ist diese politische Fata Morgana ja: Jede Partei, die über Jahre am Abgrund des politischen Existenzverlusts steht, braucht zum Erhalt des Selbstbewusstseins die Illusion einer verheißungsvolleren Zukunft. Der blinde Eifer aber, mit dem sich Neoliberale und »Modernisierer« ans Stutzen der Sozialleistungen machten, behinderte offensichtlich das Nachdenken über die Probleme, die in einer entsolidarisierten Ellbogengesellschaft entstehen. Denn wenn es richtig ist, und dafür spricht vieles, dass eine entsolidarisierte Gesellschaft für autoritärere Formen von Gemeinschaft anfälliger wird - man denke nur an die Erfolge der Rechtsradikalen bei den Landtagswahlen -, dann untergräbt letztlich ein sozialstaatlich ungebremster Wirtschaftsliberalismus das gesellschaftliche Fundament der individuellen Freiheit. Vor diesem Hintergrund sind die Debatten beim Nachwuchs der SPD und der Grünen mehr als verwunderlich. Gerade hat die FDP in allen Wahlen erfahren, wie »begeistert« die Menschen von ihren Vorstellungen sind. Und die soziale Wirklichkeit in den liberaleren angelsächsischen Demokratien sollte dem politischen Nachwuchs der SPD und der Grünen eigentlich bekannt sein. Auch wenn heute die demokratischen Strukturen der westeuropäischen Gesellschaft denjenigen der nordamerikanischen weitgehend gleichen, haben doch die europäischen Länder andere geschichtliche Entwicklungen hinter sich. Sie haben andere Traditionen und eine andere politische Kultur. Die individualistisch-freiheitliche Tradition in den Vereinigten Staaten wird in der Welt bewundert. Gleichwohl hat sie ihre Schattenseiten. Ein Blick in die Geschichte der Emigration aus der »Alten« in die »Neue Welt« im 19. Jahrhundert genügt, um festzustellen, wie stark zum Beispiel die Anziehungskraft der Vereinigten Staaten auf den anarchistischen Flügel der europäischen Arbeiterbewegung war. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass diese ursprünglich anarchische Veranlagung der nordamerikanischen Gesellschaft ausgerechnet dasjenige Gebiet am nachhaltigsten geprägt hat, auf dem die anarchistischen Emigranten sie noch am ehesten hätten missen wollen: den Bereich der Ökonomie. Neuerdings haben amerikanische Kommunitaristen ihren Landsleuten wieder bewusst gemacht, wie sehr die anarchische Veranla gung der angloamerikanischen Marktwirtschaft die Herausbildung von Gemeinsinn und gesellschaftlicher Solidarität behindert. In einem schon klassischen Plädoyer für eine »starke Demokratie« schreibt Benjamin Barben »Die anarchistische Disposition hat zwar ein ausgeprägtes Gespür für öffentliche Zwangsgewalten - für den Staat, die Mehrheit, ja selbst für die gebieterische Erhabenheit des Rechts -, bleibt aber gegenüber privaten Zwangsgewalten blind, gleichgültig ob sie Aktiengesellschaften oder dem anarchischen Geist entspringen.« Den Europäern bekäme es sicherlich nicht schlecht, wenn sie in manchen Bereichen der Gesellschaft weniger auf den Staat fixiert wären. Und es bekäme auch ihren politischen Vertretern nicht schlecht, wenn sie einiges von ihrer Zuständigkeit in die Hände der Gesellschaft legten. Dass die politischen Repräsentanten von den Bürgerinnen und Bürgern für alles, was schlecht läuft, verantwortlich gemacht werden, ist die Antwort darauf, dass sich diese Repräsentanten ihrerseits für alles, was gut läuft, verantwortlich erklären. Eine Kultur der demokratischen Beteiligung setzt voraus, dass die zivile Gesellschaft einen Teil der Verantwortung übernimmt. Die Staatsfixierung der europäischen Gesellschaft steht der Herausbildung jenes innovativen Pioniergeists, von dem die nordamerikanische Gesellschaft so starke Impulse erhält, im Weg. Aber genauso wenig fördert es den Zusammenhalt und das allgemeine Wohlbefinden der Gesellschaft, wenn dafür im Wirtschaftsleben ein fundamentaler Anti-Etatismus herrscht und die politische Handlungsfähigkeit lahm legt. Kein anderer Bereich des gesellschaftlichen Lebens wird stärker vom individuellen Gewinnstreben geprägt als die Ökonomie. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass selbst die jenigen, die ansonsten jedem Hauch von libertärem Geist in der Gesellschaft abgeneigt sind und nur allzu schnell nach »law and order« rufen, bedenkenlos die anarchische Disposition der Marktwirtschaft verteidigen. Was aber, wenn der Gewinn ausbleibt? Dann gilt eben eine andere Wahrheit. Denn allem Anschein nach hält man es in der Unternehmerschaft in Sachen Marktwirtschaft mit zwei Wahrheiten, eine für die guten und eine für die schlechten Zeiten. Schreibt ein Unternehmen schwarze Zahlen, dann lautet seine marktwirtschaftliche Wahrheit: keine Einmischung des Staates in die Wirtschaft, keine Subventionen an mögliche Konkurrenten und keine sozialen und ökologischen Aufla gen. Aber wenn der Gewinn
ausbleibt, ändert sich das Bild. Subventionen werden gefordert. Für die durch einen Konkurs arbeitslos Gewordenen hat der Staat zu sorgen. Immerhin herrscht Einigkeit darüber, dass ein »freier« Markt erst durch einen Ordnungsrahmen konstituiert wird, der den Warenverkehr und die wirtschaftlichen Abläufe regelt. Strittig ist, wie umfassend dieses Regelwerk sein soll. Die Politik wird mit einer anderen Elle gemessen als die Wirtschaft. Ihr Ziel ist das Allgemeinwohl und nicht der private Gewinn. Zwar fordert die hohe Arbeitslosigkeit imperativ ein politisches Gegensteuern. Solange aber die geeigneten Regelungen der Marktwirtschaft dafür fehlen, wird jede Wirtschaftspolitik an dem Problem scheitern. Die seFeststellung ist keineswegs als Rechtfertigung einer bürokratischen Regelungswut gemeint. Es wäre nicht sinnvoll, die Marktwirtschaft grundsätzlich in ein straffes Korsett von Regelungen zu zwängen und ihre dynamischen Kräfte zu fesseln. Aber überall dort, wo durch die Marktwirtschaft soziale Verwerfungen entstehen, ist es Aufgabe der Politik, Abhilfe zu schaffen. Nicht die Gesellschaft hat dem Wohl der Wirtschaft zu dienen, sondern die Wirtschaft dem Wohl der Gesellschaft - diese Binsenweisheit wird mitunter vergessen. Und wer sie in Erinnerung ruft, wird als »Gestriger«, »Traditionalist« oder »Betonkopf« abgestempelt. Denn der gesellschaftliche Diskurs über die wirtschaftliche Entwicklung und die Zukunft der Gesellschaft, der in Deutschland unter der Bezeichnung »Standortdebatte« geführt wird, ist einseitig durch die neoliberal-konservative Sichtweise der Unternehmerverbände geprägt. In ihrem 1996 erschienenen, vielgelesenen Essay mit dem Titel »Der Terror der Ökonomie« beklagt Viviane Forrester, dass den Menschen die Fähigkeit genommen wird, die vorherrschende Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung anders als in den von ihren Vertretern angebotenen, reduzierten Kategorien wahrzunehmen. Diese Kritik an der eindimensionalen marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung des ausgehenden 20. Jahrhunderts liest sich wie eine Bestätigung der visionären Weitsicht Tocquevilles. »Um die Menschen besser unterwerfen zu können«, so schreibt Viviane Forrester, »lenkt die jeweilige Macht den menschlichen Organismus von der schwierigen, gefährlichen Übung des Denkens ab, sie vermeidet die Genauigkeit, die so selten ist, ja schon die Suche nach der Genauigkeit, um die Massen besser dirigieren zu können.« Und in der Tat: Bestimmte weniger das materielle Interesse einer gesellschaftlichen Gruppe als vielmehr die Schärfe des Denkens oder die Richtigkeit der Fakten und Argumente die Standortdebatte, dann wäre eine solche ideologische Einseitigkeit unmöglich. Mag sein, dass die Wirklichkeit von Viviane Forrester bisweilen mit spitzer Feder überzeichnet wird. In der Tendenz trifft ihre Kritik aber ins Schwarze. Zugegeben, die Unternehmerverbände haben die Gunst der Stunde für eine ideologische Offensive gut genutzt. Nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg war dafür eine Zeit besser geeignet als die letzten Jahre. Mit dem Eisernen Vorhang zwischen Ost und West ging zugleich eine Schranke auf dem Weltmarkt hoch. Der wirtschaftlichen Globalisierung stand kein Hindernis mehr im Weg. Selbstverständlich ist die Globalisierung für die westeuropäische und vor allem für die vom Export lebende deutsche Wirtschaft eine starke Herausforderung. Die Unternehmer müssen unter den neuen Umständen eines schärferen globalen Wettbewerbs auf eine Anpassung der heimischen Rahmenfaktoren und auf eine Verbesserung ihrer Produktionsbedingungen drängen. Aber die deutsche Exportwirtschaft ist die wettbewerbsfähigste der großen Industrienationen. Um diesen Vorsprung zu halten, müssen wir investieren. Wir brauchen gute Schulen und Hochschulen, hervorragend ausgestattete Forschungseinrichtungen und eine gute Infrastruktur bei Straßen, Schienen und Telekommunikationswegen. Derje nigen Wirtschaft wird die Zukunft gehören, die über die höchste Energieproduktivität und die umweltverträglichste Technologie verfügt. Die im europäischen Vergleich kränkelnde englische Wirtschaft zahlt jetzt für die »Tradition der Unterinvestition im Staat«, wie Gordon Browns Ministerium festgestellt hat. Rolls-Royce und Rover wurden von deutschen Automobilherstellern gekauft. Man stelle sich vor, was in Deutschland los wäre, wenn Mercedes, BMW oder Volkswagen von englischen Automobilfirmen gekauft worden wären. Auch die angelsächsische Tradition des Sozialabbaus ist wirtschaftlich unvernünftig. In ihrem Papier schreiben sogar Schröder und Blair: »Für uns ist öffentliche Verschuldung nicht generell abzulehnen - während eines zyklischen Abschwungs kann es Sinn machen, die automatischen Stabilisatoren arbeiten zu lassen. Und Verschuldung mit dem Ziel höherer öffentlicher Investitionen, in strikter Beachtung der »goldenen Regel« , kann eine wichtige Rolle in der Stärkung der Angebotsseite der Ökonomie spielen.« Wer den Sozialstaat abschafft, hat aber keine automatischen Stabilisatoren mehr zur Verfügung. »Die Tradition der Unterinvestition« greift jetzt auch auf den Unternehmensbereich über. Der deregulierte
Weltfinanzmarkt bietet im Finanzanlagen- und Spekulationsbereich Profitraten, die höher sind als die der nationalen Produktionsbetriebe. Daher sind Finanzinvestitionen viel schneller gewachsen als die produktiven Investitionen. Der seit Mitte der siebziger Jahre in der Europäischen Gemeinschaft festgestellte Rückgang der Investitionsquote ist darauf zurückzuführen. Der Weltfinanzmarkt hat allerdings nicht nur Auswirkungen auf die Investitionsquoten, sondern führt zu einem spürbaren Wandel der Unternehmenskulturen. Immer mehr Unternehmen beschaffen sich das Kapital durch den Gang zur Börse. Dadurch sind sie immer stärker den kurzfristigen Interessen der Aktionäre (der Shareholder) verpflichtet. Das führt dazu, dass die Entscheidungen durch das Denken in kurzen Fristen und variablen Kosten bestimmt werden. Zu den variablen Kosten gehören besonders die Lohnkosten. War viele Jahrzehnte der Arbeitnehmer noch Mitarbeiter und daher auch zur Mitverantwortung und Mitbestimmung aufgerufen, so wird er jetzt auf eine Kostenstelle reduziert. Das ist der springende Punkt - und er lässt sich kaum besser veranschaulichen als mit jener Begebenheit, an der sich auch Viviane Forresters »heiliger Zorn« entzündet hat. Erinnern wir uns: In allen Nachrichten wurde der 8. März 1996 als »Schwarzer Freitag« für die internationalen Finanzmärkte vermeldet. An der Wall Street war der Dow Jones abgestürzt, europäische und andere Börsenkurse fie len ebenfalls. Ausgelöst worden war diese Panik durch die Veröffentlichung, dass in den USA die Arbeitslosigkeit in einem unerwartet hohen Ausmaß zurückginge. Die amerikanische Regierung hatte bekannt gegeben, dass im vorangegangenen Monat Februar 705 000 neue Arbeitsplätze entstanden seien. Die französische Tageszeitung Le Monde bemerkte zu diesem Kurssturz am 12. März 1996 lapidar, die Börse reagiere eben empfindlich auf jede »schlechte Nachricht«. Damit ist schon alles gesagt. Daniel Goeudevert meinte: »Es ist ein geradezu perverses Signal, wenn eine Firma ankündigt, dass sie Arbeitsplätze abbauen will, und dann steigen die Aktienkurse.« Steigende Aktienkurse, das allein ist es, was die meisten Aktionäre von den verantwortlichen Managern ihres Unternehmens erwarten. Dass große Aktiengesellschaften gerade in diesen Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Riesengewinne an der Börse erzielen, ist nicht verwunderlich. So angebracht es ist, eine Logik in Frage zu stellen, die Unternehmen zu Entlassungen zwingt, um den Kurs ihrer Aktien hochzuhalten, so absurd wäre es, einem privaten Unternehmer das Streben nach Gewinn vorzuwerfen. Der Gewinn ist der Zweck seines wirtschaftlichen Handelns. Auch kann es nicht darum gehen, Rationalisierungen zu verteufeln. Sie dienen der Produktivitätssteigerung. Produktivität ist ein wesentlicher Faktor der wirtschaftlichen Leistungskraft. Sie ist Voraussetzung für kurze Arbeitszeiten und gute Löhne. Rationalisierung und Konzentration der Produktion sind für manche Unternehmen die einzige Chance, sich im harten globalen Wettbewerb zu behaupten. Andere Unternehmen, die schon blendend im Geschäft sind, versuchen auf diese Weise, mittels preisgünstiger Angebote ihre Marktanteile zu vergrößern. Wiederum andere wollen nur ihren Gewinn erhöhen. Nach den Regeln der »freien« Marktwirtschaft ist selbst daran nichts verwerflich: Warum auch sollte ein privater Unternehmer Arbeitskräfte beschäftigen, die er nicht braucht? Es ist Aufgabe der Politiker, da für zu sorgen, dass das private marktwirtschaftliche Handeln innerhalb eines Ordnungsrahmens abläuft, der die Handelnden dazu zwingt, soziale und ökologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. In Deutschland herrscht derzeit immer noch ein ideologisches Klima, in welchem jeder, der eine solche Aufgabe angeht, sofort zu hören und zu lesen bekommt, ihm fehle es an Modernität. Die Unternehmerverbände tun das Ihrige dazu. Sie erzeugen mit ihren Kampagnen »Deutschland ist nicht wettbewerbsfähig, wir verlagern Arbeitsplätze ins Ausland« ein Klima, das die Durchsetzung der am Gemeinwohl orientierten Entscheidungen erschwert. Die Art und Weise, wie dabei die Öffentlichkeit durch die Verbreitung falscher Tatsachen und unstimmiger Argumente häufig hinters Licht geführt wird, grenzt an Volksverdummung. Der Neoliberalismus hätte die ideologische Lufthoheit über Deutschland nicht so leicht errungen, wenn er sich nicht mit dem Pathos der Gemeinnützigkeit verkauft hätte. Lange Zeit war der Glaube an die Segnungen eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums Kern dieser Ideologie. Die ökologischen Kritiker eines ungezügelten Wachstums wurden mit der Behauptung mundtot gemacht, Wachstum garantiere mehr Arbeit. Nachdem dann offenkundig geworden war, dass die Wirtschaft auch »beschäftigungslos« wächst, musste ein neues Prinzip her, um die Gemeinnützigkeit der Unternehmerinteressen zu betonen: Je größer der unternehmerische Gewinn ist, um so geringer ist die Arbeitslosigkeit. In der Tat, die Arbeitslosigkeit korreliert mit dem Gewinn, eine Korrelation freilich mit zwei entgegengesetzten Vorzeichen. Ein Unternehmen wird nicht expandieren und mehr Arbeits-
kräfte einstellen, wenn es keinen Gewinn erzielt. Das ist die eine Wahrheit. Die andere Wahrheit ist: Ein Unternehmen kann seinen Gewinn steigern, indem es Beschäftigte entlässt. In einer Wirtschaft ohne die entsprechenden sozialen Auflagen ist der Gewinn per se noch längst kein Garant für Arbeit. Warum also die Öffentlichkeit mit Halbwahrheiten irreführen? Es bestreitet doch kein ernst zu nehmender Mensch, dass auch Arbeitgeber zum Gemeinwohl beitragen, indem sie ihre Interessen verfolgen. Aber nicht immer ist das, was der Wirtschaft nützt, gut für alle Menschen. Welch großes Gewicht die Wirtschaft auf eine systematische Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Sinn der eigenen Interessen legt, lässt sich gut an dem Aufschwung ermessen, den der Lobbyismus genommen hat. Consulting- Firmen verdienen heute gutes Geld damit, dass sie für die Zwecke ihrer Auftraggeber Meinungen manipulieren, Stimmungen machen, politische Entscheidungsträger »bearbeiten«. Gegen die ausgeklügelten Überzeugungstechniken solch professioneller Meinungsmacher im Dienst partikularer Interessen geraten die echten Argumente für das Gemeinwohl oft ins Hintertreffen. Der Politik kann man vieles nachsagen, Berechtigtes und weniger Berechtigtes aber eines wird man ihr nicht absprechen können: Für eine demokratische Politik ist das Gemeinwohl der letzte Zweck. Dieser Zweck bestimmt das Handeln der Akteure so stark, dass selbst der Korrupteste sich ihm nicht völlig entziehen könnte. Die Globalisierung - ihre Anforderungen und mutmaßlichen Folgen - erzeugt Verunsicherung, in der Wirtschaft und in der Gesellschaft. Darauf baut die ideologische Offensive des Neoliberalismus auf. Die Globalisierung wird zum Popanz aufgebauscht, damit der Schreck die Öffentlichkeit konzessionswilliger macht. Der Standort Deutschland, einer der besten der Welt, wird dabei in Verruf gebracht - um die Senkung der Unternehmensteuer, Sozialabbau und Lohnmäßigung durchzusetzen. Neben der Globalisierung hat der Untergang des Kommunismus das ideologische Auftrumpfen des Neoliberalismus begünstigt. Die bedingungslose Kapitulation der »realsozialistischen« Wirtschaftsund Gesellschaftsordnungen beendete den Ost-West-Konflikt. Demokratie und Marktwirtschaft hatten gesiegt. Zyniker könnten nostalgisch werden, wenn sie an den Kalten Krieg zurückdenken. Wie bequem für den Westen war doch die bipolare Weltordnung, die klare Trennung in eine westlich-kapitalistische und eine östlich-kommunistische Macht- und Einflusssphäre! Schon der Vergleich mit dem abschreckenden östlichen Gegenmodell verlieh den westlichen Demokratien eine ausreichende Legitimation. In Zukunft müssen sich diese Demokratien an ihren inneren Ansprüchen messen lassen und aus ihren eigenen Zielen rechtfertigen. Ein »eiserner Vorhang« hielt den westlichen Arbeitsmärkten die Konkurrenz der östlichen »man power« vom Leibe. Und im globalen Wettbewerb der Wirtschaftssysteme war die soziale Marktwirtschaft den staatlichen Planwirtschaften überlegen. Den Menschen im Westen erschien das stetige Wachstum ihres Wohlstands wie ein Naturgesetz. Zwar hatte der Wohlstand seinen Preis: die l ortschreitende Zerstörung der Natur und die Rohstoffausbeutung der Dritten Welt. Aber diesen Preis der Verschwendung kostbarer Ressourcen musste der Westen ja nur zum Teil bezahlen. Sein Einsatz gegen den Hunger und das Elend in den armen Ländern, die die Rohstoffe liefern, blieb bescheiden. Der Fall der Berliner Mauer traf den Westen unvorbereitet. Er war so schnell nicht erwartet worden. Erst heute wird deutlich, was sich damit alles verändert hat. Der Kalte Krieg war gekennzeichnet durch den mit großem technologischem und finanziellem Aufwand betriebenen Rüstungswettlauf. Er war gekennzeichnet durch eine harte, ideologische Auseinandersetzung sowie durch den Konkurrenzkampf der ökonomischen Systeme. Der hoffnungslos unterlegene Ostblock wäre schon früher zum Offenbarungseid gezwungen worden, hätte er sich nicht hinter Stacheldraht verschanzen können. Erst nachdem die Mauer niedergerissen worden war, zeigte sich das volle Ausmaß des Bankrotts. Seither herrscht, von Ausnahmen abgesehen, weltweit die Marktwirtschaft. Gemäß ihren Gesetzen organisiert sich die Weltgesellschaft. Stellt man den vergangenen Ost-West-Konflikt der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen auf einer grafischen Achse dar, dann bildet den rechten Pol ein Kapitalismus angloamerikanischer Prägung und den linken ein Kommunismus mit stalinistischen Strukturen. Dazwischen aber liegt eine breite Mitte, in der sich Elemente aus den beiden Polsystemen ergänzen. Die »Konvergenztheoretiker« der fünfziger Jahre hatten gehofft, der Ost-West-Konflikt würde in dem Maße abflauen, in dem die Wirtschaftssysteme sich annäherten. Genährt wurden solche Illusionen auch durch die Suche der demokratischen Sozialisten nach einem »dritten« Weg - einem Weg, der die Vorteile der Polsysteme vereinen und die Nachteile ausschließen wollte. Freie Marktwirtschaft und demokratische Gesellschaftsordnung sollten mit sozialer Sicherheit verbunden werden. Nun, da der Ost-West-
Konflikt Geschichte ist, zeigt sich, dass mit dem Wegfall des alten linken Polsystems nicht zugleich auch der globale Wettbewerb der Systeme ein Ende fand. Er geht weiter, friedfertiger, demokratischer, ungefährlicher als zuvor, aber kaum weniger hart oder weniger ideologisch. Und er hat sein Gewicht verlagert. Nach dem Untergang des Kommunismus steht jetzt die soziale Marktwirtschaft auf der linken Polposition. Die angloamerikanische Auffassung von Marktwirtschaft steht der europäischen Version der sozia len Marktwirtschaft gegenüber. Solange die soziale Marktwirtschaft auf der Achse des globalen Wettbewerbs der Systeme den Mittelplatz eingenommen hatte, war sie relativ unangefochten. Die Hauptstoßkräfte der Auseinandersetzung zwischen den beiden Polen waren gewissermaßen über ihren Kopf hinweggegangen. Die Existenz des Kommunismus brachte eine Schonzeit für die soziale Marktwirtschaft. Diese trug in erheblichem Umfang zum »Sieg« des Kapitalismus bei. Im Vergleich mit dem in Westeuropa erreichten Niveau des Wohlstands und der sozialen Sicherheit büßte der »realexistierende« Sozialismus den Rest an Attraktivität ein. Die Schonzeit der sozialen Marktwirtschaft ist jetzt vorbei. Die Neoliberalen aller Länder haben sich vereinigt und zum Angriff geblasen. Wer beim Sozialabbau nicht mitmacht, wird von den Finanzmärkten bestraft. Bei Renditenerwartungen von 15 Prozent ist für Lohnerhöhungen kein Platz. Alle Schamgrenzen sind bei der Einkommensverteilung gefallen. Die Wall Street staunt, dass die Deutsche Bank fünf Bankmanagern in fünf Jahren 335 Millionen DM an Gehältern und Boni zahlt. Der Arbeitnehmer ist im Zeitalter des Shareholder Value kein Mitarbeiter mehr, der mitverantworten und mitbestimmen soll, sondern ein Kostenfaktor. Daher gilt es heute, die soziale Marktwirtschaft offensiv zu vertreten. Es gilt, sie weiterzuentwickeln, damit sie den Anforderungen der Zukunft gerecht wird - auch in ökologischer Hinsicht. Es gilt, ein europäisches Sozialstaatsmodell zu entwerfen und durchzusetzen, das im globalen Wettbewerb der Systeme dem angelsächsischen Kapitalismus überlegen ist. Dass in der durch den Neoliberalismus ideologisch aufgeheizten Atmosphäre von »Marktradikalismus« eine sozialdemokratische Reformpolitik auf Widerstände stößt, versteht sich von selbst. Nicht nur im Kleinen, auch im Großen fehlt heute die Alternative. Aus dem Untergang des Kommunismus zogen die Ideologen des Neoliberalismus den Schluss, jede Alternative zur heutigen Form der Marktwirtschaft müsste untauglich sein. Genau das wollte uns der amerikanische Ökonom Francis Fukuyama mit der Behauptung einreden, der Zusammenbruch des Ostblocks bedeute das »Ende der Geschichte«. Das »Ende der Geschichte« heraufzubeschwören war eine Art neoliberaler Exorzismus. Der Linken musste endlich jener böse Geist ausgetrieben werden, von dem sie besessen zu sein schien: der Geist der Utopie. Erstaunlich, wie beflissen sich heute viele als Exorzisten gebärden und sich bemühen, die Geschichte in eine einzige Richtung zu denken, alternativlos. Jean-Frangois Kahn, ein Franzose, hat darüber 1995 ein Buch veröffentlicht. Es trägt den bezeichnenden Titel La pensee unique. Vierzig Jahre vor ihm hatte bereits ein anderer Philosoph, ein Pole, Leszek Kolakowski, darüber ein berühmtes Buch veröffentlic ht. Es hatte den Titel Der Mensch ohne Alternative. Es war ein Aufschrei gegen die stalinistischen Denkverbote, gegen ein Weltbild, in dem mit der Diktatur des Proletariats die Geschichte ebenfalls zu Ende gekommen war. Das eindimensionale Denken wird nicht von Dauer sein, es verträgt sich nicht mit der Freiheit. Die Frage ist nur: Wie lange noch währt der Aberwitz, dass in einer technologischen Welt mit ungeahnten virtuellen Möglichkeiten die gesellschaftlichen Alternativen ungedacht bleiben? Was lahmt zur Zeit die deutschen Intellektuellen? Auch anderswo, in Frankreich beispielsweise oder in den USA, wird öffentlich über die wirtschaftliche Lage und deren gesellschaftliche Folgen debattiert. Doch hat man den Eindruck, als mischten sich in Deutschland die Intellektuellen viel zaghafter ein. Hat sie das Erlebnis jener epochalen Wende des Jahres 1989/90 so mitgenommen, dass sie eine schöpferische Pause brauchen? Sind die einen träge, weil die Geschichte ihre langgehegte Sehnsucht nach nationaler Wiederfindung endlich erfüllte? Sind die anderen verunsichert, weil sich ihre vergangenen Analysen zukünftiger Entwicklungen als falsch und ihre Utopien als trügerisch erwiesen? Oder ist es vielleicht doch nur ein ganz banaler Anfall von »Fin-de-siecle-Melancholie«, der die deutschen Intellektuellen sich raushalten lässt? Und das ausgerechnet in einer Phase des technologischen, ökonomischen Umbruchs, kurz vor Anbruch eines neuen Jahrtausends, wo uns allen nichts nötiger täte als geistige Orientierung, wo vier Millionen Arbeitslose ganz dringlich eine andere politische Kultur als die des konservativen Eaisser-faire brauchten! Eine politische Kultur, die nicht bloß das eine fördert: mehr
Profit! Eine politische Kultur, die auch nicht immer und um jeden Preis nach einem Mehr an materiellen Gütern trachtet. Eine politische Kultur, die dafür stets auf ein Mehr an Demokratie und gesellschaftlicher Beteiligung, ein Mehr an Wissen und Bildung, ein Mehr an Lebensqualität und menschlichem Miteinander zielt. Viel eher erklärt sich die Leisetreterei der intellektuellen Linken, die, gemessen an der einstigen kämpferischen Lautstärke, fast den Anschein einer geistigen Kapitulation erweckt, durch einen anderen, einen allgemeineren zivilisatorischen Prozess: Das originäre Denken geht mehr und mehr unter der bloßen Wiedergabe, unter der Reproduktion verloren. Wenn es ein herausragendes Merkmal gibt, das den Gang der modernen Zivilisation kennzeichnet, dann ist es die phantastische, beschleunigte Entwicklung der Reproduktionstechnologie. Dass diese Entwicklung heute den Menschen erfasst hat, dass auch der Mensch jetzt geklont, das heißt auf technische Art identisch reproduziert werden kann, ist nur folgerichtig und geradezu symbolisch für unsere Epoche. Es passt zu dieser Symbolik, dass eine künstliche Figur wie Michael Jackson zum Idol junger Menschen aufsteigen konnte. Die Bezeichnung »Mediengesellschaft« für das Wesen unseres Zeitalters könnte nicht besser gewählt sein, sind doch die Medien, der Name sagt es, die Mittel der Wiedergabe, der Reproduktion. Walter Benjamin war sich der umwälzenden Tragweite einer solchen technologischen Beschleunigung schon bewusst. Er schrieb vor 62. Jahren den bereits erwähnten Essay über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Er sah, dass vieles, was über die Reproduktion von Kunst zu sagen war, der Verlust von Authentizität und Tiefe, im übertragenen Sinn auch auf die Reproduktion von Politik zutrifft. »Die Krise der Demokratien lässt sich als eine Krise der Ausstellungsbedingungen des politischen Menschen verstehen«, schreibt er. Und seine Aussage, »Die Kunst der Gegenwart darf auf um so größere Wirksamkeit rechnen, je mehr sie sich auf Reproduzierbarkeit einrichtet, also je weniger sie das Originalwerk in den Mittelpunkt stellt«, lässt sich mit derselben Gültigkeit auf die Politik umformulieren: Die Politik der Gegenwart darf auf um so größere Wirksamkeit rechnen, je mehr sie sich auf Reproduzierbarkeit einrichtet! Nicht komplizierte Zusammenhänge und weitsichtige Strategien, nicht Originalität und Tiefe, nicht Wahrheit und Inhalt bieten für eine Reproduktion die besten Möglichkeiten, sondern der vordergründige Ereigniswert - das Spektakel. Die Politiker stellen sich darauf ein. Wenn die Reproduzierbarkeit das Signum der »modernen Zeiten« ist, gilt derjenige als modern, der ihre Spielregeln konsequent befolgt und Politik als Medienereignis betreibt. Doch hat diese Einstellung ihren Preis: Der Inhalt muss hinter das Ereignis treten. Profile verschwimmen im seichten Wasser, Verbindlichkeit schwindet, Beliebigkeit nimmt überhand. Und je leiser der Geist sich äußert, desto lauter breitet die Beliebigkeit sich aus. Schon ist ja vielfach der Begriff Modernität zum Synonym für Beliebigkeit geworden. Doch gibt es auch Anzeichen eines Wiedererwachens der intellektuellen Linken. Die Auflagenhöhe, die die leidenschaftliche Streitschrift von Viviane Forrester in Frankreich in kürzester Zeit erreicht hat - die Neue Züricher Zeitung bezeichnete dieses Buch als »den seit langem ersten Schritt, um das Feld einer populären Gesellschaftskritik für die Linke zurückzuerobern« -, spricht dafür, dass ein breites Reformbündnis zwischen Bürgersinn und Geist immer noch - oder schon wieder - möglich ist. Auch in Deutschland. Ein solc hes Bündnis zwischen der Mehrheit des Volkes und den Intellektuellen hat sich in der Vergangenheit meist als der beste Nährboden für tiefgreifende soziale Reformen erwiesen. Meinungsforscher stellen eine wachsende Identifikation der Mehrheit mit Werten fest, die von den Befragten zuvor als »links« eingeordnet wurden. Mit den Begriffen »links« oder »rechts« könnten die Menschen heute nicht mehr viel anfangen, sagen die »Modernisierer«. Die Befragungen beweisen das Gegenteil: Treffender, als die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger bestimmte Werte der Linken oder der Rechten zuzuordnen vermag, könnten es die Experten auch nicht. Immerhin lassen die Umfragen über das Wertebewusstsein der Deutschen den Schluss zu, dass die Grunddisposition für eine breite Zustimmung zu einer wertebetonenden linken Politik auch in Deutschland gegeben ist. Die Menschen haben verstanden, dass der Sozialstaat reformiert werden muss. Sie waren und sind auch bereit, Einschränkungen hinzunehmen. Man erinnere sich daran, dass Norbert Blüm aufs Jahr gerechnet 98 Milliarden DM bei Rentnern und Arbeitslosen gespart hat. Die Bürger akzeptieren Reformen des Sozialstaats aber nur unter der Bedingung, dass es dabei gerecht zugeht. Soziale Einschränkungen verursachen gesellschaftliche Verteilungskämpfe. Gerade in solchen Zeiten ist eine Politik gefragt, die nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit verfährt.
In den USA, wo die Ungleichheit der Einkommen und der Lebensverhältnisse in den beiden zurückliegenden Dekaden am stärksten zugenommen hat, spricht heute einer der führenden Arbeitsmarktökonomen, Richard Freeman, von » Apartheid-Ökonomie«. Der gesamte wirtschaftliche Erfolg der neoliberalen »Reaganomics« sei ausschließlich jenen 5 Prozent der Gesellschaft zugute gekommen, die ohnehin schon auf der Sonnenseite lebten. Alle anderen hätten dabei verloren - je ärmer, desto mehr. Freeman befürchtet über kurz oder lang einen neuen Klassenkampf. Was für Amerika gilt, mag erst recht für Europa gelten. Die Linksregierungen in Europa kamen an die Macht, weil die Bürger der sozialen Kälte des Neoliberalismus eine Absage erteilten. Sollte die Politik den »Hilferuf« der Bürgerinnen und Bürger überhören und keine Besserung einleiten, wird sich der Protest andere Wege suchen. Radikale Parteien werden Zulauf erhalten, wenn die sozialdemokratischen Regierungen Europas die einmalige Chance verspielen, dem Neoliberalismus, der zu dramatischen Währungs- und Finanzkrisen geführt hat, ein sozialdemokratisches Gesellschaftsmodell gegenüberzustellen. Es ist dringend geboten, dem Gemeinsinn auch im wirtschaftlichen Leben wieder größere Geltung zu verschaffen. Nichts anderes ist Aufgabe und Ziel der demokratischen Linken. Unter dem Begriff des »Sozialismus« wurde ja ursprünglich nicht ein bestimmtes Produktionssystem verstanden, sondern lediglich das Bemühen, die individuellen oder egoistischen Bestrebungen der Menschen so zu kanalisieren, dass sie der Allgemeinheit in der Summe zum Nutzen gereichen. Neben den bekannten, im allgemeinen sozialen Wandel liegenden Ursachen für den Verlust an Gemeinsinn trägt nicht zuletzt auch die Globalisierung dazu bei, die Ausrichtung der Wirtschaft auf das Gemeinwohl abzuschwächen. Unter den globalen Bedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs greifen nationalstaatlic he Instrumente der Wirtschaftspolitik nur noch in begrenztem Maß. Die traditionelle Nationalökonomie, die den Ausgleich der wirtschaftlichen Einzelinteressen im nationalstaatlichen Rahmen zum Wohl des Ganzen im Auge hatte, wird mit der fortschreitenden Internationalisierung der Märkte immer unzulänglicher. Im globalen Wettbewerb kämpft jedes Unternehmen für sich allein, es zählt allein der eigene Erfolg - und dabei hat es sein Bewenden. Es gibt keine demokratisch legitimierte Instanz, die einen übergeordneten Ausgleich der Interessen zu vermitteln sucht. Um so etwas wie Gemeinsinn auch den globalen Wirtschaftsbeziehungen einzuimpfen, ist es mit Appellen an die Moral der Akteure nicht getan. Es kommt vielmehr darauf an, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen durch ein Mindestmaß an Regelungen zu strukturieren. Zweifelsohne bedarf es zur Durchsetzung solcher Regelungen auf dem Weltmarkt einer Machtposition. Diese hat zwar kein einzelnes europäisches Land, aber sehr wohl die Europäische Union. Zunächst müssen die Mitglieder der Europäischen Union sich auf eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik verständigen. Deutschland muss in Brüssel stärker auf eine umfassendere Angleichung der Steuern dringen. Die Gewerkschaften sollten die Koordinierung der Tarifpolitik auf der europäischen Ebene energischer in Angriff nehmen. Die Verabschiedung einer europäischen Sozialcharta, mit der sich die Gemeinschaft auch zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verpflichtet, kann nur ein erster notwendiger Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Sozialstaatsmodell sein. Die Entwicklung eines solchen Modells hätte nicht nur den Vorteil, die Position der sozialen Marktwirtschaft im globalen Wettbewerb der Systeme gegenüber dem Kapitalismus »pur« zu stärken und für die Durchsetzung der erforderlichen Regelungen auf dem Weltmarkt eine Machtbasis zu bilden. Sie könnte auch der Katalysator sein für das Zugehörigkeitsgefühl der Europäer zu einer supranationalen Struktur, für die Herausbildung eines europäischen »Nationalgefühls«. Für viele Menschen ist die Europäische Union noch keine Gefühlsangelegenheit, sondern eine zweckmäßige Übereinkunft zur Wahrung von wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Vorteilen. Als politische oder kulturelle Vision kommt das vereinte Europa nur im Pathos der Sonntagsreden vor. In der Wirklichkeit steht vor dem Traum die nüchterne Erkenntnis, dass die Mittel der nationalstaatlichen Politik einer globalisierten Wirtschaft nicht mehr gewachsen sind. Das Gefühl der Zugehörigkeit wächst aus einem gemeinsamen Erlebnisraum. Wie aber soll das funktionieren, solange der europäische Erlebnisraum kaum mehr als eine gemeinsame Warenwelt ist? Konsum allein ist sicher nicht dazu angetan, ein dauerhaftes Gefühl der Zugehörigkeit zu stiften - ganz abgesehen davon, dass nach der Lockerung des sozialen Netzes mehr und mehr Menschen die Warenwelt als einen Erlebnisraum erfahren, von dem sie ausgeschlossen bleiben. Nicht nur der Abbau von Wettbewerbshemmnissen im Zuge der Globalisierung, auch die großen Anstrengungen, zu denen sich fast alle Staaten genötigt sehen, um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen, haben zu neuen sozialen
Härten geführt. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, vor einer Währungsunion die europäische Vereinigung auf anderen Gebieten enger zu gestalten. Der Zug ist abgefahren, und er soll ankommen. Es darf allerdings nicht sein, dass die gemeinsame Währung zu einer nachhaltigen Schwächung der Sozialpolitik führt. Zu Recht würden die Menschen das Europa, das aus einer solchen Einheitswährung hervorgeht, nicht annehmen. Die Währungsunion wird sich nur in dem Maß als Triebkraft der zukünftigen Entwicklung erweisen, wie sie weitere Einheitsbestrebungen der Europäischen Union provoziert und beschleunigt: eine einheitliche Steuerpolitik, eine Beschäftigungspolitik, eine einheitliche Wirtschaftspolitik und nicht zuletzt folgerichtig eine einheitliche Sozialpolitik. Damit sich unter den Menschen in Europa ein Zugehörigkeitsgefühl einstellen kann, damit so etwas wie eine »Nation Europa« entstehen kann, muss Fluropa als demokratisches Projekt gelingen, aber auch als Projekt der sozialen Gerechtigkeit. Dass wir noch nicht weitergekommen sind, liegt daran, dass es noch keine europäische Identität gibt. Sie schrittweise herzustellen ist eine geistige, eine kulturelle Aufgabe. Der Markt kann das nicht. Gesellschaftsentwürfe, die in den Kategorien der Betriebswirtschaft verfasst sind, widersprechen der abendländischen Kultur. Sie reduzieren den Menschen, der Freiheit und Würde will, auf ein flexibles Objekt, das sich den jeweiligen Kapitalverwertungsbedingungen anzupassen hat. Deshalb ist die zürn dritten Weg erklärte Anpassung der Politik an vermeintliche wirtschaftliche Zwänge ein Holzweg.
Ausblick
Eckhard Fuhr schrieb im Juni 1999 in der Frankfurter Allgemeinen unter der Überschrift »Stellungswechsel«: »Wäre das »bürgerliche Lager< in Bonn an der Regierung, hätte mancher Beobachter weniger Schwierigkeiten, die politischen Ereignisse der letzten Monate zu bewerten und einzuordnen. Endlich, so läsen sich die Kommentare der Regie rungsfreunde, geschieht das, worauf man allzu lange warten musste. Deutschland erweist sich im Kosovo-Krieg auch in einer radikal veränderten weltpolitischen Szenerie als zuverlässiger Partner des westlichen Bündnisses und streift die aus seiner Geschichte erwachsene Sonderrolle ab, flüchtet sich nicht mehr in die moralisch gepolsterte Zuschauerloge. Endlich auch kommen im Inneren jene Reformen in Gang, über deren generelle Richtung es keinen Zweifel geben kann: Sanierung des Haushalts ohne Angst vor tie fen Schnitten bei den Sozialausgaben und mit der langfristigen Perspektive eines ausgeglichenen Etats, Senkung des Rentenniveaus ... Die Gefechtslage ist undurchsichtig- parteipolitisch betrachtet jedenfalls. Es ist so, als seien die gegnerischen Heere im Nebel des Vorfeldes aneinander vorbeimarschiert und fänden sich jetzt in der jeweils verkehrten Stellung wieder. Beide Seiten kennen sich dort noch nicht so richtig aus. Die Sozialdemokraten haben sich, ohne dass es eine langwierige und aufwühlende Debatte darüber gegeben hätte, denkbar weit von ihrem traditionellen Selbstverständnis und ihrer alten politischen Logik entfernt.« Es ist richtig, dass sich die gegnerischen Heere in der jeweils verkehrten Stellung wiederfinden. Das Zukunftsprogramm 2ooo wurde zum Zukunftsprogramm für die CDU. Sie gewinnt ohne eigenes Zutun die Wahlen, weil die sozialdemokratischen Wählerinnen und Wähler enttäuscht wurden und in großer Zahl nicht zur Wahl gehen. Mit dem Zukunftsprogramm 2000 der rot-grünen Bundesregierung wurde dieser Stellungswechsel überdeutlich. Unternehmen sollen um 8 Milliarden entlastet werden, zur Kasse gebeten werden vor allen Dingen Arbeitslose und Rentner. Die Wie dereinführung der privaten Vermögensteuer oder die Erhöhung der Erbschaftsteuer lehnten der Bundeskanzler und sein Finanzminister ab. Offensichtlich geht es Rentnern und Langzeitarbeitslosen ja viel besser als den Besitzern großer Vermögen und deren Erben. »Umverteilung darf nicht von der sozialdemokratischen Tagesordnung genommen werden. Die Erbschaftsteuer sollte hoch sein, damit nicht zu viele Privilegien weitergegeben werden können«, sagt Anthony Giddens, der sicherlich in Deutschland den Traditionalisten zugerechnet würde. Werner Perger schreibt in der Zeit dazu: »Dies ist zweifellos die Reformstrategie mit dem größten Risiko des Scheiterns. Schröder weiß, dass er zuviel Zeit verloren hat. Um so ehrgeiziger ist sein Programm. Etwas von der Art und Tragweite hätte man jedenfalls von der Regierungserklärung beim Amtsantritt - die erste versäumte Gelegenheit - erwartet. Doch da war der frischgebackene Kanzler noch nicht soweit, die Wahlversprechen vom Tisch zu nehmen.« Genau darum geht es. Das merkwürdige ist, dass Werner Perger es offensichtlich goutiert, wenn ein Kanzler Wahlversprechen vom Tisch nimmt. So, als seien in einer Demokratie die Parteien nicht gehalten, vor den Wahlen den Wählerinnen und Wählern zu sagen, was sie nach den Wahlen machen würden. Wir hatten im Wahlprogramm keine unhaltbaren Versprechungen gemacht, sondern vielmehr das gesamte Wahlprogramm unter einen Finanzierungsvorbehalt gestellt. Wir hatten allerdings die Rentenkürzungen der Regierung Kohl im Hinblick auf die kleinen Renten als unanständig bezeichnet und versprochen, einen sozialen Kahlschlag zu vermeiden. »Schröder«, so meint Werner Perger, »ist jetzt gezwungen, neu um das Vertrauen zu werben, das er mit seiner stillen Kapitulation vor Lafontaine und dem Parteiapparat aufs Spiel gesetzt und zum großen Teil verspielt hat. Nicht zuletzt im parteifernen Milieumix der mutmaßlichen neuen Mitte.« Aber erwirbt man wirklich Vertrauen durch den Bruch von Wahlversprechen? Und wer gehört eigentlich zum parteifernen Milieumix der mutmaßlichen neuen Mitte? Es ist immer wieder dieselbe Leier. Die jenigen, die hohe Einkommen und Vermögen haben, aber kaum Steuern zahlen und so gut wie nie vom Verlust des Arbeitsplatzes bedroht sind, fordern am lautesten Reformen bei Renten, bei der Arbeitslosenversicherung und bei den Rechten der Arbeitnehmer. Besonders tun sich dabei Politiker, verbeamtete Professoren, Journalisten
und selbständige Unternehmer und Verbandsfunktionäre hervor, die sich allesamt nicht vorstellen können, was es heißt, mit einer Rente von 12.50 Mark, einem Arbeitslosengeld von 1400 DM, einer Arbeitslosenhilfe von TOGO DM oder der Sozialhilfe von 800 DM zu leben. Sie wissen häufig auch nicht, dass eine Verkäuferin oder ein Hilfsarbeiter mit einem Nettoeinkommen von ca. 2.000 DM leben muss. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, welche Politik wir in der Konstellation mit Gerhard Schröder als Bundeskanzler und mir als Parteivorsitzendem machen würden, hatten wir sorgfältig ein Regierungsprogramm ausgearbeitet. Abgesehen von handwerklichen Mängeln, die vor allem auf die schiechte Koordination im Kanzleramt zurückgingen, setzten wir in den ersten Monaten unserer Regie rungszeit vieles von dem um, was wir versprochen hatten. In der Steuerpolitik, in der Renten- und Gesundheitspolitik, bei der Lohnfortzahlung, beim Kündigungsschutz und bei dem Versuch, die Erosion der Sozialversicherung zu stoppen, haben wir genau die Entscheidungen herbeigeführt, die wir den Wählerinnen und Wählern vor den Wahlen versprochen hatten. Insbesondere in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hatten wir die Abkehr vom Neoliberalismus zur Grundlage unseres Regierungsprogramms gemacht. Wir wollten nicht immer nur Unternehmensteuersenkungen, sondern auch Steuersenkungen für die große Mehrheit des Volkes. Wir wollten nicht immer nur soziale Kürzungen, sondern die Wiederherstellung von Arbeitnehmerrechten bei Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz. Wir wollten nicht immer nur Lohnzurückhaltung, sondern den gerechten Anteil für die arbeitenden Menschen am gewachsenen Wohlstand durch produktivitätsorientierte Lohnabschlüsse. Es war zu erwarten, dass unsere neue Politik in Deutschland auf erheblichen Widerstand der Interessengruppen stoßen würde, die zu Zeiten der Regierung Kohl von der Umverteilungspolitik profitiert hatten. Es war zu erwarten, dass die Zeitungsverlage nicht einverstanden wären, wenn die für sie attraktive 63o-Mark-Job-Regelung verändert würde. Es war zu erwarten, dass Versicherungs- und Stromwirtschaft gegen unsere Steuerpolitik Widerstand leisten würden. Es war zu erwarten, dass sich diejenigen, die mit Währungsspekulationen viel Geld verdienten, den Versuchen des französischen Finanzministers Strauss-Kahn, des japanischen Finanzministers Miyazawa und von mir, die Währungsspekulation einzudämmen, widersetzen würden. Sozialdemokratische Politik hat aber nur dann eine Chance, wenn sie glaubwürdig bleibt und sich auch mit Interessengruppen auseinandersetzt. Bleibt sie nicht glaubwürdig, beginnt sie gar, das Gegenteil von dem zu machen, was vor den Wahlen versprochen wurde, dann verlieren Sozialdemokraten noch schneller die Zustimmung ihrer Wählerinnen und Wähler, als konservative Parteien. Ich zitierte noch einmal Eckhard Fuhr: »Aber mit seinem Rückzug als Parteivorsitzender und Finanzminister ist Lafontaines Versuch, Deutschland und die Europäische Union nach >links< zu führen, noch einmal den Aufstand gegen den neoliberalen Mainstream zu wagen, gescheitert. Es gibt in der SPD eine Menge Leute, denen das nicht passt, aber niemand, der außerhalb der engeren Parteiumgebung der Idee einer Sozialdemokratie ä la Lafontaine Gehör verschaffen könnte.« Den Aufstand gegen den neoliberalen Mainstream zu wagen, das war der Kern meiner Arbeit als Parteivorsitzender der SPD. Die Sozialdemokraten haben die politische Aufgabe, einen wild gewordenen Kapitalismus zu bändigen, der sich unter Hinweis auf die vermeintlich ehernen Gesetze der Wirtschaft rechtfertigt. Wir befinden uns in einer Epoche neokonservativer Restauration. Diese konservative Revolution redet uns ein, sie sei fortschrittlich, vernünftig und wissenschaftlich. Sie erklärt das Gesetz einer Wirtschaftswelt, die nach ihrer eigenen Logik operiert, nach dem Gesetz des Marktes als dem Gesetz des Stärkeren zur gesellschaftlichen Regel. Sie glorifiziert die Herrschaft der Finanzmärkte, jenen Kapitalismus pur, der als Gesetz nur den maximalen Profit kennt. Der Neoliberalismus, wissenschaftlich verbrämt und mit Medienmacht unterstützt, wurde zu einer Art konservativer Ideologie, die sich unter der Überschrift »Ende der Ideologien« und »Ende der Geschichte« empfahl. Der Ruf nach weniger Staat ist allzu oft der Ruf nach weniger Demokratie. Die demokratischen Entscheidungen der Politik sollen durch die Märkte ersetzt werden, und wie immer schon in der Geschichte, passen sich viele dem herrschenden Zeitgeist an. Die SPD steht im Herbst 1999 wieder einmal am Scheideweg. Die Bilder gleichen sich. Wie vor dem Mannheimer Parteitag 1995 nähert sich die SPD in den Meinungsumfragen der 3o-Prozent-Grenze. Und wie vor Mannheim muss sie die Frage beantworten, ob sie sich dem neoliberalen Zeitgeist unterwerfen will. Der Unterschied ist: Heute ist sie die führende Regierungspartei. Der Parteivorsitzende ist der Bundeskanzler. Vor dem Mannheimer Parteitag forderte Hans-Jochen Vogel
Gerhard Schröder auf, gegen Rudolf Scharping zu kandidieren. Vogel schrieb: »Aber mehr und mehr stellt sich die Frage, wofür er die Macht, um die er kämpft, eigentlich einzusetzen gedenkt. Und ob ihm die eigene Medienpräsenz nicht wichtiger ist als das Gesamtinteresse der deutschen Sozialdemokratie, die keiner als Trampolin für eigene hohe Sprünge missbrauchen darf. So wie Schröder bislang agiert, hat er nicht nur der Partei Schaden zugefügt, sondern sich auch selbst beschädigt.« Heute versucht Gerhard Schröder die Politik der SPD von oben zu verändern. Ein Richtungswechsel, der von oben verordnet wird, entspricht nicht der Tradition der SPD, die sich immer als Mitgliederpartei, als demokratisch organisierte Programmpartei, verstanden hat. Es wäre daher konsequent, wenn Gerhard Schröder auf dem kommenden SPD-Parteitag erklären würde, was sein politischer Neuanfang bedeutet und warum er das mit großer Mehrheit beschlossene Regierungsprogramm nicht mehr gelten la ssen will. Das Schröder-Blair-Papier als Sammelsurium von Allgemeinplätzen und dehnbaren Begriffen eignet sich nicht für eine ernsthafte Programmdebatte. Es behindert die bereits erfolgreich vorangekommene programmatische Neuorientierung der SPD. Es gibt wirklich große Herausforderungen, denen sich die sozialdemokratische Regierungspartei stellen muss: Neben den klassischen Aufgaben geht es heute vor allem darum, dem angelsächsischen Kapitalismus einen europäischen Sozialstaat gegenüberzustellen und dem deregulierten Weltmarkt einen Ordnungsrahmen zu geben. Das ist der Auftrag, den die Wählerinnen und Wähler den sozialdemokratischen Regierungen Europas gegeben haben. Viele Europäer setzten ihre Hoffnung auf die neue sozialdemokratische Regierung in Deutschland. Doch nach der Veröffentlichung des Schröder-Blair-Papiers war die Enttäuschung groß. Auch im Medienzeitalter gilt es, eine langfristig angelegte Politik zu verfolgen. Wer Modernisierung ruft, muss sagen, was er darunter versteht. Wörter wie Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sind Worthülsen. Der soziale Aufstieg ist erstrebenswert. Möglichst viele Menschen sollen an den Lebensgewohnheiten der wohlhabenderen Gesellschaftsschichten teilhaben. Für uns alle aber gilt: Das Urteil von Karl Marx, »Das Sein bestimmt das Bewusstsein«, ist kein ehernes Gesetz.. Der Aufgestiegene ist nicht gezwungen, den geistigen Überbau der besitzenden Schichten zu übernehmen. Wenn wir wissen, wo wir herkommen, wissen wir auch, wohin wir gehen müssen. In der heutigen Zeit haben die Leitideen der Sozialdemokratie nichts von ihrer Ausstrahlung verloren. Das hat die CDU/CSU aus ihrer Wahlniederlage gelernt. Sie verteidigt jetzt die soziale Marktwirtschaft gegen die »Modernisierer« im Regierungslager. Die SPD hat den Wählern aber versprochen, die notwendige Erneuerung mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Sie muss dem neoliberalen Zeitgeist widerstehen. Wenn die »Modernisierer« Hombach und Mandelsohn ihren Chefs aufgeschrieben haben: »In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausragender Leistung«, stellt sich die Frage, welche Vergangenheit mit dem Herunterbeten dieser konservativen Vorurteile unserer Gegner gemeint ist. Die Regierungszeit Willy Brandts? Die Regierungszeit Helmut Schmidts? Die Wahldesaster bei den Europawahlen, den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und den Landtagswahlen zeigen, dass der neue Kurs, den die Regierung Schröder eingeschlagen hat, von den Wählerinnen und Wählern abgelehnt wird. Das Festhalten an diesem Kurs wird unweigerlich zu weiteren verheerenden Wahlniederlagen führen. Die SPD als die große linke Volkspartei ist aufgerufen, ihren Weg erneut zu bestimmen. Dabei darf sie nicht vergessen: Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt. Aber es hat einen Standort. Es schlägt links.
Register
Auf das Register habe ich hier verzichtet. Die darin aufgeführten Namen und deren Seitenzahlen treffen auf den vorangegangenen Text nicht mehr zu.
Ursprüngliche Seitenzahl: 317 Ca. 20 Seiten mit Bildern von Politikern und dem Register fehlen, können aber auf Wunsch nachgeliefert werden
Eingescannt und bearbeitet von Becket
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