Der Prospektor Florens Bonnamy strandet auf dem Jupitermond Io und stößt dort auf ein Höhlensystem, dessen strukturelle...
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Der Prospektor Florens Bonnamy strandet auf dem Jupitermond Io und stößt dort auf ein Höhlensystem, dessen strukturelle Beschaffenheit in keinster Weise zur lebensfeindlichen Kruste dieses Himmelskörpers paßt. Seine Entdeckung stößt in weiten Kreisen auf Interesse – außer bei Dr. René Maigreur, dem Chef der Satellitenbasis Dschinnistan. Maigreur muß dringend einen persönlichen Erfolg vorweisen; er sieht in Bonnamys Fund nur eine Möglichkeit, die wirtschaftliche Macht Dschinnistans auszudehnen. Grabungen im Inneren Ios deuten an, daß man es mit einem künstlichen Körper zu tun hat. Ist Io vor Unzeiten ins Sonnensystem eingedrungen? Die Chancen für die Weiterentwicklung der Menschheit sind unabschätzbar. Aber plötzlich bricht eine von Io eingeschleppte Fungusseuche aus, und die Satellitenbasis Dschinnistan wird zum Hexenkessel ...
Horst Pukallus gehört zu den wichtigsten Vertretern der neuen deutschen Science Fiction. Nach dem in Zusammenarbeit mit Andreas Brandhorst entstandenen Werk IN DEN STÄDTEN, IN DEN TEMPELN (UB 31084) und der Kurzgeschichtensammlung SONGS AUS DER KONVERTERKAMMER (UB 31099) legt er bei Ullstein seinen ersten Solo-Roman vor – einen packenden, psychologisch ausgefeilten Thriller mit originellen Charakteren und glaubhaftem naturwissenschaftlichen Hintergrund.
Horst Pukallus
Krisenzentrum Dschinnistan Roman
Science Fiction
ULLSTEIN
Science Fiction Lektorat: Ronald M. Hahn Ullstein Buch Nr.31108 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Originalausgabe
Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagillustration: Barclay Shaw Alle Rechte vorbehalten Copyright ©1985 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1985 Gesamtherstellung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-548-31108-3 September 1985
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Pukallus, Horst Krisenzentrum Dschinnistan: Roman/ Horst Pukallus. – Orig.-Ausg. – Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein,1985. (Ullstein-Buch; Nr.31108: Science Fiction) ISBN 3-548-31108-3 NE: GT
Vom selben Autor in der Reihe der Ullstein Bücher In den Städten, in den Tempeln (31084) Songs aus der Konverterkammer (31099)
»Ich bitte Dich«, sagte darauf der Biba ganz weich, »scherze nicht: Du kannst doch nicht behaupten, daß diese Erdbewohner, die sich gegenseitig in Horden vernichten, irgendwelche Lichtseiten in ihrem Leben aufweisen könnten.« Paul Scheerbart: Lesabéndio. Ein Asteroiden-Roman (1913)
1 »Hier geht's nirgends weiter. Du siehst doch, daß es hier nicht weitergeht.« Percys Stimme, durch den Helmfunk ohnehin leicht verzerrt, besaß den schrillen Tonfall jener Nörgelei, die auf Ärger über die eigene Ratlosigkeit beruhte. »Ja, ich seh's.« Der Lichtkegel des Brustscheinwerfers an Florens Bonnamys Raumanzug verlor sich im Hintergrund der Riesenhöhle: 150 bis 200 m in der Höhe hing, bleigrau getupft und schwer wie Gewitterwolken, ein Baldachin aus Eiszapfen. Unter den Füßen der beiden Männer schimmerte, so weit das Scheinwerferlicht reichte, ein glatter Spiegelsee, gemasert in unterschiedlichen Schattierungen von Blau, Grauweiß, Blaugrau und Grün. Schon der Augenschein schloß abermals jeden Zweifel aus: der einstige Höhlensee mußte Wasser enthalten haben. Dem Eis fehlte das für gefrorenes Ammoniak typische Perlmuttglitzern. »Laß uns umkehren«, quengelte Percy. Die Übertragungsqualität war mangelhaft, aber Florens meinte, er könne den Maschinentechniker mit einer Mühseligkeit schlucken hören, als würge ihn jemand. »Uns kann was auf den Kopf fallen.« Percys rechter Arm, plump durch die Umhüllung aus unter Innen-
druck befindlichen Wulstgliedern, deutete mit der Ruckhaftigkeit halber Schwerkraft hinauf zu den Eiszapfen. Florens verkniff sich eine Äußerung des Mißmuts. Natürlich ging es noch weiter, vermutlich sogar noch viel, viel weiter, und er hätte gerne den früheren Siphon zu finden versucht; aber für Percy verkörperte das Dunkel mit seiner ungewissen Ausdehnung, das vor ihnen lag, ein Hindernis wie eine massive Felswand. Er suchte die Geborgenheit kleiner überschaubarer Räume; der Mann war ein Großstadtneurotiker, kein Raumfahrer. »Wir sind hier nirgendwo sicher, das weißt du doch selbst.« Die Bleisohlen seines Anzugs klirrten wie von Ferne, als sich Florens umdrehte und den Brustscheinwerfer auf verminderte Leistung schaltete. Die Finsternis schien die Helligkeit aufzusaugen wie ein lichthungriger Troglobiont, und im nächsten Moment stand das Paar nur noch in einer begrenzten Sphäre trüben Lichts. »Warum machst du denn die Lampe aus?!« plapperte Percy beunruhigt, während Florens mit einem Blick auf die Instrumentenarmatur an seinem linken Handgelenk die Orientierung wiederherstellte. Er seufzte unterdrückt, als er widerwillig den Rückweg antrat. Es war sowieso bald an der Zeit, anhand der oben in der Klufthöhle zurückgelassenen Notausrü-
stung die Sauerstoff-, und Wasser- und Nahrungsvorräte in den Spendern ihrer Raumanzüge aufzufrischen, möglicherweise auch zum Austausch der Batterien. »Der Scheinwerfer ist nicht aus. Es ist hell genug, um zu sehen, wohin man geht.« Florens stapfte an Percy vorbei, froh darum, daß die Außenbeschichtung des Raumhelms seine Grimasse der Abneigung verbarg. Percy schlurfte ihm nach. Einige Minuten lang überquerten sie stumm die glatte Eisfläche, begleitet nur vom Klingklang ihrer Schritte, der Fahlheit ihres Lichts. Ringsum erstreckte sich nichts als Frostglanz und verschmolz mit dem Finstern. Percy Grindling begann sein Gejammer fortzusetzen, als sie die Sinterterrasse ersteigen mußten, die den Übergang zwischen Stollen und Haupthöhle bildete. Die abgestuften Sinterbecken strotzten von putzigem Knöpfchensinter, der wie wahllos ausgestreute Perlen oder Erbsen wirkte, aber stellenweise auch von scharfen Kalzitkristallen, die zu meiden sich empfahl; infolgedessen fielen häufig Umwege an, und es dauerte nicht lange, bis Percy, restlos unsportlich, laut zu schnaufen anfing. Wenig später erschütterte ein dumpfer Erdstoß das Höhlensystem, und sofort erscholl das grelle Bersten von Eis und Tropfstein, dem Prasseln und Gepolter
folgten. Mehrere Hundert Kilometer trennten sie von der Stätte des Vulkanausbruchs, der ihren Prospektorator Checkered Demon zum Wrack gemacht hatte, aber die Beben, die mit dem Gravovulkanismus einhergingen, aufgrund der ultrahohen Anziehungskraft des Jupiter auf seinem zweiten Mond Io eine Dauererscheinung, brachten das Muttergestein sogar über diese Entfernung hinweg merklich ins Zittern. Jupiters Gigantismus zerrte beharrlich in tidenartigen Schüben an der Kruste des kleinen Himmelskörpers und ließ dem Magma in dessen Kern keine Ruhe. »Wir werden hier elend verrecken, ich seh's kommen«, klagte Percy, nun am Rand zur Weinerlichkeit. »Bestimmt werden wir hier begraben und müssen krepieren. Warum mußten wir unbedingt in so 'n Loch kriechen?« Florens verzog den Mund. Er hegte jede Bereitschaft, sich mit dem Wunder der Existenz dieser Höhlen über die Havarie – zumal die Lage alles andere war als aussichtslos – und selbst über Stanleys Tod hinwegzutrösten (den Piloten hatte er ganz gut leiden können, wogegen er Percy nicht im mindesten ausstehen konnte), aber der Stumpfsinn des Technikers entartete für seine Begriffe allmählich zu einer größeren Belastungsprobe, als alle Gefahren es sein mochten, die im Rahmen einer zu relativer Routine gewordenen interplanetaren Raumfahrt drohten. In der Tat
entstanden heutzutage die meisten Gefährdungen genau durch jenes tragische Zusammenfallen von Dummheit und Unfähigkeit, das man bei Grindling beobachten konnte. Doch die Raumfahrt litt an Personalmangel; viel zu oft ergaben sich Situationen, in denen Impunitaten trotz ihrer ungenügenden Qualifikation verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen durften oder gar keine andere Wahl blieb, als sie ihnen zu übertragen. »Muß ich dir darauf 'ne Antwort geben?« fragte Florens barsch zurück und dachte an die rund 120 km hohe Wolke aus Asche und Schwefel, vermischt mit einem Sprühregen aus Quecksilberpartikeln, die der Vulkan kurz nach ihrer Landung auf einem der kupferroten Lavafelder ausgestoßen hatte. Die Checkered Demon war, während sich Stanley noch an Bord aufhielt, in einer urplötzlich aufgerissenen Spalte zerschellt, und als Florens zweieinhalb Stunden später, nachdem er und Percy in äußerster Hast die Notausrüstung geborgen hatten, die chemische Zusammensetzung des vulkanischen Auswurfs ermittelte, stand fest, daß ihres Bleibens auf der Oberfläche nicht länger sein konnte, nicht einmal im Schutz der Raumanzüge. Angesichts der hohen Quecksilberkonzentration erachtete er es keineswegs als ausgeschlossen, daß der Niederschlag sie regelrecht eingeschneit und nach und nach in silberne Standbilder verwandelt
hätte. Auf jeden Fall wären ihre Vorratspatronen, nicht so hermetisch dicht wie die Raumanzüge, sondern vornehmlich gegen Verstrahlung und Temperaturschwankungen isoliert, vergiftet worden. Die etliche Kilometer dicke Dunstschicht würde an Ios Himmel den übermächtigen Jupiter noch lange verdunkeln. »Zooks, Mann«, maulte Percy, »nein, nicht, ich weiß Bescheid, ja. Du brauchst mich doch nicht gleich anzuschreien.« Er zeigte, reizbar wie jeder, der sich mit Minderwertigkeitsgefühlen plagte, alle Neigung, auf den Knien zu rebellieren. »Aber wir hätten ja nicht so tief hinunter zu brauchen. Das ist doch wohl nicht das Wahre, hier unten herumzuklettern, während weit und breit alles wackelt, oder? Oder?« Mißgelaunt preßte Florens seine ausgedörrten Lippen aufeinander. Auf seine einfältige Weise hatte Grindling durchaus recht. Zwar war der Abstieg vom Lavafeld durch einen Deckenbruch in den Tonnengang einer an beiden Enden von Versturzmassen verschlossenen Lavahöhle höchstwahrscheinlich ihre einzige Rettung vorm Quecksilber gewesen, und außerdem hatte er den tektonischen Status zuvor gründlich mit dem Seismometer überprüft; jedoch verschafften nur komplizierte Präzisionsmessungen der Magnetfelder einigermaßen verläßlich darüber Aufschluß, ob noch mehr oder keine weiteren Erup-
tionen bevorstanden, und dazu fehlen ihnen die Instrumente – und von einer Notwendigkeit, in eine Tiefe von ungefähr 100 m unter Ios ruhelose Oberfläche zu steigen, konnte wahrhaftig keine Rede sein. Der sicherste Aufenthaltsort wäre für sie jetzt ein Platz droben im Tonnengang gewesen, geschützt vorm Quecksilbernieselregen, gleichzeitig nahe genug am Ausstieg, um im Falle neuer Beben ins Freie flüchten zu können. »Diese unteren Höhlen sind ein Phänomen. Ihre Existenz wirft alle bisherigen Vorstellungen von Io über den Haufen.« Florens' Stimme klang heiser. Er räusperte sich und berührte am Kontroll-Set an seiner linken Hüfte den Sensor des Befeuchters, so daß eine schleimhautfreundliche Sprayemulsion ins Innere seines Raumhelms spritzte, seine Lippen angenehm benetzte. Er inhalierte die pricklige Frische und schluckte einige Male. »Keine Sorge«, fügte er mit normalisierter Stimme hinzu. »Wir sind ja wieder unterwegs nach oben.« Der Stollen zu den Schächten, dessen Streckenlänge rund 80 m betrug – Florens hatte beim Abstieg einige erste Vermessungen mit Kompaß und HoloMasertaster durchgeführt –, war durch die jüngsten Erdstöße zum Teil stark verwüstet worden: Verkantungen von Kalksteinblöcken und schräge Verwerfungen hatten die Dichte der Tropfsteinsäulen augen-
fällig gelichtet. Zum Glück war es zu keinen so umfangreichen Versturzvorgängen gekommen wie vor langem oben in der Lavahöhle, doch der tektonische Kahlschlag erleichterte den Weg nicht, sondern hatte eine Anzahl von Barrikaden aus Trümmern und Schutt hinterlassen, die es nun zu überwinden galt. Überall lag herabgestürztes Geröll. Eine Vielzahl zersprungener Tropfröhrchen und Excentriques schillerten am Untergrund wie Scherben. »Was für 'ne Plackerei«, beschwerte sich Percy. »Ich verstehe nicht, was dich an diesen Höhlen so interessiert. Ich kann nicht begreifen, was das Problem ist.« Am südwestlichen Ende mündete der Stollen in einen kürzeren Minarettgang mit Rhombusprofil, dessen zierliche Sintergehänge, mit eisblumenhaften Aragonitkristallen wie überzuckert, dessen Schmuck von wurzelhaft verschlungenen Heliktiten, die mißlungenen Erzeugnissen eines Glasbläsers glichen, dank der scheinbaren Widersinnigkeit natürlicher Prozesse unbeschädigt geblieben waren, und das Scheinwerferlicht der zwei Männer warf ein silbriges Gleißen zurück. Der Gang wies auf ganzer Länge in der Mitte einen offenbar durch Gravitationserosion entstandenen, tiefen Spalt auf, und sie mußten ihn gebückt auf einem schmalen Sims an der rechten Felswand durchqueren. Vom Minarettgang gelangten
sie in eine rundum von Tropfsteinkerzen gesäumte Grotte. Eine Naturbrücke aus fossilen Sedimenten überwölbte in ihrer mittleren Höhe eine Sinterschale. Das letzte Drittel stieg steil an und führte zwischen Stalaktiten, die wie zerlaufener Teig herabhingen, manche in einer Chamoisfärbung wie Honig oder Bernstein, andere überzogen mit Pilzsinter. »Ich hätte nicht gedacht, daß es so mit mir enden würde, wirklich nicht«, kratzte Percys Stimme aus dem Helmlautsprecher. »Zooks, Mann, ich habe ja nie viel vom Leben erwartet, bloß daß man mich in Frieden läßt, aber schon meine Alte hat mir pausenlos die Ohren vollgequatscht, es war gräßlich, ich hatte überhaupt nichts zu sagen ...« »Man merkt, daß du Nachholbedarf hast«, raunzte Florens ohne innere Anteilnahme. Unruhe wegen des Nylonseils, das in der früheren Kaskade von fast 200 m Höhe hing, hatte ihn erfaßt. Er schaltete seinen Brustscheinwerfer auf maximale Leistung und lenkte den Lichtstrahl aufwärts. Zu seiner Erleichterung sah er das untere Ende des Seils unverändert 30 m über ihnen baumeln, also war es vermutlich noch unzertrennt; das rechtfertigte die Hoffnung, daß die Beben die einstigen Wasserfallschächte nirgendwo unpassierbar beeinträchtigt hatten. »Zu Hause waren immer alle gegen mich, solange ich mich zurückerinnern kann«, schwatzte Percy. »Durch diese Gemein-
heit bin ich in den Weltraum verschlagen worden. Das heißt, es war ja so oder so nicht mehr zum Aushalten, bei den Zuständen. Aber freiwillig wäre ich nie zur Raumfahrt gegangen, das darfst du mir glauben.« Beiläufig wunderte sich Florens darüber, wie es diesem Schwachkopf immer wieder gelang, inmitten all seines wirren Geschwafels unvermutet auf schlaglichtartige, erkenntnisreiche Einsichten von bemerkenswerter Wahrheit zu verfallen. Er selbst hatte die Weiträumigkeit des Alls in klarer Entscheidung den Verhältnissen auf der Erde vorgezogen, wo der Bevölkerungszuwachs nach wie vor zum seit Generationen als Ursache von Unglück und Kriminalität erkannten monostrukturellen Silobau zwang, Mastermind-Zentralcomputer die Ballungszentren managten, während die wahre Regierung nicht das OMNIZIL, sondern längst die normative Kraft des Faktischen war, und Mediensouffleure die Massen der Megalopolen mit den evergreenistisch vermuzakten Denkservice-Parolen einer Phantomdemokratie in rührseliger Lethargie befangen hielten, zu der Abenteuerreservate alleinige Abwechslung boten. Als er in Kanada lebte, hatte seine Sympathie den in der Middle-Earth-Bewegung zusammengeschlossen, utopiebewußten Alternativkulturen gehört, doch er konnte sich nie dazu durchringen, in eine der Siedlungen aus
Wohnskulpturen, Sperrmüllpalästen, Kuriositätenkuppeln und Märchenschlösser aus Bierdosen und leeren Flaschen zu ziehen, weniger wegen der vergleichsweisen Bescheidenheit des dortigen Lebensstils, als aufgrund der damit verbundenen Anspruchslosigkeit in bezug auf die Selbstforderung. Sein einziges Andenken an die damalige Zeit war das handbedruckte Thangka-Halstuch, das er ständig trug, inzwischen im Schweiß etlicher Jahre völlig verwaschen. Plötzlich kicherte Percy, als verliere er nun den Verstand. »Vielleicht begegnen wir 'ne Bergfee, die uns drei Wünsche freigibt.« »Ich würde dir eine Wurst an die Nase wünschen, darauf kannst du dich verlassen«, schnauzte Florens in nebelhafter Erinnerung an irgendeine wilde Geschichte. Er spürte Pochen in den Schläfen und zwang sich zur Ruhe. »Warum mußt du mich dauernd so anbrüllen?« beanstandete Percy mit einem Ansatz zur Aufsässigkeit. »Kannst du eigentlich keinen anderen Menschen reden hören? Mein Opa war genauso, er mußte andauernd alle bevormunden und drangsalieren, aber es ist mies mit ihm geendet, zum Schluß fing er ganz an zu spinnen, er hat eines Tages im Hausflur 'n Kontrollposten eingerichtet und alle Hausbewohner mußten sich bei ihm mit ihren ID-Karten ausweisen, alle
hundertachtzig Parteien, und natürlich haben sie's nicht lange geschluckt, am nächsten Tag haben die Psychohygieniker ihn abgeholt ...« Er ächzte zum Erbarmen, so daß es im Lautsprecher krachte und fauchte, allem Anschein nach infolge seiner Weitschweifigkeit außer Atem. Florens schwieg, um Kräfte und Nerven zu schonen. Die Wasserfallschächte mochten am anstrengendsten sein, aber das schwierigste Stück des Höhlensystems war ohne Zweifel das steil abschüssige Gesims, das rund um die Innenseite der Grotte verlief und dabei den 30 m großen Höhenunterschied zwischen der Naturbrücke aus versteinerten Sedimenten und der unteren Mündung zu den Schächten in schwungvoller Gewundenheit überwand. Er drehte den Kopf und sah hinter sich Percys auf Minimalleistung gedimmerten Brustscheinwerfer, dann schaltete er den eigenen Scheinwerfer ebenfalls auf die schwächste Einstellung um. Das lange, geschrägte, kaum eineinhalb Meter breite Sims ließ sich nur überqueren, indem man es unter Ausnutzung der Zentrifugalkraft so schnell entlanglief, daß man am jenseitigen Ende ankam, bevor man abstürzte, und dazu war es besser, nur den Fels unmittelbar vor den Füßen im Blickfeld zu haben und möglichst wenig von der Leere zu sehen, der Tiefe. Was war das Problem mit den Höhlen? Florens
schüttelte über Grindlings Begriffsstutzigkeit den Kopf. Jupiters 422.000 km von ihm entfernter Mond Io, Durchmesser knapp 3630 km, war eine staubtrokkene, vulkanische Welt mit lediglich dünner, etwa 100 km hoher Atmosphäre aus ionisierten Partikeln, hauptsächlich Natrium- und Schwefeldämpfen. Anbeträchtlich dieser Tatsache war das Vorhandensein von Lavahöhlen, nach Vulkanaktivität durch Lavaströme gebildet, deren äußere Partien naturgemäß zuerst erkalteten, geradezu eine Selbstverständlichkeit. Aber das Labyrinth von Kalksteinhöhlen darunter? Von Beruf war Florens Mineraloge, und mit der Speläologie als benachbartem Fachgebiet hatte er sich im Laufe seiner Ausbildung nur in Auszügen beschäftigt, wie es üblich war in einem Zeitalter, in dem hochgradige Spezialisierung und Expertentum das gleiche bedeuteten wie Qualifikation. Dennoch hatte er binnen kurzem erkannt, daß Schichten von Kalkgestein, Spuren von Korrosion, Tropfstein und andere Sinterstrukturen, Kalzit und erst recht das Eis zu den geomorphischen Formationen von Ios Oberfläche in krassem Widerspruch standen. Derartige Höhlen fand man normalerweise in Karstgebieten mit starker Versickerung des Wassers. Ein solcher Landschaftstypus und Ios Kruste schlossen einander eigentlich aus – jedenfalls, wenn man von der Voraussetzung
ausging, daß der jetzige Mond bereits als Trabant Jupiters seinen Ursprung nahm. Allerdings gab es gewisse Hypothesen über eine vormals andere planetare Ordnung im Sonnensystem, kühne Spekulationen im Zusammenhang mit dem Asteroidengürtel. In Anbetracht jener Mutmaßungen drängte sich Florens die Erwägung nachgerade unwiderstehlich auf, Io könne einmal zu den inneren Planeten gezählt haben, aus seiner Umlaufbahn geworfen, als durch eine noch unaufgeklärte Explosion des fünften (oder sechsten?) Planeten das Gleichgewicht der Anziehungskräfte, der interplanetaren Magnetfelder, innerhalb des Sonnensystems aus den Fugen geriet, später vom Riesen Jupiter eingefangen, zu einem Möndchen, Jupiters vierzehntem Satelliten, degradiert worden sein. Hier ergab sich erstmals die überaus faszinierende Aussicht, die besagten Hypothesen wissenschaftlich zu überprüfen. Für einen relativ kleinen Himmelskörper wie Io stellten 60 bis 80 m Lavagestein eine sehr lange geologische Epoche dar, und die Annahme, daß darunter Reste der ursprünglichen Ökologie konserviert worden waren, kam Florens nicht allzu abwegig vor. Die Entdeckung der Karsthöhlen eröffnete der Erforschung der Vergangenheit des Sonnensystems gänzlich neue Perspektiven. Hätte er auf die Ausstattung der Checkered Demon
zurückgreifen können, wäre es schon jetzt möglich gewesen, das Eis auf etwaige, vielleicht mikroskopisch winzige Rückstände zu untersuchen, auf Einschlüsse, die auf einstiges Leben zu schlußfolgern erlaubten. Dem Kalkgestein allein fiel noch keine ausreichende Beweiskraft zu; zwar erzeugte die Ablagerung kalkhaltiger Tierreste auch Kalkstein, aber im allgemeinen bildete sich Kalziumkarbonat dank chemischer Prozesse, durch Ausschlämmung. Doch falls sich, zum Beispiel, irgendwo Travertin fand, wäre das bereits ein Beweis: Kalktuff konnte nur unter Mitwirkung von Pflanzen und Bakterien entstehen. Aber er hatte jetzt keine Zeit für derartige Angelegenheiten. Alles hing davon ab, daß er und Grindling wohlbehalten an die Oberfläche zurückkehrten. Sobald eine Funkverbindung zu einer JupiterOrbitalstation hergestellt war, konnte man ihnen mit Transportdrohnen zur Ergänzung ihrer Vorräte aushelfen, bis ein über die Satellitenbasis Dschinnistan herbeibeorderter Bergungstender eintraf. Nur viel Geduld würde dann noch erforderlich sein. Florens verdrängte alle Gedankengänge, die ihn hätten ablenken können, und richtete seine Aufmerksamkeit mit aller Konzentration, derer er fähig war, auf die heikle Strecke. Percy hatte mittlerweile wieder genug Atem zum Greinen. »Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das
alles noch durchhalten werde. Zooks, Mann, ich müßte 'n bißchen Rücksicht auf meine Gesundheit nehmen. Man wird ja nicht jünger. Die Dienststelle muß mir erlauben, daß ich künftig mehr auf mich achtgebe.« Er hustete wie ein Schwindsüchtiger. Mit leicht vorgebeugtem Oberkörper spannte Florens – er schenkte Percy keine Beachtung – die Muskeln seiner Beine, federte in den Knien. Um anzuzeigen, was es nun galt, deutete er kurz nach oben, dann lief er los, ohne sich noch einmal umzuschauen. Der Raumanzug wog mit allen in sein Design integrierten Vorrichtungen, Gerätschaften und Instrumenten trotz der nur ungefähr 0,5 G gut und gerne noch 18 kg, und auf etwa halber Länge des Simses begann sich Florens' Atmung zu beschleunigen. Das harsche Klirren seiner Bleisohlen hallte in rascher Folge wie ein Hammerwerk und läutete in vielfältigen Echos von den Felswänden der geräumigen Grotte wider, bis ein gewaltiges Xylophon zu dröhnen schien. Schwindel packte ihn, sein Herz krampfte sich zusammen – er verdrängte das Angstgefühl mit einer energischen Willensanstrengung. Das Weiß der Gipsblumen rings um die Schachtöffnung, ein Ergebnis der chemischen Verbindung von Kalkgestein mit Schwefel, hüpfte und driftete vor seinen Augen, als er mit beiden Armen nach der metallenen Querstange haschte.
Er bekam sie zu fassen, stieß sich vom Sims ab. Einige Male pendelte er hin und her, während er sich höherhangelte, schließlich einen Fuß in die unterste Kletterschlaufe schob. Sein Brustscheinwerfer ließ einen Lichtkreis wie einen bleichen Riesenfalter mal da, mal dorthin gaukeln. »Alles hat seine Grenzen, daran gibt's nichts zu rütteln«, schwadronierte Percy. »Es ist nicht alles Gold, was glänzt, das war mir immer klar, aber daß man mir bei der Raumfahrt solche Sachen zumutet, damit habe ich nicht gerechnet.« »Aha«, machte Florens gleichgültig, atmete tief ein und streckte sich nach der nächsten Kletterschlaufe, begann zu klimmen. Das Nylonseil war ein wohlüberlegt konzipiertes Allzweckhilfsmittel und nebst diversem Zubehör als vorgeschriebener Standard Bestandteil jeder Raumfahrer-Notausrüstung; seine Zopfstruktur gewährleistete nicht nur eine ganz außerordentliche Belastbarkeit, sondern ermöglichte zudem eine Dehnung auf die eineinhalbfache Länge. Mit hartnäckigem Zerren und Reißen hatten sie die vorhandenen 100 m Seil von der Klufthöhle bis hinab in die Trichtermündung zur Grotte legen können. Schon als Florens die Stelle erreichte, wo er den gedehnten Teil des Seils mit einem U-Eisen im Fels verankerte hatte – 10 m überm unteren Ende –, merkte
er, daß eine wahre Schinderei anstand. Er spürte die Beanspruchung seines Körpers durch den Abstieg jetzt, da er die gleichen Bewegungsabläufe erneut vollziehen mußte, mit unangenehmer Deutlichkeit, vor allem in den Oberschenkeln und Schultern. Eine Rast hatten sie nicht eingeschoben – dafür trug, sah er ein, im wesentlichen er selbst die Verantwortung, denn die Faszination hatte ihm keine Ruhe gegönnt –, und nun drängte wegen des in Kürze fälligen Austauschs der Sauerstoffpatronen die Zeit. »... kann keine ... sehen«, kam eine von Rauschen und Knistern verstümmelte Äußerung Percys aus dem Helmempfänger. Florens achtete nicht darauf. Die frühere Kaskade besaß zwar trotz der Verwinkeltheit ihrer Reihe von Wasserfallschächten eine lichte Höhe, aber weil ein Festpunkt zu wenig für die Spannung gewesen wäre, in der das Seil sich in gedehntem Zustand befand, hatte er an noch mehreren Stellen U-Eisen – alle verfügbaren – ins Gestein gehauen, in Abständen von 20 oder 30 m, und es daran verknotet; wo es über Felskanten verlief, hatte er es durch Plastikröhrchen geführt, um es gegen Scheuerwirkung zu schützen. Aufgrund dieser Weise der Hin- und Herverlegung, die mit dem vertikalen Zickzackverlauf der Schächte übereinstimmte, mußte Florens all seine Behendigkeit aufwenden, um zügig zu klettern. Er be-
mühte sich um eine einigermaßen ausgeglichene Atmung, doch der Inhalt seiner Sauerstoffpatrone ging offenkundig zur Neige, denn alle Atemtechnik konnte nicht verhindern, daß die Luft im Raumhelm an Schalheit zunahm. Ihm war sehr warm und außerdem so, als sei jeder Atemzug, den er in der Stickigkeit seines Helms tat, zweckloser als der vorherige; verschiedentlich machte sich an seinem Körper mit lästigem Jucken Schweiß bemerkbar. »Wenn nicht ... (Knacken) ... müssen ... (Zirpen) ... dran glauben«, sagte Percy. »Wir werden in dieser Grube draufgehen da bin ich ... (Brummen) ... nur soweit mit mir kommen?« Ein schön gestreift gewesener Sintervorhang, der Florens beim Abstieg aufgefallen war, hatte die Erschütterungen von Ios Kruste nicht überstanden. Nur ein scharfkantiger, abwärtiger Grat war übriggeblieben, und als sich Florens am Seil über einen Vorsprung aus einer Aneinanderreihung schmaler Sinterwälle schwang, schrammte er am Bruch so heftig entlang, daß im mehrschichtigen, gewöhnlich recht widerstandsfähigen Folienmaterial des Raumanzugs sofort mit derbem Ratschen ein fingerlanger Riß klaffte. Erbittert stieß er einen Fluch aus. Die automatischen Ventile, empfindsam gegenüber jeder Veränderung des Innendrucks, dichteten das betroffene Seg-
ment in Sekundenschnelle ab, und die Ruckartigkeit der zweifachen Einschnürung des linken Oberarms entlockte ihm, als die Magnetversiegelungen zuschnappten, einen Aufschrei, der sich seiner Verwünschung übergangslos anschloß. »Was ... los, Mann? Wieso ...« Das Pfeifen einer Rückkopplung überlagerte Percys verdrossene Fragen und machte sie unverständlich, doch Florens scherte sich ohnehin nicht darum; das Klettern verlangte größtmögliche Vorsicht. Zwei, drei Lecks durfte man in einem modernen Raumanzug dulden, darüber hinaus jedoch verursachten die Abdichtungen, wenn man zur Regsamkeit gezwungen war, scheußliche Unbequemlichkeiten. Mit jener ihm eigenen Dickköpfigkeit, die sich bei Schwierigkeiten noch zu verhärten pflegte, turnte er am Seil aufwärts. Seine Muskeln äußerten schmerzliche Bekundungen des Nichtkönnens und/oder Nichtwollens, aber er war dergleichen schon in solchem Umfang von Grindling gewöhnt, daß er sich für einige Zeit darüber mit derselben Geringschätzung hinwegzusetzen vermochte wie über die Zurschaustellung unbegreiflicher Schwäche, deren sich der Impunitat befleißigte. Dennoch begann der Schmerz in den Schultern sein Dasein langsam in derartigem Maße zu beherrschen, alle anderen Empfindungen und Wahrnehmungen
abzustumpfen, das Denken zu behindern, daß Florens zuletzt das Gefühl hatte – zumal er an bestimmten Sinterbildungen feststellte, daß ihn höchstens noch 50 m von der Kluft zwischen Kalksteinhohlräumen und Lavahöhle trennten –, mit gutem Gewissen eines Verschnaufpause einlegen zu dürfen. Er streckte sich an der geriffelt gesinterten Schräge eines Schachtabschnitts aus und sicherte sich mit einer Doppelklemme am Seil, bevor er seine Gliedmaßen – erstmals seit vielen Stunden – erschlaffen ließ. Ihm flimmerte vor Augen. Jetzt hätte er gern einen tüchtigen Schluck Kognak aus seinem Flachmann genommen, doch das gediegene Erbstück, in einer Epoche des totalen Recycling eine kostbare Seltenheit – nur faustgroß, Klappverschluß, Sterling-Silber, nach barockem Vorbild ein Wildeber eingraviert mit dem Spruch Du volle Sau wie lugst mich an/Meinst, daß ich auch so werden kann? –, steckte in der Hüfttasche seines Overalls, unterm Raumanzug vorerst unerreichbar. »Zooks, Mann, was ... denn nun?« Ein Jaulen untermalte Percys leise Stimme. Gequält schloß Florens die Lider. Im Laufe des Aufstiegs hatte er bemerkt, wie die Verbindung sich immer mehr verschlechterte; wahrscheinlich waren die Batterien beider Helmfunkgeräte so gut wie leer. Anscheinend war Percy etwas zurückgeblieben,
absolut kein erstaunliches Vorkommnis. Florens stöhnte vor Überdruß und rutschte, indem er nochmals aufstöhnte, seitwärts zur Kante, um nachzuschauen, wie weit der Maschinentechniker zurückhing. Er spähte in die Schächte hinab und sah zu seiner Bestürzung nicht den schwächsten Lichtschein. Verärgert beugte er sich vor und lenkte den Scheinwerferkegel nach unten. Er traute seinen Augen nicht. Percy war nirgends zu sehen. In der ersten Schrecksekunde kostete es Florens einige Mühe, Gefaßtheit zu bewahren, doch dank seines Sinns für praktisches Überlegen und Handeln meinte er, noch keinen Anlaß zu erhöhter Beunruhigung zu haben; der Mann konnte gerade durch einen Winkel kriechen und in einigen Augenblicken wieder zum Vorschein kommen. Florens fegte seine Kehle mit einem Räuspern, um eine Frage zu stellen. »Florens?« drang in diesem Moment Percys Stimme gedämpft, aber klar aus dem Helmlautsprecher, und die Schwingungen offenen Entsetzens in ihrer Tonlage verscheuchten unverzüglich Florens' maßvolle Zuversicht, kündeten ein Übertreffen seiner schlimmsten unterschwelligen Befürchtungen an. »Florens, wo bist du überhaupt?« Urplötzlich war Florens zumute, als müsse er durchdrehen. Er spürte, wie seine Lippen sich verpreßten, bis ihm sein Mund hart und starr im Gesicht
saß wie ein Wundschorf. Seine Sicht verschwamm von Schweiß oder Tränen. Er rückte noch näher an die Felskante. Die klauenhafte Verkrampfung seiner Hände löste sich nur mit schmerzvollem Widerstreben, so daß es ihm erhebliche Mühsal bereitete, den Mikrolaserprojektor an seinem Raumhelm manuell zu senken, bis er hinunter in die ausgetrocknete Kaskade wies. »Ich wüßte gerne, wo du eigentlich steckst«, erwiderte er mit aller Selbstbeherrschung, um dagegen vorzubeugen, daß er sich in hinderlichen Zorn hineinsteigerte oder der Maschinentechniker in Panik. »Ich dachte, du wärst gleich hinter mir. Wo befindest du dich?« Für ein Weilchen blieb es still. Dann antwortete Percy mit der kurzatmigen, schrillen Heiserkeit naher Zerrüttung: »Ich ... ich habe keine Ahnung. Hier ist Eis ... Da sind Tropfsteinsäulen. Ich weiß nicht, wo ich bin, Florens. Ich bin ganz allein.« Seine Stimme drohte überzuschnappen. »Ich bin hier unten ganz allein! Warum hast du mich im Stich gelassen? Wo bist du?« »Daran kann kein Gedanke sein, daß ich dich im Stich gelassen hätte«, widersprach Florens schroff. »Laß uns keine Zeit vergeuden. Wir müssen uns schnellstens wiederfinden. Wo oder wann hast du dich denn vom Seil entfernt?« Um Streit zu vermeiden, sah er davon ab, nach dem Warum zu fragen.
»Ich bin doch gar nicht am Seil«, gab Percy so trotzig zur Antwort, als seien diese Nachfragen unsinnige Behelligungen seines Geistes. »Nicht am Seil?« vergewisserte sich Florens und merkte an der Ausdruckslosigkeit seiner Stimme, daß er, ohne sich dessen bewußt zu werden, schon fast an der Grenze der Zugeständnisse angelangt war, die er Percys Nutzlosigkeit zu machen gedachte. Seine Vermutung war gewesen, daß der Maschinentechniker beim Aufstieg, womöglich im Glauben, bereits die zwischen den Kalkstein- und Lavaschichten gelegene Klufthöhle erreicht zu haben, irgendwo in einen zuvor unentdeckt gebliebenen Gang abgeirrt sei, der von den Schächten abzweige; offenbar jedoch tappte er, wieso auch immer, noch unten auf der Sohle des Höhlensystems herum. Damit stand fest, er hatte sie in ein Dilemma gebracht. »Nein, nicht«, zeterte Percy. »Die ganze Zeit warte ich darauf, daß du mir sagst, was weiter, und nun staunst du, daß ich nicht am Seil hänge! Wo bist du denn?« Seine gesteigerte Lautstärke verursachte sofort die abscheulichen Mißtöne von Rückkopplungen. Florens mußte erneut alle Beherrschung aufbieten, um nicht aufzubrausen. Warum hatte statt Stanley nicht dieser untaugliche Idiot verunglücken können? An Impunitaten fehlte es in der Raumfahrt nicht; immer mehr drängten nach, denen auf der Erde der
Boden so heiß unter den Füßen geworden war, daß sie dem Dableiben irgendeine Drecksarbeit im All vorzogen und der Möglichkeit zur Rückkehr ein für allemal entsagten. Ein Mann erschlug eines Tages im Affekt einen Kollegen, den er wegen seines Strebertums schon lange gehaßt hatte, eine Frau erdolchte aus Eifersucht blindwütig eine Rivalin, dann standen sie auf einmal da und wußten nicht, wie ihnen so etwas hatte passieren können; und falls sie es schafften, im nächstbesten Personalbüro des Interplanetary Space Global Department einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben und Impunitatenstatus zu erlangen, bevor die Polizeiroboter sie aufspürten, kamen sie straflos davon. Soziologen, Kriminalistikexperten und Psychohygieniker kritisierten das Impunitas-Gesetz seit seiner Inkraftsetzung, und die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen hatten wiederholt im OMNIZIL parlamentarische Vorstöße unternommen, um es einzuschränken oder ganz wieder aufzuheben, doch die Diskussionen und Debatten dauerten bereits seit vierzehn Jahren ohne konkrete Resultate an, und kein Ende war in Sicht. Die Impunitaten waren in der Raumfahrt keineswegs grundsätzlich unwillkommen, denn sie erledigten jene Tätigkeiten, für die sich sonst niemand fand, für die jedoch irgend jemand da sein mußte, um den
teuer ausgebildeten, hochbezahlten Fachkräften ihre Zeit für wirklich wichtige Aufgaben freizuhalten. Um sie wenigstens ein bißchen zu motivieren und für die schlechte Bezahlung zu entschädigen, gab man ihren Funktionen hochtrabende Bezeichnungen; ein Lagerist beispielsweise durfte sich ›Materialkontrolleur‹ nennen, ein Wartungsmechaniker war ›Maschinentechniker‹, ein Großküchengehilfe hieß ›Quartierprovianteur‹. Aus den Umständen ihrer Aufnahme in die Reihen der Raumfahrer erklärte sich jedoch, daß ihre Einsatzwilligkeit unter ihrer Neigung litt, mit sich und dem Schicksal zu hadern, und ebenso, daß sie alles andere waren als beliebt. Diese sämtlichen Fakten änderten nichts daran, daß Florens jetzt allen Ernstes lieber Grindling als Stanley tot gesehen hätte, daß er es satt war, diesen Mann, der alles forderte und nichts gab, unablässig wie ein ungezogenes, widerspenstiges Kind mitzuziehen. »Percy ...« Nichtsdestotrotz unternahm er den Versuch, sich mit dem Impunitaten über die Situation gütlich zu verständigen. »Kannst du mir beschreiben, wie's dort aussieht, wo du dich aufhältst?« »Ich ... äh ...« Ein dumpfes Röcheln. »Ich stehe auf Eis. Wie in der großen Höhle da hinten. Nur sind hier lauter Säulen. Eben solche Tropfsteinsäulen ...« Florens schnob verächtlich. »Bist du denn inzwischen weit gelaufen?«
»Kaum. Nur ein paar Schritte.« »Du hast das Sims noch nicht überquert, das zu den Schächten führt?« »Äh ... nein.« »Kannst du's denn von deinem Standort aus sehen?« »Nein«, wimmerte Percy. »Nein, ich hab's doch gesagt, ich weiß nicht, wo ich bin. Ich ... ich habe keine Vorstellung, wo ich ...« Er kreischte auf, als ob ihn plötzlich tierische Furcht überwältige. »Florens! Ich ...« Elektronisches Heulen übertönte den Rest. Florens schaltete seinen Empfänger ab und starrte aus verkniffenen Augen hinunter, rang allem zum Trotz um die Klarheit seiner Gedanken und überlegte angestrengt. Bereits beim Einstieg ins Höhlensystem hatten sie die Helmfunkgeräte von UKW auf MikrolaserRichtfunk mit automatischer Optimalisierung umschalten müssen, um das Auftreten von Rückkopplungsphänomenen zu minimieren, aber selbst die präzisen Strahlenbündel erforderten eine Beschränkung auf die geringste Leistung der Geräte, sollte einigermaßen Störungsfreiheit gewährleistet sein. Wenn er dennoch im Verlauf seines Aufstiegs die Impulse aus Percys Gerät durch die lichte Höhe der Kaskade mehr oder weniger gut empfangen hatte, konnte das nur eines heißen: Percy mußte sich fast
genau senkrecht unter ihm befinden, vielleicht in einer abwärtigen Erweiterung der Sinterschale. Unfaßlich blieb, wie er sich so hatte verirren können. Florens schaltete das Funkgerät ein; der Sendersuchlauf peilte Percys Laserreceiver innerhalb eines Sekundenbruchteils an und adjustierte neu auf optimale Abstrahlung. »Percy?« Ein Schwall von wüsten Flüchen und Beschimpfungen beantwortete seine versuchsweise Frage. Von neuem malträtierten Pfeifgeräusche seine Ohren, aber die Verbindung war wieder besser. »Percy«, hakte er nach, ohne sich von dem Krakeelen beeindrucken zu lassen, »hörst du mich? Kannst du mich verstehen?« »Ja!« brüllte Percy und fügte anscheinend noch einige Beleidigungen hinzu, die wegen der Lautstärke allerdings in elektronischem Krawall untergingen. »Dann hör zu. Wir sind wieder exakt aufeinander eingepeilt. Du mußt leise und deutlich sprechen, sonst stören uns Rückkopplungen. Klar?« »Ja.« »Gut. Gib acht. Nach meiner Ansicht mußt du ziemlich genau unter mir und den Schächten sein. Wenn du deinen Scheinwerfer auf volle Leuchtkraft einstellst, müßte ich deinen Standort von hier oben erkennen können. Also sei so gut.« »Weshalb muß eigentlich immer alles nach deinem Belieben gehen?« murrte Percy unwirsch. Florens at-
mete durch, schon von Beklemmung gemartert, und enthielt sich jeder Entgegnung. Gleich darauf erspähte er drunten einen vagen Helligkeitsschein, dessen abgründige Fernheit eine schlagartig deprimierende Wirkung auf ihn ausübte, aber er lenkte sich ab, indem er sich von neuem an Percy wandte. »Ich sehe dein Scheinwerferlicht. Genau unter mir, wie ich's mir gedacht habe.« Er verschwieg, daß zwischen ihnen ein Höhenunterschied von mindestens 180 m bestand. Während des Sprechens meinte er, die Leuchtspur des frequenzmodulierten Laserrichtstrahls von nur einem Tausendstelmillimeter Durchmesser nach unten flirren zu sehen. Doch dabei mußte es sich um eine Täuschung handeln. »Weißt du die Richtung, in die du dich entfernt hast?« »Nein, ich weiß nichts. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder wieso ich da bin. Ich rühr' mich nicht vom Fleck. Es ist ...« »Parbleu! Percy, du ...« »Nein, nein, nein! Es ist deine Schuld, daß ich hier in diesem Eiskeller festsitze und weder aus noch ein weiß. Du hättest darauf achten müssen, daß ich den Anschluß nicht verliere. Du mußt mich hier rausholen.« Florens biß die Zähne aufeinander, bis ihm die Kiefer wehtaten. »Unmöglich«, beschied er mit soviel
Sachlichkeit, wie er aufzubringen vermochte. »Ausgeschlossen. Du mußt selber den Weg zum ...« »Nee, ich muß überhaupt nichts. Ich rühre mich nicht von der Stelle, keinen Zentimeter. Ich bleibe hier stehen, bis du mich holst.« »Paß auf, Percy. Du brauchst doch nur deine Umgebung auszuleuchten, dann findest du bestimmt zurück zur Sinterschale. Sie kann nur 'n kurzes Stück weit über dir liegen. Es kann gar nicht anders sein.« »Nein, das ist eine Zumutung. Ich verstehe nichts vom Weltall und nichts von Höhlen. Das geht mich alles nichts an. Dafür bist du zuständig. Du hast mich in diesen Schlamassel gebracht, jetzt hol mich auch raus. Das ist deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.« Schon bei der bloßen Aussicht, mit seinem von Schmerzen übervollen Leib noch einmal hinunterund danach nochmals hinaufklettern zu sollen, graute es Florens dermaßen, daß er diese Art der Hilfeleistung gänzlich verwarf. »Nun hör mir mal gut zu, Percy«, sagte er und gab sich keine Mühe, seine Stimme frei von Verbitterung zu halten. »Du hast noch eine Frist von vierzig bis fünfzig Minuten. Mein Sauerstoffvorrat dagegen ist so gut wie zu Ende. Klettern strengt an, falls du das noch nicht kapiert hast, deshalb habe ich viel mehr als du verbraucht. Ich muß sofort nach oben und die
Patrone auswechseln. Anschließend kommt der Zeitpunkt, um Kontakt mit 'ner Orbitalstation aufzunehmen. Wir müssen das Funkfenster nutzen, sonst ergibt sich die nächste Gelegenheit erst wieder rund sechzig Stunden später. Verstehst du?« Der Gedanke nur eine Stunde länger als unbedingt nötig mit Percy auf Io allein zu sein, war ihm so unerträglich, daß er eine Gänsehaut bekam. »Nein, nicht«, antwortete der Impunitat geknurrt. »Ich blicke nicht durch, und es interessiert mich auch nicht. Ich ...« »Es hat dich aber zu interessieren«, fiel Florens ihm ins Wort. »Ich wünsche, daß du meine Entscheidung verstehst, mit der ich dich vor die Alternative stelle, entweder selbständig an die Oberfläche zurückzukehren, wie man's von einem erwachsenen Menschen erwarten darf, oder unten zu warten, bis die Bergungsmannschaft dich holt oder du schwarz wirst.« Die immer stärkere Atemnot brachte ihn in ausgesprochenen Zeitdruck. Er stemmte sich auf den Armen hoch, um den Aufstieg fortzusetzen. »Das ist es, ja«, nuschelte Percy gehässig. »Ich weiß, worauf es dir ankommt. Du willst mich schikanieren. Du ...« »Womöglich hast du schon mal gehört«, erläuterte Florens mit gewisser Bissigkeit, »daß der Jupiter langwellige Strahlenausbrüche im Acht- bis Dreißig-
meterbereich emittiert und Io infolge einer Interaktion mit der Magnetosphäre Jupiters einen Modulationseffekt auf diese Radiostrahlung hat und sie in bestimmten Phasen sozusagen dämpft. Nur während einer solche Phase läßt sich ein Funkkontakt zu ...« Florens verstummte, einen Fuß in einer Kletterschlaufe, die Hände ums Seil gekrampft. Er konnte nicht weiterreden. Ihm schwindelte. Die Luft in seinem Raumhelm war dumpfig und unergiebig. Er merkte, daß er unwissentlich den Mund aufgerissen und zu keuchen begonnen hatte. Seine Lungen fühlten sich an, als fülle man sie langsam mit Zement. Das Herz durchwummerte alle Fasern seines Körpers mit dunklen Pochlauten wie von einem Verschütteten. »Dir gefällt's wohl, mich zur Schnecke zu machen«, quasselte Percy unterdessen unentwegt weiter. »Du hast dein Vergnügen daran, auf mir rumzutrampeln und mich in dieser Notlage zu demütigen, hä? Als ob ich nicht sowieso schon ein armes Schwein wäre, das von aller Welt herumgeschubst wird, bloß weil ich ein Impunitat bin. Deswegen bin ich der letzte Dreck, was? Nur zu, nur zu, laß mich hier abkratzen, das ganze Sonnensystem wird dir bestätigen, mir sei's recht geschehen. Ich bin ja nur ein Krimineller.« Seine Stimme wies den hohlen, rauhen Klang geschwätziger Hilflosigkeit auf. »Weißt du eigentlich, wieso ich
mich von der Erde verdrücken mußte? Habe ich's dir schon mal erzählt? Ob du's glaubst oder nicht, ich habe meine Alte abgemurkst. Du weißt doch, wie sie mich unterjocht und immer nur rumgestoßen und mir unaufhörlich die Ohren volltrompetet hat. Na, eines schönen Tages ist mir die Sache zu bunt geworden. Da habe ich ihr den Garaus gemacht. Hat mir richtig gutgetan. Ich habe sie erst an einen Stuhl gebunden und dann aus der Küche ...« »Halt's Maul!« quetschte Florens stoßweise hervor. Wut packte ihn, die er diesmal nicht eindämmen konnte, und sie mobilisierte jene Kraftreserven, auf die zurückzugreifen ihm zu schwummrig gewesen war: mit einem Ruck, der sein Inneres, sein Gemüt, ebenso durchfuhr wie seine ganze Gestalt, griff er nach der nächsten Kletterschlaufe und zog sich rücksichtslos, ohne Erbarmen mit sich selbst, in die Höhe. Seine Muskeln schienen in Weißglut zu stehen. »Halt die Schnauze, Mensch! Ich hab' keine Lust, mir dein Gewäsch anzuhören. Bleib unten, wenn du willst. Ich hole dich jedenfalls nicht raus, auf gar keinen Fall. Ja, jawohl, von mir aus kannst du da unten ...« Florens stockte mit einem Ächzlaut und unterbrach die Verbindung; er mußte mit seinen restlichen Kräften haushalten, und schlußendlich war Grindling die Aufregung nicht wert. Er klomm die letzten Meter in einem wechselhaften
Grenzzustand zwischen Benommenheit und anfallähnlicher, rasereiartiger Hast, während sein Brustkorb ihn schwer und hart wie Marmor drückte. Aus seiner Kehle drangen animalische Laute. Eine abgestufte Halde von erstarrter Lava füllte den Bruch zwischen Lava- und Kalksteinhöhlen zur Hälfte aus und machte die Klufthöhle nach oben und unten passierbar. Die beiden tonnenähnlichen Behälter mit der Notausrüstung ruhten noch unbeschädigt in dem flachen, teilweise mit Lava überkrusteten Sinterbecken. Florens' Hände schlotterten, während er einen Behälter aufklappte und darin suchte. Er japste regelrecht, als aus einer neuen Patrone Schübe frischen Sauerstoffs in seinen Helm zischten. Für längere Zeit lag er zusammengesunken da, kostete die Wehen seiner Wiederbelebung aus. Mit der zwangsläufigen Geduld der Wahllosigkeit wartete er, bis er wieder klar sehen konnte, seine Atmung ruhig und gleichmäßig ablief, die Hände ihm nicht länger zitterten. Dann schaltete er den Helmfunk ein. Er hörte gepreßtes Winseln. »Percy«, erkundigte er sich ohne besondere Betonung, »hast du einen Entschluß gefaßt?« »Einen Entschluß?« wiederholte Percy, als unterhielten sie sich das erste Mal über seine Situation. »Bleibst du unten, oder kletterst du jetzt endlich herauf?«
»Ich bleibe hier stehen«, gab Grindling Auskunft. »Keine Bewegung mache ich. Entweder holst du mich, oder ich sterbe hier. Dann trägst du die Schuld.« »Das ist doch Unsinn. Du brauchst nicht zu sterben. Dein Sauerstoff reicht noch, bis du oben bist. Du kannst es schaffen. Aber es ist höchste Zeit, daß du den Aufstieg anfängst.« »Nein. Ich kann nicht. Ich fürchte mich. Mir graust's hier. Wenn ich mich von der Stelle rühre, verirre ich mich bloß noch weiter. Du mußt mir helfen. Du kannst mich doch nicht elendig ersticken lassen.« Florens knirschte mit den Zähnen. Dieser feige Vollidiot war nichts als Ballast, eine unverkraftbare Belastung, so überflüssig wie ein Kropf. Grimm verwandelte die Adern seiner Schläfen in heiße, wie wunde Stränge. Seine Rechte grabschte schneller, als er nachzudenken vermochte, die Laserpistole aus dem Behälter, und mit zwei Schritten stand er unversehens am Rande der Kaskade. »Du hast recht, Percy.« Er hörte, daß seine Stimme bis zur Unkenntlichkeit entstellt klang. »Das kann ich tatsächlich nicht.« Er stierte in den Abgrund, sah den schwachen Lichtschein, der ganz wie eine Manifestation der düsteren Funzel von Grindlings Lebenslicht wirkte, das er nun mit einer Regung seines Daumens auslöschen konnte. Niemand würde ihm peinliche Fragen stel-
len. Todesfälle von Impunitaten pflegte man aus Gründen der Arbeitsersparnis und Kostensenkung nicht zu untersuchen. »Florens ...?« Percys genölte Frage bezeugte zwiespältige Ungläubigkeit und Verunsicherung. Anscheinend ahnte jetzt sogar er, daß er es irgendwie zu weit getrieben hatte, die Spannungen zwischen ihnen in etwas abzukippen drohten, das sich später nicht rückgängig machen ließ. Florens lachte auf Während seines überhasteten Forschens nach irgendeiner Entscheidungshilfe ging ihm ein Kernsatz der Lebensphilosophie seines Vaters, dazu ausgeheckt, um unter den Existenzbedingungen auf der Erde nicht verrückt zu werden, durch den Kopf, zu oft gehört, um ihn jemals zu vergessen. »Man muß auch mal darauf verzichten können, sich als Opfer zu fühlen.« Negation der Negation. Sein Vater, so erkannte er nachträglich, mußte ein Weiser gewesen sein. Ruckartig entfernte Florens den Daumen vom Sensorpunkt der Laserpistole, als er die Stärke dessen einsah, was er bisher für Schwäche gehalten hatte. Er dachte an die erneute, zweifache Klettertour, die ihm bevorstand, die damit verknüpften Risiken und Strapazen, an die Nervenzermürbung, die er durchzustehen hatte, bis der Bergungstender eintraf, und gewann darüber Klarheit, in den folgenden Tagen
würde die Versuchung noch wachsen. Mit Handgriffen, die sich durch Entschiedenheit auszeichneten, entfernte er das Energiemagazin aus der Waffe und packte beides getrennt zurück in den Behälter. »Percy, bleib wo du bist«, meldete er sich im zahmen Tonfall vollständiger Überlegenheit. »Ich hole dich rauf. Keine Bange, wir kriegen das schon hin. Zusammen bestimmt, hm?« Er beugte sich über die Felskante und ergriff das Seil mit der Abgeklärtheit eines Siegers.
2 Durch den Dunst etlicher Marihuetten betrachtete Florens Bonnamy ohne Interesse die Symbolkonfigurationen im Projektionsfeld des Spieltisches. Im Gegensatz zu den sechs Kontrahenten, die zum wiederholten Mal Geld und Nerven beim IMPERIAL MONOPOLY aufs Spiel setzten – in einer Erregung, die an Aufruhr grenzte –, langweilte er sich enorm; er saß schlaff im Drehsessel, den Kopf in die Rechte gestützt, die Beine in ganzer Länge ausgestreckt, einen Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen. Er wartete in einer Stimmung angenehm träger Faulheit, während man am Tisch um die Ressourcen ganzer Galaxien schacherte und dabei erhebliche Mengen an SynthCognac und Stellar Artois konsumierte, auf Jelena. Anscheinend machte die Astrophysikalische Abteilung wieder einmal Überstunden, weil die Vorgänge in der Tiefe des Kosmos keine Rücksicht auf willkürliche menschliche Zeiteinteilungen nahmen. Die Kommentare der Spieler und Unterhaltungen an anderen Tischen ringsherum vermengten sich zu einem teils dumpfen, teilweise schrillen Stimmengewirr in mehreren Sprachen und Spacepidgin. »Was, was?! So geht das nicht! Meine Bilanz ist schon lange qualitativ in Phase Drei übergewechselt, und ...«
»... Gewinnung der Petrochemikalien in der Jupiteratmosphäre im Kompressionsverfahren ...« »Bordel de merde! C'est du jus de chaussettes ...!« »... zu hohe Kosten, bloß um Dummy Jobs für eine komplette Brigade von Fontanschtschiks zu organisieren ...« Florens gähnte. In letzter Zeit habe ich zuwenig Sport getrieben, dachte er. Das Herumsitzen bekommt mir nicht. Ich hätte den Sonderurlaub besser nutzen sollen. Mißmutig betastete er die Flecken auf seiner Bluse, die er, während er im Laufe der vergangenen Dreiviertelstunde zwei Dosen Bier trank, bekleckert hatte. Eigentlich mochte er gar kein Bier; ihm widerstrebte der schale Nachgeschmack. Nur die allgemein bacchantische Spiel- und Saufsituation im Bistro-Sektor Les Anneaux de Saturne des Freizeitzentrums hatte ihn zum Trinken verleitet. »Idiot!« kreischte die Techna, die schräg vor Florens saß, eine sichtlich von Synth verschiedenster Brauarten aufgedunsene, jüngere Blondine mit grünlicher Phosphorluminosität in der Elektro-LookFrisur einen Mitspieler an, einen Trübling des Depotpersonals, mager und eunuchoid wie eine ShredderSpindel, dessen verstörter Blick und Fahrigkeit anzeigten, daß seine fortgeschrittene Narkotisierung ihm die korrekte Befolgung der Spielregeln inzwischen erschwerte. »Der tiltste Neo kann doch sehen,
daß in der Lambda-Sphäre keine Redistribution mehr erlaubt ist. Noch so'n Fuckup, Männi, und du darfst dein Fric in 'n Sonnenwind schreiben. Diggit?« »... und wie ich gerade beim Zippsorting bin, latscht dieser blödsinnige Arsch von Impunitat herein und sagt zu mir ...« Florens verdoppelte die Ausdruckskraft seines Grinsens, indem er auch den anderen Mundwinkel verzog. Wie auf ein Stichwort hin hatte soeben tatsächlich ein Impunitat die ringförmige Estrade betreten, auf der sich Florens befand, und sah sich nach allen Seiten um, suchte offenbar irgend etwas oder jemanden; niemand schenkte ihm erhöhte Beachtung, als er vor dem Wandbild, einem vergrößerten, durch Sondendrohnen aufgenommenen Foto lachsfarbener Landschaft der Jupiter-Äquatorialzone unter fedrigen Ammoniakzirruswolken, allein stehenblieb, noch so dort stand, als Florens fortschaute, seine Aufmerksamkeit flüchtig auf das melodramatische Space Opera-Chanson verlagerte, das aus den Oktaphon-Boxen weinte, vorgequengelt von einer Sängerin mit lunatypischem, noch leicht als ursprünglich slawisch erkennbarem Akzent. »Pflastere die Pfade der Pein mit Platin, Plage die Paradiese Plutos mit Panik. Du lügst die Lügen eines Lunonauten. Labst dich an der Lava der Lust ...«
Florens stieß ein Brummen des Unmuts aus. Die gesamte NewAntique-Welle, wie sie sich in allen Bereichen der Kultur ausbreitete, mißfiel ihm; sie ging von der Erde aus, wo regional ziemlich starke, fast chaotische soziale Zersetzungserscheinungen einen gewissen Drang nach starren Formen begünstigten. Er allerdings hatte den Eindruck, daß AlliterationsManierismen nicht so recht ins fünfte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts paßten. Plötzlich spürte Florens den Druck einer Hand auf seiner Schulter. Er drehte den Kopf und besah sich die Hand aus unmittelbarer Nähe. Obwohl breit, mit langen Fingern und Haaren auf dem Handrücken versehen, fehlte es ihr an allen Anzeichen von Derbheit oder Schwieligkeit, die von Schwerarbeit gezeugt hätten. Florens hob die Augen und erblickte als nächstes das gelbe Impunitaten-Emblem an der silbergrauen Hemdjacke; daneben steckte ein anderes Abzeichen, das er nicht kannte, eine schwarze, runde Plakette mit einem weißen Dreieck in der Mitte. Er richtete den Blick ins Gesicht des Mannes, unterschied verdutzt darin das haarfeine Gewirk der kristallinen monomolekularen Siliziumsstränge eines Transistormosaiks sowie neben dem Kinn eine bioelektronische Transfluxor-Buchse; es handelte sich um den Impunitaten, der vorhin hereingekommen war und deutliches Suchverhalten an den Tag gelegt hatte.
Florens runzelte die Stirn. »Bitte?« »Mr. Bonnamy, ja?« Der Mann sprach in einem Tonfall, als wäre er einmal das Erteilen von Anweisungen gewöhnt gewesen und nun nicht so recht dazu imstande, seine alte Blasiertheit zu überwinden. Er bemühte sich um eine freundliche Miene; doch kein Maß an Verstellungskunst hätte ausgereicht, um die seinen knochigen Gesichtszügen eingefleischte Arroganz zu vertuschen. Wahrscheinlich hatte er auf der Erde einen hohen Posten gehabt, ehe er sich von dort hatte verdrücken müssen. »Stimmt. Und jetzt nehmen Sie Ihre Klaue weg. Ich bin kein Fummelino.« »Mein Name ist Ned Atherden«, stellte der ExBonze sich vor und entfernte seine Hand von Florens' Schulter. »Neben meiner hiesigen ... äh ... Tätigkeit ...« – er betonte das Wort, als sähe er darin einen Anlaß zum Sarkasmus –, »übe ich das Amt des ›Kophtas‹ der Teleologischen Sukzessionisten aus, eines Bundes von Impunitaten, der sich die Aufgabe vorgenommen hat, in der Raumfahrt eine grundsätzliche Erneuerungsbewegung ins Leben zu rufen. Ich glaube, wir sollten einmal miteinander reden, Mr. Bonnamy.« In vorgebeugter Körperhaltung, die Arme hinterm Rükken, starrte er Florens aufdringlich an. Florens versetzte den Sessel in Drehung, wandte sich im Sitzen Atherden zu. Er entsann sich daran,
schon einmal von dem ›Kophta‹ gehört zu haben. Das Multimedia-Magazin Superspacer der Satellitenbasis Dschinnistan hatte Atherden im Rahmen eines Features interviewt; sein Verein jubelte irgendeinen anachronistischen Pioniergeist hoch, bekrittelte die Techni-›Kaste‹ als ›verbraucht‹ und plädierte dafür, die Raumfahrt der Verantwortung der ›spontaneren‹ und ›imaginativeren‹ Impunitaten zu überlassen, eine Idee, die selbstverständlich außer in deren Kreisen keinerlei Zustimmung fand. Der Verdacht lag nahe, daß Atherden die Vereinigung nur gegründet hatte, weil er nicht auf so etwas wie zumindest einen Abklatsch seiner früheren Führungsposition verzichten mochte. »Ach so.« Beim besten Willen konnte Florens nicht verhindern, daß in seiner Antwort einige Geringschätzung mitschwang. »Weshalb denn?« »Es geht um den unfreiwillig verlängerten Aufenthalt, den Sie kürzlich auf Io hatten«, erklärte Atherden in beinahe verschwörerischem Ton. »Beziehungsweise um die Entdeckungen, die dort gemacht worden sind. Wie ich in Andeutungen erfahren habe, soll es sich um Dinge von außerordentlicher Bedeutung drehen.« »Entdeckungen?« meinte Florens unbeabsichtigt grob. Es verdroß ihn, an die Havarie, Stanleys Tod und daran erinnert zu werden, daß er vierundsiebzig
Stunden lang mit Percy Grindling auf der tektonisch gefährlich aktiven Oberfläche des Jupitermondes gestrandet gewesen war, eine Zeitspanne, die er in der Gesellschaft des wirrhirnigen, von ständigem Selbstmitleid zergrämten Impunitaten als Tortur unsäglichen Ausmaßes empfunden hatte. Seit der Bergung und ihrer Rückkehr zur Basis waren zehn Tage verstrichen. Die Administration hatte ihnen aufgrund des Unglücksfalls vierzehn Tage Sonderurlaub gewährt. »Wir haben Höhlen entdeckt, die sich mit der bisher angenommenen Entstehungsgeschichte Ios nicht in Einklang bringen lassen. Sonst nichts.« »Genau, genau!« Atherden streckte einen Arm aus und deutete auf Florens' Brust, als wäre es ihm gerade gelungen, sich mit einem besonders begriffsstutzigen Menschen endlich über etwas zu verständigen. »Davon spreche ich. Aber Sie brauchen Ihre Verdienste keineswegs herunterzuspielen, Mr. Bonnamy. Es ist offensichtlich, daß die Administration darin eine Angelegenheit von allergrößter Tragweite sieht.« Florens musterte Atherden einen Moment lang, fühlte sich unterdessen völlig ratlos. Was hat der Blödian Grindling diesem Kerl bloß von dem Zwischenfall erzählt? überlegte er. So ein Quatschkopf! Er konnte sich nicht vorstellen, inwiefern Forschungen, die diese oder jene wissenschaftlichen Hypothesen über die Ursprünge des Sonnensystems bestätigen
oder entkräften mochten, für den ›Kophta‹ interessant sein sollten. »Wieso?« »Mr. Bonnamy ...« Atherden straffte sich, fuhr mit einer Hand über seinen Bürstenhaarschnitt und blickte flüchtig über die Schulter, wie um sich davon zu überzeugen, daß niemand das Gespräch mitanhörte. »Dr. Maigreur hat vor einer Woche eine ganze Flottille mit dem Auftrag nach Io geschickt, die bewußten Höhlen zu untersuchen. Abraum-, Schürf- und BohrRobotgerät der Goliath-Klasse, ein interdisziplinäres Expertenteam, Spezialisten aller Fachgebiete, dazu eine Impunitaten-Brigade, insgesamt fast hundertzwanzig Leute. Den betroffenen Abteilungen sind ein Viertel oder sogar die Hälfte ihrer Mitarbeiter entzogen worden.« Erneut beugte er sich vor, diesmal noch tiefer, um Florens aus wenigen Zentimetern Abstand ins Gesicht zu stieren. »Wollen Sie mir weismachen, das alles hätte nichts zu bedeuten? Tun Sie mir den Gefallen, mich nicht für so dumm zu halten, Mr. Bonnamy. Wenn Sie's vorziehen möchten, mir zu verschweigen, was ...« »Nun hören Sie mir mal gut zu ...!« unterbrach Florens den ›Kophta‹, ohne in seiner Fassungslosigkeit zu wissen, was er im weiteren zu äußern gedachte. Ist Maigreur jetzt völlig verrückt geworden? fragte er sich. Er verstand kaum etwas von den Managementaspekten der Satellitenbasis, aber selbst als Laie er-
kannte er sofort, daß die von Atherden erwähnten Maßnahmen des Chefadministrators unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten als katastrophal zu bewerten sein mußten. Und bestimmt würde Atherden in bezug auf eine so leicht nachprüfbare Sache nicht lügen. Genervt zog er die Beine ein und setzte sich aufrecht hin. »Was Sie da behaupten, kommt mir zum ersten Mal zu Ohren, und ich habe keine Ahnung, was dahinter stecken könnte. Ich ... Auf jeden Fall, wenn Sie im Zusammenhang mit Maigreurs Entscheidungen Fragen haben, müssen Sie sich an ihn wenden. Ich bin nicht klüger als Sie. Adiós!« Florens stand auf und stapfte in die Richtung zur Bar, nicht weil ihm nach einem Getränk zumute gewesen wäre, sondern weil ihm daran lag, den ›Kophta‹ abzuwimmeln, um erst einmal allein nachdenken zu können. Doch so leicht ließ sich Atherden nicht loswerden. Er folgte Florens dichtauf. »Ich kann Ihnen Ihre Einstellung schwerlich verübeln, Mr. Bonnamy«, versicherte er mit Ansätzen von Hast in der etwas heiseren Stimme. »Ich bitte Sie jedoch, Folgendes zu berücksichtigen. Wir Teleologischen Sukzessionisten hegen die unerschütterliche Überzeugung, daß die Raumfahrt, der künftige Vorstoß über die Grenzen des Sonnensystems hinaus in die interstellare Weite, der für alle Probleme der Menschheit die Lösung bringen wird, ausschließlich durch einen bahnbreche-
rischen großen Sprung voranzutreiben ist, und zu einer derartigen Leistung sind nur Menschen fähig, die von den geistigen Beschränkungen des Spezialistentums frei sind und sich noch durch den Wagemut und das Streben echter Pioniere auszeichnen. In diesem Sinne habe ich in meiner Eigenschaft als Kophta der Teleologischen Sukzessionisten die Pflicht, Mittel und Wege zu finden, um die Verwirklichung unserer weitgesteckten Ziele zu fördern. Und ich habe Grund zu der Annahme, daß das, was man auf Io entdeckt hat, in dieser Hinsicht außerordentlich relevant ist.« Florens erreichte die Bar und stützte die Ellbogen auf die Chrombeschichtung der Theke, faltete die Hände. »Und was soll das sein?« Er seufzte gedämpft. »Eine Art von Urmaterie, wie Sie wissen.« Atherden lehnte sich neben Florens an die Theke. Aus der Seitentasche seiner Hemdjacke holte er eine dünne Broschüre und legte sie zwischen Florens' Ellbogen. »Hier ist ein Exemplar des neunten überarbeiteten Programmentwurfs unserer Vereinigung. Vielleicht verhilft die Lektüre Ihnen zu neuen Einsichten bezüglich der Zukunftsträchtigkeit echten Pionierdenkens, so daß Sie sich von der Wichtigkeit unserer Zielsetzung ein Bild machen können. Geben Sie uns Informationen, und Sie erweisen der Menschheit einen echten Dienst.«
Allmählich begann das anmaßende Heilsgerede Florens zu ärgern. Er stellte einen Folienbecher unter den Schnabel des Fruchtsaftausschanks. Dann schob er die Broschüre, ohne einen Blick auf sie zu werfen, an der Kante der Theke entlang zurück. Sofort schob Atherden ihm das Heft wieder zu. Florens achtete nicht darauf. »Wissen Sie was?« Auf einmal erheiterte ihn das Skurrile von Atherdens Darlegungen. Wie war es möglich, daß Menschen auf solche Spinnereien verfielen? Er fing an zu lachen. »Katapultieren Sie sich ins Vakuum, Mann! Urmaterie ...! Zooks, mir geht ja der Sauerstoff aus!« Vor lachen verschüttete er einen Teil des Getränks auf das Geologen-Emblem an seiner Bluse, verstärkte deren Verschmutzung durch Bierflecken um einige Saftspritzer. »Das kann doch nicht ihr Ernst sein.« »Dr. Maigreur nimmt die Sache voll und ganz ernst«, entgegnete Atherden barsch. »Es ist sehr zu bedauern, wie Sie sich verhalten, Mr. Bonnamy.« Allerdings widerspiegelte seine Miene kein Bedauern, sondern aggressive Entrüstung. Seine distanzierte, aus seiner einstigen Existenz herübergerettete Bonzenhöflichkeit wich zusehends nur mühsam verhohlener Feindseligkeit. »Werden Sie bloß nicht trabblig, Freundchen.« Irritiert preßte Florens die Lippen aufeinander. Die von Maigreur eingeleiteten Aktivitäten lieferten Atherden
ein Argument, dem Florens nichts entgegenzusetzen wußte. Wieso war er davon nicht unterrichtet worden? Im Prinzip schuldete der Chefadministrator ihm so wenig Rechenschaft wie dem ›Kophta‹, aber er stufte es gefühlsmäßig als ungehörig ein, daß Maigreur ihn offensichtlich von allen Weiterungen ausschloß, die sich aus der Entdeckung der Io-Höhlen ergaben. »Ob Sie's glauben oder nicht, ich habe von alldem keine Ahnung. Ich kann Ihnen nicht helfen. Und auch gegenteiligenfalls wär's fraglich, ob ich's täte. Also horrorn Sie mich hier nicht länger an.« »Sie enttäuschen mich echt, Mr. Bonnamy«, erwiderte Atherden so patzig, als geschähe ihm das ärgste Unrecht. Er verkniff das Gesicht zu einer Visage der Mißbilligung. »Lassen Sie mich Ihnen erklären, was ...« »Mr. Atherden.« Florens drehte sich zur Seite, stemmte eine Hand in die Hüfte und widmete dem Impunitaten einen Blick geballter Abweisung. »Sie fallen mir jetzt ›echt‹ lästig. Ich habe ...« »Chérie! Je suis là!« Ehe Florens den Satz beenden konnte, fiel Jelena über ihn her wie ein als Frau inkarnierter Tornado in Condagrün, drängte sich zwischen ihn und Atherden, schmatzte einen Kuß auf Florens' Wange. Die Plötzlichkeit, mit der er sich in ihren Armen befand, die Wolke ihres Ozonparfüms ihn einhüllte, er die Wärme ihres Körpers unter der
weiten Seidenfülle des senkrecht von zahlreichen durchsichtigen Röhrchen voller in Rosa gefärbter Quecksilberkügelchen durchzogenen Blouson-Blazers spürte, befreite ihn schlagartig von seiner Mißgelauntheit. Atherden verschwand hinter Jelenas Gestalt aus dem Blickfeld. Florens küßte sie, indem er einen Arm um ihre Taille schlang. An einigen nahen Tischen erscholl Gejohle. »Ich konnte nicht pünktlich gehen. Im Statistikprogramm für unsere Erfassung der Quasaremissionskonstanten muß ein Fehler stekken. Aber wir haben ihn noch nicht gefunden. Wartest du schon lange?« Florens zuckte mit den Schultern. »Warten zählt für mich nicht«, sagte er halb humorig, halb ernsthaft, »solange die Aussicht besteht, daß du kommst.« Jelena wippte auf den Zehen und winkte lebhaft den zwei Barkellnern, die sich am anderen Ende der Theke schon seit einer ganzen Weile abmühten, die Sonderwünsche einer lautstarken Gruppe von Satellitniks beiderlei Geschlechts zu erfüllen und ihnen Drinks der bizarrsten Zusammensetzung zu mixen. Endlich bemerkte der eine Kellner sie und kam mit breitem Schmunzeln herübergeschlendert. Man kannte Jelena in so gut wie allen Restaurants, Bistros und Bars der Satellitenbasis. »Wir bräuchten zusätzliche Fachkräfte. Es ist zum Kollapsarekacken, Chérie! Alle paar Wochen trete ich
René in den Arsch, daß er in der Personalpolitik nicht so knausern soll, aber er ist zu wie 'ne Hermetikbox, das Reptil, c'est comme si je pissais dans un violon. Ach, ich liebe dich, ich liebe dich!« Sie drückte Florens' Kopf mit solcher Heftigkeit an ihren Hals, daß er zu ersticken drohte. »Hör mal ...« Florens schnaufte. »Hast du zufällig mitgekriegt, daß er eine umfangreiche Spezialistenund Expertengruppe mitsamt Hilfskräften nach Io geschickt hat?« »Ja, natürlich.« Jelena bestellte X-Ray-Soda. »Natürlich?!« Entgeistert setzte sich Florens auf einen Polsterhocker. »Warum hast mir nichts erzählt?« »Warum?« Erstaunt schaute Jelena auf. »Ich dachte, du wüßtest Bescheid.« Wie zu Florens' Besänftigung preßte sie sacht eine Hand auf seine Brust. Durch das Stürmische von Jelenas Ankunft hatte Atherden um einen Schritt zurückweichen zu müssen. Nun stand er auf einmal in Florens' Rücken. »Gestatten Sie mir noch eine letzte Bemerkung. Mr. Bonnamy. Wir Teleologischen Sukzessionisten ...« »Nein.« »Ihr Benehmen, Mr. Bonnamy ...« »Nein.« Angestrengt betrachtete Florens, um nicht die Beherrschung zu verlieren, sein von mehr oder weniger bunt etikettierten Flaschen gesäumtes Abbild in der Spiegelwand hinter der Bar.
Jelena schenkte Atherden einen kurzen Blick purer Verachtung. »Was will dieser zudringliche Fämmler von dir, Chérie?« Florens lachte abgehackt auf. »Informationen, die ich selbst nicht habe. Er mimt den ›Kophta‹ der Sukzis.« Mit Daumen und Mittelfinger klaubte Jelena die Marascinokirsche aus der Baisermasse auf ihrem Drink und steckte sie Florens in den Mund. »Il plafonne du neutron«, fügte er leiser hinzu und fing an zu kauen. In diesem Moment sah er Percy Grindlings mit jedem Schritt größeres Spiegelbild schräg die tiefere, fast gänzlich von einem Lasermobile überspannte Mittelebene des Lokals durchqueren, die Estrage ersteigen und geradewegs näherkommen. »Ach du Scheiße!« Ohne Atherden, der nun aus Wut merklich erbleichte, weiterer Beachtung zu würdigen, schmiegte sich Jelena an Florens und stocherte mit einem Löffelchen in der Baiserschicht. »Chérie, laß uns 'n Sexdroiden abschleppen und auf deine Bude gehen. Hier sind soviel futsche Typen.« »Und 's kreuzen immer mehr auf.« Florens konnte sich eines Aufseufzens der Gequältheit nicht enthalten. »Da sehn Sie's, Kophta, ich hab' Ihnen ja gesagt, er sitzt bestimmt an irgendeiner Tränke, der gute Florens, und hab' ich nicht recht?« Percy sprach wie über
einen genialen Coup. Sein dickliches Gesicht bezeugte Selbstgefälligkeit. Mit lascher Hand patschte er auf Florens' Oberarm. »He, Florens, du wirkst 'n bißchen wie durchs Schwarze Loch gesaugt. Hast wohl mächtig rumgepowert, was? Na, nach dem, was wir durchgemacht haben ...« Florens schloß die Augen und schabte gestreßt mit den Fingerkuppen an seiner Stirn. Ihm fehlten zu dem Gewäsch einfach die Worte. »Aber wir arbeiten doch wieder zusammen, ja?« erkundigte sich Percy so eifrig, also lechze er nach neuen Risiken und Bewährungsproben. »O ja, ich erledige die Arbeit, und du klappst zusammen.« Florens drehte sich Percy zu. »Nee, mein Lieber. Ich werde beantragen, daß du den Fäkaltanks zugeteilt wirst. Deren Inhalt harmoniert am besten mit der Beschaffenheit deines Gehirns.« Betroffen riß der Impunitat die Augen auf, öffnete den Mund, um zu antworten. Doch Atherden packte ihn am Kragenaufschlag. »Was soll der Blödsinn?« schnauzte der ›Kophta‹. »Wie kannst du so pestilenzig sein und meine Unterredung mit Mr. Bellamy stören?« »Wir haben keine Unterredung«, berichtigte Florens und überlegte, ob er sich betrinken sollte. Jelenas verlockender Vorschlag stand allerdings stark dagegen. »Scher dich weg. Stußnik!« herrschte Atherden
Percy an. »Wir sprechen uns noch.« Percy schnitt eine Grimasse des Kummers. Dann entfernte er sich mit gesenktem Kopf von der Bar. Atherden machte grimmig Anstalten, abermals auf Florens einzuschwatzen. »Zum letztenmal«, sagte Florens mit allem Nachdruck, den er aufzubringen vermochte, ohne zu schreien. »Lassen Sie mich in Ruhe. Hauen Sie ab.« Für einen Moment gaffte Atherden ihn stumm an, Brauen und Mund verkniffen, im Blick ein Gemisch aus Rachsucht, Berechnung, Verschlagenheit und Gehässigkeit. »Das war noch nicht das letzte Wort, Mr. Bonnamy«, knirschte er schließlich wie ein Fanatiker. Daraufhin kehrte er Florens schroff den Rücken zu und verließ die Theke. Florens atmete auf. »Du hast deine Bluse ja scheußlich beschlabbert, Chérie«, beanstandete Jelena mit gelindem Vorwurf in der Stimme, betastete sein Brustbein, strich mit der Hand über den Bauch abwärts und senkte sie auf seinen in den Hosen eingezwängten Stößel. »Was wollen diese Figuren eigentlich?« forschte sie dann in ihrer stets etwas sprunghaften Art nach. »Weshalb hat man mir die Io-Aktion verschwiegen?« fragte Florens ebenso unvermittelt. »Da stimmt doch irgendwas nicht.« Erbost zerknüllte er den Folienbecher und stopfte ihn in den überfüllten Abfallbehälter unterhalb der Theke, dessen Öffnung aus dem
zu einem Oval gedehnten, mit fürchterlichen Plastikzähnen bewehrten Rachen eines imaginären SaturnMonsters bestand. »Aber du hast recht«, ergänzte er, als er Jelenas Verständnislosigkeit und das Entstehen einer Erektion spürte. »Gehen wir. Hier ist's nicht zum Aushalten.« Versonnen führte er die Linke unter Jelenas Achsel in ihr Trikot ein und umfaßte einen nach dem anderen ihre Möpse, prall wie Mangos und heiß wie eine fiebrige Stirn, während er mit dem Daumen der Rechten das Kärtchen mit seinem im Magnetstreifen gespeicherten Gastronomie-Guthaben für diesen Monat in den Schlitz des Kassenautomaten drückte. Zu den Schmachtklängen eines neuen pseudophilosophischen Chansons strebten sie zum Ausgang; dort angelangt, vertrat ihnen jedoch unversehens Percy den Weg. Er hatte Schaum auf den Lippen, der aus dem Halbliterbecher hellen Biers stammte, den er mit beiden Händen umklammerte, als sähe er darin Halt und Inhalt seines Lebens. »Florens, ich muß dir sa ...« »Aus dem Weg!« fauchte Jelena mit der Wildheit einer Furie, ohne das Tempo ihrer Schritte zu vermindern. Ihre Brüste lagen wie zwei Rammböcke auf Kollisionskurs mit Percys Kinn. Regelrecht erschrocken sprang der Impunitat beiseite, das Bier schwappte über, troff ihm auf die Füße.
»Du solltest dich mit unserem Kophta einigen, Florens«, rief er mit einem Gemisch von Kläglichem und Renitenz in der Stimme, indem er, rot im Gesicht, das Gelächter der Schadenfreude zu ignorieren, versuchte, das in der näheren Umgebung aufkam. »Er kann ziemlich hartstrahlig werden, wenn sich ihm jemand querlegt.« Florens blickte sich, schon auf der Schwelle des Ausgangs, über die Schulter um. »Ich wußte nicht, daß du zu seinem kaputten Sukzi-Haufen gehörst. Eigentlich bist du mir noch ein paar Erklärungen schuldig. Aber für so was fehlt mir jetzt die Lust.« Die Tür glitt hinter ihm und Jelena wieder zu und machte – zu Percys unverkennbarem Mißmut – dem Wortwechsel ein Ende. Arm in Arm taten sie mit seit langem eingeübtem Schwung einen Satz auf die Flux, die vom Freizeitzentrum zum Quartiersektor verlief. Das schwache Vibrieren der Bandstraße pflegte Jelena im Zwerchfell zu kitzeln, so daß sie vor sich hinkicherte, während Florens mit stillem Lächeln die kräftigen Greifbewegungen genoß, mit denen sie seine rechte Arschbacke knetete. »Uhuhu-hahaaa, du fickst mich ja zu Tode, du Sportkanone«, lallte der auf FemModus geschaltete Sexdroid, die Augen nachgerade wie ein Debiler ver-
dreht, als wolle er sämtliche Komponenten von Jelenas Multiv, das über Florens' Bett an der Wand hing, auf einmal anschauen. »Ha! Haaaa ... Du bringst mich mit deinem gewaltigen Hammer um, mein Held, ich vergehe, ich sterbe!« Die maßlosen Übertreibungen des Sexdroiden entlockten Florens einen Grunzlaut; mehr konnte er nicht äußern, weil er so kurz vor Jelenas drittem Orgasmus unmöglich davon ablassen durfte, auf ihrer Quetsche zu kauen. Aber das zurückhaltende Stochern, mit dem er die für den MasModus in ein männliches Geschlechtsteil umformbare AlterniflexFließgewebe-Möse des Sexdroiden pfriemelte, um seinen Ständer für Jelena zu schonen, stand zu dem Wollustgejuchze eindeutig in keinem Verhältnis. Sexdroiden törnten ihn nicht besonders an, und eine wie die gegenwärtige Konstellation ermöglichte es ihm, eine ruhige Kugel zu schieben, während er es Jelena mit dem Mund besorgte, um seinen Schlußschuß beträchtlich hinauszuzögern. Das Gejaule des ausgeleierten Apparates fiel in den Bereich des Lächerlichen. »Oh-oh-ooooh, mein geiler Hengst, das ist mein Untergang«, stöhnte der Sexdroid und zappelte so heftig, daß das Bett ins Wanken geriet. Florens prustete. »Huch!« entfuhr es Jelena. »Mach das noch mal!«
Sie drückte die Finger auf Florens' Hinterkopf. »Noch mal!« »Was?« nuschelte Florens. Dann kapierte er, mußte jedoch feststellen, daß ihm ohne Unterstützung des der Heiterkeit förderlichen Standardvokabulars des Sexdroiden das Prusten schwerfiel. Trotzdem beschleunigte sich Jelenas Keuchen. Gleich darauf verkrampfte sich ihr Leib, und sie bekundete den erneuten Höhepunkt mit einem Aufschrei. Sie wälzte sich auf die Seite, blieb zusammengekauert liegen. Florens löste seinen Rammler aus der Vagina des Sexdroiden, deren Gleitbeschichtung ohnehin zur Beanstandung Grund bot, drehte sich mit einem Ächzen vollends auf den Bauch, streckte die Beine, um seine nahezu verrenkten Hüftgelenke etwas zu lockern. Die Halbkugeln von Jelenas drallem Gesäß füllten sein Blickfeld aus und verursachten ihm im Steifen verstärktes Pochen. »O mein Schöcker, du vögelst mich noch dumm und dämlich«, behauptete völlig unbegründet der Sexdroid und vollführte mit seinen androgynen Gliedmaßen fahrige Gesten, als käme ihm der Widerspruch zwischen seinen Redensarten und der veränderten Situation dumpf zu Bewußtsein. »Unterlaß das Quatschen und massier mir lieber den Sack«, wies Florens ihn an. Er rutschte hinter Jelenas Rücken und küßte die reizbaren Stellen ihrer
Schulterblätter, saugte Haut zwischen seine Lippen. Jelena seufzte und drängte sich an ihn. »Den Burschen, der die Texte entwirft, würde ich mal gerne kennenlernen. Man müßte wenigstens den Ton abdrehen können.« Er schob einen Arm unter Jelenas Hüfte hindurch und zwiebelte zwischen drei Fingern ihre linke Titte, während er mit der anderen Hand ihren rechten Oberschenkel hob, ihr energisch die Fut spreizte und behutsam, aber zügig in ihre Musch eindrang. Jelenas Kehrseite stachelte seine Begierde immer am wirksamsten an, und er bumste mit zunächst eher bedächtigen, rasch jedoch kraftvolleren Stößen. Der Sexdroid griff ihm von hinten zwischen die Beine und begann ihm mit paradox mechanoidem und gleichzeitig geschicktem Fingerspiel die Eier zu striegeln. Florens schnaufte erregt; Jelenas Klemme umschloß seinen harten Hobel wohlig wie der Druck einer glitschigen Faust, während sie sich in seinen Armen wand. Plötzlich ertönte von der Tür ein Summen. »Daß doch ein Meteor einschlage«, quetschte: Florens hervor, rubbelte eifrig Jelenas Lustzapfen, streichelte ihre Feigen. »Kann man denn nicht mal 'n paar Minuten lang Ruhe haben?« Er stopfte Jelenas Spalte mit wachsender Wucht und Hitzigkeit, fühlte die Entladung, obwohl er das Stoßen gelegentlich unterbrach, um die saftige Knospe durch Rührbewegungen zu
weiten, unausweichlich heranrücken. Das Summen wiederholte sich mehrfach, während er seinen Kolben so tief einwühlte, wie es ging, und schließlich kam es ihm, als würde sein Penis platzen; ihm war, als verschösse er heiße Gasströme ins Weltall. Jelena spürte seine Ejakulation und wimmerte aus Behagen. Es summte nochmals. Mit einem Fluch zog Florens seinen Schwengel heraus, schwang sich vom Bett, hielt Umschau nach Kleidungsstücken. In der Nervosität grabschte er nichts anderes als das ThangkaHalstuch, hängte es notdürftig über den noch halbsteifen Mast. »O ja, Meister, ich flehe dich an, prügel mich windelweich«, brabbelte in diesem Moment zusammenhanglos der Sexdroid, verfiel unversehens in Konvulsionen, gab ein schrilles Krächzen von sich und kippte mit dem Oberkörper über die Bettkante. Geknacke knisterte in seinem Innern; danach erstarrte er, den Kopf auf dem Fußboden. Jelena fuhr herum. »Parbleu! Jetzt ist das Scheißding auch noch defekt.« »Man könnte wahrhaftig 'n Sadodrall kriegen«, brummte Florens, latschte durch den Vorraum zur Tür und öffnete sie. Im Korridor stand ein Mann von tendenziell birnenförmiger Statur, das konservativ gescheitelte, schwarze Haar nachlässig quer über den annähernd eiförmigen Schädel gekämmt; der unge-
wöhnlich feiste Hals, der ihm aus dem Kragen quoll, und die Basedow-Augen verliehen ihm das Aussehen eines Frosches. An seinem Jackett trug er das Biologen-Emblem. »Was gibt's?« maulte Florens. »Mr. Bonnamy?« Der Mann hatte eine Stimme, die wie das Schaben einer groben Feile klang. »Natürlich.« »Mein Name ist Willigis Atzehuber. Ich hoffe, ich störe nicht.« Der Satellitnik bemühte sich darum, an Florens' Nacktheit keinen Anstoß zu nehmen, aber es kostete ihn sichtliche Anstrengung. Aus Empörung zitterten ihm die Wulstlippen. »Überhaupt nicht«, antwortete Florens; Atzehubers Anblick wirkte auf ihn so anti-erotisch, daß das Thangka-Tuch auf den Boden segelte. Aber offenbar hatte Atzehuber keinerlei Sinn für Ironie. »Dann erlauben Sie, daß ich eintrete. Ich möchte mit Ihnen etwas besprechen, das nicht unbedingt für die Öffentlichkeit bestimmt ist.« Viel flinker, als Florens es ihm aufgrund seiner plumpen Erscheinung zugetraut hätte, watschelte er herein, und die Tür rollte automatisch hinter ihm zu. Florens lehnte sich rücklings an den Wandschrank, der seine Schutzanzüge und die übrigen Ausrüstungsgegenstände enthielt, versperrte den Zugang zum Wohnraum, indem er ein Bein ausstreckte und den Fuß gegen den Türrahmen stemmte; das war
immerhin deutlich genug, so daß Atzehuber es vorzog, im Vorraum zu bleiben. »Machen Sie's kurz. Mit Biologie habe ich sowieso nichts zu tun.« »Auf gewisse Weise haben wir alle – ich betone, Mr. Bonnamy, alle – damit zu schaffen. Alle.« Als wäre Florens taub. »Ich muß es wissen. Ich bin Biolaborant. Privat interessiere ich mich sehr für Gentechnik, obwohl das nicht mein berufliches Fachgebiet ist. Außerdem bin ich nämlich gewählter Supraselekteur der Liga für Totalgenetische Purifikation. Das ist ein Zusammenschluß von Gleichgesinnten, die sich mit Herz und Hirn der eugenetischen Veredelung der Menschheit geweiht haben. Vielleicht haben Sie schon von uns gehört.« Abgehackt und mit merklicher Mißbilligung nickte er hinüber zum Bett, auf dem Jelena nun im Schneidersitz hockte, die Hände im Schoß gefaltet, und konsterniert abwechselnd den schadhaften Sexdroiden und Atzehubers Klobigkeit betrachtete. Wortlos nahm sie den kargen Gruß zur Kenntnis. Dann wandte sich Atzehuber wieder an Florens. »Es ...« »Das ist mir zum Glück bisher erspart geblieben. Und ich will auch gar nichts davon hören. Wer sich mit solchem Humbug befaßt, lebt geistig nicht in diesem Jahrhundert. Die Familienplanung regelt diese Angelegenheiten. Der Genpool ist so groß und vielfältig, daß wir nicht an uns herumzuzüchten brauchen.« »Ein verbreiteter, gefährlicher Irrtum, der durch
verantwortungslose OMNIZIL-Behörden im Umlauf gesetzt worden ist, Mr. Bonnamy. Aber darüber können wir später diskutieren.« Allerdings sah man Atzehuber an, daß er erhebliche Willenskraft einsetzen mußte, um darauf zu verzichten, seine Überzeugungen unverzüglich in einem ausgedehnten Monolog darzulegen. »Um zur Sache zu kommen ...« »Ich bitte darum«, sagte Florens in erhöhter Lautstärke. »Und stellen Sie meine Geduld nicht auf die Probe.« »Diese neuen, hochwichtigen Forschungen auf Io haben selbstverständlich auch die Aufmerksamkeit unserer Liga geweckt«, erklärte Atzehuber mit Untertönen ungestillter Neugier. »Die Administration hüllt sich zwar geheimnistuerisch in Schweigen, was konkrete Angaben betrifft, aber naturgemäß laufen diese und jene Gerüchte um, und ich dachte mir, Sie könnten uns genaueren Aufschluß geben. Ihnen ist die Entdeckung der Io-Höhlen ja zu verdanken, also ...« »Das reicht«, fiel Florens ihm ins Wort. »Ich weiß selbst nichts. Ich sage Ihnen das nur einmal.« Er trat dicht vor Atzehuber, den er um rund zwanzig Zentimeter überragte, und deutete mit dem Zeigefinger zur Tür. »Verpissen Sie sich.« Doch offenbar handelte es sich bei Atzehuber um einen so abgebrühten Patron, daß Florens' unmißverständliche Ablehnung ihn nicht beeindruckte. Sein
gelblicher, talgiger Teint wies mehr Ähnlichkeit mit dem Molliplast-Bezug eines Sexdroiden als mit der Haut eines Menschen auf. »Wenn die Andeutungen, die aus der Administration durchgesickert sind, auf Tatsachen beruhen – ich sage, wenn, Mr. Bonnamy ...« »Ich bin nicht taub«, schnauzte Florens. »Falls es also wahr ist, daß man in den Io-Höhlen auf einen artifiziellen Urstoff des Lebens gestoßen ist ...« »Wie bitte?« »... dürfte das für die Genetik und folglich auch die Eugenetik höchst bedeutsame Konsequenzen haben. Wir müssen dafür sorgen, daß die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sich daraus ableiten lassen, in die Zuständigkeit verantwortungsbewußter Instanzen gelangen und für Zwecke der genetischen Purifikation genutzt werden. Unsere Liga ist dafür die geeignete Organisation. Wir unterhalten Büros in mehreren Ballungszentren der Erde, auf dem Mond, auf Venus und Mars sowie etlichen SpaceCitys und Satellitenbasen. Wir verfügen über ...« Florens preßte, das Kinn auf die Brust gesenkt, eine Faust gegen Brauen und Nasenwurzel, ohne Atzehubers Tirade länger zu lauschen. Was, bei allen Asteroiden, ist hier eigentlich los? Percy Grindling, dieser Schuhu, muß diesen Firlefanz unter die Leute gebracht haben. Aber was hat Maigreur so aufge-
scheucht? Der Ätte riskiert solche Kosten nicht ohne guten Grund, er leidet doch chronisch an Defizitpanik. Und jetzt tanzt ein Hobbyheiland nach dem anderen bei mir an und will von mir Dinge wissen, die Maigreur mir genauso verschwiegen hat. Es geht nicht anders, ich muß irgend etwas unternehmen. »Was meinen Sie dazu, Mr. Bonnamy?« erkundigte sich Atzehuber lauter als zuvor. »Was meinen Sie, hm?« »Immer noch, daß Sie am besten schnellstens verschwinden, Monsieur.« Florens packte Atzehuber am Oberarm, zerrte ihn herum, drehte ihn der Tür zu. Der Biolaborant benahm sich ungefüge wie ein Standbild und setzte zu einem erneuten Wortschwall an. Doch Florens' angeborene Friedfertigkeit hatte ihn nicht zur Hilflosigkeit verurteilt. Seine Hand ertastete die Druckpunkte äußerst empfindlicher Nervenknoten. Atzehuber zuckte zusammen und stieß vor Schmerz ein heiseres Röhren aus. Florens gab ihn erst frei, nachdem er ihn in den Korridor gedrängt hatte. »Kommen Sie mir nicht wieder unter die Augen.« »Das werden Sie noch bereuen.« Der »Supraselekteur« rieb sich den Arm, die Miene zu einer Fratze der Feindschaft verzerrt. »Sexdroiden kaputtdengeln, das können Sie.« Seine Stimme röchelte nun asthmatisch. »Aber Pflichtgefühl gegenüber der genetischen Reinheit des Menschen kennen Sie nicht.«
Die Tür schloß sich und enthob Florens der Versuchung, dem Mann zum Abschied noch eins an die Brägenbox zu bimsen. Verärgert machte er sich daran, seine Kleidung einzusammeln. »Was hast du vor, Chérie?« Jelena fläzte sich auf dem verwühlten Bett und schaute ihm zu, zupfte sinnlich an den Löckchen ihres Schamhaars. »Ich gehe zum Chefadministrator. Er muß mir Rede und Antwort stehen. Mich püscht man an, während ich keine Ahnung habe, was sich da abspielt.« Mit einem Tritt warf er den Sexdroiden ganz vom Bett; der Apparat rumste auf den Boden und blieb mit dermaßen verdrehten Gliedern liegen, als hätte er einen grausigen Todeskampf durchgestanden. »Sofort?« Jelena verbarg nicht ihre Enttäuschung. »So eine übertriebene Eile paßt gar nicht zu dir, Chérie.« Sie haschte nach Florens' geschrumpftem Klöppel und hielt ihn daran fest. »Auf 'n paar Minuten soll's nicht ankommen. Du bedeutest mir allemal mehr als der Chef.« Florens ließ sich zurück aufs Bett ziehen. Andächtig lutschte er an Jelenas Brustwarzen, und sie schabte mit den Fingernägeln seinen Schieber vorsichtig rund um die Eichel, bis heißes Schwellen die Lustbereitschaft des Organs erneuerte. Diesmal jedoch gelang es Florens nicht – nicht einmal mit Jelena in seinen Armen, dann rittlings auf
seinem Pfahl –, das Undurchschaubare der Ereignisse völlig in den Hintergrund seines Bewußtseins zu vertreiben. In der Zentralen Administration der Satellitenbasis Dschinnistan lümmelte sich Dr. René Maigreur in seinem Sensopolster-Sessel hinterm Duktuson-Pult. Er war umgeben von den (für sein Empfinden) liebenswerten Accessoires seines Privilegiertendaseins: dem CompuTerminal; seiner Direktverbindung zu den Mesopositroniken der Basis, dessen geheimste AbrufCodes nur er kannte; zwei Visokommunikatoren mit Anschlüssen für das gesonderte zentraladministrative und allgemeine basisinterne Kabelnetz, den externen Funkverkehr innerhalb des Einsatzbereichs der Basis – des Alls zwischen Asteroidengürtel und Jupiter – sowie einer Zusatzschaltung für den Interplanet-Veloxmitterfunk. Dazu kamen Diktamat, PflichtübungsHolofoto seiner Gattin, einer Frau von statusgemäßer Schönheit und Eleganz; Speicherabtaster, Bildbetrachter- und -analysator-Kombination (die er bisweilen auch zum Anschauen seiner Lieblingspornos verwendete); Schreibutensilien von gediegener Kostbarkeit, eine alte, in Patina ergrünte Statuette des ApisStiers (den er allerdings für das Goldene Kalb hielt), die ihm anläßlich der Amtsübergabe sein Vorgänger geschenkt hatte; jede Menge Folienpapier, aufgeteilt
in beschriebene, bedruckte, noch ungebrauchte Stapel und – in dem Paar Abfallkörbe aus versilbertem Drahtgitter links und rechts seines Pultes – zerknitterte Haufen, sorgsame Demonstrationen enormer Arbeitsbelastung, an der er als Chefadministrator nicht den kleinsten Zweifel aufkommen lassen durfte. Die Laserpistole, die er aufgrund vorerst harmloser Paranoia in der Schublade des Pultes aufbewahrte (er mißtraute den Funktionären der SpaceMontanGewerkschaft genug, um sich gelegentlich anfallartig vor Meuterei zu fürchten), hatte Griffschalen aus Elfenbein und hätte ihn in Anbetracht der auf der Erde angebrochenen Endzeit des Tierlebens und der OMNIZIL-Artenschutzverordnung andernorts wahrscheinlich unangenehmen Fragen vor Gericht ausgesetzt, aber solange er mit dem geschätzten Blitziblitzi nicht auf den praßpjäkta von Mega-Moskau, den Alleen von Berlin oder den Boulevards von Brasilia flanierte, sondern ihn bloß hier in der Satellitenbasis in petto hielt, konnte er getrost auf die Sophistik der Justiz scheißen. Ein von afromarsianischen RestPygmäen handgewobener Teppich bedeckte den Fußboden seines Arbeitszimmers fast von Wand zu Wand, und 3D-Kartenprojektionen des Sternenhimmels an selbigen Wänden rundeten die Atmosphäre von Kompetenz und Kultur ab. Trotz seines Topniveau-Settings marterte jedoch
schon seit längerem Unzufriedenheit Maigreurs Gemüt, und minderte seine Lebensfreude erheblich. Die Ursache bestand aber weder aus der Warze auf seiner rechten Wange, die infolge ihrer psychosomatischen Natur allen Operationen hartnäckig Paroli bot und jedesmal wiederkehrte, noch daraus, daß seine Frau ihre Absicht bekundet hatte, den Zehnjahresehevertrag, der in acht Monaten endete, um keinen Preis zu verlängern. Ebensowenig lag der Grund darin, daß er womöglich zu geringe Einkünfte bezogen hätte; Maigreur krankte vielmehr an einem alten menschlichen Seelenleiden: Er wollte mehr sein. Wo in Raum und Zeit stehe ich eigentlich? Diese Frage hatte ihn im Laufe der letzten beiden Jahre häufig beschäftigt. Und er glaubte die Antwort gefunden zu haben. Er fühlte sich wie ein Streckenwärter der Raumfahrt – und wäre lieber einer ihrer Taikuns gewesen. Es ödete ihn an, den ständigen Seilakt zwischen den Bedürfnissen wissenschaftlicher Forschungen einer- und der Notwendigkeit einer positiven Bilanz andererseits aufführen zu müssen, auf den OMNIZIL ihn angesichts der bisherigen Klassifikation der Satellitenbasis festlegte. Vaku-Metallurgie. Status quo. Abwehrkampf gegen Rote Zahlen. Planetologie. Astrophysik. Rohstoffsoll fünfzig Millionen BRT per annum. Astronomie. Saldo. Lückenbüßerei. Leckt mich doch am Arsch.
Dabei standen der Satellitenbasis Dschinnistan alle technischen Voraussetzungen für eine profitable wirtschaftliche Entwicklung zur Verfügung. Der Satellit zählte zur Serie D (für Delegat) 7, mit deren Bau die lunare Raumfahrtindustrie vor einem halben Jahrzehnt begonnen hatte, und war das zweite von bislang insgesamt zehn Exemplaren des Typs im Solarsystem, alle mit Namen benannt, die mit D anfingen: Donar (Erdumlaufbahn), Dädalus (begleitete den Merkur um die Sonne). Doxolog (Venusorbit), Digamma (umkreiste den Mars), Dezimus, Diplom und Dixieland (alle drei im Asteroidengürtel). Darius war vor wenigen Wochen an seiner bestimmungsmäßigen Position im Saturn-Bereich eingetroffen; Derby befand sich erst unterwegs zum Uranus, hatte noch nicht einmal die Asteroiden erreicht. Und Dschinnistan kreiste im Abstand von 650.000 km in geostationärer Bahn um den Jupiter, eingeordnet in die komplizierten Bewegungen seiner vierzehn Monde, mit denen gemeinsam der Planet die gigantischste Rohstoffquelle im Sonnensystem abgab, deren Erschließung bis jetzt nur in den Anfängen steckte. Der in Modulbauweise konstruierte Hohlzylinder des Satelliten mit einer Länge von 12 km und einem Durchmesser von 1,5 km zeichnete sich – wie die SpaceCitys und alle moderneren Satelliten – durch den Vorzug rotationserzeugter Normalschwerkraft in den an
der Innenseite des Zylinders montierten Moduleinheiten aus, die alle notwendigen, erforderlichen und wünschenswerten Einrichtungen für das zirka 14.500 Personen starke Personal der Basis umfaßten: Hüttenwerke, Raffinerien, Fabriken, Laboratorien aller Art, Großküchen, Reparaturabteilungen, Büros, Energiestationen, Quartiere, Sport-, Freizeit- und Erholungszentren, Forschungsinstitute, Observatorien, Schulungs- und Fortbildungsinstitutionen, Filialen der größten irdischen Banken, Docks, HydroponikKombinate, Biotope, Kliniken ... und vieles andere, darunter einen von Impunitatinnen und ihren Loddeln unterhaltenen Puff. Fast dreißig Raumschiffe sämtlicher Klassen sowie eine bereits kaum mehr überschaubar gewordene Anzahl von bemannten Orbitalstationen, robotischen oder automatischen Raumflugkörpern, Monitor- und Relaissatelliten und DepotTrabanten garantierten hohe Kommunikationsdichte, weitgehend lückenlose Ambitusüberwachung sowie ausreichenden Transportraum für jegliche Zwecke. An siebzehn Stellen fanden auf Jupiter und seinen Monden Abbau und Gewinnung von Rohstoffen statt. Der eine Million km vom Jupiter entfernte Ganymed mit seinen Quecksilbervorkommen machte Dschinnistan in bezug auf das als Treibstoff für den im interplanetaren Raumverkehr benutzten Ionenantrieb unentbehrliche Element zum Selbstversorger.
Ich leite einen Weltraum-Großbetrieb, wie er zumindest in diesem Industriezweig einmalig ist und die besten Zukunftsaussichten haben könnte, sann Maigreur mit einer Bitterkeit, die das Wohlergehen seines Magens gefährdete. Ihm war zumute, als zögen sich seine Verdauungsorgane zu einem solchen Klumpen zusammen, daß sie unmöglich noch fester geballt werden konnten. Mit geistesabwesender Gewohnheitsmäßigkeit griff er in ein Seitenfach seines Pults und begann eine Tablette zu lutschen. Aber der Umsatz steigt viel zu langsam. Der Profit liegt hart an der Rentabilitätsgrenze. Vaku-Metallurgie ist kaum noch ausbaufähig. Konkurrenz des Asteroiden-Trios viel zu stark. Die Petrochemikalien sind unser Trumpf. Aber die Scheißroboter sind keinen Furz wert. Die in der Jupiteratmosphäre eingesetzten, ausschließlich robotischen oder telekontrollierten Maschinen hatten den Nachteil einer kostenintensiv hohen Ausfallquote, weil die Temperatur schon 1000 km unterhalb der Wolkenobergrenze des Riesenplaneten rasch auf mehr als 3500° Celsius stieg, und selbst Gerät aus Quartex-Schaumstahl – eine vierschichtige Legierung aus Ultraduralium, Korium, Titanium und Irenium, die man in der ganzen Raumfahrt der vielfältigsten Verwendung zuführte – unter solchen Bedingungen nur eine kurze Lebensdauer hatte.
Genausogut könnte man sie der Reihe nach in die Sonne schießen. Wieso erzielen diese lahmarschigen Holoiden bei Hughes-Mallandaine-Boeing Luna Astronautics eigentlich keine Fortschritte mit der Entwicklung des SynthStahls? Jedes Jahr wird er wieder neu angekündigt. Und jetzt muß ich obendrein Sorgen wegen der Raumpiraterie haben ... Hoffentlich passiert nichts. Irgend etwas fehlte. Ein Faktor X, der Dschinnistan eine interplanetare ökonomische Vorrangstellung sichern konnte, ein Monopol oder etwas ähnliches, das den Umsatz der Basis ein für allemal über das offizielle SpaceIndustrie-Limit anschwellen ließ und sie von dem Status einer vom OMNIZIL staatlich abhängigen Rohstoff-Produktions- und Forschungsstätte in den Status einer Autonomen Kolonie erhob. Aber Maigreur dachte längst viel weiter. Von der Autonomie bis zur Autokratie erforderte es in Maigreurs Spekulationen nur einen kleinen Schritt. Autonomie. Autokratie. Autokrat. Diese Wortfolge übte auf sein an Gefühlswärme armes Innenleben die Wirkung eines Mantras aus, flößte ihm Euphorie und Optimismus ein. Seit kurzem sah er eine reale Chance. Wenn diese Substanz, die Shakelance unter der Io-Oberfläche aufgespürt hat, wirklich die Eigenschaften hat, wie er behauptet ... Kaum auszudenken. Dann kann Dschin-
nistan als Autonome Kolonie einen völlig neuartigen Industriezweig gründen. Und ich werde alles in der Hand haben. Dr. René Maigreur, der Planetenarchitekt. Wohltäter der Menschheit. Hm-hmm-hmmm ... Er rieb sich die aus Nervosität klammen Händchen. Vorläufig hatte er nämlich noch Anlaß zur Beunruhigung. Falls sich Shakelance irrt ... oder das Zeug nicht verwertbar ist ... Die Kosten für die Io-Aktion müßten ein Loch in den Etat reißen, von dem er sich nicht vorzustellen vermochte, wie er es während des laufenden und nächsten Geschäftsjahrs stopfen könnte. Zittrig langte er nochmals ins Pult und schluckte zwei Tran-Pillen. Gerade hatte er wieder den aktuellen Bericht der Astrophysikalischen Abteilung über Jupiters Dekameter-Eruptionen aufgeschlagen – deren Ursprung ärgerlicherweise nach wie vor ungeklärt blieb –, um ihn flüchtig zu Ende zu lesen und zwecks Genehmigung zur Weiterleitung an OMNIZIL abzuzeichnen, da summte das Viso-IntKom. Sobald ich hier das alleinige Sagen habe, dachte er erbittert, als er das Sensorfeld berührte, werde ich als erstes einen Schlußstrich unter diese ganze teure und sinnlose Forscherei ziehen. Im nächsten Moment sank seine heutige Laune auf den Tiefpunkt.
»Mr. Bonnamy wünscht Sie dringend zu sprechen, Dr. Maigreur.« Bonnamy? Was will der Dreckskerl? Hat doch Sonderurlaub, jede Menge Zeit, um zu saufen und Frauen zu belästigen ... Kann man sich denn auf niemanden mehr verlassen? Neben dem bizarr geschminkten Gesicht der Sekretärin sah er im Hintergrund des Vorzimmers beim Datenkompaktor Bonnamys verschwommene Gestalt stehen. Der miese Poussierstengel wird doch wohl nicht irgendwie aufmerksam geworden sein ...? »Und ich wünsche gegenwärtig keine Störungen. Ich habe zu tun.« Maigreur streckte den Mittelfinger erneut nach dem Sensor aus. »Kommen Sie mir nicht auf diese Tour, Maigreur«, hörte er im selben Augenblick die Stimme des Geologen. Die Sekretärin rief dazwischen und sprang auf, so daß sie den Aufnahmebereich der Kamera ihres IntKoms verdunkelte und Maigreur nicht mehr sehen konnte, was im Vorzimmer geschah; aber er ahnte, was bevorstand. Er schaffte es gerade noch, sich zwei weitere Tranquilizer auf die Zunge zu legen, ehe die ungesicherte Schiebetür aufglitt und Bonnamy mit dem Gebaren bedachtsamer Bedrohlichkeit ins Büro des Chefadministrators schlenderte. Unwillkürlich riß Maigreur die Schublade auf und haschte nach der Laserpistole.
3 Florens' Gutwilligkeit hatte sich erschöpft. Infolge der Geduldsfolter, die er auf Io um Percy Grindlings willen durchgestanden hatte, der aus jenem strapaziösen Aufenthalt resultierten chronobiologischen Dysfunktionen – erst seit wenigen Tagen gänzlich überwunden – sowie der in den vergangenen zwei Stunden ertragenen Ärgernisse, war sein Langmut nunmehr bedeutend verringert, und Maigreurs Versuch, ihn abblitzen zu lassen, überschritt für sein Empfinden die Grenze des Akzeptablen. »Was fällt Ihnen ein?!« Der Chefadministrator duckte sich hinter das extravagante Styling seines Duktuson-Pults, als rechne er ernsthaft mit Tätlichkeiten. In Maigreurs Augen flakkerten Jähzorn und Abneigung; wie immer, wenn ihn plötzlich irgendwer verunsicherte, durchsetzten kehlige Kiekser seine Äußerungen, als schnüre sein notorisches Unvermögen, Widerspruch hinzunehmen – oder nur Einwände sachlich zu erwägen – ihm aus Aggressivität die Gurgel zu. Er schlotterte regelrecht, kaum zur Bändigung seiner Wut imstande, während er langsam aufstand und die Handflächen auf die Pultplatte stützte, das mager-hagere Gesicht mit der unausrottbaren Warze auf der Wange fahl wie Methanschnee.
»Das ist ja ...! Das ist Respektlosigkeit! Ich verbitte mir ...« Florens winkte achtlos ab, eine Gebärde, die Maigreur einen solchen Schrecken einjagte, daß er mitten im Satz verstummte. Gezeter des Chefadministrators hatte er sich bereits so oft anhören müssen, daß dergleichen ihn nicht mehr beeindruckte. Unaufgefordert machte er es sich im Sessel vor dem DuktusonPult einigermaßen bequem und mitverfolgte das von allen Anzeichen des Psychotischen gekennzeichnete Mienenspiel des Chefadministrators. »Bedauerlicherweise ist Ihr Verhalten von einem Stil, der es mir sehr erschwert, Ihnen Respekt entgegenzubringen, Monsieur«, sagte Florens laut und deutlich, bevor Maigreur sich andere Großkotzigkeiten überlegen konnte. »Sie treiben Sachen, die Sie mir verschweigen, aber von denen gewisse Leute offenbar der Ansicht sind, daß sie auch mich betreffen. Dadurch haben Sie mich in eine unangenehme Lage gebracht. Ich möchte wissen, was auf Io los ist.« Florens' Entschlossenheit befähigte ihn trotz seines Mißmuts zu maßvollen Worten. Ein Choleriker, dachte er. So einem Typ bin ich jederzeit überlegen. Nicht als einziger hatte er sich schon etliche Male darüber gewundert, durch welche rätselhaften Umstände Dr. Maigreur an den Posten des Chefadministrators befördert worden, wieso sei-
ne Frau ihm nicht bereits vor Jahren weggelaufen war, doch niemand schaffte es, sich plausible Hintergründe so transzendenter Mysterien zusammenzureimen. Unvermutet richtete Maigreur seine Rage gegen die Sekretärin, die Florens am Eindringen ins Chefzimmer nicht hatte hindern können und noch wie in völliger Desorientierung an der Tür wartete. »Raus!« Seine Stimme verstieg sich zu Kreischlauten. »Haben Sie keine Arbeit? Ich dulde kein Geömmel! Raus!« Mit energisch aufeinandergepreßten Lippen vollzog die junge Frau auf der Stelle eine Kehrtwendung und stapfte mit Vehemenz hinaus. Florens enthielt sich eines Grinsens. Man kannte Maigreur dafür, daß er schon Dutzende von Sekretärinnen in Weinkrämpfe gestürzt hatte, und es sah ganz danach aus, als solle es auch so weitergehen. Dieser außerordentlich attraktiven Person – von der Natur beschenkt mit Melonenbrüsten und strammem Hinterteil, wie Florens es am liebsten mochte – traute er allerdings zu, daß sie genug Zivilcourage hegte, um nach einer Weile sogar einen Gent-Zombie wie Maigreur mit gehörigem Zoff zu bedienen. Der kurze Wutausbruch schien den Chefadministrator in einigem Umfang zu beschwichtigen. Er sackte in den Luxus-Polstersessel, als hätte er soeben einen Orgasmus gehabt. Seine Mimik und Körper-
sprache – Verkneifen der Gesichtszüge, Verschränken der Arme auf der Brust – bezeugten Abweisung; offensichtlich verlegte er sich auf Frost und Big-BoßAllüren. »Es bedarf keiner näheren Erläuterung, Mr. Bonnamy«, sagte er betont geschäftsmäßig, »daß ich Ihnen bezüglich der Maßnahmen, die ich im Rahmen meiner Leitungstätigkeit treffe, keinerlei Auskünfte geschweige denn Aufschlüsse schuldig bin. Wenn Sie also meinen, Sie ...« »Ich meine, Sie hätten sich damit nichts vergeben, mir mitzuteilen«, unterbrach Florens ihn, »daß Sie ein Forscherteam nach Io schicken. Es hat sich herumgesprochen, daß ich dort merkwürdige Höhlen entdeckt habe, und nun kommen die sonderbarsten Zeitgenossen zu mir und stellen dumme Fragen, auf die ich keine Antworten weiß.« »Fragen?!« plärrte Maigreur wie ein Hysteriker, den nur eine starke Dosis eines Psychopharmazeutikums vor einem akuten epileptiformen Anfall bewahrte. »Was für Fragen?« »Nach Informationen über irgendeine obskure Materie, die dort vorhanden sein soll, von der ich aber jedenfalls nichts gesehen habe, und wovon mir auch kein Mensch etwas erzählt hat.« Florens schlug die Beine übereinander und versuchte, sich die Sekretärin nackt vorzustellen. Er erübrigte sich, Maigreurs Reak-
tionen zu beobachten. Jeder hätte gemerkt, daß sich der Chefadministrator am Rand eines Nervenzusammenbruchs befand. »Und wer stellt besagte Fragen?« Maigreurs Lider zuckten und flatterten, als blinzle er in grelles Licht. Während er Florens anzwinkerte, neigte er sich ein wenig seitwärts, kramte anscheinend in einem Fach seines Pults, schob sich dann Pillen in den Mund. Florens erlaubte sich die Andeutung eines Lächelns der Überlegenheit und Verständigungsbereitschaft. »Sie sind zu mir nicht offen, Monsieur. Das motiviert mich allzu wenig. Wenn Sie mir nichts erzählen, erfahren Sie auch von mir keine Silbe.« Auf Maigreurs Schädel zitterten die graublonden Haarbüschel, stark gelichtet durch seine Lebensstrategie der Selbstzermürbung, wie Materialisationen seiner Gehirnwellen, Gespinste aus Ektoplasma. »Durch mangelnde Kooperation könnten Sie zu einem Sicherheitsrisiko werden, Bonnamy. Dann ist es gut möglich, daß der SekurService Ihnen die Antworten herauskitzelt.« Seine Bösartigkeit zwang ihn zu unnatürlich beherrschter Sprechweise. Florens' Bedürfnis, eine Erklärung zu erhalten, erhöhte sich nun zu wirklichem Interesse. Anscheinend lagen Atherden und Atzehuber mit dem Verdacht, daß sich hinter der Geheimniskrämerei des Chefadministrators etwas von größerer Tragweite verbarg,
nicht völlig falsch. »Das ist ziemlich harte Strahlung, was Sie da von sich geben«, sagte Florens in neutralem Ton, plötzlich davon überzeugt, daß es ratsam war, Maigreur nicht weiter zu reizen. »Aber Sie irren sich, falls Sie glauben, ich wäre hier Ihrer Willkür ausgeliefert. So was läuft nicht.« »Ich kann Ihnen soviel verraten«, erwiderte Maigreur mit miserabel gespielter Leutseligkeit, »daß es um den Schutz wichtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse geht, die ich als nicht für die Öffentlichkeit bestimmt einstufe, bis ihre Verwertbarkeit geprüft ist. Mehr darf ich Ihnen momentan einfach nicht sagen. Tatsache ist, daß ich nur eine kleine Zahl von Experten eingeweiht habe, ja, und dabei wird's zunächst bleiben. Dieser Vorgang ist so wichtig, daß wir's uns nicht leisten können, zu Dutzenden Zerotypen herumlaufen und alle Arten von Halbwahrheiten verbreiten zu lassen. Das gilt auch für Sie.« »Offensichtlich zirkulieren bereits Halbwahrheiten, und wie ich vorhin erwähnt habe, gibt's Leute, die der Meinung sind, ich wüßte die volle Wahrheit«, entgegnete Florens, ohne durch die Herabsetzung provoziert zu sein. Die Arroganz des Chefadministrators, seine Ideologie des Elitemythos, galten in der Satellitenbasis als Widrigkeit, mit der man leben mußte. »Diese Meinung ist durchaus nicht so abwegig. Jeder kann sich denken, daß zwischen den Io-Höhlen, die
ich entdeckt habe, und der von Ihnen eingeleiteten Aktion ein Zusammenhang existiert. Man will von mir Informationen, aber ich weiß nicht Bescheid.« »Mr. Bonnamy, ich kann's nicht ändern.« Maigreur entfaltete nun ein Gehabe der Theatralik. »Seien Sie 'n bißchen flexibel, Mann! Legen Sie diese Kleinkariertheit ab, betrachten Sie die Welt in höheren Dimensionen. Schauen Sie!« Er fuchtelte hinüber zu den Kartenprojektionen des Weltalls. »Haufenweise Kosmos! Möglicherweise steht die Zukunft der Menschheit an einem Wendepunkt. Wollen Sie da wegen einiger neugieriger Nullen querschießen?« Ruckartig beugte er sich vor und widmete Florens einen Blick, der sich vermutlich durch beeindruckende Eindringlichkeit auszeichnen sollte, ihm jedoch nur ein leicht irres Aussehen verlieh. »Wer sind diese Leute?« »Sie zeigen mir wahrhaftig keinerlei Entgegenkommen, Dr. Maigreur.« Florens machte Anstalten zum Aufstehen. Er kannte zwar Mittel, um den Chefadministrator unter Druck zu setzen, fand sich aber mit der Aussichtslosigkeit der Unterhaltung ab. »Ich habe die Befürchtung, daß die Neugier gerade aufgrund der Unklarheiten, die Sie bewußt bestehen lassen, noch zunehmen wird. Aber ich werde dafür sorgen, daß nicht ich der Leidtragende dieser Entwicklung bin, sondern daß man künftig alle entsprechenden Fragen Ihnen stellt.« Er stieß den Sessel zurück,
nickte dem Chefadministrator zu und wandte sich zur Tür. »Hören Sie zu.« Hastig erhob Maigreur sich hinter seinem Duktuson-Pult ebenfalls. »Ich bin bereit, Sie grundsätzlich über das, dessen Erforschung ich auf Io angeordnet habe, zu informieren, wenn auch nur grundsätzlich, in gewissem Umfang, der die Wirtschaftsinteressen unserer Satellitenbasis nicht gefährdet. Aber ich verpflichte Sie gemäß Artikel Achtzehn des Satellitenstatuts zum Schweigen. Kapiert?!« Florens blieb stehen. Offenbar fürchtet der Knäcke nichts mehr als verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit, schlußfolgerte er aus Maigreurs Äußerungen. Wahrscheinlich wird er mir irgendwelchen Stuß auftischen. Doch das Manövrieren des Chefadministrators konnten den Entschluß nicht beeinflussen, den er gefaßt hatte. Dem werde ich, dachte er genüßlich, das Quecksilber aus dem Tank zapfen. »Na schön. Lohnt's sich, daß ich mich wieder setze?« »Nein«, antwortete Maigreur sofort und mit Nachdruck. »In dreißig Stunden Normzeit erwarte ich Professor Shakelance von Io zur ausführlichen Berichterstattung zurück. Bis dahin kann ich selbst keine Aussagen machen. Kommen Sie dann noch mal rein. Und jetzt halten Sie mich nicht länger von der Arbeit ab.« Florens strebte zur Schiebetür. »Und beachten Sie
meine Warnung«, rief Maigreur ihm mit Gefistel in der Stimme nach. Als Florens das Chefbüro verließ, sah er die Sekretärin mit flinker Bewegung den Sensor ihres VisoIntKoms antippen und das Gerät abschalten. Anscheinend hatte sie den Disput belauscht. Maigreur, der seinen Apparat bei Florens' Eindringen wahrscheinlich zu desaktivieren vergessen hatte, hatte nichts davon bemerkt, weil die Frau gewitzt die Plastikschutzkappe aufs Kameraobjektiv des Vorzimmer-IntKoms gesteckt hatte. Nun widmete sie Florens ein Lächeln der Sympathie, mißachtete die schroffe Falte des Mißfallens zwischen seinen Brauen. »Der Stänkerbock hat Sie belogen.« Sie sprach gedämpft, aber unbekümmert. »Er hat den Termin mit Shakelance zehn Stunden früher, schon morgen nachmittag.« Mit Schwung drehte sie sich mitsamt ihrem Servosessel Florens zu und bot ihm eine Marihuette Marke High Society an. »Nee, danke.« Florens zögerte in zeitweiliger Unentschlossenheit. Das ist es also. Maigreur will sich mit Shakelance absprechen und mir dann von ihm irgendwelchen Sternenstaub servieren lassen, in der Auffassung, ich würde jemandem meines Fachs mehr glauben als ihm. Prof. Shakelance zählte zu den führenden Planetologen Dschinnistans, und infolgedessen kam Florens des öfteren beruflich mit ihm in Kon-
takt, ohne den Wissenschaftler jedoch näher zu kennen. Angestrengt versuchte er aus der Miene der Frau etwas über die Beweggründe ihrer Einmischung abzulesen, noch ohne sich zur Erwiderung des Lächelns durchringen zu können, aber die drei gezackten Streifen aus Metallic-Schminke in Weinrot, Weiß und Royalblau, die sich auf den Wangen vom Mundwinkel aus bis ums Ohr auffächerten, vereitelten seine Absicht. Das Make-up glich einer Maske rein professioneller Freundlichkeit, eine zur Zeit aktuelle Zweckmäßigkeit für alle Bedauernswerten, die Vorzimmer-Jobs ausübten. »Wissen Sie sonst irgend was über seine ...« – mit dem Daumen wies Florens über die Schulter auf Maigreurs Tür – »... neusten Aktivitäten?« Die Sekretärin entzündete sich eine High Society und wölbte mit dem ersten Zug den Busen unter der taillierten, aus zahlreichen dünnen Wollkordeln genähten, cremefarbenen Lumberbluse. Rauch umwallte ihre kupferrote Kurzfrisur, als sie den Kopf schüttelte. »Er hat alles persönlich mit dem Professor besprochen.« Florens' Mürrischkeit zum Trotz blieb sie bei ihrem Lächeln. »Ich bin Shaida Antelami.« Florens konnte nicht länger anders, er lächelte gleichfalls. In seinem Weltbild hatten die Machenschaften von Ehrgeizlingen und Raffniks wenig Be-
deutung; Schwierigkeiten und Probleme hielt er für das Vergänglichste im Leben; nicht einmal den von Maigreur so beschworenen Kosmos nahm er besonders wichtig. Viel wichtiger war ihm, daß Menschen sich mochten. Shaida erregte auf ihnen einen zunehmend begehrenswerten Eindruck. Unverkennbar war sie intelligent, hatte Kultur, Humor und ein gewisses Maß an Pfiffigkeit, dazu Mumm und in harmonischer Ergänzung ihrer Rundungen sehnige Glieder, was ersichtlich war an den langen Beinen, die aus ihren Flattershorts ragten und Sportlichkeit bezeugten: alles in allem der Frauentyp, den Jelena schätzte. Spontan beschloß Florens, sie ihr vorzustellen. »Wann treffen sich Maigreur und der Professor?« »Morgen, um vierzehn Uhr. Hier.« »Und wir drei?« Florens stützte sich aufs Gehäuse des Viso-IntKoms, zog eine Miene gespannter Erwartung. Shaida verkniff auf putzige Weise die Augen, ebenso still amüsiert wie Florens; daß sie von seiner Beziehung zu Jelena wußte, stand außer Zweifel. »Nachher im Panoramarestaurant. Zwoundzwanzig Uhr dreißig. Eher als neun räumt der Chef selten die Attrappen.« Florens nickte und verabschiedete sich mit einem sanften Umfassen von Shaidas Unterarm. Er hatte
noch über zweieinhalb Stunden lang Zeit, um Hattalaye aufzusuchen, den News-Redakteur des Multimedia-Magazins Superspacer, und die Unbequemlichkeiten anzustiften, die er Maigreur zu bereiten gedachte. Mohammed Hattalaye siebte den Informationsstrom, der permanent aus allen Teilen des Sonnensystems die Satellitenbasis erreichte, in einem knapp 20 m2 großen Raum, direkt neben der VeloxmitterFunkstation in Sektor XII gelegen, der außerdem ein Biotop skandinavischer Ökosphärik sowie zwei Hotels umfaßte, ein Hilton und das von der SpaceMontan betriebene Hotel Neptun. Herausgeber und Redakteure des Superspacer-Magazins hatten es immer vermieden, zu Papageien irdischer Mediengiganten, OMNIZILS oder Dschinnistans Zentraler Administration zu werden – in einer Welt, in der die Tatsache, daß es nicht schnell genug gelang, 32 Milliarden Menschen demographisch und sozial sinnvoll im Solarsystem zu verteilen, als Vorwand diente, um Mittelmäßigkeit, Opportunismus und Anpassung zu fördern, ein um so beachtlicheres Phänomen –, und deshalb blieb das Magazin stets lediglich Empfänger der gesetzlichen Mindestzuschüsse; Spenden aus den Reihen des Satellitenpersonals trugen regelmäßig zur Deckung der Restkosten bei.
Umgeben von mit Spulen, Kassetten, Speicherkristallen, Akten und Fachliteratur vollgestopften Regalen an allen vier Wänden, eingekeilt durch Mischpulte, Laserdrucker, veraltete Thermodrucker, Elektroniken und Monitore, blickte der beleibte Indonesier vom Bildbetrachter auf, als Florens in die Enge der Räumlichkeit hineinstolperte, weil er einen Stapel Filmrollen neben dem Eingang übersehen hatte, die nun über den Fußboden kullerten und schepperten. Er schwang seine Klotzgestalt herum. Beim Anblick Florens' fältelte ein Grinsen seine ungewöhnlich glatten Wangen – dank der kosmetischen Operationen, mit denen man seine Pockennarben beseitigt hatte, standen sie an Zartheit einem Kinderpopo nicht nach –, und er machte den Apparat aus. »Florens! Willkommen in meiner Bude, o Sponsorgott, Schutzheiliger unserer Geschäftskonten, Kultheros der Chefredaktion und Liebling unserer einzigen Buchhalterin!« Mit ausgebreiteten Armen deutete er auf den Wirrwarr, in dessen Mitte er saß. »Wie deine anbetungswürdigen Spenderaugen sehen, hat mein Etat noch immer nicht die Anschaffung eines zweiten Stuhls erlaubt, also sei so gütig, staple die Rollen wieder auf und pflanz deinen ewiger Verehrung gewissen Hintern drauf.« Florens sammelte die Filme ein und strich sich, sobald er auf der wackligen Säule aus Rollen Platz ge-
nommen hatte, das Haar aus der Stirn. »Gibt's interessante Neuigkeiten?« »Von der Erde?« Voller Überdruß winkte Hattalaye ab. »Der übliche Scheiß. Aber anscheinend bestätigt sich der Verdacht, daß neuerdings tatsächlich Raumpiraten aktiv geworden sind. Wie der SekurService ermittelt hat, sind Teile der Ladung aus den vier in den letzten Monaten spurlos verschwundenen Container-Frachtern auf dem Mars aufgetaucht; 'n Beweis, daß keine Unglücksfälle vorliegen.« »Nicht zu fassen.« Florens kratzte sich am Kinn. »Von wo aus könnten solche Gangster denn operieren? Ich kann mir bloß vorstellen, daß Sie 'n Stützpunkt im A-Gürtel haben, 'ne illegale Siedlung oder so was.« »Wahrscheinlich.« Hattalaye nickte mehrmals bedächtig. »Auf jeden Fall muß dahinter Zaster stecken. Mensch, um dergleichen überhaupt anleiern zu können, muß man doch erst mal was investieren, womöglich haben sie 'n Asteroiden ausgehöhlt, um sich darin einzunisten, sie müssen wenigstens ein Raumschiff haben, und 's muß umgebaut, für derartige Zwecke umgerüstet worden sein ... Und das alles auch noch ganz im geheimen.« »Vielleicht die Mafia?« »Kann sein. Da und dort hegt man allerdings schon andere Vermutungen.« Florens hob die Brauen und
verzog das Gesicht zu einem Ausdruck stummer Fragestellung. »Aus der Konferenz der Satellitenchefs ist inoffiziell berichtet worden«, ergänzte Hattalaye, indem er die Lautstärke seiner harschen Stimme senkte, »daß es Riesenkrach gegeben hat. Bagynski soll indirekt beschuldigt worden sein, er sei der Drahtzieher der Piratenaktionen.« »Bagynski? Der Chefadministrator von Dixieland? Kommt mir kaum glaublich vor.« Nachdenklich schweifte Florens' Blick über das Chaos aus Archivund Informationsmaterial, Utensilien und Apparaturen in Hattalayes ›Bude‹, in der man den Redakteur nahezu bei Tag und Nacht antreffen konnte. Beruf hatte für ihn etwas mit Berufung zu tun. »Was für 'n Motiv sollte er haben? Das sieht mir eher nach Anschwärzung seitens weniger erfolgreicher Satellitenchefs aus.« »Rote Zahlen«, sagte Hattalaye im Tonfall einer Enthüllung. »Er steckt im Minus.« »Was?!« »Jawohl! Seit Diplom und Dezimus vor fünf Jahren die Herstellung einer Wirtschaftsvereinigung mit Dixieland abgelehnt haben, ist Bagynski zusehends in Schwierigkeiten geraten. Er hat zu viele Industriezweige auf einmal ausgebaut, und nun kann er das Rohstoffsoll nicht mehr erfüllen, also beschneidet OMNIZIL ihm proportional dazu die staatlichen Gel-
der, und vor ungefähr einem Jahr haben Bankenkonsortien ihm Kredite verweigert. Auf Dixieland herrscht Unruhe wegen beträchtlicher Kürzungen der Personaldividenden, und die SpaceMontan will ihn verklagen. Der Mann steht bis zum Hals im Fäkaltank.« »Zut-alors! Wenn so was sogar im A-Gürtel möglich ist, frage ich mich ernsthaft, wie lange Maigreur uns noch im Haben halten kann.« Bestürzt dachte Florens an seine kritische Finanzsituation. Dividendenkürzungen ...! So etwas fehlte mir gerade noch. »Und was geschieht jetzt?« »Ich nehme an, wir werden bald wissen, wer die Piraten sind. Matsumoto zieht 'ne richtige Flotte von Spider-Interzeptoren und Scout-SpaceJets zusammen. Er ist schon dabei, den A-Gürtel mit Sondendrohnen zu spicken.« Die Erwähnung des von einer Legendenbildung der Hartstrahligkeit umwobenen SekurServiceKommandanten vergegenwärtigte Florens das Gefährliche des Umgangs mit Bonzentypen, Zombies wie dem abgewrackten Atherden oder Maigreur; mit plötzlichem Mißvergnügen erinnerte er sich an den defekten Sexdroiden neben seinem Bett. Jelena hatte zugesagt, den Ausfall zu melden. Hoffentlich nutzte der Chefadministrator das Malheur nicht aus, um ihnen Schrott auf den Kurs zu legen. »Sag mal«, erkun-
digte Florens sich unvermittelt, »was für 'n Macker ist eigentlich Atherden? Muß man ihn ernstnehmen?« »Atherden? Der Kophta der Sukzis?« Hattalaye äußerte etwas wie einen Grunzlaut. »War mal 'n prominenter Top-Gen-Chirurg. Bis aufflog, daß er 'n illegalen Handel mit Sperma von Nobel-Preisträgern trieb. Warum fragst du?« »Hmmm ...« Nun verstand Florens den Zweck der subkutanen Mikroprozessoren, der Transfer-Buchse Atherdens: Sie hatten ihn bei den komplizierten Genoperationen zu einem Monitor in Menschengestalt gemacht, gleichzeitig sein Gesicht mit einem modisch-elitären Statussymbol geziert. Der NewsRedakteur wollte noch etwas anmerken, aber Florens kam ihm zuvor, um sicherzugehen, daß das Gespräch nunmehr in den gewünschten Bahnen ablief. »Ich bin vorhin bei Maigreur gewesen. Der Ätte versucht hinter den Attrappen irgendwas durchzuziehen, ich vermute, um sich beim OMNIZIL einzuschleimen. Ich habe fast Streit mit ihm angefangen, aber er hat keine Silbe ausgespuckt. Wenn die Sache nicht absolut abgefuckt ist, will ich im Bärenkostüm zur Schleuse rauswandern.« Hattalaye lauschte der Wendung, die Florens der Unterhaltung gab, mit erhöhter Aufmerksamkeit. Florens schilderte, was er sozusagen als Spätfolge der Havarie auf Io heute erlebt hatte. »Mehr habe ich nicht erreichen können«, faßte er zum
Schluß seine Auseinandersetzung mit Maigreur zusammen. »Er will mich für dumm verkaufen, da bin ich sicher.« »Ich auch.« Ohne aufzustehen, rückte Hattalaye mit seinem Stuhl ein Stück seitwärts; er rief am Computer Daten ab. »Schiete, in den DreiundzwanzigerNews sind bloß noch zehn Sekunden frei ... Ach was, wir schmeißen den Piß über die Dritten Terranischen Kulturwochen raus, was soll das eigentlich, ›Aporie der Ahnen‹ ...?« Mit der Flinkheit langjähriger Übung huschten seine Finger, dick wie Sojawürstchen, über die Tastatur, und sobald er die Planung revidiert hatte, tätschelte er Florens' Knie. »Den bringen wir zum Reden, o du Partisan der Alternativen Medien«, verhieß Hattalaye voller Zuversicht. »Schon heute wird er keine Ruhe mehr finden. Einer wird's Maul aufmachen, er oder Shakelance. Ich muß sofort texten.« Er begann sich mit einer Hektik zu betätigen, die erforderlichen Requisiten zusammenzusuchen, der Florens unmißverständlich entnehmen konnte, daß der Redakteur sich seiner Anwesenheit kaum noch bewußt war und im Geiste bereits mit wahrer journalistischer Leidenschaft zu formulieren angefangen hatte. Beim Gehen patschte Florens ihm auf die Schulter. »Verpaß ihm harte Strahlung, Junge. Ich möchte nicht, daß er in der nächsten Zeit 'ne Gelegenheit fin-
det, sich mit mir zu beschäftigen.« Zufrieden schickte er sich an, Hattalayes ›Bude‹ zu verlassen. Er rieb sich die Hände. »Keine Bange«, brummte der Redakteur, als führe er, über Schreibfolien gebeugt, ein Selbstgespräch. Er grinste und wirkte dabei wie ein Faun aus Bronze. »Dem wird im Arsch 'n Schwarzes Loch aufgehen, wo er noch keins hat.« Der Pneutrain sauste mit gedämpftem Summen und Fauchen auf seiner elektromagnetischen Leitspur durchs Transparent-Rohrsystem, machte erschütterungsfrei maximal 80 km/h Fahrt, durchquerte rasant, präzis gesteuert von den Mikrochips des Autopiloten, die Sicherheitsschotten in den Flanschzonen der Modulkomponenten Dschinnistans und passierte ebenso schnell die Stop-Alkoven, deren Sensoren jeweils zehn Sekunden vor Eintreffen des Pneutrains übermittelten, daß niemand zuzusteigen wünschte; in den anderen Fällen genügte die Zehnsekundenfrist der Automatik bei jedem Abstand über 20 m zu rechtzeitigem, dank Andruckabsorber und Konturen-Sitzbänken fahrgastfreundlich durchführbarem Bremsen. Florens genoß die schwachen Böen des Luftzugs, die häufig über den in Chromgelb getönten PlexiWindbrecher des offenen Waggons fuhren und gerade noch seinen Schopf zausten, und erfreute sich an
Jelenas Heiterkeit und der Wärme ihres Oberschenkels, auf dem seine Linke lag, während die Stromlinienform des Gefährts (ausgestattet mit 18 Plätzen in sechs Dreierbänken, angetrieben mittels Airoturbinenaggregat) Abschnitt um Abschnitt mit programmierter Exaktheit das Streckennetz der Satellitenbasis vermaß. Der Besuch bei Hattalaye hatte seine innere Ruhe größtenteils wiederhergestellt, und er sah allem weiterem gelassen entgegen. In Jupiters Gravisphäre war Dr. Maigreur der Chef, daran gab es nichts zu rütteln; doch ihn trennte vieles von der Allmacht, die er sich so schlecht verhohlen erträumte, daß er sich der Lächerlichkeit aussetzte. »... und als sie den Sexdroiden auf den Elektrokarren luden, Chérie, da sagte der eine Impi zu mir: ›Madame‹, sagte er. ›vielleicht krallen Sie sich lieber 'n Plastinauten, wenn Sie's nächste Mal Lust haben, die Killerlesbe rauszuhängen, sonst gibt's 'ne Kostenexplosion, und dem Boß springt der Draht aus 'm Raumhelm.‹« Jelena bog sich vor Lachen und ließ ihr Gesicht auf Florens' Schoß sinken. »Dazu fehlt sowieso nicht mehr viel.« Florens wikkelte einige Spiralsträhnen Ihrer Elektro-Look-Frisur um seine Finger. Gewöhnlich enthielt er sich solcher Bemerkungen; allerdings teilte Jelena seine Meinung. Die Airoturbine des Waggons heulte kurz auf, als sie auf Gegenschub ging und die Geschwindigkeit
verlangsamte. Gleich darauf kam der nächste StopAlkoven in Sicht, eine transparente Wabe, in der man eine Anzahl Satellitniks stehen sah. Ab und zu vibrierte dumpfes Dröhnen durch das hiesige Gefüge des Satelliten; dieser Streckenabschnitt befand sich in der Nachbarschaft der in Batterien angeordneten Schachthangars, in denen man mit Magnetkatapulten Shuttles startete, die dem Transport und Personenverkehr in Dschinnistans Nahbereich dienten. Der Waggon hielt. Im Alkoven musterten vier Männer, alle gekleidet in abgewetzte, graublaue Overalls aus Klimaaktiv-Kunstfaser, wie man sie in den Industriekomplexen trug, die Passagiere und erspähten schließlich Florens und Jelena, die aus dem instinktiven Drang Verliebter, möglichst ungestört zu bleiben, für die Fahrt die letzte Sitzbank ausgesucht hatten. Unverzüglich stapften drei Männer über den schmalen seitlichen Laufsteg aufs Heck des Waggons zu, während der vierte Kerl, ein hochaufgeschossenes, hageres Individuum, zur allgemeinen Verblüffung der Passagiere auf die Gleitfläche des Pneutrains sprang und sich breitbeinig, die Hände hinterm Rükken, über der Leitspur aufstellte. Fotozellen im Bug des Fahrzeugs erfaßten ihn als Hindernis menschlicher Natur, und schrille Warnsignale ertönten. Der Zug war blockiert. Halb verlegen, halb dreist grinste der Bursche, während sich von den vorderen Sitz-
bänken, die Passagiere erhoben und auf ihn einzuschimpfen begannen, die Ansaugstutzen im Pneutrain-Bug immer wieder zu pfeifen anfingen, aber der Automat sie jedesmal herunterschaltete. Die drei Männer verharrten bei der Sitzbank, auf der Florens und Jelena saßen. Unvermutet blickte Florens in den Abstrahlpol einer Laserpistole. »Sie kommen jetzt schön unauffällig mit«, forderte ihr Besitzer, ein derber Bärtiger, dessen Rotgesichtigkeit eine starke Neigung zum Algenschnaps verriet, mit einer Nachdrücklichkeit, der es angesichts der Waffe gar nicht bedurft hätte. Florens brauchte nicht erst zu überlegen; er stand auf. »Ich hoffe, Sie werden unsere Zeit nicht allzu lange beanspruchen«, sagte er mit lustlosem Sarkasmus. »Wir haben 'ne Verabredung.« Er stieg aus dem Waggon. Eilends folgte ihm Jelena. »Das hängt von Ihnen selbst ab.« Der Bewaffnete ließ Florens und Jelena den Vortritt und schickte sie mit einer Geste der freien Hand in die Richtung zum Stop-Alkoven. Jelena hatte nun den ersten Schrecken überwunden und legte lebhafte Empörung an den Tag. »Sie können uns doch nicht einfach ...!« »Maul halten!« schnauzte der Bärtige nervös ins Gellen der Warnsignale, Gezeter der Turbine und ins entfernten Donnerschlägen gleiche Wummern der
Magnetkatapulte. »Laß abfahren«, rief er dem Langen auf der Gleitfläche zu, sobald die Gruppe in den Alkoven trat. Der Mann gesellte sich mit einem Sprung dazu; er achtete seltsamerweise darauf, niemandem den Rücken zu zeigen. Der Pneutrain setzte sich in Bewegung und entschwand binnen weniger Momente in eine Kurve der Strecke. Unwillkürlich zuckte Florens zusammen, als der Bärtige ihn grob vorwärtsschubste und gleichzeitig pünktlich um 2200 Normzeit das Laminarsystem des Satelliten herabdimmerte, eine Maßnahme, um das biologische Bedürfnis nach normalem Tag- und Nachtwechsel zumindest durch Illusion zu decken. Die Fluoreszenzscheiben in der Decke des Stollens spendeten nur noch in Dreißigmeterabständen punktuelle Helligkeit. Im entstandenen Halbdunkel taumelte Florens, gedrängt von zwei stämmigen Kerlen an den Seiten, zu einem Gyromobil, einige Meter vom Stop-Alkoven entfernt am Rande der Gyropiste geparkt, hinter der eine Flux vorbeischnurrte. Der Bärtige öffnete eine ihr abgewandte Tür des Wagens, dessen Trapezrumpf den Flux-Benutzern den Ausblick auf die Gruppe weitgehend versperrte. »Einsteigen!« heischte der Mann links neben Florens, der zunächst gehorchte, indem er sich in den Einstieg bückte und einen Fuß hineinstellte. Im folgenden Augenblick stieß er sich mit dem an-
gewinkelten Bein ab und rammte dem Bärtigen den Ellbogen in die Magengrube. Der Mann torkelte rückwärts, krümmte sich und ächzte, als müsse er sich übergeben. Florens wirbelte herum, packte den linkerhand befindlichen Satellitnik im Nacken und wuchtete ihm den Schädel gegen das Gyromobil, in dessen hauchdünne Alu-Karosserie der Anprall eine große Beule drückte; mit einem Aufschrei, der sogleich in ein Johlen der Pein mündete, schlug der Mann die Hände vors Gesicht, sank ärschlings gegen das vordere der beiden Walzenräder des Gefährts, spuckte Blut, und Blut schoß ihm aus der Nase. Florens schwang seine Faust nach dem Kopf des dritten Gegners, in der Absicht, anschließend zu versuchen, sich der Laserpistole zu bemächtigen, ehe sich der Bärtige vom Stoß in den Magen erholte, aber er verfehlte die von allen Anzeichen der Gemeinheit verrohte Speckmiene und traf nur die Schulter des Subjekts, dessen grobschlächtig-vierschrötiger Körperbau den Schlag mit Leichtigkeit verkraftete. Florens erkannte, daß sein Handeln irgendwie die falsche Reihenfolge genommen hatte, daß er sofort nach der Waffe hätte greifen sollen; jetzt war es zu spät. Er hörte Jelena schreien, dann eine Männerstimme, die sich bemühte zu übertönen. »Weg da! Weg!« »Florens!« kreischte Jelena. »Attention!« Mit einem Satz, den man ihm in dieser Behendigkeit
nicht zugetraut hätte, wich der Ungeschlachte zurück, und als Florens sich umschaute, erstarrte er mitten in seinen Regungen, denn er sah, daß der vierte Mann, der Lange, einen Shredder auf ihn richtete, den er offenbar die ganze Zeit hindurch hinterm Rücken verborgen hatte. Florens spürte, wie er erbleichte. In den Minen auf mehreren der Jupitermonde benutzte man diese Art von Werkzeug zum manuellen Losbrechen von Gestein; die Geologen verwendeten sie beim Schürfen. Das Instrument erzeugte HochfrequenzUltraschall, der im Organismus eines Menschen die Blutgefäße zum Platzen bringen mußte. Merklich gequält straffte sich der Bärtige, kam zu Florens und preßte ihm die Mündung des Lasers unters Kinn. Florens glaubte zu fühlen, wie ein Kribbeln ihm aus dem Energiemagazin der Waffe bis ins Mark der Knochen, bis in die einzelnen Synapsen des Gehirns drang. »Das werden wir noch unter uns ausmachen, Stiefliebster«, murrte er Florens heiser an und blies ihm mit Geschnaufe warmen Atem ins Gesicht. Der Druck seiner Faust bog Florens mit dem Lauf der Laserpistole langsam den Kopf in den Nacken. »Draaf 'annschdisch vrrlaschn«, bekräftigte der Mann mit dem Nasenbluten, der sich inzwischen aufgerafft hatte. Er fügte noch mehr, jedoch völlig unverständliches Genuschel hinzu, griff sich in den Mund, fummelte darin herum, brachte zwei ausge-
brochene Schneidezähne zum Vorschein und streckte sie Florens vorwurfsvoll auf der Handfläche hin. Florens zuckte angedeutet die Achseln; er vertrat die Auffassung, daß jeder die Bereitschaft haben sollte, die Folgen seines Tuns zu tragen. Unterdessen gelang es dem Bärtigen, seinen Grimm zu meistern. »Rein!« herrschte er Florens an und zeigte danach, indem er zum Langen mit dem Shredder hinüberschaute, auf Jelena. Doch die Astrophysikerin brauchte, da sich Florens nun bereits im Gyromobil befand, keine Nachhilfe. Ohne weiteres Zögern stieg sie in die Fahrzeugkabine und setzte sich an Florens' Seite. Florens nahm ihre Hand. Ein Kidnapper kletterte ins abgeteilte Fahrerkubikel. Der Bärtige ließ sich Florens gegenüber auf der Polsterbank nieder, um ihn mit der Laserwaffe in Schach zu halten. Umständlich zwängten sich die beiden anderen Männer neben ihn; die Servohydraulik schloß die Tür, und der Wagen fuhr an. Kaum hatte der Fahrer auf der Gyropiste beschleunigt, begann der Satellitnik mit den Speckbacken dummgeil Jelenas Busen zu beglotzen und leckte sich anzüglich die Lippen. Florens ahnte Böses. Der Frauenmangel in den Satellitenbasen – das proportionale Verhältnis zwischen Männern und Frauen betrug im Durchschnitt 4 : 1 – führte häufig zu Übergriffen. Angespanntes Schweigen herrschte im Gyromobil,
dessen Elektroantrieb die Kabine mit monotonem Surren erfüllte, und man hätte meinen können, die Insassen lauschten dem Geräusch mit der Gebanntheit eines dem Weißen Rauschen verfallenen VisioSüchtigen. Florens fragte sich, wer diese gesteigert massive Behelligung angezettelt haben mochte und entsann sich an Atzehubers Drohung. So ein Schwachkopf! Maigreur kann ihm so etwas unmöglich durchgehen lassen. Er wird dafür sorgen, daß der SekurService-Sheriff ihm nicht unter sechsunddreißig Stunden Alptraumkammer aufbrummt. Und diesen Deppen hier auch. Die Fahrt dauerte nicht lang. Am Eingang zu einer Hydroponie, die Florens' Beobachtungen zufolge in Sektor VII liegen mußte, verließ der Wagen die Gyropiste und rollte in einen Garagentrakt. Barsch forderte der Bärtige zum Aussteigen auf. Im Korridor, den die Gruppe danach betrat, grollten aus einem benachbarten, anscheinend riesenhaften Raum Stimmen herüber, sprachen überlaut und mit der Gemessenheit von feierlichen Beschwörungen. Verwundert erwog Florens, ob hier irgendeine obskure Sekte ihren Tempel haben könnte. Doch Ausdehnung und Gekrümmtheit des Korridors verhalfen ihm nach einem Weilchen zu der Schlußfolgerung, daß man ihn und Jelena um den Rundbau eines der sechs Zykloramakinos führte, und wenig später bestätigte eine Fen-
sterwand, die in den Kinosaal Einblick gewährte, die Erkenntnis; auf der 360°-3D-Leinwand fand die Verständigung unter den von Computern kreierten, hochgradig stilisierten Rasterkomposition-Charakteren, wie es der eskapo-ästhetizistischen Cineastik beliebte, in quasihellenistischen Hexametern statt. Die neueren Regisseure der Computer-Filmkunst, ausnahmslos Kultur-Hochstapler der L'art-pour-l'art-Maxime, versuchten das Banale ihrer Weltschmerz-Lebensphilosophie durch Kolossalität und Schwulst zu kompensieren. Eine wacklige Wendeltreppe wand sich am Ende des Korridors abwärts; das Gerüst aus dünnen AluStreben knarrte und quietschte unter der Last der sechs Personen, als müsse es jeden Moment zusammenbrechen. Drunten verlief ein Gang, in dem soviel Staub und Dreck angesammelt lag, daß die Reifen von Elektrokarren regelrechte Rillen hineingewalzt hatten. Ratten und weiße Mäuse huschten ins Dunkle. Irgendwann mußten einmal welche aus einem Labor entwischt sein, und seither bevölkerten sie, längst immens vermehrt, vor allem die Umgebung der Lebensmittelproduktionsstätten. Großküchen und Restaurants Dschinnistans. Das Hygienereferat konnte ihre Ausbreitung eindämmen, aber es gelang nicht – wie schon zu allen Zeiten der menschlichen Geschichte –, ihrer völlig Herr zu werden.
Den Gang hinab verließ die Gruppe die Nachbarschaft des Zykloramakinos. Bald erschwerten Muffigkeit und feuchte Ausdünstungen das Atmen. Florens' Füße patschten durch Wasserlachen, in Ritzen und Fugen nistete Schwamm und wucherte an den Wänden empor. Die Nässe und ranziger Algengeruch sprachen dafür, daß sich der Gang unter der Hydroponie befand. Florens vermutete, daß sie den Umweg rund ums Zykloramakino nur genommen hatten, um etwaige Verfolger irrezuführen. Zu guter Letzt öffnete der Lange ein Schiebetor, wies Florens und Jelena in eine vollkommen finstere Räumlichkeit. Die Beleuchtung enthüllte, als sie aufglomm, eine Lagerhalle, in der in Dutzenden gestapelter Reihen Hunderte von Plastiktonnen standen, dem eingestanzten Piktogramm zufolge mit Düngerkonzentrat gefüllt. Im Korridor ergab sich ein kurzer Zank zwischen dem Bärtigen und seinem Kumpan, der das Abenteuer mit dem Verlust zweier Zähne bezahlt hatte; der Streit endete damit, daß der Mann gehen durfte, um die nächste Klinik aufzusuchen und eine Wiedereinpflanzung der Zähne vornehmen zu lassen. Sichtlich mißgestimmt über Empfindlichkeit und Eigensinn des Verletzten kam der Bärtige herein, und händigte seine Laserpistole dem Stiernacken aus. »Gebt mir gut auf unser hübsches Pärchen acht«, er-
mahnte er ihn und den Langen. »Ich sage Bescheid.« Er stapfte hinaus und schloß das Schiebetor mit einem Krachen. Lässig setzte sich der Lange, den Shredder ständig bereit, auf eine Tonne. Der Stiernackige gaffte Jelena von neuem lüstern an. »Wir könnten die Ische doch mal schnell über die Tonne bügeln«, meinte er mit einem Ansatz geilen Gehechels in der Stimme. »Bißchen Spaß muß man ja auch noch haben, hm?« Er schlurfte auf Jelena zu, die unwillkürlich zurückschrak und sich so von Florens abdrängen ließ. »Ich weeß nich, ob das 'ne gute Idee is, BernieBoy.« Der Lange runzelte die Stirn, fühlte sich wohl durch seinen Kumpel in Verlegenheit gebracht. »Das weeß ich wirklich nich.« »Ach was!« ›Bernie-Boy‹ stieß Jelena rücklings gegen eine einzelne Tonne, warf dem Langen den Laser zu, der die Waffe auffing, grabschte dann mit beiden Händen Jelenas weites Hosenkleid und zerriß den Stoff mit gewaltsamem Ruck vom Rüschenkragen bis zum Schritt. Durch den Anblick von Jelenas entblößten Brüsten nun zu äußerster Gier angestachelt, fing er in aller Hast an, seinen Schmerbauch aus dem Overall zu pellen. Florens trat unruhig auf der Stelle. Er dachte fieberhaft und angestrengt nach, darum bemüht, die Situation einzuschätzen. Er beobachtete den Langen im
Augenwinkel, die Art und Weise, wie er den Shredder und die Waffe hielt. Der Zeitpunkt war da, an dem es sich trotz des Risikos nicht vermeiden ließ, etwas zu unternehmen. »Hören Sie«, wandte er sich an den Langen, indem er sich ihm näherte, »Ihr Freund ist drauf und dran, Ihnen allen noch größeren Ärger einzuhandeln, als Sie ohnehin schon bekommen werden. Sie sollten ihn ...« »Halt du dich raus ...!« ›Bernie-Boy‹ röchelte in seiner Wollust, als müsse ihn gleich der Schlag treffen. »Stehenbleiben!« fauchte der Lange Florens an, die Laserpistole ihm entgegengehoben, den Shredder quer auf den Oberschenkeln. An Florens vorbei schielte er verdrossen hinüber zu seinem Kumpan. »Deine Idee is wirklich nich so gut, Bernie-Boy«, betonte er merklich nervös. Florens spannte die Muskeln. »Ich weeß nich, ob ...« »Schnauze!« ›Bernie-Boy‹ kannte kein Halten mehr, er entblößte seinen Hartmann und machte Anstalten, über Jelena herzufallen. »Du kannst gleich auch mal drüberrutschen.« Etwa zweieinhalb Meter trennten Florens vom Langen, dessen Blick immer häufiger hin- und herhuschte, so daß seine Gefährlichkeit als Aufpasser sank. In zwei, drei Sekunden, entschied Florens, kann ich es wagen ... Doch Jelena kam ihm zuvor. Während sie, an die
Tonne gelehnt, halb am Fußboden kauerte, griff sie mit der Linken flink ›Bernie-Boys‹ Hoden, so daß sie, abgepreßt durch den Daumen, wie zwei dicke rosa Knollen in ihrer Handfläche lagen, dann drosch sie, ehe ihr Bedränger in seiner Verdutztheit irgendwie zu reagieren vermochte, mit voller Kraft die rechte Faust auf die Brunzkugeln. Das satte Klatschen und ›Bernie-Boys‹ Aufheulen erschollen gleichzeitig. Er sackte zusammengekrampft nieder, die Erektion im Nu geschrumpft wie ein Kollapsar. Er wälzte sich, die Hände auf den Unterleib gepreßt, in der Schmiere, die den Boden bedeckte, und grölte fortgesetzt aus Schmerz und Wut, ohne Atem zu holen. Aufgeschreckt sprang der Lange von der Tonne, und im nächsten Moment packte Florens sein Handgelenk, riß ihm den Arm in die Senkrechte und schlug seinen Ellbogen auf den Tonnenrand. Der Satellitnik schrie, die Waffe entfiel seiner Hand, die über eineinhalb Meter lange Spindel des Shredders flog beiseite. Aber er hatte deutlich längere Gliedmaßen als Florens und brachte diesen Vorteil sofort zur Geltung, indem er ihm einen Tritt an die Hüfte verpaßte, der Florens haltlos rückwärtstaumeln und gegen Reihen aufgetürmter Tonnen prallen ließ. Wieder war Jelena schneller als alle anderen Beteiligten. Sie hob den Shredder auf, packte ihn, weil sie mit dem Instrument nicht umzugehen wußte, mit
beiden Fäusten, wie eine Keule, schwang ihn bis in Kopfhöhe, und bedrohte damit den Langen, der sich gerade nach dem Laser bücken wollte. »Noch 'ne Bewegung, und deine Fresse kriegt Menses«, warnte sie ihn im Tonfall verhängnisvoller Gewißheit. Da ertönte das Scharrgeräusch des Schiebetors. Der Bartträger kehrte zurück, begleitet von der Person, die er benachrichtigt hatte: nicht Atzehuber, sondern Ned Atherden, den ›Kophta‹ er Teleologischen Sukzessionisten. Atherdens Miene widerspiegelte Betroffenheit. Jelenas zerfetzte Kleidung und die Haltung ›Bernie-Boys‹, der sich noch jämmerlich am Boden krümmte wie ein Wurm und winselte, ermöglichten in bezug auf die Ereignisse keinerlei Mißverständnis. Kreidige Blässe schien Atherdens kantigknochiges Gesicht in einen Klumpen Kalkgeblüm zu verwandeln, das allein durch eine Laune der Natur Menschenähnlichkeit besaß. »Ihr gottverdammten Scheiß- und Vollidioten!« brüllte er mit solcher Stimmgewalt, daß die Worte von Wänden und Tonnen widerhallten wie das Trommelfeuer eines Meteorschwarms. Sämtliche Anwesenden zogen unter dieser Schallkanonade die Köpfe ein. »Seid ihr eigentlich scharf drauf, daß man uns allesamt auf Eis legt und in den Merkur-Pütt verschickt?! Das ist die Frau des Chefadministrators!«
4 Impunitaten, die sich im Weltraum erneut krimineller Delikate schuldig machten, mußten in schweren Fällen damit rechnen, vom zuständigen SpaceSection-Gericht im kostengünstigen Eilverfahren zur Zwangsarbeit in den Bauxit-Minen in der Zwielichtzone Merkurs verurteilt und durch den SekurService im HibernationsTank dorthin verfrachtet zu werden. Das Dasein auf dem Merkur und die Arbeitsbedingungen in den Minen galten als so karg und hart wie die Sklaverei des Altertums. Infolgedessen wunderte sich Florens nicht im geringsten über das Grausen, das die Äußerungen des aus Bestürzung nachgerade wie umnachteten Atherden bei den übrigen Sukzessionisten hervorrief. Furcht und Betretenheit schlugen die Männer mit einer Handlungsunfähigkeit und Ratlosigkeit, die an Apathie grenzte. Fast hätte Florens Mitgefühl aufgebracht. Als erster gewann der ›Kophta‹ die Gefaßtheit zurück. »Madame«, sagte er so forsch wie jemand, der sich prophylaktisch höheres Niveau beimaß, zu Jelena (durch ›Bernie-Boy‹ Gewimmer untermalt wie von einer Schrammelmusik des Katzenjammers), und Rinnsale von Schweiß in den Furchen seiner Gesichtszüge schimmerten im fahlen Licht der Leuchten
wie die imprägnierten Mikroelemente einer Straßennetz-Projektion, »ich bitte Sie inständigst, diesen höchst bedauerlichen Zwischenfall zu entschuldigen. Es betrübt mich zutiefst, daß ...« Jelena warf ihm den Shredder vor die Füße. Das Klirren unterbrach Atherden, der Rest seiner salbungsvollen, anscheinend aus Gewohnheit mit Superlativen überladenen Floskeln blieb ihm im Halse stecken; nachdem er mehrmals mühsam geschluckt hatte, fing er an, statt weiter auf Jelena einzuquatschen, seine Handlanger auszuschelten, unversehens vulgär wie ein Clochard. »Ich habe euch ausdrücklich Anweisung gegeben, ihn euch nur zu krallen, wenn er allein ist ...! Hirnverbrannte Hydropisser ...!« »Komm.« Florens geleitete Jelena zum Schiebetor. »Salut, les mecs«, verabschiedete Jelena sich ironisch von dem total verstörten Impunitaten-Quartett. »Kophta!« Entnervt ergriff der Lange die Initiative, und als sich Florens über die Schulter umsah, bemerkte er in den Augen des Sukzessionisten das Irrsinnsglitzern von Panik und Amok. »Wir müssen alle beide umbringen! Wir dürfen sie nicht ...« »Arschloch!« Roh schlug Atherden den Satellitnik mit dem Handrücken ins Gesicht. »Tickt dein Gehirn eigentlich bloß auf Nullenergie, oder was?« »Wir müssen sie beide umbringen, Kophta«, wiederholte der Lange wie im Rausch, in der Stimme
Ansätze zum Schluchzen. Seine Verzweiflung, die unerwartete, gefährliche Übergeschnapptheit verursachte Florens ein Schaudern, und er strebte, indem er Jelena mitzog, schneller zum Ausgang. »Wir ...« Auf der Schwelle prallte Florens beinahe gegen einen Schatten, die Silhouette eines Menschen, der in der Düsternis des Gangs gelauert haben mußte, und ihm und Jelena nun entgegentrat. Unvermittelt schaute Florens ins Rotglühen eines SpektroskopSensorbandes, das die bläßliche Mondgesichtigkeit der Gestalt querteilte und als so etwas wie ein Verbotsschild zu präsentieren schien. In Jelenas Kehle erstickte ein Laut. Fäuste zerrten sie und Florens hinaus, das Flimmern direktionalisierter elektromagnetischer Wellenbündel zweier Neuro-Schocker flirrte in der Lagerhalle, und einen Moment später maßen die Impunitaten, besinnungslos und starr wie Fossilien, der Länge nach den dreckigen Boden. Florens unterdrückte ein Aufstöhnen. Offenbar hatten er und Jelena die Unerfreulichkeiten des heutigen Tages noch immer nicht ausgestanden. »Sie brauchen nichts zu sagen«, versicherte Florens, ehe der Mann mit dem Sensorband-Gesicht, der nur geringfügig größer war als er, aber in den Schultern nahezu doppelt so breit, bekleidet mit einer Montur aus geriffeltem schwarzem SynthLeder von öligem Glanz, ein Wort äußern konnte. »Ich weiß, wer Sie sind.« Als
Technologie-Fanatiker, dessen Besessenheit soweit ging, daß er sich ein spektroskopisches Sensorband, ein Spezialsichtgerät zur Materialbegutachtung, direkt in die Knochen der Augenhöhlen hatte implantieren lassen, und als Spiritus rector eines elitären Technokratenklüngels namens Separatus, Separatistenvereinigung, die in den Planetenkolonien, SpaceCitys und Satellitenbasen für die vollständige Loslösung von der Erde warb, genoß Ingenieur John Fifefield auf Dschinnistan einen ziemlich hohen Bekanntheitsgrad, eine Reputation, in der sich Verrufenheit, Charisma und Respekt seltsam unentwirrbar vermischten. »Wir möchten ins Panoramarestaurant und haben keine Zeit.« Außer Fifefield umringten fünf andere Satellitniks Florens und Jelena; drei Männer, zwei Frauen, ausnahmslos Techni; der herbe Duft eines ActionTeamsprays verstärkte den Algen- und Düngergeruch zu aggressivem Mief, dessen Intensität Florens im Rachen kratzte. Er erlitt einen Hustenanfall, und Jelena klopfte ihm auf den Rücken. Geistesgegenwärtig nutzte Fifefield die Gelegenheit, um sich anzubiedern. »Gestatten Sie, daß wir uns Ihnen als Eskorte zur Verfügung stellen, damit Sie kein zweites Mal von Subjekten dieser skrupellosen Bande aufgehalten werden.« Als Florens den Husten niedergerungen
hatte, führten die Techni ihn und Jelena bereits in einen Expreßlift. »Ich war gerade auf der Baustelle – wir koppeln in Kürze ein neues Ringsegment an, Dschinnistan wird erweitert, wie Sie sicher schon gehört haben –, als ich benachrichtigt wurde, sonst hätten wir früher eingegriffen«, erzählte der Ingenieur in unbefangenem Plauderton, während die Luftkabine auf ihrem durch ein elektronisches Automatiksystem geregelten Dynamikpolster aus komprimierter Stauluft einige Etagen weit aufwärtsschoß. Nicht allein wegen des Hochdruck-Schubs empfand Florens im Magen Mulmigkeit; die Brutalität von Fifefields Vorgehen gegen die Sukzessionisten bereitete ihm reichlich gegensätzliche Gefühle. »Impis ... Pah!« Fifefield machte keinen Hehl aus seiner Verachtung. »Sukzis ... Gesindel, das OMNIZIL lieber eliminieren sollte, statt zu dulden, daß es die extraterranischen Domänen zu Tummelplätzen der Kriminalität erniedrigt ... Höchstwahrscheinlich stecken solche Gangster auch hinter den Piratenakten der letzten Monate.« Ruckhaft gelangte die Liftkabine auf der Ebene einer Tunnelstraße – nur wenige Meter neben einem Stop-Alkoven – zum Stillstand. »Glauben Sie nicht, daß Sie auf Ihrer Baustelle dringend gebraucht werden, Monsieur?« meinte Florens mit aller Höflichkeit eines Drangsalierten. Sensorband und schwärzliche Bartstoppeln entarte-
ten Fifefields Lächeln zu einer undeutbaren Travestie des Freundlichen. Verstimmt malte sich Florens aus, wie die Optiken und Rezeptoren des Sensor-Sets dem Hirn des Ingenieurs von ihm ein Abbild übermittelten, das seiner Menschenwürde spottete: etwas wie ein elektronisches Phantombild, eine spektroskopisch entstellte Wiedergabe, zergliedert in Falschfarbentupfer seiner Körperwärme, Fluoreszenzmuster von Flüssigkeiten, Mikrowellenechos der Organe, filigrane Konglomerate von Nervenströmen und Fragmente kinetischer Energie. »Sie sind ein beispiellos raffinierter Bursche, Mr. Bonnamy«, behauptete Fifefield teils süffisant, teils im Tonfall kollegialer Anerkennung. »Unserem Spezi beim VH-Kundendienst muß 'n arger Fehler unterlaufen sein, anders ist's nicht zu erklären, daß Sie die Abhör-Kapsel bemerkt haben. Aber Sie hätten den Sexdroiden ja nicht gleich demolieren müssen. Der Kundendienst kommt mit der Wartung sowieso kaum nach.« Augenblicke später fuhr ein Pneutrain vor. Jupiter dominierte die mittels Satellitenkameras an die Innenwandung der Rundkuppel des Panoramarestaurants Bellevue projizierte Totale seiner Sphäre mit naturgetreuer Unumschränktheit. Die enorme, von Streifen und Bändern in Weiß, Hellorange und Braun gemaserte Kugel des Riesenplaneten schien in ihrer
Holo-Darstellung, gesäumt von den Sicheln einiger Monde, zum Greifen nahe zu sein; der Große Rote Fleck unterhalb des Äquators jedoch wirkte fürwahr wie das Zyklopenauge eines Gottes, dessen Blick den Menschen, die sich in seinen Umkreis gewagt hatten, in bezug auf ihn nur in den Begriffen von Masse, Dichte, Temperaturen, Windzonen, Radiostrahlung, Ammoniak, Methan, metallischem Wasserstoff, Helium, Kohlenmonoxid, Phosphin, Acetylen, Petrochemikalien sowie erhofftem, aber vorerst unerreichbarem – weil unter einem Druck von 3 Millionen atü im Planetenkern akkumuliertem – Bauxit, Kobalt, Wolfram, Kupfer und etwaigen anderen Rohstoffen dachten, Unnahbarkeit bekundete. Und wie eine Brücke zwischen Himmelskörpern schwebten in endloser Folge auf dem Jupitermond Kallisto abgebaute, von der dortigen Massenschleuder ins All beförderte und mit Lotsendrohnen gelenkte Manganknollen durchs Panorama, bis sie im Empfangstrichter der Satellitenbasis verschwanden und die Akzeptormembran sie für die Verhüttung zerkleinerte. Die asymmetrischen Umrisse mehrerer zusammengedockter Kargo-Liner der Behemoth-Klasse bildeten im Samtblau des Weltraums eine sandbeige Auszackung mit scharfen Konturen, als wäre dort durch irgendwelche kosmischen Interferenzen das Gefüge des Einstein-Universums aufgerissen.
Es blieb Florens verwehrt, diese Ausblicke auch nur nebenbei zu genießen; den Darbietungen des Laser-Entertainers und der Marimbaphon-Virtuosin, die gemeinsam auf dem Podium in der Mitte des Restaurants einen spektakulären Auftritt nach dem anderen boten, nur beiläufige Beachtung zu schenken, blieb ihm versagt. Ebensowenig durfte er in Ruhe seine chinesische Vegetariermahlzeit aus Bambussprossen, Sojabohnenkeimlingen, Maiskölbchen, Champignons, Paprika, Lauch, Kohl, Ananas und Naturreis verzehren. Zwar hatte Fifefield am Eingang zum Restaurant seine Gesinnungsfreunde weggeschickt, sich dann allerdings mit nonchalanter Unverfrorenheit wie Florens und Jelena einen Platz an der Sitzgruppe gesichert, wo Shaida Antelami bereits bei Panettone und Cappucino saß. Gut und gern 20 Minuten lang hatte der elitetechnokratisch verwirrte Ingenieur mit grotesker Verbohrtheit eine Art von MonomanenMonolog in Florens' Ohren gehaspelt, während Jelena und Shaida Bekanntschaft schlossen, ohne sich um den Schwätzer zu kümmern und Florens enerviert im Essen stocherte. Nun stand er vor der beinahe aussichtslosen Aufgabe, dem Mann die Flausen auszureden. »Ich kann nur wiederholen, was ich schon Atherden klarzumachen versucht habe. Und Atzehuber, diesem ›Supraselekteur‹ der Purifikationsliga. Von al-
lem, was auf Io im Anschluß an die Havarie eingeleitet worden ist, habe ich keinerlei Ahnung.« Unwirsch klatschte Fifefield die flache Hand auf die Tischplatte, so daß sein Cognac-Schwenker einen Hüpfer tat. »Das mag ich Ihnen einfach nicht abnehmen, Mr. Bonnamy. Das kann unmöglich wahr sein.« »Es ist mir völlig egal, ob Sie's mir abnehmen oder nicht. Dagegen ist's mir keineswegs gleich, daß Sie uns beim Essen stören.« Darauf ging Fifefield so wenig ein, als wolle er geradezu herausfordern, daß Florens sich noch krasserer Deutlichkeit befleißigte. Er beharrte auf seiner Ansicht, als Entdecker der Io-Höhlen müsse Florens das volle Vertrauen wenigstens Prof. Shakelances genießen, wenn auch nicht unbedingt – aus einleuchtenden Gründen –, wie er zugab, das Vertrauen des Chefadministrators. »Bestimmt wird der Professor Sie doch in die gesamte weitere Io-Erforschung einbeziehen.« »Da täuschen Sie sich«, widersprach Florens mit vollem Mund. Er kaute freudlos. »Ich arbeite nicht in seiner Abteilung. Ich bin als Mineraloge der Prospektorenbrigade tätig, und die Prospektoren haben mit der Verwertung dessen, was sie beim Schürfen finden, nichts zu schaffen. Für den nächsten Monat, wenn mein Sonderurlaub vorbei ist, bin ich der Demon's Dreamboat zugeteilt, deren Operationsgebiet
Ganymed ist.« Er konnte das Gefühl nicht verdrängen, als spräche er mit einem Plastinauten oder einer Mumie. »Die Planung steht längst fest.« »Zooks, Mr. Bonnamy, ich ...« setzte Fifefield abermals zu besserwisserischen Einwänden an. Florens ließ verzweifelt die Eßstäbchen sinken, drehte die Augen empor zur Rundkuppel und zum Jupiter, und wünschte sich, er könne seinen Kopf in Gewölk und Wirbeln der Hydrohelium-Atmosphäre des Planeten und ihren Atmolumineszenzen verstecken, um diese Zombie-Klette von Snob-Satellitnik nicht länger hören und sehen zu müssen. Doch lautes Lachen Shaida Antelamis, der Jelena, das Hosenkleid notdürftig mit einigen zerfransten Zipfeln überm Busen verknotet, soeben schilderte, wie sie im Düngerlager Eier in die Pfanne gehauen hatte, unterbrach den Ingenieur, und danach ertönte das Gezirpe und Gepiepe eines Elektronikmusik-Indikativs. Die Bildschirme einer Multivisio-Galerie begannen zu flimmern. Sie zeigten im folgenden Moment zwanzigfach die arschglatten Pausbacken Mohammed Hattalayes. »Es ist dreiundzwanzig Uhr Normzeit, liebe Satellitniks und Space-Malocher, und zur gewohnten Stunde schlägt der Superspacer wieder zu, bringt News, deckt Skandale und Blamables auf und legt mit bekannter alternativer Konsequentheit den Finger auf die Wunden der Ego-Wichser, die uns was vor-
schmieren und unterdessen unauffällig Kredit bunkern möchten, und entlarvt die Attrappenaktivitäten von Bürokrateuren und die Operettenmanöver, mit denen sie uns von ihrer Unentbehrlichkeit überzeugen wollen. Die Text-Ausgabe ist ab sofort per Telekopie erhältlich. Bei dieser Gelegenheit noch einmal: Sie sparen sich die Mühe einer gesonderten Bestellung und unterstützen unsere Alternativmedien durch ein Bit-Matrix-Abo, das zudem den Vorteil eines preiswerteren Bezugs ...« Froh über die Ablenkung, aß Florens hastig, was sich noch auf dem Teller befand, während Hattalaye in Form seiner umstrittenen, aber aufgrund ihrer Originalität und sardonischen Treffsicherheit weitgehend hingenommenen Polemiken unfaßbar schnell und in brillantem Spacepidgin ein Potpourri aktueller Peinlich- und Profitlichkeiten herunterschnatterte und ein Großteil der Anwesenden ihm belustigtverärgert-interessiert lauschte. Sogar Fifefield schwieg; doch er wandte das FlüssigkristallTastersystem unter seinen ausgedünnten Brauen nicht von Florens, als ob er sich bemühe, anhand von Veränderungen des elektrischen Widerstandes der Haut, von Atemrhythmus, Kirlian-Aura, Transpiration, Sekreten und Zellschwingungen der Neurotransmitter dessen Glaubwürdigkeit zu analysieren. Aber seit dem Anfang der News sah Florens den
kleinen Triumph nahen, den er vorbereitet hatte, und er leistete sich in dem Bewußtsein, binnen kurzem von niemandem mehr mit Fragen geplagt zu werden, ein Schmunzeln. Und wirklich kam Hattalaye – wie versprochen – nach einem Weilchen auf Maigreurs Io-Aktion zu sprechen. »Geben Sie gut acht, Monsieur.« Florens richtete den Blick direkt ins Weinrot von Fifefields Sensorband. »Der Beweis meiner Unkenntnis.« Mit den Eßstäbchen wies er hinüber zur Multivisio-Galerie. »... eine Unternehmung mit hohem Kostenrisiko und ungewissem Zweck, für die eine Menge Gerät und zahlreiche Fachkräfte von ihrer eigentlichen Arbeit abgezogen worden sind, so daß wir baß erstaunt fragen: ›Welche Saat brütet unser verehrter, allseits geschätzter Chefadministrator im Treibhaus seines Herzens aus?‹« Die Stimme des News-Redakteurs vertroff Ironie. Allgemeines Gelächter würdigte seine Anzüglichkeit. Fifefield reckte, sofort hellhörig geworden, den Hals. Florens lehnte sich zurück und schloß die Lider; seine Erleichterung glich nahezu einer Euphorie des Erlöstseins. Er stellte sich vor, wie der gestaute Streß durch Beine, Füße und Zehen als schlackige Absonderung in den Boden versickerte, und allmählich lockerten sich die Verspannung in seinen Schultern und Gliedmaßen. Verantwortung und Zuständigkeit lagen, für jedermann erkennbar,
wieder dort, wo sie hingehörten. »Die Umstände der Geheimhaltung, des Übergehens aller zur Mitsprache berechtigten betrieblichen – beziehungsweise gewerkschaftlichen – Instanzen erwecken den Eindruck einer Intrige.« Hattalayes geniale Verquickung von Neuigkeiten und Kommentar verstieß gegen wichtige Regeln des Formaljournalismus; genau dadurch jedoch gelang es ihm überhaupt, dem SuperspacerMagazin in einer Ära der vollkommenen Reizüberflutung ein Publikum zu erschließen. »Entscheidet ein intimer Zirkel im Orbit des Chefbüros über den Kurs Dschinnistans? Der Superspacer wird ...« Zufrieden erhob sich Florens, um zur Toilette zu gehen. Fifefield entblödete sich nicht, ihm nachzulaufen. »Wieso ist das ein Beweis?« »Monsieur, Sie müßten sich doch denken können, daß das Verhältnis zwischen Dr. Maigreur und mir, gelinde ausgedrückt, recht getrübt ist«, erläuterte Florens, während er mit Wohlbehagen pinkelte und an der Wand des Pissoirs las: Kluftgibber! Satnik-Boy (22/1,82/fem. Typ) su. duft. Skaphanderman OrbLab E 19 CD. 427 238-12 Nach ›Zarewitsch‹ frag.! Und: Privat. Null-G-Sex-Club. Alle Neig Keine Impis! Wchtl. Lachgasparty Kontakt Sekt. IV ›El agente‹ i. FloraCenter. »Wäre ich im Besitz irgendwelcher Informationen, meinen Sie etwa, ich hätte sie dem Superspacer vorenthalten?
Oder mich nicht umgehend an die SpaceMontan gewandt, deren Mitglied ich bin? Die News-Redaktion und ich wissen gleich wenig.« Florens zögerte, entschied dann, das Risiko in Kauf zu nehmen und den letzten Trumpf auszuspielen. »Und was sie weiß, hat sie von mir. Basta!« Für einen längeren Moment bewahrte Fifefield Schweigen. Nur seine spärlichen Brauen zuckten; das glasige Rot des Sensorbandes verhehlte die Regungen seines Gemüts, die Überlegungen hinter seiner Stirn. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er dann so lasch und mit solcher Gleichgültigkeit, als hätte Florens' Existenz für ihn auf einmal jegliche Bedeutung verloren. Er eilte derartig überstürzt zur Toilette hinaus, als hätte er dort eine Schändlichkeit begangen. Wie ein Komet durchmaß das SekurServiceFlaggschiff Hien* vor dem Diamantgleißen eines Strahlenbündels aus den Düsen der Ionenkammern im Heck des 210 m langen Spermoform-Rumpfs, die eine Schubkraft von einer halben Million kp entwikkelten, die Randzonen des Asteroidengürtels. Das Raumschiff galt als Nonplusultra supermoderner Technik aus den Space-Werften Lunas und verfügte über die neuesten Ferntaster- und Ortungssysteme. *
Jap. »Schwalbe«
Radar-Parabolantennen, Maser-Kinetometer, Myonenpeiler, Telekameras, Masseindikatoren, Radioteleskope, Magnetografen und Spektralanalysatoren, Augen und Fühler der Hien, erfaßten den Weltraum im Umkreis von nahezu einer Astronomischen Einheit. Innerhalb von 50.000 km Entfernung erzeugten alle feststofflichen Objekte bis hinab zu faustgroßen Meteoren Reflexe und Echos auf den MultiplexMonitoren und Displays der Bordpositroniken. Für das OMNIZIL war das Flaggschiff der Stoßkeil des im All zu dem Zweck aufgebotenen Machtinstrumentariums, die aufgekommene Raumpiraterie schon in ihren Anfängen zu zerschlagen. Hinter der Steuerzentrale des mit ZentrifugalNormalgravitation ausgestatteten Kugelbugs befand sich ein Anachronismus, wie ihn keiner der AstroKonstrukteure mit futuristisch orientierter Mentalität und kein OMNIZIL-Minister an dieser Stelle vermutet hätte: eine kaum 15 m2 große Räumlichkeit mit Reispapier-Tapeten und Bildrollen an den Wänden; Lampions dienten als Beleuchtung, und den Fußboden bedeckte eine Bastmatte. Darauf saß mit überkreuzten Beinen ein Asiate in fortgeschrittenen Jahren, mit Einsprengseln von Altersflecken im steinstillen Gesicht, und gekleidet in einen Anzug aus tabakbrauner Seide. Er ähnelte einer Ikone eines der Vier Weltenwächter, hätte jedoch
ebensogut aus Marmor sein können. Seine Hände lagen in seinem Schoß und bildeten die Faust der Erkenntnis. Ein weißes Jinhachimaki-Stirnband mit schwarzlackierten, ineinander verketteten Metallscheiben zeugte davon, daß er sich der SamuraiTradition verpflichtet fühlte; dagegen ließen keinerlei Insignien seine Zugehörigkeit zur Neuen Gilde der Enthaltsamen ersehen; und keine Rangabzeichen bekundeten seine Position als Kommandeur des SekurService. Er trug einen Namen, der im ganzen Sonnensystem – je nach Motivation – Haß, Furcht oder Bewunderung hervorrief; sein Name lautete Takao Matsumoto. Seine Kabine gab zwischen den Triebwerksaggregaten, Energiebänken, Generatoren, Computer, Automatiken und Servomotoren der Hien eine Stätte der Beschaulichkeit, der Inneren Einkehr und der Riten, Zeremonien und des Meditierens ab. Dekoration, Mobiliar und Wohnzubehör deuteten Genügsamkeit an. Auf einigen regelmäßig angeordneten RosenholzTischlein und -Regälchen standen Blütenschmuck aus gefärbter Alufolie – Kegon-Symbole der Universalen Wechselseitigen Durchdringung –, ein SteineibenBonsai, eine Porzellan-Teeurne, die vom erlesenen grünen Schattentee Gyokuro enthielt, ein Tee-Service aus Ton, Lackschalen und ein Jade-Figürchen des Hasen von Inaba. Asche im Räucher-Koro aus dunklem
Onyx, im Aussehen gearbeitet als Mausoleum des Weißen Regenpfeifers, duftete nach SandelholzRäucherkegeln. Einziges Zugeständnis an Funktion und Funktionalität: ein IntKom-Gerät. Im Gegensatz zu den Ministern, Beamten und Kommissaren OMNIZILs erachtete Matsumoto die technischen Errungenschaften und Wunderwerke, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte, lediglich als Gegenstände ohne kami, Dinge ohne Seele – und folglich von geringem Wert, deren Anwendung nützlich sein mochte, aber kein Gebot entscheidender Notwendigkeit. Hauptsächlich pflegte er sich auf den Sitz des Geistes in seinem wie bei einem Kranich von silbergrauen Borsten gekrönten Schädel zu verlassen. Geduld. Kleiner Verstand gebiert Verstocktheit. Aber Wahrheit leuchtet heller als die Sonne. So wie ihr Glanz nie verlischt, kann das Licht der Seele niemals gänzlich verschüttet werden. Geduld. Das IntKom summte. Mit einer gemächlichen Handbewegung aktivierte Matsumoto den Apparat. »Der Häftling ist zu vollem Geständnis und vollständigen Auskünften bereit, o Bosatsu«, meldete sein Adjutant Krüger mit der im Umgang mit dem Kommandeur üblich gewordenen Förmlichkeit. Matsumoto lächelte. »Wenn man sich zu dritt versammelt«, zitierte er lakonisch ein japanisches Sprichwort, »besitzt man die Weisheit Monjus.«
Krüger verstand. Fading gloste auf dem Bildschirm und erlosch. Zwei Minuten später brachte der Adjutant einen Mann herein, der zitterte wie eine Böen ausgesetzte Windharfe. Krüger entrollte für ihn eine verschlissene Schilfmatte; es wäre ein tsumi gewesen, ein unverzeihlicher Frevel, dem verhafteten Raumpiraten einen Platz auf Matsumotos Matte zuzugestehen. »Ich will alles sagen«, lamentierte der Gefangene, cremigbleich und schwitzig im Gesicht wie Speckstein. »Schicken Sie mich bloß nicht wieder da rein! Ich sage alles.« Häufig klapperten ihm die Zähne. Matsumoto beachtete ihn nicht, sondern richtete das Wort an Krüger, nachdem sich der Adjutant am Eingang hingehockt hatte. »Ich frage nochmals: Wohin ging Meister Hofuku nach seinem Tod?« Krügers Miene drückte die leichte Niedergeschlagenheit eines Menschen aus, der sich schon lange mit einer Sache beschäftigte, ohne eine Lösung zu finden. Der Häftling schielte voller Verwirrung und Argwohn zwischen ihm und Matsumoto hin und her, während für eine Weile Schweigen herrschte. »Vielleicht ins shikome, ins Reich der Finsternis, o Bosatsu?« mutmaßte Krüger endlich mit merklicher Unsicherheit. Matsumoto schüttelte den Kopf. Nun fiel sein Blick auf den Gefangenen, der sich unwillkürlich duckte.
»Ich werde alles sagen«, beteuerte er kläglich. »Bitte schicken Sie mich nicht mehr da rein.« Niemand hatte ihn mißhandelt; er war keinen Folterungen und keinen Drogenverhören unterworfen worden. Der Kommandeur des SekurService wußte um die Schwierigkeit dessen, Verworfenen Ihr Unrecht zu verdeutlichen, die nur Knöpfe und Tasten betätigten und den Folgen ihres Handelns fernblieben. Deshalb hatte er drei gräßlich entstellte Leichen – geborgen aus den vor einer Woche entdeckten Wrackteilen eines der gekaperten Kargo-Liner – abtauen und den Häftling mit ihnen einsperren lassen. 17 Stunden in der Gegenwart von Tod, Verstümmlung und Verwesung hatten den Mann zu Aussagen geneigt gemacht. Matsumoto vollführte die Geste der Erhörung der Wünsche. »So sprich, Kind eines Blutegels, das du den Lotos des Guten Gesetzes mit Füßen getreten hast.« »Was ...« Nervös erzeugte der Mann mit den Lippen Schmatzlaute. »Was möchten Sie als erstes wissen?« »Namen.« Florens spürte, in Seitenlage zwischen Shaidas Beinen, wie das Pulsen in ihrer Dattel, indem es ihm den Bengel rundum schmierte und bürstete, sein Lustgefühl zügig zu Höhen steigerte, die sein Bewußtsein in
einen Taumel des Entzückens stürzten, einer Entrükkung nicht unähnlich. In seiner Benommenheit vermochte er sich nicht länger aufzustützen. Der linke Arm knickte ihm ein, sein Oberkörper sank aufs Bett, die Rechte rutschte von Shaidas Kitzler. Das Blut rauschte Florens in den Schläfen wie durch Stromschnellen der Leidenschaft, vor seinen Augen verschwammen alle vier Titten und vier Schultern zu einem Wonnegebirge von Wölbungen, und er krallte die Finger ins Laken, vergaß zu guter Letzt seinen Grimm über den Blödmann, der an die Tür seines Quartiers Fotzen kann F. B. nicht lieben/Er zertrümmert lieber Sexdroiden gekritzelt hatte. Wahrscheinlich jemand aus Atzehubers Purifikationsliga. »Ich kann nicht mehr ...!« Er hörte die eigene Stimme kaum, ächzte und keuchte, als bekäme er keine Luft. »Das ist unglaublich ... Wie geht das zu?« Shaida, den Rücken auf die Oberschenkel Jelenas gelehnt, die hinter ihr kniete und ihr tüchtig an den Bützchen zupfte, japste ebenso. Sie konnte nur mit Mühe antworten. »Einfache Elektrode im Venushügel ... regt bei Reizung die Scheidenwände zum Vibrieren an.« Jelena beugte sich vor, übernahm das Weiterpfriemeln an Shaidas Docht; Shaida schloß die Lippen um eine Zitze Jelenas und fing an zu nuckeln. Wie Lava brach sich Florens' Ladung Bahn und brodelte in die Glut von Shaidas Glitsche, und nach
einem langen, langen Stöhnen schwanden ihm, während er noch merkte, wie sich Shaida wild aufbäumte, indem ihre Muschel vor Nässe schier zu zerfließen schien und sich dann heftig zusammenzog, als es auch ihr kam, für einen Moment die Sinne. Als er wieder einigermaßen zur Besinnung gelangte, sah er Shaida dösig wie ein Kind in Jelenas Armen ruhen, die Lider halb herabgesunken, auf den Wangen rosige Tupfer langsam im Abklingen begriffener Erregung. Sie ist schön. Matt setzte Florens sich auf. Sie ist wundervoll. Seine Hoden schmerzten schwach, als wären sie ausgepreßt, ausgesaugt worden, bedroht von Schrumpfung. Was soll werden? fragte er sich in diffuser Besorgnis. »Du bist wunderbar«, sagte Jelena leise zu Shaida, als hätte sie Florens' Gedanken gelesen und wolle sie bestätigen, um seine Sorge zu zerstreuen. Sie küßte Shaidas Hals. Shaida kicherte. »Ich bin das Ergebnis einer tunesisch-italienischen Liebe. Nicht Ehe. Liebe. Da mußte ich ja wohl bestens gedeihen.« Jelena lachte, schüttelte sich plötzlich. »Mir ist 'n bißchen kühl.« Sie verließ das Bett, schlüpfte in das Bolerojäckchen und stieg in ihre Bottinen. Ansonsten blieb sie nackt, und ihr Anblick erneuerte in Ansätzen Florens' Brunst. Jelena kannte ihn gründlich, und das
Anziehen nur dreier Kleidungsstücke, die wenig verhüllten, beruhte eher auf Berechnung. Als sie zurückkehrte, packte Florens sie mit beiden Armen um die Hüften und warf sie bäuchlings quer übers Bett. Jelena kreischte. »Übernimm dich bloß nicht«, spöttelte Shaida. »Ist noch zu früh.« Florens grinste und deutete auf seinen Halbsteifen. »Wir müssen's zu zweit in die Hand nehmen.« Shaida und er streckten Jelena auf der Seite zwischen sich aus; an ihren Rücken gedrängt, koste Shaida eine Brust Jelenas, wühlte Finger in ihre feuchte Spalte. Florens lutschte eifrig an Jelenas anderem Nippel, kraulte ihr Moss, struppig wie Kresse, rieb mit erst zärtlichem, dann nachdrücklicherem Kreisen seines Daumens ihre Futwarze. Gemeinsam trieben sie in einen wie zeitlosen Strudel von Genuß und Ekstase ab; verweilten später in einem Trägheitszustand der Wärme und Geborgenheit, einer winzigen Tasche spontan manifestierter Glückseligkeit und stiller Harmonie im Chaos einer Epoche des Überlebenskampfs der Menschheit, die ihre jahrhundertelang mißbrauchten Existenzgrundlagen im Sonnensystem wiederzugewinnen und gleichzeitig zu den Sternen aufzubrechen versuchte. Am nächsten Tag stand Florens kurz vor 1400 wieder im Sekretariat des Chefadministrators. Shaida war
nicht da, so daß Florens nach flüchtigem Zögern gleich Maigreurs Büro aufsuchte. Auch Maigreur war abwesend; aber Shakelance hatte sich bereits eingefunden. Sobald er ihn erblickte, erschrak Florens so sehr, daß die Betroffenheit ihm augenblicklich Beklemmungen verursachte. »Ach, Bonnamy! Ich wußte nicht, daß der Chef Sie auch zur Besprechung eingeladen hat.« Vorsätzlich enthielt sich Florens jeder gegenteiligen Äußerung. »Salut, Professor.« Er musterte Shakelance, dabei um Unaufdringlichkeit bemüht. Doch es erforderte keine ausgiebige Beobachtung, um zu erkennen, daß sich Shakelance seit der letzten Begegnung mit Florens (vor ungefähr einem Monat) verändert hatte. Er mußte krank sein. »Was haben Ihre Forschungen ergeben?« erkundigte Florens sich dreist. »Diese Substanz ist ein wissenschaftlich außerordentlich relevanter Fund, ohne Übertreibung. Ich habe ihr provisorisch die Bezeichnung Stratifungus verliehen. Stratum nennt man unter anderem ja auch die Lebensraumschicht eines Biotops, daher meine ich, der Terminus liegt nahe.« Schweiß glitzerte in Shakelances Brauen. Sein Teint wirkte gräulich-fahl, als wäre die Haut, die auf ungewöhnliche Weise viel grobporiger war, als Florens sie in Erinnerung hatte, mit Graphit unterlegt oder hätten sich die Knochen seines Gesichts in Schiefer verwandelt. Der rötliche Backen-
bart schien verdorrt, zu abgestorbenem Gestrüpp geworden zu sein. Die blaurot geschwollenen Tränensäcke hingen ihm wie Blutblasen unter den offenbar von Fieber heißen Augen. Bisweilen schlurrte seine Stimme, als wolle er zu lallen anfangen. »Der weitaus überwiegende Teil ist natürlich fossiliert, aber wir haben einige Proben entnommen, in denen Kulturen nisten, deren Zellkerne hypothermisch überdauert haben. Es laufen Assimilationsprozesse darin ab, deren Charakter noch unklar ist, aber anscheinend versuchen die Nuklei sich anhand einer genetischen Modifikations-Programmierung zu regenerieren und der heutigen Io-Ökosphäre anzupassen. Allerdings kann es sich genausogut um eine Mutation handeln. Näheres läßt sich noch nicht sagen.« Katarrhalisch räusperte sich Shakelance. Sein Arm suchte Stütze auf der Rücklehne des Sessels vorm Duktuson-Pult. »Mangels Sauerstoff vollziehen die Prozesse sich als niedrigenergetische biochemische Reaktionen. Sie um ein Vielfaches zu beschleunigen, dürfte nicht schwerfallen. Das Hauptproblem besteht aus der GenSteuerung. Wir bräuchten einen geeigneten regulativen Prophagen.« Florens' Bestürzung über die eindeutig schlechte Gesundheitsverfassung des Wissenschaftlers mischte sich mit höchster Überraschung, und beides stiftete in seinen Gedanken eine Wirrnis an, die er nur allmäh-
lich zu bereinigen vermochte. »Äh ... Sie sehen etwas angegriffen aus, Professor«, sagte er und schob ihm den Sessel zurecht, sich mit gewissem Schuldgefühl dessen bewußt, daß er eigentlich nur eine Übersprungshandlung ausführte. »Vielleicht ist's besser, wenn Sie sich setzen.« »Kann sein.« Der bullige, sonst so robuste Planetologe stieß einen Seufzlaut aus, der ihm heiser und beschwerlich aus dem Brustkorb rasselte, als wären seine Lungen perforiert. Es war fast ein Röcheln. Dann nahm er mit solcher Unvermitteltheit Platz, als hätte er lediglich auf ein Stichwort gewartet, um soviel ungewohnte Schwäche zeigen zu dürfen. »Ich bin wohl überarbeitet. Der Chef hat uns derartig schikaniert, daß die Leute mir ums Haar in den Streik getreten wären, und mit der SpaceMontan wird er sowieso noch Ärger kriegen. Nichts ging ihm schnell genug.« »Warum?« Florens fühlte sich durch die Teilenthüllungen so überfordert, daß er ebenfalls das Bedürfnis nach einem Sitzplatz verspürte; in einer Anwandlung von Kaltschnäuzigkeit setzte er sich unter Maigreurs Duktuson-Pult. »Na, selbstverständlich will er Dschinnistan ein Monopol sichern, falls der Stratifungus sich als wirtschaftlich verwertbarer Grundstoff erweist. Schließlich wäre das eine wahrhaftig umwälzende Neuerung.« Shakelance atmete immer mühseliger; ab und
zu machten Trübungen seine Augen glasig, als hätte er unregelmäßig kurze Blackouts. »Neuerung? Pardon, Professor, ich bin leider nicht ganz auf dem laufenden.« Er fällt mir womöglich hier um, dachte Florens beunruhigt. Maigreur frißt doch dauernd irgendwelche Pillen. Ein Energetika müßte her. Oder Amphetamin. Irgendein Stimulans. Ob so was im Pult ist? Kurzentschlossen öffnete er die Schublade. Doch zwischen Handbüchern, Nagelschere, Notizheftchen, Kalenderbuch Klammern, Dias, Maßband, Code-Stift, Speicherkristallen, Döschen und einigen Dendrophilen-Porno-Holovideos sowie Krümeln lagen keine Medikamente; sein Blick fiel zu seiner Verwunderung auf eine Laserpistole, ein älteres Modell mit sonderbaren, weißlichen Griffschalen. C'est la fin des haricots! Der Ätte ist ja noch verrückter, als ich angenommen habe. Florens' Blick streifte, als er die Lade zuschob, das Foto Jelenas auf dem Pult. Wie hat so ein Miesnik es nur geschafft, diese Frau zu heiraten? Hastig konzentrierte er sich erneut auf Shakelances Erklärungen. »... gelingt, den Stratifungus unter Kontrolle zu bringen, ihn zu gesteuerten, unter Umständen für unsere Verwendungszwecke modifizierten Regeneration zu beeinflussen, könnte das, also die wissenschaftlich-technische Meisterung dieser Substanz, der Ko-
lonisation des Weltraums völlig neue Möglichkeiten auftun.« »Welche Verwendungszwecke? Was für Möglichkeiten?« Florens gab sich nicht länger Mühe, seine Unwissenheit zu verbergen. Aus dem Vorzimmer tönte der Wirrwarr zahlreicher Stimmen herüber; mehrere Personen stritten laut und zänkisch. Eilig erhob sich Florens aus der wohligen Anschmiegsamkeit, der subliminalen Massagetätigkeit von Maigreurs Sensopolster-Sessel. »Voraussichtlich könnte man vom Terraforming, wie man's so umständlich auf Venus und Mars eingeleitet hat ... zum Planetforming übergehen. Es wird noch Jahrhunderte dauern ... bis diese lausigen Blaualgen dort eine atembare Atmosphäre erzeugt haben ... Wenn meine Ansicht stimmt ... daß der Stratifungus gezüchtet worden ist und – mit etwas Glück – nach wie vor gezüchtet werden kann ... müßte es durchführbar sein, daraus auf der Erdumlaufbahn eine ganze Anzahl erdähnlicher Himmelskörper aufzureihen. Stellen Sie sich das mal vor, Bonnamy!« Harsche Atemzüge durchdrangen die Worte des Wissenschaftlers; er sprach abgehackt, in stoßweise hervorgepreßten Satzgebilden. Schweißtröpfchen schillerten in seiner Miene wie Perlen eines Martyriums. »Freilich ist das alles noch Theorie ... Immerhin zeichnet sich eine Chance ab, wie sich das Problem des Sied-
lungsraums schneller beheben läßt ... Und darauf kommt's an ... Die Zeit läuft ab ...« Florens' Staunen wuchs ins Uferlose. Doch Shakelances bedenklich miserabler gesundheitlicher Zustand durfte, befand er, nun keinesfalls länger ignoriert werden, und er entschied, daß ein Arzt gerufen werden mußte. Er schickte sich an, jemanden im Vorzimmer zu verständigen. Doch er stockte schon nach zwei Schritten. Vor seinen Augen quoll der Planetologe plötzlich auf wie ein Hefeteig. Lautlos zerfloß Shakelances Gesicht. Sein Kopf blähte sich zu einem griesig-beuligen Schwammklumpen auf. Der Rumpf dehnte sich unter seiner Kombination zur Kloßigkeit aus, die Gliedmaßen verformten sich zu Stalaktiten ähnlichen Ausläufern, schwollen in Dicke und Länge. Entsetzen belegte Florens mit einem Bann der Sprachlosigkeit. Das kann nicht wahr sein, dachte Florens in uneingeschränktem Unglauben. So etwas gibt es nicht! Die breiige Masse, in die sich der Wissenschaftler verwandelte, rutschte langsam, grotesk in die Kleidung gezwängt, vom Sessel. Da surrte die Tür auf. Maigreur verharrte, während hinter ihm wenigstens ein halbes Dutzend Satellitniks nachdrängten, im Eingang, als müsse er auf der Stelle durch Apoplexie zum Invaliden werden. »Bonnamy!« schrie der Chefadministrator. »Was haben Sie mit dem Professor gemacht?!«
5 Florens konnte nur entgeistert dastehen und umherstarren; Gesichter geisterten wie Kleckse durch sein Blickfeld, wie Halluzinationen. Doch schwer widerlegbare Eindrücke der Faktizität des Geschehens wirkten dem Gefühl des Irrealen entgegen, das er empfand und an das er sich am liebsten verzweifelt geklammert hätte, um zu leugnen, was sich zutrug. Sein Magen unternahm mit stoßweisen Kontraktionen einen Versuch, das am Mittag einverleibte Agar Agar zu erbrechen, war jedoch viel zu stark zusammengekrampft. Mit aller Willenskraft, die Florens aufzubieten vermochte, strengte er seinen Verstand an und überlegte, wie er der Situation begegnen sollten. »Ich habe nichts damit zu tun.« Seine Stimme klang lahm. Merde! Hätte ich bloß sofort einen Arzt geholt. »Er ist auf einmal ... Das ist ganz plötzlich passiert. Einfach so.« »Reden Sie keinen Quatsch!« zeterte Maigreur, fahl wie Kalkspat. »Das ist Mord! Mord!« Er drehte sich um, fuchtelte konfus. »Sheriff, verhaften Sie den Halunken!« Um den Sessel, an dem die Überreste des Wissenschaftlers hingen wie eine Kerze im Zerlaufen, hatten
sich die Ankömmlinge im Halbkreis versammelt. Sie betrachteten, Befremden und Ekel in die Gesichtszüge gekerbt, als könnten sie ihre Gemüter nie mehr davon befreien, mal Bonnamy, mal Shakelances grauenvolle Transformation: Marcel Baraque de Friture, Dschinnistans führender SpaceMontanFunktionär; Sten Ståndrättstraff, SekurService-Sheriff der Satellitenbasis; Shaida, Fifefield und Percy Grindling; ferner Hattalaye sowie die Mwerumbala, Leiterin des KommandCenters, dem die Gewährleistung der technischen Bereitschaft sowie die externe Kommunikation oblag. Bedächtig trat der Sheriff vor. »Es entsteht ein gewisses Verdachtsmoment daraus, daß er mit dem Professor allein gewesen ist.« Er verschränkte die Arme auf dem Revers seiner petrolfarbenen Uniform. »Aber wie soll er ...? Niemand kann so was machen.« »Ist er tot?« Shaidas Frage kam wie ein Winseln über ihre Lippen. »Das ist doch erst mal zweitrangig!« brauste Maigreur auf. Schrille Mißtöne durchsetzten sein Gegeifer. »Er wird's uns noch erzählen. Notfalls stecken wir ihn in die Alptraumkammer.« »Und das Motiv?« Unwillig runzelte der Sheriff die Stirn. »Gestern war er bei mir und hat gegen das IoProjekt gelästert, das Shakelance und ich veranlaßt
haben«, erwiderte der Chefadministrator gallig. »Er ist 'n rebellisches Element. Man hätte ihn schon längst auf Risiko-Expedition in den Perispace schicken sollen, um ihm Disziplin einzubläuen.« Wie ein Derwisch wirbelte er herum. »Aber jetzt haben Sie ausgespielt, Bonnamy!« fuhr er Florens an, als wähne er, mit dem Jüngsten Gericht betraut worden zu sein. »Ihre ständige Meuterei nimmt nun ein böses Ende.« Die Absurdität der Entstellungen und Verdächtigungen Maigreurs und die Besonnenheit des Sheriffs verhalfen Florens in einigem Umfang zur Beruhigung. »Als Chefadministrator sollten Sie darauf achten, das Ansehen Ihrer Person nicht andauernd durch hirnverbranntes Geschnatter zu schmälern, Monsieur«, meinte er im Tonfall eines Tadels. »Auf lange Sicht kann's nicht mal OMNIZIL entgehen, in welchem Maß Ihre Führungsqualitäten zu wünschen übriglassen.« »Was sagen Sie da?!« heulte Maigreur. Er fing an zu beben wie in Schüttellähmung. »Sheriff! Braucht's weitere Beweise seiner Insubordination und kriminellen Gesinnung? Nehmen Sie ihn fest!« »So tot wie 'n alter Klops«, merkte Fifefield an, der sich vorsichtig über Shakelances aufgeweichte Gestalt gebeugt und sie durch sein Sensorband – die Mundwinkel im Ausdruck des Abscheus herabgezogen – genauer besehen und anscheinend mit bloßem Augen
nicht erlangbare, wenig nachvollziehbare Einblicke in die scheußliche Metamorphose gewonnen hatte. »Eine explosive Zellveränderung oder dergleichen ... Irgend was bildet die Zellkerne um, und zwar ... Nein, ich kann's nicht erkennen. Für 'ne mikrochromatografische Analyse genügt die Tiefenwirkung meiner Perzeptoren nicht.« In diesem Moment plumpste der unförmig aufgedunsene Körper schwabblig vom Sessel auf den Teppich, und Fifefield prallte zurück. Shaida hielt sich eine Hand vor den Mund und würgte. Sie entfernte sich eilends ins Sekretariat. »Bestellen Sie Mediziner her«, rief der Sheriff ihr nach. »Und richten Sie der Biologischen Abteilung aus, daß 's Arbeit gibt.« »Mir liegt 'ne Meldung vor, daß er gestern 'ne Schlägerei angezettelt hat«, tratschte Maigreur wie eine manische Plaudertasche. »Und der Kundendienst der Virturi Humani AG hat 'ne Beschwerde über mutwillige Beschädigung eines Sexdroiden eingereicht. Ich bestehe darauf, daß Sie diesen Revoluzzer verhaften.« »Jetzt langt's, Baby.« Marcel Baraque de Friture stellte sich, in Korpulenz, Wuchtigkeit und Stattlichkeit einem Bollwerk in Menschengestalt gleich, dicht vor Maigreur; die Erscheinung des Gewerkschaftsfunktionärs, sein Vollbart, die üppige Kugelfrisur, beides kraus und schwarz wie Gespinste aus Karbon-
fasern, erniedrigten den durch chronische Gastritis und Vegetative Dystonie quasi der Magersucht verfallenen, fast ausgemergelt dürren Chefadministrator zu einem Plastinauten-Wicht. »Dem Kollegen Bonnamy wird gegen deine infamen Unterstellungen und Beschuldigungen Rechtsschutz gewährt. Außerdem werden wir ihm empfehlen, dich im Gegenzug wegen übler Nachrede, Verleumdung, Beleidigung und Ehrabschneidung zu verklagen.« »Ich habe mir schon tausendmal verbeten, daß Sie mich duzen!« brüllte Maigreur wie ein Wahnwitziger. »Ich ...« »Der Superspacer wird über Ihr skandalöses Verhalten berichten«, sagte Hattalaye zu Maigreur. »Gentlemen«, merkte Fifefield in düsterem Ton an, »ich glaube, Ihre Streitigkeit entspricht nicht dem Ernst der Lage. Es geht hier um einen rätselhaften Todesfall.« »Was schert denn Sie das?« zischelte Maigreur mit Speichelflöckchen an der Unterlippe. »Wieso sind Sie nicht auf der Baustelle? Was wünschen Sie überhaupt von mir?« »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Auskünfte über den Scheiß, den Sie auf Io bauen. Vergessen Sie nicht, daß ich Aktionär der Vereinigten AstroIndustrie bin, Mr. Maigreur.« Statt zu antworten, wankte der Chefadministrator
hinters Duktuson-Pult und schluckte Sedative. Florens ging ins Sekretariat. Shaida saß an ihrem Platz. Sie steckte mit zittrigen Fingern sich eine Marihuette an. »Was tun diese ganzen Leute hier?« fragte Florens nach. »Zooks, ich kann gar nicht beschreiben, was heute schon abgelaufen ist. Von der ersten Minute an hat er getobt wie ein Zero-G-Delirent. Zuerst hat er diesen Grindling holen lassen, weil er glaubt, er hätte den Superspacer informiert, und den Sheriff hergebeten. Er bekam einen Wutanfall nach dem anderen. Dann wollte er dich sprechen. Ich habe behauptet, du wärst nirgends zu erreichen.« Müde lehnte Shaida den Kopf an Florens' Bauch. »Dann mußte Hattalaye kommen. Von ihm hat er nix erfahren. Und dann haben sich kurz nacheinander Fifefield und der SpaceMontan-Funktionär eingestellt. Die Brüllerei war grauenhaft. Schließlich ist er ins KommandCenter abgewetzt, ich glaube, aufgrund eines Anrufs. Alle sind hinterdrein. Vor 'ner Viertelstunde ist Shakelance hier eingetroffen. Und jetzt ... das ...« Aus unerahnbaren Tiefen ihres Herzens seufzte sie auf. »Ich fürchte, der Chef wird heute endgültig total wahnsinnig.« »Sei froh, dann haben wir's hinter uns.« Florens merkte, während er sacht in Shaidas Nacken im Kupferrot ihrer Zotteln furchte, wie wenig Ermutigung aus seiner Stimme klang.
»Was ist denn mit dem Professor geschehen?« Hattalaye kam ins Vorzimmer gestapft. »Das wollte ich dich gerade fragen.« Desperat breitete Florens die Arme aus. »Ehrenwort, es war so, wie ich's gesagt habe. Auf einmal hat er sich ... derartig verändert. Urplötzlich.« »Er sah ziemlich schlecht aus«, ergänzte Shaida und paffte fahrig, blies weißlich-blaugraue Kringel in die Luft. Hattalaye schüttelte ungläubig den Kopf. »Nicht zu fassen.« Aus dem Chefbüro drang erneut der Wirrwarr von Geschrei. Etwas wie eine Eingebung glühte in Florens' Denken auf, ein Fünkchen ansatzweisen Verstehens. Doch der Lärm im Nebenraum störte seine Bemühungen, die Intuition in konkrete Begriffe zu kleiden. Drei Servicisten, begleitet von einem Mediziner in lindgrüner Montur und zwei Medo-Mechanoiden, drängelten ins Sekretariat und unterbrachen Florens' überstürzte Überlegungen vollends. Wortlos wies Shaida auf die Tür des Chefbüros. Dort ergab sich schlagartig Stille, als die Gruppe eintrat. Mit den Fäusten rieb sich Florens, die Augen fest zusammengekniffen, die Schläfen. Psychedelische Phänomene gaukelten unter seinen Lidern, als könne er dem Hirn, so wie Fifefield mit seinem Sensorband,
die Wahrnehmung von Falschfarbenmustern und Spektralrastern ermöglichen. Shaida und der NewsRedakteur äußerten irgend etwas; er hörte nicht zu. Shakelance ist zu einer Amöbe geworden, einer Wucherung. Einem Schwamm, einem ... »Ich hab's!« Er riß die Augen auf, blinzelte in die Helligkeit, die wieder lichtschnell seine Sehnerven durchfuhr. »Das muß 's sein.« Er eilte in Maigreurs Büro. »Der Stratifungus!« Verblüfft blickte der Mediziner auf; er hatte vorerst lediglich das Ableben des Planetologen bestätigen können, dessen Überbleibsel die zwei Mechanoiden soeben in eine weiße Plastikfolie einschweißten. »Wie bitte?« »Halten Sie Ihr verfluchtes Maul, Bonnamy!« krähte der Chefadministrator. »Ich habe Sie zum Schweigen verpflichtet!« Er deutete mit dem Zeigefinger auf Florens, als hielte er sich für fähig, Blitze zu verschleudern. »Leider hat mich das wenig beeindruckt, Monsieur. Nicht Grindling, sondern ich habe den Superspacer informiert. Es ist untragbar, daß Sie ...« »Meuterei!« Maigreur stürzte sich wie ein Kondor auf Florens, der keinen Widerstand entbot, zerrte an ihm herum. »Sie haben gegen meine Anweisungen und das Satellitenstatut verstoßen! Sheriff, greifen Sie ein!«
Ståndrättstraff winkte zwei Servicisten zu. Die Männer packten Maigreur, schleiften ihn hinter sein Pult und drückten ihn in den Sensopolster-Sessel. Maigreur keuchte vor sich hin, im Moment unfähig zum Reden. »Dafür werden Sie sich allerdings tatsächlich verantworten müssen, Bonnamy«, sagte der Sheriff. Florens zuckte die Achseln. »Nach meiner Meinung liegen übergeordnete Interessen vor. Es muß geklärt werden, wieso Dr. Maigreur und Shakelance etwas unter sich abgekartet haben, von dem niemand was wissen soll. Jedenfalls, wenn's nach ihm geht.« Er nickte hinüber zum Chefadministrator. »Diese Ansicht ist vollauf berechtigt, Baby«, wandte sich B. d. F. an den Sheriff. »Der Mann ist drauf und dran, uns in die Roten Zahlen zu bringen.« Fifefield unterstützte das Argument mit mehrmaligem Nicken. Kriecherisch schob sich Grindling an Florens' Seite. »Vielen Dank, Florens. Zooks, Mann, ich ...« »Schon gut. Ist gut.« Jemand faßte Florens am Ärmel. Er schaute ins Gesicht des Mediziners; sogar dessen Wangen wirkten leicht käsig. »Lassen Sie uns rausgehen. Hier kann man ja kein Wort in Ruhe wechseln. Ich bin Dr. Koumanelis.« »Sie hatten vor, mit Instruktionen zu erteilen«, sagte die Mwerumbala zum Chefadministrator, der em-
portorkelte, anscheinend in der Absicht, zu verhindern, daß Florens und Koumanelis sich unterhielten. »Bleiben Sie besser sitzen, Dr. Maigreur.« Der Sheriff vertrat ihm den Weg. »Ich habe den Eindruck, Sie muten sich zuviel zu. Auch Sie können sich nicht gleichzeitig um alles kümmern.« Die beiden Mechanoiden, 120 cm hohe, elementarrobotische Apparate, Stumpfkegel in MetallicHellblau und mit Servotentakeln sowie anderen, spezialisierten Effektorextremitäten, summten auf ihren Magnetkissen hinaus, angeführt und überwacht von einem Servicisten. Sie trugen das gruselige Bündel durchs Sekretariat, um es in den Poliklinischen Komplex Äskulap Epsilon zu befördern. Shaida guckte weg. Fifefield und B. d. F. folgten Florens und dem Arzt ins Vorzimmer. »Was meinen Sie mit ›Stratifungus‹, Mr. Bonnamy?« bat Koumanelis um Aufschluß. »Sobald Ihr Kommandeur da ist, werde ich dafür sorgen, daß er Sie zur Rechenschaft zieht!« hörte man Maigreur den Sheriff anschreien, ehe die Schiebetür, die automatisch zuglitt, sich schloß und das Keifen bis zur Unverständlichkeit dämpfte. Kurzgefaßt berichtete Florens, was Prof. Shakelance ihm erzählt hatte. (Nach den ersten Worten schaltete Hattalaye seinen Brusttaschen-Recorder ein und zeichnete die Aussage auf; danach verabschiedete er sich eilends, ohne von jemandem beachtet zu wer-
den.) »Ich kann mir nur denken«, beendete Florens seine Zusammenfassung, »daß der Professor sich an der Substanz ... äh ... irgendwie infiziert hat. Oder so ähnlich.« »Das könnte zutreffen. Ich habe ihn mir etwas näher angesehen.« Fifefield tippte mit einem Finger an sein Sensorband. »Irgend was hat in seinem Körper die interzelluare Kohäsion zersetzt.« »Hmmm ...« In Koumanelis' Miene spiegelte sich nichts als Zwiespältigkeit. »Ich wüßte keine anorganische Verbindung mit einer solchen Wirkung. Aber ich will versuchen, den Verdacht zu überprüfen.« Voller Erbitterung floh die Mwerumbala das Büro des Chefadministrators. »Der Kerl treibt mich eines Tages in den Irrsinn.« Zorn verlieh der Schokoladenbräune und Rundlichkeit ihres Gesichts unnatürliche Herbheit. Florens hielt sie auf. »Was hat der Ätte da eben erwähnt? Über 'n Kommandeur?« »Matsumoto.« Die Anwesenden stutzten. »Der SekurService-Kommandeur.« »Matsumoto?« wiederholte B. d. F. »Höre ich richtig, Baby? Ich dachte, er jagt im Asteroidengürtel Raumpiraten.« »Gegenwärtig ist er auf jeden Fall unterwegs nach Dschinnistan. Sein Flaggschiff Hien hat vor drei Stunden den Ortungshorizont überschritten, und er hat
sich inzwischen per Veloxmitterfunk angekündigt. Deshalb war der Chef ja im KommandCenter, er hat lange mit Matsumotos Adjutant verhandelt, um herauszukriegen, zu welchem Zweck der Besuch erfolgt. Aber ohne Ergebnis. Die Hien schwenkt zur Zeit auf Tangentialkurs ein. In 'ner knappen halben Stunde wird sie andocken.« B. d. F. lachte. »Kein Wunder, daß unser Chef-Baby dermaßen in 'n Trudelorbit geraten ist. Wo Matsumoto aufkreuzt, gibt's für Scheißer wie ihn mit Sicherheit Komplikationen.« »Ich bin auch nicht unbedingt erfreut«, sagte Fifefield barsch. »Der Mann ist für dirigistisches Kalkül und Rigorosität bekannt. Als Verfechter kollektivistischer Ideologien.« »Soll diese Bemerkung 'n Seitenhieb gegen die SpaceMontan sein, Baby?« hakte B. d. F. nach; Eisblumen der Feindseligkeit schienen seine Stimme mit Arabesken zu verschnörkeln. »Verstehen Sie's, wie Ihnen paßt. Aus welchem Grund er auch kommt, 's wird für uns alle Scherereien mit sich bringen.« »Er bekämpft unter anderem die interplanetare Schattenwirtschaft und Wirtschaftskriminalität, statt bloß auf den Impunitaten rumzuhacken, wie gewisse OMNIZIL-Kreise 's gern hätten darum sind Kuponkraken wie du gegen ihn – und deshalb genießt er die
Sympathie der SpaceMontan. Das ist's, was du meinst, Baby.« »Ha!« grölte der Ingenieur. »Ich habe nichts zu verbergen.« Er verzichtete jedoch auf weitere Gegenreden. Die Mwerumbala machte sich auf den Rückweg ins KommandCenter. »Aber Maigreur verbirgt etwas«, konstatierte Florens zu Koumanelis. »Und bestimmt hat er schon vor einiger Zeit von Shakelance genauere Angaben über den Stratifungus erhalten. Fragen Sie ihn.« Koumanelis nickte. »Vielleicht ersparen wir uns dadurch 'n paar Labortests.« Er strebte zurück ins Chefbüro; Florens schloß sich an. Doch Maigreur ließ den Mediziner die Frage nicht einmal zu Ende formulieren. »Kein Kommentar!« krächzte er, stopfte sich währenddessen Pille um Pille in den Mund. »Es handelt sich um ein Betriebsgeheimnis, das vorläufig von der Administration intern gehandhabt werden muß. Sie erfahren von mir kein Bit.« Seine Stimme kiekste. Die Warze auf seiner Bakke sah an ihm beinahe aus wie das Kastenzeichen einer Konvulsionärssekte. Er hüstelte. »Kein Bit.« Koumanelis und der Sheriff wechselten Blicke ernster Bedenken. »Sir«, setzte der Arzt betont förmlich nochmals zu einem Versuch des Gutzuredens an, »ich möchte Sie darauf aufmerksam ...« Maigreur schlug mit der Faust aufs Pult. Das Holo-
foto mit Jelenas Konterfei kippte um. »Nix da! Was lungern Sie hier rum, anstatt endlich die Todesursache zu ermitteln?!« Er raffte sich aus dem Sensopolster-Sessel hoch. »Ich gebe Ihnen hiermit die dienstliche Anordnung, sofort mein Büro zu verlassen. Und auch Ihnen, Bonnamy.« »Wie Sie wünschen.« Dr. Koumanelis machte kehrt: Florens folgte. Kaum standen sie wieder im Vorzimmer, scholl dumpf neue Schreierei aus Maigreurs Office; allem Anschein nach wagte Ståndrättstraff den Chefadministrator zu kritisieren. Fifefield beeilte sich hinein, um sich einzumischen. »Parbleu! Aber wir sind noch nicht am Ende mit dem Latein. Irgendwer muß uns über das Zeug was sagen können.« Florens wandte sich an Shaida. »Woher war der Professor gekommen?« »Einen Moment.« Shaida fütterte gerade Spulen, die eben der Datenkompaktor ausgeworfen hatte, dem Schreibautomaten nach. »Orbitallabor A Sieben, wenn ich mich recht entsinne.« »Kannst du dorthin 'ne Verbindung herstellen?« »Ich muß übers KommandCenter kontakten. Dauert 'n Weilchen.« Mit weitgehend wiedererlangter Selbstsicherheit aktivierte sie das IntKom-Gerät. »Sie haben gesagt, Shakelance zufolge wäre der Stratifungus ›gezüchtet‹ worden«, kam Koumanelis auf Florens' Darstellung zurück.
»Ja, er hat sich wörtlich so ausgedrückt.« »Eine Substanz, die erst vor kurzem auf Io vorgefunden worden ist?« Koumanelis hob die Brauen. »›Gezüchtet‹ von wem?« »Zooks, darauf weiß ich beim besten Willen keine Antwort.« Florens fühlte in tieferen Schichten seines Gemüts eine unbestimmte Beunruhigung rumoren. Zerstreut beschrieb er die Umstände seiner Havarie mit dem Prospektor Checkered Demon; er hatte die Geschichte seitdem schon so oft wiedergegeben, daß er sie achtlos herunterleiern konnte. »Grindling und ich haben nach der Besichtigung dieser sonderbaren Höhlen bloß rumgesessen und gewartet. Wir konnten gar nichts anderes tun, die ganze Schürfausrüstung war ja mit dem Prospektor zu Bruch gegangen. Ich selbst habe kein Gramm Stratifungus gesehen. Wenn jemand über das, was der Professor und die anderen Spezialisten während der letzten Tage auf Io an Tätigkeiten ausgeführt haben, 'n Überblick hat, dann Maigreur. Und er läßt uns dastehen wie Vakuköppe.« Gezüchtet von wem? Eine berechtigte Frage. »›Kein Bit!‹« äffte Florens den Chefadministrator nach. »Merkwürdig.« Shaida zeigte auf den Bildschirm des IntKoms, das Glimmen eines Digital-Schriftzugs. »Das Orbitallabor meldet sich nicht.« »Was 'n das?« brummte verblüfft B. d. F., der ihr über die Schulter schaute. Perplex trat Florens eben-
falls hinter Shaidas Servosessel. Das System von Relaissatelliten garantierte, daß sich Außenstationen über Funk auch erreichen ließen, während ihr Orbit an Jupiters Rückseite verlief, und eine Überlastung der computermodulierten Laser-Richtstrahlbündel galt als ausgeschlossen. Abgesehen von Jupiters Dekameter-Emmissionen, die im Großen Roten Fleck entstanden, auf deren Rhythmus man sich einstellen konnte, waren in Dschinnistans externer Kommunikation noch nie Störfaktoren registriert worden. »Etwa 'ne Störung? Kosmische Strahlung?« »Nee, kann nicht sein.« Florens spielte, sich dessen kaum bewußt, an einem Ohrläppchen Shaidas; daran baumelte, gefaßt in Golddraht, ein schartiger Splitter Zoisit-Rubin-Konglutinat. Auch sie verneinte die Mutmaßung des SpaceMontan-Funktionärs. »Ich frage mal im KommandCenter an.« Von dort erhielt sie den Bescheid, technisch sei alles in Ordnung, man könne sich das Ausbleiben der Verbindung nicht erklären: offenbar gehe schlichtweg niemand an den Kommunikator. Angespannt schlurfte Florens hin und her. Gezüchtet von wem? Seine innere Unruhe schwoll ihm im Blut wie Gift. (Täuschte er sich, oder war ihm irgendwie heiß?) Von wem? Dr. Koumanelis entfernte sich zum Ausgang. »Halt!« Florens schnippte mit den Fingern. »Das
Team, das Maigreur mit Shakelance nach Io geschickt hat.« Er sah Shaida an. »Den Code kennt nur der Chef. Das heißt, im KommandCenter müßte man ihn auch wissen.« »Kommen Sie.« Florens winkte Shaida zu und eilte mit Koumanelis aus dem Sekretariat; sie durchmaßen die Länge des Korridors, in dessen Mitte Vitrinen bis an die Decke aufragten, eine Idee des Chefadministrators, der in der Illusion lebte, die darin ausgestellten Riesenbrocken von Quarzit, Chalzedon, Porphyr und Epidot sowie Präparate von Silikonvegetation wären für die Satellitniks Gegenstände der Bewunderung. An der letzten Vitrine, gegenüber vom Quartex-Panzerschott des KommandCenters, blieb Florens stehen. »Was haben Sie vor?« »Abwarten. Der Identifikations-Prüfer ist ausschließlich auf die Fingerabdrücke des KommandCenter-Personals programmiert.« Sie brauchten sich nicht lange zu gedulden. Ein Techno näherte sich, unterm Arm eine Box voller Speicherelemente, steckte die Rechte in Wandfach und Mulde des ID-Scanners. In falscher Dramatik fauchte der Pneu-Mechanismus, indem er das Panzerschott öffnete. Florens schubste den Techno vorwärts, zog Koumanelis mit ins KommandCenter. »He! Was fällt Ihnen ein? Sie haben hier nichts zu
suchen.« Streitbar richtete sich der Techno vor den beiden Eindringlingen zur vollen, durchaus eindrucksvollen Körpergröße auf. »Es ist ganz dringend, Mensch. Wir müssen unbedingt mit Ihrer Vorgesetzten reden.« »Es gibt nicht erst seit heute Kommunikatoren, Freundchen. Wenn's sein muß, rufen Sie sie an. Unbefugten ist das Betreten des KommandCenters verboten. Wir haben hier heute schon mal Remmidemmi gehabt, das wir nicht gebrauchen können.« »Aber ...« »Sie kennen die Vorschriften. Zwingen Sie uns nicht zu drastischen Maßnahmen. Seien Sie friedlich und gehen Sie.« Ringsum hoben in der blaßblauen Helligkeit der herabgedimmerten Fluoreszenzscheiben Techni die Blikke von den Schaltpultkonsolen und Sonsorkontrollen. Das komplizierte kybernetische System des KommandCenters bestand aus einem Verbund mit Positronik-Computern gekoppelter Rasterschirme, durchflimmert von filigranen Informationslinien, Decodern, Infrarot-Falschfarbenmonitoren, die von Kaltkristallen schwammen, Radar-Holodisplays, in denen Tasterreflexe und Massenechos wimmelten, SpektralanalyseBildwandlern, voll mit geisterhaften Mustern, Tupfern und Flockengebilden, und Energometern mit vielfältigem Gehüpfe von Intensitätsprofil-Amplituden sowie
Kommunikatoren sämtlicher Modelle. Eine enorme kartografische 3D-Projektion der Jupiter-Gravisphäre – transluzide Flüssigkristallsymbole markierten darin Konstellationen und Koordinaten aller im Ortungsbereich befindlichen natürlichen und artifiziellen Himmelskörper und Objekte – leuchtete an einer Wand und warf zusätzlich neonhellen Schimmer auf Gesichter und Haare des Personals. Auf dem Screen der Außendarstellung sah man die Hien, mittels eines molekularen Fragment-Teleskopeffekts hervorgehoben, im Synchronorbit beim Andockmanöver. Im Augenwinkel beobachtete Florens, wie eine Techna die Mwerumbala ansprach. Die Leiterin des KommandCenters nahm die Sensor-Haube, die ihr per Elektroden ein Flash-up-Mosaik der Situationsdaten direkt ins Zentralnervensystem speiste, vom Kopf und schwang sich resolut aus den AnatomieUmrissen des Konturensessels. Sie durchquerte das Oktagonal der Räumlichkeit mit schnellen Schritten. »Was soll denn das nun wieder? Erst überfällt uns der Chef mit 'ner wahren Affenhorde, und jetzt fangen Sie hier an zu randalieren, Bonnamy. Können Sie sich eigentlich kein bißchen an die Vorschriften halten? Für unsere Arbeit ist ein hohes Maß an Disziplin erforderlich.« Darauf hätte Florens gern erwidert, daß er Disziplin lediglich als organisierte Form neurotischer Zwangshandlungen einstufte; doch er verzich-
tete auf die Bemerkung, weil er Klarheit über die Sinnlosigkeit diesbezüglicher Diskussionen besaß, und zudem wollte er bei der Mwerumbala etwas erreichen. Also beschränkte er sich auf ein Lächeln, um ihrer Ungnädigkeit zu begegnen, und trug das Anliegen vor. Koumanelis half nach, indem er auf die Dringlichkeit verwies, mit der sich der Tod des Professors aufzuklären empfahl. Die Mwerumbala seufzte, als überböten sich in ihrem Leben alle Menschen an Unverständigkeit. »Na schön, in Anbetracht der Umstände ... Aber reißen Sie mich in nichts rein.« Sie maß Florens aus schwer deutbarer Miene. »Der Umgang mit dem Chef wird immer brisanter.« Sobald sie wieder im Konturensessel Platz genommen hatte, Florens und Koumanelis dahinter standen, gab sie ihrem Kommunikator einen Code ein und übersteuerte die integrierten Anlagen der Veloxmitterstation. Etliche Sekunden lang flackerte es nur auf der Bildfläche. Gezackte Streifen und Schnee wechselten einander ab. Schließlich erschien der gleiche Schriftzug, den Florens vorhin auf Shaidas IntKom-Bildschirm gesehen hatte: KEIN KONTAKT. »Wie ist das möglich?« Florens rieb sich den Nasenrücken. Beklemmung beschlich seine Brust, als bedrücke sie ein langsames Anwachsen der Gravitation. Irgend etwas war ganz eindeutig nicht in Ordnung.
Noch zweimal wiederholte die Mwerumbala den Versuch, jedesmal mit negativem Resultat. »Es hat keinen Zweck.« Sie schüttelte die Dutzende von mit Bändern verflochtenen Zöpfchen, die ihr bis auf die Schultern hingen. »Es geht niemand ran.« »Und warum nicht? So was ist doch nicht üblich. Und mit Orbitallabor A Sieben war's das gleiche.« Sauertöpfisch tippte die Mwerumbala den Code des Orbitallabors. Auch dort meldete sich noch immer niemand. »Wirklich seltsam.« Verunsicherung dehnte ihre Stimme. »Ich kann's auch nicht begreifen.« In diesem Moment zirpten ExKom-Signale, und auf dem Bildschirm begann das Prioritätspiktogramm zu pulsieren. »Jetzt kann ich mich nicht weiter damit befassen. Das ist die Hien. Raus mit Ihnen!« Nahezu deprimiert befolgte Florens die Aufforderung. Koumanelis ging mit hinaus. Im Korridor verstummten zwei von Häme verzerrte Männerstimmen, sobald der Arzt und Florens aus dem KommandCenter traten. Fifefield und Ned Atherden, ›Kophta‹ der Teleologischen Sukzessionisten, hatten offenbar eine sehr unfreundliche verbale Auseinandersetzung, die sie in dem Augenblick unterbrachen, als sie Florens bemerkten. Das Gewirk der Mikroelement-Fäden in Atherdens von Erbostheit gerötetem Quadratgesicht schien zu glühen wie mit Haß geladene Drähte. Wort-
los stiefelte Florens in Koumanelis' Begleitung an den beiden Männern und den Vitrinen vorüber zielstrebig zurück ins Sekretariat. »Ich habe noch mehrmals versucht, mit dem Orbitallabor 'ne Verbindung zu bekommen.« Shaida schaute nicht vom Terminal auf. Sie las aufmerksam irgendwelche Daten ab. »Es klappt nicht.« »Wir müssen's Maigreur sagen.« Florens betrachtete die inzwischen nervös gewordene Miene des Mediziners. »Dann ist er in Zugzwang.« »Ich müßte mich an die Untersuchungen machen ...« Koumanelis zögerte, fummelte am Magnetverschluß seiner Montur. »Allerdings ... Hm, ja, Sie haben recht.« Maigreur kauerte hinterm Duktuson-Pult, die Arme verspannt angewinkelt, die Finger auf dem Pult gespreizt, als wäre er eine Heuschrecke. Urteilte man nach der Glasigkeit seiner Augäpfel, mußte er mittlerweile eines Dosis Barbiturate von beinaher Narkosewirkung geschluckt haben. Er lauschte den Erläuterungen Ståndrättstraffs mit der Unbeteiligtheit eines Mechanoiden. B. d. F. lehnte neben der Tür und grinste lässig vor sich hin. In einer Ecke stand verlegen noch immer Percy Grindling, das Bewußtsein seiner Überflüssigkeit larmoyant im Gesichtsausdruck, ein Anblick des Jammers. »Was ist denn nun wieder?« Fast lallte der Chef-
administrator. Das Zittern seiner Hände hatte aufgehört; er hätte im Stupor oder in Trance sein können. »Sir«, sagte Koumanelis so formell wie schon einmal, »wir müssen Ihnen mitteilen, daß der Kontakt zum Io-Team und zum Orbitallabor A Sieben abgebrochen ist. Um den Tod des Professors womöglich dadurch rascher aufzuklären, wollten wir Erkundigungen bezüglich der Stratifungus-Substanz einholen. Aber es antwortet niemand.« Für Florens glich es nachgerade einem Mirakel, daß Maigreur den Arzt ausreden ließ. »Dergleichen ist Ihnen nicht von mir gestattet worden«, stellte der Chefadministrator mit einer Eisigkeit fest, als ob er inwendig so abgestorben wäre wie die konservierte Silikonflora draußen in den Vitrinen. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?« Träge drehte er den Kopf erneut seinem vorherigen Gesprächspartner zu. »Sheriff, das ist eine Konspiration.« »Wir haben Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Sir«, log Koumanelis unter Aufbietung der eigenen Autorität. »Wir waren der Überzeugung, daß Sie jedes Vorgehen gutheißen, durch das es gelingt, die Ergründung der Ursachen zu beschleunigen, auf die das Schicksal des Professors zurückzuführen ist.« »Lenken Sie nicht ab«, nölte Maigreur. »Ich durchschaue jetzt alles ganz klar und deutlich. Mein Gehirn funktioniert in diesem Moment besser als eine Posi-
tronik. Es handelt sich zweifelsfrei um eine Konspiration. Das Ziel kann nur sein, die ökonomische Zukunft Dschinnistans zu sabotieren. Wahrscheinlich ist Bagynski der Anstifter. Das Asteroiden-Trio fürchtet unsere Konkurrenz. Der einfältige Lump weiß genau, daß er kein Fünkchen vom Visionären meines Denkens hat, daß er bloß 'ne Krämerseele ist. Aber ich werde seinen Plan im Keim ersticken.« Florens sah, wie Maigreur langsam eine Hand der Schublade des Pults näherte, und entsann sich voller Beklommenheit der Laserpistole, die darin lag. »Ich werde den Schurkenplan dieses Astropolacken knallhart durchkreuzen.« »Ich kann unmöglich verschweigen, daß ich Ihre Ansichten mit bestimmten Vorbehalten zur Kenntnis nehme, Chef«, äußerte sich dazu der Sheriff mit spürbarem Mißfallen. »Ist mir klar. Das ist mir völlig klar. Mir ist alles klar. Um ein derartig heimtückisches Komplott zu durchschauen, bedarf's eines Genies von meinem Format.« »Vielleicht sollte man etwas veranlassen, um herauszufinden, wieso Orbitallabor und Io-Team nicht antworten, Sir«, empfahl Koumanelis. »Ich brauche mehr wissenschaftliche Informationen über den Stratifungus.« »Ich fühle, wie mein Intelligenzquotient stündlich
wächst«, verkündete Maigreur ein neues Postulat, an Verwegenheit kaum geringer als seine zuvorigen Thesen. Eindringlicher denn je ähnelten seine Augen in ihrer Altglas-Glanzlosigkeit verstaubten Speicherkristallen. »Vermutlich dürfte dieser Effekt an Jupiters Radiostrahlung liegen.« Florens vermochte ein gewisses Maß an Mitleid für den Chefadministrator nicht länger zu unterdrücken, eine Regung, die man im allgemeinen Menschen entgegenbrachte, die man verachtete. Daß Maigreur dicht am Abgrund der Unzurechnungsfähigkeit entlangtanzte, daran gab es keinen Zweifel; jeder Laie sah es, wenn er nur mehr oder weniger regelmäßig mit ihm zu tun hatte. Doch seine offenbar von weiterem Ansteigen betroffene Geistesverwirrung beruhte auf mit Wahn gepaarter Geltungssucht, dem Lechzen nach persönlicher Macht, Titeln, Habe Privilegien; und für diese Gier verachtete ihn Florens. Er mochte derlei Anwandlungen nicht: Verachtung und Überheblichkeit blieben stets Siamesische Zwillinge. Dennoch konnte Florens in bezug auf Maigreur so wenig Herr seiner Gefühle wie bei Jelena sein. Aber seine von Verachtung und Bedauern geprägte Stimmung verflog rasch. Irgend etwas mußte geschehen. Allem Anschein nach überforderte das Fällen kompetenter Entscheidungen den Chefadministrator gegenwärtig; und die vorerst unbegründbare Ruhelo-
sigkeit fraß in Florens wie ein Schwelbrand. Sie allein durch Gewißheit zu löschen. In den Mienen Koumanelis' und des Sheriffs erkannte er, daß intuitive, starke Sorge unterdessen auch diese beiden Männer ergriffen hatte. Das Satellitenstatut enthält einen Paragraphen über die Amtsabsetzung des Chefadministrators bei Versagen in Krisensituationen. Ist die Lage bereits so ernst, daß man dem Sheriff den Vorschlag unterbreiten kann? Ich müßte darüber mit Baraque de Friture reden. Er zählt zum Managementgremium und könnte einen Dringlichkeitsantrag einbringen. »Chef«, sagte Ståndrättstraff, nichtsdestotrotz den Rahmen seiner gewohnten Gutmütigkeit und Wohlüberlegtheit zu wahren gewillt, »die Tatsache, daß wir den Funkkontakt zu weit über hundert Mitarbeitern an zweierlei Einsatzorten zur gleichen Zeit verloren haben, ist meines Erachtens ...« Gezüchtet von wem? grübelte Florens. Von wem? »Ich verstehe Ihre Skepsis, Sheriff«, nuschelte Maigreur in der herablassendsten Manier dazwischen, selbstgefällige Nachsicht und von den Medikamenten bewirkte Schläfrigkeit in seiner Stimme. »Aber sobald Ihr Kommandeur eingetroffen ist, wird's 'ne Kleinigkeit sein, die Bagynski-Brut auszuheben, seine Agenten und Saboteure dingfest zu machen. Sie werden's erleben. Das werden Sie noch erleben.« Der scheele
Blick, verschleiert mit der Diesigkeit der Sedative, den er ebenso lahmarschig wie orakelhaft durchs Büro schleichen ließ, der Koumanelis, Florens und B. d. F. streifte, verriet mit hinlänglicher Deutlichkeit, daß er fest glaubte, diese drei Personen später unter den Verhafteten zu sehen. Natürlich! dachte Florens. Er preßte in dumpfer Bitterkeit, empfunden wie einen Nachhall jener Verbitterung, die ihn von der Erde vertrieben hatte, die Lippen zusammen. Matsumoto kommt. Damit wäre diese Chance verpaßt, den Fumble-Bumble-Ätte abzuservieren. Matsumoto wird ihm die Zentrifuge wieder stabilisieren. Merde! In diesem Moment erblickte der Chefadministrator Percy Grindling, und er wölbte, auf einmal des Impunitaten-Emblems ansichtig, die Brauen; in seinen wie von Reif getrübten Pupillen schienen plötzlich Elmsfeuer des Überschnappens zu irrlichtern, Leuchtgase im Sumpf seiner Abgeirrtheit. »Was suchen denn Sie hier?!« Grindling erweckte den Eindruck, als müßten ihm die Knie einknicken. »Äh ... Sie hatten mich holen lassen, Chef ... Ähm ... Um mir Fragen zu stellen.« »Ihnen?« Maigreur entrang sich ein Auflachen, das wie ein Husten oder Bellen klang. »Ich wüßte nicht, welche Art von Fragen 'n Mistkerl wie Sie mir beantworten können sollte. Verschwinden Sie!« Mit dem
Finger zeigte er in die Runde. »Sie alle verschwinden jetzt sofort aus meinem Büro. Sheriff, Sie sind mir dafür verantwortlich, daß ...« Da summte das IntKom. Bösartig hieb Maigreur den Handrücken auf den Sensor. »Ja?!« »Chef, 'ne dringende Meldung.« Florens horchte auf; irgendwie rührte die rauhe Stimme des Anrufers, obwohl sie infolge schlecht gemeisterter Verstörung und Bänglichkeit zu so etwas wie quäkigem Gekrächze neigte, in ihm an eine Erinnerung. Leise wechselte er, hinter Ståndrättstraffs Breitschultrigkeit in Sichtdeckung, so den Standort, daß die Bildfläche des IntKoms auf Maigreurs Duktuson-Pult in sein Blickfeld geriet. Baff erkannte er das Unkenangesicht Willigis Atzehubers, Biolaborant und nebenbei »Supraselekteur« der Liga für Totalgenetische Purifikation. »Bei uns in der Biologischen Abteilung sind vorhin ... Ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll. Jedenfalls muß ich Tote melden. Vier unserer Leute haben sich urplötzlich in ... ah ... etwas ähnliches wie Gallert aufgelöst.« Maigreur stierte bloß den Apparat an, außerstande zu jeder Antwort. Schockiert schaute der Sheriff in Koumanelis' Miene, als hoffe er, der Mediziner würde die naheliegende Schlußfolgerung dementieren; doch Koumanelis, die dunkle Haut durch schlagartige Blässe gebleicht, tat das Gegenteil. »Eine Epidemie«,
stieß er hervor, als drohe ihm das Herz zu stocken. »Das ist 'ne Seuche!« Mit ihrem Gleitgeräusch öffnete sich die Schiebetür des Büros. Auf der Schwelle stand, eskortiert von drei Servicisten – einem Offizier höheren Dienstgrads, anscheinend ein Adjutant, sowie zwei Ordonnanzen –, ein älterer, aber noch lange nicht von Greisentum heimgesuchter Asiate. Im Weltraum gab es niemanden, der das bräunliche Fältchengesicht mit dem Stirnband nicht schon irgendwann einmal in den Medien gesehen hätte. Takao Matsumoto in Person zu begegnen bedeutete jedoch etwas völlig anderes, ein Erlebnis, das viele derjenigen, die es bereits gehabt hatten, mit einer Offenbarung verglichen. »Sollte ich wahrlich richtig in der Annahme gehen«, forschte Matsumoto, sobald er Maigreur hinterm Duktuson-Pult sah, in neutralem Ton, aber im krassesten Spacepidgin nach, das je irgend jemand auf Dschinnistan gebraucht hatte, »daß der Mann mit den toten Augen Ihr Chefadministrator ist?«
6 Maigreurs Zombiephysiognomie kränkelte an einem krampfhaften Lächeln, er stemmte sich aus seinem Sensopolster-Sessel, als glaube er sich mit Phantomen konfrontiert. »Seuche?« fispelte er schusselig, als wäre er um einige Sekunden hinter den normalen Ablauf der Zeit in Verzug gelangt. Er zuckte, glich den Rückstand aus. »Kommandant«, deklamierte er wie eine fadenscheinige roktoskopische Computeranimation des Kintopps, »Ihre Ankunft ist für Dschinnistan wichtiger, als Sie ahnen. Hier tragen sich schlimme Dinge zu. Wir müssen konsequent Ordnung schaffen. Ich bin Dr. Maigreur, Dschinnistans Chefadministrator.« »Jeder Weg ist schmal wie die Schneide eines Messer«, erwiderte Matsumoto lediglich. Sein Adjutant, ein Weißer mit flachsblondem Haar und Sommersprossen, schwerlich älter als 30 oder 35 Jahre, trat vor Maigreurs Pult. Dem Chefadministrator stand der Mund offen; er brachte es nicht fertig, auf den Beinen zu bleiben. Er sank wie in völliger Entkräftung wieder in den Sessel. »Mein Name ist Krüger, persönlicher Adjutant des Kommandeurs. Bitte erklären Sie uns im Interesse der Sicherheit unverzüglich, um was für eine Seuche es
sich handelt und welche Schritte Sie zu ihrer Bekämpfung eingeleitet haben.« Maigreur legte die Hände auf den Flausch der Schreibunterlage und lugte verbissen an Krüger vorbei zu Matsumoto hinüber. »Ein weitverzweigtes Komplott. Eine Konspiration des Asteroiden-Trios ...« Mit lascher Geste wies er rundum. »Diese Meuterer sind Marionetten Bagynskis.« Krüger drehte ihm despektierlich den Rücken zu und wandte sich, stutzig geworden, an Koumanelis und Ståndrättstraff. »Was geht hier eigentlich vor? Gibt's Kompetenzverfilzungen, oder was?« Während der Sheriff und Koumanelis sich darin abwechselten, möglichst kurz und doch verständlich zu berichten, was sich ereignet hatte, Maigreur indessen am IntKom eine ziemlich surrealistische Unterhaltung mit Atzehuber führte, beschäftigte sich Florens innerlich von zu vielen Emotionen und Empfindungen aufgewühlt, als daß eine dieser Regungen hätte die Oberhand gewinnen können, unauffällig mit einer ausgiebigen Musterung Matsumotos. Mit einemmal schien er am Kommandeur des SekurService ein regelrecht fanatisches Interesse zu entwikkeln; trotzdem bewahrte Florens genug Distanziertheit, um in dieser für ihn ungewöhnlich lebhaften Neugier ein vom Intellekt aufgebotenes Mittel zu erkennen, das dem Zweck galt, Besorgnis, Furcht und
Angst vom Bewußtsein auszusperren. Tatsächlich verliefen Florens' Denkprozesse momentan in extremer Klarheit, als bestünde sein Gedächtnis aus Memo-Kristallen, wäre seine Hirnstromaktivität potenziert, hätten Gefäße und graue Zellen seiner Hirnrinde und ihrer Windungen die Konsistenz eines Komposers, aus hypersensiblen Squids angenommen, ausgestattet mit Perzeptoren von beinah extrasensorischen Qualitäten. Der Selbsterhaltungstrieb regte sich nur noch auf funktionsreduzierter Ebene, das Bangen um Menschen, die er schätzte, liebte – Kollegen und Bekannte, Jelena und Shaida –, hatte nur den Stellenwert einer Schimäre, die ihr Reservat, die Gefilde des Irrealen, niemals verlassen durfte. Die Aversion gegen Maigreur und dessen nahezu unerschöpfliches Repertoire pervertierter administrativer Schablonen blieb ein Schemen auf der Schattenseite seines Egos, nichts als eine der zahllosen Masken des Chamäleons der eigenen Schwäche. Ein Zustand allgemeiner Gefährdung hatte sich ergeben, und Florens' zum Glück recht stabile Psyche begegnete ihm statt mit Desorientierung und Zaghaftigkeit mit positiven Eustreß. Aufgrund irgendwelcher unbewußter Dispositionen hatte er erwartet, Matsumotos Persönlichkeit werde im Zusammenhang mit seiner Position Kriegerisches anhaften. Vielmehr jedoch wies er einige Ähnlichkeit mit Florens' einstigem Meditationslehrer auf,
einem in Kanada ansässigen schon damals, vor 12 Jahren, alt wie Granit gewesener Tibeter, einem Mann voller Langmut und Rücksicht, der ihn sehr beeinflußt, inzwischen aber wohl das Zeitliche gesegnet hatte. Auch Matsumoto mangelte es nicht an Geduld; er schwieg, während man ringsum durcheinanderredete, und allein das Hin- und Herhuschen seines Blickes bewies, daß er alles, was im Chefbüro geschah oder an Äußerungen fiel, mit intensiver Aufmerksamkeit zur Kenntnis nahm. Ansonsten harrte er, höchstens 1 m 65 groß, in der Unbewegtheit eines Standbildes des weiteren; außen unerschütterlich, im Innern Gleichmut. Ein ›Meer der Weisheit‹, und ›Gebirge der Tugend‹, so hätte Florens' Lehrer ihn genannt. Und in der Tat vermittelte Matsumoto den spontanen Eindruck, all sein Handeln müsse von Würde, Menschlichkeit und Gerechtigkeit durchdrungen sein. Doch einen solchen Menschen hatte Florens noch nie gesehen; er vermochte nicht zu glauben, daß es so einen Menschen geben konnte. Wahrscheinlich imponiert es mir, sinnierte er, daß er keine Uniform trägt. Das verführt mich zu voreiligen Anschauungen. Möglicherweise ist das sogar seinerseits ein vorsätzlicher Trick. Die halblaute, leicht von einer Tendenz zum Singsang gekennzeichnete Stimme des Japaners beendete
die Wortgefechte wie ein Laserschwert des Ausgleichs und unterbrach auch Florens' Spekulationen. »Wir stehen im Krater eines Vulkans der Torheit.« Vielleicht meinte er Krüger; allerdings sah er keinen Anwesenden an. »Reden überschwemmen uns wie Wolkenbrüche, Ergüsse der Narretei und Eitelkeit, und rauben uns die Sicht, während die Taten ausbleiben, die es zu verrichten gilt, als wären wir vom Donner gerührte Halbaffen.« Eine Sekunde lang schwieg er. Seine folgenden Äußerungen zogen die Zuhörer in ihren Bann wie ein plötzliches Eruptieren von Quasaren des intrapsychischen Kosmos. »Hiermit tritt Programm Gamma in Kraft. Auf der Grundlage der einschlägigen gesetzlichen OMNIZILVerordnungen und so fort stelle ich die Satellitenbasis Dschinnistan wegen Ausbruchs einer Epidemie unter Quarantäne und erkläre sie zum interplanetaren Krisenzentrum.« Mehrere Personen in Matsumotos Nähe taten erschrocken einen Schritt rückwärts. »Gleichzeitig übernehme ich das Kommando über die Basis. Dr. Maigreur wird im Amt suspendiert.« Schatten krochen in die Furchen und Schründe, aus denen sich bei Maigreur irgendwie – vielleicht behelfsmäßig gekittet durch Synapsenaktivität und Engramme, eine Kumulation von Molekülen, ein Illusionslabyrinth, die Simulation eines ID-Musters, die Travestie eines Lebensgefühls – die Mimik zusam-
menfügte, das Fratzenschneiden eines Denkapparats, dem nie genug Schemata, Kategorien oder Rubriken bereitstanden, um die ganze Welt und ihre Mannigfaltigkeit einordnen, etikettieren und hineinzwängen zu können. Er ahnte, daß er über kurz oder lang daran verzweifeln mußte; verzweifeln, scheitern, zerbrechen. »Was ... Wie bitte?« Natürlich glaubte er nicht, was er gehört hatte. »Nominell ist Ihnen die Ausübung Ihrer Leitungsfunktionen weiterhin gestattet. Alle Ihre Entscheidungen sind jedoch mit dem Krisenstab abzustimmen, der in Kürze gebildet wird.« Matsumoto entzog Maigreur den Blick, als hätte er das letzte Mal mit ihm gesprochen. »Ab sofort ist jedes Betreten oder Verlassen der Hien untersagt«, teilte der SekurService-Kommandeur seinem Adjutanten mit. Krüger übermittelte den Befehl durch den Mini-Kom an seiner Schulter ans Flaggschiff. Matsumoto richtete seine nächsten Worte an Ståndrättstraff. »Die Sektoren der Basis sind unverzüglich durch Schließen der Sicherheitsschotten voneinander zu isolieren. Der Personenverkehr innerhalb der Basis sowie mit den Außenstationen und zwischen den Außenstationen wird eingestellt. Erste Grundregel: Jeder bleibt, wo er ist. Zweite Grundregel: Für die Dauer der Quarantäne darf nichts und niemand Dschinnistan oder Jupiters Gravisphäre verlassen. Postieren Sie Ihre Servicisten
an Knotenpunkten der Basis und sorgen Sie nach Maßgabe dieser beiden Regeln für die strikte Einhaltung der Quarantäne.« »Bitte beachten Sie, Sir«, wandte der Sheriff, durch nicht gänzlich verhohlenes Unwohlsein gedrängt, etwas griesgrämig ein, »daß mir eine Garnison von lediglich zwohundert Leuten untersteht.« Die Ereignisse und ihre Rasanz störten ihm die Geruhsamkeit von Posten und Job, bisher eher leger gehandhabt und ohne mit übermäßigen Anforderungen fertigwerden zu müssen, offenbar sehr erheblich. »Das sind mehr«, belehrte ihn sein Kommandeur, »als vonnöten wären, um alle Schlachten des Himmels und der Erde zu schlagen.« Diese Antwort befriedigte Ståndrättstraff sichtlich wenig; trotzdem fing er an, ohne weitere Bedenken vorzutragen, in sein IntKom-Armbandgerät zu nuscheln. »Zooks, Sie legen ja die gesamte Infrastruktur lahm«, ereiferte sich Maigreur so unvermutet, als hätte er einen geistigen Großen Sprung in die Gegenwart oder die Wirklichkeit getan. »Das ist unverantwortlich, 's wird Rebellion geben, die Agitatoren werden die Satellitniks gegen mich aufhetzen, und ...« Mehr fiel ihm nicht ein, und er verstummte mit läppischem Zucken der Lippen. »Doktor«, erkundigte Matsumoto sich bei Koumanelis, »aus welchem unseligen Grund hat Ihr Chef-
administrator die Augen eines gargekochten Schellfischs?« Der Mediziner stets zur Berücksichtigung der ärztlichen Schweigepflicht gehalten, gab ihm Auskunft im Flüsterton; sie mußte Maigreurs notorischen Konsum an Sedativen betreffen. Matsumoto nickte bedächtig. »Verabreichen Sie ihm eine VitalisatorDosis, die's erlaubt, ein von Verständlichkeit geprägtes Gespräch mit ihm zu führen, und die ihn zu rationalen, sachlichen Aussagen befähigt.« »Ich hatte es noch nie nötig, mich mit Drogen aufzuputschen«, querulierte Maigreur, »und ich habe auch in der momentan etwas kritischen Situation keineswegs die Absicht, mich darauf zu verlegen. Ich weise derartige Ansinnen mit aller Schärfe ...« »Sie lamentieren hier völlig umsonst herum, Dr. Maigreur.« Krüger hatte den Chefadministrator nicht unterbrochen; sein Blick hatte genügt, um den labilen Maigreur zum Schweigen zu zwingen. »Ungeachtet Ihrer Position haben Sie sich selber in einen Zustand verminderten Wahrnehmungs- und Entscheidungsvermögens gebracht, und zwar eindeutig zur Standard-Dienstzeit. Dieser Tatbestand ist für jedermann durch bloßen Augenschein erkennbar. Dabei handelt es sich selbst bei großzügiger Auslegung der Paragraphen um ein Dienstvergehen. Ich empfehle Ihnen dringend, keine weiteren Schwierigkeiten zu machen.« Inzwischen hatte Koumanelis seinen Plastik-
koffer gesucht und gefunden und näherte sich Maigreur, der phlegmatisch mit dem Oberkörper an der Kante des Duktuson-Pultes lehnte, mit einem Injektor. Ziemlich unvermittelt sah man Marcel Baraque de Friture neben Matsumoto aufragen, der dem SpaceMontan-Funktionär kaum bis ans Brustbein reichte. »In gewisser Hinsicht hat der Chef recht, Baby.« Etlichen Umstehenden verschlug es den Atem. Wie zur Ablenkung begann sich in diesem Moment jedoch ein vielfach wiederholtes, unterschwelliges Hallen durch Dschinnistans bauliche Strukturen zu verbreiten, als überall zur gleichen Zeit an den Schnittstellen der ineinander und an die Segmentringe des Großzylinders montierten Modul-Einheiten zum Klingeln eines Alarms die Hermetikschotten zufielen. »Vor allem die Schichthabenden werden sich absolut nicht drüber freuen, wenn sie in den Fabriken und sonstwo festsitzen. Ich muß darauf bestehen, daß die Gesamtheit der Satniks in vollem Umfang über diese wahrhaftige Fäkaltank-Gasexplosion, die uns hier an den Lebensnerv greift, informiert werden.« Wuuummmmm ... wooommm ... wuuumm-mm, durchschwang es lautlos den Boden unter Florens' Füßen. Waaammmm ... wuuummm-ummm ... Wie ein Gong, der ein nahes Verhängnis ankündigte. Wuuummm-mmm. »Ich protestiere!« kollerte Maigreur. Niemand
wußte, ob er Koumanelis' Hochdruck-Injektion oder B. d. F.'s Forderung meinte; gleich danach aber schuf er, während er sich, als wäre er beleidigt, den Oberarm rieb, erstrebenswerte Klarheit. »Keine verdammte Satnik-Seele wird eingeweiht. Gar nicht zu reden vom Impunitatengesindel. Sollen wir uns etwa vorm erklärten Abschaum des Alls auch noch rechtfertigen?« Aus dem Sekretariat kam aufgeregt Shaida. »Was ist passiert? Wieso werden die Sektoren abgeriegelt?« Florens nahm sie an der Schulter beiseite, um die Gründe zu erläutern. Die Berührung ihres festen Fleisches unterm Stoff spendete ihm irgendwie Trost, als liefere es den Beweis, daß so etwas, wie es Prof. Shakelance – und mittlerweile andere Satellitniks – betroffen hatte, überhaupt nicht sein könne. Aber Florens' Intellekt widersprach mit der Herzlosigkeit einer Diagnose-Biotronik: Doch. Es ist geschehen. Es wird wieder geschehen. Es kann sie erwischen. Oder dich. Euch beide. Oder es ereilt alle. Gezüchtet? Von wem? »Ich schließe mich Ihrem Standpunkt an«, sagte Matsumoto zu B. d. F. »Bitte formulieren Sie gemeinsam mit Krüger ein Kommuniqué und lassen Sie's durch die vorhandenen Medien verbreiten.« »Wir werden Milliardenverluste ins Rote buchen müssen.« Maigreur tastete mit den Fingerkuppen in
seinen Augenhöhlen herum, auf den Tränensäcken und Lidern. »Milliardenverluste. Die Personaldividenden werden gekürzt.« »Scheiße«, sagte Shaida laut und deutlich und stampfte mit dem Fuß auf. »So eine Scheiße. Sie haben das alles angezettelt, Sie sind an allem schuld, weil Sie hinterm Rücken des Managementgremiums Ihren privaten Ambitionen nachgegangen sind. Von mir aus können die Personaldividenden in den Exospace geschossen werden, wenn mir bloß ein Wunsch in Erfüllung geht, nämlich daß Sie an dem Scheiß krepieren, den Sie uns in die Klimasphäre geknallt haben!« Alle Anwesenden beobachteten in diesen Augenblicken mehr oder weniger offen oder versteckt Maigreur, und anscheinend spürte er es; er beschränkte seine Entgegnung auf nur einen, in seine Wörter zerhackten Satz. »Sie-haben-die-längste-Zeit-in-meinemVorzimmer-gefaulenzt.« Wie kraftlos wackelte er mit dem Zeigefinger. Die IntKom-Geräte auf dem Duktuson-Pult und an Shaidas Platz – jemand hatte die Schiebetür blockiert und freien Durchgang geschaffen – fingen gleichzeitig an zu summen. »Nein, Sie nicht.« Mit einer raschen Gebärde verhinderte Matsumoto, daß der Chefadministrator sein Gerät aktivierte. »Sie setzen sich in diesen Sessel.« Der Japaner deutete auf die
Sitzgelegenheit vor dem Pult. Ståndrättstraff ging an den Apparat, während Maigreur die Aufforderung des SekurService-Kommandeurs befolgte, vor Verdutzung fast willenlos. »Von dieser Stelle aus werden Sie uns alsbald mit Früchten des Wissens speisen.« Matsumoto winkte einer Ordonnanz. »Informieren Sie die Leiterin des KommandCenters. Sie zählt zum Krisenstab und hat mit uns in ständiger Kommunikation zu bleiben.« Erneut wandte er sich an Koumanelis. »Sie gehören ebenfalls dazu, Doktor. Halten Sie uns auf dem laufenden.« Florens hielt den Mediziner noch einmal zurück, als Koumanelis Anstalten machte, die Zentrale Administration zu verlassen und in den Poliklinischen Komplex Äskulap Epsilon zurückzukehren; Servicisten, die Code-Stifte für die Notpforten der Hermetikschotten besaßen, mußten ihn hinbegleiten. »Passen Sie mal auf. Unter den Impunitaten ist 'n Mann, 'n gewisser Ned Atherden, der ist früher Gen-Chirurg gewesen, 'n Toptyp. Er hat 'n Mikroprozessor-Mosaik zwischen den Gesichtsnerven gepflanzt und am Kinn 'ne Transfluxor-Buchse. Holen Sie ihn sich, Sie können ihn bestimmt gebrauchen. Er ist ganz sicher 'ne Kapazität.« »Zooks ...! Und man läßt ihn irgendwelche Hilfsarbeiten verrichten, was? Welche Verschwendung! Was für eine Idiotie!« Entrüstet eilte der Arzt endlich hinaus. »Okay, vielen Dank.«
Während Florens ihm nachsah, bemerkte er, wie im Vorzimmer einer der beiden Servicisten, die sich mit Matsumoto und seinem Adjutanten eingefunden hatten, leise mit Shaida sprach, wobei beide das unablässige Gesumme des IntKom-Apparats mißachteten. Florens wunderte sich darüber; die Uniformen des SekurService kannten nur sehr schlichte, rein interne Rangabzeichen von esoterischer Symbolik, die aus verschiedenfarbigen Balken am linken Ärmel bestanden, und Außenstehende blieben bezüglich der Bedeutung auf Mutmaßungen angewiesen; doch Florens hatte unwillkürlich das Gefühl, daß der Mann keine gewöhnliche Ordonnanz war. Er wirkte in seinem Verhalten viel zu kompetent und zielbewußt. Florens hegte stilles Vergnügen daran, Koumanelis den Tip in bezug auf Atherden gegeben zu haben. Dergleichen weckte in ihm die Vorstellung, es sei dann und wann doch möglich, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Und mitzuerleben, wie Matsumoto mit Maigreur umsprang, bereitete ihm – und nicht ihm allein – einige Genugtuung. Aber neue Einsichten drängten sich ihm auf, verwässerten die banalen Tröstungen. Das sind bloß kleine Selbstbetrügereien. In Wirklichkeit ist der Stand der Dinge schon jetzt dermaßen beschissen und aussichtslos, daß wir genausogut gleich der Basis die Luft ablassen könnten. Alle müs-
sen infiziert sein, die im Chefbüro und im Sekretariat waren oder sind. Und die Ansteckung ist bereits weitergetragen worden. Koumanelis und ich haben uns im KommandCenter aufgehalten. Hattalaye ist wahrscheinlich von hier aus in die Superspacer-Redaktion abgeschwirrt. Koumanelis ist unterwegs zur Klinik, geht nicht anders. Fifefield und Atherden haben sich im Korridor gestritten und vermutlich längst getrennt. In der Biologischen Abteilung vier Tote. C'est le bouquet. Nach dem Schneeball-Prinzip. An Dutzenden von Stellen, in einer ganzen Reihe von Sektionen, entstehen in diesen Augenblicken neue Ansteckungsherde, während wir herumstehen und quasseln. Das alles sagte er B. d. F., nachdem der SpaceMontan-Funktionär sich mit Krüger über den Text des Kommuniqués geeinigt und der Adjutant sich mit dem Sheriff ins KommandCenter entfernt hatte. Ståndrättstraff oblag die Aufgabe, die Verlautbarung bekanntzugeben. B. d. F. stieß einen dumpfen Laut der Melancholie aus und verflocht eine Handvoll Finger mit der Krause seines Bartes. »Weißt du was, Baby? Ich habe die Befürchtung, das hier ist schon der zweite Akt.« Florens ließ die Brauen aufwärtsrutschen. Er versuchte die Schwermütigkeit von B. d. F.'s Miene zu hinterschauen. »Das Io-Team und Orbitallabor A Sieben
antworten nicht. Welchen plausiblen Grund könnte es außer dieser Seuche dafür geben?« »Malédiction!« Florens griff sich an die Stirn. »B. d. F. hatte recht.« Eine andere vernünftige Erklärung war kaum denkbar. Hundertzwanzig bis hundertdreißig Menschen! Jede Rettung für sie mußte längst abzuschreiben sein. Eine Aufwallung von Hitze durchströmte Florens, begleitet von einem unvermittelten Schwindelgefühl. Schock? Oder die ersten Symptome der Infektion? So schnell? Wie lange dauerte die Inkubationszeit? Shakelance hatte die Arbeit auf Io vor fast zwei Wochen aufgenommen. Aber soviel Florens wußte, war er zwischendurch nicht auf Dschinnistan gewesen. Wieso kam es dann schon innerhalb kurzer Frist nach seiner Rückkunft zu Todesfällen? »Wir müssen herausfinden, wieviel Zeit uns bleibt.« Zum erstenmal wandte sich Florens direkt an Matsumoto. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die erkannte zeitliche Unstimmigkeit. Den SekurServiceKommandeur anzusprechen, kostete ihn weniger Überwindung, als er angesichts von Matsumotos Autorität und seines Nimbus der Sonderlichkeit erwartet hatte; daß der Japaner an B. d. F.'s burschikoser Redeweise keinen Anstoß nahm, daß er selbst sich des skurrilsten Spacepidgin bediente, leistete allerdings in seiner Gegenwart einer gewissen Ungeniertheit Vorschub.
»Lassen Sie ermitteln, wann der Professor hier eingetroffen ist.« Matsumoto bemerkte Florens' Geologen-Emblem. »Sie sind Mr. Bonnamy, der Satnik, der die Io-Höhlen entdeckt hat, ja? Wir werden gleich mit Dr. Maigreur darüber sprechen.« Florens nickte, stapfte ins Sekretariat und bat Shaida um Erledigung der erwünschten Nachforschungen. Der Servicist, der vorhin mit ihr getuschelt hatte, war fort. »Was hat eben der Servi auf 'm Herzen gehabt?« »Wer? Ach, der!« Shaida paffte wieder an einer Marihuette. Anscheinend strapazierten die Geschehnisse ihre Nerven sehr, und das Chaos im Chefbüro, das seit Stunden anhaltende Kommen und Gehen, der Zank und das Durcheinander trugen wenig dazu bei, ihr die Bewältigung der Lage zu erleichtern. »Er hat mir irgendwas erzählt, ich habe schon die Hälfte vergessen. So 'ne Sorte Compu-Revisor, er ist nach nebenan in die Computer-Buchhaltung abgezogen, um diese oder jene Sachen zu prüfen.« »So?« Florens spitzte die Lippen. Offenbar geschah diese Einblicknahme in Dschinnistans Buchführung ohne Maigreurs Wissen. Lag darin die Erklärung für Matsumotos Besuch? Aber würde der SekurServiceKommandeur solchen Angelegenheiten persönlich nachgehen? In seinem Büro hatte sich Maigreurs Habitus in-
zwischen gewandelt. Seine Augen blickten mit ungewohnter Klarheit und Sicherheit drein, Gehabe und Gestik hatten das Schlaffe verloren, zeigten statt dessen Anzeichen von Schwung und Tatkraft; gleichzeitig jedoch war ein großer Teil seiner Zappeligkeit und Streitsucht wiedergekehrt. Störrisch linste er aus dem Sessel zu Matsumoto auf, der leicht vorgebeugt neben ihm stand. B. d. F. stützte sich mit einem Arm aufs Duktuson-Pult, stemmte den anderen Arm in die fleischige Hüfte. »Mr. Bonnamy«, verlangte Matsumoto, »bitte berichten Sie mir in kurzen Worten, wie die Havarie auf Io abgelaufen ist.« Die Wiederholung bereitete Florens keine Umstände. Ein unbewußter Prozeß in seinem Gedächtnis hatte die Erinnerung längst auf die wichtigsten Fakten gesundgeschrumpft. »Während des gesamten Aufenthalts sind mir keine Substanzen aufgefallen, bei denen es sich um den sogenannten Stratifungus gehandelt haben könnte, den der Professor beschrieben hat.« »Und Ihnen, Mr. Grindling?« Florens hörte Matsumotos Frage mit Überraschung und Ärger. Der Impunitat verfügte über keine für den Weltraum taugliche Qualifikation. Es wunderte Florens, daß Matsumoto den etwaigen Beobachtungen eines Laien irgendeinen Wert beimaß. Aber sein Ärger gründete auf der Tatsache, daß ausschließlich
der Japaner Percys Anwesenheit nicht konsequent überging. Irgendwie schaffte Matsumoto es, den Satellitniks auf fast listige Weise einen Spiegel vorzuhalten, der unschöne Gepflogenheiten enthüllte. Percy Grindling tat zwei tapsige Schritte aus seiner Ecke. »Äh ... Ich habe auch nichts derartiges zu sehen gekriegt ... Sir.« »Nun gut. Und jetzt zu Ihnen, Dr. Maigreur.« Matsumotos Kopf schien einem mit schweren Kalibern bestückten Geschützturm zu ähneln, als er ihn von neuem dem Chefadministrator zudrehte. »Erläutern Sie, welche Erkenntnisse Sie dazu bewogen haben, eine Anzahl von Experten und Spezialisten nach Io zu schicken.« »Völlig ausgeschlossen«, erwiderte Maigreur sofort und äußerst schnippisch. Er rümpfte die Nase. »Wie ich bereits mehrfach klargestellt habe, geht's um den Schutz von Betriebsgeheimnissen höherer ökonomischer Größenordnung. Bedenken Sie, daß ich die Verantwortung für die wirtschaftliche Zukunft Dschinnistans trage.« »Nicht allein, Baby«, berichtete ihn B. d. F. »Keineswegs allein.« Er trat hinter den Sessel und legte die Unterarme auf die Rücklehne und betrachtete von oben die mit Watte vergleichbaren Haarbüschel auf der Schädeldecke des Chefadministrators, als wolle er sie auf Läuse untersuchen. Die Raumfahrt des 21.
Jahrhunderts hatte auch ein Läuseproblem. Sie führte einen Ewigen Krieg gegen alles Unhygienische. »Als Leiter der hiesigen SpaceMontan-Organisation und Mitglied des Managementgremiums verlange ich unter Berufung auf das Satellitenstatut volle Aufklärung über die angedeuteten Vorgänge.« »Ich lehne Ihre Forderung ab.« Maigreur verkniff die Lippen. »Ich lehne das ab.« Matsumoto beugte sich noch ein wenig weiter vor. »Dr. Maigreur ...« Seine Stimme bezeugte weder besondere Härte noch irgendeine Betonung von Umgänglichkeit. »Der Weise spricht nicht über alles, was er macht, aber er macht nichts, über das er nicht sprechen dürfte. Bitte erteilen Sie uns die gewünschten Auskünfte.« »Nein.« Verbissen verschränkte Maigreur in seiner zur eingefleischten Gewohnheit gewordenen Rührmich-nicht-an-Haltung die Arme auf der Brust. »Auf gar keinen Fall.« »Ich habe Sie von Anfang an davor gewarnt, Monsieur«, sagte Florens, »daß Sie mit dieser unsinnigen Einstellung bloß noch mehr Schwierigkeiten auslösen. Erst stiften Sie mit Ihrer Geheimniskrämerei bei den Satellitniks Unruhe, und ich muß unter den Folgen leiden. Dann begünstigen Sie den Ausbruch einer Seuche, und nun behindern Sie deren Bekämpfung. Mit Ihrer Weigerung, das Managementgremium ein-
zuweihen, verstoßen Sie gegen das Satellitenstatut. Wir schweben jetzt alle in Lebensgefahr, und Sie sind völlig in Ihre uncoole Verladetour eingerastet. Hören Sie endlich auf mit dem Quatsch. Hier ist der Fäkaltank längst am Überlaufen.« Maigreur versuchte so zu tun, als gäbe es keinen Florens Bonnamy. »Kommandant«, fistelte er, »ich verwahre mich mit allem Nachdruck gegen ...« »Dr. Maigreur.« Matsumoto setzte sich langsam, als sei er gewichtslos und Maigreurs Psychiater, auf die Armlehne des Sessels und faltete die Hände. »Es betrübt mich, Sie daran erinnern zu müssen, daß Programm Gamma, wie es in solchen Krisensituationen zur Anwendung gelangt, mich mit gewissen außerordentlichen Vollmachten ausstattet.« Die Gültigkeit des anhand von Computerszenarios erarbeiteten Programms Gamma beschränkte sich auf den Weltraum und sah grundsätzlich die Konzentration der Entscheidungsbefugnisse zur Lagebereinigung bei einem ad hoc aus unmittelbar Betroffenen zu gründenden Krisenstab vor, ein allgemein als sinnvoll angesehenes Modell, das sich bereits vielfach anläßlich katastrophaler Begebenheiten bewährt hatte. Weniger Billigung fand hingegen die Bestimmung, der zufolge Krisenstab und Krisenzone im Zweifelsfall der Befehlsgewalt des SekurService-Kommandeurs oder des ranghöchsten örtlichen SekurService-Offiziers unter-
standen. Wie so viele Beschlüsse des OMNIZILs, denen es Gesetzeskraft verliehen hatte, war auch Programm Gamma ein aus dem Ringen gegensätzlicher politischer Auffassungen hervorgegangener, eher unbefriedigender Kompromiß. »Freilich können Sie auf Ablehnung und Weigerung beharren, Dr. Maigreur«, ergänzte Matsumoto so gleichmütig, als böte er dem Chefadministrator eine NichtraucherZigarette an. »Das zuständige SpaceSection-Gericht wird Ihnen eine Geldstrafe aufbrummen, aber so was kann jemand wie Sie sicherlich verkraften. Berücksichtigen Sie jedoch bitte, daß ich Ermessensbeamter bin, und nach meinem Ermessen ist es sehr wohl vorstellbar, daß Ihr hartnäckiges, beinahe böswilliges Schweigen den Tatbestand einer schwerwiegenden Dienstpflichtverletzung erfüllt. Ihre Verantwortung betrifft nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung dieser Satellitenbasis, sondern auch – oder vielmehr besonders, würde ich sagen – Gesundheit und Leben des Satellitenpersonals. Fast kommt's mir so vor, Dr. Maigreur, als wären Sie wirklich dazu bereit, sich in dieser Beziehung einer ernsten Vernachlässigung schuldig zu machen. Sollte dieser Eindruck sich in mir verstärken, müßte ich mich gezwungen sehen, Sie in Untersuchungshaft zu nehmen und aufgrund der Schwere Ihres mutmaßlichen Delikts den OMNIZIL-Behörden zu überstellen.«
Maigreurs Arme fielen ihm, als ob sie aus Plastik wären, auf die Oberschenkel. Seine Mund- und Augenwinkel zuckten, als könne er nur mit Mühe vermeiden, daß sich sein Gesicht um die Nasenwurzel zu einem Gerunzel zusammenzog wie ein ausgetrocknetes Stück Obst. Er ballte die Hände zu Fäusten, preßte sie auf seine Knie. Unnatürliche Blässe und morbide Rötungen wechselten einander so rasch wie in einer Laser-Lightshow auf seinen Wangen ab. Florens vermochte sich lebhaft auszumalen, was sich in diesen Sekunden in Maigreurs Kopf abspielte. Matsumotos Worte hatten, obwohl in der Ausdrucksform ziemlich vorsichtig, eine bedenkenswerte Drohung zum Inhalt. Jeder wußte, daß die Jurisdiktion auf der Erde, wo OMNIZIL seit Jahren immer häufiger zum Durchgreifen genötigt zu sein glaubte oder diesen Glauben vortäuschte, wesentlich strengere Maßstäbe anlegte als die SekurService-Juristen, die erfahrungsgemäß dazu neigten, im Weltraum einem Rechtsbrecher, anstatt ein hohes Strafmaß anzusetzen, eine Gelegenheit zur Wiedergutmachung einzuräumen. Aussagen von Soziopsychologen zufolge mußte dieser Widerspruch im Zusammenhang mit der jeweiligen Enge beziehungsweise Weite des Moral-Ethik-Horizonts gesehen werden. Ein Mann wie Maigreur, administrativer Chef einer der zehn Satellitenbasen im Sonnensystem, war selbst
unter 32 Milliarden Menschen nicht unbedingt eine austauschbare Null. Jede qualifizierte Tätigkeit im All forderte und prägte ihren Ausüber in besonderer, eigentümlicher Art und Weise, in deren Ergebnis er sich letztendlich typisch von den Erdansässigen unterschied und spezielle, auf der Erde nicht erwerbbare Fähigkeiten aneignete. Eine solche Person steckte man nicht leichtfertig in die Todeszelle; und seit die Gentechnik tadellose Körperersatzteile liefern konnte, brauchte nicht einmal der größte Halunke mehr zu befürchten, daß man ihn zur Ausweidung den Organbanken zuteilte. Indessen hatten OMNIZIL und die irdische Justiz an einer neuen Idee Gefallen gefunden – Delinquenten aus den Reihen des Weltraumpersonals durften zur Rehabilitierung an Risiko-Expeditionen in den Peri- oder Exospace teilnehmen, den ersten Versuchen der Menschheit, den gegenwärtigen Radius der Raumfahrt nunmehr auch mit bemannten Raumflugkörpern zu überschreiten. Zielobjekte dieser Anstrengungen waren das 4,4 Lichtjahre entfernte System Alpha Centauri und das System 61 Cygni, Entfernung 11,1 Lichtjahre. In diesen mehrsternigen Systemen hatten Astronomen die Existenz von Planeten nachgewiesen, darunter in 61 Cygni den eines Himmelskörpers von der achtzigfachen Größe Jupiters. Mehrere Expeditionen befanden sich auf viele Jahre langem Flug dorthin unterwegs; zu zwei Interstellar-Raumern be-
stand kein Veloxmitterkontakt mehr. Die Aussicht, sich vielleicht als Expeditionsprotokollant für den Rest seines Lebens an Bord eines interstellaren Forschungsraumschiffs langweilen zu müssen oder einem ungewissen Tod entgegenzufliegen, konnte für jemanden wie Dr. René Maigreur. (38, tüchtig, ehrgeizig und strebsam) schwerlich attraktiv sein; und wenn er etwas scheute, dann gewiß unkalkulierbare Risiken. Krüger und Ståndrättstraff kehrten gerade aus dem KommandCenter wieder, als sich der Chefadministrator widerwillig und mit lautlosem Zähneknirschen zum Reden entschloß; mit ihnen kam die Mwerumbala, weil unverzüglich nach Maigreurs Aussage die erste Sitzung des Krisenstabes stattfinden sollte. »Nachdem ich Mr. Bonnamys Bericht über die Havarie des Prospektors Checkered Demon Angaben über die geomorphisch uncharakteristische Beschaffenheit der Höhlen entnommen hatte«, begann Maigreur mit umständlicher Langatmigkeit und knetete seine Hände, als wünsche er sich insgeheim, lieber irgendwen erwürgen zu können, »habe ich mich mit Shakelance, der sich zu der Zeit in Orbitallabor A Sieben aufhielt, in Verbindung gesetzt und ihn beauftragt, daß er die seltsamen Verhältnisse auf Io gleich einmal selber begutachten möchte. Also ist er hin, obwohl er seine Zweifel an dem Bericht hatte. So was hatte man ja auch noch nie gehört. Jedenfalls ...«
»Wann war das?« fragte Florens dazwischen. »... wollte er sich persönlich davon überzeugen, was an der Sache ist. Er ...« »Dr. Maigreur«, unterbrach in Matsumoto ohne Schärfe, aber mit deutlichem Nachdruck, »bitte beantworten Sie Mr. Bonnamys Frage.« »Ähm ...« Der Chefadministrator nannte das Datum. Florens schaute bedeutungsvoll B. d. F. an und nickte ihm zu, die Lippen straff verspannt. »Schon am Tag drauf hat er sich gemeldet, 's wäre 'ne richtige Sensation, meinte er, und er bräuchte Maschinen zum Graben und Austunneln und so weiter, ferner Fachleute aus seiner planetologischen Abteilung, auch Biologen und Biochemiker, er sei 'nem Ding auf der Spur, so was hätte die Welt noch nicht gesehen. Höchstwahrscheinlich wäre Io nie 'n natürlicher Jupitermond gewesen, er könne nicht mal aus 'm Solarsystem stammen, sondern ...« Für einen kurzen Moment schwieg Maigreur, zögerte verdrossen; danach sprach er schneller weiter, als käme er nun sprunghaft, wie in plötzliche Redseligkeit geraten, in eine Gönnerlaune der Mitteilsamkeit. »Ich kann bloß wiederholen, was er gesagt hat. Ich selbst habe mir dazu noch keine Meinung gebildet. Er hat behauptet, unter Ios Kruste gäb's fossile Reste von Bauwerken und landschaftlichen Strukturen, angeblich 'ne Hinterlassenschaft extraterrestrischer Intelligenzen.« Unwill-
kürlich durchfuhr ein Ruck Florens. Rundum widmeten andere Zuhörer sich gegenseitig Blicke des Befremdens oder der Unschlüssigkeit. »Na schön, dachte ich mir, kann sein, er ist übereifrig und spinnt 'n bißchen, aber wer weiß, womöglich sind diese Funde tatsächlich für 'ne Sensation gut. Deshalb habe ich ihm 'n paar Mitarbeiter und einiges Abraumgerät zur Verfügung gestellt, ohne daß ich mir davon viel versprochen hätte. Sie wissen ja, wie so was läuft, manche Experten schwören auf die Authentizität solcher Artefakte, andere streiten sie ab. Das ist ja teilweise auch 'ne Frage der Interpretation ... Zwei Tage später rief Shakelance wieder an, und diesmal war er völlig aus 'm Häuschen, er versicherte mir, das Innere Ios sei eindeutig künstlich, Io wäre ein ursprünglich artifizielles Objekt, einheitlich aus einer quasiorganischen, anscheinend gezüchteten Substanz geschaffen. Damit hat er das Zeug gemeint, das er dann mit dem Terminus ›Stratifungus‹ bezeichnete. Seine Hypothese lautete, Io sei einmal ein Habitat oder Raumfahrzeug biotopischen Typs gewesen, möglicherweise 'n Generationenraumschiff, das aus dem extrasolaren Weltraum ins Sonnensystem eingedrungen ist, dessen Bewohner jedoch ausstarben, so daß ihr Raumbiotop in Jupiters Gravisphäre einbezogen und im Laufe von Jahrmillionen durch die Dichte der Staubpartikel im Bereich Jupiters verkrustet werden
konnte.« Der Chefadministrator lächelte abfällig. »Selbstverständlich waren mir diese Schlußfolgerungen zu gewagt, und ich habe mich bis heute nicht dazu imstande gefühlt, mich den Auffassungen des Professors anzuschließen. Ich meine, kein vernünftiger Mensch bezweifelt heutzutage noch, daß irgendwo im Kosmos anderes intelligentes Leben existieren muß, aber ein Millionen von Jahren altes Raumbiotop, und ausgerechnet hier ... Na, Zooks, ich bitte Sie ...!« Arrogant fältelte Maigreur die Stirn. »Viel interessanter waren für mich – weil für den Chefadministrator eine industriell so bedeutende Satellitenbasis wie Dschinnistan ja die wirtschaftliche Entwicklung im Vordergrund steht, zu stehen hat – die Eigenschaften, die Shakelance der vorgefundenen Substanz nachsagte, eben diesem Stratifungus. Im Orbitallabor sind Proben untersucht worden, teils fossilierte, teils durch Kälte weitgehend konservierte und reaktivierbare Kulturen. Shakelance hat mir Datenmaterial übermittelt, das hieb- und stichfest war; in bezug auf den Stratifungus hatte ich also keinen Anlaß zu irgendwelchen Zweifeln. Ich habe ihm geschickt, was er wollte, mehr Leute, mehr Maschinen und Gerät, außerdem Hilfskräfte, ohne an die Kosten zu denken. In einem Punkt waren Shakelance und ich uns nämlich einig – wenn's gelingt, den Stratifungus wissenschaftlich-technisch in den Griff zu kriegen, dann ha-
ben wir einen vollkommen neuartigen Baustoff, ein unbegrenzt nachzüchtbares, für jeden erdenklichen Zweck programmierbares Produkt.« Beim letzten Wort dimmerten in Maigreurs Augen Lichtlein des Enthusiasmus auf; Sucht nach Raffen, Habgier, Lust an Macht und Einfluß, das Ideal einer positiven Bilanz – das waren die Faktoren, die seinen Lebenswandel determinierten, die Triebkräfte seines Trachtens und Strebens. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er sich keine Minute lang irgendwelchen ernsthaften Überlegungen zu der Fragestellung hingegeben, ob Prof. Barnett Shakelance, einer der herausragenden Planetologen der Gegenwart, nun im Alter von erst 58 Jahren seiner Profession zum Opfer gefallen und mausetot, bezüglich des extrasolaren und artifiziellen Ursprungs Ios einem Irrtum erlegen war oder nicht. Sollte mich nicht wundern, dachte Florens, regelrecht benommen infolge der Informationen, die der Chefadministrator jetzt abspulte wie einen Katalog von Nebensächlichkeiten, wenn ihm Shakelances Tod gänzlich egal ist. Bei diesem Scheiß-Ätte kreisen alle Gedanken bloß um Nutzen und Verwertbarkeit, um Profit und Gewinnspannen. Und darum, wie er bei allem am meisten für sich selbst herausholen kann. Enfer et damnation! Der Sheriff machte ein Gesicht, als wäre Maigreur
eine durch und durch peinliche Person. Krüger, die Mwerumbala sowie der andere noch anwesende Servicist musterten den Chefadministrator in einem Gefühlsgemisch aus Unglauben, Besorgtheit, Verblüffung und Unsicherheit. Percy Grindling schielte aus seiner Ecke herüber zu Florens, als frage er stumm: Ist das alles wahr? Matsumoto, der nach wie vor neben Maigreur auf der Armlehne des Sessels hockte wie ein Raubvogel, bewahrte eine gleichmütige Miene, der man nicht ansah, ob sie ihn Selbstbeherrschung kostete oder ob sie unverändert seine wahre Gemütsverfassung widerspiegelt. B. d. F. hatte eine Hand vor die Augenpartie gehoben, und man konnte nur seinen geschlossenen Mund und den Bart sehen; er wirkte, als dächte er scharf nach, aber vermutlich versuchte er lediglich, Maigreurs kaum erträgliche Unmöglichkeit zu verwinden. »Auf den ersten Blick habe ich erkannt«, nahm der Chefadministrator die ihm abgerungenen Erklärungen von neuem auf, als sich niemand zu seinen bisherigen Darlegungen äußerte, »daß Dschinnistans interplanetarer ökonomischer Rang sich durch ein Stratifungus-Monopol auf eine qualitativ höhere, wenn nicht sogar als sui generis einzustufende Ebene heben läßt.« Merklich verriet seine Stimme Stolz. »Shakelance vertrat die Überzeugung, es sei durchführbar, aus dem Stratifungus Körper von Planetengröße heran-
wachsen und im Prozeß des Wachsens eine elementare Biosphäre mitentstehen zu lassen. Dementsprechend hatten wir eine gemeinsame Vision, die Vision einer Vervielfältigung – jawohl, Vervielfältigung! – der Erde, einer Aufreihung erdähnlicher, aus kontrolliertem Stratifungus erschaffener künstlicher Welten.« Das pathetische Schwadronieren, in das Maigreur sich an dieser Stelle seiner Ausführungen hineinsteigerte, legte unüberhörbar davon Zeugnis ab, daß er nun mit einer Rechtfertigungsrede anfing. »Das Bevölkerungsproblem könnte dadurch innerhalb weniger Jahrzehnte ausgeräumt werden. Platz! Platz für alle!« Er spreizte die Arme, als wolle er mit der Gebärde ein Füllhorn andeuten. »Ist es denn nicht verständlich, daß ich über eine derartige Errungenschaft keine verfrühten Informationen an die Öffentlichkeit geben mochte?« Er schaute in die Runde. »Im Fall eines Mißerfolgs wird die Blamage so verheerend sein, daß uns nichts anderes übrigbleibt, als der Menschheit Adieu zu sagen und Dschinnistan auf Nimmerwiedersehn in den Exospace zu steuern.« Die Argumentation war raffiniert; dennoch verfehlte sie ihre Wirkung. Sie beruhte auf Maigreurs verschrobener Mentalität, die mit der am Wesentlichen orientierten Denkweise erprobter Satellitniks und konzessionsfeindlich gesonnener Servicisten wenig Gemeinsamkeiten hatte.
»Deine Selbstlosigkeit rührt mich zu Tränen, Baby.« B. d. F. beugte sich über die andere Armlehne des Sessels, in dem der Chefadministrator saß. »Du bist zum Küssen.« Maigreurs Kopf ruckte rückwärts, als fürchte er in der Tat einen herzhaften Schmatz. »Du bist 'ne siche Schönheit wie Entropie. Aber ist vorhin nicht von wirtschaftlichen Erwägungen die Rede gewesen? Man kann's drehn und wenden, wie man will, du hast diese Überlegungen unter Ausschluß des Managementgremiums angestellt, und das ist 'n eklatanter Verstoß gegen das Satellitenstatut.« »Ha!« Fast wäre Maigreur in alter Aggressivität vom Platz hochgefahren. Doch Matsumotos Nähe bändigte ihn wie einen zahnlosen Kojoten. »Werden Sie Ihre Funktionärsborniertheit eigentlich überhaupt niemals ablegen?« Der suspendierte Chefadministrator verwendete einige Mühe darauf, gerechten Zorn zu demonstrieren, aber mit nur mäßiger Überzeugungskraft. »Es ist ja wohl völlig klar, daß ich in Verfolgung sämtlicher Anbahnungen, Planungen und Projekte, für die ich mir die Verantwortung aufbürden muß, immer mehrere Aspekte zu beachten, sie möglichst sogar irgendwie miteinander zu vereinbaren habe. Natürlich denke ich auch an die Verbesserung, an den Ausbau der ökonomischen Situation Dschinnistans. Aber damit vertrete ich schließlich die Interessen aller hiesigen Satellitniks, auch der Mit-
glieder der SpaceMontan. Ihresgleichen wird anscheinend nie kapieren, daß wir alle im selben Boot sitzen. Mensch, wenn wir das Umsatzlimit übersteigen, erhalten wir den Status einer Autonomen Kolonie, und mit 'm Stratifungus-Monopol bräuchten wir das Limit nie wieder zu unterschreiten! Wir wären unabhängig, vollkommen unabhängig auf Dauer, von der Erde, vom OMNIZIL, vom Asteroiden-Trio, von allen! Ist das etwa nichts?« »Nur, daß wir diese wundervolle, einmalige Autonomie nun voraussichtlich nicht mehr erleben werden, Monsieur.« Florens schnob durch die Nase. »Sie sind's, der hier an Kurzsichtigkeit krankt, sonst niemand. Ich glaube, es ...« B. d. F. ließ ihn nicht ausreden. »Jetzt sperr mal 'n bißchen nett die Ohren auf, Baby«, sagte er mit bislang unüberbotener Grobheit zu Maigreur, indem er aufstand. »Du und die Satniks, die die Arbeit verrichten, von der du bloß die Zahlen siehst, ihr habt nie im selben Boot gesessen, weil du 'n Lakai der Aktionäre bist, 'n Arschkriecher, 'n Speichellecker, der sich mit abstrakten Daten brüstet, um das eigene Pöstchen so lukrativ wie möglich zu gestalten. Wir sitzen erst alle im selben Boot, seit wir vor der Aussicht stehen, durch deine Gedankenlosigkeit an der Fungusseuche zu verrecken. Wenn du dir das als Verdienst anrechnen willst, Baby, wird niemand mit dir konkurrieren.
Diese Leistung wirst du ganz für dich allein verbuchen dürfen.« »Nein.« Matsumoto schüttelte den Kopf, ehe Maigreur etwas erwidern konnte. »Nicht einmal der Tod macht gleich. In der Erinnerung der Menschen unterscheiden sich selbst die Toten. Ansehen und Schmach währen über das Ende hinaus. Unsterblich jedoch ist allein die Wahrheit. Das geübte Auge erkennt sie auch durch die Gischt vieler hohler Worte. Dr. Maigreur, wie lautete Shakelances Einschätzung hinsichtlich einer etwaigen Gefährlichkeit des Stratifungus?« »Äh ...« Der Chefadministrator steckte die Hände zwischen seine Knie. »Anfangs war er der Meinung, das Zeug könnte unter Umständen nicht ganz ungefährlich sein.« Man spürte, daß Maigreur erheblich untertrieb. »Aber nachdem dann eineinhalb Wochen lang nichts passierte, was irgendwie verdächtig gewesen wäre ...« Maigreur zuckte die Achseln. »Bei allen Untersuchungen hatte die Frage der industriellen Nutzbarkeit Vorrang ...« Er verstummte, als er merkte, daß er erneut Einlassungen äußerte, die seine Beliebtheit nicht unbedingt steigern mochten. »Jedenfalls in gewissem Umfang ...« Matsumoto erhob sich ruckhaft vom Sessel, Eckigkeit in den Bewegungen. Florens sah einige Hautfältchen am Hals des SekurService-Kommandeurs kaum wahrnehmbar zittern. Der Gleichmut des modernen
Samurai mußte etwas erschüttert worden sein. »Und all das, Dr. Maigreur«, fragte er mit einem schwachen Knarren plötzlich empfundenen Alters oder willentlich niedergehaltenen Ingrimms in der Stimme, »haben Sie bis jetzt verschwiegen?« »Äh, äh ... Ich ... Meine Beweggründe ...« Mit Verspätung entschied sich Maigreur dafür, lieber nichts zu sagen, als herumzudrucksen und zu stammeln. Seine Augen wichen den Blicken der Umstehenden aus, schienen nur ihm sichtbare böse Omen zu beglotzen, Vorzeichen künftigen Unglücks oder naher Debakel. Sein Mund glich einer verblaßten Narbe. Einige Sekunden verstrichen, während Matsumoto abwartete ob der Chefadministrator noch irgend etwas hinzufügen würde. »Dr. Maigreur«, faßte der SekurService-Kommandeur dann seine Stellungnahme zusammen und griff dabei bis auf den Boden der Truhe des Spacepidgin-Sprachschatzes, »Ich zeichne mich durch zuwenig und zu geringe Tugenden aus, als daß ich leichtfertig über andere Menschen ein Urteil fällen dürfte, und Höflichkeit ist ein großer Segen. Nur dem Narren liegt das Herz auf der Zunge. Ihre Verblendung jedoch übertrifft jedes weltliche Maß, so daß man wähnen könnte, Sie seien ein Avatar eines Dämons der Dummheit. Es mag sein, daß Ihr Karma Sie zur Unbelehrbarkeit in all Ihren Inkarnationen verdammt und Sie für alle Zeit geistig ein Mehlwurm
bleiben, daß daher jedes Wort vergeudet und fruchtlos ist, das jemand aus Wohlwollen zu Ihnen spricht, aber wenn auch bloß die winzigste Wahrscheinlichkeit besteht, Sie vom Irrweg des Unheils abzubringen, ziehe ich es vor, mich dies eine Mal mit der Würdelosigkeit einer massiven Bemühung zu beflecken, statt die Gelegenheit zu versäumen. Sie sind der verantwortungsloseste Mutterschänder im bekannten Universum, Dr. Maigreur, ein hirnrissiges Arschloch von der Gemeingefährlichkeit eines Black Hole, der Bankert eines räudigen Schimpansen und einer Sexdroiden-Mutation, und als Chefadministrator Dschinnistans gleichen Sie einem Skorpion in einem Pantoffel, sind Sie so tauglich wie ein Kropf zum Singen. Sie haben große Schuld und unsägliche Schande auf Ihr Haupt geladen und ahnen nicht, daß es in allen Welten und Himmeln keine Stätte gibt, wohin Sünde den Missetäter nicht mit Leid verfolgt, ihr Unsegen folgt ihm bis in die nächsten Inkarnationen. Der Weg in die Sündhaftigkeit ist wie ein Super-Highway, doch hinaus führt nur ein steiler, schmaler, holpriger Pfad. Beschreiten Sie ihn, verwerfen Sie alle Selbstsucht, die Gelüste, Leidenschaften und Wünsche, die Illusionen nachjagen, verneinen Sie Anmaßung und Stolz. Weihen Sie sich der Suche nach dem unwandelbaren Wahren und Ihrem Selbst. Treten Sie von Ihrem Posten zurück, fangen Sie, falls es gelingt, die Fungus-
seuche zu bekämpfen und wir nicht allesamt das Schwarze Kamel des Todes besteigen müssen, irgendwo ein neues Leben an. Sonst ist Ihr Untergang gewiß. Jetzt haben Sie Ihre einzige Chance.« Die Standpauke verwirrte Maigreur für ein Weilchen so stark, daß er keine Antwort gab, sondern nur mit vorgeschobener Unterlippe zu Matsumoto aufschaute. »Ich weiß nicht recht«, entgegnete er schließlich sehr gereizt, »was Sie mit diesem obskuren Sermon anzudeuten belieben. Wenn das irgendwie 'n Vorschlag sein soll, muß ich Ihnen sagen, ich finde ihn indiskutabel.« Matsumoto kehrte ihm den Rücken zu, schritt hinter das Duktuson-Pult. »Welcher Rat wäre einem Toren von Nutzen?« meinte er halblaut und wie im Selbstgespräch. Er setzte sich in den SensopolsterSessel, dessen sensitives Gewebe sich sofort seinem kleinen Körperbau anpaßte und anatomiegerechte Mulden schuf. Maigreur drehte seinen Sessel, bis er den Japaner wieder ins Blickfeld bekam; ihn an seinem Platz zu sehen, gefiel ihm offensichtlich wenig. Shaida betrat das Chefbüro, in einer Hand eine Schreibfolie, unter dem anderen Arm HolovidKassetten und Memo-Kristalle. »Die Recherchen haben Folgendes ergeben«, sagte sie in Richtung auf das Duktuson-Pult, ohne sich darum zu kümmern, daß dahinter nun der SekurService-Kommandeur saß.
»Shakelance ist heute um 0932 mit einem Shuttle auf Dschinnistan eingetroffen. Außer ihm war nur der Pilot an Bord. Der Professor ist um 1015 in der Biologischen Abteilung gewesen und hat dort StratifungusProben eingereicht. Anschließend hat er sich bis ungefähr 1220 in seinem Quartier aufgehalten. Kurz nach 1230 ist er im Restaurant The Old-fash Way gesehen worden.« Sie las Notizen von der Folie ab. »In Sektor Siebenundzwanzig.« »Tusen!« stieß Ståndrättstraff hervor und hieb sich mit der Faust auf den Oberschenkel; niemand wußte, was er mit dem Wörtchen auszudrücken beabsichtigte, doch die Geste bedurfte keiner Auslegungen. »Gegen 1400 ist er dann zum Termin mit Dr. Maigreur in die Zentrale Administration gekommen. Und danach ...« Shaidas Blick fiel auf Florens. »Ich weiß nicht ...« »Ich habe natürlich im ersten Schrecken nicht drauf geachtet, aber der Professor muß etwa um 1415 gestorben sein. Das heißt ... Nein, nein, das ist falsch überlegt, wir müssen die Biologische Abteilung als Maßstab nehmen.« Matsumoto aktivierte den IntKom-Apparat, suchte im Code-Speicher, tippte Zahlen; gleich darauf meldete sich der Poliklinische Komplex Äskulap Epsilon. »Bitte Dr. Koumanelis.« »Dr. Koumanelis spricht gerade mit der Biologi-
schen Abteilung«, antwortete unfreundlich eine Männerstimme. »Um so besser. Stellen Sie eine Konferenzschaltung her.« Zwischendurch streckte der SekurServiceKommandeur einen Arm nach dem Sheriff aus. »Finden Sie den Shuttle-Piloten.« »Wenn wir davon ausgehen, daß man sich in der Biologischen Abteilung nach 1015 gleich mit den Proben befaßt hat, daß dort die ersten Todesfälle etwa um 1515 aufgetreten sind«, rechnete Florens, der erneut mit einem leichten Schwindelanfall ringen mußte, laut vor, »ergibt sich daraus eine Inkubationszeit von rund fünf Stunden.« Maigreurs digitales Wand-Chronometer, Bestandteil eines Instrumente-Sets, der unter anderem auch Temperatur und Luftfeuchtigkeit maß, zeigte 1628 an. »Das bedeutet ...« Er verstummte. Für alle Satellitniks, die sich auf Dschinnistan vor 1100 infiziert hatten, mußte die Frist nun ablaufen; und das traute er sich nicht in Worte zu fassen: Es war zu furchtbar. Koumanelis' und Willigis Atzehubers Porträts teilten sich den Bildschirm des IntKom-Geräts. Beide trugen Skaphander. Der Biolaborant bestätigte Florens' Befürchtung. »Bevor wir irgend was diskutieren, muß ich leider sagen, wir haben sechs weitere Tote. Alle innerhalb der letzten zehn Minuten. Wir arbeiten auf Hochtouren, aber die Moral sinkt ziemlich schnell. Hier kann jetzt jeder der Nächste sein.«
»Trotzdem sind Fortschritte zu verzeichnen«, ergänzte Koumanelis. »Inzwischen wissen wir, auf welche Weise die Infektion geschieht, nämlich durch Gemmula.« »Bitte?« »Eine Art von Sporen, wie sie im allgemeinen niedrigen Gewächsen, zum Beispiel Schwämmen, Pilzen, Moosen und Algen, zur Fortpflanzung dienen. Gemmula sind jedoch ganz besonders widerstandsfähig, um ein Überdauern auch unter extrem lebensfeindlichen Umweltverhältnissen zu sichern.« Matsumoto neigte den Kopf näher ans Mikrofon des IntKom-Apparats; was er sagte, offenbarte nun, daß er mitgerechnet hatte. »Gentlemen, der Professor hat zwischen 1230 und 1400 in einem Restaurant zu Mittag gegessen. Mittlerweile vorgenommenen Nachforschungen zufolge vergehen zwischen Infektion und Exitus etwa fünf Stunden. Jetzt ist es 1634. Sie haben maximal eineinhalb Stunden Zeit, um ein Mittel gegen die Fungusseuche zu finden und ein Massensterben zu verhindern. Ich empfehle Ihnen dringend, es binnen einer Stunde zu schaffen.« »Das ist ...« begann Atzehuber. »Völlig ausgeschlossen«, vollendete Koumanelis, als hätte er es so mit dem Biolaboranten verabredet. Shaida hatte sich seitlich neben das Duktuson-Pult gestellt und die Schreibfolie hingelegt. Sie wollte so-
eben auch die Holovid-Kassetten und Memokristalle aufs Pult schieben. Da packte ein Zittern sie, erst die Hände, dann die Arme, danach die Schultern. »Sapristi ...!« Mit ein wenig Kopfrechnen vermochte man zu schlußfolgern, daß allen, die sich um 1400 im Chefbüro infiziert hatten, nur noch zweieinhalb Stunden blieben. Kristalle und Kassetten entfielen Shaidas Händen, schepperten und klirrten auf die Kante des Pults, hagelten auf Maigreurs marsianischen Teppich. »Alle morti, alle ruine ... Maledetto ...!« Florens eilte zu ihr, umfing sie, hielt sie, drückte sie an sich, versuchte sie zu trösten, während sie vor sich hinschluchzte, so gut er, selbst sterblich, es konnte. Mit dem Fuß fegte B. d. F. den hingefallenen Plunder achtlos an die Wand.
7 Eine nicht allzu ausgedehnte Debatte entspann sich um die im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Fungusseuche ersichtlichen zeitlichen Unstimmigkeiten: Wieso hatte zunächst tagelang niemand durch den Stratifungus Schaden erlitten, wogegen sich nunmehr auf einmal Infektionen mit kurzer Inkubationszeit und rascher Todesfolge häuften? Atzehuber und Koumanelis erachteten die Langsamkeit der von Prof. Shakelance erwähnten, durch Sauerstoffmangel bedingten niedrigenergetischen biochemischen Reaktionen, in denen die Assimilationsprozesse in den Stratifungus-Zellkernen abliefen, als die Ursache und waren sich in der Mutmaßung einig, daß man im Orbitallabor A 7 anfangs die Proben sehr vorsichtig isoliert haben mußte; zusätzlich nahmen sie an, daß die Gemmula einen längeren Zeitraum gebraucht hatten, um sich auf den menschlichen Organismus und dessen Stoffwechsel einzustellen. Erst nachdem sich in der Labortätigkeit mit den noch aktiven Proben Sorglosigkeit eingeschlichen hatte, sie wiederholt und schließlich immer öfter mit Sauerstoff in Kontakt gelangt waren und die Sporen sich dem Metabolismus der Menschen assimilieren konnten, waren – so lautete die Meinung der beiden Experten – die Vorausset-
zungen für die Seuche vorhanden gewesen. »Ohne Rückgriff auf die Laborergebnisse von Orblab A Sieben können wir diese Theorien momentan nicht verifizieren«, sagte Atzehuber mit seiner heiser-rauhen Stimme. »Im übrigen würde es uns jetzt auch nicht weiterhelfen. Das ist ein gegenwärtig rein akademisches Thema.« Immerzu drängten sich Florens gegen seinen bewußten Willen Vorstellungen der Szenen auf, wie sie sich in dem Orbitallabor, an Bord der KontrollRaumboote, der Spacebus-Shuttles, Transporter, Mobilen Bodenstationen, Allzweck-Tender und OpBasisUnits des Io-Teams abgespielt haben mochten: Schlag auf Schlag plötzlicher unbekannter Tod, Mitansehen von Zerfließen und Sterben, Panik, Ausweglosigkeit, alles vielleicht binnen einer Viertelstunde oder halben Stunde, zu schnell, zu chaotisch, als daß irgendwer noch die Gelegenheit oder den Einfall gehabt hätte, Dschinnistan per ExKom zu warnen. Florens wehrte sich gegen die Bilder des Leids und Verderbens, lauschte in sein Inneres auf irgendwelche Symptome. Seine Lippen waren widernatürlich trocken und spröde; in seinem Leib entstand Fieber. Wenn er sich voll auf seine Körperlichkeit konzentrierte, glaubte er schon irgendwie Zersetzungs-, Lokkerungserscheinungen im Fleisch zu spüren, ein tendenzielles Aufschwemmen des Gewebes, ein allmäh-
liches Auseinandergehen der Zellverbände; doch das konnte Einbildung sein. Die robotischen Abraum- und Schürfmaschinen auf Io arbeiteten bestimmt noch, erfüllten ihren Zweck, ohne sich für Menschen oder Sporen zu interessieren. Wie stets stellte sich bei all seinen Betätigungen und Unternehmungen der Mensch selbst als das schwächste Glied aller zum Handeln erforderlichen Komponenten heraus. Kann sein, überlegte Florens, jene Leute haben recht, die die These vertreten, der Weltraum sei die Domäne der Roboter und Androiden, und wenn die Menschheit in seine unendliche Weite vordringen wolle, müsse sie speziell angepaßte Exemplare ihrer Gattung züchten. Doch er empfand so tiefe Resignation, weil er für Dschinnistan kaum eine Aussicht auf Rettung absah, daß er diese Gedanken gleich darauf seiner Stimmung zuschrieb. Hoffentlich schmerzt es nicht, dachte er voller Bitternis. Aber auch das, begriff er, war nur Selbstbetrug. Jahre der Meditation hatten ihn noch längst nicht zu einem Seligen erhoben, der die Unvermeidlichkeit des Todes, die Tatsache, daß Vergehen zu den Gesetzmäßigkeiten der Welt und der Dinge zählte, nicht länger betrauerte. Der Abschied mußte ihn allemal schmerzen, Abschied vom Ich, von Jelena und Shaida, ja sogar von seiner oft verfluchten Arbeit, der Wühlerei und dem Scharren im Dreck fremder Himmelskörper.
Stein und Erz boten soviel Aufschluß. Manchmal brauchte Florens, als verfügte er über ein besonderes Talent zum Durchschauen der inneren Konsistenz von Materie, einen Brocken nur in der Hand zu halten und anzusehen, um über seine Entstehung Klarheit zu gewinnen, die Kräfte und Umstände, die zu seiner Bildung beigetragen, all die Einwirkungen der Natur und ihrer Gewalten, die ihn geformt, bewegt, gewandelt hatten. Florens' Sinneswahrnehmung schien durch die Nerven seiner Haut in die Schichten von Gesteinsklötzen zu sickern, Informationen aufzusaugen, Daten zu extrahieren wie ein Laser-Abtaster. Meßinstrumente, chemische Analysen und ähnliche Hilfsmittel dienten ihm dann nur noch zur Bestätigung der erlangten Erkenntnisse. Nach seiner geheimen Überzeugung (Abermilliarden von Menschen hätten ihn deshalb als komplett verrückt denunziert) gehörte die Geologie zum Schönen im Leben. Unterdessen hatten Servicisten diverse Sitzgelegenheiten aus den benachbarten Räumlichkeiten der Zentralen Administration herübergebracht, und der ›Krisenstab‹ – anscheinend bezog Matsumoto schlichtweg alle Personen ein, die sich gerade im Chefbüro befanden, außerdem Dr. Koumanelis – saß nun in unregelmäßigem Halbkreis vor dem Duktuson-Pult; die Debatte beschäftigte sich im weiteren – unter IntKomBeteiligung Atzehubers – mit der Frage der Ausbrei-
tung der Sporen. Mit dem Zufallen der Hermetikschotten waren die einzelnen Module/Sektionen der Satellitenbasis auf autonome Lebenserhaltungssysteme umgeschaltet worden, so daß zwischen ihnen kein klimatischer Austausch mehr stattfand. Atzehuber versicherte, dadurch würde ein Übergreifen der Seuche auf bisher noch nicht betroffene Sektionen weitgehend verhütet, abhängig davon, wie sehr sich die Benutzung der Notpforten durch Personal minimieren ließ. In wie vielen und welchen Sektionen die Fungusseuche insgesamt nistete, konnte allerdings erst mindestens fünf Stunden nach dem Zeitpunkt des Schließens der Schotten überblickt werden. Florens achtete kaum auf die Diskussion; er fühlte sich schwach und als ob ihm jeden Moment schlecht werden müßte. Percy Grindling und er meldeten sich als einzige überhaupt nicht zu Wort. Einmal döste Florens, dem schwummrig war von häufigen Hitzeschüben, die irgendwo im Nacken oder zwischen den Schulterblättern ihren Ausgang nahmen, fast ein. Dann jedoch führte eine Äußerung Matsumotos unversehens zur Erregung, die Florens aufschreckte. Der SekurService-Kommandeur mitsamt ihren Insassen von der Satellitenbasis abzusprengen und durch Thermo-Torpedos zu vernichten, falls es mißlang, gegen die Fungusseuche ein Mittel zu entwickeln. Maigreur sprang aus dem Besuchersessel auf, in
dem es ihm die ganze Zeit hindurch sichtlich ohnehin nicht behagt hatte, klammerte die Finger an den Vorderrand des Duktuson-Pultes, als habe er vor, es umzukippen, und den schmächtigen, im Pensionsalter befindlichen Japaner darunter zu begraben. »Jetzt verstehe ich«, fauchte er gehässig, »wie Sie zu Ihrem schlimmen Leumund gekommen sind! Offenbar lassen Sie keine Gelegenheit aus, irgendwo Massaker zu veranstalten. Ich frage mich – und ich habe diese Frage bereits mehrfach an Ihren Adjutanten gerichtet, ohne daß ich eine Auskunft erhalten hätte –, was Sie eigentlich hier suchen, statt im A-Gürtel die Raumpiraten aufzuspüren und unschädlich zu machen, wie's Ihre Aufgabe ist. Sie müssen völlig skrupellos oder 'n Wahnknabe sein. Ist Ihnen denn nicht klar, daß die von Ihnen vorgeschlagene Maßnahme auch diese Sektion, also genauso die Zentrale Administration und das Kommand-Center, mitbetreffen müßte?!« In Matsumotos bräunlichem Gesicht regte sich kein Muskel. Ebensogut hätte es eine verwitterte NoMaske sein können. »Dessen bin ich mir sehr wohl bewußt, Dr. Maigreur. Im Gegensatz zu Ihnen sehe ich darin aber keinen Hinderungsgrund.« Dem Chefadministrator sank der Unterkiefer herab. Florens bemerkte den Schimmer von Schweiß auf Maigreurs Stirn. Fungusseuche oder Hypernervosität? versuchte er zu erraten; doch bereits im nächsten
Moment verlor er daran das Interesse. Ob tot oder lebendig: Maigreur war und blieb Maigreur. Ihm würde kein Satellitnik Dschinnistans nachweinen. Florens verstand nicht, warum und wieso, aber eines glaubte Matsumoto ohne Vorbehalt: Maigreurs Schicksal war so oder so besiegelt, durch ihn selbst besiegelt worden, als er überheblich den Rat des SekurServiceKommandeurs ausschlug, die Möglichkeit des Rücktritts zu beanspruchen. Daß Matsumoto derlei Dinge unbesonnen von sich gab, konnte man als undenkbar abtun. Der Fall Maigreur war so gut wie erledigt; er ahnte es nur noch nicht. »Ich fände so ein Vorgehen außerordentlich stark übertrieben«, sagte B. d. F., indem er auf jegliche Schnodderei verzichtete. Diese seltene Ernsthaftigkeit wirkte bei ihm so fremdartig, daß mehrere Anwesende überrascht aufblickten. »Im allgemeinen ist es unüblich, Kranke und von Erkrankung bedrohte Menschen einfach summarisch zu euthanasieren. Solche Methoden dürfen wir unmöglich einreißen lassen.« Er schwieg, fuhr sich mit der Hand über die Augen, schüttelte den üppig behaarten Kopf. Als er die Hand senkte, glitzerten zahlreiche winzige Schweißperlchen auf seiner Stirn und den Wangen. »Ich ... Dazu verweigere ich jedenfalls mein Einverständnis.« Beschwerlich holte er Atem, lehnte sich zurück, als hätten die wenigen Worte ihn erschöpft.
»Da fällt mir etwas ein.« Die Mwerumbala spielte an ihren Zöpfchen, drehte sie zwischen den Fingern. »Um fünfzehn Uhr sind zwei Kargo-Liner mit Kurs zum Mars abgeflogen. Jeder hat zehn Mann Besatzung. Wir haben keine Garantie, daß niemand davon vor dem Start infiziert worden ist.« »Dann beordern Sie sie auf Retourkurs und in einen Parkorbit.« Matsumotos Forderung rief beim Chefadministrator blasierten Widerspruch hervor. »Man könnte glauben ...« – Maigreur hob den Blick zur Decke des Chefbüros – »... hier hätte noch niemand jemals was von Roten Zahlen gehört. Die Frachter haben 'ne termingebundene Ladung vaku-industriell produzierter Feininstrument-Teile. Wird der SekurService uns etwa die Konventionalstrafe bezahlen, hä?« »Wir haben hier Entschlüsse von höherem Belang zu fällen, als Sie glauben.« Krüger, in seinem Wesen sicherlich so entschieden wie sein Kommandeur, aber weniger stoisch oder abgebrüht – und daher provozierbar –, ließ in seinem Gesamtverhalten durchblikken, für welchen Dummkopf er Maigreur hielt. »Es gilt, um jeden Preis zu verhindern, daß die Fungusseuche dichtbesiedelte Zonen wie die inneren Planeten oder die SpaceCitys erreicht. Andernfalls sind Millionen oder gar Milliarden Menschenleben gefährdet.«
»Sollten die Frachter nicht umkehren und an Bord Erkrankungen auftreten, muß ich den SekurServiceEinheiten im Asteroidengürtel, falls nicht bald ein Gegenmittel gefunden wird, den Befehl übermitteln, sie abzufangen und zu vernichten«, fügte Matsumoto hinzu, als wäre er kaltblütig wie ein Fisch. »Das dürfen Sie nicht!« schimpfte Maigreur. »Zooks, das ist doch Unsinn«, sagte die Mwerumbala. »Wenn die Besatzung der Frachter infiziert worden ist, wird sie tot sein, bis die Frachtschiffe zum A-Gürtel gelangen, und sie können auch nicht mehr rechtzeitig zur Verabreichung eines etwaigen Gegenmittels hier eintreffen.« »Aber für den Fall, daß die Leute von der Fungusseuche befallen sind, muß der Flug gestoppt werden«, entgegnete Krüger. »Auf die eine oder andere Weise. Die Hien hat genug Thermo-Torpedos gebunkert.« »Na schön. Ich werde die Kargo-Liner über Veloxmitterfunk verständigen.« Die KommandCenterLeiterin verließ erbittert ihren Stuhl, offensichtlich froh, endlich einen Vorwand zu haben, um sich aus dem Chefbüro, in dem ein Krisenstab zweifelhafter Zusammensetzung sich mit vielleicht längst sinnentleerten Disputen abplagte, zu verdrücken. »Den Rest haben Sie zu verantworten.« Auch Florens vermochte nunmehr besser zu be-
greifen, was die so strittige Reputation des SekurService-Kommandeurs begründete. Kompromißlosigkeit dieses Stils mußte Außenstehende im gleichen Maß abschrecken, wie sie die Angehörigen des SekurService zu Matsumotos Gunsten faszinierte. Florens versuchte, sie nicht zu werten; doch er konnte nicht vermeiden, daß in ihm gegen den Japaner und dessen Machtstellung Bedenken aufkamen. »Caramba!« Maigreur verzerrte die ausgezehrte Miene zu einem Grinsen des Zynismus. »Sonst wird ständig die Überbevölkerung bejammert. Wär's denn so nachteilig, wenn diese gottverdammte Seuche die Menschheit halbiert?« Bevor jemand dazu einen Kommentar abgeben konnte, senkte er den Kopf zwischen die Hände, verbarg dann sein Gesicht, überwältigt von Selbstmitleid, Reue, Übelkeit oder geistiger Wirre. »Das alles ist der unabwendbare Bankrott«, seufzte er dumpf. Er schien dem dicken Flor, des Mars-Teppichs seinen Kummer zu klagen. »Davon wird sich Dschinnistan nie wieder erholen. Und ich hatte unvergleichliche wirtschaftliche Perspektiven konzipiert ...!« Anscheinend war er den Tränen nahe. »O ja, Baby, das kann ich mir denken.« B. d. F. entblößte die Zähne, ob zu einem Lächeln oder einem Fletschen, blieb ununterscheidbar. »Du als Liebling von Monopolisten, Banken und Finanziers. Als Be-
glücker des Menschengeschlechts. Die Welt zu deinen Füßen.« Der SpaceMontan-Funktionär lachte, ohne wirklich erheitert zu sein. »Eines will ich dir aber schon voraussagen, Baby: Wenn wir mit dieser Fäkalseuche fertigwerden und sich die Erwartungen bewahrheiten, die der Professor hinsichtlich der Stratifungus-Substanz gehabt hat, wenn die Hoffnungen in bezug aufs Planetforming in Erfüllung gehen und Dschinnistan unwiderruflich Autonome Kolonie wird, dann wählt das Personal die Wirtschaftsform einer Kooperative.« Nach dem Gesetz durfte eine Satellitenbasis, die in den Status einer Autonomen Kolonie aufstieg, mittels einer Abstimmung ihrer Bewohner die künftige ökonomische Eigentums- und Organisationsform selbst festlegen: Kooperative oder Aktiengesellschaft. Mehrere Autonome Kolonien durchliefen gegenwärtig ein gemischtwirtschaftliches Übergangsstadium. Es lag in der Natur der Sache, daß einem derartigen Beschluß jedesmal hitzige Auseinandersetzungen vorangingen. Folglich hatte Maigreur jetzt ein Reizwort vernommen, das ihn augenblicklich in einen Koller überspannter Protesthaltung stürzte. »Niemals! Niemals!« Er zappelte im Sessel wie ein Sexdroid beim Vortäuschen von Ekstase. »Glauben Sie etwa, die Satellitniks werden sich von Ihresgleichen einschweißen lassen? Eine Aufklärungskampagne wird ...«
»Testumfragen der SpaceMontan haben ergeben, daß die Akzeptanz, die Sie als Chefadministrator bei den Satniks finden, sich langsam auf Zero einpendelt. Kaum jemand wird auf Ihr Gelaber hören, und wenn die Aktionäre Ihnen zur Unterstützung Kies in den Hintern pumpen, bis sie pleite sind. Dschinnistan wird 'ne Kooperative, daran gibt's keinen Zweifel.« »Niemals! Nie und nimmer! Das ist nichts als Propaganda. Kein Mensch kann so verrückt sein, Wohlstand und soziale Sicherheit freiwillig dem Dilettantismus einer Funktionärsclique zu opfern. Ich ...« Matsumoto widmete der verfrühten Uneinigkeit keine Beachtung. Er hatte ExKom-Kontakt zur Hien und erteilte Weisung, Scout-SpaceJets nach Io sowie zum Orblab A 7 zu schicken und unter Berücksichtigung der Schutzvorkehrungen gegen Infektionsgefahr die dortigen Verhältnisse zu besichtigen, aus dem Orbitallabor sämtliche greifbaren Laborergebnisse herüberzuschaffen. Florens lieh der Meinungsverschiedenheit ebenfalls kein Ohr. Er wußte seit langem, auf welcher Seite sein Platz war, wie er abstimmen würde, sobald Dschinnistans Satellitniks konkret vor der angesprochenen Wahl standen. Er leistete sich bis dahin die Einstellung gelassenen Abwartens. Im Moment mangelte es dieser und ähnlicher Thematik an Aktualität. Mit höchster Wahrschein-
lichkeit mußten alle im Chefbüro in den nächsten eineinhalb bis zwei Stunden sterben, wie gründlich Percy Grindling auch, als erhoffe er davon ein Wunder, an den Fingernägeln kaute. »Vielleicht wäre es trotz allem empfehlenswert, mal wieder was zu essen.« Ståndrättstraffs Anregung traf auf schrankenlose Gleichgültigkeit. Der Sheriff faßte sie – wohl in einer Anwandlung von Zweckoptimismus – als Befürwortung auf, und gab den Servicisten die erforderlichen Anordnungen. Stets weniger gelang es Florens, dem Empfinden zu widerstreben, daß all die Hektik, die Aktivität und Debattiererei, das Zanken und auch die irgendwie unangebrachte oder unzeitige Essenspause keinen richtigen Sinn außer als Beschäftigungstherapie hatten. »Ihr Sprücheklopfen und Ihre Phrasendrescherei entlarven Sie immer deutlicher als Agenten Bagynskis!« Maigreur schrie B. d. F. mit aller Kraft an, die er in seinem merklich maroder gewordenen Allgemeinzustand dafür abzuzweigen vermochte, ohne zusammenzubrechen. »Sie werde ich noch in die korrekte Kreisbahn schießen! Ihre eigenes Gefasel überführt Sie geradeso wie ein Geständnis. Sie werden von Glück reden können, wenn das SpaceSectionGericht Sie zur Teilnahme an 'ner Risiko-Expedition verknackt.«
Ob Shakelances Hypothese zutrifft? Florens rieb sich mit den Fingerkuppen die Schläfen. Ist Io wirklich von Aliens geschaffen worden? Ein Biotop-Raumschiff, das vor Äonen ins Sonnensystem einflog, dessen Besatzung jedoch aus irgendwelchen Gründen starb? Warum könnte sie gekommen sein? Woher? Und wenn es sich bei Ios Innerem tatsächlich um ein Raumschiff handelt, muß es auch irgendeinen Antrieb haben – Triebwerke und Aggregate, die es zur Überbrückung interstellarer Abgründe befähigt hatten, zur Überwindung möglicherweise Dutzender oder Hunderter von Lichtjahren, jedenfalls kosmischer Entfernungen. Und innerhalb welcher Zeitspannen? Daran hatte hier offenbar noch niemand gedacht. Florens prüfte seine Ansichten, und das Resultat lautete, daß er an die Aliens nicht glaubte. Es hatte schon viel zu viele solche »Entdeckungen« gegeben, die nachher zu Fiktionen geschäftstüchtiger Autoren populärwissenschaftlicher Werke schrumpften, und Florens ersah ebenso im vorliegenden Fall keinerlei Anhaltspunkte für Ernstzunehmendes. Er schwieg über seine Spekulationen. Die Stratifungus jedoch, was er auch sein mochte, war Realität: Wirklichkeit, die grausam buchstäblich bis ins Mark drang, in die Zellen des Körpers, um ihn mit aller Willkür einer Krankheit, einer Transformation mit tödlichem Ausgang zu unterziehen, oder viel-
leicht einer Metamorphose mit bislang unvorhersehbarem Endergebnis. Inzwischen hegte Florens fest die Überzeugung, zu spüren, wie sich die Sporen rasant in seinem Kreislauf, den Lymphdrüsen, dem Gewebe verteilten, sämtliche Attacken der weißen Blutkörperchen, gegen diese Fremdlinge waffen- und machtlos, mit Leichtigkeit abschmetterten, in Massen ausschwärmten, sich überall festsetzten, die Zellwände anzugreifen, den Zusammenhalt der Zellverbände zu lockern begannen. Kaum hatten Maigreur und B. d. F. sich zur Vertagung ihres Prinzipienstreits durchgerungen, bewahrten sie verbissen und widerwillig Ruhe, während Matsumoto per ExKom-Verbindung mit SekurServiceSpezialisten in der Steuerzentrale der Hien ausführlich über Sicherheitsfragen des Seuchenschutzes redete, da häuften sich im Chefbüro die Hiobsbotschaften. Der Pilot des Shuttles, mit dem Prof. Shakelance vom Orblab A 7 zur Satellitenbasis geflogen war, lag tot in seiner Unterkunft, ein wabbliger Knödel auf einer Couch. Aus vier Sektionen meldete man weitere, insgesamt 31 neue Opfer. In Sektion XIX herrschten Panik und Krawall, und die Servicisten hatten nichts besseres gewußt, als ohne Rückfrage beim Sheriff Betäubungsgas anzuwenden. Infolgedessen prangerte die jüngste Superspacer-Ausgabe multimedial nicht nur den Chefadministrator und dessen unverant-
wortliches Handeln an, sondern kritisierte zudem Ståndrättstraff und seine Garnison. (Der Sheriff reihte daraufhin einen unverständlichen skandinavischen Fluch an den anderen; Matsumoto hingegen sagte dazu nichts.) Vom KommandCenter aus informierte die Mwerumbala darüber, an Bord der beiden zum Mars gestarteten Kargo-Liner seien bisher keine Todesfälle vorgekommen, allerdings würden mehrere Besatzungsmitglieder des einen Frachters über ›diffus-fiebrige Beschwerden‹ klagen. Sie hatte die Rückkehr der Frachtraumer verfügt. Das Deprimierende der Grundstimmung im Chefbüro erhöhte sich angesichts solchermaßen fataler Neuigkeiten wesentlich. Verkniffene Gesichtszüge, fahl und schweißig, machten fortan das hervorstechendste gemeinsame Merkmal des »Krisenstabes« aus. Ein Sterbezimmergeruch der Furcht kroch im Gefolge der Sporen, als wäre er ihr Schatten, durch die Räume. Er schien sich auf alles zu senken, alles zu durchdringen wie eine schädliche Emission. Percy Grindling beging seine erste auffällige Tat seit dem Vormittag, indem er im Sekretariat von Shaida eine Marihuette schnorrte. Matsumoto allein beharrte im Gleichmut. Ein Servicist im Schutzanzug kam in die Zentrale Administration, lenkte ferngesteuert einen ElektroServierwagen herein, auf den man Folienpackungen
mit erwärmten Fertiggerichten gestapelt hatte, besorgt aus den Tiefkühllagern der Großküche einer bis jetzt seuchenfreien Sektion. B. d. F., dessen Leibesfülle vermutlich am stärksten geregelten Nachschub an Speisen verlangte, riß eine Packung auf. »Bei aller harten Strahlung des Universums! Pürierte Erbsen! Wollen diese Kakerlakendompteure eigentlich, daß wir aus dem Stand die Fluchtgeschwindigkeit erreichen, oder was?!« Nach dieser Eröffnung verzichteten sämtliche übrigen so nett Belieferten, auch der enttäuschte Sheriff, auf die Inbesitznahme ihrer Portionen. Die Packungen verblieben auf dem Servierwagen, kühlten langsam ab. Ohne jemandem seine Absichten mitzuteilen, begab sich der SekurService-Kommandeur ins Vorzimmer. Florens hörte ihn sehr leise mit Shaida sprechen. »Ihr Kommandant ist ein ungewöhnlicher Mann«, sagte Florens in gedämpftem Plauderton zu Krüger; sie saßen nebeneinander an der Wand mit den Sternenkarten. Über Krügers Scheitel schwebte das Siebengestirn der Plejaden, versehen mit winzigen MikrometerMeßdaten. »Sein Ruf besteht zurecht.« Florens hätte einen guten Schluck Cognac vertragen können; doch sein Flachmann war, wie meistens, nicht zur Hand, vielmehr im Einbauschrank seines Quartiers. Der Adjutant verriet mit keiner Reaktion, ob ihm
die Zweideutigkeit der Bemerkung Florens' auffiel. »Vollkommen richtig. Er hat den SekurService auf Zack gebracht.« Was das heißen sollte, verstand Florens nicht, aber die Markigkeit des Akzents, mit dem Krüger – anscheinend ein Deutscher, also Angehöriger eines wie die Pygmäen nahezu ausgestorbenen Volkes – sein nicht übertrieben verslangtes Spacepidgin sprach, erzeugte in ihm eine obskure Antipathie. »Er wird von den Servicisten regelrecht verehrt, heutzutage ein erstaunliches Phänomen.« »Das ist mir nicht so recht verständlich. Er ist 'ne Persönlichkeit, klar, Autorität hat er auch, und er neigt wohl 'n bißchen zum Extremen; ich meine, seine Denkweise ist für normale Menschen nicht immer ganz nachvollziehbar. Aber irgendwie ist das keine ausreichende Erklärung. Es muß darüber hinaus irgendeinen Faktor geben.« Krüger nickte, lasch entweder aus Sinnigkeit oder Ermattung zögerte einige Augenblicke lang mit der Antwort. »Es muß etwas damit zu tun haben, daß er ein klassisches Ideal verkörpert: Er ist Politiker und Philosoph in einer Person. Seine Bekanntschaft ist für jeden 'ne Bereicherung.« Der Adjutant neigte sich ein Stück weit zu Florens herüber. »Mich zum Beispiel behandelt er ein wenig wie seinen Schüler, er versucht mir gelegentlich ein paar Weisheiten zu vermitteln, und sie nutzen mir zumindest in einer Hinsicht,
sie helfen mir dabei, die Bahnen, in denen er denkt, besser zu verstehen. Er stellt mir ganz absonderliche Fragen, zu denen einem zunächst nichts einfallen will, man kann monatelang grübeln, sie haben 'ne bestimmte Bezeichnung ...« »Koan.« »Genau. Das erste, mit dem er mich bekanntgemacht hat, war das Koan vom Ton der einen Hand. Es lautet: ›Wenn man in die Hände klatscht ...‹« »›... hört man einen Ton. Welcher ist der Ton der einen Hand?‹ Ja, das ist eins der geläufigsten Koan.« »Trotzdem habe ich fast ein Dreivierteljahr gebracht, um auf die Lösung zu stoßen. Ich glaube, es wäre mir nie gelungen, mich in Zen hineinzudenken, hätte ich mich nicht in völlig anderem Zusammenhang mit Dada und Surrealismus befaßt. Von da an hatte ich wenigstens einen grundsätzlichen Schlüssel zum Verständnis des Zen. Jetzt zermürbe ich mir schon wieder seit einem halben Jahr das Hirn mit 'm neuen Koan, ich komme einfach nicht dahinter ...« Und die Aussichten sind schlecht, daß du noch genügend Zeit hast, dachte Florens. Aber es ist keine Schande, zu sterben, ohne ein Erleuchteter geworden zu sein. »Welchem?« »›Wohin ging Meister Hofuku nach seinem Tod?‹« »Ach, aha! Naja, Ihr Maître schätzt Sie hoch ein, das ist nicht zu leugnen.«
»Meinen Sie?« »Mais qui.« »Haben Sie zufällig 'ne Ahnung, wer Hofuku gewesen ist?« flüsterte Krüger, der spürbar Vertrauen zu Florens entwickelte, wie ein Verschwörer. »Der Ansatz ist falsch. Namen sind austauschbar.« »Sie möchten mir keinen Tip stecken, hm?« »Weil's unanständig wäre, Monsieur. Ich teile Ihre Meinung, was den Philosophen angeht – aber wieso ist Ihr Kommandant Politiker? Der SekurService untersteht doch dem OMNIZIL. Inwiefern könnte er da 'ne eigenständige Politik betreiben?« Krüger lächelte hintergründig. »Sie sehen unseren Aufgabenbereich zu eng, Mr. Bonnamy. Die Extrapolationen unserer Prognose- und Planungsinstanzen messen dem SekurService für die mittlere und fernere Zukunft ein immer größeres politisches Gewicht zu.« Er sprach unverändert in Flüsterlautstärke. »Bereits heute sind separatistische Bestrebungen in den Planetenkolonien, SpaceCitys, Satellitenbasen und Autonomen Kolonien erkennbar, und sie werden zunehmen. Unsere Sozio-Experten stufen diese Prozesse als normal ein, weil diese Gemeinschaften die emotionalen Bindungen an ihre Mutterwelt unvermeidlich verlieren, eigene kulturelle und gesellschaftlichzivilisatorische Alternativen entfalten. Auf der Erde dagegen kleben zahlreiche Top-Politniks an traditio-
nellen, konservativen Sichtweisen, gar nicht zu reden von der Machtfrage und ökonomischen Aspekten. Sie werden alles dransetzen, um das gesamt Sonnensystem als Hegemoniezone behalten zu können. Dadurch müssen Konflikte entstehen, Konflikte verschärfen sich zu Konfrontationen, und sie wiederum arten in Krieg aus. Und das ist der Zeitpunkt, da der SekurService die maßgebliche Rolle spielt. Wir werden Kriege zwischen der Erde und den anderen Siedlungsräumen des Sonnensystems zu verhindern haben – und mit allen Mitteln zu verhindern wissen.« »Ist das Ihr Ernst?« Wie vor den Kopf geschlagen blinzelte Florens in Krügers Augen, wäßrig-blau wie Curaçao mit Soda. »Gewiß. Solange Matsumoto das Kommando ausübt, wird der SekurService im Weltraum Garant des Friedens sein.« »Er ist allerdings nicht mehr der Jüngste«, gab Florens, eher aus Verdatterung, zu bedenken. Derartige interplanetarpolitische Reflexionen, Gedankengänge scheinbar so futurologischen und doch ernstgemeinten Inhalts hatte er noch nie vernommen, und er wußte nicht, wie er dazu stehen sollte. Krügers Augen leuchteten plötzlich, widerspiegelten Fanatismus, Idolatrie, was des öfteren bei Servicisten zu beobachten war, wenn etwas ihren Kommandeur betraf. »Matsumoto wird nicht sterben«, sagte er
kaum hörbar. Dann rückte er sich auf seinem Stuhl zurecht, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände auf den Knien. Florens' Hang zur Fortsetzung des Gesprächs erlosch jedoch ohnehin im gleichen Moment. Er hatte einen kleinen Einblick ins Selbstverständnis des SekurService, in die Strategie seiner Führungskreise erlangt, und ihm graute; beileibe nicht, weil er ein Konzept zur Bewahrung des Friedens ablehnte, sondern wegen der Konsequenzen, der Bürde, die sie einem Menschen allein zumuteten, ihrer Galionsfigur, diesem einen Mann. Nicht sterben! Das arme Schwein. Was haben sie mit ihm vor? Lebensverlängerung hat ihren Preis. Sie werden ihn nicht fragen. Weiteres Nachsinnen ersparte sich Florens. Ob jemand von ihnen hier im Büro je wieder Gelegenheit fand, sich mit Plänen, Projekten, Interessen und Zielen zu beschäftigen, durfte bezweifelt werden. Das Wand-Chronometer hetzte die Sekunden durchs Geglimmer der Digital-Anzeige, als gäbe es allzeit reichlich davon, während für die Menschen, die es auf diese kristallkalte Weise zu verhöhnen schien, jede Sekunde an Kostbarkeit gewann, indem ihre Lebensspanne verrann wie verspieltes Geld. »Kennst du schon den Witz mit dem Urophilen, Baby?« meinte B. d. F. unvermittelt zu Maigreur.
»Kommt 'n Urophiler zum Zahnarzt und sagt: ›Doktor, bitte entfernen Sie mir den Urinstein.‹ Der Zahnarzt guckt ihm in 'n Mund und sagt: ›Lieber Mann, Sie haben keine Zähne mehr. Diese Zacken sind Ihr Urinstein.‹« Niemand lachte. Jeder war sich dessen bewußt, daß B. d. F. sich lediglich über den Chefadministrator lustig machte. Maigreur schwenkte den Sessel, drehte B. d. F., der mokant schmunzelte, in schwerlich übertreffbarer Animosität die Rücklehne zu. »Ich warte bloß drauf«, lispelte Maigreur über die Schulter, »daß Sie aus 'm Leim gehen.« Gleich darauf kam Matsumoto wieder und aktivierte unverzüglich, ohne Aufschluß über seine zwischenzeitlichen Betreibungen zu geben, den IntKomApparat und rief den Poliklinischen Komplex Äskulap Epsilon an. »Dr. Koumanelis, die Frist läuft ab.« »Ich weiß. Ich hatte gerade vor, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.« Koumanelis' Stimme klang nach Gereiztheit aus Überarbeitung und Streß. »Es war 'n großes Glück, daß man in der Biologischen Abteilung, nachdem der Professor die StratifungusProben abgeliefert hatte, ohne Verzögerung ans Werk gegangen ist. Zusammenfassend kann ich jetzt folgendes mitteilen. Die Sporen agieren unter günstigen Oxydationsbedingungen – das heißt, bei Sauerstoffreichtum – aggressiv gegen die Zellwände des Orga-
nismus und fermentieren sie, bis sie durchlässig sind und die Zellen quasi zu Protoplasten werden und ihre Kohärenz abhanden kommt. Danach versuchen die Sporen den Nuklei das eigene genetische Programm zu oktroyieren. Was am Ende dieser Mutation stehen soll, ist noch offen und bisher nicht absehbar, aber zur Zeit ist es für uns sowieso unwichtig. Das menschliche Immunsystem ist zur Produktion tauglicher Antikörper nur in völlig unzulänglicher Größenordnung imstande. Es ist ...« Maigreur beugte sich über die Oberseite des IntKom-Geräts. »Zooks, halten Sie uns doch keine wissenschaftlichen Referate, Sie Geistesakrobat! Können Sie vielleicht in einem verständlichen Satz klarstellen, was die Sporen anrichten? Und haben Sie 'n Gegenmittel, oder nicht?« »Entschuldigen Sie vielmals, Sir«, erwiderte Koumanelis spöttisch. »Wir sind nun einmal leider zu Fachidioten ausgebildet worden und unseren Jargon gewöhnt. Salopp ausgedrückt, die Sporen wollen unsere Körperzellen mit aller Gewalt in ihresgleichen verwandeln. Okay? Und auf Ihre Frage nach dem Gegenmittel muß ich antworten: Ja und nein. Da es zu spät ist, um unser Immunsystem langwierig anhand von Peptiden zur selbständigen Antikörper-Produktion zu stimulieren, müssen wir radikaler eingreifen und einen speziellen Typus von Antibiotikum ver-
wenden, und zwar einen Lambda-Bakteriophagen. Wir haben's geschafft, in einem Lymphozytenplasma 'n geeigneten temperenten Bakteriophagen zu synthetisieren, der die Fähigkeit hat, seine DNS den Sporen zu injizieren, sich ihren Chromosomen zu integrieren und sie mit Rekombinationsenzymen als Katalysatoren zu neutralisieren – beziehungsweise in koexistenzielles Protein zu transkribieren.« B. d. F. stützte sich mit den Ellbogen aufs Gehäuse des IntKom-Apparats. »Kapiert haben wir nix, Baby, aber das braucht dich nicht durcheinanderzubringen. Also ihr habt 'n Gegenmittel. Und was ist der Haken? Läßt's sich nicht schnell genug in großen Mengen fabrizieren, oder wie?« »Doch, doch, das ist kein Problem. Der Bakteriophage vermehrt sich in seinem Kulturmedium von selbst und mit rasanter Schnelligkeit, und für einen Organismus vom Umfang des menschlichen Körpers ist bloß 'ne winzige Dosis erforderlich, die ihre Wirkung binnen fünfzehn Minuten tun kann. Wir verfügen praktisch schon jetzt über 'ne genügende Quantität für das gesamte Personal der Satellitenbasis. Aber 's fehlt die Zeit, um das Mittel ausreichend auf Nebenwirkungen oder Unverträglichkeiten zu testen. Unter normalen Umständen, bei regulärer Laborerprobung neuartiger Medikamente, meine ich, nimmt man dafür geklonte Gewebekulturen. Solche Testrei-
hen können allerdings Wochen oder Monate in Anspruch nehmen.« »Und wozu raten Sie, Dr. Koumanelis?« erkundigte sich Matsumoto. Erst mochte Koumanelis sich nicht so recht zu seiner Idee bekennen. Doch ihm blieb nichts anderes übrig: Sekunde um Sekunde, Minute um Minute verstrich. »Wir benötigen eine Versuchsperson. Einen Freiwilligen.« »Ich höre wohl nicht richtig!« schnaubte B. d. F. Doch die Stimme krächzte ihm im Hals, und er mußte, heimgesucht von einem Schwächeanfall, zurück auf seinen Sitzplatz. »So schlecht war mir noch nie ... Ich glaube, ich muß kotzen ...« »Einen Freiwilligen?« wiederholte Maigreur, als zöge er ebenfalls die Verläßlichkeit seines Gehörs in Zweifel. »Woher sollen wir 'n Freiwilligen kriegen? Zu so was kann ich ja nicht mal jemanden verdonnern! Sheriff, lassen Sie fix 'n Impunitaten greifen, das sind sowieso alles Kriminelle. Das ist die einzige Möglichkeit.« »Dergleichen ist total undurchführbar, Sir. Sie kennen die Gesetze, die ihre Strafverfolgung aufheben, so gut wie ich, Chef.« »Dann kommandieren Sie einen Ihrer Servicisten ab! Bin ich denn bloß von Trotteln und FäkaltankWorkern umgeben?«
»Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß qualifiziertes SekurService-Personal gefährdet wird«, mischte sich Krüger ein. »Wie ernst konnten eventuelle nachteilige Nebenerscheinungen sein?« fragte Matsumoto den Mediziner. »Sehr ernst. Der Bakteriophage weist Ähnlichkeit mit dem Antitumor-Mittel Proselytomycin auf, er enthält hohe Bestandteile an Anthracyclinen, die schaden dem Herz, ganz davon zu schweigen, daß man absolut nicht voraussagen kann, welche akuten Folgen ...« Matsumoto winkte ab; Koumanelis verstummte. »Wir benötigen einen Freiwilligen, Dr. Maigreur. Andernfalls muß ich jetzt die Abkopplung aller von der Fungusseuche betroffenen Sektionen und deren Vernichtung veranlassen. Das gleiche gilt für die Eliminierung der beiden Kargo-Liner.« »Nein«, ächzte der Chefadministrator und griff sich an die Kehle. »Dazu haben Sie kein Recht. Das verbiete ich Ihnen!« »Ich bin auch dagegen«, unterstützte ihn B. d. F. »Ich lehne Ihren Vorschlag gleichfalls ab«, schloß sich die Mwerumbala an. Mit unsäglicher Mühsal öffnete Florens die ausgedörrten Lippen. »Ich auch.« Die kaum wahrnehmbare Andeutung eines Lächelns runzelte Matsumotos Mundwinkel.
»Sie haben mich mißverstanden. Mein Entschluß hat in diesem Fall die Geltung eines Befehls.« Schritte schlurften, auf dem Hochflor des Teppichs fast lautlos, nur vernehmlich dank des Schweigens der Bestürzung, das den Äußerungen des SekurService-Kommandeurs folgte, durchs Chefbüro. »Ich melde mich freiwillig, Sir.« Alle starrten ihn an: Percy. Mörder. ›Impi.‹ Nichtsnutz. Grindling.
8 Dr. Jelena Kalaschnikowa Maigreur stapfte, das Gemüt mit Schwarzgalligkeit gesättigt, im Korridor zwischen Zentraler Administration und KommandCenter seit beinahe einer Stunde Normzeit auf und ab. Vorbei an den beschissenen Vitrinen, deren absurde Existenz ausschließlich auf Renés Bescheuertheit und Debilenideen fußte. Und mit jedem Mal – jeder Strekke, genau zweiundvierzig Schritte weit – wuchs ihre Aversion gegen die durch ihn initiierte Ansammlung von Mineralien und sonstigem steinharten Scheißdreck, der ganz und gar für ihn typisch war, und vollauf eine Projektion aus dem Jauchepfuhl der Durchtriebenheit, der Tundra-Gefrornis der Gefühlslosigkeit, dem Steinbruch und Trümmerfeld des Egoismus, aller Trostlosigkeit und Verkommenheit der Landschaften des Schwarzen Zwerges seiner Seele. Starre, kristallische Materie, durchfressen von Kälte, Verklumpungen, Brocken und Gemengsel, konservierte Vegetation, die von Jupitermonden stammte und aussah wie regellos zusammengekleisterte, nougat- und apricotfarbene Glasscherben – so etwas bot er den Satniks zur Erbauung, solcherart beschaffene Angebote erübrigte er für seine Mitmenschen, seine Ehepartnerin: sie mußten sich mit dem Absud zufrie-
dengeben, den sein egozentrisches Innenleben ausschied wie ein Sekret der Gnade/Ungnade. Almosen für die Pygmäen, die in seiner Vorstellung alle Welt bevölkerten. Ihm Teppiche woben. Seinen Willen ausführten. Sein Umfeld verschönten. Komparsen seiner Karriere, Statisten des Erfolgs. Claqueure seiner Glanzstunden. Jelenas Schritt, trotz des Wartens noch wuchtige Wumser der mit Quartex verstärkten Absätze ihrer Prolet-Look-Kragenstiefel, hallten durch den Korridor wie der Taktschlag ihres furiosen Temperaments. Bei jeder mit imposantem Schwung vollzogenen Kehrtwendung flogen ihr die Federboa- und Mantille-Applikationen ihres mit Airyschen Spiralen verzierten Justaucorps-Frackparkas in Ägyptischblau um die Schultern und rauschten wie die Schwingen einer Harpye. Die Servicisten, die im Korridor Wache standen – teils in Schutzanzüge, teils in Skaphander, zum Teil in ihre greulichen genoppten (modisch absolutely out), kittgrauen Einsatz-Monturen gehüllt, in diesem Dreß einem Klub Gummichels oder Plastikniks im Partnerklafott zum Verwechseln ähnlich –, empfanden Jelenas geräuschvolle Gegenwart, wie man ihren miesepetrigen Blicken anmerkte, als ärgerlich; dennoch vermieden sie es hartnäckig, mit der dem Chefadministrator angetrauten Walküre anzubinden, froh
darüber, sie wenigstens am Betreten der laut Anweisung des Sheriffs für jedermann gesperrten Zentralen Administration gehindert haben zu können. Das Schließen der Hermitikschotten hatte Jelena zwei Sektionen weiter im Pneutrain überrascht, auf der Fahrt zum Haircut Collective, um sich probeweise eine topaktuelle 3D-Guilloche-Frisur ondulieren zu lassen. Etwas später hatte Dschinnistans SekurService-Sheriff über die Medien der Satellitenbasis eine abgewichste Verlautbarung wegen einer Seuche rundgesülzt, eine Quarantäne verkündet und gefordert, jeder solle bleiben, wo er sich gerade befand. Seitdem lief nichts mehr. Aber Jelena Kalaschnikowa Maigreur pflegte nicht untätig zwischen den Attrappen herumzulungern und stupide der Rettung durch galaktische JuniorImperatoren zu harren. Den halben Nachmittag hatte sie gebraucht, um zu Fuß den Weg zur ZA zu finden (am ersten Hermetikschott genügte ihr Bekanntheitsgrad als Gattin des Chefadministrators den SekurService-Posten), so daß sie ihr die Durchquerung der Notpforte gestatteten. Vor dem nächsten Schott mußte sie erst den grellsten Rabatz veranstalten (und was das bedeutete, vermochte nur zu ermessen, wer schon einmal in der Trainingszentrifuge Belastungen von 10 G Andruck und mehr verkraftet hatte –, bevor sie passieren durfte); hier aber versagten all ihre Überre-
dungs- und Überrumpelungskünste. Die vorm Eingang zur Administration postierten Servicisten widerstanden ihr mit äußerster Uneinsichtigkeit, stur wie Mechanoiden, wahrscheinlich weil Ståndrättstraff selbst und der Grand Boß des SekurService drinnen mit dem Chefadministrator ein Rendezvous hatten. Unter Jelenas Augen war sogar Essen hineingefahren worden, während sie den Befehlshabenden der Wache nicht einmal dazu bewegen konnte, René von Ihrem Kommen zu benachrichtigen. Vor 20 Minuten hatten Servicisten einen Impunitaten, dessen Kretingesicht sie irgendwann schon gesehen zu haben glaubte, heraus- und im Eiltempo weggeführt. Sonst hatte sich nichts zugetragen. Der Superspacer beschuldigte René, er hätte durch inkorrekten Alleingang und Leichtsinn im Zusammenhang mit der Io-Aktion das Ausbrechen der Seuche begünstigt. Mehr brauchte Jelena nicht zu wissen. Für sie war damit alles klar. Sie kannte Renés Oberflächlichkeit und Erpichtheit, die Fahrlässigkeit seiner Hauruckverfahren, das Gedankenlose seiner Methoden, sobald er, Geier und Hyäne, in seiner ekligen, schamlosen Feilscher- und Schacherergesinnung glaubte, irgendwelche wirtschaftlichen Vorteile oder Gewinne herausschinden zu können, selbst wenn sie sich letzten Endes nur auf Promille oder Zehntelpromille beliefen, um sich mit ihnen im Direktorat des
Dschinnistan-Konsortiums einzuschleimen, aus seinen eigenen, barbarisch maliziösen Redensarten. Und jetzt starben deswegen Menschen. Als sie vor über 9 Jahren mit ihm den Ehevertrag abschloß, hatte sie, kaum volljährig, leicht naiv, Luxus, Extravaganzen und Gimmicks gewohnt, noch studiert; und René Maigreur, Mann der soliden Zahlen, Jongleur mit Quoten, Prozenten, Soll und Haben, Salden und Bilanzen, Aktiva und Passiva, Profit und Rentabilität, Etats und Fonds, ganz Strebsamkeit, prädestiniert für eine Blitzkarriere – und nicht in Enge und Gedränge der Erde, sondern im Weltraum, dem Holy Land der Epoche der StagnationsÜberbevölkerung –, schien ihr der ideale Diplomhengst für einen längeren Zeitraum ihres Lebens zu sein. Daß ihre Eltern keine Einwände gegen ihn erhoben, hätte ihr zu denken geben müssen. Doch die Anziehungskraft des Alls (eigentlich schon damals viel attraktiver als René oder Ehe) hatte jede Skepsis fortgefegt wie der Sog von Unvermeidlichem. Aber was sie am Anfang der Bekanntschaft und Eheführung für positive Eigenschaften behalten hatte, entpuppte sich im Laufe der Jahre als ein Greuel, als abstoßende Symptomatik der Niedrigkeit und betriebswirtschaftlichen Monomanie, einer totalen Fixierung aufs Kaufmännische, der Tatsache, daß René nichts anderes war als ein Diener des Mammons. Sei-
ne Vorstellung von seinem Teil einer Lebensgemeinschaft bestand hauptsächlich daraus, der Partnerin vorzuschreiben, wie sie als Ehefrau des Chefadministrators einer industriell herausragenden Satellitenbasis zu sein, was sie zu tun und zu unterlassen hatte. Außerdem gedieh in ihm seit längerem ein bizarres sexuelles Interesse an Pflanzen, so daß Jelena sich obendrein, weil er bloß noch mit einem Geweihfarn koitierte, aufs ärgste als Mensch entwürdigt fühlte. Und trotzdem wähnte er allen Ernstes, sie wäre dermaßen im Bann seiner Erfolgstypenpersönlichkeit, daß sie weiterhin trés chic als Statussymbol in seiner Sphäre orbiten müßte. Was für ein Spottbild von einem doofen Schauerbock war der Kerl! Natürlich hatte sie sich nicht aus Sorge um ihn auf den umständlichen Weg zur ZA gemacht. Ihn sollte von ihr aus ein Meteor beim Scheißen zerschmettern. Aber Florens hatte nach dem Mittagessen das Chefbüro aufgesucht; er mußte noch dort sein. Und Shaida befand sich auch in der Administration. In dieser Krise, die alle Satniks gefährdete, gehörte sie an Shaidas und Florens' Seite. Jelenas während des vergangenen Jahrzehnts gesammelten Erfahrungen hatten sie, indem die Welt, ihre Verhältnisse und Bewohner sich ihr als Panoptikum von Kälte, Banalität, Schmutz, als Querschnitt aller erdenklichen Varianten und Abstufungen der
Profitlichkeit und Berechnung präsentierten, reifer gemacht. Um so höher wußte sie das Glück zu schätzen, zwei so durch Sanftmut und Zärtlichkeit ausgezeichnete Geliebte gefunden zu haben, die ihr Zuneigung und Geborgenheit schenkten, es verstanden, nicht Forderung und Anspruch und Anspruch auf Forderung zu häufen, ihr damit die Freiheit einräumten, von sich aus alles zu geben. O Gott! Zweiunddreißig Milliarden Menschen. Und alle einsam. Ich liebe die beiden. Ich werde nie von ihnen lassen. Niemals! Jelenas Glaube galt weder der Personifizierung eines Gottes, die irgendeine der zahllosen Kirchen und Sekten propagierte, die sich an Unsicherheit und Not der Gemüter mästeten wie Zecken (schlimmere Psychoparisiten und Seelenschmarotzer, als die Science Fiction je ersonnen hatte), noch dem Gott des Christentums, dem Eroberergott des Alten Testaments, dem Deus ex machina, der die Comédie larmoyante, die Soap Opera des Neuen Testaments inszeniert hatte. Aber sie vertrat die Überzeugung, daß der Sinn des Lebens im Kampf um Bewahrung oder Rückgewinnung der Göttlichkeit des Einsseins bestand; im Trachten, den Kreis zu schließen, ein Ziel, das fürs Einzelwesen genauso Gültigkeit besaß wie für die gesamte Menschheit. Ein Mediziner mit einer SekurService-Eskorte
durchquerte in höchster Eile den Korridor, unterm Arm eine Plastikbox. Er strebte stracks zum ZAEingang. Die Posten gestatteten ihm Zutritt. Schleunigst unternahm Jelena einen erneuten Vorstoß, wollte mit der Gruppe hinein. Doch der Befehlshabende, eine tête de lard der Behemoth-Klasse, hatte keine Nachsicht. »Er ätzt mich knochentief, Mevrouw, aber wir haben strengsten Befehl, Unbefugte fernzuhalten.« »Unbefugte?! Merde! Sie machen mir Spaß wie 'n Loch im Raumanzug. Meine Nerven ... Unbefugte! Ich bin die Frau des Chefadministrators.« »Dieser Umstand hat keinen Einfluß auf dienstliche Vorgänge.« »Magnifique! Sale bête!« Jelena verlegte sich auf filmreife Tragik. »Können Sie nicht verstehen, daß ich bei meinem Mann sein möchte, wenn hier 'ne verheerende Seuche grassiert?« »Falls der Chef den Wunsch hätte, Mevrouw, daß Sie ihm in dieser schwierigen Situation beistehen, wäre sicherlich Order ergangen, Sie zu holen.« Dagegen half kein Argument. Der Servicist hatte recht. Absolut recht. Stinkwut wie eine Blutvergiftung in den Adern, zeigte Jelena ihm mißfällig den Rücken, nahm von neuem das Durchmessen des Korridors auf, den Mund so fest geschlossen, als wären ihre Lippen Gummidichtungen. Diesem Dienstarsch gedachte sie kein Wort mehr zu widmen.
Sie achtete nicht länger auf die Uhr, wußte daher nicht, wieviel Zeit verstrichen war, als der Mediziner mit der Box wieder aus der ZA zum Vorschein kam (ihm folgten unmittelbar die Leiterin des KommandCenters sowie mehrere Servicisten); bei den Vitrinen fing Jelena ihn ab. »Was ist da drinnen los?« »Fragen Sie bloß mich nicht. Ich habe zu tun.« Beinahe wäre er im Laufschritt an ihr vorbeigehastet; dann jedoch blieb er mit einem Ruck stehen. »Sie kriegen jetzt 'ne Injektion.« Er klappte den Behälter auf. »Danach können Sie hinein.« Jelena krempelte den rechten Ärmel hoch. Vorerst nur ihn. Florens' Erleichterung, als Dr. Koumanelis dem sogenannten Krisenstab Injektionen des Gegenmittels verabreichte, hatte das Ausmaß eines Aspirins, das so groß war wie die Sonne. Auch ringsumher blieben alle stumm, als die Hochdruck-Injektioren zischten und ihnen den Bakteriophagen in den Blutkreislauf schossen. So knapp davongekommen zu sein, bedeutete mehr, als daß selbst Kraftworte dazu gepaßt hätten. Anhand gekoppelter und computerkoordinierter Diagnose-Biotroniken hatte Koumanelis die Reaktionen von Grindlings Organismus nach Einspritzung des Mittels getestet, einigermaßen umfangreich ohne
befriedigende medizinische Einsichten zu erhalten, denn Matsumoto gestand ihm kaum 20 Minuten zu; danach erachtete der Arzt eine Massenindikation immerhin für vertretbar, obwohl er gewisse Bedenklichkeiten anmeldete. Doch man konnte keinesfalls länger warten. Gleichzeitig öffnete man vom KommandCenter aus die Hermetikschotten, und Klinikpersonal verteilte sich mit Quantitäten des Gegenmittels auf sämtliche Sektionen, um die Satellitniks schnellstens mit dem zwar fragwürdigen, zunächst einmal aber zur Lebensrettung brauchbaren Antibiotikum zu impfen. Die Medo-Experten in Dschinnistans Kliniken hofften, daß die Gesamtzahl der Seuchenopfer nicht die 250 überschreiten werde. Im Chefbüro löste diese Vorhersage keine Freude aus; als Tribut an Blödheit und Geschäftemacherei war die genannte Zahl bei weitem zu hoch. Das allgemeine Aufatmen hatte noch nicht geendet, da kehrte aus der benachbarten ComputerBuchhaltung der Compu-Revisor zurück. Sein Anblick schreckte Florens auf; er hatte den SekurServiceSpezialisten schon fast vergessen. Der Mann, ein älterer Zeitgenosse mit rötlichem Backenbart, rollte den Ärmel seiner Uniform herab. (Dr. Koumanelis versorgte die übrigen Mitarbeiter der Zentralen Administration in den Räumlichkeiten
nebenan) und warf eine Handvoll Schreibfolien mit krakeligen handschriftlichen Notizen aufs DuktusonPult. Er wirkte, als wären Plastiktrockenheit und Quartexhärte die wesentlichen Kennzeichen seines Charakters; doch sobald er seinem Kommandanten zu berichten anfing, offenbarte er kauzigen Humor. »Meine Prüfung aller betreffenden Buchungsgänge hat die vorliegenden Aussagen einwandfrei erhärtet, Sir. Ich kann den vorgenommenen Manipulationen eine gewisse Genialität und Raffinesse nicht absprechen, muß aber – bei aller Bescheidenheit, Sir – dazu anmerken, daß sie meinem comptrollerischen Erfahrungsschatz und meinen buchungstechnischen Analysefähigkeiten nicht gewachsen waren, so daß ich es zuwegegebracht habe, sie vollständig aufzudröseln.« Matsumoto blätterte neben dem Besuchersessel, in dem noch Maigreur hockte – in dessen Mienenspiel sich bereits ein Wiederaufleben seiner üblichen Frivolität, und Selbstgerechtigkeit spiegelte –, flüchtig in den Notizen des Compu-Revisors. »Und?« »Insgesamt zwölf Pseudobelastungen, kenntlich an einzelnen falschen Codeziffern, die eindeutig auf Buchungsmißverständnissen beruhen, weisen scheinbare Rechnungsbegleichungen für vorgebliche Lieferungen wunderschöner Maschinenersatzteile aus. Durch Nachfragen in den Fabriken habe ich festgestellt, daß selbige Ersatzteile weder gebraucht, ange-
fordert noch geliefert worden sind. Die Zahlungen haben, wie aus meinen Aufzeichnungen zu ersehen ist, ein Volumen von abgerundet fünfhundertvierzehn Millionen Verrechnungseinheiten. Diese Überweisungen sind ausnahmslos an die Satellitenbasis Digamma erfolgt.« Letztere Äußerung tat der Compu-Revisor mit sonderbarer Betonung, als enthielte sie eine schwerwiegende Erkenntnis. Maigreur taumelte aus dem Sessel empor, zog eine Fresse kesser Verschnupftheit. »Was soll denn das?! Was wollen Sie damit andeuten, Sie Schweinehund?« »Dr. Merdier, bitte Anstand.« Krüger trat näher. »Mein Name ist Maigreur!« »Dr. Maigreur ...« Ruhig drehte sich Matsumoto dem Chefadministrator zu. »Sie haben einige Male nachgefragt, weshalb wir hier sind, statt im Asteroidengürtel Jagd auf die Raumpiraten zu machen. Nun möchte ich Ihnen antworten. Abgesehen davon, daß die Suchaktion im A-Gürtel selbstverständlich auch ohne meine Teilnahme weitergeht, hat mein Besuch Dschinnistans sehr wohl Bezug zum Piratenproblem. Wie Ihnen leicht einsichtig sein dürfte, wäre der Sicherheit der Raumfahrt nicht damit gedient, bloß die Ausführenden und Handlanger dieser neuen Art des Verbrechertums zu fassen. Deshalb haben wir von Anfang an unsere Bemühungen darauf gerichtet, die Organisatoren, Hintermänner und Geldgeber der
Bande aufzuspüren. Dabei konnte uns allerdings kein Erfolg beschieden sein, solange wir keines einzigen Raumpiraten habhaft waren und keine Aussagen und Hinweise hatten, um diesen Personenkreis einzugrenzen. Das hat sich geändert.« Matsumotos Worte beendeten das Gemurmel im Chefbüro mit der Nachhaltigkeit eines Verbots. Neue Spannung erfaßte die Zuhörer. Maigreurs Arme sanken ihm an die Seiten; seine Gesichtszüge schienen einem Spastiker zu gehören, der nur mit unsäglichen Anstrengungen etliche Tics unterdrücken konnte. »So?« knotterte er. »So?« »Ein Interzeptoren-Geschwader des SekurService ist vor wenigen Tagen am Rande des Asteroidengürtels in ein Gefecht mit einem illegalen, also in der Lizenzkartei des OMNIZIL-Raumfahrtministeriums nicht verzeichneten, bemannten Raumflugkörper verwickelt worden, in dessen Verlauf das Objekt schwere Beschädigungen erlitt und aufgebracht worden ist. Die Besatzung ist dabei umgekommen – mit einer Ausnahme. Der verhaftete Pirat hat uns zu wertvollen Aufschlüssen verholfen, unter anderem die Koordinaten der Basis genannt, von der aus die Piratenflottille operiert. Unsere Geschwader riegeln den betreffenden Sektor des A-Gürtels gegenwärtig ab. Wir werden den Stützpunkt, einen kleineren Asteroiden, binnen kurzem ausheben. Ferner haben wir von dem Piraten, der in
der Bande höhere Führungsaufgaben zu erfüllen hatte, eine Anzahl Namen erfahren.« »Ich gratuliere Ihnen zu dieser glänzenden Leistung«, sagte Maigreur so desinteressiert wie ein Computer beim Countdown. »Sie haben sich große Verdienste um die Sicherheit der interplanetaren Raumfahrt erworben.« »Derlei ist die Pflicht des SekurService.« Die laue Lobhudelei des Chefadministrators lenkte Matsumoto nicht im geringsten ab. »Sie werden sich an die vor ungefähr drei Wochen in der SpaceCity Ploskogopol stattgefundene Halbjahreskonferenz der Satellitenchefs entsinnen, Dr. Maigreur.« »O ja. Die Gastronomie war miserabel.« »Dort sind ernste Vorwürfe gegen Bagynski, den Chefadministrator der Satellitenbasis Dixieland, erhoben worden, die darauf hinausliefen – ohne daß die Anschuldigung direkt ausgesprochen worden wäre –, er sei der Anstifter und Hauptbetreiber der Piratenaktionen.« »Jeder weiß, daß er Dixieland runtergewirtschaftet hat und ihm Kredite verweigert werden. Trotzdem investiert er Unsummen in zusätzliche Industriezweige. Woher soll das Geld stammen, wenn nicht aus irgendwelchen unsauberen Quellen?« »Unseren Nachforschungen zufolge hat eine superreiche Verwandte Bagynskis auf dem Mars, die je-
doch im Anonymen zu bleiben wünscht, die Investitionen privat finanziert. Dixielands Managementgremium hat davon Kenntnis und hat diese Form der Kreditaufnahme genehmigt. Die Finanzierung ist notariell rechtlich abgesichert und insofern eine korrekte Geschäftsangelegenheit, so daß ihre persönlichen, verwandtschaftlichen Hintergründe uns nicht tangieren.« Maigreur stieß ein Geknurre der Verachtung aus. »Aber ich war noch nicht fertig, was die Konferenz angeht«, sprach der SekurService-Kommandeur unbeirrbar weiter. »Wortführer der gegen Bagynski gerichteten Verdächtigungen sind Gatherall, der Chefadministrator Digammas, und Sie gewesen, Dr. Maigreur, und angesichts unserer neusten Ermittlungsergebnisse haben wir alle Veranlassung, in dieser Tatsache – dieser Konstellation – eine besondere Eigentümlichkeit zu sehen, wahrscheinlich eine Strategie der Piraten, um sich von jedem Verdacht freizuhalten und ihn statt dessen auf Bagynski abzuwälzen. In der Tat hat eine inzwischen durchgeführte Compu-Revision der Computer-Buchhaltung Digammas, deren Resultat mir veloxmittert worden ist, klar ergeben, daß Gatherall ungefähr zur Hälfte die Kosten für Logistik und Ausrüstung der Piraten getragen hat.« »Zur Hälfte die ...?« stammelte Maigreur. »Zooks, ja, das ist ja ... Und die andere Hälfte, wer hat ...?« Seine Stimme erstickte in einem Plärrlaut.
Matsumoto zögerte keine Sekunde lang mit der Antwort. »Sie, Dr. Maigreur.« »Sheriff!« Das Schreien des Chefadministrators gellte durch die plötzliche, tumultarische Aufregung im Büro. »Diese Männer stehen im Solde Bagynskis!« Er deutete auf Matsumoto und Krüger, tatterte unterdessen wie ein Epileptiker. »Arrestieren Sie sie ...« Sein gestreckter Arm beschrieb blitzartig einen Halbkreis und zeigte auf den Compu-Revisor sowie den anderen Servicisten von der Hien. »... und diese beiden Halunken! Dieser Moment entscheidet über die Zukunft Dschinnistans! Wir müssen ...« Da erstarrte er wie in Katalepsie, den Blick zur Schiebetür gewandt. Seine Kiefer ruckten und zuckten lautlos, ehe er wieder einen Ton aus der Brust zu quetschen, wenigstens zu lallen vermochte. »Je-Je-Jelena ...?« »Ja, ich.« Jelena stand, die Linke auf Shaidas Schulter, in der Tür. »Sag bloß nicht, ich hätte hier nichts zu suchen, hier in deinem Scheißbüro, wie du's schon oft genug gebracht hast, du Scheißkerl.« Sie sprach französisch mit ihm, und außer B. d. F. und Florens – und vielleicht in einigem Umfang auch Shaida verstanden die Anwesenden vermutlich kaum etwas von ihrer Maßregelung. »Am besten sagst du überhaupt nichts mehr.« Sie löste sich von Shaidas schlanker Gestalt und ging langsam auf Maigreur zu. »Was ich ge-
rade von deinen Scheißmachenschaften mitgekriegt habe, reicht mir, ich will kein Scheißwörtchen aus deiner Scheißklappe hören, so was ist haargenau das, was bloß dein krankes Scheißgehirn ausbrüten kann, und deshalb werd' ich's dir jetzt weich wie Scheiße dreschen.« Um zu verstehen, was nun geschah, bedurfte es keiner Sprachkenntnisse. Jelena holte aus – zu flink für jede Abwehrreaktion – und versetzte ihm eine Ohrfeige, die klatschte, als wäre ein Plastiknetz voller hydroponiefrischer, nasser Algen aus großer Höhe auf harten Boden gefallen. »Du widerst mich derartig an, ich bin dich dermaßen satt, und dein ganzes Scheißverhalten in jeder Hinsicht so leid ...« – eine zweite Maulschelle warf Maigreur gegen den Besuchersessel – »... daß ich dich nicht mehr sehen kann, ohne dir in dein Scheißfreßbrett semmeln zu müssen.« Nach dem dritten Hieb wankte der Chefadministrator rückwärts ans Duktuson-Pult. Der vierte Schlag kippte ihn rücklings über die Apparate auf der Tischfläche. »Verehrungswürdige Dame«, sagte Matsumoto, Tonfall und Miene so ausdruckslos, daß nicht zu unterscheiden war, ob er im Ernst oder mit Ironie sprach oder mühsam Heiterkeit verbarg, »bitte beachten Sie wohlwollend, daß Irrtümer aus Schwäche entstehen, nicht aus Bosheit.« Aber es gab nichts, das Jelena noch bremsen konnte; zuviel Frust und Vernachlässigung, zu viele Zu-
rücksetzungen hatten sich in ihr angestaut und entluden sich nun eruptiv wie ein Vulkan. All ihre Leidenschaft ballte sich in diesen Momenten in ihren Händen. »Du bist die unerträglichste Kreatur, die dieses Sonnensystem je hervorgebracht hat.« Klatsch. »Im ganzen Kosmos wird man kein zweites solches Monstrum wie dich finden.« Klatsch. »Eigentlich hab' ich die Verschickung in die Merkur-Minen dafür verdient, auf dich reingefallen zu sein.« Klatsch. Maigreur begann, zittrig aufs Duktuson-Pult gestützt, aus der Unterlippe zu bluten. »Den nächsten Ehevertrag darfst du mit einer deiner Zimmerpflanzen abschließen.« Klatsch. »Das hat den Vorteil, daß du sie auf die Risiko-Expedition mitnehmen kannst, der man dich, wie ich von Herzen hoffe, zuteilen wird.« Klatsch. Klatsch. Klatsch. Klatsch. Bei 26 verzichtete Florens aufs weitere Mitzählen. Zu guter Letzt kauerte Maigreur auf den Knien, seine Finger an die Kante des Pultes gekrallt. Er weinte und blutete still vor sich hin; da endlich ließ Jelena von ihm ab. Statt ihrer bezog daraufhin Krüger neben Maigreur Aufstellung. »Reißen Sie sich zusammen und erheben Sie sich, Dr. Maigreur. Sie sind verhaftet. Sie ...« Mit einem Aufkrächzen klammerte Maigreur sich an seinen Tischapparaten hoch, rannte unerwartet
behende hinters Pult, in seinen Pupillen das Gleißen unzweifelhaften Wahnsinns, und zerrte gewaltsam die Schublade heraus. Florens fuhr von seinem Stuhl auf. »Attention! Er hat 'ne Laserpistole in der ...!« Jelena handelte schneller als Maigreur und alle anderen. Sie hatte Krügers Neuro-Schocker in der Faust und den Daumen auf den Sensorpunkt gedrückt, ehe der Adjutant nur den Arm anwinkelte, um die Waffe aus dem Holster zu ziehen. Ein elektromagnetisches Wellenbündel erfaßte Maigreur, umflackerte ihn für einen Augenblick wie Glut der Verdammnis, fällte ihn, indem das Flimmern erlosch, als stürze ein Denkmal, und er bumste dumpf auf seinen kostbaren Mars-Teppich. »Tja, so ist das Leben, Baby«, sagte B. d. F. in einer Anwandlung aufrichtigen Mitgefühls. »Kurz und arbeitsreich, aber voller Abwechslung.« 24 Stunden danach lag eine vorläufige Bilanz vor: Dschinnistan hatte 194 Tote zu beklagen; mehr als die Hälfte davon machte das Personal des Io-Teams und im Orblab A 7 aus, von dem niemand überlebt hatte. In einzelnen Fällen mochten noch gesundheitsschädliche Folgen des ungenügend getesteten Antibiotikums hinzukommen, aber das war gegenwärtig noch nicht absehbar. Durch die zeitweilige Stillegung der Produkti-
on in den Fabriken mußte mit finanziellen Verlusten in der Höhe etlicher Millionen VE gerechnet werden. Als sich herumsprach, daß die selbstherrliche Geisteshaltung und Arbeitsweise des Chefadministrators den Ausbruch der Fungusseuche erst ermöglicht hatte, erwies es sich als unumgänglich, Maigreur aus seiner Zelle in der Satellitenbasis an Bord der Hien zu schaffen, um zu vermeiden, daß eine Menge empörter Satellitniks ihn lynchte. Mitglieder des Managementgremiums übernahmen kommissarisch die Leitung Dschinnistans. Eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern versammelte sich zwecks Beratungen über die weitere Erforschung des Stratifungus. Am Abend des nächsten Tages verbreitete sich die Nachricht, daß Percy Grindling an der Erprobung des Antibiotikums verspätet gestorben war: infolge einer aus seinen Personaldaten nicht ersichtlichen Herzinsuffizienz, die anscheinend erst während seiner Jahre als Impunitat im Weltraum entstanden war, und einsetzender Endokarditis. Als Florens Bonnamy dies erfuhr, konnte er nicht dem Drang widerstehen, weit mehr Wodka zu trinken, als mit Rücksicht auf seine Leber empfehlenswert war. Das Lokal Á la mort subite befand sich in der Nähe der Hauptschleuse Dschinnistans, eine ziemlich üble Spe-
lunke, eine Pinte der Raumpiloten-Szene, Anlaufstelle von Raumschiffsbesatzungen, die nach Flügen darin zusammenströmte, um sich den ersten Fusel durch die Gurgel zu spülen, Tratsch, Erlebnisberichte und Aufschneidereien auszutauschen. Nutten aller Geschlechter gaben sich hier die Klinke in die Hand. »Der Bursche hat uns alle reingelegt«, behauptete Florens mit längst ungefüger Zunge. »Er hat uns eingeschweißt. Ich weiß bloß nicht wie. Und wir können's nicht mehr rauskriegen.« Mit festem Griff beider Fäuste am Tresen verankert, beäugte er sein schmuddliges Glas und das klare Getränk, als könnten sie ihm Geheimnisse offenbaren. »Weshalb grämst du dich so, Chérie?« meinte Jelena, die neugierig die wüsten Typen ringsum beobachtete. »Es ist nicht mehr zu ändern, und du ...« Den Rest ihrer Äußerung übertönte mit Gelächter vermischtes Gebrüll. »Jetzt gilt er als Held und Retter. Womöglich wird man ihn auf 'm Père-Lachaise begraben. In der Gesellschaft von Frèdèric Chopin und Oscar Wilde, Honoré de Balzac, Edith Piaf, Heinrich Heine, Marcel Proust und Jim Morrisson. Molière und Bizet.« »Mach dich nicht lächerlich.« Nachsichtig verwuschelte Shaida sein Nackenhaar. »Du bist betrunken, infelice regazzo.« Florens leerte das Glas und winkte dem Lotterbu-
ben von Kellner. »Warum hat er das getan? Um uns zu beschämen, weil wir dauernd bloß auf den Impunitaten rumtrampeln? Weil wir – ich ihr alle – ihn immer nur behandelt haben wie den untersten Abschaum?« Der Kellner füllte das Glas erneut, und Florens trank als wäre ihm nicht Wodka, sondern Wasser eingeschenkt worden. »Oder hat er gewußt, daß sein Herz nix mehr taugt und er draufgehen kann ... und wollte uns 'n schlechtes Gewissen bereiten? Merde! Er wird Dschinnistans Gespenst sein ... in den Nächten umhergeistern und flüstern: ›Zu allem Überfluß habt ihr mich auch noch abgemurkst.‹ Merde!« »Letzten Endes sind seine Motive allein für ihn bedeutsam gewesen«, sagte Matsumoto, der Florens mit versonnener Aufmerksamkeit musterte. »Zählt es für Sie nicht viel mehr, daß Ihr Kollege Entscheidendes vollbracht hat?« »Wir werden seine wahren Beweggründe niemals wissen. Das ist die Gemeinheit!« Florens schlürfte Wodka, als drohe er zu verdursten. »Sie leben, aber er ist tot. Das Leben, das Sie ihm gerettet haben, hat er geopfert.« Genau das mochte Florens nicht hören. Er setzte das Glas mit einem Knall auf die Theke. Sein Zorn schloß auf einmal auch den SekurServiceKommandeur ein. Er hatte die Nase voll von Vaterfiguren, nach denen er, seit er wußte, daß er die Ge-
ringschätzung für seinen Schlappschwanz von Vater, einen Inbegriff der Unterwürfigkeit und des Untertanengeistes, nie ablegen können würde, halbbewußt Ausschau hielt, und ihm stand nicht länger der Sinn nach Matsumotos aphoristischen Sprüchen und Weisheiten. Ihm fiel das Koan ein, mit dem der Japaner seinen Adjutanten gegenwärtig zum Denksport bewog. »Er ist«, sagte Florens, irgendwo tief in seinem Innern selbst erschrocken über die Abfälligkeit seines Tonfalls, »Schuhe kaufen gegangen.« Und soff das Glas in einem Zug leer. »Sonst nichts.« Shaida und Jelena schauten einander an, als befürchteten sie, Florens sei dabei, dem Säuferwahn zu verfallen. Doch Matsumoto lächelte. Anscheinend verstand er Florens' Entgegnung nicht als Niederträchtigkeit. Krüger kam ins Lokal und zur Bar. »Die Hien ist startklar, o Bosatsu«, meldete er seinem Kommandeur. Matsumoto straffte sich, schob sein Likörgläschen zurück. »Der Groll, der zur Stunde Ihr Gemüt aufwühlt und verwirrt, ist so vergänglich wie eine einzelne Schneeflocke im Sommer, und wird Sie auf Ihrem langen, verschlungenen Weg zur Weisheit nicht behindern. Rasten Sie an Himmlischen Orten. Sayonara.« Er nickte Shaida und Jelena zu, wandte sich ab
und pflügte gemeinsam mit Krüger eine Schneise durchs Gedränge der Gäste zum Ausgang. Florens stierte wortlos ins Glas. Er empfand Demütigung, als ginge er in Sack und Asche. Irgendwann mitten in der Nacht erwachte er mit dem Bohren von Schmerz im Schädel und staubtrockenem Gaumen. Er wußte anfangs nicht, wo er war, bis es ihm gelang, die verkrusteten Lider zu öffnen und anhand gewisser Vertrautheiten der Umgebung trotz der Dunkelheit zu schlußfolgern, daß er in seinem Bett lag. Zwei Leiber gewährten seinem Körper, in dem die Hitze des Alkohols bereits einem Schüttelfrost scheußlicher Ernüchterung zu weichen begann, tröstliche Wärme: links ruhte Jelena an ihn gekuschelt, auf der anderen Seite hatte Shaida den Kopf in seine Achselhöhle geschmiegt. »Er hat recht.« Florens räusperte sich, röchelnd. »Matsumoto hat recht.« Nun hatte Florens begriffen. Als er in den Io-Höhlen im Tonnengang über dem Schacht gestanden hatte, in der Hand die Laserpistole, aus Erbitterung nahezu vertiert, und drunten der schwache Helligkeitsschein von Grindlings Scheinwerfer schimmerte, da hatte er dennoch eines übersehen: In Tiefe und Finsternis glomm ein Licht. Auch dort, wie stets. Solange es nicht vollends erlosch, schuf es Gutes. Nur darauf kam es an.
»Natürlich hat er recht, du versoffenes Vieh«, murmelte Jelena und gähnte. »Wie kann man sich so vollaufen lassen? Du stinkst. C'est un vrau scandale.« Im nächsten Moment schlief sie wieder. Shaida regte sich ebenfalls, wälzte sich herum, bettete ihre Brüste an Florens' Rippen. »Künftig ist Schluß mit der Sauferei. So was ist asozial. Unsere Familie braucht fortan viel häufiger Ständer.« Florens beschloß, alles bis zum Morgen oder bis übermorgen aufzuschieben, was das Dasein ihm noch bescheren sollte. Er machte die Augen zu. Benommenheit und Ermattung schaukelten ihn wie schlechtgelaunte Hebammen in einen Schlummer äußerer und innerer Genesung. Er hatte in seinem Leben einen Punkt erreicht, der die Voraussetzungen aufwies, die nötig waren, um Heilung zu finden. Mit dieser Gewißheit sank er nunmehr in einen von Ruhe erfüllten Schlaf.