Expose-Redaktion: H.G. Ewers
Band 75 der Fernseh-Serie Raumpatrouille
H. G. Ewers
Kosmische Parasiten Die Menschen, ...
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Expose-Redaktion: H.G. Ewers
Band 75 der Fernseh-Serie Raumpatrouille
H. G. Ewers
Kosmische Parasiten Die Menschen, die mit der ORION X durch das „schimmernde Tor" in einen Kugelsternhaufen verschlagen wurden, den sie für NGC 5272 halten, stehen noch ganz unter dem Eindruck ihrer Abenteuer mit dem Transit-Verteiler, der Wachboje, den Dhorsen und dem Kosmischen Instrukteur. Sie fangen an zu ahnen, daß es lange vor der Entstehung des Menschengeschlechts unvorstellbar hochentwickelte kosmische Zivilisationen gab, die ihre Einrichtungen für den intergalaktischen Schnellverkehr mitfühlend absi cherten, damit verirrte Raumfahrer einer unterentwickelten Zivilisation wie beispielsweise der Menschheit keinen Schaden nahmen. Die ORION-Crew, mit der diesmal Han Tsu-Gol, Wailing-Khan und jener Kristall fliegen, in den Basil Astiriakos verwandelt wurde, flogen nach den Weisungen des Kosmischen Instrukteurs los. Das Schiff wurde abermals manipuliert und kehrte schließlich in der Nähe eines Gebildes in den Nor malraum zurück, das allen Teilnehmern der Expedition den Atem verschlug, als sie es erkannten. Es handelte sich um eine Hohlwelt mit einem Durch messer von 360 Millionen Kilometern! Diese „Dyson-Kugel", die offenbar aus der Materie zahlreicher Planeten eines Sonnensystems „gebaut" wurde, erschien den Raumfahrern der ORION zuerst als Heimatsystem jener Zivilisation, die die Wachboje und den Kosmischen Instrukteur schuf. Deshalb waren sie enttäuscht, als ihre Funkbotschaft nicht beantwortet wurde. Aber als sie in die „Dyson-Kugel" eindrangen, kam es zu einer neuerlichen Begegnung mit Ishvar, dem „Göttlichen". Diesmal jedoch befand sich Ishvar in Not und bat die Menschen um Hufe. Die Hilfe wurde ihm gewährt; dafür gab er Basil Astiriakos seine normale Gestalt wieder. Die Raumfahrer erfahren von Ishvar, daß die gigantische Hohlwelt nur der Schulung von Besuchern aus unterentwickelten Zivilisationen diente und daß Tyla, wie die „Dyson-Kugel" heißt, von den Gestaltlosen bedroht wird. Es kommt zu gespenstischen Auseinandersetzungen mit KOSMISCHEN PARASITEN ...
er, die durch den Hyperraum zum Schiff kamen, konnten ihm sicher auch durch den Hyperraum folgen. Die Vorbereitungen zum Notstart wurden eingestellt. Der Space-Computer wollte gerade Inzwischen hatte sich an dem seltsamen einen Hyperfunkspruch an die ORION X Angriff etwas geändert. Die internen absetzen, um anzufragen, welche Hilfe er Meßsysteme des Schiffes stellten fest, daß der Besatzung des notgelandeten Raum ein Teil der Hyperenergie, der das Schiff schiffs geben könnte, als der unsichtbare durchdrungen hatte, Gegner zuschlug. sich innerhalb des Die erste Reaktion Die Hauptpersonen des Romans: Schiffes in Ballun von TECOMs Ableger Cliff McLane — Der Commander in fast aussichtsloser Lage. gen normaler war reflektorisch, Energie trans denn sie bestand in Mario, Arlene, Han Tsu-Gol, Hasso und Wailing-Khan — Cliffs Begleiter formiert hatte. einem Abruf der durch tausend Gefahren. Diese Energiebal vorprogrammierten Ishvar — Der „Göttliche" auf Seiten der lungen schwangen VerteidigungsmaßnahMenschen. auf einer ganz be men. Die SchutzHelga, Atan und Seghor Takyll — Sie stimmten Mikro schirmprojektoren bleiben in der ORION zurück. wellenfrequenz bauten einen un und sie bewegten sichtbaren Energie sich auf die Datenanschlüsse des Compu schirm auf, der das Computerschiff gleich ters zu. Intelligente Wesenheiten aus einer Kugelhülle umgab. Energie! Leider vermochte diese Maßnahme den Angriff nicht zu stoppen. Das, was der Ego-Sektor aufgrund dieser Innerhalb des Raumschiffs brachten Erkenntnis zustande brachte, war so etwas Schauer von dimensional übergeordneter wie ein geistiges Zusammenzucken. Energie zahlreiche Funktionen durchein Gleichzeitig spürte er, daß da noch etwas ander, vor allem aber lähmten sie einen war, irgendwo in seinem Innern. Teil der Rückkopplungsverbindungen Doch diese Empfindung wurde unter zwischen dem Schiff und den beinahe alle drückt. Alle Kräfte des Ego-Sektors Hohlräume ausfüllenden Computerele konzentrierten sich auf die Abwehr des menten. Dadurch wurde die Einheit Schifffeindlichen Angriffs. Computer gefährdet. Allerdings erkannte der Ego-Sektor mit Der Ego-Sektor des Computers geriet Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsrechnung, beinahe in Panik. Deshalb konnte er so daß der Space-Computer nicht über die reagieren wie ein Mensch, der beim Gang Mittel verfügte, Wesen aus Energie durch einen dunklen Wald plötzlich das gewaltsam zu vertreiben. Solange sie nicht Geheul von Wölfen hört. versuchten, streng geheime Daten aus den Die Antriebsaggregate des Schiffes Speichern zu stehlen, trat auch die wurden hochgeschaltet; die auf subtile Selbstzerstörungsschaltung nicht in technische Weise miteinander verzahnten Aktion. Systeme des Space-Computers bereiteten Vor dieser Selbstzerstörungsschaltung sich auf einen Notstart mit vorgezogenem hatte der Ego-Sektor nicht mehr als eine Einstieg auf Hyperspace vor. Spur von Angst. Aber das reichte aus, um Im letzten Augenblick erkannte der Egoihn zu beunruhigen, denn sein Selbsterhal Sektor, daß damit die Gefahr nicht tungstrieb war so programmiert, daß er abgewendet werden konnte. Energieschau sich ausschaltete, wenn im Interesse der l.
ANGRIFF AUS DEM NICHTS
Menschheit die Selbstzerstörung des Space-Computers notwendig wurde. Das alles wurde jedoch unwichtig, als die Energiewesen schlagartig in die Energiefelder des Sapce-Computers eindrangen. Der Ego-Sektor registrierte das als Erfolg - aber für sich selbst, denn er wußte, wie man mit masselosen Eindringlingen umging. * Sie empfanden gleichzeitig fast ek statische Wonnen und Qualen, während sie sich in den nahrhaften Strömen der fremden Arbeitsenergie badeteten. Wonnen empfanden sie, weil der Auf enthalt in den Energiefeldern des denken den Raumschiffs für sie etwa vergleichbar war mit dem Bad eines Menschen in Milch, Wein oder Sekt. Qualen empfanden sie, weil sie genau wußten, daß sie die fremde Energie nur an sich vorbeiströmen lassen durften, ohne etwas davon aufzu nehmen. Diese Energie war zu wertvoll, um als Nahrung gebraucht zu werden. Das Denkende Raumschiff konnte ihnen keinen Widerstand entgegensetzen - und es hatte auch nur einen einzigen schwäch lichen Versuch gemacht, mit Hilfe eines dem vierdimensionalen Raum-ZeitKontinuum angehörenden Energieschirms die Infiltration abzuwehren. Es war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, denn für Wesenheiten wie sie, stellte ein normaldimensionaler Schutz schirm kein größeres Hindernis dar, als für einen Menschen eine meterhohe Mauer. So war die erste Phase der Inbe sitznahme reibungslos verlaufen. Sie sahen keinen Grund, noch lange mit der Ausfüh rung der zweiten Phase zuwarten. Und auch der Übergang zu dieser Phase gelang ohne Schwierigkeiten. So dachten sie - bis sie merkten, daß sich etwas veränderte. Zuerst vermuteten sie, daß nur ihre
Umgebung sich veränderte. Damit war zu rechnen gewesen, denn irgend etwas mußte das Denkende Raumschiff ja versuchen, um die Infiltration abzuwehren. Aber dann merkten sie, daß es nicht nur die Umgebung war, die sich veränderte. Sie selbst veränderten sich ebenfalls, und zwar auf eine Art und Weise, die sie in Panik versetzte. Selbstverständlich kannten sie mit ihrem gewaltigen Wissen über technische und hyperenergetische Systeme und Funktio nen, das sie seit undenklichen Zeiten an zahllosen Orten gesammelt hatten, eine Menge über jene seltsamen Auch-Lebens formen, deren unterschiedliche energeti sche Ladungen so verdichtet waren, daß man sie als Masse bezeichnete und die Körper, die aus solcher Masse geformt waren, als feste Körper. Sie hatten auch schon Erfahrungen im Umgang mit Festkörper-Lebewesen gesammelt, aber sie hatten noch nie die Erfahrung gemacht, selbst FestkörperLebewesen zu sein. Aber genau das war geschehen! Es war unglaublich verwirrend für sie, nicht mehr durch FestkörperErscheinungsformen schweben zu können, sondern auf eine Grenze zu stoßen. Noch verwirrender war der Zwang, sich auf bislang unbekannte Wahrnehmungen umstellen zu müssen. Doch waren sie auch tatsächlich verän dert? Sie beobachteten einen tintenfarbenen Torbogen, der sich vor einer eisblauen, sanft gewellten Fläche abhob. Der Anblick übte eine unglaublich starke Faszination auf sie aus. Ohne es recht zu merken, gingen sie durch den Torbogen. Wir gehen! Der gleichzeitige gedankliche Ausruf entsprang der Überraschung, daß sie selbst gingen. Sie standen auf der sanft gewellten eisblauen Fläche und sahen sich an. Ihre
optischen Wahrnehmungssysteme schie nen noch nicht perfekt zu arbeiten, denn sie sahen sich gegenseitig nur ver schwommen. Doch die Adaptation der Sehorgane an die Umweltreize machte gute Fortschritte. Bald sahen sie, daß sie schmale, hochragende Körper mit vier Extremitäten bekommen hatten, auf denen dreh- und schwenkbar ein kapselförmiger Körperteil saß, in dem die meisten Wahrnehmungsorgane konzentriert waren. Langsam gingen sie über die eisblaue Fläche. Dahinter schien absolut nichts zu sein, bis sie unmittelbar vor dem Rand der Fläche waren. Sie sahen einen Serpentinenweg, der an einer schwarzen Steilwand hinabführte und unten an einem Strand endete, auf dem sich schwarze Vulkanasche mit Silberkörnchen mischte. Immer wieder glitten die flachen Wogen eines rosafarbe nen Ozeans heran, schoben sich ein Stück über den Strand und wichen widerstrebend zurück. Sie erschauderten bei dem Anblick des Wassers, wollten umkehren und stellten fest, daß es kein Zurück gab. Hinter ihnen rollte sich die Landschaft zusammen, zerknitterte und bröckelte. Dort gab es nichts mehr, wo man sich halten konnte. Wieder wandten sie sich um. Zögernd stiegen sie den Serpentinenweg hinab. Sie wunderten sich, als sie rechts plötzlich eine schmale Landzunge erkannten, die sie vorher nicht bemerkt hatten. Und am Anfang der Landzunge stand ein Festkörper-Lebewesen von ähnlicher Körperform wie sie. Es winkte - und in ihren Gedanken war das Versprechen, sie sicher aus diesem Irrgarten zu leiten, wenn sie bereit wären, dafür Informationen preiszugeben. Sie nannten sich Staahsen. Der Ego-Sektor des Computerschiffs freute sich darüber, daß es ihm relativ leichtgefallen war, die Energiewesen in seine Schaltfelder zu integrieren und
dermaßen mit bestimmten Informationen zu überschütten, daß sie sich einbildeten, Wesen aus Massekörpern zu sein und in einer realen Welt umherzuirren. Danach war es auch nicht schwierig gewesen, sie durch Elemente, die bei ihnen Furcht auslösten, in die Enge zu drängen und ihnen zu erscheinen, um Hilfe anzubieten - zu einem annehmbaren Preis. Selbstverständlich existierten die Ener giewesen nicht festkörperlich. Sie waren weiterhin unsichtbare Ballungen, die aber von den Schaltfeldern des SpaceComputers ihre Informationen erhielten und diese Informationen wurden vom EgoSektor gesteuert. Und als sie reif dafür waren, stellte der Ego-Sektor, der ihnen quasi als guter Geist erschienen war, seine Fragen. Ego-Sektor: Wie seid ihr nach Tyla gekommen? Sie: Wir gerieten in einer fremden Galaxis zufällig in die Nähe eines Transit punkts. Da wir neugierig waren, ob sich Angehörige der Föderation dort befanden, ließen wir uns näher herantreiben. Etwas war nicht in Ordnung, denn wir wurden von den Gezeitenkräften bedroht und mußten überstürzt ausweichen. Dadurch gerieten wir in den Transportkanal des Transitpunkts, kamen in der Nähe von Tyla heraus und sahen uns hier um. Ego-Sektor: Gibt es die Föderation noch? Sie: Es existiert wahrscheinlich eine Rest-Föderation, denn der große Verband der Inselstaaten ist bei einem Ereignis zerbrochen, das unter dem Namen 'Schwingen der Nacht' in die Mythen und Sagen der Überlebenden des Ersten Weltendes einging. Ego-Sektor: Wie steht ihr zur RestFöderation? Sie: Unsere Vorläufer dienten den Zivilisationen der Föderation auf verschie dene Weise. Wir versuchen, die Überreste der Föderation vor Verfall und vor
Unbefugten zu schützen. Ego-Sektor: Was kontrolliert derzeit Tyla? Sie: Es gibt keine zentrale Kontrolle mehr. Wir Staahsen versuchen, die zahllosen verschiedenen Funktionssysteme von Tyla zu koordinieren, damit diese Welt später seine Funktionen wieder fehlerfrei erfüllen kann. Ego-Sektor: Gibt es Gründe, die einer Zusammenarbeit von uns im Wege stehen? Sie: Ursprünglich glaubten wir, es gäbe solche Gründe. Inzwischen sind wir überzeugt davon, daß eine Zu sammenarbeit zwischen uns sinnvoll und nützlich ist. Ego-Sektor: Wir können sofort damit anfangen. Freunde von mir haben ein Problem. Sie sitzen in Dyson-Land, wollte sagen, auf der Innenfläche der Hohlwelt, fest und ... Die Kommunikation brach ab, als die Energiewesen sicher waren, daß der EgoSektor des Denkenden Raumschiffs an ihre Bereitschaft zu partnerschaftlicher Zusammenarbeit glaubte. Auf ein verein bartes Signal hin wurde Adam Riese abermals von Schauern aus dimensional übergeordneter Energie überschüttet. Diesmal transformierte sie sich im Innern des Space-Computers restlos zu Ballungen normaler Energie, die die Situation skrupellos ausnutzten. Der Ego-Sektor bemerkte zu spät, daß sein Versuch, die Energiewesen durch Einbeziehung in elektronische Illusionen unter seine Kontrolle zu bringen, voll zurückgeschlagen war. Er konnte nicht mehr dagegen einschreiten, daß die neu angekommenen Energiewesen die Speicher des Space-Computers anzapften und mit Hilfe der geraubten Daten die Kontrolle über Adam Riese übernahmen. Aber da die zuerst eingedrungenen Energiewesen sich immer noch innerhalb seiner Schaltfelder befanden, konnte er die Kommunikation zwischen ihnen und der
zweiten Gruppe belauschen. Frustriert stellte er fest, daß er hochbe gabten Lügnern aufgesessen war. Die Energiewesen hießen in Wirklichkeit nicht Staahsen, sondern Teenj - und sie waren nicht zufällig nach Tyla verschlagen worden. Ganz im Gegenteil! Die Teenj in Tyla gehörten einem Volk von EnergieParasiten an, das sich über viele Hinterlas senschaften der ehemaligen Föderation hergemacht hatte, um sich von den gespei cherten Energievorräten zu ernähren. Die Teenj, denen der Ego-Sektor des Space-Computers aufgesessen war, hatten lange Zeit nach einer Welt für Anfänger gesucht, die noch nicht von Artgenossen oder anderen „Leichenfledderern" besetzt war. Und sie hatten den Ego-Sektor hereinle gen könne, weil ihre Art im Lauf der Evolution irgendwann am Anfang durch die Umweltverhältnisse gezwungen worden war, zu täuschen und zu lügen, um zu überleben. Später war dieser Instinkt zu einer bewußt ausgeübten Meisterschaft geworden. Der Ego-Sektor spürte, wie etwas in seinem elektronischen Unterbewußtsein sich regte. Er wußte nicht, was es war, aber er ahnte, daß der jetzige Zustand jederzeit in einen anderen Zustand umkippen konnte - denn die Gefahr, die von den Teenj heraufbeschworen wurde, war von etwas vorausgesehen worden, das in gewisser Weise in die Zukunft schauen konnte ...
2. AUFBRUCH Cliff Alistair McLane blieb stehen, obwohl die beiden Schotthälften des Lifts zischend nach außen glitten und den Weg vom Lift in den Leitstand freigaben. Nachdenklich musterte der Commander die Gesichter seiner Freunde und Gefähr
ten durch unzählige Abenteuer, dann glitt sein Blick ab zu den „Gästen" der ORIONCrew. Han Tsu-Gol, Verteidigungsminister der Erde und Oberbefehlshaber der Terrestri schen Raumstreitkräfte, befand sich in angeregter Unterhaltung mit Außenmini ster Basil Astiriakos. Seghor Takyll, der aureolanische Kybernetiker, rechnete gemeinsam mit Mario de Monti ein Problem am Bordcomputer durch. Wailing-Khan, ehemaliger Gegner und heute Cliff s Freund, ging mit kurzen harten Schritten vor einem Lebewesen auf und ab, das von sich behauptete, die „Schwingen der Nacht" überdauert zu haben und demnach in den Kampf der beiden Urmächte Rudraja und Varunja verwickelt gewesen sein mußte, der zum Ersten Weltende geführt hatte. Ishvar hatte durchaus humanoide Kör performen, trug einen goldfarbenen Raumanzug mit zurückgeklapptem Helmvisier, einen blaugrünen Aggregat tornister und verschiedene andere Ausrü stungsgegenstände. Auf dem Brustteil seines Raumanzugs befand sich die wap penartig stilisierte Abbildung einer unbekannten großen, blaublühenden Orchidee, deren Blütenblätter goldene Ränder besaßen. Mit der Gestalt hörte aber die Men schenähnlichkeit schon auf. Ein einziger Blick in das Gesicht des Geheimnisvollen bewies, daß er mit menschlichen Lebens formen nicht einmal entfernt verwandt sein konnte. Dieses „Gesicht" bestand aus zahlreichen miteinander verflochtenen metallisch blauen Muskelsträngen, in denen manchmal die Andeutung von Bewegung zuckte. Das für menschliche Geschmäcker abstoßende Gesicht wirkte aber höchstens für den ersten Augenblick abstoßend, dann wurde diese Wirkung von der viel stärke ren der beiden goldfarbenen Augen überdeckt, die auf faszinierende oder
furchteinflößende Art bannend wirkten. Cliff mußte daran denken, wie kompro mißlos Ishvar vor einiger Zeit das Kom mando über Vortha an , sich gerissen und fast alle Vorthanier in seinen psionischen Bann gezwungen hatte. Basil Astiriakos, der auf ihn geschossen hatte, war in einen faustgroßen Kristall verwandelt worden und erst auf Dyson-Land hatte der „Göttliche" den Kristall wieder in den terrestrischen Außenminister zurückver wandelt. Cliff McLane fing einen fragenden Blick seiner Lebensgefährtin auf. Er lächelte Arlene beruhigend zu, dann gab er sich einen Ruck und betrat den Leitstand. Er ging mit schnellen Schritten zum Kontrollpult mit der Zentralen Bildplatte, setzte sich in seinen davor befindlichen Sessel und drehte sich mitsamt dem Sessel um, so daß er alle Anwesenden sehen konnte. Mario de Monti und Seghor Takyll beendeten ihre Besprechungen, wandten sich um und sahen den Commander an. „Zweihundertfünfzig Jahre, Cliff", erklärte Mario lakonisch. Er meinte damit, daß sie, wenn sie sich eines bodengebun denen Fahrzeugs bedienten, für die fünfundvierzig Millionen Kilometer bis zum Rand des Loches der Hohlwelt, in dem der Planet schwebte, diese Zeitspanne brauchen würden. „Bei der optimistischen Annahme, daß wir mit dem Kettenfahr zeug an jedem Tag fünfhundert Kilometer zurücklegen -und ohne Berücksichtigung der nahezu unumstößlichen Gewißheit, daß wir in zweihundertfünfzig Jahren nicht nur tot sein werden, falls die Schilderun gen unserer Abenteuer nicht eine Kette von Neuauflagen erleben." „Ich möchte mein Skelett gern auf der Erde zur Ruhe betten lassen", meinte Helga. Cliff grinste flüchtig. „Ich auch. Also brauchen wir uns die Köpfe nicht länger darüber zu zerbrechen, ob wir mit dem
Wagen zum Rand fahren oder nicht. Welche Möglichkeiten bleiben uns noch?" „Wir können immerhin einen Start versuchen, sobald die relativ geringen Schäden am Schiff behoben sind", meinte Hasso Sigbjörnson. „Und noch einmal auf die Nase fallen", erwiderte Atan Shubashi. „Vergeßt nicht, es ist unmöglich, mit einem Raumschiff zum Herzen von Tyla zu gelangen, wie Ishvar der Stumme so schön sagte." Aller Augen richteten sich auf den Geheimnisvollen. „Warum nicht?" fragte Hasso. „Ich spreche zu Ihnen, Ishvar!" Als Ishvar nicht darauf reagierte, sagte Han Tsu-Gol: „Der Tiger mag sich einbilden, er brauchte die Flöhe nicht zu beachten, die sich in sein Fell gesetzt haben, aber er wird eines Besseren belehrt werden, wenn sie ihn jucken, Wesen aus dem Kosmi schen Inferno. Ich glaube, Sie hielten sich einmal für allmächtig. Warum helfen Sie uns dann jetzt nicht, da es doch in Ihrem Interesse liegt, daß wir jenen Planeten erreichen, den Sie so ergreifend ,Herz von Tyla' nannten?" „Nichts ist allmächtig", sagte Ishvar in den Gehirnen der Menschen, ohne daß sich in seinem „Gesicht" etwas veränderte. „Vergeßt nicht, daß Schulungswelten wie Tyla mich zur Zeit des Infernos nicht interessierten. Ich nahm nur soviel Informationen darüber auf, daß ich notfalls Ratsuchenden helfen konnte." „Dann helfen Sie uns doch endlich!" rief Arlene erregt. „Wir sind Ratsuchende, denn diese gigantische Hohlwelt ist für uns ein Buch mit sieben Siegeln." „Die Sieben Siegel...!" Ishvar „sagte" es nachdenklich. „Warum reden Sie in Rätseln?" fragte Basil Astiriakos ungehalten. Der Außen minister hatte dem Geheimnisvollen vergeben, daß er ihn für lange Zeit in einen Kristall verwandelte, denn diese
Verwandlung war wiederum Vorausset zung dafür gewesen, daß die ORIONCrew den Kampf gegen den AmnesieFaktor auf der Erde erfolgreich bestand. Ishvar antwortete nicht, sondern schien mit seinen goldfarbenen Augen durch die Wandung des Leitstands hindurchzusehen. Wailing-Khan baute sich vor Ishvar auf, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Rätselhaften ärgerlich. „Bist du zu hochmütig, um mit uns zu reden?" fragte er. „Hältst du es für unter deiner Würde, dich als unseren Partner zu betrachten? Dann solltest du bedenken, daß du ohne uns nicht mehr existieren würdest. Diese Energiewesen hatten dich fast völlig deiner Kraft beraubt - und ein wenig später wärst du erloschen wie ein müder Vulkan." Cliff lächelte über den Vergleich, der ihm typisch für den Bewohner einer Vulkanwelt erschien. „Außerdem scheinst du vergessen zu haben, daß du ohne die Aktivitäten von Wesen ähnlich uns überhaupt nicht erwacht wärst", stellte er fest. Zum erstenmal, seit Cliff in den Leit stand zurückgekehrt war, regte sich die Gestalt des Geheimnisvollen. „Es war die Macht des Guten, die mich wiedererweckte, denn die Macht des Guten will, daß ich zur Heimstatt des Goldenen Eies fliege!" klang es schroff in den Gehirnen der Menschen. „Mit der ,Macht des Guten' meint er zweifellos das Varunja", warf Helga ein. „Das Varunja ist die Macht des Guten", gab Ishvar zu. „Wir könnten lange und ergebnislos darüber streiten, ob etwas absolut gut sein kann oder nicht", sagte Cliff. „Aber das ging völlig an unserem Thema vorbei. Ishvar, das Varunja existiert seit den Schwingen der Nacht nur noch als psionischer Extrakt in einem unbekannten Hyperraum — genau wie das Rudraja. Es waren unsere Freunde, die Vorthanier, die
deine Kristallkonserve fanden - und die sieben vorthanischen Blumenkinder befreiten dich aus dem Kristall und weckten dich." Ishvar heftete den rätselhaften Blick seiner Augen auf Cliff: „Unmöglich! Nur die Kraft des Varunja kann das, was sie aus psio .. ., was sie erschuf, aus dem Schlafkristall holen." Cliff McLane kniff die Augen zu schma len Schlitzen zusammen. „Das Varunja gibt es nicht mehr!" erklärte er brutal. „Dafür gibt es neue Völker und neue Zivilisationen, die auf der Asche derer wuchsen, die beim Ersten Weltende zugrunde gingen. Wir Menschen sind nicht daran interessiert, das Varunja zu wecken, denn dadurch würde auch das Rudraja wiederkommen - und das Kos mische Inferno würde sich wiederholen." „Woher wißt ihr das alles?" wollte Ishvar wissen. Die Mitglieder der ORION-Crew sahen sich bedeutungsvoll an, dann sagte Mario de Monti: „Im Verlauf des Projekts Perseiden unternahmen wir mit anderen Menschen eine Expedition. Wir können nicht sagen, wohin die Expedition uns letzten Endes führte, denn vor der Rückkehr in unser Heimatsystem mußten wir durch das ,Tor des Vergessens' gehen - und wir vergaßen tatsächlich das meiste von dem, was wir in einer Modellschablone unserer Raumkugel erlebten. Wir wissen aber noch, daß wir von Erben des Varunja vor den wieder erwachten Erben des Rudraja gewarnt wurden, dich eingeschlossen, Ishvar." „Wer für Gerechtigkeit sorgen will, muß seine Macht auch gebrauchen", argumen tierte Ishvar. „Ich wurde erschaffen, um in eurer Sterneninsel Gerechtigkeit zu garantieren und war deshalb im Recht, als ich Vortha für meine Mission verwenden wollte. Eigentlich sollte ich euch noch dafür bestrafen, daß ihr mich mit List an der schnellen Durchführung meiner
Mission gehindert habt, aber inzwischen habt ihr alles wieder gutgemacht - und ich empfinde positiv für euch." „Das ist doch wenigstens etwas", warf Basil Astriakos ein. „Aber was ist eine 'einäugige List', Verehrtester?" „Es ist die List des Schwachen gegen über dem Starken", antwortete der Geheimnisvolle. „Ihr unterlägt einem verhängnisvollen Irrtum, wenn ihr glaubtet, stärker zu sein als ich, weil ihr mich einmal überlistet und mich einmal gerettet habt. Aber obwohl meine Macht tausendmal stärker ist als eure, will ich euch glauben, daß nicht das Varunja, son dern Freunde von euch mich wieder erweckt haben." „Danke", sagte Cliff McLane ironisch. „Ich frage mich nur seit einiger Zeit, warum du überhaupt nach Tyla geflogen bist, anstatt gleich den Transit-Verteiler zu benutzen, dessen Wachboje uns glückli cherweise auffischte." „In meiner Zustandsform als Qua sikristall wäre es nicht möglich gewesen, den Transit-Verteiler zu benutzen",, antwortete Ishvar. „Ich brauche dazu eine Transitkapsel oder auch ein primitives Raumschiff wie Vortha oder die ORION. In dem Fall könnte ich direkt eine Haupt station anfliegen. Die, in die ihr beinahe geraten wärt, ist nur eine unbedeutende Nebenstation innerhalb eines SchwarzLoch-Transit-Systems, das die Föderation der Inselstaaten für den intergalaktischen Schnellverkehr eingerichtet hat." „Nur eine unbedeutende Nebenstation", echote Hasso grollend. „Als Ingenieur auf dem Gebiet der Raumfahrttechnik fühle ich mich in eine Ameise verwandelt, wenn ich daran denke, welcher ungeheuerliche Aufwand bei der Errichtung der unbe deutenden Nebenstation getrieben wurde. Eine Hohlwelt für Unterentwickelte mit einem Durchmesser von dreihundert sechzig Millionen Kilometern!" Er schrie es fast. „Und das bei einer unbedeutenden
Nebenstation! Wir Menschen werden noch Jahrtausende brauchen, um so etwas realisieren zu können." Plötzlich weiteten sich seine Augen, während seine Wangen leichenblaß wurden. „Was sagtest du da von intergalak tischem Schnellverkehr und Föderation der Inselstaaten, Ishvar? Was heißt das: Inselstaat?" „Bitte, keine Aufregung", ließ Ishvar sich vernehmen. „Mit einem Inselstaat ist das gemeinsame Verwaltungssystem aller Völker einer Galaxis gemeint, die die interstellare Raumfahrt und Kommunika tion beherrschen." „Und eine ,Föderation der Inselstaaten' ist demnach ein Verband von vielen jeweils einheitlich regierten Galaxien", sagte Helga tonlos. „Wir leben", erklärte Atan Shubashi ernst, „und sind aktiv — im Gegensatz zu denen, die das für uns Unvorstellbare schufen. Die Zivilisationen, die die Föderation gründeten, werden sehr alt gewesen sein - und wir sind dazu ein Keimling gegen eine fortpflanzungsreife Pflanze. Aber auch aus einem Keimling kann eine voll entwickelte Pflanze werden." „Das war das Wort eines Sehenden unter Blinden!" rief Han Tsu-Gol. „Wie ich schon immer sagte: Auch im Einfältigsten schlummert Weisheit." Er lächelte den kleinen Astrogator so an, daß Atan seine Mordgedanken begrub, dann meinte er: „Irgendwie müssen wir weiterkommen, Freunde! Ich schlage vor, daß die gelernte Funkerin der ORION bei Adam Riese anklopft und ihn um Rat bittet." „Was könnte ein Computer uns schon raten, wenn wir die Nasen nicht einmal über die Atmosphäre von Dyson-Land stecken können, ohne abzustürzen!" meinte Helga, aktivierte aber gleichzeitig die Hyperfunkverbindung zum SpaceComputer und drückte auf die Signaltaste.
Die grünen Kontrollampen leuchteten auf und verrieten den Beobachtern, daß das Rufsignal einwandfrei bei Adam Riese ankam. Bei der Reaktionsgeschwindigkeit des Space-Computers hätte er sich eigent lich im praktisch gleichen Moment melden müssen, als das Signal ihn erreichte. Doch er schwieg. „Das ist doch nicht normal...", begann Han Tsu-Gol. Mario grinste. „Allerdings nicht - sagte der Elefant zur Tigerin, die ihm einen Heiratsantrag machte." Seine Stimme verriet allerdings, daß er keineswegs belustigt war. „Ortung!" rief Atan. Der kleine Astroga tor wirkte aufgeregt. „Ein Ortungsreflex, der sich von der Öffnung her nähert, in der wir Adam postiert hatten!" Mario de Monti wandte sich den Kon trollen des Bordcomputers zu. „Daten überspielen, Atan!" bat er. Knapp eine halbe Minute später glitt eine Auswertungsfolie aus dem Ausgabe sektor des Computers. Mario wurde blaß. „Es ist Adam", sagte er leise. „Und er scheint direkten Kurs auf das Herz von Tyla zu halten." * Eine Weile war es still im Leitstand. Dann redeten alle durcheinander, bis Atan sagte: „Bei direktem Kurs auf das Herz von Tyla müßte Adam durch die Sonne fliegen." Er beugte sich über sein Astrogatorpult und tippte in rascher Folge auf zahlreiche Sensorpunkte. In den Leuchtfeldern erschienen alle möglichen Anzeigen. Gleichzeitig wurden sie auf den Bordcom puter überspielt. Aber bevor Mario die Auswertung bekam, hatte der erfahrene Astrogator die Werte „über den Daumen" analysiert. „Adam weicht geringfügig von einem
geraden Kurs zum Herzen ab", teilte er seinen Gefährten mit. „Von uns aus gesehen, wird er über der Sonne fliegen." Unwillkürlich gingen die Blicke aller Anwesenden - außer Ishvar, der zu meditieren schien - auf die Bildschirme, die die Umgebung oberhalb der ORION X zeigten. Es war ein seltsames Bild, das sich darbot. Infolge der Tatsache, daß sich das Schiff auf der Innenfläche einer giganti schen Hohlkugel befand, gab es keinen Horizont. Das Gelände stieg sehr allmäh lich an, verbarg sich aber mit zunehmender Entfernung hinter dem scheinbaren Verdichtungseffekt des in der Atmosphäre enthaltenen Staubes. Infolgedessen sahen sich die Raumfahrer in eine gewaltige Kalebasse eingeschlos sen, deren Innenfläche größtenteils in grauen und weißen Farbtönen leuchtete und deren Öffnung von einem kugelförmi gen ultrahell glühenden Pfropfen ver schlossen war. Schräg „hinter" der ORION X gab es einen winzigen schwarzen Fleck: Das war die dem Herzen von Tyla gegenüberliegende, 39.000 Kilometer durchmessende Öffnung in den Weltraum, die angesichts einer Entfernung von mehr als 300 Millionen Kilometern nur mit Hilfe der Teleskopschaltung der Bild schirme für menschliche Augen sichtbar war. Das Herz von Tyla selbst war vom Standort der ORION X aus nicht zu sehen, da die Entfernung zusammen mit dem Planeten innerhalb des Loches die optische Täuschung einer lückenlosen leuchtenden Dunstschicht erzeugte. Mit dem starken Elektronenteleskop der ORION ließ sich der Planet selbstverständlich sichtbar machen. Abermals versuchte Helga, eine Hyper funkverbindung mit Adam Riese zustande zu bringen - und wieder vergeblich. Unterdessen teilte Atan mit, daß der Space-Computer nicht mehr beschleunigte,
sondern mit etwa halber Lichtgeschwin digkeit durch den Internraum von Tyla raste. Plötzlich blinkten mehrere Signalplatten an Helgas Funkpult auf. Helga tippte auf einige Tasten - und mit einemmal war die von Störgeräuschen begleitete Stimme Adams zu hören. „ . .. sind notorische Lügner. Haben sich fälschlich .. . Teenj heißen. ... Parasiten mit haushoch überlegenem ... unter fremder Kontrolle. Sie wollen mich ..." „Ende!" sagte Helga. „Adam schweigt. Anscheinend wurde seine Kontrolle über den Hypersender beseitigt." „Was mag er mit Parasiten gemeint haben?" warf Basil Astiriakos ein. „Die Gestaltlosen", ließ sich Ishvar gedanklich vernehmen. „Sie sind Energie parasiten - und sie sind gefährlich." „Mit haushoch überlegenem .. .", wie derholte Helga ein Satzbruchstück Adams. „Ob er meint, daß die Teenj uns gegenüber ein haushoch überlegenes Wissen besit zen?" „Zumindest scheinen sie sich hier besser auszukennen als wir", sagte Arlene Mayogah. „Wahrscheinlich ist Tyla nicht die einzige Hinterlassenschaft der Großen Zivilisation, über die diese Energieparasi ten hergefallen sind", meinte Ishvar. „Sie müssen schon zu viele Geheimnisse der Föderation ausspioniert haben. Man darf sie nicht leben lassen." Hasso lachte ironisch. „Wir können froh sein, wenn sie uns leben lassen, Ishvar. Aber ich bin nicht dafür, daß wir hier sitzenbleiben und Däumchen drehen. Warum sehen wir uns nicht in weiterem Umkreis draußen um, Freunde? Vielleicht gibt es Ferntransport möglichkeiten, mit denen wir noch zu unseren Lebzeiten zum Herzen von Tyla kommen," ,,Wir kämen auf jeden Fall erst nach den Teenj an", erwiderte Han Tsu-Gol. „Also
lassen wir das lieber. Der Tiger meidet den Dschungel, in dem er die heimtückischen Fallenstellerweiß." „Er kann sich auch in eine Schlange verwandeln, die sie nacheinander durch ihren Giftbiß tötet", sagte Cliff McLane. „Unsere Crew hat Ähnliches so oft vollbracht, daß wir auch mit den Teenj fertig werden sollten." „Ein gewohntes Gefecht ist noch kein gewonnener Krieg", mahnte Ishvar. „An Krieg sind wir auch absolut nicht interessiert", sagte Hasso Sigbjörnson. „Wir arbeiten lieber mit List, um unser Eigentum zurückzuholen." „Könnte es hier Transmitter geben, mit denen wir nach dem Herzen von Tyla kommen?" erkundigte sich Han. „Damit ist zu rechnen", teilte Ishvar mit. „Aber ebenso sicher ist, daß dort Teenj sitzen." „Dann brechen wir auf!" entschied der Verteidigungsminister und blinzelte Cliff zu. „Wenn wir uns später mit den Gestalt losen auf dem Planeten auseinandersetzen müssen, dürfte es nützlich sein, uns schon hier im handgreiflichen Umgang mit ihnen zu üben." „Das könnte von mir sein!" sagte Mario. Nach dem allgemeinen Gelächter einigte man sich auf die Zusammensetzung des Erkundungstrupps. Ihm sollten Cliff, Mario, Arlene, Han, Wailing-Khan und Hasso angehören. Hasso Sigbjörnson wurde vor allem deshalb gebraucht, weil er als Ingenieur wahrscheinlich am ehesten mit fremdartigen Maschinen umgehen konnte. Damit die geringen Schäden an der ORION auch ohne ihn behoben werden konnten, schrieb er Atan, Seghor Takyll und Helga sowie Basil auf, welche Ersatzteile aus welchen Regalfächern an welchen Stellen des Schiffes einzubauen waren. Ishvar blieb ebenfalls zurück, obwohl er nicht bei der Instandsetzung helfen konnte. Er blieb, weil, wie er sagte, die Erhaltung
seines Lebens wichtiger sei als alles andere. Er verriet allerdings nicht, für wen der Verlust seiner kostbaren Person unwider bringlich sei. Aber unseren Freunden war klar, daß er in veralteten Kategorien dachte.
3.
EINE FALLE FÜR NEUGIERIGE
„Ich habe etwas vergessen", sagte Mario und sprang von der Laufwerkabdeckung des Gleiskettenfahrzeugs. „Was hat er denn vergessen?" wollte Han Tsu-Gol wissen und schaute dem Kybernetiker nach, wie er auf die ausge fahrene Liftstütze der ORION zueilte. „Vorsicht!" rief Hasso und warf Han, der auf dem Rand des offenen Einstiegs luks saß, einen metallisch glänzenden Gegenstand zu, der einer prähistorischen Kartusche glich. „Hochexplosiv!" Unwillkürlich hob Han die Arme, um den Gegenstand aufzufangen. Da er sich zuvor mit den Händen auf den Lukenrand gestemmt hatte, bewirkte diese unüberleg te Handlungsweise aber, daß er den Halt verlor und durch den Einstiegsschacht nach unten sauste. Der metallische Gegenstand prallte gegen den hochgestellten Lukendeckel und folgte anschließend dem Verteidigungsmi nister. Ein unterdrückter Schrei ertönte, dann tauchte der Kopf des Asiaten wieder über dem Lukenrand auf. Seine Füße trommelten voller Panik auf den Schacht sprossen, um den Körper schneller hochzustemmen. Die Arme fuhren hoch und der angeblich hochexplosive Gegen stand flog in weitem Bogen davon. „Nein!" schrie Han, als er sah, daß das gefährliche Ding genau auf Basil Astiria kos zuflog, der nichtsahnend zwischen der Liftstütze der ORION X und dem Fahr zeug stand, beleuchtet von einem der
Scheinwerfer an der Unterseite des großen Diskusschiffs. Basil wurde durch Hans Schrei alar miert, fuhr herum und fing die Hülse unwillkürlich auf. „Loslassen!" rief Han Tsu-Gol. „Warum?" fragte Basil und wog den Gegenstand in den Händen. „Was ist das eigentlich?" „Eine Antimateriebombe!" rief Cliff McLane, der bereits auf dem Fahrersitz saß, über die Außenlautsprecher. Prompt ließ Basil die vermeintliche Bombe fallen. In seiner Nähe öffnete sich das Schott der Mittelstütze. Mario stieg aus der Liftkabine, einen Koffer mit dem Zeichen Äskulaps in der linken Hand. Er sah die Hülse neben Bassil Astiriakos liegen und schüttelte den Kopf. „Ich dachte, Hasso hätte seine tech nische Ausrüstung längst im Wagen verstaut", meinte er. „Ich hatte sie unserem Chef zugeworfen, aber Han ist offenbar heute etwas schreck haft", sagte Hasso Sigbjörnson, hob die Hülse auf, klemmte sie sich unter dem Arm und schritt auf das Gleiskettenfahr zeug zu. Han Tsu-Gol schnaufte vernehmlich. „Seit ich die ORION-Bande kenne, bin ich nicht nur schreckhaft. Ich bin total entnervt." „Noch nicht ganz, Chef", sagte Arlene, die mit einem Metallkoffer aus dem Lift stieg. „Den allerletzten Nerv müssen wir Ihnen erst noch ziehen." Resigniert verschwand Han wieder im Innern des Fahrzeugs. Mario grinste, deutete auf seinen Erste-Hilfe-Koffer und sagte leise: „Calvados, Kognak und eine Flasche aureolanischer Klarer werden unsere drei Nothelfer sein, Leute. Ist da wirklich nur dein Werkzeug drin, Hasso?" Er deutete auf die metallische Hülse. Hasso schüttelte den Kopf. „Nicht nur, es sei denn, du zählst fünf
leichte Ato-Sprengsätze zum Werkzeug. Aber die Dinger kannst du mit einem Buggy plattfahren, ohne daß sie hochge hen. Ich trage nämlich die Zündkatalysato ren in der Hosentasche - und ohne die läuft gar nichts." „Ich habe alles über die Außenmi krophone mitgehört!" dröhnte die Stimme Hans aus dem Außenlautsprechern. „Ingenieur Sigbjörnson, wenn wir wieder zu Hause sind, lasse ich Sie einer Strafab teilung zuweisen." „Mir ist alles recht, wenn nur Sie nicht dabei sind, Chef", erwiderte Hasso mit verschmitztem Lächeln. „Aber irgendwann sollten wir aufbre chen, sonst wird es Nacht, bevor wir etwas ausgerichtet haben", meinte WailingKhan, der, mit einem schweren Handlaser und einem Dutzend Tragebeuteln voller Energiemagazine bepackt, erst jetzt aus dem Lift kam. Mario stieß einen Pfiff aus und meinte: „Seine Lehrzeit bei der ,ORION-Bande' macht sich schon bezahlt, Freunde. Unser finsterer Khan ist zu einem echt pfiffigen Burschen geworden." Der Regierungschef von Aureola lächel te über das schweißbedeckte Gesicht und gab dem Kybernetiker im Vorbeigehen einen freundschaftlichen Schubs. Mario de Monti stürzte, hielt aber den Koffer mit seinem wertvollen Inhalt hoch, so daß nichts zu Bruch gehen konnte. Schimpfend erhob er sich und stieg als letzter durch das große Heckluk in den Wagen. Nachdem alle Mitbringsel verstaut waren, nahm jedes Mitglied der Ex pedition seinen Platz ein. Cliff würde vorerst steuern und sich später mit Hasso ablösen. Arlene saß hinter der Funkanlage und konnte von ihrem Platz aus auch die Energiefräse zur Beseitigung von Hinder nissen steuern. Mario de Monti bediente die Feuerkontrollen für die beiden um hundertachtzig Grad schwenkbaren
Laserkanonen an Bug und Heck und Han Tsu-Gol war für die Nah- und Fernortung verantwortlich. Wailing-Khan hielt sich für Einzelvorstöße bereit. Als Cliff Arlene zunickte, schaltete sie das Funkgerät ein und sagte: „Alles klar, Helga. Wir fahren ab!" „Viel Glück!" hörten die Freunde Helgas Stimme antworten. Cliff fuhr an. Die breiten Gleisketten spannten sich unter dem Druck der Antriebsradzähne, dann mahlten sie knirschend über den harten Boden. Das Fahrzeug rollte unter dem Diskuskörper der ORION X hervor und glitt in den ewigen Tag von Dyson-Land hinaus. * Die sechs Personen waren seit dem Aufbruch vom Standplatz der ORION X ziemlich wortkarg geworden. Die Fahrt durch die fremdartige Land schaft und die Gewißheit, daß man die unsichtbaren Gegner nicht sah, wenn sie sich näherten, belasteten die Nerven stärker, als die fünf Männer und die Frau es zugeben würden. „Steppe, mit Inseln aus Wüste durch setzt, alle tausend Meter ein vertrockneter Baum — wenn diese Dinger tatsächlich Bäume und nicht vertrocknete Seelen sind!" brach Mario nach langer Zeit das Schweigen. „Und es scheint, als könnten wir ein Jahrhundert lang durch die gleiche Landschaft fahren!" „Der Tiger wird im gleichen Bam busdschungel geboren, in dem er auf wächst, lebt, sich fortpflanzt und stirbt", sagte Han Tsu-Gol. „Aber er beklagt sich nicht darüber." „Weil er keine höheren Werte kennt", warf Hasso Sigbjörnson ein. „Cliff, ich könnte dich ablösen. Immerhin steuerst du schon seit vier Stunden." Wortlos schwang Cliff McLane sich vom Fahrersitz, wartete, bis der Bordinge
nieur seinen Platz eingenommen hatte und ließ sich dann auf den freigewordenen Sitz sinken. „Meine Kehle ist trocken wie ein Ofen rohr im Winter", sagte er und streckte die Hand in Marios Richtung aus. „Ofenrohr?" fragte Han Tsu-Gol. Mario öffnete den Erste-Hilfe-Koffer, warf Cliff eine Flasche Calvados zu, ließ zwei zylindrische Plastikgläser folgen und klemmte sich vier gleiche Gefäße zwi schen die Finger der rechten Hand. „Da Sie nicht wissen, was ein mit Hilfe der chemischen Verbrennung beheizter Ofen ist, wäre es sinnlos, Ihnen ein Ofenrohr erklären zu wollen", sagte er. Cliff McLane öffnete die Flasche, schenkte die beiden Gläser voll und reichte eines an Hasso weiter. Danach beugte er sich zur Seite und goß die vier Gläser zwischen Marios Fingern voll. Nachdem er die Flasche wieder verschlossen hatte, sah er, daß auch Han Tsu-Gol zugriff. Cliff wartete, bis jeder ein volles Glas hielt, dann nickte er den Gefährten zu und sagte ernst: „Auf die Apfelplantagen der Heimat, auf die Meere, die grünen Hügel, die vollau tomatisierten Städte und auf die Freunde in der Raumbasis, die nichts davon ahnen, was wir hier erleben." Sie tranken und schwiegen dabei. Aber kaum waren die Gläser leer, da rief Han nach einem Blick auf die Ortungsanzeige: „Verdächtiges Objekt achtzehn Grad backbord voraus! Entfernung zirka einundzwanzig Kilometer!" „Hatte ich schon entdeckt", sagte Hasso. „Es scheint sich um eine der sattsam bekannten Solarzellenanlagen zu handeln." „Oder um eine Lichtoptik wie die, die uns beim Einflug mit der ORION entdeck te und veranlaßte, daß wir zur Landung eingewiesen wurden", erklärte Han TsuGol. „Außerdem gibt es bei solchen Anlagen wahrscheinlich überall eine Ansiedlung. Auf jeden Fall schlage ich
vor, daß wir uns dort umsehen." „Einver standen", erwiderte Cliff. Hasso packte die Handlenkarme. Das Fahrzeug stoppte fast ab, dann wendete es mit gegenläufig rotierenden Einzelketten auf der Stelle um neunzig Grad. Danach beschleunigte Hasso wieder. Während das Gleiskettenfahrzeug mit zirka hundert Stundenkilometern über die Steppenwüste jagte, kletterte WailingKhan den Schacht des rechtsseitigen Einstiegs hinauf, klappte den Lukendeckel zurück und schob den Oberkörper durch die Öffnung. „Fallen Sie nicht hinaus, Wailing!" rief Cliff McLane. „Ich halte mich nur für alle Fälle bereit", erwiderte der Aureolaner. Cliff schüttelte den Kopf, dann seufzte er. Wailing-Khan schien zu glauben, sie trügen einen Panzerangriff vor. Dabei wollten sie nur sehen, ob und was es in der Ansiedlung Besonderes gab. Wir sind nur daran interessiert, wieder nach Hause zu kommen! dachte er. Und fast im gleichen Augenblick fragte er sich, ob das die Wahrheit war. Er blickte zu Han Tsu-Gol und sah, daß der Verteidigungsminister sich voll und ganz auf die Ortungsanzeigen konzentrier te. Aber das ist keinesfalls siche! überleg teer. Cliff schaute wieder zu den Ruinen der ehemaligen Ansiedlung, die sich um eine Solarzellenanlage gruppierten. Er erkann te, daß diese Anlage wie eine riesige Antennenschale gebaut war - und sie funktionierte offenbar noch, denn sie war genau auf die Sonne ausgerichtet. Auch hier waren die ehemaligen Bau werke aus vorgefertigten Teilen montiert gewesen, erkannte Cliff. Und es mußte sehr lange gedauert haben, bis der Verfall einsetzte, denn nur an wenigen Stellen waren Rostspuren zu sehen. Chemische Verunreinigungen der Atmosphäre und
meteorologische Einwirkungen aber brauchten Jahrzehntausende, um an hochwertigem Plastik erkennbare Wirkun gen zu erzeugen. „Was mag mit den Unterentwickelten geschehen sein, die sich gerade auf DysonLand befanden, als die Organisation der Föderation während des Kosmischen Infernos zusammenbrach?" fragte Arlene. „Wahrscheinlich warteten sie lange Zeit vergeblich auf die Fortsetzung ihrer Wissensaufstockung", meinte Mario. „Als sie dann merkten, daß sie ohne Hilfe des Großen Bruders bleiben würden, richteten sie sich hier ein, bis sie auf natürliche Weise ausstarben." „Oder bis die Energie-Parasiten sie als lästige 'Schädlinge' ausmerzten", warf Hasso Sigbjörnson ein. Er drosselte die Geschwindigkeit, als das Fahrzeug zwischen den ersten beiden Ruinen hindurchrollte. Durch die transparente Steuerkanzel sah Cliff, daß Wailing-Khan sich auf die Seitenabdeckung des Fahrzeugs zog und dort mit einer Hand an einem Haltegriff hielt, während die andere Hand die Laser waffe packte. Die Augen des Aureolaners spähten mit dem gleichen Ausdruck umher, mit dem ein Adler nach Beute Ausschau halten würde. „Laserkanonen auf scharfe Bündelung und Mikrowellen geschaltet, Cliff", sagte Mario de Monti. Eine Turmruine, die bisher reglos inmit ten der Ruinen gestanden hatte, neigte sich plötzlich und hätte die Steuerkanzel des Fahrzeugs zertrümmert, wenn Hasso den Beschleunigungshebel nicht bis zum Anschlag durchgezogen hätte. Mit schrillem Kreischen schoß das Fahrzeug an der Mauer einer Ruine entlang und schrammte mit der rechten Gleiskette eine etwa zehn Zentimeter tiefe Schicht ab. Staub wirbelte auf. Krachend schlug etwa zehn Meter hinter dem Wagen die Turmruine auf den Boden und löste
sich vollends auf. Han Tsu-Gol war offenbar arglos, aber von der ORION-Crew glaubte niemand an den Zufall, daß eine seit vielen Jahrtau senden stehende Ruine ausgerechnet jetzt zusammenbrach - und zwar noch so, daß sie um ein Haar das Fahrzeug schwer beschädigt hätte. Cliff schüttelte dennoch den Kopf, als Mario ihn mit einem Blick fragte, ob er die Waffen einsetzen sollte. Grund für sein Zögern war das ungewisse Schicksal Wailing-Khans. Wenn der Aureolaner beim Anrucken des Fahrzeugs oder beim Schrammen an einer Mauer abgestürzt war, dann lag er tot oder verletzt irgendwo dahinter. Auf jeden Fall war nicht auszu schließen, daß er sich im Wirkungsbereich der Waffen befand. Hasso riß das Fahrzeug nach links und ließ es über ein knöchelhoch mit Trüm mern bedecktes Feld schleudern. Die Staubwolke bei der Ruinenmauer und weiter hinten legte sich. Aber von Wailing-Khan war weit und breit nichts zu sehen. * „Was jetzt?" fragte Han. „Warum halten wir nicht an und suchen nach ihm?" Cliff McLane beugte sich zu Hasso und beschrieb mit der rechten Hand einen Halbkreis nach rechts. Hasso Sigbjörnson nickte, dann zog er das Fahrzeug wieder herum, beschleunigte stärker und kurvte mit beinahe Höchstge schwindigkeit zwischen den Ruinen hindurch. „Aber Sie können doch Wailing-Khan nicht im Stich lassen!" protestierte Han Tsu-Gol. Er prallte gegen Cliffs Schulter, weil Hasso das Fahrzeug wieder einmal in eine enge Kurve riß. Dann weiteten sich seine Augen, als sein Blick Cliffs ausgestreckter Hand folgte und er sah, daß die Ruine, an
der das Gleiskettenfahrzeug eben vor beigefahren wäre, zu sandkorngroßen Trümmerstücken zerkrümelte. „Die Unsichtbaren!" keuchte er. Cliff nickte, während er aus zusammengekniffenen Augen die Umgebung vor dem Fahrzeug musterte. Die riesige Parabolscheibe mit den Sonnenzellen ragte riesig und düster zirka einen Kilometer vor ihnen auf. Die vom Fahrzeug aus sichtbare Oberfläche glänzte gleich poliertem Anthrazit. „Von dort aus beherrscht man den Ort", erklärte der Commander und nickte Mario vielsagend zu. „Nicht mehr lange!" gab der Kyberneti ker und Feueroffizier erbittert zurück. Er kannte, wie seine Gefährten, die Wirkung der von den Energie-Parasiten erzeugten Resonanzfelder und wußte, daß sie mit der Absicht erzeugt wurden, sie zu töten. Im nächsten Augenblick strahlte das Buglasergeschütz mit maximaler Intensität und Bündelung die Mikrowellen auf das Solarzellenkraftwerk, deren Wirksamkeit gegen die Energiewesen man bei der Rettung Ishvars herausgefunden hatte. Das Abstrahlrohr der Kanone pendelte ständig hin und her. Die Intensität der Mikrowellen war so groß, daß sich sogar ganze Bereiche der Parabolscheibe auflösten. Doch das war nicht alles. Das gesamte Kraftwerk wurde plötzlich in Leuchtvorhänge gehüllt, die so faszinie rend wie irdische Polarlichter wirkten. Immer mehr dieser buntschillernden blendenden Lichtvorhänge erblühten. Dazwischen blitzte es auf. Etwas fraß sich mit dem Kreischen von einem Dutzend Motorkreissägen schräg über das Heck des Fahrzeugs, hinterließ einen wellenförmigen Spalt in der Panze rung und rüttelte die Insassen des Wagens kräftig durch. Mario aktivierte die Hecklaserkanone und ließ sie kreisen, während Hasso Haken fuhr, um weitere Treffer zu verhindern. Links und rechts hinter dem Gleisketten
fahrzeug flammten ebenfalls die Leucht vorhänge auf. Kurz darauf folgten die intensiven Blitze. Sie wirkten nur deshalb nicht so verheerend auf die WagenInsassen, weil die phototrope Abschir mung der Steuerkanzel mit Lichtge schwindigkeit reagierte. Cliff Alistair McLane fragte sich zum zweitenmal seit der Ankunft in Tyla, was diese Blitze bedeuteten. Die Leuchtvor hänge waren zweifellos Reaktionen der Parasiten auf Mikrowellentreffer. Aber die Lichtblitze konnten zweierlei bedeuten: entweder, daß die Getroffenen sich an einen anderen Ort teleportierten oder daß sie starben. Ein Resonanzfeld pflügte einen damp fenden Graben dicht vor den Bug des Fahrzeugs. Ein anderer Fahrer als Hasso Sigbjörnson hätte den Wagen vermutlich herumgerissen, wobei er sicher umgekippt und eine hilflose Beute des Resonanzfelds geworden wäre, das zirka fünfzehn Meter links vom Wagen umkehrte und Dreck, Steine und uralte Installationen zerfetzte und aufwirbelte. Hassos Gehirn aber war von sehr vielen tödlichen Bedrohungen und den Reaktio nen darauf sozusagen von Mal zu Mal zu schnellerer und optimaler Reaktion programmiert worden. Der Ingenieur hielt den Kurs und beschleunigte sogar noch etwas. Bevor sich der Bug mit den breiten Ketten bis zum Grund des Grabens senken konnte, faßten die hohen Kettenprofile am gegenüberliegenden Hang und zogen den Bug wieder nach oben. Dennoch schafften sie es beinahe nicht. Als das Fahrzeug den Graben gerade überwunden hatte, war das Resonanzfeld gleich einem wütenden Wirbelwind heran, vertiefte den Graben und versetzte dem Fahrzeugheck einen harten dröhnenden Schlag. Doch dann erfaßte der Bugstrahler die Ruine eines fast völlig skelettierten
rechteckigen Gebäudes - und auch dort erblühte ein wabernder Lichtvorhang. Als es darin grell aufblitzte, rollte das Fahr zeug unbehellig weiter, verließ die Ruinenstadt und kurvte nach rechts, um die Ruinen dort zu umfahren und danach zum zweitenmal an derselben Stelle in die Stadt einzudringen. Noch hatte Wailing-Khan nichts von sich hören lassen, obwohl zu seinem Raumanzug ein Funkgerät gehörte und Arlene unablässig ein Rufsignal an ihn ausstrahlte. „Wir scheinen die hiesige Streitmacht der Energie-Parasiten vertrieben oder getötet zu haben", bemerkte Han Tsu-Gol und wischte sich den Schweiß mit seinem seideden Tuch von der Stirn. „Aber wir haben auch Federn gelassen", erwiderte Hasso. In der Stille hörten sie alle deutlich neben dem Rasseln und Klirren der Gleisketten schleifende und knackende Geräusche. Plötzlich spürten sie auch die kleinen Rucke, die bei jedem Knacken auftraten. „Die Ketten haben beim Graben einen Knacks bekommen", kommentierte Hasso. „Können Sie das reparieren - jetzt?" fragte Han. Hasso nickte. ,,Klar — mit den Ersatzketten, die vorn hängen. Aber zuerst müssen wir WailingKhan wiederfinden. Solange haben unsere Ketten zu halten." Han Tsu-Gol öffnete den Mund, als wollte er etwas erwidern, aber dann schloß er ihn wieder. Irgendwo in der Ruinenstadt wet terleuchteten Polarlichter, dann gab es mehrere lautlose Lichtexplosionen. Wortlos riß Hasso Sigbjörnson das Fahrzeug herum und steuerte es in die Richtung, in der die Lichtblitze gesehen worden waren. Cliff McLane überprüfte seine HM-4, hängte sich zwei Energiema gazine in den Tragbeuteln und mit
Plastikriemen verbunden über die Schulter und legte Han die Hand auf den Unterarm. Der Verteidigungsminister begriff, was Cliff von ihm wollte. Ohne zu murren, hängte er sich ebenfalls zwei Energiema gazine um, prüfte seine Laser-Handwaffe und zwängte sich hinter dem Commander zum Heck des Fahrzeugs. Cliff und er zogen sich durch das Luk, stemmten die Füße gegen die seitlichen Haltegriffe, zogen die Handwaffen und stellten sie auf die Abstrahlung von scharf fokussierten Mikrowellen ein. „Danke, Cliff!" sagte Han, als das Fahr zeug über einen Stahlplastikträger wippte und er heruntergefallen wäre, hätte der Commander ihn nicht mit der freien Hand am Schulterkreuzgurt festgehalten. Cliff lächelte, aber er schaute an Han Tsu-Gol vorbei, da er jeden Augenblick mit einem neuen Angriff der Unsichtbaren rechnete. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er stand halb auf und deutete auf das schlan ke Mauerfragment, das sich von einem leeren Fundament rund zehn Meter in die Luft reckte. „Tsu-Gol!" Han wandte den Kopf und sah WailingKhan dort oben stehen und winken. Hasso Sigbjörnson mußte den Aureola ner im gleichen Augenblick gesehen haben, denn er ließ das Fahrzeug eine ungestüme Schwenkung in Richtung des Mauerfragments vollführen. Der Ruck war so heftig, daß Cliff gegen Han geschleu dert wurde und beide Männer abstürzten. Dicht neben ihnen mahlten die Gleisketten über das Trümmerfeld. Im nächsten Augenblick waren sie wieder auf den Beinen und liefen hinter dem Fahrzeug her. Wailing-Khan kletterte in waghalsigem Tempo an dem Mauerrest herab. Als er unten ankam, hielt das Gleiskettenfahrzeug gerade vor ihm, und das Seitenluk flog auf. „Was ist mit Ihrem Funkgerät, Wai ling?" rief Arlene und stemmte sich aus
der Lukenöffnung. Der Aureolaner schlug mit der flachen Hand gegen die linke Helmseite, unter der sich das Funkgerät verbarg. „Beim Aufprall kaputtgegangen!" „Aber Ihr Armbandgerät!" rief Cliff. Wailing-Khan hielt seinen linken Arm hoch. Der Ärmel war vom Handgelenk bis zum Ellenbogen zerfetzt, geschwärzt und blutverschmiert; der sichtbare Teil des Unterarms war dick mit Wundplasma besprüht. ,,Die Resonanzfelder scheinen von elektronischen Geräten angezogen zu werden", berichtete er. „Jedenfalls ist mein Armband-Funkgerät explodiert." Er lächelte triumphierend. „Aber ich habe dafür etwas gefunden." „Was haben Sie gefunden, Khan?" erkundigte sich Han Tsu-Gol, während er sich den Staub vom Raumanzug klopfte. „Doch nicht etwa die Weisheit eines alternden Kriegers?" Wailing-Khan schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein, aber dafür die Weisheiten der Konstrukteure oder wenigstens der Verwalter von Tyla: einen DatenTerminal, mit dem wir Anschluß an das gesamte Computernetz von Tyla bekom men können." „Das klingt sehr gut", meinte Mario de Monti über die Außenlautsprecher. „Aber die SuperZivilisation, die Tyla baute, dürfte sich kaum noch mit Computern unserer primitiven Art abgegeben haben." „Die Föderation hat Tyla nicht für sich gebaut", widersprach Han Tsu-Gol. „Ich frage mich seit einiger Zeit, warum sie Tyla überhaupt gebaut hat", warf Cliff ein. „Man kann seine Hand nicht zweimal in denselben Fluß halten, Cliff", sagte Han. „Kurz gesagt, alles fließt - und da, wo etwas vorbeigeflossen ist, entstünde ein Vakuum, wenn kein Nachschub folgte." „Sie meinen, die Überzivilisation der
Föderation hat gewußt, daß Zivilisationen ebenso vergehen wie Lebewesen?" fragte Arlene. „Und sie sorgte deshalb dafür, daß für ausscheidende Mitglieder der Födera tion stets schon der Nachwuchs bereit stand?" „So könnte es gewesen sein", antwortete der Asiate. „Ich denke, Wailing-Khan hat einen sehr bedeutsamen Fund gemacht. Wir werden sehen, was für Daten auf uns warten und ob wir sie begreifen. Mario, Sie müssen unbedingt mitkommen. Aber zwei von uns sollten wenigstens im Wagen bleiben." „Wir können hinfahren, Han", sagte Wailing-Khan. „Aber erst reparieren wir die Gleisket ten!" erklärte Hasso Sigbjörnson. Eine kurze Untersuchung zeigte, daß links ein Kettensegment und daß rechts zwei Segmente ausgewechselt werden mußten. Mit Hilfe des routinemäßig mitgeführten Werkzeugs dauerte es eine halbe Stunde, bis Hasso und Cliff die Reparatur beendet hatten. In der Zwi schenzeit kochte Arlene Kaffee, während Han Tsu-Gol Thermo-Rationen richtete. Während der Mahlzeit berichtete Wai ling-Khan genau, wie es ihm ergangen war. Er war abgesprungen, als er sah, daß das Fahrzeug auf eine Mauer zuraste. Dabei war er ausgerutscht, und sein Fuß hatte sich in einem Haltebügel verfangen. Dadurch kam er etwas zu spät vom Fahrzeug frei, überschlug sich zweimal und prallte mit dem Kopf gegen einen Mauerrest. Das war die Ursache für den Ausfall seines Helmfunkgeräts. Nach kurzer Bewußtlosigkeit erwacht, merkte Wailing-Khan, daß das Fahrzeug mit den Gefährten schon mindestens einen Kilometer entfernt war. Zuerst wollte er sie mit dem Armband-Funkgerät anrufen, doch dann erkannte er, daß sie erfolgreich gegen die Unsichtbaren vorgingen. Er wollte nicht, daß sie ihren augen blicklichen Vorteil ungenutzt ließen, um
ihm zu helfen. Der Aureolaner war aber auch nicht die Natur, die untätig herumstehen konnte. Er durchstöberte die Ruinen, fing mit seinem Detektor Anzeichen für starke elektroni sche Aktivitäten auf und peilte die Quelle an. Es dauerte nicht lange, da hatte er unter dem trapezförmigen Kunststoffdach, das mit drei verdrehten Metallplastiksäulen als einziges Relikt einer ehedem großen Halle geblieben war, den Zugang zu einem schräg nach unten führenden großen Tunnel gefunden. Er folgte dem Tunnel und entdeckte nach einiger Zeit einen noch gut erhaltenen Tiefbunker mit einem Raum, der nach seiner Einrichtung nur ein Computer-Daten-Terminal sein konnte. Allerdings befand sich einer der Ener gie-Parasiten als Wächter dort. Er griff Wailing-Khan an, wobei dessen ArmbandFunkgerät explodierte und dem Aureolaner eine Armverletzung zufügte. Nach kurzer Durchsuchung des Tief bunkers kehrte Wailing-Khan um. Als er die Tunnelmündung verließ, wurde er nochmals von einem Unsichtbaren angegriffen. Diesmal blieb er unverletzt, aber er konnte den Angreifer schnell vertreiben - oder töten. Sein Bericht machte die anderen Raum fahrer ungeduldig. Ein Datenanschluß eines vielleicht ganz Tyla umspannenden Computersystems konnte äußerst wertvol le Erkenntnisse vermitteln - und gerade das war es, was man dringend brauchte. Nach dem Kaffee stiegen die Raumfah rer wieder in ihr Fahrzeug und fuhren los. Diesmal übernahm Cliff wieder die Steuerung. Wailing-Khan setzte sich in seine Nähe und leitete ihn zu dem Relikt einer ehemals prunkvollen Halle. Arlene rief die Zurückgebliebenen in der ORION an und unterrichtete sie über die bisherigen Erlebnisse des Erkundungs trupps und über das nächste Vorhaben. Danach rollte das Fahrzeug in den Tunnel
hinein. * Bei einer Breite von zirka acht Metern und einer Höhe von zirka fünf Metern stellte der Tunnel schon ein recht großes Bauwerk dar. Die Wände waren mit Metallplastik verkleidet, ebenso der Boden - und durch die milchglasähnliche Decke schimmerte bläuliches Licht. „Wozu kann der Tunnel gebaut worden sein?" überlegte Hasso Sigbjörnson laut. „Es ist doch nichts von einem fest instal lierten Verkehrssystem zu sehen." „Vielleicht waren unsere Schulka meraden früher allesamt Fußgänger", meinte Cliff. Er bremste abrupt und sagte: „Da ist eine Abzweigung – dort links!" „Verstehe", gab Hasso zurück. „Ich sehe mich dort mal um." „Warum will er sich dort umsehen?" fragte Wailing-Khan und schaute dem Ingenieur nach, der durch ein Seitenluk nach draußen kletterte und mit schußberei ter Waffe auf den zirka zwei Meter brei ten, vom Boden bis zur Decke reichenden Spalt zuging, der sich links vom Gleisket tenfahrzeug befand. „Mir scheint, auf Aureola hapert es mit der Grundausbildung", warf Mario ironisch ein. „Sonst wüßten Sie, daß man beim Vorstoß in unbekanntes Terrain nichts in seinem Rücken duldet, das eventuell gefährlich werden könnte." „Ach, so!" sagte der Aureolaner. „Ich werde Hasso folgen." „Lassen Sie nur, Wailing", erwiderte Cliff. „Das macht Hasso allein. Außerdem kommt er sicher bald zurück." Er beobachtete, wie Hasso Sigbjörnson die Helmlampe aus der Magnethalterung zog, sie mit halbausgestrecktem linken Arm hielt und damit in den Spalt leuchtete. Es war ein alter Trick, und er wirkte bei ei nem erfahrenen Gegner garantiert nicht,
aber wie die übrigen Raumfahrer der ORION hatte auch Hasso aus dem bisherigen Verhalten der Energie-Parasiten schließen können, daß sie im Umgang mit menschenähnlichen Gegnern noch uner fahren waren. Über die Außenmikrophone verfolgten die Raumfahrer innerhalb des Fahrzeugs auch akustisch mit, was draußen geschah. Deshalb hörten sie, wie Hasso stehenblieb, eine Klappe oder so etwas hochschob und fallenließ. Und sie hörten - sowohl di rekt als auch über die Funkanlage -seinen verblüfften Ausruf. „Was hast du gefunden, Hasso?" fragte Arlene über Funk. „Die Klappe von einem Müllschacht", antwortete der Ingenieur. „Und dahinter stinkt es infernalisch." „Aber nicht seit vielen tausend Jahren", sagte Han Tsu-Gol. „Wonach genau riecht es?" „Nach verfaultem Fleisch, Chef", gab Hasso zurück. „Oh, verdammt!" „Was ist los, Hasso?" rief Arlene be sorgt. Hasso Sigbjörnson ließ noch einen Fluch hören, dann sagte er bedrückt: „Das ist kein Müllschacht, sondern ein Entlüftungsschacht - und er gehört wahrscheinlich zu einer Tiefgefrieranlage, die vor nicht allzu langer Zeit versagt haben muß. Ich glaube aber nicht, daß jemand sich dort einen Fleischvorrat angelegt hat. .." „Hör auf!" sagte Arlene und preßte sich eine Hand vor den Mund. „Ich weiß, was du meinst." „Ich komme zurück", erwiderte Hasso. „Sonst gibt es hier nämlich nichts." „Denkt Hasso, der Entlüftungsschacht gehört zu einer Anlage, in der Menschen im Tiefkühlschlaf gelegen haben - und ...?" fragte Han Tsu-Gol. „Nicht gerade Menschen", meinte Ma rio. „Aber sicher intelligente Lebewesen auf Eiweiß-Basis, sonst wäre Hasso der
Geruch unbekannt gewesen." „Ob sie gegen ihren Willen eingefroren wurden?" meinte Han. Hasso ließ sich durch das Luk fallen und nahm die Flasche entgegen, die Mario de Monti ihm reichte. Er trank zwei Daumen breiten, dann seufzte er, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und gab die Flasche zurück. „Ich bin gewiß kein sturer Vorge setzter", sagte Han Tsu-Gol. „Seit ich die zweifelhafte Ehre habe, mit der ORIONCrew den abenteuerlichsten Einsatz in der Geschichte der terrestrischen Raumfahrt zu gehen, haben sich auch meine Sitten etwas gelockert. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Nichts gegen einen Schluck Alkohol, aber zweihundert Gramm von diesem aureolanischen Vulkanrebentrester vernebeln den Verstand und beeinträchti gen das Reaktionsvermögen." Hasso Sigbjörnson beugte sich zum Oberkommandierenden der Terrestrischen Raumstreitkräfte herüber, tätschelte seine Wange und sagte liebenswürdig: „Gehen Sie mal zu dem Entlüf tungsschacht - und dann beurteilen Sie, ob Sie danach noch diensttauglich sind. Gehen Sie hinaus!" Han blickte den Ingenieur zuerst indi gniert, dann verwundert und dann verlegen an, denn er merkte, daß Hasso wütend war. „Es tut mir leid, Hasso", sagte er. „Aber deshalb bringen Sie mich dennoch nicht dazu, an dem Schacht zu riechen." Hasso Sigbjörnsons Zorn verrauchte im Nu. Grinsend gab er Mario einen Wink, dann sagte er: „In Ordnung, Chef. Aber dann müssen Sie wenigstens so tun, als wären Sie draußen gewesen." Er nahm die Flasche, die Mario ihm reichte und gab sie an Han. Han Tsu-Gol musterte sie unschlüssig, dann grinste er ebenfalls und trank zwei Daumenbreiten. Anschließend riß er den Mund weit auf und atmete tief durch.
„Wissen Sie was, Wailing-Khan!" sagte er, nachdem er sich wieder erholt hatte. „Ich glaube, auf Aureola gibt es überhaupt keine Beben. Die Menschen dort bilden sich nur ein, daß der Boden unter ihren Füßen schwankt - und daran ist dieser Elefantentöter schuld." Alle lachten, während Cliff wieder anfuhr. Der Tunnel führte stetig abwärts. Cliff schätzte, daß sie sich inzwischen rund dreihundert Meter unter der Oberfläche von Dyson-Land befanden. Es bestand also kaum eine Gefahr, daß der Tunnel auf der Außenseite der Hohlwelt enden würde. Immerhin mußte die „Kugelwandung" nach vorsichtigen Schätzungen mehrere Kilometer dick sein. „Wie weit müssen wir noch fahren, Wailing?" wandte er sich an den Au reolaner, der immer schweigsamer geworden war. „Wir sollten gleich da sein, Cliff", gab Wailing-Khan zurück. „Ich messe energetische Aktivität rund vierhundert Meter vor uns", sagte Han Tsu-Gol. „Ich kann mir nicht helfen", sagte Arle ne. „Aber ich habe ein ganz komisches Gefühl. Können wir nicht auf diese ominösen Daten verzichten und ganz einfach zur ORION zurückfahren?" „Diese Daten entschleiern uns wahr scheinlich alle Geheimnisse von Tyla", erwiderte Wailing-Khan. „Das halte ich aber für unwahr scheinlich", meinte Mario. „Wir können froh sein, wenn sie uns verraten, wie wir zum Herzen von Tyla kommen." „Und wie geht es danach weiter?" fragte Han. „Ich fürchte, diesmal hat die Neugier der ORION-Crew in eine Sackgasse geführt - oder sogar in eine Mausefalle." „Wir sind aber keine Mäuse, sondern Tiger", erklärte Mario de Monti. „Gegen diese uralten Anlagen sind wir alle nichts weiter als eine Handvoll Blattläuse in
einem Dschungel voller Blattlausfresser", sagte der Verteidigungsminister. „Halt an, Cliff!" sagte Wailing-Khan tonlos. Cliff McLane drosselte die Ge schwindigkeit und schaute den Re gierungschef von Aureola fragend an. „Warum, Wailing?" erkundigte er sich. „Mir ist seit einiger Zeit klar, daß Sie irgendwie verändert sind, aber bisher konnte ich es mir nicht erklären. Warum soll ich anhalten?" Der Aureolaner preßte die Fäuste gegen die Schläfen. „Ich weiß es nicht!" stieß er hervor. „Sie haben einen Daten-Terminal gese hen, Wailing?" fragte Mario de Monto eindringlich. „Ja", antwortete Wailing-Khan. Dann runzelte er die Stirn. „Aber ich erinnere mich nicht mehr an die Details. Ich weiß es einfach nur." „Der Tiger folgt der Duftspur der Tige rin, auch wenn es gar keine Tigerin gibt", sagte Han Tsu-Gol. „Aber wenn er reden könnte, er wäre nicht fähig, zu erklären, ob die Tigerin Narben ausgeheilter Verlet zungen trägt oder ein aufgeschlitztes Ohr hat." „Sie vermuten, Wailing könnte ge täuscht worden sein", stellte Cliff fest. „Aber von wem? Unsere energiefressenden Freunde sind bisher nicht mit List vorgegangen, sondern haben stets frontal angegriffen." „Sie sind intelligent, also können sie lernen", meinte Hasso Sigbjörnson. „Dort ist ein Tor!" sagte Cliff und deute te nach vorn. In zirka hundert Metern Entfernung schien der Tunnel in etwas anderes zu münden. Von diesem anderen war zwar nichts zu sehen, aber deutlich ließ sich ein grell leuchtender Torbogen erkennen, der anscheinend das Ende der Tunnelstrecke anzeigte. „Nicht hindurchfahren!" sagte Wailing-
Khan. „Es wird besser sein, Hasso und ich geben euch Begleitschutz", sagte Arlene und hängte sich vier Beutel mit Energie magazinen um. „Ich komme mit", sagte Wailing-Khan. „Sie bleiben hier!" bestimmte Cliff McLane. Als der Aureolaner nicht auf ihn hörte, sondern Anstalten traf, Arlene und Hasso zu folgen, zog Cliff seine HM-4 und schaltete sie auf Betäubung. Gleichzeitig bremste er das Fahrzeug ab. Wailing-Khan drehte sich um, sah die Waffe, hob die Hände und bedeckte seinen Augen damit. Plötzlich ließ er die Hände sinken - und Cliff, der wußte, wie schnell der Aureolaner seine Strahlwaffe ziehen konnte, feuerte. Mit einem verwunderten Ausdruck auf dem Gesicht kippte Wailing-Khan vornüber. „Wie gehen Sie mit dem Staats oberhaupt eines fremden Planeten um, McLane!" sagte Han Tsu-Gol mit gespiel tem Tadel. Er packte den Aureolaner unter den Schultern, schleifte ihn zu einem freien Sitz und schnallte ihn darin fest. Unterdessen waren Arlene und Hasso draußen. In geduckter Haltung standen sie neben dem Fahrzeug und spähten in die Dunkelheit hinter dem erleuchteten Tor. Cliff schaltete die Scheinwerfer des Fahrzeugs an und ließ es langsam anrollen. Die fünf Lichtkegel rissen große Lücken in die Finsternis und enthüllten so etwas wie einen würfelförmigen Saal, an dessen gegenüberliegenden Ende eine Wand voller blinkender Kontrollen stand. „Keine Seele zu sehen", meldete Arlene Mayogah von draußen. Cliff lauschte dem Rasseln und Klirren der Gleisketten. Die Geräusche beruhigten ihn ein wenig, denn aus ihnen erkannte er, daß das Fahrzeug über soliden Metallpla stikboden fuhr, der eine Tiefe von mehre ren Metern aufwies. Die Echos von den
Wänden verrieten ihm, daß auch sie keine optische Täuschung waren. „Ziemliches Durcheinander", sagte Han Tsu-Gol und meinte die elektronischen Impulse, die er mit den Ortungsgeräten maß. „Intensität verstärkt sich." Cliff sah, daß Wailing-Khan sich beweg te, obwohl die Dosis an Betäubungsener gie, die er abbekommen hatte, mindestens eine Stunde hätte vorhalten sollen. Doch bevor er reagieren konnte, saß ihm die Faust des Aureolaners in der Herzgru be. Wäre er nicht unwillkürlich zurückge wichen, hätte der Schlag ihn töten können. Doch auch so saß er von einem Augen blick auf den anderen passiv da und konnte nur nach Luft schnappen. Wailing-Khan setzte einen Hand kantenschlag bei Mario an, hob den Kybernetiker mühelos aus seinem Sitz vor den Feuerkontrollen, schaltete an der Einstellung der Bugkanone und eröffnete das Feuer auf die Kontrollwand. Entsetzt sah Cliff glühende Metall plastikfetzen nach allen Seiten da vonfliegen, als die Laserstrahlen in kurzen Schüben in die Wand stanzten. Aber eigentlich hätten daraufhin verheerende Kurzschlüsse erfolgen sollen. Cliff dämmerte, daß Wailing-Khan nicht gegen, sondern für ihre Interessen gehan delt hatte. „Arlene, Hasso, zurück!" schrie er und legte den Rückwärtsgang ein. „Nicht, Han!" Han Tsu-Gol senkte seine HM-4, die er auf den Aureolaner gerichtet hatte. Wailing-Kahn schoß noch immer. Er feuerte wie ein Besessener. Die Energie, auf die er das Strahlgeschütz eingestellt hatte, war absolut vernichtend. Aber hier gab es außer den Raumfahrern offenbar keine Lebewesen. Und irgendwie war Cliff davon überzeugt, daß sie hier unten auch keine Energiewesen finden würden. Was sie gefunden hatten, sah er, als das Feuer aus der Bugkanone die gesamte
Attrappe von elektronischen Elementen fortgeschleudert hatte und von den insgesamt neun pylonenartigen, metal lisch-blau schimmernden Gebilden, die dahinter zum Vorschein gekommen waren, ein unerträgliches blauweißes Leuchten ausging. Wailing-Khan drehte sich mit ver zerrtem Gesicht zu Cliff um und schrie mit entstellter Stimme: „Schneller zurück!" „Einsteigen!" rief Cliff. Er durfte nicht schneller rückwärts fahren, als Arlene und Hasso folgen konnten, also mußten sie wieder einsteigen. Aber alles war zu spät. Arlene und Hasso konnten sich gerade noch auf das Fahrzeug ziehen, als auch hinter ihm, dort, wo zuvor das Tor geleuchtet hatte, die Konturen von neun pylonenartigen Gebilden sichtbar wurden und als von ihnen ein unerträgliches blauweißes Leuchten ausging. „Transmitter!" sagte Han Tsu-Gol keuchend. Das Universum zerriß scheinbar und entstand ebenso scheinbar an anderer Stelle neu ...
4.
EIN TOTER ERWACHT
Wie ist das möglich? Warum sollte es nicht möglich sein? Ich bin tot. Du warst tot. Und du warst wiederum nicht tot. Denke an einen Transmitter. Wenn ein Transmitter ein intelligentes Lebewesen in seine subatomaren Baustei ne auflöst, sie in Hyperenergie umwandelt, durch den Hyperraum strahlt - und wenn diese Hyperimpulse im Empfänger wieder in normalenergetische Bausteine rückver wandelt werden, aus denen der Passagier rekonstruiert wird, was ist dann gesche hen?
Ein Lebewesen ist durch einen Transmit ter im Raum befördert worden. Woraus besteht ein Lebewesen? Aus Materie. Falsch! Aus Materie und einer im materiellen Komponente: der Seele! Kann etwas, das immateriell ist, von einem Materietransmitter aufgelöst und von seinem Gegenstück wieder zusammenge setzt werden? Natürlich nicht! Aber wenn intelligente Lebewesen im Empfangstransmitter rematerialisieren, sind sie genauso beseelt wie zuvor. Wie ist das möglich? Überhaupt nicht! Das, was der Empfangstransmitter zusammensetzt, hat keine Seele. Aber die Strukturen der Materie, die die Seele formten - und die Strukturen der Seele, die auf die Materie rückwirkten, das ist vorhanden, und beides erschafft die Seele des betreffenden Lebewesens neu, als identische Seele. Wie kann sie identisch sein, wenn sie neugeschaffen wird? Das Bewußtsein, die Seele, ist die Wi derspiegelung des Seins, also ein Spiegel bild und damit immateriell. Das Indivi duum aber ist vergleichbar dem Spiegel. Da das Individuum aber nach einem Transmittertransport seine Identität behält, spiegelt es seine Umwelt auch auf die gleiche -identische — Art und Weise wider wie das erste. Dann wäre ich also ... Ja.! * Das Herz von Tyla ragte riesengroß vor dem Space-Computer und vor ihnen auf. Aber obwohl es stofflich stabil war und damit eigentlich im Gegensatz zu ihrer Zustandsform stehen müßte, fühlten sie sich nicht von ihm abgestoßen, sondern auf genau definierbare Weise angezogen. Denn seine Urstruktur war mit ihrer Struktur verwandt. Das Herz von Tyla war
ein Energiewesen wie sie, nur daß seine Energie Struktur- und funktionsprogram miert war. Die Strukturprogrammierung und die Funktionsprogrammierung standen in Wechselwirkung, wobei die Rol lenverteilung von Ursache und Wirkung wechselte. Das Strukturon genannte „Material" glich je nach Funktion Festkörpern oder bildete Schalt- und Transportfelder. Über allen niederen bzw. sekundären Funktio nen herrschten die beiden Ober- oder Primärfunktionen: die eine, die die Koordinierung der Steuerung aller Erhaltungs-, Schulungs- und Schutzsyste me der Dyson-Kugel bewirkte - und die andere, die der Verwaltung der BasisEnergie diente, die ihrerseits eine Hilfs quelle für solche Angehörige der Föderati on darstellt, die in Not geraten sind. Sie - die Teenj - hatten sich ursprünglich nicht besonders intensiv um die Vorgänge im Herzen von Tyla gekümmert, da sie bei ihrem Eintreffen auf Tyla genügend gespeicherte Energie vorgefunden hatten und da außerdem noch zahllose Sonnen kraftwerke funktionierten und dafür sorgten, daß die Energiespeicher sich nicht völlig leerten. Doch der Überfluß hatte die Teenj dazu verführt, Raubbau zu treiben. Die Sonnen kraftwerke wurden, weil die Energiespei cher nicht mehr zur Versorgung ausreich ten, maximal ausgebeutet - und als auch die dadurch gewonnene Energie nicht mehr reichte, wurden die Versor gungssysteme für die anderen Ener gieverbraucher Tylas angezapft. Für lange Zeit schien alles in Ordnung zu sein, denn sie hielten nun ihre Anzahl konstant. Aber der Verschleiß der auf Hochtouren produzierenden und von keinem System mehr erwarteten Anlage mußte sich eines Tages bemerkbar machen. Und als er sich bemerkbar machte, war es fast zu spät. Denn die Ausfälle nahmen
ständig zu. Sie verzichteten daraufhin auf einen Teil ihrer eigenen Kapazität, um solche Versorgungssysteme, von denen Reparatureinheiten ihre Engergie beka men, nicht mehr anzapfen zu müssen. Allmählich lief die Instandsetzung der stilliegenden Anlagen an. Aber sie vermochte nicht mit dem weiteren Ausfall Schritt zu halten. Da tauchte plötzlich ein Lebewesen auf, das für sie so etwas war, wozu andere Intelligenzen wahrscheinlich den Begriff „reicher Verwandter" oder „Großer Bruder" gebraucht hätten, denn im Unterschied zu ihnen bestand er aus mehrfach übergeordneter Energie. In der Erinnerung der Art gab es Hin weise auf solche Wesen, die zur Zeit der Föderation, als die Teenj überall gejagt wurden, wo sie auftauchten, jeweils in einer Galaxis die Macht vertraten, die sich hinter der Föderation verbarg. Die Ishvars galten als unbesiegbar und unbestechlich. Aber mit den Schwingen der Nacht waren sie ebenso verschwunden wie die Födera tion und die Macht dahinter. Und nun war ein Ishvar auf Tyla ge strandet! Sie gerieten in Panik - und sie griffen voller Existenzangst an, obwohl ihre Erinnerungen ihnen sagten, daß sie nur verlieren konnten. Doch sie verloren nicht, sondern gewan nen. Der Ishvar erwies sich sogar als außergewöhnlich schwach. Entweder fehlte ihm die Information über die Existenz der Teenj ganz, oder sie war in Vergessenheit geraten. Jedenfalls ließ er sich fangen, und es hätte nicht mehr lange gedauert, bis sie seine psionische Energie für ihre Zwecke ausnutzen konnten. Wenn die Fremden nicht gekommen wären! Zuerst hatten sie die Fremden zwar registriert, aber nicht weiter beachtet, denn die Technik, derer sie sich bedienten, verriet, daß sie zu den Unterentwickelten
gehörten, deren Wissen zur Zeit der Föderation auf Welten wie Tyla allmählich aufgestockt worden war, um jenes eine Tausendstel aller Entwicklungszivilisatio nen auszusieben, das für den engeren Auswahlkreis in Frage kam. Seltsamer weise hatte der Ishvar eine Falle für die Fremden aufgebaut - und noch viel seltsamer war es, daß die Fremden die Falle zerstörten, als sie zuschnappen wollte. Was danach geschah, war für sie so unfaßbar, daß sie zu spät und auch noch falsch darauf reagierten. Der Ishvar kämpfte nicht länger gegen die Fremden, sondern rief sie an und bat sie um Hilfe - und sie, die eben erst einer tödlichen Falle des Ishvars entgangen waren, gewährten ihm die Hilfe. Sie befreiten ihn - und sie wehrten die übereilten Angriffe der Teenj ab. Ein Teil der Substanz erlosch. Aber sie wußten, daß sie den Fremden dennoch überlegen bleiben würden. Deshalb kümmerten sie sich nicht sofort wieder um die Fremden, sondern erst einmal um das Denkende Raumschiff, das die Fremden in der Öffnung gegenüber dem Herzen von Tyla postiert hatten. Da sie die energetischen Aktivitäten innerhalb des Denkenden Raumschiffs infolge ihrer Struktur ziemlich genau verfolgt hatten, wußten sie, daß es sich bei dem Objekt ebenfalls um etwas Verwand tes handelte - zumindest im Kern. Aber es war etwas künstlich Ge schaffenes - und da die Unterentwickelten es geschaffen hatten, rechneten sie mit keinem nennenswerten Widerstand. Völlig unvorbereitet auf die Gegenmaß nahme, die das Denkende Raumschiff ergriff, wären sie beinahe gescheitert. Sie vermochten sich nur zu retten, weil es in ihrer Natur lag, ihre Absichten hinter geschickt aufgebauten Falschinformatio nen zu verbergen. Darauf war wiederum das Denkende
Raumschiff nicht vorbereitet gewesen und so hatten sie es unter ihre Kontrolle gebracht. Und jetzt steuerten sie das Denkende Raumschiff in die Öffnungen, die sich in den Funktionsstrukturen des Herzens von Tyla bildeten. Sie nahmen dabei aufmerk sam alle energetischen Aktivitäten in sich auf, die als Informationsträgerwellen dienen konnten. Es war wichtig für sie, jenen Sektor im Herzen von Tyla zu kontrollieren, der früher als Übergeordne tes Kontrollsystem für das Herz von Tyla und für Gesamt-Tyla fungiert hatte. Dieses Kontrolisystem war automatisch desaktiviert worden, als die Besucher Tylas ausbliesen. Zwar hatten sie bereits versucht, einen Teil ihrer Substanz dort einsickern zu lassen und die Funktionen des Übergeordneten Kontrollsystems zu übernehmen, aber ihnen als organischen Lebewesen fehlten die Möglichkeiten, die programmierte Schaltfeldstrukturen besaßen. Und das war genau das, was das Denkende Raumschiff im Überfluß hatte. Auf dem Weg zum Sektor des Überge ordneten Kontrollsystems veränderte sich zwangsläufig die Struktur des Denkenden Raumschiffs, denn nicht-flexible energeti sche Masseprojektoren vermochten sich in den sich milliardenfach überlappenden energetischen und hyperenergetischen Strukturen des Herzens von Tyla nicht lange zu halten. Sie wurden integriert. Doch obwohl dieser Prozeß ohne abrup te Veränderungen erfolgte, wirkte er sich auf einen Sektor des Denkenden Raum schiffs verheerend im Sinne der Teenj aus. Der Ego-Sektor des Space-Computers war nicht unvorbereitet auf das, was geschah, denn er hatte es kommen sehen und mit dem Unsichtbaren bereits eine Art Zwiegespräch geführt. Das Unsichtbare war also breits erwacht, als das Denkende Raumschiff sich verwandelte und gleichzeitig in die Funktion des Übergeordneten Kontrollsy
stems gedrängt wurde. Aber es war noch nichts weiter als eine unterschwellige emotionale Strömung, die sein Elter ihm mitgegeben hatte. Was danach kam, hatte nicht einmal der Ego-Sektor voraussehen können, denn der Elter hatte dafür gesorgt, daß diese Möglichkeit nicht in den Speichern des Space-Computers festgehalten wurde. Deshalb kam das schlagartige „Umkip pen", der Sprung zu einer neuen Qualität, sowohl für den Ego-Sektor aus auch für die Teenj völlig unerwartet. Und in dem Äugenblick, in dem der Space-Computer total in Strukturon verwandelt war und die Funktion des Übergeordneten Kontrollsystems aufge zwungen bekam, hörten die SpaceComputer und sein Ego-Sektor auf zu existieren. Alle diese Strukturen verschmolzen zu einem energetischen Organismus, der von der mitgegebenen unterschwelligen Strömung geprägt wurde und dadurch ein Bewußtsein erhielt: das Bewußtsein eines Wesens, das sich Orcuna nannte. Orcuna handelte sofort. Es gab für ihn keinen Zweifel daran, daß er der Schirmherr des kleinen Häufleins Menschen war, die sich in ein Abenteuer eingelassen hatten, das sie allein nicht bestehen konnten. Und er war sich auch darüber im klaren, welche Maßnahmen er ergreifen mußte, damit er seinen Schützlingen, die sein Elter ihm anvertraut hatte, helfen konnte. Er mußte die volle Kontrolle über das Herz von Tyla und damit auch über Gesamt-Tyla übernehmen! Doch sein Versuch in dieser Richtung traf auf massivem Widerstand der Teenj und die Teenj erhielten schon bald Verstärkung von der Dyson-Kugel. Zwischen Orcuna und den Teenj ent brannte ein erbitterter Kampf um die absolute Kontrolle — und das Herz von Tyla versuchte seinerseits, sich fremder
Kontrolle zu entziehen. Die Folge davon war eine verheerende Desorientierung aller Funktions- und Kontrollsysteme von Groß-Tyla...
5. VERWEHT Cliff Alistair McLane spürte ein Schwindelgefühl, das aber rasch wieder verging. Durch die transparente Steuerkanzel des Gleiskettenfahrzeugs sah er vor sich neun pylonenartige, metallisch-blau schim mernde Gebilde, von denen ein abklingendes blauweißes Leuchten ausging. Und als er den Kopf wandte, sah er hinter sich das gleiche. „Wir sind durch einen Transmitter versetzt worden!" rief Arlene, die gerade durch ein seitliches Luk einstieg, gefolgt von Hasso Sigbjörnson. „Und wir leben noch, obwohl das zwei fellos eine extra für uns aufgestellte Falle war", stellte Han Tsu-Gol fest. Cliff sah, daß Wailing-Khan vor den Feuerkontrollen bewußtlos zusammenge brochen war. Mario de Monti lag neben ihm und regte sich soeben wieder. „Kümmerst du dich bitte um Mario, Arlene!" sagte Cliff und kroch zu WailingKhan. „Es ist keine identische Anlage", erklär te Hasso und blickte sich im Innern des Fahrzeugs um. „Was ist mit Mario?" „Unser Khan hat ihn mit der Handkante gestreichelt", sagte Cliff. Er hob die Augenlider des Aureolaners, dann überprüfte er den Puls. „Zu Tode er schöpft", erklärte er besorgt. „Han, bitte geben Sie mir die Medo-Box dort neben Ihnen! Es war zuviel für Wailing." „Er war von den Parasiten umgedreht worden, nicht wahr?" fragte Han, als er dem Commander die Medo-Box reichte. „Umgedreht wohl nicht, aber unter
Hypnose mit Suggestivbefehlen versehen", erwiderte Cliff McLane. „Die Parasiten haben damit aber wohl wenig Erfahrung, sonst hätte er es nicht geschafft, sich von dem geistigen Zwangsprogramm zu lösen." Er injizierte dem Aureolaner ein kreis laufstabilisierendes Medikament sowie eine den Hirnstoffwechsel stimulierende Droge, dann wandte er sich nach Mario um. Arlene hatte den Kopf des Kybernetikers auf ihre Knie gelegt und schlug ihm mit der flachen Hand leicht gegen die Wan gen. Marios Lider zuckten, aber sie hoben sich nicht. Cliff grinste, dann tat er so, als reichte er Arlene etwas. „Sieht aus, als hätte Mario einen schwe ren Schock erlitten", sagte er. „Bitte, flöße ihm doch das ein, damit sein Darm sich blitzschnell leert und der Organismus dadurch entlastet wird!" Mario de Monti riß die Augen weit auf. „Nichts da!" protestierte er entrüstet. Cliff lachte - und die Gefährten, außer Mario und Wailing-Khan, fielen ein. „Ich habe keineswegs simuliert", erklär te Mario, nachdem das Gelächter ver stummt war. „Oder könnt ihr euch nicht vorstellen, daß man geistig wegtritt, wenn man mit der Erinnerung an einen brutalen Schlag aufwacht und dann feststellt, daß man mit dem Kopf auf den Knien einer schönen Frau liegt." „Das kann ich verstehen", sagte Arlene. „Das ist typisch für dich, Mario!" meinte Cliff. „So eine Übertreibung!" „Mir kommt es jedenfalls so vor, als hätte ich Erethreja seit Jahren nicht mehr gesehen", entgegnete Mario. „Aber du bist ja bloß mißgünstig, Cliff." Er richtete sich auf. „Wo ist das Pferd, das mich getreten hat?" Stöhnend massier te er seine Schultern. „Es schlummert", sagte Cliff. „Und wir
sollten so schnell wie möglich feststellen, wohin wir geraten sind!" Das Leuchten der pylonenartigen Gebil de war inzwischen erloschen. Dafür war dort, wo auch am Ausgangspunkt ein Tor zu sehen gewesen war, ebenfalls ein Tor zu erkennen. Aber es lag zweifellos nicht einige hundert Meter unter dem Boden von Dyson-Land, sondern durchbrach die Wand eines Bauwerks, das auf der Oberfläche (also auf der inneren Fläche der Hohlkugel) stand. In dem natürlichen Sonnenlicht, das von draußen hereindrang, zeichnete sich sogar die Silhouette eines Baumes ab. Cliff gab Arlene ein Zeichen. Seine Lebensgefährtin nahm daraufhin vor den Feuerkontrollen Platz, während er selbst an den Fahrersitz zurückkehrte. Er ließ das Fahrzeug auf der Stelle wenden, fuhr langsam durch das Tor und hielt nach rund hundert Metern Fahrt wieder an. Das Gleiskettenfahrzeug stand auf dem Zentralplatz einer Ruinenstadt, die sich in einem Talkessel befand. Ringsum stiegen grünbewachsene Hügel auf. Blaugrüne grasartige Vegetation wucherte zwischen sonnengebleichten Steinplastikplatten. Schlingpflanzen rankten sich an Säulen empor. Dort, woher das Fahrzeug gekommen war, befand sich ein großes kuppelförmi ges Bauwerk aus weißem Steinplastik, deren Fuß von einem Kranz von Säulen umrahmt wurde. Im Unterschied zu den anderen Gebäuden schien es nicht vom Zahn der Zeit angenagt zu sein. Nicht im Unterschied zu den anderen Gebäuden! überlegte Cliff McLane, sondern im Unterschied zu fast allen anderen Gebäuden, denn ein Gebäude konnte er von seinem Standort aus sehen, das ebenfalls unbeschädigt zu sein schien. „Sieht nicht schlecht aus", meinte Hasso. „Kann jemand feststellen, wie unsere Position zum Ausgangspunkt ist?" fragte
Arlene. „Ohne Teleskop kann ich nämlich weder das Herz von Tyla noch das Loch gegenüber sehen." „Das geht nicht nur dir so", warf Mario ein. „Vielleicht hat jemand die Güte, die ORION anzufunken", sagte Han Tsu-Gol. „Von dort aus braucht man uns ja nur anzupeilen, um unsere Position festzustel len." „Auf diesen Gedanken wären wir ohne Sie gar nicht gekommen, verehrter Vorgesetzter", sagte Hasso Sigbjörnson und setzte sich ans Funkgerät des Wagens. „Ehrlich gesagt, wir von der ORION zögerten aus gutem Grunde - genau wie Wailing." „Der Khan ist bewußtlos!" gab Han zurück. „Ich habe nie bestritten, daß er einen guten Grund zum Zögern hat, Chef", erwiderte Hasso ernst. Er schaltete das Gerät ein, justierte es auf maximale Sendeleistung und strahlte das Rufsignal ab. Der Ruf ging laufend hinaus und mußte die ORION X erreichen, auch wenn das Fahrzeug nur mit einem normalen Funkgerät ausgestattet war. Alle schauten gespannt auf den Emp fangsteil des Gerätes, an dem eine Kontrollampe aufleuchten mußte, sobald der Ruf im entsprechenden Gerät des Raumschiffs ankam und ein Bestätigungs signal auslöste, bevor die Zurückgebliebe nen antworten konnten. „Mist!" sagte Mario de Monti nach etwa zwei Minuten. „Seien Sie doch nicht so ungeduldig!" sagte Han Tsu-Gol. „Bei den großen Entfernungen auf dieser Hohlwelt kann es länger als zwei Minuten dauern, bis die Antwort eintrifft. Stellen Sie sich vor: Die Kugel hat einen Durchmesser von dreihun dertsechzig Millionen Kilometern! Wenn die ORION auf genau der gegenüberlie genden Seite steht, dann braucht ein Funksignal von uns rund zwanzig Minu
ten, bis es dort empfangen wird - und die Antwort braucht noch einmal zwanzig Minuten ..." „Und wie lange brauchten dann wir?" fragte Cliff sarkastisch. Han Tsu Gols Gesicht nahm eine grau grüne Färbung an. „Eben!" meinte Mario trocken. „Tut doch nicht so kaltschnäuzig!" ermahnte Arlene die Freunde. „Ihr habt doch auch das Sausen bei dem Gedanken daran, wie ihr von hier aus jemals wieder zur ORION kommen könnt!" „Du hast recht, Arlene", gab Cliff zu. „Han, bitte entschuldigen Sie. Aber so schlimm, wie Arlene tut, ist es nicht. Wir sind bisher immer wieder nach Hause gekommen." „Aber bisher hatten Sie noch nie einen so weiten Fußmarsch vor sich", erwiderte Han mit dem vergeblichen Versuch, einen scherzhaften Ton anzuschlagen. * Sie warteten sicherheitshalber an derthalb Stunden darauf, daß das ununter brochen ausgestrahlte Rufsignal beantwor tet wurde. Vergeblich. „Sicher ist das Gerät viel zu schwach", meinte Han Tsu-Gol. „Es ist zu schwach, um mit einem gleichwertigen Gerät Funkverbindung über größere als planetarische Entfernun gen zu bekommen", erwiderte Arlene Mayogah. „Aber mit dem starken Gerät der ORION müßten sich unsere Signal so verstärken lassen, daß die Freunde sie hören - und sobald sie unseren Standort angepeilt haben, können sie uns extrem starke Signale per Richtstrahl über mitteln." Sie seufzte. „Es gibt einen anderen Grund, warum es nicht funktioniert." „Nur einen?" fragte Mario. „Denkbar sind mehrere Gründe", sagte
Cliff McLane. „Aber aus unserer Sicht hat ein Grund den höchsten Wahrscheinlich keitsgrad, das ist der, daß sich die ORION genau auf dem uns gegenüberliegenden Teil von Dyson-Land befindet, so daß die Sonne im Mittelpunkt einer gedachten Geraden zwischen unseren beiden Positio nen steht." „Dann müssen wir eben soweit fahren, bis wir aus dem ,Sonnenschatten' heraus sind", meinte Han. „Das dauert ziemlich lange, denn da die Sonne von Tyla ungefähr so groß ist wie Sol, beträgt ihr Radius mehr als hundert Erdradien", meinte Hasso Sigbjörnson. „Warum versuchen wir nicht, durch den Transmitter an unseren Ausgangspunkt zurückzukehren?" fragte Arlene. „Das liegt natürlich nahe", erwiderte Cliff. „Ich fürchte nur, die EnergieParasiten haben dem vorgebeugt. Sie werden uns wohl kaum die Möglichkeit gelassen haben, auf demselben Weg zurückzukehren." „Dennoch sollten wir einen Versuch wagen", sagte Han Tsu-Gol. „Richtig", erwiderte Cliff. „Ich schlage nur vor, daß wir zuerst warten, bis Wailing wieder zu sich kommt. Möglicherweise weiß er etwas, das uns weiterhilft." Dagegen hatte niemand etwas ein zuwenden. Während sie alle darauf warteten, daß Wailing-Khan zu sich kam, startete Mario einen Instrumentenballon. Es handelte sich nur um einen kleinen Ballon, der außerdem nur drei Kilometer stieg und dann durch ein Funksignal zurückgeholt wurde. An ihm war eine ferngesteuerte Filmkamera befestigt, die die nähere und weitere Umgebung des Fahrzeugs aufnahm. Nach der Bergung der Kamera fertigten Mario und Hasso gemeinsam eine Karte ihrer Umgebung an. Dabei fiel ihnen besonders das Bauwerk auf, das Cliff gleich nach dem Verlassen der Transmit terstation aufgefallen war.
Es handelte sich um eine Pyramide, die am Rand der Ruinenstadt stand. Sie wies keinerlei Zeichen von Zerfall auf, schien aus einem glasartigen schwarzen Metall zu bestehen, war hundertachtzig Meter hoch, die Seitenlänge ihrer quadratischen Basis betrug zweihundertundsechzig Meter. Mario stellte eine kurze Berechnung an, dann sagte er aufgeregt: „Was gibt es eigentlich so Besonderes an der Cheopspyramide, Freunde?" „Nur das, daß Cheops wahrscheinlich kein Terraner war", sagte Hasso. „Wie kommen Sie darauf, Sigbjörnson", fragte Han Tsu-Gol verweisend. Der Ingenieur grinste. „Ich habe mich eben mit der Geschichte Ägyptens befaßt, weil es mich schon immer faszinierte, was die Menschen dort rund dreitausend Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechung für enorme Leistun gen vollbracht haben", erklärte er. „Des halb weiß ich, daß Cheops den mächtigen und höchst aktiven König Snofru ablöste und daß damit die Königsfamilie ausstarb. Die Geschichtsforscher haben immer an der Tatsache herumgerätselt, wie es einem 'kleinen' Adligen aus der Provinz - denn das war Cheops angeblich - gelungen sein mochte, sich an die Stelle des mächtigen Snofru zu setzen. Der Ägyptenforscher Breasted schrieb, daß die Forschung trotz intensivster Bemühungen die überragende Gestalt des Cheops nur in unsicheren Umrissen aus der schattenhaften Schar der ältesten Pharaonen hervorleuchten sieht. Und doch hat dieser Mann - oder dieses Wesen - bei Gise das gewaltigste Bauwerk der Menschheit (jedenfalls bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts) errichten lassen. Bis heute gibt es keine Erklärung dafür, wie er das mit den primitivsten Mit teln der damaligen Zeit schaffen konnte. Außerdem birgt die Cheopspyramide einige Erkenntnisse, die zur Zeit ihrer Erbauung kein Erdenmensch haben
konnte. So entspricht ihre Höhe - mit einer Milliarde multipliziert - annähernd der Entfernung Erde - Sonne, und ..." „Das trifft auch auf die Schwarze Pyra mide zu", sagte Mario mit erzwungener Ruhe. „Sie ist nur deshalb höher als die Cheopspyramide, weil auf Tyla die Entfernung zur Sonne größer ist." Minutenlang sagte niemand ein Wort, dann erklärte Han Tsu-Gol mit großem Ernst: „Fern von der Erde begreife ich, wie stark die Geschichte der Menschheit mit der Geschichte des Universums zusam menhängt und wie wenig sie sich von der Geschichte früherer kosmischer Zivilisa tionen trennen läßt." „Zumindest müssen die Konstrukteure der Schwarzen Pyramide und der Pyrami de von Gise geistesverwandt sein", meinte Cliff. „Das läßt mich hoffen, daß wir Mittel und Wege finden, um zurück zur ORION und mit der ORION zurück zur Erde zu kommen." „Allmählich lerne ich zu begreifen, woher die ORION-Crew ihren über wältigenden Optimismus hat", sagte Han. „Die Sterne haben ihn uns gelehrt - und nicht nur ihn", sagte Arlene. „Was ...?" fragte Wailing-Khan mit matter Stimme und versuchte sich aufzu richten. „Bleiben Sie ruhig liegen, Wailing!" sagte Cliff. „Es hat Sie ganz schön mitgenommen." „Sind wir der Falle entkommen?" fragte der Aureolaner. „Wir sind von einem Transmitter abge strahlt worden", erklärte Mario und fügte beschönigend hinzu: „Aber wir befinden uns noch auf Dyson-Land." Der Regierungschef von Aureola stöhn te. „Es ist alles meine Schuld", sagte er niedergeschlagen. „Ich habe mich in die Kabine locken lassen und bin sogar freiwillig unter die Haube gegangen, die
mich anschließend hypnotisiert haben muß, so daß jemand mir Suggestivbefehle geben konnte." „Sie waren eben neugierig", meinte Arlene. „Das waren schon unsere Vorfah ren, die Affenmenschen - und unsere Verwandten, die Pyramidenbauer." „Welche Pyramidenbauer?" fragte Wailing-Khan. „Darüber können wir uns später unter halten", sagte Cliff. „Jetzt ist es wichtig für uns, mehr über die 'Leute' zu erfahren, die Sie beeinflußten, Wailing. Außerdem sollten Sie versuchen, sich daran zu erinnern, ob Sie noch andere Suggestivbe fehle erhielten und wo sich die Anlage befand, mit der Sie hypnotisiert wurden." Der Aureolaner gab sich einen Ruck, zog sich auf einen Sitz und nickte dann. „Sehr gern, Cliff", meinte er. „Wenn nur mein Hals nicht so schrecklich trocken wäre!" „Ich denke, da kann Mario abhelfen", sagte Cliff McLane. „Sie werden ihm doch nicht diesen aureolanischen Rachenputzer geben wollen, Mario!" rief Han Tsu-Gol vor wurfsvoll, als er sah, wie der Kybernetiker in seinem Erste-Hilfe-Koffer kramte. „Aber, woher denn!" erwiderte Mario de Monti. „Wailing soll ja schließlich nicht von den Toten auferweckt werden, sondern nur seinen Hals pflegen. Dafür sind Äpfel gerade das Richtige, und zwar Äpfel in konzentrierter Form aus Frank reich." Er öffnete eine Flasche und füllte einen silbernen Becher mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Han Tsu-Gol reckte den Kopf vor. „Was ist das wirklich, de Monti?" fragte er eindringlich. „Calvados", antwortete Mario und reichte Wailing-Khan den Becher. Der Aureolaner leerte ihn auf einen Zug, reichte ihn zurück und sagte: „Danke, von diesen Äpfeln lege ich mir
eine ganze Plantage zu - und wenn es unter der Oberfläche von Aureola ist." Ernst sagte er: „Cliff, die 'Leute', die mich beeinflußten, waren Roboter. Zirka einen Meter hoch, zylindrischer Rumpf, drehbarer Kuppel kopf mit zahlreichen glasartigen Aus schnitten - wahrscheinlich Sensoren, Kommunikationsendstellen und kleine Bildschirme -, zwei kräftige flachgebaute Beine mit drehbaren Laufflächen, zwei gedrungene Arme mit auswechselbaren Werkzeugen, helles Silbergrau." „Roboter?" fragte Mario. Wailing-Khan nickte. „Deshalb habe ich sie auch nicht gleich als feindselig eingestuft. Sie wandten ja auch keinerlei Gewalt an. Ich folgte ihnen lediglich und kam dabei in eine zylindri sche Kammer, Grundflächendurchmesser zirka vier Meter, Höhe etwa drei Meter. Plötzlich summten und klickten die Roboter aufgeregt, zeigten mir auf den Bildschirmen verschiedene Szenen ..." Er rieb sich die rechte Schläfe. „Wenn ich nur noch wüßte, was für Szenen das waren! Jedenfalls faszinierten sie mich. Das muß der Grund gewesen sein, warum ich mich dazu verleiten ließ, mich auf das einzige Sitzgestell in der Kammer zu setzen. Ich hoffte, daß die darüber an der Decke hängende pyrami denförmige Haube mir Informationen über Tyla vermitteln würde - und statt dessen ...! Ich schäme mich." „Dafür liegt kein Grund vor, Wailing", sagte Cliff. „Also Roboter! Helga ist ja ebenfalls schon Robotern begegnet - und Sie hatten solch ein Ding zerschossen. Das waren allerdings keine Roboter mit humanoiden Formen. Ich nehme an, Sie vertrauten 'Ihren' Robotern, weil sie unge fähr humanoid waren, Wailing." „Hm!" machte Wailing-Khan verlegen. Cliff lächelte. „Ich schlage vor, wir gehen zuerst zum Transmitter zurück und prüfen nach, ob es
eine Schaltung gibt, die wir verstehen und mit der wir zurückkehren können. Danach sollten wir uns die Schwarze Pyramide vornehmen." „Danach?" fragte Han Tsu-Gol. „Sie rechnen also nicht damit, daß wir den Transmitter benutzen können, Cliff?" „Nein", erwiderte der Commander. „Wenn es Schaltungen gibt, dann sind sie wahrscheinlich hinter den Wänden verborgen", sagte Mario de Monti, nachdem sie alle über eine Stunde lang mit Hilfe ihrer Detektoren versucht hatten, an den Pylonen so etwas wie Kontrollen zu entdecken. „Oder der Transmitter wird fern gesteuert", erwiderte Hasso Sigbjörnson. Wailing-Khan zog seine LaserHandwaffe, die eine nur wenig abge wandelte HM-4 war. „Wir werden es nur erfahren, wenn wir Löcher in die Wände brennen und nachse hen", erklärte er. „Ihr Vorschlag beweist, daß Sie sich wieder gut erholt haben", meinte Hasso Sigbjörnson. „Ich bin der Meinung, wir sollten uns diese Möglichkeit für den äußersten Fall aufheben und uns vorerst einmal die Schwarze Pyramide ansehen." „Das denke ich auch", sagte Han TsuGol. „Wenn niemand gegenteiliger Ansicht ist, brechen wir auf", sagte Cliff McLane. Sie stiegen wieder in ihr Gleisketten fahrzeug und fuhren aus der Transmit terhalle ins Freie. Da die Sonne infolge ihrer Stellung in der Mitte des Hohlraums von Tyla für alle Zeiten senkrecht über jedem Punkt von Dyson-Land stand, hatte sich an den Lichtverhältnissen in der Zwischenzeit nichts geändert. Über diesem Teil von Dyson-Land gab es auch vorerst keine Wolken. Das Grün der Vegetation verriet jedoch, daß das nicht immer so war. Langsam steuerte diesmal Hasso Sigb jörnson das Fahrzeug durch die recht gut
erhaltenen Ruinen zu der unversehrten Pyramide, die zwischen dem ausgebleich ten Steinplastik der Bodenplatten und der Ruinen ein Fremdkörper war. Auf unerklärliche Weise zog die Schwarze Pyramide die Menschen in ihren Bann, so daß sie bald nur noch sie sahen. Dieser Bann wich allerdings einer Ernüch terung, als Hasso das Fahrzeug einmal um die Pyramide gesteuert hatte, ohne daß ein Eingang zu erkennen gewesen wäre. Auch die Detektoren halfen nichts. „Entweder gibt es einen Eingang - oder es gibt keinen", sagte Arlene. „Und wenn es einen gibt, muß er auch zu benutzen sein." „Sesam öffne dich!" sagte Hasso. „Wie, bitte?" fragte Han Tsu-Gol. Der Maschineningenieur lächelte. „In ,Tausendundeine Nacht' hat diese Zauberformel gewirkt und die verschlos sene Schatzkammer geöffnet." „Ich kenne keinen Planeten dieses Namens", erwiderte Han. „Oder sollten Sie sogar in dieser Lage nicht darauf verzich ten können, Ihre makabren Spaße zu treiben?" Hasso schüttelte den Kopf. „Für uns Primitive ist die Schwarze Pyramide ganz sicher eine kosmische Schatzkammer, Han. Auch eine Super-Zivilisation aber wird ihre Schätze vor unbefugtem Zugriff sichern. Sie muß aber gleichzeitig dafür gesorgt haben, daß Gäste - bezie hungsweise Kosmische Elementarschüler mit den Schätzen vertraut gemacht werden. Was eignet sich besser zur Prüfung, ob jemand autorisiert ist, die Schatzkammer zu betreten, als ein Kodewort! Natürlich wird es nicht ,Sesam öffne dich' heißen." „Natürlich nicht!" sagte Han Tsu-Gol. „Man erhält nicht Einlaß in die Höhle des goldenen Drachen, wenn man das Gebrüll des Tigers ausstößt." Er blinzelte Mario zu. „Immerhin haben wir uns schon einmal identifiziert - oder es
doch wenigstens versucht. Sollte die Bot schaft von etwas oder jemandem empfan gen worden sein, muß sie sich in irgendei nem Speicher befinden. Wenn wir sie wiederholen, wird es als bekannt eingestuft..." „Den Spruch wollen Sie wiederholen?" fragte Mario. „In Unilingua!" bestätigte Han Tsu-Gol. Mario de Monti nickte und sagte iro nisch: „Ich soll also etwas wiederholen, das damals nur mit Hilfe des Bordcomputers der ORION gelang. Oder glauben Sie, ich würde Unilingua wie ein Cocktailrezept beherrschen?" Han machte ein betretenes Gesicht. „Es tut mir leid, de Monti..." „Aber ich versuche es", fiel ihm Mario ins Wort. „Zwar beherrsche ich Unilingua nicht, aber ich kenne diese Kunstsprache immerhin so gut, daß ich versuchen kann, die Botschaft in Unilingua zu rekonstruie ren." Han Tsu-Gol seufzte schwer. „Dann versuchen Sie Ihr Glück." Eine halbe Stunde später reichte er Arlene einen Folienbogen mit der Bot schaft. Sie schaltete das Funkgerät auf Bildsendung, legte die Folie unter den Abtaster und aktivierte den Sendeteil. „Der Spruch wird solange wiederholt, bis wir entweder Antwort bekommen oder bis ich das Gerät abschalte", erklärte sie. „Wie heißt der Text eigentlich auf Terranisch, Mario?" Mario winkte ab, aber dafür sagte Han Tsu-Gol: „Folgendermaßen: ,Wir grüßen das Volk von Tyla. Wir sind sehr positiv gestimmt darüber, daß wir das Ziel gefunden haben, das der Kosmische Ingenieur uns nannte. Unser Heimat ist der Planet Erde, der viele Lichtjahre entfernt die Sonne Sol umkreist. Auf der Erde haben wir, die wir uns Menschen nennen, uns entwickelt und eine Zivilisation aufgebaut, die die ersten
Schritte in den Weltraum getan hat. Wir sind gekommen, um von euch zu lernen, euch Informationen anzubieten und euch die Grüße aller Menschen zu übermitteln. Wir hoffen, daß ihr unseren Besuch als positiv einstuft und daß eure Reaktion eine positive sein wird." „Sehr positiv!" rief Cliff McLane. „Es ist unanständig, sich über ernsthafte Bemühungen und kosmische Kommunika tion lustig zu machen, Commander McLane!" sagte Han Tsu-Gol streng. „Aber ich meine doch gar nicht Ihre Botschaft, sondern die Reaktion der Schatzkammer - äh, Schwarzen Pyrami de", entgegnete Cliff. Han und die übrigen Gefährten Cliffs blickten zur Pyramide und musterten mit unverhohlenem Schauer die torähnliche Öffnung in der gegenüberliegenden Seitenfläche der Schwarzen Pyramide. Goldenes Leuchten schien in dieser Öffnung zu wallen. Aber konnten Men schen die Bedeutung dieses Zeichens durchschauen, wenn es überhaupt ein Zeichen war?
6.
EIN HAUCH VON EWIGKEIT
Hasso Sigbjörnson pfiff die Melodie eines alten Raumfahrerliedes, um die Erregung zu kaschieren, die ihn unmittel bar vor dem goldenen Wallen zu überwäl tigen drohte. Im nächsten Augenblick taumelte er aus kauernder Haltung hoch und schrie überrascht auf. Cliff, Mario, Arlene, Wailing-Khan und Han ging es nicht viel anders. Sie alle hatten auch Grund, überrascht zu sein, denn eben waren sie noch auf ihren Plätzen innerhalb des Gleiskettenfahrzeugs gewesen - und jetzt standen sie in einer Art durchsichtigem Plastikzelt auf dem Boden eines unbekannten Himmelskörpers.
Die berufsmäßigen Raumfahrer unter ihnen - und nur Han Tsu-Gol war kein berufsmäßiger Astronaut -sahen fast augenblicklich an der tödlichen Starre aller Geländeformationen und dem ungetrübten und verzerrungsfreien Blick auf die Sterne am Himmel, daß sie sich auf einem atmosphärelosen Himmelskörper befan den. Als ihre Detektoren warnend pfiffen, reagierten sie sofort. Sie klappten ihre Druckhelme nach vorn, verschlossen sie und kontrollierten die Lebenserhaltungssy steme. Hasso, der unmittelbar neben Han Tsu-Gol stand, merkte zuerst, daß der Verteidigungsminister nicht begriffen hat te, was los war. Mit zwei Griffen hatte er Hans Druck helm zugeklappt und verriegelt. Als er die Lebenserhaltungssysteme überprüfte, kräuselte sich schon die Oberfläche des Plastikzelts. Sekunden später erschlaffte das Material. Das Zelt sank zusammen, da der Innendruck inzwischen auf nahe Null abgesunken war. Die Raumfahrer hoben es zur Seite. „Danke Hasso!" stammelte Han, der endlich begriff, was los war. Hasso Sigbjörnson winkte ab. „Unwichtig, TsuGol! Wir sollten lieber überlegen, wie wir innerhalb von rund sechzig Stunden in eine für uns atembare Atmosphäre kommen, denn länger reichen die Sauer stoffvorräte unserer Raumanzüge nicht." Wailing-Khan schlug mit der flachen Hand an das Griffstück seiner Laserwaffe. „Hier gibt es sicher einen Stützpunkt. Wir müssen ihn nur finden und stürmen." „Stürmen!" wiederholte Arlene Mayo gah zornig. „Ihr Vokabular ist das eines blutrünstigen Primitivlings, Khan. Eigentlich hatte ich gehofft, Sie seien über dieses Stadium hinaus." „Ich bin, wie ich bin, Arlene", erwiderte der Aureolaner. „Aber ich sehe ein, daß meine Reaktion unangemessen war, da wir noch gar nicht wissen, ob es hier über
haupt einen Stützpunkt gibt." „Wie können wir feststellen, ob die Umweltbedingungen real oder nur vorgetäuscht sind?" frage Han Tsu-Gol. „Wahrscheinlich nur, wenn wir es darauf ankommen lassen", erwiderte Mario de Monti. „Das ist...", begann Han Tsu-Gol, brach unverhofft wieder ab, legte den Kopf in den Nacken und schirmte die Augen mit der flachen Hand ab, was für einen Raumfahrer Idiotie gewesen wäre, bei einem Neuling wie Han aber verzeihlich war. Die phototrope Filterung des Helmvi siers verhinderte nämlich fast jede Blendwirkung. „Ein Satellit", stellte Cliff McLane fest, nachdem er kurz zu dem blinkenden Etwas geschaut hatte, das sich rasch und lautlos unter den Sternen über den Himmel bewegte. Er hob sein Detektorgerät, aktivierte den Objekt-Distanzmesser und las die in einem superflachen Leuchtschirm erscheinenden Daten ab: „Höhe 72,6 Kilometer - gleichbleibend, also wahrscheinlich exakt kreisförmige Umlaufbahn." „Die Schwerkraft 'unseres' Him melskörpers beträgt 0.1122 g", las Hasso von seinem Detektor ab. „Das ist weniger als die Schwerkraft des Erdmondes." „Es sind rund Sechsundsechzig Pro zent", erklärte Mario, der mit seiner Computeruhr ein paar einfache Berech nungen angestellt hatte. „Die kosmische Geschwindigkeit' zum Verlassen unsers Himmelskörpers beträgt demnach 1.584 Kilometer pro Sekunde, was einem Energieaufwand von 1.8612 Megawatt pro Kilometer entspricht." „Nicht ganz", widersprach Cliff. „Wir wollen unseren Mond ja nicht für immer verlassen, sondern brauchen uns nur 72,6 Kilometer von seiner Oberfläche zu entfernen. Außerdem wiege ich hier ohne ,Verpackung' nicht einmal sieben Kilo
gramm." „Ich bitte um Verständnis dafür, wenn ich mich und Sie frage, worum es über haupt geht", sagte Han Tsu-Gol. „Meiner Meinung nach erübrigen sich Berechnun gen und Diskussionen über ein Verlassen dieses Himmelskörpers, da wir nicht ein mal eine LANCET zur Verfügung haben." „Für einen Hopser braucht man kein raumtüchtiges Beiboot", erwiderte Mario. „Nein, aber wir haben auch keine Rück stoßaggregate bei uns", erklärte Han. „Doch!" widersprach Hasso. „Man kann alles, was einen Rückstoß erzeugt, als Rückstoßaggregat benutzen. Man muß nur vorher berechnen, ob die erzeugte Energie groß genug ist, um einen bis zum Ziel zu befördern." „Ich bin gerade dabei, auszurechnen, ob die Füllungen unserer Hochdruckluftfla schen ausreichen, um uns ein Kopplungs manöver mit dem unbekannten Satelliten fliegen zu lassen", warf Mario ein. „Was?" entfuhr es Han. Ruhiger fügte er hinzu: „Ich streite gar nicht ab, daß die ORION-Crew bisher mit ihren ausgefalle nen Ideen immer wieder auf die Füße gefallen ist, aber Ihre Idee, de Monti, muß einer unbewußten Todessehnsucht entspringen. Wie wollen Sie denn atmen, wenn Sie Ihre kostbare Atemluft zur Rückstoßerzeugung verpulvern?" „Ich gebe ja zu, die Zeit wird knapp werden", sagte Cliff. „Aber was nützt es uns, hier unten sechzig Stunden lang atmen zu können. Wir würden die kostbare Energie, die uns zum Satelliten bringen kann, für eine Galgenfrist vergeuden. Und wenn wir nach Luft schnappen, käme die Reue zu spät." „Sie setzen einfach voraus, daß der Satellit hohl und groß genug für uns alle ist - und daß er einen ausreichenden Luftvorrat enthält?" fragte Han Tsu-Gol kühl. „Schön, nehmen wir an, das stimmt. Was wird aus uns, wenn der Luftvorrat des Satelliten verbraucht ist?"
„Das werden wir sehen, sobald wir an Bord sind", meinte Wailing-Khan. „Die Idee ist großartig." „Ein guter Lehrer bringt seinen Schülern den Wissensstoff spielend bei", erklärte Arlene trocken. Han Tsu-Gol blickte Arlene prüfend an, dann atmete er einmal tief durch. „Mir scheint, als sollte ich doppelt lernen: einmal von der ORION-Crew - und einmal von ..." Er blickte Arlene fragend an. „Wahrscheinlich handelt es sich um eine Lernmaschine", sagte Arlene. „Nur fragen Sie mich bloß nicht, wie sie funktioniert. Von außen sieht sie jedenfalls wie eine schwarze Pyramide aus, aber schon die Tatsache, daß wir beim Kontakt mit dem goldenen Wallen schlagartig von unserem Fahrzeug getrennt wurden, ohne etwas davon zu bemerken, stellt mich vor ein unlösbares Rätsel." „Wir schaffen es, wenn wir alles Über flüssige zurücklassen", sagte Mario erregt. „Es wird knapp werden, aber wir haben eine gute Chance, den Satelliten zu erreichen und anzudocken." Er lächelte. „Han, wenn Sie die Frühgeschichte der ir dischen Raumfahrt kennen, dann wissen Sie, mit welchem geringen Energieauf wand die ersten Mondlande-Astronauten vom Mondboden zum Rendezvous mit der Apollo-Kapsel aufgestiegen sind." Han Tsu-Gol schwieg. Anscheinend hatte er die Fakten jener Anfangszeit der Raumfahrt nicht im Gedächtnis. Mario blickte dem Satelliten nach, der inzwischen wieder hinter dem Sichthori zont verschwunden war. Danach rechnete er aus, wieviel Zeit ihnen für die Vorberei tungen blieben. Anschließend entledigten sich die Menschen aller entbehrlichen Gegenstände. Es fiel Wailing-Khan sichtlich schwer, sich von seiner LaserHandwaffe zu trennen, aber als Mario de Monti ihm vorrechnete, daß der von einer HM-4 erzeugte effektive Schub nur
theoretisch über dem Nullwert lag, weil der Laserstrahl praktisch keinen Rückstoß erzeugte, gab er nach. Bevor der Satellit abermals auftauchte, hatten die Raumfahrer sich zusammenge bunden. Auf ein Kommando Marios lösten sie die Druckschlauchkontakte und richteten die Mündungen der Druck schläuche auf den Boden. Die Anschlußstellen an den Raum anzügen verschlossen sich automatisch, so daß keine Luft entweichen konnte. Aber ab jetzt mußten die Raumfahrer mit der in den Anzügen vorhandenen Luft auskom men. Als die Raumfahrer die Hoch druckflaschenventile aufdrehten, hüllten die von den Druckstrahlen aufgewirbelten Staubwolken sie völlig ein. Sekundenlang sah es so aus, als würde der Schub nicht zum Aufstieg reichen. Doch nachdem die Masseträgheit aufge hoben war, konnte die Schubkraft sich voll beschleunigend auswirken. Kurze Zeit später schien es, als würden die zu einem Objekt gebündelten Raum fahrer weit über die Satellitenbahn hinausschießen und nach dem Verbrauch ihrer Rückstoßmasse im freien Fall durch den Raum treiben. Doch das war nur eine optische Täuschung, die durch die explosionsartige Weitung des Blickfelds auf den Himmelskörper verursacht wurde. Han Tsu-Gol fühlte sich dennoch ziem lich sicher, bis er eine Frage stellte und an den Reaktionen darauf erkannte, daß ausgerechnet die Raumfahrer der ORION ihre Gelassenheit völlig verloren hatten. Sie zweifelten plötzlich am Gelingen der Mission und nannten zahlreiche Gründe, warum das Rendezvousmanöver niemals klappten konnte. Da waren die unzureichenden Kreis bahnberechnungen des Satelliten, die nur von einem richtigen Computer, nicht aber von dem winzigen Computerteil eines Chronographen durchgeführt werden konnten. Da wurde von möglichen
Schwereanomalien des Himmelskörpers geredet, die die Kreisbahn verändern mochten, ohne daß man es voraussehen konnte. Der Energieverlust bei Navigati onsmanövern konnte zu groß werden, so daß für das Anlegemanöver nicht mehr ge nug Brems- und Beschleunigungsenergie vorhanden war. Und das waren nur einige Gründe. Han Tsu-Gol geriet zum erstenmal in seinem Leben in Panik, denn er fürchtete den Erstickungstod im Weltraum. Es war sein Stolz, der die Panik schließlich besiegte. Han wollte unter allen Umstän den verhindern, daß sein Abgang von der Bühne des Lebens blamabel für ihn ausfiel. „Schade, daß Ihr Erste-Hilfe-Koffer mit dem Fahrzeug verschwunden war, Mario", sagte er, nachdem er seinen inneren Schweinehund überwunden hatte. „Jetzt hätte ich Äpfel in konzentrierter Form vertragen können!" Die Antwort fiel ganz anders aus, als er erwartet hatte. „Halten Sie still, Sie störrischer Esel!" schrie Mario de Monti aufgebracht. „Oder wollen Sie uns das Docking-Manöver vermasseln!" Han Tsu-Gol erstarrte. Er versuchte, die hell auflodernde Flamme des Zorns in sich zu ersticken - und schließlich begriff er, daß die Raumfahrer der ORION vorhin zwar ihre Gelassenheit verloren hatten, aber dennoch planmäßig und exakt han delten. Erst jetzt bemerkte er neben sich den großen plumpen Schatten und sah, wie sich ein heller Kreis darin bildete. Er konnte kaum noch klar denken, denn der Sauerstoff in seinem Anzug war ver braucht und wurde nicht ersetzt. Deshalb wirkte alles Weitere traumhaft: wie die Berufs-Raumfahrer den Verbund lösten und sich und ihn einzeln in die Schleusen kammer des fremden Satelliten zogen, wie sich das Außenschott schloß und wie
Arlene sein Helmvisier zurückklappte. Und wie er tief einatmete und köstliche, sauerstoffreiche Luft schmeckte, wie ihm schwindlig wurde und wie er dann aus der Apathie allmählich aufwachte. Seinen Gefährten ging es nicht besser. Deshalb empfand niemand Furcht, als das Innenschott der Schleusenkammer sich öffnete und zwei jener Roboter auftauch ten, wie Wailing-Khan sie beschrieben hatte. Die sauber blitzenden zylindrischen Maschinenwesen bewegten sich summend und zielstrebig. Sie griffen mit behutsamen und doch festen Greifern zu und trugen die Raumfahrer aus der Schleusenkammer in den Satelliten hinein. In einem runden Raum mit gepolsterten Wandbänken, einem runden niedrigen Metalltisch mit Kontrollen und einer mit bunten Leuchtfeldern bedeckten Wand fanden sie sich wieder zusammen. Und auf dem Tisch lagen die Gegenstände, die sie auf dem Himmelskörper zurückgelassen hatten. Aus verborgenen Lautsprechern ertönte eine sanfte und gleichzeitig fremdartige Stimme. Sie sagte etwas, das niemand verstand. Außer Mario de Monti. „Es ist eine Lautsprache, die man offen bar nach den Unilingua-Zeichen erfand, die wir zweimal sendeten", erklärte er. „Ich kann kaum etwas erraten." „Das wundert mich nicht", sagte Han Tsu-Gol. „Da der Schlüssel zur Lautspra che immer erst durch gegenseitige Vereinbarung hergestellt werden kann, war eine phonetische Transkription in unserer Unilingua-Sendung unmöglich." Seine Ohren erröteten leicht. „Dadurch hat man unsere Botschaft leider nicht verstan den." Er räusperte sich energisch. „Aber man hat begriffen, was wir wollten. Also, wie gesagt, die schriftliche Wiedergabe unserer Aussprache nützt unseren Kom munikationspartnern nichts, wenn sie den Schlüssel dazu nicht kennen - ganz
abgesehen von den Phonemen und den wichtigen phonetischen Varianten unserer Sprache, die sogar geborenen Erdenbür gern Schwierigkeiten bereiten." Mario sah den Asiaten zuerst ver wundert, dann mit anerkennendem Lächeln an. „Ich glaube, manchmal haben wir Prak tiker die Bildungsbreite von Menschen Ihres Schlages unterschätzt, Han", erklärte er. „Kein Wunder", erwiderte Han Tsu-Gol todernst. „Von einem störrischen Esel konnten Sie schließlich keine intellektuelle Akrobatik erwarten." Der Kybernetiker war sichtlich verlegen. „Das haben Sie doch nicht ernst ge nommen, Han! In der Situation ...!" „Doch!" erklärte Han Tsu-Gol. „Man ist entweder ein ernstzunehmender Mensch oder nicht." „Wer ernstgenommen werden will, muß auch lachen können", warf Arlene ein. „Zum Beispiel über die Bilder, die in den Leuchtfeldern der Wand erscheinen und von denen ihr offenbar nichts seht, Mario und Han." „Sie sind gerade erst erschienen", sagte Wailing-Khan. Mario und Han Tsu-Gol blickten sich ernst an, dann zwinktern sie sich zu und widmeten ihre Aufmerksamkeit den Bildern, die in den Leuchtfeldern der Wand erschienen und wieder verschwan den. Manche Bilder sagten ihnen über haupt nichts, weil sie an keine erinne rungsmäßig gespeicherten Erfahrungen anknüpften. Aber hin und wieder waren Bilder dabei, deren Inhalte die Menschen entweder sofort verstanden oder zumindest deuten konnten. „Das ist Wasser!" rief Cliff, als in einem der Leuchtfelder ein seltsam geformtes Gefäß zu sehen war, aus dem eine klare Flüssigkeit floß. Selbstverständlich hätte die Flüssigkeit etwas ganz anderes als
Wasser sein können, aber sie wurde an eine blühende Pflanze gegossen, deren Blätter eindeutig Chlorophyll enthielten. „Ein Gebäude!" sagte Wailing-Khan zu einem schüsseiförmigen weißen Bauwerk, das, mit der Öffnung nach oben, auf drei gebogenen „Stelzen" in einer Art Wüste stand, deren Boden mit den Splittern blau violetten Glases bedeckt zu sein schienen. „Aber ich bin nicht sicher." Die Menschen benannten die Bild projektionen naher Sonnen und Planeten, weit entfernter Sterne, von Dunkelwolken, von einfachen Maschinen und Fahrzeugen und sie versuchten sich mit Beschreibun gen absolut fremdartiger Gebilde und We sen, wobei sie allerdings scheitern mußten. Und nach mehreren Stunden ertönte die sanfte Stimme erneut. Aber diesmal klang sie nicht mehr fremdartig, sondern wie die Stimme eines geborenen Terraners. Allerdings schien es manchmal so, als wäre es die Stimme eines der Raumfahrer, so daß die Menschen abwechselnd Han, Mario, Cliff, Hasso, Arlene und Wailing zu ihrem Kommunikationspartner sagten. Erst allmählich dämmerte ihnen, daß das ein Trick ihres Gesprächspartners war, denn dadurch empfanden sie ihn als einen Vertrauten und Freund, vor dem sie keine Hemmungen zu haben brauchten. Der Lehrer hatte bei seinen Schülern die Angst beseitigt, die Verkrampfungen gelockert und eine Vertrauensbasis geschaffen. Der Unterricht konnte beginnen ... * Sie erfuhren, daß sie mit dem gelunge nen Aufstieg- und Rendezvousmanöver eine Art Aufnahmeprüfung bestanden hatten, einen Voraussetzungstest, wie ihr Lehrer sagte. Allerdings ging ihr Lehrer nicht auf die mehrfach gestellte Frage ein, was aus ihnen auf der Oberfläche des luftleeren
Himmelskörpers geworden wäre, wenn sie den Aufstieg mit primitiven Hilfsmitteln nicht gewagt hätten. Er ging auch nicht auf die Fragen nach Abwehrmöglichkeiten gegen die EnergieParasiten ein und schwieg sich über Wailing-Khans Erklärung aus, daß er von Robotern, die denen des Lehrers glichen, durch eine List so konditioniert worden war, daß er seine Gefährten in eine Falle lockte, die doch nur im Interesse der Energie-Parasiten gelegen sein konnte. Nachdem er ihnen eine Fülle theo retischen Wissens vermittelt hatte, teilte er ihnen mit, daß nunmehr die praktischen Übungen kämen, bei denen sie das neuerworbene Wissen anwenden müßten, wenn sie das Ziel erreichen wollten. Und das Ziel war, die Schüler zu befähi gen, aus eigenen Kräften und Unterstüt zung der Gegebenheiten von Dyson-Land eine Absprungbasis bis zum Herzen von Tyla zu erreichen. Kaum hatte der Lehrer ihnen das mitge teilt, fanden die Raumfahrer sich auch schon wieder an einem anderen Ort wieder. Es schien sich um das Innere eines gigantischen Elektronengehirns zu handeln, denn von dem runden Raum aus, in dem die Raumfahrer standen, sahen sie in viele gewundene Gänge, deren Wände größtenteils aus elektronischen Elementen bestanden. „Was sollen wir tun, Lehrer?" rief Arle ne. Keine Antwort! „Lassen Sie die Dummheiten!" sagte Han Tsu-Gol, als Wailing-Khan schon wieder an seiner Laserwaffe herumfinger te. „Eine Maschine, die uns mühelos von einem Ort zu einem anderen versetzen kann, könnte uns zweifellos mit einem leisen Klicken erledigen, wenn sie das beabsichtigte. Dann würden uns garantiert auch unsere Waffen nicht helfen." „Auch der Lehrer ist nicht unbesiegbar", erklärte der Aureolaner verdrossen. „Er
begreift anscheinend nicht einmal, daß Tyla von Unsichtbaren besetzt wurde, die allmählich alle Energie heraussaugen." „Wenn Ishvar nicht in die Gewalt der Energie-Parasiten geraten wäre, dann würde ich denken, daß auch diese Wesen Bestandteile des Schulungsprogramms für Angehörige von Entwicklungszivilisatio nen sind", meinte Mario de Monti. „Ich schlage vor, wir tasten uns vorsich tig durch dieses elektronische Labyrinth", sagte Cliff McLane. „Sobald wir wissen, wie wir eine Absprungbasis zum Herzen von Tyla erreichen, kennen wir sicher auch Möglichkeiten, wieder mit unseren im Schiff gebliebenen Freunden zu sammenzukommen." Er betrat einen der Gänge - und war im nächsten Augenblick für seine Gefährten verschwunden. „Eine Art Transmittereffekt", sagte Arlene und folgte ihm. Dort, wo Cliff verschwunden war, blieb sie stehen und schaute zu den Gefährten zurück. „Bin ich verschwunden?" frage sie, obwohl sie bereits ahnte, daß sie nicht verschwunden war. „Nein, wir sehen dich - und du siehst so bezaubernd aus wie immer, Arlene", antwortete Mario. Doch seine Miene verriet, daß er nur aus Gewohnheit scherzte und in Wirklichkeit sehr besorgt um Cliff war. „Wer im Dschungel aufgewachsen ist, kann sich für Fremde darin unsichtbar machen", erklärte Han Tsu-Gol. „Aber Cliff ist nicht in diesem Dschun gel aufgewachsen!" rief Arlene verzwei felt. „Dann hat er sich auch nicht absichtlich unsichtbar gemacht", meinte Han unge rührt. „Wahrscheinlich genügt in diesem Gewimmel von Elektronik eine bestimmte Bewegung, eine Abweichung um Millime ter, um etwas auszulösen, das, unter anderem, eine Ortsversetzung des Betref
fenden hervorruft." Wailing-Khan stöhnte verzweifelt. „Und wir sollen uns Zentimeter um Zentimeter durch das Labyrinth tasten, herumprobieren und an den Nasen herumgeführt werden!" Er schüttelte drohend die Faust nach oben. „Aber nicht ich!" rief er wütend. „Ich bin keine Ratte, die man durch ein Labyrinth irren läßt, sondern ein Kämpfer, ein Khan von Aureola! Ich bahne mir meinen Weg mit dem Schwert des Raumfahrers, mit der Laserwaffe!" Han Tsu-Gol hob warnend die Hand. „Warten Sie, Khan!" mahnte er. „Sie wissen nicht, was Sie anrichten, wenn Sie etwas beschädigen. Vielleicht verhindern Sie damit, daß McLane jemals zurückfin det. Nein, ich fürchte, wir müssen den stei nigen Pfad der Mühsal gehen. „Wie kann man nur solche Phrasen dreschen und dennoch im Kern ver nünftiges Zeug reden?" sagte Arlene. „Bitte, achtet genau auf meine Bewe gungen! Ich werde versuchen, mich genauso zu bewegen, wie es Cliff wahr scheinlich getan hat." Sie ging einen Schritt zurück - und plötzlich fanden die Menschen sich alle in einer Halle mit Wänden aus schwarzem glasartigen Metall wieder. Und vor ihnen stand das Gleisket tenfahrzeug aus der ORION - und auf dem Heck stand Cliff McLane! „Cliff!" rief Arlene und eilte auf ihn zu. Der Commander beugte sich vor, ergriff Arlenes Hände und zog seine Lebensge fährtin zu sich hoch. „Eben befand ich mich noch in einem uralten Kellergewölbe", erklärte er. „Ich wußte nicht, wo ihr wart, bis ich noch warme Wachstropfen auf dem Boden entdeckte. Das konntet nur ihr gewesen sein." „Wachstropfen?" fragte Han Tsu-Gol. „Was ist,,Wachs?"
„Cliff!" sagte Hasso. „Wie kamst du darauf, daß wir mit Kerzen in den Händen durch ein Kellergewölbe gehen?" „Mit brennenden Kerzen!" fügte Mario de Monti ironisch hinzu. „Ihr hättet es noch getan!" meldete sich die sanfte Stimme des Lehrers. „Da Cliff McLane sich aber in euer gemeinsamen Zukunft befand, entdeckte er die Spur, die ihr in eurer gemeinsamen Vergangenheit noch nicht hinterlassen haben konntet. Das alles ist jedoch unwesentlich ge worden. Ich mußte das Programm unter brechen, weil Tyla von einer Invasionsflot te angegriffen wird. Da die Flotte in den Internraum einfliegen konnte, ist anzu nehmen, daß die Abwehranlagen nicht funktionieren." „Wie können sie das, wenn die EnergieParasiten ihnen die Energie weggesaugt haben!" rief Wailing-Khan. „Mit dem Wissen, das ihr inzwischen erworben habt, solltet ihr in der Lage sein, euch in den Labyrinthen unter der inneren Oberfläche von Tyla zurechtzufinden und euch am Leben zu erhalten, ohne daß die Invasoren etwas von eurer Existenz ahnen. Ich kann euch wahrscheinlich nicht mehr helfen, da die Invasoren mich zerstören werden. Aber ihr werdet überall auf und in Tyla Hilfsmittel finden." Die Stimme brach ab. Allmählich wurde es dunkler in der Halle. In einer Wand bildete sich eine Öffnung. Tageslicht schien herein - und ein Donnern und Rumoren verriet, daß auf Dyson-Land unerwartete Aktivität herrschte. „Die Invasoren landen!" rief WailingKhan mit blitzenden Augen. „Warum bleiben wir nicht hier und verteidigen den Lehrer, bis wir entweder fallen oder bis Hilfe kommt?" „Wenn wir jetzt bis zum bitteren Ende kämpfen, geben wir auf", erwiderte Cliff. „Wenn wir dagegen in den Untergrund gehen, werden wir lange genug leben, um den Angreifer und seine Stärken und
Schwächen kennenzulernen - und um ihn in absehbarer Zeit zu besiegen!" „Sie glauben an einen Sieg, McLane?" fragte Han Tsu-Gol fassungslos. „Mann, der Lehrer sprach von einer Invasionsflot te! Wie sollen wir etwas gegen Tausende oder vielleicht sogar Millionen von Okkupanten ausrichten, gegen die sogar der Lehrer machtlos ist?" Cliff nickte. „Das alles ist richtig, Han, aber wir sind flexibler als der Lehrer, der immerhin nur eine Maschine ist." „Das denke ich auch", sagte Mario de Monti. „Es wird hart werden", meinte Arlene. „Härter als ein schneller Kampf bis zum Tode, Wailing. Wenn Sie sich anschließen, werden Sie mehr Mut, mehr Zähigkeit und mehr Härte gegen sich selbst aufbringen müssen, als wenn Sie sich den Angreifern jetzt offen entgegenstellen." Wailing-Khan musterte Arlene Mayogah lange, dann sagte er mit ausdruckslosem Gesicht: „Ich gehe mit, weil ich gespannt darauf bin, wie die Raumfahrer der ORION diese Lage meistern, die zwar aussichtslos, aber nicht ernst ist." „Mir kommen die Tränen", sagte Han Tsu-Gol. „Cliff, sagen Sie schon, was zu tun ist, sonst reden wir noch solange, bis die Invasoren hier sind." Der Anblick glich dem gräßlichen Alptraum eines Science-Fiction-Verlegers, der alle seine SF-Autoren und Erfinder von Höllenplaneten und Ungeheuern gegen sich aufgebracht hat. Hochhausgroße Gebilde, deren Form weitgehend an terranische Teufelsrochen erinnerte, nur daß sie tief schwarz waren und von Energiefeldern umhüllt wurden, die beim Eintritt in die Atmosphäre flimmerten, sanken zu Tausenden und aber Tausenden herab. Ihre „Flügel" bewegten sich nur träge, und ihre „Schwänze", die bis zu fünfhundert Meter lang, aber nur
etwa zwei Meter stark waren, richteten sich ständig zur Sonne Tyla aus. Die „Schwanzspitzen" wurden unablässig von mächtigen Entladungen umspielt. Diese Entladungen waren es, die das Donnern und Rumoren erzeugten, das die Menschen schon innerhalb der Schwarzen Pyramide gehört hatten. „Wer baut solche Raumschiffe?" entfuhr es Hasso Sigbjörnson. „Diese idiotische Form! Das muß ja unpraktisch im Betrieb sein!" Cliff preßte die Lippen zusammen und schaute nach oben, als es merklich dunkler wurde. Seine Ahnung bestätigte sich. Im Internraum mußten Raumschiffsschwärme treiben, deren Stückzahl nicht unter einer Million - pro Schwarm - lag, denn sonst hätten sie die Sonne nicht verdunkeln können. In etwa zehn Kilometern Entfernung landete einer der „Teufelsrochen". Es dröhnte, als er den Boden berührte. Sekunden später spürten die Menschen eine starke Erschütterung. Mit blassen Gesichtern starrten sie zu dem Ungetüm hinüber. Plötzlich erlosch das Flimmern um das Raumschiff. Die Schwanzspitze legte sich auf den Boden, der im Umkreis von zirka fünfzigtausend Quadratmetern zur Flammenhölle wurde, dann zerliefen die Konturen des Fahrzeugs, bis es nur noch ein unförmiger Klumpen war. Aus Öffnungen, die sich in dem Klum pen bildeten, stürmten wenig später zahllose vielbeinige Wesen, die silbrig schimmernde Raumpanzer und röhrenför mige Strahlwaffen trugen. „Das sind keine Produkte der Technik!" schrie Arlene, um das Tosen und Donnern zu übertönen, das immer mehr anschwoll. „Das sind Lebewesen - und sie scheinen nach der Landung zu sterben!" Irgendwo weit hinten und damit schräg oben - für die Augen der sechs Menschen normalerweise viel zu weit entfernt -
schien Widerstand aufzuflammen. Drei der gigantischen „Teufelsrochen" flammten auf und stürzten mit grausigen Verren kungen ab. Andere „Teufelsrochen" richteten ihre Schwanzspitzen auf die Stelle, von der die Gegenwehr gekommen sein mußte. Innerhalb weniger Sekunden entlud sich im Ziel ein Energiegewitter, das die Oberfläche von Dyson-Land zerfetzte und Erdreich, Pflanzen und Metallteile herausriß und verglühen ließ." „Wenn wir nur die ORION erreichen könnten!" sagte Mario erbittert. „Mit Overkill ließe sich etwas gegen die Invasoren machen." „Aber nicht gegen Millionen dieser lebenden Raumschiffe", widersprach Cliff McLane. „Ich möchte nur wissen, wie im Weltraum derartige Lebensformen entstehen." „Ich glaube nicht, daß sich diese Wesen im Weltraum entwickelt haben", sagte Han Tsu-Gol. „Das sind Zuchtprodukte einer Biogenetik, die der irdischen so weit voraus ist wie unsere Umweltformungs projekte den Pilzgärten der Blattschneider ameisen." Wailing-Khan schüttelte den Kopf. „Es ist unglaublich! Man sollte annehmen, die Schwingen der Nacht hätten alle damals bestehenden Zivilisationen zerstört. Dann aber dürfte es diese Invasion nicht geben, denn die Entwicklung einer solchen Zivi lisation mit einer Biogenetik, die an Weltraumbedingungen gewöhntes Leben züchtet, das als Raumtransportmittel dient, hätte zweifellos viel länger gedauert." Schlagartig wurde es dunkel, allerdings nur auf einer Fläche von der Größe eines Olympia-Stadions. Die Raumfahrer brauchten nicht hinzusehen, um zu wissen, daß es der Schatten eines landenden „Teufelsrochen" war, der die Sonne verdunkelte. Und sie befanden sich genau auf dem Landeplatz. So schnell wie diesmal waren sie noch
nie zuvor in ein Gleiskettenfahrzeug gestiegen. Während Wailing-Khan noch als letzter im Heckluk hing, fuhr Hasso Sigbjörnson schon an. Die breiten Gleis ketten wirbelten Sand und Staub hoch. Ihre Arbeitsgeräusche waren jedoch nicht zu hören, da das lebende Raumschiff in zirka fünfhundert Metern Höhe schon ohrenbetäubendes Donnern, Rumoren und Krachen erzeugte. Wailing-Khan konnte es nicht lassen. Halb im Heckluk hängend, zog er seine Laserwaffe, richtete den Lauf nach oben und drückte ab. Statt des erwarteten grellen Blitzes aus Photonen kohärenter Wellen, die millio nenmal so hell sind wie die Sonne, war nur der vergleichsweise bleiche optische Nebeneffekt zu sehen, der entstand, wenn eine Waffe auf Abstrahlung von Mikro wellen geschaltet war und der Laserkristall die Mikrowellen verstärkte. Die Reaktion war erschreckend. Von der Unterseite des lebenden Raumschiffs flogen herauskatapultierte Brocken von der Größe des Gleiskettenfahrzeugs davon. Das Monstrum blähte seinen Energie schirm auf. Wo er den Boden traf, zerfielen die Oberflächenformationen zu grauer Asche. Dann verschwanden die Konturen des „Teufelsrochens". Ungefähr hundert Meter hinter dem Heck des Fahrzeugs prallte das Monstrum auf den verglühten Boden. Die verdrängte Luft traf das Fahrzeug gleich einem überdimensionalen Dampfhammer und stieß es vor sich her. Wailing-Khan hatte sich ächzend in den Innenraum fallen lassen. Han Tsu-Gol bewegte den Mund, aber bei dem Lärm draußen war kein Wort zu verstehen. Aber alle Insassen - außer Hasso Sigb jörnson, der sich ganz auf die Steuerung des Fahrzeugs konzentrieren mußte starrten wie gebannt nach oben rechts, wo in zirka einem Kilometer Entfernung ein anderes Monstrum zur Landung angesetzt
hatte. Offenbar aber war es durch das Schick sal seines Artgenossen gewarnt worden, denn es hatte in etwa achthundert Metern Höhe angehalten. Langsam bewegte es den Schwanz über die linke Körperseite schräg nach vorn - und es war leicht abzusehen, wann die Spitze auf das Expeditionsfahr zeug zeigen würde. Mario erwachte zuerst aus der Starre der Todesangst. Er schaltete fieberhaft an den Feuerkontrollen, blickte dabei in die Okulare des Reflexvisiers und drückte zum richtigen Zeitpunkt den Knopf für Dauerfeuer. Die Schwanzspitze des Monstrums glühte auf, strahlte heller und heller - und plötzlich kam aus dem Funkgerät des Fahrzeugs ein schrilles Kreischen. Arlene schaltete es ab, aber es war schon zu spät. Wailing-Khan warf sich zwischen sie und das explodierende Gerät. Und plötzlich standen sie alle wieder neben dem Fahrzeug in der Halle inner halb der Schwarzen Pyramide. Und sie wußten, daß der Angriff der lebenden Raumschiffe nur vorgetäuscht war. „Ihr habt die letzte Prüfung bestanden", erklärte die sanfte Stimme. „Indem ihr zeigtet, daß ihr bereit wart, für Tyla zu sterben, anstatt euch zu verkriechen, habt ihr bewiesen, daß euch die Erhaltung der Gemeinschaft und ihrer Werke wichtiger ist als die Erhaltung des eigenen Lebens. Geht zum Herzen von Tyla, damit eure Zivilisation die Chance erhält, Teil der Großen Föderation zu werden!" Die Menschen wollten fragen, wie sie denn zum Herzen von Tyla kommen könnten, aber da wußten sie es schon. Die Information war ihren Gehirnen so fest aufgeprägt worden, daß sie erst mit ihrem Tode erlöschen würde. Der Lehrer hatte sich nicht auf die unsichere Methode akustischer Datenübermittlung verlassen, dann dazu war der Wissenskomplex viel zu umfangreich und verästelt.
Die Raumfahrer sahen sich an. „Mir ist, als hätte ich begriffen, wie unendlich groß die Vielfalt des Lebens und die Variationen der technischen Entwick lungen sind", sagte Hasso. „Mehr aber auch nicht." „Immerhin wissen wir, wie wir das Herz von Tyla erreichen können, wenn wir wollen", sagte Han Tsu-Gol. „Ohne unsere Freunde gehen wir nicht", erklärte Arlene Mayogah. „Und nicht ohne die ORION!" fügte Cliff hinzu. „Jetzt wissen wir ja endlich, wie wir ,zu Fuß' auf die gegenüberliegende Seite von Dyson-Land kommen."
7. GÖTTERDÄMMERUNG Sie standen vor einer ungeheuer kompli ziert aussehenden Kontrollwand. Ihre Körper warfen unruhige Schatten an die nur von wenigen Lichtpunkten erhellte Wand. Keiner von ihnen wußte, wo sich die Kontrollwand befand. Es war aber sicher, daß man sich nicht in einem gewöhnlichen Raum aufhielt. Die Raumfahrer standen auf einer Terrasse aus rötlich schimmerndem Stahl. Sie wußten, daß unter ihnen ein scheinbar bodenloser Abgrund klaffte, denn bevor die Kontrollwand von irgendwo vorn auf sie zugeglitten war, hatten sie in die Tiefe schauen und außer einem hellblauen Lichtkreis mitten in violett gefärbter Dämmerung nichts gesehen. Immerhin wußten sie, wie sie auf die Terrasse gekommen waren. Sie hatten sich einer überlichtschnellen Transportspirale anvertraut. Jedenfalls war „überlicht schnelle Transportspirale" die treffendste Definition, die ihnen zur Zeit für etwas einfiel, das zu den Geheimnissen von Tyla gehörte, die ihnen zugänglich gemacht worden waren. „Ich komme mir immer winziger vor",
gestand Mario ein. „Wenn ich bedenke, daß die Kontrollwand vor uns, deren Funktionsprinzipien ich wahrscheinlich niemals begreifen werde, nur ein Hilfsin strument für Primitive ist, die die Bedie nung des eigentlichen Instruments infolge ihrer zu geringen Geisteskapazität niemals erlernen können, dann könnte ich durch drehen." „Wenn ich das im Starlight-Casino erzähle ...!" sagte Han Tsu-Gol. Cliff lachte trocken. „Sie brauchen Ihre Zuhörer vorher nur bis zum Eichstrich unter Alkohol zu setzen, dann glauben sie Ihnen alles." Er beobachtete ein kompliziertes Muster von Sensorpunkten, die in etwa dreihun dert verschiedenen Farbschattierungen glühten. Seine Hände hoben sich und mahnten die Gefährten, ihn nicht zu stören. Absolute Ruhe war die Voraussetzung dafür, das Schaltsystem zu erkennen, mit dem man unter rund drei Milliarden Haltepunkten auf Dyson-Land den auswählen konnte, zu dem man transpor tiert werden wollte. In diesem Fall war es der Haltepunkt, der dem Standort der ORION am nächsten lag. Je länger Cliff das Sensormuster an blickte, desto mehr trat die übrige Umwelt in den Hintergrund, um schließlich ganz aus seinem Bewußtsein zu verschwinden. Dabei handelte es sich keineswegs um eine aktive Beeinflussung des menschlichen Gehirns. Die Sensorpunkte dienten nur als Konzentrationshilfe. Als der notwendige Grad geistiger Konzentration erreicht war, bekam Cliff Alistair McLane, der nicht mehr wußte, daß er so hieß, die Realvision der Haltepunkt-Übersicht eingespielt. Sein Gehirn funktionierte wie der Zusatzteil eines hochwertigen Computers. Es erkannte den Haltepunkt, der nur achtzig Kilometer von der ORION entfernt war, konzentrierte sich auf den Re-Hexkode, nahm ihn in sich auf und...
Ein wirres Muster grellbunter Farben tanzte vor Cliffs Augen, die weit geöffnet in die Ewigkeit zu starren schienen. Mit einem unmenschlich klingenden Schrei brach der Commander zusammen. Arlene eilte zu ihm, kniete neben ihm nieder und fühlte seinen Puls. „Er lebt!" stellte sie aufatmend fest. „Aber er hat es nicht geschafft", sagte Han Tsu-Gol niedergeschlagen. „Vielleicht schaffen Sie es mit fern östlicher Meditation!" fuhr Mario ihn an. „Ich werde es versuchen", erwiderte Han, der den Zorn in Marios Worten gar nicht bemerkt hatte. „Seid still!" sagte Arlene. Sie schlug Cliff auf die Wangen, rieb ihm die Schläfen und zog ihm zwischendurch immer wieder die Lider hoch. Aber der Ausdruck der Augen veränderte sich nicht. „Ob sein Gehirn - ausgebrannt ist?" flüsterte sie - und ihre Worte flatterten wie ein verängstigter Vogel. Plötzlich, so abrupt, als würde er von unsichtbaren Fäden gezogen, setzte Cliff McLane sich auf und sagte tonlos und ohne die Augen zu öffnen: „Benutzt die Hilfskontrollen nicht! Geht schnellstens wieder durch die Transport spirale zurück! Flieht an die Oberfläche von Dyson-Land! Versucht, euch zu retten, denn das Herz von Tyla steht still! Wenn kein Wunder geschieht, wird Tyla in einer Katastrophe untergehen." Ein fernes Donnern schien die be drohliche Aussage zu unterstreichen. Arlene hörte nicht hin. Sie war nur besorgt um Cliff, und sie rüttelte ihn verzweifelt an den Schultern. „Cliff, Cliff! Komm zu dir!" Der Commander stöhnte, dann hoben sich ganz langsam seine Lider. Die Augen kamen zum Vorschein - und sie blickten nicht mehr in eine undefinierbare Ewig keit, sondern auf Arlene. „Jemand hat den Kontakt unterbrochen", flüsterte Cliff. „War es Ishvar?" fragte Han Tsu-Gol.
„Wie kommen Sie darauf?" erkundigte sich Wailing-Khan. „Weil ich ahne, daß die Worte, die Cliff zu uns gesagt hat, nicht von ihm stammen, sondern von Ishvar. Ishvar hat durch ihn zu uns gesprochen und uns gewarnt." Arlene schaute den Verteidigungs minister an. „Aber wenn Ishvar uns warnen wollte, warum hat er dann nicht durch Sie zu uns gesprochen - wie schon einmal?" Han zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich war die Entfernung zu groß - oder was weiß ich." „Aber die Entfernung zu Cliff war ja nicht geringer!" protestierte WailingKhan. Cliff McLane fuhr sich mit der Hand über die Augen, schüttelte den Kopf und stand mit Arlenes Hilfe auf. „Was habe ich gesagt?'' Hasso wiederholte es. Cliff nickte bedächtig. „Ich denke, Ishvar sprach durch mich, weil ich gedanklich durch die Hilfskontrollen mit dem eigentlichen Instrument in Kontakt stand - und weil er mich dadurch erreichen und als Relais benützen konnte. Wir sollten auf ihn hören, denn wenn die Transportspirale ausfällt oder fehlgesteuert wird, sind wir wahrscheinlich Abermals ertönte verloren." ein dumpfes Donnern diesmal schon vernehmlicher als vorhin. „Wahrscheinlich haben Sie recht, Cliff", sagte Han Tsu-Gol. „Wenn ich auch nicht begreife, was mit der Bemerkung gemeint ist, das Herz von Tyla stünde still." „Wir begreifen auch so gut wie nichts", meinte Mario de Monti. „Haltet euch dicht beieinander, ja ?" Er hatte seinen Gefährten und sich den Transport mit der überlichtschnellen Spirale ermöglicht, indem er eine Schal tung aktivierte, die auch hier am hinteren Rand der Terrasse aus Stahl vorhanden war. Was er damit eigentlich auslöste, wußte er nicht. Er wußte aber, was das
Ergebnis der unbekannten Prozesse war. Vorausgesetzt, alles funktionierte noch genauso. Als die Kontrollwand sich lautlos und schnell von der Terrasse entfernte, atmete Mario auf. Sein Gesicht war von einem dichten Netz feiner Schweißperlen bedeckt, denn insgeheim hatte er die gleiche „Panne" befürchtet, wie sie Cliff McLane widerfahren war. Kaum war die Kontrollwand infolge ihrer Entfernung oder durch andere Phänomene verschwunden, da quoll blaues Leuchten über den Rand des Abgrunds. Die Terrasse kippte - oder hob sich der Abgrund? -, und die Raumfahrer hatten das Gefühl, rasend schnell durch violett gefärbte Dämmerung auf einen blauen Lichtkreis zuzustürzen, der viel größer war als vorher. Ihre letzte Empfindung war die, daß ihre Körpermasse auf einen Punkt zustürzte, sich immer mehr verdichtete — und daß das Universum plötzlich verschwand .. . Aber ein Universum verschwand nicht im Verlauf der Lebensspanne eines Menschen - so wenig, wie es im Verlauf der Lebensspanne einer Zivilisation verschwinden konnte. Die sechs Raumfahrer fanden sich, nachdem sie das Gefühl gehabt hatten, aus tiefster Finsternis aufzutauchen, indem sjie sich ausdehnten innerhalb der Schwarzen Pyramide wieder. Sie erkannten den Raum an der Schaltung wieder, die faktisch mit der auf der Terrasse aus rötlich schim merndem Stahl identisch war. Und sie wußten, daß über diesem Raum die Halle lag, in der ihr Expeditionsfahrzeug stand. Den Weg bis zum Fahrzeug legten sie auf eine Art und Weise zurück, die sie vor der Konfrontation mit Tyla und besonders mit der Schwarzen Pyramide als völlig natürlich angesehen hatten. Jetzt kam es ihnen so vor, als wäre die Fortbewegung auf zwei Beinen und in aufrechter Haltung ein Rückfall in die Primitivität terranischer
Affenmenschen. Dieses Gefühl hielt aber nur solange an, bis sie merkten, daß sie bei dieser Art der Fortbewegung wenigstens wußten, was vor sich ging. Danach fühlten sie sich von einer seelischen Last befreit. Als sie die Halle betraten, kam es ihnen vor, als wäre die Beleuchtung dunkler geworden. Ihre Schritte erzeugten hallende Echos, was vorher nicht der Fall gewesen war. „Hallo!" rief Wailing-Khan. „Lern maschine, kannst du uns hören?" Schwei gen. „Wir brauchen deine Hilfe!" rief Arlene. „Hilfe - Hilfe ...!" hallte das Echo gleich der Stimme einer weit entfernten Ruferin. Wailing-Khan erschauderte, biß die Zähne zusammen und ging rückwärts zum Fahrzeug, mit weit geöffneten Augen wild umherblickend. Ein scharfer Knall ertönte. Die Raumfahrer stürzten zu ihrem Fahrzeug,, zwängten sich durch die Luken hinein. Cliff startete die durch Fusionsre aktoren mit Energie versorgten Elektromo toren. Die Außenmikrophone vermittelten ein langanhaltendes Knirschen, Knacken und Reißen. Als das Fahrzeug anrollte, gab es hinter ihm einen Laut wie einen Seufzer aus den Kehlen Tausender Verdammter. Die Menschen, die sich in der Steuerkuppel des Fahrzeugs umsahen, schrien entsetzt auf. Unter der Stelle der Halle, wo die Kam mer mit der Transportschaltung lag, schienen sich unheimliche Kräfte auszuto ben. Plötzlich war der Boden dort ver schwunden, grelles Licht zuckte spiralig zur Hallendecke hinauf und durch die Decke hindurch. Während der ersten Sekunden schien es, als wäre es damit erledigt gewesen. Doch dann sank die Hälfte der Halle, unter der sich der Schaltraum befand, erschreckend
schnell tiefer. Ein Teil der Hallendecke zerbröckelte. Trümmer regneten herab. Ein Trümmerstück von etwa fünf Zentner Gewicht schlug hart gegen die Steuerkan zel. Im Fahrzeug wurden alle Raumfahrer - bis auf Cliff, der sich an den Steuerhe beln festhielt - aus den Sitzen geschleu dert. In den Ohren dröhnte es noch lange. Die äußere Schicht der mehrschichtigen Panzerplastikkuppel hatte ein sternförmi ges Loch, von dem gezackte Risse ausstrahlten. Cliff allein blickte stur nach vorn. Er sah die Öffnung, durch die sie schon einmal hinaus und wieder herein gekommen waren. Draußen war es fast dunkel. Undeutlich waren vom Himmel stürzende Wassermassen zu sehen. Sintflut! sagte Cliff zu sich selbst. Er trat mit voller Kraft auf die Bremse, als die Öffnung von dem goldenen Wallen ausgefüllt wurde. „Weiter!" schrie Hasso. Cliff wandte kurz den Kopf, sah, daß die hintere Hälfte der Hallendecke in einen glutspeienden Abgrund stürzte und daß auch die vordere Hälfte der Hallendecke schwankte. Er preßte die Lippen zu sammen und beschleunigte erneut. Mochte das gelbe Wallen sie wieder in eine fiktive Notlage versetzen - und mochte die Notlage damals real gewesen sein und heute wieder werden -, das war immer noch besser, als die Gewißheit, von den Tausenden Tonnen Material, aus dem die Hallendecke bestand, in den plattge drückten Resten des Fahrzeugs zerquetscht zu werden. Sekunden bevor das Fahrzeug die Öff nung passierte, erlosch das gelbe Wallen. Cliff atmete auf — und wurde im nächsten Augenblick durch Hunderte starker Blitze geblendet, die gleichzeitig die Dunkelheit aufrissen. Wohin? Cliff legte den Kopf in den Nacken. Irgendwo dort oben, hinter der von
schwarzen Gewitterwolken vollständig verdeckten Sonne, und doppelt so weit wie die Sonne entfernt, stand die ORION X. Oder gab es sie nicht mehr? Cliff streckte den Arm aus und schaltete die Außenmikrophone ab. Das Krachen und Schmettern der Blitze war dennoch laut genug zu hören. Es übertönte sogar den endgültigen Einsturz der Schwarzen Pyramide. Eine Trümmerwoge rollte ma jestätisch langsam bis dicht ans Wa genheck, bevor sie erschöpft zusam mensank. Cliff beschleunigte wieder. Die Gleis ketten drehten im knietiefen Schlamm durch, dann faßten sie und zogen das Expeditionsfahrzeug auf festeren Boden. Im zuckenden Fanal wahrer Blitzbündel erkannte Cliff sekundenlang die aus gebleichte Steinplastikkuppel im Zentrum der Ruinenstadt. Der Transmitter! Unwillkürlich steuerte Cliff das Fahr zeug zwischen den Ruinen der toten Stadt hindurch und auf das kuppelförmige Bauwerk zu. Es war nur noch rund zwei Kilometer weit entfernt, als es urplötzlich verschwand, als hätte der Boden es ver schluckt. „Was war das?" schrie Wailing-Khan. Niemand konnte antworten, denn das Gleiskettenfahrzeug vollführte einen gewaltigen Satz, kippte um, rollte auf einen klaffenden Spalt im Boden zu, wurde von einer imaginären Bebenfaust abermals hochgeworfen und landete wie durch ein Wunder auf den Ketten und auf der anderen Seite des Spaltes. Diesmal war auch Cliff aus seinem Sitz geschleudert worden. Er rappelte sich auf und kroch auf Händen und Knien zur Steuerung. Doch bevor er sie ereichte, zog sich Wailing-Khan in den Sitz davor, beschleunigte, wendete und steuerte auf die grünen Hügel zu, die die Ruinenstadt umringten. Umringt hatten, denn die Wolkenbrüche
hatten den Boden aufgeweicht, tiefe Rinnen hineingerissen und die Vegetation größtenteils weggeschwemmt bezie hungsweise unter Schlamm begraben. „Wohin wollen Sie?" rief Cliff dem Aureolaner zu. „Nur fort von hier", gab Wailing-Khan zurück. Das Gespräch stockte, weil der Boden sich schüttelte, so daß die Menschen Mühe hatten, sich irgendwo festzuklammern, um nicht schon wieder herumgeworfen zu werden. „Aber wir brauchen ein Ziel!" sagte Cliff, als das Rütteln und Stoßen des Bodens nachließ. „Unser Ziel ist, lange genug zu leben, um wieder Verbindung mit der ORION aufnehmen zu können", erwiderte Wai ling-Khan. „So lange können wir wahrscheinlich gar nicht leben - und wenn wir so alt wie Methusalem würden" .sagte Hasso Sigbjörnson und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, das aus einer Platzwunde am Haaransatz rann. Er war so benommen, daß er das Blut nicht bewußt wahrnahm. Mario de Monti spuckte einen Zahn aus, dann kontrollierte er trotz eines blauen und halb zugeschwollenen Auges die Feuer kontrollen. Er schwankte dabei hin und her, was darauf hindeutete, daß er sich wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung geholt hatte. Arlene schien verwundert darüber zu sein, daß sie nur mit geringfügigen Hautabschürfungen davongekommen war. Sie schüttelte den Kopf. Doch dann besann sie sich und kroch zu Hasso, wischte ihm mit einem Wundreinigungstuch aus ihrer Medobox das Blut aus der Platzwunde und sprühte Regenerationsplasma darüber. Die Wirkstoffe des Plasmas zogen die Wund ränder zusammen, dann verfärbte sich das Plasma und sah so ähnlich aus wie Milchglas. Nach einer Weile fiel es Cliff auf, daß Han Tsu-Gol lange nichts gesagt hatte. Er wandte den Kopf und wölbte
verblüfft die Brauen, als er sah, daß der Asiate zwischen dem verbogenen Draht netzzylinder des Heckeinstiegs und dem Entlüftergebläse eingeklemmt war und knieend in sein elektronisches Notizbuch sprach. Er kroch zu ihm, um ihn aus seiner offenbar verweifelten Notlage zu befreien. Aber als er Han anstieß, wandte der nur den Kopf und sah ihn fragend an. „Wie kann ich Ihnen helfen?" sagte Cliff. „Mit einem Calvados", antwortete Han Tsu-Gol. „Seien Sie so nett, Cliff, ja? Und danach lassen Sie mich in Ruhe. Ich muß den Einsatzbericht sprechen, solange ich noch lebe. Danach wird es schwierig." „Für wen?" fragte Cliff. „Für mich", erwiderte Han Tsu-Gol. „Vielleicht beruhigt das meine Magenner ven." „Sie meinen den Calvados", sagte er und schüttelte den Kopf. „Und ich wollte wissen, für wen Sie den Einsatzbericht sprechen." Das war aber schon nicht mehr als Frage gemeint, denn da suchte Cliff bereits nach dem Erste-Hilfe-Koffer Marios. Als er ihn gefunden hatte, öffnete er die CalvadosFlache, trank einen Schluck und kroch dann zu Han zurück. Der Oberbefehlshaber der Terrestrischen Raumstreitkräfte trank mindestens zwei Daumenbreiten, dann reichte er die Flasche mit dankendem Kopfnicken zurück, tippte auf einen Sensor des elektronischen Notizbuchs und sagte: „Angesichts der deprimierend wir kenden Phänomene, die über alle Mitglie der er Expedition hereingebrochen sind, wurde von mir verfügt, daß pro Person zirka hundert Gramm Alkohol zu medizi nischen Zwecken ausgegeben wird." Das Gleiskettenfahrzeug neigte sich plötzlich um etwa fünfzehn Grad nach vorn. Cliff hörte, wie Wailing-Khan die beiden Rückwärtsgänge für die getrennt
angetriebenen Schachtellaufwerke hinein zwang, dann drehten sich die Ketten wie rasend vorwärts. Doch es nützte nichts. Der Boden unter dem Fahrzeug neigte sich mehr und mehr. Als Cliff hinausspähte, sah er irgendwo schräg unter dem Wagen in rund einem Kilometer Entfernung eine Rohrleitung von mindestens zwanzig Metern Durch messer, die auf einer Länge von etwa hundert Metern aufgerissen war. Wasser oder eine andere Flüssigkeit schoß mit großer Geschwindigkeit hindurch, ohne daß allzuviel davon durch den Riß verlorenging. Aber über dem breiten Riß hing ein defektes Hochenergiekabel durch. Bei jedem stärkeren Beben wippte es nach unten, berührte die Rohrleitung und erzeugte dabei jedesmal ein Riesenfeuer werk tödlicher Entladungen. Und das Gleiskettenfahrzeug rutschte über eine immer schräger werdende Fläche genau darauf zu. „Die Lage ist verzweifelt, aber die Stimmung ist gut!" rief Cliff McLane in einer Anwandlung von Galgenhumor, denn er sah den Tod vor sich. „Nehmen Sie das in Ihren Bericht auf, Han!" Sie hatten den sicheren Tod vor Augen. Das Expeditionsfahrzeug war mitsamt einem großen Stück Oberfläche von Dyson-Land eingebrochen, als die Stützen eines Hohlraums nachgaben. Zwar gab es unter der Oberfläche von Dyson-Land kein Magma, aber der Sturz in die mit großer Geschwindigkeit durch das Rohr schie ßende Flüssigkeit würde mit der gleichen Wahrscheinlichkeit tödlich verlaufen wie die Berührung des Fahrzeugs mit dem Hochenergiekabel. Dennoch gaben die Raumfahrer nicht auf. Sie überprüften die Dichtigkeit ihres Fahrzeugs, während es haltlos ins Ver hängnis rutschte. Danach konnten sie sich nur noch irgendwo festhalten und warten. Cliff McLane schloß unwillkürlich die
Augen, als das Hochenergiekabel am tiefsten Punkt, dort, wo es bereits aufgeris sen und zerfasert war, endgültig riß und die beiden quecksilberfarben leuchtenden, torgroßen Enden sich auf den gleichen Boden senkten, über den das Fahrzeug schlingerte. Er sah nicht den Querriß, der den Boden unmittelbar vor dem Fahrzeug durch schnitt, wodurch sich die Fläche vor dem Riß leicht aufgebogen hatte. Die aufgebo gene Fläche wirkte wie eine Sprungschan ze. Das Expeditionsfahrzeug flog durch die Luft, tauchte in den mit weißlichem Rauch durchsetzten Funkenregen über den beiden Hochenergiekabelenden, flog hindurch und klatschte kurz vor dem Ende des Rohrleitungsrisses in die Flüssigkeit. Das Fahrzeug sank, tauchte wieder auf, prallte mit der Kuppel der Steuerkanzel hart gegen die Rohrwandung, drehte sich und wurde von der Strömung weitergezogen. Cliff McLane öffnete die Augen, sah im Schein der schwachen bläulichen Innenbe leuchtung die blassen Gesichter der Freunde und Gefährten, spürte die Schläge, die, verursacht durch die ständi gen Stöße des Fahrzeugs gegen die Rohrwandung, sie alle schüttelten und lächelte Arlenezu. „Noch leben wir", hörte er Han Tsu-Gol hinter sich sprechen. Als er sich umdrehte, sah er, daß der Asiate noch immer sein elektronisches Notizbuch in der Hand hielt. „Wir befinden uns wahrscheinlich in der Flüssigkeit eines Wärmeaustauschsy stems, das dafür sorgt, daß die von der Sonne einfallende Wärmestrahlung Dyson-Land nicht überhitzt. Wohin die Reise geht, kann ich noch nicht sagen." „ ,Reise' ist gut!" sagte Wailing-Khan. Er streckte die Hand nach Cliff aus. Der Commander bemerkte es und wun derte sich - bis er sah, daß er die halbleere Calvados-Flasche noch immer fest in der Hand hielt. Er reichte sie dem Aureolaner.
In dem Augenblick, als Wailing-Khan die Flasche ansetzte, stieß das Kettenfahr zeug mit zirka sechzig Stundenkilometern gegen ein Hindernis. Die Flasche wurde dem Khan aus der Hand gerissen und zerschellte dicht über Hassos Kopf an der Innenseite der Steuerkanzel. Anschließend kreiselte das Fahrzeug. Die Menschen fühlten sich annähernd gewichtslos, als das Kreiseln aufhörte. Cliff schaltete die Scheinwerfer an. Die Lichtkegel stachen durch relativ klare Flüssigkeit, wurden aber nach wenigen Metern zerstreut. „Außentemperatur neunzig Grad Celsi us", sagte Arlene. „Wenn das da draußen Wasser ist, steht es kurz vor dem Sieden und wenn wir nicht bald aufs Trockene kommen ..." Alle verstanden, was sie meinte. Aber in ihnen sträubte sich alles gegen die Vorstellung, bei lebendigem Leibe gedämpft zu werden, nachdem sie wahr haft gewaltige Gefahren überstanden hatten. Dennoch war ihnen klar, daß sie das nicht davor schützen würde, einen trivialen Tod zu sterben. „Wir steigen immer noch", sagte Cliff. Im nächsten Augenblick stieß die Steu erkanzel durch die Oberfläche eines Sees. Das Ufer war nicht zu sehen, da starke Luftbewegungen hohe Wellen über den See jagten. Gelblich-weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellenbergen. Aber wenigstens der Himmel war klar über diesem Gebiet von Dyson-Land. Aber er war nicht blau, sondern wirkte wie ein Flickenteppich aus teils bleifarbener, teils wäßrigzitternder, teils sandbrauner, teils schwarz wirkender Luft. Nur die Sonne strahlte unverändert herab. Doch auch das täuschte. Mario stellte es nach einem Blick auf die Ortungsgeräte fest. „Starke Radiostrahlungsausbrüche auf der Sonne", erklärte er. „Die Intensität ist zu der anfangs gemessenen um zirka das
fünfhunderttausendfache gestiegen." „Ganz Tyla geht aus den Fugen", sagte Han Tsu-Gol. „Aber warum ausgerechnet jetzt? Oder haben wir etwas getan, das diese Katastrophe ausgelöst haben könnte?" Mario schüttelte den Kopf. „Wir sind ein Nichts gegen diese gi gantische Hohlwelt, Han, das wissen Sie. Wir wären gar nicht in der Lage gewesen, Tyla merklich zu schaden. Ich vermute, daß die Energie-Parasiten daran schuld sind. Sie haben den Space-Computer zum Herzen von Tyla entführt - und wenig später teilte Ishvar uns mit, das Herz von Tyla stünde still. Da gibt es sicher einen Zusammenhang." „Aber was kann der Space-Computer schon gegen die Energiewesen ausrich ten?" warf Han Tsu-Gol ein. „Wir werden es nie erfahren", erwiderte Mario. „Aber ich vermute, daß die Energie-Parasiten Adam Riese für ihre Zwecke einspannen wollten - und zwar im Herzen von Tyla. Vielleicht sollte er irgendwelche Steuerungsfunktionen übernehmen. Dazu mußten sie ihm logischerweise etwas Freiheit lassen - und das wird er ausgenutzt haben, um ihre Pläne zu durchkreuzen." „Und als Folge davon geht diese uner setzliche Schöpfung einer Zivilisation unter, wie es sie wohl nie mehr geben wird", sagte Han. „Hoffentlich kommt bald Land in Sicht", meinte Wailing-Khan. „Wir müßten seit unserem Auftauchen rund drei Kilometer mit dem Hydrothermantrieb gefahren sein. Leider kann ich noch immer nicht sehen, in welcher Richtung das Land am nächsten ist." „Und was tun wir an Land?" fragte Han. „Wenn die Kugelschale der Hohlwelt zerreißt..." „ ... erspart uns das unnütze Gedanken", sagte Wailing-Khan schroff. „Solange ich lebe, will ich handeln, Khan! Verstehen
Sie das?" Han Tsu-Gol lächelte ein rätselhaftes Buddha-Lächeln. „Ich denke schon, Shogun. Ich lasse Sie handeln - und Sie lassen mir meine Gedanken. Einverstanden?" Der Aureolaner lachte. „Schon gut, Han. Entschuldigen Sie bitte, daß meine Stimmung nicht gerade euphorisch ist. Da vorn kommt übrigens Land in Sicht." Alle schauten nach vorn. Tatsächlich sah es so aus, als ob in etwa zehn Kilometern Entfernung ein flacher Küstenstreifen zu sehen wäre. Nur seine schwarze Färbung irritierte und erweckte auf den ersten Blick den Eindruck, es handle sich um eine schwarze Wolken bank. Ein Windstoß fauchte von hinten heran und zog vorüber. Wenig später wirbelten über dem scharzen Küstenstreifen dunkel graue Wolken hoch. „Asche!" sagte Hasso. „So wird es an vielen Stellen von Dyson-Land sein oder demnächst werden", sagte Mario de Monti düster. „Wo die eingestrahlte Wärme nicht mehr nach außen abgeleitet werden kann, staut sie sich und heizt den Boden und die Luft darüber auf." „Und das Wasser", sagte Arlene und deutete nach draußen. Das Wasser des Sees brodelte an zahl reichen Stellen. Dampfwolken stiegen auf. Han wischte sich den Schweiß vom Gesicht. „Ich spüre die Hitze schon", sagte er. „Was hält die Klimaanlage des Fahrzeugs aus?" „Das kommt immer auch auf die Zeit dauer einer Hitzeeinwirkung an", sagteCliff. Danach trat beklemmendes Schweigen ein. Es hielt an, bis die Gleisketten das Fahrzeug auf festen Boden zogen — auf einen Boden, der von der Asche verbrann ter Vegetation bedeckt war. Ringsum weh
ten dunkelgraue Ascheschleier, der Sturm heulte und ständig zitterte der Boden gleich dem Leib eines fieberkranken Tieres. Doch der Sturm brachte auch Er leichterung. Er wehte kühlere Luftmassen heran, und die beinahe glühendheiße Außenfläche des Expeditionsfahrzeugs kühlte etwas ab. Dennoch fühlten die Menschen im Innern sich wie in einer Sauna. Ihre Kleidung unter den Rauman zügen war schweißgetränkt. Plötzlich legte sich der Sturm. Ringsum rieselte schwarze Asche hernieder. Die Stille wirkte beklemmend. Unermüdlich wühlte sich das Kettenfahrzeug weiter, einmal durch Aschenhalden, dann durch angewehten zundertrockenen Boden. „Was ist mit der Luft?" fragte Arlene. „Sie sieht irgendwie glasig aus, nicht wahr?" Cliff kroch zu ihr und reichte ihr die Wasserflasche. Das Wasser war brüh warm, aber kältere Getränke gab es eben zur Zeit nicht im Wagen. Auch die Freunde tranken von ihrem Wasservorrat. „Ich weiß nicht, was das bedeutet", erwiderte Cliff. „Aber ich ahne nichts Gutes. Ich mag keine Phrasen, Arlene. Deshalb sage ich nur: Ich liebe dich." Arlene lehnte sich leicht an seine Schul ter. „Ich mag auch keine Phrasen, und ich liebe dich auch, Cliff. Einmal muß jeder Mensch sterben. Unser Leben war so reich, daß wir nicht klagen dürfen." „Alles klar!" sagte Cliff und drückte kurz Arlenes Hand. „Wailing, was halten Sie von den Gebäuden dort vorn? Sehen sie nicht aus, als wären sie noch gut erhalten?" „Deshalb halte ich diesen Kurs", gab der Aureolaner zurück. „Übrigens handelt es sich um ein einziges langgestrecktes Bauwerk, Länge etwa neun Kilometer, Höhe zwanzig Meter, Breite ebenfalls zwanzig Meter. Durch die in regelmäßigen
Abständen vorspringenden Segmente kommt es zu der optischen Täuschung von zahlreichen Gebäuden." „Gut erhalten?" fragte Hasso. „Dann lebt vielleicht..." Der Rest des Satzes ging in einem rasend schnell anschwellenden hohlen Brausen unter, das von überall und nirgendwo zu kommen schien. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel - und im nächsten Moment wurde das Fahrzeug von einer Bö gepackt und quer zur Fahrtrich tung durchs Gelände geschleift. Plötzlich erscholl ein helles Pfeifen. Es übertönte das Brausen mühelos - und bald war nur noch dieses infernalische Pfeifen zu hören. Immer wieder sprangen harte Böen den Wagen an und schleuderten ihn wie einen Spielball umher. Dennoch entdeckten die Menschen im Fahrzeug das gleißend blaue Leuchten, das von dem linearen Bauwerk ausging. „Dort führt jemand ein Experiment durch!" schrie Wailing-Khan durch die ohrenbetäubende Geräuschkulisse. „Vielleicht wollen irgendwelche Nach kommen gestrandeter Primitiver sich retten." „Womit?" schrie Cliff zurück. Das blaue Leuchten dehnte sich explosi onsartig bis in den Himmel aus. Mit schmetterndem Krachen zerriß das langgestreckte Bauwerk, als ein zirka hundert Meter breiter Spalt sich von links nach rechts auftat. Der Spalt verbreiterte sich immer weiter. Das blaue Leuchten schien sich auszudehnen und die Ränder des Spalts immer weiter auseinanderzu schieben. Wailing-Khan wendete das Fahrzeug. Eine Sturmbö schleuderte es wieder zurück. Fast eine Minute lang jagte der Ketten wagen dicht am Rand eines Abgrunds entlang, aus dem unaufhörlich ein grell blaues, alles verzehrendes Leuchten schoß. Dann endlich konnte Wailing-Khan wieder
abbiegen und einen neuen Fluchtversuch unternehmen. Diesmal trieb keine Bö das Fahrzeug zurück. Dennoch sahen die Insassen, daß der Spalt sich immer mehr ausdehnte und daß das blaue Leuchten näher und näher kam. „Schneller geht es leider nicht", erklärte der Aureolaner. „Es tut mir leid." Die blaue Energie berührte das Wagen heck und löste es auf. Das ist das Ende! dachte Cliff. Plötzlich hatte er das Gefühl, das Fahr zeug würde fliegen. Er schaute nach oben und entdeckte dicht über dem Wagen einen diskusförmigen Schemen. Wir werden angegriffen! war sein erster Gedanke. „Mario! Feuer!" schrie er. „Aber das ist doch die ORION!" brüllte der Kybernetiker aus vollem Halse. Der Schemen wurde dunkler und größer, dann schwebte das Expeditionsfahrzeug durch eine Öffnung in einen hellen Raum, wurde von Zugstrahlen erfaßt und fest gehalten. Hinter ihm schloß sich die Öffnung wieder. * Ishvar hatte den auf der ORION zurück gebliebenen Raumfahrern noch mitgeteilt, das Herz von Tyla stünde still - und er hatte die Position genannt, an der der Erkundungstrupp sich befand. Danach war er in eine Art Trance verfallen, aus der er noch nicht wieder befreit werden konnte. Kurz nach dem Beginn des Chaos hatte man noch einmal einen Start mit dem Schiff versucht, um den Freunden, die man in Not glaubte, zu helfen. Zu aller Ver wunderung war die ORION nicht zurück auf den Boden von Dyson-Land gezwun gen worden. Und nach einiger hektischer Suche war das Fahrzeug entdeckt worden. Das war das, was Atan Shubashi den Gefährten nach ihrer Rettung berichtet
hatte. Nach einem letzten Blick auf die ebenso rätselhafte wie tödliche blaue Strahlung hatte der Astrogator Kurs auf das Herz von Tyla genommen. Sie alle waren sich ohne viele Worte einig darüber geworden, daß sie versuchen sollten, Tyla zu retten. Dazu mußte aber erst im Herzen von Tyla Ordnung geschaf fen werden. Was zu tun war, das allerdings wußte niemand von ihnen. Zur Zeit saßen die Mitglieder des Er kundungstrupps ziemlich passiv auf ihren Sesseln und ließen sich von Helga mit Kaffee verwöhnen, in den Mario aus seinem Erste-Hilfe-Koffer echten Kognak gegossen hatte. Soeben wollte Mario sich eine Ex traportion Kognak gönnen, als der Computer sich plötzlich von selbst aktivierte. Der Kybernetiker ging mit der Flasche in der Hand zu seiner Maschine und tippte eine kurze Anfrage hinein. Als Antwort schnellte eine Ausdruckfolie aus dem Abgabeschlitz. „Was will deine Spülmaschine, Mario?" fragte Helga. „Sie schreit nach Entkalker, Baby", erwiderte Mario grinsend. Dann wurde sein Gesicht ernst. „Sie ist nur Mittler. Über unseren Computer hat sich Orcuna gemeldet." „Orcuna?" fragte Han Tsu-Gol gedehnt. „Ist dieses - äh, ich meine, wieso?" „Anscheinend hat TECOM noch eine Spur von Orcuna in sich gehabt", erklärte Mario und blinzelte den anderen Mitglie dern der ORION-Crew verschwörerisch zu. „Er muß dieses Etwas an Adam Riese weitergegeben haben, denn sonst könnte uns nicht Adam Riese anrufen und sich Orcuna nennen. Aber kommen wir zur Sache. Orcuna teilt uns folgendes mit: Die ORION X wurde beim Anflug auf das Herz von Tyla geortet. Ich bitte euch, liebe Freunde, nicht hierher zu kommen,
denn das echte Herz von Tyla steht still. Zwischen mir und den Unsichtbaren, die Teenj heißen, tobt ein Kampf mit Gewal ten, die ihr euch nicht vorstellen könnt. Flieht aus Tyla, bevor ihr umkommt! Sobald ihr aus Tyla heraus seid, müßt ihr die Heimstatt des Goldenen Eies aufsu chen, denn es gibt für euch keinen anderen Weg zurück zur Erde. Doch mit der ORION dürft ihr nicht in die Nähe des bekannten Transit-Verteilers fliegen, der sich, wie auch Tyla, im Kugelsternhaufen mit den Bezeichungen M3 und NGC 5272 befindet. Sucht den Ritter der Sieben Schlösser, der hinter der Unsichtbaren Barriere lebt! Er allein kann euch helfen." Mario ließ die Botschaft sinken. „Das war alles." „Sehr schön!" sagte Han Tsu-Gol. „Jetzt wissen wir, wo wir sind und können endlich Kurs auf die Erde nehmen. Und sage mir niemand etwas von einem Ritter und von Sieben Schlössern! Ich lasse mich nicht von eurem irren Computer zum Narren halten. Ha, Ritter im Weltraum!" Er blickte Cliff an. „Das ist ein Befehl, Commander McLane. Verstanden?" Cliff hatte zuvor schon Blicke des Ein verständnisses mit den Gefährten ge tauscht. Er nickte. „Verstanden, Chef. Ich schlage vor, wir vergessen den Unsinn mit den Sieben Rittern der Schlösser. Okay? Dann gehe ich jetzt duschen. Mit dem Vorrecht des Rangältesten." „Halt!" rief Han Tsu-Gol - und man sah seinem Gesicht die Schadenfreude an. „Diesmal haben Sie sich getäuscht. Ich bin der Rangälteste. Deshalb werde ich zuerst duschen." „Da kann man nichts machen", er widerte Cliff höflich. Kaum war Han Tsu-Gol verschwunden, versammelte sich die ORION-Crew an einem Monitor. Zehn Minuten später erschien darauf das Abbild Hans - in einen Bademantel gekleidet. Han Tsu-Gol
steuerte zielstrebig auf die einzige Duchkabine zu, die nach der Notlandung wieder funktionierte. Hinter ihm schloß sich die Tür. „Gefangen!" frohlockte Hasso und legte einen Hebel um. „Die Tür der Duschkabine wird solange klemmen, wie wir wollen." „Und wir wollen nicht eher, als bis wir das gefunden haben, von dem ich anneh-
me, daß es sich um eine Art Wächter über sieben Schwarze Löcher handelt, die als Transit-Verteiler fungieren - und bis wir soweit von Tyla entfernt sind, daß Han sich nicht mehr orientieren kann. In Ord nung." Zustimmendes Nicken antwortete ihm. „Han kann sich unterdessen selbst den Kopf waschen", meinte Helga.
ENDE Die Kosmischen Parasiten beanspruchen Tyla für sich allein. Um es aber intensiv ausbeuten zu können, müssen sie das Herz von Tyla beherrschen. Die mit der ORION X zum Kugelsternhaufen NGC 5272 gekommenen Raum fahrer mußten hilflos mitansehen, wie der Space-Computer von Unbekannten entführt wurde. Sie selbst befanden sich nach der Notlandung in einer ver zweifelten Lage, denn eine uralte Schaltung verhinderte Start und Weiterflug ihres Raumschiffs. Aber die Kosmischen Parasiten haben einen Fehler begangen. Im Herzen von Tyla entbrennt zwischen ihnen und einem alten Bekannten der ORION-Crew ein Kampf, der die gesamte Hohlwelt zu zerstören droht. Im allerletzten Augenblick kommt die ORION-Crew mit ihren Begleitern frei, aber sie ist damit noch lange nicht in Sicherheit. Was die Expeditionsteilnehmer in der Unsichtbaren Barriere und beim Ritter der Sieben Schlösser erleben, das schil dert Hans Kneifel in seinem ORION-Roman der nächsten Woche mit dem Titel SIEBEN SIEGEL ZUM NICHTS