Band 46 der Fernseh-Serie Raumpatrouille H. G. Ewers
Kristall des Todes
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Band 46 der Fernseh-Serie Raumpatrouille H. G. Ewers
Kristall des Todes
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Die Hauptpersonen des Romans: Cliff McLane – Der Kommandant der ORION und seine Crew gehen in einen Todeseinsatz. Tunaka Katsuro – Direktor des Galaktischen Sicherheitsdiensts. Han Tsu-Gol – Chef der Interimsregierung. Arco Vitus – Ein tüchtiger Raumpilot. Admiral Mahavira – Ein Mann, der nur an seine Karriere denkt. Leandra de Ruyter – Chefin der terrestrischen Raumaufklärungsverbände.
1. Sergeant Arco Vitus stand schräg hinter Tunaka Katsuro und beobachtete die Schaltungen, die der ehemalige Orcast am Steuerpult der YUCCA vornahm. »Sie machen Ihre Sache nicht ausgesprochen schlecht, Direktor«, sagte er. »Wenn Sie mit der Beschleunigung heruntergehen, könnten Sie vielleicht sogar verhindern, daß wir gegen den Asteroiden knallen.« Katsuro nahm die Beschleunigung der LANCET zurück. Seine Stirn hatte sich mit Schweiß bedeckt. Ein Schweißtropfen rann an seiner Nase entlang und tropfte auf die transparente Schaltplatte. »Würde es denn wirklich knallen, wenn wir im Raum gegen ein Hindernis stießen, Sergeant?« fragte er mit völlig ernstem Gesicht. Arco Vitus runzelte verblüfft die Stirn. »Ja, haben Sie denn ...?« Er unterbrach sich und lachte rauh. »Der Herr Direktor belieben zu scherzen, wie?« fragte er anschließend. »Mann, jetzt nehmen Sie die Beschleunigung doch nicht gleich ganz zu-
rück! Wir wollen den Asteroiden schließlich heute noch erreichen.« Er drehte sich zu einer der beiden Personen, von denen eine eine Frau war und die sich außer ihm und Katsuro in der LANCET befanden, um und schrie: »Die Computerwerte, Assistentin Pellegrini! Schlafen Sie eigentlich – oder denken Sie, ein Raumschiff würde von allein sein Ziel finden?« Bevor Angela Pellegrini etwas sagen konnte, ging Katsuro, der soeben wieder beschleunigt hatte, abermals ganz mit der Fahrt herunter. Er drehte sich mit seinem Sessel so, daß er dem Sergeanten ins Gesicht sehen konnte. »Sergeant Vitus«, sagte er sanft und doch energisch. »Bitte bedenken Sie, daß wir absolute Laien sind, was die Steuerung eines Raumschiffs angeht. Wir haben uns zwar mit Theorie vollstopfen lassen, aber es braucht Zeit, die Theorie folgerichtig in der Praxis anzuwenden. Ich verstehe, daß Sie als erfahrener Astronaut der Flotte ungeduldig werden, wenn wir uns dumm anstellen, aber wir lernen bestimmt nichts, wenn Sie uns anschreien.« Arco Vitus grinste und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein zernarbtes Gesicht wirkte hart, aber nicht unsympathisch. »Verlangen Sie nicht etwas zuviel von mir, Direktor Katsuro?« erkundigte er sich. »Nachdem die Erdbewohner uns Menschen der Kolonialwelten jahrzehntelang den Schutz der Erde und der Neunhundert-Parsek-Raumkugel allein überlassen haben, fällt ihnen plötzlich ein, daß sie sich nicht auf Leute verlassen dürfen, die nicht auf der Erde geboren wurden. Sie verdrängen uns von unseren Raumschiffen – und
dann verlangen Sie, Direktor, auch noch, daß wir Kindermädchen für Sie spielen und Ihnen sanft und geduldig beibringen, wie Sie ohne uns auskommen!« Tunaka Katsuro seufzte. »Ich dachte, ich hätte einen Freiwilligen angefordert, Sergeant Vitus. Verstehen Sie denn nicht, daß wir Erdbewohner nur deshalb von der aktiven Raumfahrt ausgeschlossen waren, weil ein wohlmeinender Computer uns bevormundete und uns durch ständige Zufuhr einer Droge, die Fluidum Pax genannt wurde, zu geduldigen und friedfertigen Schafen machte? Nachdem wir uns von der Diktatur befreit und von Fluidum Pax erholt haben, müssen wir dazu übergehen, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Dazu gehört nun einmal auch die Raumfahrt. Sie werden von unseren Raumschiffen verdrängt, ja. Aber das wird nur vorübergehend sein. Sobald sich die Verhältnisse auf der Erde endgültig konsolidiert haben, wird wieder Bedarf für die Raumfahrer von Kolonialwelten bestehen. Wir werden nämlich den von Menschen kontrollierten Raumsektor ausweiten. Dazu müssen wir aber vorher Expeditionen in weitgehend unerforschtes Gebiet entsenden.« »Zugegeben«, erwiderte Vitus. »Aber wozu brauchen Sie einen Galaktischen Sicherheitsdienst? Die Menschheit ist jahrzehntelang ohne eine solche Institution ausgekommen.« Katsuro nickte. »Das ist richtig, Sergeant. Aber Sie wissen, mit welcher Botschaft die ORION-Crew zurückkehrte und was sich inzwischen ereignet hat. Die Kräfte des Rudraja und des Varunja sind nach langer Stagnation
wiedererwacht und treiben ihr Unwesen. Immerhin handelt es sich um die Erben zweier Mächte, die mit großer Wahrscheinlichkeit einst das gesamte Universum in Schach hielten. Deshalb brauchen wir eine Organisation wie den GSD. Ich habe mich nicht danach gedrängt, Direktor des GSD zu werden, aber einer mußte das Amt schließlich übernehmen – und jetzt habe ich die schwere Pflicht, mich selber und meine Assistenten mit den Grundlagen der aktiven Raumfahrt und mit gewissen Verhaltensweisen vertraut machen zu lassen, die bei gefährlichen Einsätzen unabdingbar sind. Wir sind dankbar für jede Hilfe, die wir dabei erhalten, aber Sie müssen etwas Geduld mit uns haben.« Sergeant Vitus setzte sich in einen freien Sessel und zündete sich umständlich eine Zigarre an. Danach blickte er seine drei »Zöglinge« abschätzend an. »Also, versuchen wir es mit Zucker«, meinte er sarkastisch. »Assistentin Pellegrini, würden Sie die Freundlichkeit besitzen, die Computerwerte über die Zielannäherung abzulesen und durchzusagen? Und Sie, Direktor Katsuro, seien Sie so nett und verwenden Sie die Computerwerte für Ihre Schaltungen. Ach, ja, wir dürfen Assistent Mueller nicht vergessen. Behalten Sie doch bitte die Anzeigen der Maschinenkontrollen im Auge, damit Sie uns bedrohliche Veränderungen möglichst bald melden können – notfalls schriftlich. Alles verstanden?« Als die drei Menschen nickten, fuhr er gönnerhaft fort: »Dann wollen wir endlich diesen verdammten Asteroiden anfliegen, unbemerkt darauf landen und die generische Geheimstation ausräuchern. Ein
Glück, daß es sich nur um ein Manöver handelt, sonst hätte der Gegner uns längst entdeckt und Maßnahmen getroffen, um uns bei weiterer Annäherung auszuschalten. Na also, der Herr Direktor des GSD kann ja auf einmal kontinuierlich hochschalten! Bitte, tun Sie das beim Herunterschalten genauso.« * Han Tsu-Gol, unter der Regierung von Orcuna – der nichts anderes gewesen war als der Ego-Sektor des Terrestrischen Computerzentrums – Orcast für Verteidigung und Raumflotte und jetzt Chef der Interimsregierung, nippte an seinem Glas und richtete seine Augen dann auf Cliff Allistair McLane. »Die Vorbereitungen für die Wahlen einer Erdregierung laufen auf vollen Touren, Cliff. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sich unter den gegebenen Umständen überhaupt Wahlen mit einem klaren Ergebnis durchführen lassen.« Cliff dachte über die Worte des Regierungschefs nach. Ihre Zusammenkunft war nicht dienstlicher Natur, aber ihm war klar, daß sich bei Han Tsu-Gol zwischen Privatleben und Dienstlichem keine scharfen Grenzen ziehen ließen. Arlene und er saßen Han in dessen luxuriösem Wohnraum gegenüber. »Halten Sie die Menschheit noch nicht für reif genug, um darüber zu entscheiden, wer in den nächsten vier Jahren ihre Interessen wahrnehmen soll, Han?« erkundigte Cliff sich vorsichtig. »Die Reife kommt mit der Erfahrung«, erwiderte Han Tsu-Gol. »Doch so war meine Bemerkung nicht gemeint, Cliff. Ich zweifle daran, ob wir bis zur Wahl
sicher sein dürfen, daß der Wille der Wähler sich tatsächlich im errechneten Wahlergebnis niederschlägt.« Cliff ließ die Eiswürfel in seinem Whiskyglas kreisen und blickte fasziniert auf die Lichtkaskaden, die sich gleich einem in allen Farben leuchtenden Wasserfall über die Holovideowand des Zimmers ergossen. »Ich verstehe immer noch nicht, Han«, erklärte er. Neben ihm bewegte sich Arlene N'Mayogaa. Sie legte eine Hand auf Cliffs Unterarm und sagte leise und eindringlich: »Ich nehme an, der Ministerpräsident bezieht sich auf den geheimnisvollen Gegner, der TECOM manipulierte, um die ORION ins Verderben zu schicken. Du bist doch sonst nicht so begriffsstutzig, Cliff. Warum dann jetzt?« Cliff McLane nahm einen Schluck Whisky, ließ ihn auf der Zunge zergehen und meinte: »Nicht schlecht, aber kein Archer's tears. Wie lange muß ein Tiger nach einem im Dschungel angebundenen Lamm suchen, Han?« »Sehr lange, wenn er nach einem bestimmten Lamm sucht, das sich unter vielen anderen Lämmern verbirgt«, erwiderte Han Tsu-Gol mit undurchdringlichem Gesicht. »Unser ›Tiger‹ hat außerdem keinen Geruchssinn. Der muß ihm erst wachsen.« »Wie Krallen und Zähne«, ergänzte McLane trokken. »Aber die Wahlen finden erst in einem halben Jahr statt. Bis dahin sollte die Neuauflage des guten alten GSD mit Geruchssinn, Krallen und Zähnen bewaffnet sein. Die ORION-Crew würde sich dann richtig zu Hause fühlen.« Er setzte sein Glas hart ab und funkelte den Regierungschef ironisch an.
»Warum setzten Sie nicht Leute auf den Fall an, die in solchen Sachen Hundertfach erprobt und bewährt sind, Herr Ex-Orcast?« »Beispielsweise die ORION-Crew«, meinte Han bedächtig. »Sie werden es nicht für möglich halten, Cliff, aber ich habe den Gedanken erwogen. Doch dann dachte ich daran, daß man früher den Tiger in Fallgruben fing, die man ihm mit einem darauf placierten Lamm schmackhaft machte. Wie nun, wenn unser geheimnisvoller TECOM-Manipulator es darauf angelegt hat, Sie in seine Umgebung zu locken und umzubringen?« Cliff McLane grinste. »Er würde wiederholen, was schon viele versuchten, aber noch niemand fertigbrachte. Gehen Sie das Risiko ein, bei dem Sie nichts riskieren, Han! Teilen Sie der Crew den neuernannten Direktor des neugegründeten GSD zu, damit er lernt, wie man den Elefanten beschleicht, ohne daß er Witterung in den Rüssel bekommt. Tunaka Katsuro ist ein intelligenter und tüchtiger Mann, aber ihm fehlt noch die Erfahrung des Jägers.« »Wie seinen Agenten, die sich verschämt Assistenten nennen«, warf Arlene ein. Cliffs braunhäutige Lebensgefährtin trank aus einem langstieligen Glas mit flachem Kelch einen blauschillernden Cocktail. »Direktor Katsuro absolviert gerade einen Kursus in angewandter Raumfahrt, gekoppelt mit dem Ausheben eines gegnerischen Asteroidenstützpunkts«, sagte Han nach einem Blick auf seine Digitaluhr. »Leider hatten wir ehemaligen Orcasten unter Orcuna keine Gelegenheit, uns in diesen Feinheiten des rauhen Lebens zu schulen.«
»Wie poetisch ausgedrückt!« rief Cliff lächelnd. »Ich nehme an, der Ärmste steht zur Zeit einige harte Stunden durch. Wer ist denn sein Lehrmeister?« »Sergeant Arco Vitus«, antwortete Han Tsu-Gol. »Sie haben ihn schon einmal bei mir kennengelernt.« Cliff McLane, der nach dem Schalter des Getränkeautomaten gegriffen hatte, hielt in der Bewegung inne. »Sergeant Vitus!« meinte er gedehnt. »Wie ich ihn einschätze, wird der verehrte Katsuro-san inzwischen nahe daran sein, Harakiri zu begehen – oder er schwingt sein Samurai-Schwert gegen Vitus.« »Sergeant Vitus ist außergewöhnlich tüchtig, wenn auch ein wenig rauhbeinig«, erwiderte der Regierungschef. »Ich überlege, ob ich ihn ebenfalls zur ORION-Crew abstellen soll, vorübergehend natürlich nur, damit er Sie bei der Suche nach dem Unbekannten unterstützt, der das Computerzentrum manipuliert hat.« »Er könnte uns zweifellos eine wertvolle Hilfe sein«, meinte Arlene. »Vor allem aber würde er bei uns noch einiges lernen. Wann kehrt der GSDDirektor zur Erde zurück?« Abermals blickte Han auf seine Digitaluhr. »In vier Stunden, wenn nichts dazwischenkommt.« Kaum hatte er es gesagt, als ein durchdringendes Pfeifen ertönte. Hans linkes Augenlid zuckte kurz, ansonsten blieb der stämmige Mann ruhig. »Mein rotes Visiphon«, erklärte er und stand auf. Mit einigen Schritten erreichte er das in einer Wandnische stehende Gerät und schaltete es ein. Auf dem Bildschirm erschien der Oberkörper einer etwa dreißigjährigen, bunt gekleideten Frau.
»Zentrale Koordinierung, Amja Kranina spricht!« sagte sie nervös. »Chef, die Funküberwachung Sonnensystem hat nicht identifizierbare Hyperimpulse aufgefangen, die das Sonnensystem überschwemmen. Die Quelle konnte noch nicht ermittelt werden.« »Geben Sie Alarmstufe Gelb für die Flotte!« ordnete Han Tsu-Gol an. »Die YUCCA mit Direktor Katsuro ist zurückzurufen. Die Funküberwachung soll alles einsetzen, was sie hat, um die Quelle der Hyperimpulse anzupeilen. Ich komme ins Hauptquartier.« Als er das Gerät ausschaltete, standen Cliff McLane und Arlene auf. »Eine neue und sicher unerfreuliche Überraschung kommt auf uns zu«, bemerkte Cliff. »Die Frage ist nur: Rudraja oder Varunja. Aber die Antwort dürfte nur von akademischem Interesse sein, denn von beiden Überbleibseln des Kosmischen Infernos droht uns Gefahr, wie die letzten Ereignisse bewiesen haben. Ich nehme an, Sie wollten mir sagen, daß ich meine Crew zusammenrufen soll, Han?« »Tun Sie das – vorsichtshalber«, antwortete Han Tsu-Gol. »Aber tun Sie vorläufig nicht mehr. Noch wissen wir nicht, was die Hyperimpulse zu bedeuten haben.« »Außer, daß sie nichts Gutes bedeuten«, meinte Arlene. »Wir eilen und werden bereit sein, wenn man uns braucht.« »Das ist es, was ich an Ihnen so schätze«, sagte Han Tsu-Gol, als er Cliff und Arlene verabschiedete. *
Tunaka Katsuro stieß eine Verwünschung aus, als ein heller Lichtfleck dicht neben ihm auf dem gestern des Asteroiden entstand. Er wälzte sich zur Seite, hob die HM 4 und gab zwei Strahlschüsse auf den Teil der Kuppel des gegnerischen Stützpunkts ab, den er sehen konnte. Er schaltete sein Helmfunkgerät ein und sagte: »Angela und Jerez, Sie geben mir Feuerschutz! Ich werde in einer halben Minute meine Deckung verlassen und versuchen, die Schleuse des Stützpunkts zu erreichen.« Tunaka wartete darauf, daß Sergeant Vitus einen Kommentar zu seiner Äußerung gab, aber der Sergeant schwieg. Wahrscheinlich hatte er beschlossen, seine Schützlinge für einige Zeit sich selbst zu überlassen. Der GSD-Direktor fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Noch vor wenigen Wochen hatte er unter dem Einfluß von Fluidum Pax gestanden – wie alle Menschen auf der Erde. Er war nicht einmal fähig gewesen, an die Anwendung von Gewalt zu denken, geschweige denn, Gewalt gegen Sachen oder Personen anzuwenden. Die Wirkung von Fluidum Pax, der Friedfertigkeitsdroge, war inzwischen erloschen. Trotzdem bewegte sich das Denken der Menschen noch in den alten Bahnen. Das war nicht einmal schlecht. Aber es wirkte sich hinderlich aus, wenn man gezwungen war, einen Angreifer zu bekämpfen – und sei es nur ein Manövergegner wie der im Asteroidenstützpunkt. »Verstanden, Chef!« antworteten Angela Pellegrini und Jerez Mueller. Tunaka Katsuro blickte auf das Leuchtfeld seiner
Uhr. Gleich waren die dreißig Sekunden um. Er würde aufspringen und trotz des gegnerischen Abwehrfeuers auf den Stützpunkt zustürmen müssen. Zwar »schoß« der Manövergegner nicht mit tödlichen Strahlen, sondern mit normalem Scheinwerferlicht, das lediglich stärker als üblich gebündelt war. Aber wenn die Lichtstrahlen eine der Fotozellen trafen, die an seinem Raumanzug befestigt waren, würde in der LANCET eine Lampe aufleuchten und dem Sergeanten verraten, daß er, Tunaka Katsuro, ausgefallen war. Er mußte in einem solchen Fall passiv die weitere Entwicklung abwarten. Es war soweit! Der GSD-Direktor schaltete sein Flugaggregat ein, schoß aus der Deckung hervor und befand sich plötzlich rund sechshundert Meter über der zerklüfteten Oberfläche des Asteroiden. Er betätigte den Hebel, der die Abstrahldüsen des Aggregats lenkte, und raste sofort wieder nach unten. Aber beide Manöver hatten bei dem geringen Durchmesser des Asteroiden genügt, um ihn auf die dem Stützpunkt gegenüberliegende Seite des Felsbrockens zu bringen. Katsuro mußte erkennen, daß man nicht auf Anhieb zufriedenstellend über einem Himmelskörper manövrieren konnte, dessen Schwerkraft sich ganz erheblich von der irdischen unterschied. Um das zu können, benötigte man entweder einen Computer oder langjährige Erfahrung. Aber er war nicht gewillt, deswegen aufzugeben. Der Gedanke, daß er sich vor Sergeant Vitus blamieren könnte, beflügelte seine Phantasie. Er überlegte, daß die Stützpunktbesatzung, die aus speziell für das Manöver programmierten Robotern bestand, wahr-
scheinlich annahm, daß er nach einer ganzen Umkreisung der Asteroiden wieder aus der Richtung auftauchen würde, aus der er ursprünglich gekommen war. Folglich wendete Katsuro und kehrte auf dem gleichen Weg zurück. Diesmal brachte er es fertig, seine Flugbahn niedrig zu halten, so daß er vom Stützpunkt aus erst entdeckt werden konnte, als er schon bis auf hundertfünfzig Meter heran war. Er sah es drüben aufblitzen. Doch vorher hatte er den Steuerhebel des Flugaggregats versehentlich nach links gedrückt, anstatt ihn nach oben zu ziehen, wie es ihm taktisch richtig zu sein schien. Das plötzliche Schwenkmanöver verhinderte, daß er getroffen wurde. Abermals betätigte Katsuro den Steuerhebel. Die geringe Schwerkraft war verwirrend. Dazu kam, daß keine Atmosphäre vorhanden war, die seinen Flug bremste. Plötzlich sah sich Tunaka Katsuro dem äußeren Schleusentor des Stützpunkts gegenüber. Er schaltete sein Flugaggregat einfach aus, fiel ungefähr fünf Meter tief, kam jedoch wegen der geringen Schwerkraft einigermaßen sanft auf. Als er merkte, daß er sich im toten Winkel der gegnerischen »Strahlwaffen« befand, konnte er es kaum glauben. Dennoch handelte er schnell und folgerichtig. Er zielte mit seiner HM 4 auf das elektronische Schloß des Schleusenschotts und drückte ab. Die Strahlbahn verwandelte das Metall am Auftreffpunkt in eine weißglühende flüssige Masse. Mit einem Tritt stieß Katsuro das Schott nach innen. Anschließend hakte er die glatte eiförmige Bombe von seinem Gürtel, zog sie ab und schleuderte sie in die Schleusenkammer. Danach sah er zu, wie sie ex-
plodierte. Schließlich war es nur eine Manöverbombe, die bei der Explosion der minimalen Ladung eine Wolke weißen, klebrigen Pulvers ausstieß, das auf den Kammerwänden haften blieb – und auch auf der Vorderseite von Katsuros Raumanzug. »Ein beinahe klassischer Alleingang!« vernahm er im nächsten Augenblick die Stimme des Sergeanten in seiner Helmfunkanlage. »Ich nehme an, Sie hatten mehr Glück als Verstand, verehrter Direktor. Den Stützpunkt haben Sie jedenfalls geknackt. Aber es war völlig überflüssig, Kamikaze zu spielen.« »Wieso Kamikaze?« fragte der GSD-Direktor zurück. »Sie sind im Wirkungsbereich Ihrer Bombe stehengeblieben«, erwiderte Arco Vitus. »Wäre es eine echte Bombe gewesen, dürften wir jetzt Ihre kümmerlichen Überreste von dem Asteroiden kratzen. Ich habe schließlich alles auf meinen Monitoren verfolgt. Sie sind von oben bis unten voll Markierungspulver.« »Es gibt keine größere Ehre für einen Samurai, als im Kampf zu sterben«, erwiderte Katsuro verlegen. »Wo stecken eigentlich meine beiden Assistenten? Sie sollten mir Feuerschutz geben, haben sich aber nicht gerührt.« »Assistentin Pellegrini ist durch Beschuß ausgefallen«, antwortete der Sergeant. »Und Assistent Mueller hat sich verlaufen. Er irrt auf der anderen Seite des Asteroiden herum. Hallo, Mueller, der Kampf ist beendet! Bitte, melden Sie sich!« »Ich habe mich nicht verirrt«, sagte Jerez Mueller über Funk. »Als mein Chef verschwand, wollte ich ihm entgegengehen. Das ist alles.« »Warum benutzen Sie nicht Ihr Flugaggregat, Jerez?« erkundigte sich Katsuro.
Jerez Mueller lachte leise. »Ich habe es auf eine Kreisbahn geschickt, um die Stützpunktbesatzung abzulenken. Es wurde tatsächlich beschossen. Ich bin dann zu Fuß weitergegangen.« Arco Vitus räusperte sich lautstark. »Das war eine Eigenmächtigkeit, Assistent Mueller. Ich muß allerdings Ihren Einfallsreichtum anerkennen. Vielleicht lernen Sie Ihren Beruf schneller, als ich ursprünglich dachte. Assistentin Pellegrini, ist bei Ihnen alles in Ordnung? Warum melden Sie sich nicht?« »Ich denke, ich bin tot«, erklärte Angela Pellegrini verwundert. »Ist die Übung beendet, Sergeant?« Als Arco Vitus nicht antwortete, drehte Tunaka Katsuro sich um und hielt Ausschau nach der LANCET. Aber das Beiboot des Kreuzers, der draußen im Raum auf sie wartete, war nicht zu sehen. Sie hatten es in einer kraterähnlichen Vertiefung gelandet. »Warum antworten Sie nicht, Sergeant?« rief der GSD-Direktor beunruhigt. »Was ist los? Ist etwas nicht in Ordnung?« Als der Sergeant antwortete, klang seine Stimme spröde. »Die Erde hat Alarmstufe Gelb ausgerufen. Wir müssen sofort zurückkehren. Beeilen Sie sich!« »Was ist geschehen?« fragte Katsuro, während er sein Flugaggregat einschaltete. »Das Sonnensystem wird von fremden Hyperimpulsen überschüttet. Es sieht so aus, als hätten wir neues Unheil zu erwarten. Diese Burschen von der ORION müssen in einem ganz verdammten Wespennest herumgestochert haben.«
Tunaka Katsuro spürte, wie sich ein imaginärer Bleiklumpen in seinem Magen niederließ. Er hatte gehofft, die rätselhaften kosmischen Mächte würden ihnen Zeit lassen, bis der GSD zu einem schlagkräftigen Instrument geworden war. Anscheinend aber mußten sie mit einem Minimum an Ausbildung in einen lebensgefährlichen Einsatz gehen. »Wir kommen!« erwiderte er.
2. Sie standen alle in der großen Auswertungshalle des terrestrischen Flottenhauptquartiers und blickten auf die Bildschirme, auf denen die Sektionschefs der System-Überwachung zu sehen waren: Han Tsu-Gol, Tunaka Katsuro und die sechs Personen der ORIONCrew. Sergeant Arco Vitus hatte Katsuro auf dessen Bitte hin begleitet. Normalerweise wäre er auf seinem Kreuzer geblieben. »Die Zahl der Hyperimpulse nimmt zu«, sagte einer der Sektionschefs über die Sprechanlage. »Sie schwillt lawinenartig an.« »Und noch immer kein Hinweis auf den Ursprungsort, nehme ich an?« warf Cliff McLane ein. »So ist es, Commander McLane«, antwortete der Sektionschef. »Es scheint, als hätten die Impulse ihren Ursprung außerhalb des Sonnensystems, könnten aber erst innerhalb des Systems aufgefangen werden.« »Es wird Zeit, etwas zu unternehmen«, erklärte Mario de Monti. Han Tsu-Gol hob ratlos die Arme und ließ sie wieder sinken. »Vergebens rennt der Elefant gegen Schatten an. Was sollen wir unternehmen, wenn wir keine Ahnung haben, wo die Quelle der Hyperimpulse zu suchen ist, de Monti?« Mario grinste. »Wo Schatten sind, da müssen auch Objekte sein, die den Schatten werfen, Meister der Gleichnisse. Möglicherweise entdecken wir sie, wenn wir mit der ORION IX das Sonnensystem durchkreuzen – oder wir ent-
decken, ob die Hyperimpulse irgendwo eine Wirkung hervorrufen. Auf jeden Fall findet die Biene den Honig nur, wenn sie den Stock verläßt und schnuppert.« Sergeant Vitus brach in stoßweißes Lachen aus. Ihn schien die Vorstellung einer schnuppernden Biene zu erheitern. Tunaka Katsuro schmunzelte. »Als Direktor des GSD greife ich de Montis Vorschlag auf und befürworte ihn«, sagte er. »Im freien Raum läßt sich wahrscheinlich mehr feststellen als von bodengebundenen Überwachungsstationen aus. Jedenfalls halte ich es für besser, aktiv zu werden, als alles an uns herankommen zu lassen.« Han Tsu-Gol blickte von einem zum anderen. »Die Schiffe der Wega-Flotte stehen im System und orten, aber sie haben ebenfalls nichts Konkretes festgestellt«, wandte er ein. »Darf ich etwas dazu sagen?« fragte Sergeant Vitus. »Bitte!« sagte der Regierungschef. Arco Vitus räusperte sich. »Wie Sie wissen, gehöre ich ebenfalls der WegaFlotte an. Deshalb weiß ich, daß die Einheiten, zu kleinen Gruppen geordnet, relativ unbeweglich im Raum des Sonnensystems stehen. Sie sind an bestimmte Positionen gebunden. Die ORION IX dagegen könnte sich ungezwungen bewegen und würde wahrscheinlich mehr erreichen, wenn überhaupt etwas erreicht werden kann.« »Richtig!« warf Helga Legrelle ein. »Sie sind ein Goldjunge, Sergeant.« Han Tsu-Gol übersah, daß der Sergeant errötete und erklärte: »Ich kann mich den Argumenten nicht verschlie-
ßen. Commander McLane, Sie erhalten hiermit den dienstlichen Auftrag, nach eigenem Ermessen das Sonnensystem zu durchkreuzen und zu beobachten, zu messen und abzuwägen. Nur ...« »... nur sollen wir nichts auf eigene Faust unternehmen, falls wir etwas finden«, ergänzte Cliff trokken. Er lächelte. »Vorher müssen wir uns allerdings vergewissern, ob das, was wir eventuell gefunden zu haben glauben, real ist oder nicht. Das gestehen Sie uns doch zu, Han?« Der Regierungschef lächelte ebenfalls. »Sie haben eine verblüffende Auffassungsgabe, Cliff.« »Irrtum!« korrigierte der Commander. »Man lernt sich nur kennen, wenn man miteinander zu tun hat. Dürfen wir starten – und dürfen wir Katsuro-san und seinen charmanten Ausbilder mitnehmen, Herr Ministerpräsident?« Han Tsu-Gol wurde ernst. »Genehmigt, Cliff. Aber ich bitte Sie inständig, nichts zu unternehmen, bevor Sie nicht Rücksprache mit mir gehalten haben. Ich sage das nicht, weil ich Sie behindern will, sondern weil mir das Wohl der ORION-Crew am Herzen liegt.« »Und ich dachte, wir lägen Ihnen im Magen, Han«, scherzte Arlene. »Trotzdem, vielen Dank für Ihre Sorge. Wir werden uns bemühen, der Menschheit noch lange erhalten zu bleiben.« »Du hast mir die Abschiedsworte aus dem Munde genommen, Arlene«, meinte Cliff. Er blickte den GSD-Chef und den Sergeanten fragend an. »Ich hoffe doch sehr, mein Ansinnen hinsichtlich Ihrer Teilnahme ist auf Gegenliebe gestoßen?«
»Ich halte es für meine Pflicht, an dem Einsatz teilzunehmen«, erklärte Tunaka Katsuro lächelnd. »Und mir wird es ein Vergnügen sein, die berühmte ORION-Crew einmal direkt in Aktion zu erleben!« erklärte Arco Vitus. »Berühmt ja, aber auch berüchtigt«, stellte Han Tsu-Gol fest, als die um zwei Personen erweiterte Crew abmarschierte. »Wenn ich nur wüßte, was schwerer ins Gewicht fällt!« * Helga Legrelle schaltete die Lautsprecher des Hyperfunkgeräts auf volle Leistung. Im nächsten Augenblick war die Steuerzentrale der ORION IX von anund abschwellendem Pfeifen, entnervendem Klicken und unablässigem Heulen erfüllt. Cliff McLane verzog das Gesicht. »Herunterschalten, Helga!« rief er. »Das hält ja kein Mensch aus!« Die Funkerin drosselte die Wiedergabe. »Drei verschiedene Arten von Impulsen kommen herein«, berichtete sie. »Aber sie kommen nicht aus verschiedenen Richtungen, sondern offenbar von überall zugleich.« »Bitte, überspiele sie auf unseren Computer, Helga!« bat Mario de Monti. »Ich will versuchen, sie zu entschlüsseln.« »Wenn eine Entschlüsselung möglich wäre, hätte TECOM das längst geschafft«, warf Tunaka Katsuro ein. »Und wenn jemand das bisher verhindert hat?« fragte Mario, während er die in den Computer eingehenden Hyperimpulse kontrollierte.
Das Gesicht des GSD-Direktors verfinsterte sich. »Ich habe entsprechende Recherchen anstellen lassen. Das bisherige Ergebnis sagt aus, daß es unmöglich ist, TECOM zu manipulieren. Dazu müßte die Programmierung geändert werden, was aber nur gleichzeitig von den drei Chefprogrammierern mit Hilfe von drei Programm-Injektoren erfolgen kann. Außerdem gibt es für TECOM unbeeinflußbare Verhaltensweisen, so beispielsweise die, daß augenblicklich jede Änderung der Programmierung blockiert wird, wenn bei Manipulationen der drei Chefprogrammierer die geringste Abweichung erfolgt.« »Das klingt perfekt«, sagte Atan Shubashi, der bisher geschwiegen hatte. »Dennoch ist TECOM schon einmal manipuliert worden«, erklärte Cliff McLane. »Und was einmal möglich war, dürfte auch ein zweites und drittes Mal möglich sein. Wir müssen davon ausgehen, daß wir TECOM nicht mehr trauen dürfen, solange die Sache mit der Manipulation nicht aufgeklärt ist.« »Ergebnis negativ«, sagte Mario de Monti. »Ich habe die Hyperimpulse durch den Dekoder laufen lassen. Er besitzt keine Möglichkeit, sie zu entschlüsseln.« Katsuro setzte sich auf den Reservesessel neben McLane und blickte auf die Bildschirme der Außenbeobachtung. »Wo sind wir eigentlich jetzt?« erkundigte er sich. »Wir sind vor zwanzig Minuten um den Saturn herumgeschwenkt und befinden uns zur Zeit auf Jupiterkurs«, antwortete Cliff bereitwillig. »Allerdings müssen wir noch eine Kurskorrektur vornehmen, um so dicht am Jupiter vorbeizukommen, daß wir Einzelhei-
ten der Oberfläche beziehungsweise der Gashülle erkennen können.« »Vermuten Sie, daß Jupiter eine Rolle in dem Hyperimpulsschauer spielt, der über das Sonnensystem heruntergeht?« fragte Sergeant Vitus. »Ich vermute gar nichts«, sagte Cliff und nahm einige Schaltungen vor. »Jupiter interessiert mich nur an sich. Schon früher hat dieser Riesenplanet eine seltsame Faszination auf mich ausgeübt. Vielleicht, weil bisher noch nicht geklärt werden konnte, welcher Natur die Kohlenwasserstoff-Polymer-Wolke ist, die wir den Großen Roten Fleck nennen.« »Cliff glaubt, im GRF so etwas wie einen Bruder im Geiste zu sehen – beziehungsweise eine Schwester«, warf Helga Legrelle spöttisch ein. »Eine Schwester im Geiste hätte mir gerade noch gefehlt, vor allem, wenn es sich um eine ältere Schwester handelt«, gab Cliff zurück. »Aber es steht fest, daß der Große Rote Fleck Reaktionen zeigt, die nicht nur blinde Instinktreaktionen auf die Reize seiner Umwelt sein können. Allerdings sind diese Reaktionen für uns so unbegreiflich wie die Träume einer gigantischen Amöbe.« »Achtung, Commander Cliff Allistair McLane wird poetisch!« rief Hasso Sigbjörnson über die Bildsprechanlage aus dem Maschinenraum. »Alarmstufe eins!« Die Mitglieder der Crew lachten. Nur Tunaka Katsuro und Sergeant Arco Vitus wurden von der Heiterkeit nicht angesteckt. Sie saßen steif und mit etwas unglücklichen Gesichtern auf ihren Plätzen. Das Gelächter brach abrupt ab, als Atan Shubashi einen Arm nach oben riß.
In die jähe Stille hinein sagte der Astrogator erregt: »Ortung! Zwischen Erd- und Marsbahn ist etwas aufgetaucht!« Alle Blicke konzentrierten sich auf Atan. »Was ist unter ›etwas‹ zu verstehen, Atan?« fragte Cliff gespannt. Der kleine Astrogator schüttelte den Kopf. »Eine Art pulsierender Dunkelwolke, ein schwarzes Wogen und Wallen, ansonsten undefinierbar«, erklärte er. »Auf jeden Fall aber etwas, das nicht ins Sonnensystem gehört.« »Das sehen wir uns aus der Nähe an«, schlug Cliff McLane vor. »Was meint ihr, Freunde?« »Wir müssen es uns auf jeden Fall ansehen«, sagte Arlene. »Egal, ob es etwas mit den Hyperimpulsen zu tun hat oder nicht. Es ist geheimnisvoll wie ...« Sie stockte. »Geheimnisvoll wie manches, was wir in der Raumkugel mit der Modellschablone der Erde erlebten«, warf Mario de Monti ein. »Schon das ist ein Grund für uns, die Erscheinung zu begutachten.« Cliff nickte. »Ich nehme Kurs auf das Ding. Helga, informiere bitte Han den Wartenden. Er wird nach Neuigkeiten lechzen, wie wir ihn kennen.« Er schaltete die Triebwerke hoch. Die ORION IX beschleunigte und jagte mit singenden Maschinen durch den stellaren Raum. Die Kurskorrektur in Richtung Jupiter unterblieb. Dennoch richtete sich die Aufmerksamkeit der Crew für kurze Zeit auf den Riesenplaneten, als das Schiff in achteinhalb Millionen Kilometern Entfernung an ihm vorbeiflog. Auf der gestreiften Oberfläche der Gashülle hob
sich der Große Rote Fleck gleich der Sinneszelle eines gigantischen Einzellers ab. In der Vergangenheit hatten die Astronomen mit ihren Teleskopen und verschiedene unbemannte Raumsonden das Rätsel des GRF zu entschleiern versucht. Doch alle Ergebnisse hatten nur dazu beigetragen, das Rätsel größer und geheimnisvoller erscheinen zu lassen. Inzwischen war ein neues Rätsel im Sonnensystem aufgetaucht, das nicht nur geheimnisvoll erschien, sondern auch höchst gefährlich. Deshalb wandte sich die Aufmerksamkeit der ORION-Crew bald wieder vom Jupiter ab und richtete sich auf das, was voraus lag. * Zum erstenmal war das schwarze Wogen und Wallen auch optisch auf den Bildschirmen auszumachen. Es wirkte ungemein bedrohlich, aber es verhielt sich völlig neutral. »Was kann das sein?« fragte Tunaka Katsuro. »Es sieht aus wie konzentrierte interstellare Materie, wie eine entstehende Dunkelwolke.« »Die Frage ist, wo die Materie für eine Dunkelwolke hergekommen sein soll«, warf Mario de Monti ein. »Das Gebilde liegt außerhalb des Asteroidengürtels, kann also nicht aus seiner Materie geboren worden sein.« »Es ist keine definierbare Materie«, erklärte Atan Shubashi. »Jedenfalls sprechen die Massetaster nicht darauf an.« »Die Hyperimpulse!« stieß Helga Legrelle erregt hervor. »Sie verändern sich! Bisher überschwemmten
sie ungerichtet das Sonnensystem. Seit ein paar Sekunden richten sie sich auf das schwarze Gebilde aus und verschwinden in ihm, als würden sie von ihm aufgesogen.« »Also haben die Impulse doch einen Zweck erfüllt«, sagte Cliff McLane. »Aber kann mir jemand sagen, wie aus Hyperimpulsen ein materieller Körper von ...« »Rund fünftausend Kilometer Durchmesser entstehen kann?« fuhr der Commander fort. »Anregung von etwas, das bisher im Hyperraum schlummerte?« überlegte Mario des Monti laut. Cliff zuckte die Schultern. »Ich stoppe«, erklärte er. »Wir werden, wenn die ORION zum Stillstand kommt, nur zehntausend Kilometer von dem Gebilde entfernt sein. HelgaMädchen, stellst du bitte eine Verbindung mit Han Tsu-Gol her?« »Wird gemacht, Häuptling«, erwiderte die Funkerin. Während sie noch dabei war, eine Funkverbindung mit dem Regierungschef der Erde herzustellen, ging mit dem schwarzen Wogen und Wallen eine erschreckende Veränderung vor. »Das Gebilde schrumpft«, sagte Shubashi. »Gleichzeitig scheint es sich zu verdichten und Konturen anzunehmen.« Cliff erhob sich von seinem Platz und ging zu den Ortungsgeräten hinüber, an denen Atan Shubashi schaltete. Die verschiedenen Geräte schickten ihre Meßresultate durch einen Analysator, der mit seiner Elektronik ein für die menschliche Wahrnehmung erkennbares Bild auf einem Schirm projizierte.
»Das sieht aus, als wollte es ein Kristall werden«, flüsterte der Commander. »Ein riesiger, schwarzer Kristall mit einer Unzahl dreieckiger Flächen.« »Verbindung mit Han steht, Cliff!« rief Helga Legrelle. Nach einem letzten Blick auf die Projektion des Kristalls ging Cliff McLane zum Funkgerät. Auf dem Bildschirm war Han Tsu-Gols ernstes Gesicht zu sehen. Seit wir zurückgekehrt sind und die Aktivitäten sich zugespitzt haben, ist er sichtlich gealtert – und reifer geworden! überlegte Cliff. Laut sagte er: »Wir haben eine Feststellung machen können, Han – oder vielmehr zwei Feststellungen. Einmal wurden die vorher ziellosen Hyperimpulse auf einen Punkt zwischen Erd- und Marsbahn ausgerichtet, und zum zweiten entstand an diesem Punkt ein schwarzes Wogen und Wallen, das sich inzwischen zu einer Art Riesenkristall formte. Ich übermittle Ihnen ein Bild, aufgenommen aus zirka zehntausend Kilometern Entfernung.« Er nickte Helga zu, und die Funkerin blendete die Projektion des Ortungsanalysators in die Verbindung mit der Erde ein. Han Tsu-Gols starke Brauen, die einzige »Behaarung« des Kopfes, zogen sich kaum merklich in die Höhe. Ansonsten verriet das Gesicht des ehemaligen Orcasten keine Regung. »Woraus besteht das kristalloide Gebilde, Cliff?« erkundigte er sich. »Nicht feststellbar«, antwortete McLane. »Wir beobachten weiter, denn die Formung des Gebildes ist
noch nicht abgeschlossen. Ich bitte aber schon jetzt um die Erlaubnis, das Ding näher in Augenschein nehmen zu dürfen.« »Sie möchten sich wieder in ein neues Abenteuer stürzen, Cliff«, erwiderte Han vorwurfsvoll. »Bitte, halten Sie sich zurück, bis Sie mehr über das Gebilde wissen.« »Was sagt TECOM?« erkundigte sich Tunaka Katsuro und trat ebenfalls vor das Funkgerät. »Ich habe mich entschlossen, TECOM nicht in Ihren Einsatz einzuweihen«, erklärte der Regierungschef. »Das Lamm geht sicher durch den Dschungel, solange der Tiger nichts von ihm ahnt.« »Wenn der Tiger hinterher davon erfährt, wird er belämmert sein«, rief Arlene von ihrem Platz. »Der Kristall hat sich weiter stabilisiert«, meldete Atan Shubashi. »Seine Form entspricht dem eines Ikosaeders mit ungleichen Achsen.« »Das ist unmöglich«, sagte Han Tsu-Gol. »Entweder ist das kristalloide Gebilde ein Ikosaeder – oder es besitzt ungleiche Achsen.« »Das Wort ›unmöglich‹ gibt es im Sprachschatz der ORION-Crew nicht, Meister der Wortspiele«, erwiderte Shubashi. »Jedenfalls hat das, was Sie als ›kristalloides Gebilde‹ zu bezeichnen pflegen, zwanzig Flächen, die allerdings von unterschiedlichen Dreiekken begrenzt sind, was wiederum ungleiche Achsen voraussetzt. Der Durchmesser beträgt übrigens 3,206 Kilometer und hat sich seit einer Minute nicht mehr verändert.« »Damit ist unsere Zeit gekommen, Han«, sagte Cliff McLane. »Wir können aus unserer Entfernung offenkundig nicht mehr über das Gebilde erfahren.
Ich schlage vor, daß wir mit einer LANCET näher herangehen und das Ding mit Detektoren und anderen Geräten untersuchen. Soweit wir überblicken können, dürfte das relativ gefahrlos sein.« »Einverstanden«, gab Han Tsu-Gol zum Erstaunen der ORION-Crew zurück. »Wäre ich weise, würde ich es Ihnen wahrscheinlich verbieten. So kann ich Sie nur auffordern, sich sofort zurückzuziehen, wenn das kristalloide Gebilde eine als gefährlich einzustufende Reaktion zeigt.« »Der Herr Ex-Orcast drücken sich wieder einmal außerordentlich gewählt aus«, erwiderte Cliff. »Ich danke Ihnen dafür, daß Sie uns anheimstellen, wann wir das Gebilde als gefährlich einstufen. Wir melden uns wieder. Streben Sie weiterhin nach Weisheit, Vater der Sinnsprüche. Ende!« Er schaltete die Verbindung aus und drehte sich um. »Mario und Atan, macht euch bitte fertig. Wir fliegen hinüber.« Er sah den GSD-Direktor an. »Wenn Sie mitkommen möchten, Katsuro-san, ich habe nichts dagegen einzuwenden. Immerhin müssen Sie noch viel lernen, wenn Ihr GSD ein schlagkräftiges Instrument werden soll.« Tunaka Katsuro deutete eine Verbeugung an. »Ich danken Ihnen, daß Sie mir Unwürdigem gestatten, Sie zu begleiten, Commander«, sagte er feierlich.
3. Die kleine LANCET nahm sich gegen den schwarzen Kristall aus wie ein Insekt gegen ein Bodenfort der irdischen Raumverteidigung. Cliff McLane steuerte das Beiboot über die Kanten und Flächen des Gebildes und ging dabei oft so dicht heran, daß es schien, als brauchte man nur die Hand auszustrecken, um den Körper zu berühren. Mario de Monti und Atan Shubashi hatten die Detektoren eingeschaltet und versuchten, Informationen über die Beschaffenheit der Oberfläche des Kristalls und seine innere Struktur zu erhalten. Ihre Gesichter verrieten, daß sie mit dem bisherigen Resultat der Untersuchungen nicht zufrieden waren. Katsuro blickte durch die runden Sichtscheiben hinaus. Der Direktor des Galaktischen Sicherheitsdienstes war erst 35 Erdjahre alt und dennoch kahlköpfig. Allerdings war seine Kahlheit kein Ergebnis eines organischen Vorgangs, sondern beruhte auf täglicher Rasur. Unter der Raumkombination Katsuros spannten sich kräftige durchtrainierte Muskeln. Die schräggestellten Augen verrieten Unternehmungsgeist und Tatkraft und – seit Fluidum Pax abgesetzt war – manchmal etwas von der gezügelten Kampflust eines Samurai. Mario stieß eine Verwünschung aus. »Wir kommen nicht durch, Cliff, mit keinen Instrument. Nicht einmal die stärkste Dosis scharf gebündelter Röntgenstrahlen dringt in den Kristall ein. Ich schlage vor, wir nehmen den Laser und schneiden ein Stück heraus.«
Cliff McLane überlegte, während er die LANCET vor einer der zwanzig dreieckigen Flächen des Kristalls anhielt. Die Außenscheinwerfer waren eingeschaltet und auf die Fläche gerichtet. Ihr Licht wurde total reflektiert. Die grellen Reflexe zuckten lautlos über die Oberfläche des Kristalls und blendeten die vier Männer in der LANCET, wenn sie durch eine Sichtscheibe hereinfielen. »Ich denke auch, daß wir nach draußen gehen sollten«, sagte Tunaka Katsuro. »Eine Probe des Kristalls gibt uns sicher mehr Aufschluß über seine Natur.« »›Mehr Aufschluß‹ ist gut«, meinte Atan. »Bisher haben wir überhaupt noch keine Aufschlüsse über die Natur des Gebildes erhalten. Aber ich bin ebenfalls dafür, daß wir eine Probe nehmen.« Cliff lächelte ironisch. »Da die Entnahme einer Probe eine Beschädigung des Kristalls bedingt, kommt sie einem Angriff gleich, falls das Gebilde zu Reaktionen fähig ist. Es wundert mich, daß gerade Sie einen solchen Angriff vorschlagen, Katsuro.« »Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr, Cliff«, erwiderte der GSD-Direktor. »Allmählich reift in mir das Verständnis für die frühere Handlungsweise der ORION-Crew.« »Oder Sie haben sich bei uns infiziert, Meister der Sicherheit«, warf Mario de Monti ein. »Wir beide gehen nach draußen, Mario«, entschied Cliff McLane. »Wir nehmen den Laserschneider mit und versuchen, eine Ecke abzutrennen. Atan, du entfernst dich mit der LANCET um etwa hundert Meter, sobald wir draußen sind.«
»Und ich?« fragte Katsuro. »Sie dürfen für uns die Daumen drücken – sämtliche«, erwiderte der Commander. »Dazu bedarf es bekanntlich keiner größeren praktischen Erfahrung – und für Mario und mich wird es ein völlig neues Gefühl sein, zu wissen, daß der Chef des GSD uns die Daumen drückt. Früher pflegte man uns zum Teufel zu wünschen.« Er verschloß seine Raumkombination, setzte den Klarsichthelm auf und überprüfte Funkgerät und Überlebenssysteme. Mario de Monti tat das gleiche und nahm zusätzlich den schweren Laserschneider aus einem Wandfach. Nachdem die beiden Männer sich ausgeschleust hatten, schalteten sie ihre Flugaggregate ein und schwebten auf eine der Dreiecksflächen des Kristalls nieder. Von der Steuerkanzel der LANCET mußte es aussehen, als stünden sie auf einer senkrechten Wand. Im freien Raum spielten derartige optische Eindrücke allerdings keine Rolle. Die Raumfahrer mußten sich nur vor abrupten Bewegungen hüten, denn die Schwerkraft des Kristalls war minimal. Cliff und Mario benötigten keine Worte, um sich über das weitere Vorgehen zu verständigen. Sie stellten des Laserschneider auf und knieten daneben nieder. Ihre Bewegungen wirkten zeitlupenhaft, aber normale Bewegungen hätten sie von dem Gebilde abgetrieben. Als Mario eine ungefähr zwanzig Meter entfernte Ecke des Kristalls anvisiert hatte, blickte er zu Cliff – und als Cliff nickte, schaltete er den Laserschneider ein. Der scharf gebündelte, sehr energiereiche Licht-
strahl selbst war nicht zu sehen, da er auf seiner Bahn keiner Materie begegnete, die er zum Aufleuchten anregen konnte. Dort, wo er auftrat, schien jedoch eine Miniatursonne aufzugehen. Die Lichtreflexion war so stark, daß beide Raumfahrer die Augen schlossen. Mario de Monti schaltete den Laserschneider aus. Als die Raumfahrer die Augen wieder öffneten, war alles wie zuvor. »Nichts, absolut nichts«, sagte Mario über die Helmfunkanlage. »Dabei war der Laserstrahl so stark, daß er Hochverdichtungsstahl wie Butter zerschnitten hätte.« »Er wurde reflektiert und dabei zerstreut«, gab Cliff zurück. »Glücklicherweise zerstreut, möchte ich sagen. Sonst hätte er einen von uns verbrannt. Versuchen wir es noch einmal?« »Kann nicht schaden«, meinte Mario. »Wer zu früh aufgibt, hätte gar nicht erst anfangen sollen. Diesmal schalten wir aber die Filter vor.« Sie schalteten die chemisch wirkenden Filter vor, die ihre Klarsichthelme abdunkelten, dann schickte Mario de Monti einen zweiten Laserstrahl hinüber. Jetzt konnten die beiden Raumfahrer das Ergebnis beobachten. Sie sahen, daß der Strahl reflektiert und zerstreut wurde, das Material des Kristalls aber nicht angriff. Er erzeugte nicht einmal eine Schmelzspur. »Resultat negativ«, stellte Cliff McLane fest. »Helga, könnt ihr mich hören?« »Wir hören dich gut, Cliff«, antwortete Helga Legrelle aus der ORION IX. »Was könnt ihr noch unternehmen?« »Abtasten, beobachten, messen – und auf eine günstige Gelegenheit warten«, gab Cliff zurück. »Ir-
gendwann kommt der Augenblick der Wahrheit. Vorerst kehren wir zurück.« Mario de Monti hatte das kurze Gespräch in seiner Helmfunkanlage mitverfolgt. Er hob den Laserschneider an und stieß sich gleichzeitig mit Cliff ab. Diesmal benutzten sie die Rückstoßaggregate nicht, sondern stießen sich so ab, daß sie nach einem parabelförmigen Flug in der offenen Schleuse der LANCET landeten. In der Steuerkanzel nahmen sie die Druckhelme ab. »Was wird nun?« erkundigte sich Tunaka Katsuro. »Ich muß Sie enttäuschen, Katsuro-san«, erwiderte Cliff McLane. »Die angeblich so verrückte ORIONCrew wird sich in diesem Fall zurückhalten. Wir möchten nämlich keine schlafenden Hunde wecken, Verehrtester.« Während der GSD-Direktor noch überlegte, was mit dieser archaischen und ihm deshalb unbekannten und unverständlichen Redewendung gemeint sein könnte, übernahm der Commander wieder die Kontrollen und steuerte die LANCET zur ORION IX zurück. * Als sie die Steuerzentrale des Kreuzers betraten, flimmerte ihnen vom Bildschirm der Funkanlage das Abbild Han Tsu-Gols entgegen. »Der Premier wartet schon voller Ungeduld auf dich, Cliff«, meinte Helga Legrelle. »Ich werde eben immer beliebter«, erwiderte Cliff McLane und ging mit schweren Schritten zur Funkanlage. »Da bin ich, Han. Meine Funkerin wird Ihnen schon vom negativen Ergebnis unserer bisherigen Un-
tersuchungen berichtet haben. Ich lausche in Erwartung eines Geistesblitzes in Form eines Vorschlags.« »Der Ministerrat hat beraten«, erwiderte Han TsuGol mit undurchdringlichem Gesicht. Eine gewisse Nervosität war dem Mann dennoch anzusehen. »Er kam zu dem Beschluß, dem Antrag des Kommandeurs der 4. Strategischen Raumflotte, der gleichzeitig mein Stellvertreter für Fragen der Raumverteidigung ist, stattzugeben und die weitere Erforschung des Schwarzen Kristalls der Flotte zu übertragen.« Cliff McLane setzte sich in einen freien Sessel. »Admiral Mahavira möchte also wenigstens einmal die ORION-Crew ausstechen, um den zu erwartenden Ruhm für sich einheimsen zu können«, stellte er fest. »Ich kann diese Handlungsweise des Admirals noch verstehen, Han, aber ich verstehe nicht mehr, warum Sie sich von ihm dazu überreden ließen, etwas völlig Unsinniges anzuordnen.« Han Tsu-Gols Haltung versteifte sich sichtlich; dennoch blieb seine Stimme gedämpft, als er sagte: »Commander McLane, die Erde hat Ihnen und Ihrer Crew viel zu verdanken. Niemand streitet das ab. Aber ich bitte Sie höflich, einzusehen, daß nicht alle Probleme ausschließlich von der ORION-Crew gelöst werden können. Außerdem muß ich darauf Rücksicht nehmen, daß die Flotte auch beschäftigt sein will. Ich schlage vor, Sie ziehen sich mit der ORION IX eine Million Kilometer zurück und beschränken sich vorläufig auf die Beobachtung.« Ernst erwiderte Cliff: »Sie begehen einen Fehler, Han. Aber es ist Ihr Fehler. Ich bitte nur, zu bedenken, daß die Flotte nichts tun kann, was wir nicht ebenfalls tun könnten.
Die Entscheidung des Ministerrats beruht also nicht auf sachlichen Erwägungen, sondern auf einem Zurückweichen vor den Prestigeforderungen eines ebenso dummen wie ehrgeizigen Admirals. Hätte ich Mahaviras Charakter, würde ich meine sofortige Entlassung aus dem Dienst beantragen.« Han Tsu-Gol hob schockiert und beschwörend die Hände. »Sie dramatisieren, Cliff. Wären Sie an meiner Stelle, würden Sie einsehen, daß man als Regierungschef viele Dinge berücksichtigen muß, die man als Außenstehender mißachten würde. Betrachten Sie es so, daß ich die ORION IX nicht ohne zwingende Gründe einer unbekannten Gefahr aussetzen will und sie als Eingreifreserve für Notfälle zurückhalte.« »Haben Sie schon einmal Zyankali in Sirup gegessen?« erkundigte sich Cliff McLane voller Sarkasmus. »Natürlich nicht, Han, aber Sie besitzen sicher soviel Phantasie, um sich vorzustellen, daß die Wirkung dieses Hausmittelchens sich auch durch noch soviel Zucker nicht verändert. Na schön, wir ziehen uns, wie befohlen, zurück und werden abwarten, was dieser Ehrgeizling unternimmt. Ich hoffe nur, er tut nichts, was sich nicht wieder reparieren läßt.« Der Regierungschef wirkte erleichtert. »Ich wußte, daß ich mit Ihrem Verständnis rechnen durfte, Cliff. Vielen Dank. Ich verspreche Ihnen ...« »Halt!« stoppte Cliff seinen Redefluß. »Denken Sie an die vielschichtigen Verpflichtungen, die ein Regierungschef hat und versprechen Sie lieber nichts.« Wütend schaltete er die Funkanlage aus und wandte sich um. »Ihr habt es gehört. Die ORION IX hat sich zugun-
sten eines intriganten Ehrgeizlings zurückzuziehen.« Er musterte Sergeant Vitus. »Ich hoffe, Ihre Gefühle für Mahavira, der immerhin Ihr Vorgesetzter ist, nicht zu sehr verletzt zu haben, Sergeant.« Arco Vitus grinste. »Wie könnten Sie mich verletzten, wenn Sie genau das ausdrücken, was ich fühle und denke, Commander!« Cliff lächelte. »Admiral Mahavira wird eines Tages einsehen, was für Fehler er gemacht hat, aber ändern wird er sich kaum.« Er setzte sich hinter sein Kommandopult. »Warten wir ab, was er anstellt. Ich hoffe nur, daß er nichts tut, was die beiden feindlichen kosmischen Mächte endgültig auf uns aufmerksam macht.« * »Felsbrocken an Backbord!« meldete Atan Shubashi. »Unregelmäßig geformt, Durchmesser im Schnitt zirka achtzig Meter. Driftet mit 0,2 Kilometer pro Stunde in Richtung Sonne.« Cliff McLane sah auf die Bildschirme, konnte aber den Himmelskörper nicht entdecken. »Entfernung, Atan?« »Dreißigtausend Kilometer, Cliff«, antwortete der Astrogator. Cliff lächelte. »Damit befindet er sich innerhalb unseres Wartesektors, Freunde. Ich schlage vor, wir hängen uns hinter ihm auf und beobachten die Aktivitäten der Wega-Flotte aus einem Versteck heraus, das uns weitgehend vor Ortung schützt.«
»Das wird Admiral Mahavira bestimmt Kopfzerbrechen bereiten«, warf Sergeant Vitus ein. »Wie ich ihn kenne, wird er feststellen wollen, wo die ORION IX sich aufhält, und es wird ihn beunruhigen, wenn er sie nicht findet.« »Niemand hat uns gesagt, wir sollten uns der Ortung der Wega-Flotte offen präsentieren«, erklärte Shubashi. Cliff McLane sah sich um, entdeckte auf allen Gesichtern den Ausdruck von Zustimmung und schaltete am Steuerpult. Langsam glitt die ORION IX aus ihrem bisherigen Kurs, schwebte – vom Schwarzen Kristall her gesehen – hinter den Kleinplaneten und verharrte dort so, daß ihre ausgefahrenen Sensoren gerade über den »oberen« Rand des unregelmäßig geformten Felsbrockens ragten. »Ich nahm bisher an, die Asteroiden lägen alle weiter draußen«, sagte Tunaka Katsuro. »Für die Masse der Kleinen Planeten trifft das auch zu«, sagte Arlene N'Mayogaa. »Aber es gibt Ausnahmen. Beispielsweise die Gruppe der Trojaner, die sich auf der gleichen Bahn wie Jupiter bewegen und mit ihm und der Sonne ein gleichseitiges Dreieck bilden. Die große Zahl der Asteroiden bewegt sich im Asteroidengürtel zwischen Mars uns und Jupiter. Doch auch weiter drinnen treiben kleine Himmelskörper. Einer von ihnen, Hermes, kommt der Erde gelegentlich bis auf die doppelte Mondentfernung nahe.« »Und wie heißt der Asteroid, hinter dem wir uns verbergen?« erkundigte sich der GSD-Direktor. Helga Legrelle streckte den Arm aus und deutete auf den Felsbrocken, der zum Greifen nahe zu sein schien.
»Lesen Sie doch das Namensschild, Hüter der Sicherheit.« Als Tunaka Katsuro tatsächlich den Hals verrenkte, um nach einem Namensschild auszuschauen, brachen die Crew und Sergeant Vitus in schallendes Gelächter aus. Katsuro wandte sich um und blickte Helga gelassen an, bis das Gelächter aufhörte. Dann sagte er mit milder Ironie: »Sie halten mich tatsächlich für einen ungebildeten Barbaren, Schwester der Telekommunikation. Nun, ich weiß sicher nicht soviel über das Weltall wie Sie, aber die Grundbegriffe der Astronomie habe ich dennoch schon im zarten Kindesalter gelernt. Ich nahm deshalb an, Sie könnten durch Vermessung feststellen, wie der Planetoid heißt, der sich auf dieser bestimmten Position befindet.« Helga Legrelle errötete leicht, was ihr recht gut stand. Atan Shubashi sagte: »Wir könnten das zweifellos, wenn wir die Unterlagen über die Planetoidenbewegungen der letzten siebenundsechzig Jahre von der Erde anforderten. Aber dann würde Admiral Mahavira mithören und wüßte, wo die ORION IX steckt.« Hasso Sigbjörnson, der wegen Stillegung der ORION IX vorübergehend arbeitslos geworden war, trat aus dem Lift, der in die Steuerzentrale führte. »Gibt es etwas Neues über Blackie?« fragte er. Jeder begriff, daß er den Schwarzen Kristall meinte. Atan Shubashi warf einen Blick auf seine Ortungsgeräte und schüttelte den Kopf. »Keine Veränderungen«, erklärte er. »Das Gebilde
hat sich mit 3,206 Kilometer Durchmesser stabilisiert. Wahrscheinlich wartet es auf etwas. Aber das ist nur eine Vermutung. Achtung! Die ersten Einheiten der Wega-Flotte tauchen in unserem Ortungsbereich auf! Achtzehn Raumkreuzer und fünf Aufklärer. Einer der Kreuzer strahlt Leitimpulse aus; es handelt sich um die CANDRAGUPTA, das Flaggschiff Mahaviras.« Cliff McLane wandte sich an Helga Legrelle und sagte: »Versuche, die Funksprüche des Admirals an seine Einheiten aufzufangen, Helga! Mich interessiert, was der Ehrgeizling plant.« Die Funkerin nickte nur. Nachdem sie eine Weile an den Knöpfen ihrer Geräte gedreht hatte, war plötzlich die arrogante Stimme des Admirals in der Steuerzentrale zu hören. »... haben sich in Halbkugelformation aufzustellen!« befahl Mahavira den Kommandanten seiner Raumkreuzer. »Nach Vollzug wird auf meinen Befehl hin konzentrischer Beschuß auf das kristalloide Gebilde gerichtet, zuerst mit den Strahlgeschützen und, sollte dadurch nicht der erwünschte Erfolg eintreten, mit Overkill-Projektoren! In spätestens einer Stunde wird dieser Fremdkörper nicht mehr existieren. Admiral Mahavira, Ende!« Cliff wurde blaß. »Mahavira ist wahnsinnig!« stieß er hervor. »Wenn er die Overkill-Projektoren aller achtzehn Raumkreuzer einsetzt, muß der Kristall reagieren – und niemand kann vorhersagen, wie diese Reaktion ausfallen wird. Wir müssen diesem Unfug Einhalt gebieten. Helga, stelle eine Verbindung mit Han Tsu-Gol her!« Helga Legrelle schüttelte den Kopf.
»Es wäre sinnlos, Cliff. Der Schwarze Kristall ist so weit von der Erde entfernt, daß sich Han gar nicht vorstellen kann, er könnte der Erde gefährlich werden. Außerdem wird Mahavira ihm seinen Entschluß, den Kristall zu vernichten, mitgeteilt haben – und das muß auch dem Regierungschef als erstrebenswertes Ziel erscheinen.« Resigniert lehnte sich McLane zurück. »Akzeptiert, Helga-Mädchen. Warten wir also mit geballten Fäusten ab, was Mahavira der Irre anrichtet.«
4. Die Blendschutzfilter schoben sich automatisch über die Sichtschirme der Steuerzentrale, als in einer Entfernung von rund einer Million Kilometer eine künstliche Sonne aufging. Das Geschützfeuer der Raumkreuzer war an Bord der ORION IX nur mit den Meßgeräten feststellbar gewesen; die von dem Schwarzen Kristall zurückgeworfenen Strahlenfluten dagegen ließen sich auch mit bloßem Auge nicht übersehen. Cliff Allistair McLane starrte aus halb zusammengekniffenen Augen auf die sich ausdehnende Energie. Ein Raumschiff, das sich dort befände, wäre längst vernichtet worden. Er fragte sich, ob der Schwarze Kristall diesen Gewalten widerstehen konnte – und was passierte, wenn er zerstört wurde. Wenige Minuten später ebbte das grelle Leuchten ab; die künstliche Sonne fiel in sich zusammen. Als sie erlosch, befand sich dort, wo sie aufgeflammt war, nur die gähnende Leere des Weltraums. Jedenfalls sah es für das Auge so aus, als gäbe es den Kristall nicht mehr. Die Meßinstrumente Shubashis erlagen der optischen Täuschung nicht. »Der Kristall schwebt unverändert an der alten Position!« rief der Astrogator. »Das konzentrische Feuer hat ihm nicht das geringste ausgemacht.« »Wie ist das möglich?« flüsterte Sergeant Arco Vitus. Niemand kam dazu, ihm zu antworten, denn im nächsten Augenblick schien das Universum dort, wo
der Riesenkristall schwebte, aufzureißen. Hyperstrukturelle Beben erschütterten das Raum-Zeit-Gefüge und rüttelten an der ORION IX. Die Verstrebungen der Schiffszelle knisterten und knackten bedrohlich. Das Schiff tanzte auf und ab, als wäre es von einer turmhohen Woge gepackt worden. »Diese Wahnsinnigen!« ächzte Hasso Sigbjörnson. »Sie haben tatsächlich alle ihre Overkill-Projektoren gleichzeitig eingesetzt. Diesen Gewalten kann nichts widerstehen.« »Abwarten!« sagte Mario de Monti. Ein heftiger Ruck schleuderte Tunaka Katsuro und Arlene, die aufgestanden waren, zu Boden. Cliff wollte Arlene zu Hilfe eilen, kam aber nur zwei Schritte weit, dann schien der Boden unter ihm emporzuspringen. Cliff wurde gegen die Decke geschleudert und stürzte von dort auf seinen Schalttisch. Halb bewußtlos blieb er liegen. »Energieschirm einschalten!« rief Sergeant Vitus. Er warf sich vor, packte Cliffs Beine und hielt sie fest, während ein neuer Ruck durch die ORION IX ging. Hasso hielt sich mit einer Hand an einer Verstrebung fest, während er mit der anderen den Schutzschirm einschaltete. Die ORION IX hüllte sich in ein unsichtbares Energiefeld, das die Auswirkungen der Strukturerschütterungen aber nur dämpfte. Inzwischen hatten sich Katsuro und – mit seiner Hilfe – Arlene wieder aufgerappelt. Sie kehrten auf ihre Plätze zurück und schnallten sich an. Da erst entdeckte Arlene, daß Cliff McLane reglos auf seinem Schalttisch lag. Sie wollte erneut aufspringen, wurde aber von einer energischen Geste des Sergeanten daran gehindert.
»Der Commander ist nicht ernstlich verletzt, soweit ich das erkennen kann«, sagte Arco Vitus. »Shubashi, können Sie feststellen, ob der Kristall vernichtet ist?« »Nichts!« ächzte der Astrogator. »Nur Chaos!« »Reaktion!« rief Helga Legrelle. »Ich messe die Streustrahlung von Energieimpulsen an, die aus dem Zentrum der Explosionen zu kommen scheinen. Es muß sich um gerichtete Hyperfunkimpulse handeln, und sie müssen ungeheuer energiereich sein, wenn ihre Streustrahlung sich noch in einer Million Kilometer Entfernung anmessen läßt. Wahrscheinlich versucht der Kristall, Kontakt aufzunehmen.« »Dann wird Mahavira das Feuer einstellen lassen«, bemerkte Tunaka Katsuro und preßte seine rechte Hand gegen eine Beule, die auf seiner Stirn anschwoll. »Da kennen Sie den Admiral aber schlecht, Direktor«, warf Sergeant Vitus ein. Er hob Cliff mühelos auf und legte ihn in seinen zurückgeklappten Sessel. Cliff McLane schlug die Augen auf und stöhnte leise. »Sie feuern weiter mit Overkill«, bemerkte Atan Shubashi. »Was ist?« flüsterte Cliff. »Mahaviras Schiffe stellen das Overkill-Feuer nicht ein, obwohl der Kristall Funkimpulse aussendet«, erklärte Vitus. Cliff richtete sich auf, kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. »Mein Kopf!« stöhnte er. »Habe ich richtig verstanden? Natürlich, es war nicht zu überhören. Helga, bitte rufe Mahavira an und sage ihm, er soll den Beschuß sofort einstellen!« »Nicht mehr nötig!« rief Shubashi. »Soeben haben
drei Kreuzer den Beschuß eingestellt. Die anderen werden wohl folgen.« »Es waren die Kreuzer, die direkt von den gerichteten Funkimpulsen getroffen wurden, Atan«, sagte Helga. »Mario, ich überspiele dir die Daten, damit du meine Schätzungen rechnerisch bestätigen kannst.« Niemand sprach, während der Kybernetiker seine Berechnungen anstellte. Aber alle registrierten, daß sämtliche Kreuzer – außer den dreien – ihr OverkillFeuer auf den Kristall fortsetzten. »Du hattest recht, Helga«, erklärte Mario kurz darauf. »Die drei Kreuzer, die ihrem Beschuß einstellten, wurden von gerichteten Impulsen getroffen. Aber es müssen keine Funkimpulse gewesen sein. Hast du auch schon daran gedacht?« »Funke die betreffenden Kreuzer an, Helga!« bat Cliff McLane. »Ich ahne Furchtbares – und dieser Wahnsinnige läßt weiterfeuern! Männer wie Mahavira gehören in die Gummizelle.« »Kein Kontakt!« meldete die Funkerin wenig später. »Die betreffenden Schiffe reagieren nicht auf meinen Anruf. Dafür wurde ein viertes Schiff von Hyperimpulsen getroffen.« »Und hat das Feuer ebenfalls eingestellt«, ergänzte Shubashi. »Mahavira funkt von seinem Schiff aus die vier schweigenden Kreuzer an«, berichtete Helga. »Er bekommt ebenfalls keine Antwort. Ich schalte die Lautsprecher hoch.« Im nächsten Moment stand Mahaviras Stimme in der Zentrale. »Admiral Mahavira an alle Schiffe! Sofort Feuer einstellen und abwarten!«
Schlagartig brach das Overkill-Feuer ab. Die Strukturerschütterungen hörten zur gleichen Zeit auf. »Blackie steht unverändert im Raum«, flüsterte Atan Shubashi. »Und er sendet weiter sehr starke gerichtete Impulse aus«, erklärte die Funkerin. »Sie scheinen noch viel energiereicher zu sein, als wir zuerst angenommen haben. Ich weiß nicht, was das bedeutet.« »Auf jeden Fall nichts Gutes«, meinte Cliff, die Fäuste gegen seine Schläfen gepreßt. »Es ist Mahavira offenbar gelungen, einen ganz dicken schlafenden Hund zu wecken, und ich fürchte, so leicht, wie er sich wecken ließ, wird er sich kaum wieder in den Schlaf wiegen lassen.« * »Die Schiffe Mahaviras ziehen sich zurück – bis auf die vier schweigenden«, berichtete Atan Shubashi. »Offenbar ist es dem Admiral unheimlich geworden.« Arco Vitus trat neben den Astrogator und musterte die Anzeigeschirme der Ortungsgeräte. »Dieser Feigling!« schimpfte der Sergeant. »Er läßt sein Leute auf den vier Kreuzern einfach im Stich.« Cliff McLane blickte ungläubig zu Shubashi. »Die anderen Schiffe ziehen sich tatsächlich zurück, Atan?« »Nicht ganz«, antwortete der Astrogator. »Sie haben haltgemacht, als sie hunderttausend Kilometer entfernt waren. Anscheinend will Mahavira die weitere Entwicklung abwarten, ohne sich selbst einer Gefahr auszusetzen.« »Das ist eine ganz große Schweinerei!« sagte Hasso
Sigbjörnson. »Cliff, niemand, auch Han Tsu-Gol nicht, kann verlangen, daß wir untätig zusehen, wie andere Raumfahrer, die sich offensichtlich in Not befinden, ihrem Schicksal überlassen werden.« »Rufen Sie Han an, McLane!« forderte Tunaka Katsuro. »Ich denke nicht daran, mir eine Ablehnung einzuhandeln, Katsuro«, entgegnete Cliff. »Wenn andere Raumfahrer in Not sind, helfen wir ganz selbstverständlich, ohne erst um Erlaubnis zu bitten. Hasso, bitte, gehe in den Maschinenraum zurück. Ich weiß nicht, worauf wir uns da einlassen, aber wir sollten auf alles vorbereitet sein.« »Eine Kugel trifft selten den gleichen Punkt«, meinte Helga Legrelle, nachdem Hasso gegangen war. »Möglicherweise gilt das auch für die gerichteten Energieimpulse des Kristalls.« Cliff nickte, während er die Triebwerke der ORION IX hochschaltete. »Ich werde es beherzigen, Helga, und das Schiff so steuern, daß einer der Kreuzer sich stets zwischen uns und dem Kristall befindet. Mario, du besetzt am besten den Werferstand. Wenn Mahavira so vermessen sein sollte, unsere Hilfsaktion zu behindern, schießt du Sperrfeuer. Natürlich dürfen wir kein anderes Schiff wirklich in Gefahr bringen, aber ich hoffe darauf, daß die Besatzungen uns verstehen und nicht erpicht darauf sind, uns ernsthaft anzugreifen.« »Falls Mahavira uns angreifen läßt, spreche ich über Funk zu den Besatzungen seiner Schiffe«, bot sich Sergeant Vitus an. »Ich denke, ich kann sie dazu bringen, sich gegen den Admiral zu stellen.« »Das ist eine Möglichkeit«, sagte Arlene. »Aller-
dings nur für den äußersten Notfall. Wir dürfen die Leute der Wega-Flotte nicht leichtfertig in einen Gewissenskonflikt stürzen.« Cliff McLane nahm Kurs auf das nächste der schweigenden Raumschiffe. Ein helles Singen erfüllte die Zentrale, als er mit Höchstwerten beschleunigte. »Blackie strahlt immer noch gerichtete Impulse aus«, berichtete Helga Legrelle. »Aber sie haben bisher noch kein weiteres Schiff getroffen. Anscheinend werden sie ungezielt in den Raum geschickt, so daß Treffer rein zufällig sind.« »Das deutet auf eine automatisch-reflektorische Reaktion hin«, meinte Arlene N'Mayogaa nachdenklich. »Vielleicht ist der Kristall ein robotisch gesteuertes System.« »Wahrscheinlich eines, das mit der Lage, wie sie sich ihm darbietet, nichts Rechtes anfangen kann«, meinte Cliff. »Also zweifellos ein Überbleibsel des sogenannten Kosmischen Infernos. Das Sonnensystem muß in der Auseinandersetzung der beiden feindlichen kosmischen Mächte eine wichtige Rolle gespielt haben, sonst würden sich die Überbleibsel hier nicht so häufen.« Als das nächste der schweigenden Raumschiffe auch auf den Bildschirmen der Außenbeobachtung zu sehen war, las Atan den Namen, der auf der Außenhülle stand: »Es ist die ALDEBARAN und folglich noch ein Kreuzer aus einer der alten Serien, bei denen die Schiffe noch Sternnamen erhielten.« Niemand sagte etwas dazu. Schweigend starrten die Crew und ihre beiden Gäste auf das Schiff, das der ORION IX äußerlich wie ein Ei dem anderen
glich. Je näher die ORION IX kam, desto größer wurde die ALDEBARAN auf dem vorderen Bildschirm, bis sie fast den Schwarzen Kristall verdeckte. Hin und wieder warf Cliff McLane einen Blick zu Helga, die laufend die Streustrahlungen weiterer Energieimpulse des Kristalls registrierte. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn einer der Impulse zufällig die ORION IX traf. Als sie dicht neben der ALDEBARAN stoppten, sagte Atan Shubashi: »Die anderen Schiffe Mahaviras haben sich nicht gerührt.« »Offenbar will der Admiral, nachdem er sich die Finger verbrannt hat, uns die Kastanien aus dem Feuer holen lassen«, sagte Hasso Sigbjörnson über Bordfunk. »Und er hofft, daß wir uns dabei noch etwas mehr verbrennen als nur die Finger«, meinte Arlene. Langsam stand Cliff McLane auf. »Ich gehe hinüber. Katsuro und Sergeant Vitus, würden Sie mich begleiten?« Arco Vitus schloß schweigend seinen Druckhelm und überprüfte die Systeme seiner Raumkombination. Tunaka Katsuro sagte: »Ich halte es sogar für meine Pflicht, in meiner Eigenschaft als GSD-Direktor zu untersuchen, was auf der ALDEBARAN vorgefallen ist.« Er schloß ebenfalls seinen Druckhelm. Cliff wollte das Energiemagazin seiner HM 4 überprüfen und schob die Waffe ärgerlich ins Halfter zurück, als ihm einfiel, daß sie ja nicht auf ein gegnerisches Raumschiff umsteigen wollten. Schnell klappte
er seinen Druckhelm zu und ging Katsuro und Vitus voraus zur Schleuse. * Da der Zentrallift der ALDEBARAN nicht ausgefahren war und auch nur von der Steuerzentrale des Schiffes aus betätigt werden konnte, mußten die drei Männer durch eine Notschleuse auf der Oberseite einsteigen. Cliff McLane löste die elektronische Verriegelung des Außenschotts mit Hilfe eines kleinen Impulskodegebers. Diese Geräte gehörten zur Ausrüstung aller Raumschiffe der Terrestrischen Raum-AufklärungsVerbände sowie der Flotte und waren für solche ähnlich gelagerte Fälle vorgesehen. Kaum hatte sich das Außensschott hinter den Männern geschlossen, als die Heizstrahler an der Decke sich einschalteten und die Pumpen der Schleuse unter hohem Druck Luft durch die Wandventile preßten. »Diese Systeme sind jedenfalls nicht ausgefallen«, sagte Arco Vitus über Helmfunk. »Aber wenn jemand in der Steuerzentrale wäre, hätten die Kontrollen ihm verraten, daß die Notschleuse in Betrieb ist«, erwiderte Cliff. »Normalerweise müßte dann eine Reaktion erfolgen.« Zischend schlossen sich die Pumpventile; das Innenschott öffnete sich. Tunaka Katsuro wollte seinen Druckhelm abnehmen, aber Cliff bedeutete ihm durch einen Blick, darauf zu verzichten. Schweigend verließen die drei Männer die Schleusenkammer. Sie gingen durch einen schmalen Korridor zum Lift-
schacht, der, wie auf der ORION IX, durch die vertikale Achse des Schiffes vom unteren zum oberen Punkt verlief. Niemand begegnete ihnen. Nur das schwache Summen des Lebenserhaltungssystems und der auf Minimallast laufende Meiler war zu hören – und die Schritte der drei Männer, deren Echos hohl von den Wänden zurückgeworfen wurden. Wie auf einem Totenschiff! dachte Cliff und zog fröstelnd die Schultern hoch. Der Achslift funktionierte ebenfalls und trug sie zum Zentrale-Deck. Als sich die gewölbten Metallwände vor ihnen öffneten und den Blick in die Steuerzentrale freigaben, atmeten die Männer im ersten Moment erleichtert auf, denn das Bild, das sich ihren Augen bot, schien völlig normal für den Betrieb auf einem Raumkreuzer der Flotte zu sein. Aber im nächsten Augenblick griff das Grauen mit imaginären eiskalten Fingern nach den drei Männern. Die Besatzung der Steuerzentrale saß beziehungsweise stand vor den Schaltpulten, doch niemand rührte sich. Alle schienen mitten in Bewegungen erstarrt zu sein – und ein Blick in die Gesichter zeigte zwar normale menschliche Formen, aber mit dem Aussehen leicht getrübten Bergkristalls. »Mein Gott!« entfuhr es Cliff. Tunaka Katsuro gab einen halberstickten gurgelnden Laut von sich und schwankte, doch er hatte sich gefangen, bevor Cliff hilfreich zugreifen konnte. Ein Blick zur Seite zeigte dem Commander, daß Sergeant Vitus seine Strahlwaffe gezogen hatte und sich mit glitzernden Augen nach einem Gegner umsah. »Es gibt keinen Gegner – jedenfalls nicht hier«,
sagte Cliff mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. »Wir sehen uns die Leute an. Aber niemanden anfassen!« Zögernd betraten die drei Männer die Steuerzentrale. Das Grauen hielt sie noch immer in seinen Klauen. Unwillkürlich traten sie leise auf, als fürchteten sie, das Unheimliche zu wecken, das die Veränderung der Besatzung bewirkt hatte. Katsuro blieb neben der Kommandantin der ALDEBARAN stehen, die zurückgelehnt in ihrem Sessel saß und die rechte Hand nach einem Schalter ausgestreckt hatte. Mitten in dieser Bewegung war sie erstarrt. »Der Körper ist zu einer kristallinen Masse erstarrt«, flüsterte der GSD-Direktor. »Und die Augen – sie glitzern im einfallenden Licht wie Eis. Cliff, was bedeutet das?« Cliff McLane antwortete nicht gleich. Er war um die vorspringende Schaltwand des Bordcomputers getreten und stand vor einer auf dem Boden liegenden Raumkombination, aus deren Öffnungen zersplitterte Kristalle quollen. Die Konturen der Kristallansammlungen verrieten noch die Formen eines menschlichen Kopfes und menschlicher Hände. Cliff schluckte krampfhaft. Arco Vitus erschien neben ihm und blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. In den Helmlautsprechern vernahm Cliff sein entsetztes Keuchen. Tonlos sagte Cliff: »Sie müssen zu kristallinen Massen erstarrt sein, als der Funkimpuls des Schwarzen Kristall ihr Schiff traf. Der Kybernetiker, er befand sich offenkundig in Be-
wegung, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Das Ergebnis sehen Sie hier.« Der Sergeant holte tief Luft. »Dann ist es den Besatzungen der anderen drei schweigenden Schiffe nicht besser ergangen, Commander. Es ist grauenhaft.« »Und es ist noch nicht vorbei«, erwiderte Cliff hart. »Der Kristall sendet weiter Impulse aus, und sie können jederzeit andere Raumschiffe treffen. Und nicht nur das. Wenn solche Impulse auf die Erde prallen ...« »Was können wir dagegen tun?« stieß Katsuro verzweifelt hervor. »Das weiß ich noch nicht«, antwortete Cliff McLane. »Was kann man gegen etwas tun, das dem Overkill-Beschuß von achtzehn Kreuzern standgehalten hat? Zuerst müssen wir uns mit Han Tsu-Gol in Verbindung setzen. Danach sehen wir weiter.« »Und die Besatzung?« fragte Arco Vitus und deutete auf die Frauen und Männer, die starr und steif in der Steuerzentrale standen und saßen. »Ihnen ist nicht mehr zu helfen«, erwiderte Cliff bitter. »Aber wenigstens muß der Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Vorrang hat jedoch die Suche nach der Möglichkeit, die Gefahr zu beseitigen.« Sie warfen einen letzten hilflosen, erschütterten Blick auf die erstarrten Frauen und Männer, dann drehten sie sich um und gingen.
5. Han Tsu-Gols Gesicht auf der Bildplatte des Hyperfunkgeräts in der Steuerzentrale der ORION IX wirkte grau und verfallen. Zum erstenmal war dem sonst so vitalen Mann sein Alter von 61 Jahren anzusehen. »Der Effekt der kristallinen Erstarrung von Menschen ist mir leider nicht mehr unbekannt, Cliff«, sagte er, nachdem McLane seinen Bericht beendet hatte. »Wir haben auf der Erde zirka siebentausend Opfer in fünf – allerdings eng begrenzten – Gebieten zu beklagen. Alle diese Gebiete wurden, so die nachträglichen Ermittlungen, von nahezu identischen Energieimpulsen getroffen.« Cliff McLane konnte eine Weile nichts sagen. Es erschütterte ihn, daß seine schlimmsten Befürchtungen sich so schnell bestätigt hatten. »Was raten Sie, Cliff?« drängte der Regierungschef. McLane lachte bitter. »Das hätten Sie früher fragen sollen, Han. Ich habe Sie gewarnt. Mahavira ist ein Mensch, der nur an seine Karriere und an seinen Ruhm denkt und dabei alles andere vergißt. Aber darüber sprechen wir später. Zuerst kommt die Gefahr, die von dem Schwarzen Kristall droht. Zweifellos handelt es sich bei dem Gebilde um eine Hinterlassenschaft aus der Zeit des Kosmischen Infernos. Die Frage, ob es ein Werkzeug des Rudraja oder des Varunja ist, dürfte zweitrangig sein.« »Vielleicht nicht«, entgegnete Han. »Haben Sie schon daran gedacht, das V'acora einzusetzen, Cliff?«
Cliff McLane nickte und warf einen Blick zu Arlene, die das breite Armband mit den vielen Schaltern und leuchtenden Signalfeldern über ihr Handgelenk gestreift hatte. Das V'acora war ein Werkzeug des Varunja, das die Raumfahrer im Jupitermond Ganymed von einer fremdartigen Frau erhalten hatten, die sie die Schlafende Göttin nannten. Mit seiner Hilfe war es ihnen gelungen, die Geheimstation des Rudraja im Ganymed unschädlich zu machen. »Selbstverständlich, Han«, antwortete Cliff. »Das V'acora hat uns schon zweimal geholfen. Was liegt da näher als die Hoffnung, es könnte uns auch gegen den Schwarzen Kristall von Nutzen sein. Aber mehr als diese Hoffnung gibt es nicht. Mahaviras Vorgehen hat sich als verhängnisvoll erwiesen. Was ist, wenn das V'acora diesmal die Sache nur noch verschlimmert?« Han Tsu-Gol fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte er eine bedrückende Vision verscheuchen, dann seufzte er schwer. »Wir müssen es riskieren, Cliff. Sie scheuen doch sonst vor keinem Risiko zurück. Ich mache Mahavira keinen Vorwurf, denn er konnte nicht wissen, welche Reaktion er mit seinem Vorgehen hervorrief. Ihnen werde ich auch keinen Vorwurf machen, wenn sich der Einsatz der V'acora als verschlimmernd erweisen sollte. Setzten Sie das Werkzeug des Varunja ein, Cliff!« Cliff mußte erst die Bemerkung verarbeiten, daß Han dem ehrgeizigen Admiral nichts nachtrug. Aber er war ein Mann, der seine Pflicht hinter seine privaten Gefühle stellen konnte. »Wir werden es riskieren, Han«, erklärte er schwer. Dann nickte er Arlene zu.
Arlene N'Mayogaa preßte die Lippen zusammen. Sie hob den Arm mit dem V'acora leicht an und sah, daß die in leuchtenden Farben gehaltenen Signalfelder nicht blinkten. Sie schloß die Augen und tippte die Sensortasten des Gerätes wahllos mit den Fingerspitzen an. Als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie fest, daß alle Farbfelder des Geräts hell aufstrahlten. Im nächsten Moment erloschen sie wieder. »Keine Veränderung!« meldete Helga Legrelle. »Blackie sendet unverändert seine Impulse nach allen Richtungen. Irgendwann wird ein Impuls auch uns treffen.« »In dieser Gefahr schwebt jeder Mensch innerhalb des Sonnensystems – und vielleicht auch außer halb«, sagte Mario de Monti, der in die Steuerzentrale zurückgekehrt war. »Niemand kann sich vor ihr verbergen.« »Ich habe die Feststellung Ihrer Funkerin mitgehört, Cliff«, sagte Han Tsu-Gol. »Das V'acora kann uns diesmal also nicht helfen. Aber irgend etwas müssen wir unternehmen. Ab sofort hat die ORIONCrew freie Hand bei der Abwendung der durch den Kristall drohenden Gefahr.« »Das fällt Ihnen anscheinend immer dann ein, wenn Sie selber keinen Ausweg wissen, Han«, erwiderte Cliff McLane. »Leider weiß ich diesmal auch keinen Rat.« Mario de Monti räusperte sich und blickte Cliff abwartend an. »Hast du eine Idee, Meister des Computers?« fragte Cliff hoffnungsvoll. »Nur einen Gedanken«, antwortete der Kybernetiker. »Ihr alle erinnert euch ja noch an die Entführun-
gen innerhalb des sogenannten Bermuda-Dreiecks. Sie wurden von der Geheimstation des Rudraja auf Ganymed bewerkstelligt. Könnte etwas, das Hochseeschiffe, U-Boote und Großflugzeuge verschwinden ließ, nicht auch einen Riesenkristall verschwinden lassen?« »Diese Idee hat etwas für sich«, ließ sich Han vernehmen. »Cliff, in unserer Lage müssen wir nach jedem Strohhalm greifen!« »Beziehungsweise nach einer Anlage, die reichlich Unheil anrichtete, bevor es uns gelang, sie auszuschalten«, meinte Cliff McLane. »Aber ich denke, das Risiko, das mit einer Neuaktivierung der Anlage verbunden ist, läßt sich vertreten, besser jedenfalls als die Holzhammertaktik Mahaviras. Han, wir brechen sofort zum Ganymed auf und veranlassen, daß die dortige Anlage auf den Kristall ausgerichtet und eingeschaltet wird. Hoffentlich sind die Wissenschaftler, die die Station untersuchen, schon soweit, daß sie die betreffenden Schaltungen beherrschen.« »Professor Ontox, zur Zeit Leiter des Wissenschaftlerteams, meldete zuletzt gute Fortschritte«, erklärte Han Tsu-Gol. »Bitte, wenden Sie sich an ihn und berufen Sie sich auf mich – oder besser, ich rufe ihn gleich selbst an und gebe ihm entsprechende Anweisungen.« »Tun sie das, Han!« erwiderte Cliff. »Und drücken Sie uns die Daumen – uns und den Menschen der Erde.« * Wie schon einmal, schwebte die ORION IX rund hundert Kilometer über der mattweiß bestäubten
Kraterlandschaft des Jupitermonds Ganymed. Aber diesmal waren einige Tatbestände anders. Ganymed wahrte kein schreckliches Geheimnis mehr, das den Raumfahrern gefährlich werden konnte. Jedenfalls sprachen alle bisherigen Erkenntnisse dafür, daß es so war. Außerdem standen am Rande des Meteoritenkraters, in dem die Crew damals den verborgenen Eingang zur Ganymedfestung des Rudraja entdeckt hatte, zwei diskusförmige Raumschiffe. Es waren die Fahrzeuge, mit denen die Gruppe von Wissenschaftlern und Technikern, die die RudrajaStation gründlich untersuchen sollte, zusammen mit ihrer umfangreichen Ausrüstung gelandet war. Helga Legrelle fing mit dem normalen, lichtschnell arbeitenden Funkgerät ein Rufsignal auf und schaltete die Verbindung ein. Auf dem Bildschirm war der Oberkörper eines hageren, ungefähr fünfzig Jahre alten Mannes zu sehen, der eine Raumkombination der Flotte trug. Seine mit glitzernden Steinen besetzten Platin-Ohrringe paßten so wenig dazu wie das zu einer Art Federbusch hochtoupierte, graumelierte Haar. Doch das war eine Modeerscheinung des Zeitalters, in das die ORIONCrew hineingeplatzt war und an das sie sich erst allmählich gewöhnen würde. »Hier Stützpunktgruppe Ganymed, Professor Ontox spricht«, sagte der Hagere. Seine Augen blickten kühl und abwägend aus dem scharfgeschnittenen Gesicht. »Ich nehme an, das ist die ORION IX.« Cliff war mit wenigen Schritten am Funkgerät. Er lächelte so liebenswürdig, wie es ihm trotz der nervlichen Anspannung möglich war, und erwiderte: »Ihre Annahme stimmt, Professor. Hier spricht
Commander McLane. Ich nehme an, der Ministerpräsident hat Sie davon unterrichtet, daß wir bei Ihnen landen werden – und auch, wozu?« Das Gesicht des Wissenschaftlers verschloß sich. »Ich sprach mit Regierungschef Han Tsu-Gol und nahm seine Bitte, Ihnen behilflich zu sein, zur Kenntnis. Allerdings habe ich mich dagegen verwahrt, Raumfahrer, die nicht im Besitz spezieller Kenntnisse sind, in die Anlage zu lassen. Ich kann Ihnen auch keine Landeerlaubnis geben, McLane.« Cliff wollte hochfahren, zwang sich aber dazu, sachlich zu bleiben. »Immerhin haben diese ›unqualifizierten‹ Raumfahrer den Ganymed-Stützpunkt erobert, Professor. Andernfalls wären Sie nicht dort unten. Lassen wir also Spitzfindigkeiten und Kompetenzquerelen beiseite und konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Einverstanden?« »Etwas anderes hatte ich nicht vor«, erwiderte Ontox. Er war nicht etwa arrogant, sondern nur davon überzeugt, daß er genau das Richtige tat. »Das Wesentliche ist die Frage, ob es beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse vertretbar ist, die Anlage zur Fernversetzung von Objekten zu aktivieren und zu versuchen, den sogenannten Schwarzen Kristall aus dem Raumgefüge des Sonnensystems zu entfernen. Bin ich verstanden worden, McLane?« »Was für ein Kauderwelsch redet dieser Mensch?« empörte sich Mario de Monti. »Warum kann er sich nicht im Klartext ausdrücken?« Cliff grinste flüchtig, dann sagte er: »Manche Menschen schlagen eben Saltos in dem Bemühen, sich für sogenannte Laien unmißverständ-
lich auszudrücken, Mario. Professor Ontox, Sie dürfen Ihre Ausdrucksweise gern in wissenschaftlichen Kategorien halten. Wir Raumfahrer, die wir in gewissem Sinne auch Reisende aus der Vergangenheit sind, mußten nämlich eine umfassende wissenschaftliche Ausbildung absolvieren, bevor man uns das erste Schiff anvertraute. Unser etwas lockerer Umgangston ergab sich nur aus der Tatsache, daß wir unzählige Male gemeinsam dem Tod ins Auge blickten. Wir alle haben Sie verstanden und ersuchen Sie, uns Zutritt zu der bewußten Anlage zu gewähren.« Ontox lächelte, was zu beweisen schien, daß sein Begriffsvermögen nicht völlig durch wissenschaftliche Kategorien blockiert war. »Ich verstehe Sie sehr gut, McLane, aber wir haben in der Station so viele Versuchsreihen aufgebaut, daß jeder Außenstehende die Gefahr heraufbeschwören würde, unsere Ergebnisse zu verfälschen. Ganz abgesehen davon, ist es absolut unnötig, daß Sie sich persönlich herbemühen. Ich habe die Frage geprüft, ob wir die bewußte Anlage zur Fernversetzung des Schwarzen Kristalls verwenden dürfen – versuchsweise verwenden dürfen, Commander. Die Antwort lautet ja, mit einer Einschränkung. Ich kann nicht garantieren, daß das zu entfernende Objekt auf das Wirkungsfeld der Anlage nicht mit neuen Feindseligkeiten reagiert.« »Wir sind uns dieses Risikos bewußt, Professor«, sagte Cliff ernst. »Dennoch müssen wir es eingehen, weil das Leben von Tausenden, vielleicht sogar von Millionen Menschen auf dem Spiel steht. Wir warten hier oben das Ergebnis des Versuchs ab.« »Ich danke für Ihr Verständnis, McLane«, erwi-
derte Ontox. »Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Ich veranlasse jetzt, daß die Anlage aktiviert wird. Bitte, richten Sie die Ortungsinstrumente Ihres Raumschiffs auf das Objekt!« »Sie sind die ganze Zeit auf nichts anderes gerichtet!« rief Atan Shubashi empört. Cliff McLane hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, Atan, der Professor wird seine Pflicht tun und wir die unsere.« Professor Ontox schaute zur Seite, dann war sein Gesicht wieder von vorn zu sehen. »Versuch läuft!« teilte er mit. »Waren eigentlich alle Menschen Ihres Zeitalters so impulsiv wie Sie und Ihre Kollegen, McLane?« Cliff lächelte nur hintergründig und erlebte die Genugtuung, daß Ontox' Gesicht plötzlich Unsicherheit verriet, vielleicht sogar Verlegenheit. Aber dann blickte er zu Shubashi und den Bildschirmen der Ortung. »Noch nichts«, meldete Atan Shubashi. »Ist die Anlage genau justiert, Professor?« »Zwei Computer haben die entsprechenden Einstellungswerte unabhängig voneinander errechnet und die gleichen Ergebnisse erzielt«, sagte Ontox leicht indigniert. »Die Justierung ist fehlerlos.« »Man wird ja noch fragen dürfen«, meinte der Astrogator. Im nächsten Augenblick stutzte er, beugte sich vor und schien in einen der Ortungsschirme hineinkriechen zu wollen. Hastig nahm er einige Schaltungen vor, dann rief er: »Der Kristall wächst! Durchmesser jetzt 3,742 Kilometer! Nimmt weiter zu!«
»Das Objekt dehnt sich aus?« fragte Professor Ontox. »Habe ich das richtig verstanden?« Cliff McLane stellte sich neben Shubashi. »Genau richtig, Professor!« rief er zum Funkgerät hinüber. »Durchmesser beträgt jetzt 4,391 Kilometer. Helga, kannst du noch Streustrahlungen von Impulsen anmessen?« »Das ist aber nicht der beabsichtigte Effekt, McLane«, erklärte der Wissenschaftler. »Sollten wir die Anlage nicht lieber desaktivieren?« Cliff blickte in die Gesichter seiner Freunde. Er wollte die Entscheidung nicht allein treffen. Außerdem war er es gewohnt, daß die Crew in kritischen Situationen kollektiv reagierte und handelte, und erst diese Gemeinsamkeit gab dem einzelnen – und damit auch ihm – die Kraft, die schon oft zu überragenden Leistungen befähigt hatte. In den Gesichtern der Freunde las er die Antwort. »Wir machen weiter, solange das Anschwellen Blackies die einzige Reaktion bleibt«, erklärte er. Professor Ontox hob lediglich die Brauen an, um auszudrücken, daß ihn die Bezeichnung »Blackie« irritierte. »Sie rechnen offenbar damit, daß der Kristall bei einer gewissen Ausdehnungsgrenze den Zusammenhalt verliert, McLane«, stellte er fest. »Unter anderem«, erwiderte Cliff. »Durchmesser erreicht die Sechstausendmeter-Grenze! Ich denke ...« »Cliff!« schrie Helga Legrelle voller Panik. »Die Abstrahlung der Todesimpulse erhöht sich sprunghaft!« »Abschalten, Professor!« sagte Cliff McLane erschüttert. Er stöhnte unterdrückt. »Was ist das bloß für ein Satanskristall!«
»Anlage abgeschaltet«, meldete Ontox. »Bei Orcu...« Er räusperte sich. »Es tut mir sehr leid, daß wir nicht helfen konnten, McLane. Bitte, machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie konnten nicht wissen, wie der Kristall reagieren würde.« Cliff nickte. »Danke!« erwiderte er tonlos. »Was können wir jetzt tun?« erkundigte sich Ontox. Zum erstenmal verriet seine Stimme ein stärkeres Gefühl: Verzweiflung. »Nachdenken«, sagte Cliff McLane. »Nachdenken und hoffen, daß uns bald der rettende Einfall kommt.« * Abermals flimmerte das Abbild Han Tsu-Gols auf der Bildscheibe des Hyperfunkgeräts. »Auf der Erde droht eine Panik auszubrechen, Cliff«, berichtete der Regierungschef. »Alle zwanzig Minuten trifft ein Impuls die Erdoberfläche und fordert Opfer. Ich habe mich entschlossen, die gesamte Wega-Flotte in Marsch zu setzen und den Kristall unter massierten Overkill-Beschuß nehmen zu lassen. Es ist ein Verzweiflungsschritt, ich weiß, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Oder wissen Sie eine, Cliff?« Cliff McLane hörte die Verzweiflung des Mannes überdeutlich heraus. Er wollte helfen, sah aber keinen Weg. »Wir wissen zu wenig über den Kristall, Han«, erwiderte er. »Es wäre besser gewesen, ihn geduldig zu untersuchen, anstatt Mahavira auf ihn loszulassen.«
»Wie wäre es mit Antimaterie-Bomben?« warf Mario de Monti ein. Han Tsu-Gols Gesicht verfiel noch mehr. »Seit dem letzten Krieg gibt es eine Vereinbarung, keine Antimaterie-Waffen mehr herzustellen«, sagte er leise. »Die vorhandenen AM-Bomben wurden in einem sternenarmen Raumsektor zerstört.« »Dann lassen Sie welche herstellen!« forderte Cliff. »Das Verfahren zur Herstellung von Antimaterie dürfte wohl kaum in Vergessenheit geraten sein.« »Die betreffenden Anlagen wurden damals geschleift«, erklärte der Regierungschef niedergeschlagen. »Und das Wissen über die Herstellung von Antimaterie ist nur im TECOM gespeichert.« »Und auf TECOM ist kein Verlaß mehr, seit es Unbekannten gelang, den Computer einmal zu manipulieren«, warf Tunaka Katsuro ein. »Ein winziger, absichtlich in die Daten eingeschmuggelter Fehler könnte zu einer verheerenden Explosion auf der Erde führen.« »Dann verlegen Sie die Herstellung eben in den Weltraum!« sagte Arlene. »Die Anlage würde Tausende von Tonnen wiegen und müßte erst einmal gebaut werden«, gab Han Tsu-Gol niedergeschlagen zurück. »Bis sie fertig wäre, würden Millionen Menschen erstarrt sein. Von den politischen Komplikationen will ich gar nicht erst reden.« »Trotzdem muß auch dieser Weg beschritten werden«, erklärte Cliff McLane. »Was nicht heißen soll, daß wir nicht fieberhaft nach Möglichkeiten suchen müssen, die Gefahr früher abzuwenden. Wollen Sie tatsächlich den Overkill-Beschuß, der sich schon ein-
mal als verhängnisvoll erwiesen hat, wiederholen lassen, Han?« »In verstärkter Form, ja«, antwortete der Regierungschef. »Etwas muß ich tun. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie alle zwanzig Minuten Menschen erstarren. Außerdem wächst stündlich die Gefahr einer weltumspannenden Panik. Wenn sie ausbricht, regiert auf der Erde das Chaos, Cliff.« »Ich kann mich Ihren Argumenten nicht verschließen, Han«, sagte Cliff hilflos. »Wir werden mit der ORION IX über dem Ganymed bleiben, bis wir wissen, welche Wirkung der neue Overkill-Beschuß erzielt hat. Hoffentlich lebt die Menschheit noch lange genug, um die weitere Lehre zu beherzigen, die uns das wiedererwachte Instrument des kosmischen Infernos erteilt: daß die Menschheit alle ihre Kräfte auf das Ziel vereinen muß, sich gegen die Gefahren zu wappnen, die uns von den Erben der beiden feindlichen kosmischen Mächte drohen.« »Die Regierung wird die Lehre beherzigen, Cliff«, erwiderte Han. »Ich melde mich wieder. Ende!« »Ende!« sagte Cliff. Er saß zusammengesunken auf seinem Platz und versuchte, Ordnung in seine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu bringen. Es war der ORION-Crew einige Male gelungen, die Bedrohungen abzuwenden, die von den Erben des kosmischen Krieges ausgingen. Jetzt aber sah es ganz so aus, als würde der Schwarze Kristall, der im Ringen der feindlichen Mächte vielleicht nur eine untergeordnete Bedeutung gespielt hatte, das Schicksal der Menschheit besiegeln. Was für eine ungeheuerliche Machtfülle mußten
jene beiden Mächte der Vergangenheit besessen haben, daß so lange nach ihrem Ende ihre überall verstreuten Werkzeuge in der Lage waren, mühelos eine ganze Kultur auszulöschen?
6. Mitten im Weltraum fand eine n-dimensionale Erschütterung statt. Optisch sah es für die Menschen an Bord der ORION IX so aus, als gingen vom Zentrum der Erschütterung lange, gezackte Risse aus, durch die ein undefinierbares rotes Glühen waberte. Es schien, als hätte ein Riese mit seinem Hammer eine schwarze Glasscheibe eingeschlagen, hinter der ein Hochofen kosmischer Dimensionen brannte. Obwohl die ORION IX diesmal viel weiter vom Wirkungsbereich der Overkill-Projektoren entfernt war, wurde sie trotz des eingeschalteten Schutzschirms hart durchgeschüttelt. Immerhin feuerten insgesamt 358 Raumkreuzer gleichzeitig auf den Schwarzen Kristall, alle einsatzbereiten Kampfschiffe der 4. Strategischen Raumflotte der Erde. »Ein Planet wäre unter diesem Feuer längst zerplatzt«, stellte Sergeant Arco Vitus fest. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Schwarze Kristall noch lange standhält. Auch die Werkzeuge des Rudraja und Varunja können nicht unverwundbar sein.« »Nicht unverwundbar für ihresgleichen«, warf Mario de Monti ein. »Unsere Waffensysteme müßten einem Vertreter des Rudraja, wenn es einen gäbe, wie Kinderspielzeuge vorkommen.« »Wenn es wenigstens einen lebenden Vertreter der Macht gäbe, dessen Werkzeug der Kristall ist!« stieß Katsuro verzweifelt hervor. »Wir könnten vielleicht mit ihm verhandeln!« »Um die Kapitulation der Menschheit anzubieten?« fragte Cliff McLane sarkastisch. »Soll sich die
Menschheit zu einem Hilfsvolk einer der kosmischen Mächte machen lassen, das bedenkenlos verheizt wird?« »Ziel von Verhandlungen müßte erst einmal sein, das Überleben der Menschheit zu sichern«, erwiderte der GSD-Direktor. »Danach lassen sich bestimmt Formen des Widerstands finden, die zur Abschüttelung der Fremdherrschaft führen.« »Das Rudraja war parasitär und schöpfte seine Kraft zur Expansion aus der Ausbeutung und Zerstörung feindlicher Kulturen«, sagte Arlene N'Mayogaa wie in Trance. »Hinter sich ließ es nichts als Verderben und Finsternis zurück.« Gespannt blickten die Raumfahrer zu Cliffs Gefährtin. Als sie schwieg, sagte Helga: »Eine neue Erinnerung an eine Information, die wir bei der Modellschablone der Erde erhielten – oder eine Botschaft, die dich eben erst erreichte, Arlene?« Seufzend erwachte Arlene aus ihrer Trance. Sie blickte sich um, sah die erwartungsvollen, gespannten Mienen und fragte: »Habe ich etwas gesagt?« Mario wiederholte es. Arlene N'Mayogaa strich sich mit den Fingern über die Schläfen und meinte: »Es war eine Erinnerung. Wir müssen diese Botschaft alle vernommen haben – damals, in der Raumkugel, in der die Parallel-Erde starb und mit ihr das Sternenschiff.« Cliff McLane sagte grimmig: »Vorausgesetzt, diese Information trifft zu, dann kann und darf es für die Menschheit niemals eine Kapitulation vor den Erben des Rudraja geben, dann
wäre ein schneller Tod immer noch besser.« Eine neue Erschütterung der Raum-Zeit-Struktur rüttelte die ORION IX durch und ließ die Instrumente in der Zentrale klirren. Neue Risse entstanden draußen im All, und wieder schlug ein rotes waberndes Glühen herüber. »Das Leuchten ist weg«, sagte Atan Shubashi. Die Bemerkung schien so offensichtlich in keiner Beziehung zu den Geschehnissen der Gegenwart zu stehen, daß die Gefährten sich verwundert nach dem kleinen Astrogator umsahen. »Wovon sprichst du, Atan?« fragte Cliff besorgt. Shubashi sah erst jetzt die auf ihm ruhenden Blicke. Er lächelte verlegen. »Es ist eigentlich nicht weiter wichtig«, sagte er beinahe schüchtern. »Nun sprich schon!« drängte Mario. »In unserer Lage kann jede Beobachtung wichtig sein, Atan.« Atan Shubashi gab sich einen innerlichen Ruck. »Vorhin, als die Anlage in der Ganymed-Station eingeschaltet war, entdeckte ich an der gegenüberliegenden Horizontlinie ein schwaches, schnell pulsierendes Leuchten. Ich achtete nicht weiter darauf, weil wir andere Sorgen hatten. Erst jetzt erinnerte ich mich wieder daran und suchte die betreffende Gegend ab. Aber das Leuchten ist weg.« »Es muß mit der aktivierten Anlage zu tun gehabt haben«, sagte Helga Legrelle. Im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen. »Ich fange Funkmeldungen zwischen den Schiffen der Wega-Flotte auf!« rief sie erregt. »Danach wurden elf weitere Kreuzer von Impulsen getroffen und sind ausgefallen. Mahavira befiehlt den Rückzug.«
Shubashis Beobachtung war vergessen. Erregt diskutierten die Raumfahrer über den neuen Schlag, den der Schwarze Kristall geführt hatte, und über die Folgen, die sich daraus ergeben mochten. Atan Shubashi seinerseits konzentrierte sich auf die Beobachtung der Geschehnisse in der Umgebung des Riesenkristalls. Die Schiffe der Wega-Flotte zogen sich fast überstürzt zurück, während weitere vier Einheiten von Todesimpulsen getroffen wurden. Die Triebwerke der getroffenen Schiffe setzten aus. Wahrscheinlich hatte die Besatzung noch die entsprechenden Schaltungen vornehmen können. Aber die Totenschiffe trieben im freien Fall weiter. Ohnmächtig mußte die Besatzung der ORION IX zusehen, wie die 4. Strategische Raumflotte sich hinter den Felsbrocken des Asteroidengürtels verschanzte und damit ihre Niederlage eingestand. Für Mahavira mußte es ein schwerer Schlag sein, aber ein noch schwererer Schlag war es für die irdische Menschheit, die jeder Hoffnung auf Rettung beraubt worden war. Während sich bei der Crew und ihren beiden Gästen tiefste Niedergeschlagenheit breitmachte und die Zeit ungenutzt verrann, »horchte« Helga Legrelle weiter mit den Hyperfunkantennen des Schiffes in Richtung Kristall. Doch sie fing nichts anderes auf als die Streustrahlungen immer weiterer Todesimpulse – bis plötzlich mit hartem Stakkato eine Kodegruppe hereinkam, an der die Funkerin sofort die derzeit gültige Kodierung der Flotte erkannte. Auch die anderen Raumfahrer wurden aufmerksam. Gespannt sahen sie zu Helga, die die Kodegruppen
auf Magnetband aufgenommen hatte und nach ihrem Verstummen durch den Dekoder schickte. Das Ergebnis fiel enttäuschend aus. Es war lediglich zu erkennen, daß die Kodegruppe ein Notruf gewesen war, allerdings so verstümmelt, daß die Dekodierung keinen Hinweis auf Herkunft und exakte Bedeutung ergab. Eine Bedeutung aber schien festzustehen, und Mario de Monti sprach es aus: »Jemand hat in der Nähe des Kristalls die Todesimpulse überlebt und bittet um Hilfe. Was tun wir, Freunde?« »Wir helfen, wenn wir können«, erwiderte Cliff McLane. »Aber erst müssen wir mehr über den Notruf wissen. Mario, kannst du den Spruch mit Hilfe deines Computers rekonstruieren?« »Ich kann es versuchen«, antwortete der Kybernetiker. »Der Erfolg hängt allerdings davon ab, ob die verstümmelte Nachricht genügend Informationen enthält, die als Schlüsselinformationen dienen können.« »Fange schon an damit!« sagte Cliff mit rauher Stimme. Der Notruf hatte in ihm, obwohl er das nicht sagte, die Hoffnung geweckt, daß es doch ein Mittel gegen die Erstarrungsimpulse des Todeskristalls gab. * »Fertig!« sagte Mario de Monti nach gut einstündiger konzentrierter Arbeit mit dem Bordcomputer. »Ich spiele ab.« Er schaltete das Band mit der Rekonstruktion des Notrufs ein.
Einige undefinierbare Geräusche ertönten, dann sagte eine weibliche Stimme: »Raumkreuzer SADIR an alle! Funkoffizier Elena Gatow spricht. Wir wissen nicht, wie es geschehen konnte, aber unser Schiff scheint sich unvermittelt in dem Schwarzen Kristall zu befinden. Die SADIR steht in einer Art flachem Kessel, von dem zahlreiche Gänge aus gehen. Manche Wände sind durchsichtig, deshalb kann ich sehen, daß um uns ein Labyrinth ist. An drei Stellen kann ich in den Raum blicken. Die Besatzung ist ausgestiegen und will versuchen, die Anlage zu finden und zu zerstören, die die Todesimpulse aussendet.« Eine Weile kam nichts, dann ertönte mehrmals ein lautes Krachen. Im nächsten Moment sprach Elena Gatow weiter. Diesmal schwang Panik in ihrer Stimme. »Draußen wird gekämpft! Aber es scheint, als bekämpften sich die Besatzungsmitglieder der SADIR gegenseitig. Sie rennen in alle Richtungen auseinander. Ich ... oh! Ich sehe etwas, das ... Ah!« Mit dem gellenden Schrei endete die Nachricht. Es waren noch Geräusche zu hören, die auf hastige Bewegungen und das Poltern von Stiefeln schließen ließen, dann lief das Band aus. »Das war alles«, sagte Mario überflüssigerweise. Die Mitglieder der Crew und die Gäste sahen sich in die bleichen Gesichter. Langsam, als hätte er Schwierigkeiten, die Worte zu formulieren, sagte Tunaka Katsuro: »Ich kann mir nicht helfen, aber ich halte den Notruf für fingiert, für ein Täuschungsmanöver des Feindes. Wir haben es selbst versucht und wissen deshalb,
daß es unmöglich ist, in den Kristall einzudringen. Etwas in dem Kristall – oder der Kristall selbst – hat unsere Sprache erlernt und den angeblichen Notruf zusammengestellt, um die Schiffe der Wega-Flotte dazu zu verleiten, sich dem Kristall wieder zu nähern.« »Das ist auf jeden Fall eine brillante Idee – aber ich zweifle daran, daß sie der Wirklichkeit nahekommt, Katsuro-san«, erwiderte Cliff McLane. »Helga, rufe Admiral Mahavira an und frage ihn, ob es einen Raumkreuzer namens SADIR gibt und wo sich das Schiff zur Zeit befindet!« »Wir sollen diesen Ehrgeizling um eine Auskunft bitten?« fragte Mario de Monti ungläubig. Cliff McLane nickte mit ernstem Gesicht. »Ich würde mit dem Teufel reden, wenn es dazu beitragen könnte, die Gefahr aus dem Todeskristall von der Menschheit abzuwenden. Es ist wichtig zu wissen, ob der Notruf fingiert oder echt war.« »Aber er kann nur fingiert gewesen sein«, warf Tunaka Katsuro ein. »Nichts und niemand kommt in den Kristall. Er muß unzerstörbar sein, wenn die Overkill-Projektoren einiger hundert Schiffe ihm nichts anhaben konnten.« »Die ORION-Crew hat schon vor langer Zeit gelernt, selbst das unmöglich Scheinende für denkbar zu halten – und was denkbar ist, kann auch machbar sein«, warf Arlene ein. Helga Legrelle hatte unterdessen am Hyperfunkgerät geschaltet. Als die Bildfläche aufleuchtete, war ein Funkoffizier des Flaggschiffs der Wega-Flotte darauf zu sehen. »ORION IX, Funkoffizier Legrelle!« meldete sich
Helga. »Ich brauche dringend eine Verbindung mit dem Admiral.« Der Funkoffizier verzog das Gesicht. »Wie ich den Admiral kenne, spricht er nicht mit Funkoffizieren, sondern allenfalls mit dem Kommandanten eines Raumschiffs. Es tut mir leid, aber so ist es nun einmal, anbetungswürdige Kollegin.« Cliff McLane stand auf und stellte sich neben Helga Legrelle. »Dann richten Sie dem Admiral aus, daß Commander McLane ihn zu sprechen wünscht – dringend!« Der Funkoffizier lächelte erfreut. »Sehr gern, Commander McLane. Ich freue mich, Sie einmal persönlich zu sehen, wenn es auch nur am Bildschirm ist. Ich verbinde sofort.« Dennoch dauerte es noch fast drei Minuten, bevor das Abbild des Admirals auf dem Bildschirm auftauchte. Mahavira war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit feingliedrigen, langen Händen. Sein braunes Gesicht war schmal und wirkte beinahe asketisch. Die schwarzen Augen verrieten, daß Mahavira sich über alle anderen Menschen erhaben fühlte. »Was wünschen Sie, McLane?« fragte er hochmütig. »Ich bin sehr beschäftigt.« »Wahrscheinlich damit, die Bergung beziehungsweise Rettung der SADIR-Besatzung zu organisieren«, stellte Cliff fest. »Oder irre ich mich da?« »Ich pflege mich niemals mit Hirngespinsten zu beschäftigen«, entgegnete Mahavira. »Wollten Sie sonst noch etwas, McLane?« »Aber gewiß doch«, erwiderte Cliff sarkastisch. »Oder dachten Sie, ich hätte Sie angerufen, um Ihr
schönes Gesicht zu bewundern! Mich interessiert, ob ein Raumkreuzer namens SADIR unter Ihrem Befehl steht beziehungsweise stand und was Ihnen über das Schicksal des Schiffes und der Besatzung bekannt ist.« »Ich sagte bereits, daß ich mich nicht mit Hirngespinsten beschäftige, McLane«, erklärte Mahavira kalt. »Die SADIR wurde von Todesimpulsen getroffen. Ihre Mannschaft erlitt das gleiche Schicksal wie die Mannschaften anderer Schiffe, die von den Impulsen es Kristalls erreicht wurden. Sie kann sich also weder innerhalb des Kristalls aufhalten noch Notrufe senden. Das Ganze ist ein Trick, mit dem der Gegner uns verleiten will, erneut Raumschiffe in die Nähe des Kristalls zu schicken. Wollen Sie noch mehr wissen?« »Danke, das reicht«, sagte Cliff zweideutig. »Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen, Admiral. Leben Sie wohl!« Er beugte sich vor und schaltete das Hyperfunkgerät aus, dann wandte er sich wieder an seine Gefährten und sagte: »Die SADIR gehört also zur Wega-Flotte und wurde von Todesimpulsen getroffen. Demnach könnte der Notruf tatsächlich von ihr stammen.« »Aber wie erklären Sie sich, daß im Notruf behauptet wurde, die SADIR befände sich im Innern des Kristalls und die Besatzung hätte ihr Schiff verlassen?« fragte Tunaka Katsuro. »Ganz abgesehen davon, daß eine kristallin erstarrte Besatzung ihr Schiff niemals in den Kristall steuern könnte, selbst dann nicht, wenn er plötzlich durchlässig geworden wäre.«
Cliff McLane lächelte. »Sie sind eben doch kein Raumfahrer, Produzent galaktischer Sicherheit. Wie nun, wenn die SADIR zu dem Zeitpunkt, an dem sie von Todesimpulsen getroffen wurde, mit geringer Restfahrt in Richtung des Schwarzen Kristalls driftete? Wer hätte die Bewegung stoppen sollen, wenn die Besatzung ausgefallen war?« »Niemand«, warf Sergeant Vitus erregt ein. »Die SADIR driftete demnach unaufhaltsam auf den Kristall zu – und wurde von ihm verschlungen oder so. Ja, das wäre denkbar.« »Und als das Schiff sich im Kristall befand, sandte die Funkerin einen Notruf aus, in dem es heißt, die Besatzung sei ausgestiegen«, ergänzte Mario de Monti. »Das läßt keinen anderen Schluß zu als den, daß jemand, der erstarrt ist, aus seiner Starre erwacht, wenn er in den Schwarzen Kristall gebracht wird.« »Aber nur, um dort endgültig zu sterben«, warf Atan Shubashi ein. »Erinnert euch an die Nachricht. Die Besatzung der SADIR kämpfte gegen etwas oder jemanden. Sicher bekämpfte sie sich nicht gegenseitig; das dürfte ein Irrtum der Funkerin gewesen sein. Sie kämpfte gegen das, was die Funkerin sah, bevor die Nachricht abbrach.« »Schade, daß wir nicht wissen, was das war«, meinte Cliff gedehnt. »Es würde uns ja doch nichts nützen«, erwiderte Helga Legrelle. »Schließlich sind wir weder kristallin erstarrt noch driftet die ORION IX auf Blackie zu.« »Diese Voraussetzungen lassen sich herbeiführen, Helga-Mädchen«, sagte Cliff McLane sanft. »Allerdings wäre das Risiko fast unendlich groß. Ich schla-
ge vor, wir fliegen zur Erde zurück und erledigen dort noch etwas, bevor wir uns entschließen, ob wir die Gelegenheit nutzen sollen. Auf der Erde können wir zwar auch von einem Todesimpuls getroffen werden, aber davor sind wir wohl nirgendwo im Sonnensystem sicher.« * Aus den Lautsprechern über Helga Legrelles Funkpult drangen Serien knatternder Geräusche. Die Funkerin drehte an Knöpfen und ließ ihre Fingerkuppen über Sensorpunkte huschen. Das Knattern wurde leiser; dafür trat ein schrilles Pfeifen auf, das nahe an der Grenze des menschlichen Hörbereichs lag. Mario de Monti verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das dreht einem ja das Hirn um, Helgakind.« »Gymnastik fördert die Durchblutung, und eine gute Durchblutung ist die Voraussetzung für eine befriedigende Organfunktion«, gab Helga zurück, während sie neue Einstellungen vornahm. Das Pfeifen verstummte, und nach einem an- und abschwellenden Rauschen formte sich ein verzerrtes Bild auf dem Schirm der überlichtschnell arbeitenden Funkanlage. »ORION IX an T.R.A.V.!« sagte Helga. »Wir befinden uns im Anflug auf die Erde und erbitten Landegenehmigung für Basis 104! Können Sie mich trotz der Funkstörungen verstehen?« Das Schirmbild flackerte, verzerrte sich stärker und stabilisierte sich – wenn auch nur vorübergehend. Jedenfalls reichte die Zeit der Stabilität aus, um das
Abbild einer zirka vierzig Jahre alten Frau erkennbar werden zu lassen. Die ORION-Crew hatte sich mittlerweile an die auf der Erde herrschende Mode gewöhnt. Dennoch berührte es sie immer wieder eigentümlich, wenn sie jemandem von T.R.A.V. begegneten, der nicht die dunkle, schlichte Uniform jener Zeit trug, aus der sie stammten. Die Frau war in einen mit Goldflitter besetzten, enganliegenden Hosenanzug gekleidet. Dazu trug sie knallrote Wadenstiefel aus etwas, das wie Lackleder aussah. Das Haar war grün, gelb und blau gefärbt und kunstvoll toupiert. Lippen und Nasenlöcher waren karmesinrot geschminkt. »Ich verstehe Sie einigermaßen gut, ORION IX«, antwortete die Dame. Ihr Gesicht lag unter einer Schicht hellblauer Schminke. »Innerhalb der Ionosphäre toben energetische Turbulenzen, die den Funkverkehr behindern. Ich unterrichte Landebasis 104. Laut Sonderbefehl ist die ORION IX bevorzugt abzufertigen.« »Unsere Dankbarkeit kennt keine Grenzen«, erwiderte Helga Legrelle. Sie schaltete abermals, da das Fernbild zu einem wirren Durcheinander von Formen und Farben verschmolz. Erneut drang lautes Knattern aus den Lautsprechern. Doch nach einiger Zeit wurde das Bild wieder halbwegs deutlich. »Basis 104 ist verständigt«, meldete die Funkerin von T.R.A.V. »Sie werden erwartet, ORION IX.« Helga kam nicht noch einmal dazu, sich zu bedanken, denn die Verbindung brach abrupt ab. »So starke Störungen gab es innerhalb der irdischen Ionosphäre noch nie«, ließ sich Sergeant Arco Vitus vernehmen. »Auf der Sonne müssen unge-
wöhnlich heftige Eruptionen stattfinden.« »Ich bezweifle, daß unsere gute alte Sonne für die Störungen verantwortlich ist«, meinte Atan Shubashi. »Vielmehr denke ich, daß die energiereichen Todesimpulse Blackies beim Auftreffen auf die Erdatmosphäre ein Ansteigen des Ionenpegels bewirken. Die Störungen dürften laufend zunehmen, wenn Blackie weiter ›sendet‹.« »Wenn das das Schlimmste wäre, würde ich mich nicht besonders aufregen«, meinte Cliff McLane. Niemand erwiderte etwas darauf, denn noch ahnten die Frauen und Männer an Bord der ORION IX nicht, daß die kristalline Erstarrung getroffener Menschen noch längst nicht die größte Gefahr für die Erde und die irdische Menschheit darstellte ... Cliff McLane schaltete den Autopiloten kurz vor dem Eintauchen in die Erdatmosphäre aus und steuerte das Diskusschiff von Hand hinunter. Der gewaltige künstliche Strudel an der Wasseroberfläche des Carpentaria-Golfs nahm die ORION IX auf und zog sie hinab zu den Schleusentoren der Raumbasis 104, die der Crew noch aus der »guten alten Zeit« in lebhafter Erinnerung war und in der sich grundsätzlich nichts geändert hatte.
7. Alle ehemaligen Orcasten und jetzigen Minister der Interimsregierung der Erde hatten sich im Stabsbunker des Oberkommandos der Raumflotte versammelt. Han Tsu-Gol, der neben seinem Amt als Ministerpräsident weiterhin für Verteidigung und Raumflotte verantwortlich war, hatte selbstverständlich den Vorsitz. Aber er hatte die Verantwortung, die früher allein auf seinen breiten Schultern geruht hatte, weiter aufgeteilt. Mit der Ernennung Admiral Mahaviras zu seinem Stellvertreter beim Flotten-Oberkommando hatte er, nach einhelliger Meinung der ORION-Crew, einen folgenschweren Mißgriff getan. Dafür schien er bei der Wahl des Verantwortlichen für die terrestrischen Raum-Aufklärungs-Verbände, kurz T.R.A.V. genannt, eine glückliche Hand gehabt zu haben. Eigentlich mußte es heißen, der Verantwortlichen, denn Admiral Leandra de Ruyter war eine Frau – und nicht nur der geschlechtlichen Einstufung nach. Fast so groß wie Cliff, schlank, geschmeidig, gut aber nicht übermäßig proportioniert, mit heller, von einigen Sommersprossen gesprenkelter Haut, wasserblauen Augen und flachsblondem Haar, schien sie der zum Positiven abgemilderte Typ einer nordischen Göttin zu sein. Mario de Monti war so beeindruckt, daß er schon die Lippen zu einem anerkennenden Pfiff spitzte, bevor ihm einfiel, daß er mit derart ungebührlichem Benehmen den ohnehin überschatteten Ruf der ORION-Crew zusätzlich schädigen würde. Leandra de Ruyter schien etwas gemerkt zu haben.
In ihren Augen blitzte es kurz und schalkhaft auf, bevor sie sich besann und wieder die Miene des Admirals annahm, der schwer an seiner Verantwortung trug. Cliff Allistair McLane bemerkte aus den Augenwinkeln, daß Hasso Sigbjörnsons Gesicht einen leicht verträumten Ausdruck angenommen hatte. Cliff war überrascht, denn bisher war der Maschineningenieur noch nicht darüber hinweggekommen, daß seine Familie während des dreiundvierzig Jahre zurückliegenden Raumkriegs bei einem Angriff auf die Erde ausgelöscht worden war. Jetzt schien es so, als dächte er beim Anblick Admiral de Ruyters an die Gründung einer neuen Familie. Die tiefe Stimme Han Tsu-Gols riß Cliff aus seinen Überlegungen. »Meine Damen und Herren, nach der unvermeidlichen Vorstellung werden wir gleich zum ersten und einzigen Thema unserer Besprechung übergehen, zu der Frage, wie wir die vom Schwarzen Kristall ausgehende Gefahr für die irdische Menschheit bannen können. Nach unseren Computerberechnungen würden die auf der Erde lebenden Menschen innerhalb von fünfeinhalb Jahren sämtlich erstarrt sein, wenn der Kristall unvermindert seine Todesimpulse aussendet. Das war die bisherige Hauptüberlegung der Regierung und des Flottenkommandos. Vor wenigen Minuten hat Minister Lennard uns das Ergebnis anderer Berechnungen mitgeteilt, die unsere vorhergehenden Berechnungen ad absurdum führen. Aber das trägt er am besten selbst noch einmal vor.« Die ORION-Crew hatte auf den bereitstehenden Sesseln Platz genommen. Tunaka Katsuro natürlich
ebenfalls, und Sergeant Vitus war auf Cliffs Ersuchen mit in die Runde der Großen aufgenommen worden. Cliff beobachtete den Premierminister und bemerkte dessen müde wirkenden Bewegungen. Unwillkürlich fröstelte er, denn er hatte Han Tsu-Gol bislang nur als einen energiegeladenen, beherrschten Mann kennengelernt. Jetzt wirkte er nicht nur müde, sondern konnte das Zittern seiner Finger kaum verbergen, als wäre er am Ende seiner Kraft. Kyll Lennard, Ex-Orcast und derzeit Minister für Wissenschaft und Forschung, erhob sich. Sein mittelblondes Haar war wie immer sorgfältig gescheitelt, und seine Augen blinzelten, als wäre, er kurzsichtig. Wer Lennard nicht kannte, mußte ihn für einen mittelmäßig begabten Durchschnittstyp halten. »Die Impulsstöße des Kristalls, die auf die Erde treffen, durcheilen vorher logischerweise die Erdatmosphäre«, erklärte Kyll Lennard mit unbeteiligter Miene und dozierendem Tonfall. »Sie geben dabei einen Teil ihrer Energie – wahrscheinlich der Trägerenergie der Kristallisationsimpulse – an die Atome und Moleküle der oberen Atmosphäre und der Heaviside-Schicht ab, wodurch laufend der Übergang von Atomen und Molekülen in Ionen bewirkt wird.« Er blinzelte mit seinen kräftigblauen Augen. »Ist das soweit von den Kollegen der ORION-Crew verstanden worden?« »Wir haben es nicht nur verstanden, sondern sozusagen am eigenen Leibe erfahren, als während unseres Anflugs beträchtliche Störungen des Funkverkehrs auftraten«, sagte Helga Legrelle. Kyll Lennard deutete eine Verbeugung in Helgas Richtung an und erwiderte:
»Das erleichtert mir meine Aufgabe, Ihnen klarzumachen, daß die Erde in spätestens acht Monaten eine Katastrophe erleben wird, gegen die die legendäre Sintflut nur ein Erfrischungsbad gewesen sein dürfte. Das allmähliche, aber unaufhaltsame Ansteigen des Ionenpegels führt nämlich dazu, daß sich die Erde in einen gigantischen Kondensator verwandelt – mit der Atmosphäre als Dielektrikum. In zirka acht Monaten dürfte der Zeitpunkt erreicht sein, an dem zwischen den beiden entgegengesetzt aufgeladenen Erdhälften ein Entladungsblitz überschlägt, der die Atmosphäre und große Teile der Erdoberfläche verbrennen wird.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzte Lennard sich wieder. Die Raumfahrer der ORION IX saßen wie erstarrt auf ihren Plätzen und versuchten, die grauenhafte Vision zu verarbeiten, die Lennards Vortrag in ihren Gehirnen hervorgerufen hatte. Cliff McLane sah vor seinem geistigen Auge einen Blitz in der Erdatmosphäre aufflammen, in dessen ungeheurer Hitze Wälder, Städte und Lebewesen verglühten, Flüsse und Seen verdampften und ganze Kontinente sich in verkohlte Schlackenhalden verwandelten. Wahrscheinlich würde ein kleiner Teil der irdischen Menschheit die unmittelbare Auswirkung des Entladungsblitzes überleben – aber nur, um anschließend in einer Atmosphäre zu ersticken, deren Sauerstoff größtenteils verbrannt war und deren Druck nicht ausreichte, das Blut vor dem Aufschäumen und die Blutgefäße vor dem Zerplatzen zu bewahren. Und diese Vision sollte schon in spätestens acht Monaten grausige Wirklichkeit werden. Die Kata-
strophe würde die Erde, die Wiege der Menschheit und geistiger Ruhepol der menschlichen Kolonisten auf den anderen Planeten der kontrollierten Raumkugel, für immer oder doch für lange Zeit unbewohnbar machen und das Leben der Milliarden, die heute auf der Erde lebten, in einem apokalyptischen Inferno auslöschen. Cliff merkte erst, als er stand, daß er sich erhoben hatte. Er brauchte nicht in die Gesichter seiner Freunde zu sehen, um zu wissen, daß sie alle ihren Entschluß, einen gemeinsamen Entschluß, gefaßt hatten und dazu stehen würden – wenn notwendig, bis zum bitteren Ende. »Da uns nun bekannt ist, unter welchem Zeitdruck wir stehen, sind wir, die ORION-Crew, fest entschlossen, etwas zu wagen, das vor uns die Besatzung des Raumkreuzers SADIR geschafft hat – allerdings, ohne sich dessen bewußt zu werden. Aber der aufgefangene Notruf der SADIR beweist, daß es möglich ist, mit einen Raumschiff in den Kristall einzudringen. Genau das werden wir mit der ORION IX versuchen.« * Fast eine Minute lang schwiegen die Minister und Admiral de Ruyter. Ihren Gesichtern war überdeutlich anzusehen, daß sie Cliff McLane für übergeschnappt hielten. Han Tsu-Gol faßte sich zuerst. Er blickte Cliff eindringlich an und sagte: »Ich bin ja schon einiges von der ORION-Crew gewohnt, aber das eben war der Gipfel, McLane. Wä-
re die Lage nicht so ernst, so würde ich an einen weiteren Ihrer berüchtigten Scherze glauben. So nehme ich zu Ihrer Entlastung an, daß Sie nicht genau durchdacht hatten, was Sie uns sagten.« Admiral Leandra de Ruyter warf Cliff einen prüfenden Blick zu und meinte: »Lassen Sie ihn genau erklären, was er sich dabei gedacht hat, Han. Ich weiß, daß die SADIR zu den Schiffen gehört, die von einem Todesimpuls getroffen wurden und seitdem schweigen.« Cliff verneigte sich in de Ruyters Richtung und sagte ironisch: »Ich danke Ihnen für Ihre Aufgeschlossenheit, Admiralin de Ruyter.« Er blickte den Ministerpräsidenten fragend an. »Reden Sie schon!« fuhr Han Tsu-Gol ihn an. Seine Nerven mußten sich in einem schlimmen Zustand befinden, wenn er so unbeherrscht reagierte. »Sie finden wohl immer wieder Fürsprecher – und noch eher Fürsprecherinnen, wie?« »Offenkundig haben Sie wieder einmal in unseren alten Personaldateien geblättert, Herr der tausend Schiffe«, erwiderte Cliff ungerührt. Seltsamerweise wurde er um so ruhiger, je nervöser der Ministerpräsident sich gebärdete. Er holte tief Luft. »Ich stelle fest, daß Admiral Mahavira es unterlassen hat, Ihnen von dem Notruf zu berichten, den die SADIR aus dem Innern des Todeskristalls funkte. Sie gestatten, daß wir das nachholen.« Er nickte Mario zu. Der Kybernetiker zog einen flachen Taschenrecorder aus seiner Raumkombination und legte das Band
mit dem dekodierten und rekonstruierten Notruf der SADIR ein, dann drückte er die Einschalttaste. Die Gesichter der Regierungsmitglieder zeigten die unterschiedlichsten Gefühle, als die Stimme der Funkerin der SADIR ihren Bericht gab, der so überraschend abbrach. Als erster reagierte Peter Sobolew, Minister für äußere Angelegenheiten. »Das ist unmöglich!« polterte er los. »Oberst McLane, das ist doch nur ein weiterer Trick von Ihnen, um ...« Zur Überraschung der ORION-Crew schlug Han Tsu-Gol mit der Faust auf den Tisch. »Stopp, Peter! Ich traue diesen Abenteurern von der ORION IX ebenfalls alle faulen Tricks zu und habe auch schon diesbezüglich, meine Erfahrungen gesammelt, aber ich glaube niemals, daß sie sich in einer entsetzlichen Lage wie unserer über uns lustig machen wollen. Bitte, Cliff, reden Sie weiter! Ich denke, Sie können mir erklären, wie die SADIR in den Kristall gekommen ist.« »Danke, Han«, sagte Cliff ernst. »Ich kann nicht erklären, wie die SADIR in den Kristall kam, aber das spielt kaum eine Rolle. Wichtig ist, daß sie hineingekommen ist. Wir stellen es uns so vor, daß die SADIR, als sie von dem Todesimpuls getroffen wurde, mit geringer Fahrt in Richtung Kristall driftete. Da die Besatzung erstarrte, bewegte sich das Schiff infolge seiner Massenträgheit weiter auf den Kristall zu. Aus irgendeinem Grunde, vielleicht infolge der Aufblähung des Kristalls, hat sich seine Struktur geändert. Zwar können Overkill-Projektoren ihm nichts anhaben, aber feste Materie, die als ungefährlich ein-
gestuft wird, kann offenbar die Außenhülle passieren. Innerhalb des Kristalls muß es etwas geben, das die Kristallisation der Opfer aufhebt, so daß sie in den alten Zustand zurückversetzt werden – und vor allem leben und agieren können. Ich schlage vor, daß wir mit der ORION IX an den Kristall heranfliegen. Wahrscheinlich werden wir dabei von einem Impuls getroffen und erstarren. Der Autopilot wird aber so programmiert sein, daß er das Schiff weiter auf den Kristall zusteuert. Sobald wir eingedrungen und ›erwacht‹ sind, werden wir weitersehen. Es muß im Innern des Kristalls eine Möglichkeit geben, ein weiteres Aussenden von Todesimpulsen zu unterbinden.« Cliff McLane setzte sich wieder. »Oberst McLane!« sagte Leandra de Ruyter scharf, aber mit einem halb traurigen, halb um Verzeihung bittenden Lächeln. »Sie sind noch nicht fertig. Also stehen Sie wieder auf.« Sie wartete, bis Cliff – mit undurchdringlicher Miene – wieder stand, dann sagte sie: »Sie wollen also das Aussenden von Todesimpulsen unterbinden. Haben Sie aber auch daran gedacht, daß die Besatzung der SADIR im Innern des Kristalls angegriffen wurde – und daß sie den Kampf mit dem Unbekannten sehr wahrscheinlich verloren hat? Andernfalls hätte sie sich logischerweise wieder gemeldet.« »Das ist uns klar, Admiralin«, sagte Cliff. »Der Titel lautet immer noch ›Admiral‹, Oberst«, warf Pierre Denis, Minister für die inneren Angelegenheiten der Erde und der anderen bewohnten Himmelskörper des Sonnensystems, ein.
Cliff grinste nur geringschätzig, sagte aber nichts. »Ich finde, ›Admiralin‹ klingt treffender für eine Frau, Pierre«, erklärte Leandra de Ruyter diplomatisch. »Oberst McLane, Sie scheinen fest entschlossen zu sein, sich in einen Einsatz zu stürzen, der höchstwahrscheinlich mit dem Tode der gesamten ORIONCrew endet. Das werde ich nicht billigen. Sie erhalten den Einsatzbefehl nur, wenn Sie mich davon überzeugen, daß es für die Crew eine Überlebens- und Erfolgschance gibt.« Cliff McLane grinste erneut. »Fragen Sie Han, Admiralin. Er hat nicht nur unsere früheren Einsatzberichte und die entsprechenden Kommentare unserer früheren Vorgesetzten studiert, sondern weiß auch aus ein paar eigenen Erfahrungen, daß die Überlebens- und Erfolgschance der ORION-Crew schlicht und einfach ORION-Crew heißt. Zufrieden?« Plötzlich fiel die Nervosität von Han Tsu-Gol ab. Der Ministerpräsident lächelte befreit. »Das muß ist in der Tat bestätigen, Leandra«, sagte er. »Dieser McLane ist ein Satan – und die übrige Crew ist nicht besser, ausgenommen die Damen, die aber auch keine reinen Engel sind –, aber ich glaube immer mehr daran, daß dort, wo wir einen Erfolg nur noch von einem Wunder zu erhoffen wagen, die ORION-Crew dieses Wunder vollbringt.« »Was Sie ›Wunder‹ nennen, ist Können, gepaart mit Erfahrungen und bewährtem Zusammenspiel der Crew, Erleuchteter«, sagte Cliff. »Und, zugegeben, ein bißchen Glück. Ich bitte dringend um den Einsatzbefehl.« »Meinen Segen habt ihr, Kinder«, erklärte Han TsuGol.
Leandra de Ruyter lächelte. »Starten Sie, Cliff!« sagte sie mit Wärme in der Stimme. »Ich wünsche der Crew alles Glück des Universums. Und versuchen Sie, am Leben zu bleiben. Tote können bekanntlich nicht mehr feiern, und ich habe vor, nach Ihrer Rückkehr den Erfolg mit Ihnen zu feiern.« Cliff nahm Haltung an. »Danke, Admiralin. Ihr Argument hat etwas ungemein Zwingendes. Versuchen Sie, ein paar Flaschen Archer's tears aufzutreiben. Das wäre das passende Getränk für eine Siegesfeier – oder für die Totenehrung, die Sie dann allerdings ohne uns begehen müßten.« Er wandte sich an seine Freunde. »Nach allen diesen Worten, Freunde, erhebt euch, denn alles hilft nichts, wenn wir nicht Taten folgen lassen.«
8. Die ORION IX hatte die Marsbahn überquert und näherte sich unaufhaltsam dem Schwarzen Kristall, der vorläufig allerdings nur ortungstechnisch erfaßbar war. Cliff McLane blickte zu Mario de Monti hinüber. Der Kybernetiker ließ die Finger über die Eingabesensoren seines Programmierpults fliegen. Er hatte diesmal nicht nur eine einfache Programmierung durchzuführen, sondern mußte in Zusammenarbeit mit dem Computer ein flexibles Programm zusammenstellen, das einen Weiterflug in Richtung auf den Kristall auch beim vorzeitigen Ausfall der Crew garantierte. Der Autopilot, der nur eine Sektion des Bordcomputers war, würde später seine Befehlsimpulse vom Computer erhalten. Cliff sah zur anderen Seite, wo Tunaka Katsuro und Sergeant Vitus auf ihren Reservesesseln saßen. Er hatte die beiden Männer nicht mitnehmen wollen, aber sie waren nicht davon abzubringen gewesen, daß sie für die Dauer der »Operation Blackie« gewissermaßen zur ORION-Crew gehörten. Cliff hoffte nur, daß er sie nicht in den Tod flog. »Wir werden verfolgt«, stellte Helga Legrelle sachlich fest. Cliff runzelte die Stirn. »Was für ein Schiff, Helga?« »Der gleiche Typ wie unsere neue ORION, Cliff. Das Energiemuster der Triebwerke stimmt ebenfalls überein. Es kann sich nur um ein Schiff der Aufklärungsverbände handeln. Reine Kampfschiffe haben
nicht derart auf Wendigkeit und Beschleunigung hochgezüchtete Triebwerke.« »Wer kann das sein?« überlegte McLane laut. »Wer kann das schon sein!« sagte Atan Shubashi grinsend. »Ich wette ein Monatssold gegen ein gebrauchtes Toupet, daß es die OPHIUCHUS ist, die in unserem Kielwasser schwimmt. Admiralin de Ruyter scheint uns unter ihre Fittiche nehmen zu wollen. Jemand aus der Crew muß es ihr angetan haben.« »Heißt das Flaggschiff der Admiralin tatsächlich OPHIUCHUS?« erkundigte sich Mario. »So ist es«, antwortete Cliff. Mario machte ein besorgtes Gesicht. »Dann warne ich dich, Cliff, vor dem Biß der Schlange. Schließlich müßte, da die Übersetzung von OPHIUCHUS ›Schlangenträger‹ heißt, tatsächlich eine Schlange an Bord sein. Oder der Kreuzer trüge seinen Namen zu Unrecht.« »Du solltest nicht über die Admiralin lästern«, mischte sich Hasso Sigbjörnson über die Bordverständigung ins Gespräch. Er hielt sich im Maschinenleitstand auf. »Leandra de Ruyter ist eine patente Frau und Vorgesetzte. Ich denke, es ist ein Glück, daß Han ausgerechnet sie zur Chefin der Terrestrischen Raum-Aufklärungs-Verbände ernannt hat.« »Was hören meine Ohren?« fragte Mario. »Da raspelt doch einer Süßholz. Wandelt unser betagter Kesselflicker etwa auf Freiersfüßen?« »Für den ›betagten Kesselflicker‹ schlage ich ein Paukensolo auf deinen vorstehenden Rippen, Computeranhängsel!« schimpfte Hasso. »Ich lasse doch meine Sympathie für Leandra de Ruyter nicht durch den Schmutz ziehen.«
»Sachte, Freunde!« mahnte Cliff. »Wir sollten unsere Kräfte für den Augenblick sparen, in dem wir den Kristall von innen betrachten, sonst sehen wir die Radieschen bald von unten an. Es paßt mir allerdings nicht, daß die Admiralin uns nachschleicht. Helga, reiche sie mir einmal funktechnisch herüber!« »Verbindung steht, Cliff«, erwiderte Helga Legrelle. »Ich wußte, daß du mit der Dame plaudern wolltest. Also, bediene dich!« Cliff McLane stand auf und stellte sich neben die Funkerin, so daß er sich im Aufnahmebereich befand und sein Bild in die OPHIUCHUS geschickt werden konnte. Als auf dem Bildschirm das Abbild der Admiralin erschien, räusperte er sich verlegen. »Was wünschen Sie, Oberst McLane?« fragte Leandra de Ruyter kühl. Cliff riß sich zusammen. »Ich wünsche, daß Sie zurückbleiben, Admiralin!« erklärte er bestimmt. »Sie bringen sich und Ihr Schiff unnötig in Gefahr, wenn Sie uns folgen. Kehren Sie um und suchen Sie Deckung hinter der Erde!« Leandra de Ruyter wölbte die Brauen. »Stehen Sie unter meinem Kommando oder ist es umgekehrt, McLane? Wie sehen Sie das?« Cliff seufzte. »Bitte, entschuldigen Sie, wenn es sich anhörte, als wollte ich Ihnen Vorschriften machen. Nichts liegt mir ferner als das. Aber Sie sollten auf den Rat eines alten Raumhasen hören, der mehr erlebt hat, als Sie sich jemals träumen können. Es ist unsinnig, wenn Sie der ORION IX folgen. Sie könnten uns nicht helfen, wenn wir innerhalb des Kristalls in Schwierigkeiten gerieten, sondern würden nur riskieren, ebenfalls von
einem Todesimpuls getroffen zu werden.« Leandra de Ruyters Gesicht blieb unbewegt, als sie erwiderte: »Ich glaube Ihnen, daß Sie mehr erlebt haben, als ich erleben werde, McLane. Aber denken Sie einmal darüber nach, warum Sie trotz Ihrer ungleich größeren Erfahrungen nicht Admiral der Terrestrischen Raum-Aufklärungs-Verbände geworden sind!« »Weil Han weiß, daß ich den Posten niemals angenommen hätte«, gab Cliff zurück. »Ich denke, eher deshalb, weil Sie für Ihre Impulsivität bekannt sind, Oberst – und weil Sie nicht gehorchen können. Wer aber nicht gehorchen kann, ist unfähig, zu befehlen. Und nun hören Sie auf damit, mich bemuttern zu wollen!« »Wie?« fragte Cliff. »Hörte ich eben recht oder sind meine Ohren nicht in Ordnung? Wer bemuttert denn hier wen – und vor allem warum, wo wir doch so entbehrlich sind? Ich wiederhole: Ihre Handlungsweise ist unverantwortlich, weil Sie uns ja doch nicht helfen könnten, Admiralin.« »Wie kommen Sie darauf, McLane?« fragte Leandra de Ruyter. »Was glauben Sie, alles gepachtet zu haben? Denken Sie nur nicht, die ORION-Crew allein wäre fähig, sich von einem Todesimpuls treffen und in den Kristall treiben zu lassen. Schluß jetzt! Über Ihre unverschämten Bemerkungen werden wir später noch zu reden haben, Oberst McLane. Haben Sie verstanden?« Cliff grinste. »Ich denke schon, liebreizende Herrin des Weltalls – und unter diesen Umständen soll mir der Einsatz ein Vergnügen sein.«
»Da irren Sie sich ganz sicher«, erwiderte die Admiralin und unterbrach die Verbindung. * »Einsatzgrenze Autopilot erreicht, Cliff«, meldete Mario. Cliff McLane schaltete die Manuellsteuerung aus, wodurch sich der Autopilot selbsttätig einschaltete. Die ORION IX flog mit geringerer Fahrt auf den Schwarzen Kristall zu, der drohend im Weltraum hing und alle zwanzig Minuten einen energiereichen Impuls in Richtung Erde und damit auch in Richtung ORION-Crew aussandte, der entweder die Erde traf oder sich im interstellaren Raum verlor. »Vor achtzehn Minuten ist der letzte Impuls abgegangen«, erklärte Helga Legrelle. »Wir haben also noch zwei Minuten Zeit, es sei denn, Blackie schickt uns einen außerplanmäßigen Impuls.« »Finden Sie es nicht makaber, diese Todesmaschine ›Blackie‹ zu nennen?« fragte Tunaka Katsuro. »Feinde fühlen sich oft als Brüder«, erklärte Arlene N'Mayogaa. »Vor allem, wenn sie wissen, daß einer von ihnen – oder alle beide – im Kampf sterben werden, fühlen sie sich zueinander hingezogen. Es ist wie eine Art Verwandtschaft, fast eine Vermählung. Deshalb erfindet man oft so etwas wie Kosenamen füreinander.« »Ein merkwürdiger Brauch«, stellte der GSDDirektor fest. »In diesem Falle dürfte das Gefühl der Verbundenheit aber wohl einseitig sein.« »Noch eine Minute«, sagte Helga. »Wir sollten vorsichtshalber die Druckhelme
schließen«, erklärte Cliff McLane. »Für den Fall, daß wir nie wieder erwachen, danke ich euch dafür, daß ich so lange mit euch zusammen sein durfte. Es war ein hartes, turbulentes, aber oft auch ein schönes Leben. Nochmals: Ich danke euch, Freunde.« »Nur nicht sentimental werden!« sagte Mario de Monti forsch. Aber er verzog im nächsten Moment das Gesicht, als kämpfte er verzweifelt gegen eine aufsteigende Rührung. »Ich hoffe, noch zahlreiche Freuden des Lebens genießen zu können. So viele Mütter haben schöne Töchter, und nicht zuletzt für sie riskieren wir ...« Cliff bemerkte verwundert, daß die Worte des Kybernetikers immer leiser wurden. Als er den Kopf drehen wollte, um nach Mario zu sehen, gehorchten ihm seine Muskeln nicht mehr. Das ist es! dachte er, bevor er nicht mehr denken konnte. Lautlos glitt die ORION IX durch den Weltraum. Ihre Sensoren nahmen alles Wahrnehmbare auf, ihr Computer verfolgte klickend und murmelnd sein Programm, und der Autopilot korrigierte mit minimalen Triebwerksschüben den Kurs. Nur die Crew und ihre beiden Gäste hörten und sahen nichts mehr davon. Sie saßen reglos in ihren Sesseln, zu Statuen von kristalliner Beschaffenheit erstarrt, dem Leben entrückt, aber dem Tode nicht preisgegeben. Noch nicht ... * Admiralin Leandra de Ruyter verfolgte den Flug der ORION IX auf der großen Bildplatte in der Steuer-
zentrale der OPHIUCHUS. »Eben wurde die ORION IX voll von einem Impuls getroffen, Admiral!« meldete Funkoffizier Jerome Trude. Der dürre Mann mit dem Pferdegebiß wagte ein flüchtiges hämisches Grinsen. »Ich bin gespannt, wie dieser McLane sich diesmal retten will.« Leandra de Ruyter blickte ihren Funkoffizier abweisend an. »Cliff McLane ist ein tapferer Mann, trotz aller Allüren – und seine Crew steht ihm in nichts nach. Korrigieren Sie Ihren Denkkurs, Leutnant Trude, und überlegen Sie lieber, was Sie dazu tun wollen, um die ORION-Crew herauszuschlagen, falls sie mit den Schwierigkeiten im Kristall nicht allein fertig werden sollte.« Jerome Trude duckte sich unwillkürlich. »Zu Befehl, Admiral!« Leandra de Ruyter beachtete ihn nicht weiter. In ihren Augen zeichnete sich nicht nur die Sorge um das Schicksal der ORION-Crew ab, sondern mehr noch die Sorge um das Schicksal der irdischen Menschheit. Die letztere Sorge bedrückte sie besonders, denn ihr zwölfjähriger Sohn Timur befand sich auf der Erde und schwebte, wie alle anderen Menschen dort, ständig in Gefahr, in die Trefferzone eines Todesimpulses zu geraten. Dennoch stellte die Admiralin mit Verwunderung fest, daß sie nicht nur deswegen um das Leben der ORION-Crew bangte, weil ihr Tod auch den Fehlschlag der Aktion bedeutet hätte. Aus unerfindlichen Gründen empfand sie eine starke Sympathie für Cliff Allistair McLane, aber auch für Hasso Sigbjörnson, Mario de Monti und den meist stillen Atan Shubashi.
Seltsamerweise war die Sympathie für Arlene N'Mayogaa und Helga Legrelle nicht so stark – oder sie lag auf einer anderen Ebene. Als das der Admiralin bewußt wurde, rief sie sich selbst zur Ordnung. »OPHIUCHUS stoppen!« befahl sie Captain Omar Shadem, dem Kommandanten ihres Flaggschiffs. »Alle Systeme auf Minimalwerte schalten!« »Stoppen und auf Minimalwerte schalten!« wiederholte Shadem und nahm mit geübten Griffen die notwendigen Schaltungen vor. Dabei beobachtete er die Admiralin aus den Augenwinkeln. Seine Miene verriet Sorge – aber nicht nur das. Joanna Tahuakoa, die samtbraunhäutige Astrogatorin, blickte von ihren Kontrollen auf. »Die ORION IX treibt planmäßig weiter auf den Kristall zu. Geschwindigkeit sinkt ebenfalls planmäßig; sie wird am Auftreffpunkt 0,5 Meter pro Sekunde betragen.« »Danke, Joanna!« erwiderte Leandra de Ruyter. Sie setzte sich in ihren Sessel vor dem Kommunikationspult, über das sie normalerweise mit den Einheiten und Stützpunkten von T.R.A.V. Verbindung aufnehmen konnte. Zur Zeit gab es keine Verbindung nach draußen. Die OPHIUCHUS befand sich in selbstgewählter Isolation. Das Maschinengeräusch im Schiff war unterdessen zu einem kaum noch hörbaren Wispern abgesunken. Wenn es im Schwarzen Kristall so etwas wie Ortungsgeräte gab, dann konnten sie nur noch die Masse der OPHIUCHUS feststellen. Leandra de Ruyter hoffte, daß das Schiff dadurch davor bewahrt wurde, vom nächsten Todesimpuls getroffen zu werden. Aber sie hatte auch veranlaßt, daß alles vorbereitet
wurde, damit die OPHIUCHUS im Falle eines Treffers, der die Mannschaft zu kristallinen Statuen verwandelte, genau wie die ORION IX auf den Kristall zutrieb. Sie sah zu Gida Tarasow, der etwas rundlichen Kybernetikerin, hinüber. Gida Tarasow nickte ihr mit beruhigendem Lächeln zu. »Der ›Fürst‹ ist programmiert, Admiralin.« Sie nannte den Bordcomputer aus unerfindlichen Gründen immer »Fürst«, weigerte sich aber, diese Gründe preiszugeben. »Er bringt uns notfalls in den Kristall, sobald er nicht alle zwei Minuten einen Gegenbefehl von mir erhält.« Leandra de Ruyter kam nicht dazu, etwas darauf zu erwidern, denn in diesem Augenblick rief Joanna Tahuakoa: »Die ORION IX trifft auf die Wandung des Kristalls! Ich messe einen schwachen Energieausbruch an. Jetzt ist die ORION IX verschwunden!« Die Admiralin sprang erregt auf. »Verschwunden, sagten Sie? Nicht durch die Wandung eingedrungen, Joanna?« Die braunhäutige Südseeschönheit schüttelte den Kopf. »Als der Energieausbruch erfolgte, verschwand die ORION IX von einem Augenblick zum anderen.« Leandra de Ruyter blickte zu Gida Tarasow, aber die Kybernetikerin hatte bereits geschaltet. Die Computertasten klickten in schnellem Tempo, Kontrolllampen leuchteten auf und erloschen wieder. Mit einem Klingelgeräusch warf der Computer eine Auswertungsfolie aus dem Ausgabeschlitz.
Gida Tarasow griff danach und musterte die Antwort auf ihre Fragen. »Siebenundachtzig Prozent Wahrscheinlichkeit dafür, daß der angemessene Energieausbruch mit der Streustrahlung eines Transmitters identisch war«, las sie vor. »Zweiundsechzig Prozent dafür, daß der Transmitter die ORION IX in den Kristall holte.« Leandra de Ruyter setzte sich wieder. »Ein Transmitter! Das erklärt natürlich, wie die SADIR in den Kristall geriet, obwohl dessen Oberfläche dem Overkill-Bombardement Hunderter von Raumkreuzern widerstand.« Sie seufzte. »Wenn ich mir vorstelle, daß die Konstrukteure des Kristalls vielleicht schon vor Hunderttausenden von Jahren so selbstverständlich mit Transmittern umgingen wie wir mit Hyperfunkgeräten – und auf der Erde versucht man seit Jahrzehnten vergeblich etwas Ähnliches theoretisch zu entwerfen ...!« »Wir können recht gut ohne Transmitter auskommen, Leandra«, warf Omar Shadem ein. »Nicht, wenn wir gegen die Erben einer Macht kämpfen müssen, die einst in unvorstellbarem Maße die Kräfte des Universums für sich genutzt haben muß, Omar«, erwiderte die Admiralin leise. Sie wandte sich an Jerome Trude. »Richten Sie alle Empfangsantennen permanent auf den Kristall, Leutnant! Wir müssen wissen, was die ORION-Crew dort vorfindet – und ob sie Hilfe braucht.« »Oberst McLane wird zu stolz sein, um nach Hilfe zu schreien«, entgegnete der Funkoffizier. »Nicht, wenn es um das Schicksal der Erde geht«, wies Leandra de Ruyter ihn zurecht.
9. Cliff McLane hatte das Gefühl, in einem rollenden Faß zu liegen, durch das von außen lange spitze Nägel geschlagen worden waren. Er sah und hörte nichts – und er konnte nicht einmal schreien, um sich Erleichterung zu verschaffen. Erst, als ihm einfiel, was geschehen war, wurde ihm bewußt, daß auch sein Gehirn bis zu diesem Zeitpunkt nicht voll funktionsfähig gewesen war. Sie waren mit der ORION IX zum Schwarzen Kristall geflogen und erwartungsgemäß von einem Energieimpuls getroffen worden, der sie in kristalline Statuen ohne jede Lebensfunktion verwandelt hatte – und in diesem Zustand waren sie weiter auf den Kristall zugetrieben. Aber jetzt vermochte er zu denken und zu fühlen. Durfte er daraus schließen, daß die ORION IX in den Kristall eingedrungen war und daß die Crew allmählich in den Normalzustand zurückversetzt wurde? Wenn ja, dann mußten sie so schnell wie möglich ihre Handlungsfreiheit zurückgewinnen, denn im Kristall drohten unbekannte Gefahren, wie das Schweigen der SADIR-Besatzung bewies. Cliff konzentrierte seine geistigen Anstrengungen darauf, die Schmerzen, die er fühlte, zu lokalisieren und somit nach und nach eine gewisse Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen. Die Befreiung kam unverhofft und mit der Plötzlichkeit einer Explosion. Schlagartig arbeiteten Gehör, Geruch und Gesichtssinn wieder. Die Eindrücke, die sie dem Gehirn vermittelten, wirkten wegen ihrer
Plötzlichkeit verwirrend. Cliff hörte Schreie, wußte aber nicht, wer da schrie, ob er es selbst war oder einer der Freunde – oder alle zusammen. Er sah, gleichsam als Momentaufnahmen, das Innere der Steuerkanzel, die Gesichter der Freunde und auf den Bildschirmen fremdartige Dinge auftauchen und wieder verschwinden. Es war der vertraute Geruch nach Kunststoff, Stahl und der winzigen Beimengung von Ozon, das als Nebenprodukt energetischer Aktivitäten anfiel, der ihm die folgerichtige geistige Verarbeitung seiner Wahrnehmungen ermöglichte. Aus den blitzschnell aufeinanderfolgenden Momentaufnahmen wurden bleibende, kontinuierlich ablaufende Bilder. Außerdem verstummten die Schreie. Cliff McLane konnte sich selbst und seine Freunde sehen – und die beiden Gäste, die den Einsatz mitmachten. Er merkte außerdem, daß er seinen Druckhelm zurückgeklappt hatte. Wann wußte er nicht mehr. Außer ihm hatte nur Mario de Monti den Klarsichthelm zurückgeschlagen. »Wir leben!« sagte Cliff. Nacheinander klappten auch die übrigen Personen ihre Helme zurück. Aus großen Augen, in denen sich vorangegangene Schrecken, Hoffnung und Wißbegier spiegelten, sahen sie sich und die Bildschirme an. »Wir sind im Kristall!« stellte Arlene fest. »Aber die SADIR ist nicht hier«, sagte Tunaka Katsuro. »Wir müssen nach ihr suchen!« Cliff hob die Hand und erklärte: »Überstürztes und unüberlegtes Handeln ist etwas für Leute, die den Sprung in die Kiste nicht schnell genug hinter sich bringen können, Katsuro-san. Die
ORION-Crew steht zwar in ebendiesem Geruche, aber ungerechtfertigt. Bevor wir handeln, laßt uns überlegen. Der Kristall durchmißt sechs Kilometer. Die SADIR kann also durchaus in einem anderen Teil stehen.« »Soll ich die OPHIUCHUS verständigen, daß wir im Kristall und dekristallisiert sind, Cliff?« erkundigte sich Helga Legrelle. »Noch nicht, Mädchen«, antwortete Cliff. »Wir müssen überlegen und abwägen, denn jede Handlung, jeder Schritt von uns, kann über Sieg oder Niederlage entscheiden. Wenn wir die Admiralin verständigen, ihr vielleicht sogar verraten, was wir als nächstes tun wollen, haben wir damit zu rechnen, daß der Feind unsere Nachricht mithört – und versteht.« »Welcher Feind? Der Kristall?« fragte Hasso Sigbjörnson, der aus dem Maschinenleitstand in die Steuerzentrale zurückgekehrt war. Die Antriebsaggregate wurden innerhalb des Kristalls nicht gebraucht. »Der Kristall – oder das, was in ihm lebt, ob organisch oder mechanisch«, sagte Cliff. »Die Funkerin der SADIR hatte etwas gesehen. Es ist bedauerlich, daß sie es uns nicht mehr beschreiben konnte. Aber feststeht, daß der Kristall kein unbewohntes Gehäuse ist. Wir wissen, daß die Technik des Rudraja – und auch des Varunja – der unseren himmelweit überlegen ist und von den Erben der alten Mächte beherrscht wird. Folglich dürfte ihnen das Verständnis unserer Sprache oder die Dekodierung verschlüsselter Botschaften keine Schwierigkeit bereiten.« »Was also schlägst du vor, Liebling der Götter?« fragte Helga Legrelle.
Cliff lächelte flüchtig. Er kannte den Effekt aus Erfahrung und wußte, sie alle waren wieder in den schnoddrigen Ton gefallen, in dem sich Witz mit Ironie, Sarkasmus und manchmal Zynismus mischte. Es war dies ihre geistige Barriere, die sie in gefahrvollen Situationen zwischen sich und der Todesfurcht aufbauten, um ihr Selbstvertrauen nicht zu verlieren. »Wir überprüfen unsere Gasdruck- und Strahlwaffen«, sagte er, schon wieder ernst geworden. »Ansonsten warten wir ab. Das, was die Besatzung der SADIR angriff, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch uns bald zeigen. Wenn wir das Schiff verlassen müssen, um zu kämpfen, dann werden wir das tun – mit einer Ausnahme. Hasso, an dich richte ich die Bitte, an Bord zu bleiben.« Ein Schatten huschte über Hasso Sigbjörnsons Gesicht. Die Augen schienen für einen Moment in die Vergangenheit zu sehen, dann sagte der Maschineningenieur leise: »Wie oft in den alten Zeiten, wie? Aber diesmal nicht, Cliff. Ich bin kein Familienvater mehr, der geschont werden müßte, und ich bin noch lange nicht zu alt zum Kämpfen.« Cliff McLane schüttelte den Kopf. »Ich will dich nicht schonen, sondern dir die schwerste Verantwortung aufbürden, die ein Mensch tragen kann. Du sollst, wenn du klar erkennst, daß wir dem Feind erliegen, den Overkill auf Dauerfeuer schalten und aktivieren.« Hasso erbleichte. »Hier drinnen? Bist du dir klar darüber, wie ein Overkill innerhalb einer geschlossenen Konstruktion wirkt?«
»Er zerfetzt sie. Das hoffe ich jedenfalls. Allerdings würde auch unser Schiff dabei vernichtet werden – und du würdest sterben, Hasso. Aber ich hoffe, daß wir damit die Bedrohung für die Erde ausschalten können, wenn es anders nicht möglich ist.« Hasso Sigbjörnson atmete schwer, aber er nickte. »Ich werde es tun, Cliff, darauf kannst du dich verlassen. Ich hoffe sehr, es kommt nicht dazu, aber wenn die Erde nicht anders gerettet werden kann, werde ich nicht zögern.« »Aber die OPHIUCHUS greift ein, wenn wir in Schwierigkeiten geraten«, warf Tunaka Katsuro ein. »Wenn wir scheitern, scheitert die Besatzung der OPHIUCHUS auch, Katsuro-san«, erwiderte Cliff. »Und warum die Besatzungen zweier Schiffe opfern, wenn es ausreicht, daß wir den Götterwind in Bewegung setzen?« * Sie hatten ihre Waffen und die Lebenserhaltungssysteme ihrer Raumanzüge überprüft und alles in Ordnung befunden. Seitdem warteten sie auf etwas, von dem sie nicht mehr wußten, als daß es wahrscheinlich die Besatzung der SADIR getötet hatte. Cliffs Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück, aus der die Crew gekommen war. Zwar nur eine Vergangenheit, die lediglich siebenundsechzig Jahre zurücklag, aber eben doch eine andere Zeit. Lebhaft erinnerte er sich noch an die Auseinandersetzung mit den Frogs, jenen unheimlichen Extraterrestriern, die kalt und kompromißlos versucht hatten, die Erde zu erobern oder zu vernichten. In den Ein-
sätzen jener Tage und Wochen hatte die ORIONCrew ihren Ruf, ständig auf eigene Faust zu entscheiden und zu handeln und notfalls Befehle zu ignorieren, beinahe ins Extreme gesteigert. Aber sie war auch gerade durch diese Handlungsweise in die Lage versetzt worden, die entscheidenden Schläge gegen die Frogs zu führen und diesen unheimlichen Gegner für immer zu vertreiben. Danach war eine ganze Serie von sogenannten Feuerwehreinsätzen und abenteuerlichen Missionen gefolgt. Am Ende entdeckten sie die Hinterlassenschaften einer Vorläufer-Zivilisation und eine vielversprechende Spur, die schließlich in die sogenannte Raumkugel geführt hatte. In dieser Raumkugel, weit jenseits der von der Erde beherrschten Raumkugel mit den von Menschen besiedelten Planeten, hatten ihre Aktivitäten das Gleichgewicht zwischen den schlummernden Erben der uralten verfeindeten kosmischen Mächte gestört. Die Erben des Rudraja und des Varunja waren erwacht und hatten den alten Kampf blindlings wieder aufgenommen. Einer der Brennpunkte der Auseinandersetzung war die ferne Raumkugel mit der Modellschablone der Erde gewesen. Aber ein anderer Brennpunkt war das Sonnensystem mit der richtigen Erde und den anderen Planeten. Keiner der Wissenden zweifelte inzwischen mehr daran, daß das Sonnensystem in der früheren Auseinandersetzung der feindlichen Mächte eine herausragende Rolle gespielt hatte. Das hatte nicht zuletzt die Erforschung des Geheimstützpunkts im Ganymed bewiesen, denn die Auswertungen durch Computer ergaben, daß die Ganymedstation zum Rudraja gehörte und die Aufgabe besessen hatte,
einen dem Varunja gehörenden Planeten zwischen Mars und Jupiter zu beobachten, der heute nur noch als Asteroidenring existierte. Die Macht der Erben des Rudraja und Varunja mochte nur ein schwacher Abglanz der früheren Macht sein, aber sie war groß genug, um die Existenz der Menschheit auszulöschen. Dabei, so überlegte Cliff, haben wir es im Sonnensystem bisher noch nicht mit der geballten und gezielten Macht dieser Erben zu tun gehabt, sondern nur mit relativ unwichtigen vergessenen Werkzeugen, die sich zufällig aktivierten und praktisch »blind um sich schlugen«. Wenn die Erde die Gefahr, die ihr durch den Schwarzen Kristall droht, übersteht, wird sie noch längst nicht sicher sein. Wer weiß, vielleicht wurden die in Weltraumtiefen lauernden Erben der Mächtigen durch die Aktivität des Kristalls erst auf die Erde aufmerksam. Cliff wagte gar nicht, sich vorzustellen, was dann passieren würde. Auf jeden Fall würden die bisherigen Schrecken den Menschen dann als harmlose Scherze vorkommen. Cliff schrak auf, als jemand aufstand und ein paar Schritte ging. Er wandte den Kopf in die Richtung und erblickte Mario. Der Kybernetiker war ans Schott des Zentrallifts getreten und stand unbeweglich dort, den Kopf wie lauschend zur Seite geneigt. »Was ist los, Mario?« fragte Cliff. Mario de Monti zuckte zusammen, wandte sich langsam um und sah McLane verstört an. Seine Hände öffneten und schlossen sich in kurzen Abständen. »Ich ... ich weiß nicht«, flüsterte er. Cliff erhob sich und ging auf Mario zu. Er dachte es
jedenfalls, aber als er plötzlich neben Helga Legrelle stand, wurde ihm klar, daß ihm eine Zeitspanne in seiner Erinnerung fehlte. Er schaute sich suchend um und sah, daß Mario sich nicht mehr in der Steuerzentrale befand. »Wo ist er?« schrie er ahnungsvoll. »Antwortet! Wohin ist Mario gegangen?« Statt einer Antwort stand Sergeant Arco Vitus auf und bewegte sich mit schleppendem Schritt auf den Lift zu. »Wir müssen gehen«, sagte er, ohne jemanden anzusehen. »Bleiben Sie stehen, verdammt nochmal!« schrie Cliff. »Sergeant, Sie sollen stehenbleiben!« Arco Vitus ging ungerührt weiter. Atan und Helga erhoben sich ebenfalls. Unsicher blickten sie in Richtung Lift. Cliff riß die Gasdruckwaffe mit den Betäubungsnadeln aus dem Halfter. »Sergeant Vitus, keinen Schritt weiter!« befahl er. Übergangslos schnellte der Sergeant herum und riß die HM 4 aus der Beintasche. Instinktiv warf Cliff sich zur Seite, registrierte ungläubig, daß der tödliche Energiestrahl die Stelle schnitt, an der er eben noch gestanden hatte und in ein Instrument schlug. Es gab einen Knall, einen Blitz und eine Rauchwolke. Cliff hob die Gasdruckwaffe, aber bevor er abdrükken konnte, fauchte eine andere Gasdruckwaffe auf. Cliffs Muskulatur spannte sich in Erwartung der Betäubungsnadeln an und entspannte sich wieder, als er sah, daß Vitus sich taumelnd an den Hals griff und dann lautlos zusammenbrach. Cliff drehte sich um. Hasso Sigbjörnson stand
schräg hinter ihm, hielt seine Gasdruckwaffe noch in der Hand und blickte eigentümlich starr auf den Sergeanten. »Ich mußte es tun, Cliff«, sagte er tonlos. Cliff McLane schluckte. Ihm war, als drehte sich etwas sehr schnell in seinem Kopf. »Er muß beeinflußt worden sein – oder er ist der Lage nicht gewachsen gewesen und hat durchgedreht«, erklärte er stockend. »Helga, Atan, was war mit euch? Ihr seht wieder halbwegs normal aus, aber vorhin wolltet ihr auch zum Lift gehen, oder?« »Mario!« sagte Helga. »Mario muß draußen sein oder er ist auf dem Wege nach dort. Wahrscheinlich wollten Atan und ich ihm nachgehen, ihn vielleicht aufhalten. Aber das kann ich nur vermuten. Ich weiß es nicht mehr.« »Also Fremdbeeinflussung«, stellte Cliff fest. »Mann will uns aus dem Schiff locken.« Er lächelte. »Das bedeutet aber, daß es dem oder den Unbekannten schwerfällt, uns hier im Schiff etwas anzutun.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Aber da ist noch etwas. Arlene, wo bist du?« »Ich bin bei dir, Cliff«, sagte Arlene und faßte seine freie Hand. »Ich spüre, daß im Kristall etwas ist, das uns zu beeinflussen versucht. Bei Mario ist es ihm gelungen. Wartet hier, ich will versuchen, ihn zurückzuholen. Er hat das Schiff noch nicht verlassen.« »Nein!« sagte Cliff. Er streckte die Hand aus, die Arlene losgelassen hatte. »Warte auf mich! Es ist zu gefährlich für dich allein.« Mit unsicheren Schritten folgte er ihr. Die anderen Gefährten waren vergessen. Kurz darauf merkte Cliff, daß er sich in der Liftkabine befand und langsam
nach unten glitt. Verzweifelt mühte er sich ab, sich zu erinnern, was er eigentlich gewollt hatte. Im Augenblick wollte er jedenfalls nichts. Aus der Steuerzentrale erscholl ein Schrei, dann wurde es wieder still. »Ruhe!« murmelte Cliff und lehnte sich schwerfällig gegen die Wand der Kabine. * Als die Kabine mit sanftem Ruck zum Stillstand kam, schreckte Cliff aus seinem dumpfen Brüten hoch. Er sah, daß die Kabine am Grunde des Achslifts angekommen war und stellte erleichtert fest, daß der lähmende Druck in seinem Gehirn nicht mehr existierte. Er schaltete sein Armband-Funkgerät ein und rief nach den Gefährten. Doch er erhielt keine Antwort. Einmal war ihm, als flüsterten zwei Stimmen, aber zu weit von einem Gegengerät weg, als daß er die Worte verstehen konnte. Unschlüssig blickte er auf den Knopf, mit dessen Hilfe er das Kabinenschott öffnen und aussteigen konnte. Er fragte sich, ob es ratsam sei, die Kabine zu verlassen. Das Verhalten der Gefährten und sein eigenes deuteten darauf hin, daß die fremde Beeinflussung sich auf die Steuerzentrale konzentrierte – und sicherlich auch auf das Gebiet außerhalb der ORION IX. Demnach war er an seinem gegenwärtigen Platz relativ sicher, aber er konnte auch nichts unternehmen. »Ich muß mich der Gefahr stellen«, sagte er zu sich selbst. Entschlossen drückte er auf den Knopf. Die beiden nach außen gewölbten Schotthälften
glitten auseinander. Cliff registrierte verwundert, daß die Mittelstütze des Schiffes, in der sich der Liftschacht befand, ausgefahren war und mit der unteren Platte auf dem Boden stand. Die untere Wölbung des Schiffes befand sich einige Meter darüber. Cliff McLane vertauschte die Gasdruckwaffe gegen seine HM 4, drückte sich aus der Schleusenöffnung und sah sich aufmerksam um. Der Boden fühlte sich hart unter den Sohlen der Stiefel an. Sein Aussehen glich dem von schwarzem Glas. Die ORION IX stand, von den Antigravfeldern im Gleichgewicht gehalten, in einer ovalen Halle, in deren Wänden sich zahlreiche Öffnungen befanden. Drei zirka zwei mal drei Meter durchmessende Stellen der Hallenwand waren transparent und gaben den Blick auf zwei Ausschnitte eines halbdurchsichtigen Ganglabyrinths und einen Ausschnitt des Weltraums frei. Cliff sah mehrere Sterne in der Dunkelheit des Weltraums leichten, hätte aber nicht sagen können, welche davon Fixsterne waren und welche Wandelsterne. Vielleicht war einer der Lichtpunkte sogar die Erde. Er holte tief Luft und rief nach Mario und Arlene, bekam aber keine Antwort. Sie mußten durch eine der Öffnungen verschwunden sein – oder durch zwei. »Wohlan denn!« sagte Cliff. »Wer nicht beißen kann, sollte auch nicht knurren – und geknurrt haben wir wahrhaftig schon genug.« Er hielt seine HM 4 schußbereit, während er den freien Platz zwischen der Mittelstütze und der Hallenwand überquerte. Doch obwohl er sich ständig
umsah, konnte er nirgends eine Bewegung erkennen – und auch der Druck auf sein Gehirn kehrte nicht zurück. »Sollten Mario und Arlene den Feind schon gestellt und besiegt haben?« murmelte er. »Oder hält er sich verborgen, bis wir alle das Schiff verlassen haben?« Er zögerte erneut, als ihm einfiel, daß Hasso vielleicht nicht mehr in der Lage sein könnte, im Schiff zu warten um notfalls den Overkill-Projektor auszulösen. Dennoch entschloß er sich, nicht umzukehren. Im Schiff würde er möglicherweise wieder hilflos werden, und andererseits könnten Mario und Arlene in eine Lage geraten, in der sie seine Unterstützung bitter nötig hatten. Er wählte aufs Geratewohl eine der Öffnungen. Welche von Arlene und Mario benutzt worden waren, ließ sich sowieso nicht feststellen. Die Öffnung führte in einen röhrenförmigen Gang von etwa drei Metern Durchmesser, in dessen Wandung in größeren Abständen jeweils fünf kopfgroße Öffnungen zu sehen waren. Cliff leuchtete mit seiner Handlampe in einige dieser Öffnungen hinein, konnte aber nichts erkennen, da das Licht so stark reflektiert wurde, daß es ihn blendete. Als er eine halbe Stunde gegangen war, blieb er abrupt stehen, denn vor ihm lag eine ovale Halle – und in der Halle stand die ORION IX. »Bin ich denn im Kreis gegangen?« entfuhr es ihm. Aber dann sah er die rotleuchtenden Buchstaben auf der Außenhülle des Schiffes, die sich zu einem Wort vereinigten: SADIR! Im nächsten Moment kniete Cliff McLane und brachte die Waffe in Anschlag. Seine Augen suchten
die Umgebung der SADIR ab – und entdeckten eine reglose Gestalt in der metallisch-blauen Kombination terrestrischer Raumfahrer. Die Gestalt lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, ein Bein angewinkelt und beide Arme schräg nach vorn gestreckt. Neben der rechten Hand lag eine HM 4. Cliff brauchte nicht zweimal hinzusehen, um zu wissen, daß der Raumfahrer tot war. Er konnte allerdings keine Verletzung erkennen. »Ist der Feind unsichtbar?« flüsterte er. »So, wie die Seele und die Schwerkraft?« Er legte sich flach auf den Boden und kroch so weit nach vorn, daß er die Halle auch nach rechts und links überblicken konnte. Als er auch diesmal keinen Hinweis auf die unmittelbare Anwesenheit eines Gegners entdeckte, sprang er auf und rannte geduckt auf die reglose Gestalt zu. Dort angekommen, ließ er sich fallen und blickte sich abermals wachsam nach allen Seiten um. Aber auch diesmal konnte er keine verdächtige Bewegung feststellen. Er richtete sich halb auf und wälzte den Toten auf den Rücken. Im nächsten Moment zuckte er zusammen und biß sich auf die Unterlippe. Das in der Brust klaffende Loch und die schwärzlich verbrannten Ränder der Kombination wiesen eindeutig auf die Art der Waffe hin, die den Mann getötet hatte. »Eine Strahlenwaffe, und zwar eine HM 4!« flüsterte Cliff entsetzt. »Schußkanal und Randverbrennungen sind ganz typisch. Es wäre mehr als Zufall, wenn der Feind eine beinahe identische Waffe besäße.« Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.
Hier hockte er praktisch auf dem Präsentierteller und konnte aus jeder Wandöffnung heraus erschossen werden. Er sprang hoch und eilte bis zur Mittelstütze der SADIR. Dort ging er in die Hocke und beobachtete die Umgebung, während sich seine Gedanken jagten. Die Funkerin der SADIR hatte sich also doch nicht geirrt, als sie behauptete, die Besatzungsmitglieder bekämpften sich gegenseitig. Demnach war es dem Beherrscher des Riesenkristalls gelungen, die Leute der SADIR so zu beeinflussen, daß sie sich gegenseitig umbrachten. Eine teuflische und absolut sichere Methode, um sich und den Kristall gegen Eindringlinge zu verteidigen. Sie ersparte es dem Gegner, sich selbst in Gefahr zu begeben. Cliff zuckte heftig zusammen, als kurz nacheinander drei krachende Donnerschläge zu hören waren: die Entladungen von Strahlwaffenbahnen in fester Materie. Brachten sich jetzt auch die Raumfahrer der ORION IX gegenseitig um? »Wahnsinn!« flüsterte Cliff. Ein neues Geräusch ließ ihn nach rechts blicken. In einer der Wandöffnungen entdeckte er ungewisse Bewegungen. Langsam hob er seine Strahlwaffe und zielte auf die Öffnung, ließ aber die Finger vom Feuerknopf. Er wollte nicht versehentlich auf einen Gefährten oder einen Überlebenden der SADIR schießen. Erneut ertönten Geräusche: ein hartes Schaben und Kratzen. Plötzlich wimmelte es in der Öffnung von Bewegung. Zuerst dachte Cliff, er sähe die Leiber von Schlangen, dann merkte er, daß es sich um fünf
schenkeldicke Tentakel handelte, die sich – hin und her pendelnd – aus der Öffnung streckten. Cliff McLane zitterte vor Abscheu. Die Tentakel waren mit einem grünlichen Schleim bedeckt, von dem ständig etwas herabtropfte. Aber noch viel schlimmer wirkten die keulenförmigen Verdickungen an den Tentakelenden, denn auf jeder Verdickung befand sich etwas, das entfernt an ein menschliches Auge erinnerte. Nur war es faustgroß und schillerte irisierend – und alle Augen richteten sich auf den einsamen Mann neben der Mittelstütze. Cliff unterdrückte den aufsteigenden Brechreiz. Er atmete tief durch, fixierte die Tentakelaugen und hob die Waffe, fest entschlossen, diesem unheimlichen Wesen, von dem er offensichtlich nur einen Teil sah, den Garaus zu machen. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, weil das irisierende Schillern der Augen ihn blendete. Doch es nützte nichts. Plötzlich sah er nichts mehr außer dem bösartigen Schillern. Es schien das Universum auszufüllen, kroch durch seine Augen in seinen Schädel und durchdrang das Gehirn. Cliff McLane ließ die Waffe sinken, richtete sich auf und ging steifbeinig auf eine der leeren Öffnungen zu – Mordgedanken im Herzen und einen unbarmherzigen Befehl im Hirn ...
10. Tunaka Katsuro prallte mit der Schulter hart gegen eine Gangbiegung, weil die Gangwand selbst durchsichtig war. Verwirrt sah er sich um. Er wußte nicht, wie er hierhergekommen war. Seine Erinnerung endete damit, daß Hasso Sigbjörnson auf Sergeant Vitus geschossen und ihn betäubt hatte. »Danach muß ich schlafwandelnd hierher gegangen sein«, stellte der GSD-Direktor fest. »Vermutlich unter der Beeinflussung durch einen fremden Willen. Aber was soll ich hier?« Er entdeckte aus den Augenwinkeln eine Bewegung und spähte in die betreffende Richtung. Durch viele transparente Wände hindurch blickte er in einen ebenfalls transparenten, vielfach gewunden Gang. Dort ging eine Gestalt. »Eine Frau! Arlene N'Mayogaa?« Es mußte die Lebensgefährtin Cliff McLanes sein, denn von der ORION-Crew hatte nur sie diese samtbraune Haut und jenen federnd-elastischen Gang, der an die Bewegungen einer Dschungelraubkatze erinnerte. Als Arlene stehenblieb, entdeckte Katsuro eine zweite Person. Sie befand sich in einem anderen transparenten Gang des Kristalls, war zirka fünfzehn Meter höher als Arlene und ungefähr dreißig Meter von ihr entfernt. »Helga Legrelle!« flüsterte Katsuro, als er die weiblichen Formen sah. Im nächsten Augenblick sahen sich die beiden
Frauen. Sofort richteten sie ihre Waffen aufeinander. »Nicht schießen!« schrie Tunaka Katsuro verzweifelt. Niemand hörte ihn, dazu lag zwischen ihm und den beiden Frauen zuviel festes Material. Doch keine der Frauen schoß. Sie hielten zwar die Waffen aufeinander gerichtet und bewegten sich in dem Ganglabyrinth, als wollten sie jede die beste Schußposition für sich suchen, sie duckten sich, richteten sich wieder auf – aber ihre Strahlwaffen schwiegen. Dennoch fürchtete Tunaka Katsuro, die Tragödie würde sich früher oder später ereignen. Er setzte sich wieder in Bewegung, versuchte, in dem Labyrinth jene Gänge zu finden, die ihn am schnellsten zu den Frauen führten. Natürlich gelang ihm das nicht. Immer wieder mußte er umkehren, wenn er merkte, daß ihn ein Gang in die entgegengesetzte Richtung brachte oder blind endete. Nach einer halben Stunde legte er, außer Atem, eine Pause ein. Er sah, daß sich die beiden Frauen immer noch in etwa gleicher Entfernung umschlichen. Aber unterdessen war eine weitere Person dazugekommen. »Mario de Monti?« Der GSD-Direktor war sich nicht sicher, bis der Mann ihm das Gesicht zuwandte und er den Kybernetiker eindeutig erkannte. Auch de Monti schlich mit schußbereiter HM 4 näher. Es schien, als hätte er es auf Arlene und Helga Legrelle abgesehen. Plötzlich hielt er inne, sah auf – und entdeckte Katsuro. Im nächsten Augenblick zuckte ein greller Blitz aus seiner Waffe, durchschlug mehrere transparente
Wände und fuhr einen halben Meter neben Katsuros Kopf vorbei. Der GSD-Direktor duckte sich – und mit einemmal wußte er nicht mehr, was er tat. Seine Waffe spie ebenfalls sonnenhelle Blitze. Die Strahlbahnen umtanzten den Kybernetiker und zwangen ihn dazu, ständig die Deckung zu wechseln. Aber Katsuro ging es nicht besser. Mehrmals fauchte ein Energiestrahl so dicht an ihm vorüber, daß die Hitze ihm Haut und Haar versengte. Weder er noch Mario merkten, daß Arlene und Helga aufhörten, sich gegenseitig zu umschleichen. Die Frauen waren stehengeblieben und beobachteten aufmerksam und mit steigender Verwunderung den Schußwechsel der beiden Männer. Sekunden später setzten sie sich wie auf Kommando gleichzeitig in Bewegung. Jede arbeitete sich durch das Labyrinth auf einen der Männer zu. Arlene näherte sich Tunaka Katsuro. Sie erreichte ihn, bevor Helga Legrelle »ihren Mann« auf Schußdistanz nahe gekommen war. Unterwegs hatte sie die HM 4 mit der Gasdruckwaffe vertauscht, und als die erste Serie von Betäubungsnadeln in Katsuros Körper schlug, brach der GSD-Direktor zusammen. * Cliff tauchte in dem Moment im Brennpunkt des Geschehens auf, als Tunaka Katsuro betäubt zusammensank. Im gleichen Augenblick stellte Mario de Monti sein Feuer ein und sah sich verwirrt und ratlos um. Cliff McLane hob seine Waffe und zielte auf den Kybernetiker. Der Befehl, der sich in sein Gehirn ge-
brannt hatte, wollte ihn zum Abdrücken zwingen, denn er stufte jedes andere Lebewesen als Todfeind ein. Aber Mario und die beiden Frauen blickten ihn nur an, ohne Anstalten zu treffen, auf ihn zu schießen. Das paßte nicht mit dem ihm aufoktroyierten Feindbild überein und führte dazu, daß Cliffs Sinne sich verwirrten und der Mordbefehl in den Hintergrund gedrängt wurde. Als eine menschliche und zudem vertraute Stimme an sein Ohr drang, fiel der unheimliche Bann vollständig von ihm ab. Cliff drehte sich um, erkannte Hasso Sigbjörnson und ließ seine Waffe sinken. »Mensch, Cliff!« stieß Hasso außer Atem hervor. »Seid ihr denn alle verrückt geworden!« »Ich war beeinflußt«, erwiderte Cliff stockend. »Ein Wesen, von dem ich nur fünf mit grünem Schleim überzogene Tentakel sah – und mit irisierenden Augen an den Tenktakelenden, hat mich geistig überwältigt. Aber jetzt fühle ich mich frei. Warum, Hasso?« Der Maschineningenieur lächelte erleichtert. »Es muß sein, weil wir soviel zusammen durchgemacht haben, mehr als andere Menschen, Cliff. Die seelische Verbundenheit der ORION-Crew ist so stark, daß wir nicht töten können, wenn wie einem anderen Mitglied der Crew gegenüberstehen.« »Aber Mario und Katsuro, sie haben aufeinander geschossen.« »Katsuro gehört nicht zur Crew, Cliff. Seine Hemmung war fast gleich Null, und die Hemmung Marios, ihn zu töten, war nicht viel geringer. Dennoch haben sie sich nicht umgebracht. Das bedeutet, daß Tu-
naka sich enger mit uns verbunden fühlt, als wir dachten – und auch wir müssen ihn schon irgendwie als zu uns gehörig empfinden.« Cliff lachte. »Das wird dem GSD-Direktor aber nicht schmekken, wenn er wieder auf Distanz gehen will, weil er der Chef einer Organisation ist, die sich für berechtigt hält, uns Aufträge zu erteilen.« Er wurde wieder ernst. »Ich habe einen Raumfahrer der SADIR-Besatzung gefunden: tot. Wahrscheinlich hat sich die gesamte Besatzung gegenseitig umgebracht. Wir müssen uns etwas ausdenken, damit wir den Beherrscher des Kristalls unschädlich machen können. Wenn es ihm gelingt ...« Er unterbrach sich, als Helga einen spitzen Schrei ausstieß. Als er in die gleiche Richtung schaute, in die die Funkerin sah, erblickte er Atan Shubashi, der durch eine transparente Röhre hastete – und hinter dem Astrogator schleppte sich ein unförmiges, grünlich glitzerndes Wesen durch die Röhre, das fünf Tentakel vor sich her schob. Plötzlich stockte das Wesen. Es bemerkte die Raumfahrer offenbar erst jetzt. Seine Tentakel schnellten fächerförmig auseinander; jeder zeigte auf einen der fünf Raumfahrer, die die Szene von ihren verschiedenen Positionen beobachteten. Cliff McLane ächzte, als der Mordgier erzeugende Zwangsimpuls sich in sein Bewußtsein bohrte. Das Verlangen, zu töten, wurde übermächtig. Cliffs HM 4 schwenkte herum, zeigte nacheinander mit der Mündung auf die Freunde. Doch die Hemmung, aus seelischer Verbundenheit geboren, war mächtiger. Das
Gefühl, eins zu sein, ein Team, in dem sich jeder mit jedem identifizierte, verhinderte, daß die Raumfahrer aufeinander schossen. Aber der Zwang zum Töten blieb – und er wurde so stark, daß er ein Ventil brauchte, um sich zu entladen. Gleichzeitig richteten sich die Mündungen von fünf Strahlwaffen auf den Beherrscher des Kristalls – und ebenso gleichzeitig fuhren fünf grelle Strahlbahnen in den unförmigen Körper, der sich aufbäumte und in einer Wolke aus feurigem Rauch und grünem Schleim zerplatzte. Als das Wesen starb, sandte es auf telepathischer Ebene einen so grauenvollen Hilfeschrei aus, daß er gleich einem kalten Blitz durch die Gehirne der Menschen fuhr. Die Raumfahrer brachen zusammen. Sie waren noch bewußtlos, als zwei Stunden später die Besatzung der OPHIUCHUS in den Kristall eindrang, die Schaltanlagen, die die Aussendung der Todesimpulse bewirkt hatten, zerstörte und etwas später vor den Überresten des Tentakelwesens und der bewußtlosen ORION-Crew stand. * Die ORION-Crew und die Crew der OPHIUCHUS befanden sich in einem Saal des Verwaltungszentrums der Erde. Ihnen gegenüber standen Han TsuGol mit seinen Ministern – und Admiral Mahavira in prachtvoller Galauniform. Mahavira war der einzige Anwesende, der kein zufriedenes Gesicht machte. Han Tsu-Gol trat hinter ein Rednerpult. Die Linsen der Aufnahmegeräte der irdischen TV-Gesellschaften
richteten sich auf ihn, schwenkten aber immer wieder zu den beiden Schiffsbesatzungen zurück, zwischen denen GSD-Direktor Tunaka Katsuro und Sergeant Arco Vitus standen, letzterer mit vor Aufregung knallrotem Gesicht. »Frauen und Männer der ORION IX und der OPHIUCHUS!« begann der Regierungschef. »Ich weiß, daß mit der Regierung und mir die gesamte Bevölkerung der Erde stolz auf Sie ist, die das unmöglich scheinende vollbracht und die Erde vor einer grauenvollen Katastrophe bewahrt haben.« »Warum redet er heute so geschwollen?« flüsterte Mario in Cliffs Ohr. »Er drückt sich doch sonst ganz vernünftig aus.« Cliff grinste. »Weil er zur ganzen Erdbevölkerung spricht«, raunte er zurück. »Als Orcast brauchte er nie an die Öffentlichkeit zu treten, darum die fehlende Übung.« Cliff blinzelte, als Leandra de Ruyter ihn vorwurfsvoll ansah. Er hatte wohl doch etwas zu laut gesprochen. »Unter Einsatz ihres Lebens drang die ORIONCrew, begleitet von GSD-Direktor Tunaka Katsuro und dem Raumsergeanten Arco Vitus, in den Todeskristall ein und bezwang nach gefahrvollen Kämpfen das Ungeheuer, das den Kristall steuerte und den Tod von zirka neunzigtausend Menschen sowie der Besatzung des Raumkreuzers SADIR verschuldet hat«, fuhr Han fort. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Leider gelang es uns nicht mehr, die erstarrten Opfer in den Kristall zu bringen, wo sie wahrscheinlich wiedererweckt worden wären. Wenige Stunden, nachdem die OPHIUCHUS-Crew die ORION-Crew
bewußtlos geborgen hatte, schrumpfte der Kristall zusammen und verschwand spurlos aus unserem Kontinuum.« »Ich wette, das ›Ungeheuer‹ war nicht mehr als ein halbintelligentes, parapsychisch begabtes Tier, das man speziell für seine Aufgabe dressiert hatte«, flüsterte Arlene N'Mayogaa. Han Tsu-Gol räusperte sich. »Die ORION-Crew, die sich besonders ausgezeichnet hat, lehnte Beförderungen mit der Begründung ab, sie habe nur ihre Pflicht getan. Die Regierung hat daher beschlossen, jedem Mitglied dieser Crew eine Belohnung von einer Million Kreditpunkten zu zahlen. Liebe Freunde und Mitbürger, eine große Gefahr wurde abgewendet – und wieder einmal hat die Raumflotte bewiesen, daß sie in der Lage ist, jeden Gegner zurückzuschlagen.« Han Tsu-Gol sprach ungefähr noch zehn Minuten. Mit keinem Wort erwähnte er die möglichen Gefahren, die weiterhin in den Tiefen des Alls lauerten und täglich akut werden konnten. Als Regierungschef durfte er das nicht, denn auf alle Fälle mußten Panikreaktionen vermieden werden. Später, als die Fernsehkameras verschwunden waren, schüttelte der Ministerpräsident den Raumfahrern die Hände. »Ich hoffe, Sie sind mit der Regelung zufrieden«, sagte er. »Ich meine die Belohnung.« »Nicht um des schnöden Mammons wegen haben wir unser Leben eingesetzt«, gab Cliff zurück. »Aber wir haben auch keine ernsthaften Gründe vorzubringen, die die Ablehnung rechtfertigen würden.« Er wandte sich Leandra de Ruyter zu.
»Ich erinnere mich vage, hochgeschätzte Admiralin und Chefin von T.R.A.V., an die furchtbare Drohung, die mir gegenüber ausgestoßen und in der mir versichert wurde, daß über gewisse unverschämte Bemerkungen noch geredet werden müßte. Wissen Sie vielleicht etwas davon? Ich bin in letzter Zeit so vergeßlich.« Leandra de Ruyter lächelte ironisch. »Ja, Sie vergessen sich in letzter Zeit öfter, McLane.« Ihr Lächeln wurde herzlich. »Ich erinnere mich auch an etwas, nämlich daran, daß ich gewissen vorlauten Raumfahrern versprochen habe, nach erfolgreichem Abschluß einer bestimmten Operation zu feiern. Leider konnte ich keinen Archer's tears auftreiben, aber die Getränke, die meine Astrogatorin Joanna Tahuakoa aufgetrieben hat, sind auch nicht zu verachten. Vielleicht fällt mir während der Feier dieses oder jenes ein, das ich einem gewissen McLane sagen wollte.« Mario de Monti blickte wie hypnotisiert zu Joanna Tahuakoa, dann raunte er Cliff zu: »Sage ja nicht nein, sonst hast du es bei mir verdorben. Ich nehme doch an, die Crew des ›Schlangenträgers‹ feiert mit uns.« Cliff McLane deutete eine Verbeugung in Leandra de Ruyters Richtung an. »Wir werden alles zu würdigen wissen, was Sie uns zu bieten haben, Herrin der tausend Flaschen.« ENDE