Kumpel Annie von Suzanne Rand
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Kumpel Annie von Suzanne Rand
»Was hältst du davon, Annie?« Kathy sass auf einein Hocker vor ihrem Frisierspiegel und drehte sich zu mir um. »Das Make-up ist zu dunkel, stimmt's?« »Wenn du morgen als Indianer zur Schule gehen möchtest, ist es genau das richtige.« Vom Bett aus sah ich sie lachend an. Sie seufzte, nahm dann aber ein Tuch und wischte sich das Make-up wieder vom Gesicht. »Du musst doch einsehen, dass deine Haut für diese Farbe einfach zu blass ist, Kathy.« »Soll das ein Witz sein?« fragte sie mich und warf sich neben mir auf das Bett. »Meine Haut soll zu blass sein? Dass ich nicht lache. lch kann einfach nicht glauben, dass ich für ein Make-up fünf Dollar zum Fenster rausgeworfen habe, das ich dann doch nicht benutze. « »Warum hast du auch diese Farbe gekauft?« Ich konnte das nicht verstenen. »Ich glaube, ich hab' nicht darüber nachgedacht.« Sie lächeite reuevoll und fuhr sich mit den Fingern durch ihre roten Haare. Sie nahm es mir nie übel, wenn ich sie mal kritisierte. Ihre schlechte Laune verflog immer genauso schnell, wie sie aufkam. »Ich musste in Marthas Beauty Shop auf meine Mutter warten, die noch unter der Trockenhaube sass,. Und da habe ich eine Anzeige von dem Make-up in einer Zeitschrift gesehen. lch muss zugeben, dass das Mädchen sehr mager und dunkelhaarig war. Sie hatte stark hervortretende Wangenknochen, so dass sie aussah, als hätte sie schon tagelang nichts mehr gegessen!« Sie seufzte dramatisch. Nicht um sonst war Kathy die beste Schauspielerin aus unserer Klasse.
»Du bist doch gar nicht dieser Typ«, meinte ich vorsichtig. »Dir stehen zarte Farben viel besser.« »Du willst damit sagen, dass ich ein Gesicht rund wie einen Pfannkuchen und eine Haut wie eine Kalk wand habe«, korrigierte sie mich, und hatte damit den Nagel auf den Kopf getroffen. »Es ist einfach unfair, dass Tim hohe Wangenknochen und lange Wimpern mitbekommen hat und ich wie ein irischer Bauerntrampel aussehe. Es kommt bestirnmt niemand auf die Idee, dass wir Zwillinge sind.« Sie stöhnte herzzerreibend und erhob sich dann vom Bett, als hätte sie dort die letzten zwei Wochen mit einer schweren Grippe verbracht. »Komm, lass uns zu dir nach Hause gehen und unsere Matheaufgaben machen, ja? lch hätte auch wahnsinnige Lust auf ein Stück von dem Schokoladenkuchen, den deine Mutter immer backt.« Sie sah mich kritisch an, bevor sie das Licht ausknipste. »Ich schenke dir das Make-up. Dir steht's bestimmt besser. Du hast die richtige Hautfarbe.« Als ich am Abend in meinem Bett lag, musste ich an diesen letzten Satz denken. Was hiess das eigentlich, ich hatte die richtige Hautfarbe? Und wenn meine für dieses Make-up »richtig war«, war sie das auch im Allgemeinen? Kathy lachte immer über ihr Aussehen, sie bezeichnete sich selbst als »Mondgesicht« oder »Karottenkopf«. Aber sie konnte sich das auch leisten, denn sie wusste ganz genau, dass sie auf ihre Weise echt nett aussah. Sie hatte ein Selbstbewusstsein, dag ich einfach nicht begreifen konnte. Kathy gehörte zu den Mädchen, die sehr selbstsicher waren, ohne eingebildet zu wirken. Und so war ihr Zwillingsbruder Tim auch. Die beiden machten sich nie Gedanken darüber, was die anderen wohl von ihnen denken könnten. Aber so waren alle O'Haras, die Eltern und die fünf Kinder. Deshalb war ich auch schon als Kind gern bei ihnen gewesen. Sie wohnten im selben Viertel wie wir, so dass ich jederzeit hingehen konnte. Und auch heute noch, wo Molly verheiratet war und in New Jersey lebte, Andy bei der Marine war und Teresa
zur Schwesternschule ging, fühlte ich mich bei den O'Haras sehr wohl. Bei ihnen war immer was los. Bei uns zuhause war alles ganz anders. Vielleicht, weil ich ein Einzelkind bin. Aber wir sassen nie zusammen um den Küchentisch und erzählten stundenlang. Bei den OHaras war das üblich, wenn die Eltern, von der Arbeit nach Hause kamen. Wenn mein Vater nach Hause kommt, zieht er sich sofort ins Wohnzimmer zurück, und geht noch einmal die Verträge durch, die er den Tag über abgeschlossen hat. Danach liest er die Zeitung. Seit meine Mutter wieder berufstätig ist, steht sie um diese Zeit in der Küche und kocht, oder sie ist hinter dem Haus im Garten beschäftigt' Unser Küchentisch wird nur beim Frühstück benutzt. Sonst essen wir an dem grossen Mahagonitisch im Esszimmer. Wie würde sich Kathy wohl fühlen, wenn sie mit meinem Gesicht herumlaufen müsste? fragte ich mich. Sicher genauso wie jetzt auch, beantwortete ich meine Frage selber. Kathy würde sich nie Gedanken darüber machen, ob ihre haut zu blass und zu gelblich wäre, oder ob ihre Haarfarbe ein zu fades Braun hätte. Sie lebte unbekümmert mit dem was sie hatte. Und das würde ich ab sofort auch tun! Ich probierte mein Filmstarlächeln, doch obwohl ich es nicht sehen konnte, wusste ich genau, dass es nicht sehr wirkungsvoll war. Es misslang mir sowieso meistens. Und wenn ich mal jemanden damit beeindrucken konnte war ich immer viel zu nervös um es zu merken, geschweige denn auszunutzen. »Gute Nacht du tolle Biene« flüsterte ich und versuchte dann endlich einzuschlafen' Der nächste Morgen war so strahlend schön, wie er Ende September nur sein konnte. Wie üblich war Dad gerade fort, als ich runter kam, und Mom wischte schon im Wohnzimmer Staub, wo sie am Abend vorher ferngesehen hatten. Auf
meinem Platz am Küchentisch standen ein Glas Saft und ein Schälchen Cornflakes, über die ich etwas Milch goss. lch war mit meinen Gedanken aber ganz woanders. lch überlegte, ob ich Tim treffen würde, wenn ich Kathy zur Schule abholte. lch hoffte, er würde wieder mit seinem Fahrrad denselben Weg nehmen, den Kathy und ich zu Fuss gingen. Letzte Woche hatte ich dieses Glück gehabt, und heute sah ich besonders gut aus. Ich trug meine brandneue Kordhose und ein rot-weiss gestreiftes T- Shirt. Und ich hatte das néue Make-up aufgetragen. lch weiss ja nicht, wie es um Tim stand, ich jedenfalls war in bin verliebt, seit ich denken konnte. Und anstatt, dass es mit der Zeit weniger wurde, wurde es immer rnehr. Und dieses jahr war es am schlimmsten. Tim und Kathy waren den letzten Teil des Sommers mit ihren Eltern im Wohnmobil durch Kanada gefahren. Und als sie wieder zurückkamen, sah Tim besser aus als je zuvor. Aber er beachtete mich kein bisschen mehr als zu der Zeit, wo wir noch zusammen in die dritte Klasse gegangen waren. Damals litt ich noch darunter, was meine Mutter freundlicherweise als »Babyspeck,< bezeichnete. Doch dem Babyspeck folgte das Teenagerfett. lch war nie ein Fettkloss, aber bis zu diesem Sommer hätte ich eine Million Dollar dafür gegeben, wenn ich demjenigen den Hals hätte umdrehen dürfen, der das idiotische Wort »vollschlank« erfunden hatte. Nichts ist frustrierender, als wenn deine Mutter zu einer Verkäuferin in einem Geschäft sagt: »Entschuldigen Sie, wo ist hier die Abteilung für Vollschlanke?« Als wir dann in der neunten Klasse von der vertrauten Junior High School in die Castle Heights High überwechselten, musste ich der traurigen Tatsache ins Gesicht seben, dass ich ein Pummelchen war. lch sah überall die schlanken Mädchen und kam mir wie ein monströses Schlachtschiff vor. Kein Junge würde mich ansehen, solange ich mit meinen ein Meter fünfundsechzig noch sechzig
Kilo wog - warum sollte er auch? Und aus diesem Grund fasste ich den festen Entschlug, von diesem Tag an Diät zu leben. Leider ist es aber ein riesengrosser Unterschied, etwas zu beschliegen, und es dann auch durchzuhalten. Erst als der Sommer kam, schaffte ich es, meinen Plan in die Tat umzusetzen, denn in den Ferien war ich nicht mehr in der Augenseiterposition wie während der Schulzeit, in der ich meinen Kummer immer mit Süssigkeiten erstickte. Als die Schule zuende war, meldete ich mich als erstes in unserem Schwimmverein an. jeden Tag zwang ich mich auf mein Fahrrad oder ging die anderthalb Kilometer zum Schwimmbad zu Fuss. lch trieb mich eisern an, erst fünf, dann zehn und später sogar zwanzig Bahnen zu schwimmen. lch traute mich aber nicht, meiner Mutter zu erzählen, dass ich abnehmen wollte. lch hatte Angst, sie würde eine dumme Bemerkung darüber machen; zum Beispiel, dass man in meinein Alter noch nicht auf sein Gewicht achten muss oder so was Ähnliches. lhr könnt euch daher sicher verstellen. wie erstaunt ich war, als sie statt dessen eines Tages sagte: »Ich wusste ja gar nicht,dass du abnehmen wiltst, Schatz. « Sie klopfte sich auf ihren wirklich fantastisch flachen Bauch und fuhr fort: »Es könnte keinem von uns schaden, ein oder zwei Pfund abzunehmen. Ab jetzt gibt es bei uns nur noch Diätkost!« So sind eben meine Eltern. Sie sind zwar nicht so aufgeschlossen wie die O'Haras, aber sie meinen es gut. Sie sind eben zurückhaltender. Und das habe ich wahrscheinlich von ihnen geerbt. Wer weiss? Um aber zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Als Kathy und Tim Ende August aus Kanada heimkamen, war ich schlank und rank und wog nur noch fünfundfünfzig Kilo. Als Kathy zu uns kam, um sich zurückzumelden, schnappte sie vor Erstaunen nach Luft, als ich ihr die Tür öffnete. »Annie Wainwright, du siehst ja toll aus! Jetzt können wir endlich unsere Kleider austauschen!« Das war Kathy. Sie dachte immer praktisch.
jetzt brannte ich natürlich darauf, dass auch Tim mein neues lch bewunderte. Aber könnt ihr euch verstellen, was er sagte, als es dann endlich soweit war? Er mähte gerade den Rasen, als ich am Haus der O'Haras vorbei zum Supermarkt ging. Tim winkte zu mir herüber und rief: »Hallo, Annie, wie geht's? Hast du diesen Sommer was Besonderes gemacht?« .»Eigentlich nicht«, meinte ich und wartete darauf, dass endlich ein Ausdruck grössten Erstaunens in sein Gesicht trat. »Ich war nur sehr oft im Schwimmbad. « »Kathy hat dir bestimmt schon von unserer Fahrt erzählt«, fuhr er fort, als wäre ich immer noch der selbe Fettkloss wie früher! »Mann, war das Klasse!« »Hm«, rnurmelte ich und hatte nicht den blassesten Schimmer, was ich noch sagen sollte. »Das freut mich wirklich. « lch gab ihm noch die Zeit, die er vielleicht brauchte, um sich ein Herz zu fassen und zu sagen, wie hübsch ich aussah. Doch nichts dergleichen geschah. Also murmelte ich noch so was wie »Bis dann mal«, drehte mich um und ging. Tim hatte mich gar nicht richtig angesehen. Als ich nun an diesem Morgen die Strasse zum Haus der O'Haras entlangging, um Kathy abzuholen, überlegte ich, ob Tim mich überhaupt schon mal richtig wahrgenommen hatte. lch hatte das Gefühl, dass als Antwort nur ein vernichtendes Nein in Frage kam. Als ich schon beinahe bei den O'Haras angekommen war, sah ich, dass Tim vor der Garage damit beschäftigt war, seinen Fahrradschlauch aufzupumpen. Ich ging ein bisschen näher und hoffte, dass er mich nicht bemerken würde. lch beobachte Tim gern, wenn er es nicht weiss. Tim hat wunderschönes, lockiges braunes Haar und ist sehr gross und schlank. Als wir noch kleiner waren; waren Tim und Kathy immer gleich gross gewesen. In dem Sommer aber, in dem wir dreizehn wurden, schoss er plötzlich in die Höhe. Jetzt war er über einen Meter achtzig gross. Dagegen war Kathy mit ihren ein Meter fünfundsechzig nur ein kleiner Wicht, aber ein sehr zierlicher.
Von meinem Beobachtungsposten aus konnte ich jede Sommersprosse in Tims Gesicht seben. Mit seiner Sonnenbräune sah er wie ein Indianer aus. Das einzige, was Kathy und Tim als Zwillinge auswies, waren die mit Sommersprossen übersähten Stubsnasen, und die glänzenden grünen Augen. Tim musste meinen Blick in seinem Rücken gespürt haben, denn als ich jetzt langsam die Äuffahrt hinaufging, blickte er von seinem Fahrrad auf. Wenn ihr aber glaubt, er hätte auf mich gewartet und mit mir gesprochen, dann habt ihr euch gewaltig getäuscht. Statt dessen schwang ersich auf sein Rad, und kam die Auffahrt hinunter. »Hallo, Tim!« rief ich, als er kurz vor mir war. »Hallo, Annie! Ist das, heute nicht ein toller Tag?« Er sah mich offen und freundlich an, und ich wünschte nür, ich könnte mit ihm so unbekünimert reden wie sonst auch. Aber das war einfach unmöglich. Er war eben nicht nur Tim O'Hara, Kathys Bruder. Er war ein junge, der junge! Meine Zunge fühlte sich an wie Leder, und ich konnte mich einfach nicht dazu bringen, das zu sagen, was ich gern gesagt hätte. lch versuchte, lächelnd zu nicken. Aber ich wusste, dass mein Lächeln so aussah, als ob ich Angst hätte, mir würden jeden Moment die Zähne ausfallen, Mein Filmstarlächeln hatte mich mal wieder vollkommen im Stich gelassen. Tim hielt dann neben mir an, und nahm einen Fuss vom Pedal, um sich abzustützen. »Mein Hinterreifen hat wahrscheinlich ein Loch«, meinte er dann mehr zu sich selbst. »Ich habe ihn gerade aufgepumpt, aber er fühlt sich schon wieder weicher an. Es ist sicher wieder Luft raus.« »Ich habe gesehen, das du das Rad aufgepumpt hast.« ich wusste genau dass diese Bemerkung nicht besonders geistreich war, aber ich wollte Tim so lange wie möglich aufhalten. lch ging einen Schritt näher und betrachtete mir das Rad, als wäre ich ein Fahrradspezialist. »Es sieht aber ganz okay aus.«
»Aber jetzt muss ich mich beeilen.« Er grinste mich an, und ich lächelte total Verkrampt zurück. Castie Heights High lag nur acht Häuserblocks entfernt. Beeilen brauchte er sich sicher nicht. In diesem Moment hörte ich die Haustür zuschlagen. Ich überlegte. was ich noch sagen könnte, bevor Kathy bei uns angelangt war. »Vielleicht solltest du das Rad in die Werkstatt bringen und nachsehen lassen.« »ja, dieser Tage mal.« Tirn zuckte mit den Schultern, winkte mir noch mal zu, schwang sich in den Sattel und weg war er. , »Tut mir leid, dag es so lange gedauert hat!« Kathy war immer noch damit beschäftigt, irgendwelche Papiere und Bücher in ihre Schultasche zu stopfen, als sie auf mich zukam. »Ich wusste nicht, wo ich gestern abend meine Mathesachen hingelegt hab. Aber vielleicht werde ich doch noch irgendwann einmal ordentlich. « Aber sie wusste genauso gut wie ich, dass sich diese Hoffnung nie erfüllte. Diese Schusseligkeit gehörte einfach zu Kathy. Und manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie diese Eigenschaft auch absichtlich zur Schau stellte, damit die anderen vergassen, dass sie eigentlich eine sehr gute Schülerin war. Während wir zur Schule gingen, redeten sie ununterbrochen. »Und dann hat Mom gesagt«, jammerte sie, »wenn ich bis morgen abend mein Zirnmer nicht aufgeräumt habe, darf ich am Samstag nicht ins Kino. Dabei brauche ich dafür bestimmt Tage!« Ich nickte zwar, war mit meinen Gedanken aber ganz woanders. Mir ging dauernd mein letzter Satz im Kopf herum, den ich zu Tim gesagt hatte. »Vielleicht solltest du das Rad in die Werkstatt bringen und nachsehen lassen.« Da hatte ich die ganze Zeit darauf gewartet, mit Tim sprechen zu können, und dann fiel mir nur dieser Schwachsinn ein! Soviel Dummheit konnte selbst meine bessere Figur nicht wettmachen. Sobald wir in der Schule waren stopfte ich meine Sachen in mein Schliessfach und rannte dann in den zweiten Stock. Es
klingelte gerade zum erstenmal, als ich unsere grosse, muffig riechende Bücherei erreichte. Mrs. DeWitt, unsere grauhaarige Bibliothekarin, sah mich anerkennend an, während sie den Ausgangsstempel auf die Innenseite des Buches setzte, das ich mir ausleihen wollte. Es hiess: »Eine Reise durch Kanadas Wildnis«. Mrs. DeWitt wurde von uns Schülern nur »Backpflaume« genannt. Diesen Namen hatte sie bekommen, weil ihr Gesicht furchtbar faltig und ausgetrocknet aussah. »Bitte, Miss Wainwright«, sagte sie, und schob mir das Buch über die mit Linoleum beklebte Theke hin. Sie hatte die merkwürdige Angewohnheit, nie jemanden beim Vornamen zu nennen. Sogar von ihrem Mann sprach sie nur als »Mr. DeWitt«. »Es ist schön, dass es doch noch Schüler gibt. die sich weiterbilden wollen und dafür sogar schon vor der ersten Stunde in die Bücherei kommen.« Sie schloss die Augen, als hätte sie Kopfschmerzen. »Zu meiner Zeit wussten die jungen Leute gute Bücher noch zu schätzen. Aber damals gab es ja auch kein Fernsehen. « »Danke, Mrs. DeWitt.« Hastig nahm ich das schwere Buch und machte, das ich wegkam. lch hatte wirklich keine Lust, mir wieder mal eine von Mrs. DeWitts Predigten über die Droge Fernsehen anzuhören. Ausserdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil sie mich jetzt in einem volkommen falschen Licht sah. lch hatte nicht im entfemtesten daran gedacht, mich weiterzubilden, als ich mir das Buch auslieh. Das Buch sollte nur dazu dienen, Tim mit meinem Wissen über Kanada zu imponieren. Ich wollte den Bruder meiner besten Freundin unbedingt dazu bringen, dass er sich mit mir verabredete. Die Chance, mein neu erworbenes, Wissen über Kanada bei Tim anzubringen, bot sich mir schon am nächsten Tag. Als ich zu den O'Haras kam, um Kathy abzuholen, stand sein Fahrrad nicht an seinem üblichen Platz. Daher dachte ich, Tim wäre schon zur Schule gefahren. lch war wahnsinnig enttäuscht, dag ich nicht mit ihm reden konnte, denn ich
hatte mir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, um das Buch über Kanada zu lesen. Und das solte nun alles umsonst gewesen sein? Tim und ich gingen zwar beide in die zehnte Klasse, wir hatten aber nur einen Kurs gemeinsam. Castle Heights war eine grosse Schule, die grösste in Philadelphia; es war daher nicht verwundlich, dass ein Teil unserer Klasse schon zum fünften Male die amerikanische Geschichte durchnahm. Mr. Petrowski, ein unfreundlicher alter Langweiler, der uns darin unterrichtete, bevorzugte die alphabetische Sitzordnung. Und das bedeutete für mich, dass Tim in der Mitte der dritten Reihe sass, und ich auf dem vorletzten Platz ganz hinten, schräg vor Albert Zimmer verbannt worden war. Während ich nun mit Kathy zur Schule ging, über legte ich mir, dass ich mein Buch über Kanada Sonntag abend noch einmal lesen wollte. Als ich an diesem Punkt angelangt war, riss mich Kathy aus meinen Gedanken. Wir waren nur noch einen Block von dein grossen grauen Granitgebäude entfernt, das wir SchüIer spasseshalber das Castle Heights Bezirksgefängnis nannten. Kathy schlug den Ton an, der eine sensationelle Nachricht versprach. »Ich habe ganz vergessen, dir davon zu erzählen, Annie! Ich kann es kaum glauben!« »Was kannst du kaum glauben?« fragte ich, denn ich wusste genau, wie sehr Kathy darauf brannte, mir das zu erzählen. Meine Frage machte für sie die Geschichte nur noch interessanter. lch kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie die Spannung gern hochschraubte, um das Beste aus einer Neuigkeit herauszuholen. Deshalb bohrte ich auch nicht nach Einzelheiten. »Weisst du denn nicht, was heute für ein Tag ist?« fragte sie geheimnisvoll. lch zuckte mit den Schultern. »Freitag. Aber den haben wir doch jede Woche einmal.« »Ach, das meine ich doch nicht!« Kathys Stime klang ärgerlich. lch betrachtete sie genauer, um herauszufinden, was los war. Sie trug ein braves Marinekleid und dazu rote Ballerinenschuhe.
Kathy hatte mir mal gesagt, dass diese Sachen zu ihrer Schauspielausrüstung gehörten. lch schloss also haarscharf, dass die weltbewegende Neuigkelt etwas mit dem Theaterkurs in unserer Schule zu tun hatte ich wollte Kathy aber noch etwas zappeln lassen. »Ach ja, jetzt weiss ich, was los ist!« ich tat so, als hätte ich einen Geistesblitz. »Du wolltest doch heute dein Zimmer aufräumen, dämit du morgen ins Kino gehen kannst, stimmt's?« Kathy drehte voller Verzweiflung die Augen zum Himmel. »Sei doch nicht so schwer von Begriff, Annie! Das habe ich gestern abend schon gemacht.« »Dann passe ich«, meinte ich gleichgültig, als wir das Schulgebäude betraten. Wir drängelten uns zwischen den Schülergrüppchen hindurch, die darauf warteten, dass es zur ersten Stunde schelste. »Unser Theaterkurs hat heute Probe!« Kathy nahm meinen Arm, und ich spürte, dass sie vor Aufregung zitterte. »Dieses Jahr ist >Unsere kleine Stadt< dran. Meinst du nicht auch, dass ich eine tolle Emily wäre?« lch konnte nicht anders, ich musste lachen. »Ich glaube, Emily war ein bisschen anspruchsloser als du«, erinnerte ich sie. Als ich aber sah, wie enttäuscht Kathy war, versuchte ich wieder einzulenken. »Aber abgesehen davon, wirst du bestimmt irre gut sein. « »Ach, für diese Rolle würde ich sterben«, seufzte sie, wirkte dabei aber ganz zufrieden. So ist Kathy eben die unwichtigste Sache der Welt kann sie todtraurig machen, aber eine Sekunde später hat sie sie schon wieder vergessen. Vielleicht ist es das, was man als Künstlermentalität bezeichnet. lch dagegen bin ernster, und nicht so spontan, was aber sicher ganz gut ist, wenn man Reporterin werden möchte. Mich kann nichts so schnell glücklich aber auch nicht unglücklich machen. Wenn mich aber mal eine Sache gepackt hat, dann kann mich nur noch ein Erdbeben davon abbringen.
Die Schulglocke klingelte. »Ich muss mich beeilen«, meinte ich hastig. Kathys Klasse lag im Erdgeschoss neben der Aula, meine aber am Ende eines knarrenden Korridors im zweiten Stockwerk. Das war der alte Teil unserer Schule, der in den fünfziger Jahren gebaut worden war. »Ich wolite dir nur sagen, dass ich wegen der Probe heute abend nicht mit dir nach Hause gehen kann!« rief Kathy noch hinter mir her. »Und in der Mittagspause muss ich meine Szenen üben!« »Okay!« rief ich über die Schulter zurück. »Ruf mich heute abend an und erzähl mir, wie's war. Und viel Glück!« Es machte mir nichts aus, dass Kathy etwas anderes vorhatte. Es war nicht so, als hingen wir immer wie die Kletten zusammen. Nur in den ersten acht Klassen waren wir wirklich unzertrennlich gewesen. Seit wir aber in den höheren Klassen waren, hatte jede von uns eigene Freundschaften geschlossen, und auch unterschiedliche Interessen. Kathy lebte für ihre Aufführungen und ihren Theaterkurs, und ich hatte meine Arbeit beim »Türmchen«, unserer Schülerzeitung. lch war, echt stolz darauf, bei dieser Zeitung mitarbeiten zu können. Genau wie jeder andere Schüler der vorletzten Klasse, teilte man mir anfangs die einfacheren Arbeiten zu. lch verteilte die Fahnenabzüge in den einzelnen Klassen und las die Korrekturen. Nach einer Weile aber hatten mir Deanna Hackett, die Chefredakteurin und Schülerin der letzten Klasse, oder Mr. Jensen, unser Vertrauenslehrer, wichtigere Aufgaben übertragen. Damals schuftete ich dafür, als wäre mir der Pulitzer Preis versprochen worden. An diesem Tag ass ich mit Carol Deutsch zu Mittag, und später war ich froh, allein nach Hause gehen zu können. Am nächsten Abend wollte ich mir mit Kathy den neusten Woody Allen Film ansehen, so dass ich ihre Gesellschaft ganz gut für einen Nachmittag entbehren konnte. Ich war schon anderthalb Strassen von unserer Schule entfernt, als ich kurz vor mir Tim sah. Und er war auch allein!
Ich beeilte mich, ihn einzuholen, lief aber so leise, dass er mich nicht hören konnte. Ich wusste, dass er den Rest des Weges mit mir zusammen gehen würde - ob er Lust hatte oder nicht. Tim wäre nie so unhöflich gewesen und hätte mir gesagt, dass er lieber allein nach Hause gehen wollte. Ich schlich mich immer näher an Tim heran. und er hörte mich auch dann nicht, als ich schon dicht hinter ihm war. Und mir fiel nichts anderes ein, um mich, bemerkbar zu machen, als zu hüsteln und über das Pflaster zu schlurfen, Tim dréhte den Kopf in meine richtung und warf mir einen flüchtigen Blick aus den Augenwinkein zu. Als er mich erkannte, erhellte sich sein Gesicht. »Hallo, Annie! Warum gehst du denn heute allein nach Hause?« Aber bevor ich ein Wort sagen konnte, beantwortete er seine Frage selber. »Ach, stimmt, Kathy hat heute ja Probe?« »ja. « Ich kicherte und merkte, dass mein Gesicht ganz heiss wurde, weil Tim so nah bei mir war. Er passte sich meinem Schritt an, und ich ging so langsam wie möglich, um mein Zusammensein mit Tim noch in die Länge zu ziehen. »Kathy hat gesagt, sie wird die perfekte Emily für >Unsere Kleine Stadt< sein«, fügte ich noch hinzu und betonte die Worte so, wie Kathy'es auch immer tat. Tim grinste schief, und mein Herz schlug so wild, dag ich es gegen meine Rippen pochen spürte. »Die Kleine wird noch mal am Broadway landen«, meinte er. Es klang, als wäre er Kathys stolzer Vater und nicht ihr nur vier Minuten älterer Zwilling. »Sie war ganz aus dem Häuschen, als sie erfuhr, dag wir im Sommer nach Kanada fahren würden und sie daher nicht ihren Aushilfsjob am >Kleinen Theater< antreten konnte.« Das war das beste Stichwort, das Tim mir geben konnte. Und diese Gelegenheit lieg ich natüriich nicht ungenutzt verstreichen. »Also, ich würde schrecklich gern mal nach Kanada fahren«, log ich. »Die Sonnenuntergänge in Banff sollen ja traumhaft sein. lch sitze gern da und beobachte, wie die Sonne hinter den ... « Ich überlegte krampfhaft, wie es in dem Buch weiterging. »Wie sie hinter den
Tannenspitzen untergeht. Und das Licht wird dann rot und golden von der Wasseroberfläche des Sees refiektiert. « »ja, diesen Teil von Kanada möchte ich auch mal kennenlernen«, meinte Tim begeistert. »Leider sind wir nicht so weit nach Westen gekommen. Wir haben nur die Grossstädte besucht. Wir waren sogar in Montreal, das war echt super!« Mein wissendes Lächeln erstarb. Ich war von meiner Idee, mich über Kanada zu informieren, so begeistert gewesen, weil ich dann endlich ein Thema hatte, über das ich mit Tim reden konnte, dass ich keinen Gedanken an das verschwendet hatte, was Kathy mir über ihre Reise erzählt hatte. Und in meinem Buch hatte nichts über die Grossstädte Kanadas gestanden sie waren noch nicht einmal erwähnt worden! »Willst du darmit etwa sagen, dass du die Wildknis Kanadas nicht kennst?« fragte ich. Ich wusste, dass ich einen echt verstörten Eindruck machte, denn Tim sah mich ganz merkwürdig an. »ja, aber eines Tages werde ich mir diesen Teil auch ansehen«, erklärte er in einem Ton, als wollte er ein verschrecktes Kind beruhigen. Ich kam mir jedenfals ganz schön blöd vor. Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her, und ich überlegte die ganze Zeit, was ich sagen sollte. Gott sei Dank fing Tim als erster an zu reden. »Ich musste mein Rad in der Schule lassen«, sagte er, um zu erklären, warum er zu Fuss ging. »Der Reifen ist hin. Und einen neuen konnte ich mir noch nicht kaufen, weil ich mein Geld von Armor's erst am Montag kriege.« »Arbeitest du immer noch da?« Armor's war das Lebensmittelgeschäft in unserer Nachbarschaft. Tim jobbte dort schon seit einem jahr, wenn die Schule aus war. »Nur noch Samstagnachmittag und Donnerstagabend. Die übrige Zeit nach der Schule branche ich für Basketball. Im vorigen Schuljahr habe ich mich für die Unimannschaft aufstellen lassen.«
»Das ist ja toll!« lch hatte mal irgendwo gelesen, dass man Begeisterung zeigen,sol, wenn andere von ihren Plänen und Träumen erzählen. »Na ja.« Tims Stimme klang nicht sehr glücklich. »,Es ist bestimmt nicht mehr toll, wenn meine Mutter das rausbekommt. Die Ausscheidungsspiele fangen im nächsten Monat an. Und Mom hat mehr als einmal behauptet, es wäre für mich besser, wenn ich mit dem Basketball aufhöre.« »Warum denn das?« Er zuckte mit den Schultern. »Meine Noten sind im letzten Jahr schlechter geworden, genau seit dem ich im junioren Team der Uni spiele. Ich hab versucht, Mom davon zu überzeugen, dass so was in diesem Jahr nicht mehr passiert, weil ich nicht mehr so oft bei Armor's arbeite. Aber sie hat ihr Okay noch nicht gegeben.« Er seufzte, genauso theatralisch, wie Kathy es auch konnte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie fertig mch das macht, wenn sie nein sagt.« Es wird Zeit, dassch mal meinen Scharfsinn als Reporterin gebrauche, dachte ich. Ich war zwar viel mehr daran interessiert, mich so lange wie möglich mit Tim zu unterhalten, als das Problem zu lösen, wie er bei seinem Basketballteam bleiben konnte. Aber ich war auch nicht völlig egoïstisch. Tim sah so niedergeschiagen aus bei dem Gedanken, dag seine Mutter ihm Schwierigkeiten machen könnte, dass ich ihm einfach helfen musste. »Mach doch ein Geschäft mit ihr«, schlug ich so lässig vor, als würde ich täglich einem halben Dutzend Jungen Ratschläge erteilen. »Wie meinst du das?« Tim blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen und sah mich an. »Was für ein Geschäft?« »Eben ein Geschäft«. sagte ich cool und ging weiter. So sah Tim nicht, dag> ich innerlich flatterte. Woher hatte ich bloss die Nerven, Tim O'Hara klar zu machen, wie er mit seiner Mutter umzugehen hatte! »Bitte sie doch einfach, dir eine Frist von zwei Monaten zu geben.« ich ging weiter und bemühte mich, meine Stimme klar und ungezwungen klingen zu lassen. »Wenn deine Noten bis dann nicht besser geworden sind, verzichtest du
ohne ein weiteres Wort auf deinen Basketball. Sind sie dagegen gut, muss sich deine Mutter damit einverstanden erklären, dass du weiterspielst.« Wortlos ging Tim neben mir her. Und ich hatte Angst, ihn anzusehen. Ich war ziemlich sicher, dag ich auf seinem Gesicht lesen konnte, für wie dumm er mich hielt. Als ich dann aber doch den Mut aufbrachte, aufzublicken, nickte er zu meiner grenzenlosen Verwunderung vor sich hin und lächelte. »Keine schlechte Idee!« murmelte er endlich. »Wirklich nicht schlecht!« Wir hatten mittlerweile das Haus der O'Haras erreicht, und als wir stehenblieben, betrachtete Tim mich strahlend mit seinen grünen Äugen. lch hatte das Gefühl, als sähe er mich zum erstenmal so, wie ich wirklich war. Endlich! Wisst ihr eigentlich, wie lange ich darauf gewartet hatte? »Vielen Dank, Kleines.« Ich platzte fast vor Glück, als er mir leicht auf die Schulter klopfte. »Ich werd' dir erzählen, ob's geklappt hat.« Er wollte schon gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu mir um. »Ubrigens, hab ich dir schon gesagt, wie toll du in letzter Zeit aussiehst? Echt irre.« Dabei wurde er ein bisschen rot. Dann winkte er mir noch einmal zu. »Und vielen Dank für deine Hilfe.« Den Rest des Weges schwebte ich wie auf Wolken, mindestens zwanzig Zentimeter über der Erde - das Gefühl hatte ich jedenfals. Nicht mal die Tatsache, dag Tim mich »Kleines« genannt hatte, nahm seinen Worten den Glanz. Ich fühlte mich so beschwingt und glücklich, als hätte er mich »Schatz« genannt. Auch war ich Tim das erste Mal, seit wir,uns kannten, selbstbewusst gegenübergetreten - ich war kein bisschen unsicher gewesen, worüber ich mit ihm reden solite. Und das hatte etwas genützt. Tim hatte endlich gemerkt, dag ich eine ganz neue Annie Wainwright war!
Ich war Jungen gegenüber nicht immer so schüchtern gewesen. Als ich in der dritten und vierten Klasse war, war ich ganz schön wild. Kathy ebenfalis, und
deshalb wurden wir auch so gute Freundinnen. Wir beide hatten Tim und seine Freunde immer angefleht, doch mit uns Baseball, Basketball oder Fugball zu spielen. Und als wir in der sechsten Klasse waren, wollten wir ewig mit Andy O'Hara an dem alten Weiher an der Route 12 fischen gehen. Das machte uns mehr Spass, als bei Moly und Theresa zu sitzen, die über nichts anderes redeten als über Make-up, Schallplatten und Jungen, was wir damals natürlich unheimlich blöde fanden. Als ich zwölf wurde, schenkten mir meine Eltern zum Geburtstag eine neue Uhr, einen knallig blauen Ski-Parka, den ich mir gewünscht hatte, und fünfzig Dollar, mit denen ich machen konnte, was ich wollte. Und danach hielt mir Mom einen entsetzlich langen Vortrag über die Pubertät. Vieles wusste ich ja schon, zum Beispiel, dass ich bald meine Periode bekommen würde, und dass sich dann auch mein Körper veränderte. Mom drückte es so aus, dass ich »nun eine junge Frau« würde. Dabei machte sie das Gesicht, das sie immer bei besonders ernsten Themen aufsetzte. Meiner Mutter war damals nicht besonders wohl zumute. Sie wirkte sehr aufgeregt und schien Angst zu haben, dass uns jemand belauschen, und ihre Erläuterungen falsch finden könnte. Es machte mich nervös, wie sie dauernd fragte: »Verstehst du, was ich meine, Annie?« und dan sofort weiterredete, ohne dass ich überhaupt eine Chance gehabt hätte, zu antworten. Vielleicht fürchtete sie, ich könnte ihr eine peinliche Frage stellen. Als ich dann endlich doch mal einen Satz loswerden konnte, sagte ich deshalb nur: »Ist schon gut, Mom. Mrs. Benedix hat uns schon in der Schule alles erklärt. Kann ich jetzt meine Hausaufgaben machen?« Meine Mutter liess mich gehen, und ich bin sicher, sie war mindestens genauso erleichtert wie ich, dag unser Gespräch beendet war. Das Problem war nur weder meine Mutter noch Mrs. Benedix hatten ein Wort darüber verloren, warum die Jungen plötzlich unsere Feinde geworden waren
Oh, es war nicht so, dass ich sie für Ungeheuer hielt - das nicht. Aber je älter ich wurde, desto mehr merkte ich, wie anders sie waren. Und das war den Jungen natürlich auch nicht verborgen geblieben. Sobald Tim und seine Freunde uns sahen, taten sie ihr Möglichstes, uns wieder loszuwerden. So war Andy zwar nicht, aber für ihn waren wir nur Kinder, und das war auch nicht besser. Als ich dann zur Junior High School ging, konnte ich mit einem Jungen keine zwei Worte wechseln. Es sei denn, es War einer wie Marshall Todman, der Mädclhen gar nicht bemerkte - und es wahrscheinlich auch nie tun wird. War es aber ein netter Junge wie Tim oder Billy Ray, in deren Nähe brachte ich nicht einen einzigen vernünftigen Satz zustande. Dann war mein Mund wie zugekiebt. In der neunten Klasse entschuldigte ich diese Unsicherheit Jungen gegenüber mit meinem Gewicht. lch redete mir ein, ich wäre so dick, dass sich mit mir bestimmt nie ein, Junge verabreden wolte. Ich versuchte auch zu ignorieren, dass ich rot wurde und anfing zu stottern, wenn ein Junge auftauchte. Nur eines konnte ich nicht verdrängen - das war mein sehnlicher Wunsch, endlich einen Freund zu haben. Ich wulsste, dass die anderen Mädchen sich schon öfter mal mit Jungen verabredet hatten - zum Beispiel zum Tanzen oder zu irgendwelchen Sportveranstaltungen. Kathy hatte in der neunten Klasse schon zehn Verabredungen. Und einmal hat sie mir erzählt, dass sie mit Kevin Thomas ein Footballpiel besucht hat. Und während der zweiten Halbzeit haben sie sich auf dem Parkplatz geküsst. »Er küsst einfach toll, Annie!« schwärmte sie mir vor, und lächelte dabei so geziert, dass ich fast zuviel gekriegt hätte. »Es sollten mehr Jungen wissen, wie man richtig küsst, findest du nicht auch?« lch nickte ohne weiteren Kommentar, denn Kathy sollte auf gar keinerr Fal wissen, dass ich noch nie in meinem Leben von einem Jungen geküsst worden war.
Mittlerweile hatten einige von den Mädchen, mit denen ich zusammen war, ihren festen Freund. Sandy Collins trug Doug Ruffners Siegelring an einer schönen goldenen Kette urn ihren Hals. Und wenn sie frei hatten wich sie nicht von seiner Seite, als wären sie zusammengeschweisst, oder sie schmiegte sich an ihn, als herrschten bei uns in der Schule Temperaturen unter Null Grad. Sandys Gesellschaft in der Cafeteria wurde uns nur noch deshalb zuteil, weil die Schulleitung doch wahrhaftig diese grosse Liebe übersehen hatte, so dass Doug und Sandy zu verschiedenen Zeiten Mittagspause hatten. Und jetzt, wo ich endlich meine überflüssigen Pfunde abgehungert hatte, schlug ich mich immer noch mit meiner Schüchternheit herum. Noch immer konnte ich mit keinem netten Jungen ein normales Wort reden. Und trotzdem war es mir gelungen, mit Tim O'Hara ein Gespräch zu führen - und das dann auch noch so cool, dass, er bestimmt gedacht hatte, ich ginge mindestens zweimal wöchentlich mit gutaussehenden Basketballspielern nach Hause. Ich riss mich in den nächsten Tagen zusammen, um ,nicht ununterbrochen an dieses Erfolgserlebnis zu denken. Ich war wahnsinnig verknalt in Tim, und ich war so stolz darüber, mich richtig mit ihm unterhalten zu haben, als wenn er der Präsident von Amerika gewesen wäre. Aber ich wollte mich nicht zu sehr in diese Begeisterung hineinsteigern, denn es konnte leicht sein, dass ich mich nie mehr so lässig mit ihm unterhielt. Trotzdem arbeitete ich hart an mir, um endlich diese schreckliche Schüchternheit loszuwerden. Und dann geschah ohne Vorwarnung eine Woche später etwas, das mein Leben völlig umkrempelte. Und Tim hätte das angeleiert. Inzwischen hatte ich Kathy natürlich ausgehorcht und erfahren, dass Mrs. O'Hara mit Tims »Geschäft« in Sachen Basketball einverstanden gewesen war. Ich muss zugeben, dass ich in diesem Moment sehr mit mir zufrieden war. Wir hatten eine so sonnige Oktoberwoche, dass man mit der ganzen Welt versöhnt werden konnte. Sogar meine Eltern waren fröhlicher als sonst. Dad war zum Verkaufsleiter seiner Versicherung befördert worden, und tat so, als hätte er
währe Wunder vollbracht. Eines Abends kam er mit einer Flasche Champagner nach Hause, und überredete Mom, dass ich nach dem Essen ein Glas mit ihnen trinken durfte. Auch Kathy war in dieser Woche besonders energiegeladen, obwohl ein anderes Mädchen die Rolle der »Emily« in »Unsere Kleine Stadt« bekommen hatte. Kathy spielte eine Nebenrolle, die für sie aber dadurch aufgewertet wurde, dass nun Kurt Mauer ihr Partner war. »Eines Tages wird man unsere Namen nebeneinander auf riesigen Plakaten sehen, Annie.« Sie seufzte aus tiefstem Herzen. »Kurt und Kathy ... Kathy und Kurt ... Mit seinen blonden Haaren und seinen breiten Schultern sieht er wie ein griechischer Gott aus!« Es war wirklich nicht zu übersehen, dass sie verknalt war. Ich war aber nicht neidisch, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, den Plan auszuarbeiten, den ich mir ausgedacht hatte. Da ich meine Schüchternheit unbedingt loswerden wollte, hatte ich beschlossen, dass ich ab jetzt jeden Jungen. den ich auf dem Schulhof traf und kannte, mit einem lauten Hallo begrüsste. Und wenn es möglich war, würde ich mich auch noch kurz mit ihm unterhalten. Am Anfang hatte ich noch ganz schöne Hemmungen, aber je öfter ich mich überwand, desto weniger ablehnend kamen mir die Jungen vor, und desto leichter fiel es mir. Und als ich eines Tages in die Cafeteria kam rief Tim mich an den Tisch, an dern er mit seinen Freun- den sass. »Hallo, Annie! Kom doch bitte mal für eine Sekunde her!« Ich erkannte seine Stimme, noch bevor ich mich zu ihm umgedreht hatte. Die beiden. Freunde von ihm kannte ich auch. Der eine hiess Kenny Farrell und der andere Barry Coldstein. Da sie mich beobachteten, konzentrierte ich mich darauf, mit festen, energischen Schritten zu ihrem Tisch zu gehen. Sie sollten nicht merken, wie wackelig meine Knie in Wirklichkeit waren.
Seid vorsichtig, Mädchen, jetzt komme ich, dachte ich übermütig, als ich an dem Tisch vorbeiging, an dem Dee Caldwell und Marcy Cummings sagen. Schadenfreude stieg in mir auf, als ich das masslose Erstaunen sah, das sich auf Mareys Gesicht breitmachte. Sie hatte ihren Mund verzogen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Aber trotzdem tat sie so, als hätte sie mich nicht gesehen. Ich musste leise kichern, als ich hörte, was sie zu Dee sagte, als ich gerade vorbeigegangen war. »Tim O'Hara ist immer so grässlich laut. Der will jedesmal und überall im Mittelpunkt stehen!« In Wirklichkeit beschrieb Marcy damit sich selbst. Tim war zwar überall bekannt, aber er war nicht krankhaft geltungssüchtig, was man von Marcy nicht behaupten konnte'. Sie hätte den Oscar für Aufsehenerregen verdient. Als wir noch klein waren, hatte Mrs. Cummings Marcy immer wie ein Püppchen angezogen. Sie hatte niedliche Kleidchen mit feinen Schürzchen getragen, die ganz und gar nicht dazu geeignet waren, dass in der Castie Heights Grammar School ein Mädchen mit den anderen Kindern Ball spielte. Immer hatte Marcy aufpassen müssen, dass sie nicht schmutzig wurde, was sie von Anfang an zum Aussenseiter gemacht hatte. Denn wer spielte schon gern mit einer Zimperliese. Als sie sich dann später für Jungen interessierte, wurde Marcy noch unerträglicher. Sie flirtete mit jedem jungen aus unserer Klasse, dabei riss sie dann ihre blauen Babyaugen weit auf und, warf schwungvoll ihr blondes Haar über die Schulter. Das hielt sie für besonders toll. Ich wusste genau, dass Marcy unbedingt mit Tim O'Hara ausgehen wolte - oder mit jedem anderen Jungen aus unserer Schule. Mich behandelte sie immer als würde ich gar nicht existieren - ausser an dem Tag, als ich über den Schulhof ging, um jemanden zu finden, der mit mir Karten spielen wollte. Dabei fragte ich auch einige, die um Marcy herumstanden. »Hau ab. Dieke«, fauchte sie mich an. »Von uns spielt bestimmt keine mit dir.«
Jetzt könnt ihr bestimmt verstenen, warum es mir solchen Spass machte, Marcy eifersüchtig zu machen - und dass sie eifersüchtig war hörte ich an ihrer Stimme! Plötzlich kam ich mir ganz toll vor, was ich in vollen, Zügen genoss. Und als ich zu Tim und seinen Freunden ging, lag ein zufriedenes Lächeln auf meinern Gesicht. »Hallo, Tim«, begrügte ich ihn lässig. »Was ist los?« Tim schien plötzlich nicht mehr zu wissen, wie er mir die Sache beibringen sollte. Er wirkte etwas unsicher. »ja - es geht um Kenny. Er hat mit seinem Vater Probleme. Und ich hab ihm erzählt, wie du mir bei dem Problem mit meiner Mutter geholfen hast.« »ja, und deshalb habe ich beschlossen, mein wertvoles Leben in deine Hände zu legen. « Kenny zwinkerte mir zu, und Barry stiess ihn lachend in die Seite. Zuerst konnte ich kein Wort erwidern. Ich stand nur da und sah von einem zum anderen. Wollten die mich auf den Arm nehmen'? Doch dann half Tim mir. lch glaube, er war ganz schön wütend, dass die anderen das Ganze wie ein Witz auffassten. »Kenny, wilst du hier noch länger rumsitzen und dabei so blöde lachen, oder.wilst du Annie endlich erzählen, was los ist?« Kenny wurde sofort ernst und bliekte mich entschuldigend an. Dann sagte er: »Mein alter Herr will einfach nicht einsehen, warum er mir am Samstagabend den Wagen leihen soll.« Er machte wirklich einen unglücklichen Eindruck. »Das hat bei ihm nichts mit mangelndem Vertrauen zu tun. Er ist einfach schwierig.« »Ich habe Kenny gesagt, dass ihm da nur einer helfen kann. Und das bist du, Annie.« Dabei sah Tim mich auf eine Art und Weise an, dass mir gleichzeitig nach Lachen und Weinen zumute war. Ich konnte kaum klar denken, und noch weniger etwas sagen, weil mir das Herz bis zum Hals schlug. Gott sei Dank unterbrach Barry die angëspannte Stille. »Liebe Annie«, begann er mit wichtig klingender Stimme und tat dabei so, als
hielte er eine Zeitung in der Hand, aus der er uns vorlas. »Bitte, hilf mir! lch habe ein schreckliches Problem ... « Ich lächelte schwach. Dann meinte Kenny albern: »Junge, ich sage nur eines: Goldstein, hast du je in deinem Leben mal echte Probleme gehabt?« Wir mussten alle lachen, und in diesem Moment war alles Verkrampfte wie weggeblasen. »Was meinst du, Annie?« fragte Tim mich. »Hast du eine Idee, wie man Kennys Problem lösen könnte?« Dabei sah er bedeutungsvoll zu Barry hin über. »Wir wissen ja, dass dir einfach die Zeit feht, um auch noch Barry Erste Hilfe zu leisten.« Ich kicherte, aber nicht aus Nervosität, sondern vor Erleichterung. weil sie mich wie eine von ihnen behandelten. »Warum, sagst du deinem Dad nicht, dag du dir den Wagen verdienen möchtest?« schlug ich vor, sehr darum bemüht, meine Stimme reif und weise klingen zu lassen. »Vielleicht ändert er seine Meinung, wenn du ihm den Vorschlag machst, seinen Wagen jede Woche zur Tankstelle zu fahren, um das Öl nachsehen zu lassen und zu tanken. « »Klasse!« Barry tat sehr gönnerhaft und überlegen. »Mach ihm ein Angebot, Kenny, das er einfach nicht ablehnen kann. « Sie lachten - aber nicht über mich. Deshalb lachte ich auch mit. »Es ist vielleicht keine ausgefallene Idee « versuchte ich einzuschränken, »aber es ist die beste, die mir einfällt.« »Ich finde sïe gut«, meinte Tim bedächtig und nickte dabei, als wäre er Kennys Manager oder so was Ähnliches. »Was meinst du, Farrell?« »Es ist einen Versuch wert. Und für diese Sache würde ich alles tun.« Kenny war jetzt schon wieder etwas aufgemuntert. »Meinst du das ernst?« fragte Barry grinsend.
»Würdest du wirklich alles versuchen? Würdest du sogar deiner Oma widersprechen, oder würdest dus mit einem Vielfrass aufnehmen?« Die Jungen brachen in albernes Gelächter aus. Deshalb. stand ich auf. »Ich muss jetzt gehen«, sagte ich hastig. lch wollte so schnel wie möglich verschwinden, bevor sie mich mit ihren Blödeleien aufs Korn nahmen. »Ich hoffe, ich hab dir helfen können, Kenny. « »Ja, vielen Dank, Annie«, antwortete er abwesend. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den anderen zuzuhören, um noch mitzukriegen, was ich gerade, gesagt hatte. So stand ich ziemlich hilflos herum, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und wie ich mir einen guten Abgang verschaffen konnte. Doch dann rettete mich Tim aus dieser verzwickten Situation. »Du bist eben die Grösste, Annie.« Dabei sah er mich mit einem Lächein an, neben dem mein Filmstarlächeln total verblasst wäre. »Du hast mir geholfen, dass ich weiterhin Basketball spielen kann - und dafür werde ich dir ewig dankbar sein « »Ach, das war doch nichts Besonderes, Tim«, meinte ich ehrlich. »Wirklich nicht.« »O doch, Annie«, widersprach er. »Und du bist auch was Besonderes!« Danach schwebte ich wieder mal mindestens zehn Zentimeter über dem Boden davon. Ich fühlte mich wie im siebenten Himmel.
Von diesern Tag an veränderte sich mein Leben total. Immer öfter wurde ich von jungen angesprochen meist, weil sie irgendwelche Probleme hatten. Das war sicher kein Zufall. Nachdem ich Kenny mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte, fragte mich Barry Coldstein, wie er seine Schwierigkeiten in Mathe bewältigen könnte. Aber für diesen aussichtslosen Fal hatte ich natürlich keine Lösung. Und eines Tages sprach mich Doug Ruffner, ein Freund von Kenny, auf dem Schulkorridor an.
Doug hatte anscheinend mit seiner Freundin Sandy einen dicken Krach. Sie konnten sich über die Frage nicht einigen, ob Sandys Rock zu kurz war, oder ob sie tragen könnte, was sie wollte, auch wenn sie fest mit einein Jungen ging. Doug wollte nun von mir wissen was er tun sollte. Könnt ihr euch das verstellen? Ich wurde so was gefragt, wo ich doch noch nie mit einem jungen verabredet gewesen war! Aber das hätte ich vor Doug natürlich nie zugegeben. Statt dessen versuchte ich, mich in Sandys Lage zu versetzen. »Warum lobst du ihr Aussehen nicht, wenn du es gut findest? Und wenn dir nicht gefällt, was sie anhat, sagst du kein Wort. Du kannst sicher sein, Sandy wird danach immer das anziehen, was dir gefällt.« Durch solche Ratschläge, die erstaunlicherweise immer Erfolg hatten, wurde ich bald zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, weil meist in den Pausen mehrer Jungen um mich herumstanden, um mich irgendwas zu fragen. Und das genoss ich in vollen Zügen. Ich hatte dadurch endlich zu mir selbst gefunden, versteht ihr? Wenn ich mit den Jungen über ihre Probleme sprach, war ich nicht mehr unsicher. Meist hörte ich ihnen konzentriert zu, und wenn ich dann etwas dazu sagte, konnte ich sicher sein, dass es sie interessierte - denn schliesslich ging es ja um sie! Von mir erzählte ich nie was. lch kann euch sagen - einigen der anderen Mädchen gefiel das ganz und gar nicht. Nicht dass eine darüber ein Wort verloren hätte. Aber ich sah die Blieke die sie sich zuwarfen, wenn mich ein Junge in der Klasse oder in der Cafeteria ansprach. Ich fühlte mich in meiner neuen Rolle aber viel zu wohl, um mich dar über zu ärgern. Ich hatte mir sogar schon überlegt, ob ich über meinen Erfolg nicht einen Artikel in unserer Schülerzeitung veröffentlichen sollte. Trotzdem fühlte ich mich manchmal, wenn ich allein war, ein bisschen wie eine Betrügerin. Wisst ihr, wie ich das meine? Ich gab den Jungen Ratschläge bei Dingen, von denen ich im Prinzip gar keine Ahnung hatte. Das Verrückteste aber war, dass ich mit meinen Vorschlägen fast jedesmal Erfolg hatte.
Sorgen machte mir nur, dass sich mein Kohtakt zu den Jungen nur auf die Lösung ihrer Probleme beschränkte. Auf die Idee, sich auch mal mit mir zu verabreden. kam nämlich keiner von ihnen. Ich versuchte mich aber damit zu trösten, dass das sicher nur noch eine Frage der Zeit war. Immerhin wurde ich von ihnen akzeptiert, sie sahen in mir schon einen gleichwertigen Partner. Das Schönste - aber auch das Schlimmste war die Tatsache, dass Tim immer mehr Vertrauen in meine Meinung setzte. Er kam mit allem was ihn beschäftigte zu mir. Seit Kathy nach der Schule meist Probe hatte ging ich allein nach Hause. Und mindestens jedes zweite Mal traf ich dabei Tim. Diese fünfzig Prozent waren es mir wert, dass ich mir das Gequatsche der anderen jungen anhörte, die mich im Grunde anödeten, und deren Probleme ich entsetzlich unwichtig fand. Ich war fest davon überzeugt, dass Tim sich bald mal mit mir verabreden würde.- Hatte er nicht beteuert, dass er sich bisher noch mit keinem Mädchen so gut unterhalten hatte wie mit mir? Augerdem hatte er bemerkt, dass ich jetzt eine viel bessere Figur hatte. »Kathy hat neulich darüber gejammert, dass sie zugenommen hat«, erzählte er mir eines Nachmittags, als wir zusammen nach Hause gingen. »Könntest, du nicht mal mit ihr reden, Annie? Du hast es doch geschaft, abzunehmen. Dann wird sie es sicher auch können.« Er machte dabei ein Gesicht, als hätte er Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. »Oh, nicht, dass du mal diek warst«, fügte er schnel hinzu. »Aber du bist ... eh ... in diesem Sommer echt schlank geworden.« Mir wurde ganz heiss vor Freude. Schlank! In diesem Moment wünschte ich mir nur, nicht diese dieke Jacke zu tragen, die meine neuen tollen Formen total verbarg. »Danke, Tim«, meinte ich. »Dafür, dass du es gemerkt hast. Ich werde Kathy alle meine Tricks verraten, sobald ich sie treffe.« Als ich sie aber das nächste Mal sah - das war am nächsten Morgen - bekamen wir grossen Krach.
Nachdem ich Kathy von zu Hause abgeholt hatte, redete sie die ersten fünf Minuten nur sehr wenig. Ich ahnte schon, dass ihr etwas auf der Seele lag. Aber es war zwischen uns schon immer so gewesen, dass keiner den anderen nach seinen Sorgen fragte, wenn derjenige nicht von selbst anfing zu erzählen. Deshalb sprach ich anfangs nur über Belanglosigkeiten, und schwieg dann wie Kathy. Wer unterhält sich schon gern mit jemandem, der nur ein »Hrn« oder »ja« darauf antwortet! Als sie dann aber endlich das Schweigen brach, waren ihre Worte ein Schock für mich. Kathy hatte einen Tonfall, der mir verriet, dass sie etwas Unangenehmes auf dem Herzen hatte. »Annie«, begann sie, »weisst du eigentlich, dass ich dein Verhalten ganz schön dumm finde?« Ich zog mich sofort in mein Schneckenhaus zurück, wie ich es immer tat, wenn ich kritisiert wurde. »ja?« meinte ich nur vage, als ginge mich das alles kaum was an. Aber Kathy kannte mich zu gut, um nicht zu sehn, wie es wirklich in mir aussah. »Unterbrich mich bitte nicht, bis ich fertig bin, Annie.« Sie sprach hastig weiter. »Vielleicht solite ich es dir gar nicht sagen, aber einige Mädchen haben über dich gesprochen, als ich dabei war.« Sie holte tief Luft. »Sie verstehen nicht, warum du gegen sie bist, und warurn du dich plötzlich dazu berufen fühlst, den Jungen dauernd Ratschläge zu erteilen.« »Ich möchte mal wissen, wie die auf so eine Idee kornmen?« sagte ich leichthin und hoffte, dag das Thema bald beendet war. »Ich darf mich doch wohl noch mit Jungen unterhalten.« Meine Bernerkung feuerte Kathy nur noch mehr an. »Du weisst genau, was ich meine!« Sie war jetzt ziemlich wütend. »Plötzlich bist du zur Briefkastentante von Castie Heights High geworden. Seitdem gibt es in unserer Schule kein Mädchen, dass nicht fest davon überzeugt ist, dass ihr Freund sofort zu dir rennt, sobald zwischen ihnen ein Problem auftaucht. Ich kann einfach nicht verstenen, warum du so eine Art >Frau Irene< sein willst.«
Jetzt war ich aber an der Reihe, mich zu ärgern. »Ich bin doch nicht gegen die Mädchen, bloss weil ich den Jungen ein- oder zweimal einen Rat gegeben habe. Und das bedeutet auch noch lange nicht, dass ich eine Briefkastentante sein will!« In diesem Moment hatte ich ganz vergassen, dass ich in der Schülerzeitung sogar einen Artikel über dieses Thema veröffentlichen wollte. »Worin liegt eigentlich das Problem? Vielleicht mögen die jungen mich ganz einfach, und wollen deshalb mit mir über ihre Schwierigkeiten reden.« »Ach, Unsinn! Die Mädchen sind der Meinung, es geht dich nichts an, wenn ihre Freunde mit ihnen, ihren Eltern oder Lehrern Ärger haben.« »Und wie denkst du darüber, Kathy?« Meine Stimme klang ziemlich hart und abweisend, gar nicht so wie sonst. Ich spürte mein Blut in den Adern pochen. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass man mir einmal meine freundschaftlichen Kontakte übelnehmen - geschweige denn, dag Kathy sich darüber aufregen könnte. Kathy sprach auf einmal mit unnatürlich freundlicher Stimme weiter, als wollte sie damit das vorher Gesagte abschwächen. »Ich denke, du verschwendest nur deine Zeit. Du wirst bloss ausgenutzt. Nimm zum Beispiel Tim.« Mein Herzschlag schien auszusetzen. »Was ist mit ihm?« fuhr ich sie an. »Wenn du ihm nicht immer sagen würdest, was er tun soll, käme er bald von ganz allein dahinter. Ganz abgesehen davon, dass mein liebes Brüderlein ziemlich eigensinnig ist, und nie einen Rat annimmt. Von dir möchte er nur seine eigenen Ansichten bestätigt sehen. Du bist sein automatischer Selbstbewusstseins- Aufpolierer. « Ich ging langsam weiter. Dabei hatte ich das Gefühl, als läge eine Zentnerlast auf meinen Schuitern. Mühsam beherrscht antwortete ich: »Weisst du, Kathy, wenn du jetzt nicht von deinem Bruder geredet hättest, könnte man fast glauben, du wärst eifersüchtig. « »Eifersüchtig?« Kathy wirkte ehrlich erstaunt. »Du bist verrückt, Annie! Natürlich bin ich nicht eifersüchtig. Ich finde nur dag du alles falsch machst. ich
meine, ich kann mir einfach nicht verstellen, dass du für die Jungen nur ein Kürnpel sein willst. So bekommst du bestimmt nie eine einladung zum Schulfest.« Plötzlich überkam mich eine sagenhafte Ruhe, so dag ich absolut cool zurückschlagen konnte. »Wenn du, Kathy O'Hara, so viel über Jungen weiss, warum himmelst du dann Kurt Mauer nur aus der Ferne an? Und dann beantworte mir bitte noch die Frage. warum er sich noch nicht mit dir verabredet hat.« Wir hatten mittlerweile die Schule erreicht. Kathy rannte die Stufen zum Eingang hinauf und riss die Tür auf. lch hatte aber gesehen, dass ihr Tränen in den Augen standen. »Warte, Kathy ... « rief ich nun ziemlich kleinlaut hinter ihr her, um sie aufzuhalten, denn ich begriff, wie weh ich ihr mit meinen gedankenlosen Worten getan hätte. Sie drehte sich noch einmal zu mir um. »Vergiss, was ich dir gesagt habe, Annie.« lhre Stimme klang schneidend. »Ich wollte dir nur helfen. Aber anschei nend kannst du nur Ratschläge vertellen, aber keine annehmen. Hoffentlich bereust du nicht eines Tages, was du tust.« Damit wandte sie sich ab. Mit steifen Schritten ging ich durch die Halle zu meiner Klasse. lch hatte gar nicht gewusst, dass, man vor Wut zittern konnte, jetzt aber bebte ich von Kopf bis Fug. Woher nahm Kathy O'Hara das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich zu leben hatte? Doch dann beruhigte ich mich wieder und sah die Dinge, wie sie wirklich waren. Ich hatte gemerkt, dass Kathy gezögert hatte, überhaupt mit diesem Thema anzufangen. Sie hatte genau gewusst, dass ich mich darüber aufregen würde. Aber sie hatte einfach mit mir darüber reden müssen. Im Grunde hatte Kathy nur das getan, was ich schon die ganze Zeit über machte: Ratschläge erteilen. Der Unterschied lag lediglich darin, dag ich sie nicht darum
gebeten hatte. Aber ich musste immer wieder an ihre Worte denken, obwohl ich nach wie vor der Meinung war, dass sie unrecht hatte. Ich wollte jedoch nicht, dass wir uns wie manche Leute benahmen, die sich zwar stritten, ihre Meinungsverschiedenheiten aber nicht austrugen. Da ich Kathy nicht beim Essen traf, wo wir noch einmal über alles hätten reden können, wartete ich nach der Schule vor der Aula auf sie. Ich wusste, dass sie früher oder später zur Probe kommen würde. Die anderen Schüler der Theatergruppe gingen schon in die Aula, und die, die mich kannten, grüssten, als sie an mir vorbeigingen. Anfangs hatte ich Angst, Kathy würde aus irgendeinem Grund nicht kommen, doch dann sah ich sie. Sie strahlte Kurt Mauer an, der neben ihr ging, und lächelte über etwas, das er gesagt hatte. Sie sah gar nicht, dass ich sie beobachtete. Kathy kam mir ganz fremd vor. Anstatt wie sonst von einem Ohr zum anderen zu grinsen, lag jetzt ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen. Und wenn sie lachte, war es ein leises Lachen. Kathy schien auch nur zuzuhören - was bei ihr wirklich augergewöhnlich war. Und sagte sie mal was, waren es nur Worte wie »toll« oder »interessant«. Und wisst ihr was? Kurt Mauer schien das klasse zu finden. Seine blauen Augen strahlten. Und obwohl er allgemein als ruhiger Junge bekannt war, redete er diesmal ohne Punkt und Komma. Und dann entdeckte Kathy mich. Sic machte plötzlich einen nervösen Eindruck. »Hallo, Kathy«, sagte ich vorsichtig. »Kann ich dich einen Moment sprechechen?« Sie zögerte, biss sich auf die Lippen, und ich war schon sicher, dass sie mich abwimmeln und mit Kurt weitergehen würde. Aber so war Kathy nicht. lch zweifelte auch nicht daran, dass sie über unseren Streit genauso - traurig war wie ich. »Du willst mit mir reden, Annie?« Sie fragte das so erstaunt, als stünden noch fünf oder sechs andere Mädchen namens Kathy um uns herum. Sie fing Kurt's
fragenden Blick auf und zuckte die Schultern. »Geh schon vor, Kurt, bis gleich, ja?« »Okay, Kath. lch halte dir einen Platz frei.« Bevor er durch die Tür verschwand, nickte er mir noch zu. Kathy lehnte sich lässig gegen die Wand, an der die Vitrinen mit unseren Schulpokalen standen. »Was ist los, Annie?« »Ich wollte mich wegen heute morgen entschuldigen. lch weiss, dag du mich nicht bevormunden wolltest. Trotzdem finde ich noch immer, dass du unrecht hast. « Das musste ich einfach noch hinzufügen. Ich wusste zwar nicht ganz, warum, aber ich wolte meinen Standpunkt unbedingt wahren. Kathy sollte wissen, dass ich mich entschuldigte, weil ich sie nicht als Freundin verlieren wollte, und nicht etwa, weil sie recht hatte. Und ich glaube, Kathy war genauso frob wie ich, die Sache vergessen zu können. Das einzige, was sie noch dazu sagte, war: »Kann schon sein, Annie. Ich habe allerdings nach wie vor das Gefühl, dass die jungen dich nur ausnutzen wollen.« »Aber warum kann ich mit Jungen nicht ebensogut befreundet sein wie mit Mädchen?« fragte ich. »Nur weil ich mit ihnen nicht so hemmungslos flirte wie beispielsweise Marcy Cummings, muss ich doch nicht ihr Kumpel sein, oder?« »Du siehst das zu extrem, Annie«, meinte Kathy ernst. »So meine ich das doch gar nicht. Das Mittelding ist richtig, capito?« »Und wie sieht das aus?« Meine Stimme klang ziemlich herausfordernd. »Soll man den Worten eines Kurt Mauer nur noch hingebungsvoll lauschen?« Trotz meiner guten Vorsätze wurde ich schon wieder schnippisch. Doch zu meinem Erstaunen wurde Kathy nicht wütend. Sie lächelte nur geheimnisvoll. »Vielleicht. Es ist ein grosser Unterschied, ob man sich fraulich benimt oder wie wild flirtet. Du brauchst nicht so eine aufgedrehte Sexbiene zu sein wie Marcy Cummings, um einem Jungen zu zeigen, dass du ein Mädchen
bist. Und du kannst ihnen auch eine gute Freundin sein, ohne den Kumpel spielen zu müssen. Begreifst du jetzt, was ich damit meine.« »Ich hab keinen blassen Schimmer!« antwortete ich stur, obwohl ich sie ganz genau verstand. »Schau dir Judy Carney an«, fuhr Kathy fort. »Glaubst du dass sie schon eine Einladung zum Schulfest hat?« Ich wusste nicht, was Kathy, mit dieser Frage bezweckte. Judy Camey war immer unser Klassenrowdy gewesen. Als wir im fünften -und sechsten Schuljahr waren, hatten wir Mädchen sie beneidet, dass sie mit den Jungen zum Baseball ging, und von ihnen zum Fischen und Wandern, eingeladen wurde. Das war noch auf der Grundschule gewesen. Doch seit der Zeit hatte Judy Carney sich nicht geändert. Sie kam später auch noch in Flickenjeans und Sweat- shirt zur Schule, ohne Make-up und mit kurzen Haaren. Und sie interessierte sich mehr für Sport und Motorräder, als für Frisuren und hochhackige Schuhe. Das Ergebnis war, dass die Jungen sich nicht mehr gross um sie kümrnerten. Sie behandelten sie vielmehr wie eine Aussenseiterin. »Hältst du mich etwa für eine zweite Judy Carney?« fragte ich eingeschnappt. »Das ist nicht fair, Kathy.« »Ob, ich weiss, dass du nicht wie sie bist, Annie. Aber wissen die anderen das? Verstehst du denn nicht, was ich sagen will? Wenn die Jungen in dir eine von ihnen sehen, werden sie nie merken, dass du ein Mädchen bist. Und dann wirst du nie eine Verabredung haben. »Hast du denn eine?« fragte ich boshaft. Ich, war schon wieder wütend auf Kathy, weil sie meine Entschuldigung angenommen hatte, und trotzdem weiter an mir herummeckerte. »ja, das habe ich.« Ihre Stimme klang eher amüsiert als verergert. »Kurt hat mich vorhin gefragt, ob ich mit ihm tanzen gehen möchte.« Sie kicherte. »Ich muss also irgend etwas richtig gemacht haben.« »Das mag schon sein, Kathy. Aber eines kannst du mir glauben: Ich bleibe lieber ich selbst, als dass ich dich nachäffe.«
Kathy hatte sich schon abgewandt, drehte sich aber noch einmal zu mir urn. »Tu, was du für das Beste hältst, Annie«, sagte sie. Auch das klang nicht wütend, sondern resigniert und, enttäuscht. »Aber bist du wirklich du seltst? Wenn du das bist, ist das eine Seite an dir die ich bisher noch nicht kannte.« Danach ging sie in die Aula. .Von meinein Platz aus konnte ich sehen, dass sie Kurt ansteuerte. Er schien jedes Wort von Miss Phillips, der Kurslehrerin, förmlich in sich aufzusaugen. Doch der Schein trog. In Wirklichkeit hatte Kurt auf Kathy gewartet, denn er wandte sofort den Kopf, als sie den Gang hinunterkam. Ich hätte heulen mogen, als ich sah, wie lieb er sie anlächelte, als Kathy sich neben ihn setzte. Und dieses Lächeln sagte mehr als alles, was Kathy mir erzählt hatte. Kurt sah in ihr ein Mädchen - und zwar eins, das er noch besser kennenlernen wollte. Niedergeschlagen ging ich zu meinem Schliegfach, um meine Bücher und meinen Mantel zu holen. Ich war ärgerlich über Kathy, wusste aber gleichzeitig, dass sie keinerlei Schuld daran hatte, wenn für mich der Tag verdorben war. Ich war froh darüber, dass Tim an diesem Tag nicht auf mich wartete. Er war wohl morgens mit seinem Fahrrad zur Schule gefahren, und ich brauchte Zeit, um über alles nachzudenken. Aber worüber eigentlich? Mich zu ändern, würde bestimmt nicht leicht sein. In meinem Innersten wehrte ich mich dagegen, dass Kathy recht haben könnte. Ich wusste, dass Tim mich mochte, mehr als früher sogar. Das tat er, ganz bestimmt. Und im Lauf der Zeit würde sicher mehr daraus werden, oder? Ich verdrängte jeden Gedanken an Kathys Vorhaltungen, und versuchte, mich abzulenken, indem ich mir überlegte, was ich anziehen sollte, wenn Tim mich endlich zum Tanzen einlud. Ich konnte mir einfach nicht verstellen, dass er es nicht tat. Er hatte schlieglich gesagt, dass er kein Mädchen kannte, mit dem er sich so gut unterhalten konnte wie mit mir. Wen sollte er also sonst fragen? Während ich nach Hause ging, steigerte ich mich regelrecht in eine erwartungsvolle, nervöse Vorfreude. Ich konnte es kaum noch erwarten, die
Gesichter der anderen Mädchen zu sehen, wenn ich am nächsten Samstag mit Tim O'Hara zum Schulfest kam. Dann würden sie endlich merken, dass Annie Wainwright sogar sehr gut darüber Bescheid wusste, wie man einen Jungen zu behandein hatte. Als ich Tim am nächsten Nachmittag am Schulausgang traf, war ich schrecklich aufgeregt. Ich wusste sofort, dass er auf jemanden wartete, denn er beobachtete ununterbrochen den Flur. Dabei tat er aber so, als würde er voller Interesse die Anschläge am Schwarzen Brett studieren. Ich konnte nichts daran ändern - ich hoffte, er würde auf mich warten! »Oh, hallo, Annie«, begrüsste er mich, als ich ihm schon fast auf den Zehen stand. Er tat so überrascht, als hätte er mich gar nicht kommen schen. »Was hast du denn jetzt vor?« »Nichts. Ich wollte gerade nach Hause gehen. Hast du gleich Training?« Tim schüttelte den Kopf und wechselte seine Bücher von einer Hand in die andere. »Nein. heute nachmittag nicht. « Mehr sagte er nicht. Und ich kam mir wieder genauso blöd vor wie früher. lch hatte mich gerade zu der niederschmetternden Erkenntnis durchgerungen, dass Tim wohl doch nicht auf mich gewartet hatte, als er sich räusperte. »Annie, hast du Zeit, mit mir zu Pop's zu gehen und eine Cola zu trinken?« Natürlich hatte ich die! »Klar, Tirn«, sagte ich glücklich. Es war zwar keine tolle Verabredung, mit einem Jungen zu Pop's zu gehen, aber immerhin etwas. Mann, dachte ich siegessicher, was liegt Kathy doch falsch, wenn sie mein Verhalten den Jungen gegenüber kritisiert! Auf dem Weg zu Pop's Pizzeria war Tim sehr schweigsarn. Er schien über irgend etwas nachzudenken. Und ich glaubte auch zu wissen, worüber - stolz und selbstgefällig wie ich war. Tim wollte mich bei Pop's zum Schulfest einladen. Das spürte ich bis in den letzten Nerv. Ich ging plötzlich schneller als sonst, denn ich konnte es kaum noch erwarten, die so lange ersehnten Worte aus seinem Mund zu hören.
»Es ist kalt heute, nicht wahr?« murmelte Tim, als wir uns dem roten Backsteinbau näherten, in dern sich die Pizzeria befand. »Meine Mutter bezeichnet das immer als Hundewetter«, erzählte ich ihm. »Dabei sind Hunde doch gar nicht so feucht und hässlich«, witzelte er. Und ich lachte darüber, als hätte er das Komischste losgelassen, was ich bisher gehört hatte. Ich quoll förmlich über vor Glück. Und als Tim mir die Tür aufhielt, dachte ich, dass mir an diesem Tag nichts mehr die gute Laune verderben konnte. Dann sag ich Tim in einer dieser kleinen Nischen gegenüber, und atmete tief ein. »Mmm, hier riecht's immer so gut«, murmelte ich, und genoss den Duft von Tomaten, Oregano, Knoblauch und Pepperoni. »Möchtest du eine Pizza?« »O nein. Ich habe keinen Hunger«, lehnte ich hastig ab. Tim solite nicht denken, dass ich etwa spendiert haben wollte. »Ich möchte nur eine Cola.« Tim stand auf und ging zur Theke, um die Cola zu bestellen. In dieser Zeit holte ich meine Puderdose aus meiner Handtasche und betrachtete mich in dem kleinen Spiegel. Mein Rouge war zwar im Laufe des Tages verschwunden, dafür hatte aber die frische Luft meine Wangen rosig angehaucht, so dag ich mit meinem Aussehen ganz zufrieden war. Ob ich ihm anbieten soll, meine Cola selbst zu bezahlen? fragte ich mich, als Tim mit zwei Gläsern zurückkam. Er hatte mich wohl in meiner Tasche rumwühlen sehen und dachte daher, ich hätte mein Portemonnai gesucht, denn er sagte, kaum dass er am Tisch angelangt war: »Ich habe dich eingeladen, Annie. « »Danke, Tim.« Ich hoffte, dass meine Stimme so klang, als wäre es für mich nichts Besonderes, von einem Jungen zu einer Cola eingeladen zu werden. Ich nippte an rneinem Glas, so dass ich nicht als erste reden musste. Wenn Tim mich zum Schulfest einladen wollte, mochte ich ihm kein Gespräch über irgendwelche Lappalien aufzwingen.
»Das hätte ich schon längst einmal tun sollen«, meinte Tim und prostete mir zu. »Das ist das Mindeste, um dir für deine Hilfe zu danken. « »Das war doch nichts Besonderes, Tim«, erwiderte ich glücklich, wo ich doch schon fast mit ihm verabredet war. Ich sah im an, und mein Herz zog sich vor Liebe zusammen. Er war so wundetbar diese grünen Augen, und dieses verlegene Lächeln Für eine Sekunde fragte ich mich, was Tim wohl tun würde, wenn ich sein dunkjes Haar berührte oder über seine krausgezogene Nase streichelte. Ich hatte wohl über meine absurde Idee gelächelt - denn den Mut hätte ich dazu nie gehabt - weil Tim mich in diesern Moment belustigt fragte: »Worüber lachst du?« »Oh ... « sagte ich hastig, »ich ... ich dachte nur daran, wie gern ich dir geholfen habe. « Dabei wünschte ich mir, nicht so belehrend zu klingen. »Ich wollte dich heute noch mal was fragen.« Tim starrte vor sich auf den Tisch, und seine Finger schoben eifrig die Papierhülle um seinen Strohhalm auf und ab. »Du weisst ja sicher, dass nächste Woche unser Schulfest ist«, fuhr er langsam fort und zerfetzte das Papier, um es dann in den Aschenbecher zu werfen. »Natürlich weiss ich das«, antwortete ich atemlos. Ich spaltete mich in zwei Personen: Einmal war ich die Annie Wainwright, die mit Tim an einem Tisch sag und darauf wartete, eingeladen zu werden. Und dann war ich die Annie Wainwright, die die ganze Situation aus der Ferne beobachtete, und jedes gesprochene Wort, und jeden Ausdruck auf Tims Gesicht registrierte, um sich später daran erinnern zu können. »Meinst du, ein Junge sollte ein Mädchen fagen, ob es mit ihm ausgehen möchte, auch wenn er nicht weiss, ob es ja sagen wird?« Tim sah mir dabei nicht in die Augen, und ich merkte, wie eine grosse Zärtlichkeit für ihn in mir aufstieg. Ich wusste genau, was Tim als nächstes tun würde. Er würde eine Andeutung machen, um zu testen, ob ich mich mit ihm
verabreden wollte. Dann würde er zur Sache kommen, und mich für das Schulfest einladen. Seine Unbeholfenheit gab mir das Gefühl, wesentlich erfahrener zu sein als er. Deshalb lachte ich auch ein bisschen überlegen, als ich sagte: »Man weiss immer erst, was der andere möchte, wenn man ihn danach gefragt hat. Deshalb sollte der Junge auf jeden Fail mit dem Mädchen reden.« »Auch, wenn sich das Mädchen mit jedem anderen Jungen aus der Klasse verabreden kann?« Seine Augen sahen mich ernst an. »Ich bin sicher, dass sie am liebsten mit dir ausgehen möchte«, antwortete ich leise. »Frag' sie nur, Tim.« »Vielleicht hast du recht.« Er nahm meine Hand und schüttelte sie heftig. Mein Herz machte vor Freude einen Sprung. Jetzt würde er es endlich sagen, worauf ich so lange schon wartete. Ich starrte ihn atemlos an, als er tief Luft holte und sein Glas zurückschob. »Ich werde sie sofort anrufen, wenn ich zuhause bin. Danke, Annie, du hast mir wirklich sehr geholfen.« »Wen willst,du denn fragen?« Hoffentlich hörte er nicht das bodenlose Entsetzen, das in meiner Stimme lag, und sah nicht, wie blass ich geworden war. »Habe ich dir das denn nicht gesagt?« Tim lächelte mich ganz merkwürdig an. »Ich werde mir wie ein Idiot vorkommen, wenn sie nein sagt. lch möchte Marcy Cummings fragen.« Er seufzte schwer. »Hoffentlich hat sie noch keine Verabredung.« »Marcy?« flüsterte ich fassungslos. »O, Tim, sie ... sie wird bestimmt gern mit dir zum Schulfest gehen. « Ich beugte mich zu meinen Büchern hinunter, die neben mir auf einem Stuhl lagen, so dass Tim mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich musste furchtbar enttäuscht ausschen. Und ich merkte, dass ich über diese Demütigung weinen musste. 0 Gott, hatte ich mich lächerlich gemacht! Da hatte ich nun die ganze Zeit dagesessen, und darüber nachgedacht, wie ich Tim meine Zustimmung
möglichst lässig, aber nicht zu cool geben sollte, und dabei hatte er während der ganzen Zeit von einem anderen Mädchen gesprochen. Und das war auch noch diese grässliche Marcy Cummings! Und ich hatte geglaubt, ich wüsste eine Menge über jungen! Es war für mich einfach schrecklich, anschliegend auch noch mit Tim nach Hause gehen zu müssen. Ich sprach, ohne eine Pause zu machen, über das Basketballteam, über Kathys Leistungen bei den Theaterproben, und darüber, dass ich mir neue Schlittschuhe kaufen wollte, wenn der alte Teich wieder zugefroren war. Ich tat wirklich alles, damit Tim nur ja nicht auf die Idee kam, in meiner Gegenwart noch einmal Marcy Cummings Namen zu erwähnen. Und die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, als wäre ich gar nicht wirlich dabei. In mir war alles wie gestorven. Ich war zu keinern Gefühl mehr fähig. Tim war ziernlich still und geistesabwesend. Vielleicht fand er aber auch keine Möglichkeit, etwas zu sagen, weil ich ununterbrochen weitersprach. Als wir bei ihm daheim ankamen, ging es mir schon etwas besser, als in dem Moment, wo seine Mitteilung, mit Marcy zum Schuifest zu gehen, wie eine Bombe eingeschlagen hatte. Ich war auch erleichtert, endlich von Tim wegzukommen. »Noch einmal - danke für alles, Annie.« Tim klopfte mir auf den Rücken wie schon so oft. Und plötzlich konnte ich mir selbst nicht mehr erklären, wie ich aus dieser Geste hatte romantische Absichten herauslesen können. »Du bist wirklich ein toller Kumpel, Annie!« »Danke, Tim.« Ich merkte aber, wie traurig sich meine Stimme anhörte. Daher fügte ich noch betont fröhlich hinzu: »Und viel Glück bei Marcy. « »Ich seh' dich ja am Sa'mstag beim Fest!« rief er zurück, während er schon die Auffahrt zum Haus hinauflief. Glaubte Tim wirklich, ich hätte für diesen Abend eine Verabredung? fragte ich mich deprimiert, als ich weiterging. Wenn er das tat, war er ein Idiot!
Plötzlich erinnerte ich mich wieder an Kathys Warnung, und es traf mich echt hart, nun erkennen zu mussen, wie recht sie gehabt hatte. Jetzt wusste ich, dag ich ganz schön verrückt gewesen war, weil ich hinter Tims Einladung in die Pizzeria eine Verabredung zum Tanzen gewittert hatte. Und ich wusste genausogut, dass ich nur geringe Chancen hatte, von einem anderen jungen zum Schulfest eingeladen zu werden. Was mir aber ein Rätsel blieb, war die Tatsache, dass ein Mädchen wie Marcy eine Einladung bekam. Bei Kathy und Kurt war das etwas anderes. Kathy war offen und ehrlich. Aber diese Lügnerin Marcy Cummings? Was an ihr konnte einem Jungen gefallen? Warum mocht Tim sie mehr als mich? Und was machte ich falsch? Stolz reckte ich mein kinn in die Luft, als ich den Weg zu unserer Haustür hinaufging. Wenn Tim auf ein Mädchen wie Marcy Cummings reinfiel, dann war es ganz gut, dass er nicht mich eingeladen hatte. Denn ein junge, der Mädchen wie Marcy nett fand, konnte sich unmöglich für mich interessieren. lch legte auch gar keinen Wert darauf, einen Freund zu bekommen, wenn ich mich dafür wie Marcy benehmen musste. Und wenn ich deshalb nie in meinem Leben mit einem jungen gehen würde - ich würde stolz darauf sein. Das wenigstene versuchte ich mir einzureden. Aber ich fühlte mich ganz und gar nicht stolz. Im Gegenteil - ich war sogar entsetzlich eifersüchtig und neidisch und fühlte mich minderwertig und tief verletzt. Ich hatte Marcy noch nie gemocht, aber jetzt hasste ich sie von ganzem Herzen. Denn obwohl sie so schrecklich blöd war, hielt Tim sie nicht für seinen »Kumpel«. Und wenn ich Möglichkeit gehabt hätte, mit ihr eine Woche lang zu tauschen, dann hätte ich es getan. Das wusste ich im Grund meiner Seele ganz genau.
Ich weiss nicht, wie meine eltern mich an diesem Abend beirn Essen ertragen konnten. Das erste Mal in meiner Leben war ich echt froh, dass sie nicht
besonders gesprächig waren. Daher fiel meine miese Stimmung gar nicht auf. Lustlos stocherte ich in meinem Hühnchen á la King herum, und schob es mehr durch den Reis, als dass ich es ass. Ich liess an diesem Tag sogar meinen Nachtisch stehen, was wirklich eine Seltenheit war und nun doch die Aufmerksamkeit meiner Mutter erregte. »Du wirst doch hoffentlich keine Erkältung bekommen, mein Schatz?« meinte sie besorgt, als sie sah, dass ich die Schüssel mit dem Nachtisch fortschob. Sie befühlte mit ihrem Handrücken meine Stirn, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, Fieber hast du nicht. »Mir geht's,ganz gut«, meinte ich. »Ich habe heute mittag nur zuviel gegessen.« Mit dieser Erklärung gab Mom sich zufrieden. »Heute muss du das Geschirr mal allein abwaschen, Annie«, wechselte sie das Thema. »Dein Vater und ich haben Tante Maude versprochen, bei ihr vorbeizuschauen. Und ich weiss ja, wie ungern du zu ïhr gehst. Deshalb brauchst du auch nicht mit.« Ich nickte. In meiner augenblicklichen Stirnmung war es bestimmt besser. wenn ich allein war. Tante Maude hätte ich an diesem Abend auf gar keinen Fall ertragen, überlegte ich, während ich das Geschirr unter klarem Wasser abspülte, um es dann in die Spülmaschine zu stellen. Tante Maude war nicht meine richtige Tante. Sie war so was wie eine entfernte Cousine von meinem Vater. Genauer war ich mir über den Verwandtschaftsgrad nicht im klaren. Sie hatte bei meinen Grossgeltern gelebt, weil sie nie geheiratet hatte. Daher hatte mein Dad lange Zeit mit ihr unter einem Dach gewohnt. Ich fühlte mich bei Tante Maude nie wohl. Sie war so alt und verknöchert, dass sie mir vorkam, als stammte sie aus der Eiszeit. Augerdem hatte sie nicht den blassesten Schimmer, wie man mit einem Teenager ümging. Sie behandelte Mom und mich immer, als wären wir gleichaltrig. Für sie waren wir beide noch junge Leute, und deshälb machte sie im Umgang mit uns keinen Unterschied.
Während ich den Tisch abwischte, tat mir Tante Maude plötzlich sehr leid. lch musste sogar weinen, als ich mich fragte, ob sie in ihrer jugend auch nur der »Kumpel« der Jungen gewesen war. In diesem Moment klingelte das Telefon und riss mich aus meinen trüben Gedanken. lch musste plötzlich über mich und meine merkwürdigen Betrachtungen lachen. Mit fünfzehn jahren war ich doch wirklich noch zu jung, um als alte jungfer bezeichnet zu werden. Langsam benahm ich mich genauso theatralisch wie Kathy! »Hallo, Annie!« Es war Kathy, die sich meldete, nachdem ich den Telefonhörer abgehoben hatte. »0 Kathy, hallo!« Ich lieg mich auf einen der Stühle fallen, die um den Küchentisch standen. Hoffentlich hatte meine Freundin nicht angerufen, um sich gross und breit darüber auszulassen, dass Kurt sich mit ihr zum Schulfest,verabredet hatte. Nicht, dass ich ihr das nicht gönnte. lch hatte ja mittlerweile erkannt, dass sie mit ihrer Warnung recht gehabt hatte, und dass sie nur rnein Bestes wollte. Aber das wollte ich immer noch nicht zugeben. Gerade jetzt nicht. »Bist du beschäftigt?« fragte sie. »Ich muss nur noch die Küche aufräumen und abwaschen. Aber ich bin allein, weil meine Eltern bei meiner Tante sind«, erklärte ich ihr, obwohl das Geschirr nur in die Spülmaschine geräumt werden musste. »Ich kann mich also in aller Ruhe ein paar Minuten mit dir unterhalten«, fügte ich noch hinzu, denn Kathy sollte nicht schon wieder Grund haben, sich über mich zu ärgern. »Wie war denn heute deine Probe?« »Oh, ganz gut. lch glaube, das Stück wird toll. Es wäre nur besser, wenn die Aufführung nicht gerade zwei Wochen nach dem Schulfest stattfände. Ein paar von den Mädchen können sich vor lauter Vorfreude auf das Fest, gar nicht mehr richtig auf die Proben konzentrieren. Sie tun gerade so, als wären sie noch nie in ihrern Leben verabredet gewesen.«
So wie ich, dachte ich traurig. lch war bis zu diesem Tag noch nie mit einem Jungen aus gewesen. »Nächste Woche ist ja alles vorbei«, versuchte ich Kathy zu trösten. »Dann werden alle wieder Interesse für die Proben haben.« »Alle, nur Marcy Cummings nicht«, sagte Kathy aufgebracht. Kalte Schauer liefen mir über den Rükken. Wenn ich im Moment eines nicht hören konnte, dann war es dieser Name. Ich war einfach nicht fähig, darauf etwas zu erwidern. Aber Kathy schien auch keinen Kommentar von mir zu erwarten, denn sie sprach sofort weiter. »Sie führt sich auf, als würde sie die Emily in erster, und nicht in zweiter Besetzung spielen. Ich schwöre dir, ich wäre noch nicht mal besonders erstaunt, wenn sie Janice Larson vergiftete, um die erste Besetzüng zu werden.« »Kathy! So schlimm ist sie nun auch wieder nicht«, widersprach ich. Trotzdem stieg ein Gefühl von Zufriedenheit in mir auf, weil Kathy diese Marcy genausowenig leiden konnte wie ich. »Vielleicht ist sie nicht ganz so schlimm.« lhre Stirnme klang etwas lahm. »Aber sie kann einen mit ihrer grässlichen Art ganz krank machen. Und jetzt ist das Allerfurchtbarste passiert!« »Was denn?« lch hoffte, jetzt würde Kathy das leidige Thema Marcy endlich fallenlassen. , Aber ich hätte es besser wissen müssen. Kathy sprach so leise weiter, als wenn sie nicht wolte, dass bei ihr daheim jemand mithörte. »Es ist kaum zu glauben, aber mein total schwachsinniger Bruder hat mir eben erzählt, dass er sich mit Marcy zum Schulfest verabredet hat. Kannst du dir das verstellen? Ich glaube, bei dem jungen ist irgendwo was ausgeklingt. Ich habe ihm aber gleich gesagt, dass er an diesem Abend nicht mit Kurt und mir rechnen kann.« »Marcy war also einverstanden?« »Natürlich! Sie hätte doch alles mögliche getan, um sich mit Tim zu verabreden. Oder mit einem anderen aus der
Basketbalmannschaft. Ich hab' eigentlich immer gedacht, mein lieber Bruder hätte mehr Geschmack, und würde sich nicht ausgerechnet in so eine verlieben.« »Vielleicht mag Tim Mädchen., die so zuckersüg sind. « »Marcy und zuckersüg!« fuhr Kathy mich an. »Komm, Annie, du weisst genau, dass sie ebenso anschmiegsam wie eine Klapperschlange ist. Ich hab' dir zwar vorgeworfen, dass, du den Jungen immer gute Ratschläge gibst - aber könntest du nicht trotzdem mal mit Tim reden? Er akzeptiert deine Meinung und hört vielleicht auf dich, wenn du ihm klar machst, was Marcy für ein Biest ist. Ich will einfach nicht, dass sich mein Bruder mit so einer Ziege abgibt. Wir haben zwar oft Krach, aber er ist immer noch mein Zwilling.« »Das kann ich nicht, Kathy.« lch wusste ganz genau, dass ich die Sache nur noch verschlimmern würde, wenn ich versuchte, Tim Marcy auszureden. Ratschläge geben, war was anderes, als jemanden schlechtzumachen. »Warurn kannst du das nicht?« »Erstens geht mich das alles nichts an. Und zweitens kann ich es nicht ändern, wenn Tim Marcy wirklich gern hat. Und ausserdem mag ... mag ich Tim sehr. Kathy erzähl das bitte keinem, aber gerade ich kann nicht gegen Marcy schiessen und hinterher womöglich selbst mit ihm ausgehen. Das musst du verstenen. « »Annie, das hast du mir ja nie erzählt.« »Ich weiss«, unterbrach ich sie hastig. »Aber du begreifst jetzt hoffentlich, dass ich dir am allerwenigsten sagen kann, was wir tun sollen.« Kathy seufzte. »Vielleicht machen wir aus einer Mücke einen Elefanten. Kann ja auch sein, dass Tim schon nach der ersten Verabredung merkt, was für ein Biest Marcy in Wirklichkeit ist.« Mir war nur eines klar: Wenn ich jetzt nur noch ein Wort über Tim und Marcy hörte, würde ich anfangen zu schreien. »Ich muss Schlug machen, Kathy. Aber hast du nicht Lust, nächsten Samstag mit mir zum Flohmarkt zu gehen? Meine Mutter hat gesagt, er wär ganz gut - es gibt viele Bücher, Schallplatten und Kleiderstoffe.«
»Gern. lch hab noch ein paar Dollar übrig. Aber ich kann nicht lange bleiben du weisst ja, wegen des Schulfestes.« O »O ja, sicher.« Trotz aller Mühe lag ein wenig Bitterkeit in meiner Stimme. »Du wirst bestimmt noch genug Zeit haben, urn dich dafür fertigzumachen.« Ich konnte mir gut verstellen, dass Kathy sich so auf den Abend mit Kurt gefreut hatte, dass sie bis ietzt nicht im Traum daran gedacht hatte. mich könnte niemand eingeladen haben. Jetzt fiel bei ihr der Groschen, und ich hörte, wie sie tief Luft holte. »Annie, mach dir keine Sorgen«, versuchte sie mich zu trösten. »Dich wird bestimmt auch noch ein junge fragen.« Ilch bin gar nicht so wild darauf, auf dieses blöde Fest zu gehen«, fuhr ich sie an. »Schliesslich ist es ja kein Abschlugball.« Selbst in meinen Ohren klang meine Stimme nicht sehr überzeugend. Deshalb beschloss ich, das Gespräch besser abzubrechen. »Ich muss jetzt wirklich Schluss machen, Kathy, ich habe zu tun. Wir können ja später noch mal darüber reden. « Als ich den Hörer aufgelegt hatte, arbeitete ich wie eine Verrückte, um mich abzulenken. Ich knalte Schranktüren zu und stellte die Spülmaschine an. Wenn ich eines nicht brauchte, dann war es das Mitleid meiner Freundin! Was war, wenn mich keiner einlud? Die anderen jungen dachten sicher, Tim hätte mich eingeladen, denn sie hatten uns oft genug zusammen gesehen. Aber wenn Tim sich lieber mit Mädchen wie Marcy verabredete, endete ich eines Tages todsicher wie Tante Maude als alte Jungfer. Ich hatte eine so schlechte Laune, dass ich mich noch nicht einmal auf das Fernsehprogramm konzentrieren konnte. Da ich meine Eltern auch nicht sehen mochte, wenn sie wiederkamen, verzog ich mich auf mein Zimmer. Eigentlich hätte ich versuchen müssen, mich durch irgendeine Beschäftigung abzulenken, aber es ging einfach nicht. Mir war nur zum Heulen zumute.
Als der, Samstag immer näherrückte, hatte ich jede Hoffnung auf eine Verabredung aufgegeben. Ich verdrängte jeden Gedanken an das Fest und schaffte es sogar, mich auf dem Flohmarkt zu amüsieren. Kathy und ich waren wieder so wie früher, als wir noch nicht an Jungen und Verabredungen gedacht hatten. Wir schlenderten von einem, Stand zum anderen, probierten da alte Hüte auf und wühlten dort in alten Schallplatten und Büchern. Als wir wieder nach Hause gingen, hatte jede von uns etwas erstanden: Ich hatte zwei alte Beatle-Alben gefunden, die ich mir schon lange gewünscht hatte, und eine tolle antike Nachttischlampe. Kathy zog stolz mit einer rosafarbenen Federboa davon, die sie ergattert hatte. »Sie passt zwar nicht zu meiner Haarfarbe, aber ich will sie trotzdem unbedingt haben! Stel dir vor, was für eine tolle Wirkung ich erziehle, wenn ich heute abend in den Saal rausche und die Boa hinter mir herschleife! Ich werde bestimmt umwerfend sein!« Das war die alte Kathy, die meist in ihrer Phantasiewelt lebte. Als wir eng aneinander gekuschelt in dem kalten Bus sagen, wünschte ich mir, dass wir nie erwachsen geworden wären. Das Leben war viel einfacher gewesen, als wir noch in die Grundschule gingen. Beim Abendessen blieb mir jeder Bissen im Hals stecken. Ich hatte keinen Hunger, obwohl ich den ganzen Tag über nur ein einen Hamburger gegessen hatte. »Gehst du heute mit Kathy noch irgendwohin, Annie?« fragte meine Mutter, als ich vom Tisch aufstand. »Nein, heute nicht. Sie muss noch für ihre Theateraufführung proben«, log ich. Als ich in meinern Zimmer war. fragte ich mich, warum ich die Unwahrheit gesagt hatte. Ich kannte aber die Antwort ganz genau. Meine Eltern sollten nicht wissen, dass ich nicht zum Schulfest ging, weil mich kein Junge eingeladen hatte. Und vor, mir selbst wollte ich das auch nicht zugeben, Eigentlich mussten sich meine Eltern darüber wundern, dass mich nie ein Junge besuchte. Ich wulte, dass meine Mutter in meinem Alter bei den jungen sehr beliebt gewesen war. Damals musste sie nicht viel anders ausgesehen haben als
heute. Auf vielen alten Fotos standen Jungen mit Bürstenschnitt und weiten Hosen urn sie herum oder sassen neben ihr. Falls meine Mutter jemals herausgefunden hatte, warum ich so wenig Erfolg hatte, dann hatte sie es jedenfalls für sich behalten. Vielleicht hielt sie mich auch für einen Spätsünder, der für die Jungen erst interessant wurde, wenn der Babyspeck weg war. Aber wunderte sie sich denn nicht darüber, dass ich immer noch keinen Freund hatte, trotz meiner neuen schlanken Figur? »Marcy Cummings war natürlich auch sehr schlank ... Dieser Gedanke machte mich rasend. Andauernd musste ich an sie denken - ob ich wollte oder nicht. lch versuchte mich abzulenken, aber immer wieder sah ich sie in Tims Armen tanzen. Sie sah mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf, kicherte und flüsterte ihm einschmeichelnde Wort ins Ohr. Es war eine ekelhafte Vorstellung! Wieder einmal schwor ich mir, nie so zu werden wie Marcy. Nie! Auch wenn mich dann nie in meinem Leben ein Junge haben wollte. Aber Kathy hatte meine Situation eher durchschaut als ich. Ich sollte wirklich von nun an meinen Mund halten und keine guten Ratschläge mehr vertellen. Vielleicht hatte ich auf diese Weise mehr Erfolg. Von jetzt an jedenfails wollte ich Tim O'Hara ignorieren. Und wenn er sich mit mir unterhalten wolte. würde ich nur noch von mir reden. Oder über die Klasse oder Stars oder Sport. Über alles - nur nicht über seine Probleme. »Wenn er Schwierigkeiten hat, kann er ja zu einem Anwalt gehen!« zischte ich laut in die Stille meines Zimmers. Aber besser ging es mir deshalb noch lange nicht. Wie sollte es auch, wo ich doch genau wusste, dass sich alle meine Klassenkameraden an diesem Abend auf dem Schulfest der Castle Heights High amüsierten - nur ich nicht! Ich nahm ein langes, heisses Bad - mit Moms teuersten Badeöl. Danäch zog ich meinen Badermantel über meinen Schlafanzug und schlich auf Zehenspitzen in die Küche. Meine Eitern solten mich nicht hören.
Ich kam mir wie ein Dieb vor als ich eine Schüssel mit Schokoladeneis füllte und einen Teller mit Plätzchen belegte. Dann schlich ich wieder zurück in mein Zimmer, um meinen Kummer in Sügigkeiten zu ersticken. Aber es half alles nichts. Als ich ins Bett ging, fühlte ich mich noch schlechter als vorher. Ich wusste genau, dass auch meine neuen Vorsätze nichts taugten Meine Chancen standen nicht sehr gut, doch noch an einen Freund zu kommen es sei denn, ich versuchte, von Marcy Cummings jede'n Trick zu lernen!
Ungefähr eine Woche nach dem Schulfest war ich so damit ausgelast für die Schule zu paucken, dass ich mir über Tim nicht länger den Kopf zerbrechen konnte. Ich fragte mich nicht einmal, wie sein Verhältnis zu Marcy jetzt wohl war. Das einzige, was ich feststellte, war die Tatsache, dass ich die beiden in den Pausen oft zusammen sah. Wenn ich jetzt so zurückdenke erinnere ich mich wieder genau daran, wie unglücklich ich in dieser Zeit war. Das gestand ich mir damals natürlich nicht ein, denn ich befürchtete, dass meine Beschäftigung mit den Jungen im Allgemeinen und mit Tim im Besonderen einen schlechten Einfluss auf meine Noten in der Schule haben könnte. Trotzdem ertrug ich es irgendwie, Tim und Marcy zusammen zu sehen, denn in gewisser Weise hatte ich resigniert. Mir war klar geworden, dass ich aus dern Rennen war, wenn Tim Mädchen wie Marcy nett fand. Ich war ganz froh, dass wir nach aussen hin noch ganz gute Kumpels waren, konzentrierte mich aber sonst nur noch auf Geomëtrie, französische Verben und Geschichte. In diesen Wochen war die Aufführung von »Unsere kleine Stadt« der einzige Lichtblick. Da Marcy die zweite Besetzung spielte, musste sie während der ganzen Aufführung hinter der Bühne sitzen. Bestimmt hoffte sie, dass Janice, die die Emily spielte, sich vor dem letzten Akt noch ein Bein brach. Das wäre dann Marcys grosse Chancen gewesen, mit ihrem »Talent« zu glänzen. Mein einziger Wunsch war, nie mitansehen zu müssen, wie Marcy und Tim sich
küssten. Er sass übrigens mit seinen Eltern zwei Reihen vor der, in der ich neben Carol Deutsch sass Kathy spielte phantastisch wie immer. Carol und ich trafen sie auf dem Flur, als wir nach der Aufführung zu Pop's gehen wollten. Kathy hatte sich schon für die Party urngezogen, die ihre Eltern an diesem Abend für sie gaben. Sie sah toll aus. Sie halte ein eisblaues Wollkleid an und sich ihre heiggeliebte Boa urn die Schultern geworfen. »Du warst klasse, Kathy«, gratulierte ich und umarmte sie stürmisch. Sie kicherte. »Was hältst du denn von meiner Abendrobe?« »Deine Boa ist wirklich sehr ausgefallen, meinte Carol bewundernd. »Woher hast du sie?« »Oh, aus einer ganz tollen Boutique.« Dabei sah Kathy mich an und zwinkerte mir zu. »Gott sei Dank musste ich mir für meine Rolle das Haar grau färben. lhr beide wärt sonst sicher blind geworden, wenn ihr mich angesehen hättet. Meine roten Haare stechen sich nämlich ganz schön mit dem Rosa.« Sie reckte ihren Hals, um zu schen, wer sonst noch vor der Aula stand. »Meine Eltern sind wohl schon vorgegangen«, meinte sie. »Habt ihr nicht Lust, auch zu kommen? Mom hat tollen Kuchen gebacken, und es gibt ausserdem Bowle und sagenhafte Häppchen. « »Hört sich gut an. « Carol sah mich an. »Was meinst du, Annie?« Ich gähnte demonstrativ. »Ach, ich weiss nicht«, sagte ich lustlos. »Ich bin hundemüde - das sind wohl die Nachwirkungen von der Paukerei der letzten Tage. Aber ich begleite dich bis zu Kathys Haus, wenn du noch hinwillst. Da muss ich ja sowieso vorbei.« »Bitte, komm doch, Annie«, bat Kathy. Aber ich zwang mich, noch einmal herzhaft zu gähnen.
»Nein, Kathy, ich bin wirklich sehr müde«, wiederholte ich hastig. »Du warst heute abend wirklich toll. Und bestelt Kurt von mir, dass er auch sehr gut gespielt hat.« Ich kam mir ungeheuer schlau vor und war sehr mit mir zufrieden. Denn als Kurts Name erwähnt wurde, hatte Kathy mich sofort vergessen. »Ich finde auch, dass er gut war. Nächstes Mal muss er unbedingt die männliche Hauptrolle bekommen«, meinte sie ernsthaft. »Er sieht viel zu gut aus, um als alter Man n zurechtgemacht zu werden.« Mit einem schnellen »Ich hoffe, du überlegst es dir noch mal, - Annie, und komst doch« war Kathy dann verschwunden. Und Carol und ich gingen zu Pop's, um eine Pizza zu essen und eine Cola zu trinken. »Willst du nicht doch auf ein paar Minuten mit zu den O'Haras kommen, Annie?« fragte mich Carol, als wir eine halbe Stunde später die Pizzeria verliezen. Ich schüttelte den Kopf. »Mein einziger Wunsch ist, so schnell wie möglich ins Bett zu kommen.« Erst als ich mich von Carol vor dem Haus der O'Haras verabschiedet hatte und allein weiterging, gestand ich mir ein, aus welchem Grund ich wirklich nicht auf die Party gegangen war: Ich konnte es einfach nicht ertragen, mitansehen zu mussen, wie Tim Marcy anhimmelte.
Einige Tage später geriet ich in eine Situation, die für mich schrecklich peinlich und schwierig war. Ich hatte mit Tim nur noch selten ein Wort gewechselt, seit er mich das letztemal zu Pop's eingeladen hatte. Ich hatte den Eindruck, dass er mit mir nicht mehr über seine Probleme reden wollte. Deshalb dachte ich mir auch nichts dabei, als ich ihn eines Mittags am Eingang der Cafeteria herumschleichen sah. Ich stelte nur fest, dass er in seiner grünen Cordjacke, die seine Augenfarbe und seine schwarzen Haare so toll zur Geltung brachte, wieder mal umwerfend
aussah. Ich versuchte, möglichst gelassen zu wirken, als ich auf ihn zuging. Er wartete bestimmt auf Marcy. »Hallo, Tim«, grügte ich ihn kurz, als ich die Schwingtür öffnete. Aber zu meinem grenzenlosen Erstaunen hielt er mich am Ellenbogen zurück, als ich an ihm vorbeigehen wollte. »Warte, Annie«, meinte er bittend. »Oder bist du schon mit jemandem verabredet? Ich starrte ihn fassungslos an. »Nein, das nicht. Warum?« »Hast du nicht Lust, mit mir zu Pop's zu gehen?« »Zu Pop's?« Meine Stimme überschlug sich förmlich. »ja, 'warum nicht? Wir gehen hin, essen was und sind in einer Stunde wieder pünktlich zum Unterricht zurück.« Er lächelte mich mit seinem umwerfendsten Lächeln an. »Ich lade dich auch ein.« Eine innere Stimme - war es vielleicht mein Stolz? - flüsterte: »Sag nein!« Aber die Vorstellung, mit Tim zusarnmensein zu können, mit ihm an einem. Tisch zu sitzen und sich mit ihm zu unterhalten, war einfach zu verlockend. Und wie unter einem Zwang sagte ich deshalb: »Gut, ich komme mit. Ich muss nur noch meinen Mantel holen« Als ich Tim kurz darauf vor dem Hauptausgang der Schule traf, war er genauso vermummt wie ich. Er hatte den Kragen seiner blau-goldenen, Basketballjacke hochgeschlagen, um sich gegen den eisigen Novemberwind zu schützen. »Wir bekommen bestimmt noch vor dem Thanksgivingday Schnee.« Ich hatte plötzlich meine ganze Zurückhaltung, die ich Tim gegenüber in letzter Zeit an den Tag gelegt hatte, vergessen.. Am liebsten hätte ich mich bei ihm eingehakt und gebeten: »Tim, sag mir doch bitte, was ich falsch gemacht habe.« Wir bogen um eine Ecke, und der Wind fuhr mir so eisig ins Gesicht, dass ich nach Luft schnappte. Wir sagten kein Wort, denn wir hatten nur das Bedürfnis, so schnell wie möglich in die Pizzeria zu kommen. Aber trotz der beigenden Kälte war mir innerlich ganz warm. Noch nicht einmal der graue Himmel konnte mir meine Stimmung zerstören. Und plötzlich merkte ich, wie sehr Tim mir gefehlt hatte.
Als wir bei Pop's gemütlich im Warmen sagen und genüsslich unsere Frikadellen assen, die Tim bestellt hatte, musste ich ihn immer wieder ansehen. Wir lachten darüber, als ihm das Tomaten-Ketchup einmal versehentlich spritzte, und amüsierten uns königlich über die dümmsten Witze. Ich wünschte mir nur, dag diese Stunde eine Ewigkeit dauern würde. Aber ich machte rnir auch nichts vor - ich wusste genau, dass Tim mich aus einem bestimmten Grund eingeladen hatte. Nur nicht aus dem Grund, den ich mir gewünscht hätte. Und dann kam er schliefilich zur Sache. »Du erinnerst dich doch, dass ich mit Marcy Cummings auf dem Schulfest war«, fing er an. Er ahnte ja nicht, dass ich seit dem Tag beinahe an nichts anderes mehr gedacht hatte. »Habt ihr viel Spass gehabt?« Ich hörte selbst, wie frostig meine Stimme klang. »ja, es war ganz toll.« Tims Stimme klang aber ein bissehen zu begeistert, fand ich. Ich hoffte aus tiefstem Herzen dass Marcy mit jedem Jungen heftig geflirtet hatte, sagte aber kein Wort. Ich sass da und versuchte zu lächeln, damit Tim nur nicht merkte, wie eifersüchtig und verletzt ich war. »Ich hatte eigentlich gedacht, wir würden dich auch dort treffen«, fuhr Tim fort und sah mich dabei mit seinen grünen Augen an, als erwarte er eine Antwort. Aber was sollte ich darauf sagen? Dass ich nur mit ihm hätte dahin gehen wollen und dass mich sonst kein Junge eingeladen hatte? »Ich hatte an dem Tag etwas anderes vor«, erwiderte ich schliesslich ausweichend. »Was hältst du eigentlich von Marcy, Annie?« fragte Tim unvermittelt. »Ich meine, du kennst sie doch schon lange, nicht wahr?« Jetzt war ich wirklich sprachlos. Warum fragte Tim, was ich von dieser Ziege hielt? Ich öffnete meinen Mund, um ihm zu sagen, dass ich sie auf den Tod nicht ausstehen konnte, schlog ihn dann aber wieder.
Wenn Tim Marcy mochte, und ich redete schlecht über sie, war ich der Verlierer und nicht Marcy. Tim hielt mich, sicher für eifersüchtig, wenn ich meine ehrliche Meinung sagte. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich war ja auch entsetzlich eifersüchtig. Diese Tatsache hätte ich vor Tim nie verbergen können, wenn ich über Marcy herzog. Also unterdrückte ich tapfer meine wahren Gefühle und sagte so diplomatisch wie rnöglich: »Ich glaube, sie ist ganz in Ordnung. Mehr kann ich dir auch nicht sagen, denn wir waren nie in einer Clique. « »ja, sie hat mir erzählt, sie wäre ihrem Alter immer ziemlich voraüs gewesen. « Tims Stimme klang so, als hätte Marcy den Nobelpreis gewonnen. Ihrem Alter voraus! Wenn das nun Hochnäsigkeit, Affektiertheit, Hinterhältigkeit und Klatschsucht bedeutete, war Marcy wirklich schon immer. ihrern Alter weit voraus gewesen! Ich war zu wütend, um etwas antworten zu können. Ich glaube, wenn ich nur den Mund geöffnet hätte, wären mir all diese gehässigen Dinge entschlüpft. Deshalb zuckte ich nur, mit den Schultern. »Wenn man sie richting kennengelernt hat, kann Marcy unwahrscheinlich nett sein«, fuhr Tim fort, als hätte er gemerkt, dass sie nicht gerade zu den Leuten gehörte, die ich besonder's mochte. »Das ist schwer zu glauben, nicht wahr? Einmal hat sie mir erzählt, dass sie vor Fremden so grosse Hemmungen hat, dass sie kein Wort herausbringen känn.« Als ich das hörte, musste ich erstmal einen Schluck von meinem Ginger Ale nehmen. Marcy Cutnmings sollte nett sein! Sie war genauso nett wie ein Wespennest und genauso giftig! Oh, ich konnte mir genau verstellen, was sie Tim alles aufgetischt hatte - wie klein und schüchtern sie war und dass sie einen grossen, starken Basketballspieler brauchte, der sie beschützte. Ich hätte bei dem Gedanken am liebsten um mich geschlagen.
»Schau, Annie, und dann hat sie mir noch gesagt, dass sie sich in ihrern Alter noch nicht an einen jungen binden möchte, weil sie diese Kontaktschwierigkeiten hat.« Ich triumphierte innerlich, was mir aber sofort wieder leid tat, als ich sah, wie niedergeschlagen Tim war. »Sie meint, es ist von mir nicht fair, wenn ich ihr verbiete, mit anderen Jungen auszugehen, nur weil wir mal miteinander verabredet waren. Aber ich will sie nicht mit anderen teilen. « Er seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Dabei sah Tim so traurig aus, dass ich am liebsten einen Arm um ihn gelegt hätte. »Und jetzt möchte ich wissen, was du davon hältst, Annie? Was soll ich machen? Du hast rnir doch bisher immer so gute Ratschläge gegeben. « Im ersten Moment brachte ich überhaupt keine Antwort zustande. Mir kam die ganze Situation wie ein Alptraum vor. Bestimmt würde ich gleich in meinem Bett aufwachen und nicht mehr mit Tim bei Pop's sitzen. Und ich brauchte ihm dann auch nicht zu raten, wie er sich Marcy gegenüber verhalten sollte. Aber leider träumte ich nicht. Und das Schlimmste war, dass ich Tim unmöglich meine ehrliche Meinung sagen konnte. Deshalb zögerte ich meine Antwort so lange wie möglich hinaus, trank meinen letzten Schluck Ginger Ale und überlegte dabei angestrengt, was ich Tim erwidern konnte, ohne dass er mich für den Rest meines Lebens hasste. Schliefilich murmelte ich: »Tu' was du für das Beste hältst, Tim.« Dann stand ich schnell auf und nahm meinen Mantel. »Es wird Zeit. Wir müssen los, wenn wir nicht zu spät zum Unterricht kommen wollen.« Aber Tim gab nicht auf. Es war zwar zu kalt und windig, um sich auf dem Weg zur Schule zu unterhalten, aber kaum hatten wir das Gebäude betreten, redete Tim weiter als hätten wir unser Gespräch nie unterbrochen. »Du meinst also, ich soll mit Marcy Geduld haben und sie nicht zwingen, etwas zu tun, das sie nicht möchte?«
Man sollte sie eine Klippe hinunterstürzen, das wäre das Beste für sie! Aber das konnte ich Tim ja leider nicht sagen. So nickte ich nur. »ja, das solltest du Tim. Kein Mädchen lässt sich gern zu irgend etwas zwingen.« Tim schüttelte meine Hand so wild, dass ich beinahe Angst hatte, sie würde mir abfallen. »Du bist wirklich ein Prachtexemplar! Ich wüsste echt nicht, was ich ohne dich machen sollte, Annie.« »Danke fürs Mittagessen«, flüsterte ich. Tim ahnte ja nicht, wie schwer mir,dieses Essen im Magen lag. Um meine wahren Gefühle nur ja nicht zu zeigen, lächelte ich ihn noch einmal an und ging davon. Aber als ich meinen Mantel aufgehängt und die Bücher genommen hatte, knallte ich meine Schliegfachtür so laut zu, dass sich ein paar Schüler erstaunt nach mir umdrehten. Was mache ich nur falsch? fragte ich rnich niedergeschlagen. Ich sorgte praktisch selbst dafür, dass es mir immer miserabler ging. Denn nichts lag mir ferner, als den Boden dafür zu bereiten, dass Tim und Marcy noch öfter zusammen waren. Aber was tat ich? Ich war zum Opfer meines eigenen Images geworden. Ich hatte Tim so gute Ratschläge gegeben, dass er immer wieder zu mir kam. Und ich kontte nicht aussprechen, was ich dachte, weil ich sonst meine wirklichen Gefühle verraten hätte. Leute, ich steckte in einer echten Zwiekmühle! So verbrachte ich den restlichen Nachmittag damit, mich genauso über Tim wie über mich selbst zu ärgem. Ihm kreidete ich an, dass er auf so eine Ziege hereinfiel, und mir warf ich vor, dass ich einfach nicht in der Lage war, vor Tim mal nicht die »liebe Annie« zu spielen' Es war eine Situation, aus der ich weder ein noch aus wusste. Einerseits wollte ich mit Tim zusammen sein, andererseits hasste ich es, weil ich genau wusste, dass er mich nur so lange brauchte, wie ich ihm helfen konnte. Und so schrecklich es auch war: Ich war lieber mit Tim zusammen und gab ihm Ratschläge, als dass ich ihn Überhaupt nicht mehr getroffen hätte.
Die nächsten Wochen waren einfach unerträglich. Noch nicht einmal der Truthahn und die Kürbispastete zum Thanksgiving konnten meine traurige Stimmung aufbessern. Die Basketball Saison war auch in vollem Gange, und ich konnte mich von den Spielen nicht ausschliegen, weil das aufgefallen wäre. Daher ging ich mit Carol und Kathy hin wenn die mal nicht mit Kurt verabredet war. Die ganze Zeit über hatte ich nur Augen für Tim, ob er nun auf dem Spielfeld war oder auf der Ersatzbank sass. Aber ab und zu sah ich auch zu Marcy hinüber, die bei den Spielen immer in den vorderen Reihen sass. Ich konnte beobachten, wie sie jedesmal mit ihren Wimpern klimperte und süss lächelte, sobald Tim nur in ihre Richtung blickte. Sobald ein Spiel vorüber war, suchte ich immer nach einer Ausrede, um mit den -anderen nicht zu Pop's gehen zu mussen. Ich konnte einfach nicht den Anbliek ertragen, wie Marcy sich an Tim hängte. Wenn ich in dieser Zeit nicht meine Arbeit bei der Zeitung gehabt hätte und nicht soviel für die Schule hätte lernen müssen, wäre ich sicher verrückt keworden. Das Schlimme war nämlich, dass Tim mich immer noch um meine Meinung fragte - und meist ging es dann um seine Beziehung zu Marcy. Und nie dürfte ich dem Wunsch nachgeben, ihm zu erklären, dass ich Marcy am liebsten mit dem dicksten Stock durchprügein würde, den ich finden konnte. Wenn wir uns über Marcy unterhielten, liess ich nur so dämliche Sätze los wie: »Du musst tun, was dir dein Herz befiehlt«, oder: »Du kannst es nicht jedem recht machen.« Da ich irgend etwas sagen musste, hielt ich meine Kommentare so neutral wie möglich. Ich lobte Marcy zwar nicht über den grünen Klee, aber Tim merkte auch nie, was ich wirklich von ihr hielt. In dieser Zeit waren Kathy und Kurt immer öfter zusammen, und ich fühlte mich einsamer als je zuvor. Ich fing an, Kathy zu beobachten, und versuchte herauszufinden, warum ein Mädchen wie sie, das mit beiden Beinen auf der
Erde stand, einen Freund hatte. Ich war doch genauso, aber trotzdem kam bei mir kein Junge auf die Idee, sich mit mir zu verabreden. Als wir an einem Nachmittag im Dezember bei den O'Haras zusammen vor dem Kamin sagen, benahm ich mich wohl irgendwie anders als sonst, denn Kathy fragte mich, ob ich Sorgen hätte. »Du starrst mich die ganze Zeit an, als wäre ich - als wäre ich irgendein Bazillus, den man unter einem Mikroskop betrachtet«, meinte sie »Es ist richtig unheimlich. Du hast mich angesehen, als wenn du verrückt wärst.« »Jetzt übertreibst du aber. Ich habe dich genauso angeschaut wie sonst auch«, fuhr ich auf. »Geht es um Tim oder um Marcy?« fragte Kathy ungerührt weiter. Ich starrte vor mich auf den Boden und sagte kein Wort. »Du weisst, dass vielleicht noch was zu ändern ist«, meinte sie. »Ich glaube, du warst einfach nicht angriffslustig genug.« »Aber ich kann mich doch nicht zwische'n die beiden stellen«, wandte ich ein. »Du darfst aber nicht aufgeben. Du musst Tim zeigen, dass du ein nettes Mädchen bist. Du darfst dich nicht vor ihm verstecken.« Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, hörten wir lautes Gekicher von der Haustür her. Kathy verdrehte vor Verzweiflung die Augen. »Tim bringt sie ja schon wieder mit«, stöhnte sie. »Arme Annie, wie schrecklich für dich. Aber ich werde bestimmt demnächst ein Wörtchen mit ihm reden. Wogegen du doch sicher nichts hast. oder?« Ich lächelte sie dankbar an, doch dann hörte ich Tim und Marcy näherkommen und stand auf. »Ich muss gehen, Kathy.« »Okay«, meinte sie. »Ich versteh schon.« »Hallo, ihr zwei.« Bei Tims Anblick stookte mir der Atem. »Du willst doch noch nicht gehen, Annie?« »Ich muss noch lernen«, stammelte ich. Und dann sah ich sie! Sie stand hinter Tim und hatte demonstrativ eine Hand auf seine Schulter gelegt. Ihre Stimme
klang zuckergüss als sie zu mir sagte: »Du paukst ganz schön viel, nicht wahr, Annie?« Dabei kicherte sie albern, wofür ich wirklich keinen Grud sah. »ja, aber nur dann, wenn ich mal nicht gerade in einem Nachtclub sitze oder mit dem Premierminister Tee trinke«, meinte ich so lässig wie möglich. Marcy sollte nur nicht glauben, sie könnte mich lächerlich machen. Tim brach in lautes Gelächter aus, was er bestimmt unterlassen hätte, wenn er gesehen hätte, wie Marcy hinter seinem Rücken die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Ich warf ihr ein besonders süges Lächeln zu, was meinem Filmstarlächeln recht ähnlich war, und ging dann zur Tür. »Ich seh euch ja morgen.« Leider ruinierte Marcy mir meinen tollen Abgang. Ich hörte nämlich beim Hinausgehen, wie sie mit auffallend freundlicher Stimme sagte: »Ist es nicht beneidenswert, wie fleissig Annie immer ist? Ach, wäre ich froh, wenn ich auch mal Zeit dazu hätte.« Und ich wäre froh, wenn du vor einen Schulbus rennen würdest, dachte ich wütend, als ich in der Diele meinen Mantel und meine Bücher vom Tisch nahm und aus dem Haus stürmte. Ihr glaubt jetzt bestimmt, dass ich nun keine Hemmungen mehr gehabt hätte, Tim meine wahre Meinung über Marcy einzugestehen. Aber da habt ihr euch leider getäuscht! Ich konnte es einfach nicht! Es ing nicht! Ich war einfach zu feige. Ich hatte Angst, Tim würde mich dann gar nicht mehr beachten. Gleichzeitig hasste ich mich selbst dafür, weil ich die grösste Heuchlerin der Welt war.' Ich wusste weder ein, noch aus. Kurz vor Weihnachten hatte Kathy wieder Proben, diesmal für die neujahrsrevue, so dass ich wieder mal allein durch den schmutzigen wochenalten Schnee stapfte, als Tim mich einholte. Seine Wangen waren von der eisigen Kälte gerötet, und seine Augen waren grüner als je zuvor. »Ich habe hinter dir hergerufen, aber der Wind stand wohl
falsch.« Er hielt sich die Seite. »Ich hab eigentlich gedacht, dass meine Kondition besser wäre. Ich bin nur zwei Blocks gelaufen, aber das bisschen hat mich schon umgehauen.« Ich ging langsamer, damit Tim wieder Atem schöpfen konnte. Aber dieses Mal war ich nicht'so glücklich über seine Anwesenheit, wie ich es noch vor einigen Wochen gewesen wäre. Tim hatte sich also beeilt, um mich einzuholen. Mein Gott! Ich wusste ja inzwischen, dass er es nicht getan hatte, weil ihm besonders viel an meiner Gesellschaft lag. Ich sagte kein Wort, denn dazu hatte ich keine Lust. Wenn wir nicht miteinander redeten, konnte ich es einfach geniessen, dass Tim neben mir ging. Wenn wir uns aber unterhielten, wurde ich hundertprozentig an zwei Dinge erinnert, an die ich weiss, Gott nicht denken wollte: einmal, dass ich nur Tims Kumpel war, und zum anderen, dass Marcy Cummings das Mädchen war das er liebte. »Kommst du auch zu Kenny Farrels Weihnachtsparty?« fragte Tim, als er wieder zu Atem gekommen war. lch schuttelte den Kopf. »Wir fahren für vier Tage zu meiner Grossmutter nach Allentown.« »Oh, das ist aber schade. Es sind bestimmt viele von uns da. Und Kennys Eltern sind echt toll. Sie lassen ihn immer seine Partys allein organisieren und mischen sich überhaupt nicht ein.« »Man wird mich bestimmt nicht vermissen«, murmelte ich nicht ohne Selbstmitleid. »Warum sollte man dich nicht vermissen?« Tims Stimme klang leicht erstaunt. »Über solche Dinge solltest du keine Witze machen, Annie. Ich werde dich jedenfalls vermissen«, fügte er hinzu. Und mein Herz schien für einen Moment stilzustehen, als er fortfuhr: »Und ganz besonders, weil Marcy mit Barry Gold$tein auf die Party geht.« »Sie geht mit einem deiner Freunde dorthin?« Ich hatte ja schon immer gewusst, dass Marcy einen schlechten Charakter hatte. Dass er aber so mies war, hatte nicht einmal ich vermutet.
Ich sah zu Tim hinüber, aber er bemerkte es nicht, weil er vor sich hin auf den vereisten Gehsteig starrte. An seiner Haltung und an der Art, wie er ging, konnte ich merken, wie schrecklich ihm zumute war. Er seufzte schwer. »Ich glaube, es ist nicht Mareys Fehler. Sie hat mir gesagt, sie hätte darauf gewartet, dass ich sie wegen der Party fragen würde. Und als ich das nicht getan habe, hat sie Barrys Einladung angenommen. Ich glaube, ich habe es für selbstverständlich gehalten, das sie mit mir zu Kennys Party geht, meinst du nicht auch?« Natürlich konntest du das als selbstverständlich hinnehmen, hätte ich am liebsten geantwortet. Sie ist doch angeblich deine Freundin. Aber natürlich tat ich das nicht. Ich murmelte nur: »Ich.glaube, sie hat gar nicht geahnt, dass du vorhattest, sie zu fragen.« Er blickte mich an, und ich konnte sehen, wie er sich wieder entspannte. »Jetzt weiss ich wenigstens für das nächste Mal Bescheid, nicht wahr?« »Sicher hast du recht«, murmelte ich vor mich hin. Dabei fragte ich mich, warum er so lange brauchte, bis er endlich merkte, dass Marcy ihn nur hinhielt. Ich hatte die Nase so voll davon, mitanzusehen, dass Tim sich zu Mareys Hampelmann machen liess dass ich kein Wort mehr redete, bis wir bis bel ihn zuhause angekomrnen waren. Nach einem kurzen »Tschüg« ging ich allein weiter. Kurz vor unserem Haus traf ich Doug Ruffner und Kenny. »Annie, ist irgend etwas passiert?« fragte mich Kenny, als er mich sah. Ich zuckte mit den schultern, riss mich zusammen und lächelte so unbekümmert wie möglich »Ach, ich ärgere mich nur darüber, dass ich Weihnachten nicht auf deine Party kommen kann, weil ich mit meinen Eltern wegfahre.« »Das finde ich aber gar nicht gut!« rief er so theatralisch, dass ich darüber lachen musste. »Ich werde dich einsperren lassen und vor Gericht stellen. Dann
wird dir niemand solchen Grund durchgehen lassen!« Dann wurde er wieder ernst. »Ehrlich, Annie, ich finde das wirklich sehr schade.« . »Du verpasst eine ganz tolle Party«, fügte Doug grinsend hinzu. »Sandy hat gesagt, sie würde lieber sterben, als nicht hinzugehen.« »Komm doch bitte auch, Annie«, bat Kenny. »Ach, das sagst du doch nur so«, meinte ich wegwerfend, fühlte mich aber insgehemn ganz schön geschmeichelt. »Es sind doch genügend andere Mädchen da.« Ich war schon fast bereit zu glauben, dass ich vielleicht doch noch auf Castle Heights High eine Zukunft als Mädchen haben könnte, als Kenny hinzufügte: »Die anderen sind aber nicht so wie du, Annie. Ich meine, du bist doch eine von uns.« Ich sah schnell auf, um festzustellen, ob er vielleicht nur einen Witz gemacht hatte. Aber Kenny blickte mich nur bedauernd an und schien zu glauben, dass er mir ein tolles Kompliment gemacht hatte. Und was die Sache noch schlimmer machte - Doug nickte beipflichtend. Heisse Tränen stiegen mir in die Augen, und ich wandte meinen Kopf zur Seite, damit sie es nicht sahen. »Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns ja noch. « »ja, bis dann, Annie«, sagten sie gleichzeitig. Und als ich durch den Schneematsch zu unserem Haus stapfte, blickte ich mich noch einmal nach ihnen um. Sie hatten sich gegenseitig die Arme um die Schulter gelegt, lachten und redeten lebhaft rniteinander, wie Jungen das eben taten, wenn sie zusammen waren. Am liebsten hätte ich hinter ihnen hergebrüllt, dass ich nicht so war. Ich war kein Junge! Ich war ein Mädchen, ein Mädchen wie die anderen auch! An diesem Abend fühlte ich mich so niedergeschlagen, dass ich sofort ins Bett ging, nachdem wir gegessen hatten. Ich konnte die Weihnachtsferien kaum noch erwarten. Castle Heights High ging mir unheimlich auf den Geist, weil ich dort »die gute alte Annie«, war, das Mädchen, dass jeder gern hatte, aber keiner liebte.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schneite es wie wild. Nach dem Mittagessen in der Schule wurde uns daher Von einer sachlichen Stimme per Lautsprecher mitgeteilt, dass der Unterricht um dreizehn Uhr dreissig beendet wäre. Wir wurden gebeten, am nächsten Morgen um sieben Radio zu hören. Dann würden wir erfahren, ob wir vor den Ferien noch eininal zur Schule kommen müssten oder ob der Unterricht wegen der Schneefälle ganz ausfiel. Als diese Lautsprecherdurchsage kam, hatte ich gerade Englischunterricht. Das gab vielleicht ein freudiges Geschrei über diesen unverhofften freien Nachmittag. Ich war zwar auch -ganz froh darüber, aber nicht froh genug, um vor lauter Glück laut loszuschreien. Allerdings war es mir ganz recht, dass ich mich von meinen Klassenkameraden zurückziehen konnte, so dass sie nicht mitbekamen, wir mir zumute war - denn ich hatte mich von dert gestrigen Tiefschlägen noch längst nicht erholt. Als ich auf den Hauptausgang zuging, sah ich dort Kathy und Kurt Hand in Hand stehen. Sie sahen so happy aus, dass ich mich noch schlechter fühlte. Ich glaubte, es nicht zu ertragen, wenn sie mich womöglich aufforderten, mit ihnen zusammen irgend etwas zu unternehmen. Ich konnte einfach nicht mit jemandem zusammen sein, der glücktich war und einen Freund oder eine Freundin hatte. Kurz entschlossen drehte ich mich um und lief zurück, um durch einen Seitenausgang zu entwischen. Ich kärnpfte mich durch Schnee und Eis nach Hause. Und irgendwie fühlte ich eine grimmige Befriedigung in mir aufsteigen, wenn mir der nasse Schneematsch in die Boots schwappte. Viellëicht bekam ich jetzt eine Lungenentzündung, und dann würde ich jedern leid tun, dachte ich wütend. Als ich mir aber darüber im klaren war, was ich mir gerade gewünscht hatte, kam ich mir wie ein Baby vor und fing an zu weinen, weil ich mich so scheusslich fühlte. Die Tränen liefen über meine Wangen und vermischten sich mit dem Schnee. .
»Gott sei Dank, dass du zurück bist<" empfing mich meine Mutter als ich zur Haustür hereinkam. »Ich habe im Radio gehört, dass die Schule heute früher geschlossen hat. Ich lieg mir von ihr aus rneinem vereisten Mantel helfen, war aber zu deprimiert, um mit ihr reden zu können. Du bist ja vollkomnmen durchgefroren, Annie!« Sie legte ihre warme.Hand auf rneine Stirn. »Ich mache dir jetzt eine Tasse heissen Tee mit Honig, damit du keine Erkältung bekommst.« »Danke, Mom«, murmelte ich und folgte ihr mit steif gefrorenen Gliedern in die küche, wo ich mich, auf den erstbesten Stuhl fallen lieg. lch fühlte mich von Minute zu Minute müder und schwächer und dachte wieder an meinen Wunsch. krank zu werden. Mom wirtschaftete in der Küche herum und redete unentwegt davon, dass wir unseren Plan, zu meiner Grossmutter zu fahren, wegen des Wetters hoffentlich nicht aufgeben mussten. Normalerweise sprach sie nicht so viel, aber vielleicht hatte sie gemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte, und wollte mich ein bisschen ablenken. Ich weiss aber noch ganz genau, dass ihre Aufrnerksamkeit und jeder besorgte Blick, den sie mir zuwarf, mich noch unglücklicher machten. Nachdem mein Tee fertig war, nahm ich ihn mit in mein Zimmer. Mom hatte mir geraten, sofort ins Bett zu gehen, damit ich nicht krank würde. Aber es war schon zu spät. Als Mom kam, um mich zum Abendessen zu wecken, tat mir jeder einzelne Knochen weh'. Sie brauchte nur einen Blick auf meine triefende Nase und in meine glasigen Augen zu werfen, um Bescheid zu wissen. »Du bleibst im Bett, junge Dame. Ich werde dir dein Essen ans Bett bringen. Du willst doch bestimmt über Weihnachten keine Erkältung haben und auf all das Schöne an den Feiertagen verzachten müssen.« Was für schöne Dinge würde ich denn schon verpassen? fragte ich mich niedergeschlagen, nachdem meine Mutter wieder gegängen war. Es wäre prima, wenn ich eine Verabredung gehabt hätte und zu Kenny Farrells Party hätte gehen können. Es wäre auch schön, wenn ich zu den Mädchen gehörte, denen
die Jungen den Arm urn die Schultern legten, ohne ihr dabei kräftig auf den Rücken zu schlagen. Aber so etwas Schönes würde mir sicherlich nie in meinem Leben passieren. Dieser Meinung war ich jedenfalis, als ich schon halb eingeschlafen war. Es stellte sich schnell heraus, dass ich keine Lungenentzündung hatte. Es war noch nicht einmal eine sehr schlimme Erkältung, sondern nur ein Schnupfen, der mir aber den Grund lieferte, im Bett zu bleiben, bis wir zu meiner Grossmutter fuhren. Es schneite immer noch so stark, dassie Schule bis nach den Ferien geschlossen worden war. Trotzdem war es mir ganz angenehm, dassch meiner Mutter nicht erklaren musste, warum ich nicht aufstand. Ich hätte ihr schlecht sagen können, dass ich dazu einfach keinen Grund sah. Meine Erkältung vertuschte vor meinen Eltern die Tatsache, dass ich rnich nicht körperlich, sondern seelisch hundsmiserabet fühlte. Am Abend, bevor wir nach Allentown fahren wollten, hörte es endlich auf zu schneien. Dad war sich trotzdem nicht darüber klar, ob es nicht zu gefährlich war, mit dem Wagen zu fahren. Doch dann setzte über Nacht Tauwetter ein, und am nächsten Tag waren, die Strassen zwar noch nass aber wieder schneefrei. Und Gott sei Dank gab es Grossmutter! Sie war die einzige, die mich aus meiner traurigen Stimmung herausreissen konnte. Sie ist die Mutter meiner Mutter, aber ganz anders als sie viel zierlicher und immer vergnügt. Sie schien niemals in niedergeschlagener Laune zu sein, obwohl sie seit Grossvaters Tod vor fünf Jahren ganz allein lebte. Wir feierten Weihnachten immer auf althergebrachte Weise, und ich war diesmal sehr froh, dass ich meine Familie um mich hatte. Der Tannenbaum war so gross, dass er fast ein Drittel von Grossmutters kleinem Wohnzimmer ausfüllte. Sie hatte wunderhübsche Strohgirlanden gebastelt und packte den Christbaumschmuck aus, den sie schon gehabt hatte, als meine Mutter noch ein Kind gewesen war. Wir schmückten, am Heiligen Abend den Baum gemeinsam, dann legte jeder seine Geschenke darunter, und danach machten wir uns auf den
Weg zur Christmette in Grossmutters Pfarrkirche. Das war ein altertümlicher, hübscher Bau, wie es keinen bei uns in Castie Heights gibt, wo die meisten Bauwerke, laut Aussage meines Vaters, aus den dreissiger Jahren stammen. Der erste Weihnachtstag war klar und sehr kalt. Wir hälfen alle mit, das üppige Mittagessen herzurichten. Und wie immer hatte Grossmutter solche Mengen gekocht, als müsste sie eine ganze Armee bekostigen und nicht nur meine Eltern und mich, sowie Tante Helen und Onkel Ben, die am Ende der Strasse wohnten. An Diät war an diesern Tag natürlich nicht zu denken, nicht, weil ich immer noch zu deprimiert war um zu fasten, sondern weil alles einfach viel zu verlockend war, um es stehenzulasseii. Es gab einen riesigen Truthahn mit einer köstlichen Sauce, augerdem süge Kartoffeln, gefülltes Brot, selbstgebackene Brötchen, geschmorte Tomaten, eingelegte Möhren und köstlich schmeckende Preiselbeeren. Als Abschlug servierte Grossmutter noch Kürbispastete, Hackfleischpastete und Tante Helens Spezialkuchen, eine Früchtetorte. Als wir dann endlich mit dem Essen fertig waren, konnten wir uns kaum noch rühren. Es dauerte lange, bis die ersten afstanden und ins Wohnzimmer hinübergingen, um ihre Geschenke auszupakken. Ich freute mich über meine Geschenke sehr über den Angorapullover von meiner Tante und meinem Onkel, über den handgestrickten Schal und die Handschuhe von Grossmutter und ganz besonders über die Reiseschreibmaschine von meinen Eltern. Nachdein alle pakete ausgepackt, die Geschenke herumgezeigt und die papierberge beseitigt worden waren, setzte sich Onkel Ben an Grossmutters Klavier und spielte Weihnachtslieder. Wir sagen »Stille Nacht«, »Ihr Kinderlein kommet und alle anderen Lieder, die ich noch gern gehört hatte, als ich noch klein war. Das einzige, was mich die ganze Zeit über bedrückte, war der Gedanke, dass ich nicht bei Grossmutter bleiben konnte. Ich musste weiter zur Schule gehen, und
war dazu verdammt, den Rest des Schuljahres als Kurnpel Annie zu verbringen. Ich hatte Angst davor, nach Castle Heights zurückzufahren und das, bevor ich wusste, was mich dort noch erwartete. Das war der heftigste Krach, den ich jemals mit Kathy gehabt hatte. Wir waren gerade wieder zuhause angekommen und hatten noch nicht einmal unsere Mäntel aufgehängt, als auch schon das Telefon scheilte. »Das ist sicher für dich, Annie!« rief meine Mutter aus der Küche. »Es wird bestimmt Kathy sein!« »Ich heb oben ab, Mom, meinte ich, schloss die Tür hinter mir und machte es mir auf dem Sofa gemütlich. Ich war darauf gefasst, anhören, zu müssen, was Kathy über Kennys Party zu berichten und welches Geschenk sie von Kurt bekommen hatte. Deshalb war ich ganz schön verbluft, als sie rnich sofort mit wütender Stimme überfiel: »Annie Wainwright, ich möchte mal gern wissen, was mit dir los ist!« »Was meinst du damit?« fragte ich total verwirrt. »Ich meine, dass ich es endlich geschaft habe, mit Tim ein paar Worte über seine blödsinnige Beziehung zu Marcys Cummings zu wechseln.« Sie war so laut, dass ich den Hörer ein Stück vom Ohr abhielt. »Und weisst du was er mir da erzählt hat?« »Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäss. »Er hat mir erzählt, dass nicht jeder so über Marcy denkt und dass ich mich in meiner Meinung über sie gewaltig irre. Er behauptete, dass du regelrecht für sie schwärmst und ebenfalls überzeugt bist, dass sie ihn niemals hinhalten würde. Was soll das denn?« fragte sie und klang jetzt eher verwirrt als wütend. »Ich habe gedacht, du magst Tim?« »Ich mag ihn ja auch«, gab ich zu. »Ich mag ihn sogar sehr. Das weisst du doch.« »Aber warum, um alles in der Welt, unterstützt du dann seine Einstellung Marcy gegenüber? Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe. Marcy hat Tim so durcheinander gebracht, dass seine Noten alle schlechter geworden sind. Wenn sich das nicht ändert, verbietet Mom ihm noch das Basketballspielen. «
»O nein, wie schrecklich für ihn!« »Du weisst doch, dass Tim versprochen hat, aus der Basketball Mannschaft auszutreten, wenn seine Noten nicht besser werden?» fragte Kathy mit einer Stimme, die vor Gehässigkeit triefte. »Tim hat mir gesagt, dass das deine Idee gewesen ist.« »Hör auf, Kathy! Ich bitte dich. Ich wollte Tim doch nicht in seiner Meinung bestärken, dass Marcy ein ganz tolles Mädchen ist. Warum hätte ich das tun sollen? Er hat mir nur immer vorgeschwärmt wie nett sie ist und wie sehr er sie mag. Und da hatte ich einfach Angst, dass er mich nicht mehr mögen würde, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich Marcy auf den Tod nicht leiden kann. Deshalb habe ich so getan, als wäre ich seiner Meinung«, endete ich lahm. »Annie, was ist bloss mit dir los?« Kathy klang so verwirrt und enttäuscht, dass ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. »Ach, Kathy, ich habe den Feller meines Lebens begangen! Du hast recht gehabt«, schluchzte ich. »Es war dumm von mir, den Kumpel der Jungen zu spielen. Aber ich hab einfach nicht gewusst, was ich sonst tun sollte. Wenn ich mich plötzlich anders benommen hätte, hätten sie mich bestimmt alle gehasst einschliesslich Tim!« »Natürlich hätten sie dich nicht gehasst. Du weisst genau, dass man sich immer zu seinem Vorteil verändern kann. Nun hör doch schon auf zu heulen, Annie! Ich hab ja nicht gewusst, dass du so unglücklich bist. Ich wollte dich eigentlich auch gar nicht so anfahren. Es liegt nur daran, dass mich diese Sache mit Tim ganz schön fertiginacht.« »Ich wünsche mir doch so sehr, dass er mich mag«, schluchzte ich. »Du hast es aber nicht nötig, den Fugabtreter zu spielen, um einen Jungen zu haben, der dich mag«, meinte sie ruhig. »Das brauchst du wirklich nicht. Warum bist du nicht du selbst? Warum benimmst du dich Tim und den anderen Jungen gegenüber nicht so, wie du dich anderen Mädchen gegenüber verhältst?« »Was - was rneinst du denn damit?« stammelte ich.
»Ich will damit sagen, dass du mich zum Beispiel nie in meiner Meinung bestärken würdest, wenn ich dir von einem jungen vorschwärme, der so schrecklich ist wie Marcy. Entweder würdest du kein Wort sagen, oder du würdest nicht damit hinterm Berg halten, was für ein Ekel er in deinen Augen ist. Verstehst du mich, Annie? Auf andere Art behandelst du die Jungen kein bisschen besser als Marcy. Und das ist idiotisch. « »Aber die Jungen fragen mich doch immer nach meiner Meinung«, wandte ich ein. »So?« lch konnte deutlich vor mir sehen, wie Kathy jetzt die Nase rümpfte. »Sie werden schon darüber hinwegkornmen und auch ohne deine Hilfe mit ihren Problemen fertig werden. Das sind sie schlieglich früher auch geworden. Und schneller, als du denkst, werden sie in dir nicht mehr ihren Kumpel, sondern ein richtiges Mädchen sehen.« »Ich glaubg, du hast recht«, sagte ich langsam und seufzte schwer. »Es ist immer noch besser, ein Augenseiter zu sein, als ein Kummerkasten für Jungen.« »Annie, würdest du ab jetzt auch aufhören, Tim zuzustimmen, wenn er Marcy in den Hirnmel hebt? Dieses Mädchen ruiniert nämlich sein Leben!« Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich ihn von jetzt an in keiner Weise mehr in dieser Richtung unterstützen werde«, meinte ich, obwohl ich genau wusste, wie schwer das fallen würde. »Gut!« Dann wechselte Kathy in ihrer sprunghaften Art das Thema und fragte mich, wie ich die Weihnachtstage verkracht hatte.
Leider ist es immer leichter, etwas zu beschliessen, als es dann auch durchzuführen. Nachdem ich das Telefonat mit Kathy beendet hatte, ging ich ins Wohnzimmer, wo meine Eltern vor dem Fernseher sagen; aber obwohl meine Lieblingssendung lief, konnte ich mich nicht darauf konzentrieren. Ich versuchte
mir die ganze Zeit vorzustellen, wie ich Tim brutal unterbrach, sobald er anfing, über Marcy zu reden. Nur, der Gedanke daran bereitete mir Bauchschmerzen. Vielleicht hat Tim Marcy aber inzwischen schon aufgegeben und nennt ihren Namen gar nicht mehr in meiner Gegenwart, dachte ich hoffnungsvoll, wusste aber gleichzeitig, dass dies nur ein schöner Traum war. Aber bevor ich Tim enttäuschte, testete ich mein »Keine-Ratschläge-Programm an einem anderen Jungen. Der Unglückliche war Doug Ruffner. Sein Schliegfah war neben meinem, und eines Tages nach den Ferien kam er zu mir, als ich gerade meine Bücher herausnahm, und erzählte mir, dass Sandy etwas dagegen hätte, wenn er mal einen Abend nur mit seinen Freunden verdringen wollte. »Sie hat gesagt, man braucht so etwas nicht, wenn man eine Freundin hat. Ich bin aber der Meinung, dass sie im Unrecht ist. Wie soll ich ihr das begreiflich machen?« Mir lagen schon eine ganze Menge guter Ratschläge auf der Zunge, als mir plötzlich mein Vorsatz wieder einfiel. Ich holte also tief Luft und sagte vollkommen ruhig: »Ich habe noch nie einen festen Freund gehabt. Ich glaube daher nicht, dass ich dir helfen kann, Doug.« Er sah mich so fassungslos an, als wäre ich ein Wesen aus einer anderen Welt. »Aber du hast mir doch bei anderen Sachen auch schon geholfen, Annie!« protestierte er. Ich nickte. »Das weiss ich, Doug. Trotzdem bin ich der Meinung, dass du das problem besser lösen kannst als ich. Ich kann dir wirklich keinen Rat geben.« Ich lächelte ihn freundlich an. »Sei nicht, böse, Doug. Ich bin sicher, Sandy und du werdet euch noch einigen.« Er sah mich stirnrunzelnd an, und ich merkte, wie wütend er auf mich war. Dann zuckte er mit den Schultern, und sein Gesichtsausdruck wurde wieder etwas freundlicher. »Vielleicht hast du recht. Ich glaube, wir sollten wirklich langsam lernen, unsere Probleme allein auszutragen, und damit aufhören, andere zu belästigen. - Trotzdem wünsche ich mir manchmal, dass jemand mit Sandy
spräche«, fügte er hinzu und trommelte gegen sein Schliessfach. »Es gibt Tage, an denen verhält sie sich, regelrecht hysterisch und überempfindlich. Dann könnte ich losschreien. Ich meine, du bist nicht so, Annie. Du bist ruhig und verständnisvoll. Warum kann Sandy nicht so sein?« »Für mich ist es nicht schwer so ruhig zu sein«, sagte ich. Die Worte waren mir herausgerutscht, bevor ich mir überhaupt darüber im klaren war, was ich da sagte. »Ich habe doch nichts zu verlieren, verstehst du? Ich bin ja nicht deine Freundin wie Sandy. Sie sicht daher alles aus einer ganz anderen Perspektive als ich.« Er nickte langsam und nachdenklich. »Da kannst du recht haben.« Er grinste und öffnete dann sein Schliessfach, um seine Bücher und seine Jacke herauszunehmen. »Man sollte sich wirklich mit allen Dingen so lange auseinandersetzen, bis man eine Lösung gefunden hat. Das hat uns Sandys Mutter auch schon gesagt. Oh, da kommt Sandy ja.« Ich verabschiedete mich von Doug, schlenderte den Flur hinunter und lächelte Sandy zu, als ich an ihr vorbeiging. Zu meinem Erstaunen blieb sie stehen und beeilte sich nicht wie sonst, zu Doug zu kommen. »Na, Annie, was hast du gemacht?« fragte sie wütend. »Hast du Doug noch mehr tolle Tips. gegeben, wie er mich in Schach halten kann?« Ich wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Aber mir war klar, dass ich ihre Verachtung verdient hatte. Ich an ihrer Stelle hätte sicher genauso reagiert. »Ich habe Doug eben erklärt, dass es zwischen euch beiden bestimmt kein Problem gibt, das ihr nicht unter euch austragen könnt.« Und mit aller Selbstüberwindung, zu der ich mich aufraffen konnte, fügte ich noch hinzu: »Ich wäre froh, wenn ich jemanden hätte, mit dem ich so eng befreundet wäre, wie du mit Doug, Sandy.« »Wirklich?« Ihr Zorn verflog, und sie lächelte mich an. »Mach dir darum keine Sorgen, Annie. Eines Tages hast du auch einen Freund.« Sie straffte ihre Schultern und reckte den Kopf, als sie zu den,Schliessfächern sah, wo Doug stand und auf sie wartete. »Ich beeil mich jetzt besser, bevor er
noch wütend wird.« Sie kicherte.. Aber ehe sie sich abwandte, sagte sie noch: »Ich bin dir sehr dankbar; dass du ihm gesagt hast, dass, wir unsere Probleme untereinander klären rnüssen. Denn ich bin der Meinung, dass wir das auch können.« Dougs und Sandys Reaktion auf mein neues Benehmen gab mir das Gefühl, als wäre eine Zentnerlast von meinen Schultern gewichen. . Auf der einen Seite schien Doug nicht anzunehmen, dass ich ihm nicht heifen wollte und auf der anderen Seite schien Sandy mich besser leiden zu mögen, wenn ich mich nicht ewig in ihre Schwierigkeiten einmischte. Dadurch erreichte ich, dass ich von den Mädchen nicht mehr wie eine Feindin angesehen wurde - denn die ganze Zeit vorher hatten sie mir sehr übelgenommen, dass ich den jungen in Sachen Liebe und so Tips gegeben hatte. Wenn aber alle Jungen meine neue Zurückhaltung zu diesem Thema so unbekümmert akzeptierten wie Doug, war ich vielleicht aus dern Schneider. Als ich etwas fröhlicher gestimmt nach Hause ging, wugte ich aber, dass ich das grösste Hindernis noch nicht überwunden hatte. Ich legte im Grunde gar keinen grossen Wert darauf, was »die Jungen« von mir dachten. Wenn es in unserer Klasse jemanden gab, auf dessen Meinung ich Wert legte, dann hiess er Tim O'Hara. Und wenn dieser junge mich verurteilte, dann war ich in meinen Augen ein Versager.
Ohne Zweifel war ich in Bezug auf Tims Reaktion auf mein neues Image nicht besonders optimistisch. Ich wusste selbst nicht, warum ich so ein schlechtes Gefühl hatte. Vielleicht, weil ich rnich bisher vollkommen anders verhalten hatte, um Tim zu helfen; vielleicht aber auch, weil ich der Meinung war, dass er rnich unmöglich akzeptieren konnte, wie ich war, wenn er ein Mädchen wie Marcy zur Freundin hatte. Es konnte natürlich auch sein, dass das trostlose januarwetter an meiner traurigen Stimmung schuld war. Aber was auch immer der Gründ sein mochte - die erste Zeit ging ich Tim aus dem Weg. Ich hoffte,
dass zwischen ihm und Marcy alles geklärt wäre, bis wir mal wieder miteinander sprachen. In der zweiten Januarwoche, als die Neujahrsrevue am Freitag- und Samstagabend aufgeführt wurde, gingen Tim und Marcy immer noch zusammen. Und bei meinem Glück hatte Carol und ich natürlich den Samstag für den Theaterbesuch ausgesucht - den Tag, an dem Tim auch mit - na, ihr wist ja, mit wem - da war. Ich beobachtete die beiden, als sie zusarnrnen in die Aula kannen. Marcy klammerte sich regelrecht an Tim, und er sah auf sie hinab, als wäre sie das bewunderungswürdigste Mädchen, das er je gesehen hatte. Aber was fand er nur so toll an ihr? Ich konnte es einfach nicht herausfinden - so sehr ich mich auch darum bemühte. »Weisst du, was ich an Marcy Cummings auf den Tod nicht ausstehen kann?« fragte mich Carol in diesem Moment, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Erstaunt und erwartungsvoll sah ich sie an und schüttelte den Kopf. Ich mag es nicht, wie sie sich immer aufspielt. Sich dir nur an, wie sie jetzt den Gang hinuntergeht! Als wenn sie ein Filmstar wäre, und die Fotografen ihre Kameras auf sie gerichter hätten. Weisst du, was ich meine? Sie macht den Eindruck, als wenn für sie nichts wirklich von Bedeutung ist, ausser zu dem Zweck, eine ins richtige Licht zu setzen. Mir kommt es auch immer so vor, als ob jeder ihrer Freunde auswechselbar wäre, solange Fräulein Marcy nur beichtet wird. Ich weiss nicht, wie ich so was bezeichnen soll. « »Egozentrisch?« schlug ich vor. Ich glaube, so nennt man Leuten die immer nur sich selbst sehen, die sich für den Mittelpunkt der Welt halten.« »Und genauso ist es bei Marcy!« stimmte Carol mir zu und nickte zur Bekräftigung, »Egozentrisch, das ist genau das richtige Wort! Das Licht wurde plötzlich schwächer, und die Band begann die Ouvertüre der Revue zu spielen. Verschiedene Lieder, Parodien und Tänze wurden von den
Schülern aus allen Klassen vorgetragen das Stück geschrieben hatten aber die Seniors, die Schüler der Oberklasse. Im diffusen Licht, das von der Bühne kam, sah ich Marcys helles Haar neben Tims dunklem. Sie hatte sich zu im hinübergelehnt, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. In diesem Moment musste ich an das denken, was Carol gesagt hatte. Es stimmte wirklich. Marcy schien nie an jemandem besonders interessiert zu sein. Sie dachte immer nur daran, wie sie wirkte. Mir kam es so vor, als ob sie sich selbst als Teil eines Bildes sah, mit einem schlanken gutaussehenden, dunkelhaarigen Jungen an ihrer Seite, dessen gegensätzliches Aussehen ihre zierliche blonde Schönheit besonders hervorhob. Ich fragte mich, ob sie Tim je als Menschen gesehen hatte und sich einmal Gedanken darüber gemacht hatte, wie sein Wesen war. Bei diesem Gedanken fühlte ich mich noch miserabler als bisher. Natürlich war Tim jemand, den man bewundern musste, und er war auch einer der beliebtesten Jungen der Schule. Aber das alles war es nicht, was ich so toll an ihm fand. Ich mochte einfach die Art, wie er sich benahm. Er gab mir durch sein unkomplizierte,s, offenes Wesen das Gefühl, nett und unterhaltsam zu sein. Und wenn ich darüber nach dachte, dag Marcy viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um diese Seiten an Tim zu bemerken, dann tat sie mir sogar fast leid. Als das Licht im Zuschauerraum nach der Revue wieder heller wurde, nahm ich Carol beim Arm. »Komm, wir wollen uns beeilen. Dann ergattern wir bei Pop's noch einen guten Tisch«, rneinte ich, und rannte schon durch den Mittelgang. Wir können auch noch die Ersten sein, ohne gleich einen Rekord aufstellen zu müssen, Annie!« Carol lachte zwar, aber ich ging trotzdem langsamer. Draussen war es schon dunkel, und die Strassenlaternen warfen so lange Schatten, dass ich Carols Gesicht nicht deutlich erkennen konnte, als sie sagte: »Ich weiss übrigens ganz genau, warum du wirklich so schnell wie möglich fort wolltest, Annie.«
Ich war froh, dass sie meinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, als ich fragte: »Was meinst du damit? Was ist daran so rnerkwürdig, wenn ich bei Pop's einen guten Platz bekommen möchte?« »Nichts. Aber es weiss doch jeder, dass du hinter Tim O'Hara her bist, Annie. Du kannst es also ruhig zugeben.« Es klang ein wenig verletzt, als sie noch hinzufügte: Ich finde es nicht gut, dass du das vor deinen Freunden geheimhalten willst - denn schliesslich solltest du uns vertrauen.« Ich wusste, dass sie recht hatte. »Ich habe nicht geahnt, dass jeder Bescheid weiss«, meinte ich niedergeschlagen. »Annie Wainwright!« fuhr sie mich da an. »Man braucht dich nur zwei Sekunden lang zu beobachten. Du starrst Tim an, als wenn er ein toller Eisbecher wäre, den du am liebsten auf der Stelle verschlingen würdest!« »Ach, du meine Güte!« stöhnte ich. »Kann man mir das wirklich so genau anmerken?« »So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Mir ist es nur aufgefallen, weil ich dich eine ganze Weile beobachtet habe. Also, warum wolltest du wirklich so schnell weg? Wolltest du Tim und Marcy nicht treffen?« »Nein, denn ich komme mir wie ein Idiot vor!« brach es aus rnir heraus. Ich war froh, endlich einmal mit jemandern über meine Gefühle sprechen zu können. »Tim scheint sich nur daran zu erinnern, dass es mich gibt, wenn er einen Rat braucht. Und ich kann, es einfach nicht ertragen, ihn zusammen mit diesem Mädchen zu sehen! Ach, Carol, ich bin total durcheinander!« »So löst du alsò deine Probleme! Indem du vor den beiden davonrennst und dich benimmst, als hättest du etwas verbrochen!« »Ich kann ihm einfach nicht mehr vormachen, dass ich Marcy mag und es unheimlich toll finde. dass er mit ihr geht!« murmelte ich. »Wer sagt denn, dass du das tun sollst?« Wir waren schon beinahe bei Pop's angelangt. Ich ging langsamer, obwohl es eisigkalt war. Aber ich wollte das Gespräch beenden, bevor wir in der Pizzeria waren.
»Du hast ja recht mit deiner Frage. Aber ich weiss nicht wie ich mich Tim gegenüber sonst verhalten soll, Carol. « Warum gibst du dich nicht wie immer? Es klingt vielleicht banal, aber warum versuchst du nicht, du selbst zu sein? fragte sie mich. »Wenn du nicht möchtest, dass Tim dich mit seinen Problemen belästigt, dann hindere ihm doch daran. Man kann auch für andere da sein, ohne den Märturer zu spielen! Und wie, um alles in der Welt, soll Tim checken, dass du ihn magst, wenn du ihm dauernd Ratschläge in Bezug auf Marcy gibst? Das versteh ich nicht.« - Als wir die Pizzeria betraten, wechselte ich das Thema und fing an, über die Revue zu reden. Carol warf mir einen verwunderten Blick zu, sagte aber nichts. Sie verstand wohl, dass ich in einem Lokal nicht über etwas für mich so Peinliches wie Tims Beziehung zu Marcy sprechen wollte. ,Kurz nach unserem Eintreffen wurde es ziemlich voll, und wir standen erade an der Kasse, um zu bezahlen, als Marcy durch die Tür gesegelt kam, mit Tim im Schlepptau. »Sind die anderen jungen schon wieder gegangen?« fragte Tim und sah uns enttäuscht an. Carol und ich konnten nur nicken, denn bevor wir in der Lage waren, ein Wort herauszubringen, zerrte Marcy schon an seinem Ärmel und zog einen Schmollmund. »Kornm, Tim, setzen wir uns, bevor alle guten Plätze belegt sind!« Und Tim gehorchte wie ein dressierter Hund. »Eher werde ich zum Einsiedler bevor ich so mit einem Jungen umspringe!« schwor ich aufgebracht, als wir über die vereiste Strasse nach Hause gingen. »Du bist schon genauso dramatisch wie Kathy!« Carol lachte und schien mich kein biechen ernst zu nehmen. »Ich weiss gar nicht, was daran so lustig ist!« »Es ist ein grosser Unterschied, ob man ein Einsiedler ist oder ob man nur keinen Freund hat. Tu ich dir etwa leid, weil ich keinen Freund habe?«
Das hörte sich so sachlich und vernünftig an, dass ich Carol erst einmal erstaunt ansah, und mir erst dann bewusst wurde, das sie ebenfalls nie mit einem Jungen ausging. Und auf einmal kam mir das gar nicht rnehr so schrecklich vor. »Aber du bist ganz anders als ich«, wandte ich ein. »Du bist gross, hübsch und selbstsicher. Wenn sich mit dir kein Junge verabredet, liegt das bestimmt nicht daran, dass mit dir etwas nicht stimmt.« »Und warurn soll bei dir etwas nicht stimmen?« gab sie zurück. Ich blieb stehen und überlegte, wie ich Carol das verständlich machen konnte. Dann begriff ich aber, dass sie mit ihrer Frage recht hatte. Ich hatte mir die ganze Zeit eingeredet, dass mit mir irgend etwas nicht in Ordnung war und dadurch die jungen vertriebe. Es war wie ein Teufelskreis. Ich gab den jungen keine Gelegenheit mich als Mädchen zu mögen, und deshalb taten sie es natürlich auch nicht. Daraufhin fühlte ich mich wieder in meinen Minderwertigkeitskomplexen bestärkt, und so ging es immer welter. »Du hast mal wieder recht«, gab ich lachend zu, und fühlte mich schon wesentlich besser. »Ich bin also doch keine Ausgestossene. Was würden Sie mir verordnen, Herr Doktor?« fragte ich und musste daran denken, wie oft ich in letzter Zeit schon die Leute um Rat gefragt hatte. »Ich bin kein Experte, aber ich würde dir raten, das alles eine Weile zu vergessen. Wenn dich jemand einlad ist es gut. Wenn nicht, auch gut. Es gibt noch andere schöne Dinge im Leben als Jungen, Annie.« »Ja, aber ... « »Und wenn man keinen Freund hat«, unterbrach sie mich scharf, »nützt es einem auch nichts, wehn man sich darüber beklagt.« »Das finde ich auch«, stimmte ich ihr aus ganzem Herzen zu. »Mein Gott, hab' ich Zeit verschwendet! Komm, lass uns noch ein paar von Moms Plätzchen essen, bevor mein Vater dich nach Hause bringt. Ich komme plötzlich um vor Hunger!« Wir rannten den Rest des Weges nach Hause. Während dieser Zeit war ich froh. Freundinnen wie Carol und Kathy zu haben Freundinnen, die mir sagten, was sie wirklich dachten. lch wusste jetzt, dass
Kathy richtig gehandelt hatte, als sie mir deutlich gezeigt hatte, was sie von meinen »guten Ratschlägen« für ihren Bruder hielt. Wen ich Tims Freundin sein wollte, musste ich ihm genauso rückhaltlos die Meinung sagen, wie es meine Freundinnen mit mir taten. Und ich bekam meine Chance, diese Vorsätze in die Tat umzusetzen, schon bald. Tim stand am Hauptausgang, als der Unterricht, zuende war. Als er mich durch die Halle kommen sah, lächeite er mich an. 0 Gott, dachte ich, jetzt ist es soweit! Und damit hatte ich vollkommen recht. »Gehst du nach Hause, Annie?« fragte er mich. Ich nickte nur, und wie ich erwartet hatte kam dann: »Hast du etwas dagegen. wenn ich dich begleite?« »Natürlich nicht, Tim. Ich gehe gern mit dir zusammen«, antwortete ich ehrlich, fügte aber noch nicht hinzu, dass es mir nur solange gefiel, bis er anfing, von Marcy zu reden. Es war alles wie immer. Wir sprachen erst über alltägliche Dinge. Aber während der ganzen Zeit wartete ich darauf, das Tim endlich von seinen Problemen anfing. Und dann war es soweit. »Kannst du dir vorstellen, dass Marcy mit Barry zur FebruarFeier geht?« erkundigte sich Tim plötzlich. »Ich hab sie gefragt, wie frühzeitig ich sie denn einladen muss, wenn ich mal mit ihr ausgehen möchte. Und weisst du, was sie darauf nur geantwortet hat? Dass es ihr sehr leid tut, aber Barr y hätte sie zuerst gefragt.« Er stöhnte. »Du musst mir helfen, Annie! Wie kann ich sie dazu bringen, die Verabredung mit Barry abzusagen?« Jetzt werde ich Tim für immer verlieren, dachte ich. Aber trotzdem hatte ich nicht vor, meine Absicht zu ändern - ich wollte meinen Vorsätzen treu bleiben. »Um ehrlich zu sein, Tim, ich weiss wirklich nicht, warum du dich aufregst.« Ich sah, wie ein erstaunter Ausdruck in seine Augen trät. »Ich glaube, Marcy hat kein besonderes Interesse daran, mit dir tanzen zu gehen. Wenn du dagegen mich eingeladen hättest - ich hätte mich nie mit Barry verabredet.«
»Aber - aber du weisst doch, dass Marcy nur wegen ihrer Schüchternheit mit mehreren Jungen ausgeht!« protestierte Tim, um sie zu verteidigen. »Wie kannst du sie deshalb verurteilen?« Wir hatten das Haus der O'Haras erreicht und blieben stehen. Meine Bücher vor die Brust gepresst, sah ich ihm fest in die Augen und sagte. nachdem ich tief Luft geholt hatte: »Schau, Tim, um ehrlich zu sein, hab ich keine Lust mehr, noch länger über Marcy zu reden. Ich glaube nicht, dass sie gut genug für dich ist, und mir ist sie auch nicht besonders sympathisch. Ich bin zu der Uberzeugung gekornmen, dass ich nichts mehr mit dem zu tun haben möchte, was zwischen euch läuft oder auch nicht läuft. Wenn du mit Marcy Ärger hast, red mit ihr selbst darüber.« Tim sah rnich an, als erblickte er mich zum erstenmal in seinern Leben. Und er schien nicht sehr zu mögen, was er da sah. Er zog die Stirn kraus und kniff die Augen zusammen, als könnte er so hinter den tièferen Sinn meiner Worte kommen »Ich hab immer gedacht, dass wir Freunde sind, Annie«, meinte er vorwurfsvoll. »Das sind wir auch, Tim. Und genau aus diesem Grund habe ich dir das jetzt gesagt. Ich habe erkannt, dass ich, bisher keine gute Freundin gewesen bin, denn sonst wäre ich ehrlich zu dir gewesen und hätte dich nicht in deiner Meinung bestärkt, dass Marcy ein prima Mädchen ist.« Als deine Freundin hätte ich dir sagen müssen, dass sie dich nicht verdient hat.« Er schüttelte den Kopf und starrte mich immer noch fassungslos an. »Vielen Dank für deine grossartige Hilfe«, murmelte er endlich voller Spott und stapfte durch den Schnee davon. »Es tut rnir leid, Tim!« rief ich ihm nach, aber er drehte sich nicht mehr um. Langsam machte ich mich auf den Heimweg. Jetzt hatte ich absolut richtig gehandelt, und mein Gewissen war rein. Aber hatte ich Tim nun endgültig verloren?
Obwohl die nächsten Tage für mich echt scheusslich waren, änderte ich rneine Meinung nicht. Nichts und niemand hätte mich mehr dazu bringen können, noch einmal irgendwelche Probleme von anderen Leuten zu bewältigen. Ich zwang mich auch, so spontan wie möglich über ganz normale Themen zu sprechen, zum Beispiel über die Schule oder über irgend welche Stars. Ich verbannte jeden Gedanken daran, dass die Jungen vielleicht nur eine Unterhaltung mit mir angefangen hatten, weil sie bei mir Rat suchten. Und wisst ihr was? Es funktionierte! Das erste Mal in diesem Schuljahr war ich mit mir selbst zufrieden. Kathy und Carol hatten in mehr als einer Hinsicht recht gehabt. Ich hatte zum Beispiel gelernt, dass es kein Weltuntergang war, wenn man keine Verabredungen hatte. Man konnte sich auch gut amüsieren, wenn man andere Dinge vorhatte - die man gemeinsam mit Jungen und Mädchen unternahrn. Eines Tages kam Kathy zu mir, als ich an meinem Schliessfach stand! Es war gegen Ende des Schuljahres. »Hast du Lust, mit mir zu Pop's zu kommen?«, fragte sie. »Kurt und ich gehen hin, und Carol kommt auch gleich nach.« »Eigentlich gern«, sagte ich nach einem kurzen Zögern. »Keine Angst«.. meinte Kathy beruhigend. »Tim und Marcy sind nicht da.« Und so schlenderte ich mit Kurt und Kathy zu Pop's, und das, ohne mich als Augenseiter oder als fünftes Rad am Wagen zu fühlen. In der Pizzeria trafen wir Barry und Kenny, zu denen wir uns an,den Tisch setzten. Wir waren ziemlich laut und hockten eng beieinander. Carol kam etwas später. Ich amüsierte mich toll. Wir lachten und assen. Das Beste aber war unsere Unterhaltung. Mit Barry sprach ich über unseren letzten Geometrietest, der ziemlich schwer gewesen war. Bei Kenny war das Thema Fernsehen dran, und mit Kurt unterhielt ich mich über Kathys Rolle in de 'NeujahrsRevue. Nicht einer fing mit Problemen an.
Plötzlich dachte ich: Das ist wirklich toll, Annie. Du hast es geschafft. Du gehörst jetzt zu einer Clique. Nachdem wir unsere Pizza gegessen hatten, trennten wir uns. Nur Kathy und ich gingen noch zusammen nach Hause. Sie redete über das FebruarFest und erzählte mir, was für ein Kleid sie sich dafür gekauft hatte. Plötzlich blieb sie stehen und fragte mich mitfühlend: »Du gehst sicher nicht hin, Annie?« »Ich glaube nicht.« Ich seufzte. »Es ist nicht deshalb, weil ich zu Hause herumsitze und nur darauf warte dass Tim mich einlädt. Ich könnte mit einem anderen Jungen hingehen. Aber weisst du was? Dazu habe ich keine Lust. Mir macht es Spass genug mit euch bei Pop's zu hocken. Trotzdem«, fügte ieh dann hinzu, »mit Tim würde ich sehr gern hingehen.« Kathy legte einen Arm um mich. »Ich bin sicher, es klappt noch. Du scheinst sowieso alles zu schaffen, was du willst. Weisst du was ich tun werde?« »Was denn? Du willst mir doch keinen guten Rat erteilen, oder?« »Weiss Gott nicht.« Sie lachte. »Ich werde nur im ganzen Haus herumposaunen, dass du noch nicht für das Fest verabredet bist. Vielleicht gibt Tim das zu denken.« Ich nickte. »Schaden kann's nichts. Vielen Dank Kathy.« Und als ich nach Hause ging, war ich eigentlich ganz vergnügt. Die einzige graue Wolke am Hirnmel meiner guten Laune war Tims Verhalten mir gegenüber. Er winkte mir zwar noch zu, wenn ich ihn traf, wir wechselten auch manchrnal ein paar Worte, aber er suchte rneine Gesellschaft ganz offensichtfich nicht. Und seinem vergrämten Gesichtsausdruck nach zu schliessen, machte er im Moment eine schwere Krise durch. Als Kathy eines Abends bei uns war, fragte ich sie danach. Wir sassen nach dem Essen noch am Küchentisch und tranken Kaffee.
»Was - was ist denn mit Tim?« fragte ich zögernd. Du willst wohl wissen, ob ich ihm das mit deiner Einladung für die Schulfete schon unter die Nase gerieben habe, stimmt's?« »Nein, eigentlich nicht unbedingt. Ach, ich weiss nicht. Tim ist in letzter Zeit sò merkwürdig.« »ja, das stimmt. Er kapselt sich regelrecht ab. Ich weiss aber auch nicht, was er hat. Er ist im Moment ziemlich mundfaul. Schau, Annie du bist meine beste Freundin, und Tim ist mein Zwilling. Ich mag euch beide sehr - ich will aber nicht zwischen euch stehen. Ich kann mich nicht nur auf eine Seite schlagen. « »Das kann ich verstehen«, sagte ich leise. »Ich will dich aber auch nicht im Stich lassen«, fuhr sie fort. »Deshalb gebe ich dir den einen Rat, im Moment nichts zu unternehmen, ausser weiterbin freundlich zu Tim zu sein. Er ist derjenige, der unvernünftig ist, und er muss erst wieder zu sich selbst finden.« »Ich werde mich daran halten«, sagte ich niedergeschlagen. Aber es war nicht leicht. Ich sah Tim immer noch mit Marcy zusammen, aber ich ahnte, dass ihre Beziehung nicht mehr die beste war. Besonders, nachdem ich einmal mitbekommen hatte, wie Marcy Tim einmal anfauchte: »Wenn es etwas gibt dass ich auf den Tod nicht ausstehen kann, dann ist es ein Junge, der sich benimmt als wenn ich ihm gehörte!«, Damit lieg sie ihn einfach stehen. Ich versteckte mich in einem leeren Klassenzimmer, bis Tim gegangen war. Ich hatte ihm angesehen, wie wütend er war, und wollte die Situation nicht noch verschlimmern, indem er merkte, dass ich die ganze unerfreuliche Szene mitbekornmen hatte. Aber um ganz ehrlich zu sein, ich war zu beschäftigt, um mir umn Tim besonders viele Sorgen zu rnachen. Es war zwar immer noch der Junge, den ich gern zum Freund gehabt hätte, aber wenn er mich nicht wollte. konnte ich daran nichts ändern.
Während dieser ganzen Zeit tat ich soviel wie möglich für mich selbst. Ich arbeitete noch intensiver als früher für die Zeitung, und ich hatte angefangen, immer viele Leute zu mir nach Hause einzuladen. Weil wir in der Nähe der Schule wohnten, war es ganz normal, dass meine Freunde zu mir kamen. Manchmal kreuzten nachmittags Klassenkameraden auf, oder Kurt und Kathy, Kenny und Barry sahen mal rein und brachten Schallplatten mit, oder wir machten zusammen Hausaufgaben. Und dann hatte ich sogar eine Verabredung! Und zwar mit Kenny, der mich ins Kino einlud. Enttäuschend war nur, dass es für rnich keine besonders wichtige Verabredung war. Aber sie hatte auch einen Vorteil. Ich begriff plötzlich, dass ich Verabredungen in ihrem Wert unheimlich überschätzt hatte. Ich meine, ich mochte Kenny ganz gern, und wir hatten auch viel Spass zusammen. Aber nachdem alles vorbei war, fühlte ich mich kein bissehen anders als sonst, und das, obwohl er während des Films den Arm um mich gelegt und mich geküsst hatte. Als er mich dann nach Hause brachte, küssten wir uns noch einmal in seinein Auto. Ich kann mir gut verstellen, das ihr jetzt denkt, ich hätte es endlich geschafft, ein ganz norrnales High- School leben zu führen. Alles war irgendwie in Ordnung. Aber als ich mich 'so richtig wohl fühlte, kam Tim O'Hara und warf alles wieder um. Eines Tages lief ich zwischen zwei Unterrichtsstunden zu meinem Schliessfach, um ein paar Bücher zu holen. Während ich in dem Fach herumkramte, merkte ich, dass jemand neben mir an der Wand lehnte. Und als ich aus den Augenwinkeln einen Blick in diese Richtung warf und ein Stück grünen Wollstoff erspähte, wusste ich, dass es Tim war. »Hallo, Tim«, sagte ich etwas unsicher, als ich auf sah. Er lächelte mich wie immer ein bisshen schief an, und zeigte dabei seine tollen Zähne.
»Hallo, Annie«, sagte er mit einer so leisen Stimme, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Ich hatte nicht geglaubt, dass seine Nähe auf mich noch genauso wirken könnte wie früher. Ich war daher ziemlich erschrocken, als ich erkennen musste, dass sich in der Beziehung nichts geändert hatte. »Was ist los?« fragte ich mit etwas hoher Stimme, weil ich versuchte, besonders sachlich zu sprechen. Er nahm seine Bücher von einer Hand in die andere, als wüsste er nicht, was er jetzt tun sollte. Endlich murmelte er: »Ich wollte mich nur dafür entschuldigen, wie ich mich neulich benommen habe.« Er blickte mit seinen grünen Augen auf, und mein Herz schien einen Moment auszusetzen, als unsere Blicke sich trafen, Ich habe mich wirklich wie ein Schwachsinniger aufgeführt, ich weiss das jetzt.« Das klang schon wieder verergert. »Ach, das macht doch nichts«, meinte ich, weil ich keinen Schimmer hatte, was ich sonst dazu sagen sollte. »Ich glaube, ich habe dich ganz schön verblüfft, stimrnt's?« »Es war mehr als das. Du hast genau das ausgesprochen, was ich schon lange gedacht habe. Ich wollte es nur nicht zugeben. Deshalb habe ich dich auch so angefahren.« »Du rneinst ... ?« Er nickte so heftig, dass, seine dunkten Locken wippten. »ja. Ich glaube, ich wusste die ganze Zeit, dass Marcy mich nur an der Nase herumführte. Ich bin eben auf sie hereingefallen.« Jetzt lächelte er sogar ein bisschen. »Und ich - ich wollte dich fragen ob du mit rnir nicht zurn FebruarFest gehen möchtest, wenn du noch nicht verabredet bist.« Ich war vollkommen sprachlos. Nach allem passierte so was Tim O'Hira wollte mit mir zum FebruarFest! Ich konnte es fast nicht glauben. Ich tat aber total cool, als ich ihm antwortete: »Oh, Tim, das wäre schrecklich nett.« Die Schulglocke läutete, so dass er nur noch ein »Das finde ich klasse, losliess, mich noch einmal angrinste und dann davonstürmte.
Mein Herz schlug wie wild, als ich zum EnglischUnterricht ging. Und, wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, alles wäre nur meiner Einbildung, entsprungen. Aber innerhalb der nächsten zehn Minuten sank meine Hochstimmung schon wieder in den Keller. Tim hatte das über Marcy bestimmt nur mir zuliebe gesagt, redete ich mir ein. Wenn sie ihre Verabredung mit Barry abgesagt hätte, wäre er sicher mit ihr zu dem Fest gegangen. Zweifelsohne hing er immer noch an ihr. War es da nicht das Beste, wenn er Annie Wainwright zum Fest einlud ein echter Kumpel als Ersatz für ein echtes Mädchen? Jemand, auf den man sich verlassen konnte und bei dem man nie auf die Idee kam, sich zu verlieben! Früher hätte ich solche Zwelfel zur Seite geschoben, ich hätte sie einfach zu verdrängen versucht. Aber jetzt, wo ich gelernt hatte, mit den Leuten offen und ehrlich zu reden, beschloss ich, die Sache endlich aus der Welt zu, schaffen, indem ich Tim därauf ansprach. Die Gelegenheit dazu hatte ich eines Nachmittags auf dem Nachhauseweg. »Tim«, begann ich herzklopfend, »ich freu mich riesig, dass du mich zum FebruarFest eingeladen hast. Aber da gibt es noch etwas, das ich dich fragen muss.« »ja, was denn?« »Wenn Marcy nicht mit Barry hinging, hättest du dann sie eingeladen?« Für kurze Zeit sah Tim aus, als würde er am liebsten explodieren. Dann aber schiener sich wieder zu fangen. »Ich glaube, dass ist eine berechtigte Frage. Und die Antwort darauf ist nein. Ich hätte Marcy nicht mehr eingeladen. Das ist endgültig vorbei.« Ich muss, ihn etwas zweifeind angesehen haben, denn Tim kam näher an mich heran und legte mir einen Arm um die Schulter. »Annie, ich denke, dass du das netteste Mädchen bist, das ich kenne.«
Ich wäre am liebsten dahingeschrnolzen. Ich wünschte mir heiss immer seinen Arm auf meiner Schulter zu spüren, und mein Blick würde dann die ganze Zeit auf seinen ernsten, funkelnden Augen liegen. Doch statt dessen lächelte ich ihn an, und Tim lächelte zurück, was mein Herz noch schneller schlagen liess. Ihr denkt sicher, dass ich danach jeden Gedanken an Marcy Curnrnings verscheucht hätte. Aber das klappte leider nicht. Tim hatte mir zwar gesagt, dass ich das netteste Mädchen wäre. Aber das hatte bis jetzt nicht viel bedëutet warum sollte das nun anders sein? Doch dann zwang ich mich, nicht dauernd zu hinterfragen, warum Tim sich mit mir zum Tanzen verabredet hatte. Ich beschloss mit ihm dorthin zu gehen, und mich zu amüsieren. Falls es unsere einzige Verabredung bleiben sollte, hatte ich wenigstens das. Ich verdrängte also meine Unsicherheit und tat alles, damit das Fest schön für mich würde. Es ist wohl nicht nötig, zu erzählen, dass meine Mutter total aus dem Häuschen war weil ich mich über Nacht so verandert hatte. Sië gab mir sogar noch extra zwanzig Dollar zu dein Geld, dass ich für rnein Kleid ausgeben wollte. Und ich fand auch das schönste Kleid der Welt, ein Hauch von Seide mit dunkelblauen Rosen auf hell blauem Untergrund, mit Spaghettiträgern und einer engen Taille, die meine neue schlanke Figur toll zur Geltung brachte. Meine braune Haut und die dunklen Haare liessen mich in diesem Kleid wie eine Südseeschönheit aussehen. Tim hatte von seinem Vater den Wagen bekommen, und holte mich am Abend des Festes von zu Hause ab. Wir gingen ins Wohnzimmer, um uns von meinen Eltern zu verabschieden. Tim sah in seinem dunkten Anzug und dem blassblauen Hemd aus, als wäre er einem Herrenmagazin entsprungen. Und als ich einen Blick in unseren Flurspiegel warf, stellte ich zufrieden fest dass wir beide wirklich ein ganz tolles Paar waren. Natürlich wollten meine Eltern unbedingt Fotos von uns machen, aber das machte mir diesmal nichts aus, weil Tim die ganze Zeit seinen Arm um meine
Schulter gelegt hatte, und wir uns lachend in die Augen sahen. Als Dad hinausgegangen war, um die Kamera wieder fortzubringen, und Mom meinen Mantel holte, sah Tim mich sehr ernst an. Er hatte beide Hände auf meine Schultern gelegt, und ich wünschte mir, ich könnte ewig so mit ihm stehenbleiben. »Annie«, sagte er, »du bist wundervoll. Das wollte ich dir schon seit langem einmal sagen.« Dann küsste er seine Fingerspitzen und tupfte mich damit auf meine Lippen. Als wir auf dem Weg zur Schule waren, fragte ich mich, wie Marcy wohl reagierte, wenn sie uns so sah. Bis jetzt wusste nur eine Person, dass ich mit Tim verabredet war, das war Kathy. Und sie fand das natürlich unheimlich toll. Wir kamen zu unserer Schule und stellten den Wagen auf dem vollen Parkplatz ab. Dann gingen wir zur Festhalle. In der einen Hand trug ich die Gardenie, die Tim mir in einer Schachtel überreicht hatte. und in der anderen hielt ich Moms silbernes Abendtäschchen, das sie mir geliehen hatte. Ich wollte mir die Gardenie erst an mein Kleid stecken, wenn ich meinen Mantel abgegeben und im Waschraum meine Lippen nachgezogen hatte. Mein erstes Blumengesteck sollte nicht schon verblüht sein, bevor der Abend vorüber war! Tim wartete in der Halle auf mich, und mein Herz schlug vor Freude wie verrückt, als ich sah, wie sich sein Gesicht bei meinern Anblick erhellte. Ich wusste, dass er glücklich war mit mir hier zu sein. Die Aula war total verandert. »Ist das nicht wunderschön?« flüsterte ich, als wir in der Mitte des Saales standen und zu den ellenlangen Bahnen weissen Kreppapiers und weisser Baumwollstoffe hinaufsahen, die den ganzen Raum in eine Winterlandschaft verwandelt hatten. »Hm«, stimmte mir Tim bei und grinste. »Es ist aber nicht so schön wie du.« Die Band spielte irgend etwas Langsames. Tim hatte eine Hand leicht auf meinen Rücken gelegt. »Möchtest du tanzen?«
Ich konnte nur noch nicken, als er die Arme um mich legte. Ich hatte so lange von diesem Moment geträumt. Aber jetzt, wo es endlich soweit war hatte ich Angst, ich wäre viel zu durcheinander, als dass ich mich später noch an jede Einzelheit erinnern könnte. Aber ich känn mich noch sehr gut an diesen Abend erinnern In mein Gedächtnis hat sich jehde Sekunde eingeprägt. lch weiss noch, dass Kurt mit Kathy vorübertanzte und sie in den Armen hielt, als wäre sie eine zerbrechliche Puppe. Ich weiss auch noch, wie Calrol Deutschs Augen leuchteten, als sie zu Bill Dempsey aufsah, der sie zu diesem Fest eingeladen hatte. Ich habe noch den Schwung der Musik im Leib und spüre die Wirkung des Punschs ebenso, wie ich noch das flimmernde Licht, die Dekorationen und die verschiedenen Gesichter vor mir sehe. Und ich werde auch nie den Duft von Tims Rasierwasser vergassen können oder das Gefühl, das ich hatte, als er mich so fest an sich drückte. Oder wie sich sein Jackettstoff anfühlte, wo meine Hand auf seiner Schulter lag ... Und was ich auch nie vergassen werde, das ist Marcy Cumming. - Sie hatte mir die Freude an einem grossen Teil des Abends verdorden. Nach ungefähr zwei Stunden entschuldigte ich mich bei Tim, weil ich in den Waschraum wollte, um mich etwas zu erfrischen. Und wer stand dort vor dem Spiegel? Natürlich Marcy! Ich lächelte so strahlend, wie ich nur konnte, und begann dann, mein Haar in Ordnung zu bringen, nachdem ich meinen Kamm aus der Tasche geholt hatte. Ich merkte, dass Marcy mich beobachtete, und fragte mich, ob sie mitbekam, dass ich sie ebenfalls betrachtete. Ich muss zugeben, dass sie in ihrem blass lila Kleid sehr hübsch aussah. Es liess ihre Haut so weiss wie Milch erscheinen. Plötzlich traf ihr Blick meinen. Verlegen stiess ich hervor: »Du hast ein tolles Kleid an, Marcy.«
»ja? Danke, Annie. Deins ist auch ... ganz nett.« Sie sagte es mit ihre freundlichsten Stimme. Aber dabei schwang ein Unterton mit, der mir deutlich verriet, dass sie ganz und gar nicht meinte, was sie sagte. Ich beeilte mich, den Lippenstift aufzutragen, um so schnell wie möglich wieder verschwinden zu können. Aber es war schon zu spät. Marcy liess ihr Abendtäschchen laut zuschnappen, wandte sich vom Waschbecken ab und sah mich an. »Ich wollte dir auch noch dafür danken, dass du so nett auf Tim aufgepasst hast, Annie«, sagte sie mit ihrer Kleinmädchenstimme. »Wie bitte?« Ich schluckte. »ja, ich finde es sehr nett von dir, dass du dich mit Tim verabredet hast.« Sie lachte hell »Ich habe ihm erklärt, dass es schon zu spät war, um meine Verabredung mit, Barry abzusagen. Ich wollte aber auch nicht, dass er ein änderes Mädchen einlädt. Sie machte eine Pause und fügte darin noch hinzu: »Ich meinte natürlich eine richtige Verabredung.« Es dauerte einige Zeit, bis ich mich soweit gefasst hatte, dass ich den Waschraum verlassen konnte. Ich hatte also mit meiner Vermutung recht gehabt: Tim hatte mich nur eingeladen, weil ich weder für ihn noch für Marcy eine Gefahr darstellte. Er hatte mit ihr nie richtig Schluss gemacht. Im ersten Moment hätte ich mich am liebsten davongeschlichen. Doch Gott sei Dank beruhigte ich mich schnell wieder. Ich sah ein, dass ich ein Vollidiot wäre, wenn Marcy es fertigbrächte, mir den schönsten Abend meines Lebens zu verderven. Aber was war, wenn Tim Marcy immer noch gern hatte? Er war mir gegenüber sehr aufrnerksam - und manchmal sogar mehr als das. Vielleicht mochte er ein Mädchen wie sie lieber - aber an diesem Abend war er mit mir aus, und wir hatten viel Spass miteinander. Also hatte ich keinen Grund, rnich nicht mit ihm zu amüsieren; im Moment spielte es keine Rolle, was am nächsten Tag war.
Nach dieser Erkenntnis kehrte ich zu Tim zurück und fand ihn an der Erfrischungstheke. Und es dauerte nicht lange, da hatte ich die scheussliche Szene mit Marcy vollkommen aus meinem Gedächtnis gestrichen. Erst einige Stunden später dachte ich wieder an sie. Wir waren mit Kurt und Kathy noch zu Pop's gegangen, um das Ende des lustigen Abends so lange wie möglich hinauszuzögern. Aber schliesslich sahen wir doch auf unsere Uhren und stöhnten auf, als wir feststellen mussten, dass es höchste Zeit wurde, heimzufahren. Kurze Zeit später stoppte Tim den Wagen vor unserem Haus. Er zog mich sanft an sich und küsste meinen Mund. »Es war heute abend wunderschön rnit dir, Annie«, flüsterte er zärtlich. »Wirklich schön.« Seine Worte erweckten in mir die unterschiedlichsten Gefühle. Und bevor ich mir überlegt hatte, was ich sagte, sprudelten die Worte schon aus mir heraus. »Schöner, als wenn du mit Marcy zusammen gewesen wärst?« »Was soll die Frage?« Seine Stimme klang heftig. »Warum bringst du ausgerechnet jetzt Marcy ins Spiel?« »Sie hat mir im Waschraum erzählt, sie hätte dir erlaubt, dass du mit einem Mädchen wie mir zum Fest gehst«, antwortete ich steif. »Ich kann ja verstenen, dass man sich mit mir nicht besonders gern verabredet, deshalb musst du mich auch nicht ertragen, wenn du nicht willst.« Dann fügte ich noch hinzu, weil mich mein Gefühlsausbruch verlegen machte: »Mir hat es aber sehr viel Spass gemacht. Es war für mich der schönste Abend meines lebens. Noch einmal vielen Dank, dass du mit mir hingegangen bist.« Ich wollte die Wagentür öffnen, als Tim mich am Arm zurückhielt. »Eine Sekunde noch! Du redest hier ein ganz schönen Stuss zusammen, und ich glaube, ich habe ein Recht zu erfahren, warum. Willst du etwa behaupten, dass Marcy dir solch einen Quatsch eingeredet hat? Und du hast ihr auch noch geglaubt?«
»Schau, Tim«, begann ich hastig, weil es mir schon leid tat, überhaupt von diesem Thema angefangen zu haben, »es ist ja alles in Ordnung. Ehrlich. Ich weiss doch, wie du zu Marcy stehst. Und ich Weiss auch wie du zu mir stehst.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das weisst du überhaupt nicht. Sonst würdest du nicht so reden.« Das verschlog meinen Mund, und er fuhr fort: »Annie, ich habe mich in Marcy verliebt, aber ich weiss heute, dass das ein Fehler war. jetzt sehe. ich sie so, wie sie wirklich ist. Ich hasse sie nicht, sie tut mir viel eher leid, weil sie so mit jungen um geht. Und ich schäme mich, dass ich ihr erlaubt habe, auch mit mir so umzugehen. Aber ich bin mit ihr nicht mehr zusammen. Und ich habe es absolut nicht nötig, ihre Erlaubnis einzuholen, wenn ich mit dir oder irgendeinem anderen Mädchen zu einern Fest gehe.« »Willst du damit sagen, dass sie sich das nur ausgedacht hat, um mir weh zu tun?« »ja, das glaube ich. Sie hat bestimmt nicht damit gerechnet, dass du mir davon erzählst, und die Situation so zwischen uns geklärt wird.« »Aber warum hat Marcy das getan?« Er lachte leise und legte seinen Arm wieder urn rneine Schulter. »Vielleicht, weil ich ihr einmal gestanden habe, dass ich mich früher nie getraut habe, mich mit dir zu verabreden. Und dann habe ich mich eines Tages für Marcy entschlossen.« Meine Stimme überschlug sich. »Du hast dich nicht getraut, dich mit mir zu verabreden? Aber du hast mich doch immer wegen Marcy um Rat gefragt?« »ja, das habe ich, um herauszufinden, ob du Interesse an mir hattest oder nicht. Und als du, nie versucht hast, mich von Marcy abzuhalten, dachte ich, dass du mich wohl doch nicht so unwiderstehlich findest, wie ich gehofft hatte. Deshalb habe ich dann Marcy eingeladen. Und sie kam mir so süg und hübsch vor, dass ich regelrecht auf sie hereinfiel.« Ich erinnerte mich wieder an den Nachmittag bei Pop's, als ich geglaubt hatte. dass Tim mich einladen wollte.
Und dann hatte er mich statt dessen über Marcy ausgefragt. Ich stöhnte laut auf. »O Tim, warum hast du mich denn nicht geradeheraus gefragt?« »Ich weiss es nicht. Es war wie verhext. Aber du wirktest auf mich so selbstbewusst, dass ich vollkommen eingeschüchtert war.« »0 Gott!« Ich lachte. »Wir sind schon ein Paar!« Er lachte auch. Doch dann wurde er plötzlich ernst, und seine Hand umfagte meine Schulter. »ja, wir sind ein Paar«, flüsterte er, als sich sein Mund langsam meinen Lippen näherte. Und dan kusste er mich. Es war ein richtiger Kuss für ein richtiges Mädchen!
Jetzt ist es Juni, und das Schuljahr ist zu Ende. Was war das für ein Jahr. Ich bin sicher, ich habe in dieser Zeit eine Menge gelernt. Ich bin zum Beispiel nicht mehr der Fettkloss wie vor neun Monaten. Und heute hoffe ich, dass ich durch mein Wesen Freunde gewinnen oder verlieren kann. Durch mein Wesen und nicht dadurch, was ich für jemanden tue oder welchen Rat ich ihm gebe! Jedenfalls, den »Kumpel Annie« gibt es nicht mehr. An einem schönen Tag. Anfang des Sommers traf ich Tim um die Mittagszeit. »Hast du nicht Lust, mit mir im Bear'Creek Park zu picknicken?« fragte er mich. Ich stimmte seinem Vorschlag begeistert zu, denn ich war ganz froh, der Schulatmosphäre entrinnen zu können - und einige Zeit mit Tim allein zu sein. »Grossartig. Wir holen uns dann bei Pop's ein paar Sandwiches.« Eine Stunde später parkten wir vor dem Bear Creek Park, ich schnappte mir die Tüte von Pop's, und Tim nahm die alte blaue Wolldecke vom Rücksitz. Dann liefen wir Hand in Hand den grünen Hügel hinunter zu dem Flüsschen, das dem Park seinen Namen gegeben hat. Wir gingen so lange am Ufer entlang, bis wir ein schattiges Plätzchen in der Nähe einiger Felsen gefunden hatten. Wir breiteten die Decke aus, und liessen uns darauf nieder. »Möchtest du schon etwas essen?« fragte Tim mich. »Nein«, antwortete ich und tastete nach seiner Hand.
Tim lächelte rnir zu, und streckte sich dann auf der Decke aus. »Ich bin vollkommen erschöpft«, meinte er. »Ich danke dem lieben Gott, dass ich nur noch zwei Prüfungen habe.« »ja«, stimmte ich ihm bei. Ich hielt seine Finger in meinen, und fuhr mit der anderen Hand durch seine dunkten Locken. »Diesen Sornmer können wir gemeinsam schwim men gehen«, murmelte er. »Wir können zusammen Fahrrad fahren und picknicken - alles, was wir möchten. In diesen Ferien bleibe ich zu Hause.« »Ich auch.« lch musste lächeln, als ich an den letzten Sommer dachte. -Damals musste ich noch ein Buch über Kanada lesen, um ein Thema zu haben, über das ich mich mit Tim unterhalten konnte. »Annie«, sagte Tim plötzlich, setzte sich auf und nahm meine beiden Hände. »Ich - ich möchte dich was fragen, und du brauchst mir jetzt auch noch nicht zu antworten, wenn du nicht möchtest. Du kannst so lange damit warten, bis du ganz sicher bist.« »Worüber?« fragte ich und sah ihm tief in die Augen. »Annie. möchtest du fest mit mir gehen?« Meine Hände zitterten leicht in seinen, und ich spürte wie er meine Finger fester umspannte. »Ja«> antwortete ich. »Ich glaube, wir brauchen nicht länger zu warten, um sicher zu sein. « »Ist das dein Rat?« fragte Tim, und seine Augen lachten. »ja.« Ich strahlte. »Mein allerletzter.« Da nahm Tim mich in die Arme und küsste mich zärtlich..
Ende