ZOFIA KOSSAK
Die Kreuzfahrer I. GOTT WILL ES II. FIDES GRAECA UNION VERLAG BERLIN
Klappentext Der große Kreuzfahrer –...
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ZOFIA KOSSAK
Die Kreuzfahrer I. GOTT WILL ES II. FIDES GRAECA UNION VERLAG BERLIN
Klappentext Der große Kreuzfahrer – Roman Zofia Kossaks, dessen erstes und zweites Buch wir mit diesem Band vorlegen, hat, in zahlreiche Sprachen übersetzt, den Namen der polnischen Autorin weltberühmt gemacht. In einem an die Werke ihres Landsmannes Sienkiewicz gemahnenden umfassenden Zeitgemälde gelingt ihr aus souveräner Kenntnis der überlieferten Quellen, der Geschichte wie der Kulturgeschichte, eine Darstellung jener von Südfrankreich ausgehenden, weite Teile der Welt damals erschütternden Ereignisse. Am Schicksal einer Gruppe polnischer Ritter und ihrer Knechte zeigt der Roman Entstehung und Fortgang jener gewaltigen Bewegung, welche, die Tendenzen ihres Zeitalters sichtbarmachend, ebensoviel Begeisterung mit sich führte wie Unglück und Verbrechen. Der Zug der Ritter aus dem von dynastischen Kämpfen zerrissenen Polen, über die Alpen, in die Provence und dann über den Balkan zunächst nach Byzanz wird in unerhört farbigen Szenen lebendig, in Schilderungen, die den besonderen Blick und Griff der einer bedeutenden Malerfamilie entstammenden, zunächst selber in der bildenden Kunst tätig gewesenen Autorin zeigen. Vom ersten Höhepunkt, der Ausrufung des Kreuzzuges in Clermont, an bis zur Eroberung der türkischen Festung Nizäa rollt ein von tiefgreifenden Konflikten, von Versagen und Bewährung bewegtes dramatisches Geschehen ab, dem der Leser mit steigender innerer Beteiligung, mit Erschütterung folgen wird. Der Verlag bereitet die Herausgabe des dritten und vierten Teiles des Romans in einem weiteren Bande vor. * Von Zofia Kossak erschien 1958 in unserem Verlag der Roman „Der Bund“ UNION VERLAG BERLIN
Titel der polnischen Originalausgabe KRŻYZOWCY Der deutsche Text wurde unter der Redaktion von Bernhard von Rautenberg Garczyński auf der Grundlage der von Waldemar Krause angefertigten, autorisierten Übersetzung hergestellt
ERSTES BUCH
GOTT WILL ES
ERSTES KAPITEL In welchem der Leser die braven schlesischen Ritter kennenlernt
Der
letzte der Reiter, die das Kloster verließen, war Witosław Strzegonia. Er wandte sich noch einmal um und rief: „Bleibt in Jesus Christus!“ „Unser Herr Jesus Christus sei mit Euch!“ antwortete der Prior, der im Tor stehengeblieben war, und fügte halblaut hinzu: „Gib, daß sie sich verirren, lieber Herr Jesus! Laß das Unrecht nicht ungesühnt …!“ Ohne auf den Bruder Pförtner zu warten, schloß er eigenhändig das Fallgitter der Klosterburg. Am Palisadenzaun blieb er stehen und blickte finster zum Walde hinüber, wo die Hufschläge allmählich verhallten. Der Beschließer des Klosters war hinter ihn getreten. Der Prior hatte das Klappern seiner Sandalen gehört. Nun lauschte er, ohne den Kopf zu wenden, der monotonen Aufzählung des Bruders Cellarius. „… alles Brot, das wir besaßen … drei Hammel … den ganzen Speck … vier Schock Eier, ein Läuferschwein, einen kleinen Bottich guten Käses, einen Sack Graupen …“ „Oh, welche Plage! Dieses Raubgesindel!“ „Ein Fäßchen Met, zwei Kufen Bier, zehn Maß Hafer, einen halben Schober Heu …“, fuhr der Beschließer mit eintöniger Stimme fort. „Man hätte nicht so viel herausgeben sollen …“, murmelte der Vorgesetzte. „Ach, wir haben uns bemüht, hochwürdiger Vater, wir haben uns bemüht … Vergeblich … die Knechte waren schrecklich ausgehungert, die Pferde ebenfalls.“ „Auch die hohen Herren waren nicht satt zu bekommen“, gab der Prior zu. „Heiliger Lambert, unser Patron! Für vier Sonntage hätte
gereicht, was jetzt an einem einzigen Tage verbraucht worden ist …“ „Für fünf oder gar für sechs“, berichtigte erbittert der Bruder Cellarius und schob seine mageren Hände in die weiten Ärmel der grauen Mönchskutte. „Und hat keiner der Burschen ausgeplaudert, woher sie gekommen sind?“ fragte der Prior vertraulich. Der Bruder Beschließer blickte ihn scharf an und lachte kurz auf. „Wißt Ihr denn noch nichts davon, hochwürdiger Vater?“ „Ich weiß nichts. Rede, schnell! Ich habe die Nobiles gefragt, aber sie ließen die Köpfe hängen, fraßen nur und sagten kein Wort.“ „Die Knechte hatten anscheinend den Befehl zu schweigen, aber ich habe mir einen in die Krankenstube geholt und ihn ein bißchen betrunken gemacht …“ „Und was hat er dir gesagt?“ fragte der Prior ungeduldig. „Sie kämen von Kruszwica, in aller Eile und ohne die Pferde zu wechseln … Dort sei es zur Schlacht gekommen, zu einer blutigen, wie es heißt …“ „Heiliger Lambert! Sogar bis Kruszwica sind die Pommern vorgedrungen? — Mit dem Fürsten …?“ „So ist es! Mit Włodzisław. Zbygniew haben sie aus Sachsen gelockt und ihn auf den Thron setzen wollen, aber die Leute Sieciechs haben sie in die Flucht geschlagen …“ „Bei den Wunden Christi! Soll es wirklich schon wieder neue Unruhe geben? Das ist schlechte Kunde, Bruder … Ob der Bursche nicht gelogen hat?“ „Keinesfalls … Es wird schon so sein.“ Der Prior blickte düster zu Boden. „Man hätte diese Verschwörer gar nicht durch die Pforte lassen und ihnen auch nichts zu essen geben sollen!“ stieß er wütend hervor. „Wenn man das früher gewußt hätte …“ „Einfach nicht hereinlassen! Nicht das Tor öffnen! Diese Babylonier, diese zuchtlosen Ahabe! Dann hätten sie uns Armen nicht alles
weggefressen. Jetzt werden wir womöglich noch vom Fürsten eine Rüge bekommen …“ „Und zu allem Unglück ist der Abt nicht da! Der wird uns schon!“ Ohne sich die weiteren Klagen des Beschließers anzuhören, eilte der Prior über den kleinen Hof davon. Er schäumte innerlich vor Wut, und das um so mehr, als es niemanden gab, an dem er sie hätte auslassen können. Wer war hier nun der Schuldige? Wohl gar der Patron des Klosters, der heilige Lambert, der es versäumt hatte, seine treuen Diener zur rechten Zeit zu warnen? Von dem neuen Krieg im Innern des Landes hatte hier in der Wildnis noch niemand gehört. Eine Schar schlesischer Nobiles war einfach vor das Tor geprescht und hatte Einlaß begehrt, an ihrer Spitze Ostoj von der Sippe der Starykon. Erst im vorigen Jahre hatte der Fürst ihn zum Vorsteher und Tutor des Konvents ernannt. Hätte man vor ihm das Tor verschlossen halten und Essen und Wegzehrung verweigern sollen? Die hätten sicher mit ihren Schwertern das ganze Kloster kurz und klein geschlagen. Ja, wer konnte das wissen … In ohnmächtigem Zorn drohte der Prior zur dunklen Wand des Waldes hinüber, in dem die Reiter schon lange verschwunden waren. Oh, wie haßte er diese ewig unruhigen Adligen, die die Worte des großen Papstes Gregor VII. mißachteten. Seine Worte, daß die weltliche Macht einem kraftlosen Monde gleiche, während die geistliche, und das hieß doch: die bischöfliche und die des Abtes, wie die Sonne leuchte, beachteten sie kaum, leugneten sie sogar frech und schrieben allen Glanz und alle Gewalt der weltlichen Macht zu. Sie dachten nicht daran, den Nacken zu beugen und sehnten sich, ohne ein Hehl daraus zu machen, nach König Bolesław zurück, jenem Missetäter, der den Bischof Stanisław von Krakau meuchlings umgebracht hatte. Der König war tot. Auch sein Sohn Mieszko, die Waise. Fürst Włodzisław hatte begonnen, die schöne steinerne Kathedrale auf dem Wawel zu bauen. Es schien, als werde jetzt Frieden herrschen … Ach, du elender Mensch, vergebens deine Freude! Da haben sie nun den Bastard Zbygniew hervorgeholt!
Ob Zbygniew, der Sohn der Prawdzicentochter, die zwar durch keine kirchliche, aber doch durch eine rechtsgültige Stammestrauung mit Włodzisław vermählt wurde, wirklich ein Bastard war oder nicht, dessen war sich der Prior freilich nicht sicher. Eines jedoch unterlag keinem Zweifel: die erneut ausgebrochenen Kämpfe mußten zur Vernichtung der Ernte führen, zur Entvölkerung der Dörfer, die nach den schrecklichen Jahren 1039 und 1040 nur mit Mühe hatten besiedelt werden können … Und das bedeutete auch, daß dem Orden die Früchte seines Fleißes, der Lohn seiner Arbeit wiederum entrissen wurden. Unsere Hammel und Läuferschweine haben sie verschlungen, als wären sie zu unserem Leichenschmaus geladen, dachte er. Von Enttäuschung und Zorn überwältigt, hob er, ohne auf den Bruder Cellarius zu achten, die Faust und schüttelte sie. „Oh, daß euch die Erde verschlingen möge, ihr Verfluchten! Möget ihr niemals in die Heimat zurückfinden!“ Die Ritter, denen sein Fluch galt, zogen indessen, seitab der Landstraße, einer hinter dem andern, den schmalen Waldweg entlang. Mochten ihn Zeidler, Köhler, Kräutersammler oder einfach nur die zur Tränke wechselnden Wisente und Wildschweine ausgetreten haben, das war ihnen gleich. Er führte sie südwärts, dem Schlesierland, ihrem Ziel entgegen. Der Juli war trocken und heiß. Die Sonne hatte die sonst feuchten Waldniederungen in dürres Heideland verwandelt, der Schlamm war fest, so daß die Pferde, die zu einer anderen Jahreszeit hier gewiß nicht ungeschoren durchgekommen wären, kaum einsanken. Sie zwängten sich durch das Gestrüpp, erstiegen die nach Thymian duftenden, vom Hauswurz vergoldeten Anhöhen, verschwanden bis zum Bauch im Farnkraut, wateten durch flache Ausläufer von über die Ufer getretenen Seen, in denen Bäume und Büsche wuchsen, jagten dabei die ärgerlich grunzenden Wildschweinrudel auf und verscheuchten die bärtigen Wisente, die vereinzelt auf den Lichtungen ästen. Rücksichtslos drückten die Reiter ihren Pferden
die handlangen Sporen in die Flanken. Es ging der Heimat entgegen! Erst dort, auf der eigenen Scholle, war man in der Lage, die Dinge richtig zu beurteilen und vernünftige Gedanken darüber zu fassen, wie es nun nach der Niederlage weitergehen müsse. Nur dort, das wurde ihnen jetzt klar, kam man wieder zu ruhiger Überlegung und auch zu neuer Entschlußkraft, die jetzt wichtiger war als alles andere, und die sie auf dem väterlichen Erbe auch zurückgewinnen würden. Darum ritten sie mitten durch den Wald, durch die Schrecken der Wildnis, ohne einen Hinterhalt zu fürchten. Was war schon dabei, wenn in einer Astgabel der Luchs mit grünen Lichtern lauerte und ihnen aus morschem Baumstumpf der alte Waldschratt, ein böser Geist, der viel gefährlicher war als der Luchs, mit roten Augen entgegenstarrte? Vorwärts ging es, querfeldein. Sie machten keine Umwege um die von Nixen und Wassermännern bewohnten Moore, wo unter dem tückischen Grün, den leuchtenden, verlockend blühenden Kräuterbüscheln das schwarze Moorwasser gluckste wie in einem Faß ohne Boden. Hohe Erlen mit blutroten, weit ausgreifenden verkrümmten und gewundenen Wurzeln, die sich wie verkrampft an den schlüpfrigen Grund klammerten, standen dort. In der Dämmerung leuchteten blaß die faulenden Baumstämme, die von der Unfruchtbarkeit des Bodens aufgezehrt wurden. In den ausgefaulten Löchern, auf den knorrigen, mit großen Pilzen und treppenförmig wuchernden Feuerschwämmen besetzten Ästen hockten sie am liebsten: der neckische Baumgeist Rokita, das Holzweiblein Hammon und all die anderen Waldgeister und Schratte. Die dahinziehenden Ritter scherten sich aber nicht darum, sie achteten nur darauf, daß ihr Roß nicht im Sumpf versank, wenn es einmal mit dem Huf von der Kante des festen Bodens abgeglitten war. Die Schar ritt in tiefem Schweigen dahin. Geschwätzigkeit ziemt einem Krieger nicht, schon gar nicht nach einer verlorenen Schlacht! Wovon sollten sie auch reden? Sich über Zbygniew beklagen? Sie
hatten ihn zum Erbfolger machen und in seine Rechte einsetzen wollen; aber im entscheidenden Augenblick hatte er sie verraten, sich seinem Vater ergeben und die Hälfte seiner Parteigänger nach sich gezogen. Sie waren wohl selber schuld daran, denn sie hatten nicht damit gerechnet, daß dieser kecke, aber allzu unerfahrene, unreife, von seinem jeweiligen Berater abhängige Knabe anders handeln könnte, als sie gedacht hatten. In verbittertem Schweigen, mit zusammengebissenen Zähnen, ritten sie dahin. Aber diese ganze übertrieben eilige Flucht war nicht ausschließlich die Folge der Niederlage von Kruszwica. Der tiefere Grund, obwohl ihnen das keineswegs bewußt war, lag in der inneren Unruhe, die die ganze adlige Ritterschaft erfaßt hatte und in der Zwietracht und Zerrissenheit, die sich aus dem Gefühl der Erniedrigung und des kläglichen Versagens ergaben. Zu genau erinnerte sich jeder dieser edelgeborenen Herren und Burggrafen an die Zeiten der königlichen Macht vor kaum hundert Jahren, als das christliche Polen noch zu den bedeutendsten Mächten der Welt zählte, eine Schlüsselstellung in der europäischen Politik einnahm und ein Bundesgenosse war, um den sich Papst und Kaiser mit aller Heftigkeit stritten. Aber das war noch die gute, alte Zeit. Immer wieder schickte der Heilige Vater damals Gesandte und betitelte in seinen Briefen Bolesław den Freigebigen mit „Geliebter Sohn“ und „Exzellenz“, eine Ehre, die bisher nur Kaisern zugekommen war; denn der französische König wurde mit Eminenz angeredet, der böhmische, ungarische und englische mit Magnifizenz. Wie einen Eber auf der Treibjagd hatten Papst Gregor und Bolesław Kaiser Heinrich IV. umzingelt. Und als dieser besiegt, barfuß und frierend im Schnee vor der Veste Canossa stand, hatten im Dom zu Gnesen, der nach dem Überfall der Böhmen neu erbaut worden war, fünfzehn polnische, sächsische, ungarische und italienische Bischöfe Bolesław zum König gekrönt. Bolesław Nichte Elisabeth, mit Harald verheiratet, saß auf dem norwegischen Thron, in einem fernen, kalten Lande. Bolesławs Schwester, Storrada, war damals Königin
von Dänemark. Am Krakauer Hof war der ungarische Königssohn Władisław erzogen worden, und die ihm zum ungarischen Thron verhalfen, waren ebenfalls Polen. Sogar im entlegenen England gingen Lieder um über die tapferen, nie rastenden polnischen Ritter in der Wildnis am Weichselstrom. Die Fürsten der Rus, die Beherrscher unermeßlicher Gebiete, trieb der König von Polen bald hierhin, bald dorthin, wie es ihm beliebte, und brachte von jedem Feldzug nach dem Osten ungeheure Schätze als Beute mit. Die Krieger des Königs gewannen außerdem auf diesen Zügen an Weitblick. Freude ergriff sie, zu erfahren, wie unendlich groß die Welt war im Vergleich zu den Wäldern und Äckern der Heimat, und wie ganz anders es in den fremden Ländern aussah. Die Lust kam sie an, diese Weiten zu durchmessen, ihre Andersartigkeit in sich aufzunehmen und zu verstehen. Wenn sie in ihre Gehöfte und Burgen zurückgekehrt waren, hatten sie nichts anderes mehr im Sinn als jene Abenteuer. Sie dachten über das gesehene, mannigfaltig wechselnde, farbige Leben nach, und diese Eindrücke waren wie ein Gärstoff, der in ihnen arbeitete, nicht zur Ruhe kam, bis er ihnen schließlich wie Met zu Kopfe stieg und sie mit glühender Sehnsucht nach einem neuen königlichen Aufruf erfüllte. Nun hatte sich in wenigen Jahren alles geändert. Und durch wen? War ein böses Schicksal daran schuld? Oder gar sie selber? Sie sprachen nicht davon, aber ein jeder ärgerte sich längst schon insgeheim, weil er die eigene Verantwortung für das Böse fühlte, das geschehen war. Wie hatten sie es nur dulden können, daß man den König aus Krakau vertrieb? Warum waren sie ihm nicht nach Ungarn gefolgt, warum hatten sie ihn nicht vor den Raubgesellen Włodzisławs behütet, die wachsamer gewesen waren und denen es zu dritt gelungen war, Bolesław auf der Jagd zu ergreifen? Warum hatten sie später den Sohn Mieszko nicht hüten können? Es war ja bekannt, daß seine Großmutter Dobroniega, die Mutter Bolesławs und Herrin am Krakauer Hof, ihr Leben lang den über alles geliebten Enkel mit ihrem Schutz umgeben hatte. Jede Speise, so erzählte man sich,
hatte sie zuerst gekostet und mit ihm zusammen in einer Kemenate geschlafen. Aber als sie ihre müden Augen für immer schloß, wie hatten sie, die bewährten Krieger, nur so blind sein können, den Königssohn, das heilige Blut des Gesalbten, am Hofe Włodzisławs zurückzulassen? Kaum zwei Monate waren verstrichen, als er auch schon durch Gift aus dem Wege geräumt worden war. Lebte dieser unbeweint gestorbene Königssohn, der scharfäugige Falke, der mit Geist und mit Schönheit begabte, ritterliche, in jedem Zoll zum Herrscher Auserkorene noch, stände er mitten unter ihnen, der polnische Ruhm wäre nicht verweht, und sie brauchten jetzt nicht durch Wälder und Hohlwege schmählich das Weite zu suchen … Welch ein Schicksal! In der ständigen Gereiztheit, in der sie sich befanden, traten ihnen diese Erinnerungen immer wieder vor Augen, und der geringfügigste Anlaß genügte schon, einen Sturm zu entfachen. Sie murrten darüber, daß man der Königin Judith — obwohl Włodzisław freiwillig auf die Krone verzichtet hatte, trug sie als Witwe des ungarischen Königs Salomo weiterhin den Titel Königin — nachsagte, sie hätte sich mit Sieciech zusammengetan. Vor noch nicht langer Zeit hatte man auf königlichen Befehl Ehebrecherinnen junge Hunde an die Brust gelegt. Hier aber beging eine Fürstin vor aller Augen Ehebruch, und ihr Gatte zeigte nicht den geringsten Abscheu vor solcher Niedertracht. Dann wieder wurmte es sie, daß man Zbygniew seine Rechte streitig machte. Er sei ein Bastard, warf man ihm vor. Mußte das nicht so aufgefaßt werden, daß seine Mutter, eine ehrenwerte Tochter des angesehenen Geschlechts der Prawdzic, nur als Nebenfrau galt? Wegen einer solchen Schande fühlten sich die Angehörigen des Hauses Prawdzic mit Magnus, dem Burgherrn von Wroclaw, an der Spitze, zur Rache verpflichtet. Den Prawdzic schlossen sich die Familien Starza, Starykon, Awdaniec, Wilk, Rogala, Zawora und noch andere an, und schließlich war daraus eine Bewegung entstanden, die die ganze schlesische und kleinpolnische Ritterschaft erfaßte. Doch der größte Teil des Landes schien anderer Ansicht zu sein. Die Bischöfe und
Ordensleute wollten lieber den gefügigen, kirchentreuen Włodzisław und drückten angesichts des Treibens der Königin gern ein Auge zu. Das gleiche wünschten die Ritter niederen Ranges, Neuadel oder auch milites unius scuti genannt, jene wenig begüterten, die jedem Kriegsruf folgten, um ihr Privileg nicht zu verlieren, aber weder Pferd noch Waffe besaßen und sich notgedrungen dem Gefolge irgendeines hohen Herrn anschließen mußten. Mochte ein solcher armer Schlucker auch hier und dort Wunder an Tapferkeit vollbringen, deshalb kam er noch nicht zu Reichtum, denn die Beute fiel seinem mächtigen Herrn zu. Auch die Siedler, die sogenannten hospites, sehnten sich nicht nach der Rückkehr des Königtums, ebensowenig wie die umherwandernden Bauern, die durch Niederbrennen von Wald und durch Rodung der Stubben Ackerland gewannen, oder die Aussiedler, die zu besonderen Dienstleistungen für die Burg verpflichtet waren und mit ihrem Kopfe dafür bürgten, daß der Hof ausreichend mit Kleinvieh, mit Ernteerträgen und Gerät versorgt wurde. Die armen Smerds — die Sterblichen, so genannt, weil sie kein Recht hatten, ihren Kindern etwas zu vererben — träumten nicht von Ruhm und Ehre, und deshalb nannte sie eine Gesellschaft, deren Grundlage das Erbrecht war, verächtlich die Sterblichen. Was sollte man vollends von den noch ärmeren, völlig rechtlosen Bewohnern der Einöde sagen, den Leibeigenen, oder Nachkommen der Kriegsgefangenen, den Gewinnern von Manna aus jungen Eschentrieben und den Johannisblutsammlern, den Köhlern? Auf ihren mageren Schultern, die mit ärmlichen Fetzen bekleidet waren, lastete die Bürde des mächtigen Staates am schwersten. Anderen mochte über die Kampfesfreude hinaus noch reiche Beute zuteil werden, für sie gab es nur ständigen Zwang, Abgaben und Sonderdienste, vor denen sie weder werk– noch feiertags, nicht einmal in der Nacht sicher waren. Und je größer das Staatsgebilde wurde, desto höher wuchsen die steinernen Kirchen, desto zahlreicher wurden die Klöster und Städte, aber um so schwerer wurde auch das Leben für die Armen, die Fronarbeiter, die mit
ihren schwieligen Händen das lehmige Rodeland dem Wurzelgestrüpp des Bodens entreißen mußten. Kein Wunder, daß sie sich wie Gefangene vorkamen, wie lebendig begraben unter einem Haus, in das „das Glück“ einziehen sollte. Ihre Großväter, noch an die frühere, uralte heidnische Freiheit des Stammes gewöhnt, wo man andere Abgaben nicht kannte als die Opfer für die heidnischen Priester, kamen von dem Gedanken nicht los, diese Freiheit eines Tages wiederherzustellen. Nach ihrer Meinung genügte es, den König und die hohen Herren des Landes zu verweisen, dann mußte ja das glückliche, sündelose, arbeitsame und heitere Leben, in dem es einem wie dem Biber oder der Biene ging, erneut seinen Einzug halten. Als sie aber in dem schrecklichen Aufruhr des Jahres 1040 zu den Waffen griffen, wurde es ihnen schnell klar, daß jene glücklichen Zeiten mit den alten Göttern zugleich aus der Welt verschwunden waren und durch nichts mehr zurückgerufen werden konnten. Und sollte das junge Gebilde des polnischen Staates zusammenbrechen, so würde bald der schwerfüßige Nachbar in die herrenlosen Gebiete eindringen und ihnen ein wahrscheinlich noch drückenderes Joch auferlegen als die eigenen Herren. Vielleicht mußte das nun schon Jahrhunderte so gehen … Diese rechtlos gewordenen Menschen kümmerten sich weder um die Krone oder das sittenlose Treiben Sieciechs mit dem Weibe Włodzisławs noch um die Sehnsüchte des mächtigen Kriegsadels. Sie waren gewiß froh über die Wandlung; denn der fürstliche Hof zu Plock forderte an Vieh, Met, Bier, Backwerk, Fronfuhren und Tagewerken bedeutend weniger als der bisherige königliche. Es lag deshalb auf der Hand, daß die derzeitige Lage für sie besser war. Die ruhmgierigen hohen Herren fühlten ihre Isolierung durchaus. Sie hegten daher um so größere Verachtung und um so stärkeren Widerwillen gegenüber dem armen Volk und betrachteten es als Dünger, als gefühlloses und dummes Vieh. Zwar faselten Geistliche, wenn auch nur heimlich, daß die Armen ebenso eine Seele hätten wie die hohen Herren und Angehörigen der
Stammeshäuser, aber kein Ritter glaubte auch nur einen Augenblick an solch ein Geschwätz. Jeder Faustschlag, der aus nichtigem Grund oder gar völlig willkürlich die Schulter des nicht schnell genug arbeitenden Knechtes traf, drückte die Verachtung gegen alle jene aus, die nicht hochgeboren waren, einen kahlen Nacken hatten, d.h. zum Zeichen der Hörigkeit kurzgeschorenes Haar trugen … Die Ritter, die in einem geschlossenen Trupp von fünfzig Pferden mühevoll die schlesische Wildnis in Richtung auf Wroclaw durchquerten, und denen eine noch größere Zahl Bedienstete zu Pferde oder zu Fuß folgte, gehörten ausnahmslos jenen Adelskreisen an, deren Hochmut schon Papst Gregor VII. vergeblich gerügt hatte. Sie trugen die schweren, glatten Haarsträhnen in Schulterhöhe gestutzt. An ihrem Halse glänzte eine goldene Kette, die den hohen Würdenträger und Beamten von dem gewöhnlichen Krieger unterschied. An der Halskette hing die sogenannte Misericordia, ein kurzer Dolch, der den Rittern dazu diente, den Verwundeten den Todesstoß zu versetzen, und kostbar wie ein Kleinod und todbringend wie eine giftige Schlange war. Die großflächigen, harten Gesichter dieser Herren sahen aus, als wären sie aus Holz geschnitzt oder aus Stein gemeißelt. Manche von ihnen waren unabhängig von den fürstlichen oder sogar den königlichen Gerichten, regierten nach eigenem Familienrecht, und niemand durfte ihnen da hineinreden. Dieses Vorrecht besaß auch die Sippe der Starykon. Sie stammte in gerader Linie von den heidnischen Priestern ab, welche einst die für heilige Handlungen benötigten Hengste im Krakauer Tiergehege aufgezogen hatten. Ebenso gehörten dazu die Starza und Olawa, weil sie sich auf jene fremden Krieger aus der Zeit Mieszkos I. zurückführen konnten, die Bolesław der Böhme gegen Wichmann geschickt hatte. Sie brachten die ersten, bis dahin nicht bekannten Panzerrüstungen und neue Kampfesweisen nach Polen mit, und der Fürst erlaubte ihnen, sich nach ihrem eigenen Recht anzusiedeln. Ihnen gleichgestellt waren die aus dem Geschlechte
Strzegonia; bei ihnen lag der Grund darin, daß ein geheimgehaltener Vorfall sich bei Gründung ihres Hauses ereignet hatte, den nur der jeweils Älteste der Sippe kannte, der ihn wiederum nur seinem Nachfolger weitergeben durfte. So stand es auch mit dem Geschlecht der Nogodzic, Zawora und anderer. Manche, wie die aus dem Hause Jaszczold, erzählten, ihre Vorfahren seien vor langer, langer Zeit über das wellengepeitschte Meer hierhergekommen, auf großen Booten, die sie die Oder stromaufwärts bis zu diesen waldigen Gegenden gezogen hatten, wo sie geblieben waren, weil man ihnen die Fahrzeuge verbrannt hatte. Ob es wirklich so gewesen war, wußten freilich weder sie noch sonst jemand mit Bestimmtheit zu sagen. Die drei Brüder Strzegonia ritten am Ende des Zuges. Der Weg hatte unter den Hufen der Pferde inzwischen die vierfache Breite jenes Pfades angenommen, den die an der Spitze Reitenden vorgefunden hatten. Das Gestrüpp und die Haselnußsträucher waren zu Boden gestampft, so daß sie zu dritt nebeneinander reiten konnten. Obwohl sie von der gleichen Sippe waren, dasselbe Wappen führten, dasselbe Zeichen — drei von einem Pfeil durchbohrte Hufeisen — in die Grenzbäume ihres Besitztums ritzten und ihren Gefangenen, ihren Pferden und ihrem Vieh auf die Schulter drückten, ähnelten sie sich keineswegs. Wenn sie auch jetzt dicht beisammen an den wie Mauern aufragenden Waldkanten dahinzogen, waren sie doch einander fern, als trennten sie weite Landstriche der Wildnis. Der älteste von ihnen, ein breitschultriger Mann mit großem Kopf, dessen Haar schon stark ergraut war, hieß Witosław, ein Name, der stets auf den ältesten Sohn des Geschlechtes überging. Einen so ehrwürdigen Namen im täglichen Leben zu verwenden, galt als unmöglich, weil dadurch seine Kraft angeblich verblassen könnte; daher wurde der Mann, der bei Familienberatungen, wichtigen Zeremonien oder während des Kampfes den Namen Witosław führte, im gewöhnlichen Leben Großkopf genannt. Dieser
Spitzname paßte gut zu seinem mächtigen Haupt, das außergewöhnliche Bedachtsamkeit und Standhaftigkeit verriet. Witosław war heiteren Gemütes. Dennoch lastete eine schwere Sorge auf ihm. Seine Frau, aus dem Geschlecht Zawora stammend, hatte ihm nur sechs Töchter geboren. Er versuchte diesen schändlichen, offenbar durch Zauberei verursachten Zustand zu beenden, indem er den alten Göttern Opfer darbrachte, aber auch dem neuen Gott Gelübde tat. Unter seinen Standesgenossen tröstete man ihn damit, das siebente Mädchen würde als eine Seherin zur Welt kommen, die vergangene, künftige und geheime Dinge schauen und aus dem Satz im Sieb, aus dem Wasser, aus Birkenkohlen und aus dem Fluge des Lerchenfalken weissagen werde. Das könne von großem Nutzen für das Geschlecht sein. Großkopf freilich schüttelte bei solchen Versicherungen ungläubig den Kopf. Er wünschte sich keineswegs solch eine Weissagerin, nicht einmal auf die Aussicht hin, mit ihrer Hilfe einmal dem verfluchten Feind, dem lockenden Raben Pomlost, den Garaus zu machen. Er sehnte sich nicht danach, geheime Vorgänge, wie sie an der Wiege seines Geschlechtes geschehen waren, wiederholt zu sehen. „Ich werde die Mädchen so lange aussetzen, bis ich einen Sohn bekomme“, drohte er immer wieder mit Erbitterung. Der an seiner Seite reitende jüngere Bruder Zbylut war noch unverheiratet, trotz seines Kinn und Wangen bedeckenden schwarzen Bartes. Seine grimmigen Augen funkelten drohend unter den dichten, schwarzen, über der Nase zusammengewachsenen Brauen, seine vollen Lippen verzogen sich zu einem zynischen Grinsen, besonders, wenn sein Blick zufällig auf den jüngsten Bruder, auf Imbram, fiel. Zwischen diesen beiden Brüdern gab es keine Freundschaft, keine Verständigung, denn Zbylut war jähzornig. Imbram, der gewöhnlich Imko gerufen wurde, war dagegen weich und nachgiebig. Er liebte Unterhaltung und Gesang. Es hieß, eine Elfe habe dem Kleinen eine andere Gestalt geben wollen. Zwar sei sie verscheucht worden, aber ihre Berührung oder vielleicht auch nur ihr Blick hatten offenbar genügt, dem Knaben
den Verstand zu trüben. Dieser Imbram hatte vor einem Jahr ein Weib genommen, das er über alles liebte, und die Sorge um sie, deren Niederkunft in diesen Tagen bevorstand, trieb ihn schneller vorwärts als die Angst vor der Verfolgung durch Sieciech. Bald hatte er seine Brüder um einige Pferdelängen überholt und ritt jetzt neben dem jüngeren Zawora, seinem Freund und Verwandten. Es gab zwei Zawora im Zuge. Der ältere trug den Spitznamen Momot, denn er stotterte. Wenn er sprach, neigte er stets den Kopf zur Seite, doch waren seine nur mühsam hervorgebrachten Worte verständig und gewichtig. Der jüngere war hochgewachsen und hager, so daß man ihm die sogenannte Schattenkrankheit nachsagte, von der Menschen befallen werden, denen eine Hexe den eigenen Schatten gestohlen und diesen durch einen fremden ersetzt hat. Auf dem überlangen Hals mit dem hervortretenden Adamsapfel saß ein kleiner runder Kopf mit bartlosem Kinn und einem breiten, ewig lächelnden Mund. Er wurde von allen Jasiek genannt, ein Spitzname, der nicht von dem Vornamen Jan abgeleitet war, sondern an den einst mächtigen, heute jedoch verachteten Heidengott Jescha erinnern sollte. „Nach Hause sind es nur noch knapp drei Meilen“, sagte Imbram zu seinem Freund. Beide hatten vor einem Jahr, an jenem Sonntag, als Imbram die Braut heimführte, ewige Freundschaft geschlossen. „Ich möchte nur zu gern voraus reiten, um zu sehen, wie es Ofka geht …“ „Dann sieh zu, daß du wegkommst …“ Imbram sandte einen verstohlenen Blick zu seinen Brüdern hinüber. „Sie werden ungehalten über mich sein …“ „Sollen sie! Sie werden dich nicht gleich verschlingen …“ Imbram pflichtete ihm gern bei, zufrieden über die Unterstützung. Er schaute sich nach Großkopf um und rief laut: „Lebt wohl! Ich reite voraus!“ Großkopf fuchtelte verzweifelt mit der Hand. „Daß du dich ja nicht unterstehst, du Verräter! Du bringst Unglück über unser Haus!“
Aber Imbram hörte weder auf das Rufen, noch nahm er die Handbewegung wahr. Er drückte die Fersen in die Flanken seines Pferdes und lenkte in den an dieser Stelle lichter bestandenen Wald, um den langen Reiterzug leichter zu überholen. „Ein langer Kerl, aber noch so dumm wie ein unverständiges Mädchen“, murmelte Großkopf erzürnt. Er blickte unruhig nach allen Seiten in die Baumwipfel, als suche er in der Luft jene bösartigen Geister, die durch die unziemliche Eile Imbrams aufgebracht, diesem bis in sein Haus nachsetzen und dort eine Menge Unheil anrichten könnten. „Immer ist er es, der Kummer bereitet …“, beklagte er sich bei seinem Bruder. Zbylut gab keine Antwort.
ZWEITES KAPITEL Von der Geburt eines Sohnes auf dem alten großen Gehöft inmitten der Wildnis
Das
Kind lag in einem geflochtenen Körbchen, das an vier Bastschnüren vom Balken der Stubendecke herabhing, und schrie aus Leibeskräften. In der Kammer herrschte Halbdunkel, und die Luft war stickig, denn das Fenster hatte man mit einem Laden fest verschlossen. Obwohl es draußen heller Tag war, brannte in einer Ecke eine Wachskerze. In dem Lichtstreifen, der durch einen Spalt im Fensterladen eindrang, summten eintönig die Fliegen. Ofka, Imbrams Frau, richtete sich von ihrem Lager auf und zog das Körbchen liebevoll näher zu sich heran. Das kleine runzelige Gesichtchen des Kindes war blau vom Schreien. Die Mutter hob das Kleine behutsam heraus, das mit bunten Bändern eng umwickelt — selbst die Händchen hatte man ihm dicht am Körper festgebunden — eher einer steifen Puppe glich. Der losgelassene Korb schaukelte heftig, so daß die Kerzenflamme in der Ecke des Raumes zu flackern begann. Mit flinken, geschickten Bewegungen wickelte Ofka die Tuchbänder auf. Kein Wunder, daß das arme Kind schrie! Das halbe Hufeisen, als Schutz gegen bösen Zauber in das Wickelzeug gesteckt, hatte sich ihm bis unter den Rücken geschoben. Und Bogucha sagte immer, man dürfe das Kind auf keinen Fall tagsüber aufwickeln. Ofka lehnte sich wieder auf ihrer Lagerstatt zurück und bettete das Kind bequem auf ein Kissen, das mit duftendem Heu gestopft war. Glücklich, von dem lästigen Druck befreit zu sein, bewegte das Kleine lebhaft seine Händchen und Füßchen. Jedes der winzigen Glieder schien mit eigenem Leben beschenkt zu sein, nur zufällig durch ein Ganzes miteinander verbunden. Ganz versunken in den Anblick der zuckenden Fingerchen, die korallenfarbenen
Blumenstengeln glichen, und der bezaubernden Fingernägelchen, die nicht größer waren als Hirsekörner, hatte Ofka das Knarren der Tür überhört. Bogucha, die Schwägerin, trat herein und griff sofort nach dem Vorhang, der das Bett und die Wiege von dem übrigen Raum trennte. Die üblichen neun Tage der Absonderung waren noch nicht verstrichen, und außer drei Frauen war es niemandem erlaubt, die Wöchnerin und das Neugeborene zu sehen. „Ofka!“ zischte die Eintretende, „bist du von Sinnen?! Habe ich dich nicht schon oft genug gewarnt, die Geburtsgöttinnen zu erzürnen?“ „Das Messer ist ja hier, die Kerze und die Kräuter!“ „Wickle den Kleinen schnell wieder ein!“ Groß, derb, in roten, wollenen Kleidern, die sich stark über den Hüften bauschten, stand Bogucha neben dem Bett und schaute der Schwägerin zu, die betrübt ihr Kindlein wieder einwickelte. Die winzigen rosigen Knie, die noch die gekrümmte Stellung der Frucht im Mutterleibe hatten, wollten sich nicht ausstrecken lassen, ebenso die Händchen, denen es am angenehmsten war, sich in kleinen Fäusten dicht an das Gesicht zu pressen. Mit starrem, trotzigem Blick sah Bogucha auf den Neffen, auf seine winzige Männlichkeit, jenen Talisman, der den Sohn in der Familie begehrt macht und durch den auch die Würde der Mutter erhöht wird. Warum war ihr, Bogucha, noch immer kein Sohn beschieden? Warum verweigerte ein unbarmherziges Schicksal ihr diese Gnade? „Mir wird übel, wenn ich sehe, wie ungeschickt du dich anstellst“, bemerkte sie hämisch, schob die zarten Hände der Schwägerin beiseite und machte sich selbst ans Werk. Mit geübten Händen besiegte sie den Widerstand des Kleinen und wickelte ihn straff vom Kopf bis zu den Füßen, ohne das Eisen zu vergessen. Ofka reichte dem Schreihals erneut die Brust. Bogucha aber zog geräuschvoll das Butterfaß aus der Nebenkammer und setzte sich mit ihm dicht an den Vorhang, um jede neue Ungehörigkeit unterbinden zu können. „Das Messer wird dich nur von einer Seite beschützen, von der anderen nicht“, sagte sie, als beantworte sie erst jetzt die vorherige
Widerrede Ofkas. „Morgen schon ist die gefährliche Zeit zu Ende, kannst du nicht solange Geduld haben …?“ „Ist morgen die Taufe?“ fragte Ofka unruhig. „Ja, der Abt hat gedroht, daß er nicht länger warten wolle.“ „Aber Imko ist doch noch nicht zurück!“ „Imko braucht auch nicht dabeizusein. Taufen kann man immer, predigt der Abt. Hast du Angst, daß Imko seinen Sohn aussetzen könnte?“ Verhaltener Schmerz klang in Boguchas Stimme. Aber Ofka lachte silberhell auf: „Aussetzen? Was nicht gar! Du liebes Würmchen, dein Vater wird dich anerkennen, o ja, das wird er … Er wird dich hochheben, so hoch, bis an die Stubendecke, dann hinunter bis auf die Schwelle und wieder empor, damit du groß wirst, sehr groß …“ Bogucha biß sich auf die Lippen. „Sprich nicht so viel! Du redest, als wolltest du das Böse absichtlich heraufbeschwören …“ Ofka seufzte und verstummte. Bogucha arbeitete gleichmäßig mit dem Stampfer. Da sich aber der Rahm noch immer nicht zu Butter schlagen lassen wollte, erhob sie sich wütend und schlug dreimal kräftig mit der Schürze auf das Butterfaß, um das Wichtelmännchen zu verscheuchen, das ganz sicher auf dem Stampfer saß und die Arbeit störte. Nachdem sie ihre Röcke sorgfältig geglättet hatte, nahm sie wieder beruhigt Platz. Ofka hatte respektvoll die Verwandte beobachtet. Sie fürchtete und bewunderte zugleich die Schwägerin, vor allem wegen ihrer Ruhe und Umsichtigkeit in allen Dingen des praktischen Lebens. Bogucha wußte, daß man sich auch gewöhnlichen Hausgeräten gegenüber mit gebührender Achtung zu verhalten hatte, dem Rührhaken oder dem Backtrog, die in sich selbst einen geheimen und bedeutungsvollen Sinn trugen, wenn auch der Abt gegen solchen Aberglauben ankämpfte. Sie bewegte sich unter diesen alltäglichen und gleichzeitig heiligen Gegenständen mit Würde und Geschicklichkeit. Sie kannte wie niemand sonst alle Geister und alle Beschwörungsformeln, wußte,
wie man den kleinen, guten Hausgeist Chowaniec oder den Plon, den Spender der Frucht im Leibe eines Muttertieres und des Samens im Korn, an das Haus fesseln konnte. Wenn sich Plon widerspenstig zeigte, so gelang es ihr, seinen Bastard Plonek, der in Gestalt einer Katze das Korn ins Haus trägt, zu besprechen. Sie verstand auch, Latawiec, den durch die Lüfte fliegenden Geist, und den ihm folgenden Blitz zu verscheuchen und Stral, den Windteufel, der oft in einem Tier oder auch einfach als eine Luftbewegung herumwirbelt und Schabernack treibt, zu beruhigen. War es nicht eine grausame Verhöhnung, wenn das Schicksal diesem umsichtigen und achtsamen Weibe den so sehnsüchtig erwarteten Sohn immer wieder versagte, der der jungen Schwägerin so flink und ohne Anstrengung zuteil wurde? Gebührte dieser kräftige, an der Brust seiner Mutter schlummernde Knabe nicht eher ihr, Bogucha, statt dieser Ofka, die ebenso wie Imbram noch gar nicht reif dafür war, die ihr Leben wie ein Spiel auffaßte, stets zum Weinen oder zum Lachen aufgelegt war und sich bald vor der geringsten Kleinigkeit fürchtete, bald unbesorgt die Macht der Geister herausforderte, als wüßte sie nicht, wie eifersüchtig diese auf alles sind, was dem Menschen das Glück oder auch nur eine geringe Freude bedeutet? Ob diese Mißgunst der Geister die Rache dafür war, daß der mächtige Gott Christus sie vertrieben und gedemütigt hatte, darüber äußerte sich Bogucha nicht. Was hätte sie auch davon gehabt? Ihren Verdruß würde es kaum gemindert haben. Das Kind schlief. Die Butter war fertig. Bogucha nahm das Butterfaß unter den Arm und ging hinaus. Auf dem Rücken liegend und sich auf die mit Heu gestopften Kissen stützend, ließ Ofka ihren Blick über die vom Alter geschwärzte Zimmerdecke mit ihren geschnitzten Balken schweifen. Sie dachte daran, daß sie sofort nach der Heimkehr Imkos aus der stickigen, dumpfen Kammer ins Freie, in die Sonne, in den duftenden Wind gehen werde. Dann würde es nicht mehr nötig sein, um der Stille willen die Fenster und den Schornstein zu verschließen, sich vor dem Mond zu hüten und
fortwährend Kerzen zu brennen. Dann würden die trübsinnigen, wie bei einem Toten verbrachten leeren Abende zu Ende sein, wenn das Licht flackerte, ringsum Gespenster kreisten und als Insekten mit versengten Flügeln auf den Estrich fielen, wenn an den Wänden die Schatten entlangzogen, im Winkel Frau Pobieda, die Beschließerin, schnarchte, während es in den Wänden klopfte und knisterte. Zu Ende war dann die Einsamkeit, zu Ende die ermüdenden Einschränkungen, welche jede Schwangere im letzten Monat auf sich nehmen mußte. War es doch keiner gestattet, für die Wirtschaft zu sorgen, die Speisen selber zuzubereiten, auf der Schwelle zu sitzen, den Rain zu überschreiten, Wasser aus der Quelle zu holen, auf dem Schoße Äpfel, Birnen oder Eier zu halten. Dagegen mußte sie unter dem Gewand ein schweres Stück Eisen auf dem Leib mit sich herumschleppen und durfte sich von dem Messer, das am Osterfest zweifach geweiht worden war, nicht trennen. Alle diese lästigen Dinge, die sich freilich nur auf die Geburt des ersten Kindes bezogen und nicht auf die späteren Geburten, lagen nun endlich hinter ihr. Sie dehnte sich wohlig und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ja, sie war glücklich, aber gleichzeitig schien es ihr seltsam unwahrscheinlich, daß sie jetzt aufhören sollte, eine Fremde am Herd zu sein, der es nicht gestattet war, als erste an jemanden das Wort zu richten. Bisher hatte sie als die Letzte im Hause gegolten, jetzt war sie als Mutter des Erstgeborenen in der neuen Generation die Erste geworden. In Zukunft würde sie in der Rangordnung vor der klugen, strengen Bogucha stehen. Es war kaum zu glauben! Ofka lachte bei diesem Gedanken laut auf. Oh, würde sich Imko freuen! Wann kehrte er nur endlich heim, ihr Geliebter, ihr lieber Mann, ihr Herr und Freund! Ach, wäre er doch schon hier! Womit konnte sie ihn beschwören, womit ihn aus der Ferne herbeirufen, damit er sich beeile? Sie streckte die Arme aus, und plötzlich erinnerte sie sich an den von Kloster zu Kloster ziehenden Mönch, der im vergangenen
Winter zwei Wochen auf ihrem Gehöft verbracht hatte, um auf das Nachlassen des Frostes zu warten, und der sie Beschwörungsformeln von angeblich untrüglicher Macht gelehrt hatte. Sie dachte angestrengt nach, und bald fielen ihr einzelne Teile wieder ein. Aber sie mußte sie erst wieder in die richtige Reihenfolge bringen, denn eine Beschwörungsformel besitzt keine Macht mehr, wenn sie fehlerhaft und ungereimt hergesagt wird. Schließlich richtete sie sich auf und lauschte aufmerksam, ob sich auch niemand nähere. Was wäre mit ihr geschehen, wenn Bogucha sie so überrascht hätte! Dann sprach sie mit vor Rührung gedämpfter Stimme: „Morgenröte, Abendröte, meine Schwestern, schwingt euch auf den Rappen beide, reitet zu dem Liebsten. Weder schlafen, weder essen, weder sitzen, weder sprechen soll er ohne mich. Wie ich bin in Lust und Arbeit immer will ich ihm gefallen, daß er höre meine Bitte, träte ein zu meiner Türe, an mein Lager käme …“ Sie verstummte und lauschte aufmerksam. Aber nichts war zu hören, nur das Vogelgezwitscher vor dem Fenster und das Geplapper der kleinen Töchter ihres ältesten Schwagers. Deshalb fing Ofka an, das Verschen zum zweitenmal herzusagen, aber auch diesmal blieb die nachmittägliche Stille des Julitages ungestört. Da begann sie zum drittenmal. Sie sprach langsam, Wort für Wort, und das Vertrauen in die Kraft der Formel erfüllte sie so sehr, daß sie sich gar nicht wunderte, als jetzt plötzlich Hufschläge vor dem Tor ertönten und die angeketteten Hofhunde ein freudiges Gekläff erhoben. Schon war das Hasten des Gesindes und die Stimme
Boguchas zu hören: „Sei gegrüßt, sei gegrüßt. Wo ist denn der Meine?“ Ofka fiel in die Kissen zurück, halbtot vor Freude. Er ist gekommen! Er ist wirklich da! Auf ihre Beschwörung hin war er gekommen! „Oh, du gottgepriesener, hochwürdiger Mönch mit deinem mondrunden Kahlkopf und deinem trefflich gerundeten Bäuchlein! Und ihr hochgelobten Wolkenschwestern, ihr Himmelsröten! Du allerbester, geliebtester Herr, der du in der Ferne das Rufen deiner Liebsten gehört hast …“ Eine starke Männerhand riß an der Tür, daß diese fast aus den knarrenden Angeln flog. Und schon war Imbram in der Stube, aber hinter ihm hastete auch Bogucha herein. Sie umschlang ihn, versuchte ihn zur Umkehr zu bewegen, trat wieder zurück, und stand mit ausgebreiteten Armen drohend und unbeugsam wie die Verkörperung des Gesetzes vor ihm. „Du darfst sie erst nach der Taufe sehen“, sagte sie keuchend, da sie ihm nur mit Mühe hatte folgen können. „Schiebt doch den Vorhang nur ein klein wenig zurück, damit ich sie wenigstens von weitem sehen kann …“ „Bist du denn von Sinnen! Willst du ein Unglück heraufbeschwören?“ „Eh … es wird nicht gleich ein Unglück geschehen …“, sagte Imko verdrießlich. Es tat ihm leid, daß er Ofka nicht sehen durfte, aber immerhin, er wußte, hier ging es um wichtige Dinge. Bogucha zuckte die Schultern. „Du redest, als ob du nicht wüßtest, daß durch solche Dinge der Knabe bei den Rogalas krummbeinig geworden ist, so daß sie ihn im Walde aussetzen mußten …“ „Rogala hat erzählt, er sei schon so geboren worden …“ „Das ist nicht wahr, ich weiß es von der weisen Frau, die bei der Geburt geholfen hat. Als sie ihn herauszog, war er ganz gerade wie dieser …“ „Ha, wenn es so ist … Und sprechen darf ich mit ihr auch nicht?“ „Doch, sprechen darf sie.“ „Ofka, warum sagst du nichts? Ich bin schon hier!“
Ach, sie wußte ja längst, daß der Geliebte da war, aber im Überschwang der Freude vermochte sie kein Wort herauszubringen. Sie hörte seine Stimme, sie spürte bis zu ihrem Lager den Geruch von Männer– und Pferdeschweiß, von Stiefeln und Wald. „Du bist es …“, wiederholte sie mit kaum hörbarer Stimme. Er wurde unruhig. „Was ist dir, Ofka? Wie geht es dir?!“ „Nichts, mir ist nur schwindlig …“ „Wovon?“ „… vor Glück …“ „Du meine Liebste!“ „Toi – toi – toi!“ sagte Bogucha und spuckte nach hinten, nach vorn, nach rechts und nach links. Diese beiden würden niemals Vernunft annehmen. Wußten sie denn nicht, wie gefährlich es war, sich laut zu seinem Glück zu bekennen? Imbram schlang die Arme versöhnlich um die breiten Schultern der Schwägerin. „Reiche mir wenigstens den Kleinen, damit ich ihn anerkenne, damit ich ihn hochhebe …“ „Willst du nicht auf die andern warten?“ „Mit der Taufe haben wir Zeit, aber anerkennen will ich ihn sofort.“ „Wie du willst.“ Sie holte das Kind. Ofka faßte sie flehentlich bei der Hand. „Schwesterchen! Schwägerin! Sei barmherzig! Laß wenigstens einen winzigen Spalt offen, damit ich ihn sehe … nur so breit wie ein Daumennagel …“ Nach kurzer Überlegung erklärte sich Bogucha damit einverstanden. Ofka sollte es gestattet sein, Imko zu sehen, wenn nur er sie nicht erblickte. Bogucha trennte also die Naht des Vorhangs ein klein wenig auf. Wenn Ofka jetzt mit einem Auge hindurchlugte, konnte sie sehen, wie ihre Schwägerin das schlafende kleine Wesen auf den Tisch legte, es unter den Blicken des Vaters feierlich auswickelte und ihm zeigte, daß ein rechter Knabe geboten war, der, obwohl krebsrot und winzig klein, doch gerade Beine und breite Schultern hatte.
Der Kleine schrie nicht. Er war froh, daß man ihn aus seiner Umschnürung befreit hatte, und wandte seine Äuglein, die so trübblau waren wie die eines Welpen, dem Licht zu. Noch sah er mit ihnen die guten kleinen Hausgeister und die wohlgesinnten Geburtsgöttinnen, die Wichtelmännchen und die Elfen, alles, was den großen Menschen verborgen war. Morgen aber, wenn der Abt ihn erst mit Weihwasser besprengt hatte, würde sich vor ihm die irdische, väterliche, menschliche Welt auftun. Vorsichtig und behutsam nahm Imbram seinen kleinen Sohn in seine großen Hände. Bogucha belehrte ihn geschäftig, wie er mit den Fingern das Köpfchen stützen müsse, damit es auf dem noch schwächlichen Hals nicht hin– und herwackele. So, ja so … Und der Vater hob den Kleinen in die Höhe, so wie ihn selbst einst der Großvater dieses Knaben hochgehoben hatte, ganz hoch, bis die spärlichen Flaumhaare des Kinderköpfchens den geschnitzten Balken an der Stelle berührten, wo die Zeichen des Geschlechtes, die drei von einem Pfeil durchbohrten Hufeisen, eingeschnitzt waren. Dreimal hob er ihn hoch, damit die in diesem Balken wohnenden Schutzgeister der Ahnen und der Nachkommen wußten, daß dieser hier sein Erstgeborener war, sein rechtmäßiger Sohn und Erbe. Dann beugte er sich dreimal zur Erde und berührte mit dem zarten Körperchen die Schwelle, die heilige Schwelle, unter der die Hausgötter und auch die Geister der totgeborenen oder im Walde ausgesetzten Kinder wohnten, die nach dem Tode doch den Weg nach Hause fanden. Alle diese Götter und Geister mußten durch eine tiefe Verbeugung gewonnen werden, damit sie dem neuen Sproß des Geschlechtes freundlich gesonnen waren und seinen kleinen Füßen wohlwollten, wenn er auf allen vieren über die Schwelle kroch, ihm treu dienten und das böse Schicksal nicht in das Haus ließen, später, wenn er zum Manne gereift und als Ritter sporenklirrend die Schwelle überschritt. Und der Vater verneigte sich noch einmal und bürgte dreimal für seinen Sohn, daß dieser
alle Götter und Mächte des Hauses achten, sie liebevoll umsorgen und beschützen werde … Während er, ohne viele Worte zu machen, das geliebte kleine Wesen bald in die Höhe hob, bald, sich verneigend, bis zur Erde senkte, blickte nicht nur Ofka hinter der Spalte des Vorhangs atemlos auf ihn, sondern auch Bogucha, deren Arme kraftlos an ihrem Gewande herabhingen. Beide brachten keinen Ton hervor, Ofka vor Freude, Bogucha vor Leid. Noch nie, niemals hatte Großkopf ein Kind hochgehoben. Aber hatte er denn jemanden hochzuheben? Mit einer Tochter den Balken zu berühren, würde das nicht das Gespött der Ahnen hervorrufen? Bogucha wischte schnell eine Träne ab, die ihr über die breite Wange lief, und nahm das jetzt aus Leibeskräften schreiende Kind aus Imkos Händen entgegen. Sollte Ofka es beruhigen! „Ich darf dich hier nicht einen Augenblick länger dulden“, sagte sie, schon wieder beherrscht, mit ihrer gewöhnlichen Stimme zu Imbram, „ihr könntet noch irgendeine Dummheit machen … Komm mit!“ „Ich komme ja schon“, erklärte er nachgiebig. „Nur, Ofka, sage mir, bist du denn froh?“ „Oh, ich bin froh, so froh …!“ „Wieder dasselbe“, murmelte Bogucha ärgerlich und stieß den zärtlichen Ehegemahl aus dem Gemach. „Geh, besieh dir das Fohlen der türkischen Stute, das wird dir gefallen“, rief sie tröstend hinter ihm her.
DRITTES KAPITEL Einst, in alter Zeit
Witosław, dem Großkopf, war es gewiß nicht recht, daß seinem jüngeren Bruder und nicht ihm der so sehnlich erwartete Sohn und Stammhalter geboren worden war; aber er war zu vernünftig und hatte zuviel Familiensinn, um sich seine Mißstimmung anmerken zu lassen. Die Sippe hatte einen neuen Sproß hervorgebracht, und um des Bestandes des Geschlechtes willen mußten alle anderen, nur persönlichen Dinge zurücktreten. Nach seiner Rückkehr ordnete er sofort eine prunkvolle Taufe an, zu der ein üppiges Festmahl gereicht und zahlreiche Gäste geladen werden sollten, ganz wie es sich für den Erstgeborenen geziemte. Er achtete sorgfältig darauf, daß alles richtig vorbereitet und nichts übersehen wurde. Den mit ihm angekommenen Kriegern sowie dem Gesinde verbot er mit strengen Worten, über die Niederlage von Kruszwica und deren voraussichtliche Folgen dummes Zeug zu schwätzen, wenn ihnen ihre Augen, ihre Hände oder Füße lieb wären. An einem so wichtigen Tage sollte keine Mißstimmung aufkommen. Die Feier durfte nicht durch Trauer oder Sorge, die das ganze weitere Leben des Täuflings womöglich beeinflussen könnten, getrübt werden. Außerdem war es im Augenblick auch gar nicht möglich, in dieser Angelegenheit etwas zu unternehmen. Zbylut war mit der Ritterschaft auf dem Wege zum Wroclawer Kastellan Magnus, um gemeinsam über die weitere Verteidigung und die nächsten Maßnahmen zu beraten. Wenn er zurückkehrte, war es immer noch Zeit, auf Grund der in Wroclaw gefaßten Entschlüsse zum Schwert zu greifen. Jetzt sollte niemand an die Gefahr denken, die über dem Hause schwebte, weder Ofka noch Bogucha, auch sonst niemand von den Hausgenossen. Eine solche Gefahr, das wußte Großkopf
nur zu genau, war vorhanden und rückte immer näher, aber um so mehr mußte alles, was in menschlicher Macht stand, versucht werden, damit die Feier ungetrübt verlaufen konnte. Wenn die Axt bereits an den Baum gelegt ist, wird das einzige Reis, aus dem die Erneuerung des Stammes erwachsen kann, nur um so wertvoller. Daher begaben sich reitende Boten mit dem Wici, dem Befehlszeichen zum allgemeinen Aufgebot, in alle Himmelsrichtungen, um alle Stammesangehörigen, Ureingesessene und Verwandte, zu dem dreitägigen Festmahl einzuladen. Gleichzeitig überbrachten sie die Aufforderung an alle Untertanen, auf dem Hofe zu erscheinen, um sich vor dem jungen Erben zu verneigen und die geziemenden Geschenke darzubringen. Nachdem das Wici, ein mit weißem Band umwundener Krummstab, ausgesandt war, machte sich Großkopf selber daran, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Eigenhändig stieß er je zwei Messer in den Türrahmen, damit der böse Geist keine Macht habe, wenn die Gevatterin mit dem Ungetauften die Schwelle überschritt. Er vergewisserte sich, daß die Frauen auch von dem Salz besaßen, das am Tage der heiligen Agathe geweiht worden war, damit es dem Kinde unter den Rücken geschüttet werden konnte, und erinnerte sie noch einmal an den Namen, wobei er ihnen befahl, diesen in der Kirche leise auszusprechen, selbst wenn der Abt zürnen sollte. Denn der übermütige Geist Pomian, auch Echo genannt, sollte ihn nicht aufgreifen und den Unglücksbringern mitteilen können. Dann überzeugte er sich, ob das Eisen und die Glut vorbereitet waren, welche die Gevatterin auf der Schwelle überschreiten mußte, und ob man schon den Baum ausgesucht hatte, unter dem das Taufwasser ausgegossen werden sollte. Um diese Vorbereitungen besorgt, gelangte er auch in die Kammer Ofkas, ließ sich den Kleinen hinter dem Vorhang herausreichen und richtete an die junge Mutter — vielleicht zum erstenmal in seinem Leben — ein paar gutgemeinte Worte.
Verblüfft, doch gleichzeitig durch diese Gnade ermutigt, wagte Ofka das Oberhaupt des Geschlechtes zu fragen, welchen Namen der Sohn Imbrams erhalten solle. „Den meinen“, entgegnete Großkopf kurz, „denn er ist der Erstgeborene in dieser Generation.“ Von Herzeleid ergriffen, wandte er sich schnell ab und ließ eine vor freudiger Überraschung sprachlose Ofka zurück. Zwar hatte Imko schon einmal angedeutet, daß es sich so gezieme, aber beide hatten nicht erwartet, daß Großkopf freiwillig seinen Namen hergeben werde. Dieser heilige, ehrwürdige Name, dessen Wortstamm „Wit“ entweder jene Gerte bedeutete, die der Priesterseher in der Hand hielt, wenn er Opfer darbrachte, oder Held, Ritter, der das Recht hatte, das Wici auszuschicken, kurzum ein Name, der nach Herrschaft, Macht und Würde klang … Ofka, Ofka, das hättest du dir gewiß nie träumen lassen. Großkopf betrat die Gesindestube, wo die Weiber unter der Aufsicht von Bogucha die für die feierliche Begehung des Festes vorgeschriebene heilige Grütze und den Weizen für die Getreidesuppe in einer Stampfe zerstießen und in Handmühlen vermahlten. Als Bogucha das bekümmerte Gesicht ihres Mannes sah, wandte sie den Blick ab und wurde rot vor Scham. Sie wußte nur zu gut, was ihn bedrückte. Den Kopf demütig neigend, als erwarte sie Schläge, brach sie in Tränen aus. Doch Großkopf hatte nicht die Absicht, ihr Vorwürfe zu machen. Er sah die Tränen, die wie Erbsen auf ihre arbeitsamen Hände herabrollten. Begütigend klopfte er ihr auf den Rücken, wie er es gewöhnlich bei seinen geliebten Stuten und Kühen tat. Dankbar blickte ihn die Frau an und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Er aber ging, von Unruhe getrieben, aus dem Haus in den Hof, der mit gelbem Flußsand bestreut war, über den man zerschnittenen Kalmus verteilt hatte. Auf der linken Hofseite war man dabei, die frischgeschlachteten Hammel, Eber und Ochsen zu zerlegen. An der Palisadenwand, inmitten von Brennesseln, Melde und Holundersträuchern saßen in
einer Reihe die Leibeigenen und Hörigen, die dem Aufruf schon gefolgt waren. Die mitgebrachten Geschenke hatten sie in Tücher gebündelt, in Rindenkörbchen oder in Kübeln wohlverwahrt, neben sich liegen. Erfreut über das bevorstehende Fest, verfolgten sie mit erwartungsvollen Augen die Vorbereitungen, die ein üppiges Mahl versprachen. Aber alles erinnerte Großkopf immer wieder an das eigene Leid und an das Glück des Bruders. In der Hoffnung, es vielleicht für einen Augenblick zu vergessen, eilte er zur Pferdekoppel hinüber. Die Pferde waren sein ganzer Stolz und sein wertvollster Besitz. Sie waren unvergleichlich vollkommener als alle anderen Geschöpfe, das festliche Kleinod, die Zierde des ritterlichen Lebens. Zum Ziehen, für das Joch, für die Arbeit, war der geduldige, langsame und starke Ochse da. Ein Pferd vor den Pflug zu spannen, den glänzenden Nacken durch ein Geschirr zu beugen, wer würde das tun? Das Pferd, das Roß, machte den Ritter erst vollständig, war für ihn da, diente nur ihm und stand über den anderen Tieren um soviel höher, wie der Ritter über andere Menschen erhaben war. Der Streithengst, der treueste Gefährte in der Schlacht, war ein Zeichen der Macht und des Herrentums. Deshalb gab es auch für den Ritter keine wertvollere Beute. Ein Pferd zu besitzen, war der Wunschtraum eines jeden armen Kriegsmannes. Ein Ritter zu Pferde brauchte weder Zaubereien noch tückischen nächtlichen Hinterhalt zu fürchten; denn ein Pferd überschritt keinen Hügel, in dem ein Gespenst wohnte, und näherte sich auch keinem Baum, in dem sich der Geist Rokita auf die Lauer gelegt hatte. Mit seinem spitzen, sammetweichen Ohr vernahm es die schleichenden Schritte des Waldschratts und der Hexe, mit den Nüstern, aus denen es Feuer sprühen konnte, witterte es Gift und jegliche Falle. Es schritt ebenso würdevoll wie das Pferd des Gottes Swientowit, das Pferd, in das sich Frey, der Gott der nördlichen Wikinger, verwandelte und das Roß Wodans, des Gottes der Dänen, in deren Lande Königin Storrada herrschte. Wenn die Rosse plötzlich losstürmten, und die langen Mähnen und Schweife im Winde flogen, wenn sie
schnaubend und wiehernd über die Weiden dahinfegten, war es, als hielten sie noch immer die heiligen Jagden ab, die vor vielen, vielen Jahren im Frühling und zum Christfest üblich gewesen waren. Das Gestüt der Familie Strzegonia bestand aus drei jungen sächsischen Streitrossen und sechs Stuten. Eine Gruppe schöner Jungtiere graste außerdem auf einer besonderen Waldwiese unter der Obhut der Pferdeknechte. Auf dünnen Beinen standen die rauhhaarigen Fohlen auf dem aufgewühlten Boden, versteckten sich, sobald Schritte vernehmbar wurden, hinter ihren Müttern und schnupperten hilfesuchend mit den zahnlosen Mäulchen. Großkopf blickte mit großer Freude auf das Fohlen der Stute, die Imbram aus Kiew mitgebracht hatte. Sie stammte angeblich von einer echten türkischen Stute ab, welche die Tochter des griechischen Kaisers in Byzanz ihrem Gatten, dem russischen Fürsten Wladimir, mitgebracht hatte. Es war das erste Mal, daß das Tier gefohlt hatte, nachdem man schon geneigt gewesen war, die Hoffnung auf Nachwuchs bei ihr aufzugeben. In diesem Frühjahr aber war nun ein schönes, schlankes Fohlen zur Welt gekommen, das wie die Mutter ein Schimmel zu werden versprach, aber einstweilen noch das schwarze wollige Fell eines Fohlens hatte. Den kleinen, schmalen Kopf mit den großen, verständigen Augen wandte es immer wieder rührend ungeschickt dem Beschauer zu. Eine neue Welle der Wehmut und des Neides ergriff Großkopfs Herz. Was würde das für ein Pferd werden! Es blieb nun einmal dabei: In diesem Jahre war das Glück mit Imbram … Er kehrte schweren Schrittes zum Hause zurück. Auf einer Leiter stand der Großknecht Pobieda und befestigte mit Pflöcken über der Tür einen Kranz aus Kräutern, die zu Johanni geweiht worden waren. Das Haus stammte noch aus der Zeit Mieszkos I., war sehr geräumig und hatte über dem großen Flur ein Stockwerk, einen sogenannten Trzem. Er enthielt zwei Räume, die als Wachstube und als Lager für wertvolle Gegenstände dienten. Hinauf gelangte man mit einer Leiter, die unten stand und leicht hochzuziehen war. Von der Wachstube aus verband ein überdachter, aus mächtigen Bohlen
gezimmerter Holzgang das Hofgebäude mit der kleinen Kirche. Sie war von Witosław, dem Vater Großkopfs, erbaut worden. Halbkreisförmig angelegt und aus harten Feldsteinen mühsam zusammengefügt, wies sie neben dem stark befestigten Eingang nur wenige schmale Fenster auf. Großkopfs Vater hatte mit ihrer Errichtung ein doppeltes Ziel vor Augen gehabt, die Erlangung der ewigen Seligkeit und den Schutz vor Überfällen. Der Wehrgang führte vom Hofgebäude aus zu einem der Kirchenfenster und von hier aus zur Empore, die über der Sakristei lag. Wenn Hochwürden zum Gebet ging, brauchte er sich nicht durch das Volk zu zwängen, das dichtgedrängt vor der Kirche kniete. Er zeigte sich den Augen seiner Schäflein oben auf der rechten Seite des Altars — erhöht in der Kirche wie auch im Leben. Gleichzeitig war der zur Empore führende Gang im Falle eines Angriffes und einer Gefahr von nicht geringer Bedeutung. Die Hofbewohner konnten hier Schutz finden, da die steinerne, gut befestigte Kirche jeder Belagerung trotzte. Das ungefüge Rund der Apsis umgaben große Lindenbäume, Ulmen, Eichen und einige noch aus dem Urbestand stammende Ebereschen. Es war noch gar nicht so lange her, daß sich hier überall die Wildnis ausgebreitet hatte. Nun aber war sie, so weit man blicken konnte, hinter die ebenen Felderstreifen, auf denen weiß der Roggen und die Gerste leuchteten, zurückgedrängt. Die Baumgruppe hatte man neben der Kirche stehenlassen, damit die Menschen während des Gottesdienstes Schatten fanden und natürlich auch wegen der Bienen, deren Körbe hier einer neben dem anderen aufgestellt waren. Zwischen den Linden erhob sich eine steinalte, hohe Eibe, die nicht geschlagen worden war, weil die Äxte an dem festen, eisenharten Stamm, dessen Holz wie Blut aussah, stumpf wurden oder brachen. Mochte sie ruhig stehenbleiben, denn ihr giftiger Schatten, der für jeden, der sich unter ihr ausruhen wollte, gefährlich werden konnte, wurde von den ringsum wachsenden Linden, die niedriger und ausladender waren als die Eibe, abgefangen, so daß er niemals bis auf die Erde gelangte.
Niemand kannte die Gründe für den Zorn des bösen Geistes, der da in dem roten Holz eingewachsen war, niemand wußte, weshalb er den Baum bewohnte, dessen dürrer Wipfel über den dichten dunkelgrünen Lindenkronen hin und her wogte. Aber soviel war jedenfalls sicher, er konnte keinen Schaden anrichten. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kirche, angelehnt an den Stamm einer großen, früher heilig gehaltenen Eiche, unter deren Laubdach im Sommer grüne Dämmerung herrschte, lag versteckt das achteckige, niedrige, mit einem hohen Spitzdach versehene Haus des Pfarrers Pietrek, der ein ruhiger und sanfter Mann war, aber stets ein besorgtes und schüchternes Gesicht zeigte. Einer der hauptsächlichsten Gründe für diesen Kummer waren seine vier Söhne, angehende Seelsorger, die, anstatt sich auf ihren geistlichen Stand vorzubereiten, so wie dies ihr Vater sehnlich wünschte, sich lieber mit dem Bogen und der Lanze in der Wildnis herumtrieben. Ihre Jagderfolge versorgten zwar die kärgliche Speisekammer des Pfarrers, betrübten aber doch sein väterliches Herz. Gegenwärtig weilte schon seit Wochen in der armseligen Behausung ein hoher Gast, der Abt des Klosters zu Lubianz, der in Sachsen gewesen war und auf der Rückreise hier haltgemacht hatte, um die Taufe zu vollziehen. Zwar hatte ihn Bogucha im Namen ihres abwesenden Gatten inständig gebeten, doch in der Feststube des Herrenhauses Wohnung zu nehmen, aber der Abt hatte die Pfarre vorgezogen. Er wollte auf diese Weise den Strzegonia zeigen, daß er die Freundschaft mißbilligte, die sie dem Geschlecht der Nogodzic erwiesen hatten, jenen Nogodzic, die gemeinsam mit König Bolesław den Bischof Stanisław von Krakau ermordet hatten, und auf denen dafür der gleiche unauslöschliche Fluch lastete. Er wünschte nicht unter dem Dach zu schlafen, unter dem er nur zu leicht diesen Fluchwürdigen, der Verdammnis Preisgegebenen begegnen konnte. Andererseits war er aber ein ungewöhnlich scharfsinniger Politiker und brachte daher seine Empörung nicht gerade übermäßig deutlich zum Ausdruck. Die besonnene Klugheit, die er sich in der Welt erworben hatte — er stammte aus
der Provence, und seine Jugend hatte er in deutschen und italienischen Klöstern verbracht —, sagte ihm, daß es nicht vorteilhaft sei, allzu hartnäckig auf seiner Meinung zu bestehen und die Streitigkeiten damit auf einen Punkt zu treiben, wo sie sich nur noch durch das Schwert schlichten ließen. Hartnäckig verfolgte er die mit dem Kirchenbann Belegten, war aber selbst in der geheimsten Tiefe seiner Seele der Meinung, daß der getötete Krakauer Bischof den König ungebührlich bedrängt haben müsse. Daß Bolesław aufbrausend und jähzornig war, wußte er. Aber wer zog nun aus dem ganzen Unglück den Nutzen? Einzig und allein der deutsche Kaiser! Als der unbeholfene Włodzisław den Thron bestiegen hatte, einigte er sich bald mit dem Kaiser, und Papst Gregor VII., seines polnischen Bundesgenossen beraubt, starb besiegt in der Verbannung. Ähnliche Überlegungen stellte Abt Guido mit dem Heidentum an, das offenbar immer noch lebenskräftig war und ihn von allen Seiten umgab. Von der strengen Ordnung der Kluniazenser im christlichen Glauben gefestigt, sah er durchaus, daß die alten Heidengötter trotz allem nach wie vor die Wildnis und das bewohnte Land regierten. Es war schon viel wert, wenn die Leute dem Allmächtigen den Vorzug vor den anderen Göttern gaben und ihn als den Höchsten anerkannten. Er war sich bewußt, daß die Beschwörungen der heidnischen Priester der einheimischen Bevölkerung ebensoviel bedeuteten wie die christlichen Gebete, und die Reliquien den Bewohnern als Talismane galten, die vor Zauberei schützten. Wie war dem abzuhelfen? Gewaltsam ändern konnte man zunächst nichts. Die Zeit, dieser weise, überdauernde Lehrmeister und sichere Verbündete der Kirche, würde allein die Erinnerung an den alten Glauben allmählich tilgen können. Übrigens leugnete auch Abt Guido selbst keineswegs das tatsächliche Vorhandensein dieser Götzen, dieser heidnischen, widerwärtigen Dämonen. Oft genug hatte er sich von ihrer Macht
überzeugt. Er wußte freilich, daß es der allgemeine Glaube war, der ihnen Bestand und Kraft verlieh. Der Anruf des Namens schon hatte die Kraft, den benannten Götzen jenseits des irdischen Daseins zu schaffen. War erst der Name vergessen, würden auch die Götzen ihre Macht verloren haben. Es gab auch zuwenig Glocken im Lande. In einem Gebiet von einigen Dutzend Quadratmeilen nur diese eine hier auf der Kirche, deren Inschrift zwar verheißungsvoll besagte: „Demones fugo, nebulas spargo“, die aber mit ihrem schwachen, wimmernden Klang den Wald nicht zu durchdringen vermochte. Denn kaum, daß sie ertönte, vernahm man schon die harten Schritte des erbosten Gottes Swist-Poswist, und ihr heiliger Lobpreis ging unter im Rauschen und Ächzen der Bäume. Mit ganzer Kraft mußte der Glöckner das Seil festhalten, sonst rissen es ihm die Geister aus den Händen. Sie saßen im Glockenstuhl und riefen von oben: „Laß los, laß los!“ Obwohl der Pfarrer das Haus geräumt und unter den Linden für sich und die Seinen ein Lager aufgeschlagen hatte, waren dennoch die dunklen, stickigen Stuben für den Abt kein angenehmer Aufenthalt. Trotz aller politischen Erwägungen hätte er es nicht lange hier ausgehalten, wenn da nicht noch ein anderer, wichtiger Grund zum Bleiben gewesen wäre: die Neugier. Von dem Ordensbruder, den ihm sein Prior entgegengesandt hatte, wußte er so manches über die Ereignisse von Kruszwica und hatte deshalb beschlossen, nicht eher abzureisen, als bis er erfahren hatte, welche Beschlüsse auf der Beratung des schlesischen Adels, die jetzt in Wroclaw stattfand, gefaßt würden. Welchen Plan würden die schwerfälligen Köpfe der Krieger, denen allerdings das Schwert recht locker saß, aushecken? Vielleicht gelang es seiner Klugheit und Gewandtheit, diesen Plan zu durchkreuzen oder in günstigere Bahnen zu lenken. Darum wartete Abt Guido die Dinge ab. Als er auf den Hof trat, begegnete ihm Großkopf, der von der Pferdekoppel zurückkehrte. Der kahlköpfige Guido mit seiner spitzen Nase und dem Blick eines
römischen Imperators hatte, trotz vorgerückten Alters, noch immer einen aufrechten Gang. Obwohl er schon seit vielen Jahren tief in der slawischen Wildnis lebte, verleugnete er dennoch den Südländer nicht. Er blieb der Sohn eines Landes, in welchem die Sonne gnädiger scheint und den Menschen das Blut heißer durch die Adern fließt. Über seinem Habit trug er zum Zeichen seiner adligen Abkunft ein leichtes Halbpanzerhemd und um die Schultern einen kostbaren Mantel. Seine nackten Füße aber steckten winters und sommers nur in Sandalen. Großkopf wie auch der Abt verneigten sich freundschaftlich, aber zugleich mit betonter Würde voreinander und betraten gemeinsam die Schwelle des Hauses. In dem großen Flur, der gleichzeitig als Versammlungsraum diente, dunkelte es bereits, und das Feuer leuchtete in der Dämmerung wie eine grellfarbige Blüte. An den Wänden hingen Netze und Waffen, in einer Ecke des Raumes schliefen die Jagdhunde. An den Wänden entlang standen mit Fellen bedeckte Bänke, und vor die Ehrenecke, den Platz der Großväter, war ein mächtiger Tisch mit gekreuzten Beinen und einer balkendicken Platte gerückt, die man aus dem Stamm eines gewaltigen Baumes geschnitten hatte. Alter und die vielen Hände, die schon auf ihr geruht, hatten die Platte spiegelglatt werden lassen und ihr eine Farbe wie dunkler Bernstein gegeben. Dieser Tisch wurde mehr geachtet als alle anderen Gegenstände im Haus. Er galt als die Wohnstätte guter Hausgeister. Hinter dem Tisch lag auf einer mit weichen Fellen bedeckten Bank, die doppelt so breit wie die übrigen war, Tag und Nacht, Sommer und Winter der Großvater Großkopfs, der Dominus. Er war fast hundert Jahre alt und konnte sich noch an König Boleslaw den Kühnen erinnern. Schon seit langem schwerhörig und schwach auf den Beinen, verließ er nur noch selten seine Lagerstatt und hatte zu seiner Versorgung einen eigenen Diener. Weißes strähniges Haar umrahmte das hagere Gesicht, das von unzähligen Falten durchfurcht war. Die einst scharfen Augen des alten Kämpen glichen nun in ihrer trüben, himmelblauen Farbe den Augen des neugeborenen Urenkels. Aber während sich vor dem
Kinde die Welt erst auftun sollte, verschloß sie sich langsam und mit jedem Tag fester hinter dem Uralten, und es öffnete sich das Tor für die letzte Fahrt. Seit vielen Jahren schon lag der Dominus ganze Tage ohne eine Bewegung da, hüstelte nur oder fluchte einmal ärgerlich, wenn Großkopfs Töchter zu nahe an ihn herankamen. Dagegen wälzte er sich des Nachts manchmal von der Bank, tappte im Hause wie ein Mahr umher, klopfte mit dem elfenbeinernen Stock und beunruhigte die Hausbewohner. Unaufhörlich redete er dann mit sich selber und, wie es hieß, mit den Ahnen. Nur wenn die Enkel zu Hause waren und ihn der geliebte kriegerische Lärm, das Waffengeklirr, die tiefen Stimmen, Flüche und schallendes Gelächter umgaben, löste er sich aus der greisenhaften Erstarrung. Er wurde dann lebhaft und erzählte halbvergessene Dinge aus früheren Tagen, ohne darauf zu achten, ob jemand zuhörte oder nicht. Als die lebendige Verkörperung derer, die den Tragbalken des Hauses bewohnten und unsichtbar in der Ehrenecke thronten, wurde er hoch verehrt. Er war auch der letzte, der einzige der Lebenden, der den schrecklichen und geheimnisvollen Anfang des Geschlechtes nicht als eine Legende kannte, sondern noch aus den Erzählungen der Augenzeugen. Aber niemals, auch nicht jetzt in seinen alten Tagen, ergänzte er die dürftigen Nachrichten darüber durch Einzelheiten. Nachdem Großkopf dem Abt einen Ehrenplatz zugewiesen, und Bogucha an der Spitze ihres weiblichen Gesindes Brot, eine Schüssel mit Fleischspeise und frischgebrautes Bier hereingebracht hatte, rückte der alte Dominus näher an die Männer heran. Die Taufe des Urenkels, über die er unterrichtet war, machte ihn gesprächig und munter. „… es waren nicht einmal sechs Jährchen verstrichen, da lag auch der Letzte tot da“, murmelte er mit heiserer Stimme, „sie kamen um wie Kraut …“ „Wer ist umgekommen?“ schrie ihm der Abt ins Ohr. Wußte der Alte vielleicht irgend etwas von den letzten Ereignissen?
Der Greis wandte ihm mühsam seine fast erblindeten Augen zu. „Die Nachkommen Chrobrys … Ja, es waren die Nachkommen Chrobrys, ich erinnere mich gut …“ „Ihr sprecht von alten Geschichten …“ „Freilich, ich erinnere mich an die Zeit, als Bezprym, dem die italienischen Mönche in Ravenna den Kopf geschoren hatten, kaum zurückgekehrt, die heidnischen Priester zusammenrief, ihnen die heiligen Haine zurückgab und befahl, die Ordensbrüder tüchtig zu verprügeln. Und Otto tat das gleiche … Aber beide kamen bald darauf elend um. Dietrich ebenfalls. Das waren schon drei … Mieszko wurde vom Schwertträger ermordet. Bolesław, Mieszkos Sohn, endete ebenfalls frühzeitig und elend, das sind schon fünf …“ „Das war die Auswirkung des Kirchenbannes, des unabbüßbaren Bannes, den der Bischof Gaudenty ausgesprochen hatte“, bemerkte der Abt streng, doch der Alte hörte gar nicht darauf. „Nach Bezpryms Aufruf“, fuhr er eintönig fort, „erstanden wieder die alten Götter. Und das ganze Volk … mordete die Mönche, mordete die Priester, die Bischöfe. Die einen starben durch das Schwert, die anderen, die dessen unwürdig waren, wurden gesteinigt … O Lelum, Lelum* …“ „Ein Wunder, daß Gott dieses Geschlecht nicht wie Sodom und Gomorrha ausgerottet hat!“ „Gott hat es ausgerottet, jawohl … Chrobry besaß so viele Panzerreiter, wie man später Schildträger nicht gefunden hätte. Zu Chrobrys Zeiten gab es mehr Ritter als nach diesen Jahren Menschen im ganzen Lande lebten. Die einen gerieten in Gefangenschaft, die anderen wurden durch Pest und Hunger dahingerafft. Auf dem Neuland wuchs Gestrüpp, und in die Kirche des heiligen Apostels Petrus zog die Füchsin mit ihren Jungen ein. Es wurden so viele Grausamkeiten verübt, daß die Gieczer Bürger ihre Stadt verließen, Brzetysław mit der goldenen Rute entgegengingen und ihn baten, er möge sie alle nach Böhmen * (Lelum und Polelum, Bruderpaar in der alten slawischen Mythologie, vergleichbar Kastor und Pollux)
hineinlassen. Das tat die Stadt Giecz, der Augenstern des Königreiches. Ja, so war es … Ich erinnere mich gut, wie Brzetysław das gestohlene königliche Gut auf einhundert Wagen abfahren ließ. Und die Wagen waren so vollgeladen, daß die Joche rissen … O Lelum, Lelum! … böhmische Krieger trugen den Sarg Adalberts auf ihren Schultern von Gniezdno bis an die Grenze … ebenso ein goldenes Kreuz, das zwölf Männer kaum hochzuheben vermochten und drei goldene Tafeln, fünf Ellen lang und zehn Handspannen breit, mit einer lateinischen Inschrift … ich kann mich nicht mehr erinnern, was darauf stand. Glocken, Kreuze und Becher schleppten die Böhmen fort, und das Volk mordete Mönche und Priester. Aber nun ist der Gott Christus zurückgekehrt … die Klöster sind wieder hergestellt, die Mönche wieder da … sehr viele. Anscheinend ist dieser Glaube stärker … dieser Gott mächtiger …“ „Wahrlich, du sagst es“, murmelte leise der Abt. Der Alte hustete stöhnend, spuckte aus und fuhr in seinem singenden Tone fort, als wären seine Berichte ein altes Lied, das die Vergangenheit selber angestimmt habe. „Ich erinnere mich“, erzählte er weiter, „wie es mit Bolesław und dem Bischof war … Es sind fast ein Viertel Schock Jahre verstrichen. Der Bischof war aus der Stadt geflohen und hatte in der Kirche der Mönche von Tyniec, die auf einer Felsenhöhe inmitten der Sümpfe steht, Schutz gefunden. Sie wird die Kirche des Heiligen Erzengels Michael genannt. Dort versammelten sich stets die lothringischen Mönche, die Kluniazenser, zu ihren Beratungen … Man sollte keine Kebsweiber halten, ein Weib sollte dem Mann fürs ganze Leben genügen, redeten sie und noch anderes dummes Gewäsch. Der Bischof hatte die Messe gelesen und wie gewöhnlich dabei wiederholt, daß der verbannte Bolesław ein faulender, aussätziger und stinkender Greuel sei, wer mit ihm esse, schlafe, spreche oder irgendwie Verbindung habe, solle genauso verdammt sein wie er. Da drang Bolesław mit seinem Gefolge plötzlich in die Kirche …
Die Nogodzic erzählten, der König habe sich versöhnen und den Bischof in die Stadt zurückrufen wollen, aber bei seinen Worten sei ihm das Blut in den Adern geronnen, mit dem Streitkolben habe er ihn erschlagen, und die Sreniawita und die Nogodzic seien dazugestürzt, das Werk zu vollenden …“ „Die verfluchten Teufel werden in diesem Hause wie Freunde begrüßt“, brummte der Abt wütend. „Was redet Ihr da?“ fragte der Alte und wandte ihm seine trüben Greisenaugen zu. „Ich sage, ewige Schmach über die, in deren Haus die Mörder des Gottesmannes als Freunde aufgenommen werden!“ Der Alte nickte einige Male. „Freilich“, gab er zu, „freilich. Es war eine schlechte Tat, denn Szczepanowski war der erste Bischof, der erste aus polnischem Geschlecht … Das war schlecht. Aber die Nogodzic sind aufrechte Männer, gute Krieger. Angeblich soll der Älteste, Odylen mit Namen, den Körper mit einem Hieb glatt in zwei Hälften gespalten haben.“ Aufs äußerste empört sprang der Abt auf, aber Großkopf, der an die morgige Feier dachte, ergriff ihn begütigend beim Arm und fragte, ob Hochwürden nicht begierig sei, die jungen Wachtelhunde zu sehen, die er, Großkopf, unlängst von dem Wroclawer Kastell an erhalten habe …
VIERTES KAPITEL In welchem Ofka erfährt, wie leicht die Götter Geschick in Mißgeschick, Glück in Unglück und Gutes in Böses verwandeln
Der
Ritter Nowina, wegen seiner Geschwätzigkeit Tarchala, die Plaudertasche, genannt, legte zu der Menge der Geschenke einen kostbaren, mit Goldblech beschlagenen Gurt. Sein Bruder Nowina Domb schenkte die Misericordia und die dazugehörige Kette. Ludbor, Cwała und Swieboda Oswienta gaben einen Silberbecher, ein breites Schwert und ein Stück gemusterten Stoff. Die Ogonczyk brachten einen jungen Streithengst mit, der einen Roßpanzer trug und durch seine Schönheit alle in Erstaunen setzte. Kostbare Geschenke gaben auch die vom Hause Bies, die Nachkommen der alten Stammesfürsten, ebenso wie die Mzur und die den Piasten ebenbürtigen Jastrzembiec. Die von Bielej schenkten drei Ritterlanzen und einen Gürtel aus gefärbtem Leder. Nach den Edlen legten die einfachen Krieger, die milites, ihre Geschenke auf die vor Imbram und Ofka ausgebreiteten Decken. Sie hatten keine Mittel, um wie die Ritter wertvolle Gegenstände von ausländischen Kaufleuten zu erwerben oder auf fernen Kriegszügen zu erbeuten. Deshalb brachten sie Felle von Mardern, Fischottern, Bären und Wölfen oder Hufeisen und Beile dar, auch Bögen, die man den ganzen Winter hindurch mühevoll gebrüht, getrocknet und gebogen hatte und die jetzt widerstandsfähig und stark wie Stahl waren. Dazu aus Schafdärmen zusammengedrehte Bogensehnen und mit Nieswurz vergiftete Pfeile, die mit Adlerfedern versehen waren. Diese Federn besaßen, wie es hieß, die Eigenschaft, aus eigener Kraft den Pfeil ins Ziel zu lenken. Außerdem legten sie Köcher aus Birkenrinde oder aus gegerbtem Leder und Speere und Lanzen zu Füßen der Eltern nieder.
Sie traten an die beiden, dicht nebeneinander liegenden Decken heran, blieben vor der ersten stehen und riefen: „Witosław Imbramowicz zum Glück, zur Gesundheit, zu langem Leben!“ Dabei warfen sie irgend etwas hin — ein abgebrochenes Stäbchen, einige Tannenzapfen, ein blindes Kätzchen, stumpfe Pfeile oder einen verbogenen Zinnbecher. Vor die zweite Decke tretend, sagten sie dann: „Was überflüssig, was ersetzbar und ohne Wert ist, das werfe ich weg, das mag nehmen wer will …“, und nun erst legten sie das eigentliche Geschenk hin. Sie taten das, um den Neid der Götter zu beschwichtigen, der durch den Anblick der herrlichen Geschenke womöglich erweckt werden konnte. Durch ein solches Verhalten ließen sie freilich neben der Furcht auch ihre Durchtriebenheit erkennen; der neidische Gott war wohl mächtig, aber doch so dumm, daß man ihn durch eine kindliche List täuschen und unschädlich machen konnte. Das war ihnen wohlbewußt. Imbram und Ofka, die hinter dem Stapel von Geschenken kaum mehr zu sehen waren, saßen ohne eine Bewegung ruhig nebeneinander. Ofka trug ein Kopftuch aus einem dünnen schneeweißen Gewebe und hatte ein enganliegendes blaues Kleid an, das unten mit Fransen besetzt war. Es war ein wertvolles Kleid, von griechischen Tuchmachern gefertigt, und stammte aus Kiew. Das Kind, auf ein ausgehöhltes Buchenbrettchen gelegt, mit Bändern umwickelt und mit einer kostbaren, golddurchwirkten Decke bedeckt, lag auf Ofkas Knien und schaute mit verwundertem Blick auf die vorüberziehenden Menschen. Die auf die Decken fallenden Gegenstände, oder nur ihr vorüberfliegender Schatten, schienen einen Schimmer von Neugier in seinen trüben Äuglein hervorzurufen. Imbram hielt die Hände auf den Knien, seine glatten, eingefetteten Haare glänzten in der Sonne. Ofka blickte ihn verstohlen von der Seite an und versuchte vergeblich, den gleichen unbeweglichen, aufmerksamen und dennoch gleichgültig wirkenden Ausdruck anzunehmen. Auf ihren feinen, noch immer blassen Wangen spiegelten sich Gefühle der Freude und
Begeisterung, Neugier und kindlicher Stolz so sichtbar und lebhaft, wie Wolken über den Himmel ziehen. Ihre milchschweren Brüste drängten gegen das Mieder des engen Gewandes. Ofka spürte den Schmerz, und es war ihr, als wollte die Brust noch immer weiter wachsen. Sie blickte wieder auf ihren Mann, der noch immer reglos und mit unverändertem Gesichtsausdruck dasaß, doch an dem kaum merklichen Zucken seines Augenlides erkannte sie, daß er ihren Blick bemerkt hatte und ihre Freude teilte. Der Zug der Krieger war vorüber. Jetzt kamen die hospites, die freien Siedler, die nicht an den Grund und Boden des Herrn gebunden waren und den herrschaftlichen Acker mit eigenem Gespann bearbeiteten. Je nach Besitz brachten sie gebleichte Leinwand, Mehl, Graupen, Salz, rostfarbene wollene Kleider, Kälber, Widder, Läuferschweine, Tauben oder Gänse. Nach den freien Siedlern zogen in noch größerer Menge die unfreien Bauern vorbei. Bescheiden waren ihre Gaben: Ein Maß im Walde gesammelter Nüsse, ein Rindenkörbchen mit duftendem Harz, Stricknadeln aus den getrockneten Gräten des Schlammbeißers, ein glattpoliertes Joch oder ein Paar Schlittenkufen. Sie warfen ihre Geschenke erleichtert auf die Decke, murmelten dabei kaum verständlich die Worte des Gabenspruches und sogen schon begierig den vom Hof herüberziehenden Duft des gebratenen Fleisches ein. Ganze Schober Brot und Fässer mit Bier standen in der Nähe. Bei diesem Anblick empfanden sie zum erstenmal in ihrem Leben Wohlwollen und Dankbarkeit gegenüber ihrer Herrschaft und diesem kleinen, niedlichen Wesen, dem sie für drei Tage reichliches Essen und Trinken verdankten. Ihre Freude wurde nur durch den Gedanken an das geringe Fassungsvermögen ihrer Mägen getrübt. Der Mensch war eben unvollkommen. Wieviel er auch begehrte, er konnte doch nicht mehr verzehren, als in seinen Magen hineinging. Für all das verlockende Essen, das hier zubereitet wurde, war eben doch nicht genug Platz im Leibe. Sie gingen zu den Tischen, seufzten und kraulten sich bekümmert das struppige Haar.
Den Zug der Spender beschlossen die Hundewärter, Biberjäger, Imker und Fischer. Dies waren keine gewöhnlichen, gedungenen Arbeiter, sondern solche, deren Beruf sich vom Vater auf den Sohn vererbte und die daher auch über eine vortreffliche Kenntnis der Natur und der Gewohnheiten der Tiere verfügten. Ihre Gaben bestanden in Honig, Wachsscheiben, Biberfellen, geräucherten oder getrockneten Fischen. Noch waren nicht alle vorbeigezogen, als vor dem Tor Hufschläge vernehmbar wurden. Doch das war kein verspäteter Gast, sondern Zbylut. Auf einem völlig erschöpften Pferde, das in diesem Zustande einer elenden Schindmähre glich, langte er auf dem Hofe an, sprang ab, warf die Zügel dem Pferdeknecht zu und begab sich unverzüglich zu der Schar der Versammelten. Offenbar brachte er kein gutes Geschenk mit. Großkopf trat zur Seite, um mit dem Ankömmling unter vier Augen zu sprechen. Es war ihm nicht recht, die Zeremonie unterbrechen zu müssen, doch der Anblick des Bruders brachte ihm sogleich wieder die unangenehmen Vorfälle in Erinnerung, die er nur zurückgedrängt hatte, um dem Brudersohn nicht zu schaden, und dies war ihm so gut gelungen, daß er im Verlaufe der Festlichkeit überhaupt nicht mehr daran gedacht hatte. Mit einem ganz anderen Gefühl sah Ofka auf den näher kommenden Zbylut. Seine Ankunft machte erst das Maß der Freude voll, denn sie war es, die ihr zum Bewußtsein ihres vollkommenen Sieges noch gefehlt hatte. Auch dieser düstere, spottlustige Verächter sollte sie in ihrem prächtigen Aufputz als die geehrte Mutter Witosławs sehen und bewundern … Bisher hatte er ihr nur stumme Verachtung, ja Widerwillen entgegengebracht, von dem sie nicht wußte, womit sie ihn verdient haben sollte. Früher allerdings, als sie noch als junges Mädchen mit langen Zöpfen umhergelaufen war, hatte es ihr manchmal geschienen, als zeichne er sie vor den anderen Jungfrauen aus. Einmal — es war in der Johannisnacht und die Feuer brannten — hatte er sie bei den Händen ergriffen und wortlos aus der Schar der
Mädchen in den Wald gezogen. Seine Augen hatten wie die eines Werwolfes geleuchtet, so daß sie sich ihm entwunden hatte und davongelaufen war. Kurze Zeit darauf verlobte sie sich mit Imbram. O Imko, mein Liebster, mein Einziger, du mein Freund bist alles andere als ein Werwolf! Zbylut konnte sie beide nicht leiden und gab sich auch nicht die geringste Mühe, seine Abneigung zu verbergen. Solange Ofka nur irgend eine angeheiratete Frau gewesen war, deren einziges Recht im Schweigen bestand, hatte sie dies still ertragen und war Zbylut möglichst aus dem Wege gegangen. Aber mit dem heutigen Tage hatte sich alles geändert. Zbylut konnte ihr keine Furcht mehr einjagen. Sie errötete vor Befriedigung und blickte stolz auf den Nähertretenden. Er antwortete auf diese Herausforderung mit einem bösen, mitleidigen Lächeln und verzog sein Gesicht in dem Bewußtsein, der Überbringer einer Unglücksbotschaft zu sein. Ofka schlug die Augen nieder und faßte unwillkürlich nach Imbrams Hand. Zbylut schaute seinen Bruder giftig an. „Wenn dir deine Augen lieb sind“, sagte er halblaut, „so fertige diese Leute bald ab und komme ins Haus zu einer Beratung.“ „Ich komme“, entgegnete Imbram heiter, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er wartete, bis das letzte Geschenk niedergelegt war, dann erhob er sich und bat die Spender, am Festmahl teilzunehmen und guten Mutes zu sein. Das Gesinde raffte die Geschenke zusammen und trieb das dargebrachte Vieh beiseite. Der Beschließer Pobieda sammelte sorgsam die wertvolleren Gegenstände zusammen, um sie in die obere Stube zu tragen. Ofka schmiegte sich an ihren Gatten. Ihre bisherige Freude und Sicherheit waren geschwunden, als hätte sie eine plötzliche Kühle angeweht. „Ich fürchte mich vor irgend etwas, Imko … Ich fürchte mich sehr …“ „Hab keine Angst, Ofka. Mach dir keine Sorgen. Sieh, der Kleine ist eingeschlafen … Wie schön er schläft! Bring ihn ins Haus.“
„Kommst du bald zurück?“ fragte sie. Es fiel ihr schwer, sich von ihm zu trennen. „Ja“, sagte er, „ich bin bald wieder da!“ Aber er kam nicht, lange Zeit nicht. Bis in die späte Nacht wartete Ofka auf ihn. In ihrem langen leinenen Hemd trat sie immer wieder vom Bett zum Fenster, um zu sehen, wie der Mond mit den Wolken kämpfte, und zurück vom Fenster zum Bett, um den Kleinen anzuschauen, der still in seiner Wiege schlummerte. Sie lauschte ängstlich dem Geräusch der Gespräche, die in der Beratung auf dem Flur geführt wurden, und dann wieder dem leisen Rascheln und Knistern in den Wänden. Endlich kehrte Imko zurück. Seine langsamen, schleppenden Tritte waren für sie das untrügliche Zeichen einer schlechten Kunde. Erschreckt starrte sie ihn an. Imbram faßte ihre Hände. „Höre …“, begann er. Langsam und bedächtig seine Worte wählend, damit Ofka, die nur ein Weib war, auch verstehen konnte, worum es ging, begann er ihr von dem Beistand zu erzählen, zu dem er sich Zbygniew gegenüber verpflichtet hatte — bei Gott, wenn die Erde dieses Mannsbild doch schon verschlungen hätte! —, von der unglücklichen Niederlage bei Kruszwica und den letzten Nachrichten, die Zbylut mitgebracht. Niederschmetternde, dreimal verfluchte Nachrichten! Sieciech habe sich mit den Tschechen vereinigt, Schlesien von allen Seiten umzingelt und bei seinem Schwert geschworen, nicht eher zu ruhen, bis er Zygniews Beschützer wie Dachse in ihrem Bau vertilgt und deren Stammesoberhäupter in seiner Burg gefangengesetzt haben würde. In Kleinpolen habe er die geringeren, erst später im Lande angesiedelten Ritter gegen die Hochgeborenen aufgehetzt und ihnen das Land der Aufrührer versprochen. Er selbst ziehe mit großer Macht heran. Er belagere die Jastrzembiec, habe den alten Gniew getötet, den jüngeren Ostoj gefangengenommen und diesen in die Sklaverei an Kaufleute aus dem Osten verkauft. Bei dieser Nachficht seien sie aufgefahren, berichtete Imbram, und hätten Zbyluts Worten nicht mehr glauben wollen, doch Zbylut
habe sich an die Brust geschlagen und beteuert, er spreche die reinste Wahrheit. In die Sklaverei habe Sieciech die Herren Jastrzembiec, dieses edle Fürstengeblüt, verkauft! Das habe er gewagt! Angesichts einer solchen Schmach hätten sich die Bieliny, die Verwandten der Jastrzembiec, und die Awdaniec, die seit Generationen im Streit mit den von Bieliny gelegen, geeinigt und geschworen, mit der eigenen Fehde Schluß zu machen, um Sieciech gemeinsam zu verderben. Zunächst würden sie nach Ungarn ziehen, dort einen Aufruf erlassen und sich sammeln, um im geeigneten Augenblick loszuschlagen. Sie wollten auch die Ritterschaft, die mit Bolesław an den ungarischen Hof geflohen war und sich dort immer noch aufhielt, zu Hilfe rufen. „Denn hier“, so habe der Woiwode Magnus erklärt, „werden sie uns wie Krebse einzeln aus dem Korbe nehmen …“ Hier hielt Imbram inne. Er schwieg, weil er seiner Ehefrau nicht unnötiges Herzeleid zufügen wollte, denn nach den Worten Zbyluts hatte der Woiwode noch hinzugefügt, daß jeder, der nicht fliehen wolle, sich mit Włodzisław einigen möge. Das sei keine Schande, denn Zbygniew habe sie zuerst verlassen und verraten. Włodzisław sei nicht blutrünstig, er werde gern verzeihen. „Vielleicht werde ich selbst so handeln“, hatte der Woiwode gesagt, „denn wo man nicht hindurchkriechen kann, soll man unterkriechen. Vielleicht wendet sich das Schicksal doch noch, und ich sperre Sieciech früher ins Verlies als er mich …“ Daraufhin hatte man auf dem Rat zu Wroclaw beschlossen: Die Ritterschaft kann zwei Wege beschreiten, entweder gemeinsam nach Ungarn ziehen oder sich mit dem Fürsten einigen … je nach Belieben, einen dritten Weg aber gibt es nicht. Ofka umarmend, dachte Imbram daran, wie er sich hatte erheben und sagen wollen, daß er für eine Einigung sei. Aber Zbylut hatte spöttisch auf ihn geblickt und gesagt: „Hört auf Imbram, er wird sich bestimmt demütigen und Włodzisław die Stiefel lecken, denn es graut ihm, von seinem Weibchen und seinem Kind fortzuziehen …“
Und obwohl Zbylut mit diesen Worten die geheime Überlegung seines Bruders erriet, hatte Imbram gemurrt, sich erhoben und bei seiner ritterlichen Ehre geschworen, er würde als Jüngster so handeln, wie seine älteren Brüder beschlössen. So sei denn der Entschluß gefaßt worden, zu ziehen … Auch Großkopf wäre wohl, so berichtete Imbram, sicher gern hiergeblieben, doch Zbylut habe so lange auf die anderen eingeredet, sie bei ihrer Ehre gepackt und immer neue Gründe gefunden, bis er alle überzeugt hätte. Jetzt hieß es also: nach Ungarn fliehen. Es gab auch für ihn keine andere Wahl. „Ich könnte mich selbst bedauern“, sagte er traurig. „Fortzuziehen ist leicht, aber wer weiß, wann wir zurückkehren … Vielleicht zu Weihnachten, vielleicht erst im Frühjahr …“ Wie betäubt lag Ofka in seinen Armen, sprachlos, wie überwältigt von dumpfer Verzweiflung. War dies nur ein schrecklicher Traum? Oder war es Wirklichkeit? An einem einzigen Tage war sie von der Höhe eines namenlosen Glückes, der Freude und des Stolzes in einen Abgrund von Verlassenheit, Unsicherheit und Angst gestürzt. Das war unbegreiflich. Furchtbar hatte sich das Schicksal an ihrem Glück gerächt. Bogucha hatte die Wahrheit gesprochen! Durch ihr Schweigen beunruhigt, hob Imbram ihr liebes, im Dämmerlicht kaum noch erkennbares Gesicht zu sich empor. Sie ließ es willenlos geschehen. Ihn erfaßte eine unbeschreibliche Wehmut über das eigene Los und das seiner Frau. Wie ein Blinder, der sich durch die Berührung bemüht, die Gestalt der Geliebten in der Erinnerung zu bewahren, tastete er in der Dunkelheit zärtlich nach ihrer Wange. Er sah im Dunkel ihre tiefliegenden Augenhöhlen, ihre von den Wimpern bedeckten Augen, auf deren Grund die durchsichtigen Pupillen ruhten, die in Augenblicken der Erregung dunkel werden konnten. Jetzt waren sie mit Tränen gefüllt. Er sah ihre gerade, schmale Nase, ihre kindlichen, sonst stets zum Lachen aufgelegten Lippen, die jetzt schmerzlich verzogen und durch allzu großes Leid zusammengepreßt waren, ihren zarten, schlanken Hals. Was konnte er tun, um sein Teuerstes,
diese anmutige, liebliche Gestalt zu erhalten und zu schützen, damit sie nach langer Trennung noch ebenso wäre wie heute. Wäre es doch möglich, sie wie einen Schatz aus Gold oder Silber, wie ein wertvolles Kleinod, einen Brustharnisch oder eine Spange zu verstecken und später unverändert wieder hervorzuholen … auf den Wangen dasselbe Spiel der Schatten, der Farben, der lebhaften Bewegung zu sehen, die das Wesen der Schönheit bilden und bewirken, daß gerade diese Augen, diese Lippen, diese Wangen lieblicher sind als alle anderen … Vergebliche Träumereien! Die Schönheit der Geliebten ist vergänglich wie die Schönheit einer Blume. Mit jedem Tag verändert sie sich und wieviel mehr erst in einem Jahr. Es ist ja Dein Werk, Herr, daß der Mensch an einem so vergänglichen Ding mehr hängt als an Silber und Gold, mehr sogar als am Ruhm! Wieviel vernünftiger handeln jene, die im Weibe nur den Gegenstand vorübergehender Lust oder das kindergebärende Muttertier sehen! Doch wie soll man es ihnen nachtun, wie dieses unvernünftige, innige Gefühl vertreiben? Imko, wolltest du auch Gott weiß wie sehr danach streben, dich vom Zauber der Liebe zu befreien, es würde dir doch mit keiner Kraft der Erde gelingen … „Still … still …“, flüsterte er, obwohl sie kein Wort gesagt hatte. In der Holzwand knisterte es, vielleicht war es der Borkenkäfer, vielleicht der Ahn … Das schlafende Haus war erfüllt von geheimnisvollem Flüstern, dumpfem Pochen und Raunen. Jemand strich an der Wand hin, haspelte Garn, das unsichtbare Garn des Schicksals. Eine Spinnerin war in das Haus getreten. Glück und Leid lagen in ihren Händen.
FÜNFTES KAPITEL Wann kehren sie heim? Nicht so bald, nicht so bald …
Abt Guido strich sich über seinen kahlen Schädel, während er die Absichten der Ritterschaft erwog. Waren sie gut oder schlecht? Freilich, am gescheitesten war es, wenn sich die Herren mit dem Fürsten einigten. Da aber die heißblütigen, hitzigen Krieger nichts davon hören wollten, war es vielleicht besser, wenn sie fortzogen, statt hier einen Bruderkrieg zu entfesseln. Der Ausgang eines Krieges mochte für die Ritterschaft Sieg oder Niederlage bringen, für die arbeitenden Menschen bedeutete er stets dasselbe: Zerstörung, Hunger, Tod. Mochten sie also fortziehen. Ein kluger Mann gewiß, der diesen Plan ersonnen hatte. Aber Ungarn war ein wenig zu nahe. In zwei Wochen konnte man es erreichen und in zwei Wochen wieder zurück sein. Die freiwilligen Flüchtlinge, überlegte der Abt, werden dort nicht lange bleiben wollen. Die Sorge um das Land, um ihre Höfe, irgendein Gerücht, eine Klatschgeschichte nur konnte die Ritter schnell wieder zurückführen, und dann würde der Tanz erst recht beginnen! Nein, nein, sollten sie von dannen ziehen, aber möglichst weit, damit sie nicht vor Ablauf eines Jahres wieder heimkehrten. Dem Abt kam es gelegen, daß ihn die Ritter um Rat fragten, denn nun hatte er Gelegenheit, ihnen eindringlich zuzureden, sie sollten, anstatt untätig in der Stadt Ofen zu sitzen, eine Pilgerfahrt zum heiligen Gilles nach der Provence unternehmen. Durch eine solche Pilgerfahrt würde jegliche Schuld vergeben, durch sie könne sogar ein Fluch getilgt werden — hier blickte der Abt vielsagend auf den Ritter Nogodzic —, eine solche Pilgerfahrt sei ein ritterliches und ehrenvolles Werk, die einzige Gelegenheit, die Erlösung der Seele zu erlangen und gleichzeitig die weite Welt zu sehen …
Der Abt redete und redete, aber sie hatten allerlei einzuwenden: daß ihnen das alles nichts nütze, denn keiner von ihnen kenne den Weg in jenes Land. Sie würden sich da nur verirren … Der Abt zuckte mit den Schultern. „Verirren?“ rief er, „leeres Geschwätz! Der Weg ist gerade, ungefährlich und allgemein bekannt … gerade so bekannt wie des Königs Krakauer Landstraße! Er führt über Ungarn, Kroatien, Istrien, Aquileja, Venedig. Und die Provence liegt dicht dabei. Seid ihr denn die ersten Polen, die sich dorthin aufmachen? Kaum aufzuzählen, wer schon alles eine Pilgerfahrt nach dort unternommen hat! Früher ist man immer von Polen nach der Provence gezogen, um dort Bischof zu werden, denn Bistümer gibt es dort wie Sand am Meer, so viele wie nirgends auf der Welt … Ein Bistum neben dem andern und alle reich und prächtig! Arles, Nîmes, Narbonne, Viviers, St. Pons, Orange … Ich kenne diese Gegenden, stamme selber aus Nîmes. Gelegenheit haben, dieses Land zu sehen, und nicht hinziehen … welch ein Versäumnis! Ihr wißt ja, Włodzisław hatte damals Gesandte zum heiligen Gilles geschickt, damit ihm die Tschechin Judith einen Sohn gebäre … Sie machten sich auf den Weg, und es war noch kein dreiviertel Jahr verstrichen, da kehrten sie heim. Welche Macht und welche Gnade wurde ihnen dort zuteil! Kaum hatten sie nach dem Gottesdienst die königlichen Geschenke, eine kleine Kinderfigur aus purem Gold, Becher, Ornate und einen Mantel dargebracht, als ihnen die Ordensbrüder schon erklärten: ‚Kehret heim, denn die Fürstin ist schwanger.‘ Sie wollten es nicht glauben, denn das schien ihnen doch zu schnell, aber die Ordensbrüder blieben bei ihrer Behauptung: ‚Es ist so, wie wir sagen. Die Fürstin wird einen Sohn gebären, und für sie wird sich der Himmelsweg auftun …‘ Und so traf es auch ein. Zur Herbstsaat wurde Bolesław geboren, und zu Weihnachten starb die Tschechin! Gott gebe ihr die ewige Ruhe! Und was für Wunderdinge verbreiteten die Abgesandten bei ihrer Heimkehr! Ihr ganzes Leben lang hatten sie davon zu erzählen. Der kleine Bolesław war schon ein schneidiger Reiter, sie aber redeten
noch immer von dieser Reise, als wäre sie erst gestern gewesen. Und mit Recht! Auch Ihr würdet ruhmbedeckt zurückkehren. Und Nutzen hättet Ihr gewiß davon. Ihr könntet ja dort um den Tod Sieciechs bitten. Sankt Gilles tut alles für die Pilger, und schließlich ist es ihm leichter, einen Krieger aus der Welt zu schaffen als ein Kind im Schoße eines Frauenzimmers zu erwecken, wenn diese selbst unfruchtbar ist und dazu noch einen untüchtigen Mann hat. Wenn der Heilige dies vollbracht hat, wird er auch eure Wünsche leicht erfüllen können.“ So kluge Ratschläge gingen ihnen schon ein, aber zu einem Entschluß konnten sie sich doch nicht durchringen. Die Provence lag eben zu weit! Aus Ungarn konnten sie jederzeit heimkehren, sobald sie erfuhren, daß Sieciech irgend etwas Schändliches im Schilde führe … Ich weiß schon, was ihr meint, dachte der Abt und ließ sich mit lauter Stimme weiter darüber aus, daß niemand es wagen werde, das Vermögen der Pilger anzutasten. Einen solchen Versuch, sagte er, würde die Kirche mit ihrem Bann belegen, und der heilige Gilles würde ihn mit einem tödlichen Schlagfluß vergelten, wie es schon vielen gegangen sei. Darum würden ihnen weder Włodzisław noch Sieciech etwas antun, zumal sie für die neue Kathedrale den päpstlichen Segen und wertvolle Reliquien benötigten … Aber sie waren noch immer nicht gewonnen. Jetzt schützten sie vor, Angst vor der Hexe Heimweh zu haben, die im fernen Lande die Herzen der Menschen zernagt und gegen deren Macht es keine Arznei gibt. Man sagt, mit ihrem Gift bringe sie es fertig, daß der eigene Schatten den Menschen verlasse und in die Heimat zurückkehre. Was aber ein Mensch ohne Schatten wert ist, das sei wohl bekannt. Schnell werde er selber zu einem Schatten. Daß Heimweh eine furchtbare Krankheit war, wußte der Abt nur zu gut und besser als die Ritter. Er konnte sich noch der Zeiten erinnern, wo er selbst als ein solcher Schatten umhergeirrt war, wo ihn der Schlaf geflohen und die Lust zum Essen und sogar die Kraft zum Gebet. Das war vorübergegangen, erstorben in den Jahren seither, aber er erinnerte sich noch lebhaft daran.
Nichtsdestoweniger leugnete er jetzt wortreich und hartnäckig die Existenz dieser Hexe Heimweh. Er bewies ihnen klipp und klar, daß das Gefühl der Fremdheit, der Sehnsucht nach dem Heimatlande nur Kriegsgefangenen oder nur dem gemeinen Volk eigen sei. Dem Ritter dagegen stehe die ganze Welt offen. Überall, wo dieser Gelegenheit finde, seinen Mut zu beweisen, dort sei sein Vaterland. In jeder christlichen Gemeinschaft, und läge diese auch am Ende der Welt, sei der zum Ritter Geschlagene dem anderen Ritter ein Bruder. Überall habe er seine Familie und sein Heimatland, denn der ritterliche christliche Orden vereinige alle Völker. Darin bestehe seine Macht und seine Ehre. In der Provence würden sie nicht nur herzlich begrüßt, sondern auch bewundert werden als die Männer, die auf ihren Jagden grimmige Bestien, tigrides et unicornes, erlegt hätten. „Was für Bestien?“ fragte Großkopf erstaunt. „Tigrides et unicornes“, wiederholte der Abt mit Nachdruck. „In der hiesigen Sprache heißen die Tiere Tiger und Einhorn.“ „Einhorn —? Davon habe ich noch nie etwas gehört.“ „Nach meiner Meinung ist das nichts anderes als ein Auerochs. Wie man sagt, sollen sie die grimmigsten und wildesten Bestien auf Erden sein. Doch welches Tier ist denn schon schrecklicher als der Tiger und grimmiger als der Auerochs?“ „Gibt es wirklich noch schlimmere Bestien?“ „Ja, es soll noch gewaltigere geben. Sie werden elephantus genannt. Riesengroße Ungeheuer! Von ihrem mächtigen Kopf reicht eine zehn Ellen lange Nase herab, mit ihr langen sie über die höchsten Bäume hinweg. Und ihre Beine sind dick wie Eichenstämme … In christlichen Ländern kommen sie freilich nicht vor, nur in heidnischen, in Äthiopien. Anscheinend stehen sie mit dem Bösen im Bunde.“ „Woher wißt Ihr das alles, Herr?“ „Aus gelehrten Büchern, die der Erzbischof Aaron an der Krakauer Kathedrale gesammelt hat. Eine solche Sammlung heißt in der griechischen Sprache Bibliothek. Und dies ist die erste Bibliothek in
Polen. Eine riesige Bibliothek, zählt beinahe zwanzig opera. Ich habe fast alle diese volumina gelesen …“ Sie blickten erstaunt und voller Bewunderung auf den Abt, denn allein die Kenntnis der Buchstaben schien ihnen schon eine unerreichbare Kunst zu sein. Obwohl Abt Guido diese Anerkennung freute, griff er doch schnell wieder das eigentliche Gesprächsthema auf, die Provence und die Stadt des heiligen Gilles, Saint–Gilles, wie er dortzulande hieß. Anfangs malte er seine Bilder in schönen Farben und mit Überlegung, um die Ritter zur Reise zu ermuntern, doch je länger er sprach, desto stärker erfaßte ihn der ewig lebendige Zauber des unvergessenen Vaterlandes. Ohne sich noch um die Pläne der Ritter zu kümmern, erzählte er begeistert, immer wieder die Stimme dämpfend, von den Gebirgen, den Weinbergen, den steinernen Burgen, den Olivenbäumen, den von der Sonne ausgeblichenen, schneeweißen Felsen und vom Meer, das bisher noch keiner von ihnen gesehen hatte, dem saphirblauen Meer, dessen gischtgekrönte Wogen an die Gestade brandeten … Das war zauberhaft schön, wie ein Märchen. Und dennoch waren die harten Männer immer noch unschlüssig, schwankten bald nach der einen, bald nach der anderen Seite. Sich ganz allein in fremde Länder begeben, das war doch wohl unsicher. Zum erstenmal sollten sie ohne den König und ohne großes kriegerisches Gefolge ausziehen — wie Vertriebene, ohne ein bestimmtes Ziel, ohne sichere Aussicht auf Heimkehr, kreuz und quer, aufs Geratewohl, nach Süden oder Westen. Diese Aussichten erfüllten sie mit Unruhe. Alle Dinge, die beim Kriegszug unter der Führung des Landesherrn, des militärischen Befehlshabers, einfach und leicht waren, erschienen ihnen jetzt verworren und schwierig. Wie würde es ihnen in fremden Landen ergehen? Wie würden sie sich verständigen, wenn sie über die Grenze des ihnen bekannten Böhmen oder Ungarn hinausgelangten?
Wohl zum erstenmal in ihrem Leben wußten sie nicht, was sie anfangen sollten. Sie zwirbelten besorgt ihre herabhängenden Schnurrbärte und blickten einander fragend an. Großkopf erhob sich als erster und unterbrach die Rede des Abtes. „So oder so“, sagte er, „über Ungarn müssen wir in jedem Fall ziehen. Das habt Ihr selber gesagt, Herr. In Ungarn werden wir dann sehen, ob die Pilgerfahrt unternommen werden soll oder nicht.“ „Richtig, richtig“, stimmte der Abt zerstreut zu und rieb sich die Augen, vor denen noch das verklärte Bild des Vaterlandes leuchtete. Er hatte sich so tief in die Erinnerung verloren, daß er gar nicht mehr wußte, worum es ihm zuvor eigentlich gegangen war … Mochten sie doch fahren, wohin sie wollten! Was ging ihn das an? O Provence, Provence, gelobtes Land! Die Ritter atmeten erleichtert auf. Natürlich, in Ungarn würde man schon weiter sehen. Großkopf hatte weise gesprochen. Sie verließen zusammen den Flur, die drei Brüder Strzegonia, die beiden Zawora, die beiden Nowina, die drei Oswienta und der Nogodzic, insgesamt elf Männer. Im Hof vor dem Hause saßen die milites unius scuti und die Knechte, die mit den Herren ziehen sollten, im Gras, alles in allem mehr als dreißig Mann. Zwar waren sie mehr an Zahl als ihre Herren, zwar lagen auf ihren Schultern die Lasten und Sorgen des Zuges, dennoch: die Richtung bestimmten sie nicht. Sie hatten nur entgegenzunehmen, was der Wohlgeborene gebot — und zu gehorchen. Es war ihnen befohlen worden, die Pferde bereitzuhalten. So hatten sie also die Reittiere und die Wagen reisefertig gemacht. Nur die Ochsen, die auf der nahen Weide grasten, mußten noch geholt werden, wenn das Zeichen zum Aufbruch kam. Der Beschließer Pobieda wanderte seufzend zwischen den festen Wagen, deren Scheibenräder frisch geschmiert waren, umher. Er prüfte, ob die Geldsäcke auch fest genug angebunden waren. Eine so lange Reise, die ja kein Beutefeldzug war, kostete viel Geld.
Gewöhnlich brachten die Ritter das Gut ins Haus, jetzt aber begannen sie es hinauszuschleppen. Das war schlecht, sehr schlecht. In den flachen Säcken klimperten die Silberdenare mit dem Bildnis des verstorbenen Königs und der Aufschrift: „Boleslaus justizia“. Schöne, schwere Denare von gutem Gewicht. Der Beschließer seufzte noch lauter, wenn unter seiner Hand die goldenen Münzen erklangen. In einem besonderen Sack lagen tschechische Groschen und Heller, aber auch Brakteaten des Königs Hermann, minderwertige Blechstücke, nur auf einer Seite geprägt. Außer den Münzen befanden sich in Rindsledersäcken, die gegen Feuchtigkeit besonders gut schützten, Marderfelle, dünne Leinwand und Salz. Alles war für Geschenke oder zum Eintauschen von Pferdefutter und Nahrung bestimmt, denn es gab viele Gegenden, wo die Leute Münzen nicht annahmen, weil sie deren Nutzen oder Wert nicht kannten. Auf anderen Wagen, sorgfältig mit Fellen zugedeckt, waren getrocknete Gerstenfladen, geräuchertes Fleisch, ein Bottich Schmalz für die Zubereitung von Speisen und für die Haarpflege untergebracht, dazu Bären– und Wolfsfelle zum Schlafen, Riemen, Köcher und Bögen und eine Menge Pfeile. Obenauf lagen griffbereit lange Lanzen und Schilde. Die Lanzenschäfte waren an beiden Enden beschlagen und zugespitzt, damit sie der im Sattel sitzende Ritter leicht neben dem Pferd in den Boden spießen konnte, und seine Hand nicht unnötig ermüdete. Die Schilde hing man sich gewöhnlich mit einem breiten Riemen um den Hals, nur zum Kampf wurde der linke Arm durch eine an der Rückwand des Schildes befestigte Schlaufe gesteckt. Es wäre vorteilhaft gewesen, die Rüstungen und Helme, die auf dem langen Wege und in der drückenden Hitze beschwerlich werden mußten, ebenfalls auf die Wagen zu laden, aber beim Marsch in ein fremdes Land ziemte sich dergleichen nicht. Wie sollten denn die Fremden erkennen, daß hier zu Rittern geschlagene Männer vorbeizogen. Übrigens waren die Rüstungen nicht allzu schwer. Sie bestanden nicht mehr aus einem Stück wie zuzeiten Bolesławs des Kühnen.
Man trug jetzt einen Netzpanzer aus Eisenringen, der bis zu den Knien reichte und dessen Ärmel die Hand bis zu den Fingerspitzen bedeckte. Darüber einen silbernen oder goldenen Gurt, einen runden spitzen Helm mit Blattverzierungen an den Seiten und einem Netz, das den Nacken und den Hinterkopf schützte. Ein breites Schwert ohne Scheide hing am Gurt, die Misericordia auf der Brust. Unter dem Panzer trug man ein Lederkoller. Die Hosenbeine waren ebenfalls von einem, allerdings leichteren Netzpanzer geschützt. Endlich standen die Ritter reisefertig da, ihre goldenen Ketten und Gurte leuchteten. Der stotternde, aber kluge Momot mahnte zum Aufbruch, denn durch Zögern werde nichts gewonnen, außerdem sei zu befürchten, daß Sieciech inzwischen den Duklapaß mit seinen Kriegern besetze. Er hatte recht. Wenn nun einmal aufgebrochen werden sollte, dann mußte es unverzüglich geschehen. Die braunen Ochsen standen schon vor den Wagen, die Pferde, mit ihren schweren Panzerdecken, schnaubten, und die milites gregarii, die einfachen Krieger, hatten bereits die Köcher und Bögen über die Schulter gehängt und die Schwerter an den Gurten befestigt. In der Hand hielten sie den Speer. Die Knechte trugen Beile und derbe Knüttel, die mit Kieselsteinen beschlagen waren. Von seinem Lager in der dunklen, nun weit geöffneten Stube rief der Dominus ihnen unverständliche Worte zu. Er versuchte vergebens, sich zu erheben. Offenbar wollte er hinaus auf den Hof. Sein Gekrächze klang den Kriegern wie die Stimme der verstorbenen Ahnen, und es wurde ihnen schwer ums Herz. Würden sie mit heilen Gliedern wiederkehren? Wohin würde sie dieser Zug ins Ungewisse führen? Würden sie wieder in ihre schlesische Wildnis und an den heimischen, heiligen Herd zurückfinden? Wer würde in fremder Erde bleiben? Und wer bei der Heimkehr die Seinen nicht mehr vorfinden? … Bogucha stand reglos vor der Haustür und hielt die Hände über dem Leib gefaltet. Mit Verachtung blicke sie auf Ofka, die sich laut schluchzend an die Schulter ihres Mannes schmiegte. Konnten die
beiden denn nicht in der Stube Abschied nehmen, statt den Kriegern jetzt ein solches Schauspiel zu bieten? Und Imbram! Statt sein Weib ins Haus zurückzuschicken, strich er ihr über das kurzgeschnittene Haar, auf dem sich das Kopftuch verschoben hatte. Ein Frauenzimmer mit unbedecktem Kopf Inmitten der fremden Krieger — welche Schande! Wo war Großkopf? Würde er so etwas dulden? „Oh, ich möchte sterben“, jammerte Ofka mit klagender Stimme. „Ein Vogel möchte ich sein, um dir nachzufliegen … oder ein Zichorienkraut, das am Wege verwelkt …“ „Hör auf“, zischte Bogucha böse. „Die Nahrung wird dir versiegen oder bitter werden … Sorge dich um dein Kind und nicht um den Mann!“ „Bogucha hat recht, geh zu dem Kleinen“, sagte Imbram sanft, aber er gab die Weinende nicht aus seiner Umarmung frei. „Mit einer Beschwörung habe ich dich nach Hause gerufen, und du bist gekommen, aber wirst du denn meine Stimme dort in Ungarn, hinter den vielen Bergen hören? Wie soll ich dich von dort herbeirufen?“ „Hör auf!“ rief die ergrimmte Schwägerin. „Du hast einen Sohn! Kümmere dich um ihn! Mit deinen Tränen wirst du nichts ändern! Siehst du, du hättest nicht so viel reden und nicht so hochmütig sein sollen! Habe ich dir nicht gesagt, daß du den Gott erzürnst? Habe ich dich nicht gewarnt? Das nächste Mal höre auf Klügere.“ Ofka achtete auf diese Vorwürfe nicht und gab keine Antwort, doch Imbram ballte unwillkürlich die Fäuste. Zorn und Empörung gegen die neidischen, ewig feindlich gesinnten Mächte, die jede kleine menschliche Freude mißgönnten, ergriffen ihn. Genügte, daß der Mensch im Gefühl seines Glückes sagte: „Mir geht es gut“, und schon schwirrten die düsteren Fledermäuse heran, nahten sich die unsichtbaren Schatten, um ihm seine Freude zu nehmen, sie zu vertilgen oder zu verdunkeln. Wären sie doch endlich zunichte gemacht! Hätte sie doch der gnädige Gott Christus nur erst vertrieben!
Großkopf gab mit der ruhigen, selbstbewußten Stimme des Hausherrn die letzten Anordnungen und Befehle an seine Frau und den Beschließer. Er bestimmte, wo gesät und von welchem Vorratshaufen das Saatkorn genommen werden sollte. Die Schimmelstute sollte vom kastanienbraunen Hengst und die bunte Färse vom Bleßstier gedeckt werden … „Sei beruhigt, ich weiß schon, was zu tun ist“, versicherte Bogucha, und Großkopf nickte freundlich mit dem Kopf. Er wußte, daß er den Worten seiner Frau trauen konnte. Die Anordnungen hatte er mehr aus Gewohnheit als aus Besorgnis erteilt. Der Abschied von der Wirtschaft, der bevorstehenden Ernte, den Bienen und den geliebten Pferden, von Bogucha, ja sogar von den Töchtern, die sie ihm statt der Söhne geboren hatte, betrübte ihn tief. Dennoch — er konnte wenigstens ohne Sorge scheiden, ließ er doch sein Eheweib hier, ein standhaftes und kluges Frauenzimmer. Im Gegensatz zu Imbram zweifelte er nicht daran, daß er sie bei seiner Heimkehr, nach einem Jahr oder nach zehn, so wiederfinden würde, wie sie jetzt war, würdig, haushälterisch, umsichtig. Das erfüllte ihn mit Beruhigung. Nun stand dem Aufbruch nichts mehr im Wege. Der Abt segnete feierlich mit erhobenem Krummstab die Fortziehenden. Ofka löste weinend ihr Gesicht von der Brust ihres Mannes. Die blonden Haare hatten sich in den Maschen des Panzers verhangen, und Imbram versuchte mit der eisenbedeckten Hand, sie freizumachen und ihr das auf die Schulter geglittene Tuch wieder über den Kopf zu ziehen. Zbylut beobachtete die beiden höhnisch von der Seite. Jasiek Zawora aber lächelte gutmütig wie immer. Sein älterer Bruder Momot schwieg, und sogar der Schwätzer Tarchala sagte kein Wort. Gleich den anderen schaute er zum Wald hinüber und tat, als sehe er das unschickliche Betragen Ofkas gar nicht. Man wußte ja sowieso, wie jeder im stillen darüber dachte. Ludbor Oswienta mahnte dringend zum Aufbruch. Der Beschließer Pobieda schleppte noch einen Krug voll Met herbei, und die Mägde hielten schon die irdenen Becher für den Abschiedstrunk bereit.
Nachdem einige Tropfen für die Hausgötter auf die Erde gesprengt waren, leerten die Ritter die Becher bis zur Neige, schmetterten sie zu Boden, zertraten die Scherben mit den Füßen, verneigten sich tief vor der Schwelle, den Wänden und dem Giebel des Hauses … Dann schwangen sie sich auf die Pferde. Die Ochsenjoche knarrten, die Räder ächzten klagend, obwohl sie geschmiert waren. Der Zug setzte sich in Bewegung. „Sei nicht traurig, Ofka, wir kehren bald heim!“ rief Imbram vom Tor aus. „Dreh dich nicht um“, knurrte Großkopf. Er war wütend auf den Bruder. Das war kein Ritter, sondern ein Wechselbalg, den die Feen unterschoben haben mußten! Dieser Tolpatsch! „Weine nicht, wir kehren bald heim!“ rief Imbram noch einmal laut … Und der boshafte Geist Pomian hatte den unvorsichtigen Ruf schon aufgegriffen. Von der dunklen Waldeswand flog das Echo den Abziehenden entgegen: „Nicht … bald … nicht … bald … nicht … bald …“ Das geschah am sechsten Juli, am Tage der heiligen Dominika, der Märtyrerin und Jungfrau, im Jahre des Herrn 1095, welches das letzte Jahr der laufenden Indiktion, der dreiundsiebzigsten seit der Geburt unseres Herrn Jesus Christus, war.
SECHSTES KAPITEL Vom rettenden Kloster auf der steilen Höhe der Alpen
Man
konnte es kaum begreifen! In den Tälern, die sie unlängst verlassen hatten, war der September noch heiter und warm gewesen. Jetzt überfielen plötzlich Schneestürme den Wanderer und umgaben ihn mit dem Hauch des Todes. War das ein böser Spaß der Natur oder war es Hexerei? Die scharfen Schneekristalle verklebten die Wimpern und blendeten die Augen. Die Hände erstarrten, und die Kälte drang an den eisengepanzerten Waden und Schienbeinen bis in den Leib hinauf. Trübe Dämmerung behinderte den Blick. In der pfeifenden weißen Schneewolke, dem Strudel der eisigen Kristalle, dem Wirbel der Flocken tauchte bisweilen undeutlich der schmale, steile Saumpfad auf, die zerklüfteten Felsen der kahlen Wände, die steinigen Schluchten, die die herabstürzenden Rinnsale gegraben hatten, oder die felsigen Hänge, die sich wie eine niedrige Kellerdecke über dem Kopf zu wölben schienen. Sie waren nur undeutlich zu erkennen, schimmerten dunkel und verschwanden, traten zurück in den weißen Abgrund wie hinter die Grenze des Nichtseins. An ihrer Stelle breitete sich die tückische Bäche einer Schneewehe wie eine sanfte Ebene, wie eine weite Steppe, wie die Viehtrift eines Dorfes, über die ein Schneetreiben hinging, die aber einen sicheren Reitweg bot, bei dem man sich nur darüber wunderte, daß nirgendwo ein Wegweiser zu sehen war. Kaum aber hielten die verängstigten Menschen erleichtert auf sie zu, da riß sie auch schon vor ihren Augen, barst klaffend auseinander und enthüllte, so plötzlich wie das Aufblitzen eines Schwertes, einen Spalt, einen gähnenden Schlund, der rascher, als das Auge zu folgen vermochte, vor ihren Füßen in unendliche Tiefen abstürzte. Und nachdem die Gebirgswelt, diese für den
Menschen der Ebene über alle Begriffe hinaus schreckliche Welt, für einen Augenblick ihr Grauen gezeigt hatte, schloß sich wieder der Abgrund. Eine grimmige, todbringende Welt war das. Der Sturm tobte darüber hin und riß den Wanderer mit sich in die Tiefe. Erschrocken bäumten sich die Pferde und wollten keinen Schritt vorwärts tun. Des Kletterns ungewohnt, glitten sie auf dem glatten Fels aus. Der Mauleseltreiber, der den Zug anführte, schaute sich fortwährend um und schrie gellend: „Haltet Schritt! Wer zurückbleibt, kommt um!“ Aber er rief vergebens. Seine Stimme verlor sich im Schneesturm, nur die Schellen am Geschirr des Maulesels ertönten wie ein Sterbeglöckchen. Der Sturmwind heulte klagend wie ein Büffelhorn, das die Engel beim jüngsten Gericht blasen werden, oder wie der Drache Leviathan, der in der Tiefe der Abgründe gefangenliegen mochte. Das wild gewordene Sturmroß war durchgegangen und jagte nun über die Gipfel fort. Was bedeuteten schon, gemessen an seiner Macht, die Sprünge Swist Poswists, des Gottes der Urwälder, der die grünen Baumwipfel zerbrechen konnte. Was war das schon gegen die Schrecken des Gebirges! Die Hufschläge des mächtigen Tieres dröhnten, seine Mähne flatterte und verdunkelte die ganze Umwelt, sein Schweif schlug klatschend an die Bergwände und fegte den Schnee von den Gipfeln. Und vor ihm war der Ritter, der Wohlgeborene, ebenso machtlos wie der einfache Mann, — nicht mehr als eine goldgeflügelte Eintagsfliege. Im schrecklichen Gefühl ihrer Machtlosigkeit, mit dem letzten Instinkt der Selbsterhaltung und der äußersten Willenskraft kämpften sich die ungarischen und polnischen Ritter vorwärts, dem Maulesel des Führers und der im Sturmwind verklingenden Stimme des Glöckchens nach. Schritt für Schritt näherten sie sich dem Gebirgspaß Monte Jovis. Die ungarischen Ritter führten eine Botschaft an den Heiligen Vater mit. Wenn sie durch bewohnte Gebiete wanderten, dann trug einer der zahlreichen, die Gesandten begleitenden Diener auf hohem
Lanzenschaft die vergoldete Nachbildung einer erhobenen Hand voran. Diese Hand bedeutete, daß sie unter dem Schutz und im Namen ihres Monarchen reisten und unantastbar waren. Unantastbar freilich nur für die Menschen, gegen die feindlichen Elemente half ihnen das nichts. Mit dieser schon recht mitgenommenen Hand die Unwetter schrecken zu wollen, wäre vergebliche Mühe gewesen. Daher schleppte sie auch einer der Diener irgendwo am Ende des Zuges hinter sich her, wenn er sie nicht gar schon aus seiner steifgefrorenen Hand in einen Abgrund hatte fallen lassen. Gemeinsam mit der ungarischen Gesandtschaft zogen die polnischen Hochgeborenen, dieselben, die vor neun Wochen den Hof Großkopfs verlassen hatten. Zu ihnen hatte sich noch ein braver Ritter namens Mojmir Sciborowic gesellt, der vor Jahren mit König Bolesław nach Ungarn geflüchtet und dort geblieben war. Jetzt war er zu den Seinen gestoßen, so daß sie gleich den Aposteln ihrer zwölf waren. Die bewährten braunen Ochsen und die starken, vollrädrigen Wagen hatten sie zusammen mit einem Teil der Knechte in Ungarn zurückgelassen und nur die Berittenen mitgenommen. Hätten die zwölf Ritter in dieser schrecklichen Lage, in der sie sich befanden, noch die Kraft zu Überlegungen gehabt, so hätten sie sich jetzt wohl trüben Gedanken über den eigenen Leichtsinn, der sie in dieses Land des Todes geführt hatte, hingegeben. Hätte man nicht ruhig in der Stadt Ofen bleiben und eine günstige Gelegenheit zur Heimkehr abwarten können? Niemand hatte sie aus Ungarn vertrieben. Warum waren sie nur fortgezogen? Das hatten sie nur den Zaubereien der Mönche zu verdanken. Hatte nicht Abt Guido, dieser hinterlistige Anhänger Włodzisławs, seine ganze Überredungskunst aufgeboten, um sie zu dieser Reise zu bewegen und sie möglichst weit von ihrer Heimat fortzulocken? Und als er sah, daß er mit seinem Gerede nicht viel erreichen werde, hatte er ihnen wohl Zaubersprüche nachgeschickt, um so den klaren Verstand der Krieger zu verwirren. So ungefähr wären ihre
Gedanken zweifellos gewesen, hätten sie nicht mit letzter Kraft gegen den Tod ankämpfen müssen. Doch in Wirklichkeit verhielt es sich anders und hatte nichts mit irgendwelchen Zauberkünsten des Abtes zu tun. Als die Ritter in Ofen gehört hatten, daß eine Gesandtschaft zum Heiligen Vater aufbrechen solle, hatten sie sich ihr angeschlossen, und keineswegs aus Zwang, sondern durchaus freiwillig, aus heftiger, verzehrender Sehnsucht nach der einstigen Größe und dem Ruhm des alten Königreichs Polen. Den wohlgestalteten, ritterlichen Włodzisław von Ungarn, Kasimirs Schwestersohn, der in der königlichen Burg auf dem Wawel erzogen worden war, betrachteten sie gewissermaßen als ihren eigenen König und glaubten, unter dem Schutz und der Führung eines starken, mächtigen Herrschers die alte stolze Begeisterung heraufbeschwören zu können. Aber, gemach und vorsichtig! … Noch mußten sie ihre Augen anstrengen, noch mußte das ausgleitende Pferd mit den Zügeln gehalten werden, denn der Mauleselführer rief irgend etwas, das zwar unverständlich, dennoch wie eine Ermunterung klang. Und da sahen sie es … in dem dichten Schneetreiben schimmerte ein schwaches, rötliches Licht, blinkte durch den schneeigen Dunstschleier. Es schien noch in weiter Ferne zu sein, war jedoch in Wirklichkeit dicht vor ihnen. Die ersten Reiter waren schon fast herangekommen und erkannten nun erst, daß es eine Fackel war, die ein Mönch in einer völlig verschneiten Kutte emporhielt. Einige Schritte hinter ihm, auf dem Bergpaß traten nun die Umrisse eines Hauses hervor, das das Schneetreiben vor ihren Blicken verborgen gehalten hatte. Womöglich wären sie achtlos vorbeigezogen, hätte nicht die Fackel geleuchtet. Die Ritter glitten mühsam von den Pferden. Mit steifgefrorenen Beinen wankten sie auf die Tür zu, aus der ihnen Licht und Wärme entgegenfluteten. In der großen Stube warfen sie sich völlig erschöpft auf die breiten Wandbänke und schauten erstaunt durch die vereisten Wimpern, von denen jetzt das Wasser wie Tränen herabtropfte, auf das rührige Treiben der Ordensbrüder, die die Ritter wie gern gesehene, längst erwartete
Gäste behandelten, ihnen mit geschickten Händen den am Körper festfrorenen Panzer, den schneebeschlagenen vorderen Lederschurz und das vor Frost glitzernde Rückenleder abnahmen. Dann wurden Schüsseln mit heißer, dampfender Suppe herumtragen, die wie ein Lebenselixier wirkte. Der Abt, ein breitschultriger, hochgewachsener Mann, hatte sich in die Mitte des Raumes gestellt und begann die Ankömmlinge zu zählen. Er fragte in fließendem Latein, mit wieviel Mann sie am Morgen den Marsch angetreten hatten. Sowohl der ungarische Gesandte, der Gaugraf Geza Sukki de Szuha, als auch Mojmir Sciborowic, der Herzensfreund des verstorbenen Königs Bolesław, antworteten ihm gewandt in derselben Sprache. Es stellte sich heraus, daß alle Nobiles gerettet waren, während einer der milites unius scuti aus dem Gefolge des Gaugrafen Geza und zwei Knechte des Ritters Oswienta Cwała fehlten. „Mit mir hat es das Schicksal immer bös gemeint“, klagte Oswienta Cwała. „Von frühester Jugend an. Ich bin der Zweitgeborene, habe ein Frauenzimmer, das nach der Niederkunft krumm geworden ist, und jetzt bin ich auch noch meine Knechte los … Ich hatte drei. Dem einen hat in Ungarn ein Weichselzopf ganz und gar den Sinn verdreht, und jetzt sind auch diese beiden Tölpel irgendwo verschwunden … Wie werde ich nur allein mit meinem Pferd fertig?“ „Schiel du bloß nicht so nach meinen Leuten“, kam ihm der jüngere Bruder Ludbor mürrisch zuvor, „sie haben genug mit meinen Pferden zu tun.“ „Ich mag aber meinen Gaul nicht selber putzen.“ Ludbor zuckte die Achseln zum Zeichen, daß er ihm nicht helfen könne. Die andern schauten müde auf die feindlichen Brüder. Jetzt traten aus dem Nebenraum drei Ordensleute ein. Sie hatten ihre Kapuzen über den Kopf gezogen und waren mit Seilen, einem Eispickel und einer Fackel ausgerüstet. „Wo gehen sie hin“, fragten die Ritter erstaunt.
„Die verirrten Christen suchen“, erklärte der Abt und machte das Kreuzeszeichen über die Davongehenden. Cwała nickte befriedigt mit dem Kopfe, froh über solche Besorgtheit um seine Knechte, doch die übrigen empfanden Mitleid mit den Mönchen. „Sie werden sie nicht finden und selbst dabei umkommen.“ „Der Gefolgsmann des Gaugrafen Sukki war ein freier Krieger, aber die Knechte Oswientas sind doch nur gewöhnliche Bauern“, meinte ein anderer. „Es ist zwecklos, die Brüder in dieses Schneetreiben hinauszuschicken …“ „Nur derjenige findet es zwecklos, der keinen Mann verloren hat“, verteidigte sich Cwała. „Unsinn, auch wenn einer der Meinen umgekommen wäre, würde ich dasselbe sagen.“ „Streitet nicht, ihr Herren“, mahnte der Abt gelassen. „Verirrte zu retten, ist unser Dienst, und zu diesem Zweck ist unser Kloster hier erbaut worden. Uns ist es gleich, ob wir einem Edlen oder einem Knecht helfen, Christus hat alle Menschen gleichermaßen durch sein heiliges Blut erlöst …“ Ein feindseliges Schweigen folgte dieser unerwarteten Erklärung. Im Innern spien die Ritter Gift und Galle, und der alte Groll, den sie gegen die Ordensbrüder und die Geistlichkeit im allgemeinen hegten, meldete sich wieder. Für diese Kuttenträger hier war ein Edler soviel wie ein Diener! He, Pfaffe, wenn du uns nicht eben erst das Leben gerettet hättest, du würdest schon zu spüren bekommen, was es heißt, sich gegen einen Ritter ungebührlich zu betragen. Aber die Herren sahen wohl, daß es jetzt schwerhalten würde, ihr Recht geltend zu machen. Darum schwiegen sie und fügten in ihrem Innern der alteingewurzelten Feindschaft diesen neuen Ärger zu. Da sie sich mit dem Beleidiger auf keine weiteren Worte einlassen mochten, legten sie sich auf die Bänke oder den Fußboden und schoben die Arme trotzig unter den Kopf. Bald hatte sie der Schlaf übermannt. Ihr lautes Schnarchen mischte sich in das Getöse des Unwetters.
Still für sich ging der Abt im Raum hin und her. Er warf Holzscheite ins Feuer und betete geduldig die von Papst Gregor VII. anbefohlenen fünfzehn Psalmen für den König, für den Fürsten, für die Sünder, für die Heiden … Während der Pause lauschte dem Sturm, der mitunter nachließ, um bald wieder mit neuer Kraft loszubrechen. Die niedrige steinerne Behausung wankte, fast wie die Arche Noah auf den Wassern der Sintflut. Der Schnee stieß wie ein Rammbock gegen die Wände, gegen das Dach, und immer wieder fuhr ein plötzlicher Schneewirbel in die Esse und jagte Funken und Asche aus dem Herdloch. Welche Teufelsnacht! Würden die drei Ausgesandten zurückkehren? Oder waren sie schon umgekommen wie jene, zu deren Rettung sie ausgezogen? Der Dachstuhl ächzte, und es ging dem Abt durch den Sinn, der Berg mit seinen heidnischen, an den leichtsinnigsten Götzen Jupiter erinnernden Namen könnte vielleicht zu einem hinterhältigen Angriff gegen das Kloster ausholen. Man müßte den Namen so schnell wie möglich in einen christlichen ändern, in einen Schutznamen … Aber in welchen? Welcher Heilige sollte den Gebirgspaß und das Kloster in seine Obhut nehmen? Heiliger Leonhard, hilf! Die Tür knarrte. Bruder Mamertus, der vor dem Hause mit der Fackel in der Hand Wache gehalten hatte, trat ein. „Ich möchte mich ein wenig aufwärmen, die Kälte läßt einen fast erstarren.“ Der Abt blickte ihn mitleidig an. „Gewiß, wärm dich auf, Bruder. Reich mir die Fackel, damit ich inzwischen Wache halte, bis Bruder Placidus zu deiner Ablösung kommt.“ Da fuhr Bruder Mamertus hoch, als hätte er sich verbrannt, und eilte wortlos hinaus, die Fackel im Kreise schwingend, damit sie heller aufloderte. Der Abt nahm seine Wanderung durch die Stube erneut auf, wobei er seine Schritte vorsichtig setzen mußte, um nicht auf die Schlafenden zu treten. Dann blickte er auf die Tür, hinter der Bruder Mamertus verschwunden war, und begann
wieder leise seine Gebete zu sprechen: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn … Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn …“ Der Sturm heulte im Schornstein wie ein Hund, und plötzlich fiel dem Abt, er wußte nicht warum, die Erzählung des Barons de Retz ein, der hier vor kurzem vorbeigezogen war. Dieser hatte ihm berichtet, er habe Hunde zum Aufspüren von Menschen abgerichtet. Da konnte sich irgendein Halunke auf einem Baum verstecken, über ein Wasser schwimmen, sich im dichtesten Gestrüpp verbergen, die Bestien würden überall seiner Spur folgen und ihn zerreißen. Das sei die gerechte Strafe für jene Schurken, die ihren rechtmäßigen Herrn verlassen, hatte Retz prahlerisch verkündet. Der Abt sah das grimmige, rote Gesicht des Barons noch genau vor sich, aber dabei kam ihm der Gedanke, solche Spürhunde könnten auch dem Kloster nützlich sein, freilich nicht zum Verderb der Menschen, sondern zu ihrer Hilfe. Was nützte es, wenn die Ordensbrüder von bestem Willen beseelt, bei der Suche nach den verirrten Reisenden wahre Heldentaten vollbrachten, durch die Unvollkommenheit der menschlichen Sinne aber leicht zwei Schritte an den ohnmächtig gewordenen, den halb erfrorenen oder im Schnee verschütteten Menschen vorbeigingen und oftmals selber nicht wieder zum Kloster zurückfanden? „Wir müssen unbedingt Hunde haben. Hunde … verstehst du, Bruder Placidus?“ wandte sich der Abt an den eintretenden Mönch. „Hunde? Gewiß, hochwürdiger Vater. Hunde könnten wir hier gut gebrauchen, damit sie keine Fremden ins Kloster lassen …“ „Dummkopf“, schalt ihn der Abt, „beeil dich nur, du mußt Bruder Mamertus ablösen …“ Der Sturm, der über den Alpen wütete, über dem Monte Jovis–Paß, der später St. Bernhard genannt wurde, über der Hannibal–Straße, über der ganzen Gebirgskette und den engen Tälern, die den Weg in das sonnige Italien versperrten, legte sich nicht, obwohl schon der Morgen graute und das Schneegestöber schwach erhellte. An
ein Verlassen des Klosters war nicht zu denken. Die Ritter beschlossen daher, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die Worte des Abtes beleidigt hatten; es geziemte sich nicht, dem Gastgeber zu grollen, solange man unter seinem Dache weilte. Die Schar, die auf gutes Wetter wartete, hatte sich inzwischen durch neue Gäste vergrößert. Die drei in der Nacht ausgeschickten Ordensbrüder waren erst gegen Morgen, obwohl zu Tode erschöpft, zurückgekehrt und hatten den wiedergefundenen Gefolgsmann des Gaugrafen Geza und außerdem zwei provenzalische Herren, Roger de Foix und Gaston d’Armaillac mitgebracht. Beide waren Vasallen des Grafen Raimund von St. Gilles, dis Herrn von Toulouse, und befanden sich auf dem Rückweg aus Sachsen, wohin sie die Mitgift der Gräfin Gisela, der Tochter Raimunds, die den sächsischen Markgrafen geheiratet, gebracht hatten. Von ihren zahlreichen Dienern und von den Mauleseln war fast die Hälfte im Schneesturm umgekommen. Sie waren jedoch zufrieden, daß sie selbst noch lebten und das Unwetter sie erst nach der Übergabe der Schätze auf der Heimreise überrascht hatte. Der vom Schneetreiben verwehte tückische Abgrund, in den die Diener und die herrlich geschmückten Maulesel des Grafen abgestürzt waren, war vielleicht derselbe, der auch die beiden Knechte des Ritters Oswienta Cwała, Suchopiatek und Kokot, verschlungen hatte. Nie mehr würden sie die heimatlichen schlesischen Wälder wiedersehen, es sei denn als Schatten. Ihren allzu frühen Tod konnte ihnen der erzürnte Cwała nicht verzeihen. Da hatten diese Tölpel ihren Herrn in einem fremden Lande einfach allein gelassen! „Kein anderer hat einen Knecht verloren, und ich gleich zwei“, klagte er unablässig. „Immer verfolgt mich das Unglück! Ich bin ja der Zweitgeborene … Ein krummes Weib habe ich auch, und jetzt werde ich sogar meine Lenden gürten und selber den Gaul füttern müssen.“
Als der Abt aus dem Munde Mojmirs den Grund zu den Klagen Oswientas hörte, machte er, um den Ritter zu trösten, den Vorschlag, er solle nur ins Tal hinabsteigen, dort könne er die allerbesten Knechte kaufen, soviel er nur wolle. Entsetzlicher Hunger herrsche im Lande, es sei dieses Jahr ein annus famis, ein Hungerjahr. Unzählige Menschen aus freiem Stande müßten sich freiwillig in die Leibeigenschaft verkaufen. „So groß ist hier die Not?“ fragte der Gesandte Sukki de Szuha erstaunt. „Ja, es ist ein annus famis! Das vorherige Jahr wurde annus miser — Elendsjahr — genannt. In den letzten siebzig Jahren gab es dreißig Hungerjahre … Das ist zuviel, zuviel für die menschliche Widerstandskraft. Die Leute sterben vor Hunger wie die Fliegen … Natürlich nicht die Reichen, die das Getreide in den Speichern und Kammern anhäufen und es für teures Geld verkaufen. Ich habe gehört, daß für ein Schaf zwölf ganze Denare gefordert werden!“ „Für ein Schaf? Woher kommt denn diese Not?“ „Woher?“ fuhr der Abt auf. „Nun, die ständigen Fehden und Kämpfe sind schuld daran. Können denn diese unglücklichen Länder aufatmen, kann denn diese Bevölkerung auch nur einen einzigen Tag in Ruhe arbeiten? Die Menschen verstecken sich wie wilde Tiere in Wäldern und Höhlen, während auf ihren Feldern das Gestrüpp wuchert. Zeigt sich nur ein Bauer bei der Arbeit auf der Scholle, so kommt man schon gelaufen, treibt ihn fort, nimmt ihn gefangen, denn er ist ja der Mann des Gegners. Ein ewiger Krieg aller gegen alle! Die Herren Ritter glauben, ohne Streit nicht leben zu können. Der Kaiser kämpft gegen die Kirche, die Italiener gegen die Burgunder, die Burgunder gegen die Franken, die Franken gegen die Normannen und die Normannen gegen alles, was lebt. Am Werktag — Krieg, am Feiertag, auch am höchsten — Krieg! Immer Fehden und Krieg! Die Ritter werden dabei nicht weniger, nur die Habenichtse! Unsere Ritter achten sorglich darauf, ihren Gegner nur mit der Lanze aus dem Sattel zu heben, ihn gefangenzunehmen und ein hohes Lösegeld einzustreichen. Daher
töten sie einander nicht gern, es sei denn aus Versehen … Dagegen morden sie unter den armen Leuten, den Habenichtsen, den unschuldigen Hungerleidern, soviel sie nur können. Sie freuen sich, den Feind zu schädigen, indem sie ihm seine Bauern abschlachten. Aber die Folgen sehen so aus: In Italien, in der Provence, in den fränkischen Landen herrscht Hunger, nur immer Hunger … Die Menschen wissen nicht mehr, was das ist: satt sein. Mit Freuden denken sie an das kommende Weltende. Sie warten darauf. Sie erzählen, im Jahre 1000 sei die Welt nur deshalb vom Untergang verschont geblieben, weil die in den Sibyllinischen Büchern gezählten Jahrhunderte nicht unser Zeitmaß von hundert Jahren, sondern von einhundertneun und darüber hätten. Die in der Apokalypse vorausgesagte Zeit müßte daher im Jahre 1100 eintreten — also in fünf Jahren. Sie glauben fest daran … Ich habe Schenkungsurkunden gesehen, die mit den Worten begannen: ‚In Erwartung eines baldigen Weltunterganges …‘ Daran glauben die einfachen, unschuldigen Menschen, sie leben in der Hoffnung, dieser Hölle, dieser Drangsal zu entrinnen, und einzig die Urheber dieses ganzen Unheils zittern nicht bei dem Gedanken, daß einmal das Gottesgericht folgen werde! Aber es wird kommen!“ „Ihr mißbraucht unsere Geduld, hochwürdiger Vater, wenn Ihr meint, niemand werde in diesem Hause das Schwert gegen Euch erheben“, unterbrach ihn Roger de Foix mit zornbebender Stimme. „Vergeßt nicht, sogar Bischöfe haben schon ähnliche Reden mit dem Leben bezahlt.“ Der Abt verschränkte die Arme über der Brust und reckte seine breiten Schultern. Er war ein Mann aus einem berühmten Geschlecht und eine kämpferische Natur. Jetzt bohrte er seine flammenden Blicke wie Schwerter in die Augen des Ritters. „Ich würde diese Worte überall, auch wenn ich mich in Eurer Macht befände, wiederholen“, sagte er. „Wir glauben es“, entgegnete d’Armaillac erbittert. „Ihr Mönche findet euer Vergnügen daran, zu hetzen, zu sticheln, zu verfluchen …“
Der Abt trat ganz dicht an ihn heran. „Das ist nicht Vergnügen, sondern Pflicht“, stieß er hervor. „Pflicht! Es ist unsere Pflicht und die der ewigen, allgemeinen christlichen Kirche! Dazu sind wir da! Um uns gegen Euren maßlosen wohlgeborenen Hochmut, Eure Habsucht, Eure Grausamkeit aufzulehnen! Um zu verkünden, daß die Menschen gleich sind. Gibt es außer uns jemanden, der dies wagen würde? Wer wird diese Notleidenden und Bedrängten schützen, die Christus unserer besonderen Obhut anvertraut hat? Mordet unter der Geistlichkeit, soviel Ihr wollt, aber diejenigen, die am Leben bleiben, werden dasselbe verkünden.“ Roger de Foix brach in höhnisches Gelächter aus. „He, Abt!“ rief er. „Nur ruhig! Glauben und Gehör würden nur solche Bischöfe und Mönche bei uns finden, die wie Ihr in den Bergen sitzen und an die Errettung anderer, nicht aber an sich selber denken … Wie viele sind das aber schon? Antworte! Versteck dich nicht hinter Christus! Erzähle lieber vom Papst Benedikt, der den Juden die Tiara und Ämter verkaufte, um ihnen diese später wieder mit Waffengewalt zu entreißen und einem anderen zu verkaufen! Jetzt geht er des Nachts in Gestalt eines unreinen Geistes, halb Bär und halb Eber, in der römischen Campagna um! Erzähle vom Bischof Adalbert, der predigte, ihm habe ein Engel befohlen, von den Bauern doppelte Abgaben einzutreiben, und der für teures Geld seine eigenen Fingernägel und Haare als Reliquien verkaufte!“ „Sprich vom Gegenpapst Wibert, der sich jetzt nach Rom drängt!“ fügte d’Armaillac hinzu. Der Abt gab keine Antwort. Er trat zwei Schritte auf das Fenster zu, blieb dort stehen, während er ein wenig in sich zusammensank. Dieses offenbare Nachgeben erschien dem Gaugrafen Geza wie auch Mojmir Sciborowic, die dieses Gespräch aufmerksam verfolgten, seltsam. Der Abt jedoch betete leise, dann wandte er sich wieder den Herren zu.
„Wahrlich“, sagte er mit ruhiger Stimme, „es ist töricht, sich vom Hochmut hinreißen zu lassen … Es laufen im Priestergewand auch solche umher, die in den Augen des Herrn größere Strafe verdienen als der schlimmste Verbrecher. Wehe ihnen in der Stunde des Gerichts! Mit der Kirche jedoch hat das nichts zu tun. Solche Dinge sind menschlich, die Sache der Kirche aber ist göttlich … Übrigens wird auch dieses Ärgernis vorübergehen. Die Kluniazenser Reformen haben schon die meisten Klöster erfaßt …“ Er verstummte. Ach, er hätte Leben und Seelenheil hingegeben, um nur auf eine solche Anklage klar und deutlich antworten zu können: ‚Das ist nicht wahr!‘ Aber es war bittere Wahrheit … In der Herde des Herrn gab es viele schlechte Hirten, viele Wölfe in Schafspelzen. In dem großen, düsteren Hause, das immer wieder ein Windstoß erschütterte, herrschte Stille, die nur manchmal von einem gewaltigen Gähnen unterbrochen wurde. Die umhersitzenden Ritter langweilten sich. Zwar hatte ihnen der Abt gleich frühmorgens ein Schachspiel zur Unterhaltung gebracht, aber außer den beiden Provenzalen wußte keiner, wozu die seltsamen, kunstvoll geschnitzten Figürchen dienten. Der ältere Oswienta flüsterte den Seinigen zu, sie sollten diese Püppchen lieber nicht anrühren, vielleicht wären sie Zaubermittel, so daß der erschrockene Jasiek Zawora die Königsfigur, die er in der Hand hielt, vor Angst sogleich fallen ließ. Aber sie hatten nicht nur Langeweile, sondern auch mächtigen Hunger. Die magere Pferdebohnensuppe und die in der Asche gebackenen Fladen aus zerstampfter Gerste waren ihnen gestern zwar schmackhaft vorgekommen, heute jedoch blickten die Gäste schon verächtlich auf diese Nahrung, die ihnen zu anderer Zeit für ihre Hunde zu schlecht gewesen wäre. Freilich, da war nichts zu machen, andere Speise gab es hier nicht. So mußte man also auch dafür dankbar sein. „Und was für Nachrichten hört man über die Sarazenen?“ fragte Roger de Foix den Abt.
„Vor kaum zwei Wochen haben hier Leute Schutz gesucht, die erzählten, daß es im Tal von Sarazenen nur so wimmele.“ „Hier im Tal?“ „Es ist so, wie ich sage!“ „Wer soll das glauben?“ Der Abt blicke den Sprecher streng an. „Warum zweifelst du?“ fragte er. „Wer soll sie hindern? Wer verteidigt denn die Straße?“ Der Ritter de Foix war verwirrt ob dieser Frage und trat zurück. Dies erschien Mojmir und dem Gaugrafen ebenso unerwartet und unverständlich wie vorher das Verhalten des Abtes. Aber der fremde Name machte sie neugierig. Sie erkundigten sich, was das für Eindringlinge seien. „Ihr müßt aus fernen Landen kommen, wenn Ihr von ihnen noch nichts gehört habt. Man könnte Euch darum beneiden“, entgegnete der Abt. „Die Sarazenen sind die schrecklichsten Feinde unseres Herrn Jesus Christus, sie sind die Söhne Belials und verehren Mohammed, einen der sieben ärgsten Dämonen. Sie betrachten ihn als ihren Propheten. Und es gibt ihrer so viele wie Sand am Meer. Sie haben sich verschworen, den Christenglauben auszurotten. Gott fügt es wohl, daß sie schwach werden, wenn wir stark und fest sind. Doch anscheinend waren wir noch nie so schwach wie jetzt, denn noch niemals waren sie stärker. Das Heilige Land mit dem Grabe Christi befindet sich in ihren gottlosen Händen, ebenso Spanien und mehr als die Hälfte Italiens! Sie rücken gegen das Byzantinische Reich vor, und über kurz oder lang werden sie auch vor der Stadt Rom stehen.“ Mojmir übersetzte schnell die Worte des Abtes. „Mangelt es denn hier an tapferen Rittern, daß sich dieses Ungeziefer so ausbreitet?“ fragte Zbylut Strzegonia überheblich. D’Armaillac hatte aus den Gesten Zbyluts dessen Frage erraten und antwortete: „An Tapferkeit fehlt es uns nicht, aber es ist schwer, gegen die Heiden zu kämpfen, denn ein Zauber schützt sie.“ „Bei uns gibt es ja auch Heiden: Lutizen, Jazygen, Pruzzen, und doch schlagen wir sie.“
„Wer weiß, ob Euch das bei den Sarazenen gelingen würde.“ „Eh, sie würden umkommen wie die Awaren.“ Ohne zu antworten, begannen Herr d’Armaillac und der Ritter de Foix die Figuren auf dem Schachbrett aufzustellen und bezeigten damit offensichtlich, daß sie keine Lust zu weiteren Gesprächen hatten. „Nicht Zauberkünste schützen die Sarazenen“, erklärte nun der Abt Mojmir, — „denn kein heidnischer Zauber kann gegen den Namen Gottes bestehen —, sondern die Einmütigkeit, die bei ihnen herrscht. Die Sarazenen sind diszipliniert und hängen fanatisch an ihrem Propheten. Aber wie ist das bei uns? Dringen die Heiden in das Land eines Fürsten ein, so freuen sich dessen Nachbarn nur und bedenken gar nicht, daß sie vielleicht morgen schon selber an der Reihe sein werden.“ Er setzte sich betrübt und faltete mit müder Bewegung die Hände über den Knien. „Ich sehe nichts Gutes für die Zukunft voraus“, sagte er. „Vielleicht haben die Leute recht, wenn sie von einem nahen Weltuntergang reden … Mag er kommen. Die Welt ist alt, uralt. Jegliches Geschöpf geht den Weg des Bösen, deshalb muß die Strafe folgen … Die Menschheit lebt schon lange. Wieviel Staaten, wieviel Regierungen haben einander auf Erden abgelöst! Wieviel Erfindungen wurden gemacht! Es ist schwer, sie aufzuzählen. — Das griechische Feuer … oder das Glas … oder gar die Uhren, die die Zeit nicht durch niederrieselnden Sand oder durch die Länge des Schattens messen, sondern mittels eines komplizierten Räderwerkes … Wie mächtig, wie klug könnte die Menschheit sein, wie niederträchtig und blind aber ist sie, wenn sie sich nur zum Schutze ihres irdischen Gutes erhebt, das ihr der Tod einst doch entreißen wird! Tausend Jahre hat Christus, der Herr, der Welt geschenkt, damit sie ihn erkenne und aufnehme … Sie hat ihn nicht erkannt, sie hat ihn mißachtet … Das Blut der Märtyrer hat die Erde umsonst getränkt. Keine Saat ist daraus hervorgegangen. Es ist also nur gerecht, wenn die Welt untergeht. Mag sie untergehen, es ist nicht schade um sie.“
„Matt“, sagte de Foix mit Siegerstimme und schob den Turm vor. „Wir spielen noch eine Partie“, antwortete d’Armaillac. „Ich hätte nicht verloren, wenn der da nicht so viel geschwätzt hätte.“ Geza Sukki de Szuha gähnte laut, und da der Wind inzwischen nachgelassen hatte, ging er vor das Haus, um zu sehen, was sich draußen abspiele. Gyor Bacocz und Imbram Strzegonia folgten ihm. „Er greint, die Welt sei alt und verdorben“, erklärte ihnen der Gaugraf. „Nun ja, er sitzt hier in dieser Einöde, da ist es kein Wunder, wenn sich ihm der Verstand verwirrt hat.“ Zu ihrem Erstaunen hatte sich der Wind immer mehr gelegt. Die graue Wolkendecke riß auf und enthüllte die unendlich ferne, reine Tiefe des Himmels in ihrem kalten, bald grün–, bald blauschimmernden Glanz. Jetzt überzog sich das Grün am Rande mit einem rosenfarbenen Streifen, der seinen Widerschein auf die mit frischem Neuschnee bedeckten Berge warf. Den Worten des Abtes zum Trotz, wirkten die schwarzen felsigen Bergspitzen, der weiße Schnee, die kühle Himmelsfläche wie etwas gänzlich Neues, wie ein soeben auf Gottes Geheiß aus dem Chaos aufgestiegenes Wunder, wie ein unbeschriebenes Blatt, auf dem erst die Geschichte der Welt festgehalten werden sollte. Die seltsame Welt, die sich hier vor ihm ausbreitete, erfüllte Imbram mit tiefer Unruhe. Er verstand nichts von dem, was der Abt gesagt hatte, weder jetzt noch vorher, obwohl es Mojmir ja übersetzt hatte. Alles hier war ihm fremd und voller Rätsel nicht nur das Gebirge, sondern auch die Menschen und ihre Worte und Gedanken. Er fühlte sich verloren und unglücklich. Zum tausendsten Mal bereute er bitter, seiner Heimat den Rücken gekehrt zu haben. Wäre er nur in Ungarn geblieben, hätte sich gewiß schon Gelegenheit geboten, nach Schlesien zurückzukehren. Aber was half es, darüber nachzudenken? Statt immer so sanft und nachgiebig zu sein, hätte er sich damals den Brüdern widersetzen, gar nicht erst fortziehen, sondern sich mit dem Fürsten einigen und ruhig daheim bleiben sollen. Daheim! Wie durch eine Beschwörung herbeigerufen, stand ihm sein verlassenes Vaterhaus vor Augen. Die Feldarbeiten waren
gewiß schon beendet … Nun begannen die langen Herbstabende, an denen die Spindeln surrten. Die finsteren, nebligen Abende, vor denen sich Ofka so fürchtete. Auch er, Imbram, kannte dieses Schauergefühl während der Herbstabende, wenn sich die verstorbenen Ahnen aus den Gräbern und dem Dickicht erhoben, die Wände entlang wanderten und an das ihnen zustehende feierliche Totenamt erinnerten. Die Angst ging dann im Hause um, und obwohl es durch die gebleichten Pferdeschädel geschützt war, die vom Zaun in die tiefe Nacht glotzten, wich sie nicht von den Menschen. Die Tiere kannten dieses Grauen nicht. Der alte bärtige Auerochs schlief sicher und ruhig auf einer Lichtung mit dem Rücken an einen Baumstumpf gelehnt. Der Fisch schlummerte im Schlamm. Die Füchsin, das Eichhorn oder die Vögel in den Nestern erschraken nicht vor den Nachtgespenstern. Nur der Mensch, der Herr der Schöpfung, fühlte das Unbekannte und erbebte davor. … Ofka, die zarte, zerbrechliche Ofka mit den flachsblonden Haaren und den von Tränen geröteten Augen, verzehrte sich wohl vor Angst und Sehnsucht auf ihrem einsamen Lager. Wer wird dich beruhigen, meine Liebste, wer wird dich trösten? Dein Mann und Freund ist in eine fremde, unbegreifliche Welt verschlagen und fühlt sich ebenso ratlos, verängstigt und schwach wie du …
SIEBENTES KAPITEL Welches vom Zug der braven schlesischen Krieger durch das fremde Land Provence erzählt
Die vergoldete Hand, das Zeichen der königlichen Macht, das auf
einem Lanzenschaft dem Zug der ungarischen Gesandten vorangetragen wurde, funkelte im Sonnenlicht. Auf den weißen Kalkfelsen, die überall unter der Erdschicht hervortraten, sonnten sich die Eidechsen. Die Erde, rot wie der Satz auf dem Grund eines Weinfasses, wirkte gegen das bleiche Gestein wie geronnenes Blut auf einem kahlen Schädel. Zikaden zirpten unaufhörlich ihre Melodie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Man hätte glauben können, dies sei die Stimme der Erde selbst, der alten, reichen Erde der Mittelmeerküste. Auf diesen fruchtbaren Landstrichen wuchsen ausgedehnte Eichenwälder, die freilich anders aussahen als die an Oder und Weichsel. Die Eichen blieben hier niedriger und hatten spitze Blätter, die hart und zäh wie Leder waren. Außer diesen Eichenwäldern bedeckten Oliven– und Feigenhaine das Land. Die dunkelvioletten, mit lauter Süße angefüllten Feigen lösten sich von den Zweigen und zerplatzten mit dumpfem Knall auf der Erde. Wo kein Oliven– oder Feigenbaum wuchs und auch keine Eiche Wurzel geschlagen hatte, bedeckten in einem dichten Buschwerk immergrüne Macchien den Boden, ein Gewirr duftender Strauchgewächse mit überdauernden Blättern. Die zollangen Dornen und die schmalen, feinen Blätter vereinigten sich zu einer undurchdringlichen Hecke, die weder Mensch noch Tier hindurchließ. Wenn über dem Mittelmeerbecken, diesem Zentrum der alten Welt, wo die Geschichte der europäischen Völker ihren Anfang genommen hatte, der Frühling mit seinem ersten Hauch einzog,
blühten die Macchien gleich einem klösterlichen Ziergarten. Die Blüten des Ziströschens, die denen der Wildrose gleichen, leuchteten hell, die blassen, matt schimmernden Dolden des Goldregens wallten wie Sonnenstrahlen herab, während der Buchsbaum in tiefem Dunkelgrün erglänzte. Wo nur ein Fleckchen Erde frei von Gestrüpp war, breitete sich ein Teppich wilder Tulpen, Hyazinthen und Safran aus. Schön wie ein Traumland war dann die Provence. Wenn aber der heiße, trockene, langandauernde Sommer das Gras verbrannte, wenn vom Macchiengebüsch die Blüten fielen und die Dornen enthüllten, Staub das glänzend grüne Laub bedeckte, die Ölbäume grau wurden und sich nur die Erde noch rötete, wenn die Haine vergilbten und die Zikaden ihre wehmütigen Zaubergeigen erklingen ließen — dann erschien die Welt alt und müde, gebeugt unter der Last vergangener Zeiten und Völker und ihrer Götterkulte, wie sie der Abt des Gebirgsklosters geschildert hatte. Die Wanderer, die die Landstraßen daherkamen, die seit den Tagen der Römer dieses Land kreuz und quer durchzogen, blickten erstaunt auf die Trümmer der am Boden liegenden Statuen, die Spuren untergegangener Religionen. Verunstaltet und unansehnlich leuchtete im Schatten der Macchien ihr gelblich–weißer Marmor, der sich von dem blassen Kalkstein deutlich unterschied. Hier und da, auf den unbewaldeten, vom Thymian überwachsenen Hügeln, erhoben sich die Ruinen eines Bauwerkes. Säulen, wie Blumenstengel schlank, auf denen ein verzierter Architrav ruhte. Alles war aus Stein, aus dem gleichen Marmor, der im Schatten golden und im Sonnenlicht rosenfarben schimmerte. „Heidnische Tempel und Götter aus der Zeit der Römerherrschaft“, hatte Herr de Foix zu seinen Begleitern gesagt und unwillig ausgespuckt. Die schlesischen Ritter jedoch betrachteten alle diese Dinge mit unverhohlener Neugier. Diese Götter sahen nicht im entferntesten den Holzklötzen oder ungefügen Steinfiguren ähnlich, die früher in ihren Urwäldern verehrt worden waren. Sie hatten nichts mit dem
plumpen Triglaw gemein, dessen Bild, in der Faulhöhle einer riesigen Eiche verborgen, dem aufmerksamen Blick des heiligen Otto nicht entgangen war. Die zahlreichen Kapellen an den Straßen hier waren fast ausschließlich aus den Trümmern solcher alter Tempel und Kultstätten erbaut worden. Aus dem einfachen, rohen Bauwerk mit dem klobig errichteten Gewölbe, aus der dicken Schicht des aufgeworfenen Putzes ragten die reichen Kapitäle mit den herrlich gemeißelten Ornamenten und die Zierformen der Akanthusblätter hervor. Dazwischen hielt unter dem schweren Bogen des romanischen Portals der Schutzheilige der nächsten Siedlung Wache. Er stand steif, unbeugsam und ernst da, ganz im Gegensatz zu den anmutig lächelnden Standbildern, die hier und da unter dem bröckelnden Putz hervortraten. Er blickte, in tiefes Nachdenken versunken, vor sich hin: der gute Bischof Martin, Lambert, Gilles oder Mamertus. Doch die Menschen, die ihm ehrfürchtig entgegentraten, waren vielleicht dieselben, die sich schon bald darauf zu den gestürzten Götzen im Walde begaben, um sich vor ihnen zu verneigen. Das Christentum hatte hier früh Eingang gefunden und am stärksten Fuß gefaßt, gleichzeitig aber blühte noch lebendig das alte Heidentum weiter, als hätte dieses, an Gaben der Erde wie an Erfahrungen so reiche Land Raum genug für alle Glaubensbekenntnisse und für alle Gottheiten. Die breiten, schräg geriefelten Platten der Cäsaren–Straße wölbten sich, von den Wurzeln der am Wegesrand stehenden Bäume gehoben oder von der Kraft der Erde gesprengt. Es war daher gefährlich, sie zu befahren, besonders bei Nacht. Seit vielen Jahrhunderten hatte sich niemand um diese Straße gekümmert, es gab keinen Aufseher außer diesem einen Beschützer, dem steinernen Heiligen in einer kleinen Kapelle. Die Brücken, die sich in kühnen römischen Bögen über die Flüsse und die durch Schluchten fließenden Bäche spannten, wurden von überaus prächtig geschmückten Kapellen bewacht. Die steinerne Brückendecke war stark abgenutzt und wies an vielen Stellen
Löcher auf, die für Pferd und Reiter gefährlich werden konnten. Aus der Ferne schienen diese Brücken mit ihren kräftigen Umrissen durchaus zuverlässig, in Wirklichkeit aber war fast keine mehr für den Verkehr geeignet. Obwohl die Kirche feierlich versprach, jedem die Sünden zu vergeben, der eine Brücke ausbesserte, suchten die Menschen doch lieber eine Furt in der Nähe der Landstraße oder bauten eine Fähre. Umsonst die Tafeln an den Brückenkapellen mit ihrem Versprechen, jeder, der auch nur einen Stein zur Ausbesserung der Brücke herbeischaffe, sei gesegnet und erwerbe hohes Verdienst. Das mühselige Einmeißeln dieser Inschriften war völlig nutzlos. Außerdem, wer von den Vorüberziehenden konnte denn schon lesen? Nur die Ordensbrüder oder die Ritter, aber diese wiederum waren zu keinerlei körperlicher Arbeit aufgelegt oder gar verpflichtet. An den Furten setzten sich die Zolleinnehmer fest und erhoben die Maut. Viel zuviel Mautner gab es. Bischöfe, Äbte, Adlige, alle forderten den Vorüberziehenden einen Zoll ab, dessen Höhe sie nach eigenem Ermessen festsetzten. Dafür freilich sollte der Zolleinnehmer verpflichtet sein, die Straße in ordentlichem Zustand zu halten und Wegelagerer zu vertreiben. Doch obwohl er niemals versäumte, die Maut zu erheben, ließ er sich wegen der Sicherheit der Reisenden keine grauen Haare wachsen. Nach dem geltenden Recht brauchten Ritter und Geistliche für die Durchfahrt überhaupt keine Abgabe zu entrichten, Diener und unfreies, umherwanderndes Volk nur die Hälfte der festgelegten Summe. Berittene oder Reisende mit Wagen zahlten die volle Gebühr, Kaufleute sogar die doppelte und Juden die vierfache. Diese Abgabe wurde nur selten in Geld entrichtet. Die Zöllner zogen es vor, die Maut in Naturalien zu erheben, wobei der Mautner das Recht hatte, bei einer Weinladung alle Fässer zu öffnen und jedem eine Kostprobe zu entnehmen, um nach reichlichem Probieren mit seinen Freunden entscheiden zu können, welches Faß er für sich behalten wolle. Dasselbe traf auch auf andere Waren wie Honig, Fische, Leder, Stoff– und Seidenballen zu, von denen sich
der Einnehmer häufig einen Streifen aus der Mitte des Ballens schneiden ließ. Da weder die steinernen Heiligen noch die lebendigen Mautner für die Sicherheit der Straße bürgten, und in dem undurchdringlichen Macchiengestrüpp Räuberbanden, die die Wagen der Kaufleute überfielen, ihr Unwesen trieben, wagten immer weniger Menschen mit Waren umherzureisen. Die einst verkehrsreiche Straße verödete, und die Städte, die zur Zeit der Römerherrschaft wegen ihrer Macht und Kultur berühmt waren, verfielen. „… es ist noch keinen Monat her, daß ein braver Christ mit einem Wagen, beladen mit Gewürzen von der anderen Seite des Meeres, auf der Straße nach Toulouse von Räubern überfallen wurde … Da sich das in der Nähe einer Burg ereignete, gingen wir zu dem Burgherrn und beklagten uns über den frechen Überfall der Briganten in unmittelbarer Nähe seines Kastells. Der Herr fragte: ‚Wann war denn das?‘ ‚Als man gerade den Angelus läutete …‘ Er winkte ab. ‚Wenn sich dieses erst nach Sonnenuntergang ereignet hat, so kümmert es mich nicht. Ich bewache die Straße am Tage und nicht in der Nacht.‘ Dann schickte er uns fort. Wir erreichten nicht einmal, daß er die Maut zurückerstattete …“ erzählte grollend ein Pariser Kaufmann, der unterwegs zu dem Zuge gestoßen war. Freilich berichtete er dies nicht den Rittern, die keine Bekanntschaft mit ihm geschlossen hätten, sondern dem Knappen des Herrn de Foix, einem Saint Pierre de Luz. „Haha! Wenn zu Angelus geläutet wird, ist bei ihm schon Nacht! Vielleicht war er selbst mit den Wegelagerern im Bunde“, rief de Luz lachend. Imbram Strzegonia und Jasiek Zawora, denen d’Armaillac im vergangenen Monat das provenzalische Latein, die internationale Sprache der Ritterschaft, leidlich beigebracht hatte, schauten den Sprecher verwundert an. „Sollte ein Ritter, wie Ihr sagt, mit Räubern gemeinsame Sache machen?“
„Warum denn nicht? Das ist keine Seltenheit! Herr de Leonnais, der Vetter des Königs, besitzt an der Küste seines Landes einen Felsen. Diesen Felsen nennt er die ‚Perle seiner Besitztümer‘. In Sturmnächten müssen seine Leute an der Küste Feuer entzünden. Damit locken sie die Schiffe an den Felsen heran, an dem sie zerschellen, und das Strandgut gehört dann dem Herrn de Leonnais. Herr de Charpentier, ein Neffe des Königs, macht es anders. Erst nötigt er den Reisenden die Maut ab, um sie dann mit seinen Spießgesellen zu überfallen und ihnen auch das übrige wegzunehmen …“ Imbram war empört. Aber de Foix erklärte mit Würde: „Ritter überfällt er ja nicht!“ „Freilich, freilich“, murmelte de Luz belustigt. „Aus welchem Grunde sollte er auch die Ritter behelligen? Da müßte er ja den Verstand verloren haben. Die ganze Gegend würde er damit in Aufruhr bringen. Ritter und Geistliche werden von Straßenräubern niemals überfallen. Für den Kaufmann setzt sich keiner ein, den Rittern eilen aber alle Edlen zu Hilfe und ruhen nicht eher, bis die Übeltäter ergriffen und bei lebendigem Leibe gevierteilt sind …“ Obwohl de Luz das Amt eines Knappen bekleidete, war er bereits ein reifer Mann mit stark angegrautem Haar. Er stammte aus einem vornehmen Geschlecht, war aber trotz seiner großen Vorzüge und seiner Bekanntschaft mit Herrn de Foix bisher noch nicht zum Ritter geschlagen worden. So nahm er eine Stellung ein, die zwischen der eines Freundes und der eines Dieners lag. Darunter litt er sehr und versuchte, durch Scherze und Selbstverspottung darüber hinwegzukommen. „Mein Herr ist ein Vasall des Grafen von St. Gilles“, sagte er des öfteren zu den Strzegonias, „aber das ist kein Makel, denn Raimund ist königlichen Geblütes … Ich dagegen bin ein Vasall eines Herrn, dessen Geschlecht geringer ist als das der de Luz … Aber es ist nicht zu ändern … Aus Sehnsucht nach dem Gurt ist mir schon der Leib eingefallen. Doch ich werde ihn wohl nie zu sehen bekommen. Mein Leben lang werde ich als Knappe umherziehen.“
„Hattet Ihr keine Gelegenheit, Euch durch Mut hervorzutun?“ fragte Zbylut ungläubig. De Luz lachte bitter auf. „Gelegenheit schon! Mehr als Haare auf dem Kopf! Fragt einmal de Foix … Aber was nützte mir das? Tapferkeit allein genügt nicht, und auch nicht die Abstammung … ein kleines Besitztum müßte man haben. Das kostspieligste auf der Welt ist, Ritter zu sein. Nur der Reichtum entscheidet über die Bedeutung eines Geschlechtes. Daher werdet Ihr in Toulouse eine Menge betagter, aber unbemittelter Knappen sehen, die niemals den Gurt tragen werden, weil sie sich ihn einfach nicht leisten können.“ Da die Zuhörer seine Ausführungen nicht verstanden, wurde de Luz ungeduldig. „Wovon soll denn ein Ritter leben? Die Ländereien sind schon so mager geworden, daß sie kaum mehr einen Ertrag bringen … Auch ein Krieg bringt immer weniger ein … Ihr wundert Euch, daß die Ritter mit den Räubern gemeinsame Sache machen, was sollen sie denn sonst tun? Für den Ritter schickt es sich nicht, auch nur einen Finger zu krümmen, ihm geziemt nur Jagd und Krieg … Es muß also ein zum Ritter geschlagener entweder ruhig auf seiner Burg sitzen, ungewürztes Wildbret und Gerstenfladen essen oder auf irgendeine Weise zu Geld kommen, um mit Gefolge zu einem Hof zu ziehen, wo es Turniere, Karussellreiten, Ringelrennen, Verse, Gesänge, Musik und höfische Sitten gibt, wo Leben herrscht. Irgendein Schreiber hat zwar nachgewiesen, daß ein Ritter auf seiner Burg zwölf angenehmen Vergnügen frönt: Jagd, Fechten, Schachspiel, Fressen, Trinken, die Mägde seiner Gattin, Taschenspielerei, Bärenhatz mit Hunden im Burghof, Wärmen am Kamin, Richten der Untertanen, Aderlasse im Frühjahr und müßiges Zuschauen, wenn der Schnee fällt … Aber das alles ist viel zuwenig, mein Lieber! In die Welt zieht es jeden, aber zum Hinausziehen braucht man Geld.“ Sie hörten mit wachsendem Unverständnis zu und glaubten schon, es läge daran, daß sie die Sprache nur ungenügend beherrschten;
denn es fiel ihnen schwer, zu begreifen, was de Luz da sagte. Was sollte die Aufzählung so einfacher, selbstverständlicher Dinge wie es die Jagd oder der warme Ofen im Winter waren? Weshalb sprach er nicht von den wirklichen Freuden, von der Saat, von der Ernte und deren Einbringung? „Bei uns kümmert sich kein Burgherr um Bauernarbeiten, er kennt sie nicht einmal“, entgegnete de Luz mit einer gewissen Überheblichkeit, als er merkte, was die andern meinten. „Dazu sind die Pächter da. Sie zahlen dem Herrn für das Ackerland Pachtgeld, und zwar ziemlich viel …“ „Wenn es sich so verhält, weshalb sagtet Ihr dann, auf den Burgen sei das Geld knapp?“ „Weil der Herr meistens die Pacht im voraus, das heißt für zehn Jahre und darüber, vom Pächter einzieht. Das ist dann im Handumdrehen ausgegeben.“ Unter solchen Reden zogen sie gemeinsam der Stadt Clermont entgegen, wohin für den kommenden Monat Papst Urban II. ein Konzil einberufen hatte. Schon am Monte Jovis hatten sie aus der Unterhaltung erfahren, daß Robert, der Großvater des Herrn de Foix, im Jahre des Herrn eintausendundfünfzehn während der Kämpfe Bolesław Chrobrys mit Kaiser Heinrich II. an der Oder gefallen war. Von diesen Kämpfen hatte sich in den westlichen Ländern die Kunde erhalten. Man gedachte bis auf den heutigen Tag mit Anerkennung derer, die sich mit dem unbesiegbaren, kriegerischen Volk in der Fremde gemessen hatten. Als die Ritter de Foix und d’Armaillac vernahmen, daß ihre Begleiter eben jenem Stamm der Krieger Chrobrys angehörten, bezeigten sie dem polnischen Gefolge Freundschaft und Achtung. In bunter Folge zogen Polen, Ungarn und Provenzalen gemächlich die breite römische Straße dahin. Zur Unterhaltung tauschten die Ritter ihre Meinungen über die ihnen bekannten Könige, Fürsten und Länder aus. Oft stimmten sie in der Beurteilung einzelner Herrscher überein. So waren sie sich auch über den ungarischen König Włodzisław einig, den die Sänger als einen prangenden
Morgenstern priesen und dessen goldene Hand an der Spitze des Zuges erglänzte. Die gleiche Meinung vertraten sie, als sie auf den einst so stolzen Kaiser Heinrich IV. zu sprechen kamen, der dreifach entehrt worden war: durch den Papst, durch seine Gattin, die verlogene, alberne Adelaide Praxedis, und durch seinen geliebten Sohn Konrad. Auch über den leichtsinnigen französischen König Philipp, den der Bann getroffen hatte, weil er seine rechtmäßige Gattin Bertha vertrieben und die schöne, aber sittenlose Bertrade, Gattin des Herrn de Montfort, genommen hatte, waren sie gleicher Ansicht. „Dieser Philipp“, sagte d’Armaillac, „besitzt zwar die Krone, aber es fehlt ihm der dazugehörige Mantel. Nur Paris und einige in der Nähe liegende Stützpunkte sind ihm geblieben. Und selbst aus Paris können ihn die Normannen jeden Augenblick vertreiben …“ Nun kam das Gespräch auf den soeben verstorbenen Wilhelm, den Bastard, den man auch den Eroberer genannt hatte, den schrecklichen Herrn der Normandie, auf dessen Söhne und die anderen Fürsten und Barone, die das alte Gallien Cäsars in einige kleinere Staaten aufgeteilt hatten und einander heftig befehdeten. „Sie sind reich, hochmütig und mächtig“, gab d’Armaillac zu, „aber einen solchen Herrscher wie unseren Raimund, der ein Vorbild des Rittertums ist, wie Toulouse oder die Provence der Spiegel und das Herz der Welt, gibt es unter ihnen nicht. Weder der flandrische Herrscher mit seinen Friesen noch der burgundische, selbst die unausstehlichen Normannen könnten sich mit ihm nicht messen … Philipps Bruder Hugo wiederum ist ein Faulpelz. Stephan von Blois, der soviel Burgen besitzt wie Tage im Jahr, ist gebildet, aber ein Feigling. Gottfried von Lothringen, aus dem Hause Bouillon, ist ein richtiger Mönch, der nur ans Beten denkt; man spricht davon, daß er noch kein Weib erkannt habe … Die einen erzählen, er habe ein Gelübde abgelegt, die anderen meinen, seine Schwägerin, Balduins Gattin, habe es ihm angetan …“ „Liebt er sie denn?“
„Wahrscheinlich nicht, denn sie ist eine Hexe, ärger als der Teufel. Angeblich sollen sie sich früher einmal nahegestanden haben … Ganz gewiß werdet Ihr sie alle auf dem Konzil sehen. Clermont wird der Treffpunkt der Welt sein.“ Und in der Tat, Tausende von Menschen hatten das gleiche Reiseziel wie sie. In Scharen kamen sie aus den Siedlungen, den Gehöften und den Kastellen. Viele dieser Kastelle waren nach dem Muster der römischen castra aus Stein erbaut, sehr zur Verwunderung der schlesischen Ritter. Die meisten Burgen jedoch unterschieden sich nicht wesentlich von den polnischen. Sie waren von einem tiefen Graben umgeben, dessen ausgehobene Erde man in der Mitte zu einem Wall geschichtet hatte. Auf diesem Wall erhob sich ein Palisadenzaun, und dahinter sah man ein Holzgebäude mit einem wuchtigen, zinnenbekrönten, quadratischen Turm. Der Eingang zum Turm, in dem sich schön ausgestattete Räume befanden, lag hoch über der Erde. Man gelangte nur hinauf, wenn man eine Leiter oder eine lange Laufbrücke anlegte. Die Umzäunung und der Turm waren mit braunen Fetzen behängt, die sich beim Näherkommen als Tierhäute erwiesen. Hier war es nämlich Brauch, während der Belagerung die Wände mit frischen Rinderhäuten zum Schutze gegen Feuersgefahr zu verkleiden. Das erschien den polnischen Rittern richtig und nachahmenswert. Ebenso zahlreich wie die Kastelle waren auch die Kleinstädte an der Straße. Doch in ihnen herrschten Not und Elend gleich einer hartnäckigen Seuche, deshalb machten sich die Menschen mit Freuden auf den Weg nach dem fernen, unbekannten Clermont, in der Hoffnung, es werde im Norden mehr Brot geben als hier. Wie sich ihr Schicksal durch das Konzil bessern könnte, wußten sie freilich nicht, dennoch folgten sie der Aufforderung der Pfarrer, Ordensbrüder und Wandermönche. Mit diesen Scharen zogen viele junge, kräftige Männer, die freiwillig die Knechtschaft auf sich nehmen wollten, und Cwała Oswienta, der sofort nach dem Abstieg vom Gebirge drei italienische Knechte in Dienst genommen hatte,
kam sein Handeln nun überstürzt und unklug vor. Hier hätte er doch kräftigere, pfiffigere Leute finden können … Seine Freiheit aufzugeben, konnte auf zwei Arten geschehen. Entweder stellte man sich unter die Befehlsgewalt eines Herrn oder man begab sich in eine bedingungslose Knechtschaft. Unter einer Befehlsgewalt konnten sogar verarmte Adlige stehen oder die sogenannten Ministerialen, die bei Geistlichen ihren Dienst verrichteten. Der Vertrag, der die Unterwerfung rechtsgültig machte, wurde vor einem Notar oder Gerichtsschreiber geschlossen. Er hatte folgenden Wortlaut: „Ich, … mit Namen, habe keinerlei Mittel, um mich selbst zu ernähren und zu bekleiden, stelle mich daher unter Euren Schutz und verspreche, Euch mein Leben lang zu dienen und aus freiem Willen gehorsam zu sein. Bis an mein Lebensende stehe ich unter Eurem Schutz und unter Eurer Fürsorge. Es sei denn, daß ich Euch ein Lösegeld — der Preis schwankte je nach Geschicklichkeit und Alter — für meinen Dienst zahle.“ Zwar war die Wahrscheinlichkeit, das Lösegeld aufzutreiben, gering. Ein solcher Vertrag barg jedoch eine kleine Hoffnung in sich, die Illusion, irgendwann die Freiheit wiederzuerlangen. Dagegen überantworteten sich diejenigen, die nicht hochgeboren waren, die sogenannten potestati, vorbehaltlos einem anderen als Eigentum und setzten ein ungeschicktes Kreuzchen — den Beweis für ihr Christentum — unter die Akte, die sie nicht einmal zu lesen vermochten, und die folgenden Wortlaut hatte: „Durch keinen Befehl gezwungen, vom eigenen Willen getrieben, beschließe ich, mich ganz in Eure Dienste zu stellen. Ihr könnt alles, was mit mir geschehen soll, Gottes Führung eingedenk, tun. Ihr besitzt alle Rechte, über meinen Körper und meine Seele zu verfügen. Dieser Verkauf und mein Wille sollen bis an mein Lebensende unwiderruflich bestehen bleiben …“ Die Schar der Reisenden rastete in den Schenken an der Straße, wo es in großen irdenen Krügen jungen, schäumenden Wein gab. Dagegen fehlte es an Bier und Met, und das war für die polnischen
Ritter eine wahre Pein. Als sie in diese südlichen Lande zogen, hatten sie gar nicht damit gerechnet, daß sie ihre geliebten heimatlichen Getränke entbehren sollten, die ihnen zum Leben ebenso unentbehrlich schienen wie der Schlaf oder das tägliche Brot. Nur mit Unbehagen und widerwillig gewöhnten sie sich an den Wein, den es hier in Hülle und Fülle gab. Dicht bei dicht standen die Weinstöcke auf der roten Erde, die auf dem felsigen Untergrund ruhte. Die Weinlese war schon längst vorbei, und nur hier und dort, an sonnenbeschienenen Hängen, hingen noch die schweren, duftenden Trauben an den Stöcken. Allerorts in den Dörfern zerstampfte man mit den Füßen die in den Bottichen durch längeres Liegen weich gewordenen Früchte. In der braunen, mit Luftblasen bedeckten Flüssigkeit standen die bis zu den Hüften aufgeschürzten Mägde, und ihre weißen Schenkel hoben sich schimmernd vom dunklen Grunde des Bottichs ab. Sie standen sich immer zu zweien gegenüber, hielten sich an den Armen, halb benebelt von dem Geruch des Mostes, der unter ihren Füßen aufspritzte. Als der Zug der Ritter auf der Straße näher rückte, stahl sich die Bevölkerung fast unbemerkt hinter die Häuser, konnte man doch niemals wissen, welchen Sinnes solche Herren waren. Ohne Scheu und Scham blieben nur die Weintreterinnen zurück, verrichteten scheinbar fleißig ihre Arbeit, blickten jedoch in Wirklichkeit neugierig immer wieder nach den Rittern. Die Provenzalen lachten und winkten ihnen zu, aber die ungarischen und polnischen Ritter wandten ärgerlich den Kopf zur Seite. Ein nacktes Frauenzimmer war gut im Bett oder im Bad, aber an der Straße war so etwas gleichbedeutend mit einer Dirne. Hier und da kamen sie in einer Kleinstadt gerade dazu, wie zu Ehren des alten römischen Weingottes Bacchus ein Fest gefeiert wurde. Auf einem Wagen, der von jungen, mit Ziegenfellen bekleideten Burschen gezogen wurde, saß ein älterer nackter Mann, der mit Weinlaub bekränzt war und einen gefüllten Weinkrug in der Hand hielt. Rings um den Wagen tollten mit Kränzen
geschmückte, völlig nackte Mädchen und klatschten sich in einer Art Tanz kreischend auf die Schenkel. Die sie begleitenden Hirten bliesen Rindentrompeten und spielten auf Flöten seltsame Weisen, deren Text und Sinn niemand mehr kannte. Diesen alten Brauch hatte man beibehalten, obwohl seine Herkunft unbekannt war und niemand mehr wußte, wen der auf dem Wagen sitzende alte Nackedei darstellen sollte. Das Volk konnte sich auch nicht erklären, weshalb die Pfarrer und die Ordensbrüder so furchtbar böse über diese Feier waren und den Teilnehmern an dem ausgelassenen Fest mit Höllenfeuer und ewiger Verdammnis drohten. Deshalb stoben auch die Beteiligten beim Widerhall der Hufschläge schnell auseinander und versteckten sich in dem dichten Gestrüpp am Rande der Straße. Dort schimmerte ihre Nacktheit durch das Grün, wie von leibhaftigen Nymphen und Satyrn. Sie schauten begierig auf das geräuschvoll vorbeiziehende, reiche und großartige Gefolge der Herren, auf die Falkner und den bekappten Falken auf ihrer Hand, auf die gekoppelten Hunde, auf die wie Spechte so bunt gekleidete Dienerschar, auf die Damen, die in kleinen, auf dem Pferderücken befestigten Lehnstühlen saßen und mit dem Saum ihrer Kleider und Ärmel den Boden streiften, auf die Damen der Edlen, die als Kopfputz ein hohes, spitzes Gerüst trugen, das mit einem langen, weißen Schleier bedeckt war. In dieser Tracht schienen sie unvergleichlich groß, schlank und stolz. Von ihrem Körper war, im Gegensatz zu den lebenslustigen, derben Mägden, die den Wein traten oder um den Bacchuswagen herumsprangen, nur der schmale Ausschnitt des Gesichts zu sehen, das von dem Gebende umschlossen war, sowie die Fingerspitzen, die aus dem langen, bis auf die Hand fallenden Ärmel hervorkamen. Die wie ein Dreieck in der weißen Umrahmung wirkenden Gesichter waren wachsbleich, die Augen kunstvoll mit schwarzer Schminke untermalt, der Mund klein und die Nase schmal. Die zarten weißen Finger mit den rotgefärbten Nägeln schienen an keine schwere Arbeit gewöhnt zu sein. Eingehüllt in schwere, eng anliegende Gewänder, waren diese
Burgfrauen etwas ganz Besonderes, und mit einem drallen, rührigen Weib, dem Gegenstand der Lust eines Kriegers, hatten sie nichts gemein. Deshalb blickten auch die schlesischen Ritter vielleicht mit größerer Verwunderung auf die Damen als jene Gaffer hinter den Büschen. Sie wurden neugierig, wollten wissen, wozu diese Geschöpfe erschaffen waren, ob man mit ihnen schlafen könne und ob sie weiblicher Natur seien oder nur zur Zierde dienten. Der darob befragte Herr de Foix antwortete hochmütig, daß die größte Lust im Verkehr mit diesen edlen Damen das Gespräch sei, das keine geringe Kunst darstelle und daher auch nicht mit jedem Beliebigen geführt werde. Diese Eröffnung schien den Herren aus dem Osten denn doch höchst verwunderlich. Worüber konnte man schon mit einer Frau sprechen? Das Weib war nicht zum Gespräch geschaffen! Die Glocken in dem nahen Kloster läuteten zum Abendgebet, als der Zug vor einem Wirtshaus Rast machte. Vor zwei Tagen hatten sie auf Fähren bei Avignon einen großen Strom, der Rhone genannt wurde, überquert, hatten zur linken Seite das herrliche, dichtbevölkerte Nimes von fern bewundert und waren das Tal in Richtung auf St. Etienne stromaufwärts gezogen. Das Wirtshaus war, wie der größte Teil der Häuser dieses Landes, aus den Ruinen eines Tempels oder eines römischen Palastes erbaut. Dicht über dem Erdboden ragte aus der Wand ein Säulenkapitäl hervor: Ein bärtiger steinerner Riese trug auf seinen gebeugten Schultern die Hausecke mit dem flachen Dach. In der offenen Tür der Schenke stand ein Ordensbruder. Er hatte eine schmale, eingefallene Brust und blickte anerkennend auf den Wirt, als dieser aus dem Hause einen Kübel rohen Fleisches zum nahe gelegenen Bach trug und den Inhalt mit einem Schwung ins Wasser kippte. „Ist es verdorben?“ fragte de Luz und ritt näher heran. „Keineswegs, Euer Gnaden, in meinem Hause brauche ich das gottlob nicht zu befürchten … Die Fastenzeit steht vor der Tür, und
darum ziemt es sich für einen rechten Christen nicht, Fleisch aufzubewahren. Mögen es die Fische fressen!“ „So ist es recht“, stimmte der Ordensbruder eilfertig zu. „Es ziemt sich nicht, Fleisch aufzubewahren, um nicht in Versuchung zu geraten … Am Freitag der vergangenen Woche haben hier Vaganten einen ganzen Ochsen gestohlen und ihn sofort verspeist, ohne sich um die Fastenzeit zu kümmern … Sie konnten sich nicht bis zum Sonntag enthalten!“ Er seufzte über diese Verderbtheit, verneigte sich vor den Ankömmlingen und ging sandalenklappernd davon. Die Ritter nahmen auf den Bänken Platz, die um einen Tisch vor der Tür des Hauses standen. „Du hast das Fleisch ins Wasser geworfen, uns aber knurrt der Magen“, bemerkte de Foix bitter. Der Wirt blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um. „Ich hole es gleich wieder hervor, Euer Gnaden. Ich habe dort unter dem Stein eine Höhle, in deren Kühle sich das Fleisch besser hält als im Hause …“ „So hättest du gleich reden sollen, weshalb betrügst du die Menschen?“ „Es ist immer ratsam, mit dem Kloster in gutem Einvernehmen zu leben, Euer Gnaden. Ich werde das Fleisch sofort wieder herbeischaffen!“ „Reich uns vorher Wein, aber vom besten!“ Der Wirt brachte Wein und irdene Becher. Durch das Stimmengewirr angelockt, trat aus dem Innern des Hauses ein hochgewachsener, schon angegrauter Ritter, der einen alten, abgenutzten Panzer und einen kostbaren Gurt trug. Er verneigte sich vor den Sitzenden und drehte seine Handflächen hin und her, zum Zeichen, daß er unbewaffnet sei und keine bösen Absichten habe. Die Ankömmlinge erhoben sich von den Plätzen und zeigten auf dieselbe Weise ihre flachen Hände als ehrlichen, ritterlichen Willkommensgruß.
„Ich bin Gouffier de la Tour“, sagte der Ritter. „Zieht Ihr nach Clermont?“ „Ja, wir ziehen gemeinsam nach Clermont“, erklärte de Foix. „Diese edlen Ritter hier stammen aus einem so fernen Lande, daß im Vergleich dazu Sachsen in greifbarer Nähe zu liegen scheint …“ De la Tour neigte anerkennend das Haupt. „Die ganze Welt zieht nach Clermont … ich auch, obwohl nicht aus so weiter Ferne. Aber, wo habt Ihr ihn gehört?“ „Wen?“ fragten sie erstaunt. „Denjenigen, welcher die Menschen nach Clermont ruft.“ „Papst Urban II.? Ist er denn schon hier?“ „Nein, nicht Papst Urban meine ich, sondern den Mönch Peter, der vergangenen Sonntag in Avignon gesprochen hat.“ „Wir haben nichts von ihm gehört!“ „Ihr habt nichts gehört?“ wiederholte Gouffier de la Tour ungläubig und blickte sie mit seinen kornblumenblauen Augen verwundert an. „Ihr habt ihn nicht gehört und zieht doch nach Clermont?“ „Diese edlen fremden Ritter sind mit einer Botschaft zum Heiligen Vater unterwegs, den sie dort anzutreffen hoffen. Wir aber müssen zu Raimund, dem Herrn von Toulouse, denn wir sind ja dessen brave Vasallen …“ „Und Ihr habt Euch nicht gewundert, ehrwürdige Herren, daß gleich Euch alle Welt nach Clermont strömt?“ „Ist nicht ein Konzil dorthin einberufen worden?“ De la Tour winkte ungeduldig mit der Hand ab. „… ein Konzil! Viele Konzile sind schon gehalten worden; zu keinem ist so viel Volk gezogen … denn er hat befohlen …“ „Dieser Mönch?“ „Ja, der Mönch Peter. Man weiß nicht, woher er stammt. Angeblich aus Amiens … Er ist klein, hager … trägt einen halb zerrissenen Mantel … die Kapuze hängt ihm bis auf die Fersen … und wenn er spricht, erstarren die Herzen der Menschen … Auch ich war starr vor Schreck …“
Alle, die am Tisch saßen, dachten bei sich, Herr de la Tour habe zu tief in den Becher geschaut, deshalb seien seine blauen Augen trübe und seine Worte unklar. Sie ließen sich ihre Vermutung aber nicht anmerken. „Wovon hat er denn gesprochen?“ fragte de la Foix höflich. „Nun, über Jerusalem! Über das Unrecht, das unserem Herrn Jesus Christus zugefügt wird! Das Herz blutet einem, wenn man das hört. Wir aber sitzen hier …“ „Eh!“ rief de Foix geringschätzig. „Er ist nicht der erste, der über Jerusalem spricht …“ „Ganz recht, Ihr guten Herren Brüder, schon so mancher hat davon berichtet, aber seitdem die Sarazenen das Heilige Land an sich gerissen haben, ist er der erste, der lebend von dort zurückgekehrt ist …“ „Ist er denn dort gewesen?!“ „Freilich war er da … mit seinen eigenen Augen hat er gesehen, wie schnöde unser Herr Jesus behandelt wird … Jetzt hat er allen befohlen, nach Clermont zu kommen … allen Christen … wozu, weiß ich nicht, aber wir werden es ja hören …“ Er neigte, in tiefe Gedanken versunken, seinen Kopf. Aus der offenen Tür klang das Klappern von Geschirr und der Geruch angebrannten Öls. Imbram Strzegonia erhob sich geräuschvoll, vor der Mahlzeit seine Glieder noch etwas zu strecken. Sein unzertrennlicher Freund, Jasiek Zawora, stand gleichfalls auf. Beide gingen einige Schritte zur Seite. „Er ist einem Dummkopf ins Garn gegangen“, bemerkte Imbram. „Hast du von seinem Gerede etwas verstanden?“ „Möge der Himmel einstürzen und die Lerchen erschlagen, wenn ich etwas verstanden habe! Aber sieh doch und staune!“ Sie hoben die Köpfe. Rauschend und schwirrend zog eine niedrige, dunkle Wolke heran. Sie kreiste über ihnen, wirbelte auf, senkte sich plötzlich auf die nahe Anhöhe hernieder und bedeckte diese im Augenblick mit einer dunklen, schillernden, flimmernden und zwitschernden Hülle.
„Schwalben!“ riefen beide verwundert aus. Schwalben, die blauschwarzen Segler mit der roten Kehle und dem weißen Leib … Das waren dieselben Schwalben, wie sie unter der Dachtraufe des schlesischen Gehöftes nisteten, die bei ihrer Jagd nach den Fliegen so manches Mal bis in den Flur flatterten, zwitschernd über die bescheidene Lagerstatt des alten Dominus flogen und schnell wieder zum Licht hin entwichen. Dieselben, die aus der Pfütze im Hof den Schlamm aufnahmen, damit ihre Nester an der Hauswand zu bauen. „Noch nie habe ich so viele Schwalben gesehen!“ rief Jasiek verwundert aus. „Sind die aber erschöpft! Schau, man könnte ganz leicht mit der Hand fangen …“ „Woher kommt denn diese große Menge?“ Gouffier de la Tour trat, als er ihre Ausrufe hörte, näher heran bekreuzigte sich. „Welches Wunder! Wirklich ein Wunder … sicher fliegen diese Vögel auch nach Clermont …“ Doch de Foix, d’Armaillac und die anderen klärten ihn darüber auf, daß sich zu dieser Jahreszeit ganze Schwärme von Vögeln zum Übernachten hier niederließen und die Knaben diese Gelegenheit ausnützten, die erschöpften Tiere in Schlingen zu fangen. Am anderen Morgen flögen die Tierchen wieder irgendwohin. Das wäre also ganz in der Ordnung und durchaus kein Wunder. Der Wirt, dem anzumerken war, daß er hierzu etwas sagen wollte, mischte sich, entgegen der Sitte, ungefragt in die Unterhaltung und berichtete, ein gelehrter Ordensbruder habe einst in der Herberge erzählt, diese Vögel verließen in Schwärmen die fernen nördlichen Länder vor der dortigen strengen Winterkälte und flögen über das Meer, von wo sie im Frühjahr in ihre Heimat zurückkehrten. „Das kann stimmen“, gab de Foix zu. … Aus fernen Ländern, vor der strengen Winterkälte … Also sicherlich auch aus Schlesien! Hatten die polnischen Herren denn nicht jeden Herbst gesehen, wie sich die Schwalben vor dem Abflug in Scharen sammelten und in dichten Schwärmen den First und die
Dachränder bevölkerten? So wie sich beim Gehöft die Schwalben anscheinend verständigten, hielten auch die Störche ihre Zusammenkünfte in den Brüchen, wo sie bald mit ausgebreiteten, ruhigen Schwingen in der blauen Luft kreisten, bald auf den Moorwiesen niedergingen. Dann flogen sie, ebenso wie die Kraniche, Enten und Gänse mit lautem Geschrei, Geschnatter und Geklapper gen Süden, um erst im Frühjahr wieder heimzukehren. Niemand kümmerte sich darum, wohin sie wanderten, sowie es auch keinem einfiel zu fragen, wo die Morgen– und die Abendröte herkomme und wohin der Winter seinen Auszug halte. Nur von den Schwalben wußten die Spinnerinnen daheim zu erzählen, daß sie der Sonne nachflögen und irgendwo unter dem Eise überwinterten. Und nun waren diese, ihnen so vertrauten Vögelchen bis nach dem Süden geflogen, waren am Rande der Felsen vorbeigezogen, über die Berge, deren Schrecknisse ihnen, den Rittern, nicht so bald aus dem Gedächtnis schwinden würden. Und noch weiter flogen sie, immer weiter, bis über das Meer … Imbram und Jasiek standen still und einträchtig beieinander und waren froh darüber, allein zu sein, sie, die angeblichen Wechselbälge von Elfen, die in den Augen der anderen so sonderbare Gefühlsregungen zeigten und deswegen häufig verspottet wurden. Inzwischen hatten ihre Gefährten schon längst damit begonnen, sich die reichlich mit Öl und Kräutern zubereiteten Fleischgerichte munden zu lassen. Sie beide, Imbram und Jasiek, aber fühlten, daß ihnen beim Anblick der erschöpften Tierchen etwas die Kehle zuschnürte. De la Tour trat jetzt an sie heran und blickte mit seinen milden blauen Augen auf den sich bewegenden sammetweichen Teppich. „Die armen, entkräfteten Geschöpfe“, sagte er, „aber Ihr werdet sehen, morgen fliegen sie gen Clermont … Denn es geschehen Zeichen und Wunder, große Wunder …“ Plötzlich erscholl ein Schrei: „O weh! Die Normannen kommen! Da, seht!“
„Wo?!“ „Dort in den Bergen! Das sind doch normannische Feldzeichen!“ Der Wirt verschwand mit hastigen Schritten im Hause. Zwei schwarzhaarige Mägde liefen mit bloßen Füßen herbei, um die Becher und Schüsseln mit den Fleischresten zusammenzuraffen. Die Ritter schnallten eiligst ihre Gurte zu, zogen die Schwerter und beobachteten aufmerksam die Ankömmlinge, die bereits von einer Anhöhe herabritten. Ein Wimpel mit dem Eroberungszeichen der Wikinger flatterte über ihren Köpfen. Sie hatten harte, hochmütige Gesichter, blaue Augen und rote Haare. Stolz sahen sie drein, als Eroberer der Welt, als Söhne des Meeres, die soeben England und Sizilien unterworfen und vor nicht allzu langer Zeit Gallien, Burgund und die Provence verwüstet hatten. Sie waren die Zerstörer der Kirchen, die Schänder der Reliquien. Hierzulande war noch in aller Erinnerung die überstürzte Verlagerung der über alles verehrten, heiligen Gebeine, der uralten Asche, die in höchster Verzweiflung von Kloster zu Kloster, von Kirche zu Kirche getragen wurden, ständig von den Eindringlingen verfolgt, die weniger von der Gier nach den Heiligtümern als vielmehr nach dem Gold und den Kleinodien der Reliquienschreine getrieben wurden. Heute waren sie scheinbar Verbündete, gute Nachbarn; aber die alte Feindschaft dauerte an, und die Herren de Foix, de la Tour, d’Armaillac und ihre Leute betrachteten die Heranrückenden mit Unwillen. Die polnischen Ritter wunderten sich hierüber, denn sie erblickten in den Normannen nichts Fremdes. Im Gegenteil, mit Erstaunen bemerkten sie, daß deren Zeichen genauso aussah wie das, welches den Herren Jaszczold als Stammeszeichen eigen war, diesen braven Rittern, von denen man erzählte, sie seien einmal vor langer, langer Zeit mit Schiffen über das Meer gekommen. Es geziemte sich aber nicht, dem Kampf auszuweichen. „Macht Platz in der Herberge für die rechten Vasallen des braven Ritters, des edlen Fürsten Robert Courte–Heuse, des Herrn der Normandie!“ rief einer der fünf normannischen Ritter schon von weitem. Doppelt so viele Knechte begleiteten sie.
„Das Wirtshaus ist von der rechtmäßigen Gesandtschaft des Königs von Ungarn, von den braven polnischen und provenzalischen Rittern belegt.“ „Wir werden schon für uns sorgen!“ „Bei den Wunden Christi, untersteht Euch!“ Die Normannen machten einige Schritte zurück, um sich Platz für den Angriff zu verschaffen. Die anderen bestiegen hurtig ihre Pferde, welche die Knechte schon herangeführt hatten, als sie sahen, was hier vor sich ging. Die Knappen ergriffen ihre Streitäxte und Schilde. Sie blieben in einer Reihe hinter den Pferden stehen und warteten kampflustig auf den Augenblick, wo die Herren aufeinanderstoßen und ihnen Gelegenheit geben würden, die breite, zweischneidige Streitaxt in den Schild des gegnerischen Knappen zu hauen. Hinter dem Rücken der Krieger wurden knallend die Fensterläden des Wirtshauses zugeschlagen. Die Mägde, die vorher Schüsseln und Becher weggeräumt hatten, sprangen zum Fenster hinaus, liefen zum Bach, den sie laut kreischend durchwateten, so als fühlten sie die triumphierende Faust des Feindes schon in ihrem Nacken, und versteckten sich im Walde. Der vor Angst schwitzende Wirt schob seinen runden Kopf durch die Öffnung des Rauchfanges. Mit schnellem Griff ließen die Ritter den Nasenschutz an ihren Helmen herunter. Mit der halb an das Ohr des Pferdes angelegten Lanze warteten die Normannen, der Sitte gemäß, bis die Gegner kampfbereit waren. Diese standen bereits in einer Reihe, in lockerer Streitordnung, die Gatter genannt wurde. Nur die Ungarn mit ihrem Führer, dem Gaugrafen Geza Sukki de Szuho und der erhobenen Hand, stellten sich etwas abseits in Bereitschaft auf, da sie, solange die Botschaft nicht ausgerichtet war, nicht kämpfen durften. „Bei Gott, seid Ihr bereit?!“ „Wir sind es, bei Gott!“ Die Ritter drückten den Rossen die Sporen in die Weichen und stürmten aufeinander los. Doch ehe sie sich noch mit den Lanzen berührt hatten, dröhnten von der Seite her Hufschläge. Auf einem
mächtigen schwarzbraunen Hengst sprengte der Bischof Albert von Nimes heran, den Bischofsstab hoch in der Luft schwingend. Ihm folgte eine Menge Fußvolk und Berittener, die eilige Truppe des Friedens, die aus verarmten Rittern zu Pferde und Knechten zu Fuß bestand, einem Gesindel, das nur dürftig oder überhaupt nicht bewaffnet war. Sie drängten sich keilförmig zwischen die Gegner, ohne darauf zu achten, daß sie von beiden Seiten niedergetreten oder durchbohrt werden konnten. „Haltet ein! Treuga Dei!“ rief mit Stentorstimme der Bischof. „Im Namen unseres Herrn Jesus Christus und dessen Statthalters auf Erden, Papst Urban II. — haltet ein!“ „Mach, daß du fortkommst, Bischof, aber schnell, sonst durchbohren wir dich!“ schrien die normannischen Ritter drohend. „Wir brauchen keine Beschützer!“ riefen die ergrimmten Provenzalen, „wir helfen uns schon selbst!“ „Treuga Dei!“ wiederholte der Bischof zornig, und da er außergewöhnliche Kräfte besaß, schlug er mit der Hand die angelegten Lanzen in die Höhe. „Seit wann herrscht auch am Donnerstag die Treuga Dei?“ „Der Freitag hat bereits begonnen! Es ist schon Ave geläutet worden! Richtet die Lanzen auf! Seid Ihr Christen oder Heiden? Anstatt gemeinsam nach Clermont zu ziehen, streitet Ihr hier miteinander!“ „Nach Clermont!“ wiederholte de la Tour und hob als erster seine Lanze. „Wir ziehen ebenfalls nach Clermont“, gaben die Normannen widerwillig zu. „Warum habt Ihr diesen Streit begonnen?“ „Sie wollen das Wirtshaus nicht räumen …“ „Übernachtet bei mir, ich lade Euch herzlich ein …“ Langsam und mit unverhohlenem Bedauern richteten die Ritter die Lanzen auf und stießen sie mit den Schaftenden in den Boden. Das bedeutete, daß sie nicht miteinander kämpfen wollten, zumindest nicht jetzt. Die Knappen hängten unwillig ihre Streitäxte an den
Leibriemen und warfen sich den Schild über den Rücken. Der Bischof segnete die Auseinandergehenden. Mit der Hand nach Norden weisend, rief er noch einmal: „Auf, nach Clermont!“ Die Abendröte übergoß die grauen provenzalischen Olivenhaine mit einem rosagoldenen Schein. Die polnischen Schwalben hatten ihre müden Flügelchen auf den Rasen gebreitet und bedeckten den Platz wie ein Teppich. Beide Ritterscharen waren bereits in der Ferne verschwunden. Auch der Bischof zog befriedigt von dannen. Vor dem Wirtshaus blieben nur die Männer der heiligen Truppe. Voller Freude, daß sie den Frieden gerettet hatten, forderten sie den Wirt grölend auf, Wein einzuschenken. Als dieser jedoch zögerte, weil er befürchtete, der große Haufe werde die Zeche nicht bezahlen, hoben sie mit vereinten Kräften die Tür aus den Angeln und plünderten den Keller. In ihrer Gier zerschlugen sie im Gedränge die Becher und setzten sich dann johlend an die Tische. Der Wirt floh durch die Hintertür, watete wie die Mägde durch den Bach und verbarg sich im Dickicht. Hier fluchte er, raufte sich die Haare, verwünschte die ganze Welt, die Ritter, den Bischof und besonders die heilige Truppe …
ACHTES KAPITEL Vom Gottesmann Peter von Amiens und vielen Herren, Rittern, Baronen und Fürsten, die aus aller Welt zum Konzil nach Clermont kamen
Imbram kehrte dem armen, abgemagerten Burschen unbarmherzig
den Rücken zu. Doch der Junge ließ nicht von ihm ab, denn er glaubte, so etwas wie wohlwollende Teilnahme in den Augen des Ritters entdeckt zu haben. Er lief nun unermüdlich mit flehentlich erhobenen Augen und Händen neben ihm her, jeden Augenblick bereit, schnell zur Seite ins Dickicht zu springen, wenn der hinter ihm reitende Knecht zum Schlag ausholen würde. „… ich werde meine Hände nicht schonen, und Bekleidung braucht Ihr mir nicht zu geben … nur fürs Essen, Herr, fürs Essen …!“ „Ich habe Diener genug“, erwiderte Imbram ungeduldig. Aber die Geste, die diese Worte begleitete, war anscheinend nicht abweisend genug, denn der Bursche wiederholte seine Bitte und verschluckte sich sogar dabei. „So einen Diener, wie ich es sein werde, habt Ihr nicht, ehrwürdiger Herr! Ich werde mich auf Lebendige und Tote stürzen, ins Feuer oder ins Wasser … für ein einziges Essen … fürs Essen …!“ „Kann denn niemand diese jämmerlichen Kerle verjagen!“ rief zornig der weiter vorn reitende Zbylut. Bevor die Knechte diesem Befehl nachkommen konnten, und sie hätten ihn gern ausgeführt, hielt sie Imbram mit der Hand zurück. Vor Erbitterung gegen seinen Bruder stieg ihm die Röte ins Gesicht. Warum mischte er sich denn ein? „Wenn es mir paßt, vertreibe ich ihn schon selbst. Er belästigt ja nur mich …“ „Wirst du denn mit ihm fertig?“ stichelte Zbylut. „Sieh mal an, wie streng du bist. Warum läßt du dir das gefallen?“
„Weil ich mir überlege, ob ich ihn nicht doch als Knecht annehmen soll“, erwiderte Imbram trotzig, obwohl er keineswegs daran gedacht hatte. „Hast ja zwei, das ist doch schon viel zuviel.“ „Keineswegs … ich könnte noch gut einen dritten brauchen.“ Der arme Bursche ließ ihn nicht aus den Augen und flehte mit doppeltem Eifer: „Nehmt mich, Herr, ich stamme von Freien ab, bin aus gutem Geschlecht … Ihr werdet sehen, wie ich Euch dienen werde … Ihr werdet es sehen …“ „Ich habe kein Pferd für dich“, murmelte Imbram. Er ärgerte sich über seinen Bruder und über sich selbst. Er hätte dem Burschen eine Münze hinwerfen und sich nicht erst in eine Unterhaltung mit ihm einlassen sollen. „Ich werde neben dem Pferd herlaufen, ich bin ein guter Läufer, Herr!“ „Du wirst nicht Schritt halten können, wir reiten weit …“ „Ich werde es schaffen, Herr. Ich werde es schon schaffen …“ Imbram kaute unwillig an seinem Schnurrbart. Er fühlte den höhnischen Blick Zbyluts auf sich ruhen, der ihn in seiner Verlegenheit zu durchschauen schien. Er war mit sich selbst unzufrieden und handelte jetzt aus Trotz. „Wenn du Schritt halten kannst, so magst du bleiben“, sagte er von oben herab. „Du bekommst Essen und Bekleidung wie meine anderen Knechte.“ Ohne ein Wort zu sagen, näherte sich der Bursche jetzt, um dem Ritter die Stiefel zu küssen. Aus seinen tiefliegenden schwarzen Augen blickte er Imbram mit aufrichtiger Dankbarkeit an, so daß dieser unwillkürlich gerührt wurde und, wie gewöhnlich in solchen Fällen, ohne zu wissen warum, an seinen kleinen Sohn und Ofka denken mußte. „Wie heißt du?“ „Benito, Herr.“ „He, he“, rief Zbylut durch die an den Mund gelegten Hände.
„Können wir denn nicht schneller reiten? Es ist ja langweilig, sich in solch einem Schneckentempo zu bewegen!“ „Ganz recht!“ antwortete einer der vorn reitenden ungarischen Ritter. Es kam Bewegung in die Reihen, die Pferde setzten sich in Trab, und Staub wirbelte über dem Weg auf. Benito lief schnell, aber schon ein Blick genügte, um zu erkennen, daß er, ausgehungert und elend wie er war, dieses Tempo nicht lange werde durchhalten können. Das hat Zbylut absichtlich getan, schoß es Imbram durch den Kopf. Warum quält er mich und diesen Burschen? Er hielt an und winkte seinem Knecht Sobek. „Du nimmst den Jungen hinter dich aufs Pferd, er ist mager und wiegt nicht viel …“ Sobek machte ein auffallend saures Gesicht, hielt aber seinen Klepper wortlos an. Benito sprang auf die Kruppe des Pferdes, keuchend vor Ermüdung und Freude. Übrigens ritt der Trupp bald wieder langsamer wegen des Staubes, der in einer dunklen, stickigen Wolke aufwirbelte. Der Spätherbst war trocken. Schon seit einigen Wochen zogen unentwegt Menschen, Wagen und Pferde über die Landstraße, so daß eine dicke Schicht pulverfeinen Staubes den Weg bedeckte. Dieser Staub sah wie Asche aus und drang in die Augen und in den Mund. Der Erdboden ringsum war hier nicht mehr so grellrot, das Gestein nicht mehr so blendend weiß, beides hatte eine dunkelgraue Färbung angenommen. Am Horizont erhoben sich Berge mit schroff abfallenden Hängen und abgeplatteten Gipfeln. Doch keiner der Reiter vermutete, daß einst von diesen seltsam geformten Gipfeln ein verzehrendes, schreckliches Feuer in das Tal hinabgeflossen und im Laufe der Zeit zu schwarzer, fruchtbarer Erde geworden war. Als sie so schweigend einherritten, dachte Imbram über den Grund seiner Abneigung gegen Zbylut nach. Woher kam eigentlich dieser Widerwille? Das Verhältnis zu Großkopf war, obwohl man es durchaus nicht als herzlich bezeichnen konnte, doch aufrichtig und
brüderlich … Als hätte ich ihm etwas gestohlen, dachte Imbram des öfteren wehmütig. Glücklicherweise bot die Reise nur wenig Gelegenheit, die Gefühle zu offenbaren. Aber wie von selbst hatte sich durch entstehende Zuneigung die Schar der Wanderer in drei Gruppen geteilt, die am liebsten miteinander ritten. Allen voran zogen die Ungarn mit ihrer goldenen Hand, ernst und würdig, wie es Abgesandten geziemt, und mit ihnen Zbylut, Nowina, Domb und die beiden jüngeren Oswienta. Dann folgten de Foix, de la Tour, d’Armaillac, Imbram, Jasiek und Tarchala. Den Zug beschlossen die griesgrämigen und mißmutigen Senioren: Großkopf, Momot, Zawora, Sciborowic, Nogodzic und Oswienta Cwała. Diese Neunmalklugen fühlten sich mehr als alle übrigen aus ihrer natürlichen Lebensbahn geworfen. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Ihre bisherige Klugheit, deren sie sich rühmten und die, ähnlich wie die Boguchas, der Gattin Großkopfs, darin bestand, daß sie alle Vorschriften, schützenden Sicherheitsmaßnahmen, Folgen und Ursachen eines wohlwollenden oder übelwollenden Waltens der Mächte kannten, nützte ihnen in diesen fremden Landen wenig oder gar nichts. Welchen rätselhaften Gesetzen unterlagen bloß diese sonderbaren, fremden Länder, die sie durchwanderten. Sie wußten nicht, ob es außer dem steinernen Heiligen in der kleinen Kapelle noch andere Beschützer der Gewässer gab, wie in Schlesien den heiligen Eber; welche Gespenster, Schratte und Dryaden in den hiesigen Wäldern hausten und welche Wichtelmänner, gute Geister und Heinzelmännchen unter den fränkischen Schwellen wohnten; was diesen angenehm und was ihnen lästig war. Sie fühlten sich wie Menschen, die auf einer Brücke stehen und starr ins Wasser blicken, das mit eigener Strömung dahin zieht, fremd, selbständig und unerreichbar. Sie sahen zwar, wie die anderen lebten, konnten aber an deren Dasein nicht teilnehmen. Ihr eigener Lebensfaden schien abgerissen, seit sie aus Ungarn aufgebrochen waren. Wann würden sie Eingang in diese neue Welt finden?
Mißmutig und vereinsamt, wechselten sie kaum ein Wort und hatten gegen alles eine unbegründete Abneigung, auch gegen diese Ungarn. Dem Schein nach Freunde und herzliche Kameraden, hatten diese sie zu der Reise überredet, jetzt aber wahrten sie Abstand, beständig darauf hinweisend, daß sie Abgesandte ihres Königs seien, den sie mit niemanden zu teilen gedachten und dessen Herrlichkeit sie niemandem gönnten. „Ihr hättet Euer Eigentum schützen sollen“, hatte der Gaugraf Geza Sukki de Szuha damals ganz offen gesagt. Die bisherige Illusion angestammten Herrentums schwand, und die sie seit fünfzehn Jahren quälende Wehmut über den verlorenen königlichen Stamm, der in Mieszko I. seinen Ursprung gefunden hatte, beunruhigte sie. Der Tod des prächtigen Königssohnes, der schändlicherweise vergiftet worden war, ließ sich nicht aus der Welt schaffen. Wie war er zu rächen? Wenn auch die Nachkommen Włodzisławs nach außen die Tapferkeit und die Tugend selbst scheinen mochten — von Zbygniew wußte man schon, daß er ein Taugenichts war, während es der kleine Schiefmund noch zu etwas bringen konnte — würden sie doch nicht jenen gleichen, weil sie nicht der Segnungen des Stammes teilhaftig wurden, der in einem geraden Strom vom Urvater zum Urenkel fließt. In trübsinnigem Grübeln mußten sie sich jedoch zu ihrem Kummer eingestehen, daß die von ihnen so verachteten Dummköpfe und Tölpel — der sanfte, etwas schwerfällige Imbram, der Schwätzer Tarchala und Przybywoj Zawora mit dem Spitznamen Jasiek — sich jetzt viel besser zu helfen wußten als sie selber. Die Jungen zeigten unterwegs Wißbegierde für alles, erkundigten sich nach jedem neuen Gegenstand, lernten eifrig und schnell die Landessprache und verständigten sich leicht mit ihrer Umgebung. Diese Neugier, alles kennenzulernen, wurde von den Senioren verurteilt. Sie vergaßen dabei aber anscheinend, daß sie selber einst begierig nach allem Neuen gewesen waren, damals in den glücklichen Zeiten der unvergeßlichen Feldzüge gegen die Deutschen und gegen die Kiewer, als noch der Drang, die ganze Welt zu ergründen, sie
beherrschte. Doch zu jenen Zeiten waren sie die Sieger. Sie brauchten um ihre Würde und Bedeutung nicht besorgt zu sein, denen ihr Schwert ja genügend Nachdruck verlieh. Heute verhielt sich das anders. Ihnen, den herrenlos Wandernden, geziemte es nicht, Interesse für ein fremdes Land zu zeigen, da sonst vielleicht die Vermutung aufgekommen wäre, sie wunderten sich über alles, weil sie aus einem fernen, unkultivierten Lande kämen, in welchem es das alles noch nicht gab. Ohne auf den Mißmut der älteren Ritter zu achten, verweilten die „Tölpel“ gern im Kreise der Provenzalen. Ab und zu gesellte sich auch de la Tour zu ihnen. Vielleicht hatte ihn, ähnlich wie Imbram, eine Elfe untergeschoben. Denn er hatte trotz seiner Riesenkräfte ein sehr sanftes Gemüt, liebte Tiere und Kinder und schwor bei dem heiligen Rock von Argenteuil, daß die unmündigen Kinder und Tiere Gott am liebsten sein müßten, denn sie seien am unschuldigsten. Außerdem war er gelehrter als mancher Abt und erzählte den neuen Freunden gern von der Vergangenheit des Landes, in welchem sie jetzt weilten. Die schlesischen Ritter, deren Großväter noch die heidnischen Priester gekannt hatten, erfuhren mit Erstaunen, daß diese Mittelmeergebiete schon seit über achthundert Jahren christlich waren. Noch mehr wunderten sie sich über die Kunde von damaligen grausamen Christenverfolgungen durch die Römer. Jungfrauen waren in den Arenen lebend von wilden Bestien zerrissen worden. Man hatte die Christen mit Kot beworfen, ihnen den Zutritt zum Bade und zu jeglichen Ämtern verwehrt. All das fand in ihren Köpfen kaum Platz, denn sie kannten das Christentum nur als einen von oben befohlenen und fast überall herrschenden Glauben, der von mächtigen Königen und Bischöfen mit der Waffe in der Hand geschützt wurde. Weshalb hatte Christus es zugelassen, daß seine Anhänger so mißachtet wurden? Er mußte noch jung und kraftlos gewesen sein und erst später an Stärke so zugenommen haben, daß er die anderen Glaubensvorstellungen beseitigte und die unzähligen Götzenstandbilder umstieß, die an den Wegen und auf den Hügeln
in der Auvergne ebenso zahlreich vorhanden waren wie früher in der Provence. Verstümmelt und zerbrochen hatten die Sinnbilder der alten Götter Galliens zur Zeit des römischen Imperiums am Boden gelegen. Um die einheimische Bevölkerung für sich zu gewinnen, hatten die Römer die Überbleibsel dieser jedoch in die Tempel mit den schlanken Säulen und den wunderbar gemeißelten Kapitälen tragen lassen. Dort wurden sie verehrt wie die römischen und griechischen Götter, wie der ägyptische Gott mit dem Kopf eines Schakals, wie der furchtbare, blutige Stier des Mithra, wie die indischen Götter in Gestalt eines Elefanten oder eines Affen und wie der leuchtende persische Ormuzd, die aber im Laufe der Jahrhunderte wie diese hier zu Staub und Asche geworden waren. Die Ritter zogen an mächtigen Hünengräbern vorbei, die aus bemoosten, unbehauenen Findlingen errichtet waren und unberührt auf den dunklen Felsen ruhten. Während die Schlesier sie betrachteten und sich unwillkürlich zu diesen düsteren, rohen Blöcken mehr hingezogen fühlten als zu den kunstvoll gemeißelten, schlanken Körpern der Göttinnen, erläuterte ihnen de la Tour, daß die Geistlichkeit es verbiete, sich diesen Felsstücken zu nähern. Es sei das eine Sünde, die den Gebeten an der Quelle, dem Verzehren von Pferdefleisch und der Verehrung des Donnerstags, dem Tage des Gottes Thor, gleichkomme. Darauf antworteten die schlesischen Ritter, daß bei ihnen die Geistlichkeit ebenfalls über die Weissagungen aus dem Bodensatz, das Abbrennen von Feuern und ähnlichen Bräuchen erzürnt sei, und doch könne keiner davon lassen. „Das ist schlecht, sehr schlecht“, seufzte de la Tour, „das macht den Satan stark!“ Je mehr sich der Zug Clermont näherte, desto größer wurde die Zahl derer, die in dieselbe Richtung strebten. Der Mönch Peter, dessen Namen alle im Munde führten, war ihnen eine Tagesreise voraus. Bei jeder Rast erfuhren sie, daß er soeben auf seiner
Mauleselin davongeritten sei. Die einheimische Bevölkerung überbot sich in Berichten über seine elende, kränkliche Gestalt in dem abgetragenen Mantel mit der langen Kapuze. Die Kinder gaben ihm deshalb den Necknamen Petrus Cuculus, was er ihnen aber durchaus nicht übelnahm. Man erzählte, er habe bereits ganz Frankreich, die Normandie, die Bretagne und die Pikardie durchwandert. Er war im Norden, Süden, Westen und Osten gewesen. Überall spreche man von ihm wie selten von einem Sterblichen. Man bringe ihm Kleider, Kleinodien, Leckerbissen als Geschenk, er aber verteile alles sofort an die Armen. Er vermittle in zerrütteten Ehen und rufe die Herren zur Milde gegen ihre Diener auf. Vor allem aber berichte er über Jerusalem und das furchtbare Unrecht, das man dem Grabe Christi zugefügt habe, und befehle den Zuhörern, nach Clermont zu ziehen, wo der Heilige Vater Abhilfe gegen dieses Übel ersinnen werde. Von den ständigen Ansprachen sei sein Hals entzündet — so sagte man — und wenn er spreche, ertöne nur ein heiseres Flüstern, das man kaum verstehen könne. Wenn er aber inmitten des Volkes auf dem Platz stehe, überkomme ihn der Geist des Herrn, und seine Stimme schalle bis in die entferntesten Straßen. Mitleidige Frauen reichten ihm nach Beendigung seiner Rede warmes Wasser mit Öl oder Ziegenmilch, weil er sich oft vor Schmerzen an die Brust fasse. Manchmal trinke er, manchmal aber gewahre er nicht einmal, daß ihm etwas gereicht werde. Er sei überaus gütig, gerate aber in Zorn, wenn Fanatiker seiner Mauleselin die Haare auszupften, um sie als Reliquie im Busen zu verstecken. Unaufhörlich fordere er zum sofortigen Aufbruch nach Clermont auf, wo sich große Dinge ereignen sollten … Was ihrer wartete, wußte niemand genau, aber alle packten ihr Bündel und machten sich auf den Weg. Manche, denen die Landsleute des Mönches bekannt waren, erzählten, Peter sei einst ein Mann wie alle andern gewesen und habe Weib und Kind besessen, diese jedoch immer wieder verlassen und sich ganz einsam im Walde in einer Laubhütte aufgehalten.
Seine Frau eilte dann hinter ihm her, und wenn sie sein Versteck entdeckt hatte, ergriff sie ihren Mann beim Kragen und führte ihn, zum Ergötzen des ganzen Dorfes, nach Hause. Diese Vorliebe für die Einsamkeit, so wurde berichtet, habe ihm den Spitznamen Einsiedler oder Eremit eingetragen. Schließlich sei seine Frau gestorben, die erwachsenen Kinder seien in die Welt hinausgegangen, und der Eremit sei aus dieser Gegend verschwunden und habe sein armseliges Anwesen und seinen ganzen Besitz, eine Ziege und einen räudigen Kater, den Nachbarn überlassen. Niemand konnte sagen, ob sich Peter im Walde aufhielt oder ob er die Grafschaft Vermandois verlassen hatte. Wie sich aber später herausstellte, war er sehr viel weiter gewandert, weiter als die Vorstellungskraft seiner Landsleute reichte, nämlich nach dem Heiligen Lande, aus dem er jetzt zurückgekehrt war. Ob er unterwegs ein Ordensgelübde abgelegt hatte, wußte niemand. An diesen Erzählungen fanden die fanatischen Anhänger des Mönches Peter keinen allzu großen Gefallen. Gebannt von der Kraft seiner Rede, wollten sie von seiner alltäglich anmutenden Vergangenheit nichts hören. Er existierte für sie nur von dem Augenblick an, wo er Jerusalem betreten hatte. Was früher gewesen war, kümmerte sie nicht. Wie vielen anderen Zuhörern, so wollte es auch den schlesischen Rittern, die den Erzählungen des Herrn de la Tour lauschten, nicht eingehen, daß Jerusalem und nicht Rom der heiligste Ort es Christentums und dessen beherrschender Mittelpunkt sei. Mit Groll und Beschämung vernahmen sie, daß Gott besiegt werden konnte und Sein Grab den Heiden ausgeliefert hatte. Zugleich wurden auch in ihrer Vorstellung die Sarazenen, die Besieger Gottes, den Awaren immer ähnlicher, mit denen sich messen schrecklich, gleichzeitig aber ehrenhaft war. Unabhängig von diesen Gefühlen strebten alle mit gleicher Eile nach Clermont, bahnten sich einen Weg, zogen Handwagen, die mit Kindern und allerlei Hausrat beladen waren, trieben Viehzeug, das
sie bei niemandem hatten lassen können, vor sich her, bogen vom Wege ab und machten den Trupps der Herren Platz, ergossen sich wie ein Strom über die Felder, um kürzere Wege oder noch nicht geerntete Wasserrüben zu suchen. Ein kalter Nordwind wehte und trieb sie zur Eile an. Auf der Landstraße schoben sich unaufhörlich die ritterlichen Züge vorwärts. Bei Überholung riefen sie den Wahlspruch ihres Geschlechtes, den Namen ihres Herrn und des Landes und hoben die offene Hand. Allerorten wurden Gespräche angeknüpft. Als zwei deutsche Ritter hörten, daß ihre Sprache den Schlesiern bekannt sei, baten sie um die Erlaubnis, gemeinsam zu reiten. Da sie des Lateinischen unkundig waren, kamen sie sich wie verloren vor. Sie nannten sich Gottschalk und von Emich. Großkopf und Mojmir gewährten ihnen die Bitte, wenn auch nicht allzu gern, denn das Äußere der beiden deutschen Ritter war nicht besonders vertrauenerweckend. Wilfried Guillebaut, einer der normannischen Ritter, mit denen es beinahe vor dem Wirtshaus in Avignon zu einem Scharmützel gekommen war, ritt auf gleicher Höhe mit ihnen in dem reichen Zuge seines Bruders Omer, eines älteren Kriegers mit hartem, mißtrauischem Gesicht. Zwischen beiden Brüdern saß auf schlankem Pferd die Gattin Omers, Willibalda, eine blasse, müde und gleichgültig dreinblickende Dame. Über dem Hofstaat der Bischöfe, der sich durch Reichtum, Anzahl der bewaffneten Diener und Wagen auszeichnete, ragten leuchtend die goldenen Kruzifixe. Als Bischof Lambert von Arras den Ritter de Foix, seinen Verwandten, erblickte, winkte er ihn aus der Ferne zu sich heran und erzählte ihm ein Abenteuer, das ihm, dem Bischof, unlängst widerfahren sei. Herr Garnier de Pons, der in der Dämmerung den bischöflichen Zug für den eines Kaufmannes gehalten hatte, habe diesen in räuberischer Absicht überfallen und ihn, den Bischof, ins Verlies geworfen. Erst am nächsten Morgen habe sich der Irrtum aufgeklärt. Der beschämte Burgherr war dem hochwürdigsten Herrn zu Füßen gefallen, hatte ihn um Verzeihung gebeten und sich erboten, den Würdenträger nach Clermont zu geleiten, damit dieser
nicht zum zweiten Mal Opfer eines ähnlichen Irrtums werde. Aber der beleidigte Bischof wollte nicht verzeihen und erzählte jetzt diesen Vorfall absichtlich mit erhobener Stimme, damit möglichst viele von der niederträchtigen Tat des Herrn de Pons erführen. Als er sich beruhigt hatte, fragte er Herrn de Foix, ob tatsächlich niemand wisse, weshalb solche Menschenmassen nach Clermont zögen. Was werde nach Ansicht der Bevölkerung dort geschehen? Wisse man, wer der Mönch Peter in Wirklichkeit sei? Handele er auf Befehl des Papstes oder aus eigenem Antrieb? Die voraussichtliche Tagesordnung des Konzils enthalte doch nichts, was diese allgemeine Wanderung rechtfertige. „… denn soweit mir bekannt ist“, redete er in einem fort, froh, einen Zuhörer gefunden zu haben, „soll in erster Linie der über Heinrich und Philipp verhängte Bann um das Doppelte verschärft werden. Diese Gottlosen muß man in die Knie zwingen … Dann soll auch die Streitfrage geklärt werden, ob der heilige Dionysius, der gute Bischof und Patron von Paris, und Dionysius Areopagita, den der Apostel Paulus in Athen bekehrt hat, ein und dieselbe Person sind. Irgendein Mönch aus dem Süden, zweifellos von Neid getrieben, hat berichtet, daß dies nicht möglich sei, da er sonst über dreihundert Jahre gelebt haben müsse. Weshalb soll aber ein so großer Heiliger schließlich nicht dreihundert Jahre alt werden? Wäre das ein Wunder? Dieser Zweifel empört natürlich mit Recht die guten Einwohner von Paris; aber das Konzil wird eindeutig darüber entscheiden. Schließlich sollen wir in Clermont den Gottesfrieden in dreifacher Form festlegen, und zwar als Pax Dei, den Gottesfrieden, der immerdar und überall die Mönche, Geistlichen, Witwen, Waisen, unmündigen Kinder und Greise umfaßt; als Asylum Dei, die Freistatt Gottes, die jeden schützt, der in einer Kirche oder an einem geheiligten Ort Zuflucht suchen sollte; und als Treuga Dei, die Waffenruhe Gottes, die jedermann den Kampf während der Advent– und Fastenzeit, der Feiertage, am Vorabend eines kirchlichen Festes und in jeder Woche von Donnerstagabend bis Montagabend untersagt …“
„Was bleibt dann für uns noch übrig?“ fragte de Foix. „Der Kampf gegen die Feinde des Kreuzes!“ erwiderte der Bischof energisch. „Wenn wir diesen dreifachen Bauchgurt zuziehen, so werden Eure ständigen Kämpfe und Fehden im eigenen Lande aufhören.“ De Foix antwortete nicht. Der Ausdruck des Zweifels in seinem Gesicht regte aber seinen Verwandten zur Fortsetzung des Gespräches an. „Glaube nicht“, fuhr der Bischof mit donnernder Stimme fort, „daß wir solches nicht durchzusetzen vermögen! Wozu ist denn die Truppe Gottes da? Jeder von uns wird eine Abteilung aufstellen, die nicht schlechter ist als Eure Mannschaften, das glaube mir.“ Dann wird das Kämpfen nicht so bald ein Ende nehmen, sondern sich eher noch verstärken, dachte de Foix vergnügt, sagte aber nichts, denn ein Mann von riesiger Gestalt, der zu Fuß in der Mitte der Straße schritt, lenkte die Aufmerksamkeit der beiden Herren auf sich. Er hatte ein abgetragenes Lederwams an, und ein großer Zweihänder hing ihm gleich einer Misericordia am Halse. „Wenn er auch in Clermont ist, so wird niemandem etwas geschehen“, bemerkte der Bischof. Der allgemein bekannte Riese hieß Walter Sans Avoir oder ohne Habe und war ein Bastard von hohem, angeblich sogar königlichem Geblüt. Vor Jahren hatte man ihm ungerechterweise den Rittergurt verweigert. Darüber ergrimmt, hatte er geschworen, auch ohne ihn auszukommen, und zog seitdem, auf sich selbst gestellt, hungrig, arm, aber unabhängig im Lande umher. Da er sich wiederholt durch große Tapferkeit ausgezeichnet hatte, bot ihm König Philipp den so sehr begehrten Gurt an, doch Walter lehnte diese Ehre ab. Er ging weiterhin seine eigenen Wege mit dem Schwert um den Hals, einsam und frei. Die Mauern Clermonts waren von einer großen Volksmenge umgeben, so daß es schwierig war, in die Stadt zu gelangen. Die Stadt selbst war dicht bevölkert, besaß massive Mauern und war reich an steinernen Gebäuden und prächtigen Kirchen, beinahe
fünfzig an der Zahl. Mitten in der Stadt stand die Kathedrale, von der man sagte, daß sie vor tausend Jahren der heilige Austramonius erbaut und durch die Zauberkraft einer Wolke vor den Augen der Heiden und des ganzen römischen Senats verhüllt habe. Angeblich sollte sie Tag und Nacht dichter, weißer Nebel umgeben haben, der sich nur dann verzog, wenn die Gläubigen zum Gebet eilten. Jetzt brauchte keine Wolke das niedrige, alte Tor zu verdecken. Da die Kathedrale mit ihrer asymmetrischen, halbrunden Apsis nicht groß genug und außerdem dunkel war, fand der Festgottesdienst in der Kirche Notre Dame du Port statt, einem Gotteshaus, das vom heiligen Avitus erbaut, von den Normannen zerstört und unlängst vom heiligen Zygonius mit großer Pracht und herrlichen Bildhauerarbeiten wieder aufgerichtet worden war. Ebenso prächtig und ehrwürdig, obwohl kleiner, waren die Kirchen Sankt Petri, Sankt Symphoriani, Sankt Jakobi, Sankt Stephani, Sankt Hilarii, Sankt Arternonii, Sankt Mauritii, Sankt Laurentii und andere. Alle waren nach dem allgemein üblichen Brauch nicht nur Gotteshaus, sondern auch gleichzeitig Amt, Gericht, Zufluchtsort und Lebensmittellager während einer Hungersnot. Manche standen in großer Entfernung außerhalb der Stadtmauer, dort, wo die sterblichen Überreste der Märtyrer in der Erde ruhten, denn nach römischem Recht war es nicht erlaubt gewesen, die Toten im Weichbild der Stadt zu begraben — Hominem mortuum in urbe ne sepelito — deshalb wurden die Friedhöfe, welche die Erdenwanderer zur letzten Ruhe aufnahmen, entlang der Wege angelegt. Dort, wo auf dem Friedhof der heilige Leichnam eines Arenaopfers ruhte, wurde eine Kirche erbaut. Um diese ließen sich die Menschen nieder, und so entstand eine Vorstadt, die nach vielen Jahren mit der eigentlichen Stadt zusammenwuchs. Gegenwärtig waren die Stadt selbst, die Wälle vor den Mauern, die Vorstädte, die Marktplätze, ja sogar die sumpfige Niederung an der Westseite der Stadt ein gewaltiger, beweglicher Lagerplatz. Hell leuchteten die Wimpel der Nobiles, der Barone und der Fürsten. Auf der günstigsten Stelle, nämlich auf einer leichten Anhöhe, dicht
neben dem Tor des heiligen Hervius, zeichnete sich schimmernd schon von fern das Lager der Abgesandten des Basileus Alexios ab, des Isapostolos, des Apostelgleichen. Das Labarum mit dem doppelköpfigen, gespaltenen Adler flatterte im Winde. Die Zelte sowie alles Gerät und die Wagen übertrafen durch Reichtum und Pracht alles, was man bisher gesehen hatte, deshalb war die Gesandtschaft ständig von vielen Neugierigen umgeben. In einiger Entfernung hatte der Hof des dänischen Königssohnes Sven seinen Standplatz gewählt. Die ledernen Zelte waren bescheiden und nicht so zahlreich; aber die mit einem großen weißen Kreuz geschmückte rote Fahne war überall in der Welt bekannt. Unter den im Tal lagernden Volksmassen befanden sich Ankömmlinge aus der ganzen Welt. Ritter und Habenichtse, ehemalige, jetzt verkommene Mönche und wandernde Spielleute, Taugenichtse und Burschen, die ihren Herren entlaufen waren, mit Lumpen ihr Brandzeichen verdeckten und sich freuten, daß sie in diesem Gedränge nicht so leicht erkannt wurden. Ferner gab es die armen Krieger, die milites, Bettler und Krüppel, Aussätzige, ehrbare Klosterinsassen, Diener und Knechte, Vaganten, Goliarden, Landstreicher, Kleriker, die stets zu Streit und Späßen aufgelegten Scholaren, lockere Weiber, Künstler, Bärenfänger, Juden mit spitzen Mützen und dem am linken Arm befestigten, ihnen vorgeschriebenen gelben Flick. Letztere schoben sich vorsichtig durch die Menge, begleitet von entrüsteten Blicken. Sie waren verachtet, doch gleichzeitig als Geldverleiher unentbehrlich, obwohl ihr Geld teuer war. Nach dem Gesetz war es gestattet, sechsundvierzig Prozent Zinsen jährlich zu nehmen, aber gewöhnlich wurden sechzig genommen und manchmal sogar hundert. Die Kirche verbot solchen Wucher streng, da sie auf dem Standpunkt stand, daß es eine Todsünde sei, sich ohne Arbeit zu bereichern. So kam es, daß sich nur die Juden mit diesem Geschäft befaßten. Bis vor kurzem hatten ihnen dabei die Lombarden geholfen. Diese nahmen als gute Christen zwar keine Zinsen, setzten dafür aber drückende, allzu kurze Rückgabetermine fest und kreideten für jeden Verzugstag als Gebühr einen hohen
Betrag an. Diese Art der Erwerbstätigkeit hatte aber aufgehört, seitdem der Bischof Gilbert die Geldverleiher mit dem Bann belegt hatte. Dieses war aber nur deshalb geschehen, weil er sich in einem Frühjahr fünfzig Pfund Silber ausgeliehen hatte und nach der Ernte Schuldner von achthundertsechzig Pfund blieb. Jetzt waren nur noch die Juden die ausschließlichen Bargeldgeber. Die zahlungsunfähigen Schuldner wurden nach der damaligen harten Sitte von ihnen entweder in die Sklaverei verkauft oder als Sklaven behalten und fristeten ein mehr als kümmerliches Dasein. Trotzdem fanden die Juden stets zahlreiche geldgierige Kunden. Die ungarischen und schlesischen Ritter schauten neugierig und verwundert auf die wogende, verschiedenartige und farbenreiche Menschenmenge. Dabei stießen sie auf den Stadthauptmann de Viel, der sich bereit erklärte, für die Abgesandten des ungarischen Königs und die sie begleitenden Ritter einen Lagerplatz ausfindig zu machen. Als er sie um die Mauern führte, erzählte er ihnen, daß es einen solchen Menschenzustrom noch nie gegeben habe. Es wären bereits dreizehn Erzbischöfe, zweihundertfünfundzwanzig Bischöfe, neunzig Äbte und unzählige Fürsten und Ritter eingetroffen. „Wie alle diese Menschen ernährt werden sollen, ist mir ein Rätsel“, sagte de Viel und zuckte mit den Achseln. „Noch sind Lebensmittel vorhanden, allerdings nur für teures Geld. Die Kaufleute wollen verdienen, soviel sie nur können. Die armen Leute sind jedoch nicht in der Lage, etwas von ihnen zu kaufen, und es wird gewiß bald zu einem Aufruhr kommen, denn Hungerleider gibt es hier eine ganze Menge, und alle wollen essen …“ Vorläufig aber waren die langen Reihen der Verkaufsstände mit Speisen und Waren noch überfüllt. In allen gallischen Mundarten priesen die Händler das, was sie feilboten, an. Zu kaufen gab es Fische und Räucherfleisch, Öl, Käse, Wein, Kühe, Ziegen, Kräuter, Kuchen, Arzneimittel, Farbstoffe, vorzügliche Waffen, flämische Leinwand, spanisches und genuesisches Leder, Pelze, ja sogar
Schmuck. Die Geldwechsler hockten ernst bei ihren Waagen. Etwas abseits befand sich sogar ein Verkaufstand mit Tinte, Malergold, Farben und neuem, sauberem Pergamentpapier sowie auch altem, mit abgeschabten römischen Texten. Es war verboten, Pergamentpapier, dessen Vorrat beschränkt war, an jemanden abzugeben, bevor nicht der Bischof in Begleitung der Geistlichkeit den Jahresbedarf für die Klöster der Diözese eingekauft hatte. Auf diesen bischöflichen Kauf warteten schon ungeduldig die Ordensbrüder, die Schreiber und Maler, die bereits die letzten Seiten des vorjährigen Bestandes verbraucht hatten, denn die Arbeit war ihnen zu einer lieben Gewohnheit, ja häufig sogar zur Leidenschaft geworden. Sie war der sichere Weg zur Erlösung der Seele. Für jeden Buchstaben, der in ein frommes Buch geschrieben wurde, erließ die Kirche eine Sünde, und für die schönen Initialen, die mit den Bildern der Heiligen des Herrn verziert wurden, vergab man ihnen gleich eine Vielzahl von Missetaten. Manche dieser schreibenden und malenden Mönche kamen mit geröteten und zwinkernden Augen und mit gebeugtem Rücken auf den Platz, um sich beizeiten das Pergament anzusehen, damit der Kaufmann dem in dieser Angelegenheit unerfahrenen Abt keine schlechte Ware andrehe. Mit ihren dünnen Fingern, die so empfindlich waren wie die Augen, glätteten sie die weißen, stark glänzenden, knisternden Blätter, sahen bereits im Geiste auf ihnen die verschnörkelten Verzierungen, die kleinen Ränder der in allen Regenbogenfarben leuchtenden Malerei und die lieblichen, sich aus dem verworrenen Musterdickicht heraushebenden Bilder. Ohne einen Blick auf das farbenprächtige Leben zu werfen, das sie rings umgab, kehrten sie in ihr Kloster zurück. Nur manchmal nahmen sie eine äußere, besonders vollkommene Gestalt, die Bewegung, den Blick, das Lächeln eines Menschen, die Krümmung eines Zweiges, die Farbe des Himmels wahr, und das drang in ihr Bewußtsein, um später mit die Zeiten überdauernder Schönheit auf den Blättern der Psalter zu erblühen.
Der allgemeinen Sitte gemäß kamen die reichsten Nobiles als letzte nach Clermont, kaum eine Woche vor dem Heiligen Vater. Sie wurden von einer Menge Dienern, Vasallen, Knappen, Falknern, Schreibern, Lautenspielern und Sängern begleitet. Wenn sie vor der Stadt anlangten, trieb die Dienerschaft das gemeine Volk mit Stöcken auseinander und machte Platz für das Lager ihres Herrn. Da jedoch überall schon ein großes Gedränge herrschte und die Vertriebenen keine andere Stelle fanden, erhob sich ein lautes Wehklagen. Dadurch erfuhr stets die ganze Stadt von der Ankunft einer hohen Persönlichkeit. Eines der prunkvollsten Gefolge brachte der Graf Raimund von St. Gilles, der Erbherr von Toulouse, mit. Menschen und Pferde glänzten vor Gold und Zierfarben, als zögen sie zu einem prunkvollen Turnier und nicht zu einem mehrere Wochen dauernden herbstlichen Biwak vor den Toren einer Stadt. Raimund selbst war wohlgestaltet, offenherzig, ritterlich, freigebig, vertrug aber keinen Widerspruch. Ihn begleitete seine Gattin Elvira, die Tochter des Königs von Kastilien, die als die schönste und stolzeste Dame des Landes galt. Sie blickte unter ihren langen dunklen Wimpern hochmütig auf die Welt, und es hatte den Anschein, als könne sie den Ritter vom Knecht nicht unterscheiden, so bedeutungslos und keiner Beachtung wert waren alle in ihren Augen. Ihre Stieftochter Gisela, die mit einem deutschen Markgrafen verheiratet war, hatte wiederholt von ihrer Stiefmutter erzählt, daß diese sogar ihren Gatten vor der Schlafzimmertür warten lasse und das vorgeschriebene spanische Zeremoniell einhalte. Sechs Pagen begleiteten die schöne Elvira. Zwei trugen die Schleppe ihres golddurchwirkten Kleides, die andern die Riechstoffe, das Taschentuch, den Spiegel und, nach Einbruch der Dämmerung, die Fackeln. Sie hatten eine kostbare Tracht in den Farben des Königreiches Kastilien, bunte Hosen mit verschiedenfarbigen Beinen, und die langen aufgeschlitzten Ärmel reichten bis auf die Erde. Für den Dienst als Hofdamen hatte man
sorgfältig die schönsten Mädchen, welche ihrer Herrin paarweise mit züchtig gesenktem Blick folgten, ausgewählt. Mit einem erheblich bescheideneren Hof kamen die Herzöge von Lothringen, die Brüder Gottfried und Balduin, Grafen von Bouillon, daher. Der ältere, Gottfried, von dem man sagte, er habe bisher noch kein Weib erkannt und führe ein mönchisches Leben, war still, sanft, aber entschlossener Taten fähig. Er hatte einen langen blonden Bart, der ihm ein würdiges Aussehen verlieh. Der lustige, behende Balduin mit der dunklen Hautfarbe und der Adlernase schien zehn Jahre jünger zu sein, obwohl der Altersunterschied zwischen beiden in Wirklichkeit nur gering war. Auch die Gattin Balduins, Gontrana, ein dürres, griesgrämiges, böses Weib, sah wesentlich älter aus als der Gatte. Nach den Lothringern erschien Hugo von Vermandois, der Bruder des Königs von Frankreich, ein etwas träger und leichtsinniger, wenn auch uneigennütziger Fürst. Zusammen mit ihm traf der wegen eines Reichtums und Wissens berühmte Stephan, Graf von Blois und Chartres, ein. Er beherrschte die schwierige Kunst des Schreibens und reimte sogar schöne Verse, so hieß es. Doch bei den Nobiles genoß er kein großes Ansehen, weil diese in seiner Gelehrsamkeit etwas Unmännliches sahen. Ohne Zweifel männlich, vom Scheitel bis zur Sohle, war Robert, Graf von Flandern, den man Lanze und Schwert des Rittertums nannte. Sein Gefolge war nicht zahlreich, dafür aber sorgfältig aus den vornehmsten Rittern gewählt. Er lagerte fern der Stadt, um seine Friesen und Flamen nicht der Gefahr eines Zusammenstoßes mit den Südländern auszusetzen. Als letzte trafen die normannischen Fürsten ein. Robert Courte– Heuse oder der Kurzbeinige, der erstgeborene Sohn Wilhelms des Eroberers, mit seinem ständigen Begleiter, dem Kaplan Arnuld de Rohes; Wilhelm, genannt der Rote, und der jüngste namens Heinrich. Sie waren weder wohlgestaltet noch angenehm im Umgang. Jeder von ihnen hatte etwas von seinem Großvater, Robert dem Teufel, und von seiner Großmutter, einer lustigen Bäuerin aus Falaise, im Blut. Alle drei waren kurzbeinig und hatten
große Köpfe. Außerdem hatten sie von ihrem Vater die Anlage zur Beleibtheit geerbt. Da sie aber eine unvergleichliche Macht verkörperten, brachte man ihnen gebührende Achtung entgegen. Gleich nach ihnen traf der Heilige Vater, Urban II., der Bischof von Rom, selbst ein. Alle glaubten, das Konzil werde nun endlich beginnen, aber seine Eröffnung wurde durch ein unvorhergesehenes und peinliches Ereignis hinausgezögert. Die Mannen Hugos, des Bruders des Königs von Frankreich, hatten Bürger der Stadt verprügelt, da ihnen diese angeblich keine Waren verkaufen wollten. Die fliehenden Stadtbewohner suchten in der Kathedrale Schutz, wurden aber von den ergrimmten Kriegern hinausgeschleppt und auf dem Platz vor der Kirche getötet, wodurch das Asylum Dei verletzt worden war. Der hochbetagte Erzbischof von Clermont, Durand, hatte sich dies so sehr zu Herzen genommen, daß er noch in derselben Nacht starb. In Wahrheit wäre es ohnehin mit ihm bald zu Ende gegangen, denn er zählte bereits achtzig Jahre und war von den Vorbereitungsarbeiten zum Konzil stark angegriffen. Jetzt mußte man, anstatt mit den Beratungen zu beginnen, dem Dahingeschiedenen ein prächtiges Begräbnis geben, an seiner Statt einen Nachfolger wählen und die durch das Verbrechen entweihte Kirche reinigen, vor der die Männer Hugos, barfuß und mit Totenhemden bekleidet, bereits öffentliche Buße taten. Die Eröffnung des Konzils wurde um vierzehn Tage verschoben, und diese Zeit füllte jeder nach seinem Belieben aus. Durch eine glückliche Fügung befand sich das Lager Raimunds von St. Gilles in der Nähe des Platzes, den die ungarische Gesandtschaft belegt hatte. Die während der Reise zwischen der polnischen Ritterschaft und den Rittern de Foix, de la Tour und d’Armaillac geschlossene Freundschaft erfuhr daher keine Unterbrechung. Die Provenzalen besuchten ihre polnischen Freunde fast täglich und nahmen Jasiek, Imbram, Tarchala, manchmal auch die übrigen in ihr Lager mit, in welchem zu jeder Tageszeit Musik und Gesang erscholl. Graf Raimund war ein leidenschaftlicher Liebhaber von Spiel, Musik, Gesang und Dichtung. Sein Hof war in einem
geräumigen, niedrigen Wohngebäude untergebracht, das in aller Eile aus Bohlen und lehmverklebtem Reisig errichtet, außen mit Häuten bespannt, innen aber mit Goldbrokat und, zum Schutz gegen Kälte, mit Fellen verkleidet war. Rauschende Feste, Turniere oder Tänze konnten wegen der Trauer um den Erzbischof nicht veranstaltet werden, aber das beliebte höfische Spiel, „die Belagerung der Festung der Liebe“, war gestattet. Zu diesem Spiel wurde mitten auf dem Platz vor dem Hoflager ein turmartiger Bau errichtet, in dessen Wänden sich rundum fensterartige Öffnungen befanden. Dahinein sperrte man die schönen Hofdamen der Herrin von Toulouse, Elvira. Die Ritter versuchten wie Besessene die rosigen, lächelnden Gesichter in den Luken zu erreichen, doch die Jungfrauen überschütteten sie mit Geschossen, die in der Sommerzeit aus Blumen, jetzt aber, im Spätherbst, aus Zweigen, Eicheln oder aus Knäueln aufgewickelter, bunter Fäden bestanden. Nach den Spielregeln mußte der Ritter, der auch nur von dem leichtesten Geschoß getroffen worden war, aufgeben und kunstgerecht ein Liebesgedicht vortragen, wobei er, sofern er keine natürliche Begabung besaß, ein fremdes Gedicht hersagen oder einen Liedvers vorsingen mußte. Erst wenn er das getan hatte, durfte er wieder zum Spiel zurückkehren. Ein Ritter, dem es gelang, ohne getroffen zu werden, ein Fräulein bei der Hand zu ergreifen, zog es durch die Öffnung heraus und trug es als Gefangene davon. Dabei versuchten die anderen Hofdamen eifrig, die Gefangennahme zu verhindern, kreischten und hielten ihre Gefährtin an den Füßen fest. Raimund von St. Gilles lachte aus vollem Halse, bis ihm die Tränen herabkullerten, und feuerte seine Krieger zu immer heftigeren Angriffen an. Die schöne Elvira lächelte auf ihre Art, hochmütig und unpersönlich. Sie war angetan mit einem zwei Ellen hohen Kopfschleier und einem Kleid, so kostbar wie ein Reliquienkästchen. Darüber trug sie einen mit Hermelin gefütterten Mantel, denn als Tochter eines Königs hatte sie ein Recht hierzu. Als alle Jungfrauen aus dem Turm gezerrt waren, erhielt die zuletzt gefangengenommene den Tugendkranz.
Die lustigen Hofdamen reizte aber diese Ehre nicht allzusehr, die kräftigen Umarmungen der Ritter waren ihnen lieber. Die Schlesier schauten solchem Spiel neugierig, aber von ferne zu. Sie verspürten auch nicht die geringste Lust, daran teilzunehmen; denn eine solche Ausgelassenheit war ihrer Meinung nach nur bei den Tänzern des jungen Volkes während der Stadofeier in der Johannisnacht angebracht. Dieses Spiel erschien ihnen nutzlos, da die wahren Gefühle dabei nicht zum Ausdruck kamen. Noch seltsamer und zweckloser mutete sie das Hersagen der kunstvollen Verse an. Sie verstanden sie gar nicht, obwohl sie im allgemeinen das Lateinische schon leidlich beherrschten. Dabei kam ihnen der Gedanke, Verse zu formen, beinahe überheblich vor. Sie kannten zwar zahlreiche Gesänge, Solosänge, Sinngedichte, Grabgesänge, Hochzeits– und Verlobungslieder, aber all diese wurden seit Jahrhunderten von Ahn zu Ahn überliefert, blieben dieselben und hatten ein unveränderliches Zeremoniell. Nur mit Mißfallen wäre jeder betrachtet worden, der auch nur ein Wort hätte ändern wollen. Unter den auffallend gekleideten Frauen, die Elvira umgaben, fiel durch einen auf die Wangen herabwallenden schwarzen Schleier die Dame de Salviac de Viel auf, eine Verwandte des Herrn Stadthauptmanns. Neben ihr saß ihre Tochter Blanka, eine wohlgestaltete, aber finster dreinblickende junge Frau. Beide schienen sich am allgemeinen Geschehen nicht zu beteiligen und eine Unterhaltung mit anderen zu meiden. Der Stadthauptmann erzählte dem Herrn de la Tour ihre unerquickliche, aber allgemein bekannte Geschichte. Blanka war vor einigen Jahren mit dem berüchtigten Tyrannen Hugo de Montbéliard vermählt worden, der sie so sehr mißhandelt hatte, daß ihre Mutter, die sanfte, gottgefällige Witwe, da sie die Qual ihres Kindes nicht länger mit ansehen konnte, diesen mit einem Absud aus Bilsenkraut und Schlangenkopf vergiftete. De Montbéliard war darauf zur allgemeinen Freude und Erleichterung gestorben. Diese Freude war im Volke so aufrichtig, daß niemand die Schwiegermutter
verklagte, obwohl man die Todesursache allerorts kannte. Sogar die Erben des Toten fühlten sich zu keiner Rache verpflichtet und waren froh, daß die beiden Frauen das Schloß samt ihrer ganzen Habe verließen. Seit dieser Zeit war fast ein Jahr verstrichen, und die Erinnerung an den Mord geriet allmählich in Vergessenheit, konnte aber jeden Augenblick von neuem aufleben. Nach altem römischem Recht wurde jedes Verbrechen sofort bestraft, ohne daß man abwartete, bis sich ein Ankläger fand. Die Gerichte zur Zeit des Konzils traten dagegen nur dann in Aktion, wenn jemand eine Strafverfolgung beantragte. Irgendwelche Corpora delicti oder Beweise waren hierzu nicht erforderlich. Es genügte, wenn beide Parteien in Eid genommen wurden. Widersprachen sich die Eide, so führte man die Gegner in einen umzäunten Hof, wo sie unter den Augen der Richter so lange kämpfen mußten, bis einer von ihnen fiel. Der Besiegte war dann, so glaubte man, der Meineidige. Bei Frauen und Geistlichen, die nicht kämpfen konnten, rief man das Gottesurteil an. Die Betreffenden mußten glühendes Eisen brechen oder wurden ins Wasser geworfen. Das auf diese Weise zustande gekommene Urteil war unanfechtbar. Weil man überall des Herrn de Montbéliard mit Haß gedachte, hatten seine Frau und seine Schwiegermutter bisher dem Gericht und einer Strafe entgehen können. Gattenmord wurde im allgemeinen mit Begraben bei lebendigem Leibe geahndet. Wenn sich also ein Ankläger gefunden hätte, wäre das Urteil jederzeit vollstreckt worden. Die beiden Frauen scheuten daher alles, was ihnen die Abneigung oder den Groll irgend eines Menschen zuziehen konnte. Sie lebten in ständiger Angst und hofften sehnlichst, ihre Umwelt möge sie und ihr ruchloses Verbrechen so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis verlieren. Die Mutter, eine im Grunde sanfte und gottgefällige Witwe, grämte sich, weil sie keine Gewissensbisse empfand. Vergeblich verlangte der Beichtvater von ihr Bußfertigkeit und Reue für die begangene Tat. Sooft sie sich aber an die blassen, bösen Augen des Schwiegersohnes erinnerte, an seine hinterlistigen, kaltblütigen
Grausamkeiten, fühlte sie zu ihrer Verzweiflung, daß sie ihn zum zweiten, dritten und auch zum zehnten Male vergiften könnte. Sie sah zwar ein, daß Gott sie dafür verdammen mußte, war aber nicht fähig, ihre Handlungsweise als ein Unrecht zu betrachten. In der allgemeinen Fröhlichkeit, die am Hof Raimunds von St. Gilles herrschte, stachen diese Mutter mit ihrer Tochter durch ihre kummervollen Gesichter ab. Man behielt sie aus Mitleid in diesem Kreise, denn die Obhut des mächtigen Grafen war für sie der beste Schutz vor boshaften Menschen, die den beiden Frauen vielleicht übelwollten. Niemand sehnte sich jedoch nach der Gesellschaft der beiden Damen. Sie gingen in dem prächtigen Lager wie zwei ewig verdammte Geister verlassen einher. Der einzige, der sie verstand und gern in ihrer Nähe weilte, war ein Ritter aus der Pikardie namens Raoul de Beaugency, der mutterseelenallein zwischen den Lagern umherstrich. Man sprach davon, daß er aus Rache gegen den Oheim, der nach dem Tode seiner Eltern sein Vormund geworden war, die eigene Seele dem Teufel verkauft habe. Er war um Mitternacht zu einem Kreuzweg gegangen und hatte ihn durch eine Beschwörung angerufen. Der Satan hatte sich zwar nicht gezeigt, aber bevor der Sonntag verstrichen war, hatte der Oheim plötzlich seinen Geist aufgegeben, was natürlich als untrüglicher Beweis dafür angesehen wurde, daß der Leibhaftige doch am Kreuzwege erschienen war und den Pakt angenommen hatte. Kraft dieser Verschreibung war die Seele des jungen Raoul der Hölle unter der Bedingung verfallen, daß sie die der sündigen Seele des Oheims bereiteten Qualen mitansehen durfte. Aber die Wollust, die sich daraus ergeben sollte, verblaßte in dem Maße, wie die Erinnerung an den verhaßten Verwandten schwand. Zurück blieb nur das persönliche Grauen. Was hätte de Beaugency dafür gegeben, wenn er diesen Anruf des Teufels auf dem Kreuzwege und den Beistand des Bösen hätte rückgängig machen können. Aber keine Macht der Welt würde ihn davon befreien.
Verbittert und entmutigt suchte de Beaugency Menschen, um in ihrer Gesellschaft das eigene Mißgeschick zu vergessen. Aber man mied ihn, seitdem man erfahren hatte, daß er mit dem Leibhaftigen im Bunde stehe. Wie leicht konnte man da selber an den Teufel geraten. Nur die in sich gekehrte Blanka, die in den Nächten davon träumte, sie werde bei lebendigem Leibe begraben, und ihre Mutter, die Giftmischerin, die in ihrem Herzen keine Reue empfinden konnte, fürchteten den Ritter nicht. Wenn sie auch wissentlich dem Teufel ihre Seelen nicht verschrieben hatten, so waren sie doch in alle Ewigkeit verdammt. Ärgeres konnte ihnen nicht mehr widerfahren.
NEUNTES KAPITEL Wo sich zwei Welten berühren
Stratigos
Argyrios, der griechische Gesandte, unterdrückte gewaltsam ein Gähnen, sprach jedoch trotz seiner Müdigkeit weiter. Nachlässig rückte er daher die runde goldene Spange auf seinem Arm zurecht, die das Obergewand aus einem golddurchwirkten, mit Greifen und Pfauen gemusterten Gewebe zusammenhielt. Auf dem goldenen Grund des mantelartigen Gewandes spien Greife aus ihren rubinroten Schlünden Feuer und Flamme, und Pfauenschwänze erglänzten mit Hunderten von Augen in blaugrünen Regenbogenfarben. Dieses Gewand war so prächtig, daß sogar die stolze Elvira, die Tochter des Königs von Kastilien, bei seinem Anblick ihre sonst an den Tag gelegte Gleichgültigkeit verloren hätte, denn etwas Ähnliches hatten die Frauen des Westens noch nie gesehen. Unter diesem Mantel trug der griechische Würdenträger eine feingesponnene, dünne helle Tunika und darunter ein dünnes weißes Hemd, das am Hals und an den Ärmeln mit Gold durchwirkt war. Prunkvoll wie die Kleidung des Stratigos war auch das Innere seines Zeltes. Niedrige, mit Gold verzierte Hocker, Teppiche, die wie Seide schimmerten, und zahllose Daunenkissen, die mit Purpurtuchen oder vergoldetem, gepreßtem Leder bezogen waren, füllten den Raum. An der Wand standen Wein–, Öl– und Rosenwasserkrüge aus getriebenem Silber. In einer offenen, mit reichem Schnitzwerk versehenen Truhe sah man die umfangreiche Handbibliothek, die ihn auf jeder Reise begleitete. Sie enthielt aus dem Arabischen übersetzte geographische Angaben über alle europäischen Länder sowie Bücher mit zahlreichen Exorzismensprüchen und Gebeten für jede Gelegenheit, wissenschaftliche Traktate, Berichte über die Jahreszeiten, über
Wetterveränderungen in verschiedenen Ländern und vor allem zwei über alles geschätzte, unentbehrliche Werke: „Das Zeremoniell am Hofe des Basileus“, das Kaiser Konstantin VII. vor hundert Jahren für seinen Sohn Romanos hatte schreiben lassen, sowie das Buch „Oneirokritika“, das von dem großen Artemidoros verfaßt worden war und die Deutung aller Träume enthielt. Hinter dem schillernden, etwas gerafften seidenen Vorhang, durch den das Zelt in zwei Räume geteilt wurde, leuchteten silberne und kupferne Waschbecken, ein seltsames Gerät für das unentbehrliche armenische Bad und ein fahrbarer Ofen zum Wärmen des Badewassers. Am Eingang warf ein schöngestalteter, halbnackter Diener Harzkügelchen in die in einem dreifüßigen Becken glühenden Kohlen, damit sich der Raum mit dem erfrischenden Duft von Koniferen fülle. In der Tiefe des Zeltes glänzte ein kleiner, außergewöhnlich prächtiger, mit Gold, Emaille und Edelsteinen verzierter zweiteiliger Altar. Aus dem oberen Teil leuchtete die Ikone der wundertätigen Jungfrau Maria, der Panhagia, der Patronin von Byzanz, hervor, im unteren Teil befand sich eine ähnliche Ikone, jedoch etwas kleiner, die den apostelgleichen Basileus, den Autokrator Alexios Komnenos Porphyrogenetos, darstellte. Zwischen beiden Bildern stand ein kleiner Reliquienschrein, der einen allerheiligsten, verehrungswürdigsten Überrest des Kreuzes enthielt. Sowohl der Stratigos als auch sein Gefolge verneigten sich bis zur Erde, sooft sie an dem kleinen Altar vorbeigingen, und ehrten so gleichzeitig die Heiligkeit Gottes und ihren Autokrator. Jetzt aber sprach der Stratigos zu Imbram, Zbylut, Jasiek Zawora, den beiden Nowina, dem Ungarn Gyor Bakocz, den Rittern de la Tour und d’Armaillac, die ihm gegenübersaßen und fast in den Daunenkissen versanken. Er nestelte dabei an dem Verschluß seines Gewandes und gab sich keinerlei Mühe, seine Müdigkeit zu verbergen. Die Zuhörer waren verlegen und blickten einander unwillig und zerstreut an. Nie in ihrem Leben hatten sie auf so weichen Pfühlen wie hier gesessen. Selbst am Hofe des Grafen
Raimund von Toulouse, der als der vornehmste und luxuriöseste im Umkreise galt, umspannte nur ein dauerhafter, steifer, mit Gold durchwirkter Stoff die harten, hölzernen, kaum glattgehobelten Bänke. Und wenn es irgendwo auf den Burgen Federkissen gab, so waren diese so fest gestopft, daß sie sich von den gewöhnlichen, mit Heu gefüllten Kissen kaum unterschieden. In den Betten, sogar in den königlichen, lagen auf den Brettern nur lange Strohbündel, die mit einem mehr oder minder kostbaren Laken bedeckt waren. Von der Bequemlichkeit der Möbel überrascht, berührten die Krieger neugierig und mißtrauisch die glänzenden farbigen Bezüge mit ihren rauhen Händen und wagten nicht, sich zu bewegen, um nicht noch tiefer einzusinken. Finsteren Blickes verfolgten sie die Hände des Stratigos, wenn dieser selbstgefällig einzelne Ausdrücke oder wohlklingende Redewendungen durch Gesten unterstrich. Diese Hände mit ihren langen, polierten Fingernägeln waren weiß und glatt und mit kostbaren Ringen geschmückt. Mit unverhohlenem Abscheu blickten die Ritter, deren kantige Fäuste wuchtigen Holzkeulen glichen, auf die Gestalt des griechischen Patriziers. Alles schien ihnen hier fremd und unangenehm, die Kissen ebenso wie die Hände und die Stimme dieses Griechen. Wie kam es nur, daß ein stämmiger Mann mit markanten Zügen und starken Augenbrauen eine so feine, weibische Stimme besaß? In hohen, singenden Tönen redete der Stratigos auf sie ein, indem er Satz für Satz in gepflegtestem Latein aneinanderreihte. „… So ist es, Ihr Tapfersten der Tapferen, so ist es, edle Ritter, der Stolz der lateinischen Welt … Mit demütiger Bewunderung und sehnlichstem Verlangen kommen wir in der uns umgebenden Bedrängnis, rufen wir nach Eurem bewaffneten Arm, bitten Euch um Hilfe … Nur Ihr allein, christliche, edle Ritter, deren Ruhm bis zu den Sternen reicht, seid vom Schöpfer dazu berufen, Sein Werk zu retten. Bei Christos Pantokrator! Werdet Euch dieser Aufgabe so bald wie möglich bewußt! Zögert nicht einen einzigen Tag. Keine Worte, auch nicht die treffendsten, können die furchtbare Lage der
von den Hagaren bedrohten Christen wiedergeben … Wahrlich, für die Christen wäre es sicherer, im Rachen einer wilden Bestie zu schlafen als in den Grenzen des heiligen Kaiserreiches! Ungefährdeter als wir war Daniel in der Grube der Löwen. Die Hagaren umgeben uns von allen Seiten. Sie haben uns bereits Kappadokien, Phrygien, Bithynien, Troas, Pontos, Lydien, Pamphylien, Isaurien, Lykien, die Inseln Chios, Mytilene, ganz Lesbos entrissen … Nicht mehr lange, und die von Gott behütete Stadt wird allein übrigbleiben … In diesem Jahre haben uns die Verfluchten verräterisch die Meere Propontis und Euxeinos entrissen … Sie stehen schon vor unseren Toren! Und was noch schlimmer ist, sie haben das Geheimnis des flüssigen Feuers entdeckt, das sie bisher von einem Angriff abgehalten hatte. Die heilige Waffe, die seit mehr als tausend Jahren die Mauern von Byzanz geschützt hat, wendet sich jetzt gegen uns. Von dort droht eine schreckliche Gefahr, ein baldiger Untergang, wenn uns der Westen nicht zu Hilfe eilt. Niemand weiß, auf welche Weise die Satanssöhne hinter das Geheimnis des flüssigen Feuers gekommen sind. Die Sklaven, die das Feuer herstellen, durften niemals ihren Platz verlassen. Zwar jagte man sie davon, wenn sie alt und schwach wurden, jedoch mit ausgestochenen Augen und herausgerissener Zunge, damit sie das Geheimnis nicht verraten und auch niemandem den Eingang zu den Werkstätten weisen konnten … Und doch besitzen die Hagaren dieses Geheimnis. Sie können es nur durch Zauberei erfahren haben …“ „Bisher hat man uns nichts von den Hagaren erzählt, nur von den Sarazenen“, bemerkte Herr de la Tour. „Das ist eins … Wir nennen alle Heiden Hagaren, weil sie Söhne der sündhaften Hagar sind … Übrigens ist der Name Nebensache. Sarazenen, Araber oder Türken, sie alle bedrängen auf gleiche Weise unseren heiligen Glauben. Man könnte vor Gram vergehen bei Aufzählung all der Qualen, die täglich unterm Herrn Jesus Christus in den Personen seiner Bekenner zugefügt werden … Die Hagaren wollen die kostbaren, in unserm Besitz befindlichen
Reliquien an sich reißen und sie besudeln. Ihretwegen, welche die Ursache unseres Kummers sind, flehen wir Euch an. Es geht nicht um unser eigenes elendes Leben, das jeder von uns gern in einem ungleichen Kampf nur für diese, uns vom Schöpfer anvertrauten heiligen Schätze hingeben würde. Schon der Gedanke, diese heiligen Kleinodien könnten erobert und geschändet werden, erfüllt unser Herz mit unsagbarer Trauer … Wenn Byzanz fällt — wird der heilige Glaube untergehen. Gibt es denn wertvollere Gegenstände als die in unseren Kirchen? Die Säule, an die unser Herr Jesus Christus gebunden war, die Peitschen, mit denen Er geschlagen wurde — das Blut klebt auf ihnen bis zum heutigen Tage frisch und ungeronnen —, der Mantel, den Ihm die römischen Söldner zum Gespött übergeworfen hatten … die Dornenkrone und das Rohr … mehr als die Hälfte des Kreuzes … die Nägel, die zu Seiner Marter verwendet wurden, das Leichentuch, das in Seinem Grabe gefunden wurde … die zwölf Körbe, in denen sich das Brot auf wundersame Weise vermehrt hat … das Haupt des heiligen Johannes des Täufers, das unversehrt erhalten ist … die vollständigen Leiber der zahllosen heiligen Märtyrer, der Knaben und Jungfrauen … … Wessen Seele krampft sich nicht zusammen bei dem Gedanken, daß diese allerheiligsten Quellen der Gnade Gottes in die Hände des Satans fallen könnten! Oh, laßt es nicht dazu kommen, Ihr Tapferen! Erhebt Euch wie der heilige Georg, der den Drachen besiegt hat! Duldet nicht, daß auch die unzähligen weltlichen Reichtümer, die sich in der ‚von Gott behüteten Stadt‘ befinden, in die habgierigen Hände der Verfluchten fallen! Wahrlich, glaubt mir, im Vergleich zu diesem Reichtum verblassen die Schätze Salomos … All diese Kleinodien werden Euch gehören … Wir werden sie Euch mit Freuden überlassen, denn es geht uns um nichts anderes als um die Befreiung des Christentums und der heiligen Andenken Gottes … Ihr werdet Euch und Eure Geschlechter für viele Jahre bereichern … Schaut nur auf den Inhalt dieses Schreines …“
Er gab dem Diener, der bei dem Dreifuß stand, ein Zeichen, den Deckel der silberbeschlagenen eichenen Truhe zu lüften. Gold– und edelsteinverzierte Leibgurte, Fibeln, Halsketten, Ringe und Armreifen funkelten in den herrlichsten Farben. „Bitte, sucht Euch ein kleines Andenken aus, was Euer Herz begehrt. Es soll eine bescheidene Ankündigung der Reichtümer sein, die an Ort und Stelle auf die Sieger warten. Nehmt doch, edle Ritter, ich bitte Euch … Wenn Ihr keinen Wert auf Gold legt, so sage ich Euch noch im Vertrauen, daß diese Kleinodien im Vergleich zu der Schönheit unserer Frauen verblassen wie der Mond vor der Sonne … Die Griechinnen sind in der ganzen Welt berühmt — und bei Gott, mit Recht! — Ihre Reize und Liebeskünste sind unübertroffen. Kein anderes Weib ruft im Ritter so viel Wollust hervor wie die Griechin … Da sie aber alle aufrechte Christinnen sind, die den heiligen Glauben mehr lieben als ihr Leben, werden sie freudig und liebevoll ihre edlen Verteidiger begrüßen! Sie werden mit nichts geizen …“ Er lächelte und zwinkerte listig mit den Augen, ein erneutes Gähnen unterdrückend. Oh, wie langweilte es ihn, diese Rede Tag für Tag anderen ungeschliffenen Menschen zu wiederholen, den Glauben, die Habgier und die Gelüste in den Barbaren, die nach Schweiß und Leder stanken, nach allen Regeln der Kunst anstacheln zu müssen. Außer ihm war aber kaum jemand dazu in der Lage. Der Stratigos Argyrios bewunderte seine eigene Bereitschaft, dem Vaterlande unter größten Opfern zu dienen. Der edle Pantaleon, der nach dem Willen des Basileus der Vorgesetzte des Logothesions war, sowie der große Protosebastos des Hofes, hätten bei seiner Ernennung zum Gesandten keine bessere Wahl treffen können. Der Stratigos Argyrios zweifelte denn auch nicht daran, daß die erwähnten Würdenträger seine hohen Verdienste gebührend einschätzen und belohnen würden. Die Barbaren hörten seinen Ausführungen zu, ohne etwas zu erwidern. Mit kindlicher Bewunderung betrachteten sie die Kleinodien und verneigten sich würdevoll, aber gleichgültig, als
ihnen der Stratigos die Schmuckstücke in die Hände legte. Dabei wußten sie selber nicht, woher ihr ständig stärker werdendes Mißtrauen und ihr Unwille rührten. Der Gesandte hatte ja so gelehrt und schön gesprochen! Kein Bischof hätte es besser vermocht. Jedoch der untrügliche Instinkt einfacher Naturmenschen gebot ihnen, auf der Hut zu sein. Schließlich brachen sie auf und wurden feierlich von stämmigen, vorzüglich bewaffneten Protospathariern hinausgeleitet. Die Geschenke übergaben sie erleichtert ihren vor dem Zelt wartenden Knappen. Beim Verlassen des griechischen Lagers stießen sie auf eine Schar Krieger in lederner Rüstung, silberbeschlagenen Helmen, mit Schwertern und zweischneidigen Streitäxten am Gurt. Diese unterhielten sich lebhaft, und der Klang ihrer Stimmen ließ die polnischen Ritter erstaunt aufhorchen. „… Landsleute … Russen!“ Sie blieben erfreut stehen, unschlüssig, ob sich ein Willkommensgruß gezieme. Waren das Ritter, Söldner oder Kriegsgefangene? Die andern hatten ebenfalls ihre Nachbarn erkannt und kamen jetzt mit vergnügten Gesichtern auf sie zu. „Wir sind zum Ritter geschlagene Krieger, die freiwillig im Dienste des Basileus stehen.“ Über diese Begegnung hocherfreut, streckten die polnischen Ritter ihre geöffnete Rechte zum Gruß in die Höhe. Vor ihren Augen zog die Stadt Kiew mit den goldenen Toren, zog die Vergangenheit mit den ruhmreichen Feldzügen vorüber … Freudig folgten sie der Einladung der Russen und begaben sich mit ihnen in das Lederzelt ihrer Stammesverwandten. Russen! Woher waren sie gekommen? Der schwere, süße griechische Wein erinnerte an den Met, den sie zu Hause — wie lange war das nun schon her! — zu trinken pflegten, und löste die sonst im Zaume gehaltenen Zungen. „Der unsrigen gibt es hier viele“, erklärten die Gastgeber, „ja, aus aller Welt stammen die Krieger des Basileus … Einen Griechen wird man in diesen Abteilungen aber wohl schwerlich antreffen, es sei
denn durch Zufall. Zusammen mit uns dienen Bulgaren, Dänen, Ungarn, Schweden, Awaren, Petschenegen, Hunnen, selbst Sarazenen und Türken …“ „Heiden?!“ „Freilich! Wir sind natürlich echte Christen, aber Heiden gibt es genug, insbesondere Waräger. Die Griechen sagen, daß ihre Hauptstadt von Gott behütet werde, aber bei der Anwerbung von Kriegern fragen sie nicht nach dem Glauben, sondern nach der Tüchtigkeit. Ihnen ist jeder gleich. Auch den Teufel würden sie anwerben …“ Alle bekreuzigten sich und spien schnell dreimal aus. „Warum ziehen sie denn nicht selbst in den Krieg?“ „Nach Waffen steht ihnen nicht der Sinn, sie sind Müßiggänger. Der Krieg ist ihnen zwar nicht verhaßt, das Leben aber zu angenehm, um es aufs Spiel zu setzen …“ „Womit beschäftigen sie sich denn?“ fragten verwundert die Gäste, für die der Kampf Inhalt und Zierde des ritterlichen Lebens war. „Sie spielen Ball, lieben über alles Pferde– und Wagenrennen, baden gern, lesen wie Mönche, schreiben, singen, schmausen, schwatzen. Wir danken für so ein Leben, aber ihnen bekommt es …“ „Das ist ja kaum zu glauben.“ „Gewiß, wenn es uns Fremde nicht gäbe, hätten die Sarazenen sie schon längst gefressen. Jetzt winseln sie hier um Hilfe … Der Stratigos soll dem Basileus geschworen haben, nicht ohne Hilfe heimzukehren … Hat er nicht versucht, auch Euch zu überreden?“ „Freilich, sogar Geschenke hat er uns gegeben.“ „Er beschenkt jeden, um ihn anzulocken. Er hat leicht geben, denn es gibt dort so viele Schätze wie nirgendwo anders. Die Dächer und Fußböden glänzen wie Gold. Die Schätze der ganzen Welt werden dort aufbewahrt … davon sind sie anscheinend so verblendet. Wir werden ja sehen, ob es dem Gesandten gelingt … So ein schlauer Halunke, dabei ein Hammel …“ „Was wollt Ihr damit sagen?“
„Ich nenne ihn Hammel, weil er ein Verschnittener ist …“ Die polnischen Ritter verstanden dieses Wort nicht. Der Sprecher erklärte es ihnen mit eindeutigen Bewegungen und drastischen Ausdrücken und lachte, als er sah, wie sehr die Gäste davon angewidert waren. „Von dieser Sorte gibt es viele dort. Alle kaiserlichen Bastarde, damit sie keine Ansprüche auf den Thron erheben, oder gewöhnliche Unfreie, welche die Frauen der Nobiles bewachen …“ „Unsinn, so etwas kann niemand glauben, Ihr haltet uns zum besten …“ „Santa Maria dello spàsimo, ich spreche die reine Wahrheit! Das können hier alle bezeugen. Ihre Frauen werden von Verschnittenen bewacht. Wahrlich, eine solche Obhut ist für die Katz; denn die Weiber kommen gern zu uns gelaufen … Sobald es dunkel ist, wimmelt es in den anderen Lagern von Frauenzimmern aus den vornehmsten griechischen Geschlechtern … das ist erst ein Spaß …! “ „Und was sagen ihre Männer dazu?“ „Die tun, als wüßten sie von nichts … außerdem, was kümmert sie das, sie wollen lieber Knaben …“ „Knaben?!“ „Freilich! Mit den Minderjährigen vergnügen sie sich auf widerliche Weise. Was blickt Ihr mich so entsetzt an? Wenn es dem Stratigos gelingen sollte, Euch zu betören, werdet Ihr dort noch ganz andere Dinge erleben.“ Bei diesen Worten warf Oleg, der Sohn Olegs, aus dem uralten russischen Geschlecht der Stammesfürsten, dessen Ahn an dem ewig denkwürdigen Feldzug Swjatoslaws gegen Byzanz teilgenommen hatte, den Becher zornig auf die Erde und zertrat ihn. „Unflätiges Gesindel!“ rief er aus. „Heute noch würde ich mit meiner ganzen Schar in die Heimat zurückkehren, wenn mich der Vertrag nicht bände. Es wäre unrecht, ihn vorzeitig zu lösen. Gold kann man bei ihnen erwerben, soviel man will. Ruhm wird man jedoch nicht erringen, und was ist Gold ohne Ruhm? Früher sollen
die Könige dort kampfeslustige Männer gewesen sein, wie der Bulgarentöter, Basilios II., wie Nikephoros Phokas oder Johannes Kimiskes … Jetzt aber nicht mehr. Sie wollen nur Frieden. In abgefeimten Schwindelmanövern erfahren und redegewandt, winden sie sich, beraten, beschreiben Pergamente und vergeuden Gold, nur um sich durch List vom Kampf fernzuhalten und jemanden zu finden, der sie beschützen soll … Diese Gauner!“ Von dem starken griechischen Wein benebelt und noch ganz benommen von den mannigfaltigen, ihnen fremden Eindrücken, trafen die schlesischen Ritter in ihrem Lager ein. Dort herrschten seltsamerweise ungewöhnlicher Lärm und erhebliches Durcheinander. Zornige Stimmen schwirrten hin und her. Vor Aufregung stotterte Momot Zawora noch mehr als sonst, und es dauerte geraume Zeit, bis seine Gefährten erfuhren, was sich inzwischen ereignet hatte. Die Ritter Gottschalk und Emich, die ohne ersichtlichen Grund in die Gesellschaft aufgenommen worden waren, hatten sich als Erzlügner erwiesen, die eines Rittergurtes unwürdig waren. Sie hatten bei dem reichen Juden David Kalonymos um eine Anleihe nachgesucht. Bekanntlich mußte ein Schuldner, falls er seine Schulden nicht bezahlte, in die Sklaverei gehen. Ein Ritter freilich brauchte das nicht, denn er konnte an seiner Statt Diener schicken, deren Anzahl der Höhe der Schuld entsprach. Die Herren Gottschalk und Emich hatten Kalonymos versichert, daß ihnen das ganze, neben der ungarischen Gesandtschaft liegende polnische Lager gehöre. Sie erklärten frech, sie wären reich, besaßen jedoch in Wirklichkeit nur das, was sie auf dem Leibe trugen, außerdem drei alte Klepper und einen lahmen, triefäugigen Pferdeburschen. Bevor der umsichtige Jude das Geld auszahlte, schickte er heimlich seinen Vertrauensmann ins Lager, um die Angaben zu überprüfen. Man vertrieb und bedrohte diesen mit der flachen Klinge, denn wie konnte sich ein Jude erdreisten, bis ins Lager vorzudringen! Die Kunde von dem beabsichtigten Betrug gelangte jedoch durch die Diener zu den Ohren der Herren und rief eine verständliche
Entrüstung hervor. Die damalige Welt, die Welt der Ritter, hatte gewiß tausend Fehler, war hart, rücksichtslos, grausam und raubgierig, dennoch stand sie treu zu ihrem obersten Gebot, der Glaubhaftigkeit des Wortes. Ein zum Ritter Geschlagener wagte nicht zu lügen, der wertvollste Beiname eines jeden Ritters war „der Rechtschaffene“, „preux“, „probus“. Man betrachtete es als eine Schande, wenn man anders sprach, als man dachte, und die Taten mit den Worten nicht übereinstimmten. Außer der einen Lüge zum Schutz der Frauenehre, die in der ritterlichen Welt der Lateiner gestattet war, verlor der beim Lügen ertappte Ritter den Ritterschlag und seine Ehre. Deshalb beschlossen die empörten Schlesier und Ungarn, die unwürdigen Ritter Gottschalk und Emich als Warnung für andere zu bestrafen. Als die beiden von diesem Zwischenfall erfuhren — wahrscheinlich von ihrem triefäugigen Diener — ließen sie sich nicht mehr im Lager blicken.
ZEHNTES KAPITEL In welchem die beiden Freunde, Papst Urban II. und der Bischof von Puy, Ademar de Monteil, in der Nacht über geheime, göttliche und menschliche Dinge sprechen
Ein
kalter Nordwind wehte über der Stadt und drang in die Fensteröffnungen. Doch Papst Urban II. und der Gefährte seiner Ordensjahre, Ademar de Monteil, der Bischof von Puy, die sich im Turm der Burg des verstorbenen Erzbischofs Durand unterhielten, spürten nichts von der Kälte. Sie nutzten die letzten freien Augenblicke vor der Eröffnung des Konzils, das am nächsten Tage beginnen sollte, und freuten sich nach langjähriger Trennung ihres Wiedersehens. Der hagere, vom Alter gebeugte Papst durchmaß schnellen Schrittes den engen Raum, blieb ab und zu an dem schmalen, hohen Fenster stehen, steckte den Kopf mit den eingefallenen Wangen und den durchdringenden Augen hinaus und ließ sich den schneidenden Wind um die Ohren wehen. Im Halbdunkel der Nacht sah er zu seinen Füßen die Stadt und das wogende Menschenmeer, das sie rings umgab. Tausende von Feuern, die zum Schutz gegen die Kälte entfacht worden waren, strahlten dem Betrachter wie erwartungsvoll entgegen. Obwohl die Nacht längst hereingebrochen war, wurde der Himmel wie von einem blutigen Schimmer erhellt, und Urban II. zeigte seinem Freund mit einer Handbewegung diese eigentümliche Röte. „Schau, Bruder, hast du schon jemals einen solchen Schein zu dieser Stunde gesehen? … Es wird berichtet, daß vor dem Tode Cäsars die Sonne in einem roten Lichtkranz unterging und dieser Lichtkranz bis spät in die Nacht sichtbar war, obwohl die Sonne sich schon längst zur Ruhe begeben hatte … Ist es heute nicht genauso, als löse
sich der Westen von seinen Wurzeln, um auf den Osten zu stürzen …?“ „Was sagst du da?“ Ademar de Monteil schüttelte ungläubig den Kopf und trat ans Fenster. Er überragte seinen Freund um Haupteslänge. Er hatte den Ritterschlag erhalten, bevor er Mönch und Bischof geworden war, und in seinen Bewegungen lagen Kraft und Entschlossenheit. Jetzt standen beide nebeneinander und blickten hinunter auf die zahllosen flimmernden Lichter wie in einen Strudel der Seelen. „Wozu hast du all diese so grundverschiedenen Menschen hierhergeführt?“ fragte Ademar. „Daraus wird nichts Gutes … Du wirst zwischen Robert Courte–Heuse, dem Enkel des Teufels, und dem tollen Raimund von Toulouse keine Freundschaft wecken können. Anstatt zusammenzugehen, wie du es wünschst, werden sie sich gegenseitig bekämpfen, wo immer es auch sei. Eher wird es dir gelingen, Feuer und Wasser miteinander zu verbinden als diese Herren. Sie werden sich und ihre Leute gegenseitig erschlagen, bevor sie die Grenze erreichen …“ „Sie würden sich auch ohnedies langsam zerfleischen. Glaube mir, Ademar, sie werden gemeinsam ziehen. Sie werden sich zwar gegen die treibenden Kräfte auflehnen, aber sie werden ziehen. Sie werden ziehen und ihr Ziel erreichen. Sie müssen! Es gibt keinen Ausweg! Weißt du, was die Gesandten Alexios’ sagen … nicht nach Jahren, sondern nach Monaten wird die Lebensdauer von Byzanz gezählt … wenn das Kaiserreich zusammenfällt, wer wird dann den Zug Mohammeds aufhalten? Die Russen, Bulgaren, Ungarn und das königlose Polen? Mit dem Tage, wo Byzanz fällt, werden sich die Sarazenen auf die Slawen, auf Italien, auf die Pyrenäen stürzen … sie werden Frankreich überschwemmen, Rom einnehmen … sie brüsten sich schon jetzt damit, daß türkische Pferde auf dem verlassenen Grabe des Apostels Petrus weiden werden. So wird es kommen, du wirst sehen, daß es so kommt, wenn wir ihnen nicht beizeiten Einhalt gebieten.“
„Du magst recht haben. Die Ritterschaft soll meinetwegen aufbrechen … Aber wozu diese Menschenmassen? Wozu hast du sie gerufen? Sollen auch sie die Heiden verjagen?“ „Du sagst es! Glaube mir, auch sie werden ziehen.“ „Du bist von Sinnen, Odo! Was können diese ungeübten Haufen, die nichts vom Kriegshandwerk verstehen, schon ausrichten.“ „Laß mich dir das erklären, mein Bruder. Glaubst du denn, daß die Sarazenen das Christentum bedrohen? Gibt es nichts schlimmeres als sie? Sieh doch um dich! Fühlst du nicht auf Schritt und Tritt, daß diese Welt zugrunde geht? Verfault und vermodert? Schau auf das allgemeine Elend, den Schmutz, die Trägheit, die Gewalt, die Unterdrückung, die Gleichgültigkeit gegenüber geistlichen Dingen! Von Jahr zu Jahr wird das schlimmer, von Jahr zu Jahr wird das Leben schwerer, niederdrückender … All das wird uns auf den Kopf stürzen, wenn wir keine neue Ordnung einführen. Diese ganze morsche Welt muß erschüttert, aufgerührt, bis auf den Grund getrübt und dann mit frischem Odem belebt werden. Deswegen habe ich sie alle gerufen … ich will sie von sich selbst wegführen, verstehst du das?“ „Und ob ich es verstehe! Natürlich sehe ich, daß diese Welt fault! Aber, Odo, mir will nur ein Gedanke nicht aus dem Kopf: Es lohnt sich nicht, sie zu erlösen …“ „Und das Christentum?“ rief der Papst entsetzt. Sie schwiegen eine Weile. „Erinnerst du dich“, begann Ademar leise, mit verhaltener Glut, „vor fünfhundert Jahren dachten die Menschen, das kaiserliche Imperium und das Christentum seien eins. Fällt der Cäsar, so fällt auch Christus, hieß es. Auch die Bischöfe belegten diejenigen mit dem Bann, welche den Barbaren die Städte auslieferten. Man betete für das Imperium. Der Cäsar fiel, aber Christus blieb. Wird es jetzt nicht ebenso sein?“ Der Papst wies das mit einer lebhaften Handbewegung von sich. „Nein, nein! Das kann man nicht miteinander vergleichen. Wenn die heutige Welt vergeht, so fällt auch die Kirche.“
Ademar lächelte bitter. „Die Kirche …“, wiederholte er. „Ich denke an die große Zahl unserer Bischöfe, Äbte …“ „Sprich nicht weiter! Ich weiß, was du denkst. Trotz allem sind sie die Kirche, die Kirche aber und Christus, das ist eins.“ „Bist du dessen so sicher?“ Urban wandte sich ungestüm dem Sprecher zu. Sein Gesicht war weiß wie ein Leichentuch. „Höre“, sagte er mit gedämpfter Stimme, „selbst in einer Nacht wie dieser, in der wir allein sind, nur Gott uns hört und niemand uns belauschen kann, ist es dir nicht gestattet, solche Gedanken auszusprechen. Ich dulde das nicht! Nimm dich in acht! Ich verbiete es dir als dein Vorgesetzter! Du bist auf dem falschen Wege. Zuviel Wissen hast du erworben, du befaßt dich zu sehr mit den griechischen und römischen Weisen.“ „Man kann nie genug lernen.“ „Ach, Bruder, wenn der Mensch zuviel weiß, traut er sich zuviel zu. Er will begreifen, was unbegreiflich ist, und gerät auf Irrwege. Die lächerlichen Gnostiker mit ihren Äonen, mit ihren Stufen, mit dem Glauben, daß sie unsichtbar werden könnten, sie sind die Früchte allzu großer Gelehrsamkeit.“ „Niemals werde ich dem zustimmen. Auch du hast früher anders gedacht. Rom hat dich verändert. Aber lassen wir das. Willst du etwa ein zweiter Moses sein? Willst du diese unwissenden, zänkischen, hungrigen, armen Schlucker in die Wüste führen, wie er das Volk Israel geführt hat? Bedenke, daß ihm der Herr sichtbarlich geholfen hat.“ „Warum sollte Er nicht auch mir helfen? Vor Seinem Antlitz ist der heutige Augenblick gleich dem vor tausend Jahren. Was hat sich geändert? Seine Macht?“ „Du hast dir den Glauben an Wunder bewahrt, Odo.“ „Hast du ihn verloren?“ „Vielleicht. Ich glaube genauso stark wie einstmals, als wir über Gottes ewige Barmherzigkeit meditierten. Ich glaube an den Sinn
und den Zweck der Schöpfung, obwohl diese so tief, so schmerzlich tief für uns verborgen sind. Ich wäre ohne diesen Glauben verloren. Ich ginge unter in dieser so grimmigen, unehrlichen und leeren Welt, wenn ich nicht wüßte, daß bei dem barmherzigen Gott, der weder mißgünstig noch nachtragend ist, die verkörperte und gottgewordene Mütterlichkeit als Königin nicht regierte, bei der man Zuflucht suchen und wo man sich geborgen fühlen kann. Ich glaube, daß diese heiligsten Mächte ständig wachsam sind, selbst den elendesten menschlichen Staub nicht verschmähen. Nur mit solchem Bewußtsein kann ich auf der Welt leben, ohne wahnsinnig zu werden. Auch ich glaube an Wunder, nur bezweifle ich, daß sie so oft geschehen, wie die Menschen es erzählen. Dagegen glaube ich nicht an deinen wahnwitzigen Plan, Bruder. Nein, ich glaube nicht daran! Denn manchmal scheint es mir, als sei das Christentum auf die mensche Natur gefallen wie eine Engelsblume auf einen Felsen, eine Blume, die nicht gediehen ist und auch nicht gedeihen kann. Jeder mit Verstand begabte Mensch, und wäre er auch ein Heide, muß einsehen, daß das Christentum das einzige Heilmittel gegen alle Schmerzen der Welt ist. Sich lieben, statt zu hassen! Schaffen, statt zu zerstören! Das Christentum sorgt für Mütter und Kinder, für alles, was alt und gebrechlich ist, verteilt die Güter gerecht, bindet die Mächtigen und Starken mit den Fesseln des eigenen Gewissens. Wäre damit nicht die Welt das verheißene Königreich Gottes? Aber die menschliche Natur hat das Christentum nicht angenommen, und sie wird es nicht annehmen! Weißt du aber, was vonnöten ist, damit sich dein Plan verwirklichen läßt? Damit sich wenigstens die Hälfte dieser Menschen als Christen fühlt? Du begreifst doch, was das bedeutet.“ „Man muß den festen Glauben haben, daß sie sich ihres Christentums bewußt werden.“ „Das gebe Gott! Wer wird sie aber führen? Dieser Mönch Peter aus Amiens?“ „O nein. Dieser brave, ehrliche Mann ist nur die Brandfackel Gottes. Führer muß ein Gesalbter sein, ein gekröntes Haupt, dessen
Oberherrschaft und Überlegenheit unsere Edlen anerkennen. Włodzisław von Ungarn, der Sohn einer polnischen Mutter, ist ein gerechter Herrscher, ein wahrer Ritter. Ich habe ihm im vergangenen Sommer eine Geheimbotschaft überbringen lassen. Er ist einverstanden. Soeben sind seine Abgesandten mit Antwort eingetroffen. Zusammen mit ihnen ist auch eine Gruppe polnischer Ritter gekommen.“ „Polen? Was gibt es dort Neues?“ „Nichts Gutes. Der Fürst führt nach seinem Großvater, dem Erzbischof von Köln, den Vornamen Hermann, ist aber ein unfähiger Herrscher. Er hat dem Thron freiwillig entsagt und ist Lehnsmann des deutschen Kaisers geworden. Er führt Krieg gegen seinen Sohn und hat einen Günstling. Nein, das ist nicht mehr das Polen, dem Papst Gregor VII., Hildebrand, gebot, die Brücke zwischen Ost und West zu sein, und dem er große Bedeutung beimaß. Vielleicht kehrt diese Zeit wieder. Es ist wirklich gut, daß am morgigen Tage die polnischen Ritter nicht fehlen. Auch der Sohn des Königs von Dänemark ist da. Sogar Bohemund soll von Tarent aufgebrochen sein und uns entgegenziehen.“ „Nimm dich vor dem in acht! Es wird erzählt, vor ihm sei selbst der Teufel geflohen, weil er sich gefürchtet habe, hinters Licht geführt und verkauft zu werden.“ „Ich fürchte mich nicht!“ Der Wind wehte schärfer, deshalb traten sie vom Fenster zurück. „Also wird Włodzisław von Ungarn ihr Führer sein. Gut, daß es für dein Vorhaben wenigstens noch einen lebenden König gibt, der nicht mit dem Bann belegt ist“, bemerkte Ademar ironisch. „Wessen Schuld ist das denn?“ ereiferte sich Urban. „Unsere Bischöfe mißbrauchen die Bannflüche, sie verhängen sie oftmals unnötigerweise.“ „Was sollen sie denn sonst tun? Weißt du ein anderes Mittel zur Zähmung der Menschen?“
„Sage du mir lieber, ob Martin, der brave Bischof von Tours, der durch sein Wort die heidnischen Götzen stürzte, ein gerechter Heiliger gewesen ist oder nicht.“ „Ja, das ist er gewesen, und zwar der größte!“ „Hat dieser Martin nicht gesagt: ‚Selbst du, unglücklicher Satan, könntest der Gnade Christi teilhaftig werden, wenn du aufhörtest, die Seelen zu verderben‘?“ „Ja“, gab Urban nachdenklich zu, „das hat er gesagt. Und es wird erzählt, der Satan habe dann zum erstenmal seit seinem Fall geweint und sei davongelaufen.“ „Siehst du! Schon die Reue genügt, einer Strafe bedarf es gar nicht. Weshalb achtet man bei uns so auf Strenge? Weshalb droht man wegen der geringsten Kleinigkeit mit der Verdammnis und verwehrt die Vergebung der Sünden?“ „Ich handele nicht so.“ „Ich weiß es. Aber die anderen? Ist die Lehre nicht dieselbe wie die Martins?“ „Das ist sie. Doch manchmal ist es leichter, den Satan zu beschämen als den Menschen.“ „Zorn bessert niemanden.“ „Zeige mir einen anderen Weg!“ „Es gibt keinen, Odo. Schlage dir aus dem Kopf, daß man die Welt bessern kann. Man kann es nicht. Dein Plan ist Wahnsinn, bei dem ich meine Hand nicht gern im Spiele haben möchte.“ „Man muß auch nach dem Wahnsinn greifen, wenn einem das Verderben droht.“ „Das wird das Verderben nicht abwenden. — Ach, Bruder, wann werden wir zur Ruhe kommen? Am besten wäre es, man flüchtete ins Gebirge oder in die Einsamkeit der Meeresküste, träumte, daß die Welt so glücklich und sündenlos sei wie am Tage der Schöpfung und von Nichts anderem wisse als von Gottes Allgegenwart und Güte.“
ELFTES KAPI TEL In welchem Peter von Amiens und der Papst sprechen, Tausende zuhören, Tausende antworten, die Flamme der Begeisterung wie ein Sturmwind dahinbraust und der Kreuzzug beschlossen wird
Von den dunklen, schweigenden Bergen, in denen vor Tausenden von Jahren lebendiges Feuer gebrodelt hatte und in das Tal hinab geflossen war, wehte ein so kalter Wind, daß man hätte annehmen können, man wäre im fernen Polen und nicht im milden französischen Süden. Doch die zahllosen Menschen, die, eng zusammengedrängt, Schulter an Schulter standen, wärmten sich gegenseitig und vergaßen über ihrer fieberhaften Neugier die Unbilden der Witterung. Durch das wochenlange Warten waren alle ihre Gedanken aufs äußerste angespannt. Diese Stimmung wurde noch von den vielen, sich unter das Volk mischenden Mönchen und anderen päpstlichen Legaten gesteigert, die von seltsamen und schrecklichen Zeichen berichteten, von denen die Erde und der Himmel voll sein sollten: Der Bosporus war zugefroren! Auf dem Nil waren im vergangenen Winter Eisschollen getrieben! Und die Menschen, die noch nie etwas vom Nil und Bosporus gehört hatten, bekreuzigten sich ängstlich schon beim Klang der fremden Namen. Mit nicht geringem Schrecken hörten sie, daß in Burgund ein Steinregen niedergegangen sei und daß auf jedem Stein das Kreuzeszeichen gewesen wäre. Feurige Sterne wären an vielen Orten des Nachts auf die Erde gefallen. Ein Komet, ein Unheilverkünder, war Nacht für Nacht über Byzanz zu beobachten. In Paris war ein zweiköpfiges Kalb geworfen worden. All das waren untrügliche Zeichen für den Zorn Gottes, Zeichen bevorstehender furchtbarer Ereignisse. Andere Redner wiederum wiesen auf das schwere Schicksal der unfreien Menschen hin, auf
die Mühsal und das Elend und versprachen ein leichteres Leben in der Fülle des Gottessegens. Diesen Gerüchten wurde begierig Gehör geschenkt. Es lag nahe, zu glauben, daß nach diesen Zeichen und Wundern ein einschneidender Wandel der Verhältnisse eintreten würde. Es schien den Versammelten unwahrscheinlich, daß sie nach dem Konzil wieder nach Hause gehen könnten, um so weiterzuleben wie bisher, so, als wäre nichts geschehen. Sie standen im eisigen Wind auf diesem großen Anger wie vor dem verschlossenen Tor der Zukunft, bereit, alles gutzuheißen, was sich hinter ihm verbarg. Sie warteten nur auf die Losung, warteten, daß man ihnen sage, was sie tun und vollbringen sollten. Sie wußten selbst nicht, wie weit sie sich in den letzten Wochen von ihrer elenden Lebensweise gelöst hatten, als sie sich jetzt unbewußt zu einer langen Reise ins Ungewisse bereit hielten. Am Ende dieses Weges sollte ein besseres Schicksal aufleuchten — das deuteten die Mönche geheimnisvoll an —, ein schönes, lebenswertes und gleichzeitig nützliches Morgen. Die Hoffnung auf dieses Kommende entflammte die Gemüter, regte ihre Vorstellungskraft um so mehr an, als es kaum jemand gab, der dem bisherigen Leben nachgetrauert hätte. In der herrschenden Gesellschaftsordnung fühlten sich nur wenige, nur sehr wenige frei und glücklich. Die Menge harrte der Dinge, die da kommen sollten. Man wartete schon seit dem Morgengrauen. Manche waren bereits in der Nacht aufgestanden, um sich möglichst früh die vordersten Plätze zu sichern, von wo alles gut zu hören und zu übersehen war. Diese bevorzugten Plätze gab es allerdings nicht zu ebener Erde, wo man bald von den edlen Herren vertrieben worden wäre, sie fanden sich auf Bäumen, auf den nahen Dächern und Mauern der Stadt, wohin sich natürlich keiner der Hochgeborenen begab. Das übrige Volk drängte sich in dichten Haufen ringsum. Den Ort für diese feierliche, so lang erwartete Versammlung hatte man in der Nähe des Herviustores gewählt. Ursprünglich sollte das Konzil auf dem freien Marktplatz stattfinden. Da aber die Ruine eines heidnischen Tempels in der Mitte dieses Platzes stand, schien
dieser Ort dem Heiligen Vater ungeeignet. Die heidnischen Dämonen, die zweifellos noch in den Trümmern hausten, beeinträchtigten vielleicht den glücklichen Verlauf der Veranstaltung. Außerdem begann dicht beim Tore des heiligen Hervius ein weit sich hinziehender, sanfter Hang, der, von der Stadt aus gesehen, in ein tiefes Tal überging, das bis Montferrand reichte. Von diesem Hang aus konnten sogar die weiter entfernt Stehenden erhoffen, die Gestalt des Heiligen Vaters und Peters des Eremiten zu erblicken. Würden sie aber auch die Worte der beiden vernehmen? Wohl kaum, denn keine menschliche Stimme war imstande, das große Feld, auf dem eine hunderttausendköpfige Menge stand, zu beherrschen. Nur die Zuhörer in der Nähe der Redner würden die Worte hören und sie den weiter entfernt Stehenden wiederholen können. Doch der Heilige Vater, der die Volksmassen hierhergerufen hatte, würde schon dafür Sorge tragen, so tröstete man sich, daß sein Anliegen zu aller Ohren dränge. Hinter der die Umgebung überragenden Rednerkanzel befanden sich die Zelte der griechischen Gesandtschaft, leuchtete das Labarum mit dem gespaltenen Adler, und seitab davon wehte die rote dänische Fahne mit dem großen weißen Kreuz. Vor der Kanzel, auf einer quadratischen, freien Fläche versammelten sich die Hochgeborenen entweder zu Pferde oder zu Fuß auf estradenartigen Erhöhungen. Da die Kälte zunahm, der Heilige Vater aber immer noch in der Kathedrale im Gebet verweilte bewegte sich die Menge hin und her, um sich zu erwärmen. Von vier voranschreitenden Rittern begleitet, bahnte sich der dänische Königssohn Sven von der Anhöhe hinab zu den polnischen Edlen seinen Weg. Er war wohlgestaltet, blutjung und freute sich, die Krieger aus dem Stamme seiner Großmutter Storrada kennenzulernen. Mit kindlicher Neugier betrachtete er sie, stellte Fragen in lateinischer Sprache und errötete dabei wie ein junges Mädchen. Die polnischen Ritter musterten ihn dagegen mit Rührung und Stolz.
Der sich erhebende Lärm kündigte jetzt die Ankunft des Heiligen Vaters an, daher machte sich Sven eiligst wieder davon. Die hügelan wogende Menschenmenge drängte ihn und seine Ritter etwas vom Wege ab und zu der Stelle hin, wo auf einem erhöhten, mit Purpur bedeckten Podium, das kaum niedriger war als das des Papstes, Philipp von Burgund, der mächtigste er fränkischen Herzöge, mit seinem Hofe stand. Seine Tochter Florina beugte sich neugierig über die Balustrade. Sie hatte lange blonde Zöpfe, die zur Verlängerung mit einem goldenen Salband verflochten waren. Im Gegensatz zu dieser Würde verleihenden, beinahe steif wirkenden Haartracht leuchtete ihr rosiges, kindliches Gesicht mit großen blauen Augen und zarten, etwas geöffneten Lippen, während die zierliche Gestalt in ein weißes Gewand gehüllt war, das den Kleidern der Standbilder an den Kathedralen glich. Die herabhängenden Zöpfe streiften den Kopf des Prinzen. Sven schaute hoch, und als er ihrem Blick begegnete, blieb er stehen. Die beiden jungen Menschen sahen einander lange verwundert an, so daß der Herr von Burgund mit zufriedenem Lächeln seinen Schnurrbart strich. Es schien ihm nicht unangenehm zu sein, daß der Königssohn wie verzaubert vor seiner Lieblingstochter stand, die unbewußt den steifen Zopf löste, um ihn gleich darauf wieder zusammenzuflechten, so als wolle sie damit ihre Schüchternheit und Verwirrung verbergen. Da Herzog Philipp ein sachlich denkender, scharfsinniger Mann war, überlegte er sich sogleich die mutmaßlichen Folgen dieser, wenn auch flüchtigen, ersten Begegnung der jungen Menschen. Ein Königssohn … Dänemark, ein allerdings sehr fernes Land … Regiert von einem vornehmen Geschlecht … Ein reicher Hof, wie es hieß, warum nicht? Ein Herzog von Burgund durfte es schon wagen, seine Tochter einem König oder Kaiser zu vermählen. Wenn er nur gewußt hätte, mit wem dieser König von Dänemark Freundschaft hielt und mit wem er sich etwa im Kriegszustand befand. Würde sich dieser Schwiegersohn auch gegen den verhaßten Gelbschnabel, den König in Paris, verwenden lassen? Nachdem Sven seinen Blick von Florina
gelöst hatte, verneigte er sich höfisch vor deren Eltern und schritt davon. Ihm nachschauend, beschloß der Herzog so schnell wie möglich den listigen Arnuld, den Kaplan des Normannenherzogs Robert, rufen zu lassen, der alle nordischen Angelegenheiten genauestens kannte, um Einzelheiten über den dänischen Hof zu erfahren. Doch plötzlich unterbrach ein gewaltiger Ton, ein Aufschrei, diese nüchternen Erwägungen. Er übertönte das tausendfältige Stimmengewirr und schallte seltsam, wie mit hundert Zungen: „Volk! Christliches Volk!“ Wessen Stimme war das? Das war doch nicht die Stimme Peters des Eremiten, der auf der päpstlichen Estrade stand, dieser kaum sichtbaren, winzigen, beinahe lächerlich wirkenden Gestalt mit der übergroßen Kapuze und den Bewegungen eines Insektes! Doch es waren tatsächlich Peters Worte, die allerdings von dreihundert sinnvoll aufgestellten Sprechern wiederholt wurden. Diese standen auf umgekippten Fässern und auf Holzklötzen und waren darin geübt, jedes Wort des Redners, fehlerlos und unverfälscht, so laut wie möglich zu wiederholen. Die Sprecher waren in zehn immer größer werdenden Kreisen aufgestellt und beherrschten mit ihrer Stimme auf diese Weise das ganze Feld. So schienen die Worte des kleinen Mannes in der großen Kutte überall gleichzeitig zu erschallen und sozusagen unmittelbar von oben auf die Menge herabzufallen. „Menschen, die ihr hier wartet! Christen, wißt ihr, was die drohenden Zeichen auf der Erde und am Himmel bedeuten? Die Gebeine des großen Papstes Gregor schlagen aneinander, sie klopfen in dem Sarge, weil sie nach dem Tode des Gewaltigen keine Ruhe finden. In Kleinasien bebt seit zwei Monaten die Erde, so daß Häuser und Bäume stürzen und Felsen zur Erde fallen. Wie die Gebeine des Papstes in dem unterirdischen Gewölbe klappern, so bebt dort die ganze Erdoberfläche. Alles lebt in Angst und banger Erwartung des Kommenden. Über dem Heiligen Lande steht ein Stern mit einem Feuerschweif. Das ist immer ein Vorzeichen der
Vernichtung. Wem gilt diese Vernichtung? Wem? Was bedeuten alle diese Zeichen? Christen! Sie künden den furchtbaren Zorn Gottes über die Schändung der allerheiligsten Stadt an. Das Grab Christi wird schnöde und frevelhaft entehrt! Es befindet sich in heidnischen Händen! ‚Wo sind die Christen? Gibt es keine Christen mehr auf der Welt? Sie sollen antworten, wenn sie da sind! Sie sollen hören!‘ so ruft der Erzengel, und das sind dieselben Worte, mit denen er zum Jüngsten Gericht schreiten wird. Hört mich an: denn ich spreche auf Befehl des Erzengels! Ich berichte euch, was ich mit eigenen Augen gesehen, mit eigener Hand berührt und mit eigenen Ohren gehört habe. Ich bin in Jerusalem gewesen, dieser allerheiligsten Stadt. Ich, der ich vor euch stehe, bin selbst dort gewesen. Mit diesen meinen eigenen Füßen habe ich das Heilige Land durchwandert. Mit diesen meinen Augen habe ich geweint. Diese Hände haben die geborstenen Felsen von Golgatha berührt. Ich habe alles gesehen. Zwei Monate lang habe ich zusammen mit anderen Pilgern, unter Aussätzigen und Flüchtlingen, im Staube am Tor der Heiligen Stadt gelegen und vergeblich auf die Erlaubnis der Wächter gewartet, die Stadt betreten zu dürfen. Wenn ein Scheich oder Kaufleute vorbeigezogen sind, haben wir versucht, zwischen den Beinen der Kamele hindurchzuschlüpfen. Manchmal ist das einem von uns gelungen. Aber, wenn die Wächter ihn bemerkten, dann fluchten sie fürchterlich und schlugen mit Peitschen auf ihn ein. Andere, die von den Gefangenen unsere Sprache gelernt hatten, um uns verhöhnen zu können, riefen von den Mauern: ‚Schwach ist euer Gott, wenn er euch in seine Stadt nicht einlassen kann‘, und andere wiederum lästerten: ‚Er ist kein Gott, kein Prophet, er kümmert sich nicht um euch‘. Das haben wir anhören müssen, dazu mußten wir schweigen. Da hast du, armseliger, kleiner Mensch, mit Füßen getreten, geschlagen, geschunden, von der Sonne verdorrt wie ein Holzspan, vom Hunger geschwächt und von der Schande bitter geworden wie Mauerpfeffer, dagelegen. Endlich ist es mir gelungen, unter einem Kamel verborgen, in die Stadt zu dringen. Aber die anderen, meine Gefährten, sind draußen geblieben.
Entweder sind sie gestorben, oder sie liegen heute noch in der Sonnenglut. Als ich aber in die Stadt gelangte, o Gott, du großer Gott!“ „O Gott, o Gott!“ schallte es über den Köpfen der Menge. „Ein Sklave lebt bei einem bösen Herrn immer noch besser als die Christen. Jeder muß zu Spott und Hohn ein bleiernes oder eisernes Kreuz, das mehr wiegt als zwanzig Pfund, um den Hals tragen. Von dieser ständigen Marter zittern ihnen die Glieder. Von dem ewigen Grauen haben sie das Lachen verlernt. Selbst Gott beweint sie. Es wird erzählt, daß kein Monat vergeht, ohne daß der Patriarch einen vom Himmel gesandten Brief auf dem Altar der Heiligen Basilika findet. Auch der Erzengel schreibt häufig Briefe, und die liebe Mutter Gottes oder der Erlöser selbst unterschreiben sie mit eigener Hand. Jemand, der es selbst gesehen hat, berichtet, daß ein Brief zur Bestätigung seiner Glaubwürdigkeit mit dem Allerheiligsten Blut besiegelt war. Der Herr beklagt sich in diesem Schreiben, daß der von ihm geheiligte Ort geschändet werde, und ruft zur Verteidigung auf. ‚Das Heidentum, das sich dort, wo ich den Tod erlitten habe, wie die Pest ausbreitet, ist mir ein Greuel‘, so spricht der Herr. ‚Ich habe mich über die Menschen erbarmt und den Vater gebeten, Er möge das Ende der Welt nicht herabschicken, wie es Sein Wille war. Nun aber werde ich mich nicht mehr für die Menschheit opfern, wenn sie mich so mißachtet!‘“ „Mich so mißachtet!“ ertönten die Stimmen der Wiederholer. „O Jesu, o Jesu!“ brauste es wie ein Sturm über die Menge. „Und noch etwas anderes stand in dem Brief! Der Patriarch hat es mir selber vorgelesen: ‚Wenn sie kommen, um mich zu verteidigen, so werde ich selbst mich an ihre Spitze stellen, so wie ich einst die Menschen, die mir gefolgt sind, in diesem Lande geführt habe, und werde die Sarazenen vertreiben.‘“ „O Jesu, Jesu!“ „Das, Brüder, habe ich gesehen und gehört. Gott hat mich heil von dannen ziehen lassen, damit ich euch das alles sage. Und wie der Erzengel rufe ich: Wo sind die Christen?! Warum hüten sie das
Grab nicht? — Sie jagen nur ihrem Hab und Gut nach und warten auf den Segen Gottes. Aber wie soll der Herr diejenigen segnen, denen Er mit Recht zürnt? Hütet euch vor Seinem Zorn und Seiner Strafe! Schlecht ist der Soldat, der seinen Herrn nicht beschützt. Schlecht ist der Sohn, der das Grab seiner Väter nicht achtet. Für ihn wird es im Hause des himmlischen Vaters, das seit der Erschaffung der Welt bereitet ist, keinen Platz geben. Das sage ich euch, ich, der ich dort gewandelt bin. Darum auf! Nach dem Heiligen Lande! Befreit Christus! Alle, die an Gott glauben, nicht nur die Krieger! Der Tag ist gekommen an dem niemand hinter sich schauen oder die Hand an den Pflug legen darf. Verlaßt alles und zieht! Große Tage stehen bevor. Sie gleichen denen, da Christus noch auf Erden wandelte. Wehe den Blinden, die es nicht begreifen und zu Hause bleiben! Wir ziehen alle, und Christus wird uns sichtbar führen. Umgürte sich jeder und breche auf, ob alt oder jung, ob stark oder schwach, ob frei oder unfrei, vertreibt die Sarazenen! Rettet das Kreuz vor der Schande! Wir ziehen alle, die wir Gott in uns fühlen und nicht den Teufel. Ihr habt gesehen, wie gestern die Abendröte in der Form eines Kreuzes geleuchtet hat. Das ist ein Zeichen Gottes! Christen! Laßt uns dieses Kreuz nehmen und ziehen!“ „Laßt uns ziehen! Laßt uns ziehen, laßt uns ziehen!“ hallte es donnernd über das ganze Feld. „Auf nach dem Heiligen Lande, nach Jerusalem! Alle, die ihr hier seid! Jeder ist fähig, einen Speer oder eine Axt zu schwingen. Erhebt euch ohne Furcht. Große Wunder kündige ich euch an. Es wird wieder der Stern aufleuchten, der nach Bethlehem geführt hat. Auch die Feuersäule, von der Moses in der Wüste geleitet worden ist, wird von neuem auflodern. Den Hungrigen wird Gott unterwegs das wunderbare Manna herabschicken. Alle Wunder, welche die Propheten verkündet haben, werden wieder geschehen und uns zuteil werden. Gott wird uns segnen. Wem sollte Er denn freigebiger helfen als uns, die wir uns Ihm ergeben haben?! Für das heilige Kreuz! Gen Osten, gen Osten!“
„Gen Osten! Gen Osten!“ dröhnte es mit gewaltiger Kraft. Dies waren nicht nur die Wiederholer, sondern die ganze weite Ebene bebte von den stürmischen Rufen: „Für das Kreuz! Gen Osten!“ „Rettet Jerusalem! Gen Osten, auf dem Wege, der uns durch Wunder gewiesen wird! Gen Osten, wo das Manna den ewig hungrigen Habenichtsen als Speise dienen wird. Gen Osten!“ Peter der Eremit wankte erschöpft von der Estrade. Anstelle der grauen Gestalt stand jetzt ein weißer, hagerer Mann, der Papst in feierlichem Ornat, die dreifache goldene Tiara auf dem Haupt und ein goldenes Kreuz in der Hand, mit dem er die Versammelten segnete. Das Aufblitzen des Kreuzes durchschnitt die graue, kalte Luft. „Meine Brüder in Christo! Dem, was Peter als Diener Gottes gesagt hat, füge ich, der Statthalter Christi auf Erden, hinzu: Der Augenblick ist gekommen, da ihr alle aufbrechen müßt. Ein großer Augenblick! Oft vergehen tausend und mehr Jahre, ehe eine solche Stunde wiederkehrt. Das Heilige Grab muß befreit werden. Wir müssen uns selbst befreien. Wird das Kreuz vernichtet, so werden auch wir untergehen. Der Halbmond auf den Türmen, das bedeutet Asien anstelle Europas. Deshalb müssen alle ziehen, die hier versammelt sind: Franken, Burgunder, Provenzalen, Normannen, Deutsche, Ungarn, Polen, Dänen. Zu euch allen spreche ich, doch wende ich mich zuerst an die Franken. Meine Brüder, Landsleute! Ihr kennt mich besser als meine anderen Söhne. Ich rufe vor allem euch auf, denn ich weiß, daß ihr ziehen werdet. Ich habe diesen Aufruf nicht in Rom erlassen, denn er hätte dort keinen Widerhall gefunden. Italien! O undankbare Tochter! Der Fürst der Apostel kam zu ihr, und man marterte ihn. Wir haben die sterblichen Überreste der Heiligen des Herrn mit Gold und Kleinodien umgeben, die Überreste der Heiligen, die man dort den wilden Bestien zum Fraße vorgeworfen hat. Liebliches, französisches Land, du kennst mich! Wo wird man mich füglich leichter erhören und verstehen als hier? O liebliche provenzalische Küste, die du durch den Fuß des Lazarus und den seiner Schwestern Maria und Martha
geheiligt bist. Denn diese haben hier das Apostelamt ausgeübt, und ihre Schatten weilen unter uns. Maria aus Magdala hat ihr gottgefälliges Leben in der Grotte von Saint–Beaume, in der Nähe von Marseille geendet. Der heilige Longinus, der Soldat Christi, hat auf seinen Schultern den Leib der heiligen Anna nach der Insel St. Barbara bei Lyon gebracht. Deswegen bin ich hierhergekommen. Frankreich, du älteste Tochter der Kirche! So wie Moses auf seiner Flucht aus Ägypten die heiligen Gefäße von dort mitgenommen hat, so auch du auf deiner Flucht aus dem zusammenstürzenden Imperium, was dieses an großem und wertvollem besessen hat. Du einzige! Du wirst es nicht dulden, daß jetzt alles das, was du gerettet hast, verfalle und zunichte werde. Auf, zum Kampf für das Kreuz! Christus ist unser höchstes Gut! Das Christentum ist unser einziger Hort, unser Verdienst, unsere einzige Ehre. Ohne das Christentum wären wir habgierig, zänkisch und kleinmütig, wahrlich, wir zählten geringer als die Heiden, die uns umgeben, und wären wert, daß diese uns vertilgten. Verteidigen wir Christus und uns selbst! Auf, nach dem Heiligen Land, denn Gott will es.“ „Gott will es! Dio li volt! Deus sic vult! Dieu le veult!“ „Gott will es!“ Und das große Feld erzitterte brausend, bebte, erschallte, wogte, schwoll von dem gewaltigen Schrei der Menge. Urban II. hob wieder die Arme. „Seid still!“ riefen die Wiederholer. „Allerliebste Brüder! Hört, was ich sage, kraft meines Amtes als Nachfolger Petri auf Erden: Wer zur Verteidigung des Kreuzes auszieht, wird frei, und niemand hat mehr ein Recht auf ihn! Er ist frei, er gehört Christus, er ist ein Kreuzfahrer, ein Sohn des Kreuzes. Kraft meines Amtes als Statthalter Christi erkläre ich alle Lasten, Verpflichtungen, Abgaben und Schulden für nichtig. Ich löse die Ordensgelübde. Wer das Kreuz nimmt, soll frei sein wie der Vogel in der Luft. Ich erlasse ihm die Strafen und verzeihe ihm alle seine Vergehen. Tuet Buße und betet! Ich werde aber noch mehr tun: Ich werde die Last von eurem Gewissen nehmen, damit ihr engelgleich und reiner als der Schnee von dannen ziehen möget.“
„Tuet Buße und betet!“ riefen die Wiederholer. Wie wenn ein Sturm über das Feld gefegt wäre, so neigte sich alles zur Erde. Die unübersehbare Menschenmenge warf sich auf die Knie, fiel auf ihr Antlitz und erbebte schluchzend im Gefühl ihrer Schuld und ihrer unzählbaren Sünden. Kardinal Gregor Papareschi kniete vor Urban nieder. Er betete mit lauter Stimme. Die ganze, das Feld füllende Volksmenge wiederholte im Chor sein Gebet: „… Confiteor Deo omnipotenti …“ Die hinteren Reihen griffen die Worte der vorderen auf, und es gab keinen, dessen Lippen nicht bebend und verzückt seinen Glauben an die große Barmherzigkeit Gottes verkündeten, der nicht laut seine Sünden bereute, alle Sünden, die in Gedanken, Worten und Werken, nimis cogitatione, verbo et opere, begangen worden waren. Die gewaltige Woge der Stimmen brandete gegen die Füße des Papstes, und wie durch ihren Klang gezwungen, hob er segnend beide Arme. Es sollte ihnen vergeben sein, worin auch immer sie gefehlt. Sie sollten reiner werden als der Schnee … im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Ein Aufatmen freudiger Erleichterung ging über das Tal. Raoul de Beaugency, der Ritter, der dem Teufel seine Seele verschrieben und sie nun wiedererlangt hatte, weinte wie ein Kind. Das Weib, das seinen grausamen Schwiegersohn vergiftet hatte, schlug aus Dankbarkeit mit der Stirn auf die Erde. Der Papst sprach weiter, langsam, Wort für Wort, damit die Wiederholer nichts ausließen: „Ihr werdet alle ziehen! Frei und gleich! Wie gern würde ich bei euch sein, euch führen, ihr Streiter Christi! Aber diese Freude ist mir nicht vergönnt. Es ist mir nicht gestattet, Rom so lange zu verlassen. Doch meine Gedanken und meine Gebete werden mit euch sein. Euer geistiger Führer wird unser Herr Jesus Christus selbst sein. Er wird eure Schritte lenken und euch zum Ziele führen. Zu seinem sichtbaren Vertreter ernenne ich Włodzisław, den König
von Ungarn, ein Vorbild würdigen Rittertums. Unter seiner Führung werdet ihr, so Gott will, sicher zum Heiligen Lande gelangen.“ „Ich nehme das Kreuz! Dio li volt!“ rief Raimund von St. Gilles, der Graf von Toulouse. „Ich nehme das Kreuz! Dieu le veult!“ riefen gleichzeitig die Bouillons, die beiden Herzöge von Lothringen. „Dieu le veult!“ stimmten die Normannen im Chor mit ein. „Gott will es! Gott will es!“ Auf dem weiten Platz drängte alles vorwärts. Ritter und Unfreie strebten gleicherweise zum Heiligen Vater und baten, sie als Kreuzfahrer sichtbar zu kennzeichnen. Es wurden Scheren gereicht, und die neben dem eiligen Vater stehenden Bischöfe schnitten aus der purpurnen Verkleidung der Rednertribüne Kreuze. Jeder heftete sich ein solches auf den rechten Arm. Hunderte von Händen streckten sich aus, und dahinter drängten sich Tausende und aber Tausende. Nach Jerusalem zu ziehen, gelobten die Herren de Foix, de la Tour, der vor Verzückung ganz mit Tränen benetzt war, d’Armaillac, de Beaugency, der Bruder des Königs Hugo und der Gelehrte Stephan, Robert Courte–Heuse und Robert von Flandern, Omer und Wilfried de Guillebaut, die Brüder Salviac de Viel Castel und der Graf Hainaux, der blutjunge Ritter Engelram, der so schön war wie ein Cherubim, und sein Vormund, der alte Anselm de Ribeaumont, Roger de Barneville, Fulgentius de Guines, der Däne Sven und … Imbram Strzegonia. Dieser stand zunächst abwartend da und schaute sich mit brennenden Augen nach allen Seiten um. Eines war ihm klar: Weil das Heilige Grab in fremder Hand, und Christus selbst bedroht war, konnte das Gute in der Welt keine Macht gewinnen. Deshalb regierten die mißgünstigen heidnischen Kräfte, die ihn, Imbram, aus seiner Heimat gerissen und in die Fremde trieben hatten. Es galt also, das Grab zu befreien und die Feinde Gottes zu verjagen. Dann gab es auf der Welt keine Plagen, keine Trennung mehr. Um der Tränen Ofkas, um ihrer beider Sehnsucht willen, er wollte ziehen!
Er streckte die Hand in die Höhe. Zum erstenmal in seinem Leben handelte er selbstständig, ohne auf die älteren Brüder zu hören. Nach ihm gelobte Jasiek Zawora, der gewohnt war, es Imbram in allem gleichzutun, und nach ihnen Tarchala. Um sie herum drängten die Begeisterten Kopf an Kopf. Der Lärm brauste wie ein Orkan über das Feld. Den Bischöfen erlahmten die Hände. Der Purpur der Tribüne war schon längst verbraucht. Die Knappen schleppten einen Stoffballen nach dem anderen aus der Stadt heran. Anfangs waren es noch rote, und als es an diesen in den Krämerläden mangelte, nahm man auch andere Farben. Bald unterschieden sich die Menschen nach den Stofffarben. Diejenigen, welche fränkisch sprachen, erhielten rote, die Friesen und Flamen grüne, die Engländer weiße, die Deutschen schwarze, alle übrigen gelbe Kreuze. Es dauerte nicht lange, da gab es keinen Stoff mehr in der ganzen Stadt. Verzückt küssten die Menschen das farbige Emblem und hefteten es sich mit zitternden Händen an den Arm. Bald waren alle Edlen gekennzeichnet, — nur einer nicht, der Herzog von Burgund. Er überlegte und strich sich den Schnurrbart. Er wäre an sich gern mitgezogen, hätte aber dadurch seinem verhaßten Verwandten, dem König, nur eine allzu große Genugtuung verschafft. Er war sich über sein Verhalten noch nicht recht schlüssig. Die in der Nähe Stehenden verstummten plötzlich vor Verwunderung denn aus der Menge trat jetzt Elvira, die schönste und stolzeste Dame Frankreichs. Ihre sechs Pagen drängten ihr nach. Sie blieb vor dem Heiligen Vater stehen und gelobte mit ruhiger Stimme, das Kreuz zu nehmen und mit ihrem Gatten nach dem Heiligen Lande zu ziehen. Ihrem Beispiel folgend, kamen nun auch die anderen Frauen herbei. Die Dame Salviac de Viel mit ihrer Tochter Blanka, die blasse, unscheinbare Willibalda, die Gattin Omers de Guillebaut, die dürre, verbitterte Gontrana und, bevor Philipp von Burgund es zu verhindern mochte, die kleine Florina, sein wohlbehütetes Töchterlein. Mit den Fingern an ihren blonden Zöpfen nestelnd und
den Prinzen Sven von Dänemark, der sich gerade das Kreuz anheftete, mit Bewunderung betrachtend, gelobte sie mit ihrer zarten, feinen Stimme, das Heilige Land zu verteidigen, so daß alle, die in ihrer Nähe standen, lächeln mußten. Der Herzog von Burgund wußte nicht recht, was er dazu sagen sollte, während seine beleibte, mit einem kräftigen Doppelkinn ausstattete Gemahlin in Klagen ausbrach. Der Papst, dessen hageres Gesicht von leichter Röte überzogen war, winkte den in einiger Entfernung stehenden griechischen Gesandten herbei. Der Stratigos war wie üblich prächtig und vornehm gekleidet, teilte aber die allgemeine Begeisterung nicht im geringsten. „Mein Sohn“, sagte Urban II., „kehre alsbald heim und bringe Alexios die glückliche Nachricht. Berichte ihm, was du hier gesehen hast: Der ganze Westen bricht zur Verteidigung des Kreuzes auf.“ Der Stratigos stand unbeweglich da. „Eine glückliche Nachricht?“ wiederholte er gedehnt. „Eure Heiligkeit, wir sind bestürzt, so etwas haben wir weder gewünscht noch erhofft!“ Der Papst trat einen Schritt zurück. „Höre ich recht? Wolltet Ihr denn keine Hilfe?“ „Hilfe schon. Wer würde aber den Einfall ungeordneter Horden wünschen, die zu nichts anderem fähig sind als zum Plündern? Ich kehre gewiß alsbald heim, aber nur, um meinen Herrn zu warnen. Wer wird diese Massen in Schranken halten? Wehe, wenn sie erst in die Mauern der von Gott behüteten Stadt eindringen. Der Anblick der unermeßlichen Reichtümer wird das Blut dieser Habenichtse entflammen, und was dann?“ Der Papst runzelte ärgerlich die Stirn. „Außer dieser Volksmenge, die auf keinen Fall an Plünderung denkt, ziehen ja auch die geordneten Abteilungen der Barone.“ „Welcher Barone?“ stieß der Grieche barsch hervor. „Haben wir es denn nicht vernommen, daß Bohemund von Tarent heranzieht! Bohemund, der seines Vorfahren Guiscard würdige Nachkomme,
des Verbrechers, der die Heilige Stadt bedroht hat. Allein sein Name in den Reihen der Verteidiger Christi ist die größte Beleidigung für Seine Heiligkeit, den Basileus, den Apostelgleichen!“ „Genug!“ rief der Papst, „genug! Ihr habt hier um Hilfe gewinselt und vorgegeben, Christen zu sein, denen es einzig und allein um die Rettung des Kreuzes geht. Jetzt ist es offenbar, wie Euer Glaube in Wahrheit aussieht, die reine graeca fides, wie es allgemein heißt! Jetzt ist es offenbar. Es geht Euch nicht um das Kreuz, sondern Ihr fürchtet um Euer Gold. Ihr seid in Sorge um Euch selbst. Ihr schützt Christus vor um Eures Vorteils willen. Diese Menschen werden auch ohne Euer Zutun nach Jerusalem ziehen, mit oder gegen Euren Willen. Die Welle wird unaufhaltsam dahinströmen, und nehmt Euch in acht, daß sie Euch nicht eines Tages hinwegspült. — Aber bei Gott, was ist denn das?“ Sie brachen das Gespräch ab und lauschten. Ein fremdartiger Trompetenstoß wurde immer lauter und übertönte den Lagerlärm, langanhaltend und klagend. Die Menschen, die sich die Tuchkreuze erregt aus den Händen gerissen hatten, verstummten und blickten neugierig den seltsamen Boten entgegen. Etwa zwanzig Krieger, deren Pferde völlig erschöpft waren, ritten mit Totenhemden bekleidet heran. Sie hatten zerzaustes Haar, und ihre Gesichter waren mit Asche bedeckt. Über ihren Köpfen wehte die Fahne mit dem weißen Hirsch, dem Wappen der Arpaden, der Könige von Ungarn. „Bei den Wunden Christi! Was bedeutet das?“ rief der Gaugraf Sukki de Szuha entsetzt. Alle traten zur Seite und machten den Reitern Platz. Diese ritten langsam auf den Heiligen Vater zu. Vor der nun der Verkleidung entblößten Estrade machten sie halt, hoben ihre Lanzen und riefen im Chor: „Unser König ist tot!“ Dann stießen sie die Lanzen in die Erde. Von banger Sorge getrieben, umringten die Ungarn die Ankömmlinge.
„Tot? Der König? Włodzisław ist tot?! Sprecht, um Gottes willen!“ „Włodzisław ist tot …“ „Wie konnte das geschehen? Wann? Wo?“ „In der Stadt Ofen. Durch Gottes Fügung. Es ist jetzt sechs Sonntage her.“ „Wehe! O Jesus von Nazareth!“ Die ungarischen Ritter warfen voller Trauer ihre Helme klirrend zu Boden, rauften sich die Haare, nahmen von der von vielen Füßen zu Staub zermahlenen Erde und bedeckten sich damit die Wangen. Die Menge blickte schweigend auf das Gebaren der Verzweifelten. Der griechische Gesandte lächelte boshaft, verneigte sich tief und stahl sich davon. Urban II. aber stand wie gelähmt, während in der Menge schon Stimmen laut wurden: „Wer soll uns jetzt führen? Wer soll führen? Wer soll unser Führer sein?“ Robert Courte–Heuse schlug sich mit dem Schwert an den Panzer, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Der König von Ungarn lebt nicht mehr!“ rief er. „Wer soll an seiner Stelle den Heiligen Feldzug anführen? Wenn die edlen Ritter damit einverstanden sind, so übernehme ich die Führung.“ Er rollte grimmig mit den Augen, als suche er um sich herum diejenigen, welche ihn als Führer nicht haben wollten. Seine Parteigänger stimmten ihm sofort zu; aber Raimund von St. Gilles zog schon die Lanze aus dem Boden, schüttelte sie und rief: „Den Franken würde es nicht zur Erlösung ihrer Seele gereichen, wenn sie unter der Führung der Normannen ziehen sollten. Ich werde führen.“ „Raimund ist ein edler Ritter! Noch nie haben die Normannen über Provenzalen geherrscht!“ „Nein, das hat man noch nicht erlebt!“ „Es lebe unser Führer Robert Courte–Heuse!“ „Ein schöner Führer! Der Enkel des Teufels! Der Sohn eines Bastards!“
„Fluch den unwürdigen Zungen! Tritt hervor, du Hund, der du bellst!“ „Das kannst du von allen hier hören!“ „Nieder mit Euch! Fluch! Zu mir Normannen!“ „Es lebe Raimund von Toulouse!“ „Weder Robert noch Raimund! Es lebe der von Flandern, der Schild und Speer der Ritterschaft.“ „Hoch Flandern! Hoch Flandern!“ Schon zogen alle die Lanzen aus dem Boden und schwangen sie zornig in den Händen. Schon tänzelten die Pferde, kaum noch im Zaume gehalten, schäumend und schnaubend auf der Stelle. Sie gingen rückwärts, stießen die Menge auseinander, die sich Schutz suchend nach hinten drängte. Auf diese Weise bildete sich für die Kämpfer eine Gasse für die bevorstehende Auseinandersetzung. Das auf den Bäumen sitzende, ungefährdete Volk jauchzte in Erwartung eines blutigen Schauspiels schon vor Freude. In diesem allgemeinen Tumult saß Urban II. schweigend da. Sein Gesicht war so, weiß wie sein Gewand. Sollte sein ganzer Plan scheitern? O Tod, was hast du getan? Mit welchem Recht mißachtest du in deiner Vermessenheit das Urteil des Herrn? Hast du den Ruf „Gott will es“ nicht vernommen? Das Feld brauste schon von Kampfeslärm. Da erhob sich der Papst, das Kruzifix in der rechten Hand. Er gab den Wiederholern ein Zeichen. Ihr Ruf: „Beruhigt Euch, Christen! Beruhigt Euch!“ übertönte die Menge. „Herr Jesus Christus“, betete der Papst mit lauter Stimme, „Du himmlischer Führer dieser Massen, die sich Dir ergeben, bestimme den Nachfolger, zeige den, der sie in Deinem Namen führen soll.“ Erwartungsvolle Stille lag über dem weiten Feld. „Sende ihn uns, Herr, wir harren!“ Stille, in der nur der stockende Atem von Tausenden und aber Tausenden von Menschen zu hören war. „Allerbarmherzigster Herr Jesus Christus“, und die Stimme des Papstes brach wie in einem Schluchzen, „zeige den, der diese
Menschen führen soll. Herr, erhöre uns, wir warten auf Dein Zeichen!“ „Genug des Wartens! Normannen, her zu mir!“ „Zu mir, Provenzalen!“ „Haltet ein! — Ich führe!“ Ademar de Monteil, der Bischof von Puy, hatte die Stufen der Estrade betreten und blieb entschlossen, freien und offenen Blicks vor Urban stehen. „Segne mich zum Führer des Kreuzzuges, Heiliger Vater!“ „Du, Bruder, mein Freund, du?“ „Ja ich! Soll denn alles verloren sein?“ Der Papst erhob sich und umarmte ihn. Dann wandte er sich mit ihm der Menge zu, heftete ihm das Kreuz an den Arm, segnete ihn und rief mit lauter Stimme, daß dieser hier der Führer sei, sein Vertreter, und wer diesem Führer den Gehorsam verweigere, lade eine Schuld auf sich, als gehorche er dem Heiland und Erlöser selber nicht. Ademar, der Bischof von Puy, sei der Führer des Heiligen Kreuzzuges. Die Ritter brachten vor Überraschung kein Wort über die Lippen. Ein geschorener Kopf sollte der Führer sein? So, etwas hatte es noch nie gegeben. Sie widersprachen aber nicht, denn jeder war der Meinung, daß von zwei Übeln ein Bischof das kleinere sei und besser als ein anderer Hochgeborener. Im übrigen zweifelten sie nicht daran, daß Ademars Macht kaum ausreichen werde. Sobald sie das Land verlassen hätten, würden sie schon mit ihm fertig werden. Nach kurzem Zögern stießen sie die Lanzen in die Erde und streckten zum Zeichen des Gehorsams und des Einverständnisses die unbewaffnete Rechte aus.
ZWÖLFTES KAPITEL Von den braven Rittern, die das Kreuz nahmen. Was jeder fühlte, dachte und tat
Manna wird für Euch vom Himmel fallen“, die verheißungsvollen
Worte des Eremiten bewahrheiteten sich und wurden Wirklichkeit. Clermont und seine Umgebung waren voll von Lebensmitteln, die jedermann zugänglich waren. Auf die bisherige Teuerung folgte eine nie gekannte Wohlfeilheit, wie man sie seit vielen, vielen Jahren nicht erlebt hatte. Während man noch vor einer Woche dreizehn Denare für ein mageres Schaf gefordert hatte, konnte man jetzt dreizehn Hammel für einen Denar erstehen. Jedermann veräußerte seine Lebensmittelvorräte und sein Vieh zu einem Spottpreis, um dafür Waffen zu kaufen. Auf dem Marktplatz standen die aus allen Gegenden hergetriebenen Viehherden, die man billig oder gar umsonst hergab. Wer kümmerte sich in diesem Augenblick, da alles zu dem großen Aufbruch rüstete, noch um eine alte Kuh oder Ziege! Ähnlich verhielt es sich mit dem Getreide. Der Brotpreis sank auf ein Hundertstel. Der reichste Mann der Stadt, der Müller Wilbert, hatte sich, so wurde erzählt, aus Gram erhängt, weil er mit einer Hungersnot während des Konzils gerechnet, zu diesem Zweck das Getreide der ganzen Gegend aufgekauft und damit seine Lager bis an den Dachfirst gefüllt hatte. Freudiges Treiben herrschte unter den Volksmassen, die zum ersten Mal richtig satt zu essen hatten. Die Kreuzfahrer beherrschte jetzt alle nur ein Gedanke, nur ein Ziel, wiewohl jeder der hunderttausend Menschen zunächst seinen eigenen Weg ging, um sich zu versorgen, auszurüsten und sich das Notwendige zu beschaffen. So waren naturgemäß die Überlegungen unterschiedlich. Die Ritter erwogen andere Pläne als das gemeine Volk. Die Herren wußten,
daß sie ihr Gefolge, ihre Diener und Pferde, ihre Falkner, ihre Hundeführer mitnehmen und sich mit Denaren, Lebensmitteln, Führern und Dolmetschern versorgen mußten. Solche Gedanken brauchte sich das arme, jetzt sorgenfreie Volk nicht machen. Es wäre am liebsten sofort gen Osten aufgebrochen und dachte nicht daran, irgend etwas mitzunehmen, es sei denn Weib und Kinder. Zunächst aber aßen sie, was der Magen aufnahm, und freuten sich. Sie dankten Gott, dem gnädigen Schöpfer, daß die erste Prophezeiung von dem herabfallenden Manna in Erfüllung gegangen war und sicher auch weitere Wunder geschehen würden. Vor allem aber waren sie frei! Sie trugen das Kreuz an ihrem Arm und lebten in den Tag hinein, brauchten beim Morgengrauen jetzt nicht auf die Felder ihrer Herren zu gehen und zu arbeiten. Zwar erzählten manche aufregt in den Wirtshäusern und an den Lagerfeuern, daß die Herren dem Heiligen Vater wegen der Aufhebung der Leibeigenschaft zürnten und ihn beschworen, sein Versprechen rückgängig zu machen, ebenso die Äbte; denn alle Mönche hatten das Kreuz genommen, und die Klöster standen leer. „Na ja, Ihr werdet schon sehen, wie sie sich hier die Ihrigen bald wieder herausfischen“, orakelten die Furchtsamen und blickten sich scheu nach allen Seiten um. Wäre man doch zusammen mit der päpstlichen Freisprechung bloß dieses verfluchte Brandmal an der Schulter, diesen verhaßten Makel, der von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Herrn zeugte, losgeworden. Andere wiederum machten sich über diese bedauernswerten Kreaturen lustig. Sie waren satt, mithin stark und zuversichtlich. Sollten die Herren es nur versuchen, sie wieder ins Joch zu spannen und in die Knechtschaft zu pressen. — Wahrlich, es ist leichter, einen angeschwollenen, aus den Ufern getretenen Fluß wieder in sein Bett zu lenken als Menschen, die in der Übermacht sind und sich schon als Freie fühlen. Der lustige Kleriker Bartholomäus aus Marseille trommelte mit den Füßen gegen ein leeres Faß, auf dem er rittlings saß. Er wußte selbst nicht, ob er sich über den Aufbruch freuen sollte oder nicht. Würde
es dort in fernen Landen überall Wein, den gesegneten Wein geben und ebenso viele willige und schöne Mädchen wie hier? Er schalt sich zwar selbst heftig wegen dieser sündhaften Gedanken und versuchte, seine leichtfertige Seele auf den Herrn zu richten, auf den betrübten Christus, dessen Grab geschändet wurde, aber die widerspenstigen Gedanken verwirrten sich, schweiften ab und konnten nicht bei einem Punkt verweilen. Sie eilten voraus und waren begierig, wann man aufbrechen und was die Augen alles zu sehen bekommen würden. Neben ihm berieten halblaut die Bauern Macarius und Jacob, der Blatternarbige, ob es nicht klüger wäre, hierzubleiben. Selbst dem allwissenden Herrgott sei es bestimmt nicht möglich gewesen, ausgerechnet ihre schwache Stimme aus dem Gedränge der Tausende herauszuhören. Also war es wohl keine Sünde, wenn sie am Kreuzzuge nicht teilnahmen. Außerdem lohnte es sich hierzubleiben, denn in der Gegend würde es natürlich an Menschen mangeln. Dinge aber, an denen Not ist, stiegen bekanntlich erheblich im Wert. Tänzelnden Schrittes und kaum wiederzuerkennen, ging Blanka de Montbéliard einher. Freudig berührte sie das auf den Arm geheftete Kreuz. Das war ihr Schild, ihr Schutz, ihr unbestechlichster Fürsprecher. Oh, geliebter Heiland und Erlöser! Dafür, daß Gott das Gespenst des Henkers gebannt hatte, wäre sie bereit gewesen, auf Knien nach Jerusalem zu rutschen. Gautier Sans Avoir, der Ritter ohne Gurt und Habe, sammelte einen Haufen gesunder, junger Leute um sich, trieb die Frauen verächtlich fort, ebenso die Geschorenen und Halbwüchsigen. Er wählte nur die kräftigsten Männer aus und versprach, mit ihnen ein Heer aufzustellen, das selbst das normannische übertreffen werde. Die Bauern und die Leibeigenen scharten sich gern um ihn, denn er genoß Ansehen. Sie wußten, daß er genau wie sie ein armer Schlucker und den Reichen nicht wohlgesonnen war. Was aber Kraft und Geschicklichkeit anbetraf, gab es nicht so leicht seinesgleichen.
Die unredlichen Ritter Gottschalk und Emich redeten so viel sie konnten, riefen die Menschen zusammen und achteten aufmerksam darauf, in dem Gedränge nicht auf die Ungarn oder die Polen zu stoßen. Sie machten dem sie umgebenden Volk klar daß ein sofortiger Aufbruch das Beste wäre. Zwar gäben der Heilige Vater und der Bischof von Puy täglich durch die Wiederholer bekannt, man solle so lange ruhig warten, bis die Ritter ihr Heer gesammelt hätten, und mit ihnen zusammen ziehen. Wäre dieses Warten, so argumentierten die beiden Deutschen, dem gemeinen Volk aber von Nutzen? Es sei ja bekannt daß die Geistlichen immer mit den hohen Herren paktierten. Sie dächten natürlich auch in diesem Fall nur an die Hochgeborenen und nicht an die Not des Volkes. Die Edlen wünschten aber nicht, daß man ihnen zuvorkomme, weil sie gern selber die beste Beute und den Ruhm für sich einheimsen wollten. So sehe es aus. „Den Herren gefällt es nicht, daß so viele von Euch das Kreuz genommen haben“, rief Emich aus — womit er nicht unrecht hatte —, „jetzt müssen sie ebenfalls ziehen, auch wenn es ihnen vielleicht nicht paßt. Was sollten sie auch tun, wenn sie zurückblieben? Etwa selbst die Äcker bestellen? Euch aber kann an ihnen nicht gelegen sein!“ „Uns ist weder an ihnen noch an dir etwas gelegen“, wurden Stimmen in der Menge laut, „was bist du denn schon? Du bist doch auch ein Ritter und ein Peiniger der Armen, genau wie sie!“ Willibalda, die Gattin Omers de Guillebaut, die zusammengekauert auf einem Ruhebett in der Ecke des Zeltes lag, dachte über ihr Gelübde nach. Sie fühlte sich in ihrem Winkel unglücklich und war beinahe schwermütig geworden. Der Ritter Omer hatte vor ihr ein anderes Weib gehabt, das an Pagen und vornehmen Knappen Gefallen gefunden hatte. Seitdem plagte ihn die Eifersucht, und er traute keiner Frau mehr. Es half nichts, daß Willibalda stets die Augen niederschlug, während der Gastmähler wie eine Statue dasaß und sich von Tänzen und Spielen fernhielt. Je zurückhaltender und bescheidener sie sich gab, desto
mehr witterte der düstere Normanne Betrug und Verrat. Weder die Demut noch die Lieblichkeit Willibaldas vermochten das durch das Verhalten der früheren Gattin bei ihm hervorgerufene, eingewurzelte Mißtrauen zu beseitigen. Immer, wenn er sie verließ, legte er ihr einen eisernen, mit einem Vorhängeschloß versehenen Gurt um, den sogenannten Keuschheitsgürtel. Das war für sie eine Qual, denn die Eisenteile drückten gegen die Hüften. Obwohl sich Willibalda Mühe gab, so verriet doch ihr Gang diese Demütigung, deshalb verließ sie auch während der Abwesenheit ihres Gatten niemals ihre Kemenate. Sie schämte sich vor ihrer Umgebung und ging, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, die hierin frivoler waren, beinahe seelisch zugrunde. Jetzt hatte sie bei dem Gedanken, daß ihr Gatte auf unbestimmte Zeit nach dem Heiligen Lande ziehen und sie in ihrem entwürdigenden Zustand zurücklassen werde, ein solcher Schrecken ergriffen, daß sie ohne Überlegung gelobt hatte, ihn ins Heilige Land zu begleiten. Sie trug ebenfalls ein Kreuz auf dem Arm. Ihr Gatte nahm diesen Entschluß ungnädig auf. „Warum hast du das getan“, fragte er sie, „du bist einer solchen Strapaze nicht gewachsen. Du bist mir nur hinderlich!“ „Ich möchte Gott dienen und mich nicht von Euch trennen, Herr!“ Diese Erklärung befriedigte ihn keineswegs. Er trat aus dem Zelt, wiegte mißtrauisch den Kopf und überlegte, wer von den ihm bekannten Rittern der eigentliche Grund für den plötzlichen Entschluß seiner Gattin sein konnte. Alberon, ein Erzdiakon, ein junger, eleganter Herr, der stets nach Riechstoffen duftete, ging gerade vor dem Zelt vorbei, und Omer kam der Gedanke, daß vielleicht dieser sein Nebenbuhler sei. Zwar kannte Willibalda seines Wissens Alberon nicht. Wer konnte aber genau ergründen, wen ein Frauenzimmer, ein unzüchtiges und grundfalsches Geschöpf, kannte oder nicht kannte. Auf jeden Fall mußte er, das wurde Guillebaut klar, auf der Hut sein. Im prunkvollen Zelt des Herrn von Burgund nebenan kämmte sich die wunderschöne Florina die langen Zöpfe. Lang, weich und hell
wie Seide war das Haar der Tochter Philipps, ebenso licht wie ihre Gedanken. Diese kreisten unaufhörlich um den nordischen Prinzen, mit dem sie an einem Zug in die Ferne teilnehmen sollte. Wohin, das wußte sie nicht genau; doch Pater Placidus, ihr Beichtvater, würde ihr das schon erklären. Zunächst aber war es das Wichtigste — und das konnte der Seelsorger nicht wissen —, ob sie diesem anmutigen Königssohn dort oft begegnen würde. Wenn sie doch wüßte, woran er jetzt dachte, was er in dem kleinen Lederzelt tat, über dem die Fahne mit dem weißen Kreuz wehte! Der Herzog von Burgund hatte sich nach längeren Überlegungen entschlossen zu bleiben. Zwar war Philipp von Paris in seinen Augen ein Schaumschläger und Dummkopf, aber man durfte ihn dennoch nicht unterschätzen. Das Kreuz hatte Florina genommen, das genügte. Ihr würde nach menschlichem Ermessen nichts zustoßen; denn wenn Elvira, die Gattin Raimunds, und so viele andere edle Damen ins Heilige Land zogen, bot das der Tochter hinreichend Gesellschaft und auch Schutz. Sie mußte natürlich darüber hinaus ein Gefolge erhalten, wie es einer Tochter des mächtigsten französischen Herrn gebührte. Was die Erkundigungen anbetraf, die man von dem geschickten Arnuld, dem Kaplan des Herzogs der Normandie, eingezogen hatte, so waren diese für Sven, den Sohn Olafs, überaus günstig ausgefallen. Der listenreiche Arnuld, der mit den Angelegenheiten aller königlichen und fürstlichen Höfe bestens vertraut war, saß mit Robert Courte–Heuse in dessen Zelt. Beide waren gleichermaßen unzufrieden, waren mit ihren unaufrichtigen Gesichtern, mit den vollen, schweren Wangen, dicht aneinandergerückt und überschütteten sich gegenseitig mit Vorwürfen. Der hitzköpfige Robert, dem nicht genug Geld für den beabsichtigten Zug zur Verfügung stand, hatte die Normandie in aller Eile seinem Bruder Wilhelm verpfändet. Der Rothaarige war mit Freuden darauf eingegangen und sollte den Betrag in einer Woche bar auszahlen. Arnuld war hierüber außer sich und stieß entrüstet hervor:
„Verpfänden ist leicht; aber das Pfand wieder einlösen, wie wollt Ihr das anstellen? Dann hat sich ja die ganze Mühe nicht gelohnt, der Kampf mit dem verstorbenen Vater. Wozu dann das ganze für das Herzogtum vergossene Blut, wenn Ihr jetzt, gerade in diesem Augenblick, ohne zu überlegen und Rat einzuholen, das Besitztum veräußert. Wilhelm wird das Gebiet nie und nimmer zurückgeben.“ Robert schwollen die Halsadern: „Nicht zurückgeben? Mit dem Schwert werde ich es ihm entreißen.“ „Aus einem Kriege heimkehren und einen anderen, schlimmeren beginnen? Bei Gott! Wozu habt Ihr mich, edler Herr? Seid Ihr jemals von mir schlecht beraten worden? Eine solche Angelegenheit, eine so wichtige Sache entscheidet Ihr so einfach zwischen zwei Gebeten, ohne mich zu fragen? Das weiß doch ein Blinder, daß es besser ist, einem Feind oder einem Juden etwas zu verpfänden als dem eigenen Bruder! In einem solchen Fall ist immer ein Fremder sicherer. Der geht nach Einlösung des Pfandes seiner Wege. Aber das eigene Vaterblut?! Vor der Familie muß man sich am meisten hüten. Er wird Euch später nicht mehr auf den Thron lassen, das glaubt mir.“ „Mir scheint, Kaplan, Ihr übertreibt“, entgegnete Robert zornig. „Das mag sein; aber vor Sorgen weiß man oft selbst nicht mehr, was man sagt. Durch Eure Unachtsamkeit ist Euch schon der englische Thron verlorengegangen, jetzt das Erbe! Was soll denn aus dem Herzogtum werden?“ „Schreit nicht so laut! Noch will es mir ja keiner nehmen!“ „Gebe Gott, ich wäre ein schlechter Prophet, damit Ihr es irgendwann einmal wiederseht. Ihr hättet es lieber Eurem Bruder gegen bar verkaufen sollen. Da würde man zumindest von Euch sagen, daß Ihr großherzig und zu Opfern für die Errettung des Grabes des Herrn bereit seid, so aber, wißt Ihr, was man sagen wird?“ „Daß ich ein Dummkopf sei, wie? Wird man das vielleicht sagen? Das solle nur einer wagen!“
Arnuld antwortete hierauf nichts. Aber sein Schweigen verriet mehr als Worte hätten ausdrücken können. Robert sprang von der Bank auf und ging erregt im Zelt auf und ab. Er wußte, daß der Kaplan recht hatte. Zweifellos hatte er eine Dummheit begangen, eine bedauerliche, unverzeihliche Dummheit. Gewiß, nicht er allein war daran schuld, der Rothaarige hatte ihn geschickt hintergangen, hatte in seiner Verschlagenheit immer wieder auf ihn eingeredet und mit Geld gelockt. Oh, daß ihm doch die Augen aus dem Kopfe fielen, daß seine Zunge verdorrte, noch vor Übernahme des Herzogtums! Der gelehrte Stephan, der Graf von Blois und Chartres, saß auf der Bank neben seiner Gattin Adele und hielt ihre starke Taille umschlungen. „Schwangere können an einem Kriegszug nicht teilnehmen“, meinte er tröstend, „deshalb bleibst du hier, meine Liebe. Wie beneide ich dich darum. Meine ganze Hoffnung besteht darin, daß die Ritterschaft ebenso schnell, wie sie sich zum Aufbruch entschlossen hat, anderen Sinnes wird und in der Heimat bleibt.“ „Wozu nehmt Ihr, mein Herr, an diesem Zuge teil?“ Er seufzte: „Ich muß, du weißt es selbst. Alle würden mich einen Feigling schelten, und dein Bruder Robert am lautesten.“ Die ungarischen Ritter hatten den Lanzenschaft, an dem die goldene Hand befestigt gewesen war, zerbrochen. Rings um dieses nun für sie wertlose Wahrzeichen saßen sie und trugen Totenhemden über der Rüstung. Sie sprachen kein Wort. Jedermann achtete ihren Schmerz. Nach Beendigung der üblichen Trauerzeit gedachten sie, wie die anderen Herren nach Jerusalem zu ziehen. Mit ihrer Rückkehr nach Ungarn hatte es jetzt Zeit. König war Koloman, ein gelehrter Mann, ein Bücherfreund und Förderer der Geistlichkeit, von dessen Herrschaft sie sich wenig Erfreuliches versprachen. Das war nicht der fröhliche Włodzisław, dessen Wangen wie die Morgenröte leuchteten und dessen Augen wie die
Sonne glänzten; so stand sein Bild vor ihnen. Wahrlich, es hatte sie ein grausames Schicksal getroffen. „Sie waren so stolz auf ihn“, murmelte Großkopf, nicht ohne Genugtuung. Imbram ging vor dem Zeh auf und ab. Er war sich nicht sicher, ob seine Brüder schon etwas von seinem Gelübde wußten. Er konnte es ihnen aber nicht vorenthalten. Sie würden sich wahrscheinlich wundern. Aber das war ihre Sache. Man war hier nicht auf dem väterlichen schlesischen Hof, wo der Wille des Ältesten heilig war, sondern in einem fremden Lande mit anderen Sitten. Es war gleichgültig, ob Großkopf tadelte oder Zbylut spottete. Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Kreuzzug erfaßte Imbram wieder die Begeisterung. Zweifellos würde Christus, der ewig Barmherzige, wenn sein Grab erst befreit war, seine wahre Herrschaft wieder in der Welt antreten. Es gab dann sicher keine Gespenster, Geister und Mahre mehr. Zu Ende war es mit den Schrecken, der Angst und der ständigen Hinterhältigkeit der mißgünstigen Götzen. Könnte er diesen Tag doch erleben! Er brauchte dann um nichts mehr zu zittern, sich nicht mehr von den Lieben zu trennen. Mit aller Kraft zu helfen, dazu war er bereit. Das Grab mußte befreit werden, und Christus wieder die Welt regieren. Aber während er noch nach einer passenden Erklärung suchte, um seinen Entschluß zu begründen, ergriff Großkopf selbst das Wort. Imko habe gelobt, das Kreuz zu nehmen? Er habe recht getan. Wenigstens einmal im Leben habe er vernünftig gehandelt. Sie beide, Großkopf und Zbylut, würden das Gelübde ebenfalls ablegen, desgleichen Nogodzic, die Brüder Nowina und auch die Oswienta. Imbram war vor Verwunderung sprachlos. Das hatte er nicht erwartet. Großkopf berichtete weiter, daß mit den ungarischen Abgesandten, welche die Trauerbotschaft übermittelt hatten, auch der brave Ritter Bielina der Jüngere eingetroffen sei. Dieser hätte mit Ostoj von der
Sippe der Starykon gesprochen und von ihm den Auftrag erhalten, in Ungarn nach Schlesiern zu forschen und ihnen zu sagen, daß Włodzisław alle flüchtigen Polen des Kopfes für verlustig erklärt habe, wenn sie nicht bis Weihnachten heimkehrten. Ihre Güter sollten dem Fürsten zufallen oder demjenigen, dem sie der Fürst schenken würde, vermutlich also Sieciech. „Also merke dir, Imko“, sagte Großkopf, „daß wir nicht geflohen sind, sondern das Kreuz genommen haben, und das ist etwas ganz anderes. Niemand wird uns anzutasten wagen. Ich habe hier bereits mit einem Mönch gesprochen, der schreiben wird, daß wir alle ziehen, und der Heilige Vater wird es mit einem Siegel bestätigen. Dieses Schreiben wird Bielina dem Woiwoden Magnus überbringen. Mag man dann versuchen, uns anzugreifen. Der Bischof droht jedem mit dem Bann, der einen Kreuzfahrer durch unlautere Machenschaften abspenstig machen sollte. Es gibt daher keinen anderen Ausweg als das Gelübde. Wir kehren heim, wann Gott will, und sicherlich werden wir dann reichliche Beute von den Griechen oder auch von diesen Sarazenen mit nach Hause bringen.“ So redete Großkopf und blickte des öfteren zu Momot hinüber, dessen Urteil er sehr hoch schätzte. „So … ist … es“, stimmte dieser stotternd zu. Imbram saß still auf der Bank, ohne besonders auf das Gespräch zu achten. Er strich sich den langen blonden Schnurrbart, der heller war als sein gebräuntes Gesicht. Eigentlich hätte es ihn freuen müssen, daß er statt eines Tadels ein Lob erhielt und daß sie gemeinsam, wie bisher, ziehen würden. Gewiß, er freute sich, doch gleichzeitig überkam ihn Wehmut. Das bisherige Gefühl des Entzückens, der fieberhaften Erregung und der Begeisterung verlosch angesichts der nüchternen Vernunftsgründe Großkopfs. Ihm, dem Toren, hatte es gedünkt, daß er etwas über alle Begriffe hinaus Erhabenes tue, wenn er seine Liebe zu Ofka und seine Sehnsucht nach ihr dem Wohle der Allgemeinheit opferte. Nun aber stellte es sich heraus, daß der Zug in die Fremde der einzig günstige Ausweg war, und er auf diese Weise sich selbst, Ofka und sein
kleines Söhnchen schützte. Vielleicht war es gut, daß es so gekommen war; doch ihn bekümmerte diese Erkenntnis, war es doch zum ersten Mal in seinem Leben, daß sich Gefühl und Erwägungen der Zweckmäßigkeit, edle, freie Gesinnung und die Frage nach dem Vorteil gegenüberstanden. „Habt ihr Chebda nicht gesehen?“ rief Zbylut von weitem. „Wo steckt nur dieser faule Kerl?“ Nein, sie hatten Chebda nicht gesehen. Er war gestern fortgegangen und seitdem wie vom Erdboden verschwunden. „Ich lasse ihn wie einen Hund auspeitschen“, drohte Zbylut. „Er soll das Kreuz genommen haben“, wandte Benito schüchtern ein, der einen neuen Pflock für das Zelt schnitzte. Großkopf, Momot und Zbylut brachen in schallendes Gelächter aus. „Das wäre ja noch besser! Ein Leibdiener nimmt das Kreuz! Und die Pferde? Wer soll sich um die Gäule kümmern?“ Benito antwortete nicht. Er wußte nur zu gut, daß nicht nur Chebda, sondern auch Duleba, Chrosciel und die drei Italiener, die Oswienta nach dem Abstieg vom Gebirge angeworben hatte, außerdem Kocur, der Knecht Zaworas, das Kreuz genommen hatten. Sie saßen jetzt alle im Wirtshaus und zechten. Am meisten trank Chebda, der alte, sonst so demütige und ergebene Diener, der den Strzegonia immer jedes Wort von den Lippen abgelesen hatte. Er hatte sie verlassen und war jetzt vom Freiheitsgefühl trunkener als vom Wein. Zum ersten Mal in seinem Leben handelte er, der als Höriger geboren war, nach eigenem Willen. Er war fortgegangen und hatte alles im Stiche gelassen. Erst jetzt wurde er sich so recht bewußt, wie sehr ihm diese Knechtschaft verhaßt war und wie sehr er seine Herren, sogar den sanften Imbram, haßte, nur weil sie eben die Herren waren. Das war nun zu Ende! Jetzt waren alle gleich! Gelobt sei Jesus Christus! Zu Kalonymos, dem angesehensten Kaufmann der Stadt, kamen die besorgten jüdischen Gemeinderäte. Ihre Gewänder aus türkischer
Seide und Atlasstoffen zeugten von ihrem Reichtum. Außerhalb des Ghettos waren die Juden gezwungen, einen erbärmlichen, weiten Überrock mit einem gelben Fleck auf der Schulter und eine spitze Mütze zu tragen; hier aber, hinter den schützenden Toren ihres Viertels, konnten sie sich kleiden, wie sie wollten. Über die teuren Tuche ihrer Gewänder wallten die langen Bärte, welche die Würdenträger jetzt erregt strichen. Hatte Rabbi David schon gehört, was in der Stadt vorging? Wußte er es nicht? Angeblich sollten alle, die nicht nach Jerusalem zögen, eine Steuer entrichten. Diese Abgabe sollte für einen Christen ein Zwölftel seines Vermögens betragen, für die Juden aber ein Drittel. Ein Drittel des gesamten Hab und Gutes! War das nicht unerhört? Wann würde sich Jahve seines auserwählten Volkes erbarmen und diese verfluchten Christen ausrotten?! „Ruhe, Ruhe“, beschwichtigte sie der Hausherr. Er war kein Freund allzu heftiger Worte. Aber Rabbi Salomo ließ sich nicht besänftigen. Mit zornbebender Stimme erzählte er weiter, daß alle Schulden gestrichen und die als Sklaven gehaltenen Schuldner befreit werden sollten. „Ich werde die meinigen nicht fortlassen!“ rief er aus. „Haben sie mir das Geld zurückgegeben? Habe ich nicht gutes, habe ich nicht vorzügliches Geld geborgt?“ Rabbi Benjamin riet, die Sklaven beizeiten zu verbergen, irgendwo in einer Höhle, bis die Kreuzfahrer fortgezogen wären. Wer würde sie dort suchen? Wer wüßte etwas von ihnen? Wer würde sich ihrer erinnern? „Wenn sie wenigstens schon zwanzig Jahre gedient hätten; aber die meinen haben nicht einmal fünf Jahre gearbeitet.“ David Kalonymos strich sich nachdenklich den Bart. Er betrachtete zwar ebenso wie die anderen die vernommenen Nachrichten als schweres Unglück; aber es ziemte ihm nicht, sich zu winden und zu jammern wie Rabbi Salomo. Sein Geschlecht war geadelt worden und stand hoch über den anderen, und zwar seit der Zeit, als sein leiblicher Großvater dem Kaiser Otto III., dem geliebten Sohn der
Theophano Porphyrogeneta, das Leben gerettet hatte. Der Jude Kalonymos hatte damals vor über hundert Jahren zur Rettung des jungen Kaisers sein Pferd zur Verfügung gestellt und sich an der italienischen Küste, in der Nähe der Stadt Stilo, von den Sarazenen niedermetzeln lassen, damit der junge Monarch, die Hoffnung der ganzen Welt, heil entkommen konnte. Es war also kein Wunder, daß Kalonymos’ Familie mit Geschenken überhäuft und mit Auszeichnungen geehrt worden war. Isaak Kalonymos, der Sohn des Gefallenen, war häufig am kaiserlichen Hofe empfangen worden, eine Ehre, die zweifellos auch dem Enkel des Erretters, David, zuteil geworden wäre, hätte er darum ersucht. Ihm genügte aber einstweilen das Gefühl der eigenen, mit diesem Titel verbundenen Würde. Es war überdies für ihn in diesem Augenblick beruhigend zu wissen, daß sich nur ein Teil seines Vermögens in Frankreich befand. Die eigentlichen Schätze des Hauses Kalonymos waren in Mainz angehäuft, wo auch seine Familie lebte. Er entschloß sich daher, sofort nach Mainz aufzubrechen und alle brauchbaren Sklaven einfach mitzunehmen. Er lächelte unwillkürlich sehr zum Ärger der anderen Juden. Aber er sah bereits seine geliebten samtäugigen Enkel im Geiste vor sich, die kleine Rebekka, ein anmutiges, liebes Mädchen mit dem Blick einer Gazelle und den kleinen, über sein Alter hinaus schlauen David. Er liebte beide Kinder abgöttisch. Während rings um ihn die würdigsten Vertreter der jüdischen Gemeinde jammerten und wehklagten, überlegte er, welches Ohrgehänge er seiner Rebekka mitbringen sollte. Und dem Kleinen, diesem gewitzten, pfiffigen Jungen? Für ihn mußte er etwas Besonderes auswählen. Er schmunzelte selbstgefällig. Ja, man mußte möglichst schnell aufbrechen, die Sklaven mitnehmen und auch das bewegliche Hab und Gut. Der umsichtige Hausdiener Samuel würde am besten hier bleiben, um nötigenfalls die geforderte Abgabe zu entrichten. Den Verlust an Barmitteln würde er schon durch Lieferung von Waffen wieder wettmachen. Wie viele Gurte, Pferde, Schwerter, Panzer, Lanzen, Helme, Geschirre
und Zaumzeug würden die Kreuzfahrer jetzt benötigen! Wie viele Hufeisen! Da Ritter nicht gewöhnt waren zu warten, spielte der Preis bei ihnen nicht die geringste Rolle. Die letzten Gedanken sprach er laut aus, und seine Zuhörer billigten sie; denn es waren Worte, die von großem Verstande zeugten. Und verließen das Haus schon leichteren Herzens. Hugo de Vermandois lag in seinem Zelt auf einem weichen Lager aus Fellen. Dieser brave Ritter ruhte immer, sofern er nicht zu Pferde saß. Er war träge und bequem wie ein Grieche, jedoch nicht so durchtrieben und habgierig. Von diesem Herrn konnte man haben, was man wollte. Deshalb war er auch ständig in Geldnöten und steckte tief in Schulden. Er hatte schon mehr als die Hälfte seiner Grafschaft verkauft. Nun wartete auf die Heimkehr der Abgesandten, die er mit einem Brief aus der Feder des gewitzten Stephan zu seinem Bruder, König Philipp, gesandt hatte. Mochte dieser, sofern er selbst nicht Kreuzzuge teilnahm, sein Scherflein aus der königlichen Schatulle beisteuern. Hugo wußte zwar, daß die Kasse des Bruders genauso leer war wie die seine, rechnete aber mit der begreiflichen Freude, die Philipp bei dem Gedanken empfinden mußte daß alle seine Nachbarn, die wie gefräßige Hechte sein winziges Königreich von allen Seiten raubgierig bedrängten, irgendwohin weit über das Meer fuhren. Die Hände bequem unter den Kopf geschoben, schaute er auf die Decke des Zeltes und wartete ab. „Wie wird der brave Herr Wilhelm de Melun es nur zustande bringen, ein Heer für den Zug aufzustellen?“ fragte er plötzlich. „Er besitzt ja noch weniger Geld als ich.“ Der Ritter de Barneville, der sich auch im Zelt befand, stand auf als er die Stimme des Grafen vernahm. „Der gute Herr de Melun“, erklärte er, „hat schon eine ansehnliche Schar beisammen. Er überfällt einfach die Kaufleute auf der Landstraße. Den Gefangenen erzählt er dann: ‚Ich ziehe in den Heiligen Krieg, ihr aber bleibt hier. Bei der Liebe zu unserem Herrn
Christus, teilt eure Habe mit mir‘!“ Das ist gar kein schlechter Gedanke!“ „Gewiß. Er scheint auf diese Art und Weise schon ziemlich viel zusammengerafft zu haben. Diejenigen, welche ihm freiwillig nichts geben wollten, hat er allesamt ins Jenseits befördert.“ „Das geschieht ihnen ganz recht, diesen Feinden des Heiligen Grabes. Wenn Philipp nichts schickt, werden wir vielleicht auch zu diesem Mittel greifen müssen.“ „Es empfiehlt sich sogar, die Angelegenheit nicht hinauszuschieben“, bemerkte de Barneville, „denn die Kaufleute bekommen es schon mit der Angst zu tun und werden über kurz oder lang nicht mehr die Landstraßen benutzen.“ Hugo gähnte, statt zu antworten. Der Graf de Hainaux hielt wortlos die Hand seiner Gattin Ida in der seinen. Beiden brach das Herz über die baldige Trennung. Sie liebten einander glühend. Sie verzehrten sich in der nicht zu stillenden Liebe von Tristan und Isolde; denn beide hatten vor ihrer Vermählung eine andere, liebeleere Ehe kennengelernt. Es war kaum ein Jahr seit ihrer Hochzeit verstrichen, und schon sollten sie sich wieder trennen. Ida war schwanger wie Adele, die Gattin des gelehrten Stephan. Mit der Geburt war zur Fastenzeit zu rechnen. Ein Sohn des Grafen de Hainaux durfte natürlich nicht in einem Wirtshaus irgendwo an der Landstraße geboren werden; daher mußte Frau Ida in der Heimat bleiben. Er aber wollte ziehen. Man war nicht umsonst Ritter. Gott und der Ruhm mußten den Vorrang vor dem Weibe haben. Aber wie schwer würde ihnen der Abschied fallen! Der Bruder Schreiber Hyazinth schwankte in seinem Innern. Nach welcher Seite sollte er sich entscheiden? Was verlangte Gott von ihm? Wie konnte er das erfahren? Was mußte er zur Erlösung seiner Seele tun? Sollte er weiterhin in der geliebten Zelle, in der vertrauten Umgebung der Pergamente, der Pinsel und Farbnäpfe
sein Schreiberdasein fristen oder in den Heiligen Krieg ziehen, in die arge, fremde Welt, die er sich mit seinen kurzsichtigen Augen und in seinen einsamen Gedanken als einen alles verschlingenden Strudel und als Mördergrube vorstellte? Beinahe neidisch sah er auf eine Schar Laienbrüder, die freudig über den bevorstehenden Heereszug plauderten. Sie kannten keine solche Bedenken. Schon von Kindheit an, ja manchmal schon vor der Geburt dem Orden geweiht, verließen sie jetzt freudig das Kloster, das sie sich nie gewünscht, und wo sie oft Bitteres genug hatten erfahren müssen. Balduin von Lothringen überlegte, wie man einen Erlaß des Papstes erwirken könne, wonach es den Frauen nicht gestattet sein sollte, ohne Einwilligung ihrer Männer das Kreuz zu nehmen. Waren Damen wie seine Gontrana dort wirklich nötig? Er hatte gehofft, jetzt eine Zeitlang Ruhe vor ihr zu haben, aber vergebens. Dieser Plagegeist, der ihn und alle anderen braven Männer verachtete und wegen der geringsten Kleinigkeit mit den ärgsten Beschimpfungen überhäufte, zog mit ihm nach Jerusalem. Jeder hielt sie, das wußte er nur zu gut, für einen Hausdrachen, und nur wenige erinnerten sich daran, daß sie vor kaum zehn Jahren noch ein junges, hübsches Mädchen mit sanften, dunklen Augen gewesen war. Wie hatte sie sich nur so verändern können! Wahrscheinlich hatte sie die Erkenntnis, daß ihr Schoß unfruchtbar bleiben würde, so verbittert und hämisch gemacht. Der einzige Mann, der ihre Zornesausbrüche zu besänftigen verstand, war ihr Schwager Gottfried, der von ihr, wie von allen anderen, wegen seines vorbildlichen, fast mönchischen Lebenswandels, seiner Ruhe und seines Ernstes geachtet wurde. Gottfried ließ sich aber nur selten von Balduin erweichen, in dessen Ehezwistigkeiten einzugreifen. Wie abenteuerreich wäre dieser Weg ins Unbekannte, in die fernen Länder. Wie schön, wenn Gontrana zu Hause bliebe! Aber es war nun einmal nicht anders. Es sollte wohl nicht sein.
Seine Gedanken kreisten um einen anderen wichtigen Punkt. Wie mochte Gottfried wohl mit dem Gelde auskommen? Die Brüder besaßen keins. Er selbst nahm zu gern an Turnieren und Jagden teil. Gottfried aber war übertrieben barmherzig und mildtätig. Um nach Clermont zu kommen, hatten sie bei Juden in Metz das Tafelsilber verpfändet. Aber wieviel Pfund Silber wurden jetzt für einen so kostspieligen Feldzug benötigt. Man sagte, der Bischof von Verdun wolle das Herzogtum Lothringen erwerben, und die braven Bürger von Metz beabsichtigten, sich durch Übernahme ihrer Stadt loszukaufen. Diese listigen Kerle! Gottfried hatte sich immer ihrer erbarmt und ihnen keine hohen Abgaben auferlegt. Wieviel Geld mochten die Halunken wohl zusammenbekommen haben? Er war neugierig, wieviel sie bieten würden. Und der Bischof? Gottfried würde ihm die Stadt aber wohl nicht verkaufen, sondern nur verpfänden. Sein Bruder sollte ruhig tun, was ihm beliebte, ihm, Balduin, war nichts daran gelegen. Er würde sich dort in der Welt ein anderes schöneres Besitztum durch sein ritterliches Schwert erkämpfen. Er lächelte bei diesen Träumereien. Gottfried dachte fürs erste nicht an den Preis den ihm der Bischof von Verdun morgen für das väterliche Erbe bieten würde. Er lag in der Kathedrale auf dem Boden. Von den steinernen Fliesen drang ihm die Kälte in die Glieder; aber sie konnte dennoch den erhitzten Kopf des Herzogs nicht kühlen. Sein Gesicht ruhte auf dem blonden Bart, und er dankte Gott aus vollem Herzen für die große Wandlung, die heilige Berufung, die Möglichkeit, sich nun ganz von allen Widerwärtigkeiten des Lebens zu lösen, sie zu vergessen und in den Kampf zu ziehen für Sein Grab, für Christus, für Ihn. In diesem Gebet war er nicht allein. Obwohl die Frühmesse schon lange beendet war, verweilten die Ritter immer noch in der Kathedrale. Raimund von St. Gilles und Robert von Flandern, de la Tour, de Beaugency, der den Teufel jetzt nicht mehr fürchtete, und de Luz, obwohl nicht zum Ritter geschlagen, sowie die beiden Brüder de Viel, de Ribeaumont, die Grafen du Gral und de
Montaigu, die Brüder Heinrich und Gottfried de Hache, die Brüder Peter und Paul de Toul und viele andere. Alle, die das Gelübde aus keinem anderen Grunde als aus aufrichtiger Liebe zum barmherzigen Gott abgelegt hatten, beteten hier, dankten, weinten, gelobten, wie jedem der Sinn stand. Dieser, daß er dem Wein entsagen wolle, jener, daß er nicht eher ein Weib anrühren werde, bis er aus dem befreiten Jerusalem heimgekehrt sei. Sprach einer laut, so wiederholten die anderen seine Worte und gelobten ebenfalls, für die Dauer des Heerzuges enthaltsam zu bleiben. Manche übernahmen andere, wohlgemeinte Verpflichtungen und versprachen, nicht eher ihr Haar scheren zu lassen, bis sie mit dem Kopf das Heilige Grab berührt hätten, ihre Kleidung nicht eher ablegen zu wollen, bis sie in Jerusalem angelangt wären, die vom Pilgerzug bestaubten Füße erst vor den heiligen Mauern zu waschen. Schwertklirrend erhob sich Raimund von St. Gilles von den Knien. Mit lauter, fester, obwohl vor Rührung bebender Stimme gelobte er dem Herrn, für die Gnade, das Heilige Grab schauen zu dürfen, niemals mehr das liebliche heimatliche Toulouse wiedersehen zu wollen. Er werde nicht mehr in sein Vaterland zurückkehren, er sage sich freiwillig von ihm los und wolle statt dessen nur den Ruhm eines Verteidigers des Heiligen Grabes, also die höchste Ehre eines guten Ritters, erwerben. Als er so dastand, hoch aufgerichtet und auf der zum Altar hingestreckten Rechten gleichsam sein Herz darbringend, hallte die Kirche von Schluchzen wider. Andere erhoben sich und versprachen gleich ihm, der heimatlichen Scholle zu entsagen. Es möge sie hier nichts mehr halten, nichts mehr heimlocken, weder die Heimaterde noch die väterliche Burg, weder die Beute noch irdische Güter. Sie wollten gern alles hingeben, damit Gott ihnen die verheißene Gnade erweise, das Heilige Grab zu befreien, mit eigenen Füßen die von den Heiden befreiten heiligen Stätten, wo Christus gelebt und gelitten hatte, zu durchmessen. „Gewähre dieses Glück, Herr, uns braven christlichen Rittern!“
Und die trotzigen Häupter, die sonst keine Tränen kannten, neigten sich in Schluchzen und Ergriffenheit. In dem dunklen Kirchenschiff flackerten die Wachskerzen. Aus dem Atem der Betenden schien sich eine Wolke zu bilden, die sie gleich einem Regenbogen umspannte. Die Inbrünstigen fühlten sich angesichts ihrer Sendung einem großen Geheimnis nahe. Sie sahen sich erwählt, erhöht und ausgezeichnet. Ein heiliger Stolz schwellte ihre Brust. Begeisterung leuchtete aus ihren Augen. Oh, nicht in Worte zu fassender Augenblick! Die unsterblichen Gesta Dei per Francos begannen sich zu erfüllen.
DREIZEHNTES KAPITEL Wie die Scharen der Kreuzfahrer, durch unredliche Führer verlockt, allein, auf sich selbst gestellt, einen unbekannten Weg ziehen
Die
rings um die Stadt Clermont versammelten Menschen erzählten, daß es schon lange keinen so strengen, aber gleichzeitig leicht zu ertragenden Winter gegeben habe wie den diesjährigen. Die Fröste fraßen sich schon bald nach Weihnachten in die Erde; aber was bedeutete das schon, wenn an den Lagerfeuern die Funken sprühten und die Wärmesuchenden satt zu Essen hatten. Sofort nach dem gemeinsamen Gelübde hatte der Führer des Heiligen Zuges, der kluge Bischof von Puy, alles aufgekauft, was sich in der Stadt an Vieh und Getreidevorräten befand. Das Korn wurde in den Kirchen eingelagert und alles Getier in Verschlägen untergebracht, die bald zusammengezimmert waren. Die kampierende Volksmenge teilte er in Bezirke ein. Jeden Tag gaben die bischöflichen Beauftragten Lebensmittel für eine Woche in einem anderen Bezirk aus. Unterdessen übten die Männer auf den gefrorenen Feldern der Umgebung Bogenschießen und die Handhabung von Keule und Streitaxt. Ihre Nacken, die sich bisher unter der harten Sklavenarbeit bis zur Erde hatten beugen müssen, richteten sich zum ersten Mal auf und versuchten sich zu spannen und Trotz zu bieten. Die Übenden waren in Rotten eingeteilt und hatten Zehnerschafts– und Hunderterschaftsführer. Der Bischof bemühte sich, die Ritter für die Führung dieser Rotten zu gewinnen. In jeder Rotte einfachen Fußvolkes sollten wenigstens fünf Berittene sein, wenn es nicht anders ging, nur drei oder zum mindesten zwei. Aber die Edlen hörten nur widerwillig auf diese Vorschläge. Sie waren nicht aufgelegt, irgendwelches Gesindel zu befehligen. Der Bischof gab daher bekannt, daß er tüchtige Knappen zu Rittern schlagen und ihnen eine Rüstung, ein Schwert und einen Gurt beschaffen werde, wenn sie den ehrenvollen Auftrag übernehmen
wollten, die neugebildeten Rotten zu führen. Ein Rittergurt, das war kein geringer Anreiz. Es kamen denn auch eine ganze Menge, darunter solche, die schon betagt waren, wie St. Pierre de Luz aus dem Gefolge des Herrn de Foix, und andere, die so jung waren, daß ihnen kaum ein Milchbart sproß, wie der schöne Jüngling Engelram, der Sohn des Grafen de St. Paul. Alle sollten am Tage des Heiligen Paulus des Einsiedlers zum Ritter geschlagen werden. Vor der Schwertleite mußten die Knappen in einem Waschzuber unter freiem Himmel baden, vierundzwanzig Stunden fasten und die Nacht vor dem Ritterschlag in Einsamkeit verbringen. Am nächsten Morgen mußten sie während der feierlichen, vom Bischof zelebrierten Messe um den Altar niederknien, jeder in einem dünnen, gebleichten, noch nicht getragenem Hemd. Ein solches Hemd wurde nur zweimal angelegt: zum Ritterschlag und als Totenhemd im Sarge. Jeder trug neue Lederstiefel, eng anliegende Hosen und ein Wams aus Tuch oder Leder. Auf und neben dem Altar lagen Schwerter, Rüstungen und Gurte. Die Rüstungen waren nur selten ganz aus Eisen. Gewöhnlich bestanden sie aus einem Lederwams mit kupfernen oder eisernen Ringen, die so dicht übereinander lagen, daß das Leder fast bedeckt war. Eine solche Brünne nannte man Broigne. Die Lateiner hatten einst diesen Harnisch von den Slawen übernommen, bei denen er Bron hieß. Dieses lederne, mit Metallringen dicht benähte Wams war schwer und steif wie ein Panzer; deshalb bevorzugten manche Krieger den leichteren stählernen Ringpanzer aus kunstvoll gebundenem Netz. An dem Ringpanzer befestigt war die Kapuze, die mit ihm ein Ganzes bildete. Sie umschloß fest die Schläfen und den Unterkiefer und ließ nur Augen, Nase und einen Teil der Wangen frei. Über diese erst wurde der Helm mit dem Mund– und Nasenschutz gesetzt. Die Beine waren mit stählernen Schienen, die Hände mit starken netzartigen Handschuhen bedeckt. Der Geistliche nahm der Reihe nach jeden Teil der Rüstung vom Altar, segnete ihn und reichte ihn dem Wartenden wie das Heilige
Abendmahl. Den Rittergurt mit dem daran befestigten Schwert segnete er besonders und mit außergewöhnlichem Ernst. Er sprach: „Ich segne dich, Eisen, blanke Schneide, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Diene zum Siege des Kreuzes, vergieße kein unschuldiges Blut, weder das eines Kindes, das einer Witwe noch das eines Wehrlosen. Tauche dich in heidnisches Blut, ritterliche Schneide!“ „So wahr mir unser Herr Jesus Christus und Seine unschuldige Marter helfe“, antworteten die neuen Ritter im Chor. Ademar de Monteil, der neben dem Altar in einem Chorstuhl saß, nahm der Reihe nach die gesegneten Schwerter. Er erteilte den Ritterschlag, wozu er ein Recht hatte, denn er selbst hatte ihn einst empfangen, bevor er Mönch und Bischof geworden war. Er schlug jedem der Knienden mit dem Schwert dreimal auf die Schulter und sprach dabei: „Empfange diesen Schlag, aber dulde von nun an keinen einzigen mehr!“ Der so zum Ritter Geschlagene küßte das ihn berührende Schwert mit Ehrerbietung, als sei es das achte Sakrament. Dann erhob er sich aus der knienden Stellung, verließ die Kirche und sprang draußen, ohne den Steigbügel zu berühren, schnell auf sein Pferd, riß die Lanze aus dem Boden und sprengte im Galopp davon, um die mit Stroh ausgestopfte Puppe, die in einiger Entfernung an einem Balken hing, zu durchbohren. Je geschickter und schneller er dies bewerkstelligte, desto besser waren die Aussichten für seine Zukunft. Ein böses Geschick oder gar das Schlimmste stand ihm bevor, wenn der Reiter stürzte oder die Lanze ihr Ziel verfehlte. Deshalb sah die anwesende Volksmenge der Zeremonie mit großer Neugier zu. Würden alle, auch der grauhaarige, schon ein wenig schwerfällige de Luz, mit einem Sprung aufs Pferd, in den hohen Rittersattel gelangen? Trafen sie genau die Mitte er Puppe und ritten in der Hast nicht etwa an ihr vorbei?
Alle schauten aufmerksam zu. Aber in diesem Augenblick erhob sich am anderen Ende des Platzes ein Getümmel, das die gespannte Erwartung ablenkte. Dort gab es ein willkommenes Schauspiel. Eine grölende Menge lief hinter einer seltsamen, torkelnden Gestalt her, die alle paar Schritte zu Boden fiel. Es war das ein auf frischer Tat ertappter Dieb, dem man den Kopf kahlgeschoren und dessen ganzen Körper man in Pech getaucht und in Federn gewälzt hatte. Das war bestimmt ergötzlicher als das Puppenstechen der Reisigen, und die meisten Zuschauer strömten in diese Richtung davon. Die kurzen, windreichen Tage vergingen nur langsam. Der Winter dauerte an, und vom bleigrauen Himmel fiel langsam Schnee. Außer flüchtigen Ereignissen, den Übungen der Männer, den Ritterschlägen oder der Festnahme eines Diebes, war das Leben in den Lagern wie erstorben. Der einfache, damals noch naturverbundene Mensch schlief im Winter wie die Erde oder der Wald. Der Körper wurde schwach und träge. Von Weihnachten bis Ostern gab es keine Waffentaten, keine Ritterfehden oder gar Raubzüge. Es war ja Winter, die Jahreszeit, in welcher der Bär auf seinem Lager, der Dachs in seinem Bau schliefen und der gleich ihnen schwerfällige Mensch sich am Feuer wärmte. Man wußte nur nicht, ob der zottige Meister Petz etwas im Traum erblickte, wenn er auf seinem Lager unter den Ästen eines gefällten Baumes lag, und ob auch der Dachs vielleicht irgendwelche Traumgesichte hatte. Doch der Mensch, wenn auch sein Körper und alle Muskeln erschlafft sein mochten, hatte eine andere, innere, sich belebende Welt, seine Vorstellungskraft. Er spann Märchen. Nie sind auf der Welt so viel Märchen ersonnen worden wie zur Winterszeit. Vielleicht hätte es ohne Winter überhaupt nie Märchen gegeben. So zogen auch jetzt die Erzähler in den Lagern von Herd zu Herd und fabelten von Wundern, die sich in der Welt ereigneten. Sie erzählten, daß jede Nacht auf die unterhalb von Montferrand gelegene Ebene Sterne wie große Schneeflocken vom Himmel fielen. Sobald sie die Erde berührten, verwandelten sie sich in Ritter, die
ins Heilige Land ziehen wollten. Andere berichteten wieder, man habe unerklärliche, in die Luft aufsteigende Lichter gesehen, ähnlich denjenigen, welche manchmal über den Sümpfen erscheinen, nur daß sie unvergleichlich stärker leuchteten, weil sie den Kreuzfahrern unterwegs die finstere Nacht erhellen sollten. Sie erzählten auch, hungrige Wölfe seien einem auf der Landstraße allein dahinwandernden Ribalten begegnet. Dieser habe ihnen aber sein auf den Arm geheftetes Kreuz gezeigt, und die Raubtiere hätten sich winselnd niedergelegt. Er sei dann zwischen ihnen hindurchgegangen wie durch eine Herde friedfertiger Schafe. Die längst, vor vielen Jahrhunderten verstorbenen Heiligen und Könige seien aus ihren Sarkophagen auferstanden und rüsteten sich zum Kreuzzuge. Auf dem Marktplatz von Tours habe man in der Abenddämmerung den guten Bischof Martin, den geliebten Patron der Stadt, leibhaftig einhergehen sehen. Der Heilige Gilles sei segnend auf den Mauern seiner Abtei einhergeschritten. Tag für Tag ballten sich nach Sonnenuntergang die Wolken am Himmel zu befestigten Burgen, zu Türmen und Wehrgängen mit Schießscharten zusammen. In diesen Vesten sitze das himmlische Heer, das Gott zur Unterstützung der Kreuzfahrer herabsenden werde. In Jerusalem sei auf dem Altar der Grabeskirche ein Brief gefunden worden, den der Erlöser selbst geschrieben habe. Er warte auf die Kreuzritter, werde ihnen beistehen und sie so belohnen, wie es noch ein Auge gesehen und kein Ohr gehört habe. Von solch wunderbaren Erzählungen waren die Gemüter der künftigen Kreuzfahrer erfüllt, als eines Nachts ein Knappe mit dem Namen Le Cocq laut schreiend von seinem Lager hochfuhr und rief, ihm sei sein vor einigen Jahren verstorbener Bruder erschienen und habe gesagt, daß auch er das Kreuz genommen habe. Sofort verbreitete sich in der ganzen Stadt und in allen Lagern das Gerücht, die Toten zögen zusammen mit den Lebenden in den Kampf für das Heilige Grab. Von dem Tage an betrachtete man aufmerksam jeden Neuankömmling, von denen täglich nicht wenige auftauchten, ob er ein lebendiger, wirklicher Mensch oder
eine Truggestalt sei, welche die allgemeine Vergebung der Sünden ausnutze, mit der Seele dem Fegefeuer und mit dem Körper dem Grabe entronnen sei. So verging der Winter. Wie kurz erschien er den aus nördlichen Gebieten stammenden Menschen! Während noch in der schlesischen Wildnis eine dicke Schneeschicht den Boden bedeckte, durch die sich der Wisent nur mit Mühe seinen Weg bahnte wehte bereits über Clermont der warme, nach ersten Blüten duftende, hauchzarte Wind der Languedoc, plätscherte das Wasser, das in Rinnsalen von den Anhöhen in die Bäche lief. Es rieselte schnell in jeder Furche und floß an den Rändern der Landstraße entlang. Die Zugvögel riefen in der Luft, sie flogen hoch, sehr hoch, gen Osten, und de la Tour meinte, die Schwalben seien im vergangenen Herbst nicht umsonst nach Clermont gekommen. Waren sie ihm und den nach der Stadt ziehenden Rittern nicht unterwegs begegnet? Wahrscheinlich hatten sie hier irgendwo unbeobachtet überwintert und zogen jetzt mit anderen Vogelscharen gen Osten, um den Kreuzfahrern den Weg zu weisen. Es wurde für die Wartenden allmählich höchste Zeit zum Aufbruch. Mit dem ersten Frühlingswind rückte sie näher und immer näher. Das Blut pulsierte unruhig in den Adern. Die Menschenmassen erwachten wie nach durchschlafener Nacht und wollten nun auch nicht einen einzigen Tag verlieren. Unruhig wogte es in den Lagern hin und her, und ungeduldige Stimmen wurden laut. Da der Morgen schon früher graute und die Sonne später unterging, verstummten jetzt die schönen Märchen, und die Wirklichkeit kehrte wieder ein in die Herzen der Wartenden. An den Herdfeuern sprach man nicht mehr von den auferstandenen Königen und Heiligen, sondern davon, ob es besser sei, zusammen mit der Ritterschaft oder getrennt die große Reise anzutreten. „Getrennt, zieht getrennt! Seit einem halben Jahre rede ich ständig, daß es besser ist, getrennt zu ziehen“, rief von Emich, der immer da auftauchte, wo etwas los war. Er und Gottschalk erzählten den Volksmassen so lange hartnäckig ihre Schauermärchen und Klagen
über die Ritter, bis man die Überzeugung gewann, daß die beiden Männer besser zu Führern taugten als andere. Sie erwarben sich das Vertrauen der Volksmenge und waren in den Lagern wie zu Hause. „Mit der Ritterschaft unter Führung des Bischofs aufzubrechen bedeutet dasselbe wie die Rückkehr an die Hundekette“, rief von Emich immer wieder, „man kennt das ja! Die hohen Herrn schlagen zuerst los und sichern sich als erstes die Beute. Für euch bleiben nur die Abfälle. Bei einer Niederlage entkommen sie zuerst, denn sie sind ja beritten. Ihnen fällt das Verdienst der Eroberung des Heiligen Grabes zu, ihnen gehören die Schätze und sie brauchen sich um ihre Sicherheit keine grauen Haare wachsen zu lassen. Ihr seid, wie stets, mißachtet, euch verbleibt nur magere Beute, droht ein elender Tod oder die Kriegsgefangenschaft.“ „Der wackere Emich hat recht, laßt uns nicht länger säumen!“ „Die hohen Herren brechen erst im Juni auf!“ „Auf zum Bischof, er soll uns führen!“ „Er soll wählen, mit wem er ziehen will, hält er es nun mit der Ritterschaft oder mit uns?“ „Da braucht man doch nicht erst zu fragen, mit den Hochgeborenen natürlich. Wir werden auch ohne ihn fertig.“ „Gott will es! Gott will es!“ „Peter der Eremit soll uns führen! Der Mann Gottes! Er kennt den Weg!“ „Wo ist er, der Eremit?“ Der schmächtige, kleine Mann in seiner langen Kutte versteckte sich, als er hörte worum es ging. Er war schüchtern und unsicher. Er verstand wohl mitreißend zu reden, aber wie sah es mit einer mannhaften Tat aus? Er betete, damit man ihn nicht entdecke; aber vergebens. Man suchte ihn, man spürte ihn auf, zog ihn triumphierend aus seinem Versteck und hob ihn auf die Schultern. „Du mußt uns führen“, riefen sie von allen Seiten. „Du kennst den Weg nach Jerusalem. Wir wollen keinen andern Führer!“ Die Frauen fielen weinend vor ihm nieder und küßten ihm die Füße. Ringsum erscholl brausender Lärm.
„Führe uns, wir wollen nicht länger warten, Gott will es!“ Lauter als der Sturm tobte die rasende Volksmenge in ihrer Verehrung. Peter schien es, als werde er, der Wehrlose, von einer Woge erfaßt und unter einer Sturzsee begraben. Er sollte diese aufgebrachten Haufen beherrschen und sie führen? Nein! Nie und nimmer! Mit nach dem Morgenlande ziehen und kämpfen, gern, als einzelner unter Tausenden von Verteidigern des Glaubens. Niemals aber als Führer. Das waren schwache Vernunftsgründe und Einwände gegenüber der Volksmasse, welche die Erfüllung der im Herbst verkündeten Wunder verlangte. Er durfte jetzt nicht nach Ausflüchten suchen. Hatte er denn nicht versprochen, es werde die Feuersäule Moses’ oder der Stern von Bethlehem wieder vor ihnen herleuchten? Mit verdoppelter Kraft schrien alle: „Führe uns! Führe uns! Gott will es!“ Doch einige schwiegen. Walter ohne Habe, Gottschalk und von Emich nutzten die Unsicherheit Peters geschickt aus und boten sich selbst als Führer an. „Ich werde euch führen!“ „Wir werden führen!“ Und schon wandte sich ihnen ein Teil der Volksmenge zu. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Ruf: „Hoch lebe Walter ohne Habe, unser Führer!“ „Ein Hoch den braven Rittern Gottschalk und Emich!“ Als Peter sah, daß die Aufmerksamkeit der Massen von ihm abgelenkt war, freute er sich zunächst, gedachte zu fliehen und sich so schnell wie möglich zu verbergen. Als aber die Rufe zu Ehren der Ritter immer stärker wurden, regte sich in seinem Herzen der Stachel des Neides. Es verletzte ihn tief, daß sich der Volkshaufe so schnell von ihm abwandte. Das hatte er nicht erwartet. Als rings die Anhänger der neuen Anführer jubelten, drehte er betreten das Ende seiner zerfransten Kapuze zwischen den Fingern und überlegte. War er nicht zu bescheiden? Hatte er sich nicht selbst unterschätzt? Es war doch gewiß schwieriger gewesen, alle
diese Menschen hierher zu rufen und ihnen die heilige Begeisterung einzuflößen als sie jetzt nach Jerusalem zu führen, wohin er zudem den Weg kannte. Ja, nur er allein kannte ihn. Hatte er mit Gottes Hilfe jenes erreicht, so würde ihm auch dieses gelingen. Mit energischer Bewegung warf er die Kapuze auf den Rücken, sprang auf die Erhöhung, die ihm im Herbst als Rednertribüne gedient hatte und rief laut: „Leute! Ich bin einverstanden, ich führe euch, wenn dies der Wille des Herrn ist.“ „Peter der Eremit ist einverstanden! Unser Heiliger ist bereit! Laßt uns den Herrn loben! Unser Prophet will uns führen“, riefen die Frauen entzückt. Aber nicht alle Männer kehrten zu Peter zurück. Die Gunst der Menge ist unbeständig. Wehe dem, der den günstigen Auenblick versäumt. Die breiten Schultern Walters ohne Habe, seine kräftige, ruhige Stimme, die Selbstsicherheit der Herren Gottschalk und von Emich hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Unter stürmischen Auseinandersetzungen teilte sich der wogende Volkshaufe in drei Teile: Unter die Führung Peters stellten sich fromme Pilger, Handwerker, Bürger, Greise, Frauen und Kinder. Zu Walter strebten junge, kraftstrotzende Bauern, Scholaren, Ribalten und kampfeslustige Gesellen, die von Waffentaten und Feldzügen träumten. Um Gottschalk und von Emich sammelten sich alle diejenigen, welche weder aus Frömmigkeit noch aus Ruhmsucht zu den Reihen der Kreuzfahrer gestoßen waren: Galgenstricke, Faulenzer, Landstreicher aus aller Welt, Straßenräuber und solche, die raffgierig leichte Beute erhofften. An Zahl waren es nicht wenige, wohl ebenso viele wie unter der Führung Peters. „Wir brechen morgen auf!“ rief Emich den Seinen zu. „Aber nicht mit leeren Händen! Erst müssen wir die bischöflichen Lager öffnen und uns Vorräte holen!“ Ha! So sprach ein Mann! Nichts klang angenehmer in den Ohren als die Worte: „Die Lager öffnen!“ Genau betrachtet waren die
bischöflichen Rationen knapp, wenn nicht gar kärglich bemessen. Jetzt würden sie sich das ihnen Zustehende schon holen. Peter erstarrte vor Schreck und faltete die Hände. Bei der Barmherzigkeit Gottes! Das bedeutete doch nicht etwa Plünderung? Ungehorsam gegen die heilige Gewalt? Das durfte keinesfalls geschehen. Er betrat wieder die Erhöhung, er bat, er rief, er flehte. Er wurde heiser vom Schreien. Der Ärmste wußte nicht, daß ein Führer weder bitten noch beschwören darf. Das einzige, was er sich erbettelte, war, daß ihm die Menge versprach zu warten, bis er vom Bischof, dem er die ganze Angelegenheit vortragen wolle, zurückgekehrt sei. Vielleicht würde der Bischof sogar freiwillig seine Zustimmung geben, und sie brauchten ihren Weg nicht ohne Segen zu beginnen. „Was nützt uns der bischöfliche Segen?! Gott will es!“ erhoben sich mehrere Stimmen. Schließlich war die Mehrheit aber unter der Bedingung einverstanden, daß die Scharen Walters und Gottschalks ebenfalls warteten. Peter lief nun, halb von Sinnen, im Lager umher, suchte Walter und die beiden deutschen Ritter, umarmte sie und küßte, auf Zehenspitzen stehend, ihre rauhen Wangen. Er flehte sie im Namen Christi an, zu dessen Verteidigung sie ja ausziehen wollten, nicht mit Gewalttätigkeiten zu beginnen. Der Bischof werde bestimmt einverstanden sein. „Wir warten!“ stimmte Walter zu. „Aber im Ernstfalle kann uns selbst der Bischof nicht hindern!“ Er hatte recht. Gegenwärtig waren die beiden Deutschen und Walter in Clermont Herren der Lage. Die Edlen waren sofort nach Weihnachten auf ihre Burgen zurückgekehrt, um die erforderlichen Mannschaften aufzustellen und alles für den Zug vorzubereiten. Sie hatten bei ihrer Ritterehre einander gelobt, sich vor der Ernte an einem bestimmten Ort mit ihren Leuten marschfähig zu treffen. In der Stadt waren nur die polnischen und ungarischen Ritter, einige deutsche Krieger, Sven von Dänemark, der Bruder des Königs, Hugo, der zu faul war, um sich eine Beschäftigung zu suchen, und
noch einige kleinere Gruppen zurückgeblieben. Der Gedanke, daß diese den aufbegehrenden Volksmassen erfolgreich Widerstand leisten und sie in Schach halten könnten, war absurd. Halb tot vor Erschöpfung begegnete Peter dem Bischof schließlich am Stadttor. Ademar hatte bereits von dem Aufruhr im Lager gehört und stieg, als er des Eremiten ansichtig wurde, vom Pferde. Nachdem er sich einen Pfeilschuß weit von dem Gefolge entfernt hatte, blieb er mit Peter allein auf der Anhöhe stehen, wo vorher die Zelte des griechischen Gesandten gestanden hatten. Vor Anstrengung keuchend und mit Tränen den Augen erstattete Peter Bericht. Ademar de Monteil hörte ihm zerstreut zu und ließ seinen durchdringenden Blick über den Kopf des Männleins hinweg zu dem sich im Tal in einem riesigen Kreis hinziehenden Lager schweifen. Von dort her tönte es wie das Rauschen einer fernen Brandung. Die Sonne wärmte schon, und die Luft war erfüllt mit unbeschreiblich süßem Frühlingsduft. Bei diesem Bild erinnerte sich der Bischof an den kalten Herbstabend, an welchem er aus dem Fenster des erzbischöflichen Burgturmes auf dieselben Lager geblickt hatte, in denen Tausende von Feuerstellen erwartungsvoll brannten. Damals schien es Urban, dem genialen Träumer, er könne die Natur der an diesen Feuern wachenden Menschen ändern, sie zu Höherem lenken und mit Geist beleben. Ihm schien — und er, Ademar, war während des Konzils eine Zeitlang dieser Täuschung ebenfalls erlegen — daß er anstelle der drei Hauptleidenschaften, der Begierde, der bösen Lust und der Herrschsucht, die von dem Menschenhaufen Besitz ergriffen hatten, diesem eine neue Kraft, eine übersinnliche Gewalt aufzwingen könne, die, obwohl aus diesen drei Kräften geformt, mächtiger war als sie, nämlich die ergreifende, erhebende und mitreißende Macht der Liebe, des Glaubens und der Sehnsucht nach der Vollendung in Gott. Das waren doch Träumereien, Hirngespinste, die nur zu schnell verflogen. Ademar wußte nur zu gut, daß die menschliche Natur nur für eine kurze Zeitspanne rein und Höherem zugewandt sein
konnte. Sie strebte zwar den Engeln gleich zum Himmel, fiel aber bald wieder schwerfällig zur Erde, niederträchtiger als je zuvor. Vergeblich waren alle Anstrengungen. Urban hatte gesagt: „Du wirst sehen, sie werden hingelangen und das heiligste Ziel erreichen. Sie werden vielleicht zusammenbrechen, nachhinken, zurückweichen, aber du wirst sehen, es gelingt ihnen.“ Wie hast du dich geirrt, Bruder Odo, kluger Papst Urban! Sieh dir an, was sie tun und treiben, obwohl sie noch nicht einmal losgezogen sind. Was wird dem folgen? Was? „Herr! Herr!“ bettelte Peter weinend. Ademar schaute auf ihn herab. „Befiehl, sie sollen aus ihren Reihen Abgesandte wählen, mit denen ich sprechen kann. Aber es müssen Besonnene sein, die in der Lage sind, den anderen zu wiederholen, was ich sage.“ „Der Bischof kommt! Der Bischof!“ hallte es gellend durch das Lager. Die neuen Führer, Gottschalk und von Emich, sowie die neugierige, drängende Volksmenge warteten gespannt. „Führe uns! Wir wollen nicht mehr länger warten! Wir wollen sofort ziehen! Gott will es!“ „Gott will, daß ihr dem vom Heiligen Vater ernannten Führer gehorcht. Dieser Führer bin ich. Ihr gehorcht mir und nicht ich euch! Wir brechen sofort nach der Ernte auf, nicht einen Tag früher. Wir nehmen die neue Ernte mit, und wir wollen auch unsern Mitmenschen durch unseren Zug das Getreide nicht vernichten. Ich habe gesprochen!“ „Wir wollen aber sofort ziehen, wir haben Männer, die uns führen!“ „Ihr zieht mit mir, wenn ich den Befehl dazu gebe. Wer früher aufbricht, hört auf, Kreuzfahrer zu sein. Irgendwelche anderen Führer gibt es nicht. Ich allein bin erwählt und ausersehen. Sucht euch keine Usurpatoren, die euch nur ins Verderben führen. Ihr hungert nicht. Nie im Leben ist es euch besser ergangen als jetzt. Dagegen versteht ihr noch nicht einmal richtig zu kämpfen. Wäre nicht jede Stunde kostbar, so müßte man euch noch ein Jahr
hierbehalten. Ich habe von den Mauern aus zugesehen, wie ihr geschossen habt. Es war zum Lachen, jeder Pfeil ging in eine andere Richtung. Weder die Streitaxt noch den Speer versteht ihr richtig zu handhaben. Von Schlachtordnung habt ihr ebenfalls keine Ahnung. Von Angriff und Belagerung versteht ihr noch gar nichts. Solche Krieger kann Christus nicht brauchen. In diesem Heiligen Krieg muß jeder wissen, weshalb er hinauszieht, welche Strapazen er auf sich nimmt und welchen Beitrag er zum Siege leisten kann. Die Schreierei ‚Gott will es!‘ genügt nicht. Beim Heiligen Lambertus, dem Märtyer, das genügt nicht!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wendete er das Pferd und ritt zur Stadt zurück. Der zurechtgewiesene Volkshaufe schwieg. Der Bischof hatte recht! Es ging ihnen hier gut, das war richtig. Und daß die Felder nicht zertreten werden sollten und ihre Pfeile das Ziel verfehlten, stimmte auch. Hände, die bei Landarbeiten zwar eine gewisse Geschicklichkeit erlangt hatten, gewöhnten sich nicht so schnell an Bogen, Sehne und Pfeile. Was sollte man tun? War es nicht vielleicht doch besser zu warten? Worte und Meinungen schwirrten durcheinander. Viele waren bereit, dem Bischof zu gehorchen und zu bleiben. Zwar waren sie nicht sonderlich davon erbaut, daß seine Rede so hart und herrisch geklungen hatte. Weshalb sagte er kein Wort von Wundern und von dem verheißenen Manna? Warum sprach nur von Strapazen? Sie aber wollten im Gegenteil lieber Mühelosigkeit. Genügte es nicht, wenn sie, der ganze Haufe, zögen und allein durch ihre Anzahl die Sarazenen vertrieben? Waren sie nicht schon allein bedrohlich durch ihre Masse? Sie hätten, wenn auch unwillig, dennoch ruhig auf den Sommer gewartet, wären nicht die unruhigen, in ihrer Eitelkeit gekränkten Anführer gewesen. Walter ohne Habe, Gottschalk, von Emich und ein Landsmann der Letztgenannten namens Volkmar wiegelten durch ihre Mittelsmänner das Volk in den Lagern auf. Wenn sie auch an einem gemeinsamen Strange zogen, so setzte doch jeder getrennt üble
Gerüchte in Umlauf. So verbreiteten sie die Schreckenskunde, daß die Hochgeborenen, sobald sie mit ihren Mannschaften von den Burgen hier eingetroffen wären, ihre Leibeigenen niedermetzeln oder in den Klotz legen und nach Hause schicken würden. Wahnwitzig sei derjenige, welcher jetzt auf ihre Ankunft warte. Wer nach Ruhm strebe, die Freiheit liebe und das Grab Christi verehre, der dürfe hier nicht länger verweilen. Dann wiederum machten sie sich an Peter den Eremiten, den Auserwählten und Mann Gottes heran und behaupteten, ihm sei großes Unrecht geschehen. Er werde beiseite geschoben und mißachtet. Allein er und kein anderer müsse die Führung übernehmen. Warum führe eigentlich der Bischof? Sei er etwa wie Peter zum Heiligen Lande gezogen? Habe er zu Fuß die halbe Welt durchwandert, die Menschen zusammengerufen, die Hand vor Schmerz an die Brust gedrückt und sei ohnmächtig zusammengebrochen? Sei er, Peter, ein Nichts, der Bischof dagegen alles? Noch vor einigen Wochen hätte Peter auf solche Vorhaltungen geantwortet, daß er nichts sehnlicher wünsche als einsam, frei und unbekannt zu bleiben. Seit einiger Zeit war aber seine klare Urteilskraft getrübt. Die Verherrlichung seiner Person war ihm zu Kopfe gestiegen. Schon keimte in seinem Inneren der Gedanke auf, der Bischof achte ihn zuwenig und behandle ihn als nebensächlich, ihn, den Eremiten, den Urheber von allem. Wessen Verdienst war es, daß sich das Volk hier versammelt hatte, um voller Begeisterung zur Rettung des Herrn auszuziehen? Das war allein sein Verdienst! Als er über diese Dinge nachdachte, waren ihm plötzlich die Wunder und Zeichen, die in seiner Erinnerung schon fast verblaßten, wieder gegenwärtig. Seltsam, sie waren zwar vor langer Zeit geschehen, aber jetzt wurde er sich ihrer Bedeutung erst voll bewußt. Alle bestärkten ihn in der Überzeugung, daß der Herr ihn zum Führer ausersehen hatte. Er erinnerte sich wieder daran, daß Christus während seines inbrünstigen Gebetes am Heiligen Grabe
zu ihm gesprochen hatte: „Stehe auf, Peter, führe das Volk herbei damit es Mich errette!“ Damals war ein Splitter des Heiligen Kreuzes im Altar von selbst hervorgetreten, damit er, Peter, ihn küsse. Schrieben ihm denn nicht viele Frauen ständig neue Wunder zu? Er hatte die kranke Martina, die an Magenkrämpfen litt, geheilt. Er hatte bei den entzweiten Eheleuten Blasius, von denen man sagte, daß selbst der Teufel sie nicht wieder zusammenbringen könne, eine Versöhnung erreicht. Als daher die Volksmenge an einem strahlend schönen Morgen, nach einer Nacht stürmischer Beratungen, die schmiedeeisernen Gittertüren der in Kornspeicher verwandelten Kirchen aus den Angeln hob, das Vieh aus den Gehöften und Ställen trieb und in einer unermeßlichen und unübersehbaren Welle aufbrach, stimmte Peter mit ihr in den Ruf „Gott will es!“ ein und stand an der Spitze der ersten und zahlreichsten Schar. Die in Clermont verbliebenen Ritter blickten erleichtert auf diesen Abzug. Es war ihnen nur willkommen, ohne dieses Gesindel zu kämpfen. Bischof Ademar brach aber vor Verzweiflung das Herz. Der Herr möge sich ihrer erbarmen! Sie strömten dahin, so breit wie ein Meer, zu Fuß, trieben Vieh, schoben Handwagen, die mit Kindern und wenigen Kleidern beladen waren. Manche ritten auf beschlagenen Ochsen. Nur hier und dort hatte einer ein Pferd, den Gegenstand allgemeinen Neides. Den Weg kannte niemand, denn Peter war nach dem Heiligen Lande auf einer italienischen Galeere gefahren. In dieser nicht mehr aufzuhaltenden Volksmenge befanden sich Greise und Kranke, leichte Weiber und Räuber, unschuldige Mädchen, alte Frauen und Kinder, kleine sündelose Kinder. Was würde mit ihnen geschehen, mit allen diesen armen Menschen? „Herr barme Dich ihrer“, betete der Bischof.
VIERZEHNTES KAPITEL Das Manna fällt noch nicht
Das Eichhörnchen sammelt emsig Vorräte für den Winter, und der
Hamster trägt den ganzen Sommer Korn in seinen Bau. Die Menschen sind nicht so umsichtig wie die Tiere. Die in dichten Schwärmen dahin ziehenden Kreuzfahrer aßen, tranken und kümmerten sich nicht um die Zukunft. Die mit geführten Viehherden schmolzen wie Schnee in der Frühlingssonne zusammen. Kein Wunder, denn die Wallfahrer verspeisten nur die besten Stücke, den Rest warfen sie fort. Mochte er verfaulen, sollten ihn die Raben zerhacken, mochte ihn nehmen wer wollte. Köpfe, Füße und Lunge, Leber und Niere der Tiere reizten den wählerisch gewordenen Gaumen nicht mehr. Die Bissen, die bisher ein unerfüllbarer Traum des armen Bauern gewesen waren, der nur dann Fleisch aß, wenn er heimlich, vor Angst zitternd, einen Hasen in der Schlinge oder einen Fisch in einem Tümpel fing, weil nach althergebrachtem Recht alles, was in der Luft, im Wasser und auf dem Felde lebte, dem Grundherrn gehörte, diese Bissen schmeckten nun nicht mehr und wurden verschmäht. Was sollte aber geschehen, wenn die Viehherden verbraucht und die Getreidesäcke leer waren? Niemand kümmerte sich darum. Es sollte ja Manna vom Himmel fallen. Zogen die Kreuzfahrer durch Städte oder Dörfer, so warfen sie dem bettelnden Volk etwas Eßbares zu. „Nehmt, wir haben genug davon“, sagten sie. „Ist es zu Ende, so wird uns Christus neue Nahrung senden.“ Die Beschenkten segneten die Kreuzfahrer und schlossen sich ihnen häufig an. Öfter als Segnungen hörte man unterwegs aber Verwünschungen wegen der zertretenen Felder und der vernichteten Weinberge. Wie ein mächtiger, unübersehbarer Strom wälzte sich die Masse der Kreuzfahrer dahin und ließ nur kahles Land hinter sich zurück. Überall war die junge Saat wie niedergewalzt. Nichts blieb
verschont, die Brunnen wurden leergetrunken, die Reisigzäune und die mit großer Mühe längs der Felder errichteten kleinen Steinmauern wurden umgeworfen. Nach dem Durchzug der Tausende von Menschen glichen die Bäche aufgewühlten, morastigen Rinnsalen, aus denen hinterher weder Vieh noch Mensch seinen Durst stillen konnte. Sie fluteten vorwärts wie eine Überschwemmung, unerbittlich, nichts verschonend. Sie kannten nur den einen Ruf: „Gott will es!“ Wurde in der Ferne ein Klosterturm sichtbar, so stießen sie ein Freudengeheul aus, als wären sie schon vor Jerusalem angelangt. Die vordersten Reihen fielen auf die Knie und die nächsten drängten mit dem Ruf: „O Jerusalem, Jerusalem!“ nach. So zogen sie durch frische Wiesen, zertraten das kniehohe Gras, die Blumen und Kräuter, über denen Bienen geschäftig summten. Die Mädchen flochten sich Kränze und drückten sie auf ihre Flechten, blickten dann in die Bäche, um sich an ihrem Spiegelbild zu erfreuen. Die Volksmenge, die ihrer täglichen Sorge ledig war, wurde von einer heiteren Unbeschwertheit erfaßt. Heute schlief man hier unter einem Birnbaum, morgen dort irgendwo im Walde oder in einem Graben. O wunderbare Sorglosigkeit, o paradiesisches Abenteuer! Im Frühlingsschein durch Brüche und Wälder zu wandern, über Berge und Täler, und sei es auch bis ans Ende der Welt, welche Freude! Auf ihrer Wanderung stießen von der Maaß und der Mosel, aus Burgund und aus der Champagne neue Menschenmassen zu ihnen, Gesunde und Kranke. Wie ein Schwarm schleppten sich Bettler und Krüppel hinterher. Sie schwenkten ihre leeren Ärmel, auf denen das Kreuzeszeichen sichtbar war. Sie stampften mit ihren Holzbeinen und gebärdeten sich oft wie die Besessenen, als wären sie vom Veitstanz befallen. Der Lahme führte den Blinden, und der Stumme schob auf einem Wägelchen den Gelähmten vor sich her. Ganz am Ende des Zuges folgte auch eine Anzahl Aussätziger. Diese entsetzliche Krankheit plagte Europa erst seit kurzer Zeit. Die
Mauren hatten sie nach Spanien eingeschleppt, und von dort war sie nach Frankreich gelangt. Die Abscheu erregenden Elendsgestalten hatten ihre Holzklappern weggeworfen und folgten in ihren schwarzen, verschossenen Mänteln mit der an Brust und Rücken aufgenähten weißen Hand, so gut sie konnten, den Gesunden nach. Sie wurden zwar mit Flüchen überschüttet, und wenn sie zu nahe herankamen, bewarf man sie mit Steinen, aber die Teilnahme am Zuge durfte ihnen niemand verwehren; vielleicht würde Christus gerade ihnen seine Barmherzigkeit erweisen. Jeder dieser, von der Gemeinschaft ausgestoßenen Unglücksmenschen stellte sich in seinen Fieberphantasien vor, er werde nach der Ankunft in Jerusalem seine fingerlosen Handstümpfe auf das Heilige Grab legen, und davon würden seine Hände dann wieder stark und gesund sein. Im Staube sich dahinschleppend, malte er sich die Freude aus, wieder bewegliche und geschickte Finger zu besitzen. Diese Beklagenswerten stolperten mit ihren kranken Füßen über die steinigen Wege und dachten schon an den sehnlichst erwarteten Augenblick, an dem sie endlich ihr Ziel erreicht haben würden. Konnten sie es wagen, den Heiligen Stein mit diesen ihren jammervollen Stümpfen zu umfassen, oder würden sie wie die zehn Aussätzigen zu Lebzeiten Christi abseits stehen und laut rufen: „Jesus von Nazareth, erbarme Dich unser!“ Noch waren sie unschlüssig, was sie dann tun wollten, riefen aber jetzt trotzdem eifrig: „Gott will es! Gott will es!“ Eine schwache, klanglose Stimme drang aus ihrem faulenden Mund. Bestand eine Hoffnung, die festen, weißen Zähne und die vollen, feuchten Lippen, vor denen sich Frauen nicht zu ekeln brauchten, je wiederzuerlangen? Sie sprachen aber zu niemand über diese Hoffnungen. Würde Christus sie alle heilen können? Oder vielleicht nur einen, vielleicht zehn wie im Evangelium? Jeder sah sich insgeheim unter diesen Auserwählten und trachtete danach, daß die anderen nicht vor ihm das Heilige Grab erreichten. Aber die geheimen Gedanken beflügelten sie, ließen die verkrüppelten Füße schneller gehen, und schon befand sich der
grausige Haufe der Elendsgestalten in der Nähe der Kreuzfahrer. Diese stießen Drohungen aus, warfen mit Steinen und Erdklumpen, versperrten ihnen mit Stangen den Weg, bis die unglückliche Schar zurückwich und allmählich wieder in der von fünfzigtausend Füßen emporgewirbelten Staubwolke verwand. Nahe der Spitze des Zuges, gleich hinter den Weibern, die Peter den Eremiten umgaben, zogen Spielleute, Spaßmacher, Seiltänzer, Sänger, Ribalten, Goliarden und ähnliches Volk, das ein sorgloses Umherwandern gewöhnt war und sich daher an dem Abenteuer nicht so berauschte wie die übrigen Kreuzfahrer, die meist seit Generationen feste Wohnsitze hatten. Das dichte Gedränge, das Menschengewimmel, der Geruch von Schweiß und das ständige Stimmengewirr waren ihnen lästig. Sie waren gewöhnt, zu viert oder zu fünft zu marschieren und dort haltzumachen, wo es ihnen beliebte. Doch nahmen sie dem Herrgott zuliebe diese Unbequemlichkeit in Kauf, glücklich, daß sie zu Seiner Verteidigung beitragen durften. Um einen Lohn dafür kümmerten sie sich nicht. Und hätte sie ein Neugieriger gefragt, was sie als Gewinn von ihrer Wanderung erhofften, so hätten sie sicher geantwortet, daß sie nichts weiter wünschten als vielleicht etwas weniger Verachtung von ihren Mitmenschen, daß man sie nicht am Wege verrecken lasse und ihnen einen Platz auf dem Friedhof verweigere. Da aber diese ungebundenen Gesellen nicht ohne Gesang und Musik leben konnten, ersannen sie während des Zuges Lieder über das bedrängte Jerusalem und das Heilige Grab. Die von ihnen angestimmte Melodie wurde von den Scholaren, dem lustigen Kleriker Bartholomäus aus Marseille und den nächsten Reihen der Kreuzfahrer aufgegriffen. Das Lied erschallte laut im Umkreis und erfreute die Gemüter, erhob die Herzen zu Gott und erquickte die Ermüdeten gleich einem Labetrunk. Während einiger Tage verschwand es nicht von den Lippen der Sänger, bis es von einem anderen, einem neuen Lied abgelöst wurde und dieses wieder von einem weiteren. Es gab niemanden, der diese Lieder aufzeichnete,
deshalb entschwanden sie bald dem Gedächtnis. Erst mit der Ritterschaft kamen gelehrte Chronisten, welche die Geschichte dieses Kreuzzuges den späteren Jahrhunderten überliefert haben. Doch die Werke und Worte dieser armseligen Schar, die wie ein grauer Heuschreckenschwarm durch Mitteleuropa zog, wurden vom Winde verweht, sie starben und verdarben wie der ganze unglückselige Heerhaufe. Auch von den Liedern blieb kaum etwas erhalten, nur wenige wurden von den Bewohnern der am Wege liegenden Weiler und Städte aufgegriffen und kamen dadurch, daß sie dort hundert, ja dreihundert Jahre und noch länger gesungen wurden, auf die Nachwelt. Die dicke Martina, die auf so wunderbare Weise von der Kolik geheilt worden war, und die zänkische Laurentia beherrschten unumstritten die Gruppe der Weiber, die Peter den Eremiten vergötterte. Alle waren resolut und robust, hatten ein loses Mundwerk und üppige Formen. Sie bildeten, da sie ihm nicht von der Seite wichen, eine Art Leibwache des frommen Mannes, dessen Tugenden sie lärmend und übereifrig priesen. Sie achteten auf Ruhe, wenn er schlief, betteten ihn auf ein weiches Lager und trugen die schmackhaftesten Bissen herbei. Häufig mischten sie sich unter die Kreuzfahrer, erzählten eifrig von neuen Wundern und Zeichen, die tagtäglich die Heiligkeit des erwählten Führers bestätigen sollten. Sie suchten jeden zu überzeugen, der etwa an ihren Worten zweifelte. Gleichzeitig unterrichteten sie Peter über alle Neuigkeiten und Klatschgeschichten, verschwiegen aber sorgfältig alles, was ihn betrüben konnte. Nach ihren Erzählungen ging es jedem Kreuzfahrer aus dem Gefolge des Eremiten gut, sogar ausgezeichnet, und die Menschen hätten sich dank seiner Führung geradezu in Engel verwandelt. Diese schwatzhaften Frauenzimmer sahen mit mütterlicher, beinahe inbrünstiger Rührung auf das schmächtige, abgehärmte Männlein in der abgetragenen Kutte. Jede von ihnen hätte ihn ohne Mühe auf den Arm nehmen, ihn auf dem Rücken tragen oder sich auf den Schoß setzen können. Diese unbestrittene, körperliche
Überlegenheit erfüllte die wohlbeleibten Gevatterinnen mit Stolz und Rührung zugleich. Von diesem seltsamen Gefolge umgeben, ritt Peter hinter dem voran getragenen Kreuz auf seiner Mauleselin, die ihr Winterfell noch nicht ganz abgelegt hatte. Er freute sich über die Fürsorge der Weiber, war froh angesichts dieser Vergötterung. Weihrauch hat einen süßlichen Duft, der fast jedes Menschen Hirn leicht benebelt. Peter berauschte sich an dieser Süße. In der Glorie der eigenen Bescheidenheit und Armut, in der ständig wachsenden Überzeugung von seiner Mission, führte er das Volk zum Heiligen Land. Um das, was geschehen würde, wenn die Lebensmittel zur Neige gingen, kümmerte er sich ebensowenig wie die ihm folgenden Menschenmassen. Befiel ihn manchmal ein sorgenvoller Gedanke, so wies er ihn wie eine Sünde von sich, denn das bedeutete Mißtrauen gegenüber der Allmacht Gottes. Der Herr wollte, daß sie zögen, Er würde sie auch unterwegs ernähren. Da war kein Grund zur Besorgnis. Und diese feste Zuversicht verließ ihn auch nicht, als die Lebensmittel nur noch für eine Woche reichten, dann bald nur noch für zwei Tage und schließlich nur noch für einen einzigen Tag. Die Vorräte waren nun völlig erschöpft. Was der weise Bischof Ademar für einige Monate bereitgehalten hatte, war in wenigen Wochen vergeudet worden. Nichts blieb mehr übrig. Und das Manna fiel nicht vom Himmel. Kein Wunder geschah; aber das Land, durch das sie zogen, war fruchtbar und reich. Sonderbarerweise war der Haufe, der das Kreuz genommen hatte, einmütig der Meinung, daß die Bevölkerung längs des Weges alles, was sie besaß, hergeben müßte, um diejenigen zu ernähren, welche zur Verteidigung des Grabes Christi auszogen. Wenn das nicht Gottes Wille gewesen wäre, so hätte er die Nahrung durch ein Wunder gesandt. Da dies nicht der Fall war, so lag es auf der Hand, daß die Kreuzfahrer nach Seinem Willen handelten,
wenn sie sich unterwegs Geld und Vieh sowie die letzten aus dem Vorjahr stammenden Vorräte an Getreide, Öl und Wein aneigneten. Wollten aber die Besitzer ihre Habe nicht freiwillig hergeben, so war das um so schlimmer für sie. Von heiligem Zorn entbrannt, wütete der dahin ziehende Haufe entsetzlich. Die Bewohner der Landstriche waren in ihren Augen selbstsüchtige Feinde Christi, also Seine Gegner, und mußten daher ihre gesamte Habe, oft sogar ihr Leben hingeben. Den Kreuzfahrern eilte daher in kurzer Zeit ein furchteinflößender Ruf voraus, der sich über das ganze Land ausbreitete und die Bewohner mit Angst und Schrecken erfüllte. Die an den Ufern der Mosel und am Rhein wohnenden Menschen erstarrten fast bei der Schreckensnachricht. Die Kunde von dieser Plage, die grausamer war als die Peinigungen der ekelhaftesten Hexe, gelangte zu den Städten, die innerhalb der ehemals ausgedehnten und prächtigen römischen Mauern ein elendes Dasein fristeten, zu den Burgen, wo in aller Eile Lebensmittelvorräte gespeichert und die Zugbrücken hochgezogen wurden, zu den Dörfern und Gehöften, von wo die Bevölkerung in panischem Schrecken in die Wälder und Berge, in das Dickicht und in verborgene Schluchten floh. Was mußte das für ein schrecklicher Feind sein! War das wieder ein Hochgeborener, der mit dem örtlichen Grundherrn in Fehde lag, waren das vagabundierende Landstreicher oder sonstiges Räubergesindel? Was mochte dahinterstecken? Die Älteren erinnerten sich an das, was sie von ihren längst verstorbenen Vorfahren über die bösen Hunnen gehört, die einst, vor undenklichen Zeiten, christliche Länder verwüstet hatten. Anscheinend waren diese Zeiten wiedergekommen. Möge uns der Herr in Seinen Schutz nehmen! Gleichzeitig kam es unter den Kreuzfahrern zu Zwistigkeiten; die bisherige Ordnung geriet völlig ins Wanken. Die Gruppen vermischten sich. Seit dem Aufbruch aus Clermont war Peter der Eremit mit seiner Schar vorangezogen. Sein Heerhaufe wurde von einigen auf einhunderttausend, von anderen wiederum auf fünfzigtausend Menschen geschätzt. Die genaue Zahl war niemand
bekannt; denn es hatte keine Zählung stattgefunden. Man wußte auch nicht, ob in dieser Zahl die Kinder, Krüppel und Aussätzigen einbezogen waren oder nur die kampffähigen Männer, von denen es, den Gerüchten zufolge, nicht übermäßig viele gab. Die Gesamtzahl schwankte beständig; denn unterwegs schlossen sich viele dem Zuge an, und nicht selten blieb mancher entmutigt oder erschöpft zurück. Dem ersten Schwarm folgte unter dem Oberbefehl Gottschalks und von Emichs der zweite Haufe in einer Stärke von fünfzehntausend Mann, und eine halbe Tagereise darauf der dritte unter Walter ohne Habe, der an der Spitze einer in Rotten eingeteilten, weder mit Weibern und Kindern noch mit Wagen belasteten Schar von zehntausend auserlesenen Mannen ritt. Solange jeder Haufe Lebensmittel besessen hatte, war diese Ordnung mühelos aufrechtzuerhalten gewesen. Anders jetzt, da nur die ersten Kolonnen satt wurden. Die Geschickteren und Stärkeren profitierten von dem brutal errafften Gut. Die letzten stießen nur noch auf leere Häuser, geplünderte Ställe und beraubte, kahle Gärten. Daher stürmten jetzt immer mehr Haufen breit auseinandergeschwärmt über das Land, bildeten unzählige marodierende Gruppen, überholten sich gegenseitig, verloren die Richtung und verwüsteten auf diese Weise halb Frankreich und Teile Deutschlands. Gottschalk und Emich hielten die ihren beisammen und jagten an einem Maitage wie ein Sturmwind mitten in die Gefolgschaft Peters. Ohne der Gegenwehr und des Jammergeschreis zu achten, überrannten sie die Schar, stießen den ihnen entgegentretenden Peter beiseite, gewannen die Spitze und entfernten sich in schnellem Marsch um eine Tagesreise. Frech erklärten sie, sie dächten nicht daran, immer nur mit den Resten vorliebzunehmen. Sie wollten als erste in die reichen, in der ganzen Welt berühmten rheinischen Städte Köln und Mainz einziehen. Der schnöde behandelte Eremit saß auf der Erde und hielt sich mit den Händen die Ohren zu, um das Jammergeschrei der
Überrumpelten nicht zu hören. Mitleidig wischte ihm die dicke Martina mit ihrem Kopftuch das beschmutzte Gesicht. Der Heerhaufen Gottschalks hatte die rauchenden Trümmer des Ghettos der Stadt Speyer verlassen. Eine Anzahl Juden, die man erschlagen hatte, lagen noch auf den Stufen der Synagoge, darunter der nackte Leichnam eines Mädchens, das sich selbst erstochen hatte, als man es mit Gewalt taufen wollte. Der Anblick des vergossenen Blutes brachte die raubgierigen Menschen in Wallung. Emich, der auf einem prächtigen Streitroß saß, das er dem Besitzer einer nahe gelegenen Burg gestohlen hatte, rief den Seinen laut zu: „Gott weist uns den Weg, den wir ziehen sollen … Hört, Brüder! Hört, Krieger Christi! Ist es nicht recht, daß wir noch vor unserem Zug zur Befreiung des Heiligen Grabes die Verabscheuungswürdigen bestrafen, auf deren Betreiben unser Herr Jesus Christus sein Leben hat lassen müssen? Wir ziehen gegen die Sarazenen, und wer sind die Sarazenen? Unflätige Heiden, aber lange nicht so unflätig wie diese Juden! Nicht sie haben den Erlöser gekreuzigt. Nicht sie haben ihn gemartert. Während wir unter bitteren Plagen, in drückender Hitze und unter Entbehrungen wandern und unser elendes Leben hingeben, gehen diese Schurken, die Mörder unseres Herrn Jesus, in der Welt frei umher und bereichern sich an unserem sauer verdienten Geld! Für einen hohen Preis verkaufen sie uns Schwert, Lanze und Rüstung. Ist das richtig? Soll das so sein …? Wehe den Juden! Gott will es!“ „Gott will es!“ schrie die Menge. „Wir ziehen in drückender Hitze unseren Weg, scheuen keine Mühsal, hungern selbst und nehmen oft unsern Brüdern, den Christen, den letzten Bissen Brot weg; aber die verfluchten Juden sitzen auf Säcken voller Gold! Kann denn das der Wille Gottes sein? Ist es darum nicht recht, daß wir ihnen die Schätze fortnehmen und diese für unsere Ernährung verwenden?“ „Ja! Ja! Gott will es!“
„Habt ihr die garstige Magd gesehen, die sich lieber das Leben genommen hat als die Heilige Taufe zu empfangen? Warum soll man einen solchen fluchwürdigen Starrsinn nicht mit dem Tode bestrafen? Warum soll man eine solche Beleidigung, eine solche Verhöhnung unseres Herrn Jesus Christus nicht blutig rächen?“ „Er hat recht! Wehe den Juden!“ Gottschalk nickte zustimmend und sah den Redner bewundernd an. Wie der alles nur so geschickt auslegen konnte! Der rothaarige dumme Riese hörte nur das eine heraus: Totschlagen und Plündern. Zur List reichte es bei ihm nicht, und zwar nicht deshalb, weil er sie verabscheute, sondern weil er keine ersinnen konnte. Viel Verstand hatte er von der Natur nicht mitbekommen. Deshalb hörte er auf alles, was sein Kampfgenosse sagte. Diesem fiel das Heucheln nicht schwer; denn er war verschlagen, arglistig und seiner Umgebung feind. Als jüngerer Sohn der Familie war er schon in frühester Kindheit einem Kloster geweiht worden, wo er Schweres zu erdulden hatte. Durch das enge, fastenreiche klösterliche Leben wurde seine jugendliche Entwicklung gehemmt. Als Halbwüchsiger war es ihm gelungen, den verhaßten Klostermauern zu entrinnen. Seitdem führte er das harte Dasein eines obdachlosen Flüchtlings. Das Leben hatte ihm übel mitgespielt und einen Haß gegen alles und jeden aufkommen lassen. Dadurch, daß er sich nun als Ritter aufspielte, wollte er sich für seine verlorene Jugend rächen. In Wirklichkeit hatte er aber, ähnlich wie Gottschalk, niemals die Schwertleite erhalten. Wie Raoul de Beaugency wäre er um dieser Rache willen bereit gewesen, seine Seele dem Teufel zu verschreiben, wenn er an ihn geglaubt hätte. Von Gott hielt er aber ebenso wenig. Er begehrte eigentlich nichts außer Geld, und zwar viel, sehr viel. Nicht einmal an Ruhm war ihm gelegen. Die Jahre der aufgezwungenen Demut während seines Aufenthaltes im Kloster, das Leben in steter Unaufrichtigkeit und Lüge, hatten in ihm die Würde, den offenen Mut und das edle Verlangen nach Größe abgetötet. Er fühlte sich in seiner Haut als menschliches Reptil aber durchaus wohl und
betrachtete Gold und Geld als das einzig erstrebenswerte Gut. Bedenkenlos täuschte er einen eifrigen Christen vor. So verbreitete er überall insgeheim die Kunde, ein Engel habe ihn in Clermont durch ein Wunder mit einem Kreuz gezeichnet. Auf dem Arm unter dem Gewand habe er ein rotes Zeichen wie ein Brandmal, dürfe es jedoch niemandem zeigen. Er und Gottschalk bildeten ein vortreffliches Paar, obwohl sie keineswegs Freundschaft verband. Zwischen ihnen herrschte nicht das geringste Vertrauen. Doch ihre gemeinsamen Übeltaten brachten ihnen genügend Vorteile ein, um sie fest aneinander zu binden. Gottschalk hatte mächtige Schultern, die Kraft eines Bären und einen rohen, draufgängerischen Mut. Er wäre bereit gewesen, mit dem Kopf gegen einen Felsen zu rennen, wenn Emich ihm dazu geraten hätte. So ergänzten die beiden sich prächtig. Der dritte Spießgeselle, Otto Volkmar, der sich ihnen im Winter angeschlossen hatte, bildete gemeinsam mit dem häßlichen Leibdiener Johannes das geheime Ohr der Anführer. Er trug ihnen alles zu, worüber in den Reihen des Heerzuges gesprochen wurde und was dort geschah. Aber in diesem Augenblick brauchte von Emich keine Zuträger, um zu erkennen, daß seine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren und einen unerwartet starken Widerhall gefunden hatten. Selbst in Clermont war nach der Ansprache des Papstes der Ruf „Gott will es!“ nicht begeisterter erklungen als jetzt. Wer hätte in der Menge um Emich der Aufforderung zum Niedermetzeln der Juden keinen Beifall geklatscht? Die aufrichtig Frommen haßten die Juden wegen der Marter Christi. Im allgemeinen aber waren die Juden unbeliebt, weil sie hohe Zinsen verlangten, ihre Schuldner in Sklaverei hielten und zu reich wurden. In der damaligen Zeit gab es niemand, der sie nötigenfalls geschützt hätte. Wer ihre Hilfe in Anspruch genommen hatte, der entrüstete sich jetzt am lautesten über sie. Dunkle, schreckliche Geschichten über das schwarze Gesindel, das in jeder Stadt hinter den Toren des Ghettos abgeschlossen lebte, gingen von Mund zu Mund. Es hieß, daß es immer noch abgöttisch das
Goldene Kalb anbete wie einst am Berge Sinai, jeden Sabbat Christenblut tränke, die Brunnen der Städte durch Hundekadaver vergifte, daß es Tote aus den Gräbern zu widerlichen Zaubereien stehle und unschuldige Christenkinder einfange und ermorde. An solche und ähnliche Märchen glaubte das Volk in allem Ernst und duldete daher eher einen Aussätzigen als einen Juden. So gab es in der vieltausendköpfigen Menge um Gottschalk und von Emich keinen, der dem Aufruf nicht begeistert gefolgt wäre. „Auf, gegen die Juden! Laßt uns den Tod unseres Heilandes rächen! Hol sich jeder seine Denare! Gott will es! Gegen die Juden!“ Als sie mit diesem Ruf durch das Land zogen, gesellte sich zu ihnen alles, was da lebte. „Zum Rhein! Zum Rhein! In die reichen Städte! Wehe den Juden! Wehe ihnen!“
FÜNFZEHNTES KAPITEL Der Menschheit unwürdig
Der
reiche Mainzer Kaufmann David Kalonymos jagte die Landstraße dahin und trieb sein Pferd immer wieder mit der Peitsche an. Seine Hand wirbelte sie dabei in der Luft wie ein Mühlrad. Seine Sporen bohrten sich alle Augenblicke in die blutigen Weichen des Pferdes. Mit letzter Kraft galoppierte das vor Schmerzen fast wahnsinnige Tier vorwärts, und mit letzter Kraft klammerte sich der gequälte Reiter nur an einen Gedanken. Bereits den dritten Tag war er unterwegs, zurück zu den Seinen. Vor zehn Tagen war er aufgebrochen, um Schutz für seine Familie beim Kaiser zu erflehen. Dieser konnte die Rettung seines Vorfahren an der Meeresküste bei Stilo nicht vergessen haben. Wie verblendet und dumm war Kalonymos gewesen? Er hatte fast zehn Tage verloren! Zehn volle Tage! Statt diese Zeit aus zunutzen und die Seinigen in das unzugängliche Gebirge oder auf das Meer zu bringen, hatte er geglaubt, der Kaiser werde ihm helfen können. Sein Schluchzen ging in lautes Klagen über, als er an diese Illusion dachte. „Wie soll ich hier Abhilfe schaffen?“ hatte ihm der Kaiser achselzuckend erwidert. Fürwahr, was konnte dieser kraftlose, mit dem Bann belegte, von allen verlassene, verbitterte und entmutigte Mann schon tun? Wie hätte er diese Plage, die auch sein Land verwüstete, abwenden können? Zehn Tage! Zehn ganze Tage! Vielleicht war es schon zu spät. Würde er seine Angehörigen noch retten können oder, so Gott wollte, wenigstens gemeinsam mit ihnen sterben? Unterwegs, in den Wäldern, begegnete er Flüchtlingen, denen der Wahnsinn aus den Augen schaute. Sie glichen kaum noch Menschen. Bei ihren Erzählungen stockte ihm das Blut in den Adern. In Worms waren mehr als tausend Menschen niedergemetzelt worden, keiner war
am Leben geblieben! Nur der allgemein geschätzte Isaak Ben David war zusammen mit seiner Familie verschont geblieben. Er liebte die Seinen über alles, deshalb hatte er sich taufen lassen. So brauchte er die Ermordung seiner Kinder nicht mit anzusehen. Aber von Zweifeln und Gewissensbissen halb irrsinnig, hatte er noch in derselben Nacht eigenhändig seine Liebsten umgebracht, in deren Augen er ein Abtrünniger war, sein Haus in Brand gesteckt und selbst den Tod in den Flammen gesucht. Die Flüchtlinge erzählten mit entgeisterten Gesichtern dem gepeinigten Reiter von den Blutbädern in Köln und Koblenz. Auch in Neuß und Trier, in Wevelinghoven, in dem unheilvollen Eller und Xanten war keiner dem Verderben entronnen. Zerstreute Abteilungen der Kreuzfahrer mordeten gleichzeitig in mehreren Städten. Überall Stöhnen und Jammergeschrei, das Grauen durcheilte das Land und überstieg alles Vorstellbare. Seit der Vertreibung aus Palästina war dem Volk Israel kein solches Unglück widerfahren. Die Namen von Gottschalk und Emich schrien zu Gott nach Rache und Vergeltung. „Gottschalk und Emich … Gottschalk und Emich …“, wiederholte Kalonymos. Diese beiden Namen kamen ihm bekannt vor; aber er entsann sich nicht mehr recht woher. Plötzlich kam ihm die Erinnerung wieder, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Und nun wußte er auch, daß es für seine Kinder und Enkel keine Rettung gab. Diese beiden bestialischen Ritter hatten natürlich die ihnen in Clermont erteilte Absage nicht vergessen. In seinen Ohren klang der Schrei der Todesangst, der sich angesichts des Grauens den kleinen, zarten Mündern entrang. Er sah die vor Schreck starren Augen seiner Kinder vor sich, ihre entsetzlichen Leiden und Todesqualen. Das war zuviel! Sein Gehirn versagte ihm den Dienst, seine Gedanken gingen im Kreise. Wozu sollte er noch weiterreiten? Weshalb warf er sich nicht in den Strom, um nicht mehr denken zu müssen …
Einige hundert Fuß vor dem Tor der heimatlichen Stadt Mainz brach sein Pferd zusammen. Es wäre besser gewesen, der gehetzte Reiter wäre gleich seinem Pferd zusammengebrochen und hätte das Tor des Ghettos nicht durchschritten. Die dort herrschende Verwüstung, der Brandgeruch und der Rauch, der Pestgestank der schnell in der heißen Sommersonne verwesenden Leichen, sagten mehr als alle Worte. Armes, elendes Geschöpf, laß dich unter dem aus den Angeln gehobenen Fallgatter nieder, bedecke dein Haupt mit dem Mantel und weine wie Jeremia, verzweifle wie Hiob. Was willst du diese Hölle noch betreten? An der Lache geronnenen Blutes, über der ein Schwarm Fliegen summt, wirst du nicht erkennen, welches Blut aus den Adern deiner Lieben geflossen ist! Unter den verkohlten Trümmern wirst du dein Haus nicht wiederfinden, und wehe dir, wehe dir hundertmal, solltest du unter den gräßlich verstümmelten Körpern bekannte Gesichtszüge erkennen! Doch Kalonymos trat ein. Er wankte vorwärts, langsam, Schritt für Schritt. In der entsetzlichen Stille des vom Tode heimgesuchten Ortes suchte er die Stelle, um neben den Seinigen sein Leben zu beenden. Er überstieg Berge von Leichen und erkannte die Gesichter. Das hier war der weise Rabbi Jonathan, dessen erkaltete Lippen zum Schrei geöffnet waren, das hier der schweigsame Simeon, anscheinend bei lebendigem Leibe verbrannt, und dort die Leichname der Frauen und Kinder … Kinder! Kalonymos verließen die Kräfte. Er ging nicht weiter. Den Anblick der kleinen Kinderleichen hätte er nicht ertragen. Wenn er dort auf einem blutbefleckten Schädel die seidenweichen Haare seiner kleinen Rebekka entdeckt hätte, das Herz wäre ihm gebrochen. Zu Tode betrübt setzte er sich irgendwo auf den Boden. In seiner Nähe zerrissen Hunde eine verstümmelte Leiche. Sterben! Nur sterben!
Mit letzter Verzweiflung, die schlimmer war als die Angst vor dem Tode, blickte David Kalonymos gen Himmel, zog mit zitternden Händen sein Messer hervor und rief mit lauter, weithin vernehmbarer Stimme: „Eli, Eli, lama asabthani!“ Als läge in diesen heiligen Worten, die der Kalonymos unbekannte Gott in seiner Todesqual hinausgeschrien hatte, eine Beschwörungskraft, bewegte sich etwas in den Trümmern, erhob sich. Es war ein Mensch, allein an dieser Stätte des Grauens, ein halbnackter, blutbefleckter, einem Skelett ähnelnder Mensch, in dessen Augen ein irres Leuchten war. „Wer bist du“, fragte Kalonymos entsetzt. „Samuel, der Sohn Samuels!“ „Ich kenne dich wieder.“ „Ich kenne dich auch, Rabbi David … Warum bist du hierher, gekommen?“ „Ich will bei den Meinen sterben.“ „Sie sind nicht hier. Der Bischof hat sie mit anderen in seiner Burg versteckt.“ Die Hand ließ das Messer fallen. Der Jude erhob sich. Seine Beine zitterten. „In der Burg? Er hat sie versteckt?“ „Ja, aber auch dort dringen die Verfluchten schon vor, um sie zu holen. Es wird schon zu spät sein. Kein Israelit bleibt am Leben! Keiner!“ Kalonymos hörte nicht mehr auf den anderen. Er lief, so schnell er konnte. Er sprang über die Leichen und brennenden Trümmer. Neue Kraft beflügelte seine Schritte. So schnell ihn seine Füße tragen konnten, lief er in die entgegengesetzte Richtung der Stadt, wo sich einsam auf einem Hügel, außerhalb der Stadtmauern, die erzbischöfliche Burg erhob. Überall wimmelte es von Menschen. Kalonymos hätte von jedem erkannt und, wie seine Brüder, auf der Stelle umgebracht werden können. Es kümmerte ihn nicht. Er
hastete durch die Menge, ohne sein Gesicht zu verbergen. Es beachtete ihn auch niemand. Die Kreuzfahrer hatten die Burg schon umzingelt. Die einheimische Bevölkerung des Mordens und Plünderns überdrüssig, war zu Besonnenheit zurückgekehrt, und es bemächtigte sich ihrer nun eine berechtigte Unruhe. Diese schrecklichen Menschen, die weiß Gott woher gekommen waren, hatten unter den Juden ein entsetzliches Blutbad angerichtet und boten jetzt alles auf, um die Burg des gottesfürchtigen Erzbischofs zu stürmen. Wer konnte wissen, ob es die wilden Horden nicht gelüstete, auch die Stadt zu überrumpeln. Konnte sich dieser fremde, blutrünstige Haufe nicht auch unerwartet auf die übrige Bevölkerung stürzen? Die Städter kamen daher den Befehlen der Leute Gottschalks nur unwillig nach, als diese nach Faschinen und Leitern schrien, die aufgehäuft und an die Mauer gestellt werden sollten. Im Gegenteil, sie trafen eilig Vorkehrungen zu ihrer eigenen Verteidigung. Die Stadtwache hatte schon die Mauern besetzt. In den Wachstuben siedete bereits das Wasser und Pech in den Kesseln, während die Tore jeden Augenblick verrammelt werden konnten. Kalonymos gelangte ungehindert bis in die Nähe der Burg und drängte sich in die vordersten Reihen. Ein einzelner Baum stand dort an der Trift. Die Bäume in der Nähe der Mauern einer Burg wurden im allgemeinen geschlagen, doch hatte der Bischof diesen stehenlassen, damit die Hirten während des Regens darunter Schutz finden konnten. Kalonymos kletterte mühsam in eine Astgabel, um von dort alles überblicken zu können. Aber es gab noch mehr solcher Schlauköpfe, denen der Baum als Beobachtungsposten diente. So gesellte er sich zu ihnen. Es war nicht leicht, die Burg einzunehmen. Sie war vor rund hundert Jahren von Erzbischof Willigis erbaut worden, demselben Kirchenfürsten, der den berühmten Mainzer Dom errichtet hatte. Die Mauer der Burg aus roh behauenen Steinen reichte weit hinab bis in den tiefen Graben, dessen Uferböschung mit Pfählen und Reisiggeflecht befestigt war und in welchem modriges Wasser
gluckste. Das schmale Tor war mit einem schweren, eisenbeschlagenen Fallgitter versperrt. Dieses Gittertor konnte man jetzt nicht sehen, denn es wurde von der hochgezogenen Zugbrücke verdeckt. Der steinerne Brückenkopf ragte über dem tiefen, schwarzen Wasser ins Leere. Auf der Unterseite der Brücke erblickte man unter den von der Feuchtigkeit schwarz gewordenen Bohlen die verrosteten Bolzen und oben ein Stück der eingezogenen Ketten. Doch neben dem eigentlichen Brückentor befand sich eine schmale Pforte, ein sogenanntes Nadelöhr. Von hieraus führte ein Laufsteg in Gestalt eines dicken Baumstammes über den Graben. Über diesen Steg waren die Juden, denen die Flucht aus dem Ghetto gelungen war, in die Burg geeilt; aber die Besatzung der Veste war gering an Zahl und hatte den Balken nicht mehr einziehen können. Die Leute Gottschalks hatten diesen Steg entdeckt und hielten ihn nun fest. Als die Bischöflichen ihn durchzuhacken versuchten, wurden sie mit Pfeilen überschüttet und mußten sich hinter die Pforte zurückziehen. Jetzt stand auf dem ellenbreiten Steg ein Mann, der Erzbischof von Mainz, Gereo. Er war ganz allein, hinter ihm die geschlossene Pforte, unter ihm das tiefe, faulige Wasser, vor ihm der durch Mord und Plünderung entmenschte, johlende Pöbel. Eine goldgestickte Dalmatika umhüllte die Gestalt des alten, ehrwürdigen Mannes. Er war schon hoch betagt, die grauen Haare hingen ihm wirr um das zerfurchte Gesicht, aus dem die hellen Augen durchdringend und unerschrocken leuchteten. In der schmalen Hand hielt er den Krummstab. Gereo war einer der Bischöfe, welche die Macht der Heiligen Kirche gefestigt, die befohlen hatten, die Kirche zu achten, die sich selbst nicht schonten und das eigene Fleisch verdammten, damit Christus um so leichter und wirksamer ihren Geist beherrschen konnte. Er stand allein auf dem schmalen Balken.
„Liefere uns die Juden aus! Gott will es!“ schrie die Menge von allen Seiten zu ihm hinüber; aber niemand wagte es, den Steg zu betreten. „Gib uns die Juden heraus! Es ist eine Schmach, die Feinde Christi zu beschützen!“ „Schmach über euch, ihr Mörder! Solange ich lebe, bekommt ihr diese Menschen nicht! Ihr habt genug Verbrechen auf euch geladen! Eilt zur Kirche und fleht um Gnade!“ „Liefere sie aus! Sofort! Oder du bist zusammen mit ihnen des Todes!“ „Liefert mir lieber eure Anführer aus, die Verbrecher, die euch zum Morden angestiftet haben! Fluch wird auf ihr Haupt fallen! Sie führen euch in die Verdammnis.“ Er zeigte mit seinem Hirtenstab auf Gottschalk und Emich und rief laut, daß es an den Mauern widerhallte: „Wehe euch, ihr Schurken, die ihr das Volk Gottes in Teufelssöhne verwandelt habt. Ich verfluche euch, ihr Betrüger! Ich verfluche euch! Seid verflucht im Wachen und im Schlafen, im Leben und im Sterben! Ich verfluche eure Seelen, mögen sie nach dem Tode keine Ruhe finden! Möge Gott sich Seiner Barmherzigkeit nicht erinnern!“ Die Reihen um die beiden Spießgesellen lichteten sich; denn die Menschen wurden von Furcht ergriffen. Der über dem dunklen Wasser stehende edle Greis hatte an ihr Gewissen gerührt. Sie wurden unsicher und verstummten. Emich sah, daß keine Zeit zu verlieren war. „He!“ rief er höhnisch. „Wie lange sollen wir diesem Tattergreis noch zuhören? Stoßt ihn ins Wasser! Er soll seine Predigt den Fröschen halten!“ „Gott ist mit mir. Ihr werdet mich nicht hinabstoßen.“ „Glaubt ihm nicht“, schrie Emich, „wenn er das Judengesindel schützt, dann ist er mit dem Teufel im Bunde. Wer mit Christi Feinden Freundschaft hält, der ist ein Feind des Herrn!“ „Die größte Schmähung, die Christus je widerfahren ist, ist Sein Name in deinem Munde!“
Emich wandte sich der Menge zu und rief: „Kreuzfahrer! Christen! Wem schenkt ihr Glauben? Dem Beschützer der Juden oder mir, dem Verteidiger Christi? Mich hat der Engel des Herrn in Clermont mit dem Kreuz gezeichnet. Ich trage dieses heilige Mal auf dem linken Arm …“ „Der Teufel hat dir schon in der Wiege das Judasmal aufgedrückt. Der Engel des Herrn steht sichtbar hinter mir und verwehrt dir den Zugang zu dieser Pforte!“ Ein Engel hinter dem Greis? Sichtbar? Alle reckten die Hälse, um ihn zu erblicken. Aber es war nichts zu sehen. Die hell beleuchtete Mauer, der graue Fleck der Pforte, die flimmernde Sonne auf den alten Beschlägen … sonst nichts. Schweigen herrschte kurze Zeit, und alle warteten gespannt. Da ertönte plötzlich ein durchdringender Schrei: „Elohim Raphael! Ich sehe ihn!“ Es folgte der dumpfe Aufschlag eines herabfallenden menschlichen Körpers. David Kalonymos, von der Macht der Vision gelähmt, war auf den Erdboden gestürzt. Ja, er hatte ganz deutlich, dicht hinter dem Rücken des Erzbischofs, einen riesenhaften Jüngling in einer Rüstung gesehen, Raphael, den mächtigsten Diener Gottes, der ewigen Geister, derselbe, der den jungen Tobias geführt hatte. Sein Haupt in den Wolken, sein Gesicht hell wie der Blitz, der Körper wie kostbarer Türkis, die Füße tief in der Erde wurzelnd. Seine ausgebreiteten Flügel rührten den Osten und den Westen. Seine leuchtenden, unergründlichen Augen sahen Kalonymos an. Er wacht über der Burg, die den Mördern nicht in die Hände fallen wird! Dieses befreiende Bewußtsein war die letzte irdische Regung in der gequälten Seele des Juden. Der Tod von Kalonymos rief keinen besonderen Eindruck hervor; aber sein Ausruf wurde von der Volksmenge wiederholt, und alle sahen, sahen ganz deutlich den Erzengel Raphael, der hinter dem greisen Erzbischof stand. Eine unsagbare Wut erfaßte Emich. Ob das halbe Hundert elender Juden, das in der Burg eingeschlossen war, umkam oder nicht, war
im Augenblick bedeutungslos. Wichtig allein war, daß das Feld behauptet wurde. Der alte Gereo sollte nicht siegen. Die Menge sollte nicht glauben, hinter dem Erzbischof stehe ein Engel. Nein! Dort gab es niemand! Niemand! Er würde selbst hingehen, den Alten hinabstoßen und die Pforte öffnen. Schon betrat er den Steg, aber Gottschalk hielt ihn erschrocken zurück. Um die beiden wurde der Raum immer lichter. Den ungeschlachten rothaarigen Riesen ergriff plötzlich eine panische Angst. Er wollte möglichst schnell fort von hier und seinen Gefährten mitnehmen. Sie rangen miteinander. Bei diesem Handgemenge bemerkten sie nicht, daß ein neues Ereignis eintrat. Hufschläge von Tausenden von Pferden hallten auf der weiten Ebene wie das Grollen des Donners. Silberne Blitze flammten auf. Ein unübersehbarer Wald von Lanzen. Ein farbenreiches Wehen von Fahnen. Eine goldflimmernde Staubwolke, die den halben Himmel bedeckte. Schreiend stoben die entsetzten Mannen Gottschalks auseinander. Und mächtiger als je gehört, ertönte der Ruf: „Gott will es!“ Dieser oft mißbrauchte Ruf klang jetzt wie eine Erlösung. Das waren die Herzöge von Lothringen, Gottfried und Balduin, die in den Heiligen Krieg zogen. Fast ein ganzes Jahr hatten sie sich vorbereitet. In Aachen, am Grabe des großen Kaiser Karl, hatten sie alle Waffenfähigen aus der Seestadt Boulogne, aus Mons, Metz, Toul und Verdun gesammelt. Mit dieser Heerschar eilten sie jetzt nach dem Oberrhein. Warum waren sie nicht schon früher gekommen?! Mit der Lothringischen Streitmacht zogen auch aufrechte, ehrbare deutsche Ritter. Diese erbleichten vor Entsetzen und Scham. Sie verlangten harte Bestrafung für das räuberische Gesindel und wollten den ganzen Heerhaufen Gottschalks niedermetzeln oder zumindest jedem dritten die rechte Hand abschlagen. Als die verführten Menschen das vernahmen, fielen sie auf ihr Angesicht und winselten vor Angst wie vordem die von ihnen erschlagenen Juden.
Der stolze Walter von Rheinbaben befahl, Gottschalk und Emich herbeizuholen, selbst wenn sich diese in der Erde verkrochen haben sollten. Auf dem Marktplatz von Mainz werde man sie öffentlich rädern. Doch die gerechte Strafe erreichte die beiden nicht. Wie immer, war es von Emich auch diesmal gelungen, sich rechtzeitig aus dem Staube zu machen. Mit wahrhaft teuflischer Geschicklichkeit hatte er die Flucht ergriffen und seinen Gefährten mitgenommen. Irgendwann, wenn sich der Augenblick für sie günstiger zeigte, würden sie wieder auftauchen. Die Ritterschaft schlug ihr Lager zu einer kurzen, zweitägigen Rast in der Nähe der Stadt auf. Obwohl ihre Pferde weidlich abgehetzt waren, gönnten sie sich doch keine längere Ruhe, denn es war nicht bekannt, was der bewaffnete Haufe Walters ohne Habe im Schilde führte und wie sich das Schicksal der unzählbaren Massen gefügt hatte, die Peter dem Eremiten gefolgt waren. Es lief das Gerücht um, daß sie alle mit Mann und Maus von den Ungarn an der Donau vernichtet worden seien. Gottfried von Bouillon stand neben Erzbischof Gereo auf der zerfallenen Mauer des ehemaligen römischen Drususdenkmals. Beide schauten auf die niedergebrannten, zerstörten Häuser und auf die Leichen, die jetzt von den Juden, die in der Burg Zuflucht gefunden hatten, unter Jammern und Wehklagen geborgen wurden. Der Graf seufzte schwer in seinen flachsblonden Bart. War das der erträumte Heilige Krieg, der gewaltige Plan des Papstes Urban?
SECHZEHNTES KAPITEL In welchem es sich zeigt, daß es leichter ist, Prophet zu sein als Anführer
Die dicke Martina trommelte mit ihren kräftigen Fäusten gegen die Tür. Diese war aber von innen verriegelt und gab daher nicht nach. Mit vor Wut heiserer Stimme kreischte sie: „Mach auf, du Tölpel, mach auf! Die Menschen warten auf dich!“ Als sie keine Antwort erhielt, legte sie das Ohr an die Tür und brach nach kurzer Zeit wieder in lautes Schimpfen aus. Im Inneren der Hütte aber lag, in einer Ecke zusammengekauert, Peter der Eremit und zitterte vor Angst und Verzweiflung am ganzen Leibe. Er war in seine zerrissene Kutte gehüllt, hatte die Kapuze über das Gesicht gezogen und flehte Gott um die Gnade an, ihn von dieser Erde zu nehmen. „Mach auf, du Waschlappen! Du elendes, verreckendes Vieh! Du krepierender Wurm! Mach auf, schnell! Die Menschen warten auf dich! Lehre sie jetzt Heu und Gras fressen, von dem du vorher so viel gefaselt hast! Sie haben Hunger, du Eselskopf! Du räudiger Klepper!“ Mit solchen Worten wetterte Martina gegen den Gottesmann, den sie noch jüngst auf Knien geehrt und gegen die geringste Unbill geschützt hatte. So groß noch vor kurzem ihre Unterwürfigkeit gewesen war, so tief war jetzt ihre Verachtung. „Kriech heraus, aber sofort! Sonst zertrümmern wir die ganze Hütte! Du Hundeprophet! Du Auswurf des Teufels! Wo bleibt das Manna vom Himmel? Wir nehmen dich beim Wort! Gib es uns jetzt!“ „Oh … oh … oh“, schluchzte Peter herzzerreißend hinter der Tür. „Du heulst, du Schwachkopf? Ist das alles, was du kannst? Das Jammern hilft hier nichts. Gib uns lieber zu essen!“
Peter hielt sich die Ohren zu. Tod, Tod, komm, und erlöse mich! Mochte das wutentbrannte Weib die Tür einschlagen, mochte ihn die Volksmenge zerreißen, zertreten, verbrennen. Bloß nichts mehr fühlen, von nichts mehr wissen, dieser Wirklichkeit, diesem elenden Dasein entrinnen! Denn diese Wirklichkeit war schrecklich und hart. Sie glich in nichts dem, was man von ihr erwartet hatte. Von dem Augenblick an, als Gottschalk und von Emich die Pilger verlassen hatten, verfolgte sie ein Unglück nach dem anderen. Eine Enttäuschung löste die andere ab. Das Schicksal geißelte unerbittlich die empfindsame, kindliche Seele des Eremiten, dessen Selbstbewunderung und vertrauender Glaube an die eigene Sendung und den Schutz des Herrn jetzt jämmerlich am Boden lagen. „Gib uns zu essen! Gib uns zu essen! Wir haben Hunger!“ diese Rufe aus Tausenden und aber Tausenden von Kehlen verfolgten ihn seit zwei Monaten, ließen ihm keine Ruhe, klangen in seinen Ohren, trieben ihn fast in den Wahnsinn. Alle waren jetzt gegen ihn. Er war der Schuldige, der Urheber allen Unheils. Ihn traf die Schuld, daß Koloman, der König von Ungarn und Nachfolger Włodzisławs, die Heerhaufen der Kreuzfahrer gleich an der Landesgrenze umzingelt und inmitten eines vierfachen, undurchdringlichen Waldes von Lanzen, aus dem ein Ausbrechen unmöglich war, bis hierher getrieben hatte. Er war schuld daran, daß unter den in diesem beweglichen Gatter zusammengepferchten Massen unvorstellbare Not herrschte, die Menschen vor Entkräftung umfielen, die Kinder verhungerten und die Mütter vor Verzweiflung den Verstand verloren. Aber das alles rührte die ungarischen Krieger nicht im geringsten. Sie hatten Befehl, diesen Heuschreckenschwarm bis an die Grenze des griechischen Kaiserreiches abzuschieben. Das taten sie und kümmerten sich um Nichts anderes. Vergebens war Peter gleich in den ersten Tagen immer wieder vor ihnen auf die Knie gesunken, hatte dem Gaugrafen die Füße geküßt und ihn angefleht, man möge ihnen erlauben, in der
nächstgelegenen Stadt Lebensmittel zu kaufen. Er hätte ebensogut einen Stein um Erbarmen bitten können. Die Sorge, die Kreuzfahrer könnten im ganzen Lande vagabundieren und plündern, unterdrückte bei den ungarischen Herren jedes menschliche Gefühl. Hinzu kam noch, daß sich die Kunde von den Greueltaten Gottschalks und von Emichs schon weit verbreitet hatte und auch bis nach Ofen gedrungen war. Daher riß diese ausgehungerte Menschenherde auf dem schmalen Landstrich, der ihr als Durchgangsweg gelassen worden war, das Gras bis auf die Wurzeln aus und benagte die Rinden der Bäume. Die abgemagerten Mädchen boten sich öffentlich den ungarischen Begleitmannschaften an und verkauften für ein Stückchen Brot ihre Unschuld. Alles war den unglücklichen Pilgern recht, wenn sie nur ihren Hunger stillen konnten. Sie aßen Harz und sogar Tannenzapfen. Da aber auch hiervon nur wenig vorhanden war und die nachfolgenden Haufen nur die kahle, zu Staub zertretene Erde vorfanden, nahm es nicht wunder, daß die Menschen über den Propheten, der sie geradewegs ins Verderben führte, aufs äußerste empört waren. Manche begannen daran zu zweifeln, daß es eine Stadt wie Jerusalem überhaupt gebe, das könne nur Lug und Trug oder eine Wahnidee sein. Sollte aber Jerusalem wirklich existieren, so müßten sie es ja schon längst erreicht haben. Solche Entfernungen könne es auf der Welt gar nicht geben. Sie waren zu Beginn des Frühlings von Clermont aufgebrochen, und jetzt war es schon Sommer und Erntezeit. Wohin hatte dieser Verräter sie geführt? Sie hatten ihn als einen Sendboten Gottes verehrt, anscheinend war er aber vom Leibhaftigen ausgesandt worden, um so viele gute Christen zu verderben. Martina stemmte sich vergeblich gegen die Tür des Eremiten. Erst als andere zu Hilfe kamen, gelang es, sie zu sprengen. Die wutentbrannte Menge riß Peter vom Boden empor und versuchte, ihn auf die Beine zu stellen. Sie stieß, verfluchte, beschimpfte ihn. Der kleine Mann leistete keinen Widerstand, ließ sich wie ein Opferlamm abführen und flehte in seinem Inneren nur um ein
baldiges Ende. Er hätte nicht lange darum zu bitten brauchen, wäre nicht unverhofft die Rettung in Gestalt Walters ohne Habe gekommen. Der Riese war erschreckend abgemagert und wirkte dadurch noch größer. Das gewaltige Schwert, das er sich um den Hals gehängt hatte, schaukelte wie an einem Gerüst hin und her. „Laßt ab von diesem erbärmlichen Wicht“, rief er mit befehlsgewohnter Stimme und stieß den am Boden liegenden Peter verächtlich mit dem Fuß beiseite. „Hört! Ich spreche zu euch! Ich habe es satt, daß wir hier wie Hunde verrecken. Wer sich noch stark genug fühlt, einen großen Knüppel in die Hand zu nehmen, der folge mir gegen die Ungarn! Auf, gegen die Ungarn!“ „Gegen die Ungarn!“ wiederholte die Menge mit letzter Kraft. „Ihr habt nichts zu verlieren. Ich übernehme die Führung, ich allein. Meine Herrschaft ist aber hart, das sage ich euch. Ich bin kein elender Schwächling wie Peter. Für den geringsten Ungehorsam gibt es einen Fausthieb in den Nacken. Meine Fäuste sind noch stark genug. Gruppiert euch! Krüppel, Weiber und Kinder warten hier bis zu unserer Rückkehr. Wir werden Brot mitbringen. Diesen jämmerlichen Wurm aber rührt mir nicht an! Vielleicht brauchen wir ihn noch.“ Dann erschollen laute Rufe und Befehle. Die Menschen kamen in Bewegung und begannen aufgeregt hin– und herzulaufen. Ein neuer Hoffnungsstrahl fiel in ihre Herzen. Um Peter kümmerte sich niemand. Er blieb liegen, wo man ihn verlassen hatte. Ein erbärmlicher Wicht, wie Walter gesagt hatte. Er hatte recht, das war ein erbärmlicher Wicht, der sich nur noch den erlösenden Tod wünschte. Die Sonne stand schon tief am Himmel, als sich jemand über Peter beugte. „Bruder Peter! Bruder Peter!“
Es war der sanfte Hyazinth, der Abschreiber wertvoller Bücher, der den Eremiten noch immer aufrichtig verehrte, obwohl er zu schwach war, um ihn vor der Wut des Pöbels zu schützen. „Bruder Peter … steh auf … es geziemt dir nicht, hier in Staub und Schmutz zu liegen.“ „Wer du auch seist, laß mich … Staub und Schmutz sind das einzige, was ich verdiene … Laß mich armen Sünder!“ „Nein, ich lasse dich nicht … Steh auf, Bruder! Alle sind fort. Walter hat mit seinen Leuten die Reihen der Ungarn durchbrochen. Vielleicht kehren sie zurück und bringen Brot.“ Peter kam zur Besinnung. Er richtete sich auf und schlug die Kapuze von dem beschmutzten und verhärmten Gesicht zurück. „Durchbrochen, sagst du?“ „Freilich. Ach, Bruder, was war das für ein Kampf! Walter hat die Menschen ergriffen und sie auf die feindlichen Lanzen geworfen. Seine eigenen Leute. Wie Steine hat er seine Mannen auf die Ungarn geschleudert, bis eine Gasse frei war. Dann ist er auf die Gefallenen getreten wie auf einen Wall. Die Seinen sind ihm gefolgt. Ach, Bruder, sie haben fromme Christen einfach zermalmt. In nicht allzu großer Entfernung liegt eine Stadt. Walter will sie stürmen. Vielleicht gelingt es ihnen, vielleicht kehren sie morgen zurück, und wir haben zu essen … Essen, Bruder Peter.“ Peter sah ihn aufmerksam an. „Sie haben fromme Christen zertreten, sagst du? Glaubst du wirklich, daß es Christen gewesen sind? Daß Walter ein Christ ist? Daß wir Christen sind, du und ich?“ „Credo in unum Deum …“, entgegnete der erstaunte Bruder Hyazinth und bekreuzigte sich. „Glaubst du nicht, daß der Teufel dich, mich, das ganze Volk verführt hat, daß alles in der Welt nur teuflisches Blendwerk ist?“ In die Augen Peters trat ein irres Leuchten. War er vor Hunger wahnsinnig geworden? Bruder Hyazinth lief entsetzt davon, so schnell ihn seine Füße trugen.
Walter ohne Habe war am zweiten Tage noch nicht zurückgekehrt, auch nicht am dritten. Er kam erst nach einer Woche wieder; aber als Sieger. Seine Mannen trieben eine Herde Schweine und Schafe heran. Die Menge, die auf ihn wartete, war unterdessen erheblich zusammengeschmolzen, die Überlebenden aber begrüßten ihn um so freudiger. Die Stadt, von der Bruder Hyazinth erzählt hatte, war stark befestigt; doch Walter hatte sie ohne große Mühe erobern können, denn die Einwohner waren auf keinen Angriff vorbereitet gewesen. Er hatte die Besatzung und die Bevölkerung niedergemetzelt und die gesamten Vorräte an sich gerafft. Er brüstete sich damit, daß in diesem Kampf viertausend Ungarn umgekommen seien, er dagegen kaum hundert Mann verloren habe. Ob tatsächlich so viele Ungarn gefallen waren, wußte niemand. Von nun an verhielten sich die ungarischen Mannschaften nicht mehr so herausfordernd wie vordem. Sie folgten der Nachhut zwar auf den Fersen und umkreisten den Zug ständig, kamen aber nicht allzu nahe heran. König Koloman, der sich über die Niederlage ernste Gedanken machte, sah ein, daß er einen Fehler begangen hatte, als er die Kreuzfahrer gänzlich dem Hunger preisgab. Man hätte sie halbwegs am Leben erhalten sollen. Der menschlichen Geduld sind Grenzen gesetzt. Werden diese überschritten, so verwandelt sich die Geduld in Verzweiflung und diese ist eine furchtbare Kraft, die man nicht unterschätzen sollte. Man hätte das Lumpengesindel von Kreuzfahrern nicht zur Verzweiflung bringen sollen. So gingen die Überlegungen des Königs von Ungarn. Er ließ daraufhin drei Gaugrafen mit dem Tode bestrafen, weil sie seine Anordnungen zu rigoros durchgeführt hatten. Man gestattete den Kreuzfahrern in der Folgezeit, die wenigen Dörfer, die sie unterwegs berührten, zu plündern und verteidigte nur den Zugang zu den Städten. Nach vierzehntägigem Marsch unter der Führung Walters ohne Habe erreichten die Scharen Peters, jetzt mit eiserner Hand zusammengehalten, die Stadt Semlin und den Grenzfluß Save.
Jenseits des felsigen Flußtales lag die Stadt Belgrad, und hier begannen die serbischen und bulgarischen Lande, ein Bestandteil des basileischen Reiches. Von dem Anmarsch der Kreuzfahrer unterrichtet, standen am anderen Ufer die griechischen Söldnerheere bereit, die aus Petschenegen und Kumanen zusammengesetzt waren. Angeführt wurden sie von dem Befehlshaber Tatikios, der das größte Vertrauen des Basileus genoß und Statthalter in den Westgebieten des Kaiserreiches war. Auf drei großen Flößen, die in aller Eile aus Baumstämmen gezimmert worden waren, setzten die Kreuzfahrer über. In sechs Tagen hatte man den größten Teil ans andere Ufer gebracht. Die griechischen Bogenschützen nahmen jede landende Gruppe sofort in Empfang. Sie zählten die Ankömmlinge und wiesen ihnen einen bestimmten Lagerplatz zu, von dem sich ohne Erlaubnis niemand entfernen durfte. Dann ermittelten sie die Menge des für jede Gruppe benötigten Mundvorrats. Erst danach gestattete man der nächsten Schar, die Fähre zu verlassen. Die Bettler, Krüppel und Aussätzigen sollten ganz zuletzt übergesetzt werden. Die Unglücklichen warteten ohne Klagen geduldig, bis sie an der Reihe waren, krochen am Ufer entlang wie ein Haufen Gewürm, schwärmten umher, wuschen ihre Lumpen im Fluß, lausten sich oder sonnten ihre elenden Körper auf dem ausgedörrten Boden. Bald schauten sie empor zu den Wolken, bald auf den schmalen, reißenden Fluß. An der Überfahrtstelle war die Strömung verhältnismäßig schwach, aber eine kurze Strecke flußabwärts kräuselte sich das Wasser schon, floß schneller, schäumte auf und ergoß sich mit Getöse über Felsen, die aus dem Flußbett hervorragten. Die Nachzügler beeindruckten diese Riffe nicht weiter. Ihre Blicke schweiften über die spärliche Pflanzenwelt und die dürren Gräser. Sie glaubten, das Schlimmste nun hinter sich zu haben: den Hunger, die Mißachtung, den Zug durch die ungarische Pußta, deren lange Halme wie Messer in den Körper schnitten. Es nahte der Augenblick, da sich die Verheißungen bewahrheiteten und ihre Hoffnungen erfüllen sollten. Zwar war die
vor ihren Augen fließende Save noch nicht der Jordan, aber dieser konnte nicht mehr fern sein, da, wie sie wußten, das griechische Kaiserreich das Tor zum Heiligen Lande bildete. Das Ziel war also nahe. Endlich befand sich der ganze Zug am gegenüberliegenden Ufer, Männer, Frauen und Kinder, Spielleute, Mönche und Sklaven. Die Elendsgestalten glaubten in ihrer armseligen Schicksalsgemeinschaft, daß nun sie an der Reihe wären, und humpelten, aufeinander gestützt, zum Fluß hinab. Die Fährleute aber sprangen von den Flößen ans Ufer und warfen die Stangen hin. „Wir setzen euch nicht über, ihr seid verseucht und verlaust. Fahrt, so gut ihr könnt, selbst hinüber!“ Die Beklagenswerten wunderte diese Ablehnung nicht weiter, sie fügten sich, drängten sich auf den Bohlen zusammen, die Aussätzigen auf der einen Fähre, die Bettler und Krüppel auf der anderen. Wer gesunde Hände hatte, ergriff die Stangen. Dann stießen sie ab. Die Flöße drehten sich, glitten stromabwärts und strebten dem jenseitigen Ufer zu. Dort stand eine Reihe Petscheneger Bogenschützen, unter ihnen Walter. Seine mächtige Gestalt überragte alle Krieger. Da sahen die Menschen auf den Flößen, wie der Hundertschaftsführer der Petschenegen etwas zu Walter sagte. Dieser gab mit dem Kopf ein Zeichen, wandte sich um und ging davon. Die Bogenschützen öffneten ihre geschlossene Reihe und spannten die Sehnen. Der Hundertschaftsführer rief den Krüppeln ein paar Worte zu, welche diese jedoch nicht verstanden. Dann gab er mit der Hand ein Zeichen, sie sollten sofort umkehren; aber die Unglücklichen verstanden auch das nicht. Sogar das Schwirren der Pfeile, die neben der Fähre ins Wasser zischten, blieb ihnen unerklärlich. Wen beschossen diese Fremden? Doch nicht etwa sie? Gegen die Strömung ankämpfend, versuchten die Ärmsten, so gut sie konnten, Richtung zu halten, um nicht abzutreiben. Jetzt erblickten sie, wie plötzlich ein zweirädriger Wagen ans Ufer
gefahren wurde. Die Krieger wandten die Pferde, die nun rückwärts bis dicht ans Wasser getrieben wurden. Aus dem Wagen wurde ein Rohr hervorgeschoben, das so biegsam war wie eine Schlange und sich zum Ende hin wie der Kelch einer Blüte öffnete. Drüben wurde wieder etwas gerufen. Dann ertönte ein dumpfer Knall. Dem Rohr entwand sich ein dunkler Knäuel, der in der Luft zu einer hellen Flamme aufloderte. Er flog sausend und pfeifend mit zuckendem Feuerschweif durch die Luft, fiel zischend vor der Fähre aufs Wasser und breitete sich in eine brennende Fläche aus. Das war das griechische Feuer, eine schreckliche Waffe, die den Byzantinern so lange die Unbesiegbarkeit gesichert hatte, wie ihr Geheimnis den Sarazenen unbekannt gewesen war. Schon flog mit unheilverkündendem Getöse das zweite Geschoß heran. Es ging nicht weit hinter der Fähre nieder. Der Fluß flammte erneut auf. Hätte das dritte Geschoß sein Ziel erreicht, so wären die unglückseligen Menschen in ihren Lumpen mit ihrer jämmerlichen Habe in Flammen aufgegangen und hätten entsetzliche Qualen ausgestanden. Mit durchdringendem Geschrei kehrten die armen Teufel, als sie endlich begriffen, was man mit ihnen vorhatte, zum alten Ufer zurück. Aber dort standen bereits die ungarischen Krieger und schwangen drohend ihre Lanzen. Als den Unglücklichen schließlich die Arme erlahmten und die Strömung sie immer ungestümer davontrug, brachen sie in ein Klagegeheul aus. Sie beteten laut, sie lästerten, wiesen auf das Kreuzeszeichen an ihren Ärmeln, schrien, daß sie Kreuzfahrer seien. Sie wären ausgezogen, weil Gott es so gewollt habe; für Christus allein hätten sie das Kreuz genommen. In ihrer Todesangst riefen einige die Rache Gottes herbei, andere erflehten Seine Barmherzigkeit. Aber das Wasser trug sie immer schneller stromabwärts. Vom griechischen Ufer fiel nur eine Stimme in dieses schreckliche Wehklagen mit ein: die Stimme Peters. Erst jetzt begriff der Eremit, was vor sich ging, und stürzte sich auf Walter. Er zerrte an dessen Schwert, verletzte sich daran, achtete
aber dessen nicht, sondern flehte ihn um Barmherzigkeit an und drohte sogar: „Das hast du angestiftet! Du bist der Schuldige!“ Walter stieß ihn angewidert beiseite. „Du bist selbst daran schuld, du Schwachkopf! Du hättest sie nicht mitnehmen sollen. Lange genug hat sich dieses Ungeziefer hinter uns hergeschleppt.“ „Rette sie! Laß sie nicht umkommen!“ schluchzte Peter. „Schweig! Hör auf zu winseln! Der edle Tatikios möchte dich im Namen des Basileus begrüßen!“ Peter rührte sich nicht von der Stelle; aber Walter packte ihn beim Kragen, schüttelte ihn wie einen jungen Hund, versetzte ihm einen Stoß mit dem Knie und sagte höhnisch: „Wenn du nicht willst, daß alle hier genauso umkommen, so tue sofort, was ich dir befehle … Hast du mich verstanden?“ Also ging Peter, der Gottesmann, der Führer der Volksmassen, halb ohnmächtig, aber fügsam, wohin Walter ihn führte. Vor seinen Augen tanzten rote Kreise, in seinen Ohren brauste der Schrei jener Todgeweihten. In seinem Innern war er überzeugt, daß Walter der Satan sei. Alle diese Ärmsten ringsum befanden sich in einem Teufelskreis. Er, Peter, hatte die Menschen zu Christus führen wollen, aber er hatte sie zur Hölle geleitet. Wie hatte das nur geschehen können? Ein Satan mußte auch der edle Tatikios sein, der auf einem vergoldeten Sessel vor seinem Zelt saß. Das Gewand des Würdenträgers schimmerte wie eine Perlenmuschel, sein Blick aber war durchdringend und kalt. Mit bezaubernd höflicher Stimme brachte Tatikios vor Peter seine Befriedigung darüber zum Ausdruck, daß er einen so berühmten Mann kennenlerne, der es verstanden habe, die Massen zu begeistern. „Oh, wie schön ist für jeden Christen der Anblick dieser Volksmassen, die zur Rettung des Heiligen Grabes gekommen sind.
Welch unermeßliches Verdienst dem Herrn gegenüber hat der erworben, der sie mitgerissen und mit dem Geist Gottes beseelt hat.“ Das ist der Satan, dachte Peter, princeps mendacii, der Lügner von Anbeginn! Ich bin in seiner Gewalt. Die ganze Welt ist in seiner Gewalt. Und er gab keine Antwort.
SIEBZEHNTES KAPITEL Und der Westen löste sich von seinen Wurzeln
Auf vier getrennten Wegen zogen die edlen Ritter, ihrem Gelübde
getreu, nach dem Heiligen Lande. Das war nötig; denn wie hätte man sonst ein so großes Heer ausreichend ernähren können. Jeder der Führer wählte einen anderen Weg. Gottfried von Bouillon zog von Köln rheinaufwärts zum Donautal, dieselbe Strecke, die drei Monate vorher die ungeordneten, zügellosen Haufen Peters des Eremiten gezogen waren. Gottfried hatte seine Erbgrafschaft Bouillon und sein Herzogtum Lothringen an die Bischöfe von Lüttich und Verdun für sechstausendsechshundert Pfund Silber und fünf Pfund Gold veräußert. Die Einwohner der Stadt Metz hatten eintausend Pfund Silber und anderthalb Pfund Gold zusammengebracht und sich damit losgekauft. Das war ein großes Vermögen; deshalb konnte Gottfried auch ein vorzügliches Heer aufstellen: Zehntausend Ritter zu Pferde, fünfzigtausend Bogenschützen, Schildknappen, Streitaxtkämpfer und Gesinde. Alle waren befehlsgewohnt, gut ausgerüstet und wohlgenährt. Der Troß war klein, damit er den Zug nicht behinderte. Die Lebensmittel wurden unterwegs gekauft und ehrlich bezahlt, denn der Herzog duldete keine Gewalttätigkeiten. Er selbst setzte den Kaufbetrag fest, den sein Schatzmeister, wenn auch schweren Herzens, auszahlen mußte. Außer seinem Bruder Balduin und der mißmutigen Gontrana wurde Gottfried von seinen Gefolgsleuten Konon de Montaigu, Dudon de Contz, Wilfried d’Esch, Balduin du Bourg und dem Grafen de Hainaux begleitet, von denen einige ebenfalls ihre Gattinnen bei sich hatten. Nur der Graf de Hainaux wollte sich mit seiner geliebten Ida erst in Byzanz treffen. Sie hatte ihm im Winter einen Sohn geboren und war lange danach krank gewesen. Um sich nicht zu überanstrengen, sollte sie auf dem Seewege mit einer Galeere und einem Gefolge von ehrbaren Rittern
nachreisen. Das war kostspielig, denn die Genuesen verlangten für die Überfahrt einen unerhörten Preis. Doch war dieser Weg für die Edeldame weniger beschwerlich und kürzer. Den Seeweg wählte auch der wohlbeleibte Hugo de Vermandois, der tapfere, aber träge Ritter. Sein Bruder Philipp, der ihn nicht allzu reichlich mit Geld versorgen konnte, stellte ihm seine eigene königliche, vergoldete Galeere zur Verfügung. Außer der Mannschaft und den Knappen wurde Hugo von den Rittern Roger de Barneville und Wilhelm de Melun begleitet. Letzterer trug den Spitznamen Zimmermann; denn hieb er im dichtesten Kampfgewühl auf seine Feinde ein, so fielen Köpfe und Arme wie Späne unter der Axt eines Zimmermannes. Herr de Melun war nicht nur wegen seiner Kraft berühmt, sondern auch wegen seines ständigen Hungers. Es war kaum zu glauben, welche Mengen dieser wackere Streiter täglich verzehren mußte, um satt zu werden. Hatte er sich den Wanst vollgeschlagen, so wieherte er in der Schlacht vor Freude wie ein Roß und scheute weder Gefahr noch Tod. Zusammen mit dem Bruder des Königs von Frankreich stach auch eine mächtige Piratenflotte in See. Die Seeräuber hatten ebenfalls das Kreuz genommen und wurden von Guynemer de Boulogne, dem „Piratenkönig“, befehligt, einem grausamen, aber genialen Anführer, der an der ganzen französischen Küste eine berüchtigte und gefürchtete Macht ausübte. Guynemer besaß achtzehn Schiffe, deren Mannschaft rote oder schwarze Kopftücher trug. Die rotbraunen Gesichter mit den weißen Zähnen boten in diesem Aufzug einen Anblick, vor dem selbst der Teufel ausgerückt wäre. Die vergoldete königliche Galeere segelte inmitten der Piratenschiffe mit den schwarzen zerfetzten Segeln wie ein Schwan unter Meeresungeheuern. Die Seeräuber blickten lüstern, mißgünstig und verwundert auf diese leicht zu erringende schöne Beute. Es schien ihnen unfaßbar, daß sie so ruhig neben ihr einhersegeln mußten. Aber sie waren Guynemer gehorsam, der befohlen hatte, die königliche Galeere zu achten. Der träge Ritter, der Tag für Tag auf einem weichen Lager an Bord seines Schiffes
lag, war als Kreuzfahrer sein Kamerad. Sie alle waren auf dieser Fahrt keine Piraten mehr, sondern Kreuzfahrer. Es war ihnen nur gestattet, die Sarazenen zu berauben. Die schweren, süßen Trauben dunkelten schon in den französischen Weinbergen, als Robert Courte–Heuse zum Heiligen Feldzug aufbrach. Er hatte seinem Bruder, Wilhelm dem Roten, die Normandie verpfändet und dafür zehntausend Pfund Silber und fünfzehn Pfund Gold erhalten. Von diesem Betrag, den ihm seine Günstlinge in kurzer Zeit fast zur Hälfte wieder aus der Tasche gelockt hatten, stellte er ein vortreffliches, fast sechzigtausend Mann starkes Heer auf. Zusammen mit Robert zogen sein unzertrennlicher Freund, der Kaplan Bruder Arnuld de Rohes, der gelehrte Chronist Foucher de Chartres, die Brüder Guillebeaut, der dänische Prinz Sven mit fünfhundert blonden wortkargen Kriegern und Robert von Flandern mit seinen schwerfälligen Flamen, die an Tapferkeit und Bedachtsamkeit unübertroffen waren. Der Zug führte von der Normandie nach Rom, wo man am Grabe des Heiligen Petrus überwintern wollte, um zu Beginn des Frühjahres mit nochmaligem päpstlichen Segen aufzubrechen. So hatte es der schlaue Arnuld de Rohes Robert geraten. „Mag der leichtgläubige, offenherzige Gottfried“, so hatte er gesagt, „zuerst in Byzanz eintreffen. Unsere Vertrauensleute können uns dann berichten, wie sich die Beziehungen zwischen ihm und Alexios gestaltet haben. Dann wissen wir, wie wir in die Gebiete des Basileus einziehen sollen, als Verbündete und Freunde oder als Eroberer.“ Die Mägde stampften schon den Rebenmost in den Bottichen, als sich der Heeresbann Raimunds von Toulouse in einer Stärke von fast einhunderttausend Mann zum Aufbruch aus den heimatlichen Gefilden rüstete. Es war die gesamte Ritterschaft der Provence, der Languedoc und der Grafschaft Toulouse, und mit ihr brachen auch die ungarischen und polnischen Ritter auf. Mehr als ein Jahr war jetzt seit ihrem Abschied von der fernen Heimat verstrichen, eine lange, lange Zeit. Wer konnte wissen, wie
viele solcher Jahre noch folgen würden, ehe sie die Heimat wiedersahen. Den schlesischen Rittern war das Herz schwer; aber das Gelübde band sie, und keiner von ihnen wäre auf den Gedanken gekommen, jetzt nicht zu seinem Wort zu stehen. Ritterwort war Ehrenwort. Doch die Sehnsucht und die Langeweile setzten Ihnen hart zu. Da sie die Kunst der Unterhaltung bisher nicht erlernt hatten, blieben sie, wie früher, nur stumme Zeugen des rauschenden Hoflebens. Sie waren mißgestimmt und ärgerten sich, daß sie die guten Denare mit der Aufschrift „Bolesław justitia“ verzehrt hatten und nicht wußten, wie sie ihre Beutel auffüllen sollten. Wenn man bloß endlich aufbräche! Noch nie hatten sie sich auf einen Feldzug so lange vorbereitet, ob es nun gegen die Deutschen oder die Kiewer gegangen war. Zu diesen Sorgen gesellte sich das peinliche Gefühl der eigenen Nichtigkeit, ja selbst der Zurücksetzung. In ihrer Heimat waren sie die Ersten gewesen, von deren Willen alles ringsum abhing. Sie hatten sich dort nur den Mächten des Jenseits gebeugt und ihr Leben nach eigenem Belieben gestaltet. Aher was bedeuteten sie hier? Sie verschwanden in der nach vielen Tausenden zählenden Masse. Über diese Dinge machte sich Imbram sehr oft ernste und trübe Gedanken. Es bedrückte ihn, daß er mit niemandem, auch nicht mit Jasiek Zawora, darüber sprechen konnte. Ihm fehlten dazu einfach die passenden Worte. Seine Gedanken waren inhaltsreicher als seine harte, wortarme Sprache. Seit einem Jahr weilte er nun unter provenzalischen Rittern und beneidete diese manchmal wegen ihrer Sprachgewandtheit, der Leichtigkeit, mit der sie bei den höfischen Spielen Worte und Reime vortrugen und sie aus dem Stegreif zu Strophen verbanden. Das waren für ihn unerreichbare Künste. Verschämt gestand er sich im Stillen ein, daß er nach ihrem Muster gern ein Liedchen über eine Liebste gereimt hätte. Doch wie? Ebensogut hätte man versuchen können, aus einem einfachen Buchenrundholz eine glatte Fläche zu formen.
Wie oft hatte in den langen verflossenen Monaten Ofka wie lebendig vor seinen Augen gestanden. Mit welcher Sehnsucht wartete sie auf ihn! Er hatte ihr bei seinem Fortgang versprochen, nach Weihnachten heimzukehren. Aber aus Weihnachten war Ostern, aus Ostern die Erntezeit geworden. Jetzt kam wieder die Zeit bis Weihnachten und dann wieder Weihnachten bis Ostern. Wie viele Jahre würde das noch so weitergehen? Und der Kleine? Sicher konnte er schon laufen. In seiner Sehnsucht, die ihn bei solchen Gedanken überfiel, machte er sich Vorwürfe, warum er nicht daheimgeblieben war. Schließlich hatte ihn niemand gezwungen. Seine beiden Brüder hätten gut allein ziehen können, wenn ihnen der Sinn danach stand. Er hätte sich vor Włodzisław demütigen und zurückkehren können. Dann säße er jetzt mit Ofka vor dem Gehöft oder prüfte die keimende Wintersaat auf den Feldern, ließe seine Blicke zum Wald hinüberschweifen, wo die Dämmerung ihre Schatten senkte, und gewahrte wohl, wie sich aus den Moorwiesen die Elfen in weißen Nebelschleiern erhoben. Er hätte den Luchs oder den Auerochsen jagen und nach der Heimkehr auf der Bank vor dem Feuer neben dem alten Dominus liegen können. Ob dieser liebe Alte, der beinahe Hundertjährige, wohl noch am Leben war? Ofka hätte mit den Mägden gesponnen und gesungen. Dann wären sie beide Hand in Hand in ihre Kammer gegangen. Bei dem Gedanken, daß es so hätte sein können, und daß an den veränderten Lebensumständen keine Zauberei schuld war, sondern nur seine eigene Schwäche, ergriff ihn tiefe Wehmut. Bald mischten sich aber Zweifel in seine Gefühle. Hätte er wirklich richtig gehandelt, wenn er daheim geblieben wäre und diese seltsame, fremde, abenteuerliche Welt nicht kennengelernt hätte? Das Leben fern des gewohnten Alltags und jenseits der schlesischen Grenzen war doch irgendwie anziehend. War es wirklich sein eigener Entschluß gewesen, fortzugehen, oder mußte er die weite Fahrt als unvermeidliche Schicksalsfügung hinnehmen, gegen die es keine Auflehnung gab?
Über diese Gedanken hätte er gern mit einem Vertrauten gesprochen, aber wo war ein solcher zu finden? Jasiek Zawora lächelte nur mit dem gleichen Wohlwollen und der gleichen Zerstreutheit zu allem, was man ihm sagte. Zbylut hätte ihn nach seiner Gewohnheit nur spöttisch abgefertigt. Großkopf lagen solche Gedanken fern, und er sprach nie über Dinge, die bereits entschieden waren und sich als notwendig herausgestellt hatten. Ähnlicher Meinung waren Nogodzic und Momot. Die beiden Oswienta und Nowina aßen, schliefen und beklagten sich, daß es keine Frauen gab. Diese fehlten allen. Bei der guten Ernährung und dem Wohlleben war das nach dem müßig verlebten Frühjahr und Sommer kein Wunder. Zwar fehlte es am Hofe Raimunds nicht an zugänglichen Frauen. Diese munteren, dunkeläugigen Hofdamen fanden Gefallen an den langen, etwas unbeholfenen schlesischen Kerlen mit den leuchtendblauen, würdig dreinblickenden Augen und den langen Schnurrbärten. Die Ritter aber hielten es für unter ihrer Würde, sich mit diesen Geschöpfen abzugeben. So etwas war mit ihrer Ritterlichkeit unvereinbar. Anders verhielt es sich natürlich, wenn sie ins Feld zogen! Dann würden die weiblichen Gefangenen den Siegern als würdige Belohnung für den mühevollen Kampf von selbst zufallen. Man brauchte dann nicht zu fragen, wem diese Frau oder jene Tochter gehörte. Ein gewitzter, pfiffiger Knappe verstand in einem solchen Fall immer, etwas Passendes für seinen Herrn ausfindig zu machen. „Kein anderer hatte einen so guten Blick für Frauen wie Chebda … du erinnerst dich doch an die Kiewerin, die er mir damals zuführte?“ sagte Großkopf angeregt und verstummte ärgerlich wie gewöhnlich, wenn er den Namen Chebdas, dieses Ausreißers und Schurken, erwähnte, der nach seiner Meinung eines ehrlichen Todes nicht würdig war. Genauso wie den entwichenen Kocur und die übrigen Flüchtlinge betrachtete er Chebda als einen Ausbund von Falschheit und Undankbarkeit.
„Wer hätte in Chebda eine solche Schlange vermutet?“ im Anhören dieser häufig wiederholten Klagen, sah auch Imbram den ehemaligen Knecht in einem ganz andern Licht. Chebda erschien ihm jetzt beinahe wie ein neuer, unbekannter Mensch. Imbram hatte geglaubt, er kenne ihn seit seiner Jugend genau, seine unermüdliche Rührigkeit, dieses Fuchsgesicht, diese gutmütigen, pfiffigen Augen. Der alte Chebda war stets nur der getreue Schatten seines Herrn gewesen. Jetzt lebte dieser ehemals so Unterwürfige irgendwo als selbständiger Mensch in der riesigen Schar ihm ähnlicher oder gleichgesinnter Menschen. Mit solchen Überlegungen verstrichen den Rittern die Tage bis zum Aufbruch. D’Armaillac, de la Tour und de Foix, die treuesten Vasallen des Herrn von St. Gilles, übten ihre Mannschaften im Gebrauch der Waffen. Sie überprüften die Ausrüstung und sammelten Vorräte, während Raimund selbst das Kastell fast nie verließ. Nur selten ritt er zur Jagd aus und brachte ganze Tage im Rittersaal auf seinem großen Sessel zu. Unbeweglich saß er da und durchlebte im Geiste zum hundertsten Mal die baldige Trennung von seinem Vaterland. Einem Krieger ziemte es nicht, bereits vollendeten und unwiderruflichen Dingen nachzutrauern; deshalb wäre der Herr von St. Gilles auch jetzt nicht auf den Gedanken gekommen, sich zu überlegen, ob er richtig oder falsch gehandelt hatte. Nein, Überlegungen gab es nicht! Mochte sich das Schicksal erfüllen, das Geschick der tapferen Ritterschaft geheiligt werden … Gott wollte es! Doch das Fühlen war erlaubt. Er durfte die Schönheit des lieblichen Gebietes noch einmal mit der Seele umfangen. Es war erlaubt, dem Heiland zu sagen: „Siehe Herr, ich gebe Dir alles hin, alles, was ich vermag, ja, mehr noch als ich vermag!“ Den Kopf an die Schnitzerei des hohen Stuhles gelehnt, hörte Raimund stundenlang den Liedern der Sänger zu. Stets hatte er es geliebt, Liederdichter und Spielleute um sich zu haben, jetzt aber waren sie ihm nötiger denn je. Wenn die lustigen Hofdamen Elviras
und seine Vasallen wie gewöhnlich Liebesturnier oder Turmeroberung spielten, ließ er sich die ihm von Kindheit an bekannte, unzählige Male schon gehörte Geschichte des Helden Roland erzählen, der im Tal von Roncesvalles gefallen war, die Sage von den zwölf edlen Rittern des guten Königs Artus, die Mär vom verzauberten Wald Broceliande oder von dem Zauberer Merlin. In jeder Erzählung verließ der Held sein Land, als wäre dieser hohe Preis Bedingung für Größe und Mannestugend. Die Spielleute erzählten von einem Königssohn, der seinen Vater bat: „Herr Vater, gebt mir ein Schwert und ein Gefolge, damit ich mir in der Welt ein Reich erobern kann!“ — „Mein Sohn, du erhältst nach deinem Begehr!“ „Und ich werde es auch so halten … ich auch“, flüsterte Raimund vor sich hin. „Allmächtiger Vater, erlaube mir, ein Reich zu erobern, aber nicht für mich, sondern für Deinen Sohn!“ In der Dämmerung, wenn alle Ritter in dem großen Saal zusammenkamen, wo im Kamin das Feuer brannte — denn die Abende waren kühl in den feuchten Mauern — begann ein anderes Gespräch. Wohl unterhielt man sich über den alle Gemüter bewegenden Zug ins Morgenland, sprach aber weniger von dem, was man hier zurückließ, als von dem, was man dort sehen und erleben würde. Vor allem unterhielt man sich über Byzanz, über den griechischen Staat, der einen unwiderstehlichen Zauber auf jeden ausübte. Es machten viele widerspruchsvolle Erzählungen um dieses Reich die Runde, die Wahrheit aber kannte eigentlich niemand. Man wußte nur das, was die syrischen Kaufleute berichteten, die mit ihren Waren durch ganz Europa wanderten und besonders gern in Kiew, Wroclaw, Paris, Orleans und Lyon haltmachten. Bei ihnen hatte man die kostbaren Stoffe gesehen, obwohl diese nicht so prächtig waren wie jene, die der Stratigos Argyrios, der griechische Gesandte, trug. Da gab es viele bestaunenswerte Dinge, Purpur aus Cäsarea, Glas aus Sidon, ägyptische Papyrosrollen, Damaszener Klingen, Datteln und Feigen aus Jericho, auf geheimnisvolle Art getrocknete Rosen, die im
Wasser ihre Welkheit verloren und wieder aufblühten, wenn sie von einer keuschen Jungfrau in das Naß getaucht wurden, Kleinodien in kunstvoller Goldschmiedearbeit, wertvolle, überaus beliebte Gewürze, wie die seltsame Zimtrinde, den sternförmigen Kardamom, Baldrian, Pfeffer, Nelken, Alkermes, der jede Traurigkeit vertrieb, Ingwer, Saffran und Sandelholz. Jeder dieser farbigen oder duftenden Gegenstände barg etwas von der Seele der orientalischen Welt in sich. Nahmen einfache, weniger verwöhnte Menschen eine solche Kostbarkeit in ihre Hände, so glaubten sie, den fremden Geist jener Länder zu empfinden, und Sehnsucht und Unruhe regten sich bei ihnen. Bald sollten sie diese Wunderdinge in den Ländern, die sie durchstreifen würden, täglich erblicken. Welches Staunen würde das geben! Allein bei dem Gedanken daran vermeinten sie, den Duft der Gewürze schon zu spüren, sich an dem süßen griechischen Wein zu berauschen. Und nun erst die Schönheit der Frauen, dieser anmutigen Liebeskünstlerinnen, von denen ihnen der Stratigos erzählt hatte! Als Bischof Ademar de Monteil, der päpstliche Legat und Führer des Heiligen Zuges, merkte, daß die Gedanken der Ritter in allzu irdische Bahnen glitten, ergriff er das Wort und sprach von der politischen Klugheit und dem hohen Stand der Wissenschaft im byzantinischen Reich. Er zählte die mit Erfolg gehaltenen Konzile auf und erwähnte eine Reihe bedeutender Heiliger. Mit besonderer Erbauung berichtete er den Zuhörern vom heiligen Eusebius, dem größten Geschichtsschreiber der Kirche, der als erster den wahren Zusammenhang der Daten der weltlichen Geschichte mit der Heiligen Schrift hergestellt und die Offenbarung in der Wirklichkeit fest begründet hatte. Mit gleicher Begeisterung und Sachkenntnis sprach er über die christliche, die unvergleichliche byzantinische Kunst, die sich von der altrömischen wesentlich unterscheide. Dort, am Arm des Heiligen Georg, wie der Bosporus damals genannt wurde, sei die vollkommenste Gestalt des Gottesheiligtums entstanden. Es gebe dort Basiliken mit drei oder sogar fünf Schiffen, mit Gebälk aus edelstem Zedernholz, Säulenbasiliken mit
herrlichen Gewölbebögen. Den Gipfel der Baukunst stelle jedoch die Basilika mit der großen Kuppel dar, deren Erhabenheit den Tempel Salomos übertreffe. Besonders würden die Christen aber über die Reliefs staunen, welche die Kreuzigungsgeschichte darstellten. Die Zuhörer wandten die Augen nicht von dem Sprecher. Die unverständlichen Namen machten einen starken Eindruck auf ihre kindlichen Gemüter. Der Bischof aber verstummte, und sein Gesicht verdüsterte sich plötzlich, als er sich daran erinnerte, daß dasselbe Byzanz, der Sitz von Wissenschaft und Kunst, gleichzeitig ein Herd der Verderbnis, der Ausschweifungen, der Heuchelei und anderer, einem Christen widerlicher Laster war. Zwar gab es genug löbliche Konzile und berühmte Heilige, aber ebenso häufig fand man dort Ketzerei und Schädigung der Kirche. Die noch soeben von ihm gerühmte politische Erfahrung, wie hatte sich diese nur allzu oft in Falschheit, Lüge und Irrglaube verwandelt, die allgemein in der Welt mit fides graeca bezeichnet wurde. Er zog es vor, über diese Dinge zu schweigen, und Stille lag über dem Saal. Man hörte nur das Knistern des Feuers und das Knirschen der Gänsekiele, die der Domherr d’Aguilers geduldig spitzte. Dieser würdige Herr, der Kaplan des Herrn von Toulouse, hatte bereits einen ganzen Haufen vor sich liegen. Er überprüfte noch einmal die schon angespitzten, warf die Hälfte davon fort, schob die aussortierten in getrocknete Schilfhalme, um sie vor dem Zerbrechen zu schützen, und band sie dann zu Bündeln zusammen. Von diesen Bündelchen besaß er schon so viele, daß sie einen ganzen Wagen gefüllt hätten. Graf Raimund behauptete mit Recht, daß es bald in dem ganzen Gebiet keine Gänse mehr geben würde, worauf ihm der Domherr würdevoll erwiderte, in den fremden Ländern gäbe es überhaupt keine Gänse oder nur solche mit einem Gefieder, das sich für die edle Kunst des Schreibens nicht eigne. Es sei deshalb kein Fehler, wenn man einen Vorrat mitnähme, der für einige Jahre reiche.
Mit der gleichen Sorgfalt bereitete der Domherr eine schwarze Tinte vor, den Saft der ausgekochten Sepie des Tintenfisches. Diese Tiere wurden eigens zu diesem Zweck von Fischern gefangen und durch besondere Boten nach Toulouse gebracht. Den bereits fertigen dicken Absud goß der Domherr in bauchige Steintöpfe, die besonders fest und dicht verschlossen wurden. Nach der Stille, die auf die Rede Ademars gefolgt war, unterhielt man sich wieder über den einzuschlagenden Weg. Welche Marschrichtung sollte man wählen, und wieviel Zeit würde der Zug ins Heilige Land beanspruchen? Raimund von St. Gilles erklärte, daß sie längs der Meeresküste durch slawische und ungarische, früher hunnische und awarische Gebiete, sowie durch bulgarische und griechische Lande ziehen würden. „Angeblich soll es dort gefährliche und äußerst schwierige Übergänge geben“, meinte der Bischof, worauf der Herr von Toulouse begeistert erwiderte, daß dort zwar steile Berge seien, die aber kein Hindernis bildeten. Im Gegenteil, es sei gut, wenn man vor Erreichung Palästinas einige Widerwärtigkeiten zu erleiden und Schwierigkeiten zu überwinden habe. Desto liebevoller werde sie der Heiland empfangen. Außerdem ende ja in Byzanz der eigentliche Weg. Die Entfernung vom Palast des Basileus bis Jerusalem sei bestimmt nicht größer als die von Toulouse nach Lyon. „Ich fürchte, sie ist bedeutend größer …“, gab der Bischof zu bedenken, ohne aber auf seiner Meinung zu bestehen, Erstens wußte er es selbst nicht genau, und dann, wozu sollte er die Kreuzfahrer vorzeitig beunruhigen, drittens aber hatte er die Wahl des Weges den einzelnen Edlen überlassen. Mochten sie den Weg ziehen, der ihnen am leichtesten schien. Seine Tätigkeit als Führer des Zuges sollte erst vom Sammelplatz ab beginnen, als der Byzanz festgesetzt war. Seine persönliche Meinung ging dahin, ein nicht so starkes Heer mit sich zu führen und es auf dem Seewege nach dem Heiligen Land zu befördern. Das war sicherer und ging bei weitem schneller. Aber
keiner der Herren, mit Ausnahme von Hugo, wollte etwas davon hören. Jeder wünschte, möglichst viele Mannen um sich zu haben, um durch diese Macht seine Nachbarn zu übertrumpfen. Außerdem schien ihnen der Gedanke, daß die verhaßten Genuesen so viel an ihnen verdienen sollten, empörend. Nein, der Landweg war unbedingt besser. Ihre Unterhaltung wendete sich nun von Byzanz und dem Weg dorthin ihrem eigentlichen Ziel, Jerusalem, zu. Sie versuchten sich auszumalen, wie diese bedrängte Stadt Gottes aussehen mochte. Doch trotz aller Anstrengungen gelang ihnen das nicht. Nur das eine wußten sie, daß keine andere Stadt auf Erden ihr gleichen konnte. Die Mauern, in denen Christus gelebt und gelitten hatte, strahlten sicherlich wie Kleinodien und schimmerten in allen Regenbogenfarben. Ein wunderbarer, erfrischender Duft lag wahrscheinlich in der Luft. Die Entfernung von Byzanz bis Jerusalem, von der Raimund gesagt hatte, daß sie nicht größer sei als die von Toulouse nach Lyon, stellten sie sich als einen weiten, für ein Schlachtfeld geeigneten Raum vor. Auf diesem Gelände warteten zweifellos schon die Sarazenen, ein würdiger Gegner, mit dem es sich zu kämpfen lohnte. Es gingen ja Gerüchte um, daß die Franken und die Sarazenen von den Trojanern abstammten, und daß aus diesem Grunde diese beiden Völker die tapfersten der Welt seien. Während aus der Provence und der Languedoc ein vortreffliches Ritterheer aufbrach, sammelten sich in Italien nach dem Aufruf Bohemunds, des Sohnes von Robert Guiscard, eintausend auserlesene Ritter und dreißigtausend Mann Fußvolk. Bohemund war nicht irgendwer. Sein Vater, der Schrecken der Griechen und Sarazenen, hätte zu der Zeit vielleicht auf dem Thron des Basileus gesessen, wäre er nicht so früh gestorben. Die Wünsche seines Sohnes waren aber keinesfalls geringer. Bohemund gehörte zu den Männern, denen die ganze Welt zu eng ist. Er war stattlich, verwegen und dem Schein nach aufrichtig. Schnell begeistert,
großzügig und freigebig, beherrschten ihn doch in Wirklichkeit Habsucht und Durchtriebenheit. Jede seiner Bewegungen und Handlungen war die Frucht langer Überlegungen. Deshalb wurde auch erzählt, der Teufel sei vor ihm geflohen, aus Furcht, betrogen und verkauft zu werden. Zusammen mit Bohemund leitete sein ihm herzlich zugetaner Neffe Tankred die Vorbereitungen. Er ähnelte nur äußerlich seinem Onkel. Bei einem ungestümen Temperament besaß er eine edle und aufrichtige Gesinnung. Bohemund blickte hochmütig, aber nicht ohne Zuneigung auf ihn herab. Im Innersten seiner Seele bewunderte er die Rechtschaffenheit seines Neffen. Tankred war der einzige Mensch auf der Welt, dem Bohemund traute. Er log nie und war offen und mutig wie ein Löwe. Das normannisch–italische Heer dieser beiden Herren trat den Zug in dem sonnigen Benevent und Amalfi an. In den ersten Tagen des November wollte man sich in den drei Häfen Bari, Brindisi und Otranto mit dem Ziel nach Durazzo und Valona einschiffen. Von dort sollte es auf dem Landwege, in unmittelbarer Nähe der Mannschaften des Grafen von Toulouse, über den felsigen Balkan und durch das halbheidnische Bulgarien gehen. Einhunderttausend Menschen waren Peter von Amiens gefolgt. Fünfzehntausend zogen mit Gottschalk und von Emich, zehntausend mit Walter ohne Habe, sechzigtausend mit Gottfried von Bouillon, einhunderttausend mit Raimund von Toulouse, dreißigtausend mit Bohemund und Tankred, sechzigtausend mit Robert Courte‒Heuse. Diese Zahlen stammen von den Chronisten und Teilnehmern des Zuges: Foucher de Chartres, Raimund d’Aguilers und einem Ritter unbekannten Namens aus der Gefolgschaft Bohemunds. Die gelehrte Anna Porphyrogeneta, die vierzig Jahre später die Geschichte der Herrschaft ihres Vaters, des Basileus Alexios, niederschrieb, sowie der weise Matthäus von Edessa bestätigten diese Angaben, des gleichen die arabischen Geschichtsschreiber Kemel–ed–Din, Ibn–al–Atyr, Abul Mehecen, Ibn Giuzi und Abul Feda. Obwohl diese Zahlen unwahrscheinlich
klingen, dürften sie glaubhaft sein. Tatsächlich sind vierhunderttausend Menschen, die einen nicht unerheblichen Teil der damaligen Bevölkerung Europas ausmachten, in einer in der Weltgeschichte als einmalig zu bezeichnenden Massenbegeisterung für den Glauben, den Ehrgeiz, die Machtgier und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft unbeirrt einem ungewissen Schicksal entgegengezogen. Nach den Worten des Papstes Urban II., die dieser an den Bischof Ademar von Puy richtete, hatte sich der Westen von seinen Wurzeln gelöst, um auf den Osten zu stürzen.
ZWEITES BUCH
FIDES GRAECA
ERSTES KAPITEL In welchem die tapferen Ritter die finsteren Mächte bekämpfen
Die
Bulgarin unterbrach ihren Gesang alle Augenblicke, um die Finger, durch die der Faden des Spinnflachses glitt, mit den Lippen anzufeuchten. Sie sang mit gedämpfter Stimme: Fünfzehntausend Mann nahm der Kaiser Basilius gefangen … Fünfzehntausend Gefangenen ließ er die Augen ausreißen … Jedem Hundertsten wurde ein Auge gelassen, damit er neuundneunzig in ihr Vaterland führe … Die kaiserlichen Schergen warfen die ausgerissenen Augen auf die Erde … Die schwarzen und die blauen Augen, die dunklen und die grauen, sie häuften sich zu einem Grabhügel … Der Wind wehte darüber und zerstreute den Augenhügel … Die Augäpfel rollten wie runde Perlen über den Acker, über das Gras, über die breite Trift … Die Geblendeten kehrten zurück zum Fürsten Samuel … Als der Fürst die geblendeten Krieger erblickte, riß er sich die eigenen Augen aus und warf sie in die Donau … Schwimmt ihr Augensterne, ihr scharfen Falkenaugen, schwimmt zu dem christlichen Kaiser … Ich will die Schönheit der Welt nicht sehen, wenn meine Mannen sie nicht mehr erblicken … Meine geblendeten Mannen, was sollen wir beginnen …? Wir werden uns um den Herd setzen und unseren vergangenen Ruhm besingen. Wir werden ihn so lange besingen, bis unsere Söhne mannbar sind! Sie werden starke Beile schmieden … Sie werden viele Pfeilspitzen schärfen …
Sie werden eines Tages ins Feld ziehen und uns rächen … Die schlesischen Ritter saßen auf ihrer Lagerstatt und hörten zu, aber sie verstanden nichts. Nur manchmal fiel ihnen der bekannte Klang irgendeines Wortes auf, das aus dem Serbischen entlehnt war. Beklemmend und stickig war die Luft in der niedrigen Hütte. Vom Herd breitete sich der Rauch in der Stube aus, die Augen tränten. Die Gestalten der Spinnerinnen, der Hausfrau und deren Töchter, waren kaum zu erkennen, und das traurige Lied vom grausamen Kaiser Basilius, dem Bulgarentöter, wie er genannt wurde, drang wie aus unwirklicher Ferne zu den Rittern. Die niedrige, aus einem einzigen rohen Brett gearbeitete Tür knarrte mächtig, als sie von draußen heftig aufgerissen wurde. Gebückt traten Imbram, de la Tour und d’Armaillac schreckensbleich und außer Atem ein. Sie blieben in der Mitte der Stube stehen und bekreuzigten sich schnell ein um das andere Mal. „Was ist euch zugestoßen?“ fragten die Anwesenden erstaunt. „Wir haben einen Werwolf gesehen!“ „Jesus Maria! Wahrhaftig?!“ „Wir haben ihn leibhaftig vor uns gesehen, mit unseren eigenen Augen!“ „Wo? Wo?“ „Soeben … dort am Waldrand … jenseits des Lagers …“ „Jesus Maria! … Furchtbar! Erzählt, erzählt, was habt ihr gesehen?“ „Gleich, laßt uns einen Augenblick verschnaufen … Also das war so: Der Domherr d’Aguilers hat uns ja immer schon gewarnt, wir sollten uns vorsehen; denn hier wimmele es von Werwölfen … ‚Diese Bulgaren‘, so sagte er, ‚sind zwar getauft, aber im Grunde sind sie widerwärtige Heiden … und mit Zauberei befassen sie sich ebenfalls. Schon des öfteren haben mir gelehrte Mönche erzählt, wie sich die Werwölfe hier verbreitet haben. Ganze Dörfer sollen mit diesem Unflat verseucht sein. Um sich zu schützen, trägt man am besten einen Engelwurz bei sich, steckt diesen im Notfalle in den Mund, oder wickelt sich ein rotes Band um den Hals. Wer irgendwelche Reliquien bei sich hat, ist am besten geschützt‘ … So
erzählte d’Aguilers. Wir fragten ihn: ‚Woran kann man denn einen Werwolf erkennen?‘ Und der Domherr belehrte uns, daß so ein Teufelsbalg untrügliche satanische Zeichen habe, nämlich eine kleine Höhlung unter dem Arm, Haare auf dem Leib oder Krallen an den Füßen. So gingen wir denn unseres Weges und unterhielten uns über das, was uns der Domherr erzählt hatte. Niemand hatte eine Reliquie bei sich, auch keiner Engelwurz oder gar ein rotes Band. Wir waren also nur in Gottes Hand. Dann sprachen wir über das Wetter, daß es morgen wohl aufklaren werde; denn der Nebel lag tief über dem Erdboden … Ohne uns zu bemerken, ging die edle Herrin Blanka de Montbéliard vor uns. Wir sprachen noch darüber, wo sie wohl ihre Begleitung gelassen habe, und daß es sich für eine Dame aus edlem Geschlecht nicht schicke, allein zu gehen … Da hörten wir plötzlich ein Knacken und Brechen in den Sträuchern am Wege … ‚de la Tour, nimm den Speer‘, sagte ich, ‚das ist bestimmt ein wildes Tier, vielleicht ein Wildschwein …‘ Wir hielten die Speere bereit, alle drei, und freuten uns schon, etwas Jagdbares vor uns zu haben, als aus dem Dickicht ein Werwolf sprang — ein Werwolf!“ „Wie sah er aus? Erzählt, bei Gott!“ „In dem Nebel schien er uns so groß wie eine Kuh. Er bäumte sich, sperrte das Maul auf, dem Feuer und Gestank entströmten … Er wollte sich auf die Frau stürzen!“ „Jesus Maria! Und was tat sie?“ „Die Ärmste blieb vor Angst stehen, auch wir waren vor Schreck wie gelähmt. Aber da kam im richtigen Augenblick der Ritter de Beaugency gesprungen, schleuderte seinen Speer und verwundete das Ungeheuer an der Pfote …“ „Der Ritter de Beaugency ist immer in der Nähe Blanka de Montbéliards“, bemerkte Zbylut spöttisch. „Gott sei Dank daß er diesmal zur Stelle war“, entgegnete la Tour. „Also, wie gesagt, er verletzte dem Teufelsbalg die linke Pfote so daß dieser winselnd in den Wald entfloh. Erst dann bekreuzigten wir uns und die Erde und eilten schnurstracks hierher.“
„Jetzt müssen wir aber aufpassen, ob jemand von den Bewohnern hier eine verletzte Hand hat“, belehrte Großkopf besonnen, „denn das ist sicherlich der Werwolf!“ „Bei den Gebeinen des Heiligen Gilles! Ist das wirklich so?“ „Ohne Zweifel. Ein Abt, ein großer Gelehrter, er hieß Guido und war aus euren Gegenden gebürtig, erzählte mir einmal, ein Ritter, der von einem Werwolf angefallen wurde, habe diesem die Pfote abgeschlagen. Kurz darauf sei des Ritters leiblicher Oheim ohne die linke Hand auf die Burg gekommen. ‚Niemals habe ich geglaubt‘, hatte dieser Oheim gesagt, ‚daß mich der Sohn meiner leiblichen Schwester verwunden würde …‘ Und er habe dabei so unmenschlich geblickt, daß der Ritter vor Schreck aus dem Gemach gelaufen sei und stehenden Fußes eine Wallfahrt angetreten habe.“ „Gott, sei uns Sündern gnädig, damit wir endlich aus dieser teuflischen Wildnis herauskommen!“ „Glaubt Ihr, Herr, daß es bei den Sarazenen besser ist? Dort wimmelt es von unreinen Mächten …“ „Jerusalem ist nahe, und da verlieren die Dämonen ihre Macht!“ „Das kann wohl stimmen …“ „Der Domherr d’Aguilers hat gesagt, die Werwölfe seien die schlimmsten aller Dämonen. Hier gebe es ihrer unzählig viele … Laßt uns so schnell wie möglich dieses Land verlassen.“ Die Ritter blickten sich mit unverhohlenem Schrecken nach allen Seiten um. Hochmütig, stark und, wenn es sein mußte, rücksichtslos, ängstigten sie sich jetzt angesichts der Zauberei wie Kinder. Hier handelte es sich zudem um besonders schreckliche Zauberei! Nicht fremd waren den polnischen Rittern die Vampire und Gespenster des Herbstes, die Feen, Geburtsgöttinnen, Waldschratte, die guten Hausgeister, die Heumännchen, der Mittagsdämon, die Roggenmuhme, Nixen, Nöcke, Elfen und Wechselbälge … Sie kannten den Windteufel Stral und den bösen Geist Lataviec, der dem einschlagenden Blitz vorauseilt. Von den Werwölfen war es nicht nur in Polen, sondern auch im ganzen Westen bekannt, daß sie zwar äußerst selten vorkamen, aber darum
desto gefährlicher waren. Die Ritter bekreuzigten sich, seufzten immer wieder und wünschten ein baldiges Ende der Reise herbei. Sie waren nun schon fast sieben Monate unterwegs, im September aufgebrochen, und jetzt ging es auf Ostern. Sieben ganze Monate kletterten sie nun durch die wilden serbischen und kroatischen Gebirge und den Balkan, ohne zu wissen, wieviel des Weges sie noch zu bewältigen hätten. Von Triest ab waren sie diese Straße gezogen, die dicht am Meere durch unwirtliches Gelände führte. Oftmals hatten mächtige Steinschläge und Felsblöcke ihnen den Durchgang versperrt. Zwergeichen reichten bis hinab ans Meeresufer. An manchen Stellen waren sie auf Ruinen alter römischer Städte und Straßen gestoßen. In den Mauern mit den seltsamen Bögen, in den großen verfallenen Arenen, die einst eine stauende, schön gekleidete Zuschauermenge gefaßt hatten, bargen sich jetzt armselige Siedlungen von Bergbewohnern, weideten magere Ziegen. Die mit großen, schräg geriffelten Steinplatten bedeckten Landstraßen waren von Wurzeln gesprengt und mit Unkraut überwuchert. Beim Anblick dieser Überreste, die ihnen nun schon vertraut waren, erschien den Rittern die ungeheure Größe der erloschenen römischen Macht, die einst die ganze Welt umfaßt hatte, immer wieder wie ein Wunder. Doch die wohltuende, wenn auch verwahrloste Landstraße endete, als sie in die verlassene Bergwelt des Balkans gelangten. Diese mutete so unwegsam an, als habe sie noch nie eines Menschen Fuß betreten; wild zerklüftet und drohend, düster, wie das Tor zur Hölle. Angesichts dieses schweigenden Grauens schienen die von bösen Hexen bewohnten Berghöhlen Postumiens, welche Kreuzfahrer in der ersten Hälfte ihres Weges gesehen hatten, die hoch aufragenden, gefahrbringenden Schneegipfel des dem heidnischen Götzen Triglaw geweihten Lelja und Kamnik noch sicher und durchaus gangbar. Durch die Schluchten und über die Paßhöhen fegten ununterbrochen Schneestürme. Tückische Lawinen gingen von den
Hängen zu Tal und breiteten ihr weißes Leichentuch aus. Frostschauer legten sich auf Hände und Gesicht, und auf dem vereisten steilen Saumpfad glitten die erstarrten Füße aus. Zu allem Unheil waren diese Berge nur scheinbar menschenleer. Sie wurden von einem wilden, raubgierigen Gebirgsstamm mit unverständlicher Sprache bewohnt, der, durch die von den Kreuzfahrern mitgeführten Gegenstände angelockt und durch deren Ratlosigkeit ermutigt, dem Zuge an Wegesbiegungen auflauerte, die Nachhuten überfiel und Unordnung, ja Panik hervorrief. Mit ziegenartiger Gewandtheit und Schnelligkeit tauchten sie unverhofft auf den Bergesrücken hoch über der Heereskolonne auf, fielen ins Tal ein, sprangen aus Felsspalten hervor und überschütteten die Krieger mit Steinen. Als Raimund von Toulouse sah, daß seine Leute Furcht zeigten und murrten, ging er selbst zu Fuß in der Nachhut und mit ihm d’Armaillac, de Foix, de la Tour und die polnischen Ritter. Der Bischof Ademar dagegen führte die Spitze des Heeres, den Kopf der nicht enden wollenden Schlange der großen Armee. Näher der Spitze als der Mitte des Zuges trugen Männer, vor Erschöpfung wankend, auf ihren steif gewordenen Nacken die Sänften der edlen Damen, die den Zug begleiteten. Die blonde Florina, die verwöhnte Tochter des Herzogs von Burgund, weinte, zitterte vor Kälte und Angst und verbarg ihr Gesicht im Schoß einer ihrer Hofdamen. Auch sie gehörte zu den Enttäuschten. Wie anders hatte sie sich diesen Kreuzzug vorgestellt! Sie hatte geglaubt, mit dem schönen dänischen Prinzen Steigbügel an Steigbügel, Hand in Hand, durch neue, unbekannte, schöne Länder reiten zu können. Jetzt wußte sie nicht einmal, wo sich der Königssohn befand; angeblich zog er mit den Normannen, und sie sollte erst in Byzanz mit ihm zusammentreffen. Sie fühlte sich einsam und verlassen, und die Kälte ließ sie fast erstarren. Nicht weniger Sorgen als sie machte sich der gelehrte Domherr d’Aguilers. Mehr als die Hälfte des Vorrates an Gänsefedern und andere, weniger benötigte Utensilien hatte der Graf in einen
Abgrund werfen lassen, damit es Tiere und Menschen leichter hätten. Auch eine große Flasche mit Tinte wurde zerschlagen. Umsonst war die ganze Arbeit und Mühe gewesen! Die ruhmreichen Taten der mutigen provenzalischen Ritter würden der Nachwelt verlorengehen, wenn keine Möglichkeit bestand, sie in der Chronik festzuhalten! Die stolze Elvira von Toulouse weinte nicht und klagte auch nicht. Sie saß, blau vor Kälte, in ihrer Sänfte, unbeteiligt und unbeweglich wie eine Götterstatue, blickte nur immer geradeaus und gab sich den Anschein, als sähe sie keine Abgründe und keine Gefahr. Mochten die Sänftenträger dafür sorgen, daß sie ihre Herrin unversehrt weitertrugen. Diese hoffärtige Gleichgültigkeit teilten die schönen Hofdamen keineswegs, die den Rittern in der Heimat bereitwilligst gestattet hatten, sie aus dem Liebesturm zu ziehen. Sie ängstigten sich, kauerten sich zusammen und froren. Bald saßen sie hinter einem Ritter auf dem Pferd, bald wanderten sie zu Fuß sich verzweifelt an irgendeiner Männerhand festhaltend, bald weinten sie vor Ratlosigkeit und rieben sich mit dem Handrücken die roten, fast erfrorenen Nasen. Ebenso bedauernswert waren die Pagen Elviras. Bisher hatten sie in Seide gekleidet, die Riechstoffe, den Fächer, das Spiegelchen und das Taschentuch der Herrin getragen und sich um nichts anderes gekümmert. Jetzt waren schwere Zeiten für sie angebrochen. Sie wurden von den Mauleseltreibern barsch angefahren und mußten ihnen Platz machen. Jeder stieß sie und nannte sie Nichtsnutze. Sie hatten Duftwässer und Fächer längst verloren. Zum Glück fragte ihre Herrin nicht danach. Die langen, bis auf die Erde fallenden, geschlitzten Ärmel hatten sie um den Hals gewickelt und schauten sich verängstigt, frierend, zerzaust, immer wieder im Schnee versinkend, nach allen Seiten um. Blanka de Montbéliard stieg aus der Sänfte, in der ihre Mutter, vor Kälte zitternd, betete. Sie ging beherzt wie ein Mann und brauchte keinerlei Hilfe. Raoul de Beaugency, der — wie Zbylut richtig
bemerkt hatte — sich immer in ihrer Nähe aufhielt hätte ihr gern Dienst und Hilfe angeboten. Aber Blanka schlug alles aus. Sie freute sich darüber, daß sie frei war. Frei! Ihre ebenmäßigen Züge bewölkten sich jedesmal, wenn der Ritter sich ihr näherte. Sie wollte im Augenblick von keinem Mann etwas wissen. Sie mied sogar ihre ehrbaren Oheime, Stephan und Paul Salviac de Viel Castel. Diese beiden Herren waren Zwillinge und ähnelten einander wie ein Ei dem anderen. Sie waren sich so zugetan, daß sie stets zusammen sein wollten. Nur weil Paul das Kreuz genommen, hatte Stephan, der Stadthauptmann von Clermont, dasselbe getan, sein wichtiges Amt aufgegeben und seine Frau und seine vier Kinder verlassen. Seit Beginn des Kreuzzuges ritten sie einträchtig nebeneinander. Beide waren herzensgut und hätten sich gern der Nichte angenommen, doch Blanka entzog sich diesem Schutz. Sie war sich dessen bewußt, daß sowohl sie als auch ihre Mutter, als Giftmischerinnen und Mörderinnen, von jedem nur bemitleidet, gemieden oder verabscheut wurden. Obwohl ihnen durch die Teilnahme am Kreuzzug die Sünden erlassen worden waren, konnten die Menschen das Verbrechen doch nicht vergessen. Daher zog Blanka es vor, für sich zu sein, ungebunden und allein! Diese grimmige Gebirgswelt, die so trotzig und und unabhängig war wie sie selbst, gefiel ihr. So zogen die Kreuzfahrer den schwierigsten und längsten Weg, den man sich nur hatte aussuchen können. Nur der Gedanke an das himmlische Verdienst ließ sie nicht erlahmen und alle Widrigkeiten des Marsches auf sich nehmen. Nachdem sie in Dyrrhachium die Meeresküste verlassen, gen Ochrida und Bitolia gezogen waren, erreichten sie schließlich den See Jenidse und verlebten dort die Osterfeiertage. Als sie in dem warmen, windgeschützten Talkessel, in welchem das Gewässer lag, auf eine ansehnliche Siedlung desselben Namens stießen, ordnete der Graf von St. Gilles eine einwöchige Rast an, damit sich Menschen und Pferde ein wenig
erholen konnten. In Byzanz mußten sie in voller körperlicher Frische und nicht wie eine abgetriebene Herde ankommen. Die Siedlung Jenidse war zur Zeit des Basileus Basilius, des Bulgarentöters, von Flüchtlingen gegründet worden. Dem Schein nach Christen, in Wirklichkeit aber hartnäckig dem Heidentum ergeben, fristeten sie hier ihr elendes Dasein, haßten die Griechen und befaßten sich offenbar mit Zauberei. Die in der verräucherten Hütte auf einem elenden Lager von Schaffellen sitzenden Ritter hatten die Geschichte vom Werwolf schon fast vergessen und unterhielten sich nun über den ihnen noch bevorstehenden weiteren Weg. „Der Bischof hat neulich gesagt, daß wir das Schlimmste schon überstanden haben“, erklärte de la Tour. „Wir haben nur noch den Fluß Struma zu überqueren, das heißt, wir müssen wieder Fähren bauen und wissen nicht, ob Holz in der Nähe ist, … Der Weg jenseits des Flusses soll von der Stadt Seres an bis Byzanz eben wie ein Tisch sein. Das haben die Einheimischen dem Bischof berichtet.“ „Seit vier Wochen redet der Bischof ständig, daß wir das Schlimmste hinter uns hätten“, entrüstete sich Großkopf unwillig, „wir reiten und marschieren, aber das Ende ist nicht abzusehen.“ „Vielleicht erleben wir eine Überraschung. Ich bin neugierig, ob die andern schon ihr Ziel erreicht haben.“ „Das Gesindel, das mit Peter gezogen ist, ist so gut wie sicher umgekommen. Das haben uns die Ungarn erzählt … Die Lothringer können schon in Byzanz sein, denn sie sind früher aufgebrochen als wir … Und der bequeme Knabe, der den Seeweg gewählt hat, wie hieß er doch?“ „Hugo, der Bruder des Königs.“ „Ja, der. Der ist entweder mit seiner Galeere untergegangen oder ist als erster dort angekommen. Die Normannen und Bohemund überwintern ja in Italien. Die werden wir nicht so bald zu Gesicht bekommen.“
Wieder knarrte die niedrige Tür. Ängstlich und verlegen schob sich der Besitzer der Hütte, ein düsterer, schwarzäugiger, bärtiger Mann, in die Stube. Er hatte einen platten Kopf, spitze, abstehende Ohren und eine unförmige Nase. Verschüchtert blieb er an der Wand stehen und blickte gesenkten Kopfes auf die Herren. „Die Zeit wird einem zu lang ohne Kampf … Wenn der Bischof auf die Ankunft der Normannen warten will, so werden wir nicht früher als im kommenden Sommer ins Feld ziehen …“ „Die Sarazenen werden aussterben, und unser Haar wird grau, bevor wir uns mit ihnen messen.“ „Oh, könnten wir diesen Augenblick noch erleben!“ „Jesus Maria! Ein Werwolf!“ rief plötzlich Mojmir Sciborowic und sprang auf. Sie folgten seinen Blicken und verstummten. Der an der Wand stehende Mann hatte das linke Handgelenk mit einem blutbefleckten Lappen umwickelt. „Heiliger Gilles, unser Schutzpatron! Hilf!“ „Seht Ihr es, gute Ritter?“ „Die linke Pfote hat er ihm verletzt! Die linke!“ bestätigte de la Tour, und es packte ihn wie ein Fieberschauer. Sie verstummten und sahen mit wachsendem Grausen auf den Zauberer. Mit Schrecken wurden sie sich dessen bewußt, daß sie seit drei Tagen in der Hütte eines Werwolfes wohnten. Gott allein wußte, welchen Zauberbann dieser Höllenmensch schon über sie geworfen hatte. Er konnte ihnen im Schlaf ein Betäubungsmittel eingeflößt haben, durch welches sie ihrer Männlichkeit verlustig gegangen waren, ihre rechte Hand mit der linken vertauscht haben, damit sie das Zeichen des Heiligen Kreuzes nicht, wie gewohnt, über Stirn und Brust machen konnten … Er hatte ihnen womöglich die Gedanken verwirrt, die Erinnerung an den Rückweg genommen, ihnen eine böse Krankheit, die Fallsucht, üblen Mundgeruch oder Geschwüre angehaucht. Er konnte — und das wäre das Allerschlimmste gewesen — ihnen die Furcht eingeflößt haben, durch die tapfere Ritter in Angsthasen verwandelt wurden und vor dem Feinde flohen!
Fast verzweifelt blickten sie einander an. Die Furcht machte sie fast wehrlos, aber ihr Zorn begann sich zu regen, und wütend sahen sie auf den Kerl, der reglos dastand, als wüßte er von nichts. Am andern Ende der Stube fiel polternd ein Rocken zu Boden. Die Frauen ließen die Spindeln aus den Händen gleiten und schauten beunruhigt durch den tief lagernden Rauch. „Vielleicht ist er gar kein Werwolf“, versuchte Tarchala zu beruhigen, „man kann sich ja schließlich mal die Hand verletzen. Er hat Holz gesammelt und sich sicherlich im Walde verletzt.“ „Gott gebe es!“ „Der Do — do — domherr hat ja ge — gesagt …“, stotterte Momot, „daß der Kö — kö — körper eines We — werwolfes Zeichen hat … Eine Höh — höhle unter dem Arm oder Ha — haare …“ „Zieh dich aus“, schrien sie den Bauern an. Dieser verstand nicht, was gemeint war. Sie machten es ihm durch Gebärden begreiflich. Er rührte sich nicht vom Fleck. Der vor Angst schweißgebadete Mojmir stieß ihn mit dem Schwert. Vor Schmerz heulend, warf der Bauer den Pelz und das Leinenhemd ab. Er stand nackt da, gelb, behaart, mit eingefallenem Leib und hervortretenden Rippen. Er wagte nicht, den Kopf zu heben. Alle Ritter, acht an der Zahl, ließen ihre Blicke über den mageren, häßlichen Körper gleiten, um etwaige, verdächtige Merkmale zu entdecken. Aber es war nichts Besonderes zu sehen. „Dreh dich um!“ schrien sie und machten ihm durch Handzeichen verständlich, was sie von ihm wollten. Aber der Bauer stemmte sich nur um so fester mit dem Rücken gegen die Wand. Zum ersten Mal öffnete er seine Lippen, stammelte etwas und faltete flehentlich die Hände. Aber umdrehen wollte er sich nicht. Wütend ergriff Zbylut ein glimmendes Holzscheit vom Herd und warf es zwischen die Wand und den Nackten. Der Verbrannte
sprang schreiend fort, fiel aufs Gesicht und dann … dann sahen es alle: Dieser Mensch hatte — einen Schwanz! Am Ende des Rückens hatte er einen fingerlangen Stumpf, der mit ziemlich langen, aber spärlichen Haaren bewachsen war. Ein Werwolf! Sie standen entsetzt und schreckensbleich da, wagten aber nicht, ihm einen Schwerthieb zu versetzen, denn der Zauber konnte über die Schneide auf ihre Hand gelangen. Sie trauten sich nicht, ihn anzurühren, konnten aber die Augen auch nicht von der Mißgeburt, von dem sichtbaren Zeichen der schrecklichen Schwarzen Kunst abwenden. Die erschrockenen Frauen brachen in lautes Weinen aus. Das brennende Scheit, das Zbylut geworfen hatte, knisterte leise an der Wand. Da kam Großkopf plötzlich der rettende Gedanke. Er ergriff den Feuerbrand, schwang ihn im Kreise über dem Kopf, so daß er aufglühte, und warf ihn in die Ecke, wo ein Haufen Brennholz lag. Dann packte er vom Herd ein zweites brennendes Stück Holz, schleuderte dieses auf die Streu und lief hinaus. Die anderen hatten ihn verstanden, drängten sich hinter ihm durch den Ausgang und gelangten ins Freie. Dann schlugen sie die Tür zu, stemmten ihre Lanzen dagegen, machten das Kreuzeszeichen darüber und atmeten erleichtert auf. Aus dem Inneren drangen verzweifelte Schreie. „Auch wenn sie das Feuer löschen, müssen sie verrecken, die Hütte hat nur einen Ausgang“, sagte Großkopf. „Wir Kreuzfahrer sind doch wohl gegen Zauberei gefeit?“ „Ich nehme an, wir sind es …“ „Sie haben es nicht gelöscht“, stellte Zbylut befriedigt fest. Aus der Hütte drang das Knistern und Lodern des Feuers. Die Schreie gingen in unmenschliches Geheul über. Durch die Ritzen der Wände drang der Rauch. „Alles in Ordnung. Wir können gehen!“
„Wir haben den Teufel verbrannt, aber ob diese Weiber mit schuldig gewesen sind, wissen wir nicht“, sagte de la Tour beunruhigt. „Da sie mit dem Zauberer zusammengelebt haben, sind sie auch Hexen gewesen.“ „Gott hat uns gnädig behütet!“ Sie gingen raschen Schrittes davon und stellten mit Freuden fest, daß ihnen ihre Beine und Füße wie immer gehorchten. Sie reckten und streckten sich. Nein, es war kein Zauber in sie gefahren. Hinter ihnen schoß das Feuer mit heller Lohe aus dem Dach der Hütte hervor und erleuchtete die abendliche Dämmerung. Den Davoneilenden liefen die eigenen, deutlich sichtbaren, langen Schatten voraus. Die Ritter schauten befriedigt auf diese schwarzen Gesellen, diese so wichtigen Bestandteile des menschlichen Wesens. Gottlob, daß es dem Zauberer nicht gelungen war, ihnen die Schatten zu stehlen. Eilenden Fußes kamen ihnen einige Ritter und Knappen entgegen, die aufgeregt riefen: „Feuer! Feuer! Alle hin zum Löschen!“ „Nicht löschen! Und geht nicht zu nahe heran! Wir waren es, die den Werwolf in seiner Hütte verbrannt haben!“ „Nicht möglich! Einen Werwolf?“ „Wir sagen die Wahrheit! Wir haben ihn selbst gesehen, einen leibhaftigen Werwolf.“ „Denselben, der heute die edle Blanka de Montbéliard angefallen hat“, fügte Großkopf erklärend hinzu. „Unsere Nichte?“ riefen die Herren Paul und Stephan de Viel Castel, die sich unter den Ankömmlingen befanden. Sie hatten nicht nur eine verblüffende Ähnlichkeit, sondern sprachen auch immer dasselbe und zur gleichen Zeit. „Unsere Nichte?!“ wiederholten sie, aufs Äußerste erstaunt, „wir wissen ja davon gar nichts!“ Als sich Blanka, wie gerufen, mit schnellen Schritten näherte, so daß die sie begleitenden zwei Mägde ihr kaum folgen konnten, wurde
sie von ihren bei den Oheimen mit Fragen überschüttet. Zur allgemeinen Verwunderung stritt sie aber alles ab. „Das war kein Werwolf, sondern ein Hund“, sagte sie lachend. „Ein Spürhund aus der Meute des Herrn de Foix, ein riesiger Hund … Herr de Beaugency hat ihn im Nebel für einen Werwolf gehalten und ihn mit dem Speer verwundet … Herr de Foix ist darüber sehr ungehalten …“ „Ihr irrt Euch, edle Dame“, wandte de la Tour höflich, aber entschieden ein. „Es war ein richtiger Werwolf … Beaugency hat Euch vor einem schweren Unheil bewahrt … Diesen Werwolf haben wir entlarvt … Er hatte das Teufelszeichen, den Schwanz. Er ist in der Hütte dort, die in Flammen steht, verbrannt …“ „Das war bestimmt ein anderer.“ „Ich bedauere, es war derselbe; denn seine linke Hand war von Raouls Speer verwundet!“ „Auf mich ist ein Hund zugesprungen“, blieb Blanka beharrlich bei ihrer Meinung und hob verächtlich die Schultern. Der weitere Wortwechsel wurde durch das Geläut eines fernen Glöckchens unterbrochen. Gesegneter, heiliger Klang! Alle verstummten und lauschten froh und erleichtert. Das Geläut erklang schwach und fein wie das Weinen eines Kindes, aber wie beruhigend empfanden es alle. Das war der Bischof, der zur Vesper rief; denn heute war Sonntag. „Wir sind nur entronnen, weil heute Sonntag ist. Mit des Herrgotts Hilfe ist es uns gelungen, diesen Verdammten zu verbrennen“, stellte Großkopf bedächtig fest.
ZWEITES KAPITEL Die Frage des Eides
Die
Krieger Raimunds hatten richtig vermutet. Gottfried von Bouillon traf als erster in der Nähe von Byzanz ein. Im Gegensatz zu dem hitzigen Grafen von Toulouse, hatte er nach reiflicher Überlegung den besten der Landwege gewählt, nämlich die Straße, auf der die syrischen Kaufleute nach dem Abendland zu ihren Märkten in Kiew, Wroclaw, Orleans oder Lyon wanderten. Diese Strecke wich nicht zu sehr von der ab, die Peter der Eremit eingeschlagen hatte, und führte über Sofia, Philipopel und Adrianopel. Der Heerbann Gottfrieds marschierte in vorbildlicher Ordnung. Den Proviant kaufte man unterwegs ein und bezahlte den vollen Preis in guter lothringischer Münze. Auf diese Weise kam man ehrenhaft und sicher ans Ziel; aber das Unternehmen war kostspielig, so daß fast das ganze Bargeld Gottfrieds dabei draufging. Der Betrag, den der Heerführer für das Herzogtum Lothringen, die Grafschaft Bouillon oder Beulen, wie es früher hieß, und die Stadt Metz, sein jahrhundertealtes stolzes Erbe, erhalten hatte, reichte kaum aus, um den Zug bis nach Byzanz zu bringen. In den Geldkisten Gottfrieds, die vorher so schwer waren, daß sie von vier Pferden gezogen werden mußten schimmerte schon der Boden durch. Für zwei Wochen würde das Geld zwar noch ausreichen, aber was dann? Mit Bedauern stellte man fest, daß selbst bei den an Wucher grenzenden Preisen der Genuesen die Heranführung des Heeres auf dem Seewege kaum die Hälfte des bisher ausgegebenen Betrages ausgemacht hätte. Aber nun war es für solche Überlegungen spät. Unterwegs erfuhren die Wanderer von der einheimischen Bevölkerung die traurigen Nachrichten über die im vergangenen
Jahre hier vorbeigezogenen Haufen Peters des Eremiten. Diese Erzählungen waren zwar ungenau und widerspruchsvoll, stimmten aber darin überein, daß unter den Kreuzfahrern Hunger, Plünderung, Not und blutige, brudermörderische Kämpfe beinahe an der Tagesordnung gewesen waren. „Das ist die Strafe Gottes, weil sie ohne Erlaubnis des Bischof aufgebrochen sind“, pflegte Gottfried zu sagen. „Gott sei ihnen gnädig! Wer weiß, ob es uns selbst in einigen Wochen, wenn das Geld für die Lebensmittel verbraucht ist, nicht ähnlich ergehen wird!“ „Es ist deine Sache, es nicht dahin kommen zu lassen“, antwortete Balduin, wie immer unbekümmert. „Es wird schwierig“, klagte Gottfried, „wir wissen noch gar nicht, wie sich Alexios uns gegenüber verhalten wird … Du weißt doch, was man sich über die Griechen erzählt … über ihre Schwindeleien und ihr Heucheln … Er müßte uns wie die Seinen aufnehmen und Unterhalt gewähren; wenn er das aber nicht tut, was dann?“ Balduin zuckte die Achseln und wiederholte, daß diese Sorgen Sache des Bruders als Oberhaupt des Zuges seien. Balduin selbst nahm sich nichts besonders zu Herzen und glaubte fest daran, daß sich ein tapferer Ritter in der fremden Welt immer entsprechende Macht und Bedeutung erkämpfen könne. „Wären wir doch endlich bei den Sarazenen! Was glaubst du, Bruder Gottfried, wie weit mag es von diesem Byzanz bis zu den Ungläubigen sein? Zwei Tagesreisen? Drei?“ „Gott gebe, daß es so nahe wie möglich ist“, seufzte Gottfried. Am vierundzwanzigsten Dezember, einige Tage vor dem Weihnachtsfest, standen sie dicht vor Byzanz. Zu derselben Zeit befand sich Raimund von St. Gilles noch weit entfernt, in Spalato Robert von der Normandie und Robert von Flandern überwinterten mit ihren Heeren in Rom, und Bohemund mit seinem Neffen Tankred hatten Amalfi noch nicht verlassen. Die Lothringer waren stolz, daß sie als erste eintrafen. Voller Begeisterung zogen sie den
Hügel hinan, von wo sie sicherlich die Stadt schon erblicken konnten … Dort lag sie nun ganz deutlich vor ihnen. Vor Verwunderung sprachlos, standen die Ritter unbeweglich da und wurden des Sehens nicht satt. Alle Erzählungen und Legenden über die Schönheit und Größe von Byzanz erschienen ihnen jetzt farblos und verblaßten vor der Wirklichkeit. Zwar konnte man von hier aus Einzelheiten noch nicht unterscheiden; aber allein die Höhe und Länge der Mauern, die riesigen Ausmaße der Stadt, ließen sie größer als alle französischen Städte zusammen erscheinen. Das war also die von Gott behütete Stadt! Die Stadt, für die der Herr selbst den Ort ausgewählt hatte! Eine solche Lage besaß keine Hauptstadt der Welt. Die eine Seite war vom Meer, die andere vom Arm des Heiligen Georg und die dritte vom Goldenen Horn umgeben, im Rücken aber lag das Große oder Schwarze Meer. — So geschützt, konnte sie sich mit Recht unbezwingbar nennen. Die Mauern, die sich an der Westseite erhoben und auf die in diesem Augenblick die Franken voller Staunen blickten, waren doppelt gebaut, hoch und gewaltig, an der oberen Kante mit Kupfer beschlagen. In dem rötlichen Schein der untergehenden Wintersonne flammte das Kupfer wie ein Feuerstreifen, wie ein Zauberband, das den Zugang zur Stadt schützte. Hinter den Mauern schimmerten weiß die Häuser, glänzten golden die Dächer der zahlreichen Gotteshäuser und Paläste. Die riesige Kuppel der Hagia Sophia strahlte wie eine zweite Sonne, wie ein blendender, brennender Scheiterhaufen. Die ganze Stadt schien in dem goldschimmernden Abendlicht zu versinken. Um die Halbinsel dunkelte zu beiden Seiten das zu dieser Jahreszeit bewegte Meer. Schweigend, von diesem Bild wie benommen, stiegen die Ritter den Hügel hinab und zogen auf der breiten, vortrefflich in Stand gehaltenen Straße weiter. Auf einer solchen Straße waren sie noch nie in ihrem Leben gewandert. Jeweils eine Wegstunde voneinander entfernt, befanden sich längs der ganzen Straße die Wachstationen der basileischen Soldaten, die Waranger hießen. Jede Station
bestand aus einer einfachen, für die Unterkunft bestimmten Lehmhütte, an die sich ein viereckiger hoher Steinturm lehnte, der an der Spitze abgeplattet war. Diese Türme, die jeder das gleiche Aussehen hatten und in gleichen Abständen aufeinander folgten, hatten die Franken seit ihrem Abstieg von den Bergen längs der Straße begleitet. Jeden Tag beim Einbruch der Dämmerung entzündeten die Waranger auf diesen Warten Feuer, für das ständig brennbares Holz zur Verfügung stehen mußte. Die Flamme wurde dann mit Blechplatten abgedeckt, die entweder aus einem Stück oder aus solchen mit verschiedenartig angeordneten Löchern bestanden. Diese Platten wurden in einem bestimmten Rhythmus gehoben oder gesenkt, so daß der Posten, der Tag und Nacht auf dem nächsten Turm Wache hielt, bei Dunkelwerden das Licht in einer bestimmten Form und in gewissen Zeitabständen sah. Diese Lichtsignale übermittelte er dann sofort dem nächsten Posten. Die auf der Straße dahin ziehenden Ritter schauten mit aufrichtiger Verwunderung auf diese Zeichen, deren Bedeutung sie sich nicht erklären konnten. Sie kamen gar nicht auf den Gedanken, daß der Basileus durch diese Signale schon seit längerer Zeit über ihren Anmarsch und ihre Stärke genau unterrichtet war. Bald kamen denn auch, durch die Lichtzeichen angemeldet, die Abgesandten des Kaisers Alexios, die sogenannten Basiliks zu Gottfried, der soeben haltgemacht und in einer Ebene eine Meile von der Stadt entfernt, sein Lager aufgeschlagen hatte. Sie trugen kostbare Gewänder, waren von einem prächtigen Gefolge begleitet und überbrachten Geschenke und Grüße. Als sie die Gaben überreichten, taten sie dem Herzog Gottfried in bestem Latein kund, daß der Allerehrwürdigste, der Alleraufgeklärteste, der Allerfrömmste, der Apostelgleiche, der Basileus Autokrator seinen liebwerten Gast so bald wie möglich in seinem Hause zu begrüßen wünsche. Der edle Fürst werde wie ein Sohn empfangen werden. Mit der Gesandtschaft traf auch Hugo de Vermandois, der Bruder des Königs Philipp von Frankreich, im Lager ein. Der klugerweise auf dem Seeweg gekommene Hugo war ohne große Anstrengungen
schon vor einigen Monaten in Byzanz angelangt. Die Ritter erkannten ihn im ersten Augenblick nicht, denn er trug nach griechischer Art eine prächtige, kostbare und bequeme Kleidung: an den Füßen vergoldete Sandalen, eine leichte, fein gesponnene Tunika und darüber einen äußerst prunkvollen, mit einer Fibel zusammengehaltenen und mit wertvollem Stoff gefütterten Mantel aus golddurchwirktem, dickem, aber weichem Material mit in Streifen eingewebten purpurfarbenen Greifen. Um den Hals hing ihm eine funkelnde Kette. Seine Handgelenke waren mit Spangen und seine Finger mit zahlreichen Ringen geschmückt. „Das alles habe ich vom Basileus Alexios erhalten“, prahlte er vor den ihm bekannten lothringischen Rittern und wies dabei auf die großen glänzenden Edelsteine seiner reich verzierten Halskette. „Und noch mehr habe ich in meinem Quartier! Ihr werdet es nicht glauben! Man braucht nur etwas zu loben, sofort erhält man es als Geschenk. Auch euch wird man mit Geschenken überhäufen, denn Schätze gibt es hier so viele wie nirgendwo. Selbst wenn man die Hälfte davon weggäbe, bliebe noch mehr übrig, als die ganze Welt zusammen besitzt. Der Basileus hat mir einmal seine Schatzkammer gezeigt. Beim heiligen Dionys, dem guten Schutzpatron von Paris, etwas Ähnliches erscheint einem nicht einmal im Traum! Ein riesiger unterirdischer Raum mit einem halben Hundert Kammern, alle vom Fußboden bis zur Decke mit Kostbarkeiten angefüllt. Mir wurde ganz schwindlig vom bloßen Betrachten. Für den hundertsten, ja für den tausendsten Teil dieses Goldes könnte man alle unsere Königreiche und Herzogtümer kaufen und dazu noch die englischen und die deutschen … Bestimmt, ich lüge nicht … die heilige Genoveva sei mein Zeuge … Und wieviel Schätze befinden sich noch in den Palästen und Kirchen! Ihr werdet es sehen! Eine geringe Vorstellung von den Schätzen könnt ihr euch an dem machen, was die Gesandten hier mitgebracht haben!“ Sie blickten alle in die Richtung, wo die Basiliks vor Gottfried, der auf einem niedrigen Hocker saß, die Gastgeschenke niederlegten, und erstaunten. Schimmernd und glänzend lagen Ballen
golddurchwirkten Stoffes, der dem Mantel Hugos ähnelte, auf dem Boden, wunderschöne, leichte, vergoldete, mit Korallen besetzte Schilde, elfenbeinerne Schatullen voll kostbarster Duftstoffe, Schwerter, Lanzen, wunderbar gearbeitete Harnische, Kristallschalen … Etwas abseits wurden große Amphoren mit Wein, Körbe mit Früchten, Gebäck und Fleischgerichten niedergestellt. Gottfried dankte den Abgesandten höflich und blickte gleichgültig auf die vor ihm ausgebreiteten Schätze. … Die Waffen können wir brauchen, dachte er, den Wein und die Speisen ebenfalls, doch zum Teufel, wozu braucht ein Krieger diese dünnen, leicht zerbrechlichen Trinkschalen oder diesen Putz? Das ist gut für einen Weichling wie Hugo. Er dankte den Griechen und kündigte seinen Besuch für den nächsten Tag an. Die Gesandten verabschiedeten sich unter tiefen Verbeugungen. Balduin näherte sich lebhaft seinem Bruder. „Was wirst du ihnen denn schenken?“ „Ich? Ich habe nichts zu verschenken! Meine Rüstung oder das Schwert kann ich ja nicht fortgeben …“ „Das schickt sich nicht, Gottfried!“ „Warum nicht? Wir sind ja keine Gesandtschaft, nur Krieger, und dazu noch Kreuzfahrer auf dem Zuge nach …“ „Sie werden uns für Bettler halten!“ „Mögen sie denken, was sie wollen … Übrigens, was willst du denn geben? Wir haben ja keine Schmuckstücke …“ „Gontrana hat schöne Ohrringe aus Perlen und ebensolche Armspangen“, meinte Balduin zögernd. Gottfried runzelte die Stirn. „Damit zeigen wir unsere Armut mehr, als wenn wir überhaupt nichts schenken“, versicherte er. „Was bedeuten Ohrringe und Armspangen im Vergleich zu diesen Kleinodien hier? Das wäre nur lächerlich. Ich glaube auch kaum“, fügte er lächelnd hinzu, „daß Gontrana sie hergehen würde.“
Balduin rieb sich nachdenklich den Nacken, aber er gab nicht nach. „Wenn du den Schmuck von ihr verlangst, so wird sie ihn bestimmt herausgeben!“ „Ich werde ihn nicht fordern, denn ich bin selbst dagegen.“ „Balduin hat recht“, mischte sich Hugo in das Gespräch. „Geschenke muß man geben, aber Gottfried hat richtig erkannt, daß Ohrringe und Armspangen nicht viel bedeuten. Davon haben sie scheffelweise. Sie werden diese Dinge, ohne sie weiter zu beachten, in eine Truhe werfen. Schickt lieber ein paar hübsche Mägde hin … So etwas schätzt man am dortigen Hofe sehr. Da gibt es Sklavinnen aus der ganzen Welt, aber keine aus unseren Landen. Sie werden sich freuen …“ „Seid Ihr wahnsinnig geworden, Herr?“ rief Gottfried erbost. „Ich sehe, Ihr habt eine nette Schar hübscher Mädchen mitgebracht“, fuhr Hugo unbeirrt fort und wies mit der Hand auf die Hofdamen Gontranas, die in gebührender Entfernung standen und die Geschenke der Griechen mit lüsternen Augen betrachteten. „Diese schwarze zum Beispiel, die links steht …“ Balduin errötete, ohne recht zu wissen warum. „Gontrana wird sie nicht hergeben“, versicherte er lebhaft, „das ist ihre Lieblingsdame!“ „Dann schickt die Übrigen hin!“ Gottfried schlug jetzt zornig mit der Hand aufs Knie. „Das sind Töchter freier Menschen und keine Sklavinnen“, rief er. „Zwei davon sind aber Sklavinnen“, bemerkte Balduin. „Davon ist eine bildhübsch und angeblich sogar noch Jungfrau …“ „Auch Sklavinnen liefere ich den Griechen für ihre Ausschweifungen nicht aus! Genug! Ich will nichts mehr davon hören!“ Aus der sonst so sanften Stimme Gottfrieds klang so viel Entschlossenheit, daß Balduin und Hugo verstummten. Die Basilisks waren fortgegangen. Vier Ritter hatten sie bis außerhalb des Lagers begleitet. Hugo war geblieben.
„Erzählt uns jetzt“, wandte sich Gottfried an ihn, „wie Alexios in Wirklichkeit ist. Wird er uns helfen oder nicht?“ „Er wird uns alles geben, was wir wollen", versicherte Hugo, nachlässig von einem Fuß auf den andern tretend. „Gebt Auftrag, Herzog, daß man uns von dem Wein einschenke, den die Basiliks gebracht haben, denn er ist vorzüglich … Alles, was wir wollen … Alexios habe ich inzwischen gut kennengelernt, durch und durch … Er ist ein ganz umgänglicher, offenherziger Mann, in dem nicht ein Quentchen Arglist steckt. Ich kann ihn um den Finger wickeln. Und überhaupt diese angebliche griechische Hinterlist! Man könnte vieles über sie erzählen. Wir sind bedeutend klüger als die Griechen … Deshalb haben sie sich alle meine Erzählungen oder die meiner Krieger aufmerksam und ohne zu unterbrechen angehört … Sie sind keine schlechten Menschen, obwohl regelrechte Memmen. Sie veranstalten keine Turniere, weil sie so etwas gar nicht kennen, dafür lieben sie leidenschaftlich Wettläufe, Rennen, Ihr wißt ja, Pferderennen und Rennen mit vierrädrigen Wagen. Es gibt hier einen Zirkus, den schönsten der Welt, den sie Hippodrom nennen. Dort werden diese Rennen veranstaltet … Die Menschen teilen sich in zwei Parteien, hier sagen sie Faktionen, in Grüne und Blaue; denn in diesen Farben rasen die Wagenlenker dahin … Der Basileus selbst ist stets anwesend und die Basilissa ebenfalls.“ „Erzählt zunächst, bitte“, unterbrach ihn Gottfried ungeduldig, „ob der Basileus die Versorgung des Heeres übernehmen wird.“ „Ich habe es ja schon gesagt, daß er ohne Zweifel alles geben wird, was Ihr wünscht. Noch vor zwei Wochen, als er die erste Kunde von Eurem Zuge erhielt, versicherte Alexios, er werde Euch verpflegen, nach Asien übersetzen und die Heeresgruppe des Butumitos mitschicken. — Dieser Butumitos ist einer seiner Heerführer — Die Galeeren mit ihrem verfluchten Feuer werden längs der Küste segeln, um uns später zu unterstützen. Denn stellt Euch vor, hier erzählt man, daß es bis zum Heiligen Lande noch ein gewaltiges Stück Weges ist!“ „Das kann nicht stimmen!“
„Es heißt, daß die Strecke von Frankreich oder Italien bis hierher im Vergleich zu jenem Weg der reinste Spaziergang sei …“ „So erzählen sie, weil sie nicht in Frankreich gewesen sind.“ „Der Stratigos Argyrios war dort.“ „Und ihre Heere, sind die etwas wert?“ „Die Heere sind vortrefflich. Und wie prächtig gekleidet! Kein Edler bei uns trägt solche Kleidung. Aber auch im Kampf sind sie erprobt. Insbesondere die Mannschaften, die hier Athanatoi oder die Unsterblichen genannt werden. Alles Gedungene … Alle Völker sind hier vertreten … Armenier, Araber … Freilich, auch Araber, ich lästere nicht! Waräger, Petschenegen, Russen … Und wieviel sie bezahlt bekommen! Der Bruder Bohemunds von Tarent befehligt hier die kaiserliche Wache.“ „Der Bruder? Sein leiblicher Bruder?“ „Nicht der leibliche, sondern sein Halbbruder, denn Bohemund wurde von Alberada geboren, jener aber — Veit heißt er mit Namen — von Sykelgaite. Ein guter Kerl! Wir haben uns schon angefreundet.“ Aber Gottfried war bei der Erzählung Hugos etwas anderes aufgefallen. „Ihr sagtet, Alexios habe schon vor zwei Wochen von unserer Ankunft erfahren?“ „Gewiß! Das hat mir der Parakimenos, der Oberverwalter des Hofes, im Auftrage des Basileus mitgeteilt.“ „Woher konnte er das wissen? Ich habe niemandem ein Sterbenswörtchen davon gesagt!“ „Ich weiß nicht woher“, entgegnete Hugo gleichgültig, „aber er wußte Bescheid. Ich freute mich über Eure Ankunft, daher fragte ich den Parakimenos täglich, wie weit Ihr vorgerückt seid. Er sagte mir: Gestern haben sie dort und dort genächtigt, heute sind sie fast sechs Meilen vorangekommen, sie haben in einem Dorfe gerastet … und das erzählte er mir jeden Tag.“ „Das kann nur Zauberei sein!“
„Sicherlich ist es Zauberei. Das sind merkwürdige Menschen; aber Muße und Bequemlichkeit kann man bei ihnen genießen wie nirgends auf der Welt … Solche Speisen wie hier, habe ich ein Lebtag noch nicht gegessen. Und ob Ihr mir glauben wollt oder nicht, edle Herren, hier können alle lesen! Alle, sogar die Frauen. Sie lesen in einem fort oder schreiben. Sie sind aufs Lesen ganz versessen. Vor kurzem fragte mich der Kyrpalatiou, was ich am liebsten läse. ‚Am liebsten vergnüge ich mich mit dem Schwert‘, antwortete ich, ‚Bücher sind für Mönche und Gelehrte, nicht aber für den Ritter … Ich kann auch lesen und habe einmal sogar den ganzen Psalter durchgestammelt, aber seitdem ich ihn auswendig kann, ist mir das Lesen nicht mehr vonnöten. Ich nehme kein Buch mehr zur Hand.‘ Er sagte nichts dazu und ging davon. Anscheinend schämte er sich, denn sie sind hier ganz gewiß nur deshalb auf Bücher erpicht, weil sie zum Führen des Schwertes schon das Herz verloren haben und vielleicht auch deshalb, weil sie der Herrgott mit einem kurzen Gedächtnis bedacht hat und sie nichts erlernen können … Merkwürdige Menschen sind es, aber sie verstehen zu leben. Ihr werdet es sehen! Die Zeit wird einem hier nicht lang. Es lohnt sich, einige Jahre hier zu verweilen.“ „Gott bewahre!“ widersprach Gottfried lebhaft. „Raimund wird mit dem Bischof schon in diesen Tagen hier eintreffen. Die Normannen auch. Und sobald alle hier sind, müssen wir aufbrechen, sofort! Wir sind nicht hierhergekommen, um Byzanz zu besichtigen. Wir haben sowieso schon zuviel Zeit verloren mehr als ein Jahr.“ „Ihr hättet nicht so viel verloren, wenn Ihr auf dem Seewege gekommen wäret. Ich bin schon im August hier eingetroffen Alexios hat mich wie ein Vater aufgenommen. Ich habe ihm auch sofort den Eid geleistet …“ „Was für einen Eid?“ fragte Gottfried erstaunt. „Den Eid auf den Basileus, denselben Eid, den auch Ihr leisten werdet … Nach meiner Ankunft im September hetzten wir, das heißt Veit, der Bruder Bohemunds, und ich mit den Hunden
Hirsche … Was war das für eine Hatz! Denn auch die Hunde sind hier nicht schlecht.“ „Sagt, Herr, was ist das für ein Eid?“ unterbrach ihn Gottfried. „Ein Treueid, und daß alles, was wir erobern dem Basileus gehören soll … Also die Hunde, als sie die Spur …“ „Laßt die Hunde, denn das andere ist wichtiger. Hat Alexios diesen Eid von Euch verlangt?“ „Freilich hat er ihn verlangt, sofort nach meiner Ankunft. Von Euch wird er ihn morgen ebenfalls fordern!“ „Ich werde ihn nicht leisten!“ „Warum denn nicht? Wollt Ihr Alexios verraten? Wollt Ihr mit ihm Krieg führen?“ „Ich denke nicht daran, ihn zu verraten und will ihm auch kein Land wegnehmen, aber den Eid leiste ich nicht, und sollte ich auf der Stelle tot umfallen!“ „Warum nicht?“ „Ich bin ein freier Streiter unseres Herrn Jesu Christi!“ „Der Basileus ist ja kein Heide! Er ist ein christlicher Kaiser, obgleich Schismatiker.“ „Das ist einerlei. Ich werde nicht schwören. Ich habe nicht deshalb mein väterliches Erbe preisgegeben, um in die Dienste eines anderen zu treten.“ „Der Eid ist nur eine Formalität, wir halten ja sowieso Freundschaft mit ihm.“ „Nein! Nein! Soll er sich seine Söldner, die Waräger, Russen oder Petschenegen, halten … Wir sind keine Söldner, wir sind Kreuzfahrer! Wir haben Christus geschworen und können keinem anderen mehr einen Eid leisten! Wir wollen Christus verteidigen und nicht den Kaiser …“ „Tut, was Ihr für richtig haltet“, sagte Hugo und gähnte laut. „Nur sendet in einem solchen Fall schnellstens Boten hin und widerruft Euren morgigen Besuch, denn dort wird man schon auf Euren Schwur warten!“ „Aber die Gesandten haben mir davon nichts gesagt!“
„Sie haben es nicht getan, denn, ehrlich gesagt, ich sollte es Euch unterbreiten, nur ist es mir ganz und gar entfallen …“ „Bei Gott! Eine so wichtige Sache! Wie konntet Ihr das Wichtigste nur vergessen!“ rief Gottfried. Den eleganten Leichtfuß beeindruckte dieser Vorwurf nicht sonderlich. „Schickt sofort Abgesandte zum Basileus oder erklärt ihm das selbst“, wiederholte er gleichgültig. „Montaigu!“ rief er, „d’Esch, du Bourg! Kommt schnell zu mir!“ Die drei Ritter legten die mit Neugier betrachteten griechischen Waffen aus der Hand und kamen eilig daher. „Ihr reitet unverzüglich nach Byzanz“, sagte Gottfried. Seine gewöhnliche Ruhe war dahin, seine Augen funkelten. „Ihr werdet als meine Gesandten reiten!“ „Ich begleite euch“, bot sich Hugo an, „damit ihr schneller hin kommt.“ „Ihr zieht als meine Gesandten“, wiederholte Gottfried nochmals nachdrücklich. „Ihr werdet sagen, daß ich dem Basileus keinen Eid leisten kann und ihn bitte, mich davon zu befreien, Gott sei mein Zeuge, ich trachte nicht danach, ihn zu verraten oder mir sein Gut anzueignen. Aber da ich Kreuzfahrer bin, darf ich niemandem einen Eid leisten. Ich habe Gott geschworen, und zwei Herren kann man nicht dienen. Mein Geschlecht ist immer frei gewesen. Ich habe keinem Herrn gehuldigt. Ich bin niemandes Vasall. Ich bin ein Diener Gottes und nicht des Kaisers. Er braucht, das richtet aus, nicht zu befürchten, daß ich ihn hintergehe. Ich bin sein Freund und genauso sicher wie ein vereidigter, das sagt ihm … Montaigu! Ich beauftrage dich, du wirst es ihm besser sagen als ich selbst!“ Konon de Montaigu, ein hochgewachsener Mann mit stolzem Adlergesicht, hatte verstanden, worum es ging, und verneigte sich zum Zeichen seiner Bereitwilligkeit. „Brecht sofort auf“, drängte Gottfried. „Aber zieht euch anständig an, nehmt eine Menge Knappen mit, denn dort achten sie sehr auf Äußerlichkeiten“, warnte Hugo.
„Zieht, wie ihr wollt, nur schnell! Schnell!“ Hugo schlug sich an die Stirn: „Ich habe einen Gedanken! Was sollt Ihr hier warten und Euch mit übertriebenen Gewissenszweifeln plagen! Kommt mit nach Byzanz. Ihr könnt in dem Palast warten, den man mir für die ganze Zeit meines hiesigen Aufenthaltes zur Verfügung gestellt hat“ — Hugo betonte mit Stolz diese Worte —, „Ihr erfahrt die Antwort schneller, und wir können eher alles Weitere beraten.“ „Danke! Ich komme mit“, sagte Gottfried nach kurzer Überlegung. „Balduin, ich überlasse dir die Aufsicht über das Heer vielleicht kehre ich heute nicht mehr zurück!“ Sein Bruder verzog gekränkt das Gesicht. Er wäre gern selbst geritten. Er brannte vor Neugier, endlich das so berühmte, jetzt so nahe Byzanz zu sehen, mit eigenen Augen die Schätze zu betrachten, von denen Hugo erzählt hatte, und mit Veit, dem Bruder Bohemunds, zu sprechen. Denn wer konnte wissen, wie die Zukunft aussah. Der Traum von einem souveränen Herzogtum wollte ihm nicht aus dem Sinn. „Wie werdet Ihr mit der Versorgung Eurer Mannschaften fertig?“ fragte eine Stunde später Hugo, als er neben Gottfried auf die Stadt zu ritt, die in der Ferne sichtbar wurde. „In Eurem Lager herrscht eine bewundernswürdige Ordnung …“ „Wenn der Basileus die Verpflegung der Männer verweigert, so wird diese Ordnung in ein paar Tagen zusammenbrechen … Die letzten Münzen gebe ich jetzt aus … Noch eine Weile, und die Krieger fangen an zu plündern.“ „Er wird Euch Proviant geben, ganz bestimmt, und zwar reichlich. Sogar Herr de Melun, der Nimmersatt, muß zugeben, daß er niemals so üppig und so gut gegessen hat wie hier … Mit Wein geizen sie auch nicht … aber seine Krieger plündern trotzdem … aus Übermut. Es ist schwer, sie im Zaum zu halten, sie nehmen wenig Rücksicht. Manchmal bitte ich Melun, für Ordnung zu sorgen. Sie haben Angst vor ihm, denn er kann einen Menschen mit einem Schlag töten. Aber sie haben schon ein Mittel gegen ihn
gefunden. Wenn er kommt, setzen sie ihm ein mit Zimt gebratenes Ferkel vor … Es ist noch nie vorgekommen, daß er abgelehnt hätte, und wenn er sich ans Essen setzt, dann vergißt er sofort seinen Zorn.“ Gottfried antwortete nicht, aber Hugo schwatzte unentwegt weiter. „Man könnte hier vieles lernen … Was für Häuser! Was für Bequemlichkeiten! Nie hätte ich geglaubt, daß es so etwas gibt. Und Frauen! Wenn man doch solche zu Hause hätte! Reizend! Duftend, in Liebeskünsten erfahren … sie kennen alle Wundermittel, von denen bei uns niemand etwas weiß. Zum Beispiel, ich werde es Euch erzählen …“ „Ich habe Reinheit gelobt“, unterbrach ihn Gottfried kühl. „Richtig! Ihr habt Euch freiwillig zum Mönch gemacht. Schade! Euer Bruder, hoffe ich, wird sich dafür meine Erfahrungen zunutze machen …“ „Mein Bruder hat eine Gattin“, erwiderte Gottfried noch kühler. „Tatsächlich! Er hat sie ja mitgebracht! Ohne Eurer Schwägerin die Ehre abzusprechen, wozu denn? Ich habe meine Frau zu Hause gelassen.“ „Seid Ihr der Meinung, Herr, daß die Gelübde sich mit der Entfernung ändern?“ Ach! Wie langweilig war dieser Tugendbold! Hugo blickte ihn mißmutig an. Ein richtiger Mönch! Es wäre besser, er säße im Kloster. Ein Glück, daß Balduin anders war. Das Getrappel ihrer Pferde erdröhnte unter dem großen Torbogen der „von Gott behüteten Stadt“. Die Wache haltenden Waranger erkannten Hugo und senkten die Hellebarden.
DRITTES KAPITEL In der von Gott behüteten Stadt
Sogar der ernste Gottfried vergaß seine Sorgen, so beeindruckt war er von dem Anblick, der sich ihm bot. Was gab es nicht alles zu sehen! Hugo, der die Stadt schon gut kannte, geleitete die Ritter, froh, daß er sich als Führer und als Weltenbummler geben konnte, absichtlich auf dem längstmöglichen Wege zum Palast, indem er die Stadt von allen Seiten umging. Bevor die Kreuzfahrer in das dichte Straßengewirr der Innenstadt gelangten, zeigte er ihnen noch Chrysopolis, das heutige Skutari, das in der Ferne, am jenseitigen Ufer des Bosporus lag, und erklärte ihnen, daß sich diese Ortschaft schon in Asien befände. Als die Ritter das hörten, bekreuzigten sie sich andächtig, denn das Wort Asien schien ihnen mit dem Heiligen Lande unzertrennlich verbunden zu sein. Hugo lächelte überlegen. „Das gleiche Land wie hier“, sagte er, „gar kein Unterschied. Alle bedeutenden Patrizier besitzen dort ihre Sommerhäuser, weil durch die höhere Lage die Luft frischer ist als in der Stadt.“ Dann wandte er sich nach der gegenüberliegenden Seite um und zeigte ihnen am Goldenen Horn die genuesische Siedlung Galata mit dem hohen, auf einem Hügel stehenden Wachtturm. „Gibt es denn hier Genuesen?“ fragte de Montaigu verwundert. „Wo gäbe es diese Halunken nicht! Sie haben hier ihre Lager, ihre Schiffe … Ihretwegen haben meine ehrlichen Piraten — sie sind zwar schmierige Gesellen, aber gute Kerle, und mit Guynemer habe ich schon so manchen Becher geleert — nicht hierbleiben können, denn sie werden von den Genuesen tödlich gehaßt. Auch der Schutz des Basileus hätte nichts geholfen. Sie hätten den Ärmsten todsicher die Schiffe verbrannt … Daher sagte Guynemer: ‚Ich bin ein guter Christ und suche keine Händel.‘ Er kreuzt mit seiner Flotte längs der asiatischen Küste und wartet dort irgendwo auf
uns. Schaut Euch einmal diese Brücke an … habt Ihr schon etwas Ähnliches gesehen?“ Aber noch mehr als über die große Brücke, die Byzanz mit Galata verband, wunderten sich die Ritter über die riesige, in der ganzen Welt berühmten Kette, durch welche die Einfahrt zum Goldenen Horn im Falle eines feindlichen Angriffs geschlossen werden konnte. Gegenwärtig drohte keine Gefahr, deshalb hing die dicke, von den eisernen Drehkreuzen gelöste Kette, zu deren Spannung die Kraft von fünfzig Männern erforderlich war, frei im Wasser. In der immer windgeschützten Bucht lagen, in Reihen ausgerichtet, die Galeeren des Basileus, die überall Schrecken verbreitenden, das „griechische Feuer“ speienden, dreieckigen Chalanden, die auch Pyrphoroi oder Igniferi genannt wurden. Sie waren bunt bemalt, vergoldet und wiesen hohe, in Gestalt von Adlern, Drachen, Engeln oder Greifen geschnitzte Schnäbel auf. Zwischen den Vergoldungen und Schnitzereien gewahrte man die verräterischen trichterförmigen Öffnungen, die jeden Augenblick den unlöschbaren schrecklichen Brand ausspeien konnten. Dreihundert oder mehr Schiffe dieser Art befanden sich im Hafen. Rings um sie schlingerten unzählige kleinere Jagdgaleeren mit einer Ruderreihe, die Monera genannt wurden. Auf der Wasseroberfläche wimmelte es außerdem von Booten, Barken, Kähnen, von kleinen, leichten, aus einem Baumstamm gehöhlten Monoxyloi, von russo– warägischen, mit Binsenflößen belegten Tschaiken, von schweren, flachen Leichtern der Kaufleute, die hier von überallher, aus Asien, Griechenland, Indien, Bagdad, Zypern, Rhodos, Ägypten, Genua, Kiew, Nowgorod, Perejaslawl zusammenkamen … Die aus den Barken gelöschten Waren konnte man täglich auf dem berühmten Markt von Byzanz sehen, der sich neben dem Kloster des Heiligen Mamas befand. Dort wurden unter den wachsamen Augen der Zolleinnehmer alle Erzeugnisse und Kostbarkeiten der Welt verkauft. Eine bunte, bewegte, schreiende Menge füllte dicht an dicht den Platz. Griechische Chlamys streiften Pelze der Finnen aus dem hohen Norden. Wunderschöne Amphoren aus Rhodos standen
neben Bergen voll Bären– und Wolfsfellen. Von den Inseln stammender goldgelber Honig in durchsichtigen Glasgefäßen, deren Herstellungsgeheimnis den Lateinern nicht bekannt war, befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft von goldfarbigen und wie Honig durchsichtigen Bernsteinklumpen. Unverarbeitetes Elfenbein lag auf dem Boden, und die lothringischen Ritter schauten mit Verwunderung auf diese grimmigen Zähne eines ihnen unbekannten Fabeltieres. Eine nicht geringere Verwunderung riefen bei den Ankömmlingen die getrockneten Krokodilhäute hervor, die, aus Indien stammend, zu Arzneimitteln verarbeitet wurden, sowie die großen lebenden Schlangen, die sich träge und schläfrig nach den rhythmischen Tönen der Flöte des Beschwörers bewegten. Neben dem bärtigen Perser, der Smaragde feilbot, hockten schwarzhaarige, dunkelhäutige Zigeunerinnen, die aufdringlich ihre Wahrsagekunst anpriesen. Beim Anblick der fremden Ritter schnalzten sie laut, legten die Hände auf Stirn und Brust und streckten sie dann bittend aus. Mitten auf dem Platz stand ein Gerüst, das mit einem Bretterboden bedeckt war, auf dem der Henker den Verurteilten, die im Verdacht standen, mit der gesegneten Regierung des Alleraufgeklärtesten, des Allerfrömmsten, des apostelgleichen Autokrators unzufrieden zu sein, die Augen ausbrannte. Die Blendung war in Byzanz eine beliebte und alltägliche Strafe. Verurteilte man einen Menschen zum Tode, so setzte man dessen Seele der Gefahr der Verdammnis aus, denn der Hingerichtete starb im Zustand der Sünde. Durch die Blendung wurde der Verurteilte unschädlich gemacht, und es wurde ihm Zeit zur Buße gelassen. Täglich wurden solche Urteile vollstreckt, denn der Stadtpräfekt, der Nykteparchos, was soviel bedeutet wie „Verwalter der Macht“, war nicht müßig. Seine Spitzel schnüffelten nach jedem unbedachten Wort, gar nach dem Verdacht einer Äußerung. Oft war auch dieser nicht einmal nötig. Der Nykteparchos mußte schon aus Selbsterhaltungsgründen nachweisen, daß die Stimmung in der Stadt ganz ungefährlich war,
und daß ohne seinen wachsamen Schutz der Thron für die Dynastie der Komnenen verlorengehe. Daher standen auch jetzt einige gefesselte Menschen neben dem Gerüst. Sie blickten sich zum letzten Mal nach allen Seiten um. Zum letzten Mal sahen sie den hellen Tag, die goldene Stadt, das grüne Wasser und die bunte, sie umgebende Menschenmenge. Die Henkersknechte zogen einen nach dem andern auf das Gerüst. Dann nahm der Henker den weißglühenden Stab aus dem Kohlenbecken. Ein markerschütternder Schrei, ein Hin– und Herzerren — und schon stießen die Henkersknechte den Unglücklichen von sich und packten den nächsten. Der Geblendete, der nun anstelle der Augen zwei blutige Wunden hatte, fiel vor Schmerz heulend wie ein Sack zu Boden. Er erhob sich, stolperte, lief blindlings, jammerte und fiel wieder hin. Die Menschen schauten seinen ungeschickten Bewegungen zu, lachten und klatschten in die Hände. Sie stellten dem ratlos um sich tastenden Blinden unverhoffte Hindernisse in den Weg, damit er hinfalle. Dieses Spiel dauerte so lange, bis die schwarze Gestalt eines Mönches oder einer Nonne aus der lärmenden Menge trat, den Geblendeten mitleidig an die Hand nahm und hinwegführte. „Ein grausames Volk“, sagte Gottfried und wandte sich voller Abscheu zur Seite. „Ihr habt recht“, bestätigte Hugo. „Bei uns werden die Menschen nicht so gequält. Sie werden entweder totgepeitscht oder bei lebendigem Leibe verbrannt oder enthauptet.“ „Oh, wenn es nur so wäre! Werden sie denn nicht lebendig begraben? Werden ihnen nicht die Glieder abgehackt?“ „Aber nicht für irgend eine Unvorsichtigkeit wie hier … Schaut dorthin, Herzog: Diese Kirche und das Schloß, die fast versteckt hinter den Mauern liegen, sind das Blachernos, die Sommerwohnung des Basileus. In der Kirche befindet sich hinter einem goldenen Gitter die wundertätige, allerheiligste Jungfrau, das Palladium der Stadt, die Allerliebste Patronin, sie wird Panagia Blachernitissa genannt …“
Der Markt mit seinem Lärm war schon weit hinter den Reitern geblieben, die jetzt auf glatt gepflasterten, stark belebten Straßen ihren Weg fortsetzten. Prächtig gekleidete Patrizier ritten auf traumhaft schönen Araberpferden, die bedeutend kleiner waren als die Pferde der lateinischen Ritter. Kräftige Sklaven, die mangipitia hießen, liefen im Gleichschritt einher und trugen auf den Schultern die Sänfte der vornehmen Gattin irgendeines Würdenträgers am kaiserlichen Hof. Die Sänften waren durchweg vergoldet und mit Elfenbein und Perlmutter verziert. Durch die dünnen, seidenen Vorhänge schimmerten große schwarze Augen und karminrot gefärbte Lippen. Vor den Sänften liefen Sklaven mit Stöcken in den Händen, mit denen sie die lästigen Fußgänger auseinandertrieben und den mangipitia den Weg bahnten. Abends trugen sie außer den Stöcken noch Fackeln. In einer bescheidenen, weniger farbenfreudigen Sänfte, der niemand vorauseilte, wurde ein hoher Gelehrter einer Schule für Philosophie oder Geographie getragen. Andere vornehmen Damen, denen die Sänfte anscheinend zu stickig war, fuhren in Wagen, die mit Silberblech beschlagen und mit Emaille verziert waren. Die Damen hatten ihr Gesicht mit hauchdünnen Schleiern bedeckt, saßen erhöht auf Seidenkissen, die Kutscher dagegen niedriger am vorderen Ende des Wagens, dicht hinter der Kruppe der Pferde. Ein schön gekleideter Jüngling, der aufrecht und etwas zurückgebeugt auf einem leichten zweirädrigen, von Ornamenten blitzenden Wagen stand, überholte alle. Sein Mantel blähte sich an den Schultern, die feurigen Rosse legten sich in die goldenen Zügel und galoppierten vorbei. Jetzt übertönte ein klirrendes, taktmäßiges Stampfen den übrigen Straßenlärm. Das waren Krieger, die zur Ablösung der Wachen rings um den Heiligen Palast aufmarschierten. Voran schritten die Protospatarier. Sie waren mit einem Speer und einem Schild bewaffnet, der sie fast von Kopf bis Fuß verdeckte. Ihnen folgten die Waranger mit ihren breitschneidigen Spießen, dann die Athanatoi oder die Unsterblichen, die vergoldete, schon von weitem glänzende Ringpanzer trugen, alles schöne, ausgesuchte, den
griechischen Götterstatuen gleichende Männer, und zum Schluß die Archontopuli, die, von Kindheit an für den Heeresdienst bestimmt, auf Kosten des Basileus in der Kriegsschule am Logothesion erzogen wurden. Zwischen den Kriegern, den Sänften und den Wagen schlüpfte und drängte sich ein Gewimmel von Fußgängern hindurch, ähnlich der Volksmenge auf dem Marktplatz, eine nach Aussehen, Sprache und Hautfarbe bunt durcheinandergewürfelte Masse, in der sich die schwarzen Kutten der Mönche wie Mohnkörner abzeichneten. Eine geschwätzige, nach den neuesten politischen Nachrichten und den letzten Intrigen des Hofes lüsterne Menge, die ihre eigene Meinung nur vorsichtig zum Ausdruck brachte, denn der verhaßte Nykteparchos hatte überall seine Zuträger. Hugo wies jeden Augenblick auf etwas Neues hin. „… das ist die Kirche der Heiligen Apostel, in der die Herrscher bestattet werden. Nur selten ist einer von ihnen an Altersschwäche und im Bett gestorben, doch jeder hat hier eine Ruhestätte … Das dort ist das Bukoleon, ein schöner Palast, in welchem der Basileus wohnt, wenn er des Heiligen Palastes überdrüssig geworden ist. In diesen gewaltigen Bauten befinden sich Ämter. So viele Ämter wie hier gibt es auf der ganzen Welt nicht. Sage mir einer wozu? Sie sollten von uns lernen … Fürstengericht, Stadthauptmann und fertig! Man braucht nicht mehr. Hier gehen alle andauernd zu den Ämtern und beschreiben Zettelchen … Glaubt mir, alle Waren auf dem Markt sind gewogen und in Verzeichnisse eingetragen. Von jedem Stück oder jedem Maß müssen die Kaufleute eine gepfefferte Steuer bezahlen. Auf den Straßen erhebt angeblich niemand Zoll. Man kann das ganze Land durchwandern, ohne auf einen Schlagbaum zu stoßen, dafür schröpft hier der Basileus die Kaufleute ganz gehörig … Aber nun gebt acht, denn wir kommen jetzt auf das Augusteon oder die Agora, den schönsten Platz der Welt …“ In der Tat, es gab in der ganzen Welt nichts Prunkvolleres als diesen Platz, der auf der einen Seite von den goldenen, den Eingang zur
Hagia Sophia schmückenden Mosaiken, auf der anderen vom Senatsgebäude, auf der dritten von dem Heiligen Palast, den ebenso wie die Hagia Sophia Justinian hatte erbauen lassen, und auf der vierten von einem Portikus und Säulen umrahmt war. Auf diesen Säulen standen die goldenen und silbernen Standbilder der Herrscher und ihrer Gattinnen. Inmitten des Platzes erhob sich die unter Konstantin dem Großen errichtete Porphyrsäule, die mit einem goldenen Kreuz gekrönt war und die Aufschrift trug: „Heilig! Heilig! Heilig!“ Auf den breiten Stufen des Säulensockels nahm der Basileus in den Tagen der Triumphe Platz, wenn in feierlichem Zuge die Massen der Kriegsgefangenen vorbeigeführt wurden. Hier stellte der Autokrator, ohne sich von seinem Platz zu erheben, seinen mit einer Purpursandale bekleideten Fuß auf den Nacken des besiegten Feldherrn oder Königs, der vor ihm im Staube lag. Trompeten ertönten dann, Pauken wurden geschlagen, und die unzählbare Menge, die den Platz füllte, rief dazu: „Lang lebe der große Basileus, der allerfrömmste, unbesiegte Herrscher! Lang lebe der Basileus, den der Herr auserwählt und zum Herrscher bestimmt hat! Lang lebe der Basileus, den der Herr führt und immerdar führen wird! Lang lebe der Basileus, dessen Hand die Geschicke der Welt lenkt! Lang lebe der Basileus, der die Feinde der Kirche und seine eigenen demütigt und vernichtet!“ Gottfried hörte mit wachsender Zerstreutheit den Erzählungen Hugos zu, während sein Blick wie gebannt auf dem mit Schnitzereien verzierten Portal des großen Gotteshauses ruhte. Er sehnte sich danach, diese Kirche zu betreten, um dort allein mit seinen eigenen Gedanken zu sein. „Vortrefflich!“ willigte der stets mit allem einverstandene Hugo ein, als er diesen Wunsch hörte. „Geht in das Gotteshaus, es ist sehenswert, beim heiligen Dionys, es lohnt sich! Ich werde die Ritter geleiten, sie dem Protoproedros anvertrauen und Euch von hier abholen. Dann gehen wir zusammen in meinen Palast, der sich hier in unmittelbarer Nähe befindet.“
Nachdem Gottfried sein Roß dem Knappen übergeben hatte, stieß er die nicht allzu große, in dem riesigen Portal aus gediegenem Golde eingelassene Tür auf. Er durchschritt einen Vorraum, der voller Bettler war, und einen zweiten, in welchem sich Priester und Mönche befanden, hob den schweren, rauschenden Vorhang, der das Innere verdeckte, beiseite und blieb stehen … Ihn umgab golden schimmerndes Halbdunkel, in welches blaßblaues Licht von der Kuppel wie aus unermeßlicher Höhe herabfiel. Das Gotteshaus war gewaltig in seiner Anlage, es bot Raum für Zehntausende von Menschen und wirkte durch die kluge architektonische Gestaltung der Wände, durch die Tiefe, die Ausmaße der Nischen und durch die harmonischen Proportionen noch um vieles größer. Die das Bauwerk krönende, flach gewölbte Kuppel schien die ganze Welt zu umfassen. Die mit Mosaiken auf Goldgrund verzierten Wände, deren Flächen mit unzähligen Heiligen und Engeln bedeckt waren, wirkten wie Traumbilder, die bei dem geringsten Hauch zu verwehen schienen. An den Seiten der Schiffe ragten Säulen, die aus dem von Herostratos in Brand gesteckten Artemistempel zu Ephesos und aus dem geheimnisvollen, fernen Baalbek stammten, dessen Namen die westlichen Ritter noch nie gehört hatten. Sechshundert goldene Kronleuchter hingen an goldenen Ketten von der hohen Kirchendecke herab. Ruhe, Ferne und Unerreichbarkeit strömte das Innere dieses Gotteshauses aus. Die Kirche, die der Weisheit Gottes geweiht war, schien so unnahbar und unfaßbar zu sein wie die Weisheit selbst. In dem mächtigen Gebäude verlor sich alle Schwere des zum Bau verwendeten Materials. Das auf Granitfundamenten ruhende Gotteshaus, das die Jahrtausende überdauern sollte, schien mit seinen wie von fernher schimmernden, mit Mosaiken überzogenen Wänden und der wie aus Weihrauchdämpfen und nicht aus Stein gebildeten Kuppel die Verkörperung einer Idee, der Traum von einer Kirche zu sein, kaum mehr der Wirklichkeit anzugehören.
Wie verloren in dem zu dieser Tageszeit menschenleeren unermeßlichen Raum schritt Gottfried zaghaft zur Mitte. Er fühlte sich im Anblick der überwältigenden Schönheit wie ein winziges Stäubchen, ein Nichts. Die Weisheit Gottes … die Hagia Sophia … wie unsagbar klein und erbärmlich wurde alles Menschliche hier in dieser Kirche! Wie nichtig und bedeutungslos! Was galt hier ein Gedanke oder gar der Schritt Gottfrieds, der nicht einmal einen Widerhall in der aufstrebenden Kuppel fand. Im Gefühl seiner ganzen Nichtigkeit kniete er vor einem von Edelsteinen funkelnden Altar nieder. Er versuchte zu beten, rief die vertrauten, liebevollen Gesichter des Jesuskindes und der schmerzerfüllten Mutter an, die menschlichen, mitfühlenden, die allen nahen. Aber kaum betrachtet, schwanden sie, wie von der Gewalt des ihn umgebenden Raumes entführt, verwandelten sich wieder in gefühllose Gestalten, die unbewegt in ihrer goldenen Glorie von den Wänden auf ihn herabblickten. Leise, sich in der Stille verlierende Schritte wurden jetzt hinter Gottfried hörbar. Hugo, der von der Stimmung des ihn umgebenden Ortes nicht im geringsten beeindruckt war, klopfte dem Knienden auf die Schulter. „Zur Vesperzeit werden Eure Gesandten Audienz erhalten“, erklärte er. „Das ist eine große Gnade. Nicht selten kommt es vor, daß namhafte Gesandte mehrere Tage warten müssen … Eine prächtige Kirche, nicht wahr? Nicht einmal in Paris haben wir eine solche. Die Griechen betrachten sie als ein ‚asylum inviolatum‘. Wer hier Zuflucht gefunden hat, der kann nur durch Hunger überwältigt werden. Daher sucht jeder, der ein unreines Gewissen hat, hier schleunigst Schutz. Der Basileus läßt dieses Recht den Kleinen gegenüber gelten, nicht aber den Großen. Man hat mir erzählt, daß der Parakimenos einst eine Basilissa, die ihren Gatten hatte ermorden lassen, denn er war alt, sie aber jung, eigenhändig von dieser Säule fortgeholt und über die Schwelle getrieben habe … Es war allerdings ein Verschnittener, deshalb rührte ihn ihre Schönheit nicht.“
„Laßt mich einen Augenblick allein, Herr, denn ich habe meine Gebete noch nicht verrichtet“, bat Gottfried flehentlich. Entgegen der Behauptung Balduins war das Mädchen, welches Hugo „die Schwarze“ genannt hatte, nicht die Lieblingsdame Gontranas. Sie war in den Augen ihrer Herrin aufsässig und außerdem faul, verdiente allerdings den Beinamen „Schwarze“ durchaus denn sie hatte eine dunkle Hautfarbe, große dunkle Augen und rabenschwarzes Haar. Sie hieß Leona. Als sie zum Zelt ihrer Herrin lief, hielt Balduin sie an. Er war mißmutig und langweilte sich, weil Gottfried noch nicht zurückgekehrt war. Wie lange sollte man noch warten? „Der Saum meines Mantels ist abgerissen“, rief er, „komm her und nähe ihn mir an.“ Entgegen der Meinung Gontranas, das Mädchen sei faul, lief Leona schnell wie ein Reh ins Zelt und holte Garn und Nadel, und als sie sich Balduin näherte, lag in ihrer Haltung nichts von Aufsässigkeit, sondern im Gegenteil bereitwillige Hingabe. „Wo ist er zerrissen?“ fragte sie. „Hier“, sagte Balduin, öffnete den Mantel, und als sie heran trat, schlug er schnell den Umhang über ihr zusammen und drückte sie mit beiden Armen an sich. „Laßt mich los, Herr“, flüsterte sie, ohne besonders überrascht zu sein, „die Herrin Gontrana könnte es sehen.“ „Sie wird nichts sehen, sie ist fortgegangen, um ihre Gebete zu verrichten.“ „Die alte Helgunda könnte es aber bemerken und es ihr erzählen …“ „Das soll sie nur versuchen, ich lasse dieses Ungeheuer totpeitschen!“ Er zog das halb verschüchterte, halb neugierige Mädchen, unter seinem Mantel verborgen, in Richtung auf sein Zelt.
„Der Bruder des Königs von Frankreich“, sagte er und streichelte sie unter dem Kinn, „hatte die Absicht, dich dem griechischen Kaiser zu schenken …“ „O Jesus!“ Sie erschrak und blieb stehen. „Hab keine Angst. Ich habe sofort gesagt, daß deine Herrin Gontrana das nicht erlauben wird, denn sie liebt dich ja mehr als ihre anderen Mädchen.“ Sie lachten beide über diesen Scherz. „Was nun? Wen wird man denn jetzt schicken?“ erkundigte sie sich beunruhigt. „Niemand! Mein Bruder Gottfried läßt so etwas nicht zu.“ „Herzog Gottfried ist ein gerechter Herr …“ „Hast du ihn vielleicht lieber als mich?“ fragte er lustig und lüftete die Vorhänge des Zeltes, blieb aber wie angewurzelt stehen, denn seine Gattin Gontrana saß auf einem niedrigen Schemel, dem Eingang direkt gegenüber. Die wieselflinke Leona schlüpfte wieder unter Balduins Mantel, ging vorsichtig rückwärts, zog sich ihre Schürze über den Kopf und lief so schnell davon, daß Gontrana sie nicht erkennen konnte. Balduin rührte sich nicht vom Fleck, verlegen wie ein ertappter Schulknabe. Die schmalen Lippen Gontranas preßten sich noch mehr zusammen, ihre Augen funkelten bitterböse. „Beliebe mir zu sagen, mit welcher Magd ich die Ehre habe, meinen Mann zu teilen?“ fragte sie, jedes Wort betonend. „Du denkst gleich immer das Schlimmste“, entrüstete sich Balduin. „Ich habe sie gerufen, damit sie mir den Mantel näht. Der Saum ist ausgerissen …“ „Welche Magd war es?“ „Keine von deinen Hofdamen.“ „Du hast also eine fremde Hofdame vorgezogen, damit sie dir den Mantel ausbessert!“ rief Gontrana boshaft aus. „Sie lief mir zufällig über den Weg!“ Sie maß ihn mit haßvollen, verächtlichen Blicken.
„Antworte sofort! Welche war es?“ wiederholte sie im Befehlston. „Doch nicht etwa Leona? Es schien mir fast so …“ „Ich wiederhole, es war keine von den Deinen.“ „Lüge nicht!“ rief sie drohend. „Sprich! Hier kommen keine fremden Hofdamen vorbei! Ich will wissen, welche sich statt meiner in das herzogliche Bett legt … Los! Sprich schon!“ Balduin schwieg. Die nur mit Mühe bewahrte Ruhe verließ Gontrana jetzt vollends. Wie ein gereiztes Tier sprang sie auf ihn zu und packte ihn bei den Schultern. Er fühlte, wie sich ihre dünnen, scharfen Finger durch den Stoff seines Wamses in seine Haut krallten. „Was versprichst du dir davon?“ brummte er unwirsch und gab jede weitere Verteidigung auf. „Ich lasse sie zu Tode peitschen“, zischte sie. „Vor deinen Augen! Und wenn du mir nicht sagst, welche es war, werde ich sie alle der Reihe nach peitschen lassen! Jetzt! Sofort! … Du elender Ehebrecher! Du erbärmlicher Lügner! … Hast eine angetraute Gattin aus edlem Geschlecht und führst eine Magd in unser Zelt … Schamloser, ich spucke dir ins Gesicht! Antworte sofort! Welche war es?“ „Ich habe es gesagt, keine der Deinen …“ „Du lügst! Du lügst! Ein schöner Ritter bist du! Es war Leona, das weiß ich genau! Ich lasse sie zuerst peitschen. Helgunda!“ Die kleine, dürre Hofmeisterin, die wahrscheinlich in der Nähe gelauscht hatte, schlüpfte mit scheinheilig gefalteten Händen ins Zelt. „Einen Burschen mit Gerten! Aber einen kräftigen! Und alle Hofdamen hier zusammenrufen!“ rief ihr Gontrana zu. „Weder einen Burschen noch Gerten“, stieß Balduin wütend hervor. „Und du verschwinde sofort, das rate ich dir, altes Luder!“ „Mir gehorche“, schrie Gontrana sie an, „rufe den Burschen, aber schnell!“ „Fort von hier, wenn dir dein Leben lieb ist“, wiederholte Balduin so aufgebracht, daß die Hofmeisterin es für ratsam hielt, sich so
schnell wie möglich aus dem Staube zu machen. Vom Eingang her warf sie ihrer Herrin einen mitleidigen Blick zu. „Töte mich lieber, als daß du mir eine solche Schmach antust“, schrie Gontrana. „Hier hast du ein Messer! Hier! Stoß zu! Du kannst dir dann, so oft du willst, deine Dirnen ins Bett holen! Töte mich!“ „Komm zur Besinnung, Weib, und schrei nicht so! Soll das ganze Lager erfahren, was hier los ist?“ „Ja, das ganze Lager soll wissen, wie sich der Herzog beträgt! Ein Herzog! Ein Ritter! Pfui Teufel!“ „Schweig, Gontrana! Du bist schuld! Du allein! Schrei nicht so, jetzt rede ich! Du treibst mich von deinem Bett wie einen Hund! Seit über einem Jahr. Was soll ich tun, Weib? Ich bin kein Mönch wie Gottfried … Man hätte dich mit ihm verheiraten sollen, ihr hättet ein treffliches Paar abgegeben.“ Sie schwankte, als habe sie jemand geschlagen, und war einen Augenblick starr, brach aber dann in noch lauteres Keifen aus: „Nach Weibern gelüstet es dich, jetzt, wo du am Heiligen Zuge teilnimmst, du Lüstling! Jeder gute Kreuzfahrer hat Reinheit gelobt … Du unreines Schwein! Du Heide!“ „Schweig, in Herrgotts Namen“, seine Stimme überschlug sich. Eine fürchterliche Wut packte ihn, die unbezähmbare Lust, seinem Weib an die Gurgel zu gehen und ihr wie einem Huhn mit einem Griff den Hals umzudrehen. „Schweig, das sage ich dir! Meine Geduld ist zu Ende!“ „Ich schweige nicht! Ich schreie so lange, bis alle es hören!“ Pferdegetrappel und hastige Schritte hallten jetzt von draußen wider. Der Vorhang wurde energisch auseinandergeschlagen. Gottfried trat in das Zelt. „Jeder beliebige Hundefänger hält sein Wort eher als du!“ schrie Gontrana, den Schwager nicht bemerkend, außer sich vor Wut. „Das Wort Balduins, des Herzogs von Lothringen, ist einen Dreck wert! Es ist noch mehr als Dreck! Hahaha!“
„Nicht ein Wort mehr, Gontrana“, sagte Gottfried mit strenger, ruhiger Stimme, „wir haben wichtigere Dinge als uns dein unanständiges Geschrei anzuhören … Schweig, sofort!“ Eine nochmalige Aufforderung war nicht nötig, denn Gontrana verstummte sogleich, als sie Gottfrieds Stimme hörte. Sie ließ das Wams Balduins los und fügte sich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie ging leise ins Innere des Zeltes, setzte sich dort auf einen zusammengerollten Teppich und ließ ihren Schwager nicht aus den Augen. Balduin wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Gott vergelt’s Dir, Bruder. Ich war nahe daran, sie umzubringen … Wenn du öfter mit ihr sprechen wolltest, sähe mein Leben anders aus.“ Gottfried schenkte diesen Worten keine Beachtung, als habe sie nicht gehört. Er strich sich nervös den Bart und sagte: „Es steht schlimm, Balduin. Wir müssen so schnell wie möglich über alles beraten … Komm zu mir, dort ist es ruhiger.“ Ohne seine in der Ecke zusammengekauerte Schwägerin eines Blickes zu würdigen, schritt er, gefolgt von Balduin, aus dem Zelt. Kaum waren sie fort, eilte Gontrana schon zum Ausgang, schob den Vorhang zur Seite und blickte den Davongehenden nach. „Was ist denn Schlimmes geschehen?“ fragte Balduin, nachdem der Bruder, Montaigu, d’Esch und du Bourg sich in dem Zelt Gottfrieds niedergesetzt hatten, „Ist es wegen dieses Eides?“ „Wegen des Eides“, bestätigte Gottfried bedrückt. „Höre, was de Montaigu zu sagen hat …“ „Ihr habt also den Basileus gesehen?“ wandte sich Balduin neugierig an die Ritter. „Natürlich haben wir ihn gesehen! Ha! Alles, was der Bruder des Königs erzählt hat, ist noch zuwenig.“ „Was Ihr nicht sagt! Hat man Euch gleich empfangen?“ „Recht bald. Zunächst warteten wir in dem blauen und dann in dem goldenen Saal, den sie, nun, wie nennen sie ihn doch, du Bourg?“
„Später könnt Ihr über diese Einzelheiten berichten“, unterbrach Gottfried ungeduldig. „Jetzt wiederholt nur das, was am wichtigsten ist, das, was Alexios gesagt hat.“ „Man sagte uns, wir sollten vor ihm auf die Knie fallen, wie ein Untertan vor seinem Herrn“, begann Montaigu langsam und bedächtig, um nichts auszulassen, „aber das schien uns unwürdig. Wir sagten, bei uns gäbe es eine solche Sitte nicht, und wir verneigten uns nur und küßten ihm die Hand. Eine strenge, aber erhabene Majestät ist das. Der Thron …“ „Du kannst später über den Thron erzählen, Montaigu“, warf Gottfried ein, „berichte jetzt nur das, was ihr gesagt habt.“ „Wir sanken also nicht vor ihm auf den Boden … Er senkte ein wenig den Kopf und fragte gleich: ‚Wann kommt der Herzog von Lothringen?‘ Wir antworteten: ‚Gnädiger Kaiser! Gottfried, der tapfere Ritter und unser Gebieter, Herzog von Lothringen und Graf von Bouillon, der Herr zu Metz, Toul und Verdun, wird kommen und Euch die schuldige Ehrerbietung erweisen. Beliebt nur, gnädiger Herr, ihn von dem Eide zu entbinden, von dem uns der Graf de Vermandois erzählt hat, denn dem Herzog geziemt es nicht, diesen Eid zu leisten.‘ Der Basileus wurde unwirsch, schloß die Augen und sagte: ‚Warum nicht? Will Euer Herzog mir feind sein?‘ Und wir antworteten: ‚Nein, nicht feind, im Gegenteil, er wird ein noch verläßlicherer Freund sein als ein vereidigter, nur schwören kann er niemandem, denn er hat Christus gelobt, nur Ihn zu verteidigen und für Ihn zu streiten.‘ Sein Gesicht hellte sich auf und er entgegnete: ‚Nur darum also geht es Euch? So hört, Christus und ich, das ist eins … Der schönste Titel des Basileus ist Philochristos … Was Christus wünscht, das wünsche auch ich. Was Er fügt, dem ergebe ich mich in Demut. Wer vor mir einen Eid ablegt, dessen Schwur gilt doppelt und bekräftigt den, den er dem Erlöser geleistet hat.‘ Dann begann er zu seufzen und das Bild der Allerheiligsten Jungfrau zu betrachten, wir aber sagten: ‚Beliebe, gnädiger Kaiser, uns die Worte des Eides
bekanntzugeben, damit wir sie unserem Herzog wiederholen können.‘ Da winkte er einen der Seinen heran, der ganz in Gold gekleidet war, und dieser las uns die Worte des Eides vor. Diese lauten: ,Möge unser Erlöser, der Pantokrator, der Philanthropos, Jesus Christos, und die rechte Panagia, die Theotokos Blachernitissa, mögen die heiligen Apostel, der heilige Theodor Megalomartyros, alle Heiligen und die Heiligen des Herrn hören, wie ich dem Allerwürdigsten, dem Allerfrömmsten, dem von Gott erwählten, dem Autokrator, dem Basileus Alexios, schwöre, ehrliche Treue zu halten. Das von mir eroberte Gut soll sein Gut ein. Die Städte, die sich mir ergeben, sollen ihm gehören … Meine Untertanen sollen die Seinen sein. Ich schwöre, ihn zu ehren und ihm zu gehorchen wie meinem Vater und Herrn und mich nicht gegen seinen Willen aufzulehnen. Sollte ich diesen Eid brechen, so überantworte Gott meine Seele der ewigen Verdammnis!“ „Ein Huldigungseid, weiter nichts!“ rief Balduin gereizt. „Freilich“, stimmte ihm Gottfried zu, „Er ist noch schlimmer als ein Huldigungseid, ein Lehnseid ist es! Und ich soll ihn leisten?! Nie und nimmer!“ „Weiter! Was geschah weiter?!“ fragte Balduin, neugierig geworden. „Als der Höfling geendet hatte, sagten wir ihm, wir würden diese Worte unserem Herzog getreu überbringen. Unser Herr werde tun, was ihm beliebe, und sein Tun werde recht und eines tapferen Ritters würdig sein. Und schon verneigten wir uns, um fortzugehen, aber der Basileus wandte sich nochmals mit folgenden Worten an uns: ‚Zieht zu Eurem Herzog und sagt ihm, ich erwarte, daß er seinen unvernünftigen Widerstand aufgibt und morgen vor mir erscheint, denn ich liebe ihn wie meinen Sohn.‘ Wir antworteten darauf: ‚Es steht uns nicht an, dem Herzog zu sagen, was er tun soll. Aber das eine wissen wir, daß er diesen Eid nicht leisten wird.‘ Sein Gesicht verdüsterte sich wieder, und er sprach: ‚Es ist nicht meine Schuld, wenn Euer Herr die ausgestreckte väterliche Hand
zurückweist. Ich werde ihm jede nur erdenkliche Gnade erweisen, dieselbe, welche ich dem Bruder des Königs von Frankreich zuteil werden lasse … An nichts wird es Euch mangeln. Sofern er mir aber feind sein will, so kann ich ihm nicht die geringste Hilfe gewähren. Das ist mein Wort.‘ Darauf verneigten wir uns und gingen hinaus.“ „Und was sollen wir nun tun? Was sollen wir tun?“ wandte sich Gottfried an seinen Bruder. „Ein solcher Eid darf nicht geleistet werden“, bestätigte Balduin, sich nachdenklich den Kopf kratzend, „das steht fest.“ „Den könnte ich nicht über die Lippen bringen! Aber was sollen wir anfangen?! In drei Tagen, höchstens vier, gibt es im Lager nicht einen einzigen Denar mehr!“ „Pech und Schwefel!“ rief Balduin übermütig. „Gibt es denn kein Gold hier ringsumher? Wir fügen dem Basileus keinen Schaden zu, wenn wir ihm etwas abnehmen …“ „Denkst du etwa an Plündern? Für nichts in der Welt!“ „Das ist kein Plündern, wir können hier schließlich nicht Hungers sterben!“ „Nein! Nein! Davon will ich nichts wissen! Eine solche Schmach würde ich nicht überleben. Ich werde etwas anderes versuchen. Ich fahre nach Galata zu den Genuesen hinüber. Vielleicht werden sie sich, als Christen, bereit erklären, uns auf das andere Ufer überzusetzen, nach Asien. Wir würden es ihnen später bezahlen, sobald wir etwas von den Sarazenen erobert haben. Man sagt, die Sarazenen seien in der Nähe. Wir könnten abrücken, ohne auf Raimund und die Normannen zu warten.“ Balduin und den übrigen Rittern leuchteten bei diesem Gedanken die Augen. Endlich ins Feld ziehen! Ins Feld! Als erste gegen die Ungläubigen kämpfen! Wollte Gott, daß die Genuesen einwilligten! Sie waren zwar Knauserer und Knicker, aber vielleicht erbarmten sie sich.
VIERTES KAPITEL Wenn der Osten mit dem Westen spricht
„Seine Exzellenz, der edle Simon Dukas, der Sebastokrator“, rief laut der am Eingang stehende Eunuch. Der Hausherr, Pankratios Butumitos, Befehlshaber des kaiserlichen Ostheeres, sprang hastig auf, um den hohen Gast, einen Angehörigen der vorigen Dynastie, zu begrüßen, der, trotz des Regierungswechsels, dank seiner hohen politischen Fähigkeiten und Kenntnissen in der Verwaltung seinen früheren Einfluß bei Hofe nicht eingebüßt hatte. „Was gibt es Neues?“ fragte Butumitos vertraulich und bat den Würdenträger, sich auf den entsprechenden Ehrenplatz zu setzen. „Keine Neuigkeiten?“ „Fürs erste keine. Aber ich würde raten, die Truppen in Bereitschaft zu halten.“ Der edle Butumitos, der Befehlshaber des Ostheeres, der edle Tatikios, der Befehlshaber des Westheeres und der edle Euphorbenos Kalatos, der Befehlshaber des Südheeres, blickten erstaunt auf den Gast. „Wozu? Sollten die Lateiner etwa einen Angriff wagen?“ „Ihre Empörung wächst mit jedem Tag. Heute haben sie bereits einen Angriff auf das Tor des heiligen Romanos versucht, aber Gottfriedos hat sie zurückgehalten … Dabei ist er mit seinem Bruder in Streit geraten. Morgen wird er seine Leute vielleicht nicht mehr abhalten können …“ „Unglück hat uns Stratigos Argyrios gebracht“, klagte Kalatos unzufrieden, „war es nötig, ihn nach Gallien zu schicken?“ „Der Stratigos Argyrios hat sich nichts zuschulden kommen lassen“, verteidigte der Hausherr den Nichtanwesenden.
„Seine Reise war ohne Einfluß auf die Entschlüsse dieser Hitzköpfe … Er selbst hat mir erzählt, wie entsetzt er darüber gewesen ist. Das alles hat der Papst verschuldet. Er hat sie uns auf den Hals geschickt, sicher nur zu dem Zweck, um uns unter dem Vorwand der Verteidigung des Heiligen Grabes in seine Gewalt zu bekommen.“ „Das wird dieser Intrigant aus Rom nicht erleben! Er soll sich lieber dem Patriarchen unterwerfen.“ „Der Stratigos hat seine Reisen unternommen“, erklärte Butumitos weiter, „um möglichst viele Krieger als Hilfstruppen für unsere Heere zu gewinnen. Die Gefahr, in welcher sich ‚die von Gott behütete Stadt‘ befindet, hat er beredt und ausführlich geschildert, um sich günstige Voraussetzungen für seine Aufgabe zu schaffen. Es ist nicht seine Schuld, daß ganz Gallien, Italien und dessen Nachbarländer von einem Wahnsinn, dem unverständlichen Drang nach dem Osten, befallen worden sind und daß sich die angebliche, von dort kommende Hilfe leicht ins Gegenteil, wenn nicht gar in eine Niederlage verwandeln kann. Um sich vor einem solchen Nachteil zu schützen, verlangt unser allerehrwürdigster Herr, der Basileus — Gott schenke ihm ein langes Leben! —, einen Eid von dem Herzog von Lothringen.“ „Sollte der Allerehrwürdigste sich nicht geirrt haben?“ fragte Tatikios vorsichtig mit gedämpfter Stimme. „Es wäre besser, nachzugeben und sie mit Proviant zu versorgen, als unsere Vorstädte und Märkte der größten Gefahr durch diese Barbaren auszusetzen. Mögen sie dann bleiben oder abziehen, wohin sie die Parzen führen werden!“ „Was haben wir von diesem Eid?“ Der Sebastokrator blickte die drei Feldherren voller Mitleid an, wie es nur ein Staatsmann einem Soldaten gegenüber empfindet. „Die edlen Befehlshaber wissen sicherlich nicht“, sagte er belehrend, „daß sich das ganze bewaffnete Europa wie ein Heuschreckenschwarm auf uns stürzt. Zuerst kamen die widerwärtigen, dem edlen Tatikios wohlbekannten Banden an, die
im vergangenen Jahre Byzanz verunreinigt und verpestet haben … Geführt hat sie jener lächerliche ‚Kukupetros‘, dieser Pseudoheilige, der in Wirklichkeit ein Narr und ein Ohnmächtiger ist. Es gelang uns, diese Horden nach Asien abzuschieben. Sie lagern nun bei Civitot. Jetzt sind die Lothringer da. Doch das ist erst der Anfang. Es nähern sich die Scharen der Frankopuli. Von Süden rückt Raimund von St. Gilles heran. Vom Norden die Flamen, die Normannen. Die Normannen! Wir erinnern uns alle noch gut der Normannen. Nicht wahr? Man sagt, daß es insgesamt mehr als dreihunderttausend Mann seien. Was fangen wir an, wenn diese Scharen, anstatt gegen die Sarazenen zu ziehen, Byzanz erobern wollen? Deshalb will der Allerehrwürdigste Basileus — oh, daß ihm Gott ein langes Leben schenke! — jeden einzelnen durch einen Eid binden, bevor sich ihre Heere zu einer vereinten Kraft zusammenschließen …“ „Wozu der Eid?“ bemerkte Kalatos skeptisch. „Wenn die Frankopuli die Stadt erobern wollen, so wird sie ein Eid daran nicht hindern.“ „Ihr irrt Euch, edle Herren. Obwohl es unwahrscheinlich dünkt, diese Einfältigen halten tatsächlich ihren Eid …“ „Das ist kaum glaubhaft!“ „Außer Bohemund, der einen gewissen Einblick in die Methoden der Staatsführung gewonnen hat, werden die übrigen Barone bestimmt zu ihrem Wort stehen. Schwören sie, nichts anzurühren, so rühren sie auch nichts an. Man kann durchaus beruhigt sein. Selbstverständlich werden kleinere Übergriffe, Plünderungen und Räubereien nicht ausbleiben. Es sind ja Wilde, die weder Maß noch Gehorsam kennen. Aber die Führer werden sich nicht gegen uns wenden, was auch eintreten sollte.“ „Das ist seltsam! Hat das gegebene Wort bei ihnen ein solches Gewicht?“ „Ja, das hat es. Deshalb ist es jetzt das Wichtigste, sie nacheinander zur Ableistung des Eides zu bewegen. Nach der letzte Taubenpost kann Raimund von Toulouse in zehn Wochen hier sein, vielleicht
schon früher. Sobald er erfährt, daß der Lothringer den Eid geschworen hat, wird er dasselbe tun, zumal Gottfriedos ihn überreden wird … Im entgegengesetzten Falle würden sie sich gegenseitig zum Widerstand aufhetzen, inzwischen kämen die Normannen an und …“ „Das ist bekannt.“ „Wenn sich aber der Lothringer nicht einverstanden erklärt?“ „Beim heiligen Theodor Stratilatos, ich weiß nicht, was dann geschehen soll. Ich hoffe aber, daß die eigenen Leute ihn zwingen werden. Sie sind hungrig.“ „Es ist nicht gut, Hungrige und Bewaffnete vor den Mauern der Stadt zu haben“, bemerkte Butumitos und bewegte dabei einen großen runden Kopf hin und her. „Da habt Ihr recht!“ Alle vier versanken über diese fremden Heere, diese bewaffneten Massen, die nicht zum ersten Mal im Laufe der Geschichte vor den Toren standen, in Nachdenken. Vor dreihundert Jahren und noch früher, zur Zeit der schrecklichen Belagerung von Byzanz durch die Awaren, hatten vor der Stadt Schulter an Schulter Slawen und Hunnen, Awaren, Petschenegen, Bulgaren, Waräger, Perser, Meder, Jazygen, Gepiden und andere Stämme gestanden, deren Namen schon dem Gedächtnis entschwunden waren. Als Feinde hatten sie die „von Gott behütete Stadt“ mit gierigen, furchterregenden Blicken gemustert. Heute schwoll die Welle der Völker abermals an, sie näherte sich wie eine Flut. Zwar kamen diese Massen als Verbündete und Verteidiger, aber die Erfahrung der Byzantiner, welche die unwiderstehliche, verführerische Lockung des Goldes kannten, das hier im Überfluß vorhanden war, gebot ihnen Vorsicht. Das Gold, ja, das Gold! Überall gab es Gold. Auch in diesem Saal, wo die vier Freunde beisammensaßen, mehr als genug. Gold erstrahlte von der Zimmerdecke. Gold glänzte an den Wänden als Hintergrund der Malereien. Aus Gold waren die Lampen, die Räuchergefäße, in denen auf glühenden Kohlen Bernstein zischte und brannte. In
Byzanz war man in das Gold verliebt, und sogar die meisten Namen in der Stadt — Chrysoteras, Chrysopolis, Chrysotriklinion — waren von dem Wort „Gold“ entlehnt. Eine vorzüglich geschulte, durch die Blicke des reglos am Eingang stehenden Eunuchen gelenkte Dienerschaft trug geräuschlos die wunderbarsten Südfrüchte auf und in goldenen Schüsseln feines Gebäck von honigsüßem, würzigem Geschmack, die beliebten, scharfen Schafskäschen sowie in großen goldenen und silbernen Krügen gekühlten oder angewärmten Wein, Riechessenzen und Bier. Den Genuß des Bieres hatten die Griechen von den in ihren Heeren dienenden Russen und Warägern gelernt. Aber das byzantinische Bier war schwer und süß und erinnerte nur wenig an das leichte, aus Hopfen und Gerste gebraute Getränk, das bei den slawischen Völkern und deren Nachbarn so beliebt war. Der ebenso hell beleuchtete Nebenraum gehörte schon zum Gynaeceum oder zum Frauenteil des Hauses. Er war durch einen schweren Seidenvorhang abgesondert, an dem zwei weißgekleidete Eunuchen mit Schwertern in der Hand postiert waren. Sie standen unbeweglich wie Statuen. Einst hatten sie die Aufgabe, niemandem in das Gynaeceum Einlaß zu gewähren, heute waren sie nur noch ein Beweis für die Wohlhabenheit des Hauses, während die früheren Gebräuche in Vergessenheit geraten waren. Wie hätte es auch ein gesellschaftliches und kulturelles Leben ohne Frauen geben können? Wie nüchtern und trocken war ein Gespräch ohne die Beteiligung von Frauen. Je lebendiger das byzantinische geistig– künstlerische Leben wurde und je höher dessen Ansprüche stiegen, desto größere Unabhängigkeit erkämpften sich die Frauen und desto weiter reichte ihr Einfluß. Trotzdem blieb das Gynaeceum seiner Form nach bestehen; denn seine scheinbare Abgesondertheit brachte keine geringen Vorteile. Auf Grund der alten Rechte und Sitten bildete das Gynaeceum einen getrennten, vollkommen unabhängigen Teil des Hauses, der von einer nie nachzuprüfenden Anzahl von Frauen bewohnt war, zu denen Verwandte der Hausfrau, Freundinnen, reisende Nonnen, Dienerinnen und
Sklavinnen gehörten. Ein wirklicher Staat im Staate, der sich selbständig regierte. Eine ebenso große Anzahl der verschiedenartigsten Schlupfwinkel, Geheimkämmerchen, Alkoven, sorgfältig verborgener Gemächer, ein Labyrinth, in dem sich nur die Besitzerinnen auskannten, machte es dem Hausherrn unmöglich, die Räume seiner Gattin und der Töchter zu beaufsichtigen, sofern er überhaupt die Absicht dazu gehabt und das geräuschvolle Aufbegehren hunderter empörter Frauen nicht gefürchtet hätte. Daher wurde das Gynaeceum beibehalten. Die edelgeborenen Damen verhüllten sich zwar das Gesicht mit feinen, durchsichtigen Schleiern, wenn sie das Haus verließen, aber das war auch das einzige Zeichen der ehemaligen Fügsamkeit. In Wirklichkeit stand ihnen eine Freiheit zu, wie sie kaum sonst in der Welt üblich war. Sie nutzten diese auch weidlich aus, mischten sich eifrig in alle Angelegenheiten, insbesondere in die Politik. Unabhängig davon, wer gerade Kaiser war, spannen sie unaufhörlich Intrigen um den Thron, und so manches Ereignis, das starken Widerhall in der Weltgeschichte fand, war ihrem Eingreifen zuzuschreiben und hatte seinen Anfang in zarten, weißen, verantwortungslosen Frauenhänden gefunden. Infolge dieser vielfältigen Betätigung war es bei den schönen byzantinischen Patrizierinnen um die landläufigen häuslichen Tugenden nur schwach bestellt. Treue wurde nur von den Alten und Häßlichen geübt. Immer erfinderischer und gewitzter verstanden die Frauen dieser Großstadt die ungebundene Lebensweise mit den strengen, in ihren Augen kleinlichen Bräuchen und äußerlicher Frömmigkeit und Moral in Einklang zu bringen. Die Nachkommenschaft wurde auf ein oder zwei Kinder beschränkt, und auch ein einziges Kind wurde meist gleich nach der Geburt einer Sklavin zum Stillen und Aufziehen übergeben. Die byzantinische Gesellschaft, die sich in sattem Wohlleben, Schöngeistigkeit und Genuß gefiel, brachte den charmanten, kleinen sittlichen Verfehlungen der Frauen volles Verständnis entgegen
und war außergewöhnlich nachsichtig. Das galt natürlich nur für den eigenen Kreis, nämlich die herrschende, vermögende Oberschicht. Gegenüber dem niederen Volk waren die Gesetze überaus streng und wurden mit ihrer ganzen Härte gehandhabt. Eine Frau von geringer Geburt mußte bei Treuebruch die Todesstrafe gewärtigen. Es kam zwar manchmal vor, daß auch Patrizierinnen geschoren, in Ordenstracht gekleidet und in das Kloster gebracht wurden, das auf der unwirtlichen Felseninsel Proti, dem althergebrachten Ort für die Absonderung schöner Sünderinnen hoher Abstammung, lag. Um aber eine solche Strafe verwirkt zu haben, mußte schon etwas Außergewöhnliches vorliegen, die Ungnade des Basileus, eine entdeckte, mißlungene Hofintrige oder ein besonders auffallendes Ärgernis. Es war daher nicht verwunderlich, daß der Vorhang, der im Palast des edlen Butumitos die Räume des Gynaeceum von den übrigen Gemächern trennte, ein wenig gelüftet war und daß die wachestehenden Eunuchen ohne Befremden auf die dahinter versammelten Frauen und Männer schauten. Sieben Frauen befanden sich dort, es waren das die drei Töchter des Butumitos und deren vier Freundinnen. Sie hießen Theodora, Zoe, Agathe, Praxedis, Irene, Eudoxia und Anastasia. Alle waren jung und wiesen die drei Hauptvorzüge auf, die man in Byzanz bei Frauen so gern sah: Schönheit, Vornehmheit und Bildung. Ihre schlanken Gestalten verrieten beste Ernährung und Körperpflege, sie waren gewandten Geistes und geübten Verstandes. Vorzüglich und vielseitig unterrichtet, konnten sie sich frei über Geographie, Geschichte, Mathematik, Philosophie, Theologie und Poesie unterhalten. Deshalb langweilten sich in ihrer Gesellschaft weder die sie umgebenden jungen eleganten Herren, die sich Leibesübungen in den Stadien zur Lebensaufgabe gemacht hatten, noch die ernstblickenden „Logioi“, die Vertreter der Feder oder, genau gesagt, des Wortes. Zu den Männern, die dort gerade weilten, zählten die beiden schön gewachsenen Jünglinge Dimitrios und Kleon sowie drei
Schriftsteller: Johannes Italos, der gelehrte Interpret Platos, dessen Werke er zur großen Unzufriedenheit des Patriarchen jüngst umgeschrieben hatte, der Dichter Prodomos, der Abgott der modernen Damen, der aber dem soeben verstorbenen großen Michael Psellos nicht gleichkam, sowie Basilios Ceces, der berühmte Kenner Hesiods und Homers. Ähnlich wie in dem Nebensaal bildeten auch im Gynaeceum die vor der Stadt stehenden lateinischen Heere ein unerschöpfliches Gesprächsthema. „Ich möchte hinfahren und sie aus der Nähe sehen, aber mein Vater erlaubt es nicht“, beklagte sich Zoe schmollend. „Es hat keinen Zweck, sich das anzusehen“, versicherte Italos. „Das sind durchweg rohe Menschen. Jeder beliebige Sklave besitzt bessere Formen als sie. Dafür reicht ihr Hochmut bis zu den Wolken. Glaubt mir, hübsche Musentöchter, sie halten sich für höhere Wesen und sehen auf uns wie auf dunkelhäutige Barbaren herab.“ Alle brachen in schallendes Gelächter aus, so daß Butumitos im Nachbarsaal die Stirn runzelte. Er hatte nichts dagegen, wenn die alten Sitten nicht mehr so streng eingehalten wurden, aber das hatte nicht so offenkundig und mit solcher Lautstärke zu geschehen. „Uns … für Barbaren! Das ist köstlich! Ehrwürdiger Italos, wiederhole das noch einmal … ich bitte dich!“ „Aber das ist gar nicht zum Lachen!“ widersprach Klean, der jüngere Sohn des Kyrpalatios, des Aufsehers des Heiligen Palastes. „Im vergangenen Monat, als unser allerehrwürdigster, allerfrömmster Herr, der Basileus — Gott schenke ihm ein langes Leben! — in dem kleinen Thronsaal lustwandelte und sich mit dem Gesandten des Kalifen unterhielt, setzte sich einer der Frankopuli, sie nennen ihn, soweit ich mich erinnere, de Melun, in den Thronsessel des Kaisers …“ „Unerhört!“ „Unmöglich!“ „Nicht zu glauben!“
„Ich wiederhole es: Er setzte sich auf den Thron! Mein Vater war Zeuge dieses Vorfalls.“ „Und was geschah weiter? Wurde der Frankopulos sofort in Stücke gehackt?“ „Kein Gedanke! Als alle vollkommen verblüfft dastanden und der allerehrwürdigste Kaiser — Gott schenke ihm ein langes Leben! — so zu tun geruhte, als bemerke er nichts, trat der Bruder des Königs von Paris an den Lümmel heran und begann ihn zu bitten, er möge doch aufstehen … Versteht mich richtig: zu bitten! Der Flegel erhob sich zwar, brummte aber zornig, so daß es alle hören konnten, er sei genausogut wie der Basileus, warum er sich also nicht setzen sollte, wenn ihm die Füße weh täten.“ „Und was geschah dann? Was geschah dann? Was hat man mit ihm gemacht?“ „Nichts! Er ging in den anderen Saal, um sich am Wein gütlich zu tun.“ „Wird man ihn bestrafen?“ „Keineswegs! Einen jeden anderen hätte man unter Qualen sofort hingerichtet, doch diese Tollköpfe tastet man besser nicht an. Deshalb sagte der allergütigste Basileus — Gott schenke ihm ein langes Leben! —: ‚Laßt ihn in Ruhe! Sollte ich mich denn wegen einer solchen Beleidigung an einem unvernünftigen Tier rächen? Er mag unbehelligt seiner Wege gehen.‘“ „Und ging er?“ „Nicht sofort. Der aller ehrwürdigste Kaiser — Gott schenke ihm ein langes Leben! — übte großmütig Nachsicht, aber die Anwesenden mißverstanden diese hehre Güte. Mein Vater sowie der große Drungarios der Flotte gingen dem Frechling nach, um ihm das Ungehörige seines Benehmens unmißverständlich klarzumachen; aber kaum hatten sie den Mund aufgetan, da griff er schon zum Schwert. Wißt, edle Damen, diese Wilden trennen sich nie von ihrem Schwert. Mit den langen Klingen zerkratzen sie ständig die Parkettfußböden, aber vom Abgürten der Waffen will keiner etwas hören. Also, dieser verwegene Kerl griff an sein
Schwert und sagte: ‚In meinem Lande steht an den Kreuzwegen ein Markstein, noch aus der Römerzeit … an solch einem Stein schlagen tapfere Ritter ein Zeichen an, welches besagt, daß sie jederzeit bereit sind, mit jedem zu kämpfen, der es wünscht. Aber wenn man mein Zeichen dort gesehen hatte, ist nie jemand gekommen, um mit mir zu kämpfen, obwohl es bei uns nicht an mutigen Männern fehlt. Ich habe Euch gewarnt. Jetzt greift zu den Schwertern, ich bin bereit! Und er ergriff mit beiden Händen sein Eisen. Mein Vater und der Drungarios erklärten ihm bestürzt, daß es hier im Palast nicht erlaubt sei, sich zu schlagen, später … Er hörte gar nicht darauf und wiederholte, jeder Ort sei für einen Kampf geeignet und er wolle sich sofort schlagen. Als sie sich aber nicht stellten, beschimpfte er sie mit groben Worten und ging hinaus.“ „So ein Berserker!“ „Seltsame Dinge hab’ ich gehört über die bei ihnen herrschenden Sitten“, sagte der Dichter Prodomos und betonte melodisch die wohlgesetzten Worte. „So wird zum Beispiel erzählt, sie bedienten sich seltsamer Mittel, wenn es darum geht, im Prozeß der Wahrheit Genüge zu tun. Sie nehmen ein glühendes Eisen zur Hand, und wer sich verbrennt, dessen Schuld gilt als erwiesen. Für unschuldig gilt, wessen Hand vom Brand nicht gezeichnet ist. Das halten sie für einen Wahrheitsbeweis, mit dem sie jede Sache schnell entschieden haben.“ „Aber das ist doch unmöglich! Beide müssen sich ja verbrennen!“ „Dann haben eben beide die Strafe zu erleiden. Der eine, weil er schlecht gehandelt hat, der andere, weil er ihn widerrechtlich angeklagt hat. Ein solches Gericht heißt Gottesgericht … Sie glauben fest daran, daß der Herrgott immer bereit ist, bei ihren kleinen Streitigkeiten einzugreifen und es so zu fügen, daß dem Unschuldigen kein Unrecht widerfährt. Ihre Empfindungs– und Denkart gleicht der unserer Mönche. Alle glauben dort an diese Märchen, selbst die Allerhöchsten im Staate …“ „Wie sonderbar ist das! Erwarten sie denn ein Wunder? Kann es tatsächlich einmal vorkommen, daß …“
„Nein, das kann es nicht, schöne Agathe. Glühendes Eisen ist glühendes Eisen, und jeder Mensch muß sich daran verbrennen, es sei denn, daß er aus Marmor oder Bronze sei … Nur primitive, naive Gemüter können ähnliche Hirngespinste ernst nehmen.“ „Primitiv und naiv sind sie ohne Zweifel“, bemerkte Ceces, der bisher geschwiegen hatte, „doch besitzen sie eine gewisse innere Größe. Jedenfalls scheint es mir so. Vielleicht deshalb, weil ich mit ihnen noch nicht in Berührung gekommen bin. Bei einer solchen Erzählung fallen einem die Gestalten Homers ein. Dieselbe Rohheit, derselbe Mut, dasselbe Verlangen nach Unabhängigkeit … und dazu dieser Trieb, ein Ideal im Leben zu verwirklichen, ein Wunsch, der bei uns leider schon vollkommen erstorben ist, und der sie dazu bewogen hat, alles im Stiche zu lassen und zum Beispiel bis hierher zu ziehen, um das Heilige Grab zu verteidigen.“ „Das ist doch nur Gerede“, wandte Kleon ein, „sie sind hierhergekommen, um zu plündern, nichts weiter. Wenn Ihr sie näher kennenlerntet, edler Herr, so würdet Ihr Euch überzeugen, daß sie nichts mit den Helden Homers gemein haben … Sie sind gewöhnliche Schmutzfinken und Diebe, die nach Gold und Glanz gieren wie die Elstern.“ „Mag sein!“ „Und die Frauen? Erzählt uns etwas von ihren Frauen!“ rief Agathe bittend. „Hat sie schon einer von euch gesehen?“ „Ich habe sie gesehen“, prahlte Dimitrios, „zweimal bin ich mit den Abgesandten durchs Lager der Lateiner gegangen.“ „Erzählt doch, schnell! Wie ist das Lager? Ist es sehr prächtig?!“ „Keineswegs! Ein solches Elend wie dort kann man sich kaum vorstellen. Die Zelte sind klein, eng, niedrig und armselig. Keine Bequemlichkeiten. Diese sind weder bekannt noch werden sie verlangt. Schäbige Kleidung. Nur schwer ist ein Ritter von einem Knappen und ein Knappe von einem Knecht zu unterscheiden.“ „Erzählt doch von den Frauen!“ „Sie sind noch ungeschliffener als die Männer und verstehen nicht, sich zu unterhalten. Man weiß auch nicht, worüber man mit ihnen
sprechen könnte. Ich habe die Schwägerin Gottfriedos’ gesehen. Sie war in grobe Seide gekleidet. Aber Hände hatte sie wie eine Abwaschmagd, rot, rauh und aufgesprungen. Auf keinen Fall hätte ich sie berühren mögen. Ich bin auch nicht sicher, ob sie Wäsche unter ihrem Obergewand trug oder wann sie das letzte Mal gebadet hatte.“ „Sei nicht boshaft, Dimitrios.“ „Das ist keine Bosheit. Ich habe mich absichtlich im Lager umgeschaut, habe aber nirgends ein Bad, eine Wanne oder eine Badestube, ja, nicht einmal eine Waschschüssel entdeckt … Ich habe auch gehört, daß die Mode bei ihnen in hundert Jahren nur einmal wechselt, damit die Enkelinnen die Röcke der Großmutter auftragen können. Das ist ein sparsames Volk … Wie gefällt euch das, liebe Mädchen?“ Sie kicherten silberhell, belustigt, denn in Byzanz wechselte die Mode ein paarmal im Jahr. „Man sagt, daß sie ununterbrochen Kinder gebären wie Frauen aus dem Volke … Unfruchtbarkeit betrachten sie als Schande. Dagegen sind sie tugendsam …“ „Gewiß! Bei solch einem Äußeren keine Kunst …“ „Sie sind tugendsam“, wiederholte Dimitrios mit Nachdruck, „wir können sie deswegen beneiden.“ Er schaute vielsagend Praxedis an, mit der er verlobt war. „Du kannst tauschen“, erwiderte diese hochmütig, „nimm dir eine Ungebadete, und ich nehme einen Ritter!“ „Da würdest du aber schön reinfallen, Praxedis …“ „Wieso denn? Sie müssen kräftige Arme und Schenkel haben …“ „Wir sind bestimmt nicht schwächer. Außerdem … ich wette mit dir, du hieltest es nicht eine Stunde bei so einem groben, bärtigen, übelriechenden Einfaltspinsel aus. Sie kennen ja kein Liebesspiel, keine zarten Aufmerksamkeiten, keine erregenden kleinen Feinheiten. Du könntest ebensogut einen beliebigen, hergelaufenen Söldner heiraten!“
„Sei nicht böse, Dimitrios, ich habe das ja nur im Scherz gesagt, um dich ein bißchen zu ärgern.“ „Das habe ich auch nicht anders erwartet“, lenkte er ein. „Ihre Bildung ist zudem ebenfalls die eines gewöhnlichen Söldners. Sie wissen nichts. Die meisten können nicht lesen! Versteht ihr das? Nicht einmal lesen! Sie verstehen nur zu saufen, zu fressen und sich zu schlagen …“ „Unerhört! So also sieht die Kultur des Westens aus? Was ist aus Rom geworden?!“ „Aus Rom? Die Barbaren haben Rom vernichtet, und ihre Urenkel wollen uns jetzt vernichten“, sagte Dimitrios mit gereizter Stimme und reichte einem Sklaven seinen Becher, damit dieser ihm Wein einschenke.
FÜNFTES KAPITEL Der Basileus Isapostolos
Gottfried verharrte im Gebet. Sein Gesicht hatte in den letzten zwei Wochen eine dunklere Farbe angenommen, er war abgemagert und sah elend aus. Er härmte sich ständig und war mit sich selbst zerfallen. Die Genuesen hatten von einer Übersetzung des Heeres ohne sofortige Bezahlung nichts hören wollen. Sie waren Kaufleute und dachten daher nur an ihren Gewinn; irgendwelchen Vernunftsgründen oder höheren Erwägungen waren sie nicht zugänglich. Der Herzog hatte seine Besitzungen verkauft und war in Wirklichkeit ein Habenichts, ja ein Bettler, der nichts mehr besaß. Und die Beute von den Sarazenen? Eine sehr zweifelhafte Bezahlung! Vielleicht würden die Genuesen den Sarazenen eines Tages das abkaufen, was diese den Kreuzfahrern abgenommen hätten. Sie lehnten also ab. Eine Überfahrt kam somit nicht in Betracht. Gottfried hatte auch daran gedacht, Fährschiffe zu bauen; aber alle Wälder waren kaiserlich und wurden streng bewacht. Um in den Besitz von Holz zu gelangen, wäre eine offene bewaffnete Auseinandersetzung unvermeidlich gewesen, und damit wäre die letzte Hoffnung auf eine Verständigung mit dem Basileus geschwunden. Seit reichlich einem halben Monat lebte das Heer Gottfrieds von Almosen, von dem Verkauf wertvoller Gegenstände und der besten Kleidungsstücke. Einmal hatte schon Balduin, ohne auf die Entrüstung Gottfrieds zu achten, den nächstgelegenen Vorort von Byzanz in Flammen aufgehen lassen und geplündert. Nur mit größter Mühe war es Gottfried gelungen, das Heer zurückzurufen und ins Lager zu bringen. Die Ritterschaft war empört und murrte, sie lehnte sich auf und verlangte, in den Kampf geführt zu werden.
Man konnte Lebensmittel ja auch erbeuten! Es ging ihnen dabei nicht so sehr um den eigenen Hunger und den der Leute als um die Pferde. Die Pferde! Sie waren mager und struppig geworden, drehten sich nach ihren Herren um, wieherten unruhig und warteten auf Futter. Aber Futter gab es nicht. Schließlich besaß keiner dieser Krieger etwas Wertvolleres als sein Roß. Gottfried betete inbrünstig und wußte nicht, was er beginnen sollte. Was sollte er tun? „Christus hilf! Weise den Weg!“ Vom Eingang kam ein Geräusch. Der Ritter hob unwillig den Kopf, erbost über den Störenfried, vermutlich einen Knecht, erhob sich aber erstaunt, als er statt dessen seine Schwägerin Gontrana erblickte. Sie stand verlegen da und zupfte am Saum ihrer langen Ärmel. „Entschuldige bitte, daß ich hergekommen bin, Gottfried“, sagte sie leise, „aber ich wollte dich fragen, ob du vielleicht weißt, wo sich Balduin jetzt befindet?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte er in rauhem, bei ihm ungewohntem Tonfall und wandte die Augen ab, um dem Blick seiner Schwägerin nicht zu begegnen, „ich weiß es nicht, Gontrana. Es befremdet mich auch, daß du in deiner unvernünftigen Eifersucht hierherkommst.“ Sie hob abwehrend beide Hände. „Ich weiß schon, wo Balduin ist. Es handelt sich auch nicht um mich. Ich will nur, daß auch du es erfährst.“ „Worum geht es? Sprich!“ Ach, hätte er sie doch angeblickt, nur einmal! Aber er tat es nie. Sie konnte sich nicht erinnern, daß er sie jemals angesehen hätte. Auch jetzt schaute er zu Boden wie ein wahrer Mönch. „Sprich schon“, sagte er ungeduldig. „Er ist mit Konon de Montaigu, Wilfried d’Esch, Paul du Bourg und mit zehn Bewaffneten fortgeritten, um die wundertätige Madonna aus der Blachernos–Kirche zu entwenden …“ „Was sagst du da?“ rief er erschrocken. „Wiederhole das!“
„Um die wundertätige Madonna aus der Blachernos–Kirche zu entwenden“, sagte sie langsam und mit Nachdruck. „Er hat gesagt, wenn er sie in der Hand hätte, würde dich der Basileus eher vom Eid befreien. Außerdem werde sie nicht sonderlich bewacht …“ „Bei den heiligen Patronen Lothringens! Wann sind sie aufgebrochen?“ „Vor einer knappen Stunde.“ „Vielleicht hole ich sie noch ein! Großer Gott! Mein Pferd! Schnell!“ Er flog am ganzen Leibe wie im Fieber. Eilends gürtete er sein Schwert und band mit zitternden Händen den Kinnriemen seines Helmes fest. Endlich wurde ein Pferd herbeigeführt, dem man aus Zeitmangel nicht den hohen Rittersattel, sondern einen leichten Reisesattel aufgelegt hatte. Gottfried lief, so wie er war, ohne Rüstung, nur mit dem Schwert bewaffnet, aus dem Zelt. In größter Hast griff er nach dem Steigbügel und wartete nicht, bis ihm der Knecht beim Aufsitzen behilflich war. Er nahm die Zügel, wandte sich nochmals um und rief: „Gott vergelt es dir, Gontrana!“ Dann galoppierte er davon. Das Roß holte weit aus, straffte sich wie eine Sehne, aber Gottfried schien es, als bewege es sich so langsam wie eine Schildkröte. Er feuerte es immer wieder durch Zurufe und Schenkeldruck an. Mit Entsetzen dachte er daran, daß er zu spät kommen und den Kirchenraub nicht mehr verhindern könnte. Empörung und Zorn übermannten den von Natur so Besonnenen und Sanftmütigen. Da er offen, ehrlich und peinlich gewissenhaft war, lag ihm jede Gewaltanwendung fern, er ertrug keine Rechtsbrüche, auch dann nicht, wenn sich diese zum Vorteil oder zum Wohle auswirkten. Ebensowenig duldete er die Mißachtung der bestehenden göttlichen oder irdischen Gesetze. Die höchste Freiheit bestand seiner Auffassung nach in der allgemeinen, gegenseitigen Achtung der Rechte jedes Menschen. Ihn erbitterte daher die Kunde von dem ungeheuerlichen Vorhaben seines Bruders nicht nur deshalb, weil es ein Kirchenraub war, ein Verbrechen, für das Gott den ganzen Heerbann gewiß bestrafen werde, sondern auch, weil das eine
unritterliche, niederträchtige Verletzung der Eigentumsrechte des Staates war, in welchem sie weilten. Es war eine Todsünde und zugleich ein schimpflicher Raub. Schließlich erblickte er den kleinen Trupp. Er atmete auf verlangsamte sein Tempo aber nicht. Die Schar vor ihm ritt ohne Eile, wahrscheinlich, um kein Aufsehen zu erregen. Die Herren unterhielten sich ganz offen und schauten sich ruhig nach allen Seiten um, wie gewöhnliche Reisende. Gottfried holte sie ein, sprengte an ihnen vorbei, wendete sein Pferd und brachte es vor ihnen zum Stehen. Das Tier schnaufte. Von den Flanken fiel der Schaum in Flocken zu Boden. „Gottfried!“ rief Balduin erstaunt aus. „Kehrt um! Kehrt um!“ rief Gottfried, mühsam nach Atem ringend. „Kehrt um! Sofort! Ich weiß alles!“ wiederholte er. „Wir sind ausgeritten, um uns ein wenig die Stadtmauern anzusehen“, hob Balduin mit gespielter Unbefangenheit an. „Seid still! Ich sage euch, daß ich alles weiß … Kehrt um! Dem Allerhöchsten sei Dank, daß ich euch rechtzeitig eingeholt habe.“ „Wer hat dir das gesagt?! Welches verfluchte Luder hat das verraten?“ rief Balduin aus, ohne den Versuch, etwas zu verheimlichen. „Einerlei, wer es war. Möge Gott ihn dafür segnen! Er hat euch vor einem Verbrechen bewahrt und mich und das ganze Heer vor einer Schande … Nun aber genug davon! Wir kehren um!“ Doch Balduin ließ sich von dem einmal gefaßten Entschluß nicht so leicht abbringen. „Hindere uns nicht, Gottfried! Ich möchte dem, der dir das verraten hat, den Kopf abschlagen; aber da du es nun einmal weißt, bitte ich dich, hindere uns nicht! Gott ist unser Zeuge, daß wir dir ohne dein Wissen helfen und diese Sünde auf unser eigenes Gewissen nehmen wollten. Und wir nehmen es auf uns! Wir fürchten uns nicht. Gott wird uns strafen, nicht dich. Ich halte unser Vorhaben auch für keine Sünde, das schwöre ich bei meiner Ehre.“
„Wir auch“, bestätigten einstimmig die drei Ritter, Montaigu, d’Esch und du Bourg. „Redet keinen Unsinn“, unterbrach sie Gottfried empört. „Ihr seht das nicht als eine Sünde an? Einen schändlichen Kirchenraub? Die Seele … der Verdammnis ausgeliefert, der ewigen … der ewigen! Teufelswerk! Wollt ihr die Verteidigung Jesu Christi mit der ruchlosen Beleidigung Seiner Mutter beginnen?!“ „Aber Mensch, Bruder! So höre doch!“ „Nein! Nein! Ihr habt alle den Teufel im Leib!“ „Wir sind nicht vom Teufel besessen. Deine Gedanken gehen seltsame Wege, Gottfried! … Kirchenraub, Beleidigung?! … Sind wir etwa Heiden? Hältst du uns für fähig, der Allerheiligsten Jungfrau ein Unrecht zuzufügen?! Ist sie in unseren Händen nicht sicherer als bei den Schismatikern? Wer ist ihr angenehmer? Diese heuchlerischen, satten Genießer oder wir, die wir gekommen sind, ihren Sohn zu erretten, wir, die wir zu Hause alles aufgegeben haben? … Was ist hier Sünde? Was ist hier Verbrechen?“ „Lästere nicht, Bruder! Solange ich lebe, wirst du so etwas nicht tun. Sünde ist Sünde, und der Raub eines fremden Heiligtums ist und bleibt Raub und eines Ritters unwürdig.“ „Raub?“ stieß Balduin höhnisch hervor, „Gottfried, du redest wie ein Kind. Das ist kein Raub, denn man hat uns Unrecht zugefügt, man hat uns betrogen! Der Basileus ist verpflichtet, uns das zu geben, was wir zum Leben brauchen. Er hat durch seine Abgesandten in Clermont um Hilfe gewinselt. Erinnerst du dich nicht, wie er gebettelt hat? Er hat uns getäuscht und ergeht sich jetzt in Beteuerungen, daß es ihm um nichts anderes gehe als um Christus! Das hat er mehr als einmal gesagt. Und wie sieht es in Wirklichkeit aus? Es geht ihnen nicht um Gott! Es geht ihnen nur um ihr Gold! Wir sind gekommen, um das Heilige Grab zu befreien, dieser prächtige Herr aber verweigert uns die Überfahrt, das Essen, obwohl hier alle so satt sind, daß ihnen das Fett nur so in den Bart läuft. Sie können nicht einmal alles auffressen, was sie sich
auftischen. Für mich ist Alexios schlimmer als ein Heide! Ein falscher Hund! Verflucht sei seine Mutter!“ „Du redest, wie du es verstehst! Ich weiß, was ich sage. Nie und nimmermehr dulde ich das. Kehrt jetzt sofort um mit mir. Und keinen Schritt aus dem Lager ohne meine Erlaubnis. Montaigu, von dir habe ich das nicht erwartet!“ „Balduin hat recht“, entgegnete der Ritter kurz. „Nein“, rief Gottfried aus, „er hat nicht recht! Ob euch im übrigen meine Gründe richtig erscheinen oder nicht, darum geht es nicht. Ihr habt mir zu gehorchen, denn ich bin der Führer!“ „So ist es!“ gab Montaigu hochmütig zu. „Ich gehorche nicht und kehre auch nicht um!“ rief Balduin trotzig aus. „Ich denke nicht daran umzukehren! Ich habe mir gestern die Kirche angesehen. Sie wird am Tage nicht bewacht. Die Mönche sind zu dieser Zeit im Kloster beschäftigt. Nicht eine Sterbensseele ist dort anzutreffen. Das Gitter ist so schwach, daß es ein Kind aufbrechen kann. Ehe sich jemand versieht, haben wir die Allerheiligste Jungfrau schon im Lager. Dort soll es nur einer wagen, Sie uns wegzunehmen! Und du wirst erleben, ob der Basileus dann nicht zu Verhandlungen bereit ist!“ „Wenn du das tust“, rief Gottfried verzweifelt aus, „so stürze ich mich in mein Schwert! Eine solche Schmach überlebe ich nicht!“ „Und das Heer? Soll es hierbleiben und verrecken oder etwa umkehren?“ fragte Balduin spöttisch. „Sich töten … Ein feiner Gedanke, er paßt zu einem Führer; aber mir scheint, daß meiner besser ist. Drohe nicht mit dem Schwert, kehre ins Lager zurück, bete, weine, bitte Gott um Rat — wir tun inzwischen das Unsrige!“ „Ich werde mich mit dem Schwert durchbohren“, erklärte Gottfried dumpf, und Balduin erschrak, als er die Entschlossenheit in dem Blick seines Bruders sah. „Was willst du denn nur? Gib uns zu essen, wir sind hungrig“, rief er zornig aus, „ich überlasse dir die Wahl: Entweder erlaubst du uns, die Madonna als Unterpfand von hier fortzunehmen, oder ich rufe sofort, heute noch, das Heer zusammen und ziehe gegen die
Stadt. Wir denken nicht daran, um des Basileus’ und deiner Milde willen vor Hunger zu krepieren!“ „Gib uns zu essen!“ Dieser Ruf, der in die Kinderseele Peters, des Eremiten geschnitten hatte, bohrte sich jetzt ebenso schmerzhaft in die Seele Gottfrieds. „Gib uns zu essen!“ Kein Ziel, nicht einmal das heiligste, keine Begeisterung, keine Aufopferung, nichts verschlägt, wenn man den Menschen nichts zu essen gibt. „Ihr werdet zu essen bekommen, Balduin“, sagte Gottfried mühsam seine trockenen Lippen bewegend. „Ihr werdet essen, schon morgen. Ich werde dem Basileus den Eid leisten. Das ist eine geringere Schmach als das, was ihr vorhabt.“ „Wie es dir beliebt“, entgegnete Balduin, „aber mir scheint, es verhält sich anders.“ „Uns auch!“ stimmten die drei Ritter im Chor zu. „Ich werde schwören“, sagte Gottfried, ohne ihrer Worte noch zu achten. „Kehrt ins Lager zurück … Konon soll sich umkleiden und sofort zu Graf Hugo reiten. Der Graf soll den Basileus benachrichtigen, daß ich bereit bin, den Eid abzulegen, heute, morgen oder wann es dem Kaiser beliebt.“ Die Reiter blieben unbeweglich, daher rief er ihnen ungeduldig zu: „Tut, was ich euch befehle! Kehrt um! Ich bleibe noch hier. Einen Knappen! Er soll nachher mein Pferd halten!“ Er ritt im Schritt auf die nicht mehr ferne Blachernos–Kirche zu, ohne sich noch einmal nach den Davonreitenden umzusehen, warf vor dem Gotteshaus dem Knappen die Zügel zu und betrat das Innere. Kein Mensch! Gottfried dachte mit Schrecken daran, wie außergewöhnlich leicht das Vorhaben Balduins zu verwirklichen gewesen wäre. Er kniete vor dem kunstvoll geflochtenen goldenen Gitter nieder und richtete seinen Blick auf das dahinter sichtbare dunkle, sanfte, byzantinische Antlitz der Mutter Gottes. Er sah das wehmütig geneigte Haupt, den Zug entsagungsvoller, barmherziger Nachsicht um die schmalen Lippen …
„Maria … Königin …“, flüsterte er, „Du Allerheiligste, es ist besser, daß man mich demütigt als Dich …“ Mit ruhigem Herzen trat er ins Freie. Balduin und die ihn begleitenden Ritter kehrten schweigend ins Lager zurück, schlechter Laune, weil ihnen ihr Vorhaben mißlungen war. „Etwas Gutes haben wir doch erreicht“, meinte Balduin schließlich, „wir haben Gottfried zu einem Entschluß gezwungen. Ich kenne ihn. Er hätte noch einige Wochen gebetet und auf gottweißwas gewartet; inzwischen aber wäre die Hälfte der Mannschaft auseinandergelaufen oder vor Hunger gestorben.“ „Ein schwerer Eid“, bemerkte Wilfried d’Esch, „ich würde ihn für nichts in der Welt leisten.“ „Ich auch nicht“, bestätigte du Bourg. „Und ich auch nicht“, versicherte Balduin. „Ach, wenn uns das gelungen wäre! Alles nur durch Verrat oder durch Geschwätz … Aber von wem? Wer hat ihm das hinterbracht? Wer hat gelauscht? Wer? Wir haben doch die Beratungen in meinem Zelt geführt, und nicht einmal ein Knappe war zugegen …“ „Niemand von uns hat ein Sterbenswörtchen darüber verloren“, stellten die drei Ritter einstimmig fest. „Das weiß ich sehr gut, aber wer war es? Wer war es? Man müßte ihm den Kopf abdrehen, ihn in Stücke zerhacken!“ drohte Balduin in verzweifelter Wut „Wer kann ihm das nur gesagt haben?“ überlegte er eine Stunde später, im Selbstgespräch, in seinem Zelt. Seine Gattin Gontrana saß still in der Ecke und stopfte mit ihren frostgeröteten Fingern, über deren Anblick der Grieche Dimitrios so entsetzt gewesen war, emsig sein schadhaftes Wams. Der riesige Thronsaal, das Chrysotriklinion, erstrahlte im Schein tausender brennender Kerzen, die in goldenen Leuchtern steckten. In ihrem Schein erglänzten die Wände, die Saaldecke und die sie stützenden Säulen in allen Regenbogenfarben. Der Saal war nur mit Gold, Edelsteinen und wertvollen Kristallen ausgeschmückt und
übertraf in seiner Schönheit alles, was man sich nur denken konnte. Gold überwog in allen Schattierungen die anderen Farben. Die unerreichte künstlerische Ausführung wetteiferte mit der Kostbarkeit des verwendeten Materials. Alles, was ägyptische, babylonische, persische Kunst und die jüngste, aber die vortrefflichste unter ihnen, die griechische, geschaffen und der Welt geschenkt hatten, war hier zusammengetragen, ineinandergeflossen, weiterentwickelt, zweckentsprechend verbunden zu einem Wunder erhabenen Reichtums und herrlicher Harmonie. Der Chrysotriklinion–Saal, der von denselben Baumeistern, welche die Hagia Sophia geschaffen hatten, erbaut worden war, schien für höhere, vollkommenere Wesen als die sündhaften Menschen auf der Erde bestimmt. Ein Drittel der Länge des Saales war durch einen goldenen, dicht schließenden Vorhang, in den große Fabeltiere und Greifen gewebt waren, abgeteilt. Der Vorhang floß von der Saaldecke in gleichmäßigen Falten, die wie dünne Wasserstrahlen glänzten, herab. An beiden Seiten befanden sich große Türen aus Gold und Elfenbein, die zu weiteren, ebenso großen, prächtig ausgestatteten Gemächern führten. Auf dem goldenen Hintergrund der Mosaike, welche die Wände bedeckten, waren die Gestalten der Herrscher als Sieger, im Glorienschein, als Apostelgleiche, als kluge Gesetzgeber, als Bekämpfer der Feinde der Kirche oder als Bezwinger wütender Löwen dargestellt. Auf dem Marmorfußboden eines der Säle leuchtete farbenfreudig ein riesiger radschlagender Pfau, dessen Schwanzfedern von Edelsteinen funkelten. In den vier Ecken glänzten auf reichverzierten Medaillons golden die kaiserlichen, weltbeherrschenden römischen Adler, die mit aufgerissenem Schnabel nach Ost und West blickten. Hinter dem Pfauensaal befand sich das Perlengemach, so benannt nach der Unmenge der hier zur Verzierung der Wände verwendeten Perlen, die es in ein geheimnisvolles Mondlicht zu tauchen schienen. Zu den weiteren Sehenswürdigkeiten gehörten der Empfangssaal der Basilissa, dessen Estrich den Eindruck einer mit Blumen besäten Wiese
hervorrief, ferner ein Saal, dessen Wände aus grünem Porphyr und weißem Marmor dem Raum eine solch vollendete Schönheit verliehen, daß dieses Gemach Harmonie genannt wurde, ferner der Hochzeitsaal mit dem großen, aus gediegenem Gold bestehenden Bett und der in die Geschichte eingegangene Purpursaal, in welchem die Kaiserinnen niederkamen. Die hier geborenen Kinder erhielten den Titel Porphyrogenetoi oder die im Purpur Geborenen. Zwar hatte der Saal seinen Namen wegen des kostbaren Purpurs der Wände erhalten, aber er hätte ihn auch auf Grund des hier nicht selten vergossenen Blutes führen können. Die einmalig schönen Gemächer des Heiligen Palastes waren von blutrünstigen Ereignissen und grauenerregenden Erinnerungen umwittert. Hier, in dem purpurnen Geburtengemach, wurden dem unglücklichen Kaiser Konstantin VI. auf Befehl und in Gegenwart seiner Mutter die Augen ausgestochen. Hier knieten einst die fünf Schwestern des Kaisers Romanos vor ihrer Schwägerin, der schönen Theophano, und flehten vergeblich, sie in ihrer jugendlichen Schönheit nicht zu lebenslänglicher Abgeschiedenheit in einer Klosterzelle zu verurteilen. — Wie recht hatte der Graf de Vermandois gehabt, als er zu Gottfried sagte, daß nur selten die Herrscher an Altersschwäche aus dem Leben schieden. Sie starben nur zu oft eines gewaltsamen Todes, denn das Labyrinth der Gemächer des Heiligen Palastes bot den Verschwörern jederzeit Unterschlupf. „Purpur ist ein schönes Leichentuch“, hatte einst Theodora die Große, die Seiltänzerin und Straßendirne, die später in der ganzen Welt berühmte Basilissa, gesagt. In dem großen Chrysotriklinion herrschte, trotz der prächtigen Menge, die den Saal füllte, vollkommene Stille. Nur das Rascheln der seidenen Gewänder war zu hören. Das Hofzeremoniell, das die Regeln am Hofe für alle eventuell eintretenden Begebenheiten, für Empfänge, Abreisen, Ankünfte, verschiedenartige Feierlichkeiten und Handlungen genau vorschrieb, war seit Jahrhunderten festgelegt und wurde streng eingehalten. Diesem Zeremoniell
gemäß wagte niemand das Schweigen zu brechen, bevor es nicht der noch hinter dem Vorhang unsichtbare Basileus getan hatte. In der vorgeschriebenen Ordnung warteten der altehrwürdige Patriarch in steifer, golddurchwirkter Dalmatika, umgeben von einer Schar Diakone, die wichtigsten Würdenträger des Hofes, der Parakimenos, der Kyrpalatiou, der Großdrungarios der Flotte und der Großdrungarios des Logothesions oder der Befehlshaber der Landstreitkräfte des gesamten Kaiserreiches, der Protostrator oder der Großstallmeister, der Protoproedros, der Protovestarios oder der Garderobenverwalter. Manche Titel, wie Panhypersebastos oder Drungarios Sebastos, waren nur Ehrentitel und mit keinem Amt verbunden. Gewöhnlich verlieh sie der Basileus seinen eigenen Verwandten, dieser Plage der Monarchen, um deren niedrigen Ehrgeiz zu befriedigen und sich davor zu schützen, daß jemals einer von ihnen die Purpursandalen anzöge und sich als Kaiser ausrufen lasse. Hinter den Würdenträgern stand eine Menge Eunuchen in weißen Gewändern und einem goldenen Band um den Kopf. Unter ihnen befanden sich viele Bastarde des Kaisers, die im Schatten des Thrones geboren waren und denen man auf diese Weise jede Hoffnung, irgendwann einmal Herrscher zu werden, hatte nehmen wollen. Die Verstümmelung hinderte sie jedoch nicht, hohe Ämter zu bekleiden. Nicht allein der Stratigos Argyrios war Statthalter in einer Provinz, alle hatten noch den schrecklichen Parakimenos, den Eunuchen Basilius, in Erinnerung, der während der Regierung von drei Kaisern die Geschicke des Staates gelenkt hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saales war der Platz für die Frauen. In langer, gleichmäßiger Reihe standen die Patrizierinnen, die „Zostai“ genannt wurden, oder die Erwählten, die zu jeder Tageszeit Zutritt zu den Gemächern der Basilissa hatten. Sie waren in die gleichen schleppenden Hofgewänder aus wunderschönen, hochglänzenden, farbenprächtigen Stoffen gekleidet. An ihren Händen, Armen und Hälsen glitzerte erlesenster Schmuck. Ihre Haare waren zu einer turmhohen Frisur aufgesteckt, die Propolona
genannt wurde und von der ein weißer, durchsichtiger Schleier auf den Rücken herabfiel. Hinter dieser Reihe hatte auf einem thronähnlichen Sitz die Mutter des Basileus, Maria Dalazenos, eine alte Frau mit strengen, beinahe unbewegten Zügen, Platz genommen. Ihren langjährigen Bemühungen, Intrigen und Ränken verdankte ihr Sohn Alexios den Thron, deshalb fühlte sie sich auch berechtigt, in allen Staatsangelegenheiten mitzureden. Sie war unerbittlich und hart. An der Seite ihrer Großmutter saß Alexios’ älteste Tochter, Anna Porphyrogeneta, ein dreizehnjähriges Mädchen, das jedoch den Eindruck einer Erwachsenen machte. Sie war groß und über ihr Alter hinaus entwickelt. In dem ausdrucksvollen dunklen Gesicht brannten zwei große schwarze Augen. Sie hatte lebhafte, anmutsvolle Bewegungen. Ihr Vater liebte sie über alles; denn er war stolz auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten seiner Erstgeborenen. Sie hatte Unterricht in Rhetorik, Philosophie, Geschichte, Literatur, Geographie, Mythologie, den exakten Wissenschaften Algebra und Geometrie sowie in Musik und Astrologie, sprach fließend Latein und kannte alle Schriftsteller des Altertums. Neben ihr, jedoch auf einem erhöhten Sitz, saß, wie eine kostbare Puppe in Goldstoffe gehüllt, ihr siebenjähriger Bruder, der Thronfolger Johannes Porphyrogenetos. Er hatte eine gelbliche, ungesunde Gesichtsfarbe, einen unnatürlich breiten Schädel und den matten Blick eines kränklichen Kindes. Bis zu seiner Geburt war Anna als die Nachfolgerin des Alexios angesehen worden, deshalb konnte auch das ehrgeizige, hochmütige Mädchen dem Bruder nicht verzeihen, daß er das Licht der Welt erblickt hatte. Sie haßte ihn, und dieser Haß, der mit zunehmendem Alter wuchs, sollte sie dereinst, nach Jahren, bis zum Verbrechen treiben. Ein unsichtbares, nur aus Flöten bestehendes Orchester spielte. Alle verneigten sich tief bis zur Erde und verharrten in dieser Haltung. Der purpurgoldene Vorhang lüftete sich langsam. Auf einer Art Podium zeigte sich das kaiserliche Paar in seiner ganzen Majestät.
Alexios Komnenos saß auf dem so oft geschilderten berühmten Thron. Er hatte einen vollen schwarzen Bart, der das halbe Gesicht bedeckte, schöne Augen, die denen seiner Tochter glichen, und einen scharfen Blick, der scheinbar gutmütig, in Wirklichkeit aber listig war. Die neben ihm auf einem niedrigeren, kleineren Thron sitzende Basilissa Irene, aus dem Geschlecht der Dukas, die Tochter des vorherigen Kaisers, zeichnete sich entgegen den Vorschriften, welche die Schönheit als notwendiges Attribut der Basilissa forderten, durch keine körperlichen Vorzüge aus; aber die Ehe mit ihr war für den Usurpator ein so wichtiger politischer Schachzug gewesen, daß Alexios nicht gezögert hatte, diese Nachteile in Kauf zu nehmen. Und so lobpriesen die Dichter und Schmeichler des Hofes denn die Basilissa als die schönste Rose der Welt, die Zierde des Thrones, als den Ruhm des kaiserlichen Purpurs und das Lächeln der Morgenröte. In Wirklichkeit war Irene klein und hager. In ihrem grauen, unfreundlichen Gesicht spiegelte sich Eigensinn. Von ihrem Gatten ungeliebt, von der Schwiegermutter, der unbeugsamen Maria Dalazenos, schlecht behandelt, wurde sie sehr fromm und umgab sich mit einem Schwarm von Mönchen. Jetzt saß sie neben ihrem Gatten in der prächtigen, für sie unpassenden Tracht der Basilissa, unbeweglich, steif, unpersönlich und gleichgültig. Ähnlich wie ihr Gatte hatte sie ihre Hände in der vorgeschriebenen Haltung auf den Knien gefaltet, den leeren Blick in den Raum gerichtet. Im Augenblick, als sich der Vorhang lüftete, nicht eine Sekunde früher oder später, wurde auf der gegenüberliegenden Seite Gottfried, der Herzog von Lothringen, hereingeführt. Zwei bartlose Eunuchen, die in ihren weißen Gewändern wie Schutzengel wirkten, geleiteten ihn fürsorglich an den Armen. Ihm folgten, mit über den Boden schleifenden Schwertern, Balduin von Lothringen, Konon de Montaigu, Wilfried d’Esch, Paul du Bourg und der Graf de Hainaux. Sie hatten die über der Rüstung hängenden Mäntel stolz über die Schulter geworfen, als wollten sie ihre harte, ritterliche Schlichtheit besonders hervorkehren, Gottfried hatte nach
den Seelenkämpfen der letzten Tage ein graues, eingefallenes Gesicht und tiefe Schatten unter den Augen. Er ging, weil man ihn führte. Er blickte zu Boden und schien die farbenfreudige Menge, die ihn neugierig betrachtete, nicht zu bemerken. In der Mitte des Saales angelangt, erglänzte plötzlich vor seinen Füßen ein goldenes Kissen. Man hielt ihn an. Der Patriarch trat mit dem Kreuz heran. Die steife Dalmatika rauschte über den Boden. Auf seinen violetten Pantoffeln schimmerten riesige Perlen. Gottfried legte die Finger auf das Kreuz wie auf den einzigen, ihm verbleibenden Hort, der als Freund und Helfer niemand verläßt. Mit vernehmbarer Stimme sprach er die Eidesformel. Das Kreuz entschwand seinen Blicken. Der Herzog erhob sich, von den Eunuchen gestützt. Er wurde weitergeführt, die ihn begleitenden Ritter blieben zurück. Bis dicht an den Thron sollte er treten, zum zweiten Male niederknien, aber diesmal nicht vor dem Kreuz, sondern vor dem Basileus, dessen Fuß, Knie und Hand küssen, dann vor der Basilissa niederknien, ebenfalls deren Fuß, Knie und Hand küssen … er, der freie Ritter, der niemandem untertan war, sollte sich demütigen, wie sich noch niemand aus seinem Geschlecht gedemütigt hatte … Tödlicher Haß überkam ihn. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn … ‚Für Dich, Christus … für Dich, Christus …‘ wiederholte er in seinem Inneren. Aber die Worte wollten ihm nicht ins Herz dringen, seine Seele blieb kalt. Hatte man ihn nicht schon genug gedemütigt, fast wie einen Gefangenen geführt? Jeder einzelne Schritt kostete ihn unmenschliche Überwindung. Er trat schwerfällig, mit todblassem Gesicht näher. Er hatte noch einen Schritt zu gehen. Zwei Kissen wiesen die Stelle, wo er niederknien sollte. Wo er niederknien mußte … für Christus! … Für Christus! Nein, er vermochte es nicht. Aber er mußte! Die Eunuchen traten zurück, und plötzlich schloß ich mit unerwartet fließendem Geräusch, dicht hinter dem Rücken des Herzogs, der goldene Vorhang. Gottfried befand sich wie in einem kleineren, mit Weihrauch angefüllten Raum, allein mit dem unbeweglich dasitzenden Herrscherpaar.
Er atmete unwillkürlich erleichtert auf, als er von den Blicken hunderter neugieriger Augen befreit war, schaute geradeaus und erstaunte. Von den Gesichtern Alexios’ und seiner Gattin war die bisherige Starre gewichen. Das Herrscherpaar wurde menschlich, es lächelte. Kaiserin Irene etwas gezwungen, Alexios freundlich, beinahe einnehmend. „Ich erlasse dir den Fußfall, mein Sohn“, sagte der Kaiser in tadellosem Latein, „der Eid genügt. Setze dich hier zu meiner Seite.“ In dem Gefühl der Entspannung, der Freude und der Dankbarkeit strömte Gottfried alles Blut zum Herzen. Er hätte jetzt wie ein Sohn, freiwillig und ohne Zwang, die Hand des Menschen geküßt, der ihn von der Qual befreit hatte. Unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen, setzte er sich auf den ihm gewiesenen niedrigen Stuhl. Da zog sich der Vorhang auch schon wieder mit demselben feinen Geräusch auseinander. Der Kaiser und die Kaiserin erstarrten wieder, sie verwandelten sich in zwei, in ihrem Schmuck glänzende Puppen. Ihre Steifheit unbewußt nachahmend, schaute Gottfried, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Saal. Er blickte ruhig, aufmerksam. Seine Gedanken ordneten sich langsam wieder. Sein Blick schweifte über die Würdenträger des Hofes, die Eunuchen, die Diakone, die im Hintergrund stehenden serbischen, bulgarischen und chasarischen Fürsten, die dem byzantinischen Kaiser untertan waren, und blieb schließlich auf den eigenen Gefährten haften. Er lächelte ihnen zu, obwohl sie dieses Lächeln nicht wahrnehmen konnten. Wie schön schienen sie ihm, inmitten des sie umgebenden Prunkes, wie frei und stolz standen sie in ihren eisernen Rüstungen da, mit den großen Schwertern, die den Gurt auf die Hüfte herunterzogen! Wie unterschieden sie sich von diesen glatten griechischen Höflingen, wie anders waren sie, so von Grund auf anders! Sie waren die Teueren, die Lieben, die Eigenen! Er fühlte sich mit jeder Faser seines Leibes, mit jedem Tropfen seines Blutes zu ihnen gehörig, als Lateiner, mit ihnen aufs engste
verbunden, dem Osten aber fremd, von der byzantinischen Welt wie durch einen unüberschreitbaren, tiefen Abgrund getrennt.
SECHSTES KAPITEL Satan oder Gott
Peter lag zu Füßen des Bischofs und schluchzte. Er umschlang die Beine Ademars, küßte dessen Schuhe, schlug mit dem Kopf auf den Boden und stammelte unter Tränen unverständliche Worte. Der Bischof blickte mitleidig auf ihn herab und forderte ihn vergeblich auf, sich zu beruhigen und vernünftig zu reden. Schließlich hob er mit seiner starken Hand den elenden, kleinen Menschen auf und stellte ihn vor sich hin. „Setz dich hierher“, sagte er und wies dabei auf einen niedrigen Kasten, „setz dich und erzähle, was ihr treibt. Ziehe die Kapuze vom Kopf, denn ich kann dein undeutliches Gerede nicht verstehen.“ Unsicher schob Peter die Kapuze auf die Schultern. Mit seinen geröteten Augen zwinkerte er wie ein lichtscheuer Vogel. Er schien noch kleiner und erbärmlicher als je zuvor, hatte geschwollene Lider, ein ausgemergeltes, eingefallenes Gesicht mit langen Bartstoppeln. Der Ausdruck eines gehetzten Tieres schwand nicht aus seinen verängstigten Zügen. „Erzähle von Anfang an“, wiederholte der Bischof ernst. „War ich nicht mit Recht dagegen, daß ihr ohne mich aufbracht?“ „Oh, Ihr hattet recht, Hochwürdigster Herr, aber mich trifft keine Schuld. Meine Leute haben mich dazu gezwungen …“ „Keine Verstellungen! Ich erinnere mich noch gut daran, daß du dich selbst zum Führer bereit erklärt hast …“ „Ja! Ich habe es verschuldet!“ stöhnte Peter reumütig und fiel wieder auf die Knie. „Bleib ruhig sitzen und erzähle. Ich bin des Gejammers müde und will endlich die Wahrheit hören.“
Sich nur mit Mühe beherrschend, begann Peter der Eremit, alles ausführlich zu schildern, was sich seit der Zeit des furchtbaren Zuges durch Ungarn ereignet hatte. Er berichtete über die Versenkung der drei Fähren, die mit den Ärmsten der Armen voll besetzt gewesen waren: „An die tausend Menschen! An die tausend Menschen waren es!“ wiederholte er, die Hände vor Verzweiflung ringend. Er erzählte von dem starken Regiment Walters ohne Habe, vor dem alle gezittert hatten, und schließlich von der Ankunft in Byzanz. „Wir schlugen vor der Stadt ein Lager auf“, sagte er, „an Essen mangelte es nicht, wir können uns Gott sei Dank nicht über den Basileus beklagen; aber was half das? Die Menschen konnten in ihrer Untätigkeit nicht an Zucht und Ordnung gewöhnt werden. Kaum hatten sie sich ein wenig ausgeruht, da ging es schon los. Sie durchstöberten alle Vorstädte, stahlen und plünderten, soviel sie nur konnten. So viel Gold überall! Wie kann man da der Versuchung widerstehen? Es war ja auch das Gut von Schismatikern! Schließlich holten sie sich das Bleidach vom Sommerpalast des Kaisers und verkauften es an die Genuesen …“ „Unflätiges Gesindel! Eine Schande!“ unterbrach der Bischof zornig. „Ich bin unschuldig, Hochwürdigster! Niemand hat mehr auf mich gehört. Sie haben mich verhöhnt. Und Walter, weiter nichts als ein Räuber! Es ist ihm gleich, mit wem er sich schlägt. Nur immer Schlägereien. Er haßt alle gleicherweise … redet sogar davon, daß er lieber gegen die Griechen als gegen die Sarazenen ziehen würde, denn er verspreche sich von den Griechen bedeutend größere Beute … Ich bin unschuldig …“ „Erzähle, was weiter geschah!“ „Als die Krieger des Basileus den Palast ohne Dach sahen, umzingelten sie das Lager von allen Seiten und befahlen, daß wir uns schleunigst einschiffen sollten. Sie sagten, sie hätten den Befehl, jeden, der sich weigern sollte, totzuschlagen. Aber in dem Lager befand sich nur noch die Hälfte der Insassen, der Rest trieb sich irgendwo herum. Den haben wir nie wieder gesehen. Wir wissen
auch nicht, was mit ihm geschehen ist, ob er sich irgendwo versteckt hält wie Räuber oder ob er niedergemetzelt worden ist.“ „Und hat man euch übergesetzt?“ „Sie haben uns übergesetzt und uns wie Vieh mit Knüppeln bis nach Civitot in die Nähe der heidnischen Grenze getrieben, in ein großes, mit einem Pfahlzaun umgebenes Lager. Dort sitzen wir schon beinahe ein halbes Jahr. Galeeren bringen uns täglich Lebensmittel. Auf einer bin ich hierhergekommen, als ich von Eurer Ankunft hörte und von den übrigen edlen Herren.“ „Hungert ihr nicht?“ „Nein, Hochwürdigster Herr, sie bringen uns reichlich von allem, was wir brauchen!“ „Also geht es euch im Grunde genommen jetzt nicht schlecht?“ Peter verhüllte mit zitternden Händen sein Gesicht. „In der Hölle kann es nicht schlimmer sein“, stieß er hervor. „Ganz sicher würde kein Unrecht herrschen, wenn die Menschen anders wären. Jeder ist satt. Keiner wird zur Arbeit angetrieben. Alle sind frei. Ein Fluß befindet sich in der Nähe. Man kann baden, man kann seine Kleider waschen, man kann fischen. Man kann auch ganze Tage in der Sonne liegen und seine Knochen wärmen. Keine wilden Tiere. Ein sicheres Land. Aber die Menschen können die Ruhe nicht ertragen. Nicht einen einzigen Tag! Im Lager gibt es ständig Schlägereien, Geschrei, Gezänk. Es vergeht kein Tag, an dem nicht mehrere umgebracht werden. Einer blickt den anderen scheel an. Und die Unzucht! Kein einziges Mädchen besitzt noch seine Unschuld. Jedes hat ein Kind! Ebenso sieht es mit den Ehefrauen aus. Öffentlich treiben sie Unzucht, soviel sie wollen. Jeder Schönen schleichen gleich ein paar Männer nach wie Wölfe einer Wölfin. Eine Schande! Es graut einem, davon zu berichten. Alle sind wie toll geworden, Männer und Frauen, alt und jung. Das ist kein Kreuzfahrerlager mehr, das ist ein unflätiger, satanischer Haufe!“ „Was sagt denn Walter dazu? Hast du mir nicht erzählt, daß er eine schwere Hand hat?“
„Walter schert sich nicht um solche Dinge. Er hat seine zwanzigtausend Bewaffneten, die ihm blind gehorchen und kurz gehalten werden. Er hat ein besonderes Lager für sie aufgeschlagen und kümmert sich gar nicht um uns. Was gehen ihn die anderen an? Früher war vielleicht noch in ihm der Rest eines christlichen Gewissens, aber heute? Walter hat sich einen Freund gesucht, der Georg Burel heißt und ein großer Schurke ist! Dieser hat ihn ganz in der Hand. Sie betrinken sich beide und unternehmen gemeinsam ihre Züge.“ „Welche Streifzüge können sie denn von dort aus unternehmen?“ „Hinter die türkische Grenze. Nicht einen einzigen Sonntag sitzen sie zu Hause! Sie ziehen gegen Nikodemia, gegen Xerigordon … manchmal sogar gegen Nizäa …“ „Da kämpfen sie wenigstens gegen die Sarazenen“, stellte der Bischof mit Erleichterung fest. „Das schon, Hochwürdigster Herr, aber nicht gegen das Heer, sondern gegen die Bevölkerung! Die dortigen Bewohner sind Christen, obwohl sie seit fünfzehn Jahren unter heidnischer Herrschaft leben. Die Sarazenen sitzen in ihren Festungen und behindern die Christen überhaupt nicht, im Gegenteil, sie freuen sich über die christlichen Kreuzfahrer, von denen die Kunde geht, daß sie Christen morden und vernichten. Walter kehrt niemals ohne Beute und ohne eine Anzahl Gefangener ins Lager zurück. Jeder der Gefangenen trägt ein geweihtes Kreuz um den Hals und ruft weinend Christus an …“ „Was macht Walter mit ihnen?“ „Er verkauft sie den Griechen, die uns mit den Galeeren dir Nahrungsmittel bringen. Für einen Spottpreis verkauft er die christlichen Brüder! Was die Griechen dann mit den Gefangenen anstellen, weiß ich nicht. Man sagt, daß sie diese Sklaven mit Verdienst an die Sarazenen bis nach Ägypten weiterverkaufen.“ „O Gott! O Gott!“ stöhnte Ademar. Peter fiel vor ihm auf die Knie.
„Herr“, rief er verzweifelt aus, „auch mit euch allen wird dasselbe geschehen! Kehrt um, solange es noch Zeit ist, bevor noch alle vom Teufel besessen sind! Denn nur der Teufel ist der Urheber von allem. Er, der Sünder von Anbeginn! Der ganze Kreuzzug ist nur eine Versuchung des Teufels, kein Werk Gottes, sondern des Satans.“ Ademar stampfte zornig mit dem Fuß auf. „Statt lästerliche Reden zu führen, schweig lieber, Peter! Es ist leicht, die Schuld auf den Satan abzuwälzen, wenn man selbst schuldig ist.“ „Ihr werdet es erleben! Ihr werdet es sehen! Wenn Ihr nicht zur rechten Zeit entkommt …“ „Du bist irre geworden, geh in die Kirche und bete …“ „Habe ich denn nicht genug in den Kirchen gekniet, auf dem Gesicht gelegen? Alles verlorene Mühe. Er wird mich auch in er Kirche finden! Er verfolgt mich, weil ich ihn erkannt und seine verfluchte Zauberei enthüllt habe … er, er! Durch ihn sind so viele gute Christen umgekommen und gehen noch täglich zugrunde. Sie zweifeln an Christus, weil Christus so etwas zuläßt. Der Satan ist schuld daran, daß die unschuldigen Mädchen sich der Schande hingegeben haben. Er ist die treibende Kraft, der falsche Herr dieses Kreuzzuges!“ „Geh in die Kirche“, wiederholte Ademar. Er hob den schluchzenden Peter von der Erde auf, machte über ihm das Kreuzeszeichen und hielt ihm seinen Ring zum Kuß hin. Aber seine Stimme klang nicht so sicher und entschlossen wie sonst, als er den Weinenden verabschiedete und tröstete. War der Grund dafür vielleicht der, daß der Ritter Raoul de Beaugency am gleichen Tage vormittags die Befürchtung geäußert hatte, der Kreuzzug sei ein Werk des Teufels und nicht Gottes? Raoul de Beaugency war einst dem Satan verfallen, denn er hatte seine Seele für den Preis der Rache an seinem Oheim bewußt und freiwillig verkauft. Die Annahme des Kreuzes hatte ihn von dieser Untertänigkeit befreit. Mehr als ein Jahr war er dann glücklich, frei
und selig gewesen. Nun aber, seit der Ankunft in Byzanz, befielen ihn Zweifel, ob er tatsächlich frei sei. Als er das Kreuz nahm, hatte er ebenso wie viele andere Reinheit gelobt. Ein Jahr hindurch setzte ihm dieses Gelübde nicht allzu hart zu, aber seit einer gewissen Zeit gingen seltsame Dinge in ihm vor. Jede Frau, die er sah, weckte in ihm ein Begehren, das stärker war als alles, was er bisher gefühlt hatte. Beim Anblick der schönen, prächtig gekleideten Griechinnen zitterte er wie ein Jüngling, der sich zum ersten Mal einer Frau nähert. Er schloß zwar die Augen und wandte den Kopf weg, aber vergeblich. Die schamlosen, verlockenden Gestalten drängten sich ihm gewaltsam auf, begleiteten ihn Tag und Nacht, und es gelang ihm nicht, sie zu vertreiben. Das konnte nichts anderes sein als ein Werk des Teufels. Der getäuschte Satan versuchte die Beute, die ihm entschlüpft war, wieder in seine Gewalt zu bringen. War er denn nicht das listigste aller irdischen Geschöpfe, er, der diabolos, der Verführer, er, der Erteiler böser Ratschläge, er, der tentator oder Versucher, der princeps mendacii, der Fürst der Falschheit, der Lüge und der Heuchelei. Im Grunde genommen kein anderer als der Böse, der malus, derjenige, der das Böse will, der das Böse bewußt verursacht? Er griff immer wieder mit seinen Klauen nach Raoul. „Weshalb hat er Gewalt über mich“, jammerte der verzweifelte Ritter, „bin ich denn kein Kreuzfahrer? Müßte mich nicht die Gnade Gottes beschützen?“ Woher hatte der Teufel Gewalt auch über die Kreuzfahrer? — Diese Frage konnte auch der kluge Bischof nicht beantworten. Natürlich hätte der Satan keine Gewalt über sie haben dürfen, und doch — er hatte sie. Wahrscheinlich hatte sich, entgegen den Hoffnungen des Papstes, die menschliche Natur allein durch dir Annahme des Kreuzes nicht geändert; denn die menschliche Natur ergab sich so leicht dem Bösen, folgte so gern den Einflüsterungen der unzählbaren Teufelsscharen, der kleineren und größeren, der des Feuers und der Luft, der irdischen und der unterirdischen, der des
Grabes und der Kirchhöfe, der am Wege wartenden und der des Wassers, der des Nordens, des Südens, des Ostens und des Westens. Überall waren sie, überall lauerten sie. Du, elender Mensch, kannst dich mit deiner eigenen Kraft nicht vor ihnen bewahren, beschützte dich und hülfe dir nicht die Gnade Gottes … Die Gnade, diese Helle, vor der die Mächte der Finsternis erzitterten, warum waltete sie nicht über den Häuptern der Kreuzfahrer? Hätte sie denn nicht diejenigen, welche sich mit Freuden für die Befreiung des Heiligen Grabes opferten, barmherziger schützen müssen als alle anderen? Die früheren Bedenken, die Zweifel am Gelingen des heiligen Zuges, die er dereinst, vor anderthalb Jahren, in der Stille des erzbischöflichen Turmes mit Papst Urban unter vier Augen vorgebracht, dann aus seiner Seele vertrieben und in Abrede gestellt hatte, kehrten jetzt beharrlich und ungestüm wieder. Und der von diesen Zweifeln hin– und hergerissene Ademar de Monteil, Bischof von Puy, Führer des heiligen Kreuzzuges, vermochte es nicht, Peter oder Raoul fest und zuversichtlich zu antworten, daß der Böse hier keine Macht besitze. „Gott, sei uns Sündern gnädig! Was wird geschehen, wenn ich, der sie führen soll, verzage?“ „Du bist schon verzagt“, antwortete eine Stimme in seinem Innern. Es war die Stimme dessen, der nach Meinung Peters des Eremiten der einzige wirkliche Urheber des Kreuzzuges war! „Du bist schon verzagt! Du hast ja niemals daran geglaubt! Du hast einen scharfen Verstand und weißt, zu welchem Wahnsinn ihr euch habt hinreißen lassen. Laß sie umkehren, solange es noch Zeit ist …“ „Kehrt um, Hochwürdigster Herr“, hatte vor einer Weile auch Peter weinend gefleht. „Kehr um“, flüsterte der heimtückische Berater in Ademars Seele. War es nicht besser, auf diese beiden zu hören? Die ersten fragwürdigen Taten der Kreuzfahrer angesichts der Sarazenen hatten doch darin bestanden, daß Christen umgebracht und in die Sklaverei verkauft worden waren. War es nicht besser, diesem
Treiben ein Ende zu setzen und so schnell wie möglich in die Heimat zurückzukehren, bevor der große Kreuzzug zum Fluch und Gespött der ganzen Welt wurde?! Um das Maß des Übels voll zu machen, hörte der Bischof jetzt die erhobene Stimme Gottfrieds von Bouillon, der mit Raimund von Toulouse zu einer Beratung im Nebenraum zusammengekommen war: „Glaubt mir, Herr, obwohl dieser Eid schwerwiegend ist, ist es doch besser, ihn zu leisten, damit wir so schnell wie möglich von hier fortkommen, auf schnellstem Wege diesem Luxus, diesen Ausschweifungen, die schlimmer sind als eine Seuche, den Rücken kehren. Da Ihr gerade angekommen seid, habt Ihr noch nicht das kennengelernt, was wir, die wir schon länger hier verweilen, zur Genüge erfahren haben. Selbst der Teufel könnte nichts anderes ausklügeln, um brave christliche Krieger vom standhaften Wege abzubringen. Ich kenne meine Leute nicht wieder. Ich kenne meine Ritter nicht, für die ich früher, ohne zu zögern, die Hand ins Feuer gelegt hätte. Sie sind einfach andere geworden. Kein Wunder! Wer auf einem weichen Daunenbett schläft, dem sagt das harte ritterliche Lager nicht mehr zu … Die Lagerkost mundet nicht mehr, wenn man an köstliche Speisen gewöhnt ist. Auch die Ehefrau im groben Leinenhemd gefällt dem nicht mehr, der bei den schamlosen, duftenden Weibern gelegen hat. Es gibt solche, die man von hier mit Gäulen fortziehen müßte, so tief sind sie in den Sumpf geraten.“ Der Bischof bedeckte sein schmerzdurchfurchtes Gesicht mit den Händen. In seinem Inneren hörte er mit Schrecken die Worte: „Satan … Satan …“ Sagten nicht alle dasselbe? Der fromme Gottfried sprach doch ebenfalls von dem Bösen, dem Sämann verderblichen Unkrautes. „Ich leiste diesen Eid nicht!“ rief Raimund von St. Gilles zornig aus. Die Entrüstung tönte in seiner Stimme wie der Klang von Stahl. „Glaubt Ihr, daß er mir leichtgefallen ist?“ warf Gottfried ein. „Ich habe im Anfang das gleiche gesagt, aber was sollte ich tun? Gab es
einen Ausweg? Ohne die Hilfe des Basileus können wir nicht übersetzen, und wir müssen so schnell wie möglich von hier fort, andernfalls wird keiner von uns das Heilige Grab erblicken.“ „Ich schwöre nicht!“ wiederholte Raimund kurz und leidenschaftlich. „Was wollt Ihr denn tun?“ „Ich weiß es nicht!“ „Wie man erzählt, hat sich Robert von der Normandie für die Ableistung des Eides entschieden“, hörte der Bischof eine versöhnliche Stimme sagen. Es mußte die de la Tours gewesen sein. „Ich weiß es“, rief Raimund aus, „ich weiß es! Und Bohemund hat den Abgesandten gesagt, daß er den Eid gern leisten werde, wenn sie ihm den Titel Protosebastos verleihen und jährlich einen anständigen Geldbatzen bewilligen … Pfui! Er soll meinetwegen machen, was er will! Um die Ehre ist es bei den Provenzalen anders bestellt als bei den Normannen!“ „Auch anders als bei den Lothringern, Graf?“ fragte Gottfried mit gedehnter Stimme. ‚Jetzt greifen sie gleich zu den Schwertern‘, dachte der Bischof, ‚das fehlte noch, o Gott!‘ Aber die makellose Rechtschaffenheit Gottfrieds war allgemein bekannt, deshalb mäßigte Raimund sich und antwortete beinahe sanft: „Nichts kann gegen Euer Verhalten gesagt werden, Herzog! Ihr seid das Vorbild eines wahren Ritters!“ „Zu einem Vorbild fehlt noch viel, ich bin ein Sünder, der nur so schnell wie möglich sein Gelübde erfüllen möchte …“ „Das möchte ich auch … Aber ein Vasall werde ich nicht, bei Gott!“ „Was ist nun zu tun? Was ist zu tun?“ wiederholte Gottfried mit gequälter Stimme. ,… Ich müßte hingehen, das Wort ergreifen und diese Angelegenheit entscheiden, denn dazu bin ich hier‘, dachte der Bischof, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Er nahm die Hände nicht vom Gesicht. Wie sollte er handeln? In ihm selbst, dem
ehemaligen Ritter, empörte sich das stolze Blut bei dem Gedanken, dem schismatischen Kaiser den Lehnseid zu leisten! Aber Gottfried hatte recht, es gab keine Wahl. Die griechischen Heere mit Waffengewalt angreifen, sich der Schiffe bemächtigen und nach Asien übersetzen? Das war offener Krieg! Und der Feind stand im Rücken! Das hieße, dem Zug die Führer, die Hilfe der Flotte, die Versorgung mit Lebensmitteln nehmen. Es gab keine Wahl. Entweder sich beugen oder … heimkehren. „Der Herzog der Normandie, die Fürsten von Tarent und der Graf von Flandern kommen!“ meldete ein herbeieilender Knappe. Der Bischof erhob sich und reckte die Glieder. Sein Gesicht nahm den Ausdruck besonnener, heiterer Würde an. Er ging, um die Beratungen zu leiten. Die Beratung war nicht leicht. Raimund und Tankred bestanden hartnäckig auf ihrer Meinung, den Eid für nichts in der Welt zu leisten. Sie wären nicht hierhergekommen, um Vasallen zu werden. Und dazu noch Vasallen eines schismatischen Kaisers! Mochte die Seele dieses Herrschers, der die tapferen christlichen Ritter nicht bis zum Heiligen Grabe gelangen ließ, keinen Frieden finden! „Überlassen wir Gott die Sorge um die Seele“, antwortete der Bischof. „Wenn das Euer letztes Wort ist, edle Herren, und Euer berechtigter Hochmut wichtiger ist als die freiwillig geleisteten Gelübde, bleibt uns nichts anderes übrig, als in die Heimat zurückzukehren. Das ist keine allzu große Schande, denn Ihr seid ja von Alexios betrogen worden. Er hat Hilfe versprochen, und jetzt will er die ehrlichen Krieger in Söldner verwandeln.“ Heimkehren? Das wollte ihnen nicht in den Sinn. Sie blickten den Bischof wie einen Irrsinnigen an. „Wie kann ich heimkehren?“ rief Raimund von Toulouse, „Ich habe geschworen, meine Heimat nie wiederzusehen!“ Er verzog qualvoll sein Gesicht bei dem Gedanken, daß er im Grunde ein obdachloser Wanderer war, für den es keine Rückkehr
mehr gab, „Warum sollte dieses zweite Gelübde wichtiger und schwerwiegender sein als das erste?“ fragte der Bischof erbittert. Raimund antwortete nicht, daher fuhr der Bischof fort und sagte, daß beide, Raimund und Tankred, wenn sie, wie er hoffe, nicht heimkehren wollten, genauso wie die anderen den Eid leisten und das ihnen mögliche tun müßten, damit ihnen dafür Hilfe für den Zug versprochen werde. Bohemund lächelte siegesgewiß. Seine Ansicht bestätigte sich. Er behauptete ja immer, daß man anschleichen müsse, wo man nicht offen vorgehen könne, und daß man für eine vorübergehende Demütigung den größtmöglichen Nutzen erlangen müsse, durch den dann später diese Demütigung mit Zinsen vergolten werden könne. Ademar bemerkte dieses Lächeln und geriet unwillkürlich in Verwirrung. Sollte etwa die Schlauheit Bohemunds, die ihm und den anderen Baronen so unangenehm war, tatsächlich eine Lebensweisheit, und Erfolg eher dem Listigen als den Aufrichtigen und Ehrlichen beschieden sein? Hatte er selbst nicht gestern die Handlung Bohemunds, der bereit war zu schwören und dafür den Titel Protosebastos verlangte, als unwürdig bezeichnet? Riet er nicht heute den Rittern zu etwas anderem, nämlich zur Demut und dem Versuch, aus dem Eid Nutzen zu ziehen? Für eine Weile war es still. Nur Bohemund unterhielt sich halblaut mit dem neben ihm sitzenden Robert von Flandern. „… kaum war ich angekommen, es sind jetzt zwei Wochen her“, sagte er, und zwinkerte mit seinen schönen, katzenhaften Augen, „trafen die Basiliks mit Geschenken in meinem Lager ein. Man kann sich nicht beklagen: eine Menge Geschenke, Waffen, Gewänder und Gold. Dazu noch vorzüglicher Wein, Gebäck, schon zubereitete Fleischgerichte, man brauchte sich nur hinzusetzen und zuzugreifen. Sie stellten alles auf den Tisch und sagten: ‚Der allerehrwürdigste Basileus — Gott schenke ihm ein langes Leben! — schickt Euch, Fürst, dies alles von seinem eigenen Tisch‘. Ich dankte höflich und fertigte sie ab, dachte mir aber gleich:
Bohemund, du wärest ein Dummkopf und reif für den Schindanger, wenn du dieses Essen anrührtest. Ich rief meine Krieger herbei. ‚Der Basileus hat uns das hier geschickt‘, sagte ich, ‚aber schmaust allein und tut euch gütlich, ich habe Leibschneiden‘. Ich ging schlafen, sie dagegen vertilgten alles, was da war. Stellt Euch vor, Herr, kein einziger wurde krank! Und ich hätte schwören mögen, daß mich Alexios vergiften wollte!“ „Weshalb habt Ihr das geglaubt“, fragte der Graf von Flandern verblüfft. „Gründe hat er genug. Ich selbst hätte das an seiner Stelle getan …“ „Aber in diesem Falle habt Ihr ja Eure Krieger einer Gefahr ausgesetzt?!“ „Wen sollte ich denn sonst einer Gefahr aussetzen? Etwa mich selbst? Knechte davon kosten lassen, hätte dem Kaiser Abbruch getan.“ Robert schwieg und runzelte leicht die Stirn. Er war von Natur wortkarg, äußerst mutig und rechtschaffen, dazu verschwiegen. Was er dachte, das behielt er für sich. Tankred stieß mit einer ungeduldigen Bewegung das Messer, das er in der Hand hielt, in den Tisch, so daß die Klinge in der Platte steckenblieb. „Worauf warten wir?“ rief er. „Wir müssen Rat schaffen, bei Gott, denn ich kann nicht mehr stillsitzen. Laßt uns endlich aufbrechen!“ „Laßt uns aufbrechen! Laßt uns aufbrechen! Sofort!“ wiederholte Gottfried. „Wir sind uns also einig“, sagte der Bischof und wandte sich vorwurfsvoll an Tankred, „nur Ihr, Herr, und der Graf von St. Gilles macht unsere Entschlüsse zunichte, indem Ihr Euch auf die leere Eidesformel stützt. Leistet den Eid, damit wir endlich dorthin ziehen können, wo uns unsterblicher Ruhm erwartet, wo das Heilige Grab der Schmach ausgesetzt ist. Worauf warten wir? Nur auf Euch beide! Aber mir ist ein neuer Gedanke gekommen, ein erfolgversprechender: Ich bin der Führer des Zuges, der in dem Augenblick, in welchem Ihr Asien betretet, die Macht über Euch
alle ausübt. So hat es der Heilige Vater beschlossen, und Ihr habt dem zugestimmt. Vielleicht wird sich der Basileus damit zufriedengeben, wenn ich den Eid in Eurem Namen ablege.“ Die Hochgeborenen schauten einander verblüfft an. Nein! Das gefiel ihnen ganz und gar nicht. „Niemand kann für mich, einen freien Herrn, schwören“, wandte Raimund von Toulouse ärgerlich ein. „Auch nicht für mich!“ fügte Tankred hinzu. „Auch nicht für uns, die wir bereits den Eid geleistet haben!“ „Der Hochwürdigste Herr möge dabei bedenken, daß Ihr zwar eine echte Vormundschaft über uns ausübt, aber nicht die Macht …“ „Jeder von uns ist Herr über seine Leute!“ „Ich denke auch nicht daran, mich in die Angelegenheiten Eurer Leute einzumischen, ich betone nur, daß ich der Führer des Zuges bin. Weder Vormund noch Berater, sondern Führer … Erinnert Ihr Euch, daß Ihr mir vor anderthalb Jahren in Clermont Euer Ritterwort gegeben habt?!“ Sie schwiegen, denn sie waren sich dessen bewußt, obwohl sie es lieber vergessen hätten. „Ihr habt wie brave Ritter Eure rechte Hand zum Zeichen des Gehorsams und des Einverständnisses erhoben. War es nicht so?“ Bohemund brachte mit einem höflichen Lächeln zum Ausdruck, daß er sich zu jener Zeit nicht in Clermont aufgehalten habe. Die übrigen schwiegen. Gefährlich war das Schweigen dieser Menschen. Der weise Bischof wollte den Bogen aber nicht überspannen, damit sich die Haltung der Ritter nicht versteifte, und vertagte die Beratung daher auf den nächsten Tag. Vielleicht kam man über Nacht auf bessere Gedanken. Von der Notwendigkeit befreit, sofort schwerwiegende Entschlüsse zu fassen, erhoben sich die Ritter flugs von den Plätzen. Inzwischen hatte die Dienerschaft Raimunds die Tische zu einem Mahl gedeckt. Sie setzten sich plaudernd, geräuschvoll und ohne griechisches Zeremoniell. Hier waren alle rechten Ritter gleich. Sie schmausten gierig und hungrig von der Gedankenanstrengung, nahmen mit
den Händen das Fleisch aus den Schüsseln und warfen die benagten Knochen den hinter ihnen wartenden Hunden und Knechten hin. Den vor Fett glänzenden Schnurrbart wischten sie mit dem Handrücken ab und unterhielten sich über dieses und jenes. Der gelehrte Stephan de Blois, der im allgemeinen unbeliebt war, aber wegen seiner großen Kenntnisse dennoch geschätzt wurde, sagte, daß jeder, der Lust habe, eine Nachricht an die Seinigen schicken könne. Den normannischen Mannschaften waren florentinische Kaufleute gefolgt, die nicht über Byzanz hinauszogen. Sie wollten schon in wenigen Tagen, wenn sie die Einkäufe griechischer Wunderdinge beendet hätten, in ihre Heimat zurückkehren. Gegen eine Gebühr von vier Denaren verpflichteten sie sich, einen Brief mitzunehmen, für den sie die Gewähr der Zustellung übernahmen, selbstverständlich nur dann, wenn der Empfänger eine edle und allgemein bekannte Persönlichkeit war, deren Auffindung keine Schwierigkeiten bereitete. „Eine erfreuliche Nachricht“, meinte der Bischof. „Ich lasse sofort ein Schreiben an den Heiligen Vater mit einem Bericht über unser hiesiges Ergehen anfertigen.“ Er sagte das offen heraus; doch der Blick, mit dem er die Häupter der am Tisch Sitzenden maß, war vielsagend. Robert der Kurzbeinige schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich werde dem Roten schreiben“, rief er, „wieviel Geschenke ich vom Basileus erhalten habe, wieviel Gold und Schmuck! Er soll grün werden vor Neid!“ „Damit ihm um so mehr bewußt wird, daß Ihr das Vatererbe nicht mehr benötigt …“, zischte ihm der unzertrennliche Arnuld ins Ohr. „Oh, Ihr habt recht. Na, dann werde ich schreiben, daß schreckliche Not herrscht, daß der Weg, den wir zurückzulegen haben, noch weit ist und wir nicht wissen, wann wir zum Heiligen Lande gelangen werden … Das ist doch keine Lüge, wie?“ „Das wird ihn erleichtern, denn dann braucht er sobald mit der Möglichkeit Eurer Rückkehr nicht zu rechnen …“
„Was soll ich ihm also schreiben? Sprecht!“ „Am besten nichts!“ „Ich werde ausführlich an meine Gattin schreiben“, stellte Stephan de Blois befriedigt fest. „Ich brauche nicht zu schreiben“, lächelte Hainaux, „denn Ida ist sicherlich schon unterwegs, ich erwarte sie jeden Tag.“ Es waren viele unter ihnen, die gern Briefe abgesandt hätten, aber nur selten konnte einer schreiben. Sie rutschten verlegen und unruhig auf ihren Stühlen hin und her, blickten den Domherrn d’Aguilers bittend an, bis dieser merkte, worum es ging, und sagte: „Ich habe wenig Zeit, weil ich mit der Chronik beschäftigt bin, aber wir haben ja den Bruder Bertrand bei uns, der eine bewundernswerte Fertigkeit im Schreiben besitzt. Es wird erzählt, daß er bis zu drei Briefen täglich abfassen kann … Er wird gern jedem das Nötige schreiben.“ Das Mahl war zu Ende. Auf dem Tisch blieben nur der Wein, die Nüsse und die süßen griechischen Kuchen mit Honig stehen, nachdem die Dienerschaft die vom Schmaus übriggebliebenen Fleischstücke und Brotreste vom Tisch auf die Erde gefegt hatte. Jetzt traten Sänger, Barden und Lautenspieler, denen Raimund so zugetan war, ins Zelt. Der Abend war wunderbar, frühlingshaft, warm und duftend, deshalb hieß Raimund die Zeltvorhänge hochrollen, damit sie alle wie im Freien säßen. Die Feuer auf den Wachtürmen blinkten in der Ferne wie rote Sterne. Sie bezeichneten die Straßenstrecken, die nach Byzanz wie zu einem Weltzentrum zusammenliefen. Durch die tiefe Stille drang ab und zu vom Wasser her das melodische Rufen der Menschen, die auf den Chalanden, die Pyrphoroi genannt wurden, beschäftigt waren. Die Glocken der zahllosen, größeren und kleineren griechischen Klöster, welche die ganze Stadt umgaben, läuteten, sogar die auf der Insel Proti, von wo die vom Kaiser verbannten Frauen auf die Pracht des Heiligen Palastes, den sie hatten verlassen müssen, sehnsüchtig herüberschauten. Der Mond kam in seinem kleinen silbernen Nachen am Himmel emporgeschwommen. Er schien größer, heller,
gleichzeitig aber ferner zu sein als in der Provence. In der Luft lag der fremdartige Duft der an den asiatischen Küsten wachsenden Kräuter. Pieretto, der beliebte Sänger Raimunds, sang, den Kopf dem goldenen Mond zugewendet. Um seine Lieder zu hören, kam die Ritterschaft von überallher zusammen und saß eng zusammengedrängt im Kreis auf dem Platz vor dem Zelt. Die Frauen hatten an dem Schmaus nicht teilgenommen, doch jetzt eilten sie herbei, um dem Gesang zu lauschen. Elvira saß neben ihrem Gatten. Blanka de Montbéliard neben ihrer Mutter und Florina neben Sven. Sie hatte ihre Hand in die des Königsohnes gelegt, ihre Augen suchten immer wieder die seinen. Beide, Florina und Sven, achteten nicht auf ihre Umwelt und freuten sich nur, einander nahe zu sein. Sie waren so wunderschön, unschuldig und verliebt, daß sich die Ritter verlegen räusperten, wenn sie auf das Paar blickten. Der Sänger sang das alte Lied vom Verräter, von dem listigen Isembart und dem haßerfüllten Gormond. Kampfeslärm schien in den Melodien widerzuhallen. Als der Sänger geendet hatte, lag Stille über dem Platz, die Stille aufmerksamen Zuhörens. Diese grimmigen Männer konnten durch nichts sonst als durch ein Lied in eine andere Welt versetzt werden. Robert Courte–Heuse, der Kurzbeinige, klopfte sich auf die Schenkel und sagte: „Ich habe einen Skalden im Gefolge, der gar nicht so schlecht ist …“ „Gern wollen wir ihn hören“, versicherte der Herr von Toulouse in der Überzeugung, daß niemand besser singen werde als sein Pieretto. „Ruft einmal den lahmen Johannes her!“ wandte sich Robert an die Seinigen. Ein alter, lahmer, grauroter Normanne trat heran und schaute gesenkten Blickes auf die Herren. „Singe! Aber schön! Denn hier kennt niemand unsere Lieder.“ „Wovon befehlen Eure Hoheit? Von dem braven Ritter Keus, dem Mundschenk?“ „Ja, das singe!“
Alle verstummten neugierig, denn es war bekannt, daß die normannischen Barden schöne Lieder wußten. Sie hatten sie in Wales und Aremorika gehört: Die Lieder vom König Artus und seinen Rittern, die an einer runden Tafel saßen. Der Alte sang mit kräftiger Stimme wie ein Jüngling: „Der gute König Artus hat zwölf edle Ritter. Ihr Schwert ist wie der Blitz, ihr Aug’ ein spitzer Dolch, und jedes Stimme gleicht dem Poltern schwerer Felsen. Sie alle sind ein Herz, ein Wort, ein Rat und eine Ehre! Nur eine Herrin liebt ein jeder, kennt nur einen Schritt, den Schritt nach vorn und niemals den zurück! Zwölf Feinde hat der gute König Artus. Der schlimmste Feind, das ist der Riese Riton. Er hat entführt des Königs Neffen Hodon Tochter, viel List verbreitet Paluz, der verwunschne Kater. Der ärgste Schrecken des geplagten Landes Mons, das ist jedoch ein böser Zwerg. Noch nie hat ihn ein Schwert getroffen. Das größte Ungeheuer dieser Welt ist Kuchulin, nichts kommt ihm gleich! Dies Ungeheuer hat an Händen und an Füßen wie Habichtsfänge sieben fingerdicke Krallen, die sind so stark, wie eines Mannes Arm. Mit beiden Augen schielend spürt er, was geschieht im Osten wie im Westen, wandelt, ruck, sich schnell in eine rote Kugel, wieder ist er ein gespannter Bogen, dreht sich in der eignen Haut auf jede seiner Seiten, zieht tief die Augen in den Schädel ein und schiebt sie, gräßlich, dann zum Mund hinaus. Sein Herzschlag tönt wie Kläffen eines Hundes. Vor Kuchulin, dem Ungeheuer, bebt die ganze Welt!
Nur König Artus’ Ritter fürchten seiner nicht. Der tapferste im Kreis, der Mundschenk Keus, der gute Seneschall, erzittert nicht vor ihm. Der Ritter Keus ist stark wie Stahl, neun Tage und neun Nächte bleibt er unter Wasser. Neun Tage und neun Nächte hält er aus, ohn’ Trank und Speise zu bedürfen.“ „Dem Herrn de Melun würde das übel ankommen“, bemerkte Hugo de Vermandois halblaut. „Der gute Mundschenk Keus, er gleicht nicht andern Menschen Er ist so heiß wie eine Flamme, fällt stärkster Regenguß vom Himmel, bleibt in seiner Faust wohl eine handbreit unterhalb und oberhalb jedwedes Ding wie Zunder trocken. Er ist der Feuerstahl und –stein, die Lohe zu entfachen, zur Winterszeit erwärmt er die Gefährten. Der Schnee schmilzt rings um ihn, wohl dreißig Ellen weit. Er wandelt stolz dahin, wie einer Feuersäule lebende Gestalt. Als dieser tapfre Ritter Keus, der Brennende genannt, den grimm’gen Kater hatt’ erschlagen und kehrte nach vollbrachter Tat zum Hain zurück, wo König Artus weilte, trat er vor Königin Ginevra hin und sprach: ,Jetzt frommt es mir, das Ungeheuer Kuchulin zu töten. Aus Deiner Herde, edle Königin, verschlang es gestern erst vier Lämmer. Jüngst hat drei Kinder Deines Fischers es am See verspeist. Ich ruhe nicht, bis ich das Ungeheuer hab’ bezwungen!‘ Und mutig schritt er hügelan und rief aus voller Kehle, die heißen Hände um den Mund gelegt: ,He! Kuchulin, du feige Bestie, komm heraus! Stell dich dem tapfren Ritter Keus.
Jetzt zeigt sich, ob den off’nen Kampf du scheust!‘ Kaum hörte Kuchulin die frechen Worte, da sprang er schon aus seiner Höhle und kam als Feuerkugel schnell dahergerollt. Doch Keus, der selbst so heiß wie Feuer war, der lachte nur ob dieser groben List. Doch schon verbarg sich Kuchulin in der Gestalt des großen Bogens. Der kühne Keus, nicht faul, ergriff mit starker Hand den Bogen in der Mitte, und durch die Glut in seinen Händen brannte er den schlimmen Feind, so daß der Grimme baß erschrak und schnell in seine eigene Gestalt sich barg. Erbittert währte lange dann der Kampf, die beiden wälzten sich, daß rings die Erde ächzte, ihr Kampfgebrüll erschallte wie der Donner, die Quellen floh’n vor Angst zurück zu Mutter Erde, es neigte sich der Wald wie sturmgepeitschte Ähren, der Staub, der von den Füßen in die Lüfte stob, verdunkelte die Sonne, und der Tag ward bald zur finstern Nacht. Mit eisenstarker Hand ergriff jetzt Keus die schielenden, herausgekehrten Augen, so daß der grimm’ge Feind sie tief im Schädel schnell verbarg. Mit eines Schraubstocks furchtbarer Gewalt hielt Keus das Scheusal nun und preßte es zusammen, es krachten schon die Rippen unter seinen Händen, die glühend heiß sich in den Gegner brannten. Da endlich winselte das Ungeheuer und bat Herrn Keus mit jämmerlicher Stimme: ,Laß ab, laß ab nur, tapfrer Ritter, oh, ich schwöre dir, bei allem, was dir heilig ist, nie soll mein Weg den Weg des Königs kreuzen, noch eines Ritters, der sein edles Zeichen,
den goldnen Drachen als Panier auf Schild und Mantel führt!‘ Keus ließ in Großmut von dem Untier ab, und Kuchulin entfloh bis an das andre End’ der Welt. Der gute König Artus war von seinem ärgsten Feind befreit! Mit Ruhm bedeckt saß Ritter Keus nun in der Runde, man nannte ihn fortan nur Keus den Sieger. Doch war die Zeit des Kämpfens jetzt vorbei, wer wagt’ noch, sich mit solchem Mann zu messen. In sich gekehrt und mürrisch saß er da im frohen Kreis, der tapferste der Ritter. Der Sieger, dessen Name Schrecken war in Macht und Ruhm, Vertrauter seines Königs, bewundert und geehrt, so saß er da, doch keine Liebe fand sein Herz, wie konnt’ es Liebe finden, denn heiß wie Feuer glühte stets sein Leib! Welch edles Weib wär’ da bereit gewesen, sich liebend solcher Glut zu nah’n? Ihr blieb Bewundrung aus der Ferne nur, doch weiter glühte unsres Ritters Herz. Wie sollt’ er diese Flamme jemals löschen? Welch Täubchen mochte schmiegen sich an seine Brust? Verbrannt, verglüht, verdorrt wär’ jede Magd, die ihn in Liebe hätt’ umfangen. Dennoch, der gute Ritter Keus, er liebte heiß. Quintiliana hieß die Maid aus dem Gefolge seiner Königin, er liebte sie mit Inbrunst Tag und Nacht. Die Maid ward inne bald des Ritters Qual. Wie sollte sie sich nah’n dem Gluterfüllten ihm, der sehnsuchtsvollen Blicks sie täglich maß. Sie schwor ihm hoch und heilig, niemals werd’ sie blicken je auf einen andern Mann, vielleicht, im Alter, werde seine Glut erlöschen, dann werde sie in Liebe sich ihm nah’n. Was sollte Keus, der brave Ritter tun?
Er schaute nur von fern auf die Geliebte. Einst ritt er wieder einsam seine Straße, da saß am Wegesrand ein armes Weib. Ihn dauerte die Bettlerin fürwahr! Schnell griff er eine Münze aus dem Beutel, warf sie dem Weibe in die off’ne Hand; doch dieses rief voll Zorn: ‚Halt an, halt an, du falscher Sohn des Feuers, und gib acht! Es wird ein beßrer Ritter kommen einst, vor dem in Demut du die Waffen streckst!‘ Der Ritter Keus hielt an sein Roß und rief: ,Den nenne mir! Weißt du nicht, wer ich bin? Ich bin der Ritter Keus!‘ — ‚Du bist der Keus? Du bist der Mundschenk? Höre noch einmal: Ich sage dir, es kommt ein stärk’rer Ritter!‘ ,Wo ist er‘, rief der Held in hellem Zorn. ,Du wirst erkennen ihn daran, daß deine Liebste ins Aug’ ihm lachend blickt.‘ Da sagte Keus: ,Ich werde beide töten.‘ Und er ritt davon.“ „Das war schön“, sagte plötzlich Zbylut, der zusammen mit den anderen im dichten Ring der Zuhörer vor dem Zelt saß. Imbram, der diese Worte hörte, öffnete verwundert den Mund. Er blickte auf Jasiek, als suche er bei ihm Aufschluß über diese seltsame Äußerung. Zbylut hatte sich, im Gegensatz zu ihnen beiden, niemals für Lieder und Gesang begeistert und solchen Dingen auch nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. „Das war schön“, wiederholte Zbylut nachdenklich. Er sah aber dabei aus, als mache er sich über sich selbst lustig. Als er dem Blick des Bruders begegnete, wandte er sich unwillig ab und trommelte mit den Fingern auf den Knauf seines Schwertes. Der Sänger erhob wieder die Stimme: „Drei Jahre drauf, die Ritter saßen in der Runde,
in ihrer Nähe thronte Königin Ginevra, sie spann im Kreise ihrer Damen, und den guten König Artus hatte Schlummer übermannt, der Wind fuhr ihm in seinen grauen Bart, die Ritter hörten auf, einander zuzutrinken, damit der Alte seines Schlafs genieße — da trat vom Walde her ein Jüngling auf sie zu. Sein Wams war schlicht, gleich eines Bauern Sohn, doch kühn sein Schritt und edel die Gestalt, die Haare blond, die Wangen rot und frisch, ein Duft nach Wald und Feld lag um die Glieder. Der alte, gute König wurde wach und fragte nach des jungen Manns Begehr. Der Jüngling wohlgesetzten Wortes sprach: ,Herr König, bitte, schlagt zum Ritter mich!‘ ,Das ist so leicht nicht, wie du glaubst!‘ der König sprach. ,Zum Ritterschlag bedarf es großen Mut’s und edler Taten, diese erst vollbringe!‘ ,Ich werde alles tun, was Ihr befehlt.‘ ,Was soll ich dir befehlen, junger Freund?‘ Gedankenvoll strich sich den Bart der Alte. ,Soll er doch kämpfen gegen einen von uns hier‘, erklang voll Spott die Stimme des gewalt’gen Schenken. Da tönte, silberhell, ein Lachen durch die Runde, Quintiliana ließ die Spindel fallen und blickte unverwandt den schönen Jüngling an. Sie lachte leise und entzückt; denn dieser schien ihr frisch wie eine Quelle, ein Labsal in des schwülen Tages Hitze. Der grimme Keus fuhr zorneswütig hoch. So hatte recht gehabt das alte Weib! Er sprang wie rasend auf das Mädchen zu, und schlug ihm schallend ins Gesicht, doch weh, o weh, die ganze Wange war versengt!
Des Königs Zwerg, der sich an seinem Bein verfing, den schleudert er gewalt’ger Hand auf einen Baum und stürzt’ sich auf den Fremdling wutentbrannt!“ Der lahme Johannes hielt inne, um Atem zu schöpfen. Diese Gelegenheit nahm Pieretto wahr, sprang vor und rief laut: „Ich weiß, wie es weitergeht, ich beende das Lied, man hat mir erzählt, wer der quellfrische Jüngling gewesen ist, edle Ritter! Das war Parzival!“ „Du hast mir noch nie von ihm gesungen“, meinte Raimund verwundert und blickte seinen Liebling vorwurfsvoll an. „Bei uns ist diese Geschichte noch nicht bekannt. Ich habe sie unlängst bei den Normannen gehört … Ich werde sie zu Ende singen! Beliebt mir zuzuhören, edle Herren!“ Der ermüdete, alte Normanne setzte sich. Er hatte nichts dagegen daß der Jüngere den Faden weiterspann. Obwohl jeder einem anderen Volke zugehörte, waren sie doch beide Sänger. Es verband sie die gemeinsame Liebe zur Kunst des Liedes. Pieretto begann zu singen: „Weit weit am Rande unsrer Erde steht ein Berg, sein Nam’ ist Montsalwatsch! Kein Vogel streift die Höh’n mit seiner Schwinge, kein Fisch gelangte je zu seinem Grund, und keine Stimme hallt dort in den Tälern wider. Auf diesem Berg steht eine hohe Burg. In ihren Hallen wird gehütet eine Schale, hell wie Kristall und strahlend wie der Mond. In dieser Schale, hört’ was ich euch sage, ist Blut bewahrt, das Blut des Herrn, das Blut des Heilands und Erlösers dieser Welt!“ Pieretto schloß vor Rührung die Augen und sang weiter von dem Geheimnis der legendenumwobenen Burg, in der Jahr für Jahr am
Tage des heiligen Johannes, wenn die Rosen blühen, herrliches Licht aus den hohen Fenstern leuchtet. Er sang von Parzival, dem reinen Toren, dem dritten Kind einer Witwe, die zwei ritterliche Söhne verloren hatte und den letzten Sohn wie einen Bauern aufzog, der weder Größe noch Ruhm kennen sollte. Er sang, wie Parzival dem alten Fischer das Leben rettete, wie dieser erkannte, daß der Knabe ein reines, furchtloses Herz hatte, und den Jüngling zu der unerreichbaren Burg Montsalwatsch geleitete. „Dort sah der Tor den Trauerzug der Ritter, der um den Heil’gen Gral, die Schale, schritt. Er aber wagte nicht zu fragen, was dieses Rätsels Lösung sei. Er ging des andern Morgens in der Frühe, so wie er eingetreten war, hinaus. Der Fischer fragte vorwurfsvoll den Toren: ,Du hast sie nicht gefragt, warum sie trauern? Du hättest alle, alle sie erlöst!‘ ,Ich hab’ es nicht gewagt, seid drum nicht böse!‘ ,Ein kluger Mann muß wollen, frei und kühn. Weh’ über dich! Ich wollte ihnen senden, dich, einen Sproß aus königlichem Stamm, der sie erlöst. Weh dir und wehe uns! Nie wird ein andrer Mensch den Heiligen Gral erlösen!‘ ,Ich geh’ und kehre wieder um zu fragen!‘ ,Du kehrst nicht um, der Weg ist dir verschlossen, denn niemand sieht den Gral ein zweites Mal!‘ ,Ich werd’ das Wunder schauen und sie retten!‘“ Der Sänger Pieretto schloß die Augen und sang weiter inmitten der Totenstille, in der nur die Atemzüge der vielen, ringsum sitzenden Menschen zu hören waren. Seine schöne Stimme drang weit durch die Dämmerung, sie schien in den Abend hinauszuschweben. Die unstillbare Sehnsucht, die das Herz Parzivals, des einsam durch die
Lande ziehenden Ritters erfaßte, die Sehnsucht nach dem Heiligen Gral, den der Jüngling in seiner einfältigen, kindlichen Torheit kaum wirklich gesehen hatte, die Verzweiflung, daß der Weg zur unnahbaren Burg nicht wiedergefunden werden konnte, und das heldenhafte, unermüdliche Ringen des Toren mit dem Schicksal, alles fand in den Herzen der Zuhörer einen ungeahnten Widerhall. Die Versammelten liebten nicht nur solche Gesänge und Lieder, es verlangte sie gleichzeitig glühend nach Größe und Ruhm, sie suchten unbewußt die Schönheit des Geistes und ließen das erkennen, was der griechische Gelehrte Ceces bei ihnen beobachtet und auch erwähnt hatte. Sie sahen in jeder ritterlichen Tat ihr eigenes Geschehen, ihr Erleben, durchmaßen in Gedanken gemeinsam mit Parzival die vielen fremden Länder der Welt und suchten, nimmermüde, den Heiligen Gral. Sie wanderten im Geiste mit dem zweifelnden, umherirrenden Ritter, sie seufzten wehmütig in ungestillter Sehnsucht —, bis der sonst so wortkarge Robert von Flandern, der im Überschwang seiner Gefühle nicht mehr an sich halten konnte, sich erhob, die Hand ausstreckte und rief: „Wir ziehen, und wäre es bis ans Ende der Welt, wir ziehen so lange, bis wir das Heilige Grab befreit haben. Gott will es!“ „Gott will es!“ riefen alle und sprangen von ihren Sitzen, tief bewegt und einmütig. Ein Sturm der Begeisterung hatte sie erfaßt. Allen denjenigen, welche an der Heiligkeit des Kreuzzuges gezweifelt und in ihm eine Verlockung des Teufels gesehen hatten, wurde es plötzlich mit unerschütterlicher Gewißheit klar, daß der Urheber dieses Zuges der Engel des Lichtes und nicht der Fürst der Finsternis war, daß Gott es so wollte, daß der Zug Gottes Werk war aus Gottes Geist geboren. Der Satan trachtete zwar danach, Zweifel in die Gemüter der Menschen zu legen, sich ihrer Schwächen zu bedienen, die Seelen zu vergiften, das Ziel und der Gedanke aber blieben heilig. Göttlich waren diese Ehrfurcht und diese Begeisterung, die ihnen Schauer über den Körper laufen ließen. Göttlich war der Ruf, der sie in ihren Burgen und Häusern erreicht hatte, göttlich das Gefühl, daß sie über sich hinauswachsen ließ und
die Brust schwellte, und göttlich das unstillbare Verlangen nach dem großen Werk, den unsterblichen Taten, von denen noch nach Jahrhunderten berichtet werden sollte. Sie standen Schulter an Schulter und streckten unbewußt die rechte Hand aus, als wollten sie das in Clermont geleistete Gelübde noch einmal bekräftigen. Alles, was nicht mit der Befreiung des Heiligen Grabes in Zusammenhang stand, schien ihnen jetzt klein und nichtswürdig und kein Opfer zu groß, um das Ziel ihres Gelübdes zu erreichen. Die Sterne leuchteten in unzählbarer Menge am Firmament. Der südliche Himmel war dunkel und doch zugleich durchsichtig. Die roten Wachfeuer liefen wie Fäden von allen Seiten zusammen, ähnlich dieser Menschenmenge, die aus der ganzen Welt zusammengeströmt war. Die Glocken läuteten in den Klöstern, und ihr Tönen floß über das Wasser. Die im Lager Raimund de St. Gilles versammelten Ritter erlebten einen der Augenblicke, die das Dasein der Menschheit rechtfertigen.
SIEBENTES KAPITEL In welchem die braven Ritter Briefe versenden
Über den niedrigen Lagertisch gebeugt, schrieb Stephan de Blois einen Brief an seine Gattin Adele. Zwei lange, dichtbeschriebene Pergamentviertel lagen bereits vor ihm, aber er war mit seiner Epistel immer noch nicht zu Ende. „Es kommt selten vor“, schrieb er, „daß sich die Voraussagen der Menschen so bewahrheiteten, wie die meinen über den gegenwärtigen Zug. Sicherlich ist es immer so, wenn man eine vernünftige Lebensauffassung hat, aber daran mangelt es unsern Kriegern sehr. Du bist, meine Liebe, kein Hohlkopf wie die gewöhnlichen Weiber, deshalb schreibe ich Dir wie unter Männern über alles, was mich bewegt. Darüber würden allerdings die Herren, meine Gefährten, die eine Frau für ein niedriges Geschöpf halten, nicht wenig lachen. Ich weiß aber, daß Du mich verstehst wie keine andere. Ich bedauere es außerordentlich, daß mich der Böse in das Abenteuer dieses Zuges verwickelt hat, in welchem ich ständig als der einzige Gesunde auf eine Herde Wahnsinniger schaue. Gegenwärtig befinden wir uns in Byzanz, dessen Schönheit alle Begriffe übersteigt. Es gibt bei uns in Frankreich nichts, was man mit dieser Stadt vergleichen könnte. Die Menschen sind schön und haben Verstand. Gern würde ich hierbleiben, statt weiterzuwandern, aber solche Gedanken darf man nicht haben, denn wie würden die Unsrigen darüber toben! Sie halten mich sowieso für einen Feigling, weil ich wegen einer Lappalie nicht gleich zum Schwert greife. Das Anrüchige haftet wie Pech an dem Namen, und Gott bewahre mich davor, daß ich meinem Sohn ein solches Andenken hinterlasse! Nur seinetwegen, nur wegen Egmont bin ich ausgezogen, obgleich mir das, ehrlich gesagt, schon verleidet ist.
Ich würde Dir, meine Liebe, gern alles von Anfang an erzählen, aber das ist gar nicht möglich. Selbst unsere Chronisten, die sich mit den Einzelheiten des Zuges befassen, vermögen nicht alles im Gedächtnis zu behalten. In Byzanz sind wir vor vierzehn Tagen angelangt. Wir haben Hugo de Vermandois, der schon seit dem Herbst hier weilt, die beiden Lothringer und Raimund von Toulouse angetroffen. Einige Tage nach uns kamen Bohemund und Tankred von Tarent an. Wir sind also gegenwärtig schon alle versammelt und bilden eine große Truppenmacht, mit der man, wäre sie an Ordnung und Gehorsam gewöhnt, die ganze Welt erobern könnte. Jetzt stehen wir hier und beraten, was wir mit dem Treueeid, den uns der Basileus abverlangt, anfangen sollen. Beim Anblick unserer Mannschaften befürchtet der Kaiser Alexios, daß diese vielleicht auf den Gedanken kommen könnten, statt die Sarazenen anzugreifen, sich auf ihn zu stürzen; und, bei meiner ritterlichen Ehre, ich wundere mich keineswegs über ihn. Hugo hat diesen Eid zuerst geleistet, dann, nach längerem Zögern, Gottfried, und schließlich wir, das heißt Robert und der Graf von Flandern sowie Bohemund. Nur Raimund de St. Gilles, der Aufgeblasene und Tollkopf, dem niemand mit Vernunftgründen beikommen kann, will nichts davon hören, ebenso Tankred. Diese beiden halten den ganzen Zug auf. Der Bischof von Puy, der Raimund den anderen vorzieht, hat sich erboten, als Oberhaupt für sie den Eid zu leisten. Doch Alexios ist nicht auf den Kopf gefallen und hat nicht eingewilligt. Ich weiß nicht, was werden wird. Boten eilen vom Lager zur Stadt und zurück, aber die Sache kommt nicht vom Fleck. Quot homines tot sententiae! Wir bleiben weiterhin hier, worüber ich im übrigen nicht böse bin. Ich bin schon zweimal beim Kaiser zum Empfang gewesen. Er ist ein Mann von Verstand, aufgeklärt, freigebig. Ich würde Dir die Geschenke, die er mir gegeben hat, schicken, jedoch bin ich nicht sicher, ob der Kaufmann so ehrlich ist und sie Dir aushändigt. Ich werde sie selbst mitbringen. Solche Kleinodien hast Du noch nie gesehen.
Dieser Schmuck ist auch nicht so wichtig, denn wir haben, Gott sei Dank, genug eigenes Vermögen; aber man kann hier eine Menge Weisheit sich zu eigen machen. Die Griechen sind in den Wissenschaften sehr weit vorgeschritten, insbesondere in der Geographie, das heißt, in der Wissenschaft von der Erde. Sie wissen, wo alle Länder liegen, welche Gebirge, Städte und Flüsse es dort gibt, so als hätten sie in jedem Land eine Zeitlang gelebt. All das haben sie in großen Büchern gesammelt. Ähnlich verhält es sich mit den hiesigen Medici, sie kennen wirksame Arzneien gegen jede Krankheit. Nicht durch Beschwörung oder Zauberei, sondern durch Berührung erkennen sie, wo sich die Krankheit im Menschen verbirgt. Diese Kenntnis erwerben sie, indem sie an den Leichen lernen. So zerschneiden sie, meine Liebe, die toten Körper der Übeltäter, denen ein ehrliches Begräbnis nicht zusteht, und zerlegen diese bis auf den kleinsten Knochen. Dann werfen sie das Fleisch fort und setzen die Knochenteile wieder zu einem vollständigen Gerippe zusammen. Ein solcher Medicus, der einige Jahre hindurch an den Leichen praktiziert hat, weiß auswendig, wo jeder Knochen und jede Ader im Menschen steckt, wo das Herz und wo die Lunge sitzt. Die unsrigen spucken auf diese Wissenschaft und nennen sie eine teuflische Beschäftigung, die eines Henkers oder eines Schinders würdig ist, sie sagen, jeder von ihnen möchte lieber hundertmal umkommen als einen griechischen Medicus um Rat bitten. Ich selbst war mir nicht sicher, ob das Zerschneiden von Leichen keine Todsünde ist, bis ich den Bischof von Puy im Gespräch mit dem kaiserlichen Hofmedicus sah. Sie unterhielten sich ganz freundschaftlich. Unser Bischof liebt die Wissenschaft und möchte sich ebenso gern wie ich mit den hiesigen Bibliotheken vertraut machen, die so groß und wertvoll sind, daß Du Dir gar keinen Begriff davon machen kannst. Leider konnten wir da nichts unternehmen, denn die Unsrigen hätten uns bald in den Verruf gebracht, daß wir mit den Griechen gemeinsame Sache machen und dadurch Anstoß erregen. Selbstverständlich hätten sie den Bischof der Führerschaft enthoben, weil er sich für
schismatische Bücher interessiert und deshalb eines Führers unwürdig sei … Du kennst ja unsere Herren, die sich ständig gegen den Verstand auflehnen. Sie denken schlecht, aber schnell und hartnäckig …“ „Schaut, das ist dieselbe Stute wie die meine aus Kiew“, sagte Imbram verwundert und zeigte auf ein Pferd, das von einem griechischen Würdenträger geritten wurde. Das Tier hatte ein glänzendes Fell, zarte Nüstern, große, stolze Augen und einen gebogenen Hals wie bei dem wilden Vogel, der Schwan genannt wird und von Norden her geflogen kommt, um auf den schlesischen Gewässern zu überwintern. Sie blickten dem Roß mit Wohlgefallen und Kennerblick nach. „Kein Wunder, daß es ähnlich ist“, bemerkte Großkopf, „denn du wirst dich wohl erinnern, was man in Kiew gesagt hat, daß nämlich dein Pferd ein Nachkomme einer Stute sei, die anläßlich der Vermählung der Kaisertochter Anna mit dem Fürsten Wladimir aus Konstantinopel mitgebracht wurde. Konstantinopel und Byzanz, das ist dasselbe.“ „Es stimmt, daß die Kaisertochter mit Wladimir vermählt war … Stammt denn Dobroniega, die Tochter Wladimirs, die Mutter Bolesławs, nicht von ihr ab?“ „Ich weiß es nicht! Vielleicht stammt sie von ihr ab.“ Sie verstummten und betrachteten wißbegierig die berückende Größe und Schönheit von Byzanz. Aus diesem alten, herrlichen Geschlecht stammte die Mutter des unvergessenen Königs. Der blutjunge, schöne Miezko, den sie so geliebt und den Włodzisław Jerzman vergiftet hatte, war ihr Enkel. Wie schmerzlich und bitter war der Gedanke, daß die Dynastie des Königs zugrunde gerichtet worden war. Dieser Trauer über vergangene Größe, an die sie hier auf Schritt und Tritt, und sei es durch die Ähnlichkeit eines Pferdes, erinnert wurden, war in der letzten Zeit ein Heimweh bei ihnen gefolgt, das sie kaum zu unterdrücken vermochten, eine Sehnsucht nach dem schlesischen Gehöft, das so unermeßlich weit entfernt lag und ihnen
doch so nahe schien. Es war seltsam, darüber nachzudenken: Während sie so viele Dinge gesehen, kennengelernt, wohl auch begriffen und ein ungeahnt großes Stück der Welt durchwandert hatten, stand dort in der Heimat ein Haus, so wie es immer gestanden hatte, verliefen die Feldarbeiten wie früher, ging das Leben seinen gewohnten Gang. Hätte man doch wie ein Vogel dort hinfliegen oder wenigsten seinen Schatten hinschicken können! „Habt ihr gehört, der Graf de Blois hat gesagt, man könne Briefe senden, und auch ein Mönch zum Schreiben sei da?“ „Der Domherr hat von einem Mönch gesprochen, das haben wir gehört!“ „Vielleicht könnten auch wir Briefe schicken.“ „An wen denn? Die Frauen können sie doch nicht lesen und der Dominus auch nicht.“ „Der Abt würde sie ihnen vorlesen.“ Das sprach Zbylut. Er war auf den Gedanken gekommen, den Frauen, das heißt Bogucha und Ofka, eine Nachricht zukommen zu lassen. Das war etwas Außergewöhnliches. „Was sollen sie damit“, murmelte Großkopf unwillig, „vier Denare verlangen die Kaufleute für einen Brief, und der Mönch wird sicher auch nicht umsonst schreiben.“ „Auf das Geld kommt es nicht an“, versicherte Imbram entschlossen. Er war von dem Gedanken begeistert, aber auch erstaunt, daß er selbst nicht früher auf diesen Einfall gekommen war. Der unausstehliche Bruder, der selbst niemanden leiden konnte, mußte auf diese Idee kommen! Freilich, der Abt würde die Briefe schon lesen. Das Schreiben mußte an den Abt gerichtet werden, der eine bedeutende Persönlichkeit war und leicht aufzufinden. In dem Brief mußte er gebeten werden, sich zu dem Gehöft der Strzegonia zu begeben und den Frauen dies und das auszurichten … Jetzt griff auch Großkopf den Gedanken auf. „Wenn an den Abt geschrieben wird, dann ist das etwas anderes“, erklärte er. „Der Abt wird es sofort allen in Wroclaw erzählen. Von
Wroclaw wird das Gerücht bis zum fürstlichen Hof dringen und sich in ganz Polen verbreiten. Alle werden dann hören, daß wir rechtschaffene Kreuzfahrer sind.“ „Und was lassen wir den Frauen sagen?“ unterbrach ihn Imbram ungeduldig. „Nun, daß sie das Gut und die Kinder behüten sollen, wie es sich gehört.“ „Ich möchte Ofka noch sagen, daß ich sie … liebe … genausosehr wie … bei der Abreise“, murmelte Imbram, sein Gesicht abwendend, denn Großkopf maß ihn mit einem verächtlichen Blick. „Willst du dich vom Abt verspotten lassen?!“ entrüstete er sich. „Ein so teures Schreiben nur deshalb so weit in die Welt schicken, um der Frau zu sagen, daß du sie liebst! Du bist immer ein törichter Kerl gewesen und wirst es auch bleiben!“ „In der Provence reden die Ritter oft von der Liebe. Ich selbst habe gesehen, wie sie Karten befestigen, auf denen geschrieben steht, wie sie ihre Herrin lieben.“ „Die provenzalischen Wunderlinge mögen tun, was sie wollen. In Schlesien ist das nicht Brauch.“ „Hat es dann einen Zweck zu schreiben, wenn ich ihr nichts Freudiges sagen kann?“ „Es genügt, wenn sie erfährt, daß du am Leben bist und dein Zuhause nicht vergessen hast.“ „Ich würde sie auch in hundert Jahren nicht vergessen“, Tränen standen ihm in den Augen. Zbylut schaute ihn wie gewöhnlich spöttisch an. „Sieh einer diesen Verliebten an!“ stichelte er. „Konntest du denn nicht aus Ungarn einen Knappen zu ihr schicken? Er hätte ihr alles, was du wolltest, mündlich wiederholt. Von Ungarn ist der Weg nicht weit.“ „Das ist wahr!“ rief Imbram wehmütig aus. „Daß mir das nicht eingefallen ist! Warum hast du mir das nicht früher gesagt?!“ „Soll ich dich belehren? Liebst du sie nicht angeblich? Wenn sie meine Frau wäre, hätte ich ihr schon längst jemand geschickt.“
Er zuckte wie gewöhnlich mit den Schultern und fügte halblaut hinzu: „Wenn sie meine Frau wäre, dann hätte ich sie überhaupt nicht verlassen!“ Imbram ärgerte sich mit Recht über diese Bemerkung. Wer war denn schuld daran, daß er fortgezogen war?! Wer hatte das veranlaßt? Das war schließlich Zbylut und kein anderer. Der im Schreiben so bewanderte Bruder Bertrand war beleibt, lustig und geschwätzig. Im ganzen Konvent wußte man, daß er des Schreibens kundig war. Selbst der Prior blickte mit Bewunderung auf die Hand des Mönchs, der die Gänsefeder schnell und energisch über das Pergament gleiten ließ. Für das Schreiben eines Briefes nahm der Bruder einen unbeschnittenen Denar. Hinter Bertrands Rücken stehend, diktierte Großkopf langsam und bedächtig: „Schreibt so, ehrwürdiger Bruder: An den Abt Guido in Lubianz in Schlesien bei Wroclaw. Witosław, Zbylut und Imbram, die braven Ritter aus dem Geschlecht der Strzegonia, übersenden im Namen unseres Herrn Jesus Christus einen Gruß. Gelobt sei Jesus Christus! Wir befinden uns in der griechischen Stadt Byzanz. Es geht uns gut. Wir sind fast ein Jahr bis hierher gewandert. In einigen Wochen werden wir weiterziehen, gegen die Heiden, die Sarazenen. Davon gebt dem Dominus und den Frauen im Gehöft Nachricht …“ Großkopf sprach deutlich Wort für Wort, aber der Bruder Bertrand achtete gar nicht auf diese Worte. Mit unvorstellbarer Schnelligkeit führte er die Feder über das Pergament und war den Gedanken des Diktierenden weit voraus. Wäre Großkopf die Kunst des Schreibens nicht fremd gewesen, so hätte er nicht wenig gestaunt. Denn für jeden, der dem Bruder etwas zum Schreiben aufgab, schrieb der ehrwürdige Mönch stets ein und dasselbe. Er hatte vor dreißig Jahren den Inhalt eines fehlerfreien Briefes gelernt, den er jetzt unverändert und fehlerlos so gewandt wiederholte, daß er ihn hätte im Dunkeln schreiben können. Dieser Brief lautete:
„Gruß in Gott dem Allmächtigen Herrn! Seine Gnade sei mit Euch. Sie möge Euch die Sünden erlassen und nach dem Tod mit der himmlischen Krone nicht geizen. Seine Barmherzigkeit ist groß, deshalb vertraut, daß wir uns auf der Seite der Gerechten und der Erlösten wiedersehen werden. In Gott ist unsere Zuflucht und unser Schutz. Ich grüße und verabschiede mich von Euch mit christlichem Gruß, indem ich Euch allen nach einem frommen Leben einen seligen Tod wünsche. Amen.“
ACHTES KAPITEL In Charons Nachen
Die traurige und blasse Willibalda, die Gattin Omers de Guillebaut, dachte oft darüber nach, daß es besser gewesen wäre, wenn sie an dem Zug ins Morgenland nicht teilgenommen und lieber die qualvolle Demütigung durch den Keuschheitsgürtel ertragen hätte, als sich auf diese Reise zu begeben. Von dem langen Ritt auf dem Pferde taten ihr die Glieder weh, und dazu mußte sie noch die Barschheit ihres Gatten, des mißtrauischen Normannen, erdulden, der ebenso wie sein Bruder finsteren Gemüts war. Während der Reise wurde ihr Pferd lahm, und sie mußte, der Sitte gemäß, hinter ihrem Gatten auf der Kruppe des Pferdes, über die man eine Decke gelegt hatte, Platz nehmen. Ein solcher Ritt war keineswegs bequem. Das Hinterteil des Streitrosses war rund, breit und glatt. Ihren dickleibigen Ehemann konnte sie nicht um die Taille fassen. Um sich festzuhalten, schob sie die Hände in seinen harten, enganliegenden Ledergurt und verletzte sich die Finger. Bei jeder Wendung stieß Guillebaut sie mit dem Ellenbogen, der in einer eisernen Berge steckte, und beklagte sich, daß sie ihn behindere. Bat sie ihn um Erlaubnis, hinter einem Knappen oder einem anderen Ritter reiten zu dürfen, zuckte er nur mit den Schultern und schlug ihr mit spöttischen, gehässigem Lächeln die Bitte ab. Zu Fuß zu gehen erlaubte er ihr ebenfalls nicht, obwohl sie ständig im Schritt ritten und sie durchaus hätte folgen können. Als Herrin durfte sie nicht wie ein Diener wandern. Daher kam sie halbtot in Byzanz an, verhärmt, verbittert und in sich gekehrt. Im Lager, das vor den Mauern von Byzanz aufgeschlagen worden war, konnte sie schließlich ausruhen und verließ tagelang das Zelt nicht. Ihre eigenen Hofdamen sowie die edle Guenona und Alberta, die Gattinnen der normannischen Edelleute, erzählten entzückt von
dem Reichtum und der Schönheit des griechischen Lebens. Sie hörte mit angehaltenem Atem wie einem Märchen zu. Aber, was nutzte ihr die Beschreibung dieser Wunderdinge unmittelbar vor den Toren des Lagers wenn, wie sie wußte, ihr Gatte doch nie die Erlaubnis zu einer Besichtigung geben würde. Dafür ritt er selbst täglich in die Stadt. Obwohl er die Frauen haßte und verachtete, begehrte er sie doch. Er hatte schon die Stadtteile der käuflichen Liebe kennengelernt. Dort befriedigte er seine Gelüste und übertrug die Verachtung für die griechischen Straßendirnen von jetzt an auf die völlig unschuldige Willibalda. Die Wunden, die seine erste Frau, der einzige Mensch, den er in seinem Leben wirklich geliebt und dem er vertraut, bei ihm hinterlassen hatte, und das von dem schönen, aber leichtfertigen Weibe mißbrauchte Vertrauen verwischten sich nicht, als er älter wurde, — im Gegenteil, sie wuchsen in seinem Herzen und in seiner Seele, sie schwärten, sie plagten ihn immer mehr und überschatteten sein ohnehin schon finsteres Gemüt. Von dem ständig genährten Haß gegen die Frauenwelt trübte sich der Geist des Herrn de Guillebaut immer mehr. Er begann, alles Böse, das in der Welt geschah, den Frauen zuzuschreiben. In den Nächten grübelte er über die Voraussagen, die sogenannten Prophezeihungen Merlins, und paßte sie seinen Ansichten an. Diese schon beinahe sieben Jahrhunderte alten Sprüche waren allgemein bekannt. Jeder deutete sie nach seinem Gutdünken und paßte die unverständlichen Bilder den jeweiligen politischen und kirchlichen Ereignissen oder den Naturerscheinungen an. Herrn de Guillebaut dünkte es schon unmißverständlich und ganz natürlich, daß sie ausschließlich vom Weibe sprachen, dem Weibchen, dem fleischlich gesinnten, unzüchtigen Feind. In seinem Zelte liegend, von der Erinnerung an die schöne Griechin, die er noch vor einigen Stunden besessen hatte, geplagt, verbiß er sich in seinen Widerwillen, auch gegen seine Gattin. Natürlich! Sie wollte ihn mit ihrer Scheintugend täuschen, glaubte sogar, listiger zu sein als er. Vergebliche Mühe! Einen Normannen betrog man nur einmal! Er hatte die Frauen ganz
und gar durchschaut und wußte, daß alle gleich sind. Auf sie, nur auf sie, nur auf sie allein bezogen sich zum Beispiel folgende Worte: „Ein Kranich wird sich aus dem Kallatisschen Lande emporschwingen, und alles Vogelgetier wird sich mit ihm verbünden …“ (war das nicht deutlich genug? — Der Kranich, gleich „grue“ gleich „infames Weibchen“,) „… er wird sich auf die bebauten Felder stürzen und die gesamte Ernte vertilgen.“ (Es gab ja nichts Habgierigeres als die Frau.) „Und wenn die Plage aufhört, wird der böse Vogel über das Gabestal fliegen und sich auf einem hohen Berg niederlassen. Auf dem Gipfel wächst eine Zeder“ (das war natürlich der tapfere, aufrichtige, von der Frau betrogene Gatte), „dort wird er ein Nest bauen. In das Nest wird er drei Eier legen. Aus diesen werden ein Fuchs, ein Wolf und ein Bär schlüpfen, welche die Welt vertilgen werden.“ Nur ein Blinder konnte daran zweifeln, daß hier vom Weibe die Rede war! Er hatte einen Fuchs oder die List, einen Wolf oder die Habgier und einen Bären oder die Lüsternheit geboren. Das Weib allein war und blieb die Ursache allen Übels, aller Sünde. Verflucht der Augenblick, in dem es Gott erschaffen hatte! Er streckte drohend seine Hand, in der er noch die runden Formen der griechischen Dirne zu fühlen vermeinte, nach dem Spannbett aus, auf dem seine schutzlose, geplagte Gattin schlief. Florina ließ die Hand ins Wasser gleiten, das so warm war wie im Sommer. Es floß durch die schlanken Finger des Mädchens wie etwas Lebendiges, Angenehmes, Ewiges und zugleich Vergängliches, wie das Leben selbst. Das Boot bewegte sich schnell vorwärts und hinterließ auf dem Wasser einen Streifen in Form eines Schwalbenschwanzes. Es war eines der schönen, schlanken, mit Gold und Schnitzereien verzierten Boote des Hofes, das der Basileus seinen edlen Gästen sowie deren Gattinnen zur Zerstreuung und Bequemlichkeit zur Verfügung gestellt hatte. Der dänische Prinz Sven saß Schulter an Schulter mit seiner Verlobten. Der Mond, der heller leuchtete als in Frankreich, stand hoch am
Himmel, und sein Licht erglänzte wie flüssiges Silber in der vom Nachen hinterlassenen Spur. Die von den Rudern fallenden Tropfen glitzerten. Ringsum lag tiefe Stille und der unvergleichliche Zauber einer byzantinischen Frühlingsnacht. Die Mauern der Stadt schimmerten weiß und schienen sich unvermittelt aus dem Meer zu erheben, dessen Dunkel glatt und ruhig wie ein Spiegel war. Die Hofdame Florinas, eine ältere beleibte Frau, war eingeschlummert. Mondschein vermochte sie nicht mehr zu bezaubern. Die beiden Pagen saßen dicht beieinander und blickten verträumt zu den in der Ferne flimmernden Lichtern der Stadt hinüber. Die Verlobten fühlten sich allein im Angesicht der Nacht, des Frühlings und des Wassers. Die Nacht, erfüllt vom gleißenden Mondlicht, vom Duft der Kräuter, die an den Ufern wuchsen, und dem leisen Geplätscher des Wassers, verhüllte die ganze Welt mit einem Schleier der Täuschung, dem Zauber einer Göttin, die alles Irdische in Schönheit verwandelt. Durch diesen Schleier schien die Welt die schönste und beste aller Welten zu sein, und das Leben ein einziges Entzücken. Die Herzen der Verlobten schlugen im Rhythmus der Entzückung. Florina und Sven berauschten sich an der gegenseitigen Nähe, die sie bisher noch nie genossen hatten. Beide waren unschuldig. Zum ersten Mal lernten sie das geheimnisvolle Ineinanderklingen ihrer beiden Körper kennen, dieses Gefühl der Bindung, das stärker war als eine Kette; zum ersten Mal spürten sie in sich die erwachte Glut, die durch die Berührung der Hand entfacht wird. Wie schön war das, etwas Niedagewesenes! Sie glaubten nicht, daß es so etwas geben könnte, daß andere Menschen etwas Ähnliches erlebt haben sollten. Voll unbekannter, verborgener Schätze schien ihnen die Welt, als hätten sie beide nur auf diese Nacht gewartet, diese schimmernde, betäubende Nacht, die ihnen ihre Liebe offenbaren sollte. Florina und Sven entdeckten dieses unbekannte Paradies der Glückseligkeit, diese himmlischen Gefilde, die nur der Jugend erreichbar sind. Ihr Nachen schwebte wie in Seligkeit durch die
mondhelle Nacht auf dem weiten Gewässer dahin, und ihr Herz und ihre Seele erfüllte ein stiller, trauter Gesang. Die Glocken auf den Türmen der Klöster fingen an zu läuten. Sie läuteten lange, denn es näherte sich die Zeit der ersten Nachtwache. Ihre verklingende Stimme erinnerte die beiden Verliebten an den unlängst erlebten Abend, als Pieretto von Parzival, dem Ritter des Heiligen Grals, gesungen und sich alle von ihren Sitzen erhoben und gelobt hatten, für die Befreiung Jerusalems ihr Leben zu opfern. Die Begeisterung jenes Augenblickes kehrte jetzt wieder bei ihnen ein. Florina und Sven, die Hand in Hand dicht aneinandergeschmiegt dasaßen, fühlten in ihrem Inneren ein Sehnen, dieses heilige Ziel mit erreichen zu helfen. Es entzündete sich in ihnen der heiße Wunsch, zum Dank für die Glückseligkeit, die sie empfinden durften, ein Opfer, und sei es ein schweres, zu bringen. Im Überschwang der Gefühle regte sich in ihnen das heroische Verlangen, ihre eigene Freude zu opfern, um dafür die Verwirklichung des großen Traumes zu erkaufen. Dieses Verlangen nach einem Opfer ließ Florina, die heißblütige Burgunderin, aus einem Geschlecht, das keinen anderen Zwang anerkannte, als den, welchen es sich selbst auferlegt, vor der körperlichen Nähe des Geliebten zurückweichen. „Wollen wir nicht geloben, Prinz, uns so lange nicht zu berühren bis wir in Jerusalem eingezogen sind?“ Er schaute sie voller Verehrung, aber zugleich entsetzt an und schwieg. Er schätzte einen Eid hoch ein und fürchtete sich, ihn bedenkenlos zu leisten und dann doch zu brechen, wie andere es taten. „Ich weiß nicht, ob wir ihn halten werden“, sagte er unsicher. „Es ist besser, kein Gelübde zu leisten, als es später zu brechen …“ „Wir werden es halten“, entgegnete sie mit mädchenhaftem Ernst. „Gott wird uns segnen! Willst du geloben?“ „Dann soll es so sein!“ „Laß uns also beide geloben.“
Ohne auf die verwunderten Blicke der Pagen zu achten, knieten sie in dem Nachen nieder, faßten sich an den Händen und sprachen halblaut mit feierlicher Stimme: „Herr Jesus Christus, unser Erlöser! Wir geloben Dir aus Liebe zu Deinen Allerheiligsten Wunden, daß wir uns weder umarmen, noch uns meiden, noch miteinander streiten wollen, bis wir Dein Heiliges Grab befreit haben. Dazu helfe uns Gott. Amen.“ Sie ließen die Hände los und setzten sich wieder nieder, ohne sich mit den Schultern zu berühren, blickten unverwandt vor sich auf den goldenen Streifen, den der Mond vor ihnen auf das Wasser zauberte. Sie waren stolz auf sich, aber gleichzeitig um sich besorgt. Nach einer Weile befahlen sie den Ruderern umzukehren. Wenn der Basileus Isapostolos seine Gäste im engsten Kreise ohne höfisches Zeremoniell empfing, fand der Empfang nicht in dem großen Chrysotriklinion-Saal statt, sondern in einem anderen, kleineren, dem Onyxsaal. Die hier herrschende Stimmung war ungezwungener. Den Gästen war es gestattet zu sitzen. Sie erhoben sich nur, um dem Basileus auf die gestellten Fragen zu antworten. Auch durften sie mit den Mitgliedern der kaiserlichen Familie sprechen, sofern diese geruhten, sich als erste an sie zu wenden. Eine Einladung zu einem solchen zwanglosen Abend wurde in der griechischen Welt als eine außerordentliche Ehre und Auszeichnung betrachtet, die nur Herrschern zuteil wurde. Eine solche Ehre erwies man den lateinischen Herren. Alle, außer Tankred, hatten den Eid geleistet, daher hatte Kaiser Alexios den Wunsch, ihnen zu beweisen, wie sehr er das zu schätzen wisse. Zwar hatte es Raimund de St. Gilles erreicht, daß die Eidesformel geändert wurde, die jetzt nur die Worte enthielt, daß er weder die eroberten Länder für sich behalten noch das Schwert gegen den Basileus erheben werde — und der Kaiser mußte einwilligen; denn man durfte den Bogen nicht überspannen und den Abmarsch der Kreuzfahrer, deren Unterhalt außergewöhnlich hohe Kosten verursachte, nicht verzögern. Alexios hatte daher nachgegeben,
fühlte sich jedoch verletzt und ließ das den hochmütigen Grafen fühlen. Im Gegensatz zu den anderen Rittern, die mit Kostbarkeiten überhäuft wurden erhielten weder Raimund noch seine Leute irgendwelche Geschenke. Zu dem heutigen Empfang waren auch der Graf und die Gräfin von Toulouse geladen, aber beide hatten abgesagt. Elvira hätte sich lieber umgebracht, als daß sie vor der Basilissa Irene hingekniet wäre und deren Hand geküßt hätte. Die Tochter des Königs Alfons von Kastilien, des Besiegers der Mauren, wollte sich bis zu einem solchen Grade nicht erniedrigen! Raimund pflichtete ihr bei. Tankred war ebenfalls nicht erschienen, alle übrigen dagegen zur Stelle: Bischof Ademar, Hugo, Gottfried, Balduin mit Gontrana, die beiden Roberte, Stephan de Blois und Bohemund; jeder wurde von zwei sorgfältig ausgewählten Rittern begleitet. Die Befürchtungen Elviras erwiesen sich als unbegründet, denn die Basilissa Irene war nicht anwesend. Sie fühlte sich infolge langen Fastens unwohl. An der Seite Alexios’ saß anstelle der Mutter dessen älteste Tochter, sein Liebling, Anna Porphyrogeneta, die einstige Thronfolgerin. Alexios Komnenos wollte sich an diesem Abend von seiner besten Seite zeigen, und das gelang ihm ohne Mühe. Seine vielseitige, aalglatte Natur paßte sich leicht den Neigungen eines jeden an. Schon nach kurzer Zeit blendete er den Bischof und Stephan de Blois durch sein gründliches Wissen, Gottfried durch Frömmigkeit, Robert von Flandern und Robert von der Normandie durch vorzügliche Kenntnis des Kriegshandwerks. Er war höflich, freimütig, offenherzig. Ebenso wie der Kaiser überbot sich der ganze Hof in Zuvorkommenheit gegenüber den Lateinern, die man mit den Helden des Altertums verglich, obwohl man sie im stillen als Barbaren bezeichnete. Nur die Prinzessin Anna bewahrte ihren üblichen Hochmut. Schweigend steif und gleichgültigen Blickes maß sie die Gäste, betrachtete mit spöttischem Lächeln Gontrana, ihre Kleidung, vernachlässigte Gesichtsfarbe und rauhen Hände, und die fremden
Hofdamen, die einfachen Mägden glichen und auf dem glatten Fußboden nicht zu gehen verstanden. Trotz der vielsagenden, vorwurfsvollen Blicke ihres Vaters verbarg sie nicht im geringsten den Unwillen, welchen die Ankömmlinge in ihr hervorriefen. Alles an ihnen störte sie, sogar die hartklingenden, schwer auszusprechenden Namen. Sie ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen und heftete ihn dann auf Bohemund. Dieser eine schien ihr menschenähnlich zu sein. Ohne Zurückhaltung schaute sie auf sein hübsches Gesicht, die hohe Gestalt mit den breiten Schultern und den schmalen Hüften. Er war sorgfältiger gekleidet als die anderen. Sie blickte auf seine Hand, die nachlässig auf dem Schwertknauf ruhte. Die Fingernägel waren sauber und gleichmäßig beschnitten. Ja, das war der einzige von allen, der es verdiente, Mensch und nicht wilder Barbar genannt zu werden. Als erriete Bohemund ihre Gedanken, blickte er zu dem Mädchen hin und trat lächelnd an sie heran. Bevor sie noch vermochte, als Antwort auf diese Keckheit die Stirn in Falten zu legen, verneigte er sich vor ihr und sprach sie ungezwungen an, — er sprach sie, die Porphyrogeneta, ohne gefragt zu sein, an! „Ihr seht Euch so aufmerksam die fremden Ritter an Prinzessin. Kommen wir Euch nicht wie schreckliche Rohlinge vor?“ Er hatte eine wohltönende, überzeugende Stimme, sein Latein war gut und geschmeidig. Anna wurde es nicht einmal gewahr, als sie antwortete: „Rohlinge? — Ihr, Ritter, seid es nicht!“ „Wir verfügen weder über griechische Schätze noch über großes Wissen“, fuhr Bohemund fort, „aber wir besitzen den Schwung und die Jugendkraft, uns wird die Welt gehören!“ Anna warf den Kopf zurück. „Ihr irrt Euch, Ritter! Die Welt gehört uns, den einzig rechtmäßigen Erben des großen, alles umfassenden römischen Imperiums.“
„Die Welt, Prinzessin, überläßt man lieber dem kühnen Eroberer als demjenigen, welcher mit einem schon erloschenen Recht droht. Glaubt meiner Erfahrung als Heerführer.“ „Unsere Rechte sind nicht erloschen und sind weiter in Kraft“, erwiderte sie tödlich beleidigt. Er schüttelte den Kopf, neigte sich so nahe zu ihr hin, daß sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spürte, und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: „Nicht auf Grund ererbter, alter Rechte, sondern durch Euch selbst seid Ihr dazu geschaffen, wunderschöne Herrin, die Welt zu beherrschen. Euch gehört der Thron, der Euch durch Euren Bruder genommen worden ist.“ Ohne Rücksicht hatte er die verwundbarste Stelle bei ihr berührt. Wie konnte er sich erdreisten, das zu wissen? Wie konnte er es wagen, davon zu sprechen? Sie erblaßte und trat mit funkelnden Augen einen Schritt zurück. Bohemund verlor keineswegs die Fassung. „Ich werde für Euch ein Reich erkämpfen, ein größeres als das, welches Euch verlorengegangen ist.“ Bevor sie hierauf etwas antworten konnte, blickte er sie leidenschaftlich an, dann ging er in die entgegengesetzte Ecke des Saales. Sein Schritt war katzenhaft, federnd, herausfordernd. Er blickte sich nicht um, fühlte aber den beleidigten, verwunderten, unruhigen Blick Annas auf sich und war mit sich zufrieden. Die Gäste erhoben sich von ihren Plätzen und rasselten mit ihren Schwertern über den Fußboden. Der Basileus erklärte sich nach scheinbarem Zögern damit einverstanden, ihnen seine Schatzkammer zu zeigen. Im Grunde genommen hatte er selbst diesen Wunsch gehabt und ihn geschickt den Lateinern nahegelegt. Er wünschte, sie durch den Anblick seiner Macht zu berücken. Gleichzeitig sollten sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß es keinem lebenden Menschen möglich war, sich ohne Wissen und Willen des Basileus Zutritt zu diesen Schätzen zu verschaffen.
Die Schatzkammer befand sich in den Marmorkellern des Heiligen Palastes. Zwei Eingänge führten dorthin. Beide waren nur zwei lebenden Personen bekannt: dem jeweiligen Kaiser und seinem Parakimenos. Die Sklaven, die vor Jahrhunderten an dem Bau des Kellergeschosses gearbeitet hatten, waren ihrem letzten Arbeitsplatz nicht lebend entkommen. Von den beiden Eingängen diente der eine ausschließlich dem Basileus und führte unmittelbar von dessen Schlafgemach durch ein verworrenes Labyrinth geheimer Durchgänge und verborgener Türen. Der andere, der noch bedeutend schwieriger zu finden gewesen wäre, wurde den Gästen mit dem Hinweis gezeigt, daß er der einzige sei. Daher schritt jetzt die Ritterschar sowie Gontrana und ihre beiden Hofdamen im Gefolge des Basileus durch zahlreiche Höfe und Gemächer, Säulengänge, Lustgärten, Atrien, treppauf, treppab, bis hinter den Heiligen Palast, zu der Stelle, wo sich der Eingang zur Zisterne befand. Daß eine solche überhaupt vorhanden war, hatten die Ritter bisher nicht gewußt. Sie staunten, als sie erfuhren, daß Byzanz gar kein Süßwasser besaß und gezwungen war, dieses über Aquädukte von einer Siedlung namens Belgrad zu beziehen, die eine Meile entfernt lag und wo sich außergewöhnlich ergiebige Quellen befanden. Da während einer Belagerung die Aquädukte zerstört werden konnten und die Stadt dann des Wassers beraubt gewesen wäre, zogen sich unter der ganzen Stadt Zisternen hin, die einen Wasservorrat speicherten, der die Hauptstadt sieben bis acht Jahre versorgt hätte. Die Zisterne, in die sie gegenwärtig hinabstiegen, war ausschließlich für den kaiserlichen Palast bestimmt. Ihr Deckengewölbe ruhte auf dreihundertfünfundsechzig Säulen, so vielen, wie das Jahr Tage hat. In der Öffnung, in die feuchte Stufen hinabführten schimmerte schwarz wie in einem Brunnen der unbewegte Wasserspiegel. Dieses Wasser fiel jetzt schnell und legte weitere Treppenstufen frei. Irgendwo in der Ferne öffneten Sklaven, die nicht wußten, was sie taten und wozu es diente, Klappen und Schleusen, ließen das
Wasser in leere Kammern ab und senkten dessen Oberfläche um so viel, daß der Basileus mit seinen Gästen in einem Boot fahren konnte. Die vor Feuchtigkeit glänzenden Stufen traten eine nach der anderen aus dem Wasser hervor. In dem Maße, wie sie auftauchten, stieg das Gefolge auf ihnen hinab. Die Fackeln, die von Sklaven gehalten wurden, spiegelten sich als flimmernde Streifen im Wasser wider. Ihr Schein erhellte kaum einen kleinen Kreis des nächsten Raumes; dahinter lag undurchdringliche Dämmerung. Das abfließende Wasser plätscherte und rauschte gegen unsichtbare Mauern. Schließlich wurde im Wasser ein Gang sichtbar, der auf beiden Seiten ein Marmorgeländer aufwies. Die Treppen hörten auf. Die schwarze Flut wogte auf und blieb stehen. Das Plätschern und jedes Geräusch verstummten. Die irgendwo in der Ferne arbeitenden Sklaven hatten die Schleusen geschlossen. Der Basileus, sein Gefolge und seine Gäste blieben im Gang stehen. „Holt Charon herbei“, sagte Alexios. Hinter dem Rücken der Würdenträger tauchte ein alter halbnackter Sklave mit einem langen grauen Bart auf. Er war taub und stumm, und aus diesem Grunde kaiserlicher Fährmann. Er sah tatsächlich wie Charon aus, aber die lateinischen Ritter wußten nicht, was das zu bedeuten hatte, deshalb schauten sie unbesorgt auf den Greis. Sich vor dem Herrscher bis zur Erde verneigend, öffnete der Sklave mittels eines Handhebels ein unsichtbares, hermetisch schließendes Tor in der Mauer. Dahinter zeigte sich undeutlich eine wie tote Wasserfläche, auf welcher der goldene kaiserliche Nachen lag. Das Tor schloß so dicht, daß bei hohem Wasserstand in der Zisterne kein einziger Tropfen in die Kammer drang, die als Anlegestelle diente. Die Teppiche auf den Sitzplätzen waren vollkommen trocken geblieben und nur von der Luftfeuchtigkeit etwas klamm geworden. Bis an den Gurt im Wasser watend, stieß Charon das Boot auf den glatten, in ewiger Dämmerung versinkenden See der Zisterne hinaus, zündete die zahlreichen Lampen über dem Boot an, die von
hohen Haltern herabhingen, und blieb abwartend stehen. Der Basileus, der Parakimenos und die lateinischen Gäste nahmen im Boot Platz. Das übrige Gefolge kehrte nach oben zurück. Der Alte stieß sich von dem Marmorgeländer ab, und sie fuhren in die Dunkelheit hinein. Das Lampenlicht flimmerte und spiegelte sich im Wasser wider, aus dem Säulen mit wunderschön gemeißelten Kapitälen emporwuchsen. Sie tauchten erst aus dem Dunkel auf, wenn der Nachen dicht an ihnen vorbeifuhr, und verschwanden sofort; aber vor den Bootsinsassen zeichneten sich in phantastischer, verschwommener Form schon wieder neue ab. Es herrschte eine so vollkommene bedrückende Stille, daß sich das Plätschern des ins Wasser getauchten Ruders wie ein Krachen anhörte. Die Fahrenden schwiegen wie unter einem unsichtbaren Befehl. Obwohl die lateinischen Ritter nicht wußten, was der Beiname Charon zu bedeuten hatte, und auch niemals etwas vom Styx gehört hatten, packte sie ein Grauen, als führe sie die Fahrt ins Totenreich. Wohin schwamm der goldene Kahn, der langsam zwischen den feuchten Säulen hindurchglitt? Wo waren sie? Wie lange befanden sie sich schon auf dem Wasser? Schien es nicht, als ob diese unheimliche, dunkle Straße mit dem emporschießenden Wald von Säulen in die Unendlichkeit führte, sie schon viele Stunden oder gar Tage auf dem unterirdischen See fuhren? In Wirklichkeit war die Zisterne zwar groß, doch nicht so riesig, wie es ihnen vorkam; denn sie umschifften sie schon zum dritten oder vierten Mal, in dem Glauben, daß sie sich ständig geradeaus bewegten. Endlich hielten sie an einem Gang an, der dem vorhergehenden täuschend ähnlich war. Der bärtige, gebückte Charon blieb im Kahn. Die übrigen gingen eine Treppe hinauf, dann einen schmalen Gang geradeaus, und als eine gewaltige Tür geöffnet wurde, stiegen sie wieder treppauf und treppab. Die Schatzkammer! Hohe, gewölbte Gemächer. Die Wände waren mit eisglattem Marmor bedeckt. Die Decke bestand aus feinen, schmalen Ziegelsteinen, die so fest wie Granit waren und deren Herstellungsgeheimnis in Byzanz streng gehütet wurde. Der Parakimenos zündete
eigenhändig mit einem Lämpchen, das er aus dem Boot mitgenommen hatte, die zahlreichen Lampen an, die an goldenen Ketten herabhingen. Bei jedem neuen Licht schwoll das zauberhafte Funkeln, das Glänzern und Glitzern an bis alle vier Säle hell erstrahlten. In diesem fast betäubenden Licht wurde ein Reichtum sichtbar, der eher ein Traum als Wirklichkeit zu sein schien. Gold lagerte bis zur Decke: Gold in Stäben, in Barren, in gelben Platten, in Körnern, die wie Sand aufgehäuft waren. Wie Getreide in einem Speicher lagen scheffelweise Edelsteine, Perlen und Kleinodien auf dem Boden. An den Wänden standen goldene Rüstungen, goldene Pferdegeschirre, goldene Geräte, goldene Thronsessel, goldene Standbilder, Gefäße, hingen Ketten. Von dem Anblick so vieler Schätze und der Anhäufung solcher Reichtümer wurde es den Besuchern beinahe schwindelig. Der Basileus Alexios ging in der Schatzkammer höflich lächelnd umher wie ein Gastgeber, der froh ist, daß die Gäste sein Gut sehen und zugleich feststellen, daß dieses Gut streng bewacht wird und nicht leicht zu erbeuten ist. Mit der Hand wies er auf die an der Wölbung kaum sichtbaren Wasserspuren. Wenn Überfall drohte, konnte die Schatzkammer binnen einiger Minuten vollkommen unter Wasser gesetzt werden. „Sucht Euch aus, was Euch gefällt“, redete er ihnen zu. „Ich möchte als Beweis meines aufrichtigen Wohlwollens Euch gern etwas schenken.“ Sie sträubten sich und stellten sich gleichgültig, aber er nötigte sie zuzugreifen. Beinahe widerwillig suchten sie die kleinsten, weniger wertvollen Dinge heraus. Daher langte Alexios mit seiner eigenen kaiserlichen Hand nach den Kleinodien und legte ihnen diese in die Hände. Sie nahmen sie mit Zurückhaltung an, da seine Freigebigkeit wohl kaum offenherzig und ehrlich war. Es wäre ihnen lieber gewesen, wenn sie hier als Eroberer aufgetreten wären. Bohemund schritt, leicht vorgebeugt, mit halbgeschlossenen Augen durch die Schatzkammer. Er nahm nichts. Als ihm Alexios eine Halskette reichte, lehnte er höflich, aber kühl ab.
„Nur ein einziges Kleinod wünsche ich mir“, sagte er und sah dem Kaiser offen ins Auge. „Was für eins? Sprecht, Fürst!“ sagte Alexios mit kaum merklicher Unruhe. „Den Ring, den Prinzessin Anna Porphyrogeneta an ihrem Finger trägt“, entgegnete Bohemund unverfroren und mit gut gezieltem Hieb. Alexios wurde rot und blaß. Die Vermessenheit des Tarentiners nahm ihm die Sprache. Er beherrschte sich aber und erwiderte beinahe ruhig: „Ihr geht allzu schnell vor, Fürst. Neulich batet Ihr nur um den Titel Protosebastos.“ „Wer schnell geht, erreicht sein Ziel rascher“, erwiderte Bohemund. „Es gibt unerreichbare Ziele!“ „Für mein Geschlecht gibt es keine solchen.“ Alexios’ dunkle Gesichtsfarbe wurde unter dem Andrang des in Wallung geratenen Blutes noch dunkler. Dieser Habenichts erdreistete sich, sein Geschlecht in Erinnerung zu bringen, a1so seinen Vater, den gefährlichen, tollkühnen Guiscard, Herzog von Apulien, der um ein Haar Herr von Byzanz geworden wäre! Einen Augenblick schien es, als verließe den Kaiser die Fassung. Er gehörte aber zu den politischen Spielern, welche die Brücken nie hinter sich abbrechen. Daher lächelte er nur mit verächtlicher Gleichgültigkeit, ging davon und ließ sich in eine lebhafte Unterhaltung mit dem Bischof ein. Bohemund war Sieger geblieben und hatte das letzte Wort gehabt. Er ließ seiner Phantasie freien Lauf und zweifelte nicht daran, daß er, wenn er nur wollte, die Hand der Kaisertochter erlangen, ihren siechen Bruder nach dem Tode Alexios’ besiegen und sich zum Kaiser aufschwingen könnte. Diese Schatzkammer würde dann ihm gehören. Als der Apostelgleiche, beinahe Gottgleiche Basileus auf dem Thron im großen Chrysotriklinion–Saal, würde er die Sarazenen verjagen, die alte Herrlichkeit, die alten Grenzen des Kaiserreiches wiederherstellen … Ja, das war eine Aufgabe für ihn! … Ihm schien
es nur natürlich und gerecht, daß er, der Fürst von Tarent, sich über die anderen Kreuzfahrer emporschwinge und deren Kräfte als erste Hilfe zur Erreichung des beabsichtigten Zieles verwende. Denn wer von den Anführern des Kreuzzuges konnte sich mit ihm messen? Der rechtschaffene, gewissenhafte Gottfried, der leichtsinnige, träge Hugo, der eingebildete Tölpel Robert von der Normandie oder Robert von Flandern, der einmal am Tage, oder gar noch seltener das Wort ergriff? Nur Raimund von Toulouse traute Bohemund Führerfähigkeiten zu, die den seinen gleichkamen, sah aber in dem Grafen einen unberechenbaren Hitzkopf, der stets gegen den eigenen Vorteil handelte. Er brauchte sich nur an zwei Vorfälle zu erinnern: Raimund hatte gelobt, nicht nach Toulouse zurückzukehren … Warum? Was hatte er davon? Ein schönes, großes, unverschuldetes Besitztum, eines Fürsten würdig. Oder wie war es mit dem Eid, den der Basileus verlangt hatte? Soviel Geschrei, Beharren auf seiner Meinung! Weshalb? Toulouse hatte nichts dabei gewonnen, denn Alexios hatte ihm keine Geschenke gegeben … Nein, nein! Trotz seiner Fähigkeiten, trotz seiner ausgezeichneten Mannschaften würde Raimund ihn, Bohemund, niemals übertreffen. Schon verließen alle die Schatzkammer. Der Parakimenos löschte die Lichter und schloß die Tür. Der taubstumme Bärtige wartete zusammengekauert am Bug des Bootes, das an den Stufen der Treppe lag. Er war jetzt seinem Beinamen noch ähnlicher als zuvor. Bei dem schwachen Lampenlicht fuhr er sie in einer Stille, die beinahe der des Totenreiches glich, wieder unendlich lange zwischen den Reihen der aus dem Wasser emporragenden Säulen dahin. Als sie schließlich ans Ufer kamen und die Treppen hinaufstiegen, die oben im grellen Sonnenlicht leuchteten, waren sie nach dieser so unheimlichen Fahrt durch das Wasserlabyrinth nicht sicher, ob all das, was sie gesehen hatten, nicht doch nur eine Sinnestäuschung oder Einbildung gewesen war.
Das Gefolge, das auf die Rückkehr des Kaisers wartete, hatte sich um den edlen Euphorbenos Kalatos, den Befehlshaber des Südheeres des Reiches, vergrößert. Alexios blickte den Heerführer fragend an, und als ihm dieser zu Füßen fiel, befahl er ihm, sich zu erheben und zu sprechen. „Allerehrwürdigster, Allerfrömmster, Allererleuchtetster, Apostelgleicher Herr! Der Ritter Tankred hat sich mit Gewalt in den Besitz der genuesischen Schiffe gesetzt, sein Heer verladen und befindet sich jetzt bereits am jenseitigen Ufer …“ „Ohne den Eid geleistet zu haben“, rief Alexios zornig aus. „So ist es, Allerehrwürdigster, Gott schenke Euch noch viele Jahre!“ „Tankred ist auf das jenseitige Ufer übergesetzt?!“ rief Gottfried beinahe neidisch, aber mit Bewunderung. „Er ist hinübergekommen“, fiel Balduin wie ein Echo ein. Alexios blickte Bohemund herausfordernd an. „Tretet näher, Fürst. Ich erwarte von Euch eine Erklärung über das Verhalten Eures Neffen.“ „Ich habe nichts von seiner Absicht gewußt“, entgegnete Bohemund, ohne die Fassung zu verlieren. „Ihr seid für ihn verantwortlich! Ihr seid verantwortlich für die durch ihn zugefügte Beleidigung.“ „Mein Neffe ist ein zum Ritter geschlagener Mann und selbst für sich verantwortlich.“ „Als Ihr unlängst den Ritter Tankred wegen seines frechen Widerstandes gegen die Ableistung des Eides entschuldigtet, habt Ihr ihn als Knaben bezeichnet, der in allem von Euch abhängig sei. Ihr scheint Eure Meinung schnell zu ändern!“ Bohemund wurde rot vor Zorn, trat dicht an den Kaiser heran und zischte: „Nicht so leicht wie der griechische Basileus, der seinen Verbündeten und Kreuzfahrer vergiften wollte! Deshalb hat mein Neffe, der aufrichtig und rechtschaffen ist, einem solchen Herrscher nicht geschworen!“
Alexios brach seltsamerweise nicht in Zorn aus, er ließ den Waghalsigen auch nicht festnehmen. Er errötete und sagte mit gedämpfter Stimme: „Was für ungereimtes Zeug redet Ihr da, Fürst? Wer wollte wen vergiften? Wann?“ „Das ist kein ungereimtes Zeug, sondern die reine Wahrheit. Ihr habt mir, gnädiger Herr, sofort nach unserer Ankunft eine Abendmahlzeit von Eurem Tisch geschickt. Aus Dankbarkeit für eine solche Freigebigkeit habe ich meine Genossen, die Krieger, eingeladen. Die Mutter Gottes wollte aber nicht, daß ihre Verteidiger eines erbärmlichen Todes stürben. Sie erschien mir und sprach: ‚Iß nicht, Bohemund!‘ Ich wußte nicht weshalb, sagte aber sofort zu meinen Gefährten: ‚Es schickt sich, daß wir zu Ehren der Allerheiligsten Jungfrau Maria am heutigen Tage fasten.‘ Sie gehorchten, obwohl grollend, und gingen mit mir hinaus. Nur mein Hund blieb. Als unvernünftiges Geschöpf sprang er auf den Tisch, kostete und verendete! Er verendete! Erst dann erkannte ich, warum mich die Allerheiligste Jungfrau gewarnt hatte … Ich habe niemals davon gesprochen, denn ich schämte mich diese Nachricht zu verbreiten. Aber jetzt werde ich nicht mehr schweigen, sofern uns rechtschaffenen Rittern Falschheit vorgeworfen wird!“ Er sprach flüsternd, seine Stimme bebte vor Entrüstung. Alexios strich unruhig seinen Bart. „Der Hund verendete, weil er sich überfressen hatte.“ Bohemund lächelte verächtlich: „Er hatte ein schwarzes Maul und einen aufgedunsenen Leib, als wir ihn fanden!“ „Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat jemand von Euch Gift ins Essen geschüttet?“ „Bei uns sind Giftmischereien nicht üblich. Unsere Männer setzen sich mit dem Schwert auseinander und nicht mit Gift.“ Alexios zuckte die Achseln und ging davon. Bohemund hatte sein Ziel erreicht. Über Tankred wurde nicht mehr gesprochen.
„Ein verwegener Kerl, dieser Tankred! Ein verwegener Kerl!“ wiederholte Gottfried neidvoll anerkennend. „Wir hätten alle so handeln sollen. Und worüber habt ihr so lange mit dem Kaiser gesprochen?“ „Ach, über nichts Besonderes … Er hat sich über Tankreds Verhalten beklagt.“ Der Allerehrwürdigste Basileus, der sich schon in seinen Gemächern befand, sagte gereizt zum Parakimenos: „Ich habe ausdrücklich befohlen, den Sohn Guiscards nicht zu vergiften!“ „So ist es, Allerehrwürdigster, Allererleuchtetster, Allerfrömmster Herr, Gott schenke Euch viele Jahre! Es war beschlossen, kein Gift beizumischen …“ „Wer hat sich also unterstanden? Habt Ihr gehört, was Bohemund erzählt hat?“ „Ich habe es gehört, Allerehrwürdigster, Allerfrömmster, Allererleuchtetster Herr. Gott mehre Eure Jahre!“ „Wer war es? Wer war es?“ „Vielleicht die Allerehrwürdigste, die Allerverehrungswürdigste Maria Dalazenos“, flüsterte scheu der Parakimenos. Alexios wurde nachdenklich. „Vielleicht! Sie bestand bei der Beratung sehr darauf … Vielleicht. Auf jeden Fall soll derjenige, der ihrem Befehl gehorcht hat, gefunden und heute noch als abschreckendes Beispiel bestraft werden. Genug davon! Es gibt nichts Schädlicheres als allzu eifrige Diener.“ „Der Schuldige wird gefunden werden“, versicherte der Parakimenos. Aber noch an diesem Abend, als sich der Allerehrwürdigste, der Allerfrömmste Basileus zum Schlaf niederlegte, was eine komplizierte, feierliche Handlung war, bei der einige Dutzend Menschen beschäftigt wurden, ein langes und äußerst wichtiges Zeremoniell, bat der Nykteparchos demütig um Gehör, und der Basileus empfing ihn. Mit Verwunderung hörte er, daß der Fürst
von Tarent gelogen hatte. Gift war in den ihm zugesandten Speisen nicht enthalten gewesen. Es war auch kein Hund verendet. Die ganze Mahlzeit war von Bohemunds Kriegern mit Genuß verzehrt worden. Bohemund selbst hatte allerdings nichts gegessen, er hatte Angst gehabt. „Ist das sicher?“ fragte Alexios. „Vollkommen sicher, Allerehrwürdigster, Allerfrömmster, Allererleuchtetster Herr, Gott schenke Euch noch viele Jahre!“ „Ist das ein Spieler! Ist das ein Spieler! Und ich habe ihm geglaubt. Du kannst gehen.“ Der Nykteparchos verneigte sich bis zur Erde und schlüpfte aus dem Gemach, doch das Zeremoniell der Entkleidung wurde nicht sofort aufgenommen. Der Basileus saß unbeweglich da und starrte auf die gegenüberliegende Wand. „Ein vorzüglicher Spieler“, wiederholte er zu sich selbst. „Ein ausgezeichneter …“ Und die verwegenen Gedankengänge Bohemunds, die sich mit der Kaisertochter beschäftigten, schienen ihm weniger unbegründet zu sein.
NEUNTES KAPITEL 1n welchem der Satan wieder erscheint
Nach
vielen fruchtlosen Versuchen gab Ademar de Monteil die Hoffnung auf, die Bekanntschaft des griechischen Patriarchen Simeon zu machen. Der alte Würdenträger der Ostkirche hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen die Lateiner. So wohl er als auch seine Genossen wollten nicht glauben, daß der Bischof von Rom, der Papst, aus rein menschlicher Güte und aus Wohlwollen, ohne den Hintergedanken ihrer Wiederbekehrung zu Rom, mit ihnen sprechen wollte. Zu dieser Befürchtung gesellte sich ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der Mutterkirche, die von der weltlichen Macht unabhängig geblieben war und sich ihr trotzig entgegenstellte während sie, die ältesten Christen, dem Basileus sklavisch untertan waren. Diese Abneigung der griechischen Geistlichkeit teilten die Mönche, die Äbte und beinahe alle weltlichen Würdenträger. Zwischen den Lateinern und den Griechen stand eine unüberwindliche Mauer gegenseitiger Vorurteile. Um diese zu beseitigen, hätte es vieler, langer Jahre bedurft. Die besten Seiten des byzantinischen Lebens, die Wissenschaft die Gelehrsamkeit, die Kunst, die Gewerbe, der Handel, die Kultur des täglichen Lebens blieben den Kreuzfahrern ganz und gar verschlossen. Dagegen lagen Ausschweifungen, kurze Liebschaften und übertriebener Luxus offen vor ihnen. Die Mannschaften versanken darin wie Fliegen im Honig, und nicht nur Gottfried sagte erbittert, daß seine Leute nicht wiederzuerkennen seien. Die harten Krieger des Westens verweichlichten unter den neuen Verhältnissen erstaunlich schnell. Die feierlichen Gelübde gerieten in Vergessenheit. So mancher, der geschworen hatte, bis zur Befreiung des Heiligen Grabes keine Frau anzurühren, verkehrte ständig in der Gesellschaft lockerer Griechinnen. Die
lateinischen Krieger tranken, aßen, schliefen auf bisher nicht gekannten Pfühlen, und als sie sahen, daß sie das Geld in den Stand setzte, in all dem zu schwelgen, begannen sie mehr denn je dem Mammon nachzujagen. Viele dachten mit Bedauern an den Augenblick, an dem sie Byzanz verlassen mußten, und wären gern für immer hiergeblieben. Sie erfanden tausenderlei Gründe, um den Augenblick des Aufbruchs nach Asien zu verzögern, dem in Wirklichkeit nichts im Wege stand. An der Spitze solcher Verehrer Griechenlands und der Griechinnen standen Hugo de Vermandois und Robert von der Normandie. Der einfallsreiche und ausschweifende Arnuld de Rohes legte ihnen für die Verlängerung ihres Aufenthaltes immer wieder neue Gründe nahe. Nach seinem Rat sollte man zusammen mit dem Basileus aufbrechen, nicht früher, denn Alexios hatte feierlich versprochen, sofort mit dem gesamten Heer, das von Euphorbenos Kalatos befehligt wurde, den Kreuzfahrern nachzufolgen. An der Spitze sollte der edle Butumitos zusammen mit den Lateinern und der Flotte, welche die Küste sicherte, gegen die Heiden ziehen. „Wenn wir als erste abmarschieren“, argumentierten Hugo und Robert, „so wird sich dieser Teufelskerl überhaupt nicht von der Stelle rühren. Er streut uns Sand in die Augen, damit wir möglichst schnell verschwinden, er selbst aber wird bleiben.“ „Wenn wir so lange warten sollen, bis er sich auf den Weg macht, werden noch Monate vergehen“, erwiderte der Bischof. „Veit, der Halbbruder Bohemunds, hat uns ja gesagt, wieviel Zeit sein Abmarsch in Anspruch nimmt.“ Jeder Aufbruch des Basileus kostete tatsächlich viel Zeit, Vorbereitungen und Geld. Die Regeln, welche bei Kriegszügen eingehalten werden mußten, waren bis ins kleinste in einem Buch über die zu beobachtenden Förmlichkeiten und Gebräuche bei feierlichen, höfischen Handlungen festgehalten, das Konstantin VII. Porphyrogenetos hatte verfassen lassen. Dieses Zeremoniell durfte auch nicht im kleinsten abgeändert werden. Nach diesem Kodex
waren für die Beförderung des Allerehrwürdigsten Autokrators und seines Feldtrosses eintausend Pferde, eintausend Maultiere und zweitausend Menschen erforderlich. Einige hundert Beamte sowie einige hohe Feldwürdenträger, wie der Protostratos oder Stallmeister, der Epiklitos oder Adjutant, der Logotetos der Schar, der Drungarios der Wache, der persönlich vom Basileus die tägliche Abendlosung empfing, der Idikos oder Beschließer und der Oikiakos oder Großküchenmeister führten dieses Heer an, das nicht weniger wichtig war als die eigentliche Kampftruppe. Die mit Purpurdecken behangenen, mit einem Brandmal gezeichneten kaiserlichen Pferde und Maultiere trugen einen unerschöpflichen Vorrat an Gewändern Putz, Wäsche, Bettzeug, kostbaren Zelten, Küchen- und Tafelgeschirr sowie Lebensmitteln. Außer Wein, Olivenöl, Mandeln vorzüglichem Mehl, Käsesorten, Fett, getrockneten Früchten, Riechmitteln, Hautölen, auserlesenen Leckerbissen folgten dem Troß ganze Herden von Schafen und Kühen. Auf den Wagen wurden in Käfigen Hühner, Küken und Gänse transportiert. Eine besondere Gruppe von Fischern, die mit Netzen ausgerüstet waren, war verpflichtet, täglich frische Fische zu liefern. Auch Leuchter, Lampen, Kerzen, Bücher, Uhren, Pergamentrollen, Arzneimittel, Salben und Balsame wurden mitgeführt. Eines der golddurchwirkten Zelte diente als Kapelle, die mit Kostbarkeiten, rituellen Gewändern, Kelchen, Standbildern, Ikonen reich geschmückt war. Alle kaiserlichen Zelte und Geräte waren doppelt vorhanden, denn wenn der Basileus, der Apostelgleiche, das eine in Gebrauch hatte, eilten die Diener mit dem anderen geschwind zum nächsten Rastort, um dort ein Lager aufzuschlagen, alles vorzubereiten und die Ankunft des Allerehrwürdigsten abzuwarten. Der so belastete Heereszug konnte weder schnell vorwärts kommen, noch war er wendig. „Wir werden hier noch den nächsten Winter erleben wenn wir auf Alexios warten“, klagte Gottfried, als sie sich wohl zur zehnten Beratung in dem großen, gemeinsamen ritterlichen Kreis auf freiem Felde zusammengefunden hatten.
„Es ist besser, im Winter loszuziehen, aber dann mit doppelter Macht, verstärkt durch die Heere des Basileus …“ „Glaubt Ihr denn wirklich, daß Alexios aufbrechen wird?“ rief Raimund aufbrausend aus, „Er wird sich auf den Weg machen, freilich, aber erst nach unserem ersten Sieg, früher bestimmt nicht.“ De Hainaux hatte noch nie im Rat das Wort ergriffen. Das Sprechen fiel ihm schwer. Nach seinem ritterlichen Gefühl mußte man so schnell wie möglich abmarschieren, aber sein Herz barmte nach Ida. Sie kam noch immer nicht! O Gott, warum kam sie nicht?! Sie wollten sich ja hier treffen, in Byzanz. Wenn sie fort waren, bevor sie eingetroffen war, wie sollte sie da erfahren, wo er sich befand? Der greise Anselm de Ribaumont faltete die Hände: „Laßt uns aufbrechen! Laßt uns aufbrechen!“ Bisher hatte er den seiner Obhut anvertrauten Knaben, sein geliebtes Patenkind Paul Engelram, der so schön wie ein Cherub war, glücklich vor aller Verderbnis bewahrt. Er hielt ihn von schlechten Gefährten fern, beschäftigte sich mit ihm den ganzen Tag, indem er ihn in einem Boot auf das Meer hinausfuhr oder gemeinsam mit ihm den Hafen die Schiffe, die Kirchen, die Bauten besichtigte, in ständiger Angst, die Frauen könnten den engelschönen Knaben bemerken dessen Unschuld begehren oder, was noch schlimmer war, er könnte einem dieser griechischen Höflinge auffallen und sich zum widernatürlichen Verkehr mit Männern verführen lassen. Dies zu verhüten, war dem Alten stets gelungen, doch wurden die Nächte immer schwüler und duftgeschwängerter, die Sonne brannte immer stärker, und die durch ihre Erfolge ermutigten griechischen Mägde mit den gemalten Wangen und den mit Farbe bis zu den Schläfen untermalten Augen kamen schon von selbst in die Lager und sahen herausfordernd in das Innere der Zelte. Nach seiner Meinung befragt, rief Balduin, daß man ziehen müsse. Er wartete den weiteren Verlauf der Beratungen nicht ab, schwang sich aufs Pferd und galoppierte hurtig zur Stadt. Auch nicht eine einzige Stunde wollte er verlieren und die sich bietenden Freuden
der Stadt bis zur Neige auskosten, solange seine Kräfte nur reichten, jeden Tag, jede Nacht, um so mehr, als Gontrana in letzter Zeit sonderbar sanft oder vielleicht auch gleichgültig gegen das geworden war, was er tat. Gott sei Dank! Dagegen machte ihm jemand anders Vorwürfe. Es lag auf der Hand, daß das Leona war! Durch sein Verhalten war das Mädchen dreist geworden und erlaubte sich jetzt, ihren Herrn einfach zu fragen, woher er komme und wo er die Nacht verbracht habe. Ein anderer hätte sie dafür prügeln lassen und sie in ihre Schranken verwiesen, aber Balduin war weich und dem schwachen Geschlecht hörig. Omer de Guillebeaut erhob sich jetzt im Rat und sagte aufbrausend, unverblümt seine Meinung. Aufbrechen müsse man sofort, aber alle Frauen sollten in Byzanz bleiben. Nicht eine einzige sollte mit ins Feld genommen werden! „Denn mit ihnen werden wir alle zu Grunde gehen, ohne etwas ausgerichtet zu haben.“ „Die Frauen sind zwar eine Bürde für den Zug, aber können wir sie hierlassen? Sie haben genauso gelobt wie wir“, entgegnete der Bischof. „Was bedeutet schon ihr Gelöbnis?! Das Gelübde einer Frau! Sie müssen hierbleiben, wenn wir unser Ziel erreichen wollen.“ „Das ist unmöglich“, stellte der Bischof fest. „Mägde gibt es sowieso nicht in unserem Lager, nur hochgeborene Frauen mit ihren Hofdamen.“ „Das ist einerlei! Hochgeboren oder nicht hochgeboren, wenn sie eine Frau ist, so muß sie hierbleiben! Ich weiß, was ich sage, und habe recht! Man sagt, daß der Basileus zwanzigtausend Verschnittene besitzt; er soll uns zweihundert zur Bewachung abtreten, oder man soll den Frauen die Gürtel anlegen! Erst dann können wir in Ruhe aufbrechen!“ „Seid Ihr denn irre geworden, Ritter?“ „Eine Schande! Eine Schande! Er wirft unseren Gattinnen Unkeuschheit vor!“
„Wir sind nicht gewillt, Verleumdungen unserer edlen Frauen anzuhören!“ rief Raimund blaß vor Zorn. „Ich trete für ihre Ehre ein! Nehmt sofort Euer verleumderisches Geschwätz zurück!“ Omer de Guillebeaut brach in ein Gelächter aus. „Zurücknehmen? Ich? Nie im Lehen! Ihr könnt mich zerhacken, und ich werde bis zum letzten Atemzuge dasselbe rufen: Die Weiber sind der Untergang des Zuges! Und alle sind gleich! Es gibt keinen Unterschied! Ob Magd oder Fürstin! Jede hat nur die Wollust im Sinn! Nur durch sie ist alles Böse in die Welt gekommen! Von ihnen sprechen die Weissagungen Merlins. Hört nur: Ein Kranich wird sich aus dem Kalatisschen Lande emporschwingen …“ „Schweigt! Schweigt! Es ist eine Schande für uns, die Frauen zu schmähen!“ „Schweigt! Oder ich schwöre bei Gott, daß ich Euch solche Worte mit dem Schwert in Eure Kehle zurückstoße!“ „Laßt ihn“, flehte der Bischof und ergriff Raimunds Hand. Ein Kampf zwischen St. Gilles und Guillebeaut mußte unweigerlich in einen Kampf der Provenzalen gegen die Normannen ausarten. Das mußte um jeden Preis verhindert werden. Ohne seiner Würde zu achten, fiel der Bischof vor Raimund auf die Knie. Der Graf war so überrascht, daß er sich setzte und das Schwert sinken ließ. Arnuld de Rohes führte den Ritter de Guillebeaut, der unentwegt vor sich hin redete, alle Frauen seien lüstern und unzüchtig, aus dem Kreis. „Nur Euch zuliebe, Hochwürdigster Herr, habe ich diesen Herrn am Leben gelassen!“ stieß Raimund wütend hervor. „Läßt er sich hier noch ein einziges Mal blicken, so zerhacke ich ihn wie einen Hund!“ Raoul de Beaugency hatte sich an dem Streit nicht beteiligt. Er hatte nicht einmal gehört, worüber gesprochen worden war, denn seine eigenen Sorgen nahmen ihn vollauf in Anspruch. Er war verloren, unwiderruflich verloren! Er hatte den Keuschheitseid gebrochen, einer Frau beigewohnt und war daher wieder in der Gewalt des Satans. Vielleicht war er seiner Macht überhaupt nie entronnen?! Verzweifelt erinnerte er sich daran, daß
er nicht in einer plötzlichen Erregung, die alle Vorsätze über den Haufen stieß, gehandelt hatte, als er jenem Weibe, der Gattin des Befehlshabers der Wache, bis in ihr Schlafgemach nachgegangen war. Nein! Er war vollkommen bei Bewußtsein und nüchtern gewesen. Er war sich ganz klar darüber gewesen, was er tat, aber anstatt mit Grauen vor der Verführerin zurückzuweichen, hatte ihn eine böse Lust gepackt, so und nicht anders handeln zu müssen, nichts hatte ihn davon abhalten können. Das war der Teufel, der ihn, Raoul, zum Werkzeug gewählt hatte. Kein Kampf konnte jetzt noch etwas nützen. Alles war vergeblich. Er war ein Verdammter, für den es keine Hoffnung mehr gab, kein Entrinnen, weder im Leben noch im Tode. Als bereits alle im Begriff waren, auseinanderzugehen, ergriff Robert von Flandern das Wort und sagte, daß man in den Kampf ziehen müsse und daß es ihm unverständlich sei, weshalb man noch so lange darüber rede. Wozu hätten sie ihre Heimat verlassen? Um in Byzanz herumzuliegen oder um ins Heilige Land zu ziehen? Hätten sie bei ihrem Gelöbnis auf die Hilfe des Basileus gerechnet oder der eigenen Kraft vertraut? Jeder Rat sei gegenstandslos, wenn er nicht den genauen Zeitpunkt des Aufbruchs festlege. Sein Vorschlag gehe dahin, den Abmarsch auf übermorgen festzusetzen. Seine bündige, einfache Rede machte Eindruck; aber sofort erhob sich Stephan de Blois und stellte alle Für und Wider eines baldigen Aufbruchs so gelehrt und ausführlich dar, daß die Zuhörer ganz verwirrt wurden und schließlich auseinandergingen, ohne etwas beschlossen zu haben. Die Tage strichen dahin, und die Kreuzfahrer hätten nach den Vorhersagen Gottfrieds zweifellos noch einen zweiten Winter in Byzanz verlebt, wenn nicht eines Tages eine der kaiserlichen Galeeren, die das Lager Peters des Eremiten mit Lebensmitteln versorgten, ein paar Gestalten an Land gebracht hätte, die kaum noch Menschen glichen, wie halb irrsinnig aussahen und wie Vorboten einer furchtbaren Nachricht.
Es war tatsächlich eine entsetzliche Nachricht! Walter ohne Habe und sein Berater Georg Burel, denen ihre erfolgreichen Raubzüge gegen die einheimische Bevölkerung zu Kopf gestiegen waren, hatten einen Überfall auf die Türken unternommen die Festung Xerigordon erobert und die Besatzung niedergemetzelt. Das hatte sie natürlich übermütig gemacht. Glücklich darüber, daß sie als erste den Krieg gegen die Sarazenen angefangen hatten, waren sie mit dem ganzen Lager aufgebrochen und bis Nizäa vorgerückt. Dort wurden sie, da die Scharen weder durch Wachen gesichert, noch auf eine erfolgversprechende Verteidigung vorbereitet waren, von den Abteilungen des Sultans Kilidsch–Arslan umzingelt und bis auf den letzten Mann zusammengehauen. Alle! Es war außer diesen paar Dutzend Entflohenen niemand mit dem Leben davongekommen. Die Eingeschlossenen wurden von den Türken ohne Unterbrechung während dreier Tage und dreier Nächte wie Vieh abgeschlachtet. Die Angreifer hatten fast dreißigtausend Menschen erschlagen; denn soviel waren von der einhunderttausend Mann starken Schar Peters des Eremiten übriggeblieben. Wer in den ungarischen Ebenen nicht durch Hunger umgekommen, in der Save nicht ertrunken und in Byzanz nicht verschollen war, beendete hier seinen Traum vom Heiligen Grab, seine lange, mühevolle Wanderung. Unter den Geretteten befand sich auch Peter der Eremit, und mit ihm waren der Bruder Hyazinth und Bartholomäus, der lustige Kleriker aus Marseille, dessen flinke Beine einst nicht hatten stillstehen können. Diese drei hatten sich dadurch gerettet, daß sie sich an dem entsetzlichen Tage, an dem der Überfall des türkischen Heeres erfolgt war, nicht im Lager, sondern in einer Kirche aufgehalten hatten, die sich eine halbe Tagesreise entfernt in einer Siedlung befand. Alle diese Einzelheiten erzählte der Bruder Hyazinth; denn Peter war nicht imstande, ein einziges Wort hervorzubringen. Mit abwesendem Blick stierte er in die Ecken des Raumes, bekreuzigte sich fortwährend und stammelte abgerissene Wörter aus den
Formeln der Teufelsaustreibung, des Exorzismus. Wohin er auch blickte, sah er den Satan. Dieser triumphierende Feind zwang ihn, sich das schreckliche Bild des Blutbades ständig vor Augen zu halten. Nicht einen Augenblick ließ es ihn los. Er hörte immerfort das Stöhnen der Sterbenden und das Angstgeschrei, das unmenschliche Jammern der Lebenden. Immer wieder grübelte er über das erbärmliche Ende des mit so großer Begeisterung begonnenen Zuges. Alles war zu Ende! Alles! Es waren ihrer dreißigtausend Mann! Es blieben … dreißig! Niedergemetzelt wurden Männer und Frauen, Spielleute und Mönche, ehrliche, einfache Handwerker und Bauern genauso wie Strauchdiebe und Briganten. Alle kamen auf die gleiche Weise um, ohne Unterschied! Mütter und ihre kleinen Kindlein. Halbwüchsige und Greise. Alle, alle! Es waren Menschen dabei, die aus wahrer, heißer Liebe zu Gott hinausgezogen waren und des Nachts von Jerusalem träumten. Fromme und Zweifelnde, Ehrbare und Halunken, die Christen an Ungläubige verkauft hatten. Zu einem Schrei vermischte sich das Gestöhn der fleißigen Abschreiber der Bücher wie der Lüstlinge, die längst Gott und das heilige Ziel vergessen hatten. Von der riesigen Menge würde niemand mehr in seine Heimat zurückkehren, zur Befreiung des Heiligen Grabes beitragen, sich vielleicht eines leichteren Schicksales erfreuen und das befreite Jerusalem erblicken. Die Mühen, Sorgen und Qualen aller waren umsonst gewesen, einfach überflüssig und nutzlos! Zu Ende, zu Ende war der große, allgemeine Kreuzzug Peters des Eremiten! Walter ohne Habe und sein böser Ratgeber Burel waren umgekommen, ebenso Laurentia und die dicke Martina, die einst Peter verehrt und dann so schnöde behandelt hatten, auch die Mädchen, die vor zwei Jahren durch die französischen Täler gegangen, auf den Wiesen Kränze geflochten und Lieder gesungen hatten. Alle waren umgekommen, fluchend, lästernd, vor Grauen aufheulend und schreiend. Und an allem war er, Peter, und kein
anderer schuld! Er hatte sie aus den Häusern geholt und in die Wüste geführt. O ja, der Satan durfte ihn verspotten! Er konnte ihn zum besten haben, so viel er wollte! Sogar die gütigen Hände des Bischofs, der das geplagte Haupt Peters väterlich umfaßt hielt, konnten diesen höhnischen Blick nicht verdecken, der sein Gehirn durchbohrte, diesen falschen Blick, vor dem es, ähnlich wie für Raoul de Beaugency, weder am Tage noch in der Nacht, weder im Tode noch im Leben, ein Entrinnen gab! Der halbirre Peter, der in seiner Ecke hockte, klapperte mit den Zähnen und bebte wie in kaltem Fieber, der Bruder Hyazinth schluchzte, von seiner eigenen Erzählung überwältigt, und die versammelten Herren beschlossen, sofort aufzubrechen. Selbst die glühendsten Anhänger des so angenehmen Lebens in Byzanz stimmten jetzt für einen schnellen Fortzug. Der entsetzliche Berg von ermordeten Körpern, die unbestattet auf heidnischer Erde lagen, rief nach Rache und ließ ihnen keine Ruhe mehr. Schwere Gewissensbisse plagten die Herren Barone, die Herren Ritter. Wenn sie sich mehr beeilt hätten, dann wären jene unglücklichen Christen nicht zugrunde gegangen! „Laßt uns aufbrechen! Laßt uns aufbrechen!“ Als dieser Beschluß einstimmig gefaßt wurde, fühlten sich sogar Hugo und de Melun wohler. Genug der griechischen Genüsse! Auf, gegen den Feind! Die Verladung des Heeres auf die Schiffe ging flott vonstatten. Zahlreiche goldene Galeeren fuhren von Ufer zu Ufer und setzten die Krieger an Land, kehrten wieder um, neue zu holen. Selbst der Kaiser schaute vom Ufer aus der Abfahrt der lateinischen Heere und der seinigen zu. Er saß auf einem Pferde, das mit einer goldenen Schabracke bedeckt war, trug eine hohe Krone auf dem Haupt und hielt, umgeben von einem Gefolge, das vor Kleinodien glänzte, sein Zepter in der Hand. Unter dem Glockengeläut, das von allen Klöstern ertönte, bewegte sich aus dem Stadttor eine Prozession. Der Patriarch kam, um die abziehenden Heere des Butumitos zu segnen. Die Abteilung Soldaten, die der Prozession
voranschritt, hatte weiße Tuniken an und führte vergoldete Speere mit sich. Einer der östlichen Bischöfe trug ein großes Silberkreuz mit einem Reliquienkästchen in der Mitte. Er war von Mönchen umgeben, die auf hohen, rot bemalten Stangen die goldenen Standbilder der Seraphim hielten. Ihnen folgten der Patriarch und die Bandophoren, die Fahnenträger, die das Labarum mit den Insignien Christi in Händen hielten, und eine unzählige Menge. Nachdem der Patriarch das nächstliegende Schiff betreten hatte, segnete er die Seinigen — nur diese. Er stellte sich so hin, daß seine Segnungen vom Wind nicht zu den Lateinern hinübergetragen wurden, die ja ihren eigenen Bischof hatten und die seine Gebete nichts angingen. Der Bischof Ademar stand bereits auf dem jenseitigen, dem asiatischen Ufer. Um ihn herum die Ritter. Er sprach zu ihnen. Seit dem Augenblick, als sie dieses Land betreten hatten, war er ihr oberster Führer. Er beschwor sie, auf ihn zu hören und das große Werk nicht durch übermäßigen Hochmut und durch Streitigkeiten zunichte zu machen. Er erinnerte sie daran, daß das heiligste ritterliche Gebot Tapferkeit und Güte sei. Diese beiden. „Vergeßt das nicht, ihr Streiter Christi! Denn wer tapfer ist, der ist rechtschaffen. Die Lüge ist dem Feigling eigen. Wer gut ist, der beleidigt Gott nicht, der tut keinem Geschöpf etwas zuleide, der ist still, nicht überheblich und nicht zänkisch. Ein Tapferer und Guter wird nie beschämt werden, weder von Gott noch von den Menschen, und es gibt in der Welt nichts Schimpflicheres und Schwereres als die Schande. Tapferkeit und Güte! Bei den Wunden Christi! Das erste braucht man euch nicht zu empfehlen, doch das andere nehmt euch zu Herzen.“ Er prägte ihnen die Worte ein, als wären diese etwas Lebendiges, und gebot Ruhe und Nachgiebigkeit, den leichtblütigen, erregbaren Rittern aber, die sich ganz und gar hinter ihrem unbeugsamen Hochmut verschanzten, Demut. Als er so sprach, hatte er dennoch im stillen wenig Hoffnung, daß seine Worte in den Seelen der Krieger wirklich auf fruchtbaren Boden fielen.
Das Wasser war von den Schiffen wie mit einer lebendigen, beweglichen Brücke bedeckt. Unaufhörlich ging eine Welle von Menschen und Pferden nacheinander hinüber. Wie ein Wald wogten die Speere. Die goldenen Rüstungen der Truppe der Athanatoi, der Unsterblichen, glänzten von weitem wie die Sonne. Die Heere Gottfrieds, Raimunds, Bohemunds, der beiden Roberts, stellten sich in Zugordnung auf. Die ersten der lateinischen Ritter — wenn man Tankred, der dicht daneben sein Lager aufgeschlagen hatte, nicht mit einbezog — standen jetzt auf asiatischem Boden, auf dem unbekannten, neuen Festland. Vor ihnen lagen unbekannte Wege und unbekannte Ereignisse. Herr, nimm sie in Deinen Schutz! Das geschah im Jahre des Heils 1097, im Monat Mai. Seit jenem Tag, da die bei Kruszwica besiegten schlesischen Ritter durch die Wildnis ihrem Gehöft entgegengeeilt waren, wo auf Imbram Strzegonia der neugeborene Sohn wartete, waren zwei Jahre verstrichen.
ZEHNTES KAPITEL Wieder eine neue Welt
Ein ungeheurer Haufen von Skeletten zeigte die Stätte an, wo das Heer Peters des Eremiten seinen letzten Lagerplatz hatte. Im Umkreis einer Quadratmeile war die Erde weiß von Knochen. Schädel, Brustkörbe, Becken und Schienbeine waren von den Raubtieren auf die Hügel, in die Schluchten, in das Gestrüpp verschleppt worden. Keiner der Toten würde am Jüngsten Tage seine Gebeine wiederfinden, wenn im Tale Josaphat die Posaune zum Weltgericht ertönte. Einige Wochen hindurch hatten hier die Schakale aus ganz Bithynien und Phrygien ihren Futterplatz. Des Nachts wurden sie von dem Gebrüll der Löwen verscheucht. Der gelbe, großköpfige König der Tiere kam sorglosen Schrittes näher, scharrte mit der Tatze den verwesenden Leichenhaufen auseinander und entfernte sich verächtlich von den übelriechenden Kadavern. Über dem Gewimmel der Schakale kreisten scharenweise die Aasgeier. Das Krächzen der Kahlhälse war schon von weitem zu vernehmen. Noch immer saßen sie, obwohl die Gebeine längst gebleicht waren, in Schwärmen rings auf den Hügeln, kreischten und warteten auf neue, unverhoffte Beute. Ein frommer Imam, der einen großen Turban als Kopfbedeckung trug, kam, vorgeschriebene Gebete murmelnd, des Weges. Verächtlich wendete er den Blick von den unreinen Gebeinen der Giauren. Mochte ihnen Allah nicht gnädig sein! Er hatte sie bestraft. Ihm sei Ehre! Sie waren wie eine räuberische Herde hierhergekommen und zugrunde gegangen. Sie hatten die Macht des Propheten kennengelernt. Geheiligt sei Sein Name! Man sprach davon, daß von Byzanz her neue, noch zahlreichere Scharen von Ungläubigen anrückten … Sie würden ähnlich wie diese hier umkommen. Allah ist groß!
Aus weiter Ferne schrieb der Sultan Kilidsch–Arslan an den Emir Mudschahid, den Sohn Dschubairs, den Befehlshaber der Besatzung in Nizäa, der großen Stadt mit den dreifachen Mauern und dreihundert Türmen: „Allah ist groß! Mir berichtet Abdullah, der Sohn Nadschihas, er habe durch Abdul Hadschadschs, den Sohn Abbas, erfahren, daß viele Giauren den Bosporus überschritten hätten und Euch entgegenrückten. Ihre Zahl gleicht der Menge des Meeressandes oder der Sterne am Himmel. Das sind die Haufen, die auf unseren Untergang sinnen und deren Angriff uns seit zwei Jahren angekündigt wird. Was bedeutet aber ihre Anzahl, da die ungläubigen Hunde weder Gehorsam kennen, noch zu kämpfen verstehen. Sie ziehen in das Verderben, das sie ebenso gewiß finden werden wie ihre Vorgänger, die der Prophet durch unser Schwert geschlagen hat. Sein Name sei gelobt! Sagt meiner lieben Gattin Dschurissa, ihr Herz möge ruhig bleiben. Von dem herannahenden Heuschreckenschwarm kann uns keine Gefahr drohen. Er wird an den Mauern der Stadt wie eine Meereswelle am Felsen zerschellen. Gebt mir Nachricht, wenn diese Heuschrecken die Flucht ergriffen haben oder Ihr sie zur Ehre des Propheten mit Stumpf und Stiel ausgerottet habt. Allah sei mit Euch.“ Der alte Emir Mudschahid, der Sohn Dschubairs, las diesen Brief mit gebührender Ehrerbietung und Hochachtung. Als er damit fertig war, küßte er laut schnalzend das Siegel und streckte sich wieder auf dem seidenen Diwan aus, um über den Inhalt des Schreibens nachzudenken. Die Kunde von dem heranziehenden Heer der Ungläubigen war für ihn keine Neuigkeit. Darüber hatten ihm seine Kundschafter schon längst berichtet. Er bedauerte es, daß die Ungläubigen so wenig gewichtige Feinde waren und der Kampf gegen sie schwerlich zur Ehre und zum Verdienst gereichen würde. Das Verdienst im Heiligen Kriege war vor dem Angesicht Allahs aber besonders wichtig. Der Prophet hatte ja gesagt: „Allah liebt diejenigen, welche zur Verteidigung des Korans in geschlossener
Schlachtordnung wie ein mit Blei fest zusammengefügtes Haus kämpfen“, und zum zweiten hatte der Prophet gesagt: „Eine Unterkunft im Heiligen Kriege gilt mehr als siebzig Jahre Gebet im Hause.“ Und zum dritten hatte der Prophet gesagt: „Wer in einem Heiligen Krieg kämpft, und wäre es auch nur so kurze Zeit wie zwischen zwei Melkzeiten einer Kamelstute, der wird mit dem Paradies belohnt werden.“ … Oh, wenn doch Allah den Heiligen Krieg, die Freude im Herzen der Gläubigen, herabschicken wollte! Oh, wenn er doch gleichfalls würdige Feinde hersenden wollte, für die es sich lohnte, die herrlichste Tapferkeit aus der Seele hervorzuholen wie ein Kleinod aus der Schatzkammer! Der Emir Mudschahid erhob sich und streckte seine Hände wie im Gebet in Richtung Mekka aus. Und eingedenk dessen, daß man sich eine solche Belohnung erarbeiten müsse, kehrte er nicht zu dem weichen Lager zurück, sondern setzte sich an die begonnene Abschrift des Korans. Außer der Jagd war das seine Lieblingsbeschäftigung, die ihn beinahe den ganzen Tag in Anspruch nahm. Er hatte in seinem Leben das Heilige Buch schon sechsundvierzigmal abgeschrieben, davon zweimal mit reinem Gold. Das war kein geringes Verdienst, aber wie nichtig im Vergleich mit einer Teilnahme am Heiligen Krieg! Er legte seine Hand fest auf die hölzerne Stütze und schrieb langsam mit einem weichen Pinsel die Schriftzeichen, die wie ein schönes, verworrenes Ornament aussahen und sich zu einem geschlossenen Streifen verbanden. „… Wenn die Stunde anbricht, die anbrechen soll, wird nichts ihr Kommen verhindern können. Sie wird erniedrigen und erhöhen. Wenn die Erde von einem Beben erzittert, und die Berge in Staub zerfallen, werden die einen zur Rechten, die andern zur Linken stehen. Aber die zur Rechten, was geschieht mit denen zur Rechten?
Unter hängenden Ackerwinden und weitästigen Akazien, unter breiten Schatten und vielen Früchten und hochgebetteten Kissen und gleichalterigen, entzückenden Jungfrauen werden sie der Wonne genießen. Das ist für die zur Rechten. Sie werden weder Zank noch Verdächtigungen hören, nur die Worte: Frieden! Frieden! Und die zur Linken, was geschieht mit denen zur Linken? In heißem Sturm und siedendem Wasser, im Schatten rußigen Rauches, hungernd und erniedrigt werden die verweilen, die vorher in Wohlstand gelebt und nicht an den Propheten geglaubt haben oder gesagt haben: Wenn wir sterben und zu Asche und Knochen werden, wird uns da die Auferstehung vom Tode gewiß sein? Sie werden über ihren Irrtum nachdenken und von dem Höllenbaum Zakkum fressen, ihre Eingeweide werden davon brennen, und sie werden die Glut mit siedendem Wasser löschen, und sie werden saufen wie durstige Kamele. Das wird ihr Festschmaus am Tage des Gerichtes sein.“ Der ermüdete Emir Mudschahid legte den Pinsel beiseite. Dasselbe würde den Ungläubigen zuteil werden, die von fern her gen Nizäa zogen. In ihrem Wahn glaubten sie, daß Christus Gott sei … Welch gotteslästerliche und falsche Meinung! Jesus Christus war zwar ein verehrungswürdiger Prophet, aber bei weitem nicht so wichtig wie der Große Prophet Mohammed. ‚Einer ist Gott‘, mochte Iblis die Ungläubigen holen! Emir Mudschahid rief einen Eunuchen und befahl ihm, die Botschaft des Sultans an dessen geliebte Gattin Dschurissa, die in Nizäa verblieben war, zu übermitteln. Der Eunuch lief flugs durch die zahlreichen Gemächer des Palastes. In den marmornen Höfen
sprangen Fontänen. Das Wasser rauschte und glitzerte in der Sonne. Die Fenster waren mit kunstvoll geschnitzten Holzgittern, den Muschrabia, versehen. Daher herrschte in den Gemächern ständig ein kühles Halbdunkel, eine farbige Dämmerung, denn in den geschnitzten Balken der Zimmerdecken befanden sich Laternen aus buntem dickem Glas, das wie kostbarer Edelstein geschliffen war. Dschurissa lag auf einem Ruhebett aus Kissen. Sie war so schön wie Aischa, die geliebte Gattin des berühmten Fürsten Hamdanida, des Sultans von Aleppo. Von ihm sangen ihre Mägde und begleiteten ihr Lied auf einer Zither: „Hamdanida, der Herr von Aleppo, war tapfer und schön. Er war der schönste, der tapferste aller Gläubigen. Er hatte dreihundert Frauen, aber er liebte nur eine. Wer war diese Geliebte? Eine griechische Christin. Im Kriege gefangen, hatte er sie zur Herrin gemacht, zur ersten Herrin am Hofe. Die anderen zweihundertneunundneunzig Frauen haßten die Unreine, die der Herr liebte. Sie verabredeten sich heimlich, Aischa zu töten oder auf andere Art aus dem Wege zu räumen. Eine wollte ihr Gift geben. Eine andere wollte sie mit einem Speer durchbohren, und eine dritte wollte ihr eine seidene Schnur um den weißen Hals legen und sie erdrosseln, wenn den zweien ihr Vorhaben mißlänge. So berieten sie, ohne zu ahnen, daß der Sultan sie belauschte. Er ging zornentbrannt zu seiner geliebten Aischa und sagte: ‚Mein Täubchen, du Quelle meiner Freuden! Iblis, der einst dem gottgefälligen Abu–Bekr in Gestalt des ehrwürdigen Greises aus Nedschd erschienen ist, hat heute die Gestalt von zweihundertneunundneunzig Frauen angenommen. Ich weiß, was diese von dir gesprochen haben, die du die Helle meiner durstigen Augen bist. Wehe ihnen, denn sie werden heute alle umkommen. Komm und schau an, wie sie hingerichtet werden!‘ ,Laß sie nicht umbringen, Herr‘, bat Aischa weinend. ‚Wenn du das tust, wie soll ich da der Rache ihrer Verwandten entrinnen, ihrer Brüder, Väter? Ich werde mich nirgends verbergen können. Führe mich lieber weit von hier weg in die Berge, lasse ein steinernes
Schloß errichten, zu dem niemand außer dir den Weg kennt, und bringe deine Sklavin dorthin. Denn für dich, Herr, habe ich meinen Gott und mein Land aufgegeben und begehre nichts außer dir.‘ Hamdanida, der lobenswerte Sultan von Aleppo, drückte sie ans Herz und sagte: ‚So soll es geschehen.‘ Er führte sie in das ferne Gebirge, und man hörte nichts mehr von der Griechin. Als der lobenswerte Sultan Hamdanida im Sterben lag …“ Der Eunuch, der auf das Ende des Liedes gewartet hatte, bewegte sich ungeduldig. Dschurissa bemerkte ihn und fragte: „Was willst du?“ „Groß ist der Name Allahs! Der Emir Mudschahid, der Sohn Dschubairs übersendet Dir die Worte, die unser Herr, der Sultan Kilidsch–Arslan in diesem Brief niedergeschrieben hat.“ Als Dschurissa dies hörte, sprang sie von den Kissen auf, verschränkte die Hände über der Brust und verneigte sich tief, denn nur in einer solchen Haltung durfte eine Frau die Worte ihres Mannes hören. „Der Große Sultan schreibt, daß Dein Herz ruhig bleiben möge, obwohl eine Horde Ungläubiger im Tal vor der Stadt erscheinen wird. Sie wird aber an den Mauern zerschellen wie eine Meereswelle am Felsen.“ „Mein Herz ist voller Ruhe und Freude, daß mein Herr meiner gedenkt“, entgegnete Dschurissa. Darauf reichte sie dem Boten zur Belohnung für die gute Nachricht eine Handvoll Datteln, die in einer silbernen Schale lagen, schmiegte sich wieder in die Kissen und gab der Sklavin ein Zeichen, die unterbrochene Erzählung fortzusetzen. „Als der lobenswerte Sultan Hamdanida im Sterben lag, wurde ihm ein Ziegelstein, den er schon lange für sich hatte anfertigen lassen unter den Kopf gelegt. Woraus war dieser Ziegelstein geformt? Aus dem Schweiß und dem Staub, die dem Sultan jedesmal während des abendlichen Bades nach einer Schlacht mit den Giauren von der Haut entfernt worden waren. Jahrelang hatte man so gesammelt,
denn der Sultan hatte es so befohlen. Er wollte das Totenkissen eines Kriegers haben.“ Aufrichtige Freude herrschte in der „von Gott behüteten Stadt“ über den Abzug der Kreuzfahrer. Während eines halben Jahres hatte sich Byzanz in ständiger Unruhe befunden. Die vor den Mauern lagernden bewaffneten Haufen hätten zu einer nicht zu unterschätzenden Gefahr für die Hauptstadt werden können, besonders weil es sich um Menschen handelte, die verwegen, räuberisch, aufbrausend und unberechenbar waren. Sowohl die Patrizier als auch das niedere Volk hatten sich Abend für Abend besorgt schlafen gelegt und am nächsten Morgen zu der Allerheiligsten Panagia Blachernitissa gebetet sie möge die Stadt von dieser drohenden Plage befreien. Die Allerheiligste Jungfrau hatte diese Bitte erhört, die Lateiner waren über den Arm des Sankt Georg übergesetzt und nach Asien gezogen. Wenn sie doch von dort nie wiederkehrten! Das wünschte man ihnen von ganzem Herzen. Nachdem sie der Mutter Gottes gedankt hatten, galten ihre Lob– und Segensgebete dem Basileus, der durch seine kluge Politik die Lateiner im Zaum gehalten hatte, mit Geschenken aus seiner Schatzkammer nicht gegeizt, keine Mühe und Zeit gescheut, um die übermütigen Prahlhänse für sich zu gewinnen. Er, der Apostelgleiche, hatte sich in seiner Majestät so weit erniedrigt, daß er die lateinischen Anführer sogar zu vertraulichem Gespräch in den kleinen Onyxsaal eingeladen hatte. Ehre und Ruhm sei ihm! Gott schenke ihm noch viele Jahre! Die Reichen, die von dem Alp, der auf ihnen gelastet hatte, befreit waren, beglückwünschten sich gegenseitig, daß es zu keiner Plünderung gekommen war. Von einem allgemeinen Freudengefühl geleitet, gingen Theodora, Zoe und Agathe die drei schönen Töchter des Butumitos, zu Anna Porphyrogeneta. Sie waren dazu berechtigt, denn ihre Mutter war eine „Zosti“, eine Dame, die für den Hof ausersehen war. Derselben Ehre sollten auch
die drei Schwestern, sobald sie verheiratet waren teilhaftig werden, zumal ihr Vater, der edle Befehlshaber der bewaffneten Streitkräfte des Kaiserreiches, mit den Lateinern in den gefahrbringenden Feldzug gezogen war. Ein Eunuch führte sie in den runden goldenen Saal, der das Zentrum des Gynaeceums bildete, das zu den Gemächern der Prinzessin gehörte. Die gewöhnlich hochmütige und unzugängliche Anna empfing sie wohlwollend. Sie war auf Neuigkeiten erpicht. Die Mädchen nahmen auf niedrigen, mit Kissen belegten Sitzen Platz während die Tochter des Basileus auf einer Estrade in einem Lehnstuhl saß. Wunderschöne, blutjunge Sklavinnen reichten ihnen schweigend in Honig geschmorte Früchte und gekühltes Wasser mit Wein, das mit Rosen- oder Veilchenduft zubereitet war. Das Gespräch drehte sich, wie zu erwarten, um die Lateiner. „Eine Menge Menschen“, sagte Theodora, „wandern zu der Stelle hin, wo das Lager gestanden hat. Was gibt es da schon Besonderes zu sehen?! Armut, Schmutz, erloschene Feuerstellen, am Boden verstreutes Stroh, vor allem aber Gestank.“ Alle drei fingen an zu kichern. Zoe fügte hinzu: „Können Eure Hoheit glauben, daß diese Barbaren anscheinend gar keine Aborte kennen? Ihre Lagerstätten sind mit einem Kranz von Unreinigkeiten umgeben. Man kann sich kaum vorstellen, wie der Anger ausgesehen hätte, wenn diese Rohlinge noch länger hiergeblieben wären!“ „Er wäre gründlich gedüngt worden, und das ist, so meine ich, der einzige Vorteil, den man von diesen Fremdlingen haben kann.“ „Was für ein Glück daß sie fort sind! Man atmet geradezu erleichtert auf, wenn man sie nicht mehr in der Nähe weiß!“ „Ekelhafte Wilde!“ „Ebenso beschränkt wie anmaßend!“ Anna fiel nicht in diesen Chor ein. „Sind alle so?“ fragte sie ruhig. „Alle!“ riefen die drei gleichzeitig aus. „Mein Vater hat gesagt, daß es unter diesen Lateinern mit dem geschabten Bart, dem hochmütig
erhobenen Kopf, dem leicht erregbaren, jähzornigen Gemüt und der plebejischen Ausdrucksweise keinen einzigen gibt, der den Namen Mensch und nicht Barbar verdient.“ Anna runzelte die Stirn, als wäre sie persönlich beleidigt worden, dann antwortete sie kühl: „Ich habe sie auf dem Empfang bei dem Allerheiligsten, Allerfrömmsten Basileus — Gott schenke ihm ein langes Leben! — gesehen und mich überzeugt, daß unter ihnen Ritter sind, die ohne weiteres mit den unsrigen verglichen werden können.“ Die Schwestern sahen sich verwundert an. Was wollte Anna Porphyrogeneta damit sagen? Wahrscheinlich wurden sie auf die Probe gestellt. Deshalb verneinten sie es lebhaft. „Mit den unsrigen verglichen werden können? Eure Hoheit belieben zu scherzen!“ „Solche gibt es dort nicht!“ „Doch, es gibt welche“, bestand Anna hartnäckig auf ihrer Meinung. „Zum Beispiel … zum Beispiel … der Fürst von Tarent …“ Als sie das sagte, überzog eine dunkle Röte ihre jungfräulichen Wangen. Selbst die Tochter des Basileus, die hochmütigste, gebildetste junge Dame der Welt errötete wie ein gewöhnliches Mädchen, wenn unbedachterweise ein bestimmter Name fiel. Theodora, Zoe und Agathe verstummten verdutzt und sprachen schnell von etwas anderem. Dem Bischof Ademar brach das Herz, als er über die unermeßliche Halde von Knochen der Entleibten blickte. Die Tränen rannen ihm über die Wangen. Ein grenzenloser Schmerz übermannte ihn. So wie sich Peter der Eremit und Raoul de Beaugency einbildeten, immerwährend den Teufel vor Augen zu haben, so erschien jetzt dem Bischof der auf diesem Blachfeld der Vergängnis wandelnde Tod. Er sprach zu dem Kirchenfürsten also:
„Sie haben mich herausgefordert! Sie haben ihren Tod selbst gewollt! Warum sollte ich Mitleid mit ihnen haben? Ich greife mir alles auf die gleiche Art. Ich bin wachsam. Ich verfolge das Reh und den Wolf, jage die Kraniche und die Trappen, krieche in die Löcher der Bäume, wo die Vögel nisten, auch die Marder und Eichhörnchen verschmähe ich nicht, warum sollte ich da die Menschen verschonen?“ „Es ist so, wie du sagst, Knochenmann.“ Pallida mors aequo pulsat pede pauperum tabernas regumque turres … „Du hast, ich weiß es an allen Dingen deinen Teil. Doch mußtest du hier solche Härte walten lassen? Warum hast du nicht die Kindlein verschont? Sie haben dich nicht herausgefordert. Du hast die Knochen der Greise ebenso wie die feinen Glieder der unschuldigen Kinder, die auf der Wallfahrt geboren wurden und kein anderes Leben als das des Wanderns kannten, zermalmt. Du hast den Säuglingen zur selben Stunde das Ende gebracht wie den lebenssatten Greisen. Warum? Hat Gott diesen Kindern hier ein so kurzes Leben beschieden? Oder hast du gegen den Willen des Herrn deine furchtbare Tat verrichtet? Ist ihr Ende hier Schicksal oder Zufall? Antworte mir!“ Doch der Tod schwieg, und so hinterließ er in der Seele des Bischofs das Schrecklichste, was es geben kann: den Zweifel! Die Ritter, die den päpstlichen Legaten umgaben, stiegen von den Pferden. Sie fühlten sich mitschuldig an der Ermordung so vieler unschuldiger Geschöpfe. Sie hatten sich nicht genügend beeilt. Da sie aber, wie Kinder, ihre Gefühle nicht verbergen konnten knieten sie nieder, klagten sich selbst mit lautem Geschrei an, schlugen sich mit den harten Händen an die gepanzerte Brust. Aber schon wandelte sich ihre Reue und Trauer in Vergeltungs– und Rachsucht. Sie hatten sich zu lange in Byzanz aufgehalten, hatten dort die Sarazenen schon fast vergessen. Aber das war jetzt zu Ende. Wo steckten diese Mörder und Heiden? Es galt, keine Stunde mehr zu verlieren! Vorwärts!
Und sie rückten unaufhörlich vor, wie eine riesige Schlange. Wie Schuppen schimmerten die stählernen, staubbedeckten Rüstungen. Ihre Schritte dröhnten weit im Umkreis. Die Rosse stampften die Erde. Längs des Weges verkroch sich alles Getier. Die Löwen schlichen sich fort und verbargen sich im Dickicht. Die Schakale suchten in Höhlen und Schluchten ihre Zuflucht. Die Geier aber kreisten hoch in den Lüften und spähten nach willkommener Nahrung. Die Kreuzfahrer zogen durch die fruchtbaren Täler Bithyniens, durch lichte Eichenwälder und über hügeliges Land. An den Südhängen wuchsen Pfirsichbäume, Kirschen und noch unreife Melonen. Es dufteten die bitteren Mandeln. Die Sonne brütete heiß, aber eine angenehme Kühle wehte von der See herüber. Auf die golden schimmernden Felder fiel der dunkle Schatten des Heeres, das auf drei parallelen Wegen wie drei gleiche Ströme vorwärts strebte. Seit der Römerzeit waren hier keine solchen Menschenmassen vorbeigezogen, dreihunderttausend Mann und mehr. Sie marschierten längs der Meeresküste an Nikomedia vorbei, der einstigen herrlichen Stadt des römischen Kaisers Diokletian und später Konstantins des Großen. Noch ein anderer Mächtiger der Vergangenheit, von dem die Kreuzfahrer nichts wußten, hatte sich hier in Sehnsucht nach der fernen Heimat verzehrt und war gestorben: Hannibal. Das schöne Land, das sie durchzogen, hatte viele alte Kulturen getragen und ähnlich wie die Provence schon zahlreiche Götter gesehen. Die Ureinwohner hatten den Gott der Fruchtbarkeit und der Gastfreundschaft, den gutmütigen Labazios sowie die Göttin der Fruchtbarkeit, Kybele, die sie Mutter Ma nannten verehrt. Dann waren diese rechtschaffenen Götter von den schändlichen phönizischen Götzen, Astarte, die das Böse liebte, und deren Partner Attis, vertrieben worden. Danach kamen die griechischen Götter, nach diesen die römischen und zuletzt der Gott der Christen. Der Wahrhaftige Gott regierte an der Küste Kleinasiens schon länger als ein halbes Jahrtausend bis unlängst der Halbmond
das Kreuz gestürzt und sich durch Verkündung seines Glaubens siegreich ausgebreitet hatte. Die Muselmanen, die diesen Glauben herbrachten, ähnelten weder den Griechen noch der einheimischen syrischen Bevölkerung. Sie erinnerten eher an das westliche Rittertum, waren ungestüm, grausam, mutig, edler Taten fähig, liebten ritterliche Bräuche und Lieder und hielten ihr Wort. Daher war auch die weitverbreitete Meinung verständlich, daß die Franken und die Sarazenen desselben Ursprungs wären und ihre gemeinsame Abkunft von den wegen ihrer Tapferkeit berühmten Trojanern ableiteten. Dessenungeachtet hegten die Ritter einen unversöhnlichen Haß gegen die Sarazenen. Ähnlich wie der alte Emir Mudschahid, der Sohn Dschubairs, beteten sie, daß sich der Feind ihrer Tapferkeit würdig erweise. Sie zogen in drei Heeressäulen dahin, und gleich diesen wälzten sich ihre Gedanken wie schwere Wolken. Sie widersprachen sich, waren verworren, ihnen zum Teil selbst unverständlich; niemals waren die Ritter in der Heimat von ähnlichen Vorstellungen heimgesucht worden. Dort, zu Hause, war alles leicht, einfach und klar gewesen. Die Menschen, die zu den wenigen Annehmlichkeiten, die auch von den Troubadouren gebührend erwähnt wurden, den Aderlaß oder die Betrachtung des Schneefalls von der düsteren Burg aus zählten, mußten, nachdem sie im Laufe des letzten halben Jahres mit dem reichen, mannigfaltigen, gekünstelten griechischen Leben in Berührung gekommen waren, verwirrt sein. Sie hatten eine neue Welt oder vielmehr viele Welten entdeckt! In diesen Breiten war das Leben und Treiben in allem fremdartig und unterschied sich von dem ihnen gewohnten. Diese Entdeckung brachte ihnen Unruhe; sie waren außerstande, die neuen Eindrücke zu einem ganzen zu verbinden. Diese prasselten einmal mit ungeahnter Heftigkeit auf sie ein, dann empfanden sie wieder eine innere Leere. Alles und jedes wirkte eindringlich und führte dazu, daß sie ihre bisherige Auffassung von der Welt von deren Größe und den ihr innewohnenden Gesetzen ändern mußten. Diese Auffassungen, die
bisher unumstößlich zu sein schienen, gerieten immer mehr ins Wanken. Aus ihrem seelischen Gleichgewicht geworfen, wußten die Ritter daher mit ihrer plötzlich geweckten Neugier, ihrer Begehrlichkeit und ihrem Wissensdurst nichts anzufangen. Die einen versenkten sich ganz in Gott, wie Gottfried, die anderen waren wie Raoul der Meinung, daß sie in den Fängen des Satans steckten. Der Bischof pflegte Zwiesprache mit dem Tod. Andere wiederum zogen stumpfsinnig ihre Straße, unfähig, Ordnung in die eigenen Gefühle zu bringen, und ließen sich willenlos von Zufällen leiten. Alles war ihnen zu verwunderlich und kam zu unerwartet. Obwohl sie sich dieser Gefühle nicht bewußt waren, wurden sie doch langsam von ihnen gewandelt. Jeder erwachte morgens als ein anderer Mensch. Es gingen in ihnen Veränderungen vor, von denen sie selbst nichts ahnten. So wanderten die lateinischen Ritter auf der Erde wie unwirklich dahin. Über ihnen die Geier und mit ihnen eine riesige, ihre Kräfte übersteigende Vorstellungswelt. Was lag daher näher als Gedanken an einen befreienden Kampf, und ihre inbrünstigen Gebete gingen daher auch in dieser Richtung. Eine heiße Schlacht würde ihnen die eines Ritters unwürdigen Zweifel schon nehmen. Diese Wandlungen, diese Wirrnisse, die den Kreuzfahrern arg zusetzten, sind von den gelehrten Chronisten, die den Kreuzzug begleiteten, nicht bemerkt und auch nicht festgehalten worden. Erst nach vielen Jahrhunderten hat die Nachwelt sie verstanden. Keine Aufzeichnung berichtet von ihnen, nicht, weil es den Schreibern an Pflichtgefühl gemangelt hätte. Die Domherren Raimund d’Aguilers und Foucher de Chartres waren nur darum bemüht, alles das genau aufzuschreiben, was um sie herum geschah. Sie aßen kaum, sie schliefen wenig, sie nutzten jede Rast aus, um zu schreiben und zu schreiben. Die Federkiele kratzten unermüdlich über das dünne Pergament, das man in großen Mengen in Byzanz eingekauft hatte. Trotzdem hatten die Chronisten das Wesentlichste, das für die eigentliche Bedeutung des Kreuzzuges so entscheidend war, nicht in sich aufgenommen. Vielleicht standen sie den Geschehnissen zu
nahe oder betrachteten diese auch zu genau. Sie klagten nur einstimmig über die Verderbnis, die sich unter den Kreuzfahrern ausbreitete, aber den eigentlichen Grund für diese gefährliche, sich entwickelnde Fäulnis, vermochten sie nicht zu erkennen.
ELFTES KAPI TEL Vor den Mauern Nizäas
Von Nikomedia an wich das Meer, das die Kreuzfahrer bisher treu begleitet hatte und von jedem Hügel aus sichtbar gewesen war, nach Westen zurück. Die Heerstraße führte gen Osten, gen Helenopolis, das durch die letzten Kämpfe der Griechen gegen die Sarazenen völlig zerstört war. Das mächtige Arganthonion–Gebirge versperrte dem Zug den Weg. Auf den Gipfeln lag Schnee, den das Kreuzheer schon lange nicht mehr gesehen hatte. Dieses Gebirge mußte überschritten werden. Die tapfere Schar mußte die tiefen, aber schmalen, von Felsblöcken verschütteten, mit Dornengebüsch bewachsenen Schluchten bezwingen. Nach einer beschwerlichen Überfahrt auf das jenseitige Ufer des Flusses, den die Griechen wegen der zahlreichen Windungen Drakon (Schlange) nannten, und der bei den Ungläubigen „Fluß der vierzig Furten“ hieß, schlugen die Heere im Tal ihr Lager auf. Viertausend, mit Beilen und Bootshaken ausgerüstete Krieger zogen voraus, um den Weg zu verbreitern, das Geröll fortzuräumen und das Dickicht zu lichten. In die steil aufragenden Felswände der Schlucht schlugen sie Kreuze, die als Wegweiser dienten und die Spuren ihrer Tätigkeit waren. Da sie bei allen Arbeiten viel Kraft aufwandten, waren die von ihnen hinterlassenen tiefen, kreuzförmigen Einschnitte noch einige Jahrhunderte später sichtbar und schützten die Wallfahrer vor dem Verirren. Aus den Felsspalten und dem Dornengebüsch, das Saksaul oder Salzstrauch hieß und so hart war, daß bei jedem Axtschlag Funken sprühten, krochen beim Klang der bekannten Sprache halbtote Gestalten hervor: Walter ohne Habe und etliche seiner Gefährten. Sie waren während des Überfalles der Sarazenen auf das Lager Peters des Eremiten verwundet worden und hatten sich tot gestellt.
Sie hatten reglos gelegen, als sie von der dritten, vierten und zehnten Leichenschicht niedergedrückt wurden. Unter dieser Last wären sie beinahe erstickt, konnten keine Einzelheiten unterscheiden, wurden ohnmächtig, erlangten für Augenblicke das Bewußtsein wieder und fielen erneut in Ohnmacht. Und so war es während der drei Tage und Nächte gewesen, die das Blutbad gedauert hatte. Irgendwann in der Dämmerung spürten sie einen Luftzug. Sie hörten ganz in ihrer Nähe ein Knurren, Winseln und Schmatzen. Löwen und Schakale zerrten die Leichen auseinander. Über den Verwundeten wurde der Himmel sichtbar. Mühsam krochen sie heraus und verbargen sich in den nahen Sträuchern. Die Schakale wichen mit eingezogenem Schwanz einige Schritte zurück, äugten neugierig und beleckten sich die Mäuler. Das, was vor einer Weile noch eine Leiche schien, hatte sich ins Gestrüpp geschlichen. Der plötzlich wiedererwachende Selbsterhaltungstrieb gebot den Todwunden, sich zu verstecken und zu verkriechen, unter die harten, sogar den Löwen unzugänglichen Dornen zu schlüpfen, sich still niederzulegen und den Atem anzuhalten. So in der Verborgenheit retteten sie das kaum noch pulsierende Leben, Sie leckten an ihren Wunden wie Tiere. Am Tage krochen sie hervor zum Wasser und auf die Felder, pflückten Früchte von niedrig wachsenden Pflanzen, aßen unreife Melonen oder sogen die Milch aus Weizenähren. Die Nächte verbrachten sie in der Festung aus eisenharten Dornen, deren Stacheln die ausgemergelten Körper schmerzhaft verletzten. So vegetierten sie kümmerlich dahin. Sie wußten selbst nicht, ob sie lebendig oder tot waren und worauf sie warteten, bis sie das Schlagen der Äxte und die bekannten Laute hörten. Man hielt sie anfänglich für Erscheinungen. Doch langsam klärte sich alles auf; man nahm sich ihrer an und gab ihnen zu essen. Auf Bitten des Bischofs kleidete Raimund de St. Gilles Walter ohne Habe vollkommen ein und schenkte ihm ein Schwert, das sich dieser nach alter Gewohnheit um den Hals hängte. Aber der riesige Recke war, als er nach einigen Tagen wieder auflebte und
menschenähnlicher wurde, nicht mehr der alte Walter, der verwegene, grausame Raufbold. In der Beichte bekannte er dem Bischof schluchzend, daß ihm das Gefühl, für den Tod Tausender seiner Nächsten verantwortlich zu sein, an der Seele zehre, und daß ihm davon das Herz breche. Da er nicht wußte, was er mit sich anfangen sollte — an die verarmten, zu Fuß dienenden Edelleute wollte er sich nicht anschließen, die Ritterschaft aber blickte mit Verachtung auf ihn herab —, hielt er sich an das Gefolge des Bischofs. In dessen Zelt hockte bereits ständig der andere Gescheiterte, der weniger schuldbeladen, aber ebenso unglücklich und dazu völlig uneins mit sich selbst war, Peter der Eremit. Seine geistige Verfassung entsprach vollkommen seinem zum Lachen reizenden Beinamen „Kukupetros“, den ihm angeblich Anna Porphyrogeneta selbst in Byzanz gegeben hatte und der für immer an ihm haftenblieb. Peter, den begeisterten Redner aus Clermont, den Gottesmann, den Führer der ihn verehrenden Massen, gab es nicht mehr, er war hinweggenommen. Es blieb der „Kukupetros“, der drollige Schwachkopf, der ständig den Satan sah, überall, sogar in einem Wasserbecher. Der Anblick des Geisteskranken war Walter unangenehm. „Zur Rache und Schmach hat Gott uns beide am Leben gelassen“, sagte er des öfteren zum Bischof. „Ich wäre lieber dreimal gestorben als mit dem Leben davongekommen. Was sollen wir noch auf der Welt, ich und dieser elende Schwachsinnige! Wo ist da Gerechtigkeit? Alle andern sind umgekommen, wir aber, die sie hierhergeführt haben, leben … Wozu?“ „Um Buße zu tun“, antwortete Ademar ernst. Imbram ging schnellen Schrittes, bog um das Zelt und stieß auf einen zerlumpten Kerl, der aufmerksam die Pferde betrachtete. Der Vagabund war mager, gebückt und hatte ein langes, schmales Gesicht. Er hatte den Kommenden nicht bemerkt und zog sich jetzt schnell in demütiger Scheu zurück. Die unverständlichen Worte, die er in den Bart murmelte, ließen den vorbeigehenden Ritter
aufhorchen. Er faßte den Landstreicher an der Schulter, blickte ihm in die Augen und rief erstaunt: „Chebda!“ Ja, es war wirklich Chebda, der ungetreue Knecht, der seine angeborenen Herren einst verlassen hatte, um auf eigene Faust an dem heiligen Zug teilzunehmen. Er war ebenso wie Walter ohne Habe bei dem Blutbad davongekommen und trieb sich jetzt, herrenlos, in den Lagern herum. Die Macht der Gewohnheit hatte ihn in das Lager der Schlesier getrieben, dort schnürte er umher. „Chebda!“ wiederholte Imbram gerührt. Unwillkürlich packte er den Habenichts bei den Schultern und gab ihm, wie seinesgleichen, einen Kuß. Er glaubte mit der Gestalt Chebdas das im Stich gelassene Haus vor sich zu sehen, nach dem er sich, gerade in der letzten Zeit, so heftig gesehnt hatte. Er umarmte ihn, trat aber gleich verwirrt einen Schritt zurück, sah sich halb scheu nach allen Seiten um, ob auch niemand sein unpassendes und übermäßig vertrauliches Benehmen gegenüber einem Untergebenen beobachtet hatte. Glücklicherweise war niemand in der Nähe, nur Benito striegelte sorgfältig die Kruppe eines Pferdes, das an einen Baum gebunden war, und tat so, als sei er vollauf mit seiner Arbeit beschäftigt. Imbram atmete auf. Er sah in dem Ankömmling nur den lange vermißten Landsmann, lachte freudig, beinahe kindlich auf. „Schau, Alter“, sagte er, „wie gut sich mein Streithengst bisher gehalten hat! Und wie gefällt es dir hier? Ein komisches Land nicht wahr? Sie bereiten sich schon auf die Ernte vor, während bei uns sicherlich erst der Roggen Ähren ansetzt.“ „Erst Ähren ansetzt …“, wiederholte Chebda. Beiden schien es, als sähen sie das Feld bei ihrem Hof am Walde, auf dem die hellgrünen Halme des jungen Roggens sprossen, als hörten sie vom Bruch her, der blau von Vergißmeinnicht schimmerte, das Quaken der Frösche, als wehte ihnen harziger Duft vom Walde her entgegen, als flöge die Blaurake von Baum zu Baum, als weideten die Pferde auf der Koppel.
In diese Betrachtungen versunken, wurden sie von Zbylut überrascht. „Da bist du ja, du Ausreißer“, bemerkte dieser, „haben sie dich nicht zur Leiche gemacht? Hast du nun die Freiheit genug ausgekostet? Du kannst bleiben, aber denke daran, wenn es dich noch einmal gelüsten sollte, dann …“ Ohne seine Gedanken zu Ende auszusprechen, ließ er die Rute, die er in der Hand hielt, pfeifend durch die Luft sausen. Chebda duckte sich unwillkürlich. Er hatte ganz vergessen, daß er noch immer Eigentum seiner Herren war und man ihn wegen Fortlaufens streng bestrafen konnte. Auch hatte er noch nicht darüber nachgedacht, ob er hierbleiben solle oder nicht. Er war ja eigentlich unabsichtlich hergekommen. In den letzten anderthalb Jahren war der Untertanengeist von ihm gewichen, aber durch Zbylut wurde er plötzlich wieder an sein Knechttum erinnert. Auch Imbram bemerkte es plötzlich, das Gefühl, daß eine Kluft den Ritter vom Knecht trenne, kehrte wieder zurück, und er rückte sofort von Chebda ab. Eine Röte überzog sein Gesicht bei dem Gedanken, daß der ältere Bruder ihn hätte überraschen können. Zbylut ging davon, und die beiden blieben bekümmert und scheu beieinander stehen. Chebda trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, fragte nach diesem und jenem, ob bei der braunen Stute immer noch die Hufe splitterten, wie es dem gnädigen Herrn Großkopf gehe und ob seine Gnaden mit Benito zufrieden seien. „Sehr, sehr“, antwortete Imbram. „Sage einmal, Alter, was ist eigentlich aus denen, die mit dir gegangen sind, aus Chrosciel und Duleba geworden?“ „Sie sind alle umgekommen. Duleba ist in Byzanz verschollen. Oh, wir haben große Not gelitten“, fügte er vertraulich hinzu. Dann schwiegen beide wieder. Chebda war unschlüssig, sollte er bleiben oder nicht? Blieb er, so war ihm auf alle Fälle das Essen sicher. Nein, er wollte nicht bleiben! Aber wo sollte er hingehen? Der Bischof hatte sich zwar aller Geretteten angenommen, und bei ihm hätte er Obdach gefunden, aber dann wäre er ständig seinen
früheren Herren begegnet, die zum Lager Raimund de St. Gilles’ gehörten. Man mußte sich an jemand anderes halten, auch dann, wenn man wieder hungern mußte, das war nicht so schlimm, sofern man nur niemandem hörig wurde … „Euer Gnaden“, murmelte er, „ich werde lieber gehen, ich bleibe nicht hier …“ „Geh mit Gott!“ Die Stimme des Ritters klang beinahe erleichtert. Ja, es war besser, wenn Chebda ging. Imbram wußte jetzt auch nicht mehr, warum er ihn geküßt hatte, und fühlte, daß ihm das unangenehm sein würde, sooft er dem alten Knecht begegnete. Es war besser, ihn nicht mehr zu sehen. Und Chebda ging. Das vorübergehende Auftauchen und das erneute Verschwinden Chebdas war Gegenstand längerer Gespräche im Kreise der polnischen Ritter. Großkopf war außer sich vor Zorn und beschimpfte Imbram. „Er hat dir gesagt, daß er seiner Wege gehen will, und du hast ihm darauf geantwortet: Gehe! Hast du das gesagt oder nicht?“ „Freilich!“ „Du Wechselbalg der Feen! Du Tölpel! Er gehört uns doch, ist unser Untertan! Er hatte weder das Recht fortzulaufen, noch hattest du das Recht, ihn ohne meine Erlaubnis gehen zu lassen! Welch gnädiger Herr! Ich schwöre bei meinem Hals und bei meinen Augen, daß ich so etwas ein zweites Mal nicht dulden werde. Hier geht ja alles drunter und drüber! Statt den Ausreißer zu verprügeln und ihn mit einem Strick ans Pferd zu binden, läßt du ihn laufen und sagst auch noch: Du kannst gehen!“ Imbram hob wortlos die Achseln — früher hätte er sich so etwas niemals erlaubt — und schaute auf Jasiek Zawora, der ihm, dem Freund, sicher im stillen beipflichten werde. Recht blieb Recht! In Schlesien war es natürlich so, wie Großkopf gesagt hatte. Versuchte dort ein Knecht zu entlaufen, so gehörte es sich, daß man ihn wie
einen ungehorsamen Hund bestrafte, aber hier? Schlesien lag weit, sowohl in bezug auf die Entfernung als auch hinsichtlich ganz anderer Gedankengänge, und in diesen fand die alte Auffassung schwerlich Platz. Bei Großkopf, und nicht nur bei ihm, sondern auch bei Momot und Sciborovic, fanden die Veränderungen, von denen die ganze westliche Ritterschaft erfaßt wurde, keinen Eingang. Diese drei Ritter blieben so, wie sie vor zwei Jahren Schlesien verlassen hatten. In Byzanz hatten sie sich im allgemeinen wohler gefühlt als in Toulouse. Nicht nur, weil man hier das Bier kannte, das allerdings zu schwer und zu würzig, aber immerhin Bier war, sondern weil sie in den Söldnerheeren des Basileus viele Russen getroffen hatten, mit denen sie wie mit den Ihrigen plaudern konnten. Das einzige, was ihnen wirklich mißfiel, war die ablehnende Haltung des Basileus gegenüber Raimund von Toulouse, der langwierige Streit um die Eidesformel, der zur Unzufriedenheit beider Parteien nur halb beigelegt worden war. Diese Auseinandersetzung ging, was ihre Einzelheiten betraf, die Schlesier zwar nichts an, aber sie hatten unter den Folgen zu leiden, denn wie die Provenzalen erhielten auch sie keine Geschenke. Die Ungarn, die sich nach der Ankunft in Byzanz ohne besonderen Grund dem Lager Stephans de Blois angeschlossen hatten, prahlten bei jeder Gelegenheit mit den erhaltenen Schätzen und Kostbarkeiten und rühmten die Freigebigkeit des Basileus bis in den Himmel. „Ich habe nie Glück gehabt“, beklagte sich Oswienta Cwała, als er die Lobreden der ungarischen Ritter hörte, „schon von Kindheit an hatte ich Pech; denn ich bin der Zweitgeborene, habe ein buckliges Weib zu Hause, und in den Bergen sind mir die Knechte verlorengegangen.“ „Das stimmt! Von Anfang an haben wir kein Glück gehabt“, gab Großkopf ärgerlich zu. „An allem ist dieser Tölpel Imbram schuld, weil er sich damals, bei unserem Fortzug, im Tor umgesehen hat …“
„Soviel Kummer hat er uns bereitet!“ Wegen der ausgebliebenen Geschenke hatten sie eine zeitlang de la Tour gezürnt und mit ihren Vorwürfen auch Raimund nicht verschont, mit dem de la Tour befreundet war. Sie hatten sich aber bald wieder ausgesöhnt, denn der sanfte de la Tour war nicht nachtragend. Dabei hatten auch die Schlesier schließlich zugegeben, daß sie genau wie der Graf nicht bereit gewesen wären, dem schismatischen Kaiser den Treueeid zu leisten. Das gute Einvernehmen war bald wiederhergestellt, denn alle hofften, nun bald mit den Sarazenen zusammenzustoßen. Das stimmte die Gemüter freudig, denn was konnte ihnen noch noch bevorstehen? Eine, vielleicht zwei siegreiche Schlachten, reiche Beute, erfüllte Gelübde und die Möglichkeit, mit großem Überfluß und Ruhm heimzukehren. Nizäa, die erste mächtige, mohammedanische Veste auf welche die Kreuzfahrer unterwegs stoßen sollten, war erst seit vierzehn Jahren in der Hand der Ungläubigen. Die Byzantiner hatten damals die Stadtmauer, die ursprünglich von den Römern errichtet worden war, mit dem ihnen eigenen, kraftvollen Unternehmungsgeist verstärkt und erneuert. Sie hatten die Stadt mit einem vier Meilen langen Verteidigungsring umgeben. In dichten Abständen erhoben sich über die Mauern abwechselnd viereckige und runde, schwer befestigte Türme, die mit ihren schmalen Schießscharten einen weiten Ausblick ins Land gestatteten. Solcher Türme gab es dreihundertsiebzig. Von der einen Seite lehnte sich die Stadt an einen steilen, bewaldete Berg, an der anderen grenzten die Mauern unmittelbar an den sehr großen Askalonsee. Aus den saphirblauen Fluten schien sich die Festung wie die griechische Aphrodite zu erheben. Der See erstreckte sich weit gen Westen und war von der tief in das Festland eingeschnittenen Bucht, der sogenannten nizäischen, durch einen schmalen Landstreifen getrennt. Die den See umgebenden Hügel schienen an diesem Sommeranfang ein Paradies unaussprechlicher Schönheit zu sein. Dicht an der
Stadtmauer wuchsen Sträucher, deren Blüten wie farbige Federbälle aussahen. Wie spitze Nadeln stachen die Minarette in den Himmel, mit denen die Mohammedaner bereits alle Kirchen Nizäas versehen hatten. Die mit Kupferblech beschlagenen dreifachen Mauern waren zehn Fuß breit, so daß man bequem auf ihnen reiten oder sogar mit einem Wagen fahren konnte. An den niedrigsten Stellen waren die Mauern dreißig Fuß hoch. In die Stadt führten drei Tore; an dem südlichen begann die große Straße, auf der man dann quer durch die Wüste Antiochia erreichte. Nach römischer Art setzten sich die Tore aus drei Marmorbögen zusammen. Diese Gewölbe waren mit einem schönen Flachrelief bedeckt, das mit Lanzen und Schilden bewaffnete Legionen des Kaisers Diokletian darstellte. Am Osttor, das ebenfalls aus drei Bögen bestand, mündete ein Aquädukt, der die Einwohner mit Quellwasser aus den Bergen versorgte. War dieser Aquädukt beschädigt, so mußte man sich in der Stadt mit Seewasser begnügen, das zwar süß, aber von üblem Geschmack war und stark nach Fisch roch. Das dritte Tor, am Ausgang der Straße nach Byzanz, bestand aus grauem Marmor. Es wies auf dem mittleren Bogen ein schreckenerregendes, schlangenhaariges Gorgonenhaupt auf. Die Augen des Ungeheuers waren weiß, als wären sie blind, jedoch schienen die Schlangen jeden aufmerksam zu betrachten, der das Tor durchschritt. Der fromme Abschreiber des Korans, Emir Mudschahid, der Sohn Dschubairs, der Befehlshaber der Besatzung, stand auf der Mauer neben dem Tor und beobachtete die sich nähernden unzählbaren Reihen der Ungläubigen. „Bei den auf der Wallfahrt bestaubten Sandalen des Propheten! Das ist ein Heiliger Krieg. Allah ist groß!“ murmelte er befriedigt. Das Heer, das in Marschordnung anrückte, erinnerte in nichts an die plündernden Banden, die vor zwei Monaten aufgerieben worden waren. Das war ein vor Waffen strotzender, drohender Feind. Dschurissa, die geliebte Gattin des Sultans Kilidsch–Arslan, teilte nicht diese Zufriedenheit. Sie ließ sich ebenfalls auf die Mauern hinaustragen, um den heranziehenden Feind zu sehen. Schwarze
Verschnittene, mit stählernen Muskeln und goldenen Ringen an Hand– und Fußgelenken, trugen die kostbare Sänfte ihrer Herrin, die von einer Schar verschleierter Sklavinnen umgeben war. Der Emir verneigte sich tief beim Anblick der Frauen. Obwohl die Sänfte dicht verhangen war und man nicht in das Innere schauen konnte, verdeckte er die Augen mit dem Zipfel seines Turbans, damit ihn niemand verdächtige, er wolle das Gesicht der Gattin des Sultans erblicken. „Mudschahid, Sohn Dschubairs“, sagte Dschurissa mit einer durch die Vorhänge gedämpften Stimme, „ich möchte, daß du mich beruhigst. Unser Herr und Gebieter — der Prophet möge seine Tage pflegen! — hat geschrieben, daß die Eindringlinge an den Mauern wie eine Meereswelle an einem Felsen zerschellen werden. Unser Herr und Gebieter weiß, was er sagt. Jedes seiner Worte ist von Allah eingegeben. Doch ich ängstige mich, Mudschahid, Sohn Dschubairs, ob unser Herr beim Schreiben dieser Worte die Kräfte der Ungläubigen auch richtig eingeschätzt hat. War ihm bekannt, in welchen Massen sie heranziehen? Ich fürchte, Mudschahid, Sohn Dschubairs, daß sie uns überfluten werden. Ich fürchte um mich und um meinen kleinen Sohn, der die Augenweide unseres Herrn und Gebieters ist.“ „Allah ist groß!“ entgegnete Mudschahid heiter. Dschurissa brach bei dieser Versicherung in Tränen aus. Der alte Emir aber verfluchte im stillen das Weibergeschlecht und begann Dschurissa zu trösten, daß Allah den Gläubigen und nicht den Giauren helfen werde und daß Nizäa keine gewöhnliche Stadt sei. Von der Seeseite könne sie nicht belagert werden. Die ungläubigen Hunde hätten weder genügend Schiffe noch ausreichend Mannschaften, um den See rings zu umstellen. „Wir besitzen Schiffe, die im Kanal hinter der ersten Mauer gut versteckt sind. Ängstige dich nicht, Dschurissa!“ Dschurissa seufzte und ließ sich weitertragen. Der Anblick war von allen Seiten derselbe. Unübersehbare Massen Bewaffneter zogen auf die Stadt zu. Sie strömten von drei Seiten herbei wie drei große
Flüsse. Beim Anblick der auf den Mauern stehenden Verteidiger erhoben sie die Hände und drohten mit den Lanzen. Der Ruf „Gott will es!“ hallte donnernd über ihre Reihen. Er wurde von dem Dröhnen der Trommeln verstärkt, die man als Neuestes in Byzanz erworben hatte. Sie waren bei den Sarazenen gebräuchlich. Heiser und drohend schmetterten die hölzernen und silbernen Posaunen, erklangen die Auerochsenhörner. Beim Kampfeslärm der Trompeten, Trommeln und Hörner bezogen die Kreuzfahrerheere die für das Lager vorgesehenen Stellungen: Gottfried mit Balduin an der Ostseite der Stadt die bei den Roberts, Bohemund mit Tankred und Stephan de Blois an der Nordseite. Raimund de St. Gilles lagerte an der Südseite und versperrte den Weg, auf welchem den Belagerten hätten Verstärkungen zugeführt werden können. Nur die Seeseite blieb frei, da sie durch das Wasser geschützt war. Die Mauern sahen gewaltig aus und ließen auf eine lange und harte Belagerung schließen. Daher begannen die lateinischen Heere, ohne auch nur einen Augenblick Zeit zu verlieren, ihre Lager zu befestigen und sie gehörig zu verschanzen. Es wurden Gräben ausgehoben, und die Erde flog nur so von den Spaten. Andere Krieger umzäunten die Weiden, auf denen die Pferde grasen sollten. Ganze Abteilungen trugen Faschinen, Äste und Baumstämme herbei. Innerhalb zweier Tage waren alle umliegenden Hügel des grünen Gewandes ihrer Wälder entkleidet. Die aufgescheuchten Vögel und Waldtiere flohen weit in das Innere des Landes. Verwelkte Zweige und Blätter bedeckten die Ufer des Sees. Aber immer noch reichte das Holz nicht aus. Um die drei Heere zu je einhunderttausend Mann mit einem starken Pfahlzaun zu umgeben, mußten unzählige Eichen, Zedern und Buchen geschlagen werden. Schon bald mangelte es an Holz. Es fehlte Reisig zum Ausflechten der Gerüste, mit denen die Durchgänge in den Lagerzäunen verstellt werden sollten. Die Krieger aber hatten wenig Lust, es von weither zu holen. Schließlich gab es kein Reisig mehr; dafür aber Knochen! Viele Knochen! Überall schimmerte es weiß im Gelände. Sie waren hart
und stark und eigneten sich vortrefflich für die Befestigung der Zäune. Die Normannen kamen zuerst auf den Gedanken, Knochen zu verwenden. Die anderen ekelten sich anfangs. Christliche Gebeine verdienten Achtung; man hätte sie ehrenvoll bestatten müssen und nicht zur Befestigung von Zäunen mißbrauchen dürfen. Die Provenzalen, die stets den Normannen abhold waren, gingen zum Bischof, um sich über diese Schande zu beklagen. Dieser sollte die Normannen zur Rede stellen und es ihnen verbieten. Der Bischof überlegte lange, bevor er antwortete: „Und wenn die armen Geschöpfe, die im Fegefeuer schmachten dadurch eine Erleichterung finden, daß sie durch ihr Gebein einen Beitrag für die heilige Sache leisten?“ Das war richtig. An diese Möglichkeit hatte niemand gedacht. Der Bischof hatte recht gesprochen. Der nutzlose Tod Tausender von Wallfahrern mochte ein, wenn auch geringer, Beitrag sein Mochten die Knochen der Verstorbenen die Lebenden schützen, und die Totenköpfe, von den großen Schleudern zuhauf in die Stadt der Ungläubigen geworfen, diesen als unheilverkündende Warnung dienen. Dieselben, die sich beklagt hatten, sammelten jetzt eifrig die auf den Feldern umherliegenden Gebeine. Ungeachtet dieser Arbeiten ritten einige der vornehmsten Ritter zu einem Geplänkel auf das Vorfeld, das die Stadt von den Lagern trennte. Nur mit dem Schwert, der Lanze und dem Schild bewaffnet, ritten sie bis zum Stadttor und forderten die Tapferkeit der Ungläubigen heraus. Schnell begriffen die Sarazenen, worum es ging. Durch eine kleine Pforte im Seitenbogen des Tores warfen sie eine Stegbrücke über den breiten Graben, die sofort wieder hochgezogen wurde, als einige auserwählte Kämpfer hinübergeritten waren. Die Reiter waren in prächtige himmelblaue, gelbe und purpurne Seidengewänder gekleidet, deren breite Ärmel sich im Winde blähten. Auf der Brust und dem Rücken trugen sie leichte vergoldete Rüstungen auf dem Helm einen farbigen Turban.
Der runde Schild steckte auf ihrem linken Arm. In der Hand hielten sie Krummschwerter aus dem weltberühmten Damaszener Stahl. Sie glichen in der Sonne seltenen Insekten und kamen auf ihren herrlichen, leicht tänzelnden Pferden an die Lateiner herangeritten, als suchten sie zu gefallen. Die Scharmützel begannen. Auf beiden Seiten schauten viele Hunderte gespannt zu. Sie sahen wie geschmeidige, blitzschnelle Bewegungen und eiserne, schwere, unbewegliche Kraft aufeinanderstießen. Die eisenbewehrten lateinischen Männer fühlten sich stärker, und de Melun, einer der besten Scharmützler, brach beim Anblick der Heiden, die er Buben nannte, in ein verächtliches, wieherndes Gelächter aus. Er ritt mit eingelegter Lanze direkt auf Ibrahim, den Sohn Mudschahids, zu. Sein Roß trug auf der Stirn ein spitzes stählernes Horn, auf den Flanken Panzerteile und zum Schutz der Kruppe eine glänzende Schuppendecke. An dem tiefen, schmalen Sattel ragten die vorderen und hinteren Pauschen hoch empor. Sie schützten den Leib des Ritters, behinderten aber gleichzeitig jede Bewegung. Im Rittersattel konnte man nur aufrecht sitzen, mußte die Beine steif ausstrecken und konnte sich weder nach vorn noch nach hinten beugen. Mit hochgezogenem Visier, wie es sich bei einem Scharmützel geziemte, in stählernem Helm, Panzer, Schienen, mit denen seine Schenkel, Arme und Schienbeine bedeckt waren, galoppierte Herr de Melun, seine Lanze fest in der Hand, schnurstracks auf den Sarazenen zu, der sein Pferd angehalten hatte und ihn neugierig ansah. Der Mohammedaner rührte sich nicht. Unter den Hufen des französischen Streitrosses erbebte die Erde. Die Lanze mußte, wenn sie traf, den leichtsinnigen Gegner ganz und gar durchbohren. Der auf der Mauer stehende Emir Mudschahid, der Vater Ibrahims, hatte noch nicht die Worte „Allah ist groß!“ ausgesprochen, da sprang der Jüngling schon zur Seite, und die Lanze fuhr ins Leere. Der anstürmende Ritter konnte nur mit Mühe durchparieren, ritt wütend zurück, sammelte sich, sprengte von neuem heran und verfehlte den Heiden wiederum, der so gewandt war wie ein
Leopard. Obendrein traf ihn der spitze, von unfehlbarer Hand geschleuderte Wurfspieß schmerzhaft am Kopf und verbeulte ihm den Helm. Wutschnaubend stieß de Melun die Lanze in den Boden und ergriff mit beiden Händen das Schwert. Vorher spuckte er kräftig in beide Hände, nicht, damit ihm der Griff aus der bepanzerten Faust nicht entgleite, sondern zum Schutz gegen Zauberei. Indem er die Waffe kreisend über dem Kopf schwang, ritt er jetzt langsam heran und achtete sorgfältig auf jede Bewegung des Gegners. Die Luft pfiff bei dem Schwingen des schweren Schwertes. Der Krummsäbel Ibrahims glänzte in der Sonne. Schon stürzten sie aufeinander. Das schreckliche Schwert aber durchschnitt nur die leere Luft, während das blitzende Krummschwert den bepanzerten Nacken und den Armschutz traf, jedoch wirkungslos abglitt. Ein solches Spiel konnte lange dauern, bis zur vollkommenen Erschöpfung der Kämpfer. Es war wie der Kampf einer Dogge mit einer Schlange. Daher geriet de Melun auch vollends außer sich. Nie im Leben war ihm etwas Ähnliches begegnet! Als nun Ibrahim wieder mit seinem wendigen Roß schnell zur Seite sprang, holte der „Zimmermann“, als er bei der Verfolgung seines Gegners auf einen anderen scharmützelnden Sarazenen stieß, mit der ganzen Kraft seiner ohnmächtigen Wut aus und hieb den Reiter mittendurch. Er fällte ihn wie einen Baum. Der Rumpf mit dem Kopf fiel zu Boden. Die zuckenden Schenkel klammerten sich noch an das Pferd, während das Blut wie eine Fontäne spritzte. Ein Schrei des Entsetzens ertönte auf den Mauern. Entrüstete und freudige Rufe erschallten unter den Kreuzfahrern. Entrüstete, weil es sich beim Geplänkel nicht schickte, mit einem anderen zu kämpfen, bevor man seinen eigentlichen Gegner nicht besiegt hatte; und freudige, weil es für die Heiden den ersten Toten gegeben hatte. Das war ein gutes Vorzeichen. Der Knappe de Meluns, der den Rufen weiter keine Aufmerksamkeit schenkte, um so mehr aber auf alles andere achtete, nahm dem Gefallenen schon die Rüstung ab und ergriff das Pferd. Für ihn war dies das Wichtigste.
„Allah ist groß!“ flüsterte der Emir Mudschahid; denn Ibrahim, der Stolz des Alten, war zu de Melun zurückgekehrt. Wieder verbanden sie sich wie zum Tanze. Dumpf klirrte das große Schwert, scharf und durchdringend klopfte die krumme Waffe des Mohammedaners. Aber in diesem Augenblick ertönten in den Lagern Trompeten. Sie kündeten an, daß es Zeit zum Angelus war. Die Scharmützler mußten das Feld räumen. Für diesmal war es genug. Auf heidnischer Seite waren fünf Mann gefallen, auf christlicher drei, und zwar die Ritter Roger de Forez, Balduin de Gand und ein Knappe. Das waren die ersten Toten. Ehre sei ihnen! Am nächsten Tage würde man sie feierlich begraben. „Allah ist groß!“ wiederholte zum dritten Male der Emir Mudschahid und stieg flink von den Mauern herab, um den gesund zurückkehrenden Sohn zu berühren — denn ihn zu umarmen geziemte sich nicht. — Ja, das war ein Heiliger Krieg! Der Heilige Krieg! In dem wie gewöhnlich glatten See spiegelten sich die Mauern und die weißen Wolken wider. Auf den Brüstungen der Minarette standen die Muezzins. Sie verneigten sich in Richtung Mekka und riefen singend, daß Allah Gott sei und es keinen anderen neben ihm gebe. Daß der christliche Gott der einzige und kein anderer neben ihm sei, verkündeten im Lager die Trompeten und die Glocke, durch welche die Dämonen verscheucht wurden, und der Gesang einiger hunderttausend Menschen. „Es gibt einen einzigen Gott und keinen anderen neben ihm!“ Stöhnend und den schmerzenden Rücken streckend, bearbeiteten die Knappen und Knechte klobige Balken, die für den Bau eines Belagerungsturmes bestimmt waren. Die in der Nähe sitzenden Ritter schauten der Arbeit zu. Ringsumher schimmerten dunkel die kahlen Hügel. Das Gras im Tal war zertreten und verdorrt. Auf dem See trieben aufgedunsene, Gestank verbreitende Leichen.
„Wir mühen uns hier ab“, klagte de Foix — einstweilen mühten sich die Knechte ab und nicht er —, „und die Griechen stehen hinter dem See und kümmern sich um nichts!“ „Es ist ja bekannt, daß sie erst kommen werden, wenn alles fertig ist.“ „Ihre Führer werden sie kaum fortlassen.“ „Das glaube ich auch.“ „Ich habe gehört“, bemerkte Imbram, „daß ihr Befehlshaber, Butumitos oder so ähnlich heißt er, krank ist. Die Medici heilen ihn. Ein Oberwaranger, den die Griechen hergesandt haben und der den Bischof gefragt hat, ob hier Wagen mit dem vernichtenden Feuer benötigt werden, hat das berichtet. Die Barone haben abgelehnt …“ „Richtig! Es ist besser, ohne diesen Teufelskram fertig zu werden.“ „Die Türme genügen!“ Das griechische Feuer! Sicherlich hätte es die verfluchte Festung zur schnelleren Übergabe gezwungen. Aber die lateinische Ritterschaft haßte diese hinterlistige Waffe, die abergläubische Furcht erregte. Nach ihrer Meinung war deren Anwendung eines Ritters unwürdig, dem nur der ehrliche Kampf mit der Hand, der Lanze oder dem Schwert ziemte. Seit Beginn der Belagerung war ein Monat verstrichen, ohne daß irgend ein grundsätzlicher Wandel eingetreten wäre, obwohl an allen Abschnitten ein verbissener Kampf geführt wurde. Die Ritter stellten unermüdlich allzu kurze Leitern an die Mauern die von den Mohammedanern mit Stangen weggestoßen und mit den darauf befindlichen Menschen wieder auf die Kämpfenden geworfen wurden. Den Belagerern war es nur gelungen, die Gräben mit Erde und Faschinen zuzuschütten und das ganze Land ringsum zu verwüsten. Sonst stand die Festung, so wie sie gestanden hatte, in dem dreifachen Mauerring, hinter den schmiedeeisernen Toren, denen weder Feuer noch Beil etwas anhaben konnte. Bevor die Belagerungstürme fertiggestellt waren, blieb den Kreuzfahrern nichts anderes übrig, als die Mauer mühsam
abzubröckeln, sie mit Stangen und Haken einzureißen. Eine undankbare Arbeit! Die Mohammedaner schleuderten Steine, gossen siedendes Wasser und Pech, warfen brennende Haarbüschel und mit Harz getränkte Lappen auf die Belagerer herab. Daher suchten die Krieger in der sogenannten Schildkrötenordnung unter ihren Schilden Schutz, das heißt, jeder zweite in der Reihe beschirmte sich und den Gefährten mit dem über den Kopf erhobenen Schild. Übrigens kühlte das oben ausgegossene siedende Wasser schnell in der Luft ab. Die eisernen Panzer und die Lederjacken wurden vom Pech und den brennenden Lappen nicht angegriffen. Die bisher erlittenen Gesamtverluste beliefen sich auf nicht mehr als eintausend Mann. Man durfte natürlich das Gesicht nicht heben, um durch die Güsse von oben das Augenlicht nicht zu verlieren. Die Sarazenen warteten nur auf solche Gelegenheiten. Die Schilde über den Köpfen, auf die das Wasser plätscherte und das Pech am Rande zu schwarzen, klebrigen Zapfen gerann, zerschlugen die miles und Lanzenträger mit Haken die Mauer und brachten sie ins Wanken. Schutt fiel herunter. Kalkstaub schwebte wie Rauch in der Luft. Wenn die Hände des Gefährten, der den Schild hielt, erlahmten, lösten sich die Krieger ab; derjenige, welcher mit dem Haken arbeitete, griff zum Schild, der andere zur Stange. Sie hämmerten wie die Spechte. Aber wenn sie sich wie Maulwürfe allzu tief hineingegraben hatten und die Mauer in einer gewissen Länge in ihren Grundfesten zu wanken begann, schütteten die Heiden Körbe voll lebendiger Schlangen auf die Häupter der Belagerer aus: schwarze oder kupferfarbene, gefleckte oder mit Zickzacklinien, kleinere und größere Schlangen fielen zischend auf die Angreifer. Die erschrockenen Reptilien wickelten sich den Kriegern um die Arme oder um den Hals. Das konnten weder das Fußvolk noch die Ritter ertragen. Bei der Berührung mit der Schlange, diesem Abbild des Satans, wurden sie von unüberwindlichem Abscheu, ja von Angst ergriffen. Sie zogen sich in panischem Schrecken zurück, sie, die niemals sonst vor etwas zurückwichen, sprangen von der Mauer
weg, entblößten unvorsichtigerweise die Köpfe und befreiten sich von dem widerlichen Geschlängel. Sie hieben wie wild auf die Gifttiere mit allem, dessen sie nur habhaft werden konnten, mit der Streitaxt, Knütteln, dem Schwert. Die zerhackten Schlangen wälzten sich zuckend auf dem Boden. Die Mohammedaner johlten vor Freude und stießen die Leitern um, die bisher von den Christen festgehalten worden waren, und als sie den Erfolg dieser wirksamen Waffe sahen, warfen sie immer öfter und mehr Schlangen herab. Woher nahmen sie bloß diese Unmengen? War die ganze Stadt von diesen Reptilien bewohnt? Auf diese Frage, über die sich die Ritterschaft vergeblich Gedanken machte, gab es nur eine einzige Erklärung: Zauberei! Die widerwärtigen heidnischen Priester, von denen die Sarazenen Tag für Tag von den hohen Minaretten zum Gebet gerufen wurden, verwandelten zweifellos die Steine der Stadt in Schlangen. Und was noch schlimmer war, die Kreuzfahrer waren zu der Überzeugung gelangt, daß sie, allen ritterlichen Bräuchen zum Trotz, auch nach Sonnenuntergang kämpfen mußten. In der Nacht, wie Räuber! Bisher hatten sie nur gegen solche Gegner gefochten, die ebenso wie sie zum Ritter geschlagen waren und sich an dieselben Regeln hielten. In Übereinstimmung damit räumten die Kämpfenden, wenn die Zeit des Angelus gekommen war, das Feld. Trompetensignale verkündeten beiden Gegnern, daß die Kampfhandlungen bis zum nächsten Morgen ruhten. Diese Pause wurde ehrlich eingehalten. In der Nacht wurden wohl Diebe verfolgt oder eine Magd geraubt, Diebstähle begangen, Fallen gestellt, hinterlistige Überfälle durchgeführt, aber so etwas war einem zum Ritter geschlagenen Krieger ein Greuel. Die Frage, ob die Sarazenen zum Ritter geschlagene Gegner waren, ließ sich schwer beantworten. Von unübertrefflicher Tapferkeit, waren sie aber nach Meinung der Lateiner ebenso arglistig wie unaufrichtig. Sie mißachteten die Bräuche eines edlen Kampfes. Seit längerer Zeit ließen sie sich Nacht für Nacht an Seilen hinab und setzten die am Tage von den Kreuzfahrern beschädigten Mauern
wieder instand. Größere Mauerbrüche verstopften sie mit Felsblöcken oder Faschinen oder stampften sie mit Erdreich zu. Anfangs meinten die Ritter, als sie am Morgen ans Werk gingen und den geringen Erfolg der gestrigen Bemühungen sahen, daß es sich hier, ähnlich wie bei den Schlangen, um heidnische Zauberei handeln müsse. Die Krieger Bohemunds kamen aber bald dahinter, daß die Belagerten des Nachts arbeiteten. Überrascht und erbittert beschlossen sie, sich von den ehrenhaften Bräuchen loszusagen und dem Beispiel der Heiden folgend, jederzeit zu kämpfen. Der Bischof spornte sie selbst an und erteilte ihnen die Absolution. Es wurde vereinbart, die Mannschaften in zwei Hälften zu teilen, von denen die eine am Tage die Mauern einrennen, die andere sie des Nachts bewachen sollte. Gleichzeitig wurde auch festgelegt, daß die einzelnen Ritter zu keinem Scharmützel mehr ausreiten sollten, nicht einmal am Sonntag, und zwar, um dem so heimtückisch vorgehenden Feind ihre Verachtung zu zeigen. Über diesen letzten Beschluß war Herr de Melun tief bekümmert. Er konnte es nicht verwinden, daß er Ibrahim, den Sohn Mudschahids, nicht zur Strecke gebracht hatte. Erbost versicherte er, Nizäa nicht eher zu verlassen, als bis er ihn gefunden und in einem Zweikampf besiegt habe. „Wer sich vor mir in einen Kampf mit Ibrahim einläßt, bekommt es mit mir zu tun!“ drohte er. Einstweilen mußte der Recke sich damit trösten, Steine auf die Mauern zu schleudern. Er tat das mit solcher Wucht wie die Wurfmaschinen, aber bedeutend treffsicherer. Sobald er einen Turban auf den Mauern auftauchen sah, spreizte er die Beine, ergriff einen riesigen Stein, den ein anderer nicht einmal anzuheben vermocht hätte, wog ihn zuerst langsam, dann schneller hin und her, bis er genügend Schwung hatte, und warf dann das Geschoß, das selten sein Ziel verfehlte. Deshalb flog auch, wenn man ihn von den Mauern aus erblickte, ein Schwarm von Pfeilen um seinen Kopf. Herr de Melun lachte nur, und sein Lachen klang wie
Wiehern. Er versicherte, diese Nadelstiche könnten seiner Haut nichts anhaben. Übrigens war er nicht der einzige, der sich beim Steinwurf über die Mauer durch besondere Kraft auszeichnete. Mit dem gleichen Erfolg betätigten sich auch der sanfte de la Tour und Walter ohne Habe. Durch starke Hand und große Hartnäckigkeit tat sich auch Raimund von Toulouse hervor, der als erster versuchte, auf den fortwährend zurückgestoßenen und unermüdlich wieder hochgestellten Leitern die Mauer zu erklettern. Eines Tages schlichen ihm die Pagen Elviras nach und baten ihn er möge ihnen erlauben, mit ihm zu gehen und sie vom Tragen des Fächers und des Taschentuches zu befreien. Sie waren in den letzten zwei Jahren aus zierlichen Knaben zu richtigen Jünglingen mit langen Händen, großen Füßen und linkischen Bewegungen emporgeschossen. Die weißblaue Pagentracht paßte ihnen nicht mehr. Die Hosenbeine reichten nur bis zu den Knien. Die langen, geschlitzten Ärmel waren ausgefranst, ausgeblichen, kurz geworden und hingen wie Lumpen herab. Die jungen Leute kamen sich lächerlich vor und sehnten sich nach einer mannhafteren Beschäftigung. Raimund hätte gern ihrer Bitte entsprochen, aber Elvira wollte nichts davon hören. Auf das Gefolge verzichten? Was für eine Demütigung! Die Zeit verrann unaufhaltsam. Die Hitze wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Die Sonne brannte mit sengender Glut vom Himmel. Die von den Wäldern und jeglicher Vegetation entblößte Umgebung spendete nicht den geringsten Schatten, und die Ritter bedauerten bereits, alle Bäume in unüberlegter Eile geschlagen zu haben. Von weit her, aus einer Entfernung von etlichen Meilen, mußten geeignete Baumstämme zum Bau von Belagerungstürmen, die auch Wandeltürme hießen, herangeschafft werden. Aber selbst wenn sich das Material an Ort und Stelle befand, waren damit die Schwierigkeiten nicht beseitigt. Wie sollte es verwendet werden? In den Lagern mangelte es an geübten Zimmerleuten. Es gab nur Krieger. Die Zimmerer waren in dem Haufen Peters des Eremiten umgekommen. Zwar wußte jeder Ritter genau, daß ein
Wandelturm eine feste Konstruktion aus Balken haben mußte, ähnlich einem Glockenturm, daß an dessen einer Seite ein Mauerbrecher in Gestalt eines Widderkopfes herausragen sollte, der mit großer Wucht gegen die Mauer gestoßen wurde, daß mehrere Stockwerke erforderlich waren, in denen die Bogenschützen, Speerwerfer und Ritter Platz fanden, und daß alles auf Rädern oder Walzen ruhen mußte, damit die dräuende hölzerne Festung längs der Mauern bewegt werden konnte. Das alles war bekannt. Aber wie sollte man dieses Vorhaben ausführen? Wie zum Beispiel das Gebälk anordnen? In jedem Lager wurden eifrig die Äxte geschwungen; aber das Ergebnis war bisher unbefriedigend. Die emsig und mit großer Mühe zusammengefügten Türme waren kaum zu gebrauchen, fielen bei der geringsten Unebenheit des Bodens um, der Mauerbrecher arbeitete nicht, oder die Türme waren so schwer, daß man sie nicht von der Stelle rücken konnte, weil sie tief in den Boden einsanken. Die kleine, in ein Gespräch vertiefte Ritterschar zerbrach sich gerade darüber den Kopf und schaute zu, wie die Knechte die Baumstämme bearbeiteten. „Du behaust schief, gib mir die Axt“, sagte Imbram plötzlich zu einem von ihnen. Er nahm das Beil, stellte sich mit gespreizten Beinen über den Stamm und begann ihn geschickt zu behauen. Die Schneide glitt leicht hinein und trennte die Späne gleichmäßig ab. „Das geht Euch aber geschickt von der Hand“, lobte de la Tour anerkennend. Imbram lächelte bescheiden. Ihm war es, als behaue er einen Balken für den neuen Dachstuhl auf dem alten Gehöft, was eigentlich im vergangenen Jahre hätte gemacht werden sollen. Aber Großkopf schaute böse, mit gerunzelter Stirn zu, daher gab Imbram dem Knecht die Axt wieder zurück. Auf dem Klotz sitzend, klagten sie weiter: „Von dieser Hitze werden wir noch ganz austrocknen.“ „Gibt es etwas Schlimmeres als die Belagerung von Städten? Kampf bleibt Kampf, das macht Freude! Aber Mauern einreißen?“
„Immer weiter muß man nach Nahrung schicken. Bei dieser Glut vertrocknet oder verwest alles sofort. Gestern brachten sie stinkendes Fleisch an. Wild bekommt man überhaupt nicht mehr zu sehen; nicht einmal ein elendes Vögelchen, um sich daran zu ergötzen. Meine Falken werden ganz und gar verkommen.“ „Im Anfang hat es noch Rebhühner und anderes Federwild in den Binsen gegeben!“ „Sie sind fortgeflogen, die undankbaren Viecher. Anscheinend sind sie den Heiden mehr gewogen …“ „Oh, seht mal! Da kommt ein Vogel direkt auf uns zugeflogen!“ „Das ist ja kaum möglich!“ „Seht … dort … dort … eine Taube!“ „Nur eine Taube! Was ist das schon! Die verläßt die Stadt sowieso nicht!“ „Aber sie kommt ja gerade von dort, schaut, sie fliegt von der Stadt auf uns zu!“ „Dann ist es wohl keine Taube?“ „Ich werde doch noch den Flug einer Taube kennen! Ganz bin ich in diesem Land noch nicht verdummt!“ „Tatsächlich, es ist eine Taube. Sie fliegt irgendwo in die Wüste hinaus …“ „Wenn man jetzt einen Falken auf der Hand hätte! Pietro! Hol den alten Steinfalken her, aber schnell!“ „Macht keine Scherze, bis der Junge zurückkommt, ist von der Taube nichts mehr zu sehen.“ „Warum sollte sie nicht mehr da sein? In der Wüste bleibt sie nicht. Eine Taube kehrt immer wieder in ihren Schlag zurück. Wißt ihr das nicht? Sie kreist in der Luft und kommt dann zurück. Wir werden ja sehen.“ Ritter und Knechte unterbrachen ihre Arbeit und blickten angestrengt in die blaue Himmelskuppel, die von dem winzigen, einsamen Pünktchen, der Taube, durchquert wurde. Von den schattigen Gärten, von den bekannten Dächern, segelte sie gen Süden, der Wüste zu. Pietro brachte den bekappten Falken, der ihn
in die Hand hackte, kreischte und immer wieder versuchte, hochzufliegen. Die Ritter warteten und warteten, aber die Taube kehrte nicht zurück. Ungeachtet der sengenden Hitze begab sich Ademar de Monteil, der Bischof von Puy und Führer des Kreuzzuges, in Begleitung von Hugo de Vermandois, des Grafen de Hainaux und einiger Knappen zum griechischen Lager, um Butumitos zu besuchen. Er verfolgte damit einen doppelten Zweck. Erstens wollte er sich davon überzeugen, ob der griechische Würdenträger tatsächlich unpäßlich sei oder nur eine Krankheit vorschütze, um einem Kampf auszuweichen; zweitens wollte er um Leute ersuchen, die im Bau von Belagerungstürmen bewandert waren. Die Sonne brannte unbarmherzig. In dem trockenen, versengten Grase zirpten die Heuschrecken. Der Bischof mußte unwillkürlich daran denken, wie diese Gegend noch vor einem Monat ausgesehen hatte, und es erfüllte ihn eine unsagbar schmerzliche Traurigkeit. Auf einer Fläche von etlichen Meilen ringsum dehnte sich eine wahre Wüstenei aus, alles war von der Sonne völlig verdorrt und kaum noch eine Pflanze zu sehen. Die Luft war verpestet vom Geruch der Leichen, die von den Belagerern in den See geworfen worden waren, um der Stadtbevölkerung das Trinkwasser ungenießbar zu machen. Diese Absicht verfehlte übrigens ihren Zweck; denn Nizäa besaß, ähnlich wie Byzanz, genügend Wasservorräte in den Zisternen, dagegen häuften sich am Seeufer die Leichen zu Bergen und verseuchten nicht den Heiden, sondern den Kreuzfahrern Wasser und Luft. „Ich muß befehlen, daß die Leichen unbedingt begraben werden“, sagte der Bischof zu seinen Gefährten. „Von diesem Gestank kann leicht eine Seuche ausbrechen …“ „Richtig! Sehr richtig“, bejahte de Hainaux zerstreut, der von den eigenen Sorgen gequält wurde. Er hatte um die Erlaubnis gebeten, den Bischof zu begleiten, weil er hoffte, im griechischen Lager etwas über Ida zu erfahren. Sie mußte entweder schon in Byzanz
angekommen sein oder eine Nachricht geschickt haben. Die Unruhe um seine geliebte Frau plagte ihn immer mehr. Auf diesem Ritt aber gab er sich sogar der vagen Hoffnung hin, sie vielleicht selbst dort anzutreffen. Möglicherweise war sie erst vor kurzem aus Byzanz gekommen, hatte aber noch keine Zeit gefunden, ihn zu benachrichtigen. Vielleicht erblickte er sie schon in wenigen Stunden. Wenn es doch so wäre! Er betete mit der Inbrunst eines Menschen, der um ein Wunder fleht. „Eine Seuche wird ausbrechen, das steht fest“, stimmte Hugo gleichgültig zu, „aber was die Bestattung anbelangt, so befürchte ich, unsere Mannschaften werden das als überflüssige Belastung ansehen.“ Der Bischof antwortete nicht, denn der schöne Faulpelz hatte recht. Wer wollte auch Leichen bestatten, und dazu noch heidnische?! Sicherlich keiner. Der vom obersten Führer erteilte Befehl würde ein frommer Wunsch bleiben wie so viele andere. Ademar schluckte die Bitterkeit hinunter, die ihm sein Titel und die Verantwortung, die sich auf keine Macht stützten, bereiteten. Die wüstenähnliche Landschaft der Vernichtung hörte wie mit einem Schlage an der Grenze des griechischen Lagers auf. Wie früher wuchsen dort Bäume und Sträucher, grünte das Gras. Von Zelt zu Zelt, von einer Pferdekoppel zur anderen waren Wege angelegt. Jegliche Abfälle und alle Unreinlichkeiten wurden gesammelt oder sofort verbrannt beziehungsweise vergraben. Überall herrschte mustergültige Ordnung. „Unsere Herren könnten vieles von den Griechen lernen“, bemerkte wieder der Bischof und blickte sich neidisch nach allen Seiten um. „Das habe ich ja schon immer gesagt“, rief Hugo begeistert aus, „diese Bequemlichkeiten! Dieser ausgeklügelte Lebensgenuß! Gewiß, die verstehen zu leben.“ „Ja, ja“, bestätigte de Hainaux geistesabwesend. „Man weiß nicht, ob es hier ebenso ordentlich aussähe, wenn sie wie wir seit vier Wochen im Kampf ständen“, fuhr der Bischof fort.
„Ja … ja … Würden der Hochwürdigste Herr mir erlauben, voranzureiten?“ „Reitet getrost!“ De Hainaux galoppierte davon. Butumitos war tatsächlich krank. Es plagte ihn das Fieber, das in dieser Gegend häufig auftrat. Er war abgemagert und sah gelb aus. Aber die Medici waren der Meinung, daß die Krankheit schon im Abklingen sei. Er lag in einem schönen großen Zelt, das luftig und kühl war, denn zwei Adlerfittiche, die an der Zeltdecke angebracht waren und von einem Sklaven mittels einer Schnur bewegt wurden, verbreiteten einen angenehmen Luftzug. Die glänzend weiße, seidene Bettwäsche machte einen sehr sauberen und eleganten Eindruck, so daß Hugo neiderfüllt aufseufzte. Der griechische Befehlshaber begrüßte die Gäste höflich und dankte ihnen für ihr Erscheinen. Sklaven schoben weiche Sessel heran, brachten Schüsseln und Riechwasser zum Waschen der Hände und Wein, in dem Eisstückchen schwammen. Das Getränk wurde in dünnwandigen bunten Gläsern gereicht, die von der Kälte beschlagen waren. Die müden und erhitzten Gäste nahmen die Erfrischung mit Entzücken in die Hände und wunderten sich im stillen, woher das Eis zu dieser Jahreszeit kam. Butumitos brachte sein Befremden darüber zum Ausdruck, daß die edlen Führer die Annahme des griechischen Feuers abgelehnt hätten, mit dessen Hilfe leicht eine Feuersbrunst in der Stadt hätte entfacht werden können, wodurch der Widerstand der Belagerten zweifellos erlahmt und ihr Mut gesunken wäre. „Wir werden das noch überlegen. Unsere Ritter sind an diese Waffe nicht gewöhnt“, antwortete der Bischof ausweichend. „Wir haben statt dessen eine andere Bitte an Euch, edler Herr: Es mangelt uns an Leuten, die mit dem Bau von Wandeltürmen vertraut sind. Ohne diese Waffe werden wir die Stadt nicht erobern
können. Wenn Ihr Zimmerleute besitzt, so stellt sie uns bitte zur Verfügung. Diese Hilfe ist für uns wichtiger als das Feuer!“ Butumitos betrachtete aufmerksam seine gepflegten Fingernägel, blickte dann in die Ecke des Zeltes, wo Pantopulos, der im ganzen Kaiserreich berühmte Baumeister aller Arten von Belagerungsmaschinen, in achtunggebietender Haltung saß. Er dachte darüber nach, ob er ihm erlauben sollte, näher zu treten oder nicht. Nach kurzer Überlegung beschloß er, noch damit zu warten. Das war nicht so dringlich. Es war noch nicht zu überblicken, wie sich das von ihm beabsichtigte Spiel entwickeln würde. Daher sagte er laut: „Ich habe über alle unsere Fachleute nach gedacht, aber ich sehe leider keinen, der sich dafür eignen würde. Doch sorgt Euch nicht, edler Herr. Ich werde sofort nach Byzanz senden, damit man uns die besten Zimmerleute herschickt.“ „Wir wären Euch hierfür besonders verbunden“, versicherte der Bischof und blickte den Sprecher prüfend an. Instinktmäßig fühlte er dessen Zögern heraus. Was bedeutete das? Diese Griechen waren schwer zu durchschauen. Die gereichten Getränke kühlten vortrefflich den Gaumen, die leicht bewegten Adlerschwingen belebten, es war bequem hier — gleichzeitig aber irgendwie unbehaglich. Hier herrschte Unaufrichtigkeit, und man fühlte sich fremd. Jetzt unterhielten sie sich über die Sarazenen, deren Kampfmethoden und Natur. Der Bischof war wißbegierig, und Butumitos erzählte klug und fesselnd. Er erklärte, daß der Name Sarazenen ebensowenig definierbar sei wie der der Awaren. In Wirklichkeit setzten sich die Muselmanen aus zahlreichen Stämmen zusammen, die sich einst befehdet hätten und einander fremd gewesen wären, durch den Islam aber zu einer Einheit verbunden und zur Eroberung des Westens angespornt worden seien. „Wäre nicht der verfluchte Satan Mohammed gewesen“, sagte er, „würden sie wie früher als Räuber und Kamelhirten aut ihrer Halbinsel sitzen und als Wohnung nur ein Zelt ihr eigen nennen. Mohammed hat sie umgarnt, in seinen Bann gezogen und auf diese
Weise geeinigt. Sie haben einen gemeinsamen Glauben und eine gemeinsame Sprache, denn es ist verboten, den Koran zu übersetzen. Aus diesem Grunde müssen alle die arabische Sprache lernen. Die Heiden, die gegenwärtig Nizäa und die Gebiete bis Antiochia besetzt halten, sind weder Araber, noch Sarazenen, sondern seldschukische Türken aus Turkestan, die einst von dem Kalifen von Bagdad für die Leibwachenabteilungen angeworben worden sind. Schöngewachsene, große und gute Soldaten! Diese neuen Diener haben ihre Herren überwältigt und sind selbst an die Macht gelangt. Jetzt regieren sie hier. Im Gegensatz zu den früheren erleuchteten Kalifen aus dem Geschlecht der Abbasiden ist ihre Herrschaft grausam und hart. Deshalb haben sich so viele Stämme gegen sie erhoben. Sogar Bagdad ist nicht mehr das, was es früher gewesen ist. Das Reich Harun al Raschids, dieses Freundes Eures großen Kaisers Karl, besteht nicht mehr. Jeder Sultan ist sein eigener Herr. Dem Kalifen gegenüber wahren sie den äußeren Schein früherer Abhängigkeit. Das Sultanat Kilidsch–Arslans heißt bei ihnen Romania oder ‚Rom entrissenes Land‘. Ja, ja, alles das haben uns die Teufelskerle entrissen. Um die Allerheiligste Stadt Jerusalem kämpfen ständig bald diese, bald jene Bekenner des Propheten. Alle Sultane liegen miteinander in Streit, schauen sich scheel an, und dieser Augenblick wäre günstig gewesen, die Verfluchten zu bekämpfen, wenn nicht schon die Kunde vom Herannahen der Christen zu ihrer Versöhnung genügt hätte. Und welche Meinung habt Ihr, Hochwürden, über sie als Gegner? Sie sind tapfer, nicht wahr?“ „Überaus hinterlistig! Wir konnten uns unlängst davon überzeugen, daß sie heimlich des Nachts die Mauern ausbesserten, daher werden wir diese jetzt auch in der Dämmerung bewachen und ganz besonders nachts.“ Butumitos staunte. Er richtete sich im Bett auf. „Wie“, fragte er, „habt Ihr denn bisher die Mauern nicht bewacht?“ „Wir sind gewöhnt, einen ehrlichen, ritterlichen Kampf von Sonnenaufgang bis –untergang zu führen.“
Butumitos streckte sich wieder aus und schloß für einen Augenblick die Augen. Diese Gutgläubigkeit nahm ihm die Sprache. „Am Tage haben wir alles bewacht“, sagte der Bischof etwas gekränkt, „dasselbe werden wir jetzt auch in der Nacht tun. Die Befehle sind schon erteilt. Am Tage ist nicht einmal ein Vogel unseren Blicken entgangen. Neulich haben unsere Ritter bemerkt, wie eine Taube aus der Stadt geflogen ist.“ Butumitos, der neugierig wurde, richtete sich wieder auf und fragte: „Und was geschah weiter?“ Der Bischof verstand diese Frage nicht. „Nichts! Sie ist irgendwo in die Welt geflogen.“ „Habt Ihr sie denn nicht abgeschossen?“ „Nein!“ „Wie konntet Ihr sie durchlassen, wie konntet Ihr nur! In welche Richtung ist sie geflogen?“ „Über unser Lager und gen Süden … Warum fragt Ihr danach, edler Herr? Kann die Flugrichtung irgendeiner Taube von Bedeutung sein?“ „Manchmal schon, manchmal schon … Gen Süden? Aber Ihr rechnet doch wohl mit der Möglichkeit, daß Verstärkung für die Festung anrückt? Kilidsch–Arslan hat seine Gattin und seinen Sohn in Nizäa. Er wird ihnen bestimmt zu Hilfe kommen. Seid Ihr darauf vorbereitet?“ „Kilidsch-Arslan befindet sich angeblich in einer Entfernung von hundert Meilen und kann nicht wissen, was hier geschieht. Im übrigen sind keine Vorbereitungen nötig. Wenn die Sarazenen kommen, dann werden wir sie mit Gottes Hilfe besiegen. Unsere Ritterschaft betet alle Tage um den Kampf.“ Zum dritten Mal war Butumitos verblüfft. Eine solche Sprache hatten die Griechen schon lange nicht mehr gehört. Obwohl der alte Feldherr alle Fehler seiner dekadenten, verblühenden Rasse teilte, war er doch Krieger und verstand solche Worte zu schätzen. Aus der Tiefe seines Gedächtnisses tauchte die unangenehme
Erinnerung an einen Brief auf, den einst ein Sultan an einen Basileus geschrieben, der es gewagt hatte, die Zahlung des Tributes zu verweigern. Der Brief hatte gelautet: „Dein Schreiben habe ich erhalten, ungläubiger Hund, Sohn einer Unreinen. Meine Antwort wirst du nicht vernehmen, sondern du wirst sie erblicken.“ Der Basileus war darüber so erschrocken gewesen, daß er den Tribut schleunigst entrichtete. Butumitos dachte jetzt voller Bitterkeit, daß diese Einfältigen anders gehandelt hätten. Er schüttelte den Kopf, streckte die Hand nach den gefrorenen Pfirsichen aus und nötigte die Gäste zuzugreifen. „Ach der Mensch atmet hier anders!“ sagte Hugo und ließ es sich gut schmecken. „Ja, hier ist Überfluß an allem. Man muß ihn ausnutzen, denn bald, hinter Nizäa, beginnt ein beschwerlicher Weg …“ „Wie weit ist es von hier nach Jerusalem?“ fragte der Bischof. Diese Frage hatte er im Laufe der letzten Monate unzählige Male gestellt, aber niemals eine klare Antwort erhalten. Butumitos betrachtete wieder nachdenklich seine Fingernägel. Er wußte nicht, wie groß die Widerstandskraft der Lateiner war und wie sehr diese auf ihr Vorhaben versessen waren. Er befürchtete, die Kreuzfahrer würden beschließen, nach Byzanz umzukehren, sobald sie die Wahrheit hörten … „Es ist noch weit“, sagte er schließlich, „aber der Mensch kommt überall hin. Die ganze Welt ist nicht so groß, als daß sie nicht durchwandert werden könnte.“ „Aber es hat sie noch niemand durchmessen“, entgegnete der Bischof. Ach, auch ihnen schien einst die Welt nicht groß und leicht zu durchstreifen. In den beiden letzten Jahren war sie ihnen aber beträchtlich gewachsen, wurde riesengroß und wunderlich. „Noch hat sie niemand durchmessen“, wiederholte er. „Übrigens frage ich nicht deshalb, sondern ich möchte wissen, wieviel Zeit man für den Weg nach Jerusalem braucht.“ „Das hängt davon ab, wie man geht.“
„In einem gewöhnlichen Kriegszuge.“ „Ein Kriegszug gleicht nicht dem andern.“ Der Bischof preßte die Lippen zusammen und gelobte im stillen, niemals mehr danach zu fragen. Immer dasselbe! Immer dasselbe! Jeder Gefragte drückte sich vor einer genauen Antwort. Weshalb? Steckten sie alle unter einer Decke? War es nach dem Heiligen Lande näher als sie, die Lateiner, meinten? Oder weiter, vielleicht sehr weit? Er begann, sich von dem Hausherrn zu verabschieden. Darüber war Vermandois betrübt, denn er hatte gehofft, mindestens etliche Tage hierzubleiben, und versuchte jetzt verständlich zu machen, daß die Ankunft der versprochenen Zimmerleute abgewartet werden müßte. „Es ist traurig, wenn man zusehen muß, wie die Speer– und Schildkämpfer gegen die Mauer hämmern und wie Raimund de St. Gilles mit der Leiter umfällt und wieder emporklimmt“, versicherte er. „Ohne griechische Zimmerleute sind wir außerstande, den Turm zu bauen, und ohne Turm werden wir die Stadt nicht erobern. Wozu sollen wir uns also beeilen, wenn wir hier in der Kühle sitzen können?“ „Unsere Gefährten schmoren in der Sonne. Ihr könnt meinetwegen hierbleiben, Graf, niemand wird es Euch verwehren.“ „Allein bleibe ich nicht. Da würde man sich erst recht über mich wundern! Beim heiligen Dionys! Ich verstehe nicht warum Ihr, Hochwürdigster Herr, wegreiten wollt?!“ murrte Hugo und machte sich mißmutig auf den Weg, voller Groll gegen die Menschen, die sich und den anderen bewußt das Leben schwer machen. Ach, die Griechen, diese Griechen! Von ihnen müßte man lernen! Sie hatten verstanden, das Dasein auf Erden zu einer Lust zu machen! De Hainaux ritt gleichfalls langsam hinterher. Er war betrübt und sprach kein Wort. Über Ida hatte er nichts erfahren. Das Lager von Butumitos stand in ständigem Kontakt mit Byzanz, und man hatte dem griechischen Feldherrn unlängst versichert, daß in den letzten Wochen keine Galeeren aus Frankreich oder Italien in der „von Gott
behüteten Stadt“ eingetroffen waren. Auch auf dem Landwege sei keine edle Gattin eines Kreuzfahrers angekommen. Was war nur mit Ida? Von unruhigen Gedanken geplagt, sah er im Geiste Stürme … — zu dieser Jahreszeit war ja das Meer ruhig! — Piraten … — alle waren in den Heiligen Krieg gezogen! — Krankheiten; dann wiederum überkam ihn die Angst, daß ihn Ida ganz einfach vergessen und es vorgezogen haben könnte, mit dem Kind zu Hause zu bleiben. Was sollte sie auch in die weite Welt ziehen? Wie konnte er bloß erfahren, wo sie sich aufhielt! Woher konnte er eine Nachricht erhalten? Das Leben in dieser Ungewißheit erschien ihm unerträglich. Auf dem Hauptplatz von Nizäa, an dem mit Skulpturen geschmückten Brunnen umgab eine größere Zahl von Bewohnern einen Märchenerzähler. Die dunkelhäutigen Menschen mit den schwarzen, glänzenden Augen waren barhäuptig oder trugen als Kopfbedeckung einen Turban, hatten weite, bunte Mäntel oder Lumpen an oder überhaupt keine Oberkleider. Es waren lauter Männer. Die Frauen gingen von weitem vorbei, bückten sich unter der Last der Eimer, die mit siedendem Wasser gefüllt waren, oder der Pfeilbündel, wagten aber nicht stehenzubleiben. Ihre Gesichter waren mit einem dichten schwarzen Schleier verhüllt. Die Frau soll still wie die Nacht, dunkel wie die Nacht, unsichtbar wie die Nacht sein, so hatte es der Prophet befohlen. Sie sollte keinen Anteil am öffentlichen Leben haben und als unrein betrachtet werden. Nur ein Wahnsinniger konnte ihr trauen, nur ein Irrer sich auf sie verlassen. Die Frau war außerdem ständig zur Untreue bereit. Nach dem Koran konnte sie schon des Ehebruchs bezichtigt werden, wenn sie bei einem Manne solange geweilt hatte, wie man Zeit zum Kochen eines Eis braucht. Eine Frau mußte daher eingeschlossen und bewacht werden. Die Frauen, diese vom Propheten abgelehnten, mit einem Makel behafteten Menschen, wagten daher nicht, sich unter die Zuhörermenge zu mischen, und gingen traurig vorüber. Diese
schönen Erzählungen! Diese angenehmste Freude aller Menschen des Orients! Um den Faden einer weitergesponnenen Erzählung nicht zu verlieren, hörte der Ehemann auf, seine Frau zu schlagen, ließ der Henker das über den Nacken des Verurteilten erhobene Schwert nicht herabfallen, stellten die Sklaven die Sänfte auf den Boden, aus der sich der Würdenträger, der genauso neugierig war wie seine Diener, hinauslehnte, hörten die Kaufleute auf zu feilschen, sich zu streiten und die Waren lärmend anzupreisen. Diese herrlichen Märchen! Jeder war bereit, ihnen bis zu Ende zu lauschen wie jener blutrünstige Sultan, dem die kluge Scheherezade ihre Märchen tausendundeine Nacht lang erzählt hatte. Der Märchenerzähler war gewöhnlich ein alter, weitgereister Mann. In seinem Gedächtnis bewahrte er eine Menge von Ereignissen, Metaphern und Gedichten. Die Muselmanen begeisterten sich an Gedichten, klangvollen Versen und am Reichtum der bildlichen Ausdrücke. Jeder Märchenerzähler rühmte sich, mehr metaphorische Begriffe zu kennen als Sterne am Himmel sind sowie gelehrt und gewandt im Gebrauch schöner Worte zu sein. Die damaligen Dichter behaupteten, daß sie eintausend im übertragenen Sinne verwendete Bezeichnungen für das Pferd hätten, eintausend für den Löwen, eintausend für das Schwert und zweitausend für das Kamel; der Märchenerzähler versicherte außerdem, daß er diesem Wortschatz doppelt soviel Worte, die noch schöner seien als alle bisherigen, hinzufügen könne. So seine Kunst anpreisend, breitete er auf der Erde einen schmutzigen, abgetretenen kleinen Teppich aus und setzte sich mit hochgezogenen Beinen darauf nieder. Er ließ seine listigen Augen über die ihn umgebenden Neugierigen schweifen und beschäftigte sich mit einer Unterhaltung über irgend etwas, damit sich während dieser Zeit möglichst viele Zuhörer einfänden, denn sonst hätten die später Hinzukommenden von ihm verlangt, er solle die Geschichte noch einmal von Anfang an erzählen, worüber dann wieder die bereits Anwesenden gemurrt hätten.
Gegenwärtig eilten die Zuhörer von allen Seiten herbei. Sir waren entweder barfuß oder trugen Sandalen. Sie drängten sich unaufhörlich und waren neugierig wie Kinder. Schon umringte eine dicht geschlossene Menge den Erzähler. Sogar der Emir Mudschahid, der Sohn Dschubairs, der von den Mauern zur Beratung in den Palast eilte, blieb, umgeben von seinen Muschirs und Scheichs, stehen. Beim Anblick des Stellvertreters des Sultans berührte der Erzähler dreimal mit der Stirn den Boden und begann seine Erzählung, ohne weiter auf jemanden zu warten: „La ilah el Allah, Mohammed rasul Allah! Es geschah vor undenklichen Zeiten, als der Prophet und die heiligen Suren des Korans als tatsächliche, unsterbliche, den Menschen aber unbekannte Wesen im Schoße Allahs schlummerten. Ibn Dschira aus dem Stamme Ad, der Sohn Ibn Abdullahs, der Vater des tapferen Abbas, war ein Mann mit hageren Lenden und voll stolzer Ruhe. Das Heldentum hatte seine Wohnstatt, wo er sein Zelt aufschlug. Seine Kamele waren ausdauernd und stark, seine Frauen duftend und fett, sein Roß war so schnell wie eine gefiederte Pfeilspitze und glich dem Roß, das der Prophet gezeichnet, über das Abu Ubaida ein gelehrtes Buch geschrieben und das der edle Asmai mit dem flüssigen Honig auf den Lippen besungen hat. Als Ibn Dschira, der Sohn Abdullahs, von den Kriegern aus dem rachsüchtigen Stamm der Tamud getötet wurde, sammelte Abbas, der Sohn Ibn Dschiras, die Männer des Stammes Ad. Sie schworen gemeinsam bei der Sonne und deren Licht, bei dem Mond, der sich gleich hinter der Sonne zeigte, beim Himmel und den himmlischen Göttern, daß sie den Tod des Kriegers rächen würden. Dann ging Abbas, der Sohn Ibn Dschiras, in das Tal, wo das Standbild des Götzen stand — der Name des Propheten war noch vor den Gläubigen verschleiert — um die Pfeile der Weissagung zu ziehen, die den Tag der Rache bestimmten. Es waren drei Pfeile: der befehlende, der verbietende, der abwartende. Abbas zog den zweiten Pfeil.
Er verwunderte sich, zerbrach ihn wutentbrannt, warf ihn dem Götzen ins Gesicht und rief: ‚Wenn man deinen Vater erschlagen hätte, würdest du anders antworten!‘ Und er ging allein auf Rache aus. In tapferem Kampf brachte er mehr als dreißig Männer aus dem rachsüchtigen Stamm Tamud um, und die Ältesten waren der Meinung, daß Ibn Dschira, obgleich er ein hochgeschätzter Mann war, von seinem Sohn ausreichend geehrt worden sei. Aber der von Abbas beleidigte Götze strafte den tapferen Stamm Ad und sandte eine furchtbare Dürre. Kamele und Pferde kamen um. Die Ältesten schickten Gesandte zur heiligen Stadt Mekka — alle Anwesenden neigten tief ihre Häupter — um bei dem allerheiligsten Stein der Kaaba Regen zu erbitten. Die Gesandten durchquerten die Wüste, erklommen die Berge, die den Winter auf dem Haupt, den Frühling auf den Schultern, den Herbst im Schoß und den schlummernden Sommer zu Füßen hatten, und stiegen zur Heiligen Stadt hinab. Dort wurden sie mit Wein, Gesang und Tänzen empfangen. Bei den süßen Genüssen vergaßen die unachtsamen Sendboten, zu welchem Zweck sie hier eingetroffen waren, bis sie sich nach einem Monat an ihre Absicht erinnerten und berichteten, warum sie gekommen wären. Der Wächter der Kaaba zeigte ihnen drei große Wolken und fragte sie, welche sie haben wollten. Die eine Wolke war weiß, die andere rot, die dritte schwarz. Die Gesandten wählten die schwarze, denn sie glaubten, daß diese mehr Regen enthalte. Darauf kehrten sie in das Land Ad zurück und die Wolke zog mit ihnen. Wehe den bösen Gesandten, wehe dem tapferen Stamm! Wehe Abbas, dem Sohn Ibn Dschiras! Aus der schwarzen Wolke fiel brausender Sturm und Hagel herab, der die Herden erschlug und die Weiden verwüstete … Was sollten jetzt die Tapferen beginnen …“ Emir Mudschahid löste sich mit einem Seufzer von der Erzählung und ging davon. Die Pflicht stand über allem. Der Heilige Krieg, der Traum seines Lebens, tobte ringsum, und dem Sohn Dschubairs war es nicht gestattet, sich so vergeßlich zu erweisen wie die
Gesandten des Stammes Ad. Er kehrte in den Palast zur Beratung zurück, wo wichtige Angelegenheiten auf ihn warteten. Die von lärmenden Menschen erfüllten Straßen waren so belebt, daß die Sklaven dem Emir und den ihn begleitenden Scheichs einen Weg bahnen mußten. Das Leben der Muselmanen spielte sich seit eh und je auf der Straße ab, und man suchte nur dann unter einem Dach Schutz, wenn die Sonne allzusehr hernieder brannte. Die Menschen kochten, aßen, beteten, zankten sich und feilschten auf der Straße. Obwohl die Stadt jetzt schon zwei Monate belagert wurde, kannte sie noch keinen Hunger und keine Niedergeschlagenheit. Das war nicht verwunderlich, denn die Galeeren, die bisher von den Kreuzfahrern noch nicht entdeckt worden waren, brachten jede Nacht Lebensmittel vom jenseitigen Ufer des Sees. Ohne die Menge zu beachten, die sich vor ihm verneigte, ging der Emir nachdenklich weiter. Er bedauerte, daß er die Fortsetzung der Geschichte nicht hatte mit anhören können. Was hatte Abbas, der Sohn Ibn Dschiras, der Anstifter des Übels, getan? Sicherlich hatte er sich selbst nach Mekka begeben, um dort um Vergebung zu bitten. Mekka! Die Heilige Stadt! Der alte Emir Mudschahid war das Vorbild eines gläubigen Bekenners des Propheten; deshalb war er schon zweimal in seinem Leben in Mekka gewesen. Er hatte die Kaaba gesehen, den heiligen Ort der Heiligen. Im Hof einer riesigen Moschee lag ein roher, würfelartiger Granitblock, der an gewöhnlichen Tagen mit einem schwarzen Tuch bedeckt war, das die Dschinns gewebt hatten. Einst war hier der Sitz aller Götter gewesen, und mehr als dreihundert Standbilder hatten den Monolithen umgeben. Jetzt wurde hier einzig und allein der Prophet verehrt. In einer Höhe von sieben Fuß über dem Erdboden befand sich eine Öffnung. Das war der einzige Eingang. Man konnte ihn auf einer Leiter erreichen und nur mit Mühe in das Innere kriechen. Die Luft in der engen Höhle war stickig. Das Blut hämmerte einem in den Schläfen. Die Lampen aus gediegenem Golde verbreiteten ein trübes Licht. Wände und Decke waren mit
marmornen und goldenen Buchstaben bedeckt. Dem Eingang gegenüber lag, kaum zu erkennen, das berühmte Heiligtum der kleine schwarze Stein, der Abraham durch den Erzengel Gabriel überbracht worden war. Vielleicht ist kein Gegenstand der Welt so lange und ununterbrochen verehrt worden wie dieser Stein; denn es waren schon tausend Jahre verstrichen, als Moses mit Gott den Bund auf dem Berge Sinai schloß. Neben der Kaaba sprudelte eine Quelle. Sie war in dem Augenblick entsprungen, als Hagar die Augen verhüllte, um den Tod des verdurstenden Ismael nicht mit ansehen, zu müssen. — So wie damals würde Allah stets eine Quelle entstehen lassen, um die Gläubigen zu tränken, und über die Häupter der Giauren, der Ungläubigen, eine schwarze Wolke der Vernichtung herantreiben. Schon zog der Sultan Kilidsch–Arslan durch die Wüste wie brausender Sturm und Hagel. …„La ilah el Allah, Mohammed rasul Allah!“ Als der Emir Mudschahid die Marmorstufen des Palastes hinanstieg, blickte er dankbar zum Himmel empor. Die Lippen wiederholten unbewußt seine Lieblingsure aus dem Koran die also lautete: „Ich sagte meiner Seele, die durch den Anblick des zahlreichen Feindes erschreckt war: Schmach dir! Warum fürchtest du dich? Ein langes Leben ist selten ein Mantel der Ehre. Das Gewand der Langlebigkeit ziemt nur schwachen und feigen Herzen. Glücklich ist derjenige, welcher in der Fülle seiner Kraft im Kriege fällt, hundertmal glücklicher und gesegneter ist derjenige, welcher im Heiligen Kriege fällt! Das Leben ist ein trügerischer Schatz. Es wird durch jede Nacht bestohlen und durch jeden Tag verringert. Es lohnt sich nicht, das Leben zu schonen.“ „La ilah el Allah, Mohammed rasul Allah! … Gelobt sei der Heilige Krieg, die Freude des ritterlichen Herzens!“ In dem herrlichen Saal, der von den Byzantinern erbaut und von den Arabern ausgestattet worden war, herrschte durch den Springbrunnen in seiner Mitte eine angenehme Kühle. Dieser Saal
wurde wegen der berühmten Doppeluhr der Uhrensaal genannt. Etwas Ähnliches besaß nicht einmal Byzanz. Die Uhr bestand aus zwei goldenen Scheiben, die an den gegenüberliegenden Wänden angebracht waren. Jede Scheibe hatte zwölf Öffnungen: die Türen der Stunden. Der Uhrenteil an der linken Seite zeigte die Nachtstunden, der an der rechten die Tagesstunden an. Zu jeder Tagesstunde kam aus der entsprechenden Tür in der rechten Scheibe ein goldener Sperber hervor der aus seinem Schnabel goldene Kugeln fallen ließ, die mit gleichmäßigem Klang in eine darunter befindliche goldene Schale fielen. Brach die Nacht an, so kehrte der goldene Sperber in sein Nest zurück, und die gegenüberliegende Scheibe begann zu arbeiten. Der Reihe nach entzündete sich in den Stundenöffnungen ein Licht, das so viele Male aufblitzte und erlosch, wie die entsprechende Stunde anzeigte. Diese herrliche Uhr hatte vor einigen Jahren der Kalif von Bagdad persönlich dem Sultan geschickt. Auf der Mittelwand, gegenüber dem Eingang, war eine Mosaikzeichnung zu sehen. Sie stellte eine Landkarte dar, die nach Angaben von Ibn Istakri, dem Sohn des berühmten Nadar aus Basra, zusammengesetzt war. Das Bildwerk bestand aus einem riesigen Kreis, der die ganze, damals bekannte Welt wiedergab. Im Norden wurde die Erde von einem Meer, dem sogenannten Meer der Dunkelheit, begrenzt. Im Süden von einer weißen Fläche, die wegen der Hitze unbewohnt war. Im Osten vom Chinesischen Meer, im Westen von Rum oder Europa, beziehungsweise Frankreich, Deutschland, Polen, der Rus und England, das hier Anklitara hieß. Diese Staaten waren ungenau umrissen, auch stimmte ihr gegenseitiges Größenverhältnis nicht überein, dagegen waren Nordafrika, Arabien, Kleinasien und der gesamte Küstenstrich des Mittelmeeres erstaunlich wirklichkeitsgetreu wiedergegeben. Genauso sorgfältig waren die Inseln, Sizilien, Kreta und Zypern, dargestellt. Der Nil, der Vater des fruchtbaren Ägypten, nahm seinen Anfang in den großen Seen, die von den Nachkommen der Kreuzfahrer erst einige hundert Jahre später
entdeckt werden sollten. Dagegen fehlten auf der Landkarte gänzlich die nördlichen, skandinavischen Gebiete. Sowohl die Landkarte als auch die Uhrenscheiben waren mit Ornamenten geschmückt, mit denen ebenfalls alle Wände und Decken des Palastes verziert waren. Diese von höchstem Reichtum zeugenden, erlesenen Bilder und Figuren mit den prächtigen, sorgfältig gewählten Farben und den kunstvollen, verworrenen Verzierungen waren, obwohl stark zusammengedrängt, doch ausgezeichnet gegliedert, beim ersten Eindruck zwar bezaubernd, wirkten aber bei längerer Betrachtung ermüdend und eintönig auf das Auge. Derselbe, fast unveränderte Stil wie in Nizäa war auch in Antiochia, Damaskus, Kairo, Fez, in der Alhambra und in Granada anzutreffen. Der Islam, der die Darstellung menschlicher wie tierischer Gestalten nicht gestattete, hatte mit seiner Nüchternheit die einst hier blühende, prächtige, mannigfaltige persische Kunst vollständig verdrängt. Die arabische Kunst verarmte aber schnell in ihrer Isolierung, entwickelte keine höhere Blüte und brachte nichts Neues, Schöpferisches hervor. Gleich hinter dem Uhrensaal befand sich eine alchimistische Werkstätte, in der Tag für Tag der hochgelehrte Ibn Idschak hantierte. Der Emir selbst schätzte ihn sehr und erkundigte sich des öfteren nach den Forschungsergebnissen. Ähnlich wie die Geographie stand auch die Alchimie bei den Arabern auf einer Stufe, der die Wissenschaft der damaligen Zeit nichts annähernd Gleichwertiges an die Seite zu stellen hatte und von der die übrige Welt nichts wußte. Bereits hundert Jahre vor dem Kreuzzug hatten arabische Gelehrte den Spiritus, den reinen Alkohol, entdeckt, der sowohl in den Früchten als auch im Korn enthalten ist, ferner den Weingeist, der vom Propheten als Satan verflucht wurde, der aber in der Heilkunde eine außergewöhnliche Rolle spielte. Ebenso hatten sie die Schwefelsäure entdeckt und die Transmutation der Metalle begründet. Sie glaubten, daß sich jeder Körper in der Natur, sei er belebt oder scheinbar unbelebt, in fester, flüssiger oder gasartiger Form aus denselben Elementen zusammensetzte, daß nur
die Anordnung und das gegenseitige Verhältnis dieser Elemente verschieden sei. Sie waren ferner der Meinung, daß man einen neuen Körper erhalten könne, wenn man die Materie in unendlich feine Teile spalte und diese wieder beliebig zusammensetze. Auf diese unumstößlichen Erkenntnisse der Araber gründeten sich alle Bestrebungen der Alchimisten des europäischen Mittelalters. Darauf basierte die Weisheit des Theologen Albert Grafen von Bollstädt, genannt Albertus Magnus, magni in magia naturali, des Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, und anderer. In den Arbeitszimmern der Schüler des weisen Ibn Roschd, der in Europa Averrhoes hieß, und der Schüler des großen Abu Ali el Abdullah Ibn Sina, der, man weiß nicht warum, von den Spaniern Avicenna genannt wurde, war eine kufische Schrift bekannt, die in lateinischer Übersetzung ein Kryptogramm ergab, das in keiner Alchimistenküche fehlte und folgenden Wortlaut hatte: Visita interiorem terrae, rectificando, invenies occultum lapidem. Der Springbrunnen plätscherte leise. Der Emir Mudschahid ließ sich befriedigt auf ledernen Kissen an der Fontäne nieder. Die Nachrichten des Aga—Scheichs waren gut, sehr gut sogar. Die Galeere, die heute Nacht mit einer Ladung Schlangen eingetroffen war, hatte die Meldung gebracht, daß der Sultan mit einem mächtigen Heer eilig zum Entsatz anrücke. Mit ihm kamen alle Stämme, die noch vor kurzem miteinander befehdet waren, sich aber heute aus Kampfeslust gegen die Ungläubigen vereinigt hatten. Allah ist groß! „Hat Agida jemanden zum Übersetzen des Giaurenbriefes gefunden?“ fragte er plötzlich. Agida, der persönliche Berater des Emirs, trat schnell aus der unbeweglich verharrenden Reihe der Scheiche hervor. Jawohl, er
hatte einen gefunden, einen ungläubigen Hund, der ebensogut das Griechische wie das Arabische kannte. Er stieß einen Mann in saffianledernen Pantoffeln und einem langen, einst kostbaren, jetzt aber fleckigen und abgetragenen Seidengewand nach vorn. Das Gesicht sowie die Kleidung dieses Mannes verrieten einen früheren vornehmen Würdenträger, der heute nichts mehr galt und mißachtet wurde. Es war ein Armenier, einer der bekanntesten Bürger der Stadt. Er zitterte am ganzen Leibe und ließ seinen unsteten Blick nach allen Seiten schweifen. Der Emir zog aus dem Busen einen schmutzigen Fetzen Pergament, der zusammengerollt war, und warf ihn dem Dolmetscher vor die Füße. „Lies vor!“ Das war ein Brief, den die Franken vor einigen Tagen an einem Pfeil befestigt und auf die Mauer geschossen hatten. Die den Muselmanen unbekannte Entstehungsgeschichte dieser Sendung war folgende: Die zahlreichen, in Nizäa befindlichen Christen hatten seit Beginn der Belagerung unter grausamen Verfolgungen seitens der Sarazenen zu leiden. Die Kunde davon war bis zu den lateinischen Lagern gelangt und hatte Entrüstung und Besorgnis um das Schicksal der Glaubensgenossen hervorgerufen. Auf der Beratung der Ritter wurde wiederholt erörtert, auf welche Weise man die christlichen Brüder bis zur Eroberung der Stadt schützen könne. Butumitos, der nach seiner Genesung den Bischof besucht hatte, war der Meinung gewesen, man solle eine Warnung auf ein Pergament schreiben, daß die Lateiner nach der Einnahme der Stadt keinen Sarazenen am Leben lassen würden, falls den Christen ein Leid geschähe. Ein solches Schreiben sollte man um einen Pfeil wickeln und auf die Mauer schießen. Dieser Gedanke gefiel allen. „Der Domherr d’Aguilers wird das sofort schreiben“, rief Raimund de St. Gilles aus.
„Der Domherr d’Aguilers?“ wiederholte Butumitos gedehnt. „Glaubt Ihr, edle Herren, daß sich in Nizäa jemand befindet, der die lateinische Sprache kennt?“ Das war richtig. Die Barone blickten einander verblüfft an. Im lateinischen Lager beherrschte niemand das Arabische, und wenn das doch der Fall wäre, so würde sich niemand damit beflecken wollen. „Wenn Ihr mich bevollmächtigt“, fuhr Butumitos fort, „lasse ich die Botschaft in griechischer Sprache schreiben.“ „Gott lohne es Euch“, sagte der Bischof, „wir nehmen das Anerbieten dankbar an. Sagt uns aber aufrichtig, edler Herr: Kennt Ihr die Sarazenen gut? Wir kennen sie nicht. Seid Ihr tatsächlich der Meinung, daß ein solches Schreiben heilsame Folgen haben könnte, daß es die Heiden nicht etwa noch mehr erzürnen und die Lage der armen Christen nicht verschlimmern würde?“ Butumitos blickte nachdenklich zur Decke, dann mit der ihm eigenen Bewegung auf seine gefärbten Fingernägel. Er hatte nicht die Absicht, sich zu den Schlußfolgerungen, zu denen er gelangt war, zu äußern. Für ihn war der Fall klar: Herrschte in der Stadt Hunger und rechneten die Sarazenen mit der Möglichkeit einer Übergabe der Stadt, so konnte dieser Brief eine gewisse Wirkung ausüben. Litten sie keinen Hunger, und was noch schlimmer war, erwartete die Besatzung vom Sultan Entsatz, so würden die eingeschlossenen Christen für ein solches Schreiben schwer büßen müssen … Schließlich aber … was schadete es? … Unerträglich und hochmütig waren die Bürger Nizäas immer gewesen … eine nichtswürdige Bevölkerung! Die Reichen hatten vor der Eroberung der Stadt vor fünfzehn Jahren den Basileus nicht genügend unterstützt, sich aber beizeiten um die Gnade der Muselmanen bemüht … Dessen eingedenk, würden sie sicher jetzt versuchen, das von Butumitos betriebene, geschickte und kluge Spiel zu stören. „Wer droht, äußert Kraft, Kraft aber weckt Achtung“, sagte er daher.
Man beschloß also, den Brief hinüberzuschießen. Und nun lag dieses Schreiben zu Füßen des Armeniers auf dem Boden, der es mit angstbebenden Händen aufwickelte. „Lies vor“, wiederholte der Emir drohend. „Ich wage es nicht, Allerehrwürdigster Herrscher, Beschützer der Gläubigen …“, stammelte der Dolmetscher. „Lies sofort!“ „Botschaft der guten, christlichen Ritter an die ungläubigen Hunde!“ buchstabierte der Armenier zähneklappernd. Der Emir sprang mit dem Jatagan auf ihn zu, mäßigte aber seinen Zorn und setzte sich wieder ruhig hin. „… Wir haben mit starkem Heer die Stadt umringt und werden sie in kurzer Zeit nach dem Willen Gottes, der uns beisteht, einnehmen. Wenn sich unsere Brüder, die Christen, die sich unter eurer verfluchten Herrschaft befinden, nicht über Verfolgung beklagen, so werden wir euch Gnade erweisen und nur die Männer töten, Frauen und Kinder aber am Leben lassen. Wird aber den Christen vor unserem Einmarsch nur ein Haar gekrümmt, so werden wir nicht einen einzigen aus eurem Samen am Leben lassen. So wird es geschehen, denn die himmlischen Mächte sind mit uns. Der Satan, den ihr anbetet, wird euch nicht beschützen.“ Der Armenier ließ das Pergament sinken und fiel jammernd zu Boden. „Ich bin unschuldig … ich bin unschuldig …“, stammelte er. „Allerehrwürdigster Beschützer der Gläubigen, ich bin unschuldig.“ „Was steht noch drin?“ fragte der Emir. „Das ist alles.“ Der Emir wandte sich an den Agida: „Totschlagen dieses Aas und über die Mauer werfen.“ Man schleppte den vor Angst schreienden Dolmetscher hinaus. Emir Mudschahid verzog keine Miene; denn einem Manne ziemte es nicht, seine Gefühle zu zeigen.
„Bism’ ilah el rahman el rahim“, sagte er, „im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes, das Gekläff dieses erbärmlichen Schakals darf die Bekenner des Propheten nicht stören! Von den Vermessenen, die gegen die Mauern wüten, wird keine Sterbensseele entkommen. Wir werden ihnen in der Welt nicht soviel Platz lassen, wie auf dem Rücken eines Kamels ist. Die unreinen Hunde aber, die sich anscheinend beklagt haben, sollen hinter die Mauern geführt und vor den Augen der Giauren totgeschlagen werden. Alle sollen zusammengetrieben und getötet werden. Die jüngeren Frauen aber sollen zur Schändung auf den Rücken gelegt werden, so wie wir es bei Melitena getan haben.“ „Es wird nach Deinem Willen geschehen“, erwiderte der Aga– Scheich anerkennend. „Dürfen wir heute noch die Unreinen herausholen?“ „Herausholen und zusammentreiben könnt Ihr sie heute noch“, erwiderte der Emir nach kurzem Überlegen; „aber hinter die Mauern bringen und totschlagen dürft Ihr sie erst dann, wenn der löbliche Sultan, dessen Tage der Prophet segnen möge, heranzieht und die Giauren in eine Schlacht verwickelt werden. Das wird die Aufmerksamkeit nach zwei Seiten lenken.“ „Erhabene Weisheit fließt von Deinen Lippen“, versicherten die Zuhörer mit Bewunderung und schnalzten dabei. Die von Butumitos versprochenen Zimmerleute kamen nicht, obwohl die Galeeren, die aus Byzanz Lebensmittel heranschafften, schon dreimal seit der Vereinbarung hin– und zurückgefahren waren. Der griechische Befehlshaber versicherte, daß er den Grund für diese Verzögerung nicht kenne. Inzwischen kippten die ungeschickt gebauten Wandeltürme ständig um, ohne den Belagerten irgendwelchen Schaden zuzufügen. Man mußte die Mauer weiterhin mühselig zerstören. Das war keine leichte Aufgabe in der täglich sich steigernden Hitze. Die eisernen Helme und Brustharnische wurden von der Sonne so heiß, daß sie zischten, wenn sie mit Wasser benetzt wurden. Aber man durfte den Panzer nicht ablegen, denn die Steine flogen in dichtem Hagel von oben
herab. In den Herzen der abgerackerten Krieger wuchsen die Verbissenheit, der Zorn und die Gereiztheit. Sie hatten keine Lust, sich den ganzen Sommer hindurch an der widerwärtigen Festung die Zähne auszubeißen. Wenn bloß erst die Zimmerleute zur Stelle wären! Diese verfluchten Griechen! Weshalb schickten sie die Handwerker nicht! Der dänische Prinz Sven, der Sohn Olafs, arbeitete ohne Unterlaß. In seiner Verbissenheit ähnelte der skandinavische Blondkopf dem aufbrausenden Raimund von Toulouse, der unermüdlich versuchte, auf einer zu kurzen Leiter die Mauer zu erklimmen. Mit der gleichen Leidenschaft hämmerte Sven eigenhändig mit der Axt gegen die Mauer, so, als hacke er in seinem dänischen Walde Holz. Er sah nicht zu, wie die anderen, sondern strengte sich aus Leibeskräften an, war abgemagert und elend. Die dänischen Ritter ahmten ihrem Prinzen nach, und wohl nirgends war die Mauer so tief ausgehöhlt und so bedrohlich zerstört wie auf diesem kleinen Abschnitt. Vom Lager Raimunds her kam Florina mit ihrer Hofdame zu ihnen geeilt. Sie brachte ihrem Verlobten eine Erfrischung: gekühlten Wein und eine schöne, goldgelbe Melone. Es war nicht leicht gewesen, dieser Frucht habhaft zu werden. Sie war von weit hergeholt worden, aus einer Gegend, die noch nicht verwüstet war. Von den Basteien aus hatte man bereits die herannahenden Frauen erblickt und überschüttete sie nun mit einem Pfeilhagel. Die Hofdame Benina zitterte und bat weinend, ihre Herrin möge sich von den Mauern entfernen, aber Florina schüttelte verneinend den Kopf. Das Blut der burgundischen Herren kannte keine Furcht, und ein Umweg oder ein Ausweichen vor der Gefahr kam ihr nicht in den Sinn. Zu lange hatte sie ihren Liebsten nicht gesehen! Aber Sven hatte Florina erblickt, warf die Axt hin und lief den Frauen entgegen, damit sich diese nicht allzusehr näherten. Er nahm erleichtert den Helm ab. Die Hälfte seiner Stirn war braungebrannt, die andere, da, wo der Helm gesessen hatte, weiß geblieben, seine schweißverklebten Haare waren fahlblond, die
Augen vom Staub und der Sonne gerötet, die Lippen gesprungen. Florina schaute ihn mitleidig an. Mit weichen, kühlen Händen streichelte sie behutsam das Gesicht ihres Verlobten als suche sie hinter den jetzt harten, angestrengten Zügen seine frühere Schönheit. Dann tranken die beiden aus einem Becher. Aber der vorher so sorgfältig gekühlte Wein war unterwegs warm geworden. Die Melone war überreif und schmeckte schlecht. Ihr herrlicher Duft hatte sich in einen faden, unangenehmen Geruch verwandelt. Sie hatte schon zu lange gelegen. Aber Sven aß sie mit Behagen, um Florina damit eine Freude zu bereiten. Darauf schauten sich beide an; aber irgendwie enttäuscht. Sie bedauerten etwas, wußten aber nicht was. Florina seufzte. Hätten sie doch etwas Schatten, ein kleines Stückchen Rasen gefunden, um sich dort ruhig hinsetzen und plaudern zu können. Aber das gab es leider nicht. Die Sonne brannte unbarmherzig, der Himmel schien von der Hitze fahlgelb, und die Luft war mit Leichengeruch geschwängert, so daß es einem zuweilen übel wurde. Sie wußten nicht, worüber sie sprechen sollten. Auf den Mauern johlten die ekelhaften Sarazenen und krümmten sich vor Lachen. Die Hofdame jammerte herzzerbrechend, auch Florina war dem Weinen nahe und machte Anstalten umzukehren.
ZWÖLFTES KAPITEL Sünde oder Wissenschaft
Gottfried
von Lothringen war zu der üblichen gemeinsamen Beratung zum Bischof geritten. Die ihn begleitenden Ritter d’Esch, du Bourg, de Montaigu standen mit einigen Rittern aus dem Gefolge Raimunds vor dem Zelt und fragten neugierig fünf Armenier aus, die in der vergangenen Nacht aus der Stadt ins Lager geflohen waren. Die Unterhaltung verlief stockend, denn nur ein einziger Flüchtling verstand etwas Latein. Mit Mühe nach Worten suchend, erzählte er: „Wir waren sieben Mann auf der Flucht; aber zwei davon konnten sich nicht an dem Strick festhalten, fielen herab und waren sofort tot … Von solch einer Höhe, kein Wunder! Sie liegen jetzt an der Mauer. Wer sorgt für ein christliches Begräbnis? Der barmherzige Gott war mit uns, so daß wir heil unten angelangt sind und nicht von der Mauer aus gesehen wurden. Die Moslems haben alle in der Stadt wohnenden Christen auf dem Marktplatz zusammengetrieben und bewachen sie dort seit vier Tagen. Wozu, das sagen sie nicht. Wir sind geflohen, weil wir den Heiden nicht trauen. Wer weiß, was sie im Schilde führen.“ „Freilich! Aber wie ist es denn in der Stadt mit Lebensmitteln bestellt? Es mangelt wohl schon daran, nicht wahr? Und gibt es dort tatsächlich solche Reichtümer, wie man erzählt?“ Reichtümer? Die Flüchtlinge aus der Stadt fanden nicht genug Worte, um die in Nizäa angehäuften Schätze zu beschreiben. Das war ja die reichste Stadt im Kaiserreich, und die Araber hatten die Schätze noch vermehrt. Den Zuhörern leuchteten die Augen. Als der Basileus ihnen damals in seiner Schatzkammer die Kostbarkeiten in die Hand legte, hatten sie die Schmuckstücke nicht nehmen wollen. Aber jetzt war es etwas anderes. Die in einem
ehrlichen, offenen Kampf eroberten Güter des Feindes waren nicht nur von Nutzen, sondern bedeuteten auch Ehre und Ruhm. Das war ein Beweis für die Waffenüberlegenheit nach der Rückkehr in die Heimat, ein Andenken an die Teilnahme am Feldzug gegen die Heiden. Jeder war begierig darauf, sogar der Reichste und erst recht der Habenichts. Daher hörte auch der in Clermont zum Ritter geschlagene, beleibte, grauhaarige St. Pierre de Lux, der frühere Knappe des Herrn de Foix, mit besonderer Aufmerksamkeit den Erzählungen des Armeniers zu. Die Not, die ihn lange Jahre dazu gezwungen hatte, bei einem Standesgleichen zu dienen, war ihm hart angekommen. Jetzt sehnte er sich danach, seinem Sohne Geld genug zu hinterlassen, damit dieser nicht sein Leben lang auf den Rittergurt zu warten brauchte. Er betete insgeheim, Christus möge ihm für die Mühen um sein Grab erlauben, etwas Vermögen zu erwerben. Noch sehnlicher wünschte sich das und noch aufmerksamer lauschte Laurentius, der schüchterne Knappe des Herrn d’Armaillac. Sein leiblicher Bruder — die Geschwister waren sich herzlich zugetan — hatte sich vor einigen Jahren, von der Not getrieben, freiwillig dem Bischof von Lüttich verkauft und ein Dokument unterschrieben, in welchem festgelegt war, daß er, von niemandem gezwungen, sich für immer in die Dienste des neuen Herrn begeben habe. „Und dieser Vertrag, den ich geschlossen habe, soll bis zu meinem Lebensende in Kraft bleiben; es sei denn, daß ich Eurer Exzellenz zweihundert unverfälschte, unbeschnittene Denare auszahle …“, besagte das Schriftstück. Zweihundert Denare! Der hochlöbliche Bischof hatte den jungen Mann sehr hoch eingeschätzt! Fürwahr, der Bursche war von schönem Wuchs, stämmig, geschickt zu jeder Arbeit und gewandt im Gebrauch der Waffen. Übrigens war es damals für beide Brüder belanglos gewesen, ob einhundert, zweihundert oder dreihundert Denare auf dem Schuldschein standen. Einen solchen Betrag je zu beschaffen, war so gut wie ausgeschlossen. Aber jetzt, wer konnte es wissen. Und Laurentius blickte sehnsüchtig zu den Mauern hin
und dachte daran, ob es ihm vielleicht gelingen würde, als einer der ersten in die Stadt zu stürmen und, bevor die Ritterschaft ihre Hand auf alles legte, etwas Wertvolles zu erbeuten, es vor den Augen seines Herrn zu verbergen und glücklich heimzubringen. Jetzt gesellte sich zu der Ritterschar, welche die Armenier ausfragte, auch Arnuld de Rohes, der Kaplan Roberts von der Normandie. Er wünschte Einzelheiten über Ort und Lage der reichsten, herrlichsten Paläste zu erfahren. Das war wichtig. Er notierte geschäftig die erhaltenen Auskünfte und dachte dabei nicht nur an sich selbst, sondern auch an seinen ewig verschuldeten, fast mittellosen Fürsten, den er auf seine Art liebte. Es war ein seltsames Paar, dieser normannische Herzog und sein Kaplan. Robert war leichtsinnig, eitel und beschränkt. Arnuld dagegen durchtrieben, gewandt und beherrscht. Trotz dieser Gegensätze waren sie unzertrennlich. Robert begehrte zwar des öfteren auf und beklagte sich über die Bevormundung durch Arnuld, aber er hörte auf ihn und richtete sich in allem nach dessen Wünschen. Arnuld wiederum betrachtete den Herzog als Sprungbrett zu einem Aufstieg in höhere Würden. Was dem unternehmungslustigen Kaplan vorschwebte, lag noch etwas höher als der Bischofsstab. Er fühlte sich durchaus berechtigt, nach dem Kardinalshut zu langen. Und von dem purpurnen Hut war nur ein Schritt bis zur Tiara … Die Tiara! Die Schlüssel des heiligen Petrus. Beide Schlüssel: einer zur Macht über die Seelen, der andere zu weltlichen Angelegenheiten. Er hätte gern auf den ersten verzichtet und sich desto stärker an den zweiten geklammert, um durch diesen etwas in seinen Augen Gewaltiges und Herrliches zu erlangen: die Macht. Einstweilen verbarg der künftige Bischof, Kardinal oder sogar Papst sorgfältig diese ehrgeizigen Absichten und begnügte sich mit dem bescheidenen Amt eines Kaplans. Er wachte über die Ausgaben des unberechenbaren Robert, stritt sich mit diesem und dessen kecken Höflingen herum, tröstete sich in seiner Freizeit mit der Gesellschaft zweier schöner Jungfrauen, angeblich seiner Nichten, von denen er
behauptete, daß er sie habe mitnehmen müssen, weil die armen Waisen außer ihm weder andere Verwandte noch auch nur einen einzigen wohlwollenden Menschen hätten. Noch immer wurden die Armenier bis ins einzelne ausgefragt, als sieh eine neue, unerwartete Menschengruppe näherte. Umgeben von einigen Warangern, kam auf einer braunen Mauleselin der Hofmedicus des Butumitos einhergeritten. Der griechische Feldherr hatte ihn geschickt, nachdem er von der Unpäßlichkeit der Schwägerin des Herzogs Gottfried, der edlen Gontrana, erfahren hatte. Der Medicus, in einem dunklen, losen Gewand und mit violetten Sandalen, war so runzlig im Gesicht wie ein altes Weib und hatte ein Paar scharf blickende Augen. Eine große Ledertasche mit medizinischen Instrumenten war an seinem Sattel befestigt. „Die Herzogin ist tatsächlich krank“, gab Konon de Montaigu zu. „Aus diesem Grunde weilt auch Herzog Balduin nicht unter uns.“ „Seit wann ist sie denn krank?“ „Seit drei Wochen.“ „Ich möchte sie gern so schnell wie möglich sehen.“ „Ich werde erst den Herzog benachrichtigen“, erwiderte Konon unwillig. Er verabschiedete sich mit unverhohlenem Groll von seinen Gefährten, bestieg sein Roß, und beide machten sich auf den Weg zum lothringischen Lager. Unterwegs betrachtete er mißtrauisch den Griechen. Alle Erzählungen über die byzantinischen Ärzte, zum Beispiel, daß sie Leichen zerschnitten, fielen ihm ein. Wenn das stimmte, konnte man dann einen so Ruchlosen zu einer ehrbaren, edelgeborenen Frau lassen? Da sich Montaigu darüber Klarheit verschaffen wollte, fragte er seinen Gefährten ohne Umschweife aus. Seltsamerweise war dieser keineswegs verwirrt. „Für eine wirksame Heilung“, erwiderte er, „ist die gründliche Kenntnis des menschlichen Körpers notwendig. Wie soll man aber eine solche anders erwerben?“ Konon verstummte vor Empörung. Hochmütig und verächtlich unterbreitete er dem Griechen seine ritterliche Ansicht über das
Zerschneiden menschlicher Leichen. Das einzige, seiner Meinung nach anständige Heilmittel bestand darin, daß man den Kranken und seine Krankheit dem Schutze eines Heiligen anvertraute so wie man es in den aufgeklärten, christlichen Ländern des Westens tat. Jede Stadt, ja, jedes Dorf hatte dort seinen Schutzheiligen, der irgendeine Krankheit heilte. Und so wußte sogar jedes kleine Kind, daß zum Beispiel der heilige Gilles gegen Leibschneiden und Geschwüre half, der heilige Mamertus gegen Blutfluß schützte, der heilige Veit Krämpfe heilte und die heilige Apollonia bei hartnäckigen Zahnschmerzen angerufen wurde. Hatte man sich so in den Schutz eines Heiligen begeben, so konnte man ruhig warten. Entweder wurde der Mensch gesund oder nicht, je nachdem, wie es der Wille Gottes fügte. Der Grieche hörte diesen Ausführungen zerstreut zu und ließ seine Augen über die allen Grüns entblößten und ausgedorrten Hügel schweifen. „Ein Wunder daß Ihr in dieser Luft nicht alle erkrankt seid“, bemerkte er plötzlich. „Die Luft ist überall gleich“, entgegnete Konon. Der Medicus blickte ihn von unten an. „Ihr irrt Euch edler Herr. Es kommt vor, daß die Menschen in einer Gegend lange Jahre hindurch gesund bleiben, in einer anderen aber, die kaum einige Meilen entfernt ist, rettungslos und immerzu erkranken. Die Luft im Gebirge ist anders als die im Tal die am Meer unterscheidet sich von der überaus schädlichen der Sümpfe. Als daher der große arabische Medicus Ibn Rases, der vor über hundert Jahren gelebt hat — denn Ihr müßt wissen, daß die Araber in der medizinischen Wissenschaft allen anderen Völkern der Welt überlegen sind und es verstehen, mit Mitteln, deren Geheimnis wir noch nicht besitzen, die Blindheit oder den grauen Star von den Augen zu nehmen und den Körper schmerzunempfindlich zu machen, so daß ein bei lebendigem Leibe geschnittener Mensch ruhig schläft, ohne etwas zu merken …“
„Eine jede Hexe versteht das auch, wenn sie vom Teufel das Mittel gegen die Unempfindlichkeit des Schmerzes erhalten hat …“ „Hier handelt es sich nicht um Zaubereien, sondern um die Wissenschaft. Ich bin jedoch davon abgekommen, was ich eigentlich erzählen wollte. Als der große Ibn Rases auf Befehl des Kalifen ein Hospitium in Bagdad bauen sollte, hängte er vorher in den verschiedensten Stadtteilen rohes Fleisch auf und stellte Wasser in offenen Gefäßen hin. Dreimal täglich besichtigte er alles. Und stellt Euch vor, Herr, an einigen Stellen verdarb das Fleisch sofort und an anderen hielt es sich bedeutend länger frisch. Dort, wo das Fleisch zuletzt madig und das Wasser zuletzt stinkend wurde, baute er das Hospitium und behauptete mit Recht, daß hier die Luft am gesündesten sei.“ „Das ist lauter Teufelswerk, das nur ein Schismatiker anpreisen kann!“ rief Konon entrüstet aus. „Durch heidnisches Wissen verliert man die Seele!“ „Der Verlust der Seele oder deren Erlösung hat mit der Wissenschaft nichts zu tun, es lohnt sich, sie von überall zu schöpfen und sei es auch von den Heiden.“ Montaigu spuckte mit Nachdruck aus. Er war zu erbittert, um darauf antworten zu können. So ritten sie schweigend bis zum Lager. Der Ritter sprang vom Pferde und lief, um Balduin zu suchen und ihn möglichst schnell davor zu warnen, dem widerwärtigen Medicus seine Frau anzuvertrauen. Der Grieche saß mit philosophischer Ruhe auf seiner Mauleselin und wartete. Balduin stand im Zelt seiner Gattin und kratzte sich verlegen den Kopf. Die alte Helgunda saß in der Ecke und murmelte Gebete vor sich hin. Die Luft war blau vor Rauch, denn man hatte vor einer Weile die Kranke beräuchert. Gontrana, die vom Fieber ganz abgezehrt war, lag unbeweglich da, hüstelte und flüsterte unverständliche Worte vor sich hin. Ihrem Gatten gegenüber verhielt sie sich barsch und abweisend. Durch die Krankheit war sie nicht sanfter geworden. Nur wenn jemand ins Zelt trat, richtete sie
sich plötzlich auf und blickte gespannt zum Eingang, worauf sie wieder wie enttäuscht und kraftlos in die Kissen zurückfiel. Kaum hörte sie jetzt die sporenklirrenden Schritte Konons, so fuhr sie wieder in die Höhe. Als sie jedoch den Eintretenden erkannte, streckte sie sich betrübt und enttäuscht wieder aus. „Was fehlt dir?“ fragte Balduin und trat näher an sie heran. „Nichts, nichts! Geh fort, geh schon, ach geh doch schon!“ stöhnte sie. Die beiden Ritter gingen mit spürbarer Erleichterung aus dem Zelt, einer Erleichterung, wie man sie beim Verlassen der Stube eines Schwerkranken empfindet, dem man doch nicht helfen kann. Montaigu wiederholte schnell, in kurzen Worten, die Unterhaltung mit dem ekelhaften Griechen. „Meinst du, daß er sie heilen könnte?“ fragte Balduin gedehnt. „Er könnte sie ohne Zweifel heilen, denn der Teufel vermag alles und lockt gerade damit die Menschen an … Aber das wäre ja eine Todsünde! Was würde Herzog Gottfried dazu sagen?“ „Ja, was würde er sagen? Ich werde sie danach fragen …“ Er kehrte ins Zelt zurück, wobei ihn Helgunda nicht gerade wohlwollend anblickte, und neigte sich über die Kranke. „Gontrana! Gontrana! Höre: ein griechischer Medicus ist hier, ein widerwärtiger Kerl, der die Leichen schneidet. Von den Heiden hat er seine Weisheit, dieser Satansknecht! Er kann den Körper zwar heilen, aber er tötet sicher die Seele. Gottfried würde nichts mit ihm zu schaffen haben wollen … Willst du ihn sehen oder nicht?“ „Wen? Gottfried? Wo ist er?“ rief sie erschreckt aus und fuhr in plötzlicher Erregung von ihrem Lager auf. „Gottfried ist im Lager Raimunds … Hier ist ein Diener des Teufels, ein griechischer Medicus … Ich frage dich, willst du ihn sehen?“ erklärte ihr Balduin geduldig. „Ich will nichts … ich will gar nichts! Laßt mich endlich in Ruhe!“ entgegnete sie ärgerlich und drehte sich zur Wand um. „Sie will nicht“, stellte Balduin mit Befriedigung fest und trat zu dem vor dem Zelteingang wartenden Konon. „Fertige den Schismatiker schleunigst ab. Er soll dorthin zurückkehren, woher er
gekommen ist, mit Gontrana wird ohne seine Hilfe das geschehen, was Gott will.“ Mit unverhohlenem Vergnügen teilte Montaigu dem Griechen den Entschluß des Fürsten mit. Der Arzt wunderte sich nicht. Er verneigte sich und trieb die Mauleselin mit seinen Fersen an. Noch hatte er das Lager nicht verlassen, als die Luft von lauten Trompetensignalen zerrissen wurde. Die Mannschaften liefen eiligst zu den Pferden. Die Trommeln wirbelten. Ein Schrei hallte durch alle Lager: „Die Sarazenen! … Die Sarazenen!“
DREIZEHNTES KAPITEL Allah Akbar
In breiter Front rückten die Heere des Sultans Kilidsch–Arslan vor. Sie hatten es eilig und scheuchten auf ihrem Vormarsch Herden wilder Esel, Antilopen mit langen, gebogenen Hörnern und Wüstenhasen auf. Sie gönnten sich bei ihrem raschen Vordringen keinen Augenblick Ruhe. Die Begeisterung trieb sie wie eine Flamme. Das war der Heilige Krieg! Wehe den vermessenen Ungläubigen! Ehre den Bekennern des Propheten! Sie zogen mit einem starken Heer heran. Es zählte allein zehn Dschamate Reiterei. Jedes Dschamat bestand aus fünf Segbaten und jedes Segbat aus beinahe eintausend Mann. Schossen die Krieger Pfeile ab, so zeigte sich am Himmel eine dunkle, einem Heuschreckenschwarm ähnelnde Wolke. Erhoben sie ihre Krummschwerter, so blinkte es über den Reihen wie das plötzliche Aufleuchten eines Blitzes. Alle Stämme und Geschlechter aus Bithynien, Lydien, Phrygien waren hier vereint. Darunter befanden sich Araber aus Nedscha, die schwarz wie Neger waren, hellhäutige Araber aus dem glücklichen Lande Jemen und Beduinen aus der Wüste in ihren weißen oder schwarzen, durch ein dreifaches Band zusammengehaltenen Burnussen. Sie waren dunkelhäutig, hatten ausgeprägte, finstere Gesichtszüge und sahen von weitem wie Raben aus. Vor dem Sultan Kilidsch–Arslan wurde ein siebenfacher Mendschuk hergetragen, ein Feldzeichen aus Ziegenbockschwänzen, die in Gold gefaßt und mit einem goldenen Mond gekrönt waren. Vor den Emiren wurden dreifache Mendschuks aus Pferdeschwänzen getragen, vor den Scheichen einfache. Der dem Scheich unmittelbar unterstehende Aga hatte kein Recht auf ein Feldzeichen. Dem Aga wiederum unterstanden
die Tschorbadsch oder Zehnerschaftsführer. Die Ausdrücke Tschorbadsch sowie Ordapascha oder Wesir waren türkischen Ursprungs, von den Seldschuken übernommen, den Arabern aber unangenehm, weil dieser Volksstamm sich in der muselmanischen Welt immer mehr ausbreitete. Das Roß des Sultans war weiß wie Milch, schien aber jetzt, von Schweiß bedeckt, wie von stählerner Farbe zu sein. Der Schweif floß wie ein Wasserfall bis zur Erde. Auf der Kruppe trug es das fünffache, heilige Merkmal der Finger Mohammeds. Das Geschirr bestand aus purem Golde, die Brustriemen waren mit einem Brilliantstern zusammengehalten. Obwohl die Pferde der anderen Krieger keinen so reichen Schmuck aufwiesen waren sie doch alle schön, überaus schnell und wertvoll. Sie kannten nur die Steppe und den Galopp. Im Galopp stürmten sie pfeilschnell über die Erde. Sie waren des Reiters größte Liebe und Stolz. Für den Ritter des Westens war das Pferd, das Roß, ebenfalls etwas außergewöhnlich Wichtiges und Begehrenswertes, war der Beweis für Reichtum, Würde und Ansehen. Aber dem Araber bedeutete es noch etwas mehr: es war der teuerste Herzensfreund. Für ein Pferd gab der arabische Krieger seine Gattin — das war am leichtesten —, seine Söhne, sein Vermögen und sein Leben hin. Der Prophet war dem Pferd innig zugetan. Er hatte sich weder auf dem Rücken eines Kamels, noch auf dem eines Adlers noch auf dem einer Gazelle in den siebenten Himmel erhoben, sondern war auf dem feurigen Roß Borak durch die Lüfte aufgefahren. Deshalb war es kein Wunder, daß jeder Gläubige dem Pferd Achtung und Bewunderung entgegenbrachte. In aller Munde war noch das Ereignis, das sich unlängst beim Stamme Nagil zugetragen hatte. Ein Reiter war von unversöhnlichen Feinden verfolgt worden. Seine Stute lief wie ein Reh, unermüdlich, in schnellem Galopp über Stock und Stein. Den ganzen Tag dauerte die Hetzjagd, aber die Stute hielt nicht an. Da riefen die Verfolger: „Halt! Wir sind Freunde! Gestatte uns, die Stirn deiner tapferen Stute zu küssen!“
Der Reiter hielt an, und die Verfolger ehrten das Tier. Sie sagten feierlich: „Geh, und wasche die Füße deines Reittieres, erst dann magst du deinen Durst stillen.“ Darauf ritten sie in Frieden auseinander. An der Spitze eines jeden Segbats galoppierte eine Musiktruppe, deren Instrumente aus Schalmeien, die den französischen Oboen ähnelten, aus Flöten, Tolumbassen oder türkischen Trommeln mit Schellen, Litauren oder Kesselpauken, Glöckchen und Schellen bestanden. Obwohl die Musik laut und schallend war, verlor sie sich doch im Getümmel. Gespielt wurde keine eigentliche Melodie, und der begleitende Gesang war das taktmäßige Wiederholen der Suren des Korans. Die arabische Sprache ist klangvoll und hört sich wie ein Geläut an. Die Silben dshir, dshin und dshan trommeln wie Hagel, der auf einen Kesseldeckel fällt. Dieser Laut betäubt und berauscht. Er läßt Ermüdung, Durst und Hunger vergessen. Die freien Menschen der Wüste lieben den Reim und den Rhythmus über alles, beinahe ebensosehr wie die Freiheit und das Pferd. In ihrer Begeisterung sprechen sie nicht anders als in Rhythmen, und in Versen voller blumenreicher Gleichnisse sind die amtlichen Dokumente der Kalifen von Bagdad abgefaßt. In Versen beklagen aus dem Stegreif die Klageweiber die Toten. In Liedern und Versen sind die alten arabischen Chroniken geschrieben. Die höchste Ehre ist, einen Dichter in der Familie zu haben. — Und jetzt wiederholten die anrückenden Krieger mit lauter Stimme die gereimten Suren, die den Ruhm Allahs besingen, der den Heiligen Krieg predigte: „Der Engel Gabriel fragte den Propheten: ‚Worin liegt das Wesen des Glaubens?‘ Mohammed antwortete: ‚In dem Bekenntnis, daß Allah der alleinige Gott ist und ich sein Prophet bin. Daß man die Gebetsstunden beachtet, während des Monats Radaman fastet und eine Wallfahrt nach Mekka unternimmt.‘ …Der Engel Gabriel runzelte die Stirn und fragte
zum anderen Mal: ‚Worin liegt das Wesen des Glaubens?‘ Mohammed antwortete: ‚In dem Bekenntnis, daß Allah der alleinige Gott ist und ich sein Prophet bin. Daß man einen Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen führt, die Gebetsstunden beachtet, während des Monats Radaman fastet und eine Wallfahrt nach Mekka unternimmt.‘ Aber der Engel fragte zum dritten Mal: ‚Worin liegt das Wesen des Glaubens?‘ Mohammed antwortete: ‚O gewaltiger Gabriel! In dem Bekenntnis, daß Gott einzig ist, ich sein Prophet bin, und daß man einen Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen führt.‘ Da heiterte sich das Antlitz des Engels auf und Gabriel sagte: ‚Ich schwöre bei der herannahenden Nacht und der aufblühenden Morgenröte, daß du recht geantwortet hast, Mohammed!‘“ Jetzt wiederholten die Krieger singend die Geschichte von den Wonnen des Paradieses, von den honigsüßen Reizen der schwarzäugigen Huris, von welchen die Teilnehmer am Heiligen Krieg auf Bettlagern mit goldenen Kopfkissen empfangen werden. Bei dem Gedanken daran leuchteten ihre Augen. Welch wunderbare Belohnung erwartete sie! Nichts konnte ihnen die Belohnung entreißen, nichts konnte sie fernhalten, da sie in den Heiligen Krieg gezogen waren, eine Tat, die Gott am wohlgefälligsten war. Wehe, wehe den Ungläubigen, die unbedachterweise von weit her gezogen kamen und den Zorn der Kinder des Propheten hervorgerufen hatten. Sie würden auf ihrem Nacken den zermalmenden Tritt des schweren Siegerfußes fühlen. Es sei denn, daß sie sich demütigten und Allah verehrten. In einem solchen Falle konnten aus den verhaßten und verachteten Feinden Freunde werden, beinahe Stammesverwandte. Die Muselmanen kannten keine Unterschiede in der Nationalität, der
Sprache oder der Hautfarbe. Für sie gab es nur einen Unterschied, den des Glaubens. Wer den Glauben annahm und ihn verbreiten half, war Bruder und Artgenosse. Der Bruder aber, der den wahren Glauben nicht bekannte, war ein Feind. „Wende schleunigst gegen ihn dein Schwert, bevor dich Allah bestraft!“ Einst, vor dem heiligen Tage der Hedschra, hatten die Araber wie andere Menschen gelebt und sich fremde Kamele, Pferde oder Mädchen erhofft. Aber der Islam hatte ihre Seelen gewandelt, und jetzt begehrte ein jeder dieser Krieger mannhaft und von ganzem Herzen nur das eine: daß die ganze Welt an den Propheten glaube. Eine rötliche Staubwolke wirbelte unter den Pferdehufen empor und bedeckte den halben Himmel. Und wäre sie nicht gewesen, wer weiß, ob die entflammten Krieger zwischen den Wolken des Himmels die ihnen geöffneten Tore des Paradieses nicht erblickt hätten. Und zuweilen dünkte es sie, als leuchtete etwas überirdisch Schönes durch den Staub: Die verwunschene Säulenstadt Irem, das verzauberte Bild, das den Verirrten in der Wüste erscheint. Im Geiste durchlebten sie schon die Annehmlichkeiten der sie erwartenden Belohnungen, schworen, daß sie so mutig wie Schanfar kämpfen würden, der ganz allein hundert Feinde aus dem Stamm der Söhne Samans besiegt hatte, daß sie treu wie Ibn Samuaal bleiben wollten, der zusehen mußte, wie sein Sohn zu Tode gemartert wurde, der aber den Freund nicht auslieferte, daß sie so schön sterben würden wie Antara, der Sänger der freien Wüste. In den christlichen Lagern herrschte fieberhafte Bewegung. Schon führten die Knappen ihren Herren die Pferde vor und reichten den Rittern die Lanze. Schon stellten sich die Reiter in loser Kampfformation, im Gatter, auf. Reihe hinter Reihe, Mannschaft hinter Mannschaft. Schon entwickelten sie sich in geschlossener Reihe nach den Seiten, hatten zur Rechten die Stadt und im Rücken die befestigten Lager. Die Reihen waren tief gegliedert. Aus dem heranbrausenden heidnischen Schwarm ertönte das laute,
klangvolle: „La ilah el Allah, Mohammed rasul Allah!“ — Über dem Kreuzfahrerheer erschallte das harte, entschlossene: „Gott will es! Gott will es!“ Die derben Fäuste in den eisernen Schuppenhandschuhen zitterten vor Freude und packten den Lanzenschaft. Die Schlacht! Der seit zwei Jahren so sehnlich herbeigewünschte, erwartete Kampf gegen die Heiden, jetzt war er da! Gott wollte es so! Gott führte sie! Gott würde ihnen jetzt zum Siege verhelfen! Er würde die Kraft eines jeden Armes verhundertfachen, mit Stärke wappnen. Die Kraft des Glaubens bebte über beiden Heeren, die jetzt gleich zwei geladenen Gewitterwolken aufeinanderprallten. Der durch diesen Zusammenstoß ausgelöste Donner mußte die Erde erschüttern, die ganze Welt aufhorchen lassen. „La ilah el Allah, Mohammed rasul Allah!“ „Gott will es! Gott will es!“ Wie ein Strom aus Eisen versuchten die christlichen Ritter in den Körper des moslemitischen Heeres einzudringen, wie ein Keil die feindlichen Reihen aufzuspalten, die vor Seide glänzenden Reiter sowie deren kleine, flinke Pferde zu zertreten. Zum Teil gelang ihnen das auch. Die Araber konnten dem gewaltigen Angriffsstoß nicht widerstehen. Da aber ihre Taktik anders war, beängstigte sie das nicht allzusehr. Der Sultan Kilidsch–Arslan hatte die Absicht, den Feind möglichst weit vordringen zu lassen, ihn dann zu umzingeln, von dem Kern des Heeres abzuschneiden, auf engen Raum zusammenzudrängen und kampfunfähig zu machen, den stählernen Keil der Angreifer in viele einzelne Kampfherde aufzuspalten, durch eine Pfeilwolke zu blenden, durch scheinbare Flucht die Scharen auseinanderzuziehen, in Unordnung zu bringen und erst dann sein übriges, in der Nähe stehendes Heer in den Kampf zu werfen und so die Ungläubigen aufs Haupt zu schlagen. Da die Pfeile von den Rüstungen abprallten, versuchten die Sarazenen, die Pferde zu verwunden. Zwar trugen die Rosse eiserne Brustharnische, ebensolche Kopfstücke und über dem Rücken eine
eiserne Schuppendecke, aber die Muselmanen zielten nach den ungeschützten Bäuchen und Beinen. Bevor Gottfried von Bouillon mit erhobenem Schwert an der Spitze der Lothringer von der linken Flanke her mit lautem Kampfesgetöse heranbrausen und sich auf die feindlichen Reihen stürzen konnte steckten schon so viele Pfeile in den Weichen seines braunen Streithengstes, daß dieser dem beflügelten Roß Borak glich, auf dem der Prophet in den Himmel aufgefahren war. Das tapfere Pferd lief so noch einige hundert Schritte und fiel plötzlich auf die Nüstern. Der Knappe führte hurtig dem Herzog ein zweites Pferd heran. Auf gleiche Weise waren bereits die Streitrosse unter den Herren de la Hache, Balduin du Bourg und einem der Herren Salviac de Viel zu Fall gebracht worden. Die Ritter hatten Ersatzpferde bestiegen, fluchten und drohten den Muselmanen wegen dieser hinterlistigen Kampfesart. An der Spitze seiner Mannschaften stritt Raimund von Toulouse wie die Verkörperung des elementaren Kampfes, wie Keus, die wandelnde Flamme. Neben ihm Ademar, der Bischof von Puy, mit dem Schwert in der einen Hand und dem Kreuz in der anderen. Er hatte die Zügel über den Sattelknopf geworfen. Das geübte Roß ging von selbst seinen Weg. Hinter dem Bischof hielt sich Peter auf, zusammengeduckt und nur bei halbem Bewußtsein. Ihm fehlte die Selbstbeherrschung. Der Kampfeslärm, von dem die Ritter ringsum so begeistert und wie trunken waren erschreckte ihn und raubte ihm das letzte bißchen Mut und Kraft. Jeder, der die offensichtliche Angst Peters bemerkte, rief dem Mönch spöttisch zu, er solle in das Lager zu den Weibern zurückkehren. Aber der Unglückliche wollte nicht umkehren, sondern versuchen, seine Furcht zu überwinden und zu kämpfen. Fiel er, um so besser … Dicht neben ihm befand sich Walter ohne Habe. Er kannte keine Furcht. Der Bischof konnte ruhig die Zügel fallen lassen, beten und zwischendurch kämpfen, Walter wachte über ihn. Ohne auf sich selbst zu achten, beschützte er vor allem den Führer. Sein schreckliches Schwert halbierte die Feinde, trennte mit Schwung die Köpfe vom Rumpf. Mehrmals lichtete es sich um den Bischof.
Sollten die anderen Ritter auf ihn schauen, sollten sie sehen, ob der verachtete Bastard den Gurt verdient hatte. Doch es fiel niemandem ein, Walter besonders zu beachten, denn jeder war mit sich selbst beschäftigt. De la Tour durchbohrte mit der Lanze schon den sechsten Sarazenen, hob ihn aus dem Sattel, hielt den aufgespießten Gegner hoch und schleuderte den blutenden Körper auf die feindlichen Reihen. Die Brüder Salviac de Viel kämpften Seite an Seite, jeder mehr auf den anderen achtend als auf sich selbst. Wie Schnitter im reifen Korn, so mähten die Herren de Foix, d’Armaillac, de Lux, de Beaugency ihre Feinde nieder. Die schlesische Schar hielt sich eng beieinander und schlug ungestüm drein, wie Holzhauer beim Fällen eines Urwaldes; sich in die Hände spuckend hieben sie schwungvoll mit dem Schwert wie mit einem Beil. Es fielen Schläge, deren sich selbst Herr de Melun nicht hätte zu schämen brauchen. Sie riefen sich mit der Losung ihrer Sippe, Nogodzic und Oswienta, Zawora und Novina, an. Nur die Strzegonias kämpften schweigend, denn ihnen ziemte es nicht, den Zuruf ihres Geschlechtes zu gebrauchen, wenn man sich nicht in äußerster Not befand, in Todesnot, und es von nirgendher eine Rettung mehr gab. Sie kämpften deswegen nicht minder tapfer. Obwohl auf fremder Erde, weiter von Schlesien entfernt als jemals einer ihrer Vorfahren, fochten sie unverdrossen wie bei Kruszwica oder bei Kiew, gleichmäßig und treffsicher, schwungvoll mit wendiger Hand, von oben herab, nur darauf bedacht, nicht abgeschnitten und umzingelt zu werden. Sie drangen unaufhaltsam vor, gefolgt von ihren Knappen. Nur für einen Augenblick sanken ihre Arme, als sich aus der Tiefe der heidnischen Reihen Krieger auf Kamelen näherten. Die ungeschickten Geschöpfe rannten, die langen Hälse ausstreckend, die unförmigen, platten Hufe klatschten auf den Büden, die häßlichen, bösen Mäuler bespien die Pferde mit übelriechendem Speichel. „Um Gottes willen“, rief Tarchala beinahe ängstlich aus.
Aber die anderen beruhigten ihn sofort. Hatte er denn nie in Byzanz solche „Ungetüme“ gesehen? Ein Vieh wie jedes andere, das leicht mit dem Schwert getötet werden konnte … Jugendliche, längst entschwundene Kraft kehrte in die Hand Anselm de Ribeaumonts wieder, wenn es galt, das geliebte Haupt Paul Engelrams zu beschützen. Mochte das Bürschlein kühn und draufgängerisch kämpfen, wie es ihm seine Jugend eingab, der Alte beschirmte den Unbesonnenen. Gottfried von Lothringen focht voller Begeisterung mit erhobenem, verklärtem Antlitz, als kämpfe er Auge in Auge mit dem Satan. Zwischen den einzelnen Hieben blickte er in die Höhe und hoffte, in den Wolken den mitkämpfenden Erzengel Michael zu erblicken, den Führer der himmlischen Heerscharen, den heiligen Georg, den Besieger des Ungeheuers Leviathan, und den heiligen Theodor, den Gottesstreiter. Obwohl er von Natur nicht allzu kräftig war und sich mit Kraftmenschen wie de Melun, Walter ohne Habe und de la Tour nicht messen konnte, kämpfte er in der Erregung nicht schlechter als die Genannten. Wenn er Arme abhieb, Rümpfe durchbohrte, schien es ihm, als zerschmettere er das Böse selbst. Sollte es in Stücke gehen und sich niemals mehr erheben! Und der sanfte Gottfried fühlte mit Wonne die krachenden Knochen der gefallenen Feinde unter den Hufen seines Pferdes. Als sie bereits fünf Stunden ohne Unterbrechung in der vor Hitze flimmernden Luft gekämpft hatten und die Sonne so unbarmherzig herniederbrannte, daß der erhitzte Panzer trotz des Lederwamses den Körper fast versengte, da erfuhren erst die Heere der beiden Roberts, Stephan de Blois’, Hugos und Bohemunds, die an der entgegengesetzten Seite der Stadt lagerten, von der Schlacht. Hurtig stellten sie sich in Schlachtordnung auf und rückten schnellstens zum Kampf aus. Doch der Weg dorthin war eng und beschwerlich. Auf der einen Seite lag die Stadt, auf der anderen breiteten sich die eigenen, befestigten Lager aus, die sich an die steilen Hügel lehnten, an der Westseite der Stadt aber erstreckte sich der schwer zu umgehende See. In dem schmalen Durchgang zwischen der
Stadtmauer und dem Pfahlzaun des Lagers hatte Ibrahim, der Sohn des Emirs Mudschahid, mit drei Segbaten der besten Reiterei einen Ausfall aus dem Osttor gemacht und versperrte den Lateinern den Weg. Da sich die Ritter weder entfalten noch den Gegner umgehen konnten, verloren sie im Kampf gegen Ibrahim reichlich viel Zeit, die Kilidsch–Arslan vielleicht genügte, um den Widerstand der Lothringer und Provenzalen zu brechen. Der stets umsichtige Bohemund drängte sich nicht zum Kampf, wo sich nur die ersten Reihen schlugen, der Rest aber stürmisch nachdrängte und alle sich gegenseitig behinderten. Bohemund kletterte schnell auf einen der im Bau befindlichen Wandeltürme, ein ungefüges Gestell aus Balken und Stangen, von dieser Erhöhung aus konnte er einen weiten Raum überblicken. Er sah, wie die Flandrischen gegen Ibrahim stritten und wie dadurch der ganze Zug aufgehalten wurde, wie die Belagerten von der Mauer Steine, Speere, Lanzen auf die kämpfenden Ritter schleuderten und ganze Wolken von Pfeilen abschossen. Ein solcher Waffengang konnte leicht bis zum Abend dauern. In der Ferne, auf der anderen Seite der Stadt, verriet eine Staubwolke die Stelle, wo der eigentliche Kampf tobte. Die ersehnte Schlacht spielte sich dort ohne die Ritterschaft ab, die hier tatenlos herumstand! Bohemund stieg schnell vom Turm herab, zog seine Mannschaften zurück und erteilte Befehle. Mit Windeseile fällten sie den Pfahlzaun, schütteten den Graben zu und ritten spornstreichs quer durch die Zeltreihen des Lagers. Die vor Angst bebenden Weiber und Knechte blickten ihnen verdutzt nach. Schon warfen sie den Pfahlzaun auf der entgegengesetzten Seite um, erklommen die Anhöhen und kletterten den steilen Abhang hinunter. Der Weg war frei! Die Pferde galoppierten, was ihre Beine hergaben. Schon waren die Ritter an Ibrahim und seinen Leuten vorbei gesprengt. Sollten sie umkehren und ihn im Rücken angreifen oder keinen Augenblick verlieren und weiterpreschen?
„Bei dem Blute des heiligen Januarius!“ rief Tankred mit erschreckter Stimme. „Schaut!“ Sie hoben die Visiere und beschirmten die Augen mit der Hand. Ein Bild des Grauens bot sich ihnen am Fuße der Mauern dar. Die Sarazenen hatten mehr als tausend Armenier aus der Stadt geschleppt und mordeten sie jetzt unter dem Schutze von Ibrahims Reiterei in aller Ruhe, kaltblütig, ohne Hast. Unter den Opfern befanden sich Männer und Frauen, Säuglinge, Greise und Kinder. Sie schrien vor Furcht wie Irre und versuchten in ihrer Todesangst blindlings auszubrechen, trafen aber überall auf eine Mauer von Waffen. Die Sarazenen metzelten die jüngeren Frauen nicht sofort nieder. Sie rissen ihnen die Kleider herunter, warfen die Todgeweihten auf die Erde und banden die ausgebreiteten Arme und Beine der Opfer an Pflöcken fest, die in die Erde geschlagen waren. So sollten die Unglücklichen liegenbleiben. Sollte sie schänden, wer wollte. Sollten sie die Ameisen fressen, des Nachts die Schakale zerreißen und am Tage die Geier. Das war die Antwort des Emirs Mudschahid auf die leichtsinnigen Drohungen der Franken. „Mir nach“, rief Tankred und wandte sein Roß, aber Bohemund packte ihn mit eiserner Hand an der Schulter. „Halt! Wir haben keine Zeit! Was gehen sie dich an? Das sind nicht die Unsrigen!“ „Es sind Christen!“ „Schismatiker … Wir müssen so schnell wie möglich nach dort, bevor die Provenzalen den ganzen Ruhm an sich reißen …“ Voller Entsetzen und blaß vor Zorn, ließ Tankred sich mitführen. Bohemund hatte im übrigen nur zu recht. Es war höchste Zeit, die Mannschaften Raimunds und Gottfrieds zu unterstützen, denen nach sechsstündiger Schlacht in der Sonnenglut die Arme erlahmten und der Atem ausging. Aus den Visieren rann Schweiß und Blut. Die trockenen Lippen konnten keinen Laut mehr hervorbringen. Wäre doch vom glühenden Himmel nur ein Tropfen Regen gefallen! Oder gäbe es einen Becher Wasser!
Als hätte dieser Gedanke der vor Durst und Anstrengung wankenden Ritter eine Fernwirkung gehabt, fragte die im Zelte Elviras sitzende Florina schüchtern, ob man den kämpfenden Rittern nicht vielleicht Wasser hintragen solle. „Seit dem frühen Morgen kämpfen sie in der Hitze.“ Elvira zögerte, aber die anderen waren dafür. Blanka war bereit, sofort hinzulaufen, und die Hofdamen Elviras falteten die Hände und baten, auch ihnen die Erlaubnis zu erteilen. Daher willigte die stolze Herrin ein. Schon eilte in einzelnen Gruppen eine größere Anzahl Frauen mit Kannen, Wasserbehältern, Bechern und Schöpfkellen dorthin. In ihrer Begeisterung dachten sie gar nicht an eine Gefahr. Die Heiden hätten sie erblicken und von den Mauern aus mit Pfeilen erreichen können. Aber das kümmerte sie nicht, sie wollten den Männern beistehen, ihnen helfen. Und wenn es ihnen ans Leben ging, so würden sie, die aus tapferen ritterlichen Geschlechtern stammten, auch zu sterben wissen. Bald hatten die kämpfenden Ritter sie erblickt, und ihr anfängliches unwilliges Erstaunen verwandelte sich schnell in stolze Anerkennung der mutigen Tat. Das warme, trübe Wasser schmeckte wie Nektar. Die Krieger ließen das belebende Naß freudig über ihre verbrannten Lippen fließen und waren bestrebt, es möglichst lange im Munde zu behalten. Sie tranken bescheiden, denn wie viele andere warteten noch! Einige Schlucke genügten. Mit wachsender Dankbarkeit schauten sie auf die braven Frauen, in deren Augen sie jetzt möglichst glänzen wollten. Was sich hier abspielte, war weder eine Eroberung der „Liebesburg“ noch ein Turnier auf dem Hofe oder ein Ringstechen. Sollten die guten Frauen sehen, wie ihre Ritter kämpften! Sie würden staunen! Und wirklich hielt es die errötenden Samariterinnen, die so froh über ihren Einfall waren, auf dem Schlachtfeld. Raimund, der einen starken Hieb auf den Helm erhalten hatte kam, von de la Tour geführt, heran. Der Helm hatte den Schlag zwar ausgehalten, aber der Graf war wie betäubt. Ihren sonstigen Hochmut vergessend,
eilte Elvira mit dem Wasser auf ihren Gatten zu, dem sie eigenhändig Erleichterung bringen wollte. „Mein gutes, gutes Weib“, brachte Raimund, nur halb bei Bewußtsein, heraus. Zum ersten Mal sah er sie so hilfsbereit und um ihn besorgt. So hatte er seine Gattin bisher nicht gekannt, und in seinem Inneren fühlte er eine wahre Verbundenheit, eine wirkliche Gemeinschaft mit ihr, eine Zusammengehörigkeit auf Gedeih und Verderb. Der Kampf ging weiter, unnachgiebig, grausam, verbissen. Die Normannen und die Flandrischen hatten sich endlich durch die Krieger Ibrahims hindurchgeschlagen und stießen waffenklirrend in die Flanke des moslemitischen Heeres. Aber der Sultan, der den Verlauf der Schlacht von einer Anhöhe beobachtete, warf jetzt seine letzten, bisher in Reserve gehaltenen Dschamate in die Schlacht. Diese stürmten gegen die Normannen, brausten an ihnen vorbei, wendeten, um erneut anzugreifen. Gleichzeitig begann der Himmel, der bisher wie ein unbewegliches glühendes Gewölbe über der Erde gestanden hatte, zu erbeben, sich erst rot, dann grau zu färben. Mit urplötzlicher Gewalt brach ein Sturm los. Er wirbelte ungeheure Staubwolken hoch, blähte die Burnusse wie Segel, peitschte die Pferdeschweife und zerrte an den Fahnen. Er fegte von den Christen zu den Arabern hinüber, von Norden gen Süden. Die Kamele röchelten und stöhnten. Die Pferde stemmten sich, so gut sie konnten, den Böen entgegen, gingen aber dennoch rückwärts. Allah prüfte seine Gläubigen! Iblis half den Giauren! Die wie Geier aussehenden Beduinen wandten als erste den Rücken, die übrige Reiterei folgte ihnen. Alles wandte sich wie auf ein Zeichen zur Umkehr, alle Drohungen des Sultans waren vergeblich, auch die von den Scheichen mit kläglicher Stimme gesungenen herrlichen Suren verfingen nicht mehr. In dem Sturmgeheul verhallten ungehört ihr Gesang und ihre Befehle. Auch wenn der Reiter sein Pferd wieder hätte feindwärts wenden wollen, der Wind zwang es zur Flucht. In der alles einhüllenden roten Staubwolke verfolgten die Ritter unerbittlich den fliehenden
Feind. Ibrahim sammelte verzweifelt die Trümmer seines Heeres, fiel die Kreuzfahrer, gegen den Sturm kämpfend, blindlings in der Flanke an. Kaum daß er mit den Friesen in Berührung gekommen war, wurde er schon im Rücken von Stephan de Blois und dessen Mannschaften angegriffen. Umsonst war all seine Tapferkeit. Die Abteilung Ibrahims wurde umzingelt und in einen eisernen Ring genommen, aus dem keiner mehr entrinnen konnte. Elvira, Blanka, Florina und die übrigen vom Sturm überraschten Frauen irrten hin und her und wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten. In ihrer Angst kauerten sie sich an die Felsen. In dem dichten Staub, der vom Boden aufwirbelte und den Atem fast benahm, war nicht daran zu denken, den Weg ins Lager zurückzufinden. Sie waren allein. Die Pagen Elviras hatten die Waffen und die Pferde der Gefallenen ergriffen und waren in ihren zu kurzen, wunderlichen Trachten den Rittern nachgaloppiert. Es war ihnen einerlei, ob sie dafür bestraft wurden, daß sie den Fächer und die Riechfläschchen ihrer Herrin im Stich gelassen hatten. Dagegen war nun nichts mehr zu machen. Ihr Verlangen mitzukämpfen hatte jeglichen Zwang besiegt. Auf dem Schlachtfelde lagen Berge von Leichen, ganze Wälle. Wenn die Staubwolke für einen Augenblick aufriß, wurden sie im durchbrechenden Tageslicht sichtbar, dann wieder sah man nichts. Alles lag hier beisammen, die braven Ritter, die Knappen, die Knechte und die Heiden, ineinander verkrampft, in tödlicher Umarmung; denn sie hatten noch auf der Erde gekämpft, bis zum letzten Atemzuge. Die Pferde und Kamele lagen auf dem Rücken, daneben die Eingeweide der aufgeschlitzten Körper, Verwundete, gräßlich Verstümmelte, bereits erstarrte Leichen, hier und da abgeschlagene Köpfe, Arme, Rümpfe. Über den Köpfen der sich vor Angst aneinanderschmiegenden Frauen wurde ein Flügelschlagen hörbar. Das waren die Geier, die sich auf die Felsen niederließen. Sie warteten hier bis zum nächsten Tage. Die Beute entging ihnen nicht mehr. In ihrer Sprache priesen
sie den Heiligen Krieg. Dessen Ausgang war ihnen gleich. Der Fraß war ihnen sicher. Die hinter den Wolken verborgene Sonne war schon untergegangen, als sich der Wind plötzlich legte, so überraschend, daß der Körper, von dem bisherigen Druck befreit, plötzlich schwankte. Der Staub senkte sich allmählich. In der Ferne, hoch oben, zeigte sich der kühle, blaßgrüne Himmel, an dem nach einer Weile der Mond rötlich aufging. Ganz in der Nähe heulten jetzt die gefräßigen Schakale. Grauenerregend schimmerten fahl die umherliegenden Leichen. Die unter einem überhängenden Felsen verborgenen Frauen wagten nicht, ihr Versteck zu verlassen. Sie hätten auch gar nicht gewußt, welche Richtung sie einschlagen sollten. In dem Sandsturm waren sie weit vom Lager abgekommen, bis auf die andere Seite der Stadt. Was sollten sie beginnen? Nach dem glühendheißen Tag drang ihnen nun die Nachtkühle empfindlich in die Glieder. Wenn nur diese furchtbare Angst nicht gewesen wäre! Da hörten sie plötzlich Pferdehufe. Wer konnte das sein? Die Ihrigen oder Feinde? Jemand rief. Er rief einen Vornamen. Gott sei Dank, es waren Freunde. Aus dem Dunkel tauchten St. Gilles und mit ihm Sven, d’Armaillac, de la Tour, de Foix und de Beaugency auf. Als sie festgestellt hatten, daß die Frauen noch nicht im Lager eingetroffen seien, waren sie sofort in größter Sorge aufgebrochen, um sie zu suchen. Trotz der übermenschlichen Anstrengungen hatten sie sich aufgerafft, sich fast heiser gerufen, aber der Gedanke an die gewonnene Schlacht hielt sie aufrecht. „Verzeihe den Buben“, sagte Raimund zu Elvira, die sich bei ihm über ihre Pagen, die Ausreißer, beklagte, „sie haben wie Männer gekämpft, bei Gott. Ich habe ihnen schon den Knappenschlag versprochen … Der Sieg ist groß, daran besteht kein Zweifel. Und er gehört uns; denn die Normannen haben mit den Friesen erst ganz zum Schluß eingegriffen. Butumitos, diese tückische Schlange, ist nicht einen einzigen Schritt vorgerückt, um uns zu unterstützen. Er hat die Entwicklung der Lage abgewartet. Wir werden ihm dafür
dreitausend oder mehr Köpfe von Heiden schicken, damit er sieht, wie wir Krieg führen … Die übrigen Köpfe werden wir mit Schleudern in Stadt werfen …“ „Sind viele Sarazenen gefallen?“ fragten die Frauen neugierig. „Wohl mehr als sechstausend. Von den Unsrigen sind auch nicht wenige ums Leben gekommen. Aber nun besteigt die Pferde. Der Weg ist weit und die Zeit schon vorgerückt.“ Sie waren den Frauen beim Aufsitzen behilflich. Jeder Ritter nahm eine, mancher auch zwei Frauen, eine vorn auf den Widerrist, die andere hinter sich. Zwar waren die Rosse todmüde, aber im Schritt würde man schon langsam vorankommen. „Wir müssen einen Umweg machen“, sagte Raimund zu Elvira, „denn am Osttor liegen diese unglücklichen Armenierinnen, deshalb ist es gefährlich, dort vorbeizureiten, außerdem schickt es sich nicht für euch!“ „Was für Armenierinnen?“ „Heute vormittag haben die Heiden alle Christen aus der Stadt getrieben und ermordet. Ungefähr einhundert Jungfrauen haben sie an Pflöcke gebunden, geschändet und bei lebendigem Leibe liegengelassen.“ „Leben sie noch?“ fragte Blanka entsetzt. „Der dänische Prinz hat erzählt, daß sie noch leben. Sie haben angeblich um Hilfe gerufen, als die Ritter vorbeikamen.“ „Dann muß man sie sofort befreien!“ „Befreien?! Wer wird sie schon anrühren, wenn die Heiden sie berührt haben. Kein Christ wird dort hingehen …“ „Sie sind sicher schon gestorben, werden im Sand erstickt sein“, versicherte Sven und drückte zärtlich die schlanken Hände Florinas, die seine Brust umfaßt hielten. „Wie furchtbar“, wiederholte Blanka und setzte sich neben Herrn de Foix aufs Pferd. Sie tat so, als habe sie nicht gesehen, daß Raoul de Beaugency ihr sein Roß zuführte. Der Mond stand schon hoch am Himmel, sein rötlicher Schein war in eine silberne Färbung übergegangen. Das vor einer Stunde noch stille Blachfeld begann sich zu beleben. Zwischen den Leichen
bewegten sich Gestalten. Scharen von Knechten hieben den Toten die Köpfe ab. Sie beeilten sich, denn bei Morgengrauen sollten diese Siegestrophäen in die Stadt geschleudert werden. Schnell und geschickt verrichteten sie ihre Arbeit, als schnitten sie im Herbst auf dem Felde den Rüben die Blätter ab. Sie warfen sich unter Gelächter die Köpfe zu, die von anderen in große Ledersäcke gestopft und ins Lager gebracht wurden. Andere Bedienstete sammelten Waffen, zogen den Leichen die Kleider vom Leibe und zankten sich dabei. Die Knappen behaupteten, daß sie an dem tödlichen Schlage die Hand ihres Herrn erkennten und ihnen deshalb diese oder jene Beute gehöre. Schakale heulten in der Nähe zwischen den Felsen, angelockt von dem willkommenen Fraß. Als die Ritter endlich im Lager ankamen, fielen sie todmüde auf ihre Lagerstatt und waren bald in einen bleiernen Schlaf gesunken. Nur einer, Raoul de Beaugency, legte sich nicht zur Ruhe. Der Schlaf wollte ihn nicht umfangen. Der Ritter war erregt und unruhig. Blanka bereitete ihm tiefen Kummer. Früher war sie ihm zugetan, jetzt aber würdigte sie ihn keines Blickes mehr. Außerdem quälte ihn der Gedanke an die gemarterten Frauen, die er flüchtig im Vorbeireiten gesehen hatte. Sie schimmerten so seltsam weiß in dem Mondenschein. Das unwiderstehliche Verlangen, sie noch einmal anzuschauen, ließ ihm keine Ruhe. Eine krankhafte, schändliche Lust, sich an den Leiden der Gequälten zu weiden, ergriff von ihm Besitz, soviel er auch versuchte, diese zu unterdrücken. Jeder normale Mensch hätte einen solchen Gedanken mit Abscheu und Ekel von sich gewiesen, nicht so Raoul, dem jetzt alles gleich war. Was konnte ihm eigentlich noch geschehen, wer konnte ihm schon helfen? Er war ja verdammt! Und die Erlösung? Beides lag ja so dicht beieinander. War er wirklich erlöst? Die lüsterne Sucht ließ ihn nicht los. Als Verdammter konnte er ungestraft gehen, wohin er wollte, tun, was er wollte, alles tun, wozu er Lust hatte. War er denn nicht sowieso in den Händen des Satans? Der Mond schien geisterhaft. Jede Gestalt draußen war
entweder schwarz, schattenhaft oder weiß, scharf umrissen im Licht. Die Kopfabschläger und die Leichenfledderer hatten das Schlachtfeld schon verlassen. Nur die Schakale waren geblieben. Die Mannschaften in den Zelten schliefen fest, übermüdet von der Last des heißen Tages. Nichts rührte sich ringsum. Nur er, der Verdammte, schlich in der Nacht umher wie ein Dieb, unsichtbar im Schutze der Schatten, jetzt an den Palisaden entlang, auf denen die Totenschädel der ermordeten Kreuzfahrer aus dem Heere Peter des Eremiten leuchteten. Schon hatte er vorsichtigen, schnellen Schrittes das Osttor erreicht, die Stelle, wo tausend Menschen ihr Leben hatten lassen müssen, weil man auf Anraten von Butumitos eine Warnung an die Sarazenen geschickt hatte. Das hier war der entsetzliche Ort. Ein Berg toter Opfer, und dahinter lagen die Frauen. Ihre nackten Körper schimmerten ihm von weitem entgegen. Mit magischer Gewalt zog es ihn in diesen Kreis. Er fühlte, wie ihn ein Schauer überrieselte. Ein fleischliches Begehren packte ihn; aber auch eine würgende Angst dann wieder Abscheu vor sich selbst. Was wollte er hier? Wozu war er hierhergekommen? Aber es trieb ihn wie unwiderstehlich, und schon näherte er sich den ausgestreckten Körpern. Da lagen sie, angebunden, gespreizt. Der Sturm hatte sie zur Hälfte mit Sand zugeweht. Manchen hatte man zum Hohn das Kreuzeszeichen eingeschnitten. Diese lagen mit aufgedunsenen, schwarz gewordenen Leibern. Der barmherzige Tod hatte ihnen die Augen geschlossen. Aber der größte Teil der Opfer lebte noch. Das verrieten die krampfhaft zuckenden Glieder, hier und da ein Stöhnen. Er stand jetzt mitten unter ihnen. Wie abwesend schaute er nach allen Seiten. Ihm kam es vor, als sei er selbst der Satan und weidete sich am Anblick der seiner Macht überlassenen Seelen. Plötzlich schrak er zusammen: Er hörte Schritte, sprang zur Seite in den Schatten und setzte sich auf den Boden. Im Schutze der Dunkelheit spähte er aufmerksam. Eine schlanke Gestalt in einem dunklen Mantel trat näher. Sie hielt in der einen Hand ein Gefäß,
vielleicht mit Wasser, in der anderen glänzte etwas. Sie beugte sich über jede der Liegenden, übergoß sie mit Wasser, durchschnitt die Fesseln oder hob mit sicherer Bewegung den Arm und stach zu, um die Qualen zu verkürzen. Ohne zu wissen, daß sie beobachtet wurde, trat die Gestalt ganz dicht an Raoul heran. In dem vollen Mondlicht erkannte er ihr Gesicht und rief verwundert aus: „Blanka! Blanka de Montbéliard!“ Er konnte sich nicht länger beherrschen, sprang jetzt ins Licht und ergriff die Hand, die das Messer hielt. „Was machst du hier?“ flüsterte er. Sie erholte sich von dem ersten Schreck und warf stolz den Kopf zurück. „Du hast es ja gesehen.“ „Was machst du hier?“ wiederholte er unsicher. In seiner Verwirrung wußte er nicht, was er tun sollte. Was hatte sie zu dieser seltsamen Handlung veranlaßt? „Laß mich los“, sagte sie entrüstet und versuchte, ihre Hand zu befreien. Er preßte diese aber nur um so stärker. Und als er so das Gelenk ihrer heißen, schlanken Hand umklammerte, flammte Begehren in ihm auf. „Ich liebe dich schon lange …“, flüsterte er mit heiserer Stimme. Empört fuhr sie zurück. Diese Worte in der schauerlichen Umgebung schienen ihr eine Ungeheuerlichkeit. „Laß mich los“, wiederholte sie zornig. „Du weist mich immer ab! Auf meinem Pferd wolltest du auch nicht reiten … Ich liebe dich doch!“ „Laß los!“ „Ich lasse nicht los“, rief er wütend. Ihr Widerstand reizte ihn immer mehr. Ihn packte die Leidenschaft, ihr den Mantel herunterzureißen, sie nackt auf den Boden zu legen wie jene. Sie war jetzt in seiner Gewalt, ihm ausgeliefert. Falls er im Lager erzählte, wo er sie getroffen hatte, würde man sie bei lebendigem Leibe vergraben oder auf den Scheiterhaufen bringen. Hatte er nicht
eben noch mit eigenen Augen gesehen, wie sie die geschändeten Frauen berührt und den Fluch der Heiden dadurch in sich aufgenommen hatte? Er konnte sich ohne Bedenken mit Blanka einlassen; denn ihm konnte eine Berührung nichts anhaben, er war ja in der Hand des Bösen. Sie schaute ihm trotzig und herausfordernd ins Gesicht. „Laß sofort los! Was willst du?“ „Leg dich hin“, stieß er hervor. Sie lachte böse auf. „Mit dir — niemals!“ „Dann erzähle ich allen, daß ich dich hier getroffen habe.“ „Erzähl es doch! Ich habe diese Unglücklichen befreien und denen, die kaum noch atmen, den Todesstoß geben wollen, damit sie sich nicht länger zu quälen brauchten. Erzähl es doch! Jetzt frage ich dich aber, was du hier vorgehabt hast?“ Einen Augenblick wußte er nicht recht, was er antworten sollte, sagte dann aber kleinlaut: „Ich bin dir nachgegangen.“ „Du lügst! Du hast mich erst eben gesehen!“ „Wie willst du das beweisen?“ „Laß los“, rief sie wütend, „laß los! Ich habe ein Messer … Ich fürchte dich nicht … Du wirst mich niemals besitzen verstehst du? Niemals!“ „Sie werden dich verbrennen.“ „Sie werden uns beide verbrennen.“ Mit einer geschickten, plötzlichen Bewegung entwand sie sich ihm und lief in die Nacht. Er blieb enttäuscht zurück. Das Blut klopfte ihm in den Schläfen. Die rings um ihn am Boden liegen den Frauen, die halbtoten, verstümmelten, widerlich zugerichteten Körper mit den aufgedunsenen Leibern reizten ihn nicht mehr. Er wollte die besitzen, die entflohen war, die lebendige, warme, er mußte sie haben, auch dann, wenn man sie beide nachher verbrennen würde, wie sie gesagt hatte.
Der Emir Mudschahid, der Sohn Dschubairs, saß im Uhrensaal seines Palastes. Der goldene Sperber ließ sechs Goldkugeln fallen, die in der goldenen Schale mit eindringlichem Geräusch hin– und herrollten, als der Aga Scheich, umgeben von seinen Muschirs, das Haupt Ibrahims brachte, das über die Mauer in die Stadt geworfen worden war. Das Hinterhauptbein war vollkommen zerschmettert, aber das Gesicht war fast unverletzt. Diese feinen, stolzen Gesichtszüge! Die für ewig geschlossenen Augen! Er war in Ehren dahingegangen, er hatte das Gewand eines langen Lebens verschmäht, der geliebte, der einzige Sohn, Ibrahim … „Bism’ ilah el rahman el rahim“, sagte der Emir mit fester Stimme. „Der Barmherzige und Gnädige hat mir das Glück widerfahren lassen, daß mein Sohn im Heiligen Krieg gefallen ist, ich beuge mich und bin glücklich.“ Die Anwesenden neigten anerkennend das Haupt. „Laßt mich einen Augenblick allein“, bat der Emir halblaut, als schäme er sich. Sie gingen, sich tief verneigend, hinaus. Nur das Haupt Ibrahims, das so weiß war wie ein Totenhemd, blieb auf dem purpurroten Tuch zurück. Der Emir Mudschahid nahm das Haupt behutsam in seine Vaterhände. Der Springbrunnen plätscherte leise. Auf das tote Gesicht fielen perlende Tropfen. Emir Mudschahid weinte. Der Prophet mochte dem Alten, dem frommen Bekenner des Korans, diese unwürdigen Tränen wohl verzeihen! In der glühenden Hitze gingen die Leichen rasch in Verwesung über, und als die lateinischen Ritter, die ins griechische Lager gesandt worden waren, die abgeschlagenen Köpfe aus den Säcken vor Butumitos hinschütteten, verbreitete sich ein wahrer Pestgestank. Diese aufgedunsenen, blau angelaufenen Köpfe sahen widerlich aus. An dem abgeschnittenen Halse wimmelte es bereits von Würmern. Leichengift tropfte auf den Boden. Butumitos ekelte das alles an, aber er ließ sich nichts anmerken.
Herr de Melun, der an der Spitze der Abgesandten stand, stemmte stolz die Fäuste in die Hüften. „Die tapferen Ritter, der Graf de Vermandois und der Graf von Flandern, die Herzöge der Normandie und von Lothringen, der Graf von St. Gilles, der Graf de Blois und der dänische Königssohn übersenden Euch, Heerführer, die Beute unserer Krieger und fordern Euch auf, diese als ein Geschenk der Lateiner so schnell wie möglich dem Basileus nach Byzanz zu schicken. Von diesen Köpfen haben wir Euch mehr als dreitausend gebracht, und ebenso viele als abschreckendes Beispiel in die Stadt geschleudert. Diese Häupter gehören den Kriegern des Sultans Kilidsch–Arslan, desselben, vor dem Byzanz gezittert hat.“ „Ich werde sofort tun, was Eure Führer wünschen“, versicherte Butumitos höflich. Mit lauter Stimme befahl er in lateinischer Sprache, die Säcke sofort auf eine Galeere zu verladen, die unverzüglich nach Byzanz segeln sollte — fügte aber in griechischer Sprache hinzu: „Sobald ihr in See gestochen seid, versenkt diese Ladung; das Deck aber scheuert gut mit Lauge, damit keine Seuche ausbricht. — Was für eine Barbarei!“ Ohne im geringsten seine Gefühle nach außen zu verraten, beschenkte er die Ankömmlinge reichlich im Namen des Kaisers; er bot ihnen eisgekühlten Wein an und entließ sie mit der Versicherung, der Basileus werde sich freuen. Kaum daß die Gesandten fortgeritten waren, hielt er einen Kriegsrat ab, an dem die Anführer der einzelnen Truppenteile, der frühere Stratigos der von den Muselmanen eroberten Provinz und Pantopulos, der Experte für Belagerungstürme, teilnahmen. „Kilidsch–Arslan ist geschlagen worden“, stellte er mit Befriedigung fest, „das ist das Wichtigste. Die halbjährige Plage mit den Lateinern in Byzanz hat sich gelohnt. Jetzt geht es darum, den Sieg geschickt auszunutzen. Nizäa muß sich ergeben, aber — uns …“ „Sie haben doch den Eid geleistet, die eroberten Gebiete nicht zu behalten …“
„Wir haben keinen großen Vorteil davon, wenn sie uns die Stadt überlassen, nachdem sie sie geplündert und zerstört und die Bevölkerung niedergemetzelt haben. Wir brauchen keine leeren Mauern. Was ich sagen wollte: Es ist an der Zeit, diese einfältigen Gemüter darauf aufmerksam zu machen, daß Galeeren die Stadt mit Lebensmitteln versorgen und daß ohne Flotte der Platz nicht ausgehungert werden kann. Die Schiffe aber haben wir … Pantopulos! Du begibst dich zu den Lateinern, wirst dort Wandeltürme bauen und gelegentlich die Galeeren entdecken.“ „Die Abgesandten haben mich aber hier bei Eurer Hoheit gesehen. Sie werden sich wundern, daß ich nicht früher dorthin gekommen bin“, bemerkte Pantopulos. „Sie werden dich bestimmt nicht erkennen, und sollten sie es, so hast du ja einen Kopf, um dir etwas Passendes einfallen zu lassen. Du brichst sofort, schon morgen, auf als der Baumeister, den man uns aus Byzanz geschickt hat …“
VIERZEHNTES KAPITEL Vom Gottesgericht, das nicht stattfand
Das Gericht war außer mit dem Bischof, der den Vorsitz führte, mit folgenden Herren besetzt: Raimund von Toulouse, Gottfried von Lothringen, den beiden Roberts, dem Kaplan Arnuld de Rohes, dem Domherrn Raimund d’Aguilers, Stephan de Blois, Hugo de Vermandois und dem Erzdiakon Alberon. Sie hatten auf einer Bank Platz genommen, die vor dem Zelt stand und mit einem Tuch bedeckt war. Der Ankläger, Raoul de Beaugency, saß ihnen gegenüber, die Angeklagte mit ihrer Mutter seitlich davon. Ringsum drängte sich eine Zuschauermenge, die aus der vornehmsten Ritterschaft bestand. Ein Glück, daß die Muselmanen in der Stadt mit der Bestattung der Köpfe ihrer Getöteten beschäftigt waren — das singende Gejammer der Klageweiber war bis hierher zu hören —, denn andernfalls hätten sie leicht einen Ausfall unternehmen und das Lager überrumpeln können. Alle Gemüter waren von dem hier stattfindenden seltsamen Prozeß bewegt, der so unfaßbar und entsetzlich war, daß er die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog und lebhaft erörtert wurde. Hätte man es jemals geglaubt, daß der brave Ritter de Beaugency die edle Blanka de Montbéliard aus dem achtbaren Geschlecht der Salviac de Viel wegen unzüchtiger Zauberei anklagen würde? Er hatte sie angeblich ertappt, wie sie die Leichen der Weiber berührte, die von den Heiden besudelt worden waren, hatte gesehen, wie sie ihnen den Todesstoß versetzte, sicherlich, um Blut für teuflische Praktiken zu gewinnen. Wie schwer war es, so etwas zu glauben; aber ein Ritter log nicht. Übrigens hatte die Angeklagte ihre Tat gar nicht bestritten, nur behauptet, aus Mitleid und nicht aus teuflischen Motiven gehandelt zu haben. „Aus Liebe zu unserem
Herrn Jesus Christus“, so hatte sie in Gegenwart der versammelten Menschenmenge dreist gesagt und den Richtern dabei offen ins Gesicht geschaut. Aus Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus … Sie scheute sich also nicht, den allerheiligsten Namen in Verbindung mit dem verabscheuungswürdigen Verbrechen auszusprechen! Der Bischof verharrte in Schweigen und verhüllte die Augen mit der Hand. Die übrigen Richter wechselten halblaut einige Worte. Dafür sparten aber die Zuschauer nicht mit lauten Bemerkungen. „Er selbst hat ja seine Seele dem Teufel verkauft, und jetzt klagt er eine anständige Frau an.“ „Sie hat uns zusammen mit den anderen Wasser gebracht, und nun sollen wir sie richten …“ „Sie ist nicht besser als der Pikarde! Erinnert ihr euch noch an den Tod Montbéliards?!“ „Freilich, das ist wahr. Sie hat ihn vergiftet!“ „Sie hat ihn vergiftet! Das wissen wir ja alle schon seit langem!“ „Die Giftmischerin!“ „Vom Werwolf behauptete sie, er sei ein gewöhnlicher Hund gewesen.“ „Daß wir das vergessen haben! … Anscheinend hat sie ihn gekannt …“ „O Gott! Sicherlich hat sie sich schon lange mit solchen schmutzigen Zaubereien abgegeben, wir aber hielten sie für ehrbar!“ „Es war ja ganz offensichtlich, daß sie mit dem Werwolf gemeinsame Sache gemacht hat. Ich erinnere mich, als wäre es gestern …“ „Eine Hexe! Eine Hexe! Verbrennen! Verbrennen!“ „Zuerst schwemmen! Zum See mit ihr!“ „Wer hat einen Strick?!“ „Wozu die Probe?! Das ist offenkundige Zauberei! … Verbrennen die Widerwärtige, so schnell wie möglich!“ „Verbrennen! Auf den Scheiterhaufen mit ihr!“
Leichenblaß und unbeweglich stand Blanka da, mit zusammengepreßten Lippen und starrem Gesicht. Ihre Mutter, eine zierliche, gebückte Greisin, trat schluchzend vor ihre Tochter. „Ihr Herren, gute Ritter!“ rief sie den Richtern zu. „Bei der Barmherzigkeit Gottes, glaubt mir! Meine Tochter ist keine Hexe! Es gibt kein anderes Kind, das seiner alten Mutter so zugetan wäre. Mein Blümlein, mein Töchterchen! Noch nie hat Gott eine reinere Seele geschaffen! Ich höre hier rufen: Giftmischerin! Sie ist keine! Verurteilt mich! Ich habe das Gift gemischt! Beim Mondenschein habe ich Bilsenkraut und Stechapfel gesammelt. Ich habe Schlangengift gekocht. Ich! Ich! Nicht sie!“ „Ich habe gewußt, was du tun wolltest, Mutter, und dich nicht daran gehindert“, erwiderte Blanka dumpf. „Sie gesteht es! Sie gesteht es!“ grölte die Menge. Ademar de Monteil hob den Kopf. Er wußte nichts. Er verstand nichts. Er konnte es gar nicht glauben, daß Blanka eine Hexe war. Er hatte noch keinen Entschluß gefaßt. Von allen Seiten hallten die Rufe: „Giftmischerin! Hexe! Verbrennen! Auf den Scheiterhaufen!“ Die ausgestreckten Hände verlangten nach einer gerechten Strafe. Aber der Bischof wollte kein Pilatus sein und seine Hände nicht in Unschuld waschen. „Ich verschiebe die Urteilsverkündung auf morgen“, sagte er mit lauter Stimme. „Die Angelegenheit ist nicht einfach. Man muß Gott erst um Erkenntniskraft bitten.“ Allgemeines Gemurmel … Die Sache war nicht einfach? Was konnte denn einfacher sein? Genügten denn diese Beweise nicht? Zweifel konnten nur darüber bestehen, ob es nicht besser wäre, die Mutter gleich mit der Tochter zusammen zu verbrennen. „Ich verschiebe das Urteil auf morgen“, wiederholte der Bischof. Er blickte auf seine Gefährten. Sie waren einverstanden. Raimund war zufrieden. Er hatte Blanka immer gern gehabt. Gottfried sah gleichgültig aus. Er war bedrückt, abgemagert, als quäle ihn ein innerer Schmerz. Balduin hörte dem Beschluß zerstreut zu. Was ging ihn das an? Der Zustand Gontranas war besorgniserregend,
länger als drei bis vier Tage würde sie sicher nicht mehr leben. Aus diesem Grunde wurde Leona immer zudringlicher. Sie behauptete, sie wäre schwanger. Was für Sorgen! Hugo de Vermandois gähnte vor Mißbehagen und war froh, sich erheben zu dürfen. Nur Arnuld de Rohes schüttelte unzufrieden den Kopf. „Das ist Euer Wille, Hochwürdigster Herr? Wir sind der Meinung, daß es besser wäre, diese Angelegenheit noch heute zu erledigen. Als Exempel! Gegen solche Verbrechen darf man sich nicht nachgiebig zeigen, nicht einmal für einige Stunden. Solche Verbrechen müssen so schnell wie möglich geahndet werden! Die Nachsicht wird zum Förderer von Verbrechen.“ „Recht so, recht so!“ bestätigte eilfertig der Erzdiakon Alberon, ein Weltmann, der so prächtig gekleidet war wie Hugo und schöne Verse in lateinischer Sprache schrieb. Man erzählte von ihm, daß er die Gesellschaft von Frauen liebe, deshalb nahm er jetzt die Gelegenheit wahr, um seine besondere Strenge zu betonen. Aber der Bischof war unnachgiebig. „Ich verschiebe das Urteil auf morgen“, wiederholte er zum dritten Male. „Die Beschuldigten können gehen.“ Die Versammelten zerstreuten sich grollend. Raoul blieb enttäuscht stehen. Während der ganzen Verhandlung hatte er nur Blanka angeschaut und erwartet, auf ihrem Gesicht Anzeichen von Flehen und Angst zu erblicken. Hätte sie ihn nur einmal bittend angesehen, wäre er weich geworden und hätte widerrufen … Wie? Das wußte er zunächst selbst noch nicht. Er fühlte aber, daß dann sein Starrsinn sofort verflogen wäre. Er hätte ihren Kopf gerettet, auch unter eigener Lebensgefahr. Aber Blanka schaute ihn nicht ein einziges Mal an. Sie bemerkte ihn gar nicht. Sie klagte ihn auch nicht an. Nun gut! Wenn dem so war, dann sollte sie verbrannt werden. Ohne die geringste Rührung zu empfinden, sah er, wie sie beim Fortgehen ihre vor Verzweiflung wankende Mutter stützte. Die Ritter machten den beiden voller Abscheu Platz; dann
verschwanden sie in ihrem Zelt. Sie wurden weder bewacht, noch kümmerte sich jemand um sie. Wozu auch? Eine Flucht war unmöglich. Wohin hätten sie sich wenden sollen? Nein, es gibt für sie keine Flucht, überlegte betrübt der Bischof, als er in sein Zelt zurückkehrte. Es half nichts, das Urteil mußte gefällt werden. Alle waren gegen sie. „Eine teuflische Angelegenheit …“, sagte er halblaut vor sich hin. „Ja, eine teuflische! Eine teuflische!“ krächzte unerwartet aus der Ecke eine Stimme, so daß Ademar zusammenzuckte. Es war Peter der Eremit, der „Kukupetros“, der sich aus seinem üblichen Versteck hinter der Lagerstatt meldete. „Eine teuflische Sache“, wiederholte er. „Alles ist eine Teufelei … der ganze Kreuzzug … eine Teufelei!“ „Sei still! Du weißt, daß es dir nicht gestattet ist, so zu sprechen!“ „Warum nicht, Hochwürdigster Herr? Warum nicht? Alle wissen es schon. Jeder weiß es. Wir sind in der Macht des Teufels. Er hat uns in seiner Gewalt!“ „Schweig!“ rief der Bischof zornig aus. „Schweig, damit ich nicht auch noch über dich Unglücklichen zu Gericht sitzen muß.“ „Was nützt mir ein Gericht? Ich habe in der Schlacht den Tod gesucht. Niemand hat mich getötet. Wozu brauche ich ein Gericht?“ Der Leibknappe Raimunds schlug den Vorhang des Zeltes zurück. „Hochwürdigster Herr, die Griechen haben einen Mann geschickt, der Wandeltürme bauen kann. Er soll erst unlängst aus Byzanz gekommen sein.“ „Eine gute Nachricht“, sagte der Bischof, „bring ihn schnell zu mir.“ Es war draußen schon ganz dunkel, als die alte Frau Salviac de Viel in Raouls Zelt trat. Er sah sie verächtlich an. Aha! Blanka selbst will nicht bitten, sie schickt ihre Mutter. Vergebliche Mühe! Die alte Frau setzte sich auf einen Stuhl, den er ihr schweigend gewiesen hatte. Er wartete darauf, was sie ihm sagen werde. Das Sprechen fiel ihr nicht leicht, denn ihre Worte wurden immer
wieder von Schluchzen unterbrochen. Sie verfluchte ihn nicht, sie flehte ihn aber auch nicht an, wie er es erwartet hatte. Sie erinnerte ihn nur daran, daß sie und ihre Tochter früher, am toulousischen Hofe, die einzigen gewesen waren, die ihn, den Verdammten, nicht gemieden hatten. Warum tat er ihnen jetzt ein solches Unrecht an? Warum verfolgte er Blanka so? Große Tränen rannen ununterbrochen über ihre Wangen. „Ich habe immer geglaubt, Ihr würdet sie einmal ehelichen. Ich könnte Eure Kindlein wiegen. Ihr aber, Herr, tut meinem lieben Kinde so etwas an …“ „Ihr habt geglaubt, ich würde sie ehelichen?“ fragte Raoul unsicher. Die alte Dame nickte verzweifelt. Sie fürchtete sich, die Worte zu wiederholen. War sie in ihrer Aufrichtigkeit nicht zu weit gegangen? Vielleicht glaubte der Ritter tatsächlich an eine Zauberei Blankas und war beleidigt, daß sie ihre Tochter mit ihm in Verbindung brachte. Und doch lag in seiner Hand jetzt das Leben ihres Kindes. „Ihr habt geglaubt, ich würde sie ehelichen? … Das habe auch ich einst geglaubt …“ „O Jesus, barmherziger Jesus“, flüsterte die Alte. Sie umklammerte krampfhaft die Lehnen des Stuhles und sagte, weit vorgebeugt, stöhnend: „Und aus Liebe liefert Ihr sie jetzt der Marter aus?“ Er blickte sie durchdringend an. „Sie mag mich nicht … Sie haßt mich!“ „Und dafür, daß sie Euch nicht mag! O Jesus, o Jesus!“ „Um jedes einzelne Wort habe ich betteln müssen! Sie hat mich stets nur wie einen Hund behandelt!“ „Ihr irrt Euch, sie war Euch wie keinem andern zugetan.“ Er lachte bitter. „Mir zugetan? Eine Katze ist einem Hund so zugetan wie Blanka mir! Sie hätte ja nur ein Wort zu sagen brauchen. Heute habe ich auch nur für sie Augen gehabt. Hätte sie mich ein einziges Mal wie
einen Menschen angesehen, so hätte ich dem Bischof gesagt, daß ich alles erlogen habe, obwohl es wahr ist … tatsächlich wahr ist …“ „Ist alles wahr?“ „Selbstverständlich! Ich verbreite keine Lügen. Es ist wahr. Ich habe sie dort angetroffen. Aber ich hätte alles widerrufen, wenn sie mich angeblickt hätte …“ „Und ich sage Euch, daß sie Euch vor allen anderen liebte, seit langem schon, seit langem. Ich habe es wohl bemerkt. Aber man darf sie nicht so behandeln. Ihr wolltet sie zwingen, mit Gewalt. Das war verkehrt. Sie ist trotzig. Ein Astrologe hat mir einst gesagt, ich würde einen Knaben gebären. Aber die Sterne haben es anders gewollt, und es kam ein Mädchen. Blanka ist in allem wie ein Knabe geartet. Sie hat einen stolzen Sinn, ein männliches Herz. Sie ist die passende Gefährtin für einen Ritter. Und Ihr wolltet sie zwingen … Nun ist sie hart geworden, obwohl sie Euch früher geliebt hat …“ „Geliebt hat“, wiederholte Raoul, „geliebt hat …“ Etwas brach in ihm zusammen. Das, was sich ihm hätte auftun können, war unwiderbringlich verloren. Tränen traten ihm in die Augen. Er fühlte sich auf einmal bettelarm. Niemand hatte Mitleid mit ihm. Er und Blanka! Gab es zwei unglücklichere Wesen auf der Welt? Er und Blanka! Die Alte legte ihm warmherzig ihre Hand auf den Arm. „Mein lieber Sohn, mein lieber Sohn, noch kann sich alles zum besten wenden … Gott sei mit dir …“ Er rückte plötzlich von ihr ab. „Der Teufel ist mit mir, nicht Gott!“ „Das redest du nur so dahin!“ „Hätte ich sie ausgeliefert, wenn nicht der Teufel in mir säße? Wenn ich nicht dem Teufel gehörte …?“ „Bekreuzige dich! Vertreibe ihn!“ „Ich kann ihn nicht vertreiben … ich vermag es nicht …!“ „Mein lieber Sohn, ist denn der Herrgott nicht stärker als der Teufel? Rufe Gott an!“
Er blickte sie erstaunt an, so, als habe er plötzlich eine Wahrheit entdeckt. War es nicht wirklich so? War der Herr nicht stärker? „Sie hat mich geliebt, sagt Ihr?“ fragte er und wandte sich zur Seite. Sie brach in heftiges Schluchzen aus. „Ich sage es Euch ja, ich habe immer geglaubt, daß Ihr sie ehelichen würdet … daß ich meine alten Tage bei Euch verbringen und die Enkel auf meinen Armen wiegen würde. Mein lieber Sohn!“ „Ich gehe zum Bischof“, sagte er und erhob sich kurz entschlossen. Sie streckte ihm dankend die Hände entgegen. „Geh, geh aber schnell … Ich eile zu ihr, ich werde mein ein und alles beruhigen … Geh!“ Sie gingen in die Nacht hinaus, jeder in eine andere Richtung. Doch der Bischof war unterwegs, um den verwundeten Ritter de Luz zu besuchen, so daß Raoul ihn nicht antraf. Frau Salviac de Viel dagegen erschrak heftig, als sie sah, daß vor ihrem Zelt Posten standen. Sie wurde nicht hineingelassen. „Niemand darf zu der Hexe hineingehen, das hat der Graf anbefohlen.“ „Ich bin ihre Mutter!“ „Wir dürfen niemanden hineinlassen.“ „Bald werden es alle wissen, daß Blanka unschuldig ist … Der Ritter de Beaugency ist schon zum Bischof gegangen. Laßt mich hinein.“ Doch der Posten blieb hart. Von Schmerz zerrissen, ging sie zu Raimund. Vom Quartier des Grafen von St. Gilles hatte man sie schon von weitem erblickt. Man begrüßte sie mit solcher Zurückhaltung, daß sie sich unerwünscht fühlte und verzweifelt am Zelteingang stehenblieb. „Ich will nichts. Man soll mir nur erlauben, zu ihr zu gehen. Beaugency ist zum Bischof geeilt, er wird alles widerrufen. Er weiß genauso wie ich, daß sie unschuldig ist …“ „Warum hat er dann solche Dummheiten erzählt?“ murmelte Raimund ärgerlich. Diese ganze Angelegenheit war ihm äußerst peinlich und unangenehm. Die alte Frau tat ihm leid, auch Blanka
dauerte ihn. Sie hatten Montbéliard vergiftet, das war bekannt. Aber dieser Ritter war ja auch ein Erzschurke, ein wahres Vieh an Grausamkeit gewesen … Nicht einmal seine Familie hatte sich zur Rache an der Mörderin verpflichtet gefühlt, sondern war zufrieden gewesen, daß ihm jemand den Garaus gemacht hatte. Aber das war schon einige Jahre her, und es lohnte sich nicht, diese alten Geschichten hervorzuholen. Was sollte man aber zu den gegenwärtigen Vorfällen sagen? Was war eigentlich in Raoul gefahren? Weshalb hatte er Blanka angeklagt? „Warum will man mich nicht in mein Zelt lassen?“ jammerte die Alte. „Ach!“ erwiderte Raimund und winkte mit der Hand ab, „das war nicht mein Einfall. Aber kaum wart Ihr fortgegangen, begann der Kaplan des Herzogs der Normandie darauf zu bestehen, daß Blanka eingesperrt werden müsse, damit sie die Richter nicht etwa bestricke. Wir wollten anfangs nicht, aber er ließ uns keine Ruhe, drohte und drang so lange in uns, bis der Bischof nachgab.“ Er brach plötzlich ab. Die Adern an seinen Schläfen traten hervor. „Eine verfluchte Angelegenheit“, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Becher tanzten. „Wozu habe ich Euch aufgenommen? Einen schönen Lohn habe ich dafür! Wir müssen uns boshafte Anspielungen gefallen lassen. Es ist eine rechte Schande, zu hören, daß bei uns angeblich Teufelszeug getrieben wird und unsere Frauen ehrlos sind! Die Normannen zetteln das alles nur aus Mißgunst an. Sie ärgern sich, daß wir gesiegt haben und nicht sie, und jetzt suchen sie Händel, wo sie nur können! Die Pest soll sie holen!“ „Sie ist unschuldig! Sie ist unschuldig!“ wiederholte schluchzend die Mutter. „Das gebe Gott! Aber de Beaugency ist ein Narr, der nicht weiß, was er redet. Die Normannen werden sich noch mehr freuen. Zum Kuckuck mit ihm! Ein dummer Bengel! Hat Angst vor dem Teufel! Dem Teufel ist an einem solchen Tölpel überhaupt nichts gelegen. Wozu Angst haben? Gewiß, der Teufel ist schlau … beim Grabe des
heiligen St. Gilles! Ich habe von dieser verfluchten Angelegenheit und von euch allen genug!“ „O Gott! O Gott!“ schluchzte die Alte. Er fügte sanfter und tröstend hinzu: „Nun, morgen wird sich ja alles aufklären. Weint nicht! Schlafen könnt Ihr hier. Blanka wird während der Nacht nichts Schlimmes zustoßen. Wir versammeln uns morgen früh, bevor die Hitze anbricht.“ Sie küßte dankbar seine Hand und kniete, etwas getröstet, in der Ecke nieder, um inbrünstig und flehentlich zu beten. De Hainaux umkreiste das Zelt des angekommenen Griechen Pantopulos. Die vor dem Zelt wachestehenden Protospatarier schauten ihn verwundert an. Was wollte er zu solch später Stunde? Die Tageszeit war tatsächlich weit vorgerückt. Aber der Ritter hatte erst jetzt von der Ankunft des Baumeisters erfahren. Er war außerstande, bis zum anderen Tage zu warten. Dieser Mann, der erst jüngst in Byzanz gewesen war, mußte etwas über seine innig geliebte Ida wissen! Er mußte ihn unbedingt heute noch sprechen. Hoffentlich verstand der Grieche die lateinische Sprache, damit er begriff, worum es ging. Durch die Spalten des Zeltes schimmerte das Licht einer Reiselampe. Pantopulos schlief noch nicht. Der Anführer der Wache ging in das Zelt, um den späten Besucher anzumelden. Bis zu dessen Rückkehr setzte sich Hainaux auf einen Stein. Er verzehrte sich vor Sehnsucht und war ganz krank vor Unruhe. Seit fast einem Jahr hatte er von Ida keine Nachricht mehr. Es war jetzt Hochsommer, sie aber wollte zu Beginn des Frühjahres nach Byzanz kommen! Was war mit ihr geschehen? Was für Hindernisse waren eingetreten? Wo befand sie sich jetzt überhaupt? Alle Gefahren, denen sie hatte ausgesetzt sein können, alle bösen Abenteuer, Unfälle, selbst die Untreue — Gott möge ihm den Verdacht vergeben — gingen ihm während der schlaflosen Nächte immer wieder durch den Kopf. Zuweilen war er dann von seinem
Lager aufgefahren, weil er den Klang einer Stimme hörte, die ihn rief. Ihre Stimme! Sie rief ihn … aber woher? Aus welcher Ferne? O unvollkommener menschlicher Körper, dessen Geist an die schwerfällige, träge Materie gebunden ist! Warum war der Mensch kein Vogel, für den es keine Entfernungen gibt? Warum war er kein Gedanke, kein Atemzug? Der Mensch verliebte sich sinn– und zwecklos, so als wäre das, was er liebt, ewig und er selbst unsterblich. Lohnte es sich überhaupt zu lieben, erwuchs aus diesen Herzensbindungen jemals etwas anderes als Enttäuschung, Bitternis und Leid? Den ganzen Tag war im Lager über nichts anderes gesprochen worden als über den Prozeß Raoul de Beaugencys gegen Blanka Montbéliard, und der Ritter de Hainaux dachte resigniert, daß man wie jene beiden seine Zuflucht zu Zaubereien nehmen mußte um seine Sehnsucht und Unruhe zu stillen. Der Anführer der Protospatarier, den ein silberglänzender Brustharnisch schmückte, kehrte zurück und lüftete einladend den Vorhang. De Hainaux trat ein und fühlte sein Herz gegen die Rippen schlagen. Obgleich der Baumeister erst vor einigen Stunden seinen Einzug ins Lager gehalten hatte, war das Zelt schon vollständig ausgestattet. An der Wand befanden sich ein kleiner Altar mit einem Heiligenbild und dem Bildnis des Allerehrwürdigsten, Allerfrömmsten, Apostelgleichen Autokrators Alexios Komnenos, eine Wasseruhr, eine Badeeinrichtung, bequeme Möbel und an der Decke ein Fächer, der die Luft in Bewegung hielt. Der edle Pantopulos selbst saß in einem Hausgewand an einem zusammenklappbaren Tisch, der mit auf den ersten Blick unverständlichen Plänen bedeckt war. Zur großen Freude des Grafen sprach der Grieche gut Lateinisch wie übrigens jeder andere gebildete Byzantiner. Er begrüßte den Besucher mit übertriebener Höflichkeit. „Ihr seht Herr ich bin mit Zeichnungen von Wandeltürmen beschäftigt. Ich bemühe mich herauszufinden, welche Art sich hier am besten eignet. Alles hängt vom Gelände ab, denn auf Sandboden
muß man andere Räder verwenden als auf felsigem Grund. Ich bin erst vorgestern angekommen und kenne die hiesigen Verhältnisse noch nicht.“ „Ich wollte Euch fragen …“, begann de Hainaux und stockte vor banger Erwartung. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Aber wie die Auskunft auch ausfallen mochte, er mußte sie mit Fassung und in ritterlicher Haltung hinnehmen. „Mit Erstaunen höre ich, daß sich die Festung trotz der Niederlage, die das Entsatzheer erlitten hat, noch nicht ergeben hat“, fuhr Pantopulos fort. „Wird die Stadt nicht schon den dritten Monat belagert?“ „Den dritten Monat“, gab de Hainaux zerstreut zu. Er mußte daran denken, daß im Gegensatz zu diesen drei Monaten er schon ganze elf Monate keine Nachricht von seiner Frau hatte. „Herrscht dort nicht schon Hungersnot?“ „Ich weiß es nicht.“ „Wenn dort noch keine Hungersnot herrscht, werden da nicht möglicherweise Vorräte von außerhalb herangeschafft?“ „Das ist unmöglich. Woher denn?“ „Wie soll ich das wissen? Ich bin das erste Mal hier. Vielleicht über den See?“ Pantopulos sah den Ritter aufmerksam an. Auch de Hainaux musterte den Griechen, weil dieser ihm irgend wie bekannt vorkam. Wo hatte er ihn schon einmal gesehen? Aber das war weniger wichtig. „Ich bin zu einer so späten Stunde zu Euch gekommen“, begann er, nachdem er Mut gefaßt hatte, „um Euch, Herr, nach einer für mich wichtigen Angelegenheit zu fragen. Wenn Ihr erst vor kurzem Byzanz verlassen habt, so müßt Ihr wissen, ob mit einer französischen oder italienischen Galeere vielleicht meine Gemahlin, die Gräfin de Hainaux, angekommen ist. Ich erwarte sie seit dem Frühjahr.“ „Die Gräfin de Hainaux?“ wiederholte der Grieche, als dächte er nach.
Der Ritter wandte in Erwartung der Antwort kein Auge von ihm. „Nein, sie ist nicht angekommen“, sagte Pantopulos entschieden. „Sie ist ganz bestimmt nicht angekommen. Zu der St. Johannismesse legen Jahr für Jahr viele Galeeren aus dem Westen an, aber keine edle Frau war dabei.“ „Nicht angekommen! Sie ist nicht angekommen!“ wiederholte de Hainaux. Er vergrub das Gesicht in beide Hände, verabschiedete sich dann ohne Umschweife vom Baumeister und entfernte sich über den freien, mondbeschienenen Platz vor dem Zelt. „Sie ist nicht angekommen … Sie ist nicht angekommen …!“ Seit vielen Monaten war das die immer gleiche Antwort. Als das Gericht in der gleichen Zusammensetzung wie am Vortage zusammentrat, war der ganze Platz schon von einer Menschenmenge angefüllt, die seit Tagesanbruch hier wartete. Alle außer Blanka, die noch vorgeführt werden sollte, hatten ihre Plätze eingenommen. Ringsum hallten die Rufe: „Wo ist die Hexe? Wo ist die Hexe? Auf den Scheiterhaufen mit ihr!“ „Ruhe!“ rief energisch de la Tour im Auftrage des Bischofs. „Ruhe!“ „In der Ungeduld der Menge kommt der Wunsch nach Gerechtigkeit und der Abscheu von der Sünde auf edle Weise zum Ausdruck“, meinte Arnuld de Rohes salbungsvoll. „Vox populi — vox Dei!“ bestätigte Alberon sentenziös. Stephan de Blois wandte ihm sein müdes, skeptisches Gesicht zu. „Erzählt das den Kindern. Das Volk will ein Schauspiel sehen. Die Gerechtigkeit kümmert es ebensowenig wie der vorjährige Schnee.“ „Solche Worte ziemen sich nicht, Graf.“ „Aber all und jeder denkt so.“ „Die Hexe, wo ist die Hexe? Auf den Scheiterhaufen mit ihr!“ „Ruhe!“ rief de la Tour wieder. „Bevor die Angeklagte vorgeführt wird, will der Ankläger eine neue Aussage machen. Ruhe!“ Es wurde still. Raoul de Beaugency trat vor die Richter und sagte laut:
„Hochwürdigster Herr, gerechte Barone! Ich, ein Ritter, der den Ritterschlag erhalten hat, nehme meine gestrige Anklage, die ich leichtfertigerweise gegen die edle und aller Ehren würdige Blanka de Montbéliard aus dem Geschlecht Salviac de Viel erhoben habe, zurück.“ Alle waren verwundert, sowohl die Richter als auch die Volksmenge. Eine Weile herrschte Stille, dann wurde es wieder laut. „Er nimmt die Anklage zurück! Er nimmt die Anklage zurück! Was ist los? Hat er also gestern gelogen? Hat er gelogen?“ „Das habe ich erwartet“, sagte Arnuld spöttisch. „Das sind Winkelzüge. Die Mutter der Hexe war gestern abend bei diesem Ritter. Sie hat ihm wahrscheinlich eine Arznei eingegeben, damit er das Gedächtnis verliert. Das sind die Früchte davon.“ „Freilich, so ist es! Wie sollte es anders sein? Natürlich!“ Raoul lächelte verächtlich: „Niemand hat mir etwas eingegeben. Heute spreche ich die reine Wahrheit, gestern war das nicht so.“ „Er hat gelogen! Er hat gelogen! Ein Lügenritter!“ Und schon wandte sich die Mehrzahl derjenigen, welche noch vor einer Weile Blanka auf den Scheiterhaufen bringen wollten, gegen Raoul. „Ich habe gelogen“, gestand dieser ruhig, „macht mit mir, was Ihr wollt.“ „Warum habt Ihr sie in Verruf gebracht?“ „Sie war mir nicht zu Willen.“ Ein abfälliges Geraune wurde hörbar. Jetzt waren alle auf einmal gegen ihn. Sie spuckten verächtlich aus und rasselten mit den Schwertern. „Ein Lügner! Ein Verleumder! Ein Lüstling!“ „Haltet ein!“ rief der Bischof fast erschreckt. „War sie also nicht auf dem Leichenplatz? Hat sie also die Leichen nicht berührt?“ „Sie war nicht da und hat auch nichts berührt, ich habe mir das nur ausgedacht.“ „Aber sie hat sich doch gestern dazu bekannt und noch hinzu gefügt, daß sie aus Barmherzigkeit dort hingegangen sei.“
Das stimmte. Blanka hatte es nicht bestritten. Raoul, der das vergessen hatte, verstummte verlegen. Arnuld triumphierte. „Ich habe ja gleich gesagt, er ist behext worden. Er spricht, was sie ihm befohlen haben.“ „Führt die Beschuldigte vor“, sagte der Bischof aufseufzend. Ihm schwante in dieser seltsamen Angelegenheit nichts Gutes. Dahinter verbarg sich irgendein Sumpf, ein Abgrund. Er stand vor einem Rätsel. Wie war es zu all dem gekommen? Was hatte diese Menschen, die früher so natürlich und rein waren, plötzlich so verändert? Was ging in ihnen allen vor? „Führt die Beschuldigte vor“, wiederholte Ademar. Vier Knappen entfernten sich und mit ihnen Frau Salviac de Viel. Endlich würde sie ihre Tochter umarmen und trösten können! Der Bischof strich sich über die Stirn. Er versuchte vergeblich, sich die wahren Zusammenhänge zu erklären. Weshalb mußte er sich bloß mit solchen Dingen befassen! „Ihr nehmt also die Anschuldigung zurück?“ wandte er sich an Raoul. „Ja, ich nehme sie zurück.“ „In einem solchen Fall ist die ganze Angelegenheit eigentlich gegenstandslos geworden.“ „Mit Verlaub“, empörte sich Arnuld, „da es sich um teuflische Praktiken handelt, wird durch die Zurücknahme der Klage die Sache nicht aus der Welt geschafft.“ „Allzu eilfertig nennt Ihr das teuflische Praktiken, was vielleicht ein gewöhnlicher Streit zweier Verliebter ist. Die beiden sind noch nicht verlobt.“ „In alledem sehe ich die Hand des Teufels. Das habe ich schon gestern gesagt.“ „Ihr seid ein strenger Richter.“ „Das stimmt, wir sind streng; deshalb kommt auch bei uns Normannen so etwas nicht vor.“ Raimund erhob sich, blaß vor Zorn.
„Genug dieser boshaften Anspielungen! So etwas kommt bei euch nicht vor? Seid ihr aber heilig!“ „Wer ist heilig?“ hohnlachte plötzlich Omer de Guillebeaut, der hinter dem Stuhl Roberts stand. „Etwa die normannischen Frauen? Ich habe ja immer gesagt, sie sind die schlimmsten von allen unzüchtigen Buhlerinnen. Auf sie beziehen sich die Merlinschen Weissagungen. Kennt ihr sie? ‚Ein Kranich wird sich aus dem Kalatisschen Lande emporschwingen …‘“ Gelächter erscholl ringsum, Arnuld war empört. „Im Namen des Herzogs befehle ich: Haltet den Mund!“ zischte er dem Ritter ins Ohr, der auch sofort verstummte und blöde nach allen Seiten schaute. „Setz dich und rühr dich nicht“, gebot Robert. Omer gehorchte. „Nun haben wir die Wahrheit über die normannischen Frauen gehört“, stellte Stephan de Blois unparteiisch fest und schmunzelte, denn niemand konnte Arnuld ausstehen. Doch der Kaplan gab das Spiel nicht auf. „Die Weiber sind überall gleich“, meinte er obenhin. „Ich habe aber in der Normandie noch keinen Ritter getroffen, der heute dies und morgen jenes sagt oder sich mit Verleumdungen befaßt.“ „Dafür werden bei euch täglich Lügen verbreitet.“ „Was sagt Ihr da?!“ schrie Robert von der Normandie und sprang auf. „Ich spreche die Wahrheit! Wir kennen euch, ihr Kirchenplünderer, ihr Heiligendiebe!“ „Schweigt!“ „Ich schweige nicht. Dieser Pfaffe hat mir genug zugesetzt. Habt ihr etwa nicht Nantes, Chartres und Rouen geplündert? Ist man nicht in ganz Frankreich vor euch geflohen und hat die heiligsten Reliquien vor euch in Sicherheit gebracht?“ Robert stand da und keuchte vor Wut. Auf einmal brach er aber in schallendes Gelächter aus und ließ sich befriedigt auf seinen Sitz fallen. „So, ihr gebt also zu, daß man vor uns geflohen ist?!“
Raimund biß sich auf die Lippen, er ärgerte sich, denn er hatte sich ungeschickt ausgedrückt. Aber die Worte waren nun einmal gefallen und konnten nicht mehr rückgängig gemacht werden. Er zuckte verächtlich mit den Schultern. „Man ist geflohen, weil man die normannische Scheu, sich zum Kampf zu stellen, nicht gekannt hatte.“ „Was sagt Ihr da? Das werden wir gleich sehen!“ „Das haben wir schon vor drei Tagen gesehen, während der Schlacht gegen Kilidsch–Arslan.“ „Wir sind so schnell wie möglich gekommen, und erst vor uns haben die Sarazenen Reißaus genommen.“ „Meine Mannen, hört euch so etwas an! Also, ihr habt gesiegt?!“ „Wer denn sonst?“ „So eine gemeine Verdrehung! Auf! Toulouse! Toulouse!“ „Auf! Normannen! Normannen!“ „Jerusalem!“ rief der Bischof verzweifelt aus und trat zwischen die Hitzköpfe. Wie so oft schon bat er wieder flehentlich, beschwor, ermahnte und erinnerte an das heilige Ziel des Zuges. Mußten sie sich ausgerechnet jetzt, nach dem herrlichen Sieg über die Ungläubigen schlagen? Das wäre doch eine große Schmach! Was würden denn die Griechen dazu sagen? Das letztgenannte Argument überzeugte. Sie gaben Ruhe und setzten sich wieder. Der Herr von Toulouse schlug sich mit der Hand auf die Brust: „Ich lasse von ihnen ab; aber ich schwöre, daß ich von Nizäa an meinen eigenen Weg ziehen werde, weitab von dem der Normannen. Ich will mit diesen Verleumdern nichts gemein haben.“ „Wir auch nicht. Sobald wir von Nizäa aufbrechen …“ „Zuerst muß die Stadt einmal erobert werden, meine Herren!“ „Wir werden sie bald einnehmen … Aber, bei Gott, was ist denn das?“
Von dem Zelt der Montbéliards kam ein Haufen Menschen atemlos angelaufen. Sie schrien und fuchtelten mit den Armen: „Sie lebt nicht mehr! Sie lebt nicht mehr!“ „Sie hat sich erstochen!“ „Es muß in der Nacht geschehen sein, denn sie ist schon ganz kalt.“ „Wer denn? Wer?“ „Die Hexe … Blanka.“ Das ganze Gericht erhob sich in großer Aufregung und eilte zu der Unglücksstätte, der Bischof, die Heerführer, die drei Geistlichen und der leichenblasse Raoul. Die Alte hatte gesagt, Gott sei stärker als der Teufel. Wer stärker war, das hatte sich deutlich gezeigt. Was die Menschen gerufen hatten, entsprach der Wahrheit: Blanka de Montbéliard lebte nicht mehr. Sie lag halb zusammengekrümmt auf ihrem Lager, so als habe sie sich mit Anstrengung das Messer ins Herz gestoßen, auf dem ihre erkaltete Hand ruhte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Lippen halb geöffnet. Als sich die Mutter über sie beugte, flogen der Toten zwei Fliegen vom Mund. „Gott sei der Unglücklichen gnädig!“ sagte der Bischof von Puy. „Mit dem größten Verbrechen, dem Selbstmord, hat sie ihr sündiges Leben besiegelt“, stellte Arnuld de Rohes nüchtern fest. Die greise Mutter lag kraftlos vor dem Leichnam ihrer Tochter, den sie umschlungen hielt, und hörte nichts von dem, was ringsum gesprochen wurde. Raoul schaute sich drohend um: „Ich habe es schon gesagt, daß Blanka de Montbéliard eine ehrbare Frau gewesen ist, die ich verleumdet habe. Niemand hat ein Recht, ihr Andenken zu schmähen! Sie hat sich erstochen, weil sie die Schande, die ohne ihre Schuld auf sie gefallen ist, nicht hat ertragen können.“ „Wer seid Ihr denn in diesem Falle, Ritter?“ fragte spöttisch der Kaplan.
„Ein Verdammter“, murmelte Raoul. „Außerdem habe ich ja schon gesagt, daß ihr mit mir machen könnt, was ihr wollt. Hier stehe ich!“ „Welche Strafe verlangt Ihr, Herrin, für den Ankläger Eurer Tochter?“ fragte der Bischof. Aber Frau Salviac de Viel hörte nichts und begriff nichts. Man richtete sie auf, zog sie von dem Leichnam fort und wiederholte die Frage. Sie schüttelte wie geistesabwesend den Kopf. „Strafe?“ stammelte sie, „Raoul bestrafen … Nein!“ Aber plötzlich, als erinnerte sie sich an etwas, fuhr sie zornbebend auf: „Ich verlange, daß der bestraft und an dem Vergeltung geübt wird, der mich gestern abend nicht in unser Zelt gelassen hat. Sie war allein, meine Tochter, meine liebe Waise. Gott strafe ihn! Die Augen sollen ihm aus dem Kopf fallen! Er soll nach dem Tode keine Ruhe finden, wie ein Hund ohne christlichen Beistand verenden und nie ins Heilige Land gelangen. Der Teufel möge ihn bei lebendigem Leibe in die Hölle holen!“ „Still, still, Mutter! Beruhigt Euch! Verlangt Ihr also keine Bestrafung des Ritters de Beaugency?“ „Nein! Ich habe immer geglaubt, daß er Blanka ehelichen und ich meine geliebten Enkel auf dem Arm tragen würde. Meine Tochter, meine geliebte Tochter!“ Sie gingen hinaus und ließen die Ärmste zurück. Das Gericht nahm die Plätze wieder ein. Der Bischof erhob sich, um das Urteil zu verkünden. „Im Namen unseres Herrn Jesus Christus! In dem ehrlichen und besten Willen, diese Sache zu entscheiden, verkünden wir folgenden Beschluß: Der Ritter de Beaugency hat seine Anklage gegen die edle Blanka de Montbéliard zurückgezogen; doch die Beschuldigte hat sich, bevor wir ihr das mitteilen konnten, getötet. Der Ritter de Beaugency wird angeklagt, leichtfertig den Tod einer ehrbaren Frau verursacht zu haben. Die Mutter der Verstorbenen
wurde gefragt, ob sie die Bestrafung des Angeklagten verlange. Sie hat geantwortet, daß der Ritter straffrei ausgehen solle. Deshalb gilt hier der Urteilsspruch: Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter!“ „Wir verlangen eine Bestrafung!“ sagten einstimmig die Brüder Salviac de Viel und traten gleichzeitig aus der Menge hervor. Ein Gemurmel des Unwillens begrüßte sie. Wo waren sie gestern gewesen? Weshalb hatten sie nicht die Partei ihrer Verwandten ergriffen, nicht für diese oder gegen diese ausgesagt? Man kannte den Grund. Sie hatten sich möglichst im Hintergrund gehalten und die Unwissenden gespielt, weil sie sich nicht zur Verwandtschaft mit einer Hexe bekennen wollten. Jetzt waren sie plötzlich zur Stelle. Der Herr Stadthauptmann von Clermont und sein Zwillingsbruder traten verlegen von einem Fuß auf den anderen. Gestern, als das ganze Lager davon widerhallte, daß Blanka ganz unzweifelhaft eine Hexe sei hatten sie es vorgezogen, nicht auf sich aufmerksam zu machen: Heute war das anders. Da sie im Grunde genommen nicht schlecht waren, bereuten sie ihr Verhalten und schämten sich. Sie wären froh gewesen, wenn sie ihre gestrige Gleichgültigkeit hätten ungeschehen machen können. Zornig schauten sie jetzt auf de Beaugency. „Wir verlangen eine Bestrafung“, wiederholten sie streng. „Ich bin schuldig, macht mit mir, was ihr wollt“, sagte Raoul zum soundsovielten Male. „Wir fordern den Kopf des Verleumders, dieses Lügners!“ „Beruhigt Euch!“ rief der Bischof. „Die Lüge ist noch nicht bewiesen. Ihr könnt Rache an ihm üben, weil er den Tod Eurer Nichte verursacht hat. Nicht aber wegen einer Lüge.“ „Er hat selbst gestanden, daß er gelogen hat.“ „Gestern hat die verstorbene Blanka de Montbéliard vor dem Gericht erklärt, sie sei zu den geschändeten Frauen gegangen und habe diese berührt. Also hat der Ritter de Beaugency nicht gelogen, obwohl er heute behauptet, daß er sie dort überhaupt nicht gesehen hat.“ Die Brüder schauten sich verständnislos an. Der Bischof fuhr fort:
„Das ist ein geheimnisvoller und verworrener Fall. Die menschlichen Sinne aber vermögen oft zwischen Recht und Unrecht nicht zu unterscheiden. Nur durch ein Gottesgericht läßt sich eine Entscheidung herbeiführen. Wenn Ihr eine Bestrafung wegen der Lüge verlangt, muß ein Gottesgericht zuerst erweisen, ob der Angeklagte gelogen hat.“ „Ein Gottesgericht! Wir fordern ein Gottesgericht! Er soll nacheinander gegen uns kämpfen.“ „So soll es sein!“ „Ein Gottesgericht!“ Sofort maßen Knappen den Kampfplatz ab, zäunten ihn ein und stampften den Boden sorgfältig fest. Der Bischof sollte anschließend die Waffen und die Kämpfer segnen. Der Zweikampf mußte noch heute stattfinden; denn von seinem Ausgang hing es ab ob die tote Blanka de Montbéliard ein ehrenvolles, einer edlen Frau zukommendes Begräbnis erhielt oder ob die Leiche einfach in den See geworfen wurde. Die Knappen hantierten in aller Eile. Die Kämpfer waren in ihre Zelte gegangen, um sich auf die Auseinandersetzung vorzubereiten. „Betet und bittet den Heiligen Geist um Beistand!“ hatte der Bischof ihnen nachgerufen. In einer Stunde sollten sie sich hier wieder einfinden. Eine Posaune würde das Zeichen geben. Die Herren Salviac de Viel beteten inbrünstig und legten demütig die Hände auf die Brust. Raoul kauerte in seinem Zelt und betete nicht. Konnten ihm fromme Worte noch helfen? Mit Mühe versuchte er, seine immer wieder abirrenden Gedanken leidlich zu ordnen. Wie hatte das alles angefangen? Wie war es dazu gekommen? In seinem Kopf tauchten wieder die Bilder der nackten Weiber vor den Mauern auf, dann sah er wieder Blanka vor sich, die jetzt ebenfalls tot war. Sie hatte zusammengekrümmt dagelegen, von ihrem blassen Munde waren zwei Fliegen aufgeflogen. Blanka war nicht mehr am Leben. Blanka war tot. Er, Raoul, sollte gegen zwei tapfere Ritter um Blankas Ehre kämpfen. In einem Gottesgericht. Das würde ein gotteslästerliches Gericht sein. Der
Bischof hatte die Waffen und die Kämpfer gesegnet. Aber Raoul überkam plötzlich die unumstößliche Gewißheit, daß er die beiden Brüder töten werde, nicht, weil er jünger, kräftiger und gewandter war als seine Gegner, sondern weil sich der Teufel die Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, noch mehr Unheil anzurichten. Der Teufel würde die Hand Raouls, auch gegen dessen Willen, zum tödlichen Schlag ausholen lassen. Die beiden Oheime Blankas würden den heutigen Sonnenuntergang nicht mehr erleben. Jeder würde das Gottesgericht anerkennen und Blanka kein christliches Begräbnis erhalten. Das Gottesgericht würde Raouls Unschuld erweisen und die Verstorbene verdammen. Wie konnte das verhindert werden? Was sollte er tun? Sich selbst töten, wie sie? Ihre Frauenhand hatte nicht gezittert, als sie ihr festes, junges Fleisch mit dem Messer durchstach. Seine männliche Hand zitterte! Ein schöner Ritter, der den Tod fürchtete! So etwas hatte es wohl noch nicht gegeben! Eine unerschrockene Haltung im Angesicht des Todes war eines der wichtigsten und wesentlichsten Merkmale des Rittertums, so eingewurzelt und diesem eigentümlich, daß niemand es anzuzweifeln wagte. Aber de Beaugency, der aus uraltem Geschlecht stammte, fürchtete er sich nicht wie ein Weib vor dem Tode? Durfte man sich wirklich nicht fürchten? War es denn nicht gewiß, daß auf den Tod die Verdammnis folgte, man mit eigener Hand die Pforte zum höllischen Feuer öffnen mußte? Angst packte ihn. Es war besser, die Schmach zu ertragen und dieses Auge in Auge mit den Höllengestalten hinauszuschieben, und sei es auch nur für eine Stunde. Das elende Dasein um ein paar Atemzüge zu verlängern, in der Gotteswelt, im Sonnenlicht. Nur nicht dort sein müssen! Die furchtbare, verzehrende Glut im Inneren der Erde, wo die Geister herrschten, die der ewigen Finsternis überantwortet waren, schreckte ihn. Dieses entsetzliche, nie verlöschende Feuer, das die vom Korn geschiedene Spreu verbrannte! Und Raoul gehörte zu dieser Spreu. Er wagte es nicht.
„Was muß ich tun, Satan, der du immerwährend nahe bist? Soll ich Gott anrufen, wozu ich kein Recht mehr habe?“ Der Leichnam Blankas lag noch im Zelt. Nur die Mutter weilte bei ihrem toten Kind. Die Klageweiber und die Trauernden durften erst erscheinen, wenn das Gottesurteil die Unschuld der Verstorbenen erwiesen hatte. Erst dann würde man Blankas jungen Körper waschen, dem so wenig Freude im Leben beschieden gewesen war, ihn in ein weißes Gewand hüllen, erst dann … Was sollte er tun? Oh, gepeinigte Seele! Sollte er sich dem Gericht gar nicht stellen? Das wäre die letzte, nie dagewesene, tödliche Schmach. Es gab keine andere Wahl. Sollte auch er sich töten oder einfach nicht erscheinen? Sollte er Blanka noch einmal, das letzte Mal, ein Unrecht zufügen? Die Posaune rief zum ersten Mal: „Im Namen Gottes, stellt euch!“ Kalter Schweiß perlte auf der Stirn des Ritters. „O Gott, o Gott!“ — Untersteh dich nicht, den Namen Gottes anzurufen! — Bist du denn nicht ein Verdammter? Hast du denn nicht einst des Nachts am Kreuzweg den Bösen angerufen? Die Posaune ertönte zum zweiten Male, mächtig, mahnend: „Im Namen Gottes stellt euch!“ Raoul blickte durch die Spalten seines Zeltes. Auf dem Kampfplatz sah er eine große Menschenmenge, die voller Spannung wartete. Noch war es Zeit, hinzueilen, die Ehre zu retten. Er konnte beide Brüder töten — und Blanka würde man in den See werfen. Zum dritten Male dröhnte die Posaune, lange, gedehnt, eindringlich. Über dem Lager herrschte abwartende Stille. Schließlich wurde nach einer Weile eine einzelne Stimme hörbar. Das war der Bischof, der verkündete, das Gottesgericht habe nicht stattgefunden, denn der Beklagte habe sich nicht gestellt und sich dadurch schuldig bekannt. Wie Sturmestosen brauste es jetzt los. „Welche Schmach! Welche Schmach! Er hat sich nicht gestellt! Dieser Feigling und Lügner!“ — Die Herren Salviac de Viel aber atmeten erleichtert auf. Vorher, im Zelt, hatten sie sich nicht wenig gesorgt und inbrünstig gebetet,
denn de Beaugency war im Gebrauch des Schwertes so gewandt wie selten einer. Gott allein wußte, was sich dort in Wirklichkeit zwischen Raoul und Blanka abgespielt hatte. Das war alles höchst ungewiß. Dem allerhöchsten Gott sei Dank, daß die Angelegenheit so geendet hatte. Langsam zerstreute sich die Menge, und es wurde still. Raoul saß unbeweglich in seinem Zelt. Würde jemand zu ihm kommen? Wohl kaum. Er kannte die Gesetze und wußte, da er ganz einfach aufgehört hatte zu bestehen. Er war nun kein Ritter mehr, kein rechtschaffener, tapferer Mann. Unter seinen früheren Freunden und Gefährten durfte er zwar einhergehen, aber niemand würde sich nach ihm umwenden, es sei denn, um verächtlich auszuspucken. Niemand würde ihm sogar einen Fußtritt versetzen oder sich mit ihm schlagen, um sich durch die Berührung nicht zu beflecken. Er konnte in ihrer Gegenwart die höchsten Taten vollbringen, niemand würde sie anerkennen. Er konnte vor Durst und Hunger umkommen, kein Mensch würde ihm einen Becher Wasser reichen. Er existierte nicht mehr. Er war einfach nicht da, er hatte sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Wäre er ein ehrloser, grausamer Kerl wie der tote Montbéliard, ein Räuber, ein Freßsack wie de Melun, ein Entehrer der Frauen wie Guillebeaut, man hätte ihm leicht verziehen. Die Ritterschaft war nachsichtig. Nur zwei Dinge duldete sie nicht: die Lüge und die Feigheit. Aber jetzt wurde er für einen Lügner und einen Feigling gehalten. Die Stunden verstrichen, Raoul saß immer noch wie betäubt. Die Glut des Tages wich der Kühle des Abends und der Finsternis der Nacht. Da bewegte sich jemand am Zelteingang und trat ein. Es war die Mutter Blankas, die fühlte, daß sie hier den einzigen Menschen finden würde, der ihr Herzeleid teilte. Von Schluchzen unterbrochen erzählte sie, der Sarg Blankas habe auf einer mit Tuch beschlagenen Erhöhung gestanden. Das Tuch habe der Graf von St. Gilles gegeben. Der Bischof habe für die Verstorbene die
Totenmesse gelesen. Der Bischof selber! Sie habe so friedlich ausgesehen, als man ihr die Augen schloß. „Das ist gut … das ist gut …“, seufzte Raoul. Die alte Frau mit dem gebrochenen Herzen stützte sich vertrauensvoll auf Raouls Schulter. Sie weinte sich die Augen aus und wiederholte immer wieder: „Und ich habe früher geglaubt, daß Ihr sie ehelichen würdet, daß ich die Enkel wiegen könnte …“ An einem trockenen Grashalm kauend, hörte Florina besorgt den Worten ihres Verlobten zu. „Weißt du schon von dem Beschluß der Heerführer? Wenn wir von hier aufbrechen, sollen unsere Heere getrennt marschieren, völlig getrennt, weit voneinander entfernt. Aber was geschieht dann mit uns?“ „Ja, was geschieht dann mit uns“, wiederholte Florina unsicher. „Hast du das nicht gewußt?“ „Ich habe es gewußt, der Graf hat es mir erzählt.“ „Was fangen wir nun an?“ Ein Seufzer war die Antwort. Sven ereiferte sich und meinte mißmutig: „Wir müssen eben getrennt ziehen und sehen uns dann weiß Gott wie lange nicht. Wenn einer von uns beiden umkommen sollte, so wird der andere das erst nach vielen Monaten erfahren.“ „Kannst du nicht zu den Unsrigen übergehen wie die Lothringer?“ Er war entrüstet. „Was du nur redest! Soll ich etwa meine Gefährten, mit denen ich zusammen ausgezogen bin, im Stiche lassen?! Du selber würdest das mißbilligen. Mit Robert von Flandern verbindet mich eine verschworene Waffenbrüderschaft. Komm du doch zu uns!“ Sie richtete sich stolz auf, sie war beleidigt. „Als meine Frau“, beeilte er sich zu erklären. „Einen anderen Ausweg sehe ich nicht, mein Liebes. Überlege es dir.“ „Und der Eid?“
„Ach, der Eid! Du weißt doch, ich wollte ihn anfangs gar nicht leisten. Wozu auch? Seit dieser Zeit bist du mir ganz fremd geworden. Außerdem haben wir ihn nicht in der Kirche geleistet, sondern auf dem Wasser. Der Bischof wird uns davon entbinden.“ „Auf keinen Fall. Wir haben ehrlich geschworen. Gott würde uns nicht segnen.“ „Leiden wir nicht genug um Seinetwillen? Überlege nur: Wenn der Kreuzzug nicht wäre, hätte ich bei deinem Vater, dem Herzog von Burgund, um deine Hand angehalten. Ich hätte dich an meinen Hof in Dänemark gebracht, in das schöne Schloß aus Holz. Schön ist es dort. Ganz anders als in Frankreich, wunderschön! Dort hätten wir einander in Ruhe lieben können. Bei Sonnenuntergang wären wir beisammen, bei Sonnenaufgang, immer … Dort ist die See einmal still, einmal stürmisch; aber wir wären immer beisammen. Ach, könnte ich mit dir nach dort zurückkehren, meine Geliebte!“ Er blickte sich nach allen Seiten um und meinte: „Schau, ist es hier nicht schrecklich? Die Strapazen, der Gestank, die Streitigkeiten der Herren Barone, und was weiter wird, weiß niemand.“ „Es ist Sünde, so zu sprechen“, flüsterte sie. „Ich hadere nicht mit Gott. Ich lege bereitwillig unser Schicksal in Seine Hände. Bitte mache mir keine Vorwürfe, ich habe schon Schwierigkeiten genug.“ „Es ist nicht meine Schuld, daß wir getrennt werden sollen.“ „Du bist nicht schuld daran und ich auch nicht, aber wir beide müssen darunter leiden. Dir ist es vielleicht einerlei; aber ich darf gar nicht daran denken, daß ich dich so lange nicht sehen soll.“ Florina antwortete nicht und sah beiseite. Aus ihren Augen rannen Tränen. Sie versuchte, ihren Kummer vor ihm zu verbergen, sie war längst nicht mehr das Kind, das vor zwei Jahren in Clermont mit feinem Stimmchen gelobt hatte, an dem Heiligen Kreuzzug teilzunehmen. Als zählten diese zwei Jahre für zehn, so hatte sie sich verändert, war reifer geworden. Nicht einmal ihre Mutter hätte sie wiedererkannt, die gute Mutter mit dem Doppelkinn und dem
üppigen Busen, die weinerlich und nur deshalb sanft war, weil ihr bei Zornesausbrüchen der Atem ausgegangen wäre. Auch der Herzog von Burgund, der mächtigste Herr in Frankreich, der in dem Glauben war, er habe seinen Liebling auf eine schöne, ruhige Spazierfahrt geschickt, würde sie nicht gleich wiedererkannt haben. Florina, die während dieser Unterhaltung auf der Böschung des Lagerwalles saß, war nun erwachsen und überschlank. Sie hatte ein sonnenverbranntes Gesicht, ihr helles Haar hatte durch die sengende Sonne seinen Glanz verloren. Ihre Zöpfe, die früher durch goldene Bänder verlängert waren, hatte sie jetzt um den Kopf gelegt, damit sie nicht verstaubten und sie belästigten. Auch war sie jetzt nicht mehr zu schelmischen Neckereien aufgelegt wie einst daheim. Als sie jetzt vom dänischen Hof, dem Schloß aus Holz, hörte, lächelte sie nachsichtig, als ob sie wer weiß wie alt wäre. Das, was Sven sagte, waren Träumereien. Hier aber umgab sie das harte, unerbittliche Leben, diesem Leben mußte man gewachsen sein. Sie mußte Philipp, den Herzog von Burgund, der nicht unter den Kreuzfahrern weilte, würdig vertreten. „Als wir den Eid leisteten“, bewies ihr Sven, „wußten wir noch nichts von der Trennung der Heere. Der Bischof wird uns bestimmt von dem Eid entbinden und uns trauen.“ „Nein“, sagte Florina entschlossen. „Gewiß, wir lassen uns trauen, aber unseren Eid wollen wir halten.“ Er blickte sie verwundert an: „Wie stellst du dir das vor?“ „Wir werden in Reinheit leben!“ „Nein, das will ich nicht! Das ertrage ich nicht!“ „Wir werden es ertragen, denn es dauert sicher nicht mehr lange. Und dann sind wir für immer beisammen.“ „Das will ich nicht! Sprich nicht mehr davon!“ Sie aber klammerte sich fieberhaft an diesen Gedanken, als wäre das eine Lösung. „Höre! Wir trennen uns nicht. Ich bleibe den ganzen Tag bei dir, wohne mit Benina in einem Zelt und du in dem anderen nebenan.
Es bleibt alles wie bisher. Erst wenn wir Jerusalem erobert haben, lassen wir uns mit Fackeln zum Bett geleiten.“ „Nein, nein, der Bischof wird uns von dem Eid entbinden. Du bist ein Kind und weißt nicht, was du sagst. Du weißt nicht, was das für ein Leben wäre.“ „Und wie ist das Leben jetzt?“ „Das ist etwas anderes. Verheiratet sein und doch nicht verheiratet sein, das ist eine Qual. Eine Qual! Ich kann sie nicht ertragen.“ „Willst du, daß wir uns trennen?“ „Du weißt, daß ich dich haben möchte, nur dich allein! Wir opfern Gott sowieso schon viel.“ „Dein Reden ist sündhaft und vergeblich. Ich werde den Eid nicht brechen. Die Würde unseres Geschlechtes verlangt es von mir.“ „Du bist ein Kind! Ein unvernünftiges Kind!“ Er nannte sie ein Kind, obwohl er in seinem Inneren fühlte, daß sie stärker war als er, daß sie ihn beugen werde und nicht er sie. Enttäuscht barg er seinen Kopf in den Händen und wiederholte traurig: „Das ist nicht gut. Du wirst sehen, es ist nicht gut.“ Der Bau der Wandeltürme machte gute Fortschritte. Es wurden ein großer Turm mit vier Stockwerken und zwei kleinere mit dreien gezimmert. Auf dem großen war Platz für hundert Krieger. Die Brücke, die von oben herabgelassen werden konnte, rastete so fest ein, daß man sie kaum hochstemmen konnte. Die Verteidiger hätten sie erst zerhacken müssen, und das war nicht einfach, denn man hatte sie durch eiserne Beschläge verstärkt. Als die Lateiner auf diese gewaltigen und zugleich leicht zu handhabenden, wendigen, dabei gut stehenden Bauten blickten, bewunderten sie im stillen das Können der Griechen. Am meisten waren sie darüber erstaunt, daß Pantopulos alles auf ein Blatt Papier gezeichnet und berechnet und dann die einzelnen Arbeiten an die Zimmerleute verteilt hatte. Und jetzt paßte alles einwandfrei zusammen, ohne vorher ausprobiert zu sein. Vielleicht kannte er die entsprechenden Beschwörungen. Sie
schauten sich seine Zeichnungen an und hofften, das Geheimnis dieser Wissenschaft zu ergründen, berührten vorsichtig die raschelnden Papierblätter, deren Herstellung ihnen unbekannt war, ließen wißbegierig den Blick über eine Unmenge von Zahlen gleiten, die den Berechnungen eines Tuchhändlers ähnelten. Nichts als Zahlen! Die Zimmerleute, die so viel Zeit und Material für den Bau der unbrauchbaren Gerüste vergeudet hatten, sahen neidisch auf das Ergebnis. Es gab anscheinend für alles ein Mittel, und das Geheimnis lag nur darin, daß man dieses Mittel kannte. Die Ritter die von dem drei Monate langen aussichtslosen Anrennen gegen die Mauern müde geworden waren, kamen in Scharen herbei, um sich zu überzeugen, welche Fortschritte der Bau machte, und wann man endlich zum Angriff antreten könnte. „Der Grieche hat gestern dem Grafen erzählt, die Festung könne in etwa zwei Wochen gestürmt werden“, erklärte de la Tour den Schlesiern, die mit ihm zusammen hergekommen waren. „Noch zwei Wochen! Wir werden von diesem Warten ganz trübsinnig.“ „Der Grieche hat noch etwas anderes erzählt. Des Nachts, als er, der empfindliche Herr, wegen des Gestankes nicht schlafen konnte, habe er ein Plätschern auf dem See gehört. Er nimmt an daß die Heiden heimlich in der Nacht Lebensmittel heranschaffen.“ „Das glaube ein anderer!“ lachte Großkopf. „Wo sollten ihre Galeeren denn stecken?“ „Dasselbe hat auch der Graf gesagt. Von dieser Seite ist weder ein Tor noch eine Einfahrt zu sehen. Aber der Grieche ist bei seiner Meinung geblieben. Vielleicht — so meinte er — liegt die Ausfahrt so versteckt, daß man sie nicht gleich entdeckt.“ „Weiß der Teufel! Möglicherweise hat er recht.“ „Den Teufel laßt lieber aus dem Spiel. Der Teufeleien gibt es sowieso genug bei uns. Wenn das wahr ist, was der Grieche gesagt hat, sind wir alle Narren und Rappelköpfe. Wir sollten einmal des Nachts Ausschau halten.“
„Du wirst soviel sehen wie eine Eule am Tage. Es gibt keine Galeeren, sonst hätten wir sie schon längst bemerkt.“ „Schaut her, da kommt ja der Grieche gerade.“ „Ein widerlicher Bursche wie alle anderen Byzantiner auch.“ „Seid still, er versteht alles!“ Pantopulos hatte sie tatsächlich schon von weitem bemerkt und näherte sich ihnen mit höflichem Lächeln, das sie jedoch nicht erwiderten. Ein widerlicher Bursche, wie d’Armaillac richtig gesagt hatte. Sie mußten zwar zugeben, daß der Grieche im Bau von Belagerungstürmen unübertroffen und außergewöhnlich geschickt war, sonst aber war er ihnen ebenso unangenehm wie Stratigos Argyrios, Butumitos, Tatikios, Euphorbenos Kalatos oder wie der Basileus selbst. In ihren einfältigen Gemütern sahen sie nicht, daß auch diese Angehörige verschiedener Völker waren, und verallgemeinerten diese ihre Ansicht ohne Bedenken. Alle Griechen schienen den Lateinern gleich. Der äußere Schliff des glatten Benehmens und der gezierten Höflichkeit, die Bewegungen der gepflegten Hände und das Lächeln, hinter dem man keine Aufrichtigkeit spürte, machten sie scheinbar einander ähnlich. „Bald sind wir mit dem Turmbau fertig“, versicherte Pantopulos, „dann kann der Großangriff beginnen. Habt Ihr aber, edle Herren, nicht darauf geachtet, was auf dem See getrieben wird? Heute in der Nacht habe ich wieder ein Plätschern gehört.“ „Wir sprachen gerade davon, wie man sich überzeugen könnte.“ „Wißt Ihr nicht wie?“ Pantopulos mußte lächeln. „Meiner Ansicht nach sollten wir ein Boot bauen und heimlich des Nachts hinausfahren, uns auf die Lauer legen und bis zum nächsten Morgen warten. Was meint Ihr dazu?“ „Das wäre nicht übel. Das sollte man tun.“ „Ein ausgezeichneter Gedanke!“ „Holz haben wir genug. Ich werde den Zimmerleuten zeigen, wie sie es bauen sollen. Morgen früh ist ein brauchbares Boot fertig. Die Zeit für eine Beobachtung ist günstig, denn der Mond geht erst nach Mitternacht auf.“
„Wir sind damit einverstanden.“ „Gut!“ „Man kann hinausfahren“, überlegte de Foix, „und das Boot kann einem auch sonst dienlich sein. Wir können bei dieser Gelegenheit fischen. So einen Kahn hätten wir schon längst haben müssen, wir sind nur nicht auf den Gedanken gekommen.“ Ich möchte wissen, ob euch schon jemals etwas eingefallen ist, dachte Pantopulos im stillen und verabschiedete sich von den ehrenwerten Rittern. Wie der Grieche versprochen hatte, war das Boot, obwohl es vom Pech noch klebrig war, am nächsten Tage gebrauchsfertig und wurde ins Wasser gelassen. De la Tour, de Foix, de Luz, d’Armaillac, Imbram, Jasiek Zawora und Nowina nahmen darin Platz. Sechs Knechte ruderten, unter ihnen auch Benito, der seinem Herrn, Imbram, nicht von der Seite wich. Er hatte sich zu einem schönen, kräftigen Mann entwickelt und ähnelte in nichts mehr dem armseligen, halb verhungerten Burschen, den Imbram einst aus Mitleid in seine Dienste genommen hatte. Sie ruderten vorsichtig, ohne die Riemen aus dem Wasser zu nehmen, um kein Geräusch zu verursachen. Die Nacht war dunkel und mondlos. Der See lag spiegelglatt da. Unweit erhob sich dunkel die Stadt. Gegen den Himmel waren die Umrisse der Basteien und die Mauern mit den Schießscharten schwach zu erkennen. Während an den übrigen drei Seiten der Stadt in dichter Folge Wachfeuer brannten, war an der Seeseite kein einziges Licht zu gewahren. Finsternis und Stille herrschten hier, so als wäre die Stadt ausgestorben. „Sie bewachen die Stadt an dieser Seite überhaupt nicht“, bemerkte Imbram. „Der verdammte Grieche hatte einen guten Einfall mit diesem Boot. Baute man große Flöße, so könnte man des Nachts ungesehen heranfahren und von dieser Seite angreifen.“ „Das ist richtig, doch Ruhe, seht, da ist ein Licht!“ Tatsächlich brannte an einer Stelle ein einzelnes Licht. Es leuchtete gleichmäßig und ruhig wie eine Laterne und nicht wie ein Feuer.
„Das müssen sie eben erst angezündet haben. Ob uns diese Tiere schon erblickt haben?“ „Fahren wir doch näher an die Mauer heran!“ Sie ruderten vorsichtig in den Schatten der Mauer, blieben dann liegen und warteten ab. Nach einer Stunde begann das Boot leicht zu schlingern. Der Wind, der sich nach Sonnenuntergang gelegt hatte, erhob sich wieder und trieb kleine Wellen vor sich her, die gegen die Bordwand schlugen und sich wie ein Klopfen anhörten. Es kam den Rittern vor, als ob ihnen die in den See geworfenen Toten aus dem Wasser herauf Zeichen gäben. Sie gruselten sich zwar, hielten aber tapfer und ohne sich zu rühren auf ihrem Platz aus. Dasselbe seltsame Gefühl wie einst in der Zisterne des Basileus überkam sie wieder. Das Wasser und die Nacht, diese zwei mächtigen Verbündeten, erfüllten sie mit steigendem Grauen. „Hört ihr?“ flüsterte plötzlich Nowina und lauschte mit dem in der Wildnis seiner Heimat geschärften Ohr. „Tatsächlich, es klopft etwas!“ „Es plätschert … und gleitet durchs Wasser.“ Sie verstummten, wurden ganz Auge und Ohr. Die Nacht war dunkel, aber doch wiederum nicht so finster, daß das an die Dunkelheit gewöhnte Auge die sich nähernde Galeere nicht erkannt hätte. Sie schien aus der Mauer gekommen zu sein und glitt nun geräuschlos, nicht weit von ihnen, vorbei. Anscheinend wurde sie nur durch das Segel vorwärtsgetrieben, vielleicht aber arbeitete man dort so geschickt mit den Rudern unter Wasser, daß der Schlag nicht zu hören war. Man vernahm nur das Geräusch der kleinen Wellen, die gegen den Rumpf schlugen. Die Galeere war unbeleuchtet und zog wie ein Gespenst an ihnen vorüber. „Der Grieche, so ein Schlaukopf, hat …“ „Still … die zweite …“ „Da, die dritte … die vierte …“
Vier Schiffe. Sie zogen vorbei und verschwanden in der Nacht. Die Ritter warteten noch eine geraume Zeit, aber nichts rührte sich mehr. So beschlossen sie umzukehren. „Sie fahren bestimmt jede Nacht hinaus, und wir stehen am Ufer wie die Dummen“, meinte Imbram. „Diese verdammten Heiden, diese falschen Hunde!“ „Der Grieche hat sie erkannt, denn er ist ähnlich wie sie. Wie sollten wir aber auf diesen Gedanken kommen, wir, die wir an einen ehrlichen Kampf gewöhnt sind.“ „So ist es. Auf zum Ufer!“ „Eines wundert mich nur“, bemerkte der bis dahin schweigsame de la Tour, „wie konnte der Grieche vom Lager aus das Plätschern hören? Wir waren doch ganz in der Nähe und haben es kaum vernommen.“ „Ach, die haben für alles ihre Mittel!“ Die von den Rittern überbrachte Nachricht machte im Rat der Barone einen tiefen Eindruck. Die Ereignisse der letzten Tage, der Streit zwischen Raimund de St. Gilles und Robert von der Normandie, die Angelegenheit Blankas und Raouls, das unerwartete Verlangen Florinas, Raimund solle ihr in Vertretung ihres Vaters die Erlaubnis zur „weißen Trauung“ mit dem dänischen Prinzen erteilen und der Bischof solle diese Ehe einsegnen, gerieten einstweilen in Vergessenheit. Die Sarazenen versorgten sich mit Nahrung und Waffen gewissermaßen vor den Augen der Belagerer! Wie konnte man sie daran hindern? Pantopulos war ausnahmsweise zur Beratung zugelassen. Niemand mochte ihn; aber schließlich war er es gewesen, der die Machenschaften des Feindes entdeckt hatte. Bohemund sah ihn neidisch an. Warum war ihm das nicht eingefallen? Er war also genauso gutgläubig und unbedachtsam gewesen wie alle anderen, hatte seine Unfähigkeit dadurch bewiesen, daß er bisher keine Wachen
auf den See geschickt hatte. Erst der Grieche mußte kommen und ihn darauf stoßen. „Das ist schlimm“, sagte der Bischof nachdenklich, „aber anstatt zu jammern, sollten wir lieber darüber nachdenken, wie die Festung von der Seeseite eingeschlossen werden kann. Dazu benötigen wir Schiffe. Sollen wir sie bauen?“ „Den Bau der Schiffe könnte ich übernehmen“, sagte Pantopulos zögernd, „allerdings ist das eine langwierige, mühsame Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nimmt. Ein Boot läßt sich schnell bauen; aber es ist nicht so einfach, eine kampffähige Galeere zu konstruieren. Wenn mir gestattet ist, meine Meinung zum Ausdruck zu bringen, so möchte ich raten, sich an den edlen Butumitos zu wenden und ihn zu bitten, er möge den Befehl erteilen, unsere Galeeren vom Meer auf den See zu fahren. Der edle Butumitos wird sich zweifellos damit einverstanden erklären; denn er hat ja vor allem das christliche Ziel des Zuges vor Augen.“ „Vielleicht ist das ein guter Gedanke.“ „Wenn der Hochwürdigste Herr es wünschen, so kann ich den edlen Butumitos von Eurem Wunsch unterrichten.“ „Ein Wunsch ist noch kein Beschluß. Wir danken Euch vorerst für den guten Willen und werden Euch rufen, Herr, sobald ein Beschluß gefaßt ist.“ Das bedeutete, daß sie sich ohne den Baumeister besprechen wollten. Pantopulos verstand das sofort und ging hinaus. Aber draußen blieb er noch ein Weilchen stehen. Bohemund lüftete den Vorhang, um sich zu vergewissern, ob der Grieche nicht horche. Beide maßen sich mit kühlem, höflichem Blick. Ohne Verlegenheit zu zeigen, ging Pantopulos davon. Er war zufrieden. Alles klappte bisher wie am Schnürchen. Im Rat sprachen alle durcheinander. „Wir sollen die Griechen um Hilfe bitten? Das kommt gar nicht in Betracht.“ „Wenn wir ihre Galeeren benutzen, können sie nachher behaupten, der Sieg sei nur durch ihr Eingreifen errungen worden.“
„Sie werden behaupten, daß wir uns ohne sie nicht haben helfen können.“ „Was für eine Schande! Lieber noch ein Jahr hier herumsitzen, als die Griechen bitten.“ „Es ist keine Schande“, sagte besänftigend der Bischof, „sie sind ja unsere Verbündeten. Es ist gewiß nicht angenehm, zu bitten aber das Wohl des Ganzen ist wichtiger. Unser Ziel ist Jerusalem und nicht Nizäa. Es liegt uns nicht am leeren Ruhm des Sieges, da ja die eigentliche Ehre erst vor uns liegt.“ „Das ist richtig“, sagte Bohemund, „aber bevor wir unsere Zuflucht zu diesem letzten Mittel nehmen, muß der See in seinem ganzen Umfang erkundet werden. Bisher haben wir das nicht getan, das ist unsere Schuld und ein schweres Versäumnis. Wenn wir um den See reiten, können wir leicht feststellen, wo die feindlichen Galeeren vor Anker gehen, wo sie ihre Lager und Landeplätze haben. Vielleicht gelingt es uns dort von einem Versteck aus, die Galeeren anzugreifen und sie zu vernichten. An einigen Stellen sind die Ufer möglicherweise zugänglich. Wenn wir sie besetzen, können wir dasselbe erreichen, was eine Flotte ausrichten würde. Heute noch werde ich mit meines Bruders Sohn und tausend Mann aufbrechen. Ich glaube, der edle Rat wird Pantopulos so lange hinhalten können, bis wir zurückgekehrt sind.“ „Selbstverständlich“, versicherte der Bischof. „Ich reite mit Euch“, rief Hugo de Vermandois. Durch dieses Anerbieten hoffte er, für eine Zeitlang aus der ihn umgebenden Einöde in unzerstörte Gegenden zu kommen. Der Vorschlag des Fürsten von Tarent wurde ohne Widerspruch angenommen. Eine solche Einstimmigkeit herrschte selten. Sie würden in diesem Falle alles beschlossen haben, was sie der Notwendigkeit enthoben hätte, den unbeliebten Griechen um Hilfe zu bitten. Die Ritter, die seit drei Monaten in der heißen, baumlosen Wüstenei weilten, die sie selbst rings um die Festung geschaffen hatten, atmeten voller Wonne den Duft und genossen den Schatten des
Waldes. Sie konnten sich an den grünen Matten nicht satt sehen, die sie schon nach vier Stunden Ritt umgaben, denn in diese Gegend hatten sie sich noch nicht hinausgewagt. Die Sonne schien golden auf die sie umgebende fruchtbare Erde. Antilopen und wilde Böcke wechselten zur Tränke am See. Zwischen den Hufen der Pferde wurden Hasen und Rebhühner flüchtig. Ihre Falken waren lange Zeit untätig gewesen und flatterten jetzt unruhig auf der Faust des Falkners, schrien und versuchten hochzufliegen. Deshalb empfahl auch Tankred, die Vögel von Zeit zu Zeit aufsteigen zu lassen, damit sie sich bewegen und vergnügen konnten. Und so wie die Falken freuten sich auch die Ritter, reckten ihre Glieder, die von der zermürbenden Berennung der Stadtmauer ermüdet waren. Sie sangen laut ein italienisches Kampflied und kümmerten sich um keine Deckung, im Gegenteil, sie wären gern auf Sarazenen gestoßen. Es gab ja nichts Schöneres als den Kampf im Schatten der Bäume auf einer grünen Wiese. Aber von den Heiden fehlte jede Spur. Kilidsch–Arslan hatte auf seinem Rückzug alle Stämme mitgeführt. Die zurückgelassene Bevölkerung war auf das jenseitige Seeufer geflohen. So zogen Bohemunds Krieger volle fünf Tage dahin. Des Nachts entzündeten sie Lagerfeuer und errichteten Schutzhecken aus Dornengestrüpp gegen die Löwen. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Nur ein schmaler Landstreifen trennte den See vom Meer. Sie galoppierten auf einen Hügel und erblickten das Meer. Das geliebte Mittelländische Meer, ihr heimatliches Meer! Die italienisierten Normannen liebten es besonders, hatten sie doch neben der Besitzgier und dem Fernweh der Wikinger die gefühlvolle Zärtlichkeit der Südländer im Blut, für die das Meer die schönsten Träume weckte. Das Meer war ihre eigentliche Heimat, der Weg der Sehnsucht nach Macht und Ruhm. Wie dunkler Saphir lag es bis zum Horizont da in seiner Größe. Eine herrlich frische Brise, die nach Salz und Freiheit schmeckte, wehte ihnen entgegen.
Sie standen auf der Mitte der Landenge. Hinter ihnen auf dem See war nichts zu sehen, weder ein Schiff noch ein Landungsplatz. Befanden sich hier Schiffe, so konnten sie nur in einem guten Versteck irgendwo an der Südseite liegen. Und auf dem Meer? „Da liegen ja ganz dicht am Ufer Galeeren!“ rief Tankred aus und wies mit der Hand in diese Richtung. Tatsächlich, ganz in der Nähe der auf der Anhöhe stehenden Ritterschar, beinahe zu ihren Füßen, waren vor Anker liegende Schiffe zu sehen. Ihre Masten waren geneigt, die Segel gerefft. Die Schiffe waren schwarz, garstig wie Raben. Am Ufer hatten Männer ein Feuer angezündet. Wer mochte das sein? Griechische Schiffe waren es nicht, denn die Chalanden waren nicht angestrichen, auch fehlte das Labarum, sarazenische aber auch nicht, denn nirgends war die grüne Flagge zu sehen, auch keine Genuesen, denn deren Galeeren waren schon von weitem leicht zu erkennen. „Seeräuber! Die Seeräuber! Meine Seeräuber!“ rief Hugo de Vermandois freudestrahlend aus. „Ich erkenne sie, das ist Guynemer. Er ist es!“ „Was für Seeräuber“, fragte Bohemund neugierig. „Sie sind genauso Kreuzfahrer wie wir, obwohl sie richtige Seeräuber sind. Ich bin mit ihnen zusammen angekommen. Die Genuesen haben sie nicht nach Byzanz gelassen. Gott hat sie uns geschickt. Ihr werdet sehen, wir brauchen Butumitos nicht zu bitten.“ „Seid Ihr dessen sicher, Graf, daß sie es auch wirklich sind?“ fragte Bohemund mißtrauisch. „Ihr könnt Euch sofort überzeugen. Wir rufen alle laut ‚Gott will es‘ und sie werden sofort antworten, denn sie sind ja auch Kreuzfahrer.“ „Gott will es! Dia li volt!“ erschallte es laut von der Anhöhe. „Dia li volt!“ hallte es vom Lagerfeuer wie ein Echo wider. In den Haufen unten kam Bewegung. Man blickte zur Anhöhe empor und winkte. „Dio li volt!“
„Seht Ihr?“ triumphierte Hugo. „Das ist Guynemer. Er besitzt zehn Schiffe, gerade soviel, wie wir brauchen. Wir wollen schnell hinuntergehen, aber nur zu dritt, denn die Burschen sind vorsichtig und mögen keine Fremden. Sie werden mich sofort wiedererkennen. An dem Feuer braten sie sicher einen Heiden am Spieß. Diese Halunken fressen alles. Laßt uns hinabsteigen.“ „Man sieht es auf den ersten Blick, daß sie richtige Räuber und Plünderer sind“, bestätigte Bohemund immer noch mißtrauisch. „Ich bin anderer Meinung als Ihr, Graf, ich würde zunächst einmal Knechte hinschicken; denn es lohnt sich nicht sich in einen Kampf mit diesem Gesindel einzulassen.“ „Ich versichere Euch, daß sie den Knechten sofort den Garaus machen, uns aber werden sie gastlich empfangen. Ich habe mit Guynemer so manchen Becher Wein getrunken. Laßt mich nur, ich reite selbst voran.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ritt er den Steilhang hinunter. Sein Pferd schnaubte unruhig und rutschte fast auf dem Hinterteil. Die Steine polterten nur so von der Böschung. Die das Feuer umstehenden zerlumpten Kerle beschirmten ihre Augen mit der Hand und blickten aufmerksam auf den ihnen sorglos entgegenkommenden Reiter. Auf halbem Wege stieß Hugo noch einmal den Kreuzzugsruf aus und winkte freundschaftlich mit der Hand. Sie antworteten freudig, denn erst jetzt erkannten sie den reichen Faulpelz, mit dem sie gemeinsam nach Byzanz gefahren waren und auf dessen prächtige Galeere sie so lüstern geblickt hatten. Guynemer selbst riß sich das schwarze Tuch vom Kopf und winkte freundschaftlich. Bohemund und Tankred ritten mit zwei Knappen Hugo nach. Sie taten es widerstrebend, denn wie sollten sie mit diesen nicht hochgeborenen Menschen sprechen. Aber als sie unten angelangt waren, schwanden beim Anblick Guynemers ihre Befürchtungen. Der negerbraune Seeräuber mit den frechen, grausamen Augen trug ja auf dem ölgetränkten Wams einen ledernen, mit goldenen Nägeln beschlagenen Rittergurt, an dem ein kleines, kurzes Schwert hing.
„Ich bin Guynemer de Boulogne, ein rechter Seeritter“, sagte er und drehte die behaarte Rechte mit der hohlen Fläche nach oben. „Ich werde der König der Seeräuber genannt. Die Genuesen haben eine Belohnung von einhundert Byzantinern auf meinen Kopf ausgesetzt. Ich habe zwar schon eine Menge Schiffe versenkt, aber nie das Schwert gegen einen wahren Ritter erhoben.“ „Wir glauben das gern“, bestätigte Bohemund beruhigt und betrachtete aufmerksam die Männer, deren Knochen aus Stahl und Eisen zu sein schienen, deren Gestalten so sehnig und mager wie die von Raubvögeln wirkten und deren Zähne und Augen blitzten. Sie standen unweit, in einer wohlgeordneten Reihe und erwiesen so den Ankömmlingen eine Ehre. „Ich habe den edlen Rittern gesagt, daß Ihr bei diesem Feuer wahrscheinlich einen Heiden zum Mittagessen bratet“, sagte Hugo lachend. „Das ist oft vorgekommen, aber heute haben wir einen wilden Bock. Geruhen die edlen Herren, sich zu stärken?“ „Wenn Ihr Wein habt, gern!“ „Wir und keinen Wein! Sogar italienischen, keinen griechischen. Wir haben ihn den Genuesen abgenommen.“ „Treibt Ihr mit ihnen wie früher Euer Spiel?“ „Man muß leben!“ „Wieviel Galeeren habt Ihr hier?“ unterbrach ihn Bohemund. „Zehn. Wir hatten mehr; aber die anderen ruhen auf dem Meeresgrund.“ „Hört, gnädiger König der Seeräuber: Die Heiden in Nizäa haben Galeeren verborgen, die des Nachts auf den See hinausfahren, an einer uns unbekannten Stelle anlegen und Lebensmittel für die Stadt heranschaffen. Da wir keine Schiffe haben können wir sie nicht daran hindern. Die Griechen würden uns helfen und ihre Flotte auf den See übersetzen, aber …“ „Ich verstehe, Fürst, Ihr braucht weiter keine Worte darüber zu verlieren. Guynemer begreift das schon. Die Hölle soll die Griechen
verschlingen! Gebt mir dreihundert Mann, und wir ziehen meine Galeeren noch heute über die Landenge.“ „Ich gebe Euch tausend.“ „Das kann nicht schaden. Wo sind sie? Sie sollen sofort mit Holzfällen beginnen.“ „Wozu?“ „Für den Trakt. Wir müssen die ganze Landenge vom Meer bis zum See mit Rundholz überbrücken.“ „Laßt uns zunächst auskundschaften, welche Stelle die günstigste ist.“ „Ich kenne sie genau, denn wir liegen schon vierzehn Tage in dieser Bucht. Die ganze Gegend ist mir gut bekannt. Jungens! Tragt alles aus den Galeeren an Land, alles, was nicht niet– und nagelfest ist! Die Masten, die Ruder, die Schatzkisten, die Taue, die Ketten, die Segel … Zum Teufel! Schneller! Soll ich euch Beine machen?! Wird’s bald?! Der Blitz soll euch in eure lahmen Hintern fahren, wenn ihr euch weiter so bewegt!“ Diese Aufforderung zur Eile war nichts weniger als eine Redensart. Die Seeräuber stürzten sich bei den ersten Worten, bis zur Hüfte im flachen Wasser watend, auf die Galeeren und kletterten wie Katzen die Bordwände hoch. „Sind geschickte Burschen“, bemerkte Tankred anerkennend. „Sie haben schon etwas Übung und wissen, daß ich keinen Spaß mache. Wo sind Eure Mannschaften, Fürst?“ „Hinter dem Hügel! Wir werden sie sofort rufen!“ Tankred gab seinem Knappen ein Zeichen, der ein Horn an die Lippen setzte; doch Guynemer hielt ihn zurück. „Wozu sollen sie erst herkommen, die Bäume wachsen ja am See und nicht hier. Schickt einen Burschen zu Euren Leuten, damit diese sofort an Ort und Stelle mit dem Holzfällen beginnen. Aber nur die schlanken, geraden Bäume sollen geschlagen, die Stämme gleich geschält und die Knorren behauen werden. In zwei Stunden sind die Galeeren abgetakelt. Beim heiligen Ostremius! Wenn Eure
Leute rechtzeitig mit dem Fällen fertig werden, können wir noch in dieser Nacht auf dem See sein.“ „Ihr habt recht“, stimmte Bohemund anerkennend zu. „Ich reite selbst zu meinen Leuten, um sie gehörig anzutreiben. Zeigt uns nur die Stelle, wo die Stämme gelegt werden sollen.“ Es war noch keine Stunde verstrichen, als es am Ufer lebendig wurde. Das Wild stob scheu auseinander. Axtschläge waren weithin zu hören und hallten in gleichmäßigem Rhythmus wider. Der Weg, der von den frisch entrindeten Bäumen gelegt wurde und von weitem leuchtete, war bereits bis zur Mitte der Landenge fertig; doch es gelang trotz größter Anstrengung nicht, die Arbeiten bis zum Abend zu beenden. Erst am Nachmittag des nächsten Tages packten zweihundert Hände die Taue der ersten Galeere und hoben das Fahrzeug im Wasser an, so daß die Wellen aufschäumten, schleppten es ans Ufer und zogen es auf dem Festland ruckweise und unter anfeuernden Rufen über die Rollbahn. Guynemer war überall, bald hier, bald dort. Er selbst legte die Rundhölzer mit unter, stemmte mit der Schulter den Rumpf des Schiffes an, wenn dieses auf einem Knorren festsaß. Die Krieger arbeiteten im Schweiße ihres Angesicht die ganze Nacht. Die Sterne verblaßten schon, als die erste Galeere in den See glitt. In fieberhafter Eile brachten die Seeräuber Masten, Rahen, Segel, Taue, Ketten und alles übrige wieder an und setzten die Ruder in die Dollen. Da sich aber zu viele Menschen auf einer Stelle nur gegenseitig behinderten, ließ Bohemund Tankred mit dreihundert Bewaffneten zurück und brach selbst mit der übrigen Mannschaft und der guten Nachricht zum Lager auf. Er hatte es eilig, denn er befürchtete, seine Gefährten könnten, des langen Wartens überdrüssig, inzwischen doch Boten zu Butumitos geschickt haben. Der Teufel soll den verfluchten Griechen holen! Der wird sich wundern! Sicherlich hatte er von Anfang an gewußt, daß die Heiden Galeeren besaßen. Die Byzantiner hatten ja Nizäa erbaut. Sie mußten den hinter der Mauer verborgenen Hafen kennen. Diese Halunken! Erst als Kilidsch– Arslan geschlagen war, hatte Butumitos die Lateiner durch
Pantopulos davon in Kenntnis gesetzt, und jetzt gedachte er alle Vorteile für sich zu nutzen. Das war klar. Wie töricht waren alle, und besonders er, Bohemund, gewesen, daß sie dieses Spiel nicht durchschaut hatten. Die Griechen verfuhren mit ihnen, wie es ihnen am besten paßte. Aber ihn, den Normannen, sollten sie, das schwor er sich, zum letzten Mal genarrt haben. „Welch ein Glück, daß ich mitgeritten bin“, sagte Hugo selbstzufrieden und ritt im Trab neben Bohemund her. „Ohne mich hättet Ihr Euch mit Guynemer nicht verständigen können. Sind wir nicht klug? Das muß doch jeder zugeben. Auf den Gedanken, die Galeeren hinüberzuziehen, wäre so leicht niemand gekommen.“ „Sind wir wirklich so klug?“ erwiderte Bohemund. „Ich dachte gerade darüber nach und kam zu einem ganz anderen Schluß.“ Hugo blickte ihn ungläubig und verstimmt an. Tankred verteilte seine Leute gleichmäßig auf alle Galeeren. Er selbst blieb bei Guynemer. Sie fuhren bis in die Nähe der Stadt. Den ganzen Tag hatten sie verborgen in einer Bucht gelegen und ruderten jetzt in der Abenddämmerung in entsprechender Entfernung weiter wie Fischer, die ihre Netze auswerfen. Über dem See lag die stille asiatische Nacht. Der Mond, der so schmal war wie die mohammedanische Mondsichel, erhellte den Himmel. Die schwarzen Schiffe hielten schweigend Wache. Sie brauchten nicht allzu lange auf ihre Beute zu warten. Schon näherte sich diese nichtsahnend in Gestalt einer Galeere. Ihre Vergoldungen glänzten schon von weitem, und ihre schlanke Form fiel den Wartenden auf. Das war keine gewöhnliche Galeere! Im Mondenschein schimmerte das Deck golden. Die Bordwände waren mit Schnitzereien verziert. Die Besatzung hatte die Wartenden bereits bemerkt und kam in der Meinung, es handele sich um befreundete Fahrzeuge, in voller Fahrt direkt auf die Lateiner zu. Die schwarzen Schiffe lagen aber unbeweglich da, um die Beute nicht vorzeitig zu verscheuchen.
„Bei Allah! Das sind nicht die Unsrigen!“ Plötzlich arbeiteten alle Ruder der goldenen Galeere mit äußerster Kraft rückwärts, so daß ringsum das Wasser gurgelte. Das schöne Fahrzeug wendete auf der Stelle zu einer halben Drehung. Aber schon peitschten die Ruder zweier Seeräubergaleeren so plötzlich das Wasser, daß die schwarzen Schiffskörper hochschnellten. Von zwei Seiten stürzten sie sich auf die fliehende Galeere. Der Zusammenprall war so heftig, daß die Bordwände krachten und die Verbände ächzten. Die Büge hoben sich aus der Flut. Schon wurden von beiden Seiten Enterbrücken auf das Deck geworfen, auf denen wendige schwarze Gestalten wie Teufel hinübersprangen. Das krumme Messer zwischen den Zähnen, den Speer in der einen Hand und die Keule in der anderen. Die Verteidiger stellten sich schnell zum Kampf und sangen tapfer: „La ilah el Allah, Mohammed rasul Allah!“ Doch ihr Gesang wurde von den gellenden Schreien einer Frau übertönt. „Das wird eine Freude nach dem Kampf geben“, rief Guynemer aus, rieb sich dabei die Hände und wies auf das Deck der sultanischen Galeere. Es entwickelte sich ein Handgemenge. Die Hiebe fielen schnell und hageldicht. Mit rauschenden Ruderschlägen eilten drei muselmanische Galeeren der ersten zu Hilfe. Die Seeräuber hatten aber schon die Oberhand und enterten jetzt die drei anderen Schiffe. Auf dem stillen Wasser hallte der Kampfeslärm wider, man konnte das Krachen der Beilschläge gegen die Bordwände, das Geräusch der fallenden Körper und das Röcheln der Verwundeten hören. Die Seeräuber heulten vor Begeisterung wie eine Horde Teufel. Eine schrille weibliche Stimme schrie und jammerte immer noch in Todesangst. „Was für ein Weib kreischt denn da so entsetzlich? Es geht ihr ja niemand ans Leben!“ rief Guynemer ärgerlich und stieg nach unten. Es ging ihm nicht so sehr um das Weib; aber wehe, wenn sich einer von der Mannschaft vor Beendigung der Schlacht und ohne Erlaubnis des Führers mit ihr vergnügt hätte! Solche Sachen duldete der alte Räuber nicht.
Er kam gerade zur rechten Zeit. In einer mit Goldbrokat ausgeschlagenen Kajüte versuchte ein großer schwarzer Eunuch die Sultanin Dschurissa mit einem Messer zu erstechen. Der Verschnittene erfüllte nur seine Pflicht. Die Sultanin durfte nicht lebendig in die Hände der Ungläubigen fallen. Aber die Frau, die vor Schreck halb von Sinnen war, floh vor ihm behende wie ein Wiesel und schrie dabei aus Leibeskräften. In der Kajüte nebenan weinte verzweifelt ein Kind. Mit einem Keulenschlag streckte Guynemer den Schwarzen, der in seinem Eifer den Eintretenden nicht bemerkt hatte, zu Boden, stieß dem Niedergeschlagenen den Dolch in die Seite und musterte dann Dschurissa mit Kennerblick. „Schrei nicht so, Allerschönste, er kann dir nichts mehr tun. Das wird dir zwar nicht viel nützen, aber du wirst vor dem Tode wenigstens noch genießen …“ Guynemer eilte aus der Kajüte und verriegelte die Tür. Auf Deck war bereits alles still, weil sich darauf nur Tote und der einäugige Seeräuber Matthäus, der das Steuer bediente, befanden. Die Ruder hingen unbeweglich ins Wasser. Aus den Luken tropfte Blut. Auf den übrigen Galeeren dauerte der Kampf noch an. Tankred wütete dort mit seinen Gefährten und sprang wie ein Tiger über die Taurollen. „Tötet die Ruderer nicht!“ rief er nach unten, wo ein wüstes Gemetzel im Gange war. „Es sind vielleicht Christen unter den Sklaven.“ Die Seeräuber und die Krieger Tankreds hörten sofort auf, die wenigen, noch am Leben gebliebenen Unglücklichen totzuschlagen. Im Gegenteil, sie befreiten die Ruderer aus den Bänken, auf denen die mageren Körper Vertiefungen ausgerieben hatten und zogen die Bedauernswerten an Deck. Die Morgendämmerung stieg schon langsam herauf. Die verängstigten Ruderer schwankten auf ihren Beinen. Tankred sprach zu ihnen. Sie verstanden ihn aber nicht. Er machte das Kreuzeszeichen. Drei fielen schluchzend vor ihm auf die Knie und wiederholten das heilige Zeichen. Sie streckten bittend die Hände zu ihm auf.
„Diese drei laßt in Frieden. Gebt ihnen zu essen! Mit den anderen tut, was ihr wollt.“ Es wurde kein großes Aufheben gemacht. Ein jeder bekam mit der Keule einen Schlag auf den Kopf und wurde den Fischen zum Fraß in den See geworfen. Von seiner Galeere aus erteilte Guynemer laut Befehle. „Die Segel setzen!“ Es kam Wind auf, so konnten die Schiffe direkt zum Lager fahren. Die heidnischen Galeeren wurden ins Schlepptau genommen. Die Verteilung der Beute sollte am Ufer erfolgen. „Was wünscht Ihr zu behalten, Fürst?“ fragte Guynemer Tankred, als sie einige Zeit später, fast eine Meile von den Lagern entfernt, gelandet waren. Am Ufer war schon eine ansehnliche Menge erbeuteter Waffen, Kleidung, Geräte und verschiedene Kostbarkeiten aufgestapelt. „Das ist Eure Beute“, entgegnete Tankred. „Ich habe damit nichts zu schaffen. Was ist das für ein Weib?“ „Das ist das Geschöpf, das zu Beginn der Kämpfe so geschrien hat. Es soll die Frau des Sultans sein, ihr Kind ist auch dabei.“ „Die Gattin Kilidsch–Arslans?“, rief Tankred erstaunt aus. „Ja, so sagt man. Sie fuhr auf der Galeere des Sultans. Ich habe die drei Ruderknechte, die Christen, gefragt. Sie haben immerzu wiederholt: ‚Kilidsch–Arslan!‘ Es ist schwer, sich mit ihnen zu verständigen.“ „Die Sultanin wäre nicht ohne Gefolge gereist.“ „Es war ein Verschnittener da, den ich getötet habe, außerdem vier Sklavinnen, von denen niemand etwas wußte. Sie sind ertrunken, als Wasser in ihre Kabine lief.“ „Die Sultanin?“, wiederholte Tankred neugierig. Guynemer gab ein Zeichen. Zwei Piraten brachten die Frau herbei, die keinerlei Widerstand leistete. Ihr Gesicht war mit einem dichten Schleier bedeckt. Sie trug ein kostbares, golddurchwirktes, bis zu den Füßen reichendes Seidengewand. Ihre Füße steckten in goldenen Sandalen. Der vierjährige, ungewöhnlich schöne Kleine
klammerte sich an sie und blickte die Fremden mit großen schwarzen Augen mißtrauisch und feindselig an. Sie blieben vor Tankred stehen. Einer der Seeräuber riß der Gefangenen den Schleier vom Kopf. Die Frau schrie auf und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie zogen sie von dem Kinde weg, hielten sie fest und versuchten, ihr das Gewand vom Leibe zu reißen. „Unterlaßt das!“ Tankred gebot Einhalt. Neugierig blickte er in das schöne entschleierte Gesicht und errötete unwillkürlich wie ein Mädchen. Beim Blut des heiligen Januarius! Wie unvergleichlich schön war diese Heidin mit den sanften, traurigen Augen einer Gazelle, der Gesichtsfarbe, die Rosenblütenblättern und Schneeflocken glich, den zarten Lippen, die in Form eines Herzens gemalt waren. Doch der Zauber ihrer Schönheit war damit nicht erschöpft. Dem Ritter, der sie entzückt betrachtete, schien es, als wäre sie der Inbegriff der Weiblichkeit, die Verkörperung des weiblichen Geschlechts. Ohne eigenen Willen, ohne das Bewußtsein, sündig zu sein oder verantwortlich für ihr bestrickendes Dasein im Leben des Mannes, stand sie vor ihm. Sie war nicht die in Leinwand gekleidete, kräftige, lateinische Lebensgefährtin, nicht die gebildete, in allen Künsten bewanderte Griechin, die sich in Männerangelegenheiten mischte, sondern sie war einfach das Weib schlechthin, die Sklavin. Der einzige Eindruck, den ihr Anblick hinterließ, war das Bild der körperlichen Lust. Sie war ein herrliches Werkzeug der Liebe, das vortrefflichste Gefäß der Wonne. Sie kannte nichts anderes als ihre einzige Pflicht, Wollust zu schenken, in der Liebesumarmung des Mannes süß zu sein, sich jedem seiner Begehren zu fügen. Das trat so offenkundig in Erscheinung, daß sie, obwohl sie verhüllt war, sich äußerlich mit ihrem, für jedermann sichtbaren Geschlecht zu brüsten schien. Tankred, der sich durch Strenge gegen sich selbst auszeichnete, der Ritter ohne Makel, der so hart wie Diamant, so tapfer wie ein Löwe, so schön wie ein junger Gott war, starrte sie verzaubert an. Er wurde sich über seine Gefühle nicht recht klar,
wußte nur das eine, daß sich die Seeräuber nicht nach ihrer Art mit diesem wunderbaren weiblichen Geschöpf vergnügen durften. Er wandte sich an Guynemer: „Sofern das die Frau des Sultans ist, darf sie ohne Zustimmung der Herren Barone nicht angetastet werden. Einstweilen verbleibt sie in meinem Lager unter dem Schutz meiner Mannen.“ Guynemer grinste zynisch. „In einem solchen Falle gehört uns aber das Lösegeld. Was haben die Herren Barone hier schon zu sagen? Aber ich verstehe, der Fürst ist jung …“ Tankred errötete vor Zorn. „Mein Alter hat mit der Sache nichts zu tun. Das Lösegeld werdet Ihr erhalten. Niemand hat die Frau solange anzurühren, bis der Rat beschlossen hat, was mit ihr geschehen soll.“ „Meinetwegen! Wer bürgt uns aber für das Lösegeld?“ „Ich“, rief Tankred, „ist Euch ein Ritterwort eine zu geringe Bürgschaft?“ „O nein, das genügt schon … sofern der Fürst selbst …“, versicherte der Seeräuber und zwinkerte dabei mit den Augen. Die Sache bereitete ihm anscheinend Vergnügen. Tankred beachtete ihn nicht mehr, hieß Dschurissa mit dem Kind in sein Lager führen, beiden zu essen geben und sie besonders gut bewachen. Er selbst bestieg sein Pferd und galoppierte zu Bohemund, um seinem Oheim über den günstigen Verlauf der Kämpfe und die Eroberung der vier Galeeren zu berichten. „… die eine gehörte dem Sultan und war über und über mit Gold und Kostbarkeiten bedeckt“, endete Tankred seinen Bericht. „Auf dem Schiff fuhr ein Weib mit ihrem Kind, angeblich die Frau Kilidsch–Arslans. Sie befindet sich jetzt in meinem Lager und wird bewacht.“ „Ist sie schön?“ „Ja, sie ist schön“, erwiderte Tankred und errötete dabei. „Ich habe sie den Piraten weggenommen“, fuhr er ärgerlich fort, „denn Kilidsch–Arslan ist, obwohl ein Heide, ein ehrlicher Feind, der sich
tapfer geschlagen hat. Es erscheint mir unschicklich, seine Frau und seinen Sohn der Mißachtung oder gar dem Tode auszusetzen. Das Beste wäre, man schickte beide dem Sultan.“ „Du hast recht“, gab Bohemund zu, „aber die Unsrigen verstehen so etwas nicht. Für sie bleibt das Weib eine Heidin und nichts anderes.“ „Was ist also zu tun?“ brauste Tankred auf. „Hat sie dir gefallen? Dann nimm sie.“ „Nein, ich habe sie nicht deswegen in Schutz genommen, sondern weil ich in dieser Sache nicht unredlich handeln möchte.“ „Wenn es so aussieht, dann schicke sie zu Butumitos. Er wird sich sicherlich darüber freuen und sie als Geisel behalten. Aber dann ist sie weit entfernt, und du wirst sie nicht sehen können.“ „Ich will sie auch nicht zu Gesicht bekommen!“ rief Tankred erregt aus. Dieser Ausruf klang aufrichtig. Bohemund blickte seinen Neffen aufmerksam an. Was war das für ein seltsamer Junge! „In einem solchen Falle schicke sie dem Griechen“, wiederholte er, „Butumitos wird den Seeräubern gern das Lösegeld zahlen.“ „Ich werde sie morgen, bei Tagesanbruch, fortschicken.“ „Ich rate dir, sie selbst hinzubringen.“ Tankred schaute seinen Oheim mißtrauisch an und errötete wieder. „Ein Schreiben genügt!“ murmelte er trotzig und ging hinaus. Er kehrte erst am späten Abend zu seinem Lager zurück und ging an dem Zelt der Gefangenen vorbei, um festzustellen, ob die Wachen auch nicht schliefen. Sie schliefen tatsächlich. Sollte er sie wecken oder nicht? Er entschloß sich, dies vorerst nicht zu tun, trat ganz dicht an das Zelt, ergriff den Vorhang und stand zögernd und unsicher da. Mit plötzlicher Bewegung zog er die Hand zurück, kehrte um und ging davon. So wie es Bohemund vorausgesagt hatte, empfing Butumitos Dschurissa mit den ihr gebührenden Ehren und zahlte den Seeräubern ein hohes Lösegeld. Die Gattin und der Sohn des Sultans waren für ihn ein wertvolles Pfand. Wenn das
Unternehmen der Kreuzfahrer scheitern sollte, so würde man jederzeit mit Kilidsch–Arslan verhandeln können und sich durch das Versprechen, ihm seine Familienangehörigen auszuliefern, vor seiner Rache schützen. Zum ersten Mal schien ihm eine Handlung der Lateiner verständlich und klug zu sein. Dagegen beunruhigte den griechischen Anführer die Anwesenheit der Seeräuber vor der Stadt. Das war ein unerwartetes Hindernis. Wie hatten seine Leute das nur zulassen können? Es war zu erwarten, daß der große Drungarios der Flotte die Schuldigen wegen Nachlässigkeit gehörig bestrafen würde. Er mußte sich so schnell wie möglich mit Mudschahid verständigen. „Haben wir noch Tauben von dort?“ „Nein, wir haben keine, Euer Gnaden“, erwiderte der Anführer der Wachen. „Gebt durch Lichtzeichen der Stadt Bescheid, daß sie einen Boten herschicken sollen.“ „Das wird jetzt, nach der Besetzung des Sees nicht einfach sein.“ „Beim heiligen Theodoros Stratilatos! Sollte Mudschahid kein Mittel finden, diese ungeschliffenen Burschen, die nicht weiter denken als ihre Nasenspitze reicht, irrezuführen? Er wird einen der Seinigen als armenischen Flüchtling von der Mauer herablassen.“ „Ich weiß nicht, ob es dort noch jemand gibt, der griechisch spricht!“ „Glaubst du wirklich, Aristos, daß die Lateiner merken, ob jemand griechisch oder arabisch spricht? Da ist nichts zu befürchten. Die Hauptsache ist, daß der Mann unverständlich redet und ein Kreuz auf der Brust trägt. Und wie weit ist Pantopulos mit dem Turmbau?“ „Er wartet auf den Befehl Eurer Gnaden, um die Türme zu vollenden.“ „Er soll noch so lange warten, bis ich mich mit Mudschahid verständigt habe. — Du kannst gehen, Aristos!“ Die Hitze wurde von Tag zu Tag unerträglicher, das Wasser roch übel, die Luft stank. Die Festung aber stand, wie sie gestanden
hatte. Mit ihrem dreifachen, kaum beschädigten Mauerring und mit dreihundert Türmen bewehrt, trotzte sie den Belagerern. Deshalb hatte sich auch die Kampfverbissenheit der Lateiner in Haß verwandelt. Könnten sie sich doch auf diese verfluchten Feinde stürzen und ihnen endlich für das zweimonatige ohnmächtige Anrennen gegen die unzerstörbaren Mauern, für das hinterlistige nächtliche Ausbessern, für das heimliche Heranschaffen der Nahrung, für den Abwurf der Schlangen auf ihre Häupter, für die Hitze und für alle sonstigen Mühen heimzahlen! Einfach alles erwürgen und zertreten! Dieser Augenblick näherte sich allmählich. Endlich! Jeder Tag brachte sie dem großen, ersehnten Hauptangriff näher, der von den Belagerungstürmen unterstützt werden würde. Schon herrschte in allen Lagern emsiges Treiben. Wie in einem Ameisenhaufen lief alles umeinander. Die einzelnen Abteilungen drängten sich beinahe mit Gewalt durch die Menge, um möglichst nahe an die Mauern heranzukommen, eine günstige Stellung zu beziehen und als eine der ersten anzugreifen. Jeder wünschte derjenige zu sein, welcher von der Brücke auf die Mauer sprang. Zur Besetzung der Türme meldeten sich beinahe soviel Freiwillige, wie es Krieger gab. Wann würde der ersehnte Angriff endlich erfolgen? Die Türme schienen fertig zu sein, doch der Grieche zögerte immer noch. „Mir scheint, wir können morgen losschlagen“, sagte Raimund de St. Gilles ungeduldig zu Pantopulos, „die Wandeltürme sind ja fertig.“ „Das scheint nur so, Euer Gnaden. Soll der gewünschte Erfolg erzielt werden, so muß noch einige Tage an ihnen gearbeitet werden.“ „Noch einige Tage?“ rief Raimund empört aus. „Woran? Die Räder sind fertig, der Mauerbrecher arbeitet ohne Störung, seht …“ Der hitzköpfige Graf lief hin und zog den Hebel beiseite. Der mächtige, als Rammbock dienende Balken schaukelte hin und her, fiel, da er nicht auf den Widerstand der Mauer stieß, krachend aus seinem Lager und hätte beinahe Herrn de Foix, der neben dem Turm stand, erschlagen.
Der Baumeister lächelte verstohlen. „Ihr seht also selbst, edler Herr, daß der Turm noch nicht fertig ist. Geruhet Eure berechtigte Ungeduld zu zügeln. Wenn man schon so lange gewartet hat, macht ein Tag mehr oder weniger auch nichts aus.“ „Im Gegenteil! Je länger wir warten, desto größer ist die Qual, selbst wenn es nur eine Stunde ist. Morgen ist Sonnabend, ein guter Tag für den Sturmangriff.“ „Ein wirklich guter! Mögen Euer Gnaden den Angriff bitte auf den übernächsten Sonnabend festsetzen.“ „Was? Noch eine Woche?! Das kommt gar nicht in Betracht! Arbeitet auch in der Nacht, denn spätestens bis Dienstag müssen die Wandeltürme fertig sein. Andernfalls“, fügte er zornig hinzu, „werden wir dieser Saumseligkeit auf den Grund gehen!“ Pantopulos schien dieser Einwand unangenehm zu sein. „Saumseligkeit?“ jammerte er. „Der barmherzige Gott sieht, wie ich zu seiner Ehre Tag und Nacht arbeite. Dafür ernte ich solchen Undank. Was kann ich dafür, daß der Bau der grimmigen Maschinen einige Zeit in Anspruch nimmt. Übrigens, edler Herr, arbeitet jeder Tag für Euch. Die Stadt erhält keine Lebensmittelzufuhren mehr, und sicher ist dort schon eine Hungersnot ausgebrochen.“ „Das ist es ja gerade“, rief Toulouse aus, „ich will noch gegen gute Krieger kämpfen und nicht gegen Hungerleider, denen das Schwert aus der Hand fällt.“ „Wir werden uns mit Gottes Hilfe bemühen, den Turmbau bis Dienstag zu beenden“, versicherte der Grieche feierlich. Der Springbrunnen plätscherte wie sonst, die goldenen Kugeln fielen mit demselben Klang in die Schale, nur der Emir Mudschahid war nicht mehr der gleiche. Er war im letzten Monat gealtert. Es fiel ihm immer schwerer, die Ruhe zu bewahren, die einem vorbildlichen Bekenner des Propheten eigen sein sollte. Obwohl die gläubigen Lippen die geliebten Suren wiederholten, schöpfte die
Seele doch keine Kraft mehr aus ihnen. Eine lähmende Unsicherheit lastete auf seinem grauen Haupte. Wie sollte er sich weiter verhalten, was sollte er unternehmen? Die Giauren hatten die Galeeren aufgespürt, die die Nahrungsmittel heranbrachten, und sie in Besitz genommen. Und was noch schlimmer war, die Gattin und der Sohn des Sultans waren in die Hände der Ungläubigen gefallen. Der Emir gab sich der Hoffnung hin, daß die Sultanin nicht lebend in Gefangenschaft geraten sei. Aber welches Schicksal war dem Erben des Sultanthrones beschieden, dem geliebten Sohn Kilidsch–Arslans? Würde der Sultan seinen treuen Diener nicht für den Verlust seiner Angehörigen verantwortlich machen? Konnte er ihn nicht sogar verdächtigen, ihren Untergang leichtsinnig verursacht zu haben? Warum hatte er sich bloß den inständigen Bitten Dschurissas gebeugt? Mit einer den Frauen eigenen Hartnäckigkeit hatte die Sultanin verlangt, daß man sie aus der Stadt bringe, in der sie nicht einen Augenblick länger verweilen wollte. Die Galeeren waren täglich hinausgefahren und stets sicher zurückgekehrt. Der Emir hatte im stillen der Sultanin recht geben müssen. Sie war abgefahren. Aber was war dann geschehen? Und jetzt? Die schwarzen Schiffe der Seeräuber hielten ständig auf dem See Wache. In der Stadt begann der Hunger immer spürbarer zu werden. Schon wurden Nahrungsmittel nur noch an die Verteidiger ausgegeben. Die Menschen schleppten sich durch die Straßen und jammerten vor Hunger oder saßen auf den Plätzen herum und riefen laut Allah an. Angeblich bereiteten sich die Giauren auf einen Angriff vor. Es hieß, sie hätten große Türme gebaut. Bismi’ lah el rahman el rahim! Wenn sie doch nur angriffen, solange die Widerstandskraft noch ungebrochen war. Solange die ungeschwächte Hand freudig das Eisen in die Leiber derjenigen stoßen konnte, welche den Propheten nicht anerkannten, solange man vor dem Heldentod genug Feinde vernichten konnte. Diese widerlichen, verfluchten Feinde, die Mudschahid, der Sohn Dschubairs, so sehr verabscheute, wie sehr haßte er sie! Sie waren ja im Bunde mit Iblis hierhergekommen, um die hehre Größe des
Propheten zu verspotten, hatten, o Schmach, das Haupt seines geliebten Sohnes voller Hohn auf die Mauer geworfen, das blasse, teuerste, einzige Haupt. Wenn es der Wille Allahs war, seine Gläubigen zu prüfen und Nizäa in die Hände des Feindes fallen zu lassen, so mochte dieser Feind jeder andere sein, sogar der Grieche, nur nicht diese stumpfsinnigen, lärmenden, ungehobelten Lateiner. Nur diese nicht! Hier am Springbrunnen, auf dem roten Tuch, hatte das blasse Haupt Ibrahims gelegen, seines einzigen Sohnes Ibrahim! Das Leben war ein trügerischer Schatz. Jeder Tag verkürzte es, jede Nacht bestahl es. Es lohnte sich nicht, das Leben zu erhalten. La ilah el Allah, Mohammed rasul Allah! Hatte es Zweck, das Leben zu erhalten und um irgend etwas zu zittern? Warum sorgst Du Dich, Mensch? Es geschehe, was da wolle! Die Trauung Svens, des Sohnes Olafs, und Florinas, der Tochter Philipps, fand am Vortage des Großangriffs statt. In dem Zelt, das als Kapelle diente und das der Bischof vom Basileus in Byzanz zum Geschenk erhalten hatte, waren alle Führer versammelt, um die sich eine Menge Ritter scharte. Wie anders wäre diese Feier ausgefallen, wenn sie auf dem Schloß des Herrn Vaters stattgefunden hätte. Aus ganz Burgund wäre das Volk zusammengeströmt, hätte Hochzeitsgaben und Geschenke mitgebracht und dem Paar seine Ehrerbietung bezeigt. Hundert Tische hätte man auf einem Anger aufgestellt. Hundert Faß Wein wären ständig nachgefüllt, und hundert Ochsen, hundert Schweine, hundert Hammel täglich geschlachtet worden. Hundert Brautjungfern in weißen und goldenen Gewändern wären der Braut gefolgt, hundert Musikanten hätten aufgespielt und hundert Glocken geläutet. Und Blumen über Blumen, duftende, farbenfrohe, in unübersehbarer Fülle, hätten den Anger geschmückt, so als hätte man alles aus den burgundischen Gärten, Weinbergen, Wäldern, den fruchtbaren, ertragreichen Feldern zum herrschaftlichen Schloß getragen. Florina, die in Begleitung ihrer Hofdamen daherschritt, bedauerte vor allem, daß es hier keine Blumen gab. Auf dem hellen Haar, das
wie ein Mantel über das goldschimmernde Gewand floß, trug sie den grünen Brautkranz. Doch wie armselig sah er aus. Vergeblich hätte man in diesen Breiten nach Myrte oder Raute gesucht. Man wußte nicht einmal, ob diese Pflanzen hierzulande wuchsen. Vielleicht stammten die Blätter, aus denen der Kranz gewunden war, von einem Gewächs, das der Ehe abhold war. Vielleicht brachten sie Unfruchtbarkeit, Hader und Zwist. Wie konnte man das aber erkennen? Niemand kannte die Macht der hiesigen Kräuter und Sträucher. Da in der Nähe der Stadt nicht ein einziger grüner Halm zu finden war, hatte der Graf von Toulouse am frühen Morgen seine Knappen in die fernen Wälder geschickt, damit diese Grünes schneiden und herbringen sollten. Sie kehrten erst in der Mittagszeit heim, und obwohl sie sich beeilt hatten, war das zarte Grün in der Augusthitze gewelkt, und die Blätter hingen schlaff, so daß man kaum genügend Laubwerk für den Brautkranz aussondern konnte. Sven, der ein kurzes rotes Gewand trug, das an beiden Seiten offen und mit einem weißen Muster verziert war, wartete auf seine Braut. Er hatte einen kostbaren Gurt umgelegt, an dem ein Schwert hing, und um den Kopf trug er den goldenen Reif des Königssohnes. Sein Gesicht war schön, aber blaß und verhärmt. Zögernd schritt er auf den Altar zu. Hinter ihm standen seine braven dänischen Krieger. Sie trugen Helme mit Auerochsenhörnern, Wolfsköpfen oder Bärenzähnen. Ihre Gesichter waren offen, hell und ehrlich. Sie blickten mißmutig nach allen Seiten. Bei den alten Meeresgöttern, was war das für eine Vermählung! Ohne das übliche Aufsetzen der Haube und ohne Beilager? Wozu? Sie schwiegen jedoch, denn es stand ihnen nicht an, darüber zu urteilen, und unterdrückten ihren heimlichen Groll. So hatten sie sich die Hochzeitsfeier ihres Königssohnes nicht vorgestellt. Keiner der Anwesenden begriff im übrigen so recht, zu welchem Zweck das junge Paar diesen Entschluß schon jetzt gefaßt hatte. Der Bischof selbst empfahl beiden reifliche Überlegung.
„Eure Absicht ist an und für sich lobenswert und gottgefällig“, sagte er, „aber die Ausführung ist sehr schwer, weil dem Körper die natürliche Liebe eigen ist. Enthaltet Euch noch, das rate ich aufrichtig. Es ist hundertmal besser, kein Gelübde abzulegen, als es zu brechen.“ Sven stimmte diesen Ausführungen im stillen zu, aber Florina lächelte stolz und ablehnend. O nein, sie würde nicht nachgeben. Was sie versprochen hatte, würde sie auch halten. Wozu so viel Aufhebens? Nizäa würde morgen, spätestens übermorgen erobert sein. Dann brachen die Kreuzfahrer ja sofort nach Jerusalem auf. Sie wollten dort noch vor Anbruch des Winters ankommen. Sich aber von Sven trennen, das wollte sie auf keinen Falle. Es gab also keine andere Wahl. „Gott sei euch gnädig!“ sagte der Bischof und umwand jetzt mit seiner Stola unter feierlichem Schweigen die Hände des jungen Paares. Die anwesenden Ritter erhoben die rechte Hand und bezeugten durch diese Bewegung, daß Sven, der Sohn Olafs, und Florina, die Tochter Philipps, ein rechtmäßiges Ehepaar waren. Der Trauakt war beendet, doch das junge Paar verharrte noch kniend. Es wollte ein weiteres Gelübde ablegen. Der Bischof hielt ihnen das Evangelium hin. Sie legten die Hände auf das Buch, die von Sven zitterte leicht, während Florina ruhig und beherrscht blieb. Gemeinsam sprachen sie: „Um der Liebe unseres Herrn Jesus Christus willen geloben wir, obwohl wir Ehegatten sind, so lange Reinheit zu bewahren, bis das Grab des Herrn befreit ist. Dazu helfe uns Gott! Wir geloben, so lange weder ein gemeinsames Bett zu genießen noch uns zu umarmen, bis wir in dem befreiten Jerusalem sind. Amen!“ „Amen“, wiederholten alle. Die Versammelten verließen das Zelt. Sie wurden draußen vom Lärm der Kesselpauken, Posaunen, Oboen und von lauten Rufen begrüßt. Raimund de St. Gilles bat alle in sein Lager, wo er in Vertretung der abwesenden Eltern der jungen Frau einen
Festschmaus hatte herrichten lassen. Die Sänger warteten schon, um die Gäste mit Musik und Gesang zu unterhalten. „Ich bitte herzlich“, sagte er, und alle wußten, daß er es ehrlich meinte, „tun wir gemeinsam das Beste, dem jungen Paar zum Glück und zum Erfolg für den morgigen Angriff.“ Sie kamen in Scharen, setzten sich an die Tische, aßen und tranken Wein, doch es kam keine rechte Unterhaltung in Gang. Die Jungvermählten saßen stille nebeneinander, und die anderen dachten daran, was der morgige Tag wohl bringen werde, der lang ersehnte, große Tag. Wer würde ihn überleben, wer würde sich mit Ruhm bedecken? Das eine aber war sicher: Morgen abend mußten sie im Besitz der Stadt sein. Nizäa war morgen auf Gnade oder Ungnade dem Sieger ausgeliefert. Die Morgendämmerung hatte noch nicht vermocht, das Dunkel der Nacht zu erhellen, als die Massen der Krieger gegen die Mauern vorrückten. Obwohl die Räder der Wandeltürme gut geschmiert waren, quietschten sie doch ohrenbetäubend, rollten aber wie gewünscht vor. Die Ungetüme waren mit hundert bewaffneten Kriegern besetzt. Sie wurden von der Mannschaft, die sich im untersten Stockwerk befand, vorwärts bewegt. Um die Kolonne herum schritt die zahlreiche Ritterschaft. Die Knechte schleppten Leitern, Seile und Haken heran. Ihnen zitterten vor Ungeduld die Hände und fieberten vor Erregung die Augen. Balduin von Lothringen hatte mit den Seinen gerade das Lager verlassen, als ihn die alte Hofmeisterin Hellgunda atemlos und schweißgebadet am Mantel festhielt. „Was willst du?“ fragte er unwirsch. Er mochte die heuchlerische Alte nicht. Außerdem war das ein böses Omen. Nichts würde ihm heute gelingen; denn bekanntlich galt ein Ritter, der in den Kampf zog, als behext, wenn ihn vorher ein Weib berührte. Die Pest komme über sie! „Was willst du?“ wiederholte er schroff. „Meine Herrin, Gontrana, ruft Euch, Herr! Sie will Euch etwas sagen!“
„Mir?“ fragte er erstaunt, denn Gontrana war seit einigen Tagen ohne Bewußtsein, so als läge sie schon in den letzten Zügen. Ein Geistlicher saß Tag und Nacht bei ihr und sprach die Sterbegebete. Sie konnte ihn, Balduin, nur in einem Dämmerzustand gerufen haben, zum erstenmal in ihrem Leben. „Die Bedauernswerte ist aufgewacht und ruft Euch immerzu", erklärte Hellgunda. „Aber beeilt Euch, Herr, sie ist sehr schwach!“ Sie brach in herzzerreißendes Weinen aus; denn mit dem Tode Gontranas erwartete sie ein elendes Schicksal an Balduins Hofe. Der Herzog seufzte unwillig und blickte wehmütig zur Festung hinüber. Dann übergab er Konon de Montaigu den Oberbefehl und kehrte um. Gontrana hatte tatsächlich die Besinnung wiedererlangt. Es schien das letzte Aufflackern vor dem Tode. „Balduin“, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme zu ihrem Gatten, „ich will nicht sterben … ich habe Angst …“ „Warum solltest du sterben?“ meinte Balduin unsicher. „Vielleicht ändert sich noch alles.“ „Höre, hier war doch ein griechischer Medicus … nicht wahr? Du hast es mir erzählt.“ „Ja, er war hier.“ „Laß ihn sofort holen, aber schnell … er soll mich heilen … ich fürchte mich, hier zu sterben …“ Balduin riß die Augen weit auf. „Jetzt nach dem Medicus schicken?“ wiederholte er. „Aber, mein armes Weib, das ist unmöglich, wir brechen gerade zum Sturmangriff auf. Außerdem ist es sehr weit bis zum griechischen Lager. Ehe der Grieche eintrifft, kannst du schon längst verschieden sein. Wie kommst du überhaupt auf solch einen Gedanken? Im übrigen ist er ein Teufelsknecht. Von Leichen hat er sein Wissen. Ihn herrufen wäre eine Todsünde, das hast du damals selbst gesagt.“ Sie erfaßte nichts von seinen Worten und wiederholte mit klagender Stimme unentwegt dasselbe:
„Laß den Griechen holen … laß den Griechen holen … ich fürchte mich so vor dem Sterben …“ „Ich kann ihn nicht holen lassen“, erklärte er ihr geduldig, „was würde man dazu sagen? Du hast schon die letzte Ölung erhalten. Der Medicus kann dir nicht mehr helfen.“ Sie sah ihn durchdringend an. „Du willst ihn also nicht holen?“ „Ich kann nicht … Gott sei mein Zeuge, daß ich nicht kann!“ „Du willst nur nicht! Du willst nur nicht!“ wiederholte sie. „Du willst lieber, daß ich möglichst schnell sterbe, damit du dich nach Belieben neben deiner Magd niederlegen kannst. Du willst nur nicht!“ Die Wut verlieh ihr Kraft. Die Augen funkelten in ihrem vom Tode gezeichneten Gesicht. Ihre zuckenden Hände krampften sich in die Bettdecke. „Ich verfluche dich, wenn du ihn nicht sofort holen läßt!“ stieß sie hervor. „Verstehst du? Ich verfluche dich! Schicke sofort hin, ich will leben.“ „Gut, schon gut …“, beschwichtigte er sie und ging verzweifelt aus dem Zelt. Wo war Gottfried? Er allein würde mit ihr fertig werden. Den Medicus jetzt holen, hieße eine Todsünde auf ihrer beider Seelen laden. Sie würde ja sowieso den Mittag wohl nicht mehr erleben. Er traf Gottfried an, wie dieser sich gerade die Rüstung anlegte, den Schild umhing und Befehle gab. „Komm!“ bat Balduin. „Komm mit mir. Sie soll nicht im Zorn sterben. Sie findet sonst im Grabe keine Ruhe und wird auch uns keine Ruhe lassen, wird nach dem Tode immer wieder zurückkehren. Ich kann doch diesen Medicus nicht holen lassen!“ „Steht es so schlecht um sie?“ fragte Gottfried und blickte gedankenverloren vor sich hin. „Sie kann jeden Augenblick verscheiden. Komm, komm doch. Sie hat immer auf dich gehört. Sprich du mit ihr. Sie soll in Frieden sterben. Sie verwünscht mich sogar!“
„Kann ich denn jetzt gehen?“ antwortete Gottfried zögernd. Als er aber Balduin anblickte, war er beinahe überrascht, daß sich das Gesicht seines Bruders so hatte verändern können. Er schien um zehn Jahre gealtert. „Kann ich denn jetzt gehen?“ wiederholte er, „wenn man gegen die Stadt zieht?“ „Ich vertrete dich. Meine Mannen habe ich unter den Oberbefehl Konons gestellt. Bitte geh!“ „Gut ich gehe“, sagte Gottfried kurz entschlossen. Er nahm den Schild ab und übergab ihn dem Knappen. Vor dem Eingang zum Zelt der Schwägerin zögerte er eine Weile, bekreuzigte sich und trat ein. Gontrana erkannte ihn sofort. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf ihrem abgehärmten Gesicht. Gottfried setzte sich vorsichtig auf den Rand der Lagerstatt. „Zürne Balduin nicht, weil er den Medicus nicht kommen läßt, Gontrana, denke an Gott.“ „Wenn du hier bist, brauche ich keinen Medicus mehr“, flüsterte sie. Verwirrt ließ er den Kopf sinken, da er nicht wußte, was er antworten sollte. Sie bot alle Kraft auf und fuhr mit heiserer Stimme, bei jedem Wort stockend, fort: „Hat Balduin dich geschickt?“ „Ja!“ „Von selbst wärst du nicht gekommen?“ „Nein!“ Sie schloß die Augen. „Ich bin schon so viele Wochen krank, aber du hast nicht nach mir gefragt, du bist nicht zu mir gekommen“, klagte sie. „Seitdem du krank bist, habe ich jede Nacht für dich gebetet“, antwortete er leise. „Was nützen mir deine Gebete? Für jeden anderen hättest du auch gebetet …“ „Ich habe für dich gebetet und … für mich …“
Sie blickte auf. Sie verstand ihn nicht, sah nur seinen geneigten Kopf, seinen blonden Bart, sein sorgenvolles Gesicht. Plötzlich streckte sie ihm, wie verlangend, mühsam die Hand hin und flüsterte feierlich: „Gottfried … ich sterbe bald … auf meinem Totenbett frage ich dich, hast du mich je geliebt? Bei deiner ritterlichen Ehre, sage mir die reine Wahrheit.“ Er erbleichte. Mit derselben feierlichen Stimme antwortete er: „Ich habe dich immer geliebt, Gontrana! Vom ersten Augenblick an bis zu diesem jetzt an deinem Sterbebett. Ich habe nie eine andere geliebt.“ Wie in Seligkeit schloß sie die Augen. Unter ihren müden Lidern quoll ein Strom von Tränen hervor. Ihr Gesicht glich in seiner Starre schon fast dem einer Toten; aber diese Tränen waren jung, lebendig und rollten heiß über ihre eingefallenen Wangen. „Warum hast du mir das nie gesagt?“ flüsterte sie vorwurfsvoll. „Ich habe Reinheit gelobt!“ „Warum?“ Er war aufs höchste erstaunt. „Warum? Gibt es denn etwas, was Gott wohlgefälliger ist als die Reinheit?“ „Dann hättest du ins Kloster gehen und nicht in der Welt leben sollen. Ob es Gott wirklich wohlgefällig ist, daß du meine Seele zugrunde gerichtet hast? … Ich war gut und bin schlecht geworden … so schlecht wie der Teufel. Jetzt bin ich für alle Ewigkeit verloren …“ „Du bist nicht verloren, denn deine Sünden sind dir vergeben worden, du hast die letzte Ölung empfangen.“ „Ich werde verdammt, denn auch jetzt denke ich mehr an dich als an Gott. Warum hast du das getan? Warum hast du mir das nie gesagt?“ „Warum hätte ich davon sprechen sollen? Ich habe dich vor der Sünde bewahrt, und glaube mir, es ist mir schwerer gefallen als dir.“ Sie lächelte bitter.
„Was weißt du schon, wem es schwerer gefallen ist …? Das ganze Leben lang, das ganze lange Leben lang, o Gott!“ „Aber wir sind vor der Sünde bewahrt geblieben“, versuchte er zu trösten. „Du hast dich bewahrt und mich unglücklich gemacht, in die Finsternis gestürzt … Und Balduin, was hat er verschuldet? Was haben wir beide verschuldet?“ Er hob den Kopf, um zu antworten, verstummte aber, denn Balduin kehrte plötzlich, aufs äußerste erregt, ins Zelt zurück. Er blickte zerstreut auf seine Gattin. „Nun, Gontrana“, fragte er, „hat dich Gottfried überzeugt?“ Sie lächelte matt und sagte langsam: „Balduin, verzeih mir alles, was ich dir angetan habe. Das Leben mit mir war für dich nicht leicht. Verzeih!“ „Ich habe dir nichts zu verzeihen!“ entgegnete er. Seine Worte waren ehrlich gemeint. Er grollte seiner sterbenden Frau nicht. Gott würde Gontrana in Schutz nehmen. Alle seine Gedanken waren im übrigen außerhalb des Zeltes. „Ich danke Gott“, fügte er hinzu, „daß du keinen Groll gegen mich hegst. Hellgunda wird gleich hier sein. Wir aber, Gottfried, wollen gehen. Die Posaunen schmettern ohrenbetäubend, es muß etwas Besonderes im Lager vorgefallen sein.“ „Sie blasen zum Angriff“, rief Gottfried und sprang auf. „Nein, nicht zum Angriff, zur Beratung. Der Bote des Bischofs ist gerade vorbeigeritten. Anscheinend wieder ein Aufschub oder irgend etwas anderes. Wir wollen gehen, komm schnell!“ Gontrana ergriff Gottfried beim Arm und hielt ihn zurück. „Geh nicht fort …“, flüsterte sie, nur noch halb bei Bewußtsein. „Bleib noch, nur einen kurzen Augenblick … nicht länger als zwei Gebete. Ich sehe dich ja nicht wieder.“ Er war verzweifelt und versuchte vergeblich, ihre Finger zu lösen. „Ich muß gehen! Gott sei mit dir, Geliebte! Ich bin sündhaft, weil ich so etwas sage … Ich muß gehen! Es ist meine Pflicht, Gontrana, die Pflicht!“
„Vergiß einmal die Pflicht! Für das ganze Leben … für das ganze Leben. Diesen einzigen Augenblick … bleib doch!“ Balduin schaute sie verwundert an. Er verstand nichts von alledem. „Ich bleibe“, sagte Gottfried demütig und setzte sich wieder auf das Bett. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Das Gesicht Gontranas entspannte sich, wurde jetzt ganz ruhig, weich und sanft. Die Lider sanken langsam auf die Augen. Auf ihrem Antlitz malte sich eine selige Erleichterung. Plötzlich stürmte Kanon de Montaigu ins Zelt. „Herzog!“ rief er. „Bei der Barmherzigkeit Gottes, kommt schnell, die Stadt hat sich Butumitos ergeben. In der Nacht, als wir schliefen, sind die Griechen heimlich eingezogen. Auf den Mauern weht das Labarum des Basileus. Uns läßt man nicht hinein. Die Wagen mit dem griechischen Feuer stehen vor den Toren. Die Griechen sagen, daß Nizäa ihnen gehöre und wir weiterziehen könnten.“ „Bei den Wunden Christi!“ schrie Balduin und verließ sofort das Zelt, gefolgt von Montaigu. Behutsam und zärtlich löste Gottfried die Hand Gontranas von seinem Arm, legte sie der Schwägerin auf die Brust, beugte sich über sie und machte das Zeichen des Kreuzes. Ihm schien, als bewege die Sterbende ihre Lippen, als flüstere sie noch: „Gottfried!“ „Gott, nimm sie in Deinen Schutz!“ Er hatte keine Zeit, noch länger bei ihr zu verweilen. Er lief zum Zelt hinaus, bestieg schnell sein Roß, sah, wie von überallher schon die anderen herbeiströmten, und holte Balduin und Konon ein, an denen Hugo und Stephan de Blois vorbeigaloppierten. „Graeca fides!“ rief der letztere Gottfried zu, „Graeca fides! Die Griechen haben uns einen Streich gespielt.“ „Das werden wir ihnen heimzahlen“, stieß Balduin wütend hervor. „Wir treten sofort zum Angriff an.“ Ich habe ihr versprochen zu bleiben. Wenn die Ärmste nun noch einmal aufgewacht ist, dachte Gottfried, während er zusammen mit den anderen weitergaloppierte.
Raimund von Toulouse stand blaß vor Zorn neben dem Bischof und zerrte an dem Halsausschnitt seines Kollers. „Ich weiß von nichts! Ich weiß von nichts!“ rief er. „Ich stürme. Wehe den verfluchten Schismatikern!“ „Das geht nicht ohne Einwilligung des Rates“, sagte der Bischof energisch, „wartet, bis alle zusammengekommen sind.“ „Ich warte nicht! Was Ihr auch beratet, ich greife an. Das schenke ich ihnen nicht!“ „Ich gehe mit Euch“, stimmte ihm Balduin zu. Bohemund und Tankred sowie die beiden Roberts kamen gleichzeitig angeritten. Sie wußten schon alles und waren ebenfalls im höchsten Grade aufgebracht. „Auf! Auf zum Angriff! Zum Angriff!“ brüllte Tankred. Hat sie gemerkt, daß ich sie allein gelassen habe? Ist sie glücklich gestorben? mußte Gottfried immerzu denken.
INHALT Erstes Buch GOTT WILL ES 1. Kapitel In welchem der Leser die braven schlesischen Ritter kennenlernt 7 2. Kapitel Von der Gehurt eines Sohnes auf dem alten großen Gehöft inmitten der Wildnis 22 3. Kapitel Einst, in alter Zeit 32 4. Kapitel In welchem Ofka erfährt, wie leicht die Götter Geschick in Mißgeschick, Glück in Unglück und Gutes in Böses verwandeln 46 5. Kapitel Wann kehren sie heim? Nicht so bald, nicht so bald … 55 6. Kapitel Vom rettenden Kloster auf der steilen Höhe der Alpen 66 7. Kapitel Welches vom Zug der braven schlesischen Krieger durch das fremde Land Provence erzählt 83 8. Kapitel Vom Gottesmann Peter von Amiens und vielen Herren, Rittern, Baronen und Fürsten, die aus aller Welt zum Konzil nach Clermont kamen 105 9. Kapitel Wo sich zwei Welten berühren 128
10. Kapitel In welchem die beiden Freunde, Papst Urban II. und der Bischof von Puy, Ademar de Monteil, in der Nacht über geheime, göttliche und menschliche Dinge sprechen 139 11. Kapitel In welchem Peter von Amiens und der Papst sprechen, Tausende zuhören, Tausende antworten, die Flamme der Begeisterung wie ein Sturmwind dahinbraust und der Kreuzzug beschlossen wird 146 12. Kapitel Von den braven Rittern, die das Kreuz nahmen Was jeder fühlte, dachte und tat 164 13. Kapitel Wie die Scharen der Kreuzfahrer, durch unredliche Führer verlockt, allein, auf sich selbst gestellt, einen unbekannten Weg ziehen 183 14. Kapitel Das Manna fällt noch nicht 198 15. Kapitel Der Menschheit unwürdig 210 16. Kapitel In welchem es sich zeigt, daß es leichter ist, Prophet zu sein als Anführer 220 17. Kapitel Und der Westen löst sich von seinen Wurzeln 230
Zweites Buch FI DES GRAECA 1. Kapitel In welchem die tapferen Ritter die finsteren Mächte bekämpfen 245 2. Kapitel Die Frage des Eides 259 3. Kapitel In der von Gott behüteten Stadt 273 4. Kapitel Wenn der Osten vom Westen spricht 290 5. Kapitel Der Basileus Isapostolos 302 6. Kapitel Satan oder Gott 317 7. Kapitel In welchem die braven Ritter Briefe versenden 342 8. Kapitel In Charons Nachen 349
9. Kapitel In welchem der Satan wieder erscheint 368 10. Kapitel Wieder eine neue Welt
380 11. Kapitel Vor den Mauern Nizäas 393 12. Kapitel Sünde oder Wissenschaft 437 13. Kapitel Allah Akbar 445 14. Kapitel Vom Gottesgericht, das nicht stattfand 467 1961 • Alle Rechte vorbehalten • Union Verlag (VOB) Berlin Lizenz-Nr. 18/395/1051/61 • Gesetzt und gedruckt in der Weiß–Antiqua vom VEB Offizin Andersen Nexö, Leipzig Gebunden von H. Sperling, Leipzig • Typografie, Einband und Umschlaggestaltung besorgte Joachim Kölbel