Geister-
Krimi � Nr. 27 � 27
Andrew Hathaway �
Lady Ellmores � Todeskette �
2 �
Er ließ den Strahl seiner Taschen...
8 downloads
204 Views
678KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Geister-
Krimi � Nr. 27 � 27
Andrew Hathaway �
Lady Ellmores � Todeskette �
2 �
Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe kreisen. Massige Möbel, bis an die Decke reichende Bücherregale, schwere Brokatvorhänge – das war die Bibliothek von Ellmore Castle. Hier sollte der kostbare Familienschmuck Lady Ellmores versteckt sein. Der Mann mit dem spitzen Mausgesicht holte ein paar Bücher aus einem Regal und griff in den dahinterliegenden Hohlraum. Mit einem triumphierenden Grinsen zog er seine Hand zurück. Das Donnern der Brandung an den schwarzen Steilklippen der schottischen Küste übertönte den leisen Aufschrei der Bewunderung, den der Mann ausstieß, als er die Schmuckkassette öffnete. Smaragde, Rubine, Diamanten – ein unschätzbares Vermögen hielt er in seinen zitternden Händen. Der Dieb merkte nicht, wie sich die Tür der Bibliothek einen Spalt öffnete. Übergroße Augen hefteten sich blitzend auf den Einbrecher. Ein breiter Mund mit spitzen, langen Zähnen stieß ein heiseres Knurren aus. Der Dieb griff nach einem besonders schönen Stück – eine Halskette. Haselnussgroße Rubine waren durch ein kunstvolles Goldgeflecht miteinander verbunden. Allein diese Kette stellte einen unbezahlbaren Schatz dar. Die Tür schwang ganz zurück. Im Rahmen stand ein Buckliger, die langen starken Arme an den Seiten herunterhängend, den bulligen Kopf vorgereckt. Die Schultern unnatürlich hochgezogen, huschte er in die Bibliothek hinein. Der Dieb hob die Rubinkette hoch in die Luft, um sie besser betrachten zu können. Plötzlich schrie er auf. Es war das Brüllen eines Gemarterten. Seine Hand zuckte zu seinem Hals, an dem tiefe Bisswunden klafften. Blut schoß in fingerdicken Strahlen aus seinen Halsschlagadern. Heulend brach der Mann zusammen. Er schlug um sich, 3 �
wehrte sich gegen einen übermächtigen, unsichtbaren Feind, der das Leben aus seinem Körper saugte. Er zuckte noch ein paar Mal, dann starb er in einer riesigen Blutlache. Die knotige Hand des Buckligen tauchte in den Lichtkreis der zu Boden gefallenen Taschenlampe. Die ungelenken Finger mit den scharfen Nägeln fassten die Rubinkette, hoben sie vom Teppich hoch und ließen sie in die Schatulle zurückfallen. Nachdem der Bucklige die Schmuckkassette und die Bücher an ihren Platz gestellt hatte, huschte er, lautlos wie ein Schatten, aus dem Raum. * Kopfschüttelnd schlurfte der Alte, einen Kerzenleuchter in der erhobenen Faust, durch den düsteren Korridor von Ellmore Castle. »Da hat doch jemand geschrien«, murmelte er, die zweite Hand ais Schalltrichter hinter sein Ohr haltend. »Ich habe es ganz deutlich gehört.« Das war natürlich übertrieben, weil Vincent, Lady Ellmores treuer Butler, leicht schwerhörig war und außerdem die Brandung in dieser Nacht besonders laut an der Küste zischte und krachte. Aber mit seinen zweiundachtzig Jahren durfte er sich seine Schwerhörigkeit bereits ebenso erlauben wie die leicht gebeugte Haltung. Vincent war an der Tür der Bibliothek angelangt. Sein Kopfschütteln, von dem man nie wußte, ob es altersbedingt war oder von seinem Unmut über irgend etwas herrührte, verstärkte sich. Dieses junge Dienstpersonal heutzutage! Wie kann man eine Tür offenlassen! Sollte die feuchtkalte Nachtluft die wertvollen Bücher der Herrin verderben? Vincent beschloss, eingedenk seiner großen Verantwortung im Schloss, einen Blick in die Bibliothek zu werfen. Dazu schob er 4 �
den Kerzenleuchter vor sich in den Raum. Viel einfacher hätte er es sich dadurch machen können, daß er die elektrische Beleuchtung einschaltete, aber Vincent hielt noch immer nichts von diesen neumodischen Dingen, die im entscheidenden Moment ausfielen. Er verließ sich auf Bienenwachs und Streichhölzer. Beinahe wäre der Kerzenleuchter der faltigen Hand des Alten entfallen, als der Lichtschein auf das grässlich verzerrte Gesicht des Toten auf dem Teppich fiel. Ein Ächzen drang aus dem zahnlosen Mund. Doch Vincent erholte sich schnell von seinem Schrecken. Ganz gegen seine Grundsätze, tastete er nach dem Schalter und knipste die Deckenlampe an. Das helle Licht enthüllte schonungslos jede Einzelheit. Die gebrochenen Augen, den zum Todesschrei aufgerissenen Mund, die Blutlache. Und doch schaute der alte Butler nicht lange auf die Leiche. Seine wasserhellen Augen suchten sofort die Stelle der Bücherwand, hinter welcher der Familienschmuck der Ellmores verborgen war. Ein befriedigtes Lächeln bewegte das verknitterte Gesicht des Greises. Der Schatz war noch an seinem Platz, alles andere war nicht so wichtig. Dieser Mann hatte ihn offensichtlich stehlen wollen und dafür mit seinem Leben gebüßt. »Gut so«, murmelte Vincent, »gut so.« Dann drehte er sich um und schloss lautlos die Tür der Bibliothek hinter sich, nachdem er sorgfältig das Licht verlöscht hatte. Es war drei Uhr Nachts. Zu dieser Zeit gab es nichts, das wichtig genug gewesen wäre, die Herrin, Lady Ellmore, in ihrem Schlaf zu stören. Die Leiche in der Bibliothek konnte bis zum nächsten Morgen warten. Sie würde nicht davonlaufen. Ächzend und brummend schlurfte Vincent zurück in seine Kammer im Seitenflügel, die er seit seiner Geburt vor zweiundachtzig Jahren bewohnte.
5 �
*
»Mylady, in der Bibliothek liegt ein Toter«, erlaubte sich Vincent mit einer dezenten Verbeugung zu melden – nach dem Frühstück, versteht sich. Lady Ellmore hob überrascht ihren aristokratischen Kopf. Sie war an die achtzig, trug eine weite Robe, als würde sie jeden Moment bei Hof erscheinen, und fächelte sich Luft mit einem Fächer zu, der in jeder chinesischen Sammlung das Prunkstück gewesen wäre. Das auffallendste an einer Dame ihres Ranges war jedoch, daß die wenigen Schmuckstücke, die sie angelegt hatte, nur billige Imitationen waren. »Haben Sie ›Leiche‹ gesagt, Vincent?« Lady Ellmores klangvolle Stimme durchbrach die Stille, die sich bei der Meldung des Butlers über das Frühstückszimmer gesenkt hatte. »Und ausgerechnet in der Bibliothek?« »So ist es, Mylady.« Vincent nickte traurig mit dem Kopf. »Er liegt vor dem bewussten Bücherregal, Mylady wissen schon…« »Er wollte deinen Schmuck stehlen, Tante Martha!« rief die junge Frau, die neben Lady Ellmore saß und jetzt heftig aufsprang. »Ein Dieb, der den kostbaren Familienschmuck…« Lady Martha Ellmore brachte ihre Nichte mit einer gebieterischen Handbewegung zum Schweigen. »Wie sieht die Leiche aus, Vincent?« fragte sie zitternd. Angespannte Erwartung klang in ihrer Stimme mit. »Ist sie sehr böse… zugerichtet?« Wieder nickte der alte Butler bedauernd. »Der Mann sieht schrecklich aus, Mylady. Soll ich die Polizei verständigen?« Lady Ellmore winkte mit ihrer schlanken, gepflegten Hand. »Tun Sie das, Vincent, tun Sie das. Und bringen Sie mir einen Sherry!« »Mylady?« Der alte Butler hatte trotz seiner leichten Schwerhörigkeit sehr gut verstanden, aber er konnte es nicht fassen. 6 �
Mylady wollte nach dem Frühstück einen Sherry trinken? »Tun Sie, was ich sage, und stehen Sie nicht herum!« fuhr ihn Lady Ellmore an, erhob sich und trat ans Fenster, ihre Erregung niederkämpfend. Gekränkt wollte sich Vincent zurückziehen. In all den Jahren hatte Mylady ihn nicht so angefahren und keinen Sherry nach dem Frühstück getrunken. Das waren böse Vorzeichen. Doch der alte Mann wurde an der Tür durch einen Zuruf zurückgehalten. »Ist der Schmuck noch an seinem Platz?« Vincent drehte sich langsam um, musterte den jungen Mann, der die Frage ausgesprochen hatte, mit einem abschätzenden Blick, und sagte dann mit einer leichten Verbeugung: »Mylady erschien es unwichtig, diese Frage zu stellen, Mr. Handy.« Danach verließ er das Frühstückszimmer. * »Welchen Grund hatten Sie, sich nach meinem Schmuck zu erkundigen?« Lady Ellmores Frage, die sie, am Fenster lehnend, in scharfem Ton gestellt hatte, ließ den jungen Mann mit den glatten schwarzen Haaren und den dunklen, unter buschigen Brauen liegenden Augen zusammenzucken. »Sie mussten soeben eine Zurechtweisung durch einen Butler einstecken, Mr. Handy. Das ist kein guter Anfang für einen zukünftigen Herren auf Ellmore Castle.« Der junge Mann, Howard Handy, lief rot an. Er suchte verlegen nach Worten, bis ihm eine harmlos klingende Erklärung einfiel. »Ich glaube, jedermann hätte sich erkundigt, der den Wert des Familienschmuckes von Ellmore Castle kennt.« »Tante Martha, du darfst Howard nicht zu streng behandeln«, ergriff Anne Thornton, Lady Ellmores Nichte, Partei für den jun7 �
gen Mann. »Howard hat sich nichts Böses dabei gedacht, als er nach dem Schmuck fragte. Er kennt nur deine Gewohnheiten nicht so gut, daß er sich in jeder Situation danach richten könnte. Und außerdem ist ein Mord passiert, da gelten andere Grundsätze – auch auf Ellmore Castle«, setzte Anne Thornton mit einer gewissen Verbitterung hinzu.. Lady Ellmore richtete sich hoch auf. Sie war eine stolze, eine königliche Frau. »Ein Mord ist geschehen?« fragte sie mit einem spöttischen Unterton. »Meinst du wirklich, liebste Nichte?« Anne Thornton starrte ihre Tante entgeistert an. »Was denn sonst? Tante Martha, was soll diese Anspielung? In der Bibliothek liegt ein Toter…« »Überlassen wir die Ermittlungen der Polizei.« Lady Ellmore machte eine abschließende Handbewegung. »Sie ist dafür zuständig und nicht wir armseligen Menschen, die wir die wichtigsten Dinge im Leben nicht begreifen können.« Anne Thornton und ihr Verlobter Howard Handy tauschten Blicke, die deutlich zeigten, daß sie die alte Frau für verrückt hielten. Sie wurde eben schon wunderlich und erging sich in dunklen Andeutungen, die niemand verstand. Von Lady Ellmore unbemerkt, die sich müde auf einen mit gelber Seide bespannten Stuhl hatte sinken lassen, schlichen sich die beiden junge Leute aus dem Frühstückszimmer und gingen zur Bibliothek, um den Toten anzuschauen. * Der rätselhafte Mord auf Ellmore Castle an den schottischen Klippen nördlich von Edinborough überstieg weit die Zuständigkeit des örtlichen Konstablers, der sich darauf beschränkte, seine vorgesetzte Dienststelle in Edinborough – oder Edinburgh, wie die Engländer sagten – zu verständigen und sich dann auf 8 �
sein Fahrrad zu schwingen, um die Spuren auf dem Schloss sicherzustellen. Drei Stunden später fand Inspektor Murphy aus Edinborough, der schottischen Hauptstadt, den kriegerisch vor der Bibliothek aufgebauten Konstabler McMurdock, der Dienstboten und Schlossbesitzer gleichermaßen von dem Raum fernhielt. »Die Leiche wurde nicht berührt«, meldete Konstabler McMurdock diensteifrig. »Sie sieht scheußlich aus…«, setzte er in vertraulichem Ton hinzu, als verrate er dem Inspektor ein Geheimnis. Inspektor Murphy schob den Konstabler kurzerhand zur Seite und betrat, von seinen Männern gefolgt, die Bibliothek. Er fuhr bei dem Anblick zurück. Die Leiche war inzwischen erstarrt und mit geronnenem Blut bedeckt. Es sah so aus, als hätte eine wilde Bestie den Mann zerfleischt und ihn auf möglichst grausame Weise getötet. Ein normaler Mensch konnte diesen Mord nicht begangen haben, das stand für Inspektor Murphy vom ersten Augenblick an fest. »Spurensicherung!« befahl er knapp. Er hielt sich zurück und suchte die Bibliothek mit den Augen ab, während die Angehörigen der Mordkommission aus Edinborough begannen, routinemäßig Fotos zu schießen und die Lage der Leiche auf dem kostbaren, durch das Blut ruinierten Teppich anzuzeichnen. Die Mordkommission auf Ellmore Castle! Inspektor Murphy war überrascht, wie gelassen Lady Ellmore diese Tatsache hinnahm, die eigentlich bei diesen Landadeligen eine Katastrophe sein mußte. Presse, Skandal, ein Mord auf dem Schloss. Lady Ellmore schien aber ganz andere Sorgen zu haben. Sie kam in die Bibliothek, ohne daß der Inspektor aus Edinborough sie gerufen hätte. Er wollte ihr den scheußlichen Anblick ersparen, doch Lady Ellmore blickte die Leiche mit ihren kühlen, klugen Augen an. 9 �
»Wer weiß, was dieser Ärmste gelitten hat«, sagte sie ohne Mitgefühl in der Stimme. »Er hätte es nicht wagen dürfen, seine Finger nach dem Schatz der Ellmores auszustrecken.« Inspektor Murphy hakte bei diesem Punkt ein. »Ihr Schmuck ist unversichert, soviel ich erfahren habe.« Und als Lady Ellmore nickte, fuhr er fort: »Haben Sie Wächter aufgestellt, die dieses Vermögen beschützen?« »Das brauche ich nicht.« Um Lady Ellmores faltigen Mund spielte ein unerklärliches Lächeln. »Der Schmuck schützt sich selbst – wie Sie sehen.« Sie deutete auf den Toten. Verrückt, dachte Inspektor Murphy, laut sagte er: »Der Schmuck liegt in keinem Tresor, Mylady. Trotzdem ist er schwer zu finden. Wir vermuten, daß jemand aus dem Schloss dem Dieb einen Tip gegeben hat.« »In letzter Zeit wechselt das Personal oft«, gab Lady Ellmore Auskunft. »Ich habe nur ein paar treue Dienstboten im Haus, die seit ihrer Geburt für meine Familie arbeiten. Auf sie allein ist Verlass, auf die anderen nicht.« »Ich habe bei meiner Ankunft einen Buckligen gesehen.« Inspektor Murphy von der Mordkommission trat an das Fenster der Bibliothek und blickte in den Park hinaus. »Dort unten läuft er.« Lady Ellmore stellte sich neben ihn. Ihr Gesicht verdüsterte sich, als die verwachsene Gestalt quer über den Rasen humpelte, kurz ein aufgedunsenes Gesicht zur Bibliothek hob und dann zwischen den Büschen verschwand. »Das ist Pooly, der Krüppel«, sagte sie kalt. »Er treibt sich ständig in der Nähe des Schlosses herum. Ein harmloses Wesen, bedauernswert, aber nicht dafür geschaffen, in einem Schloss zu leben…« Ihre letzten Worte hatte sie mehr zu sich selbst gemurmelt. Inspektor Murphy kam immer stärker zu der Überzeugung, die 10 �
alte Lady würde nicht mehr ganz auf dieser Welt leben. Wie sonst hätte sie diese schrecklichen Ereignisse so ruhig hinnehmen können? »Inspektor!« Einer der Suchmänner rief seinen Vorgesetzten zu sich. »Wir müssen den Schmuck auf Fingerabdrücke untersuchen. Meinen Sie, daß wir…« Er deutete auf die Lady, die noch immer mit hartem Gesicht in den Park hinunterstarrte. »Lady Ellmore«, wendete sich der Inspektor an die Schlossherrin. »Dürfen wir den Schmuck aus seinem Versteck holen?« »Den Schmuck?« Die alte Frau schaute den Inspektor erschrocken an, dann zuckte sie die Schultern unter ihrer Robe. »Bitte, aber nehmen Sie ihn unter keinen Umständen aus der Kassette. Darauf muß ich mit größtem Nachdruck bestehen!« Achselzuckend gab Murphy seinen Leuten ein Zeichen. »Lasst die Dinger in der Schatulle, wie die Lady gesagt hat«, meinte er respektlos und seufzte. So alte Leute konnten einem schon ganz gewaltig auf den Wecker fallen. Die Kriminalisten stießen bewundernde und erstaunte Rufe aus, als sie die Kostbarkeiten zu sehen bekamen. Auch Inspektor Murphy war wie geblendet von diesem Schatz. Noch ein Grund mehr, die alte Lady für verrückt zu halten. Wie konnte man diese Werte ungesichert hinter Büchern in der Bibliothek herumliegen lassen! Das mußte doch Diebe anlocken! Die Fingerabdrücke auf den Juwelen wurden sichergestellt, dann wanderte der Schmuck wieder in sein Versteck, das nun nicht mehr geheim war. Dieser Umstand schien Lady Ellmore aber nicht zu stören. Wie hatte sie gesagt? ›Der Schmuck schützt sich selbst‹, oder so ähnlich. »Inspektor!« Wieder wurde Murphy aus seinen Gedanken gerissen. Der Fotograf hatte dem Arzt Platz gemacht, und dieser hatte das Blut aus dem zerbissenen Gesicht der Leiche entfernt. »Den Kunden kennen wir.« 11 �
Murphy durchsuchte sein Gedächtnis, dann hatte er es. ›The Mouse‹, die Maus. Notorischer Einbrecher aus London. »Da wird sich Chefinspektor Hempshaw von Scotland Yard freuen. Harold, rufen Sie sofort den Yard an. Der Chefinspektor soll so schnell wie möglich herkommen.« Zehn Minuten später klingelte in dem modernen grauen Bürohaus von Scotland Yard in London ein Telefon. Dieser Anruf löste einen Wirbel von Ereignissen aus, die Ellmore Castle in eine Burg des Schreckens verwandeln sollten. * Wenn es nach Lady Ellmores Willen ging, dann sollte dieser Detektiv aus London von Scotland Yard der vorletzte Mensch sein, der den kostbaren Schmuck der Familie Ellmore zu sehen bekam. Lady Ellmores Entschluss stand fest. Durch nichts wollte sie sich mehr davon abbringen lassen, und wenn sie selbst sterben mußte. Sie empfing Chefinspektor Kenneth Hempshaw, der gegen sechs Uhr Abends auf Ellmore Castle nach einer ermüdenden Reise eintraf, mit ausgesuchter Freundlichkeit. Trotz seiner Erschöpfung war der Chefinspektor guter Laune. »Man darf einen Mord nie gutheißen«, sagte er zu seiner Gastgeberin, während sie Tee tranken. »Aber der unbekannte Mörder hat der Menschheit beinahe einen Dienst erwiesen. ›The Mouse‹, der Tote aus Ihrer Bibliothek, war ein Einbrecher, der die Hälfte seines armseligen Lebens hinter Gittern verbrachte.« Hempshaw nippte an seinem Tee und griff nach der Schale mit dem Gebäck. Seine charmante Plauderei war nur eine Maske. Innerlich war er noch immer der eiskalte Kriminalist, der einen Mörder suchte, auch wenn dieser Mörder einen Menschen getötet hatte, der dem Chefinspektor und der ganzen Londoner Poli12 �
zei mehr Ärger gemacht hatte, als ihnen lieb war. »Sie stellen doch nicht etwa die Suche nach dem Täter ein, Mr. Hempshaw?« Lady Ellmore goss eigenhändig Tee nach. Ihr Butler Vincent war mit dem Abendessen beschäftigt. »Das würde mich enttäuschen. Scotland Yard ist dafür bekannt, daß seine Männer nie aufgeben.« »Da haben Sie recht.« Hempshaw sah in diesem Fall nicht klar. Inspektor Murphy, sein Kollege aus Edinborough, hatte Andeutungen gemacht, die alte Dame wäre nicht mehr ganz richtig im Kopf. Und jetzt sprach sie so scharfsinnig wie eine junge Frau. »Ich werde den Mörder suchen und auch finden. Wir haben die Fingerabdrücke Ihres Personals und Ihrer Familie genommen, um die Spuren des Mörders auf den Schmuckstücken heraussuchen zu können. Ich glaube nicht, daß es sehr schwierig sein wird.« Lady Ellmore stellte ihre Tasse mit einem harten Ruck nieder. »Sie werden den Täter nie finden!« erklärte sie scharf. »Das kann kein Mensch auf dieser Welt!« Chefinspektor Hempshaw staunte. »Was meinen Sie damit, Mylady? Das klingt fast so, als würden Sie den Mörder kennen!« »Allerdings, ich kenne ihn.« Die alte Schlossherrin griff sich mit zitternden Händen an den Hals. »Aber ich werde Ihnen nie das Geheimnis von Ellmore Castle verraten. Ich müßte auf der Stelle sterben!« Also doch verrückt! Chefinspektor Hempshaw erhob sich und neigte den Kopf. »Sie erlauben, daß ich mich entferne. Ich habe noch zu arbeiten.« Für ihr Alter unglaublich schnell erhob sich Lady Ellmore und krallte ihre Finger im Hempshaws Arm. Flehend schauten die klaren Augen in das Gesicht des Kriminalisten. Sie wollte etwas sagen, doch dann ließ sie kraftlos die Hand sinken und setzte sich wieder. 13 �
»Seien Sie vorsichtig«, murmelte sie nur. * Das treue Personal stand seit langer Zeit in den Diensten der Familie Ellmore. Das hatte Lady Ellmore dem Inspektor aus Edinborough gegenüber behauptet, und es stimmte auch. Die meisten Dienstboten wiesen ein hohes Alter auf, was dem Schloss eine seltsame Atmosphäre verlieh. Überall, wohin man auch schaute, huschte ein Greis, stützte sich eine Greisin auf ihren Stock. Anne Thornton, die Nichte Lady Ellmores, und ihr Verlobter Harold Handy bildeten eine Ausnahme, die in diesen Kreis alter Menschen einfach nicht paßte. Chefinspektor Kenneth Hempshaw hatte sich in den wenigen Stunden, die er sich jetzt auf Ellmore Castle aufhielt, bereits an den Anblick alter Leute gewöhnt, daß es ihn nicht weiter interessierte, als er von der Halle aus eine auf einen Stock gestützte Frau über die Rasenfläche vor dem Schloss zuwackeln sah. Sie hielt unter einem gestrickten Wollumhang einen Gegenstand verborgen und trug ihn, als wäre es eine Kostbarkeit. Hempshaw zuckte die Achseln. Niemand von diesen Leuten kam als Täter in Frage. Kein alter Mensch hatte eine solche Kraft, die nötig war, um einen Mann mittleren Alters wie Terry Luns, die Maus, zu töten und dermaßen zu zerfleischen. Und Hunde gab es auf Ellmore Castle komischerweise nicht. Der Mörder mußte also von außerhalb stammen, wenn man Anne Thornton und ihren Verlobten außer acht ließ. Der Chefinspektor wählte eine Londoner Nummer. Nach dem dritten Läuten wurde abgehoben. »Hallo, Rick!« rief Hempshaw erfreut. »Wie gut, daß ich Sie zu Hause antreffe. Hören Sie zu, ich habe einen interessanten Fall für Sie.« Er lauschte eine Weile auf die Erwiderung seines fernen 14 �
Gesprächspartners, dann lachte er und schüttelte den Kopf, als könnte der Mann in London es sehen. »Nein, Rick, seien Sie ganz unbesorgt. In diesem Fall spielen keine übernatürlichen Kräfte eine Rolle. Versuchter Diebstahl des Familienschmucks endete tödlich für den Dieb. Ein seltsamer Kasten, dieses Ellmore Castle, das kann ich Ihnen sagen. Wenn Sie wollen, kommen Sie so schnell wie möglich her. Ich werde hier sein und auch dafür sorgen, daß Ihnen die Polizei von Edinborough jede Unterstützung gewährt. Und eines verspreche ich Ihnen.« Der Chefinspektor grinste, als würde er sich über etwas ganz besonders freuen. »Ich garantiere Ihnen, daß man auf Ellmore Castle Rick Masters mit offenen Armen aufnimmt.« Er horchte auf die Antwort, dann strahlte er wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum. »Also abgemacht, Rick. Morgen um neun Uhr früh.« Hätte Rick Masters, der erfolgreiche Londoner Privatdetektiv, auch nur geahnt, was sich bis zum nächsten Morgen alles auf Ellmore Castle ereignen würde, er hätte sich einen Jet gemietet, anstatt sich ans Steuer seines Morgans zu setzen. Aber auch Rick Masters war kein Hellseher – zu seinem eigenen Bedauern. * Das Meer donnerte gegen die Klippen, die schwarz und steil von der Höhe von Ellmore Castle zu den brausenden Wogen abfielen. Weißer Gischt sprühte turmhoch und überzog den Felsen mit einer feinen Wasserschicht, so daß die Steine glitschig und gefährlich waren. Die Gefahr nicht achtend, ging die alte Margot, wie sie auf Ellmore Castle von allen genannt wurde, näher an den Abgrund heran. Die alte Margot war die engste Vertraute von Lady Ellmore, eine jener Dienstboten, die seit ihrer Geburt auf dem 15 �
Schloss lebten. Sie genoss nicht nur das Vertrauen, sondern auch die Zuneigung der Schlossherrin und hatte mehr als einmal Lady Ellmore in einer schwierigen Lage beigestanden. Es gab nichts, das die alte Margot nicht für ihre Herrin getan hätte. Deshalb hatte sie sich auch nicht geweigert, als Lady Ellmore vor einer Stunde sie zu sich in ihr Privatgemach gerufen und ihr einen Vorschlag gemacht hatte. Während die alte Margot am Abgrund der Klippen stand und in das kochende Wasser am Fuße des Felsen hinunterstarrte, erlebte sie noch einmal das Gespräch mit ihrer Herrin. »Margot«, hatte Lady Ellmore gesagt, »ich möchte, daß du mir hilfst, für ewige Zeiten Ruhe in das Schloss zu bringen. Ich möchte den Frieden besiegeln, bevor ich sterbe.« »Alles, Mylady, was ich tun kann«, hatte Margot geantwortet. Der prüfende Blick von Lady Ellmore schien die alte Frau zu durchbohren. Herrin und Dienerin mussten im gleichen Alter stehen. »Alles?« fragte Lady Ellmore mit seltsamer Betonung. »Würdest du für mich auch den Familienschmuck über die Klippen werfen?« Die alte Margot zuckte zusammen. »Mein Gott, Mylady, Martha-Kind!« schrie sie auf. In diese vertrauliche Anrede aus Kindertagen verfiel sie nur, wenn sie sich sehr erregte. »MarthaKind, das wäre dein Tod! Das darfst du nicht tun. Du kennst den Fl…« »Schweig!« Lady Ellmore hob gebieterisch die Hand. »Ich bin alt und habe nicht mehr lange zu leben. Doch vor meinem Tod möchte ich das Teufelszeug vernichten. Martha, bist du bereit, die Schatulle über die Klippen zu werfen?« Die alte Dienerin hatte nicht mehr lange überlegt, nur noch genickt und die Kassette unter ihrem gestrickten Halstuch verborgen. Der Chefinspektor hatte sie beobachtet, sich aber nicht um sie gekümmert, als sie verfolgt wurde. Sie wußte auch nicht, 16 �
daß sie jetzt nicht allein am Abgrund stand. Im Dämmerlicht des Abends humpelte über die glitschigen Steine eine verkrümmte, bizarre Gestalt, Pooly, der Bucklige von Ellmore Castle. Er blieb stehen, als er die Dienerin sah. Mit funkelnden Augen beobachtete er, wie die alte Margot das Wolltuch von dem Gegenstand zog, den sie fest an ihre Brust preßte. Sie hob den Arm, bog ihn nach hinten und holte zu einem weiten Wurf aus. Die alte Margot fuhr bei dem tierischen Gebrüll in ihrem Rücken entsetzt herum. Am ganzen Körper zitternd schaute sie, woher dieser unmenschliche Schrei gekommen war. Als sie in den fahlen Strahlen der Sonne, die bereits unter den Meeresspiegel gesunken war, die bucklige Gestalt hinter einem Felsblock auftauchen sah, atmete sie erleichtert auf. »Pooly, hast du mich erschreckt«, rief sie mit einem gequälten Lächeln. »Ich habe schon geglaubt…« Die alte Margot verstummte. Sie kannte Pooly, den Buckligen, auch schon seit einer Ewigkeit, und noch nie hatte sie ihn wütend oder erregt gesehen. Doch jetzt erkannte sie ihn nicht wieder. Der Bucklige schlug mit seinen überlangen Armen durch die Luft, fletschte sein spitzes Gebiss und deutete, glucksende und gurgelnde Laute ausstoßend, auf die Schmuckkassette in ihrer Hand. »Ach so, du willst wissen, was ich da mache?« schrie die Alte, um das Toben der Brandung zu übertönen. Der Bucklige nickte heftig mit seinem großen Kopf. »Lady Ellmore hat befohlen, daß ich den Schmuck ins Meer werfe. Er hat schon zuviel Unglück über die Familie gebracht und sie meinte…« Mit dem Buckligen ging eine schreckliche Verwandlung vor sich. Sein entstelltes Gesicht verzerrte sich, er sperrte den Mund weit auf und stieß ein Gebrüll wie ein verwundeter Stier aus. Es 17 �
schien fast so, als empfinde er fürchterliche Schmerzen. Fordernd streckte er die Hände aus. »Ich soll dir den Schmuck geben?« rief die alte Margot erstaunt. »Bist du verrückt? Möchtest du den feinen Herrn spielen und dich mit Juwelen behängen?« Ein besonders mächtiger Brecher schlug gegen die Klippen. Der Gischt sprühte hoch über den Rand der Felsen hinaus und übergoss die beiden seltsamen Menschen am Abgrund mit einem feinen Regen. Die Bewegungen des Buckligen wurden immer drängender. Als die alte Margot nicht nachgab, machte er einen Sprung auf sie zu. Seine knotigen Hände schössen vor, seine ungelenken Finger packten die Schmuckkassette und entrissen sie der Dienerin. Wütend keifte die alte Margot auf Pooly, den sie zwar mochte, den sie aber für völlig übergeschnappt hielt. »Gib das Ding sofort wieder her!« fauchte sie ihn an, doch er wich zurück, immer weiter vom Abgrund weg. Die Alte folgte ihm. Schon waren die beiden etwa fünfzig Schritt von der Felskante entfernt, als die alte Margot plötzlich mit einem grässlichen Schrei die Arme hochwarf. Ohne erkennbaren Grund taumelte sie rückwärts auf die Klippen zu. Wieder krachte eine Welle gegen die Felsen. Eine mächtige Wasserzunge leckte nach der alten Margot, erfasste sie, wirbelte sie hoch durch die Luft und saugte sie nach unten – in die Tiefe. Mit einem letzten, angstgepeinigten Schrei verschwand die Frau in den kochenden Fluten des Meeres. Der Bucklige stand, die Schmuckkassette unter dem Arm geklemmt, lange wie eine Steinstatue im bleichen Dämmerlicht. Endlich drehte er sich schwerfällig um und humpelte mit breiten, langen Schritten auf Ellmore Castle zu. 18 �
*
Rick Masters, jung und dynamisch, erfolgreich, von Beruf Privatdetektiv aus London, hatte nicht erwartet, mit jubelnder Begeisterung auf einem schottischen Schloss empfangen zu werden, auf dem sich ein Mord ereignet hatte. Aber bereits als er mit seinem Morgan, einem todschicken, auf »alt« getrimmten Sportwagen, durch das äußere Tor in den düsteren Schlosshof einfuhr, umfing ihn eine unheimliche, beklemmende Stimmung. Gesinde stand herum, aber niemand arbeitete, alle schauten mit bedrückten Gesichtern hinauf auf die Fenster des Schlosses. Rick Masters bremste mitten auf dem großen Hof und nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. Hier stimmte etwas nicht! Gut, es war jemand ermordet worden, aber das war ein Fremder, noch dazu ein Dieb gewesen. Auf den Stufen vor dem Hauptportal von Ellmore Castle erschien eine würdige weißhaarige Gestalt, kerzengerade aufgerichtet. Der ideale Butler, dachte Rick Masters und wollte still vor sich hin grinsen, wie er es gern tat. Doch das Grinsen fror auf seinen jungenhaften Zügen ein, als er das Gesicht des Butlers sah. »Mr. Masters aus London, wenn ich recht vermute«, sagte der Mann mit gedämpfter Stimme. »Richtig, ich bin Masters!« rief Rick und stieg aus seinem Wagen, der wie ein Eindringling in ein lange vergangenes Jahrhundert auf diesem alten Schloss wirkte. »Ich möchte zu Lady Ellmore.« Der Butler winkte einen Mann herbei, der sich um Ricks Gepäck kümmerte. Zu dem Neuankömmling gewendet, machte er eine tiefe Verbeugung. »Chefinspektor Hempshaw von Scotland Yard erwartet Sie in 19 �
der Bibliothek, Sir«, sagte er fast flüsternd. »Lady Ellmore bedauert, Sie nicht empfangen zu können. Sie hat einen Herzanfall gehabt und liegt im Sterben.« * »Endlich kommen Sie!« Der Chefinspektor lief mit ausgebreiteten Annen auf Rick Masters zu, als dieser in der Tür der Bibliothek auftauchte. Vincent zog sich diskret zurück. »Ich werde noch wahnsinnig auf dieser Burg von Irren!« »Nun mal langsam, Kenneth«, bremste Rick Masters den Ansturm des Chefinspektors. »Setzen wir uns erst und erzählen Sie mir, was sich eigentlich ereignet hat.« Sie nahmen in der bequemen, männlich eleganten Ledergarnitur vor den scheinbar endlosen Bücherregalen Platz. Hempshaw goss Portwein aus einer funkelnden Kristallkaraffe ein. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, begann er zu erzählen. »Die Geschichte von dem ermordeten Dieb wissen Sie schon, Rick. Gestern Abend fragte Lady Ellmore immer wieder nach einer Dienerin, die im Schloss die alte Margot genannt wird. Dann faselte sie von dem Schmuck und den Klippen. Um Mitternacht überzeugte sie sich, ob der Schmuck an seinem Platz wäre – dort hinter diesen beiden Büchern.« Er deutete mit der Hand auf das Versteck des Familienschmuckes. »Kaum sah sie die Kassette, brach sie zusammen. Ich habe sofort einen Arzt verständigt. Er kam aus der nächsten Kleinstadt. Und vor wenigen Stunden traf auch eine medizinische Kapazität aus Edinborough ein. Die beiden sind ratlos.« »Es heißt, Lady Ellmore läge im Sterben«, unterbrach ihn Rick Masters. »Das ist es ja eben«, ereiferte sich Hempshaw. »Die Ärzte 20 �
bescheinigen ihr beste Gesundheit, und trotzdem stirbt sie. Das sieht jeder Laie.« »Kann ich mit ihr sprechen?« »Ausgeschlossen! Die Ärzte haben alle Besuche verboten. Nicht einmal ihre Nichte darf zu ihr.« Der Chefinspektor erklärte Rick Masters die Verhältnisse auf Ellmore Castle. Er hatte soeben geendet, als sich die Tür öffnete und Vincent, der Butler, nach leisem Klopfen eintrat. Er ging auf Rick Masters zu und verneigte sich. »Sir, Mylady bittet Sie zu sich!« Rick erhob sich und winkte Chefinspektor Hempshaw zu, der neidisch vor sich hin murmelte: »Überall hat er Ausnahmen, dieser Teufelskerl!« Rick Masters folgte dem Butler, der, steif, wie eine Marionette, vor ihm her ging. Vincent öffnete schließlich eine dickgepolsterte Tür, damit Rick den nur gedämpft erleuchteten Raum betreten konnte… das Sterbezimmer Lady Ellmores. Bei Ricks Eintreten erhoben sich zwei Männer, beide mittleren Alters. Es waren die Ärzte, die an das Bett der Sterbenden gerufen worden waren. »Dr. O'Hara«, stellte sich der Ältere vor. »Internist aus Edinborough. Wir kennen Sie, Mr. Masters, und haben von Ihnen gehört.« »Wie sieht es aus, Doktor?« fragte Rick und warf einen Blick auf die zerbrechlich wirkende Gestalt in dem breiten Himmelbett. Lady Ellmore versank fast in den weichen Kissen. »Es geht zu Ende, Mr. Masters.« Der Arzt schüttelte den Kopf, und sein Kollege schloss sich diesem Kopfschütteln vollinhaltlich an. »Das größte Rätsel meiner Laufbahn als Mediziner«, sagte er leise. »Die Frau hat eine Natur, mit der sie hundert Jahre alt werden könnte.« »Sie ist doch schon sehr alt«, wendete Rick ein. »Kann das nicht 21 �
die Ursache…« »Nein, ausgeschlossen.« Dr. O'Hara, der schottische Arzt mit dem irischen Namen, winkte entschieden ab. »Sie stirbt, als würde ihr das Leben ausgesaugt werden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Als würde jemand ihre Kräfte abzapfen.« Rick Masters biss sich auf die Unterlippe, daß es schmerzte. Hatte Chefinspektor Hempshaw ihm nicht am Telefon garantiert, in diesem Fall würden keine übernatürlichen Kräfte mitspielen? Und das hier? Das sah doch ganz nach dem Wirken einer geheimnisvollen, unerklärlichen Macht aus. »Auf Wunsch Lady Ellmores lassen wir Sie allein«, schloss Dr. O'Hara. Die beiden Ärzte schoben sich an Rick vorbei hinaus auf den Korridor und schlossen die Tür hinter sich. Rick war allein mit der Sterbenden. »Kommen Sie näher, Mr. Masters«, hörte er aus dem Berg von Kissen die schwache, aber noch immer deutliche Stimme der alten Schlossherrin. »Kommen Sie an mein Bett. Ich muß mit Ihnen sprechen. Sie sind doch Rick Masters?« »Ja, Mylady«, sagte Rick, den Kloß in seinem Hals schluckend. Er trat nahe an das breite Himmelbett mit dem purpurfarbenen Baldachin und den kunstvoll geschnitzten Säulen heran. »Ich bin Rick Masters aus London.« »Der Privatdetektiv, der schon oft mit geheimnisvollen, übernatürlichen Kräften kämpfte?« Die alte Frau schaute Rick aus großen, brennenden Augen an. Ohne zu überlegen, setzte sich Rick einfach auf den Bettrand und ergriff die welke Hand. »Ja, Mylady, der bin ich«, rief er hastig. »Warum fragen Sie das?« Ein gequältes Stöhnen drang aus Lady Ellmores Mund. »Ich werde von dem Fluch der Rubine getötet«, hauchte sie. »Ich sterbe, weil ich gegen das Gesetz unserer unglücklichen Familie gehandelt habe. Die Edelsteine rächen sich, sie fordern ihren Tri22 �
but.« »Mylady!« drängte Rick Masters, sich weit vorbeugend. »Was ist mit den Edelsteinen? Sprechen Sie von dem Familienschmuck?« Lady Ellmore senkte bejahend die trüber werdenden Augen. »Die alte Margot sollte sie über die Klippen werfen, aber sie kam nicht zurück… Margot… ich folge dir…« »Warum haben Sie von Rubinen gesprochen?« Rick merkte, daß es zu Ende ging. Er mußte so schnell wie möglich Einzelheiten erfahren, um weiteres Unheil abwenden zu können. »Ich hätte… nicht versuchen… dürfen, den Schmuck… zu vernichten…« Lady Ellmore bäumte sich in ihrem Himmelbett auf. Die starren Augen zu dem purpurnen Baldachin hochgewendet, griffen ihre faltigen Hände wie haltsuchend in die Luft. »Die Todeskette!« gellte ihr Schrei. Dann sank Lady Ellmore leblos zurück in die Kissen. * Rick Masters saß bei Chefinspektor Kenneth Hempshaw in der Bibliothek, schweigend, nur ab und zu einen Schluck Portwein nehmend. Die Uhr an der Wand, eine Rarität und ein Schatz für jeden Uhrenliebhaber, tickte überlaut. Stimmengemurmel näherte sich der Bibliothek, dann wurde die Tür aufgestoßen. Vincent, der Butler, führte mit steinernem Gesicht die beiden Ärzte und einen dritten, Rick unbekannten Mann in den Raum. Anne Thornton, Lady Ellmores Nichte, und Howard Handy, ihr Verlobter, folgten. Rick Masters und der Chefinspektor erhoben sich. Alle bildeten einen feierlichen Kreis. »Lady Ellmore ist tot«, bestätigte Dr. O'Hara aus Edinborough. 23 �
»Daran besteht kein Zweifel.« »Ich kann die traurige Nachricht nur bestätigen«, fügte der Arzt aus der nächsten Kleinstadt hinzu. »Somit tritt der Letzte Wille der Verblichenen in Kraft«, sagte der dritte Mann, den Rick Masters nicht kannte. »Ich bin Andrew Sollstock, Anwalt der Familie«, stellte er sich vor. »Bitte, nehmen Sie alle Platz. Ich verlese das Testament.« »Einen Augenblick!« mischte sich der Chefinspektor ein. »Das ist doch wohl sehr unüblich. Wie können Sie ein Testament wenige Minuten nach dem Tod des Erblassers verlesen!« Rechtsanwalt Sollstock neigte seinen Kopf leicht zur Seite, ohne den Chefinspektor anzusehen. Er holte Papiere aus seiner schwarzen Aktenmappe. »Es war das ausdrückliche Verlangen von Lady Ellmore, so schnell wie möglich nach ihrem Hingang ihren Letzten Willen zu verlesen. Verstehen Sie es richtig, Sir. Es handelt sich nicht um ein Testament im rechtlichen Sinne, sagen wir lieber, es ist ein Brief an ihre Hinterbliebenen, der sofort geöffnet werden muß. Das eigentliche Testament liegt in Edinborough in meiner Kanzlei.« »Sehr eigenartig«, flüsterte Chefinspektor Hempshaw dem neben ihm sitzenden Rick Masters zu. »Ich bin gespannt, was die alte Lady zu sagen hat.« Er mußte nicht lange warten. Rechtsanwalt Sollstock erbrach das Siegel eines großen Umschlages und holte einen leicht vergilbten Briefbogen hervor. Er begann, mit monotoner Stimme den Text zu verkünden. Da meine einzige leibliche Verwandte meine Nichte Anne Thornton ist, wird sie auch nach meinem Testament alles erben. Anne, ich wende mich daher an Dich. Anne, bisher war ich die Hüterin des Schatzes der Ellmores, des Familienschmuckes. In ganz Schottland, ja, in ganz Großbri24 �
tannien wirst du nicht so leicht gleichwertige Juwelen finden, das Königshaus ausgenommen. Aber diese Juwelen sind gleichzeitig das Verderben unserer Familie. Ich mußte mein ganzes Leben lang dieses Teufelswerk unter meinem Dach dulden, ohne mich dagegen wehren zu können. Ich durfte aber den Schmuck auch nicht wegbringen, so gern ich das getan hätte. Es wäre mein sofortiger Tod gewesen. Anne, das gilt auch für Dich. Versuche nie, den Schmuck von Ellmore Castle fortzugeben. Wenn Du klug bist, dann wirst Du die Schatulle an ihrem Platz in der Bibliothek stehen lassen und sie nie öffnen. Wenn Du aber schwach genug bist, den Schatz sehen zu wollen, dann nimm niemals ein Stück aus der Kassette, freue Dich an dem Glanz der Juwelen und des Goldes, aber entferne sie nicht aus ihrer Ruhestatt. Das schrecklichste Verderben droht Dir sonst! Anne, ich beschwöre Dich! Werde nicht auch ein Opfer der Rubinkette wie viele Deiner und meiner Vorfahrinnen! Sei stark! Nur so kannst Du in Frieden leben! Der Rechtsanwalt beendete die Verlesung des Briefes. Eisiges Schweigen senkte sich über die Bibliothek. Aller Augen hingen an der jungen Erbin des Schlosses und des mysteriösen Schatzes, über den Lady Ellmore so sonderbare Andeutungen geschrieben hatte. »Haben Sie den Brief Ihrer verstorbenen Tante, Lady Martha Ellmore, verstanden, Miss Thornton?« fragte der Rechtsanwalt nach einer Weile. Anstelle einer Antwort sprang Anne Thornton auf und lief laut weinend aus der Bibliothek. Howard Handy, ihr Verlobter, folgte ihr. *
25 �
Unten im Hof von Ellmore Castle trafen Rick Masters und Chefinspektor Kenneth Hempshaw zusammen. Der Chefinspektor hatte ebenfalls die Annäherung des makabren Leichenzuges gesehen. »Es ist die alte Margot!« rief Konstabler McMurdock schon von weitem. »Sie ist über die Klippen gestürzt.« »Die Klippen«, murmelte Rick Masters. »Wie Lady Ellmore sagte. Sie schickte die alte Margot zu den Klippen.« »Aber warum?« Chefinspektor Hempshaw zuckte ratlos die Achseln. Der Pferdewagen hielt an. Diener holten die Leiche heraus und trugen sie in das Haus. »Wenn ich mich recht erinnere«, versuchte Rick, die Zusammenhänge zu klären, »dann wartete Lady Ellmore gestern Abend mit großer Ungeduld auf die Rückkehr der alten Margot.« »Das stimmt, Rick«, bestätigte der Chefinspektor. »Sie war fast krank vor Aufregung, als die Dienerin nicht kam.« »Und um Mitternacht sprang Lady Ellmore plötzlich auf, lief in die Bibliothek und sah nach dem Schmuck«, fuhr Rick Masters fort. »Beschreiben Sie mir doch einmal genau ihre Reaktion, als sie die Kassette fand.« Kenneth Hempshaw breitete hilflos die Arme aus. »Auch das war merkwürdig, Rick. Sie schrak zusammen, aber nicht freudig. Ich hatte zuerst gemeint, Lady Ellmore würde ihre Dienerin verdächtigen, den Schmuck gestohlen zu haben.« »Dann hätte sie aber erleichtert aufatmen müssen, als der Schmuck noch vorhanden war.« »Tat sie aber nicht, Rick! Es war Angst, Schrecken in ihrem Gesicht. Und gleich darauf brach sie zusammen.« Rick Masters lief mit unruhigen Schritten auf und ab. Dann blieb er vor Hempshaw stehen, blickte ihm direkt ins Gesicht. 26 �
»Nehmen wir an, Lady Ellmore wollte den Schmuck loswerden. Nehmen wir weiter an, die alte Margot sollte die Schatulle über die Klippen werfen. Sie trug schließlich einen Gegenstand unter ihrem Wolltuch, wie Sie sagten. Das war also die Schmuckschatulle. Jemand hat die Dienerin beobachtet, ihr den Schmuck abgenommen und wieder an seinen alten Platz gestellt. Können Sie mir folgen?« Hempshaw zog spöttisch die Oberlippe hoch. »Folgen kann ich schon, aber ich sehe keinen Sinn darin.« »Ich schon«, beharrte Rick auf seiner Meinung. »Der Sinn ergibt sich, wenn Sie an den Brief denken, den Lady Ellmore ihrer Nichte hinterlassen hat.« Er dachte auch an die letzten Worte der Sterbenden, die er zuerst für Fieberphantasien gehalten hatte. »Und wie erklären Sie sich die Zusammenhänge, Rick?« Masters wollte antworten, aber sein Blick fiel auf das Hoftor, in dem eine bizarre Gestalt aufgetaucht war – der Bucklige. »Das ist doch Pooly, der hier auf dem Schloss lebt?« fragte der junge Londoner Detektiv. Chefinspektor Hempshaw drehte sich um, nickte bestätigend und lief auf den Krüppel zu. »He, Pooly! Kommen Sie doch mal her!« Der Bucklige duckte sich wie ein angegriffenes Tier, und es sah so aus, als wollte er vor dem Kriminalisten davonlaufen, doch Hempshaw hatte ihn schon erreicht und fasste ihn am Ärmel seines zerschlissenen Rockes. Er führte den Buckligen zu seinem Polizeiauto. »Keine Angst, Pooly, es passiert dir nichts«, redete er beruhigend auf den Zitternden ein. »Nur von ihm haben wir noch nicht die Fingerabdrücke genommen«, erklärte Hempshaw Rick Masters. »Sonst sind von allen Schlossbewohnern die Abdrücke aufgenommen und verglichen worden. Ordnung muß sein.« 27 �
Er holte aus dem Kofferraum seines Wagens das Stempelkissen und die Erkennungskarte, drückte die Finger des Krüppels zuerst in die Farbe, dann auf das weiße Papier und ließ ihn wieder laufen. Pooly humpelte, so schnell er konnte, davon. Am Tor blieb er stehen, drehte sich noch einmal um und zeigte mit seinem langen Arm auf das Haus, in welches die Leiche getragen worden war. »Margot!« gurgelte es schluchzend aus seinem missgestalteten Mund. Dann lief er aus dem Hof und verschwand in den Büschen. * Während Rick Masters ins Schloss ging, beschäftigte sich Chefinspektor Hempshaw noch mit seinem Wagen. Er blätterte in Akten und verglich seine Aufzeichnungen. So trockener Bürokram war dem jungen Detektiv zu langweilig, weshalb er sich die Leiche der Dienerin genauer anschauen wollte. Zum Glück befanden sich noch die beiden Ärzte im Schloss, so daß sie eine erste Untersuchung durchführen konnten. Die Leiche war schrecklich zugerichtet. Rick zweifelte, ob es einen einzigen Knochen in dem Körper gab, der nicht zerschmettert worden war. »Bei diesen Verletzungen, die eindeutig von einem Sturz über die steilen Klippen stammen, können wir auf keinen Fall Wunden feststellen, die von einem Schlag herrühren«, erläuterte Dr. O'Hara auf Ricks Frage. »Vielleicht wurde die Frau oben auf den Klippen erschlagen und dann erst hinuntergeworfen, vielleicht glitt sie aus.« »Sie können also Mord nicht ausschließen?« Wieder ein ratloses Achselzucken. »Wir können gar nichts ausschließen. Mord, Selbstmord, Unfall – das wird sich nicht durch 28 �
die Medizin feststellen lassen, Mr. Masters.« Rick bedankte sich und hielt Vincent, den Butler, an, der an ihm vorbeigehen wollte. »Ich hätte Sie gern etwas länger gesprochen, Vincent«, sagte Rick und deutete auf die Bibliothek. »Haben Sie fünf Minuten Zeit für mich, Vincent?« Der Butler verbeugte sich knapp. »Ich habe für Sie so viel Zeit, wie Sie wollen, Sir. Lady Ellmore hatte Vertrauen zu Ihnen.« Rick mußte den alten Mann dreimal auffordern, bevor er sich ebenfalls setzte, und dann hängte er seinen knochigen Körper nur auf die vorderste Kante des Ledersessels. Es schickte sich nicht für den eingefleischten Butler, in Gegenwart einer »Herrschaft« zu sitzen. »Vincent, Sie leben seit mehr als achtzig Jahren hier im Haus«, begann Rick Masters das Gespräch. »Sie wurden gleichzeitig mit Lady Ellmore geboren. Erzählen Sie mir bitte kurz das Leben Ihrer verstorbenen Herrin.« »Es gibt nicht viel zu erzählen, Sir.« Die Diskretion in Person, dachte Rick. »Lady Ellmore heiratete nie. Sie hatte zwei ich meine, einen Bruder, der aber schon vor zehn Jahren starb. Miss Anne ist seine Tochter.« Rick war hellhörig geworden. »Sie versprachen sich, Vincent. Sie wollten sagen, Lady Ellmore hätte zwei Brüder gehabt. Wieso sagen Sie nicht die Wahrheit?« Der Butler errötete, was Rick leid tat. Er wollte den alten Mann nicht in Verlegenheit bringen, aber er mußte genau informiert sein. »Ich wollte nicht von Myladys zweitem Bruder sprechen. Es ist sehr traurig. Sir James Ellmore wurde noch im Kindesalter von einem wildgewordenen Hengst zu Tode getrampelt.« Rick ließ eine Minute verstreichen, um alles zu verarbeiten, dann stellte er die nächste Frage. »Was hat es mit dem Familienschmuck auf sich? Auf diesem Schmuck lastet irgendein Fluch 29 �
oder ein Verhängnis. Sie wissen Bescheid!« Vincent erhob sich steif und stand kerzengerade vor Rick Masters. »Sie haben recht, Sir, ich weiß Bescheid.« Sein Gesicht begann zu glühen. »Aber, Sir, ich lasse mich lieber ermorden, als daß ich spreche. Tut mir leid, Sir!« Er wollte sich mit einer gemessenen Verbeugung entfernen, als die Tür der Bibliothek aufgestoßen wurde und Chefinspektor Kenneth Hempshaw, wie von allen Hunden gehetzt, hereingestürmt kam. Er kümmerte sich nicht um die Anwesenheit des Butlers. »Rick, wir haben den Mörder!« keuchte er. »Wir haben ihn festgenagelt!« Masters sprang überrascht auf. »Von welchem Mörder sprechen Sie denn, Kenneth?« Der Chefinspektor holte erst einmal tief Luft, bevor er ruhiger weitersprach. »Ich meine den Mörder des Diebes und den Mörder der alten Margot.« Vincent stieß einen leisen Schrei aus und wich bis an die Wand zurück. Hempshaw warf ihm nur einen kurzen Blick zu. Wenn er einmal in Fahrt war, ließ er sich nicht mehr bremsen. »Sie glauben also, daß beide ermordet wurden, auch die Dienerin?« fragte Rick Masters zweifelnd. »Aber selbstverständlich!« behauptete Hempshaw überzeugt. »Auf der Rubinkette der Lady Ellmore fanden wir Fingerabdrücke vom Dieb, von Lady Ellmore und – nun, raten Sie, von wem noch.« »Von dem Menschen, den Sie für den Mörder halten«, sagte Rick gelassen. »Richtig! Und dieser Mensch ist Pooly, der Bucklige!« Vincent, der Butler, stieß einen keuchenden Laut aus und stürzte bewusstlos zu Boden.
30 �
*
»In diesem verdammten Schloss fallen die Leute um wie die Fliegen bei heißem Wetter«, schimpfte Chefinspektor Hempshaw, während sich die beiden Ärzte um den ohnmächtigen Butler bemühten. »Es ist nicht zu glauben. Kaum verdächtigt man einen Mann, der hier auf dem Schloss lebt, des Mordes, kippt der Butler um.« Rick schaffte ein verzerrtes Grinsen. »Vielleicht ist es wie in schlechten Kriminalromanen. Der Mörder ist immer der Butler. Und als der Butler-Mörder hörte, daß Sie einen anderen verdächtigten, war er so erleichtert, daß er…« »Er kommt zu sich«, meldete Dr. O'Hara. »Der Mann hat eine eiserne Konstitution.« Das stimmte wirklich. Vincent schlug die Augen auf und sah, daß er auf dem Ledersofa der Bibliothek lag, während die anderen um ihn herum standen. Er schwang die Beine auf den Boden, erhob sich, strich die weißen Haare glatt und machte die unvermeidliche Verbeugung. »Ich bitte um Entschuldigung für meine Schwäche«, sagte er leise und verließ mit energischen Schritten die Bibliothek. Die Ärzte verabschiedeten sich und verließen gleich darauf Ellmore Castle. Sie machten den Eindruck, als wären sie heilfroh, aus dem alten Schloss so schnell wie möglich verschwinden zu können. Rick Masters nahm es ihnen nicht übel. Er blieb mit Chefinspektor Hempshaw allein in der Bibliothek zurück. »Und Sie haben mir geschworen am Telefon, hier würde es sich nicht um das Einwirken übernatürlicher Kräfte handeln«, sagte er vorwurfsvoll zu dem Kriminalisten von Scotland Yard. Chefinspektor Hempshaw hob erstaunt den Kopf. »Wollen Sie vielleicht behaupten, daß wieder ein paar Geister 31 �
herumspuken?« fragte er spöttisch. »Das ist doch Unsinn, Rick! Die Arbeit mit geheimnisvollen Fällen hat in Ihnen einen Komplex aufgebaut. Wir haben die natürlichste Erklärung, die man sich nur vorstellen kann.« »Der Bucklige ist immer der Mörder«, sagte Rick Masters zynisch und trat an das Fenster der Bibliothek, von wo aus er den herrlichen Park von Ellmore Castle überschauen konnte. »Nur, weil Sie die Fingerabdrücke Poolys auf der Rubinkette gefunden haben, muß er schon der Mörder sein. Ist das nicht etwas voreilig?« »Nicht im mindesten«, verteidigte sich der Chefinspektor. »Denken Sie doch an die Wunden des Diebes. Bisse im Hals, Kratzspuren! Das passt doch ausgezeichnet! Haben Sie das Gebiss des Buckligen gesehen? Ein wahres Wolfsgebiß!« Rick Masters drehte sich langsam um und schaute dem Chefinspektor starr in die Augen. »Wenn Sie meinen, Kenneth…«, sagte er vage und verließ die Bibliothek. * Vincent, der alte Butler, stand vor Anne Thornton, als hätte ihn der Blitz getroffen. »Verzeihung, Miss Thornton«, stammelte der alte Mann fassungslos. »Ich muß mich wohl verhört haben.« Anne Thornton warf dem Butler einen ungehaltenen Blick zu. Howard Handy, ihr Verlobter, der neben ihr auf dem breiten Sofa saß, stieß sie unauffällig an. »Vincent«, sagte Anne scharf. »Sie haben mich sehr gut verstanden. Ich weiß, daß Ihre Schwerhörigkeit nur eine Marotte von Ihnen ist, auf die Sie sich berufen, wenn es Ihnen gerade passt! Also befolgen Sie meine Anweisungen und gewöhnen Sie sich daran, daß ich jetzt Herrin auf Ellmore Castle bin, sonst müssen Sie das Schloss verlassen. Ist das klar, Vincent?« 32 �
Der alte Butler war zu keiner Antwort fähig. Er verneigte sich stumm und verließ, gramgebeugt und mit hängenden Schultern, den Salon. Auf dem Korridor stieß er beinahe mit Rick Masters zusammen, den er übersehen hatte. »Vincent, was ist denn mit Ihnen los?« fragte der junge Londoner Privatdetektiv und fasste den Alten an den Armen. »Haben Sie den Schock noch immer nicht überwunden?« Rick meinte, der Butler litt noch unter der Tatsache, daß Chefinspektor Hempshaw den Buckligen für den Mörder hielt. »Sir, wollen Sie mir bitte folgen!« Vincent ging voraus und führte Rick zu dessen größtem Erstaunen in die Küche. »Ich bitte um Verzeihung«, entschuldigte sich der Butler für die Räumlichkeiten. »Aber dies ist der einzige Ort des Schlosses, den Miss Anne niemals betritt. Hier können wir ungestört reden.« »Das hört sich ja richtig ernst an«, versuchte Rick, die gespannte Atmosphäre durch einen Scherz zu überspielen, doch er hatte bei Vincent keinen Erfolg. »Sir, übermorgen Abend will Miss Anne ein Fest für die Gesellschaft der umliegenden Güter geben. Sie möchte die einflussreichsten Leute unserer Gesellschaft einladen.« Rick glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Das müssen Sie zweimal sagen, Vincent, sonst meine ich, daß ich falsch verstanden habe.« »Das glaubte ich auch, Sir, als mir Miss Anne vorhin die Mitteilung machte, aber es stimmt. Ich muß sofort alle Vorbereitungen treffen.« »Eine Geschmacklosigkeit!« entfuhr es Rick, obwohl er nicht die geringste Absicht hatte, sich in die Privatangelegenheiten der Familie Ellmore einzumischen. »Ganz recht, eine Geschmacklosigkeit«, stimmte Vincent zu. Es war nicht zu fassen! Der Butler erlaubte sich zum ersten Mal in seinem Leben Kritik an seiner 33 �
Herrschaft. »Übermorgen Nachmittag wird Lady Ellmore begraben, und am gleichen Abend noch soll hier ein Fest stattfinden.« »Wer wird denn eingeladen? Haben Sie schon eine Liste?« »Allerdings, Miss Anne gab sie mir.« Vincent zog mit bebenden Händen einen Zettel aus der Tasche. Rick nahm die Liste in Empfang und entfaltete sie. Er war gespannt, ob seine Vermutung, die plötzlich aufgetaucht war, stimmte. Er überflog die Namen und nickte befriedigt. Sie stimmte! Rick warf dem Butler einen scharfen Blick zu. »Vincent, ich nehme nicht an, daß die alten Freunde und Bekannten von Lady Ellmore nach ihrem Begräbnis zu einem Fest auf das Schloss kommen würden.« Vincent schüttelte den Kopf so heftig, daß seine schlohweißen Haare flogen. »Und ich lese hier Namen von Leuten, die Geld haben, sehr viel Geld sogar. Ist das Schloss verschuldet?« Bei dieser direkten Frage errötete der Butler, nun schon zum zweiten Mal. Er druckste herum, bis er stumm nickte. Rick faltete die Liste zusammen und gab sie Vincent zurück. »Dann ist alles klar. Miss Anne möchte nicht, daß die Gläubiger in Panik verfallen, weil Lady Ellmore tot ist. Sie will von dem Besitz retten, was noch zu retten ist. Und dazu wird ihr jedes Mittel recht sein.« Rick brach erschrocken ab. Was hatte er da eben gesagt? Jedes Mittel würde Lady Ellmores Nichte recht sein? Das ließ gefährliche Schlüsse zu. * Gegen sechs Uhr Abends rollte, lautlos wie von Geisterhand � 34 �
gezogen, ein silbergrauer Rolls Royce in den Schlosshof. Der uniformierte Chauffeur sprang heraus, umrundete den Wagen und riß, die Tellerkappe in der Hand, den Wagenschlag auf. Ein schlanker Mann mit Melone und dunklem Anzug stieg aus, strich sich kurz über die graumelierten Schläfen und ging, auf das Hauptportal zu. Vincent erwartete ihn pflichtgemäß. »Melden Sie mich Miss Thornton«, sagte der Fremde gedämpft. »Mein Name ist Ross. Miss Thornton erwartet mich.« Vincent war misstrauisch, verrichtete aber die ihm anvertrauten Aufgaben wieder mit der alten Kritiklosigkeit. Es fiel ihm nur auf, daß Miss Anne, Lady Ellmores Nichte, besonders sorgfältig die Türen hinter ihm schloss, nachdem er Mr. Ross in den Salon geführt hatte. »Nehmen Sie Platz, Mr. Ross«, sagte Anne Thornton mit übertriebener Höflichkeit und Liebenswürdigkeit. »Möchten Sie etwas trinken?« »Einen Whisky, bitte«, wünschte der Unbekannte und nahm mit leichten Kopfneigen das Glas entgegen, das ihm Howard Handy reichte. »Ich habe leider nicht viel Zeit. Kommen wir daher zum Geschäftlichen.« »Howard!« sagte Anne Thornton. »Holst du bitte den Schmuck?« Mr. Handy warf der jungen Herrin von Ellmore Castle aus seinen dunklen Augen einen Blick des Einverständnisses zu, verließ den Raum und kehrte wenige Minuten später mit der Schatulle aus der Bibliothek zurück. Er stellte die Kassette vor Anne auf den Tisch und trat zurück. Howard Handy und Mr. Ross schauten erwartungsvoll auf die junge Frau, die ihre Hand nach der Schatulle ausstreckte, sie aber wieder zurückzog und den Behälter mit dem wertvollen Inhalt zu Mr. Ross schob. »Bitte, betrachten Sie die Stücke und sagen Sie mir Ihre Mei35 �
nung«, murmelte Anne mit unsicherer Stimme. Sie hatte sich an die flehentliche Bitte ihrer verstorbenen Tante erinnert, die Kassette niemals zu öffnen, und sie verspürte einen leichten Schauer bei dem Anblick des kunstvoll gearbeiteten Holzkästchens. Mr. Ross nickte, klappte den Deckel zurück und stieß einen Ruf des Entzückens aus. Mit Kennermiene hob er die Rubinkette heraus und hielt sie hoch. »Einfach phantastisch, Miss Thornton!« rief er begeistert. »Ich muß gestehen, daß ich noch niemals so herrliche Juwelen sah – den Kronschatz natürlich ausgenommen. Wundervoll!« Wieder tauschten die beiden jungen Leute einen verschwörerischen Blick. »Können Sie den Schmuck verkaufen?« fragte Anne gespannt. »Ich meine, zu seinem wahren Wert?« Mr. Ross schaute sie an, als hätte er eine Irre vor sich. »Das ist ausgeschlossen, Miss Thornton! Vielleicht bei Sotheby, falls Sie die Stücke einzeln versteigern ließen, könnten Sie annähernd den wahren Wert erzielen, aber niemals durch mich.« »Sie sind doch der erste Juwelier von Edinborough, oder nicht?« fragte Howard Handy mit einer Spur von Aggressivität in der Stimme. Mr. Ross warf ihm einen verweisenden Blick zu. »Natürlich bin ich das, aber ich kann mich nicht mit dem berühmten Auktionshaus in London messen. Dorthin kommen Käufer aus allen Ländern der Welt.« »Es bleibt dabei, wie wir es telefonisch vereinbarten«, fiel Anne rasch ein, um einem Streit vorzubeugen. »Sie nehmen den Schmuck mit und versuchen, den bestmöglichen Preis zu erzielen »Selbstverständlich, Miss Thornton!« Mr. Ross holte einen vorbereiteten Bogen aus seiner Tasche und überreichte ihn der neuen Herrin auf Ellmore Castle. »Wenn Sie ebenfalls unter36 �
schreiben wollen, dann wären die Formalitäten erledigt.« Eine Viertelstunde später verließ der Juwelier mit den grauen Schläfen Ellmore Castle, bestieg seinen silbernen Rolls Royce und fuhr in Richtung Edinborough ab. Neben ihm auf dem Rücksitz lag die Kassette, in der sich der unschätzbare Familienschmuck der Ellmores befand. Und auch die Rubinkette – Lady Ellmores Todeskette. * Völlig verschiedene Leute beobachteten die Abfahrt des bekannten Juweliers. Als der Rolls Royce durch den Park von Ellmore Castle rollte, teilten sich die dichten Büsche. Das verquollene, verunstaltete Gesicht Poolys, des Buckligen, tauchte auf. Seine Augen waren vor Schreck wie erstarrt, während er das elegante Auto betrachtete. Aus seinem Mund mit den spitzen Raubtierzähnen drang ein Wehklagen, als füge ihm jemand körperliche Schmerzen zu. Sobald das Auto des Juweliers hinter einer Straßenbiegung verschwunden war, setzte sich der Bucklige in Bewegung und humpelte dem Rolls Royce nach – ein lächerlicher Versuch, das schnelle Fahrzeug einzuholen. Auch Rick Masters interessierte sich brennend für den unerwarteten Besucher auf Ellmore Castle. Er hatte bemerkt, daß der Fremde mit Anne Thornton und ihrem Verlobten verhandelt hatte, und er hatte auch gesehen, daß die Tasche, die der Mann mit den grauen Schläfen bei sich trug, beim Verlassen des Schlosses viel dicker gewesen war als bei seinem Eintreffen. Also hatte er etwas mitgenommen – aber was? Rick Masters glaubte, in dem alten Butler einen heimlichen Verbündeten zu haben. Vincent hätte ihm nie Auskunft über Lady Ellmore gegeben, weil sie für ihn etwas wie eine Göttin 37 �
dargestellt hatte, die immer recht hatte. Aber mit Miss Anne war das etwas anderes, von diesem Mr. Handy ganz zu schweigen. Rick machte sich also an Vincent heran, der mit verbissenem Gesicht in der Küche das Silber putzte. »Ich habe gesehen«, begann der junge Detektiv, »daß Sie kurz mit dem Fahrer des Rolls Royce sprachen. Haben Sie erfahren, wer der Fremde war?« Zu Ricks Überraschung gab der Butler bereitwillig Auskunft. »Er heißt Ross und ist der bekannteste Prominentenjuwelier von Edinborough, Sir.« Rick spitzte die Lippen und stieß einen grellen Pfiff aus. »Sehr interessant«, murmelte er. »Ich täusche mich doch sicher nicht, daß Sie sich auch nach dem Zweck seines Besuches erkundigten?« »Mr. Ross soll den Familienschmuck verkaufen.« Vincent stellte eine Silberkanne hart auf den Tisch. »Lady Ellmore ist noch nicht unter der Erde, und sie verkauft bereits den Schmuck. Darf sie das eigentlich, Sir?« »Ich bin kein Jurist Vincent, entschuldigte sich Rick Masters. »Aber ich werde trotzdem etwas unternehmen.« Er lief zum nächsten Telefon. Drei Stunden mit dem Auto bis Edinborough, das mußte reichen. Es dauerte ein paar Minuten, bis er Chefinspektor Hempshaw im Gebäude der Kriminalpolizei der schottischen Hauptstadt erreicht hatte. In kurzen Worten schilderte er Hempshaw, daß sich der Schmuck unterwegs nach Edinborough befand, und schloss: »Ich glaube, Sie sollten diesen Mr. Ross keine Sekunde aus den Augen lassen.« »Befürchten Sie, daß man einen Anschlag auf ihn unternehmen könnte, Rick?« »So ähnlich… Ich kann nichts Genaues sagen, aber stellen Sie einen Mann zu seiner Bewachung ab. Es kann nicht schaden.« Ein kurzes Brummen kam durch den Draht, dann entschied 38 �
Hempshaw: »Ich gehe kein Risiko mehr ein. Ich hefte ihm sogar zwei Mann auf die Fersen. Schon am Stadtrand werden sie ihn erwarten. Sein silbergrauer Rolls Royce ist nicht leicht zu übersehen. Vielen Dank für den Hinweis, Rick. Dadurch haben Sie vielleicht großes Unglück verhindert.« »Das werden wir erst sehen«, gab sich Rick Masters pessimistisch. Er legte auf und ging in die Bibliothek, um sich zu vergewissern, daß der Schmuck nicht mehr an seinem Versteck war. Er zog die beiden Bücher heraus und griff in das Regal. Nichts! Er ertastete nur die leere Höhlung. Trotz ihrer Beschwörungen hatte Lady Ellmores Schmuck das Schloss verlassen. Jetzt mußte man abwarten, welche Folgen eintraten. Rick Masters hatte schreckliche Vorahnungen, aber auch seine Phantasie reichte nicht aus, um sich die Wahrheit annähernd zutreffend auszumalen! * Mr. Ross war begreiflicherweise etwas nervös und blickte sich während der Fahrt von Ellmore Castle nach Edinborough oft um, ob er nicht verfolgt wurde. Immerhin hatte er in seinem Wagen Schmuck, dessen Wert man in Zahlen gar nicht ausdrücken konnte. Selbst wenn ein Dieb die Steine aus den Fassungen brechen und einzeln verkaufen mußte, stellte die Beute noch immer einen großen Fisch dar. Seiner Unruhe wegen war Mr. Ross auch nicht die dunkle Limousine entgangen, die sich am Stadtrand von Edinborough an ihre Fersen geheftet hatte und ihnen durch die ganze Stadt bis zur Princes Street folgte, auf der sich der exklusive Juwelierladen befand. Die Princes Street ist die Nobelstraße von Edinborough. Nur 39 �
auf einer Seite stehen Häuser, auf der anderen senkt sich das Gelände zu einem breiten Graben, der die Höhe des Felsens betont, auf dem die Burg steht, dieses schwarze Gemäuer, das hoch über den ebenfalls meist schwarzen Häusern der Stadt wachend hockt. Schwarze Türme ragten in den sich verdunkelnden Abendhimmel, doch Mr. Ross hatte dafür jetzt keinen Blick. In dem dichten Verkehr auf der Princes Street rückte sein Verfolger dichter auf, und endlich konnte Mr. Ross sich erleichtert zurücklehnen. Er hatte das Blaulicht auf dem Dach entdeckt. Zwar konnte er sich nicht erklären, wieso ihn die Polizei beschattete, aber in seiner gegenwärtigen Lage war ihm das keineswegs unangenehm. Vielleicht hatten sie herausgefunden, daß er den Schmuck der Ellmores bei sich führte, und wollten ihn bewachen, damit ihm nichts zustoßen konnte. Um so besser! Gut gelaunt klopfte er mit seinem Schirmgriff gegen die Trennscheibe. »Fahren Sie in die Garage, James«, wies er den Fahrer an. »Ich möchte nicht über den Bürgersteig gehen.« Der schwere Rolls Royce bog in die Castle Street ein. Mr. Ross bewohnte das Eckhaus. Sein Laden lag im ersten Stock, seine Wohnung eine Etage höher mit einem traumhaft schönen Blick auf die Burg. Der Wagen hielt in der Garage. Der Fahrer ließ erst das Rolltor herunter, dann stieg Mr. Ross aus und ging über die Privattreppe hinauf in seine Geschäftsräume. Er öffnete den Tresor mit dem komplizierten Schloss, stellte die Juwelen hinein und ließ die massive Tür zufallen. Jetzt fühlte er sich richtig wohl. Der Schmuck der Ellmores würde ihm einen riesigen Gewinn an Provision abwerfen, und außerdem mußte der Ruf seiner Firma noch steigen. Ross ging in seine Wohnung, ließ sich von seinem Butler eine Erfrischung reichen und setzte sich dann in seinen Lehnstuhl ans Fenster. Er beschloss, früh zu Bett zu gehen. 40 �
Mr. Ross konnte nicht wissen, daß er nie mehr zu Bett gehen sollte. * Zwei Augenpaare beobachteten den Juwelier aufmerksam. Keine Bewegung entging ihnen. Die Detektive Brian und Ecklund von der Kriminalpolizei Edinborough kamen ihrem Auftrag, den bekannten Juwelier zu beschatten und zu beschützen, gewissenhaft nach. Nachdem sie seinem Wagen von der Stadtgrenze bis zu dem vornehmen Haus im Zentrum gefolgt waren, hatten sie in einer Wohnung auf der anderen Seite der Castle Street Posten bezogen. Chefinspektor Hempshaw von Scotland Yard hatte mit dem Eigentümer dieser Wohnung vereinbart, daß sich seine Detektive für einige Zeit dort einquartieren durften. Sie saßen an zwei Fenstern und richteten ihre Ferngläser auf das gegenüberliegende Haus. »Ganz schön langweilig«, bemerkte Brian gegen elf Uhr Nachts. »Hockt in seinem Lehnstuhl und liest.« »Verschrei es nicht«, antwortete Ecklund, der seine schwedischen Vorfahren in seinem Äußeren nicht verleugnen konnte. »Mir wäre es lieber, er bliebe die ganze Nacht dort sitzen. Da haben wir ihn wenigstens unter Kontrolle.« Das tragbare Funkgerät neben seinem Stuhl meldete sich. Chefinspektor Kenneth Hempshaw, den eine unerklärliche Unruhe gepackt hatte, erkundigte sich nach dem Juwelier. Ecklund machte Meldung und schaltete das Gerät wieder auf Empfang. »Der Yardmann ist ganz schön nervös«, sagte der Abkömmling der Wikinger. »Er will sich sogar mit seinem eigenen Wagen in der Nähe auf die Lauer legen.« »Wer weiß, was da für ein Ding läuft.« Detektiv-Sergeant Brian 41 �
wischte sich über die Augen, die ihn von dem angestrengten Starren brannten. »Achtung!« rief er, als er das Fernglas wieder ansetzte. Gespannt verfolgten die beiden Kriminalbeamten, wie der Juwelier aufstand, gähnte und auf sein Schlafzimmer zuging. »Jetzt haben wir bald Ruhe«, vermutete Ecklund, aber er sollte sich gründlich täuschen. Ross blieb stehen, überlegte offensichtlich, dann zog er sich einen Hausmantel aus rotem Stoff an und verließ noch einmal seine Wohnung. »Er geht in den Laden hinunter«, fluchte Brian. »Verdammt, kann er sich nicht aufs Ohr legen wie jeder anständige Mensch auch? Wenn er den Safe öffnet…« Mr. Ross öffnete den Safe. Seine Beobachter hielten den Atem an. * Er war müde und wollte schlafen gehen, aber er konnte der Verlockung nicht widerstehen. Mr. Ross war nicht nur Geschäftsmann. Juwelen stellten seine ganz große Leidenschaft dar. Vielleicht hatte er deshalb in seinem bereits fünfzig Jahre dauernden Leben keine Frau gefunden, die es lange an seiner Seite aushielt. Er lebte nämlich nur für die Juwelen, und er brachte es auch nicht übers Herz, eine Frau damit zu schmücken. Im Gegenteil, im Safe hatte er sie am liebsten – die Juwelen. Für ihn stellte es fast so etwas wie eine Entweihung dar, wenn sie mit menschlicher Haut in Berührung kamen. Nur auf Samt wirkten sie in ihrer ganzen Schönheit und Majestät. Er mußte die Ellmore-Juwelen noch einmal betrachten, bevor er einschlief, und ganz besonders ein Stück, das ihm in die 42 �
Augen gestochen war. Eng in seinen weinroten Hausmantel gehüllt, stieg er die Treppe hinunter in den ersten Stock, betrat seinen Laden und öffnete den Safe. Der Deckel der Kassette klappte zurück. Mit spitzen Fingern holte Mr. Ross die Rubinkette heraus. Andächtig, beinahe ehrfürchtig, legte er sie auf eine schwarze Samtunterlage, klemmte sich eine Lupe ins rechte Auge und beugte sich über die Kette. Er erwartete, einen besonders schönen Stein zu sehen zu bekommen, doch kaum hatte er einen Blick auf einen der Rubine geworfen, als er mit einem entsetzten Schrei hochfuhr. Das durfte nicht wahr sein! Er mußte einer Sinnestäuschung unterlegen sein! Am ganzen Körper zitternd, neigte er sich ein zweites Mal hinunter. Die Lupe näherte sich dem Rubin. Diesmal fand Ross nicht mehr die Kraft, sich wieder aufzurichten. Gellende Hilferufe ausstoßend, griff er sich an den Hals. Dicke Blutstrahlen quollen zwischen seinen Fingern hervor. Seine Schreie gingen in Gurgeln über, als ein Blutschwall aus seinem Mund brach. Unter heftigen Krämpfen zuckend, wankte der Mann rückwärts. Sein graumeliertes Haar färbte sich rot von Blut, das aus tiefen Kratzwunden aus seinem Schädel schoß. Der Körper des bei lebendigem Leib Zerfleischten drehte sich um die eigene Achse. Noch einmal riß der Juwelier die Arme hoch, dann kippte er nach hinten und stürzte auf den Teppich. Er erstickte an seinem eigenen Blut, das aus seiner zerbissenen Kehle floss. * »Um Himmels willen!« schrie Detektiv-Sergeant Brian erschro43 �
cken. »Was hat er denn?« Ecklund riß das Funkgerät an sich, während Brian aus der Wohnung stürzte. Er bekam in Sekundenschnelle Verbindung mit Chefinspektor Hempshaw, der sich unterwegs in die Princes Street befand. »Auf den Juwelier Ross wurde ein Attentat verübt«, meldete der Beobachterposten. »Vermutlich Schüsse aus einem Gewehr mit Schalldämpfer. Ich sehe deutlich das Blut aus seinem Hals hervorquellen.« Über Funk kam zuerst ein kräftiger Fluch Hempshaws, dann die knappe Anweisung: »Bleiben Sie auf Ihrem Posten und geben Sie alles durch. Ist Brian schon unterwegs hinüber?« »Ja, Sir! Ross richtet sich auf, taumelt. Jetzt quillt das Blut aus seinem Mund. Scheint schwer verletzt zu sein. Er bricht zusammen. Auch am Kopf Blut. Brian hat das Haus erreicht. Jetzt ist er drinnen.« Durch die stillen, mitternächtlichen Straßen hörte Ecklund bereits das Gellen der Polizeisirene von Hempshaws Wagen. Der Chefinspektor mußte sich schon in der Nähe befunden haben, als der Alarm an ihn durchkam. »Brian betritt das Zimmer, Sir«, schilderte der Detektiv-Sergeant. »Er beugt sich über Ross. Jetzt gibt er mir Zeichen.« Es trat eine kurze Pause ein. »Der Juwelier Ross ist tot.« »Sir, ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, aber…« Ecklund zögerte. »Sprechen Sie schon!« fauchte Chefinspektor Hempshaw. »Das kleinste Detail kann wichtig sein.« »Da unten auf der Straße treibt sich ein Mann herum«, sagte der Kriminalbeamte. »Ich habe ihn schon vor einer halben Stunde gesehen, aber da dachte ich mir nichts dabei. Jetzt ist er wieder da, und er starrt ständig hinauf zu den Fenstern des 44 �
Juwelierladens.« »Beschreiben Sie den Mann!« befahl Hempshaw. »Er hält sich so eigenartig krumm, daß ich fast glaube… Ja, Sir, der Mann ist verwachsen. Er hat einen Buckel.« »Was?« schrie der Chefinspektor erregt. »Ja, Sir, und jetzt schaut er zu mir herauf. Es ist ein schreckliches Gesicht mit riesigen Augen und einem starken Gebiss wie…« Ecklund suchte nach Worten. »Wie von einem Wolf.« »Nehmen Sie den Mann sofort fest!« Hempshaw tobte vor Ungeduld, daß sein Wagen nicht schneller vorankam. Dabei fuhr der Polizist am Steuer bereits wie ein Verrückter auf einer Rennstrecke. »Lassen Sie alles liegen und stehen. Sie müssen den Buckligen erwischen! Hören Sie!« Ecklund hörte nicht mehr. Er ließ das Funkgerät buchstäblich fallen und raste aus der Wohnung. Die Treppe schaffte er in Rekordzeit, doch als er auf die Straße hinausstürzte, war der Bucklige verschwunden. Detektiv-Sergeant Ecklund suchte die umliegenden Straßen ab, leuchtete auch in jede Hausnische hinein, doch der Bucklige blieb verschwunden. »Er muß sich in Luft aufgelöst haben«, lautete die Meldung, die Ecklund dem Chefinspektor zwei Minuten später machte, als Hempshaw mit einem Panthersatz aus dem Polizeiwagen sprang. »So schnell kann er normalerweise gar nicht davonlaufen.« »Das ganze Viertel abriegeln!« rief Hempshaw dem Mann am Funkgerät des Einsatzwagens zu. »Und vor allem den Park am Fuß der Burg durchkämmen. Vielleicht ist er über die Princes Street und hinunter in den Graben!« Ohne sich um die Ausführung seines Befehls zu kümmern, rannte Chefinspektor Kenneth Hempshaw in das Haus Ecke Princes Street und Castle Street. Die Tür des Ladens im ersten Stock stand offen. 45 �
Hempshaws Fuß stockte an der Schwelle. Der Anblick war noch grässlicher als auf Ellmore Castle. Der tote Dieb war schon schrecklich zugerichtet gewesen, aber Ross Leiche war so schauerlich, daß der abgebrühte Chefinspektor schlucken mußte, um sich nicht zu übergeben. Detektiv-Sergeant Brian lehnte an dem Tisch und hielt sich krampfhaft an der Kante fest. Sein Gesicht war kalkweiß und hatte um die Nase einen grünlichen Schimmer. »Ich habe nichts berührt, Sir«, keuchte er. »Ich wollte unbedingt auf Sie warten.« Dabei vermied er es, einen Blick auf die zu seinen Füßen liegende Leiche zu werfen. Chefinspektor Hempshaw schaute auf den zerfleischten Hals. Der Kehlkopf fehlte, so daß er die Halswirbel sehen konnte. Der Kopf des Juweliers bildete eine einzige blutige Masse. »Wir haben alles vom Fenster aus gesehen«, würgte Brian hervor. »Sergeant Ecklund kann es bestätigen, und er kann Ihnen auch schildern, was sich ereignete, während ich herüberlief.« Ecklund hatte hinter dem Chefinspektor den Laden betreten. Auch er kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. »Ross holte die Juwelen Lady Ellmores aus dem Safe und stellte die Schatulle auf den Tisch hier. Genau an die Stelle, an der sie noch immer stehen.« »Er war allein im Raum?« fragte Hempshaw. »Ganz allein. Es kam auch niemand herein.« Brian rang um Fassung. »Dann fuhr er zurück, als hätte er den Teufel gesehen, und gleich darauf griff er sich an den Hals. Wir dachten zuerst, jemand hätte durch das Fenster oder die Tür auf ihn geschossen, aber das hier…« »Nein«, bestätigte der Chefinspektor. »Das sind eindeutig Bisswunden. Das hat keine Kugel verursacht. Nach der Obduktion werden wir mehr wissen.« »Wir haben keine Ahnung, was ihn so zurichtete«, ergänzte 46 �
Ecklund die Schilderung seines Kollegen. »Es ist so, als hätte ein Unsichtbarer den Juwelier zerfleischt. Aber das gibt es doch nicht.« Chefinspektor Hempshaw hatte keinen Grund, an der Richtigkeit dieser Schilderung zu zweifeln. Er dachte an Rick Masters Worte, daß doch übernatürliche Kräfte im Spiel wären, aber dann erinnerte er sich wieder an den Buckligen. Überall tauchte er auf, wo jemand starb. Und immer hatte es mit den Juwelen der Ellmores zu tun. Welche rätselhafte Verbindung gab es zwischen den Toten, dem Buckligen und den Juwelen? Hempshaw ging zum Fenster, stieß es auf und rief die Polizisten auf der Straße an. Sie riefen zurück, daß sie keine Spur von dem Flüchtigen gefunden hätten. Er wäre tatsächlich verschwunden. Mit schleppenden Schritten trat Chefinspektor Hempshaw an den Telefonapparat, hob den Hörer ab und wählte die Nummer von Ellmore Castle. Vincent, der alte Butler, holte Rick Masters ans Telefon. Der Chefinspektor hatte den Eindruck, daß Rick nicht sonderlich überrascht war, so spät noch seine Stimme zu hören. »Rick, es ist etwas Schreckliches geschehen«, begann Hempshaw, wurde aber sofort von dem jungen Detektiv unterbrochen. »Ross ist tot, nicht wahr?« »Teufel, Rick, woher wissen Sie das schon wieder?« rief Hempshaw verblüfft. »Er wurde ähnlich wie der Dieb auf Ellmore Castle zerfleischt, nur noch viel schlimmer. Aber halten Sie sich fest, es kommt noch toller. Pooly, der Bucklige, wurde vor dem Haus gesehen, während der Mord geschah – das heißt, nachdem der Mord geschehen war. Meine Leute beobachteten den Tod des Juweliers. Nach ihren Aussagen befand er sich allein in seinem Laden.« 47 �
»Und hatte die geöffnete Kassette mit den Ellmore-Juwelen vor sich stehen«, ergänzte Rick Masters. »Sind Sie Hellseher?« Es fehlte nicht viel, dann hätte der Chefinspektor die Beherrschung verloren. »Nein, das nicht, aber ich habe den Letzten Willen der Lady Ellmore richtig gedeutet. Nur wollte mir leider niemand glauben.« »Sie meinen, daß an allem dieser verfluchte Schmuck…« Hempshaw hielt mitten im Satz an. Mit weit aus den Höhlen tretenden Augen starrte er auf den Tisch. »Wer hat den Schmuck weggenommen?« schrie er die beiden Kriminalisten an. Brian und Ecklund schauten ihn verblüfft an. »Wir haben ihn nicht angerührt, Sir«, sagte Brian. Und Ecklund fügte hinzu: »Wir standen die ganze Zeit hier in der Nähe des Fensters, Sir.« »Ich habe verstanden, was Ihre Leute sagten«, rief Rick Masters. »Der Schmuck ist fort, habe ich recht?« »Ja, Rick, es stimmt.« Der Chefinspektor hatte sich von seiner Überraschung noch nicht erholt. »Und niemand von uns…« »Bleiben Sie am Apparat, Kenneth!« Hempshaw hörte, wie der Hörer auf den Tisch gelegt wurde, dann entfernten sich die hastigen Schritte von Rick Masters. Zwei Minuten später war er wieder in der Leitung, ein wenig außer Atem vom schnellen Laufen. »Wo waren Sie denn?« fragte Hempshaw ungeduldig. »Können Sie sich das nicht denken?« fragte Rick mit einer seltsamen Betonung. »Ich war in der Bibliothek.« »Der Schmuck!« schrie Hempshaw, plötzlich begreifend, worauf der Detektiv hinauswollte. »Richtig«, bestätigte Rick Masters. »Die Schmuckkassette mit vollständigem Inhalt steht wieder in ihrem Versteck in der Bibliothek.«
48 �
*
Auch für einen unverbesserlichen Skeptiker wie den Chefinspektor konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß im Falle Ellmore übernatürliche Kräfte im Spiel waren. Er hatte schon oft genug an der Seite Rick Masters erlebt, wie Mächte am Werk waren, die mit normalen Verstandesmitteln nicht erklärt werden konnten. Trotzdem versuchte er immer wieder, ganz gewöhnliche kriminalistische Überlegungen anzustellen. Das war sein Nachteil gegenüber dem jungen Londoner Privatdetektiv. Er war geistig nicht wendig genug, um sich auf die neue Situation einzustellen. Deshalb lautete sein Bericht folgendermaßen: »Der Juwelier Ross wurde von Unbekannten ermordet, die auch den Schmuck entwendeten.« Die Aussage der beiden Detektiv-Sergeanten Brian und Ecklund, sie hätten während des Todes des Juweliers niemanden in seinem Zimmer gesehen, wurde übergangen, hingegen wurde der Bucklige, Pooly, herausgestrichen. Nach ihm lief eine ausgedehnte Fahndung, und jetzt endlich erhielt der Chefinspektor auch die nötigen Leute zugeteilt, um in der ganzen Umgebung von Ellmore Castle eine Razzia abzuhalten. Sehr wohl fühlte er sich nicht in seiner Haut, aber er beruhigte sein Gewissen damit, daß er auf diese Weise eine Panik in der Polizei und bei der Bevölkerung vermied. Wenn herauskam, daß der Familienschmuck in Wirklichkeit… Nicht auszudenken! Rick Masters sah den Tatsachen ins Auge. Der Schmuck war wieder im Schloss, durch unerklärliche Kräfte hingebracht. Für ihn war Pooly ein bedauernswerter Krüppel, der in irgendeiner bisher noch nicht durchschaubaren Weise mit den seltsamen Ereignissen rund um den Familienschmuck der Ellmores verbunden war. Rick Masters war entschlossen, noch in dieser Nacht Poolys Rolle zu klären. 49 �
Der Krüppel, das wußte er von Gesprächen mit dem Hauspersonal, hielt sich meistens in der Nähe von Ellmore Castle auf, schlief manchmal in den Wirtschaftsgebäuden und bei schönem Wetter auch draußen im Wald. Es war bereits zwei Uhr Nacht, und es nieselte ständig, so daß man innerhalb von wenigen Minuten bis auf die Haut durchnässt war. Rick schätzte, daß Pooly so schnell wie möglich aus Edinborough zurückkehren und dann im Schloss unterkriechen würde. Ellmore Castle war von einer übermannshohen Mauer umgeben, die nur mit Hilfe einer Leiter von außen her überstiegen werden konnte. Da es aber keine Leiter vor der Mauer gab, auch nicht in einem noch so raffinierten Versteck, mußte Pooly durch die kleine Nebenpforte kommen, die ein so einfaches Schloss hatte, daß es jedes Kind mit einem krummen Nagel aufschließen konnte. Meistens war die Tür gar nicht abgeschlossen. Dort legte sich Rick also auf die Lauer. Im Schloss brannte schon längst kein Licht mehr. Anne Thornton und ihr Verlobter hatten noch nicht bemerkt, daß der Schmuck sich wieder unter ihrem Dach befand. Chef Inspektor Hempshaw hatte nur mit Rick Masters über den Mord an Mr. Ross gesprochen. Und das Personal war nach den Aufregungen über den Tod Lady Ellmores und der alten Margot erschöpft zu Bett gegangen. Der feine Sprühregen fiel ständig wie ein Schleier vom Nachtschwarzen Himmel. Das Brausen der Brandung wurde durch die tiefhängenden Wolken und die unzähligen Wassertropfen gedämpft, so dass es nur wie ein entferntes Murmeln zu Rick drang. Der junge Privatdetektiv hatte sich in einen Geräteschuppen zurückgezogen, um nicht nass zu werden, und die Tür nur angelehnt, so daß er die Nebenpforte und einen großen Teil des Hofes überblicken konnte. Griffbereit neben sich hatte er eine starke Stablampe liegen, mit der er in Sekundenschnelle durch 50 �
einen kräftigen Suchstrahl jeden Punkt in seiner Nähe erreichen konnte. Und in seinem Schulterhalfter steckte die 38er Automatik, treue Begleiterin des jungen Mannes. Er glaubte zwar nicht, daß er sie bei Pooly brauchen würde, aber es war doch ein beruhigendes Gefühl, den Druck der Waffe unter der Achsel zu spüren. Die Minuten rannen zäh dahin, summierten sich zu einer Stunde. Rick Masters gähnte. In den letzten Tagen hatte er wieder einmal viel zu wenig Schlaf bekommen. Zuerst die Nachtfahrt von London nach Schottland, dann die turbulenten Ereignisse auf dem Schloss, und jetzt diese Nachtwache. Wenn er nicht bald ein Bett in der waagerechten… Rick wurde in seinen Gedanken durch ein leises Scharren gestört. Gespannt richtete er sich auf und neigte sich ganz dicht an den Türspalt, um besser hören zu können. Der Regen war stärker geworden, trommelte gegen das Dach des Geräteschuppens und übertönte alle anderen Geräusche. Da war es wieder, ein Schaben, ein Kratzen wie von feinen Krallen. Sofort erkannte der junge Privatdetektiv, worum es sich handelte. Von außen machte sich jemand am Schloss der Seitenpforte zu schaffen. Pooly! Rick behielt mit seiner Vermutung recht. Die kleine Holztür schwang auf, und der dicke, unförmige Kopf des Verwachsenen erschien in der Öffnung. Pooly stand, geduckt wie zum Angriff, und reckte den Kopf witternd wie ein Tier vor. Sogar in der dichten Dunkelheit funkelten seine hervorquellenden Augen und schimmerten seine spitzen, dolchgleichen Zähne in dem breiten Mund, der an einen Wolfrachen erinnerte. Der Bucklige schien sich überzeugt zu haben, daß ihm keine Gefahr drohte. Blitzschnell und lautlos schob er sich durch die 51 �
Pforte, drückte die Tür hinter sich wieder zu und kam genau auf den Geräteschuppen zu, in dem sich Rick Masters versteckt hielt. Rick zog sich tiefer in den Schatten des Raumes zurück, vorsichtig darauf bedacht, gegen keines der Gartengeräte zu stoßen. Das geringste Geräusch hätte ihn verraten können. In den wenigen Minuten, die er bisher den Buckligen hatte beobachten können, war Rick aufgefallen, daß der Mann durch das freie und wilde Leben in der Natur sich offensichtlich den Instinkt eines Tieres angeeignet hatte und daß seine Sinne wesentlich schärfer als die eines normalen Menschen waren. Poolys Gestalt tauchte im Türrahmen auf. In der Dunkelheit wirkte er viel größer und mächtiger, als er in Wirklichkeit war. Rick mußte seine ganze Beherrschung zusammennehmen, um nicht seine Pistole aus dem Halfter zu reißen. Irgendwie flößte ihm die lautlose, krumme und schiefe Gestalt in der Stille des Schlosses Angst ein. Der Bucklige wählte ausgerechnet Ricks Versteck als Schlafplatz. Rick wußte im Moment nicht, ob das ein Vor- oder ein Nachteil war, aber er war entschlossen, das Beste daraus zu machen. Er wartete, bis Pooly sich knurrend und grunzend in einer Ecke ein Lager aus Stroh und alten Arbeitskleidern gemacht hatte, dann spannte er die Muskeln. Rick schnellte sich vor, warf sich von innen gegen die halb offen stehende Tür, daß sie krachend ins Schloss fiel, wirbelte herum, richtete seine Taschenlampe auf Pooly und schaltete sie ein. Der Bucklige schloss geblendet die Augen, als ihn der Strahl voll ins Gesicht traf. Entsetzen und tödliche Angst spiegelten sich in seinen grotesken Zügen, aber er machte keine Angriffsgeste gegen den unerwarteten Mitbewohner des Geräteschuppens. Im Gegenteil, er verkroch sich ängstlich unter einer Werkzeugbank und machte mit seinen langen, affenartigen Armen abwehrende Bewegungen. 52 �
Rick fühlte, wie Mitleid für den armen Kerl in ihm aufwallte. Trotz der eigenartigen Lage fragte er sich plötzlich, wie lange dieser Mensch schon auf eine so unwürdige Weise dahinvegetieren mußte, Wie alt mochte der Mann sein? Dreißig? Fünfzig? Siebzig? Es war unmöglich, nach seinem Aussehen das Alter zu bestimmen. »Keine Angst, Pooly«, sprach Rick Masters den Verschreckten an. »Ich will Ihnen nichts tun.« Bei dem Klang der sanften Stimme horchte der Krüppel erstaunt auf und hob den Kopf. »Ich weiß, daß Sie es schwer haben«, fuhr Rick in dem gleichen ruhigen Tonfall fort. »Sie brauchen jemanden, der sich um Sie kümmert. Der Polizist, der Ihre Fingerabdrücke genommen hat, hält Sie für einen Mörder.« Zu spät erinnerte sich Rick Masters daran, daß Pooly wahrscheinlich in seinem Leben noch nichts von Fingerabdrücken gehört hätte, aber seltsamerweise glänzten die Augen des Krüppels so verständnisvoll und intelligent, daß Rick fortfuhr, mit ganz normalen Ausdrücken zu sprechen. »Ihre Fingerabdrücke waren auf der Rubinkette der Lady Ellmore, Pooly. Sagen Sie mir, warum Sie den Schmuck angefasst haben und wann!« Der Bucklige schüttelte den Kopf. »Und was war mit der alten Margot? Mochten Sie die Frau?« Pooly nickte eifrig, und ein sonniges Grinsen straffte seine faltige Gesichtshaut. »Warum haben Sie dann die alte Margot über die Klippen gestoßen? Oder ist sie gefallen?« Jetzt nickte der Bucklige so heftig, daß er mit dem Kopf gegen den Tisch stieß, unter dem er saß. Aber er schien keinen Schmerz zu fühlen. »Die alte Margot wollte den Schmuck über die Klippen werfen, 53 �
fiel aber selbst hinunter, und Sie haben den Schmuck zurückgetragen? Stimmt das?« Wieder das gleiche Nicken. Rick hatte das Gefühl, der Bucklige würde die Wahrheit sagen. Er konnte es sich nicht erklären, wieso er davon überzeugt war, aber er traute diesem Menschen keine Lüge zu. »Warum waren Sie in Edinborough? Sie waren doch dort, oder?« Diesmal dauerte es länger, bis der Verwachsene zögernd nickte. »Wussten Sie, daß der Schmuck von dem Juwelier Ross mitgenommen worden war? Ja? Haben Sie es beobachtet?« Rick überlegte, wie er aus dem Mann herausbekommen konnte, welche Verbindung es zwischen ihm und den Ellmores gab. »Pooly, wissen Sie, daß sich der Schmuck bereits wieder im Schloss befindet? Durch rätselhafte Kräfte von einer Sekunde auf die andere…« Rick Masters konnte nicht weitersprechen. Mit dem Buckligen ging eine unerwartete, schreckliche Veränderung vor sich. Sein Gesicht, das eben noch angespanntes Zuhören verraten hatte, verzerrte sich in namenloser Furcht. Die wulstigen Lippen zogen sich von seinen spitzen Zähnen zurück, und er stieß einen heiseren Angstschrei aus. »Aber, Pooly«, setzte Rick an, doch der Bucklige ließ ihn nicht ausreden. Pooly schnellte unter dem Tisch hervor. Rick, der genau vor der Tür stand, erhielt einen kräftigen Stoß, der ihn gegen die Wand schleuderte. Die Taschenlampe entfiel seiner Hand und ging aus, als das Glas klirrend zerbarst. Der Bucklige riß die Tür des Geräteschuppens auf und hetzte hinaus. Rick erholte sich von dem Schlag, stieß sich von der Wand ab und jagte Pooly nach. 54 �
Er kam zu spät. Die Nebenpforte in der Schlossmauer stand offen, und als Rick Masters das Freie erreichte, sah er die krumme Gestalt bereits mit einer unglaublichen Schnelligkeit über die Wiese auf den Wald zuhumpeln, der zwischen Ellmore Castle und dem Dorf Culrock lag. Es hatte keinen Sinn, den Mann zu verfolgen. Innerhalb weniger Augenblicke tauchte er in den Schatten der Bäume, und dort gab es so viele Verstecke, daß nicht einmal eine gut ausgerüstete Polizeitruppe ihn vor dem Morgengrauen aufgestöbert hätte. Rick Masters warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Es war etwa vier Uhr morgens, es würde nicht mehr lange dauern, bis es hell wurde. Müde kehrte er ins Schloss zurück. Seine Überzeugung, in Pooly keinen Mörder vor sich zu haben, hatte sich zwar gefestigt, aber er hatte nicht das geringste Licht in die Beziehung des Buckligen zu den Bewohnern von Ellmore Castle und dem verfluchten Familienschmuck gebracht. Rick blieb überlegend stehen. Er hatte »verfluchter« Familienschmuck gedacht, um seinen Ärger über die Rätselhaftigkeit dieser Juwelen auszudrücken. Aber vielleicht lastete wirklich ein Fluch auf den Steinen? Als er den Schlosshof betrat, sah er Licht unter der Haustür. Vincent, der alte Butler Lady Ellmores, stand auf der Schwelle, eine Kerze in der Hand. Masters ging auf ihn zu. »Vincent«, sagte er scharf, um dem alten Mann keine Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. »Wer ist dieser Pooly, der sich immer auf dem Schloss herumtreibt. Ein gewöhnlicher Krüppel ist das nicht. Reden Sie schon!« Der Butler ließ sich von dem schroffen Ton nicht so, wie Rick gehofft hatte, beeindrucken. Er zuckte die Schultern unter dem altmodischen Morgenmantel, den er sich übergeworfen hatte. »Tut mir leid, Sir«, antwortete er gemessen. »Pooly lebt in der Umgebung des Schlosses…« 55 �
»Das weiß ich schon«, unterbrach ihn Rick ungehalten. Mit diesen Ausflüchten wollte er sich nicht mehr abspeisen lassen. »Sie wissen nicht zufällig etwas von einem Fluch, der über die Familienjuwelen der Ellmores ausgesprochen wurde?« Jetzt erbleichte der Butler sichtbar, aber er preßte die schmalen Lippen fest aufeinander, um seine Entschlossenheit auszudrücken, kein Wort zu sagen. Achselzuckend betrat Rick Masters an Vincent vorbei das Schloss und ging hinauf in sein Zimmer. Wenn ihm niemand bei der Klärung der Verbrechen auf Ellmore Castle helfen wollte, so hatte er doch wenigstens das Recht, sich auf ein paar Stunden hinzulegen. Schließlich war er Privatdetektiv und nicht Hausgeist der Ellmores! * Rick Masters blinzelte in den grauen Schein eines düsteren Tages. Er wälzte sich in seinem Bett auf die andere Seite und versuchte weiterzuschlafen. Als das nicht ging, überlegte er, was ihn geweckt hatte. Der Grund seines unfreiwilligen Erwachens hörte er gleich darauf wieder. Streitende Stimmen auf dem Korridor, ein Mann und eine Frau. Missmutig schwang Rick die Beine aus dem Bett und stolperte in das angrenzende Badezimmer, duschte und schlüpfte in seine Kleider. Als er auf den Flur hinaustrat, stritten die beiden immer noch. Jetzt erkannte er die Stimmen von Howard Handy und Anne Thornton. Jungverlobt, und schon ein gewaltiger Streit! Die beiden hielten sich im Blauen Salon auf, der gegenüber des Frühstückszimmers lag. Rick schaute auf seine Armbanduhr. Zehn! Er gähnte ausgiebig, betrat das Frühstückszimmer, bemerkte das für ihn vorliegende Gedeck und setzte sich. Die Tür ließ er offen. 56 �
Zwei Minuten später erschien Vincent mit einem Tablett, das Ricks Lebensgeister sofort anregte. Gebratener Schinken, Eier, Porridge, Toast, Marmelade, Butter, Kaffee, Tee, Milch, Schokolade. Wahrhaft fürstlich! »Guten Morgen, Sir«, grüßte Vincent. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.« »Das schon, aber der Krach hat mich aufgeweckt.« Rick deutete mit dem Kopf auf die Tür des Blauen Salons. »Wie lange geht denn der Zirkus da drinnen schon?« »Zwei Stunden!« Vincent hob empört die Augen zur Decke. »Würde Lady Ellmore noch leben, wäre das unmöglich. Bei ihr hat es das nie gegeben.« Rick Masters grinste in sich hinein. Eine Herrschaft, die sich die Achtung des Butlers verscherzt hatte, war nicht zu beneiden! Nachdem er zehn Minuten lang trotz des fortdauernden Streites in Ruhe gefrühstückt hatte, horchte Rick Masters plötzlich auf. Eine private Auseinandersetzung zwischen dem jungen Paar war ihm gleichgültig, aber er hatte deutlich das Wort ›Juwelen‹ verstanden. Rick erklärte die Privatangelegenheit für beruflich, erhob sich und führte jene Tätigkeit aus, die Kriminalisten mit ›Materialbeschaffung‹ weniger kriminalistisch gebildete Menschen mit ›Lauschen‹ bezeichnen. Er legte sein Ohr an die Tür des Blauen Salons. Die Stimmen waren jetzt so deutlich zu hören, als würde er sich drinnen im Zimmer befinden. »Das ist ein ganz fauler Trick von dir gewesen, Anne«, rief soeben Howard Handy. »Du hast nur so getan, als wolltest du den Schmuck verkaufen.« »Howard, bitte!« flehte die junge Frau. »Nimm endlich Vernunft an! Ich weiß nicht, was Mr. Ross mit den Juwelen gemacht hat, ich weiß auch nicht, wie sie wieder in die Bibliothek kommen. Ich habe nur Angst, verstehst du denn nicht? Tante Martha 57 �
hat vor ihrem Tod so merkwürdige Andeutungen gemacht. Und dann dieser Brief, der von ihrem Anwalt verlesen wurde!« »Gefasel einer alten Frau, die nicht mehr richtig im Kopf war«, tat Handy den Einwand ab. »Du nimmst doch diesen Unsinn nicht für bare Münze.« »Es ist unheimlich, Howard. Ich wollte dir Geld verschaffen für deine Geschäfte, aber woher soll ich welches nehmen? Ein zweites Mal wage ich es nicht, die Familienjuwelen aus dem Haus zu geben. Denke doch an den Tod meiner Tante!« »Ich denke daran, und ich denke auch daran, daß du ihre Erbin bist. Willst du mich jetzt im Stich lassen, wo ich dich so notwendig brauche?« »Howard, gedulde dich noch ein wenig. Du wirst sehen, morgen Abend wird…« Weiter hörte Rick Masters nichts mehr, denn hinter ihm räusperte sich jemand diskret. Ohne verlegen zu werden, richtete er sich auf, drehte sich um und schaute Vincent an, der mit undurchdringlicher Miene den Tugendwächter des Hauses spielte. »Schon gut, alter Knabe«, sagte Rick Masters freundschaftlich. »Es war jedenfalls sehr interessant.« Während Rick hinaus auf den Schlosshof ging, war er sich nicht sicher, ob er sich jetzt nicht ebenfalls die Achtung des Butlers verdorben hatte. * Eigentlich hatte sich Rick nur ein wenig umsehen wollen, doch sehr bald wurde seine Aufmerksamkeit durch einen rasch näher kommenden dunklen Wagen erregt. Rick kannte diese Art von Autos, unauffällig aber schnell – Polizei. Und richtig, als das Fahrzeug in den Hof einfuhr, erkannte 58 �
Rick den im Fond sitzenden Mann. Chefinspektor Kenneth Hempshaw. Rick ging seinem Freund entgegen. »Guten Morgen, Kenneth. Muß für Sie eine ganz schön aufregende Nacht gewesen sein.« »Morgen, Rick«, erwiderte der Chefinspektor knapp. »War es auch, aber jetzt bin ich bald am Ziel.« Rick hob erstaunt die Augenbrauen. »Sprechen Sie von dem Ellmore-Fall?« erkundigte er sich vorsichtshalber. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie eine Lösung gefunden haben!« »Warum nicht?« schnappte Hempshaw, der sich offensichtlich in sehr gereizter Stimmung befand. »Die Polizei kann doch auch einmal etwas herausfinden, oder nicht?« »Dann schießen Sie los!« forderte Rick den Yard-Mann auf. »Wer ist der Täter?« »Der Bucklige, dieser Pooly«, behauptete Hempshaw mit größter Sicherheit. »Er hat den Dieb, die alte Margot und den Juwelier Ross in Edinborough ermordet und die Juwelen gestohlen.« »Moment mal!« protestierte Rick Masters. »Diese Theorie hinkt doch auf allen vier Beinen. Der Dieb wurde ermordet, gut, aber wer sagt Ihnen, daß Pooly das getan hat?« »Seine Fingerabdrücke befinden sich auf der Rubinkette.« »Zugegeben, aber das beweist nur, daß er den Schmuck berührt hat. Da die Kassette aber nicht eingeschlossen ist, kann das jederzeit geschehen sein. Und die alte Margot… es gibt keinen Beweis, daß sie ermordet wurde.« »Irrtum, Masters! Dorfleute haben beobachtet, wie Pooly der alten Dienerin auf die Klippen folgte.« »Aber sie haben wohl nicht gesehen, daß er sie ins Meer stieß.« »Das nicht, aber…« »Und der Juwelier Ross«, fiel Rick dem Chefinspektor ins Wort. »Sie selbst sagten, Ihre beiden Beobachter hätten niemanden im Zimmer gesehen, während Ross starb!« 59 �
»Aber Pooly war dort, das ist erwiesen«, sagte Hempshaw eigensinnig. »Er wurde erkannt.« »Schön und gut, aber wie erklären Sie sich, daß die Juwelen in einem Moment bei Ihnen im Juwelierladen, im nächsten Moment hier auf Ellmore Castle waren?« »Ein Taschenspielertrick, weiter nichts. Vermutlich hatte Mr. Ross gar nicht mehr die echten Juwelen im Tresor, als er ermordet wurde.« Rick Masters seufzte und zuckte verzweifelt die Schultern. »Ich habe schon immer gewußt, daß Sie nicht viel von übernatürlichen Phänomenen halten, trotz aller Beweise, die ich Ihnen im Laufe der Zeit brachte, Kenneth. Und ich habe auch immer gewußt, daß Sie eigenwillig und hartnäckig sind, stur wie ein Maulesel. Aber diesmal haben Sie sich in etwas verrannt, das Ihnen noch leid tun wird. Verlassen Sie sich darauf.« »Und Sie können sich darauf verlassen«, fauchte der Chefinspektor wütend, »daß ich jetzt Pooly verhaften und den Schmuck beschlagnahmen lasse. Die Gerichte haben das letzte Wort.« »Wenn Sie sich unbedingt lächerlich machen wollen«, meinte Rick Masters kühl, über die Schärfe des Chefinspektors verärgert, »dann können Sie den armen, harmlosen Krüppel verhaften. Aber ich beschwöre Sie, lassen Sie den Schmuck wo er ist! Es könnten sonst fürchterliche Dinge passieren, auf die Sie und ich keinen Einfluß haben.« »Wollen Sie mir Vorschriften machen, Masters?« Der Chefinspektor konnte manchmal wirklich ärger als ein sturer Maulesel sein. »Ich tue nur meine Pflicht als Kriminalist, weiter nichts.« Damit ließ er Rick stehen und betrat das Schloss. Er wurde bereits von Vincent erwartet und zu Anne Thornton geführt.
60 �
*
Rick Masters war wütend wie schon lange nicht. Er sah ja ein, daß Hempshaw sich an seine Dienstvorschriften halten mußte, aber man konnte den Pflichteifer auch übertreiben. Um Pooly machte er sich keine Sorgen. Erstens glaubte er nicht, daß die Polizisten, die in einem zweiten Wagen folgten, den Buckligen fangen würden, und zweitens gab es tatsächlich keine Beweise für seine Schuld. Aber etwas anderes war es mit den Juwelen. Sie durften unter keinen Umständen von Ellmore Castle weggebracht werden. Schon Lady Ellmore hatte dringend davor gewarnt, und der geheimnisvolle Tod von Mr. Ross, dem Juwelenhändler aus Edinborough war ein Beweis dafür, daß es sich bei ihrem Brief tatsächlich nicht um das Gefasel einer verrückten Alten handelte, wie Howard Handy behauptete. All diese Leute hier nahmen die Gefahr, die von den Juwelen ausging, viel zu leicht, das hatte Rick Masters schon erkennen müssen. Und es war ihm auch klar, daß er sich letztlich nicht gegen den Willen des Chefinspektors durchsetzen konnte. Anne Thornton war die rechtmäßige Eigentümerin des Schmuckes, und Hempshaw konnte ihn als Beweisstück in einem Mordfall beschlagnahmen. Aber Rick wollte alles daransetzen, um größeres Unheil zu verhindern. Eben wendete er sich um, weil er noch einmal mit Hempshaw sprechen wollte, als draußen vor der Schlossmauer Unruhe entstand. Kommandorufe schallten, dann! ertönte ein kurzer, spitzer Schrei. Gleich darauf brachten zwei stämmige Polizisten eine wild um sich schlagende Gestalt angeschleppt – Pooly. Bei seinem Anblick schoß Rick Masters das Blut in den Kopf. Am liebsten hätte er sich auf die Polizisten gestürzt und Pooly freigeboxt, aber damit wäre dem armen Teufel auch nicht geholfen worden. Es kostete Rick seine ganze Selbstbeherrschung, 61 �
damit er sich zurückhalten konnte, als die Polizisten den Buckligen an ihm vorbeizerrten. Aus den großen, wachen Augen des Krüppels traf Rick ein hilfesuchender Blick, der ihm durch Mark und Bein ging. »Keine Angst, Pooly«, rief der junge Privatdetektiv. »Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen nichts geschieht!« Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Auf den Stufen des Hauptportals von Ellmore Castle trafen sich mehrere Personen, und diese Vermischung von Kommen und Gehen sollte die schwersten, verhängnisvollsten Folgen haben. Die beiden stämmigen Polizisten schleppten Pooly, den Buckligen, die Treppe hinauf. Gleichzeitig öffnete sich oben die Tür, und Chefinspektor Hempshaw, Anne Thornton, Howard Handy und zwei andere Polizisten, die gemeinsam mit dem Chefinspektor gekommen waren, traten aus dem Schloss. Das Gesicht von Chefinspektor Hempshaw erhellte sich, als der den Gefangenen sah. »Ausgezeichnet, gleich herein mit ihm!« rief er laut. Anne Thornton hatte verweinte Augen. Offensichtlich hatte der Streit mit ihrem Verlobten bis jetzt angedauert. Ihre linke Wange war so stark gerötet, daß in Rick der Verdacht aufkeimte, Handy habe sie geschlagen. Als er näher hinschaute, bestätigte sich seine Vermutung. Deutlich waren die fünf Finger einer großen Männerhand zu erkennen. Howard Handy starrte düster auf die beiden Polizisten, die das Schloss verließen. Seine schlechte Laune kam nicht von dem Streit, sondern wurde durch einen Gegenstand hervorgerufen, den der eine Polizist in der Hand hielt – die Schmuckkassette! Rick Masters begriff blitzschnell. Der Chefinspektor hatte den Familienschmuck der Ellmores bereits beschlagnahmt und schickte ihn durch diese beiden Polizisten nach Edinborough, wo er vor Gericht als Beweismittel dienen sollte. Das durfte nicht 62 �
geschehen! »Kenneth!« rief Rick, aber der Yardman hörte ihn überhaupt nicht. Er war nur mit dem Buckligen beschäftigt, der sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, in das Schloss gebracht zu werden. Auch er hatte die Schmuckkassette gesehen und versuchte schreiend, sich loszureißen und die Juwelen an sich zu bringen. »Kenneth! Hempshaw! Hören Sie doch!« schrie Masters aus Leibeskräften. »Verdammt, Kenneth! Sie dürfen den Schmuck nicht wegbringen! Das bedeutet tödliche Gefahr!« Jetzt endlich hatte ihn der Chefinspektor gehört, aber er winkte nur lässig ab. »Wir haben anderes zu tun, als uns mit solchen Spinnereien abzugeben!« rief er zurück. Zu dritt hielten sie den Buckligen fest und zerrten ihn in das düstere Gebäude. Einen Augenblick lang stand Rick unschlüssig, dann wendete er sich an die Polizisten, die auf ihren Dienstwagen zugingen. Der eine von ihnen klemmte sich bereits hinter das Steuer, während der zweite sich auf den Beifahrersitz setzte, die Schmuckkassette auf den Knien balancierend. »Hören Sie, es ist wichtig«, sagte Rick und beugte sich zu dem Fahrer hinunter. »Sie dürfen nicht losfahren, sonst kommen Sie nicht lebend nach Edinborough.« Der Fahrer schaute ihn erstaunt an. »Was soll das, Mister? Ist das vielleicht eine Drohung?« »Aber nein«, wehrte Rick ungeduldig ab. »Dieser Schmuck ist mit einem Fluch behaftet, der jeden ins Verderben stürzt, der ihn von Ellmore Castle fortbringen will.« Die beiden Polizisten tauschten verständnisvolle Blicke, dann tippte sich der Beifahrer auf die Stirn. »Mann, Sie haben vielleicht eine blühende Phantasie!« »Ihr seid genauso stur wie Hempshaw!« fauchte Rick gereizt. »Wollt ihr denn mit offenen Augen in euer Verderben rennen?« 63 �
»Mister«, sagte der Fahrer. »Wir haben die Augen offen, und wir sehen nur einen Verrückten, der etwas von einem Fluch faselt. Also, lassen Sie uns schon fahren, wir wollen auch wieder nach Hause. Mein Dienst ist in zwei Stunden um, dauert ohnedies schon eine Stunde länger.« Er startete den Wagen, legte den Gang ein und fuhr an. Rick Masters stand steif auf dem Schlosshof und schaute dem sich entfernenden Polizeiwagen nach. »Vielleicht ist euer Dienst bald für immer aus«, murmelte er und ging mit schleppenden Schritten zurück ins Schloss. * Chefinspektor Kenneth Hempshaw gestaltete das erste Verhör des Buckligen zu einer Art Lokalaugenschein. Er hatte alle in die Bibliothek führen lassen und sich vor dem Bücherregal aufgebaut. »Hier befindet sich, wie allgemein bekannt, das Versteck des Familienschmuckes der Ellmores«, begann er seine Ausführungen. »Jetzt liegt der Schmuck natürlich nicht mehr da, ich habe ihn nach Edinborough bringen lassen.« Zum Beweis zog er die beiden Bücher heraus und zeigte den Anwesenden, zu denen sich auch Rick Masters gesellt hatte, die leere Nische. »Pooly, als in der Nacht der Dieb versuchte, die Juwelen zu stehlen, waren Sie da in der Bibliothek?« Der Bucklige, den die Polizisten losgelassen hatten und der jetzt in der Mitte der Bibliothek stand, nickte langsam. »Sie haben den Dieb beobachtet und wollten ihn daran hindern, den Schmuck zu stehlen. Ist das richtig?« Rick Masters mußte gar nicht hinsehen, um zu wissen, daß Pooly wieder nicken würde. Er tat es. 64 �
»Sie ermordeten den Eindringling und legten den Schmuck an seinen Platz zurück«, schloss der Chefinspektor. Diesmal begann Pooly, heftig zu gestikulieren. Dabei stieß er unartikulierte Laute aus. Rick Masters trat vor und stellte sich neben den Krüppel. »Kenneth, soweit ich Pooly verstehe, will er sagen, daß er den Dieb nicht ermordet, wohl aber den Schmuck zurückgestellt hat, hierhin…« Rick wollte auf die Nische hinter der Bücherwand zeigen, aber sein Arm erstarrte in der Luft. Er begann, am ganzen Leib zu zittern. Hempshaw merkte die Veränderung, die mit seinem Freund vor sich gegangen war, erschrak und drehte sich zu dem Regal um. Jetzt wurden auch die anderen Personen aufmerksam, die sich in der Bibliothek eingefunden hatten. Laute Schreckensschreie hallten durch den Raum. In der Nische hinter den Büchern stand – die Schatulle mit dem Schmuck der Lady Ellmore! * Die beiden Polizisten befanden sich in guter Laune. Auf der Herfahrt waren sie in Begleitung des Chefinspektors von Scotland Yard gewesen, und der Mann hatte eine Stimmung gehabt, als wollte er einen Menschen quer verschlingen – vielleicht sogar einen schottischen Polizisten. Aber jetzt waren sie unter sich, rissen ihre Witze über den Chefinspektor und diesen Verrückten, der von einem Fluch gefaselt hatte, und ließen es sich gut gehen. Sie nahmen die Uniformkappen ab, steckten sich Zigaretten an und stellten die Kassette mit den Juwelen auf die Hintersitze, weil es dem Beifahrer zu unbequem geworden war, das Ding ständig auf den Knien zu 65 �
halten. »Da hinten wird uns schon niemand die Glitzerchen stehlen«, bemerkte er zu seinem Kollegen. »Und von allein davonlaufen kann die Kassette auch nicht.« Sie lachten schallend, als hätten sie einen blendenden Witz gehört. Der Polizeiwagen rollte, verfolgt von Dutzenden neugierigen Blicken, durch das kleine Dorf Culrock, dann bog er auf die asphaltierte und zweispurig ausgebaute Fernstraße nach Edinborough ein. Der Fahrer trat den Gashebel weiter durch. Über Funk kamen nur belanglose Meldungen, die sie nichts angingen, und die beiden Polizisten machten sich auf eine langweilige Fahrt gefaßt. Nach einer Weile ging ihnen auch der Gesprächsstoff aus, und sie verfielen in stumpfes Schweigen. Sie sahen nicht, wie sich der Deckel der Schmuckkassette langsam hob. Das Funkeln der Edelsteine und des goldenen Geschmeides blitzte und blendete. Obenauf lag die herrliche Rubinkette der Lady Ellmore… Der Fahrer stieß plötzlich einen gurgelnden Laut aus. Er ließ das Steuer los und griff sich mit beiden Händen an den Hals. Sein Kollege zuckte erschrocken zusammen. Er glaubte an einen Herzanfall, warf sich nach rechts und packte das Steuerrad. Im letzten Augenblick gelang es ihm, den Wagen vom Straßenrand wegzureißen, sonst wären sie in einen Abgrund gestürzt. Aber er konnte nicht bremsen, weil die Füße des Fahrers die Pedale blockierten. »Tu die Beine weg!« brüllte der Polizist in Panik. »Mann, was ist denn los mit dir?« Er besaß noch die Geistesgegenwart, den Zündschlüssel umzudrehen, aber es nutzte ihm auch nichts mehr. Sein Kollege röchelte nur mehr ganz schwach. Sein Körper wand sich in den letzten Zuckungen. Dann war er tot. Erstickt – erwürgt von unsichtbaren Händen. 66 �
Der Wagen rollte unaufhaltsam die abschüssige Straße entlang. Noch gelang es dem entsetzten Polizisten, das Fahrzeug in der Spur zu halten. Doch auf einmal verspürte er einen stechenden Schmerz, der durch seinen Körper raste, als hätte man ihn in flüssiges Eisen getaucht. Zwei spitze Krallen bohrten sich in seine Augen und stachen die Augäpfel aus. Aufbrüllend warf sich der Geblendete zurück auf seinen Sitz und schlug beide Hände vor das Gesicht. Blut schoß aus den leeren Augenhöhlen. Der Wagen schlingerte, brach aus, überschlug sich und krachte gegen eine Felswand. Die Schreie des Verblutenden wurden schwächer. Dann lag das Wrack des Polizeiautos in unheimlicher, tödlicher Stille neben der Straße. Nur ein dünner Blutfaden lief unter dem umgekippten Wagen hervor. * Alle wussten, daß Chefinspektor Hempshaw den Familienschmuck der Ellmores vor etwa einer Stunde weggeschickt hatte. Und dennoch stand die Schatulle wieder auf ihrem Platz. »Wir waren doch die ganze Zeit über hier im Raum«, sagte Anne Thornton, die als erste ihre Sprache wieder fand. »Das gibt es doch nicht.« Rick Masters war am wenigsten beeindruckt. Mit etwas Ähnlichem hatte er gerechnet. »Nun, Kenneth, bin ich wirklich ein Spinner, der etwas sieht, das nicht vorhanden ist?« Hempshaw preßte seine Hände gegen die Schläfen. »Hören Sie auf, Rick, um Himmels willen, hören Sie auf! Mir wächst die Sache über den Kopf!« 67 �
In jähem Erschrecken wirbelte er herum. »Pooly! Wo ist der Bucklige?« In der allgemeinen Überraschung hatte niemand daran gedacht, den Gefangenen zu bewachen. Er war aus der Bibliothek geflohen. »Dort draußen läuft er!« meldete Howard Handy und deutete aus dem offen stehenden Fenster. Tatsächlich humpelte Pooly bereits auf den Waldrand zu. Im nächsten Augenblick hatte ihn das Unterholz verschluckt. Rick Masters grinste vor sich hin. Er hatte sich schon den Kopf zerbrochen, wie er den Krüppel aus der Klemme herausholen konnte, und jetzt war es nicht mehr nötig. Pooly hatte sich allein geholfen. »Habt ihr Tomatenscheiben auf den Augen!« brüllte Hempshaw den beiden im Hof stehenden Polizisten zu. »Der Bucklige ist entwischt!« »Hier ist er nicht durchgekommen!« tönte die Antwort zurück. »Lauft ihm nach! Er ist im Wald!« »Sparen Sie sich die Mühe, Kenneth«, sagte Rick, der neben Hempshaw getreten war. »Erstens holen Sie ihn nicht mehr ein, weil er den Wald bestimmt wie seine Westentasche kennt und zahlreiche Verstecke hat. Und zweitens ist Pooly nicht der Täter.« »Ach ja, und Sie wissen das ganz genau«, spottete Hempshaw. Er verstand sich zwar mit Rick Masters normalerweise blendend, aber in diesem Fall wollte er einfach nicht auf die Kombinationen des jungen Privatdetektivs eingehen. »Alle Beweise…« »… sprechen für Poolys Schuld«, vollendete Rick den Satz für ihn. »Das kann mich nicht überzeugen.« »Und Sie können mich nicht überzeugen.« Hempshaw lief aus der Bibliothek, um sich um die Verfolgung des Buckligen zu kümmern. 68 �
Masters beobachtete ihn, wie er über den Hof des Schlosses eilte, dann drehte er sich um und erschrak. »Sind Sie lebensmüde!« fauchte er Howard Handy an, der vor dem Bücherregal stand, die Schmuckkassette in der Hand. Handy hatte bereits den Deckel zurückgeschlagen und griff nach der Rubinkette. »Mischen Sie sich nicht überall ein!« sagte Handy schroff. Seine dunklen Augen funkelten wild. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie noch länger hier auf dem Schloss machen. Am besten wäre es, Sie würden so schnell wie möglich von hier verschwinden.« »Howard!« rief Anne Thornton vorwurfsvoll. Sie brachte ihrem Verlobten nicht viel Widerstand entgegen, aber das ging ihr doch zu weit. »Die Herrin auf Ellmore Castle bin immer noch ich. Ich will nicht, daß du meine Gäste so behandelst.« Howard Handy erbleichte vor Wut. »Du wagst es, so mit mir zu sprechen?« keuchte er, klappte die Schatulle zu und stellte sie zurück in das Regal. Langsam ging er auf seine Verlobte zu. Rick kümmerte sich nicht weiter um den neu aufgeflammten Streit. Für ihn war nur wichtig, daß der Schmuck aus den Händen dieses unüberlegten Mannes zurück an seinen angestammten Platz gelangt war. Rick wußte noch nicht, ob der Schmuck an einer anderen Stelle des Schlosses Schaden anrichten konnte, aber er wollte kein Risiko eingehen. Er schob die Schatulle ganz nach hinten in die Mauernische und stellte die beiden Bücher, die als Tarnung dienten, davor. Als er helles Klatschen hörte, drehte er sich um. Howard Handy ohrfeigte seine Verlobte, die Nichte der Lady Ellmore. Vincent, der alte Butler, stand starr wie eine Statue in der Tür. Anne schrie nicht. Sie hatte nur schützend die Arme erhoben. Rick Masters sprang Handy von hinten an, schlang einen Arm um seinen Hals und riß ihn von der jungen Frau weg. Handy 69 �
war jedoch so wütend, daß er sich nicht mehr bremsen konnte. Er wand sich in Ricks Griff, bis er mit dem Gesicht zu dem Detektiv stand. Sein Knie zuckte hoch und traf Rick an einer empfindlichen Stelle. Der Detektiv krümmte sich vor Schmerzen. Handy wollte seine Chance nutzen. Er holte aus und ließ seine Handkante gegen Ricks Genick sausen, doch Anne fiel ihm in den Arm und lenkte den Schlag ab. Rick fühlte die Hand um Haaresbreite an seinem Hals vorbeiziehen. Handy brüllte wütend auf. Doch bevor er zu einem neuen Angriff übergehen konnte, hatte sich Rick soweit erholt, daß er seinem Gegner die Faust vor die Brust schlagen konnte. Handy taumelte einen Schritt zurück, kam aber noch immer nicht zur Vernunft. Jedenfalls war er vorsichtiger geworden. Er nahm die Deckung hoch und ließ eine gestochene Linke gegen Ricks Kinnspitze sausen. Hätte der Schlag sein Ziel erreicht, hätte er einem Ochsen die Kinnlade zertrümmern können. Doch Masters gab sich keine Blöße. Er duckte den Haken ab, sprang Handy an und grub die Doppelfaust in seinen Magen. Der kräftig gebaute Mann klappte nach vorn, als hätte man ihn in der Mitte auseinander geschnitten. Pfeifend entwich die Luft aus seinen Lungen. Mit einem schmerzlichen Stöhnen preßte er beide Hände gegen seinen Magen. Und jetzt zahlte ihm Rick Masters mit gleicher Münze heim. Seine Handkante fand ihr Ziel in Handys Genick, weil ihn niemand an diesem Schlag hinderte. Handy röchelte noch einmal kurz auf, dann fiel er auf den Boden, wo er bewegungslos liegen blieb. Schwer atmend richtete sich Rick Masters auf und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus der Stirn. »Tut mir leid, Miss Thornton«, sagte er. Die junge Schlossherrin sah ihn aus großen, verschleierten 70 �
Augen an. »Was tut Ihnen leid?« fragte sie geistesabwesend. »Nun, immerhin habe ich Ihren Verlobten zusammengeschlagen. Das tut mir leid.« Sie schüttelte müde den Kopf. »Howard hat es herausgefordert. Ich muß mich bei Ihnen für ihn entschuldigen. Er ist manchmal sehr unbeherrscht.« »Tut es sehr weh?« fragte Rick und deutete auf die geschwollene Wange Anne Thorntons. Wahrscheinlich merkte Anne erst jetzt, abgelenkt durch den vorangegangenen Kampf der beiden Männer, die Wirkung der Schläge. Ihre Hand zuckte zu ihrem Gesicht, Tränen traten in ihre Augen, und aufschluchzend lief sie aus der Bibliothek. Vincent, der Butler, trat näher. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?« fragte er. Rick schüttelte den Kopf. »Mir nicht, aber Mr. Handy kann, glaube ich, Hilfe brauchen, wenn er wieder aufwacht.« Vincent würdigte den Ohnmächtigen keines Blickes. »Ich nehme an, daß sich Mr. Handy selbst helfen kann, Sir«, sagte er förmlich und verließ die Bibliothek. Wie Rick schon einmal gedacht hatte… Wer die Achtung des Butlers verloren hatte, war nicht zu beneiden. Handy würde sich allein aus seiner Ohnmacht herausarbeiten müssen. Schadete ihm nichts! Rick Masters sah Chefinspektor Kenneth Hempshaw unten im Hof. Das war im Moment viel wichtiger. In seiner Erregung über die Flucht des Buckligen hatte Hempshaw nämlich nicht an das nahe liegende gedacht. Mr. Ross, der Juwelier, war grausam ermordet worden, und kurz darauf hatte sich der Schmuck der Ellmores auf dem Schoß wieder gefunden. Jetzt war der Schmuck ebenfalls von allein zurückgekehrt. Was mochte wohl aus den beiden Polizisten geworden sein, die 71 �
ihn wegbringen sollten? * »Schottland scheint keine gute Gegend für mich zu sein«, empfing Hempshaw den jungen Detektiv, als er den Hof betrat. »Sooft ich hier einen Fall zu klären habe, stoße ich auf ungeahnte Schwierigkeiten.« »Ihre Leute haben Pooly natürlich nicht gefaßt«, stellte Rick Masters fest. »Schlag ins Wasser, wie alles andere bisher auch.« Hempshaw war wieder schwärzester Laune. »Es ist zum Verrücktwerden. Ich habe die Nase voll.« »Ich könnte ja jetzt sagen, ich habe es gewußt«, grinste Rick, »aber ich sage es nicht.« »Gehen Sie zum Teufel«, empfahl Hempshaw. Rick schüttelte den Kopf. »Dazu verspüre ich vorläufig noch keine Lust. Aber ich würde gern dorthin gehen, wo sich jetzt Ihre beiden Polizisten befinden. Vielleicht haben sie uns bitter nötig, Kenneth.« Der Chefinspektor starrte ihn verständnislos an, dann erhellte sich sein Gesicht. Gleichzeitig aber erschrak er auch. Wahrscheinlich hatte er soeben denselben Schluss durchgemacht, wie ihn Rick Masters schon oben in der Bibliothek gezogen hatte. Seine nächsten Worte bewiesen es. »Sie meinen, daß meinen Leuten etwas zugestoßen ist?« fragte er atemlos. »Ich halte es für wahrscheinlich, Kenneth«, meinte Rick. »Täte mir zwar leid für die Männer, aber…« Hempshaw hörte ihm nicht mehr zu. Er lief zu seinem Dienstwagen, hängte sich ans Funkgerät und rief die Polizisten, die den Schmuck nach Edinborough hätten bringen sollen. 72 �
Keine Antwort! Chefinspektor Hempshaw setzte sich mit der Zentrale in Verbindung und verlangte eine sofortige Suchaktion nach dem vermissten Fahrzeug. »Kommen Sie, Rick!« rief er dem Privatdetektiv zu. »Ich halte es hier nicht mehr aus. Wir beteiligen uns an der Suche.« »Nehmen wir meinen Wagen«, schlug Rick vor. »Er ist schneller, und ich habe ebenfalls ein Funkgerät.« Sie liefen zu Ricks dunkelgrünem Morgan, einen offenem Sportwagen, der im alten Stil gebaut war, aber eine moderne Achtzylindermaschine hatte die hundertfünfzig Pferde auf die Straße brachte. Mit aufheulendem Motor flitzte das grüne Geschoß aus dem Schlosshof, stob durch das verschlafen daliegende Culrock und bog mit quietschenden Reifen auf die Hauptstraße entlang der Küste ein. Weder Hempshaw noch Masters konnten den herrlichen Anblick der schottischen Küste genießen. Rick Masters fuhr mit so atemberaubender Geschwindigkeit, daß Hempshaw sich am liebsten die Augen zugehalten hätte. Dazu hatte er aber leider keine Zeit. Er hängte sich an das im Handschuhfach untergebrachte Funkgerät und gab an die Zentrale durch, daß er sich in dem dunkelgrünen Roadster Rick Masters an der Suche beteiligte. »Sie brauchen nicht mehr zu suchen, wir haben sie gefunden«, kam die Antwort über Funk. »Sie sind tot.« Rick Masters zerbiss einen Fluch, während Chefinspektor Hempshaw die Luft anhielt. Die Zentrale meldete noch den genauen Ort des Unfalls, wie sie sich ausdrückten. Aber in der Stimme des Mannes in der Leitstelle lag ein so eigenartiger Unterton, daß auch Hempshaw aufhorchte. Der Chefinspektor verzichtete jedoch auf Fragen, weil er sich ganz auf den rasanten Fahrstil Ricks einstellen mußte. 73 �
Die Fragen erübrigten sich auch, als der offene Sportwagen bei dem Wrack des Polizeiautos eintraf. Die beiden toten Polizisten lagen auf Bahren. Bei ihrem Anblick wurde Chefinspektor Hempshaw weiß wie frischgefallener Schnee. Dem einen fehlten die Augen, der andere hatte tiefe Würgemale am Hals. »Sie sind ermordet worden«, murmelte Hempshaw. »Aber von wem?« »Wissen Sie das noch immer nicht, Kenneth?« fragte Rick Masters erstaunt. »Von Pooly auf keinen Fall.« »Nun, von wem dann?« Hempshaw hatte nicht mehr die Kraft, in seine Stimme die Ironie zu legen, die er mit dieser Frage hatte verbinden wollen. Rick Masters schaute ihn ernst an. »Von Lady Ellmores Todeskette, natürlich«, sagte er leise. * Anne Thornton hatte sich den ganzen Abend über nicht mehr aus ihrem Zimmer gewagt. Sie kannte inzwischen die Wutanfälle Howards gut genug, um zu wissen, daß sie innerhalb von wenigen Stunden wieder verraucht sein würden. Mein Gott, warum war er manchmal nur so unbeherrscht? Warum schlug er sie? Die junge Schlossherrin lag auf ihrem Bett und starrte mit leeren Augen zur Decke. Sie liebte ihn, und dennoch hatte sie Angst vor ihm. Hatte sie eine falsche Entscheidung gefällt, als sie ihm die Ehe versprochen hatte? Sollte sie es sich nicht noch einmal überlegen? Doch dann wurde es dunkel, sie war allein in ihrem Zimmer, und Howard fehlte ihr. Sie liebte ihn, sie brauchte ihn, sie konnte ohne ihn nicht leben! 74 �
Schluchzend schlief Anne Thornton ein. Später – sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war – erwachte sie von dem leisen Klopfen an ihrer Tür. Es war stockdunkel, und sie tastete schlaftrunken nach der Uhr auf ihrem Nachttisch. Mühsam las sie das Zifferblatt ab. Fünf Uhr morgens. Die Mauern des Schlosses waren aus Stein, so daß man die elektrischen Leitungen in Röhren hatte verlegen müssen. Das war schon vor vielen Jahren geschehen, und man hatte mit Steckdosen und Lichtschaltern gespart. Deshalb gab es neben Annes Bett keine Lampe. Sie tappte im Dunkeln auf nackten Sohlen zur Tür. Wieder klopfte es. Anne glaubte, durch das Holz heftige Atemzüge zu hören. »Howard?« fragte sie bang. »Howard, bist du das?« Sie vernahm ein zustimmendes Brummen. Erleichtert drehte sie den Schlüssel und drückte die Klinke, doch kaum hatte sie die Tür einen Spalt geöffnet, als sich ein schwerer Körper dagegenwarf. Anne wurde von der Tür zurück in den Raum geschleudert. Sie stolperte, und ehe sie schreien konnte, fiel sie mit dem Kopf gegen die Bettkante. Ohnmächtig brach sie zusammen. * Nachdem die beiden toten Polizisten abtransportiert waren, hatte Rick Masters den Chefinspektor auf die Seite gezogen, um ungestört mit ihm sprechen zu können. »Sehen Sie jetzt ein, Kenneth«, fragte er, »daß der Schmuck der Ellmores unbedingt auf dem Schloss bleiben muß? Es gibt eine geheimnisvolle Kraft, die jeden bestraft, der die Juwelen fort75 �
bringen will.« »Langsam beginne ich an Ihre Theorie zu glauben«, meinte Hempshaw und schaute dem Krankenwagen nach, in dem die Leichen der Polizisten lagen. »Das ist keine Theorie, Kenneth! Ich bin davon überzeugt, daß in den Juwelen der Ellmores eine böse Kraft wohnt, die jeden trifft, der versucht, den Schmuck aus dem Familienvermögen auszuscheiden. Der Dieb, der ihn stehlen wollte, die alte Dienerin, die ihn über die Klippen werfen sollte, der Juwelier, der ihn für Anne Thornton verkaufen sollte, und zuletzt die beiden Polizisten, sie alle fielen dieser geheimnisvollen Kraft zum Opfer. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, daß Lady Ellmores Tod damit in Zusammenhang steht. Sie gab schließlich den Befehl, die Juwelen ins Meer zu werfen.« »Sie können mich noch immer nicht überzeugen, Rick«, beharrte der Chefinspektor auf seinem Standpunkt. »Niemand hat gesehen, wie die fürchterlichen Wunden zustandekamen, die wir bei dem Dieb, bei Mr. Ross und meinen beiden Leuten feststellten.« »Ein Grund mehr, an das Wirken übernatürlicher Kräfte zu glauben«, rief Rick Masters heftig aus. »Eines steht fest! Der Schmuck muß auf Ellmore Castle bleiben!« »Sie können sicher sein, daß ich ihn nicht mehr wegnehmen werde«, erklärte Chefinspektor Kenneth Hempshaw mit Nachdruck. Hempshaw fuhr mit den Polizisten nach Edinborough, während Rick Masters in seinem dunkelgrünen Morgan nach Ellmore Castle zurückkehrte. Bei der Rückfahrt ließ er sich viel Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, was er am besten beim Autofahren tun konnte. Immer wieder tauchte Pooly, der Bucklige, als wichtige Schlüsselfigur auf. Könnte er doch nur in Ruhe und vernünftig mit Pooly spre76 �
chen! Rick Masters schüttelte unwillig den Kopf und warf die halbgerauchte Zigarette auf die Straße, wo sie in einem Funkenregen zerstob. Die Uhr in seinem Armaturenbrett zeigte 18 Uhr. Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb nicht mehr viel Zeit, es hatte keinen Sinn, nach dem Buckligen zu suchen. Außerdem würde sich Pooly nach seinen schlechten Erfahrungen mit der Polizei sicherlich irgendwo verkrochen halten wie ein gejagtes Tier, das den Jäger in seiner Nähe riecht. Also keine Aussichten, an den Buckligen heranzukommen. Nach seiner Ankunft auf Ellmore Castle hatte sich Rick Masters erst einmal nach Anne Thornton erkundigt, aber von Vincent gehört, daß sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte und niemanden sehen wollte. Howard Handy betrank sich in den ihm zugewiesenen Räumen, so daß also auch mit ihm nicht zu sprechen war. Wieder dachte Rick Masters an den Buckligen, der ein solches Interesse für den Familienschmuck gezeigt hatte. Vielleicht konnte er an Pooly herankommen, wenn er sich in der Bibliothek auf die Lauer legte und wartete, ob Pooly kommen würde? Rick Masters setzte die Idee in die Tat um. Stundenlang saß er in dem breiten Lehnstuhl in der Bibliothek, bis er gegen vier Uhr einschlummerte. Er schreckte hoch, als ein spitzer Schrei durch das Haus gellte. So schrie nur ein Mensch in Todesnot! * Anne Thornton bewegte sich unruhig auf ihrem Bett. In ihrem Kopf zuckten Blitze, kreisten feurige Räder. Rote Schleier tanzten vor ihren Augen, die sie nicht aufschlagen konnte, weil zentnerschwere Bleigewichte darauf lasteten. 77 �
Sie hörte ein lautes Stöhnen und wunderte sich, wer außer ihr noch solche Schmerzen empfand, daß er so erbärmlich ächzte. Endlich begriff sie, daß sie ihre eigene Stimme hörte, die wie aus weiter Ferne an ihre Ohren drangen. Aber im selben Moment legte sich eine große, harte, schwielige Hand auf ihren Mund und erstickte jeden Laut. Diese Berührung brachte schlagartig die Erinnerung an das Vorgefallene zurück. Anne begann zu zittern. Sie hatte die Tür geöffnet, weil sie glaubte, Howard hätte geklopft. Aber er konnte es nicht sein, der sie überwältigt, bewusstlos geschlagen und auf das Bett gelegt hatte. Es war nicht seine Hand, die ihr den Atem zu nehmen drohte. Diese Hand hier zeugte von schwerer Anstrengung, von Arbeit, und sie roch so eigenartig. Anne überlegte, woher sie den Geruch kannte, und dann erinnerte sie sich. Wenn sie als Kind in den Wald gelaufen war und spielerisch Kerben in die Bäume geritzt hatte, war ein klebriger Saft hervorgequollen – Harz. Dieser Mann kam aus dem Wald. Eine schreckliche Ahnung durchzuckte die junge Schlossherrin. Und da beugte er sich auch schon über sie – der Bucklige. Ganz dicht sah sie seine blitzenden spitzen Zähne vor sich. Heißer Atem schlug ihr entgegen. Seine großen Augen funkelten in dem schwachen Lichtschein, der von draußen in das Zimmer fiel. Der Bucklige hob die andere Hand und machte ihr beruhigende Zeichen, aber Anne Thornton achtete nicht darauf, was Pooly ihr verständlich machen wollte. Sie verspürte nur den Horror, den dieser Mann immer auf sie ausgeübt hatte. Schon als Kind hatte sie sich vor ihm gefürchtet, obwohl er ihr nie etwas getan hatte und immer nett gewesen war. Und der Gedanke, mit ihm jetzt allein in einem finsteren Zimmer zu sein, ihm wehrlos ausgeliefert, seine klobige Hand auf 78 �
ihrem Mund – das war zuviel für Anne. Mit plötzlich erwachender Kraft, die den Buckligen vollständig überrumpelte, wand sie sich unter ihm hervor. Sie biss hart zu. Ihre Zähne gruben sich tief in das nach Harz duftende Fleisch seiner Hand. Anne schmeckte das warme Blut in ihrem Mund. Der Bucklige brüllte vor Schmerz auf und schlenkerte wild seine Hand durch die Luft. Der Angriff hatte ihn erschreckt. Er sprang vom Bett hoch und wich bis an die gegenüberliegende Wand zurück, wo er sich niederduckte, auf die herunterbaumelnden Arme gestützt. Annes Kehle war wie zugeschnürt, als würde ihr jemand den Kehlkopf eindrücken. Sie konnte nicht atmen, und sie konnte nicht schreien. Nicht das leiseste Stöhnen kam aus ihrem Mund. Pooly hatte sich wieder gefaßt. Wild gestikulierend, kam er auf die junge Schlossherrin zu und streckte seine Hand nach ihr aus, die Hand, die sie gebissen hatte. Beim Anblick der krummen Finger und des rinnenden Blutes löste sich die Erstarrung, die Anne Thornton überkommen hatte. Sie fühlte, wie sie tief die Luft in ihre Lungen saugte und sie wieder in einem Schrei ausstieß, einem Schrei in höchster Not. Schon glaubte sie sich verloren, schon vermeinte sie, die klauenartigen Hände des Buckligen an ihrem Hals zu spüren. Mußte sie jetzt so enden wie der Dieb, wie Mr. Ross? Würde Pooly sie ebenso grauenvoll abschlachten wie die anderen? * Rick Masters war mit einem Schlag heilwach, als der Angstschrei durch die Flure des Schlosses hallte. Instinktiv ahnte er, daß Anne Thornton, Lady Ellmores Nichte, in Gefahr war. Er wußte, wo ihr Zimmer lag. So schnell er nur konnte, raste Rick Masters den langen Korri79 �
dor entlang. Von unten, aus der Halle, hörte er die aufgeregten Stimmen der aus dem Schlaf gescheuchten Dienstboten, doch er kümmerte sich nicht darum. Was immer auch in Anne Thorntons Zimmer vor sich ging, niemand außer ihm würde zurecht kommen, um die junge Frau zu retten… wenn sie überhaupt noch zu retten war! Masters warf sich im Sprung gegen die Tür von Annes Zimmer, drückte im selben Moment die Klinke nieder, flog mit der Tür in den Raum und stürzte auf den Boden. Mit einem Blick erfasste er in dem schwachen Licht, das von dem durch eine Notbeleuchtung erhellten Korridor hereinfiel, Anne Thorntons hellen Körper. Anne hatte sich in ihrem Bett auf die Knie aufgerichtet und streckte abwehrend ihre Hände gegen einen dunklen, unförmigen Schatten aus. »Pooly!« schrie Masters scharf. Der Bucklige schien überhaupt nicht bemerkt zu haben, daß jemand in das Zimmer eingedrungen war. Er stand ruhig da und schaute mit gebrochenen Augen auf die junge Frau. Tränen liefen über seine Wangen. Doch als er seinen Namen hörte, wirbelte er herum. Er sah Rick Masters, der sich soeben wieder hochrappelte, und mit der Behendigkeit eines Eichhörnchens sprang er zum Fenster, riß es auf und schwang sich hinaus. »Pooly!« rief Rick Masters entsetzt, weil er glaubte, daß der Bucklige sich in den tief unter ihm liegenden Schlossgraben stürzen wollte. Doch dann merkte er an dem langsamen Verschwinden des Körpers, daß Pooly kletterte. Rick konnte sich nicht sofort an die Verfolgung machen. Erst mußte er sich um Anne Thornton kümmern. »Alles in Ordnung?« fragte er keuchend. »Ja«, nickte Anne. Sie bebte wie Espenlaub. »Er… er wollte… 80 �
er wollte mich umbringen…!« Masters hielt sich nicht weiter damit auf, Anne Thornton zu fragen, was passiert war. Hinter sich horte er auf der Treppe die schweren Schritte von Howard Handy, der sich seiner Verlobten annehmen würde. Er selbst stürzte ans Fenster und beugte sich weit hinaus. An der Mauer des Schlosses war ein hölzernes Spalier befestigt, an dem Pooly mit der Geschicklichkeit eines Affen hinunterkletterte. Er hatte beinahe schon den Boden erreicht. Rick zögerte nur einen Augenblick. Wenn er die Treppe benutzte, war der Bucklige längst über alle Berge, und wer weiß, ob er ihn dann je wieder zu Gesicht bekam. Nein, er mußte das Risiko auf sich nehmen. Rick ließ sich über die Fensterbrüstung nach draußen gleiten. Nur nicht nach unten schauen! Die Gestalten der Dienstboten, die angespannt die Klettertour der beiden so ungleichen Menschen beobachteten, wirkten wie Spielzeugpuppen. Das Spalier knarrte und knackte unter dem Gewicht des Detektivs. Der kalte Angstschweiß brach Rick Masters bei dem Gedanken aus, eine Latte des alten Spaliers könnte brechen. Dann würde er unweigerlich abstürzen und auf den Steinplatten des Hofes… Nein, er durfte nicht daran denken! Beständig kletterte er nach unten, wenn er auch nicht so schnell vorwärtskam wie der Bucklige. Pooly mußte über die Instinkte eines Wildtieres verfügen, das schon im vorhinein erahnte, ob es einen gefährlichen Fehltritt machte oder nicht. Rick hingegen mußte erst jedes Mal prüfen, ob ihn das Spalier auch hielt, bevor er seinen Fuß tiefer setzte. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, und Ricks Kleider waren schweißgetränkt, als er endlich den Boden eine Körperlänger unter sich sah. Rick ließ los, stieß sich ab und kam 81 �
federnd unten auf. Als er sich aufrichtete, sah er Vincent, den alten Butler, vor sich stehen. Die Augen des Mannes schimmerten feucht. »Mussten Sie ihn wie einen Verbrecher jagen?« fragte er vorwurfsvoll und ohne jede Spur von Unterwürfigkeit in der Stimme. »War das wirklich nötig?« Rick staunte über den harten Ton.»Wer ist denn dieser Pooly, daß er Ihnen so viel bedeutet, Vincent?« fragte er scharf. Doch er bekam keine Antwort. Der Butler drehte sich um und ließ ihn stehen. Rick nahm sich vor, Vincent bei Gelegenheit ausführlicher zu befragen, da ihm die Beziehung zwischen dem Butler und dem Buckligen sehr seltsam vorkam, aber im Moment hatte er andere Sorgen. Pooly war nicht mehr auf dem Hof und hatte einen beachtlichen Vorsprung herausgeholt. Wenn er ihn noch einholen wollte, mußte er sich beeilen. Rick lief durch die offen stehende Nebenpforte. Er konnte sich sehr gut erinnern, daß sie am Abend verschlossen worden war, also hatte entweder Pooly sie mit einem Sperrhaken geöffnet, oder Vincent hatte ihn eingelassen. Dem Verhalten des Butlers nach zu schließen, war das sehr leicht möglich. Rick blieb vor der Schlossmauer stehen und blickte scharf um sich. Endlich entdeckte er weit vor sich die verkrümmte Gestalt des Gesuchten. Pooly hetzte auf den schützenden Wald zu, wo er vor seinem Verfolger in Sicherheit war. Rick fluchte leise in sich hinein. Er wollte dem Buckligen doch nichts antun, aber er mußte mit ihm sprechen, wenn er ihn der Polizei gegenüber helfen sollte. Das scheue Verhalten des Krüppels machte es unmöglich. Während Rick wie von der Feder geschnellt ebenfalls auf den Wald zulief, fielen ihm wieder die Worte von Anne Thornton ein. Sie hatte behauptet, der Bucklige wolle sie ermorden. 82 �
Stimmte das? Konnte sich Rick so in Pooly getäuscht haben? War der Krüppel gar nicht so harmlos, wie er annahm? Die verkrümmte Gestalt verschwand unter dem schützenden Dach des Waldes. Doch diesmal gab Rick Masters nicht auf. Er war entschlossen, dem Geheimnis Poolys auf die Spur zu kommen. Bis zum Waldrand hielt er sein Tempo, aber unter den ersten Bäumen blieb er stehen. Hier konnte er sich nur nach Geräuschen orientieren. Wenn Pooly schlau genug war, dann verhielt er sich still. Er hätte auf Armeslänge neben Rick hocken können, und der junge Privatdetektiv hätte ihn nicht entdeckt. Angespannt lauschte Rick. Tatsächlich, von links klang das Brechen von Zweigen, als würde ein fliehendes Wild davonjagen. Rick versuchte, so lautlos wie möglich zu folgen, aber er verursachte einen Heidenkrach. Ein paar Mal lief er sogar gegen Bäume und stieß sich die Nase blutig, aber das hielt ihn auch nicht mehr auf. Das Jagdfieber hatte Rick Masters gepackt, und wenn er einmal greifbar einen Erfolg vor sich sah, gab er nicht mehr auf. Rick blieb wieder stehen, aber diesmal war nichts mehr zu hören. Entweder war Poolys Vorsprung bereits so groß, daß der Schall nicht bis zu Rick trug, oder er war stehen geblieben und… Rick nahm instinktiv eine Bewegung neben sich wahr. »Pooly!« rief er hastig, doch im nächsten Augenblick traf ihn ein fürchterlicher Schlag an der Schulter. Rasender Schmerz zuckte durch Ricks Körper. Sein rechter Arm hing schlaff und bewegungslos herunter. »Pooly!« quälte sich aus Ricks Mund. Dann krachte etwas Hartes gegen seinen Kopf. Rick Masters war bereits bewusstlos, als er schwer auf den weichen Waldboden fiel. *
83 �
Alles um Rick Masters herum war grau, Himmel, Bäume, Erde. Er hatte die Augen aufgeschlagen, aber er konnte sich nicht bewegen. Er lag reglos auf dem weichen Waldboden, die Kleider mit Nässe durchtränkt, wußte, was mit ihm geschehen war, doch er vermochte nichts dagegen zu unternehmen. Die Lähmung kam von dem heftigen Schlag, den ihm Pooly, der Bucklige, gegen den Kopf versetzt hatte. Rick Masters fühlte die Kruste geronnenen Blutes auf seiner Schädeldecke. In den Stunden, die er hier hilflos lag, hatte sich die warme Nässe in ein starres Gebilde verwandelt. Wieso suchen mich die Leute vom Schloss nicht, fragte er sich in Gedanken. Sie mussten ihn doch schon längst vermissen. Er konnte sich das nicht erklären. Es war ihm ein paar Mal so gewesen, als hätte er in der Ferne Stimmen gehört, aber sie kamen nicht näher. Vielleicht Dorfbewohner, die Pilze suchten. Er war zu schwach, um zu schreien. Tau legte sich über sein Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper vor Kälte. Waldtiere huschten vorüber, manche blieben stehen oder richteten sich neugierig auf, dann liefen sie weiter. Sie sahen in ihm keinen Feind. Er hätte im Augenblick auch nicht einmal der sprichwörtlichen Fliege etwas antun können. Und dann war die sonore Stimme auf einmal über ihm, die massige Gestalt beugte sich herunter und das kantige, besorgte Gesicht näherte sich dem seinen. »Kenneth!« hauchte Rick Masters, dann wurde er wieder bewusstlos. »Tragt ihn ins Schloss!« befahl Chefinspektor Kenneth Hempshaw den Konstablern, die er in den umliegenden Dörfern zusammengetrommelt hatte. Sie hoben den Ohnmächtigen hoch und kehrten nach Ellmore Castle zurück. Chefinspektor Hempshaw führte den Zug mit düsterem Gesicht an. Gegen fünf Uhr früh hatte er einen Anruf von Ell84 �
more Castle erhalten. Rick Masters wurde vermisst, nachdem er Pooly, den Buckligen, verfolgt hatte, der zuvor Anne Thornton ermorden wollte. Die Bewohner des Schlosses hatten es nicht gewagt, in der Dunkelheit in den Wald einzudringen. Der Chefinspektor war so schnell wie möglich gekommen, aber drei Stunden Autofahrt von Edinborough waren verstrichen, in denen Rick Masters nicht aufgetaucht war. Und erst nach einer weiteren Stunde des Suchens hatten sie ihn in diesem jämmerlichen Zustand gefunden. Auf Ellmore Castle wartete ein Polizeiarzt, der Rick genau untersuchte. »Nichts gebrochen«, stellte er fest. »Aber möglicherweise eine Gehirnerschütterung.« »Wie ich unseren Rick kenne, wird ihn das nicht sehr beeindrucken«, grinste Hempshaw erleichtert. Er hatte das Schlimmste befürchtet. »Wie recht Sie doch haben, Kenneth«, sagte in diesem Moment Rick Masters, zwar noch mit schwacher Stimme, aber doch schon wieder entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. »Zuerst möchte ich von Vincent ein Frühstück haben wie gestern. Dann sehen wir weiter.« Der Polizeiarzt wollte protestieren und seinen Patienten ins Bett stecken, aber davon wollte wiederum Rick Masters nichts wissen. Mit Hempshaws Hilfe setzte er sich auf, kippte sofort wieder um und blieb keuchend liegen. »Doch ein wenig angeknackst, alter Krieger«, meinte der Chefinspektor und versetzte Rick Masters einen leichten Stoß. Rick schrie auf. »Sie Unhold!« fauchte er. »Meine Schulter!« Der Arzt wurde aufmerksam. Er zog das Hemd von Ricks Oberkörper und nickte verständnisvoll bei dem Anblick der dunkelblauen Schwellung. »Eine ausgewachsene Prellung, sehr schmerzvoll, aber nicht gefährlich. Auch hier nichts gebrochen. Sie haben Knochen wie ein Stahlgerüst.« 85 �
»Ich fresse auch täglich zwei Pfund Eisenkörner«, preßte Rick zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wenn er schlechte Witze machen kann, ist er wieder ganz der Alte«, versicherte Hempshaw dem Polizeiarzt, der sich achselzuckend zurückzog. Mit einiger Anstrengung gelang es Rick, sich in einen weichen Sessel zu setzen. Als Vincent das Frühstück brachte, langte er schon wieder mit gutem Appetit zu, und hinterher fühlte er sich fast ganz gut. Nur ein dumpfes Dröhnen in seinem Kopf war zurückgeblieben, und den rechten Arm konnte er nicht bewegen, ohne stechende Schmerzen in der Schulter in Kauf zu nehmen. »Sind Sie jetzt endlich überzeugt, daß Pooly kein so harmloses Wesen ist, wie Sie immer behaupten?« fragte der Chefinspektor, der Rick beim Frühstück Gesellschaft geleistet hatte. Der junge Detektiv warf Hempshaw einen gelassenen Blick zu. »Das friedfertigste Tier beißt, wenn es in die Enge getrieben ist«, sagte er. »Und auf Pooly wurde eine wahre Treibjagd veranstaltet. Folglich hielt er mich für seinen Feind. Vorher war er nicht gefährlich, jetzt ist er es möglicherweise geworden. Er sieht seine Freiheit bedroht, obwohl er immer nur das Beste wollte.« »Sie sind unbelehrbar«, seufzte Hempshaw. »Wenn wir Pooly fangen, bringe ich ihn zu Ihnen, damit er Ihnen noch eins mit einem Ast über die Birne zieht. Vielleicht kommt dann Ihr Denkapparat in Ordnung.« »War es ein Ast?« fragte Rick und tastete nach dem Pflaster an seinem Kopf. »Der gute Doktor würde sagen, ein Ast wie ein Stahlgerüst«, grinste der Chefinspektor. »Er mußte schon hart sein, sonst hätte er Ihren Schädel nicht ausgehalten. So, Rick, ich muß mich jetzt wieder um meine Arbeit kümmern. Sie ruhen sich bestimmt aus.« »Ganz bestimmt«, versicherte Rick mit dem aufrichtigen Blick 86 �
eines notorischen Lügners. Wiederum seufzend, verließ Hempshaw den Raum. Kaum allein, trat Rick Masters ans Fenster. Jenseits der Mauer sah er eine schlanke Gestalt auf das Dorf Culrock zugehen. Anne Thornton! Es interessierte Rick Masters brennend, was die junge Schlossherrin im Dorf wollte. Es interessierte ihn so sehr, daß er trotz seiner Müdigkeit und des schmerzenden Kopfes Ellmore Castle verließ und seinen dunkelgrünen Morgan nach Culrock steuerte. * Ihr Gang wurde immer langsamer, je weiter sie sich dem allein stehenden Haus am Rand von Culrock näherte. Das vierhundert Einwohner zählende Dorf machte den Eindruck, als wäre es in das neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt. Die Häuser, die Kleidung der Menschen, das alles hätte gepaßt. Nur die beiden Autos, klapprige Benzinkutschen, die es im Dorf gab, störten das Bild. Doch dieses Haus, das von den meisten Leuten in scheuer Ehrfurcht gemieden wurde, das schien aus einer noch älteren Zeit zu stammen. Tiefstes Mittelalter! Anne Thornton blieb stehen. So hatte sie sich als Kind immer ein Hexenhaus vorgestellt, und früher hatte sie Mrs. McClover auch für eine richtige Hexe gehalten. Inzwischen wußte sie längst, daß Mrs. McClover eine nette alte Frau war, ein wenig verschroben. Sie wurde von den anderen Dorfbewohnern gut behandelt, auch wenn sich nur selten jemand in ihr Haus verirrte. Man erzählte sich wunderliche Dinge über die Alte, die zaubern und die Zukunft voraussagen konnte. Das behaupteten zumindest einige steif und fest. 87 �
Anne Thornton hatte nicht vergessen, wie einmal vor Jahren ein Fremder nach Culrock gekommen war. Mrs. McClover hatte seinen Tod vorausgesagt, und zwei Tage später hatte man ihn am Fuß der Klippen gefunden. Seither sah man manchmal eine heimliche Gestalt in das verfallene Haus am Dorfrand huschen, meistens in der Abenddämmerung. Niemand gab gern zu, daß er sich von Mrs. McClover die Zukunft hatte voraussagen lassen – gegen ein paar Shilling, versteht sich. Anne Thornton war es gleichgültig, ob sie gesehen wurde oder nicht. Ihr Zögern hatte einen anderen Grund. Sie fürchtete sich vor der Zukunft. Schon wollte sie umkehren und zum Schloss zurücklaufen, als sich die schief in den Angeln hängende Holztür des Hauses öffnete und das verwitterte Gesicht der Wahrsagerin erschien. »Hoher Besuch!« rief Mrs. McClover mit ihrer kreischenden Stimme. »Treten Sie ein, junge Frau, kommen Sie. Sie wollen etwas von mir wissen, ich sehe es Ihnen an. Kommen Sie!« Anne wäre am liebsten davongelaufen, aber sie schämte sich vor der alten Frau. Also folgte sie ihr in das Haus, das zwar peinlich sauber, aber von oben bis unten mit altem Gerumpel voll gestopft war. Anne mußte sich bücken, um nicht gegen einen an der Decke befestigten ausgestopften Fischadler zu stoßen. An den Wänden hockten Eulen und Füchse, ebenfalls präpariert, und glotzten die Besucherin starr aus ihren staubigen Glasaugen an. Anne fröstelte, obwohl sie wußte, daß ihr hier nichts geschehen konnte und daß Mrs. McClover diese Staffage vermutlich nur dazu benutzte, um sich bei den Dorfbewohnern den geheimnisvollen Ruf zu bewahren, der ihre kärgliche Rente aufbesserte. Mrs. McClover drängte die junge Schlossherrin, in einem mächtigen Ohrenstuhl Platz zu nehmen, bot ihr heißen Tee an und setzte sich ihr gegenüber. 88 �
»Schlimme Dinge haben sich auf Ellmore Castle ereignet«, sagte sie, nachdem Anne eine Tasse Tee getrunken hatte. »Sehr schlimme Dinge. Die alten Weissagungen haben sich erfüllt.« »Welche Weissagungen?« fragte Anne Thornton neugierig und erschrocken zugleich. »Ich wage nicht, darüber zu sprechen, mein Kind.« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe hier mein friedliches kleines Haus, in dem ich meine Tage beschließen werde. Ich will nicht die Rache auf mich ziehen.« »Welche Rache?« Anne schlug die Hände vor den Mund. Aber sie erhielt keine Auskunft. »Nein, mein Kind! Du bist zu mir gekommen, um die Zukunft zu erfahren. Willst du den Rat einer alten, erfahrenen Frau hören?« Anne nickte. Sie konnte nichts mehr sagen. Die bedrückende Atmosphäre des mit Tierpräparaten überfüllten Raumes, drohte ihr die Luft zu nehmen. »Wenn du aus diesem Haus hinausgehst, steige in den Wagen, der draußen auf dich wartet. Dann fahre weg und komme nie mehr nach Ellmore Castle zurück, sonst…« Mrs. McClover schwieg. Anne beugte sich vor und umkrallte den Arm der alten Frau mit einem ungewollt harten Griff. »Sonst?« fragte sie atemlos. »Willst du es wirklich hören, mein Kind?« Mrs. McClovers Augen richteten sich voll auf Annes Gesicht. »Bist du stark genug?« Anne nickte stumm. »Sonst bringt dir der Mensch, den du liebst, den Tod!« vollendete die Wahrsagerin ihre düstere Prophezeiung. *
89 �
Anne wußte hinterher nicht mehr, wie sie aus dem Haus gekommen war. Die Prophezeiung der alten Wahrsagerin hatte sie so verängstigt und ihre Befürchtungen, die sie seit dem Tod ihrer Tante hegte, verstärkt, daß sie nicht mehr klar denken konnte. Sie war aufgesprungen und aus dem Zimmer getaumelt, hatte die Haustür aufgerissen und war ins Freie gelaufen. Und jetzt stand sie da wie angewurzelt. Wie hatte die Wahrsagerin ihr geraten? Wenn du aus diesem Haus hinausgehst, steige in den Wagen, der draußen auf dich wartet. Dann fahre weg und komme nie mehr nach Ellmore Castle zurück. Anne hatte diese Worte in keiner Weise ernst genommen, weil sie genau wußte, daß es in Culrock nur zwei Autos und auf Ellmore Castle überhaupt keines gab, da Lady Ellmore eine Abneigung gegen dieses neumodische Zeug hatte. Aber jetzt stand vor dem Haus ein Auto. Das Auto von Rick Masters! Wie eine Traumwandlerin ging Anne Thornton auf den Wagen zu, stieg ein und schloss die Tür, die Rick Masters für sie aufgehalten hatte. »Sie wirken vollkommen verstört«, stellte der junge Privatdetektiv besorgt fest. »Fehlt Ihnen etwas, Miss Thornton?« Anne hielt sich krampfhaft aufrecht. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr ins Gesicht, und sie strich sie mit einer fahrigen Handbewegung zurück. »Glauben Sie an Wahrsagen, Mr. Masters?« fragte sie gepresst. Sie vermied es, den jungen Mann anzuschauen. »Das kann ich nicht mit einem Satz sagen«, erwiderte Rick. »Die meisten Wahrsager sind Schwindler. Aber es gibt auch Fälle, in denen Menschen die Zukunft voraussehen können. Weshalb fragen Sie mich das, Miss Thornton?« Anne schüttelte heftig den Kopf. »Ich möchte nicht darüber sprechen, Mr. Masters«, erklärte sie entschieden. Dann zögerte 90 �
sie, überlegte und sagte endlich: »Bringen Sie mich bitte zurück ins Schloss.« »Ganz, wie Sie wollen.« Rick ließ den Motor an, wendete und bog in die schmale Zufahrtsstraße nach Ellmore Castle ein. Von weitem sahen sie bereits die verzierten Türmchen des alten Bauwerkes. »Miss Thornton«, begann Rick nach einer Weile des Schweigens. »Ich wollte Sie fragen, ob das Schloss stark verschuldet ist.« Und als Anne nicht antwortete, fuhr er fort: »Sie haben nämlich zu diesem… seltsamen Fest heute Abend sehr finanzkräftige Leute eingeladen.« Die junge Schlossherrin erwachte aus ihrem Grübeln. Sie setzte sich kerzengerade auf und blickte starr auf die Straße. »Mischen Sie sich nicht in meine Privatangelegenheiten, Mr. Masters«, sagte sie hart. »Es genügt schon, wenn Sie auf Wunsch der Polizei im ganzen Schloss herumhorchen und das Dienstpersonal aufhetzen.« »Davon ist mir zwar nichts bekannt«, verteidigte sich Rick, der sich über die Angriffe Annes wunderte, »aber ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen helfen wollte.« Augenblicklich fiel die hochmütige Haltung der jungen Frau in sich zusammen. Anne Thornton hockte zusammengekauert auf dem Beifahrersitz, das Gesicht in beide Hände gelegt, von Weinkrämpfen geschüttelt Rick hielt den Wagen an und legte ihr beruhigend seine Hand auf die Schulter. »Haben Sie keine Angst, Miss Thornton«, sagte er leise. »Solange ich auf dem Schloss bin, werde ich dafür sorgen, daß Ihnen nichts zustößt.« »Sie wissen ja nichts!« stieß Anne zwischen den vor den Mund gepressten Fingern hervor. »Sie haben ja keine Ahnung!« »Wovon habe ich keine Ahnung?« fragte Rick Masters aufmerksam. Vielleicht konnte er jetzt mehr über Ellmore Castle und seine seltsamen Bewohner erfahren. 91 �
Doch Anne Thornton schüttelte den Kopf. »Fahren Sie bitte weiter«, bat sie. »Es hat ja doch keinen Sinn.« Rick Masters befolgte ihren Wunsch. »Ich kann und will Sie nicht zwingen, mir etwas zu erzählen, das Sie lieber verschweigen wollen, Miss Thornton«, sagte er mit möglichst gleichgültiger Stimme. »Aber ich sorge mich um Sie. Versprechen Sie mir deshalb, daß Sie mir eine Bitte nicht abschlagen. Eine einzige Bitte!« Anne hatte sich wieder in der Gewalt. Sie wischte die letzten Tränen aus ihren Augen und richtete ihre Haare. Außer einer leichten Rötung der Augen konnte man ihr nicht ansehen, daß sie geweint hatte. »Bitte, Mr. Masters«, sagte sie in normalem Tonfall. »Wenn ich kann, gebe ich Ihnen gern dieses Versprechen.« »Befolgen Sie die Anweisungen Ihrer verstorbenen Tante, Lady Ellmore«, sagte Rick Masters. »Berühren Sie den Familienschmuck nicht. Öffnen Sie die Schatulle nicht, und wenn Sie es doch tun, nehmen Sie die Juwelen nicht heraus! Auf keinen Fall.« Anne Thornton sah ihn befremdet, aber mit einem leisen Lächeln an. »Ist das alles?« fragte sie spöttisch. »Das ist doch sehr merkwürdig für einen aufgeklärten, modernen jungen Mann. Finden Sie nicht auch?« »Es kommt nicht darauf an, was ich finde oder nicht«, sagte Rick, der langsam den Mut verlor. Niemand hörte auf seine Ratschläge, und immer wieder mussten Unschuldige dafür büßen. »Wollen Sie mir versprechen, den Schmuck an seinem Platz zu lassen und ihn nicht zu berühren?« Offensichtlich wurde Anne dieses Gespräch lästig und sie wollte jeder weiteren Diskussion aus dem Weg gehen. Jedenfalls sagte sie in leichtem Tonfall: »Aber natürlich, ich verspreche es Ihnen gern, Mr. Masters.« 92 �
Doch Rick merkte schon, daß sie es nicht ernst meinte. Und die finsteren Vorahnungen quälten ihn, als sie Ellmore Castle erreichten, finsterer noch als das Geheimnis, das über dem Schloss an den Klippen lastete. * Der Bucklige saß nun schon seit Stunden in seinem Versteck und zitterte vor Angst und Kälte. Blinzelnd schaute er zum Himmel hoch, der sich bedrohlich verdüstert hatte. Nach den Anzeichen der Natur wußte Pooly, daß es Mittag war. Und auch nach dem Knurren seines Magens. Um diese Zeit bekam er nämlich meistens von Vincent, dem Butler auf Ellmore Castle, oder von einem anderen Dienstboten einen Teller mit warmem Essen. Aber heute wagte sich Pooly nicht aus seinem Versteck, einer kleiner Höhle, von allen Seiten von Wald umschlossen, hervor. Er erinnerte sich an den jungen blonden Mann, den er im Wald niedergeschlagen hatte. War er tot? Lebte er noch? Wie schwer war er verletzt? Pooly konnte nicht sehr schnell und sehr gut denken, aber er begriff, daß er etwas getan hatte, wofür ihn wieder dieser unsympathische Mann, dieser Polizist aus der fernen und großen Stadt London, suchen würde. Sie wollten ihn einsperren! Ihn! Er wollte nicht aus seinem Wald weggehen, in dem er lebte, seit er denken konnte. Pooly kroch auf allen Vieren ein Stück aus der Höhle heraus und spähte vorsichtig um sich. Niemand in der Nähe. Aber in der Luft lag ein unheimliches Brausen. Der Bucklige rümpfte die Nase, als ärgerte er sich über das Wetter, das ihm seine Flucht noch erschwerte und seine Lage nicht erleichterte. Ein Sturm war im Anzug! Pooly hatte Hunger. Er lebte zwar auch nach vernünftigen 93 �
Überlegungen, aber die Bedürfnisse seines Körpers diktierten größtenteils sein Verhalten. Im Moment dachte er nur an Ellmore Castle, den alten Butler und das warme Essen. Im Morgengrauen hatte er Beeren gepflückt, aber davon war er nicht satt geworden. Auf den Fersen kauernd, überlegte der Bucklige, ob er nicht in das Dorf gehen und dort Essen suchen sollte. Doch dann erinnerte er sich an Konstabler McMurdock, der immer ein so finsteres Gesicht machte. Nein, Pooly hatte Angst vor ihm. Außerdem jagte ihn der Konstabler oft fort. Vincent tat das nicht. Ein breites Lächeln legte sich auf das verzerrte Gesicht des Krüppels. Vincent war immer nett und so höflich zu ihm. Er wollte Vincent sehen und von ihm Essen holen. Lautlos wie ein Reh, trotz seines plumpen Körpers, huschte er über den mit Zweigen übersäten Waldboden. Ein dumpfes Brausen kündete den herannahenden Sturm an. Die Bäume neigten ihre Spitzen unter den ersten Böen. Der Himmel hatte sich verdunkelt, dicke Regentropfen klatschten auf die Erde. Die Türme von Ellmore Castle kamen in Sicht. Pooly grinste vor sich hin. Er roch förmlich schon das Essen Vincents. Und die dicke Köchin auf dem Schloss war auch freundlich. Zwischen dem Schloss und dem Wald lag die Wiese, die er nicht überqueren konnte, ohne gesehen zu werden. Pooly schauderte, als er an den blutüberströmten Körper dachte, den er in den Büschen zurückgelassen hatte. Ob sie ihn suchten? Ob vielleicht die Polizisten auf ihn lauerten? Die Vorsicht kämpfte gegen den Hunger. Der Hunger gewann. Der Bucklige lief, den Körper seitlich verdreht, in weiten Sätzen über die Wiese, an einen gewaltigen Affen erinnernd. Auf halbem Weg blieb er erstarrt stehen. Da war er wieder, dieser schreckliche Mensch! Der Polizist aus London! 94 �
Poolys Mund mit den langen, spitzen Zähnen öffnete sich zu einem heiseren Fauchen, dann zu einem ängstlichen Wimmern, und schließlich lief er, so schnell ihn seine krummen Beine trugen, zurück in den Wald. Unter den Bäumen angekommen, blieb er stehen, drehte sich um und schüttelte drohend die erhobene Faust gegen das Schloss, um dessen Türme der Wind heulte und pfiff. * Rick Masters hatte Anne Thornton kaum zurück nach Ellmore Castle gebracht, als er durch das geöffnete Hauptportal des Schlosses einen dunklen Wagen kommen sah. Chefinspektor Kenneth Hempshaw! Rick ging dem Chefinspektor entgegen und begrüßte ihn in der Nähe des Tores. »Das ist eine Überraschung, Kenneth«, sagte er und schüttelte Hempshaw die Hand. »Wieso sind Sie so schnell zurückgekehrt? Ich hatte Sie eigentlich erst zum Begräbnis von Lady Ellmore erwartet.« Hempshaw hatte dunkle Ringe unter den Augen und verriet in seiner ganzen Haltung seine Müdigkeit. »Ich muß den Fall Ellmore schnellstens hinter mich bringen, Rick«, seufzte er, »sonst halte ich nicht mehr lange durch. Die toten Polizisten haben mir den Rest gegeben. Die höchsten Dienststellen toben, weil ich keine Erfolge liefern kann.« »Glauben Sie noch immer an eine Schuld Poolys?« fragte Rick Masters und schaute unwillkürlich zum Wald hinüber. Er straffte sich. Dort drüben erschien der Bucklige unter den Bäumen, kam heraus auf die Wiese und lief auf das Schloss zu. Auf halbem Weg blieb er stehen. Wahrscheinlich hatte er den Chefinspektor entdeckt. Pooly machte kehrt und hetzte zurück. 95 �
Rick stellte sich so, daß Hempshaw die Sicht verdeckt wurde. Der arme Krüppel sollte endlich in Ruhe gelassen werden, auch wenn sich Rick noch schmerzlich an das letzte Zusammentreffen mit ihm erinnerte. In seinem Kopf pochte und hämmerte es, als wäre ein ganzes Walzwerk in Betrieb. »Kenneth, Sie können in der kurzen Zeit doch nicht in Edinborough gewesen sein und schon wieder zurückkommen«, stellte Rick Masters fest. »Was haben Sie denn gemacht?« »Nachdem wir Sie im Wald gefunden hatten«, berichtete der Chefinspektor, »wollte ich zurück in die Hauptstadt, doch unterwegs kam die Sturmmeldung. Ich dachte, es wäre vielleicht gut, gleich hier zu bleiben, sonst sind die Straßen verlegt, und ich komme nicht rechtzeitig zu Lady Ellmores Begräbnis.« Rick blickte prüfend zum Himmel hoch. »Vermutlich sind Sie keine Minute zu früh eingetroffen.« Platschend zerbarsten die ersten dicken Regentropfen auf dem Steinpflaster des Hofes. »Kommen Sie ins Haus!« In der Halle kam ihnen Vincent entgegen, der dem Chefinspektor den leichten Regenmantel abnahm. »Es ist gut, Sir, daß Sie wieder hier sind«, sagte der Butler gegen seine sonstige Gewohnheit, keine Kommentare abzugeben. Rick wollte sich nach dem Grund erkundigen, aber die Frage erübrigte sich. Aus dem ersten Stock hörten sie das Klirren von Glas und gleich darauf die schwerfällige, schleppende Stimme von Howard Handy. Der Verlobte Anne Thorntons war offenbar betrunken. »Es ist gut, Vincent«, sagte Rick. »Wir kommen schon allein zurecht.« »Ich hoffe es, Sir.« Mit dieser Andeutung zog sich der Butler zurück. »Scheint ja ein ziemlich lautstarker Bursche zu sein«, meinte Chefinspektor Hempshaw und deutete nach oben. »Trinkt er 96 �
immer so viel?« »Getrunken hat er bisher nicht«, sagte Rick, »aber er ist reichlich gewalttätig.« »Gewalttätig?« Hempshaw horchte auf. »So, ist er das? Dann ergeben sich ja neue Gesichtspunkte. Ist er auch an dem Familienschmuck interessiert?« »Mehr, als mir lieb ist«, gestand Rick ein. »Ich habe Anne Thornton gebeten, die Juwelen nicht mehr anzufassen, aber ich fürchte, daß sie sich nicht daran halten wird.« »Und wir können nichts dagegen unternehmen.« Chefinspektor Hempshaw zuckte die Schultern. »Wir müssen mit dem Schicksal…« Er konnte seinen Satz nicht vollenden. Oben auf der breiten Treppe erschien Howard Handy. Er hatte stark getrunken. Die schwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und die dunklen Augen unter den buschigen Brauen blitzten wild. »Verdammt, ich kann diesen Steinkasten nicht mehr sehen!« grölte der Betrunkene. »Ich hasse das Schloss und die Juwelen und alte Weiber, die Unsinn faseln!« Er schleuderte eine leere Whiskyflasche die Treppe herunter. Die Scherben spritzten durch die Halle. Anne Thornton kam aus ihrem Zimmer gelaufen. Sie packte Howard Handy am Arm und wollte ihn beruhigen, vielleicht auch von der Treppe wegziehen, weil sie Angst hatte, er könnte das Gleichgewicht verlieren und hinunterstürzen. Handy stierte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Sein Gesicht verzog sich zu einer höhnischen Fratze. »Und dich hasse ich auch, du Schlampe!« brüllte er und versetzte Anne einen Stoß. Die junge Frau schrie auf, warf beide Arme in die Luft und stürzte rückwärts die Treppe herunter.
97 �
*
Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw mussten tatenlos zusehen, wie Anne Thornton sich in der Luft überschlug, ein paar Mal hart gegen die Stufen prallte und endlich am Fuß der Treppe auf die Steinplatten fiel. Ein Schreckensschrei dröhnte durch die hohe Halle. Howard Handy hatte ihn ausgestoßen. Mit entsetzten Augen schaute er auf seine reglose Verlobte herunter. Erst jetzt begriff er, was er in seinem Rausch getan hatte. Schneller, als man es ihm in diesem Zustand zugetraut hätte, lief er die Treppe herunter und kam gleichzeitig mit Rick Masters bei der Gestürzten an. Er beugte sich hinunter und wollte Anne an sich reißen, doch Rick stieß ihn derb zurück, daß er hinschlug. »Wollen Sie noch mehr Unglück anrichten, Sie brutaler Kerl?« schrie er den Betrunkenen an. »Wir wissen nicht, wie schwer verletzt sie ist! Vielleicht ist sie sogar tot!« Rick erwartete, daß sich Handy jetzt auf ihn werfen würde, aber nichts geschah. Der Mann rollte sich auf dem Boden zusammen, verbarg sein Gesicht in den angewinkelten Armen und begann, wie ein Kind zu schluchzen. Angewidert wendete sich Rick Masters von ihm ab und begann, Anne Thornton oberflächlich zu untersuchen. »Scheint noch einmal gut gegangen zu sein«, sagte er zu Chefinspektor Hempshaw, der sich über seine Schulter neigte. »Sie lebt, und soweit ich das feststellen kann, ist auch nichts gebrochen.« »Innere Verletzungen?« fragte Hempshaw leise. »Kann ich nicht sagen, Kenneth. Wir brauchen sofort einen Arzt.« »Nein, keinen Arzt«, hauchte in diesem Augenblick Anne. Sie war nicht bewusstlos. Der Sturz über die Treppe hatte sie nur 98 �
halb betäubt, und die Starre kam daher, daß sie mit Entsetzen an die Prophezeiung der Wahrsagerin dachte. Sonst bringt dir der Mensch, den du liebst, den Tod! Sie liebte Howard, und sie war nach Ellmore Castle zurückgekehrt! Würde Howard sie ermorden? »Keinen Arzt«, wiederholte sie. »Bitte, bringen Sie mich auf mein Zimmer und schicken Sie Vincent zu mir. Ich komme schon wieder in Ordnung. Es ist nichts Schlimmes.« Rick und Hempshaw tauschten Blicke aus, dann zuckte der junge Privatdetektiv die Schultern, hob Anne vorsichtig hoch und trug sie hinauf. Als er sie auf ihr Bett legte, kam auch schon Vincent. Wortlos zog sich Rick Masters zurück. Unten in der Halle trat Howard Handy an ihn heran. »Ich wußte doch nicht…«, setzte er an, doch Rick würdigte ihn keines Blickes und ging stumm an ihm vorüber. Der Mann existierte für Rick nicht mehr. Eine Viertelstunde später kam Vincent herunter. »Miss Thornton schläft jetzt«, meldete er. Auch er beachtete Handy nicht. »Sie wünscht, daß das Begräbnis ihrer Tante, wie vorgesehen, um fünf Uhr stattfindet, auch wenn sie nicht daran teilnehmen kann.« »Und das Fest heute Abend?« fragte Howard Handy, aus dem Stuhl hochfahrend, in den er sich hatte fallen lassen. Vincents eisige Miene verriet deutlich, was er von dem Mann hielt. »Miss Thornton läßt sagen, daß die Einladungen aufrecht bleiben. Sie sind natürlich auch eingeladen, meine Herren«, sagte er zu Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw. »Wir werden da sein, verlassen Sie sich darauf«, versicherte Rick, und niemand konnte feststellen, ob es eine Erklärung oder eine Drohung war. * 99 �
Lady Ellmore mußte ihren letzten Weg antreten ohne das Geleit eines Verwandten. Die volle Wucht des Sturms hatte sich bereits ausgetobt, aber die Böen pfiffen noch immer über die karge Landschaft hinweg und jagten schwarze Wolkenfetzen wie Trauerschleier über das kleine Dorf Culrock an der felsigen Küste Schottlands hinweg. Das Meer tobte an den Klippen, und feiner Regen peitschte auf den langen Menschenzug nieder, der dem prunkvollen Sarg folgte, der auf den winzigen Friedhof getragen wurde. Vor dem Mausoleum der Familie Ellmore hielt der Geistliche eine kurze Andacht. Die Ansprache an die Trauergemeinde ließ er ausfallen. Rick Masters war überrascht, wie viele Menschen dem Sarg gefolgt waren. Die Kette hatte vom Dorf bis zum Friedhof gereicht, und jetzt standen die Leute dicht gedrängt vor dem weit geöffneten Gittertor, weil nicht alle auf dem umfriedeten Stück Erde Platz fanden. Ganz nahe dem Sarg standen die Dienstboten von Ellmore Castle, Vincent, der alte Butler, an ihrer Spitze. Ihnen allen war tiefe Trauer anzusehen. Anders verhielt es sich bei den Leuten aus dem Dorf. Sie waren von der Neugierde hergetrieben worden, und mehr als zwei Leute steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Rick Masters konnte sich schon denken, worüber sie sprachen. Das fehlen von Anne Thornton, ihr seltsamer Verlobter, das gab bereits genug Themen ab. Dazu kam noch, daß durchgesickert war, Pooly stünde unter Mordverdacht. Pooly, den alle Leute in der Gegend kannten und entweder mochten oder sich vor ihm fürchteten. Und dann war da noch dieser gutaussehende junge Mann mit den krausen blonden Haaren und der eleganten, unaufdringlichen Kleidung. Er kam angeblich aus London, wie 100 �
der andere, der Polizist mit dem finsteren Gesicht. Rick Masters war sicher, daß Culrock noch lange von diesem Begräbnis sprechen würde. Chefinspektor Hempshaw war aus ganz bestimmten Gründen auf den Friedhof gekommen. Er war davon überzeugt, daß Lady Ellmore eines natürlichen Todes gestorben war, auch wenn Rick Masters ein paar Andeutungen gemacht hatte, daß nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Aber nach kriminalistischen Gesichtspunkten zumindest war die alte Dame eines natürlichen Todes gestorben. Aber Hempshaw glaubte noch immer fest an die Schuld des Buckligen, und er hoffte, daß Pooly sich dazu verleiten lassen würde, auf dem Friedhof aufzutauchen. Hempshaw hatte unauffällig einige Männer, die er im Laufe des Nachmittags hatte kommen lassen, außerhalb des Friedhofes aufgestellt. Auf sein Zeichen hin sollten sie eingreifen. Die Träger hoben den Sarg Lady Ellmores an, um ihn an seinen Platz in der Familiengruft zu bringen, aber sie wurden durch einen klagenden Schrei gestört. Die Menschenmenge teilte sich und bildete eine enge Gasse, durch die der Bucklige humpelte. Er streckte beide Arme aus, als wollte er den Sarg festhalten. Auf ein Zeichen des Geistlichen setzten die Träger ihre Last wieder ab. Der Bucklige ließ sich auf den Boden sinken. Sein verwüstetes Gesicht war von unbeschreiblicher Trauer überschattet. Chefinspektor Hempshaw, der sich ein befriedigtes Lächeln nicht verkneifen konnte, wollte auf den Buckligen zugehen, aber Rick Masters packte ihn unsanft am Arm. »Sie werden vielleicht noch so lange warten können, bis er sich von Lady Ellmore verabschiedet hat!« zischte der Privatdetektiv Hempshaw ins Ohr. 101 �
Der Chefinspektor schaute Rick Masters erstaunt an, dann zuckte er die Achseln und blieb abwartend stehen. Aber es war klar, daß er den Buckligen nicht mehr fliehen lassen würde. Eisiges Schweigen hatte sich über die Versammelten gelegt. Keiner wagte es, eine Bemerkung zu machen oder zu lachen, wie sie es so oft getan hatten, wenn Pooly in ihrer Mitte erschienen war. Sie alle waren gerührt von dem echten Schmerz des Buckligen, ohne zu wissen, warum gerade er so sehr um Lady Ellmore trauerte. Auch Rick Masters wußte es nicht, aber dann warf er einen Blick in Vincents Gesicht, in dem es verdächtig zuckte. Langsam stieg in Rick ein Verdacht hoch, ein so ungeheuerlicher Verdacht, daß er ihn gar nicht zu Ende zu denken wagte. Er mußte noch einmal mit Vincent, dem Butler, sprechen. Pooly hatte sich inzwischen wieder erhoben und schaute unschlüssig um sich. Jetzt ließ sich Chefinspektor Hempshaw nicht mehr halten. Er trat auf Pooly zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach die vorgeschriebene Formel für die Verhaftung. Rick war nicht sicher, ob Pooly verstanden hatte, wessen er beschuldigt wurde, aber eines hatte der Bucklige begriffen. Er hatte seine Freiheit verloren, das letzte, was ihm noch geblieben war. * Der Sturm, der Ellmore Castle mit seiner ganzen Wucht verschont hatte, richtete weiter im Süden große Verheerungen an. Mächtige, hundertjährige Bäume wurden entwurzelt und versperrten die Straßen. Hagelkörner von der Größe von Taubeneiern überzogen die Landschaft mit einer dicken Eisschicht, die im Schmelzen reißende Wildbäche erzeugten. Die Fahrbahn an der 102 �
Küstenstraße war an mehreren Stellen unterspült und eingestürzt. Im Landesinneren sah es noch schlimmer aus. »Sie wissen, Kenneth«, sagte Rick Masters zu Chefinspektor Hempshaw, als sie auf das Schloss nach dem Begräbnis von Lady Ellmore zurückkehrten, und die schlimmen Nachrichten über das Funkgerät in Ricks Auto hörten, »Sie wissen, daß ich die Verhaftung Poolys für einen katastrophalen Fehlgriff halte.« »Rick!« Der Chefinspektor schaute seinen Freund ernst an. »Nehmen Sie Vernunft an und überlegen Sie einmal, ob ich eine andere Wahl hatte. Pooly tauchte immer bei den einzelnen Mordfällen auf, die mit Ellmore Castle und dem Familienschmuck zusammenhängen. Wir haben Beweise dafür, aber wir haben keinen einzigen Gegenbeweis, der seine Unschuld bezeugen würde. Ich konnte nicht anders handeln, als den Buckligen festzunehmen.« »Wollen Sie ihn verhören?« Rick Masters mußte sich eingestehen, daß er an Hempshaws Stelle wahrscheinlich ebenso vorgegangen wäre. »Pooly kann kaum sprechen. Ich weiß nicht, ob Sie ein vernünftiges Wort aus ihm herausbringen werden.« »Das habe ich mir auch schon überlegt«, gab Hempshaw zu. »Ich selbst werde die Untersuchung nicht ohne Hilfe von Spezialisten fortführen können. Und diese Spezialisten finde ich nur in Edinborough, vielleicht sogar erst in London. Pooly muß in die Hauptstadt.« »Und was geschieht in der Zwischenzeit mit ihm?« erkundigte sich Rick Masters. »Wollen Sie ihn auf der Polizeistation im Dorf einsperren lassen?« Hempshaw schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die Verhältnisse dort angeschaut. Ein Hinterzimmer mit einer dünnen Holztür, das ist die einzige Zelle, die der Konstabler hat. Mag ja für normale Gefangene reichen, aber ich kann das Risiko nicht eingehen, Pooly dort unterzubringen.« 103 �
»Dann bleibt er hier im Schloss, bis die Straßen wieder passierbar sind?« »Oder wird von einem Hubschrauber abgeholt werden«, bestätigte der Chefinspektor. »Auf jeden Fall kann ich ihn vor morgen früh nicht wegbringen.« »Sir!« Vincent war lautlos von hinten an die beiden Männer herangetreten. »Entschuldigen Sie, Sir, aber ich hörte Ihre letzten Worte. Wenn ich einen Vorschlag machen darf.« »Ja, bitte, wo können wir den Buckligen unterbringen, daß er uns sicher ist?« Hempshaw schien erleichtert zu sein, daß ihm der Butler nicht feindselig gegenübertrat, obwohl er den Schützling des alten Mannes festgenommen hatte. »Für Ihre Zwecke kommt nur ein einziger Raum in Frage«, sagte Vincent mit einer Feierlichkeit, die Rick Masters beinahe lächerlich erschien. »Das sind die ehemaligen Privatgemächer Lord Ellmores, Lady Ellmores Vater.« »Ziemlich vornehm, finden Sie nicht auch?« meinte Hempshaw. »Kann er dort nicht entwischen?« »Die Fenster sind vergittert, Sir«, gab der Butler Auskunft. »Und die Türen bestehen aus massivem Holz. Sie können ›Pooly‹ unbesorgt dort unterbringen.« Rick Masters fiel die eigenartige Betonung des Namens Pooly auf. Bisher hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, mit Vincent unter vier Augen zu sprechen. Er wollte das so schnell wie möglich nachholen. Der Chefinspektor war einverstanden, den Buckligen in den ehemaligen Privatgemächern des letzten Lords von Ellmore Castle einzuschließen. Er holte Pooly, der noch im Dienstwagen saß. In den Räumlichkeiten angekommen, die Pooly für die Nacht als Gefängnis dienen sollte, nahm Hempshaw ihm die Handschellen ab. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Gitter vor den 104 �
Fenstern fix waren und nicht geöffnet werden konnten, stellte er einen Mann als Wache vor die einzige Zugangstür und gestattete nur Vincent den Zutritt. »Geben Sie acht auf Pooly«, schärfte Hempshaw noch dem wachehaltenden Polizisten ein. »Er hat Kräfte, die man ihm nicht zutrauen würde.« »In Ordnung, Sir, ich werde vorsichtig sein«, versicherte der Polizist. Einigermaßen beruhigt, zog sich Hempshaw zurück. Rick Masters trieb sich noch eine Weile in der Halle herum. Er war neugierig darauf, wie der seltsame Gefangene auf Ellmore Castle von Vincent behandelt und versorgt wurde. Nach einer halben Stunde wurde Ricks Warten belohnt. Der Butler kam von der Küche her mit einem Tablett. Schon am Duft konnte Rick feststellen, daß es sich um besonders feine Speisen handelte. Allerdings fand er die Silberschalen und kostbaren Porzellanteller ein wenig übertrieben, und auch die Kristallkaraffe mit Rotwein stellte einen Missklang zu dem neuen Bewohner der Räume Lord Ellmores dar. Rick Masters folgte Vincent in einigem Abstand. Der Polizist schloss die Tür auf, und der Butler trat ein. Durch die offen stehende Tür sah Rick Masters Pooly soeben aus dem privaten Bad Lord Ellmores kommen. Der Bucklige trug frische Kleider – mit dem Wappen der Ellmores. Er war kaum wieder zu erkennen, trotz seiner krummen Gestalt. Sein Gesicht hatte etwas Feierliches an sich, als er sich an den Tisch setzte und langsam, wenn auch ungeschickt begann, das Dinner zu essen, das Vincent mit größter Sorgfalt vor ihm aufgebaut hatte. Der Butler servierte seinem ungewöhnlichen Gast mit dem Zeremoniell eines großes Empfanges. Der Polizist, der von Zeit zu Zeit einen Blick in den Raum warf, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war, grinste Rick Masters zu und tippte sich bezeichnend an die Stirn. 105 �
Rick konnte sich noch nicht entscheiden, ob er dem Polizisten zustimmen sollte oder nicht. Er dachte an seine Vermutungen, denen er bisher durch den Trubel der Ereignisse nicht hatte nachgehen können. Doch dann wurde Rick wieder abgelenkt. Es war Zeit, daß er sich umzog. In weniger als einer halben Stunde würden die ersten Gäste zu dem makabren Fest eintreffen, das beides sein konnte – ein neuer Anfang für die Schlossherrin auf Ellmore Castle, oder eine Leichenfeier für die vor wenigen Stunden begrabene Lady Ellmore. * Howard Handy hatte sich mit einer heißen und einer kalten Dusche, viel Eiswasser und pechschwarzem Kaffee wieder auf die Beine gebracht. Je nüchterner er wurde, desto mehr kam ihm zum Bewußtsein, was er angerichtet hatte. Sein Gewissen peinigte ihn, und er dachte besorgt an Anne, seine Verlobte. Konnte er es überhaupt noch wagen, sich ihr zu zeigen? Würde sie ihn nach dem unglückseligen Treppensturz für immer von Ellmore Castle verjagen? Nur sehr zaghaft näherte er sich ihrer Zimmertür und klopfte leise an. Ihre schwache Stimme antwortete und fragte, wer draußen wäre. »Ich bin es Liebling, Howard.« »Die Tür ist offen, komm rein!« Sie lag auf dem Bett und war – Howard Handy meinte, seinen Augen nicht trauen zu können – vollständig angezogen. »Anne!« rief er und lief zu ihr. Sie schaute ihn aus seltsam leeren Augen an, während er sich zu ihr auf das Bett setzte und ihre Hände ergriff. »Anne, mein Gott, kannst du mir jemals verzeihen?« fragte er 106 �
stürmisch. »Ich war vollständig betrunken, ich wußte nicht, was ich…« »Schon gut«, wehrte sie mit leiser Stimme ab. »Howard, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ich habe mich gefügt.« »Was heißt das, du hast dich gefügt?« fragte er verwirrt, weil er nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon sie sprach. »Man soll sich nicht gegen das Schicksal auflehnen, Howard. Die Alte hat vielleicht recht.« »Welche Alte?« Neue Gereiztheit brach aus Howard Handy, doch er kämpfte sie sofort nieder. »Wie fühlst du dich?« »Gut«, antwortete Anne, als spräche nicht sie, sondern ein Tonband, das sie eingeschaltet hatte. »Es geht mir gut, und ich bin bereit, unsere Gäste zu empfangen.« Howard war verblüfft, daß sie gar nicht mehr von dem Sturz sprach und ihm auch keine Vorwürfe machte. Aber andererseits erleichterte es ihn, daß sie den Empfang der einflussreichen Geldleute nicht absagte. Die Zukunft von Ellmore Castle hing davon ab, daß sie einen guten Eindruck auf diese Leute machten. Sie sollten schließlich Geld geben, um das verschuldete Schloss vor dem Hammer zu retten. Allein die Erbschaftssteuern… »Anne, ich freue mich, daß es dir gut geht, aber es fehlt noch etwas. Du bist zwar angezogen, aber…« Er deutete auf ihre Hände und auf ihren Hals. »Der Schmuck! Wir hatten vereinbart, daß du heute Abend den Familienschmuck tragen würdest.« »Ach ja, der Schmuck!« Ein sonderbares Lächeln erschien auf Annes Gesicht. »Ich werde ihn gleich anlegen. Geh hinunter und sage Vincent, er soll unsere Gäste in den Festsaal führen. Ich komme nach.« Howard Handy wollte seiner Verlobten einen Kuss geben, aber eine unerklärliche Scheu hielt ihn davor zurück. Rasch verließ er das Zimmer und eilte die Treppe hinunter. 107 �
In der Halle stand der Butler. Handy winkte ihn zu sich. »Vincent, Miss Thornton kommt gleich. Wie viele Gäste sind schon da?« »Alle, Sir«, antwortete der Butler kühl. »Sie sind vollzählig im Rauchsalon versammelt.« »Miss Thornton möchte, daß Sie sie in den Festsaal führen und sie noch für ein paar Minuten entschuldigen. Ich komme dann mit Miss Thornton nach.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Vincent entfernte sich. Gleich darauf hörte Howard Handy die kräftige Stimme des alten Mannes. Gemurmel von zahlreichen Personen antwortete ihm. Handy zog sich in den Schatten der Balustrade zurück, um nicht vorzeitig von den Gästen entdeckt zu werden. Plötzlich fühlte er sich unsicher in diesem Schloss. Es war eine andere Welt, die Welt der Gesellschaft, in die er sich hineingewagt hatte und in der er sich einen Platz durch die Heirat mit Anne erobern wollte. Aber im Augenblick hatte er Angst davor. Er atmete erleichtert auf, als er Annes leichten Schritt auf der Steintreppe hörte. Majestätisch wie eine richtige Lady kam sie die Stufen herunter. Auf ihrer nackten Haut funkelte die Rubinkette – Lady Ellmores Todeskette. * Rick Masters hatte bis zuletzt nicht daran geglaubt, daß das vielbesprochene Fest auf Ellmore Castle stattfinden würde. Zuerst hatte er angenommen, Anne Thornton würde es sich noch überlegen und in Anbetracht des Begräbnisses am Nachmittag die Einladung verschieben, dann hatte er vermutet, daß der Treppensturz die Pläne für den Abend zerstören würde. Jetzt stand er gemeinsam mit Chefinspektor Hempshaw in 108 �
dem von unzähligen Kerzen hellerleuchteten Festsaal des Schlosses. Rick konnte sich der Pracht nicht entziehen. Ellmore Castle zeigte sich von seiner besten Seite. Ringsum an den Wänden standen eiserne Rüstungen, hingen antike Waffen von hohem Wert und Ahnengemälde der Ellmores. Ricks Blick glitt über die Sammlung und blieb an einem der Bilder hängen. Der junge Privatdetektiv zuckte zusammen. Dieses Gesicht kannte er, auch wenn der Dargestellte vor Jahrhunderten gelebt hatte. Rick erkannte die Züge wieder. Pooly, der Bucklige! Ein Frösteln überkam Rick Masters. Was hatte die verblüffende Ähnlichkeit des Vorfahren der Ellmores mit dem Krüppel zu tun, der in den Privaträumen des verstorbenen letzten Lord Ellmores eingeschlossen war und unter Mordverdacht nach London gebracht werden sollte? »Das ist also der Geldadel Schottlands«, bemerkte Chefinspektor Hempshaw leise zu Rick Masters. »Es wundert mich, daß diese Leute gekommen sind, obwohl der Anlass alles andere als heiter und festlich ist.« Rick Masters musterte die Anwesenden, die in kleinen Gruppen beisammen standen und sich angeregt unterhielten. Die Herren waren in der Mehrzahl. Nur wenige der männlichen Gäste befanden sich in weiblicher Begleitung. Auch das verstärkte in Rick Masters die Vermutung, daß dieser Abend auch von Seiten dieser Leute als geschäftliche Veranstaltung und nicht als gesellschaftliches Ereignis verstanden wurde. »Jeder von denen hat einen Haufen Geld, mit dem er nichts anzufangen weiß«, flüsterte Rick nicht ohne Ironie zu Hempshaw zurück. »Lady Ellmore ist tot, und diese schlauen Geschäftsleute wissen haargenau, was auf die Erbin zukommt an Steuern und anderen Belastungen. Dazu ist das Schloss schwer 109 �
verschuldet.« »Was hat das alles mit dem heutigen Abend zu tun?« fragte Hempshaw ungeduldig. »Ich sehe keine Verbindung.« »Aber ich«, grinste Rick Masters. »Die Geier wittern ein verendendes Tier, und jeder will ein möglichst großes Stück davon erwischen und gönnt es den anderen nicht. Anne Thornton und dieser Handy, die beiden wollen Ellmore Castle wieder flottmachen, indem sie die Geldbeutel der Gentlemen anzapfen, und die Gentlemen möchten sich das Schloss oder wenigstens einen Teil der hier aufbewahrten Kostbarkeiten unter den Nagel reißen. Ist das jetzt klar?« Hempshaw konnte sich im letzten Augenblick zurückhalten, um nicht durch die Zähne zu pfeifen. »Daher also weht der Wind«, meinte er angewidert. Er wollte noch etwas sagen, doch in diesem Augenblick öffnete sich die Flügeltür zur Halle. Geführt von Howard Handy, betrat Anne Thornton den Festsaal. Sofort verstummten die Gespräche. Über ein Dutzend Augenpaare richteten sich auf die junge Schlossherrin. Anne Thornton war bezaubernd schön. In dem weichen Kerzenlicht schimmerte ihre Haut wie Alabaster. Ihr Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt, wobei sich der Bildhauer einer klassisch-griechischen Vorlage bedient hatte. Ihre reife, frauliche Gestalt wurde eng von einem dunklen Abendkleid mit langer Schleppe umhüllt. Was unten an Stoff war, hatte man oben eingespart. Das Kleid war tief ausgeschnitten und enthüllte ihren perfekten Busen. Beim Gehen wiegte sie sich in den Hüften, gerade genug, um aufreizend zu wirken, aber doch so verhalten, daß es nicht vulgär wirkte. Sie bewegte sich mit einer Anmut und Würde, die Rick Masters niemals bei ihr erwartet hätte. 110 �
Howard Handy paßte gut zu ihr – der feurige Prinzgemahl. Er nahm sich zusammen, um nicht aus der Rolle zu fallen, aber ein scharfer Beobachter merkte doch, daß er in eine Haut geschlüpft war, die ihm um einige Nummern zu groß war und die er nicht ganz ausfüllte. Anne Thornton begrüßte ihre Gäste freundlich zurückhaltend. Dann bat sie zu Tisch und übernahm den Ehrenplatz an der Tafel. Rick Masters nutzte eine Gelegenheit, sich kurz zu ihrem Ohr hinunterzubeugen. »Sie haben meinen Rat nicht befolgt«, flüsterte er. Anne schaute zu ihm hoch. »Haben Sie das erwartet, Mr. Masters?« fragte sie, und ihre Augen funkelten ihn spöttisch an. »Noch ist es nicht zu spät, Miss Thornton«, versuchte Rick, sie zum Ablegen des Schmuckes zu bewegen, aber sie schüttelte eigensinnig den Kopf. Als alle Platz genommen hatten, bewies Vincent, daß er trotz seines hohen Alters noch alles beherrschte, was er bei Lady Ellmore gelernt hatte. Er überwachte das Auftragen der Speisen und der Getränke mit einer Souveränität, mit der er Chef des besten Hotels hätte werden können. Rick Masters stellte fest, daß Vincent jetzt die gleiche Sorgfalt an den Tag legte wie zuvor, als er Pooly, dem Buckligen, sein Essen gebracht hatte. Und doch – welch ein Unterschied! Während Chefinspektor Hempshaw kräftig zulangte, konnte Rick Masters kaum einen Bissen schlucken. Bereits nach dem zweiten Gang lehnte er alles ab. Er ließ Anne Thornton keinen Augenblick aus den Augen. Gebannt hing sein Blick an der Rubinkette um ihren schlanken Hals. Warum mußte sie dieses Teufelsding tragen? Es entging ihm auch nicht, daß Vincent mit stetiger Unruhe seine neue Herrin betrachtete. Ahnte oder wußte auch er, welch grauenvolle Kräfte in dem Schmuck der Familie Ellmore steck111 �
ten? Endlich war das Essen vorüber. Rick wollte schon erleichtert aufatmen, als sich Anne Thornton erhob. Offensichtlich wollte sie eine Rede halten. Die Tischgespräche verstummten, und die Gäste wendeten der bildschönen jungen Frau die Köpfe zu. »Ladies und Gentlemen«, begann Anne. »Darf ich Ihnen sagen…« Sie konnte plötzlich nicht weitersprechen. Ihre Augen weiteten sich in jähem Erschrecken. Mit unheimlichem Grauen sah Rick Masters, wie Anne ihn anstarrte. Verstehen leuchtete in ihren Augen auf. Jetzt begriff sie, daß der junge Privatdetektiv recht gehabt hatte mit seiner Warnung. Anne Thornton röchelte, als würde sie gewürgt. Mit zuckenden Händen griff sie nach der Rubinkette. Ihre Finger umkrampften die leuchtend roten Steine. Sie nahm alle Kraft zusammen. Die Todeskette der Lady Ellmore riß. Anne hob den linken Arm, um die Rubinkette weit von sich zu schleudern, aber das Schmuckstück hing wie angeklebt in ihrer Hand. Mit einem schrillen Angstschrei taumelte Anne zurück. Angewidert starrte sie auf die Kette, deren einzelne Glieder zu grausigem Leben erwachten. Die Goldarbeit verwandelte sich in Krallen, die sich in ihre Hand bohrten und Haut und Fleisch zerfetzten. Aber das Schrecklichste waren die Rubine. Die blutroten Edelsteine verschwammen, lösten sich in neblige Gebilde auf, die sich wieder verdichteten. Ein Kopf, eine grauenerregende Fratze mit einem fürchterlichen Gebiss erschien. Eine klauenbewehrte Hand tauchte aus dem Nichts auf. Die Menschen im Saal waren zu Eis erstarrt. Auch Rick Masters und der Chefinspektor waren unfähig, sich zu bewegen. 112 �
Anne Thornton schrie und kreischte, aber sie kam von der verfluchten Kette, der Kette des Todes, nicht los. Das Gebiss! Es war Poolys Gebiss, die langen, spitzen Zähne des Buckligen! Es geschah blitzschnell, verlor dadurch aber nichts von seiner Grausamkeit. Der Kopf stieß zu wie der einer gereizten und angegriffenen Giftschlange. Die Zähne bohrten sich in den Kehlkopf Anne Thorntons. Der Schrei erstickte in einem Blutschwall, der aus dem Mund der tödlich Verletzten brach und sich auf das blütenweiße Tischtuch ergoss. Die Hand zuckte nach Annes Gesicht. Tief bohrten sich die Krallen in die Augen der jungen Frau… * Schreiend flohen die Gäste aus dem Festsaal, der sich in eine Leichenhalle verwandelt hatte. Nur Vincent, der Butler der Ellmores, blieb wie eine Statue neben der Toten stehen. In seinem ehrwürdigen Gesicht zuckte kein Muskel, aber seine Augen waren erloschen. Chefinspektor Kenneth Hempshaw erhob sich wie unter einem schweren Alptraum von seinem Stuhl. Kaum die Beine hebend, schleppte er sich auf die fürchterlich zugerichtete Leiche Anne Thorntons zu, blieb vor ihr stehen, starrte auf sie hinunter und ging dann mit gesenktem Kopf aus dem Saal. Howard Handy, Annes Verlobter, saß noch immer an derselben Stelle, hielt sein Weinglas umkrampft und schüttelte mechanisch den Kopf. Er konnte den Schrecken nicht begreifen, der sich vor seinen Augen abgespielt hatte. Auch Rick Masters stand unter einem Schock, aber er fasste 113 �
sich zuerst. Schließlich hatte er den ganzen Abend über etwas Ähnliches befürchtet, doch er hatte es nicht verhindern können. Er stand auf und ging zu Howard Handy. Als der Detektiv ihm die Hand auf die Schulter legte, schrie Handy, als habe ein Geist ihn berührt. Er stieß seinen Stuhl zurück, wodurch Rick Masters das Gleichgewicht verlor, taumelte und ihm nicht schnell genug folgen konnte. Schreiend hetzte Handy aus dem Festsaal, die Treppe hinauf bis in den zweiten Stock und den Korridor entlang. Rick lief hinter dem Wahnsinnigen her, konnte ihn aber nicht einholen. Handy wurde von dem Schock, den er durch die bestialische Ermordung seiner Verlobten erlitten hatte, zu übermenschlicher Leistung angetrieben. Am Ende des Korridors nahm ein mächtiges, fast bis zum Boden reichendes Fenster die ganze Breite der Quermauer ein. Rick schrie dem wie von Sinnen brüllenden Handy zu, er solle stehen bleiben, doch der Mann kümmerte sich überhaupt nicht um ihn. Handy schien seine Kräfte noch mehr anzuspornen, als er auf das Fenster zulief. Mit einem mächtigen Satz schnellte er sich vom Boden ab. Mit dem Kopf voran durchstieß er die Glasscheibe. Ein letzter Schrei gellte in die dunkle Nacht hinein. Dann hörte Rick Masters das dumpfe Aufschlagen des Körpers auf das Steinpflaster des Schlosshofes. * Unten in der Halle traf Rick Masters wieder auf Chefinspektor Hempshaw. »Ich konnte ihn nicht zurückhalten«, sagte er müde. »Er hatte den Verstand verloren.« »Ich habe alles gesehen«, antwortete Hempshaw. »Ich war 114 �
draußen bei meinem Wagen und gab eine Meldung über Funk durch. Was werden Sie jetzt tun, Rick?« Masters schaute den Yardmann mit leeren Augen an. »Gibt es denn noch etwas zu tun, Kenneth?« fragte er schleppend. An der Tür des Festsaales hatte sich das Personal versammelt und drängte sich ängstlich zusammen. Vincent stand noch immer neben der blutigen Leiche der unglücklichen jungen Frau. Rick Masters ging auf den Butler zu. »Jetzt müssen Sie sprechen, Vincent«, sagte er mit neuer Energie. »Es gibt keinen Grund mehr für Sie zu schweigen.« Vincent schien aus einem tiefen Traum zu erwachen. Er schaute hinunter auf die Tote, die letzte Nachkommin der Familie Ellmore, dann auf den Privatdetektiv, und endlich nickte er. »Ja, Mr. Masters«, sagte der greisenhafte Butler. »Jetzt werde ich sprechen.« * Pooly, der Bucklige, hockte mit angezogenen Beinen in dem breiten Lehnstuhl, der einst Lord Ellmore, dem Vater der verstorbenen Lady Ellmore, gehört hatte. Der Krüppel schaute sich in dem kostbar eingerichteten Raum um. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Er kannte dieses Zimmer, er kannte die Bilder an den Wänden, diesen Kamin mit dem Fell, den schwarzen, drohend wirkenden Schreibtisch, die Bücherschränke. Irgendwann hatte er alles schon einmal gesehen, aber das war vor langer, langer Zeit gewesen. Ewigkeiten mußte das her sein. Pooly wußte nicht mehr, wann das gewesen war. Vergeblich zermarterte der Krüppel sein im Laufe der Zeit träge gewordenes Gehirn. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Zuletzt hielt er es nicht mehr aus. 115 �
Ein Gegenstand fesselte seine Aufmerksamkeit. Er ließ sich von dem Lehnstuhl heruntergleiten und humpelte hinüber zu einem niedrigen Schränkchen, auf dem eine kleine Schatulle stand, ein Meisterstück der Holzeinlegekunst. Aus großen Kinderaugen starrte Pooly auf die Schatulle. Zitternd streckte er seine krummen Finger danach aus und hob sie hoch. Etwas regte sich in seiner Erinnerung, doch es nahm noch immer keine klaren Formen an. Neugierig klappte er den Deckel auf, aber beim ersten Ton des Spielwerkes fuhr er entsetzt zusammen. Die Schatulle entfiel seinen ungelenken Händen und polterte auf den Teppich. Der Deckel schloss sich nicht, und die eingebaute Feder trieb das Spielwerk an – unaufhörlich, gnadenlos. Und mit jedem Ton wurde ein Schleier der Vergangenheit weggefetzt, bis der Bucklige die ganze Wahrheit begriff. Er öffnete den Mund mit den spitzen Zähnen und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. * »Vor mehr als zweihundert Jahren spielte sich auf Ellmore Castle eine Familientragödie ab«, erzählte Vincent, der alte Butler, mit eintöniger Stimme. Er deutete auf das Bild des Mannes, dessen Ähnlichkeit mit Pooly Rick Masters aufgefallen war. »Dieser Ellmore – niemand kennt mehr seinen Namen – überraschte seine Frau in den Armen ihres Liebhabers. Er tötete beide und verfluchte alle Frauen, die entweder Blut der Ellmores in den Adern haben oder einen Ellmore heiraten würden. Er belegte den Familienschmuck mit seinem Fluch, weil seine eigene Frau sehr putzsüchtig war und die Juwelen liebte. Keine Ellmore sollte je wieder diesen Schmuck tragen können, ihn wohl aber anschauen, um dadurch noch größere Qualen zu erlei116 �
den. Die herrlichsten Juwelen zu besitzen, sie aber nicht anlegen zu können, mußte die ärgste Strafe sein.« Der alte Mann warf einen Blick auf die in einer großen Blutlache liegende Anne Thornton. »Falls aber eine Ellmore den Familienschmuck tragen sollte, würde sie der Geist dieses Vorfahren vernichten. Und ebenso sollte jedermann bestraft werden, der versuchte, den Schmuck von Ellmore Castle zu entfernen. Das ist die Legende, die wir zwar alle fürchteten, an die wir aber nicht ganz glaubten.« »Hier liegt der Beweis«, sagte Rick Masters hart. »Sie hätten früher sprechen müssen, Vincent. Vielleicht wäre Miss Thornton dann noch am Leben!« »Sie war eine Ellmore«, sagte der Butler kopfschüttelnd. »Sie kannte die Legende und sie war von Lady Ellmore gewarnt worden vor der Todeskette. Es war ihr Schicksal.« »Und jetzt, Vincent«, fuhr Rick fort, »sagen Sie mir noch, was Sie über Pooly, den Buckligen wissen.« Vincent überlegte kurz, dann nickte er. »Auch über dieses Geheimnis werde ich sprechen, weil ich nicht zulassen kann, daß ein Ellmore ins Gefängnis gesteckt wird.« »Ein Ellmore?« riefen Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw wie aus einem Munde. »Ja, ein Ellmore«, bestätigte der alte Butler. »Lady Ellmore hatte zwei Brüder, erinnern Sie sich noch, Sir? Ihr jüngster Bruder verunglückte im Kindesalter. Er wurde von einem scheuenden Pferd zertrampelt. Er war aber nicht tot, sondern schwer verletzt. Als er sich erholt hatte, stellte sein Vater, der damalige Lord Ellmore fest, daß sein Sohn ein Krüppel und außerdem schwachsinnig war. Er wollte seinen anderen Kindern und auch der Mutter diese grauenhafte Entdeckung vorenthalten, weshalb das Kind für tot erklärt wurde. Ich pflegte den Ärmsten, der in einem unbewohnten Teil des Schlosses versteckt 117 �
wurde.« Rick und Hempshaw sahen einander fassungslos an. »Die Mutter starb bald darauf, und ich mußte Lord Ellmore auf dem Todesbett schwören, niemals sein Geheimnis zu verraten. So kam es, daß aus dem Sohn des Lords Pooly, der Bucklige, wurde. Ich sorgte weiterhin für ihn, aber er hielt sich nicht im Schloss auf. Er wollte die Freiheit und lebte seit damals in den Wäldern. Er ist ein guter Mensch, in dessen Kopf sich nur eines aus seiner Vergangenheit hier auf dem Schloss eingegraben hat – die Legende um den Familienschmuck. Er wollte immer die Juwelen schützen und verhindern, daß durch sie Unglück geschieht. Er tötete den Dieb nicht, aber er legte den Schmuck zurück in sein Versteck. Er stieß auch die alte Margot nicht über die Klippen. Er brachte nur den Schmuck ins Schloss zurück. Und er tat auch dem Juwelier in Edinborough nichts. Er wollte ihn retten, kam aber zu spät.« An diesem Punkt wurde der Butler durch den Schrei aus den ehemaligen Privatgemächern des verstorbenen Lord Ellmores unterbrochen. * Der Wache haltende Polizist glaubte, seinem Gefangenen wäre etwas Fürchterliches zugestoßen. Auf diesem verhexten Schloss war ja alles möglich. Er riß die Tür auf und sah den Buckligen auf dem Boden liegen. Doch als er sich über ihn neigte, um ihm zu helfen, fuhr Pooly blitzschnell hoch und schlug den Polizisten nieder. Die Spieldose, die sein Vater in seiner Kindheit oft in Betrieb gesetzt hatte, war das auslösende Moment gewesen. Pooly erinnerte sich plötzlich an alles und begriff, welch ein Leben er geführt hatte und was noch auf ihn wartete – das totale Nichts. 118 �
Und er erinnerte sich an die Legende von dem Fluch, der auf dem Familienschmuck lastete. Pooly, der eigentlich James Ellmore hieß, überlegte nicht. Er handelte, wie es ihm seine in diesem Moment überhitzten Gefühle vorschrieben. An dem ohnmächtigen Polizisten vorbei lief er aus den Räumen seines Vaters hinaus auf den Korridor. Obwohl er seit Jahrzehnten diesen Teil des Schlosses nicht mehr betreten hatte, fand er sich sofort zurecht. Er lenkte seine tappenden Schritte auf den Festsaal zu, aus dem Stimmen drangen. Als er in der Tür erschien, verstummten die Rufe. Sein Ausbruch aus seinem provisorischen Gefängnis war so schnell erfolgt, daß Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw, die sich erst über die Richtung hatten einig werden müssen, aus der der Schrei gekommen war, die Tür noch nicht erreicht hatten. Bei Poolys Anblick blieben sie erschrocken stehen. »Sir James Ellmore!« rief Vincent mit zittriger Stimme. Ja, James Ellmore, das war der Name, mit dem man ihn früher gerufen hatte. Pooly – James Ellmore – richtete sich hoch auf. Dann sah er die tote Frau in ihrem Blut liegen. Die Legende war Wirklichkeit geworden. Der Bucklige schloss für einen Moment die Augen, dann drehte er sich um und lief die Treppe hinauf in die Bibliothek. Hinter sich hörte er die Schritte der Männer, die ihn bis jetzt gejagt hatten, aber es machte ihm nichts aus. Seine Hand fegte die Bücher aus dem Regal, dann holte er die Schmuckkassette aus der Mauernische. »Er ist in der Bibliothek!« rief Chefinspektor Hempshaw. Rick Masters versuchte, dem Buckligen den Weg abzuschneiden. Zwar war er erwiesenermaßen kein Mörder, aber Rick ahnte neues Unheil. Der Bucklige entkam. Er benutzte eine Treppe, die für das Personal vorbehalten war und die Rick Masters nicht kannte, so daß 119 �
er vor dem Detektiv wieder im Erdgeschoß war. Der Krüppel stürmte in den Festsaal. Mit einem raschen Griff riß er die Rubinkette an sich, warf sie in die Kassette zu den anderen Juwelen und sprang aus dem offen stehenden Fenster in den Hof hinein. »Sir Ellmore!« Der Ruf Vincents alarmierte Rick Masters. Er hatte den Buckligen noch immer im ersten Stock gesucht, aber der Butler stand auf dem Hof. »Sir Ellmore!« Rick lief die Treppe hinunter, wäre beinahe gestürzt und fing sich im letzten Augenblick am Geländer. Als er den Hof erreichte, humpelte der Bucklige bereits über die Wiesen, die sich zwischen Ellmore Castle und den Klippen erstreckte. »Sir Ellmore!« rief die brüchige Stimme des alten Butlers noch einmal. »Mein Gott, Sir Ellmore!« * Rick Masters konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben so schnell gelaufen zu sein. Und doch kam er dem Buckligen keinen Schritt näher. Die krummen Beine Poolys, des letzten lebenden Ellmores, schienen den Boden kaum zu berühren. Schon rückten die schwarzen Felsen heran, deren nasse Oberfläche im Mondlicht hell schimmerte. Schon hörte Rick Masters das donnernde Brausen der Brandung. Da mischte sich mit dem Tosen des Meeres ein anderer Laut. Die Schmerzensschreie des Buckligen. Die Kassette mit dem fluchbeladenen Schmuck hatte sich geöffnet. Ein Ellmore wollte die Juwelen von Ellmore Castle fortbringen, wollte sie vernichten! Das durfte nicht geschehen! Der Bucklige schrie und schlug um sich, um sich gegen seine unsichtbaren Angreifer zu verteidigen. Rick Masters beobachtete entsetzt, wie tiefe Risse in den Hals 120 �
des Gefolterten eingeschnitten wurden, wie das Blut aus dem verkrümmten Körper brach. Wenige Schritte vor dem Abgrund stürzte der Bucklige. Seine Hände hielten die Schmuckschatulle fest umklammert. Er brüllte und heulte vor Schmerzen, und doch kroch er beharrlich weiter. Rick Masters war viel zu weit entfernt, um etwas tun zu können. Jetzt erreichte der Bucklige den Rand der senkrecht abfallenden Klippen. Noch ein Ruck, und er verschwand jenseits der Kante. Mit ihm wurde der Schmuck in die Tief« gerissen, Rick Masters trat an den Abgrund heran und schaute hinunter. Das Meer hatte sie verschlungen – den letzten Ellmore und Lady Ellmores Todeskette. ENDE
121 �