W. K. Giesa
Konzil der Wölfe Wölfe Professor Zamorra Hardcover Band 10
ZAUBERMOND VERLAG
Im Jahr 1582 reformierte ...
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W. K. Giesa
Konzil der Wölfe Wölfe Professor Zamorra Hardcover Band 10
ZAUBERMOND VERLAG
Im Jahr 1582 reformierte Papst Gregor XIII. den alten julianischen Kalender und ersetzte ihn durch die neue Version, die bis heute gültig ist. Damals wurde die Reform nötig, da sich die Tagundnachtgleiche seit der Einführung des julianischen Kalenders vom 21. März auf den 11. März verschoben hatte. Um die Verschiebung auszugleichen, wurde ein Datumssprung festgelegt: Auf den 4. Oktober 1582 folgte der 15. Oktober. Somit fehlen 11 Tage in der Chronologie. Aber fehlen sie wirklich? Professor Zamorra stößt verblüfft auf die Tatsache, dass es diese Tage dennoch gab! Und dass das, was damals geschah, von enormer Bedeutung für die Gegenwart ist. Unversehens sieht er sich in einen Kampf um die Existenz der Welt, wie wir sie kennen, verwickelt. Denn der Papst ist – ein Werwolf …! Und eine gnadenlose Jagd nimmt ihren Anfang, die in der Zerstörung einer ganzen Kultur enden muss!
Vorwort � Es war einmal … ein Autor, dessen Romanserie das respektable Alter von 30 Jahren erreichte. Gemeint ist PROFESSOR ZAMORRA, dessen Abenteuer seit eben diesen 30 Jahren alle zwei Wochen als Heftroman bei Bastei erscheinen, dem größten Unterhaltungsromanverlag Deutschlands, und sein Autor W. K. Giesa, in weiter zurückliegenden Zeiten auch unter dem Pseudonym Robert Lamont bekannt. Dieser Autor wurde nun gefragt, ob er anlässlich dieses Jubiläums nicht einen Doppelband für die Buchserie des Zaubermond-Verlags verfassen wolle, die seit einiger Zeit mit ihren brandneuen Romanen die Handlung der Heftserie ergänzt und hier und da Details behandelt, die den Rahmen der Hefte vom Umfang oder der Ideenbrisanz her sprengen würden. Oder die bestimmte Themen vertiefen und Charaktere deutlicher hervortreten lassen, als es im Medium Heft möglich wäre. Leichtsinnig, wie er in solchen Fällen immer ist, sagte der Autor »Ja«. Er hatte schon eine interessante Idee im Kopf, schrieb die Exposés für die beiden Romane und legte los. Die Grundidee war die Frage: was hat sich in jenen zehn Tagen des 16. Jahrhunderts abgespielt, die es in der Geschichtsschreibung nicht gibt? Die beiden Romane beinhalten dasselbe Thema, aber aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Motiven der Protagonisten. Ein zugegebenermaßen kompliziertes Thema, das zu einer mehr als verblüffenden Lösung führt. Man kann die Bücher zwar unabhängig voneinander lesen. Aber besser ist es doch, sie nacheinander zu genießen. Die Handlungen sind miteinander relativ eng verzahnt und bauen aufeinander auf. (Deshalb ist's ja auch ein Doppelband.) Dabei dürfte der erste Band die größere Überraschung beinhalten … denn hier ist alles völlig anders, als man es von den bisherigen Romanen her kennt. Warum?
Das verrate ich jetzt noch nicht. Es gibt eine Lösung, aber perfekt wird sie erst im zweiten Band … Aber jetzt wünsche ich erst einmal viel Lesespaß! Ihr und euer Werner K. Giesa Altenstadt, im November 2004
1 Der Traum vom Sterben � Gellend heult Garm vor Gnipahellir: es reißt die Fessel, es rennt der Wolf. (Die Edda: »Der Seherin Gesicht«) Die Ruhe, die man von einem Loire-Schloss erwartet, gab es auch im Château Montagne, der fast ein Jahrtausend alten Festung im Süden Frankreichs, die sich in relativer Nähe des Quellbereichs befand. Hier war die Loire noch in ihrem ursprünglichen Zustand, ohne einengend betonierte Uferbereiche und zweckgebundene Nutzung des Wasserlaufs für die Binnenschiffahrt. Wenn Professor Zamorra durch das Fenster seines Arbeitszimmers über die Landschaft unterhalb des in Hanglage befindlichen Châteaus blickte, sah er das silbrige, geschwungene Band der hier noch schmalen Loire und die breite Fernverkehrsstraße, die durch den kleinen Ort am Fuß der montagneschen Weinberge führte. Ein Bild, wie er es jeden Tag und jede Nacht sah. In mondhellen Nächten ging er hinaus und lauschte dem Gesang der Wölfe. Jetzt war es heller Tag, und der Mond ging seiner Dunkelphase entgegen. Keine gute Zeit für die Wölfe. Zamorra streckte sich im Kaminzimmer auf dem Sessel aus und sog wieder an seiner Pfeife. Er blies kunstvolle Rauchringe empor. Das Kaminfeuer knisterte. Die glühenden Scheite und die leckenden Flammen erzeugten eine Wärme, die auch die Seele erreichte. Zamorra lächelte, als er das handgearbeitete Kunstwerk über dem Kamin ansah, den stilisierten Wolfskopf mit dem freundlichen Hecheln, und zwinkerte ihm zu, als sei es ein lebendes Wesen. – Er verdankte dem Imperium der Wölfe viel. Sein Lächeln wurde noch intensiver, als seine Gefährtin Nicole Duval eintrat. Sie trug ein T-Shirt, Söckchen und Tennisschuhe –
und sonst nichts. Das ist auch schon fast zuviel, dachte Zamorra schmunzelnd. Seine attraktive Gefährtin bewegte sich gern freizügig durch die Räume des Châteaus, und auch außerhalb zeigte sie sich für gewöhnlich betont sexy. Zamorra reichte ihr sein Rotweinglas. Nicole nahm einen kleinen Schluck und setzte das langstielige Glas wieder auf dem kleinen Rundtisch mit den hölzernen Intarsien ab. Dann ließ sie sich auf der Sessellehne des Professors nieder, dessen Geliebte, Lebensgefährtin, Kampfpartnerin und Sekretärin sie war. Zamorra stutzte. Aber nicht ihretwegen. Sekundenlang glaubte er an der Wand über dem Kamin ein Kreuz zu sehen. Ein seltsames Artefakt, das ihm völlig unbekannt war: An Händen und Füßen war ein Mann an ein Kreuz genagelt, wie es die Römer einst für ihre Hinrichtungen verwendet hatten, ehe ein kluger Kopf die Guillotine erfunden hatte. Er trug einen Lendenschurz und eine geflochtene Dornenkrone. Doch dann verschwand die Erscheinung, und der Wolfskopf tauchte wieder auf. Zamorra neigte nicht zu Halluzinationen. Etwas stimmte hier nicht. So normal die Wand über dem Kaminsims auch aussah – da war etwas gewesen! Er erhob sich; Nicole kippte beinahe mit dem Sessel um. Zamorra ging zum Kamin und tastete die Wand ab. Seine Handfläche strich darüber hinweg, nahm auch die geringste Erhebung wahr. Doch er konnte nichts von dem erfühlen, was er gesehen zu haben glaubte. Er fragte sich, ob er das Amulett hinzuziehen sollte. »He«, hörte er Nicole hinter sich. »Ich bin hier, nicht an der Wand!« Sie hatte das T-Shirt abgestreift, wie er feststellte, als er sich nach ihr umsah. Sie bog den Rücken durch, ihr fester Busen reckte sich ihm vorwitzig entgegen. »Hast du es nicht gesehen?«, fragte er. »Was?« »Das Symbol an der Wand. Das Kreuz mit dem Mann …« »Der Herr Graf geruhen zu spinnen«, verkündete seine Gefährtin.
»Dir fehlt eine Portion Nicole, damit du wieder auf vernünftige Gedanken kommst.« Sie rupfte an seinem Hemd, das mit Druckknöpfen zu schließen war; so flogen wenigstens die Knöpfe nicht davon, als sie es ihm schwungvoll vom Leib pflückte. Als nächstes war seine Hose an der Reihe, mit Nicoles Bemerkung, die Gürtelschließe sei doch recht störend und hart. Inzwischen war etwas anderes hart geworden. Die süße Nicole schaffte es wie immer spielend, Zamorra abzulenken. »Mach schon«, sagte sie, als sie ihn ausgezogen hatte und sich vor ihm niederkauerte, ihm ihren hübsch gerundeten Po entgegenreckend. »Schnell, ich brauche dich …« Nur zu gern entsprach er ihrem Wunsch. Er nahm sie hart aber herzlich, wie sie es wollte, und dann noch einmal sanft und zärtlich. Später lagen sie beide erschöpft vor dem Kaminfeuer. Zamorra erhob sich, holte den Wein, und sie tranken abwechselnd aus demselben Glas. Seine Fingerspitzen berührten behutsam ihre weiche, noch vom heißen Sex glühende Haut, und Nicole griff nach seiner Hand, führte die Finger zwischen ihre Lippen und biss liebevoll zu. Zamorra sah wieder zu dem Wolfskopf über dem Kamin. Dort war alles normal. War die Erscheinung des Kreuzes ein Trugbild oder gar Magie gewesen? Er war zu erschöpft, um sich jetzt noch darum zu kümmern. Nicht einmal Nicole konnte ihn jetzt noch einmal in Schwung bringen. Irgendwann später schliefen sie ein.
Es krachte und dröhnte; das Flugzeug wurde erschüttert. Zamorra hörte Menschen verzweifelt schreien. Instinktiv zog er Nicole mit festem Griff zu sich und beugte sich schützend über sie. Er sah durch das Fenster. Sah die abgebrochenen Tragflächen flammenlodernd abwärts gleiten. Zamorra sah auch Menschen durch die Luft wirbeln. Einige von ihnen als brennende Fackeln. Die Insassen der First Class-Kabine sprangen auf. Die Stewardess, deren Aufgabe es eigentlich war, zu beruhigen, geigte selbst Panik. Zamorra sah die Cockpit-Crew. Die beiden Piloten sprangen mit ihren Fallschirmen ab.
Aber sie verhedderten sich ineinander, von Luftwirbeln geirrt, und stürzten dann wie Steine in die Tiefe. Gleichzeitig brannte ein Feuersturm in die Kabine herein, erfasste die Menschen. Zamorra und Nicole, die auf ihren Sitzen geblieben waren, wurden nur von Ausläufern der Höllenhitze gestreift. Die Flammen konnten sich an ihnen nicht festsetzen. Aber im nächsten Moment brachen weitere Teile des Flugzeugs auseinander. Neben und unter Zamorra entstand ein Riss, wurde breiter. Die in Sandwichbauweise konstruierte Hülle wurde regelrecht umgekrempelt. Plötzlich befand sich Zamorra frei in der Luft. Er hörte Nicole schreien, die sich irgendwo festzuhalten versuchte. Da wurde er schon von ihr getrennt. Ihr Schrei erstarb, aber sie lebte noch. Sie bekam nur nicht mehr genug Luft zum Schreien, die Höhenluft gut 3000 Meter über den Alpen war zu dünn, und der schneidende Wind trieb ihnen beiden die Luft aus den Lungen. Sie stürzten, wirbelten Hals über Kopf in die Tiefe, die wie ein gieriger, nach Opfern leckender riesiger Höllenschlund ihrer harrte. Rund zehn Meter pro Sekunde, durchfuhr es Zamorra. Dreitausend Meter … dreihundert Sekunden … fünf Minuten etwa bis Zum Aufschlag. Fünf Minuten, so lang wie die Ewigkeit und doch so kurz wie ein ganzes Leben. Seine Magie nützte ihm hier nichts. Mit dem Amulett konnte er den Sturz in die Tiefe nicht bremsen. Eine Bombe. Wem galt sie? Den Arabern? Dem Israeli? Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie hatte gezündet, das Flugzeug in großer Höhe zerstört und alle Insassen in den Tod gerissen. War es ein erneuter Terroranschlag von Osama bin Ladens Al-Quaidah? Plötzlich sah er einen Wölfischen. Eine Sekunde lang vielleicht, nicht länger. Dann stürmte er wieder in die Tiefe. In der Ferne schlugen irgendwo die brennenden und ausglühenden Reste des Flugzeugs auf, legten eine Feuerspur über die Berge. Und der Boden kam immer näher. Und damit der mörderische Aufschlag, der dem Leben ein Ende setzte.
Mit einem Ruck fuhr Zamorra auf. Er rieb sich die Augen. Ein Alb-
traum … Darunter litt er selten, sehr selten. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, mit den Problemen fertig zu werden, die seine Tätigkeit ihm schuf. Dabei war es anfangs schlimm gewesen. Er war ein Forscher, aber auch ein Jäger. Vordringlich letzteres. Er jagte im Auftrag des Imperiums. Er jagte Ketzer und Dämonen, die dem Wolfskult im Wege standen. Er hatte die Befugnis, sie nach eigenem Ermessen zu töten, und er hatte diesen Ermessensspielraum schon oft, sehr oft, ausgenutzt. Wenn er dabei die Möglichkeit fand, zu erforschen, womit seine Jagdopfer sich befassten, konnte er zufrieden sein. Er hatte erst lernen müssen zu töten. Sympathien und Abneigungen spielten dabei keine Rolle. Und schon bald war er in eine Position aufgerückt, die ihm Dinge erlaubte, die keinem anderen Sterblichen gestattet waren. Wenn der Wolfskult Opfer suchte, war er immun. Er konnte sich weigern, im Ritual geopfert zu werden, und niemand wagte seine Entscheidung anzuzweifeln, nicht Wolf und nicht Mensch. Es war noch nicht vorgekommen, dass ein Magus zu ihm kam und ihm mitteilte, er sei auserwählt worden, sein Blut dem Kult zu schenken. Auch Nicole war bislang verschont geblieben. Das war nichts Außergewöhnliches. Es gab einige Millionen Menschen, die zur Verfügung standen; ein gewaltiger Pool, in dem die Wölfe sich für ihre Rituale nur zu bedienen brauchten. Wenn sie kamen und sagten: »Du bist auserwählt«, so wusste der Mensch, dass er dem Imperium seinen letzten Dienst leisten musste, und es gab niemanden, der es nicht gern und willig tat. Zamorra hatte hierbei sogar eine beratende Funktion. Er konnte vorschlagen oder ablehnen, wer den Altar betrat, um seinen letzten Weg zu gehen. Er war Herr über Leben und Tod! Einer der wenigen Herren, die dem Menschengeschlecht entstammten. Doch er hatte dem Imperium schon so manchen Dienst erwiesen, und die Wölfe belohnten ihre Freunde stets. Zu ihren Feinden dagegen waren sie gnadenlos …
Früher, bis vor rund 500 Jahren, waren weit mehr Menschen gestorben. Waren von Kriegen und Seuchen dahingerafft worden, unkontrolliert und grausam. Doch seit es das Imperium gab, gab es keine Kriege mehr, denn das Imperium umfasste die ganze Welt. Es gab keine Seuchen, denn die Wölfe hatten die Wissenschaft vorangetrieben. Die alten Zeiten waren unwiderruflich vorüber, und das war gut so. Das Imperium breitete seine schützenden Pranken über die Seinen aus. Dass sich im Oktober 1582 der Mörderzeitrechnung Lupus I. auf den Papst-Thron setzte, hatte sich als Segen für die ganze Welt erwiesen. Man gab gern sein Fleisch und Blut dafür, dass dies so blieb, wenn man dafür auserwählt wurde. Man sicherte damit den Fortbestand der modernen Zivilisation, man half mit, dass es keine Kriege und keine verheerenden Epidemien mehr gab, und man sicher und zufrieden leben konnte. Als einst ein Vertreter des Imperiums zu Zamorra gekommen war, geschah das nicht, um ihn als ein Blutopfer auszuwählen. Anderenorts war man auf den Parapsychologen aufmerksam geworden. Und so suchte ihn ein ganz anderer Wolf auf, kein Verkünder, sondern ein General-Superior, und rekrutierte ihn. Ihn, einen Mann, der als Forscher und als Wissenschaftler eine Koryphäe war. Zamorra hatte die einmalige Chance sofort ergriffen, die sich ihm darbot. Er führte die Befehle der Wölfe aus, handelte immer selbstständiger und stieg in der Hierarchie der Jäger rasch auf. Er war zuverlässig und präzise, er traf klare Entscheidungen und führte sie unverzüglich durch. Die Belohnung war Macht. Macht über Leben und Tod. Er träumte nur selten von den Folgen. Langsam richtete er sich auf. Das Kaminfeuer war nahezu niedergebrannt. Ein Blick durchs Fenster zeigte, dass es Abend geworden war. Die Dämmerung breitete sich aus. Zamorra trat einmal mehr an den Kamin und tastete nach dem Wolfskopf. Doch er fand dadurch keine wirkliche Ruhe. Der Albtraum machte ihm zu schaffen, der Absturz des Flugzeugs, in dem Nicole und er sich befanden. Alles war so unglaublich realistisch gewesen. Dass es nur ein Traum war, begriff er beim Erwachen.
Solange er sich in diesem Traum befand, hatte er ihn für echt gehalten. So, als sei er in die Zukunft versetzt worden, für einen Moment, für ein paar Minuten. In ein Szenario, das er bislang noch niemals in dieser Form erlebt hatte. Er sah sich um. Vor ihm auf dem großen Yeti-Fell lag Nicole, einem malerisch hingegossenen Kunstwerk gleich. Sie sah so aufregend aus in ihrer nackten Schönheit, dass Zamorra liebend gern dort weitergemacht hätte, wo sie vor ein paar Stunden erschöpft aufgehört hatten. Er sog den Duft von Schweiß und Liebe ein. Nicole blinzelte. Erwachend reckte sie sich, sah Zamorra an und lächelte. Er half ihr beim Aufstehen und schloss sie in seine Arme, um sie zu streicheln und zu küssen. »Vorsicht«, flüsterte sie ihm zu. »Verausgabe dich nicht zu sehr.« »Hat es dir nicht gefallen?«, fragte er stirnrunzelnd und war nicht sicher, wie sie ihre Bemerkung meinte. »Wölfeln mit dir gefällt mir immer«, gab sie lächelnd zurück. »Aber ich möchte später auch noch was von dir haben.« Zamorra schmunzelte. Ein dezentes Klopfen an der Tür des Kaminzimmers ließ sie beide zusammenzucken. Zamorra ließ seine Gefährtin los und griff nach seiner Hose, um hineinzuschlüpfen. Nicole begnügte sich damit, auf dem Sessel Platz zu nehmen und die Beine hochzuziehen. Zamorra atmete tief durch; nach all den Jahren war sie immer noch berauschend. Raffael Bois, der alte Diener, trat bedachtsam ein. Er musste inzwischen einen Gehstock benutzen. Das hohe Alter – Zamorra schätzte ihn auf knapp unter 100 Jahre – zeigte seine Wirkung. Dennoch war der würdige alte Herr nicht dazu zu bewegen, in Pension zu gehen. Er behauptete immer noch, seine Arbeit ordentlich verrichten zu können. Und das schaffte er auch. Er räusperte sich. »Monsieur, Mademoiselle, wenn ich bitte Ihre geschätzte Aufmerksamkeit darauf richten darf, dass soeben Besuch eintrifft …« »Wer denn?«, fragte Zamorra. Wenn es jemand aus dem Dorf war, sollte Raffael ihn abwimmeln. Darüber hinaus hatte sich niemand
angemeldet. »Das Imperium, Monsieur …«
Das Imperium …! Nein, dessen Vertreter brauchten ihren Besuch in der Tat nicht anzumelden. Allerdings war es ungewöhnlich, dass sie am Abend kamen. Die dunklen Stunden nutzten sie oft, um auf Jagd zu gehen. »Ich erwarte die Herrschaften in meinem Büro«, sagte Zamorra. »In etwa zehn Minuten. So lange mögen sie sich gedulden. Notfalls sorgen Sie dafür, dass es ihnen nicht langweilig wird.« Nicole erhob sich. »Dafür werde ich schon sorgen«, versprach sie. Zamorra seufzte. Irgendwie ahnte er, wie dieses Dafürsorgen aussehen würde. Er ging hinüber ins Bad, duschte und kleidete sich sorgfältig an. Es konnte nie schaden, Vertretern des Imperiums so seriös wie eben möglich gegenüber zu treten. Nicole tat dies auf ihre ganz eigene Weise und völlig anders als Zamorra. Der wartete in seinem Büro auf die Besucher. Als Raffael Bois sie hereinführte, erhob der Parapsychologe sich hinter seinem wuchtigen Schreibtisch und neigte grüßend unterwürfig den Kopf. Als er ihn wieder hob, zuckte er leicht zusammen. Aber er beherrschte sich. Anstelle Raffaels stand ein wesentlich jüngerer Mann in gestreifter Butlerweste in der Nähe der Tür; ein Mann, der nicht hierher gehörte, sondern zu Lord Saris in Schottland. Was tat er hier, und wo war Raffael geblieben? Es dauerte vielleicht eine Sekunde, dann war wieder alles normal. Raffael Bois stand da; von Lord Saris' Butler war nichts zu sehen. Wieder eine Halluzination, durchzuckte es Zamorra. »Sie haben eine erfrischend bezaubernde Gespielin, Professor«, sagte einer der drei dunkel gekleideten Männer anstelle einer Begrüßung. Seine Augen schimmerten gelblich, und die Brauen waren stark gewölbt und über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Der Wolf war ihm deutlich anzusehen, auch wenn er sich ein menschli-
ches Aussehen gab. »Vielleicht sollte ich Sie bitten, sie mir für eine Weile auszuleihen.« »Bei allem Respekt, Herr – das möchte ich nicht tun«, protestierte Zamorra mit aller Sanftheit, zu der er fähig war, in der aber auch sein unbeugsamer Wille durchklang. Er war dem Imperium dankbar, er war ihm treu ergeben, aber es gab Grenzen, und er befand sich in der Position, diese Grenzen abzustecken. »Sie möchten sicher etwas anderes tun«, sagte der Wölfische. Er lächelte, als er bis vor den Schreibtisch aus tropischem Edelholz trat. Verschiedentlich waren Schnitzarbeiten, Intarsien gleich, in das Holz eingelegt, aber sie bestanden in ihrer Substanz aus den Knochen von Höllendämonen. Zamorra hatte diese selbst erlegt, zur Freude des Imperiums und speziell des Papstes Lykandomus des Dritten. Es gab immer wieder Dämonen, allen voran die aufrührerischen Vampirsippen unter Don Jaime und Tan Morano, die die Weltherrschaft zu erringen und die Wölfe zu verdrängen und auszulöschen versuchten. Zamorra räumte gnadenlos unter ihnen auf, wo immer er sie fand. Raffael blieb an der Tür. Auch die beiden anderen Wölfischen rührten sich nicht mehr, aber ihren funkelnden Augen und ihren schnüffelnden Nüstern entging nichts. Gäbe es eine Falle in diesem Zimmer, sie hätten sie längst entdeckt. Der Wölfische, der es nicht für nötig hielt, sich mit Namen vorzustellen, lächelte wieder. »Paris«, sagte er. »Dorthin möchten Sie sicher reisen.« »Was ist in Paris?« Zamorra horchte auf. »Ein alter Feind«, sagte der Wolf. »Morano. Fahren Sie hin, nehmen Sie Ihre Gespielin als Köder und löschen Sie Morano aus. Es ist eine einmalige Chance.« »Was will der Blutsauger ausgerechnet in Paris?«, fragte Zamorra. »Wir wissen es nicht. Es ist auch irrelevant. Er ist dort, und Sie sollten ihn schnellstens aufspüren und auslöschen, noch ehe er weiteres Unheil anrichten kann.« Zamorra nickte. »Das kommt mir entgegen«, sagte er. »Haben Sie einen Vorschlag, wann ich aufbrechen soll?«
»So bald wie möglich.« »Dann werde ich morgen fahren. Ich bitte Sie, über Nacht mein Gast zu sein.« »Trotz Ihrer reizenden Gespielin muss ich ablehnen«, sagte der Wölfische. »Meine Geschäfte verlangen den vollen Einsatz meiner Person. Wir werden Ihre Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen.« Er wandte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ das Arbeitszimmer. Zamorra nickte Raffael zu. Der alte Diener geleitete die Abgesandten des Imperiums zum Ausgang. Der Professor trat an das Fenster seines Arbeitszimmers und sah hinaus. Unten auf dem Hof, zwischen Brunnen und Eingangstreppe, parkte eine schwarze Maybach-Limousine. Ein menschlicher Chauffeur riss angesichts seiner Herrschaften die Fondtüren auf und verneigte sich tief. Wenig später rollte der Maybach davon. Auf den beiden vorderen Kotflügeln ragten die Flaggenständer auf und zeigten das Wappen des Imperiums; eine Wolfspranke, die sich schützend über die Erdkugel legte. Nicole tauchte auf. Sie trug ein bodenlanges, völlig transparentes Kleid und sonst nichts. Kein Wunder, dass der Wölfische so von ihr angetan gewesen war. Auch Wölfe sind fast nur Menschen, dachte Zamorra lächelnd. »Was wollten sie?«, fragte Nicole. »Mir haben sie kein Wort gesagt. Der Oberwolf deutete nur an, dass er mich dir gern wegnehmen würde.« »Ich hoffe, er hat begriffen, dass ich ihm dann die Zähne verbiege«, sagte Zamorra. »Wir sollen Tan Morano in Paris jagen und umbringen.« »Wir haben schon oft versucht, ihn zu töten, und er ist immer wieder entkommen«, wandte Nicole ein. »Warum sollte es diesmal anders sein? Es ist nicht der Mühe wert. Und wenn du mich fragst, er stellt auch keine wirkliche Gefahr dar. Selbst wenn er es schafft, alle Vampire unter seiner Führung zu vereinen, haben die Wölfe doch das größere Machtpotenzial.« »Trotzdem … es ist der Wunsch des Imperiums. Also werde ich
…« Er sprach nicht weiter. Warum fielen ihm gerade wieder seine seltsamen Visionen ein? »Mit dir stimmt etwas nicht«, sagte Nicole. Oh, sie kannte ihn so gut! Sie merkte, dass hinter seiner Nachdenklichkeit etwas ganz anderes steckte. Etwas, das sicher nichts mit dem neuen Auftrag zu tun hatte. »Erzähl's mir«, drängte sie. »Was ist los?« »Nichts.« »Na, komm schon. Ich spüre doch, dass mit dir etwas nicht in Ordnung ist, dass dich etwas bedrückt oder wenigstens bewegt. Und du weißt doch, dass wir Frauen die neugierigste Rasse des Universums sind.« Er griff nach ihrer Hand. »Komm mit«, bat er. »Ich sage es dir. Aber lach mich nicht aus.«
Sie lachte ihn nicht aus. Sie folgte ihm ins Kaminzimmer, wo sie beide noch vor ein paar Stunden »gewölfelt« hatten. Das Feuer war fast erloschen; nur die rote Glut einiger Scheite spielte zwischen schwarzen Ascheflächen. Raffael Bois hatte das Feuer niederbrennen lassen; er hatte keinen Sinn darin gesehen, es weiter flackern zu lassen. Zamorra hätte jetzt ein paar Scheite nachlegen können, aber wozu? Weder er noch Nicole waren noch in der Stimmung von vorhin. Der hochgewachsene, sportlich durchtrainierte Mann mit dem dunkelblonden Haar und den markanten, sympathischen Gesichtszügen trat an den Kaminsims. Er sah nicht gerade nach einem Professor aus, der in überfüllten Hörsälen einem gelangweilten Auditorium Dinge erzählte, die eigentlich völlig belanglos waren. Er war ein Jäger, vom Aussehen wie vom Charakter her. Seine Lehrtätigkeit an diversen Hochschulen hatte eher Alibifunktion. Er streckte die Hand aus; etwas zögernd. Nicole, hinreißend aussehend in dem durchsichtigen Nichts, beobachtete ihn stumm. Zamorra berührte den geschnitzten, hölzernen Wolfskopf an der Kaminwand.
»Was siehst du?«, fragte er. »Einen Mann, den ich liebe, und einen Wolfskopf. Was ist damit?« »Mit dem Mann, den du liebst, gar nichts.« Er grinste leicht. »Aber mit diesem Stück Holz.« Es war schon Blasphemie, so über das Symbol des Imperiums zu reden. Ein Stück Holz! Es war mehr als das. Es war heilig. Es versprach Schutz und Hilfe. Nicole sah ihn fragend an. »Vorhin sah ich …«, begann Zamorra zögernd. Als Nicole nicht reagierte, fuhr er leise fort: »Ich sah etwas anderes hier. Nicht den Wolfskopf, sondern ein Kreuz, an dem mit ausgebreiteten Armen ein Mensch befestigt war. Nein, kein richtiger Mensch. Eine Miniatur, eine Schnitzerei, wie der Wolfskopf sie ebenfalls darstellt, nur ist der lebensgroß, während meine … Figur vielleicht einen halben Meter hoch war. Ein Mann in einem Lendenschurz, mit Nägeln in Händen und Füßen an das Kreuz geheftet, mit einem leidenden Gesichtsausdruck …« »Ich denke, jeder hat einen leidenden Gesichtsausdruck, wenn man ihn an ein Kreuz nagelt«, sagte Nicole. »Der Künstler dürfte sehr realistisch gearbeitet haben.« Zamorra winkte ab. »Das ist mir egal. Künstler und Kunst oder nicht, Realismus hin und her – was mich berührt, ist die Figur an sich. Du hast sie nicht gesehen?« Nicole schüttelte den Kopf. »Es dauerte vielleicht eine Sekunde, kaum mehr oder weniger«, fuhr Zamorra fort. »Es kann Zufall gewesen sein, dass ich in genau jenem Augenblick hinsah, als der vorübergehende Austausch stattfand. Es kann aber auch eine Halluzination gewesen sein. Was meinst du dazu?« Nicole zuckte mit den Schultern. »Du musst mir schon mehr darüber erzählen«, sagte sie. Zamorra seufzte. »Es gibt noch einen weiteren Vorfall«, sagte er. »Vorhin in meinem Büro war da plötzlich anstelle von Raffael Bois ein anderer Mann. Der Butler von Lord Saris, wenn ich mich recht entsinne.«
»William«, sagte Nicole. »William«, bestätigte Zamorra. Vorhin hatte ihm der Name partout nicht einfallen wollen. Aber Nicole erinnerte sich besser. »Findest du das alles nicht seltsam?«, wollte er wissen. Nicole schüttelte den Kopf. »Ich muss dir etwas gestehen«, sagte sie. »Du hattest diese – Erscheinungen ebenfalls?« Sie nickte. »Ja. Ich dachte schon, ich sei ein bisschen betrunken, krank, neben der Welt, durcheinander, verrückt, wie auch immer man es nennen mag. Aber jetzt fühle ich mich etwas wohler. Trotzdem macht es mir Angst. Was ist das, was wir hier erleben, cheri?« Wenn ich das wüsste!, dachte der Jäger. »Allerdings habe ich andere Dinge gesehen«, berichtete sie. »Zum Beispiel unsere Autos. Da waren ein riesiges Cadillac-Cabrio und ein großer BMW, statt unserer beiden Wagen.« Natürlich. Nicole war auf Autos fixiert. Deshalb hatte sie dort vermeintliche Veränderungen gesehen. »Cheri«, sagte sie leise. »Es macht mir Angst. Etwas greift nach uns. Es ist gefährlich, und ich weiß nicht, wie wir uns dessen erwehren sollen. Das Imperium um Hilfe bitten, vielleicht?« Zamorra schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall«, sagte er. »Das müssen wir allein durchkämpfen.« »Ich verstehe. Du würdest dein Gesicht verlieren, wenn du das Imperium um Hilfe bitten würdest.« »Und meine Macht, meinen Einfluss«, ergänzte er. »Beides will ich nicht aufgeben. Für uns kann sehr viel davon abhängen.« »Du glaubst, der Papst entzieht dir seine Gunst.« »Ich muss damit rechnen«, nickte Zamorra. »Deshalb werde ich keinem Wolf etwas von diesen Erscheinungen sagen. Ich muss wissen, ob es sich um reale Manifestationen handelt, oder ob es rein illusionär ist. Mit letzterem werden wir leichter klarkommen. Wenn es aber materielle Erscheinungen sind, haben wir ein Problem. Woher kommen sie, weshalb existieren sie nur so kurz, um ihren Platz ebenso schnell wieder zu räumen?«
»Wie können wir das herausfinden?« »Lass mich ein wenig darüber nachdenken«, bat er. »Ich weiß, ich werde eine Lösung finden. Wir werden sie finden«, verbesserte er sich rasch. Was war er denn ohne Nicoles Hilfe und Unterstützung? Ein einsamer Mann, dem bei weitem nicht so viele Möglichkeiten zur Verfügung standen, wie sie ihm mit ihren Ideen eröffnen konnte. Er zog sie zu sich heran, fühlte ihre warme Haut unter dem hauchdünnen, transparenten Gewebe, und küsste ihre Stirn. Sie drehte sich rasch wieder aus seiner Umarmung und lächelte ihn an. »Wecke keine schlafende Wölfin in mir«, sagte sie. »Du brauchst deine Kraft jetzt für wichtigere Dinge.« Es galt, ein unheimliches Rätsel zu lösen.
Zamorra blätterte in den uralten Schriften. Die Bibliothek, die sich über zwei Etagen erstreckte, war mehr als umfangreich. Mehr Wissen, vermutete Zamorra, hatte höchstens der Zauberer Merlin in seinem Saal des Wissens angesammelt. Wieviele Schriften die Bibliothek des Châteaus umfasste, hatte Zamorra nie gezählt, und immer wieder kam Neues hinzu. Uralte Bücher und meist handschriftlich verfasste Folianten, sogar Runentafeln fanden sich hier. Außerdem moderne Werke, Zeitschriften und Kopien von Fachartikeln. Und alles befasste sich mit Magie, Mythologie, Mystik, mit Parapsychologie und anderen Grenzwissenschaften. Zamorra suchte nach Stichworten. Er ging dabei systematisch vor. Eine Kanne Kaffee half ihm dabei, einigermaßen konzentriert und aufmerksam zu bleiben. Nach einer Weile entdeckte er in einem uralten Buch, das unter seinen Berührungen beinahe zerbröselte, was er suchte. Es war eine Übersetzung aus dem Lateinischen, dem wiederum eine altgriechische Vorlage diente, welche ihrerseits aus dem hebräischen Original stammte. DIE BIBEL, las Zamorra den Titel des Buches, ODER DIE GANZE
HEILIGE SCHRIFT. Um sie zu lesen, hätte er vermutlich Wochen oder Monate gebraucht. Und von dem Übersetzer, einem gewissen Dr. Martin Luther, hatte er noch nie etwas gehört, aber dessen Wortwahl und Satzkonstruktionen entstammten der Zeit um das Jahr 1500. Das machte es nicht gerade einfacher, zumal Zamorra für sich selbst den Text noch einmal ins Französische übersetzen musste. Er beherrschte Deutsch zwar ausgezeichnet, aber dennoch … In dem Buch steckte ein Hinweiszettel, handschriftlich verfasst. Nicoles Schrift. Es war ein Verweis auf eine andere Quelle. Zamorra fand das Buch nach längerem Suchen; es befand sich an einem Platz, wo es nicht weiter auffiel, es war verstaubt, als habe niemand es berührt, seit es hier abgelegt worden war, und es war sehr dünn. Keine fünfzig Seiten umfasste es und behandelte auf wenigen davon besagten Dr. Luther. Der Rest des Büchleins war anderen, sicher ebenso wenig bekannten Figuren gewidmet. Das Buch trug auf dem Umschlag das Siegel der Vatikanischen Bibliothek: ein aufgeschlagenes Buch, über dem die Augen eines Wolfes wachsam spähten. Dieser Luther sollte einer geheimen Sekte angehört haben, hieß es im Text. Eine Sekte, die Menschenopfer darbrachte, indem sie die dazu Auserwählten an ein Kreuz nagelten, wie es in ferner Vergangenheit die Römer gemacht haben sollten. Das »Bibel« genannte Buch sollte die esoterische Grundlage der Sekte sein, die vor gut zwei Jahrtausenden im Nahen Osten entstanden sei, aber niemals eine Chance bekommen habe, sich auszubreiten und ihren eigenen Machtansprüchen Genüge zu tun. Dem Text zufolge hatte einst ein römischer Kaiser damit begonnen, mit dieser Sekte aufzuräumen, und schließlich hatte Papst Lupus I., auf den die Gründung des Imperiums der Wölfe zurückging, auch den letzten Sektierer aufspüren und auslöschen lassen. Einschließlich des Dr. Luther, nur hatte der vor seinem Tod noch jene gewaltige Übersetzung fertigstellen können. Zamorra lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte das schmale Büchlein beiseite. Ein Mann, der an ein Kreuz genagelt war … ein Opferritual dieser Sekte? Aber warum hatte sich ihm dieses Bild gezeigt, wenn es diese Sekte doch schon seit fünf Jahrhunderten nicht
mehr gab und sie dem Imperium hatte weichen müssen? Und dass er anstelle Raffaels einen anderen Mann gesehen hatte, konnte doch mit der Sekte auch nichts zu tun haben! Und darüber hinaus gab es noch Nicole, die die falschen Automarken gesehen hatte … Es war, als werde diese von einer anderen Welt überlappt, als züngele etwas von anderswoher herein. Für Sekunden nur, aber immerhin … Eine Welt, in der die Sekte der Kreuzschläger – wie hieß sie noch? Christen, entsann sich Zamorra – eine Welt, in der die Christen-Sekte noch existierte? Und in der das Imperium geschwächt war, vielleicht überhaupt nicht mehr existierte? Dass der Wolfskopf verschwunden gewesen war im Austausch gegen den gekreuzigten Mann, deutete zumindest darauf hin! Zamorra fröstelte. Das Gefühl einer unendlichen Gefahr breitete sich in ihm aus. Er wusste nur zu gut, dass es andere Existenzebenen gab. Andere Welten und Dimensionen, die sich in wenigen oder auch vielen Punkten voneinander unterschieden! Wenn eine dieser Ebenen begann, die Realität zu ersetzen … was wurde dann aus dem Imperium? Was wurde aus der Menschheit? Was wurde aus ihm, Zamorra, und aus Nicole? Er musste mehr wissen. Er musste alles wissen! Und wieder stürzte er sich auf seine Arbeit, in den alten Schriften zu forschen. Den Auftrag des Imperiums, in Paris den Vampir Morano zur Strecke zu bringen, hatte er vergessen. Es gab jetzt Wichtigeres!
Irgendwann weckte ihn Nicole. Zamorra schreckte auf. Er kehrte zurück aus einer anderen Welt, aus einem Traum, in welchem er von den Fängen eines Wolfes zerfetzt wurde, Stück um Stück, doch er hatte aus diesem Albtraum nicht erwachen können. Erst jetzt, wo Nicole ihn berührte und rüttelte, gelang es ihm.
Er brauchte ein paar Sekunden, um sich an die veränderte Umgebung zu gewöhnen. Er befand sich in der Bibliothek, auf der Galerie, im Sessel über den Tisch und ein aufgeschlagenes Buch gesunken. »Was … was ist passiert?«, fragte er heiser. Seine Stimme klang, als könne er sich nicht richtig artikulieren. »Nicole?« »He, das muss ja ein spannender Roman sein, den du da hast«, sagte sie forsch. »Bist wohl glatt über der Lektüre eingeschlafen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Kein Roman«, krächzte er. Sein Blick ging zur Uhr. Als er das letzte Mal hingeschaut hatte, war es sieben Uhr morgens gewesen. Jetzt standen die Zeiger auf elf. Er war in der Bibliothek eingeschlafen! Das war ihm in seinem ganzen Leben bisher vielleicht zweimal passiert. Aber jene beiden Male war es um wesentlich banalere Dinge gegangen. »Ich habe geträumt, ein Wolf würde mich töten«, sagte er. »Ein Wolf?« Er erinnerte sich an den Traum von gestern, bevor die Abgesandten des Imperiums auftauchten. Da war er mit einem brennenden Flugzeug abgestürzt. Jetzt das hier … Zweimal sterben in 24 Stunden war genug! »Und du?«, wollte er wissen. »Wie fühlst du dich? Hast du neuerdings auch Albträume?« Sie schüttelte den Kopf. »Seltsame Bilder, die ich nicht verstehe. Allerdings habe ich ganz normal geschlafen. Ich wollte dich nicht stören, aber vorhin, nach meinem Erwachen, habe ich noch ein wenig recherchiert und bin auf etwas Interessantes gestoßen.« »Und das wäre?«, fragte er, immer noch nicht ganz bei der Sache, weil die Fetzen seines Albtraums in ihm nachwehten. »Pater Aurelian«, sagte Nicole gelassen.
»Aurelian«, murmelte Zamorra versonnen. Angenehme und unangenehme Erinnerungen verbanden sie beide miteinander. Sie hatten einen Teil ihrer Studienzeit miteinander verbracht, waren Freunde gewesen. Während sich Zamorra den Grenzwissenschaften ver-
schrieb, fühlte sich Aurelian von der Theologie angezogen. Sie zogen gemeinsam durch die Studentenkneipen, besuchten unterschiedliche Vorlesungen und Seminare, legten ihre Prüfungen ab. Irgendwann trennten sich ihre Wege, um aber immer wieder kurzzeitig zusammenzufinden. Aurelian wurde kein Priester, kein Prediger. Das stand ihm als Nichtwolf nicht zu, aber er wurde Hüter der vatikanischen Bibliotheken. Zamorra wunderte das nicht. Sie liebten beide Bücher und vergrößerten, wann und wo immer es ging, ihre eigenen Sammlungen. Zamorra war sicher, dass sein alter Freund von damals irgendwo eine große Sammlung an religiösen und kultischen Schriften angelegt hatte. Aber sie waren nie dazu gekommen, darüber zu reden, wo diese Sammlung sich befand. Während Zamorra bald an der Loire seßhaft wurde, in diesem netten, teilweise renovierungsbedürftigen Château, dessen wichtigste Bereiche er inzwischen hatte ausbauen lassen, war Aurelian scheinbar ein Nomade geblieben. Er hielt sich zwar oft im Vatikan auf, aber ob er dort auch eine Klause bewohnte oder irgendwo sonst in Rom eine Wohnung hatte, erfuhr Zamorra nie. Wenn sie sich trafen, dann immer an öffentlichen Plätzen, in Restaurants oder in Hotelzimmern, in denen sich der Parapsychologe einquartierte, wenn er in der Hauptstadt der Welt war. Aurelian … Eines Tages war eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Nicht schleichend, über Jahre hinweg, sondern praktisch von einem Tag zum anderen. »Ich wurde erleuchtet«, sagte er einmal. »Mein Stern ging auf und wies mir den Weg, den ich künftig gehen muss. Ganz egal, wohin er mich führt.« Er glaubte nicht mehr an den Schutz der Wölfe, an die gütige Hand des Papstes. »Dieser ist nicht der Papst, den ich anzuerkennen bereit bin«, sagte er. »Er ist nicht der Stellvertreter Gottes, sondern sein Feind.« »Was redest du da für einen närrischen Mist?«, fuhr Zamorra ihn an. »Bist du betrunken? Hast du am verbotenen Blut genascht?« »Du verstehst nicht, was mich umtreibt«, bedauerte Aurelian. »Du bist ein Ketzer geworden«, warf Zamorra ihm vor. »Warum?
Warum tust du unserer Freundschaft das an?« »Es gibt Dinge, die größer sind als Freundschaft«, erwiderte der Pater bedrückt. »Ich habe Angst davor, dass ich nicht mehr dein Freund sein kann. Komm mit mir, und ich zeige dir den richtigen Weg.« »Ich bin auf dem richtigen Weg«, murrte Zamorra. »Aber du hast dich offenbar verirrt. Welchem Irrglauben bist du verfallen? Du musst dich daraus lösen. Geh zu einem Wolf, beichte ihm, was dir widerfuhr. Man wird dir vergeben und dich auf den richtigen Weg zurück führen. Du bist als Hüter der vatikanischen Bücher ein mächtiger Mann, den sie nicht werden fallen lassen wollen …« »Ich bin es nicht mehr«, gestand Aurelian. »Ich habe meinen Abschied genommen. Ich kann dem Mörder-Imperium der Wölfe nicht länger dienen. Was ich bislang getan habe, was wir alle getan haben, ist falsch! Zamorra, mein Freund, besinne dich. Noch ist es nicht zu spät …« »Geh«, sagte Zamorra. »Du weißt, was ich bin, was ich jetzt eigentlich tun muss?« Aurelian sah ihn erschrocken an. »Das – das wirst du nicht tun! Ich wehre mich, alter Freund, aber ich will dich nicht verletzen!« »Du könntest es nicht einmal. Ich bin ein Jäger – der Jäger. Du wärest tot, bevor du begreifen könntest, wie dir geschieht. Aber ich will dich nicht töten, Aurelian, um unserer Freundschaft Willen. Deshalb geh jetzt, und sieh mich niemals wieder. Es sei denn, du kehrst zum wahren Glauben zurück.« »Zum Glauben an die Versklavung, an die willenlose und bedingungslose Unterwerfung? Nein, es ist vorbei … alles ist vorbei …« Und dann war er gegangen, um niemals zurückzukehren. Aber man hörte von ihm. Hier und da starben Wölfe durch seine Hand. Wo er auftrat, bekehrte er gläubige Menschen zu der Sekte, der er anheim gefallen war. Er, der verführte Verführer, wurde zum Feind des Imperiums. Man erklärte ihn zum Vogelfreien. Aber niemand bekam ihn je zu fassen. Pater Aurelian war ein Phantom. Und Zamorra konnte nicht mehr sein Freund sein. Nie mehr.
»Was ist mit ihm?«, fragte Zamorra. »Was hast du herausgefunden?« Nicole lächelte etwas verloren. »Ich bin nicht sicher, ob es dich begeistern wird«, sagte sie. »Er befindet sich in Paris, und die Sekte, der er angehört, kenne ich jetzt auch beim Namen: Sie nennen sich Christen.« »Ausgerechnet!«, stieß der Jäger hervor. »Das kann doch kein Zufall sein!« Er deutete auf die Bücher, mit denen er sich beschäftigt hatte, und die übereinander gestapelt lagen. »Christen … dieser Mann am Kreuz, diese Figur, die ich gestern für eine oder zwei Sekunden gesehen habe – sie ist ein Symbol dieser Sekte!« Nicole pfiff leise durch die Zähne. »Das wusste ich nicht.« »Woher auch? Kaum jemand weiß es, vielleicht ein Dutzend Menschen auf der ganzen Welt. Die Sekte ist doch von Lupus I. ausgelöscht worden! Aurelian gehört ihr also an …« Er machte eine Sprechpause, ehe er fortfuhr: »Allerdings habe ich es geahnt … nein, befürchtet, seit ich von der Sekte las. Nici, es kann kein Zufall sein. Aurelian ist in Paris, ich sehe das Symbol seiner Sekte, und das Imperium schickt mich nach Paris, um Morano zu erledigen!« »Du glaubst, die Wölfe haben dich …« »Nein!«, widersprach er. »Sie wissen nichts von Aurelian, da bin ich sicher. Sonst hätten sie mich direkt auf ihn angesetzt. Nein, ihnen geht es wirklich um den Vampir. Dass auch Aurelian in Paris ist, macht die Sache allerdings kompliziert. Ich glaube, er lockt mich mit der Magie seiner Sekte an. Er will, dass ich eine Spur finde und zu ihm komme.« »Aber was bezweckt er damit? Er muss doch davon ausgehen, dass du ihn töten wirst.« »Vielleicht hat er einen Trumpf in der Hinterhand. Vielleicht hat er sich mit den Vampiren verbündet und will mich in eine Falle locken? Bei einem Mann seiner Art muss man damit rechnen.«
»Was wirst du tun?« Er zuckte mit den Schultern. »Nach Paris fahren, natürlich. Und Aurelian zur Strecke bringen. Danach kümmere ich mich um Morano.« »Aber das Imperium will, dass du den Vampir tötest.« »Man wird verstehen, dass ich Aurelian den Vorzug gebe. Ich habe ihn lange genug gejagt. Jetzt ist es an der Zeit, es zu beenden.« Er erhob sich aus dem Sessel. »Hat Raffael schon das Frühstück serviert?« Nicole schüttelte den Kopf. »Es wusste ja niemand, was mit dir ist.« »Dann soll er es tun. In der Zwischenzeit … vernasche ich dich.« Dagegen hatte sie nichts einzuwenden. So konnten die Tage ruhig immer beginnen.
Bevor sie abreisten, versuchte Zamorra noch mehr über jene Sekte herauszufinden. Jetzt, da er relativ genau wusste, wonach er suchen musste, fand er bald noch einige verbotene Schriften in seinem riesigen Archiv. Ein »Normalsterblicher« hätte sich damit niemals erwischen lassen dürfen. Schon der Besitz dieser Schriften war strafbar, selbst wenn man sie nur irgendwo herumliegen hatte und noch nicht einmal darin las. Vermutlich kostete es den Besitzer den Kopf. Bei Zamorra lag die Sache anders. Als Dämonenjäger genoss er Privilegien, wie sie kaum einem anderen Menschen gewährt wurden. Schließlich musste er sich einen Überblick verschaffen können über alles, wohinter LUZIFER und seine Gefolgschaft standen, musste sich in deren Denken hineinversetzen können. Daher durfte er, was andere nicht durften … Er blätterte in den Schriften. Die Sekte der Christen musste vor etwa zwei Jahrtausenden gegründet worden sein, und sie hatte ihren Ursprung angeblich in einem Revolutionär, der sich gegen die römische Obrigkeit stellte. Daran hatte sich wohl bis heute nichts ge-
ändert. Allem Anschein nach waren jene, die heute noch oder wieder den Christen zugehörig waren, immer noch Erzfeinde des Imperiums. Immer wieder schienen es einige zu schaffen, den Aufräumaktionen des Imperiums zu entgehen. Die Christen waren offenbar nicht totzukriegen … Zamorra konnte sich nicht erinnern, bislang jemals einem dieser Christen begegnet zu sein. Aber was nicht war, konnte noch werden. Dass ausgerechnet Aurelian auf diese Sektierer hereingefallen war und sich ihnen angeschlossen hatte, bestürzte den Parapsychologen. Als eine »Ur-Religon« bezeichneten die Sektierer ihren Glauben selbst, ignorierten dabei aber, dass sie selbst aus einer noch viel älteren Irr-Glaubenslehre entstanden waren. Juden nannten jene sich, Kinder Israels – es gab da etliche Bezeichnungen. Auch diese Ur-Religion hatte ihre Heimtücke bewiesen, indem ein Anführer namens Moses Schwarze Magie in ihrer radikalsten Form anwandte und eine ägyptische Armee samt ihrem Herrscher brutal ersäufte. Zamorra lief es kalt den Rücken hinunter. Das Imperium der Wölfe war niemals so grausam gegen seine Feinde vorgegangen. Im Gegenteil; die Wölfe hatten das Blut der Feinde nicht verschwendet, sondern stets in sich aufgenommen. Dieses Ritual ermöglichte dem Opfer eine Form des Weiterlebens im Wolf. Damals sollte ausgerechnet jene Sekte auf dem besten Weg gewesen sein, weltbeherrschend zu werden. Doch Papst Lupus I. hatte sie ausgetilgt und den Wölfen den Weg bereitet. Schon sehr bald war das Römische Reich, aus dem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hervorging – das mit dem Deutschen Reich eigentlich nichts zu tun hatte und auch einen viel weiteren Kulturkreis umfasste –, zum Imperium der Wölfe geworden. Es war gut, fand Zamorra, dass sich im Imperium ein starker Machtfaktor fand, der den diabolischen Mördersekten Einhalt gebot, und er war froh darüber, dem Imperium mit all seinen Fähigkeiten dienen zu dürfen. Schließlich erhob er sich und zitierte Raffael herbei. Der Diener
konnte die Bücher und Schriftrollen wieder einsortieren, wohin sie gehörten. Für Zamorra und Nicole war es an der Zeit, aufzubrechen.
Zamorra brauchte nicht viele Dinge mitzunehmen. Seine Standardausrüstung an magischen Utensilien passte in den kleinen Aluminiumkoffer, sein Amulett trug er unter dem Hemd an der Halskette vor der Brust – und um einen Vampir zu erledigen, benötigte er eigentlich nur Hammer und Eichenpflock. Was Aurelian anging … der Mann, dessen Freund er einmal gewesen war, war eben nur ein Mensch. Nicht einmal einer, der ein paar Zaubertricks beherrschte. Es sei denn, überlegte der Dämonenjäger, Aurelian hätte in der langen Zeit, die sie nun schon von eineinander getrennt waren, eine Menge dazugelernt. Aber daran glaubte Zamorra nicht. Aurelian war alles andere als ein Zauberer. Magie war nicht sein Fall. Deshalb hatte er Zamorra auch damals, vor einer kleinen Ewigkeit, den Ring mit dem rubinroten Stein überlassen, den er von Merlin erhalten hatte. Damals, bevor ihre Wege sich trennten … Dass Merlin ein mächtiger Zauberer war, hatte Aurelian nie akzeptiert. Er hielt ihn für einen alten Mann, der ein paar Tricks beherrschte und sehr von sich überzeugt war, sich geradezu angeberisch verhielt. Merlin hatte jedem von ihnen einen Ring gegeben. Die Steine funkelten Rot wie Rubin und Blau wie Saphir. Aber sie waren weder das eine noch das andere. Sie waren etwas … Magisches. In ihnen manifestierte sich eine Kraft, die Zamorra manchmal spüren konnte. Blau, so hatte Merlin gesagt, stehe für die Zukunft und sei Zamorra vorbehalten, Rot dagegen stehe für die Vergangenheit und betreffe damit Aurelian. Zamorras Studienfreund gefiel diese Formulierung nicht. »Das klingt gerade so, als hätte ich keine Zukunft, sondern lebte irgendwie in der Vergangenheit. Beim Wolfszahn, so rückständig bin ich doch wirklich nicht, oder?« Zamorra hatte den Kopf geschüttelt. Und Aurelian hatte ihm den roten Ring gegeben. »Bei dir ist er besser aufgehoben. Ich kann ja doch nichts damit anfangen, und ir-
gendwie gehören diese Ringe zusammen.« So wie Zamorra und Aurelian zusammen gehörten, damals, ehe Aurelian einen anderen Weg ging. Zamorra war nicht sicher, ob es richtig war, dass er den Ring nahm. Immerhin hatte Merlin sich bestimmt etwas dabei gedacht, als er die beiden magischen Schmuckstücke verteilte. »Nutzt sie gut«, hatte er gesagt, »und vergesst nie, dass sie nur mit dem Zauberspruch der Macht zusammen funktionieren.« Er hatte ihnen erklärt, was sie zu tun hatten, um die Magie der Ringe zu wecken und sie wirksam werden zu lassen. Aber so wie Aurelian die Magie grundsätzlich ablehnte, war in diesem Fall auch Zamorra nicht sicher, ob Merlin nicht nur irre redete. Der blaue Stein sollte eine Reise in die Zukunft ermöglichen? Bedeutete das nicht, dass die Zukunft etwas fest Stehendes, Unabänderliches war? Das jedoch widersprach allem, was Wissenschaftler bislang herausgefunden hatten. »Natürlich sind Zeitreisen in die Zukunft möglich«, hatte Mostache, der Wirt im Dorf unterhalb von Château Montagne, spöttisch gesagt, als Zamorra ihm einmal davon erzählte. »Wir erleben sie doch jeden Tag! Wir reisen ständig mit einer Geschwindigkeit von vierundzwanzig Stunden pro Tag weiter in Richtung Zukunft!« So ins Lächerliche gezogen mochte Zamorra die Sache aber nicht sehen, und mehrere Wochen blieb er der kleinen Kneipe fern. Nicht, um Mostache abzustrafen, sondern um das Thema in Vergessenheit geraten zu lassen. Warum Zamorra sich ausgerechnet jetzt diesen roten Ring an den Finger steckte, konnte er selbst nicht sagen. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass er Aurelian wiedersehen würde. Wiedersehen, um ihn zu töten, denn als Christ ist er ein Feind des Imperiums. Vielleicht hoffte etwas in ihm, Aurelian durch den Anblick des Ringes bekehren zu können? Vielleicht sogar, ihn leichter töten zu können? Er stopfte etwas Ersatzkleidung in die Reisetasche, unter anderem für die nächtlichen Aktionen, in denen seine normalerweise bevorzugten weißen Anzüge zu auffällig waren. Unten in der Halle traf er auf Nicole. Ihr Koffer war etwas größer als seiner – völlig normal. Es
war Mademoiselle ja nicht zuzumuten, dass sie morgens und abends das gleiche Outfit trug … Jetzt trug sie eine dünne Bluse und ein verwegen kurzes Röckchen, mit dem sich andere Frauen sicher nicht zu bücken gewagt hätten. Nicole genoss es, die begehrlichen Blicke der Männer zu sehen, sie anzuheizen. Das bedeutete aber nicht gleichzeitig, dass sie für diese Männer verfügbar war. Das war sie, wenn überhaupt, ausschließlich für Zamorra. Sie blieb ihm treu, und er ihr. »Wo steckt Raffael?«, brummte Zamorra. »Hat er den Rolls-Royce aufgetankt?« »Was sollen wir mit dem Rolly?«, fragte Nicole, die Augenbrauen hebend. »Nach Paris fahren«, sagte Zamorra. »Ich dachte, das sei eine gute Idee – besser als die, den Weg zu Fuß zurückzulegen.« »Sicher. Aber mit dem Rolly finden wir doch nirgendwo eine Parklücke. Dieses Riesenschiff ist für die Innenstadt total ungeeignet. Ich habe eine bessere Idee, Chef. Wir fahren im BeQueeny.« Zamorra verschluckte sich beinahe. »Wie bitte? Im Bikini?« Er hüstelte. »Bei dir mag das ja noch angehen, aber wenn ich mir mich in so einem Dingsbums vorstelle … autsch!« Nicole grinste ihn spitzbübisch an. »Oh, die Idee ist gar nicht so schlecht. Du in meinem Bikini und ich in deiner Badehose … nein, Unsinn, cheri. Nimm mal die Bohnen aus deinen Ohren. Ich sage BeQueeny, nicht Bikini.«* Der Dämonenjäger verdrehte die Augen. Richtig, vor ein paar Tagen hatte Nicole sich ein neues Auto zugelegt. Einen englischen Kleinwagen, als Cabrio, den Mini Cooper BeQueeny. »Rasendes Erdbeerkörbchen« hatte Zamorra gutmütig gespöttelt, der schwere Luxuslimousinen vorzog. Die ließen sich besser gegen dämonische Magie abschirmen, was dann ähnlich wie ein faradayscher Käfig funktionierte. *ein Wortspiel. »Be Queeny« – »Sei wie eine kleine Königin« oder »Sei königlich«, klingt in der Aussprache ähnlich wie »Bikini«. Aber erstens ist es sehr schlechtes Englisch, und zweitens gibt es dieses Automodell in unserer Welt – vielleicht? – nicht …
Bei dem offenen Kleinwagen ging das nicht. Aber wichtig war, dass er Nicole gefiel. Das Vehikel war mit allen technischen Gimicks ausgestattet, die der Erfindungsgeist der Ingenieure hervorgebracht hatte. »Einschließlich der Beifahrer-halt's-Maul-Schaltung«, hatte Nicole fast glaubhaft versichert, als sie mit dem knallroten Cabrio vorfuhr. Zamorra nickte. Er trug das Gepäck zum Wagen und verstaute es auf der Rückbank. Es passte gerade noch. »Weißt du, was das bedeutet, Liebste?«, fragte er mit hinterhältigtriumphierendem Lächeln. »Du wirst es mir sicher gleich sagen.« »Dass du keine großen Einkäufe in den Pariser Boutiqen machen kannst«, schmunzelte er. »Weil die Sachen auf dem Rückweg nicht in dieses Minimum von fahrbarem Untersatz passen.« »Oooch, da ist doch noch der Beifahrersitz«, erwiderte sie. »Du kannst ja dann mit der Bahn zurück fahren. Oder wir beauftragen einen Kurierdienst, der die Sachen direkt zum Château bringt. Oder ich behalte die neuen Sachen gleich an und gebe die alten in die Kleidersammlung. Oder …« »Oder du setzt dich jetzt erst mal hinters Lenkrad, damit wir vom Platz kommen«, unterbrach Zamorra sie. Er zwängte sich auf den Beifahrersitz. Der Wagen war ihm etwas zu eng geraten, der Sitz hatte für seine Körpergröße zu geringe Verstellmöglichkeiten. Außerdem fühlte er sich zu nahe am Karosserieblech. Im Falle eines Unfalls bot eine ausladende Karosserie doch mehr Schutz, weil sie länger brauchte, sich so zusammenzufalten, dass die Komponenten den menschlichen Körper erreichten. Außerdem hatte man beim Einatmen nicht gleich die anderen Insassen quer unter der Nase kleben. Aber wenn Nicole der Wagen gefiel – mochte sie damit fahren. Und irgendwie hatte sie Recht; in der ständig Verkehrsinfarkt gefährdeten Innenstadt war das kleine Ding durchaus praktisch bei der Parkplatzsuche. Leider hatten zu wenig andere Verkehrsteilnehmer Respekt vor einem Rolls-Royce, und Zamorra wollte nicht immer den Imperiumsständer auf den Kotflügel setzen und Sonderrechte in Anspruch nehmen.
Wenig später waren sie unterwegs. Einen Moment lang sah Zamorra im Rückspiegel einen Mann, der im Eingang des Châteaus stand und ihnen nachblickte. Er glaubte den schottischen Butler zu erkennen. Aber dann gab es dieses Bild nicht mehr. Wieder eine dieser Halluzinationen … Es wurde Zeit, etwas dagegen zu unternehmen!
Während sie Kilometer um Kilometer zurücklegten, grübelte Zamorra weiter über die Christensekte. Wenn er es genau betrachtete, hatte er beim Überprüfen der verbotenen Schriften nicht wirklich viel herausgefunden. Er hatte nicht alles lesen können, und es gab nur relativ wenig überliefertes Material, wenn man es mit der Geschichte und den Lehren des Vatikans verglich. »Worüber denkst du nach?«, fragte Nicole zwischendurch, der Zamorras anhaltende Schweigsamkeit langsam unheimlich wurde. »He, denkst du an Aurelian?« »Auch«, gestand Zamorra. »Diese vermeintlichen Zufälle gehen mir nicht aus dem Kopf. Da steckt doch irgendeine höhere Planung hinter. Ich überlege …« »Ob du vielleicht Merlin um Rat bitten solltest?« Zamorra nickte stumm. »Ich glaube nicht, dass er dir dazu etwas erzählen wird. Aus solchen Dingen pflegt er sich wohlweislich heraus zu halten. Und du weißt, dass er dem Papst und dem Imperium skeptisch gegenüber steht.« Wieder nickte Zamorra; sie hatte Recht. Allerdings war Merlin nicht nur dem Imperium, sondern auch allen möglichen Sekten gegenüber skeptisch. Manchmal fragte sich der Dämonenjäger, woran Merlin glaubte. Selbst die Dämonen der Hölle glaubten an eine höhere Macht – an LUZIFER. Konnte ein Mensch überhaupt ohne Glauben leben? Aber Merlin ist sicher alles andere als ein Mensch, dachte Zamorra. Er ist etwas Unglaubliches, etwas, das wir niemals verstehen werden. Wir
nicht, und auch die Wölfe nicht. Und sie halten ihn nicht für ihren Freund. Dennoch bekämpften sie ihn nicht, sondern ignorierten seine Existenz einfach, soweit das möglich war. Er seufzte. Nicole begriff, dass er nicht reden wollte, nicht jetzt, und ließ ihn in Ruhe. Irgendwann schloss er die Augen. Und schlief ein. Und erwachte mit einem wilden Schrei, als ein Wolf ihn tötete!
2 Stadt der Liebe, Stadt des Todes � Du solltest dich des Elften Gebotes erinnern und es aufs Wort befolgen. (Robert Anson Heinlein) Im fahlen Licht der Kerzen erschien das Gesicht des hochgewachsenen Mannes wie ein zweidimensionales, cartoonhaftes Schwarzweißbild. Die Kerzen, drei mal sieben an der Zahl, waren so angeordnet, dass der Rest des Raumes im Schatten lag. Vor dem hageren Mann auf dem einfachen Holztisch lag eine entfaltete Schriftrolle, dahinter ein aufgeschlagenes Buch. Der Mann, dessen scharfen Augen nicht das Geringste entging, sah zu dem großen Holzkreuz hinüber, das sich an der Rückwand des Zimmers befand. Es trug die aus Holz handgeschnitzte Figur eines Menschen. Der Künstler, der dieses Kruzifix geschaffen hatte, musste von seiner göttlichen Mission durchdrungen gewesen sein. Allein das Gesicht des Gekreuzigten spiegelte alles Leid dieser Welt, allen Schmerz, alle Verzweiflung, aber auch alle Hoffnung. Es war, als sei die Figur nicht einfach nur ein Stück Holz, sondern ein lebendiges Wesen. Aurelian lächelte. Auch ihn durchströmte die Hoffnung, die von diesem Symbol ausging. Doch er besaß auch eine gesunde Portion Realismus. Das, was er tun musste, würde die Welt retten, aber auch sein Leben fordern, seine Existenz auslöschen. Denn seine jetzige Existenz war untrennbar mit der Welt verknüpft, in welcher nicht mehr der Gott der Güte und Vergebung seine schützende Hand über die Menschen hielt, sondern in der sich die Pranken der Wölfe um die irregeführten und verlorenen Seelen krallten. Jemand oder etwas hatte Pater Aurelian in diese bizarre, brutale
Welt geworfen. Eine Welt, von der er wusste, dass er schon immer in ihr gelebt hatte. Aber sie war anders als die, in der er sich heimisch fühlte! Es schien ihm, als habe sie sich grundlegend verändert. Nur er, Aurelian, war unverändert geblieben. Ihm war klar, dass er Hilfe benötigte. Hilfe von dem Mann, der einmal sein Freund gewesen war. Denn ihm hatte er Merlins Ring gegeben, der einen Weg in die Vergangenheit öffnen konnte. Es war eine Magie, die Aurelian akzeptieren musste, wie auch die Existenz der Höllendämonen an sich. Es war aber auch eine Magie, die er akzeptieren konnte, weil sie neutral war. Sie war nicht gut und nicht böse. Sie war einfach. Würde er Professor Zamorra überreden können, ihm zu helfen? Immerhin standen sie auf verschiedenen Seiten. Sie waren Gegner geworden. Aurelian wusste, dass sein einstiger Freund Jagd auf ihn machte und ihn vermutlich töten würde. Das war es nicht, was Aurelian fürchtete. Denn wenn er Erfolg hatte, bedeutete das ebenfalls seinen Tod. Er wusste, dass er in einer anderen Welt, einer anderen Zeit – was auch immer es sein mochte – bereits gestorben war. Gefallen beim Sturm auf die Höllenbastion, als Merlin die Ritter der neuen Tafelrunde aussandte. Sie hatten den Kampf verloren, viele von ihnen waren im Kampf gegen die dunklen Kreaturen der Finsternis umgekommen. Und Aurelian gehörte zu den Opfern! Woher wusste er das? War es nicht nur ein Albtraum? Wie konnte es Realität sein? Wie konnten zwei Welten in dieser Form nebeneinander und ihre Bewohner in beiden Welten zugleich existieren? Er verstand es nicht. Er wollte es auch nicht wirklich verstehen. Es war so, und er musste sich damit abfinden … Nein, eben nicht! Eine dieser Welten musste verlöschen, und es lag in seiner Hand, welche es sein würde. Die der Christen oder die der Wölfe. Vielleicht aber, überlegte er, kam es gar nicht dazu. Vielleicht wurde er schon vorher von den Jägern des Imperiums, allen voran Zamorra, getötet. Ehe er ihnen begreiflich machen konnte, worum es hier ging … Tief atmete er durch.
Er zuckte nicht einmal zusammen, als der Dunkle lautlos aus den Schatten hervortrat, selbst nur eine Art Schatten, der eben noch nicht da gewesen war. »Sie wissen, dass du in Paris bist«, raunte der Dunkle. »Du hast nicht damit gerechnet, Pater, nicht wahr?« Aurelian schüttelte leicht den Kopf. Doch, das hatte er. Er hatte eine deutliche Spur gelegt, damit Zamorra ihn finden sollte. Zamorra musste in die Falle gehen, damit Aurelian Zeit fand, mit ihm zu reden, ihn zu überzeugen. Alles andere war ein zu großes Risiko. »Du verstehst mich nicht, Pater?«, vermutete der Dunkle. »Du weißt nicht, wovon ich rede?« »Was willst du?«, fragte Aurelian streng zurück. Er starrte den Dunklen an, dessen Gestalt unter seinem scharfen Blick an Schattenhaftigkeit verlor und realer wurde. »Rede deutlich, oder ich zwinge dich, mir noch länger zu dienen.« Der Dunkle fauchte unwillig wie eine zornige Katze. »Wenn ich könnte …« »Würdest du mich töten, ich weiß. Aber du kannst es nicht.« Er hatte ihn vollständig im Griff, seinen dunklen Diener. Seinen Spion. Er brauchte nur zu sagen: Stirb, und der Dunkle starb vor seinen Augen. Aurelian ließ ihn am Leben – vorläufig –, um sich seiner zu bedienen. Der Dunkle war eine nützliche Kreatur, auch wenn Aurelian sich unwohl bei dem Gedanken fühlte, einen Dämon als Helfer zu haben. Aber Gottes Macht gab ihm diesen Dämon in die Hand, bedingungslos. Und für den Dunklen war es eine furchtbare Strafe, eine entsetzliche Pein, dem Christen dienen zu müssen. Ihn zu töten, wäre hingegen eine Belohnung. »Rede endlich.« »Sie stellen dir eine Falle«, sagte der Dunkle. Aurelian lächelte. Es würde sich zeigen, wessen Falle besser funktionierte. »Sie werden dich zum Bischof schleppen und dich foltern, bis du deinesgleichen verrätst«, fuhr der Dunkle fort. Der Pater lächelte nicht mehr, sondern runzelte die Stirn. Wovon
sprach der Spion? Doch nicht von Zamorra? »Ich rede vom Imperium, das wir beide verabscheuen«, hauchte der Dämon. »Seine Schergen bereiten die Falle vor. Morgen wollen sie zuschlagen.« »Wann morgen?« »Sobald der Bischof es befiehlt. Niemand kennt die Zeit, niemand kennt den Ort. Kann ich jetzt gehen? Meine Schuldigkeit habe ich getan. Gib mich frei.« »Ich gebe dich nicht frei, aber du kannst gehen und wirst wieder zu mir eilen, wenn ich dich rufe oder wenn du Neues erfährst.« Der Dunkle verschwand wieder in den Schatten und im Nichts, so lautlos, wie er gekommen war. Aurelian atmete tief durch. Das Imperium hatte ihn aufgespürt, stellte ihm eine Falle … Er hatte damit rechnen müssen, über kurz oder lang. Aber dass es jetzt geschah, engte seinen Spielraum ein. Er musste noch schneller handeln, um Zamorra in seine Gewalt zu bringen. Er fragte sich, wie die Wölfe auf ihn aufmerksam geworden waren. Hatten sie die Spur gefunden, die er für Zamorra gelegt hatte? Wenn ja, würden sie zwei Hasen mit einem Biss fangen wollen. Aurelian und Zamorra. Und alles würde so bleiben, wie es war, so befremdlich falsch, und sich für alle Zeiten verfestigen. Es durfte nicht geschehen …
Nach einer Weile erhob er sich, nahm die ausgerollte Schrift von dem Holztisch und verließ den dunklen Raum. Es war wie ein Wechsel zwischen Tag und Nacht. Der Rest der kleinen Dachwohnung in einem Haus weitab der Stadt war hell und modern eingerichtet. Das einzige, was sie von anderen Wohnungen dieser Art unterschied, war das Kruzifix anstelle des Wolfskopfs an jeder Wand eines jeden Zimmers. Die Fensterläden waren geschlossen; sie ließen keinen Lichtschimmer nach draußen dringen. Niemand konnte erkennen, ob der Bewohner der Wohnung daheim war oder nicht.
Aurelian schaltete das Computer-Equipment ein. Der Rechner fuhr hoch. Die Kontrolldiode des Scanners leuchtete und zeigte damit die Bereitschaft des Geräts an. Aurelian legte die ausgerollte Schrift auf die Glasfläche und drückte auf die Scan-Taste. Der Abtaster glitt unter dem wertvollen Relikt durch. Aurelian speicherte den Teil, verschob die Schrift sorgsam und scannte weiter, bis er das gesamte Teil auf der Festplatte hatte. Danach fügte er die einzelnen Teile mit einem Grafikprogramm zusammen. Er verglich das Abbild mit einigen anderen. Dann nickte er stumm und rief die Internetverbindung auf. Er suchte nach anderen schriftlichen Artefakten dieser Art im Netz. Drei Treffer! Das war mehr, als er erwartet hatte. Er speicherte die Daten, dann loggte er sich wieder aus und schaltete den Computer ab. Nachdenklich betrachtete er die Schrift, die er wieder zusammenrollte und mit einem Band umgab, damit sie sich nicht von selbst wieder entfaltete. Vorsichtig versenkte er sie in der Schutzhülle, in welcher er sie hierher gebracht hatte, um sie einer näheren Untersuchung zu unterziehen. »Echt«, murmelte er. Natürlich. Er hatte es erhofft, und seine Hoffnung erfüllte sich. Der Text gehörte zu den »Verbotenen Schriften«, auf deren Besitz eine empfindliche Strafe stand. Das Imperium ließ nie verlauten, von welcher Art diese Strafe war und ob schon einmal jemand verurteilt worden war; es gab nur die Androhung. Aber Aurelian wusste von einigen Schriftgelehrten, die im Besitz solcher Dokumente gewesen waren. Sie waren verschwunden, mitsamt den »Verbotenen Schriften«, und niemals wieder gesehen worden. Kein Wunder, waren sie doch dem Papst selbst zum Opfer gebracht worden. Lykandomus III. und seine Vorgänger hatten das Blut der Ketzer getrunken; ob die Körper ihnen oder den Kardinalen danach zur Speise dienten oder einfach in den Tiber geworfen worden waren, blieb unbekannt. Aurelian hatte nicht vor, dieses Schicksal zu teilen. Wenn er irgendwann Papst Lykandomus III. gegenüber stand, dann wollte er es als freier Christ tun, und mit der Waffe in der Hand der Menschen fressenden Wolfsbestie den Garaus machen.
Er kehrte zurück in das dunkle Zimmer und verbarg das Behältnis mit der Schriftrolle, sodass niemand es finden konnte, der nicht über magische Kräfte verfügte. Dann löschte er eine der Kerzen nach der anderen. Mit dem Verlöschen jeder Flamme wurde es etwas heller. Ein Effekt, den Aurelian nicht verstand, den er aber hinnahm. Als es so hell war wie in den anderen Räumen, trat Aurelian wieder hinaus. Er schloss die Tür und wusste, dass in diesem Moment das Licht drinnen verschwand. Die Tür verschmolz mit der Wand. Nur wer wusste, dass sich hier eine Öffnung in einen anderen Raum verbarg, konnte sie finden. Es hatte Aurelian viele Jahre gekostet, diesen Zauber zu erschaffen, und noch mehr Abneigung. Aber er hatte im Laufe seines Lebens feststellen müssen, dass es ohne Zauberei nicht ging, wenn er den Höllenmächten hier und den Wölfen dort trotzen wollte. Aber eines hatte er sich geschworen: Magie niemals zum eigenen Nutzen anzuwenden. Denn dann wurde sie schwarz. Er konnte, er durfte nur die Weiße Magie verwenden, die half und schützte, die dem Wohl der anderen diente, nicht dem eigenen. Und so war es recht mühsam gewesen, zur Sicherung dieses Raumes und überhaupt dieser Wohnung den richtigen Weg zu finden, der nicht zur Schwarzen Magie wurde. Sein eigenes Wohlergehen war zweitrangig, und seine eigene Sicherheit diente nur dem Zweck, das Böse so nachhaltig wie möglich bekämpfen zu können. Lange wohnte er schon hier, fern der großen Stadt, in seinem Versteck, von dem niemand wusste. Auch jetzt noch nicht, da er eine Spur gelegt hatte, auf die Zamorra aufmerksam geworden war. Lange … wirklich? Ich gehöre nicht in diese Welt, wusste er. Ich muss aus einer anderen hierher gekommen sein. Alles ist irgendwie … falsch. Er konnte sich daran erinnern, dass es einmal anders gewesen war. Und er konnte sich auch daran erinnern, dass er den Tod gefunden hatte. Dennoch lebte er, und er war hier. Ein Rätsel, das er jetzt lösen zu können glaubte. Irgendwann in der Vergangenheit war etwas geschehen …
Ein Glas Wein … und Gedanken. Aurelian lag lang ausgestreckt auf seinem Bett. Das Weinglas stand neben ihm auf dem Fußboden. Das Zimmer war so sparsam eingerichtet wie einst jenes, das er bewohnte, als er die vatikanische Geheimbibliothek unter seiner Obhut hatte. Diese Aufgabe hatte ihm Wissen gebracht; Wissen um Dinge, die niemals an die Öffentlichkeit gelangen sollten, die aber auch niemals zerstört werden durften, um nicht Beweise zu vernichten für das, was sich immer wieder mit mordenden Klauen wider die Güte Gottes erhob. Deshalb wusste er auch, wo er diverse geheime Schriften finden konnte, die nicht im Vatikan aufbewahrt wurden. Eine dieser Schriften hatte er heute untersucht und überprüft. Sie war echt. Das Imperium verkündete zwar, es sei eine Fälschung. Doch Pater Aurelian wusste es besser. Er wusste, dass das Imperium auf einer großen Lüge aufgebaut war. Je länger er darüber nachdachte, um so sicherer wurde er. Er entstammte einer anderen Wirklichkeit. Der richtigen. Vielleicht war es sein Tod gewesen, der ihn hierher versetzte, um vor seinem endgültigen Sterben noch einmal etwas zu bewirken. Vielleicht war es alles so voraus bestimmt. Irgendwann in der Vergangenheit war etwas geschehen … Vor einigen Jahrhunderten. Anno Domini 1582. Damals war Gregor XIII Papst gewesen. Damals wurde er ermordet, und Lupus I. folgte ihm im Amt. Lupus, der einem Volk im Volk angehörte, einem Volk, das tagsüber Mensch war und nachts zum Wolf wurde, um zu morden und Blut zu trinken. Dieses Dokument, dessen Überprüfung Aurelian heute abgeschlossen hatte, bewies es. Und es stimmte auch mit seinen Erinnerungsschatten überein, die ihm jene andere Welt zeigten, aus welcher er kam. Damals hatte das Konzil der Wölfe beschlossen, alles zur Lüge zu
erklären, was nicht wölfischen Ursprungs war. Das Imperium war entstanden und umspannte inzwischen den ganzen Erdball. Wer einem anderen Glauben anhing, war ein Ketzer, und gerade die Christen wurden regelrecht gejagt. Schlimmer noch als zu Neros Zeiten. Ein Griff zum Weinglas, ein letzter Schluck. Etwas Schlaf musste sein. Es war damit zu rechnen, dass Zamorra bald in Paris auftauchte. Dann musste die Falle auf ihn warten, musste Aurelian vorbereitet sein. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Irgendwann in der Vergangenheit war etwas geschehen … Ein Mann schritt durch die Straßen; hell und modisch gekleidet, das Haar von einer Mütze und die Augen von einer Sonnenbrille verdeckt. Die Finger seiner Hände waren mit Ringen mehr als gut bestückt. Das Hemd war weit geöffnet, und an einer Kette hing ein bronzener Wolfskopf vor seiner Brust. Er ging leicht in den Knien federnd, und sein Mund zeigte ein ständiges, maskenhaft starres Lächeln. Aurelian hatte sich mit den einfachsten Mitteln getarnt. Kein falscher Bart, kein Bauchkissen, keine ausgepolsterten Wangen, keine Schminke. Dennoch fiel es schwer, ihn als den zu erkennen, der er war. Vor dem »Excelsior«, einem Nobelhotel, das sich nur die Angehörigen einer höheren Vermögensklasse leisten konnten, blieb er stehen. Er hatte hier ein Zimmer gemietet, um seine Tarnung zu verstärken, und vor seinem geistigen Auge sah er halb verhungerte Kinder in fadenscheiniger Kleidung, die schon ihre Großeltern getragen und weitergegeben hatten, sah traurige Gesichter und eine bedrückende Hoffnungslosigkeit in ihren Augen. Was hätte er mit dem Geld, das er hier verschleuderte, für diese Kinder tun können? »Vergib mir, Herr«, flüsterte er fast unhörbar. »Und mach, dass es doch noch einem guten Zweck dient und ich nicht einer Selbsttäuschung unterliege. Herr, öffne meine Augen, die Wahrzeit zu sehen, und gib meinen Händen die Kraft, das Richtige zu tun.« Vorsichtig sah er sich um. Doch niemand war nahe genug, die Worte vernommen zu haben. Hatte wenigstens Gott sie gehört? Aurelian setzte sich wieder in Bewegung. Er schien gerade recht-
zeitig aus seinem Versteck wieder zurück in die Stadt gekommen zu sein. Es war ein langer Weg gewesen, zunächst zu Fuß, dann auf dem Anhänger eines Traktors, mit dem ein Bauer unterwegs war, und schließlich mit einem Bus in die Stadt. Ein zeitaufwendiger Weg, aber sicher, so dass niemand so rasch sein Versteck aufspüren konnte. Ein Kleinwagen stoppte vor dem Hoteleingang. Der Mann, der in seiner roten Fantasieuniform wie ein Löwenbändiger im Zirkus aussah, eilte zu dem Cabrio, um den Insassen die Türen zu öffnen, aber sie waren schneller als er. Aurelian erstarrte. Er erkannte die beiden Ankömmlinge sofort. Zamorra und seine Gefährtin Nicole. Sie hatten sich nicht verändert seit damals; Zamorra trug sogar wieder einen seiner weißen Anzüge. Aurelian hatte richtig geschätzt. Damals wie heute quartierte Zamorra sich im »Excelsior« ein. Einen Moment lang schien sich das Bild zu verändern, erschien ein anderer Hotelname am Fassadenschild, und anstelle des kleinen Cabrios stand da eine große BMW-Limousine. Aber dann, noch ehe es richtig erkennbar wurde, war es wieder das »Excelsior«, und das Auto ein offener Mini Cooper. Ob Zamorra die Veränderung auch gesehen hat? Der Löwenbändiger winkte zwei Pagen heran. Den einen zum Koffertragen, den anderen, um den Wagen in die Hotelgarage zu fahren. Einen kleinen Aluminiumkoffer trug Zamorra selbst, ließ ihn sich nicht abnehmen. Dann verschwanden sie im Foyer. Aurelian folgte langsam mit seinen federnden Schritten, die nicht seine typische Art sich zu bewegen waren. Das Spiel konnte beginnen. Das Spiel, das tödlicher Ernst war und an dessen Ende im Erfolgsfall Aurelians Tod stand.
Der Pater kam gerade rechtzeitig, als Zamorra eingecheckt hatte, und sah, wie der Parapsychologe und seine Gefährtin den Lift betra-
ten. Aurelian ließ sich an der Rezeption den Schlüssel zu seinem Zimmer geben – ganz kurz blitzte in ihm ein Bild auf, dass die Türen hier doch mit Chipkarten geöffnet wurden? Hatte er das nur geträumt, oder gehörte es zu seinem Erleben in einer anderen Welt? Währenddessen beobachtete er die Anzeige des Liftes. 2, 3, 4 … bei 5 stoppte er. Aurelian nickte dem Concierge zu, nahm die zweite Liftkabine und ließ sich nach oben tragen. Fünfter Stock … Das war nicht gut. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass Zamorra ein Zimmer oder eine Suite im 7. Stock anmieten würde. Deshalb hatte Aurelian sich in der gleichen Etage einquartiert, um den Dämonenjäger besser kontrollieren zu können. Das wurde jetzt natürlich zum Problem. Als der Pater den Lift vorsichtig verließ, war von Zamorra und Nicole nichts mehr zu sehen. Der Korridor war leer. Hinter welcher Tür waren die beiden verschwunden? Aurelian wandte sich nach links und schritt langsam vorwärts, lauschend, ob sich unmittelbar hinter einer Tür ein Gespräch abspielte. Er hoffte, dass er die richtige Richtung genommen hatte. Er bedauerte, dass er nicht hatte erfragen können, welche Zimmernummer der Jäger bekam. Aber das wäre zu auffällig gewesen. Im nächsten Moment öffnete sich eine Tür. Blitzschnell wandte Aurelian sich um, wandte dem Gast den Rücken zu, der gerade das Zimmer verließ, um nicht erkannt zu werden. Seine ungewohnte Gehweise behielt er bei. »Monsieur?«, hörte er eine Frauenstimme. Nicole Duval! Ohne zu reagieren, ging er weiter, in Richtung Lift. Gerade so, als sei er eben aus seinem Zimmer gekommen und wolle die Etage verlassen. »Hallo, Monsieur?« Leichte Schritte, die sich ihm rasch näherten. Da war der Lift. Aurelian drückte auf die Anforderungstaste. Beide Kabinentüren öffneten sich. Die Kabinen waren noch nicht wieder von anderswoher gerufen worden. Aurelian nahm die rechte Kabine. Er drückte auf die Parterre-Taste. Während die Tür zuglitt, drehte er sich halb. So, dass Zamorras
Begleiterin nicht annahm, dass er vor ihr floh, sondern dass er einfach kein Interesse hatte, mit ihr zu sprechen. Zugleich konnte sie sein Gesicht nicht richtig sehen. Es musste schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn hier und jetzt trotzdem erkannte. Der Pater atmete tief durch. Der Lift brachte ihn wieder nach unten, und er fragte sich, aus welchem Grund Nicole Duval ihr Zimmer verlassen hatte. Zweimal drückte er auf die Stopptaste, im 4. und im 2. Stock, so dass es für jemanden, der die Anzeige betrachtete, so aussah, als stiegen weitere Gäste zu, die ebenfalls nach unten wollten. Im 2. Stock trat Aurelian aus dem Lift und ließ die Kabine den Rest der Abwärtsstrecke leer fahren. Er selbst benutzte die Treppe, um wieder nach oben zu gelangen. Er kam gerade noch rechtzeitig, um Nicole ihr Zimmer betreten zu sehen. Von der Treppe aus zählte er durch. 507 musste es sein. Dort also war sein Freund und Feind untergebracht. Er selbst hatte Nr. 707. Daraus musste sich doch etwas machen lassen.
Zamorra war froh, das Etappenziel erreicht zu haben. Der Traum, den er während der Fahrt im Wagen gehabt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder tauchten die Bilder auf, wollten sich stets nur kurzzeitig verdrängen lassen. Der Traum, von einem Wolf getötet zu werden! Zimmer 507. Nicht zu teuer, nicht zu luxuriös. Sie würden nicht sehr lange hier bleiben. Nur bis sie Aurelian hatten. Und, erinnerte Zamorra sich, Tan Morano, den Vampir. Aber der war zweitrangig. Das spärliche Gepäck befand sich bereits im Zimmer. Der Page war wieder gegangen, ohne Trinkgeld zu verlangen. Er wusste, dass es das bei der Abreise gab, und dass es nicht zu gering ausfiel; immerhin war Zamorra nicht zum ersten Mal hier und dem Hotelpersonal durchaus bekannt. Der Dämonenjäger legte den Alu-Koffer auf den kleinen Tisch und sich selbst auf das ungewöhnlich bequeme Bett. Er wunderte sich,
dass Nicole wieder nach draußen ging, noch ehe sie auspackte und sich erfrischte. Nach ein paar Minuten kam sie zurück und ließ sich neben Zamorra auf das Bett fallen. Ihr Gesicht zeigte Missmut. »Was war los?«, fragte Zamorra. »Ich dachte, wir würden beobachtet«, sagte sie. »Schon unten an der Rezeption hatte ich das Gefühl. Aber das war wohl ein Irrtum.« »Wer soll uns beobachtet haben?«, fragte er. »Die Wölfe, die wissen wollen, ob ich auch tue, was sie mir aufgetragen haben? Oder der Vampirfürst, der erfahren hat, dass ich …« Nicole schüttelte den Kopf. Sie rutschte auf der Bettdecke näher zu ihm. »Aurelian«, sagte sie. »Dein Freund.« »Er ist nicht mehr mein Freund, das weißt du«, erwiderte Zamorra. »Aber woher soll er wissen, dass wir hier sind? Er kann nicht bemerkt haben, dass du eine Spur gefunden hast, die zu ihm führt.« »Unterschätze ihn nicht«, warnte sie. »Ihr seid vom gleichen Kaliber, Chef. Ihr denkt in den gleichen Bahnen. Vielleicht haben nicht wir ihn aufgespürt, sondern er uns hierher gelockt. Vielleicht ist es eine Falle.« »Die würde ich eher Morano zutrauen«, wehrte Zamorra ab. »Aurelian ist alles andere als ein Fallensteller. Die Christen sind … verrückt. Sie lassen sich eher umbringen, als dass sie selbst töten. Sie sind Pazifisten.« »Und die Wölfe? Raubtiere?« Zamorra legte ihr die Fingerspitze auf die Lippen. »Sie vorsichtig mit dem, was du sagst«, warnte er. »Jemand könnte es hören, und dann kann möglicherweise nicht einmal ich dich noch schützen.« Nicole biss ganz sanft zu und war verblüfft, wie blitzschnell ihr Gefährte die Hand zurück zog. Fragend sah sie ihn an. Er erzählte ihr von seinem Traum im Auto. »Vielleicht ist es ein Vorzeichen«, sagte er. »Du meinst, das Imperium benötigt dich nicht länger …?« Es war eine dezente Umschreibung dessen, dass man ihn opfern würde. »Danach sah es nicht aus«, sagte er. »Es war kein Ritual. Es war ein einzelner Wolf auf der Jagd. Verdammt, ich will nicht mehr daran denken. Lass uns über deine Beobachtung reden.«
»Da gibt es nicht viel zu reden. Ich ging hinaus. Jemand hatte gerade sein Zimmer verlassen und fuhr mit dem Lift nach unten. Ich sprach ihn an, aber er reagierte überhaupt nicht.« »Könnte es vielleicht doch Aurelian gewesen sein? Oder Morano?«, sann Zamorra. »Hm …« »Gerade hast du noch abgestritten, dass es vielleicht Aurelian wäre. Und Morano?« Sie lachte leise. »Der hat eine ganz andere Statur und bewegt sich auch. Fließender, eleganter, wenn du verstehst, was ich meine. Auch Aurelian hat mit diesem Mann keine Ähnlichkeit. Ich habe mich geirrt, und du hast Recht. Er war es nicht. Keiner der beiden.« Er verstand, was sie meinte. Niemand, kein Mensch, kannte Tan Morano so gut wie Nicole. Immerhin hatte er einmal versucht, sie zu verführen. Sie hatte ihn zurückgewiesen und fragte sich heute noch, warum sie ihn nicht getötet hatte. Ein schneller Ruck, mit dem sie sein Genick brach … ein Eichenpflock, ins dämonische Herz getrieben … Aber sie hatte es nicht fertig gebracht. Vielleicht, weil sie selbst einmal für eine kurze Zeit den Vampirkeim in ihren Adern gehabt hatte. Seit jener Zeit war sie gegen den Liebesbiss der Blutsauger immun. Aber es gab noch andere Nebenwirkungen. »Er hat also das Hotel verlassen, dieser Unbekannte?« »Ich gehe mal davon aus«, sagte Nicole. »Warum sonst hätte er nach unten fahren sollen?« »Vielleicht, um die Hotelbar heimzusuchen.« »Um diese Uhrzeit? Die dürfte noch geschlossen sein. Chef, beim nächsten Mal bin ich schlauer. Wenn ich wieder mal das Gefühl habe, beobachtet zu werden, werde ich mich nicht nur nach unseren lieben Mitmenschen oder Mitwölfen oder Mitdämonen umschauen, sondern auch versuchen, ihre Gedanken zu lesen. Ich könnte mich selbst in den Hintern beißen, dass ich es vorhin nicht getan habe.« »Dafür ist dein Hintern zu schade«, murmelte Zamorra. »Lass lieber mich beißen …« Und dann fiel ihm sein Albtraum von der Autofahrt wieder ein, und er schüttelte sich. Beißen … nein, das war ganz bestimmt nicht das, wovon er jetzt fantasieren wollte. »Auf das Naheliegende kommt man immer erst hinterher«, sagte er und fügte hinzu, als er sie grinsen sah: »Ich meine die Telepathie.
Aber ich habe jetzt eine andere Idee.« »Und die wäre?« Jetzt war er es, der grinste. »Hast du dir gemerkt, aus welchem Zimmer der Typ kam?« Sie richtete sich auf und zuckte mit den Schultern. »Unsere Korridorseite, irgendein Zimmer zwischen unserem und dem Lift.« »Also 509 bis 515«, sagte Zamorra. Somit kamen drei Zimmer in Frage; die Nr. 513 gab es, wie in fast allen Hotels, nicht. Auch nicht die 413, 313 und so weiter oder gar das 13. Stockwerk. Die 13 war den Wölfen heilig. »Worauf willst du hinaus?«, fragte Nicole. »Wir werden an der Rezeption nachfragen, wer in diesen Zimmern wohnt, und du wirst versuchen, den Typen zu beschreiben, den du gesehen hast. Damit kommen wir der Sache näher.« Nicole zweifelte daran. Aber sie sagte nichts.
Als er hörte, wie die Tür geschlossen wurde, zog Aurelian das Lasermikrofon an der dünnen Schnur wieder nach oben und schloss danach das Fenster seines Zimmers. Jemand wie Zamorra hätte vermutlich Magie benutzt, um die Zielperson abzuhören, aber Aurelian fand es immer wieder schwer, sich mit der Zauberei zu befassen. Vor allem, wenn es darüber hinaus unnötig war, weil es technische Tricks gab, die ebenso gut funktionierten. So wie dieses Mikrofon. Es tastete die Fensterscheibe des abzuhörenden Raumes mit einem Laserstrahl ab. Jeder Laut erzeugte Schallwellen, Schwingungen, die die Scheibe in leichte Vibration versetzte. Der Laser nahm die Vibration auf, sendete sich über eine Funkfrequenz mit geringster Reichweite an einen Empfänger, der sie wieder in Laute »zurück übersetzte«. Es gab zwar leichte Verzerrungen im Klang der Stimmen, aber die gesprochenen Worte waren zu verstehen. Durch das geöffnete Fenster hatte Aurelian das Lasermikrofon mittels der Schnur zwei Etagen bis vor Zamorras Zimmerfenster hinab gelassen und mitgehört, was der Dämonenjäger und seine Ge-
fährtin zu besprechen hatten. Nicole war also Telepathin. Das hatte er nicht gewusst. Als sein Weg sich von dem Zamorras trennte, hatte sie noch nicht über diese Fähigkeit verfügt. Als Gedankenleserin wurde Nicole für ihn zu einer riesigen Gefahr. Er musste sie irgendwie anders beschäftigen. Sie durfte an seiner Aktion gegen Zamorra nicht teilhaben. Denn wenn sie seine Gedanken las, konnte sie seinen Plan durchschauen und entsprechend reagieren. Sollte er die Aktion abbrechen und später noch einmal unter für ihn günstigeren Voraussetzungen versuchen, Zamorra in seine Hand zu bekommen? Er schüttelte den Kopf. Er hatte das starke Gefühl, dass ihm nicht viel Zeit blieb, zu tun, was er tun musste. Zamorra und Nicole hatten ihr Zimmer verlassen. »Also los«, murmelte der Pater. »Herr, steh mir bei.« Und er hoffte, dass jener, an den er glaubte, ihn erhörte und ihm seinen Schutz gewährte.
Zamorra gab dem Concierge ein beachtliches Trinkgeld, und Nicole beschrieb die gesuchte Person – soweit eine Beschreibung möglich war. Aber die vagen Andeutungen, die sie machen konnte, halfen ihnen wahrhaftig nicht weiter. Der Mann konnte jeder beliebige Hotelgast gewesen sein, oder auch ein Besucher. Die Namen der Zimmerbewohner, die der Hotelangestellte ihnen bereitwillig mitteilte, waren Zamorra und Nicole unbekannt. Es ließen sich auch keine Ableitungen oder Anagramme bilden, die irgendwie Sinn ergaben. Diesmal benutzte Nicole ihre Fähigkeit des Gedankenlesens. Der Concierge log sie nicht an. Zamorra trat resignierend den Rückzug an. »Das war wohl nichts«, seufzte er. »Schade um das Trinkgeld.« »Wenn ich mir überlege, dass ich mir davon ein Halstuch hätte kaufen können …« Nicole zwinkerte Zamorra zu. Er stöhnte auf. Ein Halstuch für dreißig Silbermünzen! »Du bist verrückt«, stellte er fest.
»Verrückt genug, dich immer noch zu lieben – nach so langer Zeit.« Ein paar Minuten später erreichten sie ihr Zimmer wieder. Zamorra streckte die Hand aus, um den Schlüssel einzuführen – und zuckte zurück. Die Tür war offen!
Minuten vorher � Aurelian war froh, dass die Zimmer nicht mittels Chipkarten geöffnet wurden, sondern mit altertümlichen Schlüsseln. Nicht einmal jene Sicherheitsschlüssel mit geraden Bartkanten, deren Entriegelungs-Vertiefungen auf den Flächen angebracht waren, sondern solche mit einfach gefrästen Zacken. Für einen Mann wie ihn war es kein Problem, dieses Schloss zu öffnen. Er besaß die entsprechenden Haken und Nadeln. Nicht, um als Einbrecher zu agieren, sondern weil er sich zuweilen bei seinem Kampf gegen die Höllenkreaturen Zutritt zu verschlossenen Räumen beschaffen musste. Rasch verschwand er im Zimmer und sah sich um. Da war Zamorras Alu-Koffer. Aurelian öffnete ihn und überprüfte seinen Inhalt mit einem schnellen Blick. Die üblichen Utensilien, nichts wirklich Gefährliches. Und nur ein Zeitring! Aber nicht jener mit dem roten Stein, der in die Vergangenheit führte, sondern der mit dem blauen – für Reisen in die Zukunft! Der nützte ihnen in diesem Fall überhaupt nicht. Oft genug hatte Aurelian sich damals gefragt, wozu er eigentlich gut war. Doch bestimmt nicht, um die Lottozahlen der nächsten Woche herauszufinden. Was aber ließ sich sonst in der Zukunft bewerkstelligen? Nichts, was Einfluss auf die Gegenwart hatte – und was Einfluss auf die Zukunft hatte, dessen Weichen wurden auch hier in der Gegenwart gestellt.
Aber der Zukunftsring existierte nun mal. Es spielte keine Rolle. Aber der andere, der rote – er war jetzt eminent wichtig! Ohne ihn ließ sich Aurelians Plan nicht verwirklichen. Er bedauerte, diesen Ring damals Zamorra geschenkt zu haben. Damals, in einer besseren Zeit. In einer Zeit, die vielleicht nicht wirklich vor derjenigen stattgefunden hatte, in welcher er sich jetzt befand … »O Herr, lass es nicht zu, dass er ohne meinen Ring hier ist«, murmelte Aurelian. Er schloss den Alukoffer wieder, sah sich kurz um. Da waren die beiden Koffer. Entschlossen öffnete Aurelian sie, stülpte sie um und verteilte ihren Inhalt wild durch das ganze Zimmer. Dann nahm er die Schreibmappe aus dem Schubfach des kleinen Tisches. Das erste Blatt des hoteleigenen Briefpapiers nahm er ab und legte es auf die Holzplatte; NARR! schrieb er auf das Papier. Das zweite Blatt ließ er auf dem Stapel und schrieb, den Stift kräftig durchdrückend, den Namen einer Kirche darauf. Anschließend knüllte er das Blatt zusammen. Das Wort hatte sich unsichtbar auf das darunter liegende Papier durchgedrückt. Das erste Blatt legte Aurelian nun wieder obenauf. Das zusammengeknüllte Blatt steckte er ein und nahm es mit, als er das Zimmer verließ. Er konnte gerade noch ungesehen die Treppe hinauf eilen, als sich die Lifttür öffnete und Zamorra und Nicole in den Gang traten. Sie würden gleich eine Überraschung erleben. Aurelian verschwand in Zimmer 707. Bisher lief alles nach Plan, die Spur, die er für Zamorra legte, war wieder ein Stückchen länger und deutlicher geworden. Jetzt musste er sich etwas für Nicole einfallen lassen, und zwar möglichst schnell.
Zamorra verharrte und lauschte. Mit einer ausgestreckten Hand hielt er Nicole zurück. »Einbruch«, flüsterte er. »Korridor absichern.« Nicole nickte. Sie trat zurück, sah sich prüfend um. Dann bewegte sie sich über den Gang und zur Treppe, schaute nach oben und nach
unten. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Hinter den Türen war alles ruhig. Zamorra überlegte. Befand sich der Einbrecher noch in dem Zimmer? Wer konnte es sein? Mensch, Vampir – oder Wolf? Vielleicht war es tatsächlich nur jemand, der nach Wertsachen suchte. Dann war es kein Problem, mit ihm fertig zu werden. In den beiden anderen Fällen bot es sich an, Magie einzusetzen. Auch wenn es ein Wolf war, denn in diesem Fall handelte es sich sicher nicht um einen offiziellen Gesandten. Wenn das Imperium Zamorra etwas zu übermitteln hatte, gab es andere Mittel, als in sein Zimmer einzubrechen. Magie … ein Vampir, ein Dämon? Zamorras Amulett zeigte nichts an. Keine Restaura eines schwarzmagischen Wesens, das eingedrungen war und sich hier bewegt hatte. Also doch ein Mensch. Aber wer? Tatsächlich nur ein Dieb? An der Tür waren keine Zerstörungen zu sehen. Der Eindringling, wer auch immer es gewesen sein mochte, hatte das Schloss sauber mit einem Nachschlüssel oder mit einem Dietrich geöffnet. Das passte eigentlich nicht zu Aurelian, an den Zamorra für einen Augenblick gedacht hatte. Andererseits hatten sie sich eine Ewigkeit lang nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte Aurelian sich geändert, zog jetzt die Methoden von Kriminellen vor, um seine Ziele zu erreichen. Langsam zog Zamorra die Walther P99 aus dem Clipholster am Gürtel und zog fast geräuschlos den Schlitten zurück und wieder vor. Dann ließ er die Zimmertür, die etwa einen Zentimeter weit offen stand, aufschwingen. Auch die Zwischentür war nur angelehnt. Zamorra erreichte die Tür zum Bad und öffnete sie mit einem schnellen Ruck; der kleine Raum war leer. Der Jäger ging weiter. Mit der schussbereiten Waffe sichernd, erreichte er das Zimmer. Auch hier war niemand. Aber es war jemand hier gewesen. Das Zimmer war nichts als ein Chaos, der Inhalt der beiden Koffer
verstreut, als habe jemand etwas gesucht. Aber auf den ersten Blick schien nichts zu fehlen. Dennoch blieb Zamorra misstrauisch. Es reichte schon ein Haar oder ein Hemdknopf, um einen Voodoo-Zauber zu erzeugen oder das Opfer auf andere Weise in seine Gewalt zu bringen. »Verdammt«, murmelte Zamorra. Sein Alu-Koffer mit den magischen Hilfsmitteln … auch er war geöffnet worden, aber hier fehlte wirklich nichts. Bei den wenigen Dingen, die Zamorra darin mit sich führte, reichte ein einfacher Kontrollblick, um sicher zu sein. Aber etwas war anders. Auf dem Tisch lag eine Mappe, in Leder gebunden und mit dem Hotelwappen versehen. Das Briefpapier des Hauses, Umschläge … Zamorra sicherte die Waffe wieder und steckte sie ins Holster zurück. Dann betrachtete er das Briefpapier misstrauisch. NARR!, las er den handgeschriebenen Text, der diagonal über die ganze Seite verlief. Ärgerlicherweise ließ sich aus dem einen Wort kaum erkennen, ob die Schrift jemandem zuzuordnen war, den Zamorra kannte. Er nahm den Papierbogen hoch und sah darunter im Lichtschein ebenfalls Schriftzeichen. Sie mussten von einem weiteren Papierbogen eingedrückt worden sein, der auf dem unteren gelegen und auf dem jemand geschrieben hatte. »Nicole?«, fragte Zamorra laut. Sie kam herein, vorsichtig für den Fall, dass es sich um eine Falle handelte. Als sie Zamorra von niemandem bedroht vor sich sah, atmete sie auf. Dann zuckte sie heftig zusammen, als sie das Chaos sah. Sie brachte einen sehr undamenhaften Fluch hervor, der selbst die Damen des Rotlichtviertels hätte erröten lassen. Sie wollte einen zornigen Kommentar folgen lassen, aber Zamorra winkte ab und bat sie, zu ihm zu kommen. Er wies auf das unsichtbar beschriebene Blatt. »Was hältst du davon?« »Zu kleinformatig, um Fische darin einzupacken«, sagte sie sarkastisch. »Da hat einer etwas auf ein anderes Papier geschrieben und es mitgenommen, und dabei vergessen, dass es sich durchgedrückt hat.« »Hm«, machte Zamorra und klopfte mit dem Zeigefinger auf das erste Papier.
»Du meinst, da ist was faul?«, fragte sie. Dann nahm sie das Blatt mit der durchgedrückten Schrift hoch und hielt es so gegen das Licht, dass sie durch die minimale plastische Wirkung lesen konnte, was jemand geschrieben hatte. Jedenfalls nicht Narr! »Das klingt nach einer Kirche«, überlegte Nicole. »Engelskapelle … sieht aus, als hätte das Imperium damals nicht alle Kirchen, Moscheen, Tempel und andere architektonischen Verirrungen des Mittelalters abreißen lassen.« »Vielleicht wissen die Wölfe gar nicht, dass das Ding überhaupt existiert«, sagte Zamorra. »Mir war der Name Engelskapelle bisher jedenfalls auch unbekannt. Zumindest, was Paris angeht, und immerhin habe ich hier lange genug gelebt, um die Stadt relativ gut zu kennen.« Die alten Zeiten gingen ihm durch den Kopf, als er an der Sorbonne studierte, ehe er nach Amerika ging, und als er später hier einen Lehrstuhl innehatte. »Es dürfte ein Hinweis sein«, sagte Nicole. »Jemand will uns auf diese Engelskapelle aufmerksam machen. Vielleicht Aurelian? Es klingt jedenfalls, als handele es sich um einen Versammlungsort der Christen.« »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die, falls es welche in Paris gibt, sich ganz offen in einer alten Kapelle treffen!« »Gerade weil niemand damit rechnet …« Sie führte den Satz nicht zu Ende. Zamorra schüttelte den Kopf. »Ich tippe eher auf Aurelian. Er hat diesen Hinweis hier angelegt und zugleich gut getarnt. Vielleicht will er sich mit mir treffen, um zu reden. Vielleicht hat er zum wahren Glauben zurückgefunden und hofft, dass ich für ihn spreche, damit er nicht geopfert wird.« »Das glaubst du doch nicht im Ernst!«, warf Nicole ihm vor. »Warum nicht?« »Das Imperium würde ihn niemals begnadigen! Nein, Geliebter. Er rechnet damit, dass du nicht damit umgehen kannst, dass ihr jetzt Feinde seid. Ihr wart doch früher die besten Freunde, nicht wahr? Das kannst du nicht einfach so wegstecken, und er weiß es. Vergiss nicht, dass die Christen heimtückisch sind. Ihre Religion basiert auf einem Mord! Ihr Gott hat seinen eigenen Sohn in den Tod geschickt!
Aurelian wird nicht zögern, dich zu töten. Chef, das ist eine Falle.« Zamorra sah sie lange stumm an. »Vielleicht hast du Recht«, sagte er nach einer Weile. »Das Leben ist voller Enttäuschungen, nicht wahr?« »In einem Punkt nicht«, widersprach sie und lächelte. »Und dieser Punkt ist der, dass ich dich liebe wie sonst niemanden auf der Welt.« Sie küsste ihn. Zamorra bückte sich, nahm einen der Koffer auf und schleuderte ihn mit aller Wucht durch Zimmer und Gang zur Korridortür. Zielsicher traf er die Tür, die unter dem Druck herumschwang und ins Schloss fiel; es rastete ein. »Zeit, dir zu beweisen, dass das auch andersherum gilt«, sagte er und schloss Nicole in seine Arme. Für eine Stunde oder etwas mehr spielte nichts anderes mehr eine Rolle.
Aurelian verdrehte die Augen. Er zog das Lasermikrofon nach oben, denn das, was dort unten vor sich ging, wollte er ganz gewiss nicht mit anhören. So war er schon immer gewesen, sein alter Freund und heutiger Feind Zamorra. Auch in diesem Punkt hatten sie sich stets unterschieden … Er dachte nach. Wie konnte er verhindern, dass Nicole ihre telepathischen Fähigkeiten anwandte und damit jede Chance auf Geheimhaltung verlorenging? Wenn sie auslotete, dass er sich hier im Hotel befand, konnten die beiden Jäger jeden Moment sein Zimmer stürmen! Doch so sehr er sich den Kopf zermarterte, er kam zu keinem Ergebnis. Da wäre wohl nur Magie eine adäquate Lösung gewesen, auch wenn es ihm schwer fiel, das zu akzeptieren. Es musste auch anders gehen. Doch vielleicht war es gar nicht nötig, Nicole auf irgendeinem Weg zu blockieren. Darüber hinaus war Aurelian ins Grübeln gekommen. Bevor Zamorra und Nicole sich ganz anderen Dingen zugewandt hatten, hatte die Dämonenjägerin etwas gesagt, das über das Mikrofon deutlich
übertragen worden war. Er rechnet damit, dass du nicht damit umgehen kannst, dass ihr jetzt Feinde seid …. Aurelian wird nicht zögern, dich zu töten. Chef, das ist eine Falle. In Ansätzen entsprach diese Vermutung sogar der Wahrheit. In gewisser Hinsicht war es tatsächlich eine Falle – doch nicht, um Zamorra zu töten. Sondern um ihm die Augen zu öffnen für die Wahrheit! Das Wolfsimperium war nicht richtig, und darum durfte der alte Freund nicht ihr Handlanger bleiben, indem er in ihrem Auftrag jagte. Doch die ersten Worte Nicoles arbeiteten auf viel intensivere Weise in ihm. Er rechnet damit, dass du nicht damit umgehen kannst, dass ihr jetzt Feinde sein. Verdammt, hatte sie damit nicht auch auf umgekehrtem Weg den Nagel auf den Kopf getroffen? Konnte er, Aurelian, denn die Feindschaft akzeptieren? War ihre Auseinandersetzung nicht ebenso falsch wie das Imperium der Wölfe? Ihre alte Freundschaft durfte nicht vergebens gewesen sein. Nur wenn sie beide wieder zusammen fanden, wenn sie gemeinsam die Vergangenheit korrigierten, konnte der vom Schicksal vorgesehene Lauf der Dinge wieder hergestellt werden. Aurelian verbesserte sich in Gedanken. Nein, nicht das Schicksal, sondern Gott selbst hatte es so geplant! All diese Überlegungen führten nur zu einem Ziel: es war absolut notwendig, Zamorra von der Wahrheit zu überzeugen. Ihm mussten die Augen geöffnet werden, und das Christentum und das Wolfsimperium mussten ihre Rollen tauschen – wie es eigentlich sein sollte! Wie es vor dem verhängnisvollen Putsch vor Hunderten von Jahren gewesen war … Wahrscheinlich war es nicht zu vermeiden, dass die Wölfe als unbedeutende Sekte weiterexistierten, aber mehr durften sie nicht sein. Aurelian spürte es von Sekunde zu Sekunde mehr …
Luigi war an seinem Ziel angekommen und sah fasziniert zu, wie
seine Traumfrau mit einer schlangengleichen Bewegung aus dem Kleid schlüpfte. Mit unendlicher Eleganz schob sie den Stoff über ihre Hüften und ließ ihn zu Boden sinken. Dann kniete sie sich vor ihn auf das Bett. Ihre Schönheit traf ihn mitten in die Magengrube, und er wunderte sich, dass er in diesen Momenten nicht die geringste sexuelle Erregung verspürte. Er bestaunte lediglich auf eine ganz und gar intellektuelle Art und Weise die perfekte Ebenmäßigkeit ihres Körpers. Ihre Haut war leicht gebräunt – nahtlos, wie er feststellte. Offenbar ging sie gerne hüllenlos unter die Sonne. Dieses kleine Detail überraschte ihn sehr, denn er hätte sie so nicht eingeschätzt. »Was denkst du?«, fragte sie und lächelte. Sie atmete tief ein und streckte ihren Körper, bog ihn dann nach hinten durch und provozierte ihn damit geradezu, endlich aktiv zu werden. »Du bist schön«, sagte Luigi und ließ seinen Blick dorthin wandern, wohin bald seine Hände folgen würden. »Und weiter?« Ihm fiel auf, dass das Lächeln mit einem Mal aus ihrem Gesicht verschwand. Stattdessen verzerrten sich ihre Züge. »Was fällt dir ein, du Arsch?«, rief sie patzig, fasste nach der dünnen Decke auf dem Bett und hielt sie sich vor ihre bloßen Brüste. Eine Sekunde lang dachte Luigi, er sei im falschen Film. So verwirrt wie in diesem Augenblick war er wohl noch nie zuvor in seinem Leben gewesen. Doch dann kam es in seinem Gehirn an, dass diese Worte unmöglich an ihn gerichtet sein konnten. Jemand musste in den Raum gekommen sein! Er wandte endlich den Blick von dem nackten Körper vor ihm auf dem Bett und starrte auf den Mann, der in der Nähe der Eingangstür stand. Er hatte das Zimmer völlig lautlos betreten und die Tür hinter sich sogar wieder geschlossen. Der Eindringling wirkte edel, und Luigi konnte ihn sich auf irgendeinem antiquierten Fürstenhof gut vorstellen. Doch hier hatte er nichts zu suchen! »Wie kommen Sie dazu, in meine Wohnung einzudringen?«, herrschte er den Fremden an.
Dieser schüttelte an Stelle einer Antwort nur den Kopf, und seine langen dunklen Haare strichen über seine Schultern. Luigi konnte nicht genau sagen, was ihn an seiner Erscheinung verwirrte, doch es war irgendetwas an seinen Augen. »Frag sie«, sagte er mit einer durchaus angenehmen Stimme und wies auf die nackte Schönheit, die mühevoll ihre Blößen bedeckte. »Kennst du diesen Kerl?«, fragte Luigi. »Dieser Spinner hat mich vorhin angesprochen, als ich auf dem Weg zu dir war, aber ich sagte ihm, er solle sich zum Teufel scheren!« »Nicht doch«, sagte der Eindringling. »Was soll ich bei Asmodis? Ich sagte dir, dass ich eine Aufgabe für dich habe, meine Schöne. Das gilt nach wie vor.« »Was fällt dir überhaupt ein?«, begehrte Luigi auf. »Hau auf der Stelle aus meiner Wohnung ab, sonst schmeiß ich dich eigenhändig raus.« Vergessen war das, was vor Sekunden noch das einzig Bedeutungsvolle gewesen zu sein schien. »Du willst Tan Morano rausschmeißen?«, fragte der Fremde, und es klang beinahe belustigt. »Einen Moment lang überlegte ich, dich ebenfalls zu meinem Diener zu machen, doch dessen bist du nicht würdig.« Luigi wollte nicht glauben, was er hier zu hören bekam. Er hastete zu seinem Nachttischschränkchen und riss die obere Schublade auf. Er hatte schon immer gewusst, dass die Waffe eines Tages notwendig werden würde. Dass es gerade heute soweit war, am Tag, als er endlich zum ersten Mal eine Frau in seinem Bett hatte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. »Nicht doch«, sagte der Mann, der sich als Tan Morano vorgestellt hatte. »Lassen wir diese kindischen Spiele.« Er öffnete weit seinen Mund und entblößte zwei riesige Eckzähne. Das war die Sekunde, in der Luigis Verstand ausschaltete. Ein Verrückter war in seine Wohnung eingebrochen und gab sich als Vampir aus! Denn nichts anderes konnte das Plastikgebiss doch bedeuten. Der Kerl war vollkommen durchgeknallt! Luigi entsicherte die Waffe mit tausendfach geübtem Griff und drückte ab. Die Kugel jagte in den Arm des Eindringlings. »Nimm
das als Warnung, du Spinner!« Fassungslos sah Luigi, dass kein Blut aus der Wunde austrat. Doch Morano zeigte nicht die geringste Reaktion, ja, es schien fast so, als verspüre er keinen Schmerz. Ganz im Gegenteil zu dem, was Luigi in der nächsten Sekunde erlebte. Plötzlich stand der Eindringling direkt neben ihm, und ließ seine Hand durch die Luft zischen. Oder war es eine Klaue? Ein Schlag trieb seinen Kopf zurück und ließ ihn gegen die Wand prallen. Es tat weh, so schrecklich weh. Dann durchzuckten wahnsinnige Schmerzen seinen Hals, so als riss ihm der Fremde die Kehle auf, als beiße er hinein … Ein Schlürfen folgte, und Dunkelheit. Dunkelheit – … Minuten später meinte er, noch einmal zu einem anderen Leben zu erwachen, einer völlig anderen Art der Existenz. Er war noch er selbst, und doch war er ein völlig Anderer, etwas völlig anderes. Sein Meister hob Hände, nahm den Kopf seines Dieners in beide Hände. Dann folgte ein scharfer Ruck. Es knackte bis in die letzten Winkel seines Gehirns. Ein letztes, endgültiges Geräusch, gefolgt von einem kurzen, stechenden Schmerz. Dann wurde es wieder dunkel um ihn. Dunkel – … Nichts mehr.
3 Kampf der Bestien � »Homo hominis lupo.« (»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.«) Thomas Hobbes (1588 – 1679) Tan Morano ließ den Körper des Mannes achtlos auf das Bett fallen. Er war bereits als Vampir wiedererwacht, doch Morano hatte seiner Existenz ein rasches Ende gesetzt. Es würde besser sein, anderswo ein zweites Opfer zu suchen, das er für seine Zwecke einsetzen konnte. Die nackte Frau saß mit geweiteten Augen apathisch da. Ihre Hände zitterten, und die schützende Decke hatte sie längst fallen lassen. Es war für Tan Morano ein Leichtes gewesen, ihr einen kurzen suggestiven Befehl zu schicken, der sie auf der Stelle bannte – sie war ohnehin durch den Tod des Mannes in eine Art Schockzustand gefallen. Sie stand nicht etwa unter seiner Hypnose; der Vampir hatte ihre Apathie lediglich verstärkt. »Er hätte vernünftig sein sollen, meine Schöne«, meinte Tan Morano. Blut tropfte von seinen Zähnen auf das makellose Weiß des Lakens. Die Frau öffnete den Mund, doch kein Wort drang über ihre Lippen. Jetzt atmete sie stockend ein. Es klang beinahe wie ein Stöhnen. Morano bedachte ihren Körper mit einem kurzen Blick. Sie war schön, und unter anderen Umständen hätte es sich gelohnt, sie erst zu verführen und ohne den Vampirkeim in seine Abhängigkeit zu bringen, um sie dann nach Wochen der gemeinsam erlebten Wonnen erst über seine wahre Natur aufzuklären. Doch nicht heute. Denn Zamorra, der verhasste Jäger der Wolfsdynastie, war in der Nähe. Er hatte die Stadt der Liebe erreicht, geschickt von den Wölfischen, um ihn, Morano, außer Gefecht zu set-
zen. Der Vampir hatte nicht lange überlegen müssen, welche Reaktion er darauf zeigen sollte. Eben hatte er den Startpunkt gesetzt: er würde Paris zur Stadt des Todes machen, wenn es sein musste. Wieder und wieder würde er Zamorra und seiner Begleiterin Vampire entgegenschicken, bis sie von der Übermacht erdrückt wurden. »Weißt du«, sagte er zu der Nackten vor sich, »Duval hätte mich nicht zurückweisen sollen.« Sie verstand ihn nicht. Wie hätte sie auch verstehen sollen? »Du …«, hauchte sie in diesem Moment, und kurz darauf: »Lass – mich gehen.« »Ich brauche dich. Du wirst die Erste sein, die gegen meinen Feind antritt.« Morano wandte sich ihr zu und legte beide Hände auf ihre Schultern. »Du wirst mir einen großen Dienst erweisen, und es soll dein Schaden nicht sein«, sagte er mit sanfter, beinahe zärtlicher Stimme. Seine Zähne berührten bereits ihre pochende Hals-Schlagader, als er sich noch einmal abwendete und ihr in die Augen sah. »Deine Schönheit wird für immer erhalten bleiben, wenn du siegreich bist.« Sein Blick wanderte an ihrem Körper entlang, dann beugte er sich wieder zu ihr herab und biss zu. Für sie war das Sterben nicht so schmerzhaft wie für ihren Freund vor wenigen Minuten. Im Gegenteil, sie genoss es.
Danach gab der Vampirdämon seiner Dienerin genaue Instruktionen. Sie zog sich an, während sie den Worten ihres Meisters lauschte. »Zamorra befindet sich in dieser Straße, im Hotel Excelsior.« Er nannte die Zimmernummer. »Du wirst dort hingehen und ihn angreifen.« »Ja Meister«, sagte die neue Vampirin ergeben. »Ich werde ihn zu einem der Unseren machen.« »Unterschätze ihn nicht, denn er ist einer der Wenigen, die dir Widerstand entgegenzusetzen vermögen. Wenn sich die Gelegenheit
ergibt, dann lege den Vampirkeim in ihm. Doch wichtiger ist Sicherheit und ein rasches Ergebnis. Wenn du die Möglichkeit hast, ihn zu töten, dann tue das.« »Er wird meinem Körper nicht widerstehen können, Meister, und bis er dann bemerkt …« »Dein Körper wird keine Waffe sein, die du einsetzen kannst«, unterbrach Tan Morano hart. »Er ist seiner Gefährtin treu, und du wirst ihn nicht in dein Bett locken können.« »Solche Treue gibt es nicht unter den Menschen«, behauptete die Vampirin. »Doch, sie existiert«, widersprach Tan Morano, und seine Stimme klang bitter. »Wenn du es sagst, dann glaube ich es.« Die Dienerin senkte unterwürfig den Kopf. »Warte eine Stunde, und dann gehe zum Angriff über. Die Zeit wird reichen, damit ich dir Hilfe schicken kann.« Seine Sklavin wandte sich der Ausgangstür zu. »Eines noch«, rief Morano ihr nach. »Die Frau, die sich bei Zamorra befindet, ist ebenso gefährlich wie er selbst. Töte sie, ohne ihr die geringste Chance auf Gegenwehr zu belassen. Beiße sie nicht, denn sie ist gegen den Vampirkeim immun.« »So wird es geschehen«, sagte die Vampirin und verließ den Raum. Tan Morano folgte ihr, doch er beachtete sie nicht weiter. Der Vampirdämon beabsichtigte tatsächlich, ihr Hilfe zu schicken, denn er glaubte nicht daran, dass sie erfolgreich sein würde. Ein geeignetes Opfer zu finden, war nicht schwer. Diese Stadt pulsierte von Leben, und diejenigen, die die Herrschaft in den Händen hielten, die Wölfischen, ließen die Menschen nach Tan Moranos Ansicht viel zu sehr gewähren. Irgendwann würde er sie stürzen und die Vampire an die Spitze der Hierarchie katapultieren, dorthin, wohin sie gehörten. Und er selbst würde endlich den Platz einnehmen, der ihm gebührte. Er brauchte dafür keine lächerliche Religion, wie der Wolfskult sie darstellte, eine bloße Kopie der Machtmechanismen, die zuvor
schon das Christentum angewandt hatte. Ja, Morano glaubte der Geschichtsfälschung nicht, die die Wölfischen betrieben. Denn er wusste, dass sie keineswegs schon so lange an der Herrschaft waren, wie sie allen glauben machen wollten. Morano betrat ein Restaurant. Nur wenige Gäste waren anwesend, und soeben schob eine blonde junge Frau ihren Stuhl ganz in der Nähe des Ausgangs geräuschvoll zurück. »Es wird besser sein, wenn ich gehe!«, sagte sie erzürnt zu ihrem Tischgefährten. Der Mann, ein gut gekleideter Geck, der mindestens doppelt so alt war wie die Blonde, verzog spöttisch den Mund. »Und wo willst du hin, meine Gute?«, sagte er herablassend. »Zurück in deine schäbige Wohnung?« Tan Morano konnte sich sehr gut vorstellen, welcher Art von Szene er hier Zeuge wurde. Er trat an den Tisch. »Eine Frau wie diese sollte man nicht verspotten«, sagte er galant. Der Geck zog erbost die Augenbrauen zusammen. »Was geht Sie das an, Monsieur? Verschwinden Sie von hier!« Ein einziger Blick genügte, den Mann verstummen zu lassen. »Wohin soll ich Sie bringen?«, fragte Morano die junge Frau. Diese sah ihn verwirrt an. »Ich komme alleine zurecht, danke.« Sie drehte sich um und verließ das Restaurant. Morano folgte ihr. »Ihnen wird das Geld für ein Taxi fehlen.« »Der Bus genügt mir. Ich danke für Ihr Eingreifen, und jetzt auf Wiedersehen.« »Wir haben uns noch nicht getrennt. Warum also wünschen Sie ein Wiedersehen?« Sie sah ihn konsterniert an. Sie hatte weiche braune Augen und ein zartes, liebliches Gesicht. Morano verfluchte die Eile, zu der er gezwungen war. Seine Überredungskunst führte dazu, dass sie zehn Minuten später zusammen in einem Taxi saßen. »Warum sind Sie so nett zu mir?«, fragte sie. »Darf ein Mann zu einer schönen Frau nicht ohne Grund nett sein?«
»Das sagte er auch einmal«, erwiderte sie, und es gab keinen Zweifel, wen sie meinte. »Und erst heute hat er sein wahres Gesicht gezeigt.« »Was wollte er von Ihnen? Sollten Sie das Bett mit diesem alten Hund teilen?« Sie presste die Lippen zusammen und sah unter sich. »Das habe ich längst getan. Er …« »Sie brauchen es mir nicht zu erzählen«, sagte Morano gönnerhaft und mit schmeichelnder Stimme, die ihren inneren Schutzschirm durchdrang. »Ich … ich will es aber. Er sagte, dass seine Freunde … dass sie bereits warten, bis sie endlich …« Sie schluchzte. »Reden Sie nicht weiter«, sagte Morano und legte ihr seine Hand auf das Knie. Sie zuckte nicht zurück, denn sie erkannte, dass diese Geste nicht von plumper Sexualität motiviert wurde. »Ich kenne derlei Perversionen.« Sie sah ihn aus großen Augen an und fuhr sich mit der Hand über den Mund. Zwanzig Minuten später setzte der Vampirdämon die junge Frau an ihrem Ziel ab und verabschiedete sich. Dankbarkeit leuchtete in ihren Augen. Nach weiteren zehn Minuten drang er in das Haus ein, fand sein Opfer weinend in einem alten kalten Zimmer und erlöste sie von ihrem Weltschmerz. Ihr Blut schmeckte gut, und es stärkte ihn, und doch war es auf unbestimmte Art und Weise schal. Irgendwann würde Morano seine Opfer wieder genießen können. Er freute sich auf diese Zeit, wenn Hektik nicht mehr notwendig war.
Zamorra schreckte aus dem kurzen Schlaf hoch. Er spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Nur worum genau es sich handelte, vermochte er nicht zu erkennen. Nicole atmete neben ihm ruhig und tief. Er gönnte ihr die Ruhe,
die ihr nur für kurze Zeit vergönnt sein würde. Noch wollte er sie nicht wecken. Der Professor sah sich im Zimmer um. Natürlich befand sich niemand hier, denn im Fall eines gewaltsamen Eindringens wäre er schon früher aufgewacht. Sein Schlaf war – was Gefahren betraf – äußerst leicht. Er stand auf und schlüpfte rasch in seine Kleider. »Was ist?«, fragte Nicole schläfrig. »Irgendetwas stimmt hier nicht.« Blitzartig war sie hellwach. »Ein Angriff?« Sie zog sich hastig an. »Merlins Stern zeigt bis jetzt keine Reaktion.« »Das ist schon einmal ein gutes Zeichen, aber du weißt so gut wie ich, dass wir uns darauf nicht wirklich verlassen können.« Zamorra nickte. »Ich glaube ohnehin nicht, dass ich mich getäuscht habe. Irgendetwas geht hier vor, das für uns nicht gerade angenehm sein wird.« »Vielleicht hat der Einbrecher eine unangenehme Überraschung zurückgelassen. Wir hätten gründlicher suchen müssen, um …« In diesem Moment wurde die Zimmertür geöffnet. Eine junge Frau trat ein und schloss die Tür hinter sich wieder. »Was wollen Sie?«, herrschte Zamorra sie an. »Woher haben Sie den Schlüssel?« Die Frau antwortete nicht, sondern stieß einen Schrei aus und sprang geifernd auf Nicole und ihn zu. Zamorra sah lange Eckzähne über die Unterlippen ragen. Eine Vampirin! Warum zeigte das Amulett keinerlei Reaktion? Da war sie bereits heran und versetzte Nicole einen Tritt, der sie zur Seite taumeln ließ. Zamorra hörte, wie sie gegen das kleine Beistelltischchen prallte, ins Stolpern kam und zu Fall gebracht wurde. Sie stöhnte, als sie auf dem Boden aufschlug. Da zischte bereits die Hand der Vampirin auf ihn zu, und entsetzt sah er, dass sie ein langes Messer umklammerte. Das war ein völlig untypisches Verhalten …
Doch darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Untypisch oder nicht, er befand sich in höchster Gefahr! Und da sein Amulett nach wie vor keinerlei Aktivität zeigte, musste Zamorra sich erst einmal rein körperlich zur Wehr setzen. Es gelang ihm, dem zum Glück recht plump ausgeführten Angriff auszuweichen. Die Klinge fuhr dicht an seiner Schulter vorbei. Seine Gegnerin stieß ein ärgerliches Grollen aus. Zamorra hob die rechte Hand und schlug mit der Faust zu. Er traf in die Fratze der Vampirin, die durch die Wucht zurückgestoßen wurde. Er spürte, wie unter der Wucht des Schlages etwas zerbrach. Die Nase stand schief in dem bis dahin perfekt ebenmäßigen, aber bleichen Gesicht. Kein Blut trat aus ihr hervor, bei dem blutleeren Körper der Frau war das auch kein Wunder. Sie war kein Mensch, sondern eine Höllenkreatur … Inzwischen rappelte sich Nicole mit einem Fluchen auf. Es war ihr gerade gelungen, wieder auf die Beine zu kommen, als die Vampirin erneut zum Angriff überging. Sie zog eine Blumenvase aus dem Regal und schleuderte sie auf ihre verhasste Gegnerin. »Scheiße!«, rief Nicole, als sie das Unheil nahen sah. Dann musste Zamorra mit ansehen, wie das dicke Porzellan zielgenau traf. Es zerbrach, und Nicole sackte, von Wasser überschüttet und von wild zerstreuten Blumen umringt, ohnmächtig zusammen. Ein kleiner Blutfaden rann ihr über die Stirn. »Jetzt sind wir unter uns«, meinte die Vampirin. Sie stand zwischen Zamorra und seinem kleinen Einsatzkoffer, in dem sich alle Waffen befanden, die er zum Angriff oder zur effektiven Verteidigung hätte nutzen können. »Was willst du?« »Liegt das nicht auf der Hand? Ich werde dich töten.« »Mit einem Messer?«, höhnte Zamorra. »Nicht gerade die Art, die man von Vampiren gewohnt ist.« »Das Ergebnis ist das einzige, das zählt.« Sie hob das Messer und führte es bogenförmig vor ihrem Körper hin und her. Zamorra erkannte an der Unsicherheit ihrer Bewegungen, dass sie den Kampf damit nicht gewohnt war. Das gab ihm eine kleine
Chance. Er befand sich etwa drei Meter von seiner Gegnerin entfernt, als diese unvermittelt die Zähne fletschte. »Zeit zum Sterben, Zamorra.« »Wer schickt dich?«, fragte er zurück. »Ja, du sollst wissen, wer dich letztlich getötet hat, denn ich bin nur das Werkzeug eines Größeren.« »Es ist Tan Morano, nicht wahr?« Zamorra zeigte sich wenig beeindruckt. »Woher …?«, fragte sie verblüfft, doch sie führte ihren Satz nicht zu Ende, denn in derselben Sekunde nutzte Zamorra die Ablenkung und sprang auf seine Gegnerin zu. Er griff dabei nach dem schweren Stuhl, der neben Schreibtisch stand und schleuderte ihn der Vampirin kraftvoll entgegen. Er traf sie frontal, und sie ging ächzend zu Boden. Das Messer ließ sie dabei nicht los, im Gegenteil. Sie schlug damit nach ihm, und er spürte, dass sie ihn in Brusthöhe erwischte. Zum Glück trug er nur eine oberflächliche Wunde davon. Der Stuhl kam auf der Vampirin zum Liegen und hinderte sie am Aufstehen. Sie warf ihn zur Seite, wo er krachend zu Boden fiel. Noch ehe Zamorra den Einsatzkoffer erreichte, wurde die Tür wieder geöffnet. Ein Mann trat ein, den Zamorra trotz all der Jahre und trotz der Veränderung, die er wohl vorgenommen hatte, um ihn zu täuschen, sofort erkannte. Es war Aurelian. Und er hielt jenes Symbol in seinen Händen, das Zamorra in seinen Visionen gesehen hatte, nur dass sich kein schmerzerfüllter Mann daran befand. Ein schlichtes hölzernes Kreuz. »Sieh her!«, befahl Aurelian mit scharfer Stimme und reckte der Vampirin das geheimnisvolle Symbol entgegen. Diese schrie auf und wandte sich mit verzerrtem Gesicht ab. »Nimm es weg!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. Zamorra nutzte die Gelegenheit und entnahm seinem Einsatzkoffer einen Eichenholzpflock. Welchen Hokuspokus Aurelian auch immer veranstaltete, als erstes musste die Vampirin vernichtet werden. Erst danach war Zeit, den anderen Feind zur Rechenschaft zu zie-
hen und aus ihm herauszupressen, wieso die Vampirin auf das Kreuz-Symbol derart reagierte. Es schien ihr Unbehagen und Schmerz zu bereiten. Mit dem Pflock in der Hand näherte sich Zamorra der Vampirin, die noch immer geschwächt war. Sie war nun keine ernstzunehmende Gegnerin mehr. Der Professor schlug zu, und er traf zielgenau. Sie schrie auf, und kurz darauf war es vorbei. Ihre Augen weiteten sich noch, und ihre Hände streckten sich ihm kraftlos entgegen. Doch Zamorra hatte kein Mitleid mit der Kreatur – nicht er hatte sie getötet, sondern Tan Morano. Als sie das Hotelzimmer betreten hatte, war sie bereits tot gewesen. Die Vampirin blieb reglos am Boden liegen, und ihre Haut überzog sich mit einem Grauschleier. In den nächsten Minuten würde sie zu Staub zerfallen, das wusste Zamorra. Er warf einen raschen Blick auf Nicole und sah erleichtert, dass sie bereits wieder zu sich kam. »Was willst du hier, Aurelian?«, wandte er sich deswegen an den Mann, der früher sein Freund gewesen war und für den er heute nur noch Verachtung übrig hatte. »Ich zeigte dir, welche Macht in dem Kreuz steckt, und ich werde dir die Wahrheit offenbaren. Ich will dich retten, Zamorra!« »Ich kenne die Wahrheit«, spuckte Zamorra aus, »und ich werde dich töten, Aurelian! Die Wölfischen werden mich dafür mit Dank überschütten! Du hast dein Leben schon vor langer Zeit verwirkt, als du den falschen Pfad eingeschlagen hast!« »Kommst du nicht ins Nachdenken, wenn du siehst, was …« »Welchen Zauber du auch immer angewandt hast, es hat mich überrascht, denn früher hast du nie viel von Magie gehalten. Du scheinst deine Meinung geändert zu haben.« »Es war weder Magie noch Zauberei! Denke doch nach, Zamorra! Ich bin nicht hier, um dich zu töten.« »So? Wozu dann?« »Wenn ich dich töten wollte, dann hätte ich dieser Bestie hier«, er deutete auf die Überreste der Vampirin, »das Feld überlassen und du wärst jetzt bereits tot.«
»Unsinn! Ich hätte sie auch ohne dein Eingreifen vernichtet, und das weißt du genau! Du hast lediglich die Gelegenheit ergriffen, um dich einzuschmeicheln. Wach doch auf, Aurelian: dein schöner Plan hat nicht funktioniert!« Inzwischen kam Nicole wieder auf die Beine. »Gut, dass du das Monster vernichtet hast, cheri.« Sie tastete vorsichtig nach der Beule auf ihrer Stirn. »Mir sind Vampire, die weniger unkonventionell kämpfen, wesentlich lieber«, meinte sie sarkastisch. Zamorra warf Aurelian einen geringschätzigen Blick zu. »Du hast mir geholfen, das gebe ich zu, und darum gestatte ich dir, von hier zu verschwinden.« »Lass mich reden und dir die Wahrheit aufzeigen, Zamorra.« »Ich bin an einem Gespräch mit dir nicht interessiert.« Der Jäger wies das Ansinnen seines ehemaligen Freundes eiskalt zurück. In diesem Moment zuckte Aurelian zusammen. »Ich höre etwas«, sagte er und sah auf den Gang hinaus. Mit einem Fluch schloss er rasch die Tür. »Es sind Wölfische, und sie nähern sich eurem Zimmer!«
»Wie viel Zeit bleibt uns noch?« Nicole warf Zamorra einen bedeutungsvollen Blick zu: Deine Abneigung gegen Aurelian hin oder her – wir müssen ihm jetzt helfen! Ich will wissen, was sich hinter seinen Andeutungen verbirgt! Zamorra verstand auch ohne Worte. »Sie werden in einer Minute hier sein«, erwiderte Aurelian. »Ich kann euer Zimmer nicht mehr verlassen!« »Dann geh ins Badezimmer!«, zischte Zamorra. »Ich werde dich abschirmen, so dass die Wölfischen dich nicht entdecken können.« Nicole nickte ihm zu. Danke! Für irgendwelche Fragen war die Zeit zu knapp. Aurelian huschte wortlos ins Badezimmer. Zamorra schloss die Tür hinter ihm und wob einen raschen Zauber vor der Tür. Er würde Aurelian nur notdürftig vor den Sinnen der Wölfischen abschirmen, aber weiterreichende Vorbereitungen
würde er auf die Schnelle nicht treffen können. Es blieb zu hoffen, dass die Gäste ohnehin nicht damit rechneten, dass vor ihnen irgendetwas verborgen wurde. Wenn sie arglos genug waren, konnten sie eventuell überlistet werden. Und welchen Grund sollten sie schon haben, misstrauisch zu sein? Zamorra war schließlich ihr loyaler Jäger … Schon klopfte es hart an der Tür, und Nicole öffnete. Sie tat überrascht und wandte sich über die Schulter an ihren Gefährten: »Gesandte des Imperiums, cheri!« »Bitte sie herein«, sagte Zamorra, der sich möglichst weit von der Badezimmertür entfernt hatte. Er tat, als wende er sich gerade von dem Staubhaufen ab, der von der Vampirin übrig geblieben war. »Nicht nötig«, sagte einer der Männer, dem man den Wolf deutlich ansah, und drängte sich an Nicole vorbei. Sein Bart wucherte wild, und auch die Behaarung seiner Hände wäre für einen Menschen unnatürlich stark gewesen. Der massige Körper überragte Nicole um Haupteslänge. Seine Nase war wulstig, und beim Sprechen entblößte er breite, strahlend weiße Zähne. Sein Begleiter hingegen war wesentlich unauffälliger, eher eine schmächtige Erscheinung. Er hatte zusätzlich ein Allerweltsgesicht ohne besondere Merkmale, und doch spürte Nicole, dass er nicht weniger Werwolf war als der Riese neben ihm. Auf Äußerlichkeiten konnte man sich in diesem Fall absolut nicht verlassen. »Verzeihen Sie das ungestüme Eindringen meines Kollegen«, sagte er süffisant. »Das Imperium ist uns immer herzlich willkommen«, sagte Zamorra, und nur Nicole hörte den unterschwelligen Ärger in seiner Stimme. »Was kann ich für Sie tun?« Der Schmächtige zog witternd die Luft ein und sah sich im Raum um. Dann deutete er auf das Staubhäufchen neben dem Bett. »Wie ich sehe, haben Sie schon festgestellt, dass Ihre Ankunft nicht unbemerkt geblieben ist.« »Allerdings«, meinte Nicole und tastete nach der Beule auf ihrer Stirn. An einer Stelle war die Haut aufgeplatzt, doch sie hatte nicht viel Blut verloren.
»Da Sie schon Besuch hatten, kommt unsere Warnung zu spät«, fuhr der Wölfische fort, der offenbar derjenige der beiden Ankömmlinge war, der das Sagen hatte. Auch hier trog der Schein. »Doch der Vampir, den Sie überwältigt haben, Jäger, wird nicht der Letzte sein.« »Die Vampirin«, verbesserte Nicole automatisch. Der Schmächtige lächelte sie an, und es war das kalte Lächeln eines Raubtiers in menschlicher Gestalt: ihm fehlte jede Freundlichkeit. »Die Vampirin«, wiederholte er und nickte leicht. »Die Schwäche der Menschen für unbedeutende Details ist mir schon immer ein Rätsel gewesen.« »Da stimmt etwas nicht«, knurrte der zweite Gesandte des Imperiums in diesem Moment. Seine Finger verkrampften sich, und er schob seinen Kopf mit verzerrten Lippen nach vorne. Zamorra durchfuhr ein eisiger Schreck. Der Wölfische hatte Aurelian entdeckt … Wie sollte er das nur erklären? Im Grunde genommen gab es keine Erklärungsmöglichkeit dafür, warum er den Feind des Wolfsimperiums nicht sofort ausgeliefert hatte. Die Haltung der beiden Werwölfe spannte sich an. »Ich spüre es auch«, sagte der Schmächtige und drehte sich witternd um.
Aurelian wartete eingeschlossen im Badezimmer, und er fühlte sich gar nicht wohl. Eingezwängt zwischen diesen vier Wänden besaß er in dem Fall, dass einer der Wölfischen die Tür öffnete, nicht die geringste Chance zu entkommen. Einen direkten Kampf konnte er fast nicht gewinnen, denn ihm blieb kaum Platz, einer ersten Attacke auszuweichen. Gegen die Wölfischen zeigte das Kreuz, das er wieder in seiner Tasche hatte verschwinden lassen, keinerlei Wirkung. Aurelian rätselte selbst, warum dies der Fall war – und warum andere Höllenkreaturen Angst und Schmerz empfanden, wenn sie dieses Symbol auch nur erblickten. Es gab nur eine Erklärung: ein Splitter der geballten Macht seines Gottes musste sich darin auf irgendeine Art und Weise manifestie-
ren. Und dieser Gedanke führte wieder zu der Überzeugung, dass es notwendig war, Zamorra die Wahrheit nahe zu bringen. Der einstige Freund musste mit ihm in die Vergangenheit reisen und korrigieren, was damals falsch gelaufen war. Denn etwas war falsch an der Realität! Nur in Merlins Zeitring lag die Möglichkeit einer Zeitkorrektur … und den besaß nun einmal Zamorra. Also musste er den Professor notfalls zur Zusammenarbeit zwingen! Noch etwas anderes bereitete Aurelian Unbehagen. Das Einzige, das ihn vor der Entdeckung durch die Wölfischen schützte, war Magie. Ein Zauber, den Zamorra in Sekundenschnelle aufgebaut hatte und der Aurelians Aura abschirmte, so dass die Gesandten des Imperiums ihn nicht wittern konnten, obwohl er nur wenige Meter von ihnen entfernt war. Magie, die ihm half und ihn schützte. Zähneknirschend gestand er sich ein, dass dies in diesem Fall tatsächlich so war. Seine instinktive Abneigung gegen die Magie in allen ihren Formen hatte Aurelian in den wenigen Sekunden, die ihm für eine Entscheidung blieben, überwunden – überwinden müssen! Doch das bedeutete letzten Endes nichts anderes, als dass er sich Zamorras Methoden bediente, die er bisher immer verabscheut hatte … Aurelian sah sich um. Wenn sich irgendwie die Möglichkeit ergab, würde er von hier verschwinden. Sein Blick blieb an einem Lippenstift auf der Ablage unter dem Wandspiegel haften. Nachdenklich nahm er ihn in die Hand, öffnete ihn und blickte versonnen in die Spiegelfläche. Dann hob er den Lippenstift und schrieb damit auf das Glas. »Engelskapelle«. Diesen Hinweis hatte er seinem Feind bereits gegeben, als er noch nicht beabsichtigt hatte, ihn hier in diesem Zimmer auszusuchen. Das Auftauchen der Vampirin hatte auch Aurelians Pläne über den Haufen geworfen. Er zögerte, dann setzte er ein Gleichheitszeichen hinzu und schrieb weiter: »Notre Dame«. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als einer der Wölfischen in diesem Moment mit grollender Stimme rief: »Da stimmt etwas nicht!«
Aurelians Herz begann zu rasen, und er ließ achtlos den Lippenstift fallen. Das konnte nur eins bedeuten. Er war entdeckt worden. Und das wiederum hieß, dass er schon so gut wie tot war, falls Zamorra ihm nicht half. Doch dass der Professor sich aktiv gegen die Werwölfe und damit gegen das Wolfsimperium an sich stellen würde, daran glaubte Aurelian nicht. »Herr hilf mir«, betete er still in dieser Sekunde der Not. »Lass diesen Kelch an mir vorüber ziehen.« »Ich spüre es auch! Gefahr!« Es war die Stimme des anderen Wölfischen, die diese Worte sprach. Dann brach Chaos aus!
Mit einem gewaltigen Knall wurde die Tür beinahe aus den Angeln gerissen, und drei Vampire stürzten in den Raum. Sie konnten noch nicht vor langer Zeit zu Höllenkreaturen geworden sein, denn die Bisswunden an ihrem Hals waren noch frisch. Die winzigen Blutstropfen um sie herum waren noch nicht einmal verkrustet. Die Vampire schrien auf, als sie sahen, dass ihre Feinde nicht alleine waren, doch sie ließen sich nicht abhalten. Sofort gingen sie zum Angriff über. Ob sie in den anderen beiden Anwesenden Werwölfe erkannten, spielte keine Rolle. In einem irrwitzigen Sekundenbruchteil erkannte Zamorra, dass er sich getäuscht hatte – die Wölfischen hatten nicht etwa Aurelians Gegenwart bemerkt, sondern die Annäherung der Vampire. Dann waren die Bestien heran. Wie schon die Angreiferin zuvor, bedienten sie sich zusätzlich menschlicher Waffen. Offenbar hatte ihnen ihr Herr, Tan Morano, aufgetragen, rigoros und unkonventionell vorzugehen. Keine Kompromisse … das einzige, was zählte, war offensichtlich der Tod Zamorras und Nicoles. Einer der Vampire zog eine kurzläufige Pistole. Doch ehe er dazu kam, einen Schuss abzugeben, griff der riesige Wölfische ein. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf den Vampir. Dann brach an allen Enden gleichzeitig der Kampf aus. Zamorra gelang es nicht mehr, die Übersicht zu behalten, denn er musste sich
seiner eigenen Haut erwehren. Es stand Drei gegen Vier – ein gutes Verhältnis. Drei Vampire gegen zwei Menschen und zwei Werwölfe, die gemeinsam kämpften. Aber Merlins Stern blieb nach wie vor inaktiv. Zamorra konnte sich keine Gedanken darüber machen, warum das Amulett blockiert war. Einer der Vampire – wiederum handelte es sich um eine Frau, eine äußerlich zarte Person von höchstens fünfundzwanzig Jahren – sprang den Jäger mit gebleckten Zähnen an. Sie verfügte über übermenschliche Kräfte und hielt Zamorras Handgelenke mit eisernem Griff umklammert, während sich ihre Vampirzähne seinem Hals näherten. Der Professor spannte seine Muskeln an, doch er konnte den Griff seiner Gegnerin nicht sprengen. In einer reinen Verzweiflungsaktion riss er das Knie nach oben und schmetterte es der Vampirin in die Magengrube. Obwohl sie keinerlei Schmerzen empfinden konnte, wurde sie durch den Aufprall zurückgetrieben. Ihr Griff lockerte sich, und Zamorra gelang es, sie abzuschütteln. Er hetzte zum Bett. Dort lag nach wie vor der Holzpflock, mit dem er schon die erste Angreiferin gepfählt hatte. Dabei warf er einen Blick in den Raum. Einer der Vampire lag mit auf den Rücken gedrehtem Gesicht auf dem Boden und löste sich soeben in Staub auf. Blieben noch zwei Gegner. Die weibliche Bestie stürmte inzwischen erneut auf Zamorra zu. Mit dem dritten Vampir beschäftigte sich Nicole gerade. Einer der Wölfischen lag auf dem Boden und rappelte sich gerade wieder auf. Zamorra erreichte den Pfahl. In derselben Sekunde donnerte ein Schuss auf. Eine Kugel pfiff haarscharf an ihm vorbei und schlug in die Bettdecke ein. Eine kleine Federwolke stob auf. In diesem Augenblick war die Vampirin heran und schlug wie eine Furie auf ihn ein. Ein zweiter Schuss dröhnte und Zamorra sah, wie seine Gegnerin zusammenzuckte, als die Kugel in ihren Rücken traf. Sie riss fauchend das Maul auf und warf den Kopf in den Nacken. Natürlich konnte die Kugel sie nicht vernichten, doch im-
merhin war sie eine Sekunde lang abgelenkt. Der schmächtige Wölfische hatte sie nun erreicht und nahm ihren Kopf in beide Hände. Zamorra sah noch, wie sich ihr Gesicht vor Wut verzerrte, dann hörte er es krachen. Wie eine Marionette, deren Fäden man durchschnitten hatte, fiel die Vampirin in sich zusammen. Ihre höllische Existenz war durch den Genickbruch in Sekundenschnelle beendet worden. Auch der dritte Vampir war mittlerweile vernichtet. Stille kehrte ein. Zamorra bemerkte beiläufig, dass die Tür zum Badezimmer offen stand. Da sich die Werwölfe völlig ruhig verhielten, war Aurelian in der Zwischenzeit wohl verschwunden, ohne bemerkt worden zu sein. Nicole schloss geistesgegenwärtig die Tür. Sicher war sicher – möglicherweise hätte irgendetwas auf die vorübergehende Anwesenheit Aurelians hingedeutet. Um dieses Problem mussten sie sich später kümmern. »So, Jäger«, sagte der Schmächtige süffisant. »Ein kurzer, aber sehr befriedigender Kampf. Wir haben dir deine Angreifer vom Leib gehalten.« »Beinahe«, konnte Zamorra sich nicht verkneifen zu sagen. »Die Frau kam mir verdächtig nahe.« »Wir werden dafür sorgen, dass du nicht mehr gestört wirst, und Verstärkung in ausreichender Anzahl anfordern. Wenn der verfluchte Tan Morano dir eine Armee auf den Hals hetzen wird, werden wir ihm eine Hundertschaft entgegensetzen. Du wirst nicht mehr belästigt werden von seinen Vampirsklaven. Deine Aufgabe wird sein, Morano ausfindig zu machen und ihn zu vernichten.« Zamorra nickte. »Ich danke dem Imperium für seinen Schutz. Doch gleichzeitig bitte ich darum, nicht beobachtet zu werden. Ich werde … einen ungewöhnlichen Weg gehen, um den Vampirfürsten ausfindig zu machen.« Denn zunächst einmal beabsichtigte er, nach Aurelian zu suchen und herauszubekommen, was wirklich hinter seinen geheimnisvollen Andeutungen steckte. »Wir versichern dir, dass du in der Wahl deiner Mittel völlig frei
bist, solange sie zu dem gewünschten Ergebnis führt.« »Da bin ich mir völlig sicher«, antwortete Zamorra. Bald darauf verschwanden die Wölfischen. »Wo ist Aurelian?«, fragte der Professor, als er mit Nicole alleine war. Statt einer Antwort öffnete sie die Badezimmertür. »Das dürfte wohl alles sagen.« Sie deutete ins Innere. »Ich habe seine neue Botschaft schon gelesen.« Auf dem Spiegel standen einige Worte, die der ehemalige Freund hinterlassen hatte. Engelskapelle = Notre Dame. »Ich habe diesen Namen irgendwo schon einmal gehört«, meinte Zamorra. »Er sagt mir nichts.« »Ist es nicht die kleine Ruine einer ehemals stattlichen Kapelle? Soweit ich weiß, haben die Wölfe sie vor kurzem soweit restauriert, dass ein kleiner Versammlungssaal wiederhergestellt werden konnte.« »Notre Dame«, meinte Nicole nachdenklich. »Ich bin mir sicher, dass wir Aurelian dort finden werden.«
4 Alle Wege führen nach Rom � »Versuche nicht, das letzte Wort zu bekommen! Es könnte sein, dass man es dir erteilt.« (Robert Anson Heinlein) Aurelian verschränkte ungeduldig die Hände ineinander. Endlich verschwand der Wölfische, der sich zu dieser unüblichen Zeit in dem kleinen Saal aufhielt, der innerhalb der Ruine Notre Dames restauriert worden war. Normalerweise kamen die Werwölfe nur zwei Mal im Monat hierher, jeweils zu Beginn und zum Ende der Vollmondphase. Ansonsten stand der Saal leer – ein idealer Platz, um Zamorra und notfalls auch Nicole in eine Falle zu locken. Er und ein weiterer Gläubiger, dem die Wahrheit offenbart worden war, hatten hier gestern schon einige Vorbereitungen getroffen, die Aurelian nur noch rasch zu Ende bringen musste, ehe sein ehemaliger Freund hier eintraf. Beinahe wäre der ausgeklügelte Plan gescheitert, wenn der Wölfische sich noch länger hier aufgehalten oder gar die Manipulationen bemerkt hätte, die zwar unauffällig, aber nicht völlig unsichtbar waren. Ein erschreckender Gedanke! Das, was noch zu tun war, war rasch erledigt. Es handelte sich nur um Kleinigkeiten, die aber sehr effektiv in ihrer Wirkung sein würden. Wenn Aurelian Zamorra richtig einschätzte, würde Nicole zunächst nicht in die Kirche mit eindringen, sondern als Rückendeckung und Absicherung draußen warten. Darauf basierte Aurelians Plan. Doch selbst wenn er sich täuschen sollte, wäre es nicht wirklich schlimm. Aurelian würde siegreich sein; er musste einfach siegreich sein! Abermals eilte er nach draußen und suchte hinter einigen riesigen Felsbrocken Deckung. Man vermutete, dass Notre Dame einst ein Kuppeldach und einen gewaltigen, reich verzierten Turm besessen
hatte, doch in der frühen Neuzeit hatte es eine kriegerische Auseinandersetzung gegeben, die das gewaltige Kirchengebäude zerstört hatte. Über die Hintergründe dieser Verwüstung war kaum etwas bekannt, aber Aurelian ahnte, dass es etwas mit der Machtergreifung der Wölfe zu tun hatte. Er hatte weit reichende Studien in der ganzen westlichen Welt durchgeführt. Es schien, als existierten überall solche alten Ruinen von sakralen Gebäuden, die irgendwann im Laufe der Jahrhunderte zum Teil restauriert und von den Wölfen zu Versammlungsorten ausgebaut worden waren. Ein architektonisches Rätsel, das weit in die Vergangenheit wies, und über das es kaum Aufzeichnungen gab, nur vereinzelte Hinweise in verbotenen Schriften. Es waren verschiedenartige Theorien entwickelt worden, alle hinter vorgehaltener Hand, denn das Wolfsimperium und allem voran der Wolfspapst selbst hatten das Thema mit einem Bann belegt. Kaum jemand interessierte sich heutzutage noch dafür; fast jeder akzeptierte die Geschichtsfälschung, die der Vatikan betrieb. Die Menschen glaubten nur zu gerne an das Weltbild, das ihnen von der Gesellschaft, von dem Wolfskult, vorgesetzt wurde. Denn es war einfach und bot eine scheinbar lückenlose Sicht der Existenz, in der alles geordnet war. Aurelian wurde aus seinen Gedanken gerissen. Die Lichter eines Autos näherten sich dem verlassenen Ort, an dem die Ruine lag. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um Zamorra und Nicole. Dieser Verdacht wurde erhärtet, als der Wagen etwa fünfhundert Meter entfernt plötzlich stoppte. Sie mussten es sein! Und offenbar wollten sie nicht gesehen werden …
Nicole steuerte den Wagen an den Rand des schmalen Pfades, der zur Ruine führte. »Hier werde ich wohl kaum jemandem im Weg herumstehen«, kommentierte sie sarkastisch. Durch die Angriffe und die sich überschlagenden Ereignisse war es mittlerweile tiefe Nacht geworden. Nicole schaltete das Licht des
Wagens aus, und es wurde stockdunkel um sie herum. Nicht allzu weit entfernt glitzerte das unendliche Lichtermeer der Stadt. »Wenn dein einziges Problem ist, ob du dir einen Strafzettel einhandelst oder nicht, dann schätze dich glücklich, meine Geliebte.« Zamorra grinste schief. »Spesen übernimmt sowieso der Chef.« Sie stiegen aus dem Wagen aus. »Das ist also Notre Dame«, meinte Zamorra. »Die Engelskapelle«, ergänzte Nicole. »Der Ort, an dem sich entscheiden wird, was aus Aurelian wird.« »Oder aus uns, je nachdem, wie du es siehst.« »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er uns besiegen wird?« »Eine Gegenfrage, cheri: glaubst du ihm sein Gefasel, dass er uns nicht töten, sondern von der Wahrheit überzeugen will?« »Die Wahrheit?« Zamorra lachte leise. »Die abseitige Sekte, der er angehört, nimmt für sich also die Wahrheit in Anspruch … das überzeugt mich ehrlich gesagt nicht besonders.« »Immerhin spielt das Symbol dieser Sekte eine nicht unbedeutende Rolle in deinen Visionen.« »Ich habe lange genug darüber nachgedacht, Nicole.« Sie näherten sich der Ruine. »Ich habe schlicht und einfach keine Lust mehr. Aurelian wird die Chance erhalten zu reden, wenn er reden will. Wenn er hingegen Anstalten macht, mich töten zu wollen, dann werde ich schneller sein als er.« »Lass dich nicht von deinem Zorn leiten«, warnte sie. »Wir gehen vor wie besprochen«, lenkte er ab. »Ich gehe zuerst rein, und du bleibst als meine Rückendeckung draußen.« »Beim geringsten auffälligen Geräusch komme ich nach und räume mit eventuellen Gegnern auf, damit dir das klar ist!« »Vielleicht nicht beim allergeringsten Geräusch«, forderte Zamorra. »Du darfst Aurelian nicht unterschätzen. Er wird eine Falle gestellt haben, und wir müssen damit rechnen, dass er nicht alleine dort drin ist.«
»Ich bin auch nicht alleine.« Zamorra sah das Gespräch als beendet an. Er nickte seiner Gefährtin zu. Nicole schloss kurz die Augen. Dann blieb sie zurück, nahm Deckung hinter einem der Bruchstücke, die rings um den kleinen restaurierten Bereich lagen. Zamorra eilte direkt auf den Eingang zu, legte die Hand auf die Klinke und stellte fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Genau wie er es erwartet hatte. Er betrat den Versammlungsraum. Es war stockfinster. Verdammt, wieso hatte er nicht daran gedacht, eine Taschenlampe mitzunehmen? »Aurelian?«, rief er leise ins Dunkel. Gleichzeitig strahlte rechts von ihm ein grelles Licht auf. Zamorra drehte unwillkürlich den Kopf zur Seite und schirmte die Augen mit den Händen ab. Er hörte ein Zischen, nahm einen eigenartigen Geruch wahr, bemerkte, wie hinter ihm die Eingangstür geschlossen wurde und fühlte, wie ihm schwindlig wurde. Gas! Er hatte Gas eingeatmet. »Nicole!«, wollte er rufen, doch seine Lippen versagten ihm den Dienst. Aurelian!, durchzuckte es ihn. Dieser verdammte Heuchler war Sieger der Auseinandersetzung geworden, die in Zamorras Augen noch nicht einmal begonnen hatte. Dann schwanden ihm die Sinne. Ohnmächtig sackte er zusammen.
Als er wieder zu sich kam, war er an Händen und Füßen gefesselt. Er lag auf einer Pritsche, und der einzige Luxus, der ihm gegönnt war, bestand aus einem weichen Kissen, auf das man seinen schmerzenden Kopf gebettet hatte. »Ich freue mich, dass du wieder bei Bewusstsein bist.« Zamorra erkannte die Stimme sofort. Aurelian! »Wo hast …« Ein heftiges Husten unterbrach seine Anklage. »Trink das«, sagte Aurelian und hielt ein Glas an seinen Mund.
»Trink dein Gift doch selbst«, krächzte Zamorra und unterdrückte einen weiteren Hustenanfall. »Wenn ich dich vergiften wollte, Zamorra, hätte ich in der Kirche ein anderes Gas gewählt.« Dieser Erklärung konnte Zamorra nicht widersprechen. Also nickte er und trank die Flüssigkeit, die Aurelian ihm anbot. Da seine Hände mit Handschellen vor seinem Körper zusammengebunden waren, konnte er das Glas ergreifen und es selbst halten. Es schmeckte nach nichts, offenbar handelte es sich um reines Wasser. Tatsächlich tat es gut und schaffte seiner ausgedörrten Kehle Linderung. »Du wirst dich fragen, wo du dich hier befindest und wie du hierhergekommen bist.« Aurelian wartete keine Bestätigung ab, sondern fuhr direkt fort. »Um es kurz zu machen: Ein Freund empfing dich mit einem äußerst wirkungsvollen aber nebenwirkungsfreien Betäubungsgas, während ich den Strahler anschaltete, der dich blendete. Wir dachten uns, dass der Angriff so rasch erfolgen muss, dass du gar nicht an Gegenwehr denken kannst.« Zamorra lag ein Fluch auf der Zunge, doch er unterdrückte ihn. Die Taktik war bis ins Letzte aufgegangen. »Der Freund schloss auch gleich die Tür, damit Nicole nicht auf unsere kleine Falle aufmerksam wurde.« »Was ist das für ein Freund?«, fragte Zamorra und stieß verächtlich die Luft aus. »Ein Sektenbruder?« »Er ist Christ, so wie ich«, nickte Aurelian. »Er verschloss die Tür von innen, und als Nicole misstrauisch wurde, dauerte es einige Zeit, bis sie eindringen konnte. Bis dahin hatten wir dich längst durch einen verborgenen Hinterausgang nach draußen gebracht.« »Und mich danach vermutlich direkt hierher geschleppt.« »Es war nicht einfach, aber du hast Recht. Wir sind übrigens mehr als zwanzig Kilometer von Notre Dame entfernt. Nicole wird dich nicht finden.« »Anscheinend hast du über die Jahre vergessen, wozu Nicole fähig ist.« »Ich habe nichts vergessen, Zamorra. Gar nichts. Mir scheint, ich
weiß ohnehin mehr als du.« Zamorra lachte humorlos. »Das wage ich zu bezweifeln. Allerdings kann derjenige, der an der Macht ist, leicht behaupten, er wisse mehr als jener, der das Spiel verloren hat.« Er hielt demonstrativ seine gefesselten Hände hoch. »Ich bin bereit, dich loszubinden.« Aurelian sprach betont ruhig und überlegt. »Unter welcher Bedingung?« »Du wirst mir zuhören, und du wirst objektiv sein.« Zamorra brachte seine Hände noch näher an Aurelian heran. »Das ist Antwort genug. Weißt du, alter Freund, ich vertraue dir.« Er zog einen kleinen Schlüssel aus einer Tasche und befreite Zamorra. »Mach es kurz, Aurelian.« »Dir dürfte das Problem einer falschen Zeitlinie bekannt sein.« »Du redest nicht nur mit einem Parapsychologen, sondern mit einem Jäger, der für das Wolfsimperium in direktem Auftrag tätig ist.« »Die Welt ist nicht das, was sie zu sein scheint.« »Eine alte Weisheit«, spottete Zamorra. Doch der Spott verging ihm, als Aurelian seine Geschichte vorbrachte. Das Christentum spielte darin eine Rolle, die Dynastie der Wolfspäpste und eine andere Realität. Es waren Details, die Zamorra stutzig werden ließen. Kleinigkeiten, die er in seinen Visionen gesehen hatte. Das Kreuz, das den Wolfsschädel verdrängt hatte … den falschen Butler im Château … Für eine Sekunde, nur für eine Sekunde fragte sich Zamorra, ob an der Geschichte Aurelians doch etwas Wahres war. Aber sie war zu grotesk. »Hättest du weniger schwere Geschütze aufgefahren, wäre ich eventuell ins Nachdenken gekommen«, meinte er. »Aber eine Welt, in der das Christentum eine dominierende Größe ist und in der der Wolfskult nicht existiert? Du hast übertrieben, alter Freund.« »Reise mit mir zurück ins Mittelalter! Überzeuge dich mit eigenen Augen! Du wirst sehen, dass ich Recht habe. Der Wolfspapst ist falsch!«
Zamorra dachte nach. »Wir werden sehen, was falsch ist.« Er erkannte die Gelegenheit, die sich ihm bot. Eine Reise in die Vergangenheit hielt die Möglichkeit in sich, Aurelian den Irrsinn seiner Überzeugung aufzuzeigen … und genau das Gegenteil dessen, was der alte Freund beabsichtigte, würde geschehen. Vielleicht war es möglich, Aurelian zum Wolfskult zu bekehren. Diesem Gedanken lag ein unendlicher Reiz inne. Den alten Freund zur Wahrheit führen – ihn nicht mehr als Feind ansehen zu müssen, sondern ihn für sich zu gewinnen … »Ja, wir werden es sehen, Zamorra.« Unendliche Erleichterung lag in Aurelians Worten. »Du besitzt Merlins roten Zeitring! Lass uns mit ihm in die Vergangenheit reisen.« »Das werden wir. Aber höre mir gut zu, Aurelian.« Zamorra sah ihm direkt in die Augen. »Du wirst mich jetzt sofort zu Nicole bringen, und sie wird mitkommen. Wir werden uns in der Vergangenheit davon überzeugen, wer von uns Recht hat. Ich zweifle keine Sekunde daran, wie das Ergebnis ausfallen wird.« »Ich ebenso wenig.« »Und dann werden wir zurück in die Gegenwart reisen! Wir werden uns in der Vergangenheit völlig passiv verhalten, damit wir keine Veränderung der Gegenwart auslösen, und wir werden die Zeitschleife, die das Benutzen des roten Vergangenheitsringes öffnet, sofort wieder schließen!« Aurelian nickte nur. »Warte ab, was du sehen wirst, Zamorra.« »Wenn du die Zeitlinie manipulieren willst, um deiner Sekte einen Vorteil zu verschaffen, dann sollst du hier und jetzt wissen, dass ich das nicht zulassen werde.« »Ich will nur das, was richtig ist.« »Salbungsvolle Worte, alter Freund.« »Also schließen wir einen Waffenstillstand?« »Du hast ihn mir in der Sekunde angeboten, als du meine Handschellen öffnetest. Sei froh, dass du es getan hast.« »Ich freue mich, dass all die Jahre, die du im Dienst des Wolfsimperiums verbracht hast, dich nicht völlig verdorben haben. Du erkennst immer noch die Hand, die sich dir entgegenstreckt. Ebenso,
wie ich sie erkannt habe in der Sekunde, als du mich durch deinen Zauber im Badezimmer deiner Suite vor den Wölfen geschützt hast.« »Wir sind keine Freunde, Aurelian. Das können wir nie wieder sein.« »Aber wir sind Partner.« »Auf Zeit.« »Partner auf Zeit«, wiederholte Aurelian.
Einige Stunden später befanden sie sich knapp außerhalb von Rom. Sie hatten beschlossen, die Reise zurück in die Vergangenheit von hier aus anzutreten, denn es war wesentlich einfacher, den Weg von Paris nach Rom mit den Mitteln des einundzwanzigsten Jahrhunderts anzutreten als mit denen des ausgehenden Mittelalters. Der Flug war kurz gewesen, und erleichtert hatte Zamorra erkannt, dass keine Wölfischen ihn beobachteten. Eine Intervention des Imperiums hätte sich leicht zu einem gewaltigen Problem ausweiten können. »Du bist dir bewusst, welche Gefahren die Nutzung der Zeitringe in sich birgt?« Nicole sprach eindringlich auf Aurelian ein. »Auch wenn ich Vorbehalte gegen Magie habe, weiß ich um die Problematik von geöffneten und nicht wieder geschlossenen Zeitkreisen, ja.« Aurelian stand die Ungeduld ins Gesicht geschrieben. »Die Reise mit den Zeitringen hat eigene Gesetze. Wenn ich den roten Vergangenheitsring anwende, werde ich dich und Nicole ans Ziel mitnehmen können. Wir werden an exakt dieser Stelle in der Vergangenheit ankommen, auch wenn wir nicht wissen können, was sich damals hier befand. Also sollten wir höchst wachsam sein. Womöglich kommen wir direkt in der Schlafstube eines wichtigen Mannes heraus … Um den Zeitkreis zu schließen, müssen wir zu dritt und mit genau den Gegenständen, die wir auch jetzt bei uns tragen, wieder zurückreisen.« »Also auch mit unseren Kleidern«, ergänzte Nicole. »Und von exakt der Stelle, an der wir ankommen. Wir müssen uns
die Umgebung genauestens einprägen.« Aurelian nickte. »Ich bin bereit.« »Außerdem«, sprach Zamorra in aller Ruhe weiter, »werden wir mit dem Vergangenheitsring in die Gegenwart zurückkehren müssen, nicht etwa mit dem blauen Zukunftsring. Dessen Nutzung würde nur einen weiteren Zeitkreis öffnen.« »Als erstes werden wir also Kleidung stehlen müssen, um nicht aufzufallen.« Nicole bedachte Zamorra mit einem sezierenden Blick. Sie hatten die Zeitringe lange nicht genutzt. »Bereit?«, fragte Zamorra knapp. Sowohl Aurelian als auch Nicole bestätigten. »Du wirst eine Welt kennen lernen, die noch nicht vom Imperium der Wölfe beherrscht ist«, ergänzte der ehemalige Freund. Zamorra erachtete es nicht für nötig zu widersprechen. Während er den Ring drei Mal um den Finger drehte, sagte er ebenso oft Merlins Zauberspruch auf. »Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé. Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé. Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé.« Die Umgebung verschwand vor ihren Augen.
Die Jahre des langsam zur Neige gehenden 16. Jahrhunderts entzogen sich einer exakten Klassifizierung. Die Gelehrten stritten sich auch im Jahr 2000 und danach, ob man diese Epoche nun noch dem ausgehenden Mittelalter, oder bereits der frühen Neuzeit zuordnen sollte. Wie auch immer … … das hier war finsterstes Mittelalter! Der Zeitpfad, den sie beschritten hatten, war schmal, doch er hatte sie genau dort ankommen lassen, wohin sie wollten. Das, was sie dort vor sich sahen, hätte man in dieser Epoche sicher ein ganz normales Dorf genannt. Für die drei temporalen Touristen hatte es mehr Ähnlichkeit mit einigen kreuz und quer gestellten Hütten, die bei den nächsten heftigen Regenfällen ganz einfach auseinanderfallen mussten.
Die Löcher in den strohbedeckten Dächern waren so groß, dass man sie aus der Entfernung mit dem bloßen Auge erkennen konnte. Manche dieser Häuser besaßen nicht einmal so etwas wie als Fenster erkennbare Öffnungen; durch Ritzen in den Mauern und den Löchern im Dach fiel wohl auch so genügend Licht in das Innere ein. Die Türöffnungen boten freien Blick in die Wohnräume, denn nur die wenigsten waren mit Laken oder Fellen geschützt. Nicole konnte ein paar halbnackte und absolut verdreckte Kinder erkennen, die in einer großen Pfütze spielten. Sie war sicher, dass die Läuse auf den Köpfen der Kleinen fröhliche Feste feierten. Was die Kinder am Leib trugen, verdiente nicht einmal den Namen Lumpen. Eine alte Frau entleerte einen verbeulten Nachttopf mit Schwung aus der Tür heraus. Was da mitten auf dem holprigen Feldweg landete, wollte die Französin überhaupt nicht wissen. Das war Armut und Elend in reinster Form. Verbittert sah Zamorra Pater Aurelian an. »Sieh sie dir an, die Welt von der du behauptest, sie wäre noch nicht vom Imperium der Wölfe beherrscht. Gefällt sie dir, Aurelian? Ich halte dich nach wie vor für einen Spinner, einen fehlgläubigen Narren, aber wenn du Recht hättest … wäre das hier dann deine ach so herrliche Alternative?« Aurelian schüttelte den Kopf. »Nein, aber denke nur nicht, die Lebensumstände dieser Menschen hätten sich gebessert, als Lupus I. auf den Papstthron stieg. Diese Zustände liegen in der Natur unserer Welt – ganz gleich, wer die Macht inne hat, es wird immer solche Verhältnisse geben, Zamorra. Die Herrschenden kümmern sich nicht um solche Menschen. Dazu besteht in ihren Augen keine Notwendigkeit.« Mit einer Handbewegung brachte Nicole die beiden zum Schweigen. Von irgendwoher drangen Schreie zu ihnen. »Die Leute dieses Dorfes haben sich anscheinend irgendwo da hinten versammelt. Ich habe mich schon gefragt, warum man hier außer Kindern und alten Frauen niemanden zu Gesicht bekommt.« Nicole schätzte die Anzahl der Hütten und der umliegenden kleinen Gehöfte auf gut vierzig – es war anzunehmen, dass hier unter normalen Umständen einiges mehr an Betriebsamkeit die Normalität
war. »Das kann uns nur lieb sein.« Zamorra sah sich um. »Je weniger Menschen uns in diesen Kleidern sehen, desto besser für uns. Wir müssen uns passend zur Epoche einkleiden. Ich frage mich nur, wo wir das hier machen sollen?« Nicoles geschulter Frauenblick für gehobene Qualität hatte längst entdeckt, was den Männern entgangen war. Lässig wies sie auf das einzige Haus, das diese Bezeichnung hier tatsächlich verdient hatte. Es lag auf einer kleinen Anhöhe, hatte ordentliche Fenster … und es besaß ein richtiges Türblatt. Wem das Gebäude auch gehören mochte – er oder sie schien um einige soziale Stufen über den anderen Bewohnern der Dorfgemeinschaft zu stehen. »Wenn wir ein wenig Glück haben, dann sind die Bewohner nicht zu Hause. Falls wir dort nichts Ordentliches finden, dann sicher nirgendwo. Und mit ordentlich meine ich zumindest sauber. Oder doch wenigstens einigermaßen …« Sie setzte sich in Bewegung, darauf bauend, dass Zamorra und Aurelian ihr folgen würden. Vorsichtig näherten sie sich dem Haus, das sogar über eine eigene Wasserversorgung mit dem Bach verbunden war, der die Ostseite des Dorfes begrenzte. Nicole war ziemlich sicher, dass der Eigentümer der Behausung so etwas wie der Bürgermeister war – vielleicht aber auch der größte Bauer am Platz. Niemand befand sich im Haus. Einen richtigen Einbruch konnte man es im Grunde nicht nennen, denn die Tür war unverschlossen. Von innen konnte man sie mit einem simplen Riegel sichern, von außen jedoch gab es keine Sicherungsmöglichkeit. Entweder glaubten die Besitzer an die Ehrlichkeit ihrer Mitmenschen, oder sie waren sicher, dass es niemand wagen würde, ihr Haus unaufgefordert zu betreten. Machtmenschen besaßen dieses Denken oft – und das nicht nur in der Vergangenheit. Das Haus besaß mehrere Zimmer, doch Nicole stolzierte schnurgerade in das Schlafzimmer hinein. Wenn es eine Dame des Hauses gab, dann waren dort ihre Kleider zu finden, soviel war sicher. Zamorra sah sich beiläufig in der Wohnstube um. Bücher suchte er vergebens, denn auch wenn die zu den absoluten Luxusgegenständen dieser Zeitepoche zählten, so war ihr Siegeszug um die Welt
längst nicht mehr zu stoppen. Seit der Erfindung der Buchdruckkunst vor gut 140 Jahren waren sie nicht mehr alleine dem Adel und den Männern der Kirche vorbehalten. Doch noch immer war es ein Privileg der Reichen, eine Schule zu besuchen. Die Kinder dort draußen würden sicherlich nie im Leben das Alphabet erlernen dürfen. Dennoch war dies eine Zeit des Wandels. Langsam aber sicher drängte das Bürgertum zum Licht – Handwerk und Handel bekamen immer größere Bedeutung … und automatisch auch Macht. Die Ländergrenzen festigten sich, die freien Städte blühten auf. Am Scheideweg zwischen finsterem Mittelalter und der Neuzeit verschoben sich Jahrtausende alte Machtstrukturen, brachen alte Krusten auf und machten nach und nach Platz für eine andere Zeit. Genau der richtige Zeitpunkt, das Imperium der Wölfe zu etablieren. Dessen geistige Führer hatten die Zeichen der Zeit richtig gedeutet und die Gelegenheit genutzt. Alles Neue braucht jedoch seine Zeit … und an den Peripherien der großen Städte war das Bewusstsein dafür noch nicht reif. Hier war das nicht anders. Der Besitzer des Hauses hatte jedenfalls nichts für Bücher übrig, wie es schien. Seine Frau hingegen schien Neuerungen gegenüber offen zu sein. Besonders dann, wenn sie ihr die Arbeit erleichterten. In der Ecke der Wohnstube entdeckte Zamorra ein Spinnrad. Nicht besonders stabil in seiner Bauweise, aber immerhin ein Beweis für modernes Denken. Die Erfindung des Spinnrads fiel in die jüngere Vergangenheit dieser Epoche. »Und? Wie gefalle ich euch?« Nicole hatte in der Wäschetruhe gewühlt und war fündig geworden. Was sie da trug, konnte man nur mit schlicht und einfach bezeichnen, doch am Körper der schönen Französin wurde das simpel geschnittene blaue Leinenkleid zu einem wirklichen Aufreger. Den Ausschnitt hatte sie durch das Öffnen zweier Knöpfe um Einiges vergrößert. Zamorra war sicher, dass zu dem Kleid so etwas wie ein Reifrock gehörte, der im 16. Jahrhundert geradezu als Pflicht galt. Doch den hatte Nicole wohl geflissentlich übersehen. So etwas hinderte doch
nur. Außerdem war deutlich zu erkennen, dass die eigentliche Besitzerin des Kleides kleiner und schmächtiger als Nicole Duval gebaut sein musste. Das Kleid saß eng … aufregend eng! »Ihr solltet euch ebenfalls umziehen. Hosen und Hemden habe ich da hinten massenweise gesehen. Nichts Tolles, aber für unsere Zwecke genau richtig.« Nicole grinste Zamorra verführerisch an. »Mit dem Fummel kannst du in dieser Epoche Furore machen, Nicole. Man wird dir Angebote machen … ganz sicher keine der züchtigen Sorte.« Zamorra konnte es sich nicht verkneifen, im Vorbeigehen einmal über das Hinterteil seiner Gefährtin zu streicheln. »Oder dich auf einen Scheiterhaufen werfen …« Pater Aurelian sah die Sache aus einem anderen Blickwinkel. Nicole ignorierte seinen moralistisch gefärbten Einwurf mit einem Schulterzucken. Minuten später waren alle drei passend gekleidet und hatten ihre eigenen Sachen zu handlichen Bündeln verschnürt. Dieser Ort war nicht schlechter oder besser als jeder andere, um ihre Habseligkeiten zu verstecken. In einer Scheune hinter dem Haus verstauten sie alles unter dem Heu, nur beobachtet von zwei eher mageren Kühen, denen die ganze Aktion ziemlich gleichgültig zu sein schien. Noch immer war von den Dorfbewohnern nichts zu sehen. Zamorra wandte sich nach Norden, denn dort lag ihr Ziel – Rom, die heilige Stadt. Er hoffte, dass diese ganze Zeitreiseaktion nicht sehr lange dauern würde. Ihm ging es einzig und allein darum, Aurelian von seinem idiotischen Irrglauben abzubringen. Er musste ihm beweisen, wie falsch er mit diesem christlichen Unfug lag, denn nur dann machte das hier alles einen Sinn. Zamorra hatte nicht vor, auch nur eine Sekunde länger als notwendig in dieser Zeit zu verweilen. Zu viele wichtige Dinge warteten in seiner eigenen Zeit auf ihn. »Wir sollten uns hier nicht weiter aufhalten. Also – auf nach Rom.« Nur eine Minute später bemerkten die drei, dass der eingeschlagene Weg sie exakt dorthin führen würde, wo sich die Menschen des verwaisten Dorfes versammelt hatten. Zamorra und seine Begleiter betrachteten die Szenerie aus sicherer Deckung heraus. Was sie zu sehen bekamen, gehörte in diesen Zeiten sicher zum Alltag überall auf der Welt.
Zamorra kannte die Geschichte der Hexenverfolgung nicht in allen Details, doch immerhin war er so weit informiert, dass er das Geschehen vor sich sofort richtig einordnen konnte. So ganz hatte der Jäger nie verstanden, warum das Imperium dem nie wirklich Einhalt geboten hatte, denn den Wölfischen musste doch klar sein, welch Schindluder mit dem Begriff Hexe getrieben wurde. Es gab sicher nur Schätzungen, keine verlässlichen Erhebungen, doch selbst wenn man eine solche Schätzung niedrig ansetzte, waren es ganz sicher Tausende von Frauen und jungen Mädchen, die unschuldig als Hexe ihr Leben verloren hatten. Brot und Spiele … gib dem Volk sein niedriges Vergnügen – dann hältst du es still und friedlich. Das mochte der Grundgedanke des Imperiums gewesen sein. Einen anderen konnte Zamorra sich einfach nicht vorstellen. Keine zwanzig Meter vor den drei Beobachtern hatte sich die Dorfgemeinschaft um eine wackelig erscheinende Holzbrücke herum versammelt. Zamorra betrachtete die Menschen eingehend: ihre Kleidung – wenn man diesen Begriff dafür einmal großzügig in Anwendung bringen wollte – schlackerte nur so um ihre ausgemergelten Körper. Männer wie Frauen waren allesamt unterernährt. Wahrscheinlich hatte eine schlechte Ernte oder ein besonders harter Winter ihnen das Überleben noch schwerer als sonst gemacht. Wie die Kinder, die er im Dorf gesehen hatte, sahen auch die Erwachsenen verwahrlost und absolut ungepflegt aus. Wenn das wirklich die Schwelle zu einer neuen, einer besseren Zeit für die unteren Stände im Volk war, dann hatte diese Entwicklung um dieses Dorf einen weiten Bogen gemacht. Doch es gab immer eine Ausnahme. Und die stand mitten auf der Brücke, trug ein vollkommen albern aussehendes Barett mit einer langen Feder auf dem Kopf, und hatte einen unübersehbaren Wohlstandsbauch. Direkt neben dem groß gewachsenen Mann sah Zamorra eine Frau, deren sauertöpfischer Gesichtsausdruck Bände sprach. Früher mochte sie ein durchaus hübsches Mädchen gewesen sein, doch die Jahre hatten aus ihr eine blasse und schlechtgelaunte Frau gemacht, die sich keinerlei Mühe gab, dies zu verbergen.
Ein Blick in ihr Gesicht reichte aus, um Zamorra das Leben der Frau zu erklären: Er war an allem Schuld – der Mann neben ihr. Ihr Ehemann, der hier das große Wort führte, der höchstwahrscheinlich direkt von Rom hier als Dorfvorsteher eingesetzt worden war. Sicher hatten die zwei sich in Rom kennen und lieben gelernt. Als sie ihn dann geheiratet hatte, schleppte der Mann sie mit hierher … ganz nahe der großen Stadt … und doch so weit davon entfernt. Irgendwie war Zamorra davon überzeugt, dass die Frau ihren Göttergatten liebend gerne in die Fluten gestoßen hätte, die unter der Brücke hindurch flossen. Doch dieses Schicksal war einer anderen vorbehalten! Die junge Frau hatte leuchtend rotes Haar, das ihr in wilden Locken bis weit hinunter zur Hüfte fiel. Sie war nicht sonderlich groß, und auch ihr konnte man die Hungermonate ansehen, die hier wohl alle gerade hinter sich gebracht hatten. Doch das hatte nichts an der Tatsache geändert, dass ihr Körper mehr als begehrenswert war. Und jeder hier konnte das bezeugen, denn die Frau war nackt. Und sie war an Händen und Füßen gefesselt wie ein Stück Vieh, das man zur Schlachtbank bringen wollte. Zwei große Kerle hielten sie fest, denn selbst in ihren Fesseln zeigte sie sich alles andere als friedlich und ihrem Schicksal ergeben. Und ihr Schicksal war es, den Tod einer Hexe zu sterben. »Ein Gottesurteil …« Pater Aurelian flüsterte die Worte kaum vernehmlich, doch in seinem Gesicht war die Abscheu über dieses Treiben hier deutlich zu erkennen. Zamorra wusste, dass dieser sogenannte Hexentest nur eine Farce war. Eine als Hexe beschuldigte Frau wurde gefesselt in einen Fluss geworfen. Schwamm sie oben – nun, dann war das der eindeutige Beweis, dass sie eine Hexe war. Man fischte sie wieder aus den Fluten und verbrannte sie auf dem Scheiterhaufen. Ging die Frau jedoch unter … so war ihre Unschuld bewiesen. Ihr Leumund wurde reingewaschen durch das Wasser, das sie als Mensch mit reinem Gewissen bestätigt hatte. Gut, die Frau ertrank zwar elendig, doch daran konnte man leider nichts ändern. Die Hauptsache war doch wohl, dass sie dem Bösen nicht verfallen war. Oder?
Nicole hörte das Keifen der Frau des Dorfvorstehers. »Dich sollten sie direkt mit ersäufen, Hurenbock! Schließlich konntest du deine dreckigen Pfoten nicht von der Hure da lassen. Du Schwein. Hätte ich doch auf meine Mutter gehört …« »Halt dein Maul, Weib!« Der Dorfbüttel plusterte sich wichtig auf. »Aber deine keifende Mutter hatte schon Recht. Besser, ich hätte dich nie genommen. Die Hure hier ist eine Hexe.« Er wandte sich an die kichernden Menschen, die das Wortduell belustigt verfolgten. »Sie hat mich verzaubert.« »Ja, und dann konntest du deinen Zauberstab nicht aus ihr heraus lassen, Schwein!« Die Frau war noch lange nicht fertig. So klein und schmächtig sie auch wirkte, umso größer war ihr Mundwerk. Zamorra war in der Zwischenzeit davon überzeugt, dass es die beiden waren, deren Kleidung Nicole, Pater Aurelian und er jetzt trugen. »Zauberstab?« Die angebliche Hexe lachte hysterisch auf. »Du solltest den winzigen Splitter deines Alten besser kennen, den er zwischen den Beinen hängen hat, Frau.« Die Menge wollte sich vor Gelächter schier ausschütten. »Schluss jetzt! Werft sie ins Wasser! Verdammte Hexe, du sollst ersaufen.« Die Männer gehorchten dem Befehl der Frau umgehend. Mit ihr wollten sie sich offenbar besser nicht anlegen. Mit einem Schrei tauchte die Rothaarige in die Fluten ein. Für einen Moment war Zamorra drauf und dran, sich einzumischen, doch er hielt sich zurück. Was hier auch immer geschah – es war bereits geschehen, denn für ihn war es die Vergangenheit, in die er sich nicht einzumischen gedachte. Er hatte nicht mit Pater Aurelian gerechnet, dem dies gleichgültig zu sein schien. »Gottloses Volk! Ich werde euch lehren …« Ehe Zamorra es verhindern konnte, sprang Aurelian aus der Deckung, war mit wenigen langen Sätzen an der Brücke und sprang in den Fluss, aus dem in dieser Sekunde der rote Haarschopf der Hexe auftauchte. Zamorra stieß einen wilden Fluch aus. Nur gemeinsam mit Aureli-
an konnten sie ihre Gegenwart wieder erreichen. Es blieb ihm und Nicole also nichts anderes übrig, als dem Pater zu folgen. Die Hoffnung auf einen kurzen Aufenthalt ohne große Probleme schwand dahin …
Centurio Oktavianus Lupomanus beugte sich über den Hals seines Reitpferdes. Als sein Mund ganz nahe dem linken Ohr des Tieres war, raunte er ihm etwas im kehligen Ton zu. »He, an deiner Stelle würde ich heute alles dran setzen, möglichst sanft zu laufen. Gib dir Mühe – kein Ruckeln, kein Stolpern, verstanden? Ansonsten könnte ich in der Nacht Lust bekommen, die den Kopf abzubeißen, alter Klepper. Du weißt, dass ich das kann …« Das Tier legte eingeschüchtert beide Ohren an, als hätte es jedes einzelne Wort verstanden. Vielleicht hatte es der Tonfall beeindruckt, in dem die Warnung ausgesprochen worden war. Oder es hatte den Sinn dessen, was sein Reiter ihm angedroht hatte wirklich realisiert. Vielleicht? Wer wollte das schon so genau sagen? Jedenfalls war nicht zu leugnen, dass es sich von dieser Sekunde an so sanft wie nur irgend möglich fortbewegte. Oktavianus grinste zufrieden. Na bitte, es ging doch. Die sanfte Gangart war für ihn heute wichtig. Besser gesagt: für seinen Kopf, in dem anscheinend ein Hornissenstaat sein Nest gebaut hatte. Wilde Gelage – einfacher gesagt: Saufereien ohne jeden Sinn – waren bei den in und um Rom stationierten Legionärstruppen an der Tagesordnung. Wenn der Dienst vorbei war, ging es oft bis in die frühen Morgenstunden in irgendeiner Schänke zur Sache. In der Gastschänke, die Oktavianus und einige seiner Kumpel in der vergangenen Nacht heimgesucht hatten, würde sich Ähnliches allerdings in der nächsten Zeit kaum wiederholen. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte dort kaum noch ein Stein auf dem anderen gestanden, als sie zur Kaserne gezogen waren. Gekrochen kam der Sache schön näher … Das änderte jedoch nicht daran, dass er nun Patrouillendienst zu verrichten hatte. Als Centurio kommandierte er eine Truppe von
zwanzig Legionären, von denen einige heute auch nicht viel besser als er aussahen. Er hätte nicht einmal sagen können, ob in der vergangenen Nacht jemand aus seinem Haufen dabei gewesen war. Egal … was spielte das jetzt für eine Rolle. Grinsend tätschelte er den Hals seines Pferdes. Nein, es würde ihm keinen großen Spaß bereiten, dem Tier den Kopf abzubeißen. Er bevorzugte da doch eher Menschen! Denn Centurio Oktavianus Lupomanus war ein Werwolf. Und es gab Nächte, in denen er nicht mit seinen Kameraden die Stadt unsicher machte, Nächte, die er nicht mit irgendeinem Wachdienst verbrachte … Nächte, die nicht zum Schlafen bestimmt waren. Es waren die wunderbaren, die exzessiven Nächte der Jagd! Wenn das Tier in ihm erwachte, aus ihm hervor brach, dann füllte er die Sichel des geliebten Mondes solange mit Menschenblut, bis er als runde Scheibe auf seinen Diener herab leuchtete. Es war Befreiung, Genuss und reinste Befriedigung all seiner Begierden! Menschen – was waren sie schon wert? Als Jagdbeute machten manche von ihnen eine gar nicht so üble Figur. Die, die sich zu wehren versuchten, die geschickte Flüchter waren, die den gleichen angeborenen Instinkt wie rassige Pferde besaßen, nämlich den der Arterhaltung – die waren eine lohnende Beute für ihn. Viel zu oft jedoch war die Jagd vorüber, ehe sie eigentlich begonnen hatte. Menschen – sie waren doch nicht mehr als Kreaturen, die durch die noch größere Schwäche anderer Arten die Macht über diese Welt erreicht hatten. Schwächliche Wesen, die sich als Herrscher über die Natur aufspielten, eine Natur, die sie doch überhaupt nicht wirklich kannten und verstanden. Doch damit würde ja nun bald Schluss sein. Endlich würde der die Macht übernehmen, dem sie von je her zugestanden hatte: Der Wolf! Lupomanus blickte sich um. Wenn er seinen Träumen so wie jetzt nachhing, dann musste er darauf achten, dass er sich nicht anderen gegenüber verriet. Es war nicht immer leicht, das andere Ich unter Kontrolle zu halten.
Seine Männer trotteten auf ihren Gäulen hinter ihrem Anführer her. Gut so. Unwillig schüttelte er den Kopf. Gut so? Überhaupt nichts war gut. Patrouillendienst war nun wirklich nicht das, was er sich in seiner Position erhofft hatte. Doch Lupomanus hatte ein paar Mal zu sehr über die Stränge geschlagen. Selbst die wohlwollendsten Vorgesetzten konnten ihm nicht alles durchgehen lassen. Saufgelage und Prügeleien waren zu verzeihen, denn sie waren alle nur Soldaten – auch die, die in der Hierarchie weiter oben standen. Doch dass Lupomanus in seinem unkontrollierten Zorn zwei Priester beinahe tot geprügelt hatte, die er dabei erwischt hatte, als sie einem Hund die Augen ausstachen, das war zuviel gewesen. Man hatte ihn auf unbestimmte Zeit strafversetzt. Den Priestern war nichts geschehen. Überhaupt nichts! Sie hatten ausgesagt, in dem Hund hätte ein Dämon gesteckt, den sie blenden wollten. Sie waren straffrei ausgegangen. Nun ja … nicht so ganz straffrei. Wochen danach hatte man beide gefunden. Zumindest das, was ein offensichtlich sehr großes Raubtier von ihnen übrig gelassen hatte. Da Oktavianus in besagter Nacht viele Kilometer von diesem Ort entfernt in einem Legionslager gewesen war, konnte man ihn natürlich nicht verdächtigen. Menschen – wie unwissend sie doch waren. Wussten sie denn nicht, wie schnell und ausdauernd ein Werwolf auch die weitesten Entfernungen überbrücken konnte? Die beiden Priester hatten es erkannt. Die letzte Erkenntnis ihres armseligen Daseins musste für die zwei Christen ein entsetzlicher Schock gewesen sein. Christen … für Oktavianus waren sie nichts weiter als eine nutzlose Sekte, die es geschickt geschafft hatte, sich zur Weltreligion aufzuschwingen. Es war ein steiler Aufstieg gewesen – es würde ein umso schmerzhafterer Absturz werden. Der Wolfskult, die einzig wahre und reine Lehre, stand vor der großen und entscheidenden Aktion. Nur noch wenige Tage, dann würde der Thron im Vatikan von einem würdigen Wesen besetzt werden. Von Lupus I. – erster Wolfspapst und Begründer einer Papstdynastie, die bis in alle Ewigkeit reichen sollte. Sollte… noch war alles reine Theorie, wenn auch unzählige Male
von der Bruderschaft durchgespielt. Es gab keine Unwägbarkeiten mehr in diesem Plan. Hatte es sie je gegeben, so waren sie schonungslos beseitigt worden. Die Aktion stand von der ersten Sekunde bis hin zu dem Augenblick, in dem Papst Gregor XIII. durch eine meuchelnde Hand sterben würde. Und diese Hand sollte die seine sein! Lange hatte man den richtigen Anführer für den kleinen Verschwörertrupp gesucht, der das eigentliche Attentat durchführen sollte. Und immer wieder hatte er sich für diese Aufgabe selbst ins Gespräch gebracht, so, wie ihn auch viele aus der Bruderschaft als perfekte Wahl ansahen. Die geistigen Führer des Wolfskultes hatten ihn jedoch spüren lassen, dass sie ihn nicht auswählen wollten. Warum das so gewesen war? Er wusste es nicht. Doch es gab Brüder, die behaupteten, dass der zukünftige Papst, dass Lupus selbst gegen Oktavianus stimmte. Einen logischen Grund dafür konnte ihm jedoch niemand nennen. Am Ende jedoch hatte sich seine Routine, Erfahrung und große Entschlossenheit durchgesetzt. Er, Centurio Oktavianus Lupomanus, würde den Wolfskult auf den Weg bringen, an dessen Ende das große Imperium der Wölfe stand, das in den Köpfen der Brüderschaft der Wölfe bereits die herrlichsten Träume und Visionen hervorrief. Doch hier und heute war er nichts weiter als ein Centurio, der seine Patrouille durch die Peripherie der großen Stadt führte. Hier ganz in der Nähe hatte man eine Räuberbande gesehen – angeblich gesehen. Ob etwas daran war, würde sich noch zeigen müssen. Und wenn, dann handelte es sich bestimmt um eine Handvoll kleiner Lumpen, die vor Hunger kaum noch auf ihren dreckigen Füßen stehen konnten. Es lief doch immer so ab. Die Dörfer, die er hier mit seinen Leuten in Roms Umland durchritt, konnten in ihrem ganzen Elend Oktavianus' Laune auch nicht heben. Immer wieder sah er am Wegrand Leichen liegen. Einige mochten sicher einer Gewalttat zum Opfer gefallen sein, doch die meisten von ihnen waren hier ganz schlicht verhungert. Ein böser Winter, eine Katastrophenernte – das hatte ausgereicht, um großes Elend über die Armen zu bringen. Oktavianus zog ange-
widert eine Augenbraue in die Höhe, als sein Pferd an einer Leiche vorübertrabte, an der sich ganz augenscheinlich in der vergangenen Nacht einige Tiere gütlich getan hatten. Der Wolfsmensch war sich bewusst, dass er in einer Zeit des Umbruchs lebte, doch die Veränderungen hatten nur für die Reichen ihre positiven Auswirkungen. Wer arm war, der musste leiden und vor Hunger sterben. So war es zu allen Zeiten gewesen. Vielleicht … nein: ganz sicher sogar, würde das Imperium der Wölfe selbst für die Rasse der Menschen Verbesserungen bringen. Seine Herrschaft würde hart, doch gerecht sein. Zumindest glaubte Oktavianus fest daran. Denn nur satte und gesunde Menschen konnten wirklich hart arbeiten. Und sie waren die lohnenderen Jagdobjekte! »Centurio.« Oktavianus drehte sich nicht um, als er angesprochen wurde. Einer seiner Leute schloss seitlich zu ihm auf. »Das nächste Dorf untersteht diesem Fettsack … wie war gleich sein Name? Egal, aber sollten wir nicht einen Bogen um ihn und vor allem um sein keifendes Weib machen?« Lupomanus wusste genau, was der Soldat damit meinte. Wenn sie ihren Patrouillenritt durch dieses Dorf machten, rannten der Dorfvorsteher und seine Angetraute hinter ihnen her und winkten aufgeregt mit einem Haufen Papier, auf dem sie ihre Forderungen aufgeschrieben hatten. Als wenn die Söldner nicht besseres zu tun gehabt hätten, als diesen Unsinn in Rom an den richtigen Mann zu bringen. Außerdem schmerzte die schrille Stimme des Weibes schon jetzt in seinen empfindlichen Ohren, wenn er nur daran dachte … Zudem beinhalteten diese Forderungen keine Verbesserungsbitten für die Dorfleute. Nein, es ging um das Gehalt des Dorfvorstehers oder um zusätzliche Anschaffungen, die seine Frau unbedingt von Rom bewilligt haben wollte. Diese zweibeinige Ziege redete so lange auf ihren Mann ein, bis der sich vor den Söldnern zum Affen machte. »Ich würde deiner Idee gerne folgen, Horaz, doch ich fürchte, wir kommen nicht um die Sache herum. Hinter dem Dorf beginnt das Waldstück, in dem man die Raubbande gesehen hat. Und einen an-
deren Weg dorthin gibt es nicht. Also – bringen wir es hinter uns.« Von weitem konnten sie schon die klapprige Holzbrücke erkennen, über die sie in das Dorf gelangen würden. Erstaunt registrierte Oktavianus, dass es dort vor Menschen nur so wimmelte. Und er hörte die wilden Schreie der Leute, die irgendjemanden anzufeuern schienen. Problemlos übertönte die Stimme einer ganz bestimmten Frau die aller anderen. Oktavianus schloss ergeben die Augen und gab seinem Gaul die Sporen …
Zamorra sah Pater Aurelians Kopf aus den Fluten auftauchen. Keine zwei Meter neben dem Mann waren die leuchtend roten Locken der vermeintlichen Hexe zu erkennen, die sich trotz ihrer Fesseln erstaunlich gut über Wasser hielt. Irgendwie viel zu gut … Zamorra und Nicole stoppten ihren Lauf einige Schritte hinter der Brücke und versuchten den verblüfft dreinschauenden Aurelian aus dem Wasser zu holen. Doch der bemerkte sie überhaupt nicht, denn sein Blick war gefesselt von der Rothaarigen, die wilde Flüche in seine Richtung schickte. »Was für ein Idiot bist du denn? Was mischst du dich hier ein? Verschwinde – lass mich gefälligst in Ruhe, du Kretin!« Ehe der Pater es sich versah, landete eine Hand der Frau mit großem Schwung an seiner Wange. Der Knall war nicht zu überhören, ebensowenig der rote Fleck, der sich rasch auf Aurelians Gesicht ausbreitete. »Ich dachte … ich wollte …« Zamorra konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Neben ihm hörte er Nicole kichern, die der Hexen-Hure aus dem Wasser half. Ganz offensichtlich hatte der Dorfvorsteher dafür gesorgt, dass sein Seitensprung nicht allzu stramm gefesselt war, als man sie von der Brücke aus ins Wasser warf. Locker hatte sie sich Hand- und Fußfesseln abstreifen können und wäre sicher auf Nimmerwiedersehen verschwunden, wenn Aurelian nicht den großen Retter im Na-
men des Herrn hätte spielen wollen. Nun jedoch sah die Situation ganz anders aus. Und sie hatte sich weder für die Rothaarige, noch für Zamorra, Nicole oder Aurelian verbessert! Für ein paar unendlich lange Sekunden herrschte rundherum absolute Stille, die nur durch das Rauschen des Wassers durchbrochen wurde. Dann schrie die Frau des Dorfoberen wild los, während sie gleichzeitig ihren Mann mit Faustschlägen malträtierte. »Schwein, du Schwein! Du wolltest die Hure entkommen lassen. Wo wolltest du sie wieder treffen – häh? Rede schon, los … du sollst …« Die Rothaarige Frau grinste Nicole kurz an, die ihr auf festen Boden geholfen hatte. »Danke. Was? Den da wiedertreffen? Das wüsste ich aber.« Leichtfüßig wandte sie sich um und checkte mit einem Blick das Gelände ab. Sie wollte weg von hier, ehe diese Irren sie wieder in ihre Gewalt bekamen. Nicole hatte keinerlei Interesse, sie daran zu hindern. Irgendwie hegte sie Sympathien für die junge Frau, die sich darauf verstand, in dieser Zeit ihren Körper als Kapital zu verstehen und auch so einzusetzen. »Und wer sind überhaupt die da? Gehören die zu der Hexe?« Die Frau konnte sich nicht wieder beruhigen und wurde von Sekunde zu Sekunde hysterischer. »Los, greift sie euch! Alle vier! Und dann sollen sie baumeln!« Baumeln war exakt das Stichwort für die Rothaarige, die lossprintete, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Nicole und Zamorra verständigten sich mit einem Blick. Der Jäger schnappte sich Aurelian, der pudelnass und der Situation irgendwie nicht mehr gewachsen neben ihm stand. »Los, weg von hier, Pater.« Zamorra rannte los, doch wie seine Lebensgefährtin vor ihm blieb er wie angewurzelt stehen, als er erkannte, dass eine Flucht nun nicht mehr in Betracht kam. Nur die Rothaarige war noch in vollem Lauf. Vielleicht war es die nasse Lockenpracht, die ihren Blick behinderte, vielleicht war es die Angst vor dem drohenden Strick. Sie wurde jäh gestoppt, als sie ohne abzubremsen gegen das Pferd
lief, das sich mit einem weiten Satz in ihren Weg sprang. Wie vom Blitz gefällt ging sie zu Boden. Zamorra zählte 21 bis an die Zähne bewaffnete Söldner, die in ihren Lederpanzern hoch zu Ross auf die Szenerie blickten und ganz offensichtlich dabei ihren Spaß hatten. Zamorra entgingen nicht die faszinierten Blicke der grobschlächtigen Kerle, die an Nicole hängen blieben. Mit ihren hüftlangen und platinblonden Haaren war sie in dieser Zeitepoche ganz sicher eine schillernde Erscheinung. Männer zogen sie immer mit ihren Blicken aus – das war der Jäger gewöhnt, doch in den Augen dieser wilden Burschen aus dem 16. Jahrhundert leuchtete noch etwas anderes. Denen reichten Blicke nicht aus, soviel war Zamorra schnell klar. Der Anführer der Söldner stieg betont langsam von seinem Pferd. Der Mann machte den Eindruck einer lebenden Kampfmaschine. Er mochte wohl knapp über 40 Jahre alt sein, maß gut und gerne sechs Fuß und hatte an seinem Körper kein überflüssiges Gramm Fett. Er war nicht künstlich übertrainiert, nein, das sicher nicht. Doch man sah in seinen Bewegungen die Geschmeidigkeit eines erfahrenen Kämpfers. Beinahe lag in ihnen etwas Animalisches, das Zamorra nicht richtig zu deuten wusste. Seine Haare waren kurz geschnitten – hier und da zeigte sich bereits eine graue Strähne in ihnen. Sein Bartwuchs musste ihm zu schaffen machen, denn er war der Typ Mann, der sich drei- oder viermal am Tag rasieren konnte, ohne je wirklich glattrasiert zu erscheinen. An der Nasenwurzel setzte bei ihm eine Narbe an, die vertikal gut fünf Zentimeter nach oben verlief und zwischen den dichten Augenbrauen endete. Es schien, als würde diese Narbe ständig ein wenig pulsieren, was alle Blicke auf sie zog. Schlussendlich blieb der Blick seines Gegenübers aber immer an seinen dunkelbraunen Augen haften, die zu fesseln wussten. Als der Mann die aufgeregte Frau des Dorfvorstehers auf sich zu rennen sah, hob er herrisch die rechte Hand. »Schweig, Frau! Du musst mir nichts erklären – ich habe gesehen, was ich sehen musste. Festnehmen.« Zamorra machte eine beruhigende Handbewegung in Richtung
Nicole. Es war sicher erst einmal besser, sich jetzt nicht mit dieser Übermacht anzulegen. »Centurio Lupomanus, sieh dir die Kleidung der drei hier an.« Es war die Frau des Dorfvorstehers, die das Schweigegebot des Söldners einfach nicht einhalten konnte. »Die Frau da … Sie trägt mein Kleid! Und die Hosen und Hemden der Männer gehören meinem Gatten.« Dieser nickte eifrig, froh darüber, dass die Wut seiner Frau sich nun auf andere richtete. »Also Diebe?« Pater Aurelian wollte aufbegehren, doch der Schlag des Centurios kam so ansatzlos, dass ihm jede Luft zum Reden wegblieb. Oktavianus betrachtete seine Gefangenen nacheinander. Seine Augen sogen sich an Nicoles Haaren fest. Wie die Farbe des vollen Mondes … welche Pracht … Eine Idee keimte in ihm auf, die er festhalten wollte. Diese Frau war etwas ganz Besonderes. Passend zu dem Besonderen, dass sich in den nächsten Tagen ereignen würde. »Centurio.« Zamorra riskierte es, den Mann direkt anzureden. Er rechnete damit, ebenfalls zum Schweigen gebracht zu werden, doch der Centurio blickte ihn nur interessiert an. Und in diesem einen Moment, der kaum einen Atemzug lang währte, spürte Zamorra, wie sich das Amulett auf seiner Brust erwärmte … und statt des Gesichts des Söldners erkannte Zamorra den Wolfskopf, an dessen Nasenwurzel eine winzige kahle Stelle prangte … eine Narbe, die sich senkrecht in die Höhe zog. Er gehört zum Imperium… Dann war der Spuk vorüber. In Zamorras Kopf wirbelten die Gedanken umher. Offensichtlich hatte nur er diese Vision gehabt. Gerade noch rechtzeitig unterdrückte er den Drang, sich dem Wolfsmann vor sich anzuvertrauen. Wenn Aurelians Geschichte nun doch stimmte? Er musste erst Sicherheit erlangen. Also Vorsicht! »Centurio, wir sind keine Räuber und Diebe. Wir sind Reisende, die nur zufällig hier gelandet sind. Wir sahen nur, wie man die junge Frau dort von der Brücke warf …« Zamorra verstummte. Mit einer gleitenden Bewegung der rechten
Hand hatte der Centurio einen Gegenstand von seinem Wehrgehänge gelöst. Es war eine Bullenpeitsche, die ausgerollt sicher zwei Meter Länge erreichte. An ihrer Spitze hatte sie eine kugelförmige Verdickung, an der unzählige Spitzen zu sehen waren. Eine tödliche Waffe, wenn ihr Führer es wollte. Erneut war die Bewegung des Mannes so schnell, dass Zamorra keine Chance zur Abwehr bekam. Der heiße Schmerz trieb ihm das Wasser in die Augen, als sich das geflochtene Leder um seinen Hals wickelte und zubiss. Ein kurzer Ruck am anderen Ende der Peitsche reichte aus, um den Jäger von den Beinen zu holen. Hilflos und nach Luft ringend lag Zamorra zu Füßen des Centurios. »Ich hatte dir nicht erlaubt, mich anzusprechen, du Lump.« Sein Fußtritt traf Zamorra in die Rippen, und für Momente wurde es Nacht um ihn herum. Aurelian und Nicole wurden von den Söldnern mit Speeren in Schach gehalten. Sie hatten keine Chance, ihm beizustehen. »Wenn du das noch einmal wagst, dann trifft meine Peitsche dich mit ihrer Spitze. Damit kann man hässliche Wunden reißen, das solltest du mir besser glauben.« Ein zweiter Tritt blieb aus. Der Centurio wickelte die Peitsche sorgfältig wieder auf. Er war ein Meister im Umgang mit dieser oft unterschätzten Waffe. »Fesselt unsere Freunde gut. Damit wäre unser Auftrag für heute wohl erledigt. Das sind die Diebe, die wir suchen sollten.« Oktavianus Lupomanus war zufrieden mit sich. Sie würden früh wieder in der Kaserne sein. Und seine Gefangenen – ob sie wirklich zur Diebesbande gehörten oder nicht, spielte für ihn keine Rolle – würden die Härte der römischen Rechtsprechung kennen lernen. Allerdings hatte er nicht vor, die vier wirklich dem Staat zu überlassen. Ihm schwebten da ganz andere Dinge vor. Minuten später setzten sich die Söldner auf ihren Reittieren wieder in Bewegung. Mit harten Worten hatte sich Oktavianus der lästigen Frau erwehrt, die ihm in allen Einzelheiten erklären wollte, was hier geschehen war. Es interessierte ihn nicht. Und das bekam sie dann
auch laut und deutlich zu hören. Schließlich gab sie auf und wandte sich in ihrer Wut wieder ihrem Gatten zu. Lupomanus wollte wirklich nicht in der Haut dieses Waschlappens stecken. Andererseits – er hatte es sich nicht besser verdient. Wer ließ sich schon erwischen, wenn er seine Geilheit bei einer Hure abkühlte? Ein paar laute Kommandos bedurfte es schon noch, bevor sich der Trupp in Richtung Rom entfernte. An Stricken schleppten die Söldner die Gefesselten hinter ihren Pferden her. Die vier Menschen konnten sich kaum auf den Beinen halten, denn die Männer wollten schnell zurück in ihre Kaserne. Mehr als einmal fiel einer der Gebundenen und wurde mehrere Meter unsanft über den Boden gezogen. Einige seiner Leute hätten sich nur zu gerne ein wenig mit den beiden Frauen beschäftigt. Oktavianus konnte die Männer sogar verstehen. Er selbst konnte seine Augen nur schwer von der Gelbhaarigen abwenden. Sie war perfekt. Als Frau – und ganz sicher auch als exorbitantes Opfer …
Die Kerkertür flog auf. Ein taumelnder Schatten erschien im schwachen Licht des Ganges. Dann stürzte der Schemen mit den menschlichen Umrissen nach vorne – brach auf dem kahlen Boden zusammen. Mit einem scharfen Knall schloss sich die Tür wieder … und die Dunkelheit herrschte erneut. Nicole krabbelte auf allen vieren durch die Lichtlosigkeit vorwärts zu der Stelle, an der Zamorra zusammengebrochen war. Es war nun schon das zweite Mal, dass man ihn in dieser Nacht zu einem sogenannten Verhör geholt hatte. Erst Aurelian, dann Zamorra. Der Pater war noch immer bewusstlos. Er war zäher als es den Anschein hatte. Er hielt eine Menge aus. Zamorra atmete schwer, aber
relativ gleichmäßig. Ohne Licht konnte Nicole nicht viel für ihn tun, denn wie hätte sie so seine Verletzungen behandeln können? Sie hoffte nur, dass diese Folterverhöre nun beendet waren. Offenbar war das hier nichts Besonderes. Die Methode, ein Geständnis aus Gefangenen herauszuprügeln, verkürzte die folgende Verhandlung natürlich um ein Vielfaches. Als Nicole sicher war, dass Zamorra fest schlief, rutschte sie wieder in die Ecke der Zelle zurück, in der die Rothaarige saß. »Warum holen sie uns nicht? Ich könnte mir denken, dass diese Schweine gerne ihren Spaß mit uns hätten.« Die Hure antwortete nicht sofort. Ihr war diese Tatsache auch nicht ganz klar. Nicole hatte sich gezwungenermaßen mit der Frau angefreundet. Sie konnte sich hier die Vertrauten kaum aussuchen, zudem war ihr die Hexe wirklich nicht unsympathisch. Als Nicole sie nach ihrem Namen gefragt hatte, war die Antwort zunächst ein Lachen gewesen. »Anxcerina. Frag mich nicht, warum meine Eltern mir das angetan haben. Ich weiß es ja auch nicht. Aber alle nennen mich Rina.« »Vielleicht sparen sie sich uns für morgen auf …« Nicole rätselte noch immer herum, aus welchem Grund man die beiden Frauen vollkommen unbehelligt ließ. »Ich glaube, sie haben etwas Besonderes mit uns vor.« Die Stimme Rinas kam aus der Finsternis zu Nicole. »Dieser brutale Centurio … Ich glaube, ich habe noch vor keinem Menschen eine so große Furcht gehabt, wie vor diesem Mann. Seine Augen stechen mitten in einen hinein, wenn er dich ansieht.« Sie kauerte sich dicht an die feuchte Wand des Kerkers. »Ich dachte immer, ich kann jeden Kerl um den Finger wickeln, aber den … nein, wenn der es mit mir treiben würde, müsste ich innerlich erfrieren.« Nicole verstand genau, was Rina meinte. Dieser Centurio Lupomanus strahlte Härte und eiskalten Willen aus. »Was denkst du, werden die mit uns machen? Ich … ich kenne die Gesetze nicht so gut, weißt du?« Wie hätte Nicole der Frau auch erklären sollen, dass sie aus dem 21. Jahrhundert stammte und in der Rechtsprechung dieser Epoche nicht bewandert war?
Rina lachte verhalten. Es klang beinahe so, als wolle aus dem Lachen schnell ein Wimmern werden. »Sie werden uns verkaufen, was sonst?« Nicole glaubte sich verhört zu haben. »Was meinst du bitte genau mit verkaufen?« »Der Sklavenhandel blüht in Rom. Meinst du etwa, die stecken unsereins ins Gefängnis und füttern uns auch noch durch? Wenn du das wirklich glaubst, dann wach schnell auf, Nicole. Die Männer werden irgendwohin als Arbeitssklaven verkauft. Vielleicht nach Frankreich. Oder England. Die suchen immer kräftige Arbeiter für ihre Kolonien in Afrika.« Rina schwieg, als wolle sie Nicole Zeit geben, das Gehörte zu verdauen. Dann erst fuhr sie fort. »Und wir … Ein Freudenhaus wird uns sicher gerne nehmen. Oder wir haben viel Glück und landen bei einem Araber. Die steigern in Rom oft mit, wenn es schöne Frauen zu kaufen gibt. Ich habe gehört, in einem Harem soll man es ganz gut aushalten.« Ein unterdrücktes Schluchzen klang auf. »Oder wir werden einem Abartigen zugesprochen. Die holen sich auf den Sklavenmärkten die Frauen für ihre … Spielchen. Sie brauchen viele Frauen, weil …« Rina schwieg. Sie musste auch nicht mehr sagen. Die Französin hatte gut verstanden. In Nicole begann es zu brodeln. Noch immer wollte sie nicht glauben, dass es so etwas wirklich geben sollte. Das Imperium musste doch dagegen einschreiten! Das Imperium der Wölfe. Oder sollte die irrsinnige Fantasiegeschichte Aurelians doch der Wahrheit entsprechen? Existierte das Imperium hier nicht? Oder besser … noch nicht? Waren Nicoles und Zamorras Visionen nicht weiter als ein Abbild einer nie realisierten Wirklichkeit? Nicole musste es wissen. Jetzt und hier wollte sie die Wahrheit erfahren. Mit ihrer rechten Hand umklammerte sie Merlins Stern, als wolle sie das Amulett gleich einem Rettungsanker benutzen. Sie hatte Zamorra die Silberscheibe abgenommen, bevor man ihm zum Verhör geholt hatte. Natürlich hätten er und sie das Amulett jederzeit wieder zu sich rufen können, hätte man es ihnen abgenommen.
Doch das hätte unter Umständen einige Leute zum Nachdenken angeregt. Also bauten sie besser vor, denn soweit musste man es ja nicht erst kommen lassen. »Rina, ich werde dir nun einige Fragen stellen.« In der Finsternis hörte Nicole leise Rinas Atemzüge. »Vielleicht wirst du diese Fragen wunderlich finden, aber es ist wichtig, dass du mir ehrlich antwortest.« »Frage nur. Was könnte ich heute wohl noch wunderlich finden?« »Also gut. Wie heißt der Papst?« Rina lachte hysterisch auf. »Etwas anderes fällt dir nicht ein? Aber bitte. Ich bin ja nicht so ein Kirchenläufer … eher überhaupt nicht, aber warte, ja, ich glaube Gregor der soundsovielte. Reicht dir das?« Nicole nickte, bis sie bemerkte, dass Rina diese Bewegung ja nicht sehen konnte. »Ja, das reicht.« Sie holte tief Luft. Wie Aurelian es ihnen erzählt hatte. Gregor XIII. – nicht Lupus I. Doch die entscheidende zweite Frage stand ja noch aus. »Bitte erzähle mir, was dir das Imperium der Wölfe bedeutet?« Die Antwort ließ ein paar Sekunden auf sich warten. »Was ist das? So eine Märchengeschichte? Die kenne ich aber noch nicht. Erzähl sie mir doch, ja?« Nicole Duval hatte schon eine ähnliche Antwort erwartet. Sie war genau so ausgefallen, wie die Französin es befürchtet hatte. Auch wenn sie inzwischen durchaus mit der Möglichkeit gerechnet hatte, dass Pater Aurelian ihnen die Wahrheit berichtet hatte, so änderte das nichts daran, dass Nicole Rinas Worte nur schwer verdauen konnte. Es war eine ganze Welt – eine komplette Ideologie – die in diesen Momenten in ihr zusammenbrach. Ihr Weltbild zerfiel in Millionen winziger Scherben, die niemals wieder zusammengesetzt werden konnten. Nie mehr …
Ich bin der Schmerz … Ich bin kein Traum, bin ganz real … Ich bin die Kette, die sich um deinen Hals zusammenzieht –
SCHREI RUHIG. Niemand wird dich hören …
… dieses entsetzliche Gefühl, keine Luft zu bekommen … Es war pervers, so erniedrigend … Sie wollten sein Geständnis. Er sollte unter Zeugen zugeben, dass er zu einer Diebesbande gehörte, mehr noch: dass er ihr Anführer war. Zamorra wusste, dass er ihnen geben musste, was sie verlangten. Ansonsten würde er hier verrecken, erdrosselt von den Söldnern, die das Handwerk des Folterns ausgezeichnet verstanden. Er durfte hier nicht sterben … nicht in dieser Zeit! Welches Ende ihm auch immer zugedacht war: dieses durfte es einfach nicht sein! In den ersten Minuten des sogenannten Verhörs versuchte er durch Meditation sein Schmerzzentrum zu beeinflussen, es ganz einfach auszuschalten. Es wollte ihm nicht gelingen. Der Drang, Merlins Stern durch einen Ruf zu sich zu holen, wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. Doch er wusste, welche Auswirkungen das plötzliche Auftauchen des Amuletts für ihn haben würde. Ganz klar würde ihn das in den Augen der Folterknechte zu einem gefährlichen Hexer machen. Und einen solchen würden die Söldner nicht am Leben lassen. Zudem … die Silberscheibe hätte ihm kaum von Nutzen sein können. Das hier war keine schwarze Magie, sondern ganz einfach nur die ureigene menschliche Grausamkeit. Homo hominis lupo, durchzuckte ihn ein altes überliefertes Zitat. Wie makaber war es angesichts dessen, was hier geschah. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf … für Zamorra war es weitaus schlimmer, als wenn er in die Hände der Wölfischen gefallen wäre. Selbst der zaghafte Versuch, seine Peiniger mit kleinen magischen Tricks abzulenken – sie vielleicht gegeneinander aufzuhetzen – misslang kläglich. Zamorra fühlte sich, als wären alle seine Fähigkeiten vollkommen abgeblockt. Und dieses Gefühl hatte in dem Augenblick eingesetzt,
in dem sie diese Zeitepoche erreicht hatten. Irgendwie war alles … falsch. Das Empfinden, wie unter einer dicken Glasscheibe zu existieren, die über einer anderen Realität lag, wurde immer intensiver. Er hatte keine Idee, wie dieses Rätsel zu lösen war. Doch seine momentanen Probleme waren rein physisch und verdrängten alles andere. Ganz plötzlich hatten die Söldner die Folter unterbrochen und ihn zurück in die Zelle gebracht. Den Kopf in Nicoles Schoß hatte er versucht, den in ihm tobenden Schmerz zu verdrängen. Vergeblich. Das zweite Verhör war an Härte kaum noch zu überbieten gewesen. Zangen, glühende Holzscheite … und immer wieder diese grausame Kette, die sich erst wieder dann lockerte, wenn Zamorra glaubte, eine gnädige Ohnmacht würde ihn seinen Folterknechten für eine gewisse Zeitspanne entziehen. Sie ließen es nicht zu. Kaltes Wasser brachte ihn immer wieder rechtzeitig in die Realität zurück. Zamorra gestand. Er hätte alles zugegeben, ganz gleich, was auch immer man von ihm hören wollte. Er musste raus aus diesem Raum, musste Ruhe finden. Und wenn es auch nur eine trügerische Ruhe sein konnte, denn schon bald würde man ihn und die anderen verurteilen. Was dann kam – er konnte es nur ahnen. Mit zitternder Hand unterschrieb er den Bogen, den man ihm vorlegte. Fünf Söldner verließen den Raum, denn sie hatten, was sie wollten. Zwei blieben bei dem Jäger aus einer anderen Zeit sitzen. Und dann war da wieder die Kette, die sich eng um seinen Hals legte … … und es begann wieder von vorne … einfach so … zum Spaß für die Soldaten …
ICH BIN DER SCHMERZ … GIB DOCH ENDLICH AUF. DU KANNST DEN TOD NICHT IN SEINEM EIGENEN SPIEL BESIEGEN … MACH EINE TIEFE VERBEUGUNG – UND ERGIB DICH MIR. ICH BIN DEIN UREIGENER SCHMERZ
Centurio Oktavianus Lupomanus verließ angewidert die Folterkammer. Er war ein harter und kompromissloser Mann, der keinem Kampf aus dem Weg ging. Das hatte er in unzähligen Einsätzen bewiesen. Seine Leute nannten ihn hinter vorgehaltener Hand nicht umsonst Eisenfaust. Und in seiner Wolfsidentität übertraf er die blutigsten Schlächter, die es unter den Söldnern gab, um ein Vielfaches. Das Tier in ihm kannte keine Tabus, keine Grenzen, die es bei der Jagd, dem Opfern … dem Töten behinderten. Doch die Folter war für ihn einfach nur abstoßend. Sie ergab nur einen Sinn, wenn man sie im Zusammenhang mit den bestehenden Gesetzen sah, die sich die Menschen selbst gegeben hatten. Und das machte sie für Oktavianus wieder zu einer unsinnigen Institution. So unsinnig, wie es diese Gesetze nun einmal waren. Die Gefangenen waren von ihm und seinen Leuten aufgegriffen worden. Sie waren schuldig – zumindest des Diebstahls und Einbruchs im Haus des Dorfvorstehers. Wozu dann also noch ein Geständnis? Wozu dieses sinnlose Gerichtsverfahren, das ja doch nur eine billige Farce war? Das Urteil stand doch schon vorher fest. Auch das wird sich ändern, wenn das Wolfsimperium endlich an die Macht kommt! Lupomanus dachte über den Mann nach, dem man der Folter unterzogen hatte. Ein seltsamer Kerl. In seinen Augen war etwas, das den Centurio einen Moment lang verunsichert hatte. Etwas, das nicht hierher gehörte.
Und in diesem winzigen, zeitlich kaum fassbaren Moment, in dem er dem Mann in die Augen gesehen hatte, war ein schwaches Bild in seinem Denken aufgeblitzt. Er, Centurio Lupomanus, würde diesen Mann töten. Doch nicht der Söldner Lupomanus würde das tun, nein, der Werwolf in ihm. Wann dies geschehen würde, hatte das Bild ihm nicht vermittelt. Auch nicht den Ort, oder doch? Ein Detail war ihm im Gedächtnis geblieben. Der Himmel trug seltsame Farben. Rot und Blau … Grün und Gelb. Oktavianus konnte sich absolut keinen Reim darauf machen. So etwas gab es doch überhaupt nicht. Er tat dieses verrückte Bild ganz einfach mit dem riesigen Kater ab, den er an diesem Morgen schließlich mit sich umher geschleppt hatte. Auf dem Weg zu seiner Kammer blickte er noch einmal über seine Schulter zurück. Irgendwie war er enttäuscht, dass der Mann unter der Folter doch relativ schnell sein Geständnis unterzeichnet hatte. Er hatte erwartet, in diesem Menschen etwas mehr an Wille zum Widerstand zu finden. Es war schade, aber im Grunde waren sie alle gleich, diese Menschen. Wenn es einmal wirklich hart auf hart kam, brachen sie alle schnell zusammen. Warum hätte dieser Fremde denn eine Ausnahme sein sollen? Fremd, ja, das war es, was Oktavianus in den Augen des Mannes erahnt hatte. Was verband ihn mit diesem Mann? Der Centurio schüttelte diese Gedanken von sich ab. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er am liebsten noch einmal in die Folterkammer zurückgekehrt wäre. Er hatte bemerkt, dass zwei der Söldner die Tortur aus eigenem Antrieb fortgesetzt hatten. Das war unwürdig! Doch diese beiden Männer gehörten nicht zu seinen Leuten. Und so kurz vor dem Tag, an dem die Welt ein neues Gesicht, eine neue Wegrichtung bekommen sollte, wollte Oktavianus nicht unnötigerweise auffallen. Er musste sich nun jeden seiner Schritte ganz genau überlegen. Auch die nächtlichen Zechgelage fielen nun für ihn aus. Zudem hatte er morgen einen anstrengenden Tag vor sich. Seine Strafe war ihm als Anerkennung für den Fang, der ihm mit seinen Männern gelingen war, erlassen worden. Ab morgen würde er wie-
der eine Hundertschaft befehligen, wie es ihm nach seinem Dienstrang ja auch zustand. Er würde erst einmal mit eisernem Besen unter den Männern kehren müssen, von denen einige sicherlich nur wenig begeistert sein dürften, ihn schon so bald wieder als Vorgesetzten zu bekommen. Unter diesen Männern befanden sich aber auch die Wolfsbrüder, die gemeinsam mit Lupomanus das Attentat auf Papst Gregor ausführen sollten. Es gab viel zu besprechen. Ein geheimes Treffen war bereits für den heutigen Abend anberaumt. Die Planung war in die entscheidende Phase gekommen. Centurio Oktavianus musste sich sputen, denn schließlich war er eine der Personen, ohne die man die Zusammenkunft garantiert nicht beginnen wollte. Er war die Eisenfaust, die das Oberhaupt der christlichen Kirche ins Jenseits fegen würde. So gesehen, hatten seine Männer schon den richtigen Namen für ihn ausgesucht …
Die Luft in dem fensterlosen Raum war mit animalischer Energie geschwängert. Gut vierzig Männer befanden sich bereits in dem Kellergewölbe, als Centurio Lupomanus eintrat. Alle Köpfe ruckten in seine Richtung. Jeder hier wusste, wer da gekommen war. Oktavianus sah sich um, erwiderte grüßendes Kopfnicken aus allen Richtungen. Vier seiner Männer eilten auf ihn zu, begrüßten ihn freundschaftlich, doch voller Respekt. Er war nicht nur in der Welt der Menschen ihr Vorgesetzter, sondern auch bei den Wölfischen. Ihm würden sie an dem entscheidenden Tag unterstehen. Sein Wort war dann ihr einziges Gesetz. Und jeder von ihnen war bereit, für Oktavianus zu sterben, wenn es der eine, der einzig wichtige Moment erfordern sollte. Sie würden um ihn herum sein und ihn gegen die päpstliche Garde abschirmen, wenn er den Papstmord vollendete. »Er ist heute hier.« Crassus schien extrem erregt zu sein. Oktavianus kannte den Wolfsbruder schon eine kleine Ewigkeit lang. Es war
schwierig, Crassus irgendwie aus der Reserve zu locken, doch irgendjemandem schien das heute gelungen zu sein. »Von wem redest du, Bruder?« Oktavianus sah sich intensiv um, doch er konnte niemanden entdecken, der Crassus' Erregung hätte rechtfertigen können. »Von ihm. Von Lupus Metellus – oder soll ich schon sagen Lupus I.? Ich denke, er will sich uns kurz vor dem Ziel noch einmal zeigen. Vielleicht hat er auch noch eine Botschaft an die Bruderschaft.« Bischof Lupus Metellus – der designierte Wolfspapst! Oktavianus spürte, wie sich seine Nackenhaare hochstellten. Er hatte lange auf diese Begegnung gewartet. Womöglich bildete er sich es tatsächlich nur ein, doch das Gefühl, dass der künftige Papst ihn mied, ihn bei der ganzen Aktion nicht dabei haben wollte, hatte sich in der Vergangenheit kontinuierlich aufgebaut. Seine Vertrauten in der Bruderschaft hatten ihm immer wieder das Gegenteil versichert, doch bis heute war es nie zu einem persönlichen Treffen gekommen. Und jetzt würde er Lupus Metellus endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. »Wo ist er?« Oktavianus wollte nicht mehr länger warten. Doch ein anderer kam ihm zuvor. Der immer etwas verweichlicht wirkende Horus eröffnete die geheime Versammlung. »Brüder, wir sind dem Ziel so nahe!« Beifälliges Gemurmel antwortete ihm. Horus streckte sich, schien heute über sich selbst hinaus wachsen zu wollen. Und plötzlich war da nichts Weiches mehr an ihm – plötzlich war er nur noch ein Wolf unter Wölfen, stolz, unbeugsam und in seiner ganzen Gestik vorwärts drängend. Mit der Faust schlug er auf den Tisch vor sich und führte seine Rede mit fester, volltönender Stimme fort. »Endlich wird die Welt die Führung erhalten, die sie schon so lange benötigt. Endlich wird es der Wolfskult sein, der die Religionsgewalt ausüben wird. Endlich sind es die edelsten unter allen Wesen, die herrschen werden. Dann ist Schluss mit der Macht der schwachen Menschen, die doch zu nichts anderem, als zu unseren Jagdtrophäen taugen.« Dann wiederholte er noch einmal das Wort, das ih-
rer aller Sehnen ausdrückte: »Endlich!« So hatte Oktavianus ihn noch nie reden hören. Ein Jubelsturm antwortete den mitreißenden Worten, die sie alle herbei gesehnt hatten. Reißerische und provokative Worte, die allen in diesem Kellergewölbe versammelten Wesen aus dem Herzen sprachen. Wahrscheinlich waren es solche Reden, die schon in der Vergangenheit dieser Welt große Umbrüche, Revolten und Kriege entfacht hatten. Und ganz sicher würde dies in der Zukunft nicht anders sein. Oktavianus war wohl der einzige im Raum, der nicht in den Jubelsturm mit einstimmte. Er benötigte solche markigen Worte nicht, um sich in seiner Gesinnung bestätigt zu sehen. Sein Weltbild, sein Glaube ruhte unerschütterlich in ihm. Und er fürchtete die Macht solcher Worte mehr als jeden Schwertarm. Denn sie konnten Berge bewegen, Meere versiegen lassen … und sie konnten immer aus dem Mund von Scharlatanen und Machtgierigen kommen. Worte hatten diese Macht – man musste ganz genau auf ihren Klang achten … und auf die Augen dessen, der sie aussprach. Allzu leicht konnte man sich von ihnen verführen lassen. Horus war ganz sicher der erste in der Bruderschaft, der im Fall eines Scheiterns blitzschnell auf der Gegenseite zu finden wäre. Momentan jedoch schien er bis zu den Schulterblättern im Hinterteil des Lupus Metellus zu stecken. Das war zurzeit sicher ein heiß begehrter Ort unter den Wölfischen … Oktavianus würde ihn Horus ganz sicher nicht streitig machen. Diese Art von Kriechen vor den Mächtigen widerte ihn an. Der Centurio hatte nur Augen für den kräftig wirkenden Mann, der direkt neben Horus saß. Das also war Lupus Metellus. Es war kaum zu verstehen, dass er und Oktavianus noch nie aufeinander getroffen waren. Wenn es dafür einen Grund gab, dann wollte Oktavianus ihn erfahren. Heute, und aus dem Mund des Metellus höchstpersönlich. Schließlich war er, Centurio Lupomanus Oktavianus, es, der diesen Mann auf den Papstthron heben würde. Oktavianus war zu weit entfernt, als dass er Lupus' Gesicht im De-
tail hätte betrachten können. Was er sah, gefiel ihm. Der Mann strahlte die Ruhe und Souveränität aus, die der Centurio bei vielen Mitgliedern der Bruderschaft vermisste. Lupus hatte breite Schultern, schien hochgewachsen und durchtrainiert zu sein. Sein Haar war beinahe gänzlich ergraut. Mit einer Hand umfasste der künftige Wolfspapst sein Kinn. Irgendwie erschien es Oktavianus, als würden Metellus Horus' Worte ebenso wenig wie ihm gefallen. Doch das konnte auf die Entfernung natürlich täuschen. Viel wahrscheinlicher war es, dass Lupus dem Mann diese Worte sogar in den Mund gelegt hatte, als er sich gerade einmal nicht in seinem Hintern befunden hatte. Oktavianus musste grinsen, als er sich diese Szene bildlich vorstellte. Doch dann kehrten seine Gedanken in die Realität zurück. Irgendetwas an Lupus Metellus schien ihm vertraut. Er konnte einfach nicht herausfinden, worum es sich dabei handelte. Horus setzte erneut zum Sprechen an, als die Beifallsbekundungen endlich abflachten. »Brüder, heute ist der Mann bei uns, der die Bruderschaft so sehr gestärkt hat, dass der große Schritt nun endlich gewagt werden kann. Ich bin stolz, dass ich hier neben ihm stehen darf. Lupus Metellus, bitte sprich nun selbst zu unseren Brüdern.« Oktavianus konzentrierte sich. Er war auf die Stimme des Metellus' gespannt. Stimmen sagten oft viel über ihre Besitzer aus. Wenn die Augen die Fenster zur Seele eines Wesens waren, dann war die Stimme dessen Botschafterin. Metellus erhob sich langsam. Sein Blick glitt über die Anwesenden hinweg. »Brüder, ein plötzliches Ereignis hat dafür gesorgt, dass wir unseren Plan um einige Tage vorziehen werden. Ihr alle wisst genau, was auf dem Spiel steht. Jeder von euch weiß, was er zu tun hat.« Lupus Metellus hielt kurz inne, doch als er weiter sprechen wollte, schien ihm seine sonore Stimme zu versagen.
Leises Gemurmel entstand unter den Wölfischen. Niemand wusste, warum der künftige Papst wie erstarrt schien. Sein Blick ging in die Menge hinein, haftete wie unverrückbar an einem ganz bestimmten Punkt … … und die Augen der beiden Männer trafen sich über die Entfernung hinweg. Etwas in Oktavianus begann zu klingen, zu vibrieren. Er sah in diese wissenden Augen und schien in ihnen versinken zu wollen. So schnell, wie dieser unwirkliche Augenkontakt begonnen hatte, so schnell war er auch wieder vorüber. Mit einer jähen Bewegung wandte sich Lupus Metellus um und stürmte durch eine kleine Nebentür aus dem Kellergewölbe hinaus. Minutenlang herrschte Verwirrung im Raum. Die wildesten Mutmaßungen machten die Runde. Einige behaupteten sogar, der künftige Träger der Tiara hätte soeben eine Vision gehabt. Andere wiederum befürchteten eine Krankheit – und manche sahen Metellus' Fluchtverhalten ganz einfach als Schwäche an. Oktavianus verharrte noch immer unbeweglich an der gleichen Stelle im Gewölbe. Er beteiligte sich mit keinem Wort an den Spekulationen und dummen Gerüchten. Er wusste, dass von alledem nichts stimmte. Etwas ganz anderes war geschehen. Doch benennen konnte er es auch nicht. Er wusste nur eines ganz sicher: Metellus' heftige Reaktion hing mit einer einzigen Person zusammen. Und diese Person war er – Centurio Oktavianus Lupomanus …
5 Ende der Freiheit � Einmal frei gewesen, war es auch nur für drei Monate, ist mehr wert als hundert Jahre als gehorsamer Knecht. B. Traven (Rebellion der Gehängten) Nicole Duval war vertraut mit der Gerichtsbarkeit des Imperiums der Wölfe, mit dem Rechtswesen ihrer ureigenen Zeitepoche. Ihr war klar, dass sie mit Vergleichbarem am Ende des 16. Jahrhunderts nicht rechnen durfte. Auf die Narrenposse, die sie gemeinsam mit Rina, Zamorra und Pater Aurelian am kommenden Tag erleben musste, war sie allerdings nicht gefasst gewesen. Die Folter, der man die Männer unterzogen hatte, endete irgendwann in den frühen Morgenstunden. Zumindest schätze Nicole den Zeitablauf so ein. Die totale Finsternis in der Zelle machte es beinahe unmöglich, sich zeitlich zu orientieren. Kaum drei Stunden später wurden sie aus dem unruhigen Schlaf hoch geschreckt, der sich ihrer irgendwann ganz einfach bemächtigt hatte und der letztlich dankbar willkommen geheißen worden war. Söldner trieben die vier Menschen in einen gekachelten Raum. »Ausziehen – schnell.« Zamorra und Aurelian hatten mit den Folgen der Folter zu kämpfen und mussten sich von den Frauen helfen lassen. Nicole und Rina entledigten sich ihrer Bekleidung mit schnellen Bewegungen. Die geilen Blicke der Soldaten blieben ihnen nicht verborgen, doch keiner der Männer rührte sie an. Sie mussten präzise Befehle haben, die bei Nichtbefolgung harte Strafen nach sich zogen. Dann kamen die alten Frauen – vier an der Zahl. Und jede von ihnen war mit zwei hölzernen Wassertrögen und einer Wurzelbürste bewaffnet. Als sie damit begannen, die Gefange-
nen äußerst unsanft zu waschen, platzte Nicole der Kragen. Mit einem Tritt verscheuchte sie das runzelige Weib, das sich an ihr zu schaffen machen wollte. »Verschwindet. Das können wir alleine. Los – schert euch weg von hier!« Die Söldner schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel, als die Alten schleunigst den Baderaum verließen. Ihnen war es gleichgültig, wer wen wusch. Das Ergebnis zählte. Nicole half Zamorra und Rina ging Aurelian zur Hand, der sich verschämt und durch und durch prüde zeigte. Nachdem die Prozedur beendet war, gab man den Gefangenen einfache Tuniken aus Leinen, die bei den Männern die Arme und die Oberschenkel frei ließen. Die Modelle die Nicole und Rina nun trugen, zeigten um einiges mehr von ihren Körpern, als sie zu verhüllen in der Lage waren. In Nicoles Zeit hätte man so etwas als Dessous durchgehen lassen – als einen Fummel, den man besser nicht in der Öffentlichkeit trug. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die vier Gefangenen schließlich dem hohen Gericht des Staates Rom überstellt wurden. Zamorra hatte sich von den Folterstrapazen einigermaßen erholt. In einem günstigen Moment raunte er Nicole zu: »Wo ist Merlins Stern?« Nicole tat, als müsse sie ihren Partner stützen. So kam sie nahe an ihn heran und konnte sich unauffällig mit ihm austauschen. »Gut versteckt in der Zelle. Wir können ihn jederzeit rufen. Doch viel nützen wird er uns hier im Moment auch nicht.« Zamorra nickte. Sie hatte natürlich Recht. Nicoles Blick fiel auf Zamorras Hand, an dessen Ringfinger nach wie vor der Zeitring steckte. »Sie haben ihn dir nicht abgenommen?« Die Französin war verblüfft. Man hatte ihnen alles abgenommen. Selbst Rinas billiger Haarreif war eine Beute der Söldner geworden und würde sicher schon bald den Kopf irgendeiner Mätresse schmücken. »Sie haben es versucht.« Zamorra täuschte einen Schwächeanfall vor, damit er Zeit schinden konnte, um das geflüsterte Gespräch fortzusetzen. »Er ließ sich auch mit Gewalt nicht von meinem Finget
ziehen. Einer kam auf die Idee, mir den Finger abzuhacken, aber dieser Centurio bestand darauf, dass wir alle völlig unversehrt zu bleiben hätten. Keine Ahnung, was die mit uns vorhaben.« Nicole hingegen ahnte es sehr wohl. Das Gespräch mit Rina hatte ihre Befürchtungen genährt. Doch sie schwieg. »Wir müssen fliehen – von diesem Ort, aus dieser verfluchten Zeit! Mir ist völlig egal, ob Christen oder die Wölfe die wahre Religion verkörpern. Ich will zurück in unser Leben, Zamorra.« Der Jäger nickte. Er hatte schon während der Folter tausendfach verflucht, dass er sich von Aurelian zu diesem Zeitsprung hatte überreden lassen. Das musste beendet werden – und zwar schnellstens! Zwei Söldner brachten sie mit ihren Lanzen auseinander. Nicole hoffte, dass sich eine weitere Chance zum Reden ergeben würde. Wenn Rina Recht hatte, dann würde man sie sicher schon bald trennen. Das war das Letzte, was passieren durfte. Nur gemeinsam mit Aurelian konnten sie in ihrer eigene Zeit zurück, ohne einen weiteren Zeitkreis zu öffnen. Sie mussten ganz einfach zusammenbleiben. Auf welche Art auch immer … Der Saal, in den man die vier führte, strahlte eine gewisse Seriosität aus. Wände und Decke waren in dunklem Holz getäfelt. Überall konnte Nicole Intarsienarbeiten entdecken, die Szenen aus der Vergangenheit Roms darstellten. Der Boden unter ihren nackten Füßen war glatt und kühl – Marmor, der in dieser Zeit zum absoluten Luxus zählte. Neben sich hörte sie Zamorra laut aufstöhnen. Nicole sah, woran der Blick ihres Geliebten haftete. Es war ein gut ein Meter hohes Holzkreuz … an dem in kunstvoller Schnitzerei der ausgemergelte Körper eines fast nackten Mannes hing. Seine Arme waren weit ausgebreitet, und in seinen Handflächen steckten grobe Zimmermannsnägel, die ihn dort mit Gewalt fixierten. Seine nackten Füße standen auf einem Holzbrett, damit ihm durch sein Körpergewicht nicht die Hände durchgerissen wurden. Auf diesem schräg gestellten Brett las Nicole die Buchstaben INRI. Dann fiel ihr Blick auf das Gesicht des Gekreuzigten. Schmerz und Leid waren dort zu lesen … und eine kaum fassbare Güte, die im
krassen Widerspruch zu dem stand, was dieser Mensch erlitten haben musste. »Die Vision … Es ist … die Realität!« Zamorras stammelnde Worte erschütterten Nicole. Sie hatte mehr Zeit gehabt als ihr Lebenspartner, sich an die Wahrheit zu gewöhnen. In der Nacht hatte sie sich von Rina erklären lassen, wie das Christentum über große Teile der Welt herrschte. Es hatte sie nicht verwundert zu erfahren, dass auch hier Korruption und Machtgier eine überwältigende Rolle spielten. Und leidtragend war wie immer und überall das einfache Volk, das sich unterdrücken und gängeln ließ. Kirche und Staat wussten sehr wohl, wie man die Kleinen klein hielt, wie man ihnen auch noch das letzte Hab und Gut aus den Taschen ziehen konnte. Der Wolfskult … er war eine Legende, ein Schauermärchen, mit dem man kleine Kinder erschreckte, die nicht artig sein wollten. Mehr nicht. Genau wie Aurelian es erzählt hatte … Und diese Tatsache traf Zamorra nun wie der Schlag eines Vorschlaghammers! Ein kurzer Blick Aurelians traf Nicole. Ich habe es euch gesagt … war darin zu lesen. Ja, das hatte er getan. Auch bei Nicole saß der Schock noch tief, doch sie hatte irgendwann in der vergangenen Nacht für sich beschlossen, die Zerstörung ihres Weltbildes vorläufig als zweitrangig zu betrachten. Es brachte ihr und Zamorra nichts, wenn sie jetzt in tiefe Grübelei verfielen. Es ging hier ganz aktuell nur um eines: um ihr nacktes Leben! Und um die Rückkehr in die eigene Zeit. Dort konnten sie dann reflektieren und überdenken, was und ob sie überhaupt etwas unternehmen wollten. Eine zweite Reise in diese Zeit war sicher kein Problem. Doch die musste anders geplant werden. Ganz anders! Die Söldner drängten die Gefangenen vor ein breites Pult, hinter dem auf einem mit goldenen Nägeln beschlagenen Sessel ein unglaublich dicker Mann saß. Seine winzigen Augen hatten Mühe, sich gegen die Fettmassen zu behaupten, die sie wulstig umgaben und zu überdecken drohten. Sein Mund hatte Ähnlichkeit mit zwei fettigen Würsten, die übereinander gelegt waren. Wangen, Kinn, Hals – das alles war ein einziger Fettberg, der ständig in Bewegung schien. Der Fette kaute irgendetwas ohne Unterlass. Wahrscheinlich produ-
zierte sein Mund diese Bewegung ganz automatisch, selbst dann, wenn er nichts zu sich nahm. Dinge, die man allzu oft tat, konnte leicht automatisiert werden. Nicole behauptete von sich, weitestgehend ohne Vorurteile zu sein. Am Äußeren anderer Menschen machte sie ihr Urteil im Grunde nie fest. Doch hier stieß sie an ihre Grenzen. Dieser Bursche war einfach widerlich! Und sie war sicher, dass sein Aussehen mit seinem Charakter im Einklang stand. Das Problem dabei war nur, dass ausgerechnet er offensichtlich ihr Richter sein würde …
»… schuldig der Gründung einer Raubes- und Mörderbande. Schuldig des Diebstahls. Schuldig des vagabundierenden Umherziehens. Schuldig gegenüber dem Staat, dem Volk Roms und der heiligen katholischen Kirche.« Die Worte kamen leise und im Fistelklang aus dem kaum sichtbaren Spalt zwischen den Wurstlippen hervor. Unterbrochen wurden sie von pfeifendem Röcheln und krampfhaftem Husten. Er hatte vor sich auf dem Pult den typischen Hammer liegen, mit dem sich Richter Gehör verschafften, doch Nicole war sicher, dass er ihn nicht einmal anheben konnte. Die Anstrengung wäre für diesen Richter sicher zu groß gewesen. Bei den ersten Sätzen des Urteilsspruches – dem weder eine ordentliche Anklage, geschweige denn eine Möglichkeit zur Verteidigung voran gegangen waren – war Zamorra nach vorne gesprungen, als wolle er sich auf den Fleischberg hinter dem Tisch stürzen. Doch die Söldner waren schneller als er. Die flache Klinge eines Speeres stoppte den Jäger und ließ ihn zu Boden gehen. Die anderen sparten sich ähnliche Versuche. Die Klingen ihrer Wächter berührten ihre Rücken und sprachen eine deutliche Sprache. Der wulstige Mund öffnete sich erneut, als wieder Ruhe eingekehrt war. »Sie sind unverzüglich zum Tode zu bringen. Die Verhandlung ist
…« Hinter dem Fetten hatte die ganze Zeit über ein junger Bursche gestanden, der nun nach vorne trat und etwas in die ebenfalls fetten Ohren des Mannes flüsterte. Der Richter hörte zu, setzte eine nachdenkliche Miene auf und räusperte sich dann. »Das Urteil wird in lebenslange Zwangsarbeit umgewandelt, die diese Räuber bei ihren neuen Herren verrichten werden. Jeglicher Erlös geht zu ganzen Teilen in die Staatskasse. Die Sitzung ist geschlossen.« Ein wilder Hustenanfall schüttelte ihn erneut heftig durch, und Nicole hoffte, dass der Fette daran verrecken möge. Ketten legten sich um die Handgelenke der vier Verurteilten. Zamorra war noch immer benommen von dem Schlag, den der Söldner ihm versetzt hatte. Nicole sah zu Aurelian. »In welchen Schlamassel hast du uns hier gebracht? Lass dir etwas einfallen, sonst stecken wir für immer hier fest.« Pater Aurelians Gesicht war kalkweiß. Die Ereignisse schienen ihn vollkommen zu überrollen. »Wir müssen auf den Herrn vertrauen. Er wird uns den Weg zeigen, den …« Ein Stoß in den Rücken ließ ihn in Richtung Ausgang stolpern. Nicole stützte Zamorra. »Dann sollte er sich besser beeilen. Sonst kannst du den Rest deines Lebens Latrinen reinigen. Oder in irgendeiner Mine schuften, bis du umfällst!«
Einen Sklavenmarkt im Mittelalter hatte sich Zamorra durchaus vorstellen können. Ein Platz – eine rasch zusammengezimmerte Bühne – gefesselte Sklaven, Männer wie Frauen bunt gemischt – der Sklavenhändler, der sich mit einigen Helfern und einer blitzschnell zubeißenden Peitsche Respekt verschaffte – unten gingen die potentiellen Käufer umher, gaben wie beiläufig ihre Gebote ab, feilschten und handelten solange, bis man sich endlich einig geworden war. Man hatte Zamorra, Aurelian und die beiden Frauen direkt nach der sogenannten Verhandlung in ein großes, von außen eher
schmuckloses Haus geführt. Die Söldner schienen froh zu sein, ihre Gefangenen hier endlich los zu werden, obgleich der eine oder andere von ihnen noch im Gehen sehnsüchtige Blicke auf Nicole und die rothaarige Rina warf. Überrascht stellten sie fest, dass sie sich in einer Badetherme befanden. Das heiße Wasser tat allen mehr als gut, doch vor allem in Zamorra weckte es endlich wieder all seine Lebensgeister. Anschließend wurden sie geschminkt. Die Söldner waren bei ihren Foltermethoden zwar äußerst geschickt vorgegangen, doch einige Blutergüsse und kleinere Wunden waren nicht zu übersehen. Aurelian und Zamorra ließen die Prozedur über sich ergehen, zumal einige der Salben und Duftwässer zusätzlich eine schmerzlindernde und kühlende Wirkung entfalteten. Das war Labsal für ihre geschundenen Körper. Geschickte Hände verwandelten Nicole und Rina in wahre Prinzessinnen. Dann begann der eigentliche Sklavenmarkt. Der gesamte Saal, an dessen Längsseiten knapp 30 Zentimeter hohe Podeste ausgemauert waren, war geschmückt, als würde hier eine Modenschau des 21. Jahrhunderts ablaufen. Und die seltsame Veranstaltung hatte in der Tat viel mit einer Schau gemeinsam. Nur verlief der Catwalk nicht in der Mitte, sondern befand sich eben seitlich auf besagten Erhöhungen. Die Käufer flanierten an der Ware vorbei, während sie leise miteinander sprachen und ein Glas Wein in den Händen hielten. Manch einer von ihnen warf direkte, überaus deutliche Blicke auf die Ware. Andere schienen die Sklaven überhaupt nicht zu beachten und spähten höchstens aus den Augenwinkeln auf die rechtlosen Menschen, die dort feilgeboten wurden. Die einzelnen Verkäufe liefen per Handzeichen ab, ähnlich wie bei einer modernen Versteigerung. Eine tiefe Verbeugung des Verkaufsleiters signalisierte ein abgeschlossenes Geschäft. Zamorra versuchte sich auf das zu konzentrieren, was um ihn herum ablief. Mit größter Mühe unterdrückte er die schreckliche Erkenntnis, die ihn im Gerichtssaal völlig aus der Fassung gebracht hatte. Immer wieder trafen sich sein und Aurelians Blick, doch kei-
ner der Männer setzte zu einem Gespräch an. Es wäre sicher auch sofort von den Wachen unterbunden worden, die diskret in der Nähe bereit standen und die Ware hin und wieder drohend ansahen. Wer hier Dummheiten machte, musste mit direkter und höchst empfindlicher Strafe rechnen. Aurelians Schilderung entsprach den Tatsachen. Diese Epoche war beherrscht von der Christensekte, die Zamorra als vollkommen unbedeutend eingestuft hatte. Das Wolfsimperium existierte nicht – zumindest noch nicht. Wie konnte das sein? War die gesamte Geschichtsschreibung in Zamorras Welt denn eine einzige großangelegte Lüge? Ein bis ins kleinste Detail durchgeplanter Fake, auf den die ganze Welt hereingefallen war? Er weigerte sich nach wie vor, dies zu glauben! Doch von Sekunde zu Sekunde wurde ihm deudicher, dass diese Weigerung einem kindlichen Trotz entsprang. In den vergangenen Minuten hatte Zamorra immer wieder Versuche gestartet, zumindest einen Hauch von Magie zu entfachen. Es musste ja keine großartige Aktion sein. Ein spontan aufflackernder Brand – ein zu Boden stürzender Kerzenleuchter, der mitten zwischen die Wachen fiel … irgendetwas in dieser Art würde im richtigen Moment vollkommen ausreichen, um eine Fluchtchance zu ermöglichen. Nichts davon gelang ihm auch nur im Ansatz! Und wieder kam die leise Ahnung in Zamorra hoch, dass etwas mit dieser Zeitrealität nicht stimmen konnte. Oder vielleicht doch eher mit ihm selbst? Etwas passte nicht. Durch irgendeine Komponente war er in seinen Fähigkeiten geblockt. Und Merlins Stern? Er konnte ihn jederzeit rufen, doch schwarzmagische Aktivitäten, auf die das Amulett reagiert hätte, konnte der Jäger nicht bemerken. Aber konnte er sie denn hier überhaupt fühlen? Mittlerweile zweifelte er sehr daran. Also mussten sie sich eine andere Fluchtmöglichkeit schaffen. Es war ganz gewiss nicht das erste Mal, dass sie improvisieren mussten. Ein Mann mit annähernd weißem Haar blieb direkt vor Zamorra
und Aurelian stehen und begutachtete sie eingehend. Der Mann war jung, allerhöchstens in der Mitte der Dreißiger. Offensichtlich stammte es aus einem nordischen Land. Viermal hob er seine rechte Hand in Richtung des Sklavenverkäufers. Das Geschäft war perfekt, als dieser sich beinahe bis zum Boden hin verbeugte. Das Ende der Freiheit … schoss es Zamorra durch den Kopf. Ein paar Handbewegungen, ein tiefer Bückling und das Schicksal eines Menschen war für den Rest seines Lebens besiegelt. So einfach, so rasend schnell konnte das gehen. Bist du denn nicht schon immer ein Sklave der Wölfischen gewesen? Zamorra erschrak, denn diese Worte hatten sich ganz plötzlich in seinem Bewusstsein gebildet. Entsprachen sie den Tatsachen? Waren nicht alle Menschen dem Willen des Imperiums der Wölfe vollkommen und ohne Ausnahme ausgeliefert; Sklaven, ohne sich dessen auch nur bewusst zu sein? Er musste gegen die ketzerischen Gedanken ankämpfen. Der Weißhaarige gab den Wachen einen Wink. »Auf mein Schiff mit ihnen.« Zamorra wusste, dass nun der vielleicht letzte Augenblick gekommen war, eine Trennung von Nicole zu verhindern. Auf Aurelian konnte er kaum zählen. Er war es, der handeln musste. Wie hingezaubert lag ein breites Kurzschwert in der rechten Hand des Weißhaarigen. Die Spitze der Klinge berührte Zamorras Hals. »Denk nicht einmal daran, Sklave.« Kräftige Hände packten Zamorra und fesselten ihn blitzschnell. Der Mann steckte sein Schwert mit einem Lächeln wieder ihn die Scheide, die unter seinem weiten Umhang verborgen war. »Nicht übel. Ein Sklave mit freiem Willen. Nun, ich werde ihn zu brechen wissen.« Er sah Zamorra ruhig in dessen wutverzerrtes Gesicht. »Kämpfer wie dich kann ich gut gebrauchen. Aber übertreibe es nicht, denn sonst schneide ich dich in Streifen.« »Wir können gerne gegeneinander antreten.« Nur mühsam beherrschte Zamorra den unglaublichen Zorn in sich. Er war in einer aussichtslosen Position, aber vielleicht konnte er diesen Mann durch Mut beeindrucken.
»Oh, du traust dich etwas. Ich kämpfe nicht gegen meine Sklaven – ich lasse sie für mich kämpfen. Aber wer weiß … vielleicht bekommst du ja deine Chance. Warten wir es ab.« Irgendetwas wurde über Zamorras Kopf gestülpt. Dann wurde es dunkel um ihn herum. Ein Stoß in den Rücken ließ ihn vorwärts taumeln. Die letzte Chance war dahin. Was nun kommen mochte, konnte er nicht einmal ahnen. Ein bitteres Gefühl breitete sich in ihm aus. Ein Gefühl, das er im Leben immer erfolgreich verdrängt und bekämpft hatte. Bis heute. Und dieses Gefühl war die absolute Hoffnungslosigkeit …
Entsetzt starrte Nicole auf die Szene, die sich auf der anderen Seite des Saales abspielte. Als der fremde Käufer sein Schwert zog, waren sofort die Wachen bei den anderen Sklaven aktiv geworden. Ein derartiger Vorfall konnte eine Signalwirkung haben. Daher war es streng untersagt, mit Waffen hierher zu kommen. Dem Weißhaarigen war dieses Verbot anscheinend gleichgültig; er musste über einen gewissen Ruf verfügen, denn niemand stoppte ihn in seinem Handeln. Nicole hatte gespürt, wie Zamorra zu einer Fluchtaktion ansetzen wollte. Sie war bereits gewesen, sich sofort mit einzuklinken, doch der Schwertträger hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Ergebnis war niederschmetternd. Aurelian und Zamorra wurden gefesselt und mit schwarzen Hauben über den Köpfen aus dem Saal geführt. Sie waren getrennt. Nun, das war schon unzählige Male vorgekommen. Sie hatten immer einen Weg gefunden, sich auch einzeln durchzuschlagen. Schlussendlich waren sie immer wieder vereint gewesen – zum Nachteil ihrer Gegner! Irgendwie würde es auch hier nicht anders kommen. Nicole hoffte es zumindest, obwohl sich die Ausgangssituation denkbar schlecht gestaltete. Rina stieß die Französin an. »Ich fürchte, nun sind wir an der Rei-
he.« Ein dunkelhäutiger Mann, der von Kopf bis Fuß in bunte Seidengewänder gekleidet war, konnte seine Augen nicht von den beiden Schönheiten lassen. Mit knappen Handbewegungen startete er den Bietvorgang. Ein breitschultriger Römer, dessen Hakennase enorme Ausmaße vorzuweisen hatte, gesellte sich zu ihm. Er bemühte sich überhaupt nicht, leise zu sprechen. »Du solltest nicht auf eine Ware bieten, auf die das Haus Metellus eine Option hat.« Der Dunkelhäutige sah den Römer verblüfft an. »Willst du mir das Bieten auf Sklaven untersagen?« »Du bist fremd in Rom, nicht wahr?« Hakennase lächelte verständnisvoll. »Sieh dich um. Das alles hier gehört dem Haus der Metelli. Vieles in Rom gehört ihnen. Du solltest zurückstehen. Es wäre besser für dich und dein weiteres Verbleiben in der Stadt.« Eine äußerst ernste Drohung lag in diesen Worten, die ausreichte, den bunt gekleideten Mann zu einem Rückzug zu bewegen. Der Römer blickte nach wie vor lächelnd zu Rina und Nicole. Nicole verstand, was eben geschehen war. In diesen Augen existierte keine Spur von Freundlichkeit oder Humor. Diese Augen standen im krassen Gegensatz zu dem leicht weichlich wirkenden Gesicht des Mannes. Er mochte viele Menschen damit täuschen können, doch Nicole wusste in der gleichen Sekunde, dass dieser Mann ein erbarmungsloser Fanatiker war, der alles aus dem Weg zu räumen wusste, was ihn und seine Ziele stören konnte. Ein Wink des Mannes reichte aus, um den Sklavenverkäufer springen zu lassen. »Der ehrenwerte Horus hat einen Wunsch?« Der Mann mutierte binnen einer Sekunde zu einem schleimigen Wurm, der sich zu den Füßen des hakennasigen Burschen wand. Nicole wusste, wie viel auch immer der Hakennasige zu bezahlen beabsichtigte, er würde den Zuschlag erhalten. Horus nickte. »Die beiden werden zum Haus der Metelli gebracht.« Für einen kurzen Moment schien dem Verkäufer klar zu werden, dass hier noch mit keinem Wort über einen Preis geredet worden war, doch wenn er etwas in dieser Richtung hatte sagen wollen,
schluckte er es blitzartig hinunter. Rückwärts buckelnd entfernte er sich mit schmeichelnden Worten. Noch einmal traf der Blick des Römers auf Nicole. Schlagartig wurde ihr kalt. Sie spürte seine kalten und wulstigen Finger, die langsam über ihren Körper strichen … über den Bauchnabel … ihre Hüften … und dann griffen sie nach den Knospen ihrer Brüste. Nicole schüttelte sich. Für einen Moment musste sie wohl die Augen geschlossen haben. Als sie wieder zu dem Römer sah, war der bereits verschwunden. Was für eine ekelhafte Vorstellung, die ihr von ihrem Unterbewusstsein vorgegaukelt worden war. So weit würde sie es niemals kommen lassen – niemals! Rina stand dicht bei der Französin und hatte die Hände vor ihr Gesicht gepresst. »Ich habe Angst, Nicole. Hast du seine Augen gesehen?« Nicole nickte und legte einen Arm um Rinas Schultern. »Ja, das habe ich. Wer sind diese Metelli?« Rina zuckte mit den Achseln. »Sehr reiche Leute. Ihnen gehört viel in Rom. Sie haben Einfluss, bis hin zum Papst, sagt man. Einer von ihnen ist ein hohes Tier im Vatikan, glaube ich. Warum will gerade dieses Haus uns kaufen?« Nicole nickte versonnen. Das war die Frage. Es musste eine ganz besondere Bewandtnis dahinter stecken. Der Blick dieses Horus' war ihr Beweis genug. Kurz darauf erschienen drei kräftige Männer – Eunuchen, wie Nicole vermutete, denn bei weiblichen Sklaven verhielt es sich auch in diesem Teil der Welt nicht anders als im Orient. Sie führten die Frauen aus dem Saal. Das Haus Metellus lag am Marsfeld. Kein weiter Weg, wenn man ihn als freier Mensch machte. Doch am Ende der Freiheit wurde jeder Weg zu einem endlos langen Marsch.
Irgendwann nahm man Pater Aurelian und Zamorra die Hauben ab. Die Sonne stand bereits tief. Der Tag neigte sich langsam seinem
Ende zu. Ein langer Tag. Ein Tag, an dem mehr geschehen war, als selbst Zamorras geschärfter Verstand zu verarbeiten wusste. Man hatte ihn gefoltert, zum Tode verurteilt – und dann dieses Urteil in ein Leben als Sklave umgewandelt. Er war gekauft worden. Einfach so. Und über all dem schwebte der Schock über sein zerbrochenes Weltbild. Zamorra hatte in seinem Leben schon viel verkraften müssen. Ein Fanatiker für die Sache der Wölfe war er nie gewesen. Seine Zusammenarbeit, sein Packtieren mit dem Imperium der Wölfe war eine Sache der Selbsterhaltung. Sie hatte nichts mit Glaube oder Verehrung gemein. Niemals, nicht eine Sekunde lang. Hier unterschied er sich grundlegend von Aurelian, der die ganze Angelegenheit zu einem Glaubenskrieg gemacht hatte, zu einem Kampf der Ideologien. Und doch … all dies war tief in seinem Inneren verwurzelt. Jetzt musste er sich Wahrheiten eingestehen, die für ihn schmerzlicher waren, als er es je vermutet hätte. Aurelians wilde Geschichte, mit der er Zamorra und Nicole in diese Epoche der Weltgeschichte gelockt hatte, entsprach der Wahrheit. Welcher Wahrheit? Gab es tatsächlich nur die eine? Zamorra war sich nicht mehr sicher. Ein aberwitziges Bild schlich sich in seine Gedanken, während der Karren, auf den man Aurelian und ihn unsanft geworfen hatte, durch Roms Straßen holperte: Er sah sich selbst vor einer gewaltigen Scheibe aus dickem Glas stehen, hinter der er sich selbst agieren sah. Er sah seine Ankunft in dieser Zeit, sah Aurelian, Nicole … sah das Dorf, die Brücke, die Legionäre. Und als er sich umdrehte, da stand weit hinter ihm ein weiterer Zamorra, der ihn durch eine zweite Scheibe hindurch beobachtete. Und als der sich umwandte … ein Bild-im-Bild-im-Bild … Es war endlos, konnte sich in beide Richtungen in einem fort wiederholen. Eine Wahnvorstellung? Oder war es mehr? Wie viele Wahrheiten, wie viele Wirklichkeiten gab es? Der Karren stoppte, und die Wachen zogen Aurelian, Zamorra und eine Handvoll weiterer frisch ersteigerter Sklaven von der Ladefläche.
»Hast du eine Ahnung wo wir hier sind?« Zamorra war sich bewusst, dass auch Aurelian in höchstem Maß verwirrt sein musste. So hatte der Pater sich das alles ganz sicher nicht vorgestellt. Der hagere Mann, dem man seine Jahre für gewöhnlich nicht auf den ersten Blick ansah, schien in den vergangenen Stunden enorm gealtert zu sein. Seine Augen blickten trübe umher. Sie hatten am Ufer des Tiber angehalten. »Ich kann es dir nicht sagen, Zamorra. Aber ich fürchte, man wird uns auf eines der Schiffe bringen.« Aurelian schien zu müde zu sein, um Spekulationen von sich zu geben. Wieder versank er in tiefes Schweigen, ging mit hängenden Schultern neben seinem ehemaligen Freund her. Zamorras Ahnungen schienen sich auch hier zu bewahrheiten. Der Weißhaarige, der sie wie zwei Stück Vieh erstanden hatte, war ihm in seiner ganzen Art wie ein Seefahrer vorgekommen. Seine Art zu reden, ein wenig gedehnt und irgendwie rollend in der Aussprache, der Ablauf seiner Bewegungen – ganz besonders der leicht schwankende Gang, der von einem Leben auf Deckplanken sprach. Im Grunde genommen waren das nur Kleinigkeiten, die aber in der Gesamtheit ein ganz eigenes Bild ergaben. Das Schiff, auf das sie zusteuerten, war das größte, das Zamorra in beide Uferrichtungen entdecken konnte. Unzählige kleine Lastkähne und sogar eine Galeere hatten hier geankert. Der Tiber war die Lebensader, die sich durch die ewige Stadt schlängelte. Der neu erblühte Reichtum vieler Stände und einflussreicher Familien in dieser Zeit war unlösbar mit dem Fluss verbunden. Ohne ihn wäre der Handel ganz sicher zum Erliegen gekommen. Die Römer waren sich dessen durchaus bewusst und liebten ihren Fluss. Zamorra konnte unzählige Kinder sehen, die am Ufer spielten, die Schiffe bestaunten und bis zu den Knien im Wasser umher wateten. Alte Männer saßen direkt am Wasser und schwangen große Reden, logen sich die eigene Vergangenheit schön oder spielten auf einem Holzbrett mit Kieselsteinen als Figuren irgendein Brettspiel. Zamorra sah verliebte Pärchen, feilschende Händler und Söldner, die hier ihre karge Freizeit verbrachten. Das alles war für die Römer ihr Fluss. Für Zamorra jedoch stellte er im Augenblick nur einen bösen, nas-
sen Wurm dar, der ihn weit weg von Nicole und somit der Chance auf eine Rückkehr in seine Gegenwart bringen würde. Über die breite Holzplanke gelangten sie an Deck des dickbauchigen Schiffes. Zamorra hatte dort mit Seeleuten gerechnet, die das Schiff auf Vordermann brachten, Taue ausbesserten oder die Reling mit einem neuen Anstrich versahen. Vielleicht auch mit Segelmachern, denn was er da an den Masten hängen sah, machte nicht den allerbesten Eindruck. Einem wirklichen Sturm würden diese Segel keinesfalls mehr standhalten. Doch es gab nichts von alledem. Gut zwei Dutzend halbnackte Muskelmänner waren über das Deck verteilt. Zu zweit – manchmal auch zu dritt – kämpften sie gegeneinander mit Schwertern, Lanzen, Netzen, Keulen und allen möglichen anderen Hieb- und Stichwaffen. Zamorra hörte ihr Stöhnen, die wütenden Schreie der Unterlegenen, das Freudengeheul der Sieger. Doch er sah nicht einen Tropfen Blut, keine einzige offene Wunde. Die Beulen und Blutergüsse der Burschen waren kaum zu zählen. Inmitten dieses Wirrwarrs stand ein Sessel mit hoher Lehne. Und auf ihm thronte der Weißhaarige, dessen schnelle Schwerthand Zamorra bereits kennen gelernt hatte. Mit dem langen Rohrstock in seiner Hand deutete er mal hierhin, mal dorthin und gab lautstarke Anweisungen. »Seft, du Idiot, habe ich dir nicht erst gestern gezeigt, wie man eine ordentliche Parade macht? Olaf, hirnloser Sohn einer Straßenhure, das hätte dich im Ernstfall gerade das linke Auge gekostet. Ihr faulen Säcke, nennt ihr das da vielleicht einen Kampf? Thore, du bist tot – also bleib gefälligst auch unten. Bei allen Göttern meiner Heimat! So ein unfähiger Haufen …« Zamorra fühlte sich an einen Filmregisseur erinnert, der eine große Kampfszene für einen Historienschinken mit seinen Stuntmen einstudierte. Als der Weißhaarige die Neuankömmlinge sah, winkte er sie zu sich. »Schau an, mein aufmüpfiger Freund. Nun, wie gefällt dir dein neues Zuhause?«
Zamorra sah dem Mann direkt in die Augen. Mit Unterwürfigkeit konnte er bei ihm nichts erreichen. »Das werde ich dir beantworten, wenn ich erfahren habe, was das alles hier ist – und wohin dieses Schiff fahren wird.« Wenn der Mann verärgert über die offene Rede seines Sklaven war, dann ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er schien eher belustigt zu sein. »Du bist wahrlich nicht von hier, oder? Du kennst die beste Gladiatorenschule Roms nicht?« Allgemeines Gelächter wurde laut, das Zamorra ignorierte. »Gladiatoren? Ich dachte, diese Zeit wäre längst vorüber?« Mit einer Handbewegung wies der Weißhaarige die Kämpfer an, ihre Übungen fortzuführen. Dann wandte er sich erneut Zamorra zu. »Und du glaubst, das Volk Roms lässt sich deswegen sein Vergnügen nehmen? Ich dachte eigentlich, das sei allgemein bekannt. Aber gut – warum soll ich es dir nicht erklären?« Zamorra bemerkte, dass dieser Mann sich gerne selbst reden hörte. Ein Umstand, den er sich vielleicht später zu Nutzen machen konnte. Jetzt aber ließ er ihn sprechen, denn jede Information konnte wichtig sein. Zamorras Lebensgeister waren wieder voll erwacht. Der Wille zum Widerstand regte sich in ihm, denn zum Trübsalblasen war wirklich keine Zeit. »Die Römer lieben ihre Gladiatoren. Kirche und Staat – vor allem natürlich der Vatikan – haben kaum etwas unversucht gelassen, diese Tradition zu beenden. Sie haben nicht mit dem Willen des Volkes gerechnet. Sieh dich um. Du wirst die klassischen Typen von Gladiatoren finden: Samnit, Hoplomachus, Secutor, Murmillo, Thraker und Retiarier – das Publikum will es so. Auch heute noch. Und ich bilde euch solange aus, bis ihr würdig seid, in einer Arena zu kämpfen und ehrenvoll zu sterben.« »Du verkaufst deine Sklaven wieder, nachdem du sie zu Mordmaschinen gemacht hast?« Zamorra war verblüfft, obwohl er natürlich wusste, dass die Gladiatorenschulen sicher zu allen Zeiten so gehandelt hatten. Auch in der Vergangenheit, die er bis heute für die Wahre gehalten hatte, waren sie nicht wegzudenken gewesen. »Ich tu, was ich kann, mein Freund. Und zu deiner zweiten Frage
… auch wenn es einem Sklave nicht zusteht, Fragen zu stellen, werde ich sie dir in meiner Großzügigkeit beantworten. Dieses Schiff fährt nirgendwo hin. Dies ist die schwimmende Gladiatorschule des Adrian. Du darfst dich glücklich schätzen, denn so etwas gibt es in ganz Rom nur ein einziges Mal.« Er lächelte süffisant. »Ach ja, und Adrian, das bin natürlich ich, dein Herrn und Meister. Wollen doch einmal sehen, ob du etwas vom Kampf verstehst.« Er gab einem seiner Wachen einen Wink. Zamorra wurde ein kurzes Schwert in die Hand gedrückt, das aus Holz gefertigt war. Natürlich – es konnte Adrian ja nicht daran gelegen sein, dass sich sein Kapital gegenseitig umbrachte. Dazu war noch genügend Zeit, wenn er sie gewinnbringend verkauft hatte. Solange sich die zukünftigen Gladiatoren auf seinem Schiff befanden, würde er mit Argusaugen über ihr Leben wachen. »Aruff! Zeig dem Neuen, was du kannst. Und schone ihn nicht.« Zamorra wurde nach vorne mitten zwischen die Kämpfenden gestoßen, die nun einen Ring um ihn bildeten. Wenn ein Neuling seine erste Abreibung bekam, wollten alle ihren Spaß daran haben.
Die Sonne stand nun bereits knapp über dem Horizont. Zamorra bewegte sich unauffällig so, dass er den versinkenden Glutball im Rücken hatte. Das war die erste Regel eines jeden Schwertkämpfers, denn nichts war entscheidender als die störungsfreie Sicht. Zamorra wog das hölzerne Schwert in seiner rechten Hand. Das Gewicht war nicht übel. Nicht vergleichbar mit dem einer echten Waffe, doch darauf konnte er sich schnell einstellen. Aruff kam auf ihn zu. Die Siegessicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er mochte knapp dreißig Jahre alt sein, war hochgewachsen und schien nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen. Seine Hautfarbe verriet, dass seine Wiege irgendwo in der arabischen Welt gestanden hatte. Sein überhebliches Lächeln entblößte zwei Reihen schneeweißer Zähne, seine Augen glühten wie Kohlen. Zamorra war über-
zeugt, dass Adrian ihm seinen besten Schwertkämpfer entgegen stellte. Er wollte Zamorras vorlautes Mundwerk ein für alle Mal zum Verstummen bringen, ihn demütigen und brechen. Der Jäger wusste, wie wichtig es war, hier einen mächtigen Eindruck zu hinterlassen. Seine Taktik stand fest, lange bevor Aruff zum Angriff ansetzte. Schnell wie eine Viper stieß der Araber mit der Holzklinge zu. Und Zamorra entging dem Stoß anscheinend nur, weil er ungeschickt nach hinten auswich, stolperte und mit einem Ruck auf dem Hosenboden landete. Das Gelächter um ihn herum war groß, doch er störte sich nicht daran. Sein Plan schien aufzugehen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er Pater Aurelian, der nicht sonderlich besorgt schien. Er kannte Zamorra lange genug um zu wissen, dass er hier ein Spielchen durchzog. Umständlich rappelte der Jäger sich wieder auf, schien sich erst neu orientieren zu müssen. Als Aruff erneut angriff, machte Zamorra einen tapsigen Schritt zur Seite, der Aruffs Klinge um Haaresbreite an ihm vorbei sausen ließ. Der Schwung riss den Araber nach vorne, und Zamorra stellte ihm ein Bein. Aruff stolperte ungebremst in seine Kameraden hinein, die ihn mit Schmährufen zurück in den Kreis beförderten. Zwei, drei Mal drang er auf Zamorra ein. Und jedes Mal schien dieser nur durch unglaubliches Glück der Klingenspitze entgehen zu können. Schweratmend starrte der Dunkelhäutige Mann seinen Gegner an. »Ich glaube, du hältst mich zum Narren, Freund. Schluss damit – kämpfe richtig mit mir!« Zamorra lächelte Aruff an. »Du hast Recht. Schluss damit. Du hast Besseres als das verdient. Komm, greife mich an.« Und Aruff griff an! Wenige Sekunden später hatte jeder an Bord begriffen, dass hier zwei Meister aufeinander trafen. Die Klingen zuckten in so schneller Abfolge auf und nieder – Angriff, Verteidigung, Parade und Reposte –, dass sie mit bloßem Augen kaum noch zu verfolgen waren. Aruff sprang zurück, ließ das Schwert sinken. »Ich freue mich, ge-
gen einen wahren Kämpfer antreten zu dürfen. Bringen wir es zu einem Ende?« Zamorra nickte – und griff nun seinerseits an. Dann ging alles rasend schnell. Aruffs Schwert schlidderte über die Planken. Die Spitze von Zamorras Waffe drückte gegen seine Herzgegend. »Ich bin tot.« Der Araber lächelte beinahe glücklich, und in seinen Augen las Zamorra die Akzeptanz, die er gewonnen hatte. »Ich danke dir für diese Lehrstunde, mein Freund.« Mit hocherhobenem Haupt trat er aus dem Ring der Männer, die nun ihrerseits den Sieger lautstark bejubelten. Zamorra suchte Adrians Blick, doch der Herr dieses Schiffes hatte sich bereits unter Deck begeben. Es schien, als wäre Zamorras Plan aufgegangen … Adrian war beeindruckt.
Bei dem untersten Deck des Schiffes handelte es sich um einen reinen Frachtraum, einen einzigen Raum mit relativ niedriger Decke. Hier zwängten sich die gut fünfzig Männer zusammen, die Adrian gewinnbringend als Gladiatoren verkaufen wollte. Manche von ihnen waren bereits seit Monaten hier. Sie warteten auf einen neuen Ankauf durch den Veranstalter der Gladiatorenkämpfe. Zamorra hatte aus Gesprächen schnell heraus gehört, dass Papst Gregor XIII. ein absoluter Gegner dieser seiner Meinung nach überholten Tradition war. Es wurde offenbar immer schwieriger, die Kämpfe störungsfrei über die Bühne zu bringen. Einige der Gladiatortypen waren von diesen kirchlichen Ressentiments besonders betroffen. So wetterte der Papst speziell gegen die Kämpfer mit Dreizack und Fischernetz. Letzteres war seiner Meinung nach ein Utensil, das ausschließlich den friedlichen Fischern der Weltmeere zustand – und dem Heiligen Petrus, dem ersten Pontifex der Christenheit, der von Jesus Christus selbst den Auftrag erhalten hatte, die Seelen der Menschen zu fischen und sie zum wahren Glauben zu bekehren. Aruff hatte sich Zamorras und Aurelians angenommen und ihnen einen freien Platz im Bauch des Schiffes gezeigt. Der Araber war Za-
morra wegen der Niederlage im Kampf alles andere als böse. Er zeigte sich als wahrer Sportsmann – auch wenn es diesen Begriff zu diesem Zeitpunkt sich noch nicht gab. Zamorra hatte schon oft festgestellt, dass es die Sache lange vor dem Begriff gab. Aurelian zeigte sich erstaunt über die reichhaltige Mahlzeit, die schließlich alle gemeinsam zu sich nahmen. »Ich dachte, man würde Sklaven gerade in diesem Punkt knapp halten. Ein satter Sklave ist ein fauler Sklave. Zumindest kenne ich das so.« Aruff sah den Priester an. »Aber ein hungriger Kampfer ist ein schlechter Kämpfer. Adrian wird uns kaum verkaufen können, wenn wir nur aus Haut und Knochen bestehen.« »Vielleicht werden wir das überhaupt nicht erleben …« Der Mann, der sich da zu Wort gemeldet hatte, war ein wahrer Koloss. Zamorra schätzte, dass der gutmütige Kerl fast zwei Köpfe größer als er war. Seine Beine wirkten wie Säulen, in seinen Händen musste die Kraft von Dampfhämmern schlummern. Sein kahler Schädel jedoch schien für den Rest des Körpers um einiges zu klein geraten. Es war nicht schwer zu erraten, dass die meisten ihn für einen Idioten hielten. Laut Aruff sprach er nur selten – und wenn doch, dann nahm ihn niemand so richtig ernst. Der Araber hatte ihn unter seinen Schutz genommen, denn es war ihm zuwider, wenn jemand verlacht und ausgegrenzt wurde. Sein Stolz gebot es ihm, solchen Menschen zu helfen. »Was meinst du damit, Koos? Warum sollten wir das denn nicht erleben?« Der Riese schaute seinen einzigen Freund an. »Ich habe sie gesehen, Aruff. Ganz viele. Sie haben laut geheult. Ich glaube, sie wollen die Erde fressen.« Tosendes Gelächter brandete auf, und Koos zog verschüchtert den Kopf zwischen seine Schultern. Aruffs wütende Blicke ließen die anderen verstummen. Pater Aurelian war plötzlich hellwach. Hinter diesen Worten steckte offenbar mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen war. »Wen hast du gesehen? Wie sahen sie aus? Bitte erzähle doch.« Koos schüttelte den Kopf. Er wollte nicht noch einmal ausgelacht werden. Erst nachdem ihm Aruff gut zugeredet hatte, gab er Aurelian Auskunft.
»Gestern hat Adrian mich in die Stadt geschickt. Weinfässer abholen. Ich bin stark, darum nimmt er mich immer dafür. Ich musste in einen Keller. Da waren viele Fässer. Aber da waren auch so Stimmen … weißt du?« Er sprach abgehackt und wie ein kleines Kind. Aurelian nickte. »Erzähl nur weiter, Koos, wir lachen ganz sicher nicht über dich.« Zamorra war nahe an den Riesen heran gerückt und lauschte aufmerksam. »Na ja, so Stimmen eben. Ich habe dann geguckt. Da war so ein Riss in der Wand, da konnte ich durch sehen. Dahinter waren sie. Sie haben geheult. Sie wollen alles fressen. Zuerst den Gregorpapst.« Zamorra traute seinen Ohren nicht. Doch er hielt sich zurück, damit Koos in seinem Redefluss nicht gebremst wurde. Und der redete nun weiter wie ein Kind, aus dem alles nur so heraus sprudeln wollte. »Sie haben gesagt, die Erde muss neu werden. Und da muss der Gregorpapst weg. Aber dann wollen sie selber der Papst sein. Ich hab das nicht verstanden, aber dann haben die wieder so geheult und hatten plötzlich ganz viel Fell. Überall Fell, wisst ihr? Dann hab ich Angst gekriegt und bin schnell weggelaufen. Aber … die Fässer hab ich trotzdem mitgebracht. Und wenn die eine neue Erde machen, dann fressen sie bestimmt erst die alte Welt auf. Was machen wir denn dann, Aruff?« Aurelian zog Zamorra nahe an sich heran. »Und? Glaubst du mir nun? Die Wölfischen werden Papst Gregor töten und so an die Macht gelangen. Wie ich es dir erzählt habe. Glaubst du mir nun, dass das Imperium der Wölfe auf einer Bluttat errichtet worden ist? Es basiert auf Blut, auf rituellen Opfern. Das kannst du doch nicht gut heißen. Wir müssen dieses Attentat verhindern. Koste es was es wolle, Zamorra!« Warum? Die Frage blitzte in Zamorras Denken schlagartig auf. Warum sollte er es verhindern? Was Koos da eben geschildert hatte, das war nichts anderes als der Startschuss zum großen Imperium der Wölfe. Aus welchem Grund sollte Zamorra sich auf die Seite der Christen stellen? Was geschehen würde, war bereits geschehen. Das Imperium würde entstehen. Zwar auf andere Art, als es in seiner Gegenwart in den Geschichtsbüchern zu lesen war, vollkommen
anders sogar, doch was für eine Rolle sollte das für ihn spielen? Das Attentat konnte sogar Aurelian, Nicole und ihm in ihrer verzweifelten Situation helfen. In den Wirren, die es nach dem Gewalttod des Papstes geben würde, konnten sie sicher leichter entkommen. Niemand würde sich um entlaufene Sklaven kümmern. Das konnte der vielleicht einzig mögliche Weg zurück in ihre Gegenwart sein. »Bluttat?« Zamorra sah Aurelian hart in die Augen. »Wie viele solcher Bluttaten hat dein Christentum denn vollbracht? Schau dich um in dieser Zeit, Aurelian. Schau dich gut um. Mord und Totschlag – Sklaverei und Verrat. Das ist hier an der Tagesordnung. Und der Papst duldet es. Und wart ihr es nicht, die ihren eigenen Erlöser an seine Mörder ausgeliefert haben? Wie viele Menschen anderen Glaubens sind durch eure sogenannten heiligen Kreuzzüge gestorben? In den verbotenen Dokumenten wird davon berichtet, Aurelian. Und die scheinen der Wahrheit zu entsprechen, wenn ich mich hier so umsehe. Nein, ich werde nicht eingreifen. Ich werde abwarten und dann, wenn die Wölfischen die Macht ergriffen haben, einen Weg zur Flucht finden. Mit Nicole und mit dir. Und du wirst das akzeptieren müssen.« Aruff stieß Zamorra an. »Koos ist noch etwas eingefallen.« Der gutmütige Riese sah Zamorra an. »Ja, sie haben auch gesagt, dass sie eine Rote und eine Gelbe haben. Und die soll dann der neue Papst fressen dürfen. Und sie haben Lupus zu ihm gesagt. So heißt der wohl.« Es dauerte einen Moment, bis Zamorra vollkommen begriffen hatte, welche Informationen Koos ihm da gerade gegeben hatte. Eine Rote … eine Gelbe … Opfer des neuen Papstes, des 1. Wolfspapstes. Rot … und Gelb … Zamorra stöhnte auf. »Nicole!« »Und Rina.« Aurelian war nicht weniger entsetzt. »Und nun, Zamorra? Wirst du deine Meinung noch einmal überdenken? Wir können doch nicht zulassen, dass die Frauen in einem Ritual geopfert werden.« Zamorra straffte sich. Ein anderer hatte die Weichen für ihn gestellt. Es gab keine Frage, wie er nun zu handeln hatte. Er nahm
Aruff und Koos zur Seite. »Ich bitte euch mir zu helfen … uns zu helfen …« Alle theoretischen Überlegungen waren ihm plötzlich völlig gleichgültig geworden. Was geschehen würde, war bereits geschehen? Ha! Er durfte nicht zulassen, dass Nicole geopfert wurde! Und wenn es den Lauf der Geschichte änderte …
Rina betrachtete sich eingehend in dem großen Spiegel. Für die junge Frau war es das erste Mal, dass sie sich von Kopf bis Fuß in einem Spiegel betrachten konnte. Solche Dinge zählten zum Luxus und konnten nur in den Häusern der Reichen gefunden werden. Reichtum war für Rina von Kindesbeinen an ein Fremdwort gewesen. Doch wenn man Geld, ein warmes Feuer im Winter, ein eigenes Bett oder einen immer gefüllten Magen nie kennen gelernt hatte, dann vermisste man diese Annehmlichkeiten auch gar nicht. Sicher, ab und an träumte man davon. Besonders von dem prasselnden Kamin, wenn es draußen Stein und Bein fror und man nicht wusste, wo man die nächste Nacht verbringen würde. Das war wahrscheinlich auch der Grund für Rinas Ausgelassenheit, nachdem man ihr und Nicole in dem düsteren Haus der Metelli ein eigenes Gemach zugewiesen hatte. Niemand hatte sie bisher bedrängt, niemand hatte irgendwelche Dinge von ihnen verlangt, an die Rina jetzt ganz einfach nicht denken wollte. Sie war eine Hure, ja. Doch das war sie nur dann, wenn der Hunger zu groß wurde. Wie etwa zu dem Zeitpunkt, an dem sie in das Dorf bei der Brücke gekommen war. Der Dorfvorsteher war äußerst freundlich zu ihr gewesen, und seine Alte war für ein paar Tage zu Verwandten gefahren. Er fühlte sich wohl sehr alleine. Zu Essen gab er Rina mehr als genug. Und sie durfte im duftenden Heu schlafen. Natürlich nicht im Haus, denn das wäre ja zu riskant gewesen. Jemand hätte es merken können … Sie hatte ihn ausreichend entschädigt. Viel war mit ihm nicht los gewesen, an bestimmten Stellen seines fetten Körpers. Aber Rina
hatte da ihre Tricks. Der Wandschrank hing voller Kleider. Für jedes einzelne von ihnen hätte Rina mit Freude ihren Körper hingegeben. Erstaunt bemerkte sie, dass sich Nicole kaum dafür zu interessieren schien. »Willst du nicht auch welche anprobieren, Nicole? Sie sind traumhaft schön. Schau, wie gut mir das steht.« Nicole hatte nur einen flüchtigen Blick für Rina übrig. Sie hatte den Raum gründlich untersucht. Natürlich hatte sie keine Schwachstelle ausfindig machen können, die zu einer Flucht ermutigt hätte. Dieses Haus glich in seiner dunklen Aura einem Gefängnis, nein – eher noch einem riesigen Grab. Nicole konnte sich nicht vorstellen, dass es in den vergangenen Jahren hier je fröhliches Lachen gegeben hatte. Es machte ihr Angst. Beinahe so viel, wie dieser Horus. Er war nicht der Herr des Hauses Metellus, soviel war klar. Doch er hatte großen Einfluss. Was war es nur, dass sie an ihm so irritierte? Nur selten hatte sie eine ähnlich bösartige Ausstrahlung gespürt. Vielleicht das eine oder andere Mal bei hochrangigen Vertretern des Imperiums. Des Imperiums … Sie verwarf diesen Gedanken wieder. Sie musste sich irren. Nicole stellte sich hinter Rina, die sicher bereits das zehnte Kleid übergezogen hatte. »Sie stehen dir alle, Schätzchen. Die Kerle würden sich die Beine für dich ausreißen, wenn sie dich so sehen könnten. Ehrlich. Aber bitte vergiss nicht, wo wir sind – und was wir hier sind. Ich befürchte, die haben etwas mit uns vor.« Rina lachte. »Ja, das ganz sicher. Aber bestimmt nichts, was ich nicht schon früher ausprobiert habe. Ich bin da recht vielseitig.« Nicole lächelte die junge Frau an, die ja beinahe noch ein Kind war. Sie mochte in Sachen Sex einen enormen Erfahrungsschatz besitzen, doch sie hatte keine Vorstellung, wozu Menschen manchmal fähig sein konnten. … und Wölfe. Nicole erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Wölfe? Wenn es die Bruderschaft hier überhaupt gab, so war sie doch bedeutungslos. Oder etwa doch nicht? Das Haus Metellus sollte beste Beziehungen
bis hinauf zu Papst Gregor pflegen. Welche Rolle spielten Rina und sie? Waren sie wirklich als Lustsklavinnen vorgesehen? Wenn Nicole sich die Atmosphäre des Gebäudes vor Augen hielt, so konnte sie sich dies beim besten Willen nicht vorstellen. Und wenn doch, dann würden die Herren dieses Hauses sehr bald merken, dass sie sich die falsche Frau dazu ausgewählt hatten. Mit ihr würden sie keine Freude haben …
Nicoles Instinkte funktionierten ausgezeichnet. Die kaum wahrnehmbaren Stimmen reichten voll und ganz aus, sie aus dem Schlaf zu reißen. In Situationen wie dieser hatte es sich das Unterbewusstsein der Französin angewöhnt, auch auf das leiseste Geräusch zu reagieren. Die Jahre im Kampf gegen Vampire und anderes Höllengeschmeiß waren eine harte Schule gewesen. Wenn sie und Zamorra trotzdem überlebt hatten, dann sicher auch aufgrund solcher anerzogenen Reaktionen. Rinas ruhige Atemzüge im Bett neben dem ihren verrieten Nicole, dass die Rothaarige einen gesunden und tiefen Schlaf hatte. Es gab keinen Grund, sie zu wecken, also schwang sich Nicole lautlos aus dem Bett und schlich zum Fenster, das halb geöffnet war. Das mit Samt und Seide ausstaffierte Gemach, in das man die beiden Frauen gebracht hatte, lag im ersten Stock der riesigen Villa nahe des Marsfeldes. Die Tür war natürlich von außen verriegelt worden. Sie befanden sich in nichts anderem als dem berühmten goldenen Käfig. Wie zwei hübsche exotische Singvögel … Das war nicht ungewöhnlich, denn frische Sklaven konnte man nicht im Haus frei umher laufen lassen. Ihnen würde womöglich der Sinn nach Flucht stehen. Normalerweise änderte sich dies im Laufe der Zeit, denn zumindest ordentlich behandelte Sklaven, die nicht öfter als ein oder zwei Mal in der Woche die Peitsche zu spüren bekamen, entwickelten so etwas wie einen Haussinn. Sie fühlten sich irgendwann dazu gehörig. Diese Weisheiten hatte Nicole von der kleinen Rina, die ihr einen
Einblick in das Leben im Jahr 1582 in dieser Stadt gegeben hatte. Oft hatte Nicole schmunzeln müssen, wenn Rina für die Französin vollkommen unmögliche Gegebenheiten als Selbstverständlichkeit hinstellte. Rina war von naivem Gemüt, doch sie hatte eine reizende Einfachheit an sich. Man musste sie ganz einfach mögen. Und den Männern mussten bei Rinas Kurven und Rundungen ganz einfach die Augäpfel aus den Höhlen treten. Nicole hoffte, dass die Kleine das alles hier unbeschadet überstand. Sie hatte etwas Besseres verdient, als den Rest ihres Lebens als Sklavin zu verbringen. Irgendwann würden auch bei ihr die Reize verflogen sein, die Männer zu den verrücktesten Dingen verleiten konnten. Und dann? Ein Leben als Putzsklavin … oder wenn sie Glück hatte als Köchin. Keine sehr erstrebenswerte Zukunft. Nicole verdrängte diese Gedanken schnell wieder und lauschte. Es waren zwei Stimmen, die zu ihr nach oben drangen – männliche Stimmen. Und sie kannte sie beide! Die erste klang weich, schmeichlerisch, doch in ihr schwang ein Unterton mit, der allerhöchste Gefahr signalisierte. Wer diese Stimme nicht nur hören, sondern auch lesen und richtig deuten konnte, der war nachhaltig gewarnt. Nicole hatte sie nur ein einziges Mal gehört, und das war erst wenige Stunden her. Sie gehörte dem Mann, der Rina und sie als Sklaven für das Haus Metellus gekauft hatte. Dem Mann, der ihr Angstschauer über den Rücken laufen ließ – Horus. Die zweite Stimme hatte ein dunkles Timbre, klang ruhig aber bestimmend. Ihr Besitzer wusste sehr wohl, was er konnte und was er zu erreichen gedachte. Er war es gewohnt zu befehlen. Und er erwartete von jedem den nötigen Respekt. Nicole erinnerte sich auch an den Mann, dem diese Stimme gehörte: er war es gewesen, der sie im Dorf an der Brücke in Gewahrsam genommen hatte. Der Centurio Oktavianus Lupomanus. Was hat ein Söldnerhauptmann um diese Uhrzeit im Vorgarten der Villa einer einflussreichen Familie zu suchen? Um das zu erfahren, musste sie nur intensiv zuhören, denn die beiden Männer waren sich offenbar sehr sicher, dass niemand sie belauschte.
»Dein Tipp war wirklich ausgezeichnet, Oktavianus. Die Frauen ragen weit über die übliche Sklavenware hinaus.« Horus gab sich alle Mühe, dem Söldner zu schmeicheln. Doch der Centurio schien für solche Dinge nicht empfänglich zu sein. Er hatte andere Prioritäten. »Du weichst mir wieder einmal aus, Horus. Ich bin nicht hier, um mit dir über Sklavinnen zu reden. Das ist für mich nebensächlich und bereits abgehakt. Gib mir endlich eine Antwort auf meine Frage.« Vorsichtig schob sich Nicole etwas weiter an das Fenster heran. Die beiden Gestalten unter ihr waren im fahlen Mondlicht nur als Schemen zu erkennen. Der eine von ihnen – sicher der Centurio – sah sich nach allen Seiten hin um. Im Zimmer war es zwar dunkel, doch Nicole machte rasch einen Schritt nach hinten. Unter keinen Umständen wollte sie entdeckt werden. Oktavianus war nervös und mehr als vorsichtig. »Bist du sicher, dass uns hier niemand hören kann?« Horus beruhigte ihn. »Niemand, absolut keine Seele. Den Frauen habe ich ein Schlafmittel in den Wein gegeben. Sie sollen frisch und ausgeruht sein, wenn ihr großer Augenblick kommt.« Sein Lachen war einfach nur abstoßend. Daher rührte also Rinas fester Schlaf, den anscheinend nichts stören konnte. Es war Zufall, dass Nicole nichts von dem Wein getrunken hatte. Sie konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. »Also? Wann kann ich Bischof Lupus nun sprechen?« Oktavianus stellte die Frage, als wäre er es Leid, sie immer wiederholen zu müssen. »Du langweilst mich mit dieser Fragerei, Centurio.« Pure Arroganz troff aus Horus' Stimme. »Wenn der Bischof dich nicht empfangen will, dann wird er seine Gründe haben, denkst du nicht auch? Und er muss mir keine Begründung dafür geben. Erst recht nicht dir. Ich weiß, dass du morgen eine entscheidende Rolle für die Zukunft der Bruderschaft spielen wirst. Doch das gibt dir nicht automatisch Sonderrechte.« Bruderschaft! Nicole zuckte zusammen. Horus und dieser Centurio gehörten einer Bruderschaft an – der Bruderschaft der Wölfe?
Oktavianus ließ sich von Horus nicht so einfach abspeisen. »Seit Monaten geht der Bischof mir aus dem Weg. Ich muss den Grund erfahren, Horus. Warum meidet er mich, als wäre ich der Abschaum aller Wölfischen? Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er es verhindert, dass ich die Horde der Attentäter anführe. Doch selbst ihm ist am Ende wohl kein logischer Grund mehr eingefallen, mich von dieser Aufgabe fern zu halten, denn ich bin der Beste dafür. Warum tut er das? Wenn du es weißt, Horus, dann sage es mir jetzt.« Die Wölfischen – Nicole hatte sich also nicht geirrt. »Ich kenne den Grund nicht. Glaube mir, ich habe ihn danach gefragt. Doch er gab mir keine Antwort. Vielleicht … ja, vielleicht wird er dich empfangen, wenn er das Amt des Papstes endlich bekleidet. Solange wirst du dich gedulden müssen.« Rasch lenkte der Mann mit der gewaltigen Hakennase auf ein anderes Thema um. »Ist alles für den entscheidenden Moment vorbereitet? Es darf kein einziger Fehler passieren, das weißt du. Die Ernennung des neuen Kardinals ist der perfekte Anlass für den Umsturz.« War es nicht genau das, was Pater Aurelian ihr und Zamorra versucht hatte einzureden? Nicoles Weltbild bekam einen neuerlichen Schlag versetzt. Das Imperium der Wölfe war mit Blut erbaut worden … Horus war nun in seinem Element. »Dieser schwächliche Papst Gregor ist so mit dieser lächerlichen Kalenderreform beschäftigt, dass er in absehbarer Zeit keine öffentlichen Auftritte mehr haben wird. Und diese Öffentlichkeit ist es, die wir brauchen, Oktavianus. Ganz Rom, nein: die ganze Welt soll morgen sehen, wie das Zeitalter der Christen endet und eine ganz neue Ära beginnt – die Ära des Wolfskultes! Wir werden die Erinnerung an diese verweichlichten Christen aus den Köpfen der Menschen tilgen. Und du wirst es sein, der den entscheidenden Schlag führt, Centurio.« Oktavianus' Stimme wurde schneidend. »Halte mir hier keine Propagandareden, Horus. Ich mag es nicht, wie du mit den Worten umgehst. Nach dem Umsturz wirst du sicher noch viel mehr an Macht gewinnen. Aber ich warne dich, Horus! Stell dich mir nie in den Weg.«
Schnelle Schritte entfernten sich. Oktavianus war gegangen, hatte den anderen einfach stehen lassen. Nicole wagte nicht sich zu bewegen, solange Horus noch da war. Es vergingen einige Minuten, dann hörte die Französin die schlurfenden Schritte des Mannes, der sich wieder zum Hauseingang wandte. Er murmelte dabei etwas vor sich hin. »Ich soll mich nicht in deinen Weg stellen, Centurio?« Ein leises Lachen klang auf, das an Selbstsicherheit nicht zu überbieten war. »Welchen Weg meinst du denn damit? Deiner wird jedenfalls schon bald enden. Darauf hast du mein Wort.« Dann war er im Haus verschwunden. Geräuschlos schlüpfte Nicole wieder zurück in ihr Bett. Morgen war es also soweit. Morgen sollte der Christenpapst sterben. Es fiel ihr schwer, eine klare Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Zamorra musste von der Sache erfahren. Zamorra – wo mochte er jetzt sein? Was genau hatte dieser Horus über Rina und sie noch gesagt? »Sie sollen frisch und ausgeruht sein, wenn ihr großer Augenblick kommt …« Von welchem großen Augenblick hatte er gesprochen? Was konnte der Part sein, den zwei unbedeutende Lustsklavinnen in diesem Plan zu spielen hatten? Nicole schloss die Augen. Jetzt konnte sie überhaupt nichts tun. Sie musste den nächsten Morgen abwarten. Doch was dann? Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie darauf keinerlei Antwort parat. Irgendwann überwältigte sie der Schlaf. Sie träumte von einem Wolf, auf dessen Kopf die Papstkrone thronte. Und sie sah sich und die kleine Rina, die den Klauen des Wölfischen nicht ausweichen konnten. Verwundert stellte sie fest, dass es nicht schmerzte, als sich seine Krallen langsam in ihre Brüste bohrten …
Koos und Aruff betraten lange vor Sonnenaufgang das Deck des Gladiatorenschiffes.
Zwei Mann hielten hier Wache – mehr war kaum von Nöten, denn es gab nur wenige Verrückte in Rom, die sich für einen nächtlichen Beutezug ausgerechnet ein Schiff aussuchen würden, in dessen Bauch sich an die Vierzig ausgebildete und äußerst leicht reizbare Gladiatoren befanden. Da gab es sicher lohnendere, vor allem jedoch ungefährlichere Beute. Die Wachmänner gehörten nicht zu den Gladiatoren. Sie waren zwei von einem guten Dutzend Männern, die Adrian für alle möglichen Dienste eingestellt hatte. Sie waren alle von schwarzer Hautfarbe. Die Gladiatoren und Adrians Leute, wie er sie zu nennen pflegte, hatten einen guten Kontakt untereinander. Sklaven – Wachen – was machte das schon für einen Unterschied? Daher kannte Aruff die Geschichte der Männer recht gut und wusste, dass sie alle einem Stamm angehörten. Wie sie nach Rom gekommen waren, wollten sie nicht berichten, doch der Araber vermutete, dass man auch sie einst in Sklavenketten hierher gebracht hatte. Heute waren sie freie Männer und stolz darauf. Aruff winkte den Wachen zu, als er mit Koos das Oberdeck betrat. Der Riese flüsterte aufgeregt auf seinen Freund ein. »Ich hab ein bisschen Angst, Aruff. Adrian wird böse auf uns sein … und unsere schwarzen Freunde da sicher auch.« Aruff legte den Zeigefinger an die Lippen um Koos zum Schweigen zu bringen. Ihm war klar, dass diese Sache Konsequenzen nach sich ziehen würde, doch wenn dieser Zamorra und sein dürrer Begleiter Recht hatten, dann gab es keine andere Wahl. Aruff hatte sich nie vom Christenglauben überzeugen lassen. Er hatte seine eigenen Götter, die er jedoch nur bei Bedarf anrief. Seinem Schwertarm vertraute er mehr als jedem Gott oder Götzenbild. Doch ganz sicher wollte er nicht gezwungen sein, einen Wolf anzubeten! Wie zufällig näherten sich die beiden ungleichen Männer den Wachen. Aruff begrüßte sie mit einer tiefen Verbeugung. »Ich hoffe, ihr werdet bald abgelöst? Die Nächte sind doch schon recht kühl, nicht wahr? Doch leider – ihr dürft mir ruhig glauben – leider müssen wir nun etwas tun, das euch nicht erfreuen wird. Ihr mögt Koos und mir später verzeihen.« Er blickte zu dem Riesen, der sich hinter die Farbigen gestellt hatte und nickte ihm aufmunternd
zu. »Bitte, mein Freund. Tu es jetzt.« Die Wachen wollten sich umdrehen, weil sie überhaupt nicht verstanden, was die beiden Gladiatoren von ihnen wollten. Sie kamen nicht mehr dazu nachzufragen, denn die mächtigen Schaufelhände von Koos' legten sich an ihre Schläfen und dann gab es einen dumpfen Knall, als er die Köpfe der verblüfften Männer einfach zusammenkrachen ließ. Geschickt fing er ihre Körper auf, die wie zwei nasse Säcke in sich zusammen sanken. Vorsichtig legte Koos die beiden auf die Schiffsplanken. Aruff handelte schnell. Mit sicheren Griffen nahm er den Männern ihre Schwerter ab. Echte Schwerter – keine Übungswaffen aus Holz, wie er sie sonst benutzen musste. Aus der Bodenluke sprangen Zamorra und Pater Aurelian hervor. »Beinahe vollkommen lautlos. Ihr seid ein großartiges Team.« Zamorra nahm eines der beiden Schwerter an sich. »Und nun lasst uns von hier verschwinden, ehe Adrian etwas bemerkt.« »Das hat er bereits!« Die Stimme kam von der Reling, an der sich der Weißhaarige lässig anlehnte. »Aruff, Koos, ich bin sehr enttäuscht. Ausgerechnet zwei Spitzenkämpfer wie ihr fallt mir in den Rücken? Das kann ich natürlich nicht dulden.« Mit einer fließenden Bewegung zog er sein Schwert aus der Scheide. Aruff sprang nach vorne. »Halt, Adrian. Höre dir die Geschichte dieser Männer an – und dann entscheide.« Zamorra hielt diesen Versuch für aussichtslos, denn hier ging es um Sklaven, die fliehen wollten. Was gab es da aus Adrians Sicht groß zu bereden? Verblüfft bemerkte er, dass Adrian den Araber gewähren ließ. »Nun gut, Aruff! Ich kenne dich schon so lange. Ich habe dich nie wie einen Sklaven behandelt. Redet. Aber redet schnell und gut, denn sonst verliere ich die Geduld.« Sein Blick richtete sich auf Zamorra. Doch es war Pater Aurelian der sprach. »Du willst es schnell und prägnant? Also gut. Morgen wird es ein Attentat auf Papst Gregor geben. Er wird ermordet werden und die christliche Welt wird in Blut und Chaos vergehen. Nichts wird mehr sein, wie es bisher war. Absolut nichts! Euer Leben wird sich so radikal ändern, wie ihr es
euch nicht vorstellen könnt. Es wird auch keine Gladiatoren mehr geben, sondern nur noch Jäger und Gejagte. Und du wirst nicht zu den Jägern gehören, denn der Wolf wird regieren, Adrian. Und wenn du uns nicht gehen lasst, dann wird niemand etwas dagegen unternehmen können. Nur wir können es – denn wir kennen die Zukunft. Und nun entscheide.« Zamorra war beeindruckt. In der kurzen Rede hatte jedes Wort gesessen. Erstaunt bemerkte, dass sich tatsächlich Zweifel in Adrians Blick geschlichen hatte. Doch überzeugt war der Mann noch nicht. »Was glaubt ihr, wen ihr vor euch habt? Einen Idioten? Da irrt ihr euch. Die Wölfe, sagst du? Ja, ich kenne sie.« Zamorra war nicht sicher, ob er sich verhört hatte. Dieser Mann war offenbar weit mehr als ein gewöhnlicher Sklavenhändler. »Ich habe Vor Jahren drei meiner besten Gladiatoren an einen von ihnen verloren. Ein einziger Wolfsmensch hat drei großartige Kämpfer sprichwörtlich in der Luft zerrissen. Ich habe es gesehen, doch ich konnte nichts dagegen tun. Und warum solltet ihr zwei Figuren sie besiegen können?« Die Frage hing in der Luft, und ehe Zamorra etwas erwidern konnte, fuhr Adrian fort. »Ihr sagt, ihr kennt die Zukunft? Dann müsst ihr Zauberer sein. Also, beweist es mir.« Zamorra verfluchte die Blockade, die seine magischen Fähigkeiten nach wie vor lähmte. Wie sollte er Adrian den geforderten Beweis erbringen? Die Lösung war so einfach, dass er sie beinahe übersehen hätte. Trotz des Blocks, der imaginären gläsernen Wand, die hier auf ihn wirkte, gab es doch etwas, das immer noch funktionierte. »Schau genau hin. Hier hast du deinen Beweis.« Die Sonne hatte eben erst zögernd damit begonnen, die Dunkelheit zu attackieren, doch die fahle Morgendämmerung reichte aus, um Adrian deutlich zu zeigen, was er sehen sollte. Mit ausgestrecktem linken Arm ging Zamorra zwei Schritte auf den Kapitän zu. Seine leere Handfläche hielt er auf Augenhöhe. Aus dem Nichts heraus materialisierte sich dort die silberne Scheibe von Merlins Stern. Nicht nur Adrian ließ ein verblüfftes Aufstöhnen hören, denn Aruff und Koos waren mindestens ebenso abergläubisch
wie ihr Herr. »Teufel auch! Das war kein billiger Gauklertrick. Also gut, ich hasse die Wölfischen wie die Pest. Ich weiß nicht genau, ob ich euch alles glaube, doch gegen eure Klingen werde ich mich nicht stellen. Ich habe dich kämpfen sehen, Zamorra. Verschwindet, und lasst euch hier nie wieder sehen!« Zamorras Verblüffung war so groß, dass er sich für Sekunden nicht von der Stelle rührte. Doch dann dachte er an Nicole. »Also los, wir haben keine Zeit zu verlieren.« Gemeinsam mit Aurelian sprintete er die Landungsplanke hinunter. Als er bemerkte, dass weder Aruff noch Koos ihm folgten, wandte er sich um. »Worauf wartet ihr noch?« Aruffs breites Grinsen war Antwort genug. »Ich denke, wir bleiben besser hier, Zamorra. Viel Glück. Beeilt euch!« Der Jäger winkte den Männern zu. »Ihr solltet das Schiff abfahrbereit machen. Wenn wir es nicht schaffen, dann ist es besser, erst einmal aus Rom zu verschwinden.« Dann lief er los. Wie hatte Koos es ausgedrückt? »Sie haben Lupus zu ihm gesagt …« Lupus I. – Papst der Wölfischen. Wenn er heute auf den Thron kommen sollte, dann würde Nicole sterben müssen. Und mit ihr Rina. Das war es, was Zamorra zu verhindern hatte. Was daraus wurde, dass musste er der Zeit überlassen …
Centurio Oktavianus Lupomanus hatte in dieser Nacht nicht geschlafen. Nach dem Gespräch mit Horus war sein Jagdtrieb machtvoll in ihm erwacht. Doch er hatte ihn unterdrückt. Gerade in dieser Nacht durfte er ihm nicht nachgeben! Seine Energie musste gebündelt und auf den Punkt genau abrufbar sein. Es war der Tag auf den sie alle so lange hingearbeitet hatten. Es durfte kein Fehler geschehen. Ein Versagen war undenkbar. Oktavianus lenkte sich so gut es ging ab. Irgendwann mitten in dieser seltsamen Nacht war er in die Stallungen der Kasernenanlage
gegangen. Sein Pferd konnte ein wenig Pflege gut gebrauchen. Er hatte es in den letzten Wochen sträflich vernachlässigt. Doch schon nach Minuten legte er den Striegel wieder beiseite und trat aus dem Stall heraus. Der Mond hatte sich hinter dicken Wolkenbergen versteckt, das war gut so, denn dessen magische Wirkung konnte der Centurio nicht brauchen. Ziellos lief er los. Die Kasernen lagen in den Außenbezirken, weit ab vom Trubel der Stadt. Sein Blick ging suchend zu den Sternen, die sich zwischen den Wolken blicken ließen. Er war nur ein einfacher Mann – beseelt von seiner Wolfsnatur und von seinem Leben als Söldner. Astrologie, Astronomie gar, waren nicht seine Welt. Er wollte leben, kämpfen, jagen. Fortschritt, Wissenschaft und Kunst hatten nie einen besonderen Stellwert für ihn gehabt. Horus' Worte fielen ihm wieder ein. Dieser Christenpapst Gregor reformierte den julianischen Kalender. Unzählige Gelehrte hatten offenbar daran mitgearbeitet. Zumindest hatte Oktavianus so reden hören. Er hatte sich nie dafür interessiert, warum eine solche Veränderung geplant war. Irgendetwas hatte es wohl mit der FrühlingsTagundnachtgleiche zu tun, die sich seit Einführung des julianischen Kalenders verschoben hatte. Oktavianus war davon überzeugt, dass Lupus I. diese Reform verwerfen würde. Für die Wölfischen spielten solche Dinge überhaupt keine Rolle. Dieser verrückte Gregor hatte doch tatsächlich vor ein paar Tage einfach zu überspringen, zehn Tage einfach nicht existieren zu lassen. Die Herrschaft des Imperiums der Wölfe würde die Welt wieder auf das wirklich wichtige reduzieren. Die ersten Sonnenstrahlen trafen Lupomanus' Augen. Das Gespräch im Garten des Hauses Metellus war nicht so abgelaufen, wie er es sich erwünscht hatte. Horus hatte ihn ganz einfach kalt gestellt. Ein Treffen mit Lupus Metellus würde es vor dem Umsturz nun nicht mehr geben. Und danach … unwahrscheinlich, dass der neue Papst sich die Zeit für einen Centurio nehmen würde. Auch wenn er es gewesen war, der ihn an die Macht gebracht hatte.
Horus würde das zu verhindern wissen. Er war ein gefährlicher Mann. Jemand, den man sich besser nicht zum Feind machte. Oktavianus lächelte, denn dies war ihm nicht gelungen. Langsam wandte er seine Schritte wieder in Richtung der Kaserne. Der Tag brach an. Ganz sicher würde er große Neuerungen für die Welt bringen. Im Leben des Oktavianus Lupomanus war er mit Sicherheit der Wichtigste aller Tage. Man schrieb den 5. Oktober 1582 …
Auch Horus hatte nicht geschlafen. Doch in seinem Fall war es nicht der erwachende Jagdtrieb, der ihn wachgehalten hatte. Er konnte in seinen Lenden die beiden Schönheiten spüren, die im ersten Stock eingeschlossen waren. Seine Libido brannte heißer als die Sonne. Monate hatte er geplant, geredet, Treffen organisiert und geleitet; er hatte unzählige Reden für sich und Bischof Lupus verfasst. Alles war ausschließlich auf den einen Tag ausgelegt gewesen, der nun begann. Wann hatte er zum letzten Mal eine Frau gehabt? Horus konnte sich kaum mehr daran erinnern. Und jetzt lag nur diese eine Treppe zwischen ihm und zwei der herrlichsten Versuchungen, denen er je begegnet war. Aber natürlich waren sie für ihn tabu. Eine der ersten Handlungen, die Metellus als Papst Lupus I. durchführen sollte, war das rituelle Opfer dieser beiden Frauen. Rot und Gelb – Feuerball der Sonne und goldene Scheibe des Mondes. Dafür standen sie, deshalb hatte man sie ausgesucht. Sie sind nicht für dich – du darfst sie nicht anrühren. Niemals! Immer wieder hatte er sich das gesagt. Doch dadurch hatte das Brennen nicht nachgelassen. Hatte er, Horus, denn nicht alles getan, damit das Imperium entstehen konnte? Hatte er nicht alles dafür aufgegeben? War es da nicht nur Rechtens, wenn er sich jetzt etwas zurück holte? Noch einmal unterdrückte er die Gier in sich. Es würde nichts nützen, wenn er sich eine Hure kommen ließ,
denn er wollte nicht irgendeine Frau. Mit den ersten Strahlen der Morgensonne verlor Horus den Kampf gegen sich. Seine Lenden schmerzten, als er mit schweren Schritten die Treppe hinaufstieg. In der rechten Hand hielt er den schweren Schlüssel, der ihm die Tür zu den Schönen öffnen würde. Mit zitternden Fingern drehte er den Schlüssel herum. Die Vorhänge waren halb zugezogen, doch das Licht reichte aus, um Horus zu zeigen, dass die Gelbhaarige wohl noch nicht aufgewacht war. Wahrscheinlich hatte sie zu viel von dem Wein getrunken, der das Schlafmittel enthalten hatte. Doch die Rothaarige saß vorne auf der Kante ihres Bettes und lächelte ihm verführerisch zu. Bis auf ein durchsichtiges Nichts, das rein alles zeigte, war sie nackt. Horus glaubte zu bersten. »Guten Morgen, mein Schöner.« Die Frau gähnte und räkelte sich dabei unglaublich aufreizend. Horus hatte selten so wunderschön geformte Brüste gesehen. Sein Blick ging hinunter zu ihren Schenkeln, die mehr als eine Offenbarung waren. Sie würde er zuerst nehmen – dann war die andere an der Reihe. Niemand würde es bemerken, niemand hatte es zu interessieren! Er bekam immer, was er wollte. Als er in vorgetäuschter Lässigkeit auf sie zuging, drückte sie in gespielter Prüderie ihre leicht geöffneten Schenkel fest zusammen. Ihr schräg gestellter Kopf, das lüsterne Lächeln ihrer vollen Lippen – sie sprachen eine ganz andere Sprache. Horus war ein Intrigant der absoluten Oberklasse, er taktierte geschickt, wurde von Freund und Feind als hoch intelligenter Mann gerühmt. Doch hier fiel er auf einen der ältesten Tricks der Welt herein wie ein dummer Junge, der noch giftgrün hinter den Ohren war. Als seine wulstigen Finger die Brüste der Rothaarigen umfassten, stand er viel zu nahe bei ihr, um der Wucht ihrer blitzartig hochschnellenden Knie noch ausweichen zu können. Das Wasser schoss ihm aus den Augen, denn sein Unterleib stand in lodernden Flammen! Der Schmerz schnürte ihm die Kehle zu, verhinderte, dass er normal ein- und ausatmen konnte. Sein Gesicht lief puterrot an. Das war Fehler Nummer eins gewesen. Fehler Nummer zwei war es, die anscheinend schlafende Frau im
Nebenbett aus den Augen zu lassen, ihr auch noch den Rücken zuzukehren. Nicole Duval schnellte wie eine Feder hoch und traf mit ihrer Fußspitze präzise die Schläfe des von seiner eigenen Geilheit geblendeten Mannes. Wie ein gefällter Baum kippte er um … Nicole war sicher, dass er nach dem Aufwachen eine ganze Weile benötigen würde, um das Geschehene in allen Einzelheiten auf die Reihe zu bekommen. Doch dann wollte sie mit Rina schon möglichst weit von hier entfernt sein. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang war es ihr gelungen, die Rothaarige wach zu bekommen. In eindringlichen Worten hatte sie ihr das Gespräch geschildert, das sie in der Nacht belauscht hatte. Rina verstand sicher kaum die Hälfte von dem, was sie erfuhr, doch Nicole konnte aufkeimende Angst in ihren Augen sehen. Um welche Art Auftritt es sich wohl handelte, den man Rina und ihr zugedacht hatte? Ein leiser Verdacht hatte sich in Nicole geregt. Sie war nicht sicher, ob sie Rina einweihen sollte, denn es war ja möglich, dass sie falsch lag. Doch von Minute zu Minute schwanden ihre Zweifel daran. Der 1. Wolfspapst sollte nach dem Mord an Gregor ausgerufen werden. In Nicoles Zeit wäre ein solcher Anlass sicher ein Grund gewesen um ein rituelles Menschenopfer zu bringen. Oder deren zwei! Wenn Nicole sich Rinas feuerrote Mähne betrachtete … dazu das grelle Blond, das sie selbst zur Zeit bevorzugte, dann konnte sie sich beinahe denken, warum die Wahl gerade auf sie gefallen war. Nicole schilderte ihren Verdacht der rothaarigen Frau, die im gleichen Moment leichenblass wurde. Flucht war bisher in ihrem Denken nicht vorgekommen, denn eine flüchtige Sklavin hatte mit den schlimmsten aller Bestrafungen zu rechnen. Rina hatte sich schon beinahe in ihr neues Schicksal gefügt, und es war ihr nicht sonderlich schwer gefallen, doch was Nicole ihr nun sagte, änderte natürlich alles. Nun mussten sie so schnell wie nur möglich viel Raum zwischen sich und die Villa bringen. Mit vereinten Kräften verstauten sie den Bewusstlosen Horus in einem der Wandschränke. Es war sehr still in dem großen Haus, als sie die Treppen hinunter-
schlichen. Nur aus einem Zimmer der unteren Etage drangen Stimmen zu ihnen. Nicole konnte nicht verstehen, was da genau gesprochen wurde. Sie erkannte die ruhige Stimme eines offenbar sehr alten Mannes und die eines zweiten, der mit großem Nachdruck redete. Darum konnte sie sich nun nicht kümmern. Sie war verblüfft, dass es nicht einmal an der großen Haupttür Wachen gab. Der Hausherr war sich seiner Sache sehr sicher. Zu sicher, denn wenn man aus dem Haus flüchten konnte, dann war das in anderer Richtung natürlich nicht wesentlich schwerer. So ziemlich jeder hätte ungehindert in die Villa hinein spazieren können. »Komm schnell, Rina. Wir müssen in die Stadt. Zunächst einmal tauchen wir einfach nur unter. Alles andere wird sich ergeben, hoffe ich.« Nicole fasste die Hand der jungen Frau und zog sie mit sich. Rina wandte den Kopf in Richtung der Villa, als erwarte sie, die von Nicole prophezeiten Wolfsmenschen jede Sekunde aus dem Haus hetzen zu sehen. Doch nichts dergleichen geschah. Um die Villa herum gab es ein Waldstück, das vollkommen naturbelassen war. Mitten durch die dicht stehenden Bäume jedoch führte ein breiter gepflasterter Weg auf das Haus Metellus zu. Nicole reagierte blitzartig, als sie die Stimmen hörte, die langsam näher kamen. Mit einem Ruck zog sie Rina vom Weg hinein in das Dickicht zwischen den Bäumen. Mit einer Hand verschloss sie den Mund der jungen Frau, die vor Schreck und Angst am liebsten laut geschrien hätte. Gut zwanzig Männer kamen in ihre Richtung. Einige waren sofort als Söldner zu erkennen, andere trugen festliche Kleidung. Als sie endlich außer Hörweite waren, nahm Nicole die Hand von Rinas Mund. »Die Verschwörer holen ihren künftigen König ab.« Rina sah die Französin unverständig an. Nicole schüttelte den Kopf. »Nur so ein Spruch von mir, aber er dürfte den Kern der Sache treffen. Wir müssen uns beeilen. Sie werden sicher nach Horus suchen, wenn er nicht von alleine auftaucht. Komm, weg von hier.« »Ich glaube kaum, dass ich euch gehen lassen werde, meine Täubchen.«
Rina schrie entsetzt auf. Die Stimme war direkt hinter ihnen, und sie gehörte niemand anderem als Horus, dem Mann, der noch für Stunden besinnungslos sein musste. Nicole fuhr herum und wollte Kampfstellung einnehmen. Doch der unglaublich harte Schlag von Horus' Faust traf ihren Brustkorb, ehe sie überhaupt reagieren konnte. Sie prallte mit dem Rücken gegen einen Baum und sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Verzweifelt rang sie nach Atem. Rina hockte wie gelähmt auf dem Boden. Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen – die Panik in ihr wurde übermächtig. »Damit habt ihr nicht gerechnet, oder?« Horus' Lächeln war falsch, troff vor Häme und Überheblichkeit. »Das hattet ihr euch wirklich fein ausgedacht. Aber es funktioniert wohl nur bei einem von euch – einem schwachen Menschen. Bei einem wie mir sieht die Sache anders aus.« Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Als er schließlich in ein brüllendes Gelächter ausbrach, da sah die halb bewusstlose Nicole das mächtige Gebiss mit den hervorspringenden Reißzähnen. Nur mit Mühe behielt Horus sein menschliches Äußeres bei. Der Wolf in ihm drängte mit Macht nach vorne. Nicoles harter Fußtritt hatte den Wolfsmenschen nur kurz außer Gefecht setzen können. Sie hatte ihn unterschätzt. Was für ein Fehler! Zamorra, jetzt könnte ich deine Hilfe brauchen. Nicole spürte, wie ihr die Sinne schwanden. Sie würde ihren eigenen Tod nicht bewusst erleben. Besinnungslos sank sie ganz auf den Waldboden nieder. Einige der Söldner, die eben ahnungslos diese Stelle passiert hatten, waren durch den Lärm aufmerksam geworden. Horus deutete auf die blonde Frau. »Bringt sie in die Kirche. Aber unauffällig! Dort schließt ihr sie irgendwo ein und bewacht sie. Lasst euch nicht von der Papstgarde erwischen. Wenn der Frau etwas passiert – oder wenn sie euch entkommt –, dann bekommt ihr es mit mir persönlich zu tun. Los jetzt!« Die Wolfsmenschen beeilten sich, diese Befehle schnellstens auszuführen. Einer wies auf die zitternde Rina. »Und sie?« Horus machte eine unwillige Handbewegung. »Von ihr habe ich nicht gesprochen, oder? Sie bleibt hier. Keine Fragen mehr.« Der
Mann beeilte sich, den Anschluss an die anderen nicht zu verlieren, die Nicole bereits in Richtung Kirche trugen. Horus' Lächeln traf Rina wie eine Speerspitze, die man ihr tief ins Herz rammte. »Nun, da wären wir beide ja endlich alleine. Ich denke, wir machen da weiter, wo deine entzückenden Knie mich vorhin so unsanft unterbrochen haben.« Brutal riss er die junge Frau vom Boden hoch und fetzte ihr das dünne Kleid vom Körper, das sie sich im Haus übergeworfen hatte. Nur wenige Zentimeter trennten ihre Gesichter voneinander. »Umdrehen und bücken, Täubchen.« Seine freundliche Stimme hallte wie blanker Hohn in ihren Ohren wider. Dann schrie sie vor Schmerz auf, als er in sie eindrang. Nie zuvor hatte Rina eine solche Brutalität verspüren müssen. Doch es war ja auch kein Mensch mehr, der sie da besprang. Seine gierigen Hände pressten ihre Brüste – und erst als sie sah, dass dichtes Fell diese lüsternen Hände überwucherte, dass scharfe Krallen aus ihnen hervor ragten, da ahnte sie, dass es die Bestie war, die sie begattete. Rinas Schreie verhallten ungehört, als die spitzen Krallen breite Blutstreifen über ihren weißen Körper zogen.
Der Sklavenverkäufer öffnete das schwere Schloss. Seit Monaten ärgerte er sich darüber, dass diese Tür klemmte und wie ein altes Wagenrad quietschte, doch der Eigentümer des Hauses war der alte Metellus, und der kümmerte sich nie um die Beschwerden seiner Mieter. Einmal hatte er sogar den Plan gefasst, sich an den Sohn des alten Mannes zu wenden, doch einem wie ihn, dessen Berufsstand nicht gerade zu den angesehensten zu rechnen war, würde man kaum eine Audienz bei einem Bischof gewähren. Also würde er sich so lange ärgern, bis ihm der Kragen platzte … und er den Mangel auf eigene Rechnung beheben ließ. Zu gerne hätte er sein Geschäft in einem eigenen Gebäude betrieben, doch so gut lief es zurzeit einfach nicht. Er konnte kein Geld zur Seite legen, zu-
mal er gut leben wollte … Und dazu musste er immer das Ohr nahe am Kunden haben. Was die Gerichte ihm in letzter Zeit an Ware geboten hatten, war auch nicht berauschend gewesen. Also musste er sich auf dem freien Markt eindecken. Heute am frühen Vormittag wollte er sich mit einem Kapitän treffen, der ein paar hübsche Sklavinnen anzubieten hatte. Das würde ihn einiges kosten, doch er hatte da seine ganz bestimmten Abnehmer … Dass ihm die ganze Zeit über zwei Schatten gefolgt waren, war dem Mann völlig entgangen. Zu sehr beschäftigte er sich mit dem, was er heute alles erledigen musste. »Wenn du schreist, bist du tot.« Die Aussage war knapp formuliert, und sie ließ keine Gegenfrage zu. Der Sklavenhändler erstarrte zur Salzsäule. Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Typisch – jetzt hatte sie nicht geklemmt … Eine Fackel wurde entzündet und zeigte ihm zwei Männer, in deren Händen viel zu lange und zu scharfe Schwerter lagen, als dass er auch nur den kleinsten Versuch wagen konnte, sich zu wehren. Besonders mutig war er noch nie gewesen. Seiner Meinung nach machte sich das dadurch bezahlt, dass er immer noch lebte. Andere ruhten längst sechs Ellen unter der Erde Roms, weil sie sich mit Dieben und Schlägern angelegt hatten. Er hatte nicht vor, ihnen so bald zu folgen. »Ich schreie ganz sicher nicht. Wollt ihr Geld? Viel habe ich nicht hier. Meine Einnahmen gebe ich immer zur Bank, ich …« Mit einer Handbewegung schnitt ihm einer der Eindringlinge das Wort ab. Der Sklavenhändler bemerkte im Schein der Fackel, dass er um seinen Hals eine Kette mit einem Amulett trug. Er war kein Fachmann für Schmuck, doch dass es sich hier um ein sehr ausgefallenes Stück handelte, erkannte er auf Anhieb. Seltsam, worauf man achtete, wenn man zwei Schwertspitzen vor dem Bauch hatte. »Kein Geld, nur eine Auskunft.« Irgendwie kamen die beiden ihm bekannt vor. Möglich, dass er sie hier als Sklaven verkauft hatte. Ganz sicher war er nicht. Er sah so viele Gesichter … Er konnte sie sich nicht alle einprägen. Der Bursche sprach weiter. »Gestern hast du zwei Frauen ver-
kauft.« »Pah, was glaubst du, wie viele Frauen ich …« Erneut stoppte ihn die Handbewegung. Es war wohl besser, erst einmal zuzuhören. Wer das Schwert hatte, der durfte als erster reden – das war die Regel. »Die eine war rothaarig, die andere hatte fast gelbe Haare. Beide sind ausgefallene Schönheiten. Wohin wurden sie verkauft. Und rede nicht um den Brei herum! Wir haben es eilig.« Die Spitze seiner Waffe drückte eine kleine Delle in den Seidenwams des Händlers. »Ich erinnere mich. Und wenn ihr danach geht, bekommt ihr sehr gerne Auskunft von mir.« Keiner der beiden wollte ihm eine Zusage machen, also redete er weiter. »Zumal ich für beide noch kein einziges Goldstück gesehen habe. Und wahrscheinlich werde ich das auch nie. Es ist eine Schande. Aber manche glauben, ich mache das hier zum Vergnügen …« Die Delle im Samt wurde ein wenig größer. »Ist ja schon gut. Ich rede ja. Die beiden gingen an das Haus Metellus. Solltet ihr den alten Metellus sehen, dann erinnert ihn bitte daran, dass er noch Schulden bei mir hat. Die beiden hätten einen ganzen Batzen eingebracht. Aber bei den Metelli fragt man nicht nach dem Preis – sie sind zu mächtig, versteht ihr?« Der zweite Kerl, ein hagerer Mann, der sicher bereits älter war, als der erste Anschein verriet, konnte auch sprechen: »Wo ist dieses Haus?« »Ihr kennt euch in Rom wohl nicht gut aus, was?« Er entsann sich der Schwertspitze, die ihn nach wie vor kitzelte, und ergänzte hastig: »Geht zum Marsfeld. Und dort sucht ihr das Haus, das mit einem eigenen Wald umgeben ist. Luxus pur, aber Geld und Gold spielen dort keine Rolle. Auf diese Weise ist der Sohn des Alten wohl auch zum Bischof geworden, sagt man.« Die eigenartigen Einbrecher sahen einander vielsagend an. Dann nickte derjenige mit der Kette dem Händler zu. »Gut, und nun müssen wir dich fesseln. Ich glaube nämlich nicht so richtig, dass wir bei dir um Verschwiegenheit bitten können, nicht wahr?« Der Händler zuckte mit den Schultern. Sie würden ihm ohnehin nicht glauben, was er auch sagen und versprechen mochte.
Kurz darauf war er wie ein Paket verschnürt. Die Männer verschwanden wie sie gekommen waren: wie Schatten. Die große Tür schlossen sie von außen ab, damit man den Gefesselten nicht so schnell entdecken konnte. Kaum zu glauben, aber auch dabei hatte das vermaledeite Ding nicht ein einziges Mal gequietscht. Man konnte sich eben auf nichts mehr verlassen …
Zamorra und Pater Aurelian näherten sich dem Haus Metellus von der Rückseite her. Es schien sich niemand in der riesigen Villa zu befinden. »Ich habe noch nie gehört, dass irgendjemand ein solches Anwesen vollkommen unbewacht lässt. Das ist mehr, als man mit Gottvertrauen erklären könnte.« Aurelian gab sich die ganze Zeit über recht wortkarg. Nach wie vor hatte ihm Zamorra keine Unterstützung zugesagt. Wenn Aurelian die Machtübernahme der Wölfischen verhindern wollte, dann war er auf sich allein gestellt. Zamorra hatte nur ein einziges Ziel – Nicoles Rettung. Dass seine Zweifel an der Berechtigung des Imperiums der Wölfe von Minute zu Minute wuchsen, musste er Aurelian ja nicht auf die Nase binden. Sie haben die Geschichte manipuliert, gelöscht, was ihnen nicht in den Kram passte. Was nicht sein durfte, das hatte eben niemals existiert. Das konnte er nicht gutheißen. Doch berechtigte ihn das, hier einzugreifen? Zamorras Hand streichelte über Merlins Stern. Die Silberscheibe verhielt sich inaktiv. Beinahe so, als hätte man sie in eine dicke Watteschicht gewickelt. Warum sollte sie auch eine Ausnahme machen? Nach wie vor spürte Zamorra diesen Mentalblock, der ihn immer mehr an der Wahrhaftigheit dieser Epoche zweifeln ließ. Es fiel ihm kein passenderer Begriff dazu ein. Vorsichtig waren sie in das Haus eingedrungen. Sie hatten sich getrennt – Aurelian durchsuchte die ebenerdigen Räume, Zamorra nahm sich die erste Etage vor. In einem der Zimmer hatten offenbar zwei Frauen gewohnt. Der Jäger schloss die Au-
gen und konzentrierte sich. Da war ein Hauch in der Luft, kaum wahrnehmbar, doch er konnte ihn erahnen. Nicoles Parfüm? Nach dem, was sie in den vergangenen Tagen hier durchgemacht hatten, konnte davon nicht mehr viel an ihr haften. Doch jeder Mensch besaß einen Eigengeruch, sein ganz persönliches Parfüm. Ja, er war sicher, dass seine Gefährtin vor nicht sehr langer Zeit in diesem Raum gewesen war. Einen Augenblick lang dachte er daran, mit Hilfe von Merlins Stern eine Zeitschau durchzuführen, doch das Amulett würde sicher nicht reagieren. Aurelians Entsetzensschrei riss Zamorra aus seinen Gedanken. Mit langen Sätzen hastete er die Treppe hinunter. Der Pater stand in der geöffneten Tür am Ende des Korridors. »Es … es ist entsetzlich.« Zamorra konnte nur nicken, als er die völlig zerfetzte Leiche sah. Ein rituelles Opfer? Er schüttelte den Kopf und ging neben dem Toten in die Hocke. »Schau dir die Kleidung an, Aurelian. Feinste Seide, Samt, Brokat. Und der Schmuck.« Er deutete auf die Ringe an den blutbesudelten Fingern des Leichnams. Viel konnte man nicht mehr erkennen, doch es handelte sich um einen Mann. Seine schlohweißen Haare, die Runzeln auf den Handrücken, all das deutete auf einen sehr alten Menschen hin. »Er war ganz sicher kein armer Mensch.« Zamorra zögerte. »Vielleicht sogar der Hausherr selbst? Seine Kleidung ist irgendwie … schau dir die Schuhe an. So etwas trug man in dieser Zeit eher im Haus, nicht auf der Straße. Er hat hier gelebt. Das kommt mir vor, als hätte hier irgendwer seine Zelte abgebrochen und sich bei dieser Gelegenheit gleich einer Altlast entledigt.« Pater Aurelian nickte. Von weit her drang Glockengeläut zu ihnen. Zunächst nur ganz leise, dann setzten weitere Glocken ein. Aurelian ging zu einem der Fenster und lauschte hinaus. »Was für einen Tag haben wir heute? Es scheint, als würden alle Glocken Roms zur Messe rufen. Wenn überhaupt, dann hat es so etwas nur an hohen Feiertagen gegeben. Oder wenn ein hoher kirchlicher Würdenträger ernannt werden sollte.«
Zamorra kam aus der Hocke hoch. »Bedeutet das …?« Aurelian nickte bedächtig. »Ja, Papst Gregor wird anwesend sein. Er wird ganz sicher die Papstmesse im Petersdom halten.« Die Blicke der ehemaligen Freunde und Kampfgefährten trafen sich. Etwas wie eine alte Verbundenheit war plötzlich wieder da, als wäre sie niemals fort gewesen. Es bedurfte keiner Worte mehr. Sie wussten beide, was sie zu tun hatten. Sie stürmten aus der Villa heraus. Der kleine Wald, durch den der künstlich angelegte Pfad führte, nahm die Männer auf. Es war ein seltsames Rascheln, das Zamorra stoppen ließ. Zwischen den Bäumen bewegte sich irgendetwas. Als er mit dem Schwert zwischen die Büsche fuhr, stiegen fünf oder sechs Raben in die Höhe. Auch Aurelian war stehen geblieben. Vorsichtig drangen sie weiter vor. Zamorra stöhnte laut auf, als er sah, aus welchem Grund die Vögel sich hier befunden hatten. »Rina … nein.« Aurelian flüsterte die Worte, als dürfe er die junge Frau nicht aufwecken. Sie war nur an ihren herrlichen roten Haaren zu erkennen. Aber diese befanden sich nun nicht mehr auf ihrem Kopf. Man hatte sie regelrecht skalpiert. In Fetzen gerissen, lag die Kopfhaut mitsamt den Haaren verstreut umher. Der Körper der Frau wies kaum eine unversehrte Stelle auf. In diesem Augenblick begann Zamorra, die Wölfischen wirklich zu hassen. Mit zitternden Beinen kniete er neben dem nieder, was einmal eine wunderschöne Frau gewesen war. Entsetzt zuckte der Jäger zurück, als er das leise Stöhnen aus dem aufgequollenen Mund vernahm. Rina lebte noch. Ganz dicht brachte er ein Ohr an ihren Mund heran. »Zamorra … Nicole ist … der Dom. Sie wollen …« »Nicht sprechen, Rina. Ich schwöre dir, ich werde das verhindern. Wer hat dir das angetan?« Er konnte nur mit Mühe ihre Antwort verstehen. Mehr Worte würde sie nie mehr sprechen. Die Glocken riefen nun eindringlich und unüberhörbar zur heiligen Messe.
Zamorra zog Pater Aurelian am Arm auf den Weg zurück. »Wir können nichts mehr für sie tun. Komm, wir müssen verhindern, dass noch ein weiterer Mord geschieht.« »Hat sie dir den Namen genannt?« Aurelians Stimme klang verzerrt, als wäre ihm jedes Wort zu viel. Zamorra nickte und verfiel in leichten Trab. Ja, das hatte sie. Und wenn er Nicole in Sicherheit wusste, dann würde dieses Tier büßen. Er hatte sich geschworen, dem Wölfischen den Tod zu geben, den man Horus nannte.
6 Zeit unter Glas � »Im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz.« Friedrich Nietzsche deutscher Philosoph und klassischer Philologe (15.10.1844 in Röcken – 25.8.1900 in Weimar) Centurio Oktavianus Lupomanus musste unumwunden zugeben, dass der Petersdom ein beeindruckendes Bauwerk war. Vielleicht sogar das Beeindruckendste überhaupt. Nur noch wenig Zeit würde vergehen, bis er endlich der Bestimmung zugeführt wurde, die seiner Schönheit wirklich angemessen war. Das Imperium der Wölfe würde aus ihm einen Ort der Zusammenkunft, der Gemeinsamkeit und Einigkeit unter allen Wolfsmenschen machen. Oktavianus verhielt sich so unauffällig, wie es ihm nur möglich war. Er trug seine Galauniform. Sie war bei weitem nicht so bequem und für einen Kampf geeignet, wie es die normale Kluft der Legion war, doch an einem Tag wie diesem kam kein Angehöriger der Legion umhin, sie zu tragen. Der Centurio zog die Blicke einiger Papstgardisten auf sich. Es war alles andere als stumme Freundlichheit, die er darin lesen konnte. Die Garde und die Legion waren seit jeher verfeindet. Die eine wie die andere Seite lauerte geradezu auf Übergriffe in den festgelegten Kompetenzen der beiden Truppen. Immer wieder kam es zu unbeabsichtigten Aufeinandertreffen. Meist fanden sie in irgendwelchen Gasthäusern statt, die am Tag darauf ziemlich renovierungsbedürftig waren. Oktavianus hatte es einmal knapp sechs Monate im Arrest verbracht, weil er im Rausch fürchterlich unter den Gardisten gewütet
hatte. Besonders entbehrungsreich war die Zeit in der kargen Zelle allerdings nicht gewesen, denn seine Kameraden – und selbst der Kommandant – hatten ihn illegaler Weise mit Nahrung und anderen Annehmlichkeiten versorgt. Bis hin zu dem Besuch zweier Huren. Und in den Nächten, wenn die Scheibe des Mondes durch die Gitterstäbe hindurch geleuchtet hatte, fand er die Tür seiner Zelle stets unverschlossen. Es gab viele Wolfsmenschen in der Legion, die ihn nicht im Stich ließen. Oktavianus machte um die Gardisten einen weiten Bogen. Ärger durfte es jetzt keinen geben. Nicht mehr lange, dann sah das völlig anders aus. Ein Lächeln der Vorfreude lag um seinen Mund. Der Dom füllte sich zusehends. Niemand wollte sich die Ernennung des neuen Kardinals entgehen lassen. Zudem gab es Gerüchte, dass Papst Gregor eine Verordnung in Bezug auf seine Kalenderreform kundtun wollte. Ganz vorne, in der ersten Reihe nahe des Papstaltars, der ganz aus Bronze gegossen war, saß der Mann, der heute Kardinal Jakobus beerben sollte. Oktavianus hatte die ganze Geschichte nur am Rande mitbekommen, denn da es um einen hohen Kirchenmann ging, war selbstverständlich die Garde des Papstes zuständig gewesen. Er wusste nur, dass dieser Jakobus einem Mord zum Opfer gefallen war. Niemand wusste bis heute, wer die Drahtzieher des Anschlages waren, doch den Mörder hatte man schnell geschnappt und hingerichtet. So ging das nun einmal – der Eine trat ab, wenn auch nicht eben freiwillig, der Nächste stand schon bereit, sein Amt zu übernehmen. Wer konnte schon sagen, ob der designierte Kardinal nicht selbst seine Hände in dem dunklen Spiel gehabt hatte? Wenn, dann hatte er den Blutlohn ganz umsonst ausgegeben, denn zu seiner Ernennung würde es nicht mehr kommen. Dafür würde der Centurio höchstpersönlich Sorge tragen. Es war nur den Gardisten gestattet, hier im Dom Waffen zu tragen, doch unter Oktavianus' Umhang wartete das kurze Breitschwert darauf, seine Arbeit zu verrichten. Im Namen des neuen Papstes – im Namen des entstehenden Imperiums! Auf dem Platz vor dem Dom hatte sich eine ungeheure Menschen-
menge versammelt. Wenn sie schon nicht alle der Messe beiwohnen konnten, dann wollten sie doch nicht den langen Einzug der Bischöfe versäumen, für die von den Gardisten eine breite Gasse durch die Leiber freigesperrt war. Noch war es nicht soweit. Noch ließen sich Bischöfe und der Papst Zeit. Oktavianus kontrollierte die Anwesenheit seiner Männer. Alle hatten sich an den vereinbarten Plätzen im Dom eingefunden. Jeder von ihnen konnte auf Oktavianus' Zeichen hin binnen Sekunden beim Papstaltar sein und Lupomanus die erforderliche Absicherung geben, wenn er sein blutiges Werk verrichtete. Dies alles zu planen hatte länger gedauert, als alle Beteiligten es sich vorgestellt hatten. Schlussendlich hatte Oktavianus die perfekte Positionierung der insgesamt dreizehn Verschwörer erarbeitet. Selbst Horus hatte ihm dafür Anerkennung gezollt. Horus … ihn hatte der Centurio bislang vergeblich gesucht. Kaum vorstellbar, dass er ausgerechnet an diesem Tag fehlen würde. Nein, das war undenkbar. Er würde sich sicher glänzend in Szene zu setzen wissen, denn darin war er ein wahrer Meister. Oktavianus fühlte, dass die Erregung in ihm zu wachsen begann. Er hatte gut daran getan, in der vergangenen Nacht auf die Jagd zu verzichten. Auf die Sekunde genau musste er heute explodieren, durfte sich nicht den geringsten Fehler erlauben. Er war bereit wie noch nie zuvor in seinem Leben. Die neue Zeit konnte beginnen.
»Hier kommen wir nicht durch, Zamorra.« Pater Aurelian hatte vollkommen Recht. Der Petersplatz platzte aus all seinen Nähten. Wenn der Papst persönlich an einer Messe teilnahm, dann strömten die Menschenmengen nur so herbei. Gregor schien äußerst beliebt zu sein. Schon jetzt sprach man von ihm als einem der großen Päpste, als dem Erneuerer, der sich für innerkirchliche Dinge ebenso einsetzte, wie für die Wissenschaft und die großen Bauvorhaben in der Stadt
Rom. Er selbst, so hieß es, lebte ein einfaches Leben ohne jeden Luxus. Doch die Unsummen, die er in Forschung und Architektur steckte, hatten die Finanzen der Kirche in arge Bedrängnis gebracht. Per Handzeichen gab Zamorra die Richtung vor. Der Lärm um sie herum machte eine halbwegs normale Verständigung nahezu unmöglich. Hinten herum, deutete der Jäger seinem Partner an. Wahrscheinlich war das sowieso die einzige Möglichkeit für sie, in den Dom zu gelangen. Ihre Schwerter hatten sie zwar unter Umhängen verborgen, doch wenn Zamorra sich nicht irrte, dann waren die Papstgardisten eine hellwache Truppe. Mit Waffen an ihnen vorbei in den Petersdom zu gelangen, hielt er für nahezu unmöglich. Vielleicht gab es ja einen Weg, der nicht so scharf kontrolliert wurde. Man musste ihn nur finden. Immer wieder trat das Bild der hingeschlachteten Rina vor Zamorras inneres Auge. Er mochte überhaupt nicht daran denken, dass Nicole … nein, das würde er zu verhindern wissen. Und dann würde er sich diesen Horus vornehmen. Habe ich mein ganzes Leben unter der Herrschaft dieser Bestien verbracht? War ich nichts anderes als eine willenlose Marionette, die sich nur einbildete, frei zu sein? Er konnte es sich nun überhaupt nicht mehr vorstellen, wie es gewesen war, der Jäger des Wolfsimperiums zu sein. Er war froh, dass ihm hier und jetzt die Muße fehlte, alle Details zu durchdenken, denn was er auch tun würde, es barg enorme Risiken und Unwägbarkeiten in sich. Er war entschlossen, die Wölfischen daran zu hindern, Nicole als Ritualopfer zu missbrauchen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass er dabei das Attentat auf den Christenpapst verhinderte, wurde mit jeder seiner Handlungen größer. Welche Auswirkungen musste das auf seine eigene Zeit haben? Wenn Nicole, Aurelian und er in das 21. Jahrhundert zurückkehrten – war dann dort alles anders? Würden sie nichts mehr so vorfinden wie sie es verlassen hatten? Zamorra drängte diese bohrenden Fragen in den Hintergrund seines Denkens zurück.
Erst einmal wollte er Nicole finden und gesund in die Arme schließen. Die Rückfront des mächtigen Doms war eine einzige Baustelle. Es gab Bauwerke, und darunter befanden sich natürlich die großen Kirchen des Erdballs, die nie ein wirkliches Bauende erleben würden. Der Vatikan hatte den Gläubigen eine möglichst perfekte und beeindruckende Vorderansicht geboten. Der Blick hinter die Kulisse war eher ernüchternd. Überall befanden sich Baugerüste, wohin Zamorra und Aurelian auch sahen. Manche von ihnen wirkten eher abenteuerlich als sicher. Einige waren schlicht und einfach eingestürzt. Überall lagen Steinhaufen, Sandberge – verstreutes Werkzeug und ein paar noch unbehauene Marmorblöcke rundeten das chaotische Bild ab. Die meisten der unzähligen kleinen Portale besaßen noch keine Tür. Wohin sie führten, ließ sich nicht erkennen. Doch Zamorra war sicher, dass sie nicht sonderlich stark bewacht wurden. »Achtung, Deckung.« Aurelian hatte den Mann zuerst bemerkt, der aus einem dieser finsteren Löcher kam, die wahrscheinlich ein Zugang zu den Katakomben darstellten. Die beiden Männer aus der Zukunft gingen hinter einem Marmorblock in Deckung. Wenn man jemanden suchte, dann waren Zufall oder Glück keine zwingend notwendigen Komponenten. Doch wenn zumindest eine von ihnen griff, gab es sicher keinen Grund, sich zu beschweren. So war es auch in diesem Fall. Der Mann war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Die edlen Pumphosen, das elegante Seidenhemd mit seinen Rücken an Ärmel und Kragen, die Samtweste – selbst das reichlich groß geratene Barett auf seinem Kopf … alles schwarz. Als er keine zwei Meter an Aurelian und Zamorra vorbei ging, die sich hinter ihrer Deckung nicht rührten, blieb er für einen Moment stehen. Mit einem seiner schwarzen Handschuhe wischte er Haare von seiner Weste. Sie mussten ihn stören, denn sie waren eindeutig nicht schwarz. Aurelian musste Zamorra an den Schultern halten, damit er sich nicht auf den Mann stürzte.
»Ruhig bleiben. Das sind Nicoles Haare. Also wissen wir nun zumindest schon einmal, wo wir nach ihr suchen müssen. Vielleicht hat er sie getragen? Dabei können die Haare an seine Kleidung gekommen sein. Entspanne dich, Zamorra.« Er wusste nur zu genau, was er da verlangte. Als der Mann endlich außer Sichtweite war, stürmten sie auf den Eingang zu, aus dem er getreten war. Sie konnten keinen Meter weit hinein sehen, denn dort war es stockdunkel. »Irgendwie hat der sich doch auch orientieren müssen, oder?« Zamorra tastete vorsichtig die Wände ab. Schnell fand er den eisernen Halter, der dort fest montiert war. Eine noch beinahe vollständig erhaltene Fackel ruhte in ihm. Nur mit großer Kraftanstrengung schaffte es Zamorra, sie magisch zu entzünden. Ein Trick, der ihm immer als kinderleicht erschienen war. Hier stellte er nun die äußerste Spitze seines Könnens dar, ließ ihn schwer nach Luft ringen. Diese magische Blockade hatte sich um keinen Deut abgeschwächt. Automatisch ging sein Griff zu Merlins Stern – und Zamorra stöhnte auf. Die Silberscheibe war verschwunden! Aurelian sah Zamorras Griff ins Leere. »Hat Nicole das Amulett gerufen?« Der Jäger nickte. Es musste so sein, denn es war praktisch unmöglich, dass sich Merlins Stern von der Kette lösen konnte. Ein Verlieren schied für ihn aus. Und wenn Nicole den Ruf ausgesandt hatte, dann musste sie in höchster Not sein. Zamorra zögerte keinen Wimpernschlag länger. Mit weiten Schritten legte er Meter um Meter in den Gang hinein zurück, der leicht abfallend angelegt war. Schließlich erreichten sie einen Treppenabsatz, dann einen zweiten. Der Geruch erinnerte an einen Friedhof, feucht und modrig hing er in der dicken Luft, die sich nur schwer atmen ließ. Sie befanden sich tief im Bauch des Petersdoms. An den Wänden hingen in regelmäßigen Abständen brennende Fackeln. Die Männer passierten Nischen und vollkommen leer stehende kleine Räume, die sich links und rechts von ihnen in den Wänden befanden. Das Läuten der Kirchenglocken drang auch bis hier in die Tiefe
vor, ebenso ein Rauschen und Klopfen, Geräusche, die Zamorra zunächst nicht einordnen konnte. Dann wurde ihm bewusst, was er da hörte. Es waren die Stimmen und das Getrampel der unzähligen Menschen, die sich in der Kirche versammelt hatten, um der Messe beizuwohnen. Selbst durch die dicken Mauern konnte man es noch vernehmen. Sie mussten sich also direkt unter dem Kirchenschiff befinden. »Schau da vorne.« Aurelian wies auf eine Tür, durch die ein schwaches Leuchten in den Gang drang. Ein grünliches Leuchten, wie es Merlins Stern erzeugte, wenn er seinen Träger gegen schwarzmagische Angriffe zu schütten versuchte! Zamorra hielt sich mit der provisorisch eingesetzten Holztür nicht lange auf. Ein heftiger Fußtritt reichte aus, um das dünne Holz zum Bersten zu bringen. Der Raum war relativ gut ausgeleuchtet. Zamorra sah vier Männer in festlichen Gewändern. Drei von ihnen versuchten vergeblich, sich dem grünen Leuchten zu nähern, es zu durchbrechen. Immer wieder zuckten sie wie unter Stromschlägen zurück, schüttelten sich, starteten einen neuen Versuch. Der vierte Mann stand etwas abseits und schrie die anderen mit überschnappender Stimme an. Er war mit einer bodenlangen Kutte aus weißer Seide bekleidet, auf deren Rückenpartie ein blutroter Wolfskopf prangte. »Das ist nur schwache Magie. Sie kann euch nicht wirklich aufhalten. So beeilt euch doch! Wir müssen sie nach oben bringen.« Die Zeit schien ihm davon zu laufen. Durch das schwache Leuchten hindurch konnte Zamorra deutlich erkennen, wen das Amulett zu schützen suchte. Nicole hielt die Silberscheibe mit beiden Händen in Richtung der Anstürmenden. Man hatte sie in eine Art Kittel aus weißem Leinen gesteckt, der ebenfalls das Wolfssymbol trug. Als die Tür in Tausend Stücke zerbrach, wirbelten die Männer zu den Eindringlingen herum. Das wutverzerrte Gesicht des vierten Mannes taxierte Zamorra und Pater Aurelian voller Hass. Niemand musste Zamorra sagen, wen er da vor sich hatte. Am Hals und den Händen des Mannes klebte noch Blut, das nur notdürftig wegge-
wischt worden war. Es war Rinas Blut, da war Zamorra sicher. Zamorra und Nicole wechselten nur einen einzigen Blick miteinander – dann war beiden klar, was nun zu geschehen hatte. Nicole wechselte die Taktik – sie konzentrierte den schützenden Schirm des Amuletts nicht mehr auf alle Angreifer, sondern nahm sich gezielt einen von ihnen vor. Mit einem Satz war sie bei ihm. Für einen Augenblick schien das Leuchten den Mann zu umfangen, doch dann flog er wie von einer unsichtbaren Faust getroffen ungebremst an die gegenüber liegende Wand. So, wie er auf dem Boden lag, war es ziemlich eindeutig, dass der Aufprall ihm das Genick gebrochen hatte. Neben Zamorra schien Pater Aurelian zu explodieren! Mit einem Ausfallschritt drang er auf den nächsten Mann ein. Die Bewegung seiner Klinge war so überraschend und schnell, dass der andere ihm nicht auszuweichen vermochte. Tief bohrte sich das Schwert in die Kehle des Gegners hinein. Der dritte Wölfische stürzte sich auf Zamorra. Seine Augen verrieten sein jähes Entsetzen, als die silberne Scheibe mit einem Mal in der Hand seines Gegenübers auftauchte. Zamorra hatte Merlins Stern zu sich gerufen. Das Schutzschild bremste den hoch gewachsenen Mann jäh, und Zamorras Schwert tat seine Arbeit gut. Die Drei waren viel zu überrascht von der unerwarteten Gegenwehr gewesen – keiner von ihnen hatte seine Chance darin gesucht, sich in seine Wolfsgestalt zu verwandeln. Als Menschen waren sie angreifbar und leicht zu besiegen gewesen. Horus machte diesen Fehler nicht! Sein Gebrüll erfüllte den Raum, als er seine wahre Gestalt annahm. Mit einer einzigen Bewegung riss er sich das Priestergewand des Wolfskultes vom Leib, das ihn in seinem Bewegungsdrang hinderlich war. Seine mörderischen Reißzähne blitzten im Schein der Fackeln auf. Zamorra ließ nicht zu, dass der Werwolf die Zeit zu einem ersten Angriff bekam. Noch war die volle Kraft von Merlins Stern nicht erwacht – noch lag die Magie des Amuletts zu großen Teilen unter dem Block, den Zamorra hier von der ersten Sekunde an verspürt hatte. Doch die Silberscheibe kämpfte dagegen an. Zamorra fühlte,
wie sie von Sekunde zu Sekunde an der Schicht kratzte, die hier alles zu umschließen schien. Wie eine Glasscheibe, durch die hindurch man sich selbst agieren sah. Wieder kam Zamorra dieses Bild in den Sinn, und nur mit Mühe unterdrückte er einen Schwindel, als er einen Moment lang unter starkem Realitätsverlust zu leiden hatte. Er konnte nicht warten, bis Merlins Stern zu voller Kraft erwacht war. Er musste jetzt handeln. Der silberne Blitz, der sich aus dem Amulett löste, hatte nur einen Bruchteil der Stärke, die er hätte haben müssen, um durchschlagend erfolgreich zu sein. Doch er reichte aus, um die Bestie für den Augenblick zu stoppen. Mit einem Wutschrei blickte Horus an sich hinunter – sein Brustfell brannte. Ein hässliches schwarzes Loch hatte sich in seinen Wolfskörper gebrannt. Sein Hass auf diesen Menschen kannte keine Grenzen mehr und ließ ihn jede Vorsicht vergessen. Er wollte diesen Mann nur noch mit seinen Klauen zerfetzen! Hoch aufgerichtet stürmte er nach vorne. Ein beißender Schmerz ließ ihn herumfahren. Der Gestank von verbranntem Fell wurde unerträglich. Verblüfft registrierte er, dass diese so gefährliche Silberscheibe nun wieder in der Hand der Gelbhaarigen lag. Das war Zauberei … Der nächste Blitz schoss auf ihn zu, blendete seine Augen für Sekunden als er in seine rechte Schulter einschlug. Verwirrt und voll Schmerzen taumelte er hin und her, unschlüssig, auf wen er sich nun stürzen sollte. Das Wechselspiel zwischen Zamorra und Nicole hatte funktioniert. Der Jäger beendete die Sache auf seine ganz spezielle Weise. Die lange Klinge seines Schwertes beschrieb einen Halbbogen. Horus erstarrte, war nicht mehr fähig, sich auch nur im Ansatz zu bewegen. Seine Blicke wanderten zwischen dem Mann und seinem Armstumpf hin und her. Seine Klauenhand lag sauber abgetrennt auf dem Boden … die einzelnen Glieder bewegten sich noch, öffneten und schlossen sich, als wollten sie etwas greifen. Dunkelrotes Blut ergoss sich in den Raum, dessen Wände vom Wimmern des grauen Wolfes widerhallten. In Zamorras Augen lag nur Hass und Kälte. »Das ist für Rina, du
verfluchte Bestie!« Erneut beschrieb das Schwert einen Bogen, doch dieses Mal waagerecht und mit der ganzen Kraft zweier Hände geführt. Es gab ein hässliches Geräusch, als die Klinge Fell, Haut, Fleisch, Adern und Sehnen glatt durchtrennte. Das Haupt des Geköpften rollte quer durch den ganzen Raum, bis eine Wand seinen makaberen Weg endlich stoppte. Zamorra erwachte wie aus einer blutgetränkten Trance. »Los, nach oben. Noch können wir das Attentat vielleicht verhindern.« Als er das Amulett wieder an der Kette um seinen Hals befestigte, sah Nicole ihn an. »Er hat Rina getötet?« Zamorra nickte hart. »Ja, frag besser nicht weiter. Nicole, ich habe mich entschieden.« Sie wusste nur zu gut, was er sagen wollte. Ihre Welt, ihre eigene Realität, in der sie sich ihr ganz eigenes Leben aufgebaut hatten – in der sie mit dem Imperium der Wölfe gelebt und zusammengearbeitet hatten – sie durfte nicht so entstehen! Ganz gleich, welche Konsequenzen das für sie haben mochte. Nicole legte ihre Hand auf Zamorras Mund. »Du musst nichts sagen. Ich denke genau wie du. Also los, lasst uns endlich handeln.« Die drei Menschen stürmten zurück in den Gang. Es musste ein Weg von hier aus in das Kirchenschiff führen. Es musste einfach, denn wenn das nicht der Fall war, konnten sie nicht mehr verhindern, was dort in diesen Augenblicken begann …
Centurio Lupomanus hatte keinen Blick für den hohen Baldachin mit seinen gedrehten Säulen, der den Papstaltar überspannte. Seine Augen hafteten unverrückbar an der kaum erkennbaren kleinen Tür, die hinter dem Altar zu finden war. Es konnte nur noch wenige Sekunden dauern, bis der Papst dort erschien. Die Anzeichen waren eindeutig. Die Garde befand sich in allerhöchster Anspannung. Die Bischöfe hatten längst nach ihrem Einzug die angestammten Plätze eingenommen, und der neu zu ernennende Kardinal kniete seit geraumer Zeit unterwürfig auf einem vergoldeten Schemel direkt vor dem Bronzealtar.
Der Augenblick rückte unweigerlich näher. Oktavianus konnte ihn bereits ahnen, riechen … seine Sinne waren zum Bersten gespannt. Das Blut pochte hinter seinen Schläfen. Es kostete ihn alle Kraft, sein Wolfs-Ich noch unter Kontrolle zu halten. Nicht mehr lange … Aus den Augenwinkeln heraus konnte er sehen, wie sich seine Wolfs-Legionäre perfekt positionierten. Nun lag alles an ihm. Ausschließlich an ihm! Noch immer rührte sich nicht hinter dem Altar. Oktavianus musste an den Mann denken, der mitten zwischen den Bischöfen saß. Wie mochte Lupus Metellus sich jetzt in dieser Sekunde fühlen? Der Centurio versuchte den Bischof zu entdecken, doch von seinem Platz aus war das kaum möglich. Lupus I. – irgendetwas gab es, das zwischen dem Bischof und ihm, dem kleinen Centurio lag. Vom Rang in der her Bruderschaft trennten sie Welten, doch heute waren sie sich so nahe wie nie zuvor. Oktavianus würde zum Papstmacher werden … auch wenn es sicher Horus war, der Lupus offiziell dazu ausrufen würde. Oktavianus konzentrierte sich. Seine Nackenhaare kribbelten unerträglich, die Anspannung konnte er beinahe als körperlichen Schmerz fühlen. Dann war es soweit. Die kleine Pforte öffnete sich und zwei Würdenträger betraten das Kirchenschiff. Links und rechts vom Altar blieben sie stehen. Auf sie musste der Centurio besonders achten, wenn er den Papst angriff, denn er war sicher, dass diese beiden nicht wirklich Kirchenmänner waren. Es wurde schon lange gemunkelt, dass sich Gregor nicht mehr ausschließlich auf den Schutz seiner Garde verließ. Zu viele Würdenträger hatten in den letzten Jahren einen gewaltsamen Tod erlitten. Es waren gewalttätige Zeiten, in den nur noch Macht und Geld regierten. Niemand konnte garantieren, dass man sich davor scheute, den Pontifex selbst aus dem Weg zu räumen. Wie richtig sie damit doch lagen … Mit schlurfenden Schritten trat Papst Gregor XIII. an den Altar. Oktavianus sah einen müden alten Mann, dem dieser offizielle Auftritt anscheinend zu viel war. Gregor war 80 Jahre alt – ein wahrhaft biblisches Alter. Sein manischer Hang zur Wissenschaft, zu allem
Neuen, kostete ihn so viel an Kraft, dass für sein Amt oft nicht mehr viel davon übrig blieb. Mit einer segnenden Handbewegung begann er die Liturgie, die in der Ernennung des neuen Kardinals enden sollte. Doch es gab noch etwas, das er heute den Gläubigen verkünden wollte. Dieses war der erste Tag des durch ihn geschaffenen Kalenders. Der Gregorianische Kalender – er merzte Fehler aus, die sich in die bislang gültige julianische Zeitrechnung eingeschlichen hatten. Von alledem wusste der Centurio Oktavianus Lupomanus nichts. Es hätte ihn auch nicht interessiert. Er sah den wohl wichtigsten Augenblick in seinem Leben nun gekommen. Er handelte und zog sein Schwert! Das vereinbarte Zeichen! Es hatte begonnen …
Zamorra, Nicole Duval und Pater Aurelian hatten in den verzweigten Gängen des Petersdoms jede Orientierung verloren. Es gab nur eine Richtung – nach oben. Den Weg zurück zur Rückseite des Doms, dann wieder um das ausladende Gebäude herum und irgendwie durch die Menschenmassen zum Hauptportal zu nehmen, war illusorisch. Selbst wenn sie es schaffen würden, noch rechtzeitig in das Kirchenschiff zu gelangen, hätten sie spätestens dort scheitern müssen. Die päpstliche Garde war allgegenwärtig. Die einzige Möglichkeit war, direkt in der unmittelbaren Nähe des Pontifex aufzutauchen. Zamorra verließ sich nicht mehr auf Glück und Zufall. Das waren Dinge, die man nicht zu oft strapazieren sollte. Tat man es doch, würden sie irgendwann einmal komplett verschwunden sein. Also versuchte er, sich auf sein Gehör zu verlassen. Immer wieder stoppte seinen Lauf, hieß die anderen, still zu sein und lauschte intensiv. Die Mischung aus Klopfen und Rauschen, die er schon vorhin vernommen hatte, war deutlich intensiver geworden. Beim nächsten Halt klang sie um einiges dumpfer, war also weiter entfernt.
Zamorra drehte um, ging bis zur nächsten Kreuzung des Ganges, der in seinem Grundriss einem Labyrinth ähnlich sehen musste. Dann schlug er eine andere Richtung ein. »Die Zeit läuft uns davon, Zamorra.« Aurelian konnte seine Nervosität nicht mehr verbergen. Doch der Jäger ließ sich davon nicht beirren. Drei Abbiegungen später stieß Zamorra einen triumphierenden Schrei aus. Ihr Ziel war greifbar nahe gerückt. Im Gang vor ihnen lagen zu beiden Seiten Türen, die fest verschlossen waren. Bis auf eine. Zamorra wäre beinahe in den Gardisten hinein gelaufen, der direkt hinter dem Eingang stand. Der Mann fing sich rasch, und seine Hellebarde senkte sich bedrohlich den Eindringlingen entgegen. Zamorra war schneller. Mit der flachen Klinge erwischte er den Mann an der Schläfe und schickte ihn ins Traumreich. Pater Aurelian sah ihn vorwurfsvoll an. Zamorra schüttelte unwillig den Kopf. »Glaubst du, wir hätten jetzt die Zeit, dem Mann die Lage zu erklären? Und denkst du wirklich, er würde uns auch nur ein Wort davon glauben? Drei Fremden, die bewaffnet durch den Dom schleichen?« Aurelian antwortete nicht. Zamorra hatte natürlich Recht. Nicole war bereits durch den Raum gelaufen und stand neben der geöffneten Ausgangstür. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Gute acht Meter von ihr entfernt stand ein offenbar sehr alter Mann, der ihr den Rücken zukehrte. Seine Gewänder strotzten nur so vor Gold und Brokat. Und auf seinem Kopf thronte die Tiara, die Krone des Pontifex Maximus. Zamorra war rasch neben seiner Gefährtin. Sie hörte, wie er scharf die Luft einsog. »Ich fasse es nicht. Genauer konnten wir es nicht treffen.« Doch dann verfinsterte sich sein Gesicht schlagartig. Er sah die Bewegung, die in den vorderen Reihen der Gläubigen entstand. Wo viele Menschen versammelt waren, gab es immer Bewegung. Das war normal. Doch Zamorras Instinkt schlug Alarm. Ein gutes Dutzend Personen erhoben sich in derselben Sekunde von ihren Sitzen. Das war mehr, als man mit einem Zufall erklären konnte. »Die Attentäter!« Es war Pater Aurelian, der Zamorras Ahnungen aussprach. Sie waren genau in dem Moment gekommen, in dem die
Bruderschaft der Wölfe zuschlug. Wieder einmal blieb keine Zeit, um eine Strategie zu entwickeln. Mit einem Griff löste Zamorra Merlins Stern von der Halskette. Die silberne Scheibe strahlte jetzt eine enorme Wärme aus. Die direkte Nähe zu den von schwarzer Magie durchdrungenen Wölfischen intensivierte ihre Aktivität. Zamorra hoffte, dass das Amulett ihn nicht im Stich ließ. Nicole und Aurelian nickten dem Jäger zu. Dann sprang Zamorra in das Kirchenschiff hinein.
Die Wolfs-Legionäre rissen ihre verborgenen Klingen hervor. Das Geräusch von Metall, das gegen Leder rieb, war etwas, das nicht in eine Kirche gehörte. Ganz gleich, wie man auch zum Glauben stehen mochte, so war doch eines sicher: Wo im Namen einer Religion Waffen gezogen wurden, wo man sie gegen den Andersgläubigen richtete, dort musste der Sinn des Glaubens als Erstes sterben. Ganz gleich, um welche Religion es sich auch handelte. Doch Centurio Lupomanus war angefüllt mit wilder Entschlossenheit und Hass. Zwei Gardisten standen zwischen ihm und dem Pontifex der Christen. Oktavianus' Klinge traf hart und genau. Der Weg war frei. Zwei seiner Legionäre griffen die direkten Bewacher Gregors an. Die Männer waren bewaffnet, wie Oktavianus es bereits vermutet hatte. Und sie waren gute Kämpfer. Doch gegen die unbändige Kraft und den Siegeswillen der Wölfischen hatten sie keine Chance. Oktavianus hob sein Schwert, um den alten Mann vor sich zu töten. Etwas blendete ihn für den Bruchteil einer Sekunde und plötzlich drang ein heißer Schmerz in seinen rechten Arm. Er roch verbranntes Fell – sein Fell. Das Loch in seinem Oberarm war nicht groß, doch es lähmte ihn unverzüglich. Entsetzt sah er, wie die Klinge seiner kraftlosen Hand entfiel. Nein! Das kann nicht sein – darf nicht sein! Ein zweiter Blitz traf ihn direkt in den Oberschenkel. Hilflos wie ein Neugeborenes sackte er auf die Knie, blieb regungslos vor dem Bronzealtar liegen.
Wie durch einen silbernen Nebel hindurch erkannte er, was ihn da attackiert hatte. Er kannte diesen Mann. Doch wo hatte er ihn schon einmal gesehen? Als die gelbhaarige Frau neben seinem Widersacher auftauchte, fiel es Oktavianus wieder ein. Das Dorf, die Brücke. Zwei Männer, zwei Frauen. Dort hatte er ihn mit seiner Peitsche gezüchtigt. Und er hatte für einen kurzen Augenblick die Vision, dass er diesen Mann töten würde. Unter einem bunten Himmel. Irgendjemand fiel auf den Centurio. Als er sich befreien wollte, sah er, dass es einer seiner Männer war. Ein Schwerthieb hatte ihm halb den Kopf abgetrennt. Helles Blut strömte über den Centurio. Wolfsblut! Sekundenlang wurde ihm schwarz vor Augen. Das Chaos um ihn herum war unbeschreiblich. Er konnte sich nicht rühren, war hilflos, bewegungslos. Wir haben versagt. Einfach versagt. Er hatte keine Tränen. Nicht einmal Wut keimte in ihm auf. Da war einfach nur eine Leere, in der nur diese drei Worte existierten. Wir haben versagt … Centurio Oktavianus Lupomanus erwartete seinen Tod.
Zamorra sah im Sprung, wie die zwei Männer, die offensichdich die persönlichen Leibwächter des Papstes waren, den Pontifex mit ihren Körpern zu schützen versuchten. Zwei Legionäre griffen sie mit kräftig geführten Schwerthieben an. Die Leibwachen hatten keine Chance gegen die Kraft, die in den Armen der Angreifer steckte. Es waren Wölfische, die in Legionsuniformen steckten. Ehe er eingreifen konnte, sah er die direkte Gefahr, die dem Papst drohte, der zur Salzsäule erstarrt nach wie vor hinter dem Altar verharrte. Der Gedanke an Flucht schien dem alten Mann nicht zu kommen. Zamorra sah in das Gesicht des kräftigen Mannes, der mit erhobenem Schwert auf Papst Gregor zustürzte. Es war der Centurio, dessen Peitsche er zu spüren bekommen hatte. Die Zusammenhänge wurden ihm nun klar. Er war es, der Nicole und Rina gesehen und als Opfer ausgewählt hatte. Noch lagen einige Meter zwischen Zamorra und dem Papst. Schlagartig wurde ihm klar, dass er nicht mehr rechtzeitig bei dem
alten Mann sein konnte, um mit dem Schwert einzugreifen. Doch Merlins Stern griff mit silbernen Blitzen an! Und diese trafen punktgenau. Dem Centurio entglitt die Waffe, als sich der Energiestrahl in seinen Arm bohrte. Ein weiterer Treffer in ein Bein ließ ihn zu Boden gehen. Zamorra blieb keine Zeit, um sich weiter um dem Wolfsmann zu kümmern. Pater Aurelian und Nicole waren zur Stelle und schirmten den Papst ab. Die Verwirrung im Dom steigerte sich schlagartig. Doch noch immer schien die Papstgarde den Ernst der Situation nicht begriffen zu haben. Zamorra sprang auf den Altar. »Ein Attentat! Man will den Papst töten!« Anscheinend hatte es genau dieser Worte bedurft, denn sie wirkten wie ein Startsignal. Sekunden später war der Papst von einem undurchdringlichen Kreis der Gardisten umringt, die ihn in Sicherheit brachten. Die Wölfischen hatten nun keine Chance mehr. Die Garde und auch einige Legionsmitglieder, die nichts mit der Verschwörung zu tun hatten, metzelten die Attentäter gnadenlos nieder. Zamorra und seine Begleiter verhielten sich passiv, als abzusehen war, wie die Sache hier enden würde. »Wir sollten uns zurückziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob in dem ganzen Durcheinander jemand unsere Rolle richtig einzuschätzen vermag.« Zamorra wollte am Ende nicht doch noch fälschlich in die Ecke der Attentäter geschoben werden. »Ich glaube, unsere Aufgabe, wenn es denn eine war, ist beendet. Wir müssen zurück in unsere eigene Zeit.« Nicole dachte voll Angst an das, was sie nun in ihrer Gegenwart erwarten konnte. Hatten sie selbst soeben ihr altes Leben vernichtet? Pater Aurelian lehnte sich gegen eine Säule, nahe dem Altar. Er schloss die Augen. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas geschah mit ihm. »Ja, natürlich.« Augenblicklich wurde ihm bewusst, was zwangsläufig geschehen musste. Nicole stieß einen Entsetzensschrei aus, als sie die Veränderung bemerkte, die mit Aurelian vor sich ging. Seine ganze Gestalt wirkte plötzlich verzerrt. Zamorra machte einen Schritt auf ihn zu, doch Ni-
cole riss ihren Lebensgefährten hart zurück. »Nicht. Du darfst ihn nicht berühren. Es würde dich töten.« Ein Flimmern lag um Aurelians Körperkonturen. Alles an ihm schien in Bewegung zu sein. Die Arme, die Beine – sein Gesicht, alles verlief, wie auf einem Aquarellbild, über das man einen Becher mit Wasser geschüttet hatte. Dann verblassten die Konturen nach und nach völlig. Aurelian hob die Hände in einer grüßenden Geste und löste sich in Nichts auf. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, sirrte und knisterte die Luft, als würde sie nicht wagen, in das entstandene Vakuum einzudringen. Zamorra und Nicole bemerkten das jedoch nicht, denn sie wanden sich in heftigen Krämpfen auf dem Boden. Die Schmerzen schickten ihnen den kalten Wahnsinn …
Er wartete auf seinen Tod. Doch es kam niemand, der ihn bringen wollte. Sein toter Kamerad lag quer über ihm, ein weiterer Mann – ein Gardist – war sterbend über Oktavianus' Beine gefallen. Seine Brüder wurden hingemetzelt. Einer nach dem anderen starb durch die Hellebarden der Papstgarde. Und wo ist Lupus Metellus? Sein Platz ist hier, bei den Brüdern, die jetzt für ihn sterben müssen! Doch der Bischof kam nicht. Sicher war er längst aus dem Dom geflohen. Er würde überleben. Oktavianus konnte den Gedanken an eine solche unglaubliche Feigheit nicht ertragen. Seine Wunden schmerzten kaum noch, doch nach wie vor konnte er seine Beine nicht bewegen. Also musste er hilflos auf sein Ende warten. Die Garde würde ihn schon noch finden. Und dann, keine drei Schritte von ihm entfernt, sah er sie. Die beiden Männer und die Gelbhaarige. Sie waren es gewesen, die alles vereitelt hatten. Ohne ihr Eingreifen wäre nun Lupus der erste Wolfspapst. Wie er sie doch hasste! Die Wut und die Hilflosigkeit trieben ihm nun doch die Tränen in
die Augen. Tränen, die er vorhin noch nicht hatte vergießen können. Nun flossen sie ungehemmt. Oktavianus konnte nur Fetzen von dem verstehen, was sie redeten. Ihre eigene Zeit? Was konnten sie damit meinen? Magie war dem Centurio natürlich nicht fremd, verfügte er doch selbst über ein Potential davon. Zeitmagie? Wollten sie drauf hinaus? Das war doch nicht möglich. Oktavianus traute seinen Augen nicht, als der ältere Mann sich plötzlich zu verändern begann. Dann verschwand der Alte einfach so. Und dieser Zamorra und die Frau brachen mit schmerzverzerrten Gesichtern zusammen. Wenn es eine Chance gab, sie zu töten, dann jetzt! Mit seiner verbliebenen Kraft stieß Oktavianus die Leichen von sich und zog seinen Körper mit dem gesunden Arm über den Boden. Er würde sie zerfetzen. Danach sollten die Gardisten ihn ruhig töten. Es war ihm egal. Das Sirren ließ ihn aufhorchen. Ihm war, als warte dort, wo der Alte noch gerade gestanden hatte etwas auf ihn. Nur auf ihn … den Centurio Oktavianus. Er versuchte, es zu ignorieren. Es wollte nicht gelingen. Als er die Stelle erreichte, explodierte sein Verstand! DIE ZEIT – DAS WISSEN – VERGANGENES UND KÜNFTIGES – ER SOG ES AUF WIE EIN VERTROCKNETER SCHWAMM. EISENVÖGEL AM HIMMEL, KUGELN AUS STAHL, DIE UM DIE WELT KREISTEN … DER MOND! ALLES WAR NEU, ALLES ALT … ZEIT – SO VIEL ZEIT … Oktavianus nahm es in sich auf, und nur seine Lebenskraft konnte verhindern, dass er daran zerbrach wie ein dürrer Zweig. Als er wieder zu sich kam, war alles anders. Zamorra und die Frau waren verschwunden. Doch er würde sie sicher finden, da hatte er keine Zweifel. Denn er hatte nun ein ganz neues Ziel vor Augen. Und das würde ihm die notwendige Kraft geben.
Zamorra und Nicole irrten durch Rom. Lange Zeit gingen sie schweigsam nebeneinander her. Keiner schi-
en den Anfang für ein Gespräch zu finden. Dabei gab es doch soviel zu bereden. Oder so wenig … Die krampfartigen Schmerzen waren so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren. Von einem Augenblick zum nächsten. Vor allem gab es keinerlei Nachwirkungen. Zamorra konnte das nicht verstehen. Er hatte geglaubt, sterben zu müssen. Nicole griff nach seiner Hand. »Was ist geschehen, Zamorra?« Er sah sie lange an. »Sag du es mir. Ich bin verwirrt. Warum genau sind wir hier? War Aurelian bei uns? Das kann doch nicht sein, denn er starb beim Sturm auf die Hölle! Und … aus welcher Realität sind wir hierher gekommen? Warum denke ich jetzt an ein Leben unter einem Wolfsimperium? Mit einem Wolf als Papst. Das ist doch irrsinnig.« Nicole Duval schüttelte den Kopf und strich Zamorra zärtlich über seine Wange. »Nicht irrsinniger als meine Gedanken. Wie sollen wir nun zurück in unsere Zeit gelangen? Aurelian war definitiv bei uns – wir haben doch gesehen, wie er sich in Luft verwandelte. Aber wenn wir zu dritt hierher gekommen sind …« »… können wir auch nur alle gemeinsam wieder zurück.« Zamorra vollendete Nicoles Satz. »Wir müssen es dennoch versuchen. Was bleibt uns anderes übrig?« Den Weg in das Dorf fanden sie rein instinktiv wieder. Keiner der beiden hatte sich den exakten Weg gemerkt. Erneut schwiegen sie fast die ganze Zeit über, versuchten jeder für sich, die vergangenen Tage zu reflektieren. Die magische Blockade war gänzlich verschwunden. Zeit unter Glas – so war Zamorra diese Epoche erschienen. Sie war alles in allem falsch gewesen. Falsch? Wieso? Was war überhaupt geschehen? Zamorra fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. Nicole, die seinen fragenden Gesichtsausdruck sah, schwieg dazu. Auch sie war bei jedem Schritt bemüht, sich die Erinnerungen an die Tage in dieser Welt ins Gedächtnis zurück zu rufen, sie dort zu konservieren. Seltsam, an den Ort, von dem aus sie ihre Odyssee gestartet hatten, erinnerten sich beide präzise. Vorsichtig und weiträumig umgingen sie die Ansiedlung. Es lag ihnen nichts daran, von den Men-
schen hier erkannt zu werden. Schließlich waren sie hier in Arrest genommen worden. Warum, das wussten weder der Professor noch seine Lebensgefährtin jetzt noch zu sagen. Irgendwo in Nicoles Hinterkopf war die Erinnerung an eine andere Frau. Rote Haare … doch ein Name dazu fand sich nicht mehr. Die Scheune stand offen. Zamorra und Nicole hörten die laute Stimme der Hausherrin, die keifend über ihren Ehemann, den Dorfvorsteher, herfiel. Die beiden Franzosen grinsten einander an und machten sich auf die Suche nach ihrer Bekleidung, die sie hier versteckt hatten. Die beiden Bündel fanden sich schnell. Zamorra betrachtete das Versteck im Heu. »Seltsam, aber mir ist, als müsse hier noch etwas liegen. Ein drittes Bündel mit den Sachen von …« Er beendete den Satz nicht. Wahrscheinlich hatte er sich da nur etwas eingebildet. Hand in Hand gingen sie zu dem Ort, an dem ihr Aufenthalt hier begonnen hatte – hier würde er auch enden. Zamorra leitete das Ritual ein. Merlins Ring tat zuverlässig seine Arbeit.
Epilog … � Oktavianus Lupomanus glich einem Schatten. Er hatte hier auf die Fremden gewartet. Er war sich ganz sicher, dass sie hierher zurückkehren würden. ER WUSSTE ES! Da war etwas in ihm, das es ihm zusicherte, es ihm wie eine unumstößliche Tatsache anbot. Er nahm das Angebot gerne an. Als sie auftauchten, war der Moment der Entscheidung für ihn gekommen. Er konnte sie jetzt töten. Sie schienen vollkommen unbefangen zu sein, wie zwei Kinder, denen nichts Böses geschehen konnte. Oktavianus würde leichtes Spiel haben. Aus einer sicheren Deckung heraus beobachtete der Wölfische, wie der Mann eine Art Ritual vollzog. Er sprach seltsame Worte, die sich fest in das Gedächtnis Oktavianus' einprägten. Was taten sie dort? Entsetzt musste er erkennen, dass sich die Körper der beiden zu verflüchtigen begannen. Sie würden ihm entkommen wie zuvor schon der Papst. Das konnte er nicht zulassen. Sie hatten nicht nur sein Leben, sondern auch seine Welt und Zeit zerstört. Ihr entkommt mir nicht noch einmal. Oktavianus Lupomanus sprang …
… und Anfang � Der Flughafen in München war wie jeder andere auf diesem Erdball. Groß, nervös und laut. Zamorra mochte diese Dauerfliegerei nicht. Doch wenn eine gutbezahlte Gastvorlesung anstand, oder wie in diesem Fall gleich mehrere, kamen Nicole und er kaum um diese Unannehmlichkeiten herum. Von München nach Lyon. Gut, das war mehr oder weniger ein Katzensprung. Dennoch … Als die beiden die Gangway hinauf stiegen, hatte er ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Der hässliche Albtraum lag ihm noch schwer auf der Seele. Der Traum war unlogisch gewesen, aber trotzdem war da dieses eigentümliche Gefühl, dass eine Wahrheit in ihm lag, die Zamorra lediglich nicht erkennen konnte. Albtraum oder verdrängte Realität – er hatte keinen blassen Schimmer. Nicole verhielt sich heute auch irgendwie eigentümlich. Sie war viel aufgekratzter als sie es für gewöhnlich war. Irgendetwas war hier falsch? Warum schreckte er vor diesem Wort zurück? Der Jet hob ab. Nichts konnte die Katastrophe nun noch verhindern … Weit außerhalb der Grenzzäune des Flughafens stand ein einsamer Mann. Sein Blick klebte am Himmel. Gleich musste sie kommen, die Maschine … … und in ihr saßen die Menschen, die alles zerstört hatten, was ihm einmal heilig gewesen war. Vor langer Zeit. Vor sehr langer Zeit … Als der Jet über seinen Kopf hinweg den Weg in Richtung der Alpen zog, leckte der Mann sich mit einer unnatürlich langen Zunge über sein stark ausgeprägtes Gebiss, in dem mächtige Reißzähne do-
minierten. Sein langgezogenes Heulen begleitete das Flugzeug noch lange. Es schien, als würde sein Schatten die Umrisse eines riesigen Wolfes zeigen.