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Buch: Während eines Erholungsaufenthalts sitzen Kriminalisten unterschiedlicher Jahrgänge und Dienstgrade allabendlich in behaglicher Punschrunde beisammen. Sie geraten ins Klönen, und so passieren Geschichten Revue, die von merkwürdigen Kriminalfällen der Zeit nach 1945 handeln. Freunde spannender Lektüre kommen gleichermaßen auf ihre Kosten wie Liebhaber würziger Getränke: Jeder Story ist ein Punschrezept vorangestellt, das zum Ausprobieren verlockt.
Kriminalistenpunsch Günter Radtke
Greifenverlag zu Rudolstadt
Der Kupferkessel
Mein Debüt als Kriminalist war glatt ein Schuß in den Ofen. Es brachte mir den Verlust meiner Fahrerlaubnis und eine Gehirnerschütterung ein. Außerdem wirbelte es mich bis in die Ausläufer des Frankenwaldes, wo inmitten fast undurchdringlicher Wälder unser Ferienheim steht. Ich war nicht allein. Mit von der Partie waren mein Chef, Hauptmann Rückert, und Oberleutnant Kober. Wir drei bildeten ein Kollektiv, dessen offizielle Bezeichnung Branduntersuchungskommission lautete. Für die anderen beiden war der Aufenthalt im Ferienheim eine Auszeichnung wegen ihrer vorbildlichen Arbeit bei der Aufklärung einer Brandstiftung. Wenn auch ich trotz meines Verweises dabeisein durfte, dann nur, weil Hauptmann Rückert darauf bestanden hatte. Seine Argumente waren: Ein Kollektiv gehört immer zusammen, und die Folgen meiner Gehirnerschütterung könne ich ebensogut im Ferienheim auskurieren wie zu Hause. Unser Ferienheim, in einer stillgelegten Schiefergrube errichtet, glich vielen anderen seiner Art, wenn man davon absieht, daß es bis zum nächsten Dorf eines Waldmarsches von fast einer Stunde bedurfte. Jeder Berg und jedes Tal waren von Legenden und Sagen umwoben. Von vergrabenen Schätzen war immer die Rede. Gefunden wurden sie nie. Oder doch? Dem Ausbau des alten Verwaltungsgebäudes inmitten der Schieferhalden, von denen die Zweige der Tannen und Fichten bis an die Fenster reichten, war eine Untersuchung der Umgebung vorausgegangen. Die alten Schächte und Stollen mußten umzäunt oder vermauert werden, um allzu neugierige Urlauber vor Schäden zu behüten. So stiegen die Taucher der Feuerwehr auch in einen der tiefen, mit eiskaltem und glasklarem Wasser gefüllten Schachtseen. Vom Grund brachten sie einen Kessel mit, grün und unansehnlich, voller Dellen und Beulen. Mit dem feinen Sand vom schmalen Uferstreifen des Sees abgerieben und poliert, erstrahlte er in seiner alten kupfergoldenen Pracht und gab dem
Heim seinen Namen. Mit seinen nicht mehr deutbaren Hieroglyphen und Ornamenten hing er, nicht nur zur Zierde, über dem Herd im Kamin des Jagdzimmers. Die Wände des dunkelgetäfelten Zimmers waren mit gepelzten und gefiederten Jagdtrophäen, Jagdspießen, Saufedern und alten Jagdbüchsen dekoriert. Am imposantesten nahmen sich die Schädel eines riesenhaften Keilers und eines starken Hirsches aus. Sie flankierten gleich zwei stummen Wächtern des kupfernen Schatzes aus dem Waldsee den Kamin. Wenn abends die Herbstnebel aus den Tälern und Schluchten stiegen, zog der Kupferkessel alle an, die einen feurigheißen Punsch liebten, gebraut im Kreis seiner geheimnisvollen Zeichen. Auch mich zog es in das Jagdzimmer. Am großen runden Tisch, aus einer schwarzen Schieferplatte gearbeitet, war noch einer der klobigen geschnitzten Holzstühle frei. Die anderen schienen ebenfalls erst vor kurzer Zeit ihre Plätze eingenommen zu haben. Noch brannte kein Feuer im Kamin, und die mit Kupferbändern eingefaßten Punschgläser standen unberührt auf dem Sims. Am Tisch saßen Hauptmann Rückert und sein alter Freund, der schöne Erwin. Eigentlich war es respektlos, ihn wie seine alten Freunde schöner Erwin zu nennen. Sie taten es auch nur, wenn er nicht dabei war. Etwas Wahres war schon daran. Mit seinem scharfkantigen Gesicht und dem weißblonden gewellten Haar hätte er aus jedem Poster als Filmheld schauen können. Ob er tatsächlich so eitel war, wie Kober immer behauptete? Ich glaube nicht, sonst hätte der schöne Erwin längst ein Türschild mit der Aufschrift »Oberstleutnant der K a.D. Erwin Maresch«. Vielleicht war es bei Kober nur Neid, weil sich die Frauen nach dem schönen Erwin die Hälse verrenkten? Oder mißgönnte er diesem alten Haudegen den Ruf, einer der besten und befähigtesten Kriminalisten gewesen zu sein? Natürlich fehlte auch Kober in der Runde nicht. Er warf mir einen Blick zu, in dem ich las: Was willst du hier? Dienstanfänger haben an diesem Tisch nichts zu suchen! Dem schönen Erwin mußte Kobers Blick wohl auch aufgefallen sein. Zwischen zwei Zügen aus seiner Zigarette fixierte er mich mit seinen Augen hinter der dunklen Brille, die er immer trug, auch wenn keine
Sonne schien, und er fragte: »Was macht die Verletzung, Genosse Zanner?« Ich glaube, er war weniger um die Platzwunde auf meinem Hinterkopf besorgt, vielmehr wollte er zu verstehen geben, daß am Schieferplattentisch keine Rangunterschiede gelten. »Danke, es geht!« antwortete ich, »von der Beule spüre ich überhaupt nichts mehr!« Die anderen in der Runde, einen Feuerwehrhauptmann und einen alten Abschnittsbevollmächtigten, der sich den ganzen Vormittag im Sportzimmer schaffte, um bis zur Rente fit zu bleiben, habe ich erst im »Kupferkessel« kennengelernt. Noch konnte von Stimmung keine Rede sein. Worauf warteten sie? Wieder war es der schöne Erwin, der mich in das Gespräch am Tisch mit einbezog. »Schon mit den Gepflogenheiten im ›Kupferkessel‹ vertraut gemacht?« wollte er wissen. In seinem gebräunten Gesicht verzogen sich die Mundwinkel. Wenn er doch nur einmal die blöde Brille abnehmen würde! Was meinte er mit Gepflogenheiten, den Rhythmus Schlafen, Essen, Trinken und Spazierengehen? Oder spielte er auf das verräucherte Buch an, das an einer schmiedeeisernen Kette neben dem Kamin hing? Mich konnte keiner so leicht für dumm verkaufen. Auch ein Oberstleutnant a.D. nicht, mochte er auch mehr Dienstjahre auf dem Buckel haben als ich Diensttage. Gleich nach dem Mittagessen war ich im Heim auf Kundschaft gewesen. Die Regale im Bibliothekszimmer waren voll und boten eine gute Auswahl. Das Billardzimmer und der Raum für die Kartenspieler waren weniger nach meinem Geschmack, auch die Selbstbedienungsbar mit der ständig auf Hochtouren laufenden Musikbox nicht. Das Jagdzimmer hatte es mir angetan. An seinem Kamin, mit einem guten Buch in der Hand, würden mir die Abende nicht lang werden. Es kam alles anders. Statt Geschichten zu lesen, habe ich Geschichten aufgeschrieben. Doch zurück zu dem Buch an der Kette neben dem Kamin. Natürlich blätterte ich darin und nahm den Inhalt für einen Jux. Auf den ersten Seiten stand in schön gemalten farbigen Buchstaben das »Reglement für
die Jünger des Bacchanals« mit kurios anmutenden Verhaltensregeln für den Aufenthalt im Jagdzimmer und die Benutzung des Kupferkessels. Es war untersagt, im Jagdzimmer andere Getränke zu sich zu nehmen als solche, die im Kessel gebraut wurden, oder etwa dem Eber eine Borste auszuzupfen. Für jede Missetat, und deren waren viele aufgeführt, gab es nur eine Sühne: Einen Kessel voll heißen Punsch. Ich hatte weder vor, dem Eber den Hals zu kraulen, noch wollte ich den Auerhahn am Schwanz ziehen, und doch mußte ich daran glauben. Denn eine dieser Regeln besagte auch, daß ein Neuling, der zum ersten Male seine Füße unter der Schieferplatte des Tisches ausstreckte, zu einem Kessel Punsch verpflichtet war. Im Weigerungsfall blieb ihm das Jagdzimmer für immer und ewig verschlossen. Aber mit einem Kessel Punsch allein war es noch nicht getan. Der Neuling mußte die Rezeptur seines »Jungfernpunsches« den Analekten des Kaminbuches beifügen. Nach vollbrachter Tat hatte jeder seiner Gäste das Werk zu konsignieren. Hohe Ehre war dem Neuling beschieden, der einen noch nicht bekannten Punsch kredenzte. Würde mir diese Ehre zuteil werden? Ob der schöne Erwin auf die »Gepflogenheiten« aus dem Kaminbuch anspielte? Er würde sich wundern. Die Überraschung lag gut verpackt in meinem Koffer. Mir sollte es recht sein. Ich stand auf und entzündete das Feuer im Kamin. Die Zutaten für viele Arten süffigen Punsches befanden sich in einem alten, immer verschlossenen Schrank neben der Bar. Mit einem Schmunzeln und dem Hinweis, daß mir auch die Küche offenstehe, drückte mir der Heimleiter den Schlüssel für den Schrank in die Hand. Nach der biblischen Überlieferung wurden Adam und Eva wegen eines Apfels aus dem Paradies vertrieben. Vielleicht hätte ihr Schöpfer Gnade walten lassen, wenn sie ihm als Buße einen Gasttrunk aus den fünf Elementen Wasser, Feuer, Erde, Luft und Geist angeboten hätten.
Indische Priester sollen es gewesen sein, die unter Beschwörungsformeln das Wasser mit Feuer zum Sieden brachten, damit sich der verflüchtigende Geist des Alkohols mit der Luft verbinde und der Zucker als Sinnbild von Erde die Würze der Kräuter und Früchte gefangenhält. An die Elemente hielt ich mich, eingedenk des Goethewortes: »Euch ist bekannt, was wir bedürfen, wir wollen starke Getränke schlürfen, nun brauet unverzüglich dran.« Und ich hoffte, mit meinem »starken Getränk« bestehen zu können…
Der erste Abend
Die Köpfe meiner Gäste hatten sich dem aromatischen Duft aus dem Kupferkessel zugewandt. Vergebens! Die Raschen waren mit Servietten umwunden. Noch wollte ich mein Geheimnis nicht preisgeben. Ein Geheimnis, das keiner von den Männern in der Punschrunde kennen konnte. Denn niemand von ihnen war mit dem alten Schäfer aus dem Rilagebirge befreundet, der mir als Geschenk zum Abschied den Selbstgebrannten Mastika und die Flasche Rosenlikör zur Erinnerung an fröhliche Stunden überreicht hatte. Kober hielt seine Nase so dicht über das dampfende Punschglas, als ob er keinen Hauch des Geistes in die Luft entweichen lassen wollte. Dann meinte er boshaft: »Lakritzensaft!« Eine Handbewegung des schönen Erwin brachte ihn zum Schweigen. Er ließ die ersten Tropfen auf der Zunge zergehen und sagte: »Einmalig! Dieser Punsch ist es wert, im Punschbuch festgehalten zu werden!« Mein Hauptmann blieb, wie es seine Art war, auch beim Probieren des Punsches sachlich: »Ein guter Einfall, den Geruch von Blumen mit dem Geist des Weines einzufangen!« »An Einfällen fehlt es unserem Kraftfahrer nicht«, grinste Kober, dem das erste Glas offenbar schon zu Kopfe gestiegen war, »soll er doch erzählen, wohin seine Einfälle bei der Ermittlung eines Brandstifters führten.« »Erst das Rezept des Punsches und dann die Geschichte«, bestimmte der schöne Erwin.
Bulgarischer Zarenpunsch Man bereite ein Liter starken indischen Tees, gieße drei Flaschen bulgarischen Rotweins hinzu und lasse das Gemisch auf mäßigem Feuer eine Weile ziehen. Dann würzt man reichlich mit Mastika (dem Lieblingsgetränk der bulgarischen Zaren), behält jedoch einen Rest zurück, um damit einen Zuckerhut zu entzünden. Der schmelzende Zucker muß in den Punschkessel tropfen. Zum Schluß fügt man ein wenig Rosenlikör hinzu.
Auf eigene Faust »Langsamer, vorn bei den Pappeln in den Weg einbiegen!« waren die ersten Worte, die Hauptmann Rückert seit Wuttaburg zu mir sprach. Bis nach Hause war es noch ein gutes Stück, und warum ich die Landstraße verlassen sollte, blieb mir vorerst ein Buch mit sieben Siegeln. Soweit ich erkennen konnte, führte der Feldweg bei den Pappeln geradewegs durch die Wiesen zum Wald. Eines schien mir klar, mit der Aufklärung der Brandstiftung in Wuttaburg konnte dieser Abstecher nichts zu tun haben. Als ehemaliger Militärkraftfahrer war ich ja so einiges gewöhnt. Aber etwas anders hatte ich mir meine neue Tätigkeit als Kraftfahrer bei der Brandkommission doch vorgestellt. Für mich war alles neu. Ursprünglich wollte ich nach dem Wehrdienst wieder in meinem alten Betrieb als Fahrzeugschlosser arbeiten. Doch bevor es soweit war, hieß es: Gefreiter Zanner, zum Kompanieführer! »Das ist Hauptmann Rückert von der Kriminalpolizei«, stellte mein Kompanieführer den Besucher vor. Überrascht dachte ich nach. Ausgefressen hatte ich nichts! Was kann der von mir wollen? Dabei sah er gar nicht gefährlich aus, machte mehr den Eindruck eines soliden, schon etwas zur Fülle neigenden Buchhalters. Wenn nur nicht seine grauen Augen gewesen wären. Sie schienen durch mich hindurchzublicken. Meine Hände wurden vor Aufregung feucht. »Setzen wir uns doch«, sagte er mit leiser Stimme, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich kam mir vor wie die Maus, die von einer Katze zum Tanzen aufgefordert wird. »In ein paar Wochen beenden Sie Ihren Ehrendienst«, fuhr er mit seiner eindringlichen Stimme fort, »haben Sie schon Vorstellungen, was Sie danach beginnen?« Und ob ich die hatte! Meinen neuen Arbeitsplatz, wie ihn mir der Meister bei meinem letzten Besuch im Werk gezeigt hatte, sah ich bildlich vor mir. In der Wartburg-Instandsetzung sollte ich anfangen und
hatte dazu noch das halbe Versprechen, mir einen alten Unfallwagen selbst aufbauen zu können. Der Hauptmann schien wohl meine Gedanken zu kennen. Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach er wieder auf mich ein: »Was halten Sie davon, Volkspolizist zu werden? Ich bin Leiter einer Branduntersuchungskommission in der Kriminalpolizei und suche einen Kraftfahrer!« Die Überraschung war dem Hauptmann gelungen. Mich ließ er zurück mit meinen Zweifeln. Was ist richtig, wie soll ich mich entscheiden? Nach drei Wochen füllte ich einen Fragebogen als Bewerber für die Volkspolizei aus. Statt Wartburgs zu reparieren, fuhr ich einen Wartburg. So aufregend, wie ich mir meine neue Tätigkeit vorgestellt hatte, war sie nun auch nicht. Wenn Hauptmann Rückert und sein Mitarbeiter, Oberleutnant Kober, ihre Ermittlungen, Vernehmungen oder wer weiß was sonst durchführten, blieb ich ja fast immer im Wagen oder hielt mich in der Fahrbereitschaft auf. Unvermutet, mitten in der Nacht, hatte mein erster großer und aufregender Fall begonnen. Der Hauptmann war am Telefon. »Beeilung«, meinte er nur, »wir müssen sofort zum Einsatz!« Im Nu war ich hellwach und zeigte, was ich bei der Armee gelernt hatte. Rückert sagte nichts, als ich an seiner Haustür klingelte, aber seine Verwunderung über mein schnelles Erscheinen konnte er doch nicht ganz verbergen. Bis zum Brandort waren es etwa sechzig Kilometer. Die Straße war trocken, sauber und leer. Endlich konnte ich unserem Wagen die Peitsche geben, so nach dem Motto: Gaspedal durch und einen Splint ins Knie. Schon Kilometer vor dem Einsatzort sahen wir – von den Wolken zurückgeworfen – den blutroten Feuerschein. Man brauchte kein Feuerwehrmann zu sein, um zu wissen, daß dort mehr als nur eine Holzkiste brannte. Mit einem scharfen Ruck brachte ich unseren Wartburg neben den Löschfahrzeugen zum Stehen. »Gut gefahren!« rief mir Rückert lobend zu, obwohl er sicher mit seinen Gedanken schon bei der Arbeit war.
Gerd Kober blieb während der Fahrt auffallend ruhig. Wenn ich mich nicht täuschte, war er sogar ein wenig blaß um die Nase herum. Das halbe Städtchen war auf den Beinen und sah dem Bemühen der Feuerwehr zu, den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Höchste Zeit war es auch. Eine große Scheune brannte in voller Ausdehnung, und ihre Flammen schlugen, vom Wind getrieben, immer häufiger an die angrenzenden Wohnhäuser. Es knallte, krachte und zischte, als lägen sich zwei Schützenketten gegenüber. Oberleutnant Kober hatte den Fotokoffer aufgemacht und eine Kamera ergriffen, um die ersten Tatortaufnahmen zu schießen. »Sie nehmen Zettel und Kugelschreiber, mischen sich unter die Zuschauer und ermitteln Erstzeugen«, rief Rückert. Der konnte nur mich gemeint haben! Erstzeugen, das Wort hatte ich noch nie gehört. Bevor ich meine Unwissenheit eingestehen konnte, fuhr Rückert schon fort: »Sie versuchen bei den Zuschauern festzustellen, wer das Feuer zuerst gesehen hat, wer zuerst am Brandort war, was die Leute erzählen usw. Ich brauche nur Namen und Adressen. Verstanden? Mich treffen Sie beim Einsatzleiter der Feuerwehr!« Meine Beförderung vom Kraftfahrer zum Ermittler der Kriminalpolizei war nicht nur eine Überraschung, sie trieb mir auch den Schweiß aus der Haut. Was blieb mir übrig? Befehl ist Befehl! Ich fuhr den Wagen ein paar Meter zurück aus dem Bereich des Funkenflugs und mischte mich unter die Zuschauer. Nach einer halben Stunde hatte ich eine Menge Leute befragt, aber nicht einen Namen in meinem Notizheft stehen. Jeder, den ich ansprach, berief sich auf Nachbarn, auf den Lärm und die Sirene oder zuckte auch nur mit den Schultern. So kam ich nicht weiter, und blamieren wollte ich mich nicht. Ohne Geist taugt auch der beste Kopf nichts. Das ist wie beim AutoReparieren; Fehler beseitigt: fünf Mark, gewußt wo: zwanzig Mark. Also versuchte ich es mit der Logik. Erstzeuge ist, wer zuerst den Brand bemerkt. Wer den Brand zuerst sieht – außer dem Täter natürlich –, schlägt Krach, alarmiert die Feuerwehr. Keine fünf Minuten später wußte ich, wer die Feuerwehr alarmiert hatte: der Wirt der Konsumgaststätte. Nichts wie hin! Leider zu spät, Kober
hatte den Gastwirt schon vor sich sitzen und füllte die Seiten seines Aufzeichnungsheftes. Aber weder Rückert noch Kober, von mir ganz zu schweigen, hatten es bis jetzt geschafft. Acht Tage, das Wochenende nicht ausgenommen, hielt uns der Brandstifter schon in Trab. Einen Brandstifter mußte es geben! Waschbenzin hatten die Experten durch ihr Gutachten nachgewiesen. Ein einleuchtendes Motiv, wie Versicherungsbetrug, Streit mit den Besitzern der Scheune oder dergleichen, war auch nicht zu entdecken. Zu neuen Überlegungen führte ein Hinweis, daß die Scheune nicht die erste Brandstätte war. Ein paar Monate vorher, in den frühen Abendstunden, hatten aus unerklärlichen Gründen die leeren Kisten und Kartons hinter der Konsumverkaufsstelle Feuer gefangen. Ein hinzukommender Einwohner hatte die Kisten auseinandergerissen und das Feuer ausgetreten. Etliche Wochen danach stellte eine Kindergärtnerin fest, daß im Kindergarten über Nacht eine Gardine abgebrannt war, ohne weiteren Schaden zu verursachen. Der Unbekannte hatte ein offenstehendes Fenster dazu benutzt, um mit mehreren Streichhölzern die Gardine anzugokeln. In den Gesprächen zwischen Rückert und Kober tauchte immer häufiger der Begriff Pyromanie auf. Bloß ich konnte damit nichts anfangen. Fragen wollte ich auch nicht, um meine Unwissenheit in ihrer Branche nicht zuzugeben. Ein Wörterbuch schloß meine Wissenslücke. Mit Pyromanie bezeichnet man einen krankhaften Trieb zur Brandstiftung. Nun waren wir auf der Suche nach einem Pyromanen. Heute hatten wir in Wuttaburg und Umgebung alle Ärzte und Polikliniken abgeklappert. Das Ergebnis war gleich Null. Reinfall auf der ganzen Linie. Mißmutig hatte Rückert festgelegt: »Nach Hause!« Seitdem brüteten beide vor sich hin. Warum mußte ich auf einmal von der Straße abbiegen? Nach Hause kamen wir hier bestimmt nicht. Der Feldweg zwischen den Pappeln in Richtung Wald hatte sich gut angelassen. Aber wohin jetzt? Der Weg führte genau in den Wald. An der ersten dicken Kiefer hing ein Schild: Gesperrt, außer für Fahrzeuge des Forstwirtschaftsbetriebes! Dazu ge-
hörte unser Wartburg ja nun nicht. Vorsichtshalber schaltete ich auf den ersten Gang und blickte fragend zu Rückert. »Weiter!« knurrte der nur. Mir sollte es recht sein. Er hatte zu befehlen. Und sollte hier eine weiße Maus auftauchen… meinen Berechtigungsschein lasse ich nicht stempeln. Wenn ich nur eine Ahnung hätte, was meine beiden schweigsamen und mürrischen Fahrgäste nach Dienstschluß im Wald wollten. Kein Schild, kein Wegweiser gaben mir Auskunft, wohin dieser Waldweg zwischen den hohen Bäumen führte. In leichten Kehren ging es immer höher in den Wald hinauf. Dichte Schonungen hatten den Hochwald abgelöst. Auf der Höhe gabelte sich der Weg. Vorbei war es mit dem festen Untergrund. »Nach rechts!« bekam ich von Rückert meine nächste Order. Der hatte gut reden. Neben dem Weg breitete sich ein Kahlschlag aus, und der Weg war auch danach. Die Räder von Zugmaschinen und Traktoren hatten die Fahrspuren bis zu einem halben Meter tief ausgefahren. Wie sollte ich da durchkommen? Wenn ich da reinkomme, ist nicht nur der Auspuff zum Teufel. Im ersten Gang und mit schleifender Kupplung balancierte ich den Wartburg zwischen Mittelstreifen und Rand an den Löchern vorbei. Nach ein paar hundert Metern hatte ich es geschafft. Bis hierhin hatten sich die Motorsägen noch nicht in den Wald gefressen. Der Weg war fast unbefahren. Gras hatte die Fahrspur überzogen. Weiter vorn fiel das helle Licht der Nachmittagssonne in den dämmrigen Wald. Eine leichte Krümmung, und ich vermeinte vor einem riesigen Gemälde zu stehen. Flankiert von hohem, dichtem Wald breitete sich vor uns eine breite, leicht abfallende Waldwiese aus und gab den Blick frei bis zu den bewaldeten Bergen am Horizont. Am Rande der Wiese, dort, wo unser Weg vorbeiführte, blitzten die Fensterscheiben eines Häuschens. Zum erstenmal während der Fahrt machte Kober den Mund auf: »Ob der Alte in seiner Hütte ist?« »Wo sollte der sonst sein«, entgegnete Rückert.
Meine Phantasie machte einen Bocksprung. Sollten meine Vorgesetzten mit der wissenschaftlichen Kriminalistik am Ende sein, suchten sie jetzt womöglich einen alten Waldschratt auf, um sich wahrsagen zu lassen, wer der Täter ist? Wie ein Bild aus einem Märchenbuch mutete die Hütte an. Bis in Mannshöhe ragte das mit Holzschindeln bedeckte Giebeldach zu beiden Seiten herunter. Vom Alter schwarz gebeizt waren die Balken und die Holzverschalung der Außenwände. Fehlten nur noch die Pfefferscheiben, dann hätte sie ausgesehen wie das Knusperhäuschen im Märchen von Hänsel und Gretel. Zum Weg hin wurde die Wiese um das Häuschen durch einen Zaun aus ungeschältem Stangenholz abgegrenzt. Vor dem Tor brachte ich unser Fahrzeug zum Stehen. Offensichtlich hatten wir unser Ziel erreicht. Noch bevor wir die Türen öffneten, trat ein Mann aus der niedrigen Tür des Waldhauses. Von wegen Waldschratt! Der uns da entgegenkam, hätte bei der DEFA alle Chancen für eine Hauptrolle als Playboy für sich verbuchen können. Mir genügte ein Blick. Die hautengen Hosen waren echte Levis. Das Safarihemd unterstrich seine sportlich-athletische Gestalt. Das gepflegte, fast weiße Haar über dem von der Sonne gebräunten Gesicht glänzte wie Silber. Eine große Brille mit dunklen Gläsern verbarg die Augen. »Der schöne Erwin!« raunte Kober, »aber laß ihn das nicht hören!« Was für eine Begrüßung! Rückert und der schöne Erwin schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, daß ich Angst um ihre Knochen bekam. Für Kober und mich blieb ein fester Händedruck übrig. Ganz so unwissend, wie Kober dachte, war ich nun auch wieder nicht. Wenn Kraftfahrer ins Klönen kommen, wissen sie am Ende mehr, als in der dicksten Kaderakte steht. Vom schönen Erwin hatte ich schon gehört, bevor ich ihn hier traf. Um ihn und seinen Namen rankten sich manche Histörchen und Geschichten, die nicht nur unter den Kraftfahrern unserer Dienststelle bekannt waren.
Oberstleutnant der Kriminalpolizei a.D. Erwin Maresch. Als er 1945 mit dem Dienst bei der Kriminalpolizei begann, muß er etwa in meinem Alter gewesen sein. Von der Pike an hatte er gedient und später als Leiter der Abteilung Kriminalpolizei eine ganze Generation von Kriminalisten erzogen. Dies hier also war seine Datsche, wohin er sich zurückgezogen hatte, als die Ärzte ihr Veto einlegten und ihn in die Rente schickten. Von einem Herzinfarkt konnte ich zwar nichts erkennen, aber die Ärzte mußten es ja wissen. Inzwischen hatten Rückert und der schöne Erwin vom Schulterklopfen genug. Rückert und Maresch kannten sich noch aus den ersten Jahren nach dem Krieg. Damals gab es in der Kriminalpolizei andere Dienstbezeichnungen. Maresch war Oberkommissar und Rückert war KriminalObersekretär. »Mein neuer Kraftfahrer«, stellte Rückert mich vor. Gründliches Mustern gehört wohl zur Lebensgewohnheit alter Kriminalisten, dachte ich, als mich die Augen hinter den dunklen Gläsern abtasteten. Von mir ging sein Blick zum Wartburg: »Ich habe auch als Kraftfahrer bei der K angefangen. 1945 in Buttstädt bei Weimar. Kannte da ’ne junge Kriegerwitwe. Sie hatte ein altes Wehrmachtsbeiwagenkrad im Schuppen. Hab es in Ordnung gebracht und wurde mit dem Krad zusammen eingestellt. Aber nun kommt erst mal rein. Besuch wie euch läßt man nicht auf der Wiese stehen.« Mit den anderen hatte ich mich in einen der tiefen Ledersessel fallen lassen. Der erste Begrüßungssturm war vorüber. »Na, erzählt schon, was führt euch her?« wandte sich der schöne. Erwin an unseren Alten, »hast dich schon eine Ewigkeit nicht mehr sehen lassen; und dann mitten in der Woche.« »Hatten in der Gegend zu tun und wollten mal sehen, ob du dich mit deiner Leidenschaft als invalider Kollektivjäger nicht schon selbst ausgestopft hast.« »Ich höre immer nur Invalide! Wenn es nach mir und nicht nach den Ärzten gegangen wäre, würdest du jetzt noch jeden Morgen bei mir zum Rapport erscheinen!«
»Brauchst nicht gleich hochzugehen«, besänftigte Rückert sein Gegenüber, »ist das kein Grund?« Er bückte sich nach seiner Aktentasche und stellte eine Flasche Club-99 auf den Tisch. Mir war der Preis kein Geheimnis, Rückert hatte mich zum Einkaufen geschickt mit dem Hinweis: »Nur das Beste!« Mareschs Augen hinter den dunklen Gläsern schien nichts verborgen zu bleiben. Statt etwas Freude zu zeigen, meinte er: »Und das andere in deiner Tasche? Pack schon aus!« »Warum, das ist nichts Besonderes«, sträubte sich Rückert, aber in einem Ton, der das Gegenteil ausdrückte. »Mach schon!« drängte der schöne Erwin. »Wenn du unbedingt willst!« holte Rückert den einzigen, in einer Plastfolie verpackten Beweis des Brandes in Wuttaburg aus der Tasche. »Laß mal sehen!« Maresch nahm den Plastebeutel auch schon an sich, »was ist damit los?« »Wir haben in Wuttaburg eine Brandstiftung«, begann Rückert. »Geschenkt«, unterbrach ihn Maresch, »ich lebe nicht auf dem Mond. Zwei Genossen aus unserem Jagdkollektiv, sie wohnen in Wuttaburg, sind schon von dir und Genossen Kober vernommen worden. Also laß dein Versteckspiel!« »Diesen Verschluß oder Deckel fanden wir im Brandschutt. An der Stelle, wo mit Sicherheit der Brand mit Waschbenzin gelegt worden ist. Genosse Kober hat den Deckel nach der Beräumung gefunden«, erklärte Rückert. »Und jetzt könnt ihr diesen Deckel nicht einordnen«, konstatierte der schöne Erwin und drehte dabei den etwa zehn Zentimeter großen runden Metalldeckel. »Genauso ist es«, bestätigte Rückert. »Wir haben alles abgeklappert. Es gibt im Handel oder bei Minol kein Faß und kein anderes Behältnis, wo dieser Schraubverschluß passen würde. Wäre ja auch Quatsch. Kein Täter rollt ein Faß mit Waschbenzin zum Brandort, läßt es auslaufen, steckt die Bude an und nimmt das Faß wieder mit!«
Nachdenklich blickte der schöne Erwin von Rückert zu dem ausgeglühten Verschluß. »Muß es denn ein Faß gewesen sein? Was hältst du von einem Benzinkanister?« »Auch schon überprüft«, meinte Rückert, »im Handel gibt es keine Behältnisse mit solchen Schraubverschlüssen.« Maresch hatte den Plastebeutel nicht aus der Hand gegeben: »Möglich, daß es sie nicht im Handel gibt. Aber es gibt welche oder, besser gesagt, es gab sie. Nach dem Krieg lagen sie hier in der Gegend rum. Aus amerikanischen Heeresbeständen. Die Amis hatten Benzinkanister mit solchen Schraubverschlüssen. Die Deckel waren mit Metallketten am Kanister befestigt. Dieser hier hat in der Mitte auch so eine Öse.« Rückert lachte sarkastisch auf: »Auch eine Version, Amerikaner kommen ausgerechnet nach Wuttaburg und feuern eine Scheune ab.« »Sei nicht eingeschnappt«, meinte der schöne Erwin, »nach dem Einmarsch der Amis lagen die Dinger in jedem Straßengraben rum. Wer weiß, von welchem Schrottplatz der Deckel stammt und wie er in die Scheune gekommen ist. Was hältst du davon, deiner Flasche erst mal den Hals zu brechen, bevor wir uns streiten?« Das Wort »Schrottplatz« hätte mich beinahe aus dem Sessel gerissen. Schon hatte ich die ersten Worte auf der Zunge, als mich ein Blick Kobers traf. Das war eine eindringliche Warnung und hieß soviel wie: Misch dich nicht in den Streit der Alten ein! Schnell verschluckte ich den noch nicht ausgesprochenen Satz. Was wußte ich denn auch? Irgendwann und irgendwo war in den letzten Tagen bei den Ermittlungen das Wort Schrott gefallen, wenn ich nur wüßte, in welchem Zusammenhang. Bevor ich weiter überlegen konnte, wandte sich der schöne Erwin an mich: »Ist eine alte Regel bei uns«, dabei funkelten seine Augen hinter den Gläsern mich an, »der Jüngste hat dafür zu sorgen, daß die Gläser nicht leer werden, und kein Wort mehr von der Arbeit!« Wenn es weiter nichts ist, dachte ich und entkorkte die Flasche. Die Gläser hatte ich auf einem Regal neben dem Waffenschrank schon ausfindig gemacht.
»Auf euren Besuch, und daß ihr euch jetzt öfters sehen laßt«, toastete der schöne Erwin, das Glas in der Hand, uns zu. Ich durfte einen Schluck Cola nehmen. Der Whisky war gut, das sah ich ihren Mienen an. Nach dem zweiten Glas durchbrach der schöne Erwin sein eigenes Gesetz: »…einen Schluck auf den baldigen Erfolg!« »Einspruch!« rief Rückert, »die nächste Flasche geht auf deine Rechnung!« »Einverstanden!« Der schöne Erwin lachte. »Zum Wochenende, ihr könnt hier schlafen. Platz habe ich genug.« Meine Vorgesetzten hatte ich nach dem Abend in der Datsche des schönen Erwin glücklich über die Waldwege nach Hause gebracht. Es war sicher nicht allein der Whisky, der Hauptmann Rückerts miese Stimmung vom Nachmittag verfliegen ließ, sondern das Beisammensein mit seinem alten Freund. »Wie immer pünktlich um sechs Uhr vor meiner Haustür«, sagte Rückert beim Aussteigen. »Wir fangen in Wuttaburg noch einmal von vorn an!« Ich schaute auf meine Uhr, Mitternacht war vorbei. Da hatte er sich ja allerhand vorgenommen. Bis zum Aufstehen blieben nur noch wenige Stunden. Wer uns drei am nächsten Morgen in Wuttaburg gesehen hätte, wäre bestimmt zu der Meinung gekommen, nicht Rückert und Kober, sondern ich habe zu tief in die Whiskygläser geguckt. Die beiden hatten sich mit einer Energie an die Arbeit gemacht, daß ich nur staunen konnte. Vor jedem lag ein umfangreicher Aktenordner, den sie, ohne groß aufzusehen, durcharbeiteten und sich dabei Notizen machten. Manchmal warfen sie sich kurze Bemerkungen zu, wenn es galt, den anderen darauf aufmerksam zu machen, daß das Alibi dieses oder jenes Verdächtigen noch nicht stichhaltig genug war oder das eines anderen noch überprüft werden mußte. So verging fast der ganze Vormittag.
Ich hatte es mir in einem Sessel bequem gemacht. Die wenigen Stunden Schlaf wollten ihren Tribut. In immer kürzeren Zeitabständen fielen mir die Augen zu, und mein Kopf sank nach unten. »Langweilig, Genosse Zanner?« ließ mich Rückerts Stimme zusammenfahren. Bestimmt hatte er meinen ergebnislosen Kampf gegen das Zuklappen meiner Augen bemerkt. »Es ist so ruhig hier«, versuchte ich eine Entschuldigung, »kann ich nicht mithelfen?« »Zu fahren ist jetzt nichts«, antwortete er und überlegte, dabei zum Rollschrank äugend. Dort standen in einem Regal noch ein paar Aktenordner. Das Papier zum Brandvorgang hatte schon einen solchen Umfang angenommen, daß es in einem einzigen Ordner nicht mehr unterzubringen war. Da gab es eine Haupt- und Duplikatakte und nach bestimmten Kriterien zusammengeheftete Nebenakten. Als »Abfallprodukte« hatte Kober diese Nebenakten bezeichnet, der für ihre Durchsicht und Heftung verantwortlich war. Der »Abfall« waren alle möglichen Protokolle, Berichte, Niederschriften, eben alles, was für die eigentliche Aufklärung ohne Bedeutung war. Kober, der Rückert beobachtete, meinte herablassend: »Gib ihm doch den Ordner mit den abgelegten Protokollen. Versauen kann er nichts, und er ist wenigstens beschäftigt!« Sicher hatte es Kober nicht so gemeint, wie es aus seinem Munde kam. Trotzdem, in mir kochte es! Seine »Abfallprodukte«, an denen es nichts zu versauen gab! Dafür schien ich ihm gut genug. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte draußen frische Luft geschnappt. Was geht mich eure Arbeit an? Ich werde für das Fahren bezahlt! Rückert sagte kein Wort zu Kober. Er stand auf und gab mir den Ordner. »Beschäftigen Sie sich damit! Alles durchlesen, und wenn etwas unklar ist, eine Notiz machen.« Besänftigt war mein Zorn damit nicht. Es war nicht gerade Begeisterung, mit der ich mich über die Protokolle hermachte. Arbeit war es kaum zu nennen. Was war schon aus den abgelegten Protokollen und Ermittlungsberichten herauszulesen? Vielleicht hatte Kober doch recht.
Was kann es schon für eine Bedeutung haben, wenn im Protokoll stand: Der Doktor Sowieso wurde aufgesucht und erklärte, daß es unter seinen Patienten keinen Pyromanen gab. Und was nützte die namentliche Aufstellung der Kinder, die den Kindergarten besuchten, in dem die Gardine verbrannt war? Die Zeit verging. Ab und zu machte ich auch einmal eine Notiz. Mit einem Mal wurde ich hellwach. »Schrottplatz« stand da in einem Satz! Schrott war das Wort, das mich in der Nacht nicht hatte schlafen lassen. Es war ein Protokoll von Kober. Er hatte auf dem Papier die Ergebnisse seiner Rundumermittlungen festgehalten, Leute befragt, die in der Umgebung der Brandstelle wohnten oder dort zu tun hatten. Nach den Personalien der von ihm Befragten gab es fast immer den gleichen stereotypen Abschlußsatz: Der Befragte konnte keine Hinweise zur Aufklärung geben. Auch Alois Stemmler konnte keine Hinweise geben. Wie sollte er auch. Wohnte er doch, nach dem Protokoll zu urteilen, fast fünfzehn Minuten von der Brandstelle entfernt, im Weidenweg 18 a. Die Befragung durch Kober war nur dem Umstand zuzuschreiben, daß Stemmler in der Woche ein paarmal einen Schrottplatz aufsuchte, um dort Schrott zu sammeln, und daß sein Weg an der Scheune vorbeiführte. Aber am Tage vor dem Brand wollte er weder auf dem Schrottplatz noch in der Nähe der Scheune gewesen sein. Schraubverschluß – amerikanischer Benzinkanister – Schrottplätze – Schrottsammler Alois Stemmler, eine Gedankenverbindung, die mir nicht aus dem Kopf ging. Sollte ich darüber eine Notiz machen und mit Rückert sprechen? Was hatte ich als stichhaltigen Beweis? Etwa die Bemerkung Mareschs am Abend in seiner Datsche? Mich Kober offenbaren? Dessen Reaktion kannte ich jetzt schon. Wenn er mich nicht unverhohlen auslachen würde, zumindest in seinen Gedanken wäre ich mit einer solchen Theorie ein hoffnungsloser Phantast. Ausgelacht zu werden ist das letzte, was ich mir wünsche. Die Notizen zum Protokoll Alois Stemmler unterblieben. Dafür grub sich sein Name um so tiefer in mein Gedächtnis ein. Die beiden Blätter, die ich mit meinen Notizen aus der Durchsicht des Ordners versehen hatte,
legte Kober ohne Kommentar zur Seite. Hatte ich etwas anderes erwartet? Zwei Tage brüteten Kober und Rückert über ihren Ordnern. Am Ende kam neben einem neuen Untersuchungsplan ein sogenanntes Zeit-WegDiagramm heraus. Viel konnte ich mir darunter nicht vorstellen, vor allem nicht, wie die beiden aus den Kurven des Diagramms den Täter ermitteln wollten. Ich hatte Zeit, um so mehr, weil wir abends nicht nach Hause fuhren, sondern in Wuttaburg in einem Gasthof übernachteten. Ein paarmal war ich nahe daran, auf eigene Faust über den Schrottsammler Alois Ermittlungen anzustellen. Das war mir aber zu riskant. In dieser Kleinstadt würde es nicht unverborgen bleiben, und Rückert konnte bei solchen Eigenmächtigkeiten saugrob werden. Klug und besonnen mußte ich vorgehen. Auf keinen Fall durfte Rückert etwas merken, und wenn Stemmler sich als taube Nuß erwies, wollte ich mit meiner Blamage alleine fertig werden. Eine Möglichkeit schien mir immer besser: einen Verbündeten suchen. Ich fand ihn in Martin Forst. Er war Abschnittsbevollmächtigter in Wuttaburg. Der brauchte keinen Computer oder zentnerschwere Karteien, um Auskunft geben zu können. Seine dreißig Dienstjahre hatte er fast ausschließlich in Wuttaburg als ABV verbracht. Der mußte einfach jeden kennen, auch den Alois. So viel hatte ich schon spitzbekommen, seine Autorität in Wuttaburg war gleichzusetzen mit der des Leiters der Poliklinik, des Bürgermeisters oder eines Beichtvaters. Ich machte mich an Leutnant Forst heran. Die beiden anderen hatten sowieso nur Kontakt zu ihm, wenn es um Ermittlungen ging. Ihm ging es so wie mir. Er wartete darauf, daß es nach dem Aktenstudium endlich mit den Ermittlungen weiterging. Heute abend hatten wir uns auf ein Bier verabredet. Vielleicht wollte er von mir wissen, was Rückert und Kober aus den Akten ausbrüteten. Bestimmt ahnte er nicht, was ich von ihm wollte. Den Bierabend, von dem ich mir so viel erhoffte, hatte Rückert vereitelt. Mir drückte er einen Zettel und einen Fünfzigmarkschein in die Hand.
Der schöne Erwin war über unser Auftauchen nicht überrascht. Ich glaube, wenn es nach dem ging, könnten wir in seiner Datsche unsere Dienststelle aufmachen, damit ihm die Abende nicht langweilig werden. Nach dem Abend in der Datsche schliefen meine Vorgesetzten in den harten Hotelbetten bestimmt ruhiger als ich. Mir war der verpatzte Bierabend mit meinem neuen Freund, dem ABV aus Wuttaburg, nicht aus dem Kopf gegangen. Lange Zeit konnte ich nicht einschlafen. Als es endlich soweit war, plagten mich Träume. Keine angenehmen – oder ist es ein schönes Gefühl, auf einer abschüssigen Schutthalde bis zum Bauch im Dreck zu stehen und unter dem Gelächter des ABV immer weiter abzurutschen? Vielleicht war es auch gar nicht der ABV, sondern der schöne Erwin, der oben am Rande der Schutthalde mit höhnischem Grinsen eine brennende Fackel unter ein riesiges Benzinfaß hielt und, damit nicht genug, das Faß noch auskippte, so daß das Feuer zu mir herunterfloß. Glücklicherweise wachte ich auf, bevor die Flammen mich erreicht hatten. Ich nahm einen Schluck lauwarme Selters und zog die Bettdecke wieder über den Kopf. Nach dem Frühstück gab mir Rückert einen Stapel Vorladungskarten. An die zwanzig Stück. Alle mit Adressen von Männern und Frauen aus Wuttaburg. Die Vorladungszeiten waren so festgelegt, daß etwa alle zwei Stunden einer bei Rückert oder Kober antanzen mußte. In drei Stunden hatte ich die Vorladungskarten an den Mann bzw. die Frau gebracht. Martin Forsts Hilfe, der neben mir im Wagen saß, hat viel zu dieser kurzen Zeit beigetragen. Ein Alois Stemmler war nicht darunter, wohl aber andere aus dem Weidenweg. Vor der Nummer 18 a ließ ich den Motor im zweiten Gang stottern, um möglichst viel von dem barackenähnlichen Bau hinter dem morschen Plankenzaun zu erhaschen. Ein alter ABV-Fuchs läßt sich nicht hinters Licht führen. »Liegt was gegen Alois vor?« versuchte Forst mich auszuhorchen. »Mir nicht bekannt«, sagte ich betont harmlos, »mich interessiert nur der Schrott, den er sammelt.« »Suchst du etwas Bestimmtes?«
Heiliger Bonifatius! Schnell eine Ausrede. Ich kann Forst doch nicht meine Gedankensprünge (Schraubdeckel – Benzinkanister – Schrottplatz – Schrottsammler – Alois – Brandstifter) offenbaren. »Kennst du Stemmler?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen. »Den kennt jeder in Wuttaburg. Was willst du von ihm?« »Weißt du…«, suchte ich krampfhaft nach einer Ausrede, und zum Glück fiel mir auch eine ein. Eine alte Dampfmaschine, die ich als Junge von meinem Großvater geschenkt bekommen und nie zum Laufen gebracht hatte. »Ich brauche für meine Dampfmaschine ein dünnes Kupferrohr.« Forst warf mir einen Seitenblick zu, der ausdrückte: Du bindest mir doch einen Bären auf! »Es darf nicht stärker als fünf Millimeter sein und dickwandig«, log ich munter weiter, ohne zu wissen, ob die alte Dampfmaschine noch auf dem Boden lag und ob ein Kupferrohr dazu gehört. »Vielleicht hast du Glück«, meinte Forst, »der Stemmler hat im Schafstall bergeweise Gerümpel liegen. Kann sein, daß solch Rohr, wie du es suchst, darunter ist.« »Wieso Schaf stall? Ich habe beim Vorbeifahren keinen Schafstall gesehen.« »Die Leute nennen das Anwesen so. Früher hat dort ein Schaf stall gestanden. Ende der zwanziger Jahre ist er abgebrannt, und auf den Grundmauern wurden Behelfswohnungen für Arbeitslose gebaut. Während des Krieges waren dort Kriegsgefangene, und danach wohnten dort Umsiedler. Nicht lange! Neunzehnhundertsechsundvierzig oder siebenundvierzig hat der Vater von Alois die Baracke gekauft.« »Du meinst wirklich, daß Stemmler solche Kupferschlangen hat?« fragte ich. »Durchaus möglich. Auf Buntmetallschrott ist der wie versessen, aber ob er sie dir gibt, ist eine andere Sache. Wenn der gerade seinen Rappel hat, macht er nicht einmal dem Geldbriefträger die Tür auf.« »Läuft wohl nicht ganz rund?« »Verrückt ist er nicht, normal aber auch nicht! Irgendeine erbliche Kinderkrankheit soll er gehabt haben. Über die zweite Klasse in der
Hilfsschule ist er nicht gekommen. Wenn Schrottsammeln ein Beruf ist, hat er ihn bei seinem Vater gründlich gelernt. Auch der war mehr auf den Schutthalden als bei anderen Arbeiten. Und das Geld scheint auch zu stimmen.« »Da vorn wende ich, und wir beide fahren hin.« Ich hatte den kühnen Entschluß gefaßt, sofort im Schafstall nach Benzinkanistern mit Schraubverschlüssen zu suchen. »Ohne mich!« lachte Forst, »wenn ich dabei bin, bekommst du keinen rostigen Hosenknopf. Gegen mich hat er was!« »Warum?« »Liegt schon eine Weile zurück. Er trägt es mir heute noch nach. Die Freiwillige Feuerwehr wollte bei ihm eine Brandschutzkontrolle machen. Er ließ sie nicht rein. Erst als sie mich holten und ich mit seiner Mutter sprach, öffnete er das Tor. Seitdem tut er mit mir dumm. Früher hat er immer höflich gegrüßt, jetzt dreht er sich um, wenn er mich sieht.« »Dann werde ich ihn heute nachmittag allein aufsuchen.« »Hat wenig Sinn, einen Fremden läßt er nicht in die Baracke, und außerdem ist er jeden Nachmittag, auch sonntags, auf einer der Schutthalden. Versuche ihn dort zu erwischen.« »Wie denn?« wandte ich ein, »Rückert gibt mir wohl den Wartburg, um damit auf Schutthalden rumzufahren.« »Kannst mein Moped nehmen«, kam mir Forst entgegen. Nach dem Mittagessen fragte ich Rückert: »Werde ich heute noch gebraucht? Habe ein paar Besorgungen zu machen.« »Schieb ab«, meinte er in der jovialen Art, die er immer an den Tag legte, wenn es mit der Arbeit voranging, »zum Abendessen bist du wieder da!« »Den Wagenschlüssel laß hier!« bellte Kober, der ganz genau wußte, daß Rückert die Ersatzschlüssel in seiner Tasche hatte. Der hatte was gegen mich. Dabei habe ich ihm doch nichts getan. Es knallte etwas, als ich ihm die Schlüssel vor seiner Nase auf den Tisch legte. »Kraftfahrer und ledig müßte man sein«, hörte ich Kobers Stimme beim Rausgehen, »wetten, daß der sich hier schon eine Puppe angelacht hat?«
Wie ein zünftiger Schrottsammler sah ich weiß Gott nicht aus. Die einzige glaubhafte Tarnung hatte das Moped meines Freundes. Vom Putzen schien er, solange die Räder sich drehten, nicht viel zu halten. Um diese Freundschaft zu bewahren, war mir nichts zu viel. Der würde staunen, wie er sein Moped von mir zurückbekam. Vorerst wühlten die Räder weiter den Schlamm und Schmutz auf. Die Wege zu vier Schutthalden, einer legalen und drei illegalen, hatte mir Forst beschrieben und dazu eine Personenbeschreibung von Alois Stemmler gegeben. Auf der ersten Schutthalde, der legalen, war kein Mensch. Nun kurvte ich auf einem verschlammten Waldweg hinter dem Sommerbad auf die nächste zu. Nach den Angaben Forsts lag sie in einer ziemlich tiefen Waldschlucht, kaum zu verfehlen, weil einige Umweltverschmutzer ihren Dreck erst gar nicht bis an die Schlucht brachten, sondern ihr Gerümpel schon rechts und links am Waldweg wegwarfen. Mein Herz machte ein paar schnelle Schläge. Ich hatte ihn! Noch war Alois nicht zu sehen, aber ein Handwagen, der nur ihm gehören konnte, zur Hälfte mit alten Spiralfedern beladen, stand oben am Rand der Schlucht. Ein paar Meter weiter stellte ich das Moped ab. Ein Diebstahl war nicht zu befürchten. Es bedurfte eines Facharbeiterbriefes für Autoschlosser, um das Ding jedesmal wieder in Schwung zu bringen. Auf der Sohle der Schlucht stand mein Mann. Jedes Detail der Personenbeschreibung traf zu. Der alte speckige Lederdeckel mit dem eingerissenen Schild ebenso wie die geflickte Jacke über dem von Motten zerfressenen Rollkragenpullover. Die Hosen aus Segeltuch, in die ausgetretenen alten Kommißstiefel gesteckt, sahen aus, als habe er sie schon vor Jahren auf der Schutthalde aufgelesen. In meinem Arbeitskittel aus dem Kofferraum des Wartburgs mußte ich mich gegen ihn wie ein Snob ausnehmen. Am Rande der Schlucht begann ich mit einem Stöckchen in den Schrott zu stochern. Heiliger Strohsack, was hatte hier alles den Weg in die Vergänglichkeit angetreten? Maurerschutt, Autoreifen, alte Töpfe, Scherben, Plastteile, die ohne Mühe der Karosse eines alten Trabant zugeordnet werden konnten, Teile von Bettgestellen, Matratzen, Säcke mit einem übelriechenden Inhalt, als gehörten sie in eine Abdeckerei. Welche
Meinung werden in zwei- oder dreitausend Jahren Archäologen von uns haben, wenn sie an dieser Stelle nach der Vergangenheit graben? Alois hatte sich durch mein Erscheinen nicht stören lassen. Nur einen kurzen prüfenden Blick hatte er nach oben geschickt und dann mit einem Eisenstab weiter aus einer alten Matratze die Spiralfedern herausgebrochen. Im Dreck zu meinen Füßen herumstochernd, ab und zu mich bückend, näherte ich mich Stemmler. In seiner Nähe angekommen, klaubte ich ein Ende verrottetes Alukabel aus dem Boden, betrachtete es prüfend und warf es wieder weg. Alois tat noch immer so, als sei ich Luft. Erst als ich beinahe über seine Bettfedern stolperte, richtete er sich auf. Es war nicht nur der armlange eiserne Nagelzieher in seiner Hand, der mich vorsichtig aus dem Bereich der Spiralfeder treten ließ. Dazu trug auch der Blick bei, den er mir zuwarf. In seiner Visage widerspiegelten sich alle Gefühle eines alten Goldgräbers aus dem wilden Westen, der von seinem fündigen Claim einen Räuber zu verjagen hat. Dabei wußte ich nicht einmal genau, ob er mich dabei ansah. Höchstens mit seinem rechten Auge. Der Augapfel des anderen war nach links oben gedreht und nahm sicher nur wahr, was hinter seinem linken Ohr vor sich ging. Dazu seine Nase! So etwas gab es nicht einmal im Katalog für die Personenidentifizierung. Sie hing wie eine Knolle nicht nur bis fast zur Oberlippe herab, sondern war zur Seite gewachsen, wie um der Richtung des linken Augapfels zu folgen. Kein Wunder, daß der fast Fünfzigjährige bis jetzt unbeweibt geblieben war. »Alles Mist!« begann ich. Mein Konversationsdeutsch aus der zehnten Klasse war in dieser Umgebung kaum angebracht. »Ein Haufen Dreck und nichts dabei, was ich suche!« Alois ging auf mein Gequatsche nicht ein. Vielleicht war er auch noch taub. Jedenfalls war er wohl durch meine Worte überzeugt, daß ich nicht darauf bestand, die Hälfte seiner rostigen Sprungfedern zu verlangen. Verbissen hieb er den Nägelzieher in das Matratzengestell. Für ihn war ich Luft. Keine Antwort ist auch eine Antwort. Wenn mir nichts einfiel, mit ihm ins Gespräch zu kommen, konnte ich mich wieder davontrollen. Die Idee gab mir seine kalt zwischen zwei Stummelzähnen baumelnde Ta-
bakspfeife. Dem knolligen, am Rande verkohlten Pfeifenkopf konnte einstmals beim Schnitzen die Akromegalie seinen Nase als Vorbild gedient haben. Bedächtig knöpfte ich meinen Arbeitskittel auf und nahm aus der Hosentasche eine beim Mopedfahren recht zerknautschte Schachtel F6 und mein Gasfeuerzeug. Einen Stengel brannte ich mir an und reichte Alois die Schachtel hin. »… ’ne Zigarette?« Mein Arm, mit der Schachtel über die Matratze ausgestreckt, wurde schon lahm, so lange brauchte der Knollennasige, um seine Stießligkeit aufzugeben. Seine Finger, mit denen er in meinen Zigaretten rumfummelte, nahmen mir allen Appetit auf weitere Zigaretten aus dieser Schachtel. Endlich hatte er eine erwischt. Statt nun die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, riß er das Zigarettenpapier auf und stopfte den Tabak in seinen Knösel. Mit Frohlocken sah ich zu, wie der Tabak in dem Loch verschwand. Um den Beginn unserer Bekanntschaft auf zwei Füße zu stellen, reichte ich ihm wortlos eine zweite Zigarette, die den gleichen Weg nahm. Die Tiefe seines Fingers im Pfeifenkopf beim Festdrücken des Tabaks ließ ahnen, daß auch eine dritte F6 darin Platz gefunden hätte. Trotzdem ließ ich es bei den zweien. Wer weiß, wie viele Pfeifen er brauchte, um den Mund aufzumachen, und ich schleppe die F6 ja nicht stangenweise auf Schutthalden herum. Großer Baburin! War das ein Spiel der Augäpfel! Der rechte stierte auf die knisternden Flammen im Pfeifenkopf, und der linke schien meine Nase zu durchbohren. Gasfeuerzeuge sind gut. Wenn das Gas erst einmal brennt, dann steht die Flamme so lange, wie man will oder bis das Gas alle ist. Um seinen Nasenwärmer in Gang zu bringen, war der Gasvorrat in meinem Feuerzeug bestimmt um die Hälfte reduziert. Das Gurgeln und Schmatzen in Alois’ Knösel hörte sich an wie die Laute eines Saugrohres in einer fast leeren Fäkaliengrube. Der Gasverbrauch störte mich nicht. Es dauerte eine Weile, bis sich die F6 an die neue Art ihrer Vernichtung gewöhnt hatten. Dicke Qualmwolken entwichen den Lücken zwischen den Zahnstummeln.
»Wo kommste her? Hab’ dich nie gesehen«, waren Alois’ erste Worte, wobei sein linker Augapfel weit oben zum Rand der Schlucht gerichtet war. Um Ausreden war ich nie verlegen. »Bin hier zu Besuch bei meinem Onkel. Sonst wohne ich in Erfurt.« »Wat suchste?« »Ersatzteile«, antwortete ich, ohne rot zu werden, »für meine Dampfmaschine. Mein Onkel sagt, auf den Schutthalden kann man das finden, was es in den Geschäften nicht gibt.« Die verborgene Wertschätzung seines Schrottsammelns machte ihn neugierig. »Wat is dat für ’ne Maschine?« »Sie stammt von meinem Großvater. Er hat sie als Schlossergeselle gebaut. Ich will sie wieder in Ordnung bringen. Dazu fehlt nur etwas dünnes Kupferrohr.« Alois nahm seine Pfeife aus dem Mund: »Kupfer is nicht. Dat läßt keener liegen!« »Mein Onkel meint«, log ich munter weiter, »manchmal werfen die Leute alte Gasherde weg. Die haben noch Kupferleitungen, wie ich sie brauche!« Meine Sorgen schienen nicht die Sorgen von Alois zu sein. Seine Pfeife mit meinen qualmenden F6 hing wieder über der alten Matratze, und der Nagelzieher fuhr unter die Krampen, die die Sprungfedern festhielten. Mit dem Gedanken, auch meine restlichen Erfolgsaussichten auf der Schutthalde zu lassen, drehte ich mich um. Sein »Wo is die Maschine?« ließ mich eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad machen. »Zu Hause in Erfurt!« »Bring sie mal mit. Vielleicht kaufe ich sie dir ab!« »Von Verkaufen kann keine Rede sein. Und überhaupt, ich kenne Sie ja nicht.« »Frag deinen Onkel nach Alois aus dem Schafstall! Über den Verkauf reden wir noch, wenn die Maschine wieder läuft.«
»Mal sehen«, ging ich auf seinen Vorschlag ein, »besser wäre es, wenn ich die Rohre gleich hätte und die Maschine zu Hause reparieren könnte.« »Die Rohre werd’ ich schon besorgen«, meinte er zuversichtlich, »aber erst will ich die Maschine sehen.« »Gut, wenn ich wieder in Wuttaburg bin, bring ich sie mit«, versprach ich, ohne zu wissen, ob das Ding auf unserem Boden überhaupt noch existierte. Den Rest des Nachmittags benutzte ich zum Putzen des Mopeds auf dem Hof des VP-Gruppenpostens. Daß ich die Reinigungsprozedur unter den Fenstern des Zimmers vornahm, wo meine Vorgesetzten ihre Befragungen durchführten, war keine böse Absicht oder Neugierde. Nur rein zufällig schnappte ich einen Teil ihrer Fragen und die Antworten auf. Prost Mahlzeit! Die beiden haben sich ja was vorgenommen. Die Zeit der Brandstiftung in den Scheunen konnte konkret mit 21.30 Uhr bestimmt werden. Nun fragten sie alle möglichen Leute aus, die an diesem Tage um die gleiche Zeit in der Nähe der Scheunen waren. Wie wird es den Leuten, denen ich die Vorladungskarten gebracht hatte, bei den Befragungen zumute sein? Offensichtlich hatten sich Rückert und Kober einen Befragungsplan erarbeitet. Jedenfalls waren es fast immer die gleichen Fragen, und die Antworten wichen nicht viel voneinander ab. Das hörte sich dann so an: »Sie sind am Samstag mit dem Zug um 20.45 Uhr in Wuttaburg angekommen?« »Ja!« »Wohin sind Sie nach dem Verlassen des Bahnhofes gegangen, und welchen Weg haben Sie genommen?« »Nach Hause«, und nach einem verlegenen Zögern, »an den Scheunen vorbei.« »Waren Sie allein?« Mit einem Aufatmen kam die Antwort, wenn der Befragte nicht allein war, und beinahe mit schuldbewußter Stimme, wenn er keinen Mitgehenden als Entlastungszeugen nennen konnte.
»Haben Sie unterwegs jemanden getroffen oder etwas Auffälliges bemerkt?« Je nachdem, wie die Antwort ausfiel, hieß es dann weiter: »Kennen Sie die Person, und wo und wann war es genau?« Manchmal kamen Namen mit den Antworten, oft blieb eine Antwort aus, und ich vermutete, daß der Befragte den Kopf geschüttelt oder mit den Schultern gezuckt hatte. Meine Sache war eine solche poplige Ermittlungstätigkeit am Schreibtisch nicht. Eines stand für mich jedoch fest: Bevor die alle befragt haben, wer am Samstagabend in der Nähe der abgebrannten Scheune war, vergingen noch viele Tage. An der Scheune ging täglich außer den Fremden die Hälfte der Bewohner des Städtchens vorbei. Die abgebrannte Scheune lag am Rande des alten Stadtkerns, zwischen der Altstadt und dem Neubauviertel. Vom Marktplatz zum neuen Wohngebiet führte zwar eine neue Straße, aber wer benutzte sie schon außer den Motorisierten, wenn der Weg an der Scheune vorbei um die Hälfte kürzer war? Wenn ich meine Meinung sagen soll, die Scheune hätte schon vor ein paar Jahren weggemußt. Vielleicht führte die neue Straße dann direkt zum neuen Wohngebiet. Billiger wäre sie auch gekommen. Meine Arbeit für die nächsten Tage konnte ich mir schon vorstellen. Wieder Vorladungskarten ausfahren mit den Adressen der Leute, deren Namen heute dazugekommen waren. Hoffentlich schob Rückert bald eine Nacht in seinem ehelichen Bett ein. Ich fühlte mich auch im Hotelbett ganz wohl, aber gespannt war ich doch, ob die alte Dampfmaschine noch auf dem Boden lag. Nach drei Tagen war die Zahl der von mir ausgefahrenen Vorladungen auf siebenundfünfzig angewachsen. Ein Alois Stemmler war nicht dabei. Wuttaburg hatte fünfeinhalbtausend Einwohner. Selbst wenn Rückert und Kober die Kleinstkinder, Kranken und die Sonstigen aus dem Spiel ließen, blieb es doch die Beschäftigung für ein reichliches halbes Jahr. Ich drückte den Daumen, daß es bis dahin nicht woanders brannte.
Doch bevor bei Rückert die Sehnsucht nach seinem Ehebett überhandnahm, war der versprochene Besuch in der Datsche des schönen Erwin fällig. Für die Getränke hatte diesmal Kober zu sorgen. Mit spitzen Fingern nahm er aus seiner Brieftasche einen Fünfzigmarkschein und reichte ihn mir zum Einkauf. Da ich ihn nicht gleich einsteckte, zog er noch einen Zwanziger heraus und knurrte: »Bei diesen Exquisitpreisen wird es Zeit, unser Gehalt und die Reisekosten auch exquisit zu machen.« Von den Getränken hätte ich auch gerne gekostet. Der schöne Erwin schnalzte nach dem ersten Schluck mit der Zunge, und Kober schlürfte so genießerisch, daß mir beinahe die Cola hochkam. Meine Vorgesetzten hatten es gut. Vor der Haustür ließen sie sich absetzen. Ehe ich den Wagen aufgetankt hatte und von der Fahrbereitschaft nach Hause gelaufen war, kroch die Morgendämmerung schon wieder am Horizont hoch. Hauptmann Rückert zeigte sich beim Aussteigen großzügig: »Montag früh sechs Uhr«, legte er den Dienstbeginn fest. So verblieben mir nach sechs Tagen vierundzwanzig Stunden Freizeit, den notwendigen Schlaf mit eingerechnet. Was meine Mutter von mir und meiner Arbeitszeit hielt, ließ sie nicht laut werden. Ihre Blicke zum Frühstück sprachen Bände. Noch bevor das Kaffeewasser kochte, war ich auf dem Boden gewesen und hatte die alte Dampfmaschine gesucht. Sie existierte tatsächlich noch. Die Putzversuche auf dem Küchentisch unterbrach meine Mutter mit dem unsanften Aufsetzen ihrer besten Zwiebelmusterkaffeetassen. Ich verbrannte mir die Zunge am heißen Kaffee, um ja schnell genug mit dem Frühstück fertig zu werden und die Dampfmaschine näher in Augenschein zu nehmen. Rein äußerlich schien alles noch vorhanden zu sein. Ein bißchen verrostet war alles, der Kessel, der Schornstein, das Schwungrad mit der Pleuelstange und die zierlichen Hähne zum An- und Abstellen des Dampfes. Schon auf dem Boden hatte ich versucht, das Schwungrad zu bewegen. Vergebens, der Rost hatte wie eine Klebmasse alle Teile unbeweglich gemacht.
Kaum war der Küchentisch abgeräumt, verschwand ich im Keller und kehrte mit einer Flasche Petroleum zurück. »Nun reicht es aber!« fauchte meine Mutter, »verschwinde aus der Küche! Der Gestank soll wohl meinen Sonntagsbraten verderben?« Den halben Sonntag machte ich im Keller mit Petroleum und Schmirgelleinen die alte Dampfmaschine wieder etwas ansehnlicher. Auch das Rad und die Pleuelstange wurden wieder beweglich. Damit hielt ich den Schlüssel für die nähere Bekanntschaft mit Alois, dem Schrottsammler und vermutlichen Brandstifter, in der Hand. Vom fehlenden Kupferrohr hatte ich Alois erzählt, um mich in seinem Anwesen unauffällig umsehen zu können. Doch wo war das Kupferrohr in der Dampfmaschine, wenn man von ein paar Zentimetern der Zuleitung vom Kessel zum Zylinder absah? Mit gemischten Gefühlen begann ich Onkel Hermanns Gesellenstück auseinanderzunehmen. Glück muß der Mensch haben! Onkel Hermann hatte tatsächlich Kupferrohr verarbeitet. Nicht viel, nur ein paar bleistiftstarke Schlangen im Kessel über der Feuerstelle. Mit einer kleinen Zange vollbrachte ich das Werk der Zerstörung. Jetzt konnte sich Alois auch mit einem Auge überzeugen, daß die Kupferleitung beschädigt war. Noch ein wenig Dreck auf die beschädigten Stellen, damit sie wie alt aussahen, und der Köder für Alois war vorbereitet. Rückert und Kober ahnten Montag früh nichts von der Fracht im Kofferraum unseres Wartburgs. Bis Mittwoch mußte der Pappkarton mit der Dampfmaschine unter Putzlappen versteckt im Kofferraum liegenbleiben. Am Montag und Dienstag war ich kaum zum Essen gekommen. Immer unterwegs, irgendwelche Leute, die einen hellfarbenen Trabant besaßen, mit ihren Fahrzeugen in den Hof des Gruppenpostens zu lotsen. Es hing mit diesem immer noch unverständlichen Zeit-WegDiagramm zusammen. In einigen Zeugenaussagen war von einem alten Trabant die Rede gewesen. Durch das Diagramm, so ließ sich Kober herab, mir eine kurze Erklärung zu geben, Stand fest, daß am Tattag gegen Mittag und kurz vor dem Brandausbruch ein Trabant in unmittelbarer Nähe des Brandobjektes gestanden hatte. Kaum zu glauben, wie viele Trabants in Wuttaburg und Umgebung zugelassen waren.
Das Überbringen der Vorladung an die Eigentümer mit der Aufforderung, ihren Wagen vorzustellen, verstand ich ja noch. Aber warum ich auf dem Hof, während Rückert und Kober den Autobesitzer befragten, den Dreck aus den Reifen kratzen und in Plastbeuteln verwahren mußte, ging mir nicht ein. Seit dem Brand waren über vierzehn Tage vergangen, und der Dreck bei der Scheune war Dreck wie jeder andere auch. Meine Frage an Kober über den Nutzen meiner Drecksuche beantwortete dieser mit: »Das verstehst du doch nicht!« So ein überheblicher Pinsel! Und wenn der noch verrücktere Sachen anstellt, meinetwegen am Wetterhahn auf der Kirchturmspitze nach Fingerabdrücken sucht, fragen werde ich den nicht mehr. Am Mittwoch gegen Mittag war ich mit der Drecksuche an den Reifen fertig. Der letzte Trabant von insgesamt dreiundzwanzig war vom Hof gerollt. Meine Bilanz stimmte. Zweiundneunzig Plastebeutel, für jedes Rad einen und jeder mit einem Fingerhut voll Dreck, warteten darauf, ins Labor geschafft zu werden. Hoffentlich nicht sofort. Seit Montag spitzte ich auf eine Gelegenheit, bei Alois meinen Köder auszuwerfen. Ich mußte versuchen, mich am Nachmittag frei zu machen, um Alois einen Besuch abzustatten. »Liegt für heute nachmittag etwas an?« erkundigte ich mich beiläufig beim Mittagessen. Rückert gab mir keine Antwort, und Kober schien meine Frage auch nicht gehört zu haben. Er legte seine Gabel auf den Tellerrand, drehte sich zum Ober und bestellte zwei Bier und zwei doppelte Klare. Der traut sich was, Bier und Schnaps während der Arbeit! Wie würde Rückert darauf reagieren? Der schwieg, und als der Ober die Gläser brachte, warf er mir einen langen Blick zu und kippte zwischen zwei Bissen den Klaren hinunter. Mir blieb beinahe der Bissen im Hals stecken, als Kober zum Kellner sagte: »Die Getränke gehen zu Lasten des Herrn!« Dabei zeigte er auf Rückert. Kober grinste mich an: »War eine Wette! Ich habe gewonnen. ›Spätestens heute mittag‹, hab’ ich mit Genossen Rückert gewettet, ›verduftet unser Kraftfahrer wieder zu seiner Biene!‹«
Alter Neidhammel, dachte ich, wenn du wüßtest! »Meinetwegen«, brummte Rückert, »aber pünktlich um siebzehn Uhr wieder hier sein. Genosse Maresch hat uns zum Abendessen in seine Datsche eingeladen!« Kober glotzte wie ein Kalb, wenn es donnert, als ich im Werkstattmantel mit einem alten Pappkarton vor dem Bauch auf dem Moped des Abschnittsbevollmächtigten aus dem Hof fuhr. Seine Phantasie über mein Liebesleben mußte einen argen Stoß bekommen haben. Noch gerade rechtzeitig kreuzte ich im Weidenweg auf. Alois Stemmler hielt von langer Mittagspause so wenig wie Rückert. Ein paar Minuten später, und ich hätte, um Alois zu treffen, die Schutthalden abklappern müssen. Er erkannte mich wieder. Noch auf dem Moped sitzend, öffnete ich den Deckel des Kartons und ließ ihn einen Blick auf die Dampfmaschine werfen. Der Mann war wie umgewandelt und ließ sich kaum Zeit, das schwere Holztor hinter mir zu verschließen. Vorsichtig, als wäre die Dampfmaschine aus zerbrechlichem Glas, nahm er mir den Karton ab und ging auf die Tür eines Holzschuppens zu. Der Raum hinter der Tür hatte die Größe eines kleinen Saales. Die wurmstichigen Dielen knarrten bei jedem Tritt. Zwei verstaubte Fenster ließen das Licht kaum in alle Ecken gelangen. In dem Halbdunkel konnte man sich bei jedem Schritt die Ohren brechen. An den Wänden und mitten im Raum lagen in wildem Durcheinander Haufen von allem möglichen Schrott. Stücke von Eisenschienen, Blechreste, Berge von verrosteten Schrauben, Krampen und Bolzen. Hier war alles vorhanden, was jemals aus Eisen gefertigt und dann auf die Schuttplätze gewandert war. Sogar die Gestänge von ausgedienten Kinderwagen hatte Alois Stemmler nicht verschmäht. Dazwischen lagen zerbrochene Zahnräder und zerbeulte Kessel solcher Dimensionen, als hätte er einen Schiffsfriedhof geplündert. Auch ein Achttonner hätte mit einer Fahrt das Gerümpel nicht fortbekommen. Stemmler steuerte, auf einen alten Werkstattisch zu, der vor einem der Fenster stand. Er war übersät mit verrosteten Bolzen und Muttern, die
von Öl und Waschbenzin nur so trieften. Achtlos schob er sie beiseite und stellte behutsam den Karton ab. Mit einem alten Lappen wischte er die Öllachen vom Tisch. Ich habe schon die Augen von Kindern gesehen, wenn sie unter dem Weihnachtsbaum ihre Geschenke auspacken. Alois war alles andere als ein Kind, und Weihnachten war auch nicht. Aber irgendwie glich er einem Kind, als seine großen Hände behutsam die Dampfmaschine aus dem Karton nahmen. »Geht sie wirklich nicht mehr?« fragte er. »Die Kupferschlangen im Kessel sind abgebrochen«, antwortete ich und schraubte den Verschluß des Deckels an der Stirnseite des Kessels ab. Seine Knollennase kroch in das Blechgehäuse. Wenn auch sein linkes Auge von den Kupferschlangen nichts sah, das andere genügte, um mein Zerstörungswerk zu erkennen. »Bringe ich wieder in Ordnung«, gab er nach Minuten sein Urteil ab, »solche Leitungen habe ich, muß sie nur suchen. Ist die wirklich gelaufen wie eine große Dampfmaschine?« »Bei meinem Onkel lief sie!« behauptete ich. Seine rissigen Finger fuhren streichelnd über das Blech. Ein bißchen schäbig kam ich mir vor. Wer konnte auch ahnen, daß dieser Kerl beim Anblick eines Kinderspielzeugs eine solche Regung zeigte? Alois’ Interesse für die Dampfmaschine gab mir Zeit, mich im Raum umzusehen. Schrott gab es in jeder Menge und in jeder Art. Nur das, was ich suchte, war nicht vorhanden. Kein Kanister, kein Faß, zu dem Rückerts Beweisstück vom Brandort, der Schraubdeckel, passen konnte. Apropos Faß! Die auf dem Tisch stehende halbvolle Konservendose mit verschmutztem Petroleum und die fast haarlosen Pinsel konnten doch nicht sein einziger Vorrat an Mitteln zum Entrosten der Schrauben sein. Magisch zog mich eine mit Blech verkleidete Tür in der Zwischenwand der Baracke an. Wie bringe ich Stemmler dazu, mir zu zeigen, was dahinter ist, grübelte ich.
»Viel Zeit habe ich heute nicht«, unterbrach ich Alois’ Untersuchung der Dampfmaschine. »Wo haben Sie das Kupferrohr? Hier liegt doch nur Eisenschrott herum.« Stemmler legte seine Hände auf die Dampfmaschine, als hätte ich verlangt, er solle sie zurückgeben. »Gleich, ich hole es sofort! Das Kupfer liegt nebenan.« Er löste sich vom Tisch, mich mit seinem rechten Auge ängstlich ansehend. Wenn er Angst hatte, dann nur um die Dampfmaschine. Er ging auf die blechbeschlagene Tür zu und war sichtlich froh, daß ich folgte und Onkel Hermanns Gesellenstück auf dem Tisch stehenließ. Der Raum hinter der Tür war kleiner und hatte keine Fenster. Gewarnt von den kreuzgefährlichen Schrotthaufen im vorderen Teil der Baracke, blieb ich in der Tür stehen. Mit nachtwandlerischer Sicherheit war Alois weitergegangen und machte sich inmitten des Raumes mit erhobenen Händen zu schaffen. Gleich darauf flammte das trübe Licht einer elektrischen Birne auf. »Der Schalter ist kaputt«, erklärte er beim Festschrauben der Glühbirne in der Fassung. Kein Wunder, daß er die Feuerwehr zu Brandschutzkontrollen ungern in sein Anwesen ließ. Die elektrischen Leitungen mitsamt dem Schalter hingen vergammelt von den Wänden, als habe er sie vom Schuttplatz mitgebracht und an die Wand genagelt. Die Schrotthaufen hatten nicht die Ausmaße wie im vorderen Raum. Dafür überwog ihr Wert, bei den heutigen Aufkaufpreisen für Buntmetallschrott, den der Eisenberge um ein Vielfaches. Was an Kupfer, Messing, Zink und Blei umherlag, hatte nicht nur den Wert eines fabrikneuen Wartburgs. Alois drehte mir den Rücken zu und begann in einem Berg von Kupferschrott zu wühlen. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich umzublicken, und traute meinen Augen nicht. An der Wand neben der Tür standen Kanister und Behälter. In einer Reihe nebeneinander auf Holzlatten, die von öligen Flüssigkeiten durchtränkt waren.
Alois drehte sich nicht einmal um, als ich mich den Kanistern näherte. Dem Geruch nach zu urteilen, war in den Kanistern und kleinen Metallfässern Benzin, Öl und auch Petroleum. Mich interessierten die Verschlüsse. Alle hatten die gebräuchlichen Benzinkanisterverschlüsse mit dem gabelförmigen Hebel zum Verschließen. Aber was war mit den beiden in der letzten Reihe? Vor Aufregung legte sich ein dumpfer Druck wie ein Ring um meinen Kopf. Die beiden Kanister hatten andere Verschlüsse, das heißt, einer hatte noch einen, rund, von der Größe, wie er am Brandort gefunden wurde. Bei dem anderen fehlte der Verschluß. Das Ende einer abgerissenen Kette baumelte herab. Meinen Kopf würde ich verwetten, daß die Kette in die Öse gehörte, die am Brandortdeckel war. Das »He« von Stemmler ließ mich hochfahren. »Was machen Sie da?« »Waschbenzin und Spiritus brauchen wir auch«, stotterte ich. »Später!« knurrte er und sah mich mit seinem Basiliskenblick an. Eine Metallstange in der Hand, kam er auf mich zu. Meine Muskeln zogen sich zusammen, um mit einem Sprung die Tür zu erwischen. Zu spät! Er hatte sich zwischen die Tür und mich geschoben. Wenn er hinter meine Absicht gekommen war, gab ich für mein Leben keinen Pfifferling mehr. Zu viele scharfe Metallsachen zum Zuschlagen lagen umher. »Hier!« hielt er mir das Metall in seiner Hand vor die Nase, »Kupferleitungen, sie können passen!« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ohne ihm den Rücken zuzudrehen, schlich ich durch die Tür und blieb neben dem Tisch stehen. Das Gestell des Kinderwagens zu meinen Füßen hätte ich mit einem Griff in die Hand bekommen, um mich wehren zu können. Stemmler war mit den Kupferrohrleitungen an den Tisch geschlurft. Entweder spielte er den Ahnungslosen, oder er war es tatsächlich. Von mir nahm er keine Notiz mehr. Mit einem Draht fummelte er im Kessel der Dampfmaschine herum. Mein Mut – oder war es nur Frechheit – kehrte zurück. Ich überlegte hin und her. Wie bekomme ich den Kanister aus dem Nebenraum in meinen Besitz? Richtiger wäre es, Rückert alles zu beichten. Der würde eine Durchsuchung anordnen und den Ka-
nister beschlagnahmen. Für die Spezialisten von der Kriminaltechnik wäre es leicht festzustellen, ob der am Brandort gefundene Deckel zu dem Kanister gehört. Ob Rückert mir das glauben würde? Kober in seiner überheblichen Art tippte höchstens mit dem Finger an seinen Kopf. Gerade dem wollte ich beweisen, daß ich mehr konnte, als tagelang Dreck aus Rädern zu kratzen und Vorladungskarten auszufahren. Ein wenig Eigenliebe spielte bei meinen Überlegungen auch eine Rolle. Welch ein Gefühl, Rückert den Kanister auf den Schreibtisch zu legen mit der Bemerkung: Den Täter kann Genosse Kober im Weidenweg 18 a abholen! Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Hat der Kanister bis heute im Schuppen des Brandstifters gestanden, kommt es auf ein paar Tage länger auch nicht mehr an. Eine Gelegenheit, den Kanister unbemerkt mitnehmen zu können, werde ich finden. Jetzt kam es darauf an, Alois Stemmler hinzuhalten, sein Vertrauen zu gewinnen. »Es ist schon spät«, fing ich an, »ich muß fort!« Alois’ Knollennase beschrieb einen Bogen nach oben. »Jetzt schon? Das Kupferrohr muß noch zugeschnitten und eingepaßt werden«, klang es wie von einem Kind, dem man das Spielzeug vor dem Schlafengehen wegnehmen will. »Die Dampfmaschine kann hierbleiben«, warf ich meinen Köder aus, »morgen oder übermorgen, wenn ich Zeit habe, komme ich wieder!« »Ist gut«, sagte Stemmler erleichtert, »ich werde sie wieder heil machen.« Worüber war er froh? Weil ich verschwand oder weil ich ihm das Spielzeug ließ? Der schöne Erwin war nicht nur ein Freund von scharfen Getränken. Seine grünen Klöße und der Wildschweinbraten in Rotweintunke konnten sich neben dem Sonntagsbraten meiner Mutter sehen lassen und bildeten eine solide Grundlage für den Nachtrunk. Wie nobel! Rückert gestattete mir zum Braten eine Flasche Bier. Kober konnte seine Sticheleien nicht lassen. »Bis wir unsere Gläser leer haben«, grinste er, »kannst du wieder Auto fahren!«
Der Wildschweinbraten beim schönen Erwin war mir gut bekommen. Die Elefantenkühle des Hotelbettes störte in der letzten Nacht überhaupt nicht. Fest und tief hatte ich geschlafen, bis Kober an die Tür trommelte. »Steh endlich auf!« rief er, »gefrühstückt haben wir schon. Ist deine Sache, darauf zu verzichten. Denke aber nicht, daß andere für dich die Proben ins Labor schaffen!« Peinlich, sonst wurde ich immer als erster wach und weckte die anderen. Ein Blick zur Uhr: Bereits acht durch! Rückert hatte bestimmt schon das Hotel verlassen. Mein Frühstück ließ ich sausen. Auch im Gruppenposten war kein Rückert. »Wo ist er?« fragte ich Kober. »Muß der sich bei dir abmelden?« erhielt ich zur Antwort. Seine Frotzelei regte mich heute nicht auf. Im Gegenteil, ich begann mit gleicher Münze heimzuzahlen. »Dir ist gestern abend die Sauferei wohl nicht bekommen? War zu viel, he? Kannst nun die Wege und Zeiten auf deinem Diagramm nicht mehr auseinanderhalten? Wenn du noch ein paar Tage so weitermachst, kannst du dir dein Butterbrot in das Diagramm einwickeln!« Kober sah mich erstaunt an und strich seine blonde Tolle aus der Stirn. »Seit wann kümmert dich unsere Arbeit? Damit du dich beruhigst, den Namen des vermutlichen Täters kennen wir mit Hilfe des Diagramms schon. Genosse Rückert ist unterwegs und stellt bereits Ermittlungen über ihn an. Verdufte und bringe die Erdproben ins Labor. Wenn der Vergleich mit der Erde an der Scheune positiv ausfällt, werden wir den Täter festnehmen!« »Wer ist es?« konnte ich meine Neugierde nicht zügeln. »Du wirst ihn rechtzeitig genug kennenlernen, und nun hau endlich ab! Wenn Rückert dich hier noch trifft, bumst es!« Auf das Bumsen ließ ich es nicht ankommen. Ich dampfte mit meinen zweiundneunzig Plastetüten ab, überzeugt davon, daß der Sprit für diese Fahrt umsonst verfahren wurde. Wenn Rückerts Weg zum Täter von einem Fingerhut voll Dreck abhing, war er auf dem Holzweg. Der Täter hatte kein Auto. Er machte seine Fuhren mit dem Handwagen.
Heute schien sich alles mit mir anlegen zu wollen. Der Sachverständige in der Kriminaltechnik, bei dem ich die Plasttüten abgab, pflaumte mich statt einer Begrüßung an. Angeblich wären ihm die Spuren schon vor Stunden versprochen worden, und nun müsse er Überstunden machen. Ohne meiner Mutter guten Tag gesagt zu haben, fuhr ich nach Wuttaburg zurück. Der Nachmittag verlief öde. Weder Rückert noch Kober hatten einen Auftrag für mich. Sie warteten auf den Laborbefund und unterhielten sich ständig über »ihn«, ohne daß der Name des vermutlichen Täters fiel. Sie waren sich in ihrer Sache ziemlich sicher. Kober gönnte ich ja den Reinfall. Sollte ich nicht doch noch Rückert von meinem Alleingang erzählen? Lieber nicht! War noch Zeit, wenn der negative Befund vom Labor da war. Gegen achtzehn Uhr hatte Rückert noch einmal im Labor nachgefragt, dann sagte er: »Für heute ist Feierabend! Der Laborbefund liegt nicht vor morgen früh vor. Damit wir auf andere Gedanken kommen, schlage ich einen Kinobesuch vor.« »Den Film kenne ich schon«, log ich munter drauflos, »außerdem hatte ich Genossen Forst versprochen, nach seinem Moped zu sehen. Der Vergaser haut nicht hin.« »Seit wann hat Forst eine Tochter?« fing Kober wieder an. Auf meiner Zunge lag eine Erwiderung. Sie blieb unausgesprochen, weil Rückert sich einmischte und meinte: »Komm nicht zu spät! Morgen haben wir einen anstrengenden Tag vor uns.« Durch eine Ritze im Holztor sah ich Licht im Fenster von Stemmlers Schuppen. Das Tor war unverschlossen, und eine Klingel gab es nicht. Mir blieb nur übrig, mit den Fäusten an die Tür zu wummern. Eine Weile bleib es still. Endlich! »Wer ist da?« rief Stemmler vom Schuppen her. »Ich! Wollte wegen der Dampfmaschine fragen!« brüllte ich zurück. Er kam zum Tor, entfernte den wuchtigen Querbalken und schloß auf. Angenehm war ihm mein Besuch nicht. Am liebsten hätte er mich am Tor abgefertigt. So kurz vor meinem Ziel gab ich nicht auf.
»Läuft sie?« fragte ich und drängelte mich frech an ihm vorbei. Ohne das Tor abzuschließen, kam er nach. Eine beinahe unheimliche Stille ging von dem Schuppen in der Abenddämmerung aus. Nur einen hellen Fleck gab es im ganzen Anwesen, das erleuchtete Fenster, hinter dem er gearbeitet hatte. Im Schrottsaal auf dem Tisch vor dem Fenster sah ich die Bescherung! Was einstmals der Stolz von Onkel Hermann war, lag in lauter Einzelteile zerlegt auf dem schmierigen Werkstattisch. »Ging nicht anders«, entschuldigte sich Stemmler, »mußte alles abbauen, sonst hätte ich die Kupferrohre nicht auswechseln können.« Mag sein, aber warum hatte er auch den Zylinder abmontiert und zerlegt? Das war pure Neugierde, wie bei einem kleinen Kind, das alles untersuchen muß. Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen und vermied es, mich anzusehen. Sein linker Augapfel folgte anderen Gesetzen und war starr auf mich gerichtet. Unter diesem Blick sagte ich, um einzulenken: »Sieht aus wie eine Generalreparatur, schaden wird sie der Maschine nicht.« Er war sichtlich froh, daß von meiner Seite kein Protest kam. Sein linker Augapfel drehte sich nach oben, und der rechte nahm mich ins Visier. »Es dauert nicht lange. Noch heute werde ich sie zusammenbauen. Morgen früh können wir sie ausprobieren«, erklärte er. So lange wollte ich nicht bleiben. An den Kanister wollte ich. Für eine Minute müßte er mich allein lassen. Er hatte flinke, nicht ungeschickte Hände, die mühelos mit den kleinen Teilchen umgingen und sie zusammenbauten. »Durst habe ich«, fing ich nach einer Weile an. »Gibt es in der Nähe Bier oder Limonade?« »Alles schon zu«, antwortete er. »Bier habe ich nicht. Werde gleich etwas anderes holen«, bot er sich an, erleichtert darüber, daß ich über die demolierte Dampfmaschine kein Wort verloren hatte. Ehe ich mich dessen versah, war er aus dem Schuppen. Seine Wohnund Küchenräume lagen am anderen Ende der Baracke. So eine Gelegenheit bekam ich nie wieder. Ein Blick aus dem Fenster, Alois war fast
am anderen Ende des Schuppens. Keine Sekunde wartete ich. Im dunklen Nebenraum tasteten meine Hände nach den Kanistern. Der mit dem fehlenden Schraubverschluß war noch da. Bevor Stemmler zurück war, lag der Kanister vor dem Schuppen im hohen welken Gras, an einer Stelle, wohin das Licht des Fensters nicht fiel. Glück muß der Mensch haben! Der Kanister war leer, und mit einem leeren Kanister konnte ich später verschwinden. Im schlimmsten Fall bildete das Tor kein unüberwindliches Hindernis. Bevor es soweit war, mußte ich mich noch einer Prüfung unterziehen. Alois hatte etwas zu trinken geholt. Zwei volle Flaschen und zwei leere Gläser. Auf den Flaschen hatte sich eine dicke Staubschicht abgesetzt. Das soll es ja geben. Je stärker der Staub, desto älter und wohlschmeckender der Wein, ist eine alte Regel. Für die zwei ausgedienten Mostrichgläser traf diese Weisheit nicht zu. Alois wußte aber, was sich gehörte. Bevor er mit einem krummen Nagel den Korken der Flasche zerbröckelte, wischte er die Gläser mit dem Zipfel eines Lappens aus, den er vorher zum Sauberreiben der öligen Teile der Dampfmaschine verwendet hatte. »Selbstgemachter Kirschwein. Schmeckt prima!« pries er seine Ware an und hob das schmierige Glas. Alle aufwallenden Gefühle unterdrückend und mit geschlossenen Augen nahm ich einen Schluck. Er füllte gleich nach. Schlecht schmeckte der Wein nicht, aber das Trinkgefäß! Die Folgen waren klar: Morgen früh würde auf meiner Ober- oder Unterlippe eine riesengroße Griebe prangen. Wir putzten, bauten und bastelten an der Dampfmaschine. Zwischendurch schenkte Alois ein. Mit jedem Schluck störte mich der fettige Rand des Glases weniger. Der Selbstgemachte hatte es in sich. Leicht beschwingt sah ich für meine Aktion keine Schwierigkeiten. Draußen war es stockdunkel, und Alois hatte sich in die Arbeit verbissen. Gelegenheit für mich, zu verschwinden, bevor ich unter seinen Tisch fiel. »Der Wein drückt auf die Blase, muß den Pferden Wasser geben«, begründete ich meinen Abgang. Es stimmte sogar. Ein paar Schritte vor dem Kanister blieb ich stehen und schlug das Wasser ab. Alois arbeitete hinter dem erleuchteten Fenster weiter. Ich ließ ihn nicht aus den Augen.
Mit dem leeren Kanister in der Hand ging ich, ohne mich von Alois zu verabschieden, mit weichen Knien zum Tor. Der Wein hatte mehr Prozente, als seine trübe Farbe ahnen ließ. Das Gequietsche der Schuppentür hinter meinem Rücken ließ mich zusammenfahren. Stemmler stand im erleuchteten Viereck der Tür und schmetterte mir ein »He, du!« hinterher. Mit einem Satz war ich am Tor. Höchste Eisenbahn! Stemmler lief auf mich zu, in der erhobenen Hand eine der leeren Weinflaschen. Hoffentlich sprang das Moped an. Mit einem Satz, den Kanister krampfhaft festhaltend, war ich auf der Sitzbank. Natürlich bockte der Hirsch. Zum Glück ging es bergab, der Motor sprang an. Einen Blick riskierte ich, einhändig auf dem Moped balancierend, nach hinten, wo Alois am Tor seinen Arm mit der Flasche schwang. Dann gab es einen Schlag, als schlüge mir jemand einen Hammer auf den Kopf. Eine große rote, sich immer schneller drehende Scheibe, die auf mich losraste, war das Letzte in meinen Erinnerungen. Wieviel Zeit vergangen war, weiß ich nicht. Statt der roten Scheibe sah ich die alte Windmühle auf dem Hügel vor Wuttaburg. Eine gewaltige Kraft schob mich vorwärts, direkt auf die Windmühlenflügel zu. Das Verrückte war, ich konnte nicht fortlaufen. Immer näher kamen die kreisenden Holzflügel… Sie begannen mich zu treffen, immer ins Gesicht. Schreien wollte ich und brachte keinen Ton heraus. Auf meinen Augenlidern lagen Mehlsäcke. Eine Qual, die Augen zu öffnen. Endlich! Die Windmühlenflügel waren verschwunden. Statt ihrer kreiste etwas anderes vor meinen geöffneten Augen, ein helles sonnendurchflutetes Zimmer. Es drehte sich wie ein Karussell um einen weißen Engel. Ganz deutlich konnte ich das Gesicht des Engels erkennen. Der Engel konnte sprechen. »Da ist er ja wieder!« drang es aus weiter Ferne zu mir. Das Zimmer hörte auf zu kreisen, und das Gesicht des Engels blieb vor mir stehen. Seine Stimme war deutlich: »Können Sie mich verstehen?« Auf meiner Zunge mußte sich ein Hornissenschwarm ausgetobt haben. Unsäglich schwer fiel es mir zu fragen: »Was ist denn los?«
»Sie hatten einen Verkehrsunfall. Es ist noch einmal gut abgegangen«, sagte der weiße Engel. Meine Sinne wurden klarer. Das Hörrohr in der Kitteltasche des Engels gehörte zum Handwerkszeug einer Ärztin. Schlagartig fiel mir alles wieder ein. Mein Besuch im Schrottschuppen, die Flucht mit dem Kanister auf dem Moped und der drohende Stemmler. »Meine Dienststelle, Hauptmann Rückert«, versuchte ich mich aufzurichten. Das Zimmer begann sich wieder zu bewegen. Die Hand der Ärztin drückte mich auf das Kissen: »Vor allem brauchen Sie Ruhe, und wenn Sie ganz artig sind, kann Ihr Hauptmann für eine Minute zu Ihnen!« Meine Hand fuhr an den Kopf, der rummelte, als schlügen dort faustgroße Kieselsteine gegeneinander. Meine Finger tasteten über einen Verband von dem Ausmaß eines Turbans. Die Ärztin hatte bemerkt: »Nicht schlimm. Eine Platzwunde, die wir genäht haben, und eine Gehirnerschütterung. Bis Sie heiraten, ist alles in Ordnung!« Dann stand Hauptmann Rückert im Zimmer. Natürlich schob sich Kober hinterher. »Der Kanister! Wo ist der Kanister?« fragte ich mit rissigen Lippen. Die beiden warfen sich erstaunte Blicke zu. »Von welchem Kanister sprichst du?« duzte mich Rückert. »Der Kanister vom Brandstifter, mit dem er die Scheune angebrannt hat«, antwortete ich. Jedes Wort bereitete mir Schwierigkeiten. Unter dem Verband dröhnte es wie in einer Schmiede. »Sie sollen ruhig bleiben und nicht sprechen«, meldete sich die Ärztin und sagte zu meinem Besuch: »Gehen Sie jetzt bitte, der Patient braucht Ruhe.« Bevor Rückert sich umdrehte, klopfte er auf meine Schulter und sagte: »Mach dir keine Sorgen. Alles ist gut gegangen. Den Täter haben wir festgenommen. Ein Geständnis hat er auch schon abgelegt!« War ich froh! Ermattet wie nach einem Zehntausendmeterlauf streckte ich mich aus. So war das Loch in meinem Schädel doch nicht umsonst.
In meiner Müdigkeit hörte ich gerade noch, wie Kober beim Verlassen des Zimmers zu Rückert meinte: »Der ist immer noch besoffen oder spinnt!« Die nächsten Stunden verbrachte ich mit einem schläfrigen Dahindämmern. Ab und zu sah ein kleines Karbolmäuschen nach mir und schob mir eine Schnabeltasse zwischen die Lippen. Es schmeckte wie aufgebrühtes Wald- und Wiesenheu. Am Nachmittag strich das Karbolmäuschen mein Laken glatt und eröffnete mir: »Draußen ist Besuch für Sie!« Wer konnte schon zu mir kommen? Hoffentlich machte mir meine Mutter keine Vorwürfe. Sie hatte etwas gegen meinen Beruf als Volkspolizist. Rückert und Kober hatten in den Jahren ihrer Tätigkeit nie eine Beule abbekommen. Ausgerechnet mir mußte es in den ersten Wochen passieren. Die Krankenschwester öffnete die Tür und ließ den Besuch eintreten. Das war schlimmer als die rote Scheibe oder die Ohrfeigen austeilende Windmühle! In der Tür stand Alois Stemmler im dunklen Anzug, einen strickähnlichen Binder um den schwärzlichen Kragen des Hemdes geschlungen. Zu allem Überfluß hielt er den mir bekannten Pappkarton mit der Dampfmaschine unter dem Arm. Linkisch und unbeholfen trat er an mein Bett und stellte den Karton auf dem Nachtschrank ab. »Sie läuft! Heute vormittag habe ich es mit Spiritus probiert«, erklärte er stolz. Vor meinen Augen begann wieder das Zimmer zu kreisen. Rückert hatte doch gesagt, daß Stemmler sitzt und ein Geständnis abgelegt hatte. Das Karbolmäuschen war Klasse, sie griff Alois am Arm: »Unser Patient braucht viel Ruhe. Er wird sich sicher über Ihr Geschenk freuen.« Sie zog ihn zur Tür. Gleich darauf war die Ärztin mit dem Engelsgesicht da. Sie fühlte meinen Puls, und das Mäuschen steckte mir ein Fieberthermometer unter den Arm. Mir war alles egal. Am nächsten Morgen fühlte ich mich besser. Es war eines der Mäuschen aus der Schar der nach Desinfektionsmitteln riechenden Samarite-
rinnen, die mit Seife und Lappen meine Nase und den Körper bis zum Bauch abwuschen. »Schwester, wo bin ich?« fragte ich sie. »Im Kreiskrankenhaus!« antwortete sie und rubbelte mit einem Handtuch meinen Bauch trocken. In Wuttaburg gibt es kein Kreiskrankenhaus, also war ich in der Kreisstadt gelandet. »Wo sind meine Sachen, Schwester?« Sie deutete auf einen weißlackierten Schrank im Zimmer: »Dort! Warum? Ihre Mutter ist verständigt. Sie wird Ihnen Wäsche und Toilettensachen bringen.« »Ich muß hier raus!« ließ ich sie über meine Absichten nicht im Zweifel, »welchen Tag haben wir?« »Es ist Freitag, und wann Sie entlassen werden, entscheidet der Oberarzt.« »Schicken Sie mir den Oberarzt her«, verlangte ich forsch. »In einer halben Stunde ist Visite«, sagte das Karbolmäuschen und fuhr fort, meinen Rücken zu waschen. Nach einer halben Stunde war es soweit. Als gedienter Militär weiß man immer, wer was ist. Die Oberschwester riß die Tür auf, und als erste trat der kreisende Engel mit dem Hörrohr ins Zimmer. »Wie fühlen wir uns?« Sie trat an mein Bett. »Danke, gut, Frau Doktor!« antwortete ich mit viel Luft in der Stimme und hätte beinahe hinzugefügt: »Was heißt uns? Wie Sie sich fühlen, müssen Sie doch selbst wissen.« Den Weißkitteln hinter ihrem Rücken hauchte sie ein paar Bemerkungen zu, vermischt mit lateinischen Brocken, die ich nicht verstand. »Wann werde ich entlassen?« fragte ich ohne Umschweife. »Wenn ich es verantworten kann! Vorläufig bleiben Sie im Krankenhaus.« Seit wann haben Engel eine Tonart wie Unteroffiziere? Bevor ich protestieren konnte, war die Visite beendet.
Etwas später erschien das Karbolmäuschen vom Vortag. Die Stimmung ihrer Chefin schien abgefärbt zu haben. Ohne ein Wort zu sagen, knallte sie mir die Schnabeltasse mit Haferschleim zwischen die Zähne. Gegen Haferschleim hatte ich schon als kleiner Junge etwas. Als es auf dem Flur ruhig wurde, stieg ich aus dem Bett. Meine Beine waren knickrig wie luftlose Gummischläuche. Ein paar Minuten brauchte ich, um geradestehen zu können. An der Wand des Flures tastete ich mich zum Zimmer für kleine Jungs. »Halt! Wo wollen Sie hin?« umklammerte mich ein Karbolmäuschen. »Zu dem Örtchen mit dem Männlein an der Tür!« »Zurück ins Zimmer!« kommandierte sie, »ich bringe Ihnen einen Schieber.« »Damit können Sie warten, bis ich achtzig bin.« Ich schlich an der Wand weiter. Auf dem Kaiserthron überlegte ich. Raus mußte ich aus dieser Karbolfalle. Wenn nur die Beine nicht so schwach wären. Wie sagte doch unser Sportoffizier immer: Training ist der Vater der Stärke! Im Zimmer begann ich sogleich mit Kniebeugen. Heiliger Strohsack! Nach zwei Beugen reichte es gerade noch, den Rand des Bettes zu ergreifen. Unter dem Turban hatte ein Walzwerk die Schmiede abgelöst. Als das Werk seine Produktion wieder einstellte, fing ich erneut an. Zum Abendessen hatte ich eine Tasse Tee und zwei Scheiben Brot, die so dünn wie die Wurst waren, in mich geschafft. Die Nachtschwester fand einen erschöpften Patienten vor, der ihre Nachtruhe kaum stören würde. Beim Anziehen der Hose mußte ich mich auf das Bett setzen. Glück hatte ich immer so viel, wie nötig war. Die Nachtschwester konnte schwören, daß ich das Krankenhaus nicht durch den Eingang verlassen hatte. Mein Zimmer lag im Erdgeschoß. Der Zaun bereitete mir einige Mühe, aber was ist die Umzäunung eines Krankenhauses gegen eine Kampfbahn? Jede Stadt hat einen Bahnhof. Der nächste Zug fährt erst kurz vor Mitternacht nach Wuttaburg ab. Zu spät, um Rückert noch bei der Arbeit anzutreffen und ihn zu fragen, warum der Täter mir die Dampfmaschine bringen konnte.
Einen Brand hatte ich. Doch was würde der Kellner in der Mitropa zu meinem Turban sagen? Vielleicht war mein Verschwinden schon bemerkt? Meine Rettung waren zwei Taxen, die vor dem Bahnhof auf den nächsten Zug warteten. »Nach Wuttaburg!« verlangte ich. Der Fahrer machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Ach so, der Turban! »Ich komme aus dem Krankenhaus und muß nach Hause!« Taxifahrer sind allerhand gewöhnt. Warum nicht einen Patienten fahren, obwohl das gewöhnlich die Krankenwagen taten. Ganz traute er mir wohl nicht. Er stellte den Innenspiegel so, daß er mich beobachten konnte. Als ich am Ortseingang von Wuttaburg den VP-Gruppenposten als Ziel angab, zweifelte er nicht mehr an meiner Lauterkeit, aber gewundert hat er sich doch. Die Streitmacht des Gruppenpostens bestand nur aus meinem Freund, dem Leutnant Forst. »Der Hauptmann und Genosse Kober sind vor etwa zwei Stunden fortgefahren«, erklärte er mir. »Wohin?« »Wenn ich richtig gehört habe, wollten sie den Erfolg begießen.« »Dann find’ ich sie«, verabschiedete ich mich und ging auf das Taxi zu. Der Fahrer mußte wohl oder übel warten. Keine Mark hatte ich in der Tasche. Meine Geldbörse lag wohlverwahrt in der Verwaltung des Krankenhauses. Mein Glück, daß mein Dienstausweis mit einem Lederriemen am Jackett befestigt war. Der Taxifahrer wollte streiken, als ich ihm den Weg in den Wald wies. Ein Dienstausweis ist mehr wert als ein Geldschein. Für einen Zwanzigmarkschein hätte der Taxifahrer seinen Wolga nicht zur Datsche des schönen Erwin gesteuert. In der Datsche brannte Licht. Sie feierten ihren Erfolg. Bei dem Motorengeräusch hatten sie Kober als Aufklärer nach draußen geschickt. Der war perplex, als er mich erkannte, und so geschockt, daß er ohne Aufbegehren die Taxe bezahlte.
Hauptmann Rückert und der schöne Erwin ließen sich die Überraschung über mein Auftauchen nicht anmerken. »Schon entlassen?« war alles, was Rückert zur Begrüßung herausbrachte, »die Oberärztin hat doch gesagt, mindestens acht Tage Krankenhausaufenthalt.« »Sie hat mich heute untersucht und nichts gefunden«, antwortete ich betont gleichgültig. »Bist du noch krank geschrieben?« wurde mein Hauptmann genauer. »Sie will mich am Montag noch einmal untersuchen«, stotterte ich. Kober kam zurück und warf mir einen Seitenblick zu, als wollte er mich vergiften. Ein Weinglas in meiner Hand hatte die Fronten geklärt. Für heute blieb er der Kraftfahrer. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach so…«, begann der schöne Erwin zu erzählen. Ich hatte darauf gewartet, nun endlich zu erfahren, wer in Wuttaburg die Scheune angesteckt hatte und warum der Täter mich im Krankenhaus besuchen konnte. Statt dessen mußte ich dem schönen Erwin zuhören. In der Hütte war es warm, und der Wein erfrischte mich. Hier fanden mich kein Karbolmäuschen und keine Oberärztin. Wenn es sein mußte, konnte Kober mich ja im Krankenhaus wieder absetzen. Das Fenster stand bestimmt noch offen. Später, unter vier Augen, werde ich Rückert reinen Wein einschenken und erklären, daß er den Falschen eingesperrt hatte. Als der schöne Erwin endlich eine Pause machte, hielt es mich nicht länger. »Wer hat nun die Scheune in Wuttaburg angesteckt?« fragte ich Rückert geradeheraus. Rückert stocherte mit dem Schüreisen im Kaminfeuer. »Bei Alkohol sollte nicht über laufende Ermittlungsverfahren gesprochen werden! Aber hier sind wir ja unter uns«, meinte er mit einem Blick auf den schönen Erwin.
»Hättest seine Bekanntschaft machen können, wenn die Sülze mit dem Moped nicht dazwischengekommen wäre!« fuhr Rückert fort. »Joachim Fiege heißt er, ein Transportarbeiter. Es war nicht einfach, ihn aus dem Kreis der Überprüften und Verdächtigen herauszufischen.« »Hat Fiege die Tat zugegeben?« zweifelte ich. Rückert schaute mich verwundert an. »Blieb ihm doch nichts anderes übrig. Genosse Kober hat mit dem Zeit-Weg-Diagramm entscheidend dazu beigetragen.« »Womit ich meine Stullen einwickeln sollte«, warf Kober boshaft ein. Er konnte mich nicht beirren: »Warum hat er die Scheune angebrannt?« »Nicht nur die Scheune«, belehrte mich Rückert, »die Gokeleien im Kindergarten und an der Verkaufsstelle hat er auch gestanden. Aus Rache hat er die Brände gelegt. Wollte der Feuerwehr eins auswischen, weil die seine Bewerbung zur Freiwilligen Feuerwehr abgelehnt hatte.« Ich kroch in meinem Sessel zusammen. »Du hast wohl etwas anderes erwartet?« fragte mich Rückert. »Ehrlich gesagt, ja!« nahm ich meinen Mut zusammen, »für mich stand bis jetzt fest, daß nur ein gewisser Alois Stemmler der Brandstifter sein kann!« stieß ich heraus. Die Wirkung meiner Worte war verblüffend. Rückert und Kober sprangen wie von der Tarantel gestochen auf. Nur Maresch blieb ruhig. »Wie kommst du auf diesen Namen? Raus mit der Sprache! Was hast du hinter meinem Rücken angestellt?« bellte Rückert mich wütend an. Ich schaute zu Maresch. Ob der mir aus der Patsche half? »Am Tatort wurde doch der komische Verschluß von einem alten Kanister gefunden«, begann ich, »Genosse Maresch sagte dazu, daß die Dinger früher auf den Schuttplätzen herumlagen…« Und ich erzählte alles, bis zum Sturz mit dem Moped. Nach meiner Beichte blieb alles still, bis Rückert sich räusperte: »Du kannst auch den Schluß erfahren. Auf Stemmler sind wir auch ohne dich gekommen. Heute vormittag habe ich ihn als Zeugen vernommen. Er hat mit der Geschichte nichts zu tun.
Fiege hat in seiner Vernehmung zum Verbleib des Benzinkanisters, mit dessen Inhalt er das Stroh tränkte, erklärt, den Kanister von Stemmler ausgeliehen zu haben. Das hat Stemmler bestätigt. Den Kanister, zu dem der am Tatort gefundene Verschluß gehört, haben wir bei Stemmler ordnungsgemäß beschlagnahmt. Und nun zu dir! Wenn du Wert auf eine weitere Zusammenarbeit mit mir legst, dann unterlaß in Zukunft solche Kapriolen. Wenn du mit deinem Verdacht zu mir gekommen wärst, hätten wir den Fiege einfacher und schneller überführen können!« Seine Stimme klang schon nicht mehr wütend. »Was soll ich mit Superkriminalisten anfangen?« fragte er Maresch. »Was wäre mir damals geschehen, wenn ich hinter deinem Rücken auf eigene Faust auf Ermittlungen gegangen wäre?« Der schöne Erwin lachte herzhaft: »Einen strengen Verweis wegen der Eigenmächtigkeit und eine Prämie für vorbildliche Initiative!« »Den Verweis bekommt er auf alle Fälle«, Rückert blieb ernst, »die Prämie kann er sich aus dem Kopf schlagen!« Ganz überraschend wandte er sich an mich: »Was hast du noch zu beichten?« Ich schüttelte meinen Turban: »Nichts, das war alles!« »Und deine Entlassung aus dem Krankenhaus, mitten in der Nacht?« O weh! Mit einem Nicken bestätigte ich seinen Verdacht: »Mich hielt es nicht mehr im Krankenhaus. Ich wollte wissen, warum Stemmler frei herumläuft und mich besuchen konnte.« »Also abgehauen? Bist du denn total verrückt? Wer soll das ausbügeln! Ich nicht! Genosse Kober wird dich sofort zurückfahren. Sieh allein zu, wie du damit klar kommst!« Kober half mir über den Zaun. Im Krankenhaus war alles ruhig. Den Zaun zwischen uns, meinte er zum Abschied: »Du bist vielleicht eine Marke!« Mich plagten andere Sorgen. »Ob Rückert mich nun fortjagt?« fragte ich. »Ach Quatsch!« antwortete er leise, »bei dem hast du einen Stein im Brett. Verweise werden auch wieder gelöscht!«
Früh weckte mich die Nachtschwester. »Wo waren Sie denn in der Nacht so lange?« »Ich hatte Bauchschmerzen«, war meine Erklärung. Es stimmte ja auch.
Am zweiten Abend
brannte das Feuer schon im Kamin, bevor die Runde der Bacchusjünger vollständig war. Die züngelnden Flammen brachten Leben in die Glasaugen des alten Keilers. Gerd Kober rückte die Buchenscheite im Herd zurecht und plagte sich mit Zitronen ab, deren Schalen er mit einem faustgroßen Stück Kandiszucker in den Kupferkessel rieb. Endlich erschienen auch mein Hauptmann und der schöne Erwin. Alle sahen Kober erwartungsfroh zu, und als er den Inhalt von zwei Flaschen Cuba-Rum in den Kupferkessel glucksen ließ, schnalzte der schöne Erwin mit der Zunge und sagte: »Wenn mich nicht alles täuscht, wird es auch heute einen Männertrunk geben. Er soll es mir leichter machen, eine Geschichte von Genossen Rückert und mir zu erzählen, in der ebenfalls ein Brandstifter eine Rolle spielt.« Die Augen des Keilers blinzelten mir zu. Keine Sorge, du alter Waldschreck, ich habe dich verstanden. Die Geschichte vom Brandstifter des schönen Erwin werde ich der Nachwelt zu erhalten wissen.
Urpunsch Man nehme etwa zwölf Zitronen, reibe von sechs bis acht die Schalen ab und verrühre sie mit Zucker, presse dann den Saft aller Zitronen aus und gebe ihn zusammen mit einem Kilogramm Zucker in die bereitgestellte Terrine. Darüber legt man einen Durchschlag mit den Schalen aller Zitronen und gießt zwei bis drei Maß Teewasser hindurch (je nachdem, wie süß man den Punsch liebt). Zuletzt kommt ein Maß (oder mehr) Rum dazu; den Inhalt der zugedeckten Terrine läßt man auf einer Kohlenpfanne ziehen.
Die Rache Es war die Zeit zwischen Nacht und Morgengrauen. Nebel kroch aus den Wiesen und Büschen, füllte die Senken und Niederungen. Der alte klapprige Lastkraftwagen der Molkerei schlich stuckernd durch die Schwaden, die wie graue Bänke über dem Feldweg standen. Das spärliche Licht der beiden Scheinwerfer reichte gerade noch hin, ein paar Meter des zerfahrenen Weges und die verknorpelten Weidenbäume an seinem Rand zu erkennen. Jeder Stoß, jedes Schlagloch ließ die. Milchkannen auf dem Wagen scheppernd zusammenschlagen. Wieder war der Wagen mit der Vorderachse in eine Querrinne gerumpelt und warf die beiden Männer im Führerhaus fast von den Sitzen. Gleichzeitig erlosch das Licht des rechten Scheinwerfers. »Verdammter Mist!« schimpfte der Kraftfahrer, »jetzt ist die letzte Birne auch noch hin.« »Ist es noch weit bis zum Dorf?« fragte sein Begleiter. »Knappe zwei Kilometer. Bis wir dort sind und die Kannen auf dem Wagen haben, wird hoffentlich der Nebel hoch sein«, erhielt er zur Antwort. Rumpelnd kroch der Wagen in der ausgefahrenen Spur weiter. »Hast du noch ein paar Tabakkrümel, Egon?« ließ sich nach einer Weile die Stimme des Beifahrers wieder vernehmen. »Für zwei Selbstgedrehte wird es noch reichen«, entgegnete Egon, »warte bis zum Dorf. Bei dem Geschüttel im Wagen geht zu viel daneben.« Unvermutet tauchte im Nebel das erste Gehöft auf. »Gott sei Dank! Wir haben es erst einmal geschafft. Ein Wunder, daß der alte Karren durchgehalten hat. Wenn wir aus dem Dorf heraus sind, wird die Straße wieder besser. Diesen Weg fahre ich nicht mehr. Falls er nicht ausgebessert wird, können mich alle…« Ein Krachen und Splittern
von Holz unterbrach den Satz. Instinktiv hatte sich Egons Fuß gegen die Bremse gestemmt, so daß der Wagen ruckartig zum Stehen kam. Nachdem das Scheppern der Kannen verstummt war, fiel die Stille wie ein böses Omen über die Männer. »Was war das?« fragte Egon noch unter dem Schreck des ersten Augenblickes. In der milchigen Dämmerung hatte er nichts erkennen können. »Du bist gegen etwas gefahren«, antwortete der Beifahrer. »Idiot! Das habe ich auch gemerkt«, schrie Egon und sprang mit einem Satz vom Führerhaus auf die Erde. Mit raschen Schritten lief er um die dampfende Kühlerhaube des Lastkraftwagens. »Mein Gott!« rief er aufgeregt, »komm rasch raus, wir haben einen überfahren.« Ein Handwagen, von der Wucht des Anpralls halb umgeworfen, lag mit zerbrochener Deichsel neben dem rechten Vorderrad des Milchautos. Egon schlug sich verzweifelt mit den Fäusten vor den Kopf: »Der verfluchte Scheinwerfer und der Nebel. Ich habe nichts gesehen. Ob er noch lebt?« Seine bange Frage bezog sich auf den reglosen Körper eines Mannes, der mit dem Rücken nach oben auf dem. Gefährt lag. Unnatürlich langgestreckt hingen seine Beine aus dem Handwagen heraus, und die Arme ragten wie angeknickt über die Seitenwände. Vorsichtig näherte sich der Beifahrer dem Hingestreckten. Mit zaghafter Bewegung faßte er eine Hand des Mannes: »He, Sie, ist Ihnen etwas passiert?« Auch das Schütteln des Armes bewirkte keine Reaktion. »Den hat es aber böse erwischt! Der atmet ja gar nicht! Komm, wir hauen ab. Gesehen hat uns keiner«, wollte der Beifahrer allem Ungemach aus dem Wege gehen. »Du bist total verrückt«, Egon nahm sich zusammen, »die haben uns sofort. Um diese Zeit fährt hier kein anderer Wagen. Wir brauchen Hilfe. Da drüben«, er deutete mit einer Kopfbewegung nach ein paar erleuchteten Fenstern auf der anderen Seite des Dorfplatzes, »das ist der Stall des Bürgermeisters. Lauf hin und hole ihn her! Beeil dich!« Mit dem Beifahrer an der Seite kam der Bürgermeister direkt vom Viehfüttern auf den Lastkraftwagen zugerannt.
»Ist was, Egon?« wollte er wissen, »aus dem Gequatsche deines neuen Beifahrers werde ich nicht schlau.« »Ein Unfall, Bürgermeister! Ich hab’ den Handwagen nicht gesehen. Ein Katzenauge ist auch nicht dran. Ich kann nichts dafür«, versuchte Egon sich zu rechtfertigen. Der Bürgermeister war dicht an den Reglosen im Handwagen herangetreten. »Lebt er noch?« »Wir wissen es nicht!« antwortete der Beifahrer. »Packt mal mit an! So kann er nicht liegenbleiben.« Der Bürgermeister nahm resolut die Beine des Mannes hoch. »Wir müssen ihn auf den Rücken legen. Am besten vorne im Scheinwerferlicht.« Mit kurzen Schritten trugen sie den Leblosen in das Licht des linken Scheinwerfers und legten ihn mit dem Rücken auf die Erde. »Das ist doch Heinrich, unser Stellmacher!« rief der Bürgermeister überrascht aus, »was hat der um diese Zeit mit einem Handwagen auf dem Dorfplatz zu suchen?« Er beugte sich tief zu dem Liegenden hinunter und tätschelte ihm das Gesicht, dabei leise rufend: »Heinrich, wach doch auf!« »Der ist tot«, richtete sich der Bürgermeister nach einer Weile auf, »aber wartet mal, wann ist das Unglück passiert?« »Eben, jetzt! Kurz bevor wir dich holten«, antwortete Egon mit belegter Stimme. »Der war schon tot, bevor du ihn angefahren hast«, konstatierte der Bürgermeister in einem Ton, der keine Widerrede erlaubte, »ich habe im Kriege mehr als einen Toten gesehen. Der hier ist schon seit Stunden hinüber. In den Beinen hat die Leichenstarre bereits eingesetzt. Für Heinrich kommt jede Hilfe zu spät. Wir werden ihn nach Hause bringen. Der Arzt kann dann den Totenschein ausschreiben.« Die Worte des Bürgermeisters rissen Egon aus seiner Lethargie: »Nichts da! Der bleibt hier, bis die Polizei kommt!« »Die macht ihn auch nicht wieder lebendig. Und warum Polizei? Was soll Polizei bei uns hier im Dorf? Der Arzt genügt!« versuchte der Bürgermeister seine Absicht durchzusetzen.
»Bis die Polizei hier ist, rührt mir keiner den Toten an«, sagte Egon stur. »Meinetwegen, mach, was du willst«, brabbelte der Bürgermeister halblaut, »deck ihn aber wenigstens mit einer Decke zu. Ich rufe den Arzt und die Polizei an.« Er ließ die beiden Männer beim toten Heinrich zurück. »Ob es stimmt, daß er schon vor dem Zusammenstoß tot war?« nahm der Beifahrer das Gespräch auf, nur um etwas zu sagen. »Was weiß ich!« entgegnete Egon, sich an die Motorhaube lehnend, »mir ist schlecht!« »Setz dich doch!« Der Beifahrer zog ihn auf das Trittbrett des Autos. »Jetzt könnte ich ein paar Züge gebrauchen«, begann er erneut, auf Egons Tabaksbeutel anspielend. »Hier, nimm!« reichte ihm Egon mit fahriger Hand den Beutel hin, »dreh mir auch eine. Meine Hände zittern so, daß ich das Blättchen nicht halten kann.« Er drehte das Papier geschickt mit dem Tabak zusammen, wischte mit der Zunge über den Klebestreifen und steckte Egon die Zigarette in den Mund. Mit gleicher Geschwindigkeit war auch sein Stäbchen gerollt. »Hoffentlich ist die Polizei bald da«, meinte der Beifahrer nach zwei tiefen Zügen, dabei den fast leeren Tabaksbeutel musternd. »Mir egal. Und wenn es eine Woche dauert. Ich bleibe hier, bis die Polizei kommt!« preßte Egon hervor. Immer deutlicher waren im aufsteigenden Nebel die Konturen der Häuser um den Dorfplatz sichtbar geworden. Mit der Durchsichtigkeit des Nebels nahm auch die Helligkeit des Morgens zu. Die Stille des Dorfes mit seinen verhaltenen Geräuschen aus den Viehställen wurde jäh durch das Schlagen von Türen und dem hellen, spitzen Kreischen einer Frauenstimme unterbrochen. Trippelnd, im langen schwarzen Rock, mit einem lose baumelnden Zopf, näherte sich eine alte Frau der Unglücksstelle. Ein stämmiger Mann mittleren Alters, der sich noch im Laufen die Hosenträger anknöpfte, blieb an ihrer Seite. Mit einem Aufschrei warf sich die Frau über den Toten.
»So ein Unglück, so ein Unglück!« jammerte sie schrill ohne Unterbrechung, den Toten über das Gesicht streichelnd, von dem sie die Decke weggezogen hatte. Ihr Schwiegersohn hielt sie fest, ohne sie von der Leiche aufzuheben. Er hatte nur kurz in das Antlitz des Toten gesehen, dann warf er einen schneidenden Blick vom umgekippten Handwagen zu den beiden Männern, die sich schuldbeladen vom Trittbrett erhoben hatten. Verlegen suchte Egon dem vorwurfsvollen, ja beinahe feindseligen Blick des Mannes auszuweichen. Wenn doch bloß erst die Polizei oder auch nur der Bürgermeister da wären, wünschte er sich. »Heinrich, mein Heinrich!« lamentierte die Frau ununterbrochen weiter, mit ihrer schrillen Stimme das Dorf weckend. Für Egon war das Auftauchen des Bürgermeisters wie eine Erlösung oder Rettung aus unbestimmter Gefahr. »Die Polizei wird gleich kommen, und der Arzt ist schon unterwegs«, sagte der Bürgermeister, halb zum Schwiegersohn des Toten gewandt, um sie von vornherein vor jeder Unbesonnenheit zu bewahren. Die Frau hatte die Decke ganz vom Körper des Toten zurückgeschlagen. Ohne Übergang ging ihr Schluchzen in eine kreischende Frage über: »Wo sind seine Schuhe, seine neuen Schuhe?« Was von allen bisher unbemerkt geblieben war, hatte sie mit einem Blick erfaßt: Der Tote war ohne Schuhe. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich die Alte an den Bürgermeister. »Das Jackett!« rief sie, »falsch zugeknöpft. Das hat Heinrich nie gemacht. Hier war ein Fremder dran.« Ihre Augen blitzten zu Egon und seinem Beifahrer. Tatsächlich war die Anzugsjacke falsch zugeknöpft. Erst im dritten Knopfloch steckte der unterste Knopf. Mit einer flinken Bewegung hatte die Frau in die Innentasche des Jacketts gegriffen und die Brieftasche herausgenommen. Über den Toten gebeugt, zählte sie vor sich hinmurmelnd ein paar größere Geldscheine durch. »Bestohlen!« kreischte sie mit einem Male auf, »vierhundert Mark fehlen! Mein Heinrich ist beraubt worden!«
Tatenlos hatten die Männer dem Tun der Frau zugesehen. Keiner hatte ein Wort gesagt. Ihre Blicke richteten sich auf den Bürgermeister. Mit einem Räuspern wandte sich dieser an den Stämmigen: »Es ist besser, Franz, wenn du mit deiner Schwiegermutter nach Hause gehst. Die Polizei wird gleich da sein. Ich bleibe so lange hier.« Widerstrebend ließ sich die Frau von ihrem Schwiegersohn fortführen. »So ein Unglück! Mein armer Heinrich! Ohne Schuhe und bestohlen!« schallte ihre Stimme jammernd über den Dorfplatz. Egon und sein Beifahrer wagten nicht, sich nach diesen Vorwürfen von ihrem Platz neben der Tür des Milchautos zu entfernen. Die beiden nicht aus den Augen lassend, schielte der Bürgermeister um den LKW, wo der Handwagen lag. Weder dort noch unter dem LKW waren die verschwundenen Schuhe zu entdecken. Auch die schwarze abgegriffene Brieftasche, die die Frau wie eine stumme Anklage auf der Brust des Toten liegengelassen hatte, behielt der Bürgermeister im Auge. Die Schreie der Frau hatten das Dorf geweckt und wie ein Lauffeuer die Nachricht vom Tod des Stellmachers in alle Gehöfte getragen. Einzeln und in kleinen Gruppen kamen Neugierige der Unglücksstelle am Rande des Dorfplatzes näher. Ihr Bürgermeister, der wie eine Schildwache vor dem Toten und den beiden Männern am Auto stand, hielt sie noch in gebührendem Abstand. Sie steckten die Köpfe zusammen und sprachen leise miteinander, ohne daß auch nur Wortfetzen zu den Männern bei dem Toten gedrungen wären. Im Licht des Morgens war der Nebel zerronnen. Immer mehr Bewohner des Dorfes hatten sich auf dem Platz eingefunden. Allmählich rückte der Kreis der Neugierigen näher an den Toten. Längst gab Egons Tabaksbeutel kein Krümelchen mehr her, und immer häufiger zog der Bürgermeister seine Taschenuhr. Endlich war aus der Straße, die zum Dorfplatz führte, das Geräusch eines Motors zu hören. Der fremde Ton unterbrach die wispernde Stille, die bei den zwei Männern am Auto das Gefühl der Angst anwachsen ließ. Aufatmend steckte der Bürgermeister zum letzten Male seine Uhr ein. Nach den Buchstaben am Anfang des polizeilichen Kennzeichens
konnte es nur die Polizei sein, und damit war er aller weiteren Verantwortung enthoben. Fast unmerklich schoben sich die Gruppen der Neugierigen weiter auseinander. Grüppchenweise zogen sich die Leute in ihre Anwesen zurück. Es war unverkennbar: ihre Scheu, in irgendeiner Form bei der Untersuchung mit einbezogen zu werden, war größer als ihre Spannung. Möglich auch, daß zu ihrem Verschwinden das Aussehen des Mannes beitrug, der als erster dem froschgrünen PKW entstieg. Denn seine Erscheinung paßte so gar nicht in das Dorf mit seinen grauen Häuserwänden und den Bewohnern in ihrer Stallkleidung. Fast unüberbrückbar schien in diesem Augenblick der Unterschied zwischen Stadt und Land, verkörpert in der Gegenüberstellung des Angekommenen mit dem Bürgermeister. Wo bei dem einen die dünne verblichene Drillichjacke ihre Nähte über den Bauch spannte, saß bei dem andren der lose geschlungene Gürtel eines hellen Trenchcoats und unterstrich die schmalen Hüften. Sein heller, breitrandiger Filzhut über den dicht anliegenden, fast weißblonden Haaren ließ kaum einen Vergleich zu mit der am Schirm abgegriffenen Segeltuchmütze, die den spärlichen Haarwuchs auf dem Kopf des Bürgermeisters bedeckte. Das selbstbewußte Auftreten des Mannes im hellen Trenchcoat, wie er mit der behandschuhten Rechten nonchalant den Rand seiner Hutkrempe berührte und damit einen Gruß gegenüber dem Bürgermeister andeutete, hätte ein Schauspieler nicht besser für die Filmkamera einstudieren können. Und doch war alles nur Pose des schönen Erwin. »Kleider machen Leute«, soll er einmal gemeint haben, als einige versuchten, ihn wegen seiner immer scharfen Bügelfalten, dem obligatorischen Schlips und den Maßanzügen aufzuziehen, »und wenn der, der ordentliche Kleidung trägt, auch noch genügend Grips im Kopf hat, kann er ein erfolgreicher Kriminalist werden.« Seine engsten Mitarbeiter kannten ihn freilich auch anders. Als sie eines Nachts bei einer Koppel einer bewaffneten Viehräuberbande einen Hinterhalt legten, unterschied sich seine Kleidung kaum von der der anderen. Er, der sonst kein Stäubchen auf seinem Anzug duldete, lag langgestreckt neben seinen Genossen am morastigen Rand eines Wasser-
lochs, ohne sich um die schmutzigen Flecken auf seiner Joppe und den Stiefeln zu kümmern. Gelassen, ganz Herr der Situation, war der schöne Erwin an den Bürgermeister herangetreten. »Sie sind der Bürgermeister?« »Jawohl, Herr Kommissar!« Unwillkürlich versuchte der Bürgermeister seinen Bauch etwas einzuziehen, die Brust herauszudrücken und die Hacken zusammenzustellen. »Oberkommissar Maresch, Leiter der Spezialkommission«, stellte sich der schöne Erwin vor. Maresch ließ seine Augen hinter der dunklen Brille zwischen dem Bürgermeister, dem Toten und dem Lastkraftwagen mit den beiden Männern hin und her wandern. »Ein Verkehrsunfall?« schnarrte er den Bürgermeister an. »Ja – aber…«, begann der Bürgermeister. Maresch ließ ihn nicht ausreden: »Warum haben Sie nicht die zuständige Verkehrspolizei verständigt?« Am liebsten hätte der Bürgermeister bei diesem Vorwurf das Taschentuch gezogen und sich über seine Stirn gewischt. »Ich dachte«, begann er erneut, »der Heinrich war schon tot, bevor er totgefahren wurde.« »Tote totzufahren ist Blödsinn!« erwiderte Maresch sarkastisch. Dieser geschniegelte Affe macht mich ganz nervös, dachte der Bürgermeister. Maresch ließ ihm keine Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. »Wer hat den Mann vor das Auto gelegt?« Beinahe hätte der Bürgermeister wie ein examinierter Schüler den Finger gehoben. »Ich und die Männer vom Milchauto«, deutete er mit einer Kopfbewegung auf Egon. »Warum?« ließ Maresch sein Gegenüber nicht zur Ruhe kommen. »Es war noch dunkel«, stotterte der Gefragte, »im Scheinwerferlicht wollten wir sehen, ob er noch lebt.« »Lebte er noch?« »Nein«, beeilte sich der Bürgermeister zu versichern, »der war schon steif.«
»Sind Sie Arzt?« Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. Ihm wurde immer unbehaglicher. Mit diesem Oberkommissar schien nicht gut Kirschen essen. Womöglich dreht der mir noch einen Strick daraus, daß ich den Toten hochgehoben habe und die Witwe an ihn ließ. Seine Gedanken kreisten um ein Ziel: So schnell wie möglich weg von hier! Was ging ihn der tote Heinrich an? Mit den Spitzen seiner behandschuhten Finger hatte Maresch die Decke vom Toten zurückgeschlagen. »Ist Ihnen der Tote bekannt?« wollte er vom Bürgermeister wissen. »Ja, es ist Tausendmark-Heinrich«, stieß der Bürgermeister, aus seinen Gedanken gerissen, hervor. »Das sind doch keine Personalien! Was soll ich damit anfangen?« Mareschs Stimme hatte wieder ihren schnarrenden Ton angenommen. »Entschuldigen Sie, sein Spitzname, weil er immer tausend Mark bei sich trug. Er heißt Heinrich Krumbholz, Stellmacher hier im Dorf!« Der Bürgermeister hatte sich wieder gefaßt. »Und wo sind seine Schuhe?« fiel die nächste Frage über den Bürgermeister her. Der hob seine Schultern und blickte so angeregt nach Egon und seinem Beifahrer, daß es Maresch nicht verborgen bleiben konnte. »Rückert, sehen Sie mal im LKW nach!« wandte sich Maresch an den Kriminalisten, der nach ihm aus dem alten PKW gestiegen war und in aller Ruhe damit begonnen hatte, vom Ort des Geschehens Übersichtsaufnahmen zu machen. Rückert hatte trotz aller Ehrfurcht vor dem Toten beim Auftritt seines Chefs kaum ein Grinsen unterdrücken können. Der Alte – dabei betrug der Altersunterschied kaum zehn Jahre – zieht ja heute wieder eine Show ab, dachte er. Er kannte die Methode seines Chefs. Den Bürgermeister hatte er fast geschafft, und das bedeutete, daß sich sein Ruf schnell im Dorf verbreiten würde. Die später noch befragt werden mußten, gingen schon mit gemischten Gefühlen zu dem Oberkommissar und würden sich hüten, nach Ausflüchten zu suchen. Rückert war an Egon und seinen Beifahrer herangetreten. Leise fragte er: »Habt ihr die Schuhe?«
Immerhin – . jetzt nach dem Kriege hatten die Schuhe schon ihren Wert. »Nein, nie gesehen«, antwortete schnell der Beifahrer, dem es immer ungemütlicher wurde. Wenn der von der Kripo schon so viele Fragen an den Bürgermeister hatte, was würde ihm dann erst bevorstehen. »Hier, sehen Sie selber nach.« Egon machte die Tür zum Führerhaus auf. Rückert warf einen kurzen Blick hinein. »Nichts, Chef«, rief er Maresch zu, »keine Schuhe da.« Maresch wandte sich wieder dem Toten zu. Sein Blick hinter den dunklen Brillengläsern fiel erst auf die Brieftasche und blieb dann wie durchbohrend an Egon hängen. »Wie kommt die Brieftasche auf die Brust des Toten?« fragte er mit schnarrender Stimme. In Egons eben noch leichenblasses Gesicht schoß die Röte der Erregung. »Ich habe sie nicht angefaßt«, antwortete er und sah dabei hilfeheischend auf den Bürgermeister. »Das stimmt«, versicherte dieser, »die hat die Frau vom Heinrich dahin gelegt!« Mareschs Blick ließ den Bürgermeister nicht los. Für ihn war eine solche Befragung mehr als ein Nervenkitzel, sie war eine Bestätigung seines Ichs. Er wollte sein Gegenüber zum Sprechen bringen, ohne Fragen zu stellen. »Ich konnte es nicht verhindern«, fuhr der Bürgermeister nach einer scheinbar endlosen Zeit fort, dabei seine schweißnassen Hände an den Hosen abwischend. »Heinrichs Frau war mit einem Male da und hat gleich nach der Brieftasche gesehen«, versuchte er zu erklären, um dann hastig hinzuzusetzen, »und vierhundert Mark fehlen auch!« »Wer hat die Brieftasche noch angefaßt?« wollte Maresch wissen. »Keiner!« beeilte sich der Bürgermeister mit einer Antwort. »Wird beschlagnahmt!« schnarrte Maresch mit einem Ton, der keine Widerrede duldete und doch überflüssig war, weil Rückert schon mit einer Pinzette und einer Papiertüte neben der Leiche stand, um die Brieftasche spurensicher aufzubewahren.
Die höher steigende Morgensonne hatte die letzten Nebelfetzen aus dem Dorf vertrieben. Mit dem Nebel waren auch die Neugierigen in den Häusern verschwunden. Nur die Bewegung der Gardinen hinter den Fenstern verriet, daß ihre Neugier noch nicht abgeflaut war und sie nach wie vor die Vorgänge auf dem Dorfplatz verfolgten. »Und jetzt bringen Sie die Leiche wieder dahin, wo Sie sie gefunden haben«, verlangte Maresch vom Bürgermeister und den beiden Kraftfahrern, »aber ein bißchen Beeilung!« Prustend und ächzend hob der Bürgermeister, unterstützt von Egon und seinem Beifahrer, den Toten hoch. Etwas später lag der tote Heinrich wieder mit dem Gesicht nach unten auf dem Handwagen neben dem Vorderrad des Lastkraftwagens. Den weichen Filzhut ins Genick geschoben, umkreiste Maresch den Handwagen. Irgendwoher hatte er ein Stück Kreide gezaubert und umrandete die frischen Anstoßstellen am Kotflügel und der Stoßstange des Autos. Sein heller Trenchcoat hatte die ersten Staub- und Schmutzstellen, ohne daß er sich darum kümmerte. Das war kein Theater, kein Zur-Schau-Stellen mehr. Maresch hatte sich nach den ersten Informationen ganz auf die Rekonstruktion des Geschehens eingestellt. Rückert hatte inzwischen die Schleif spur des Handwagens und die Bremsspuren des Lastkraftwagens mit Kreidepulver markiert, sein Stativ aufgestellt und eine Platte nach der anderen belichtet. Der Bürgermeister und die beiden Kraftfahrer sahen der Arbeit der Kriminalisten zu, ohne sich zu rühren oder ein Wort zu wechseln. Maresch, der fast unter den Lastkraftwagen gekrochen war, richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf. »Was meinst du?« wandte er sich leise an Rückert, ohne daß die anderen es hören konnten. »Wenn der Tote so gelegen hat, wie er jetzt auf dem Handwagen liegt, muß er in der letzten Sekunde seines Lebens wie ein Akrobat gesprungen sein! Stell dir vor: Da zieht einer einen leeren Handwagen, bekommt von hinten einen Stoß. Statt nach vorne oder zur Seite geworfen zu werden, macht er einen Salto mortale und landet mit dem Gesicht nach unten in
einem um fast fünfundvierzig Grad umgekippten Handwagen. Ich habe schon viele Unfälle bearbeitet, aber in solcher Lage habe ich noch keinen Verletzten oder Toten gefunden. Außerdem habe ich bis jetzt weder an der Kleidung des Toten noch am Auto Spuren gefunden, die auf einen Anstoß hindeuten.« »Langsam, langsam, Gerhardt!« unterbrach Maresch den Redeschwall seines sonst schweigsamen Mitarbeiters, »komm mal her und sieh dir das an.« Und er zeigte auf den Hinterkopf des Toten. Der tote Heinrich präsentierte den beiden Betrachtern eine fast klassisch zu nennende Hinterkopfglatze. Bis fast in den Nacken reichte die von einem spärlichen Haarkranz umgebene kahle Halbkugel. Ihren einstigen spiegelnden Glanz hatte sie jedoch eingebüßt. Unter kurzen Strohhalmen, die sich im Haarkranz verfangen hatten, gab es mehrere quadratzentimetergroße, frisch verharschte Schürfwunden. »Schon gesehen«, dämpfte Rückert seinen Chef, »unter der Lupe ist deutlich zu erkennen, daß es sich um eine Schürfwunde handelt. Wenn die der alte Ford verursacht hätte, wäre dort ein Loch oder eine Beule, so groß wie ein Hühnerei.« »Und wenn er doch angefahren wurde, und die beiden Kraftfahrer haben ihn danach in den Handwagen gepackt?« wandte Maresch ein. »Glaub’ ich nicht«, ließ sich Rückert von seiner Theorie nicht abbringen. »Allein schon die Lage des Handwagens. Die Deichsel ist abgebrochen und liegt mitten unter dem Lastkraftwagen. Nur der Stumpf der Deichsel hat sich nach dem Anprall unter dem Kotflügel verkeilt und den Handwagen umgekippt. Theoretisch hätte der Tote nach einem Anprall unter oder vor dem Auto liegen müssen. Aber dafür gibt es keine Spuren, weder am Toten noch unter dem Wagen.« Von den Kriminalisten unbeobachtet war ein alter grauer Mercedes, der die Kriegsjahre überstanden hatte, auf dem Dorfplatz eingebogen. Der laute Knall einer Fehlzündung unterbrach ihren Disput. »Der Professor!« meinte Rückert mit einem Blick über seine Schulter, »nun werden wir bald wissen, woran wir mit dem toten Heinrich sind.«
Gegenüber Maresch mit seiner durch den langen hellen Mantel betonten Schlankheit wirkte der Professor wie eine dünne Zaunslatte, die jeden Moment von allein in Flammen aufgehen konnte. »Hallo, Professor!« begrüßte Maresch den Ankömmling, und auch dessen Gegengruß »Grüß’ euch, Männer!« machte deutlich, daß sie sich nicht zum erstenmal bei solchen Anlässen trafen. »Seid ihr fertig?« fragte der Professor ohne langes Drumherumreden. »So ziemlich«, antwortete Maresch, »wir sind gerade dabei, den Tathergang zu rekonstruieren. Die Lage der Leiche paßt so gar nicht zu einem Verkehrsunfall.« »Sehe ich«, bestätigte der Professor, der sich zum Toten niedergebeugt hatte. »Wann kann ich anfangen? Zeit ist Geld, und beides ist bei mir knapp!« »Meinetwegen sofort!« gab Maresch kurz entschlossen den Tatort frei und winkte den Bürgermeister heran. »Das ist der Bürgermeister von hier, Herr Steinhoff, und«, auf den Professor zeigend, »Professor Illig, von der Gerichtsmedizin.« »Wo kann ich hier eine Obduktion vornehmen?« wollte Illig vom Bürgermeister wissen. Steinhoff blieb fast die Luft weg. Eine Obduktion, hier, in seinem Dorf? Fehlte nur noch, daß dieser dürre Professor damit unter der Dorflinde anfing. »Muß das denn sein?« versuchte er zu protestieren, als hätte jemand verlangt, er solle dafür sein Wohnzimmer zur Verfügung stellen. »Denken Sie, der Professor fährt mit seinen Mitarbeitern zum Vergnügen in der Gegend ’rum?« schnarrte Maresch den Bürgermeister an. Mitarbeiter! Steinhoff ging ein Gruseln über die Haut. Die hübsche Blondine im Auto eine Mitarbeiterin. Verstohlen hatte er immer wieder einen Blick nach dem Mercedes geworfen. Die Blondine gefiel ihm. Zwar gab es im Dorf auch einige junge Frauen, aber keine, die so aussah. Bei dem Gedanken, daß diese Frau mit dem Gesicht einer Filmdiva vielleicht Leichenteile anpackte, kroch wieder das Schütteln in ihm hoch. »Na, was ist?« riß Mareschs Stimme den Bürgermeister aus seinen Gedanken.
»Das Leichenhaus auf dem Friedhof«, bot Steinhoff mit belegter Stimme an. »Na also! Sie besorgen zwei Mann und eine Bahre und schaffen den Toten ins Leichenhaus«, befahl Maresch in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Steinhoff drehte sich um. Nur fort aus dem Blick dieses Mannes, der rumkommandierte, als wäre er der Landrat selbst. »Halt!« Mareschs Stimme ließ ihn erschrocken stehenbleiben. »Nicht so eilig. Wir brauchen ein Zimmer, um die Kraftfahrer zu vernehmen. Wo ist hier das Gemeindeamt?« »Wir haben kein Amt. Nur ein Dienstzimmer.« Steinhoff begann Unheil zu ahnen. »Wo ist das?« Maresch ließ nicht locker. »Bei mir zu Hause!« klang es beinahe kläglich. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir dort unsere Zelte aufschlagen?« fragte Maresch in einem Ton, der keine Ausflüchte gestattete. »Ich werde es meiner Frau sagen.« Mit der Antwort des Bürgermeisters war auch eindeutig geklärt, wem das »Dienstzimmer« unterstand. »Nee, so ein Tag, wenn bloß erst Abend wäre!« Der Bürgermeister ließ sich in der Küche auf einen Stuhl fallen und japste nach Luft. Kurzatmig war er schon immer gewesen. Dazu kamen seine Aufregung und der Ärger, bis sich endlich zwei Männer bereit erklärten, den toten Heinrich in das Leichenhaus zu schaffen. Viel Zeit zum Verschnaufen blieb ihm nicht. »Erzähl schon, Arthur, habt ihr die Mörder? Stimmt es, daß Heinrichs ganzes Geld weg ist?« fiel seine Frau über ihn her. »Laß mich in Ruhe, Alte, du bist schlimmer als dieser Laffe aus der Stadt. Gar nichts weiß ich. Hol mir mal eine Flasche Bier. Meine Kehle ist wie zugeschnürt.« So schnell war Arthur noch nie von seiner Frau bedient worden. Wie gebannt war sie vor ihrem Mann stehengeblieben und blickte auf seinen Adamsapfel, der unter der Bierflasche auf- und niederfuhr.
Kaum hatte Steinhoff die leere Bierflasche abgesetzt, fing seine Ehehälfte schon wieder an: »Erzähl doch schon, Arthur! Wohin haben sie Heinrich gebracht? Was machen sie mit ihm?« Die Fragen nach Heinrich ließen in Steinhoff wirre Phantasien aufsteigen: die Leichenhalle – blitzende Instrumente – die Blondine in einer blutbefleckten Fleischerschürze. »Mir wird schlecht!« Er sprang auf und drückte beide Hände auf seinen Magen. Dann rannte er über den Hof zu dem Häuschen, dessen Tür ein herzförmiges Luftloch hatte. »Geschieht dir ganz recht!« rief seine Frau hinter ihm her, »auf nüchternen Magen das eiskalte Bier!« Nach einer Weile schlich er auffallend blaß wieder in die Küche. »Hier, trink einen Magenschnaps!« Die Frau reichte ihm ein kleines Glas. Vor Überraschung verschüttete er beinahe den gelbbraunen Inhalt. So was hatte es noch nicht gegeben. Auf diesen Vorkriegsrestbeständen saß seine Frau sonst wie ein beißwütiger Hofhund – kaum daß sie selbst davon nippte. »Jetzt geht es mir schon besser!« meinte er, das leere Glas der Frau hinreichend und dabei nach der Flasche schielend, die sie wohlweislich aus seiner Griffnähe genommen hatte. »Sag doch schon was! Ist der Heinrich beraubt worden oder hat ihn einer aus Eifersucht umgebracht?« fuhr sie mit ihren Fragen fort. »Du spinnst wohl, Alte! Wieso Eifersucht?« Seine Stimme klang mehr erschrocken als wütend. »Im Dorf munkelt man so allerlei. Heinrich soll es mit einer Jungen gehalten haben, zu der auch andere hingehen…« »Halt den Mund!« schrie er seine Frau an, »bringe nicht Gerüchte unter die Leute. Wärst nicht die erste, die wegen übler Nachrede ins Gefängnis kommt!« Erschrocken sah die Bäuerin auf ihren Mann. So hatte ihr Arthur sie selten angebrüllt. »Mach das Zimmer fertig!« verlangte er kurz und trocken. »Welches Zimmer?«
»Das Wohnzimmer! Die von der Kripo brauchen es.« »In unser Haus kommt keiner! Wir haben damit nichts zu tun! Ich laß doch nicht in unser bestes Zimmer einen fremden Toten bringen!« keifte sie. »Quatsch, der Heinrich ist schon im Leichenhaus. Bei uns wollen sie nur die Verhöre durchführen«, erwiderte Steinhoff. »Wieso bei uns? Im Dorf gibt es noch andere Leute, die Zimmer haben«, gab die Frau nicht nach. »Aber unser Zimmer ist das Dienstzimmer!« Arthur schlug mit der Faust auf den Küchentisch. »Unser Wohnzimmer?« versuchte sie einen letzten Einwand. »Jawohl, unser Wohnzimmer, für das wir vom Landratsamt jeden Monat vierzig Mark Miete bekommen. Und nun geh endlich, räum das Zimmer ordentlich auf, damit die Herren von der Kripo keinen Grund zur Beschwerde haben!« Steinhoff wischte sich mit einem bunten Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn. »Ach herrje! Die Kripo bei uns im Haus«, fing sie an zu jammern. Vor Aufregung warf sie alle ihre guten Vorsätze über den Haufen. Nicht bloß für sich selbst goß sie einen Magenbitter ein, auch Arthur bekam einen. »Auf was hast du dich da nur eingelassen«, fing sie wieder an, »was soll ich jetzt mit den Sachen machen?« »Was für Sachen?« wurde Steinhoff wieder laut. »Das Eingetauschte, die Stoffe und die beiden Nähmaschinen. So viel Eier und Wurst haben wir dafür gegeben«, sagte sie mit weinerlicher Stimme. »Schluß nun! Versteck davon, was du willst, oder wirf es auf den Mist! Mich laß dabei aus dem Spiel!« Arthur blieb unnachgiebig. Eine ungewöhnliche Prozession bewegte sich auf den Friedhof am Dorfrand zu. Angeführt wurde sie von zwei kräftigen Männern, die die Bahre mit dem toten Heinrich trugen. Dahinter ging wie ein Geistlicher der dünne Professor, gefolgt von seinem Gehilfen mit der Instrumententasche und der blonden Sekretärin.
»So, den Toten wären wir los«, sagte Maresch und sah der Gruppe nach, »fangen wir mit der Vernehmung der Kraftfahrer an. Wenn wir damit fertig sind, hat Illig bestimmt schon die ersten Ergebnisse.« »Warte noch einen Augenblick!« wurde Maresch von Rückert aufgehalten, »ich habe noch ein paar Spuren gefunden!« Die Feuchtigkeit des nächtlichen Nebels hatte den Sand auf dem Dorfplatz geglättet. Deutlich waren die Räderspuren des Lastkraftwagens und etwas schwächer die des Handwagens erkennbar. Rückert war nach ein paar Schritten neben den Spuren des Handwagens stehengeblieben. »Hier, sieh! Was hältst du. davon?« »Die Spur des Handwagens und die Fußspuren in der Mitte sind von Heinrich. Also hat er vor dem Zusammenprall doch den Handwagen gezogen!« erklärte Maresch. »Hab’ ich auch gedacht. Aber erstens sind es Abdrücke von Schuhen, und Heinrich hatte ja keine an, und zweitens betrachte mal die Größe. Ich habe sie schon nachgemessen. Höchstens Schuhgröße sechsunddreißig!« wies Rückert auf einen sich deutlich abhebenden Abdruck im Sand. »Warum kommst du jetzt erst damit raus?« »Wollte deine Unterhaltung mit dem Professor nicht stören.« »Welche Schuhgröße hatte der Tote?« Maresch konnte, was selten bei ihm war, seine Aufregung kaum verbergen. »Nachgemessen habe ich nicht, aber unter vierzig oder einundvierzig ist da kaum was drin. Und dann die dicht nebeneinander verlaufenden dünnen Schleifspuren zwischen den Radspuren!« »Geschenkt, Gerhardt! Sehe ich auch. Damit wird ja alles noch undurchsichtiger. Der tote oder meinetwegen noch lebende Heinrich lag auf dem Handwagen und wurde von einem Kind oder einer anderen Person mit kleinen Füßen gezogen. Heinrichs unbeschuhte Füße hingen aus dem Handwagen heraus und hinterließen die Schleif spur. Zum Teufel aber, wo ist das Kind, das den Handwagen zog?« Maresch stieß die Fäuste in die Taschen seines hellen Mantels, ein Zeichen, daß er erregt war. »Was weiß ich? Vielleicht vom Zusammenstoß erschreckt und davongelaufen«, hob Rückert seine Schultern.
Die Frau des Bürgermeisters empfing Maresch und Rückert mit einer weißen Schürze im Flur des Hauses. »Bitte hier herein«, deutete sie mit einer Bewegung, die wie ein verunglückter Hofknicks aussah, auf die schon geöffnete Tür zum »Dienstzimmer«. »Mein Mann hat Sie schon angemeldet«, fuhr sie fort, dabei einen Blick auf die beiden Kraftfahrer werfend, als würde sie diesen jeden Eintritt verwehren. Mit einem kurzen »Danke, es wird schon nicht lange dauern« betrat Maresch als erster das Zimmer. Verdutzt blieb er stehen, meinte sich in der Tür geirrt zu haben. Die Frau bemerkte sein Zögern. »Gehen Sie ruhig rein. Das ist für Sie!« räumte sie jeden Zweifel beiseite. Rückert lief bei dem Anblick, den das Zimmer bot, das Wasser im Mund zusammen. Die beiden Kraftfahrer bekamen Stielaugen. Inmitten des Zimmers stand ein großer ovaler Tisch mit einer blütenweißen Tischdecke, darauf Teller, Bestecks, Tassen und eine riesengroße Platte mit Wurst, Schinken, Bratfleisch und Käse. Einer dickbauchigen Kaffeekanne entstieg ein Duft, den die meisten nur vom Hörensagen kannten. »Was soll das?« grollte Maresch. »Etwas zu essen! Die Herren« – damit meinte sie eindeutig die Kriminalisten – »haben doch bestimmt Hunger!« Maresch hatte seinen Hut vom Kopf genommen und zog sich den Mantel aus. Über die Schulter sagte er zu der Frau: »Wir sind im Dienst! Räumen Sie den Kram ab!« Der Bäuerin blieb der Mund offen. »Aber…«, begann sie. »Wir sind zum Arbeiten und nicht zum Essen hier«, unterbrach Maresch sie schroff. Rückert grinste mit verkniffenem Mund. Er kannte seinen Chef. Der hatte eben Profil. Eher würde er sich den Riemen enger schnallen und einen Liter markenfreie Brühe trinken, als sich bei Ermittlungen an solchen Tisch zu setzen. »In unserem Beruf fängt die Bestechung mit einer Zigarette an«, war einer seiner Leitsätze, die junge Mitarbeiter mehr als einmal zu hören bekamen.
Unsicher geworden räumte die Bäuerin den Tisch ab. Kenne sich einer mit diesen Stadtmenschen aus. Sie sahen beide nicht so aus, als ob sie jeden Tag volle Wursttöpfe hätten. Vielleicht, überlegte sie, war es den beiden von der Kripo peinlich, im Beisein der Mörder von Heinrich zu essen. Und statt das Essen mit dem Geschirr rauszutragen, stellte sie es auf einer alten breiten Anrichte an der Wand ab. Leise zog sie die Tür hinter sich zu. »Setzen Sie sich und geben Sie mal Ihre Ausweise her!« eröffnete Maresch die Befragung. »Wer ist der Beifahrer?« Martin Leutsch hob ein wenig die Hand. »Ich!« »Dann warten Sie draußen!« sagte Maresch. Rückert stand mit auf. Auf dem Korridor klopfte er an die Küchentür, hinter der die Stimme der Bäuerin zu hören war. »Der Oberkommissar bittet darum, daß sich der Kollege hier bei Ihnen aufhält, bis wir ihn brauchen«, brachte Rückert sein Anliegen vor. »Hier, bei uns in der Küche?« Die Bäuerin machte dazu ein Gesicht, als sollte sie einem Mörder Unterschlupf gewähren. »Wo sonst? Oder haben Sie ein Wartezimmer?« wurde Rückert nachdrücklicher. »Schon gut«, brummte der Bürgermeister auf der Bank neben dem Küchenherd, »wo soll er sonst hin!« Ihre weiße, mit Spitzen besetzte Besucherschürze hatte die Bäuerin schon wieder abgelegt und trug die gewohnte Arbeitsschürze. Mit eckigen Bewegungen, die ihren Unmut ausdrückten, rührte sie in dem Schaffen auf dem Herd, wo sie sich und ihrem Mann ein handfestes Frühstück aus Rührei und Speck bereitete. Der Beifahrer am Küchentisch schien für sie Luft. »Halt! Wo willst du hin?« fuhr sie ihren Mann an, der Anstalten machte, die Küche zu verlassen. »Bier aus dem Keller holen. Bin gleich wieder da«, beruhigte Steinhoff seine Frau. »Laß die Tür auf!« verlangte sie mit einem Seitenblick auf den ungebetenen Gast. In ihren Augen stand ein Zittern, als hielte Martin schon ein Messer bereit, um sie dem toten Heinrich nachzuschicken. Nach einer
ihr endlos erscheinenden Zeit tauchte Steinhoff mit ein paar Bierflaschen in der Hand wieder auf. Ohne große Umstände nahm er am Küchentisch neben Martin Platz und stellte auch dem eine Flasche hin. »Ist das Frühstück nun endlich fertig?« wollte er von seiner Frau wissen, die immer noch im Schaffen rührte. »Gleich«, antwortete sie, nahm einen Teller und füllte ihn mit Rührei. Mit ihren gewohnten flinken Bewegungen stellte sie den Teller, dazu Brot und Butter vor ihrem Mann ab, ohne auch nur einen Blick auf Martin zu riskieren. Der Beifahrer verdrehte die Augen. Der Geruch des gebratenen Specks und der Duft des selbstgebackenen Brotes ließen ihm beinahe die Sinne schwinden. Steinhoff machte sich über sein Rührei her. Mit sichtlichem Wohlbehagen führte er schon die zweite volle Gabel zum Mund. Seine Frau hantierte weiter am Herd. Nie und nimmer werde ich mich neben einen Mörder setzen, hatte sie sich vorgenommen. Beim dritten Bissen wurde Steinhoff stutzig. Klirrend legte er die Gabel auf den Teller. »Frau«, rief er kauend, »wo bleibt das Frühstück für den Beifahrer?« »Frühstück?« echote sie, »dürfen wir denn das?« »Was heißt dürfen! Niemand hat es uns verboten, und Hunger wird er genauso wie wir haben.« Die Aussicht auf einen Teller mit Rührei ließ Martin nicht stumm bleiben. »Ich habe doch mit der Geschichte nichts zu tun. Der andere hat den Wagen gefahren. Ich hab’ doch nicht mal was gesehen«, wollte er sich bei der Bäuerin in ein besseres Licht setzen. »Von der Angelegenheit kein Wort!« verlangte Steinhoff schmatzend, »das ist Sache der Kripo. Uns geht das nichts an.« Immer noch nicht frei von ihrem Vorurteil gegenüber dem Beifahrer, murmelte die Bäuerin Unverständliches vor sich hin, holte aber noch einen zweiten Teller. Mit ihrem Mann war heute nicht gut Kirschen essen. Der Tod Heinrichs schien ihm Sorgen zu bereiten. Das Schlagwerk des Regulators kündigte die neunte Stunde an.
Maresch schob Martin Leutsch die von Rückert protokollierten Aussagen hin. »Sie wollen also nichts gesehen haben, weder vor noch nach dem Zusammenstoß?« »Es ist so, Herr Oberkommissar! Außer dem Toten war kein Mensch zu sehen, auch kein Kind«, beteuerte der Kraftfahrer zum wiederholten Mal. »Dann unterschreiben Sie das Protokoll!« verlangte Rückert. Fast genau mit dem letzten Schlag der Uhr erhoben sich im Korridor laut streitende Stimmen. Nicht zu überhören war die Stimme des Bürgermeisters, der schrie: »Raus hier, Sepp! Du störst eine Amtshandlung!« Der Eindringling ließ sich nicht abweisen. Auch er brüllte: »Ich habe was anzuzeigen, und keinen Schritt gehe ich hier weg!« Rückert stand auf: »Ich sehe mal nach, was da los ist!« Er öffnete die Tür. Ein schneller Schritt zur Seite bewahrte ihn vor dem Zusammenstoß mit einem kleinen Kerl, der taumelnd ins Zimmer stolperte. Kurzes strähniges Haar hing dem Eindringling in die Stirn. Das runde aufgedunsene Gesicht mit den tiefhängenden faltiger, Augensäcken paßte nicht zu seiner fast zierlichen Figur. Ohne Jackett, in einem rotgestreiften Fleischerhemd, die Hosen von breiten verschwitzten Hosenträgern gehalten, fand er am ovalen Tisch Halt. Er stemmte beide Hände auf die Tischplatte, beugte sich zu Maresch und sagte langsam, jede Silbe betonend: »Ich bin bestohlen worden, das muß ich anzeigen!« Maresch, der auf der anderen Seite des Tisches stand, wandte sich angewidert ab. Mit jedem Wort, das aus dem Mund seines Gegenübers kam, quoll ihm eine Wolke von Fuselduft entgegen, die ihm beinahe den Atem verschlug. »Wer sind Sie überhaupt?« fuhr Maresch den Betrunkenen an. Vergeblich bemühte sich der Bürgermeister, den Mann vom Tisch wegzuziehen. Mit der Sturheit Betrunkener schob er immer wieder die Hand Steinhoffs weg. Für ihn galt nur Maresch. »Ich bin der Niese-Josef und will eine Aussage machen!« kam seine Antwort mit einem neuen Schwall Fuseldunst. Maresch hatte sich wieder gefaßt. Mit einer Lautstärke, die die im Korridor lauschende Bäuerin erzittern ließ, brüllte er: »Mann, Sie sind ja stin-
kend besoffen! Hauen Sie ab und kommen Sie wieder, wenn Sie nüchtern sind!« Mit sanfter Gewalt versuchte der Bürgermeister, unterstützt von Rückert, den Betrunkenen vom Tisch zu ziehen. Vergeblich! Wie Schraubzwingen umklammerten seine Hände die Platte, und eher hätten sie den Tisch mit rausschaffen können, als Niese zu bewegen, ihn loszulassen. »Ich gehe nicht eher«, lallte Niese, »bis der Lump«, dabei deutete er mit dem Kopf auf Martin, »mir den Handwagen bezahlt hat! Mir steht Schadenersatz zu.« Erstaunlich, wie der schöne Erwin auf die Worte von Niese reagierte. Vor einem Augenblick hätte er am liebsten persönlich den Betrunkenen an die Luft gesetzt, statt dessen war er nun mit zwei, drei schnellen Schritten um den Tisch und schob dem ungebetenen Besucher eigenhändig einen Stuhl unter den Hintern. Das war für Rückert Anlaß genug, Martin und den Bürgermeister aus dem Zimmer zu bugsieren. »So, jetzt mal schön der Reihe nach«, redete Maresch auf den Betrunkenen ein, »was ist mit Ihrem Handwagen los?« »Geklaut haben ihn mir die Lumpen von der Molkerei und zusammengefahren«, rülpste Sepp. »Sie können ja selbst sehen.« Er zeigte mit einer fahrigen Bewegung in die Richtung, wo das Milchauto auf dem Dorfplatz stand. Anscheinend hatte sich Maresch an die Fuselwolken, die bei jedem Wort aus Sepps Mund strömten, gewöhnt, oder er ließ sich seinen Widerwillen nicht mehr anmerken. »Wie kommen Sie drauf, daß die Milchfahrer Ihren Handwagen gestohlen haben?« »Aus unserem Dorf klaut keiner! Mein Handwagen steht schon jahrelang im Schuppen neben dem Haus«, begründete Niese seinen Verdacht auf die Fremden. »Wo waren Sie heute nacht?« Mareschs Frage brachte Niese völlig aus dem Gleichgewicht. Hilfesuchend huschte sein Blick vom Regulator an der Wand weiter zu den alten Bildern mit den Bauerngesichtern, als könnten die für ihn antworten. »Na, wird’s bald! Wo waren Sie?« wurde Mareschs Stimme lauter.
Nieses Schreck war nicht zu übersehen gewesen. »Heute nacht?« zog er die Worte in die Länge. Es bedurfte keines kriminalistischen Scharfsinns, um zu merken, daß er nicht bereit war, darauf wahrheitsgemäß zu antworten. »Heute nacht?« wiederholte er wie in Gedanken, um als Rettung herauszuplatzen: »Im Bett, wo sonst! Fragen Sie doch Agnes, was meine Frau ist!« »Das werden wir auch! Und jetzt zeigen Sie mir Ihre Schuhe!« Sepps Gedanken begannen sich zu verwirren. Daß er noch einen kräftigen Rausch hatte, war eigentlich nichts Neues. Aber dieser so vornehm gekleidete Kripomann schien, der Frage nach zu urteilen, auch nicht ganz nüchtern zu sein. Wieso muß einer, der eine Anzeige macht, seine Schuhe vorzeigen? Eigentlich wollte er gegen eine solche Behandlung protestieren, aber wenn der andere dann wieder wissen will, wo er diese Nacht war… Dann lieber die Schuhe zeigen. Bitte schön! Ohne aufzustehen, drehte sich Niese ein wenig auf seinem Stuhl und versuchte die Füße in Höhe der Tischplatte zu bringen. Das wurde sein Verhängnis. Der Oberkörper konnte diesen Balanceakt nicht bewältigen. Mit lautem Gepolter fiel Sepp mitsamt dem Stuhl unter den Tisch. Rückert konnte nur mit Mühe ernst bleiben. »Größe vierundvierzig!« stieß er hervor. Die Schuhgröße nahm vorläufig den Verdacht von Niese, den toten oder noch lebenden Heinrich mit seinem Handwagen gezogen zu haben. Obwohl – vielleicht hatten beide, Niese und der Heinrich, die Nacht gemeinsam verbracht? Mit vereinten Kräften stellten die Kriminalisten den Betrunkenen wieder auf die Beine. »Mein Kollege wird Sie jetzt nach Hause bringen«, bestimmte Maresch. »Wieso? Ich finde meinen Weg auch allein«, begehrte Sepp auf. »Sicher«, nahm ihn Rückert unter den Arm, »aber Sie haben eine Anzeige gemacht, und nun müssen wir uns ja wohl den Diebstahlort ansehen.«
»Die Anzeige nehme ich zurück!« versuchte Sepp sich aus Rückerts Griff zu befreien, »den Wagen kriege ich schon wieder in Ordnung! Der Schaden ist nicht groß.« »Kommen Sie schon!« ließ sich Rückert nicht von seinem Vorhaben abbringen. »Vergiß die Empfehlungen an Frau Agnes nicht«, meinte Maresch zu Rückert, als er den Betrunkenen durch die Tür schob. Nach einer knappen Stunde war Rückert wieder da. Maresch saß mit den beiden Kraftfahrern im Zimmer. Er blickte fragend auf den Eintretenden. Der hob seine Schultern, was soviel bedeutete wie »nichts«. »Es bleibt dabei, Sie bringen nun endlich die Milch in die Molkerei. Wenn ich Sie noch einmal brauche, bekommen Sie Bescheid!« »Nun, was hast du erreicht?« wollte Maresch wissen. »Die Saufamsel hat tatsächlich im Bett gelegen. Jedenfalls bevor er zu uns kam. Ob er allerdings die ganze Nacht drin war, ist nicht festzustellen. Seine Agnes behauptet es jedenfalls. Übrigens kommt auch seine Frau als Spurenverursacher am Handwagen nicht in Frage. Was die Schuhe ihres Mannes an Länge zuviel haben, übertreffen sie an Breite. Der Handwagen stand wie gewöhnlich in einem offenen Schuppen. Praktisch konnte ihn dort jeder wegfahren, ohne bemerkt zu werden. Sie wohnen beide allein in einem kleinen Haus mit Nebengebäuden. Er ist ein Öbster. Auswertbare Spuren im Schuppen, wo der Handwagen stand, sind auch nicht vorhanden.« . »Also keine Hinweise, auch nicht, daß die beiden, der Tote und der Betrunkene, in der Nacht zusammen waren?« fragte Maresch. »Hinweise nicht, aber ich habe so ein Gefühl in der Magengegend! Mit den beiden stimmt was nicht. Die Agnes hat mir zu oft und zu nachdrücklich beteuert, daß ihr Sepp das eheliche Schlafgemach nicht verlassen hat. Auf dem Rückweg habe ich mich im einzigen Gasthof des Ortes umgesehen. In einer halben Stunde sollen wir vorbeikommen. Markenfreie Fleischbrühe und Grützwurst hat der Gastwirt im Angebot!« »Du bist doch nicht wegen der Brühe dort gewesen.« Mareschs Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Die Grützwurst ergab sich nur so«, lachte Rückert zurück. »Nach den Angaben des Wirtes, dabei berief er sich auf Zeugen, die seine Aussagen bestätigen können, war der Stellmacher bis gegen zweiundzwanzig Uhr in der Gastwirtschaft und hat sie allein und nüchtern verlassen. Niese war nicht in der Gastwirtschaft.« »Was hält der Wirt vom Tod des Stellmachers?« »Er hat keine Meinung oder besser, wenn er eine hat, so hat er sie mir nicht auf die Nase gebunden. Es waren ein paar Leute in der Gaststube. Als ich eintrat, verstummten sie und verschwanden, ohne bezahlt zu haben.« »Wo zum Teufel kann der Stellmacher von zweiundzwanzig bis fünf Uhr gesteckt haben? So groß ist dieses Nest doch nicht. Wenn ich das herausbekomme, wissen wir auch, was sich hier abgespielt hat«, polterte Maresch. »Reg dich nicht auf, Erwin! Vielleicht erfahren wir es gleich. Wenn ich mich nicht täusche, kam gerade die Witwe mit ihrem Schwiegersohn draußen am Fenster vorbei. Die wollen bestimmt zu uns!« ließ sich Rückert seinen Optimismus nicht nehmen. Er behielt recht. Nach einem zaghaften Anklopfen steckte der Bürgermeister seinen Kopf zur Tür herein: »Die Frau vom Heinrich mit ihrem Schwiegersohn ist da! Sie möchte eine Aussage machen!« »Nehmen Sie mein persönliches Beileid entgegen«, begann Maresch mitfühlend, als die Frau vor ihm am Tisch saß. Sie trug, wie es sich geziemte, ein langes schwarzes Trauerkleid. Das schwarze Kopftuch, bis weit in die Stirn gezogen, verdeckte viel von ihrem Gesicht. Kerzengerade saß sie auf der äußersten Stuhlkante. Ihr Schwiegersohn hatte es abgelehnt, sich zu setzen, und war hinter dem Stuhl der Witwe stehengeblieben. Rückert beobachtete die Frau, die von niemandem Notiz zu nehmen schien. Die sieht keineswegs so aus, als könne sie den Tod ihres Mannes nicht überleben, war sein erster Gedanke. »Wir werden alles daransetzen, den Tod ihres Mannes aufzuklären«, versprach Maresch nach seinen Beileidsworten. »Da gibt es nichts aufzuklären!« zischte es unter dem Kopftuch hervor.
Ihre Antwort machte Maresch für einen Moment perplex. Er hatte sich auf Tränen, Jammern und Schluchzen eingestellt, mit Mühe unterdrückte er eine rasche Entgegnung. »Wie meinen Sie das?« Er blieb ruhig. »Ich will meinen Mann wiederhaben, damit ich ihn ordentlich beerdigen kann«, sagte sie entschlossen. »Dem steht nichts im Wege, wenn unsere Untersuchungen abgeschlossen sind. Es handelt sich um einen unnatürlichen Todesfall, und der Verdacht auf eine Straftat ist nicht ausgeschlossen«, erklärte Maresch sein Vorgehen. Die Witwe blieb stumm, zog nur ihr Kopftuch fester. In der Geste drückte sich aus: Was zu sagen war, habe ich gesagt! Ihr Schwiegersohn hinter dem Stuhl räusperte sich: »Wann können wir meinen Schwiegervater holen?« In seinen Worten klang eine unüberhörbare Drohung mit. »Nach der Freigabe durch den Staatsanwalt!« entgegnete Maresch förmlich. »Und seine Sachen, die Brieftasche mit dem Geld?« Der Schwiegersohn wollte wenigstens etwas erreichen. »Sind beschlagnahmt! Nach der kriminal-technischen Untersuchung erhalten Sie sie zurück.« Maresch ließ keinen Zweifel daran, wer hier etwas zu sagen hatte. »Eine solche Untersuchung ist nicht nötig!« gab der Mann nicht nach. »Die Untersuchungen bestimme ich!« Maresch wurde allmählich böse. »Ihre Schwiegermutter hat behauptet, daß vierhundert Mark fehlen. Den Dieb werden wir ermitteln und dann mehr über den Tod ihres Schwiegervaters wissen!« »Meine Schwiegermutter hat sich geirrt! Es fehlt kein Geld, und deshalb brauchen wir keine Untersuchungen«, klang es mit einem höhnischen Unterton vom Stuhl her. »Und die fehlenden Schuhe? Haben Sie dafür auch eine Erklärung?« mischte sich Rückert ein.
Der Mann zögerte etwas: »Vielleicht ist ihm schlecht geworden, und er ist ohne Schuhe nach draußen gegangen. Wir vermissen keine Schuhe!« Das war für Maresch zuviel. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Was wollen Sie eigentlich?« »Wir wollen unsere Ruhe haben und meinen Schwiegervater in Ehren, ohne Polizei, unter die Erde bringen!« Das war deutlich genug. Die Witwe hatte sich nicht gerührt. Sie war stumm sitzen geblieben. Nicht einmal der Schlag Mareschs auf den Tisch hatte eine Regung bei ihr hervorgerufen. Ohne daß die beiden Kriminalisten sich verständigt hatten, glomm bei beiden der gleiche Verdacht auf: Was haben die beiden, die Frau und der Schwiegersohn, mit dem Tod des Mannes zu tun? Maresch zwang sich zur Ruhe. »Hören Sie genau zu! Was und wie hier untersucht wird, bestimme ich! Von Ihnen will ich jetzt wissen, wo sich Ihr Schwiegervater in der Nacht aufgehalten hat!« Statt auf Mareschs Frage zu antworten, berührte er mit seiner Hand die Schulter der Frau: »Komm, Mutter, wir gehen!« »Moment mal!« erhob Maresch gegen diese Brüskierung laut Einspruch, »wenn Sie mir jetzt keine Antwort darauf geben wollen, werden wir im Dorf jeden vernehmen, bis wir es wissen!« Bei ihrem Wortwechsel hatte sich fast unbemerkt von den Anwesenden die Tür geöffnet. Leise, von der knisternden Spannung angesteckt, schob sich Professor Illig neben Rückert und flüsterte ihm etwas zu. Mareschs Auftreten war nicht ohne Wirkung auf den Schwiegersohn geblieben. »Mein Schwiegervater war gestern nach dem Essen auf ein Bier in die Gastwirtschaft gegangen. Das gehörte zu seinen Gewohnheiten. Wie spät er heimkam, kann ich nicht sagen. Auf alle Fälle habe ich ihn unten noch gehört. Wenn ihm nicht gut war, legte er sich immer unten in die Kammer.« Bei den letzten Sätzen vermied er, Maresch in die Augen zu blicken. Bevor der Oberkommissar etwas entgegnen konnte, stieß ihn Rückert an und reichte ihm einen kleinen Zettel.
»Eindeutig!« hatte Rückert mit seiner kleinen Handschrift auf das Papier gekritzelt, »Todesursache Herzinfarkt! Keine Anzeichen von äußerer Gewalt!« Maresch brauchte ein paar Sekunden, um diese überraschende Nachricht zu verarbeiten. »Gut«, sagte er mit veränderter Stimme, »Sie können gehen. Für die Leichenfreigabe werde ich noch sorgen. Mein Kollege wird Ihnen auch die Brieftasche gegen Quittung aushändigen!« Ohne die Witwe und ihren Schwiegersohn weiter zu beachten, trat er auf den Professor zu. »Enttäuscht?« fragte Illig, als er mit den beiden Kriminalisten allein war. »Aus einem Herzinfarkt kann ich keinen Totschlag machen«, brummte Maresch, »und trotzdem, die beiden haben etwas mit der Sache zu tun. Warum wollen sie keine weiteren Untersuchungen? Das Geld und die Schuhe fehlen!« »Eine Frage, Professor, kann ein Herzinfarkt bewußt herbeigeführt werden?« warf Rückert ein. Illig wiegte den Kopf. »Theoretisch, warum nicht! Wenn jemand ein schwaches Herz hat und ein anderer setzt ihn bewußt in Angst und Schrecken oder große Aufregung, möglich wäre da schon ein Infarkt. Doch bisher ist mir ein solcher Fall noch nicht bekannt geworden.« »Wann ist nach Ihrer Meinung der Tod eingetreten?« wollte Maresch wissen. »So gegen Mitternacht«, antwortete Illig. »Die Schürfwunden am Hinterkopf«, erinnerte Rückert. »Vermutlich erst nach dem Tode entstanden. Darauf deuten auch die Schmutzspuren an der Kleidung hin. Ich nehme an, der Tote ist mehrere Meter über den Boden geschleift worden. Mit Bestimmtheit kann ich das erst später, nach den Laboruntersuchungen, sagen. Ich werde jetzt weitermachen. Wenn es noch etwas Besonderes gibt, hören Sie von mir«, verabschiedete sich Illig. »Und wir können jetzt einpacken«, meinte Rückert in seiner trockenen Art, »wenn wir uns beeilen, bekommen wir in der Dienststelle noch ei-
nen Teller Suppe. Der Appetit auf Grützwurst ist mir in diesem Dorf vergangen!« »Leider bleibt uns nichts anderes übrig«, sagte Maresch verbissen, »am liebsten möchte ich hierbleiben und das Dorf samt Witwe und sturem Schwiegersohn auf den Kopf stellen, bis ich weiß, wer den toten Heinrich auf den Handwagen gelegt und ihn um sein Geld und die Schuhe gebracht hat.« »Unnötige Zeitverschwendung. Wenn die nicht reden wollen, sagen die auch nichts!« »Das ist es ja gerade, was mich so aufbringt. Irgendwie haben die alle Dreck am Stecken, und ich fresse einen Besen, wenn das halbe Dorf nicht genau weiß, was sich hier in der Nacht abgespielt hat.« In Maresch kroch Wut über seinen Mißerfolg hoch. Die nächsten Tage hütete sich Rückert, in Gegenwart des schönen Erwin das Thema »Toter Heinrich in Rießdorf« anzusprechen. Ohne den schmalen roten Schnellhefter mit der Beschriftung »Unnatürlicher Tod des Heinrich Krumbholz aus Rießdorf, Tgb.-Nr. 398/46« noch einmal durchzublättern, schrieb Maresch seinen Namen unter das von Rückert gefertigte Abschlußprotokoll. Er bekam den Schnellhefter genau vierzehn Tage später von Rückert auf den Schreibtisch gelegt. »Warum liegt der ›Tote Heinrich‹ nicht schon längst im Archiv? Du willst mir wohl gleich früh den Arbeitstag verderben?« wandte er sich an Rückert, der nach Mareschs Morgengruß damit fortfuhr, seine Fotoausrüstung zusammenzupacken. »War er schon! Ich habe die Akte heute früh wiedergeholt. Vielleicht brauchen wir sie noch!« »Du spinnst wohl? Oder gibt es in dieser Sache etwas Neues?« Mareschs Interesse wuchs mit dem Gedanken an seine Kapitulation vor dem verschwiegenen Dorf. »In der Sache wohl kaum, aber in Rießdorf ist was los. Da hat es heute nacht eine Scheune weggefeuert, und der Alte meint, da wir dort bekannt
sind, sollen wir uns der Sache annehmen, zumal es sich um eine vorsätzliche Brandstiftung handeln könnte.« »Das fehlt mir noch! Ausgerechnet in diesem Nest! Konnte der Alte keine andere Kommission einsetzen?« machte Maresch seinem Unmut Luft. »Wem gehört die Scheune?« »Einem alten Bekannten, dem Bürgermeister!« feixte Rückert. Steinhoffs Scheune, die quer hinter dem Stallgebäude und dem Wohnhaus stand, war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Maresch hatte ohne Widerrede des Gastwirts seine Kommandostelle im Vereinszimmer hinter der Gaststube eingerichtet. Nach den ersten Informationen hatte ein Arbeiter von der Ziegelei auf seinem Weg zur Arbeitsstelle gegen drei Uhr dreißig den Brand bemerkt, den Bürgermeister geweckt, der dann die Feuerwehr alarmierte. Als die Feuerwehr eintraf, brannte die Scheune bereits in vollem Umfang. Die Löschgruppen hatten große Mühe, ein Ausbreiten des Brandes auf das Wohnhaus zu verhindern. Eine erste Überprüfung hatte ergeben, daß eine natürliche oder technische Ursache für den Brand ausschied. Den Clou seines Berichtes hob der Leiter der Feuerwehr bis zum Schluß auf. »Hier, das haben meine Männer auf der Tenne gefunden, gleich hinter dem Scheunentor zur Gartenseite!« Er legte einen in Zeitungspapier gewickelten Gegenstand auf den Tisch. Vorsichtig schlug Rückert das Papier auseinander. Ein Talglicht! Nach der Länge zu urteilen fast unverbrannt. Nur die Hitze hatte es deformiert und verbogen. Rußteilchen und kurze Strohstückchen waren in den Talg eingedrückt. Mit einer Lupe untersuchte Rückert jeden Quadratzentimeter. »Hoffnungslos!« faßte er seine Bemühungen in einem Satz zusammen, »wenn da mal Fingerabdrücke drauf waren, hat sie die Hitze gründlich beseitigt.« »Warum ist die nicht völlig geschmolzen bei der Hitze der Scheune?« sinnierte Maresch laut. »Sie lag ja unter der Holztür«, meldete sich der Feuerwehrmann zu Wort.
»Welche Tür, ich denke die Scheune hatte Tore?« verlangte der Oberkommissar eine Konkretisierung. »Hatte sie auch. Aber im Scheunentor war noch eine Tür eingelassen. Als wir kamen und das Scheunentor aufrissen, fiel die kleine Tür nach innen auf die Tenne. Darunter hat die Kerze gelegen!« »Diesmal entkommen mir diese Burschen hier im Dorf nicht«, frohlockte Maresch, »eine vorsätzliche Brandstiftung, das ist sicher! Die Kerze bricht dem Täter das Genick!« »Wenn wir ihn haben«, dämpfte Rückert den Eifer seines Vorgesetzten, »bis jetzt haben wir noch nicht einmal das Motiv!« »Dann schlage gefälligst eins vor!« verlangte Maresch. »Ich würde mit dem einfachsten anfangen.« »Und das wäre?« »Jemand aus der Familie des Bürgermeisters war spätabends noch in der Scheune, wollte etwas holen und hat die Kerze brennen lassen.« »Glaub’ ich nicht! Um halb vier geht keiner in die Scheune, um was zu holen. Außerdem hatte die Scheune elektrisches Licht!« »Oder der Bürgermeister will die Versicherungssumme kassieren«, suchte Rückert nach weiteren Motiven. »Werden wir auch prüfen, vergiß aber nicht, bei unserer Arbeit ein wenig politisch zu denken. Reaktionäre Banditen gibt es noch genug, die mit solchen Anschlägen anständige Leute einschüchtern wollen!« Rückert blieb seinem Vorgesetzten eine Antwort schuldig. »Oder hab’ ich nicht recht?« zwang ihn Maresch zu einer Antwort. »Sicher«, meinte Rückert nach einer Weile, »Beispiele dafür gibt es genug. Wenn ich aber an den Bürgermeister und seine Rolle hier im Dorf denke, frage ich mich nur, wo die Banditen herkommen sollen und was sie damit erreichen wollen. Ich verschwinde mal an den Brandort. Vielleicht haben deine Banditen eine Visitenkarte hinterlassen!« Rückert schob ab, beleidigt über den Schulmeisterton seines Vorgesetzten. Steinhoff saß vor Maresch im Vereinszimmer. Seine Aufregung konnte er kaum verbergen. Immer wieder fuhr er sich mit seinem großkarierten Taschentuch über die schweißnasse und mit Ruß beschmierte Glatze.
Seine Frau wartete nicht weniger aufgeregt im Gastzimmer am Fenster. Nur daß sie bemüht war, ihre Aufregung zu unterdrücken und dabei krampfhaft die Hände im Schoß hielt. »Fassen wir zusammen«, sagte Maresch, »Sie sind gegen drei Uhr dreißig von dem Rufen des Ziegeleiarbeiters geweckt worden. Sie zogen sich eine Hose an und liefen mit dem Arbeiter zur Scheune. Als Sie das Scheunentor von der Hofseite her aufschoben, sahen Sie helle Flammen hochschlagen.« »Ja, so war es«, stöhnte Steinhoff in Erinnerung an seine Schrecken auf. »Wo hat es in der Scheune konkret gebrannt?« Steinhoff überlegte kurz: »Oben, über den Bansen, brannte schon alles!« »Und im unteren Teil der Scheune?« stieß Maresch nach. Steinhoff fuhr sich wieder mit seinem Tuch über den Kopf: »Wenn Sie mich so fragen, lassen Sie mich überlegen… Auf der Tenne war noch kein Feuer. Auch unter der Dreschmaschine nicht. Die Flammen schlugen an den Seiten hoch, bis ans Dach.« »Welche Erklärung haben Sie für das Feuer in Ihrer Scheune?« Es war Mareschs Beruf zu fragen, immer wieder Fragen zu stellen, um sich aus den Antworten ein Bild machen zu können. »Keine!« stieß Steinhoff mit einem neuen Schweißausbruch hervor. »Von allein brennt es kaum«, konstatierte Maresch, »wann waren Sie oder Ihre Familienangehörigen vor dem Brand zum letztenmal in der Scheune, und wurde dabei mit elektrischem Strom gearbeitet?« »In der Scheune war ich der letzte! Gestern nachmittag, ich habe Futter für die Kühe geholt. Es war noch hell. Licht brauchte ich nicht anzumachen!« Steinhoff, noch in Gedanken bei seiner Antwort, wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen. »Wie hoch ist die Scheune versichert?« Mareschs Frage hatte einen erneuten Schweißausbruch Steinhoffs zur Folge. Er schluckte ein paarmal und sagte: »Sie wollen doch nicht behaupten, daß… ich glaube mit zwanzigtausend Mark. Noch vor dem
Krieg. Aber ich wäre ja dumm! Für zwanzigtausend Mark baut mir keiner die Scheune wieder auf.« »Irgend jemand hat Ihre Scheune vorsätzlich in Brand gesteckt, dafür haben wir Beweise, und es liegt auch in Ihrem Interesse, daß wir den Täter bekommen. Vielleicht brennt er morgen Ihr Wohnhaus oder die Ställe ab. Wir brauchen jeden Hinweis von Ihnen, auch wenn er Ihnen noch so unbedeutend erscheint. Haben Sie Feinde, gibt es Leute hier im Dorf, denen die Brandstiftung zuzutrauen wäre?« Mareschs Stimme war immer eindringlicher geworden, fraß sich in die Gedanken von Steinhoff ein. Steinhoff wartete auffallend lange mit einer Antwort, setzte zum Sprechen an, schluckte die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, immer wieder zurück. »Ich habe keine Feinde, und im Dorf gibt es keinen, der meine Scheune anbrennen würde«, quälte es sich über seine Lippen. Warte, Freundchen, dachte Maresch, hier liegt der Hund begraben. Du hast Vermutungen und sprichst sie nicht aus. »Wie ist es mit der Pflichtablieferung, Viehzählung und so weiter, dabei gibt es doch für einen Bürgermeister, der sein Amt ernst und genau nimmt, immer Ärger«, versuchte er Steinhoff eine Brücke zu bauen. »Dabei gab es bei uns im Dorf nie Ärger. Unser Soll haben wir immer gebracht, und die Viehzählungen klappten auch.« Es klopfte. Unwillig sah Maresch zur Tür, die sich öffnete. Ein Feuerwehrmann reichte Maresch ein Blatt Papier: »Von Ihrem Obersekretär Rückert, soll ich hier abgeben!« Maresch ließ sich mit dem Lesen des Zettels etwas Zeit. Der Rhythmus der Vernehmung war so und so unterbrochen. Als er den Kopf hob, ließen seine Augen Steinhoff nicht los. »Wer weiß von dem Versteck in der Scheune?« fielen seine Worte auf den Bürgermeister wie Keulenschläge. »Versteck?« versuchte Steinhoff sich unwissend zu stellen. »Das Versteck mit den Teppichen, Nähmaschinen, der Wäsche und was sonst noch so herumlag!«
Steinhoff schnaufte und bekam kaum noch Luft: »Das Zeug haben uns Leute gebracht. Und ich hab’ damit nichts zu tun. Fragen Sie meine Frau…« »Das werde ich auch. Sie warten draußen und schicken Ihre Frau rein«, unterbrach Maresch die Vernehmung Steinhoffs. Die Bäuerin hatte kaum Platz genommen, da fing sie wie auf Kommando an zu jammern: »Unsere schöne Scheune, das Futter, die Maschinen, oh, dieses Unglück. Alles ist verbrannt, auch das Korn, das wir noch abliefern wollten! So ein Schaden! Wir müssen von der Ablieferung befreit werden, Sie müssen dafür sorgen…« »Hören Sie endlich auf!« fuhr Maresch sie an, »sagen Sie mir lieber, wer von dem Versteck in der Scheune wußte, den Teppichen, Nähmaschinen und der Wäsche?« Mareschs Vorhalt verschlug ihr regelrecht die Sprache. Mit offenem Mund sah sie ihr Gegenüber an und wurde auf dem Stuhl immer kleiner. »Ich habe Sie etwas gefragt!« »Oh, mein Gott!« begann sie erneut. »Wer kennt das Versteck in der Scheune?« unterbrach Maresch ihr Gejammer. Mit einem Male war sie keine jammernde alte Frau mehr. Blitzartig war ihr klargeworden, was für sie und ihren Mann mit seinem Ansehen als Bürgermeister auf dem Spiel stand. Wie eine Märtyrerin wuchs sie auf dem Stuhl empor, um zu retten, was noch zu retten war. »Davon hat niemand etwas gewußt. Mein Mann zuallerletzt. Die Wäsche gehört mir, sie stammt noch von meiner Mutter. Ich habe sie nur in die Scheune gebracht, weil wir im Wohnhaus wenig Platz haben!« »Darüber werden wir uns später unterhalten, Frau Steinhoff! Wir suchen einen Brandstifter. Ich habe Sie gefragt, ob jemand das Versteck kennt und sich vielleicht etwas holen wollte und dabei die Scheune ansteckte!« »Niemand weiß etwas von den Sachen in der Scheune!« blieb sie beharrlich bei ihren Aussagen. »Wer könnte wohl Interesse daran haben, Ihre Scheune anzustecken?« stellte er die gleiche Frage wie zuvor an ihren Mann.
Ihre Reaktion war nicht anders. Auch sie blickte zu Boden, als ob dort die Antwort stünde. »Haben Sie Feinde im Dorf? Gab es irgendeinen Anlaß für die Brandstiftung?« Die Bäuerin wurde immer unruhiger, rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Nun sprechen Sie doch! Irgend etwas verschweigen Sie. Ohne Grund steckt niemand Ihre Scheune an«, ließ Maresch nicht locker. Ihr schmaler zusammengekniffener Mund wirkte wie ein Strich. »Sie haben Zeit zum Überlegen«, lehnte sich Maresch bequem in seinem Stuhl zurück, »und ich habe Zeit zu warten!« In ihrem Gesicht fing es nach einer Weile an zu arbeiten. Maresch hatte die besseren Nerven. Mit einem abgebrochenen Streichholz fing er an, seine Fingernägel zu säubern, obwohl die es nicht nötig hatten. Die Bäuerin hielt das Schweigen nicht mehr aus. »Wenn Sie nicht weitersagen, von wem Sie es wissen, dann sage ich Ihnen, wer Scheunen ansteckt«, flüsterte sie. »Ich warte!« sagte Maresch betont gleichgültig. »Der Feuer-Sepp! Nur der kann es gewesen sein«, beugte sie sich vor. »Wer ist das?« »Der Niese-Josef! Feuer-Sepp ist sein Spitzname aus der Schulzeit.« »Warum verdächtigen Sie den?« »Von Verdacht habe ich nichts gesagt. Ich meine nur, der Feuer-Sepp hat schon mal eine Scheune angebrannt!« »Wann war das?« »Vier oder fünf Jahre vor dem ersten Weltkrieg. Wir gingen zusammen in die Schule. Er hatte immer mit Reibhölzern gegokelt, und zuletzt steckte er eine Feldscheune an.« Maresch holte tief Luft und zerbrach das Streichholz zwischen den Fingern: »Sie können jetzt gehen und Ihren Mann gleich mitnehmen!«
»Dem Bürgermeister und seiner Frau scheinst du ja schön eingeheizt zu haben!« Rückert lachte schon wieder, als er ins Zimmer trat. »Sah so aus, als wollten sie sich auf dem Dorfplatz prügeln.« »Dann nur wegen der verbrannten Teppiche, sonst waren sie sich einig. Keiner wollte nur die blasseste Ahnung haben, wer hinter der Brandstiftung steckt. Wenn ich die Bäuerin noch länger befragt hätte, würde das halbe Dorf, einschließlich des Pfarrers, verdächtig sein. Nur um uns von dem wahren Täter abzulenken, ließ sie sich allerhand einfallen. Offerierte sie mir doch einen Schulfreund, der vor über vierzig Jahren in einer Scheune gegokelt hatte. Du kennst ihn auch, den Besoffenen, auf dessen Handwagen der tote Heinrich lag!« Rückert, der von seiner hellen Jacke vorsichtig den Schmutz des Brandortes abklopfte, hob den Kopf: »Den Niese? Der sitzt schon draußen! Den wollte ich mir jetzt persönlich vorknöpfen!« »Will der wieder eine Aussage machen?« fragte Maresch mißtrauisch. »Kaum! Diesmal habe ich ihn selbst aus dem Bett geholt! Es gibt Zeugen, die behaupten, daß Niese noch vor der Feuerwehr, vollständig angezogen, am Brandort war und sich mit besonderem Eifer an den Löscharbeiten beteiligte.« »Nicht mal ausschlafen darf man sich«, empörte sich Niese und ließ sich im Vereinszimmer auf den bereitgestellten Stuhl fallen. Seine Augen brachte er kaum auf, so verquollen und rot unterlaufen waren sie in dem aufgedunsenen Gesicht. »Ist Ihr Handwagen wieder repariert?« begann Rückert scheinheilig. »Haben Sie mich deswegen aus dem Bett geholt?« Seine Sprache glich mehr einem Lallen, und jedes Wort wurde von einer Wölke Fuselduft begleitet. »Nein, deshalb habe ich Sie nicht aus dem Bett geholt. Wir wollen Ihnen unseren Dank sagen für Ihre tatkräftige Hilfe beim Löschen des Brandes und dem Bergen des Viehs aus den Ställen!« »Das hätte doch bis morgen Zeit gehabt«, lallte er. Mit dem Alkoholdunst unter seiner Schädeldecke begriff er die Hintergründigkeit der Worte von Rückert nicht. »Ist doch selbstverständlich. Man muß sich gegenseitig helfen«, fuhr Niese fort.
Maresch, der sich im Hintergrund des Vereinszimmers aufgehalten hatte, trat näher an den Tisch heran, wo sich Rückert und Niese gegenübersaßen. »Ihre Hilfe kam ein wenig zu früh? Meinen Sie nicht auch, Herr Niese?« »Zu früh?« echote Feuer-Sepp. Langsam begann es in seinem Hirn zu dämmern. Die wollten etwas ganz anderes von ihm, als Dank zu sagen. Seine verquollenen Augen klappten wie bei einer Eule, die vom Scheinwerferlicht getroffen wird, erschrocken in die Höhe. »Jawohl, zu früh!« sagte Rückert mit Nachdruck. »Sie haben schon mit dem Löschen begonnen, bevor überhaupt die Feuerwehr da war.« Feuer-Sepp blieb die Luft weg. Mit einer hastigen Bewegung riß er sich den oberen Kragenknopf auf. »Verdammt noch mal!« schrie er, »das hat man nun davon!« »Wovon?« rückte Maresch dicht an ihn heran. »Sich in Sachen einzulassen, die einen nichts angehen!« gab sich Niese Mühe, das Lallen zu unterdrücken. »Wann haben Sie den Brand bemerkt? Wer hat Sie alarmiert?« War es Rückerts präzise Fragestellung oder trieb der Schreck das Blut in Nieses Gesicht, jedenfalls fiel er schlaff mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl zusammen. »He, ausschlafen können Sie sich zu Hause!« Mareschs scharfer Ton ließ ihn zusammenfahren. »Wie haben Sie erfahren, daß es brennt?« bellte Rückert ihn an. Niese riß seine Augen auf: »Der Radau war es, den der Karl von der Ziegelei gemacht hat. Der brüllte so laut!« »Wo waren Sie, als der Arbeiter den Bürgermeister weckte?« Rückert fixierte den Betrunkenen. Der ließ sich mit der Antwort Zeit: »Im Bett, wo sonst?« Rückert konnte sich kaum noch beherrschen und sprang auf. »Genug mit den Lügen. Ihr Bett steht auf der anderen Seite des Dorfes. Dort konnten Sie nichts hören!« Er war vor Niese stehengeblieben, dessen Blick hilfesuchend zu Maresch ging.
»Haben Sie nicht schon einmal eine Scheune weggebrannt?« zwang Rückert die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Maresch war bis auf etwa einen Meter an den Sitzenden herangetreten. In der Hand hielt er den Fetzen einer zusammengedrehten Zeitung, rieb ein Streichholz an und entzündete sie damit. Als das Papier wie eine kleine Fackel aufflammte, sprang Niese von Entsetzen gepackt auf. »Was wollen Sie von mir?« stotterte er. Ohne ein Wort ließ Maresch das Papier abbrennen und warf die verkohlten Reste in den Aschenbecher. Er hatte Niese keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Die Angst war in Nieses Gesicht geblieben. »Setzen Sie sich!« verlangte Rückert mit ruhiger Stimme, »wo waren Sie in der Nacht?« Die letzten Minuten mit der entsetzlichen Angst hatten auf den Betrunkenen wie ein Sprung in ein Eisloch gewirkt. Er fing an, seine Situation zu begreifen. »Ich war in meinem Gartenhaus. Hinter dem Dorf bei den Obstgärten. Auf dem Nachhauseweg mußte ich bei der Scheune vom Bürgermeister vorbei. Da hörte ich den Karl schreien!« »Was machen Sie nachts in Ihrem Gartenhaus?« Niese ließ den Kopf nach unten hängen und wollte wieder nicht antworten. »Sie möchten nichts mitteilen, dann werde ich Ihnen etwas zeigen«, sagte Maresch und griff nach der eingewickelten Kerze. Niese sah nur das Papier und sprang angstschlotternd auf. Wirre Gedanken zogen durch sein alkoholvernebeltes Gehirn. Was wollte der Geschniegelte schon wieder mit dem Papier? Würde er nun mit der Folter anfangen? In seiner Jugendzeit hatte er einmal ein Abenteuerbuch über chinesische Piraten gelesen. Die hatten ihre Opfer mit brennendem Ölpapier so lange gefoltert, bis sie das Lösegeld bezahlten. »Nicht foltern!« schrie er auf, die Hände abwehrend gegen Maresch ausgestreckt. Maresch schüttelte den Kopf. Jetzt wird der auch noch verrückt! Offensichtlich hatte der Betrunkene vor Papier einen heillosen Respekt. Er hielt die Kerze näher an Niese heran.
»Hören Sie auf! Ich sag’ alles!« stöhnte er laut auf. »Ist ja nun doch alles vorbei. Ich hab’ im Gartenhaus Schnaps gebrannt. Nun können Sie mich einsperren!« Nieses Hände auf der Tischplatte fuhren hin und her. Er konnte das Zittern nicht mehr unterdrücken, das sich über die Arme bis in die Schultern ausbreitete. »Ist Ihnen nicht gut? Wollen Sie ein Glas Wasser?« Maresch war ernstlich besorgt um Niese. »Ich brauche jetzt einen Schnaps!« kam es über seine blutleeren Lippen. »Damit können wir nicht dienen«, meinte Rückert gelassen. »Vom Wirt!« hauchte Niese, vom Schütteln gepackt. »Uns wird er keinen geben«, ließ sich Rückert nicht aus der Ruhe bringen. »Darf ich?« erhob sich Niese schwankend. »Meinetwegen«, erlaubte Maresch, dem es mit dem Betrunkenen unheimlich wurde, »aber lassen Sie die Tür zum Gastzimmer offen, und kein Wort darüber, was hier gesprochen wurde, verstanden!« Sie behielten Niese im Auge, während er mit dem Wirt an der Theke verhandelte. »Warum hast du vorhin das Papier angebrannt?« fragte Rückert leise. »Ein Experiment! Ist ja möglich, daß er Pyromane ist. Und Pyromanen sollen, so habe ich einmal gelesen, beim Anblick von züngelnden Flammen in starke Erregung geraten!« »Das war er ja auch«, lachte Rückert, »doch statt zu onanieren, hatte er nur Angst, du würdest ihm die Haare absengen!« Niese kam mit einer Flasche ohne Etikett und drei großen Gläsern zurück. Allein schon der Gedanke daran, gleich einen Schluck zu bekommen, beruhigte seine zitternde Hand. Ohne auf die Kriminalisten zu achten, goß er sich sein Glas bis zum Rand voll und trank es, ohne abzusetzen, aus. Nach einem tiefen Luftholen füllte er es erneut und vergaß auch die
beiden anderen Gläser nicht. »Hat über fünfzig Prozent, probieren Sie mal! Zwetschgenschnaps, habe ich selber gebrannt.« »Danke«, lehnte Maresch ab, »so früh trinken wir nicht!« Dabei nahm er auch Nieses Glas und schob es aus dessen Reichweite. »Erst erzählen Sie mal, was hier im Dorf los ist, warum keiner den Mund aufmacht. Über Ihre Schnapsbrennerei werden wir uns später unterhalten.« Der Schnaps hatte Niese in eine heitere Aufgekratztheit versetzt. »Wer will schon anderen auf die Nase binden, wenn es mit der eigenen Frau zu Hause nicht klappt«, versuchte er ein Kichern, dabei nach seinem vollen Glas schielend. Maresch schob das Glas etwas näher an Niese, ohne es aus der Hand zu lassen. Eine stille Aufforderung, noch mehr zu erzählen. Niese begriff. »Na, vor vierzehn Tagen, die Sache mit Heinrich. Jeder im Dorf weiß, daß Tausendmark-Heinrich bei der Linda war. Bei seiner Alten im Bett wäre er bestimmt nicht gestorben.« Maresch schob ihm das Glas hin: »Woher wollen Sie das wissen?« Nach einem tiefen Schluck kam prompt Nieses Antwort: »Er hat ja, noch bevor er zur Linda ging, eine Flasche bei mir im Gartenhaus geholt. Erdbeerlikör, den hat Linda am liebsten!« »Und heute nacht?« schaltete sich Rückert wieder in die Vernehmung ein. »Heute nacht war keiner bei mir im Gartenhaus«, antwortete Niese und setzte sein leeres Glas ab. »Ich meine, was Sie von heute nacht wissen. Wer die Scheune vom Bürgermeister angesteckt hat und warum.« Niese konnte oder wollte keine Auskunft geben. Maresch versuchte es noch mal mit einem Glas des Selbstgebrannten, das er Niese hinschob. Niese sah das Glas nicht einmal an. Er wiegte seinen Kopf hin und her und dachte nach. »Das kann ich einfach nicht glauben«, brummte er vor sich hin.
»Was können Sie nicht glauben?« Rückert war dicht an ihn herangerutscht. »Die Linda«, begann Niese, nach seinem Glas greifend, vielleicht um sich selbst Mut zu machen. »Tausendmark-Heinrich war ja nicht der einzige bei Linda. Auch andere gingen zu ihr. Es wird gemunkelt, auch der Bürgermeister ist dabei. Das ist doch aber kein Grund, ihm den roten Hahn aufs Dach zu setzen«, sinnierte Niese leise vor sich hin und versuchte dabei, mit seinem Zeigefinger aus dem verschütteten Zwetschgenschnaps geometrische Figuren zu malen. »Kommen Sie, ich bringe Sie jetzt nach Hause«, stand Rückert auf, »aber kein Wort über unsere Unterredung.« Niese erhob sich gehorsam und trottete hinter Rückert her, einen letzten Blick auf den Rest in der Flasche werfend. »Darf ich?« Die junge Frau öffnete eine kleine Handtasche und entnahm ihr eine Schachtel Zigaretten der Sorte I. In der Pose einer Weltdame schlug sie die Beine übereinander und brannte sich die Zigarette an, ohne die Zustimmung von Maresch abzuwarten. Sie trug eine Bluse und einen Rock, dessen Saum sich bei ihren Bewegungen bis übers Knie schob und ein Paar wohlgeformte Beine sehen ließ. Ein tiefer Lungenzug hob ihre Brust unter der hellen Bluse und ließ ahnen, daß darunter die Natur mit ihrem Segen nicht gespart hatte. Ein regelmäßiges Gesicht mit dunklen Augen über einem blonden Haarkranz und eine schlanke Taille, die sich von den fraulichen Proportionen verführerisch abhob, gaben ihr genug Sex, um reifere Männerherzen schneller schlagen zu lassen. »Was wollen Sie von mir, und warum hat Ihr Kollege meine Strickjacke mitgenommen?« fragte sie Maresch, dessen heller Anzug mit dem modern gebundenen Schlips auf sie Eindruck machte. »Später!« beschwichtigte sie Maresch, »zuerst stellen wir die Fragen!« »Sie sind Linda Pürschel, sechsundzwanzig Jahre alt, und wohnen hier in Rießdorf?« »Genau! Aber nicht mehr lange.« Dabei warf sie Maresch einen Blick zu, der wohl bedeuten sollte: Wenn du willst, bleibe ich auch weiter hier.
»Wohin wollen Sie?« Maresch flötete beinahe und blickte die junge Frau so schmelzend an, daß die Knöpfe ihrer Bluse in Bewegung gerieten. »Nach Bochum! Dort war ich ausgebombt, und wenn ich meine Wohnungszuweisung erhalte, fahre ich wieder hin!« »Was machen Sie hier in Rießdorf, wo arbeiten Sie?« brachte sich Rückert in Erinnerung. »Offiziell bin ich bei dem Bauern, wo ich wohne, als Landarbeiterin registriert, wegen der Lebensmittelkarte«, erklärte sie in aller Offenheit, darauf bauend, daß die Männer daraus keinen Staatsakt machen würden. »Meinen Unterhalt verdiene ich aber durch Nähen. Ich schneidere für die Frauen hier im Dorf!« Mit ein paar zupfenden Bewegungen, als entferne sie Schmutzteilchen von ihrem Rock, Heß sie ihn ein paar Zentimeter höher gleiten. Es war eine oft gemachte Erfahrung: Wenn sich Männer, wie jetzt der junge Kriminalist, der sie geholt hatte, für ihre Beine interessierten, hatte sie das Spiel immer gewonnen. Er stach mit seiner ausgebeulten Knickerbockerhose und der verblichenen Windjacke zwar unvorteilhaft von seinem eleganten Vorgesetzten ab, aber die Schultern verrieten Kraft und Geschmeidigkeit. Rückert nahm seinen Blick wieder von ihren Beinen. »Die Schuhe könnten passen!« sagte er zu Maresch. Linda fühlte sich angesprochen. Sie hob ihre strumpflosen braunen Beine etwas an. »Schick, nicht wahr? Die habe ich noch aus Bochum.« »Welche Schuhgröße haben Sie?« ging Rückert auf ihr Spiel ein. »Sechsunddreißig!« antwortete sie mit einer vagen Hoffnung, ob der Junge etwa Beziehungen zu Schuhen hatte. »Jetzt haben Sie uns Ihre Beine lange genug gezeigt«, wurde Maresch dienstlich, »wie war das mit dem Tausendmark-Heinrich?« Er ließ keinen Zweifel, daß ein Verhältnis zwischen Linda und dem Stellmacher für ihn eine feststehende Tatsache war. »Deswegen haben Sie mich geholt?« Linda lachte etwas verkrampft. »Hören Sie mir nur mit der Geschichte auf. Kommt der doch zu mir die Treppe hoch und pustet schon wie ein Walroß. Ich sage zu ihm: ›Hein-
rich, geh heute wieder nach Hause!‹ Aber nein, er zieht sein Jackett aus und setzt sich auf mein Bett. Mit einem Male fiel er um. Ich dachte, jetzt ist er auch noch eingepennt. Pustekuchen, tot war er! Was sollte ich machen? Das Jackett habe ich ihm wieder angezogen und dann den Handwagen vom Nachbarn geholt. Am schwersten war es, den Kerl die enge Stiege von meiner Kammer herunterzubekommen. Es tat mir beinahe leid, wie er immer mit dem Kopf auf die Treppenstufen aufschlug, aber gespürt hat er ja nichts mehr.« »Und die vierhundert Mark?« hakte Rückert ein. Linda nahm sich eine neue Zigarette. »Muß das ins Protokoll? Heinrich hat mir immer einen Hunderter dagelassen. Weil er ja nun nicht mehr kommen konnte, hab’ ich mir gedacht, es ist mein gutes Recht, wenn ich ein paar Scheine nehme!« »Warum haben Sie dem Toten die Schuhe noch ausgezogen?« »Hab’ ich ja gar nicht! Ich habe die Schuhe erst am nächsten Morgen unter der Treppe gefunden. Er ist auf Strümpfen zu mir raufgekommen, damit der Bauer nichts merkt! – Kann ich nun gehen?« Rückert schüttelte den Kopf. »So schnell werden wir uns nicht trennen. Ist das Ihre Strickjacke?« deutete er auf die dunkelgrüne Wolljacke, die er aus ihrem Zimmer mitgebracht hatte. Linda nickte. »Wann haben Sie die Jacke das letzte Mal getragen?« fragte Maresch. »Es ist meine einzige. Ich trage sie immer, wenn es kalt ist!« »Auch heute nacht?« Lindas von der Sonne gebräuntes Gesicht überzog sich mit einem dunklen Schimmer. »Im Bett brauche ich sie nicht«, sagte sie spitz. »Im Bett nicht«, ging Rückert auf ihre Antwort ein, »aber wenn man nachts durch das Dorf schleicht?« »Wer das behauptet, lügt!« versuchte sie zu streiten. »Dann sehen Sie Ihre Jacke genau an!« Er breitete die Jacke auf dem Tisch aus. »Hier am rechten Ärmel, an der Unterkante, was ist das?« »Flecken!« sagte sie mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Talgreste, von einer tropfenden Talgkerze!« ergänzte Rückert ihre Antwort. »Von dieser hier!« Maresch wickelte die Kerze aus dem Zeitungspapier. »Ein Gutachten in unserem Labor wird beweisen, daß die Talgreste auf Ihrer Jacke und dieser Kerze übereinstimmen. Die Kerze haben wir in der abgebrannten Scheune gefunden. Leugnen hilft Ihnen nicht!« Linda zog verstört den Rock über ihre Knie. Um Zeit zu gewinnen, griff sie wieder nach einer Zigarette. »Lassen Sie das Rauchen!« nahm ihr Rückert die Schachtel fort. Der Blick, den sie Rückert zuwarf, war alles andere als eine Aufforderung zum Tanz. Hilfesuchend sah sie Maresch an. »Wenn ich es zugebe, kriege ich dann mildernde Umstände?« »Das hängt vom Staatsanwalt ab!« sagte Maresch trocken. »Wenn Sie bei der Wahrheit bleiben, warum nicht!« »Wenn es Ihnen das Sprechen erleichtert, nehmen Sie ruhig eine Zigarette!« wurde Rückert wieder nachgiebig. Sie paffte ein paar hastige Züge und begann: »Was denken Sie, was ich in den letzten Wochen mitgemacht habe! Ich kann doch nichts dafür, daß der alte Bock in meinem Bett starb. Schon am nächsten Tag schickten die Bäuerinnen ihre Kinder, ließen die Stoffe und sogar die halbfertigen Kleider abholen. Keiner im Dorf sprach mehr mit mir ein Wort. Der Bauer, bei dem ich wohne, sagte, ich solle verschwinden. Auch der Bürgermeister ging mir aus dem Weg. Dabei war er früher genausooft bei mir wie der Stellmacher. Alle mieden mich, als hätte ich die Pest. Gestern vormittag habe ich den Bürgermeister abgepaßt und ihm gesagt, daß er in der Nacht um zwölf hinter seine Scheune kommen soll. Ich wollte mich mit ihm aussprechen! Lange habe ich gewartet. Er kam nicht. Da hat mich die Wut gepackt. Fort wollte ich sowieso, und dann bin ich nach Hause gegangen und habe die Kerze geholt!«
Am dritten Abend
rissen wir vor Überraschung die Augen auf und blickten entgeistert auf den Feuerwehrhauptmann unserer Runde. Der hatte sich was ausgedacht! Wie ging der mit dem kostbaren spanischen Rotwein im Kupferkessel um, von dem die Etiketts der leeren Flaschen auf dem Sims Zeugnis ablegten? Und was bedeutete der Haufen Eierschalen neben dem Herd? Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und schweißnasser Stirn stand er am Herd und schlug wie ein Berserker mit einem Schneebesen auf den Inhalt des Kupferkessels ein. »Der hat ’nen Eiertick!« flüsterte mir Kober zu, »nicht genug, daß es heute schon Eier zum Essen gab, jetzt haut er den Kupferkessel davon voll!« »Von wegen Eiertick«, drehte der Feuerwehrhauptmann sich um, der Kobers Flüstern verstanden hatte, »hast einen Eierpunsch wohl noch nie getrunken?« Als erster faßte sich mein Hauptmann. Das Lachen über Kobers Grimasse unterdrückend, sagte er: »Eiertick ist für heute mein Stichwort. Davon muß ich euch eine Geschichte erzählen. Weißt du noch, Erwin…?«
Eierpunsch Man nehme zwölf Eier, ein halbes Liter Weinbrand (aber vom besten!), zwei Flaschen Rotwein, ein viertel Liter Wasser, dreihundert Gramm Zucker und eine Zitrone. Die Zitronenschale wird ungefähr fünf Minuten im Wasser gekocht und dann durchgeseiht, anschließend gibt man den Zucker hinzu und läßt noch einmal kurz aufkochen. Die Eier verquirlt man mit dem Wein, gibt sie unter ständigem Schlagen mit dem Schneebesen in das Zuckerwasser und erhitzt sie so lange, bis die schaumige Masse zu steigen beginnt. Unter erneutem kräftigem Schlagen werden der Zitronensaft und der Weinbrand hinzugegeben. Das Getränk wird heiß serviert.
Der Eierdieb Ein silberner Strahl des Mondlichts verfing sich in der zersplitterten Scheibe des Fensters und huschte über das weiße Fachwerk des alten Bauernhauses. Ein Schatten, mehr zu ahnen als zu sehen, kroch an der Wand des Hauses in sich zusammen und verschmolz mit dem knorrigen Stamm des alten Weinstocks. Eine kleine Wolke schob sich vor die Scheibe des Mondes. Der Hauch des Windes ließ die Blätter des Weinstocks erzittern. Der Schatten des Mannes löste sich von dem Stamm. »Heiliger Josef!« murmelten seine Lippen, »was soll ich mit dem Ding?« Unschlüssig war er neben dem Fenster mit der zersprungenen Scheibe stehengeblieben. In der Hand krampfhaft ein halbvolles emailliertes Nachtgeschirr haltend, drückte er mit der anderen seine Beinkleider, die Jacke und die Schuhe an die Brust. Mit einer lautlosen Bewegung setzte er den Nachttopf neben dem riesigen Stamm auf die Erde. Einen letzten Blick warf er in das Dunkel des Zimmers, aus dem er soeben gestiegen war. Unfaßbar erschien ihm seine fast akrobatische Leistung, mit dem Topf und den Kleidern in den Händen ohne großes Geräusch und Gepolter das brusthohe Fenster überwunden zu haben. Seine freie Hand schob die nach außen stehenden Fensterflügel bis auf einen winzigen Spalt wieder zusammen. Gebückt, den Kopf in Höhe des Fensterbrettes haltend, lauschte er in das Zimmer hinter dem Fenster. Tiefe Atemzüge. Der Geruch von Äpfeln, vermischt mit dem Duft einer schlafenden Frau, ließen die Nasenflügel des Mannes erzittern. Eine wahnwitzige Idee traf ihn wie ein Blitz. Noch war das Fenster offen, nur wenige Schritte trennten ihn von dem warmen Leib der Schlafenden. Leise Geräusche aus dem Haus, das behutsame Schließen einer Tür und leise Schritte gaben dem Mann vor dem Fenster die Besinnung zurück. Sein Schatten wurde kleiner, verschmolz mit den Büschen des kleinen Vorgartens. Von der im Mondlicht liegenden Dorfstraße trennten ihn die Hecke und der Staketenzaun.
Noch immer hielt der Mann seine Kleidung und die Schuhe in der Hand. So konnte er nicht über den Zaun auf die Dorfstraße, an deren Ende sein Fahrrad versteckt lag. An den Zaun gelehnt, stieg er mit seinem rechten Bein in die Hose. Ein heiseres Klaffen, nicht weit entfernt, gleich hinter der Krümmung des Zaunes, ließ ihn erstarrt innehalten. »Still, Wotan!« vernahm er eine tiefe, halblaute Stimme, die zum Greifen nahe war. »So ein blödes Biest! Wirft mich noch um«, wurde die Männerstimme energischer. Wotans heiseres Bellen ging in ein keifendes Röcheln über. Das Zerren und Schleifen des an der Leine gehaltenen Hundes war nur noch wenige Meter von dem Mann in der Hecke entfernt. Für eine Flucht war es schon zu spät. Er wurde immer kleiner und ließ sich zwischen den dünnen Stämmen der Hecke zu Boden gleiten. Wotan, ein dunkelbrauner, in der Nacht fast schwarz erscheinender Schäferhund von der Größe eines kleinen Kalbes, hatte seinen Herrn, der ihn immer noch an der Leine hielt, bis zu der Stelle gezogen, wo der Mann sich an der anderen Seite des Zaunes an die Erde preßte. Das würgende Halsband ließ den Hund nur noch japsen und röcheln. »Nun ist’s genug!« schimpfte die Stimme seines Herrn. Das Aufjaulen des Tieres Heß ahnen, daß der Besitzer des Hundes zu drastischen Mitteln griff, um den Gehorsam zu erzwingen. Der Mann an der Erde hielt den Atem an. Fast in gleicher Höhe mit seinem Gesicht, nur durch die Staketen getrennt, blitzten ihn die Reißzähne des Tieres an. »Komm endlich!« riß der andere den Hund zu sich. Das Tier, dem das Halsband noch immer die Kehle zuschnürte, versuchte ein letztes Mal stehenzubleiben. Es hob seinen rechten Hinterlauf. Bevor der feine warme Strahl den Mann in der Hecke zwang, die Augen zu schließen, sahen sie noch die derben, mit hellen Flicken besetzten Schuhe des Mannes auf der anderen Seite des Zaunes. Oberkommissar Maresch schob seinen weichen Filzhut in den Nacken: »Was hältst du davon, Gerhardt?«
Er stand mit Rückert dicht an dem Stamm des alten Weinstockes, der noch vor ein paar Stunden den Schatten des Einbrechers aufgesogen hatte. Rückert ließ sich bei seiner Arbeit, das Fensterbrett nach Spuren abzusuchen, nicht stören. »Ist die Handschrift unseres Eierdiebes!« sagte er über die Schulter zu Maresch, »so sauber und akkurat sticht nur einer die Scheiben an und legt das rausgebrochne Stück an der Hauswand ab.« »Schon, schon.« Maresch stemmte seine Arme unter dem aufgeknöpften Trenchcoat auf der Hüfte ab. »Warum hat er diesmal nichts mitgenommen?« »Vielleicht ist unser Freund diesmal gestört worden. Immerhin ist er direkt in das Schlafzimmer des Bauern und seiner Frau eingestiegen.« »Der Bäuerin«, grinste Maresch, »der Bauer ist erst gegen Mitternacht heimgekommen, und die Bäuerin ist jung und proper!« »Der halbvolle Nachttopf spricht auch für deine Theorie«, sinnierte Rückert, »aber mir leuchtet nicht ein, daß jemand, der fensterln geht, die Scheibe anstechen muß.« »Die Wege der Liebe sind eben verschlungen«, lächelte Maresch, »wir packen zusammen und dampfen ab. Diese Geschichte kommt nicht auf das Konto unseres Eierdiebes. Kein Ei hat er angerührt, obwohl zwei Körbe voll im Zimmer neben dem Fenster stehen.« »Das war’s!« Rückert trat vom Fenster zurück und packte sein Spurensicherungsbesteck zusammen, »die Abdrücke von drei Fingerkuppen von den Scherben und vermutlich einen Handballen vom Fensterbrett habe ich.« »Na, dann nichts wie weg«, wandte sich Maresch zum Gehen. Rückert schien keine Lust zu haben, seine Arbeit abzubrechen. »Der Henkel vom Pinkelpott«, wandte er ein, »ich möchte sicher gehen, daß er es nicht war, und der Fährtenhund wartet auch. Was soll der Hundeführer denken, wenn wir, ohne den Hund anzusetzen, ihn wieder fortschicken?« »Du mit deinem Spurenfimmel kannst einem auf den Wecker gehen! Meinetwegen, ran mit dem Köter. Wenn er auch nicht den Eierdieb bringt, wissen wir vielleicht, wer dem Bauern die Hörner aufgesetzt hat.«
Maresch winkte den beim Fahrzeug wartenden Hundeführer herbei. »Wenn es der Nase Ihres Hundes nichts ausmacht«, deutete Rückert auf das Nachtgeschirr neben dem Weinstock, »dann setzen Sie Ihren Hund am Topf an. Dort muß der Täter gestanden haben. Hier vor dem Fenster sind die Spuren von dem Geschädigten zertrampelt.« Anka, die kleine graue Schäferhündin, war kaum zu halten. Am Nachtgeschirr fuhr sie mit ihrer tief gesenkten Nase ein paarmal hin und her und zog dann los, durch den Vorgarten auf die Hecke mit dem Staketenzaun zu. An der Stelle, wo der Einbrecher in der Nacht gelegen hatte, gab sie Laut und zog tief den Geruch der Spur ein. Vergeblich bemühte sie sich, über den Zaun zu kommen. Die Hecke am Zaun ließ keinen Platz für einen kurzen Anlauf zum Sprung. »Er muß hier über den Zaun gestiegen sein, Anka hat seine Spur«, rief der Hundeführer, vom Eifer des Tieres angesteckt, und war froh darüber, daß die Hündin die Spur aufgenommen hatte. Er hob das Tier über den Zaun und kletterte hinterher. Bevor die Hündin weiterzog, schnüffelte sie an der Stelle, wo in der Nacht der Rüde das Bein gehoben hatte, und tat das gleiche. Leise, so daß der hinter der Hündin hereilende Hundeführer es nicht hören konnte, fing Rückert an zu schimpfen: »Verfluchter Dreck! Erst Fingerabdrücke an einem alten Seechtopf, und jetzt pißt mir die Töle auch noch auf die Schuheindrücke!« Beim Absprung vom Zaun hatte der Täter mit seinen Schuhen tiefe Eindrücke in der lockeren Erde hinterlassen. »Rühr deinen Gips an«, lachte Maresch schadenfroh, »du wolltest es ja so. Ich bleibe beim Hundeführer!« Und fort war er. Als Maresch verschwitzt und staubig nach einer halben Stunde zurückkam, lehnte Rückert in betont lässiger Haltung, eine Zigarette rauchend, am Zaun. »Wieder nichts«, begann Maresch, seinen Filzhut abnehmend und sich mit einem Taschentuch über die Stirn fahrend, »der, der dem Bauern das Geweih brachte, muß aus einem anderen Ort stammen. Bis hinter das Dorf hat die Hündin die Spur gehabt. Vermutlich war vom Freund der Bäuerin dort ein Fahrrad abgestellt, mit dem er weiterfuhr.«
»Du glaubst immer noch an ein Liebesabenteuer?« fragte Rückert leichthin. »Jetzt erst recht!« sagte Maresch mit Nachdruck, »jedenfalls heute nacht war unser Eierdieb nicht hier. Und unsere Theorie mit dem spezialisierten Einzelgänger werden wir auch überdenken müssen. Diese Einbrüche seit zwei Jahren in Bauernhäusern bringt ein einzelner nicht zustande. Es sind mehrere, die mit der gleichen Methode, dem Anstechen von Fensterscheiben, arbeiten. Überlege mal, in der vorigen Woche waren wir in Gutmannsdorf, das liegt bei Weimar. Heute sind wir über einhundert Kilometer davon entfernt in diesem Nest bei Altenburg!« »Gutmannsdorf! Das war der Name«, unterbrach Rückert seinen Vorgesetzten, »und gleich wenn der Gips gebunden ist, habe ich eine Überraschung für dich!« Rückert beugte sich zu dem mit dem Gips ausgegossenen Schuheindruck neben dem Zaun. Die von der Hündin befeuchtete Erde schien ihn nicht mehr zu stören. »Ich glaube, es geht schon!« Er nahm behutsam den Gipsbrocken, der die Form eines Schuhes hatte, aus der Erde. Noch war nichts zu erkennen. Feuchte Erde war an dem Gips hängengeblieben. »Auf dem Hof ist eine Pumpe. Komm mit!« forderte er Maresch auf. Der schöne Erwin, im hellen Trenchcoat, einen Seidenschal um den Hals und mit dem weichen Filzhut auf dem Kopf, sah mit dem Pumpenschwengel in der Hand ein wenig seltsam aus. »Nicht soviel!« dämpfte Rückert, der die am Gips anhaftende Erde unter dem Wasserstrahl abwusch, den Eifer seines Vorgesetzten. Die letzten Wassertropfen abschüttelnd, hielt Rückert dem schönen Erwin den Gipsabdruck unter die Nase. Maresch nahm den Abdruck und drehte ihn hin und her. »Ein gewöhnlicher Schuhabdruck. Vermutlich von einem Männerschuh, Größe einundvierzig. Warum sollte ein Liebhaber nur auf großen Füßen leben?« Erkannte er wirklich nichts, oder stellte er sich nur dumm? »Hier!« sagte Rückert mit Nachdruck und fuhr mit einem Bleistift die Konturen kleiner Vertiefungen im Absatz nach.
Der schöne Erwin, der am liebsten mit seiner dunklen Brille schlafen gegangen wäre, riß sie herunter. »Du meinst?« fragte er. »Ich bin mir sicher!« antwortete Rückert. »Der Schuh, der diesen Abdruck hier hinterließ, hat das gleiche Muster auf dem Absatz wie der Schuh, dessen Spur wir in der vorigen Woche in Gutmannsdorf sicherten. Dieses Muster in der Form eines Glückspilzes ist unverkennbar.« Das »Guten Morgen!« aus Mareschs Mund klang nicht wie nach einem guten Morgen. Er stülpte seinen Filzhut mit einem solchen Schwung über den Garderobehaken, daß Rückert um die Form des guten Stückes bangte. Auch der helle Mantel wurde nicht besser behandelt. Mit einem Ruck flog die Schreibtischschublade auf. Umständlich suchte er nach einem Aufzeichnungsheft und legte seinen Füllfederhalter daneben. »Du wirst schon wieder«, dachte Rückert, der die Ärmel seines aufgefärbten Hemdes hochgekrempelt hatte und sich über eine auf Pappe gezogene Karte des Landes Thüringen beugte. Sie bedeckte fast den ganzen Schreibtisch. In der Hand hielt er ein großes Blatt Papier, das wie eine Tabelle beschriftet war. Nach jedem Blick auf die Tabelle nahm er eine Stecknadel mit Glaskopf aus einer Dose und drückte die Nadel auf einen bestimmten Punkt der Landkarte. Maresch sah schweigsam dem Tun seines Mitarbeiters zu. Die Gelassenheit, mit der Rückert, ohne Maresch zu beachten, Nadel für Nadel in die Karte steckte, steigerte seine Nervosität. Wie ein SOS-Ruf klang das Klopfen seines Füllhalters auf dem Papier des Aufzeichnungsheftes, wo zwar kein Wort stand, aber die Tintenspritzer beredter als Worte waren. »Ich muß um zehn Uhr zum Rapport beim Chef sein!« Er gab seine verkrampfte Gelassenheit auf. »Ist mir bekannt«, antwortete Rückert kurz und trocken. »Dein Geklapper mit den Stecknadeln macht mich nervös! Wie soll ich da einen klaren Gedanken fassen? Weißt du überhaupt, was mir bevorsteht? Bis jetzt habe ich dem Chef glaubhaft gemacht, daß die vielen Einbrüche in Bauernhäusern von mehreren unabhängig voneinander arbeitenden Tätern durchgeführt wurden. Du mit deiner Spurensuche, vor allem mit dem Pilz auf dem Absatz von gestern, hast alles über den
Haufen geworfen. Hat das Abstecken der Tatorte auf der Karte nicht noch Zeit?« Maresch lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte den Füller aus der Hand. »Dich bringt doch sonst nichts aus der Ruhe«, unterbrach Rückert seine Arbeit, »ich bin für eine ordentliche Tatortarbeit und ihre anständige Auswertung. Du regst dich über den Einbruch von gestern auf. Das kann doch nur gut für uns sein. Je öfter er einbricht, desto größer unsere Chance, ihn auf frischer Tat zu greifen. Einmal läuft er uns in eine Falle.« »Das ist es ja gerade. Ich muß dem Chef plausibel machen, daß der Kerl jede Nacht in irgendeinem Dorf im Umkreis von einhundert Kilometern wieder auftauchen kann. Dann fragt der Chef in seiner höflichen Art, welche Vorschläge ich habe, die Einbrüche zu verhindern und den Einbrecher festzunehmen. Ich könnte ihm den Vorschlag machen, alle Dörfer und alle Landstraßen zwischen Erfurt und Altenburg jede Nacht kontrollieren und überwachen zu lassen. Weißt du, was da passiert? Der Alte schmeißt mich raus! Wo soll er die Polizisten für eine solche Aktion hernehmen? Und das alles wegen einer Handvoll Eier!« »Handvoll Eier ist gut!« sagte Rückert mit dem Blick auf seine Tabelle, »nach den vorliegenden Anzeigen waren es 9520 Eier, fünf geräucherte Schinken und dreizehn Würste!« »Du bist verrückt! Woher hast du diese Erkenntnisse?« »Der Glückspilz, gestern auf dem Absatz! Für mich steht seitdem fest: Es ist nur ein Täter, der diese Einbrüche in den Bauernhäusern begeht. Deswegen habe ich mich gestern abend noch hingesetzt und alle Anzeigen und Meldungen aus den letzten zwei Jahren über Einbrüche in Bauernhäuser durchgearbeitet. Dabei ist eine ganz schöne Vergleichsreihe entstanden. Auf das Konto des Eierdiebes kommen einhundertneunzehn vollendete und neun versuchte Einbrüche.« »Der Alte läßt mich ablösen, weil ich ihm diese Zahlen jetzt erst nenne.« Demonstrativ legte Maresch seinen Füller aus der Hand. »Ob heute oder eine Woche später, Farbe bekennen mußt du doch einmal.« »Und du bist sicher, daß alle diese Einbrüche auf das Konto des Eierdiebes kommen?«
»Meine Vergleichsreihe lügt nicht! Kannst dich selbst überzeugen. Vierundvierzigmal wurden die Scheiben angestochen.« »Das kauf ich dir noch ab«, unterbrach ihn Maresch, »aber bei den restlichen vierundachtzig Einbrüchen gibt es keinen Hinweis, daß es der Fensterstecher war!« »Langsam, langsam, ich bin noch nicht fertig. Wenn Fenster oder Türen offenstanden, brauchte er ja wohl kein Fenster aufzubrechen. Aber in neun Fällen gibt es Übereinstimmung der Tatortfingerabdrücke. Vier davon nur beim Anstechen der Fensterscheiben. Auch in Gutmannsdorf, wo er den ersten Glückspilz hinterließ, stand das Fenster offen. Die Vergleichsreihe hat mir noch mehr verraten: Erstens war er seit zwei Jahren, mit ganz wenigen Ausnahmen, jede Woche einmal unterwegs. Zweitens wählte er seine Tatorte immer weit auseinanderliegend. Drittens geht er nur in der Nacht zum Mittwoch oder in der Nacht zum Donnerstag auf Eierjagd. Immer schön abwechselnd.« »Steht in deiner Vergleichsreihe zufällig auch, wie er heißt und wo er wohnt?« fragte Maresch ironisch. »Dann säße er schon hier, und du hättest einen Begleiter auf deinem Gang nach Canossa. Ich kann dir nur einen Tip geben, wann und wo du ihn greifen kannst.« »Laß mal deine Weisheit vom Stapel. Übrigens, warum soll ich ihn greifen? Warum du nicht?« »Ich habe noch ein anderes Eisen im Feuer. Aber eines nach dem anderen! Da er das letzte Mal in der Nacht zum Mittwoch bei Altenburg war, wird er in einer Woche in der Nacht zum Donnerstag wieder auftauchen. Der Raum Altenburg und Weimar, wo er in der vorigen Woche war, scheidet mit großer Wahrscheinlichkeit aus. Nach seinen Gepflogenheiten wird er den nächsten Bauernhof weit entfernt von diesen Gegenden beglücken. Ich tippe auf den Raum Saalfeld – Pößneck oder Naumburg – Camburg.« »Und das gibt alles deine Vergleichsreihe her?« »Nicht nur dieses. Was denkst du, warum ich seit Stunden die einhundertachtundzwanzig Nadeln in die Pappe haue? Durch die Nadeln bin
ich ja drauf gekommen, welche Gegenden er sich als nächste aussuchen wird.« Die goldene Feder des Füllhalters flog übers Papier. »Das reicht fürs erste«, meinte Maresch, ohne aufzublicken, »damit kann ich dem Oberrat konkrete Vorschläge machen, die er akzeptieren muß. Hoffentlich hält deine Theorie, was sie verspricht, sonst können wir beide unsere Koffer packen. Wo willst du die Einsatzkräfte führen, in Camburg oder in Saatfeld?« »Nirgends!« »Uff«, richtete sich der schöne Erwin auf, »du glaubst wohl selber nicht an deine Theorie?« »Doch, sonst hätte ich mich nicht die halbe Nacht hierhergesetzt. Ich möchte in einer anderen Richtung weitermachen. Natürlich nur, wenn du einverstanden bist.« »Schieß schon los! Aus dir soll einer klug werden.« »Hier«, Gerhardt Rückert hob triumphierend die Nadel-Karte hoch, »fällt dir was auf?« Maresch rückte an seiner Sonnenbrille, die er auch nicht im Zimmer abnahm. »Hm, der Bursche scheint ja zwischen Erfurt und Gera kein Dorf ausgelassen zu haben. Besonders die Dörfer im Saaletal haben es ihm angetan. Aber hier in der Gegend«, er deutete auf eine handtellergroße Stelle auf der Karte, »da hingen ihm wohl die Trauben zu hoch?« »Genau das fiel mir auch auf! Rings um das kleine Neustadt an der Orla blieben die Dörfer verschont.« »Du vermutest, daß der Täter dort sitzt?« »Genau! Organisiere du die Überwachung in Saalfeld und Camburg. Laß mich in Neustadt ermitteln. Zehntausend Eier ißt kein Mensch. Irgendwo tauchen die auf dem schwarzen Markt, das Stück zu einet Mark fünfzig, wieder auf.« Die »Weiße Rose« in Neustadt war kein pompöses Hotel. Rückert störte sich an den Löchern im Bettlaken ebensowenig wie der alte Hotelier Anstoß daran nahm, daß der junge Mann in seinem Hotelzettel als Beruf
Steuerberater angegeben hatte. Ganz so unecht war es damit nicht. In der heutigen Zeit waren zehntausend Eier gleich fünfzehn Mille, und daß er den Besitzer beraten mußte, stand auch fest, vorausgesetzt, er fand ihn. Die Polizisten vom Gruppenposten, denen Rückert sich zu erkennen gab, schüttelten einmütig ihre Köpfe. Ein Eierschieber dieses Ausmaßes war ihnen unbekannt. Gewiß gab es auch in Neustadt Leute genug, die die Portionen auf den Lebensmittelfleischmarken hier und da mit ein paar zusätzlichen Kalorien zu Schwarzmarktpreisen aufbesserten, aber die hatten meistens ein paar Hühnerhalter an der Hand. Nach drei Tagen kannte Rückert zwar alle kleinen und großen Händler mit Eiern, doch einer vom Format des Eierdiebes war nicht dabei. Die Bitte Rückerts, ihm doch die Adressen aller Schuhmacher aus Neustadt zu verschaffen, schockierte den Leiter des Gruppenpostens so, daß er sich bei seinem Polizeidirektor nach der Lauterkeit dieses eiersuchenden Kriminal-Obersekretärs erkundigte. Bei der Antwort wäre ihm beinahe der Telefonhörer aus der Hand gefallen. Am liebsten hätte er persönlich alle Schuhmacher an einem Strick in die »Weiße Rose« gebracht. Elf Schuhmachermeister oder solche, die es vorgaben zu sein, wirkten in Neustadt. Acht ihrer Namen in Rückerts Notizbuch waren schon durchgestrichen. Nummer neun hieß Adolf Senkel. Und wie ein Schnürsenkel sah er auch aus. Klein und schmächtig, mit rundem Buckel, saß er auf seinem Schusterschemel. Unbeirrt von einer Frau, die ein Paar alte geflickte Arbeitsschuhe in der Hand hielt, und dem etwas später eintretenden Rückert hämmerte Senkel, zwischen den Lippen eine Reihe Holztäkse, auf einen Schuh los. Erst als sein Mund wieder frei war, stand er auf und nahm wortlos die Schuhe von der Frau. Mit seinem breiten rissigen Daumen walkte er die durchlöcherten Sohlen, als wollte er den Daumen bis ins Oberleder durchstecken. »Die sind hinüber. Da hält kein Flicken mehr«, sagte er zu der abgehärmten Frau. »Sie müssen mir helfen, Herr Senkel«, bat sie. In ihren Augen stand Ratlosigkeit und kein Schimmer von Hoffnung. »Mein Mann hat nur diese. Er kann nicht mehr auf Arbeit gehen. Versuchen Sie es noch ein-
mal, auch wenn es mehr kostet.« Die letzten Worte flüsterte sie mit einem Blick auf Rückert. Die Anwesenheit Rückerts ließ den schmächtigen Mann mit einer Antwort zögern. Dann warf er die Schuhe auf einen Häufen in der Ecke. »Werd’ mal sehen, was sich machen läßt. Kommen Sie morgen nachmittag wieder.« Allein mit dem Schuhmacher, zog Rückert mit gewohnter Bewegung die an einem Lederriemchen befestigte Dienstmarke. »Kriminalpolizei! Obersekretär Rückert! Ich brauche von Ihnen eine Auskunft.« Hätte der Meister noch ein paar Täkse zwischen den Lippen gehabt, wären sie ihm wahrscheinlich in den Hals gerutscht, so riß er vor Überraschung den Mund auf. Dieser junge Mann mit blondgewelltem und nach hinten gekämmtem Haar war ihm schon beim Eintritt nicht koscher vorgekommen. Seine gebeulten Hosen und die verblichene Windjacke täuschten nicht darüber hinweg. Rückert ging ohne Umschweife auf sein Ziel los: »Ich suche einen bestimmten Absatz. Diesen hier!« Er hielt Senkel ein Blatt Papier von der Größe einer Postkarte unter die Nase. Das fein säuberlich mit Tusche gemalte Pilzmuster auf dem Absatz war nicht zu verkennen. Warum rückte der Meister erst ein paarmal an seiner Nickelbrille herum, statt eine bündige Antwort zu geben? Auch ein Sehschwacher hätte ohne Brille und Mühe den Glückspilz erkannt. Ohne den Mund zu öffnen, schob Senkel das Blatt Papier Rückert wieder zu. Bei den anderen Schuhmachern war es anders gewesen. Sie hatten alle ausnahmslos einen kurzen Blick auf die Zeichnung geworfen und dann, ohne lange zu überlegen, erklärt, nie ein solches Muster gesehen zu haben. Für ein Nein von Senkel war es jetzt schon zu spät. Rückert machte keine Anstalten, nach der Zeichnung zu fassen. Senkel hielt sie für ein paar Augenblicke in der Luft. »Was ist damit?« fragte er, statt eine Antwort zu geben. »Haben Sie solche Absätze verarbeitet?«
Senkel drehte sich um. Blieb stumm. Noch krümmer war sein Rücken, als er in einem Regal mit Schuhen und alten Pappkartons zu kramen anfing. Warum wich er einer Antwort aus? Mit einem Karton in den Händen drehte er sich um und setzte ihn auf einem Brett ab, das seinen Arbeitsplatz von den Kunden frei hielt. Seine kurzen breiten Finger griffen in den Karton. »Meinen Sie den?« Kann jemand die Gefühle eines Kriminalisten beschreiben, der wochenlang einem Schemen nachläuft, der Dutzende Male am Tage die gleiche Frage stellt und die Antwort schon im voraus kennt, eine Antwort, die ihn nicht weiterbringt, und der dann unvermutet eine heiße Spur in der Hand hält? Rückert verstand sich zu beherrschen. Keine Miene zuckte in seinem Gesicht, als er die Hand ausstreckte und den Gummiabsatz mit dem Muster eines Pilzes an sich nahm. Weiterfragen, nahm er sich vor, den anderen nicht merken lassen, wie ihn das Stückchen Gummi aufwühlte. »Wo stammen die Absätze her?« Senkel hatte sich wieder abgewandt, seinem Arbeitstisch zu. »Weiß ich nicht mehr!« »Dann überlegen Sie«, klirrte Rückerts Stimme. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: Nicht nachlassen, die frische Spur nicht verlieren. Senkel blieb stumm. »Ich muß wissen, wo diese Absätze her sind!« Mit Senkels Beherrschung war es vorbei. »Ich hab’ die Dinger nicht geklaut!« Er war wütend über sich selbst. Warum hatte er am Anfang nicht einfach gesagt: Die Absätze kenne ich nicht! »Wo sind die Absätze her?« blieb Rückert stur bei seiner Fragestellung. Hier, in diesem halbdunklen Loch, mußte es sich entscheiden, ob es Zweck hatte, den Weg der Absätze zu verfolgen. Gab es sie im Handel in größeren Mengen, würde auch ein erheblicher Aufwand kaum eine Erfolgschance haben. Der Schmächtige mußte antworten, und wenn nicht hier, dann im Dienstzimmer des Gruppenpostens. Für Rückert völlig unerwartet, sprang Senkel von seinem Schemel auf, zog an den Bändern einer ehemals blauen Schürze herum, ohne sie aufzubekommen, und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Von mei-
nem Bruder! Aus dem Westen, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Und nun können Sie mich abführen! Ich habe nichts daran verdient. Den Leuten wollte ich helfen, weil es hier keine gibt.« Er zitterte am ganzen Leib. »Ruhig, Opa! Bleiben Sie auf Ihrem Schemel sitzen und regen Sie sich wieder ab. Kein Mensch will etwas von Ihnen. Im Gegenteil: Sie haben mir einen Dienst erwiesen.« Ein zufälliger Beobachter des großen Zornesausbruchs des kleinen Schuhmachermeisters hätte eine Weile später Grund zum Wundern gehabt. Einträchtig wie alte Freunde steckten Rückert und Senkel ihre Köpfe in das alte Kundenbuch, Namen und Adressen derjenigen heraussuchend, die auf ihren Absätzen einen Glückspilz durch die Welt trugen. Donnerstag früh hing der graue Filzhut des schönen Erwin tropfend und unansehnlich verformt auf dem Garderobehaken über dem zerknautschten und nassen Trenchcoat. Die gleiche Trübseligkeit strahlte Maresch von seinem Schreibtisch aus. Unrasiert und mit rotentzündeten Augen schaute er vorwurfsvoll auf den eintretenden Rückert. »Nett von dir, daß du deinen Urlaub in Neustadt beendet hast«, empfing er seinen Mitarbeiter. »Is was?« wollte Rückert wissen. »Frag nicht so blöd! Deine Theorie mit dem vorausberechneten Neuanfall hat ein Loch. Wie stehe ich jetzt vor dem Alten da? Die ganze Nacht habe ich mich auf den Straßen und Dörfern bei Saalfeld herumgetrieben. Nichts! Auch aus Camburg kam die Meldung, daß deine Spielchen mit den Stecknadeln für die Katz waren. Sicher hast du vergessen, in der Vergleichsreihe die Regentage mit einzusetzen. Vielleicht arbeitet dein Eierdieb nur bei trockenem Wetter und Mondschein!« »Kann ich etwas dafür? Du warst doch von der Vergleichsreihe überzeugt. Ich bin es jetzt noch«, verteidigte Rückert seine Theorie. »Theorie hin und Theorie her, ich warte noch auf die Hiobsbotschaft, daß der Kerl letzte Nacht dort einen Einbruch startete, wo ihn deine Stecknadeln nicht vermuteten. Paß auf das Telefon auf. Ich gehe mich jetzt rasieren und frisch machen!«
Nach einer guten Viertelstunde trat Maresch mit blankgeputzten Schuhen, tadellos gebundenem Schlips und blütenweißem Hemd wieder ins Zimmer, einen Hauch von Lavendelduft um sich verbreitend. »Schon ein Anruf gekommen?« erkundigte er sich. »Bis jetzt nicht«, antwortete Rückert, seinen Vorgesetzten von Kopf bis Fuß musternd. »Was gaffst du mich so an, als sähst du mich zum erstenmal?« fragte der schöne Erwin, dem die Musterung nicht entgangen war. »Wie du es nur machst? Immer bist du gekleidet wie aus dem Ei gepellt. Aus der Gefangenschaft hast du nicht mehr mitgebracht als ich. Die paar Mark, die wir verdienen, reichen kaum für einige Schachteln Zigaretten extra. Deine Klamotten müssen dich doch ein Heidengeld kosten!« »Tun sie nicht, wenn es dich beruhigt! Die Sorgen nimmt mir Tante Hilde ab. Ihr Sohn war vor dem Krieg Bankkaufmann. Er kam nicht wieder, und ich muß nun nach Tante Hildchens Willen seine Anzüge und Hemden auftragen. Paßt alles, bis auf seine Schuhe, die sind ein paar Nummern zu klein.« »Deine Sonnenbrille hat Tante Hilde wohl gratis dazugegeben?« spielte Rückert auf die gedunkelte Brille an, die Maresch gerade aufsetzte. »Interessant, was du vor deine Augen klebst, gewöhnliches Fensterglas, etwas eingefärbt.« »Du solltest deine Ermittlungen auf den Eierdieb konzentrieren und nicht auf meine Brille. In deinen Augen bin ich wohl ein Angeber? Sieh mal in meine Augen! Was hältst du davon?« nahm Maresch seine Brille wieder ab. »Ich sehe nichts«, meinte Rückert nach einer Musterung der Augen des schönen Erwin, »ein wenig übernächtigt, aber das gibt sich, wenn du ein paar Stunden geschlafen hast.« »Und die Farbe?« »Ein unwahrscheinlich helles Blau. So was lieben die Frauen. Ohne Brille wären deine Chancen noch größer«, versuchte Rückert dem Thema eine andere Wendung zu geben.
»Ach was, Chancen bei Frauen! Chancen bei Ganoven müssen wir in unserem Beruf haben. Bei Tante Hilde verkehrte mal ein Psychologe. Der machte ihr weis, daß meine Augen nicht zu meinem Beruf passen. Sie sind mit den blonden Wimpern zu ausdruckslos. Keine Maus würde vor mir zittern. Tante Hilde bestand darauf, Augenbrauen und Wimpern zu färben oder eine Sonnenbrille zu tragen. Ich hab’ mich für die Brille entschieden. Lieber eine Brille und gute Anzüge, als ohne Brille und in so einer Windbluse, wie du sie hast. Schluß mit meiner Sonnenbrille. Was hast du in Neustadt erreicht?« »Du läßt mich ja nicht zu Wort kommen. In Neustadt habe ich mir die Absätze schief gelatscht, so viel bin ich in der Gegend herumgelaufen. Willst du mal sehen?« Rückert wandte sich um und winkelte sein rechtes Bein an, Tante Hildes Psychologe hätte sein Urteil über Mareschs Augen schnell revidiert. Er riß die Brille herunter, und aus seinen Augen schossen Blitze. »Was soll das bedeuten? Wenn du mir jetzt noch sagst, du hast in dem Kuhdorf bei Altenburg und in Gutmannsdorf aus Versehen deine eigenen Schuheindrücke gesichert, sind wir geschiedene Leute.« »Laß mich doch ausreden. Mein Freund, ein Schuhmachermeister in Neustadt, hatte Erbarmen mit meinen Absätzen und hat mir ein paar neue aufgenagelt. Auf meinen besonderen Wunsch solche mit dem Glückspilzmuster. Außerdem gab mir der Schuhmacher ein Paar ungebrauchte zu Vergleichszwecken mit.« »Hör auf«, unterbrach Maresch. »Jeden Moment kann mich der Alte zum Rapport rufen! Hast du einen Verdächtigen?« »Leider nicht nur einen. Zehn Kunden hat der Schuhmacher mit den Pilzabsätzen befriedigt. Meine ausgenommen. Insgesamt waren es einmal zwölf Paar. Er will sie von seinem Bruder aus Westdeutschland bekommen haben. Zwei Paar habe ich, und diese Leute«, dabei klappte Rückert sein Notizbuch auf, »tragen die anderen. Das wären: Egon Träger aus Beilitz, Bauer, hat genug eigene Hühner. Christa Leucht aus Neustadt, Friseuse, ledig, zwei Kinder von verschiedenen Vätern. Nimmt es mit der Arbeit nicht so genau. Braucht immer Geld. Um es zu besorgen, ist sie oft tagelang unterwegs. Oskar Reissig, Kriegsinvalide, früher Tischler, heute Gelegenheitsarbeiter. Besitzt eine alte DKW.
Friedrich Kühn, Eisenbahner, war unter Hitler wegen Wehrkraftzersetzung eingesperrt. Otto und Martha Erhardt. Scheiden aber beide aus, da sie mit den neuen Absätzen auf den Schuhen vor einem halben Jahr nach drüben abgehauen sind. Helga Hentschel, fünf Kinder, biedere Hausfrau. Arno Kolbe, hat wegen Wirtschaftsvergehens sechs Monate gesessen, vor drei Monaten entlassen, noch keine Arbeit. Erwin Hoffmann, Rentner, scheidet auch aus, weil er mehrere Monate im Krankenhaus lag. Und als letzter Paul Hucke, Hundezüchter. Ist mit einem alten Lieferwagen dauernd unterwegs. Kauft und verkauft nicht nur Hunde.« »Spann mich nicht auf die Folter! Wer ist der Täter?« »Den wollte ich mir mit dir zusammen ausgucken!« meinte Rückert und schlug das Notizheft zu. »Wieso mit mir? Du warst doch in Neustadt!« »Einer von den acht kann nur der Täter sein. Um sicherzugehen, hätte ich alle vorladen und von jedem die Fingerabdrücke nehmen müssen. Ich hätte also im schlimmsten Fall sieben berechtigte Beschwerden auf dem Hals, und die möchte ich mit dir teilen! Außerdem liegen die Tatortspuren in meinem Schreibtisch.« »Pack ein! Nichts wie weg hier! Der Alte kann mit seinem Rapport warten, bis wir aus Neustadt zurück sind.« Maresch stürzte an den Garderobenständer und stülpte sich seinen noch nassen Filzhut über den Kopf. »Warte, bis die Strafregisterauszüge eintreffen. Ich habe sie von allen angefordert«, versuchte Rückert zu bremsen. »Keine Zeit, die laufen uns doch nicht weg! Erst mal raus hier. Mensch, das wäre ein Ding, wir suchen einen Kerl, und statt dessen füttert eine Friseuse ihre Kinder jeden Tag mit Eiern!« »Oder der Hundezüchter seine Köter«, lachte Rückert. Den Leiter des Polizei-Gruppenpostens schaffte Maresch in fünf Minuten. Dann räumte er ohne Widerrede sein Dienstzimmer und stellte
seine kleine Streitmacht unter das Kommando von Maresch, ohne daran zu denken, seinen Polizeidirektor zu informieren. »Mit wem fangen wir an?« fragte Rückert. »Mit Hucke und der Friseuse. Ich hole mit zwei Polizisten vom Gruppenposten den Hucke und du mit einem die Friseuse. Platz genug ist ja vorhanden!« Maresch hätte seine beiden Polizisten ruhig uniformiert lassen können. Hucke, der sich bei Mareschs Erscheinen auf dem Hof bei den Hundezwingern befand, schwante Böses. Drei Männer, die zu ihm wollten und von denen er zwei als Polizisten erkannte, ließen seine Knie weich werden. »Kriminalpolizei!« schnarrte Maresch den Überraschten an, ohne seine Hände aus den Manteltaschen zu nehmen, »kommen Sie mit ins Haus!« Flankiert von den beiden Polizisten, trat Hucke in sein Wohnhaus. »Körperliche Durchsuchung!« befahl Maresch. Eilfertig klopfte einer der Polizisten die Hose und die alte braune Lederjoppe von Hucke ab. »Keine Waffe!« meldete er, von der Forschheit Mareschs angesteckt. Ob ich mich verhört habe, fragte er sich. Auf dem Weg zu Hucke sprach der Oberkommissar von der Kriminalpolizei von Eiern, die er suchte. Wie eine Eiersuche ließ sich das hier nicht an. Vielleicht verstand der von der Kripo unter Eiern Handgranaten oder so etwas Ähnliches? »Setzen Sie sich auf den Stuhl!« fuhr Maresch Hucke an, »Sie sind* vorläufig festgenommen. Wir führen eine Durchsuchung durch. Sie rühren sich nicht vom Fleck, bis ich es erlaube, verstanden?« Hucke nickte mit bleichem Gesicht. »Füße hoch!« kommandierte Maresch. Hucke gehorchte. »Ausziehen! Sind beschlagnahmt!« Maresch war in seinem Element. Den ersten Beweis hatte er. Die Langschäfter von Hucke hatten das Pilzmuster auf den Absätzen. Und dann begann die Durchsuchung. Keine Schublade, keine Schachtel oder Büchse blieb ungeöffnet. Raum für Raum nahmen sich die Poli-
zisten vor, gefolgt von dem barfüßigen Hucke und Maresch, der seinen Gefangenen nicht aus den Augen ließ. Der Hundehandel schien ein einträgliches Geschäft zu sein. An Essen und Trinken, sogar an leckeren Sachen wie Schokolade und Kaffee, hatten Hucke und seine Familie keine Not zu leiden. Ab Eier gaben die Schränke und Kisten nicht preis, nicht einmal Eierschalen im Müllkübel. »Ziehen Sie sich ein Paar alte Schuhe an. Wir werden uns jetzt draußen umsehen.« Maresch war das veränderte Verhalten Huckes nicht entgangen. Je mehr Räume sie im Wohnhaus unter die Lupe genommen hatten, um so gefaßter wurde Hucke. Sucht mal ruhig schien sein Gesicht auszudrücken, ihr werdet nichts finden. Und die Beschwerde, die ich loslasse, wird euch das Genick brechen. Der größte Teil der Zwinger mit den kleinen Hundehütten an der Mauer des Schuppens war leer. Nur in den letzten beiden sprangen wie wilde Teufel zwei ausgewachsene Schäferhunde gegen den Maschendraht. Die beiden Polizisten sahen fragend zu Maresch. Ob der verlangen würde, auch in den Zwingern mit den beiden Bestien nach Eiern zu suchen? »Sehen wir uns den Schuppen von innen an«, brach Maresch die Besichtigung der Zwingeranlage ab. Hucke grinste unverhohlen, als er das Tor an der Stirnseite des Schuppens öffnete. Im Schuppen stand der alte Lieferwagen. An den Wänden zur Schuppen lagen in buntem Durcheinander Ersatzteile, Werkzeuge, Bretter. Die Polizisten rollten Fässer mit Hundefutter beiseite, öffneten Säcke, stocherten im Kohlehaufen, ohne etwas zu finden. An der hinteren Stirnseite des Schuppens waren Bretter aufgestapelt. »Kommen Sie mal her«, rief Maresch dem Festgenommenen zu, »wo haben Sie die Bretter her?« »Das müssen Sie meinen verstorbenen Vater fragen. Der hat sie schon lange vor dem Krieg an dieser Stelle abgelagert.« Huckes Stimme triefte vor Hohn. »Gehen wir«, sagte Maresch völlig ruhig und verließ, von den anderen gefolgt, den Schuppen.
Auf dem Hof blieb Maresch stehen. Er lächelte. Als Verlegenheit bewertete es der eine Polizist. Wie würde der Oberkommissar sich vor der Blamage retten? Statt einen Haufen Eier oder Handgranaten hatte er Hucke nur die Stiefel weggenommen. Heute abend noch würde es Hucke in seiner Kneipe zum besten geben und die Lacher auf seiner Seite haben. Maresch nahm zum erstenmal während der ganzen Durchsuchung die Hände aus den Manteltaschen. Mit einem geübten Griff fuhr er unter seine linke Achselhöhle und hatte seine Dienstpistole in der Hand. Ruhig, wie auf dem Schießstand, lud er die Walther pp durch. »Was soll das?« wich Hucke zurück, »das laß ich mir nicht gefallen! Das kostet Sie Kopf und Kragen!« »Machen Sie sich um meinen Körper keine Sorgen! Passen Sie genau auf! Sie legen jetzt dem Rüden im letzten Zwinger eine Leine an und bringen ihn in einen der leeren Zwinger. Ich mache Sie unter Zeugen darauf aufmerksam: Wenn Sie den Hund loslassen oder zu flüchten versuchen, knallt es! Verstanden!« Um Maresch hinters Licht zu führen, mußten andere kommen als dieser Hundezüchter. Schon innen im Schuppen war ihm die Länge des Raumes kürzer vorgekommen als die Länge der Außenwand. Unbemerkt von den anderen hatte er die Schritte im Schuppen von der Stirnseite, wo das Holz lag, bis zur Tür gezählt. Das waren weniger als draußen bei den Zwingern. Es mochte sein, daß Hucke mit kleinen und großen Hunden handelte. Aber warum hatte der Rüde im letzten Zwinger eine fast mannshohe Hundehütte an der Wand stehen? In Huckes Gesicht spiegelten sich Angst und Verzweiflung. Er ging in den Zwinger und legte dem wütend bellenden Tier die Leine an. Auf seinen Rüden konnte er sich verlassen. Der würde ihm die Kerle vom Hals halten, bis er weg war. Aber die Pistole in der Hand des Kriminalisten war nicht nur Drohung. Der würde auch schießen. Das geifernde Tier kurz an der Leine haltend, ging Hucke dicht an Maresch vorbei, dem keine Bewegung entging. »Worauf warten Sie noch?« fragte Maresch, nachdem Hucke das Tier im anderen Zwinger hatte.
Mit schlurfenden Schritten ging Hucke zum leeren Zwinger. »Nun räumen Sie die Hütte schon weg!« Hucke hatte aufgegeben. Unterstützt von einem Polizisten, schob er die Hütte beiseite. Eine kleine Tür, bisher von der Hütte verdeckt, wurde sichtbar. »Na machen Sie schon! Oder soll ich die Tür aufschließen?« Hinter der Tür gab es einen etwa drei Meter breiten Raum, der sich über die ganze Stirnseite des Schuppens hinzog. Der Lichtschein der Taschenlampe fiel auf volle Regale an beiden Seiten des Raumes. Unmengen von Konservenbüchsen, amerikanische und englische Zigaretten stangenweise. Im trauten Nebeneinander mit vollen Zuckersäcken ein halber Sack Rohkaffee. In Sackleinwand genähte Stoffballen. »Das reicht erst einmal«, meinte Maresch. »Um dieses Schieberlager abzutransportieren, wird Ihr Lieferwagen kaum ausreichen. Sie kommen mit! Vorerst nehmen wir nur den Korb mit den Eiern dort vom Regal mit!« Im Gruppenposten ließ Maresch den Festgenommenen unter Bewachung im Besucherzimmer zurück. Mit dem vollen Eierkorb und Huckes Stiefeln trat er siegesbewußt zu Rückert ins Dienstzimmer: »Kannst deine Friseuse wieder fortschicken. Ich hab’ ihn!« »Gratuliere«, meinte Rückert mit einem Blick auf die Eier und die Stiefel. Ein wenig Neid schwang in seiner Stimme. Immerhin hatte er in diesem Fall die Hinweise auf Neustadt gebracht, und bei der Festnahme des Eierdiebes dabeizusein wäre recht und billig gewesen. »Du sagst ja gar nichts«, fing Maresch an. »Der Alte wird Augen machen, daß die Einbrüche geklärt sind. Natürlich werde ich deinen Anteil mit der Vergleichsreihe und der Tatortkarte beim Chef ins richtige Licht rücken.« »Deine Sache«, knurrte Rückert, »die Friseuse scheidet übrigens aus. Liegt seit sechs Wochen im Krankenhaus. Eine schiefgegangene Abtreibung!« »Mach dir nichts draus. Wir werden jetzt mit der Vernehmung beginnen. Nur zu den Einbrüchen mit den Eiern. Das Eierklauen wird er nur als Nebenbeschäftigung betrachtet haben. Bei dem Schieberlager, das ich
gefunden habe, hätte er die Einbrüche nicht nötig gehabt. Mit dem wird es keine Schwierigkeiten geben. Der ist nach der Durchsuchung und der Festnahme fix und fertig.« Huckes brutale Vierschrötigkeit hatte tatsächlich einen Knacks bekommen. Wie zerbrochen hatte er sich auf den Stuhl in der Mitte des Zimmers gesetzt. Seine Hände fingerten unruhig an den Knöpfen der abgetragenen Lederjoppe. »Also noch einmal von vorne«, fing Maresch zum wiederholten Male an, »wo sind diese Eier her?« »Eingetauscht! Warum glauben Sie mir nicht? Fragen Sie doch den Bauern, den ich Ihnen nannte! Warum sollte ich einbrechen? Ich hab’ doch genug. Sie selbst haben doch alles gefunden!« »Und wie erklären Sie sich Ihre Schuhabdrücke an den Tatorten?« wurde Maresch lauter, den Huckes Leugnen wütend machte. »Ich weiß es nicht. Die Dörfer, die Sie nannten, kenne ich kaum und war auch nicht dort«, stritt Hucke mit fast weinerlicher Stimme ab. Bereitwilligst hatte er die Komplizen seiner Schiebergeschäfte genannt, sogar das Versteck seines Geldes hinter einer losen Kachel des Stubenofens verraten, aber wenn Maresch auf die Einbrüche zu sprechen kam, stritt er bis aufs Blut. Rückert hatte sich bisher kaum an der Vernehmung beteiligt. Nicht etwa, weil er Maresch die Festnahme von Hucke übelnahm, sondern weil Hucke offensichtlich so von Mareschs Auftreten beeindruckt war, daß er nur bei diesem reden würde. Er schob das Vernehmungsprotokoll beiseite. »So kommen wir nicht weiter«, sagte er zu Maresch, »ich werde ihn jetzt rollen. Dal nach werden wir die Wahrheit wissen!« Huckes Nerven schienen nicht so stark zu sein, wie sein Äußeres vermuten ließ. Hatte schon der schießwütige Oberkommissar ihn in Angst und Schrecken versetzt, so brach ihm durch die Ankündigung des Obersekretärs der kalte Schweiß aus. Die Kriminalisten hatten ihren eigenen Jargon, wer konnte wissen, welche Foltermethode sich hinter dem Rollen verbarg. Er hielt es auf seinem Stuhl nicht mehr aus und stand auf. »Bitte nicht, ich sage Ihnen doch die Wahrheit! Ich bin kein Einbrecher!«
»Das werden wir gleich sehen. Ich rolle ja nur Ihre Finger, um Ihre Abdrücke mit denen des Einbrechers zu vergleichen.« Ein paar Minuten später waren Huckes Fingerabdrücke auf einem Zehnfingerabdruckbogen fein säuberlich daktyloskopiert. Hucke mußte wieder ins Besucherzimmer. Mit gespannter Erwartung sah Maresch zu, wie sein Mitarbeiter unter einer großen Lupe die verschiedenen Tatortspuren mit Huckes Fingerabdrücken verglich. Endlich legte Rückert die Lupe fort. »Nun, was ist?« »Fehlanzeige! Der Hundehändler hat keinen von den an den Tatorten gesicherten Fingerabdrücken hinterlassen!« »Verdammter Mist!« schimpfte Maresch, »jetzt fangen wir wieder von vorn an. Aber eins sage ich dir: Eine Nacht mach’ ich noch mit, dann ist Schluß! Nach deiner Theorie kannst du ab morgen allein weiterarbeiten.« »Irren ist menschlich, sagte der Hahn und stieg von der Ente«, grinste Rückert, »wo bleibt deine so oft gerühmte Ruhe und Ausdauer? Wir sind ja erst am Anfang unserer Überprüfungen. Ein Großschieber ist doch wenigstens etwas.« »Schaff mir den Kerl aus den Augen.« »Werd’ ich veranlassen, und dann schlage ich vor, den Eisenbahner unter die Lupe zu nehmen.« »Ist das der mit der Wehrkraftzersetzung?« erinnerte sich Maresch, »was hast du in Erfahrung gebracht?« »Nicht viel«, schlug Rückert sein Notizheft auf, »wohnt seit fünfundvierzig hier und arbeitet bei der Reichsbahn in der Expreßgutabfertigung. Unverheiratet, lebt sehr zurückgezogen. Der Bahnhofsvorsteher lobt ihn als einen gewissenhaften Arbeiter.« »Das ist tatsächlich nicht viel«, holte Maresch tief Luft, »und dem willst du zehntausend Eier unter die Weste jubeln? Hol ihn meinetwegen ran. Ich muß erst etwas essen und trinken. Du hast dich ja in der letzten Nacht nicht auf den Straßen herumgetrieben, du Theoretiker!«
Bis zur Saalburger Straße, wo der Eisenbahner wohnte, war es nur ein kurzes Stück Weg. Die Nummer acht, ein zweistöckiges Mehrfamilienhaus mit großer Toreinfahrt, paßte sich wie die anderen Häuser dem Straßenbild an. Hinter der offenen Toreinfahrt lag ein rechtwinkliger großer Hof, der an der einen Seite von einer hohen Ziegelmauer und an der anderen von einem Seitengebäude, an dem sich außen eine hölzerne Balustrade hinzog, begrenzt war. Mitten im Hof war eine Frau in mittleren Jahren dabei, mit einem Strauchbesen die Fugen zwischen den buckligen Katzenkopfsteinen zu bearbeiten. Ein Räuspern von Rückert ließ sie in ihrer Beschäftigung innehalten und sich umdrehen. Rückert verschlug es den Atem. War das ein Weib! Ihr überdimensionaler Busen schien die mageren Nachkriegsjahre Lügen zu strafen. Er wogte von der Arbeit mit dem Besen wie die Dünung eines Ozeans. Und doch paßte er zu dieser Walküre, die den nicht gerade kleinen Rückert fast um Haupteslänge überragte. Das feste Fleisch ihrer Arme und Schenkel preßte die Nähte ihrer bunten Kleiderschürze auseinander. Erwartungsvoll blickte sie, die vollen Arme auf den Stiel des Besens gestützt, auf Rückert herab. »Ich möchte zu Herrn Kühn«, brachte Rückert sein Anliegen vor, »er muß hier wohnen.« Die Walküre ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Die guckt mich ja an, als will sie mich vernaschen, dachte Rückert. Wen die an ihren Busen drückt, der ist verloren, und vorsichtshalber trat er einen Schritt aus ihrer Reichweite. »Da oben«, deutete sie auf die oberen Fenster des Seitengebäudes, »die Holztreppe hoch und die erste Tür links.« Glockenhell war ihre Stimme. Nie hätte Rückert es für möglich gehalten, daß diese Hundertachtzigpfunddame solche fraulichen Laute von sich geben könnte. Mit einem erleichterten »Danke« wandte er sich der Holztreppe zu.
Etwas Unhöflichkeit gehört zum Beruf, rief sich Rückert einen Ausspruch seines Vorgesetzten ins Gedächtnis, öffnete nach dem Anklopfen die Tür, ohne ein Herein abzuwarten, und stand auch schon mitten in der kleinen Küche. Viel Licht ließ das Dach der hölzernen Brüstung von draußen nicht durch die kleinen, mit Gardinen verzierten Fensterscheiben der Tür fallen. Es reichte aber aus, den Mann am Küchentisch zu erkennen, auf dem eine Weihnachtskrippe stand. Eine Eisenbahneruniform an einem Garderobehaken neben dem Küchenschrank bestätigte Rückert, in der richtigen Wohnung zu sein. »Herr Kühn?« vergewisserte sich Rückert. »Der bin ich!« antwortete der Mann am Tisch, seinem Besucher nur einen kurzen Blick zuwerfend. »Kriminalpolizei!« Rückert zog seine Dienstmarke und hielt sie in das Licht der tief über dem Tisch hängenden Lampe. Die unverhoffte Konfrontation mit der Staatsmacht machte auf Kühn keinen Eindruck. Mit einer Ruhe und Gelassenheit, als wäre Rückert ein alter Bekannter, schnitzte der Mann weiter an der Nase eines der Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland. Bei seinem »Was wollen Sie?« hob er nicht einmal den Kopf. »Nur ein paar Auskünfte von Ihnen!« »Ich habe wenig Zeit. Muß gleich zum Dienst!« »Keine Sorge, der Bahnhofsvorsteher wird eine Vertretung für Sie besorgen!« »Also eine Verhaftung?« »Nicht doch, ich bitte Sie nur, mich zur Polizeidienststelle zu begleiten, zur Klärung einer Angelegenheit.« Ohne ein weiteres Wort stand Kühn auf und band seine Arbeitsschürze ab. Seine schmächtige Gestalt, trotz der gewiß scharfen Schnitzmesser auf dem Tisch, löste bei Rückert kein Gefühl des Auf-der-Hut-Seins aus. Dieses kleine, fast fünfzigjährige Männchen mit den grauen, zur Bürste geschnittenen Haaren flößte niemandem Furcht ein. Kühn hatte inzwischen die Holzspänchen vorsichtig über dem Kohlenkasten von der Schürze geschüttelt, einen danebengefallenen Span
von den blankgescheuerten Dielen aufgehoben und die Schürze akkurat zusammengefaltet. »Darf ich mich noch umziehen?« »Natürlich! Nur in Hemd und Hose, dafür ist die Jahreszeit schon zu kühl.« Vor dem Garderobehaken mit der Eisenbahneruniform zauderte Kühn etwas, drehte sich dann entschlossen zu Rückert und sagte: »Mein Anzug ist in der Stube!« Um Kühn nicht aus den Augen zu lassen, trat Rückert unaufgefordert mit in die Stube. Wie in der Küche herrschte auch im Zimmer mit dem breiten Bett, dem Kleiderschrank, dem Tisch und den Stühlen eine für einen Junggesellen außergewöhnliche Sauberkeit. Sogar eine gehäkelte Decke und ein Alpenveilchen auf dem Tisch fehlten nicht. Ohne das geringste Zeichen von Erregung wechselte Kühn das Hemd, band einen Binder um und zog einen hellgrauen Anzug an. Mit pedantischer Genauigkeit bekamen die Filzpantoffeln ihren vorgesehenen Platz im Schuhregal in der Küche, aus dem Kühn ein Paar fast neue braune Halbschuhe nahm. »Darf ich mal?« fragte Rückert und war schon am Schuhregal. »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?« »Wenn Sie Wert darauf legen, kann ich sofort eine Durchsuchung veranlassen. Vorerst genügen mir Ihre Schuhe.« Rückert hob ein Paar schwarze Schnürschuhe, deren Absätze mit einem Pilz verziert waren, aus dem Regal. Maresch, nach dem Essen fast ausgesöhnt mit den Widerwärtigkeiten des Kriminalistenberufs, traute seinen Augen nicht. Wo hatte Rückert nur diesen älteren grauhaarigen Dandy aufgetrieben? Mit seiner goldumrandeten Brille wirkte er eher wie der Präsident der Reichsbahn in Person, aber nicht wie ein Expreßgutabfertiger. Dem aufstehenden Maresch deutete Kühn mit einer leichten Verbeugung seinen Gruß an. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Ein Diplomat alter Schule hätte es vor einer Verhandlung mit ungewissem Ausgang kaum besser gekonnt.
Wenn es stimmt, daß der erste Eindruck der beste ist, müßte Maresch jetzt auf den seriösen Herrn zutreten und sich wortreich für den Fehler, der einem seiner Mitarbeiter mit der Zuführung unterlaufen war, entschuldigen. Maresch hatte in seiner Laufbahn Dutzende von Einbrechern kennengelernt, kleine und große, dumme und intelligente, rotzfreche und solche, die von Unterwürfigkeit trieften, doch einer mit dem Aussehen und Auftreten eines Grandseigneurs war noch nicht darunter gewesen. Sogar die gelblich-blasse Farbe des glattrasierten Gesichts sprach eher für einen Aufenthalt in den Tropen als in der Expreßgutabfertigung eines Bahnhofes. Sich diese feingliedrige Gestalt in dem maßgeschneiderten Vorkriegsanzug zwischen Koffern und Gepäckstücken vorzustellen, war einfach absurd. »Herr Kühn, der Eisenbahner!« stellte Rückert seinen Begleiter vor und warf die in Zeitungspapier gewickelten Schuhe auf den Tisch. Kühn hatte sich geweigert, diese selber zu tragen, und Rückert war nichts anderes übriggeblieben, als sie unter den Arm zu klemmen. Den Stuhl für Kühn schob Rückert so in das Zimmer, daß die Deckenbeleuchtung voll auf ihn fallen mußte. Während einer Audienz beim Papst hätte Kühn keine bessere Haltung einnehmen können. Auf der vorderen Hälfte des Stuhls blieb er in kerzengerader Haltung sitzen, die Hände im Schoß zusammengefaltet. Er strahlte eine solche abweisende Vornehmheit aus, daß sogar Rückert Zweifel an seinem Verdacht kamen. Hatte es ein Mann nötig, Eier zu klauen, der am Ringfinger seiner linken Hand einen Siegelring aus massivem Gold trug? Zu Schmuck hatten es die beiden Kriminalisten noch nicht gebracht, aber sie sahen auch als Laien, daß der Ring ihres Gastes nicht aus Messing war. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Kühn, daß wir Sie hergebeten haben. Die Umstände zwingen uns dazu, auch Sie in unsere Überprüfungen einzubeziehen«, fing Maresch an zu drechseln. Du würdest nicht solchen Kohl reden, wenn du ihn in seiner KücheStube-Wohnung beim Schnitzen der Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland gesehen hättest, fuhr es Rückert durch den Kopf.
»Es handelt sich um Einbrüche!« polterte Rückert in Mareschs Gesäusel hinein, »an verschiedenen Tatorten haben wir solche Schuhspuren gefunden, wie Sie sie auf ihren Absätzen haben. Wo waren Sie in der vorigen Woche in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch?« Hinter den goldumränderten Brillengläsern glommen kleine Fünkchen auf, als belustige Kühn der Ausbruch des jungen Kriminalisten. Seine gefalteten Hände lösend und die Fingerkuppen beider Hände gegeneinander drückend, wie um sie für das Klavierspiel geschmeidig zu machen, wandte sich Kühn an Maresch: »Herr Oberkommissar! Muß ich darauf antworten? Ihr junger Mitarbeiter scheint mich mit einem Einbrecher zu verwechseln. Ein Irrtum, den ich ihm nicht übelnehmen werde. Solche Absätze gibt es doch zu Hunderten. Ich werde Ihnen meine Schuhe hierlassen. Lassen Sie sich Zeit bei der Prüfung!« Dieses scheinheilige Angebot war auch Maresch zuviel. »Antworten Sie auf die Frage meines Mitarbeiters! Wo waren Sie in der vorigen Woche, in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch?« »Wo soll ich schon gewesen sein? Auf meiner Arbeitsstelle. Ich hatte Spätdienst. Sie können sich ja durch einen Anruf überzeugen«, erklärte Kühn völlig ruhig. »Stimmt nicht!« platzte Rückert heraus, schlug sein Notizheft auf und fuhr mit Nachdruck fort: »Dienstag und Mittwoch voriger Woche hatten Sie dienstfrei!« »Wenn Sie meinen.« Kühn schüttelte über soviel Mißtrauen der Jugend seinen Kopf. Maresch, beeindruckt von der Sicherheit Kühns, nahm sich vor, die Ermittlungsergebnisse seines Mitarbeiters in Zukunft doch hin und wieder zu kontrollieren. »Ich meine, Sie geben mir jetzt Ihre Fingerabdrücke«, gab Rückert nicht nach und öffnete seine Spurensicherungstasche. Rückert legte, ohne das Einverständnis von Maresch abzuwarten, eine kleine Glasplatte an die Kante des Schreibtischs, drückte aus einer Tube eine schwarze Paste auf das Glas und verteilte sie gleichmäßig mit einer Walze. »Kommen Sie her«, forderte er nicht gerade höflich Kühn auf.
»Gestatten Sie, daß ich meine Jacke ausziehe? Ich möchte meinen Anzug und die Manschetten nicht beschmutzen«, blieb Kühn von Rückerts Ton unberührt. Langsam und bedächtig legte er sein Jackett zusammengefaltet über den Stuhl und öffnete seine Manschettenknöpfe, die aus dem gleichen edlen Metall waren wie der schwere Siegelring. Bei dem Gedanken an die sich abzeichnende Blamage wurde es Maresch heiß. Am liebsten hätte er Rückert zurückgepfiffen. Dieser Kühn trug ein Vermögen mit sich herum, mit dem er sich die nächsten zehn Jahre zu den höchsten Schwarzmarktpreisen hätte versorgen können. Im Gegensatz zu Hucke, der sich bei der gleichen Prozedur recht tolpatschig angestellt hatte, war es für Rückert beinahe ein Vergnügen, die schlanken Finger von Kühn auf der Glasplatte zu rollen und sie dann auf dem Zehnfingerbogen abzudrücken. Und trotzdem! Der erste Zehnfingerbogen war Ausschuß geworden, weil Herr Kühn in seinem Übereifer so unglücklich die Finger vom Papier nahm, daß die feinen Papillarlinien verwischt und für eine Auswertung unbrauchbar waren. Beim zweiten Versuch ließ Rückert die Finger Kühns erst aus seiner Hand, nachdem der Abdruck auf dem Papier war. Stillschweigend machte sich Rückert an die Vergleichsarbeit. Eine Tatortspur nach der anderen verglich er mit Kühns Fingerabdrücken. »Kann ich mich hier irgendwo waschen?« fragte Kühn. »Selbstverständlich!« stand Maresch auf. Bei allem Zweifel an der Täterschaft des seriösen Eisenbahners begleitete er ihn doch bis zur Toilette und ließ ihn nicht aus den Augen. Die schwarze Paste hatte eine gute Farbkraft, und so vergingen gute zehn Minuten, bis Maresch mit Kühn wieder ins Zimmer trat. Rückert war gerade dabei, ein Telefongespräch zu führen. Sein »Ja, danke. Das genügt mir jetzt. Ich komme vorbei und hole ihn ab« sagte den Eintretenden nichts. Kühn schloß gelassen seine goldenen Manschettenknöpfe und zog sich das Jackett an. Immer noch Herr der Situation, fragte er Maresch: »Dauert es noch lange? Es wäre mir peinlich, zu spät zum Dienst zu kommen!«
Bevor Maresch auf die Frage antworten konnte, legte Rückert die Lupe aus der Hand und sagte: »Nun halt die Luft an, Friedrich! Du weißt so gut wie ich, daß du die nächsten Jahre höchstens als Kalfaktor in einer Strafvollzugsanstalt Dienst machen kannst!« Ist der übergeschnappt, fuhr es Maresch durch den Kopf. Wie kann er sich gegenüber Kühn eine Tonart wie bei einem alten Ganoven erlauben? »Rate mal, mit wem ich eben telefoniert habe«, fuhr Rückert an Kühn gewandt fort, »mit dem Staatsanwalt. Er hat mir deinen Strafregisterauszug durchgegeben. Eine schöne Latte. Begonnen hat sie schon 1922 beim Oberlandesgericht in Bochum. Wegen schweren Diebstahls im Rückfall hat dort ein gewisser Friedrich Kühn drei Jahre vier Monate Zuchthaus kassiert. Er wurde durch eine Amnestie vorzeitig entlassen. 1924 gab es in Düsseldorf, auch wegen schweren Diebstahls, viereinhalb Jahre. Das geht so weiter bis…« »Können Sie sich sparen«, warf Kühn ein, »es ist alles verjährt! Ich denke, in diesem Staat wird das keinem mehr vorgehalten?« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Hände auf dem Bauch gefaltet, nur hielt er sie nicht mehr still. Er drehte Däumchen, ein Zeichen, daß ihm die Vorhalte doch auf die Nerven gegangen waren. »Im allgemeinen nicht!« antwortete Rückert, »Vorausgesetzt, man läßt die Finger von solchen Sachen. Du hast nach fünfundvierzig schön weitergemacht.« »Das müssen Sie mir erst beweisen«, sagte Kühn, das Sie betonend. »Ist schon!« Rückert zeigte auf seine Spurensammlung: »Ganz eindeutig hast du deine Visitenkarte bei einer Reihe von Einbrüchen in Bauernhäusern zurückgelassen!« Maresch hatte sich von seiner Überraschung erholt. Sein sonst unantastbares Selbstbewußtsein hatte feine Risse bekommen. »Zeig mal her!« bat er Rückert um die Lupe und vertiefte sich in die Spuren. »Ja, Herr Kühn!« blieb er bei dem Sie, »es ist bewiesen! Nun heißt es für Sie auspacken!«
Kühn schloß die Augen und streckte seine Beine aus. Sogar mit dem Däumchendrehen hatte er aufgehört. Seine ganze Haltung sagte: Macht, was ihr wollt, von mir erfahrt ihr nichts. »Machen Sie keine Mätzchen, Mann! So, wie die Sache jetzt steht, bleibt Ihnen nur noch ein Geständnis übrig«, redete Maresch auf Kühn ein. »Ich habe nichts zu gestehen und verlange einen Rechtsanwalt!« gab Kühn noch lange nicht auf. »Wie Sie wollen«, ging Rückert wieder zum Sie über. War vielleicht seine Schuld, daß sich der Einbrecher so bockig zeigte. Es gab Täter, die machten sich nichts daraus, kumpelhaft angeredet zu werden. Im Gegenteil, in ihrem gewohnten Umgangston war es für viele einfacher, die Wahrheit zu sagen. Dieser alte Einbrecher schien nicht aus dem Holz geschnitzt zu sein. Er bestand auf Etikette. »Sie werden morgen früh dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter vorgeführt«, sprach Rückert weiter, »es macht sicher keinen guten Eindruck, wenn Sie sich dort auch so halsstarrig zeigen. Sie müßten das eigentlich wissen!« »Von mir erfährt auch der Staatsanwalt kein Wort! Der steckt mit euch Bullen unter einer Decke!« Kühn ließ zum erstenmal seine Maske fallen. »Dann brauchen wir uns nicht länger zu unterhalten«, ließ sich Rückert auch durch das Schimpfwort nicht in Harnisch bringen. Er kramte in seiner Tasche, und ein paar Sekunden später schnappte die Verriegelung der Handschellen über Kühns Handgelenke. Der blanke Stahl kontrastierte recht eigentümlich mit dem goldenen Siegelring und den Manschettenknöpfen. »Bevor wir losfahren, werden wir mit Herrn Kühn dessen Wohnung durchsuchen«, legte Maresch fest und billigte damit die Handschellen. Das Gesetz schreibt vor, bei einer Wohnungsdurchsuchung unbeteiligte Zeugen hinzuzuziehen. Während Maresch mit Kühn über den Hof ging, klopfte Rückert im Vorderhaus an einer Wohnungstür. Magdalene Linneck stand auf dem Namensschild. Magdalene, die Frau, die am Nachmittag den Hof gekehrt hatte, füllte den Türrahmen fast völlig aus. Verwirrt sah sie Rückert an, und ihr Bu-
sen geriet in Bewegung, als Rückert sie bat, an der Durchsuchung in Kühns Wohnung als Zeuge teilzunehmen. Unergründlich sind oft die Gedanken einer Frau bei dem Anblick eines Mannes. War es Rückerts junge kraftvolle Sportlichkeit oder seine Dienstmarke, die bei Magdalene die Erregung hervorrief? Ein rosa Schimmer war auch noch in ihrem sonst fast weißen ebenmäßigen Gesicht, das von einer Flut halblangen brünetten Haars umrahmt wurde, als sie in die kleine Küche von Kühn trat. »Die Zeugin, Frau Linneck!« stellte Rückert die Walküre mit der Glockenstimme vor. »Sind Sie einverstanden, als Zeugin an der Wohnungsdurchsuchung teilzunehmen?« fragte Maresch. In ihrem leisen »Ja« klang ein Ton mit, als ob die Glocke in ihrer Kehle einen Sprung bekommen hätte. »Ich protestiere! Ich habe nichts Verbotenes getan!« rief Kühn unvermutet aus. »Haben Sie bis jetzt geschwiegen, dann halten Sie auch weiterhin Ihren Mund!« fuhr ihn Maresch an. Viel zu durchsuchen gab es in der Küche und der Stube nicht. Auch Kühns Holzschuppen, unter der Wohnung gelegen, hatte keine Verstecke. Er war, abgesehen von einem alten Damenfahrrad und etwas Brennholz, fast leer. Die Ausbeute der Durchsuchung war mehr als mager. Abgesehen von den Arbeitsschuhen mit dem Pilzabsatz und einem Stechbeitel, der möglicherweise als Tatwerkzeug beim Anstechen der Fensterscheiben gedient haben konnte, blieben die Spalten auf dem Beschlagnahmeprotokoll leer. Von einer Eierschale, geschweige einem ganzen Ei, keine Spur. Ein aufgekratzter und vor Tatendrang sprühender Maresch empfing am nächsten Morgen zu Dienstbeginn den eintretenden Rückert. »Du hast seit gestern abend beim Chef einen Stein im Brett. Ich soll dich zur Prämie einreichen. Ein Hundertmarkschein extra – ist das was? Im übrigen meinte er, wir sollen uns Zeit nehmen und gründlich ermitteln. Ob der Kühn aussagt oder weiterhin schweigt, darf dabei keine Rol-
le spielen. Wir müssen eine solche Beweisführung aufbauen, daß er auch ohne Geständnis verurteilt wird.« »Bin schon dabei! Nachdem ich den Mausefriedrich gestern in der Haftanstalt eingeliefert hatte, bat ich den Sachverständigen, bis heute früh das Gutachten zu machen. Hier ist sein Gutachten!« reichte er Maresch ein paar beschriebene Blätter. »Bei allen gesicherten Dakty-Spuren besteht Übereinstimmung mit den Fingerabdrücken von Kühn. Das trassologische Gutachten von den Schuheindrücken dauert etwas länger. Dazu wollte er sich in der Nacht nicht festlegen.« Das Gutachten überlesend, meinte Maresch: »Das Dakty-Gutachten reicht dicke für einen Haftbefehl! Laß den Burschen von der Haftanstalt herholen, damit wir ihn dem Haftrichter vorführen können!« Die Nacht in der Zelle hatte bei Friedrich Kühn keine äußerlichen Zeichen hinterlassen, abgesehen davon, daß sein wertvoller Siegelring, die Manschettenknöpfe, der Schlips, seine Hosenträger und die Schnürsenkel der braunen Halbschuhe wohlverwahrt in der Effektenkammer eine Bleibe gefunden hatten. Friedrichs Disziplin beim Eintreten in das Dienstzimmer war alte Schule und nicht erst in den letzten Stunden anerzogen. Stramm und aufrecht wie ein altgedienter Soldat trat er neben der Tür an die Wand und meldete: »Untersuchungshäftling Kühn zur Stelle!« Seine an die Hosennaht gepreßten Hände wirkten etwas verkrampft. Kein Wunder, wenn er die Hose losließ, hing sie ohne Träger in den Knien. »Wie haben Sie geschlafen?« schwang Mareschs Stimme durch den Raum. »Danke, gut, Herr Oberkommissar!« kam prompt die Antwort. Rückert stieg über die sich anbahnende Kasernen-Konversation ein Kichern in der Kehle hoch. »Was Ihnen zur Last gelegt wird, ist Ihnen bekannt?« »Jawohl, Herr Oberkommissar!« »Sie werden jetzt dem Richter zur Verkündigung des Haftbefehls vorgeführt!« »Gestatten Herr Oberkommissar eine Bitte?«
Das dauernde »Herr Oberkommissar« wurde auch Maresch zu viel. Er holte tief Luft: »Schießen Sie los!« »Ich möchte, bevor ich dem Herrn Richter vorgeführt werde, ein umfassendes Geständnis ablegen und die volle Wahrheit sagen!« Rückert wäre beinahe die Akte aus der Hand gerutscht, und Maresch brachte vor Überraschung nur noch heraus: »Setzen Sie sich erst einmal!« Kühn weidete sich an der Überraschung, die seine Eröffnung bei den Kriminalisten hervorgerufen hatte. »Sie waren gestern so scharf auf ein Geständnis. Ich habe es mir überlegt.« Er machte es sich auf dem Stuhl bequem. Maresch stand noch immer unter dem Banne der Wendung, die Kühn angekündigt hatte. »Rauchen Sie?« reichte er Kühn eine von seinen sorgsam eingeteilten Zigaretten der Sorte II. »Selten, aber wenn Sie es wünschen, Herr Oberkommissar«, griff Kühn zu und ließ sich Feuer geben. Irgendwie schien Maresch keinen rechten Anfang zu finden. Die Unterwürfigkeit Kühns irritierte ihn. Wollte der alte Ganove den »Herrn Oberkommissar« auf die Schippe nehmen, oder hatte die Nacht in der Zelle bei Kühn irgendeine verborgene Ader geöffnet? »Sie werden uns eine Menge zu erzählen haben«, fing Rückert an, um überhaupt etwas zu sagen. Ohne Vernehmungsplan in eine Vernehmung zu stolpern, wer weiß, was dabei herauskam bei solchem Umfang an Straftaten. Das Sie aus Rückerts Mund schien Kühn mit dem jungen Kriminalisten wieder zu versöhnen. »Fangen Sie an! Fragen Sie nur!« akzeptierte er ihn. »Bei uns stehen Sie mit hundertachtundzwanzig versuchten und vollendeten Einbrüchen auf der Liste!« Wie würde Kühn auf diesen Vorhalt reagieren? War er tatsächlich willens, ein volles Geständnis abzulegen? Seine Antwort mußte unter Beweis stellen, wie weit er dazu bereit war oder ob er nach Ganovenmanier nur das zugab, was als Beweis auf dem Tisch lag. Kühn stutzte, schaute von Rückert zu Maresch, die ihn ernst ansahen.
»Donnerwetter! So viel sind das gewesen? Kann ich kaum glauben. Aber wenn Sie es sagen, wird es schon stimmen«, sagte er mit einem Kloß im Hals. Die Kriminalisten waren beinahe etwas enttäuscht. Sie hatten sich auf einen harten Brocken eingestellt, wollten ihre kriminalistischen Fähigkeiten durch ein hart abgerungenes, schwieriges Geständnis beweisen. Nun macht dieses gestern noch so schweigsame Männchen mit dem langen Strafregisterauszug den Mund auf und bekennt sich mit einem Satz für schuldig, hundertachtundzwanzig Einbrüche begangen zu haben. Ein Aufschieben und Sich-auf-die-Vernehmung-Vorbereiten konnte es nicht geben. Wer weiß, ob Friedrich in ein paar Stunden sich nicht anders besann. »Haben Sie bei den von Ihnen verübten Einbrüchen Mittäter gehabt?« fragte Maresch, um das Wichtigste am Anfang abzuschöpfen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß Kühn alles auf sich zog, um eventuell Mittätern die Gelegenheit zu geben, die Sache zu verdunkeln oder sogar zu fliehen. »Mittäter ist nicht, Herr Oberkommissar«, beantwortete Kühn ohne Zögern die Frage, »wenn Sie meine alte Akte studieren, kommen Sie selber drauf. Ich habe meine Einbrüche immer allein durchgeführt. Ist mein Grundprinzip!« »Was haben Sie bei den Einbrüchen alles mitgehen lassen?« »Eier, nur Eier!« Hinter seiner Schreibmaschine hob Rückert den Kopf: »Die Schinken und die Würste haben Sie wohl vergessen?« »Ach, die drei-, viermal«, sagte Kühn mit einer wegwerfenden Handbewegung, »vor meinem Geburtstag und vor Weihnachten. Sonst interessiert mich das Zeug nicht.« »Wie steht es mit anderen Sachen, Geld, Uhren, Schmuck?« hakte Maresch ein, an den Siegelring und die Manschettenknöpfe denkend. »Nicht was Sie meinen, Herr Oberkommissar! Nur Eier. Um Geld und Schmuck ging es mir nicht. Das war früher!«
»Das begreife ich nicht«, schüttelte Maresch sein Haupt, »warum nur Eier? Was haben Sie mit den Eiern gemacht, verkauft? Wir sind auf über zehntausend Eier gekommen!« »Ich habe sie gegessen!« »Allein?« »Mit wem sollte ich die teilen? Ich bin doch allein!« »Sie können doch nicht allein diese Menge Eier gegessen haben. Geben Sie schon zu, Sie haben sich mit dem Eierverkauf ein schönes Einkommen verschafft.« »Ich habe keine Eier verkauft. Das ist zu gefährlich. Ich bin ein alter Hase. Die meisten aus meiner Zunft werden über die Hehler gegriffen! Ich habe das früher persönlich mehr als einmal erlebt. Jede Eierschale habe ich gut verpackt sofort aus dem Haus geschafft.« »Sind Ihnen die Eier nicht über geworden?« konnte sich Rückert nicht verkneifen zu fragen, obwohl er mit dem Protokollieren genug zu tun hatte. »In der letzten Zeit konnte ich keine Hühner mehr sehen! Was denken Sie, warum ich ein Geständnis ablege. Ich hätte mir auch den Spaß machen können, nichts zu sagen. Sie hätten mir jedes einzelne Ei nachweisen, vielleicht hätte mich der Richter sogar freisprechen müssen. Nicht jeder Richter gibt was auf Fingerabdrücke. Nee, in der Nacht habe ich mir das überlegt. Friedrich, habe ich zu mir gesagt: Schluß mit den gekochten, gerührten und gebratenen Eiern. Du kommst dabei noch auf den Hund. Sehen Sie mich doch an! Meine Gesichtsfarbe ist so gelb wie bei einem ausgetrockneten Chinesen. Meine Leber hat von den vielen Eiern einen Knacks bekommen. Wenn das so weitergeht, dauert es nicht lange, dann legen die Hühner ihre Eier auf meinen Grabhügel. Im Knast bin ich dieser Sorge enthoben. Bis ich wieder rauskommen kann, wird sich meine Leber vielleicht wieder erholt haben.« Kühns Gründe hatten bei aller Komik einen einleuchtenden Wahrheitsgehalt. »Warum haben wir bei der Durchsuchung keine Eier gefunden? Wo haben Sie sie versteckt?« fragte Maresch unbeeindruckt von Kühns Wortschwall.
»Ob Sie es glauben oder nicht, ich stehe auf nestfrische Eier, und zum erstenmal waren keine im Haus.« »Wie kam das?« fragte Rückert. Kühn warf dem Frager einen verschmitzten Blick zu: »Wenn ich mich nicht täusche, haben Sie, junger Mann, und der Herr Oberkommissar dafür gesorgt.« »Wieso?« »Na, Herr Oberkommissar, Sie haben doch bestimmt diese Woche die Großrazzia veranlaßt. Das Gewimmel von Blauen auf den Straßen und in den Dörfern. Möchte nur wissen, wo Sie die alle hergenommen haben?« »Sie waren also auch in dieser Woche unterwegs?« hakte Rückert ein. »Sonst hätte ich die Blauen wohl kaum bemerkt.« »Wo haben Sie die Polizisten getroffen?« »Hinten bei Camburg. An jeder Straßenkreuzung standen welche! Es waren zu viel da, und da hab’ ich mich wieder aus dem Staub gemacht, ohne Eier!« Rückert wußte nicht, worüber er sich mehr freuen sollte, über die zu erwartende Prämie des Chefs oder über die Bestätigung seiner Theorie durch diesen alten Einbrecher. »Verraten Sie mir, wie Sie ausgerechnet nach Camburg gekommen sind. Auch die anderen Tatorte liegen doch bald eine Tagesreise von Ihrem Wohnort entfernt!« »Ich bin doch Eisenbahner. Eine Dienstfahrkarte steht mir zu. Mein altes Fahrrad im Schuppen haben Sie ja gesehen. Das hatte ich immer bei mir. Mit dem Rad bin ich von den Bahnstationen aus auf die Dörfer gefahren und ebenso mit dem Rucksack und den Taschen voller Eier zurück.« »Sie hatten ein unwahrscheinliches Glück, niemals in eine Kontrolle geraten zu sein«, staunte Maresch. »Auf Glück gebe ich nichts, Köpfchen«, tippte Kühn an seinen Kopf, »gehört dazu. Ich blieb immer bei meinem Fahrrad und den Eiern im Packwagen. Die Eisenbahner werden doch einen Kollegen nicht in die
immer überfüllten Abteile schicken. Als Eisenbahner brauchte ich auch nicht durch die Sperre. Es gibt viele Wege, um aus dem Bahnhof zu kommen.« Rückert spannte einen neuen Bogen Papier in die Schreibmaschine. »Wird Zeit, daß wir mit den Einbrüchen anfangen, sonst habe ich am Ende einen Haufen Papier, und von den Einbrüchen steht kein Wort drin!« »Ich habe doch schon alles zugegeben«, versuchte Kühn die Bedenken von Rückert zu zerstreuen, »einhundertachtundzwanzig Einbrüche sagten Sie doch. Bei der Zahl kommt es mir auf einen mehr oder weniger nicht an!« »Spaßmacher«, meinte Maresch, »Sie wissen ganz genau, daß wir auf jeden einzelnen Einbruch eingehen müssen. Bis auf jede Einzelheit, wann, wo, wie, was Sie mitgenommen haben und so weiter.« »Daraus wird nichts«, Friedrich nahm seine Brille ab und hauchte sie an, »ein Buch über meine Fahrten habe ich nicht geführt. Die meisten Dörfer, in denen ich die Eier einkassiert habe, kenne ich nicht einmal dem Namen nach.« »Fangen wir mit dem letzten an«, schlug Rückert vor, »darüber müssen Sie doch bestimmt noch alles wissen.« Kühn überlegte: »Der letzte? Meinen Sie den bei Altenburg oder den hinter Weimar?« »Den in der vorigen Woche«, half Maresch nach. »Zählt der auch mit? Keine Eierschale habe ich mitgenommen! Dabei hatte ich die Eierkörbe schon in der Hand!« »Darüber haben wir uns auch gewundert! Was wollten Sie bloß mit dem Nachttopf?« griente Rückert. »Das wissen Sie auch?« Kühn war die Anspielung auf das Nachtgeschirr sichtlich peinlich. »Erinnern Sie mich nur nicht an diese Nacht!« »Erzählen Sie schon, wir sind doch ganz unter uns«, stichelte Maresch. »Kommt das ins Protokoll?« »Nur was für den Straftatbestand von Bedeutung ist«, beruhigte ihn Rückert.
Kühn setzte sich zurecht. »Gegen Mittag bin ich wie üblich von Neustadt mit dem Zug abgefahren. Im Packwagen mit dem Fahrrad. In Gera bin ich in den Zug nach Altenburg umgestiegen und ein oder zwei Stationen vor Altenburg ausgestiegen. Mit dem Fahrrad ging es dann auf einer Chaussee weiter, bis ich an ein Dorf kam. Am Dorfrand habe ich das Fahrrad im Gebüsch versteckt und bis zweiundzwanzig Uhr gewartet. Im Dorf war um diese Zeit alles ruhig. Das zweite Bauerngehöft an der rechten Seite schien mir gut geeignet. Von einem Hund war nichts zu sehen und zu hören. Außerdem lag das Wohnhaus etwas von der Straße zurück in einem mit Büschen bewachsenen Vorgarten. Die Türen waren verschlossen. Ich hab’ gar nicht erst probiert. Oft sind bei diesen alten Kastenschlössern noch die Riegel von innen vorgeschoben. Durchs Fenster ist es für mich einfacher und weniger laut.« »Eine Zwischenfrage«, meldete sich Rückert zu Wort, »was führen Sie an Einbrecherwerkzeug mit sich, und wo haben Sie es gelassen?« »Ich besitze noch ein paar Dietriche, Spezialanfertigung von früher. Damit bekomme ich fast jede Tür auf. Für die Fenster habe ich meinen Stecher. Ich trenne mich nur ungern davon. Es hängen zuviel alte Erinnerungen daran«, sinnierte Kühn. »Wo ist das Werkzeug?« ließ Rückert nicht locker. Kühn schwieg eine Weile. Offenbar wollte er dieses Geheimnis nicht preisgeben. Das Schweigen im Zimmer gab er zuerst auf. »Sie hatten es ja schon so gut wie in der Hand. Im Schuppen, als Sie das Fahrrad wegschoben. Unter dem Sattelleder hab’ ich es versteckt.« »Sie waren beim Fenster stehengeblieben«, brachte Maresch den Einbrecher wieder zur Tatschilderung zurück. »Ja, das Fenster! Nicht sehr hoch und im Schatten eines alten Weinstocks, dessen Ranken fast bis in den Giebel des Hauses reichten. Das hat auch sein Gutes, wenn ich das Haus aus dem oberen Stockwerk schnell verlassen muß. Die Spalierlatten und die Zweige halten mein Gewicht zur Not aus. Mit dem Stecher habe ich die Scheibe des Fensters in Höhe der Fensterwirbel angestochen. Zweimal! Das Springen der Scheibe ist kaum zu hören. Man muß nur wissen, wo und wie der Stecher anzusetzen ist. Die Risse der Scheibe müssen zusammenlaufen und mit dem Rahmen beim Wirbel ein Dreieck bilden. Das abgesprungene
Dreieck kann dann einfach herausgenommen und durch das Loch das Fenster aufgewirbelt werden. Es hat alles wie sonst geklappt. In dem großen Zimmer hinter der Scheibe blieb alles ruhig. Als sich meine Augen an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt hatten, merkte ich, daß ich im Schlafzimmer der Bauern stand. In einem Bett lag auch wer. Ich hörte die Atemzüge.« »Es gehört schon etwas dazu, in ein Zimmer einzusteigen, wo jemand schläft. Haben Sie dabei keine Angst bekommen?« fragte Maresch. »Ach, i wo! Vor Mitternacht haben die meisten Menschen einen solchen festen Schlaf, daß man sie samt ihren Betten raustragen könnte. Man darf nur nicht selbst erschrecken oder Angst haben. Jedenfalls sah ich mich in dem Zimmer um, soweit es der Mondschein erlaubte. Ich stand schon an der Tür, um die anderen Räume zu inspizieren, vor allem die Küche, weil dort meistens die am Tage aus den Nestern genommenen Eier aufbewahrt wurden, da sehe ich zwei Körbe voll neben der Tür stehen. Beinahe wäre ich darüber gestolpert. Brauchte sie nur hochzuheben, aus dem Fenster zu stellen und wieder zu verschwinden. Meine Hände faßten schon die Henkel, da fuhr mir doch der Schreck in die Glieder. ›Fritz‹, hörte ich eine verschlafene Frauenstimme aus dem Bett, ›wo bleibst du heute so lange? Komm endlich und wärme mich!‹ Von wegen wärmen! In der Bude war es so warm, daß ein Eisbeutel angeratener gewesen wäre! Noch hätte ich mein Heil in der Flucht suchen können, da krabbelte die Frau doch aus ihrem Bett. Ich drückte mich in die dunkle Zimmerecke neben der Kommode, wo das Licht des Mondes nicht hinkam. Die Frau, splitternackt, so wie sie der liebe Gott erschaffen hatte und wie sie ihren Fritz erwartete, ging zum Fußende der Betten, zog den Nachttopf hervor und hockte sich nieder. Bei allem Schrecken, der in meinen Gliedern saß, so einen Anblick hat man nicht oft im Leben. Im Mondlicht schimmerte ihr Hintern wie Alabaster. So ein Bild habe ich noch von keinem Maler gesehen. Fast beneidete ich Fritz, der diesen Mondlichtkörper zu wärmen hatte. Ihr ›Zieh dich doch endlich aus‹ brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Was blieb mir übrig? Ich schlug das dicke Federbett von Fritzens Betthälfte auf und begann mich auszuziehen. Schön langsam, erst die Jacke, die
Hose und die Schuhe. Sie war wieder ins Bett gekrochen und atmete tief durch. Ich legte mich auf die äußerste Kante von Fritzens Bett. Schlafmüde fiel ihre Hand patschend auf mein oder besser gesagt, auf Fritzens Federbett, das ich wie einen Wall zwischen uns geschoben hatte. Mir war es heiß und kalt. Sie kämpfte gegen ihre Müdigkeit und das Verlangen nach Wärme. Was sollte ich machen? Meine einzige Rettung war der Nachttopf. Leise vor mich hinmurmelnd, damit sie meine Stimme nicht erkennen konnte, sagte ich: ›Der Topf ist voll‹, kroch wieder aus Fritzens Bett, raffte meine Klamotten zusammen und nahm den Nachttopf, um durch die Tür zu verschwinden. Beinahe hätte ich alles fallengelassen! Durch die Tür hörte ich Geräusche vom Flur. Das konnte nur ihr Fritz sein, der vom Hof ins Haus kam. Wenn der mich ausgezogen im ehelichen Schlafzimmer angetroffen hätte! Wie ich durch das Fenster gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Auf alle Fälle stand ich mit einem Male draußen neben dem alten Weinstock, mit dem Nachttopf in der Hand. Im Zimmer war alles ruhig geblieben. Fritz tapste noch irgendwo im Hause und ahnte nicht, wie sehnsüchtig er erwartet wurde. Ich zog mich schnell an und wollte über den Zaun im Vorgarten, kommt mir doch eine Hundestreife in die Quere. Ein Glück für mich, daß Herrchen dümmer war als sein Hund. Die Hundeschnauze war nur eine Handbreit von meinem Gesicht entfernt, der hätte mich in der Luft zerrissen, aber sein Herr schimpfte mit ihm und zog ihn wieder fort. Die Töle hat sich auf ihre Art gerächt, hob das Bein und pißte mich an!« Die beiden Kriminalisten versuchten krampfhaft, ernst zu bleiben. »Sie glauben mir wohl nicht?« entrüstete sich Kühn. »Doch, doch«, konnte Rückert sein Lachen nicht mehr verbeißen, »es ist sogar objektiv bewiesen. Am Henkel vom Nachtgeschirr habe ich Ihre Fingerabdrücke gesichert!« »Dann haben Sie doch auch mit der Frau gesprochen! Hat sie was gesagt?«
»Mit der Bäuerin habe ich gesprochen«, sagte Maresch, sein Lachen unterdrückend, »gesprochen hat Sie von Ihrem Besuch nicht. Ich glaube, sie hätte nichts gesagt, wenn Sie sie anstelle von Fritz gewärmt hätten!« »Ich schwöre, Herr Oberkommissar! Wenn auch nicht viel gefehlt hat, in ihrem Bett war ich nicht!« Der Eierdieb hatte seinen Haftbefehl bekommen. Bereitwillig beantwortete er alle Fragen, und jeden ihm vorgehaltenen Einbruch gab er zu. Rückert brauchte nur eine Anzeige zu nehmen, Ort und Tatzeit zu nennen, und schon nahm Kühn den Einbruch auf sich. Ging Rückert auf Einzelheiten ein, folgte fast immer der Satz: »Genau kann ich mich nicht erinnern. Wenn es in der Anzeige steht, wird es schon stimmen!« So konnte es nicht weitergehen. Nachdem sie ein paar Dutzend Einbrüche auf diese Art »geklärt« hatten, schob Maresch die Akten beiseite: »Schluß damit! Wenn wir so weitermachen, bleibt es Stümperarbeit!« Kühn machte ein betroffenes Gesicht. Noch keinen Vorhalt hatte er bestritten. An ihm konnte es nicht liegen, wenn der Oberkommissar unzufrieden war. »Wir müssen alle Tatorte besichtigen. An Ort und Stelle muß Kühn uns erklären, wo und wie er eingestiegen ist!« Kühn riß nach Mareschs Worten die Augen auf. Einhundertundzwanzig Tatorte zwischen Erfurt und Altenburg, das käme einer wochenlangen Spazierfahrt durch Thüringen gleich. Nur zum Schlafen in die Zelle. So ein Angebot war einem Knastbruder noch nie gemacht worden. Prima, da mache ich mit, hätte er beinahe gejubelt, um dann laut zu sagen: »Sie brauchen mich nur bis an die Dörfer zu fahren. Ich führe Sie dann zu dem betreffenden Gehöft und zeige, wie ich da reingekommen bin. Wenn ich erst das Dorf sehe, kann ich mich auch wieder erinnern.« Bei den letzten Worten war seine Stimme leiser geworden. »So begeistert scheinen Sie von dieser Aussicht wohl doch nicht zu sein«, sagte Maresch, dem der Stimmungsumschlag nicht entgangen war. »Hm, wenn ich es mir richtig überlege, ist es besser für mich, nicht mitzufahren!« »Warum nicht?«
»Meinen Sie, ich lasse mich von den Bauern freiwillig verprügeln? Nicht umsonst habe ich in einigen Gegenden den Namen Eierschreck. Die Bauern sollen damit gedroht haben, wenn sie den Eierschreck erwischen, ihn zu erschlagen oder zu ersäufen. Nein, lassen Sie mich mal da raus!« »Wir sind auch noch da«, versuchte Rückert ihn umzustimmen. »Sie kennen die Bauern schlecht! Allerdings, eine Möglichkeit sehe ich. Sie können mich doch als Richter oder Staatsanwalt vorstellen, der die Untersuchungen führt.« »Verrückte Idee!« fuhr Maresch ihn an, »damit laden Sie sich noch eine Amtsanmaßung auf den Hals, und wir sitzen als ihre Gehilfen auf der Anklagebank. Daraus wird nichts!« »Wir brauchen Kühn doch nicht als Staatsanwalt vorzustellen«, nahm Rückert die Idee auf, »wir stellen ihn überhaupt nicht vor. Sollen doch die Leute von ihm denken, was sie wollen.« »Aber ohne Handschellen«, bat sich Kühn aus. »Auf meine Hosenträger, die Schnürsenkel und den Schlips bestehe ich auch!« Tagelang war das Trio mit dem Dienstwagen unterwegs gewesen. Von Tatort zu Tatort nach Rückerts nadelbestickter Karte. Kühn hatte ein phänomenales Erinnerungsvermögen entwickelt. War erst einmal die Kirchturmspitze eines Dorfes in Sicht, fielen ihm alle Details wieder ein, die fast immer mit den Akten und der Wirklichkeit übereinstimmten. Wie ein Lauffeuer hatte es sich verbreitet: Die Kripo hat den Eierschreck! Niemand in den Dörfern, nicht einmal die Dorfpolizisten, ahnte, daß der seltsame ältere Herr im grauen Anzug der Gesuchte war. Im Gegenteil, Friedrich entwickelte ein Schauspielertalent, das immer nachhaltiger auf die Geschädigten wirkte. Seine Sicherheit und Sachkenntnis, mit der er den Weg des Einbrechers in die Häuser rekonstruierte und genau beschrieb, was der Eierschreck mitgenommen hatte, verblüffte fast jeden. Kühn sonnte sich in der Achtung, die ihm von den Geschädigten entgegengebracht wurde. In den Augen der Leute war er der wichtigste Mann der Untersuchung. Kühns Getue ging Maresch mit der Zeit auf die Ner-
ven. Der sonst immer selber im Mittelpunkt stehende Maresch war von Friedrich so gut wie an die Wand gespielt worden. Die letzte Fahrt stand bevor. »Wieviel Dörfer haben wir heute im Programm?« erkundigte sich Kühn. »Die letzten vier«, antwortete Rückert, »wenn wir uns beeilen, kommen wir endlich einmal pünktlich nach Hause.« »Stimmen Ihre Angaben?« zweifelte Friedrich, »mir fehlt noch ein ganz bestimmtes Dorf. Bis jetzt war es noch nicht dabei. Hoffentlich haben Sie auf Ihrer Karte keins übersehen!« »Und wenn Ihnen noch ein Dutzend Dörfer fehlen«, brummte Maresch, »diese vier, und dann hören wir auf. Das Benzin wird ja teurer als die geklauten Eier.« Hinter Weida bog Rückert von der Fernverkehrsstraße ab. Holpernd kroch der Wagen über eine mit Schlaglöchern übersäte Landstraße untergeordneter Bedeutung. »Wir sind richtig«, rief Kühn, »in diesen Löchern habe ich mir am Vorderrad eine Acht geholt. Hinter dem Berg muß das Dorf liegen. Sie halten am besten vor dem Gasthaus. Neben dem Gasthaus führt ein Feldweg zu dem Gehöft, wo ich war.« Es war ein großes Gehöft, das zum Weg hin von einer hohen Feldsteinmauer begrenzt wurde. Mauer, Wohnhaus, Stall und Scheune bildeten ein Viereck. Erst nachdem Maresch mehrmals mit der Faust gegen das Tor geschlagen hatte, war der schwere Tritt eines Mannes zu hören. Mit einem Quietschen drehte sich das Tor in den Angeln. »Was wollen Sie?« Der Mann, der die Worte grob herausstieß, war im Tor breitbeinig stehengeblieben. »Sind Sie Herr Hartwig?« fragte Maresch. »Noch der Bauer Hartwig!« Landarbeit soll im Alter jeden Mann beugen, so wußte es Rückert. Diesem Bauern war davon nichts anzusehen. Weder seine fünfundsechzig
Jahre noch die zwanzig Hektar seines Hofes hatten seinen Buckel gekrümmt. Vierschrötig und von einer vitalen Männlichkeit, strotzte er nur so von Gesundheit. Wäre der Dunghaufen mitten im Hof ein Maßstab für Größe und Reichtum, dann mußte Hartwig im Dorf zu den größten und reichsten Bauern gehören. »Kriminalpolizei!« wies sich Maresch aus. Hartwig wich nicht von der Stelle. »Erst vor vierzehn Tagen hat die Volkskontrolle bei mir rumgeschnüffelt! In meinem Hof hat keiner was zu suchen!« »Wir suchen nichts!« blieb Maresch ruhig, »wir kommen wegen des Einbruchs bei Ihnen. Er liegt ein halbes Jahr zurück. Wir haben den Täter ermittelt und festgenommen. Vor Übergabe der Akte an den Staatsanwalt müssen wir nach den Angaben des Täters eine Rekonstruktion vornehmen.« Unwillig trat Hartwig zur Seite: »Kommen Sie rein! Wollen Sie ein Frühstück?« »Danke, wir haben es eilig!« lehnte Maresch ab, was ihm einen vorwurfsvollen Blick von Kühn einbrachte. »Mutter, komm mal raus!« brüllte Hartwig, daß es von der Scheune widerhallte. Die Bäuerin, etwa im gleichen Alter wie der Bauer, kam mit trippelnden Schritten aus der Tür des Wohnhauses. »Die Männer sind von der Kripo. Sie haben den Eierschreck gefaßt, nun wollen sie sich ansehen, wo er damals eingebrochen hat. Zeig den Leuten das Fenster und wo die Eier gestanden haben.« »Wir legen Wert darauf, daß Sie als Besitzer des Grundstücks mit dabei sind«, verlangte Maresch. Recht schien das dem Bauern nicht zu sein. Sein »Keine Zeit, hab’ etwas anderes zu tun«, überhörte Maresch geflissentlich. »Wir gehen bei der Rekonstruktion von der Schilderung des Täters aus. Der…«, Maresch sah zu Kühn und stockte etwas, »… Kollege kennt genauestens die Angaben des Täters. Er wird uns danach führen. Sie brauchen uns dann nur zu bestätigen, ob es sich so zugetragen hat.«
»Das ist viel zuviel Aufhebens! Wenn ich diesen Lumpen zwischen die Fäuste bekomme, wird der nie mehr klauen«, machte Hartwig seinem Unmut Luft. Kühn war schnell aus der Reichweite der schweren Fäuste getreten. »Wo fangen wir an?« wandte sich Maresch an Kühn. »Nach der Schilderung des Täters ist er diesmal von außen über eine Leiter eingestiegen. An der Rückseite des Stallgebäudes. Bitte folgen Sie mir!« sprach Kühn wie ein Dozent vor einer Studentenschar. Er führte die kleine Gruppe durch das Tor wieder auf die Straße und von dort an die Rückseite des Stallgebäudes. »Hier bei den Obstbäumen hat eine Leiter gelegen! Wo ist sie?« »Die Leiter habe ich seit dem Einbruch in der Scheune eingeschlossen!« erklärte der Bauer. »Sehen Sie, Herr Oberkommissar, die Leiter war also da. Dort oben«, zeigte Kühn hoch, »das zweite Fenster von rechts hat der Täter angestochen und ist eingestiegen. Stimmt das?« fragte Kühn den Bauern. »Der Mistkerl hat die Scheibe zerschlagen«, bestätigte Hartwig. »Auf demselben Weg hat der Täter mit dem Diebesgut wieder das Gehöft verlassen und die Leiter bei den Obstbäumen abgelegt«, dozierte Kühn weiter. »Einen Moment«, meldete sich Rückert, »in der Anzeige steht etwas von vier großen Eimern voller Eier. Eine ganz schöne Menge. Es liegt auch der Antrag vor, die Eier vom Soll abzusetzen. Von der Erde bis zum Fenster sind es gut fünf Meter. Bei vier Eimern mit den Eiern muß der Täter mindestens zweimal die Leiter hoch und runter geklettert sein. Auch dann bringt es nur ein Artist fertig, mit einem Eimer in jeder Hand die Leiter herunterzusteigen.« »Der Täter behauptet nach wie vor, nur einmal die Leiter benutzt zu haben. Es stand auch nur ein Eimer, ein weißer Emailleeimer mit Eiern in der Vorratskammer. Ich überlasse Ihnen, Herr Oberkommissar, die Entscheidung über die Glaubwürdigkeit«, erregte sich Kühn. Hartwig wandte sich an Maresch: »Wem wird hier mehr geglaubt, einem Einbrecher oder einem ehrlichen Bauern? Bringen Sie mir diesen Schweinekerl her!«
»Wir werden es klären!« antwortete Maresch nur. »Besichtigen wir jetzt die Räume im Stall und im Wohnhaus, wo der Täter war«, stampfte Kühn davon, wütend über den Bauern. Mit einer Ortskenntnis, als gehöre Kühn seit Jahren zu den Bewohnern des Bauernhofes, ging er auf den Stall zu und öffnete eine Tür. »Diese Treppe«, sagte er, im Flur auf eine Holzstiege zeigend, »führt in das unbewohnte Zimmer, in das der Einbrecher durchs Fenster eingestiegen ist.« »Es ist die Kammer, wo früher unser Pferdeknecht gewohnt hat«, ergänzte der Bauer. »So sieht sie auch aus«, kommentierte Friedrich, »ihren Anblick können wir uns ersparen. Neben der Kammer ist der Heuboden und darunter der Kuhstall. Unter der Kammer, hier links die Tür führt zum Pferdestall. Habe ich recht?« »Was hat mein Pferdestall mit dem Einbruch zu tun? Der Lump hat die Eier aus dem Wohnhaus, aus der Kammer neben der Küche, geholt«, polterte Hartwig. »Kommt noch!« ließ sich Friedrich nicht irremachen, »wer wohnt im Hof außer Ihrer Frau und Ihnen?« Maresch versuchte Kühns Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Was soll die Fragerei? Der Bauer hat recht! Was hatten der Pferdestall und die Bewohner des Hofes mit dem Einbruch zu tun? Entweder verstand Kühn die Blicke von Maresch nicht, oder er hatte auf stur geschaltet. »Sie bewirtschaften den Hof doch nicht allein?« bohrte Kühn. »Mein Sohn und meine Schwiegertochter«, antwortete Hartwig betont zurückhaltend, »sie sind heute nicht da!« »Und die Lisa!« krächzte die Bäuerin, die bis dahin noch kein Wort gesagt hatte, aber den Männern nicht von der Seite wich. »Rufen Sie die Lisa bitte her«, bat Kühn die Bäuerin. Den beiden Kriminalisten nickte Friedrich zu. Laßt mich nur machen. Ich weiß, was ich will, konnte es bedeuten. Lisa kam mit ihren Igelitstiefeln aus dem Schweinestall. Anders konnte der frische Geruch nicht so anhaltend wirken. Sie war drall und rundlich
und wischte sich vor Verlegenheit die Hände an der grauen Stallschürze ab. Ihre rosigen Backen waren ein Zeichen, daß ihr die Arbeit und die Fettnäpfe auf dem Hof bekamen. Die schwarzen Knopfaugen der fünfundzwanzigjährigen Dorfschönheit funkelten neugierig die fremden Männer an. »Soso, Sie sind die Lisa«, musterte Kühn die junge Frau unverhohlen. »Frau oder Fräulein?« »Fräulein! Was denken Sie?« zierte sie sich. »Mit dem Heiraten hat es noch Zeit.« Kokett wiegte sie sich in den Hüften, bei so viel Interesse, das der kleine vornehme Herr für sie hatte. Jetzt fängt der Bursche auch noch an zu flirten. Wenn es so weitergeht, mache ich dem rasch ein Ende, nahm sich Maresch vor. »Lisa ist Anfang des Krieges zu uns gekommen«, erklärte der Bauer, ohne gefragt zu sein, »dienstverpflichtet, wie es früher hieß. Es hat ihr bei uns gefallen, und sie ist geblieben!« »So lange sind Sie schon hier?« staunte Kühn, »und wie steht’s mit der Aussteuer? Schon alles beisammen?« Nicht nur Lisa, die vor Verlegenheit mit den Hüften wiegte, schien Friedrichs Worte als halben Heiratsantrag aufzufassen. »Machen wir weiter!« bestimmte Maresch, der langsam an Kühn zu zweifeln begann. »Einen Augenblick noch, Herr Oberkommissar! Fräulein Lisas Aussteuer hat mit der Sache zu tun. So erzählte mir der Einbrecher. Darf ich bitten, mir in den Pferdestall zu folgen!« Friedrich öffnete die Tür zum Pferdestall. Auf dem schmalen Gang, an zwei braunen Pferden vorbei, die ihre Köpfe neugierig den Menschen zuwandten, führte Kühn sie zu zwei leeren Pferdeboxen am Ende des Stalles. Sie waren durch eine brusthohe Bohlenwand voneinander getrennt. In der ersten war fast bis zur Raufe Heu für die Pferde gelagert. In Höhe der letzten Box stand die große hölzerne Häckselkiste. »Ziehen Sie die Häckselkiste vor!« verlangte Friedrich vom Bauern. Dem schwollen die Zornesadern auf der Stirn an. Puterrot vor Wut brüllte er: »Die Kiste geht Sie einen Dreck an! Die bleibt, wo sie steht!«
»Nicht so laut, Bauer, sonst erschrickt die kleine Stute mit den braunen Augen, und noch andere«, machte er mit einem diabolischen Grinsen eine Kopfbewegung zur Bäuerin im Hintergrund. Zähneknirschend riß Hartwig mit einem Ruck die Kiste von der Wand. In Lisa war eine Verwandlung vorgegangen. Statt weiter mit den Hüften zu schwingen, stand sie steif und hölzern mit dem Rücken zur Bohlenwand. Einen Zipfel ihrer schmutzigen Schürze preßte sie an den Mund. Friedrich bückte sich und hob eine lose Bohle des Fußbodens hoch. »Fräulein Lisas Aussteuer«, zeigte er den verblüfften Kriminalisten eine schwere Kassette, die er aus einem Loch am Stallboden genommen hatte. »Nach dem Gewicht zu urteilen«, schüttelte er die Kassette, »muß sich da ein ganz schöner Schatz angesammelt haben! Nehmen Sie schon, Lisa. Sie gehört doch Ihnen, und den Schlüssel tragen Sie auch am Band an Ihrem Hals. Ehrlich erarbeitet!« Dabei schaute Friedrich grinsend vom Bauern und der Lisa auf das Heu in der Pferdebox. Lisa griff nach der Kassette, als mute ihr jemand zu, glühendes Eisen anzufassen. »Schaffen Sie Ihren Brautschatz schnell auf die Sparkasse und suchen Sie sich einen Bräutigam. Es kann ein wilder Hengst kommen und Ihnen alles nehmen!« Zum Bauern gewandt, meinte Friedrich herablassend: »So ehrlich war der Einbrecher! Keinen von den Talern hat er angerührt, und da wagen Sie zu behaupten, er hätte vier Eimer mit Eiern fortgeschleppt, wo es doch nur einer war.« Der Bauer sah aus, als hätte er Prügel bezogen. »Schon gut«, keuchte er, »es wird wohl doch nur ein Eimer gewesen sein.« Friedrich zeigte den Kriminalisten den Weg über den Hof zur Küche des Wohnhauses, wo in einer Nebenkammer der Eimer mit den Eiern gestanden hatte. Kaum ein Wort wurde gewechselt. Nur die alte Bäuerin schien nichts begriffen zu haben. Bevor Lisa mit ihrer Kassette den Stall verließ, rief sie: »So eine reiche Braut! Hättest doch was gesagt. Ich hätte dir den Brautschatz bis zur Hochzeit aufbewahrt.«
Außer Sichtweite des Gehöftes blieb Maresch mit einem Ruck stehen. »Eine Erklärung, Kühn! Was wird hier gespielt? Wozu das Theater im Pferdestall, und woher wußten Sie von dem Versteck?« »Können Sie haben, Herr Oberkommissar! Ich hab’ was gegen dickgefressene Bauern, wenn sie mich als Lügner bezeichnen. Drei Eimer voll Eier wollte der mir zusätzlich in die Schuhe schieben. Das laß ich mir nicht gefallen und habe ihm den Denkzettel verpaßt, hoffentlich auch einem jungen dummen Ding die Augen geöffnet. An dem Abend, als ich die Eier holte, wäre es beinahe schiefgegangen. Ich war schon auf dem Hof, als jemand aus dem Wohnhaus trat. Im Licht der Küche sah ich die junge Frau. Sie kam auf mich zu. Ich zurück und mich hinter die Stalltür gestellt. Für die Stiege hinauf war es schon zu spät. Als sie die Tür zum Stall öffnete, war ich schon im Pferdestall. Hinten in der letzten Box habe ich mich an die Erde gekauert. Die Frau ging in die Box mit dem Heu. Dachte schon, die hätte dort ihr Nachtlager. Es dauerte nicht lange, da schlich der Bauer in den Stall. Na, für sein Alter ist der noch ganz schön beisammen, bei solcher Jungen. Jedes Wort, jedes Geräusch habe ich miterlebt. Wie die sich aufführten. Das hätten Sie hören müssen, wie der Alte stöhnte: Meine kleine Stute mit den braunen Samtaugen, und sie wieder: Mein wilder Hengst. So ging das eine reichliche halbe Stunde. Als er seine Hosen wieder anhatte, hörte ich ihn sagen: ›Da haste den Decktaler! Aber denke daran, läßt du dich von einem anderen decken, gehören die Taler wieder mir.‹ Deshalb mein Ratschlag, sie solle das Geld lieber auf die Sparkasse bringen, dort ist es vor dem wilden Hengst sicher. Das Geldstück, das ihr der Alte gab, schloß sie in die Kassette ein. Daher kannte ich das Versteck. Nachdem beide wieder den Stall verlassen hatten, wartete ich noch eine Weile und habe dann aus dem Wohnhaus die Eier geholt.« Auf der Fahrt zur Haftanstalt war Kühn entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schweigsam. Um ihn etwas aufzumuntern, sagte Rückert: »Unsere letzte Fahrt. Sie haben zur Aufklärung der Einbrüche viel beigetragen. Wir werden es den Staatsanwalt wissen lassen!« »Vielen Dank«, kam es einsilbig von Kühns Lippen, »sehen wir uns noch einmal zur Hauptverhandlung?«
»Kaum! Unsere Arbeit ist getan. Machen Sie vor den Richtern einen guten Eindruck. Vielleicht wird dann die Strafe keine Höchststrafe. Mit ein paar Jährchen müssen Sie sich schon abfinden!« sagte Maresch. »Damit habe ich mich schon abgefunden und bin direkt froh darüber«, erwiderte Kühn. »Wie kann man sich nur nach einer Zelle sehnen?« ereiferte sich Rückert. »Wenn Sie so ein Leben hinter sich hätten, würden sie vielleicht anders denken! Warum haben Sie eigentlich nie gefragt, weshalb ich fast jede Woche eingebrochen habe?« »Das liegt doch auf der Hand«, rief Maresch, »Sie haben sich mit Eiern über Wasser gehalten, ob Sie sie selbst gegessen oder verkauft haben. Wir müssen glauben, was Sie uns sagen.« »Mit Eiern über Wasser gehalten! Ich hätte auch ohne Eier leben können. Für mich hat es immer gereicht!« »Ja warum, zum Teufel, haben Sie eingebrochen?« schlug Maresch mit der Faust aufs Lenkrad. »Wegen einer Frau!« »Jetzt, wo wir denken, wir können die Akte an den Staatsanwalt geben, bringen sie eine Mittäterin vor. Nun soll wohl wieder alles von vorn losgehen?« holte Maresch tief Luft. »Was ich Ihnen an unserem letzten Tag erzählen will, ist nicht für die Akte bestimmt. Sie haben gefragt, warum ich eingebrochen habe. Ich wollte von der Frau weg, wollte meine Ruhe. Mein Lebtag habe ich mir nichts aus Frauen gemacht. War auch kaum möglich, bei den Jahren, die ich im Knast verbrachte. Nach dem Krieg habe ich ehrlich angefangen zu arbeiten und zu leben. Und in dieses Leben kam eine Frau. Mit einemmal lag sie in meinem Bett. Wir lebten wie verheiratet. Fast jede Nacht war sie bei mir. Keine Nachbarn, keine Arbeitskollegen haben etwas davon geahnt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich überhaupt nicht mehr aus dem Bett gebraucht. Es war, als ob sie sämtliche versäumten Kriegsjahre nachholen wollte. Ich war eine solche Liebe nicht gewohnt, wurde richtig krank und schwach davon. Sie war gutherzig, hat mir gebracht, was sie konnte, und hatte mit ihren Kindern selbst
Mühe durchzukommen. Mit der Zeit wurde es bei ihr zur Manie, mich mit Eiern zu füttern. Sie war glücklich, und ich war froh, verschwinden zu können. Allmählich habe ich mich an meine Streifzüge gewöhnt. Ein kribbelndes Gefühl, nachts durch fremde Häuser zu schleichen. Diese Spannung, das Immer-gespannt-Sein wird mir jetzt fehlen«, schloß Kühn seine Beichte. »Wer ist die Frau?« fragte Maresch, der vorn im Wagen saß, über die Schulter. »Den Namen der Frau werde ich niemals nennen!« antwortete Kühn mit einer Stimme, aus der herauszuhören war, daß er bei dieser Antwort bleiben würde. »Sie ist eine gute Frau, vielleicht hat sie geahnt, wie ich die Eier besorge, aber gewußt hat sie es nicht!« Mit seinem Schweigen akzeptierte Maresch den Wunsch des Einbrechers. Auch Rückert blieb stumm. Er ahnte, von welcher Frau Kühn gesprochen hatte und vor wem er ins Gefängnis geflohen war. Arme Magdalene, möge ihr Hunger nach Liebe von einem Mann gestillt werden, dem ein warmes Bett mehr bedeutet als die Häuser fremder Menschen.
Der vierte Abend
brachte wieder eine Überraschung. Wie ein Wachsoldat hatte sich Enke, der alte Abschnittsbevollmächtigte aus unserer Runde, vor dem dampfenden Punschkessel aufgebaut. »Der Punsch ist fertig!« schmetterte er uns entgegen, »doch bevor ich ihn ausschenke, müssen mir die Genossen Rückert und Maresch das Versprechen geben, die Geschichte, die ich beginnen werde, zu Ende zu erzählen.« Verdutzt schauten sich die beiden an. »Wir?« fragte Rückert, »das Ende einer Geschichte, von der wir nicht einmal den Anfang kennen?« »Das geht zu weit!« protestierte der schöne Erwin, »unsere Geschichten sind erlebte Wahrheit. Sollen wir etwa mit der Tradition des Jagdzimmers brechen?« »Das braucht ihr nicht! Wenn ich auch inzwischen so vertrocknet bin wie die Dörrpflaumen zu meinem Punsch. Habt ihr mich denn nicht erkannt?« »Ich werd’ verrückt!« schlug der schöne Erwin mit der Hand auf die Schieferplatte des Tisches, daß es nur so krachte, »der Leutnant aus Bad Klosterlausnitz!« »Und immer noch Leutnant und immer noch im selben Abschnitt«, warf Enke sich in die Brust. »Fang endlich an mit deiner Geschichte von den Damen des Kaffeekränzchens. Wie es in deiner Geschichte weiterging, werden der Hauptmann und ich gerne erzählen!«
Krambambulipunsch Als Zutaten benötigt man ein Kilogramm Würfelzucker, hundert Gramm Dörrpflaumen, hundert Gramm Apfelsinenschalen, hundert Gramm Rosinen, hundertfünfzig Gramm Feigen, fünfzig Gramm Haselnüsse, eine Flasche Rum, zwei Liter Weißwein, ein Liter Tee, zwei Apfelsinen, zwei Zitronen, Nelken und Zimt. Die geriebenen Nüsse, die Dörrpflaumen, die zerkleinerten Feigen und die gezuckerten Apfelsinenschalen werden in eine feuerfeste Schüssel gegeben. Über die Schüssel legt man einen feuerfesten Rost, auf den mit geriebener Apfelsinenschale vermischter Würfelzucker kommt. Nun wird Rum darübergegossen und angezündet. Man wartet, bis der entflammte Alkohol ausgebrannt ist und der geschmolzene Zucker in die Schüssel tropft. Den mit Nelken, Zimt und Zitronenschalen gewürzten Weißwein läßt man aufkochen und gießt ihn zusammen mit dem heißen Tee sowie mit Zitronen- und Apfelsinensaft in die Schüssel. Drei bis vier Minuten läßt man das Getränk ziehen, seiht es durch und reicht es in Punschgläsern mit einigen Stücken Obst garniert.
Ganoven Die kleine Stadt war schlafen gegangen. Nach und nach verlosch ein Licht nach dem anderen hinter den Fensterscheiben der Häuser. Nur die Lampe am Mast vor dem Rathaus schwang im böigen Aprilwind quietschend hin und her. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrenpendels glitt ihr Schein an der Front des Rathauses auf und ab. »Ist ja kaum auszuhalten«, sagte Leutnant Enke laut, obwohl niemand weiter im Zimmer war. Vor wenigen Minuten war er von einem Streifengang in sein Dienstzimmer im ersten Stock des Rathauses zurückgekehrt und hatte es sich bequem gemacht. Das Koppel mit der Pistolentasche und seine Mütze hingen einträchtig nebeneinander an dem Garderobehaken. Die Uniformjacke hing über der Lehne seines Stuhles. Er hatte Pause. Gegen Mitternacht würde er noch einmal auf Streife gehen, in die vier Gastwirtschaften sehen und, wenn notwendig, Feierabend gebieten. In diesen Wochen hatte die Stadt ihre Sauregurkenzeit. Winterurlauber gab es nicht mehr, und die Luftschnapper reisten mit Sack und Pack und vor allem mit Selbstverpflegung erst später an. Auch Leutnant Enke, der mit zwei weiteren Volkspolizisten über das Wohl und die Sicherheit der kleinen Stadt wachte, mußte sich während des Nachtdienstes selbst verpflegen. Opulent konnte man sein Mahl kaum nennen: zwei Roggenbrötchen, auf die seine Frau die Reste aus einem Fettopf hauchdünn verteilt hatte. Wenigstens brauchte er mit dem Pfefferminztee nicht zu sparen. Bevor er die Thermosflasche entkorkte, trat er noch einmal ans Fenster. Wie ausgekehrt breitete sich der Marktplatz vor ihm aus. Die Nacht würde wie viele andere vergehen, und die Eintragung im Wachbuch würde wieder lauten: Keine besonderen Vorkommnisse. War die Abgeschiedenheit der Stadt oder waren die Menschen – jeder kannte jeden – die Ursache von Ordnung und Sicherheit? Dabei lag die Stadt gar nicht so weltverloren. Wenn Enke aus dem Fenster nach Westen sah, blitzten in der Dunkelheit die Scheinwerfer der Autos auf. Fast ununterbrochen überquerten schwere Brummer oder kleine Flitzer die
Kuppe der Autobahn. Das Geräusch ihrer Motoren war allerdings hier nicht zu hören. Dafür sorgte der breite Streifen hohen Kiefernwaldes zwischen der Stadt und der Autobahn. Selten, daß einer an der Autobahnabfahrt abbog. Sie hatten es eilig auf ihren Fahrten von Westberlin nach Westdeutschland oder umgekehrt. Enke wandte sich wieder seinen Brötchen zu. Die Nacht war lang, und irgendwo hatte er mal gelesen, daß gründliches Kauen den Nährwert erhöht. Davon war er zwar nicht überzeugt, zumal er nach Mitternacht das Koppel wieder um ein Loch enger schnallen würde, aber wenn man langsam kaute, entstand doch das Gefühl, mehr gegessen zu haben. Als er den letzten Bissen des Brötchens in den Mund schob, riß ihn die Klingel der Haustür aus seiner Beschaulichkeit. Daß um diese Zeit jemand auf den Knopf neben dem Schild »Gruppenposten der Volkspolizei« drückte, kam nur alle paar Wochen vor. Rasch schlüpfte er in seine Uniformjacke und öffnete das Fenster. Vor der Haustür stand eine Frau. Der Lichtschein der pendelnden Lampe huschte über sie. Zu erkennen war bei der Funzel nichts. Hingegen mußte sie den Leutnant im erleuchteten Fenster erkannt haben. »Kommen Sie schnell, Herr Enke, sie sind wieder da!« rief sie zu ihm rauf. Die alte Schradern hat mir noch gefehlt, ging es Enke, der die Stimme der Frau kannte, durch den Kopf. Die verwitwete Frau Postobersekretär hatte alle naslang etwas anderes und meistens nichts Gutes. Mal war ihre Katze verschwunden, oder böse Nachbarn hatten ihren Zaun umgerissen. Ihr neuestes Anliegen betraf auch wieder die Nachbarn. Zwei junge Frauen, von denen sie behauptete, daß sie ihren Unterhalt als Lebedamen verdienten. Nachts kämen heimlich Männer zu den Frauen. Die Orgien dauerten dann die ganze Nacht. Als Beweis führte sie die Nylonstrümpfe der Frauen an und den Geruch von Bohnenkaffee, der bis in ihr Haus zog. Enke interessierten keine fremden Frauenbeine, auch wenn sie in Nylonstrümpfen steckten. Um die Frau Postobersekretär nicht vor den Kopf zu stoßen, hatte er versprochen einzugreifen, sie sollte ihn benachrichtigen, wenn die geheimnisvollen Besucher wieder auftauchten.
Endlich hatte er den letzten Mundvoll runtergewürgt. Am liebsten hätte er gerufen: »Gehen Sie schlafen und lassen Sie Ihre Nachbarn wenigstens nachts in Ruhe!« »Machen Sie schnell, Herr Enke!« drängelte es von unten. »Ich komm’ ja schon«, knöpfte er seine Jacke zu und griff nach Koppel und Mütze. Mit trippelnden Schritten versuchte die Frau an der Seite des langausschreitenden Leutnants zu bleiben. Sie war gut zwei Kopf kleiner als er. »Glauben Sie mir, die sind wieder ganz heimlich gekommen, sonst hätte ich es bemerkt. Zwei Männer sind es. Der ältere Vornehme und ein Jüngerer. Und wie sie es wieder treiben! Nein, darüber möchte ich nicht reden. Überzeugen Sie sich selbst!« redete sie pausenlos auf ihn ein. Die Schrader bewohnte mit ihrer Schwester ein kleines Einfamilienhaus. Im Sommer, wenn ihre Pensionsgäste anreisten, zogen sie in die Dachkammer. Dorthin führte sie Enke, dabei wispernd: »Licht kann ich nicht machen, sonst merken die was.« Enke hatte Mühe, in der Dunkelheit die schmale Holztreppe zu erkennen. Bei der letzten Stufe passierte es. Mit voller Wucht hatte sein Kopf Berührung mit dem Türrahmen bekommen. Sein »Au, verdammt!« gehörte nicht zu der Tonart in dem Haus der alten Damen. »Haben Sie sich gestoßen?« klang es vor ihm in der Dunkelheit, »bitte um Entschuldigung, ich hab’ Ihnen vergessen zu sagen, daß es hier oben sehr eng ist.« Ihre kleine Hand tastete nach seiner, um ihn zu führen. Mit der anderen Hand griff der Leutnant an seine Stirn. Die Mütze hatte zwar das schlimmste abgehalten, aber eine anständige Beule würde ihm das nächtliche Abenteuer einbringen. Ihre Hand zog ihn über den schmalen Flur in ein Zimmer. Es war dunkel, nur das spärliche Licht der Sterne ließ die Konturen der Möbel und ein paar Schatten vor dem schmalen Fenster erscheinen. »Bist du es, Klara?« flüsterte eine Stimme vom Fenster. »Ja doch, sind sie noch da?« wollte Klara wissen.
»Gittegitt!« schrie verhalten die Stimme am Fensterrechteck auf, »guck schnell, Klara, jetzt ziehen sie den Männern die Hosen aus!« »Wanda!« klang es vorwurfsvoll aus Klaras Mund, »was soll denn Herr Enke von uns denken?« Leutnant Enke hatte schon die anderen Damen aus Klaras Kaffeekränzchen erkannt, die wie kleine graue Mäuschen bei der Nennung seines Namens vom Fenster huschten. Als Staatsmacht stand ihm nicht zu, über die grotesk-komische Situation laut loszulachen. Man hätte den Kopf darüber schütteln können, mit welchem Eifer die Damen des Kränzchens, die ausnahmslos alle über das Liebhaberalter hinaus waren, von ihrem Versteck aus ein pikantes Situatiönchen miterlebten. Schuldbewußt, als hätten sie nie eine Männerhose in der Hand gehabt, zogen sich die Kränzchendamen in das Zimmer zurück, damit Enke an das Fenster treten konnte. »Meine Freundinnen waren zufällig hier«, sagte ganz überflüssig Witwe Klara hinter seinem Rücken, »sie haben nur einen Blick nach drüben geworfen, damit Sie auch Zeugen haben!« Das Drüben entpuppte sich als Seitengebäude des Nebenhauses. Es hatte einen separaten Eingang und zur Gartenseite hin im Erdgeschoß zwei große Berliner Fenster. Lange Stores und dichte Gardinen waren ein Luxus, den sich nicht jeder leisten konnte. Auch die beiden jungen Frauen nicht, die im Seitengebäude wohnten. So reichten die Übergardinen gerade für die Hälfte des Fensters. Gewiß, zu ebener Erde, von ihrem Garten aus, hätte die verwitwete Postobersekretärin kaum erhaschen können, was im Zimmer hinter der dichten Hecke vorging, die ihr Grundstück von dem des Nachbarn trennte. Aus der Höhe ihres Dachstubenfensters blieb kaum ein Winkel des gegenüberliegenden Zimmers verborgen. Fräulein Wanda hatte richtig beobachtet. Zwei jüngere Damen, nicht völlig unbekleidet, die eine trug noch einen dünnen Seidenschal um den Hals und die andere hatte noch einen Strumpf an, zogen einem auf der Couch hingestreckten jungen Mann das letzte Stückchen seines Habits, eine lange Unterhose, aus.
Ob es zum Spiel der Liebe gehörte, um das letzte Stückchen Tuch am Körper wie ein Berserker zu kämpfen? Der Leutnant vermeinte die Nähte der Unifarbenen krachen zu hören. Harpyiengleich zog jede Eva an einem der Beinkleider, die bei dem Gezerre schon bald die doppelte Länge angenommen hatten. Krampfhaft waren die Hände des Jünglings bemüht, der seinem Aussehen nach dem temperamentvollen südländischen Typ zuzuordnen war, den Bund der Hose zu halten, um seine Blöße zu bedecken. Enke besann sich der tugendhaften Schwestern im Zimmer, deren kurzes Atmen ihm verriet, daß sie an seinen Schultern vorbei die Szene gegenüber nicht aus den Augen ließen. Er drehte sich mit dem Rücken zum Fenster. Dem Kaffeekränzchen mußte es reichen. Was sie bisher zu sehen bekommen hatten, würde Gesprächsstoff für Jahre liefern. Und was sollte der Pfarrer, mit dem er bisher gut ausgekommen war, für eine Meinung von ihm bekommen, wenn die Damen berichteten, daß sie sozusagen in Anwesenheit der Staatsmacht Zeugen obszöner Liebesspiele geworden waren? Was nun? Wie die Blätter eines Abreißkalenders im Wind flatterten Enkes Gedanken auf der Suche nach einem Ausweg in dieser Lage. Sollte er den Damen erklären: Auf der Polizeischule habe ich gelernt, daß öffentliches Ärgernis nur in der Öffentlichkeit begangen werden kann, öffentlich konnte man das Zimmer auf der anderen Seite des Gartens ja wohl kaum nennen. Rechtslage hin, Rechtslage her! Sie erwarteten von ihm ein Eingreifen. Tat er nichts, wäre es mit dem Ansehen der Volkspolizei im Kaffeekränzchen ein für allemal vorbei. Nur um etwas Zeit zu gewinnen, fragte der Leutnant: »Kennt jemand die Männer? Waren sie schon öfter bei den Frauen?« Mehrere Stimmen auf einmal ließen Enke kaum etwas verstehen, bis die Stimme der Postobersekretärin sich durchsetzte: »Das dritte oder vierte Mal sind sie schon da. Aus Westberlin sollen sie sein, aber so wie sie sich heute aufgeführt haben! Sonst haben sie immer das Licht ausgemacht. Sie haben doch selbst gesehen, die Konservenbüchsen und die Kognakflaschen auf dem Tisch. So etwas gibt es doch bei uns schon lange nicht mehr.«
»Haben Sie die dicke Flasche auf dem Tisch gesehen?« piepste eine Stimme aus dem dunklen Hintergrund, »da war Sekt drin. Bestimmt haben die auch Kaviar dazu gegessen. Mein Seliger hat immer gesagt…« Was ihr Seliger gesagt hatte, blieb unausgesprochen, weil andere auch zu Wort kommen wollten. Untrüglich war es Fräulein Wanda, die sich erboste: »Und was die erst mit den leeren Flaschen gemacht haben. Auf dem Tisch gedreht, und derjenige, auf den der Flaschenhals zeigte, mußte ein Kleidungsstück ablegen, solche Ferkel!« »Ich hab’ es ja gesehen!« versuchte der Leutnant die aufgeregte Schar zu beruhigen, »es ist zwar schon etwas spät, aber ich werde trotzdem eine Kontrolle vornehmen!« Am liebsten hätten die Damen Beifall geklatscht. Wer A sagt, muß auch B sagen! Eine einzige Möglichkeit hatte der Leutnant in dem Abreißkalender hinter seiner Stirn gefunden: Ausweiskontrolle! Es gab eine Meldeordnung, auch für Westberliner, wenn sie in der DDR waren, und weder heute noch gestern hatten sich zwei Fremde auf der Meldestelle angemeldet. Das Holz der Tür dröhnte wie eine Trommel. Der Schall war bestimmt mehrere Straßen weit zu hören. Noch war das Klopfen nicht verhallt, als auch schon das Licht hinter den Fenstern ausging. Der Leutnant grinste schadenfroh. Die Vorstellung war aus, auch wenn die Kaffeedamen an ihrem Bodenkammerfenster noch so dicht ihre Nasen an die Scheiben drückten. Wie blaßrosa Luftballons hatten ihre Gesichter hinter den Fenstern gehangen. Zwei Minuten ließ Enke den anderen hinter der Tür Zeit. Sie konnten ja nicht in ihren Eva- und Adamskostümen Besuch empfangen. Die Zeit war um, nichts hatte sich gerührt. Das Holz der Tür fing erneut an zu vibrieren, dazu hallte es durch die Nacht: »Aufmachen, Volkspolizei!« Die Worte schienen Wunder zu wirken. Eine erschrockene Frauenstimme sagte hinter der Tür: »Einen Moment bitte! Ich habe schon geschlafen und ziehe mich sofort an.« »Ein bißchen Beeilung!« rief Enke, ein Lachen unterdrückend. Das mit dem Anziehenmüssen stimmte ja, aber von wegen geschlafen… Auch
das Anziehen dauerte reichlich lange. Ob der Adonis in der Dunkelheit nicht so schnell in seine Unterhosen fand? Ein erneutes Klopfen rief wieder die Frauenstimme aus ihrem Schweigen: »Ja doch, ich mache ja schon auf!« Die Tür öffnete sich einen Spalt: »Was ist denn los?« Eine Uniform hatte die Frau wohl am allerwenigsten erwartet, vielleicht auf den Scherz eines Bekannten gehofft. Aber es war zu spät, die Tür wieder zuzuschlagen. Der derbe Marschstiefel des Leutnants gab den Spalt nicht wieder her. »Keine Fisimatenten! Licht an und Tür auf!« Enkes Stimme hatte einen solchen Nachdruck, daß im Nu das Licht im Flur brannte und die Tür einladend offenstand. Ein wenig verwundert betrachtete der Leutnant die kleine Serviererin aus dem »Goldenen Löwen«. Beim Bedienen der Gäste konnte man von ihrer Schürze immer die Speisekarte ablesen. Doch jetzt in dem fliederfarbenen Negligé hätte sie auch die Tür eines Appartements auf dem Kudamm öffnen können. »Sie haben Besuch?« »Ja… nein«, stotterte der Wuschelkopf vor Verlegenheit. »Keine Ausflüchte!« sagte Enke, um dann einer Eingebung folgend lautstark zu verkünden: »Das Haus ist umstellt!« Wäre eine schöne Blamage gewesen. Er mit der Fliederfarbenen im Flur, und derweil stiegen die Kerle aus dem Fenster und verschwanden unter den Augen seiner unbestechlichen Zeuginnen vom Kaffeekränzchen. Entschlossen stieß er die Tür zum Wohnzimmer auf und bekam auch gleich den Lichtschalter zu fassen. Enkes lautstarkes Klopfen mußte einen nachhaltigen Schock in der Runde ausgelöst haben. Das Bacchanal war jäh zu Ende gegangen, die Reste lagen in der Stube verstreut auf dem Boden. Irgendwer hatte beim Griff nach Hose oder Hemdchen einen Zipfel der Tischdecke erwischt. In fröhlichem Durcheinander lagen Apfelsinen und Bananen inmitten von Konfekt, Ölsardinenbüchsen, Flaschen und zerbrochenen Gläsern. Beinahe anmutig klang das Glucksen einer auf dem Teppich auslaufen-
den Kognakflasche. In der Ecke stand die andere junge Dame und nestelte an den Knöpfen ihrer Bluse herum. »Wo sind die Kerle?« bellte er die Fliederfarbene an. »In der Küche!« Sie hatte sich von ihrem Schreck noch nicht erholt. Mit zwei langen Schritten war der Leutnant wieder im Flur und riß die Tür zur Küche auf. Ein wenig erstaunt sahen die beiden Männer schon aus, die sich an die Wand beim Küchenherd preßten. Hemd und Hose hatten beide an. Schuhe und Jacken hielten sie in den Händen. »Ihre Ausweise bitte!« Um keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Worte aufkommen zu lassen, schob Enke seine Pistolentasche am Koppel mehr in Griffnähe. Der Ältere, Grauhaarige war die Ruhe selbst. Mit einem verlegenen Lächeln griff er in die Tasche seines Jacketts, zog eine lederne Brieftasche heraus, entnahm ihr einen Ausweis und reichte ihn dem Leutnant. Dem anderen, Dunkelhaarigen, schienen die Kräfte nach dem Kampf um seine Unterhose noch nicht wieder zurückgekehrt zu sein. Seine Hände zitterten und fanden nur mit Mühe die Tasche mit dem Ausweis. Enke war in der Küchentür stehengeblieben. Die Lampe gab genügend Licht, die Schrift in den Ausweisen zu erkennen. Die Vermutungen seiner Gehilfinnen in der Bodenkammer bestanden zu Recht. Die Herren in ihren Socken erwiesen sich als Westberliner Bürger. Emil Piesicke, Kaufmann, las Enke im Ausweis des Grauhaarigen. Einen Namen muß jeder Mensch haben. Warum sollte einer nicht Emil Piesicke heißen und Kaufmann sein. Problematischer wurde es schon mit dem Namen des braunhäutigen Adonis: Er entpuppte sich als Joachim Freiherr von Bredernack! Fatale Situation! Wie hat sich ein Arbeiterpolizist gegenüber dem Adel zu verhalten? Mußte er, um die Etikette zu wahren, diesen schmalbrüstigen Jüngling etwa mit Freiherr anreden, oder genügte es, von Bredernack zu sagen? Im Knigge für Volkspolizisten gab es darauf keine Antwort. Bisher war der Leutnant mit Jugendfreund, Kollege, Herr oder Frau ausgekommen.
»Sagen Sie mal«, sprach Enke ohne direkte Anrede den freiherrlichen Jüngling an, »General Bredernack, ein Verwandter von Ihnen?« Der Name Bredernack in Verbindung mit der Generalsbezeichnung war dem Leutnant noch in Erinnerung. So hieß der General der Division, in der Enke die letzten Kriegsmonate abdiente. Ein Name, der bei den Soldaten alles andere als einen guten Klang hatte. Die braunen Augen des Jünglings verloren ihren zittrigen Glanz. Einer Erlösung gleich schmetterte er heraus: »Jawohl, Herr Hauptmann, General von Bredernack ist mein Vater!« Ein Offizier, egal, welche Uniform er jetzt trug, der unter seinem Vater gedient hatte, von dem konnte er zu jeder Zeit und in jeder Situation Ehrerbietung und Achtung erwarten. Enke blieb ganz ruhig. Nur sein Blut hämmerte schmerzhaft in der Beule am Kopf. Kannst dich freuen, Bürschlein! Dein Glück, daß unsereins zur Höflichkeit erzogen und Sippenhaft für uns ein Fremdwort ist. Wenn es nach mir ginge, würde ich dir auf der Stelle einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten geben, mit einer Empfehlung an deinen Vater von dem Gefreiten Enke. Statt seine Gedanken laut werden zu lassen, korrigierte Enke: »Mein Dienstgrad ist Leutnant der Volkspolizei«, wobei er die Betonung auf das letzte Wort legte. »Wie lange sind Sie schon hier, und wie lange gedenken Sie zu bleiben?« Dem Grauhaarigen war der säuerliche Unterton in Enkes Frage nicht entgangen. Mit einem warnenden Blick auf den Jüngling antwortete er an dessen Stelle: »Wir sind gestern angekommen und wollen höchstens zwei Tage bleiben.« »Sind Sie polizeilich angemeldet?« Gespielt unwissend antwortete Piesicke: »Anmelden, für die paar Tage? Wenn es sein muß, melden wir uns eben an!« Enke sog die Luft hörbar durch die Nase. Nicht wegen der Antwort Piesickes. Schon beim Eintreten in die Küche hatte er einen eigentümlichen Geruch wahrgenommen, der in den letzten Minuten immer stärker wurde. Es roch penetrant nach verbrannten Schuhsohlen, als hätte jemand vergessen, seine zum Trocknen in die Ofenröhre gestellten Schuhe rechtzeitig wieder herauszunehmen. Einen Kachelofen gab es in der Küche nicht. Seinen Platz nahm ein solide gemauerter Küchenherd mit ei-
ner tischgroßen Platte und Eisenringen über den Feuerstellen ein. Ob der Abzug lange nicht gereinigt worden war? Aus den ineinandergelegten Feuerringen kroch in kleinen Wolken dunkelblauer Rauch und verbreitete den Geruch von versengtem Leder. »Was ist das für ein Gestank? Haben Sie etwas im Küchenherd verbrannt?« erkundigte sich Enke. Die beiden Westberliner blieben stumm. Mit einem Schritt war der Leutnant am Herd. Mit dem Feuerhaken riß er die Ringe über der Feuerstelle auseinander. Es puffte, und ein starker Rauchschwall stieg auf. Die plötzliche Sauerstoffzufuhr ließ kleine Flammen aufflackern. , Enke fuhr mit dem Haken in die Herdstelle und beförderte eine an den Seiten glimmende pralle Ledertasche ins Licht der Küchenlampe. Ohne zu zögern, stieß er sie mit dem Feuerhaken in einen neben dem Herd stehenden halbvollen Wassereimer. Es zischte, und brodelnder Dampf stieg auf, der in der Nase kitzelte wie der scharfe Geruch eines lange nicht gelüfteten Pferdestalles. Die Kaltwasserabschreckung bekam der Tasche nicht. Ihre Nähte platzten auf, und der Inhalt quoll heraus. Enke bekam Stielaugen. Was sich da im Wasser zwischen den Nähten der geplatzten Tasche präsentierte, war Geld, Geld und nochmals Geld! Gebündelte Hundertmarkscheine, zwar an den Rändern angebrannt und verkohlt, aber trotzdem nicht zu verkennen. Seine Hand ließ den Feuerhaken los und legte sich drohend auf die Pistolentasche. »Wem gehört das Geld?« Die Männer schwiegen und blickten betreten auf die Schuhe in ihren Händen. »Na, wird’s bald!« »Davon habe ich nichts gewußt!« erklang die Stimme des Wuschelkopfes aus dem »Goldenen Löwen« hinter seinem Rücken. »Verschwinden Sie!« zischte er, ohne sich umzudrehen. In das beredte Schweigen der Männer hinein befahl er: »Schuhe anziehen! Die Schnürsenkel bleiben offen. Sie sind festgenommen!« Zufrieden zog sich das Kaffeekleeblatt aus der Dachstube im Nebenhaus zurück. Auf ihren Polizisten war Verlaß. Der fackelte nicht lange
und führte die Liebhaber der Damen von gegenüber ab. Die sittliche Ordnung war wiederhergestellt. Frau Postobersekretär opferte eine Handvoll Kaffeebohnen aus dem letzten Westpaket, die eigentlich bis zum nächsten Geburtstag aufbewahrt bleiben sollten. Jetzt schon schlafen zu gehen käme ja einer Sünde gleich, und wer konnte schon im Bett nach dieser Aufregung Ruhe und Schlaf finden? Zum Raten und Vermutungen-Anstellen hatten sie Anlaß genug. Warum schlurften die Männer, die vor ihrem Polizisten auf die Straße traten, so mit den Schuhen? Konnten sie nach den Liebesanstrengungen nicht mehr die Knie durchdrücken, oder hatte Herr Enke es ihnen verboten, die Füße zu heben? Vielleicht war es auch zu einem Kampf mit Herrn Enke gekommen, nachdem die wollüstigen Kerle durch seine Judogriffe so geschwächt waren, daß sie nur noch dahinschlendern konnten? Ja, und warum trug Herr Enke einen Wassereimer in der Hand? Ob darin Beweise für die sexuellen Ausschweifungen waren? Sie gingen nach der letzten Tasse mit dem Versprechen der Postobersekretärswitwe auseinander, daß sie am nächsten Tag versuchen werde, bei Herrn Enke Aufklärung über die Rätsel zu erlangen. Ob es überflüssig war, sei dahingestellt. Jedenfalls hatte der Leutnant vor dem Verfassen der Küche seine Pistole gezogen und unmißverständlich gesagt: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, bei einem Fluchtversuch oder Widerstand werde ich von meiner Waffe Gebrauch machen.« Piesicke grinste nur. Die Ankündigung, ein zweites Loch in seinen Hintern zu bekommen, schien ihn nicht zu beeindrucken. Im Widerspruch zu dieser Gelassenheit stand jedoch sein weiteres Verhalten. Bevor er aus der Küche trat, hob er ohne Aufforderung von Enke beim Umdrehen seine Arme und verschränkte sie hinter dem Nacken. Der Generalsableger konnte trotz der martialischen Familientradition seine Angst nicht unterdrücken. Sein schlotternder Gang war nicht nur auf die hinterherschleifenden Schnürsenkel zurückzuführen. Er hatte solche weichen Knie bekommen, daß er nahe daran war, sich auf seinen Nebenmann zu stützen. Was ihn davon abhielt, waren seine ebenfalls hinter dem Kopf verschränkten Arme, die er nach dem Vorbild seines Kompagnons in diese Stellung gebracht hatte.
Die Kavalkade kam auf den menschenleeren Marktplatz. Statt jedoch auf kürzestem Weg das Dienstzimmer im Rathaus anzusteuern, dirigierte Enke die Schlurfenden zu einem der kleinen Häuschen auf der gegenüberliegenden Seite. Er ließ die Finger nicht eher vom Klingelknopf, bis im ersten Stock ein Fenster aufgerissen wurde. Oberwachtmeister Bertram blieb die Entrüstung über die nächtliche Ruhestörung im Hals stecken, als er seinen Gruppenpostenleiter mit der Pistole in der Hand und die zwei Figuren mit hinter den Köpfen verschränkten Händen sah. So schnell, wie er in dieser Nacht in Jacke und Hose war, zieht sich kein Feuerwehrmann an, wenn die Sirene ertönt. Eine Viertelstunde später waren Piesicke und Bredernack durchsucht und durften jeder in einem vergitterten Einzelzimmer im Keller des Rathauses auf Pritschen, die gewöhnlich überfröhlichen und randalierenden Zechern vorbehalten waren, das Blut in ihre Arme zurücklaufen lassen. Kriminaloberassistent Wermich war ein findiger Bursche, wenn es galt, Einbrecher und Diebe zu überführen. In seinem Dienstbereich hatten Kaninchen- und Hühnerdiebe kaum die Chance, den geklauten Braten mit Wohlbehagen zu verspeisen. Es war nicht nur einmal vorgekommen, daß er am Sonntagvormittag loszog und mit beschlagnahmten Bratenschüsseln in der Dienststelle erschien. Die kleinen Diebe und Gauner gingen ihm und seinem Dackel Waldi aus dem Weg. Seine Freunde hänselten ihn, und seine Dienstvorgesetzten zeigten ihr Mißfallen, als sich herumsprach, Wermich führe bei den Ermittlungen seinen Dackel Waldi spazieren. Die Gemüter beruhigten sich erst, als bekannt wurde, wie der Oberassistent zu seinen Erfolgen kam. Waldi hatte weder das Aussehen noch die verbrieften Fähigkeiten eines ausgebildeten Polizeihundes, aber er entwickelte eine wahre Meisterschaft, vergrabene Kaninchenfelle und Hühnerfedern aufzuspüren. In dieser Nacht mußte Waldi zu Hause bleiben, weil er noch immer nicht gelernt hatte, auf dem Sozius der uralten 200er NSU mitzufahren. Von Freude über diesen nächtlichen Sondereinsatz war bei Wermich nichts zu spüren. Nicht einmal der Diensthabende war aus der Meldung von Leutnant Enke so richtig schlau geworden. Wer interessierte sich schon für sexuelle Ausschweifungen und das Verbrennen von Geld?
Bedenklich war nur, daß Enke die Männer einfach festgenommen hatte und daß es sich um Westberliner handelte. War die Festnahme ungerechtfertigt und sprach sich das bei den Westberliner Zeitungsbossen rum, ließen die an der Volkspolizei kein gutes Haar. Er mußte jetzt prüfen, ob Enkes Entscheidung auch der Gesetzlichkeit entsprach. Ausgerechnet er, nur weil er in der Nacht Bereitschaft hatte. Dabei war er weder Spezialist für Sexualstraftaten noch für Wirtschaftsvergehen. Reichlich verfroren stieg er vor dem Rathaus vom Motorrad. Nach Enkes Bericht kratzte er sich hinter den Ohren und meinte in seinem klangvollen Dialekt: »Wenn das alles ist, müssen wir die Katze wieder laufen lassen. Liebesorgien sind nicht verboten. Minderjährig sind die Damen auch nicht, und Gewalt brauchten die Kerle sicher nicht anzuwenden. Wo sollen wir da einen Straftatbestand herbekommen?« Die Art, wie Wermich die Sache loswerden wollte, brachte den Leutnant in Rage: »Geldverbrennen ist wohl auch nicht strafbar?« »Sachte, sachte«, sang Wermichs Dialekt, »jeder kann mit seinem Eigentum machen, was er will. Wenn das Geld nicht geklaut ist, ist für uns der Ofen aus. Wieviel war’s denn?« Seine Frage brachte Enke aus dem Gleichgewicht: »’ne Menge!« »Vor dem Zahltag sind für mich zehn Mark auch eine Menge«, konterte der Oberassistent. »Wir haben das Geld noch nicht gezählt«, gab Enke kleinlaut zu und stellte den Eimer Wermich vor die Nase. »Dann wird es ja Zeit«, sagte der und griff in den Eimer. Er legte die tropfende Tasche auf Enkes Schreibtisch, nicht ahnend, daß die in die Schublade laufende Brühe den Leutnant um sein letztes Roggenbrötchen brachte. Jetzt war es Wermich, der Stielaugen bekam. Ein Bündel nasser, angekohlter und angebrannter Geldscheine nach dem anderen kam aus der Tasche zum Vorschein. Immer größer wurde der Haufen auf dem Tisch. Lange dauerte es, bis die verklebten Packen durchgezählt waren. »Mich laust der Affe«, sagte Wermich und legte das letzte Bündel wieder auf den Tisch, »zweiunddreißigtausend Mark! So viel Geld habe ich noch nicht auf einem Haufen gesehen! Jetzt ist die Sache klar, ihr habt
einen guten Fang gemacht! Diese Burschen sind Wechselstubenschieber. Holt sie mal rauf!« Gefolgt von Enke und Bertram, schoben sich die Festgenommenen ins Zimmer und blieben an der Wand stehen. Piesicke in hellgrauem Kammgarnanzug und weißem Oberhemd mit dem zum Anzug abgestimmten Binder war die Sicherheit selbst. Ein Kaufmann, den keine schiefgegangene Transaktion erschüttern konnte. Ganz im Gegensatz zu seinem Kompagnon Bredernack, bei dem von aristokratischer Kühle nichts zu bemerken war. Sein auf Maß geschneiderter Kordanzug schien in den Schultern alle Watte verloren zu haben. Die Hosen, etwas in die Knie gerutscht, zog er mit seinen Fingern von den Schenkeln ab. Möglich, daß er in der Eile des Anziehens seine Unterhosen nicht gefunden hatte und der Stoff auf dem nackten Fell kratzte. Er blickte verschämt zu Boden. Sein dunkelgebräuntes Gesicht glühte vor innerer Erregung. Wermich trat an beide heran. Schnuppernd sog er die Luft ein und hatte viel Ähnlichkeit mit seinem Waldi, wenn der in Misthaufen nach verbuddelten Kaninchenfellen suchte. Vor Piesicke blieb er stehen: »Ihren Namen!« »Emil Piesicke!« Wermich war um eine Enttäuschung reicher. Eine adlige Verwandtschaft schien dem Grauhaarigen wie auf den Leib geschneidert und nicht diesem schmalbrüstigen Jüngling, der immer weiter zur Wand zurückwich, ohne einen eigentümlichen Geruch mitnehmen zu können. »Stinkt hier wie auf einem Trockenabort«, sagte er zu Bredernack, »sind Sie in etwas getreten?« Eine neue Hitzewelle flog über Bredernacks Gesicht. Schuldbewußt senkte er die Augen. »Haben Sie sich etwa eingesch…?« verschluckte der Oberassistent die letzten Silben, »die Hosen runter!« Mit zittrigen Fingern knöpfte Bredernack die Hose auf. Der sich ausbreitende Gestank trieb Wermich ein paar Schritte zurück. Er hielt sich die Nase zu.
»Sachen gibt es«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Warum haben Sie nicht an die Zellentür geklopft und sich gemeldet?« »Es war schon vorher passiert, bei der Verhaftung«, flüsterte Bredernack, nun auch den Hosenboden vom Hintern abziehend. Piesicke hatte zum erstenmal sein Grinsen gelassen und sich angewidert abgewendet. »Gebt dem Herrn einen alten Lappen und bringt ihn in den Waschraum«, forderte Wermich die beiden Polizisten auf. »Nun zu Ihnen, Herr Piesicke! Wem gehören die Tasche und das Geld?« Piesicke ließ seinen Blick auf den Geldbündeln ruhen. Er hatte auf einem Stuhl Platz genommen und die Beine übereinandergeschlagen, als säße er zu Hause in seinem Direktionszimmer. Seine Miene war so herablassend wie die eines Millionärs, der Rechenschaft über seine Trinkgelder geben sollte. In das Schweigen Piesickes meinte Wermich: »Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie hätten das Geld nie gesehen!« »Das Geld gehört mir!« kam es kurz und knapp. »Warum wollten Sie es verbrennen?« Emil Piesicke verschanzte sich wieder hinter seinem Grinsen: »War ’ne Dummheit! Im ersten Schreck, als die Bull…, äh, äh, Polizisten meine ich, an die Tür donnerten!« »Ihnen ist doch klar, daß die Ausfuhr unserer Zahlungsmittel verboten ist?« »Wer red’ denn hier von Ausfuhr? Mitjebracht hab’ ick es!« Statt eines Königreiches für ein Pferd hätte Wermich seine alte NSU für einen Wirtschaftskriminalisten eingetauscht. Solche Schieber wie der vor ihm waren mit allen Wassern gewaschen. Mit seinem Diebstahleinmaleins würde er bei solch einem gewieften Burschen nicht weit kommen. »Wegschaffen oder Herbringen ist Jacke wie Hose«, kommentierte Wermich, um sich selbst Mut zu machen, »wozu brauchen Sie das viele Geld?«
»In meinem Ausweis steht, daß ick Kaufmann bin. Ohne Jeld kann auch der beste Kaufmann nischt koofen!« amüsierte sich Piesicke über die Unbeholfenheit des jungen Kriminalisten. Wenn der Bredernack nur sein Maul hält, setzte er in Gedanken fort, dann habe ich dieses Bürschchen in einer Stunde so eingewickelt, daß er uns mit einer Entschuldigung wieder laufenläßt. »In meinen Augen sind Sie ein ganz gerissener Geldschieber!« griff Wermich wieder an. »Is Ihre Sache! Ick sage, det Jeld gehört mir, und ick wollte damit wat einkaufen!« »Für zweiunddreißigtausend Mark? Hier bei uns? Was soll das sein?« fragte Wermich ungläubig. »Von Porzellan haben Sie wohl noch nischt gehört? Dat is aber och schon alles, wat ihr hier habt und wat sich lohnt!« Wermich hob den Kopf wie sein Dackel, wenn er einen Fall witterte. »Sie wollen bei uns Porzellan kaufen, das müssen Sie mir erst beweisen!« »Junger Mann, Sie scheinen noch nicht lange bei der Polizei Staub gewischt zu haben. Nicht ick, Sie müssen mir wat beweisen! Ick komm Ihnen aba entgegen«, sagte Piesicke jovial. »In der Absteige, bei den Mächens, können Sie sich überzeugen. Eine große Blumenvase und zwee Services stehen dort schon verpackt.« »Wo haben Sie das Porzellan gekauft?« »Meinen Sie, ick gebe meine Geschäftsbeziehungen preis?« »Na gut«, lenkte Wermich ein, »ich werde das zu Protokoll nehmen, und dann werden wir weitersehen!« Noch bevor der Bürgermeister im Rathaus zum Residieren erschien, waren die Protokolle von Wermich auf einer Schreibmaschine fertiggetippt. Mit einem Durchschlag hätte der Kriminalist die Hälfte seiner Fingerübungen einsparen können, so glich eine Aussage der anderen. Bereitwillig und in beinahe wörtlicher Übereinstimmung gaben Piesicke und Bredernack zu, gemeinsam fünfunddreißigtausend Mark von Westberlin mitgebracht zu haben, um in Thüringen Porzellan einzukaufen. Über zweitausend Mark waren in kleinen Porzellanbetrieben schon umgesetzt. Die Lieferanten nannten sie nicht. Wermich nahm es gelassen
hin. Aufmerksam lasen Piesicke und Bredernack die Vernehmungsprotokolle durch. »Einverstanden mit dem, was da steht?« erkundigte sich Wermich. Bevor Bredernack mit einem Kopfnicken sein Einverständnis gab, schaute er kurz zu Piesicke. Der grinste und haute schwungvoll ein »Emil Piesicke« unter das Protokoll. Wermich zeichnete gegen und schraubte befriedigt seinen Füllfederhalter zu. »Können wir nun gehen?« wandte sich Piesicke grinsend an Wermich. »Wohin?« fragte Wermich betont gleichgültig. »In unsere Absteige! Angemeldet sind wir ja wohl nun?« antwortete Piesicke mit einem leichten Unbehagen. »Daraus wird vorläufig nichts! Sie bleiben festgenommen«, meinte Wermich und packte die Protokolle in seine Aktentasche. Bredernacks Gesicht nahm nach dieser Eröffnung eine leicht grünliche Färbung an. »Hören Sie mal!« brauste Piesicke auf, »ick hab’ mir wohl verhört? Sie behandeln uns, als hätten wir einen Geldschrank geknackt.« Und dann fuhr er mit erzwungener Ruhe fort: »Wenn Sie wat jegen uns harn, können wir auch gleich zurückfahren. Meinetwegen können Sie uns zum Bahnhof bringen und dat Jeld behalten, als Kaution!« »Kaution ist gut. Für Geld haben wir noch nie einen laufenlassen. Machen Sie sich fertig! Der Haftrichter wartet, und die grüne Minna kann jeden Augenblick hier sein!« »Det is Freiheitsberaubung«, brüllte Piesicke los, »det hat noch een Nachspiel. Wat werfen Sie uns überhaupt vor?« »Das, was Sie im Protokoll angegeben und unterschrieben haben«, konnte Wermich endlich das herausfordernd freche Grinsen Emil Piesickes zurückgeben, »unser Handelsschutzgesetz sieht für den illegalen Handel mit Porzellan nach Westberlin Strafen nicht unter fünf Jahren vor!« Piesicke setzte sich sprachlos und mit offenem Mund. Bei seinem Kompagnon schlug der Schreck wieder auf die empfindlichen Därme.
Oberkommissar Maresch ließ hinter sich die Tür so kräftig ins Schloß fallen, daß der Kalk aus dem Türrahmen rieselte und sein Mitarbeiter, Obersekretär Rückert, am Schreibtisch zusammenfuhr. Seine knallige Rückkehr aus dem Dienstzimmer des Oberrates ließ nichts Gutes ahnen. Solange der Kalk noch aus dem Türrahmen rieselte, war es besser, Maresch nicht anzusprechen. »Hast du noch eine Zigarette?« kam es nach einer Weile vom anderen Schreibtisch. Gern reichte Rückert sein poliertes Aluminiumetui nicht über den Tisch. Um mit seiner Monatsration auszukommen, hatte er sein tägliches Quantum auf vier Zigaretten festgesetzt. Wenn Maresch auch noch begann, seine Stäbchen mit zu vertilgen, konnte er das Rauchen gleich aufgeben. »Die Zigarre vom Alten schmeckt dir wohl nicht? Was gibt’s, hat er was gegen uns?« »Sieht so aus! Auf alle Fälle hat er eine Stinklaune!« »Was kümmert uns die Laune des Alten? Vielleicht hat er seinen Kragenknopf nicht gefunden oder die Rasierseife war alle!« »Hast du eine Ahnung. Hier lies!« reichte Maresch ein maschinebeschriebenes Blatt mit angeklammertem Briefumschlag über den Tisch. »An den Polizeipräsidenten von Thüringen« las Rückert auf dem Umschlag. Bevor er sich in das Schreiben vertiefte, sah er auf die Unterschrift. Anonym – deswegen solche Aufregung? Vor zwei Tagen in Neukölln aufgegeben. Das liegt doch in Westberlin! »Lies den Inhalt!« »Bin schon dabei.« Rückert überflog das Schreiben: »Herr Präsident! Noch möchte ich nicht von Ihren Beamten auf Ihre Person schließen. Unfähigkeit wäre geschmeichelt. Ihre Beamten sind dumm, dümmer als die Polizei erlaubt! In meinem Brief, vor vier Wochen an Sie persönlich, habe ich genaue Angaben über den alten Gangster Emil Piesicke und seinen adligen Kumpan, den Bredernack, gemacht. Diese beiden Ganoven haben in Thüringen einen Holzschieberring aufgebaut, der alles in den Schatten stellt. Sie scheinen in Ihrer Zone reichlich Holz zu haben,
sonst hätten Sie meine Angaben gründlicher überprüft. Sie waren so naiv, die Holzschiebereien von diesem unfähigen Beamten, Wermich soll er heißen, untersuchen zu lassen. Es ist der gleiche, der Piesicke und Bredernack mit dem Porzellan auf den Leim kroch. Der Holz-Zar hat bei einer Versammlung mit den Schiebern aus Thüringen hier in Berlin beinahe einen Lachkrampf bekommen, wie blöde sich Ihr Beamter anstellt. Die ehrsamen Sägewerksbesitzer und Holzschieber wissen, daß ihnen nichts passieren kann und daß Piesicke und Bredernack nicht quatschen. Vorläufig sollen sie keine Holztransporte mehr verschieben, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Vorher will der Holz-Zar die beiden Ganoven bei Ihnen rausholen. Der bringt das fertig, bei der Intelligenz Ihrer Leute und seinem Geld! Peinlich für Sie, große Fische an der Angel zu haben und sie wieder schwimmen zu lassen.« Rückert reichte das Schreiben wieder zurück: »Darüber regst du dich auf! Ein anonymer Schreiber aus Westberlin, der uns beleidigt. Wenn ich Polizeipräsident wäre, hätte ich das Schmierblatt ungelesen in den Papierkorb geworfen!« »Noch bist du kein Polizeipräsident, und er hat es nicht weggeworfen. Wir sollen prüfen, ob die Angaben stimmen!« »Wir können uns den Weg ins Holzland sparen. Zufällig kenne ich Kamerad Wermich, von dem die Rede ist. Habe mit ihm zusammen ein paar Monate einen Lehrgang besucht und in einem Zimmer geschlafen. Der schlachtet eher seinen Dackel, als sich bestechen zu lassen. Außerdem kann er was!« argumentierte Rückert. »Mit einem Hundefell als Beweis der Unbestechlichkeit unserer Kameraden wird der Alte kaum zufrieden sein. Nimm deine Klamotten und hole das Auto, wir fahren los! Außerdem bin ich neugierig. Was steckt dahinter? Ein Bluff, oder will einer tatsächlich die Festgenommenen reinlegen? Warum?« Verschnupft oder beleidigt war Kriminaloberassistent Wermich auf keinen Fall, als Maresch ihm ohne Umschweife das Verfahren gegen Piesicke und Bredernack wegen Verdachts des illegalen Handels mit Porzellan abnahm. Seine Bemerkung, lieber Tag und Nacht hinter den
Kleinviehdieben her zu sein, statt sich noch länger mit solchen Ganoven wie dem Piesicke rumzuärgern, klang ehrlich. »Ich hatte den Vorgang schon so gut wie abgeschlossen«, erklärte er, »auch wenn die beiden nicht sagen wollten, wo das Porzellan her war. Für eine Verurteilung hätte es gereicht. Da trudelte dieser an den Polizeipräsidenten gerichtete Brief bei mir ein. Er las sich wie eine Story aus einem billigen Schmöker. Die beiden Porzellanschieber sind keine Porzellanschieber, sondern Holzschieber und gehören einer weitverzweigten Holzschieberbande an. Der Boß ist ein Zar und wohnt in Westberlin. Für ihn laufen zwei große Lastzüge mit Anhängern. Mit gefälschten Durchreisepapieren verschieben sie jede Woche acht Anhänger mit Brettern und anderem Schnittholz aus der DDR nach Westberlin. Das soll folgendermaßen vor sich gehen: Die Motorwagen fahren mit je zwei Hängern leer in Westberlin ab. Unterwegs lassen sie die leeren Hänger auf einem Parkplatz an der Autobahn stehen. Die Motorwagen fahren nach Bayern weiter, mit Papieren nur für die Motorwagen. In Bayern werden die Motorwagen mit billigem Holz beladen und fahren wieder zurück. Inzwischen haben die Anhänger auf den Parkplätzen polizeiliche Kennzeichen der DDR erhalten, wurden zu Sägewerken gebracht und beladen. Die vollen Anhänger mit dem geschobenen Holz nehmen dann die Motorwagen vom Parkplatz an der Autobahn wieder mit nach Westberlin. Für jeden Anhänger voll Holz sollen die Schieber hier bei uns dreitausend Westmark erhalten. Das Geld wird für sie auf einer Bank in Westberlin eingezahlt. Über ein Jahr sollen die Schiebereien schon gehen. Piesicke und Bredernack sollen die Vertrauensleute des Holz-Zaren sein. Sie organisieren angeblich den Aufkauf und den Transport. In dem Schreiben, ich habe es in der Akte abgeheftet, sind auch die Namen der Sägewerksbesitzer, der Holzhändler und der Fuhrunternehmer aufgeführt, die angeblich zu der Schieberbande gehören.« Rückert blätterte in der Akte, ohne sich ein Wort von Wermich entgehen zu lassen. Noch während Wermich berichtete, schrieb er auf einen Zettel ein paar Zahlen: »Unter Zugrundelegung von fünfzig Arbeitswochen im Jahr macht das eine runde Summe von 1,2 Millionen Westmark für verschobenes Holz aus.«
»Auf die Summe bin ich auch gekommen«, bestätigte Wermich. »Ihre Meinung, Kamerad Wermich?« fragte Maresch. »Als ich den Brief des anonymen Schreibers das erste Mal gelesen hatte, dachte ich an Hirngespinste eines überdrehten Krimilesers. Später… na, diesen Ganoven ist alles zuzutrauen!« »Warum sprechen Sie die ganze Zeit von Ganoven?« unterbrach ihn Maresch. »Erkläre ich dir!« meldete sich Rückert, von der Akte aufsehend, »eine treffendere Bezeichnung für Emil Piesicke wird es kaum geben. Sein Strafregisterauszug ist eine kuriose Seltenheit. Piesicke ist dreiundfünfzig Jahre alt, kann aber dreiundsechzig Jahre Zuchthausstrafe aufweisen.« Maresch blickte seinen Mitarbeiter an, als zweifelte er an dessen Verstand. »Rechne nach!« fuhr Rückert fort, »1919 hat er zwölf Jahre wegen Kirchenraubs bekommen, 1923 wurde er begnadigt und fing 1924 wegen schweren Raubs sechs Jahre Zuchthaus ein. So geht es bis 1945«, amüsierte sich Rückert. »Gibt es einen Beweis oder einen Hinweis, ob die Angaben in den Briefen des anonymen Schreibers zutreffen?« wandte sich Maresch an Wermich. »Nein«, antwortete er, »weder die Inhaftierten noch die Sägewerksbesitzer oder Holzhändler, die ich befragt habe, sagten etwas aus. Bredernack bekam ein grünes Gesicht, als ich ihm die Holzschiebereien auf den Kopf zusagte. Aber das will nichts besagen. Der hatte sich schon bei der Festnahme in die Hosen gemacht. Piesicke lachte mir frech ins Gesicht und meinte, den Holz-Zaren hätte ich wohl aus dem Märchenbuch. Bei den Vernehmungen der Sägewerksbesitzer hatte ich Fotos von den Ganoven gezeigt. Keiner wollte sie kennen oder auch nur gesehen haben. Um sicherzugehen, habe ich bei fast allen die Holzbestände kontrollieren lassen. Kein Brett fehlte. Einschlag, Ablieferung und Bestände stimmen bei jedem. Was sollte ich weiter machen? Angenommen, der Brief ist eine Provokation. Alles fein ausgeklügelt, damit wir bei den Sägewerksbesitzern Ermittlungen führen. Die sind schuldlos, bekommen Angst und hauen
nach Westberlin ab. Dann haben die drüben wieder was für ihre Propaganda und wir das Nachsehen. Ich bin froh, wenn ich dieses Verfahren abgeben kann. Solche Schwierigkeiten habe ich mit meinen Karnickeldieben nicht.« Maresch zog wie immer, wenn er unschlüssig war, am Knoten seines Binders. Solange Wermich im Zimmer war, hatte er sich nichts anmerken lassen. Jetzt polterte er los: »Wir sind eine Spezialkommission. Nur weil es in den letzten Wochen keinen Mord und keinen Totschlag gab, müssen wir Brettern nachlaufen, von denen niemand weiß, ob sie überhaupt da waren.« »Bleib ruhig! Ich habe mich damit abgefunden. Entweder wir kommen groß raus oder bekommen einen aufs Dach, daß uns Hören und Sehen vergeht.« »Drücke dich gefälligst deutlich aus!« »Entweder wir klären ein großes Wirtschaftsvergehen auf oder geben, wie Wermich richtig voraussieht, den Anlaß für ein Dutzend Republikfluchten. Das letztere ist wahrscheinlicher als das erste. Es gibt noch eine dritte Variante. Für uns ohne Komplikationen. Wir geben Wermich den Vorgang zum Abschließen zurück. Dem Alten erzählst du: Alles geprüft, die Briefe sind eine Provokation!« »Für welche hast du dich entschieden?« »Ich bin für die mit dem Risiko! Aber denke nicht, daß ich leichtsinnig meine Dienstlaufbahn aufs Spiel setze. Mir fielen gerade meine Betten ein. Erbstück von den Großeltern meiner Frau. Die alten Leutchen hatten es gut gemeint. Leider haben sie auch die Holzwürmer mitgegeben. Ein Spaß ist es nicht, mitten im schönsten Schlaf mit einem Krachen nach unten zu segeln. Jedesmal, wenn es krachte, das kam fast jede zweite Nacht vor, mußte ich mir vom unteren Nachbarn anzügliche Bemerkungen gefallen lassen. Einen Tischler habe ich mir geholt. Der zog wieder ab, weil in den Wurmlöchern kein Nagel mehr hielt. Neue Seitenbretter war sein Gutachten. Er hatte keine Bretter. Ich konnte auch keine auftreiben, dafür liegt meine Matratze jetzt auf ein paar Backsteinen. Wenn ich daran denke, acht Hänger voll jede Woche…« »Komm, gehen wir!« war alles, was Maresch auf Rückerts Bettgeschichte sagte.
»Wohin?« »Zur Haftanstalt. Diese Berliner Pflanze, die zehn Jahre mehr Knast als Lebensjahre auf dem Buckel hat, muß ich kennenlernen!« Alte Haftanstalten, in denen noch der Kübel in der Zellenecke steht, können nicht wie ein Parfümladen riechen. Die Ausdünstungen, vermischt mit scharfem Desinfektionsgeruch, ergaben einen lang anhaltenden penetranten Gestank, der sich in den Wänden ebenso festsetzte wie in den Kleidern der Inhaftierten und den Uniformen der Justizwachtmeister. Die mit drei Stühlen und einem Tisch ausgerüstete Besucherzelle machte davon keine Ausnahme. Am liebsten hätte Rückert sein bestes Stück, die helle Windjacke, ins Auto gebracht. Dafür war es zu spät. Unzählige Türen hätten auf- und zugeschlossen werden müssen. Ihn tröstete die Tatsache, daß auch der hellgraue Kammgarnanzug des schönen Erwin den gleichen Geruch annehmen mußte. Auf dem Flur waren Schritte und ein schepperndes Schlüsselbund zu hören. Emil Piesicke mußte einen schnellen Schritt in die Zelle machen, sonst hätte er die Zellentür ins Kreuz bekommen. Der Justizwachtmeister mit der Dienstbezeichnung »Schließer« war sicher in seiner Mittagspause gestört worden. Die Tür fiel ins Schloß, und Rückert merkte mit Erstaunen, daß er gemeinsam mit dem schönen Erwin vorläufig selbst Gefangener des Hauses war. Von innen ließ sich die Tür nicht mehr öffnen. Ohne Schweißbrenner war auch den Gitterstäben vor dem Fenster nicht beizukommen. Nach dem langen Schritt, der Piesicke beinahe stolpern ließ, legte er seine Hände an die Hosennaht und meldete: »Untersuchungshäftling Emil Piesicke zur Vernehmung!« Wenn seine Filzlatschen nicht gewesen wären, hätte er bestimmt hörbar die Hacken zusammengeknallt.
Maresch winkte ab: »Wenn wir unter uns sind, können Sie sich den Zirkus sparen. Ick bin keen Justizwachtmeester. Nehmen Sie sich eenen Stuhl«, berlinerte er wild darauflos. Rückert bekam beinahe einen Schluckauf. Was hatte sich der schöne Erwin nun wieder ausgedacht? Mit dem grauhaarigen Opa in Filzlatschen und braunmelierter Strickjacke, dem niemand dreiundsechzig Jahre Zuchthaus zugetraut hätte, war bei Mareschs Worten eine Veränderung vorgegangen. Für den Bruchteil einer Sekunde riß er die Augenlider hoch. Sein nächster Blick streifte Rückert, als wollte er fragen: Und was bist du für einer? Piesicke hatte auf dem Stuhl Platz genommen. Seine äußerliche Ruhe konnte eine gespannte Erwartung nicht ganz verbergen. »Zigarette?« reichte Maresch eine offene Schachtel der »Sorte 1« über den Tisch. Piesicke grinste, schüttelte den Kopf: »Ick hab’ meine eigenen mit«, und holte aus seiner Hosentasche eine fast volle Schachtel »Camel«. Gegen ein Streichholz aus Riesa hatte er nichts. Da hat sich der schöne Erwin ja auf was eingelassen, ging es Rückert durch den Kopf. Keiner von beiden sprach ein Wort. Taxierten sich ab, wie Boxer in einem Ring. Dabei stießen sie den Rauch aus den Lungen, als säßen sie beim Soldatenkönig im Tabakskollegium. Der Rauch des Tabaks von Schwedt an der Oder vermischte sich mit dem aus Kentucky in der Zelle zu einer einheitlichen Wolke. Ob er wollte oder nicht, der schöne Erwin mußte mit dem Geplänkel – von einer Vernehmung konnte so unvorbereitet keine Rede sein – beginnen. »Alles in Ordnung?« begann er. Piesicke ließ zwischen zwei Zügen ein undeutliches »Ja« vernehmen. »Wir«, wies Maresch mit einer Handbewegung auf Rückert, »haben die Bearbeitung Ihrer Sache übernommen!« Lauernd sah Piesicke auf Maresch, jedes Wort überlegend: »Ick denke, die Akte ist schon beim Staatsanwalt?«
»Wegen ener Blumenvase? Meinen Sie, Piesicke, ick komme wegen ener Vase hierher? Ein paar Wochen wird es noch dauern, bis alles erledigt ist.« Piesickes Pupillen wurden groß. Er starrte auf Maresch, als wollte er ihn hypnotisieren. »Wat ick zu sagen habe, steht schon alles im Protokoll.« In seinen Augen stand eine stumme Frage. »Die Protokolle sind geschenkt«, machte Maresch eine abwartende Handbewegung. »Wat wollen Sie denn?« fragte Piesicke unsicher. »Sie kennenlernen! Man muß doch wissen, mit wem man es zu tun hat«, ließ sich Maresch nicht aus der Reserve locken. »Für heute genügt es.« Er erhob sich und drückte den Klingelknopf. Piesicke stand auf und stellte sich neben die Tür. Mit einem so kurzen Besuch hatte er nicht gerechnet. Gar nichts hatte er erfahren, nicht die kleinste Bestätigung seiner Vermutung. Das Schlüsselbund klirrte schon, als er sich zu einer Frage durchrang: »Sind Sie meinetwegen von Berlin gekommen?« »Spielt es eine Rolle, woher wir sind?« knöpfte Maresch seine Jacke zu. Das Schnappen des Schlosses und das brummige Gesicht des Schließers enthoben Maresch einer weiteren Antwort. Piesicke warf noch einen langen Blick auf Maresch, bevor er die Zelle verließ. War es die Musterung, das Abtaxieren eines Gegners oder…? »Du hast nicht einmal den Mund aufgemacht«, warf Maresch seinem Mitarbeiter vor. »Soll ich vielleicht auch noch anfangen zu berlinern? Du hättest dich mal hören sollen. Mir genügt es, die Visage von dem Ganoven zu beobachten.« »Und was hast du darin gesehen?« »Unsicherheit und einen Schimmer von Hoffnung. Klar ist mir allerdings nicht, worauf er hofft. Der erwartet etwas von dir, als Berliner!« »Traust du dem Piesicke die Holzschiebereien zu?« »Zutrauen auf alle Fälle! Bloß zum Reden werden wir den kaum bringen. Laß uns erst den anderen Kuckuck hören!«
Nach dem Rasseln der Schlüssel stand der Kuckuck wie vorher Piesicke in der Zelle. Sein dunkelblauer Kordanzug hatte viel von seinem Glanz verloren. Möglich, daß die Waschmittel in der Haftanstalt daran schuld waren. Jedenfalls roch seine Hose nicht mehr individuell. Sie hatte wie alles andere den Geruch der Haftanstalt angenommen. Zu einem Generalssohn gehörten militärische Disziplin und Tonart. Maresch verwendete die gleichen Worte wie bei Piesicke, aber sie klangen diesmal wie ein Befehl an einen Rekruten: »Setzen Sie sich!« Was für ein ungleiches Gaunerpaar! Bei Piesicke gelassene Ruhe mit einem Schuß Erwartung, während diesem die nackte Angst aus den braunen Kulleraugen fiel. »Wie sind Sie zu der Bekanntschaft dieses Piesicke gekommen?« blieb Maresch bei seinem abgehackten militärischen Ton. »In Berlin wurde er mir vorgestellt!« kam zaghaft die Antwort. »Wo und von wem?« War dem Jüngling das Lügen nicht geläufig, oder fehlte ihm eine Ausrede auf die schnelle Frage? Seine Schultern zuckten, als heule er. Sein Kopf fiel herunter, um Maresch nicht anblicken zu müssen. »Sehen Sie mich an und antworten Sie auf meine Frage!« bellte Maresch wie ein preußischer Unteroffizier. Bredernack hob den Kopf: »Darüber verweigere ich die Auskunft!« Seine Lippen zitterten. »Sperren Sie mich ein, solange Sie wollen, ich sage kein Wort!« Rückert fiel vor Überraschung beinahe der Füllfederhalter aus der Hand. Nichts sagen wollen kam einem Globalgeständnis gleich. Er gab Maresch einen Wink. Laß mich weitermachen, bedeutete er. »Es ist Ihr Schaden, Herr von Bredernack, wenn Sie schweigen. Sie werden mit dem Berufsverbrecher Piesicke und einigen anderen auf der Anklagebank sitzen. Verstockten Tätern wird das Gericht kaum mit Milde und Nachsicht entgegenkommen. Sind Sie sicher, daß Piesicke auch geschwiegen hat? Mit dreiundsechzig Jahren Zuchthausstrafen hat er seine Erfahrungen und kennt den Zeitpunkt, wann die Wahrheit gesagt werden muß!«
Die Ermahnungen Rückerts, seine Anspielungen auf Piesicke blieben nicht ohne Eindruck auf Bredernack. Er rang mit sich, setzte zum Sprechen an und preßte die Lippen wieder zusammen. »Ich kann nicht sprechen!« stammelte er. Rückert trat dicht an Bredernack heran: »Gut, schweigen Sie weiter! Es ist Ihre Angelegenheit. Beantworten Sie mir nur eine Frage: Vor wem haben Sie Angst?« »Da fragen Sie noch? Sie kennen doch Piesicke. Wenn ich rede, machen die mich kalt! Machen Sie mit mir, was Sie wollen, ich sage kein Wort!« Ein warnender Blick Mareschs genügte, damit Rückert verstand: Aufhören, es reicht! »Der hat mehr Angst vor Piesicke und Konsorten als vor der zu erwartenden Strafe«, faßte Rückert zusammen, nachdem Bredernack von dem schlüsselrasselnden Justizwachtmeister in seine Zelle begleitet worden war, »in vierzehn Tagen ist er von seiner Angst so aufgefressen, daß er froh sein wird, sprechen zu dürfen!« »Nicht, wenn er in der Nähe von Piesicke bleibt. Wer im Knast amerikanische Zigaretten zum Rauchen hat, findet auch Mittel und Wege für Kassiber. Bredernack wird heute noch in eine andere Haftanstalt verlegt!« bestimmte Maresch. Seit Tagen waren Oberkommissar Maresch und sein Mitarbeiter unterwegs. Sie klapperten Sägewerke rechts und links des Saaletales ab, deren Besitzer sich – nach dem anonymen Schreiberling – für das Holz in Westberlin die Nasen vergolden ließen. »Bei diesen Ermittlungen lerne ich Ecken unserer Heimat kennen, die ich sonst nie zu sehen bekommen hätte«, meinte Rückert, als er den Wagen in eines der schmalen bewaldeten Seitentäler steuerte. Der schöne Erwin gab sich ganz dem Genuß der Fahrt hin. Ihn schien es nicht zu stören, daß sie trotz der verfahrenen Kilometer bisher nicht weiter gekommen waren als Wermich. Bei den Besuchen in den Sägewerken war er in seinem Element. Kein lautes Wort, keine Vorhalte, keine Beschuldigungen, nur höfliche Fragen, ob Piesicke und Bredernack
zu dem Bekanntenkreis gehörten. Gelassen und verständnisvoll nahm er von jedem die Antworten entgegen. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Keiner der Aufgesuchten kannte die Namen Piesicke oder Bredernack. Jeder bezeichnete es als unmöglich, auch nur ein Brett aus dem streng rationierten Kontingent abzuzweigen. Vor Wochen habe ein junger Kriminalist mit dem gleichen Anliegen vorgesprochen. Sie konnten auch jetzt keine andere Antwort geben. Mareschs Höflichkeit, sein Auftreten, als ob es ihm peinlich sei, den ehrsamen Betriebsbesitzern mit solchen Bagatellen zu kommen, hatte einen Vorteil: Sie fühlten sich sicherer denn je zuvor. Ihre Gedanken über die Intelligenz der beiden Kriminalisten, wenn diese weiterzogen, waren bestimmt nicht schmeichelhaft. Und doch ging ihre Rechnung nicht auf. Da waren nicht nur die immer parat liegenden Antworten auf Mareschs Fragen, die die Kriminalisten belustigten, sondern auch die Art und Weise ihres Empfangs. Es gab untrügliche Zeichen, daß ihr Besuch angekündigt wurde. Die Arbeiter in den Sägewerken schienen in den Urlaub geschickt zu sein. Familienangehörige lugten versteckt hinter den Gardinen hervor, und immer stand auf dem Hof oder am Eingang des Betriebes der Besitzer, um die Besucher in Empfang zu nehmen. Niemals war es jemand anderes, auf den die Kriminalisten zuerst trafen oder mit dem sie ins Gespräch kamen. Einen Erfolg konnten sie schon verbuchen: Keiner der Aufgesuchten hatte bisher seine Koffer gepackt und war verschwunden. »Die Sägewerke und die Holzhändler haben wir nun fast durch«, empörte sich Rückert. Über eine Woche waren sie im Thüringer Wald und seinen Ausläufern unterwegs gewesen. »Was willst du mit diesen Höflichkeitsbesuchen erreichen? Wie lange soll dieses Katz-und-Maus-Spiel noch gehen? An unsere Spesenrechnung für Übernachtungen und den verfahrenen Sprit will ich gar nicht denken. Wenn wir uns eine Nacht lang den Bredernack richtig vornehmen, packt der aus!« »Darum geht es ja! Wir kennen alle Verdächtigen jetzt persönlich, ihr Aussehen, wie sie sich geben. Nur gestützt auf solche Kleinigkeiten wird unser Bluff gegenüber Bredernack, alles zu wissen, wirken. Die letzten beiden auf deiner Liste, den Fuhrunternehmer und den Holzhändler in Tiefenbach, suchen wir auch noch auf.«
In der Fuhrwerksbranche schien es mit Aufträgen schlecht bestellt zu sein. Wie anders sollte es sonst gedeutet werden, daß nicht nur der Fuhrunternehmer Ewald Wutzier, andere Kraftfahrer beschäftigte er nicht, und seine Ehefrau, die das Taxi des Familienunternehmens fuhr, in der elften Stunde am Vormittag zu Hause saßen und Däumchen drehten. Die Hosen im Geschäft schien Wutzier nicht anzuhaben. Seine Ehefrau war mit den Antworten auf Mareschs Fragen immer um eine Sekunde schneller als der Inhaber. Der Psychologe Rückert, daran gewöhnt, in den Augen anderer zu lesen, konnte vorerst pausieren. Die mächtige Hornbrille mit den auffällig dicken Augengläsern auf Wutzlers Nase ließ nicht einmal die Augenfarbe erkennen. Maresch spulte seine Fragen ab. Nannte Namen und Adressen der Sägewerksbesitzer und Holzhändler, für die Wutzier die Schiebertransporte von der Autobahn durchgeführt haben sollte. »Nein, nie gehört! Völlig unbekannt«, wiederholten sich die Antworten der Frau. Sie mußte es ja wissen, weil sie die Bücher führte. »Außerdem«, fuhr Frau Wutzier ungefragt fort, »müssen wir bei der Fahrt in einen anderen Kreis Fahraufträge für den dortigen Kreis haben.« »Ohne Fahrauftrag würde ich nie in einen anderen Kreis Transporte durchführen«, betonte Ewald Wutzier. »Wo sollte ich auch das Benzin hernehmen? Die Kraftstoffzuteilung wird streng nach den Fahraufträgen berechnet!« Rückert machte sich wie immer Notizen oder tat so. Die Augen des Mannes waren ihm verborgen geblieben. Die Schweißtropfen auf der Stirn nicht, die mit jeder Frage Mareschs runder und dicker wurden. Dabei war es im Wohnkontor, wo sie sich unterhielten, angenehm kühl. Bei der Verabschiedung konnte Wutzier ein Aufatmen nicht unterdrücken. Rückert nahm es zum Anlaß, ohne vorherige Abstimmung mit Maresch ihre Grundsätze über den Haufen zu werfen. »Wir gehen jetzt«, sagte er in leichtem Plauderton, »hoffentlich haben Sie sich Ihre Antworten gut überlegt. Sollten wir uns noch einmal begegnen müssen, dann nur, um Sie mitzunehmen!« Die Folge von Rückerts Entgleisung war ein neuer Schweißausbruch.
»Du bist verrückt«, schimpfte Maresch auf der Straße, »wir haben ausgemacht, nur mit Samthandschuhen zu arbeiten. Du drohst mit dem Einsperren! Zur Strafe müßtest du die Nacht vor der Bude Posten stehen. Morgen früh ist der bestimmt über die Wipper!« »Der nicht! Dazu hat der keine Courage. Seine Frau läßt ihn nicht fort. Das ist eine von der Sorte, die ihren häuslichen Waschlappen lieber ein paar Jahre hinter Gittern sieht, als ihn auf Nimmerwiedersehen verduften zu lassen!« »Hoffentlich hast du recht!« Rückert hatte sich dem Studium der Autokarte zugewandt. Der Weg nach Tiefenbach, wo der Holzhändler Breitmeier wohnte, interessierte ihn mehr als Mareschs Bedenken über eine Flucht des Fuhrunternehmers. »Bis Tiefenbach über die Dörfer sind es rund fünfundsechzig Kilometer. Auf der Autobahn wird es mehr!« schloß er das Thema Wutzier ab. In einem schmalen Tal gelegen und von hohen Nadelwäldern eingebettet, strahlte das Dörfchen Tiefenbach weltabgeschiedene Ruhe aus. Fast undenkbar, daß ein Schatten von Kriminalität auch hierher gefallen sein sollte. »Am Rande des Dorfes. Das neue Holzhaus auf der rechten Seite«, antwortete eine Frau auf ihre Frage nach dem Wohnsitz des Holzhändlers. Es war nicht zu übersehen. Aus dunklem, naturfarbenem Holz gebaut, erhob sich auf dem mit Rasen und niedrigen Büschen bewachsenen Hang ein kleines Landhaus. Holzhandel schien ein lukratives Geschäft zu sein, jedenfalls, was die Eigenversorgung betraf. Alles war neu. Die gerade erst gepflanzten Obstbäumchen, der hellgraue Gartenzaun aus geschältem Stangenholz, das schmucke Landhaus selbst. Eine Glocke von frischem Harzgeruch umgab das Anwesen. Der schöne Erwin hielt seine Rolle bis zum Schluß durch. Einem liebesschmachtenden Tenor gleich erhob er seine Stimme, als die Hausfrau die Tür öffnete. Nur einen winzigen Augenblick bat er stören zu dürfen. Maresch hatte durchschlagenden Erfolg. Ohne nach Namen und Anliegen gefragt zu werden, führte die Frau sie durch die Diele in das Ar-
beitszimmer des Hausherrn. War schon das Äußere des Hauses die Visitenkarte eines wohlhabenden Holzhändlers, ließ erst die Innenausstattung ahnen, welcher Reichtum unter der borkigen Rinde der Waldbäume verborgen war. Es gab keine Wand, die nicht mit Edelhölzern verkleidet gewesen wäre. Als künstlerische Intarsienarbeit präsentierte der Parkettfußboden die Farben aller edlen Hölzer. Die schlanke Hausherrin, ihre Augen kaum von dem schönen Erwin abwendend, war befriedigt über den Eindruck, den ihr Reich bei den Besuchern hervorrief. Abgestimmt mit den Wänden und dem Fußboden waren die Möbel im Arbeitszimmer. Als Prunkstück präsentierte sich ein großer, meisterhaft gearbeiteter Schreibtisch. Die lackierte Tischplatte war leer, nur eine kunstvoll aus Holz geschnitzte Schreibtischgarnitur mit Jagdmotiven zierte sie. »Bitte nehmen Sie Platz«, wies die Frau auf ein paar große lederne Sessel, ohne dabei einen Blick vom schönen Erwin zu lassen, »was kann ich für Sie tun?« Möglich, daß es im Dorf nicht viele Männer gab, die sich mit dem schönen Erwin messen konnten. Die nicht uninteressant aussehende Mittvierzigerin, in Maresch einen Geschäftsfreund ihres Mannes vermutend, erhoffte vielleicht einen kleinen Flirt, in allen Ehren selbstverständlich. Von Rückert in seiner ausgebeulten Hose und Windjacke nahm sie keine Notiz. Ein Kraftfahrer, der seinen Herrn über Land fuhr. Bis zu diesem entlegenen Dorf hatte allem Anschein nach das Warnsystem, mit dem ihr Kommen immer angekündigt worden war, nicht funktioniert. »Ihren Gatten hätte ich gern gesprochen«, flötete Mareschs Tenor. »O wie schade!« sagte sie mit einem Augenaufschlag, »es tut mir leid. Mein Gatte ist verreist. Waren Sie mit ihm verabredet?« »Nicht direkt«, druckste Maresch, »es handelt sich um ein paar abschließende Fragen. Sie stehen im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen zwei Westberliner Schieber. Das Verfahren soll in den nächsten Tagen abgeschlossen werden. Ich wollte mir lediglich die Aussagen Ihres Mannes bestätigen lassen, die er vor einiger Zeit in dieser Sache gemacht hat.« »Sie sind von der Kripo?« Kein Augenaufschlag mehr. Aufgeregt umklammerten ihre Hände die Lehne des Sessels.
»Regen Sie sich bitte nicht auf«, flötete Maresch weiter, »die Angelegenheit hat sich eigentlich schon erledigt. Es genügt auch, wenn Ihr Gatte nach seiner Rückkehr bei mir anruft.« Um den Anschein der Harmlosigkeit des Besuches zu verstärken, griff er in seine Brusttasche, holte eine gedruckte Visitenkarte hervor und schrieb seine Telefonnummer auf. Frau Breitmeier nahm wortlos die Karte entgegen und steckte sie in den geschnitzten Brief Ständer auf dem Schreibtisch zu einigen anderen Papieren. »Wann kann ich mit dem Anruf Ihres Gatten rechnen?« fragte Maresch. »In zwei oder drei Tagen, denke ich«, sagte sie unsicher. Maresch tat, als überlege er. »Vielleicht kann ich mich vorher mit Ihrem Gatten verständigen?« Sie zögerte mit ihrer Antwort und meinte dann: »Kaum, mein Mann ist bei seiner Schwester in Westberlin. Sie hat kein Telefon.« Unempfindlich geworden gegen den Schmelz in der Stimme des schönen Erwin stand sie auf. Eine stumme Aufforderung an die Männer, das Haus zu verlassen. Rückert griff nach seiner Aktentasche neben dem Sessel. Beim Aufstehen passierte es! Tolpatschig stieß er mit der Tasche gegen den Briefständer auf dem Schreibtisch. Wie nach einem Windstoß flatterten Zettel und Post einschließlich der Visitenkarte des schönen Erwin auf den Parkettfußboden. Der wertvolle Brief Ständer war zum Glück ganz geblieben. Die Frau des Hauses, ganz Dame, übersah die Tolpatschigkeit des Kriminalisten. Sollte er sich nur bücken und alles wieder aufheben. Der Oberkommissar hätte besser daran getan, seinen Kraftfahrer draußen warten zu lassen. »Du spielst nicht nur den Stinkvornehmen. Du bist einer! Gedruckte Visitenkarte! So etwas nennt sich Volkspolizei«, rief Rückert außer Hörweite des Hauses aus. »Klappern gehört zum Handwerk. In den Kreisen, in denen wir jetzt verkehren, wirkt eine Visitenkarte mehr als die Kriminaldienstmarke. Aber beruhige dich wieder. Ich habe die Karten nicht drucken lassen. Sie
sind aus der Hinterlassenschaft meines Cousins, dessen Anzüge ich auftrage. Er hatte den gleichen Vornamen.« Hinter einer Holzbrücke, die den Bach überspannte, der dem Dorf den Namen gab, fuhr Rückert rechts ran und hielt an. »Kein Benzin mehr?« erkundigte sich Maresch. »Pause!« sagte Rückert lakonisch, »außerdem muß ich eine Beichte ablegen.« »Hier auf dem Weg, mitten im Wald?« »Kann sein, du schickst mich mit einer Visitenkarte zu der Strohwitwe zurück. Dann habe ich es nicht zu weit.« »Spann mich nicht auf die Folter, beichte endlich!« »Ich habe heimlich etwas mitgenommen, ohne ein Beschlagnahmeprotokoll dazulassen! Ein Protokoll wäre zwar schnell ausgefüllt gewesen, aber dann hättest du keine Aussicht mehr, von Breitmeier angerufen zu werden.« »Zeig schon!« Rückert kramte in seiner Hosentasche, holte ein Stückchen zerknittertes Papier hervor und strich es glatt. Mit der Bemerkung »Objektives Beweismaterial Nummer eins« reichte er Maresch den perforierten Teil eines Vordruckes. »Wo hast du das her?« staunte Maresch. »War im Briefständer, neben deiner Visitenkarte! Den Namen Wutzier auf dem Abschnitt konnte ich gerade noch erkennen. Es ist der untere Teil eines Fahrauftrages. Er verbleibt als Quittung bei dem, für den die Fahrt oder der Transport durchgeführt wurden. Vor ein paar Stunden hat Wutzier kategorisch abgestritten, Breitmeier zu kennen oder für ihn Transporte durchgeführt zu haben. In der Vernehmung von Breitmeier, die Wermich durchgeführt hat, steht ähnliches. Auch er will Wutzier nicht kennen. Beide haben gelogen!« »Bewahr es gut auf. Die Verantwortung für deine Ungesetzlichkeit trage ich gerne. Jetzt ab zu Wutzier! Ich überlasse ihn dir. Kannst dein Versprechen, ihn mitzunehmen, einlösen.«
Die Fenster von Wutzlers Kontorwohnzimmer waren von der Straße aus einzusehen. »Er ist noch da. Sitzt mit seiner Frau am Tisch und bläst Trübsal. Ob er uns erwartet?« sagte Rückert nach einem Blick in das erleuchtete Zimmer. Wutzier wankte etwas, als er die Besucher vom Vormittag erkannte. Stumm führte er die Kriminalisten in das Wohnzimmer. Rückert setzte sich an den Tisch, Maresch hielt sich im Hintergrund des Zimmers auf. »So, da wären wir wieder«, sagte er trocken. »Sie können sich setzen«, forderte er das Ehepaar auf. »Erinnern Sie sich noch an meine Worte, heute vormittag? Ich sagte, wenn wir wieder vorbeikommen, dann nur, um Sie mitzunehmen. War auch für uns eine Überraschung, so schnell unser Versprechen einlösen zu müssen. Haben Sie Kinder?« »Zwei, einen Jungen und ein Mädel, zehn und zwölf Jahre alt«, brachte Wutzier mühsam hervor. »Gehören andere Personen zu Ihrem Haushalt?« »Nein, was wollen Sie von unseren Kindern?« fragte die Frau mit unterdrückter Angst in der Stimme. »Wenn Sie niemanden haben, müssen wir für die Unterbringung der Kinder sorgen. Auch Sie, Frau Wutzier, werden Ihrem Mann Gesellschaft leisten müssen. Leider sprechen unsere Beweise«, dabei klopfte Rückert auf seine Tasche, »auch gegen Sie!« »Meine Herren, was soll das bedeuten?« raffte Wutzier seine Energie zusammen, »wir haben doch nichts verbrochen!« »Wir und auch der Staatsanwalt haben eine andere Meinung! Sie haben uns und unseren Kameraden Wermich nach Strich und Faden belogen. Ihre Chancen sind verspielt. Packen Sie Ihre Toilettensachen ein!« »Meine Herren!« begann Wutzier erneut. Schweiß rann von seiner Stirn. Er nahm seine Brille ab und polierte die dicken Gläser. »Meine Herren, warten Sie doch. Nur ein paar Minuten. Es läßt sich alles klären!« »Gut, auf ein paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an!« erwiderte Rückert.
Wutzier suchte nach Worten, setzte zum Sprechen an und biß sich auf die Lippen. »Ich warte!« sagte Rückert in die Stille. Nach einem tiefen Atemholen stieß Wutzier heraus: »Verschonen Sie meine Frau! Geben Sie mir Ihr Versprechen, meine Frau aus der Sache herauszulassen!« Mit einemmal war Rückerts Spannung verflogen. Wutzier gab auf, schneller als erwartet. Jetzt Entgegenkommen zeigen, ohne Versprechen abzugeben, und Wutzier würde endlich auspacken. Sie hatten gesiegt, ohne ihr einziges dürftiges Beweisstück auf den Tisch legen zu müssen. Einen Nervenstarken, wie Piesicke zum Beispiel, hätte auch das Stückchen Papier nicht zum Sprechen gebracht. Der hätte sich mit einem Irrtum herausgeredet. »Ein solches Versprechen können wir nicht geben! Wer unsere Gesetze verletzt, hat sich zu verantworten«, sagte Rückert, und mit einem Blick in die steinernen Gesichter der Eheleute fuhr er fort: »Natürlich ist der Grad und der Anteil der Schuld entscheidend. Ich bin überzeugt, Kossmann aus Thuneburg, nur um ein Beispiel zu nennen, hat das Holz nicht ohne Wissen seiner Ehefrau verschoben. Wie könnte er anders seine Reisen nach Westberlin und die Einkäufe für Westgeld erklären. Wir halten uns an Herrn Kossmann. Er ist für seine Schiebereien verantwortlich. Er wird neben Ihnen auf der Anklagebank sitzen«, erklärte Rückert so überzeugend, als säße Kossmann schon. Wutzier richtete sich auf: »Ich nehme alles auf mich. Meiner Frau habe ich erst später von diesen Geschäften erzählt. Sie hatte keine Ahnung!« Zu seiner Frau sagte er: »Hole sie runter!« Diesmal hatte Wutzier die Kriminalisten in Überraschung versetzt. Frau Wutzier stieg auf einen Stuhl und griff nach einer großen Blumenvase, die auf dem Schrank stand. Ähnlich der Vase, derentwegen Emil Piesicke und Bredernack ihren Haftbefehl erhielten. Rückert war drauf und dran zu explodieren. Wollte der Wutzier sich auch hinter dem Märchen von Porzellaneinkäufen verbarrikadieren? Die Frau hatte die große Vase mit der armdicken Öffnung vor ihren Mann auf den Tisch gestellt. Wutzlers Hand verschwand in der Öffnung
und zog mehrere mit Maschine beschriebene Seiten Papier hervor, die zusammengerollt mit einem Bändchen umwickelt waren. »Meine Herren!« begann Wutzier mit der Rolle in der Hand wie vor einem Tribunal, »ich bin ein Freund der Polizei! Nur um die Polizei zu unterstützen, habe ich mich mit den Verbrechern eingelassen. In dieser Niederschrift«, er hob die Rolle hoch, »steht alles, was diese Bande verbrochen hat. Jede Einzelheit, mit Datum und Uhrzeit, ist darin niedergeschrieben. Sie finden jedes Detail. Wann welcher Sägewerksbesitzer eine Ladung Holz verschoben hat genauso wie die Parkplätze an der Autobahn, von denen durch den Holz-Zaren die Hänger abgefahren wurden. Für die Sägewerke, die keine eigenen Zugfahrzeuge besitzen, habe ich den Transport mit meiner Zugmaschine übernommen. Nur in der Absicht, der Polizei stichhaltiges Beweismaterial zu verschaffen. Als weitere Beweise habe ich die mir zugesandten chiffrierten Telegramme aus Berlin von Piesicke und Bredernack mit beigelegt. Sehen Sie hier dieses«, er nahm ein Telegrammformular aus der Vase und reichte es Rückert, »hier steht: ›Die Beerdigung von Onkel Otto findet am 21. Juni um 9.15 Uhr auf dem Nordfriedhof, Grabstelle 183, statt. Bitte benachrichtige Onkel Werner! Emil.‹ Das Telegramm ist von dem Verbrecher Piesicke. Danach hatte ich mit meiner Zugmaschine am 21. Juni um 21.15 Uhr, weil die angegebene Tageszeit gleich Nachtzeit ist, auf dem Parkplatz der Autobahn bei Kilometer 183 zu sein. Dort standen die beiden Anhänger, die der Motorwagen von Westberlin mitgebracht hatte. Ich mußte die Westberliner Nummernschilder gegen die von meinen Anhängern auswechseln. Der Onkel Werner im Telegramm ist der von Ihnen vorhin genannte Werner Kossmann in Thunebach. Zu Kossmann habe ich die Anhänger gefahren. Er hat sie mit Holz beladen, und ich habe sie in der nächsten Nacht wieder abgeholt und am Parkplatz der Autobahn abgestellt und die polizeilichen Kennzeichen wieder umgetauscht. Mit Telegrammen waren sie vorsichtig, weil zu viele auffallen konnten. Oft haben sie angerufen, und wir haben uns dann getroffen. Auch die Sägewerksbesitzer kamen zu mir oder riefen an und sagten, wann ich wo sein sollte.« »Zeigen Sie her, was Sie aufgeschrieben haben«, unterbrach Rückert den Redeschwall des Fuhrunternehmers.
In den nächsten zwanzig Minuten war nur das Rascheln der eng beschriebenen Blätter zu hören. Auf sechzehn DIN-A4-Bogen hatte Wutzier sein Geständnis niedergeschrieben. Ausführlicher und exakter wäre die Vernehmungsniederschrift von Rückert auch nicht geworden. Er reichte das letzte Blatt zu Maresch. Die von Maresch schon gelesenen Blätter schob er mit seinem Füllfederhalter dem Fuhrunternehmer zu. »Bitte unterschreiben Sie jedes Blatt einzeln. Ihr Geständnis wird zu den Akten genommen!« »Sie wissen, was das bedeutet?« »Ja, ich erkläre nochmals: Es ist die volle Wahrheit, und ich habe nichts verschwiegen!« deklamierte Wutzier wie bei der Vereidigung vor einem Richter. »Nicht so voreilig!« bremste Rückert, »von einer Besprechung beim Holz-Zaren steht nichts auf dem Papier!« Mit rotem Kopf sprang Wutzier auf: »Entschuldigen Sie! Natürlich, daran habe ich nicht mehr gedacht. Verzeihen Sie mir, ist die Besprechung in Westberlin so wichtig?« »Für uns ist alles wichtig«, antwortete Rückert und fügte in Gedanken hinzu: Du alter scheinheiliger Lump, von wegen alles für die Polizei gesammelt! »Frau, mein Notizheft!« verlangte Wutzier. Aus dem unteren Schubfach einer Kommode kramte sie ein kleines schwarzes Heft heraus. Immer wieder seinen Zeigefinger anfeuchtend, blätterte Wutzier in dem Heft. »Ich hab’ es!« rief er, »hier steht es! Am 12. September hat er uns nach Berlin bestellt.« »Wer?« wollte Rückert wissen. »Der Holz-Zar! Seine Firma ist führend in Westberlin!« »Sie waren doch nicht allein eingeladen?« »Natürlich nicht! Alle waren da. Jeder, der in meinem Bericht genannt ist. Nein, warten Sie! Einer fehlte, der Hilpert aus Rudolstadt, ein Holzhändler.«
»Worüber ist bei der Zusammenkunft gesprochen worden?« fragte Rückert. »Durch die Verhaftung von Piesicke und Herrn von Bredernack waren die Verkäufer des Holzes unruhig geworden. Außerdem tauchte mit einem Male Ihr Kollege auf und stellte allerhand Fragen. Die meisten trugen sich mit dem Gedanken, gleich in Westberlin zu bleiben. Der Zar meinte, das wäre das verkehrteste. Wenn einer die Nerven verliert und abhaut, ist das für die Polizei ein Beweis. Für Piesicke und Herrn von Bredernack legte er seine Hand ins Feuer. Er würde dafür sorgen, daß sie nicht verurteilt würden. Die Polizei in der Zone ist nicht fähig, in eine so gute Organisation zu kommen. Bis Gras über die Geschichte gewachsen ist, sollte das Holzgeschäft ruhen. Später würde er es noch größer und sicherer aufziehen. Als Beweis, wie dumm und harmlos die Polizei in der Zone ist, führte er seine beiden Lastzüge an. Sie verkehrten nach wie vor von Westberlin nach Westdeutschland und wieder zurück. Er hatte sie nur umspritzen lassen und mit anderen polizeilichen Kennzeichen versehen. Nicht einmal die Lastzüge wären angehalten worden.« »Glauben Sie daran?« fragte Rückert. »Natürlich! Die Lastzüge habe ich ja mit eigenen Augen auf dem Holzhof gesehen. Frisch lackiert und mit anderen Kennzeichen! Hier sind sie! Ich habe sie aufgeschrieben«, zeigte er auf die Seite in seinem Notizbuch. »Das Heft ist beschlagnahmt«, nahm es ihm Rückert aus der Hand. »Warum?« erkundigte sich Wutzier, »ich überlasse es Ihnen doch freiwillig.« In Rückert stieg beinahe ein Gefühl von Mitleid auf. Ahnte der Kerl überhaupt, was ihm bevorstand? Zwischen fünf und zehn Jahren Zuchthaus würde das Urteil lauten. »Für heute reicht es.« Rückert packte das Notizbuch mit Wutzlers Geständnis in seine Aktentasche. »Wir werden uns bestimmt noch öfters unterhalten müssen.« Schweigend hatte die Frau zugehört, sich nicht gerührt. Ihr Name war bisher nicht gefallen. Scham empfand sie. Immer hatte sie ihren Mann beherrscht. Sie war die eigentliche Herrin des Fuhrgeschäfts. Das einzige
Taxi des Unternehmens fuhr sie. Für ihren Mann blieb die Zugmaschine. Sie hatte das saloppe und spendierfreudige Gaunerpaar Piesicke und Bredernack während einer Taxifahrt kennengelernt und mit ihrem Mann zusammengebracht. Gewiß, verbotene Holzfuhren waren ihre Sache nicht, aber auf Heller und Pfennig mußte ihr Mann den lukrativen Nebenverdienst auf den Tisch legen. Die Achtung vor ihrem Mann, von Jahr zu Jahr mehr abgebröckelt, war mit einem Male wieder da. Mit Rückert erhob sich Wutzier. »Gestatten Sie, ich möchte mich von meiner Frau und den Kindern verabschieden!« Maresch räusperte sich aus seiner Ecke. Bis jetzt hatte er geschwiegen, kein Wort dazwischengeworfen, um den Kontakt zwischen Rückert und Wutzier nicht zu unterbrechen. »Wir lassen Sie hier«, erklang seine Stimme. So mußte das Gesicht eines Ertrinkenden aussehen, dem in letzter Minute ein Rettungsring zugeworfen wurde. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern richteten sich fassungslos und erstaunt auf Maresch. »Wenn Sie uns versprechen, Sie und Ihre Frau«, fuhr Maresch fort, »von unserem heutigen Besuch und von dem, was Sie uns mitgeteilt haben, gegenüber jedermann zu schweigen, nehmen wir Sie nicht fest. Ich werde dem Staatsanwalt den Vorschlag unterbreiten, Sie bis zur Verhandlung auf freiem Fuß zu lassen.« »Warum fährst du nicht los?« erkundigte sich Maresch, weil Rückert keine Anstalten machte, den Motor anzulassen. »Mir ist etwas schwummrig!« »Soll ich fahren?« »Am Fahren liegt es nicht. Mir wird übel, wenn ich daran denke, was passiert, wenn Wutzier verschwindet. Bei der angedrohten Mindeststrafe von fünf Jahren ist Fluchtverdacht immer begründet. Von der Verdunklungsgefahr ganz abgesehen. Wenn der weg ist, bleibt sein Geständnis ein Stück Papier, und uns sperrt man zu Recht wegen Begünstigung ein!« »Heute nachmittag, bei Frau Breitmeier, hast du etwas riskiert. Ohne deine Überlegenheit Wutzier gegenüber mit dem Papierschnitzel in deiner Tasche hätte der kaum so schnell in die Vase gegriffen. Wutzier ist
jetzt mein Risiko. Das Für und Wider habe ich gegeneinander abgewogen. Eine Verhaftung ist bei der Organisation der Bande in wenigen Stunden bekannt. Die Mitglieder der Bande wären gewarnt, und wir hätten das Nachsehen. Noch ein zweites Argument: die Angst! Bredernack hat sie offen zugegeben. Er rechnet damit, umgelegt zu werden, wenn er redet. Auch Wutzier hat vor den Banditen Angst. Er wird sich hüten, nach seinen Enthüllungen den Banditen in die Quere zu kommen. Nun fahr! Diese Nacht werden wir nicht zum Schlafen kommen. Wenn Wutzier keinen Namen ausgelassen hat, brauchen wir bis morgen früh dreiundzwanzig Haftbefehle. Die Festnahmen müssen so vorbereitet werden, daß sie schlagartig erfolgen, zu gleicher Zeit, aber erst, wenn die Lastzüge des Holz-Zaren auf dem Gebiet der DDR sind. Solche fetten Happen möchte ich uns nicht entgehen lassen.« Wenn es sein mußte, kamen Maresch und Rückert mit wenig Schlaf aus. Ganze zwei Stunden hatten sie im Ruheraum der Dienststelle die Decken über die Köpfe ziehen können. Die Haftbefehle lagen fernschriftlich bei den zuständigen VolkspolizeiKreisämtern vor. Festnahmegruppen hielten sich bereit. Auf ein Kodewort von Maresch würden sie die Verhaftungen vornehmen. Maresch schob den Teller mit der Suppe zurück. »Dieses Warten auf die Meldungen von den Lastzügen des Holz-Zaren macht mich ganz nervös. Auf vierundzwanzig Stunden habe ich die Frist festgelegt. Länger können wir nicht warten. Wenn bis dahin die Lastzüge vom Grenzübergang nicht gemeldet sind, gebe ich das Kodewort durch.« »Mir geht diese Untätigkeit auch auf den Wecker«, stimmte Rückert zu und stippte mit der letzten Kartoffel die fettarme Soße auf. »In der Haftanstalt erreicht uns die Meldung auch. Wir nutzen die Zeit und statten Piesicke einen Besuch ab!« In der Besucherzelle erkundigte sich Rückert vorsichtshalber: »Spielst du weiter den Berliner?« »Klar, Emil steht auf Berlin!« Piesicke grinste beim Eintreten über das ganze Gesicht. »Darf ick rauchen?« fragte er, nachdem der Justizwachtmeister wieder verschwunden war.
Maresch reichte ihm Feuer und fragte: »So schnell haben Sie uns wohl nicht erwartet?« Piesicke betrachtete die Glut seiner Zigarette, um Zeit für die Antwort zu gewinnen, und meinte dann gelassen: »Ich freue mich über jede Abwechslung!« »Wir uns auch«, gab Maresch das Grinsen zurück, »übrigens, ehe ich es vergesse: Einen schönen Gruß von Onkel Werner. Von der Beerdigung schwärmt er heute noch!« Piesickes Grinsen paßte nicht mehr zu dem wachsamen Glanz seiner Augen. »Ich kenne keinen Onkel Werner!« »Na, na, wer wird denn seine Verwandtschaft verleugnen? Ich spreche von Onkel Kossmann aus Thunebach, der bei der Beerdigung von Onkel Otto dabei war. – Wann war sie doch?« schlug Maresch die Akte auf und las in dem Telegramm die Daten nach, ohne daß Piesicke das Schriftstück sehen konnte, »hier haben wir es ja. Die Beerdigung von Onkel Otto findet am 21. Juni um 9.15 Uhr statt, Grabstelle 183!« Maresch behielt den leichten Plauderton bei, als er fortfuhr: »Ein bißchen laut für die Grabstelle von Onkel Otto, so dicht an der Autobahn. Na ja! Dafür war es eine pompöse Beerdigung. Zwei Holzsärge zugleich auf Rädern! Schade, daß es um diese Zeit schon dunkel war.« Piesicke tat, als hätte er kein Wort verstanden. An der Kippe seiner Zigarette brannte er sich eine frische Camel an, an Maresch vorbeisehend. Er schwieg, den Brocken mußte er erst verdauen, obwohl er sich nach der Bekanntschaft des Berliner Oberkommissars auch auf eine solche Wendung eingestellt hatte. Seine Erfahrungen mit Polizisten aller Länder ließen ihn wissen, wann aufgegeben werden mußte, um zu retten, was zu retten war. Viel blieb nicht mehr – außer dem guten Eindruck vor den Richtern. Eine Hoffnung, eine kleine winzige Hoffnung, an die er sich mit aller Kraft klammerte, hatte er noch. Eine winzige Chance, die er mit der Person des Oberkommissars verband. Sie würde so lange bleiben, bis die Urteilsverkündigung bevorstand. Rückert dauerte das Schweigen zu lange. Er saß neben Maresch und zog die Akte zu sich herüber. »Da wären noch mehr Onkels, die Sehnsucht nach Ihnen haben. Onkel Breitmeier freut sich auf ein Wiederse-
hen. Sie sind alle schon unterwegs. Es wird eine große Begrüßung in der Freistunde auf dem Gefängnishof geben. So viele Onkels auf einen Haufen…« »Ick habe verstanden!« drückte Piesicke die Zigarette aus, »die Schose is jeplatzt! Meine Schuld. Warum habe ick mir mit dem adligen Gesockse eingelassen. Hätt’ ick nur nich of den Boß jehört. Ick hab’ ja gleich gewußt: Mit der Verlegung stimmt wat nich. Dieser Hosenscheißer konnte seine Schnauze nich halten!« »Und Sie?« fragte Maresch, »es wird Zeit, Farbe zu bekennen und die Karten auf den Tisch zu legen!« »Wat bleibt mir anderes übrig? Wenn ick stumm bleibe, hauen mir die anderen in die Pfanne. Werd’ schon so genug bekommen. Mir schwante gleich Schlimmes, als ihr aus Berlin hinter uns her wart. Die Provinzbullen hier hätten Bredernack nich zum Umkippen jebracht. Der wird sich wundern. Ick habe eure komischen Gesetze, wegen der Schieberei und so, im Knast gelesen. Fünf Jahre vor eene Blumenvase! Wat werden wir erst vor die ville Bretter kriegen? Mehr hätt’ ick auch nich bekommen, wenn ick in Berlin mit meinem Ballermann losgezogen wäre.« »Ich besorge eine Schreibmaschine«, stand Rückert auf. »Enen Ogenblick! Können Sie das Geschreibe nich auf heute nacht verschieben. Ick bin ein Nachtmensch und kann nachts so schlechte schlafen. Ruhiger ist es auch. Dat Gerassel mit die Schlüssel macht mich nervös.« »Wie Sie wollen, Piesicke«, ging Maresch auf den Vorschlag ein, »nach dem Kalfaktern sind wir hier. Sollen wir Ihnen etwas mitbringen, Essen oder Trinken?« »Essen brauch’ ick nich! Wenn Sie ’ne Flasche gutes Bier… jeden Tag Lorke oder Wald- und Wiesentee, dat hält keen Mensch aus.« In dem langflurigen Zellenhaus war abendliche Ruhe eingekehrt. Das Geklapper von Rückerts Schreibmaschine drang verhalten durch die eiserne Tür der Besucherzelle.
»So, die Personalien hätten wir«, spannte Rückert den ersten Bogen aus, »bevor wir zur Sache kommen, brauche ich einige Angaben zu Ihrer Person, Werdegang, Vorstrafen und so weiter.« »Wo soll ick beginnen und wo aufhören? For meine Lebensgeschichte brauchen Sie ein halbes Jahr. Dat is een Roman!« nahm Piesicke einen Schluck aus seiner Bierflasche. »Die wichtigsten Abschnitte aus Ihrem Leben genügen!« »Wat war in meinem Leben schon wichtig? Vielleicht, als ick dat erste Mal in den Knast mußte. Een ganz junger Kerl war ick damals, beim Landsturm im Baltikum. Neunzehn muß es jewesen sein, auf dem Rückmarsch. Die Offiziere plünderten jedes Rittergut, an dem wir vorbeikamen. Schleppten mit Fuhrwerken Kisten und Kästen mit wertvollem Kram weg. Een bißken wollt’ ick auch. Zwee Kelche waren es, nich mal echt, nur versilbert. Aus einer Gutskirche hab’ ick sie mitjenommen. Zwölf Jahre bekam ick dafür, weil es Kirchenraub jewesen sein sollte. Die Offiziere hat keener jefragt, wat die sich untern Nagel gerissen haben. Nach een paar Jahren wurde ick bejnadigt. Als Zuchthäusler war an Arbeit überhaupt nicht zu denken. Essen wollt’ ick och. Der Ringverein hat sich um mir jekümmert. Ne Weile ging dat jut, dann haben sie uns beim Geldschrankknacken hochjenommen. So vergingen meine Jugendjahre, rin, raus und wieder rin. Dat letzte große Ding haben wir 1932 in Leipzig jedreht, weil uns in Berlin jeder Polyp kannte. War alles prima ausbaldowert und organisiert. Een Jeldbote von der Bank mit ’ner Tasche voll Mäuse. Er is aus Versehen in meine Eisenstange jelofen und hat es nicht überstanden, wie ick später hörte. Dat Flugzeug stand schon in Leipzig auf dem Flughafen. Bevor die Bullen dahinterkamen, waren wir schon weg. War die schönste Zeit in meinem Leben, drei Jahre in Nizza. Hier, wenn Sie mir nicht globen«, griff Piesicke in seine Tasche, »die Fotos trage ick als Erinnerung immer bei mir.« Er reichte Maresch zwei vergilbte Fotografien. Sie zeigten zwei Pärchen in eleganter Kleidung der dreißiger Jahre. Sie standen auf einer sonnenhellen Terrasse inmitten subtropischer Gewächse. Im Hintergrund kräuselte der Wind die Wellenkämme des Meeres. Obwohl Jahr-
zehnte dazwischenlagen, war Piesicke im weißen Anzug mit einem hellen Panamahut nicht zu verkennen. »Als dat Jeld alle war«, erzählte Piesicke weiter, »flogen wir nach Deutschland zurück. Die Bullen nahmen uns in Tempelhof in Empfang. Fünfzehn Jahre und lebenslänglich Sicherungsverwahrung. Rausgekommen bin ick fünfundvierzig. Vom Knast hart’ ick nun jenug, wollte anständig leben. Ick besorgte mir eine Gewerbeerlaubnis und machte eenen kleenen Trödlerladen auf. Den Bullen von der Gewerbepolizei in Tegel paßten meine Vorstrafen nich. Die Gewerbeerlaubnis war ick wieder los. Leben mußte ick ja. Mit dem schwarzen Markt hatt’ ick ein jutes Auskommen. Bei diesen Jeschäften lernte ick den Holz-Zaren kennen. Als et keenen schwarzen Markt mehr gab, stieg ick bei ihm ein. Nich als Teilhaber, ick wurde for meine Verbindungen bezahlt. Die Holzknievesse in Thüringen hätten for Westmark ihre Seele verkoft, wenn sie eine hätten. Den Löwenanteil hat der Holz-Zar eingesteckt. Den anderen jing es och nich schlecht. Der Zar zahlte halb Ost, halb West. Das Ostjeld mußte ick immer hierher bringen, das Westjeld ging auf ihre Konten…« Unwillig drehte Piesicke seinen Kopf zur Tür, in deren Schloß der Schlüssel rasselte. »Oberkommissar Maresch soll sofort ans Telefon kommen!« steckte der Justizwachtmeister seinen Kopf durch den Türspalt. Emil Piesicke benutzte die Pause, um nach einer neuen Flasche Bier zu greifen. Aufgekratzt kam Maresch wieder in die Besucherzelle. »Jetzt kannst du mir auch eine Flasche Bier spendieren«, sagte er zu Rückert, »der Holzwurm hat Durst!« »Na, denn!« war alles, was Rückert sagte. Holzwurm war das Kodewort, mit dem die Aktion zur Festnahme der Holzschieber ausgelöst wurde. Die beiden Lastzüge des Holz-Zaren befanden sich in der Obhut der Volkspolizei. Emil guckte etwas dumm, weil sich der Oberkommissar mit Holzwurm titulierte, dann erzählte er weiter.
Die Aktion »Holzwurm« war ein voller Erfolg. Nur ein kleines Würmchen aus Rudolstadt blieb unauffindbar. Es hatte sich gleich nach dem ersten Besuch von Wermich aus dem Staub gemacht. Am nächsten Tag versuchte ein Mann, der dem Hausposten seinen Namen nicht nennen wollte, Oberkommissar Maresch oder Obersekretär Rückert zu sprechen. »Sieh nach, wer ausgerechnet jetzt von uns etwas will«, schickte Maresch seinen Mitarbeiter zur Hauswache. »Bringen Sie dem Oberkommissar persönlich Ihr Anliegen vor!« schob Rückert den Fuhrunternehmer Wutzier ins Zimmer. »Meine Herren! Verhaften Sie mich!« sagte Wutzier mit fester Stimme. Verdattert fragte Maresch: »Ist das Ihr Ernst?« »Jawohl, Sie haben in der letzten Nacht alle Leute festgenommen, die ich Ihnen genannt habe. Wenn ich dabei fehle, wissen diese Verbrecher warum. Mein Leben ist in Gefahr. Sie müssen mich verhaften!« »Meinetwegen!« resignierte Maresch und dachte an sein Risiko, das nun keines mehr war. Vier Tage brauchten die Staatsanwaltschaft und das Gericht, die Beweisaufnahme abzuschließen. Die Strafanträge des Staatsanwaltes sahen mit zehn Jahren für Piesicke die höchste und mit fünf Jahren für Wutzler die niedrigste Strafe vor. In der Pause vor der Urteilsverkündung bat Piesicke um eine Unterredung mit Maresch. »Ick muß Anzeige machen gegen Unbekannt, Herr Oberkommissar, wegen Betrug und Diebstahl!« brachte Piesicke sein Anliegen vor. »Nanu, was ist denn passiert?« wunderte sich Maresch. »Zu Hause, bei meiner Zimmerlinde, hatten sich gleich nach meiner Verhaftung zwei Kerle vorgestellt. Sie versprachen, mich für sechstausend West wieder rauszuholen. Ener soll ausgesehen haben wie Sie. Als ick Sie dat erste Mal sah, hab’ ick meiner Zimmerlinde die Order zukommen lassen, dat Jeld rauszurücken. Ick hab’ jeden Tag darauf jewartet, daß Sie mir helfen. Nun weeß ick, det ick mir jeirrt habe. Meine Zimmerlinde hat Sie bei der Verhandlung jesehen. Sie waren det nicht!«
Maresch stieg Zorn und Wut bei dem Gedanken hoch, für einen Komplizen dieses alten Ganoven gehalten worden zu sein. Er brauchte eine Weile, die Zumutung zu verdauen. Mit seinem nonchalanten Lächeln erwiderte er: »Ich muß Sie enttäuschen, Piesicke! Ihre Anzeige machen Sie besser schriftlich und schicken sie gleich nach Westberlin… Ich bin nur ein Provinzkriminalist aus Weimar und für euch Ganoven in Westberlin nicht zuständig!«
Der fünfte Abend
blieb dem Punsch meines Hauptmannes überlassen. Der Kupferkessel sang leise sein Lied. Nach den leeren Flaschen auf dem Kamin zu urteilen, war sein Inhalt mager. Eine leere Rumflasche langweilte sich mit zwei ebenso durchsichtigen Rotweinflaschen zwischen ausgepreßten Orangenhälften. Als Rückert mit einer abgedeckten Suppenterrine in das Jagdzimmer trat, war mein erster Gedanke: Der bringt uns doch nicht etwa den Rest der Bohnensuppe? Jedoch statt Bohnen schwammen im tiefgekühlten Rotwein Ananasstückchen. »Das Rezept habe ich von einem alten Gärtner bekommen«, pries Rückert sein Werk, bevor noch der Punsch in den Gläsern rubinrot funkelte. Wie an allen Abenden gehörte die erste Kostprobe dem Senior in unserem Kreis. Die Zunge des schönen Erwin fuhr genießerisch über die Lippen. »Das nenne ich einen Genuß! Der Zaubertrank eines alten Gärtners, wie geschaffen zur Verführung junger Gärtnerinnen!« Mein Hauptmann verschluckte sich und hätte beinahe den köstlichen Inhalt des Glases verschüttet. »Willst du damit sagen, mein Punsch ist zu schwach für starke Männer? Mit einer Flasche Wodka kann ich dem schnell abhelfen!« rief er erbost. »Auf keinen Fall«, lachte der schöne Erwin, »bei der Ankündigung des Gärtnerpunsches mußte ich an die Träume einer jungen Gärtnerin denken, die du nicht schlecht gedeutet hast.«
Gärtnerpunsch Man gibt Saft und Ananasfrüchte aus zwei Büchsen in eine Terrine und schüttet eine halbe Flasche Rotwein dazu. Etliche Eiswürfel bewahren das Aroma der Früchte. Aus Tee, Rum, Zucker und Apfelsinensaft wird ein heißer Trank bereitet, mit dem man die in Punschgläser gefüllten Ananasscheiben übergießt.
Der Traum der schönen Gärtnerin Der Hausposten des Volkspolizei-Kreisamtes bemerkte das Paar schon von weitem. Einen bulligen Riesen im graublauen Arbeitsanzug, der den Unterarm eines Mädchens gepackt hielt und die Sich-Sträubende mitzog. Vor dem Posten blieb der Riese stehen. Ohne das Mädchen loszulassen, nestelte er mit der freien Hand seinen Personalausweis aus der Tasche. »Hier soll es einen Oberkommissar Maresch von der Kriminalpolizei geben«, erklärte er schnaubend, »zu dem will ich!« Der Posten sah sich den Ausweis an und betrachtete das verheulte Gesicht des Mädchens. Wie eine auf frischer Tat ertappte Diebin sah die nicht aus. Nur das Zittern und ihre heilige Angst ließen ahnen, daß sie nicht so unschuldig war, wie sie aussah. »Zimmer vierzehn, erster Stock«, sagte der Posten. Der Mann wartete das »Herein« von der anderen Seite der Tür nicht ab. Anklopfen und Türaufreißen erfolgten in einem Atemzug. »Können Sie nicht warten, bis ich ›Herein‹ sage«, belferte Oberkommissar Maresch los. »Sind Sie der Genosse Maresch?« vergewisserte sich der Riese, den Oberkommissar von Kopf bis Fuß musternd. Der krawallige Unterton in der Stimme des Fragenden hielt Maresch ab, ihn ebensoschnell, wie er hereingekommen war, wieder vor die Tür zu setzen. »Der bin ich«, bestätigte er. »So, jetzt wirst du alles erzählen, und wehe, du lügst! Die Knochen breche ich dir«, schlenkerte der Goliath das Mädchen auf Maresch zu. Sie rutschte durch den Schwung aus und landete an der Brust des schönen Erwin. Dem ungewöhnlichen Auftritt des Besuchers und seiner Begleiterin hätte Maresch ein schnelles Ende bereitet, wäre sein Selbstbewußtsein in diesem Moment intakt gewesen. Rückerts Grinsen von der anderen Seite des Zimmers, wo er hinter seinem Schreibtisch saß, verunsicherte Maresch noch mehr. Fatale Situation für ihn. Vor ei-
ner halben Stunde war er mit Rückert von einem Nachteinsatz zurückgekommen. Für Rückert war das bißchen Frischmachen, Waschen und Rasieren kein Problem. Anders beim schönen Erwin. Auch er hatte sich gewaschen und rasiert sowie ein frisches Hemd angezogen. Doch damit war seine Toilette noch nicht beendet. Die längste Zeit verwandte er auf die Pflege seiner weißblonden Lockenpracht, die ihn für die Frauen so anziehend machte. Es kam einem Ritus gleich, wie er jeden Morgen seine Haare in Wellenkämme drückte und sie mit wohlriechendem Haarfestiger bestäubte. Ein schwarzes Haarnetz mußte eine halbe Stunde lang die Pracht zusammenhalten. Diese halbe Stunde war noch nicht um. Während er vor dem Spiegel stand, das Haarnetz auf dem Kopf, das frische Hemd über der Hose mit den baumelnden Hosenträgern, war ihm die verweinte Kleine an die Brust geflogen. Seinen verdatterten Vorgesetzten aus der komischen Lage befreiend, schob Rückert dem ungebetenen Besucherpaar zwei Stühle hin. Schön im Abstand voneinander, damit der Riese seine Drohung nicht wahr machen konnte. Maresch, der im Rücken des Paares sein Haarnetz herunterriß und das Hemd in die Hose stopfte, bekam sein Jackett gereicht. Den Schlips umgebunden und die gedunkelte Fensterglasbrille auf der Nase, hatte der schöne Erwin sein seelisches Gleichgewicht fast wieder. Er nahm gegenüber den Besuchern an seinem Schreibtisch Platz und klopfte, immer noch etwas nervös, mit seinem Füllhalter auf die Schreibtischplatte. »Wer sind Sie?« fragte er, weil der Riese keine Anstalten machte, sich vorzustellen und sein Anliegen vorzubringen. Der Goliath war beeindruckt von der Verwandlung des Oberkommissars. Ein Polizist ohne Schlips und Kragen und mit baumelnden Hosenträgern war mehr nach seinem Geschmack. »Mein Name ist Bruno Koschak! Vorarbeiter im Marmorbruch!« Ein klein wenig Arbeiterstolz schwang in der Stimme des Riesen mit. Er musterte Maresch unter seinen von der Sonne ausgebleichten Augenbrauen.
Der schöne Erwin ließ sich Zeit. Wie ein Stier war der Mann in seine Toilettenzeremonie geplatzt und hatte ihn aus der Fassung gebracht. Jetzt war er wieder Herr der Situation, und der andere sollte erzählen, was er von ihm wollte, oder verschwinden. Statt dessen sagte Koschak: »Der Parteisekretär aus meinem Betrieb hat mich zu Ihnen geschickt. Er kennt Sie.« »Genosse Kirsten? Klopft der immer noch auf dem Marmor herum?« bestätigte Maresch die Bekanntschaft. »Er meint, Sie würden mir helfen«, schöpfte Koschak Hoffnung. »Um was geht es denn?« fragte Maresch ein wenig umgänglicher. »Eine Anzeige will ich aufgeben, wegen Vergewaltigung! Diese da«, deutete er auf das verheulte Mädchen, »meine Tochter Ella, sie ist im fünften Monat schwanger und will nicht sagen«, nahm seine Stimme an Lautstärke zu, »wer der Schweinehund war. Die Knochen zerbreche ich dem Lumpen!« Tochter Ella hielt die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Ihre vom Weinen geröteten Augen, die Hilflosigkeit, mit der sie ihren Kopf gesenkt hielt, rührten das Männerherz des schönen Erwin. Sie war von einer einfachen natürlichen Schönheit, an Freunden würde es ihr sicher nicht fehlen. Das halblange brünette Haar glänzte im Licht der Morgensonne. Ihr sonst gleichmäßig ovales Gesicht war auf der einen Seite etwas zu stark gerötet und leicht verquollen, allem Anschein nach als Folge einer unliebsamen Bekanntschaft mit der Rechten des Vaters. Damit war die Sympathie des schönen Erwin vollends auf seiten des Mädchens, und er nahm sich vor, es dem Grobian von Vater spüren zu lassen. »Habe ich richtig verstanden? Eine Vergewaltigung wollen Sie anzeigen, nach fünf Monaten? Kommt Ihnen das nicht selbst ein wenig komisch vor?« Die Ironie in Mareschs Worten war nicht zu überhören. »Verdammt noch mal!« schlug Koschak mit der Hand auf sein Knie, »ich hab’ es ja nicht gewußt. Vor drei Tagen rückte meine Frau damit raus. Da hab’ ich mir die Ella vorgeknöpft. Die heult nur und will mir weismachen, alles nur geträumt zu haben. Vergewaltigt hat sie der Kerl. Meine Tochter habe ich so erzogen, daß sie es nie gewagt hätte. Ich
möchte nur wissen, wann der Kerl die Gelegenheit dazu hatte. Rumtreiben oder ohne uns fortgehen hat es nie gegeben.« »Sie reden immer von einem Kerl«, griff Rückert in den Disput ein, »wie heißt er, wo wohnt er?« Koschak schaute verdutzt auf Rückert. »Deswegen bin ich doch hier! Sie müssen den Kerl ausfindig machen. Wenn ich den habe, braucht der keine Gerichtsverhandlung mehr!« »Statt zu uns zu kommen, sollten Sie lieber mit Ihrer Tochter eine vernünftige Aussprache herbeiführen«, warf Maresch ein. »Alles nutzlos«, zitterte Wut in der Stimme des Mannes, »die halbe Nacht habe ich es versucht. Sie heult nur, kein Wort von dem Kerl. Für einfältig hält mich meine Tochter. Sie hat nur geträumt, ist alles, was ich aus ihr herausbrachte.« »Wie alt ist Ihre Tochter?« fragte Rückert. »Siebzehn, im nächsten Monat wird sie achtzehn. Das eine sage ich«, fing Koschak wieder an zu brüllen, mit der Hand auf Mareschs Schreibtisch hauend, »ein unehelicher Bankert kommt nicht unter mein Dach!« Ohne die Referenz des Parteisekretärs aus dem Marmorbruch wäre die Unterredung beendet gewesen. Statt dessen sortierte Maresch die Bleistifte und Heftklammern wieder in die Schreibtischschale, aus der sie bei dem Schlag des Wütenden herausgeflogen waren. »Was wollen Sie überhaupt«, zwang sich Maresch zur Ruhe, »einen Schwiegersohn finden oder ein Verbrechen anzeigen?« Der Goliath schnappte nach Luft. »Ich«, überlegte er verdutzt, »ich will, daß alles seine Ordnung hat. Auf einen Schwiegersohn pfeife ich. Dazu ist meine Tochter zu jung. Ich will Gerechtigkeit«, begann er abermals zu schreien, »Strafe für den Verbrecher, der meine Tochter vergewaltigt hat!« Maresch zog die Luft tief durch die Nase ein. Seine Geduld war erschöpft. Wenn einer in seinem Zimmer brüllen durfte, dann nur er selbst. Rückert wollte es nicht zum Ausbruch kommen lassen. »Wir werden sehen«, begann er, »lassen Sie uns mit Ihrer Tochter allein. Draußen am Ende des Flures steht eine Bank, dort können Sie warten.«
»Nichts da!« griff Koschaks Hand zum Arm der Tochter, »als Vater habe ich das Recht, bei meiner Tochter zu bleiben.« Er kollerte wie ein Truthahn mit hochrotem Gesicht. Mareschs Geduldsfaden riß. Er stand auf und donnerte: »Und ich habe das Recht, Sie rauszuwerfen! Verschwinden Sie! Von uns hat Ihre Tochter keine Schläge zu erwarten«, deutete er auf die geschwollene Backe des Mädchens. Mit wütenden Blicken auf Maresch stand der Riese auf und verließ widerstrebend das Zimmer. Das Wortgefecht der Männer hatte bei Tochter Ella neue Schleusen geöffnet. Maresch blieb vor ihr stehen. Mit einem resignierenden Blick auf Rückert nahm er sein Paradetaschentuch aus der Brusttasche und drückte es in die tränennassen Hände. »Wischen Sie sich Ihre Tränen ab und putzen Sie Ihre Nase«, sagte er leise. Zum erstenmal hob das Mädchen den Kopf. Ein Paar unwahrscheinlich hellblaue Augen, verängstigt und in Tränen gebadet, blickten zu ihm empor. »Vor uns brauchen Sie keine Angst zu haben. Wenn Ihr Kind da ist, wird Ihr Vater auch nicht mehr den wilden Mann spielen.« Mareschs Worte über ihren Vater bewirkten einen neuen Tränenstrom. Das waren keine Tränen der Angst und Verzweiflung mehr. Ein Schluchzen der Erleichterung und Hoffnung klang in ihrer Kehle auf. Mit dem Schluchzen waren auch die Tränen versiegt. Einen weiteren Tränenstrom hätte das von Tante Hilde in Erfurt bestickte Spitzentüchlein auch kaum aufnehmen können. Zerknüllt und zum Auswringen durchfeuchtet, legte sie es vorsichtig auf die Kante des Schreibtisches. »Sie heißen also Ella Koschak«, begann Maresch, »und sind siebzehn Jahre alt?« »Eleonore!« berichtigte sie zaghaft, weil Rückert begann mitzuschreiben. »Gut, Eleonore!« fuhr Maresch fort, »haben Sie einen Beruf, und wo arbeiten Sie?«
»In der Stadtgärtnerei, ich lerne noch. Im Herbst schließe ich meine Lehre als Gärtnerin ab.« »Ihr Vater behauptet, Sie sind im fünften Monat schwanger. Stimmt das?« Erneut stiegen in ihren Augen Tränen auf. Mareschs Taschentuch war nicht mehr zu verwenden. Ein zweites hatte er nicht bei sich. Hilfesuchend blickte er nach Rückert. Ob der eins von seinen großen buntkarierten Tüchern opfern würde? Rückert tat, als bemerke er die stille Aufforderung nicht. Mit Taschentüchern allein waren die Tränen nicht zurückzuhalten. »Sie müssen Vertrauen zu uns haben«, meinte Rückert in väterlichem Ton, obwohl er eher der ältere Bruder des Mädchens hätte sein können, »denken Sie, wir sind Freunde, die helfen wollen. Hat ein Arzt die Schwangerschaft festgestellt?« »Ja«, hauchte sie, verschämt zu Boden blickend, »meine Mutter war vor vierzehn Tagen mit mir beim Frauenarzt.« »Jetzt haben wir Februar«, rechnete Maresch laut aus, »dann muß es im Oktober passiert sein?« Sie nickte stumm und sah auf ihre Füße. »Immer das alte Lied«, murmelte Maresch kaum verständlich. »Und weil Sie Angst vor Ihrem Vater haben«, wurde seine Stimme deutlicher, »wollen Sie den Namen Ihres Freundes nicht nennen?« Das Schluchzen stieg wieder in ihre Kehle: »Ich habe keinen Freund!« »Sie müssen doch wissen, mit wem Sie im Oktober zusammen waren«, zwang Maresch seine Stimme, weich und einfühlsam zu klingen. »Mit keinem war ich zusammen«, schüttelte sie ihren Kopf. Maresch lockerte seinen Schlips. Mit Ganoven und Gaunern umzugehen war einfacher. Vor einem stichhaltigen Beweis gab jeder Gauner und Dieb auf. Und eine Schwangerschaft ist wohl für einen Beischlaf Beweis genug. Mußte er dem Mädchen gegenüber deutlicher werden? »Hören Sie zu!« begann er wie ein Sexualaufklärer, »um an den Klapperstorch zu glauben, sind Sie schon etwas zu alt. Zum Kinderkriegen gehören immer zwei. Den anderen wollen Sie nicht angeben. Natürlich
ist das Ihre Angelegenheit. Wir zwingen Sie nicht dazu. Nun behauptet Ihr Vater aber, Sie sind vergewaltigt worden. Wenn dem so ist, liegt ein Verbrechen vor, und wir müssen den Täter suchen.« »Mich hat niemand vergewaltigt!« unterbrach sie Maresch, »und ich habe mit keinem etwas gehabt!« Ihre Antworten konnten einen Stoiker aus der Ruhe bringen. Rückert unterbrach die Protokollierung der Fragen und Antworten. »Welche Schulbildung haben Sie?« war ihm ein Verdacht gekommen: »Den Abschluß der achten Klasse«, antwortete sie erstaunt. Was hatte ihre Geschichte mit der Schule zu tun? »Dann haben Sie auch Biologieunterricht gehabt«, ließ Rückert keine Zeit zum Überlegen, »versuchen wir doch mal, Ihre Schwangerschaft biologisch zu ergründen. Von nichts wird nichts! Also, wie sind Sie zu der Schwangerschaft gekommen?« »Ich weiß wirklich nicht!« wurde ihr Schlucken tiefer, »ich habe es nur geträumt!« Rückert gab auf und schob demonstrativ seinen Schreibblock zur Seite. Das war zuviel! Wie konnte ein normaler Mensch solche Erklärung abgeben? Oder verschwieg sie etwas, was verschwieg sie? Maresch war nahe daran, den Vater zu rufen und ihm zu empfehlen, mit der albernen Tochter das Weite zu suchen. Sie hatten anderes zu tun, als anonymen Alimentenzahlern nachzujagen. Einen letzten Versuch wollte er noch wagen: »Sie behaupten, die Empfängnis geträumt zu haben. Erzählen Sie uns Ihren Traum. Wo haben Sie Ihren Traum gehabt?« »Im Bett«, flüsterte sie. »In welchem Bett?« fragte Rückert, mühsam ein Feixen unterdrückend. »In meinem Bett!« kam es stockend. »Schlafen Sie allein?« wollte Maresch wissen. »Ja!« hauchte sie. »Verschließen Sie nachts Ihr Zimmer?« Die Antwort war ein Kopfschütteln. »Wer wohnt noch im Haus?«
»Nur meine Eltern!« »Was haben Sie geträumt, und wann war es?« Sie blickte wieder zu Boden. »Damals, als es passierte!« »Was ist passiert?« ließ Maresch nicht locker. Das hat es noch nie gegeben. Erwachsene Männer, Kriminalisten, mußten sich wie Okkultisten mit den Träumen eines Mädchens befassen. Eleonore brauchte Zeit für ihre Antwort. Schamvoll hatte sie die Augen niedergeschlagen. »Was ist im Traum passiert?« drang Maresch in sie. Eine Glutwelle überzog ihr Gesicht. »Auf der Blumenwiese«, begann sie leise, »er lief mir nach. Dann lagen wir im Gras, und er küßte mich!« »Wer ist ›er‹? Haben Sie den Mann, der Sie küßte, erkannt?« bohrte Maresch. Eleonore zögerte mit der Antwort. Nach Rückerts Ansicht etwas zu lange, um nein zu sagen. »Wer war der Mann?« Eleonore umging die Antwort und sagte: »Als ich wach wurde, war es dunkel, und ich lag in meinem Bett!« Maresch stand auf. »Das wäre es also. Von Traumdeutereien verstehe ich nichts.« Er ging zur Tür und rief den Vater. »Nehmen Sie Ihre Tochter und gehen Sie nach Hause. Für Träume haben wir keine Zeit!« Koschak warf seiner Tochter einen Blick zu, der Rückert angeraten scheinen ließ, warnend zu sagen: »Die Mißhandlung von Kindern kann strafrechtliche Folgen nach sich ziehen!« Koschak fuhr herum: »Die Erziehung meiner Tochter bestimme ich! Wo ist meine Anzeige?« »Guter Mann«, begann Maresch gelassen, »wir sind dazu da, Straftaten zu untersuchen. Bei dem, was Sie und Ihre Tochter uns erzählt haben, gibt es nicht den geringsten Verdacht auf eine Straftat. Zwitschern Sie ab und suchen Sie Ihren Schwiegersohn allein!« Koschaks Gesicht hatte eine wutrote Färbung angenommen. »Das werden Sie noch bereuen. Beim Staatsanwalt werde ich mich beschwe-
ren. Ich werde mir mein Recht verschaffen, darauf können Sie Gift nehmen.« Er warf Maresch einen verachtungsvollen Blick zu. Seine Tochter hinter sich herziehend, riß er die Tür auf. Seine donnernde und grollende Stimme war durch das ganze Haus zu hören. »Uff«, sagte Maresch, als die Tür mit einem Knall zugeflogen war, »so was auf nüchternen Magen!« »Mir tut die Kleine leid«, machte Rückert aus seinen Empfindungen kein Hehl, »diesem Grobian traue ich alles zu! Am liebsten möchte ich der Jugendhilfe einen Tip geben, sich um das Mädchen zu kümmern. Was hält die Kleine davon ab, den Namen des Kindesvaters zu nennen?« »Sie wird ihre Gründe haben«, warf Maresch ein, »ich vermute, sie hat sich mit einem eingelassen, von dem sie nicht einmal den Namen kennt.« »Möglich, obwohl ich nicht einen solchen Eindruck von ihr habe«, sprach Rückert seine Gedanken aus, »ich glaube vielmehr, sie liebt den Burschen und verschweigt den Namen aus Angst vor ihrem Vater.« »Und warum hat sie vor uns Angst?« »Bei uns ist es etwas anderes«, suchte Rückert das Mädchen zu verstehen, »vor uns schämt sie sich. Stell dir vor, sie hat sich beispielsweise mit einem Mann eingelassen, der verheiratet ist!« »Auf jeden Fall geht es uns einen Schmarren an«, wollte Maresch einen Schlußpunkt unter das Liebesleid der kleinen Gärtnerin setzen. »Die Jugendhilfe werde ich noch verständigen«, betonte Rückert, das geschwollene Gesicht des Mädchens vor Augen. »Meinetwegen«, räumte Maresch ein, »und damit du ruhig schlafen kannst, ohne von der Gärtnerin zu träumen, werde ich auch dem Parteisekretär vom Marmorbruch einen Wink geben. Wenn der wegen solchem Quatsch die Leute zu uns schickt, kann er diesen Klotz auch ins Gebet nehmen, die Hände von seiner Tochter zu lassen!« Am nächsten Tag war Maresch vor Rückert auf der Dienststelle. »Laß deinen Schreibtisch zu!« empfing er seinen Mitarbeiter, »ich habe mich entschlossen, in Sachen der träumenden Gärtnerin noch ein paar Ermittlungen führen zu lassen. Du wirst es übernehmen!«
»Mit einem Mal?« fragte Rückert. »Soll nun doch eine Anzeige aufgenommen werden?« »Für eine Anzeige liegt auch jetzt kein Grund vor. Wir müssen nur feststellen, wer der zukünftige Vater ist!« »Woher diese Sinnesänderung? War er beim Staatsanwalt?« fragte Rückert erstaunt. »Dieser schnaubende Goliath war gestern tatsächlich noch beim Staatsanwalt. Dort hat er die gleiche Antwort bekommen wie von uns.« »Na und?« unterbrach Rückert. »Laß mich gefälligst ausreden! Vom Staatsanwalt ist der kollernde Truthahn zu seinem Parteisekretär gelaufen. Was er dem über uns erzählt hat, kannst du dir denken. Jedenfalls machte Kirsten mir Vorwürfe, wie wir angeblich mit einem Arbeiter umspringen. Kirsten leuchteten zwar meine Argumente ein, aber überzeugt habe ich ihn nicht. Von seiner Warte aus betrachtet, hat er nicht einmal unrecht.« »Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr!« schüttelte Rückert den Kopf, »einleuchtende Argumente, keine Überzeugung, nicht unrecht, also doch recht! Das soll einer begreifen!« »Gleich!« fuhr Maresch fort, »laß mich erst erzählen. Dieser Traum der Gärtnerin ist zu einem waschechten Politikum geworden!« »Wie bitte?« Rückert glaubte nicht richtig gehört zu haben. »Meinst du das politisch? Seit wann hat eine Schwangerschaft etwas mit Politik zu tun?« »Wollt’ ich auch nicht begreifen. Hör zu! Im Marmorbruch gibt es solche und solche. Die einen halten mehr oder weniger offen zu dem enteigneten Besitzer. Sie machen recht und schlecht ihre Arbeit. Warten vielleicht auf die Zeit, wo ihnen der Besitzer wieder neben der tariflichen Lohntüte einen Fünfzigmarkschein extra in die Hand drückt. Die anderen schuften. Wollen die Karre aus dem Dreck ziehen und beweisen, daß es ohne den früheren Besitzer besser geht. Zu diesen gehört der Wutkopp! Ein Adolf Hennecke im Marmorbruch, meint Kirsten, der Parteisekretär.«
»Es wird ja immer verrückter«, konnte Rückert einen Ausruf nicht unterdrücken, »fehlt nur noch, der Gärtnerin ist Adolf Hennecke im Traum erschienen!« »Unterlaß deine Blödeleien! Ich bin gleich fertig. Bis vor kurzem sah es so aus, als ob die Henneckes die anderen an die Wand spielten. Da passierte die Geschichte mit der Tochter von Koschak. Bevor er es wußte, waren die Gerüchte schon im Betrieb. Böse und hinterhältig war in Umlauf gebracht worden, die Tochter nennt den Namen des Kindesvaters nicht, weil es ihr eigener Vater ist!« Rückert kratzte sich am Kopf. »Verstehe! Wir müssen schnell einen Vater herbeizaubern, sonst macht der volkseigene Marmorbruch Pleite.« Mit einem Griff an die Brust überzeugte er sich, ob Notizbuch und Füllhalter in der Tasche waren, und ging zur Tür. »Halt! Wo willst du hin?« wollte Maresch wissen, »allein gehst du mir nicht in den Marmorbruch! Der Koschak ist unberechenbar. Wenn der dich sieht, wirft er möglicherweise mit Marmorblöcken.« »Werd’ mich hüten, dem Goliath über den Weg zu laufen«, grinste Rückert, »als erstes werde ich mich am Tatort umsehen und dann mit den Rundumermittlungen in der Gärtnerei beginnen.« »Tatort?« echote der schöne Erwin, »woher willst du den Tatort kennen?« »Von der kleinen Ella!« »He?« blieb Maresch der Mund offen, »hast wohl auf eigene Faust Ermittlungen geführt?« »Keine Sorge! Mir würde nicht im Traum einfallen, kleine Mädchen in einer solchen Situation zu trösten. Du warst doch dabei«, lachte er, »den Traum mit den nachteiligen Folgen will sie in ihrem Bett gehabt haben. Also ist das Bett der Tatort, und den will ich mir mal ansehen!« verließ er Maresch. »Viel Vergnügen bei der Spurensuche auf einem Bettlaken, das seitdem bestimmt schon ein halbes Dutzend Mal in der Wäsche war«, rief der ihm nach. »Achtzehn, zwanzig, zweiundzwanzig«, zählte Rückert lautlos die Hausnummern mit. Das nächste der kleinen Reihenhäuser Am Burgwall,
wie die schmale Straße hieß, mußte die Vierundzwanzig sein. Die Häuser glichen sich wie ein Ei dem anderen. Eine schmale Giebelseite, die kaum Platz ließ für die Haustür und ein kleines Fenster. Vor der Häuserreihe zog sich ein kaum drei Meter breiter Vorgarten hin, der symbolisch mit einem kniehohen Staketenzaun zum Gehweg abgegrenzt war. Wie in den anderen Vorgärten führten auch bei Koschaks schmale Trottoirplatten vom Türchen am Staketenzaun zur Haustür. Vor dem Stubenfenster kümmerte ein verwachsener Sauerkirschbaum dahin, umgeben von einem Kranz Stiefmütterchen. Die Grashalme, die wohl einen Rasen bilden sollten, wuchsen so spärlich, daß es keine Mühe gemacht hätte, sie zu zählen. Rückert bückte sich, um die kleine Tür in dem Staketenzäunchen zu öffnen. Bevor er die spielzeugähnliche Klinke ergriff, richtete er sich erstaunt wieder auf. In den Stiefmütterchen und niedrigen Rosenbüschen halb verborgen schauten drei possierliche Gartenzwerge auf ihn. Pfeifeschmauchend und Gartenwerkzeug in den Händen, boten sie ein Bild der Ruhe und Beschaulichkeit. Ihre roten Zipfelmützen inmitten der Blumen und des mageren Grüns strahlten friedfertiges Miteinander aus. Mit einem Blick zur Haustür vergewisserte Rückert sich noch einmal. Es stimmte, »Bruno Koschak« stand am Türschild und ließ keinen Zweifel aufkommen, daß der wutschnaubende Riese aus dem Marmorbruch auch noch andere Seiten hatte. Natürlich war das Gartentor auch am Vormittag verschlossen. Mit einem Schritt wäre das Hindernis zu überwinden gewesen. Die schrille Klingel im Haus störte die Gartenzwerge nicht. Auch bei einem zweiten Signal blieb es hinter der Haustür ruhig. Schon wollte sich Rückert mit einem Lächeln zu den Zwergen hin abwenden, als ein Schlüssel im Türschloß quietschte und die Haustür geöffnet wurde. Rückert verging das Lächeln. Etwas gebückt, so daß zwischen Türrahmen und Kopf eine Handbreit Luft blieb, stand Koschak in der Tür. Den hatte Rückert um diese Zeit am allerwenigsten erwartet. »Was wollen Sie noch?« Verhalten und mit einem drohenden Unterton klang Koschaks Stimme, als er seinen Besucher erkannte. Tatortbesichtigung, Bettuntersuchung oder ähnliches, was er vorhin Maresch gegenüber angedeutet hatte, schien jetzt nicht angebracht. Statt
dessen meinte Rückert so gelassen wie möglich: »Ich hatte in der Nähe zu tun und wollte bei der Gelegenheit mit«, er zögerte etwas, »mit Ihnen und Ihrer Frau noch einmal in Ruhe über die Angelegenheit sprechen.« »Den Weg konnten Sie sich sparen«, fing Koschak an zu kollern, »bei mir haben Sie nichts zu suchen. Verschwinden Sie!« Auch mit Türen schien Koschak nicht den richtigen Umgang zu haben. Seine eigene donnerte er zu, daß das Kirschbäumchen ein Zittern überlief. Einesteils war Rückert froh, so ungeschoren davonzukommen. Trotz aller Judogriffe, wenn dieser wütende Stier handgreiflich geworden wäre… Rückerts Erleichterung kam zu früh. Bevor er sich entfernen konnte, öffnete sich die Tür ein zweites Mal. Diesmal stand die Frau im Türrahmen. Sie brauchte sich nicht zu bücken. Klein und zierlich, wie sie war, hätten zwei von ihrer Sorte, ohne anzustoßen, durch den Türrahmen gehen können. Im Dunkel des Hausflurs leuchtete zwei Kopf weiter oben das Gesicht ihres Mannes über dem Dutt ihres brünetten Haares. »Wollten Sie zu uns?« fragte sie. »Ist von der Kripo«, knurrte der Mann hinter ihrem Rücken, »ich habe ihn nicht gerufen!« »Du bist jetzt still!« sagte sie leise, aber bestimmt. »Bitte kommen Sie herein!« lud sie Rückert zum Eintreten ein. »Das Tor ist verschlossen«, fuhr Rückerts Hand an die Spielzeugtürklinke. »Schließ sie schon auf«, verlangte sie von ihrem Mann, »und laß den Herrn eintreten.« Vor sich hin brummelnd, nahm er das Schlüsselbund von der Haustür und öffnete die Tür im Staketenzaun. Klein, aber fein und peinlich sauber, faßte Rückert seinen ersten Eindruck vom Flur und dem Zimmer nebenan zusammen. Er hatte mit der Frau auf hochlehnigen Holzstühlen am Tisch Platz genommen und wußte nicht wohin mit den Händen. Zu groß war die Gefahr, mit den Fingern in der Spitzendecke, die über den runden Tisch ausgebreitet war, hängenzubleiben.
Koschak hatte sich brummend in einen Korbstuhl neben dem Kachelofen gesetzt, nicht ohne vorher behutsam das bestickte Paradekissen beiseite gelegt zu haben. Sein unverständliches Gebrabbel verhieß nichts Gutes, obwohl allem Anschein nach feststand, wer in diesem Hause die Hosen anhatte. »Ich komme wegen der Anzeige, die Ihr Mann gestern bei uns aufgeben wollte«, erklärte Rückert den Grund seines Besuches. »Anzeige?« wiederholte erstaunt die Frau. »Warum eine Anzeige? Ist etwas passiert?« »Eine Anzeige wegen Vergewaltigung Ihrer Tochter Eleonore!« wurde Rückert genau. Unter dem Seitenblick seiner Frau kroch Koschak im Korbstuhl zusammen. »Stimmt ja gar nicht!« versuchte er einzuwenden. »Ich wollte ja nur…« Die letzten Worte verschluckte er, als er merkte, wie seine Frau sich verfärbte. Ohne ihre Erregung laut werden zu lassen, sagte sie: »Es ist besser, du fütterst die Kaninchen, damit du zur Schicht nicht zu spät kommst!« Die Worte klangen so entschlossen, daß es Koschak angeraten schien, stillschweigend das Feld zu räumen. Verwundert hatte Rückert dem kurzen Disput zugehört und miterlebt, wie dieser sich sonst so gewalttätig gebende Held vor der kleinen Frau kuschte und in sich zusammenkroch. Nachdem Koschak das Zimmer verlassen hatte, fragte Sie: »Was hat er denn nun schon wieder angestellt? Sie müssen wissen, mein Mann ist gut und sanftmütig«, verteidigte sie ihn, »aber wenn etwas nicht nach seinem Kopf geht, rennt er gegen jede Wand.« »So haben wir ihn gestern kennengelernt und es für richtig gehalten, mit Ihnen zu sprechen«, erwiderte Rückert. »Er kam zu uns und verlangte, wir sollten eine Anzeige gegen ›Unbekannt‹ aufnehmen, weil Ihre Tochter vergewaltigt worden sei.« Die Frau holte nach der Eröffnung Rückerts tief Luft: »Davon kann keine Rede sein!« »Aber Ihre Tochter ist schwanger?«
Sie senkte den Kopf. Eine blasse Röte überzog ihr Gesicht. »Ja!« antwortete sie tonlos. »Kennen Sie den Kindesvater?« Als Antwort schüttelte sie mit dem Kopf. »Welches Verhältnis haben Sie zu Ihrer Tochter?« »Ein gutes«, hob sich ihr Gesicht, und sie wischte verstohlen ein paar Tränen fort, »erklären kann ich mir alles nicht. Die Ella ist unsere Einzige. Niemals hat sie Geheimnisse vor mir gehabt. Ich habe nächtelang nicht geschlafen und nur gegrübelt, wie es passieren konnte. Vielleicht haben wir sie zu streng gehalten. Niemals war sie allein. Kaum eine Freundin, weil mein Mann es nicht wollte.« »Wenn Ihre Tochter Vertrauen zu Ihnen hat, warum nennt Sie Ihnen nicht den Namen des Kindesvaters?« »Darüber zerbreche ich mir seit Wochen den Kopf. Jedesmal, wenn ich mit ihr darüber als Mutter sprach, erzählte sie mir etwas von einem Traum. Ich weiß nicht mehr, was ich davon halten soll!« Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, und sie hatte in diesem Moment viel Ähnlichkeit mit Ella, als Maresch und er die Tochter nach dem Namen des Kindesvaters fragten. »Rein biologisch«, sagte Rückert burschikoser als gewollt, »muß es einen Mann gegeben haben!« »Natürlich«, raffte sich die Frau zusammen, »Sie haben ja recht. Deswegen fange ich an, an meiner Tochter zu zweifeln. Wenn sie bei diesem Traum bleibt…, ich weiß schon nicht mehr, was ich machen soll. Vielleicht ist es doch besser, wenn ich mit Ella zu einem Nervenarzt gehe.« So war kein Weiterkommen, auch über die Mutter nicht. Ihr war der Name des Kindesvaters ebenfalls unbekannt. Rückert erhob sich: »Kann ich das Zimmer Ihrer Tochter sehen?« »Bitte, wie Sie wollen«, sagte sie und stand auf. Sie führte Rückert auf den Flur, von dem eine schmale Holztreppe in das obere Stockwerk führte. »Hier die Tür«, zeigte sie in halber Höhe der Holztreppe, »dahinter ist Ellas Zimmer!« Einem Salon glich das Gemach der träumenden Gärtnerin nicht. Klein und niedrig, bot es kaum Platz für ein breites eisernes Bettgestell und
einen weißlackierten kleinen Kleiderschrank. Ein schmaler Tisch und ein Stuhl vor dem einzigen Fenster sowie ein Bücherregal mit Puppen vervollständigten die Einrichtung. An den Wänden hingen ein paar bunte Bilder. »Früher stand hier der Taubenschlag meines Mannes«, erklärte die Mutter. »Als Ella sechs Jahre alt war, hat er den Taubenschlag abgerissen und für sie das Zimmer angebaut. Bis dahin hat Ella bei uns geschlafen.« »Bei uns« bedeutete eine halbe Treppe höher im ehelichen Schlafzimmer unter dem Dach. Kaum anzunehmen, daß dort unter den schrägen Wänden das breite Traumbett Platz gefunden hätte. Rückert trat an das niedrige Fenster. Viel zu sehen gab es nicht. Kaum einen halben Meter tiefer lag das Teerdach des Schuppens. Es zog sich bis an die Böschung des Burgwalls, der der Straße seinen Namen gegeben hatte. Der kleine schmale Garten grenzte an den des Nachbargrundstücks. Unten im Schuppen rumorte es und erinnerte Rückert an den krawalligen Riesen, der ja nicht ewig im Karnickelstall bleiben würde. »Hat Ihre Tochter Freunde oder Freundinnen, mit denen sie verkehrt oder die sie besuchen?« wandte er sich an die Frau. So verschlüsselt seine Frage auch klingen sollte, Ellas Mutter hatte verstanden: »Wenn Sie das meinen, irren Sie sich. Männer oder junge Burschen haben bei uns nichts zu suchen. Dafür sorgt schon mein Mann. Ella durfte nicht einmal Schulkameraden mitbringen. Die einzige, die manchmal kommt, ist Heidrun, eine Schulkameradin, mit der sie auch zusammen lernt.« »Und wie ist es mit der Haustür, ist sie nachts verschlossen?« suchte Rückert nach irgendeiner Möglichkeit, hinter die Träume des Mädchens zu kommen. »Sie kennen meinen Mann nicht! Die Haustür ist immer verschlossen, und die Waschhaustür zum Hof wird abends nach dem Füttern verriegelt. Die Schlüssel nimmt mein Mann mit hinauf. Wenn Sie denken, meine Tochter empfängt nachts heimlich Besuch, dann schlagen Sie es sich aus dem Kopf.« Sie strich ihre Schürze glatt und machte eine Bewe-
gung zur Tür. Ein Zeichen, daß sie die Fragerei des jungen Kriminalisten satt hatte. Rückert plagte ein Teufelchen. Irgendwie mußte die Frau doch aus der Reserve zu locken sein. »Und wenn jemand einen Nachschlüssel hat?« In ihren sonst so weichen, fast traurigen Augen blitzte es auf. Ihre Gestalt straffte sich: »Es ist besser, Sie gehen jetzt, bevor mein Mann kommt. Wir werden mit der Geschichte auch allein fertig und brauchen dazu keine Polizei.« Das war ein glatter Rausschmiß. Rückert war für gewöhnlich nicht der Mann, der sich einschüchtern oder rauswerfen ließ. In jedem anderen Fall hätte er es darauf ankommen lassen. Was hielt ihn davon ab, der Frau von dem Gerücht unter den Arbeitern des Marmorbruchs zu erzählen? War es tatsächlich nur ein Gerücht oder…? Keinen Freund, keinen Bekannten der Tochter soll es geben, und im Haus gab es nur einen Mann. Rückert zögerte, ihm tat diese kleine zierliche Frau mit den großen dunkelblauen Augen leid. Durfte er sich bei der Suche nach der Wahrheit von Mitleid beeinflussen lassen? Er liebte seinen Beruf seit der ersten Dienststunde, doch bei solchen Entscheidungen wie jetzt war er nahe daran, alles hinzuwerfen. Still und mit gesenktem Kopf folgte er der Frau die knarrende Treppe hinunter. Die Frau schloß die Tür auf. Ihr war die Veränderung des jungen Mannes nicht entgangen. Um einzulenken, sagte sie: »Haben Sie gehört, wie die Dielen auf der Treppe knarren? Ich habe einen leichten Schlaf. Selbst wenn die Tür offenstehen würde, ich höre jeden, der auf der Treppe ist!« Von der Straße aus warf Rückert noch einen letzten Blick auf das Haus, als könne er die Wahrheit durch die blankgeputzten Fensterscheiben erkennen. Was würde Maresch zu seinem mageren Ergebnis sagen? Auch er würde zu dem gleichen Ergebnis kommen müssen, daß das Gerücht um den Kindesvater nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen war. Und er kannte seinen Vorgesetzten. Das Mitleid würde bei ihm nicht die Oberhand gewinnen. Persönliche Gefühle konnte er wie einen Vorhang beiseite schieben.
Mit sich selbst unzufrieden, in einer miesen und tristen Stimmung, suchte er die Gärtnerei auf. Von Ella Koschaks Lehrmeister, dessen altmodische Nickelbrille wie ein Fremdkörper über der Nase in dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht hing, erfuhr er nichts, was er nicht schon gewußt hätte. Sie gab sich Mühe, war fleißig, ohne durch besondere Leistungen in Erscheinung zu treten. Einmal fiel das Wort »kontaktarm«. »Wie kommen Sie darauf?« hakte Rückert sofort ein. Der Alte nahm die Nickelbrille ab und fing an, sie zu putzen. »Wissen Sie, ich kann nicht immer hinter den Lehrlingen her sein. Wenn ich nicht aufpasse, haben die nur Dußligkeiten im Kopf. Die Jungen ärgern die Mädchen, und umgekehrt ist es auch nicht anders. Haben nur Dummheiten im Kopf, necken und balgen sich, wo sie nur können. Bis auf die Ella, die macht da nie mit. Die bändelt mit keinem an und hält sich überall raus.« »Und ihre Freundin, die Heidrun, ist die auch so?« »I wo, genau das Gegenteil«, beteuerte der Meister, »was die eine zu wenig hat, hat die andere um so mehr. Wo die Heidrun ist, hört das Kichern und Lachen nie auf. Habe sie deswegen heute auch nicht mit den anderen Lehrlingen auf das Freigelände zu den Rosen geschickt. Sie arbeitet mit ein paar Frauen hinten im letzten Gewächshaus.« »Kann ich Heidrun mal sprechen?« »Soll ich sie herholen?« »Nicht nötig. Sie sagten letztes Gewächshaus? Ich werde sie schon finden!« wollte Rückert die Meisterbude verlassen. »Warten Sie mal!« hielt ihn der Meister zurück und funkelte ihn hinter der Nickelbrille an, »was wollen Sie überhaupt von dem Mädchen, und wer sind Sie?« Das einfachste wäre gewesen, den Dienstausweis vorzuzeigen und zu erklären: »Kriminalpolizei! Ich muß in einer Sache Ermittlungen führen!« Dem Alten wäre vielleicht vor Überraschung die Nickelbrille von der Nase gerutscht. Es war zu verkraften. Aber bei der Mentalität einiger Zeitgenossen löst allein das Wort Kriminalpolizei Vorstellungen von Mord und Totschlag, Verbrechen und Zuchthaus aus. Ein wenig von
solcher Mentalität schien dieser Meister mit der Nickelbrille zu haben. Möglich, daß ihm dieser Besuch der Kriminalpolizei bei der nächsten Beurteilung von Ella und Heidrun einfallen würde. Vielleicht würde er dann die Brille abnehmen, um zu überlegen, was es wohl an Negativem gab. Es könnte doch sein, daß die beiden… Und wer stellt sich schon selbst das Zeugnis aus, von nichts gewußt oder geahnt zu haben. Rückert beschloß, den Alten nicht in solche Gewissensnöte zu bringen. Aus seinem Arsenal von Notlügen nahm er die unverfänglichste. »Ich bin in der Freien Deutschen Jugend«, sagte er, ohne rot zu werden, und fummelte dabei dem Meister mit seinem FDJ-Ausweis vor der Nase herum, »wir suchen Jugendfreunde, die gewillt sind, sich aktiv an der Kulturarbeit zu beteiligen.« Wörtlich genommen, war es nicht einmal eine Notlüge. Er war ja in der FDJ, und im Volkspolizei-Kreisamt bauten sie gerade eine Singegruppe auf. Warum nicht mit Gärtnerinnen? »Das letzte Gewächshaus, Jugendfreund!« rief ihm der Alte sichtlich erleichtert nach. Eine Verwechslung schien nicht möglich. Insgesamt vier weibliche Wesen waren im Gewächshaus damit beschäftigt, in flachen Holzkisten eng aneinanderstehende Pflänzchen zu pikieren. Drei von ihnen waren schon weit davon entfernt, in einem Mädchenchor mit kurzem Röckchen auftreten zu können. Nur der schwarzhaarige Wuschelkopf konnte Heidrun sein. Donnerwetter, auch wenn ihre Beine in langen Hosen steckten und die erdverkrusteten Gummistiefel alles andere als hochstöcklige Tanzschuhe waren, eine Figur hatte sie, die sich sehen lassen konnte. Beim Anblick Rückerts hoben die Frauen die Köpfe. Besuch von fremden jungen Männern mußte im Gewächshaus eine Sensation sein. »Guten Tag!« sagte Rückert wie ein wohlerzogener junger Mann, »ich möchte zur Jugendfreundin Heidrun.« Er brachte es mit dem gewinnendsten Lächeln vor, wobei er die Schwarze unverwandt anstarrte. Die Frauen fingen an zu kichern. »Ist das dein Bräutigam?« erklang eine Stimme. »Der ist ja ganz weg«, fiel eine andere ein, »wie der die Heidrun anstarrt, dauert es mit der Hochzeit nicht mehr lange.« Peinlich, peinlich, diese lustigen und sicherlich auch schwatzhaften Gärtnerinnen
waren die letzten, die von dem tatsächlichen Grund seines Besuches wissen durften. Ihm blieb nichts anderes übrig, als bei dem Märchen von der Kulturarbeit zu bleiben. »Ich wollte dich nur einen kurzen Moment wegen unserer Kulturarbeit in der FDJ sprechen«, begann Rückert zu Heidrun gewandt. Seine Worte riefen eine Lachsalve hervor. »Kulturarbeit nennt man das heute? Mein Bräutigam hat mich früher immer erst nach der Arbeit abgeholt! Die Jugend von heute hat keine Zeit mehr!« tönte es durcheinander. Wie ein Bräutigam sah Rückert nun beim besten Willen nicht aus, in seinen baumelnden Knickerbockerhosen und der verblichenen Windjacke. Das schien auch die Meinung des jungen Mädchens zu sein, das Rückert von Kopf bis Fuß musterte. »Wenn es nur einen Moment dauert, dann komm schon, Jugendfreund!« meinte sie, sich dabei die erdigen Finger an der groben Hose abwischend. Beide gingen zum Eingang des Gewächshauses. »Also, was willst du?« fragte sie burschikos. »Wie ich schon sagte. Für die Kulturarbeit in der FDJ brauchen wir Jugendliche, die bereit sind mitzumachen. Ich habe mir gedacht, vielleicht machen ein paar von euch mit.« »Ist das alles?« »Ja!« sagte Rückert und setzte eine treuherzige Miene auf. Im Hintergrund lachten und kicherten die Frauen. »Warum gehst du nicht zum FDJ-Sekretär?« »Ich dachte, wenn man selbst mit den Jugendfreunden spricht, ist es einfacher!« »Die sind alle auf dem Freiland.« »Ich weiß!« plänkerte Rückert, der immer noch keinen Weg sah, etwas über ihre Freundin Ella zu erfahren, »deswegen bin ich ja gekommen!« »Du spinnst wohl«, wurde sie ungehalten. »Weil ich dich kennenlernen will«, spielte Rückert den Schwerenöter, und es fiel ihm nicht schwer. »Da hättest du dir etwas anderes einfallen lassen sollen!«
»Hab’ ich! Wie wäre es, wenn wir uns heute nach der Arbeit treffen. Um siebzehn Uhr vor dem Kino. Ich besorge die Karten!« »Du bist verrückt, ich kenne dich ja gar nicht.« »Höchste Zeit, es nachzuholen!« Von der anderen Seite des Gewächshauses wurde gerufen: »Nun küßt euch endlich, wie lange sollen wir noch warten!« Ein Gelächter folgte. »Die Omas gehen mir auf die Nerven«, stöhnte Rückert. »Du mir auch«, sagte Heidrun und wandte sich ab. »Also, was ist, um siebzehn Uhr vor dem Kino?« Er bekam keine Antwort. Wenn ein junger Kriminalist nicht das Stimmungsbarometer seines Vorgesetzten kennt, sollte er sich schnell einen anderen Vorgesetzten suchen. Auf Rückerts »Guten Morgen« am nächsten Tag knurrte Maresch etwas Unverständliches. »Dicke Luft« signalisierte Rückerts Gehirn. Schnell herausbekommen, welche Laus dem schönen Erwin über die Leber gekrochen ist. Wenn seine schlechte Laune anhielt, war es besser, ihm aus dem Weg zu gehen. Einen Grund, Ermittlungen zu machen, gab es immer. »Is was?« fragte Rückert. »Das mußt du doch wissen!« kam barsch die Antwort zurück. »Ich, wieso ich?« In Gedanken ging Rückert die letzten Tage durch. Da gab es nichts, was Mareschs Unwillen erregen konnte. »Ist dir bekannt, daß du diese Woche Bereitschaftsdienst hast?« »Auch das noch!« ging es Rückert durch den Kopf. »Ja!« fing er an. »Hast du vergessen, daß du dich abzumelden hast, wenn du deine Wohnung verläßt?« ließ Maresch ihn nicht zu Wort kommen. »Nein!« stotterte Rückert. »Wo warst du gestern?«
»Auf Ermittlungen in der Angelegenheit Koschak. Erst in der Wohnung und dann in der Gärtnerei, wo das Mädchen arbeitet!« »In der Gärtnerei ist um sechzehn Uhr Feierabend!« fuhr Maresch wütend fort, »zweimal habe ich den Einsatzfahrer nach dir geschickt. Kein Mensch wußte, wo sich der Herr Obersekretär rumdrückt. Inzwischen habe ich es erfahren.« »Ich war…«, begann Rückert. »Geschenkt! Noch gegen Mitternacht im Café Germania zum Schwof! Deine Arbeit haben andere machen müssen, die eigentlich dienstfrei hatten. Hier, du bearbeitest den Einbruch weiter«, schmiß er Rückert eine dünnleibige Akte auf den Schreibtisch, »und komm mir nicht ohne die Kerle zurück, die gestern in der HO den Schnaps, die Zigaretten und die Pralinen geklaut haben. Damit du dich endlich an Disziplin gewöhnst: Nächste Woche zusätzlich Bereitschaftsdienst! Wenn das noch einmal passiert, sind wir geschiedene Leute.« In dieser Tonart hatte der Oberkommissar noch nie mit ihm gesprochen. Diesmal meinte er es ernst. Besser, ich verschwinde, nahm sich Rückert vor. Morgen oder übermorgen, wenn Maresch wieder zugänglich ist, werde ich ihm erzählen, mit wem und warum ich zum Tanzen war. Die Kleine aus der Gärtnerei war tatsächlich zum Kino gekommen. Sie machte auch kein Hehl daraus, daß ich ihr in meiner dunkelblauen Marinehose mit dem Latz und dem weiten Schlag besser gefiel als in meinen Knickerbockern. Sie brauchte ja nicht zu wissen, daß die beiden Hosen meine einzigen waren und daß ich die dunkelblaue von einem aus der Gefangenschaft entlassenen Marinesoldaten für ein paar Päckchen Tabak und Zigaretten eingetauscht hatte. Nicht jeder hatte wie der schöne Erwin eine Tante zum Ausstaffieren. War noch ein prima Abend oder genau eine halbe Nacht geworden mit der Heidrun. Das Mädchen ging ihm auf dem Weg zur Fahrbereitschaft nicht aus dem Kopf. Zwei-, dreimal war sie stutzig geworden, als er das Gespräch immer wieder auf ihre Freundin Eleonore brachte. Die von ihm spendierten Liköre an der Bar besänftigten zwar immer wieder das Mißtrauen, aber nicht danach vor ihrer Haustür. »An die kommt keiner ran«, meinte sie gelassen, »die ist wie ein Eisblock. Fredy, ein Gärtnergehilfe von uns, hat es zwei Jahre lang versucht. Auf dem Oktoberfest,
voriges Jahr, hat er mit uns gewettet, daß er sie doch rumkriegt, und hat es nicht geschafft. Dabei sah es so aus, als wenn er die Wette gewinnt. Sie hat nur mit ihm getanzt, bis ihr Vater dazwischenfuhr.« Verschnupft war Heidrun nach einer Weile ins Haus gegangen, verärgert über die Gefühllosigkeit ihres neuen Freundes. Sie war in dem dunklen Hausflur andere Zärtlichkeiten gewohnt und auch bereit, sie zurückzugeben. Heidrun ahnte nicht, daß es ihre Worte über Fredy und Ella waren, die Rückert bei dem zärtlichen Treffen nicht mehr aus dem Kopf gingen. In der Fahrbereitschaft mußte Rückert wie oft notgedrungen warten. Der Tankwart war wieder einmal unauffindbar. Zeit für ihn, die in den frühen Morgenstunden vom Bereitschaftsdienst zusammengeschusterten Ermittlungsberichte zum Einbruch in der HO durchzulesen. Diese Berichte und Protokolle glichen sich meistens zum Verwechseln. Schwer hatten es die Einbrecher nicht gehabt. Sie waren vom unverschlossenen Hof durch das Aufbrechen der Kellertür in das Lager der HO gekommen. Bemerkt wurde der Einbruch erst gestern, kurz vor Geschäftsschluß, als der Verkaufsstellenleiter seine Regale auffüllen wollte. Vermutlich fand der Einbruch in der Nacht zuvor statt. Niemandem war vorher aufgefallen, daß das Kastenschloß der Kellertür abgerissen auf der Erde lag. Als mutmaßliche Täter, so der Bereitschaftsdienst, waren zwei Bäckergesellen nicht auszuschließen. Die Backstube der Bäckerei lag auf der anderen Seite des Hofes. Ihre Überprüfung verlief negativ. Sie hatten wie jeden Tag um drei Uhr mit ihrer Arbeit begonnen und wollten nichts bemerkt haben. Der Meister war befragt worden. Er legte für seine Gesellen die Hand ins Feuer. Auch er hatte keine Fremden auf dem Hof gesehen. In der Backstube hatte niemand etwas zu suchen, von solchen Personen wie zum Beispiel den Kohlenträgern abgesehen, die am Tage vor der mutmaßlichen Einbruchsnacht Briketts angefahren hatten. Unter dem Protokoll des Bäckermeisters stand in der krakeligen Handschrift des schönen Erwins: Kohlenhändler überprüfen! Wäre ich auch von allein daraufgekommen, murmelte Rückert. Das nächste Blatt enthielt eine Aufstellung des Diebesgutes. Der Verkaufsstellenleiter hatte sich große Mühe gegeben, beinahe zu viel.
Was da alles an Spirituosen, Zigaretten und Kaffee verschwunden sein sollte, hätte vier Mann die ganze Nacht beschäftigt. Rund sechzig Flaschen Liköre, Schnaps, Wein und Sekt. Die Zigaretten und der Kaffee waren ja leicht. Aber wie haben die Kerle eine ganze Kiste Eier transportiert? Der kluge Mann baut vor, und für klug schien sich der Verkaufsstellenleiter zu halten, im Hinblick auf mögliche Minusdifferenzen. Vorausgesetzt, die Täter werden nicht ermittelt und der tatsächliche Umfang des Schadens somit nicht festgestellt. Wir werden ja sehen. Endlich tauchte der Tankwart auf. Die Fahrt konnte beginnen. Um die Pferde nicht scheu zu machen, ließ Rückert seinen Wagen eine Straße vor der Kohlenhandlung stehen. Zu Fuß und in seinen unvermeidlichen Knickerbockern sah er aus wie ein Kunde, der seine Kohlen bestellen will. Der Kohlenhof war leer, wie ausgefegt. Nur zusammengeschaufelter Kohlengrus lag in einer Ecke. Keine Menschenseele war auf dem Platz. Rückert staunte und steuerte auf eine Bude am Rande des Platzes mit dem Schild »Büro« zu. Büro war gut! Die Bretterbude mit dem wackligen Tisch, den zwei Stühlen und dem Kanonenofen sollte wohl Ärmlichkeit vortäuschen. Dabei sprach die ganze Stadt vom Reichtum des Kohlenhändlers. Nicht ohne Grund, verkaufte er doch mit jedem Sack ein paar Schaufeln Dreck mit. Die Frau des Kohlenhändlers, eine füllige Matrone, der man im Gesicht, an den Händen und an der Kleidung die Spuren ihres Gewerbes ansehen konnte, empfing Rückert. »Heute liefern wir nicht mehr aus!« sagte sie, ohne aufzusehen. »Das ist mir egal, ich möchte den Chef sprechen!« Etwas in Rückerts Tonart ließ die Matrone hellhörig werden: »Sind Sie vom Finanzamt?« »Mit dem Finanzamt habe ich, Gott sei Dank, noch nichts zu tun gehabt. Also, wo ist der Chef?« »Was wollen Sie von meinem Mann?« »Männersache.«
Ein musternder Blick fiel auf ihn und versuchte ihn einzustufen. Wie einer, von dem große Geschäfte zu erwarten sind, sah der junge Mann nicht aus. Aber er gehörte bestimmt auch nicht zu denen, die als Gelegenheitsarbeiter tage- oder stundenweise auf dem Kohlenhof arbeiteten. Sie zuckte mit den Schultern. »Gehen Sie zum Bahnhof. Er lädt dort Waggons ab.« Rückerts Vorstellung beim Kohlenhändler erübrigte sich. »Was wollen Sie schon wieder? Heute haben Sie kein Glück. Die Mistbande hat mich im Stich gelassen. Bringen Sie mir lieber die Kerle!« klang es von der Lore herab, wo der Kohlenhändler mit einem älteren Mann stand, beide mit riesengroßen Schaufeln in den Händen. »Nanu, Herr Preisinger! Gut aufgelegt scheinen Sie heute nicht zu sein!« rief Rückert zu dem Mann hinauf. »Soll ich vielleicht noch jubeln bei dieser Scheißarbeit!« »Ist doch Ihr Beruf!« »Ich bin Kohlenhändler und kein Kohlentrimmer!« wischte sich Preisinger mit der Hand den Schweiß von der Stirn, griff zur Schaufel und warf die Briketts auf seinen Lastwagen. »Können Sie nicht mal eine Pause machen?« »Geht nicht, jede Minute kostet Geld. Die Standgebühren für die Waggons können Sie von Ihrem Gehalt nicht bezahlen.« »Das glaube ich gern. Wo sind Ihre Leute?« »Einfach nicht zur Arbeit gekommen. Ausgerechnet, wo ich sie am nötigsten brauche. Stinkbesoffen die Schweinebande! Wenn die Geld in den Pfoten haben, saufen die, bis es alle ist. Erst dann lassen sie sich wieder bei mir blicken.« »Woher wissen Sie, daß Ihre Arbeiter besoffen sind?« »Ich habe sie vorgestern wie jeden Tag ausgezahlt, und da haben sie sich vollgesoffen.« »Von einem Tageslohn?« »Mann, Sie haben eine Ahnung! Bei mir bringt es ein guter Arbeiter in einer Schicht auf fünfzig bis sechzig Emmchen, die Trinkgelder nicht
mitgerechnet. Das reicht wohl, um sich vollaufen zu lassen. Fragen Sie meine Frau. Sie wollte die Burschen heute früh holen.« »Trotzdem, Herr Preisinger! Ein paar Auskünfte müssen Sie mir schon geben!« »Was wollen Sie wissen?« rief der Kohlenhändler vom Waggon, ohne sich bei seiner Arbeit stören zu lassen. »Wer in der letzten Zeit bei Ihnen gearbeitet hat und welche Kunden beliefert wurden!« »Das hab’ ich doch nicht im Kopf. Kommen Sie morgen in mein Büro!« »So lange kann ich nicht warten. Auch bei uns ist Zeit Geld!« »Na schön, dann heute mittag.« »Einverstanden!« Rückert ließ den Händler bei seinen Briketts zurück. Zwischen beiden bestand ein recht eigentümliches Verhältnis. Wer ihren Gesprächen zuhörte, vermeinte gegenseitige Zuvorkommenheit, wenn nicht sogar Freundschaft herauszuhören. Die Sache lag aber ganz anders. Keiner traute dem anderen über den Weg. Sie kannten sich schon eine ganze Weile. Preisinger beschäftigte in seiner Kohlenhandlung neben einem alten Arbeiter sogenannte Tageskräfte. Sie kamen nach Absprachen oder auch von allein früh zur Kohlenhandlung, packten die Briketts ein und fuhren sie aus. Die Auszahlung ihres Lohnes erfolgte sofort nach der Schicht. Im Laufe der Zeit hatte sich Preisinger beinahe einen Stamm solcher Arbeitskräfte herangebildet. Sie kamen, wenn sie Lust zur Arbeit verspürten oder kein Geld mehr hatten, und blieben fort, wenn es ihnen paßte. Unter ihnen gab es kaum einen, dessen Strafregister ohne Eintragung war. So konnte es nicht ausbleiben, daß bei der Ermittlung unbekannter Täter zu Einbrüchen, Körperverletzungen und sonstigen Delikten der Weg der Kriminalisten immer bei Preisinger vorbeiführte. Meistens nicht ohne Erfolg. Preisinger saß zwischen zwei Stühlen. Als Geschäftsmann wollte er es mit den Staatsorganen nicht verderben, man wußte ja nie… Und merkten seine Leute, die ihm das Geld verdienten, daß die Kriminalpolizei manchen Wink von ihm bekam, ließen sie ihn sitzen, und er mußte seine Kohlen allein einsacken
und in die Keller tragen. Er hatte es schwer und sah schon mit Bangen der Mittagspause entgegen. Rückert ging zum Auto, das er auf dem Bahnhofsvorplatz geparkt hatte. Bis Mittag hatte er Zeit. Mal sehen, wer von Preisingers Truppe die Bäckerei mit Briketts belieferte und dabei Gelegenheit hatte, den Hintereingang auszubaldowern. Für einen Kaffee und eine Bockwurst war jetzt die richtige Zeit. Die Bahnhofsgaststätte war leer. An der Theke schäkerte eine Serviererin mit dem Büfettier. Serviererin! Rückert vergaß, in die Bockwurst zu beißen. Gestern abend, als er mit Heidrun tanzte, war doch was mit einer Serviererin? Natürlich, jetzt fiel es ihm wieder ein. Ein Streit zwischen der Serviererin und einem Gast, der schnell wieder beigelegt war. Ums Korkengeld ging es. An einem Tisch hatte ein Gast eine Flasche mitgebracht. Die Serviererin hatte daraufhin Korkengeld verlangt. Der Gast wollte die drei Mark nicht bezahlen. Nach kurzem Wortwechsel hatte sie ihr Geld von einem der Gäste am Tisch erhalten. Von Ansehen waren ihm die Gäste am Tisch, zwei Brüder, nicht unbekannt. Die beiden waren stadtbekannte Schläger und Radaubrüder. Wenn er sich nicht täuschte, gehörten sie zu Preisingers Belegschaft. Die Namen zu erfahren war ein Kinderspiel. Sie lagen bestimmt in der Täter-Lichtbildkartei. Der kleine Schmächtige, der das Korkengeld nicht bezahlen wollte, wie redete ihn die Serviererin an? Ein Spitzname muß es gewesen sein. Zille, Zicke, Gille oder so ähnlich klang es. Rückert schluckte hastig den Rest der Bockwurst runter. Schnell zur Lichtbildkartei und aufpassen, damit er Maresch nicht über den Weg lief. Der wird sich putzen, wie schnell sein Obersekretär auf einer heißen Spur ist. Eine gute Stunde später lehnte sich Rückert in seinem Stuhl zurück. Seine Ahnung hatte nicht getäuscht. In der Täter-Lichtbildkartei fand er die Konterfeis der Brüder Busse. Sie standen in der Vergangenheit nicht nur für Körperverletzung, sondern auch für Einbruchsdiebstähle vor Gericht. Ob Preisinger das Mittagessen geschmeckt hatte, fragte Rückert nicht. Der Kohlenhändler kramte aufgeregt in einem Haufen Schmierzetteln herum, als Rückert in das Büro eintrat.
»Hier sind die Abrechnungszettel von den Leuten, die in der letzten Zeit bei mir gearbeitet haben«, empfing er Rückert. »Ob das alle sind, weiß ich nicht. Manche kommen und verschwinden einfach.« »Mal sehen!« machte es sich Rückert bequem. Die Gebrüder Busse zählten nicht zu denen, die kamen und verschwanden. Sie gehörten, nach der Menge der Zettel mit ihren Namen, zur Stammbelegschaft des Kohlenhändlers. Wie Rückert es erwartete, hatten sie auch die Kohlen der Bäckerei angeliefert. »Diese beiden Brüder Busse«, begann Rückert sich an den Kohlenhändler heranzutasten, »sind ja recht häufig auf dem Kohlenhof. Sie könnten Sie doch fest anstellen.« »Ich werde mich hüten!« brauste Preisinger auf, »heute, wo ich sie brauche, sind sie nicht da. Auf die Kerle ist nun einmal kein Verlaß.« »Meinen Sie, wir ärgern uns mit Arbeitern rum, die dreimal in der Woche besoffen sind und nicht zur Arbeit kommen?« mischte sich die Frau des Kohlenhändlers ein. »Schöne Belegschaft, die man früh zur Arbeit holen muß.« »Ihr Mann sagte mir schon, daß Sie heute morgen bei den Arbeitern waren«, tat Rückert mitfühlend. »Waren die denn zu besoffen, um zur Arbeit gehen zu können?« »Die hätten Sie mal sehen sollen. Stockbesoffen, und der Kleine, der mit ihnen die letzten Tage zusammengearbeitet hatte, Zischer nennen sie ihn, der auch. Ich sah gleich, was los war. Die Brüder schliefen halb angezogen in ihren Betten, und der Zischer lag auf dem Erdboden. Auf dem Tisch stand mindestens ein halbes Dutzend halb ausgetrunkener Schnapsflaschen. Bevor die Flaschen nicht leer sind und die Saufhähne ihren Rausch ausgeschlafen haben, lassen die sich nicht auf dem Kohlenhof blicken!« Seine Freude über den Erfolg ließ Rückert sich nicht anmerken. Alles andere war Routinesache. Festnahme, Durchsuchung und Vernehmung. Selbst wenn das restliche Diebesgut nicht gleich gefunden wird, die beiden Busse und der kleine Zischer würden erklären müssen, woher sie die Schnapsflaschen hatten.
Eigentlich hätte Rückert jetzt zu seinem Oberkommissar fahren können, um die Anordnung zur Durchsuchung und Festnahme der Brüder Busse einzuholen. Statt dessen bat er den Kohlenhändler, das Telefon benutzen zu dürfen. Preisinger verstand nichts. Nur so viel, daß der junge Kriminalist mit einer Gärtnerei telefonierte und nach einem Gärtnergehilfen namens Fredy fragte. Ob der auch etwas mit seinen Saufamseln zu tun hatte? Ein Gärtnergehilfe hatte bei ihm noch keine Kohlen eingesackt, und die Gärtnerei bezog ihre Kohlen direkt vom Großhandel. Ermutigend war die Auskunft nicht, die Rückert über den Gärtner Fredy erhalten hatte. Seit dem ersten Januar war der nicht mehr im Betrieb. Ohne auch nur den leisesten Grund anzugeben, hatte er fristgemäß gekündigt und war jetzt in einer Gärtnerei im Nachbarort tätig. Rückert überlegte, auf eine Stunde kam es nicht an. Bevor er die Festnahme der Einbrecher einleitete, blieb noch genügend Zeit, sich diesen Fredy einmal anzusehen. Oberkommissar Maresch war ungehalten. Es war kurz vor Dienstschluß, und sein Obersekretär hatte sich nicht einmal bei ihm sehen lassen. Dabei soll er kurz vor dem Mittagessen in der Dienststelle gewesen sein, hatte die Täter-Lichtbildkartei durchgesehen und war ohne eine Wort wieder verschwunden. Ein wenig schuldbewußt sah er auf die Uhr. Sollte ich heute früh zu sehr mit ihm ins Zeug gegangen sein, überlegte er. Wenigstens für eine Entschuldigung hätte ich ihm Zeit lassen sollen. Mareschs Selbstvorwürfe wurden vom Stein des Anstoßes unterbrochen. Ohne angeklopft zu haben, schob Rückert mit Siegesmiene einen jungen schlaksigen Mann ins Zimmer. »Ich habe ihn!« posaunte er, und zu dem jungen Mann gewandt: »Setzen Sie sich und erzählen Sie dem Oberkommissar, was Sie mir im Auto erzählt haben!« Maresch nahm in Gedanken alle Selbstvorwürfe zurück. Ohne den Anschiß heute früh hätte Rückert bestimmt nicht den Einbrecher so schnell ermittelt… Die jungen Burschen müssen ab und zu die Zügel und die Sporen fühlen, sonst werden sie übermütig. »Wo soll ich anfangen?« stotterte der junge Mann verlegen. »Bei der Geschichte auf dem Oktoberfest«, gab Rückert Schützenhilfe.
Ei sieh da, konstatierte Maresch, der Bursche hat nicht nur den Einbruch bei der HO auf dem Kerbholz. »Auf dem Oktoberfest im vergangenen Jahr habe ich mit der Ella getanzt. Wenn es ihr Vater nicht sah, ihr auch einen Likör spendiert. Na jedenfalls, die Ella gefiel mir schon lange, und heute auch noch«, suchte der junge Mann nach Worten. Das Gesicht des Oberkommissars zog sich in die Länge. Er hatte die Schilderung eines Einbruchsdiebstahls erwartet und mußte sich das Liebesgestammel dieses schlaksigen Kerls anhören. Sein wütender Blick zu Rückert ließ diesen kalt. Rückert winkte mit der Hand ab. Abwarten, es kommt noch! »Ich habe gedacht«, fuhr der junge Mann fort, »daß ich der Ella auch gefalle. Sie hat sich beim Tanzen immer eng an mich gedrückt und auch meine Hand festgehalten. Ihr Vater hat sie dann nicht mehr tanzen lassen. Beim Fortgehen konnte ich der Ella gerade noch zuflüstern, daß ich in der Nacht zu ihr kommen wollte. Sie hat nichts darauf gesagt. In der Nacht nach dem Fest bin ich vom Burgwall her an das Grundstück, wo Ella wohnt. Vom Burgwall habe ich kleine Steinchen in ihr Fenster geworfen. Sie hörte mich wohl nicht, und warten wollte ich wegen ihrer Eltern auch nicht. Da bin ich auf das Schuppendach gestiegen und an das Fenster gegangen. Der Mond schien so hell, daß ich Ella in ihrem Bett liegen sah. Auf mein leises Rufen hat sie nicht geantwortet, vielleicht weil ihre Eltern über ihrem Zimmer schlafen.« Die Stimme von Fredy war leiser geworden. Verlegen blickte er an Maresch vorbei in die Zimmerecke. »Weiter, wie ging’s weiter?« begann sich nun auch Maresch mit dem Gedanken an seinen Freund Kirsten im Marmorbruch für den Gärtnergehilfen und sein Liebesabenteuer zu interessieren. »Ich wollte Ella ja nur streicheln«, fuhr Fredy verlegen fort, »ganz leise bin ich ins Zimmer eingestiegen. Als ich ihren Arm berührte, blieb sie ganz ruhig. Dann habe ich mich aufs Bett gesetzt, und später habe ich mich zu ihr gelegt.« »Und die Ella, was hat die gesagt?« wollte Maresch wissen. »Nichts!« stotterte er, »sie hat getan, als ob sie schliefe.«
»Haben Sie sich ausgezogen?« hakte Maresch wieder ein. »Nein«, meinte der Gefragte mit hochrotem Kopf, »nur die Schuhe, die hab’ ich schon auf dem Schuppendach ausgezogen.« »Hatten Sie mit dem Mädchen Geschlechtsverkehr?« nahm Maresch kein Blatt vor den Mund. Der Angesprochene schaute befangen zu Rückert: »Ich habe doch schon alles dem Herrn hier erzählt. Nur ein bißchen, nicht richtig. Ellas Nachthemd hatte sich hochgeschoben, und da habe ich…« »Genug! Das andere können Sie sich sparen«, unterbrach ihn Maresch. »Was hat das Mädchen dazu getan? Hat sie sich gewehrt, Sie fortgestoßen? Hat sie geschrien?« Hilflos blickte Fredy in eine Zimmerecke: »Nichts, sie hat nur ganz still neben mir gelegen und so getan, als ob sie schläft. Nach einer Weile bin ich aus dem Bett und über das Schuppendach zum Burgwall.« »Haben Sie das Mädchen später wiedergetroffen?« fragte Maresch. »Natürlich, wir haben uns in der Gärtnerei jeden Tag gesehen. Sie hat immer so getan, als ob nichts zwischen uns ist. Ich habe immer wieder versucht, mich mit ihr zu verabreden. Sie wollte davon nichts wissen, weil ihr Vater so streng ist. Mir war das zu blöd, und da habe ich gekündigt!« »Warten Sie draußen auf dem Flur!« schickte Maresch den Gärtnergehilfen aus dem Zimmer. »Aus dir soll einer schlau werden!« wandte sich Maresch an seinen Obersekretär, »statt der Einbrecher schleppst du mir diesen verklemmten Jüngling an. Wie bist du denn auf den gekommen?« »Beim Tanzen gestern nacht«, sagte Rückert im Ton des verletzten Stolzes, »was machen wir mit ihm, reicht es zum Einsperren?« Maresch lachte. »Da kann der gewiefteste Staatsanwalt keine Vergewaltigung draus machen. Er hat weder Gewalt angewendet noch sich an einer geistesgestörten oder hilflosen Person vergriffen. Vielleicht hat sie tatsächlich geschlafen oder meinetwegen nur so getan. Der Kindesvater ist Fredy. Drangehalten ist so gut wie reingesteckt, heißt es doch unter Juristen.«
»Mir hat er im Auto erzählt, er will die kleine Gärtnerin heiraten. Soll er!« meinte Rückert. »Und wer soll es der Familie Koschak beibringen?« »Ich nicht! Mein Umgang mit Gärtnerinnen reicht mir. Fahr du hin. Die Mutter ist mit Eleonore allein im Hause. Der Goliath hat diese Woche Spätschicht. Ich habe noch zu tun, muß mit den Genossen von der Fahndung die Einbrecher holen. Die Gebrüder Busse und einer, den sie Zischer nennen, waren es. Ihr versoffenes Gegröle habe ich im Vorbeifahren bis auf die Straße gehört!« Oberkommissar Maresch war so erstaunt, daß er seine dunkle Fensterglasbrille von der Nase nahm: »Wie bist du denn dahintergekommen?« »Beim Tanzen gestern!« grinste Rückert. »Mach dich endlich fort, und wenn du denkst, du kommst nächste Woche um den Bereitschaftsdienst, dann hast du dich geschnitten.«
Der sechste und letzte Abend
unserer Punschrunde gehörte dem schönen Erwin. Mit einem Sektkübel inmitten des Tisches, aus dem die schlanken Hälse zweier Flaschen Champagner ragten, setzte er unseren Punschabenden die Krone auf. Von den Flammen des Feuers im Kamin umkost, summte der alte Kessel der Zigeuner sein uraltes Lied von der Lebensfreude. Gefüllt mit Rotwein, Weißwein und Tee, durchdrungen von den Geistern des Arraks und des Maraschinos, gesüßt mit Zucker, entströmte seiner Öffnung der Duft des Frohsinns und der Heiterkeit. Hellauf schäumte der Sekt über die mit dem Inhalt des rotgoldenen Kessels gefüllten Gläser. »Stoßt mit mir an!« erhob der schöne Erwin sein Glas, »so, wie das Perlen des Sektes den Geist dieses Getränkes durchdringt und alles ans Tageslicht bringt, soll eure Arbeit der Suche nach der Wahrheit dienen!« Die Augen des Keilers funkelten zu mir herüber, als wollten sie sagen: Merke dir die letzte Geschichte von der Suche nach der Wahrheit gut.
Sektpunsch Ein halbes Liter Arrak und ein viertel Liter Maraschino mischt man mit rotem und weißem Wein, gießt Tee und Zucker hinzu und bringt das Getränk zum Sieden. Den heißen Punsch füllt man in Gläser und gibt einen Schuß prickelnden Sekts sowie je eine Orangenschale dazu.
Vollmond-Story Ein dicker brauner Maikäfer zog über den Köpfen der beiden Zecher seine Kreise und Bahnen, taumelte an die Ranken des wilden Weines und plumpste mit surrenden Flügeln mitten in das noch halbgefüllte Bierglas. »So ’ne Schweinerei!« lallte der Betrunkene und versuchte mit seinem dicken knotigen Zeigefinger den Käfer aus dem Bier zu fischen. War es seine trunkene Ungeschicklichkeit oder der wackelnde Gartentisch im Gartenlokal des Aussichtsturmes? Das Glas kippte um, und sein Inhalt floß über den Tisch. »Ein Bier!« verlangte laut sein Begleiter. Auch dessen Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Die Serviererin stand in ihrer weißen Schürze am Eingang zu den Gasträumen im unteren Teil des Turmes. Langsam trat sie näher und wischte mit einer Serviette die Bierlache vom Tisch. »Genug, meine Herren!« sagte sie dabei, »für heute reicht es, morgen ist auch noch ein Tag!« Sie hatte die beiden schon eine Weile beobachtet. Am Nachmittag war erst der Jüngere gekommen. Etwas später hatte sich der Ältere zu ihm gesellt. Abwechselnd hatten sie eine Lage nach der anderen bestellt. Immer war sie zur Stelle gewesen. Mitten in der Woche waren die im Garten zwischen den Spalieren mit wildem Wein aufgestellten Tische und Stühle kaum besetzt. Die Kinder und wenigen Spaziergänger hielten sich zur Erfrischung nicht lange auf. Zwei Gäste wie diese brachten Umsatz, ganz anders als das Liebespärchen ein paar Tische weiter. Sie sahen nur sich und nuckelten an einer Flasche Wein schon den ganzen Abend herum. »Bringen Sie noch eine Lage!« lallte der Ältere, »eine letzte, dann gehen wir!« »Schluß, meine Herren! Ich bitte zu zahlen!« ließ sich die Serviererin nicht erweichen. »Dann eben nicht!« Er zog seine Brieftasche.
»Alles, oder zahlt jeder der Herren für sich allein?« wollte sie wissen. »Ich zahle alles«, blätterte der Ältere seine Brieftasche auf. Sein Begleiter machte einen langen Hals. Daß der Opa im Verlaufe des Abends mehrmals an seine Brieftasche geklopft und prahlerisch erklärt hatte, er könne sich alles leisten, hatte er nicht für bare Münze genommen. Jetzt glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Was der Opa da mit sich herumtrug, war mehr, als er in zwei oder drei Monaten im Sägewerk verdiente. »Dreiundvierzigachtzig«, nannte die Serviererin die Summe, die ihr flinker Bleistift addiert hatte. Wahrscheinlich war ihre Schuhgröße mitgerechnet. Der Gast erhob keine Einwände. »Stimmt so!« reichte er ihr einen Fünfzigmarkschein hin, den seine dicken Finger aus dem Bündel großer Geldscheine herausgezogen hatten. Ihr »Danke recht schön« war ehrlich gemeint. Schade, dachte sie, solche Gäste gibt es nicht oft. Ihr Eindruck von den beiden hatte sie nicht getäuscht. Schön ausgenommen hat der andere den Opa. Selbst kaum ein paar Mark in der Tasche und sich dann wie eine Klette an einen betrunkenen alten Mann hängen, schimpfte sie in Gedanken. Einzelne Gesprächsfetzen hatte sie beim Servieren aufgeschnappt. Von Rindern und Melken war die Rede gewesen und wie gut das Leben auf dem Lande sei. Bestimmt war der Opa in seinem dunkelblauen Anzug mit den engen Hosen und den Ascheflecken auf den Revers der Jacke in die Stadt gekommen, um etwas zu erleben, sich »einen schönen Tag« zu machen. Hoffentlich kommt der gut nach Hause! Sie sah den beiden Betrunkenen nach, die, sich gegenseitig stützend, auf dem schmalen steinigen Weg dahinschwankten, der vom Aussichtsturm durch den Eichwald in die Stadt führte. Der Steinpfad kürzte den Weg bis zur Stadt um die Hälfte ab. Aber eine gute halbe Stunde Fußmarsch durch den Wald blieb es trotzdem bis zur Endstation der Straßenbahn. Zu verfehlen war der Steig nicht. Jeder Stein und jeder Baum am Weg war im hellen Schein des Vollmondes zu erkennen. Zufrieden drehte sie sich um und fing an, die Tische abzuräumen und die Stühle zurechtzurücken. Wenn doch nur erst das Liebespaar aufbrechen würde. Lange genug hatten sie sich an den Händen gehalten und waren im Schatten des
wilden Weines immer enger zusammengerückt. Je näher sie bei ihren Aufräumungsarbeiten den beiden kam, desto lauter schob sie die Stühle an die Tische. Endlich verstand das Pärchen. Sie erhoben sich, und der Mann zahlte, wobei er sich auf den Pfennig genau herausgeben ließ. Geizkragen, hätte sie ihm am liebsten nachgerufen, läßt mich eine halbe Stunde hier rumfuhrwerken und länger arbeiten, ohne auch nur an ein Trinkgeld zu denken. Ein wenig mitleidig sah sie der jungen Frau nach, die eng an ihren Begleiter geschmiegt auf dem Pfad durch den Wald ging. Wenn der sich in der Ehe auch so knausrig zeigte wie eben, dann sollte sie lieber den Weg durch den Wald mit seinen verschwiegenen Stellen meiden. Sie räumte die leere Weinflasche und die Gläser fort. Feierabend! Zu so später Stunde werden sich keine neuen Gäste hierher verirren. Sie würde jetzt ihre Abrechnung machen und noch vor Mitternacht ihr Zimmer neben der Wohnung des Gaststättenehepaares aufsuchen können. Für das verliebte Pärchen spielte die Zeit keine Rolle. Engumschlungen folgten sie dem Pfad in der mondhellen Nacht. An Stellen, wo das Mondlicht das dichte Laubdach nicht durchdringen konnte, blieben sie dicht aneinandergepreßt stehen. Immer stärker war das Liebeswerben des Mannes geworden. Wenn es nach ihm ginge, würde er sich mit seiner Begleiterin vom Pfad abwenden und ein Plätzchen seitab des Weges suchen. »Nicht hier!« flüsterte das Mädchen. Dichtes Gestrüpp und Unterholz neben dem abschüssigen Weg hielten sie davon ab, dem Begehren des Mannes nachzugeben. Zu unheimlich war es ihr unter den Kronen der Bäume, die keinen Mondstrahl durchließen. Ihr »Nicht hier!« war dem Mann ein Versprechen, das ihn bewog, an der Seite des Mädchens schneller den Eichwald zu durchqueren. Unten, fast am Fuß des Bergwaldes, wußte er abseits vom Weg eine Stelle, die für eine ungestörte Liebesstunde wie geschaffen war. Ein Trampelpfad, der sich wie viele andere kreuz und quer durch den Wald zog, endete auf einer kleinen Lichtung. Er kannte sich gut aus und hatte schon oft am Rande der Lichtung im Gras gelegen.
An der Stelle, wo der kleine Pfad den Steinweg kreuzte, zog er das Mädchen vom Weg. »Doch nicht hier!« versuchte sie einzuwenden. »Hab keine Angst«, beruhigte er sie, »noch ein paar Schritte, und wir sind an der Stelle, wo uns keiner stört.« Sie folgten dem verschlungenen Pfad, und nach ein paar Minuten breitete sich vor dem liebestrunkenen Paar die kleine Lichtung aus. In ihrer Mitte stand eine alte hundertjährige Eiche, deren Äste weit herunterhingen. Ihre gewaltige Krone hüllte rings um den dicken Stamm die Wiese in eine verschwiegene Dämmerung. Die warme Nachtluft trieb ihnen den Geruch von frischem Grün und Gras entgegen. »Komm«, lockte der Mann, »unter dem Baum steht eine Bank, dort können wir uns ausruhen.« Noch verschwieg er ihr, daß rings unter der alten Eiche Mutter Natur für einen weichen Teppich aus langem Gras gesorgt hatte. Vom gleichen Verlangen erfüllt wie ihr Freund, eilte die junge Frau über die im Mondlicht liegende Waldwiese zur Eiche. »Na so etwas!« entfuhr es dem Mann. Dabei klang seine Stimme nicht einmal ärgerlich. Die Bank war nicht mehr da. Die Rowdys, die ihre Kraft an den Holzleisten der Rückenlehne und des Sitzes ausprobierten, hatten nicht vermocht, auch die steinernen Sockel der Bank zu demolieren. »Wozu brauchen wir eine Bank?« kam die Frau dem Mann entgegen, »im Gras sitzt es sich viel bequemer!« Sie ließ sich am Stamm der Eiche in das Gras sinken und zog den Freund mit sich. In dem Mann wallte das Blut, mit einer heftigen Bewegung umarmte er das Mädchen. Ihr Körper gab langsam nach und sank nach hinten in das weiche Gras. Ihr Nacken kam auf etwas zu liegen. Es drückte, und sie griff mit der Hand danach, um es wegzuschieben. Mit einem Aufschrei, der spitz und schrill über die Lichtung hallte, stieß sie den Mann von sich und sprang auf. Ihre Hand hatte den Fuß eines Menschen berührt.
»Was hast du?« konnte sich der Mann das Gebaren der Frau nicht erklären. »Hinter dem Baum liegt wer! Laß mich fort. Ich will nach Hause!« zitterte ihre Stimme. Hastig brachte sie hinter dem Rücken ihres Freundes die Kleider in Ordnung. »Blödsinn!« erwiderte er wütend, so dicht am Ziel seiner Wünsche. Es war nicht das erste Mal, daß sich seine jungen Frauen so benahmen. Erst machten sie einen verrückt, und zu guter Letzt überlegten sie es sich anders. »Wer soll hier liegen?« versuchte er zu retten, was zu retten war und trat an den Stamm, um seine Freundin von der Grundlosigkeit ihrer Angst zu überzeugen. Erschreckt fuhr auch er zusammen. Im Widerschein des Mondlichtes lag im Schatten des dicken Stammes eine männliche Person und rührte sich nicht. »He, stehen Sie auf! Was machen Sie hier?« rief er den Liegenden an. Er bekam keine Antwort. Mit seinem Sturmfeuerzeug leuchtete er dem Mann ins Gesicht. Ein leises Stöhnen war zu vernehmen. »Ein Besoffener!« Damit war für ihn der Fall erledigt. Mußte der ausgerechnet unter der Eiche seinen Rausch ausschlafen? Am liebsten hätte er ihn mit ein paar Tritten in den Hintern hochgejagt. »Komm, wir werden uns einen anderen Platz suchen«, griff er nach dem Arm der Frau. Sie hatte genug von dem Wald. Ihr war die Lust auf Liebe vergangen. »Können wir den Mann einfach liegenlassen?« erwachte ihr Mitgefühl. »Erfrieren kann der nicht«, sagte der enttäuschte Liebhaber mit Groll in der Stimme. »Dem scheint es aber nicht gut zu gehen. Er stöhnt, und einen Schuh hat er auch nicht an. Kümmere dich bitte um ihn!« Mit seinem Feuerzeug leuchtete der Mann in das Gesicht des Betrunkenen. »Der blutet ja!« rief er erstaunt und drehte den auf dem Rücken Liegenden zur Seite. »Den hat es erwischt. In seinem Hinterkopf hat er ein großes Loch! Der muß sofort ins Krankenhaus. Ich hole einen Rettungswagen!«
»Nimm mich mit«, bat sie. »Allein bleibe ich hier nicht!« Eilig, die Frau hinter sich herziehend, rannte der Mann über die Lichtung zu einer Stelle, wo ein Trampelpfad auf kürzestem Weg zur Endstation der Straßenbahn führte. Dort gab es eine kleine Fabrik mit einem Pförtner und ein Telefon. »Mach schnell, beeile dich!« drängelte der Einsatzfahrer unten vor der Haustür. Nach seinem stürmischen Klingeln hatte Kriminalobersekretär Rückert sein Fenster über der Haustür geöffnet, um zu erfahren, wer mitten in der Nacht zu ihm wollte. Um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, rief der Fahrer verhalten: »Ein versuchter Raubmord, hat der Oberkommissar gesagt. Der war schon im Krankenhaus, und ich soll dich gleich zum Tatort in die Schraubenfabrik zum Pförtner bringen.« Rückert schlüpfte eilig in Hemd und Hose. Mit flinken Fingern machte er die Schnallen an den Knickerbockern zu. Rein in die Schuhe, ein Griff zur Windjacke, und im Nu stand er vor dem verblüfften Kraftfahrer. »Was glotzt du? Gib deiner Karre die Sporen.« Für Oberkommissar Maresch war die Schnelligkeit, mit der sein Mitarbeiter in der Pförtnerloge auftauchte, eine Selbstverständlichkeit. Ihn hatte der Diensthabende nach der Meldung aus dem Krankenhaus alarmiert. Der schöne Erwin trägt seinen Spitznamen doch zu Recht, waren die Gedanken Rückerts beim Anblick seines Vorgesetzten. Wie aus dem Ei gepellt sah der wieder aus. Sogar seine weißblonde Lockenpracht klebte am Schädel, als sei er geradewegs vom Friseur gekommen. Wahrscheinlich schlief der schöne Erwin sogar nachts mit seinem Haarnetz. Er schaute sich um. Von Blut und einem Opfer, ohne die es ja kaum einen Mord oder Mordversuch geben konnte, war nichts zu sehen. Der Pförtner war quicklebendig und furchtbar aufgeregt. Vielleicht war das sein erster Mord. Das verstörte Pärchen auf der Bank an der Wand sah weder nach Täter noch nach Opfer aus.
Als habe er nur auf das Erscheinen seines Mitarbeiters gewartet, so wie ein Schauspieler auf das Stichwort aus dem Souffleurkästen, begann Maresch seine Show abzuziehen. Rückert hatte sich längst mit der Art von Maresch, sich überall in Positur zu setzen, abgefunden. Mit Rückert und dem Pförtnermännlein als Zuschauer blieb Maresch mit wippenden Beinen vor seinem Publikum, dem verschüchterten Pärchen, stehen. »Meine Zeit ist kostbar! Sie verstehen? Brauche jetzt nur kurze und präzise Antworten. Mein Obersekretär«, deutete er auf Rückert, der gerade die Stullenbüchse des Pförtners beiseite geschoben hatte, um Platz für sein Notizbuch zu machen, »wird später alles genau protokollieren. Sie haben den Verletzten gefunden?« Das Pärchen nickte einmütig. »Kennen Sie die Person?« Einmütiges Kopf schütteln. »Was hatten Sie um Mitternacht im Eichwald zu tun?« Kein Nicken, kein Kopf schütteln. Sie wandten einander die Gesichter zu und hüllten sich in Schweigen. Die Frau zupfte verlegen ein paar Grashalme von ihrem Rock. Das Unpassende seiner Frage war Maresch erst bewußt geworden, als seine Worte im Raum standen. Er hüstelte, um die Verlegenheitspause zu überbrücken. »Lassen wir das! Wo haben Sie sich am Abend aufgehalten?« Seine männliche Verantwortung übernehmend, sprudelte der Mann heraus: »Meine Verlobte und ich…« »Verlobte« klang wie Musik in den Ohren der jungen Frau. So ernst hatte er es im Eichwald gemeint? Vor dem eleganten selbstsicheren Herrn von der Polizei war das Wort so gut wie ein amtlich beglaubigtes Eheversprechen. Eigentlich mußte sie dem Mann unter dem Eichbaum dankbar sein. Wer weiß, ob im Eichwald beim Tête-à-tête ihr Freund sich so zu ihr bekannt hätte. Sie hatte ihre Erfahrungen. Meistens verflogen mit dem Mondschein auch alle Schwüre und Beteuerungen, die in solchen Nächten das Leben und die Liebe angenehm machen.
»Also«, fuhr der Mann bedächtiger fort, als täte ihm der Ausrutscher seiner Zunge schon leid, »wir sind am Nachmittag zum Klosterturm spazierengegangen. Dort haben wir im Garten gesessen und eine Flasche Wein getrunken. Kurz vor Mitternacht, wir waren die letzten Gäste, gingen wir durch den Eichwald zur Straßenbahn. Unterwegs bei der alten Eiche fanden wir den Mann.« Die junge Frau hob wie ein Schulmädchen den Finger. »Ja«, erlaubte Maresch ihr das Sprechen. »Ein Mann, der den gleichen Anzug anhatte wie der im Wald, war auch im Garten am Klosterturm. Es war noch ein anderer Mann bei ihm. Sie haben ein paar Tische weiter gesessen.« »Können Sie eine Beschreibung des Mannes geben?« Sie schüttelte den Kopf. »Für andere habe ich mich nicht interessiert«, sagte sie, ihrem »Verlobten« einen liebevollen Blick zuwerfend. »Und Sie?« fragte Maresch den Verlobten. »Gesehen habe ich die beiden, aber nicht auf sie geachtet. Fragen Sie die Serviererin vom Gartenlokal. Die hat mit den Männern gesprochen. Es ging um eine neue Lage, die sie nicht bringen wollte.« »Gut! Jetzt führen Sie uns an den Ort, wo der Verletzte gelegen hat«, verlangte Maresch. Einer Prozession gleich bewegte sich einer hinter dem anderen auf den Pfad zur alten Eiche. Der um sein Liebesabenteuer gebrachte »Verlobte« führte sie an. Ihm folgten Maresch und Rückert, dann kam die junge Frau, wohlbehütet von zwei Schutzpolizisten, denen mit Abstand der Fährtenhundeführer mit seinem Hund folgte. Die Polizisten hatten Taschenlampen und Handscheinwerfer. Von weitem wirkten die Menschen, die sich auf dem schmalen Steig hintereinander herschlängelten, wie ein Umzug mit farblosen Lampions. Am Rande der Lichtung blieb ihr Führer stehen. »Dort am Stamm der Eiche lag er«, deutete er auf die Hundertjährige, »ein paar Schritte rechts neben dem Fundament der Bank.« »Sie warten hier!« befahl Maresch, ohne einen Unterschied zwischen Zivilisten und Polizisten zu machen, »der Hundeführer zu mir!«
Mit dem Licht des Handscheinwerfers leuchtete Maresch die angegebene Stelle ab. Noch hatte sich das lange Gras nicht wieder aufgerichtet. Der Hund bekam seine lange Fährtenleine angelegt, und mit einem eindringlichen »Such – such – brav!« stupste der Hundeführer die Nase des Vierbeiners in das niedergedrückte Gras. Das Tier schnupperte, sog die Luft tief ein, lief ein paar Schritte hin und her, und ab ging die Post. Er hatte eine Fährte! Sie führte geradewegs auf die am Rande der Lichtung Wartenden zu. Ungestüm zog der Rüde an der Leine, quirlte zwischen den Beinen der Polizisten, fuhr an der Gruppe vorbei und kehrte wieder um. Vor der Frau setzte er sich auf seine Keulen und bellte sie an. »Er hat die Spur der Zeugin aufgenommen«, meinte der Hundeführer gelassen. Die Schuld des Rüden war es nicht. Woher sollte er wissen, daß sein Herrchen seine Nase auf die Stelle drückte, wo die junge Dame bereit war, eine Verlobung anzuknüpfen? Der Rüde hatte einen schlechten Tag. Anscheinend hatte sich in der Nacht die halbe Stadt unter der alten Eiche ein Stelldichein gegeben. Alle Fährten, die der Hund aufnahm, führten zu keinem Ende. Quer durch den ganzen Eichwald, viele der verschlungenen Pfade entlang, war der Hundeführer hinter dem Hund hergejagt. Nichts außer Seitenstechen und schweren Beinen war dabei herausgekommen. Nachdem Maresch fast eine Stunde dem Frühsport oder besser Nachtsport des Hundeführers zugesehen hatte, gebot er Einhalt. »Ruhen Sie sich aus!« sagte er zu dem Luftschnappenden. »Herkommen!« Das betraf Rückert und die Polizisten. »Wir werden jetzt den Tatort Zentimeter für Zentimeter absuchen.« Daß der Täter seine Visitenkarte mit Name und Anschrift hinterlassen hatte, war kaum anzunehmen. Aber Spuren mußten bei einem Überfall zu finden sein. Nach einer weiteren halben Stunde war auch die Suche am Tatort abgeschlossen. Fast jeden Grashalm hatten sie abgeleuchtet. Das Ergebnis war mager. Blutflecken am Gras und auf der Erde, wo der Verletzte gelegen hatte. Das wichtigste war das Tatwerkzeug. Ein frisch abgebrochener dürrer Eichenast von der Stärke eines Männerarmes. Neben der frischen Abbruchstelle war auf dem Knüppel ebenso frisch die vertrockne-
te Rinde beschädigt. Wahrscheinlich die Stellen, die mit dem Schädel des Niedergeschlagenen in Berührung gekommen waren. Noch unerklärlich waren die rund um den Stamm der Eiche verstreuten frisch abgebrannten Streichhölzer. Eine Vielzahl war es. Maresch ließ sie liegen, damit die Kriminaltechniker bei Tageslicht auch noch etwas zu tun hatten. Es war kaum anzunehmen, daß jemand in der Nacht die alte Eiche abbrennen wollte. »Haben Sie unter dem Baum Streichhölzer abgebrannt?« fragte Maresch das Pärchen. »Streichhölzer habe ich nicht bei mir!« erklärte der Mann und zeigte sein verbeultes Sturmfeuerzeug, »damit habe ich den Mann angeleuchtet.« »Sie können jetzt gehen!« verabschiedete er die Zeugen, »hinterlassen Sie, wo wir Sie am Tage antreffen können.« Seine nächsten Instruktionen waren für die beiden Schutzpolizisten und den Fährtenhundeführer bestimmt. »Sie sichern den Tatort! Wenn es hell wird, schicke ich die Kriminaltechniker her. Die Sicherung des Tatortes wird nicht eher aufgehoben, als bis ich es gestatte. Sollte eine fremde Person am Tatort aufkreuzen, dann ohne Palaver festnehmen und mich verständigen. Ich bin mit Obersekretär Rückert im Klosterturm!« Rückert hatte bisher vor lauter Aufregung über den ersten versuchten Raubmord seiner Dienstzeit kaum ein Wort gesprochen. Jedem Wink des Vorgesetzten war er gefolgt und hatte immer nur die Ohren gespitzt, um sich nichts entgehen zu lassen. Auf dem Weg zum Klosterturm konnte er seine Neugierde nicht mehr zügeln: »Wer ist der Überfallene? Hat er Angaben über den Täter machen können?« »Alles unbekannt!« begann Maresch, »er hat keine Papiere und kein Geld bei sich. Vernehmungsfähig war er auch nicht. Einen Schädelbruch haben die Ärzte festgestellt. Ich habe damit gerechnet, daß die Täter nach dem Überfall die Wertsachen genommen und die Ausweispapiere weggeworfen haben. Meistens findet der Fährtenhund dann die Gegenstände. Jetzt müssen wir, wenn es hell wird, den ganzen Wald absuchen
lassen. Sie haben ihm an der Eiche aufgelauert und ihn dort auch niedergeschlagen. Mit seiner Verletzung kann er nicht gelaufen sein, sagen die Ärzte.« »Woher sollen die gewußt haben, daß einer mitten in der Nacht an der alten Eiche vorbeikommt?« rutschte Rückert ein Zweifel an der Theorie seines Vorgesetzten heraus. »Wir werden sehen! Und wenn ich die ganze Stadt auf den Kopf stelle, die Täter gehen uns nicht durch die Lappen!« Auf Mareschs anhaltendes Klingeln und Klopfen gegen die Tür erschien mürrisch und mit verquollenen Augen, nur mit einem Bademantel über dem Schlafanzug, der Gaststättenleiter. Ohne die Sperrkette an der Tür zu lösen, schimpfte er: »Haut ab! Die Gaststätte ist geschlossen, kommt morgen wieder!« »Kriminalpolizei! Machen Sie auf!« verlangte Maresch. »Kann jeder sagen. Verschwindet, oder ich hole die Polizei!« blieb der Wirt hartnäckig. Maresch reichte seinen Dienstausweis durch den Spalt der Tür. »Verzeihen Sie«, entschuldigte sich der Wirt, »ich konnte nicht wissen. Es treibt sich in der Nacht allerhand Gesindel hier rum und will was zu trinken haben. Was kann ich für Sie tun?« Er öffnete die Tür. In der Gaststube nahm er von einem Tisch die hochgestellten Stühle herunter. »Darf ich Ihnen zum Aufwärmen einen Kognak einschenken?« Er verschwand hinter der Theke. »Danke!« lehnte Maresch ab, »wir frieren nicht. Wir brauchen ein paar Auskünfte über Ihre Gäste von gestern abend!« »Fragen Sie nur«, meinte der Wirt, über sein abgelehntes Angebot verschnupft. »Draußen im Garten sollen zwei Männer gesessen haben. Haben Sie die Männer gesehen?« »Im Garten habe ich nicht bedient. Dazu ist Erika da, unsere Serviererin. Mein Platz ist am Büfett!« »Wo ist die Serviererin zu erreichen?«
»Gleich! Sie haben Glück, heute ist sie oben geblieben. Sie hat im Turm ein kleines Zimmer. Ich werde sie holen.« Er verschwand, froh darüber, daß er nicht Rede und Antwort stehen mußte. Ohne Grund tauchten die beiden von der Kripo bestimmt nicht nachts im Klosterturm auf. Erika erschien wie eine Märchengestalt aus Tausendundeiner Nacht. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, ihr fülliges blondes Haar zu einem Knoten aufzustecken. Ein schwarzseidener Morgenrock, in der Hüfte mit einem Gürtel zusammengerafft, ließ die Konturen einer Venus ahnen. Ein Hauch Bettwärme strahlte von ihr aus. Sie reichte den Kriminalisten ihre warme weiche Hand. »Sie möchten mich sprechen?« Sie musterte den schönen Erwin. Der junge Mann in der verblichenen Windjacke bekam nur einen kurzen Seitenblick. Rückerts Herz schlug trotzdem schneller, und er nahm sich vor, am nächsten dienstfreien Nachmittag oder Abend den Klosterturm mit einem Besuch zu beehren. Der schöne Erwin war die Blicke der Frauen gewohnt. Mit der ihm eigenen Noblesse stellte er sich und Rückert vor: »Oberkommissar Maresch, mein Mitarbeiter Kriminalobersekretär Rückert! Entschuldigen Sie vielmals die Störung. Wir haben nur ein paar unaufschiebbare Fragen. Es betrifft die Gäste, die Sie gestern abend im Garten bedient haben!« »Abends waren nicht viele da«, überlegte die blonde Erika, die auf einem von Maresch an den Tisch gerückten Stuhl saß, »die letzten waren ein Pärchen, die wohl so lange geblieben waren, um ungestört den Heimweg zu genießen.« Sie lächelte Maresch verführerisch an. »Dann saßen da noch zwei Männer. Schon seit dem Nachmittag. Sie hatten reichlich dem Alkohol zugesprochen. Ich habe den beiden dann nichts mehr gegeben und abkassiert. Sie sind noch vor dem Pärchen gegangen!« »Kennen Sie die Männer?« »Nein!« schüttelte sie entschieden den Kopf, »den älteren habe ich noch nie gesehen, und der jüngere war vielleicht zwei- oder dreimal im Garten.« »Beschreiben Sie bitte den älteren Herrn«, bat Maresch. »Auch Einzelheiten interessieren uns.«
»Versuchen werde ich es.« Aus ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen flog ein verheißungsvoller Blick zu Maresch. Dieser Oberkommissar war ein Mann nach ihrem Geschmack. Ob er verheiratet war? »Etwa zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt«, fuhr sie fort, »schütteres graues Haar. Klein und untersetzt. Er hatte einen abgetragenen dunklen Anzug an. Sein Kragen vom Hemd war angeschmuddelt und verknautscht. Der dunkle Schlips mit den weißen Punkten sah nicht besser aus. Er war ungepflegt!« In Gedanken verglich sie den Alten mit Maresch in seinem frisch gestärkten Oberhemd und dem elegant gebundenen Binder. »Haben Sie besondere Merkmale bei dem Mann festgestellt?« wollte Maresch den Redefluß der Serviererin nicht eintrocknen lassen. Ihre Beschreibung traf haargenau auf den Verletzten im Krankenhaus zu. Sie zierte sich bei der Antwort: »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Er roch so komisch, wie nach Kuhstall. Vielleicht kommt er vom Lande? Was ist mit dem Mann, ist ihm etwas passiert?« Schon wollte Maresch eine Erklärung abgeben, als er ganz regelwidrig von Rückert unterbrochen wurde. Die kleine blonde Kellnerin hatte nur Augen für seinen Chef. Ihm hatte sie ebensowenig Beachtung geschenkt wie dem dicken Wirt. Dem war alles wurscht. Er wollte nur schnell ins warme Bett, nicht jedoch ohne vorher einen kleinen Bettwärmer zu genießen. Als Herr des Hauses hatte er an der Theke die Kognakgläser gefüllt und die Flasche gleich mit dem Tablett auf den Tisch gestellt. Wenn der Geruch des Dreisternigen den Kriminalisten lange genug in der Nase gekitzelt hat, würden sie schon zulangen. Zuerst griff Rückert nach einem Glas und kippte den Inhalt hinunter. Nicht, um sich Mut zu machen, sondern einfach aus Protest, daß er auch noch da war und was zu sagen hatte. Für ihn war die blonde Hexe gestorben. »Einen Moment«, fuhr er mit der Zunge über seine Lippen, »wie kommen Sie darauf, daß etwas passiert ist?« Ob sie wollte oder nicht, sie mußte ihren Blick von Maresch lösen und sich dem Obersekretär zuwenden. »Ach, nur so. Ich dachte…« Sie zog ihren Morgenrock enger.
»Erzählen Sie schon, was Sie dachten«, verlangte Rückert ruppiger als gewollt. »Beim Bezahlen«, fing sie an, »er hat die ganze Zeche bezahlt. Dabei hat er seine Brieftasche gezeigt. Er hatte eine große Menge Geld bei sich. Ein Bündel großer Geldscheine!« Rückert beugte sich befriedigt über sein Notizbuch. Nun konnte sich der schöne Erwin weiter anhimmeln lassen. Maresch ging es wie dem Rüden des Fährtenhundeführers. Mit der Nase auf die eine Stelle gedrückt, nahm er sofort eine neue »Fährte« auf: »Kennen Sie den anderen Mann?« »Nein! Ich sagte ja schon, in den letzten Wochen war er ein paarmal in der Gaststätte. Meistens allein, manchmal mit Arbeitskollegen, vermute ich. Sie unterhielten sich über ihren Betrieb und von der Arbeit.« »Welchen Betrieb und welche Arbeit?« »Weiß ich nicht«, sagte sie zurückhaltend. »Wann haben die beiden das Lokal verlassen? Sind sie zusammen fortgegangen?« »Es muß vor dreiundzwanzig Uhr gewesen sein. Um diese Zeit habe ich meine Abrechnung gemacht. Sie gingen zusammen auf dem Weg durch den Wald.« »Beschreiben Sie den anderen Mann!« Solche Mühe wie am Anfang ihrer Unterhaltung gab sich die Serviererin nicht mehr: »Er hatte eine braune Hose an. Das Jackett war heller, und dazu trug er ein am Kragen offenes grünes Hemd. Ich schätze sein Alter auf etwa fünfundzwanzig Jahre. Schlank und mittelgroß. Sein dunkles Haar trug er nach hinten gekämmt.« »Besondere Merkmale?« fuhr Maresch kühl und routinemäßig fort. »Ach ja«, erinnerte sie sich, »sein linkes Ohr. Es ist verkrüppelt, als habe jemand versucht, es abzuschneiden. Jetzt fällt mir noch etwas ein. Der junge Mann kam zurück. Etwa eine Stunde später. Der Wirt wollte gerade abschließen. Streichhölzer hat er gekauft. Gleich eine ganze Packung mit zehn Schachteln!« »Hat er gesagt, wozu er sie braucht?«
»Ich habe nicht gefragt.« Die Schöne schlug sich ihren Morgenrock um die Beine. »Betrunkene haben die seltsamsten Wünsche. Der Mann konnte ja kaum noch stehen. Die frische Nachtluft war ihm sicher nicht bekommen.« Jetzt hatte Maresch es eilig. Das für ihn eingeschenkte Glas nicht beachtend, stand er auf: »Ihre Aussagen werden später protokolliert.« Rückert bekam von der Blonden ein kühles Kopfnicken. Anders der schöne Erwin. Sekundenlang ruhte ihre Hand in seiner. Anlaß für Rückert, sein vom Wirt nachgefülltes Glas nicht stehenzulassen. Kannst die Hand des Oberkommissars ruhig länger drücken, dachte er schadenfroh. Die schriftliche Vernehmung bleibt immer mir vorbehalten, und den schönen Erwin wirst du dabei nicht zu Gesicht bekommen. Die Fahndung nach dem Einohrigen lief auf Hochtouren. Alle Volkspolizisten, auch die dienstfreien, mußten aus ihren Betten und wurden mit eingesetzt. Die erste Meldung kam schneller als erwartet und erwies sich als Volltreffer. Ein Kamerad von der Feuerwehr erinnerte sich an einen Einohrigen, der im Nebenhaus wohnte und auf den auch die Beschreibung und das Alter zutrafen. Maresch ließ den Einsatzfahrer in einer Nebenstraße halten. Er sollte den Eingang beobachten und erst vorfahren, wenn Maresch mit Rückert und dem Einohrigen in der Haustür erschienen. Der Einohrige wohnte im vierten Stock zur Untermiete, sein Zimmer hatte einen separaten Eingang vom Flur aus. Eine Klingel gab es nicht. Maresch klopfte. Hinter der Tür blieb es still. Rückert kramte schon mit seinen Dietrichen und beugte sich zum Schloß. Dabei griff er ungewollt auf die Türklinke. Die Tür war unverschlossen. Mit gezogenen Pistolen schlichen sie in das schmale Zimmer. Draußen war es hell genug, um den Schläfer zu erkennen. Es konnte nur der Gesuchte sein. Bevor Rückert den Schnarchenden wecken konnte, war der Oberkommissar an dem braunen Nachttisch. Dort lag ganz offen eine alte speckige Brieftasche im trauten Nebeneinander mit einem abgetragenen schwarzen Halbschuh, das Gegenstück zu dem, der sich bei der
Kleidung des Verletzten im Krankenhaus befand. Auch die aufgerissene Packung Streichhölzer, von der die Serviererin erzählt hatte, war vorhanden. Man brauchte kein Spezialist zu sein, um zu erkennen, daß die dunklen Flecken auf dem Einwickelpapier von frischem Blut herrührten. Von der Pistole, die Rückert auf den Schlafenden richtete, ahnte der nicht einmal im Traum etwas. Maresch hatte nur einen kurzen Blick in die Brieftasche geworfen. Eindeutig, nach dem Paßfoto in Ausweis, gehörte sie dem Mann im Krankenhaus. Auch das Bündel Geldscheine war noch da. Ein seltsamer Räuber! Daß er auf der Zudecke schlief nach vollbrachter Tat, konnte man ja zur Not noch verstehen. Aber die geraubte Brieftasche und das andere Beweismaterial offen im unverschlossenen Zimmer liegenzulassen, war ein unverzeihlicher Leichtsinn in seinem Metier. Rückert ergriff einen Arm des Schlafenden und bewegte ihn wie einen Pumpenschwengel. Das Rütteln hätte einen Halbtoten aufgeweckt. Endlich bequemte sich der einohrige Räuber, die Augen zu öffnen. Er brauchte eine endlos lange Zeit, um zu begreifen, daß das schwarze Ding mit dem unheildrohenden Loch in der Mitte eine Pistole war und daß der Mann, der sie hielt, verlangte, er solle sich aus dem Bett erheben. »Sind das Ihre Sachen?« deutete Maresch mit dem Pistolenlauf auf den Nachtschrank mit der Brieftasche und dem Schuh. Der Einohrige wollte nicht begreifen. »Ist das Ihre Brieftasche?« Schwankend blieb der Mann vor seinem Bett stehen: »Was wollen Sie?« fragte er mit heiserer Stimme. »Na, dann eben nicht!« hörte Maresch auf zu fragen. »Umdrehen, mit dem Gesicht zur Wand, Hände über den Kopf!« Rückert tastete ihn ab. Eine Waffe hatte der Einohrige nicht am Körper. »Hände nach hinten, auf den Rücken!« kam Mareschs nächstes Kommando. Mit einem metallischen Klicken schloß sich die Handfessel um seine Unterarme. Gegen sechs waren sie mit Alfred Wimmer, so lautete der Name in seinem Ausweis, in Mareschs Dienstzimmer.
»Ich muß mal telefonieren. Du läßt den Festgenommenen erkennungsdienstlich behandeln! Warte mit der Vernehmung, bis ich wieder zurück bin«, verschwand der Oberkommissar aus seinem Zimmer. »Nachtigall, ick hör’ dir trapsen!« entfuhr es leise Rückert. Das Telefon stand auf Mareschs Schreibtisch. Warum das Zimmer verlassen? Zur erkennungsdienstlichen Behandlung mußte Rückert mit dem Festgenommenen sowieso eine Treppe höher. Von wegen Telefonieren! Wenn der schöne Erwin sich beim Telefonieren in die Brust warf und dem Oberst meldete: »Täter vom Raubmordversuch nach sechs Stunden festgenommen«, konnte keine Hörmuschel seine Haltung weitergeben. Auge in Auge mit dem Chef gab es ein anderes Bild. Der Alte würde ihm, was er durchs Telefon auch nicht konnte, die Hand schütteln, etwas von Anerkennung sagen und aus dem wuchtigen Bücherschrank eine Flasche mit zwei Gläsern holen. Soll er, dachte Rückert, was nützt aller Ärger über die Ungerechtigkeit in der Welt. Die zufriedene Miene des zurückkehrenden Oberkommissars verschwand jäh. Der einohrige Räuber saß mitten im Zimmer auf einem Stuhl. Auf dem Sessel vor dem Schreibtisch hatte sich Rückert breitgemacht und kaute auf einem Streichholz herum. Streichholzkauende Obersekretäre, die sich das Rauchen abgewöhnen wollen, waren ja noch zu begreifen, aber unverständlich blieb ihm die Veränderung, die mit dem Festgenommenen vor sich gegangen war. Statt in Hemd, Hose und Jacke saß er in langer grauer Unterhose unter einer um die Schulter geschlagenen Wolldecke auf dem Stuhl. »Was soll der Mumpitz?« wollte Maresch wissen. Jede Minute konnte der Oberrat ins Zimmer kommen, um den Täter persönlich in Augenschein zu nehmen. Rückert nahm das zerkaute Streichholz aus dem Mund und meinte gelassen: »Herr Wimmer ist fotografiert und daktyloskopiert. Eine Blutprobe wurde auch genommen. An seinen Hosenumschlägen, an den Hemdmanschetten und am Ärmel der Jacke haben die Kriminaltechniker Blutspuren festgestellt. Die Klamotten haben sie zur Untersuchung behalten. Herr Wimmer fror, deswegen habe ich ihm eine Decke gegeben.«
Wie zur Bekräftigung der Worte Rückerts begann Wimmer mit den Zähnen zu klappern. »Spielen Sie hier nicht die Memme!« schnauzte Maresch den Einohrigen an, »reißen Sie sich zusammen. Vor allem interessiert uns, ob Sie«, Maresch blätterte im Ausweis des Opfers, »den Melker Wilhelm Harnisch allein niedergeschlagen und beraubt haben oder mit Komplizen?« Wimmer sah den Oberkommissar verständnislos aus seinen vom Trinken rot unterlaufenen Augen an: »Was wollen Sie überhaupt von mir«, fragte Wimmer mit klappernden Zähnen, »ich kenne keinen Wilhelm, und beraubt habe ich auch keinen!« »Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt!« polterte Maresch los, »und was ist das?« Er zeigte auf den Schuh und die Brieftasche, die auf dem Schreibtisch lagen. »Sagen Sie bloß noch, Sie haben den Schuh und die Brieftasche nie gesehen!« Wimmer kroch unter der Decke zusammen. »Mir ist schlecht«, jammerte er, »kann ich einen Schluck Wasser bekommen?« Ohne Mareschs Zustimmung abzuwarten, ging Rückert zur Wasserleitung, füllte ein Glas und reichte es dem Einohrigen. Der trank es in einem Zug aus, setzte das tropfende Glas auf Mareschs Schreibtischplatte ab und fragte dabei: »Was werfen Sie mir eigentlich vor?« Beides hätte er nicht tun sollen. Die polierte und fleckenfreie Tischplatte war Mareschs Stolz. Da ließ er nicht einmal die Reinemachefrau ran. Er war kurz vor dem Explodieren. Wasserflecken auf seinem Schreibtisch, und dann noch die dummdreiste Frage des Ganoven. »Damit von vornherein klare Fronten sind«, hob Maresch seine Stimme, »Fragen stelle ich hier, und wenn Sie uns weiter Lügen auftischen oder den Ahnungslosen zu spielen versuchen, werden Sie mich auch anders kennenlernen. – Also wo waren Sie gestern?« »Auf Arbeit, wo sonst?« »Wo arbeiten Sie?«
»Im Sägewerk am Gatter, und da muß ich jetzt wieder hin! Meine Schicht fängt um sechs Uhr an. Wo sind meine Sachen?« stand der Einohrige entschlossen auf. Bevor er noch einen Schritt machen konnte, war Rückert hinter ihm. Sein Griff auf die Schulter des Aufgestandenen ließ diesen schnell wieder die Sitzfläche des Stuhles aufsuchen. »Hören Sie, Herr Wimmer«, dehnte Maresch die Worte bedeutungsvoll, »wann Sie gehen, bestimme ich. Wie es aussieht, wird es ein paar Jahre dauern. Wie lange haben Sie gestern gearbeitet?« »Meine Schicht ist um halb vier zu Ende!« »Was haben Sie nach der Arbeit getan?« »Nichts! Ich bin ein Bier trinken gegangen. Zum Klosterturm.« »Waren Sie allein?« »Es wollte keiner aus der Schicht mit!« »Und am Klosterturm, mit wem waren Sie dort zusammen?« Wimmer zögerte mit der Antwort und hielt seinen Kopf gesenkt. »Antworten Sie gefälligst auf meine Fragen«, schrie Maresch, »oder soll ich die Zeugen holen?« »Ich überlege ja schon«, antwortete der Einohrige, »ich muß mich erst daran erinnern. Mir fehlt von der letzten Nacht ein Stückchen Film. Warten Sie mal. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Irgend so ein Opa hat sich zu mir gesetzt. Hat lauter doofes Zeug gequatscht und eine Lage nach der anderen bestellt.« »Wieviel Biere haben Sie getrunken?« Wimmer zuckte unter der Decke mit den Schultern: »Muß ’ne Masse gewesen sein. Zwanzig Bier machen mir sonst nichts aus. Und dazu noch die Kurzen.« »Mit anderen Worten, Sie waren volltrunken?« »Na klar, was denken Sie, wie mir der Schädel brummt? Ich weiß überhaupt nichts mehr!« »Haben Sie mit dem Mann das Lokal zusammen verlassen?« Wimmer überlegte wieder: »Ich weiß nicht!«
»Hören Sie endlich mit Ihrem ›Weiß nicht‹ auf! Eine Zeugin, die Serviererin, hat Sie gesehen, wie Sie gemeinsam mit Harnisch in den Wald gingen!« hielt ihm Maresch vor. »Wenn die das sagt, wird es stimmen«, gab Wimmer treuherzig zur Antwort. »Was geschah im Wald?« Wimmer gab keine Antwort und zuckte mit den Schultern. »Dann werde ich es Ihnen sagen. Im Wald haben Sie einen Knüppel genommen, den alten Mann niedergeschlagen und beraubt!« »Das soll ich gemacht haben?« fragte Wimmer ungläubig, »ich habe keinen Knüppel gesehen!« »Mir langt es nun bald«, brüllte Maresch, »und wie kommen ein Schuh und die Brieftasche in Ihr Zimmer? Fehlt nur noch, daß Sie sagen, wir hätten es dort hingelegt!« »Kann ich noch einen Schluck Wasser haben?« hielt er sich mit beiden Händen den Kopf. Langsam begann er zu begreifen, in welcher Situation er sich befand. Vorsorglich legte Maresch einen alten Aktendeckel auf seinen Schreibtisch, damit Wimmer das Glas abstellen konnte. Das Wasser wirkte auf Wimmer wie ein Lebenselixier. Er sah zu Maresch. »Mit der Brieftasche war was?« »Das will ich nun endlich von Ihnen wissen!« »Gleich!« preßte der Einohrige die Fäuste an seine Stirn, »ich überlege. Der Opa war im Wald mit einem Mal weg. Einfach verschwunden. Ich habe nach ihm gesucht und gerufen. Dann hörte ich einen Schrei, von der Lichtung, wo die große Eiche steht. Unter dem Baum bin ich über ihn gestolpert. Er rührte sich nicht, und tragen konnte ich ihn auch nicht. Dann bin ich wieder fort. Wollte Hilfe holen. Jetzt fällt mir wieder ein, Streichhölzer habe ich geholt, um zu sehen, was mit – dem Opa los war. Als ich zurückkam, war der Opa fort. Ich habe ihn gesucht, aber nicht gefunden«, beendete Wimmer stockend seine Darstellung. »Zu dem Schuh und der Brieftasche haben Sie nichts zu sagen?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern! Vielleicht habe ich sie gefunden und einfach mitgenommen.« Maresch sprang auf, ging um den Tisch und packte Wimmer an den Zipfeln seiner Decke. »Schluß jetzt mit den Märchen! Unsere Beweise sagen etwas anderes. Der Opa, von dem Sie sprechen, liegt mit einem Loch im Schädel im Krankenhaus. Das Loch haben Sie ihm mit dem Knüppel beigebracht, den wir am Tatort gefunden haben. Anschließend ist der Niedergeschlagene von Ihnen beraubt worden. Den Beweis, die Brieftasche, haben wir in Ihrem Zimmer gefunden. Sie wußten auch, daß in der Brieftasche viel Geld war. Auch das Blut an ihrer Kleidung spricht gegen Sie!« Die Verzweiflung, die Wimmer auf den Stuhl sinken ließ, nachdem Maresch ihn losgelassen hatte, war nicht gespielt. Mit weinerlicher Stimme sagte er: »Ich wollte doch dem Opa nichts tun. Daran ist nur die verdammte Sauferei schuld gewesen. Glauben Sie mir, ich habe so etwas noch nie getan. Ich sehe ja ein, daß ich es gewesen sein muß. Schuld ist meine Besoffenheit. Nüchtern hätte ich ihn bestimmt nicht überfallen.« Maresch war zufrieden. Wäre undenkbar, bei solchen Beweisen kein Geständnis zu bekommen. Ein anderer als Wimmer konnte es überhaupt nicht gewesen sein. »Die Vorführung beim Haftrichter erledige ich«, sagte er zu Rückert, »du fährst ins Krankenhaus und stellst fest, ob der Verletzte schon aussagen kann, und verständigst seine Angehörigen. Wir treffen uns dann am Tatort!« Bevor Maresch mit dem Festgenommenen zum Richter und in die Haftanstalt fuhr, mußte Rückert einen alten Drillichanzug auftreiben und gegen die Decke austauschen. So war es fast immer. Das kleine Drum und Dran blieb immer ihm vorbehalten. Der schöne Erwin dagegen sonnte sich im Erfolg. Zum Tatort würde er den Oberrat und den Staatsanwalt führen und über seinen Erfolg eine Schau abziehen. Um mein Frühstück werde ich mich nicht bringen lassen, nahm Rückert sich vor. Zum Tatort komme ich noch früh genug. Die Auskunft
vom Krankenhaus wird telefonisch eingeholt. Damit ist meine Frühstückspause eingearbeitet. Er rasierte sich in aller Ruhe und holte sich beim Bäcker ein paar Brötchen. Tee gab es im Speisesaal der Dienststelle zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und doch war es ihm nicht vergönnt, die Frühstückspause einzulegen. Am Eingang fing ihn der Hausposten ab: »Sie sollen gleich in die Anzeigenaufnahme kommen. Dort ist ein Bürger, der eine Vermißtenmeldung aufgeben will. Es soll sich um den Mann von heute nacht aus dem Eichwald handeln!« Der Direktor vom Volkseigenen Gut hatte sich persönlich aufgemacht, seinen verschwundenen Melkermeister zu suchen. Auf demselben Stuhl, wo eben noch der Einohrige gesessen hatte, ließ Rückert seinen Besucher Platz nehmen. »Warum war denn Ihr Kollege in der Anzeigenaufnahme so komisch?« begann der Direktor das Gespräch. »Stimmt etwas nicht? Ist Wilhelm etwas passiert?« rutschte er unruhig hin und her. »Sind Sie mit Herrn Harnisch verwandt?« fragte Rückert, statt eine Antwort zu geben. »Aber nicht doch«, beteuerte sein Gegenüber, »unser Melkermeister ist Witwer, und von Verwandten habe ich noch nie gehört. Sagen Sie mir nur um Gottes willen, was passiert ist!« »Herr Harnisch liegt im Krankenhaus. Mit einer schweren Kopfverletzung!« »Ach du meine Güte!« Der Direktor schlug seine Hände zusammen, »nun ist es doch passiert. Es mußte ja so kommen. Wo sollten wir ihn auch suchen? Er war weg, ohne ein Wort zu sagen, die ganze Nacht waren wir unterwegs.« Rückert sah es seinen Stiefeln und dem unrasierten Kinn an. Dieser Gutsdirektor gab neue Rätsel auf. »Ich verstehe Sie nicht! Herr Harnisch ist niedergeschlagen worden. Wieso haben Sie damit gerechnet und ihn gesucht?« »Niedergeschlagen?« echote der Direktor erstaunt, »das gibt es nicht! Wo soll Wilhelm niedergeschlagen worden sein?«
»Im Wald!« »Bestimmt unter einem hohen Baum«, platzte der Direktor heraus, als sei er dabeigewesen. Jetzt wurde es Rückert zu bunt. »Unter der höchsten Eiche im weiten Umkreis, mitten auf einer Lichtung!« »Jetzt ist mir alles klar! Sie suchen wohl den Täter?« »Den Täter haben wir schon. Aber nun eröffnen Sie mir, was Ihnen klar ist!« »Auch das noch!« fing der Gestiefelte wieder an, »sind Sie sicher, daß es überhaupt einen Täter gibt?« »So einigermaßen«, antwortete Rückert vorsichtig. Wer weiß, was dieser Direktor noch losließ. »Schlagen Sie sich einen Täter aus dem Kopf, junger Mann. Sie kennen Wilhelm nicht. Unserem Wilhelm darf man nicht alles glauben. Nach dem Tode seiner Frau hat es angefangen. Bei jedem Vollmond fängt er an zu spinnen. Will zum Mond und klettert auf alles, was hoch ist. Im vorigen Jahr konnten wir in letzter Minute noch die Hochspannungsleitung, die am Gut vorbeiführt, abschalten lassen. Wilhelm war den Gittermast raufgeklettert. Ein paar Wochen später saß er auf dem Scheunendach. Uns ist heute noch ein Rätsel, wie er da hinauf gekommen ist. Die Feuerwehr mußte ihn runterholen. Ihm ist nichts passiert, aber ein Feuerwehrmann humpelt heute noch. Der ist abgestürzt und hat sich ein Bein gebrochen. Am Kirchturm im Dorf hat er es auch versucht. Ein Glück, daß es der Pfarrer bemerkte. Seitdem lassen wir ihn bei Vollmond nicht aus den Augen. Sogar eingesperrt haben wir ihn. Gestern ist er uns entwischt. Ich wette meine fetteste Sau, Wilhelm ist auf den Baum und abgestürzt! Was hat denn Wilhelm erzählt?« »Bis jetzt noch nichts. Das beste wäre es, Sie begleiten mich gleich ins Krankenhaus.« »Sagen Sie bitte, war Wilhelm betrunken?« »Soviel wir wissen, ja!« gab Rückert zur Antwort, »immerhin hatte er ein Dutzend Biere und Schnäpse in sich!«
»Dann halten Wilhelm auch drei starke Männer nicht. Dann ist kein Baum und kein Haus zu hoch für ihn. Bei Vollmond nehme ich ihm immer alle Flaschen weg, und auch im Konsum bekommt er keine!« »Nur zehn Minuten!« betonte der Arzt, »er ist erst vor ein paar Minuten zu sich gekommen.« Opa Wilhelm lag im Bett und trug einen Turban auf dem Kopf, der nur Augen, Mund und Nase frei ließ. »Wilhelm, was hast du denn diesmal angestellt? Rennst einfach von der Arbeit weg und liegst jetzt im Krankenhaus. Wo ist es passiert?« ließ sich der Direktor von Rückerts Anwesenheit nicht beeinflussen. »Im Wald, am Klosterturm«, hauchte Wilhelm durch das Loch im Turban, »ein großer runder Mond, ich konnte nicht anders!« »Woher hast du das Loch im Kopf?« »Abgestürzt! Ein morscher Ast, konnte mich nicht festhalten.« Das Sprechen fiel Opa Wilhelm schwer. Der Direktor sah den Kriminalisten vielsagend an. Rückert nahm es zum Anlaß, auch zu fragen: »Wo war der junge Mann, mit dem Sie getrunken haben?« »Ich bin ihm weggelaufen«, flüsterte Wilhelm, »er brauchte es nicht zu wissen.« »Und Ihre Brieftasche und Ihren Schuh?« »Verloren!« kam leise die Antwort. Rückert und sein Begleiter, der gestiefelte Gutsdirektor, kamen zu spät in den Eichwald. Maresch hatte mit seiner Show unter dem Eichbaum schon begonnen. Umgeben vom Oberrat, dem Staatsanwalt und den Kriminaltechnikern hielt der das »Tatwerkzeug« in der Hand und rekonstruierte, wie der Täter den alten Mann niedergeschlagen und beraubt hatte. »Gestatten Sie, Kamerad Oberrat«, unterbrach Rückert die Vorstellung, »ich muß dringend Oberkommissar Maresch sprechen!«
Rückert ging ein paar Schritte beiseite, nicht ohne dafür vom Oberrat einen mißbilligenden Blick zu bekommen. Hatte dieser Anfänger etwa Geheimnisse vor ihm? »Hör auf, Erwin!« begann Rückert leise, aber eindringlich. »Die Schose ist geplatzt! Es gibt keinen Raubmordversuch! Der Opa ist mondsüchtig und von der Eiche abgestürzt!« »Spinnst du?« Der schöne Erwin bekam vor Schreck nasse Handflächen. »Ich komme direkt aus dem Krankenhaus. Der Harnisch hat es selber gesagt. Außerdem habe ich seinen Chef mitgebracht. Der war dabei, als Harnisch aussagte.« »Verdammt, was soll ich jetzt dem Alten und dem Staatsanwalt sagen? Wie stehen wir nun da?« »Dein Problem«, feixte Rückert. Selbstbewußt trat Maresch mit Rückert in den Kreis der gespannt Wartenden. Ein paar Sekunden hatten genügt, ihm seine Fassung wiederzugeben. »Kamerad Oberrat, Herr Staatsanwalt!« begann er wie ein Professor mit Lehrstuhl, »die Darstellung, die ich Ihnen gegeben habe, war der Handlungsablauf, wie er sich nach den ersten Ermittlungen, der Tatortbesichtigung heute nacht und der Befragung des volltrunkenen Verdächtigen ergab. Dabei haben wir zur gründlichen Aufklärung weitere Ermittlungen angestellt. Kamerad Rückert war damit beauftragt. Durch seine Ermittlung ergibt sich eine zweite Version, die eines Unglücksfalles. Sie ist nicht von der Hand zu weisen. Der Verletzte ist mondsüchtig. Gestern hatten wir Vollmond. Wie wir von Zeugen erfahren haben, steigt der Verletzte bei Vollmond mit Vorliebe auf Dächer und Bäume. Wahrscheinlich ist er auf die Eiche geklettert und dabei heruntergestürzt. Sein Begleiter hat ihn gesucht und unter dem Baum gefunden. Hat die Brieftasche und den Schuh an sich genommen und von der Gaststätte Streichhölzer zum Leuchten geholt. Als er zurückkehrte, war der Verletzte von dem Pärchen gefunden und vom Rettungswagen abtransportiert worden. Zum Beweis dieser Version werde ich jetzt den Baum absuchen lassen. Kamerad Rückert, steigen Sie auf den Baum und suchen
Sie nach der Stelle, wo dieser Ast abgebrochen sein kann«, hielt Maresch Rückert das ›Tatwerkzeug‹ hin. In Rückert kochte es. Vor den Ohren des Oberrates getraute er sich keine Bemerkung zu machen. Fein hatte es der schöne Erwin wieder hinbekommen und ihm selbst noch eine Klettertour wie für einen Affen verpaßt. Die dicken Äste der Eiche begannen schon in Kopfhöhe. Was der alte Opa in der Nacht geschafft hatte, war für den sportlichen Rückert ein Kinderspiel. Wie auf einer Leiter stieg er höher und höher in den Baum. In der Krone des Baumes gab es eine Menge abgestorbener Äste von der Art, wie er einen in der Hand hielt. Da, endlich! Über ihm ragte ein kurzer, dicht am Stamm abgebrochener Aststummel. Rückert hielt den Knüppel daran. Genau! Von hier stammte das »Tatwerkzeug«, das nun keines mehr war. »Hier ist die Stelle, wo der Ast abgebrochen ist!« rief er nach unten. »Bleiben Sie oben«, rief Maresch, »ich schicke einen Kriminaltechniker hoch, damit die Stelle fotografiert wird.« Am liebsten hätte Rückert geantwortet: Komm doch selbst hoch! Auf einem dicken Ast balancierend, hielt Rückert das splittrige Ende des Knüppels an die Abbruchstelle, damit der Kriminaltechniker neben ihm seine Aufnahmen schießen konnte. In der Höhe war beiden alles andere als wohl zumute. Rückert riskierte einen Blick nach unten. Der Opa hatte in seine Dußligkeit noch großes Glück gehabt. Wahrscheinlich hatten die unteren Äste und Zweige seinen Fall gebremst, sonst wäre es ihm noch schlechter ergangen. Rückert wurde es schwindlig. Von solchen Klettertouren stand nichts im Dienstvertrag. Mit Beinen und Armen eng den Stamm umfassend, rutschte er hinter dem Kriminaltechniker wieder nach unten. Ungefähr drei Meter über dem Boden stieß er sich vom Stamm ab und sprang ins hohe Gras. Er federte aus der Kniebeuge und sah die Bescherung: Ein handflächengroßer Dreiangel in seinen Knickerbockerhosen! Sein zweitbestes Stück war hinüber. Dieses Loch brachte der beste Kunststopfer nicht mehr zu.
Er unterdrückte seinen Ärger über die ramponierte Hose, nahm aus dem Besteckkasten des Kriminaltechnikers eine Lupe und ging zu einem der Zementklötze, die einst das Unterteil der Bank gebildet hatten. Zentimeter für Zentimeter suchte er ab. »Stimmt!« richtete er sich zufrieden auf und reichte dem Oberrat die Lupe, »hiermit ist der Kopf des Verletzten in Berührung gekommen. Hautpartikelchen, Blut und ein paar Haare!« Während der Oberrat die Haare suchte, sagte Maresch leise zu seinem Mitarbeiter: »Die Hose geht auf meine Kappe. Ich reiche dich zur Prämie ein, und von mir bekommst du meine Kleiderkarte. Die Punkte für einen Hosenstoff habe ich noch drauf!« »Was. wird mit dem Verhafteten?« fragte Rückert. »Erledige ich. Ich werde ihn nach Hause schicken mit der Ermahnung, nicht mehr soviel zu saufen.«
Inhalt Der Kupferkessel .............................................................................. 4 Der erste Abend................................................................................ 9 Bulgarischer Zarenpunsch ..................................................................... 10 Auf eigene Faust.......................................................................................... 11 Am zweiten Abend...........................................................................55 Urpunsch ................................................................................................. 56 Die Rache..................................................................................................... 57 Am dritten Abend .......................................................................... 101 Eierpunsch............................................................................................. 102 Der Eierdieb .............................................................................................. 103 Der vierte Abend............................................................................ 154 Krambambulipunsch............................................................................ 155 Ganoven..................................................................................................... 156 Der fünfte Abend ...........................................................................202 Gärtnerpunsch ...................................................................................... 203 Der Traum der schönen Gärtnerin ......................................................... 204 Der sechste und letzte Abend ........................................................236 Sektpunsch ............................................................................................ 237 Vollmond-Story......................................................................................... 238