KRAFFT VON BROEDE
Roman von Leni Behrendt
Ilse-Sybille hat in ihrer Kindheit bitter leiden müssen unter der unglücklichen Ehe ihrer Eltern. Als Vater und Mutter gestorben sind, kommt das junge Mädchen zu einer Tante, bei der es sich auch nicht wohl fühlen kann. Wie ein tröstlicher Stern steht über dem freudlosen Leben die
Erinnerung an einen Unbekannten, dem Ilse-Sybille auf der Reise zu ihrer Tante begegnet ist und der in ritterlichzarter Weise für sie sorgte, um dann spurlos zu verschwinden. Sie wünscht sich brennend, diesen Mann einmal wiederzusehen. Doch als der Wunsch eines Tages wirklich in Erfüllung geht, geschieht nichts von alledem, was das Mädchen sich erträumt hat. Im Gegenteil, es kommt nun für Ilse-Sybille eine Zeit voller Mißverständnisse, Kummer und innerer Qual; sie liebt und darf es nicht zeigen, weil Stolz und Selbstachtung es ihr verbieten.
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Herr Schmehlich, der Besitzer des vielbesuchten Nervensanatoriums Seelenruh, saß gedankenverloren in einem tiefen Sessel seines Arbeitszimmers. Er zog an einer dicken Zigarre und rauchte wie ein Schlot. Herr Schmehlich kam nur einmal in der Woche nach Seelenruh, um sich darin umzusehen. Er hatte noch weitere Unternehmungen, war ein gewiegter Geschäftsmann, der es zu großem Reichtum gebracht hatte. Heute war er auf einen Brief Dr. Meders hin hergekommen. Und was er vorhatte, das mußte ernstlich und reiflich erwogen werden. Endlich schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein; denn er richtete sich im Sessel auf und rief den Diener herbei. »Sagen Sie Fräulein Rainer, ich ließe sie zu einer Unterredung hierher bitten.« Gleich darauf stand die gewünschte Dame vor Herrn Schmehlich. Ein wohlgefälliges Lächeln huschte über sein rotes Gesicht, in seinen verschwommenen Äuglein zuckte es begehrlich auf. So ein wunderschönes Geschöpf bekam er aber auch nicht alle Tage zu sehen! Der begehrliche Herr mußte wieder einmal feststellen, daß das Mädchen von einer bestrickenden Süße war, die selbst auf kühle, sachliche Menschen verwirrend wirken mußte. Die lässige Haltung des biegsamen, gepflegten Körpers, das stolzgetragene Köpfchen, um das sich wunderbares Blondhaar bauschte und wellte. Und dann die Augen – diese rätselhaften Märchenaugen von weichem, dunklem Grau! Dunkel umsäumten sie lange, seidige Wimpern. »Nehmen Sie Platz, mein Fräulein«, forderte er die junge Dame auf, die erwartungsvoll auf ihn schaute. »Ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen. Zuerst will ich Ihnen erklären, weshalb Sie so lange in meinem Sanatorium weilen mußten, dessen Aufsicht und Pflege Sie nur kurze Zeit nötig hatten. Doch Ihr Vater verlangte Ihr Bleiben, weil er sich mit einer jungen Dame verheiratete und ihm die
erwachsene Tochter daher unbequem war. Und da Sie sich hier wohl fühlten und das Pensionsgeld auch einigermaßen pünktlich gezahlt wurde, machte Ihr Bleiben auch weiter keine Schwierigkeiten. Aber seit zwei Monaten blieb die Bezahlung aus, und sie wird auch fernerhin ausbleiben, da Ihr Vater nicht mehr unter den Lebenden weilt. Seine eifersüchtige Gattin hat ihn und sich nach einem heftigen Streit erschossen. Die Villa fiel in die Hände der Gläubiger und Sie, mein Kind, sind nun allein und bettelarm. Nachdem die Verhältnisse sich so gestaltet haben, ist Ihres Bleibens hier nicht länger.« Forschend sah er zu dem Mädchen hin, das seine Eröffnung nicht erregt zu haben schien. Vielleicht war das hochmütige Antlitz etwas blasser als sonst. Da es jedoch immer von durchsichtiger Zartheit war, ließ sich das schwer feststellen. Als sie nicht antwortete, räusperte der kleine Dicke sich: »Haben Sie mir nichts zu antworten, Fräulein Rainer? Geht Ihnen die Tragödie Ihres Vaters denn gar nicht zu Herzen?« »Nein!« Kalt, schroff klang es, man hätte der weichen Stimme einen solchen Ton nicht zugetraut. Schmehlich sah sie betroffen an. »Aber ja – aber – « meinte er ratlos. Da erschien ein Lächeln auf dem zarten Antlitz, das den guten Dicken ganz und gar betörte. »Ich kann um meinen Vater nicht trauern, da er mir nie nahestand. Er hat sein Unglück selbst verschuldet. Daß ich arm bin, weiß ich. Auch daß ich die Betreuung hier längst nicht mehr nötig hatte. Warum mein Vater mich trotzdem im Sanatorium ließ, darüber habe ich mir wohl manchmal den Kopf zerbrochen, forschte aber nicht weiter nach, da es mir hier gut ging. Nun allerdings muß ich diese friedliche Stätte verlassen. Schade!« Jetzt war der Augenblick für Herrn Schmehlich gekommen. Er setzte sich in Positur, legte sein fettes Gesicht in wichtige Falten und sah mit herablassendem Wohlwollen das
Mädchen an. »Tja – « meinte er salbungsvoll. »Über diesen Punkt möchte ich mit Ihnen reden, meine liebe, verehrte Ilse-Sibylle. Ihretwegen bin ich heute hierher gekommen, obgleich ich viel Geschäftliches zu erledigen habe. Ich habe mir die Sache reiflich überlegen müssen. Sie sind immerhin das Kind Ihres leichtsinnigen Vaters, und für Künstler habe ich nie viel übrig gehabt. Trotzdem habe ich mich entschlossen, Sie zu heiraten. Hoffentlich erkennen Sie das Glück, das ich Ihnen zu geben imstande bin, auch genügend an.« So, nun war es heraus. Herr Schmehlich blähte sich ordentlich auf vor Edelmut und Selbstgefälligkeit. Er wappnete sich, um mit Würde die Dankesbezeugungen des Fräuleins entgegenzunehmen. Allein, es sah ja fast so aus, als kämpfe sie mit einem Lachen! Und auch ihre Stimme klang ganz danach: »Ihr Opfermut ist sehr anerkennenswert, Herr Schmehlich. Daher verzeihen Sie meine Undankbarkeit. Wie mich Ihr Antrag auch ehrt, ich muß ihn dennoch ablehnen.« »Was – ablehnen?« wiederholte er, als hätte er nicht recht gehört. »Leider.« Das genügte, um den Herrn aus seiner selbstgefälligen Ruhe zu reißen. Er schnappte nach Luft, sein Gesicht wurde dunkelrot. »Was wollen Sie denn anfangen?« »Mir eine Stellung suchen.« »So sehen Sie aus!« erboste er sich immer mehr. »Für derartige Angestellte wie Sie bedankt sich jeder. Sie haben bestimmt keine Veranlassung, sich aufs hohe Pferd zu setzen. Arm wie eine Bettlerin, aus so verlotterter Familie – « »Das gehört nicht hierher«, unterbrach sie ihn hochmütig. »Meine Verhältnisse gehen Sie nichts an, da ich Ihren Antrag ablehne und noch heute Ihr Sanatorium verlassen werde.«
Ihr stolzer Blick streifte seine Gestalt, die klein und dick vor ihr saß. Sie sah das Mopsgesicht, den großen kahlen Schädel, über den einige Härchen mit Sorgfalt gebürstet waren, und schon kämpfte sie wieder mit einem Lachen. »Nichts für ungut!« meinte sie tröstend, indem sie sich erhob und der Tür zuging. »Sie werden es noch einmal bitter bereuen!« rief er ihr nach. »Ich glaube nicht«, gab sie lachend zurück. Dann ging sie, den abgewiesenen Freier in heller Wut zurücklassend. Daß ihm das passieren mußte – ihm, Eduard Schmehlich! Dazu noch von so einem grünen Ding, das mit seinen dreiundzwanzig Jahren wie ein Backfisch aussah. Mit gewichtigen Schritten suchte er Dr. Meder auf, um sich seinen Ärger von der Leber zu wettern. Der Arzt sah erschrocken seinem Gebieter entgegen, der hochrot im Gesicht anpustete. »Unerhört!« polterte er ohne Einleitung los. »Was man sich so alles bieten lassen muß! Auf den Knien müßte sie mir danken, daß ich sie zu meiner Frau machen will. Sofort verläßt das impertinente Mädchen das Sanatorium!« Dr. Meder war sofort im Bilde. Oh, wie gern hätte er herzlich gelacht! Da das nicht anging, beschwichtigte er den erbosten Herrn. »Lassen Sie doch, Herr Schmehlich«, redete er dem in seiner Eitelkeit getroffenen Herrn gut zu. »Sie wird die Folgen ihrer Handlungsweise allein tragen müssen.« »Die und in Stellung gehen!« konnte Schmehlich sich nicht beruhigen. »Die hochnäsige Person setzen die Leute gleich nach den ersten Tagen vor die Tür!« »Das soll Ihre Sorge nicht sein, Herr Schmehlich.« Dieser brummte noch ein Weilchen vor sich hin, gab sich dann jedoch zufrieden und trollte sich. Unterdessen war Ilse-Sibylle in ihr trauliches Stübchen geeilt, in dem sie zwei Jahre hindurch so sorglos gelebt hatte. Es war ihr gut gegangen in dem stillen, vornehmen Hause.
Und nun mußte sie in die Welt hinaus, vor der ihr graute. Wohin sollte sie überhaupt gehen, bis sie eine Stellung gefunden hatte? Welcher Art sollte diese Stellung sein? Sie besaß nichts als die Bildung der sogenannten höheren Tochter. Daß sie mehrere Sprachen beherrschte und außergewöhnlich musikalisch war, konnte ihr allein nicht viel nützen. Nun kamen ihr die Tränen, als sie ihre Habseligkeiten zusammenpackte. Viel war es nicht. Von dem kleinen Taschengeld hatte sie sich nichts anschaffen können, daher war es nicht viel, was sie an Kleidung besaß, und außerdem recht abgetragen. Hätte sie den Antrag des vortrefflichen Herrn nicht doch lieber annehmen sollen? Dann wäre sie jetzt aus aller Sorge und Not. Doch bei dem Gedanken lachte sie wieder, während ihr die Tränen noch über das Gesicht liefen. Schnell packte sie zu Ende und ging dann in die Privatwohnung Dr. Meders, um sich von den ihr liebgewordenen Menschen zu verabschieden. Der Arzt sah ihr lachend entgegen. »Hallo, Klein Ilsibyll, da haben Sie ja was Schönes angerichtet! Wie kann man bloß die Hand eines Herrn Schmehlich ausschlagen!« »Sie wissen schon?« »Und ob! Wutschnaubend erschien der gute Dicke bei mir – die personifizierte Empörung! Er hatte es sich doch so
schön gedacht, als Märchenprinz bei Ihnen zu erscheinen.«
»Sie sind ein großer Spötter.«
»Ilsibyllchen, es wäre doch so nett gewesen, Sie als Chefin
zu haben. Die Vorteile, die mir daraus erwachsen wären!
Na, Scherz beiseite. Jedenfalls ist Herr Eduard Schmehlich
nicht schüchtern. Da möchte man fast singen: Nichts ist so
traurig, nichts macht so betrübt, als wenn sich ein
Kohlkopf in ’ne Rose verliebt.«
Doch dann wurde er tiefernst.
»Was soll nun aus Ihnen werden, gnädiges Fräulein?«
»Etwas bestimmt«, entgegnete sie achselzuckend. »Ich muß versuchen, irgendwo unterzukriechen, bis ich eine Stellung gefunden habe. Wenn ich nur wüßte, wo das sein könnte. Die Verwandten meines Vaters kenne ich nicht und würde auch nicht zu ihnen gehen. Und die Verwandten meiner Mutter verstießen sie, weil sie einen Gegenkünstler heiratete. Nur eine Schwester hat sich ab und zu um sie gekümmert. Ich sah sie einmal bei uns – sehr vornehm, sehr kühl, ganz die Oberstengattin. Das wäre also die einzige Verwandte, an die ich mich wenden könnte. Nur weiß ich nicht, ob sie noch in Arnsburg lebt.« »Danach kann ich mich erkundigen«, sagte Meder lebhaft. »Mein Vater ist Arzt in Arnsburg. Vielleicht kennt er die Dame.« – Als er den Vater fernmündlich sprach, stellte sich heraus, daß besagte Dame zu seinen Patienten zählte. Meder notierte ihre Anschrift und ging dann freudestrahlend zu Ilse-Sibylle zurück, die ihm für die Auskunft herzlich dankte. Ilse-Sibylle Rainer stand in der Bahnhofshalle vor dem Fahrkartenschalter. Wenn das Geld für die Karte nach Arnsburg nicht reichte, dann wußte sie sich keinen Rat. Wohl hätten Meders ihr mit einer Summe ausgeholfen, doch bitten zu müssen, war der stolzen Ilsibyll ein Greuel. Gottlob, das Geld genügte. Es blieb ihr sogar noch eine Kleinigkeit, um sich unterwegs eine Erfrischung zu kaufen. Auf dem Bahnsteig staute sich eine dichte Menschenmenge. Es war Herbstferienanfang und die Reiselust bei dem herrlichen Wetter besonders groß. Sie war dem Gewoge gegenüber machtlos und ließ sich immer wieder zurückstoßen, bis ein freundlicher junger Schaffner sich ihrer annahm. »Erster Klasse, gnädiges Fräulein?« fragte er höflich. »Nein, zweiter.« »Da wird schwer was zu machen sein«, musterte er sie überrascht. »Wohin soll die Reise gehen?« »Nach Arnsburg.«
»Bis dahin begleite ich den Zug. Werde Ihnen also einen Platz Erster besorgen. Das verantworte ich schon.« Er führte sie zu einem Wagen, in dem nur noch ein Herr saß. Ilse-Sibylle dankte ihm, und befriedigt ging er davon. Sie musterte nun ihren Mitreisenden verstohlen. Viel sah sie allerdings nicht von ihm. Ein Paar lange Beine, die von einer tadellos gebügelten Hose umspannt waren; schmale Füße, die in eleganten Schuhen steckten. Der übrige Mensch war von einer Zeitung besonders großen Formats verdeckt. Auf ihren leisen Gruß senkte sich das Blatt, und sie sah flüchtig einen gutgekleideten Herrn, der sich knapp verneigte. Dann entzog die Zeitung ihr seinen Anblick wieder. Sie wählte nicht den Fensterplatz ihm gegenüber, sondern drückte sich in die Ecke an der Tür. Wie menschenscheu sie doch geworden war! So ganz anders als früher, da sie mit Mutter und Bruder viel gereist war. Ganz still saß sie da, um den Herrn nicht auf sich aufmerksam zu machen. Als jedoch eine gute Weile verging, in der er keine Notiz von ihr nahm, atmete sie erleichtert auf. Schaute zum Fenster hinaus und gab sich ihren quälenden Gedanken hin. Ob die Tante sie überhaupt aufnehmen würde? Sie mußte an eine Begebenheit denken, die zehn Jahre zurücklag. Die Tante, die zu kurzem Besuch in ihrem Elternhause geweilt, hatte die damals Dreizehnjährige scharf gemustert und dann zu ihrer Schwester gesagt: »Das Kind sieht deinem Gatten sehr ähnlich. Hoffentlich beschränkt sich diese Ähnlichkeit nur auf das Äußere. Es wäre schade, wenn das schöne Geschöpf den Charakter seines Vaters geerbt hätte.« »Weshalb wohl nicht?« hatte die Mutter ruhig, doch mit einem drohenden Unterton gefragt. Darauf hatte die andere nichts erwidert. Diese Erinnerung ließ Ilse-Sibylle immer mutloser werden. Wenn sie nur mehr über die Verhältnisse der Tante wüßte! So war ihr nur bekannt, daß sie mit Gatten und Sohn auf
großem Fuß lebte. Das Ungewohnte der heutigen Reise, dazu das angestrengte Grübeln und Sorgen erschöpften die zarte Ilse-Sibylle. Sie legte sich müde in die Polster zurück, ließ sich von dem gleichmäßigen Rattern des Zuges einlullen und schlief fest ein. Bis eine laute Stimme sie aufschreckte. Verständnislos sah sie auf den Schaffner, der auf sie einredete: »Sie sind zwei Stationen zu weit gefahren. Ware ich nicht zufällig hergekommen, dann hätten Sie wohl bis zur Endstation friedlich geschlummert.« Jetzt hatte sie begriffen und erblaßte bis in die Lippen. »Deshalb brauchen Sie nicht so zu erschrecken, gnädiges Fräulein«, meinte er lachend. »Es geht bald ein Zug nach Arnsburg zurück. Halten Sie sich bereit, die nächste Station ist in fünf Minuten erreicht.« Damit entfernte er sich eilig. Ilse-Sibylle sah ihm wie erstarrt nach. Woher sollte sie das Geld nehmen, um nach Arnsburg zurückzufahren? Außerdem kam sie dort so spät an, daß sie das Haus der Tante verschlossen vorfinden würde. Ihr Blick ging zu dem Mitreisenden hin, der jetzt nicht mehr las, sondern schlief. Da zog sie ihr Geldtäschchen hervor, zählte mit zitternden Händen die Barschaft, die nicht einmal eine Mark ausmachte. Sie konnte es nicht hindern, daß ihr vor Aufregung die Zähne zusammenschlugen und die Tränen über das Gesicht liefen. Doch als jetzt der Herr sich zu rühren begann, riß sie sich zusammen. Während er den Mantel anzog, musterte sie ihn unauffällig. Sah im Profil das harte, scharfe Gesicht, das wie aus Erz geformt zu sein schien. Sehnig und kraftvoll die hohe Gestalt, mit der lässigen, vornehmen Haltung des Weltmannes.
Und ganz unerwartet sah er zu ihr hin. Der Blick aus den graugrünen Jägeraugen traf sie durchdringend und kühl. Sie senkte die Augen, errötete bis zur Stirn hinauf. Ihr Herz klopfte wie rasend. Wie gut, daß eben der Zug hielt, daß sie aus dem Bann dieser zwingenden Augen kommen konnte! Hastig raffte sie ihre Sachen zusammen und verließ fluchtartig das Abteil. Nun stand sie auf dem Bahnsteig, wußte nicht, was beginnen. Die Menschen hasteten an ihr vorbei. Schließlich stand sie ganz allein da. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zum Stationsvorsteher zu gehen und ihm die Notlage zu schildern. Wie schwer fiel das der stolzen Ilse-Sibylle! Betteln müssen welch ein entsetzlicher Gedanke! Als sie sich verzweiflungsvoll dem Stationsgebäude näherte, wobei sie das Gefühl hatte, als schleppte sie Blei an den Füßen, trat ein Bahnbeamter auf sie zu, der ihr eine Karte reichte. »Ich soll die Karte dem gnädigen Fräulein abgeben und glückliche Reise wünschen.« Fast unbewußt griff sie nach der Fahrkarte, die bis Arnsburg gelöst war. Sie nahm sich zusammen, um dem Beamten, der sie neugierig musterte, ihre Überraschung nicht zu zeigen. »Ich danke Ihnen – « sagte sie höflich, und da eilte der Mann davon. Sie ging hastig in den Warteraum. Wer hatte ihr die Karte geschickt – wer hatte ihre Not erkannt? Sie sah die hohe, ritterliche Gestalt des Fremden vor sich, der stundenlang ihr Mitreisender gewesen war. Nur er konnte es gewesen sein! Müde kam Ilsibyll in Arnsburg an. Lohnte es überhaupt noch, die Tante zu so später Stunde aufzusuchen? Aber versuchen mußte sie es trotzdem. Also machte sie sich in trostloser Verfassung auf den Weg. Fragte sich zur Lindenstraße durch, bis ihr Ziel erreicht war.
Doch ihre Ahnung hatte nicht getrogen. Das Haus lag im
Dunkel, und die Tür war verschlossen.
Und was nun? Also, zum Bahnhof zurück. Vielleicht
konnte sie im Warteraum übernachten. Wie gräßlich das
alles war, wie das an ihrem Stolz zerrte und riß!
Durchgefroren, hungrig und erschöpft kam sie am Bahnhof
an. Es war kalt in dem Warteraum, dazu eine spärliche
Beleuchtung.
Sie bestellte eine Tasse Kaffee, die der Ober ihr mit
mißmutigem Gesicht hinschob. Und diesen
unfreundlichen Menschen sollte sie fragen, ob sie hier
übernachten dürfte?!
Mit den Tränen zusammen würgte sie den Kaffee hinunter,
der schlecht und nur mäßig warm war.
Kaum hatte sie die Tasse geleert, als ein Hoteldiener auf sie
zukam, sich höflich vor ihr verbeugte.
»Ich soll dem gnädigen Fräulein bestellen, daß das Zimmer
reserviert ist«, meldete er in strammer Haltung. Ehe sie
noch fragen konnte, was das bedeute, hatte er schon ihre
Tasche ergriffen und entfernte sich. Ihm schien das
selbstverständlich zu sein.
Ilse-Sibylle folgte ihm in halber Betäubung.
Das war doch sicherlich wieder der Fremde, der so für sie
sorgte.
Plötzlich stieg unsinnige Angst in ihr auf. Was wollte er,
was bezweckte er mit seinen Wohltaten?
Sie hatte schon oft einmal davon gehört, daß junge,
verlassene Mädchen in eine Falle gelockt wurden.
Allein, trotz ihrer wahnsinnigen Angst bestieg sie das Auto,
das vor dem Bahnhofsgebäude stand und den Namen eines
Hotels trug. Sie hätte sterben mögen, so verzweifelt war sie.
Das Auto hielt vor einem großen Hotel, das einen feudalen
Eindruck machte.
Ehe Ilse-Sibylle so recht zur Besinnung kam, befand sie sich
in einem elegant ausgestatteten Zimmer.
Ein Mädchen erschien mit einem auserlesenen Abendessen,
servierte es, als wäre die Dame ein vornehmer Gast, legte
einen Brief neben das Gedeck und entfernte sich knicksend. Nun war Ilse-Sibylle allein. Sie wagte sich nicht zu rühren, wagte nicht zu essen, obgleich der Hunger sie plagte. Sie wartete – wartete auf etwas Schreckliches, Unfaßliches. Denn irgend etwas mußte doch nun kommen. So viel Edelmut und Ritterlichkeit konnte es doch gar nicht geben, daß ein Mann einem wildfremden Mädchen in so zarter Weise half – ohne Vorteile! Sicherlich stand in dem Brief etwas Grauenvolles. Sie öffnete ihn mit lautklopfendem Herzen und bebenden Händen, las: Mein gnädiges Fräulein!
Befürchten Sie nichts. Nehmen Sie alles ruhig an, was Ihnen in
dem Hotel geboten wird. Ich bin weder ein Hochstapler noch ein
Mädchenhändler. Das Haus, in dem Sie sich befinden, ist ein
bekanntes und gernbesuchtes, das nichts Dunkles in sich duldet.
Ein Fremder.
Ilse-Sibylle schämte sich. Als ob der Fremde ihre törichten Gedanken erraten hätte! »Daß es so etwas gibt – daß es so etwas gibt!« flüsterte sie immer wieder vor sich hin. Sie sah ihn deutlich vor sich, den ritterlichen Mann. Heiß stieg es in ihrem Herzen auf. Daß ihr musikalisches Talent doch ein zeichnerisches wäre, damit sie diesen Mann zeichnen und so sein Bild festhalten könnte! Jetzt wurde sie ganz ruhig. Sie aß mit Genuß und legte sich dann ins Bett. Als sie am anderen Morgen erwachte, war es schon spät. Kaum daß sie angekleidet war, erschien das Mädchen, das sie gestern bedient hatte, mit dem Frühstück. Bevor es sich zurückzog, fragte es, zu welcher Zeit das gnädige Fräulein das Auto wünschte, worauf Ilse-Sibylle antwortete, daß sie Bescheid geben würde. Ach, sie wunderte sich jetzt über nichts mehr, sondern begann sich daran zu gewöhnen, daß in so geheimnisvoller Weise für sie gesorgt wurde.
Und als sie eine halbe Stunde später durch das Vestibül schritt, dienerte das Hotelpersonal, so devot, als wäre sie der vornehmste Gast. Wie gern hätte sie nach dem Namen des Herrn gefragt, der alles für sie bezahlt hatte! Das Auto, in dem Ilse-Sibylle zu ihrer Tante fuhr, hielt vor dem Hause, vor dem sie gestern so niedergeschlagen gestanden hatte. Nachdem sie ausgestiegen war, fuhr der Chauffeur mit respektvollem Gruß davon, auch hier mußte der Fahrpreis bereits bezahlt sein. Scheu ging ihr Blick an dem Gebäude empor, das noch im vornehm gediegenen Stil der Vorkriegszeit erbaut war. Und als sie dann die teppichbelegte Treppe zum ersten Stockwerk emporstieg, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Die Beine zitterten ihr so heftig, als wollten sie den Dienst versagen. Wie ein Dieb schlich sie zu der schweren Eichentür hin, bückte sich, um den Namen darauf zu lesen. Oberst von Bruckheim, also sie war am Ziel. Die Hand, welche die Glocke in Bewegung setzte, flatterte. Kurz, schrill durchschnitt der Schall die vornehme Ruhe des Hauses. Dann eilige Schritte, und vor der Einlaßbegehrenden stand ein Mädchen in koketter Schürze und Häubchen. »Sie wünschen?« »Ich bin Ilse-Sibylle Rainer und möchte zu meiner Tante, der Frau Oberst von Bruckheim«, brachte sie mit einer Stimme hervor, die ihr kaum gehorchen wollte. Aus den Augen des Mädchens traf sie ein verwunderter, prüfender Blick. Zögernd führte es den Gast in ein Zimmer. »Ich werde die Dame der Frau Oberst melden«, zog es sich dann zurück. Ilse-Sibylle erschien es wie eine Ewigkeit, bis das Mädchen wiederkam und sie in ein anderes Gemach führte. Und dann stand sie der Tante gegenüber. O nein, so stolz hatte sie diese nicht in Erinnerung, auch nicht mehr so jung, so schön. Wie sollte sie vor dieser großen Dame
bestehen? Ganz klein fühlte sie sich plötzlich – winzig klein. Bei dem wahnsinnigen Herzklopfen konnte sie gewiß nicht sprechen, senkte den Kopf wie schuldbeladen. Bis ihr dann Frau von Bruckheim zu Hilfe kam. Sie streckte ihr die Hand entgegen, eine schmale, weiße Hand, über die das Mädchen sich artig beugte. »Ich bin überrascht, dich bei mir zu sehen, Ilse-Sibylle«, hörte sie eine wohlklingende, doch sehr kühle Stimme sagen. »Zuerst lege einmal ab, und dann erzähle mir, was dich zu mir führt.« Dasselbe Mädchen, das sie ins Zimmer geführt, trat wieder ein und nahm ihr Mantel und Hut ab. Frau von Bruckheim setzte sich, bat die Nichte, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Es dauerte Sekunden, bis diese sprechen konnte. »Ich komme zu dir, Tante Marianne, um dich für kurze Zeit um Unterkunft zu bitten«, würgte sie mühsam hervor. Dann eine Pause, die dem Mädchen entsetzlich war. »Und weiter, Ilse-Sibylle?« klang dann der Tante kalte Stimme durch das Schweigen. »Bis – ja, bis ich eine Stelle gefunden habe. Ich konnte nicht länger im Sanatorium bleiben – mein Vater ist tot – « »Ich weiß es.« Wieder der abwartende Blick von Frau von Bruckheims. Mit keinem Wort kam sie der gequälten Nichte zu Hilfe. »Ich mußte das Sanatorium verlassen, weil das Pensionsgeld nicht mehr für mich gezahlt wird – und weil –« Sie senkte den Kopf tief, weil es ihr nicht möglich war, dem kühl beobachtenden Blick standzuhalten. »Und weil -? Sprich weiter, Ilse-Sibylle. Wenn ich dich bei mir behalten soll, dann muß ich volle Klarheit haben.« »Weil der Besitzer des Sanatoriums mir einen Heiratsantrag machte, den ich nicht annehmen konnte«, flüsterte das Mädchen kaum hörbar. »Und weshalb konntest du das nicht?« sprach die kalte
Stimme tadelnd. »Du bist arm und allein, darfst daher keine hohen Ansprüche stellen. Der Mann ist, soviel ich weiß, reich und unabhängig.« Nun vergaß Ilse-Sibylle, daß sie als Bittende vor der Tante saß. Ihr Blick sprühte, der Kopf fuhr in den Nacken mit hochmütiger Gebärde. »Reich und unabhängig – doch auch gewöhnlich und häßlich!« rief sie erbittert, während Tränen ihre Augen verdunkelten. »Ich mag derartige Menschen nicht – « Jetzt erst kam ihr zu Bewußtsein, wie sehr sie sich vergessen hatte. Unwillkürlich duckte sie sich, um den tadelnden Worten besser standhalten zu können. Horchte überrascht auf, als die Tante sagte: »Das ändert die Sache. Nun möchte ich dich noch fragen, ob du die Aufsicht und Pflege des Sanatoriums noch nötig hast.« »Nein, Tante Marianne, die hatte ich nur kurze Zeit nötig. Daß ich trotzdem so lange blieb, geschah, weil ich meinem Vater im Wege war.« »Ah – armes Kind. Doch nun weiter. Welcher Art soll die Stellung sein, die du dir zu suchen gedenkst?« »Gesellschafterin oder Kinderfräulein.« Ein kaum merkliches, feines Lächeln erschien auf dem Antlitz der Dame, das die Nichte nicht zu deuten wußte. »Ja, liebe Ilse-Sibylle, du magst ja den guten Willen haben, dich tapfer durchs Leben zu schlagen. Doch bei deinem Aussehen dürfte das nicht so einfach sein. Deswegen wirst du immer wieder auf Schwierigkeiten stoßen.« »Aber warum denn nur? Dr. Meder und Herr Schmehlich sagten übrigens dasselbe. Warum sollte ich, gerade ich keine Stellung finden, da es Tausenden von Mädchen gelingt?« Wieder das feine Lächeln der Tante. »Weil du das Benehmen und Aussehen eines Fürstenkindes – und nicht das eines stellensuchenden Mädchens hast. Dabei siehst du noch so sehr jung aus, daß man dir keine ernstliche Pflichterfüllung zutraut. Doch ich will dir das
Herz nicht schwer machen, du armes Kind. Es ist ja nicht dein Verschulden, daß es dir so geht. Du kannst vorläufig bei mir bleiben. Für die Tochter meiner Schwester habe ich immer Platz. Ich kenne dich nicht, will dir daher keine Versprechungen machen. Aber sollte deine Person mir zusagen, dann kannst du immer bei mir bleiben. Ich habe nicht viel, muß mich sogar recht einschränken, doch mit gutem Willen wird es schon gehen. Was meinst du zu meinem Vorschlag, Ilse-Sibylle?« Also doch eine Aschenputtelrolle, die mir alles andere als liebenswürdig zugeteilt wird! dachte das Mädchen bitter. Aber ich muß sie wohl annehmen, weil mir keine andere Wahl bleibt. Es klang sehr niedergedrückt, als sie sagte: »Ich danke dir, Tante Marianne. Du mußt mir nur sagen, wenn ich dir lästig falle.« Sie gingen ins Wohnzimmer, und Tante Marianne setzte sich auf den Fensterplatz, wo rundum herrliche Blumen blühten. Ilse-Sibylle wurde bedeutet, sich gegenüber niederzulassen. »Nun erzähle von zu Hause, Ilse-Sibylle.« »Ich weiß nicht, wie weit du unterrichtet bist-« begann das Mädchen zögernd. »Ziemlich genau, mein Kind. Zuerst erzähle von deiner Kindheit.« »Die hätte sehr schön sein können, wenn mein Vater sie mir nicht verdorben hätte. Es gab seinetwegen viel Streit bei uns, meine Mutter weinte sehr oft. Und ich liebte meine Mutter. Vater war selten zu Hause; und wenn, dann war es mit Frieden und Ruhe vorbei. Bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr lebten wir nicht gerade üppig, doch ohne Sorge. Dann verspielte Vater fast das gesamte Vermögen, so daß wir fortan darben mußten. Es wurde besser, als mein kleiner Bruder soweit war, um durch sein Talent Geld zu verdienen. Das Kind unterhielt die ganze Familie – und den größten Teil der Einnahme verbrauchte der Vater für sich.
Arnulf war ein schöner, hochbegabter Knabe – ganz seines leichtsinnigen Vaters Ebenbild. Er war der Mutter Stolz und vergötterter Liebling. Sie sah nicht, wie schädlich es für den Jungen war, daß man ihn in seinem zarten Alter von Konzertsaal zu Konzertsaal schleppte, wie selbstbewußt und eingebildet er durch die Schmeicheleien der Menschen wurde. Ein kleiner blasierter Bengel, dem kaum mehr etwas Freude machte. Blendend schön sah er aus, wenn er mit der Geige im Arm dastand und für die Begeisterung des Publikums nur ein selbstgefälliges Lächeln hatte. Meine Mutter begleitete ihn stets, konnte sich von ihrem Abgott keine Stunde trennen. Ich blieb mir selbst überlassen, man kümmerte sich nicht um mich. Und da ich viel Zeit hatte, fuhr ich öfter mit der Mutter und dem Bruder. Eine solche Fahrt war es auch, als das Unglück geschah. Arnulf war mit Süßigkeiten und Spielzeug förmlich überschüttet worden und fuhr recht befriedigt mit Mutti und mir im Auto nach Hause. Es war ein stürmischer Spätherbstnachmittag. Zum Überfluß setzte noch ein ungewöhnlich starkes Schneetreiben ein, das die Landstraße glitschig machte. Ich fühlte nur, wie ich plötzlich mit dem Kopf hart aufschlug – und dann nichts mehr. Als ich wieder richtig zu mir kam, war es mittlerweile Frühling geworden, und ich befand mich im Sanatorium Seelenruh. Schonend brachte man mir bei, daß Mutti, Arnulf und der Chauffeur bei dem Unfall ums Leben gekommen wären. Das Auto sauste einen Abhang hinab, überschlug sich, schleuderte die drei Personen gegen einen Baum während ich auf weiches Ackerland flog. Und hätte da nicht ein spitzer Stein gelegen, so wäre mir überhaupt nichts passiert. So bekam ich oberhalb der Schläfe die gefährliche Wunde, die meine Krankheit verursachte. Ich führte in dem Sanatorium ein stilles, friedliches Leben. Wohl wunderte ich mich, daß ich noch dort blieb, als ich
längst schon genesen war. Doch weil es mir gut ging, unterließ ich jegliches Forschen. Den Schmerz um Mutti und Arnulf empfand ich nicht so heftig, wie es der Fall gewesen wäre, wenn ich bei ihrem Begräbnis hätte dabei sein müssen. Von meinem Vater wußte ich nichts – wollte auch nichts wissen. Nun, da Mutter und Bruder tot waren, verband uns nichts mehr. So lebte ich bis zum gestrigen Tage. Da erst erfuhr ich von seiner Verheiratung und seinem Tod, erfuhr auch, daß ich auf seinen Wunsch so lange hatte im Sanatorium bleiben müssen, weil ihm die erwachsene Tochter im Wege war. Und so kam ich dann zu dir, Tante Marianne.« Ilse-Sibylle schwieg und senkte den Kopf wie schuldbeladen. Frau von Bruckheim sah auf das Köpfchen nieder, das die schimmernden dicken Ringellocken fast zu erdrücken schienen. Sah das durchsichtige, weiße, wundersüße Antlitz, die traurigen Augen, und lächelte. »Recht, daß du das tatest, mein Kind. Wie kamst du auf den Gedanken?« Nun hob sie den Kopf, sah die Tante mit unergründlichen Augen an, in denen die Tränen standen. »Weil du die einzige Verwandte bist, von der ich etwas weiß«, entgegnete sie mit zuckenden Lippen. »Von den anderen Verwandten hat deine Mutter nie gesprochen?« »Nein. Von dir wußte ich auch nur, daß du einen Oberst zum Gatten und einen Sohn hast.« »Der schon seit drei Jahren tot ist und dessen Vater im Kriege fiel.« »Oh, das wußte ich nicht, Tante Marianne«, sagte das Mädchen erschüttert. »Und nun bist du ganz allein?« »Ja, kleine Ilse-Sibylle. Und daher ist es mir nicht unangenehm, daß du den Weg zu mir gefunden hast. Schade, daß ich dich so wenig kenne. Doch das liegt nicht an mir. Deine Mutter war sehr stolz, hat jede Annäherung der Verwandten schroff zurückgewiesen, weil sie dagegen
waren, daß sie den schönen und leichtsinnigen Geiger heiratete. Nicht darum, weil er bürgerlich war, sondern weil sie den Verlauf der Ehe voraussahen. Als dein Vater das große Vermögen, das meine Eltern ihrer ungehorsamen Tochter trotzdem auszahlten, vergeudet hatte, boten wir ihr unsere Hilfe an, die sie jedoch kurz ablehnte. Wäre sie glücklich geworden, hätte sie wahrscheinlich den Weg zu ihrer Familie zurückgefunden. Doch so verkroch sie sich in ihrem Leid, das sie selbst verschuldet hatte. Nun hast du ganz das Äußere deines Vaters, Ilse-Sibylle. Daher muß ich mich erst an dich gewöhnen. Wir wollen beide versuchen, uns näher zu kommen. Wollen die trüben Jahre vergessen und ein neues Leben beginnen.« Darauf zog das Mädchen die feine Frauenhand stumm an die Lippen. An einem Morgen, als Ilse-Sibylle zur gewohnten Stunde an den Frühstückstisch trat, fand sie die Tante noch nicht vor. Das war in den Wochen ihrer Anwesenheit hier noch nicht vorgekommen. Doch den Grund sollte sie gleich erfahren. Die alte Berta erschien im Zimmer, traurig, mit verweinten, Augen. Schlich über den schweren Teppich, als müßte sie auch da noch die Tritte dämpfen. Flüsterte Ilse-Sibylle zu, daß sich heute der Todestag des jungen Herrn zum dritten Mal jährte. Das gnädige Fräulein möchte nur essen, es wäre unbestimmt, wann die gnädige Frau zum Vorschein käme. Zuletzt gab sie ihr noch den Rat, ja nicht über den jungen Herrn zu sprechen, und entfernte sich dann ebenso lautlos, wie sie gekommen war. Doch kaum hatte Ilse-Sibylle mit dem Frühstück begonnen, da erschien die Tante ruhig und kühl wie immer. Das Mädchen saß ihr gegenüber, würgend an jedem Bissen. Wie furchtbar das doch alles war! Dann ging Frau von Bruckheim aus, ohne die Begleitung der Nichte zu wünschen. Zweifellos besuchte sie das Grab des Sohnes.
Zum Mittagessen war sie wieder da. Mühsam schleppten sich die Stunden dahin. Die Damen saßen handarbeitend auf ihrem Fensterplatz und wechselten kaum ein Wort miteinander. Als es zu dunkeln begann, legte Ilse-Sibylle ihre Handarbeit zusammen und schaute in den strömenden Regen hinaus. Dabei geriet sie ins Träumen und schrak zusammen, als die Tante sie ansprach. »Ilse-Sibylle, du mußt da draußen doch einen Gegenstand haben, der dein Interesse erweckt«, meinte sie lächelnd. »Schon oft habe ich das bemerkt. Darf ich erfahren, was dich so interessiert?« »Es ist der Wald«, gab sie verwirrt Antwort. »Ich liebe die waldigen Stätten sehr und habe oft große Sehnsucht danach.« »Diese bescheidene Sehnsucht kann gestillt werden«, entgegnete die Tante in freundlicherem Ton, als sie sonst zu sprechen pflegte. »Wir mieten uns an einem schönen Tag einen Wagen und fahren in den Wald. Aber nicht nach dem hier drüben, sondern nach dem gegenüberliegenden. Denn den du vom Fenster aus sehen kannst, möchte ich nicht mehr betreten.« »O bitte!« wehrte das Mädchen erschrocken. »So war das nicht gemeint. Du wirst dir doch meinetwegen nicht eine anstrengende Wagenfahrt zumuten.« »Komme ich dir denn schon so gebrechlich vor?« »Aber Tante Marianne, ich bitte dich!« Das klang so entrüstet, daß die andere lächelte. »Na, siehst du. Ich biete dir so wenig, daß du eine kleine Abwechslung nur begrüßen kannst. Du bist für ein junges Mädchen viel zu still. Warst du immer so?« O nein, Ilse-Sibylle war früher bestimmt nicht so gewesen. Hier wurde sie aus Furcht, etwas zu tun, was die Tante stören könnte, dazu gezwungen. Ihre Fröhlichkeit war einem scheuen Ernst gewichen. Bevor sie noch antworten konnte, sprach die Tante schon weiter:
»Hinter dem Wald liegt die Ostsee. Weißt du das?« »Nein.« Eine Weile war es wieder still, bis die Frage kam: »Weißt du, daß heute Burkhards Todestag ist?« »Berta sagte es mir.« Erneut klang die Frauenstimme auf, schwer und dunkel vor verhaltenem Schmerz. »Dort hinter dem Wald, dem deine Sehnsucht gilt, liegt Schloß Dünentrutz nebst dem riesengroßen Gut gleichen Namens. Der glückliche Besitzer ist ein Baron von Broede. Es gab eine Zeit, wo ich oft in Dünentrutz weilte und den Krafft von Broede wie einen Sohn liebte. Mit meinem Jungen verband ihn eine Freundschaft, wie sie selten ist im Leben. Krafft war ein schöner, aufgeweckter Knabe, der meinen Burkhard in den Schatten stellte, obgleich auch mein Sohn sich sehen lassen konnte. Je älter die beiden wurden, um so fester wurde ihre Freundschaft. Burkhard blieb ernst und bedachtsam, Krafft der liebenswürdige Schwerenöter, der mit den Mädchen flirtete und von ihnen vergöttert wurde. Dann kam der Krieg. Sie zogen hinaus, blutjung, von der Universität hinweg. Sie schlugen sich tapfer, holten sich Auszeichnungen mancher Art. Krafft noch mehr als mein Junge. Denn jener war tollkühn und verwegen. Er rückte in seinen jungen Jahren zum Rittmeister auf, während Burkhard Leutnant blieb. Dann kamen sie beide aus dem furchtbaren Krieg zurück, während mein Mann auf dem Schlachtfeld blieb. Beide bezogen wieder die Universität. Krafft von Broede hatte auch eine Schwester. Ein Geschöpfchen von engelhafter Schönheit, ganz der sanften Mutter Ebenbild. Sie liebte Burkhard, und ihre Eltern wie auch ich hätten eine Verbindung beider nur zu gern gesehen. Doch da tauchte plötzlich ein Mädchen auf, dessen Herkunft genauso dunkel war wie die ganze Persönlichkeit. Und in dieses Mädchen verliebte sich mein Junge. Solch
eine Schwiegertochter war mir gewiß nicht recht. Allein es ging um das Glück meines Kindes – da gab ich nach. Er hatte meine Einwilligung, durfte um sie werben und verschob es von Tag zu Tag. Bis ich dann hörte, daß auch Krafft von Broede das Mädchen liebte und bereits einig mit ihm war. Der Verlobungstag wurde bekanntgegeben. Und am Abend vorher brachte man mir meinen Jungen ins Haus – mit durchschossener Brust. Noch ein weiteres Unglück geschah an dem Abend. Krafft hatte seine Eltern und seine Schwester zur Stadt gefahren. Auf dem Rückweg verunglückte er mit dem Auto, verlor seine drei Angehörigen dabei, er allein blieb unverletzt. Er war natürlich wie ein Wilder gefahren, was er immer tat und auch noch tut. Und als seine Braut zu ihm eilte, jagte er sie von der Schwelle wie einen räudigen Hund. Als er dann zu mir kam, war ich sinnlos vor Schmerz. Wies ihm die Tür. Er konnte sich nicht rechtfertigen – er ging. Seit dem Tage habe ich ihn nie mehr gesprochen. Bin jedoch dazu verurteilt, ihn oft in der Stadt zu sehen. Erfahre auch von seinem Leben und Treiben. Daß er ungerührt über den Tod der Seinen hinwegging. Daß der sonnige, übermütige Schwerenöter ein arroganter, ironischer Weltenbummler wurde, dem nichts heilig ist. Der die Frauen in unerhörter Weise verspottet und verlacht. Der sich nimmt, was er bekommen kann, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen. Und die Mütter, die ihre Töchter vor diesem Menschen schützen sollten, drängen sie ihm direkt auf. Nur weil er Geld hat, außerdem über eine seltene Persönlichkeit verfügt, machen sie ihn zum Halbgott. Finden bei ihm originell und interessant, was sie bei einem anderen rügen würden.« Die leise, erregte Stimme schwieg. Sehr still war es nun im Zimmer. Ilse-Sibylle war so erschüttert, daß sie kein Wort hervorbringen konnte.
Es kamen noch einige schöne Herbsttage. Eines Tages fühlte sich Frau von Bruckheim nicht wohl. Legte sich daher zum Mittagsschläfchen nieder, was sie sonst nicht zu tun pflegte. Ilse-Sibylle erhielt die Erlaubnis zu einem Spaziergang. Freudig machte sie sich auf den Weg. Lenkte ihre Schritte zum Wald. Die wenigen Kilometer schaffte sie als gute Fußgängerin mit Leichtigkeit. Dachte nicht daran, daß sie für den Hin- und Rückweg immerhin Stunden brauchte, und daß es früh dunkelte. Mit magnetischer Kraft zog der Wald sie zu sich hin. Fabelhaft jung sah sie in der schicken Jacke, einem Geschenk der Tante, und dem dazu passenden Mützchen aus – jung und sinnverwirrend. Unbekümmert schritt sie dahin. Achtete nicht der vielen Blicke, die man ihr nachschickte. Daran war sie gewöhnt. Rüstig wanderte sie dahin, dabei nicht merkend, wie die Zeit verrann. Erst als sie am Waldrand war, atmete sie auf. Blickte zu den Baumriesen empor mit schönheitstrunkenem Blick. Und da hinten, da sollte die See liegen. Dahin mußte sie, koste es, was es wolle! Oh, wieviel hatte sie zu schauen, wie hob sich die Brust in seliger Wanderlust! Sie vergaß dabei alles. Ihre traurige Vergangenheit und die ebenso traurige Gegenwart. Und stand dann plötzlich wie gebannt. Der Wald lichtete sich, zog sich im Halbkreis an den Dünen entlang. Und unten lag die See, ruhig und erhaben im Sonnenlicht des frischen Herbsttages. Weiß leuchteten die Dünen, streckten sich in unendlicher Weite. Ilse-Sibylle wagte nicht, sich zu rühren. Ließ sich überwältigen von dem hehren Anblick. Lange stand sie da, dunkel und verträumt war ihr Blick. Erst als sie mit ihren Gedanken zur Wirklichkeit zurückkehrte, bemerkte sie die hereinbrechende Dunkelheit und erschrak. Noch einen langen Blick warf sie auf das weite Meer, dann eilte sie die Dünen hinauf.
Sie mußte den Wald durchqueren, bevor es ganz finster wurde. Denselben Weg wollte sie zurückgehen, den sie gekommen war. Doch soviel sie auch spähte, sie konnte den Pfad nicht finden. Immer weiter eilte sie am Waldrand entlang, und ehe sie es glauben konnte, war es dunkel geworden. Nun beschlich die beherzte Ilse-Sibylle doch bange Furcht. Schwarz lag der Wald zu ihrer Rechten, zu ihrer Linken tief unten tobte und brandete die See, aufgepeitscht durch den Sturm, der sich ganz plötzlich erhoben hatte. Zusammenschauernd sah sie die hohen Wellen, deren Schaumkronen weiß aufspritzten. Der Sturm jagte ihr den Dünensand ins Gesicht, so daß sie die Augen schließen mußte. Dazu begann es noch zu regnen. Was waren das überhaupt für Tropfen, sie schnitten ins Gesicht wie spitze Messer! Aber noch verließ der Mut sie nicht. Wenn sie auch nicht den Waldweg fand, so mußte sie doch endlich zu einer menschlichen Behausung kommen. Mit aller Kraft kämpfte sie sich durch den Sturm, der sie umzuwerfen drohte. Sein Heulen, vermischt mit dem Brausen der See und dem Rauschen der Bäume, klang unheimlich und schauerlich. Der Regen drang ihr bis auf die Haut, das Gesicht brannte wie Feuer von den peitschenden Tropfen, die sich mit den Tränen vermischten, die ihr vor Angst und Entsetzen über die Wangen liefen. Sie hielt sich verzweifelt die Ohren zu, rannte davon, so schnell der Sturm es nur zuließ. Sie wußte nicht, wie lange sie so dahingetaumelt war, ihr erschien es wie eine Ewigkeit. Da, endlich ein Lichtschein! Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, strebte ihm zu – bis dann doch die Kräfte sie verließen und sie in tödlicher Erschöpfung auf den Dünensand sank. Ihr banger Blick ging zu dem Gebäude hin, das sich gespensterhaft aus dem Dunkel hob. Nur einige Fenster in der langen Front waren erhellt. Daß es ein Schloß war, erkannte sie an den Türmen. Wie
glücklich mußten die Menschen sein, die darin leben durften, die es ihre Heimat nannten! Wie groß und gut mußte solch ein Geschlecht heranblühen, das Meer- und Waldesrauschen zum Schlummerlied hatte! Sie wollte sich hoch ein wenig erholen und dann die Menschen dort bitten, ihr den Weg in die Stadt zu weisen. Am liebsten hätte sie sich ja lang auf den Dünensand gestreckt. Sie war müde zum Vergehen. Kopf und Augen brannten, als wären sie im Feuer. Plötzlich schoß ein dunkles Etwas aus dem Walde heraus, raste auf sie zu. Da sprang sie auf, taumelte davon mit verzweiflungsvollen Schreien, die das Sturmgetöse verschlang. Sie lief so lange, bis die noch einmal aufgepeitschten Kräfte erschlafften. Keuchend stürzte sie zu Boden, fühlte mit Grausen, wie das dunkle Etwas sich auf ihren Rücken legte. Dann schwanden ihr die Sinne, die eine Stimme wieder wachrief. Sie mußte ganz nah sein, da sie den Sturm übertönte. »Harras, was fällt dir ein?!« hörte sie eine dunkle, herrische Männerstimme. Der Druck wich von ihrem Rücken, sie fühlte sich emporgehoben, das grelle Licht einer Taschenlampe blendete ihre Augen. Und plötzlich überkam sie eine wohlige Ruhe. Wer der Fremde auch sein mochte, er kam als Retter in der Not. Auch daß er sie auf seinen Armen davontrug, wie sie an den schaukelnden Bewegungen spürte, war ihr gleichgültig. Nur ruhen, schlafen! Nur dieses Kältegefühl loswerden, das sie erschauern ließ! Fest legte sie ihren Kopf an die Brust des Fremden, hörte einen raschen Herzschlag. Dann wurde Ilse-Sibylle auf etwas Weiches gelegt, warm und mollig zugedeckt. Wie gut es sich da ruhte! Im Halbschlaf duselte sie vor sich hin, öffnete erst mühsam die Augen, als ein Arm sich unter ihren Nacken schob, den Oberkörper aufrichtete und ein Glas an ihre Lippen hielt.
Doch kaum daß sie einen Blick in das Gesicht ihres Retters getan hatte, schrak sie heftig zusammen. Und schloß die Augen wieder schnell. Nur das Bild festhalten, das sie nun so deutlich vor sich sah, deutlicher als je zuvor, da das geliebte Bild durch ihre Träume glitt! Ein süßes, betörendes Lächeln erschien auf dem bleichen Antlitz, das so zart und durchsichtig war wie ein Blumenblatt. Mit geschlossenen Augen schlürften sie den erwärmenden Trank. Nur sie jetzt nicht öffnen und vielleicht in ein ganz fremdes Gesicht schauen – träumen – träumen -. Müde fiel der Kopf zur Seite. Ilse-Sibylle träumte lächelnden Mundes. Von dem Schloß an Wald und Dünen, von dem fremden Mann, um den sich ihr Denken wob. Träumte, ihr würde die Hand geküßt von warmen, weichen Lippen und wachte darüber auf. Wandte den Kopf, sah in die treuen Augen eines Hundes hinein, der ihre Hand leckte. Ilse-Sibylle lächelte. Also daher der Handkuß im Traum! Wie töricht von ihr, vor diesem Tier davonzulaufen! Sie versuchte das Halbdunkel, das im Raum herrschte, mit den nun wachen Augen zu durchdringen. Erspähte einen Ofen, in dem ein Feuer lustig flackerte und wohltuende Wärme verbreitete. Die Einrichtung war die eines Herrenzimmers. Die Wände schmückten Geweihe aller Art. Wahrscheinlich war sie in ein Forsthaus geraten. Jetzt bemerkte sie auch eine Gestalt, die unweit von ihr verharrte. Da sprang sie hastig auf. Ein Arm langte zur Hängelampe empor, und sofort leuchtete diese hellauf. Die Gestalt kam auf sie zu – und da versagten Ilse-Sibylle die Beine wieder den Dienst, so daß sie auf ihre Lagerstatt zurücksank. Vor Ilse-Sibylle Rainer stand der Fremde, der damals ihr Mitreisender gewesen war. »Nun, mein gnädiges Fräulein, wieder wohlauf?« fragte er lächelnd. »So feiern wir heute ein Wiedersehen, auf das wir beide nicht gehofft haben, nicht wahr?«
Ihr Antlitz überzog sich mit heißer Glut. Wie sie sich vor dem Mann schämte! Was mußte er für eine Meinung von ihr haben, weil sie sich damals auf der Reise so ohne weiteres von ihm hatte helfen lassen? Wie hatte sie sich nach seinem Anblick gesehnt, mit welcher Dringlichkeit gewünscht, ihn wiederzusehen! Doch nicht so Auge in Auge – o nein, nur aus der Ferne, ohne selbst bemerkt zu werden. Nun mußte sie erneut seine Hilfe in Anspruch nehmen und geriet dadurch immer mehr in seine Schuld. »Ich – ich muß Ihnen – danken, mein Herr«, würgte sie hervor. »Ihre Wohltaten – « »Welch ein unerhörtes Wort!« unterbrach der Fremde sie. »Quälen Sie sich doch nicht mit einem Dank, der Ihnen schwerfällt! In welche Situationen Sie aber auch geraten, Sie unglückseliges Kind! Haben Sie denn keine Angehörigen, die auf Sie achten? Wie könnten Sie sonst wohl um diese Stunde und bei diesem Wetter auf die Dünen geraten!« »Ich verirrte mich auf einem Spaziergang«, entgegnete sie leise. »Das ist keine Entschuldigung. Eine junge Dame, noch dazu mit Ihrem Aussehen, sollte nie allein im Wald Spazierengehen. Zumal nicht auf Wegen, die sie nicht genau kennt.« Ilse-Sibylle sah erschrocken zu ihm auf; denn seine herrische Stimme flößte ihr Furcht ein. Er bemerkte es und lächelte wieder. »Ich werde Ihnen Ihre Sachen bringen, die ich zum Trocknen an den Ofen hängte, während Sie Ihr Schläfchen hielten.« Er ging zum Ofen, immer noch redend im weltgewandten Plauderton. Ilse-Sibylle lauschte mit Entzücken dieser Stimme mit dem dunklen, herrischen Klang. Ob er wohl verheiratet war? Verstohlen musterte sie seine schlanken, kräftigen Hände, die ihr die Kleidungsstücke
reichten. Doch nur zwei schwere Siegelringe schmückten sie, von denen der eine unverkennbar ein Wappen trug. Während sie sich die jetzt trockenen Schuhe und Strümpfe sowie die Jacke anzog, verließ er das Zimmer. Nebenan hantierte er herum, dabei leise vor sich hin pfeifend. Als er dann wieder erschien, überreichte er ihr ein Glas Glühwein. »Trinken Sie, mein gnädiges Fräulein. Der Trunk wird Ihnen guttun und hoffentlich verhindern, daß Sie krank werden und somit Ihren Leichtsinn doppelt büßen müssen.« Ilse-Sibylle trank mit Behagen. Fühlte, wie sich der Körper erwärmte, wie das Blut durch die Adern rann. Das bleiche Antlitz bekam langsam Farbe, bis es zuletzt purpurn erglühte. »Ein Glück, daß ich um diese Zeit noch draußen war«, sagte ihr Gastgeber. »Sonst bin ich zu dieser Stunde längst zu Hause. Doch das Wetter reizte mich und meinen treuen Kameraden, den Harras. Schauen Sie nur, wie er Sie anhimmelt, der dreiste Kerl! Er verlangt sicherlich einen Extradank dafür, daß er Sie aufspürte, wenn auch etwas stürmisch. Aber nun wollen wir überlegen, wie Sie nach Hause kommen, gnädiges Fräulein. Sind Sie aus der nächsten Stadt?« »Ja. Wenn Sie so freundlich wären, mir den Weg dorthin zu zeigen, dann möchte ich nun aufbrechen. Ich bin erwärmt und gekräftigt.« »Daraus wird nichts. Wie sollte ich es wohl verantworten, wollte ich Sie schutzlos in den finstern Abend hinausschicken. Ich werde vielmehr von meinem Gut ein Fuhrwerk bestellen.« »Sind Sie denn nicht hier zu Hause?« fragte sie verwundert. »Ich hielt Sie für einen Forstmann – « »Der ich im gewissen Sinne auch bin«, war die lächelnde Erwiderung. »Diese kleine Bude ist nicht mein Zuhause, wohl aber meine Jagdhütte, die heute wieder einmal gute
Dienste geleistet hat.« Ilse-Sibylle musterte den Raum mit lebhaftem Interesse. Sie hatte viel von Jagdhütten gehört, sich diese jedoch viel primitiver vorgestellt. Der Fremde riß sie aus ihrem Grübeln. »Nun, gnädiges Fräulein, gefällt es Ihnen hier?« »Sehr. Man kommt sich hier wie verwunschen vor, wie von aller Welt abgeschnitten, so romantisch wirkt der Raum. Nur der Fernsprecher auf dem Schreibtisch stört die Romantik.« »Ist jedoch praktisch und von großem Wert. Wie zum Beispiel jetzt. Durch ihn bin ich in der Lage, Dünentrutz anzurufen und einen Wagen zu bestellen.« Er sprach nicht weiter, weil Ilse-Sibylles Gebaren ihn überraschte. Sie sprang auf, wobei ihr jeder Blutstropfen aus dem eben noch so glühenden Antlitz wich. Ihre Augen starrten ihn an mit fast irrem Blick. »Dünentrutz?« fragte sie mit versagender Stimme. »Allerdings – «, entgegnete er befremdet. »Dann sind Sie –?« »Krafft von Broede.« Ein Laut kam über ihre Lippen, so ächzend und weh, daß der Mann erschrak. Er wollte nach ihren Händen greifen, die ebenso bebten wie der ganze Körper, doch sie wich bis in die äußerste Ecke des Raumes zurück. Die Augen sprühten in dem weißen Gesicht. »Rühren Sie mich nicht an!« schrie sie auf. »Ich – ich verabscheue Sie! Ich fürchte mich vor Ihnen – vor dem Mann – vor dem die Mütter ihre Töchter schützen sollten!« Er wich zurück. Langsam stieg ihm die Zornesröte bis in die Stirn hinauf. Kalt und drohend lag sein Blick auf dem Antlitz des Mädchens, das todblaß an der Wand lehnte. »Darf man fragen, gnädiges Fräulein, wer Ihnen das Recht gibt, mir derartiges zu sagen?« klang seine Stimme so eisig durch das Schweigen, daß Ilse-Sibylle erschauerte. »Nun Sie meinen Namen wissen, bin ich neugierig, auch den Ihren
zu erfahren. Absichtlich verschwieg ich Ihnen den meinen, damit Sie sich nicht von meinen Gefälligkeiten, die Sie ja großartig mit ›Wohltaten‹ bezeichnen, bedrückt fühlen sollten. Nun aber frage ich: Wer sind Sie, daß Sie mich beleidigen dürfen?« Ilse-Sibylle hatte unter seinem kalten Blick ihre Beherrschung wiedergefunden. Ihr Kopf flog in den Nacken. »Ich kenne Sie, Herr Baron von Broede – allerdings nur vom Hörensagen. Ich bin Ilse-Sibylle Rainer – die Nichte der Frau Oberst von Bruckheim.« Augenblicklang blitzte es in seinen Augen auf. Dann senkten sie sich in die Augen des Mädchens – zürnend, drohend. »Das ist allerdings eine Überraschung«, sagte er sehr langsam, sehr eisig. Aus der Tasche seiner Jagdjoppe zog er ein Etui. Die Hand, mit der er ihm eine Zigarette entnahm und sie in Brand steckte, zitterte. Hastig stieß er einige Male den Rauch durch die Nase. Ging dann zum Fernsprecher und bestellte einen Wagen mit Pelz und warmen Decken darin. Ilse-Sibylle lehnte noch immer an der Wand. Sie war wohl ruhiger geworden, doch immer noch erschreckend blaß. Fast schwarz flackerten die Augen in dem weißen Gesicht. »Ich möchte nach Hause«, stieß sie hervor in fliegender Hast. »Möchte nicht immer noch mehr Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.« Er sah sie an, herben Spott in dem arroganten Gesicht. »Vielleicht hätte ich Sie im Dünensand liegen lassen und Sie damals auf dem Bahnhof Ihrem Schicksal überlassen sollen.« Unter diesem unerträglichen Blick senkte sie den Kopf wie schuldbeladen. So wie heute hatte sie sich noch nie benommen. Wie kam sie überhaupt dazu, den Mann so unerhört zu beleidigen? Ilse-Sibylle hatte keine Ahnung, wie zauberhaft schön sie war, als sie so weltentrückt an der Wand lehnte, geschüttelt
von Qual und Herzensnot. Sie schrak zusammen, als der Mann nun wieder sprach. Unerträglich ironisch klang seine Stimme. »Sie dürfen ruhig aus dem Winkel hervorkommen, mein eigenwilliges Kind. Ich bin nämlich nicht ganz so zu fürchten, wie die Wegelagerer, denen Sie bei Ihrem gewagten Waldspaziergang leicht hätten in die Hände fallen können.« Sie rührte sich immer noch nicht. Stand mit gesenktem Kopf und hängenden Armen da. Erst als sie das Nahen des Wagens vernahm, trat sie hastig aus der Ecke hervor. »Ich werde mich erkundigen, Herr Baron, was Sie damals für mich ausgelegt haben, und werde Ihnen dann die Kosten zurückerstatten.« Es zuckte in dem harten Männerantlitz – doch nur einmal, blitzschnell. Dann verbeugte er sich vor ihr, grausame Ironie in den glitzernden Augen. »Dann vergessen Sie nur nicht, gnädiges Fräulein, auch diese Fahrt mit einzurechnen – und den Wein, den Sie tranken«, sagte er in einem Ton, der ihr das Blut ins Gesicht trieb. »Vielleicht fällt noch obendrein ein Trinkgeld für mich ab. Es bemüht sich keiner gern umsonst – « O ja, der Hieb saß! Sie zuckte unter ihm zusammen in glühheißer Scham. Wie kam sie auch dazu, den Mann in seinen vier Wänden zu beleidigen, immer wieder aufs neue? War sie denn überhaupt noch zurechnungsfähig? Sie hastete davon, um nur aus seiner Nähe zu kommen. Stand draußen, hell beschienen von den Wagenlaternen. Weiß und fein hob sich das zarte Antlitz aus dem dunklen Pelzkragen. Wirr hingen ihr die lichtblonden Ringellocken um den unbedeckten Kopf, den sie nun gegen den Mann, der neben ihr stand, neigte, als verabschiede eine Königin ihren Vasallen. Und er verbeugte sich, sehr höflich, tadellos, half ihr in den Wagen und hüllte sie in weiche Decken. »Sie richten sich nach den Wünschen des gnädigen Fräulein, Fritz«, wandte er sich dann an den Kutscher.
Noch ein stummer Gruß hüben und drüben, dann zogen die Pferde an. Ilse-Sibylle hatte das Gefühl, als träumte sie einen herzquälenden Traum. Sie fror trotz des Pelzes, der sich weich um ihren Körper schmiegte. Der Gedanke, was die Tante wohl sagen würde, stieg wohl in ihr auf, ließ sie jedoch kalt. Wenn sie auch noch so böse sein würde – was wäre das alles gegen das andere, das sie so leiden ließ? Welche Freude hätte sie sonst bei der flotten Fahrt empfunden! Doch nun saß sie zusammengekauert da, zerquälte sich Herz und Hirn mit trostlosen Gedanken. Schrak auf, als der Wagen hielt. Die Beine wollten ihr kaum gehorchen, als sie die Treppe zur Wohnung der Tante emporstieg. Man schien sich noch nicht um sie zu ängstigen; denn hinter der Eichentür war alles still. Wie kam sie überhaupt auf den Gedanken, daß die Tante sich um sie ängstigen könnte – um sie, die arme, geduldete Nichte? Ein Bitterkeitsgefühl stieg in ihr auf, wie sie es ähnlich noch nie empfunden. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr da hineingegangen, wo alles so steif, so freudlos zuging. Aber wo sollte sie sonst hin? Mit zitternder Hand drückte sie auf den Klingelknopf. Ein rascher Schritt und schon stand die Tante vor ihr. Zog sie an beiden Händen hinein in das kleine Gemach. Dort ließ Ilse-Sibylle sich müde auf den nächsten Stuhl fallen, sah zur Tante auf mit flehendem Blick. »Tante Marianne – verzeih – ich verirrte mich im Wald – « murmelte sie. Senkte den Kopf und wartete auf die Vorwürfe, die mit Recht auf sie niederprasseln würden, wegen Ungehorsam, Rücksichtslosigkeit, Undankbarkeit. Doch nichts von alledem geschah. Undurchdringlich blieb das Antlitz der Tante, die sich mit Hilfe Bertas um die Nichte bemühte. Als es ihr ein wenig besser ging, erzählte sie ihr Erlebnis im Wald. Erwähnte jedoch Krafft von Broede mit keinem
Wort. Sagte, daß ein Fuhrwerk sie mitgenommen hätte. Weihnachten stand vor der Tür, und die Vorfreude belebte selbst die stille Ilse-Sibylle. Sie hatte das karge Taschengeld, das sie von der Tante erhielt, sorgsam zur Seite gelegt, um nicht am Weihnachtsfest mit leeren Händen vor ihr zu stehen. Wünsche hatte die Tante nicht, doch es gab schon Kleinigkeiten, die ihr Freude machen würden. Es hatte tüchtig geschneit und dann Frost eingesetzt. Und endlich war der ersehnte Tag da. Es begann leise zu dämmern, und hier und da strahlten hinter den Fenstern schon die Weihnachtskerzen auf. »Ilsibyll, lauf doch mal zum Bäcker hinüber und frage ihn, ob er unseren Kuchen zu schicken vergessen hat«, sagte Frau von Bruckheim. »Bleibe aber nicht lange fort. Nach deiner Rückkehr stecken wir sofort die Kerzen an.« Ilse-Sibylle freute sich. Vergebens hatte sie nachgedacht, wie sie wohl fortkommen könnte, um noch einen wichtigen Einkauf zu machen. Nun paßte das wunderschön. Rasch zog sie den Mantel an und verließ vergnügt die Wohnung. Zuerst ging sie zu dem Bäcker, richtete die Bestellung aus und eilte dann die ruhige Straße hinunter, um zur Hauptstraße zu gelangen. Nun konnte sie doch noch die Kleinigkeit besorgen, die zum Geschenk für die Tante fehlte. Die Menschen, die ihr entgegenkamen, waren alle so eifrig wie sie selbst. Der Weg erschien ihr heute besonders lang. Auf keinen Fall durfte sie die Tante warten lassen. Endlich – da drüben war das Geschäft, in das sie wollte. Nun hieß es nur noch den Fahrdamm überschreiten. Allein das war nicht so einfach. Autos, Straßenbahn, Wagen und Schlitten stauten sich wie sonst nie. Ilse-Sibylle kribbelte es förmlich in den Füßen. Noch eine Verzögerung, mit der sie nicht gerechnet hatte. Doch nun wartete sie nicht länger. Das Auto, das da so
gemächlich daherkam, erreichte sie gewiß nicht mehr. Hastig lief sie über den Damm, glitt auf dem hartgefrorenen Schnee aus, fühlte einen erschütternden Stoß am Kopf und dann nichts mehr. Im Nu war eine große Menschenmenge versammelt, die erregt und gestikulierend durcheinanderschrie. Ilse-Sibylle lag, lang hingestreckt, quer über dem Fahrdamm, dicht neben ihrer Schläfe war das Vorderrad eines Autos. Die Insassen des Wagens, ein Herr und sein Chauffeur, stiegen eilig aus. Die hohe Gestalt im kurzen Pelz beugte sich über das Mädchen. Nur augenblicklang verharrte er wie erstarrt, dann hob er die Verunglückte behutsam hoch. Blut rieselte von der Schläfe über das todblasse Antlitz, verlor sich im Schnee. »Bitte, mein Herr, Ihre Personalien!« wandte der junge Schupo sich sachlich und scharf an den Mann, der, das Mädchen im Arm, sein Auto besteigen wollte. Der Angesprochene wandte den Kopf, und betroffen sah der Beamte in ein fahles, zuckendes Gesicht. »Notieren Sie meine Nummer«, war die hastige Entgegnung. »Die junge Dame braucht dringend ärztliche Hilfe. Benachrichtigen Sie Sanitätsrat Meder. Er möchte auf schnellstem Wege nach Lindenstraße 12, zu Frau Oberst von Bruckheim kommen.« »Jawohl, Herr Baron«, stand der Schupomann stramm, der jetzt erst die stadtbekannte Persönlichkeit erkannt hatte. Er entfernte sich eilig, und auch die Menschenmenge zerstreute sich, da es ja nun nichts mehr zu sehen gab. Scheu gingen sie um das Blut herum, das sich im Schnee verlaufen hatte. Und alle waren sie einer Meinung, daß den Autolenker keine Schuld träfe, da er so langsam gefahren war, daß er auf der Stelle halten konnte. Nun fuhr der Wagen schneller dahin. Der Herr hatte IlseSibylle mit dem einen Arm umfaßt, mit der anderen Hand preßte er sein Taschentuch auf die Schläfe, aus der Blut hervorsickerte. Durch die schaukelnden Bewegungen des Autos und durch
den leisen Schmerz, den sie im Kopf spürte, kam IlseSibylle Nieder zu sich. Sie schlug die Augen auf, sah verwundert in das blasse, zuckende Männerantlitz. Ihr setzte fast der Herzschlag aus vor Schreck – Krafft von Broede! Aber das durfte doch nicht sein, daß er sie im Arm hielt! Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, versuchte, sich aus der Umschlingung des Mannes zu lösen. »Ruhig, Kind, ruhig – ich bitte Sie!« hörte sie eine flehende, beschwörende Männerstimme. Aufseufzend schmiegte sie sich fester in seinen Arm. Ach ja, – diese Stimme war schön. So dunkel, so weich, so aus herzzitternder Tiefe kommend. Diese Stimme hören dürfen – immer – immerzu -. Dann hielt das Auto vor dem vornehmen Haus in der Lindenstraße. Der Herr trug behutsam das nun wieder bewußtlose Mädchen die Treppe hinauf und klingelte an der Tür der Frau von Bruckheim. Das Stubenmädchen öffnete – schrie gellend auf, obgleich der Herr es ihr mit gebieterischer Miene untersagte. Und dann stand Frau von Bruckheim selbst an der Tür. Eilte mit herzerschütterndem Schrei auf die Nichte zu, die einer Toten glich. Der Mann kannte die Zimmer der Wohnung – ach, wie genau! Schritt an der fassungslosen Frau vorbei, betrat das Wohngemach, in dem der geschmückte Tannenbaum seiner Bestimmung harrte. Behutsam legte er die leichte Gestalt auf den Diwan nieder. »Ein kleiner Unfall, gnädige Frau«, wandte er sich dann an Frau von Bruckheim, die ihm gefolgt war. »Die junge Dame wäre fast unter mein Auto geraten. Der Arzt wird bald hier sein.« Frau Marianne beachtete ihn nicht, schien seine Worte kaum zu hören. Ihr Blick hing an der regungslosen Gestalt der Nichte. Immer wieder fuhr ihre zitternde Hand über das weiße, stille Antlitz der Bewußtlosen. Rot färbte sich das weiße Seidenkissen von dem Blut, das immer noch aus
der Wunde sickerte.
Ganz plötzlich schlug dann Ilse-Sibylle die Augen auf. Sie
blieben zuerst an dem Gesicht der Tante haften, wanderten
dann weiter, zu dem Mann hin, der unbeweglich dastand –
abseits, wie ausgestoßen.
Nein, der durfte doch nicht hier sein, durfte nie wieder mit
der betörenden Stimme zu ihr sprechen und damit ihr
Herz in Aufruhr bringen – sie verachtete ihn doch!
»Nein!« schrie sie mit angstbebender Stimme. »Krafft von
Broede, ich fürchte mich vor ihm!«
Da wandte sich Frau von Bruckheim dem regungslos
dastehenden Mann zu. In ihrer Verzweiflung fiel es ihr gar
nicht auf, daß er der Nichte bekannt war.
»So gehen Sie doch!« rief sie außer sich vor Schmerz.
»Hören Sie denn nicht, daß das Kind sich vor Ihnen
fürchtet? Alles Unglück kommt durch Sie. Zuerst nahmen
Sie mir meinen Jungen – und nun auch noch das Mädchen,
an dem mein ganzes Herz hängt. Gewiß sind Sie wieder
gefahren wie einer, der Menschenleben nicht achtet. So
gehen Sie doch endlich! Hören Sie nicht, Herr Baron von
Broede?!«
Halb sinnlos vor Schmerz stand die Frau vor dem Mann,
den sie einst fast so geliebt hatte wie den eigenen Sohn.
Hatte vergessen, daß sie das trauliche Du mit ihm
getauscht.
Krafft von Broede zuckte wieder zusammen – wie damals,
als sie ihn schon einmal von der Schwelle gewiesen.
Und diesmal ging er wortlos hinaus, nur ein wenig wankte
die hohe Gestalt, alles genauso wie damals.
Auf der Treppe kam ihm Sanitätsrat Meder entgegen.
»Um Himmels willen, Herr Baron, wie sehen Sie aus!« rief
er erschrocken. »Was ist denn geschehen?«
Müde kam die Antwort, müde und rauh:
»Die Nichte der Frau Oberst von Bruckheim wäre fast unter
mein Auto geraten. Sehen Sie bitte nach ihr, Herr
Sanitätsrat, und geben Sie mir dann fernmündlich
Bescheid. Die Kosten der Behandlung trage ich.«
»Gewiß, gewiß, Herr Baron, wird alles nach Wunsch geregelt. Ist ja scheußlich peinlich, so eine Geschichte!« Hastig verabschiedete er sich und stand dann in dem vornehmen Gemach. Frau von Bruckheim kniete vor dem Diwan, hatte das Gesicht an die Brust der Nichte gepreßt und weinte herzzerbrechend. Ganz verdutzt schaute der alte Herr auf die fassungslose Frau. War es möglich, daß diese kühle, selbstsichere Dame so weinen konnte? Ach ja, man kannte sich oft in den Menschen überhaupt nicht aus. Er räusperte sich, worauf sie den Kopf wandte. Stumm machte sie ihm Platz. Als er nun die regungslose Gestalt auf dem Diwan sah, konnte er nicht verhindern, daß ein entsetzter Ausdruck in sein Gesicht trat, der Frau von Bruckheim nicht entging. Dann untersuchte er die Verletzte sehr sorgfältig. Und als er sich dann wieder Frau Marianne zuwandte, schmunzelte er. »Ist bestimmt nicht so schlimm, wie es aussieht, gnädige Frau. Eine leichte Wunde, gar nicht tief. Der Blutverlust ist allerdings ein wenig bedenklich. Aber so zarte Naturen sind oft widerstandsfähiger als die robusten. Ah, da sind wir ja schon wieder!« lachte er, als Ilse-Sibylle die Augen aufschlug. »Schönen Schreck gekriegt, was? Wie konnte der Unfall nur kommen, gnädiges Fräulein? Der Baron von Broede pflegt doch sonst gut und sicher zu fahren.« »Ihn trifft keine Schuld«, entgegnete sie, nun voll bei Bewußtsein. »Weil er eben so sicher fuhr und auf der Stelle halten konnte, ist größeres Unglück verhütet worden. Obgleich ich das Auto kommen sah, wollte ich noch rasch über den Fahrdamm, glitt aus, fiel – mehr weiß ich nicht.« »Soso – «, nickte der Arzt sichtlich befriedigt. »Ich traf den Baron auf der Treppe, die Sache scheint ihm verdammt nahe gegangen zu sein. Doch nun wollen wir einen Verband anlegen.«
Als der Sanitätsrat gegangen war, suchte Ilse-Sibylles Blick die Tante, die noch immer sehr blaß war. Bittend streckte sie ihr die Hände entgegen. »Sei mir nicht böse, Tante Marianne, daß ich dir so viel Unruhe ins Haus bringe.« Weiter kam sie nicht, weil Frau von Bruckheim sich zu ihr setzte und sie fest in die Arme schloß. Die Tränen tropften auf den Verband, der den Kopf der Nichte umgab. Und tränenerstickt klang auch ihre Stimme, als sie sagte: »Ilsibyll, wie hätte ich es ertragen sollen, wenn auch du mir noch genommen worden wärest! Seitdem du hier bist, weiß ich erst, wie einsam und freudlos ich war seit mein Junge tot ist.« Ilse-Sibylle sah sie an – ungläubig. Und dann schlang sie mit einem glückseligen Lächeln die Arme um den Hals der Tante. Hoch und wuchtig ragt Schloß Dünentrutz über den Dünen empor, umrauscht von dichtem Wald und der Ostsee, die tief unten brandet. Frei und stolz steht es da, das Ahnenschloß der Broede, fest und trutzig, wie für die Ewigkeit erbaut. Und frei und stark war auch das Geschlecht der Broede stets gewesen. Krafft von Broede – kein anderer Name hätte zu dem letzten stolzen Sproß besser gepaßt. Noch höher wirkte seine Gestalt, noch stolzer seine interessante Persönlichkeit, wenn er das Schloß seiner Väter durchschritt mit festem Schritt. Einstmals hatte dieses jetzt so düstere, harte Antlitz im Übermut gestrahlt. Immer um die Wette hatte sein Lachen mit dem der liebreizenden Schwester durch das Schloß gehallt. Das war nun dahin, seitdem man ihm die Eltern und die so zärtlich geliebte Schwester tot ins Haus gebracht. Seitdem war es still in Dünentrutz – unheimlich still. Die Dienerschaft schlich leise umher, als wäre jedes Geräusch verboten. Heute war man noch behutsamer als sonst. Denn der Herr
war aus der Stadt zurückgekehrt, mit einem Gesicht wie Stein, so hart und starr. Und heute war doch Weihnachten, das Fest der Freude! Schüchtern nahmen die Großen sowie die Kleinen ihre Gaben in Empfang, und erst als sie den Saal verlassen hatten und die düstere Persönlichkeit des freigebigen Spenders nicht mehr sahen, brach der Jubel über die reichen Geschenke los. Mit bitterem Lächeln sah er ihnen nach. Er stand nun ganz allein in dem prächtigen Saal. Hatte für so viele Menschen Gaben aufgebaut, ihnen heimliche Wünsche erfüllt. Er war in ganz Dünentrutz der einzige, der leer ausging. Denn er hatte ja niemand, der ihm etwas schenken konnte. Stand auch heute allein, wie er immer allein stand. Ein leiser Seufzer ließ ihn herumfahren. Und da entdeckte er Frau Lina, die weibliche Beherrscherin des Schlosses, die neben ihren Gaben stand und ihn mit traurigen Augen ansah. Sie war nicht die richtige Repräsentantin für Dünentrutz, das wußte ihr Herr sehr wohl. Aber sie war die Betreuerin seiner Kinderjahre gewesen, hatte ihn und das Schwesterchen liebevoll umhegt. Ihre Treue war so vielfach erprobt, daß man sie, als die Kinder ihrer Obhut entwachsen waren, nicht 4ort ließ, sondern sie mit dem Amt der Beschließerin betraute, das sie vorbildlich versah. Und als das Unglück über Dünentrutz hereinbrach, machte Krafft sie zur ersten Angestellten des Hauses. Sie hatte ihm auch treu zur Seite gestanden, als er damals, überwältigt von Schmerz, der Verzweiflung nahe gewesen. Vor ihr ließ er auch öfter einmal die Maske fallen, die er stets zu Schau trug, deshalb kannte sie ihn so gut wie kein anderer Mensch. Als sie nun so vor ihm stand, den tränenschweren Blick auf ihn geheftet, ging ein Ausdruck der Rührung über sein Gesicht. Zart liebkoste er ihre Wange. »Nun, Frau Lina, du bist also die einzige, die nicht vor mir davonläuft. Natürlich willst du wieder einmal gesehen haben, daß mich etwas quält. Sieh nicht immer Gespenster,
mein gutes Altchen! Laß dir dein Weihnachtsfest nicht trüben durch mich bösen Gesellen, mit dem du deine liebe Not hast. Ich passe nun einmal nicht unter fröhliche Menschen, muß daher für mich allein bleiben. Sorge dafür, daß die Weihnachtskerzen gelöscht werden, und sei dann fröhlich mit den Fröhlichen! Versprichst du mir das?« »Brauche ich mir auch wirklich keine Sorgen zu machen?« »Nein, du gutes Linchen. Ich war verstimmt – aber jetzt ist schon alles vorüber.« Noch einmal streichelte er ihre Wange und ging dann in sein Arbeitszimmer, in dem vier große Gemälde hingen. Das erste stellte einen stolzen Mann dar, unverkennbar den Vater des Schloßherrn. Das zweite zeigte eine feine, vornehme Frauengestalt und das dritte ihr verjüngtes Ebenbild, ein zartes Menschenkind von sinnverwirrender Süße. Dann das letzte Bild. Verträumt schauten die dunklen Augen aus einem Männerantlitz von feiner* edler Form. Schwer lockte sich das dunkle Haar auf der Stirn. Vor diesem Gemälde blieb Krafft am längsten stehen. Es war wie die anderen von Frau Lina mit Tannenreis und zarten Blumen geschmückt worden. Lange schaute der einsame Mann in das schöne Gesicht. Liebkosend fuhr seine Hand darüber hin. »Schlaf ruhig, Burkhard«, murmelte er. »Ich halte, was ich dir versprach.« Der Fernsprecher schlug an. Es meldete sich Sanitätsrat Meder. Froh klang seine Stimme, als er sagte, daß die Verletzung Fräulein Rainers nur ungefährlich sei. Am nächsten Tag wollte er in Dünentrutz vorsprechen, um genauen Bericht zu erstatten. Da hob ein befreiter Atemzug des Mannes Brust. Das düstere Gesicht erhellte sich. Rastlos wanderte er im Zimmer umher. Am anderen Tag erschien dann Dr. Meder und erstattete bei einer Flasche Wein Bericht. »Tja, erschrocken war ich schon, als ich gestern das junge
Mädchen so unheimlich bleich auf dem Diwan liegen sah«, begann er in seiner frischen Art. »Im ersten Augenblick hätte ich keinen Heller für ihr Leben gezahlt. Doch nach sorgfältiger Untersuchung erwies sich die Wunde als ungefährlich. Bedenklich war nur die Narbe, die von einer sehr gefährlichen früheren Wunde herrührt und die nur wenige Millimeter unter der neuen liegt. Sie hat das zarte Menschenkind damals ein halbes Jahr lang zwischen Leben und Tod schweben lassen.« Genießerisch tat er einen langen Zug aus dem Glas und fuhr dann fort: »Ich kenne Fräulein Rainer nämlich aus den Briefen meines Sohnes, der Leiter des Sanatoriums ist, in dem sie sich zwei Jahre lang aufhielt. Sie ist die Tochter des Geigenkünstlers Rainer, der Ihnen, Herr Baron, ja nicht unbekannt ist. Mein Sohn beteuert, daß das Künstlerkind nur die Schönheit und das Talent vom Vater geerbt hat, alles andere jedoch von der Mutter, die einem alten Adelsgeschlecht entstammt.« Krafft, der interessiert zugehört hatte, stellte nun die Frage: »Dann ist Fräulein Rainer die Schwester des kleinen Wunderknaben, der mit seiner Mutter und dem Chauffeur bei einem Autounglück ums Leben kam?« »Jawohl, Herr Baron. Ist Ihnen die Tragödie bekannt?« »Ziemlich genau. Auch die andere kenne ich, der Meister Rainer zum Opfer fiel. Unklar ist mir nur, warum Fräulein Rainer zwei Jahre in dem Sanatorium blieb, dessen Betreuung sie nur ein halbes Jahr nötig hatte.« »Weil die Tochter dem Vater in seiner zweiten Ehe unbequem war.« »Unglaublich – « schüttelte Krafft den Kopf. »Und weshalb verließ Fräulein Rainer jetzt das Sanatorium?« »Weil nach dem Tode des Vaters die Kosten nicht mehr entrichtet wurden – und weil sie den Heiratsantrag des Besitzers von Seelenruh ablehnte. So flüchtete sie zu der Schwester ihrer Mutter, Frau von Bruckheim. Diese soll als einzige mit Frau Rainer, die gegen den Willen der Familie heiratete, in Verbindung gestanden haben.
Ferner wäre noch zu sagen, daß Fräulein Rainer ihrem Vater feindlich gegenüber gestanden hat. Daher berührte sein tragisches Ende sie kaum. Viel kann ja auch an ihm nicht gewesen sein, sonst hätte er es nicht fertigbringen können, das große Vermögen seiner Frau, das die Eltern ihr trotz allem auszahlten, zu vergeuden und das Geld noch dazu, das sein kleiner Sohn verdiente. Jedenfalls soll Fräulein Rainer ganz den stolzen, vornehmen Charakter ihrer Mutter geerbt haben. Mein Sohn wie seine Frau schwärmen förmlich von der schönen, feinen Ilse-Sibylle und bedauern ihren Unfall, den ich ihnen sofort mitteilte, tief. Und somit wäre über die junge Dame alles gesagt, was zu sagen ist.« »Wird die neue Wunde wieder eine Nervenschwäche hervorrufen?« erkundigte Krafft sich gespannt, worauf der Arzt lebhaft abwinkte. »Gott sei Dank nicht. Als ich sie heute besuchte, war sie munter und wohlauf. Die Tante ist rührend besorgt um sie. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß die kühle, ausgeglichene Frau so die Fassung verlieren könnte, wie es gestern der Fall war. Also muß sie die Nichte sehr in ihr Herz geschlossen haben. – So, jetzt muß ich aber machen, daß ich fortkomme, die Pflicht ruft. Für mich gibt es eben keinen Feiertag.« Die Herren erhoben sich, reichten sich die Hände. »Ilsibyll, nun wird es allmählich Zeit, daß ich dich ausführe. Du bist jung und hast ein Anrecht auf Zerstreuung.« »Wozu das, Tantchen? Ich fühle mich sehr wohl in unserer traulichen Abgeschiedenheit.« »Wenn schon. Sträube dich nicht, mein Entschluß steht fest. Morgen schon gehen wir zum Ball. Ich habe ein entzückendes Kleidchen in einem Modehaus gesehen, das sollst du haben.« »Tante Marianne, ich bitte dich!« rief das Mädchen erschrocken. »Du willst dir wohl alles entziehen und mir zustecken! Meine Krankheit hat doch schon so viel Geld
gekostet. Ich hab mir nie etwas aus Festen gemacht.« Die Tante lächelte und setzte ihren Willen durch. So stand denn Ilse-Sibylle am nächsten Abend im Festkleid vor ihr, deren Augen mit Stolz an der zaubersüßen Erscheinung hingen. Mit einem solchen Schützling Feste besuchen, das mußte Freude machen. Als sie dann mit der Nichte den Festsaal betrat, bemerkte sie mit heimlichen Vergnügen die bewundernden Blicke, die ihnen entgegen – und nachsahen. Ilse-Sibylle schien das nicht zu bemerken. Sie schritt an der Seite der Tante ruhig dahin, den feinen Kopf mit der duftigen Lockenfülle hocherhoben. Weich schmiegte sich das weiße Seidenkleid um den grazilen Körper. Arme und Hals erschienen wie Blumenblätter so fein und zart. Um den Nacken schlang sich eine Perlenkette von großem Wert. Sie war ein Schmuckstück der Tante, das diese selbst getragen. So lange schritt Ilse-Sibylle gelassen durch den Saal, bis sie einen Herrn erspähte, dessen Augen genauso an ihr hingen wie die der anderen. Die ihren aber weiteten sich in jähem Schreck. Krafft von Broede. Ihr Herz krampfte sich zusammen in unerträglichem Schmerz. Sie hatte sich so auf das Fest gefreut – und nun wäre sie am liebsten geflohen. Die Tante schien den Baron nicht zu sehen. Sie grüßte zu Bekannten hin und wählte den Platz ausgerechnet ihm gegenüber. Ilse-Sibylles Herz erlitt die grausamsten Qualen, als sie sah, wie die Damen sich um Krafft von Broede scharten, wie sie ihn anstrahlten und wie seine Augen funkelten vor Ergötzen und Spott. Wer diesen Mann fesseln wollte, der mußte schon etwas Besonderes sein. Und gerade sie, die arme, unbedeutende Ilse-Sibylle Rainer, mußte ihr Herz an ihn verlieren! Das sollte nun ein Vergnügen sein, dazusitzen und den Mann herumflirten zu sehen, den sie mit ganzer Inbrunst
liebte! Es fehlte ihr an Tänzern nicht, o nein. Man bevorzugte den neuen Stern, der so plötzlich am Ballhimmel aufgetaucht war. Doch was waren sie alle gegen den, der sie überhaupt nicht zu sehen schien? Bei dem einen Tanz kam er ganz dicht in ihre Nähe. Er tanzte mit einer reizenden jungen Dame, die ihm über irgend etwas Vorwürfe zu machen schien. Nur ganz wenig hatte er sich zu ihr geneigt, seine Haltung war tadellos, und doch fand die empfindsame Ilse-Sibylle etwas darin, was ihr mißfiel. »Aber meine Gnädigste, wer wird denn so böse sein!« hörte sie ihn spöttisch sagen. »Sie vernichten mich ja mit Ihrem Zorn.« So sprach er wohl mit allen Damen, nahm keine ernst. Hatte wohl nichts, was ihm heilig war. Doch sie tat ihm sicherlich unrecht. Wie sollte er sich vor so viel Entgegenkommen anders schützen und wehren? Ilse-Sibylle war froh, als der Tanz beendet war und ihr Partner sie zu der Tante führte. Gerade wollte sie diese bitten, mit ihr das Fest zu verlassen, als Frau von Bruckheim sagte: »Ich habe in dem kleinen Zimmer, das dicht am Eingang liegt, alte Bekannte entdeckt, mit denen ich plaudern möchte. Kommst du mit, IIsibyll?« Ehe diese bejahen konnte, verneigte sich ein Herr vor ihr und bat um den eben beginnenden Tanz. »Ich komme nach, Tante Marianne – « »Gut, mein Kind.« Nach dem Tanz machte Ilse-Sibylle sich sofort auf den Weg, um zur Tante zu gelangen. Dazu mußte sie durch den Wintergarten gehen, der in seiner magischen Beleuchtung still dalag. Doch kaum hatte sie einige Schritte getan, als zwei Hände nach ihr griffen und sie hinter eine Pflanzengruppe zogen. Zwei Augen funkelten ganz nahe in die ihren, ein heißer Atem streifte ihr Gesicht. »Lassen Sie mich los!« sagte sie empört zu der ihr gänzlich
fremden Dame, deren heiße Hände sich immer fester um die ihren preßten. »Das könnte dir so passen, du hochmütiges Geschöpf mit dem gleißenden Lärvchen und dem vornehmen Getue!« zischte ihr die Fremde ins Gesicht. »Nun weiß ich endlich, wer du bist. Hatte dich seit dem Abend im Wald, an dem du mit Krafft von Broede in seiner Jagdhütte warst, aus den Augen verloren. Scheinst noch ein Neuling in bezug auf Liebesabenteuer zu sein, sonst hättest du dich nicht so sorglos in das helle Licht der Wagenlaternen gestellt. So ein Frätzchen prägt sich einem ein. Trotzdem nahm ich die Sache nicht tragisch, da du ja nicht die einzige bist, die in Krafft von Broedes bewegtem Leben eine Episode spielt. Nun ich aber weiß, wer du bist, interessiert mich deine Person ungeheuer. Die hochnäsige Tante wird große Augen machen, wenn man nächstens mit Fingern auf ihre Nichte zeigen wird. Denn es soll mir eine Wonne sein, dieses pikante Geschichtchen zu verbreiten. Im übrigen tröste dich. Du bist nicht die einzige, die dem gefährlichen Don Juan in das Häuslein gefolgt ist, das wohl den harmlosen Namen Jagdhütte trägt, in Wirklichkeit jedoch ein Nest für seine galanten Liebesabenteuer ist – « »Womit Ihre wirklich nette Rede nun beendet sein dürfte.« Sie fuhr herum. Vor ihr stand Krafft von Broede in lässiger Haltung, umgeben mit einem Wall eisiger Kälte. In seinen Augen lag ein gefährliches Drohen. »Zuerst lassen Sie einmal die Hände der Dame los!«forderte er kurz und scharf. »So – und nun werde ich sie aus Ihrer Nähe bringen, die alles andere als einwandfrei ist.« Er bot Ilse-Sibylle den Arm, die mit entsetzten Augen zu ihm aufsah. »Machen Sie mit, es geht um Ihren Ruf!« sagte er leise, aber bestimmt. Da legte sie willenlos ihre Hand auf seinen Arm und ließ sich von ihm fortführen, zur Tante hin, die gerade aus dem
kleinen Zimmer trat. Als sie die Nichte am Arm des Barons sah, blieb sie wie erstarrt stehen. »Ich bringe Ihnen Ihre Nichte, gnädige Frau«, sagte er frostig. »Fahren Sie mit ihr nach Hause, sie scheint ruhebedürftig zu sein. Ich werde mir erlauben, morgen im Laufe des Vormittags bei Ihnen vorzusprechen.« Eine förmliche Verbeugung, dann ging er. Und zwar zu der Dame zurück, die noch immer auf der Stelle stand, wo er sie verlassen hatte. Seine Stimme klirrte, als wenn Eisen auf Eisen schlägt. »Gnädigste – ich warne Sie! Sonst verstehe ich ja reichlich viel Spaß und bin bestimmt kein Spielverderber. Doch in Sachen, die meine Braut betreffen, hört für mich jeder Spaß auf.« Mit seltsam erloschenen Augen sah sie ihm in das arrogante Gesicht. »Ihre – Braut?« »Ja, meine Braut. Haben Sie etwas dagegen?« »Ja – ja!« schrie sie auf. »Ich muß Sie sehr bitten, ein wenig leiser zu sein. Die Menschen nebenan könnten sonst aufmerksam werden. Nun noch die Frage: Finden Sie etwas dabei, wenn meine Braut mich in meiner Jagdhütte besucht?« »Diese Verlobung können Sie jemand anderem vorlügen!« höhnte sie. »Nicht einmal haben Sie heute mit ihr getanzt. Haben getan, als ob Sie die Dame gar nicht kennten. Kein Mensch weiß um diese Verlobung.« »Was eigentlich unerhört ist«, lächelte er mit grausamer Ironie. »Aber wenn es Sie beruhigt: Bald wird die von Ihnen angezweifelte Verlobung fettgedruckt in der Zeitung unseres Städtchens stehen. Und weshalb ich heute meine Braut nicht kennen wollte? Gnädigste sind in der Liebe doch so bewandert wie kaum eine zweite Evastochter. Daher werden Sie sicher wissen, was heimliche Liebe ist. Und nun will ich Ihnen mal etwas sagen: Sollte ich irgendwo hören, daß Sie mit Ihren Lügen herumhausiert
haben – oho, Gnädigste, dann sollen Sie mich
kennenlernen! Dann werde ich über Sie die Wahrheit
sagen. Aber gründlich!
Ferner möchte ich Sie bitten, Ihre Streifzüge zu unterlassen
und mir nicht auf Schritt und Tritt nachzuspionieren. Ich
brauche wirklich kein Kindermädchen mehr, das um mein
Seelenheil beunruhigt sein muß. Nebenbei möchte ich
noch bemerken, daß unser Städtchen eine ausgezeichnete
Polizei hat, an die ich mich wenden werde, wenn Sie mir
gar zu lästig fallen.
Hoffentlich haben Sie mich richtig verstanden? Wenn
nicht, sollte es mir für Sie leid tun.«
Damit wollte ergehen, als sie aufschrie, wimmernd,
klagend, wie ein verwundetes Tier:
»Oh, Krafft von Broede, wie bist du grausam!«
»Nicht grausamer, als Sie es verdienen, mein schönes Kind.
Ich habe heute nur so ein wenig die Rechnung für meinen
Freund beglichen.«
Gelassen wandte er sich ab und ging davon.
Am nächsten Vormittag erschien Krafft von Broede. In
stolzer Gelassenheit stand er vor den Damen.
»Hat Fräulein Rainer Ihnen alles erzählt?«
»Ja – alles.«
»Dann bitte ich um die Hand Ihrer Nichte, gnädige Frau.«
Das hatte diese nicht erwartet. Ihre Gestalt umgab sich mit
kalter Unnahbarkeit.
Und Ilse-Sibylle, die im Sessel saß, schnellte empor.
»Nein!« schrie sie auf. War mit wenigen Schritten bei der
Tante, umklammerte hilfesuchend deren Hals.
Frau von Bruckheim sah den Mann drohend an, der in aller
Gelassenheit dastand.
»Weißt du auch, Krafft von Broede, was du da von mir
verlangst? Dieses Kind ist meinem Herzen teuer wie sonst
nichts mehr auf der Welt. Ich werde nicht dulden, daß du
es unglücklich machst, es dir zum Spielzeug erwählst, aus
einer Laune heraus!«
»Leider kann ich Ihre Nichte nicht anders schützen,
gnädige Frau«, entgegnete er ruhig. »Daß Frau Börne zu allen Schandtaten fähig ist, hat sie schon oft bewiesen. Wenn meine Person Fräulein Rainer so widerwärtig ist – dann soll es eine Scheinehe werden, die ihr Ende finden soll, sobald Gras über die heikle Angelegenheit, in der sie jetzt steckt, gewachsen ist. Es wird dem gnädigen Fräulein kein Mensch verdenken, wenn es mit einer so verrufenen Persönlichkeit, wie ich es bin, auf die Dauer nicht leben mag. Wenn Sie jedoch einen anderen Ausweg wissen, gnädige Frau – ich stehe zur Verfügung.« Diesen Ausweg wußte sie allerdings auch nicht. Eine Weile war es beklemmend still, bis Frau von Bruckheim dann fragte: »Könnte nicht die Verlobung kurze Zeit bestehen und dann wieder gelöst werden?« Ein Lächeln erschien auf dem harten Männerantlitz – leise, kaum merklich. »Eine gelöste Verlobung – mit mir? Ich glaube, das gäbe Frau Börne erst recht Oberwasser.« Ilse-Sibylle hatte sich jetzt beruhigt, war jedoch erschreckend blaß. »Wozu sich da viel den Kopf zerbrechen?« meinte sie hochmütig. »Ich gehe fort von hier, und dann werden sich die Menschen schon beruhigen.« Wieder lächelte der Mann. »Da haben Sie aber nicht mit Frau Börnes Rachedurst gerechnet, mein gnädiges Fräulein. Deren Zunge ist sehr spitz und – lang. Die würde Sie überall erreichen.« »Ich will Sie aber nicht heiraten!« schrie das Mädchen verzweifelt. »Wenn Ihr Starrsinn größer ist als Ihre Vernunft – bitte.« »Laß uns einmal ruhig darüber sprechen, Ilsibyll«, lenkte die Tante ein. »Du bist viel zu unerfahren, um die Folgen, die Frau Börnes Gerede haben würde, zu ermessen. Wenn ich einen anderen Ausweg wüßte, würde ich ihn dir mit Freuden nennen. Aber so wirst du Krafft von Broedes Hilfe annehmen müssen.«
»Das rätst du mir, Tante Marianne – du?!« »Sei vernünftig, mein Kind.« »Ahnt ihr denn nicht, wie mir zumute ist?« rief Ilse-Sibylle außer sich vor Erregung. »Ich kann das Opfer nicht annehmen, wirklich nicht! Was ich mir schon aus dem Gerede der Leute mache!« »Sie scheinen sehr egoistisch zu sein, mein Fräulein«, lächelte der Mann ironisch. »Vielleicht denken Sie ein wenig an Ihre Tante, die noch von altem Schlage ist, die nur in reiner Atmosphäre atmen kann. Und das Gerede Frau Börnes würde Schmutz mit sich schleifen.« Frau von Bruckheims Blick ging über den Kopf der Nichte hinweg zu dem Mann hin – prüfend, forschend. Er hielt den Blick aus, kühl und frei. Sie konnte einer Bewunderung nicht wehren, daß er um dieser Sache willen seine ganze Person in die Schanze schlug. »Sage mir, Krafft von Broede, warum demütigst du dich hier? Dir würde der Klatsch doch nichts schaden. Im Gegenteil! Er würde dich noch interessanter in den Augen der Menschen machen.« Ruhig sah er sie an. »Weil es sich um Ihre Nichte handelt, gnädige Frau. Und weil es einmal eine Zeit gegeben hat – nun, kurz und gut: Ich vergesse nicht so leicht Güte und Liebe.« Da löste sich etwas im Herzen der Frau, die Jahre hindurch nur in Erbitterung an diesen Mann gedacht hatte. Aus diesem Gefühl heraus streckte sie ihm die Hand hin. »Um dieser Stunde willen möchte ich vergessen lernen, Krafft von Broede. Diese selbstlose Tat löscht manches aus. Wollen wir versuchen, es wieder so werden zu lassen, wie es einst war?« Er beugte sich über die feine weiße Hand mit tadelloser Verneigung. Immer noch ruhig blieb das rassige Antlitz. »Wie du wünschest, Tante Marianne.« Jetzt sah Ilse-Sibylle ein, daß ihr alles Sträuben nichts nützen würde. Die Verlobungsanzeige schlug sozusagen wie eine Bombe
ein. Man wollte es sich nicht verzeihen, daß man diese Verlobung nicht vorausgeahnt hatte. Die Nichte der Frau Oberst von Bruckheim hatte das Herz dieses arroganten Weltmannes bezwungen. Mußte also die Verstimmung, die zwischen der stolzen Frau und ihm geherrscht, endlich behoben sein. Die Zeit eilte dahin, trotz Angst und Not. Der Hochzeitstag kam heran, der fünf Wochen nach der Verlobung festgesetzt war. Die Menschen waren der Meinung, daß der Baron doch toll verliebt sein müßte, da es ihm mit der Hochzeit so eilte. Nach der standesamtlichen Trauung fuhr Krafft nach Dünentrutz, die Damen folgten eine Stunde später. Betroffen ging Ilse-Sibylles Blick über das Schloß hin. Nein, so feudal hatte sie es sich trotz hoher Erwartungen denn doch nicht vorgestellt! In der Halle kam der Schloßherr ihnen entgegen. Und hatte seine Erscheinung schon immer einschüchternd auf IlseSibylle gewirkt – hier, in seinem Reich, das er gebieterisch durchschritt, fürchtete sie ihn. Ihre Hand, die er an die Lippen führte, war eiskalt. »Gott segne deinen Eingang, Ilse-Sibylle«, sagte er einfach. »Hoffentlich bringst du unserem Dünenschloß die Sonne mit, die schon seit Jahren aus ihm gewichen ist.« Darauf bot er ihr den Arm, führte sie in ihr Reich, das mit all dem Luxus eingerichtet war, wie eine verwöhnte Dame es nur wünschen konnte. »Ich habe eigenmächtig gehandelt, Ilse-Sibylle«, sagte er in seiner gelassenen Art. »Habe deine Gemächer ausgestattet, ohne nach deinem Geschmack zu fragen. Hoffentlich bist du nicht enttäuscht?« Die junge Frau bekam kein Wort heraus, so würgte es sie im Halse. Was verstand sie schon von all der Pracht! Sie war nicht gerade in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, aber so viel Wunderbares zu schauen, hatte sie noch nie Gelegenheit gehabt. »Deine Zofe erwartet dich im Ankleidezimmer«, sprach der
Gatte schon wieder weiter. »Tante Marianne, du bist wohl so gut, unserer Kleinen beim Ankleiden behilflich zu sein. Die Zofe soll ja wohl erstklassig sein, aber ich bin mißtrauisch. Also, bis nachher!« Wie im Traum betrat Ilse-Sibylle das Ankleidezimmer, das ganz licht und traut war. Willenlos ließ sie alles über sich ergehen, was mit ihr geschah. Nur als die Zofe über ihre wunderbaren Locken in Begeisterung geriet, lächelte sie unsagbar traurig. Als sie dann angekleidet war, schaute sie betroffen in den Spiegel. Das sollte sie sein? Kaum glaublich! Wie so eine glanzvolle Aufmachung den Menschen doch verändern konnte! Sie verstand die Tante nicht, die bei ihrem Anblick mit der Rührung kämpfte. Verstand auch die bewundernden Blicke der Zofe nicht. Und auch nicht die aufleuchtenden Augen Krafft von Broedes, der eintrat, um sie abzuholen. In der Hand trug er eine Kassette. Als er sie öffnete, glänzte und gleißte es ihr entgegen. »Der Familienschmuck der Broede«, wurde ihr erklärt. Als Krafft ihr eine Kette um den Hals legen wollte, wich sie erschrocken zurück. »Nein, bitte nicht, das kommt mir nicht zu.« Er sah sich hastig um. Als er jedoch bemerkte, daß die Zofe den Raum verlassen hatte, sagte er achselzuckend: »Es tut mir leid, dich quälen zu müssen, Ilse-Sibylle. Doch auch das gehört zur Tradition unseres Hauses, daß die Braut zur kirchlichen Trauung den Familienschmuck trägt. Du gibst mir wohl deinen Nacken frei? Wir dürfen den Pfarrer nicht warten lassen.« Mutlos ließ sie die Hände sinken, die den Hals umklammert hielten. Schon ganz gottergeben ließ sie auch diese Schmückung noch über sich ergehen. »Das Diadem finde ich höchst überflüssig«, bemerkte er, das glitzernde Schmuckstück in der Hand wendend. »Es paßt nicht zur Myrtenkrone, die an diesem Tag der größte
Schmuck des reinen Weibes sein soll. Aber es muß wohl in
unserer Sippe prunkliebende Leute gegeben haben.
Vielleicht setzt du dich, Ilse-Sibylle, damit ich das Diadem
so befestigen kann, daß es nicht ganz den Myrtenkranz
überstrahlt.
So, nun kannst du noch einen Blick in den Spiegel werfen.
Du willst nicht? So wenig eitel bist du törichtes Kind?«
Ilse-Sibylle hatte das Gefühl, als verbrenne der Schmuck ihr
Hals und Arme.
Nehmt mein Geschmeide,
es gleißt wie Licht,
die Braut im Leide
begehrt es nicht –
schoß es ihr durch den Sinn. Sie schluchzte auf – nur
einmal – doch sie glaubte, das Herz ginge ihr dabei in
Stücke.
»Ilsibyll, Liebling, jetzt doch nicht weinen!« bat die Tante.
Da riß sie sich zusammen. Ihr Blick ging zu Krafft von
Broede hin, der ruhig abwartend dastand. Die hohe Gestalt
wirkte in der feierlichen Kleidung noch stolzer, noch
unnahbarer denn je.
Und diesem Mann hatte sie in der Jagdhütte ihre
Verachtung gezeigt – sie, das unscheinbare Mädchen, das
nichts hatte und nichts war!
»Ilse-Sibylle, wir müssen zur Kapelle – «
Da hob sie den Kopf mit der ihr eigenen stolzen Gebärde.
Nun gut, wenn es schon sein mußte, dann wollte sie sich
wenigstens mit all dem Stolz wappnen, der ihr zu Gebote
stand.
Der half ihr denn auch, alles würdig zu überstehen. Die
Trauung, die glänzende Feier danach.
Wozu die überhaupt? Um so größer würde die Sensation
sein, wenn das jetzt so glänzend gefeierte Paar in Bälde
auseinanderging.
Unten in der Halle traf Frau von Bruckheim Krafft von
Broede. Er lehnte am Kamin, dem eine mollige Wärme entströmte. Als er die Tante erblickte, legte er die Zigarette fort und ging ihr entgegen. »Nun, schläft Ilse-Sibylle?« »Sie liegt jedenfalls im Bett. Ich finde, daß du sie zu sehr verwöhnst, Krafft. Mit dem Luxus, mit dem du sie umgibst, könnte ein Fürstenkind zufrieden sein. Solange sie diesen Luxus nicht kannte, war sie auch so zufrieden. Doch an Annehmlichkeiten gewöhnt sich der Mensch schnell. Was soll daraus werden, wenn sie nicht mehr deine Frau ist? Dann ist sie wieder auf das angewiesen, was ich ihr geben kann. Und das ist gewiß nicht viel.« »Darüber mache dir keine Gedanken«, wehrte er ab. »Ich werde dafür sorgen, daß Ilse-Sibylle stets ein behagliches Leben führen kann – auch wenn sie nicht mehr meine Frau sein sollte.« »Das wird sie nicht annehmen, Krafft. Sie ist nämlich sehr stolz. Jetzt ist sie noch durch inneren Zwiespalt zerrissen. Sobald sie sich jedoch wiedergefunden hat, wirst du diesen Stolz schon noch kennenlernen. Du mußt niemals vergessen, unter welchen Umständen eure Ehe geschlossen wurde. Wenn du das mit der Zeit vergessen solltest, um so mehr wird Ilse-Sibylle dessen gewärtig sein – « Ilse-Sibylle lag in ihrem kostbaren Bett. Redete sich immer mehr ein, daß sie sich verachten müßte, weil sie den Antrag Krafft von Broedes angenommen hatte. Es konnte nicht als Entschuldigung gelten, daß sie in den letzten Wochen kaum zurechnungsfähig gewesen war. Sie hatte einfach gewissenlos gehandelt. Was sollte das überhaupt für ein Ende nehmen? Hätte er nur eine Ahnung, wie sie für ihn empfand! Vielleicht würde er in seiner Großmut so weit gehen, sich für alle Zeit an sie zu fesseln. Also durfte er das niemals erfahren. Ihren ganzen Stolz mußte sie zur Hilfe nehmen, um ihm ihre Liebe verheimlichen zu können. Wie er alles für sie hergerichtet hatte! Als wäre sie seine rechtmäßige Frau. Und er hatte sie doch nur geheiratet, um
ihren Ruf zu schonen, den eine gehässige Person untergraben wollte. Aber nein, er hatte es bestimmt nicht ihretwegen getan, sondern nur, weil sie die Nichte der Frau von Bruckheim war. Frau von Bruckheim weckte die Nichte aus dem tiefen Schlaf, indem sie liebkosend über deren Wange strich – und schon war sie wieder mittendrin in ihrer Pein, die sich in eine tiefe Gereiztheit hineinsteigerte. Mißmutig drehte sie sich auf die Seite und schickte sich an, ihren Schlummer fortzusetzen. »Ilsibyll, Liebling, du mußt aufstehen«, schmeichelte die Tante. »In einer Stunde wird gespeist, dabei darfst du nicht fehlen. Du bist nicht mehr Herrin deiner selbst, hast Pflichten übernommen – « Nun fuhr Ilse-Sibylle herum, sah die Tante trotzig an. »Gar keine Pflichten habe ich!« entgegnete sie immer mehr gereizt. »Ich bin hier weiter nichts als eine Staffage! Ach – « Schluchzend drückte sie das Gesicht in die Kissen, und ratlos sah die Tante auf sie nieder. Was war nur in das Kind gefahren, es war doch bisher immer so folgsam gewesen. Doch so durfte es sich nicht gehen lassen – wohin sollte das führen! »Sei vernünftig, Ilse-Sibylle«, verlangte sie in so strengem Ton, wie sie noch nie mit ihr gesprochen hatte. »Alle im Schloß sehen in dir die Herrin. Betrage dich nicht so, daß Krafft sich deiner schämen muß. Das hat er wahrlich nicht um dich verdient. Denke nicht immer nur an dich, sondern auch an ihn, dem diese Scheinehe gewiß kein Vergnügen sein wird.« »Er hat es ja so haben wollen«, trotzte Ilse-Sibylle. »Ich habe mich ihm gewiß nicht aufgedrängt. In alle Welt werde ich hinausschreien, warum ich Baronin Broede wurde, die Gattin des Mannes, dem die Frauen gerade gut genug sind, um ihm die Langeweile zu vertreiben!« »Du bist ungezogen, Ilse-Sibylle«, entgegnete die Tante ärgerlich. »Und undankbar obendrein. Wäre dir vielleicht wohler, wenn die Menschen hinter dir herreden würden,
daß du zu einer Abendstunde in der Jagdhütte Krafft von Broedes Spielzeug warst? Was du dir da in deinen eigenwilligen Kopf gesetzt hast, sind weiter nichts als Hirngespinste.« Ohne noch einen Blick auf die Nichte zu werfen ging sie hinaus. Ilse-Sibylle sah ihr erbittert nach. Die Tante verstand sie nicht, ganz allein war sie in ihrer Not. So recht unzufrieden mit sich und der ganzen Welt erhob sie sich. Wollte sich ankleiden. Doch soviel sie auch Umschau hielt, sie konnte kein Kleidungsstück zu entdecken. Ach ja – sie war ja nun die Baronin Broede, deren Wink ein ganzer Dienertroß gehorchte. Welch ein beneidenswertes Geschöpf sie doch war! Direkt vom Glück verfolgt! Ja – zuerst mußte sie wohl in das Ankleidezimmer gehen. Als sie dort den Schrank öffnete, der die ganze Wand einnahm, fand sie ihn mit Kleidern gefüllt, die sie noch nie gesehen hatte. Als sie die zweite Tür aufmachte, fiel ihr Blick auf zarte, hauchdünne Wäsche. Da stieg ihr heiße Scham ins Gesicht. Hastig warf sie die Tür zu. Nun, wenn sie dieses Spiel mitmachen sollte – dann aber gründlich! Trotzig drückte sie auf den Klingelknopf, und wie hergezaubert stand die Zofe vor ihr, sie aus erwartungsvollen Augen ansehend. Ob wohl sämtliche dienstbaren Geister so erscheinen würden, wenn sie immer wieder auf den Knopf drückte? »Wann wird zu Mittag gegessen, Lilly?« »Für gewöhnlich um zwölf Uhr. Heute jedoch wird es später werden, da auf das Erscheinen der Frau Baronin gewartet wird.« Ei, sieh mal einer an, welche Macht sie hier besaß, da man sich sogar mit dem Essen nach ihr richtete! Sie wollte sich wieder in hohnvolle Betrachtungen verlieren, als die Zofe schüchtern sagte, daß das Bad bereitet wäre. Schön, ging sie eben baden, bestimmte dann die Sachen,
die sie anzuziehen wünschte. Sie waren sämtlich Geschenke der Tante, daher nicht so märchenhaft wie die, die im Schrank prunkten und wohl eine Hochzeitsgabe des Gatten bedeuten sollten, aber immer noch schön genug, um ein Aschenputtelchen in eine Prinzessin zu verwandeln. Als sie dann einen Blick in den großen Spiegel warf, kam sie sich selbst fremd vor. Seit wann besaß sie ein so zartes Gesicht wie milchiges Glas? Und seit wann waren ihre Augen so groß und dunkel, die Haare glänzend und weich wie gesponnene Seide? Ach ja, sie war verwandelt, seitdem sie sich aus den seidenen Kissen ihres Lagers erhoben hatte Dann schritt sie über dicke Teppiche, durch hohe Räume, bis sie endlich das Speisezimmer erreicht hatte. In den bequemen Sesseln vor dem mächtigen Kamin saßen plaudernd die Tante und Krafft. Bei Ilse-Sibylles Eintritt sprang er auf, ging ihr entgegen und begrüßte sie. Seine Augen glitten über sie hin mit prüfendem Blick. Die Musterung schien zur Zufriedenheit ausgefallen zu sein, nichts von Mißbilligung zeigte sich in seinem Gesicht. »Wie hast du geschlafen, Ilse-Sibylle?« »Danke – ausgezeichnet«, log sie, wie sie fortan immer lügen würde. Begrüßte dann die Tante, die ihr herzlich zulächelte. Also schien sie ihr nicht mehr böse zu sein – Gott sei Dank! Und dann lernte sie kennen, wie man in Dünentrutz speiste. Lautlos huschten die Diener umher, reichten die Speisen, waren jedes Winkes gewärtigt. Ilse-Sibylle beneidete die Tante, die so zwanglos dasaß und sich äußerst wohl zu fühlen schien. Diese hatte schon heimlich davor gebangt, wie sich die Nichte in der feudalen Umgebung zurechtfinden würde. Sie kam zwar nicht aus ärmlichen, so doch aus schlichten Verhältnissen. Und es war nicht so einfach, Herrin auf Dünentrutz zu sein. Krafft gab viel auf Äußerlichkeiten, vornehme Lebensart war ihm Bedürfnis.
Nun, an Ilse-Sibylles Benehmen war gewiß nichts auszusetzen. Sie erschien so selbstsicher, als war ihr das alles selbstverständlich. Als man später im Nebenzimmer den Mokka trank, sagte Krafft: »Falls du irgendwie eine Änderung wünschest, Ilse-Sibylle, so wende dich an Frau Lina. Ich möchte dich bitten, sie als zur Familie gehörig zu betrachten. Sie ist eine treue Seele und zehr zartfühlend.« Erstaunt sah sie ihn an. »Ich – Änderungen wünschen, Baron von Broede? Wie käme ich denn dazu!« »Nun, die Pflichten, die du hier hast – « Sie warf den Kopf in den Nacken mit der ihr eigenen stolzen Gebärde. »Pflichten habe ich meiner Ansicht nach nicht hier. Ich bin ein Gast und werde es bleiben. Vielleicht bringen Sie das der Dienerschaft bei.« »Ich soll doch womöglich nicht deine törichten Worte ernst nehmen, mein Kind?« spottete er. »Ich werde mich hüten, mich vor meinen eigenen Leuten bloßzustellen. Und dir würde ich raten, das fremde ›Sie‹ nun endlich zu lassen. Vielleicht denkst du einmal darüber nach, wie sonderbar das auf die Umgebung wirken muß.« »Wozu ich bitte, mich zurückziehen zu dürfen«, war die gereizte Erwiderung. Ein unnachahmlich stolzes Kopfneigen, dann verließ sie das Zimmer. »Donnerwetter – das ist ja ein ganz gefährliches Hexchen!« sagte Krafft ebenso verblüfft wie anerkennend, und die Tante lachte. »O ja, sie hat Krallchen, unsere Kleine. Ich habe immer gefürchtet, daß sie der schwierigen Aufgabe, Herrin hier zu sein, nicht gewachsen sein könnte.« »Daran habe ich nie gezweifelt«, warf er ein. »Sie ist eben deine Nichte, Tante Marianne.« Die Zeit eilte dahin. Die Frühlingsstürme brausten über Wald und Meer. Ilse-Sibylle wurde nicht müde, am Strand
zu stehen und dem gewaltigen Treiben zuzuschauen. Sie merkte nicht, wie die Heimatliebe in ihr emporwuchs, wie sie immer mehr Besitz von ihr ergriff. Überraschend schnell hatte sie sich in ihr neues Leben hineingefunden, war dem Dünenschloß eine Herrin geworden, wie man sie sich nicht besser wünschen konnte. Die Dienerschaft führte Wünsche aus, bevor sie noch so recht ausgesprochen waren. Selbst Harras wurde seinem Herrn untreu, wenn er Frauchen auf ihren Spaziergängen begleiten durfte, die sie jedoch nie weit ausdehnte, weil Krafft es nicht wünschte. Der schwermütige Ernst, der die früher so lebensfrohe IlseSibylle immer noch gefangenhielt, nahm täglich zu. Nie wieder hatte sie sich so vergessen wie an dem Tag der Hochzeit. Sie ließ alles wortlos über sich ergehen, hatte höchstens einmal ein spöttisches, mit Bitterkeit durchtränktes Lächeln. Nur nachts, wenn sie die Maske fallen lassen durfte, weinte sie sich oft in den Schlaf. Die Liebe zu ihrem Mann wurde immer heißer, immer tiefer. Was half es, daß sie krampfhaft nach Fehlern suchte, um seine Person vor sich selber herabsetzen zu können, – sie fand keine. Die Erfahrungen, die Tante Marianne mit ihm gemacht haben wollte, zweifelte sie schon längst an. Wer konnte wissen, wie alles gewesen war! Sie sah ihn doch täglich vor sich, den selbstsicheren Mann. Mochte er manchmal auch noch so arrogant und spöttisch sein – doch ehrlos, nein, das war er bestimmt nicht. Was konnte er dafür, daß ihn das bevorzugte Leben, das er führte, zu dem gemacht hatte, was er jetzt war? Wie sollte er an Frauenreinheit und Frauenliebe glauben, da man ihm so entgegenkam? An einem Frühlingstag, als die Veilchen den Wald durchdufteten, Frühlingsstürme das Meer aufpeitschten zu brausenden Wellen, erklärte Krafft so nebenbei, daß er zu verreisen gedächte. Wie lange er fortbleiben würde, wüßte er noch nicht.
Ilse-Sibylle setzte fast der Herzschlag aus vor Schreck. Jetzt konnte er Verlangen nach einer Reise haben, wo es nirgends schöner sein konnte als in dem waldumrauschten Dünenschloß? Besaß der Mann denn wirklich weder Herz noch Gemüt? Konnte er sich für nichts erwärmen – auch für seine wunderschöne Heimat nicht? Fort wollte er, vielleicht für lange Zeit. Das machte ihr Herz bitter schmerzen. Sie verkrampfte die zitternden Hände im Schoß, um nicht die Erregung zu verraten, die in ihr tobte. Sie sollte ihn nicht mehr sehen, wochenlang, gar monatelang? Sollte seine dunkle, herrische Stimme nicht mehr hören, seine stolze Gestalt nicht mehr sehen. Das würde sie ja gar nicht ertragen können! Sei doch zufrieden! spottete der Verstand. Du hast dich doch oft von ihm fortgesehnt. Nun er geht, ist es auch nicht recht. Hast es ja arg genug getrieben. Hat dieser Mann es nötig, sich von dir schlecht behandeln zu lassen? Da geht er doch lieber dahin, wo das Leben lacht, die Liebe winkt. Wird im Lebensstrudel untertauchen und sehr bald vergessen, daß es eine Ilse-Sibylle gibt mit ihrem nonnenhaften Wesen. »Bleib hier, geh nicht fort!« hätte sie rufen mögen. »Sei doch, wie du willst, nur bleib hier!« Doch sie schwieg. Hatte immer noch nicht gelernt, ihren Stolz zu bezwingen. Wie im Traum hörte sie die Tante sprechen, die wissen wollte, wohin die Reise gehen sollte. Die nordischen Länder wollte er durchstreifen, die er nur flüchtig kannte. Er könnte sich das jetzt leisten, da er den Betrieb hier bei Herrn von Lürstädt in den besten Händen wüßte. Zum Schluß bat er noch die Damen, nicht von Dünentrutz zu gehen, ihm sein Haus zu verwalten. Und er fuhr wirklich. Mit verweinten Augen starrte IlseSibylle in das Morgengrauen hinaus, dessen Stille die Hupe des Autos zerriß. In ihm fuhr der Gebieter davon, um die Schönheiten der Welt zu genießen, die gewiß nicht schöner sein konnten als die der Heimat.
»Da schlag einer lang hin! Lo, du kleiner Racker, willst du wohl! Wirst mir wohl eines Tages als Kunstreiterin durch die Lappen gehen, wie? Doch vorher brichst du dir Hals und Bein, verlaß dich drauf!« Herr Julius Rainer stand auf dem Hof seines großen Gutes Unruh und drohte seiner Tochter, die auf dem galoppierenden Gaul rundum jagte. Aus den Stalltüren lugten die lachenden Gesichter der Gutsleute. Die zierliche, unendlich grazile Gestalt der jungen Dame stand in gelassener Ruhe auf dem Rücken des Pferdes, als stünde sie auf der Erde. In dem Gesicht des Vaters wetterleuchteten die klarblauen Augen in frohem Stolz. Die hünenhafte Gestalt spannte sich, um die Tochter aufzufangen, die vom Gaul direkt in seine Arme sprang. Augenblicklang hielt er das zarte Figürchen an seiner breiten Brust fest. Dann stellte er es auf die Erde und lachte in seinem dröhnenden Baß. »Bist doch ein kleiner Teufel, Marjellchen! Daß du nicht als Junge geboren bist, das kann ich bis heute noch nicht begreifen.« »Das ist allerdings sehr betrüblich«, meinte sie ungerührt. »Aber dafür bin ich auch weniger dumm und arrogant.« »Doch um so schnippischer«, versuchte der Vater sich zu entrüsten, wobei jedoch ein Schmunzeln über sein wetterhartes Antlitz glitt. »Ein unglaublicher Racker bist du, den ich von vornherein besser an die Strippe hätte nehmen sollen.« »Da du es unterlassen hast, mußt du nun für die Unterlassungssünde büßen«, war die seelenruhige Antwort. »Paß auf den ›Irrwisch‹ auf, er ist erhitzt!« rief sie über der Schulter dem Stallburschen zu, der das Pferd fortführte. Dann hakte sie sich in den Arm des Vaters und ging mit ihm gemächlichen Schrittes dem Herrenhaus zu. Ihre mittelgroße Gestalt verschwand fast neben seiner hünenhaften. Einträchtig betraten sie die weite Halle, die den Wohlstand des Hauses verriet. Eine der schweren Eichentüren öffnete
sich, und die Herrin erschien, noch zarter und zierlicher als die Tochter. »Lo, Mädel, du wirst dir wirklich noch Hals und Beine brechen!« rief sie lachend. »Was ich ihr auch schon prophezeit habe«, bestätigte der Gatte. Man hatte gelacht, als der Riese das elfenhafte Wesen zur Frau nahm. Doch er hatte ernsthaft gemeint, um so besser wäre er in der Lage, sein Frauchen auf den Händen durchs Leben zu tragen. Und das hatte er auch getan. Wohl selten wurde eine Frau von ihrem Mann so vergöttert wie Frau Felicitas Rainer. Und wohl selten dankte es eine Frau dem Mann so, wie diese es tat. Zwar glich die Tochter der Mutter, hatte jedoch noch etwas Fremdes in ihrer Erscheinung, das nicht von den Eltern stammte. Wenn man das bestrickende Persönchen sah, dessen Köpfchen mit den strahlenden Unschuldsaugen einem Engelsbilde glich, dann nahm man an, daß es die Sanftmut selbst sein müßte. Doch das war absolut nicht der Fall. Der Vater hatte schon recht, wenn er das Töchterlein einen kleinen Racker nannte. Mutter und Tochter sahen wie Schwestern aus. Ihr Verhältnis zueinander war das denkbar innigste. »Zieh dich um, mein Lolokind«, sagte Frau Felicitas nun. »Du siehst wie eine kleine Wilde aus.« »Wird prompt besorgt, Gebieterin des Hauses«, wurde vergnügt erwidert. Pfeifend sprang sie die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer. Die Gatten sahen sich lachend in die Augen. »Ist ein Prachtmarjellchen, unsere Lo«, schmunzelte der Vater. »Wächst mir leider jetzt übern Kopf.« »Als ob das jemals anders gewesen wäre!« lachte die Gattin ihr warmes, herzliches Lachen, und der Baß des Eheherrn fiel dröhnend ein. Eng umschlungen betraten sie das Speisezimmer, in dem sich der verfeinerte Geschmack der Herrin bemerkbar
machte, wie in den anderen Räumen auch. Im Unruher Herrenhaus war alles vornehm, licht und traut – genauso wie der Charakter der Frau Felicitas. Auf dem runden Speisetisch summte die Kaffeemaschine. Die Frühlingssonne warf ihre Strahlen über das schneeige Gedeck, das hauchdünne Porzellan. Die Gatten ließen sich an diesem einladenden Tisch nieder, und die Herrin des Hauses schenkte den duftenden Trank in die feinen Schalen. Der Gatte hielt ihre Hand liebkosend fest, als sie ihm die seine reichte. Zärtlich gab sie seinen Blick zurück. Die Tochter trat ein. Wirkte in dem eleganten Kleid noch entzückender, als in dem Reitanzug. Unglaublich reizend war die kleine Person, von dem lichtblonden Lockenköpfchen angefangen bis zu den winzigen Füßchen hinab. Vergnügt nahm sie Platz und ließ sich Kaffee und Kuchen gut schmecken. »Hör mal, Papsi«, ließ sich ihre weiche, einschmeichelnde Stimme vernehmen. Der Vater horchte auf. Wenn die Kleine so anfing, dann gab es immer etwas Besonderes. »Nun, was gibt’s?« brummte er. »Wir verreisen doch im Sommer, nicht wahr?« »Wenn du mit der Mutter reisen willst, habe ich nichts dagegen. Ich kann nicht mit, weil ich den Bau der neuen Scheune vorhabe.« »Wenn du nicht mitkommst, dann bleibe ich auch hier«, sträubte Frau Felicitas sich. »Was fällt dir überhaupt ein, Lo? Kann es irgendwo noch schöner sein als bei uns, wo wir Wald und See sozusagen vor der Tür haben? Wenn du das Badeleben mitmachen willst, ist es nur ein Hasensprung nach den Kurorten. Wozu hast du denn das Auto, das der Vater dir unbedingt schenken mußte? Das kannst du nun gut gebrauchen. Wir fahren im Winter, wenn unser lieber Paps uns begleiten kann.« »Ich möchte aber im Sommer fort«, trotzte Lo. »Glaubst du, mir macht es Vergnügen, zu Hause zu sitzen, während jeder Grasäff eine Sommerreise macht!«
»Elisabeth-Charlotte, ich finde – «
»Ach, laß doch, alter Herr!« unterbrach sie den Vater.
»Wenn du feierlich wirst, das steht dir nicht.«
Als eine Falte auf seiner Stirn, sichtbar wurde, sprang sie
auf und schmiegte sich wie ein Kätzchen auf seinen Schoß,
legte ihre weiche Wange an seine wetterharte.
»Sei lieb, Julius!« schmeichelte sie. »Ich bin ja doch ein
hoffnungsloser Fall. Du fängst viel zu spät mit deinem
Erziehungswerk an. Das ist so, als wolltest du einem Esel
das Seiltanzen beibringen.«
In seinem Gesicht zuckte es, halb ärgerlich, halb amüsiert.
»Lo, du bist furchtbar frech«, tadelte die Mutter, sich zu
einem ernsten Ton zwingend. »Man nennt seinen Vater
nicht beim Vornamen. Sieh dir andere Kinder an. Keines ist
so respektlos wie du.«
»Es hat auch keines seinen Vater so lieb wie ich meinen
guten Papsi«, entgegnete das Mädchen ungerührt, und da
wurde die Mutter ernstlich böse.
»Lo, wenn dich jemand hört! Wofür müssen uns die
Menschen halten!«
»Die Menschen können uns den Buckel herunterrutschen,
alte Dame – «
Jetzt lachte Herr Rainer los, laut und herzlich.
»So bist du nun, Julius!« schalt die Gattin. »Wenn ich noch
einmal durchgreifen will, dann verdirbst du mir alles. Das
Gör ist bodenlos verzogen. Beträgt sich nicht wie ein
zweiundzwanzigjähriges Mädchen, sondern wie ein
ungezogenes Baby!«
Ihre Entrüstung fand absolut kein Gehör, sie wurde
herzlich ausgelacht. Und schließlich mußte sie halb
widerwillig mitlachen.
Der Vater bekam seine Tochter bei den rosigen Öhrchen zu
fassen.
»Frech bist du Balg allerdings fürchterlich«, schmunzelte er.
»Zur Strafe müßte ich dir die Neuigkeit vorenthalten, daß
du eine Base hast.«
»Wann habe ich die denn bekommen?« fragte Lo verblüfft.
»Bis jetzt war ich doch immer das einzige Prachtstück in der Familie. Du hattest doch nur einen Bruder, Mutti war einziges Kind. Und Ilse-Sibylle und Arnulf Rainer sind bei einem Autounfall tödlich verunglückt.« »O nein, Ilse-Sibylle lebt!« Sekundenlang weidete er sich an den fassungslosen Blicken seiner Lieben, bis er dann weitersprach: »Die Tochter meines verstorbenen Bruders ist die Baronin Broede -Herrin auf Dünentrutz«, meldete er feierlich. Lo glitt von seinem Schoß und stand nun erregt vor ihm. »Vater – wenn du damit einen Scherz treibst –?!« »Fällt mir gar nicht ein, Marjellchen«, winkte er gemütlich ab. »Ich werde dir erzählen, wie ich deine totgeglaubte Base entdeckte. Also: Ich traf heute vormittag mit einigen Herren zusammen, deren Unterhaltung sich um den Baron von Broede und seine schöne Frau drehte. Der eine der Herren meinte, der standesstolze Broede müsse doch toll verliebt sein, weil er eine Bürgerliche geheiratet hat. Ich wurde nun auch neugierig, wollte den Mädchennamen der Vielgeliebten wissen. Den konnte man mir nicht nennen. Man wußte nur, daß sie eine Nichte der Frau Oberst von Bruckheim wäre und Ilse-Sibylle hieße. Nun wurde ich stutzig. Zufällig lief mir gleich darauf der Lürstädt in die Arme, den ich dreist und gottesfürchtig nach dem Mädchennamen seiner Herrin fragte. Und siehe da: Ilse-Sibylle Rainer, die Tochter des verstorbenen Geigenvirtuosen. Na, was sagst du nun?« Vorläufig sagte Lo gar nichts. Doch dann stellte sie die berechtigte Frage: »Und warum hält Ilse-Sibylle sich von uns fern?« »Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, daß wir ihre Verwandten sind. Ihre Mutter war eine standesstolze Frau, obgleich sie einen Bürgerlichen heiratete. Da hat sie es nicht für nötig befunden, ihren Kindern von uns zu erzählen. Kann man wissen, ob die Ilse-Sibylle nicht ebenso ist? Immerhin hat sie die überkandidelte Frau
Oberst zur Tante und den arroganten Broede zum Mann.
Nee, Kinderchen, da wollen wir uns die Nase nicht
verbrennen, sondern hübsch abwarten.«
Mutter und Tochter waren damit zwar nicht einverstanden,
mußten sich jedoch zufriedengeben.
Lo fragte nun:
»Sag Paps, ist Herr von Lürstädt nicht der Mann, der die
Güter des Barons verwaltet?«
»Ja. Nebenbei ist er noch genauso ein hochnäsiger,
arroganter Bengel wie sein Herr. Bildet sich auch ein, eine
Extrawurscht vom lieben Herrgott verlangen zu dürfen.«
»Er soll aber ein schöner Mann sein.«
»Weiß ich nicht. Sieht genauso aus wie andere Menschen.
Hat die Nase lang, den Mund quer. Aber was dran muß
schon an ihm sein, weil die Erbtöchter hinter ihm her sind.
Nun ihnen der Broede durch die Lappen gegangen ist,
angeln sie nach dem zweiten von der Sorte. Wird sich eines
Tages schon ein Goldfischchen holen und mit dessen Gold
seine zerrütteten Finanzen auffrischen. Seine Verwandten
haben es nämlich fertig bekommen, sein Gut zu
verwirtschaften, während er sich mit den Feinden
herumschlug. Er war Oberleutnant in Broedes Schwadron.
Daher setzte dieser ihn aus alter Kameradschaft als
Verwalter über seine Güter.«
Der Gedanke, daß ihre Base in der Nähe wohnte, verfolgte
Lo unablässig. Sie ließ dies nicht laut werden, weil der
Vater das nicht wünschte. Man war in Unruh daran
gewöhnt, den Willen des Herrn zu respektieren. Wenn sie
Ilse-Sibylle nur einmal erwischen könnte!
Und das sollte bald geschehen.
Dünentrutz und Unruh waren Nachbargüter. Lo liebte
Wald und See ebenso wie ihre Base. Auch sie konnte
stundenlang am Strand verweilen.
Als sie nun eines Tages dort entlangschlenderte, kam ihr
Ilse-Sibylle entgegen. Sie stutzten – sahen sich wie
entgeistert an, weil jede fast sich selbst zu sehen glaubte –
und da packte Lo die Gelegenheit beherzt beim Schopf.
»Guten Tag, Ilse-Sibylle!« sagte sie vergnügt. Lachte hellauf, als sie die abweisende Miene der anderen sah. »Brauchst mich nicht in die Schranken zu weisen mit Blick und Gebärde, Frau Baronin. Ich bin nämlich deine ganz richtige Base. Weißt du wirklich nicht, daß du in der Nähe Verwandte hast?« »Ich soll Verwandte hier haben?« »Natürlich. Dein Vater war der Bruder des meinen. Elisabeth-Charlotte Rainer ist mein werter Name. Ach, IlseSibylle, ich freue mich ganz närrisch, daß ich dich endlich erwischt habe! Und nun schere dich nicht um Anstand und Sitte – komm gleich mit mir nach Unruh, damit du meine prächtigen Eltern kennenlernst! Oder willst du nicht? Bist du ebenso adelsstolz wie deine Mutter? Dann verzeih!« »Elisabeth-Charlotte, welch eine törichte Annahme! Ich trug bis vor einigen Wochen den Namen Rainer. Ich will gern mit dir kommen.« Plaudernd wanderten sie am Strand entlang, als kennten sie sich schon lange. Ilse-Sibylle, die sich nur schwer einem Menschen anschloß, fühlte sich zu der Base sogleich hingezogen. Als sie Unruh erreicht hatten, ließ die junge Baronin ihre Augen entzückt umherschweifen. »Wie schön ist das hier!« »Nicht wahr?« entgegnete Lo erfreut. »Meine Heimat ist wunderschön. Ich glaube, ich würde sterben, wenn ich sie verlassen müßte.« Sie betraten die Halle, gingen durch einige Zimmer, bis sie die Terrasse erreicht hatten, auf der Los Eltern beim Nachmittagskaffee saßen. Beim Anblick der fremden Dame sprang Herr Rainer auf. »Das ist Ilse-Sibylle«, erklärte das Mädchen vergnügt und lachte dann übermütig über die verdutzten Gesichter der Ihren. Ilse-Sibylles Blick ging an dem Hünen hoch, der so gar keine Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Vater hatte.
»Guten Tag«, lächelte sie. »Ich hatte bis vor einer Stunde zwar noch keine Ahnung, daß ich in der Nähe einen Onkel habe – aber jetzt freue ich mich.« Diese schlichten Worte genügten, um das Herz des gutmütigen Mannes zu gewinnen. »Gott sei Dank, Marjellchen!« lachte er. »Und dies ist meine Frau.« Die Damen musterten sich kritisch, und dann wurde der Gast in die Arme gezogen. »Ich habe dich schon jetzt lieb, Ilse-Sibylle, weil du meiner Lo so ähnlich siehst. Ihr könntet beide als Schwestern gelten.« »So schön soll ich sein?!« rief Lo begeistert. »Da bin ich aber stolz!« »Bilde dir man keine Schwachheiten ein!« dämpfte der Vater. »Die Mutter sieht durch eine rosarote Mutterbrille. Fehlt nur, daß sie dich noch schöner findet. Fertig kriegt sie das schon.« Da lachte Ilse-Sibylle herzlich. Seit Monaten hatte sie nicht mehr so gelacht. Und dann kam eine gemütliche Kaffeestunde. Der Gast mußte von sich erzählen und hatte dabei teilnehmende Zuhörer. Ilse-Sibylle wurde das Herz bitter schwer. Warum habe ich von diesen Menschen nichts gewußt? grollte sie mit ihrem Geschick. Ich wäre hierher geflüchtet, hätte bei diesen lieben Menschen eine Zuflucht gefunden. Hätte Krafft von Broede nicht kennengelernt – und damit nicht das Leid meines Lebens. Als sie sich verabschiedete, mußte sie versprechen, bald wiederzukommen. Lo fuhr sie in ihrem Auto nach Dünentrutz. Neugierig musterte sie das Schloß. »Das sehe ich heute zum erstenmal aus der Nähe, obgleich die Broedes und wir Nachbarn sind. Sehr hochmütige Leute waren das, selbst die engelhafte Baroneß. Aber schön ist es hier, Ilse-Sibylle. Du bist ja die reinste
Märchenprinzeß.« »Deine Heimat ist wohl weniger schön, Lo?« lenkte die Bewunderte ab, der bei der Base Worten das Herz weh tat. »Gewiß nicht. Unruh ist für mich sogar noch viel schöner, weil es meine Heimat ist. Also dann, auf baldiges Wiedersehen, Ilse-Sibylle!« »Willst du nicht mit mir kommen, Lo?« »Heute nicht. Deine Tante könnte es ungezogen finden, wenn ich so formlos bei euch erscheine.« Fröhlich winkend fuhr sie davon, und Ilse-Sibylle suchte die Tante in deren Wohnzimmer auf. Sie war so froh bewegt wie schon lange nicht mehr. »Tante Marianne, wußtest du, daß ich hier in der Nähe Verwandte habe?« rief sie ohne jede Einleitung. »Du hast hier Verwandte?« »Ja, denke dir nur! Ganz zufällig traf ich meine Base Elisabeth-Charlotte Rainer am Strand. Sie nahm mich gleich nach Unruh mit und machte mich mit ihren Eltern bekannt. Sind das herzliche, liebe Menschen!« »Ilse-Sibylle, was ist das für ein konfuses Zeug! Sprich mal vernünftig!« Nun begann sie ausführlich zu erzählen. Doch je länger sie sprach, um so weniger schien die Tante ihre Freude zu teilen. Zu deutlich spiegelte sich ihr Empfinden in ihrem Gesicht wider. »Tante Marianne, was hast du denn? Sind dir die Menschen etwa nicht gut genug?« »Was für ein törichter Einfall, Ilsibyll! Aber – verstehe mich nur richtig, mein Herz – ich habe dich so lieb, daß ich ungern teilen möchte.« Da legte sie schmeichelnd ihre Arme um den Hals der Betrübten. »Tante Marianne«, sagte sie vorwurfsvoll, während Tränen ihren Blick verdunkelten, »hältst du meine Gefühle denn für so wankelmütig? Dich liebte ich früher als meine Verwandten – « Erregt zog Frau von Bruckheim sie an sich.
»Ilsibyll, Liebling, du bist ja das einzige, was mir geblieben ist – du – und der Krafft!« Jetzt schämte Ilse-Sibylle sich, daß sie vor einer Stunde noch gewünscht hatte, lieber zu den Unruher Verwandten als zu dieser Tante gekommen zu sein. Sie war nun fast täglich in Unruh, während die Verwandten ihren Besuch in Dünentrutz noch nicht gemacht hatten. Bis die Tante sie aufmerksam machte, daß sie die ihr so lieben Menschen einladen müßte. »Wie käme ich denn dazu, mir da Gäste einzuladen, wo ich selbst nur Gast bin?« fragte Ilse-Sibylle abweisend. »Da stehst du auf einem ganz falschen Standpunkt, mein Herz. Was sollen deine Verwandten denken.« »Vielleicht das Richtige!« warf Ilse-Sibylle erregt ein. »Ich glaube nicht, daß es Krafft angenehm wäre, wenn ich ihm fremde Menschen ins Haus brächte.« »Mein liebes Kind, ist dir denn schon jemals ein Mensch vorgekommen, der taktvoller und großmütiger wäre als dein Mann?« »Jawohl – großmütig!« lachte sie bitter auf. »Seine Großmut geht so weit, daß er eher aus seinem Hause flieht, als mich gehen heißt. Überall wundert man sich, daß gerade Krafft von Broede eine Bürgerliche zur Frau nahm. Daraus kannst du ersehen, wie groß das Opfer war, das er brachte – dir, Tante Marianne, nicht mir. Frage nur Herrn von Lürstädt, der kennt Krafft sehr gut und weiß, wie sehr er an Dünentrutz hängt. Er erzählte mir auch, wie ungern sein Herr reist, und wundert sich, wie lange er diesmal in der Ferne aushält. Oh, hätte der taktvolle Freiherr von Lürstädt nur geahnt, wie sehr mich seine Worte trafen, wie sie mir bestätigten, was ich längst ahnte – er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als sie zu sprechen.« Der Tante wurde das Herz schwer. Da hatte sie geglaubt, daß die Nichte sich mit ihrem Schicksal abgefunden hätte; doch wie weit sie noch davon entfernt war, zeigte die tiefe Bitterkeit, mit der sie sprach. Trotzdem setzte Frau von Bruckheim durch, daß Familie
Rainer nach Dünentrutz eingeladen wurde. Auch sie fand Gefallen an den vornehmen, herzlichen Menschen und war sehr dafür, daß zwischen Unruh und Dünentrutz ein reger Verkehr begänne. Der Herbst kam mit seinem stürmenden Wetter. Und immer noch weilte Krafft von Broede in der Fremde. Er hatte noch nicht einmal geschrieben. Hätte er nicht mit seinem Verwalter in geschäftlichem Briefwechsel gestanden, so hätte man gar nicht gewußt, wo er sich aufhielt. Und als Lürstädt eines Tages gar sorgenvoll bemerkte, wie rastlos sein Herr diesmal in der Welt umherhastete, bald hierhin, bald dorthin, da wurde es IlseSibylle zur Gewißheit, daß es ihretwegen geschah. Sie hatte noch nie die Zimmer des Gatten betreten. Und seitdem er fort war, hielt Frau Lina sie unter Verschluß. Als sie nun an einem Tag den Arbeitsraum säuberte, ging IlseSibylle vorüber und trat nach längerem Zaudern durch die weit geöffnete Tür. Frau Lina, die gar nicht erstaunt war, ihre Herrin hier zu sehen, nickte ihr freundlich zu. Ein frischer, herber Duft durchwehte das weite Gemach, welcher auch der Person des Eigentümers anhaftete. IlseSibylle ließ ihre Blicke umherschweifen, bis sie dann an den vier Bildern haften blieben. In dem Augenblick meldete sie sich auf den Ruf der Tante, die gleich darauf eintrat. »Ilsibyll, wo steckst du?« Das Wort erstarb ihr im Mund, als sie der Gemälde ansichtig wurde. Ihr Gesicht überzog sich mit fahler Blässe, die Frau Lina nicht entging. »Ja, ja, die beiden gehören zusammen«, zeigte sie auf die Baroneß und dann auf Burkhard. »Das sagt auch der Herr Baron. Ich kann es bis heute noch nicht vergessen, als man die vier tot ins Schloß brachte – und die Verzweiflung des Herrn – « Augenblicklang herrschte beklemmende Stille, die dann die tonlose Stimme Frau von Bruckheims unterbrach: »Liebe Frau Lina – wollen Sie mir nicht erzählen, wie das
damals alles war?«
Dazu war diese nur zu gern bereit. Unendlich traurig und
tränenerstickt sprach sie:
»Es war an einem stürmischen Herbsttag vor fast vier
Jahren. Weil unser Baroneßchen seit Wochen schon gar
nicht lachen wollte, schenkte der Herr Baron ihr ein Auto,
das sie sich schon lange wünschte. Darüber freute sie sich,
machte die Fahrprüfung, lenkte dann das Auto selbst und
fuhr sich und die Eltern damit in den Tod, und der Herr
Burkhard folgte ihr.«
Frau Marianne, die sich kaum noch aufrecht halten konnte,
fragte erregt:
»War eigentlich noch jemand dabei, als das – Unglück
geschah?«
»Ja. Der Freiherr von Lürstädt. Und dann noch ein Herr
Schwerling, der in der Stadt ein Goldwarengeschäft
besitzt.«
Ilse-Sibylle, welche die Not der Tante spürte, zog sie von
dieser traurigen Stätte fort, drückte sie in dem
Wohnzimmer in einen Sessel. Kniete vor ihr nieder und
umfaßte sie in heißer Herzensangst.
»Tante Marianne, liebe, liebe Tante Marianne!« flehte sie.
»Sag mir doch, warum du so entsetzlich leidest!«
»Noch nicht – « kam die Antwort rauh und gepreßt. »Zuerst
muß ich volle Gewißheit haben. Geh, mein Herz, schicke
mir Herrn von Lürstädt.«
Zehn Minuten später stand er vor ihr. Sie musterte seine
rassige Reitergestalt erregt.
»Herr von Lürstädt, ich wende mich an Sie in meiner Not.
Waren Sie damals dabei als das Unglück geschah, als man
auch meinen Sohn hierher brachte?«
»Ja, gnädige Frau.«
»Wollen Sie mir bitte genau erzählen, wie alles
zusammenhing?«
»Bedaure sehr. Ich kann darüber nicht sprechen – ich gab
mein Wort.«
»Ich habe aber ein Recht, es zu erfahren!«
»Ich darf nicht sprechen, gnädige Frau.« »Wollen Sie denn zulassen, daß ich noch immer mehr Schuld auf mich lade?« »Ich kann nicht anders.« Nun sah sie ein, daß sie den Mann nie und nimmer zum Sprechen bewegen konnte. Prüfend hing ihr verzweifelter Blick an ihm, der in gestraffte Haltung vor ihr stand. »So – dann nichts für ungut, Herr von Lürstädt.« Er schlug die Hacken zusammen, verharrte einen Augenblick in tadelloser Verbeugung, dann ging er. Ohne Ilse-Sibylle vorher zu sprechen, fuhr Frau von Bruckheim zur Stadt. Ihr Ziel war das große Juweliergeschäft, in dem sie ihren Schmuck verkauft hatte, um der Nichte eine gute Garderobe anschaffen zu können. Sie bat den Inhaber um eine Unterredung, der sie höflich in sein Arbeitszimmer führte. Dort bot er der Dame einen Sitz, während er vor ihr stehen blieb. Prüfend musterte sie seine elegante, vertrauenerweckende Erscheinung. »Dürfen Sie vielleicht auch nicht sprechen?« begann sie ohne jede Einleitung in bitterem Ton, worauf ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht flog. Er war jedoch sofort im Bilde. »Gewiß werde ich sprechen, gnädige Frau – doch nur dann, wenn ich darf.« »Natürlich, nur wenn Sie dürfen«, wiederholte sie in immer größer werdender Bitterkeit. »Also kann ich unsere Unterredung als beendet betrachten, bevor sie noch begonnen hat.« »Vielleicht kann ich Ihnen doch helfen, gnädige Frau.« »So. Dann zuerst die Frage: Gaben Sie Ihr Wort, über die Angelegenheit, die meinen Sohn betrifft, zu schweigen?« »Nein, mein Schweigen wurde nicht verlangt, was ich sowieso als Ehrensache betrachte.« »Dann wollen Sie sprechen?« »Ja – «, erwiderte er fest. »Und zwar werde ich es tun, weil es mir nötig erscheint. Werde mir dadurch sicherlich die
Ungnade des alten Herrn von Broede zuziehen, aber das muß ich dann schon in Kauf nehmen. Aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, gnädige Frau, daß es weh tun wird, wenn ich spreche.« »Gleichviel, ich muß endlich Gewißheit haben! Waren Sie damals in Dünentrutz während der Tragödie?« »Ja. Der Herr Baron hatte mich zu sich bestellt, um eine Sache richtigzustellen.« »Und was war das?« Nun zögerte er doch mit der Antwort. Sein Blick hing teilnehmend an der Frau. »Reden Sie nun endlich, verschweigen Sie mir nichts!« forderte sie aufs höchste erregt. »Wie Sie wünschen, gnädige Frau. Es wurde wertvoller Schmuck bei mir gekauft, im Auftrage des Barons von Broede. Ich lieferte ihn ohne Bedenken aus, da ich den Beauftragten als guten Freund des Barons kannte. Und diesen Schmuck trug eine Dame, von der man nicht so recht wußte, woher sie kam und wer sie war. Diese liebte nun den Baron von Broede – er sie jedoch keineswegs. Da benutzte sie seinen Freund als Werkzeug, der das Unglück haben mußte, sich in eine Leidenschaft zu der Dame zu verrennen. Da sie Schmuck sehr liebte, überschüttete er sie damit. Und als sein Geld nicht mehr ausreichte, kaufte er weiter im Namen seines Freundes. Dieser setzte alles daran, um seinen Intimus von seiner krankhaften Leidenschaft zu heilen. Allein die Dame war ein Teufel in ihren Künsten. Und um diesen Mann litt ein rührend feines Menschenkind, litt Qualen einer unerwiderten Liebe. Wie konnte die junge Dame auch ahnen, daß sein Herz von der Leidenschaft unberührt blieb, daß es ihr nach wie vor gehörte! Kurz und gut: Es kam der Tag, der dem verblendeten Mann ein böses Erwachen brachte. An dem ihn der Ekel vor sich selbst würgte. Reumütig wollte er sich dem Mädchen wieder nähern, um Verzeihung zu erflehen.
An dem Abend war ich gerade beim Herrn Baron. Ich hatte ihm eine Rechnung über die von seinem Freund gekauften Schmuckstücke geschickt – weil allmählich Mißtrauen in mir aufstieg. Daraufhin erhielt ich einen Brief, der mich nach Dünentrutz beorderte. Ruhig hörte er mich an, um dann in seiner gelassenen Art zu sagen: Ich bin ein Dummkopf, Herr Schwerling. Selbstverständlich habe ich den Schmuck durch meinen Freund besorgen lassen. Wie kann man nur so vergeßlich sein! Dann überreichte er mir einen Scheck über die Summe, die ein kleines Vermögen ausmachte. Als ich mich gerade verabschiedet hatte, trug man des Barons Eltern und Schwester ins Schloß – tot. Und noch einen brachte man. Er konnte nicht früher sterben, bevor er dem Freund seine Schuld gebeichtet hatte. Bat, ihm nicht zu zürnen, da er unzurechnungsfähig gewesen sein müßte. Nachdem er wieder klarblickend geworden war, wollte er zum Freund flüchten, nicht daran zweifelnd, daß er bei ihm Verständnis finden würde – in jeder Beziehung. Wollte sich die Baroneß zurückerobern, in treuem, stetem Werben. Doch auf dem Weg nach Dünentrutz nahte sein Verhängnis in Gestalt der Frau, die er nun verabscheute, seitdem sein Rausch verflogen war. Er wies sie von sich. Allein sie hängte sich an seinen Hals. Und gerade da mußte das Auto kommen, das die Baroneß steuerte. Sie sah die Frau am Hals des geliebten Mannes, das vertrug ihr Herz nicht. Sie wurde vor Schmerz halb ohnmächtig, konnte das Lenkrad nicht mehr halten – sie fuhr in den Abgrund. Der Mann stürzte dem Auto nach – und als er das Mädchen tot fand, schoß er sich eine Kugel in die Brust. Nachdem seine Beichte beendet war, bat er den Freund, der Mutter gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Das waren seine letzten Worte. Gnädige Frau, das erschütternde Unglück geschah vor vier Jahren, doch die Verzweiflung des Barons steht mir immer
noch vor Augen. Auch Herr von Lürstädt, der gleichfalls anwesend war, wird sie nicht vergessen können. Wie ein gefällter Baum fiel Krafft von Broede zu Füßen des toten Freundes nieder. Deshalb konnte er auch nicht gleich zu Ihnen eilen, gnädige Frau. Konnte Ihnen Ihren Sohn nicht selbst bringen, da er stundenlang besinnungslos lag. Und als dann, nachdem er gerade das Bewußtsein wiedererlangt hatte, die Frau vor ihm stand, um die all das Furchtbare geschehen war, ließ er sie durch den Diener hinausweisen. Seit der Tragödie ist der Baron ein anderer geworden, dem keine Frau mehr heilig ist. Der sie nimmt, wie sie sich ihm geben. Der den Freund rächt, indem er die Herzen der Frauen bricht. So – nun bin ich am Ende, gnädige Frau. Gott verzeihe mir, wenn ich durch meine Erzählung Unheil angerichtet habe.« In sich zusammengesunken saß die sonst so stolze Frau da – lange. Endlich hob sie den Kopf und sah ihn mit einem Blick an, daß ihm das Herz weh tat. Dann reichte sie ihm die Hand. »Ich danke Ihnen, Herr Schwerling. Sie haben nur recht gehandelt. Mein armer, verblendeter Junge kann in meinen Augen nicht herabgesetzt werden. Allein ich bin nun in der Lage, eine Schuld zu sühnen. Darf wieder ohne Bedenken den Menschen lieben, der mir ein zweiter Sohn war. Darf wieder da lieben, wo ich glaubte, verachten zu müssen. Nun noch eine Frage, Herr Schwerling: Hatte Krafft von Broede nicht schon seinen Verlobungstag festgesetzt?« »Kein Gedanke, gnädige Frau! Alles leeres Gerede. Der Baron ahnte nichts von dem Glück, das ihm bevorstand.« »Nur ich fiel auf das Gerede herein. Wühlte im Schmerz, statt mir Gewißheit zu verschaffen. Sie würden mich verachten, wenn Sie wüßten – « »Ich weiß alles. Deshalb sprach ich ja auch, um Ihnen die Augen zu öffnen. Schmerz macht egoistisch, gnädige Frau. Sonst hätten Sie längst sehen müssen, daß der Mann litt,
der Ihre Liebe verlor.« »Und ich habe gewiß noch mehr gelitten, indem ich Jahre hindurch einsam dahinlebte. Bis meine Nichte kam, da wurde es besser. Also nochmals meinen herzlichsten Dank, Herr Schwerling!« Als Frau von Bruckheim nach Hause kam, lief ihr IlseSibylle angstvoll entgegen. Und oben im lauschigen Gemach, das einst Krafft von Broedes Mutter bewohnt hatte, sprach Frau Marianne zu ihrer Nichte von der Not und dem Leid vergangener Jahre. Gab alles wieder, was sie von dem Juwelier gehört. Ilse-Sibylles Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie umschlang die bewegte Frau mit beiden Armen. »Arme, liebe Tante Marianne!« stammelte sie unter Tränen. Fest zog diese die Nichte an sich, mit glückhafter Gewißheit fühlend, daß sie nicht mehr einsam war. Die See schien bis auf den Grund aufgepeitscht zu sein, so hoben und schoben sich die Wellen empor. Immer mächtiger brausten sie zum Strand, wenn der Sturm sein hohnlachendes Spiel mit ihnen trieb. Die Bäume des Waldes ächzten unter der Gewalt des rohen Gesellen, empörten sich in mächtigem Rauschen. So ging es schon tagelang. Herbststürme! Die liebte Ilse-Sibylle. Hatte das Gefühl, als müßten sie alles hinwegwehen, was ihr das Leben verbitterte. Zum Strand hinuntereilen, sich dort fast umwerfen lassen. Dann mit roten Backen und zerzausten Haaren zurück ins Schloß. Rasch umkleiden, zur Tante stürmen, die schon auf sie wartete im wohlig durchwärmten Zimmer, auf dessen rundem Tisch die Kaffeemaschine traulich sang. Ach ja, diese Stunden waren schön. Sie erschienen IlseSibylle lebenswert. Ebenso wie die, in denen sie mit Lo musizierte. Diese hatte der Base ihre Geige zur Verfügung gestellt, was sie beglückte. Los Geige war wohl nicht sehr kostbar, aber immerhin gut
genug, um mit Freude darauf spielen zu können. Ilse-Sibylle übte fleißig und brachte es bald zu einer Fertigkeit, welche die Base anstaunte. Sie begleitete das Spiel oft auf dem Klavier, seufzte immer herzerbrechend, wenn Ilse-Sibylle unzufrieden mit ihr war. Lehnte sich auch manchmal gegen die bestimmte Art auf, mit der sie belehrt wurde. Wenn sich dann jedoch Frau von Bruckheim und der Verwalter als Zuhörer einfanden, nahm sie sich zusammen. Winfried von Lürstädt hatte immer nur das Schloß betreten, wenn sein Herr ihn zu wirtschaftlichen Besprechungen hinbestellte. Obgleich sie im Krieg Seite an Seite gekämpft hatten, waren sie sich innerlich fremd geblieben, da sie sich beide nur schwer an Menschen anschließen konnten. Krafft von Broede suchte keine Freundschaft, und Winfried von Lürstädt war zu stolz, um sich aufzudrängen. Als der Baron abgereist war, betrat Lürstädt das Schloß überhaupt nicht mehr. Doch Frau von Bruckheim hatte eine Schwäche für den ernsten Verwalter. Immer wieder lud sie ihn ins Schloß ein und setzte dann durch, daß er die Mahlzeiten dort einnahm und die Abende in Gesellschaft der Damen verbrachte. So kam es, daß er auch bei den musikalischen Darbietungen der Basen meist zugegen war. An einem Herbsttag trieb der Sturm es besonders arg. Heulend durchwühlte er die See, schüttelte die Kronen der knorrigen Waldbäume, erschütterte das Geäst. Nur das alte, festgefügte Schloß erschütterte er nicht. Es trotzte dem wilden Gesellen, sah verächtlich auf sein nutzloses Beginnen. Hatte schönere Musik in seinen Räumen als das wilde Lied da draußen. Die junge Herrin des Dünenschlosses, schöner noch geworden denn je zuvor, stand gegen den Flügel gelehnt und führte den Geigenbogen mit zarter Hand. An dem kostbaren Instrument saß die wilde Lo, jetzt eifrig in ihr Spiel vertieft, doch für die Begriffe der Base immer noch nicht aufmerksam genug. Sie ließ den Bogen sinken,
sah sie an mit unwilligem Blick. »Lo, paß bitte besser auf! Du mit deinem großen Talent glaubst flüchtig werden zu dürfen. Dir kommt es nicht darauf an, wenn du einige Noten ganz einfach überspringst. Wenn du so weitermachst, kommen wir über die einfachen Volksweisen nicht hinweg.« Lo ließ die Strafpredigt mit bewundernswerter Sanftmut über sich ergehen. Seufzte nur tief auf, schlug die Augen empor mit Märtyrerblick. »Brahms, Schubert, Mozart, Mendelssohn – das nennt das unschuldvolle Kind einfache Volksweisen!« Die beiden Zuhörer lachten amüsiert. Lo sah zu ihnen hin, anklagend, mitleiderregend – dann zwang sie sich zur gewünschten Aufmerksamkeit. Ließ sich von dem künstlerischen Spiel der Base mitreißen. Voll und weich durchhallten die Töne das Schloß, zogen Spieler und Zuhörer in ihren Bann. Und draußen tobte der Sturm. Regen klatschte gegen die Fensterscheiben mit dicken, peitschenden Tropfen. Die vier Menschen hörten nicht, wie es laut wurde im Schloß. Denn der Gebieter war heimgekehrt, sturmzerzaust, triefend naß, doch mit lachendem Gesicht. »Mach schnell, daß ich ins Bad komme«, wandte er sich an einen alten Diener. »Heinrich ist noch nicht hier.« Der Ermunterte eilte davon, um seinen Kollegen, der den Herrn sonst bediente und ihn stets auf seinen Reisen begleitete, zu vertreten. Als dann der Heimgekehrte wieder in trockener Kleidung steckte, ließ er Frau Lina kommen, die angesichts ihres vergötterten Herrn die Rührung übermannte. »Gott sei Dank, daß der Herr Baron wieder zu Hause sind!« stammelte sie unter Tränen. Er sah sie forschend an. »Hat man dir etwas zuleide getan, Frau Lina?« »I bewahre, Herr Baron! Die Frau Oberst ist die Güte selbst und unsere Frau Baronin einfach ein Engelchen. Nur so traurig ist sie immer und so zart, daß Gott erbarm. Die Frau
Oberst macht sich Sorge um sie, obgleich sie das nicht offen zeigt. Eine Zeitlang war es besonders schlimm, bis dann das Fräulein Lo kam. Da wurde es besser. Der Herr Baron sollten nicht mehr auf so lange Zeit verreisen.« In seinen Augen blitzte es auf. »Hast recht, Frau Lina, es war verkehrt, was ich tat. Doch du sprachst von einem Fräulein Lo? Wer ist das?« »Richtig, der Herr Baron weiß ja noch nichts. Herr Julius Rainer auf Unruh ist der Onkel von unserer Frau Baronin, und das Fräulein Lo ist seine Tochter. Die Basen sehen sich ähnlich wie Schwestern.« Diese Eröffnung überraschte Krafft. Himmel ja, der Unruher Rainer, daß er da nicht gleich eine Verwandtschaft Ilse-Sibylles vermutet hatte! Ihm konnte es recht sein. Er schätzte den aufrechten, biederen Menschen genauso wie den tüchtigen Landwirt in ihm. Die Frau war vornehm, die Tochter wirklich reizend. »Wo ist die Frau Baronin?« erkundigte er sich. »Im Musikzimmer. Sie musiziert mit Fräulein Lo.« Er fragte noch verschiedenes, dann nickte er der Guten freundlich zu und ging zum Musikzimmer. An der Tür blieb er überrascht stehen. Da war ja ein wundervolles Bild, das sich seinen Augen bot. Ilse-Sibylle stand am Flügel, weltentrückt. Weich und dunkel war der Blick ihrer unergründlichen Augen, die sehnsuchtsvoll über das Notenblatt hinwegschauten. Schön war sie geworden, schöner noch als je zuvor. Und am Flügel saß das entzückende Engelsköpfchen, mit geröteten Wangen, strahlenden Augen, die in ergriffenem Eifer auf das Blatt gerichtet waren. Eine Ähnlichkeit zwischen den Basen war vorhanden, zweifellos. Und doch, Ilse-Sibylle war anders. Wie zart ihre Gestalt wirkte, fast zerbrechlich! Und wie jung sie aussah – unglaublich! Aber ein Zug in dem feinen Antlitz war ihm noch unbekannt. Er sprach von Herzensnot und Leid. Und wie beide spielten! Mit gottbegnadetem Talent und feiner Seele.
Die Augen des Mannes hingen an dem bezaubernden Bild mit trunkenem Blick. Da war er in der Welt umhergeirrt, Schönheit und Freude suchend. Glaubte auch oftmals beides gefunden zu haben, bis ihm dann plötzlich wieder alles so schal und leer erschien. Oh – was waren alle Schönheiten da draußen gegen dieses Bild! Heimat – o Heimat! Still stand er, regungslos. Ließ sich von den süßen Tönen einspinnen, bezaubern. Man merkte ihn nicht, der da an der Tür lehnte und unverwandt auf die wunderfeinen Geschöpfe schaute, die dem Märchenland entstiegen zu sein schienen. Erst als die Weisen verstummten, Ilse-Sibylle wie aus einem Traum erwachend den Geigenbogen sinken ließ, da applaudierte er leise. Vier Augenpaare flogen zu ihm hin. »Krafft!« Frau von Bruckheim sprang auf, streckte ihm die Arme entgegen, war nicht fähig, sich von der Stelle zu rühren. Krafft von Broede eilte zu ihr, ließ sich umarmen, staunte über so viel liebevolles Entgegenkommen – wo er doch bis vor Jahresfrist Verachtung und dann kühl-freundliche Höflichkeit erfahren hatte. Er küßte die feinen Hände, die ihm zärtlich über Kopf und Gesicht streichelten. Dann ging sein Blick zu Ilse-Sibylle hin. Entsetzen stand in ihren Augen, weiß war das Antlitz, ohne einen Blutstropfen darin. Er zog die eiskalten Hände an die Lippen, sah sie forschend an. »Ilse-Sibylle, entsetzt dich denn mein Anblick so sehr?« »Nein – o nein, Krafft. Ich bitte dich – « Aufs bitterste enttäuscht wandte er sich ab. Hier war keine Freude über seine Wiederkehr, kein herzliches Willkommen für den fremdemüden Wanderer. Heimat – o Heimat! Augenblicklang stand er regungslos, als müßte er sich erst sammeln.
Dann wandte er sich an die junge Dame, die ihn in
unverhohlener Neugierde betrachtete.
Hastig machte Ilse-Sibylle sie miteinander bekannt:
»Das ist meine Base, Elisabeth-Charlotte Rainer, der
Einfachheit halber Lo genannt. Ihr Vater ist der Bruder des
meinen. Ihm gehört Unruh.«
Krafft zog das Händchen der neuen Base an die Lippen.
»Das ist ja ein allerliebster Verwandtenzuwachs,
entzückendstes aller Bäschen. Hoffentlich sehen wir dich
recht oft in Dünentrutz, Lo. Ich darf dich doch so nennen?«
»Aber natürlich!« rief sie begeistert. »Ich habe nicht
geglaubt, daß Sie so prima sind.«
»Du – wenn ich bitten darf.«
»Du – entzückend finde ich das! Weißt du auch, Krafft von
Broede, daß es eine Zeit gab, wo ich dich bis zum Sterben
heimlich liebte?«
»Liebte – kleine Lo?«
»Selbstverständlich nur noch Vergangenheit.«
»Wie schade!« bedauerte er.
»Das kann ich nicht finden. Was sollte ich wohl mit dieser
höchst überflüssigen Liebe auf die Dauer anfangen?
Außerdem würde mir Ilsibyll vor Eifersucht die Augen
auskratzen.«
Eine ironische Bemerkung lag ihm auf der Zunge, die er
jedoch unterdrückte, als er der Gattin blasses Gesicht sah.
Er begrüßte nun den Verwalter.
»Nun, mein Getreuer, hat man mich sehr vermißt?« fragte
er spöttisch.
»Doch, Herr Baron«, kam die Antwort tiefernst. »Wo der
Herr fehlt, sind die Herzen verwaist.«
Durchdringend ruhte Kraffts Blick auf ihm, dem Winfried
offen und frei standhielt.
Nur zögernd folgte der Baron der Bitte der Tante, sich an
ihre Seite zu setzen.
»Krafft, Junge, wo kommst du so plötzlich her? Wir hatten
keine Ahnung, daß wir dich jetzt schon erwarten durften.«
»Sonst hätten wir Girlanden geflochten zum Willkomm«,
warf er mit einer Stimme ein, in der unverkennbare Bitterkeit mitschwang. »Aber mir ist ein herzliches Wort, ein lieber Blick mehr wert als jede mühevoll geflochtene Girlande. Na ja – « sprach er dann in gewohnter Gelassenheit weiter. »Ich verspürte in der Sommerherrlichkeit da draußen plötzlich unbezähmbare Sehnsucht nach unseren Herbststürmen. Unverzüglich trat ich die Heimreise an. Und je näher ich meinem Ziel kam, um so ungeduldiger wurde ich. Auf unserer Bahnstation verließ ich den Zug, um den Weg nach Dünentrutz zu Fuß zurückzulegen. Herrlich war es, sich wieder einmal von dem herzerquickenden Sturm durchschütteln zu lassen. Geregnet hat es auch dabei. Ich sage euch, wenn man monatelang in der Fremde war, dann weiß man die Heimat erst richtig zu schätzen.« Wie unbeabsichtigt sah er zu Ilse-Sibylle hin, die sich nun so weit gefaßt hatte, daß sie ruhig erscheinen konnte. Wenigstens äußerlich; denn in ihrem Inneren tobte und brandete es wie die aufgewühlte See draußen. Nun er wiedergekehrt war, sie seine bestrickende Persönlichkeit vor sich hatte, seine tiefe, herrische Stimme hörte -. Nein, mit ihrer Liebe wurde sie nie mehr fertig! Es war für sie schon ein Glücksgefühl ohnegleichen, dieser dunklen Stimme zu lauschen. Früher als sonst zog man sich heute zurück. Doch Frau von Bruckheim suchte dann Krafft in seinem Arbeitszimmer auf, der gerade vor den Bildern stand, als sie eintrat. Sie war so bewegt, daß sie zuerst nicht sprechen konnte, ihm nur beide Hände entgegenstreckte. Er ergriff sie in der zarten Art, die man nicht oft an ihm zu sehen bekam. Wieder trat der verwunderte Ausdruck in sein Gesicht. »Krafft – daß ich noch einmal so vor dir stehen würde, hätte ich nie gedacht«, brachte sie endlich mühsam hervor. »Wie soll ich das verstehen, Tante Marianne?« »War das richtig, mein Junge, daß du mich bei der Tragödie vor vier Jahren im unklaren ließest – meine Verachtung
stillschweigend duldetest? Wie stehe ich nun vor dir da!« Tiefes Erschrecken zuckte in seinen Augen auf. Die Falte des Unwillens grub sich in seine Stirn. »Ganz verstehe ich dich immer noch nicht, Tante Marianne. Ahne jedoch – « »Und ahnst gewiß richtig, Krafft. Während deiner Abwesenheit erfuhr ich Ausführliches über Burkhards Tod.« »Wer hat es gewagt, darüber zu sprechen?! Soviel ich weiß, ist nur Lürstädt noch eingeweiht. Er gab mir sein Wort.« »Das er auch gehalten hat«, warf sie beschwichtigend ein. »Ich habe wohl versucht, den wahren Sachverhalt von ihm zu erfahren. Doch er bedauerte, nicht sprechen zu dürfen, da sein Wort ihn binde. Ich glaube, ich hätte eher einen Stein erweichen können als den Mann. Aber ein anderer wußte auch noch Bescheid, der sich nicht zum Schweigen verpflichtet hatte.« Krafft atmete erleichtert auf, doch dann wurde er wieder ärgerlich. »Dann kann es nur Herr Schwerling sein, dem ich sein Wort allerdings nicht abnahm. Wie hätte ich auch ahnen können, daß dieser sonst so korrekte Mann nicht den Mund halten könnte!« »Du tust ihm unrecht, mein Junge. Er sprach nur, weil er einsah, daß nur die volle Gewißheit mir meine Unruhe nehmen könnte.« Heftig fuhr er auf. »Schöne Beruhigung, wenn man einer Mutter von ihrem toten Sohn Dinge erzählt, die sie kränken, ihr weh tun müssen!« »Und doch hat es mich beruhigt, Krafft. Mein armer Junge kann dadurch in meinen Augen nicht herabgesetzt werden, da kennst du ein Mutterherz schlecht. Die Aufklärung gab mir jedoch die Möglichkeit, gutzumachen, wo ich mich schwer versündigte.« »Tante Marianne, ich bitte dich!« unterbrach er sie wieder mit rauher, gepreßter Stimme. »Es fehlt nur noch, daß du mich um Verzeihung bittest.«
»Was ich tun muß und tun werde.« »Quäle mich doch nicht so entsetzlich!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Ich kann dich nicht so vor mir sehen. Du ahnst ja nicht, was du meinem Herzen warst und noch immer bist.« »Krafft, ich war feige, vier Jahre hindurch. Jetzt muß ich wenigstens den Mut aufbringen, diese erbärmliche Feigheit zu bekennen. Ohne den richtigen Sachverhalt zu kennen, verurteilte ich dich, marterte durch unnachsichtige Strenge mein Herz, das noch immer für dich schlug. Das sich an dich klammern wollte, der du mir ein zweiter Sohn warst. Glaube mir, mein geliebter Junge, es ist bitter schwer, da plötzlich verachten zu sollen, wo man einst liebte. Ich zwang mich zu dieser Verachtung, stachelte meinen Schmerz fanatisch auf. Machte mich dadurch einsam, steigerte mich in eine unglaubliche Bitterkeit hinein. So ging es, bis Ilse-Sibylle kam. Ich nahm das mir damals fremde Mädchen auf, weil ich nicht haben wollte, daß die Tochter meiner Schwester sich in untergeordneter Stellung ihr Brot verdiente. Sehr mißtrauisch war ich zuerst, weil Ilsibyll ihrem leichtsinnigen Vater so sehr ähnlich sieht. Doch je länger ich sie um mich hatte, um so lieber wurde sie mir. Ohne es zu wollen, klopfte dieses feine, sensible Kind so lange an mein Herz, bis die harte Kruste, die Schmerz und Bitterkeit darum geschmiedet, zu schmelzen begann. Fortan wurde ich weicher, versöhnlicher. Ich beschäftigte mich in Gedanken viel mit dir. Zweifel stiegen auf, verdichteten sich. Ach, Krafft, wieviel habe ich dir abzubitten! Du kannst mir ja unmöglich verzeihen.« Flehend sah sie zu ihm auf, der nun ihre Hände ergriff und sie gegen seine Augen preßte. Seine kräftige Gestalt zitterte vor Erregung. »Tante Marianne, wenn du glaubst, gutmachen zu müssen, dann laß es genauso zwischen uns werden, wie es erstmals war. Willst du das?«
Mit Tränen in den Augen zog sie ihn an ihre Seite auf das Sofa nieder. Streichelte seinen Kopf, küßte sein Gesicht, konnte nicht genug tun, ihm ihre Liebe zu zeigen. Dann plauderten sie miteinander lieb und vertraut. Bis er dann fragte: »Was ist mit Ilse-Sibylle, Tante Marianne? Vor meiner Reise war sie schon unzugänglich, doch jetzt erscheint sie mir völlig unnahbar. Dazu ist sie von erschreckender Zartheit.« »Auch daran bin ich schuld«, seufzte sie. »Am dritten Todestag Burkhards sprach ich mit ihr über dich ganz so, wie meine Verbitterung es mir eingab. Danach fiel mein Urteil über dich aus. Wie mir Ilsibyll am Abend nach dem Ball erzählte, hat sie dir dann in der Jägerhütte ihre Verachtung gezeigt, dich unerhört beleidigt. Und darüber kann sie nun nicht hinwegkommen. Es ist ihre feste Überzeugung, daß du sie nur geheiratet hast, weil sie meine Nichte ist, und sie bezeichnet nun alles, was sie von dir erzählt, als Almosen. Fühlt sich immer noch als Gast, nicht als rechtmäßige Herrin von Dünentrutz – weil eure Ehe ihrer Ansicht nach nichts weiter als eine – Farce ist.« »Ich glaube nicht, daß ich ihr jemals Veranlassung dazu gegeben habe, derartiges anzunehmen«, entgegnete er unwillig. »Einesteils hat sie allerdings recht. Wäre sie nicht deine Nichte, hätte ich von dieser Heirat trotz allem absehen müssen. Denn ich bin ja nicht eigener Herr in meinen Entschlüssen. Bin an Traditionen gebunden. Aber da sie nun meine Frau ist, darf sie sich nicht mit Hirngespinsten herumschlagen, sondern soll lieber ihrer Herrenpflicht nachkommen, wie ich sie von ihr verlange. Zum Kuckuck, geht es ihr hier nicht gut? Ein besseres Leben kann ihr so bald kein anderer Mann bieten!« »Ich verstehe deinen Unwillen, Krafft«, meinte die Tante bedrückt. »Wäre es da nicht besser, wenn ihr euch jetzt schon trennen wolltet?« »Damit auch du noch Dünentrutz verläßt!« lachte er bitter auf. »Ich bin glücklich, dich endlich bei mir zu haben.«
»Und ich bin glücklich, hier zu sein, mein lieber Junge. Aber ich darf Ilse-Sibylle nicht im Stich lassen. Verstehst du das?« »Nein!« Das kam so schroff heraus, daß sie hastig das Gespräch wechselte. Sie fragte nach seinen Reiseerlebnissen, doch da er keine Lust zu haben schien, darüber zu sprechen, wünschte sie ihm bald eine gute Nacht und zog sich in ihre Zimmer zurück. Krafft durchschritt sein Schlafzimmer und betrat das der Gattin. Das matte Licht einer Ampel erhellte den luxuriösen Raum. Und auf dem Bett lag Ilse-Sibylle, hatte das Gesicht in die Kissen gedrückt und schluchzte verzweifelt. Sie war so aufgelöst in ihrem Jammer, daß sie nicht bemerkte, als der Gatte das Gemach betrat. Erst als sie emporgehoben wurde, schrak sie zusammen – wich entsetzt zurück. »Krafft, du versprachst – « »Selbstverständlich, ja – «-winkte er unwillig ab. »Und was ich verspreche, das pflege ich auch zu halten. Es steht jedoch nicht in unserer Vereinbarung, daß ich deine Zimmer nicht betreten darf. Ich werde es immer wieder tun, wenn ich dich so verzweifelt schluchzen höre. Du tust ja so, als wärest du das unglücklichste Geschöpf unter der Sonne. Fehlt dir etwas? Sage doch dann zum Donnerwetter, was dich quält! Hast du ein Leid, eine verlorene Liebe? Bin ich nicht lange genug fortgewesen, soll ich noch einmal von hier gehen?« Mit gesenktem Kopf hatte sie seine ärgerlichen Worte über sich ergehen lassen. Doch bei den letzten hob sie ihn hastig. »Wie käme ich wohl dazu, dich aus deinem Hause zu vertreiben?« stammelte sie. »Das tust du aber, wenn du dich weiter so benimmst. Glaubst du etwa, daß es ein angenehmes Gefühl für mich ist, zu wissen, daß meine Frau sich unglücklich an meiner
Seite fühlt?« »Krafft, du beurteilst mich falsch.« »Ja, um Himmels willen, wie soll man dich wohl richtig beurteilen, wenn du dich so verschließt? Hast du einen Wunsch?« »Ich – ich möchte fort von Dünentrutz.« Es zuckte in seinem Gesicht, doch nur augenblickslang. »So. Und dürfte man fragen, warum?« »Das fragst du wirklich?« rief sie atemlos. »Ja, weil ich deinen Launen nicht folgen kann.« Sein fatales, nachsichtiges Lächeln brachte sie um ihre mühsam aufrechterhaltene Ruhe. Sie sprang auf, stand nun vor ihm, erzürnt und sinnverwirrend schön. Die Augen sprühten in dem weißen Antlitz. »Mach dich auch noch über mich lustig!« rief sie in leidenschaftlicher Heftigkeit. »Als wenn du nicht wüßtest, daß ich von dir, gerade von dir, keine Wohltaten entgegennehmen mag! Ich will nicht von jenem Reisetag sprechen, obgleich nicht jeder so vornehm gehandelt haben würde wie du. Auch nicht von der Stunde, da du mich von den Dünen auflasest – und als Dank dafür dich schweigend von mir beleidigen ließest. Das sind Lappalien gegen das, was nachher kam. Deine ganze Person setztest du ein, um meinen Ruf zu retten – weil ich die Nichte Frau von Bruckheims bin. Zuerst glaubte ich, daß du mit dieser großmütigen Tat ein wenig Schuld gegen sie sühnen wolltest. Aber seitdem ich den Irrtum der Tante kenne, weiß ich, daß du dieser verehrten Frau noch ganz andere Opfer bringen würdest. Weil dir nun das Leben an meiner Seite unerträglich wurde, flohest du aus deinem eigenen Heim. Ahnst du denn gar nicht, wie mich das alles demütigen muß?!« Er schaute zu ihr hin, unentwegt, während sie die Worte hervorstieß in bebender Hast. Dann griff er nach ihren eiskalten, zitternden Händen und zog sie daran zu sich auf den Diwan, auf dem er saß.
»Wie du dich erregst, du hochmütiges Kind!« sagte er grollend. »Was soll ich denn ahnen? Deine Überempfindlichkeit? Die ahne ich nicht nur, die bekomme ich recht deutlich zu spüren. Und nun werde endlich einmal vernünftig und bezeichne nicht das, wozu ich dir gegenüber verpflichtet bin, mit dem unerhörten Wort ›Wohltaten‹. Vergiß vor allen Dingen die sogenannten Beleidigungen, die du mir damals zugefügt haben willst. Das sprach nämlich nur für dich, mein eigenwilliges Kind. Denn einen solchen Mann, wie ich es nach deiner Annahme sein sollte, hätte auch ich verachtet. Da also war eine – Wohltat. Und die nächste, die dich zur Herrin von Dünentrutz machte? Daß du die Nichte der Frau von Bruckheim bist, erleicherte den Fall allerdings erheblich. Denn jedes Mädchen könnte ich der Tradition unseres Hauses gemäß nicht heiraten. Nun Wohltat Nummer drei: Ich floh vor dir aus meinem eigenen Hause? Ich wünschte, daß ich so zartfühlend und rücksichtsvoll sein könnte. Beruhige dich nur, so leicht laufe ich nicht davon. Es sei denn, meine Frau wäre häßlich wie die Nacht, was du von dir beim allerbesten Willen nicht behaupten kannst. So, das wären also drei Wohltatspunkte, die mir bei jeder Gelegenheit vorgehalten werden bis zum Überdruß. Und was die jetzigen Wohltaten anbetrifft Liebes Kind, du bist meine Frau, das wenigstens wirst du nicht ableugnen können. Fahre nicht auf, kleine Mimose! Ich weiß schon, was du sagen willst, von wegen nur zum Schein, und so weiter. Das ändert jedoch die Tatsache nicht, daß ich für dich zu sorgen verpflichtet bin. Verstehe recht, du stolzes Kind – verpflichtet. Wenn du das nicht glauben willst, lies im Bürgerlichen Gesetzbuch nach, Paragraph soundsoviel. Ist dir nun alles klar? Nein? Warum nicht?« »Mir ist nur klar, daß ich auf die Dauer nicht weiter so leben kann. Daß irgend etwas geschehen muß, um diesen haltlosen Zuständen ein Ende zu setzen. Willst du mir
vielleicht sagen, wie langes du diese Ehe aufrecht zu erhalten gedenkst?« »So lange, bis du mir mit stichhaltigen Gründen kommst, die eine Lösung der Ehe rechtfertigen.« »Sind meine Gründe etwa nicht stichhaltig genug?« »Nein. Die du anführst, sind nichtig und kleinlich. Wenn du von mir gehst, was willst du denn beginnen? Du kennst doch Tante Mariannes Verhältnisse und weißt daher, daß sie von den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, allein nur schlecht und recht leben kann. Wenn sie dich noch mit unterhalten muß, wird es ein Dasein voller Entbehrungen.« »Ich brauche ja nicht bei Tante Marianne zu bleiben«, entgegnete sie abweisend. »Ich kann mir meinen Lebensunterhalt recht gut allein verdienen.« »Womit?« »Als Gesellschafterin.« Er lachte so amüsiert, daß Empörung in ihr hochstieg. »Dich scheint ja sehr zu erheitern, was andern Menschen schlaflose Nächte verursacht!« rief sie aufgebracht. »Sei mir nicht böse, Ilse-Sibylle«, sagte er, immer noch lachend. »Ich stelle mir nur vor, wie du dich in solcher Stellung ausnehmen würdest. Schon dein Äußeres würde sich vortrefflich dazu eignen. Außerdem ist die Baronin Broede auf Dünentrutz auch dazu da, um sich von schrulligen Dämchen schlecht behandeln zu lassen.« Unter seinem spöttischen Blick errötete sie heiß. Wohin verirrte sie sich nur in ihrer Haltlosigkeit! Sie wußte ja selbst am wenigsten, was sie eigentlich wollte. Gewaltsam würgte sie die Tränen hinunter, die aufsteigen wollten aus angsterfülltem Herzen. Wie sie sich verachtete, daß sie gegen dieses Herz nicht aufkommen konnte! Willenlos ließ sie ihm ihre Hände, die er erneut ergriff. »Höre einmal genau zu, was ich dir sagen werde, du törichtes Kind«, sprach er mit seiner dunklen Stimme, die ihr Herz ganz und gar in Aufruhr brachte. »Ich war einsam über drei Jahre, Ilsibyll. Wenn ich durch das Schloß ging, hörte ich meine eigenen Schritte in der tiefen Einsamkeit.
Ich setzte mich allein an den Tisch, saß abends allein in meinem Zimmer. Ich lebte niemand zur Freude, niemand brauchte mich. Wenn ich auch nicht der Mensch bin, der daran zugrunde gegangen wäre, so bin ich jedoch nicht ganz gefühllos, weiß ein trautes Familienleben wohl zu schätzen. Wenn ich sonst von meinen Reisen zurückkehrte, empfing mich tiefste Einsamkeit. Niemand war da, den meine Rückkehr freute. Wie anders war es heute, und wie anders ist es überhaupt, seitdem du in Dünentrutz weilst! Nun habe ich doch jemand, den ich verwöhnen kann, der zu mir gehört. Willst du mich nun wieder in die Einsamkeit zurückstoßen, die ich jetzt doppelt schmerzlich empfinden müßte?« »Gewiß nicht, Krafft«, entgegnete sie hastig. »Das hast du wahrlich nicht um mich verdient.« »Ich spreche nicht von Verdienst, Ilsibyll. Wenn du mir durchaus danken willst für das, was ich für dich tat, dann fühle dich in meinem Hause wohl. Bringe Dünentrutz die Sonne und den Frohsinn wieder, die aus ihm geschwunden sind. Dann vergiltst du mir alles zehnfach – nein, tausendfach. Sieh, du eigenwilliges Kind, von mir willst du nichts annehmen. Verschmähst das Geld, das du als meine Frau zu beanspruchen hast. Trugst noch nie eines der Kleider, die ich dir schenkte. Wo ich dir doch von meinem Überfluß gebe, während du dir Tante Mariannes Opfer mit Selbstverständlichkeit gefallen läßt.« »Opfer?« »Ja, Ilsibyll. Um dir eine gute Garderobe zu verschaffen, verkaufte sie ihren Schmuck, der ihr doppelt wertvoll war, da sich Erinnerungen daran knüpften – « Sie sah ihn so entsetzt an, daß er beschwichtigend über ihre Augen strich. »Krafft, du mußt mir glauben, wenn ich dir sage, daß ich von dem Opfer nichts gewußt habe!« flehte sie, und er atmete tief auf.
»Das sagte mir schon die Tante. Sonst – ja, sonst hätte ich irre an dir werden müssen. Zum Glück kam ich hinter ihre selbstlose Tat und habe die Sachen immer gleich zurückgekauft. Also, Ilse-Sibylle, laß dir von Tante Marianne nicht so viel schenken. Sie tut es unter Zurücksetzung der eigenen Person.« »Oh, Krafft, wie schrecklich ist das alles!« stammelte sie, erschüttert über so viel Selbstlosigkeit. »Welche Sorge mache ich nur der Tante und auch dir!« »Nun, ich werde mit deinem schwierigen Charakter schon fertig. Aber die Tante – ja, die macht sich wohl Sorgen um mich. Daher mußt du weniger an dich, sondern mehr an sie denken. Darfst nicht zur Egoistin werden durch dein uns unbekanntes Leid. Ich habe sie heute gebeten, ganz in Dünentrutz zu bleiben, was sie mit Freuden annehmen würde, wenn die Sorge um dich sie nicht quälte. Wenn du von hier gehst, dann geht sie mit dir. Denn sie liebt dich mehr, als dir dienlich ist, mein Kind.« Ilse-Sibylle senkte den Kopf. Tränen liefen über ihr Gesicht, tropften auf die im Schoß verschlungenen Hände. Sie kam sich schlecht und undankbar vor. Hatte sie denn so viel Nachsicht verdient? Nein, gewiß nicht! »Nun, Ilse-Sibylle«, klang nun seine dunkle, weiche Stimme wieder auf. »Waren meine Worte umsonst gesprochen? Willst du immer noch fort von Dünentrutz?« Zaghaft hob sie den Kopf. Ihre tränenverdunkelten Augen suchten die seinen, in denen nun ein so weicher Ausdruck lag, der ihr Herz aufwühlte bis in die tiefsten Tiefen. Sie mußte ihren Blick aus dem seinen lösen, wenn sie sich nicht verraten wollte. Unendlich traurig klang es, als sie sagte: »Wenn es so ist, dann bleibe ich natürlich – bis – ja, bis du mich selbst gehen heißt. Denn auch du darfst nicht so selbstlos sein, Krafft. Mußt auch an deine Pflichten denken, die du Dünentrutz gegenüber hast. Darfst sie aus Ritterlichkeit nicht übergehen. Willst du mir versprechen, offen und ehrlich zu sagen – wenn – wenn ich gehen soll?«
»Das verspreche ich dir, Ilse-Sibylle«, entgegnete er fest. »Ilse-Sibylle, nun wird es langsam Zeit, daß wir mit unserer Besuchstour beginnen. Wir sind schon länger als ein halbes Jahr verheiratet, und immer noch nicht habe ich dich ausgeführt. Man hat mich im Verdacht, daß ich dich barbarisch knebele und knechte, dich von der Welt abschließe in toller, blinder Eifersucht. Da muß ich mich doch zu rechtfertigen versuchen. Meinst du nicht auch?« Ilse-Sibylle sah unangenehm berührt von ihrem Buch auf. Was kam nun schon wieder? Daß sie gegen seinen Spott doch immer gewappnet sein mußte, sich nicht daran gewöhnen konnte! »Wenn du meinst, daß es erforderlich ist, Besuche zu machen, dann füge ich mich selbstverständlich«, sagte sie. »So – ach! Eigentlich habe ich doch eine fügsame Frau. Nie lehnt sie sich gegen meine Wünsche auf geht jeder Meinungsverschiedenheit aus dem Wege. Mehr kann ich doch wirklich nicht verlangen. Nicht wahr, Tante Marianne?« »Kannst du auch nicht«, bestätigte diese lächelnd. »Nur finde ich zu viel Fügsamkeit unklug. Sie verdirbt den Charakter des Partners, macht ihn selbstbewußt in übertriebenem Maße und herrschsüchtig.« »Womit du mich doch nicht womöglich meinst?« protestierte Krafft lachend. »So ein wenig doch«, war die neckende Erwiderung. »Aber beruhige dich, es fällt bei dir nicht auf.« Ilse-Sibylle hörte das alles mit Erbitterung. Warum konnte sie ihm niemals denselben Umgangston bieten wie die Tante? Wie einfach wäre dann alles gewesen, wie schön und leicht! Jetzt sprach er wieder zu Ilse-Sibylle, wobei der Spott in seinen Augen blitzte: »Also wollen wir uns morgen auf den Weg machen, um die Neugierde unserer Mitmenschen nicht immer weiter so grausam auf die Probe zu stellen. Sie brennen nämlich darauf, meine blendend schöne, entzückend feine,
unerhört charmante, königlich stolze, lilienzarte Gattin aus der Nähe bewundern zu dürfen – « »Höre endlich auf!« ließ sich ihre Empörung nun nicht mehr meistern. »Aber nicht doch, Kindchen!« sprach er lächelnd weiter. »Meine Worte dürfen dich gar nicht entrüsten. Alle die soeben gesagten netten Sachen sind Komplimente, die ich laufend über meine Frau zu hören bekomme. Vielleicht haben die Menschen gar nicht unrecht, wenn sie mich für einen vom Glück verfolgten, vom Schicksal unerhört bevorzugten Mann halten.« »Krafft, wenn du jetzt nicht aufhörst, dann treibst du mich aus dem Zimmer!« Immer mehr drohte Ilse-Sibylle ihre Beherrschung zu verlieren. Fast schwarz erschienen die Augen mit dem zürnenden Blick. Die Nasenflügel vibrierten vor unterdrücktem Weinen. So durfte er sie doch nicht verspotten – so doch nicht! Das hielt sie einfach nicht aus! Hochmütig warf sie den Kopf in den Nacken. »Wer kann dafür, daß deine Ehe nicht so ist, wie die Menschen vermuten? Ich gewiß nicht! Ich hätte schon längst einer anderen Platz gemacht, mit der du glücklich werden könntest. Aber du hältst mich ja – « »Und ich werde dich auch weiter halten, mein hochmütiges Kind, verlaß dich drauf!« »Dann beklage dich nicht und spotte nicht in dieser unerhört arroganten Weise!« zitterte sie vor Erregung, die sie krampfhaft zu unterdrücken versuchte. Wenn er doch endlich schweigen wollte! Aber da sprach er bereits wieder: »Ich habe bei dem weiblichen Geschlecht fast immer die Beobachtung machen müssen, daß es sich überschätzt. Bei dir jedoch fehlt diese Eigenschaft vollkommen – du unterschätzt dich. Also, abgemacht, fangen wir denn morgen mit den Besuchen an. Und wenn wir sie hinter uns haben, geben wir anschließend ein Fest. Du brauchst mich nicht so
entsetzt anzusehen. Deine Befürchtung, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein – übrigens wieder eine Unterschätzung deiner Person – ist unnötig. Du hast weiter nichts zu tun, als durch deine Anwesenheit dem Fest die rechte Weihe zu geben. Dazu bist du da. Denn Herinnenwürde umschließt auch Herinnenpflichten.« Das klang so fest und abschließend, daß sie darauf nichts mehr zu erwidern wagte. Außerdem warnten seine Augen, die wie bläuliches Eis glitzerten, ihn nicht noch mehr zu reizen. Frau Marianne bangte vor der Stunde, in der Krafft erklären würde, daß er sich eine andere Gattin erwählt hätte. Dann würde Ilse-Sibylle erst ermessen können, was sie verloren, wieviel sie sich durch ihren Starrsinn verscherzt hatte. Mochte sie zehnmal einen anderen lieben, besser als Krafft von Broede konnte er bestimmt nicht sein. Sie schrak zusammen, als der Fernsprecher anschlug. Krafft nahm das Gespräch entgegen und lachte, als er den Hörer auf die Gabel legte. »Lo kommt mit ihren Eltern zu einem Plauderstündchen.« Ilse-Sibylle atmete auf. Kraffts Verstimmung war vorüber. Kaum hatte Lo das Schloß betreten, war es auch schon mit Frohsinn und Lachen erfüllt und alle Schatten waren gewichen. Schloß Dünentrutz erstrahlte im hellen Lichterglanz, wie zu Zeiten, als das Unglück noch keinen Einlaß darin gefunden hatte. Krafft von Broede hatte es schon immer verstanden, Feste zu feiern, doch diesmal übertraf er sich selbst. Er kümmerte sich bei der Vorbereitung um jede Kleinigkeit, so daß für Frau Marianne und Ilse-Sibylle kaum etwas zu tun übrigblieb. Frau Lina war ganz in ihrem Element. Sie schwang ihr Zepter resolut in Küche und Keller. Gottlob, es wurde wieder so wie zu Zeiten der seligen Herrschaften! Kein Leben war es in all den Jahren gewesen, in denen ihr Krafftchen sich von allem Verkehr abgeschlossen hatte. Er
war ja immer noch nicht wie früher, o bewahre! Aber er konnte doch wenigstens schon wieder lachen. Und das hatte die Frau Baronin zuwege gebracht. Dafür schloß Frau Lina sie immer fester in ihr gutes Herz. Sie könnte freilich anders sein, nicht so ernst. Ob ihr etwas fehlte? Denn so ein junges, schönes Blut, dazu Herrin von Dünentrutz, einen so seelenguten, vornehmen Gemahl. Ein so bevorzugtes Menschenkind mußte sich nach Frau Linas Ansicht freuen wie ein Vöglein auf dem Ast, mußte singen und jubilieren den ganzen Tag. Ilse-Sibylle hatte keine Ahnung, daß dieses von ihr verlangt wurde. Eben befand sie sich wohl schon eine Stunde unter den Händen der Zofe, die ihren Ehrgeiz darein setzte, die Herrin noch schöner als schön herauszustaffieren. Diese ließ das alles geduldig über sich ergehen. Ihr war es wirklich gleichgültig, wie sie aussah. Aber Krafft nicht. Und das war ausschlaggebend. Endlich hatte Lilly ihr ehrgeiziges Werk geschafft und berauschte sich nun förmlich an dem Anblick ihrer wunderschönen Herrin. Als der Herr eintrat, hingen die Augen des Mädchens bangfragend an seinem Gesicht. Doch als er, nachdem er die Gattin scharf gemustert, ihm freundlich zunickte, trollte es beglückt von dannen. Nun trat er zu Ilse-Sibylle, zog ein Etui aus der Tasche seines Fracks, ließ es aufspringen, und die junge Frau sah wie gebannt auf das herrliche Schmuckstück. Sie muckte nicht, als er es ihr um den Hals legte, hatte sich schon längst abgewöhnt, gegen seine Geschenke zu protestieren, weil es einfach nicht gehört wurde. Galant reichte er ihr den Arm. »Komm, kleine Mimose, stifte heute nicht zu viel Unheil! Hab Erbarmen mit armen, schwachen Männerherzen!« An seiner Seite betrat sie den prunkvollen Saal, wo die Tante bereits anwesend war. Ungemein distinguiert wirkte die hohe Gestalt, dazu viel jünger als ihre Jahre. Ilse-Sibylle wunderte sich, wie schon so oft, daß die Tante
nicht wieder geheiratet hatte. Sie konnte es gewiß noch mit mancher Jungen aufnehmen. Die Augen Frau von Bruckheims hingen wiederum an der Nichte. Wie sinnverwirrend schön das Kind war! Ihr schwoll das Herz vor Stolz. Sie konnte Krafft nicht begreifen, der von so viel zaubersüßer Schönheit unberührt zu sein schien. Die Gäste trafen nun nacheinander ein. Ilse-Sibylle begrüßte sie in vorbildlicher Haltung. Wie diese Menschen sie kalt ließen, deren diskret-neugierige Blicke sie über sich ergehen lassen mußte! Doch plötzlich strahlten ihre Augen auf in heller Freude. Ein Herr war eingetreten, der sofort umringt wurde, bis der Gastgeber ihn protestierend befreite und ihn der Gattin zur Begrüßung zuführte. »Hier bringe ich dir einen berühmten Gast.« »Hartmut!« »Ilsibyll!« Es war eine Wiedersehensfreude, die ihnen nur so aus den Augen lachte. Die Art, wie er ihre Hand an die Lippen führte, ließ auf Vertrautheit schließen. »Ilsibyll, liebes, süßes Mädchen, wie kommst du in diese feudale Umgebung?« hielt er noch immer ihre Rechte fest, die sie ihm hastig entzog. »Mein Mann-«, zeigte sie auf Krafft, der neben ihr stand und sich sehr ablehnend verhielt. In Dr. Vehrs Augen blitzte es überrascht auf, dann neigte sich seine sehnige Gestalt formell. »Oh, Verzeihung, Frau Baronin, ich wußte nicht – « »Aber Hartmut, ich bitte dich!« unterbrach sie ihn lachend. »Das ändert doch nichts an unserer Freundschaft. Du mußt mir nachher erzählen, wo du so plötzlich herkommst. Ich hielt dich für verschollen.« Nun lachte der Mann auf, ein warmes Jungenlachen. »Das war dumm von dir, Ilsibyll. Du kennst mich doch und mußt daher wissen, daß ich nicht so leicht totzukriegen bin.«
Krafft von Broede stand dabei und wunderte sich über seine Frau. Sie war ja gar nicht wiederzuerkennen! Ihre Augen strahlten, ihr Mund lachte. Dabei sprach sie so lebhaft, wie er es noch nie von ihr gehört. Ebenso verwundert waren Frau von Bruckheim und Rainers. Den anderen fiel die plötzliche Veränderung nicht auf, da sie die Gastgeberin ja nicht kannten. »Sieh nur, Tante Marianne, das ist Hartmut Vehr«, erklärte sie ihr, die beunruhigt näher trat. »Die Häuser unserer Eltern lagen nebeneinander, wir waren unzertrennlich.« »Was uns nicht abgehalten hat, uns ab und zu gehörig zu prügeln«, ergänzte er fidel, sich dabei vor der Dame verbeugend in seiner weltgewandten Art. »Ilsibyll war nämlich eine Tyrannin, und wenn ich unter ihrem Joch rebellisch werden wollte, dann verprügelte sie mich.« »Glaube ihm das doch nicht!« lachte Ilsibyll hellauf. »Er übertreibt von jeher schrecklich, scheint sich in der Beziehung nicht geändert zu haben.« »Auch du hast dich nicht verändert«, stellte er fest. »Bist immer noch der lustige Kobold geblieben. Hätte ich jedoch gewußt, daß du eine so sinnverwirrende Schönheit werden würdest, ich hätte – « »Nun, was hättest du?« »Sag ich nicht!« neckte er. Ein Diener, der meldete, daß angerichtet war, machte dieser frohen Unterhaltung ein Ende. Darüber war IlseSibylle gar nicht entzückt. Nun mußte sie unter fremden, gleichgültigen Menschen sitzen und hätte dem Freund doch so viel zu erzählen gehabt! Doch sie hatte Glück. Dr. Vehr saß ihr schräg gegenüber, so konnte sie wenigstens sein lachendes Gesicht sehen. Auch Krafft von Broede saß ihr gegenüber. Doch heute fiel ihr gar nicht auf, wie hart und undurchdringlich sein Gesicht war. Sie hatte auch keinen Blick für die Tante, die sie scharf beobachtete. Von allem merkte Ilse-Sibylle nichts. Ihre Blicke kreuzten sich immer wieder mit denen des Jugendfreundes.
Dabei vergaß sie jedoch ihre Herrinnenwürde nicht. Man war allgemein entzückt über so viel Schönheit, Grazie und angeborene Vornehmheit. Sehr ernst und verschlossen sollte sie sein? Das konnte doch kaum stimmen. Unnahbar, ja, das war sie wohl. Sie hatte etwas in ihrer Art, das eine unsichtbare Schranke um sie bildete, sofern sie es wünschte. Man fand auch, daß sie mit dem berühmten Forscher recht oft tanzte. Doch schließlich waren sie Kindheitsgespielen. Warum sollte sie nicht? Zumal ihr Mann sich ja auch sein Vergnügen suchte. Der Schwerenöter blieb doch immer auf der Höhe! Während er es außerhalb seines Hauses arg und toll trieb, wählte er sich eine schneeweiße Lilie als Hüterin seines Heims und Herdes. Auch Lo war heute unglaublich reizend. Sie wiederum tanzte viel mit ihrem Tischherrn, Freiherrn von Lürstädt. Plauderte dabei in ihrer herzerquickenden Art frisch drauflos, so daß der ernste Mann immer wieder herzlich lachen mußte. Sie hatten beide mehr dem Sekt zugesprochen, als es dienlich sein konnte. Daher kam es wohl, daß der sonst so zurückhaltende Mann seine Tanzpartnerin fester an sich zog, als er es sonst zu tun pflegte, und sie sich enger als schicklich in seinen Arm schmiegte. Daß ihre Blicke sich oft dabei trafen, ließ sich nicht vermeiden. Zuerst gab Lo den Blick offen und frei zurück, wodurch sie ihm die Gelegenheit bot, sich in den Anblick der blauen Augensterne zu vertiefen – und sie sinnverwirrend schön zu finden. Dabei redeten die seinen eine so deutliche Sprache, die Lo nur zu gut verstand. Allein sie nahm ihm seine Kühnheit durchaus nicht übel, sondern stellte bei sich fest, daß dieses Fest so wunderbar wäre, wie sie ein ähnliches noch nie mitgemacht. Als die ersten Gäste zum Aufbruch rüsteten, fand sie das recht rücksichtslos von ihnen. Wenn nämlich erst der Anfang gemacht war, folgten auch die übrigen bald. Bei passender Gelegenheit huschte sie hinaus, ohne sich
einen Mantel überzuziehen. Ach ja – so war es schön. Die herbe Nachtluft kühlte Kopf und Herz. Der Mond warf sein weißes Licht auf die See, ließ sie aufblitzen wie Silber. Hell jauchzte sie auf in unbändiger Lebensfreude. Und schrak dann zusammen, als eine dunkle Gestalt sich ihr näherte. Nun klopfte ihr Herz in banger Furcht. »Gnädiges Fräulein, welch ein Leichtsinn!« hörte sie da eine dunkle, ihr nur zu bekannte Stimme. »So erhitzt, wie Sie vom Tanz sind, laufen Sie hinaus!« »Ich hatte plötzlich eine unbezwingbare Sehnsucht nach Himmel, Wald und See«, lachte sie beklommen zu ihm auf, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Ihnen erging es wohl ebenso?« »Allerdings. Nur war ich nicht ganz so leichtsinnig und stürmisch. Nahm mir Zeit, den Mantel anzuziehen, der jetzt übrigens gute Dienste leisten wird.« Damit hüllte er das Mädchen in den Mantel, was es sich gern gefallen ließ. »So, mein Fräulein Leichtsinn. Sie als Seemöwe müßten doch wissen, daß an diesem herrlichen Gewässer stets ein kühles Lüftchen weht, das unbedachten jungen Damen Schnupfen und damit ein rotes Naschen bringen kann.« »Brrr, Herr von Lürstädt, das wäre nicht schön!« »Nicht wahr, so ein entzückendes Naschen!« »Oh, mein gestrenger Herr, seit wann machen Sie Komplimente?« neckte sie, worauf er sich so tief zu ihr beugte, daß sein Mund fast ihr Ohr berührte. »Seitdem ich tief, tief in zwei unerhört schöne Blauaugen geschaut habe«, flüsterte er. Heiß stieg ihr Blut ins Gesicht. Sie war so verwirrt, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. »Sie lieben wohl auch die See?« fragte sie hastig, um nur etwas zu sagen. »Ja, sehr – «, entgegnete er warm. »Ich wünschte, ich brauchte nie mehr von ihr fort.« Lo fühlte die Augen des Mannes wie eine heiße Flamme auf
ihrem Gesicht. Beharrlich hielt sie die Augen gesenkt. Und als sie diese dann doch zu ihm aufschlug, wie von einer fremden Macht getrieben, verrieten sie viel, sehr viel – alles. Der Mond beschien das süße Antlitz, in dem nur diese Augen zu leben schienen, schwarzblau wie die See im Sturm. Machte es der reichlich genossene Sekt, machte es die traumhafte Stimmung um sie her – ganz unerwartet schlang sie die Arme um seinen Hals mit leidenschaftlicher Heftigkeit. Zuerst wollte der überraschte Mann sich zart aus der Umschlingung lösen, doch dann preßte er die bebende Gestalt an sich in heißem Glücksgefühl. Und um sie her brandete die See, rauschte der Wald – und ebenso gewaltig brandete es in ihren Herzen. Heiß preßten sich seine Lippen auf die ihren. »Oh, du Liebste mein, du Heißersehnte, Erträumte!« raunte die Männerstimme in ihr Ohr. Sie hielten sich umschlungen, als wollten sie sich nicht mehr voneinander lösen. Erst als in der Nähe Stimmen laut wurden, machte sie sich frei. Noch ein Kuß, heiß, heftig – dann eilte sie einen Nebenweg zum Schloß hinauf. Atemlos erreichte sie den Saal. Gottlob, ihre Eltern hatten sie noch nicht vermißt! Aufatmend ließ sie sich an Ilse-Sibylles Seite auf das kleine Sofa fallen. »Bist du nicht mit an die See gegangen, Lo?« fragte diese erstaunt. »Die Gäste bekamen plötzlich Lust, den Mondzauber zu genießen. Wollen wir ihnen nachgehen?« »Ich mag nicht, Ilsibyll.« »Und warum nicht, entzückendstes aller Bäschen?« Sie fuhr herum und lachte Krafft von Broede an, der hinter sie getreten war. »So eine Mondschwärmerei in Massen ist doch recht erhebend«, spottete er. »Aber wie wär’s mit uns beiden? Wollen wir ganz allein schwärmen gehen?«
»O nein, vieledler Schloßherr, das wäre zuviel Ehre für mich Erdenwurm. Überhaupt ein sträflicher Leichtsinn, mir derartiges anzubieten, wo deine Frau dabeisitzt. Da muß ich doch schon aus Anstand danken.« Krafft sah zu Ilse-Sibylle hin, die ihre rosige Laune verloren zu haben schien. Kunststück, der Jugendfreund war ja auch nicht sichtbar! Er schwärmte sicherlich auch am Strand den Mond an. Doch nein, dort tauchte er auf, näherte sich jetzt. Hm, gar nicht so übel. Wie geschaffen, Frauenherzen zu betören. Etwas Verwegenes lag über der sehnigen Gestalt, dem hageren Gesicht mit den lustigen, klugen Augen darin. Und siehe da, Ilse-Sibylle lachte schon wieder! Krafft entfernte sich. Zu Hause stürmte Lo zu ihrem Zimmer hinauf, sank in die Knie schluchzend vor Glück. So also sah das Glück aus, das sie schon lange erträumt! Wie war sie bisher gleichgültig über das Werben der Männer hinweggegangen – doch dieser – ja, der hatte sie bezwungen von Anfang an. Wer konnte dabei schlafen? Wohl entkleidete sie sich, ging zu Bett – aber einschlafen konnte sie noch lange nicht. Sie erwachte auch früher als zur gewohnten Stunde. Bis die Eltern heute, am Sonntag, aufstehen würden, das konnte noch gut zwei Stunden dauern. In der Zeit wollte sie einen Ritt unternehmen. Vielleicht begegnete sie Winfried unterwegs. In dieser frohen Erwartung machte sie sich auf den Weg. Ihr Ziel war Dünentrutz. Immer wieder umkreiste sie es, doch so scharf sie auch umherspähte, der Ersehnte war nirgends zu erblicken. So entschloß sie sich, den Verwandten einen Morgenbesuch zu machen. Hoffentlich war man schon auf. So platzte sie denn mit frischfröhlichem Gruß in das Frühstückszimmer, wo man gerade mit der Mahlzeit fertig war und nun ein behagliches Eckchen aufsuchte, um sich dort niederzulassen.
Krafft war entsetzlich übler Laune, und die Damen sahen verstimmt und angegriffen aus. Los Erscheinen wirkte wie ein Sonnenstrahl, der durch düsteres Gewölk bricht. Kraffts finstere Miene hellte sich auf. »Sieh mal einer an, die süße Lo! Schon so früh auf den entzückenden Beinchen?« »Warum nicht?« lachte sie. »Ich bin ein Landkind und daher Frühaufsteherin.« »Na – um fast elf Uhr!« spottete er. »Bitte sehr, ich habe bereits einen stundenlangen Ritt hinter mir.« »Demnach scheint dir das Fest ausgezeichnet bekommen zu sein. Wie machst du es eigentlich, daß du stets so prächtiger Laune bist? Kannst du das Rezept nicht deiner Base geben und es ihr zur Benutzung warm empfehlen?« »Nun, deine Laune scheint auch nicht gerade rosig zu sein«, meinte Lo trocken. »Aber das bringt ein Fest so mit sich, die berühmte Katerstimmung nämlich. Da will ich euch einen Vorschlag machen, wie wir den Misepeter in die Flucht schlagen können. Wir veranstalten eine gemütliche Nachfeier. Einverstanden?« »Kleine Lo, wie bist du klug und reizend!« lobte er. »Ich bin sehr dafür, deinen Vorschlag zu akzeptieren. Doch die gestrenge Gebieterin meines Heims und Herdes – « »Ich bin sehr damit einverstanden«, unterbrach sie ihn gereizt. Gut, daß der Diener in diesem Augenblick eintrat. »Herr Dr. Vehr läßt die Frau Baronin fragen, ob er am Nachmittag seine Aufwartung machen darf.« »Selbstverständlich!« entgegnete sie lebhaft. Müdigkeit und Verstimmung waren mit einem Schlage von ihr gewichen. In die eben noch so kühlen Augen trat ein Leuchten. »Sagen Sie dem Herrn Doktor – doch nein, ich gehe selbst an den Apparat.« Krafft sah ihr mit einem eigentümlichen Blick nach, und
das Antlitz der Tante überzog sich mit der Röte des
Unwillens.
Lo wurde es schwül. Sie überlegte, ob es nicht besser wäre,
Reißaus zu nehmen, doch da kam Ilse-Sibylle wieder, froh
und lachend.
»Ich habe ihn zum Nachmittag hergebeten. Du hast doch
nichts dagegen, Krafft?«
»Oh – bitte sehr!«
Lo sah betroffen zu ihm hin. Eisig war der Klang seiner
Stimme, stahlhart der Blick der graugrünen Augen. Wie
konnte Ilse-Sibylle nur so gelassen dabei bleiben!
Daß zwischen den Gatten etwas nicht stimmte, war ihr
schon längst klar. Doch wer trug die Schuld daran? Das zu
ergründen war ihr noch nicht gelungen, weil beide sie nicht
in ihr Fühlen und Denken blicken ließen.
»Lo, ich komme mit dir zu Pferde nach Unruh«, riß die
Base sie aus ihren Grübeleien. »Ich esse bei euch zu Mittag
und kehre in eurer Gesellschaft nach Dünentrutz zurück.«
»Was ich dir verbiete!« warf der Gatte in kalter Ruhe ein.
»Du bist immer noch nicht so sicher auf dem Pferd, daß du
dich in Los Gesellschaft vom Hof wagen kannst. Und ich
habe keine Zeit, um dich zu begleiten.«
»Ich bin aber bereits sehr sattelfest. Frage nur Lo.«
»Los Urteil ist mir nicht maßgebend. Sie ist eine so
verwegene Reiterin, daß sie für Anfänger kein Verständnis
haben kann. Schlage dir also deinen unvernünftigen
Wunsch nur aus dem Köpfchen.«
»Ich will aber!« warf sie den Kopf in den Nacken.
»Will – ach, du lieber Himmel, ich will auch so manches«,
gab er ungerührt zurück. Er schien ruhig. Allein in seinen
Augen drohte und warnte etwas, ihn nicht zu reizen.
In Lo stieg ein banges Gefühl auf.
»Ilsibyll, gib doch nach!« redete sie ihr zu. »Krafft will dich
doch nicht schikanieren. Er fürchtet, daß dir bei dem Ritt
etwas zustoßen könnte.«
»Ach, sieh mal an, kleine Lo, das hast du gemerkt?«
Nach diesen ironischen Worten trat eine schwüle Stille ein,
in die Winfried von Lürstädt hineinkam. Und da vergaß Lo alles: Ilse-Sibylle, Krafft von Broede, die beklemmende Atmosphäre im Dünenschloß. Sie griff nach ihrem Herzen, als müßte sie es festhalten, so rasend klopfte es. Die Augen brannten in dem vor Erregung erblaßten Gesicht. Die Hand, die sie ihm zur Begrüßung entgegenstreckte, war eiskalt. Er nahm sie mit tadelloser Verbeugung. Doch kein Druck erfolgte, nicht das kleinste vertrauliche Zeichen. Herrgott, warum krampfte sich plötzlich ihr Herz zusammen in nie geahnter Qual? Nur gut, daß die Herren in ein lebhaftes Gespräch kamen, an dem sich auch Frau von Bruckheim beteiligte. So blieb Lo unbeobachtet. Ilse-Sibylle, die sich still verhielt, hatte sie nicht zu fürchten. Die war selbst in sich versunken. Ganz unerwartet sprach sie dann den Verwalter an: »Herr von Lürstädt – « »Frau Baronin?« »Haben Sie Zeit?« »Ich stehe zu Diensten.« »Dann bitte ich Sie, meine Base und mich zu Pferde nach Unruh zu begleiten. Mein Mann will mich ungern allein reiten lassen, und er selbst ist verhindert – « Lo blickte Ilse-Sibylle erschrocken an. Großer Gott, was wagte sie! Sich dem ausdrücklichen Befehl des Gatten so hochmütig zu widersetzen! Und dann die Stimme, mit der er dem Verwalter Bescheid gab, der ihn fragend ansah! Lo schauerte unter ihr zusammen. »Tun Sie meiner Frau nur den Gefallen, Herr von Lürstädt.« Lo bewunderte den Mann, der solche Gewalt über sich hatte. Ein Glück für Ilse-Sibylle, die sich ihrer Meinung nach unerhört benahm. Diese Ansicht schien übrigens Frau von Bruckheim mit ihr zu teilen. Denn der Blick, mit dem sie die Nichte musterte, Heß deutlich Mißbilligung erkennen. Und da konnte Lo feststellen, daß die Base sattelfest war.
Wunderbar hatte sie den rassigen Gaul unter der Faust. Galoppierte dahin mit Schick und Schneid. »Herrlich!« lachte sie zu Lürstädt hin, der sie nicht aus den Augen ließ. »Bei Ihnen kann ich wenigstens nach Herzenslust dahinjagen. Mein Mann läßt mir nie so den Willen. Wenn ich mit ihm reite, hat er ständig etwas zu kritisieren.« »Womit der Herr Baron recht tut«, war die ruhige Entgegnung des Verwalters. Er lächelte leicht, als sie ihn verblüfft ansah. »Ich meine, daß Frau Baronin sonst in so kurzer Zeit nicht eine so vorzügliche Reiterin geworden wären«, ergänzte er. Ilse-Sibylle lachte und sah sich nach Lo um, die ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit gemächlich ritt. Stets blieb sie hinter ihnen zurück. Absichtlich, denn sie fürchtete, ihre Beherrschung zu verlieren. Keinen Blick hatte der Mann für sie, was ihr Herz bitter schmerzen machte. Gewiß, Krafft hatte ihm seine Frau anvertraut, daher mußte er auf sie achten. Und doch hätte er ihr einmal einen verstohlenen Blick, ein vertrautes Wort schenken können. Am Nachmittag wird es besser werden, tröstete sie sich. Dann hat er Zeit, sich mir zu widmen. Allein es wurde nicht besser. Natürlich war Lürstädt bei der kleinen Nachfeier zugegen. Die Zeiten waren dahin, wo er nur zu geschäftlichen Besprechungen das Schloß betrat. Dafür sorgten schon die Damen, daß er nun zwanglos darin aus- und einging. Das hatte Krafft, als er von seiner Reise zurückkehrte, nicht wenig erstaunt. Lachend hatte er gesagt: »Was für ein böser Mensch Sie doch sind, Herr von Lürstädt! Solange ich allein war, fiel es Ihnen nicht ein, mir Einsamem Gesellschaft zu leisten. Nun aber die Damen hier sind – « »Ich wußte ja nicht, Herr Baron – « »Schon gut«, hatte dieser abgewinkt. »Ihre Unzugänglichkeit ist mir ja bekannt.« Lo war heute von einer Lustigkeit, die fast übertrieben
anmutete. Nur nicht zur Besinnung kommen! Sonst hätte
sie die Qual hinausschreien müssen, die ihr Herz
umkrallte. Wie beneidete sie Ilse-Sibylle, die mit dem
Jugendfreund plauderte und lachte, sich unbeschwert dem
Zusammensein mit ihm hingab!
Doch diese frohgemute Stimmung war mit einem Schlage
dahin, als es ans Abschiednehmen ging. Mit
tränenverdunkelten Augen sah sie auf den Mann, der sich
über ihre Hand beugte.
»Leb wohl, Ilsibyll, morgen muß ich wieder fort. Ich kann
noch nicht seßhaft werden, habe noch zu unruhiges Blut.«
»Morgen schon?« fragte sie leise. »Gibt es denn keinen
Menschen in der Heimat, der dich halten könnte?«
»Du hättest es gekonnt«, entgegnete er in ungewohntem
Ernst. »Aber du bist ja nicht mehr frei. Bist die Gattin eines
Mannes, der dir viel mehr bieten kann als ich. Es ist gut,
daß du ihn erwähltest, Ilsibyll. Er paßt vortrefflich zu dir.
Und ich will weiterwandern. Nach Schmetterlingsart von
allen süßen Blüten naschen – und dabei vergessen, daß es
eine Ilsibyll gibt, die schön wie ein Traum ist.«
Ehe sie etwas erwidern konnte, ging er davon.
Als sie sich umwandte, stand Krafft hinter ihr.
Auge ruhte in Auge, bis er dann langsam sprach:
»Wenn du dir das nächste Mal so fabelhafte Komplimente
machen läßt, dann laß deinen Anbeter wenigstens auf mich
Rücksicht nehmen – «
Hochmütig warf sie den Kopf zurück, ihren Mund
umspielte ein geringschätziges Lächlen.
»Dann stehe du ein andermal nicht in den Ecken herum.«
»Oh, bitte sehr, in meinem Hause.«
»Kannst du tun und lassen, was du willst. Aber beruhige
dich nur: Ilse-Sibylle Rainer – «
»Broede wolltest du wohl sagen.«
»Nein, Rainer! Also – Ilse-Sibylle Rainer weiß sehr wohl,
wie weit sie gehen kann.«
»Fabelhaft beruhigend für mich.«
»Na also!«
Wieder flog der Kopf in den Nacken. Sie wandte sich ab, ließ ihn einfach stehen. Dieser Vorgang war von niemand bemerkt worden. Alle lauschten den launigen Worten Dr. Vehrs, der eine Abschiedsrede hielt. Langsam näherte Ilse-Sibylle sich der Gruppe. Welch eine einnehmende Persönlichkeit der Freund doch war! Etwas herzerquickend Frisches ging von ihm aus. Hätte sie ihn doch lieben können! Lachenden Mundes wäre sie vor Krafft von Broede hingetreten, hätte frei und froh bekannt: Sieh her, ich liebe diesen Mann. Habe also stichhaltige Gründe, mich von dir zu trennen. Und wäre dem anderen gefolgt über Länder und Meer, durch Not und Tod. Sicherlich hätte sie den Jugendgespielen lieben können, wenn ihr nicht Krafft von Broede begegnet wäre. Wäre Hartmut gekommen, bevor das Schicksal sie ereilte. Nun kam sie nicht mehr von ihm los. Oh, Krafft von Broede! Augenblicklang war es ihr, als müßte sie zu Dr. Vehr eilen, ihn bitten: Nimm mich mit dir, schütze mich vor meinem eigenen Herzen, sonst muß ich versinken in einer Liebe -. Und wäre doch langsam zugrunde gegangen ohne Krafft von Broede! Nachdem Vehr gegangen war, wollte unter den Zurückbleibenden keine rechte Stimmung mehr aufkommen. So brachen Rainers denn auch bald auf. Wie anders war für Lo diese Heimfahrt! Sterbenselend fühlte sie sich und durfte sich doch nicht gehenlassen, um die Eltern nicht zu beunruhigen. Oh, wenn sie wüßten – sie hätten mit ihr gelitten! Und konnte Lo in der Nacht vorher vor Glück nicht schlafen, so konnte sie es in dieser Nacht nicht vor herzblutendem Jammer. Wie zerbrochen erhob sie sich am Morgen. Trotzdem war eine eiserne Entschlossenheit in ihr. Sie mußte sich Gewißheit verschaffen! War nicht gewillt, sein sonderbares
Verhalten still und ergeben über sich ergehen zu lassen. Sie
wollte und mußte ihn zur Rede stellen!
So ritt sie dann stundenlang im Dünentrutzer Gelände.
Irgendwo mußte sie ihm begegnen.
Und endlich kam er ihr vom Wald aus entgegengeritten.
Stutzte, als er sie so unerwartet vor sich sah, zog höflich
den Hut und wollte an ihr vorüber.
»Guten Morgen, Herr von Lürstädt«, sprach sie ihn an, so
daß er notgedrungen sein Pferd zügeln mußte.
»Guten Morgen, gnädiges Fräulein. Wie ist Ihnen der
gestrige Abend bekommen?«
Lo sah scharf zu ihm hin. Wollte er sich gar über sie lustig
machen? Doch nein, sein Gesicht war ernst und
verschlossen.
O ja, er war wohl jeder Situation gewachsen, der Freiherr
von Lürstädt! Sicher und weltgewandt plauderte er,
während die Pferde nebeneinander dahintrabten. Sprach
von allem möglichen, nur nicht von dem, worauf sie
herzklopfend wartete.
Eine ganze Weile hörte sie sich das mit an, dann konnte sie
es nicht mehr ertragen. Heiß stieg es in ihren Augen,
schmerzend, aus qualzerrissenem Herzen empor.
»Winfried!«
Leise, bebend kam sein Name über ihre zuckenden Lippen,
die ebenso weiß waren wie das Antlitz. An dem seinen
hingen flehend ihre Augen, aus denen nun schwere Tränen
tropften.
Sein Pferd warf nervös den Kopf zurück, als würde der
Zügel zu fest angezogen.
Das dauerte nur einige Atemzüge lang. Dann neigte er sich
ihr höflich zu.
»Wie meinen gnädiges Fräulein?« fragte er ruhig.
Da zerbrach etwas in ihr.
Das ließ sich nun wirklich nicht mehr ertragen, nein, gewiß
nicht! Jetzt erst schwand alle Hoffnung dahin, daß ein
Mißverständnis zwischen ihnen liegen könnte. Noch ein
Blick traf ihn, in dem Qual, Bitterkeit und tiefverletztes
Empfinden vereint stand. Dann gab sie ihrem Pferd die Sporen und jagte davon. Schneller, immer schneller, nicht achtend, daß das zierliche Tier es kaum schaffte. Erst als es stehenblieb, zitternd und mit Schaum bedeckt, da kam sie zur Besinnung. Liebkosend klopfte sie seinen Hals. »Irrwisch, armer Kerl!« sagte sie leise. »Du mußt büßen, was andere verbrachen.« Tränen tropften auf des Pferdes Mähne, das nun gemächlich weitertrabte. Oh, diese Schmach – diese entsetzliche Schmach! Da hatte sie manch einen Freier abgewiesen, war verrufen in der Umgegend, daß ihr kein Mann gut genug wäre. Daß sie wahrscheinlich auf einen Märchenprinzen wartete. Und nun – hier, wo sie von ganzem Herzen liebte, bot sich ihr verletzende Gleichgültigkeit nach Minuten süßer Tändelei! Wenn er nicht der Edelmann ist, für den sie ihn hält, dann pfeifen es die Spatzen bald vom Dach, daß sie, ElisabethCharlotte Rainer, sich einem Mann an den Hals geworfen hat. Sie ritt langsam Schritt für Schritt, während ihr Herz sich wand in Qual und Pein. Wenn sie sich doch zusammenreißen könnte, damit die Eltern von ihrem Jammer nichts merkten! Ihre zärtliche Sorge würde Lo vollkommen haltlos machen. Als sie Unruh erreicht hatte, saß sie am Pferdestall ab, übergab das Pferd einem Knecht und schritt langsam dem Herrenhaus zu. Ihr erschien es kaum möglich, daß sie vor wenigen Tagen noch wie ein wilder Cowboy über den Hof gejagt war. Ein ganzes Menschenleben schien ihr dazwischen zu liegen, voll Herzeleid und Schmach. Als sie am Speicher vorüberging, scholl ihr Gesang daraus entgegen. Die Gutsmädchen sangen bei ihrer eintönigen Arbeit. Lo mochte diese schlichten Weisen sehr gern, die so viel
schmerzlichsüße Verträumtheit in sich bargen, die von der Liebe Lust und Leid erzählten: »Ich liebte dich so heiß, so innig, ich dacht, dein Herz war’ ewig mein. Du aber machst mir nichts als Schmerzen, du aber machst mir nichts als Pein – « Lo lief davon, um das traurige Lied, das so gut zu ihrer trostlosen Verfassung paßte, nicht länger mit anhören zu müssen. Doch als sie in ihr Zimmer kam, drang der Gesang durch die geöffneten Fenster deutlich zu ihr herein. »So leb denn wohl, du Heißgeliebter, nie wirst du, nie, mich wiedersehn – « Da machte sie das Fenster zu und weinte verzweifelt. Die Tage gingen dahin, und Weihnachten stand vor der Tür. Ilse-Sibylle vergaß ihre Herzensnot, schaffte eifrig Berge von Geschenken herbei. Immer wieder erbat sie von Krafft Geld, das er ihr lächelnd gab. Schon am frühen Morgen des Weihnachtstages arbeitete sie in dem großen Saal, in dem den Gutsleuten und deren Kindern beschert werden sollte. »Krafft, du mußt mir helfen!« Er trat ein, schloß die Tür und schaute lächelnd auf das entzückende Bild, das sich seinen Augen bot. Dann setzte er sich zu ihr auf den Boden, die langen Beine von sich streckend. Sie lachte ihn an mit strahlenden Augen. Ihre Wangen glühten vor Eifer. »Schau mal her, Krafft, dieser dicke, süße Bengel muß das Pferdchen haben, nicht wahr?« »Selbstverständlich«, bestätigte er, während seine Augen Bild und Pferd nicht erfaßten, die sie ihm unter die Nase
hielt, sondern an ihrem heute so frohen Gesicht hingen.
»Und diese Puppe bekommt die Kleine mit dem dunklen
Köpfchen, meinst du nicht auch?«
»Gewiß.«
»Aber Krafft, du siehst ja gar nicht hin!« rief sie unmutig.
»Doch, kleine Frau, sprich nur immer weiter.«
Er bemühte sich, fortan aufmerksam zu sein, und wurde
ihr eine brauchbare Hilfe.
Es war schon um die Mittagszeit, da waren sie immer noch
eifrig bei der Sache. Sie wurde allmählich nervös, klopfte
ihm auf die Hand, wenn er etwas verkehrt machte. Dann
lachte er, hielt die strafende Rechte fest und küßte die
rosigen Fingerspitzen. Nicht einmal Mittag wollte sie essen,
doch da sprach er ein Machtwort.
Während Ilse-Sibylle aß, überlegte sie, wie sie alles am
praktischsten einteilen könnte. Sie hörte nicht darauf, was
die anderen sprachen. Gab daher öfter verkehrte Antworten
und mußte sich gefallen lassen, daß man sie auslachte.
Dann fiel ihr etwas ein, das sie gleich in Worte faßte:
»Herr von Lürstädt«, wandte sie sich an ihn. »Mein Mann
sagte mir, daß Sie vorige Weihnachten fort waren. Wollen
Sie womöglich heute wieder verreisen?«
»Gewiß, Frau Baronin. Es ist doch so üblich, daß die
unverheirateten Beamten an den Festtagen verreisen.«
Ȇblich? Wie soll ich das verstehen? Haben Sie Verwandte,
die sich auf Ihr Kommen freuen?«
»Nein, Frau Baronin. Ich habe weder Eltern noch
Geschwister.«
»Dann wollen Sie sich unter Fremden herumtreiben?
Daraus wird nichts! Nicht wahr, Sie bleiben hier?«
Mit einem entzückenden Lächeln streckte sie ihm die Hand
hin, die er an die Lippen zog. In seinem Gesicht zuckte es.
»Ich bleibe gern, Frau Baronin.«
»Also dann verreisten Sie im vorigen Jahr nur, weil es ›so
üblich‹ ist, und ließen mich hier allein sitzen?« fragte
Krafft.
»Ich wußte nicht, ob ich bleiben durfte, Herr Baron. Dazu
aufgefordert wurde ich nicht.« »Oh, über diesen unzugänglichen Menschen! Ein Glück, daß meine Frau darauf kam, Sie aufzufordern. Sonst wären Sie aus lauter ›Üblichkeit‹ auch heute abgedampft. Wohin sollte die Reise gehen?« »Wahrscheinlich in die Berge.« »Sonderbarer Mensch! Wenn Sie klettern wollen, dann können Sie das auch hier tun. Und zwar die Trittleiter zum Weihnachtsbaum hinauf, der noch geschmückt werden muß. Meine Frau kann noch sehr gut eine Hilfe brauchen.« So wurde denn auch er noch von Ilse-Sibylle angestellt, ebenso Frau von Bruckheim. Es wurde tüchtig geschafft, dabei auch gescherzt und gelacht. Um die Kaffeezeit kam Lo. Ihr Lächeln erstarrte, als sie Lürstädt sah, den sie hier bestimmt nicht vermutet hatte. Er war dabei, vergoldete Nüsse an den Baum zu hängen. »Kommst du auch noch helfen, Lo?« fragte Ilse-Sibylle fröhlich. »Hast du eine Ahnung! Ich habe zu Hause noch reichlich zu tun. Habe noch eine wichtige Besorgung in der Stadt gemacht und wollte eben nur schnell mal hereingucken. Du hast doch wahrhaftig Hilfe genug. Mir hilft nur die Mutti. Mein Vater ist beim Baumschmücken nicht zu gebrauchen. Wo der hinfaßt, da kracht gleich alles.« Mein Vater – wie das aus ihrem Mund klang! Wo war die Zeit, da sie ihn Julius genannt hatte in Übermut und Schelmerei? O ja, Lo hatte sich sehr verändert. »Vielleicht ist deine Hilfe mehr wert als meine reichliche hier zusammen«, bemerkte Ilse-Sibylle lachend und wurde heftig wegen böser Verleumdung bedroht. »Denke dir nur, Lo, Herr von Lürstädt wollte heute wieder verreisen, wie in den Jahren vorher, obgleich er gar keine nahen Verwandten hat und daher nicht weiß, wo er eigentlich hin soll!« sagte Ilse-Sibylle lebhaft. »Wie gut, daß ich ihn um sein Bleiben bat!« Lo antwortete nicht darauf. Sie sah zu dem Mann hin, der ruhig seiner Beschäftigung nachging.
»Jetzt muß ich aber verschwinden«, sagte sie hastig. »Sonst wird bei uns nicht alles zur Zeit fertig.« Lürstädt erhielt den Auftrag, sie hinauszubegleiten, da Krafft gerade eine Arbeit hatte, die er schlecht weglegen konnte. Lo kletterte in den Schlitten, ließ sich schweigend in die Pelzdecke packen. »Gnädiges Fräulein sind ohne Kutscher?« »Wozu brauche ich den?« »Es wird bald dunkeln. Da sind Sie dann ohne Schutz.« »Ich beschütze mich selbst!« kam es schroff von den hochmütig geschürzten Lippen, so daß der Mann unwillkürlich zurückwich. Der Schlitten schleuderte, so preschte das Pferd davon. Wie versteinert war Winfrieds Gesicht, als er in den Saal zurückkehrte. Es hätte auffallen müssen, wenn man Zeit gehabt hätte, auf den Mann zu achten. Bis Sonnenuntergang wurde noch eifrig geschafft, dann war alles fertig. Nun noch rasch umkleiden, dann konnte die Feier beginnen. Ilse-Sibylle trug ein schneeweißes Kleid mit Christrosen als Schmuck. Als sie an dem Klavier saß und »Vom Himmel hoch, da komm ich her«, sang,( erschien sie den Anwesenden, als wäre sie selbst vom Himmel herniedergestiegen. Krafft hörte sie zum ersten Mal singen. Die weiche, süße Stimme erschütterte ihn. Ein Bild stieg vor seinen Augen auf, die holdselige Gestalt vor seinem Auto liegend. Er fuhr sich hastig über die Augen, als könnte er damit dieses quälende Bild wegwischen. Nun sangen auch die Kinder; Mütter und Väter fielen ein. Wie war es heute doch alles so anders als in den vergangenen Jahren! Und nur deshalb, weil ihre schöne Herrin da war, die ihnen alles gab mit frohem, liebem Lächeln. Sie kniete bei den kleinen Kindern, zeigte ihnen ihr Spielzeug, lachte sie an. Da überwanden sie ihre Scheu, Ärmchen streckten sich ihr entgegen.
Auch nicht einer war unter den vielen Menschen, der nicht beglückt nach Hause gegangen wäre. Nicht anders war es im Saal nebenan, wo den Beamten mit ihren Familien und der Dienerschaft beschert wurde. Auch hier war Ilse-Sibylle Hauptperson, gab auch hier mit herzlichem Lächeln. Dann kam die Feier im engsten Kreise. Ilse-Sibylle führte Lürstädt an seinen Platz, hatte für jedes Geschenk eine scherzhafte Bezeichnung. Er konnte nicht sprechen, beugte sich nur tief über ihre Hand. Betroffen bemerkte sie den gequälten Ausdruck in seinen Augen. »Herr von Lürstädt – Sie leiden?« fragte sie leise. »Kann ich Ihnen helfen?« »O bitte – mir fehlt nichts – « Davon war sie wohl keineswegs überzeugt, drang jedoch nicht weiter in ihn. Sagte ihm noch einige herzliche Worte und ging dann zur Tante, die sich soeben von Krafft beschenken ließ. Als Ilse-Sibylle nun noch mit ihren Gaben hinzukam, wehrte die so reichlich Beschenkte lachend. »Kinder, ihr übertrefft euch ja! Unglaublich, wie ihr mich verwöhnt!« Die junge Frau umfaßte sie, sich dabei fest an sie schmiegend. Sie hatte unter der Entfremdung, die in letzter Zeit zwischen sie getreten war, gelitten. »Tante Marianne, hast du mich nun wieder lieb?« fragte sie zaghaft. »Kind, wer soll dich wohl nicht liebhaben!« entgegnete Frau von Bruckheim ergriffen. Oh, Ilse-Sibylle wußte wohl, wer sie nicht liebte. Aber darüber wollte sie sich heute nicht grämen. Heute sollte ihr Herz ganz still sein und der Kopf nur liebe, gute Gedanken hegen. Leicht schob sie ihre Hand unter den Arm des Gatten und führte ihn zu seinen Geschenken. Er sah auf die Sachen nieder, die mit Liebe für ihn ausgesucht waren. Und als sie gar noch in drolligem Eifer bemerkte: »Das habe ich alles von meinem ersparten Geld gekauft!« da stieg es ihm heiß in die Augen. Er ergriff ihre
Hände, führte sie an die Lippen.
»Weißt du auch, Ilsibyll, daß dies seit Jahren die ersten
Geschenke sind, die ich erhalte? Seit Jahren hat nun wieder
jemand an mich gedacht.«
»Oh, Krafft, so arm warst du?« fragte sie erschrocken.
»Ja – so arm, Ilsibyll. Wenn ich an das vorige
Weihnachtsfest denke, so ist es mir ein Rätsel, daß ich es
überhaupt ertragen konnte. Aber jetzt bist du an der Reihe,
du unglaublich reizender Weihnachtsengel.«
Damit führte er sie zu ihrem Platz.
Zuerst war sie sprachlos über die reichen Gaben, doch
dann brach der Jubel los. Sie freute sich wie ein Kind und
hatte keine Ahnung, wieviel Dank das dem großzügigen
Spender war.
Dann erspähte sie einen länglichen Kasten.
»Das ist doch nicht etwa -??« fragte sie atemlos.
»Eine Geige, Ilsibyll.«
Mit zitternden Händen griff sie nach dem Instrument, das,
wie sie mit einem Blick erfaßte, sehr kostbar war.
Streichelte zärtlich darüber hin. Und dann spielte sie.
Vergaß alles um sich her. Weich kamen die Töne, voll
unendlicher Süße. Sie stand da wie weltentrückt.
Das Schönste und Beste hatte es von dem Vater geerbt,
dieses gottbegnadete Künstlerkind: das Talent und die
Schönheit.
Als sie den Bogen absetzte, mußte sie erst langsam wieder
zur Erde zu rückfinden. Sah die Ergriffenheit ihrer Zuhörer
und lachte dann glucksend.
Während des Abendessens herrschte eine frohe Stimmung,
wie schon lange nicht mehr. Und als man später die
Weihnachtsbowle trank, wurde man noch froher.
Es war spät, als man sich zurückzog. Ilse-Sibylle war noch
zu erregt, um zu schlafen. Es war heute zu vieles auf sie
eingestürmt.
Sie streifte das Festgewand ab, zog ein leichtes Morgenkleid
über und ging ins Wohnzimmer.
Die Ruhe, die sie umgab, legte sich wohltuend auf ihre
aufgepeitschten Nerven. Sie legte sich im Sessel zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah träumend in die Flammen. Weich war ihr Antlitz, von bestrickender Süße. Sie überdachte den Abend, und ein Glücksgefühl stieg in ihr auf. Und sie dachte an Ersehntes, Erträumtes. Lächelte süß und traumverloren vor sich hin. »Ilsibyll – « Sie fuhr auf und erblaßte bis in die Lippen. Denn der Mann, um den sich ihre träumenden Gedanken woben, stand plötzlich vor ihr. »Ilsibyll, habe ich dich erschreckt?« Er ergriff ihre Hände, die sie ihm abwehrend entgegenstreckte, küßte sie in zarter, huldigender Weise. Sie konnte nicht sprechen, schüttelte nur den Kopf. »Ich war noch unten im Stall, um nach einem erkrankten Pferd zu sehen. Als ich zurückkam, sah ich Licht in deinem Zimmer. Nahm an, daß du noch nicht schlafen könntest. Ich möchte dir Gesellschaft leisten, Ilse-Sibylle. Doch ich sehe schon – der abweisende, hochmütige Ausdruck in deinem Gesicht, das leicht gekrauste Naschen – gleich wirst du mich fortschicken.« »Gewiß nicht, Krafft«, unterbrach sie ihn hastig. »Ich will mir nur schnell ein Kleid überziehen, dann stehe ich dir zur Verfügung.« Sie wollte davoneilen, doch er hielt sie zurück. »Bitte, Ilsibyll, du mußt so bleiben. Tu es – mir zuliebe!« »Wie du wünschest. Aber mehr Licht werde ich machen.« »Auch das ist nicht erforderlich, kleine Frau. Gerade bei dieser Beleuchtung plaudert es sich am besten. Nur einen Sessel möchte ich haben, dem deinen gegenüber, dann bin ich – wunschlos glücklich.« »Ach -!« versuchte Ilse-Sibylle zu scherzen, was ihr jedoch nicht recht gelang. Ihr Herz klopfte stürmisch, wie rasend. Was er heute nur hatte? Diese ungewohnte weiche Stimmung beunruhigte sie ungemein.
Sie rückte ihm einen Sessel zurecht, holte Zigaretten.
»Weißt du, Ilsibyll, was ich tun werde? Ich hole uns einen
extraguten Sekt, dann trinken wir, plaudern dabei und
machen es uns gemütlich, du reizender Weihnachtsengel.
Aber du darfst indes nicht weglaufen. Versprichst du mir
das?«
»Ja, Krafft – «
Eine unerklärliche Angst preßte ihr das Herz zusammen.
Regungslos verharrte sie, bis er wiederkam.
Der Pfropfen knallte, der Sekt schäumte in die Gläser
hinein.
»Prosit, Ilsibyll! Auf das, was wir lieben!«
Er trank sein Glas in einem Zug leer und forderte Ilse-
Sibylle auf, dasselbe, zu tun. Doch sie schüttelte entsetzt
den Kopf.
Er reichte ihr die Zigaretten, hielt ihr Feuer hin und
bediente dann sich selbst. Legte sich behaglich im Sessel
zurück und sah sie lächelnd an.
»Nun, kleine Mimose, wie hat dir die Weihnachtsfeier
gefallen?«
»Sehr, Krafft. Ich wurde ja so sehr verwöhnt.«
»Wie bescheiden du bist! Denn dein sehnlichster Wunsch
ist dir doch gar nicht mal erfüllt worden.«
Sie sah ihn fragend an.
»Ich meine das Auto.«
»Ach, das ist es. Ich wünsche mir eines, gewiß – aber zu
meinen sehnlichsten Wünschen gehört es nicht.«
»Darf man die erfahren?«
»Nein, Krafft – «
Es zuckte in seinen Augenwinkeln, ein Zeichen, daß er
verletzt war. Seine Stimme klang jedoch ganz ruhig, als er
sagte:
»Ich hätte dir ja gern ein Auto geschenkt – doch der
Gedanke an meine Schwester – du weißt ja, Ilse-Sibylle – «
»Ach laß doch, Krafft. Mir genügt das gemeinsame Auto.
Für kurze Strecken habe ich das entzückende Fuhrwerk,
dann das Pferd – «
»Mit dem du nie mehr so leichtsinnig herumjagen darfst
wie neulich, hörst du? Du kannst dich immer noch nicht
mit Lo vergleichen, die sozusagen im Sattel groß geworden
ist. Ich möchte dich nicht noch einmal so vor mir sehen
wie vor einem Jahr. Weißt du noch?«
»Ja, ich weiß«, entgegnete sie leise. »Wieviel liegt
dazwischen.«
Er beugte sich so weit vor, daß sein Kopf fast den ihren
berührte.
»Und bereust du, Ilsibyll, dich mir anvertraut, dein
Geschick in meine Hände gelegt zu haben?« fragte er mit
vibrierender Stimme.
Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte sie ihm nur entrinnen,
der heute so sonderbar war!
In ihrer Angst und Not griff sie zur Geige, die sie auf den
Flügel gelegt hatte.
»Soll ich dir etwas vorspielen?« fragte sie hastig.
Er strich sich ruckartig über die Augen und lächelte.
»Gewiß, kleine Frau. Doch zuerst trinke dein Glas leer, ich
halte mit.«
Sie kam seinem Wunsch nach, da sie ihm nicht immer
widersprechen wollte. Sah in banger Sorge, wie er das
prickelnde Naß in die Kehle goß, als müßte er sich
irgendwie Mut antrinken. Dann trat er an den Flügel.
»Nun, mein weißes Märchenbild, was wollen wir spielen?«
Zum Zeichen, daß sie ihm etwas zumuten könnte, spielte
er, leicht tändelnd, mit künstlerischem Schwung.
Sie sah ihn betroffen an, sagte jedoch nichts, sondern
blätterte in den Noten und zeigte auf ein Weihnachtslied.
Und dann spielten sie, immer weiter, immer mehr.
Vergaßen darüber Zeit und Stunde.
Ilse-Sibylle hörte zuerst auf.
»Es muß doch schon spät sein!« rief sie erschrocken. »Du
zogst mich durch dein wundervolles Spiel so in den Bann,
daß ich darüber alles vergaß.«
»So ging es mir mit dem deinen, Ilsibyll. Was scheren uns
alle Uhren der Welt? Komm, laß uns noch ein wenig
plaudern.« Nachdem sie ihre Plätze eingenommen hatten, sagte IlseSibylle verlegen: »Krafft, ich schäme mich, daß ich immer so sorglos vor dir gespielt habe, da du selbst so künstlerisch spielen kannst und daher ein guter Musikkenner sein mußt. Ich glaube, ich habe mich entsetzlich vor dir bloßgestellt.« »Was wieder einmal eine Unterschätzung deiner Persönlichkeit ist, kleine Frau. Ein Wunder, daß du dir heute zutrautest, den Weihnachtsengel zu spielen. Das war gewiß kein leichtes Amt. Ich habe es dreimal zu verwalten gehabt – frage mich nicht, wie kläglich ich dabei versagte!« Er zog ihre Hände zu sich heran, küßte sie, eine um die andere, zart und huldigend. Sie lächelte zu ihm auf, ihr sinnbetörendes Lächeln. Da riß er sie in die Arme – küßte sie heiß – Sie lag an seinem Herzen, unfähig zuerst, sich zu rühren. Doch dann machte sie sich schroff frei und stand vor ihm, todblaß. Leuchtend rot die Lippen, sprühend der Blick. »Das war nicht recht von dir, Krafft von Broede!« rief sie zürnend, voll leidenschaftlicher Heftigkeit. »Hüte dich, du – ich bin dein Spielzeug nicht! Bin nicht so leicht zu haben wie die anderen alle, die dir zu Füßen liegen, dich anbeten in schmachvollster Weise. Ich habe dein Wort, Krafft von Broede! Brich es nicht im – Sektrausch! Daher weißt du wohl nicht, was du tust – und ich will es vergessen.« »Bitte – « Er stand vor ihr, hochgestrafft. Unerträgliche Ironie sprach aus seinen Augen, die ihr wie ein Schlag ins Gesicht war. Zitternd vor Erregung rief sie: »Nennst du es etwa keinen Grund, wenn du dich mir so näherst – wenn…« »… ich meine Frau küsse?« vollendete er ihren stockenden Satz. »Wickelkindchen, dabei wird kein Mensch etwas Unehrenhaftes finden. Zumal diese Frau so schön ist, daß sie einem armen Mann schon die Sinne verwirren kann.« »Ich bin ja gar nicht deine Frau!« rief sie gequält. »Hast du
vergessen, was wir vereinbarten? Glaubst du, ich lasse mich von dir als Spielzeug benutzen und in die Ecke werfen, wenn du meiner überdrüssig geworden bist?!« Ilse-Sibylle sah die Adern auf seiner Stirn anschwellen, die Augen drohend aufblitzen. Sie senkte den Kopf in Angst und Pein. Seine eiskalte Stimme bohrte sich in ihr Herz wie eines stumpfen Messers Schneide. »Bist du nun fertig, Ilse-Sibylle, oder hast du noch mehr so nette Sachen auf Lager, die du mir ins Gesicht schleudern kannst? Dann bitte – ich bin geduldig und dickfellig.« »Nein, Krafft, nein! Ich will ja nur fort von dir.« »So – ach! Dann will ich dir mal etwas sagen, mein Kind: Du bleibst! Du meinst nicht? Ich werde es dir beweisen. So ein ganz klein wenig Recht wird mir in unserem Eheverhältnis denn doch noch zugebilligt sein. Ich bin ein anhänglicher Bursche, mein hochmütiges Kind – mich schüttelst du nicht so leicht ab. Dr. Vehr mag dir ja besser gefallen als ich, doch er ist nur dein Kindheitsgefährte. Ich aber bin dein Gatte – und ich halte, was ich halten will – verlaß dich drauf!« »Warum nur?« zitterte sie nun vor Empörung. »Warum um alles in der Welt hältst du mich? Du mußt mich ja freigeben. Bist als Erbherr verpflichtet, eine standesgemäße Ehe einzugehen – einen Erben zu haben – « Sie konnte nicht weitersprechen unter seinem grausam ironischen Blick. »Worüber du dir nicht dein törichtes Köpfchen zerbrichst!« Großer Gott, sie ertrug das alles einfach nicht länger. Sie hatte das Gefühl, als müßte ihr das Herz in Stücke brechen. Heiß weinte sie auf. Mit knapper Verbeugung verließ er das Zimmer. Solange die Zofe bei ihr weilte, beherrschte Ilse-Sibylle sich mit aller Kraft. Doch als sie im Bett lag, da konnte sie sich gehen lassen. Doch – halt, nein! Dann hätte sie ja laut weinen müssen vor Ratlosigkeit und Furcht, wie ein Kind, das man im Dunkeln allein gelassen. Und das durfte sie nicht. Krafft,
der nebenan in seinem Schlafzimmer war, würde sie hören. Ebenso sein Diener, dieser arrogante Bursche. Wie grausam er heute gewesen war! Und doch sollte sie erst erfahren, wie viel grausamer er noch sein konnte. Wenn Krafft sie auch immer mit kühler Höflichkeit behandelt hatte, so war sein Benehmen jedoch nie rücksichtslos gewesen. Doch nach dem Weihnachtsabend wurde es anders. Er sah sie überhaupt nicht. Und wenn er sie unbedingt ansprechen mußte, dann geschah es so eisig, daß sie jedesmal erschauerte. Darunter litt sie unmenschlich. An einem Nachmittag, als der Herr vom Hof geritten war, kam Lo. Sie war traurig und bedrückt, wie stets in letzter Zeit. Genauso wie Ilse-Sibylle auch. »Ist Krafft zu Hause?« fragte sie schüchtern die Base, und diese schüttelte den Kopf. Die Tränen saßen ihr in der Kehle. So weit war es schon gekommen, daß man sich in Dünentrutz nur einfand, wenn der Herr abwesend war! Frau von Bruckheim begrüßte Lo herzlich wie immer. Forschend ging ihr Blick über das blasse, traurige Gesichtchen. Obgleich ihr selbst das Herz schwer genug war, versuchte sie immer noch, die Basen aufzuheitern. »Kinder, musiziert!« sagte sie in frischem Ton. Und wie zwei gehorsame Kinder gingen die jungen Damen ins Musikzimmer. Ilse-Sibylle setzte sich an den Flügel und blätterte in einem Notenbuch. »Kennst du die Lieder, Lo?« »Nicht alle. Dieses zum Beispiel ist mir schon unbekannt.« Ilse-Sibylle spielte die schlichte Melodie einmal durch und sang dann mit verhaltener Stimme den Text dazu: »War ich geblieben doch auf meiner Heiden, dann hart’ ich nichts gespürt von all den Leiden – « Sie hielt inne, weil sie merkte, daß heiße Tränen auf ihren Nacken fielen. Hastig wandte sie sich der hinter ihr stehenden Lo zu und sah dann Krafft mitten im Zimmer
stehen. Hochgestrtafft stand er da, breitbeinig, die
Reitpeitsche in der herunterhängenden Hand. Wie
bräunlicher Marmor war sein Gesicht, die Augen kalt und
glitzernd.
»Ja, wärst du geblieben doch auf deiner Heiden – uns allen
wäre heute wohler!«
Dann ein Auflachen, so grausam und bitter, daß allen das
Blut in den Adern zu erstarren schien.
»Aber singe nur weiter – das hört sich ja sooo rührend an!«
Damit machte er kehrt, die Tür hinter sich zuschlagend.
»Ich fahre nach Hause«, sagte Lo leise.
Die Baronin hielt sie nicht zurück, begleitete sie hinaus.
Vor dem Portal stand Krafft und wandte sich den Damen
zu.
»Du willst schon nach Hause, Lo?«
Sie reichte ihm stumm die Hand. Bestieg das Auto und fuhr
davon.
Ilse-Sibylle sah ihr nach mit einem Blick, in dem deutlich
das Verlangen stand, auch so davonfahren zu können –
und somit dem allen zu entfliehen.
Da traf sie sein Blick unter halbgeschlossenen Lidern
hervor.
Davor floh sie bis in ihr Schlafzimmer. Warf sich auf den
Diwan und schluchzte verzweifelt. Das Schluchzen
verstärkte sich noch, als die Tante sich über sie beugte.
»Ilsibyll, mein armer Liebling – «
»Ach, Tante Marianne, ich halte es bestimmt nicht länger
aus! Du hast ja gehört – es wäre ihm wohler, hätte er mich
nie gesehen. Warum läßt er mich nur nicht gehen? Warum
quält er mich denn so? Mag er mich lieber töten – «
»Was auch am besten wäre!«
Wieder stand Krafft von Broede im Zimmer, aschfahl im
Gesicht.
Ilse-Sibylle klammerte sich an die Tante, die sie fest
umfaßte und vorwurfsvoll zu ihm hinsah.
»Siehst du denn nicht, daß das Kind sich vor dir fürchtet?«
sagte sie mit tonloser Stimme. »Willst du es zugrunde
richten? Denn dieses entsetzliche Leben halten die feinen Nerven nicht mehr lange aus. Ich weiß zwar nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber so groß kann IlseSibylles Vergehen doch unmöglich sein, daß es dir das Recht gibt, sie so unglaublich zu behandeln. Sie vergeht wie eine Blume, der man Licht und Wasser entzieht. Jage mich doch nicht in einen solchen Zwiespalt hinein, Krafft! Ich liebe dich, liebe Ilsibyll – ich weiß ja gar nicht, wessen Partei ich ergreifen soll. Ich leide mit euch. Es zwingt dich doch niemand, die Ehe aufrechtzuerhalten – laß sie doch endlich gehen. Sie erträgt es bestimmt eher, wenn du dich in Güte von ihr trennst, als wenn du sie so unmenschlich quälst. Ich bin überhaupt irre an dir geworden, mein Junge. Komm, sei doch wieder einmal zugänglich, und laß uns in Ruhe besprechen, wie sich alles am besten regeln ließe. Mein Vorschlag ist der: Ich fahre morgen mit Ilsibyll zu einer Freundin, der ich schon lange meinen Besuch versprochen habe. Dort versuche ich, Ilse-Sibylle unterzubringen. Wenn ich sie geborgen weiß, kehre ich wieder hierher zurück. Unterdessen unternimmst du Schritte zur Scheidung. Recht so, Krafft?« »Nein – Ilse-Sibylle bleibt hier.« Das klang so hart und unerbittlich, daß Frau von Bruckheim der Mut sank. Seine ganze Gestalt schien förmlich durchtränkt von Härte und Unerbittlichkeit. Da stieg Empörung in ihr hoch. »Das wird sie nicht tun!« trumpfte sie auf. »Sie ist deine Sklavin nicht. Du hast ja noch nicht einmal ein Anrecht an sie.« »Das können wir ja gerichtlich feststellen lassen«, war die gelassene Erwiderung. »Du hast gesagt, daß eure Ehe nur eine Scheinehe sein soll, die zu jeder Zeit getrennt werden kann.« »So, hab ich das gesagt?« fragte er achselzuckend. »Dann habe ich es mir jetzt anders überlegt.« »Krafft, du bist. – «
»Nicht wahr, was man nicht alles werden kann!« unterbrach er sie zwar ruhig, doch in seinen Augen warnte etwas davor, ihn noch mehr zu reizen. »Ich würde dir den guten Rat geben, Tante Marianne, dieses vertrotzte Kind nicht noch in seinem Eigensinn zu bestärken.« »Eigensinn nennst du das?« »Wie denn sonst? Du weißt doch, wie der Vogel Strauß es macht, wenn er nichts sehen und hören will. Genauso macht es deine Nichte – natürlich bildlich genommen. Vielleicht erzählt sie dir in einer stillen Stunde, wie wunderbar sie Menschen quälen kann. Und nun auf Wiedersehn, meine Damen!« Nicht mehr wissend, was sie von alledem halten sollte, sah Frau Marianne ihm nach. Sie konnte der Nichte nicht den Trost geben, den diese so nötig gebraucht hätte, weil es in ihrem Herzen selbst so trostlos aussah. Sie streichelte nur immer wieder das lockige Köpfchen, das an ihrer Brust lag. Ilse-Sibylle hatte die Augen geschlossen. Durch die zarten Schläfen schimmerten blau die Adern, in denen es hämmerte und pochte. Da klang Klavierspiel von unten herauf, das sie bis in tiefster Seele ergriff. Wie eine heiße Welle fluteten die Töne über das verstörte Menschenkind hin, schienen es versengen zu wollen, in Glut und Leidenschaft. Ebenso wie das Spiel begonnen, riß es auch ab – jäh, mit einem Mißklang. Gleich darauf hörten sie Krafft vor dem Portal eine Schlagermelodie pfeifen. Dann rief er nach seinem Pferd, bei dessen Namen Ilse-Sibylle entsetzt auffuhr. »Tante Marianne, der wilde Hengst!« schrie sie verzweifelt. Lauter und deutlicher klang jetzt das Pfeifen herauf. Unwillkürlich sprach Ilse-Sibylle die Worte mit: »Wenn das Herz dir auch bricht, zeig ein lachendes Gesicht – «
Die Tage vergingen. Die Wintersonne schien schon über Mittag recht warm, hatte jedoch immer noch nicht Kraft genug, um die feste Schneedecke hinwegzuschmelzen. Ilse-Sibylle tummelte sich viel im Freien, um sich zu beschäftigen, ja nicht zum Nachdenken zu kommen. Sie rodelte mit Lo, lief zusammen mit ihr Schlittschuh. Jagte auf dem Pferd umher, jetzt schon ebenso sicher im Sattel wie die Base. Sie wurden beide unzertrennlich, sprachen jedoch nie darüber, was sie so leiden ließ. Lo kam fast nie mehr nach Dünentrutz, doch um so mehr war Ilse-Sibylle in Unruh. Auch Frau von Bruckheim fand den Weg sehr oft dorthin. In dieser Zeit lernte sie die Familie Rainer so richtig schätzen. Wohltuend war deren Teilnahme, die sich jedoch nie in Worten äußerte. An einem sonnenhellen Morgen rief Lo in Dünentrutz an und verabredete mit der Base eine Skitour. Im Wald wollten sie sich treffen. Ilse-Sibylle machte sich sogleich auf den Weg. Nur Harras, ihren treuen Begleiter, mußte sie heute entbehren, da er mit Herrchen unterwegs war. Die Sonne lachte vom blauen Himmel und machte die Schneelandschaft zur Märchenwelt. Die reine Luft tat IlseSibylle gut, rötete ihre so fahl gewordenen Wangen. Sie glitt dahin, pfeilgeschwind. Welch eine Freude, so leicht und unbeschwert dahinzufliegen! Doch als sie den Wald erreicht hatte, mußte sie stehenbleiben, weil das Herz ihr von der tollen Fahrt wie rasend schlug. Fest preßte sie die Hand darauf und sah sich mit leuchtenden Augen in dem wie verzauberten Wald um. Sinnbetörend schön war sie, als sie so dastand. Weich umschmiegte der zartgetönte Wollpullover die ungemein grazile Gestalt. Unter dem feschen Mützchen quollen die sonnenhellen Locken hervor. Gerade als sie die Hand von der Brust nehmen wollte, durchpeitschte ein Schuß die friedvolle Stille des Waldes. Ilse-Sibylle fühlte in der Linken einen Schlag, hob sie
erstaunt hoch Blut quoll aus dem Handschuh, tropfte in den Schnee. Da packte sie unsinnige Angst. Wie gehetzt sauste sie davon. Machte erst halt, als sie Dünentrutz erreicht hatte. Sie löste die Schneeschuhe, so gut es mit einer Hand gehen wollte, wickelte die verletzte Hand in den Pullover und erreichte ungesehen die Schloßhalle, wo sie mühsam die Treppe emporstieg. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sah mit Grauen, wie das Blut bereits den Pullover durchtränkt hatte und nun auf die Hose tropfte. Wie gut, daß Krafft nicht zu Hause war! Er hätte sich bestimmt geärgert, daß sie trotz seines Verbotes wieder einmal allein im Wald gewesen war. Und sie litt unter seiner Kälte schon ohnehin genug. Doch kaum hatte sie die Treppe zur Hälfte erstiegen, als er ihr von oben entgegenkam. Ein Blick in ihr weißes Gesicht, die angstgeweiteten Augen, auf den rotgefärbten Pullover, und schon sprang er in langen Sätzen die Stufen herab. Sein Arm umfaßte ihre wankende Gestalt. »Ilsibyll, was ist geschehen?!« Sie hörte die Angst in seiner Stimme, und es überflutete sie freudig und weh zugleich. Sie schloß die Augen, lehnte sich fest an die kraftvolle Brust. »Ich – ich – ach, Krafft – nicht böse sein – « Ohne weiter zu fragen, hob er sie auf seine Arme und trug sie in ihr Schlafzimmer. Legte sie dort auf den Diwan, wickelte die Hand aus und sah entsetzt darauf nieder. »Ilsibyll, du unglückseliges Kind, das sieht ja nach einem Schuß aus!« sagte er rauh. Sie schlug die Augen auf, sah in sein bleiches, zuckendes Gesicht. »Ich kann wirklich nichts dafür«, flehte sie. »Im Wald hörte ich einen Schuß, spürte einen Schlag gegen die Hand – « »Merkwürdig – gerade die Hand. Wo hieltest du die denn?« »Auf die Brust gedrückt. Ich war atemlos vom schnellen Skilauf, hatte rasendes Herzklopfen – « Sorgfältig untersuchte er die Hand. War dabei so blaß, daß
Ilse-Sibylle erschrak. Dann trat er an das Fenster, öffnete es und rief einem Arbeiter zu, daß der Chauffeur auf schnellstem Wege Sanitätsrat Meder herholen möchte. Dann kam er zu Ilse-Sibylle zurück, und während er wieder ihre Hand kopfschüttelnd betrachtete, brach es zürnend aus ihm heraus: »Was hattest du auch im Wald zu suchen?! Habe ich dir nicht verboten, ihn allein zu durchstreifen? Aber du hörst ja nie. Hältst alles, was ich von dir verlange, für Quälerei und Schikane. Wenn du wenigstens Harras mitgenommen hättest, damit er den Täter an Ort und Stelle gleich fassen konnte. Nichts als Sorge hat man mit dir, du eigenwilliges Kind!« Sie duckte sich vor Angst, und er lachte bitter. »Gewiß, ich fresse dich nächstens – «, grollte er. Ihre Lippen zuckten, Tränen liefen über ihr blasses Gesicht. Trotzdem war sie so glücklich wie schon lange nicht mehr. Mochte er auch noch so zürnen, aber er sprach doch wenigstens wieder mit ihr. Zeigte ihr seine Sorge – da müßte sie den Schuß doch eigentlich segnen. Sie hätte seinen Kopf streicheln mögen, der dem ihren so nahe war, wagte es jedoch nicht. Als aber die Schere, die er aus der Tasche gezogen, in den Pullover fuhr, hielt sie seine Hand fest. »Krafft, er ist doch fast neu – « »Halt still!« sagte er unmutig. »Ich soll dir wohl noch mehr Wolle über die geschwollene Hand ziehen, damit du dir die schönste Blutvergiftung holst. Böse genug sieht es jetzt schon aus.« »Was wäre dabei?« sprach sie leise. »Uns beiden könnte damit doch nur geholfen sein.« Er fuhr auf, starrte sie an. Dick quollen die Adern an den Schläfen. »Himmeldonnerwetter, jetzt ist’s aber genug!« schrie er sie an. »Hüte dich – du! Ich bin nämlich nur ein Mensch!« »Sei doch nicht gleich immer so böse, Krafft!« schmeichelte sie süß. »Ich will ja alles tun, was du willst. Sei nur wieder
so zu mir – wie du Weihnachten warst.«
Ein Ruck ging durch seinen Körper, daß er davon erbebte.
Dazu brach ein Strahl aus seinen Augen, der sie erzittern
ließ in seligem Schreck.
Doch schon wandte er sich ab. Rief die Zofe herbei, die er
anwies, ihm ein Desinfektionsmittel und Verbandszeug zu
bringen.
So behutsam wie nur möglich säuberte er die Wunde, legte
einen Verband an und richtete sich dann auf.
»So, damit wäre getan, was sich tun läßt. Nun müssen wir
auf den Arzt warten.«
Jetzt fiel Ilse-Sibylle die Base ein.
»Lo wartet auf mich an der großen Eiche. Wir hatten uns
dort verabredet.«
Wieder trat er an Fenster, öffnete es und rief den Verwalter
an, der unten vorüberging.
»Herr von Lürstädt!«
»Herr Baron?«
»Reiten Sie doch bitte sofort zu der großen Eiche am
Wildgatter. Dort wartet Fräulein Rainer auf meine Frau.
Sagen Sie ihr, daß sie nicht kommen kann, weil ein Schuß
ihre Hand verletzt hat. Nicht lebensgefährlich, doch auch
nicht unbedenklich.«
Er hatte gerade das Fenster geschlossen, als Frau von
Bruckheim eintrat.
»Kinder, was ist denn passiert?«
»Ilse-Sibylle hat im Wald ein Streifschuß getroffen.«
Sie erblaßte, zog die Nichte in die Arme.
»Aber Kind – was machst du uns für Sorge!«
»Das finde ich auch«, bekräftigte der Arzt, der soeben
eintrat. Er ließ sich den Vorgang erzählen und schüttelte
dann den Kopf. »Merkwürdige Angelegenheit!«
Nachdem er die Hand untersucht hatte, schmunzelte er.
»Frau Baronin hat Glück gehabt – wie immer. Leichter
Streifschuß, aber großer Blutverlust. Daher werde ich
Bettruhe verordnen müssen.«
Er gab noch Verhaltungsmaßregeln und verabschiedete sich
dann, weil er wie stets sehr beschäftigt war. Versprach, am
nächsten Tag wiederzukommen.
Frau Marianne brachte die Nichte zu Bett, die sich wohlig
darin streckte. Wie war sie doch müde! Und wie schön
würde sie schlafen – denn Krafft war ja wieder gut. Oh, wie
gut war er zu ihr gewesen!
Schon halb im Traum hörte sie, daß er wieder das Zimmer
betrat und leise mit der Tante sprach.
Wie schön, so umsorgt zu werden – wie wunderschön!
Lürstädt ritt zu der bezeichneten Stelle des Waldes. Schon
von weitem sah er Lo auf einem Baumstumpf sitzen.
Sie erblaßte, als er plötzlich vor ihr stand, rührte sich
jedoch nicht.
»Sie wünschen?« fragte sie hochmütig.
»Ich habe eine Bestellung auszurichten, gnädiges Fräulein.
Der Frau Baronin ist im Wald ein Unfall zugestoßen.
Jemand hat sie in die Hand geschossen. Es soll aber nicht
lebensgefährlich sein.«
Lo sprang auf.
»Das ist – ja – entsetzlich!« stammelte sie. Doch dann
nahm ihr Gesicht wieder den hochmütigen Ausdruck an.
»Ich danke Ihnen, Herr von Lürstädt. Bestellen Sie meiner
Base herzliche Grüße. Ich lasse gute Besserung wünschen.«
Sie neigte leicht den Kopf, schulterte die Schneeschuhe und
wollte sich entfernen, als er rasch aus dem Sattel glitt und
ihr den Weg vertrat.
Sie standen sich gegenüber. Lo stolz und kalt, er in tiefster
Erregung.
»Vielleicht habe ich nie mehr die Gelegenheit, Sie allein zu
sprechen, gnädiges Fräulein. Und ich muß Sie doch noch
um Verzeihung bitten.«
Lo klopfte das Herz wie rasend. Doch sie durfte sich nicht
gehen lassen – auf keinen Fall!
»Ich wüßte nicht, was ich Ihnen zu verzeihen hätte«,
entgegnete sie abweisend. »Sie haben ja nichts getan, was
eine Entschuldigung erfordert. Ich habe mich Ihnen ja an
den Hals geworfen.«
Drohend klang nun seine Stimme auf: »Gnädiges Fräulein, ich muß doch sehr bitten!« »Warum? Ich sprach nur die Wahrheit. Es steht Ihnen sogar frei, allen Menschen zu erzählen – « »Halt – nicht weiter! Mir ist die Angelegenheit zu ernst und heilig, um eine Banalität daraus zu machen. Ich habe schwer bereut, daß ich – « »Das glaube ich!« lachte sie bitter dazwischen, und da lief ein schmerzliches Zucken über sein Gesicht. »Nicht in dem Sinne, wie Sie anzunehmen scheinen, mein gnädiges Fräulein. Wäre ich ein Mensch, der Ihnen etwas zu bieten hätte, noch heute würde ich um Sie werben. Aber da ich ein Bettler bin, darf ich meine Hand nicht nach Ihnen ausstrecken. Ich werde den Baron um meine sofortige Entlassung bitten, damit ich Ihnen aus den Augen komme und Sie die Ihnen so unangenehme Begebenheit leichter vergessen können.« Lo war wieder auf den Baumstamm gesunken und sah zu ihm auf. Es war ein Blick, unter dem er die Zähne zusammenbeißen mußte. »Ja, gehen Sie nur – «tsagte sie mit einer Stimme, welche die Qual ihres Herzens verriet. »Das ist sehr bequem für Sie. Wenn ich leide, was kann Sie das interessieren? Sehen Sie denn nicht, wie ich mich demütige!« schrie sie auf. »Ist es nicht genug – immer noch nicht genug?!« Jeder Blutstropfen wich aus seinem Antlitz. Wie haltsuchend lehnte er sich gegen einen Baum. Seine Zähne bissen sich so fest zusammen, daß die Wangenmuskeln spielten. »Gnädiges Fräulein – ich bitte Sie – das kann ich doch unmöglich ertragen!« stieß er mit rauher Stimme hervor. »Aber ich – ich soll es wohl ertragen!« Noch beherrschte er sich mit Aufbietung aller Kraft. »Lo – ich liebe Sie.« Da lachte sie auf. So schmerzgequält klang das Lachen, daß es ihm durch und durch ging. »Oh, Sie sind doch nicht ganz so grausam, wie ich dachte,
Freiherr von Lürstädt! Sie träufeln wenigstens noch einige süße Tropfen in den gallebitteren Trank, den Sie mir an die Lippen setzen. Eine komische Ausrede, ein Mädchen wegen seines Geldes zu verschmähen!« »Nicht dieses unerhörte Wort!« bat er flehend. »Sie dürfen mich doch nicht so mißverstehen. Ich wiederhole, daß ich ein Bettler bin und daher meine Hand nicht nach Ihnen ausstrecken darf. Denken Sie an Ihren Vater! Nie würde er seine Einwilligung zu einer Heirat mit mir geben.« »So ohne weiteres bestimmt nicht«, antwortete sie müde. »Denn er hält Sie für hochmütig und standesstolz. Aber Sie haben ja eine gute Position, können daher eine Frau recht wohl ernähren.« »Würden Sie es denn ertragen, von Unruh fortzugehen?« »Nein, wohl kaum. Ich liebe meine Heimat – aber ich liebe auch -Sie.« Wie ein Hauch kamen die letzten Worte von ihren zuckenden Lippen, und da war es um die fast übermenschliche Beherrschung des Mannes geschehen. Er fiel vor ihr auf die Knie, wühlte seinen Kopf in ihren Schoß. »Lo – du trägst die Verantwortung!« stöhnte er auf. »Wenn dein Vater dir die Einwilligung versagt – ich habe dir nicht mehr zu bieten als mich selbst.« »Als ob das nicht genug wäre!« entgegnete sie leise, während ihr die Tränen über das blasse Gesicht liefen. Er hob den Kopf, sah ihr in die Augen, aufs tiefste erschüttert. »So lieb hast du mich, Lo?« »Ja – so lieb – Winfried.« Da sprang er auf, zog sie zu sich empor. Preßte sie fest an sein Herz und küßte sie heiß. Als er sie endlich aus den Armen ließ, sah sie bang zu ihm auf. »Und wenn du morgen schon wieder vergessen hast?« »Kind, was sprichst du da! Ich und dich vergessen – großer Gott! Laß uns lieber beraten, was nun werden soll. Wenn
dein Vater uns seine Einwilligung versagt – ich gebe dich nicht mehr frei, nun ich weiß, daß du mich wirklich liebst.« Er nahm ihr die Schneeschuhe ab, umfaßte ihre Schulter und zog sie mit sich fort. Das Pferd folgte ihnen treu. Drückte nur ab und zu die Nüstern an die Wange seines Herrn, um sich in Erinnerung zu bringen. Eine Weile gingen sie schweigend dahin, bis er das Wort ergriff. »Morgen komme ich zu deinem Vater, mein Lolokind. Wahrscheinlich werde ich eine abschlägige Antwort auf meine Werbung erhalten, da ich weiß, daß er andere Pläne mit dir hat. Es war auf dem Fest in Dünentrutz. Ich kam von der See herauf in den Saal zurück, das Herz bis obenhin gefüllt mit Liebe und Glück. Da hörte ich deinen Vater mit dem alten Herrn Rhode sprechen. Sie waren sich darüber einig, daß du Herbert Rhode heiraten sollst. Vielleicht kannst du dir vorstellen, was da in meinem Herzen vorging. Ich nahm bestimmt an, daß du um diese Pläne wüßtest und mich aus Zeitvertreib zum Narren gehalten hättest.« »Und quältest mich so unmenschlich, anstatt mich zur Rede zu stellen!« unterbrach sie ihn unwillig. »Wenn ich mich dir gegenüber auch bis zur Schamlosigkeit gedemütigt habe, so bin ich immer noch nicht ein Mädchen von der Sorte, die sich von einem Mann küssen läßt und einen andern heiratet. Sehe ich denn so aus, als ob ich mich verschachern ließe? Wohl weiß ich um den Lieblingswunsch meines Vaters, mich mit Herbert Rhode zu verheiraten. Die Güter liegen so hübsch nebeneinander, und auf beiden Seiten ist Geld. Doch daß der Mann schwindsüchtig ist, das scheint mein Vater nicht zu wissen, sonst müßte ich ja irre an ihm werden.« Langsam schritten sie dahin. Und als sie Unruh erreicht hatten, war die Mittagsstunde da. Lo hatte kaum Zeit, sich mit Hilfe der Zofe umzukleiden, als auch schon der Gong zur Mittagstafel rief.
Lo war wie gewöhnlich still und in sich gekehrt, so daß die Mutter sie immer wieder bekümmert musterte. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis ihr Lolokind wieder lachen konnte? Als man sich nach dem Essen in das kleine Gemach zurückzog, um dort den Mokka einzunehmen und noch ein Weilchen dabei zu plaudern, richtete Lo ihre Augen fest auf den Vater. »Morgen kommt Freiherr von Lürstädt und wird dich um meine Hand bitten, Vater«, sagte sie, so ruhig sie konnte. Still war es im Zimmer, beängstigend still. Dem Hausherrn kroch die Zornesröte ins Gesicht, seine Augen blitzten. »Das ist allerdings eine überraschende Neuigkeit«, entgegnete er mit einer Stimme, der man nicht anmerkte, wie es in seinem Innern gärte. »Eine Neuigkeit schon, aber hoffentlich keine unangenehme«, zuckte Lo die Schultern. »Ich möchte bemerken, daß ich meinen Verlobten bis zum Wahnsinn liebe und niemals von ihm lassen werde. Hörst du, Vater – niemals!« Da war es mit Herrn Rainers Beherrschung vorbei. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß dieser erzitterte. »Da soll doch dieser und jener -!« schrie er in heller Wut. »Du Küken wirst heiraten, wen ich für dich bestimme! Doch keineswegs diesen arroganten, hochnäsigen Bengel, bei dem der Mensch erst anfängt, wenn er adlig ist. Da soll ich mich etwa in meinen eignen vier Wänden über die Schulter ansehen lassen, was?! Um sich ins warme Nest zu setzen, dazu ist ihm ein simples Fräulein Rainer gut genug, wie? Vielleicht hat er Gelüste, Unruh ebenso vor die Hunde zu bringen, wie er es mit dem Erbe seiner Väter getan hat – « Er brach ab und starrte verblüfft auf seine Tochter, die nun vor ihm stand. In dem weißen Antlitz schienen nur die Augen zu leben, in denen eine harte Entschlossenheit lag. »Ich verbiete dir, den Menschen zu schmähen, den ich aus tiefster Seele liebe!« sagte sie kalt. »Merke dir, Vater – was
du ihm tust, das tust du mir. Was kann er dafür, daß er durch gewissenlose Verschwender sein Hab und Gut verlor, während er für das Vaterland kämpfte? Ihm ist es quälend genug, um ein reiches Mädchen zu werben. Er würde es auch nicht tun, wenn ich mich ihm nicht an den Hals geworfen hätte.« Der Vater packte ihr Handgelenk so fest, daß sie aufstöhnte. Doch sie sah ihm furchtlos in die zornfunkelnden Augen, während sie immer blasser wurde. Dick schwollen die Adern auf des Vaters Stirn, seine Zähne knirschten aufeinander. »Das hast du getan?« stieß er hervor. »Bist du denn ganz verrückt geworden?!« »Es ist fast soweit«, entgegnete sie tonlos. »Denn wie ich diese Monate gelitten habe, das konnte bestimmt bald zum Irrsinn führen. Doch laß bitte meine Hand los. Auf die Dauer wird mir nämlich der Schmerz unerträglich. Wenn du für dein Unruh fürchtest, wir werden auch ohne es auskommen. Winfried verdient in Dünentrutz so viel, daß er eine Frau sehr gut ernähren kann. Und Krafft von Broede ist kein Unmensch, seiner Hilfe bin ich sicher. Aber so nebenbei möchte ich dich aufmerksam machen, daß du auch nichts hattest, als du um Mutti warbst. Von deinen Gütern gehörte dir kaum noch ein Stein, so verschuldet waren sie.« Rainer starrte seine Tochter an und hob die Hand. Frau Felicitas warf sich mit einem wehen Aufschrei dazwischen, doch Lo schob sie sanft zurück. »Laß den Vater mich ruhig schlagen, Mutti. Das ist mir nicht so schmerzlich, als wenn er morgen Winfried beleidigt.« Schlaff fiel seine Hand herab. Dann griff er sich in den Kragen, als wäre er ihm zu eng. Zuckte zusammen, als Lo sagte: »Den Rhode heirate ich nicht. Er ist dumm, unleidlich und außerdem noch schwindsüchtig. Ist doch rührend, so eine Vaterliebe!«
Sie lachte kurz auf, ging zur Tür und wandte sich dort noch
einmal um.
»Vater, ich mache dich noch einmal darauf aufmerksam,
daß jede Beleidigung, die du Winfried zufügst, auch mich
trifft.«
Dann hastete sie davon nach ihrem Schlafzimmer.
Frau Felicitas umschlang den Gatten mit beiden Armen,
doch er schob sie schroff zurück.
»Geh doch zu deinem Zuckerpüppchen!« höhnte er. »Dazu
hat man so ein Gör mit Liebe großgezogen, daß es einem
nun kaltschnäuzig den Stuhl vor die Tür setzt.«
»Julius, bedenke, wie sehr das Kind gelitten hat – «
»Ach was!« fuhr er dazwischen. »Lo ist blind verliebt, sieht
und hört nichts. Die Eltern sind dazu da, um ihr
unerfahrenes Kind vor Unglück zu bewahren. Der Bengel
will ihr Geld, nichts weiter.«
»Den Eindruck eines Glücksritters macht Freiherr von
Lürstädt nicht«, entgegnete sie fest.
»Vielleicht auf dich nicht«, war die ironische Erwiderung.
»Du hast dich eben auch in den arroganten Bengel
vergafft.«
»Julius, du weißt nicht, was du sprichst – «
»Laß mich in Ruhe!« fuhr er sie an. »Mag der Bursche
morgen nur kommen! Ich sage ihm schon, was ich auf dem
Herzen habe.«
»Das wirst du nicht tun!« trumpfte sie auf. »Du wirst
vernünftig sein und uns nicht durch deinen Starrsinn unser
einziges Kind entfremden. Denk doch mal ein wenig nach
– ist unter den Familien ringsum, die Töchter zu geben
haben, eine einzige, denen Lürstädt als Schwiegersohn
nicht angenehm wäre?«
Er brummte etwas von Verrücktheit und ging hinaus.
Frau Rainer jedoch eilte zum Zimmer ihrer Tochter, stand
dann beunruhigt vor der verschlossenen Tür.
»Lo, mach bitte auf!«
»Laß mich, Mutti – «, kam die Antwort gequält. »Ich
möchte allein sein.«
»Kind, ich ängstige mich um dich.«
»Dazu hast du keine Veranlassung. Ich werde schon mit
mir fertig.«
Da ging die Mutter, Angst und Sorge im Herzen.
Lo hatte übrigens gar nichts, womit sie fertig werden
mußte. Sie wußte ganz genau, was sie zu tun hatte.
Die Stunden schlichen langsam dahin, hauptsächlich die
Nachtstunden. Doch nicht nur Lo allein warf sich ruhelos
auf ihrem Lager herum, auch die Eltern konnten keine
Ruhe finden.
Und als dann endlich die Stunde kam, wo der Freier auf
den Hof fuhr, da preßte sich Los Herz zusammen in
zitternder Angst. Nicht für sich fürchtete sie, sondern für
den geliebten Mann. In seiner Gereiztheit pflegte der Vater
nicht gerade rücksichtsvoll zu sein – und Winfried würde
seine Ehre bestimmt nicht angreifen lassen.
Wieder kam die Mutter zu ihr und fand diesmal Einlaß.
Erschüttert zog sie ihr Kind in die Arme.
»Lo, Liebling, was für ein trotziges Köpfchen du hast!
Anstatt daß du den Vater bittest, wirst du schroff. Du weißt
doch, daß er derartiges nicht vertragen kann.«
»War er etwa anders zu mir?«
»Das darfst du nicht so ansehen, Kind. Versetze dich doch
mal in seine Lage. Es ist nun mal seine Überzeugung, daß
Lürstädt nicht dich, sondern Unruh will.«
»Dann besitzt er keine Menschenkenntnis. Ist ja auch egal.
Ob er einwilligt oder nicht – ich werde Winfrieds Frau! Ich
lasse mir durch den Starrsinn meines Vaters nicht mein
Lebensglück rauben! Mich nimmt Winfried auch ohne
Unruh.«
Unterdessen stand Freiherr von Lürstädt vor Herrn Rainer.
Er hielt dem durchdringenden Blick der klarblauen Augen
offen stand.
»Also, Sie wollen meine Tochter zur Frau?« fragte er schroff.
»Ich bitte darum, Herr Rainer.«
Wieder ein Blick, der ihn zu durchbohren schien.
»Und was haben Sie meiner Tochter zu bieten?«
»Nicht viel mehr als meine Person. Die jedoch voll und ganz.« »Das ist wenig, mein Herr.« »Ich weiß es, Herr Rainer. Daher hätte ich auch nie den Mut gehabt, um Ihre Tochter zu werben, wenn sie mich nicht brauchte, um glücklich zu sein.« »Sie sind sehr eingebildet, Freiherr von Lürstädt.« »Nicht eingebildet, Herr Rainer – nur unbändig glücklich, daß Lo mich liebt. Mein Leben wäre glücklos geworden, hätte ich auf sie verzichten müssen.« »Und werden Ihre Ahnen sich nicht im Grabe umdrehen, weil Sie eine Bürgerliche heiraten wollen?« »O nein. Sie wären stolz darauf gewesen, daß ein so liebenswertes Menschenkind ihren Namen tragen soll.« »Hm, eigentlich gar nicht so übel. Schließlich muß ich ja noch froh sein, daß Sie das Mädchen haben wollen, das sich Ihnen an den Hals geworfen hat.« Solange hatte Lürstädt dagestanden, ruhig, höflich, in sicherer, freier Haltung. Doch jetzt straffte sich seine Gestalt, hart und kalt wurde das Gesicht, die Augen flammten. »Lo ist meine Braut, Herr Rainer!« Zwar sprach er ruhig, doch in seiner Stimme lag ein so drohender Ton, daß der andere unwillkürlich zurückwich. Dann lief er einige Male im Zimmer mit Riesenschritten hin und her, blieb dann vor Lürstädt stehen und sah ihn lange an. »Ich werde Ihnen mal etwas sagen«, grollte dann endlich sein Baß auf. »Nehmen Sie die Lo in Gottes Namen. Aber machen Sie sie mir glücklich, verstanden? Sollte ich mein Kind noch einmal so leiden sehen wie in den vergangenen Monaten – dann – ja, dann will ich nicht zu wenig versprechen!« Oh, wie leuchtete es da in den Augen des Freiers auf! Über das eben noch so kalte Antlitz glitt ein so glückseliges Lachen, daß Rainer sich brummend abwandte. Das fehlte gerade noch, daß er diesem vermaledeiten Schlingel zeigte,
wie ihm ums Herz war! Er rief den Diener herbei. »Die Damen sollen hier unverzüglich antreten!« Gleich darauf waren sie da. Einen Blick in das Gesicht des Vaters – und schon hing Lo ihm am Hals. »Paps – ach, Paps – das vergesse ich dir nie!« »Na, du borstiges kleines Frauenzimmer!« polterte er, um seine Rührung zu verbergen. »Gestern gefährliche Krallchen und heute Katzenpfötchen. Geh hin zu dem vertrackten Bengel, der meine ganzen schönen Pläne über den Haufen geworfen hat! Schau nur, was der für Augen macht!« Da flog sie auf ihn zu. Ilse-Sibylles Verletzung war zwar nicht gefährlicher Art, aber der Blutverlust hatte sie geschwächt. Bis zum Abend schlief sie fest, dann duselte sie im Halbschlaf vor sich hin. Wie schön es war, wenn immer wieder jemand zu ihr kam, sich vorsichtig über sie beugte! Am häufigsten kam Krafft. Verbrachte auch die Nacht auf dem Diwan in ihrem Schlafzimmer. Wenn Ilse-Sibylle zwischendurch wach wurde, beobachtete sie ihn, ohne sich zu rühren. Ob er schlief? Wohl kaum. Denn sobald sie sich nur leicht bewegte, war er bei ihr. Das war so schön, daß sie es mehrmals ausprobierte, sich jedoch schlafend stellte. Dann ging er wieder zum Diwan zurück, auf den er sich streckte und treue Wacht hielt. Das zu wissen, machte Ilse-Sibylle unbeschreiblich glücklich. Nach Wochen vernichtender Kälte nun diese Fürsorge. Wie wohl das tat, wie das beglückte! Nie mehr wollte sie abweisend zu ihm sein. Wollte nehmen, was er ihr gab, ohne jegliches Wenn und Aber. Gegen Morgen schlief sie fest ein. Schlief solange, bis sie angesprochen wurde. Sie schlug die Augen auf und sah in Kraffts lächelndes Gesicht. »Wie fühlst du dich, Ilsibyll? Ich mußte dich leider wecken, weil du schon über Gebühr lange geschlafen hast und außerdem essen mußt, damit du nicht noch schwächer
wirst. Und dann habe ich dir etwas mitzuteilen, das dich überraschen und erfreuen wird: Lo hat sich verlobt. Und rate, mit wem!« Nun war sie hellwach, richtete sich auf und lachte ihn an. »Natürlich mit Freiherr von Lürstädt. Mit wem denn sonst?« »Ah, du weißt? Hat Lo mit dir über ihre Herzensangelegenheit gesprochen?« »Nein, dazu war sie wohl nicht fähig. Ich hab’s aber gefühlt, wie sehr sie um den Mann litt. Um so größer wird jetzt ihre Glückseligkeit sein.« »Welch eine kluge Frau ich doch habe!« neckte er. »Wo alle anderen herumrätselten, war sie im Bilde. Wir sollen durchaus nach Unruh kommen.« »Ich auch?« »Natürlich. Dr. Meder, den ich anrief, wird es dir wahrscheinlich gestatten. Er kommt gleich her, um sich deine Hand anzusehen. Hast du noch Schmerzen?« »Nein, Krafft. Ich habe eigentlich kaum welche gehabt. War nur sehr müde.« In Unruh erwartete man sie schon sehnsüchtig. Ilse-Sibylle wurde mit so großer Vorsicht behandelt, daß sie die Ängstlichen auslachte. Sie umfaßte Lo mit dem gesunden Arm, drückte sie fest an sich. Ein Glückwunsch wäre ihr banal erschienen. Sie lachten sich an – und verstanden sich prächtig. Unterdessen schritt Krafft zu Lürstädt hin und streckte ihm die Hand entgegen. »Auf gute Freundschaft, Winfried!« Ein warmer Blick, ein fester Händedruck – und auch sie verstanden sich. Lo war zuerst immer noch nicht so, wie man sie früher gekannt. Zu tief hatte sie gelitten und mußte sich jetzt erst langsam an das Glück gewöhnen. Doch an der Kaffeetafel taute sie allmählich auf. »Ich habe übrigens unsere Nachbarin, Frau Börne,
getroffen«, erzählte Herr Rainer. »Sie ist seit einigen Tagen wieder im Lande und hat sich Verehrer mitgebracht – en gros, sage ich euch. Mit mir wollte sie ja auch schöntun, wogegen ich wohl nichts gehabt hätte, wenn ich nicht die neugebackene Schwiegermutter so fürchtete.« Dabei zeigte er augenzwinkernd zu seiner Frau hin, die aber gar nichts Schwiegermütterliches an sich hatte. Man lachte herzlich. Und als Lo gar noch rief: »Na, na, Julius, nur nicht so ängstlich!« brach stürmische Heiterkeit los. Herr Rainer strahlte vor Freude. »Winfried, du Schlingel!« schmunzelte er. »Daß Lo mich nun wieder Julius nennt, das vergesse ich dir nie. Denn daß sie nun wieder unser altes fideles Marjellchen ist, dürfte allein dein Verdienst sein. Meine Freude über dich ist so groß, daß ich dir etwas zuliebe tun möchte. Wie steht es mit eurem Stammgut, mein Junge? Könnte man es eventuell zurücklaufen?« »Das ist unmöglich, Vater. Das Schloß ist abgebrannt und das Land parzelliert. Ich habe auch schon längst überwunden, daß meine Heimat nicht mehr ist. Ich habe nun in Unruh eine zweite und bestimmt noch schönere gefunden.« Herrn Rainers Augen wurden feucht. Fest drückte er dem Schwiegersohn die Hand. Obgleich Ilse-Sibylle sich äußerst wohl fühlte, bestimmte der Gatte einen frühen Aufbruch. Da half kein Zureden und Bitten der anderen. »Hast dir einen guten Tyrannen erzogen, Marjellchen!« neckte der Onkel Ilse-Sibylle. »Bist viel zu nachsichtig. Läßt dem Eheherrn zuviel den Willen.« »Was mir bisher immer gut bekommen ist, Onkelchen.« Zu Hause angekommen, wechselte Krafft den Verband. »Einige Tage noch, Ilsibyll, dann kannst du den Arm aus der Binde nehmen. Hast eine wunderbare Heilhaut. Doch nun möchte ich dich dringend bitten, nie mehr allein in den Wald zu gehen, überhaupt keine einsamen Spaziergänge zu unternehmen. Wenn du Lust dazu hast,
werde ich zu deiner Begleitung stets zur Verfügung stehen. Und sollte ich doch einmal verhindert sein, dann kannst du dich Lo oder Winfried anschließen. Bist du nun vernünftig, kleine Frau – oder bin ich gezwungen, aus meiner Bitte einen Befehl zu machen?« Er sah sie forschend an, die den Kopf gesenkt hielt und schwieg. »Ilse-Sibylle, du hast doch heute selbst gesagt, daß mein Wille dir bisher immer gut bekommen ist – « Da hob sie den Kopf und sah ihn süß lächelnd an. »Ich tue, was du verlangst, Krafft.« Er hatte es plötzlich sehr eilig. Küßte ihr die Hand und ging hinaus. Einige Tage später erhielt Frau von Bruckheim ein Telegramm von ihrer Freundin, daß diese erkrankt wäre und ungeduldig ihren Besuch erwartete. Schweren Herzens mußte sie sich zu der Reise entschließen und die Nichte zurücklassen, über deren ferneres Schicksal immer noch nicht entschieden war. Wenn sie mit Krafft darüber sprechen wollte, machte er mit einigen spöttischen Bemerkungen ihr Vorhaben zunichte. Aber jetzt wollte sie ihn zwingen, ihr klipp und klar Rede und Antwort zu stehen. In dieser Ungewißheit konnte sie unmöglich Dünentrutz verlassen. Sie hätte weder Rast noch Ruh gehabt. Also suchte sie ihn am Abend vor ihrer Abreise in seinem Arbeitszimmer auf. Er stand mit dem Rücken am Fenster, hielt die Arme über der Brust verschränkt und sah ihr spöttisch entgegen. »Ich ahne, warum du kommst, Tante Marianne.« »Um so besser, da brauche ich erst keine langen Vorreden zu halten. Wie steht es mit deiner Ehe, Krafft – wozu hast du dich entschlossen? Bevor ich da nicht ganz klar sehe, ist es mir nicht möglich abzufahren.« »Ich verstehe dich nicht, Tante Marianne. Mehr als einmal habe ich erklärt, daß Ilse-Sibylle meine Frau bleibt. Nimmst du meine Worte denn nicht ernst? Wenig
schmeichelhaft für mich.« »Willst du denn die Tradition eures Hauses brechen?« »Durchaus nicht. Ilse-Sibylle trägt das Blut eines alten Geschlechtes in sich.« »Sie sehnt sich aber fort von dir, Krafft.« »Warum? Vermißt sie hier etwas? Könnte sie hier nicht den Himmel auf Erden haben? Daß sie lustlos und elend ist, daran trägt sie allein die Schuld.« »Stimmt – aber Liebe fragt nun einmal nicht.« Es zuckte in seinen Augenwinkeln, seine Hand schloß sich langsam zur Faust. »Diese Liebe ist töricht, weil sie aussichtslos ist«, sagte er hart. »Dr. Vehr ist zweifellos eine bedeutende Persönlichkeit, ich kann Ilse-Sibylles Vorliebe für ihn recht gut verstehen. Doch er darf, solange ihm die Unruhe im Blut steckt und er reisen und wandern muß, keine Frau an sich ketten. Wenn diese nicht immer allein bleiben wollte, müßte sie ihn also begleiten. Abgesehen davon, daß ihm das alles lästig sein müßte, wäre Ilse-Sibylle den Strapazen nicht gewachsen. Wohl hat sie einen gesunden, widerstandsfähigen Körper, oft genug hat sie das ja bewiesen. Allein ihre Nerven sind sehr empfindlich und würden bei den ungeheuren Anforderungen einer Forschungsreise versagen. Liebte sie einen Mann, der ihr mehr zu bieten hätte als ich, nicht eine Stunde würde ich sie länger halten. So jedoch bleibt sie hier.« »Und wie soll das weitergehen, mein Junge? Du kannst doch nicht ewig in dieser Scheinehe leben. Und soweit ich Ilse-Sibylle kenne, wird sie nur dem Mann angehören, den Sie liebt.« »Sie wird mich liebenlernen.« Ganz gelassen sagte er das, als handelte es sich um eine Selbstverständlichkeit. In Frau von Bruckheim stieg Empörung hoch. »Krafft, du bist ja noch arroganter als dein Ruf. Willst du sie etwa zur Liebe zwingen?« »Auch das – wenn es sein muß.«
»Dann nehme ich sie mit mir.« »Nein – sie bleibt hier.« Ja, da war sie wieder einmal am Ende. Der Mann hatte einen so eisenharten Willen, an dem jeder andere zerschellen mußte. Kopfschüttelnd sah sie ihn an, der bei dieser schwerwiegenden Aussprache wie die personifizierte Gelassenheit dastand, während sie sich erregte. »Nun sage mir einmal, Krafft – aber bitte ohne jede Bemäntelung: Warum hältst du Ilse-Sibylle mit einer Hartnäckigkeit, die bewundernswert ist?« »Tante Marianne, ich hielt dich bisher immer für eine kluge, scharfsichtige Frau«, ironisierte er, und sie wurde unwillig. »Mein lieber Junge, dein Charakter dürfte nicht so einfach zu enträtseln sein.« »Und du glaubst gar nicht, wie einfach er ist. So wenig kennst du mich also, Tante Marianne. Werde ich also in Worte fassen, was du schon längst erfühlt haben müßtest. Warum ich Ilse-Sibylle so hartnäckig halte? Das ist doch wirklich ganz einfach. Ich bin ein nüchterner Bursche, der keine Überschwenglichkeiten kennt. Doch wenn ich dir nun sage, daß ich meine Frau bis zum Wahnsinn liebe, dann ist das nicht übertrieben. Kann ich sie trotz aller Bemühungen nicht halten, dann – ja, dann ist mein Leben nicht wert, daß es überhaupt gelebt wird. Ist das nicht wirklich ganz einfach?« Zuerst herrschte eine Stille, daß einer des anderen Herzschlag zu hören glaubte. Dann erhob sie sich, trat zu ihm und zog seinen Kopf zu sich herunter mit zitternden Händen. »Junge, dann muß ja alles gutwerden«, murmelte sie. »Vehr hält doch einen Vergleich mit dir nicht aus!« »Du sagtest doch vorhin, Tante Marianne, daß die Liebe nicht fragt. Und eine ruhige Zuneigung ihrerseits könnte ich nicht ertragen, dann lieber gar nichts. Ich will alles versuchen, um mir ihre Liebe zu erringen. Gelingt es mir nicht, dann weiß ich allerdings nicht, wie alles enden soll.«
»Dann darfst du aber nie mehr so hart mit ihr sein, Krafft. Sie hat eine so feine, empfindsame Seele – « »Man behält die Zurechnungsfähigkeit nicht, wenn man unmenschlich leidet. Da geht alle Logik flöten.« Diese Aussprache brachte Frau von Bruckheim wohl volle Gewißheit, nahm ihr jedoch die Unruhe nicht. Die war im Gegenteil noch größer geworden. Vielleicht war es aber besser, wenn sie Ilse-Sibylle allein ließ. Dann konnte sie nicht immer zu ihr flüchten, sondern mußte zusehen, wie sie mit ihrem Mann fertigwurde. Und das wurde diese sehr gut. Ein Leben begann, das ihr wie ein Traum erschien. So hart der Gatte in den entsetzlichen Wochen zu ihr gewesen war, so zart und rücksichtsvoll war er jetzt. Er widmete sich ihr fast den ganzen Tag. Alles, was er mit ihr unternahm, war schön und abwechslungsreich. Er erlaubte sich auch nicht die kleinste Vertraulichkeit, umgab sie mit ruhiger Höflichkeit, die jedoch viel Huldigung in sich barg. Darunter vergaß Ilse-Sibylle ihre Zurückhaltung, wurde aufgeschlossen und zutraulich. Abends saßen sie fast immer am brennenden Kamin beim gedämpften Licht der Ständerlampe. Dann erzählte er von seinen Reisen. Nicht genug konnte sie davon hören, las ihm förmlich die Worte von den Lippen mit leuchtenden Augen. An einem solchen Abend war es auch, als Ilse-Sibylle sagte: »Wenn du erzählst, Krafft, dann muß ich immer an Hartmut Vehr denken. Jetzt kann ich auch verstehen, daß er herumstrolchen muß. Schon als Junge hatte er so unruhiges Blut.« Krafft beugte sich weit vor. Hielt vor Spannung den Atem an, als er fragte: »Könntest du das Leben mit ihm teilen?« »Nein, das könnte ich nicht. Wenn ich ihn liebte, dann sicherlich. Dann ginge ich mit ihm durch Not und Tod. Aber da ich nicht mehr als herzliche Freundschaft für ihn empfinde, würde dieses Gefühl nicht ausreichen, um ihm
freudig überallhin zu folgen.« Hm Seufzer hob des Mannes Brust, wie Erlösung nach langer Pein. Von dem Tage an verwöhnte er die Gattin noch mehr. Nur manchmal war er verstimmt. Und zwar, wenn sie Feste besucht hatten, auf denen man Ilse-Sibylle sehr huldigte. Dann bekam sein Gesicht wieder den harten Ausdruck. Und die junge Frau, die schon längst gelernt hatte, auf die Stimmungen des Gatten zu achten, konnte sich seine Verstimmung zuerst nicht erklären. Bis sie einmal zufällig dahinterkam. Mit ihrem sinnverwirrenden Lächeln sah sie ihn an. »Wenn dir die Menschen auf die Nerven fallen, Krafft, dann bleiben wir ihnen doch fern. Ich bin auch viel lieber mit dir allein.« Ein so strahlend heißer Blick traf sie, daß sie erglühend den Kopf zur Seite wandte. Ilse-Sibylle lag in ihrem Schlafzimmer auf dem Diwan und träumte vor sich hin. Nun war es schon ein Jahr her, daß sie auf Dünentrutz weilte. Die letzten Wochen davon waren wie ein wonniger Traum gewesen. Ach, Krafft von Broede! Jetzt kam ihr Herz nimmermehr von ihm los. Dünentrutz verlassen? Das wäre schlimmer als der Tod! Alles, alles wollte sie geduldig ertragen – seine wechselnden Stimmungen, seine Härte, die doch noch ab und zu durchbrach. Nur nicht fortmüssen von ihm und Dünentrutz. Es klopfte, und er, mit dem sich ihre Gedanken beschäftigten, trat ein. Sie sprang auf, ging ihm entgegen. Wurde verlegen unter seinem prüfenden Blick. »Fühlst du dich nicht wohl, Ilsibyll?« »Doch, Krafft. Sehr sogar. Ich lag auf dem Diwan, weil ich nichts mit mir anzufangen wußte. Du hast mich in deiner Gesellschaft so verwöhnt, daß ich mich ohne dich langweile.« »Also Langeweile«, lachte er. »Dem Übel kann abgeholfen
werden. Ich bin nämlich hier, um dich zu fragen, ob du mich nach einem Vorwerk begleiten willst. Wir können den Weg durch den Wald nehmen.« »Herrlich! Weißt du was? Ich fahre dich mit meinem Fuhrwerk, ja?« Lächelnd sah er in ihr freudeglühendes Gesicht. »Sag mal, kleine Frau, du siehst ja jetzt immer wie das blühende Leben selber aus. Obgleich der zarte, ätherische Hauch – « »Ach, laß doch, Krafft«, unterbrach sie ihn ungeduldig. »Meine Person ist doch viel zu uninteressant, um Worte darüber zu machen. Ich will mich rasch umziehen.« Sie schob ihn energisch hinaus, der lachend protestierte. Saß dann kutschierend neben ihm im Wagen. Ihre Augen strahlten in frohem Eifer. Harras lief humpelnd hinter dem Wagen her, denn er hatte sich bei einer frischfröhlichen Rauferei mit einem Artgenossen das Bein verletzt. »Wir nehmen ihn in den Wagen«, bettelte Ilse-Sibylle. »Er hat Schmerzen, der arme Kerl.« »Eigentlich sollte der Bursche nur ruhig laufen. Aber weil meine kleine Mimose so süß bitten kann.« Also durfte Harras in den Wagen klettern. Er wußte ganz genau, wem er diesen Vorzug zu verdanken hatte. Streckte sich wohlig zu Frauchens Füßen. Wundervoll war es im Wald> die Luft herb und schwer, so richtig frühlingsduftend. Ilse-Sibylle fuhr langsam, um die Schönheit ringsum genießen zu können. Zwischendurch plauderte sie froh, während der Gatte sich schweigsam verhielt. Sein Blick hing unentwegt an der feinen Gestalt mit dem stolzgetragenen Köpfchen. »Sieh nur, Krafft, die ersten Schneeglöckchen!« rief sie plötzlich. »Darf ich mir welche pflücken, oder hast du es eilig?« Lächelnd schüttelte er den Kopf, und Ilse-Sibylle sprang vergnügt vom Wagen. Während sie eifrig die zarten Glöcklein sammelte, schaute er ihr vom Wagen aus zu.
Doch plötzlich weiteten sich seine Augen, todblaß wurde sein Gesicht. Er straffte den Körper zum Sprung, schnellte vom Wagen und warf sich vor die ahnungslose Gattin, sie so mit seinem Körper deckend. Und schon knallte ein Schuß – Ein langgestreckter Schatten sauste an ihnen vorbei – Harras. Drohend klang sein tiefes Gebell durch den stillen Wald. »Ilse-Sibylle, bist du verletzt?« Aschfahl war sein Gesicht, heiße Angst brannte in den Augen. Verständnislos schüttelte sie den Kopf – schrie dann auf. »Aber du bist verletzt, Krafft!« zeigte sie auf seinen schlaff herabhängenden Arm. Er winkte ungeduldig ab. Umschlang ihre Schulter mit dem gesunden Arm und zog sie mit sich fort. Weit brauchten sie nicht zu gehen. An einen Baum gelehnt stand eine Gestalt, vor der Harras saß, der keinen Blick von seinem Opfer ließ. Die Dame war in Jagdkleidung, eine Büchse lag zu ihren Füßen. Krafft hob die Waffe auf, entlud sie und überreichte sie der Besitzerin mit spöttischer Verbeugung. »Das war nicht nett von Ihnen, Gnädigste. Ich bin zwar ein alter Soldat, an Verletzungen gewöhnt – « »Krafft – du – du?« schrie sie so verzweifelt, daß Ilse-Sibylle zusammenzuckte. Noch fester umfaßte sie seinen Arm, während seine Augen mit erbarmungsloser Ironie an seinem Gegenüber hingen. »Jawohl – ich – meine Gnädigste«, sagte, er langsam und scharf betont. »Danken Sie Ihrem Herrgott, daß ich es nur bin! Denn wäre es meine Gattin gewesen – « hob sich seine Stimme nun zu schneidender Schärfe, »Himmel und Hölle, dann hätten Sie was erleben können! Und da uns Ihre Nachbarschaft zu aufregend ist, so möchte ich Ihnen einen Wink geben, daß mein Onkel, der Unruher Rainer, Ihren Besitz gern erwerben möchte. Also, beeilen Sie sich, mit ihm einig zu werden, wenn Sie nicht wollen, daß ich Sie
der Polizei übergebe. Denn Menschen wie Sie gehören ins
Zuchthaus.«
»Krafft, das soll das Ende sein?«
»Ende-? Es hat meines Wissens überhaupt keinen Anfang
für uns gegeben. Daß Sie sich an meine Person heften, ist
einzig Ihr Privatvergnügen. Daß Sie meinen Freund
zugrunde gerichtet haben, das habe ich verwinden müssen.
Auch daß Sie schon einmal auf meine Gattin schossen.
Aber hätten Sie sie heute wieder getroffen –
Himmeldonnerwetter, das hätte Ihnen den Hals
gebrochen!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. Die
Augen wetterleuchteten in dem blassen Antlitz.
»Also, Sie wissen Bescheid, Gnädigste. Verschwinden Sie
von hier, aber ziemlich plötzlich!«
Wieder zog er Ilse-Sibylle mit sich fort, nicht achtend, daß
die Zurückbleibende hinter ihnen herwimmerte.
»Kein falsches Mitleid, Ilsibyll«, sagte er hart, als sie den
Schritt verhalten wollte. »Das Weib ist ein Teufel!«
Ilse-Sibylle hatte jetzt auch andere Sorgen. Angstvoll hing
ihr Blick an seinem Jackenärmel, durch den Blut sickerte.
»Bist du schwer verletzt, Krafft?«
»Nur unbedeutend, Ilsibyll. Mach dir keine Sorgen.«
Sorglich war sie um ihn bemüht, als er auf den Wagen
stieg. Dann fuhr sie so schnell davon, wie es nur gehen
wollte, so daß Dünentrutz bald erreicht war.
»Sanitätsrat Meder hierher bitten!« rief sie dem Diener zu,
der vor dem Portal stand und nun eiligst verschwand.
Oben in Kraffts Schlafzimmer kniete sie vor ihm und
schnitt den Ärmel seiner Jacke auf, wie er es damals mit
dem ihres Pullovers getan. Half ihn dann zu Bett bringen
und sah voll bebender Angst auf die regungslose Gestalt.
Atmete erleichtert auf, als der Arzt ungeahnt rasch eintrat.
»Was gibt’s nun schon wieder?« schaute er betroffen auf
den Verletzten.
»Nicht fragen, Herr Sanitätsrat!« flehte Ilse-Sibylle.
»Na, schön – «, machte er sich an die Untersuchung, nach
deren Beendigung er sie beruhigen konnte.
»Nicht lebensgefährlich, Frau Baronin«, tröstete er. »So ein
Salonschuß wirft einen alten Krieger noch lange nicht um.«
»Sehr richtig – « schlug Krafft nun die Augen auf und lachte
ihn an. »Wie gut, daß ich diesmal den Schuß abbekam! Er
galt nämlich wieder meiner Frau.«
»Ja – ist das Frauenzimmer denn verrückt geworden?!«
empörte sich der Arzt.
»Welches Frauenzimmer denn?« blinzelte der Baron ihm
zu.
»So was kann doch einer aus Dummdorf kapieren.«
Ilse-Sibylle konnte nicht begreifen, daß Krafft so vergnügt
sein konnte, während ihr fast das Herz brach. Wenn die
Verletzung auch nicht lebensgefährlich war, so brachte sie
doch Schmerzen und schwächte den Körper. Vielleicht
blieb gar der Arm steif.
Und alles ihretwegen!
Sie war froh, als der Arzt sich verabschiedete. Dann sank sie
vor dem Bett in die Knie. Mochte er nun wissen, wie sehr
sie ihn liebte. Das war ihr jetzt alles ganz gleichgültig.
Sie legte ihr Gesicht auf das Kissen, ganz nahe neben das
seine. Wie blaß er war, wie erschöpft!
Bitterlich weinte sie auf. Die Tränen benetzten das bleiche
Antlitz des Verletzten.
»Ilsibyll -!«
Sie schrak zusammen.
»Ilsibyll, warum weinst du?«
Wie weich seine Stimme klang – das sollte sie nun auch
noch ertragen!
»Weil du immer mehr für mich tust, und ich dir nie danken
kann«, schluchzte sie herzzerbrechend. »In der Eisenbahn
fing es an. Dann der Abend auf den Dünen, dann die Ehe,
die dir nichts als Verdruß bringt – und nun setztest du gar
dein Leben für mich ein! Und ich – ich stehe dir gegenüber
mit leeren Händen.«
Verzweifelt drückte sie das Gesicht in die Kissen. Sah daher
nicht, wie es in seinem Gesicht arbeitete.
»Stehst du mir wirklich mit leeren Händen gegenüber?«
flüsterte er ihr ins Ohr. Ihr Kopf ruckte hoch, die Augen flehten zu ihm hin. »Ja, Krafft. Denn ich habe ja nichts, was ich dir zum Dank geben könnte. Höchstens mich selbst – mit einem Herzen voll heißer Liebe – « Ein Ruck ging durch seinen Körper, heftig und jäh. »Ilsibyll – weißt du auch, was du da sprichst?« »O ja. Daß ich dich liebe – dich geliebt habe, vom ersten Sehen an.« »Und wolltest daher nicht mein Spielzeug sein?« »Ach, das war damals. Da hatte ich auch noch meinen Stolz, der jetzt gebrochen darniederliegt.« Nun richtete er sich auf. Umfaßte sie mit dem gesunden Arm und preßte sie an sich, daß ihr der Atem verging. Küßte sich satt an den roten Lippen, die so verlockend zu ihm emporblühten. »Ilsibyll, du grausames kleines Scheusal! Auf diesen Augenblick habe ich gewartet – gewartet! Fast irrsinnig geworden bin ich darüber. War es denn so schwer, den unbändigen Stolz niederzuringen? Ilsibyll!« »Hätte ich nur gewußt, daß du mich liebst – « »Gehörte denn so viel Scharfsinn dazu? Wie hast du mich gequält, du grausames Kind! Meine ganze Energie und Härte mußte ich anwenden, um dir widerstehen zu können. Um nicht zu deinem Sklaven zu werden, du unglaublich borstige, süße kleine Person. Hat ein bezauberndes Engelköpfchen und dabei solch ein ausgewachsenes Teufelchen in dem vollendet schönen Nacken.« Lachend schlang sie die Arme um seinen Hals. Ließ sich küssen und kosen. Ihre Augen strahlten ihn an wie zwei Sonnen. »Kleine Mimose – du Abgott mein – « küßte er diese lockenden, leuchtenden Augensterne zart. Bis sie dann erschrocken auffuhr. »Mein Gott, Krafft, du sitzt ja! Wenn dir das nun schadet?« »Mach nicht so entsetzte Augen, liebste Frau. Freude hat
noch niemand geschadet, und mich wird sie bestimmt
nicht umwerfen, der ich so lange im Schatten gestanden.
Komm, erzähl mir lieber, wann du dein Herzchen an mich
verlorst.«
»Gleich beim ersten Sehen. Du wurdest mein Idealbild.
Bliebst es auch, als Tante Marianne dich so hart
beschuldigte – obwohl ich es zu beflecken versuchte – «
Immer weiter erzählte sie. Manchmal leise und stockend,
doch tapfer und wahrheitsgemäß.
Als sie geendet, fragte er erschüttert:
»Und nun, du hochmütiges Kind?«
»Nun will ich dich nur noch liebhaben dürfen.« –
Als dann Frau von Bruckheim wiederkam, fand sie zwei
glückselige Menschen.
»Da sorgte ich mich so entsetzlich um euch, kam früher
zurück, als es anging – und nun – Ach, Kinder, wie
glücklich bin ich doch!«
Als man in Unruh Hochzeit feierte, war Krafft schon wieder
hergestellt.
»Nun, alter Schlingel, wohl Flitterwochen an allen Enden?«
schmunzelte Herr Julis.
»Und was für welche!« kam die Antwort frisch, froh,
übermütig. »Nur, daß wir sie im Dünenschloß verleben,
das uns mit seiner Romantik förmlich einspinnt in unser
Glück, während Lo und Winfried es in die Welt
hinaustragen.«
»Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, mein
Jungchen. Sie werden nämlich geradezu rausgeschmissen.
Denn meine teure Ehehälfte, die dem Paar sein
Turteltaubennest einrichten will, kann es dabei nicht
brauchen. Wir wollten ihnen schon das Gut überlassen, das
mir Frau Börne für ein Butterbrot verkaufte, bevor sie
ausriß. Doch nichts zu machen – sie wollten nicht.
Schwingen große Töne von Harmonie im elterlichen Nest,
mit den Alten als Krönung ihres Glücks. So räumt ihnen
denn die rührende Schwiegermutter einen Flügel bei uns
ein. Groß genug ist der Unruher Kasten ja. Ob sie dann
selig werden? Na, laß doch das Kind das Äppelche – «
Vergnügt blinzelte er ihnen zu und eilte davon, während
beide hinter ihm herlachten.
»Als ob man mit solchen Schwiegereltern anders als gut
auskommen könnte!« sagte Krafft warm. »Ich gönne dem
Winfried sein Glück von ganzem Herzen.«
Als man nach der Feier nach Dünentrutz zurückgefahren
war und Krafft nun seiner jetzt im Glück so köstlich
aufgeblühten Frau allein gegenüber stand, zog er sie
beseligt in die Arme.
»Liebe, liebste Frau – Abgott mein – wollen wir auch in die
weite Welt hinaus?«
Erst bat sie um Gnade, daß er sie nicht erdrücken möge,
und schlang dann ihre Arme um seinen Hals.
»Nein, Krafft, noch nicht. Erst, wenn das Glück mich nicht
mehr gefangenhält. Und dann – und überhaupt – kann es
irgendwo schöner sein als in unserm herrlichen
Dünenschloß, an Wald und See? Aber wenn du willst – «
»Dann reise ohne mich, nicht wahr?« unterbrach er sie
entrüstet. »Du glaubst doch nicht etwa, daß du mich jemals
im Leben noch einmal loswirst?«
»Will ich ja gar nicht, du schrecklicher Mann! Aber wie
sagte Tante Marianne: Du kannst nicht ewig treu sein.
Denn die Treue – «
»Ist blau!« unterbrach er sie übermütig.
Sie lachten beide wie ausgelassene Kinder.
Frau von Bruckheim hörte in ihrem Zimmer dieses
herzfrohe Lachen. Ihr Blick ging hin zu den Bildern von
Gatten und Sohn. Sie konnte sie nun schon betrachten,
ohne von Schmerz geschüttelt zu werden.
Und warum?
Warm und sonnig war es in Dünentrutz, dem wald- und
meeresumrauschten. Warm und sonnig war auch die Liebe,
die sie umgab, die sie nicht einsam werden ließ.
Und stark war der Schutz, unter dem sie stand. Unter dem
Schutz des Krafft von Broede.
- ENDE