Nr. 313
Koy der Trommler Jagd im Auftrag der Herren von Pthor von H. G. Ewers
Sicherheitsvorkehrungen haben verhinder...
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Nr. 313
Koy der Trommler Jagd im Auftrag der Herren von Pthor von H. G. Ewers
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftauchen von Atlantis oder Pthor auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Leiter der Invasion ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Und so landen Atlan und Razamon an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, ist, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Atlans und Razamons bisherige Aktivitäten auf Pthor haben ihrerseits die Herren der FESTUNG alarmiert. Die mysteriösen Herrscher sind es auch, die einen Jäger auf die beiden Eindringlinge ansetzen. Dieser Jäger ist KOY, DER TROMMLER …
Koy der Trommler
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Die Hautpersonen des Romans: Koy der Trommler - Jäger der Herren der FESTUNG. Amshun - Koys Pflegevater, ein Pfister. Dagrissa - Koys Mutter, eine Androidin. Ursinda, Andrakhon, Stygor und Chamody - Mitglieder der Familie Knyr.
Unaufhörlich rollt das Endlose dem Grundlosen entgegen. Viktor Hugo
1. »Du hast das Licht gesehen?« fragte Mmu. Koy musterte den Mißgriff im ungewissen Schein einer Tranfunzel. Im Ruinensektor des Ghettos westlich von Aghmonth gab es weder elektrisches Licht noch magische Lampen. Hier hausten die Mißgriffe, Androiden, bei deren Herstellung unterschiedliche schwerwiegende Fehler gemacht worden waren, unter erbärmlichsten Bedingungen. Mmu war einer von ihnen. Er besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Kelotten, war aber etwas kleiner, und sein Gesicht wurde nicht vom Niederschlag einer Körperausdünstung bedeckt wie das eines Kelotten. Mmu hatte nur kurze Beinstummel, die in großen Plattfüßen endeten, mit denen er sich watschelnd fortbewegte. Dafür waren seine Arme so lang, daß er sich beim Gehen auf die Ellbogen stützen konnte. Allerdings hatten sich an diesen Armen kaum Muskeln entwickelt, so daß es bereits Mmus ganze Kraft kostete, sie auch nur auf halbe Körperhöhe zu heben. Das Skurrilste an Mmu aber war sein diskusförmiger Kopf, der mit bläulich fluoreszierender Haut überzogen war und auf einem extrem kurzen stangenförmigen Hals saß. Außer einem schmutzigen Lendentuch besaß Mmu keinerlei Kleidung. »Ich habe das Licht gesehen, und es rief mich zur Jagd auf Fremde, die von Terra
nach Pthor gekommen sein sollen«, antwortete Koy. »Aber bevor ich aufbreche, wollte ich mit dir reden, Mmu, denn in meinem Kopf gehen in letzter Zeit seltsame Dinge vor – und du hast mir schon manches Mal geholfen, wenn ich Probleme hatte.« Mmu drehte den scheibenförmigen Kopf so, daß er seinen Besucher mit dem Auge der linken Gesichtshälfte ansah. Theoretisch sollte mit einem einzelnen Auge kein räumliches Sehen möglich sein, aber da Mmu um die Dreidimensionalität seiner Umwelt wußte, verarbeitete sein Gehirn die optischen Wahrnehmungen so, daß sich in seinem Sehzentrum räumliche Abbilder formten. Der Mißgriff kannte Koy schon, seit er bei seinem Pflegevater, einem Pfister namens Amshun, lebte, und er wußte mehr über Koy als dieser ahnte. Koy war kein Pfister, was schon sein Aussehen verriet. Bei einer Körpergröße von 1,60 Metern war Koy ungewöhnlich korpulent, aber diese Korpulenz kam nicht von Gewebeaufschwemmungen oder von Verfettungen, sondern von festen Muskelpaketen und -strängen. Zu der untersetzten Gestalt paßten die kurzen, aber ebenfalls sehr muskulösen Arme und Beine. Auf dem gedrungenen Hals saß ein beinahe kugelförmiger Kopf mit einem braunhäutigen Gesicht voller Runzeln, aus dem zwei freundliche, weit auseinanderstehende schwarze Augen schauten. Das silbergraue Haupthaar war so kurz geschoren, daß es fast wie ein Pelz aussah. Ein silbergrauer Oberlippenbart verdeckte die Lippen, so daß nur die Unterlippe beim Sprechen zu sehen war. Das Seltsamste an Koy aber waren die beiden etwa handspannenlangen hornförmigen Fühler, die dunkelblau aus der Stirn ragten und wie prall gefüllte Blutgefäße aussahen. Am oberen Ende der Broins, wie Koy
4 sie nannte, saßen kugelförmige, etwa drei Zentimeter durchmessende Verdickungen. Die Kleidung Koys bestand aus einer orangeroten Kunststoffhose und einem Kunststoffpullover von hellblauer Färbung, der bis zu den Hüften reichte. Auf dem Brustteil des Pullovers war in einem 15 Zentimeter durchmessenden weißen Kreis ein schwarzer Januskopf eingestickt. An einem breiten schwarzen Kunststoffgürtel trug Koy eine große schwarze Gesäßtasche. Auch seine schwarzen Stiefel bestanden aus Kunststoff. Mmu drehte seinem Besucher wieder die vordere Schmalseite seines Kopfes zu. »Fremde von draußen?« fragte er. Beim Sprechen dehnte sich das untere Achtel seiner Gesichtsschmalseite, so daß sich ein schmaler Mund öffnete. »Dann müssen sie über einen starken Zauber verfügen, denn jeder Unbefugte, der sich Pthor nähert, verliert sein Ziel aus den Gedanken. Sieh dich vor, Koy, wenn du ihnen begegnest!« Koy schlug die kugelförmigen Enden seiner Broins spielerisch gegeneinander und beobachtete, wie Mmus Kopfhaut sich verdunkelte. »Keine Angst, ich trommle niemals, wenn Freunde dabei sind«, versicherte er. »Aber wenn ich trommle, ist jeder Feind schon so gut wie tot, denn ich bin Koy, der Trommler. Ich werde die Eindringlinge stellen und töten, wie die Herren der FESTUNG mir befohlen haben.« Mmu drehte seinen Kopf mehrmals von einer Seite zur anderen, dann erwiderte er zögernd: »Ich weiß, dein Zauber ist stark, Koy, aber es gibt immer einen stärkeren Zauber. Außerdem …« Er schwieg, und es schien, als sei er über das, was er hatte sagen wollen, erschrocken. »Was außerdem?« bohrte Koy hartnäckig. »Nichts, Koy«, sagte Mmu. »Ich bin nur ein Mißgriff und habe kein Recht, demjenigen vorzugreifen, der dir stets ein guter, wenn auch nicht leiblicher Vater gewesen ist. Frage Amshun nach Kergho und Dagris-
H. G. Ewers sa. Vielleicht erzählt er dir eine Geschichte, die dich vieles in einem anderen Licht sehen lassen könnte.« »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Koy zögernd, »aber ich werde Amshun fragen. Aber kannst du die seltsamen Dinge deuten, die seit kurzer Zeit in meinem Kopf herumspuken?« »Was sind das für seltsame Dinge?« erkundigte sich Mmu. »Es sind Träume«, erklärte Koy. »Träume von Göttern, die zu mir von einer weiten Reise durch unbekannte Dimensionen reden – und Träume von einem lichten Tor, das irgendwo auf uns alle wartet. Ich kann mir nicht erklären, was das bedeuten soll, aber es beunruhigt mich auf nie gekannte Weise.« Mmu wandte seinem Besucher abwechselnd die linke und die rechte Gesichtshälfte zu, dann zeigte er ihm wieder die Schmalseite seines Kopfes und sagte: »Ich glaube, du stehst vor einer Wende deines Lebens, Koy, aber ich weiß nicht, ob es eine Wende zum Guten oder zum Bösen sein wird. Diejenigen, die dir als Götter erschienen, sind wahrscheinlich Wesen, die dir in irgendeiner Weise überlegen sind – und es scheint, als wollten sie dich zu etwas überreden. Warte!« Mmu drehte sich um und watschelte zur Rückseite des Gemäuers, in dem er lebte. Er schob mit dem Kopf einen staubigen Vorhang zur Seite, griff mit einer Hand in eine Nische und kehrte mit einer silbernen flachen Dose zurück. »Das ist mein Mandala«, erklärte er und hielt seinem Besucher die Dose hin. »Etwas, das seit Äonen auf Pthor existiert, aber nur noch ein Schatten des Ursprünglichen ist. Immerhin kann es dir helfen. Wenn du nicht weißt, wie du dich entscheiden sollst, drehe den Deckel der Dose nach rechts.« Koy nahm die Silberdose und wog sie prüfend in der Hand. Sie war fast zu leicht für massives Silber. Auf dem Deckel erblickte Koy rätselhafte Ornamente. »Was ist darin, Mmu?« fragte er unsicher.
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»Etwas Unaussprechliches, Koy«, antwortete Mmu. »Geh jetzt, Koy! Ich brauche Ruhe, denn ich bin ein Mißgriff und habe nur wenig Kraft. Ich wünsche dir, daß du immer das Rechte tun wirst.« Immer noch unsicher, öffnete Koy die schwarze Gesäßtasche, schob das Mandala hinein und verschloß sie wieder. Aber er begriff, daß der Mißgriff ihm einen Gegenstand gegeben hatte, der ihm selbst sehr viel bedeutete. »Ich danke dir, Mmu«, sagte er, dann drehte er sich um und verließ das Gemäuer.
* Als er ins Freie kam, stieg soeben die Sonne über den Horizont – eine Sonne, die nicht die Heimatsonne Koys war, denn Pthor besaß keine eigene Sonne. Koy der Trommler kniff die Augen zusammen, dann kletterte er auf eine Ruine, von der eine Mauerwand so zerbröckelt war, daß man wie auf Stufen hinaufsteigen konnte. Von dort oben spähte er über das Meer der fremden Welt hinaus, auf der Pthor materialisiert war. Er konnte nicht weit sehen, denn in geringer Entfernung von der Küste Pthors lag eine Nebelwand. Dieser Nebel wich nur selten, wenn Pthor sich auf einem Planeten befand. Und wenn Pthor sich einmal nicht auf einem Planeten befand …! Koy dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er schloß die Augen und hatte mit einemmal das Gefühl, als schwankte das Mauerwerk unter seinen Füßen. Koy wußte, daß er sich das nur einbildete; dennoch zitterte er plötzlich. Plötzlich glaubte er, ein schwaches Donnern zu hören, das allmählich immer stärker wurde. Koy wußte, was das bedeutete. Es waren die Geräusche, die schon zahllosen Welten den Untergang gebracht hatten. Bald hatte sich das Donnern in ein Tosen gesteigert, dann klang es wie das näher und näher kommende Donnern einer riesigen Tierherde, die voller Panik über eine Ebene jagt.
Echos aus längst vergangenen Zeiten! durchfuhr es Koy. Als die Schallwellen Koys Trommelfelle zu zerreißen drohten, sank er mit einem erstickten Schrei auf die Knie. Seine Broins begannen zu zittern, bis die Kugelenden gegeneinander schlugen. Koy merkte es nicht einmal. Erst die Entsetzensschreie anderer Lebewesen rissen ihn in die Realität zurück. Erschrocken merkte er, daß er drauf und dran war, die psionischen Impulse, die beim Gegeneinanderschlagen seiner Broinkugeln entstanden, zu steigern und dadurch andere Lebewesen zu gefährden. In den Straßen des Ruinensektors tauchten wankende Alptraumgestalten auf, schrien und hoben die Hände in Koys Richtung. Koy riß sich gewaltsam zusammen und stellte die Bewegungen seiner Broins ein. Während die fremde Sonne rot über die Nebelbank stieg, kletterte Koy von der Mauer und machte sich, noch halbbenommen, auf den Heimweg. Er beachtete die über die halb von Schutt bedeckten Straßen wankenden Mißgriffe nicht und blieb erst stehen, als er das kleine Ghetto erreicht hatte, in dem er lebte. Vor ihm überquerten drei Pfisters die Straße. Es waren zwei männliche und ein weibliches Wesen. Fast sahen sie aus wie stachelbewehrte Kugeln, denn sie hatten ihre Arme unter den dunklen Stacheln verborgen, die ihre kugelförmigen Körper bedeckten. Die Pfisters wandten ihm ihre stumpfnasigen, breitflächigen Gesichter nur kurz zu, dann konzentrierten sie sich wieder auf das Gespräch, das sie miteinander führten. Ihre schwarzhäutigen Füße patschten laut über die quadratischen Steinplatten der Straße, in die undefinierbare Symbole eingemeißelt waren. Da Koy in die gleiche Gasse einbiegen mußte, in die die Pfisters gingen, fing er einige Fetzen ihres Gesprächs auf. Daraus erkannte er, daß die drei Pfisters sich im Dienst befanden. Sie waren von den Kelotten zum Westtor des Ghettos bestellt wor-
6 den, um einen Mißgriff in Empfang zu nehmen. Als Koy aus westlicher Richtung ein lautes Zischen und Brausen hörte, wußte er, daß die Arbeit in dem Fabrikkomplex begonnen hatte, in dem die Kelotten mit Hilfe magischer Kräfte aus simplem Rohmaterial Androiden aller möglichen Arten züchteten sowie chemische Waffen erzeugten, die zur Bekämpfung der Lebewesen dienten, die es wagten, sich gegen Pthor zu stellen, wenn es auf ihrer Welt materialisiert war. Bald darauf brachte der vom Land zum Meer wehende Wind trübe, nach allen möglichen Chemikalien riechende Luft mit sich. Die Giftschwaden waren ausreichend verdünnt, so daß sie den seit vielen Generationen an sie gewöhnten Pfisters nichts ausmachten, aber Koy litt immer wieder unter ihnen. Das war einer der Gründe, warum er froh darüber war, auf die Jagd gehen zu können. Er schritt schneller aus, um den Turmbau zu erreichen, in dem er mit seinem Pflegevater Amshun lebte. Normalerweise lebten die Pfisters in Großfamilien in den selbstgebauten Nestern, die überall in dem uralten Stadtteil verstreut waren und einen Durchmesser bis zu zehn Metern erreichten. Amshun bildete eine seltene Ausnahme. Nicht nur, daß er für sich allein lebte – denn Koy war ja kein Pfister –, sondern er bewohnte außerdem ein Nest, das sich stark von den anderen Pfisternestern unterschied. Erstens war es in einem Gebäude untergebracht und nicht auf oder neben einem, und zweitens war es kein echtes Nest, sondern bestand nur aus einer Geflechtverkleidung der Wände in dem Turmbau der alten Stadtmauer. Schon von weitem sah Koy unter dem Torbogen neben dem Turm zwei Kelotten stehen, hochgewachsene, bleiche Gesellen mit haarlosen Schädeln und verkrusteten Gesichtern. Sie trugen die übliche Kleidung der Kelotten: transparente, enganliegende Schutzanzüge, dazu kapuzenähnliche Kopfhauben. In Aghmonth gab es ungefähr
H. G. Ewers 10.000 Kelotten. Sie lebten fast nur ihrer Arbeit und gingen keine familiären Bindungen ein. Acht alte Wissenschaftler bestimmten über ihre Arbeit und über ihr Leben. Zwischen den beiden Kelotten sah Koy eine Gestalt stehen, die zur Hälfte einem Kelotten und zur anderen Hälfte einem hundeähnlichen Wesen glich. Es war mit zwei Silberketten an die Handgelenke der Kelotten gefesselt und machte einen erbarmungswürdigen Eindruck. Koy wußte sogleich, daß es sich um einen neuen Mißgriff handelte, wie in Aghmonth die Fehlresultate von Neuzüchtungen bezeichnet wurden. Die Kelotten waren sehr experimentierfreudig, was sie nicht nur dazu befähigte, alle möglichen Arten hochwertiger Spezialandroiden sozusagen in Maßarbeit herzustellen, sondern was auch immer wieder zu Fehlschlägen führte. Solche Mißgriffe pflegten sich die Kelotten vom Hals zu schaffen, indem sie sie den Pfisters, den »Sozialarbeitern« von Aghmonth, übergaben. Als die drei Pfisters die beiden Kelotten und den bedauernswerten Mißgriff erreichten, lösten die Kelotten die Fesseln und stießen das bedauernswerte Geschöpf vorwärts. Es taumelte, dann wollte es sich abwenden und fliehen. Doch die Pfisters hielten seine Arme fest und sprachen beruhigend auf es ein. Schließlich gab es seinen Widerstand auf und ließ sich ins Ghetto führen. Unterdessen hatte Koy den Turmbau erreicht. Er brauchte keine Tür zu öffnen, denn es gab keine. Wahrscheinlich war sie aus Holz gewesen und längst vermodert. Nur die rostzerfressenen Angeln hingen noch im bröckelnden Mauerwerk. Irgendwann, dachte Koy, muß sich Amshun woanders ein Nest einrichten, wenn ihm das Gemäuer nicht über dem Kopf zusammenfallen soll. Er betrat den modrig riechenden Flur und stieg die ausgetretenen Steinstufen hinauf. Oben befand sich ein geräumiges Turmzimmer mit Schießscharten in den Wänden. Die Wände allerdings waren von einem Geflecht
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aus dürren Zweigen, trockenem Laub und Gräsern bedeckt und erweckten für einen flüchtigen Betrachter den Eindruck, sich in einem echten Nest zu befinden. »Da bist du ja endlich, Koy!« sagte eine dunkle Stimme in knurrendem Pthora vom anderen Ende des Turmzimmers, und ein Pfister mit graumelierten Stacheln erhob sich von einem Lager aus Zweigen und Laub, über das eine Decke gebreitet war. »Wo warst du so lange? Es ist nicht ratsam, so lange zu zögern, wenn der Ruf zur Jagd an dich ergangen ist.« »Ich war bei Mmu«, erwiderte Koy und spürte, wie er vor gespannter Erwartung zitterte. »Mmu meinte, ich soll dich nach Kergho und Dagrissa fragen.«
* Die kleinen Augen Amshuns blickten mit einemmal erschrocken aus dem breiten schwarzhäutigen Gesicht. »Mmu hatte kein Recht, dir das zu sagen!« stieß er hervor. »Es ist besser, wenn du nichts über die alte Geschichte weißt, Koy.« »Über welche alte Geschichte?« fragte Koy. »Über die Geschichte deiner Herkunft«, antwortete Amshun. Eine ganze Weile schwieg Koy, denn er fühlte sich innerlich so aufgewühlt, daß er kein Wort hervorbrachte. Schon immer hatte er versucht zu erfahren, woher er kam und wer seine Eltern waren, aber sowohl Amshun als auch andere Pfisters waren seinen entsprechenden Fragen stets ausweichend begegnet. Und Amshun hatte ihn mit soviel Liebe erzogen, daß Koy nie versucht hatte, ihn zu einer Auskunft zu zwingen. Auch diesmal beabsichtigte er das nicht, aber er war entschlossen, eine befriedigende Antwort zu bekommen. »Ich muß es wissen, Amshun«, sagte er. »Ich spüre, daß ich vor einer entscheidenden Wende in meinem Leben stehe, und ich werde nicht eher aufbrechen, als bis du mir alles
erzählt hast, was du über meine Herkunft weißt.« »Du darfst deinen Aufbruch nicht noch länger verzögern, Koy!« erwiderte Amshun besorgt. »Die Herren der FESTUNG könnten es erfahren und zornig werden – und ihr Zorn ist stark wie der Zorn der Götter.« Koy setzte sich auf ein zweites Lager. »Ich kann nicht gehen, ohne zu wissen, woher ich kam«, erklärte er entschieden. »Mag der Zorn der Götter über mich kommen, wenn du mir verschweigst, was ich wissen muß.« »Das ertrüge ich nicht«, jammerte Amshun. »Du bist für mich wie ein leiblicher Sohn, Koy, deshalb darfst du nicht zulassen, daß die Herren der FESTUNG dir etwas antun.« »Ich will es ja nicht zulassen, aber du zwingst mich dazu«, erwiderte Koy. »Du erpreßt mich!« stellte Amshun vorwurfsvoll fest. »Wenn du mir etwas verweigerst, worauf ich ein Recht besitze, dann kann ich nicht anders«, sagte Koy. Amshun ging ruhelos in dem kleinen Turmzimmer hin und her, während er einen inneren Kampf ausfocht. Schließlich blieb er vor einer der Schießscharten stehen und blickte lange hinaus. Als er sich umwandte, war sein innerer Kampf beendet. »Was ich dir erzähle, wird dich in einen inneren Zwiespalt stürzen, Koy«, sagte er knurrend. »Aber du willst es ja nicht anders.« Als Koy nichts darauf erwiderte, sagte Amshun leise: »Früher pflegten die Kelotten die meisten ihrer Mißgriffe zu beseitigen, denn sie fürchteten, ihre mißratenen Schöpfungen würden ihr Ansehen herabsetzen. Vor dreißig Jahren – ich rechne, da wir uns auf einem Planeten befinden, nach Sonnenumläufen dieses Planeten – mißriet ihnen wieder eine neue Züchtung. Dadurch, daß die dafür verantwortlichen Kelotten zu jener Zeit gerade wegen einer Unbotmäßigkeit im Kerker
8 saßen und von untergeordneten Kelotten vertreten wurden, entging dieser Mißgriff der sofortigen Beseitigung. Die Vertreter hielten die Abweichungen für beabsichtigt, registrierten den Mißgriff unter dem Namen Kergho und überstellten ihn den Ausbildern. Die Ausbilder aber wußten, wie diese Neuschöpfung aussehen sollte und stellten Nachforschungen an. Kergho bekam heraus, daß er in Gefahr schwebte, als Mißgriff eingestuft und beseitigt zu werden. Er nutzte die erstbeste Gelegenheit und floh in unser Ghetto. Da die Kelotten aber das Ghetto durchsuchten, weil sie den Geflohenen dort vermuteten, brachten ihn einige Pfisters in den Ruinensektor und übergaben ihn Mmu. Mmu war ihnen verpflichtet, denn er war ebenfalls ein Mißgriff, hatte aber das Glück gehabt, daß seine Erzeuger ihn nicht beseitigten, sondern davonjagten. Die Pfisters hatten ihn bei sich aufgenommen, gepflegt und dafür gesorgt, daß er sich zu einem lebensfähigen Wesen entwickelte. Deshalb verbarg Mmu Kergho bei sich. Da die Kelotten nur das Ghetto, nicht aber die Behausungen der Mißgriffe im Ruinensektor durchsuchten – weil sie den Anblick ihrer Mißgriffe nach Möglichkeit mieden –, fanden sie Kergho nicht und zogen wieder ab. Zufällig ging zu dieser Zeit die Androidin Dagrissa aus der Produktion, allerdings lange vor dem von den Herren der FESTUNG bestimmten Ablieferungstermin. Die Kelotten entschlossen sich nach der kurzen Ausbildung, Dagrissa bei den Pfisters in Pflege zu geben, bis sie zur FESTUNG abgerufen wurde. Unterdessen war Kergho dank der Pflege Mmus lebensfähig geworden und hatte sich an die Verhältnisse angepaßt. Durch einen Zufall begegneten sich er und Dagrissa. Dagrissa hatte Mitleid mit dem Androiden, der sich verbergen mußte. Sie besorgte ihm zusätzliche Nahrungsmittel und bessere Kleidung. Die beiden Androiden sahen sich dadurch öfter, lernten sich besser kennen
H. G. Ewers und verliebten sich eines Tages ineinander. Aus dieser Liebe entstand ein Kind, das sie Koy nannten. Normalerweise sind Androiden ja nicht fortpflanzungsfähig untereinander, aber durch die Fehler bei ihrer Herstellung muß dieser Faktor eliminiert worden sein. Das Kind wirkte durch die Schädelauswüchse wie eine Mißgeburt und wurde deshalb zum Gesprächsthema aller Pfisters. Irgendwie haben dann die Kelotten von seiner Existenz und von der Identität seiner Eltern erfahren. Sie schickten ein Kommando ins Ghetto und in den Ruinensektor. Kergho wurde getötet. Dagrissa dagegen blieb eingesperrt bei den Kelotten, bis sie zur FESTUNG abgerufen wurde. Mir gelang es in einer dramatischen Rettungsaktion, das Kind vor den Kelotten zu verbergen. Da ich es nicht in der Großfamilie unterbringen konnte, zu der ich damals gehörte, weil durch das dadurch entstehende Gerede vielleicht die Kelotten davon erfahren hätten, zog ich mich in diesen Turmbau zurück und erklärte, für mich allein leben zu wollen. Meine Großfamilie respektierte diesen Entschluß, denn es ist zwar selten, aber nicht völlig ungewöhnlich, daß ein Pfister sich für das Leben eines Eremiten entscheidet. Schon nach wenigen Jahren erkannte ich die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Knaben. Mehrmals gelang es mir nur mit großer Mühe, ihn daran zu hindern, mit seiner Fähigkeit als Psi-Detonator schweres Unheil anzurichten. Mir wurde klar, daß ich zwar das Kind, nicht aber seine Fähigkeiten auf die Dauer geheimhalten konnte. Schließlich kam mir der rettende Einfall. Ein Psi-Detonator mochte, so ungesetzlich seine Entstehung auch war, für die Herren der FESTUNG von unschätzbarem Wert sein. Da ein Pfister aber keinen direkten Kontakt zu den Herren der FESTUNG hat, trat ich an die Kelotten heran und berichtete von den Fähigkeiten des Knaben, ohne seine Existenz zu erwähnen. Da die Kelotten sich ungewöhnlich ange-
Koy der Trommler tan davon zeigten, riskierte ich es schließlich, ihnen den Knaben vorzustellen. Sie waren von der ersten Probe seines Könnens begeistert und informierten sofort die Herren der FESTUNG. Von der Festung kam der Bescheid, daß Koy begnadigt sei und von mir ausgebildet werden sollte, damit er, sobald er erwachsen war, den Herren der FESTUNG als Jäger dienen sollte, wenn es galt, jemanden auf Pthor aufzuspüren und zu töten. Das ist die Geschichte deiner Herkunft, Koy.« Koy war so erschüttert, daß er kein Wort sagen konnte. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken umher, aber er konnte keinen so lange festhalten, um ihn zu Ende zu denken. Erst als Amshun ihm die Hand auf seine Schulter legte, gewann Koy seine Fassung einigermaßen zurück. »Du hast viel mehr für mich getan, als ich bisher ahnte, Amshun«, sagte er mit bebender Stimme. »Ich weiß nicht, wie ich dir dafür danken kann.« »Danke mir, indem du endlich aufbrichst, Koy!« erwiderte Amshun eindringlich. Koy erhob sich langsam. »Ja, ich werde auf die Jagd gehen«, sagte er. »Aber viele Fragen sind noch offen, Amshun. Ich weiß nicht, ob meine Mutter noch in der FESTUNG ist und wie es ihr geht. Ich weiß auch nicht, was ich nun eigentlich bin: ein Androide oder ein natürlich entstandenes Lebewesen.« »Du bist auf natürliche Weise entstanden, indem du gezeugt wurdest und in einem Mutterleib heranreiftest«, sagte Amshun. »Meiner Meinung nach bist du kein Androide.« »Aber du bist dir auch nicht sicher, ob ich als normales Lebewesen gelten kann«, erwiderte Koy bitter. »Vielleicht bin ich weder das eine noch das andere, sondern ein Zwischending.« »Nicht für mich«, erklärte Amshun. »Aber die Klärung dieser Fragen kann warten, dein Auftrag nicht.« »Ich gehe!« sagte Koy. »Bis bald – Va-
9 ter!« Er verließ rasch das Turmzimmer, um dem alten Pfister seine Rührung nicht zu zeigen.
2. Die magische Lampe erhellte den Raum im Anbau des Turmes und ließ seine Kahlheit erkennen. Es gab keine Einrichtungsgegenstände. Nur in der Mitte des Raumes stand auf ihrem zerbrechlich wirkenden Landebein eine einen Meter durchmessende und zwanzig Zentimeter dicke Scheibe aus hellblauem Metall: die Vegla. Koy ging langsam um seine Vegla herum und strich dabei fast zärtlich über ihren glatten Rand. Die Vegla war das Transportmittel, das er stets benutzte, wenn er auf die Jagd ging. Sie hatte ihn schon viele Male kreuz und quer über die unterschiedlichen Landschaften Pthors getragen, und er war so vertraut mit ihr, daß er sie fast als lebendes Wesen ansah. »Es geht wieder los, meine Schöne!« flüsterte Koy. Er überprüfte, ob die Ausrüstung, die magnetisch an der Unterseite der Vegla verankert war, vollzählig war. Kletterseil, Strickleiter, Messer, Axt, Feuerlanze und das kleine Wasserfaß – alles war vorhanden. Den Notproviant hatte Koy bereits in seiner Gesäßtasche verstaut, bevor er zu Mmu gegangen war. Er brauchte ihn nur, wenn die Jagd ihm keine Zeit ließ, Früchte zu sammeln und Tiere zu töten. Als Koy seine Inspektion beendet hatte, öffnete er das erst vor einigen Jahren eingebaute Stahltor, indem er den Sockel der magischen Lampe kurz mit zwei Fingern der rechten Hand rieb. Von draußen fiel das helle Licht eines wolkenlosen Tages herein. Koy schwang sich mit einem Satz auf die Vegla und griff nach den beiden Enden des Vförmigen Hebels, der vom vorderen Rand der Scheibe schräg emporragte und in Bauchhöhe endete. Am linken Hebelgriff
10 hingen ein ovales Funksprechgerät sowie ein Beutel mit kleinen Werkzeugen; am rechten Griff befanden sich die Kontrollen zur Steuerung der Vegla. Koy berührte mit den Fingerspitzen einige versenkt installierte Sensorpunkte im rechten Griff und aktivierte dadurch den Levitator. Die Antigravscheibe hob mit schwachem Summen ab und schwebte auf das offene Tor zu, während das Landebein sich zusammenschob und zu einem etwa fünfzehn Zentimeter dicken Stumpf schrumpfte. Im Freien angekommen, schaltete Koy erneut. Der Levitator arbeitete stärker und beförderte die Vegla wie in einem unsichtbaren Fahrstuhlschacht fünfhundert Meter hoch. Dort schaltete Koy die Windsbraut ein. Er lachte, als die Vegla in waagrechtem Kurs dahinjagte und der Fahrtwind ihm ins Gesicht blies. Alle seine trüben Gedanken waren wie fortgeblasen. Über der eigentlichen Stadt Aghmonth legte Koy die Vegla in eine scharfe Rechtskurve. Er stemmte die Füße fest in die dafür vorgesehenen Vertiefungen, die mit einem Material ausgeschlagen waren, das sich an seinen Stiefelsohlen festsaugte. Angst empfand er nicht, obwohl die Scheibe sich um zirka siebzig Grad nach rechts legte. Aufmerksam musterte Koy die gigantische Produktionsstätte der Kelotten. Der Anblick der flammenden Essen, dampfenden Ventile und der Entlüftungsrohre, aus denen giftige Gasschwaden schossen, faszinierte ihn jedesmal neu. Zwischen den zahllosen großen Behältern, Kühltürmen und Rohrschlangen duckten sich die aus grünen Quadern erbauten Schutzbunker der Kelotten. Die Quader bestanden aus Barkot, einem giftabweisenden Felsgestein, das in dem bergigen Küstenstrich zwischen Aghmonth und dem Mündungsdelta des Xamyhr gebrochen wurde. Südwestlich von Aghmonth lag ein fast kreisrunder, gelbgrün schillernder See, dessen Oberfläche spiegelglatt war und sich nur dann bewegte, wenn sich aus einem der Abwasserkanäle von Aghmonth ein Schwall
H. G. Ewers brodelnder, dampfender Brühe ergoß. Dieser Giftsee bildete zugleich eine wirksame Sperre zwischen Aghmonth und dem Göttersohn Sigurd, der den Abschnitt der Straße der Mächtigen zwischen Aghmonth und Donkmoon beherrschte. Koy schüttelte sich, als sich in der Mitte des Sees die giftige und schleimige Brühe zirka drei Meter hochwölbte. Er beließ die Vegla in der Rechtskurve, so daß sie einen vollen Kreis flog, dann drückte er sie tiefer und steuerte den Giftsee an. Er hatte diese Aufwölbung noch nie beobachtet und deshalb bisher die Gerüchte verlacht, nach denen in der hochgiftigen Brühe ein Monstrum namens Bhutynna hausen sollte. Aber die Aufwölbung konnte eigentlich nur bedeuten, daß sich unter der Oberfläche des Giftsees ein Lebewesen bewegte. Als Koy seine Vegla etwa zwanzig Meter über der Aufwölbung anhielt, hatte diese sich mit blutrotem Schaum bedeckt. Koy legte die Scheibe abermals auf die Seite und ließ sie langsam über der Aufwölbung kreisen. Allmählich löste sich der blutrote Schaum auf. Die Aufwölbung verwandelte sich in eine Gasblase, die sich aufblähte und mit einem Laut zerbarst, der wie das Ächzen eines riesigen Lebewesens klang. Dann glättete sich die Oberfläche des Sees wieder. Erschaudernd ließ Koy die Vegla wieder steigen und nahm Kurs auf den bergigen Küstenstrich zwischen Aghmonth und dem Mündungsdelta des Xamyhr. Was er beobachtet hatte, konnte bedeuten, daß sich in der Tiefe des Giftsees ein grauenhaftes Monstrum verbarg. Es konnte aber auch nur die Begleiterscheinung von Gärungsprozessen gewesen sein, die sich im Faulschlamm am Grunde des Sees vollzogen. Alles war möglich, denn was durch den Produktionsprozeß von Aghmonth gegangen war, war förmlich von Magie durchtränkt. Vielleicht wuchs im See etwas heran, das eines Tages seine Wiege verlassen und über Aghmonth herfallen würde. Koy verdrängte diese Vorstellung. Er hat-
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te einen Auftrag zu erfüllen und durfte sich nicht ablenken lassen. Außerdem konnte die Lage für Aghmonth gar nicht bedrohlich werden, denn die Herren der FESTUNG wachten über ganz Pthor – und ihre Magie war stärker als alles andere.
* Koy ließ die Vegla auf dreitausend Meter Höhe steigen, während er über die schroffe und tot wirkende Bergwildnis der Nordküste Pthors flog. Er wollte einen Blick nach draußen erhaschen, einen Blick auf die Welt, deren Zivilisation nach dem Willen der Herren der FESTUNG vernichtet werden sollte, weil die Wissenschaften sich dort – wie auf den meisten Welten des Alls – in eine falsche Richtung entwickelt hatten. Eigentlich hätte die Vernichtung schon mit der Materialisation Pthors beginnen sollen, und zwar mit schweren Erschütterungen der Planetenkruste und einer alles verschlingenden Sintflut. Danach wären die Horden der Nacht zu den schlammbedeckten Küsten geschwommen oder geflogen, die das Wasser wieder freigegeben hätte. Die Bestien hätten viele Überlebende der Sintflut getötet und das Werk der Zerstörung vollendet. Anschließend hätten die Auserwählten als Herrscher der Finsternis und als Götter das Denken derjenigen Planetenbewohner, die alle Schrecken überlebt hatten, in eine neue Richtung gelenkt. Aber die Bewohner der Erde hatten aus unerfindlichen Gründen die Ankunft Pthors vorausgesehen und Gegenmaßnahmen ergriffen. Als Folge davon sperrte ein dimensional übergeordneter, sehr starker Schutzschirm die Kräfte und Mächte Pthors in dem begrenzten Gebiet der Insel ein. Die Schutzschirme hatten eine Sintflut verhindert und verhinderten die Invasion der Horden der Nacht. Es mußten schon ungewöhnliche Intelligenzen sein, die die Erde beherrschten. Eigentlich hätten diese Gedanken Koys
Jagdeifer beflügeln müssen, denn die Jagd auf solche Intelligenzen mußte außerordentlich reizvoll sein. Sicher würden sie mit Angriffen rechnen und sich entsprechend vorsehen – und sie würden sich wehren, was den Reiz der Jagd nur noch erhöhte. Doch seltsamerweise vergrößerten diese Aussichten auf einen abwechslungsreichen und listenreichen Kampf die Jagdlust des Trommlers überhaupt nicht. Im Gegenteil, er verspürte Hemmungen, die er bei der Jagd noch nie gekannt hatte. Koy fragte sich, warum das so war – und gab sich auch gleich die Antwort darauf. Er war verunsichert durch das Wissen um seine Herkunft und durch die Ungewißheit über seinen Status. Wenn er nur ein Androide und damit nichts weiter als ein künstliches Zuchtprodukt und Werkzeug war, dann gab es für ihn gar keine individuelle Motivation zur Jagd auf Fremde. Dann gab es für ihn auch keinen Grund, die Magie der Herren der FESTUNG zu bewundern, denn dann wäre diese Magie unter anderem die Ursache seiner Unfreiheit. Und weshalb sollte er Lebewesen bekämpfen, die Feinde der Verursacher jener Unfreiheit waren? Koy erschrak über diese Gedanken, die ihm bisher fremd gewesen waren. Er versuchte sie abzuschütteln, aber es gelang ihm nur teilweise. Immer wieder stiegen sie aus seinem Unterbewußtsein hoch und beschäftigten ihn. Beinahe hätte er vergessen, warum er auf dreitausend Meter Höhe gestiegen war. Als er sich darauf besann, wandte er den Kopf und blickte nach Norden. Unwillkürlich hielt er die Luft an, denn er sah weit draußen – hinter der Nebelbank – eine riesige flamingofarbene Kugel mit einem Ringwulst um die Mitte schweben. Er schätzte den Durchmesser der Kugel auf zweitausend Meter und fragte sich, wozu jemand solche riesigen Gebilde baute. Es ist ein Raumschiff! sagte er sich im nächsten Moment. Ein gewaltiges Schiff, mit dem intelligente Lebewesen die Leere zwi-
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schen den Sternen überbrückten! Koy kannte den Weltraum nicht aus eigener Anschauung, denn er war nie zwischen den Sternen geflogen – und Pthor war kein Raumschiff, sondern ein Fahrstuhl, der zwischen den Dimensionen kreuzte und dessen Bewegungen von den Herren der FESTUNG mit einer auf die Zeit einwirkenden Magie gelenkt wurden. Eine solche Magie besaßen die Eigentümer dieses Sternenschiffs gewiß nicht. Aber wenn sie über sehr viele solcher Schiffe verfügten, mußten sie dann nicht zu Millionen ausgewandert sein, um auf den Planeten anderer Sonnen neue Zivilisationen zu gründen? War es unter diesen Umständen nicht sinnlos, die Zivilisation der Erde auszulöschen? Die Tochterzivilisationen würden ja davon nicht betroffen werden. Oder gab es Beziehungen zwischen der Mutterzivilisation und ihren Tochterzivilisationen, die über das Materielle hinaus tief im Irrationalen verwurzelt waren, so daß das Ende der Mutterzivilisation für die Tochterzivilisationen ein Schlag sein würde, den sie nicht verkraften konnten? Koy zog den Kopf zwischen die Schultern und ließ die Vegla tiefer sinken. Er konnte solche Gedanken nicht ertragen, denn sie rissen in ihm Abgründe auf, vor denen er erschauderte. Ich verliere den Verstand, wenn es mir nicht gelingt, mich abzulenken! dachte er. Ich muß etwas tun, das mich voll und ganz beansprucht! Er beschloß, in der Bergwildnis des Küstenstrichs zu landen und einen Höhlengiftfüßler zu jagen. Die Höhlengiftfüßler, auch Ukas genannt, waren so gefährlich, daß die Kelotten lieber darauf verzichteten, in einem von Ukas bewohnten Gebiet Steinbrüche oder Bergwerke einzurichten, als sich mit den Tieren anzulegen.
* Die Vegla schwebte zwischen schwarzen Felswänden, überquerte tiefe und schmale
Schluchten und verharrte manchmal reglos, wenn sich in einer Felswand eine Öffnung zeigte. Koy musterte jede Öffnung mit größter Aufmerksamkeit. Nur ein erfahrener Jäger wie er vermochte zu erkennen, ob eine Öffnung zu einem Höhlensystem gehörte, das von einem Uka bewohnt wurde. Der Uka hinterließ keine direkten Spuren, denn er hielt sich ausschließlich in seinem Höhlensystem auf. Nur seine Ausdünstung drang nach außen. Sie enthielt einen Geruchsstoff, der frisch geschlüpfte Felsenechsen anlockte. Der Uka brauchte unten nur auf sie zu warten. Wenn er hungrig war, fraß er sie, aber meist warf er sie in Felsenkammern, deren Wände zu steil für die Echsen waren. Danach mästete er sie regelrecht mit Meeresalgen, die er durch Stollen heranholte, die im Sockel von Pthor direkt ins Meer mündeten. Waren sie groß und fett genug, dienten sie ihm als Nahrung. Koy war nicht in der Lage, den Geruch eines Ukas zu wittern, aber er konnte an den dünnen Schleimspuren, die junge Felsenechsen hinterließen, erkennen, ob welche von ihnen vor nicht allzu langer Zeit in eine Höhle gekrochen waren. Er mußte lange zwischen den unglaublich zerrissenen Felswänden umherfliegen, bevor er endlich eine Spur fand. Sie war sogar noch sehr frisch – und ganz in der Nähe entdeckte Koy in einer flachen Felsmulde acht leere, männerkopfgroße Eierschalen. Er schaute sich vorsichtig um, denn wenn die Mutterechse in der Nähe war, würde sie ihn sofort angreifen. Felsenechsen wagten sich zwar nicht in die Höhle von Ukas – auch dann nicht, wenn sie witterten, daß ihre Kinder hineingekrochen waren –, aber dafür griffen sie jedes andere Lebewesen an, das in die Nähe des Geleges geriet. Und auch Felsenechsen konnten sehr gefährlich werden. Nachdem Koy die Umgebung der Höhle mehrmals überflogen und keine Felsenechse entdeckt hatte, landete er die Vegla auf einem Felsvorsprung, der sich zirka zwanzig
Koy der Trommler Meter über der Höhle befand. Er schaltete den Levitator ab, hängte sich das Funkgerät an den Gürtel und schwang sich auf den Boden. Durch einen Knopfdruck aktivierte er die Energiefräse am unteren Ende des Landebeins. Die Fräse fraß sich in den Fels, und das Landebein sank tiefer. Als es zu zwei Dritteln im Bohrtunnel versunken war, schaltete Koy die Fräse wieder aus. Jetzt war seine Vegla sicher verankert und konnte weder durch einen Sturm noch durch den Stoß eines Lebewesens in die Tiefe geschleudert werden. Koy nahm sein Kletterseil aus der Stahlhülle an der Unterseite der Vegla, befestigte das eine Ende am herausragenden Teil des Landebeins und legte sich das nachfolgende Teil so um den linken Oberschenkel und Nacken, daß er sich von dem überhängenden Vorsprung abseilen und dabei die Abseilgeschwindigkeit selbst regeln konnte. Danach hängte er sich den kleinen Köcher mit dem Dutzend Wurfmesser um, schob die Axt in eine Gürtelschlinge, hängte sich die zusammengerollte Strickleiter samt den dazugehörigen Wurfankern über den Rücken, hängte sich die Feuerlanze vor die Brust und seilte sich ab. Unten vor der Höhle angekommen, pendelte Koy hin und her, bis er in die Höhle hineinschwang, und ließ dann das Seil los. Einige Minuten lang blieb er unbeweglich im Höhleneingang stehen und lauschte. Einmal war ihm, als hörte er ein schwaches Rascheln, aber er war sich nicht sicher. Er holte eine kleine magische Lampe aus seiner Gesäßtasche und schaltete sie ein. Der grüne Lichtkegel erhellte ein zirka zehn Meter langes Stück eines Felsstollens, der schräg abwärts führte. An mehreren Stellen des Bodens entdeckte Koy dünne Schleimspuren. Die Echsenjungen waren also tiefer in die Höhle eingedrungen – und nach seinen Erfahrungen konnte nur der Lockduft eines Ukas sie dazu verleitet haben, denn normalerweise warteten sie in ihrer Gelegemulde auf die Ankunft des Muttertiers.
13 Koy verschloß seine Gesäßtasche wieder und drang mit federnden Schritten in den Stollen ein. Er brauchte sich nicht darum zu bemühen, leise aufzutreten, denn ein Uka würde ihn schon von weitem wittern. Der Stollen führte ihn in zahllosen engen Windungen tiefer. Manchmal wurde der Boden von einem scheinbar grundlosen Spalt unterbrochen, den Koy mühelos übersprang. Die Echsenjungen hatten alle Spalten an schmalen Wandsimsen überquert, wie die Schleimspuren bewiesen. Koy wußte, daß die Höhlensysteme im Küstenbergland nicht von Ukas angelegt worden waren. Es handelte sich um ehemalige Bergwerksstollen. Allerdings wußte niemand auf Pthor – vielleicht außer den Herren der FESTUNG –, welches Volk oder welcher Stamm diese Bergwerke angelegt hatte und was darin gefördert worden war. Das alles mußte sich in grauer Vergangenheit abgespielt haben, und das Volk oder der Stamm war entweder längst ausgestorben oder auf einem Planeten abgesetzt worden, den Pthor irgendwann heimgesucht hatte. Die Windungen ergaben sich aus der Zerrissenheit der Bergwelt, die nicht genug Raum für längere Strecken in einer Richtung zuließ. Weiter unten, im Sockelmassiv, würde sich das ändern. Koy kannte mehrere solcher verlassenen Bergwerke. Er hatte schon einige Male Ukas gejagt, aber noch nie einen erlegen können. Diesmal, so nahm er sich vor, würde er nicht eher ruhen, als bis er einen Uka gestellt und im Kampf getötet hatte. Er wußte, daß es den Herren der FESTUNG nicht gefallen würde, wenn sie erfuhren, daß er die Durchführung seines Auftrags so lange unterbrach. Doch im Unterschied zu sonst war ihm das gleichgültig. Er brauchte den Nervenkitzel des Kampfes, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.
* Ungefähr drei Stunden später hörte er das
14 Rauschen von Wasser. Er befand sich zu dieser Zeit bereits im Sockelmassiv und folgte einem geradeaus führenden Stollen, der ein Gefälle von schätzungsweise dreißig Grad aufwies. Koy blieb stehen und schaltete die magische Lampe aus. Er konnte sich besser auf Geräusche konzentrieren, wenn er nichts sah und sich nicht bewegte. Nach einer Weile stellte er fest, daß das Rauschen von vorn kam, aber nicht genau aus der Richtung, in die der Stollen führte, sondern etwas nach rechts versetzt. Koy schloß daraus, daß es irgendwo vor ihm eine Abzweigung nach rechts geben müsse und daß diese Abzweigung zu dem Wasser führte. Da rechts ebenfalls das Meer lag, vermutete Koy, daß der unterpthorische Fluß, von dem das Rauschen stammte, zum Meer floß. Das war ideal für Ukas, die ja zur Versorgung ihrer »Haustiere« Seetang verwendeten, den sie sich beschafften, indem sie durch Stollen krochen, die über dem unterseeischen Landsockel von Pthor im Meer des jeweiligen fremden Planeten endeten. Koy schaltete seine magische Lampe wieder an und ging weiter. Nach knapp zehn Minuten erblickte er tatsächlich die Öffnung eines nach rechts abzweigenden Stollens. Das Rauschen war inzwischen lauter geworden – und es schwoll noch mehr an, als Koy direkt vor der Abzweigung stand. Kurz dachte der Jäger daran, eine Rast einzulegen und etwas zu essen. Doch er verspürte keinen Hunger. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt, und er wußte aus Erfahrung, daß es ihn erst wieder loslassen würde, wenn die Jagd beendet war. Er bog in die Abzweigung ein. Vorher überprüfte er aber seine Feuerlanze, damit sie schußbereit war, wenn er plötzlich auf einen Uka treffen sollte. Selbstverständlich hätte Koy seine psionische Detonatorfähigkeit einsetzen können, um den Uka zu töten. Aber er hatte nicht vor, das zu tun. Er wollte das wehrhafte Wild in ehrlichem Kampf erlegen – und an-
H. G. Ewers gesichts der organischen Waffen eines Ukas stellte die Feuerlanze keine überlegene Waffe dar. Während Koy weiterging, wurde das Rauschen immer lauter und wuchs schließlich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen und Tosen an. Wenige Minuten später verbreiterte sich der Stollen schlagartig zu einer riesigen Höhle, einem förmlichen Felsdom, dessen Decke so hoch war, daß der Lichtkegel der magischen Lampe gerade noch einen blassen Lichtfleck auf ihr erzeugte. Die gegenüberliegende Seite war so weit entfernt, daß der Lichtkegel sie nicht erreichte. Und der Grund des Felsdoms wurde von einem See aus kristallklarem Wasser ausgefüllt, dessen Zulauf aus einem von links kommenden Fluß kam. Rechts endete der See an einem Wasserfall. Der Fall selbst war von Koys Platz aus nicht zu sehen, wohl aber die hinter dem Ende des Sees aufsteigenden Wasserschleier. Wie tief das abfließende Seewasser stürzte, ließ sich nur an dem Dröhnen und Tosen abschätzen, das sein Aufprall verursachte. Koy nahm an, daß es mindestens hundert Meter hinabstürzte. Er überlegte, ob er lieber umkehren und versuchen sollte, auf einem anderen Wege in tiefere Regionen zu gelangen. Der Wasserfall stellte ein Hindernis dar, das er kaum lebend überwinden konnte. Wenn er sich ihm anvertraute, mußte er beim Aufprall zerschmettert werden. Außerdem wußte er, daß die jungen Echsen nicht diesen Weg eingeschlagen hatten, denn in dem hierher führenden Stollen waren keine Schleimspuren zu sehen gewesen. Aber warum führte der Stollen überhaupt hierher? Hatten die Bergleute, die ihn durch den Fels getrieben hatten, ihn nur angelegt, um sich hier mit Trink, Wasch und Kochwasser zu versorgen? Immerhin mußten sie hier unten nicht nur gearbeitet, sondern jeweils über längere Zeiträume gelebt haben, denn es gab keine senkrechten Schächte, in denen sie mit Lifts bequem und schnell genug hätten ein und ausfahren können. Auf dem Boden der Stollen waren auch keine
Koy der Trommler Spuren von Schienen zu entdecken, auf denen eventuell Grubenbahnen hätten verkehren können. Koy merkte plötzlich, daß er durstig war. Da das kristallklare Wasser geradezu einlud, davon zu trinken, legte er seine Lampe ans Seeufer und kniete nieder, um mit den Händen Wasser zu schöpfen. Doch dann tat er es doch nicht. Statt dessen holte er den Analysatorstab aus seiner Gesäßtasche. Er hatte sich daran erinnert, daß auf Pthor zahlreiche Seen und Wasserläufe durch Magie verwunschen waren, so daß derjenige, der arglos daraus trank, beeinflußt werden konnte. Als er den Analysatorstab ins Wasser tauchte, glaubte Koy allerdings nicht daran, daß dieses Wasser verwunschen war. Doch dann las er die Anzeige ab – und sagte erschrocken einige Beschwörungsformeln auf. Denn die Moleküle dieses Wassers enthielten das Wasserstoffisotop der Massenzahl 2 – und zwar zu zwei Dritteln. Das restliche Drittel bestand aus Molekülen mit dem Wasserstoffisotop der Massenzahl 3. Das bedeutete, daß sich das Wasser zu zwei Dritteln aus dem giftigen Schweren Wasser, also Deuterium, und zu einem Drittel aus Tritium zusammensetzte! Koy stand auf, wischte den Analysatorstab an seiner Hose ab und verstaute ihn wieder. Beinahe hätte er sich vergiftet, aber das beschäftigte ihn kaum noch. Er grübelte darüber nach, wieso ein Fluß ausschließlich Deuterium und Tritium führen konnte. In dieser Konzentration kamen weder Deuterium noch Tritium natürlich vor. In gewöhnlichem Wasser war Schweres Wasser im Verhältnis 5000:1 enthalten und Tritium sogar nur in verschwindend kleinen Mengen. Nur mit komplizierter Magie ließen sich Deuterium und Tritium aus gewöhnlichem Wasser anreichern und rein darstellen. Aber das war nur dann sinnvoll, wenn man beides dringend benötigte – beispielsweise für die Gewinnung aus Energie durch Kernverschmelzungen mittels katalysierender Ma-
15 gie. Das Wissen um diese Dinge war durchaus nicht selbstverständlich für einen Bewohner von Pthor. Koy hatte es sich bei seinen weiten Jagdreisen angeeignet, denn er war vielen Magowissenschaftlern begegnet und hatte sogar einige jagen und töten müssen. Von einem seiner früheren Opfer wußte er außerdem, daß die Herren der FESTUNG das Geheimnis der Energiegewinnung aus normaler Materie und künstlich erzeugter Antimaterie kannten. Die Energieausbeute sollte dabei unvergleichlich größer sein als bei der Kernfusion. Folglich, so schloß Koy, konnten die Herren der FESTUNG keine Verwendung für Deuterium und Tritium haben, jedenfalls nicht zur Energiegewinnung mittels Kernfusion. Aber vielleicht wußten sie nichts von diesem Fluß aus Schwerem Wasser. Über diesen Gedanken hatte der Jäger völlig vergessen, daß er sich hier befand, weil er einen Uka jagen wollte. Er wurde jedoch ziemlich abrupt daran erinnert, als hinter ihm ein Säurestrahl auf die Felswand traf und sich zischend hineinfraß. Koy hechtete zur Seite, kauerte sich hin und hob seine Feuerlanze an. Ein sonnenheller Strahl zuckte in die ungefähre Richtung, aus der der Säurestrahl gekommen sein mußte, wanderte rasch von links nach rechts und entfachte in der für Koys Lampe undurchdringlichen Dunkelheit ein donnerndes Gewitter heftiger Entladungen. Als Koy den Beschuß einstellte, wurde es still. Aber nicht ganz still. Koy wandte den Kopf nach rechts und leuchtete mit seiner Lampe in die Richtung des Stollens, aus dem er gekommen war. Ihm wurde flau im Magen, als er sah, daß die Stollenmündung ein einziger brodelnder und kochender Schlund war. Es wäre Selbstmord gewesen, dort auch nur einen Schritt hinzusetzen. Aber unter diesen Umständen wäre es ebenso selbstmörderisch gewesen, auf der Stelle zu verharren. Der Uka, der offenbar nicht getroffen worden war, hatte ihm den
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Fluchtweg bestimmt deshalb versperrt, um ihn lebend fangen und mästen zu können. Koy leuchtete in die andere Richtung und sah das schmale bandförmige Sims, das etwa einen halben Meter über dem See an der Höhlenwand entlangführte. Sein Ende war nicht zu erkennen. Vielleicht hörte es weiter links plötzlich auf – oder es führte um die gesamte Höhle und den See herum. Jedenfalls stellte es nicht nur die einzige Fluchtmöglichkeit dar, sondern auch den einzigen Weg, auf dem er vielleicht nahe genug an den Uka herankam, um ihn im Schein seiner Lampe sehen und töten zu können. Koy schaltete die magische Lampe aus und hastete das Sims entlang.
3. Bei dem Felsentor angekommen, aus dem sich der Fluß in den Höhlensee ergoß, sah sich Koy vor die Wahl gestellt, entweder auf den Oberflächen der aus dem Wasser ragenden Trittsockel zur Fortsetzung des Simses auf der anderen Seite des Flusses zu gehen oder sich dem Sims anzuvertrauen, das an seiner Seite im Flußtunnel flußaufwärts führte. Koy hatte sich nur kurz mit Hilfe seiner magischen Lampe orientiert und sie gleich wieder ausgeschaltet, um dem Uka kein Ziel zu bieten. Allerdings verfügten Ukas sowohl über einen ausgezeichneten Geruchssinn als auch über ein vortreffliches Gehör, so daß er sich keinen Illusionen darüber hingab, der Wahrnehmung des Tieres zu entkommen. Aus diesem Grund entschied er sich auch für den Flußübergang mit Hilfe der Trittsockel, denn er sagte sich, daß der Uka seine Säurewaffe einsetzen würde, wenn er merkte, daß er durch den Wassertunnel zu entkommen versuchte. Aber irgendwann in allernächster Zeit mußte er die Lage, die bisher nur dem Uka Vorteile brachte, entscheidend ändern. Wahrscheinlich lebte er nur deshalb noch, weil die Bestie ihn lebend haben wollte. Das
behagte ihm nicht nur nicht, sondern widersprach auch völlig seinem Jägerstolz. Als er den Fluß überquert hatte, blieb er stehen, öffnete seine Gesäßtasche und entnahm ihr einen fingerdicken Streifen Trockenfleisch, das zu seiner Notration gehörte. Mit einer weitausholenden Bewegung warf er das Fleisch in Richtung Seemitte. Enttäuscht stellte er fest, daß keine Reaktion erfolgte. Er hatte gehofft, den Uka ablenken zu können oder seinen genauen Standort auszumachen. Aber ich hätte sowieso nicht auf ihn geschossen! überlegte er. Jedenfalls jetzt nicht. Erst muß ich unsere Rollen umkehren und eine Weile mit ihm spielen, damit meine Jägerehre wiederhergestellt ist. Danach kann ich den Uka töten. Koy eilte weiter und tastete dabei mit der linken Hand an der Felswand entlang, um eine eventuelle Öffnung zu finden. Als er ein Platschen im See hörte, lächelte er triumphierend. Der Uka war also doch auf sein Ablenkungsmanöver hereingefallen. Er hatte sich fast gedacht, daß das Tier sich ohne gesundheitlichen Schaden im Schweren Wasser aufhalten konnte. Nur so ließ es sich erklären, daß er es vorhin nicht getroffen hatte, denn er hatte nicht ins Wasser geschossen, weil er zu der Zeit nicht damit rechnete, daß sich der Uka dort verbergen könnte. Es wäre ein Leichtes für Koy gewesen, den Uka jetzt zu töten, denn er konnte genau hören, wo er sich befand, und das Tier würde weder einen Volltreffer aus der Feuerlanze noch die gerichteten zerstörerischen Psiimpulse seiner Broins überleben. Aber Koy dachte gar nicht daran, es sich so leicht zu machen. Dennoch wünschte er sich ungefähr eine halbe Stunde später, er hätte den Uka wenigstens mit den psionischen Detonatorimpulsen etwas angeschlagen – denn er stand plötzlich vor dem tobenden Inferno des Wasserfalls und hatte keinen Ausweg aus der riesigen Höhle gefunden. Er legte sich auf den Bauch und rutschte ein Stück vor, so daß sein Oberkörper zur
Koy der Trommler Hälfte über das Ende des Simses ragte. Danach schaltete er seine magische Lampe ein und richtete den Lichtkegel nach unten. Wolken aufstiebender Wasserschleier versperrten ihm größtenteils die Sicht. Aber er sah dennoch, daß sich links von ihm eine in den Fels gehauene Treppe befand, die neben dem Katarakt nach unten führte. Allerdings vermochte er nicht zu sehen, was sich ganz unten befand, denn so weit reichte der Lichtkegel der Lampe nicht. Koy schaltete die Lampe wieder aus und machte sich ohne langes Überlegen an den Abstieg. Eine andere Möglichkeit, aus der Höhle mit dem giftigen See zu kommen und sich eine Taktik für die Jagd zurechtzulegen, gab es nicht. Die Stufen waren glitschig und außerdem viel zu hoch für Koy. Die Wesen, die sie in den Fels gehauen hatten, mußten mindestens doppelt so groß gewesen sein wie er – oder sie hatten zumindest doppelt so lange Beine gehabt. Da Koy wegen der Rutschgefahr und der Gefahr, in die Tiefe zu stürzen, nicht springen durfte, rutschte und stieg er halb mit allen möglichen Verrenkungen, aber dennoch ziemlich schnell, nach unten. Er hatte ungefähr fünfzig Meter Höhenunterschied überwunden, als von oben ein lautes Sirren ertönte. Koy lachte laut. Er wußte, daß ein Uka diesen Laut ausstieß, wenn er wütend war. Demnach war es ihm gelungen, das Tier zu überraschen. Offenbar hatte es nicht vermutet, daß er den gefährlichen Abstieg wagen würde. Allerdings mußte er nunmehr damit rechnen, daß es aus Furcht, die Beute könnte ihm entkommen, seine Säurewaffe mit der Absicht einsetzen würde, ihn zu töten. Koy setzte alles auf eine Karte und sprang trotz der Absturzgefahr mit schnellen Sprüngen von einer Stufe zur anderen. Mehrmals glitt er aus und konnte sich nur durch blitzschnelle Verlagerungen seines Körperschwerpunkts fangen. Aber dann passierte es doch. Bei einem Sprung landete er auf etwas
17 Weichem, vielleicht dem halbverwesten Leichnam eines kleinen Tieres. Jedenfalls wurden ihm diesmal beide Füße förmlich unter dem Körper weggerissen. Er glitt mit ausgebreiteten Armen über die Kante der Stufe hinaus und merkte, daß sein Schwung so groß war, daß er auch über die Außenkante der nächsten Stufe fliegen würde. Wenigstens kann das Biest mich nun nicht mästen! dachte er in einem Anflug von Galgenhumor, als er merkte, daß er ins Bodenlose stürzte. Hinter und über ihm zischte, brauste und brodelte das Felsgestein der Treppe unter wütenden Säurestrahlen des Ukas. Koy lachte lautlos darüber, daß das Tier nicht auf den Gedanken kam, daß eine flügellose Beute fliegen könnte. Allerdings lachte er nicht lange, denn als seine Flugrichtung senkrecht nach unten ging, krampfte sich alles in ihm in grauenhafter Angst vor dem Aufprall zusammen. Großer Magier, der alle Welten erschaffen hat und alle Bewegungen lenkt – errette mich! dachte er verzweifelt. Dann kam der Aufprall! Koy wunderte sich noch darüber, daß er nicht so hart war, wie er befürchtet hatte. Doch dann setzten seine Gedanken aus, denn der Aufprall war immerhin hart genug, um ihn zu betäuben.
* Als sein Bewußtsein zurückkehrte, glaubte Koy zuerst, er wäre umgekommen und befände sich in der Finsternis des Totenreichs. Doch dann hörte er das Tosen und Dröhnen des Katarakts, und ihm wurde klar, daß er am Fuß des Wasserfalls lag. Er blieb eine Weile still liegen und lauschte den Schmerzsignalen, die von diversen Körperstellen zu seinem Gehirn gingen. Sie waren erträglich. Folglich hatte er sich nicht allzu schwer verletzt. Wahrscheinlich war er sogar mit Prellungen davongekommen. Vorsichtig stemmte er sich auf die Knie
18 und tastete den Boden ab, auf dem er hockte. Er fühlte lange schmale Streifen einer glitschigen Substanz. »Seetang!« sagte er leise, und er begriff, daß er sein Leben nur dem Umstand verdankte, daß er auf ein Seetanglager des Ukas gestürzt war. Aber wo sich ein Seetanglager der Bestie befand, konnte sie nicht weit sein! Koy fühlte nach seiner Ausrüstung. Beruhigt stellte er fest, daß sie vollständig und offenbar unbeschädigt war. Wieder lag er still und versuchte, durch das Getöse des Katarakts andere Geräusche zu hören, die auf die Anwesenheit oder Annäherung des Ukas deuteten. Als er nichts dergleichen hörte, war er fast enttäuscht darüber. Der Uka hatte zwar versucht, ihn durch Säurestrahlen zu töten, aber kein Uka würde anschließend davonkriechen, ohne sich zu vergewissern, ob sein Opfer wirklich tot war. Und die steile Felswand, an der die Treppe hinabführte, stellte für einen Uka kein Hindernis dar. Diese Bestien konnten sich mit den Haftfüßen ihrer bis zu tausend Beine sogar an jeder Höhlendecke entlangbewegen. Vielleicht wurde das Tier von etwas anderem abgelenkt! überlegte der Jäger. Dann kehrt es in absehbarer Zeit zurück. Bis dahin muß ich mir eine gute Kampfposition gesucht haben. Er riskierte es, die magische Lampe einzuschalten. Der grüne Lichtkegel wanderte über ein großes Seetanglager und beleuchtete zahllose kleine Krebstiere, die zu völliger Bewegungslosigkeit erstarrten, wenn der Lichtstrahl sie traf. Hinter dem Seetang stürzte der Wasserfall herab, aber seine Gischt sprühte nicht herüber, weil zwischen ihm und dem Tang aus grünen Steinquadern eine hohe Mauer errichtet war. Deshalb vermochte der Jäger auch nicht zu sehen, wohin das Wasser des Katarakts floß, aber ein gurgelndes Rumoren ließ ihn vermuten, daß es unter Strudelbildung in einer fast senkrecht abfallenden Felsröhre verschwand.
H. G. Ewers Auf der anderen Seite des Tanglagers erblickte Koy eine halbkreisförmig ausgebuchtete Felswand und davor eine Fläche, die wie glattpoliert aussah und in ihrer Mitte mit einer dünnen Lage Seetang bedeckt war. Koy lächelte wissend. So pflegten Ukas die Eingänge ihrer »Vorratskammern« zu gestalten. Die dünne Lage Seetang sollte verbergen, daß sich die polierte Fläche nach der Mitte zu senkte und dort in einem Loch endete. Wenn ein Lebewesen, das keine Saugnäpfe an den Füßen besaß wie ein Uka, die polierte Fläche betrat, wurde sein Schritt kaum merklich beschleunigt und zur Mitte hin gelenkt. Schöpfte das Wesen dann Verdacht, war es zu spät, denn es konnte auf der glitschigen, abwärts führenden Fläche nicht mehr bremsen – und es rutschte schließlich hilflos durch das Loch in die »Vorratskammer« zu den anderen lebenden Vorräten des UkaHaushalts. Möglicherweise war das der Grund dafür, daß der Uka sich nicht mehr um ihn gekümmert hatte. Er mußte natürlich glauben, daß sein neues Opfer, wenn es sich nicht in seinem Säürebeschuß aufgelöst hatte, genauso in die Falle tappen würde wie alle vorhergehenden Opfer. Und aus dem »Stall« eines Ukas war noch niemand entkommen. Koy richtete sich vollständig auf. Er war ein Jäger, also war es unzumutbar für ihn, hier auf den Uka zu warten, als wäre er ein Beutetier. Nicht dem Uka, sondern ihm stand die Rolle des Jägers zu. Folglich mußte er die Initiative ergreifen. Sicher, niemand war bisher aus dem »Stall« eines Ukas entkommen, aber er war schließlich Koy der Trommler – und seinem Trommeln würde keine Kerkerwand standhalten, so massiv sie auch sein mochte. Es war reizvoll, sehenden Auges in die Falle der Bestie zu stürzen und sie zu einer Falle für den Fallensteller zu machen. Allerdings wollte Koy kein unkalkulierbares Risiko eingehen und sich vielleicht beim Sturz aus zu großer Höhe die Beine brechen. Deshalb rollte er seine Strickleiter ein Stück
Koy der Trommler
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auf und hielt sie so, daß er das Ende mit den krallenförmigen, messerscharfen Wurfhaken aus blutgehärtetem Spezialstahl jederzeit zielsicher werfen konnte. Danach betrat er die glattpolierte Fläche. Da er die Falle durchschaut hatte, bremste er seine Schritte ab und wurde dadurch nicht schneller. Aber als er die mittlere Schicht aus Seetang betrat, half ihm das alles nichts. Offenbar befand sich unter dem Seetang eine dickere Schleimschicht, als er vermutet hatte, denn der Tang geriet unter seinem Körpergewicht sofort in Bewegung und rutschte auf den Mittelpunkt zu. Dabei nahm er den Jäger mit. Koy mußte sekundenlang um sein Gleichgewicht kämpfen, und als er es zurückerhalten hatte und das Leiterende mit den beiden Wurfankern dorthin schleuderte, wo sich der Rand des Loches befinden mußte, war es zu spät für ein sicheres Zielen. Der Jäger sauste mitsamt dem Seetang durch das Loch. Er hörte, wie die Wurfanker klirrend auf den polierten Fels schlugen und wie sie abrutschten. Dann fiel er in eine unbekannte Tiefe. Glücklicherweise fiel er nicht lange. Als er mit den Füßen aufkam, wußte er, daß er den Sturz ohne Verletzungen überstanden hatte. Doch dann kamen die Wurfanker herab. Einer traf genau auf die Kugel seines linken Broins – zum Glück mit der stumpfen Oberseite. Dennoch raubte der Schmerz dem Jäger fast das Bewußtsein. Er sank in die Knie, stöhnte und schaukelte mit dem Oberkörper hin und her. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm der Schädel gespalten worden. Als der Schmerz nachließ, wischte sich Koy die Tränen aus den Augen, schaltete seine magische Lampe an und sah sich um. Was er sah, stülpte ihm den Magen um.
* Es dauerte lange, bis Koy der Übelkeit Herr wurde, die ihn trotz leerem Magen quälte.
Als er sich zum zweitenmal umsah, hatte er sich wieder in der Gewalt. Der Anblick war dennoch nicht besser. Zirka dreißig Tiere lagen in dem Felsverließ, die meisten von ihnen waren Felsenechsen von unterschiedlichem Alter und von unterschiedlichen Körperlängen. Aber allen war das Rückgrat gebrochen, so daß sie nur mühsam kriechen konnten. Ihre Exkremente bedeckten, vermischt mit angefaultem Seetang, den Boden kniehoch. Alle Tiere waren mit eiternden Wunden bedeckt, die sie sich wahrscheinlich gegenseitig zugefügt hatten. Koy vermochte diese Quälerei nicht mit anzusehen. Er bereitete ihr mit Schüssen aus seiner Feuerlanze ein Ende. Als sich nichts mehr regte, atmete Koy auf. Das Leiden der armen Kreaturen war beendet. Jetzt konnte er überlegen, wie er den Uka zur Strecke brachte. Er empfand keinen Haß auf die Bestie, denn sie folgte schließlich nur ihren vererbten Instinkten. Dennoch war Koy entschlossener als zuvor, den Uka zu töten, damit er nicht noch mehr Beutetiere fing und einem grauenhaften Schicksal aussetzte. Ursprünglich hatte er vorgehabt, sofort nach seiner Ankunft im Kerker die Broins einzusetzen und sich mit ihnen einen Weg nach draußen zu sprengen. Aber allein der Gedanke daran verursachte in seinem verletzten Broin einen derart wühlenden Schmerz, daß er davon absah und nach einer anderen Möglichkeit suchte. Langsam ging er an der Kerkerwand entlang und klopfte sie mit dem Griffstück der Feuerlanze ab. Als er an eine Stelle kam, an der das Klopfen hohl klang, zog er sich etwa fünf Meter von ihr zurück, kniete nieder und zielte mit der Mündung seiner Waffe darauf. In wenigen Minuten hatte er ein Loch in die Felswand gebrannt, das groß genug war, um ihn durchzulassen. Aber die Luft im Kerker hatte sich dabei so sehr erhitzt, daß beim Atmen stechende Schmerzen in den Lungen tobten. Dennoch konnte Koy nicht hinaus, denn der Boden vor dem Loch war von einer großen Lache aus geschmolzenem
20 Gestein bedeckt. Er zog sich etwas weiter zurück und wartete. Glücklicherweise stieg die erhitzte Luft nach oben und zog durch das Loch in der Decke ab. Als die Schmelzlache soweit abgekühlt war, daß Koy nicht mehr mit den Füßen darin steckenbleiben konnte, lief er schnell darüber hinweg und stieg durch das Loch. Auf der anderen Seite entdeckte er im Schein seiner Lampe einen zweiten Hohlraum. Doch im Unterschied zum ersten diente er nicht als Kerker für lebende Vorräte. Eine schmale, aus Geröll aufgeschüttete Rampe führte von der Mitte des Hohlraums zu einer torgroßen Öffnung am gegenüberliegenden Rand der Decke. Koy entdeckte die blau und rot gestreiften Haare, die an manchen Stellen aus dem Geröll ragten. Er wußte, daß es sich um abgebrochene Stachelhaare eines Ukas handelte. Demnach mußte die Bestie sehr oft über die Rampe laufen – und dazu mußte sie einen Grund haben. Der Jäger erkannte den Grund, als er den Lichtkegel seiner Lampe nach rechts richtete. Dort befand sich eine zweite torgroße Öffnung, aber diesmal in Bodenhöhe – und hinter ihr führte ein breiter Stollen fort. Koy brauchte nicht zu rätseln, wohin der Stollen führte. An den einzelnen feuchten Tangstreifen, die auf dem Boden des Stollens lagen, erkannte er, daß er zum Meer führte. Der Uka holte durch ihn das Futter für seine Opfer, und er verlor bei jedem Transport etwas von dem Tang. Nach kurzem Nachdenken entschloß sich Koy, diesen Stollen zu benutzen. Zwar wußte er nicht, ob der Uka, auf den er es abgesehen hatte, sich in dem Stollen aufhielt, aber allein die Aussicht, einmal einen zum Meer der Erde führenden Verbindungsstollen genau kennenzulernen, reizte ihn. Er steckte die magische Lampe mit ihrer Halteklammer so auf das Rohr der Feuerlanze, daß der Lichtkegel nach vorn gerichtet war, und drang in den Stollen ein. Der Stollen führte mit schwachem Gefälle
H. G. Ewers geradeaus. Nach etwa zehn Minuten mündete er in eine Tropfsteinhöhle. Riesige bunte Stalaktiten hingen von der gewölbten Decke und vereinigten sich manchmal mit den von unten emporwachsenden großen Stalagmiten. Die funkelnden Salzkristalle auf den Tropfsteinen und auf Boden, Wänden und Decke der Höhle bewiesen dem Jäger, daß das Meer nicht mehr weit war. Sie bewiesen ihm außerdem, daß es auch auf vielen anderen heimgesuchten Planeten eine Verbindung zu deren Meeren gegeben hatte. Wenig später roch Koy das Meer, und etwa fünfzig Meter weiter senkte sich der Boden der Tropfsteinhöhle mit einem Gefälle von etwa vierzig Grad. Als Koy das Ende der Höhle erreichte und in die Weiterführung des Stollens hineinleuchtete, sah er das Meerwasser. Es bedeckte den Boden anfangs nur fingerhoch, so daß Koy einfach hindurchwatete. Aber dann nahm seine Tiefe immer schneller zu – und bald ging das Wasser dem Jäger bis zur Brust. Schräg unter ihm reichte das Wasser bis zur Decke des Stollens. Koy überlegte, ob er hier umkehren oder ob er versuchen sollte, die letzte Strecke getaucht zu schwimmen, um das freie Meer zu erreichen. Er traute sich zu, mindestens fünfzig Meter weit unter Wasser zu schwimmen. Danach aber mußte er auftauchen und Luft holen. Wenn ich nach fünfundzwanzig Metern nicht im offenen Meer bin, muß ich umkehren! dachte er. Er lief zur Tropfsteinhöhle zurück, zog sich bis auf die Unterwäsche aus und versteckte seine Sachen und seine Ausrüstung in einer Wandnische, deren Boden tiefer lag als ihr Rand. Danach hängte er sich wieder den Köcher mit den Wurfmessern um, schnallte sich den Gürtel um die Taille und befestigte die magische Lampe an dem magnetischen Gürtelschloß. Als er ins Wasser zurückgekehrt war und es ihm bis zum Kinn reichte, atmete er mehrmals tief durch, um sein Blut mit Sau-
Koy der Trommler erstoff anzureichern. Dann hielt er die Luft an und tauchte. Er kam mit kräftigen Schwimmbewegungen gut voran. Der Tunnel ging nach wenigen Metern steil abwärts und nach einem halbkreisförmigen Bogen wieder aufwärts. Koy erreichte die Wendemarke, die er sich vorgenommen hatte – und schwamm weiter, weil er das freie Meer nahe wähnte. Er hatte sich nicht getäuscht, denn nach insgesamt rund vierzig Metern schwamm er durch eine runde Öffnung und stieg sofort darauf langsam nach oben. Bevor er die Oberfläche erreichte, spürte er die Anzeichen des Sauerstoffmangels. Er zwang sich dennoch dazu, den Aufstieg abzubremsen, um nicht durch zu raschen Druckabfall Schaden zu nehmen. Endlich stieß sein Kopf durch die Meeresoberfläche. Koy legte sich auf den Rücken und atmete gierig die frische Luft ein. Als er etwa zehn Meter vor sich eine kurze und eine lange Flossenspitze hintereinander durch das Wasser schneiden sah, ging er instinktiv in Abwehrposition. In jeder Hand ein Messer, legte Koy sich auf den Bauch, tauchte das Gesicht ins Wasser und sah wenig später einen etwa vier Meter langen, schlanken Fisch, der direkt auf ihn zuschwamm. Als Koy die Messerklingen aneinander rieb, drehte der Fisch mit einem kräftigen Schlag seiner mächtigen oberen Schwanzflosse ab. Dabei legte er sich auf die Seite und zeigte dem Jäger außer seinem tiefdunkelblauen Rücken und der silberweißen Bauchseite mit langen Brustflossen auch ein furchterregendes Gebiß. Ein Meeresräuber! durchfuhr es den Jäger. Da Koy nicht an einem Kampf mit dem Raubfisch interessiert war, begab er sich auf den Rückweg. Doch der Räuber schwamm ihn immer wieder an – und nach kurzer Zeit machte er Ernst. Nur mit Mühe konnte Koy dem zuschnappenden Gebiß ausweichen, einem Gebiß, das sogar einem Ungeheuer aus den Horden der Nacht gefährlich geworden wäre. Nach dem
21 zweiten Angriff setzte Koy seine Broins ein. Der Schmerz in dem verletzten Broin blieb diesmal erträglich. Aber sein Angriff ging ins Leere, da der Meeresräuber seine Position ständig wechselte – und Koy mußte sich wenigstens einige Zeit auf ein Ziel konzentrieren, um seine psionischen Detonatorimpulse gerichtet abstrahlen zu können. Ungerichtet riefen die Impulse bestenfalls erträgliche Schmerzen hervor. Und der Räuber griff immer wieder an! Koys Rückzug artete in eine panikartige Flucht aus, denn er hatte bereits zuviel Zeit für seine vergeblichen Gegenangriffe verschwendet und mußte damit rechnen, daß er es nicht bis zum Ausgangspunkt schaffte. Zurück an die Oberfläche wagte er sich auch nicht mehr, denn in einiger Entfernung näherten sich drei weitere Meeresräuber. Zusammen mit dem ersten Angreifer hätten sie ihn sicher bald in Stücke gerissen. In Koys Schädel brauste es, das Herz schlug ihm schmerzhaft gegen die Rippen, und seine Augen sahen nur noch wirbelnde Nebel, als er endlich mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche stieß und mit weit geöffnetem Mund nach Luft schnappte.
* Mit letzter Kraft watete er aus dem Wasser, ließ sich fallen und blieb liegen, bis er sich besser fühlte. Er hatte sich einigermaßen erholt, da schreckte ihn ein fernes Rumoren auf. Es klang nach den Nebengeräuschen eines leichten Bebens, aber Koy spürte keine Erschütterungen des Bodens. Lauschend hob er den Kopf – und plötzlich wußte er, was er hörte. Es war der Uka, der offenbar entdeckt hatte, daß seine halbgelähmten Opfer unbrauchbar für ihn geworden waren, und der daraufhin in den Felsenkammern tobte. Koy wußte, daß die Bestie früher oder später aufhören würde mit dem Wüten. Dann würde sie nach dem suchen, der ihr
22 das angetan hatte, also nach ihm – und sie konnte ihn gar nicht verfehlen. Der Jäger stemmte sich hoch und eilte, wenn auch noch etwas benommen, zu seinem Versteck in der Tropfsteinhöhle. Während er in die Vertiefung der Wandnische griff und seine Kleidung und Ausrüstung herausholte, überlegte er sich, daß die Höhle mit ihren zahlreichen übermannsdicken Tropfsteinsäulen das ideale Gelände für den entscheidenden Kampf mit dem Uka war. Hier konnte er Deckung gegen die Säurewaffe der Bestie finden, die ihrerseits in ihren Bewegungen gehemmt war – und er konnte sie mit Hilfe der Broins in die Enge treiben und sie zuletzt mit der Feuerlanze töten. Als Koy das letzte Ausrüstungsstück aus der Nische holte, stießen seine Finger auf einen festen Gegenstand, dessen Konturen ihm unbekannt waren. Vorsichtig holte er den Gegenstand heraus und hielt ihn in den Lichtkegel seiner magischen Lampe. Verwundert musterte er zehn fest miteinander verbundene Metallröhrchen, die von links nach rechts gleichmäßig länger wurden und von zwei metallischen Bändern zusammengehalten wurden. Koy vermochte sich nicht vorzustellen, welchen Zweck dieser Gegenstand erfüllt haben könnte. Er kam allerdings auch nicht dazu, lange darüber nachzudenken, denn in diesem Augenblick hörte er die schleifenden Geräusche, die entstanden, weil die Stachelbehaarung des Ukas bei der Fortbewegung durch den Stollen an den Wänden rieb. Rasch streifte er seine Kleidung über, schnallte sich den Gürtel darüber und schob den Fund darunter. Danach ergriff er seine Feuerlanze und ging hinter einem durchgehenden Tropfstein in Deckung, der zu einer großen Gruppe besonders starker Tropfsteine gehörte. Kaum hatte er sich zum Kampf eingerichtet, da stürmte der Uka in die Höhle. Das rasende Tier achtete kaum auf den Weg und stieß immer wieder gegen Stalaktiten und Stalagmiten. Die kleineren Tropfsteine wur-
H. G. Ewers den einfach abgerissen und zerbrachen beim Aufprall auf den Boden. Kühl beobachtete der Jäger das Tier. Es war ungefähr elf Meter lang und hatte einen Körperdurchmesser von anderthalb Metern. Seine Walzenform wurde von den giftigen Stacheln, die die Wandungen des Stollens förmlich kehrten, etwas verborgen. Zwischen den Stacheln glühte es an manchen Stellen auf. Das kam von Hautpartien, die allerdings nur dann leuchteten, wenn der Uka wütend war. Der Kopf des Ukas, der vollkommen eingezogen werden konnte, wirkte wie eine aus schwarzem Holz geschnitzte Dämonenmaske. An ihm bewegte sich nichts, denn die fingerdicke Panzerhaut war vollkommen starr. Seine Beute packte der Uka mit einer unterarmdicken, sehr beweglichen Zunge, die so hart wie ein Stahlseil war – und an der Unterseite der bis auf drei Meter ausrollbaren Zunge befand sich das schlauchartige Organ, mit dem das Tier eine unglaublich aggressive Säure verschießen konnte. Koy wartete, bis der Uka wieder gegen einen starken Tropfstein rannte, dann setzte er seine Broins ein. Er richtete die Detonatorwirkung auf einen großen Stalagmiten, auf den der Uka zuraste und den er zweifellos mit seinem Schädel rammen würde. Dumpfe Trommelgeräusche ertönten. Sie wurden von den psionisch erzeugten Vibrationen hervorgerufen, die im Zielgebiet des Jägers entstanden und hatten ihm den Beinamen »der Trommler« eingebracht. Allerdings hörten Unbeteiligte nichts. Nur das jeweilige Opfer oder jemand im Streubereich der psionischen Impulse vernahm das Trommeln. Der Uka hielt fast ruckartig an. Er hörte das Trommeln auch, aber er wußte es nicht zu deuten, denn es ging von dem Stalaktiten aus, der unmittelbar vor ihm von der Höhlendecke hing. Als das Trommeln sich zu einem ohrenbetäubenden Stakkato steigerte, schnellte das Tier seine Zunge heraus und wickelte sie um den Tropfstein. Im gleichen Augenblick zerplatzte der
Koy der Trommler Stalaktit explosionsartig in winzige Bruchstücke, von denen Tausende gegen das Gesicht des Ukas prasselten. Die Bestie krümmte ihren Körper zusammen, wodurch sie etwa ein Dutzend Stalaktiten von der Decke riß. Gleichzeitig versprühte sie wahllos Säurestrahlen. Wo die Säurestrahlen auftrafen, kochte und brodelte das Kalkgestein. Beißende Dämpfe wallten auf und vermischten sich mit den Staubwolken, die die Höhle erfüllten. Koy duckte sich hinter die Sintersäule, die ihm Deckung bot. Als das Zischen und Brodeln nachließ, spähte er hinter seiner Deckung hervor. Er hielt die Feuerlanze schußbereit, aber er kam nicht zum Schuß, da die Staub und Dampfwolken ihn der Sicht auf seine Beute beraubt hatten. Im nächsten Moment mußte er erneut in Deckung gehen, denn der Walzenkörper des Ukas schlug nach allen Seiten aus. Dabei splitterten zahlreiche Stachelhaare ab und flogen umher. Ein einziger Kratzer einer Giftspitze hätte ausgereicht, Koy zu töten. Als die ersten Dampfschwaden den Jäger erreichten, wich er vor ihnen zurück, denn sie drohten ihm die Schleimhäute zu verätzen. In seiner Bedrängnis tat er etwas, das er bisher stets vermieden hatte: Er richtete die psionischen Detonatorimpulse seiner Broins auf ein Ziel, das er nicht sah. Koys Absicht war es, gerade soviel Gestein aus der Decke zu lösen und auf den Uka stürzen zu lassen, daß das Tier von dem Gewicht festgehalten wurde. Sobald der Uka dann seinen Säurevorrat verspritzt hatte, wollte der Jäger ihm den Fangschuß geben. Das war zwar in seinen Augen nicht gerade die elegante Art zu jagen, aber er sah keine andere Möglichkeit. Abermals ertönte das entnervende Trommeln. Der Uka schien die Gefahr, die davon ausging, zu ahnen, denn er hörte zu toben auf und kroch plötzlich tiefer in die Höhle hinein. Wieder steigerte sich das Trommeln zu einem donnernden Stakkato, das in der Höhle starke Vibrationen erzeugte – und dann
23 brach ein Teil der Höhlenwand ein. Koy warf sich zu Boden, als vor ihm Tausende Tonnen Gestein herabregneten. Ein paar Felsbrocken schlugen dicht neben ihm ein und bombardierten ihn mit kleinen Splittern. Aufwallender Kalkstaub drang ihm in Mund und Nase und verursachte einen Hustenanfall, bei dem sich Koy fast die Lunge aus dem Leib hustete. Als der Staub sich gelegt hatte und Koy wieder einigermaßen klare Luft atmen konnte, sah er, daß zwischen ihm und dem Uka eine Gesteinsbarriere lag, die wahrscheinlich keiner von ihnen wegräumen konnte. Das hatte er nicht gewollt, denn dadurch beraubte er sich der Möglichkeit, dem Tier den Fangschuß zu geben. Aber wahrscheinlich waren über der Höhlendecke Verspannungen im Gestein vorhanden gewesen, die nur noch eines Anstoßes bedurft hatten, um das gesamte Hangende über einem großen Teil der Höhle einstürzen zu lassen. Knackende Geräusche über ihm verrieten dem Jäger, daß auch der Teil der Höhle, in dem er sich befand, vom Einsturz bedroht war. Er zog sich schnellstens zurück. Während er durch den Stollen eilte, fragte er sich, was der Uka tun würde. Wenn die gesamte Höhle einstürzte, würde er gezwungen sein, durch den wassergefüllten Stollen zu fliehen. Und sobald er das freie Meer erreichte, würden die Meeresräuber, die wahrscheinlich an der Stollenmündung warteten, über ihn herfallen und ihn zerfleischen. Ein Ungeheuer von Pthor würde von Ungeheuern der Erde zerrissen werden. Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Als hinter ihm das Donnern eines neuen Einsturzes erscholl, wußte Koy, daß das Schicksal der Bestie besiegelt war. Er freute sich nicht darüber, aber er empfand auch kein Mitleid mit dem Uka. Ihm blieb nur noch, an die Oberfläche zurückzukehren und seinen Flug an der Küste entlang fortzusetzen.
4.
24 Als er die Höhlenmündung erreichte, stand die Sonne der Erde im Zenit. Da sie auch im Zenit gestanden hatte, als Koy in die Höhle des Ukas eingedrungen war, wußte er, daß er einen vollen Nachmittag, eine Nacht und einen Vormittag im Höhlensystem der Bestie verbracht hatte – und er hatte nicht einmal eine Trophäe erbeutet. Koy wollte sofort am Seil zu seiner Vegla klettern und sich auf der Flugscheibe ausruhen. Aber er war zu erschöpft und schaffte nicht einmal drei Meter. Also blieb dem Jäger weiter nichts übrig, als eine Rast in der Höhlenmündung einzulegen. Nachdem er die Umgebung nach eventuellen Gefahren abgesucht hatte – mit negativem Ergebnis –, kroch er ein Stück in die Höhle zurück, legte sich hin und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Aber er schlief nicht lange, denn er hatte seinen inneren Wecker so eingestellt, daß er in der Mitte des Nachmittags wieder erwachte. Dann konnte er so starten, daß er das Mündungsdelta des Xamyhr bei Einbruch der Dunkelheit erreichte. Von dort aus würde er nach Westen abbiegen und sich in der Nacht an den Ortungsimpulsen des Wachen Auges orientieren können, das sich zwischen der Küste und der Senke der verlorenen Seelen befand. Koy hatte keine genauen Befehle von den Herren der FESTUNG über die geographische Lage seines Zieles erhalten. Aber seine bisherigen Erfahrungen sagten ihm, daß dieses bewegliche Ziel, wenn es tatsächlich in der Nähe von Wolterhaven aufgetaucht war, bei seiner Wanderung gewissen gesetzmäßigen Zwängen unterworfen sein würde. Diese Zwänge ergaben sich aus der unsichtbaren energetischen Struktur Pthors, die mit einem magischen Labyrinth zu vergleichen war. Wenn die Eindringlinge von Terra die Gefahren auf ihrem Wege überstanden hatten, mußten sie nach Koys Berechnungen zu dieser Zeit auf dem Wege vom Dämmersee nach Monndrag sein – und dafür kam nur eine bestimmte Strecke in Frage, die durch die
H. G. Ewers Senke der verlorenen Seelen führte. Koy verließ die Höhle endgültig. Nachdem er sich umgesehen hatte, packte er das Kletterseil. Diesmal kam er zügig voran und erreichte nach wenigen Minuten den Vorsprung, auf dem er die Vegla verankert hatte. Er verstaute seine Ausrüstung an den dafür vorgesehenen Stellen, dann trank er aus dem Wasserfaß und kaute einen Streifen Trockenfleisch. Anschließend stellte er sich wieder in die Konturvertiefungen, aktivierte einige Sensorpunkte im rechten Griff der Steuer und Haltegabel und startete. Er flog in geringer Höhe über die schroffe Bergwildnis und beobachtete abwechselnd das Meer und die Straße, die an der Landseite der Bergwildnis entlangführte. Ab und zu fuhren große, schwerfällig wirkende Transporter in Richtung Aghmonth. Ihre Laderäume waren mit organischem und anorganischem Rohmaterial beladen, das für die Fabriken von Aghmonth bestimmt war. Andere Transporter fuhren in die entgegengesetzte Richtung. Sie brachten Verpflegung, Ersatzteile und Sklaven zu den Minen in der Bergwildnis, in denen die Rohmaterialien für Aghmonth gefördert wurden. Koy erinnerte sich, daß es immer das gleiche gewesen war. Seit er seine Vegla besaß und bei seinen Aufträgen diesen Küstenstrich überflog, hatte er auf der Straße immer das gleiche Bild gesehen. Er vermochte sich nicht vorzustellen, daß es irgendwann einmal anders sein würde. Aber Aghmonth stellte nicht nur Androiden her, sondern auch chemische Waffen von grauenhafter Wirkung, denen in der Vergangenheit immer wieder Gegner auf verschiedenen heimgesuchten Welten zum Opfer gefallen waren. Zum erstenmal kam Koy der Gedanke, ob die Fahrten von einer Welt zur anderen jemals ein Ende finden würden. Irgendwann müßte doch das Ziel von Pthor, das in Koys Vorstellungen reichlich nebulös aussah, erreicht sein. Was würde dann geschehen? Würde das Leben auf Pthor dann so weiter-
Koy der Trommler gehen wie bisher – und wenn, würde es dadurch nicht seinen Sinn verlieren? Aber diese Überlegungen beschäftigten den Jäger nicht so stark, daß sie ihn beunruhigten. Pthor war uralt und hatte wahrscheinlich schon viele unterschiedliche Aufgaben erfüllt. Es würde noch bestehen, wenn seine Aufgabe sich von der jetzigen so sehr unterschied, daß er, Koy, sich nichts darunter vorstellen konnte. Die Vegla überflog einen landseitigen Einschnitt in die Bergwildnis. Koy sah die silbern blinkende Kuppel eines Kraftwerks und zwischen riesigen Abraumhalden die Stahlskelette von Fördertürmen und die staubigen Betonklötze von Aufbereitungsanlagen. Dazwischen lagen die primitiven Baracken, in denen die Minensklaven nach ihrer Schicht verpflegt wurden und schliefen, bis man sie wieder in die Schächte und Stollen trieb. Koy hatte sich vorher niemals Gedanken über das Los dieser Sklaven gemacht, die – beziehungsweise ihre Vorfahren – von heimgesuchten Welten nach Pthor verschleppt worden waren, denn er kannte es nicht anders. Diesmal kam ihm flüchtig der Gedanke, ob es gerecht sei, daß eine bestimmte Gruppe von Frauen und Männern ein härteres und entbehrungsreicheres Leben führen mußte als andere Gruppen. Es war die Unsicherheit über seinen eigenen Status, die diesen Gedanken verursachte, denn wenn er als Androide eingestuft wurde, besaß er im Grunde genommen nicht mehr Rechte als diese Sklaven, denn ein Androide war keine Person, sondern eine Sache. Diese Gedanken lösten sich wieder auf, als er vor sich das Mündungsdelta des Xamyhr erblickte. Der Fluß Xamyhr spaltete sich zwischen einem Gewirr von Felsschwellen in zahllose Nebenarme auf, die das flache Land in Sümpfe verwandelt hatten und auf niedrigen Hügeln eine wild wuchernde Dschungellandschaft erzeugten. Koy überquerte mit der Vegla gerade die ersten Nebenarme des Xamyhr, als die Son-
25 ne der Erde im Westen unterging und die kompakte Dschungellandschaft auf den Hügeln des Deltas in blutrotes Licht tauchte. Der Jäger steuerte die Vegla höher, damit er etwas länger im Sonnenlicht blieb. Unter ihm versank die Landschaft in Dunkelheit. Doch bald darauf leuchtete ein bleicher Halbmond am Nachthimmel. Koy blickte nach oben und musterte die Krater und Ebenen des natürlichen Erdsatelliten. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn bei diesem Anblick. Es war, als gingen gleichzeitig Drohung und Verheißung davon aus. Der Jäger erinnerte sich, im Ghetto ein Gerücht gehört zu haben, nach dem Pthor schon früher die Erde heimgesucht haben sollte. Er wußte nicht, ob etwas Wahres daran war. Zu viele wilde Gerüchte schwirrten durch das Ghetto der Pfisters. Aber wenn Pthor die Erde in ferner Vergangenheit tatsächlich schon einmal heimgesucht haben sollte, mußte es unauslöschliche Spuren hinterlassen haben, auch wenn diese Spuren sich vielleicht nur dem Wissenden offenbarten. Hatte der Erdmond vielleicht damals eine besondere Rolle gespielt? Falls die Erde zu jener Zeit schon einmal eine hochentwickelte Zivilisation besessen hatte, mußte sie bereits damals ihre Stützpunkte auf dem Mond errichtet haben. Was war mit den Menschen in diesen Stützpunkten geschehen? Waren sie umgekommen, als der Nachschub von der Erde ausgeblieben war? Oder hatten sie noch lange genug gelebt, um etwas dort oben zu tun, das sich eventuell heute bemerkbar machte? War der Mond zum Wächter über die Erde bestellt worden? Koy verdrängte diese unangenehmen Gedanken. Er flog jetzt nur noch im Schein des Mondes und mußte sich ganz auf seinen Kurs konzentrieren. Das Flußdelta war in Küstennähe rund vierzig Kilometer breit, und er hatte erst wenige Kilometer überflogen. Sobald er die letzten Nebenarme unter sich erblickte, mußte er nach Westen abdrehen.
26
H. G. Ewers
* Die letzten Nebenarme des Xamyhr-Deltas glitzerten gleich flüssigem Silber im Schein des Mondes aus den dunklen Flecken der Dschungel und Sümpfe hervor. In unregelmäßigen Abständen schollen einige wenige dumpfe Trommelschläge von dort herauf. Koy fragte sich, wer dort unten lebte und die Trommeln schlug. Soviel er wußte, war das Delta unbewohnt. Aber wahrscheinlich hatte einer der zahlreichen kleinen Stämme auf Pthor, die alle ihre bestimmten Aufgaben besaßen und manchmal auch ohne ersichtlichen Zweck existierten, sich vor kurzer Zeit im Delta des Xamyhr niedergelassen. Der Jäger legte die Vegla in eine Linkskurve, schaltete das Funkgerät ein, das noch immer am linken Griff der Steuer und Haltegabel hing und stellte eine Frequenz ein, auf der bestimmte Ortungsgeräte des Wachen Auges arbeiteten. Es dauerte lange, bis er einige piepsende Töne hereinbekam. Unterdessen hatte sich der Himmel mit dunklen Wolken bezogen, die das Licht des Erdmonds von Pthor fernhielten. Es waren Wolken, die zum eigenständigen Wettergeschehen von Pthor gehörten, denn das Wettergeschehen des Dimensionsfahrstuhls durfte nicht von den oft extrem unterschiedlichen Umweltbedingungen heimgesuchter Planeten abhängig sein. Das Licht von Sonnen und Monden war alles, was Eingang durch die RaumZeitBarriere fand, die für gewöhnlich als Wölbmantel bezeichnet wurde und rund um den Fahrstuhl etwa hundert Meter hinausragte und über Pthor eine Höhe von zehn Kilometern erreichte. Aber Pthor war keineswegs von der Wärmestrahlung einer fremden Sonne abhängig. War sie – beispielsweise bei der Heimsuchung eines sonnennahen heißen Wüstenplaneten – zu stark, wurde nur die notwendige Licht und Wärmestrahlung durchgelassen; war sie bei einem sonnenfernen Eisriesen zu niedrig, aktivierte sich die automatische
Selbstversorgung. Die Umweltbeziehungen ErdePthor stellten eine der wenigen Ausnahmen dar, denn die Schwerkraft, die Sonneneinstrahlung, die Zusammensetzung der Atmosphäre, das Klima und sogar der Tag und Nachtrhythmus waren beinahe identisch, so daß die Regelmechanismen des Fahrstuhls lediglich das Wetter steuerten, um die unterschiedlichen Klimazonen Pthors zu erhalten. Nach einigen Flugmanövern, bei denen Koy seine Vegla in weitausholenden Schlangenkurven steuerte, hatte der Jäger aufgrund der Intensitätsschwankungen der einfallenden Ortungsimpulse die Richtung ausgemacht, in der das Wache Auge lag. Er fixierte den Kurs und setzte sich auf die Scheibe. Die Beine schlang er überkreuzt um die Steuer und Haltegabel. So flog er durch das Dunkel der Nacht. Es war ein seltsamer und vor allem eintöniger Flug, denn die Wolken hatten sich inzwischen so stark verdichtet, daß Koy weder über noch unter sich etwas sah. Er sah nicht einmal etwas von seiner Vegla, so daß er glauben konnte, ganz allein in einem Universum zu sein. Nur schräg über sich glühte das rote Auge der Kontrollampe seines Funkgeräts. Durch die erzwungene Untätigkeit erinnerte sich der Jäger an den Fund, den er in der Tropfsteinhöhle gemacht hatte. Er rückte die Gesäßtasche ein Stück nach vorn, öffnete sie und zog das Fundstück heraus. Danach schaltete er seine magische Lampe an und befestigte sie magnetisch vor sich auf der Oberseite der Vegla. In dem grünen Lichtschein musterte er das seltsame Stück. Während er es in den Händen drehte, fuhr der Fahrtwind in die Öffnungen der Oberseite. Koy zuckte unwillkürlich zusammen, als eine Summe von Tönen durch die Nacht klang. Er drehte das Ding so, daß er in die Öffnungen der Oberseite blickte. Als er sah, daß die Öffnungen durch unterschiedliche Einsätze unterschiedlich groß waren, kam ihm der Gedanke, daß das Ding ein Musik-
Koy der Trommler instrument sein könnte. Er kannte verschiedene Musikinstrumente, obwohl die Kunst der Musik auf Pthor nicht sehr verbreitet war. Meist wurde sie von Sklaven ausgeübt, die von anderen Welten verschleppt worden waren – und meist bedienten sich die Sklaven dabei selbstgefertigter primitiver Instrumente wie Flöten, Rasseln und Trommeln. Gegen diese Instrumente war das Instrument aus der Tropfsteinhöhle ein kompliziertes Kunstwerk – und vor allem bestand es nicht aus Naturwerkstoffen, sondern aus sorgfältig bearbeitetem Metall. Koy setzte das Instrument an die Lippen und blies abwechselnd in verschiedene Öffnungen. Nachdem er alle Töne durchgespielt hatte, probierte er geduldig herum und versuchte eine Melodie zu spielen, die er vor langer Zeit einmal als Gesang von einer Gruppe Sklaven gehört hatte, die in einem Lager am Rande des Ghettos auf ihren Abtransport nach Aghmonth gewartet hatten. Inzwischen war er fast dreißig Kilometer nach Westen geflogen. Das Wache Auge befand sich nur noch etwa zehn Kilometer vor ihm – und bei klarem Nachthimmel hätte er im Mondlicht die Umrisse der weiträumigen Anlage sehen können. Koy hörte nur an der Zunahme der Lautstärke der aufgefangenen Impulse, daß er nicht mehr weit von der Ortungs und Peilanlage entfernt war. Da er die Lampe nicht mehr brauchte, schaltete er sie aus und schob sie in die Tasche zurück. Aber er dachte erst wieder an das Wache Auge, als zweierlei gleichzeitig geschah. Zum einen spürte er plötzlich ein Ziehen im Hinterkopf, was nach seinen Erfahrungen nur auf eine Psiquelle in nächster Nähe zurückgeführt werden konnte – und zum anderen wurden die akustisch hörbar gemachten Ortungsimpulse des Wachen Auges lauter. Zuerst war Koy völlig verwirrt, denn er konnte sich nicht erklären, wo eine Psiquelle in seiner unmittelbaren Nähe sein könnte. Aber als das Ziehen im Hinterkopf schwächer wurde, fiel sein Blick wieder auf das Musikinstrument in seinen Händen. Das Zie-
27 hen war schwächer geworden, als er das Instrument abgesetzt hatte. Sollte die Psiquelle sich etwa darin befinden und durch ihn aktiviert worden sein? Erneut blies der Jäger in das Instrument. Sofort wurde das Ziehen im Hinterkopf wieder stärker. Aber auch die einfallenden Impulse des Wachen Auges wurden lauter. Koy setzte das Instrument ab. Hatte er durch sein Spiel vielleicht eine Wechselbeziehung zwischen dem Instrument und dem Wachen Augen ausgelöst? Koy kam nicht mehr dazu, länger darüber nachzudenken, denn er merkte, daß seine Vegla unsicher flog. Sie schwankte leicht hin und her und schien zudem an Höhe zu verlieren. Rasch steckte der Jäger das Instrument in die Tasche zurück, stand auf und hielt sich an den Gabelgriffen fest. Da es keine Kontrollanzeigen gab, mußte er rein gefühlsmäßig feststellen, was mit seiner Vegla los war. Das war infolge der völligen Dunkelheit schwierig, denn er konnte keine Orientierungspunkte erkennen – weder auf dem Boden noch am Himmel. Dennoch wurde ihm bald klar, daß seine Vegla ihren Kurs verlassen hatte und ständig an Höhe verlor. Er schaltete, indem er die Sensorpunkte des rechten Griffstücks berührte. Und er erschrak, als er spürte, daß die Antigravscheibe nicht darauf reagierte. Das war noch nie zuvor geschehen, und Koy kam sich völlig hilflos vor. Er verfügte nicht einmal über ein Rettungssystem, denn weder die Erbauer der Vegla noch er hatten damit gerechnet, daß die Scheibe einmal versagen könnte. Plötzlich krachte es in seinem Funkgerät, dann glühte es von innen auf. Flammen schlugen heraus. Koy griff nach dem Riemen des Geräts, zog daran und schleuderte das brennende Funkgerät in die Dunkelheit. Im nächsten Moment fiel er mit dem Oberkörper schwer über die Steuer und Haltegabel. Das konnte nur eines bedeuten: Die Windsbraut, der Vorwärtsantrieb, hatte vollständig ausgesetzt.
28 Diese Vermutung bestätigte sich, als die Vegla ins Trudeln geriet und haltlos dem unsichtbaren Boden entgegentaumelte. Plötzlich lockerte sich die Bewölkung auf. Bleiches Mondlicht stach durch die Lücken zwischen den Wolken. Es reichte nicht aus, um Bodenformationen zu erkennen, aber es beleuchtete doch das, was sich unmittelbar vor oder neben Koy befand. Deshalb sah der Jäger den dunklen Schatten einer Bergwand vor sich auftauchen. Er stieß einen Schrei aus und machte sich auf einen tödlichen Aufprall gefaßt. Aber die Vegla schwang nach rechts aus und schlenkerte praktisch an der Bergwand vorbei. Links und rechts erkannte Koy vage die Umrisse zerrissener Felswände. Das konnte nur das Massiv des Taambergs sein! durchfuhr es Koy. Er war demnach weit vom Kurs abgekommen. Stotternd sprang der Levitator wieder an. Sofort griff Koy nach den Sensorpunkten und versuchte, die Kontrolle über die Vegla zurückzubekommen. Flüchtig schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß die psionische Ausstrahlung des fremdartigen Musikinstruments die Ortungs und Peilimpulse des Wachen Auges so modifiziert haben könnte, daß sie ihrerseits den Antrieb der Vegla störend beeinflußten. Doch er fand keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu denken, denn wieder tauchten dunkle Konturen vor ihm auf. Koy versuchte, die Vegla nach rechts und daran vorbei zu steuern, aber sie gehorchte ihm noch nicht ganz. Der Rand der Scheibe streifte eine Felswand. Es gab einen lauten Mißton, dann sackte die Vegla durch. Splitternde Geräusche hallten durch die Nacht, als die Scheibe tief über eine Geröllhalde jagte und die Ausrüstung an der Unterseite weggerissen wurde. Die Vegla schien sich wieder erheben zu wollen. Vielleicht hätte sie es auch geschafft, wenn vor ihr nicht ein Gegenhang aufgetaucht wäre. Mit dem mörderischen Kreischen zerreißenden Metalls schabte die Antigravscheibe über nackten Fels.
H. G. Ewers Koy klammerte sich an den Griffstücken fest, aber als die Gabel sich losriß, gab es auch für ihn kein Halten mehr. Er wurde nach vorn geschleudert, riß die Arme hoch und spürte nur noch einen dumpfen Aufprall, bevor sein Bewußtsein nach einem letzten grellen Aufblitzen erlosch.
* Zwei Kelotten wandten sich um, als hinter ihnen schlurfende Schritte ertönten. Verblüfft starrten sie auf die alte Frau, die gebeugt über das von chemischen Ausdünstungen schmierige Pflaster der Straße schlurfte. Ihre schwarze Kleidung war von Staub bedeckt, teilweise zerrissen und schlammverschmiert. Die nackten schmutzigen Füße schlappten in ausgeweiteten Sandalen. Blondes, strähniges Haar hing ihr ins Gesicht. »Was hat die hier zu suchen, Kemorq?« fragte der eine Kelotte. »Keine Ahnung, Lefraim«, gab der andere Kelotte zurück. »Sie trägt nicht einmal Schutzkleidung.« »Eigentlich müßten wir sie festhalten und eine Patrouille rufen«, meinte Lefraim. Kemorq blickte sich vorsichtig um. »Niemand außer uns ist hier in diesem Teil von Aghmonth«, sagte er leise. »Wir können die Frau fragen, was sie hier sucht, ohne den Vorfall unbedingt weiterzumelden.« »Einverstanden«, erwiderte Lefraim nach einem Rundblick. Bei den nächsten Anlagen und Schutzbunkern war kein anderer Kelotte zu sehen. Die beiden Männer überquerten die Straße und stellten sich der Frau in den Weg. »Wohin willst du, Frau?« fragte Lefraim. Die Frau blieb zögernd stehen. Langsam, so als bereite ihr das Schmerzen, hob sie den Kopf und blickte in die von Körperausdünstungen verkrusteten Gesichter der beiden Kelotten. Ihr Gesicht sah eingefallen und verhärmt aus, aber in ihren Augen brannte ein Feuer, das entweder Wahnsinn oder star-
Koy der Trommler ke Willenskraft verriet. »Ich will zu den Pfisters«, antwortete sie mit müder Stimme. »Bitte, laßt mich vorbei!« »Was kannst du schon bei den Pfisters wollen«, sagte Kemorq. »Sie haben mit sich selbst und mit den Mißgriffen zu tun, die ihnen übergeben werden.« »Ich frage mich mehr, woher die Frau kommt«, meinte Lefraim. »In der Nähe von Aghmonth gibt es keine Ansiedlungen. Es gibt überhaupt keinen Ort, wo jemand leben könnte, in unserer Nähe!« »Doch!« entgegnete die alte Frau mit unerwartet kräftiger Stimme. »Es gibt die FESTUNG!« Kemorq und Lefraim sahen sich überrascht an. In ihren hellblauen Augen flackerte es. »Sie kommt aus der FESTUNG«, flüsterte Kemorq. »Damit will ich nichts zu tun haben. Es ist Sache von Saprotto und Troquar, Verbindung mit den Herren der FESTUNG zu halten. Wenn sich jemand in ihre Angelegenheiten mischt, können sie sehr unangenehm werden.« »Ich werde mich nicht einmischen«, sagte Lefraim mit furchtsamer Stimme. Die beiden Kelotten zogen die Kapuzen tief in ihre Gesichter und gingen hastig davon. Die alte Frau blickte ihnen verwundert nach, dann setzte sie ihren Weg fort. Sie war müde und fühlte sich versucht, sich einfach fallen zu lassen. Aber es gab etwas, das ihren Willen anspornte und sie veranlaßte, das Letzte aus sich herauszuholen. Eine halbe Stunde später passierte sie das Tor des Pfister-Ghettos, neben dem sich ein uralter Turmbau erhob. Dahinter lagen die winkligen Gassen mit den halbverfallenen Gebäuden, zwischen denen und auf denen die Pfisters ihre Nester errichtet hatten. Die alte Frau wußte genau, wen sie suchte, aber sie hatte keine Ahnung, in welchem Nest sie suchen mußte. Deshalb hielt sie die ersten beiden Pfisters an, die ihr über den Weg liefen.
29 »Ich suche Amshun«, sagte sie mit flehender Stimme. »Amshun?« fragten die beiden Pfisters knurrend, aber dennoch freundlich und hilfsbereit. »Was willst du von ihm – und wer bist du?« »Fragen«, stammelte die alte Frau. »Ich muß ihn etwas Wichtiges fragen, denn er weiß, wo sich mein …« Sie brach ab und blickte die beiden Pfisters verwirrt an. In ihren Augen glomm der Funke des Wahnsinns. »Wir bringen die Frau zu ihm«, sagte der eine Pfister. »Vielleicht kann er ihr helfen«, sagte der andere Pfister mitleidig. »Sie ist halbirre, wahrscheinlich von Entbehrungen.« Die beiden Pfisters griffen der Frau unter die Arme und führten sie zu dem Turmbau neben dem Tor. Dort riefen sie nach Amshun, denn Amshun war ein Einsiedler, und niemand drang in das Nest eines Einsiedlers ein. Kurz darauf erschien Amshun in der Öffnung. Verwundert schaute er auf die alte Frau. »Sie will zu dir, Amshun«, sagte einer der Pfister. Amshun kam heraus. »Ich kenne die Frau nicht, aber da sie meinen Namen genannt hat und außerdem Hilfe benötigt, nehme ich sie selbstverständlich auf«, erklärte er. »Ich danke euch.« Es kostete Amshun einige Mühe, die alte Frau die Treppe zum Turmzimmer hinaufzubringen, aber er schaffte es, da sie leicht war und er über große Körperkräfte verfügte. In seinem Turmzimmer bettete er sie auf Koys Lager, flößte ihr etwas frisches Wasser ein und wärmte auf dem kleinen Herd etwas Gemüsebrei auf. Nachdem er die Frau gefüttert hatte, wollte er sie schlafen lassen, aber sie gab ihm durch Blicke zu verstehen, daß er sich neben sie setzen sollte. »Du bist Amshun?« fragte sie. »So heiße ich«, antwortete er. »Aber du brauchst jetzt nicht zu sprechen. Ruhe dich aus, dann können wir miteinander reden.«
30 »Nein«, gab die Frau zurück. »Ich muß es jetzt wissen. Ich muß wissen, was aus ihm geworden ist. Sie haben mir nie etwas gesagt, und als ich vor Gram krank wurde, verjagten sie mich.« »Wer sind ›sie‹ und nach wem fragst du, Frau?« wollte Amshun wissen. »Die Herren der FESTUNG«, antwortete die Frau. »Aber ich weiß nicht mehr, wie sie aussehen und wer sie eigentlich sind. Da war eine magische Maschine, und damit haben sie mir – haben sie mir …« Verzweifelt suchte sie nach Worten. »Sie haben dir die Erinnerung an alles genommen, was du in der FESTUNG gesehen hast«, ergänzte Amshun. »Ich habe von diesen Methoden gehört. Damit bewahren die Herren der FESTUNG ihre Geheimnisse. Aber woher kanntest du meinen Namen, wenn du in der FESTUNG gelebt …« Er unterbrach sich und sah sich die Frau genauer an. Nach einer Weile entdeckte er unter dem Staub und Schmutz ihrer Arme die beiden kleinen sternförmigen Zeichen an den Unterarmen, direkt über den Handgelenken. »Du bist eine Androidin!« sagte er. »Dagrissa?« Die Augen der Alten leuchteten kurz auf. »Ja, ich bin Dagrissa – und ich suche meinen Sohn. Was ist aus Koy geworden, Amshun? Du hast ihn damals vor den Häschern versteckt. Haben sie ihn …« Sie wagte den Satz nicht zu beenden. Amshun legte ihr eine Hand auf die Stirn. »Beruhige dich, Dagrissa!« sagte er erschüttert, denn er sah an der alten Frau nichts mehr von der früheren Schönheit des Androidenmädchens. »Koy lebt, und er hat dank seiner besonderen Fähigkeiten die Gunst der Herren der FESTUNG gewonnen.« Dagrissa sank zurück, bewegte die Lippen, brachte aber keinen Ton heraus. »Er ist mit einem Sonderauftrag unterwegs«, berichtete Amshun. »Du kannst bei mir bleiben, bis er zurückkommt.« Hoffentlich gelingt es mir, die alte Frau
H. G. Ewers solange am Leben zu erhalten! dachte er bei sich. »Koy!« flüsterte Dagrissa. Zwei Tränen quollen aus ihren Augen. »Du wirst ihn bald wiedersehen, Dagrissa!« versprach Amshun. Er sprang auf, um einen Heiltrank zu brauen.
5. Seufzend erwachte Koy. Er hatte seine Augen noch geschlossen, und er öffnete sie vorerst auch nicht, denn die Schmerzen, die er bei seinem ersten Seufzer verspürt hatte, erschreckten ihn. Langsam sickerten die Erinnerungen an das Vergangene in sein Bewußtsein zurück. Er war mit seiner Vegla vom Mündungsdelta des Xamyhr nach Westen geflogen, um bei der Senke der verlorenen Seelen mit der Suche nach den Fremden anzufangen, die von der Erde nach Pthor gekommen sein sollten. Unterwegs hatte er auf einem Musikinstrument gespielt, das er in der Tropfsteinhöhle des Ukas gefunden hatte. Irgendwie mußte das Instrument psionische Impulse abgestrahlt haben, die etwas mit den Ortungs- und Peilimpulsen des Wachen Auges angestellt hatten. Jedenfalls waren diese Impulse verändert worden, und als er das Wache Auge überflog, war der Antrieb der Vegla gestört worden. Er war abgestürzt – und zwar in einem Gebirge. Da es aber in der Nähe des Wachen Auges nur ein einziges Gebirgsmassiv gab, mußte er beim sogenannten Taamberg, der eigentlich kein einzelner Berg war, abgestürzt sein. Es war fast ein Wunder, daß er den Absturz überlebt hatte. Aber wie es schien, würde er nichts davon haben, denn die starken Schmerzen verrieten, daß er schwer verletzt war und wahrscheinlich aus eigener Kraft keinen Kilometer zurücklegen konnte. Das bedeutete, er würde in der Bergwildnis verschmachten. Koy fröstelte.
Koy der Trommler Als ihm klar wurde, daß er nicht vor Angst fröstelte, sondern daß es tatsächlich kalt war, schlug er die Augen schließlich doch auf. Bleiches Licht drang ihm in die Pupillen und verstärkte die Schmerzen in seinem Kopf. Es war, als hämmerten mehrere Schmiede gleichzeitig mit ihren Schmiedehämmern auf seinem Kopf herum. Koy schloß die Augen wieder. Im nächsten Augenblick hörte er einen krächzenden Ruf – und riß die Augen wieder auf. Der Ruf erinnerte ihn an ein früheres Erlebnis. Er hatte auf Befehl der Herren der FESTUNG einen Flußpiraten gejagt, der die Gesetze Pthors mißachtet und das Wache Auge angegriffen hatte. Nach dem Ende der Jagd hatte Koy die Piratendschunke durchsucht und in der Kabine des toten Flußpiraten einen gefesselten weißen Geier mit einer Spannweite von mindestens vier Metern gefunden. Später erfuhr er, daß der weiße Geier ein Stormock war, den die Piraten am Taamberg eingefangen hatten, um ihn irgendwo zu verkaufen. Und sein Schrei hatte genauso geklungen wie der, den Koy soeben gehört hatte! Der Jäger wußte, daß Geier ausgesprochene Aasfresser waren und kein intelligentes Lebewesen überfielen – es sei denn, es wäre dermaßen entkräftet, daß es mehr tot als lebendig war. Und da er keine Lust verspürte, sich bei lebendigem Leibe von scharfen Schnäbeln aufreißen und fressen zu lassen, überwand er die von seinen Schmerzen hervorgerufene Apathie. Er stemmte sich mit den Händen hoch, bis er kniete, und blickte sich um. Im fahlen Licht des Morgengrauens sah er dunkle, von hellen Adern durchzogene Felsen, niedrige Vegetation und am Hang über sich verharschten Schnee. Darüber hockte auf einer gezackten Felsnase ein riesiger weißer Geier, hielt den Kopf schräg und spähte aus einem Auge auf ihn herab. »Ich lebe noch!« schrie Koy. »Du kriegst mich nicht!«
31 Der Stormock krächzte, dann breitete er seine gewaltigen Schwingen aus, warf sich hoch und strich mit kraftvollen Flügelschlägen davon. Koy seufzte zum zweitenmal seit seinem Erwachen. Er griff sich an die Stirn und tastete behutsam über die große Schwellung, die sich dort gebildet hatte. Sein Schädel schien jedoch nicht gebrochen zu sein. Langsam richtete der Jäger sich auf. Meine Knochen sind ebenfalls heil! sagte er sich. Sonst hätte ich nicht aufstehen können! Dennoch fühlte er sich wie zerschlagen. Offenbar war er nach dem ersten Aufprall noch einige Meter weitergerollt und dabei immer wieder gegen größere Steine gestoßen. Die Prellungen und Blutergüsse konnten ebenfalls gefährlich sein, jedenfalls dann, wenn man sich allein an der Schneegrenze eines wilden Gebirgsmassivs befand und einen beschwerlichen und gefahrvollen Abstieg vor sich hatte. Es sei denn, ich kann über Funk Hilfe herbeirufen! überlegte Koy. Doch dann fiel ihm wieder ein, daß er das Funkgerät weggeworfen hatte, weil es in Brand geraten war. Und die Vegla? Der Jäger schaute sich um. Zuerst entdeckte er die Gabel. Sie stak zirka fünf Meter über ihm im Schnee und war so verbogen, daß sie nicht einmal mehr als Bergstock zu gebrauchen war. Einige Minuten später fand Koy die Ausrüstungsteile, die an der Unterseite der Vegla verankert gewesen waren. Das Wasserfaß lag, eingedrückt und aufgerissen, auf einer Geröllhalde. Auf der gleichen Geröllhalde, aber weit voneinander entfernt, fand Koy die halbzerrissene Strickleiter, die zerbrochene Axt und ein Stück Kletterseil. Anhand der Trümmer konnte Koy rekonstruieren, wohin die Vegla geflogen war. Sie schien noch einmal abgehoben zu haben, war – dann – glücklicherweise nicht mit dem vorderen Rand, sondern mit der Unterseite – auf den Gegenhang geprallt und dann
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schräg nach rechts geschlittert. Der Jäger verfolgte den Weg seiner Antigravscheibe weiter und stand kurz darauf am Rand einer tiefen Schlucht mit beinahe senkrechten Wänden. Deutlich war zu sehen, wie die Scheibe bei ihrem Sturz zwischen den Schluchtwänden hin und her geprallt war und Kratzer und tiefe Schrammen im Fels hinterlassen hatte. Ganz unten, wo es noch dämmerig war, konnte Koy das sehen, was von seiner Vegla übriggeblieben war. Ein armseliger Trümmerhaufen, auf zirka zwanzig Quadratmeter Fläche verstreut. So wie sie aussah, hätten selbst die besten Technos keinen flugfähigen Apparat daraus herstellen können. Wehmütig blickte der Jäger hinab. Ihm war, als wäre ein treuer Gefährte gestorben. Erst dann wurde ihm klar, daß er ohne Transportmittel, ohne Nahrung und ohne Waffen mitten in der Wildnis des Taambergs stand. Zum drittenmal seit seinem Erwachen seufzte er. Ihm blieb nichts weiter übrig, als festzustellen, in welchem Gebiet des Taambergs er sich befand. Danach konnte er entscheiden, wohin er sich wenden sollte.
* Nach den ersten Schritten entdeckte er das Messer, das mit der übrigen Ausrüstung unter der Vegla befestigt gewesen war. Es steckte im morschen Holz eines zersplitterten Baumstumpfs. Koy zog es heraus und stellte fest, daß es unbeschädigt geblieben war. Er schob es hinter seinen Gürtel und stieg weiter den Hang empor. Wo der Schnee begann, wurde der Aufstieg mühselig. Immer wieder rutschte Koy auf der verharschten Fläche aus oder brach durch die Harschdecke in tiefe, mit weichem Schnee gefüllte Löcher ein. Aber inzwischen hatte er sich von dem Schock des Absturzes einigermaßen erholt und sein Selbstvertrauen zurückgewonnen. Er fühlte sich wieder als gefürchteter und unbezwingbarer Jäger.
Es störte ihn wenig, daß ungefähr fünfzig Meter über ihm eine dichte Wolkendecke hing und ihm die Orientierung erschwerte. Verbissen kämpfte er sich weiter den Hang hinauf. Als die Wolkendecke plötzlich aufriß, hob Koy den Kopf – und erkannte, daß er sich tiefer im Gebirgsmassiv befand, als er angenommen hatte. Denn von der Bergschulter aus, auf der er sich befand, blickte er in Richtung Osten auf den hornförmigen Gipfel des 7500 Meter hohen Schubath, der als unbezwingbar galt. Gleichzeitig erkannte der Jäger, daß er in der vergangenen Nacht unglaubliches Glück gehabt hatte. Wäre seine Vegla nämlich nicht hin und her getaumelt, sondern geradewegs vom Wachen Auge zum Taamberg geflogen, hätte sie an der Ostwand des Schubath zerschellen müssen. So aber war sie förmlich um das todbringende Hindernis herumgetaumelt und in den tieferen, nicht so steilen Regionen der Westflanke zu Bruch gegangen. Dennoch lebe ich nur noch, weil die Gabel abgebrochen ist! überlegte Koy. Andernfalls läge ich mit den Trümmern meiner Vegla unten in der Schlucht und hätte schon den Hunger des Stormocks gestillt. Koy steckte seine von Harschkanten aufgerissenen, blutenden und frierenden Hände unter die Achseln und schaute sich weiter um. Nordwestlich seines Standorts war der 4200 Meter hohe Knyrschohn zu sehen, und südlich machte der Jäger den nur 1600 Meter hohen Gipfel des Goscholth aus. Was sollte er tun? Zu Fuß nach Aghmonth zurückzugehen, schied von vornherein aus. Das würde nicht nur mehrere Wochen dauern, sondern war auch vollkommen überflüssig. Es genügte, wenn er eine Station der Technos erreichte und sie veranlaßte, die Herren der FESTUNG zu verständigen und sie um Hilfe zu bitten. Zwei Möglichkeiten dazu boten sich an. Zum einen die, nach Nordosten zu gehen und Kontakt mit den Technos des Wachen
Koy der Trommler Auges aufzunehmen, zum anderen die, die Senke der verlorenen Seelen aufzusuchen und sich von den dort lebenden Technos ein Fahrzeug zu leihen. Die erste Möglichkeit war die, die er hätte wahrnehmen müssen, denn er wußte, daß die Herren der FESTUNG ihn bereits suchten. In seiner Vegla befand sich ein Peilsender, der von der FESTUNG aus kontrolliert wurde. Er mußte durch den Absturz demoliert worden sein. Dennoch zögerte Koy, das zu tun, was die Herren der FESTUNG von ihm erwarteten. Ohne sich über seine Motive klar zu sein, fühlte er Erleichterung darüber, daß er zum erstenmal selbständig und unkontrolliert handeln konnte – wenn er wollte. Aber durfte er es wollen? Plötzlich entsann sich Koy der Silberdose, die er von Mmu bekommen hatte und die der Mißgriff als »sein Mandala« bezeichnete. Er öffnete seine Gesäßtasche und griff hinein. Das erste, was er zwischen die Finger bekam, war das fremdartige Musikinstrument. Er ließ es fallen, als hätte er ein glühendes Eisen angefaßt. Danach zog er das Mandala heraus. Verdrossen blickte er die silberne Dose an. Der Deckel mußte während des Absturzes einen harten Schlag abbekommen haben. Jedenfalls war er ein Stück eingedrückt und wies einen Sprung auf. Es war Koy gar nicht recht, daß er dem Mißgriff sein Eigentum in diesem Zustand zurückgeben sollte. Der Jäger faßte den Deckelrand mit den Fingern. Wie hatte Mmu gesagt? »Wenn du nicht weißt, wie du dich entscheiden sollst, drehe den Deckel der Dose nach rechts.« Koy versuchte den Deckel nach rechts zu drehen, doch es ging nicht. Offenbar war er verklemmt. Kurzentschlossen versuchte der Jäger es andersherum – und diesmal bewegte sich der Deckel. Gespannt musterte Koy die Dose. Würde das Mandala ihm helfen, obwohl er den Deckel nach der falschen Seite gedreht hatte?
33 Ein scharfes Knacken ertönte. Das war alles. Enttäuscht wollte Koy die Dose wegwerfen. Aber sie gehörte nicht ihm, sondern Mmu, deshalb steckte er das nutzlose Ding wieder in die Tasche zurück. Wahrscheinlich war die Dose nützlich, wenn sich der Deckel nach rechts drehen ließ. Koy nahm sich vor, sie zu reparieren oder es zumindest zu versuchen, sobald er auf Technos traf und sich einige Werkzeuge ausleihen konnte. »Aber vielleicht ist es gut so, daß ich meine Entscheidung selber treffen muß«, sagte er laut. Er entschloß sich, nicht zum Wachen Auge zu gehen, sondern sich nach Westnordwest zu wenden, wo in etwa vierzig Kilometern die Senke der verlorenen Seelen begann.
* Koy war heilfroh, als er wärmere Regionen erreicht hatte. Der Abstieg über felsige Hänge und Geröllhalden war schwierig und gefährlich gewesen. An seinen Händen gab es kaum noch eine heile Stelle. Er kniete neben einer Quelle, die zwischen dunklen Nadelbäumen aus einem Felsspalt sprudelte, nieder und ließ sich das kühle, klare Wasser über die blutigen Hände laufen. Anschließend trank er, bis sein Durst gestillt war. Während er danach durch den Nadelwald weiter abstieg, hielt er nach Wild Ausschau. Er besaß zwar noch einige Streifen Trockenfleisch, aber das wollte er für wirkliche Notfälle aufheben. Aus dem abgerissenen Stück seines Kletterseils, das er an der Absturzstelle gefunden hatte, fertigte er mit Hilfe von zwei runden, gleichgroßen Steinen eine Bola. Als er den Rand einer blühenden Wiese erreichte, blieb er stehen. Ungefähr dreißig Meter von ihm entfernt ästen drei hochbeinige, grazil gebaute Pflanzenfresser. Sie hatten noch nichts von Koys Anwesenheit bemerkt.
34 Der Jäger stand vollkommen bewegungslos, bis sich die Pflanzenfresser auf etwa fünfzehn Meter genähert hatten. Dann ließ er die Bola um seinen Kopf wirbeln – und während die aufgeschreckten Tiere mit weiten Sprüngen zu entkommen suchten, flog das Fanggerät durch die Luft. Es wickelte sich blitzschnell um die Vorderläufe eines Pflanzenfressers und brachte das Tier zu Fall. Bevor es richtig merkte, was mit ihm geschah, hatte Koy ihm schon den Fangstoß gegeben. Er sammelte trockenes Holz, zündete mit dem Feuerspender aus seiner Tasche ein Feuer an und weidete das Tier aus. Danach baute er ein einfaches Gestell, steckte die Beute auf einen hölzernen Bratspieß und briet sie bei ständigem Wenden gar. Mit seinem Messer schnitt er sich die besten Stücke heraus und verzehrte sie. Nachdem Koy den verwertbaren Rest in den Taschen seiner Hose verstaut hatte, setzte er den Weg fort. Er war etwa eine halbe Stunde lang gegangen, als er mit dem Instinkt des Jägers merkte, daß er verfolgt wurde. Koy ließ sich nichts davon anmerken und ging weiter. Als er an zwei zirka zehn Meter hohen Felsklippen vorbeikam, huschte er in den Zwischenraum. Er hielt sich aber nicht dort auf, sondern kletterte auf der Rückseite der einen Klippe nach oben. Dort legte er sich flach auf den Fels und lauschte. Wenig später vernahm er unter der Klippe leises Trappeln. Als es verstummte, hörte Koy ein Schnauben. Er schob sich so weit vor, daß er den Kopf über den Rand strecken konnte. Sein Blick kreuzte sich mit dem eines Wüstenspringers, der sich auf die großen Hinterbeine gestellt hatte und die breite Nase schnüffelnd nach oben streckte. Das Tier fauchte wütend bei Koys Anblick. Der Jäger griff nach seinem Messer. Wüstenspringer wurden nicht viel größer als Ratten, aber wenn sie sich ein anderes Lebewesen als Opfer ausgesucht hatten, griffen sie wie im Zustand der Raserei an. Ihre mes-
H. G. Ewers serscharfen Krallen und die stahlharten Zähne konnten sogar einer übermannslangen Echse gefährlich werden. Koy »trommelte« warnend mit seinen Broins. Er war nicht daran interessiert, gegen den Wüstenspringer zu kämpfen und sich dabei tiefe Fleischwunden und eine gefährliche Wundinfektion zuzuziehen. Der Wüstenspringer hüpfte mit einem weiten Satz zurück, dann schleuderte er mit seinem halbmeterlangen Schwanz, der in einer Art Löffel endete, einen Hagel kleiner Felssplitter gegen Koy. Ein Splitter riß Koys rechte Wange auf, und das Blut lief ihm warm übers Kinn. Der Jäger hatte sich nach dem Treffer geduckt. Als er den Kopf wieder hob, sah er, daß der Wüstenspringer sich auf der gegenüberliegenden Klippe befand und sich anschickte, die drei Meter breite Kluft zu überspringen. Koy tat so, als wollte er ebenfalls springen und das Tier im Sprung mit dem Messer aufschlitzen. Aber er sprang nicht. Der Wüstenspringer, der seinen Sprung in schneller Reaktion abänderte, konnte es nicht mehr rückgängig machen. Er drehte sich im Flug, schlug heftig mit dem Schwanz in die Richtung, aus der er Koys Angriff erwartete, verlor das Gleichgewicht und landete zwischen den beiden Klippen. Aber sofort ging er, wütend fauchend, wieder in Angriffsposition. Das flößte dem Jäger Respekt ein. Er wollte den Kampf beenden, und nicht nur deshalb, weil er gegen ein so bewegliches Ziel wie den Wüstenspringer seine Broins nicht wirkungsvoll einsetzen konnte. Er holte die Fleischstücke aus seinen Hosentaschen und warf sie dem kleinen mutigen Räuber zu. Der Wüstenspringer war zuerst verdutzt. Er hüpfte einige Meter zurück. Aber als Koy sich aufrichtete und sich damit einem Angriff förmlich darbot, verlor das Tier sein Mißtrauen. Es näherte sich den Fleischstücken, schnupperte daran und setzte sich zwischen ihnen auf den Boden.
Koy der Trommler
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Der Jäger kletterte von seiner Klippe herunter und entfernte sich rückwärts. Das Tier beobachtete ihn aufmerksam, und als er ungefähr fünfzehn Meter entfernt war, stürzte es sich gierig auf die Fleischstücke. »So ein frecher Bursche!« sagte Koy lächelnd. »Er läßt einen nur ungeschoren, wenn man ihm Tribut leistet!« Er setzte seinen Weg fort und erreichte gegen Abend die Ruinen einer kleinen Stadt. Aus einem Versteck heraus beobachtete er die Ruinen längere Zeit. Als er sicher war, daß sich außer Insekten kein lebendes Wesen darin aufhielt, beschloß er, in einer der Ruinen die Nacht zu verbringen.
6. Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber einige Wolken hatten sich vor sie geschoben, so daß ein eigentümliches rotgoldenes Dämmerlicht herrschte. Koy ging langsam zwischen den Ruinen entlang. Unter seinen Füßen befand sich ein Straßenbelag aus Steinplatten, die teilweise zerbrochen und teilweise verschoben waren. Zwischen ihnen wuchs seltsamerweise nur dünnes braungelbes Gras. Der Jäger musterte die Ruinen aufmerksam, denn er interessierte sich dafür, warum die augenscheinlich früher sehr massiven Gebäude eingestürzt waren. Er erkannte die Ursache ziemlich bald, denn er stolperte fast über den ersten, größtenteils vom Gras verborgenen Bodenriß. Bald darauf entdeckte er weitere und größere Spalten. Außerdem stellte er fest, daß manche Bauwerke bis zur Hälfte ihrer früheren Höhe im Boden versunken waren. Ein lokales Beben mußte die Stadt vernichtet haben. Nachdenklich blieb Koy vor einem Gebäuderest stehen, der teilweise in einen breiten, aber nur etwa zehn Meter langen Spalt gekippt war. Ein Teil der glasfaserverstärkten Plastikwände war geborsten. Eine Wand war nach außen gefallen und entblößte zwei Geschosse, auf deren Böden noch mehrere
demolierte Automaten standen, wie sie auch heute noch in modernen Techno-Siedlungen für Haushaltszwecke verwendet wurden. Der Jäger wunderte sich, daß sich in den Ruinen keine Tiere eingenistet hatten – und daß sogar die Samen fast aller Pflanzen an diesem Ort nicht keimten. Daran, daß die wenigen Eisenteile in den Haushaltsautomaten total zu staubfeinem Rost zerfallen waren, erkannte Koy, daß die Stadt vor sehr langer Zeit untergegangen war. Dennoch war sie nicht von der Natur zurückerobert worden, wie das normal gewesen wäre. Er fragte sich, warum das so war. Möglicherweise hatte es etwas mit der Ursache des Bebens zu tun. Auf Pthor gab es keine Krustenspannungen und deshalb auch keine Beben aus dieser Ursache. Wenn es überhaupt einmal zu einem eng begrenzten Beben kam, dann lag das entweder an einer strukturellen Überlagerung während einer der Dimensionsreisen oder daran, daß es zu einem bestimmten Ort Pthors woanders – in einem anderen Raum oder in einer anderen Zeit – eine genau gegensätzliche Polung gab. Koy ging weiter. Er beschloß, das übernächste Gebäude genau zu untersuchen, denn es sah recht gut erhalten aus. Es handelte sich um ein quaderförmiges Bauwerk mit einem säulengeschmückten Portikus und einem oben abgeplatteten Kuppeldach. Die linke Wand hatte sich um zirka einen halben Meter gesenkt und wies einen breiten Querriß auf, aber sonst waren von außen keine Zerstörungen zu sehen. Der Jäger schaltete seine magische Lampe ein, bevor er durch das Tor ins dunkle Innere trat. Das völlige Fehlen tierischen Lebens in der Ruinenstadt und die absolute Stille hatten seine Wachsamkeit eingeschläfert. Der Angriff kam völlig überraschend für Koy. Kaum hatte er einen Schritt ins Innere des Bauwerks getan, als von links und rechts mehrere Gestalten auf ihn zusprangen, ihn zu Boden rissen und brutal auf ihn einschlugen. Koy versuchte sich zu wehren, kam aber
36 gegen die überlegenen Körperkräfte seiner Gegner nicht an – und die Broins vermochte er nicht schnell genug einzusetzen. Bevor er es sich recht versah, waren ihm die Arme auf dem Rücken gefesselt, und eine Drahtschlinge hatte sich um seinen Hals gelegt. Danach wurde er so brutal, wie er zu Boden gerissen worden war, auf die Füße gestellt und ins Freie geschoben. Er wagte nicht, den Kopf zu bewegen, denn er wußte, daß der dünne Draht ihm bei jeder unvorsichtigen Bewegung ins Fleisch schneiden würde. Draußen bekam er zum erstenmal einige seiner Gegner ins Blickfeld. Er sah, daß es sich um Männer und Frauen von humanoidem Körperbau handelte, die durchschnittlich 1,75 Meter groß und schlank waren und ihr blauschwarzes Haar schulterlang trugen. Die Kleidung war nicht einheitlich. Die der Männer bestand entweder aus hellgrauen, derben Kombinationen mit Waffengürteln oder röhrenförmigen Lederhosen und rauhen Lederhemden. Die Frauen trugen teilweise die gleiche Kleidung wie die Männer, aber es gab auch welche mit Lederröcken, bunten Blusen und kurzen Jacken. Dem Jäger fiel sofort auf, daß sich unter der Kleidung pralle Muskeln spannten – und die Fremden bewegten sich auch so, als besäßen sie überdurchschnittliche Körperkräfte. Besonders beeindruckend war der stechende und unstete Blick ihrer eng beieinanderstehenden schwarzen Augen. Die Nasen der Männer waren ausnahmslos groß und stark gekrümmt, die Münder waren schmallippig, die Zähne groß und vergilbt. Die ungesund wirkende gelblichweiße Gesichtshaut war bei den meisten Fremden straff gespannt. Insgesamt wirkten die Gesichter hart, teilweise sogar brutal. »Seht euch das an, was wir da gefangen haben!« sagte eine der Frauen spöttisch. Sie deutete auf Koys Broins. »Das Ding hat Hörner!« »Ich bin Koy«, sagte der Jäger unwillig. »Wer seid ihr und was wollt ihr von mir?«
H. G. Ewers »Stolz ist er auch noch«, warf eine andere Frau ein. »Soll ich ihn ein bißchen aufschlitzen?« Sie riß Koys Messer aus dem Gürtel und hielt es mit geübtem Griff in der Hand. »Laß das, Ursinda!« sagte ein ganz in graues Leder gekleideter, etwa vierzigjähriger Mann. »Wir nehmen ihn mit in unsere Höhle.« Er wandte sich an Koy. »Ich bin Andrakhon, der Anführer der Familie Knyr.« Er machte eine umfassende Handbewegung. »Und das sind die Reste von Tfohr, der Stadt unserer Ahnen. Es ist besser für dich, wenn du keinen Widerstand leistest, sondern dich damit abfindest, unser Gefangener zu sein.« Koy erwiderte nichts darauf. Er war zu sehr verblüfft darüber, vor den Nachkommen einer Familie zu stehen, die einst einen hohen Rang auf Pthor eingenommen hatte und die heute anscheinend genauso verfallen war wie ihre Stadt. Als zwei der Berserker-Nachkommen seine Arme packten und ihn vorwärts schoben, leistete er keinen Widerstand.
* Es wurde dunkel, bevor sie den Unterschlupf der Bande erreichten. Aber die Räuber kannten sich so gut in der Ruinenstadt aus, daß sie sogar darauf verzichteten, die von Koy erbeutete magische Lampe zu benutzen. Nach einiger Zeit führten die Räuber ihren Gefangenen eine halbverschüttete Treppe hinab, die ins Kellergeschoß eines Gebäudes führte, dessen Reste auf die gegenüberliegende Seite gestürzt waren und einen wüsten Trümmerhaufen bildeten. Am Ende der Treppe ging es durch einen Keller. Andrakhon rief ein Losungswort. Es wurde von zwei Männern beantwortet, die, mit Bögen und Streitäxten bewaffnet, im Dunkel des Kellerraums wachten. Anschließend betraten die Räuber mit ihrem Gefangenen eine Höhle, die offenbar von ihnen selbst hinter dem Keller in den
Koy der Trommler harten Boden gegraben worden war. Die Decke der Höhle war mit Metallplastikplatten verkleidet, die wiederum von den Rohren demontierter Strahlgeschütze gestützt wurden. Die Bänke, Hocker und Tische bestanden aus unterschiedlich großen metallenen Transportkisten und waren offenbar genauso gestohlen wie die kostbaren Teppiche an den Wänden. Mehrere Räuber schalteten drei magische Lampen ein, die an der Decke befestigt waren. Ursinda nahm unterdessen dem Gefangenen die Gesäßtasche ab und durchsuchte sie. Sie musterte die Streifen des Trockenfleisches mißtrauisch, dann warf sie sie auf einen Tisch. Als sie das Mandala Mmus in die Finger bekam, versuchte sie vergeblich und verbissen, die Dose zu öffnen. Andrakhon wurde aufmerksam und nahm ihr die silberne Dose weg. »Was ist das?« fragte er den Jäger. »Das Mandala eines Freundes«, antwortete Koy. »Es läßt sich nicht öffnen.« »Das werden wir sehen!« erwiderte Andrakhon. Er warf die Dose einem jüngeren Mann zu und sagte: »Öffne sie mit der Axt, Stygor!« Stygor find die Dose auf und klemmte sie zwischen die Glieder eines Stücks Gleiskette, das auf dem Boden lag. »Ihr macht es kaputt!« sagte Koy. »Ich muß es meinem Freund zurückgeben.« »Glaubst du, daß du deinen Freund wiedersehen wirst?« fragte Ursinda. »Ich hoffe es«, antwortete Koy. Stygor kümmerte sich nicht um seinen Protest, sondern hob seine Streitaxt und schwang sie zielsicher auf die Dose. Die Schneide zerschnitt die Kante und drang knirschend zur Hälfte in die Dose ein. Stygor bewegte die Axt hin und her. Knackend sprang die Dose ganz auf. Ein Regen winziger elektronischer Elemente ergoß sich klirrend auf den Boden. »Was ist das?« fragte Stygor. Besonders intelligent konnte er nicht sein, nach seinem begriffsstutzigen Blick zu urteilen. »Nichts«, erwiderte Koy zornig. »Das war
37 etwas, aber es ist nichts mehr, Dummkopf!« Stygors Gesicht lief rot an. Er hob die Streitaxt und kam drohend auf den Gefangenen zu. »Dafür wirst du sterben!« grollte er. »Es ist sehr mutig, einen unbewaffneten und gefesselten Gegner zu töten«, sagte Koy sarkastisch. Andrakhon streckte Stygor die Hand entgegen und sagte: »Halte ein, Stygor!« Er wandte sich an Koy. »Du siehst nicht gerade danach aus, als könntest du einen Berserker im ehrlichen Zweikampf besiegen, Koy.« »Ich besiege jeden von euch im ehrlichen Zweikampf«, erklärte Koy stolz. »Ihr sollt wissen, daß ich ein Jäger bin, aber ich jage keine Tiere, sondern Pthorer und Eindringlinge aus fremden Welten – und bisher ist mir noch niemand entkommen.« Stygor starrte den Jäger verblüfft an. Andrakhon lächelte unsicher. Ursinda aber lachte verächtlich und sagte: »Jagst du deine Opfer mit einem kümmerlichen Messer, großer Jäger?« »Meine Ausrüstung liegt zusammen mit meiner Vegla auf dem Grund einer Schlucht des Taambergs«, erklärte Koy. Er verschwieg, daß seine wichtigste Ausrüstung die Broins waren. Seine Absicht war, die Berserker zu veranlassen, ihm die Fesseln – und vor allem die Drahtschlinge – abzunehmen. In die Schar der Räuber kam Unruhe. Sie redeten leise durcheinander. Koy zählte zwölf Männer und achtzehn Frauen. Nach einiger Zeit trat ein Mann auf den Anführer zu. »Andrakhon, ich schlage vor, daß wir den Fremden prüfen. Er soll im Kampf beweisen, was er kann. Erweist er sich als tüchtig, könnten wir ihn in unsere Familie aufnehmen.« Aus den einzelnen Gruppen kamen zustimmende Rufe. »Ich verlange, daß ich gegen ihn kämpfe!« grollte Stygor und schien den Gefange-
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nen mit seinen finsteren Blicken durchbohren zu wollen. Andrakhon hob eine Hand und rief: »Koy soll kämpfen und beweisen, daß sein Sprüche nicht nur leere Worte waren!« Er wandte sich an Stygor. »Du wirst im alten Tempel gegen Koy kämpfen – und die Waffen sollen Streitäxte sein! Nehmt dem Gefangenen die Halsschlinge ab!« Koy atmete auf, als er die Schlinge los war. Seine Hände blieben noch auf dem Rücken gefesselt, doch das störte ihn nicht weiter. Jetzt kam alles darauf an, wie der Kampfplatz aussah und ob er seine Broins einsetzen konnte. Zwar fürchtete er Stygor nicht, denn nur ein intelligenter Kämpfer war ein überragender Kämpfer, aber er wußte genug über die Berserker, um ihre in tollwütige Raserei ausartende Kampfeswut zu fürchten. Die Räuber brachten ihn in den Raum zurück, in dem sie ihn gefangengenommen hatten. Einige trugen Fackeln, die sie aber erst in der Tempelhalle anzündeten und in Eisenringe steckten, die in die Wände eingelassen waren. Koy wurde zu einem riesigen schwarzen Quader gebracht, der an der Hinterseite der Halle stand. Die Kantenlänge des Quaders mochte fünf Meter betragen. Unmittelbar vor dem Monolithen waren zwei Stahlringe im Boden befestigt. An ihnen hingen je etwa fünf Meter lange Silberketten, die von zwei Räubern mit Stahlbändern an Koys Unterschenkeln befestigt wurden. Ein anderer Räuber löste die Fesseln von seinen Handgelenken. Andrakhon trat zu Koy und reichte ihm seine eigene Streitaxt. »Kämpfe!« forderte er ihn auf. Bis auf Stygor traten alle Berserker so weit zurück, daß sie einen Halbkreis bildeten, der rund fünfzehn Meter von Koy entfernt war. Die Gespräche verstummten. »Wehre dich, Großmaul!« rief Stygor und schwang seine Axt.
*
Koy hatte sich bereits auf die Waffe seines Gegners konzentriert und die kugeligen Enden der Broins gegeneinander geschlagen, ohne daß die Berserker etwas davon merkten. Als Stygor die Axt schwang, verstärkte er die Schwingungen. Ein dumpfes, aber noch schwaches Trommelgeräusch ließ sich eher ahnen als hören. Verblüfft blieb Stygor stehen – und in die anderen Räuber kam Unruhe. Ungerührt verstärkte Koy sein »Trommeln« und damit die auf Stygors Axt einwirkenden psionischen Impulse. Er lächelte, als Stygors Hand, mit der er die Streitaxt hielt, und der dazugehörige Arm immer stärker zitterte. Mit einer Mischung aus Angst und ohnmächtiger Wut starrte der Berserker auf seine Waffe. Er nahm die zweite Hand zu Hilfe, aber auch damit vermochte er sie schließlich nicht länger zu halten. Sie fiel krachend auf den Boden – und zerbarst in zahllose kleine Stücke, die sich anschließend in Staub auflösten. »Das ist Magie!« schrie Stygor. Anklagend deutete er auf den Jäger. »Dieser fremde Magier will uns unter seinen Einfluß bringen. Tötet ihn!« Unentschlossen drangen einige Berserker mit erhobenen Waffen vor, andere blieben stehen und murrten. Koy hatte sich inzwischen auf den Steinboden zwischen sich und Stygor konzentriert. Als die Berserker bei Stygor ankamen und sich anschickten, ihn anzugreifen, barst der Boden mit lautem Knall. Staub wallte auf. Als er sich verzogen hatte, befand sich ein etwa drei Meter breiter Spalt zwischen Koy und seinen Gegnern. Und der Trommler trommelte weiter! Er vermied es, die Räuber direkt zu schädigen, sondern konzentrierte seine psionische Detonatorwaffe nur auf die Äxte, Schwerter und Lanzen. Außerdem ließ er weitere Bodenspalten entstehen. Als die Räuber anfingen, zurückzuweichen und die, deren Waffen noch unversehrt
Koy der Trommler waren, diese einfach wegwarfen, ertönte ein scharfer Befehl. Koy sah Andrakhon, der mit einer plumpen, röhrenförmigen Strahlwaffe in den Händen in die Mitte der Tempelhalle trat. Sofort konzentrierte er sich mit aller Intensität, derer er fähig war, denn er wußte, daß Andrakhon entschlossen war, ihn niederzubrennen und dadurch seine angeschlagene Autorität wiederherzustellen. »Kein Fremder wird über die Familie Knyr herrschen!« rief Andrakhon. Seine letzten Worte wurden von einem unheimlichen, rasenden Trommelschlag übertönt, dann platzte die Strahlwaffe mit einem grellen Lichtblitz auseinander. Die Explosion des Energiemagazins ließ nicht viel von Andrakhon übrig. Koy drehte sich um und trennte mit zwei wuchtigen Axtschlägen die beiden Ketten durch, die ihn an die Bodenringe fesselten, dann sagte er laut: »Ich hatte euch gewarnt, aber ihr habt mir nicht geglaubt. Dennoch versuchte ich, euer Leben zu schonen. Ich konnte nicht wissen, daß Andrakhons Waffe mit einem veralteten Energiemagazin geladen war, das sich schlagartig entladen konnte. Aber ich hatte keine andere Wahl und hätte ihn auch bewußt getötet.« »Was willst du, Koy?« fragte Ursinda. »Er will uns unterjochen!« sagte Stygor, der sich hinter andere Räuber zurückgezogen hatte. »Ich will niemanden unterjochen, sondern nur frei meiner Wege gehen«, erklärte Koy. »Ich bin auch kein Magier, sondern Koy der Trommler. Eigentlich solltet ihr von mir schon gehört haben. Andererseits wußte ich auch nichts von euch. Ich dachte, die Familie Knyr wäre ausgestorben.« »Wir sind fast so gut wie ausgestorben«, sagte ein älterer Berserker. »Ich bin Chamody. Die anderen Mitglieder der Familie verachten mich, weil ich die Überlieferungen der Ahnen aufgeschrieben habe und immer wieder sage, daß wir von einer berühmten und gefürchteten Familie abstammen. Aber
39 irgendwann in ferner Vergangenheit belegten die Herren der FESTUNG uns mit einem Fluch – angeblich, weil einer der Familie gefehlt hatte. Die Stadt zerfiel – und die Familie Knyr mußte von dem leben, was sie in diesen Trümmern und in den Ruinen anderer Städte findet und von dem, was sie einsamen Wanderern abnimmt.« »Warum bestellt ihr nicht den Boden, züchtet Vieh und baut euch neue Häuser?« fragte Koy. »Weil wir nicht können«, antwortete Chamody bitter. »Wir sind von einer unstillbaren Unrast befallen und können nicht aufbauen, sondern nur zerstören. Oft hungern wir – und den Mitgliedern der anderen fünf Stämme, die in anderen Ruinenstädten am Taamberg hausen, geht es nicht besser.« »Wir wären längst verhungert, wenn der Unbekannte nicht wäre«, sagte Ursinda. »Wer ist das?« fragte Koy. »Niemand von uns hat ihn je gesehen«, erklärte Chamody. »Wir finden nur in unregelmäßigen Abständen Kisten mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen – und die Spuren eines Kettenfahrzeugs, die um den Taamberg herum nach Südosten führen.« »Ihr solltet versuchen, von der Jagd zu leben und vom Fischfang«, meinte Koy. »Es ist doch von hier aus nicht weit zum Regenfluß.« »Dort lauern die Flußpiraten«, sagte Ursinda. »Ich habe einmal Flußpiraten gejagt …«, sagte Koy nachdenklich. »Warum wählen wir Koy nicht zu unserem neuen Anführer!« rief eine Frauenstimme aus dem Hintergrund. Zustimmendes Gemurmel klang auf, zuerst schüchtern, dann lautstark. »Ich stimme für Koy!« rief Ursinda. »Er wird uns versklaven!« zeterte Stygor. »Schlagt ihn tot! Wenn wir alle gleichzeitig …« Er brach mit einem schrillen Schrei ab und sank zu Boden. Ein Berserker steckte sein Kurzschwert in die Scheide zurück und sagte:
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»Er hätte immer wieder versucht, dich umzubringen, Koy. Ich stimme ebenfalls für dich als neuen Anführer unserer Familie. Wir können von dir lernen, unsere Feinde zu besiegen und unser Leben besser zu gestalten.« »Nimmst du an, Koy?« fragte Chamody. Der Jäger überlegte. Sein Jagdinstinkt war sowieso fast erloschen, etwas, das ihm früher nie passiert war. Dadurch konnte er frei entscheiden, was er tun wollte, und zudem ahnten die Herren der FESTUNG nicht, wo er sich befand. »Ich werde einige Zeit bei euch bleiben«, sagte er schließlich. »In dieser Zeit will ich versuchen, euch so gut zu helfen, wie ich kann. Aber eines Tages verlasse ich euch wieder.« »Wir danken dir, Koy!« sagte Chamody. Jubel erhob sich. Die Berserker schrien vor Begeisterung und schlugen mit ihren restlichen Waffen auf die Wände ein. Ursinda aber schob sich dicht an Koy heran, blickte ihm offen ins Gesicht und sagte: »Kann ich deine Gefährtin sein, solange du bei uns bist, Koy?« Nachdem du mir erst den Bauch aufschlitzen wolltest! dachte Koy ironisch. Aber wahrscheinlich ist dieser Stimmungsumschwung typisch für die Natur der Berserker. Und reizlos ist Ursinda durchaus nicht. Er ergriff ihre Hand – und gemeinsam verließen sie die Tempelhalle.
7. Es war am Morgen des fünften Tages bei den Berserkern, als Koy von lautem Geschrei erwachte. Er fuhr hoch und tastete um sich. Aber Ursinda, die mit ihm das Lager, das sie gemeinsam in einer Ruine errichtet hatten, teilte, war nicht da. Doch die Stelle, wo sie geschlafen hatte, fühlte sich noch warm an. Also konnte sie noch nicht lange fort sein. Der Jäger lauschte. Noch immer kam von draußen Geschrei herein. Dazwischen ertönte das Klirren auf-
einander schlagender Waffen. Zweifellos wurde in den Ruinen von Tfohr gekämpft. Aber warum holten die Berserkernachkommen dann nicht ihn, der immerhin ihr gewählter Anführer war? Koy griff nach der Streitaxt, die ehemals Andrakhon gehört hatte und immer neben dem Lager lehnte, wenn er schlief, dann stürmte er hinaus. Als er in das fahle Licht des Morgens trat, war der Kampf vorbei. Vor dem Tempel lagen die entstellten Körper mehrere Pthorer, dazwischen neun tote Tragtiere, deren Lasten soeben von den Berserkern mit wildem Gejohle heruntergerissen wurden. In den Toten erkannte Koy Leute von Stamm der Nudirs, die sich als Händler betätigten und mit ihren kleinen Karawanen kreuz und quer durch Pthor zogen. »Aufhören!« schrie Koy die Frauen und Männer bei den Tragtieren an. Als sie nicht gleich gehorchten, lief er zu ihnen hin, packte einen jungen Mann und schlug ihn mit einem Fausthieb nieder. Schlagartig wurde es still. Die Berserkernachkommen richteten sich auf und blickten ihren Anführer aus blutunterlaufenen Augen an. Sie wirkten auf den Jäger wie ein Rudel Wölfe, das durch seinen Herrn gezwungen wird, von der Beute abzulassen. Koy erkannte, daß seine Bemühungen, diese Leute zu ändern und sie zu einem zivilisierten Leben zu erziehen, erfolglos geblieben waren. »Ich frage mich, was ihr euch dabei gedacht habt, eine friedliche Karawane zu überfallen, die Händler zu ermorden und auch noch die Tragtiere zu töten!« schrie er sie zornig an. Sie blickten verlegen zu Boden. Koy wurde plötzlich unsagbar traurig. Er erkannte, daß er diese Leute auch dann nicht würde ändern können, wenn er für immer bei ihnen bliebe. Ihr Berserkertum war das einzige, was sie aus der Glanzzeit der Familie Knyr gerettet hatten – und es würde immer wieder durchbrechen. Aber dafür konnten sie nichts. Sie waren nicht heimtückischer als andere Pthorer, sondern folgten nur
Koy der Trommler einem tiefverwurzelten Instinkt. »Es hat keinen Sinn mehr, daß ich bleibe«, erklärte er. »Es hat nie einen Sinn gehabt. Ihr habt mich zu eurem Anführer gewählt, aber in Wirklichkeit laßt ihr euch von dem Bösen führen, das euch beherrscht. Deshalb werde ich euch morgen verlassen.« »Das darfst du nicht, Koy!« flehte Ursinda und eilte zu ihm, um ihn zu umarmen. Er stieß sie von sich und deutete auf die blutbeschmierte Streitaxt, die hinter ihrem Gürtel steckte. »Wage nicht, mich anzurühren, solange noch das Blut Unschuldiger an deiner Axt klebt!« donnerte er. »Heimlich hast du unser Lager verlassen, um dich an einem mörderischen Überfall zu beteiligen, von dem du genau wußtest, daß ich ihn nicht billigen würde!« Ursinda riß die Axt hinter ihrem Gürtel hervor und warf sie von sich. »Niemals wieder werde ich Blut vergießen!« versicherte sie – und an ihren Augen erkannte Koy, daß sie glaubte, was sie sagte. Er seufzte. »Sobald es über dich kommt, wirst du alle guten Vorsätze vergessen, Ursinda«, erwiderte er milde. »Glaube mir, es hat keinen Sinn, daß wir länger zusammenbleiben. Du warst mir in den vergangenen fünf Tagen eine gute und liebevolle Gefährtin. Ich werde dich niemals vergessen. Aber in Wirklichkeit trennen uns Welten.« »Bist du besser als wir, Koy?« fragte Chamody und wischte sein Kurzschwert mit einem Lappen ab. »Tötest du nicht auch, ohne einen vernünftigen Grund zu haben? Ich glaube, wir haben eher einen Grund dafür, denn wir sind auf Beute angewiesen. Aber was ist was ist der Grund dafür, daß Koy der Trommler jagt und tötet?« Koy spürte einen Stich in der Brust. Er wußte nicht, was er Chamody antworten sollte, denn er erkannte, daß das, was er tat, für ihn selbst sinnlos war. Aber er jagte und tötete nicht aus eigenem Antrieb. »Ich führe nur die Befehle der Herren der FESTUNG aus«, entgegnete er schwach.
41 »Und wir leben, wie die Herren der FESTUNG es wollen«, erwiderte Chamody. »Ihr folgt ausschließlich euren Instinkten«, sagte Koy. »Aber es wäre sinnlos, darüber zu streiten. Begrabt die Toten und sortiert die Beute! Wir sehen uns später in der Gemeinschaftshöhle.« Er wandte sich ab. Plötzlich ertönte ein scharfer Pfiff. Er kam aus der Richtung, in der der Taamberg seine Zinnen schroff und düster in den Morgenhimmel reckte. »Makeba!« rief Chamody. Koy wußte, wen er meinte. Makeba war der Anführer einer Zehnergruppe des Stammes Knyr, die einen Tag vor seiner Ankunft ins Massiv des Taambergs aufgebrochen war, um Stormocks zu fangen. Minuten später entdeckte er zwischen dem Gesträuch, das die Ruinenstadt umgab, Bewegung. Kurz darauf erschien eine Gruppe von Männern und Frauen, die dicht hintereinander auf die Ruinen zu eilten. Als sie den Platz vor dem Tempel erreichten, stockte Koy der Atem. Der Berserker an der Spitze trug seine Feuerlanze! Mißtrauisch musterten die Heimkehrer den Jäger. Aber Chamody klärte sie über Koys Rolle auf. Dabei stellte sich heraus, daß der Mann, der die Feuerlanze trug, Makeba war. Langsam kam Makeba auf den Jäger zu und hielt ihm mit beiden Händen die Waffe hin. »Dem Anführer unseres Stammes gehört die beste Waffe«, sagte er feierlich. »Nimm sie, Koy!« Koy nahm sie lächelnd entgegen und erwiderte: »Ich danke dir, Makeba, daß du sie mir gegeben hast. Sonst hätte ich sie zurückfordern müssen, denn es ist meine Feuerlanze, die ich für verloren hielt, da sie mit den Trümmern meiner Vegla in eine unzugängliche Schlucht stürzte.« Makebas Augen funkelten triumphierend, als er sagte:
42 »Für die Männer vom Stamme Knyr gibt es weder unzugängliche Berge noch Schluchten, Koy.« »Aber diese Schlucht war absolut unzugänglich«, widersprach Koy und heftete seinen Blick auf den weißen Geier, der seit der Ankunft der Gruppe Makeba über den Ruinen kreiste. »Ein Stormock dagegen könnte die Waffe aus der Schlucht holen, wenn er einem Pthorer vertraut und ihm gehorcht.« Unwillkürlich blickte auch Makeba nach oben. »Du bist klug, Koy«, sagte er ärgerlich und anerkennend zugleich. »Waabaa ist sehr intelligent und hört auf mich – jedenfalls manchmal. Es stimmt, er hat die Waffe aus der Schlucht geholt. Leider weiß ich nicht, wie sie funktioniert.« Diesmal lachte Koy laut. »Du kannst es nicht wissen, denn sie funktioniert nur, wenn ich die magische Scheibe in diesen Schlitz einführe.« Er klopfte gegen seine Gürtelschnalle. Die magische Scheibe, die die Feuerlanze überhaupt erst zu einer Waffe machte, fiel in seine hohle Hand. Rasch schob der Jäger sie in den Schlitz neben dem Visier. Danach aktivierte er den Zünder, hob die Waffe und visierte einen etwa fünfzehn Meter hochragenden Mauerrest an. Dann drückte er ab. Aus der röhrenförmigen Mündung der Lanze schoß ein weißglühender sonnenheller Strahl und schlug praktisch im gleichen Augenblick in den Mauerrest ein. Die Spitze des Mauerrests hüllte sich in einen Feuerball, und als er erlosch, waren die oberen zwei Meter verschwunden. An der Schnittstelle kochte brodelnde Schmelze. Einige Frauen kreischten erschrocken – und selbst einige Männer wurden blaß. Doch dann machten die Berserkernachkommen ihrer Begeisterung Luft. »Damit werden wir ganz Pthor erobern!« rief Ursinda. »Ihr Narren!« schalt Koy. »Diese Waffe ist ein Nichts gegen die Waffen, die den Herren der FESTUNG gehorchen. Versucht
H. G. Ewers niemals, euch gegen sie zu wenden, denn es wäre euer Untergang! Pthor hat unzählige Zivilisationen zerstört, wie könnte es da mit einer einzigen Feuerlanze erobert werden. Außerdem gehe ich morgen – und ich nehme meine Feuerlanze mit, denn in euren Händen würde sie zuviel Unheil anrichten.« Er drehte sich um und ging langsam in Richtung der Gemeinschaftshöhle. Ursinda folgte ihm mit dem Gesichtsausdruck eines geprügelten Hundes. In größerer Entfernung folgten ihr die anderen Angehörigen des Stammes oder der Familie Knyr. Aber nicht auf allen Gesichtern spiegelte sich Niedergeschlagenheit. Manche Augenpaare funkelten sogar ausgesprochen bösartig.
* Koy hatte die Berserkernachkommen zum Schauplatz des Überfalls zurückgeschickt, damit sie die Toten begruben und die Beute sortierten. Aber er hatte nicht abgewartet, bis sie ihre Aufgaben erfüllt hatten, sondern war ein Stück in die Berge gestiegen. Dort setzte er sich auf einen Baumstumpf, blickte hinab auf die Ruinenstadt und dachte nach. Er kannte die Zeiten nicht mehr, in denen die Berserker die Elitetruppe der Herren der FESTUNG gewesen waren, aber er hatte verschiedentlich Geschichten darüber gehört. Demnach waren die Berserker vor langer Zeit jedesmal dann, wenn Pthor auf einer fremden Welt materialisierte, zusammen mit den Horden der Nacht über die Überlebenden der Zivilisation hergefallen, die Sintfluten und Beben übriggelassen hatten. Die Berserker sollten sogar die Aktionen der Horden der Nacht geplant und gelenkt haben – und dort, wo sie wüteten, verbargen sich die Überlebenden der Überlebenden grauengeschüttelt in den wenigen Schlupfwinkeln, die es noch gab. Aber irgendwann waren die Berserker bei den Herren der FESTUNG in Ungnade gefallen – ob aus dem Grund, den Chamody genannt hatte, oder aus einem anderen, war
Koy der Trommler unwichtig. Jedenfalls hatten sie ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr erfüllen dürfen, die Beben hatten das einstmals blühende Tfohr zerstört und mit ihm den letzten moralischen Halt der Verdammten. Sie hatten nicht die Kraft besessen, ihre Stadt wieder aufzubauen, sondern hatten von der Hand in den Mund gelebt, bis auch das nicht mehr ging. Da verfielen sie auf den einzigen Ausweg, den ihr Berserkerinstinkt ihnen anbot: Sie überfielen andere Ansiedlungen oder Reisende und raubten sie aus – und manchmal ging ihre Berserkerwut mit ihnen durch und ließ sie ein sinnloses Blutbad anrichten. Koy dachte darüber nach, warum die Herren der FESTUNG, deren Magie ihnen unbeschränkte Macht verlieh, die Berserkernachkommen ihrem Schicksal überließen und ihnen nicht halfen. Er fand es nicht richtig, denn wenn auch einer von ihnen gefehlt hatte, so durften doch nicht alle anderen und ihre fernen Nachkommen dafür gestraft werden. Der Jäger erschrak über seine Gedanken, denn er hatte die Herren der FESTUNG zwar niemals für besonders gerecht, aber stets für unfehlbar gehalten. Und das, was er über sie und die Nachkommen der Berserker dachte, ließ nur den Schluß zu, daß die Herren der FESTUNG ohne einen Grund, der logischer Überprüfung standhalten würde, die Nachkommen ihrer ehemaligen Elitetruppe verkommen ließen, anstatt sie für die Terrorisierung anderer Welten zu verwenden. Und wie sah es mit anderen Pthorern aus? Koy dachte an sich und überlegte, warum die Herren der FESTUNG ihm nicht gesagt hatten, wo die Eindringlinge von der Erde sich zum Zeitpunkt seines Aufbruchs befanden und wieviele es waren. Zwar hatte er sich aufgrund seiner Erfahrungen ausgerechnet, wo sie etwa sein könnten, aber da er sie nicht kannte, kamen ihm erstmals Zweifel daran, ob seine Berechnungen stimmten. Waren die Herren der FESTUNG so zuversichtlich, daß die Eindringlinge keinen
43 erwähnenswerten Schaden auf Pthor anrichten konnten, daß sie ihre Ausschaltung dem Zufall überließen? Oder waren sie gar nicht in der Lage, den genauen Aufenthaltsort der Fremden festzustellen? Wenn das zutraf, dann stand es schlimm um Pthor. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit: Die Fremden selbst mochten schuld daran sein, daß die Herren der FESTUNG ihren Aufenthaltsort auf Pthor nicht kannten. Vielleicht verfügten sie über eine entsprechende Magie. Doch dann mußte ihre Magie stärker sein als die der Herren der FESTUNG! Koy fröstelte. Er wußte weder ein noch aus – und der erste Zweifel an der Notwendigkeit der Mission des Dimensionsfahrstuhls schlich sich in sein Unterbewußtsein. Sein Bewußtsein ließ diesen Zweifel nicht aufkommen, denn das hätte seine eigene Existenzberechtigung in Frage gestellt. Seufzend stand der Jäger auf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dabei sah er, daß ein Stormock sich schräg über ihm auf der Spitze einer kleinen Felsklippe niedergelassen hatte. »Waabaa?« rief Koy. Der weiße Geier breitete die riesigen Schwingen aus und stieß sich ab. Majestätisch langsam und mit kaum sichtbaren Bewegungen der Schwingen segelte er ins Tal hinab, dann fand er einen Thermikschlauch und fädelte sich in die aufsteigende Warmluftströmung ein. Spiralförmig schraubte er sich höher und höher, bis er für Koys Augen nur noch ein winziger blasser Fleck am blauen Himmelszelt war. Koy hob die neben ihm liegende Feuerlanze auf und stieg wieder zur Ruinenstadt hinab. Da er zwischen den Ruinen niemanden sah, ging er in die Gemeinschaftshöhle. Der Anblick, der sich ihm bot, verblüffte ihn. Sämtliche Frauen und Männer saßen oder standen schwankend in der Höhle. Manche tanzten und sangen dabei. Aber niemand
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schien sich die geringsten Sorgen um die Zukunft zu machen. Bald entdeckte der Jäger den Grund dafür. Im Gepäck der Karawanenhändler waren Flaschen mit einer stark alkoholischen Flüssigkeit gewesen. Ungefähr die Hälfte der Flaschen war geöffnet – und eine war bereits geleert. Koy schimpfte und fluchte, aber als niemand auf ihn hörte, nahm er sich eine Flasche, öffnete sie und trank einen Schluck. Die Flüssigkeit lief brennend durch die Kehle und schien in seinem Magen zu explodieren. Doch von dort breitete sich sehr rasch ein angenehmes Wärmegefühl durch den ganzen Körper aus. Und Koy spürte, wie alle Probleme und Sorgen sich aufzulösen begannen. »Verdammt sei alle Magie!« sagte er, dann setzte er die Flasche an und trank in langen Zügen …
* Als er erwachte, stieß er einen Schmerzensschrei aus. Sein Kopf fühlte sich an, als sei er von einem Felsbrocken zermalmt worden. Koy tastete nach seiner magischen Lampe und fand statt dessen die nur halbverhüllte, reglose Gestalt einer Frau. Ursinda! durchfuhr es ihn. Sie ist tot! Im nächsten Augenblick hielt er sich den Schädel mit beiden Händen. »Ich bin auch so gut wie tot«, flüsterte er und spie aus, denn in seinem Mund war ein fürchterlicher Geschmack. Endlich ließ der Schmerz ein wenig nach. Koy tastete auf der anderen Seite weiter und fand schließlich die Lampe. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm, sie einzuschalten. Als er sie umdrehen wollte, fiel sie vom erhöhten Lager und polterte auf den Boden daneben. Koy bückte sich, um sie aufzuheben – und brüllte, als ihm ein stechender Schmerz gleich einem Brandpfeil durchs Gehirn fuhr. Er fiel ebenfalls auf den Boden, und er
schlug sich zusätzlich den Ellbogen an der Feuerlanze auf, die dort lag. Da er sicher war, bald sterben zu müssen, blieb er gleich liegen. Aber er hielt die Augen offen und starrte auf den Lichtkreis, den die magische Lampe an die Decke warf. Etwas bewegte sich schräg über ihm, dann sagte eine rauhe, krächzende Stimme: »Bei den Magiern des Taambergs – er ist tot!« Ohne den Grund zu kennen, wußte Koy, daß es Ursinda war, die gesprochen hatte, und daß sie ihn gemeint hatte. »Unsinn!« erklärte er. »Ganz tot bin ich noch nicht.« Er fuhr hoch, spürte starken Schwindel und sah dicht vor seinem plötzlich Ursindas Gesicht. »Aber ich dachte, du wärst tot!« stammelte er. »Nein, nur besoffen«, sagte Ursinda. »Oder vielmehr war ich das. Jetzt habe ich einen fürchterlichen Kater.« Koy verdrehte die Augen, als der alkoholgeschwängerte Atem seiner Gefährtin ihn voll ins Gesicht traf. Ursinda legte ihm die Hände unters Kinn und zog mit aller Kraft. »Komm hoch, Koy, mein Trommler!« krächzte sie. »Was willst du dort unten, du Dummkopf?« Koy hatte das Gefühl, als würde ihm der Kopf abgerissen. Außerdem wurde ihm plötzlich übel. In seiner doppelten Not befreite er sich mit einem nicht gerade sanften Griff, dann erhob er sich schwankend und suchte den Weg ins Freie. Er stieß mehrmals mit den Schultern, den Händen und dem Kopf gegen Hindernisse, aber endlich hatte er es geschafft. Nachdem er sich erleichtert hatte, fühlte er sich wohler. Nur schlapp war er. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute sich blinzelnd um. Zuerst sah er alle Konturen doppelt, doch dann klärte sich sein Blick einigermaßen. Er bemerkte, daß es noch Nacht war. Über sich am völlig klaren Himmel entdeckte er zahllose funkelnde
Koy der Trommler Sterne. »Erde!« stammelte er. »Die Sternbilder des Erdhimmels – upp!« Er schlug sich die Hand auf den Mund, denn er hielt viel von gutem Benehmen. »Koy!« rief eine Stimme, die er mühsam als die Ursindas erkannte. »Koy, wo bist du?« »Hier«, antwortete der Jäger – aber absichtlich so leise, daß seine Gefährtin es nicht hören konnte. Er wollte allein sein. Doch als er das Poltern eines eine Treppe hinabstürzenden Körpers und Schmerzensschreie hörte, übermannte ihn das Mitleid. Er erhob sich und tappte zwischen der Einfriedung aus Mauerresten umher, bis er das untere Ende der Treppe gefunden hatte – und Ursinda, die sich gerade wieder aufrappelte. »Warum so eilig, meine Schöne?« fragte er spöttisch. Er wunderte sich selber, daß er kaum noch etwas für Ursinda empfand. Sicher, er hatte sie niemals geliebt, aber doch eine gewisse Zuneigung empfunden. Doch jetzt spürte er davon nichts mehr. Die Sterne verblaßten. Dafür überzog sich der Himmel von Osten her mit heller Röte. Als Ursinda sich umdrehte und er ihr Gesicht sah, war Koy froh, daß er die Ruinenstadt heute verließ. Die geröteten und geschwollenen Augen, die aufgedunsene Haut, die aufgesprungenen Lippen und die wirren, von süßem Likör verklebten Haare wirkten ausgesprochen abstoßend auf ihn. Aber ich habe kein Recht, böse zu ihr zu sein! sagte er sich. Vielleicht liebt sie mich sogar – auf ihre berserkerhafte und barbarische Art! »Du solltest dich noch etwas hinlegen!« sagte er sanft. »Und du?« fragte Ursinda. »Ich gehe ein wenig spazieren«, erwiderte Koy. »Dann gehe ich mit«, erklärte sie. Plötzlich horchte Koy auf. Sein in der Wildnis und durch unzählige Jagden geschärftes Gehör hatte ein schwaches, offenbar weit entferntes Klirren aufgenommen.
45 »Warum antwortest du nicht?« fragte Ursinda. »Still!« flüsterte Koy. Diesmal hörte er abermals ein Klirren, und es war schon deutlicher zu hören. Dann gesellten sich ein Rasseln und ein schleifendes Mahlen hinzu. »Aber was …?« schimpfte Ursinda. Koy hielt ihr einfach den Mund zu. Das Klirren, Rasseln und Mahlen schwoll weiter an, dann verstummte es. Als es wieder ertönte, klang es irgendwie anders, so, als drehten sich schwere Gleisketten auf der Stelle. »Mpf!« machte Ursinda und wedelte mit den Händen. Koy ließ sie los. »Ich höre es jetzt auch!« stieß Ursinda atemlos hervor. »Das ist der Unbekannte!« Koy hörte nur mit halbem Ohr hin. Es war inzwischen hell genug geworden, daß er sich orientieren konnte. Mit weiten Sprüngen jagte er durch das Loch in die Nachbarruine, kletterte einen Schutthügel hinauf und verlor wertvolle Sekunden, als sein rechter Fuß sich in einem Loch verfing. Der Jäger ahnte, was das Klirren und die anderen Geräusche bedeuteten. Der geheimnisvolle Unbekannte, von dem die Berserkernachkommen so oft gesprochen hatten, war gekommen, um Lebensmittel und Gebrauchsartikel zu bringen. Koy brannte darauf, diesen Wohltäter kennenzulernen – und er hoffte insgeheim, daß er ihn dazu bewegen konnte, ihn mitzunehmen. Es war ihm egal, ob er die fremden Eindringlinge fand oder nicht. Seit den Gedanken, die am Vortag durch sein Gehirn gekreist waren, hielt er nicht mehr viel von den Herren der FESTUNG. Es erschien ihm plötzlich wichtiger, etwas über das Schicksal seiner Mutter herauszufinden und vielleicht sogar zu erfahren, ob und wo sie lebte. Aber als er den Fuß endlich aus dem Loch befreit hatte, wurde er von Ursinda eingeholt. Sie klammerte sich haltsuchend an ihm fest – und er brachte es nicht fertig, sie einfach wegzustoßen. Abermals gingen wertvolle Sekunden verloren.
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Alles ist verloren! stellte Koy fest, als er endlich auf der Straße stand. Nicht weit von ihm entfernt lagen mehrere große Kisten unordentlich auf den geborstenen Platten. Eine Kiste war aufgeplatzt. Helles Mehl rann aus dem Spalt auf die Straße und bildete so etwas wie eine Pyramide. Aus der Ferne hörte Koy noch das Klirren und Schleifen der Gleisketten, aber er wußte, daß er das Fahrzeug zu Fuß nicht einholen konnte. Mißmutig musterte er die breiten gerillten Fahrspuren, die das Kettenfahrzeug auf den Platten hinterlassen hatte – und plötzlich hellte sich seine Miene wieder auf. Wenn er den Spuren folgte, mußte er zwangsläufig irgendwann auf den Wohltäter der Verdammten stoßen, denn Pthor war nicht so groß, daß jemand unendlich lange fahren konnte.
8. Amshun blickte über die Mißgriffe hinweg, die zwischen ihm und dem Ruinenanhängsel des Pfister-Ghettos standen. Es waren siebenunddreißig Androiden, von denen keiner dem anderen glich: Riesen und Zwerge, Dicke und Dünne, weiß, blau, grün und schwarzhäutig, solche mit zwei Köpfen und andere ohne Köpfe, bei denen die Gehirne im Bauchraum angesiedelt waren und die sich mit Hilfe von Ultraschall orientierten. Siebenunddreißig Gestalten, die einem Alptraum entsprungen sein könnten. Für Amshun und die fünf Helfer, die hinter ihm standen, waren es individuelle Persönlichkeiten, denn sie konnten bewußt denken und kommunizieren. Einige der Mißgriffe waren sogar hochintelligent, doch gerade diese litten unter einem so starken psychischen Trauma, daß sie hilfsbedürftiger waren als die anderen. »Meine Freunde!« rief Amshun. »Es kommt nicht nur darauf an, daß ihr einen Platz zum Schlafen habt und Raum, um euch zu bewegen und Essen und Trinken. Fast genauso wichtig ist es, daß wir alle sinnvolle
Tätigkeiten verrichten und selbst zu unserem Lebensunterhalt beitragen. Ja, ich behaupte sogar, daß wir mehr produzieren müssen, als wir brauchen, damit wir diejenigen Schwestern und Brüder, die eben erst aus Aghmonth gekommen sind und sich noch nicht zurechtfinden sowie die, die aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können, miternähren und mitkleiden.« Er drehte sich um und deutete auf ein flaches Stück Land. Die Hälfte davon war mit schnurgeraden Reihen von Büschen und Bäumen bepflanzt. Dazwischen wuchsen Salate und Gemüse. Die andere Hälfte war unkrautbewachsenes Ödland. »Das bestellte Land deckt inzwischen unseren eigenen Bedarf an Obst, Gemüse und Salat«, erklärte er. »Aber wir brauchen Kleidung, Medikamente, Decken, Geschirr und Küchengeräte sowie Werkzeuge. Wenn wir das Ödland bearbeiten und ebenfalls nutzen, können wir für den Überschuß an Obst, Gemüse und Salat gute Preise erzielen, denn die Kelotten in Aghmonth verdienen gut und werden nicht ausreichend mit frischen Lebensmitteln beliefert. Für die Quorks, die wir von ihnen für unsere Überschüsse erhalten, können wir alles das kaufen, was wir ebenfalls brauchen, aber nicht oder nur unrationell selbst herstellen können. Als erstes müssen wir den Boden lockern und dabei die Unkräuter und größeren Steine entfernen. Das ist eine schwere und ungewohnte Arbeit für euch, aber wenn ihr euch erst einmal daran gewöhnt habt, werdet ihr merken, daß sie euch körperlich kräftigt, Krankheiten vorbeugt und euch auch seelisch hilft, denn der Erfolg verschafft eine tiefe Befriedigung. Gauzor und Peynch werden euch vorführen, wie ihr mit der Holzgrabegabel den Boden tief umbrecht, anschließend mit der Jätekralle auflockert und Unkraut und Steine herausholt – und ich zeige euch dann, wie der Boden mit dem Rechen feinkrümelig gemacht, mit Humus angereichert und glattgezogen wird.« Er gab Gauzor und Peynch ein Zeichen.
Koy der Trommler Die beiden aufgeweckten jungen Pfisters nahmen ihre Werkzeuge vom Boden und gingen zu den Mißgriffen, um sie ihnen aus der Nähe zu zeigen. Anschließend machten sie sich an die Arbeit. Gauzor stach die Grabegabel in den Boden und brach ihn in groben Schollen um. Die Mißgriffe waren nähergetreten und schauten interessiert zu. Plötzlich glaubte Amshun, seinen Namen rufen zu hören. Er wandte sich um und sah einen anderen Pfister aus dem Ghetto und in seine Richtung laufen. Der Pfister winkte aufgeregt mit den Armen. »Macht bitte weiter!« sagte Amshun und ging dem anderen Pfister entgegen. Er ahnte, daß sich etwas Schlimmes ereignet hatte und dachte sofort an Dagrissa, die in seinem Turmzimmer lag. Zwar hatte sich der gesundheitliche Zustand der Androidin dank seiner Pflege gebessert; dennoch änderte das nichts daran, daß sie körperlich und seelisch ein Wrack war und bleiben würde. Ihr Lebenslicht konnte praktisch zu jeder Zeit erlöschen. Als er sah, daß der Rufer Khaizal war, atmete er erleichtert auf. Khaizal lebte zwar im Ghetto, arbeitete aber tagsüber als Koch in einer Kantine der Kelotten. Er konnte es also gar nicht erfahren, wenn es Dagrissa plötzlich schlechter ging. Wenig später standen sich die beiden Pfisters gegenüber. Khaizal atmete schwer und brauchte einige Zeit, um sprechen zu können, dann stieß er aufgeregt hervor: »Die Kelotten wollen eine Patrouille ins Ghetto schicken, Amshun. Sie soll Dagrissa mitnehmen.« »Was?« entfuhr es Amshun. »Woher weißt du das – und warum wollen sie Dagrissa mitnehmen?« »Ein Offizier der Kelotten-Miliz kam in die Kantine und befahl vier dort frühstückenden Milizionären, mitzukommen und Dagrissa aus dem Ghetto zu holen. Er sagte allerdings nicht warum.« »Danke, Khaizal!« sagte Amshun aufgeregt. »Ich eile sofort zu ihr. Du gehst am be-
47 sten auf Umwegen in deine Kantine zurück, damit du keine Schwierigkeiten bekommst.« Er lief los. Als er seinen Turm sah, hörte er durch die Türöffnung von innen die klagende Stimme Dagrissas. Er war also zu spät gekommen. Vor Furcht und Zorn zitternd, wankte er die Treppe ins Turmzimmer hinauf. Fünf Kelotten in den Uniformen ihrer Miliz standen darin. Zwei hatten die alte Androidin von ihrem Lager gezerrt. »Halt!« rief Amshun. »Laßt die alte Frau in Ruhe!« Einer der Milizionäre, an der dreifachen Kette vor seiner Brust und an seinem Bauch als Offizier erkennbar, fuhr zu Amshun zurück und schrie mit der piepsighellen Stimme aller Kelotten: »Wagst du, meinen Leuten Befehle erteilen zu wollen, Abfallfresser?« Amshun überhörte die Beleidigung. »Dagrissa ist mein Gast«, erklärte er fest. »Ich bin für sie verantwortlich. Außerdem ist sie die Mutter von Koy dem Trommler – und Koy ist ein wichtiger Mann für die Herren der FESTUNG. Wenn ihr seine Mutter mißhandelt, werdet ihr bei den Herren der FESTUNG in Ungnade fallen.« »Wir mißhandeln Dagrissa nicht«, lenkte der Offizier ein. »Faßt sie gefälligst behutsam an!« schrie er seine Untergebenen an. Er wandte sich wieder an Amshun. »Du bist Amshun, nicht wahr?« »Ja, ich bin Amshun«, antwortete der Pfister. »Was wollt ihr von Dagrissa? Sie ist alt und krank. Jede Aufregung kann den Tod für sie bedeuten. Sie wartet bei mir auf ihren Sohn.« »Die Herren der FESTUNG haben befohlen, Dagrissa zu befragen«, antwortete der Offizier. »Das Wache Auge hat den Kontakt zu Koy verloren und es an die Herren der FESTUNG gemeldet. Wir sollen alles tun, um Koy wieder aufzuspüren.« »Der Kontakt zu Koy ist abgerissen?« stammelte Amshun und stützte sich an der Herdkante ab, weil seine Knie nachzugeben drohten. »Hoffentlich ist ihm nichts Schlim-
48 mes zugestoßen. Er sollte Fremde jagen, die von der Erde eingedrungen sind.« »Ich weiß nicht mehr, als was ich dir gesagt habe, Amshun«, erklärte der Offizier. »Die Herren der FESTUNG vermuten, daß Dagrissa in ihrem Unterbewußtsein ahnt, wo sich ihr Sohn aufhält. Deshalb müssen wir sie mit der Gromyhldroge verhören.« »Sie wird es nicht überleben!« sagte Amshun. »Das ist Wahnsinn! Woher sollte Dagrissa ahnen, wo ihr Sohn sich aufhält. Sie wurde von ihm getrennt, als er noch ein Kind war und hat seitdem keinen Kontakt mehr mit Koy gehabt. Gromyhl läßt Unbewußtes ins Bewußtsein aufsteigen, aber auch nur dann, wenn es im Unterbewußtsein vorhanden ist. Bei Dagrissa dürften nur Schrecken und Alpträume im Unterbewußtsein lauern. Wenn ihr sie an die Oberfläche des Bewußtseins holt, erleidet die Frau einen Schock, der ihr Herz versagen lassen kann.« Der Offizier bewegte unbehaglich die Schultern. »Ich muß meinen Befehlen gehorchen, Amshun. Das geht soweit, daß ich notfalls sogar Gewalt anwenden werde …« »Schon gut«, erwiderte Amshun resignierend. Er kannte die Verhältnisse ebensogut wie der Offizier. Er trat vor Dagrissa und sagte eindringlich: »Sträube dich nicht, Dagrissa. Alles geschieht, um Koy zu helfen.« Es sei denn, er wäre aus eigenem Antrieb untergetaucht! dachte er. »Laß dich durch nichts erschrecken und denke immer an deinen Sohn!« Die alte Androidin sah ihn verwirrt und traurig an, aber dann spielte ein kleines Lächeln um ihre Lippen. »Ich will alles tun, wenn ich dadurch meinem Koy helfen kann«, flüsterte sie. »Und dir danke ich für alles, was du für uns getan hast, Amshun. Ich weiß nur nicht, wie weit ich zu Fuß gehen kann.« »Tragt sie!« befahl der Offizier den beiden Milizionären, die die Androidin festhielten.
H. G. Ewers Die Milizionäre legten sich die Arme Dagrissas über die Schultern, verschränkten je zwei Hände hinter ihrem Rücken und unter den Kniekehlen und hoben sie hoch. Danach trugen sie sie behutsam aus dem Turmzimmer und die Treppe hinunter. Amshun folgte den Kelotten und wartete, bis sie mit Dagrissa durchs Tor verschwunden waren. Dann eilte er zur landwirtschaftlichen Unterrichtsgruppe zurück und rief Gauzor und Peynch zu sich. »Ich habe einen wichtigen Auftrag für euch«, erklärte er. »Ihr habt vor drei Jahren als einzige Pfisters Pthor an den Küsten entlang umrundet und kennt euch mit dem Gelände und den Gefahren aus, die dort lauern.« »Das stimmt«, erwiderte Peynch. »Es gibt viele schreckliche, aber auch viele schöne Dinge auf Pthor.« »Diesmal geht es nicht darum, die Schrecken herauszufordern und die Schönheiten kennenzulernen«, sagte Amshun. »Ich bitte euch, eure Wanderausrüstung zu nehmen und in Richtung Westen aufzubrechen. Koy ist verschwunden, und ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Aber vorsichtshalber solltet ihr versuchen, ihn vor anderen zu finden und ihm zu sagen, daß sich Dagrissa in der Gewalt der Kelotten befindet und daß die Herren der FESTUNG alles daransetzen, um ihn aufzuspüren.« »Glaubst du, daß Koy absichtlich aus der Kontrolle der Herren der FESTUNG verschwunden ist, Amshun?« fragte Gauzor. »Ich glaube nichts, bevor ich es weiß – und ich weiß überhaupt nichts, außer daß Koy seine Herkunft kennt und weiß, was seinen Eltern angetan wurde.« »Dann müssen wir uns beeilen, um ihn als erste zu finden«, sagte Gauzor. »Wir brechen sofort auf«, erklärte Peynch. »Ich wünsche euch viel Glück!« sagte Amshun gerührt.
*
Koy der Trommler Koy hatte bereits eine weite Strecke hinter sich gebracht – jedenfalls für einen Fußgänger –, aber er trabte unermüdlich weiter, denn vor einer halben Stunde hatte er an verschiedenen Spuren gesehen, daß das Fahrzeug, das er verfolgte, gehalten hatte und daß sein Insasse ein Feuer angezündet und in aller Ruhe ein Stück Fleisch am Spieß gebraten und verzehrt hatte. Dadurch hatte der Wohltäter der Berserkernachkommen viel Zeit verloren – und es bestand die Möglichkeit, daß Koy ihm ziemlich nahe gekommen war und ihn bei seiner nächsten Rast einholen würde. Der Jäger musterte die hügelige Landschaft, durch die er trabte, und blickte danach auf das, was vor ihm lag. Es war ein relativ niedriger Abschnitt des Taamberg-Massivs, aber dennoch ein felsiger, schluchtenreicher Abschnitt. Für ein Gleiskettenfahrzeug mußte es nicht so schwer sein, alle Hindernisse zu überwinden oder zu umfahren, aber für einen Mann zu Fuß würde es eine Strapaze werden. Koy fragte sich, warum der Unbekannte überhaupt den Weg durch die felsige Landschaft gewählt hatte. Es wäre durch die Steppe nur ein kleiner Umweg gewesen – und er wäre durch die höhere Geschwindigkeit, die in flachem beziehungsweise hügeligem Gelände erreicht werden konnte, mehr als ausgeglichen worden. Oder versuchte der Unbekannte dadurch, eventuelle Verfolger abzuschütteln? Koy rannte einen der Hügel hinauf, blieb stehen und blickte nach Südosten. Plötzlich stutzte er. War da eine Bewegung gewesen – dort, wo eine Art Weg oder oft benutzte Fahrspur in die Bergwildnis hineinführte? Koy konnte es nicht genau sagen. Es war mehr der flüchtige Eindruck eines Lichtblitzes gewesen, und er konnte genausogut durch die Reflexion des Sonnenlichts an einem glatten Felsen wie durch Reflexion durch eine metallene Fläche entstanden sein. Aber wenn das Sonnenlicht von der Oberfläche eines Fahrzeugs reflektiert worden
49 war, warum vermochte er das Fahrzeug dann nicht zu sehen, denn der Weg ließ sich vom Hügel aus noch auf eine weite Strecke überblicken? Der Jäger setzte sich wieder in Bewegung. Einmal hatte er das vage Gefühl, nicht allein in der hügeligen Steppe zu sein, sondern einen unsichtbaren Rivalen zu haben, der ebenfalls hinter dem Kettenfahrzeug her war. Aber da er trotz aufmerksamer Beobachtung der Umgebung niemanden sah, schob Koy es auf seine starke Erregung zurück, die viel Ähnlichkeit mit dem Jagdfieber besaß, das ihn manchmal befiel. Wohin mochte das Fahrzeug rollen? fragte sich Koy. Diese Frage beschäftigte ihn seit seinem Aufbruch aus der Ruinenstadt, der nicht ohne Tränen seitens Ursindas abgegangen war. Die anderen Berserkernachkommen hatten seinen Abzug größtenteils nicht bemerkt, da sie noch ihren Rausch ausschliefen. Wahrscheinlich war der im Übermaß genossene Alkohol auch schuld daran, daß die Berserkernachkommen nicht versucht hatten, ihn gewaltsam festzuhalten oder ihm seine Feuerlanze wegzunehmen, wie er es befürchtet hatte. Koy wußte, daß im Südosten die Stadt Donkmoon lag. War der Unbekannte von dort gekommen und kehrte er dorthin zurück? Der Jäger verspürte bei diesem Gedanken ein eigenartiges Kribbeln im Nacken. Er war bisher weder in Donkmoon gewesen noch hatte er die Straße der Mächtigen betreten. Unbewußt hatte er die Straße der Mächtigen sogar gemieden, wie ihm jetzt klar wurde. Er fragte sich, aus welchem Grund, fand aber keine Antwort. Jedenfalls war er entschlossen, diesmal weder Donkmoon noch die Straße der Mächtigen zu meiden, wenn die Spur des Unbekannten dorthin führte. Ein lauter Knall erschreckte Koy und veranlaßte ihn, sich augenblicklich ins Gras zu werfen, sich an den warmen Boden zu pressen und auf etwas zu warten, das er nicht hätte definieren können. Als nichts geschah, als er weder mit Erd-
50 brocken, Steinen und Stahlsplittern überschüttet wurde noch ein weiterer Knall ertönte, richtete Koy sich langsam auf. Jede unvorhergesehene Explosion bedeutete für ihn so lange Angriff, bis sich das Gegenteil herausstellte. Aber nach seiner reflektiven Reaktion wurde ihm bewußt, daß die Explosion nicht in seiner Nähe erfolgt war. Sie mußte sogar viele Skerzaalschüsse weit entfernt erfolgt sein. Plötzlich kam dem Jäger der Gedanke, daß der Unbekannte das Objekt gewesen sei, dem die Explosion gegolten hatte. Aber wer konnte es auf den Wohltäter der Berserkernachkommen abgesehen haben? Es überlief den Jäger abwechselnd heiß und kalt, als er an die Flußpiraten dachte, die ihre Geheimstützpunkte am Oberlauf des Regenflusses hatten und die immer wieder bis ins Massiv des Taambergs eindrangen, um Stormocks zu fangen und irgendwo zu verkaufen. Falls die Flußpiraten von den Fahrten des Unbekannten nach der Ruinenstadt und zurück wußten, war es durchaus möglich, daß sie ihm in einem Hinterhalt aufgelauert hatten. Sein Gleiskettenfahrzeug mußte für sie eine Beute sein, für die sie einiges riskieren würden. Abermals stürmte Koy einen Hügel hinauf. Als er diesmal die Fahrspur des Unbekannten entlangschaute, sah er einige Skerzaalschüsse rechts davon eine grauweiße Rauchwolke in der Luft stehen. Der Wind trieb sie bereits auseinander. »Also doch!« stieß Koy grimmig hervor. »Aber ich werde nicht zulassen, daß der Wohltäter ein Opfer dieser Banditen wird!« Noch schneller als vorher stürmte er den Hügel wieder hinab. Im Laufen streifte er den Riemen, an dem seine Feuerlanze quer vor seiner Brust hing, über den Kopf, so daß er die Waffe frei nach allen Seiten drehen konnte. Völlig außer Atem kam er bei einer großen rostbraunen Felsnadel an, die quer auf festgefahrenem Sand und Geröll lag und den Weg versperrte – jedenfalls für ein brei-
H. G. Ewers tes Gleiskettenfahrzeug. Keuchend hielt der Jäger an. Er durchschaute die List derjenigen, die die Explosion ausgelöst hatten. Hier auf der festgefahrenen Rollbahn wäre es mit harter Arbeit verbunden gewesen, eine Sprengladung unsichtbar zu installieren. Anders in dem unübersichtlichen Gelände rechts von dem Weg, in das die frischen Kettenspuren wiesen. Dort gab es feuchten Boden, der sich leicht aufgraben und wieder zuschütten ließ. Außerdem konnten sich die Piraten in der Schlucht, in die die Kettenspuren führten, besser verbergen als hier oben im offenen Gelände. Koy überprüfte den Zünder seiner Feuerlanze, dann wandte er sich nach rechts. Er rutschte mehr als er ging einen Hang hinunter und arbeitete sich durch dorniges Gestrüpp, das von den Gleisketten zerfetzt worden war und sich an manchen Stellen zusammenballte. Der Jäger achtete nicht auf die Rißwunden, die die Dornen ihm zufügten. Dort, wo die Fahrspuren in die enge Schlucht führten, blieb Koy kurz stehen und legte sich eine Taktik zurecht. Die Schlucht beschrieb weiter vorn einen Bogen nach rechts, so daß er nicht sehen konnte, ob das gesuchte Fahrzeug sich noch darin befand. Schließlich entschied er sich dafür, von dem Weg des Fahrzeugs abzuweichen und sich auf der rechten Oberseite der steilen Felsen zu halten, die zum Grund der Schlucht stürzten. Dort konnte er nicht so leicht in einen Hinterhalt geraten. Der Weg wurde beschwerlich und teilweise sogar gefährlich. Ab und zu balancierte Koy dicht am Rand des Abgrunds. Eine grüngoldene Schlange, die sich plötzlich aus einem Felsloch wand und bei seinem Anblick den Oberkörper aufrichtete, erledigte er mit einem Schlag seiner Feuerlanze, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern. Das Reptil flog mit zerschmettertem Kopf in die Tiefe. Und endlich erreichte der Jäger die Stelle, wo die Schlucht nach rechts abknickte. Vor
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seinen Füßen lag der halbverweste Kadaver eines Vogels. Insekten krochen darauf herum und gingen ein und aus. Koy konnte seinen Schwung nicht schnell genug abbremsen. Er geriet mit dem linken Fuß auf den Kadaver, glitt aus und rutschte über die Felskante. Ohne einen Ton von sich zu geben, drehte sich der Jäger im Fallen, warf die Feuerlanze nach oben und griff mit gekrümmten Fingern in den rissigen Fels. Mit schmerzhaftem Ruck bremste er seinen Sturz in die gähnende Tiefe ab. Blut floß über seine Finger, Hände und Arme. Er biß die Zähne zusammen, suchte mit den Füßen nach einem Halt und zog sich unter Aktivierung aller Kraftreserven hoch. Erst als er keuchend auf der Felskante lag, blickte er bewußt in die Tiefe – und da sah er, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte! Ein seltsames Fahrzeug stand dort unten, wo der Boden der Schlucht steil anstieg und wieder eben wurde. Ein metallener Leib mit einer gläsernen Kugel an der Vorderseite war mit röhrenförmigen Beinen an ein Paar breite Gleisketten gefesselt. Ungefähr fünf Mannslängen maß dieses Gebilde. Der hintere Teil des aus ringförmigen Elementen bestehenden Metall-Leibs endete in einer Art Skorpionschwanz, auf dessen Spitze ein schwenkbarer Scheinwerfer saß. Die rechte Gleiskette war vorn zerrissen und mit einem Ende in einen zwei Meter tiefen Krater geschleudert worden. Das alles nahm Koy wie in einer Momentaufnahme wahr. Im nächsten Augenblick schon nahm er die Kampfszene in sich auf, die sich dort unten abspielte. Ungefähr
ein Dutzend schwerbewaffneter Männer, die Koy an ihrer Kleidung als Flußpiraten erkannte, fielen über einen hünenhaften Mann her, der in einer stählernen Rüstung steckte. Koy hob die Feuerlanze und visierte einen der Piraten an. Aber dann ließ er die Waffe wieder sinken, denn die Gegner bewegten sich so schnell, daß er mit einem Schuß möglicherweise den Angegriffenen hätte treffen können. Wenig später sah Koy, daß der Angegriffene seine Hilfe gar nicht benötigte. Er war nur kurz in Bedrängnis geraten, dann aber hieb er mit einer riesigen Streitaxt wild um sich und brachte seinerseits die Piraten in Bedrängnis, deren Skerzaalbolzen von seiner Rüstung abprallten. Fasziniert beobachtete Koy das Wüten des gepanzerten Hünen. Eine Ahnung sagte ihm, daß er Heimdall sah, einen der Söhne Odins. Nur ein Göttersohn konnte mit dieser wilden und dennoch distanzierten Besessenheit kämpfen. Der Jäger lachte leise, als ihm einfiel, wie er den Göttersohn überraschen und beeindrucken konnte – und er würde ihn beeindrucken müssen, weil er etwas von ihm wollte. Zügig, aber ohne Hast, ging Koy der Trommler auf das jenseitige Ende der Schlucht zu. Ein Abschnitt seines Lebens war beendet – und ein neuer Abschnitt begann.
ENDE
ENDE