Kongreß der Untoten von Frederic Collins
Wochenlang gingen Anrufe von Brighton in alle europäischen Länder. Es waren s...
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Kongreß der Untoten von Frederic Collins
Wochenlang gingen Anrufe von Brighton in alle europäischen Länder. Es waren sonderbare Telefongespräche. Weder der Anrufer noch die Angerufenen nannten einen Namen. Per Telefon ergingen Einladungen zu einem Kongreß in Brighton. Der Treffpunkt hieß Mortland, ein verfallenes Gutshaus. Eingeladen waren die treuesten Anhänger der Schwarzen Magie. Genauer gesagt, deren Leichen. Auf Mortland fand nämlich der Kongreß der Untoten statt. Sie sollten den größten Feldzug des Bösen seit Menschengedenken starten!
Jean Delande arbeitete in Calais als Zöllner. Er fertigte seit zwei Jahren routinemäßig Passagiere ab, die mit den Fähren nach Großbritannien fuhren. Es war keine aufregende Arbeit. Nur selten gelang es ihm, kleine Fische zu fangen. Große, womöglich sogar gefährliche Schmuggler gingen ihm gar nicht ins Netz. Jean Delande war darüber nicht böse. Lieber schob er eine ruhige Kugel, als daß es ihm wie so manchem seiner Kollegen erging, der mit einer Kugel im Körper geendet hatte. An diesem dreißigsten Oktober hatte er bei der letzten Fähre ein merkwürdiges Gefühl. Das begann schon, als er die Passagiere für das Schiff nach Dover auf sich zukommen sah. Das Wetter spielte verrückt. Seit dem Vormittag herrschte dichtes Schneetreiben. Der Seegang war so rauh, daß man das Auslaufen der Fähre gerade noch verantworten konnte. Dementsprechend wenige Passagiere reihten sich an Delandes Schalter auf, um abgefertigt zu werden. Er überprüfte mit geschulten Blicken die Pässe und das mitgeführte Gepäck und reichte die Ausweise an seinen Kollegen von der Grenzpolizei weiter. Der vorletzte Mann in der Reihe trug einen Schlapphut und einen weiten Regenmantel. Die Hände hielt er in den Taschen verborgen. Bei der herrschenden Kälte war das kein Wunder. »Monsieur«, sagte Jean Delande höflich. »Ihren Paß, bitte!« Daraufhin zog der Mann die linke Hand aus der Tasche und reichte das gewünschte Dokument über das Pult. Delande mußte sich überwinden, den Paß anzunehmen. Die Haut der Finger wirkte wie Wachs. Die Fingernägel waren blau verfärbt. Dieser Mann strömte Kälte aus, die Delande trotz seiner dicken Uniformjacke frieren ließ. Er schlug den Paß auf. Das Bild zeigte einen Durchschnittstyp, vielleicht vierzig Jahre alt, mit hellen, ausdruckslosen Augen.
Automatenfoto, dachte Delande. »Nehmen Sie bitte den Hut ab, Monsieur«, sagte er in seiner Muttersprache. Laut Paß war der Mann ebenfalls Franzose. Trotzdem reagierte er nicht. »Den Hut, Monsieur«, wiederholte Delande ungeduldig. Der Mann griff an die Krempe und bog sie nach oben. Es war dasselbe Gesicht wie im Paß, aber Delande mußte sich zusammennehmen, um nicht zurückzuprallen. Leblos! Das war der richtige Ausdruck. Das Gesicht war leblos wie das eines Toten! Delande hatte das Gefühl, eine Leiche stehe vor ihm! »Bitte«, sagte er und legte hastig den Paß auf das Pult. »Gute Reise, Monsieur.« »Einen Moment«, sagte der Grenzpolizist und wollte seinerseits nach dem Paß greifen, den der Fremde wegsteckte. »Laß gut sein«, murmelte Jean Delande. Der Fremde steuerte die Sperre an. »Na, wenn du meinst«, sagte sein Kollege achselzuckend und wandte sich dem letzten Passagier zu. Jean Delande handelte rein instinktiv und verhinderte damit eine Katastrophe. Hätte sein Kollege den Mann entlarvt, wären zumindest die beiden Grenzbeamten gestorben, wahrscheinlich sogar auch einige der Passagiere. Der unheimliche Fahrgast blieb während der ganzen Überfahrt an der Reling stehen, obwohl der Sturm an seinem Mantel zerrte und ihm den Hut vom Kopf zu reißen drohte. Dicht vor der englischen Küste ging einer der Matrosen an dem Passagier vorbei, als gerade eine Sturmbö den Mantel des Mannes hochwirbelte. Der Matrose kam aufgeregt zum Kapitän und stammelte etwas von einem Skelett unter dem Mantel. Der Kapitän war in blendender Laune. Deshalb verwarnte er den Matrosen nur, er solle nicht
mehr so viel im Dienst trinken. In Dover nach der Landung war der Passagier plötzlich spurlos verschwunden. Niemand vermißte ihn, auch nicht die englischen Grenzbeamten. Drei Stunden vor der Landung der letzten Kanalfähre verließ Jim Crother mit seinem Wagen Dover. Er war Handelsvertreter und haßte es, allein zu fahren. Manchmal schaffte er es ja, daß ihn ein hübsches Mädchen begleitete, und da er gut aussah und vierundzwanzig war, wurden es meist sehr vergnügliche Fahrten. An diesem Abend jedoch war von Vergnügen keine Rede. Der Sturm peitschte Regenschauer gegen den Wagen, als wolle er das Fahrzeug von der Straße spülen. Von einem Mädchen weit und breit keine Spur! Zu allem Überfluß hatte sich Jim Crother mit seiner Freundin in Dover so gestritten, daß er sich auch auf seiner nächsten Fahrt nicht mehr bei ihr zeigen durfte. Es war zwischen ihnen aus, und Crother war dementsprechend verärgert. Am Ortsende von Dover stand ein Autostopper und hielt die ausgestreckte Hand hoch. Jim Crother bremste, fuhr links heran und kurbelte das Fenster herunter. »Wohin wollen Sie?« rief er und blinzelte, weil ihm Regentropfen ins Gesicht prasselten. Er bekam keine Antwort. »Na, egal, steigen Sie ein!« Er stieß die Tür auf, und der Fremde stieg ein. »Ich fahre nach Brighton«, erklärte Jim Crother. »Nicht das beste Wetter für eine Nachtfahrt, aber ich habe mich in Dover zu lange aufgehalten. Wollen Sie auch nach Brighton?« Der Fremde nickte. »Mein Name ist Jim Crother«, stellte sich der Vertreter vor und wartete darauf, daß sein Fahrgast seinen Namen sagen würde. Er wartete vergeblich. Sonderbarer Heiliger, dachte Jim und bereute, den Mann mitgenommen zu haben. Es war schon dunkel. Sturm und Regen machten
ihn nervös, und er dachte an Schauergeschichten über mordende Anhalter. Es gab noch einen anderen Grund, warum er seine Hilfsbereitschaft bereute. Die Kleider des Anhalters verströmten einen unangenehmen Geruch. Jim schob es auf die Nässe. Der Mantel des Fremden war völlig durchweicht. Es roch nach Moder und Keller und dumpfen Gewölben. Vor zwei Jahren hatte er eine schottische Burg besichtigt. In der Folterkammer hatte es genauso gerochen. »Soll ich das Radio einschalten?« fragte Crother und warf seinem Nebenmann einen forschenden Blick zu. Der Fremde saß wie eine Statue neben ihm, die Hände auf den Knien, den Blick nach vorne gerichtet. Sein Gesicht drückte nichts aus, nicht einmal die kleinste Gefühlsregung. Es schien ihn auch nicht zu stören, daß ihm das Wasser aus den Haaren über die Stirn lief. Als ob er blind, taub und stumm wäre, dachte Jim Crother und fröstelte. Er schaltete das Radio ein und drehte die Heizung höher. Im Wagen wurde es nämlich von Minute zu Minute kälter. Noch eine Feststellung machte Jim Crother. Der Fremde schwankte nicht, wenn der Wagen in die Kurven ging – als wäre er mit dem Sitz verschweißt. Die restliche Strecke legten sie schweigend zurück. Als das Ortsschild von Brighton in Sicht kam, hob der Fremde die Hand. Jim Crother rammte den Fuß auf die Bremse. Kaum stand der Wagen, als der Unbekannte die Tür aufstieß, ausstieg und mit weiten, staksenden Schritten in den Regenschleiern verschwand. Jim Crother aber schwor sich in dieser Nacht, nie wieder einen Autostopper mitzunehmen. Er hatte das Gefühl, einer grauenhaften Gefahr entronnen zu sein, und damit hatte er völlig recht. Ähnlich wie Crother erging es zur gleichen Zeit Andy Loyd, einem
jungen Busfahrer, der von London nach Brighton unterwegs war. Vier Frauen und zwei Männer waren in London im Busbahnhof eingestiegen, alle dick vermummt. Loyd hatte es auf das Wetter geschoben, aber sie zogen die Schals auch nicht von den Gesichtern, als sich der Bus während der Fahrt aufheizte. Starr saßen sie in der hintersten Reihe nebeneinander und rührten sich nicht. Wie Schaufensterpuppen, dachte Andy Loyd. Auf dieser Fahrt behielt er mehr die seltsamen Passagiere als die Straße im Auge. Dafür hatte er einen eigenen Innenspiegel. Deshalb bemerkte er das Schlagloch zu spät, das kurz vor Brighton in der Fahrbahn klaffte. Der harte Stoß rüttelte die wenigen Fahrgäste durcheinander. Sie schimpften oder schrien erschrocken auf. Nur die sechs vermummten schwiegen. Aber einer der Frauen rutschte der Schal vom Gesicht. Sie schob ihn zwar gleich wieder nach oben, doch Andy Loyd brach fast hinter dem Steuer zusammen. Unterhalb der Augen hörte das Gesicht auf! Loyds Hände zitterten so heftig, daß er das Steuer kaum halten konnte. Bis zum Busbahnhof Brighton schaffte er es noch. Zischend öffneten sich die automatischen Türen. Die sechs Vermummten verließen den Bus durch die hintere Tür. Gleich darauf tauchten sie in der Dunkelheit unter. Loyd aber schloß die Türen und verzichtete auf seine Ruhepause. Er fuhr sofort weiter und schwor sich, zu keinem Menschen ein Wort zu sagen. Alle hätten ihn für überspannt und fahruntauglich gehalten, falls er etwas von dem halben Gesicht erzählte. Eine Stunde später zweifelte er sogar selbst an sich. Wahrscheinlich hatte er sich bei der schwachen Innenbeleuchtung getäuscht … Mehrere Wanderer in ganz Großbritannien hatten in diesen Tagen unheimliche Begegnungen. Jäger sahen Wesen, die wie wandelnde Leichen aussahen. Bauern beobachteten Gerippe, die über ihre
Äcker schritten. Niemand sprach über seine Beobachtungen. Nur so war es möglich, daß sich Hunderte von Untoten bei Brighton versammelten, ohne daß es jemand merkte. Hunderte von lebenden Leichen kamen aus eigenem Antrieb oder wurden von Anhängern der Schwarzen Magie auf den Weg geschickt. Sie alle sollten am Kongreß der Untoten teilnehmen, der schauderhaftesten Versammlung dieser Art, die es je gegeben hatte.
* Am selben Abend, also dem dreißigsten Oktober, waren sämtliche Fenster von Sagon Manor hell erleuchtet. Sagon Manor bei Brighton bereitete sich auf eine Zusammenkunft ganz besonderer Art vor. Butler Harvey, seit vierzig Jahren im Haus, machte dem Herrn von Sagon Manor einen Vorschlag. »Mit allem Respekt, Lord Winslow«, sagte er mit seiner beherrschten Stimme, »aber ich fürchte, daß es die Kräfte des Personals übersteigen wird.« Lord Hubbard Winslow, zwei Jahre jünger als sein sechzigjähriger Butler, hob mit einem unwilligen Stirnrunzeln den Kopf. »Wie meinen Sie das, Harvey?« fragte er gereizt. »Glauben Sie, ich mute dem Personal zu viel zu? Sie wissen, wie wichtig dieses Treffen ist. Ist es so schwer, fünf Personen in diesem Haus zu beherbergen?« »Sicherlich nicht, Sir«, erwiderte der Butler hastig. »Aber es geht auch darum, diejenigen Gäste zu versorgen, die nicht im Haus wohnen werden. Ein Bankett für sechzig Gäste ist für Mrs. Applegast zuviel. Das schafft die beste Köchin nicht. Und wer soll servieren, Sir? Ich allein kann das nicht.« »Wir können doch aushelfen, Alicia und ich«, bot Marthe Winslow an, die jüngere Tochter des Lords. »Auf keinen Fall!« rief ihr Vater scharf und räusperte sich. »Ent-
schuldige, ich meinte nur, das wäre zu viel für euch.« »Keineswegs«, behauptete nun auch die sechsundzwanzigjährige Alicia Winslow. »Dad, warum sollen wir nicht helfen?« »Nein, das ist mein letztes Wort!« Lord Winslow wandte sich wieder an seinen Butler. »Einfaches Essen, das vorgekocht werden kann, dazu kalte Platten. Sie, Mrs. Applegast und unser Hausmädchen Maud servieren. Die Gäste bedienen sich zum Teil selbst. Das ist zu machen, oder?« fragte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Und jetzt sagen Sie meinem Sohn, daß ich ihn sehen möchte.« Harvey verneigte sich, verließ das Wohnzimmer von Sagon Manor und stieg in den ersten Stock. Harte Rockklänge dröhnten ihm entgegen, während er auf eine Tür zuschritt und klopfte. Als er keine Antwort erhielt, schlug er mit der Faust gegen das Holz, obwohl das seinem Stil heftig widersprach. Zuletzt brach er alle Regeln und trat ein, ohne dazu aufgefordert zu werden. Peter Winslow, zwanzigjähriger Sohn des Lords, lag in Jeans und blauem Pullver auf seiner Couch, hielt die Augen geschlossen und wippte rhythmisch mit den Füßen. Die Kopfhörer auf seinen Ohren hatten verhindert, daß er das Klopfen bemerkte. Harvey beugte sich vor und tippte Peter Winslow auf die Schulter. Der junge Mann fuhr mit einem Schrei hoch, worauf der Butler seinerseits mit einem erschrockenen Schrei zurücktaumelte. Peter riß die Kopfhörer herunter und machte seinem Schreck mit einem Wort Luft, das Harvey die Augen schließen ließ. »Verzeihung, ich hatte geklopft«, sagte der Butler und verzog das Gesicht, weil ihn die überlaute Musik in den Ohren schmerzte. »Ja, schon gut«, rief Peter und schaltete den Plattenspieler aus. »So etwas Dummes! Ich hatte vergessen, die Lautsprecher abzustellen. Tobt mein Vater schon, weil er diese Musik nicht ausstehen kann?« »Nein, Mr. Peter«, erwiderte Harvey steif. »Der Umstand, daß dieses Haus sehr solide gebaut ist, hat verhindert, daß diese Töne bis in
das Erdgeschoß drangen.« »Dann ist der alte Kasten ja doch zu etwas gut«, meinte Peter Winslow grinsend. »Was gibt es?« »Lod Winslow möchte Sie sprechen«, richtete Harvey aus. »Ja, okay, ich komme.« Peter schaltete die gesamte Stereoanlage aus. »Worum dreht es sich denn? Wieder um alle diese Leute, die uns die Bude stürmen werden?« »Wenn Sie die Gäste des Lords meinen, Mr. Peter, dann ist dies korrekt.« Harvey hielt ihm die Tür auf. »Darf ich darauf hinweisen, daß es sehr wichtige Leute sind?« »Nein«, erwiderte Peter ärgerlich. »Fünf Fremde im Haus, und sechzig Gäste zum Abendessen! Das ist eine Schnapsidee!« Butler Harvey schluckte, aber Peter Winslow gab ihm keine Gelegenheit zu einer Erwiderung. Die Hände in die Taschen seiner Jeans geschoben, lief er die Treppe hinunter und platzte in das Wohnzimmer. »Hallo!« rief er und nickte seinem Vater sowie seinen beiden älteren Schwestern zu. »Da wäre ja die ganze Familie glücklich vereint. Habt ihr endlich beschlossen, daß ich nach London ziehen und mir dort eine eigene Wohnung einrichten darf? Oder muß Klein-Peter weiterhin im Schoß seiner trauten Familie in der Einsamkeit wohnen?« Seine Schwestern Alicia und Marthe senkten verlegen die Blicke. Wegen dieses Themas hatte es schon mehrere harte Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn gegeben. Sie erwarteten eine heftige Antwort ihres Vaters. Lord Winslow überraschte alle. »Wenn die Zusammenkunft von Antiquitätenliebhabern auf Sagon Manor vorbei ist, kannst du nach London gehen, Peter«, erklärte er. »Dann werde ich dich in jeder Hinsicht unterstützen, dein eigenes Leben zu führen.«
Peters blaue Augen – er hatte sie von seinem Vater geerbt – weiteten sich fassungslos. Er ließ sich auf ein Sofa fallen und pfiff schrill durch die Zähne. »Was ist denn mit dir los, Dad?« fragte er entgeistert. »Gehe ich dir endlich so auf die Nerven, daß du mich weghaben willst?« Auch diesmal reagierte Lord Winslow ruhig. Er lächelte schmerzlich und betrachtete seinen Sohn mit einem eigentümlichen, traurigen Blick. »Ich will für alle nur das Beste«, sagte er leise. »Und jetzt besprechen wir die Einzelheiten für die bevorstehenden Tage!« Nach diesem großzügigen Angebot hatte Peter Winslow nichts mehr dagegen, sich an den Arbeiten zu beteiligen, auch wenn in seinen Augen die Zusammenkunft von Antiquitätensammlern absoluter Unsinn war. Wenn er dafür seine Freiheit erhielt, war er mit allem einverstanden.
* Die Zimmer in den Hotels von Brighton waren schon vor Wochen reserviert worden. Deshalb gab es keine Schwierigkeiten, als am einunddreißigsten Oktober fünfundfünfzig Gäste eintrafen. Offenbar kannten sie einander nicht, da jeder ein Einzelzimmer bewohnte. Die Reservierungen waren nicht nötig, weil die Hotels unterbelegt gewesen wären. Vielmehr hatte Lord Winslow dafür sorgen müssen, daß überhaupt so viele Zimmer beheizt und hergerichtet wurden. Brighton hatte tote Saison. Fünf Personen trafen im Laufe des Tages in Sagon Manor ein. Den ältesten Gast, einen neunzigjährigen Mann, holte Lord Winslow persönlich im Auto ab. Die anderen kamen in Taxis. Peter Winslow wartete mit einiger Spannung auf die Gäste. Sie mochten Spinner sein, die sich für alte Sachen interessierten, aber sie
brachten wenigstens Abwechslung in die öde Langeweile von Sagon Manor. Als er sie nach und nach kennenlernte, war er enttäuscht. Zuerst kam ein mindestens neunzigjähriger Mann, den sein Vater als Mr. Brown vorstellte. Danach traf eine etwa sechzigjährige Frau ein, eine gewisse Miss Smith. Miss Jones war fünfzig, Mr. Baker vierzig, Miss Wood dreißig. »Was soll denn das?« fragte Peter Winslow, als Miss Wood mit seinem Vater in den Gästetrakt ging. Er wandte sich gereizt an Maud, das Hausmädchen. Maud war neunundzwanzig und seit sieben Jahren im Haus. Als sie nach Sagon Manor kam, war Peter gerade dreizehn. Deshalb war sie für ihn so eine Art ältere Schwester, und er ging mit ihr sehr vertraulich um. Das störte seinen Vater, doch das wiederum störte Peter nicht. »Ich weiß nicht, Peter«, erwiderte Maud. Mit dem Vornamen durfte sie ihn nur anreden, wenn sie allein waren. »Ich kenne diese Leute auch nicht.« »Was denkt sich mein Vater?« Peters blonde Augenbrauen zogen sich zu einem durchgehenden Balken zusammen. Seine blauen Augen verdunkelten sich vor Ärger. »Hält er mich für so dumm, daß ich ihm diese dämlichen Allerweltsnamen abkaufe? Mr. Brown! Miss Smith! Miss Jones! Mr. Baker! Miss Wood! Die Leute haben doch falsche Namen genannt!« »Ich weiß nicht, Peter«, erwiderte Maud. Peter wirbelte zu dem hübschen Rotschopf mit den vielen lustigen Sommersprossen herum. »Du redest schon wie meine Schwestern«, rief er unterdrückt. »Die behandeln mich auch immer noch, als wäre ich ein kleiner Junge! Bin ich denn einer?« »Ja, Peter«, sagte Maud verschmitzt lächelnd, straffte sich jedoch gleich darauf und wurde dienstlich. »Haben Sie sonst noch Wünsche, Mr. Peter?«
»Nein, Sie alte Jungfer«, antwortete Peter Winslow grinsend und wandte sich an den Butler, der in diesem Moment das Wohnzimmer betrat und die letzten Worte hörte. Maud bekam einen roten Kopf und verließ den Raum. »Harvey! Was ist das für eine Versammlung von Schreckschrauben und Sonderlingen?« »Mr. Peter?« sagte der Butler fragend. Peter Winslows unbekümmertes Grinsen war wie weggefegt. Die vom Vater ererbte Energie brach durch. »Hören Sie mir jetzt genau zu!« sagte Peter scharf. »Sie sind seit vierzig Jahren bei uns. Es gibt nichts, das Sie nicht wissen. Daher wissen Sie auch, wer diese Leute sind! Sie kennen ihre wahren Namen und nicht nur diese Scheinnamen, die sie genannt haben! Wer sind sie? Was wollen sie hier?« »Die Namen sind richtig, Mr. Peter, und sie sind Antiquitätenliebhaber«, entgegnete der Butler. »Die Köchin läßt fragen, ob der junge Herr ihr helfen könnte.« Peter schoß ihm einen harten Blick zu, der den alten Butler sehr nachdenklich machte, und lief in die Küche. Mrs. Applegast, seit zwanzig Jahren Köchin in Sagon Manor, schien seit eben diesen zwanzig Jahren nichts anderes zu tun, als sich zu mästen. »Ein Wunder, daß es überhaupt noch ein Kleid gibt, in das Sie hineinpassen, Mrs. Applegast!« rief Peter fröhlich, als er die Küche betrat. »Hören Sie bloß auf, Mr. Peter!« Mrs. Applegast strahlte über ihr freundliches rosiges Gesicht. »Sagen Sie nicht, daß ich schon wieder zugenommen habe!« »Sie tun nichts anderes als zunehmen«, behauptete Peter und begutachtete die Schüsseln und Teller mit Lebensmitteln, die auf den drei langen Tischen aufgereiht waren. »Ist das die Verpflegung für den Londoner Zoo?« »Immer zu Scherzen aufgelegt!« Mrs. Applegast liebte Peter wie
einen eigenen Sohn, und er sah in ihr ein wenig die Mutter, die er nie kennengelernt hatte. Sie drohte ihm mit teigverklebtem Zeigefinger. »Sie helfen mir doch, ja? Kartoffeln schälen!« Peter griff nach dem Topf mit den Kartoffeln, setzte sich und nahm sich ein Messer. »Wie in alten Zeiten, Mrs. Applegast, wissen Sie noch?« fragte er und wurde schwermütig. »Ich kam immer zu Ihnen in die Küche und half Ihnen. Mein Vater sah es nicht gern.« »Ja, ich weiß noch, mein Junge«, murmelte die Köchin und stampfte an den Herd. »Verzeihung, Mr. Peter.« »Sagen Sie ruhig ›mein Junge‹ zu mir, solange es der gestrenge Lord nicht hört.« Peter schälte geschickt und schnell. Er tat, als wäre er völlig in seine Arbeit vertieft. »Ich weiß jetzt, wer diese Gäste sind und was sie bei uns wollen«, sagte er ganz beiläufig. »Um Himmels willen, schweigen Sie!« fuhr die Köchin auf und drehte sich um, so schnell es ihre Leibesfülle gestattete. »Kein Wort darüber! Still!« Er sah sie verblüfft an, und sie begriff, daß er ihr eine Falle gestellt hatte. Sie versuchte ein verlegenes Lachen. »Sie machen seltsamer Witze, Mr. Peter!« rief sie betont fröhlich. »Ich muß noch Mehl holen!« Sie wollte aus der Küche laufen, doch Peter rief sie zurück. »Bleiben Sie, Mrs. Applegast!« befahl er, und wieder nahm seine Stimme einen schneidenden Ton an. »Ich verlange die Wahrheit! Wer sind diese Leute!« »Ich bin nur die Köchin!« rief Mrs. Applegast und eilte aus der Küche. »Dann schälen Sie auch die Kartoffeln selbst!« schrie Peter hinter ihr her und knallte den Topf auf den Boden. »Sie wollen es ja so, Mrs. Applegast!« Sie protestierte nicht, und Butler Harvey verlor kein Wort darüber, obwohl er genau in diesem Moment die Küche betrat. Auch der Lord stellte seinen Sohn nicht zur Rede, obwohl Peter mitbekam,
daß Mrs. Applegast mit teigverklebten Händen schnurstracks zu seinem Vater lief, um ihm alles zu erzählen. Nur seine Schwestern sahen ihn seltsam an, als er ihnen in der Halle begegnete. »Was habt ihr denn?« rief er ihnen zu. »Wißt ihr etwas?« Sie senkten die Köpfe und gingen hastig weiter. »Ziegen!« rief er ihnen nach, wie er es als kleiner Junge oft gemacht hatte. »Ihr solltet nach Mortland gehen und dort grasen!« Doch nicht einmal auf diese Beleidigung reagierten sie. Peter starrte fassungslos hinter ihnen her. Früher waren sie schrecklich wütend geworden, wenn er sie Ziegen nannte. Nachdenklich ging er in sein Zimmer, setzte sich die Kopfhörer auf und drehte den Verstärker auf volle Lautstärke. Die Lautsprecher schaltete er vorher allerdings ab. Und er legte sich so, daß er die Tür im Auge behalten konnte. Langsam wurde ihm diese Versammlung von angeblichen Antiquitätensammlern unheimlich.
* Butler Harvey betrat das Arbeitszimmer des Hausherrn nach kurzem Klopfen und blieb abwartend an der Tür stehen. »Setzen Sie sich, Harvey«, sagte Lord Winslow und deutete auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch. »Sie wollten mich sprechen?« »Ja, Mister«, sagte der Butler, schloß das Arbeitszimmer von innen ab und setzte sich. »Ihr Sohn macht Schwierigkeiten. Er ist äußerst intelligent und merkt natürlich, daß etwas nicht stimmt. Er stellt Fragen.« »Diese Fragen werden wie immer nichtssagend beantwortet«, entschied der Lord. »Noch etwas, Harvey?« »Sie nehmen die Sache zu leicht, Mister«, behauptete der Butler. »Ihr Sohn ist kein kleiner Junge mehr, dem man sagen kann, der
fremde Onkel möchte sich Daddys Uhrensammlung ansehen!« »Du liebe Zeit, ich habe den Kopf mit anderen Dingen voll!« fuhr ihn der Lord an. »Wenn Peter zu neugierig wird, geben Sie ihm eben eine glaubhaftere Erklärung!« »Warum schicken Sie ihn nicht einfach weg?« hakte der Butler nach. »Er will doch nach London. Warum nicht gleich morgen?« »Weil ich nicht meinen eigenen Sohn ins Messer laufen lasse«, erklärte der Lord. »So lange er in diesem Haus ist, kann ihm nicht viel passieren. In London ist er schutzlos!« »Es wäre aber besser …«, wandte der Butler ein. Die ungewöhnlich strahlend blauen Augen des Lords zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Um seinen Mund erschien ein harter Zug. »Es genügt, daß ich Peters Mutter aus meiner Erinnerung streichen mußte«, sagte er leise. »Soll ich auch noch Peter opfern? Wollen Sie ihn nach London schicken und gleichzeitig sein Begräbnis organisieren?« Der Butler senkte betroffen den Kopf. »Nein, Mister, natürlich nicht.« »Dann denken Sie sich eine Erklärung für ihn aus und lassen Sie mich in Ruhe!« schrie der Lord. »Ich muß mich auf ein anstrengendes Gespräch mit dem Alten aus dem Moor vorbereiten!« Der Butler erhob sich und deutete eine würdevolle Verbeugung an. »Soll ich Mr. Brown Bescheid sagen, daß Sie ihn erwarten?« »Mr. Brown Bescheid sagen?« Winsow schüttelte mit einem gepreßten Lachen den Kopf. »Mein lieber Harvey, Sie wissen anscheinend nicht, wer der Alte aus dem Moor ist! Selbstverständlich werde ich ihn bitten, mich in seinem Zimmer zu empfangen! Das ist meine Pflicht!« Harvey verneigte sich noch einmal, sperrte die Tür auf und verließ den Raum. Er wirkte verstört und besorgt.
* Brighton bot auch an diesem Abend einen trostlosen Anblick. Durch die Straßen fegte ein rauher Seewind. Die Schneefälle, die am Vortag die französische Kanalküste heimgesucht hatten, griffen nun auch auf die englische Seite über. Es war ein ungewöhnliches Wetter für diese Jahreszeit. Die Brecher rollten gegen das Land und prallten donnernd gegen die Kaimauern. Teile der Uferstraße waren überflutet. Jim Crother, der Vertreter, saß in der Bar des Seafarer Hotels. Er wandte sich an den Barmixer, einen glutäugigen Italiener. »Sind immer um diese Jahreszeit so viele Leute hier?« fragte er und deutete zu den Glastüren des Speisesaals. »Sonderbare Gäste! Gehören sie zu einer Gesellschaft?« Der Mixer hob die Schultern. »Sonderbar, ja! Ich weiß nichts über sie. Sie sind alle erst heute gekommen, grüßten einander besonders freundlich, sprechen aber nicht miteinander.« Jim Crother zwinkerte vertraulich. »Sind auch hübsche Mädchen darunter? Ich meine, ich sitze hier so allein. Da könnte ich doch jemanden einladen!« »Nichts zu machen, Sir«, meinte der Mixer und lächelte verschwörerisch. »Es sind ein paar hübsche Mädchen dabei, aber ich habe es selbst schon versucht. Ausgeschlossen! Sonst kann ich mich nie über mangelnde Erfolge beklagen, aber bei denen …! Als wären sie Nonnen!« Jim verdrehte die Augen. »Wenn ich nicht bald ein weibliches Wesen kennenlerne, drehe ich noch durch«, sagte er mit übertriebenem Stöhnen. »Gehen Sie doch ins Stardust«, riet der Mixer. »Das ist eine Disco!« Er erklärte seinem Gast den Weg. Jim Crother hatte einen Longdrink, vor sich stehen. Deshalb blieb er ungefähr zehn Minuten sitzen, bis er ausgetrunken hatte.
Diese zehn Minuten entschieden über sein Leben … Zur selben Zeit richtete sich in einem der Hotelzimmer ein Mann vom Boden auf. Mitten auf dem Teppich lag die Leiche einer Frau. Im Gesicht des Mannes rührte sich nichts. Seine erloschenen Augen wirkten wie Glas. Seine Hände baumelten locker herunter. Er rückte sein Hemd und sein Jackett zurecht. Am Hemd waren zwei Knöpfe abgesprungen. Es klaffte für einen Moment auf und gab eine Einschußöffnung in der Brust frei. Die Wunde blutete nicht, obwohl eine Kugel das Herz des Mannes getroffen haben mußte. Der Mörder schloß den Mantel, der bei dem Kampf aufgesprungen war. Bedenkenlos faßte er die Türklinke an. Er konnte keine Fingerabdrücke hinterlassen. Seine Finger besaßen keine Linien mehr … Sorgfältig schloß er von außen ab und nahm den Schlüssel mit. Mit dem Aufzug fuhr er allein hinunter. In der Halle wandte er sich dem Nebenausgang zu. Der Mörder kam an den Glastüren der Hotelbar vorbei. Er drehte kurz den Kopf und sah Jim Crother an der Bar sitzen. Jim zuckte zusammen, als er den Mann erkannte, den er von Dover nach Brighton mitgenommen hatte. »Haben Sie den gesehen?« rief er aufgeregt dem italienischen Mixer zu. »Nein, wen?« fragte der Italiener ratlos. »Er ist eben an der Bar vorbei gegangen«, erklärte Jim Crother. »Ein unheimlicher Kerl. Er war bei mir im Wagen.« Und er schilderte die seltsame und beängstigende Fahrt. Danach hatte er keine besondere Lust mehr, das Hotel zu verlassen. Er wollte aber unbedingt noch an diesem Abend ein Mädchen kennenlernen. Deshalb überwand er sich und wagte sich in die sturmgepeitschten Straßen hinaus. Die Disco lag nur zwei Häuserblocks entfernt und war schon von weitem durch bunte Lichter zu erkennen. Eine Querstraße trennte
Jim vom Strand. Er hörte das Donnern des aufgewühlten Meeres. Er hatte die Disco fast erreicht und vernahm über dem Heulen des Windes auch schon einzelne Musikfetzen, als aus einer schmalen, dunklen Passage der Unheimliche auftauchte. Jim starrte in die halb geöffneten Augen des Mannes, dessen Unterkiefer locker herunter hing. In diesem Moment begriff Jim Crother die grauenvolle Wahrheit. Er hatte eine lebende Leiche vor sich! Aber es war zu spät! Der Untote griff zu. Jim Crothers Schrei erstarb. Der Sturm und das Meer machten die Kampfgeräusche unhörbar. Der Untote schleppte die Leiche seines Opfers über die breite Strandstraße. Kein einziges Auto war unterwegs. Niemand blickte aus einem Fenster. Es gab keine Zeugen, als der Untote mit seinem Opfer in die heranrollenden Brecher watete und sich von der gewaltigen Strömung aufs offene Meer hinausreißen ließ. Eine Stunde später kehrte der lebende Leichnam allein zurück. Mühelos entstieg er dem aufgewühlten Meer und schlug den Weg landeinwärts ein. Sein Ziel war Mortland, wo er den anderen seinen Erfolg meldete.
* »Ich hatte mir Sagon Manor nicht so schön vorgestellt«, sagte der alte Mr. Brown während des Abendessens. »Lord Winslow, ich beglückwünsche Sie! Ein herrlicher Besitz.« »Mit so vielen schönen Antiquitäten«, bemerkte Peter Winslow mit einem strahlenden, jungenhaften Lächeln. »Sie wohnen sehr ruhig«, meinte Miss Woos, die Jüngste in der Runde der Gäste. »Wenn ich dagegen an den Lärm bei mir zu Hause denke! Wissen Sie, ich wohne direkt am Heathrow! Dieser Flugha-
fenlärm!« »Aber Sie wohnen sicher mit vielen schönen Antiquitäten«, meinte Peter und lächelte auch sie an. Seine Schwestern Alicia und Marthe wurden unruhig. Sein Vater tat, als habe er nichts gesehen und gehört. »Betrachten Sie mein Haus als das Ihre«, sagte er höflich zu seinen Gästen. Wieder hatte Peter einen Kommentar. »Und betrachten Sie seine vielen schönen Antiquitäten als Ihre vielen schönen Antiquitäten«, sagte er, diesmal ohne Lächeln. Sein Blick und der seines Vaters trafen sich. Die beiden Männer maßen einander sekundenlang. Betroffenheit malte sich auf Lord Winslows Gesicht. Er senkte den Blick. »Mein lieber Freund«, sagte der alte Mr. Brown zu dem Lord, »für alles kommt seine Zeit. Wir können den Lauf der Dinge nicht ändern, auch wenn wir es gerne möchten.« »Vielleicht haben Sie recht«, murmelte der Lord. Peter verstand diese Andeutungen nicht. Sie machten ihn noch wütender, als er ohnedies schon war. Nur deshalb beschloß er, die Situation auf die Spitze zu treiben. »Ich freue mich darauf«, sagte Mr. Baker, ein vierzigjähriger Mann mit Glatze, einem dünnen Haarkranz an den Schläfen, schwarzem Vollbart und randloser Brille, »den Versammlungssaal zu sehen, Lord Winslow.« »Er ist voll von vielen schönen Antiquitäten«, bemerkte Peter spöttisch. »Sie sollten sich aber auch die Küche nicht entgehen lassen. Die ist auch voll von vielen schönen Antiquitäten. Nur die Köchin ist keine Antiquität.« Er sah seinen Vater unverwandt an. »Sie ist eine Lügnerin.« »Peter, jetzt gehst du zu weit!« rief Lord Winslow und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Aber, Eure Lordschaft«, sagte sein Sohn leise. »Ist Euch Euer Per-
sonal wichtiger als Euer Sohn? Ihr verteidigt Euer Personal und verhöhnt Euren Sohn?« »Das tue ich nicht, das weißt du genau, Peter!« sagte der Lord mühsam beherrscht. »Das tust du doch, das weiß ich ganz genau«, entgegnete Peter. »Wir haben Gäste, nimm Rücksicht!« befahl sein Vater. »Wir haben Gäste, auf die ich keine Rücksicht zu nehmen brauche.« Peter stand zornig auf. »Warum haben Sie sich nicht alle Brown genannt? Oder Smith? Oder Jones? Meinen Sie, ich bin so dumm, daß ich Ihr Spiel nicht durchschaue?« »Sie sind so glücklich, unser Spiel nicht zu durchschauen«, sagte der greise Mr. Brown. »Bewahren Sie sich dieses Glück, mein lieber, unwissender, ungeduldiger Freund! Ich weiß, daß Sie es nicht tun werden, aber ich würde es Ihnen wünschen! Wieviel glücklicher wären Sie doch!« Peter blickte den alten Mann betroffen an. Peter Winslow war ein Kind seiner Zeit, ob sein Vater nun Lord war oder nicht. Er gehörte zu einer Generation, für die eine Rede wie die des Mr. Brown eigentlich unerträglich kitschig und falsch klang. Und doch fühlte Peter, daß der alte Mann jedes Wort so meinte, wie er es sagte. Er blickte in die freundlichsten Augen, die er je gesehen hatte. Beschämt wandte sich Peter ab und verließ überstürzt den Speisesaal. Es erschien ihm selbst seltsam, daß er ausgerechnet in diesen Tagen viele Dinge tat, die ihm als kleiner Junge Gewohnheit gewesen waren. Es erschien ihm, als habe sich die Zeit um mindestens zehn Jahre zurückgedreht. Auch jetzt nahm er eine der alten Gewohnheiten auf und floh in die Küche, wie er das früher getan hatte, wenn er sich schämte. Mrs. Applegast stand mit hochrotem Gesicht am Herd und arbeitete für drei. Maud hatte sich eine weiße Schürze umgebunden und
servierte. Butler Harvey kam hinter Peter in die Küche. Er erwähnte den Vorfall im Speisesaal mit keinem Wort, nahm eine silberne Platte und trug sie hinaus. Maud räumte einen ganzen Servierwagen mit Schüsseln voll, warf Peter einen forschenden Blick zu und ging, als er nicht reagierte. Er setzte sich in die Ecke neben dem Tellerschrank. Dort stand ein Stuhl, so lange er sich zurückerinnern konnte. »Wieder einmal im Trotzwinkel?« fragte Mrs. Applegast, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Ich trotze nicht«, murrte Peter. »Dann bist du eben eingeschnappt«, sagte die Köchin lachend. »Auch nicht!« »Du schämst dich?« Mrs. Applegast drehte sich schnell zu ihm um, und er sah weg. »So ist das also! Hast du dich wieder einmal unmöglich benommen, mein Junge?« »Ich will endlich wissen, warum ihr mich alle belügt«, erwiderte er. »Alle!« »Wir lügen nicht«, behauptete Mrs. Applegast. »Hebe mir diesen Topf vom Feuer! Er ist zu schwer für mich!« Peter wußte, daß der Topf nicht zu schwer war. Mrs. Applegast konnte einen ausgewachsenen Mann stemmen. Sie wollte ihn nur aus seiner Ecke herauslocken. »Nein«, sagte er, zog die Beine hoch und stellte die Absätze auf die Stuhlkante. Seufzend hievte Mrs. Applegast den Topf zur Seite, als wäre er leer. »So schlimm steht es um dich, mein Junge?« fragte sie. »Du hast meine Mutter gekannt«, antwortete er. »Ich war noch nicht im Haus, als sie starb«, erwiderte die Köchin. »Du lügst«, sagte Peter. »Du bist zwanzig Jahre im Haus. Sie starb vor neunzehn Jahren.« »Ach so, ja, hatte ich vergessen.« Ihr Lachen klang unecht. »Frage mich nicht! Frage doch die Leute, die schon länger im Haus waren.
Deinen Vater, deine Schwestern.« »Mein Vater schweigt, als wäre er nie verheiratet gewesen, und meine Schwestern waren damals noch Kinder. Fünf und sieben Jahre alt. Und ich war ein Jahr alt.« »Was für ein Glück«, murmelte die Köchin. »Wieso?« rief der junge Mann. »Ach, weil du dadurch die Mutter nicht so vermißt hast«, redete sich Mrs. Applegast heraus. »Das stimmt nicht, ich habe sie vermißt.« Peter stützte das Kinn auf die angezogenen Knie. »Ist sie wirklich mit einem Flugzeug abgestürzt?« »Ja, natürlich«, erklärte die Köchin. »Warum macht ihr dann ein solches Geheimnis daraus?« »Ich weiß es nicht.« »Du lügst schon wieder, und ich dachte, du wärst meine Freundin, so dick du auch bist!« Mrs. Applegast ging ihm auf den Leim. Lächelnd drehte sie sich zu ihm, und er lächelte sie so unwiderstehlich an, daß sie alle Vorsicht vergaß. »Frag doch Mr. Harvey«, meinte sie. »Der war schon im Haus, als deine Mutter von Mortland herüberkam.« »Mortland?« Peters Augen weiteten sich. Mrs. Applegast schlug sich erschrocken auf den Mund. Ihr hochrotes Gesicht wurde kreidebleich, und sie wankte. Peter glaubte, sie würde ohnmächtig zusammenbrechen. »Um Himmels willen, Mr. Peter!« flehte sie. »Verraten Sie mich nicht! Mein Gott, das weiß doch niemand, nicht einmal Ihre Schwestern! Sagen Sie kein Wort, ich flehe Sie an! Ich bin schon zwanzig Jahre in diesem Haus! Ich möchte nicht mein ganzes Leben umstellen!« »Aber wieso denn?« rief Peter und stand auf. »Warum umstellen?« Sie blickte zu dem großen, blonden jungen Mann hoch. »Weil Ihr
Vater mich aus dem Haus jagen würde, darum!« Sie hob ihm die gefaltenen Hände entgegen. »Schweigen Sie! Ich flehe Sie an!« Peter hatte gerade noch Zeit zu nicken. Dann öffnete sich die Tür, und Butler Harvey kam mit Maud herein. Der nächste Gang mußte serviert werden. Peter nutzte die Gelegenheit, um sich unauffällig zu verziehen. Er kehrte jedoch nicht in den Speisesaal zurück, sondern betrat die dunkle Bibliothek. Er stellte sich an dasjenige Fenster, von dem aus man die Dächer von Mortland sehen konnte. Mortland … Von Kindheit an stand dieser Name bei ihm für Angst und Schrecken. Sein Vater und die verschiedenen Gouvernanten hatten ihm verboten, auf dem Gelände von Mortland zu spielen. »Dort fressen Geier die kleinen Kinder«, hatten sie ihm gesagt, und er hatte sich entsetzlich vor den Geiern gefürchtet, ohne überhaupt zu wissen, was Geier waren. Später, als er es begriff und die Lüge durchschaute, erklärte man ihm, Mortland wäre so baufällig, daß das Betreten lebensgefährlich wäre. Außerdem existierten angeblich unterirdische Gewölbe, die jederzeit einbrechen konnten, wenn man oben über den Rasen ging. Niemand wollte wissen, wem Mortland einmal gehört hatte. Und heute kümmerte sich niemand mehr um das verlassene Landgut. Mortland … Seine Mutter kam also von dort. Sie stammte aus einem Haus, das Peter sogar jetzt als erwachsener junger Mann fürchtete, als wäre es die Hölle selbst. Er fror bei dem Gedanken, daß Louise Winslow, seine Mutter, ein Jahr nach seiner Geburt bei einem Flugzeugabsturz getötet, von Mortland stammte. Wie mochte der Landsitz früher wohl ausgesehen haben? Und wieso war er verfallen? Fragen über Fragen, und je mehr Fragen er stellte, desto mehr
türmten sich vor ihm auf. Peter Winslow dachte an die Worte des greisen Mr. Brown. Sie sind so glücklich, unser Spiel nicht zu durchschauen! Bewahren Sie sich dieses Glück! Peter fühlte, daß es tatsächlich besser gewesen wäre, nicht nach den Antworten zu suchen. Und doch mußte er es tun, bis er alles wußte. Aber über seine Mutter und Mortland, den Ort des Schreckens wo angeblich Geier die kleinen Kinder fraßen …
* Nachts erwachte Peter Winslow und starrte benommen in die Dunkelheit. »Mrs. Gimple! Mrs. Gimple!« gellte es durch das Haus. Eine Tür schlug zu. »Holt Mrs. Gimple! Mrs. Gimple muß hier wohnen!« Peter dachte noch, daß es Miss Jones war, die da schrie. Miss Jones, eine fünfzigjährige Frau mit grauen Haaren, verhärmtem Gesicht und unbeschreiblichen Augen. Sie wirkten etwas starr, als wäre ihr Blick ständig ins Nichts gerichtet, und sie hatten alle Farben, die man sich nur denken konnte. Das war Peter beim Abendessen aufgefallen. Mal schimmerten sie blau, dann braun, danach wieder grün und dann grau. Er war aber nicht dahinter gekommen, ob es an dem Einfallwinkel des Lichtes oder an etwas anderem lag. Gleich nach diesen Rufen schlief Peter wieder ein und baute die ihm völlig unbekannte Mrs. Gimple in einen Traum ein. Sie besaß kein Gesicht und lief vor ihm davon. Er jagte lachend hinter ihr her, wie er das mit einer seiner Gouvernanten getan hatte. Aber als sie nach Mortland hinüber lief, blieb er weinend stehen und rief ihr nach, daß er nicht dorthin gehen dürfe. Dort wären Geier, die kleine Kinder fräßen! Und Mrs. Gimple antwortete lachend, er solle ruhig kommen, sie wäre selbst ein Geier und wolle ihn fressen. Daraufhin
versuchte er zu fliehen, kam nicht von der Stelle und brach mit dem Rasen ein. Bei dem Sturz in das unterirdische Gewölbe schreckte er mit einem Schrei aus seinem Traum auf. Seine Bettdecke und das Laken waren klatschnaß, er selbst schweißgebadet. Seufzend wendete er die Decke, schloß die Augen und schlief sofort wieder ein. Am Morgen konnte er sich an keinen weiteren Alptraum erinnern. Die nächtlichen Rufe nach der unbekannten Mrs. Gimple erschienen ihm ebenfalls wie ein Traum. Er duschte, zog Jeans und Pullover an und wollte vor dem Frühstück in die Küche gehen, um zu sehen, ob er Mrs. Applegast helfen konnte. Das sollte sozusagen eine Wiedergutmachung für den erlittenen Schreck sein. An Mortland und seine Mutter wollte er nicht denken. Es kam nicht zur Ausführung seines Vorhabens. »Peter«, rief sein Vater unterdrückt, als er die Halle durchquerte. Ungeduldig drehte sich Peter um. Er erwartete eine Standpredigt. Statt dessen kam sein Vater freundlich lächelnd zu ihm. »Guten Morgen, Peter«, sagte der Lord. »Kannst du mir einen Gefallen tun? Ich habe zu arbeiten, und Harvey kann auch nicht weg. Nimm bitte den Wagen und fahre nach Brighton ins Seafarer Hotel. Wir nehmen noch einen Gast bei uns auf, der bisher im Hotel gewohnt hat, Mrs. Gimple!« Überrascht hob Peter die Augenbrauen, erwähnte jedoch nicht, was er nachts gehört hatte. »Ist gut, Dad«, meinte er. »Borgst du mir nach dem Frühstück den Wagen? Ich möchte zum Friseur fahren.« »Warum?« fragte Lord Winslow knapp. »Um mir die Haare schneiden zu lassen«, antwortete Peter gereizt. »Weshalb sonst?« Lord Winslow betrachtete die dichte blonde Haarmähne seines Sohnes. »Sie sind doch tadellos in Ordnung.« »Stell dir vor, ich möchte heute abend besonders gut aussehen,
weil ich in die Disco fahre. Was sagst du dazu? Fällt mein Lord-Vater jetzt in Ohnmacht? Ich fahre jeden Samstag in die Disco. Das ist ja das einzige Vergnügen in dieser gottverlassenen Gegend.« »Ja, ich weiß!« Lord Winslow hustete verlegen. »Ich weiß auch, daß du eine Menge Freundinnen hast, die du dort triffst.« »Und nicht nur das«, bemerkte Peter bissig. Sein Vater trat hastig auf ihn zu und nahm ihn am Arm. »Versteh mich richtig, Junge«, sagte er leise. »Ich gönne es dir! Glaub mir! Du sollst dich unterhalten und deine Jugend genießen. Aber verzichte bitte einmal auf die Disco! Geh heute abend nicht aus! Bitte! Dann brauchst du auch nicht zum Friseur zu fahren. Du bleibst das ganze Wochenende im Haus! Versprich es mir! Bitte!« Lord Winslow sprach so eindringlich, daß Peter nicht ablehnen konnte. Er nickte. »Also gut, dieses Wochenende bleibe ich im Haus.« Er streckte seinem Vater die falsche Hand entgegen. »Die Autoschlüssel! Ich hole jetzt Mrs. Gimple.« Sein Vater gab ihm die Schlüssel, und Peter ging zur Tür, nahm von Harvey seinen gefütterten Parka entgegen und drehte sich noch einmal zu seinem Vater um. »Was hättest du getan, wenn ich abgelehnt hätte?« fragte er. »Wenn ich heute abend trotzdem ausgegangen wäre? Hättest du mich in meinem Zimmer oder in einem Kellerverlies eingesperrt, damit ich nicht ausrücken kann?« Er meinte es als Witz, doch sein Vater sah ihn ernst an. »Ja, das hätte ich getan«, erklärte Lord Winslow. Nachdenklich machte sich Peter auf den Weg. Die Fahrt nach Brighton verlief schwieriger, als er sich das vorstellte. Der Regen hatte Erde über die Fahrbahn gespült. An einer Stelle war sogar die Asphaltdecke eingesunken. Peter mußte im Schrittempo über die gefährliche Strecke fahren. Mehrmals hielt er an und stieg aus, um vom Sturm losgerissene Äste wegzuräumen.
Jedesmal sah er sich nervös und ängstlich um. Er wußte nicht, wovor er sich fürchtete, aber die seltsamen Andeutungen seines Vaters und die merkwürdigen Beobachtungen hatten ihm Angst gemacht. Dabei kannte er dieses Gefühl gar nicht, ausgenommen von früher, wenn er beim Spielen doch einmal zu nahe an Mortland herangekommen war. Dann war er gelaufen, was die Beine hergaben. Schließlich erreichte er Brighton und wollte über die Uferstraße direkt zum Seafarer Hotel fahren. Es gab noch einen Aufenthalt, mit dem er nicht rechnete. Polizeiwagen parkten direkt an der Mole. Polizisten leiteten die wenigen Autos daran vorbei. Peter hielt ein Stück weiter an, obwohl es ihn eigentlich nichts anging. Er hatte unter den Schaulustigen einige Bekannte entdeckt. Nach den bedrückenden Stunden in Sagon Manor wollte er sich mit Leuten unterhalten, die unbeschwert lebten und sich nicht den Kopf über die düstere Vergangenheit verfallener Herrenhäuser zerbrachen. Er schlug die Kapuze seines Parkas über den Kopf, um sich gegen Sturm und peitschenden Regen zu schützen, und schob die Hände tief in die Taschen. So trat er neben drei Gleichalterige aus Brighton, die mit ihren Freundinnen an der Absperrung der Polizei standen. Sie begrüßten Peter Winslow wie einen der Ihren, und das tat ihm gut. Nichts haßte er mehr, als aufgrund des Titels seines Vaters besonders behandelt zu werden. »Was ist denn hier los?« fragte er und deutete mit einem Kopfnicken auf den menschenleeren Strand. Mehrere Polizisten hatten sich bis an die Wasserlinie herangewagt. Sie warfen Seile mit Haken ins Wasser, als wollten sie fischen. »Da draußen treibt einer«, antwortete einer seiner Freunde. »Ist wahrscheinlich ertrunken. Sie wollen ihn rausholen.« »Bei den Wellen?« meinte eines der Mädchen zweifelnd. »Sie können ja nicht einmal Froschmänner einsetzen.« Es kam gelegentlich vor, daß Ertrunkene am Strand ange-
schwemmt wurden. Daher gab es für Peter Winslow keinen Grund, sich hier noch länger aufzuhalten. Trotzdem blieb er stehen und sah zu. Die Polizisten hatten Erfolg. Sie zogen einen leblosen Körper aus der Brandung. »Wer ist denn das da drüben?« erkundigte sich Peter und deutete auf einen Mann mit südländischem Aussehen. »Kennst du ihn nicht?« fragte einer der jungen Männer und grinste. »Nein, wie solltest du? Du lebst ja wie eine Schnecke in Sagon Manor. Das ist der Barmixer vom Seafarer Hotel. Ein Italiener. Keine Ahnung, was er hier soll.« »Doch, der soll den Toten ansehen«, widersprach seine Freundin. »Ich habe gehört, daß seit gestern abend ein Gast des Seafarers vermißt wird. Jetzt vermuten sie natürlich, daß er ertrunken ist. Er wollte noch in die Disco gehen, ist aber auf dem kurzen Weg verschwunden.« Peter Winslow wurde immer aufgeregter. Zuerst war das Seafarer Hotel erwähnt worden, wo er Mrs. Gimple abholen sollte. Dann war ein Vermißter aufgetaucht, der im selben Hotel gewohnt hatte. Unter normalen Umständen wäre es Peter nicht weiter aufgefallen, aber was war im Moment noch normal? Unauffällig schob er sich an die Plastikschnur mit dem Schild POLICE heran. Ein Constable wollte ihn zurückweisen, erkannte ihn aber und kümmerte sich nicht weiter um den Sohn des in der ganzen Gegend angesehenen Lords. Das war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen Peter die Stellung seines Vaters schätzte. So hörte er, was der Italiener erzählte. Er sprach sehr gutes Englisch, wenn auch mit einem harten Akzent, und er erwähnte einen Zwischenfall in der Bar. »Mr. Crother sah angeblich einen Mann, den er von Dover hierher in seinem Auto mitgenommen hatte«, schilderte der Mixer. »Muß ein unheimlicher Kerl gewesen sein.«
Er gab genau wieder, was er von Jim Crother erfahren hatte. Und dieser Mann war im Hotel aufgetaucht … Der Tote wurde nun quer über den Strand an die Ufermauer herangetragen. Peter beugte sich weit über das Geländer und schluckte. Seine Kehle krampfte sich zusammen, und in seinem Magen saß ein schwerer, eisiger Kloß. Dieser Mann da unten war nicht einfach ertrunken. »In eine Schiffsschraube gekommen«, meinte einer der Umstehenden. »Ich war in meiner Jugend in Indien«, behauptete ein alter, grauhaariger Mann mit strengem Gesichtsschnitt und kühlen, grauen Augen. »Habe in einem Regiment im Norden gedient. So sahen die Leute aus, die nachts vom Tiger geholt worden waren.« Peter mußte sich dazu zwingen, auf die Leiche hinunter zu sehen. Dem italienischen Mixer war auch nicht wohl, als ihn die Polizisten zu dem Toten führten. Aber immerhin bekam Peter genau mit, daß der Barmixer den Toten als Jim Crother identifizierte, den Gast aus dem Seafarer Hotel, der einen merkwürdig leblos wirkenden Mann nach Brighton gebracht hatte. Jemand tippte Peter auf die Schulter. »Kommst du heute abend in die Disco?« fragte einer seiner Bekannten. »Wir sind auch da.« »Nein!« stieß Peter hervor, wandte sich hastig ab und rannte zu seinem Wagen. Mit überdrehtem Motor raste er los, bog mit kreischenden Reifen links ab in die nächste Querstraße und ließ den Wagen auf den Parkplatz des Seafarer Hotels schleudern. Er würgte den Motor vor Nervosität ab, sprang aus dem Wagen und lief in das Hotel. Sein Vater hatte ihm Mrs. Gimples Zimmernummer genannt. Deshalb brauchte Peter nicht danach zu fragen. Er ging sofort zu den
Aufzügen und fuhr nach oben. Doch dann stand er vor der Zimmertür und klopfte vergeblich. Niemand antwortete. Ratlos wandte er sich ab und wollte nach unten zur Rezeption, als der Aufzug auf seiner Etage hielt und ein Mann heraus trat, den Peter flüchtig kannte. »Oh, guten Morgen, Mr. Winslow«, grüßte Mr. Chapper, der Besitzer des Seafarer Hotels. »Was verschafft mir das Vergnügen?« Peter erklärte es ihm. »Dann sehen wir doch einmal nach«, meinte Mr. Chapper besorgt. Er holte einen flachen Schlüssel aus der Tasche. »Vielleicht ist Mrs. Gimple schon unten beim Frühstück«, wandte Peter ein, der sich die plötzliche Hektik des Hotelbesitzers nicht erklären konnte. »Das werden wir sehen«, erwiderte Mr. Chapper kurz angebunden. »Aber … können Sie so einfach in das Zimmer gehen?« fragte Peter, der von dem Leichenfund noch verstört war. »Sie sehen, daß ich es kann«, sagte Chapper schroff, schloß auf und stieß die Tür auf. Im nächsten Moment wollte er Peter zur Seite stoßen, doch der junge Mann stand so dicht hinter ihm, daß er alles sah. Peter versetzte seinerseits dem Hotelbesitzer einen Stoß, der Chapper in den Vorraum taumeln ließ, und drängte sich an ihm vorbei. Aus entsetzt aufgerissenen Augen starrte er auf die Leiche auf dem Teppich!
* »Sie Narr!« zischte Chapper. »Jetzt hängen Sie in der Sache drinnen!« Peter sprang elastisch zur Seite und hob die Hände schlagbereit in
Brusthöhe. Seine Augen blitzten auf. »Kommen Sie mir nicht nahe, Chapper!« warnte er leise. Sein Atem ging stoßweise. Er stand geduckt in Abwehrhaltung. »Ich kann mich verteidigen!« Mr. Chapper starrte ihn entgeistert an. »Haben Sie den Verstand verloren, Winslow?« fuhr er Peter an. »Was soll das?« »Sie haben gesagt, daß ich in der Sache hänge!« Peter deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Tote. »Das heißt doch, daß Sie die Frau umgebracht haben! Ich bin Zeuge, und Sie wollen mich beseitigen!« Für einen Moment sah es so aus, als würde der Hotelbesitzer laut auflachen. Er beherrschte sich jedoch und schüttelte nur den Kopf. »Unsinn«, sagte er ruhig und griff zum Telefon, wählte und wartete auf die Verbindung. »Machen Sie keinen Unsinn, Winslow«, warnte er Peter. »Es ist alles ganz anders, als Sie denken.« Doch Peter traute dem Mann nicht. »Dann lassen Sie mich gehen«, verlangte er und deutete auf die Tür. »Lassen Sie mich gehen und die Polizei holen!« »Sie bleiben!« bestimmte Mr. Chapper. »Ja, hallo? Gut, daß ich Sie erreiche. Mrs. Gimple wurde ermordet! – Ja, er ist hier! Ich konnte nicht verhindern, daß er sie sieht. Tut mir leid! Ich wußte selbst noch nicht, was geschehen ist. – Ja, ich halte ihn fest, bis Sie hier sind!« Das war für Peter der Beweis, daß Mr. Chapper in den Mord verwickelt war. Er packte einen schweren Kerzenhalter und hob ihn drohend hoch über seinen Kopf. »Lassen Sie mich aus dem Zimmer!« befahl er. »Gehen Sie aus dem Weg!« Die rechte Hand des Hotelbesitzers tauchte aus der Jackettasche auf. Er richtete eine kleine, aber trotzdem gefährliche Pistole auf Peter. »Sie lassen mir keine andere Wahl«, sagte er seufzend. »Sie blei-
ben! Setzen Sie sich!« Peter starrte auf die Waffe. Er wußte, daß er keine Chance gegen die Pistole hatte. Langsam ließ er den Kerzenhalter sinken und stellte ihn weg. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte er sich in einen Sessel und blickte schaudernd auf die Tote. »Sie sieht genauso aus wie Jim Crother«, murmelte er. »Jim Crother?« fragte Chapper alarmiert. »Wohnt er nicht auch hier im Hotel?« »Die Polizei hat ihn aus dem Meer gezogen.« Peter erzählte, was er gesehen hatte. »Chapper! Ich kenne Sie seit vielen Jahren! Ich hätte nicht gedacht, daß Sie in zwei Mordfälle verwickelt sind!« »Jetzt sind es schon zwei«, sagte der Hotelbesitzer bitter. »Mr. Winslow, Sie wissen eine ganze Menge nicht. Aber es ist nicht meine Aufgabe, es Ihnen zu erklären! Sitzenbleiben!« befahl er, als Peter aufstehen wollte. »Es geht für uns um die Existenz! Sie werden uns nicht gefährden! Das lasse ich nicht zu!« Peter ergab sich in sein Schicksal. Er war überzeugt, daß Mr. Chapper schießen würde. Was tat ein Mörder nicht alles, um einen Mord zu vertuschen! Peter stutzte. Chapper konnte gar nicht der Mörder sein. Er hätte das Zimmer sonst nicht aufgeschlossen, sondern behauptet, Mrs. Gimple wäre nicht da. »Sie werden den Mord vertuschen?« fragte Peter nach einer Weile. »Ja, genau«, bestätigte Chapper. Er zuckte zusammen, als es klopfte. Der Rhythmus des Klopfens war so kompliziert, daß Peter ihn sich nicht auf Anhieb merkte. Chapper kannte ihn allerdings und wirkte sehr erleichtert. Er steckte die Pistole weg und öffnete. Vier Männer kamen in das Hotelzimmer. Der greise Mr. Brown ging voran. Mr. Baker, der Mann mit dem schwarzen Vollbart und der Glatze folgte. Danach trat Butler Harvey in den Raum.
Peter sprang auf, als er den letzten Mann erkannte. »Dad!« rief er. »Was machst du hier?« Lord Hubbard Winslow streifte seinen Sohn nur mit einem flüchtigen Blick. »Setz dich, Peter«, bat er und erteilte präzise Anweisungen, was mit der Leiche, dem Teppich und dem Gepäck der Toten zu geschehen habe. »Am besten ist, sie reist ab«, meinte er zuletzt. »Chapper, erledigen Sie das! Mrs. Gimple wird sich in London ein Hotelzimmer nehmen. Dort wird sie dann ermordet. Mehr können wir nicht tun.« »Ich dachte«, schlug der Hotelbesitzer vor, »Dr. Kennach könnte einen Totenschein über Herzversagen ausstellen.« Lord Winslow betrachtete die Leiche. »In diesem Zustand?« Chapper beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin wandte sich Lord Winslow an den greisen Mr. Brown. »Wenn alle das Zimmer verlassen, kann ich es vielleicht tun«, erwiderte Mr. Brown, nachdem Lord Winslow lange mit ihm geflüsterte hatte. Der Lord deutete auf die Tür. Widerspruchslos gingen die Anwesenden hinaus. Peter blieb sitzen. »Los, komm!« befahl sein Vater. »Lassen Sie ihn, Meister«, erwiderte Mr. Brown mit einem gütigen Lächeln. »Das ist seine erste Lektion!« Der Lord zögerte. »Ich will nicht …«, murmelte er. »Aber ich will, und Sie müssen auf mich hören, auch wenn Sie der Meister sind«, bestimmte der Greis. »Gehen Sie jetzt!« Und zu Peter gewandt, fügte er hinzu: »Hab keine Angst, mein junger Freund, was immer auch geschieht. Bleib sitzen, wo du bist, dann kann dir nichts geschehen!« Peter verstand nichts, aber er war fasziniert von der Art dieses Mannes. Er nickte bloß, zog die Beine an und stellte die Fersen auf die Vorderkante des Sessel. Dann schlang er die Arme um die Knie
und stützte das Kinn darauf. Mr. Brown verwandelte sich völlig. Aus dem gebrechlichen Greis wurde ein kraftstrotzender Mann, der sich hoch aufrichtete und Würde und Autorität um sich verbreitete. Die Falten schwanden nicht aus seinem Gesicht, und doch wirkte es jünger und energievoller. Peter begriff nicht, was Mr. Brown tat, warum er sich so oft über die Leiche beugte, die jetzt im Bett lag, und wieso er die Hände über den Kopf der Ermordeten hielt. Er verstand auch keines der Worte, die der Greis murmelte, und restlos seltsam erschienen ihm die Handbewegungen. Doch er sah ganz genau, was mit Mrs. Gimple geschah. Aus den Bettdecken schien Nebel aufzusteigen. Peter wischte sich über die Augen, doch die Schleier blieben. Er bildete sich nichts ein, hatte auch nichts im Auge. Die Nebel waren wirklich vorhanden. Sie hüllten die Tote vollständig ein, bis sie nicht mehr zu sehen war. Mr. Brown sprach zu Peter, ohne ihn anzusehen. Sein Blick blieb auf die Tote gerichtet. »Man nennt mich nur in eurem Haus Mr. Brown«, erklärte er. »In Wahrheit heiße ich ganz anders, doch meinen richtigen Namen verwende ich nie. Alle nennen mich den Alten aus dem Moor. Ich bin neunzig Jahre und somit der Älteste des Bundes. Deshalb bin ich der Einzige, auf den der Großmeister hören muß.« Es schien Peter, als warte der Alte aus dem Moor auf ein Ereignis und wolle die Zeit bis dahin nützen. »Normalerweise fällt der Großmeister alle wichtigen Entscheidungen, mein Freund«, fuhr der Alte aus dem Moor fort. »Wir alle wohnen so weit auseinander, daß es unmöglich wäre, die anderen um Rat zu fragen. Der Großmeister muß allein wissen, was zu tun ist. Ich zum Beispiel bewohne eine Hütte inmitten der schottischen Hochmoore. Ich habe kein Telefon. Ich erhalte keine Post. Deshalb
kann ich nur selten meine Erfahrung zur Verfügung stellen.« Peter lagen unzählige Fragen auf der Zunge. Er hatte auch das Gefühl, daß der alte Mann sie ihm alle beantwortet hätte. Die unwirkliche Situation hinderte Peter jedoch am Sprechen. Aufgeregt kaute er an seiner Unterlippe und starrte abwechselnd auf die in Nebel eingehüllte Leiche und auf den Alten aus dem Moor. »Letzte Nacht«, fuhr der Greis leise fort, »hatte die Frau mit den vier Augen eine Vision. Du kennst diese Frau als Miss Jones. Sie besitzt vier Augen. Ihre beiden richtigen Augen, ein Auge für die Vergangenheit, eines für die Zukunft. Leider sieht sie nicht immer auf allen Augen gleichzeitig, sonst hätte sie diesen Mord verhindert. Sie sagte voraus, daß Mrs. Gimple Gefahr drohe, aber sie glaubte, wir hätten noch Zeit. Deshalb schickte dich dein Vater erst heute morgen los. In Wahrheit war der Mord schon geschehen!« Peter räusperte sich. »Aber … Sie können doch einen Mord nicht verschleiern«, wandte er heiser ein. »Das ist gegen die Gesetze.« Der Alte aus dem Moor nickte. »Du hast recht, Peter, aber hier haben wir es nicht mit einem Menschen als Mörder zu tun. Der hier gemordet hat, kann nie vor ein Gericht gestellt werden. Er …« Der Greis unterbrach sich, als die Nebel in Wallung gerieten. Genauso schnell und unerwartet, wie sie gekommen waren, zogen sie sich wieder zurück. Auf dem Bett lag noch immer die tote Mrs. Gimple, aber jetzt wies ihre Leiche nicht die geringste Verletzung auf. Sie sah aus, als schliefe sie. »Wir können gehen«, sagte der Greis und wandte sich dem Ausgang zu. Peter erhob sich wie im Traum, schritt hinter dem Mann her und trat auf den Korridor hinaus. Vor der Tür standen nur Lord Winslow und Mr. Chapper. Der Greis wandte sich an den Hotelbesitzer. »Sie können jetzt die Polizei benachrichtigen«, sagte er.
Lord Winslow sah seinen Sohn nervös an. »Was meinst du dazu, Peter?« fragte er leise. »Hast du verstanden, worum es geht?« In diesem Moment verlor Peter Winslow die Nerven. Er hielt es keine Sekunde länger in der Nähe der Toten und dieser Männer aus, die er nicht begriff. Er fühlte, daß sie nichts Schlechtes taten, aber er mußte mit sich selbst ins reine kommen. Er wirbelte herum und rannte weg, hetzte die Treppe hinunter und kümmerte sich nicht um die Rufe seines Vaters. Auf dem Parkplatz warf er sich in den Wagen und fuhr los. Er nahm die Straße nach Sagon Manor, aber er wollte nicht nach Hause. Diese Straße führte nicht nur zu dem Haus seines Vaters. Sie führte auch nach Mortland. An der Abzweigung ließ Peter den Wagen stehen und ging zu Fuß weiter. Er schlug einen Weg ein, den er in seinem ganzen bisherigen Leben gemieden hatte.
* Sie hatten Posten aufgestellt. Wäre jemand auf einen dieser Posten getroffen, hätte es zwei Möglichkeiten gegeben. Die erste sah so aus, daß der Betreffende meinte, eine Leiche entdeckt zu haben. Er wäre zur Polizei gelaufen, die Leiche wäre jedoch verschwunden gewesen. Niemand hätte sich weiter um den Fall gekümmert, da es keine Anhaltspunkte gegeben hätte. Bei dieser Version wäre der Kongreß der Untoten ungestört weitergegangen. Die zweite Möglichkeit sah die sofortige Ermordung des Zeugen vor. Es hätte den Posten keine Schwierigkeit bereitet, die Leiche spurlos verschwinden zu lassen. Auch bei dieser Version hätte der Kongreß keine Unterbrechung erlitten. Es war den Posten überlassen, für welche Möglichkeit sie sich im
Notfall entschieden. Allerdings gab es auch eine Ausnahmeregelung, und nur dieser verdankte es Peter Winslow, daß er auch nach Betreten der Nebenstraße weiterlebte. Die Ausnahmeregelung sah vor, jeden von Sagon Manor erst einmal weiter vordringen zu lassen. Die Vorsitzende des Kongresses hatte dann über sein Schicksal zu entscheiden. Dies traf auf Peter Winslow zu. Er hatte noch keine hundert Schritte auf der Straße nach Mortland getan, als die Vorsitzende verständigt wurde. Sie überlegte nicht lange. »Tötet ihn und laßt seine Leiche spurlos verschwinden!« lautete ihr Befehl an die Posten. Daraufhin wurde Peter Winslow eingekreist. Jeder Befehl der Vorsitzenden wurde bedingungslos befolgt. Es gab keine Diskussion darüber, weil die Kongreßteilnehmer keine eigenen Entscheidungen fällen konnten. Und keiner ihrer Helfer hatte Angst vor den Folgen seiner Tat. Sie alle waren schon einmal gestorben und standen jetzt im Dienst des Bösen. Was hätten sie noch fürchten sollen? Der Kreis um Peter Winslow zog sich immer enger zusammen. Inzwischen hatte er Mortland erreicht. Dort sollte er sterben.
* Mortland … Jeder Schritt auf der Straße nach Mortland raste Peter Winslow wie ein Stich von der Ferse ins Gehirn hinauf. Seine Schritte und sein keuchender Atem waren die einzigen Geräusche auf dieser gottverlassenen, schmalen Straße, die nie ein Wagen befuhr. Das Steinpflaster war an manchen Stellen nicht mehr zu sehen, weil Gräser und Unkraut aus den Ritzen wucherten. Peter
mußte große Pfützen umrunden und Bäche überspringen, die quer über die ehemalige Straße flossen. Trotz des Sturms und des Regens hatte er seine Kapuze zurückgeschlagen. Der Wind zerrte an seinen langen blonden Haaren und ließ sie wie eine Mähne flattern. Peters Gesicht rötete sich von Kälte und Nässe. Sein Mund war nur ein schmaler Strich in diesem verkniffenen, entschlossenen Gesicht. Er mußte Mortland sehen und mit sich klar kommen. Etwas begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Angst … Es gibt keine Geier, es gibt keine Geier, es gibt keine … Peter sagte es sich lautlos im Rhythmus seiner Schritte. Es half. Er widerstand dem zwanghaften Wunsch, ständig nach oben in den grau verhangenen Himmel zu blicken. Er brachte sich auch dazu, sich nicht ständig umzudrehen. An der Grenze zu Mortlands Ländereien schimmerte es zwischen den dichten Büschen am Wegrand hell durch. Er kümmerte sich nicht darum. Sein Ziel war das alte Herrenhaus. Und das Helle war bestimmt kein Mensch. Ein Stein, vermutlich! Warum hatte er nicht schon früher diesen Gang gewagt? Das mit den Geiern war Kinderschreck, das war ihm schon lange klar. Das mit den unterirdischen Hohlräumen, die einstürzen konnten, mochte stimmen. Aber unter der Straße gab es bestimmt keine Gewölbe. Wenn, dann waren sie rings um das Hauptgebäude unter dem Rasen angelegt. Denn wenn sie existierten, dienten sie als Erweiterung der Kellerräume, und die Keller waren bei alten Herrenhäusern immer zum Garten hin gebaut worden. Peter hatte sich eingehend damit beschäftigt. Er kannte sich auf diesem Gebiet aus. Warum war er nicht schon früher auf die Idee gekommen, einfach die Straße zu benutzen! Wie still es doch auf Mortland war. Ganz anders als drüben auf
Sagon Manor, wo man Hundegebell und Vogelstimmen vernahm. An Tagen, an denen der Wind vom Meer kam, hörte man sogar das Rauschen der Wellen. Hier nicht. Auf Mortland war alles stumm, sogar die Natur. Von Sagon Manor aus erblickte man die Spitzen der Dächer von Mortland. Kam man auf der Straße, sah man gar nichts. Die Bäume waren im Laufe der Jahre so dicht und hoch gewachsen, daß sie das Herrenhaus wie eine Mauer umgaben. Sogar jetzt, da sie keine Blätter trugen, schirmten sie das Hauptgebäude völlig ab. Doch da gab es noch Nebengebäude, Scheunen und ehemalige Wagenstallungen. Sie waren ein Stück abseits errichtet, und von dort hörte Peter einen dumpfen Knall. Er zuckte zurück und blieb stehen. Zwischen den Bäumen hindurch entdeckte er ein breites Scheunentor. Es schwang langsam auf. Vermutlich war es vorhin zugefallen und öffnete sich jetzt wieder. Aber weshalb hatte es sich bewegt? Unten in Brighton tobte der Sturm, hier oben regte sich kein Lufthauch. Peter ging weiter. Er hatte stets viel Zeit in der freien Natur verbracht, war ein hervorragender Schwimmer und ausdauernder Läufer. Eigentlichen Sport betrieb er nicht, weil es dazu hier in der Gegend kaum Gelegenheit gab und sein Vater ihn nie gerne fortgelassen hatte. Kampfsport hatte er noch nie versucht. Trotzdem war ihm vor einem Kampf mit einem oder zwei Gegnern nicht bange, so lange sie keine Waffen besaßen. Er war stark und gewandt. Er schritt auf die grauen, tristen Gebäude von Mortland zu. In diesen Minuten fühlte sich Peter von einer sonderbaren Kraft durchströmt. Er fand dafür keinen Vergleich, da er so etwas noch nie gefühlt hatte. Es erinnerte ihn daran, wie er als Junge heimlich ein Glas Wein getrunken hatte. Die Wirkung des Alkohols war fühlbar durch seine Arme und Beine gekrochen und hatte seinen Kopf erfaßt. Doch da-
mals war er wie gelähmt gewesen, und hinterher hatte er sich tagelang elend gefühlt. Jetzt war das ganz anders. Er spürte zwar auch, wie die Wirkung durch seinen Körper strömte und seine Sinne und seinen Verstand beeinflußte. Aber diesmal verdoppelten und verdreifachten sich seine Fähigkeiten. Sein Herz hämmerte rasend schnell. Er wußte nicht, was ihn mehr aufpeitschte, dieses sonderbare Gefühl oder der Anblick von Mortland. Noch ein paar Schritte, und er sah das Herrenhaus vor sich. Das Haus, aus dem seine Mutter stammte! Er sah die breite Zufahrtsstraße, die sich teilte und einen Kreis um einen ehemaligen Springbrunnen bildete. Hinter dem Brunnen lag eine breite Freitreppe, die an mehreren Stellen eingesunken war. Dahinter lag das erhöhte Portal des Hauses. Die Mauern bestanden aus fast schwarzem Naturstein, schmutzig und trist und abstoßend. Das Portal und alle Fenster standen weit offen. Das Portal glich einem gefräßigen Maul, das alles verschlang, was in seine Nähe kam. Die Fenster wirkten wie leere Augenhöhlen, durch die man in die Schwärze des Nichts blickte. Das Haus wurde von hohen Schornsteinen überragt, auf jeder Seite einem, gemauert aus dem gleichen Naturstein und Teufelshörnern ähnlich. Der Anblick bannte Peter Winslow. Er stand regungslos vor dem Gebäude, den Oberkörper vorgeneigt, die Arme leicht zur Seite gespreizt. Dieses Haus war sein Feind, sein persönlicher Todfeind! Die Legende von den Geiern mochte eine Fabel sein, Kinderschreck und blanker Unsinn. Aber einen wahren Kern besaß sie! Hier drohte Todesgefahr! Aus dem Stand heraus schnellte sich Peter Winslow vorwärts.
Hinter ihm krachte es wie von einem zusammenstürzenden Haus. Er drehte sich nicht um, als der Boden erzitterte. In weiten Sätzen rannte er auf den Springbrunnen zu, schnellte sich über den Rand und in das Becken, erreichte trockenen Fußes den künstlichen Felsen in der Mitte und balancierte seine Landung mit ausgestreckten Armen aus. Während er noch um sein Gleichgewicht rang, erschienen Gestalten in jedem Fenster, auf den Balkonen und im Portal des Herrenhauses. Die Tore der Wirtschaftsgebäude flogen auf. Andere Gestalten traten heraus. Peter drehte sich im Kreis. Sie krochen hinter Büschen hervor. Manche schienen direkt aus der Erde zu kommen, aber sie benutzten in Wirklichkeit Schächte, die durch Falltüren verschlossen gewesen waren. Das waren die Zugänge zu den unterirdischen Gewölben! Der junge Winslow prägte sich alles unauslöschlich innerhalb von Sekunden ein. Skelette auf den Balkonen! Leichen, die verschieden lang in Gräbern gelegen haben mochten! Monstren, die jeder Beschreibung spotteten! Sie waren überall! Ihnen gehörte Mortland. Sie hatten jeden Winkel und jeden Raum besetzt. Sie waren im verwilderten Park ausgeschwärmt und erhoben sich hinter Sträuchern, traten hinter Bäumen hervor und robbten um Erdhügel herum. Dutzende, Hunderte waren es, die enger zusammenrückten, um Peter auf seinem Platz oben auf dem künstlichen Felsen einzukreisen. Wo er vorhin gestanden hatte, lag ein Mühlstein. Eine der wandelnden Leichen lag darunter. Diesen Stein hatten sie nach ihm geschleudert, erkannte Peter ohne Schrecken. Er registrierte es kalt und sachlich. Instinkt hatte ihn gewarnt. Er war zur Seite gesprun-
gen, und das hatte ihm das Leben gerettet. An seiner Stelle hatte es einen der Angreifer erwischt. Nun hoben die anderen den Mühlstein wieder hoch. Fünf erwachsene Männer hätten nicht geschafft, was zwei Skelette mit vermoderten Kleidern mühelos ausführten. Drei wandelnde Leichen kletterten auf den Brunnenrand und duckten sich zum Sprung. Oben auf den Balkonen erhob sich infernalisches Klappern und Knattern. Die Gerippe schlugen mit den Knochenhänden auf die steinernen Brüstungen, als wollten sie ihre schauerlichen Gefährten anstacheln. Todesmusik für Peter Winslow! Und da schnellten die Untoten auch schon los und flogen Peter entgegen. Drei auf einmal! Die Meute hatte ihr Wild in die Enge getrieben. Gleich mußte es vorüber sein!
* »Lassen Sie ihn laufen!« befahl der Alte aus dem Moor, als Lord Winslow seinem Sohn ins Hotel folgen wollte. Der Lord blieb stehen, als wäre er gegen die unsichtbare Mauer gelaufen. Das Wort des Alten hatte Befehlsgewalt. »Er wird Unfug machen«, sagte der Lord gehetzt. »Er ist reifer, als es seinem Alter entspricht«, behauptete der Greis ruhig. »Und er ist Ihr Sohn, vergessen Sie das nicht! Er besitzt Ihre Gaben in hohem Maße.« Lord Winslow verdeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich wollte, es wäre nicht so!« »Sie haben von Anfang an einen Fehler begangen, Meister«, sagte Butler Harvey. »Sie hätten Peter auf seine spätere Aufgabe hin erzie-
hen und vorbereiten müssen.« »Ich wollte ihn schonen«, sagte der Lord zwischen den Händen hervor. »Ich wollte, daß er wie ein normaler Mensch lebt, mit normalen Sorgen und normalen Freuden. Ich wollte nicht, daß er wie ich wird.« »Das liegt nicht in Ihrer Hand«, erklärte der Butler. »Harvey hat recht«, mischte sich nun auch Mr. Baker ein. »Ich sage Ihnen das als Freund und in meiner Eigenschaft als Satansspürer. Peter ist von der Aura des Guten umgeben. Er kann gar nicht … er … auch das noch«, murmelte Mr. Baker. Vier uniformierte Polizisten liefen den Korridor entlang. Sie waren über die Treppe gekommen. Im gleichen Moment hielt der Aufzug. Zwei Kriminalbeamte in Zivil traten heraus. Mr. Chapper reagierte geistesgegenwärtig. »Gut, daß Sie kommen, Inspektor«, sprach er den einen Mann in Zivil an und streckte ihm die Hand entgegen. »Da brauche ich mich nicht weiter darum zu kümmern.« »Wir haben einen anonymen Hinweis erhalten, daß hier ein Mord geschehen ist«, erwiderte der Kriminalbeamte und nickte Lord Winslow zu. »Sie auch hier? Wo ist die Ermordete?« Lord Winslow trat auf den Inspektor zu. »Jemand hat Ihnen einen sehr häßlichen Streich gespielt«, erklärte er. »Es ist schon richtig, in diesem Zimmer liegt eine Tote. Mrs. Gimple. Sie gehört zu den Leuten, die ich nach Sagon Manor eingeladen habe.« »Die Versammlung von Antiquitätensammlern, über die ganz Brighton spricht?« fragte der Inspektor. »Genau«, bestätigte der Lord. »Mrs. Gimple wohnte hier im Seafarer Hotel. Als ich sie abholen wollte, meldete sie sich nicht. Mr. Chapper öffnete mit dem Hauptschlüssel. Sehen Sie selbst! Mrs. Gimple ist im Laufe der Nacht entschlafen.« Chapper öffnete die Tür, und der Inspektor trat ein. »Wir hatten noch keine Zeit, einen Arzt zu holen«, erklärte der
Hotelbesitzer. »Aber die Frau ist tot, das sieht man auch als Laie.« »Allerdings, das sieht man«, bestätigte der Inspektor. »Ist gut, ich kümmere mich um alles.« »Dann können wir gehen«, sagte Lord Winslow, der es seines Sohnes wegen sehr eilig hatte. »Nein, tut mir leid«, widersprach der Inspektor. »Ich brauche Sie wegen der Aussagen.« »Dann lassen Sie mich wenigstens telefonieren«, ersuchte Lord Winslow, und das wurde ihm gestattet. Er rief auf Sagon Manor an und sprach mit Mrs. Applegast. Das Gespräch dauerte nicht lange und wurde so leise geführt, daß es niemand verstand. Anschließend fügte sich Lord Hubbard Winslow widerwillig in die polizeilichen Formalitäten, die auch den anderen Beteiligten nicht erspart blieben. Er wußte, daß er für seinen Sohn alles getan hatte, und doch fraß die Sorge in ihm. Peter war sehr impulsiv und beging womöglich einen tödlichen Fehler! In diesen Minuten sah Lord Winslow ein, daß er sich bisher falsch verhalten hatte. Der Alte aus dem Moor sagte schon die Wahrheit. Peter war zu seinem Nachfolger bestimmt, ob es ihm als Vater nun gefiel oder nicht. »Ich hätte ihn vorbereiten sollen«, murmelte der Lord, ohne zu merken, daß er seine Gedanken laut aussprach. Der Alte aus dem Moor legte ihm die welke Hand beruhigend auf die Schulter. »Seien Sie nicht verzweifelt, Meister«, sagte er leise. »Peter hat das Zeug zu einem neuen Großmeister! Er steht unter einem höheren Schutz. Er geht jetzt durch seine Feuertaufe!« Lord Winslow zuckte zusammen. »Sie wissen etwas«, flüsterte er heiser. »Sie besitzen das zweite Gesicht! Was sehen Sie?« »Nichts«, erklärte der Alte aus dem Moor. »Aber ich fühle, daß Pe-
ter in diesen Minuten entweder zu einem Wissenden wird oder stirbt! Sie können nichts mehr für ihn tun!«
* Ohne zu überlegen, trat Peter Winslow voll Abscheu nach den anspringenden Untoten. Der erste überschlug sich in der Luft und stürzte in das hoch aufspritzende Wasser des Brunnens. Der zweite verlor das Gleichgewicht, krallte sich jedoch am Felsen fest und zog sich hoch. Der dritte erwischte Peter voll und umschlang ihn mit seinen Armen. Modergeruch überschwemmte Peter, daß er fast erstickte. Er wankte. Die Oberfläche des künstlichen Felsens war gerade groß genug, daß er darauf stehen konnte. Nun legten sich zusätzlich zu dem Gewicht des an ihm hängenden Untoten eiskalte Finger um seinen rechten Fuß. Peter stieß einen markerschütternden Schrei aus und riß die Arme hoch. Die Umklammerung des Untoten brach auf. Peter schleuderte die lebende Leiche in das algenbedeckte Wasser unter sich, trat nach dem Untoten, der seinen Fuß hielt, und brachte ihn zum Absturz. Während der lebende Leichnam den Halt verlor, stieß Peter sich von ihm ab und schnellte sich auf den Beckenrand, rutschte ab und fiel vornüber zu Boden. Sofort drängten die Bestien von allen Seiten heran und streckten ihre Hände nach ihm aus. Das Schrecklichste war die absolute Lautlosigkeit des Kampfes. Die Untoten schienen keine Stimmen zu besitzen. Peter starrte für Momente in die erloschenen Augen der Leichen, die auf ihn herunter blickten. Er wälzte sich herum, und dann fühlte er Schläge auf seinem Körper, teilte selbst Hiebe und Tritte aus, schnellte sich vorwärts, konnte nicht weiter, wurde zurückgeworfen und sprang hoch.
Er schüttelte Gegner ab, hörte das ohrenbetäubende Klappern der Skelette oben im Herrenhaus, wich anderen Gegnern aus, senkte den Kopf und stieß zwei Skelette zur Seite, die ihm den Weg versperrten. Der Anprall schmerzte, doch Peter lief weiter, während die Untoten nach beiden Seiten auseinander flogen. Er stürmte auf das Herrenhaus zu, was seine Feinde nicht erwarteten, nahm mehrere Stufen der Freitreppe und sprang auf die Balustrade der Terrasse vor dem Haus. Dort verwitterten herrliche alte Statuen, unter anderem eine Rittergestalt mit Schwert. Es war aus Metall, von Grünspan überzogen, doch fest und noch nicht zerfressen wie alles andere. Peter packte das Schwert, zerrte daran und hörte ein scharfes Knacken. Nicht das Schwert brach, sondern die steinerne Faust der Statue. Peter schleuderte sie beiseite, packte den Griff und schwang das Schwert, als habe er von Kindesbeinen an nichts anderes getan. Bei jedem Hieb taumelte ein Angreifer zurück. Und er mußte viele Hiebe austeilen, um sich Luft zu verschaffen. Sie sprangen und krochen die Freitreppe herauf, taumelten unter seinen Schlägen wieder hinunter und versuchten es immer wieder. Und aus dem Haus quollen sie förmlich heraus, die Untoten von Mortland, daß Peter nichts anderes übrig blieb, als sich kämpfend über die Terrasse zurückzuziehen. Als er gegen die Balustrade stieß, ließ er sich darüber wegkippen, kam unten mit den Füßen auf, wirbelte im Kreis herum und trieb die lebenden Leichen zurück, die aus den Fenstern sprangen und über ihn herfielen. Er konnte sie nicht töten, sondern sie nur vor sich herjagen oder sie auf Distanz halten. Seit er das Schwert besaß, kam kein Untoter mehr an ihn heran. Das merkten sie, obwohl sie keinen Verstand zu besitzen schienen. Sie wechselten die Taktik.
Sie bewarfen Peter mit Steinen! Einige Geschosse konnte er durch blitzschnelle Schwerthiebe abwehren, andere jedoch trafen schmerzlich. Ein Instinkt warnte ihn. Wieder sprang er aus dem Stand heraus weit zur Seite, und wieder rettete es ihm das Leben. Neben ihm prallte ein mächtiger Schrank auf den Erdboden und barst. Und nun nahmen ihn die Skelette von den Fenstern aus unter Beschuß. Er mußte sich weit vom Herrenhaus entfernen, um nicht getroffen zu werden. Weg hier, schrie es in ihm! Weg! Er rannte im Zickzack, um kein genaues Ziel für die Steine abzugeben, schrie ein paarmal auf, wenn er doch getroffen wurde, und schleuderte Untote zur Seite, die sich ihm in den Weg stellten. Wieder diese innere Stimme, die ihn ganz plötzlich die Richtung wechseln ließ. Wo sein ursprünglicher Weg entlang geführt hätte, klappte ein Stück des Rasens in die Tiefe. Die unterirdischen Gewölbe! Die Untoten ließen die Decken einstürzen und öffneten Fallgruben, in denen Peter unweigerlich gelandet wäre, hätte es nicht diese innere Stimme gegeben. Er sah eine Hecke vor sich, an der die lebenden Leichen wie eine Mauer standen, rannte auf eine Lücke in den Büschen zu, teilte blindlings Schläge nach allen Seiten aus und schaffte es irgendwie, durch die Bresche zu stürmen. Steine hagelten auf seinen Rücken herab, doch sie hatten lange nicht mehr die Wucht wie vorhin im direkten Kampf. Und Peter erkannte auch sehr schnell, wieso das so war. Die Untoten blieben jenseits der Hecke zurück. Er hatte die Grenze von Mortland passiert und befand sich auf dem Boden von Sagon Manor! Er war gerettet …
* Peter Winslow wurde von Erleichterung durchflutet. Er hatte es geschafft! Um ihn herum herrschte Ruhe. Er hörte das Donnern des Meeres und fühlte den Sturm, der an seinen Kleidern zerrte. Das Schwert fiel aus seiner kraftlosen Hand. Die besonderen Fähigkeiten und die unglaubliche Stärke verließen ihn. Er tat noch ein paar taumelnde Schritte, sank in die Knie, kippte vornüber und rollte auf die Seite. Trotz der tiefen Schwärze, die ihn plötzlich umgab, hörte er Stimmen. Frauen riefen aufgeregt durcheinander, und kurz danach griffen mehrere Hände nach ihm, zogen und zerrten an ihm und hoben ihn auf. »Es geht schon«, lallte er wie ein Betrunkener, kam auf die Beine und wankte zwischen zwei Frauen weiter. Es fiel ihm enendlich schwer, die Lider zu heben. Sein Kopf pendelte nach links, dann nach rechts. Er erkannte seine Schwestern, die ihn stützten. Vor ihm liefen Maud und Mrs. Applegast her. Mrs. Applegast jammerte ununterbrochen »Der arme Junge!«, und Maud weinte lautlos. Peter erholte sich rascher, als seine Schwestern vermuteten. »Du kannst nicht allein gehen«, sagte Alicia vorwurfsvoll, als er ihre Hände wegschob. »Du bist zu schwach.« »Sei vernünftig, Peter!« bat auch seine Schwester Marthe. »Das bin ich!« Er blieb stehen und drehte sich um. Von Mortland waren nur die Dächer zu sehen. »Ihr wißt, was da drüben los ist?« Seine Schwestern schüttelten die Köpfe. Mrs. Applegast senkte den Blick, und Maud zuckte die Schultern. »Auf Mortland halten sich ein paar Hundert Untote auf«, sagte Peter schonungslos. Die Frauen prallten entsetzt zurück.
»Keine von euch fragt, was Untote überhaupt sind«, stellte Peter fest und ging auf sein Vaterhaus zu. »Ihr wißt also alle Bescheid, nicht wahr? Nur ich war bisher der Einzige, der keine Ahnung hatte.« »Dad hat uns beide nie eingeweiht«, erklärte Marthe. »Wir haben es im Laufe der Zeit selbst herausgefunden.« »Maud und ich gehören dazu«, gab Mrs. Applegast zu. »Aber ein Schwur hat uns gebunden. Wir durften dir nichts sagen, Junge. Nur dein Vater, der Großmeister des Bundes, konnte diesen Schwur aufheben.« »Hat er das inzwischen getan?« forschte Peter, der die Zusammenhänge nur in ganz groben Zügen erahnte. »Nein«, erwiderte Maud. »Das war der Alte aus dem Moor. Er kann sogar dem Großmeister, deinem Vater, Befehle erteilen. Er befahl, dich endlich einzuweihen. Du wirst einmal der neue Großmeister!« »Wann?« fragte Peter erschrocken. »Nach dem Tod deines Vaters.« In Mrs. Applegasts Augen schimmerten Tränen. »Und meine Schwestern?« fuhr Peter fort. »Frauen können auch Großmeister werden«, erklärte Maud, »aber deine Schwestern haben nicht die Fähigkeiten, die man dazu braucht. Du hast sie.« Peter dachte an die besonderen Kräfte, die er drüben auf Mortland gespürt und mit deren Hilfe er überlebt hatte. »Verstehe«, sagte er und blieb vor dem Eingang von Sagon Manor stehen. »Der Bund! Ihr alle bekämpft das Böse? Ihr seid Anhänger der Weißen Magie?« Im selben Moment wunderte er sich, daß er Begriffe benutzte, die er noch nie zuvor ausgesprochen hatte. Das Wissen floß ihm wie von selbst zu. »Ja«, bestätigte Maud. »Dein Vater ist nun seit dreißig Jahren
Großmeister. Jedes Mitglied des Bundes ist ein Einzelkämpfer mit ganz besonderen Fähigkeiten. Die Verbindungen untereinander sind sehr locker. Warnungen werden ausgetauscht, Erfahrungen weitergegeben. Dein Vater hat jetzt die wichtigsten Mitglieder des Bundes zu einer Versammlung hierher gerufen. Es sieht ganz so aus, als habe auch der Gegner mobil gemacht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zum Kampf kommt.« Dabei sah sie nach Mortland hinüber. »Was ist Mortland?« fragte Peter schaudernd. Noch lange wußte er nicht alles. »Oder was war Mortland?« Mrs. Applegast sah ihn traurig an. »Mortland war und ist ein Vorposten der Hölle, Peter«, sagte sie dumpf. »Mögen uns die Mächte des Guten schützen, damit wir die nächsten Tage überleben!« Schweigend betraten sie das Haus, und Peter merkte erstaunt, daß sie ihm respektvoll den Vortritt ließen. Mit Unbehagen dachte er an Mauds Worte. Er sollte einmal der neue Großmeister werden. Noch ahnte er nicht einmal in Ansätzen, was das für ihn und sein ganzes künftiges Leben bedeutete, aber von diesem Moment an war alles verändert. Nichts, aber auch gar nichts, würde jemals so sein wie vor diesem Tag!
* Mrs. Applegast wollte sich um Peter Winslow kümmern, doch er lehnte ab. »Alicia und Marthe sollen mir helfen«, bestimmte er, und niemand widersprach. Sagon Manor bestand aus einem kleinen Hauptgebäude und mehreren fast gleich große Anbauten. Es war verschachtelt angelegt und stammte aus mehreren Epochen. Durch diese Bauweise hatte fast jedes Familienmitglied einen eige-
nen Trakt, so auch Peter. Er bewohnte den ersten Stock eines Anbaus, der nahtlos in das Haupthaus überging. Zu seinen Räumen gehörte ein eigenes Bad. Jetzt ging er mit seinen Schwestern allerdings in das allgemeine große Badezimmer, dem eine Sauna angeschlossen war. Dieser Raum war riesig. Zwei Ruheliegen standen ebenfalls darin, und der Badeteil konnte durch einen Vorhang abgetrennt werden. Deshalb hatte Peter dieses Bad gewählt. Maud brachte für ihn neue Kleider. Seine alten mußten weggeworfen werden. Sie waren völlig zerfetzt und blutig. »Erzählt mir, was ihr beide wißt!« rief Peter seinen Schwestern durch den Vorhang zu, während er sich in das warme Wasser der Wanne gleiten ließ. »Da gibt es nicht viel zu sagen«, antwortete Alicia. Sie war sechs Jahre älter als ihr Bruder, also sechsundzwanzig, und äußerlich ein Ebenbild ihrer Mutter, mit schwarzen Haaren und pechschwarzen Augen. »Dad hat nie über seine Tätigkeit gesprochen, aber wir schnappten etwas auf, sahen Briefe seiner Anhänger, hörten Telefongespräche mit. Harvey gehört auch zum Bund. Wenn die beiden allein sind, spricht er Dad mit ›Meister‹ an.« »Wir sprachen zu Dad nie darüber, daß wir Bescheid wissen«, ergänzte Marthe. Sie war vierundzwanzig und hatte wie Vater und Bruder blaue Augen und blonde Haare. »Aber Dad weiß, daß wir eingeweiht sind. Wir haben sozusagen untereinander ein unausgesprochenes Schweigeabkommen.« Peter genoß das warme Wasser, auch wenn es in seinen zahlreichen Schnitt- und Kratzwunden brannte. »Habt ihr deshalb nicht geheiratet?« platzte er heraus. »Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen.« »Nein, schon gut«, antwortete Marthe. »Du hast recht, das war einer der Gründe.« »Ein zweiter ist«, ergänzte Alicia, »daß wir Dad nicht allein lassen
wollten. Seit Mutters Tod … Seit damals hat er übrigens die schneeweißen Haare. Es war der Schock, als sie abstürzte.« Peter ließ den Schwamm auf dem Wasser schaukeln und um seine Knie schwimmen. »Was wißt ihr über Mutters Tod?« Er hatte seinen Schwestern diese Frage schon früher gestellt und keine Antwort erhalten. Diesmal antworteten sie. »Es war mysteriös«, sagte Marthe stockend. »Sie ging an Bord einer Maschine, die von London nach New York flog. Sie hatte nichts in New York zu tun, kannte niemanden in Amerika und wollte gar nicht fliegen. Als Dad dahinterkam, daß sie nicht im Haus war, flog die Maschine bereits über den Atlantik. Sie wurde nie gefunden.« »Dad war von diesem Tag an wie umgewandelt«, berichtete Alicia mit Tränen in der Stimme. »Er sprach nie wieder von Mutter. Nie!« Die Tür schlug zu. »Geht hinaus!« sagte Lord Winslow mit rauher Stimme. Peter konnte wegen des Vorhanges nichts sehen, aber er hörte die hastigen Schritte seiner Schwestern und das Klappen der Tür. Dann schob sein Vater den Vorhang beiseite, betrachtete kopfschüttelnd das zerschundene Gesicht seines Sohnes und setzte sich auf eine der Ruheliegen. »Du sollst die Wahrheit über deine Mutter erfahren«, sagte er und starrte auf seine Schuhspitzen. Peter stieg aus dem Bad, während sein Vater erzählte. »Vor dreißig Jahren kam der damals Älteste des Bundes der Weißmagier hierher und gab diesem Haus den Namen Sagon Manor. Sagon entstammt der weißmagischen Sprache und ist ein Bannwort gegen das Böse. Ich war Waise, achtundzwanzig Jahre alt und in Louise Mortland verliebt. Damals wußte ich nicht einmal, daß es Schwarze und Weiße Magie gibt. Der Älteste weihte mich in alle Geheimnisse der Weißen Magie ein und öffnete mir die Augen über die Familie Mortland, Vater und Tochter. Der Vater deiner Mutter war ein mächtiger Anhänger der Schwarzen Magie. Weil ich seine Toch-
ter liebte, wurde ich zum Großmeister des weißmagischen Ordens gemacht. Ich heiratete deine Mutter, die nichts ahnte, und meinte, sie für immer vor den Gefahren des Bösen bewahrt zu haben. Ihr Vater brach mit ihr, und sie betrat nie wieder das Gut Mortland. Deine Schwestern wurden geboren, dann du. Und deine Mutter wußte weder, was ihr Vater tat, noch welchen Rang ich besaß.« Lord Winslow kämpfte gegen seine innere Bewegung. Peter hörte atemlos zu, während er sich anzog. »Bald nach deiner Geburt starb der Vater deiner Mutter, und Mortland fiel als Erbe an meine Frau Louise. Noch heute gehört Mortland uns.« »Dad!« rief Peter überrascht. Sein Vater ging nicht auf den Zwischenruf ein. »Ein Jahr nach deiner Geburt verschwand deine Mutter. Ich hatte nicht bemerkt, daß der Geist ihres Vaters Besitz von ihr ergriffen hatte. Das Böse führte einen grauenvollen Schlag gegen mich und den Orden. Es zwang deine Mutter an Bord jenes Flugzeuges. In diesem Flugzeug reiste der damals weiseste Mann unseres Bundes nach Amerika. Er sollte jenseits des Ozeans gegen die Schwarze Magie helfen. Der Geist des alten Mortland zwang deine unglückliche Mutter, das Flugzeug zum Absturz zu bringen. Nur so war dieser gefährliche und mächtige Mann der Weißen Magie zu töten. Nun kennst du das Geheimnis.« Peter war inzwischen voll angezogen. Erschüttert sank er auf die zweite Liege. »Alicia und Marthe …«, murmelte er. »Sie wissen es nicht«, sagte der Lord niedergeschlagen. »Sie denken, daß ihre Mutter weglaufen wollte … oder etwas Ähnliches. Die Wahrheit kennen sie nicht.« »Und ich soll der neue Großmeister werden?« fragte Peter atemlos. »Der Alte aus dem Moor will es so?« Lord Winslow nickte. »Ich wünschte, es wäre anders.« Seufzend
stand er auf. »Ich habe schon von dem Heer der Untoten gehört, das sich in Mortland aufhält. Bald treffen alle Mitglieder unseres Bundes hier zusammen. Komm zu der Beratung. Wir müssen beschließen, was wir tun.« »Hast du keine Angst, daß sie herüber kommen und uns angreifen?« forschte Peter. »Eigentlich nicht«, antwortete sein Vater. »Sagon Manor selbst ist durch einen Bann geschützt. Ich sagte es schon. Trotzdem müssen wir diese Untoten unschädlich machen. Sie können sämtliche Zugänge nach Sagon Manor unterbinden. Sie können aber auch Brighton oder eine andere Stadt angreifen. Vielleicht gibt uns die Frau mit den vier Augen Aufschluß über die eigentlichen Ziele der Untoten. Wir werden sehen.« »Dad«, fragte Peter, als sein Vater das Badezimmer verlassen wollte. »Dad, was meinst du? Warum wurde dieser Jim Crother von einem Untoten ermordet?« »Vermutlich, weil er den Untoten im Seafarer Hotel sah und von der Autofahrt her kannte«, antwortete der Lord. »Der gefährliche Zeuge mußte schweigen.« »Und warum wurde Mrs. Gimple getötet? Warum nicht ein anderes Mitglied des Bundes? Warum wurde überhaupt ein Mitglied des Bundes ermordet? Dadurch wurdet ihr … wurden wir doch erst auf diese Untoten aufmerksam.« Lord Winslow nickte seinem Sohn zu. »Ich sehe, du zählst dich schon zum Orden der Weißen Magier, mein Sohn! Nun gut, ich gebe dir die Antwort. Mrs. Gimple wurde getötet, weil sie mir heute den Namen eines Mannes oder einer Frau nennen wollte. Gestern rief sie mich an und kündigte es für heute an. Während des Schlafes wollte sie sich in Trance versenken, um diesen Namen zu erfahren.« »Den Namen – wessen?« fragte Peter in atemloser Spannung. Der Lord richtete sich hoch auf. »Den Namen eines Verräters in unseren eigenen Reihen, mein Sohn!« sagte er. »Der Feind hat einen
der Seinen bei uns eingeschmuggelt!« Peters Augen weiteten sich entsetzt. »Wer besitzt nach Mrs. Gimples Tod noch die Fähigkeiten, diesen Verräter zu entlarven?« rief er bestürzt. »Niemand«, sagte sein Vater. »Niemand, mein Sohn! Das Verhängnis nimmt seinen Lauf!«
* Das Mittagessen fiel an diesem ersten November auf Sagon Manor aus. Mrs. Applegast hatte sich nach Lord Winslows Anruf aus dem Seafarer Hotel an der Suche nach Peter beteiligt, und nach Peters Kampf auf Mortland und der Aufregung um den Mord an Mrs. Gimple hatte niemand Appetit. Gemeinsam mit Maud bereitete Mrs. Applegast in aller Eile Platten mit Sandwiches, die Harvey auf dem Tisch des Speisesaales aufbaute. Wer Hunger hatte, konnte sich bedienen. An diesem Tag wurde es nicht richtig hell. Die dunklen Wolken verhinderten es. Sie wälzten sich vom Meer her gegen die Küste, als wären sie zum Schweben zu schwer. Einige streiften tatsächlich die Hügel hinter Sagon Manor und schütteten ihren Inhalt wie tropische Platzregen auf das Land. »Das gibt eine Überschwemmung«, sagte Peter, als Harvey hinter ihm vorbei ging. Er stand an einem Fenster der Halle und starrte in den dichten Regen hinaus. »Mit Verlaub, Mr. Peter, die Überschwemmung ist schon da«, bemerkte der Butler. »Seine Lordschaft hat vorhin in Brighton angerufen, damit sich die Gäste unverzüglich auf den Weg hierher machen. Später gibt es vielleicht kein Durchkommen mehr.« »Ist es so schlimm?« fragte Peter überrascht. »Noch schlimmer.« Harvey räusperte sich und trat näher. »Mit Verlaub, wenn ich mir eine persönliche Bemerkung erlauben darf.«
»Sie dürfen, Harvey, Sie dürfen«, gestattete Peter. Bisher hatte er über die altmodisch geschraubte Ausdrucksweise des Butlers oft gelächelt und Harvey deshalb auch offen aufgezogen. Jetzt war ihm das Lächeln vergangen. Vor allem wußte er, daß Harveys Gehabe als Butler nur Maske war. »Ich meine«, erklärte der Butler leise, »daß dieses Wetter nicht von ungefähr kommt, Mr. Peter.« »Ach nein?« Peter hob die Augenbrauen und musterte Harvey scharf. »Was denn? Muß ich Ihnen jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen?« Harvey deutete mit einem vielsagenden Kopfnicken durch das Fenster. Peter folgte seinem Blick und sah schemenhaft durch die Regenschleier die Dächer von Mortland. »So«, murmelte er. »Sie denken an unsere Freunde da drüben? Glauben Sie, die pusten die Regenwolken nach Sagon Manor, damit wir hier schwimmen lernen?« »Sir, bitte, nicht diesen unbekümmerten Ton in so ernsten Angelegenheiten!« rief Harvey entsetzt. »Seien Sie nicht so verkrampft, mein Freund«, riet Peter grinsend. »Locker! Gehen Sie gelöst an die Sache heran. Es wird schon noch ernst genug werden!« Harveys steinerne Miene verriet, daß er sich niemals erlauben würde, locker an etwas heranzugehen, ob es nun in seinen Bereich als Butler oder als Mitglied des weißmagischen Ordens fiel. Er wollte sich mit einer leichten Verbeugung zurückziehen, doch Peter hob die Hand. Sofort blieb Harvey stehen und kam auf Peters Winken ganz nahe. »Wer ist der Verräter?« fragte Peter Winslow leise. Für einen Moment vergaß Harvey seine eigenen Grundsätze. Er schrak heftig zusammen, was er sich als Butler niemals gestattete. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Sprechen Sie um Himmels willen nicht darüber!«
»Mein Vater weiß es, Sie wissen es, und jetzt weiß ich es auch, weil er es mir gesagt hat.« »Sir!« Die Stimme des Butlers bekam einen flehenden Unterton. »Sir, der Großmeister hat die bestürzende Nachricht noch nicht allgemein bekanntgegeben. Sie dürfen ihm nicht vorgreifen! Ihr Vater ist der Großmeister, nicht Sie!« »Und so möge es noch lange bleiben.« Peter schüttelte den Kopf. »Ich bin dafür, daß es alle so schnell wie möglich erfahren. Dann erfährt es nämlich auch der Verräter und wird sich möglicherweise selbst verraten. Wie finden Sie das, Harvey? Ist es nicht ein Witz? Ein Verräter, der sich selbst verrät. Was sollte er sonst machen? Verraten ist doch seine Aufgabe!« »Sie treiben mit Entsetzen Spott!« hauchte der Butler schockiert. Peter schloß die Augen und ballte die Fäuste. »Harvey! Ich versuche, mit allem fertig zu werden und das Entsetzen zu ertragen! Gestern wollte ich noch nach London ziehen und dort ein unbeschwertes Leben führen. Ich wollte vielleicht studieren oder Künstler werden, wollte reisen und meine Jugend genießen. Und heute stecke ich mitten in einem Kongreß von Weißmagiern, und auf dem ehemaligen Landgut meiner Mutter haben sich ein paar Hundert Untote eingenistet, denen ich mit knapper Mühe entgangen bin. Also, lassen Sie mir gefälligst meinen Galgenhumor und verdrehen Sie nicht die Augen wie eine alte Jungfer, der man einen unsittlichen Antrag macht! Verstanden, Harvey?« Peter öffnete die Augen und starrte Harvey so durchdringend an, daß sich der Butler hastig zurückzog und sogar seine obligatorische Verbeugung vergaß. Um sich abzureagieren, ging Peter in den Speisesaal hinüber. Außerdem meldete sich bei ihm der Hunger. Im Speisesaal war niemand, was Peter angenehm berührte. Er war jetzt nicht in der Stimmung. sich mit jemandem zu unterhalten. Er nahm sich einen Teller und lud drei Sandwiches darauf. Der
Appetit fehlte, aber er war vernünftig genug, um etwas zu essen. Sehr bald schon würde es einen Kampf auf Leben und Tod geben, ein für ihn erschreckender Gedanke, hatte er doch bisher in einer absolut friedlichen Welt gelebt. »Laß es dir gut schmecken«, erklang hinter ihm eine Stimme. Erschrocken fuhr er herum und ließ beinahe seinen Teller fallen. »Willst du meine Nerven ruinieren, Alicia?« fragte er halb ärgerlich, halb lachend. »Warum hast du dich nicht früher bemerkbar gemacht?« Sie saß in einer Ecke zwischen zwei Anrichten und verschmolz in ihrem dunklen Kleid mit der düsteren Umgebung. »Für einen neuen Großmeister hast du schlechte Nerven«, stellte sie mit liebevollem Spott fest. »Harvey würde dich für diese lockere Bemerkung tadeln«, sagte Peter und schaltete die Lichter ein, allerdings nur die durch seidene Schirme gedämpften Wandlampen. Die Kristallüster an der Decke ließ er ausgeschaltet. Er zog einen Stuhl von der Tafel weg und setzte sich zu seiner älteren Schwester. »Habt ihr wirklich nur Dads Stellung wegen nicht geheiratet?« fragte er und schlug seine Zähne in das erste Sandwich. Alicia hatte einen leeren Teller auf der Anrichte neben sich stehen. Sie saß mit verschränkten Händen da und erwiderte den forschenden Blick ihres Bruders mit Gleichmut. »Es ist uns wahrscheinlich nie der richtige Mann über den Weg gelaufen«, sagte sie. Ihre schwarzen Augen schimmerten traurig, obwohl sie unbekümmert lächelte. »Sagon Manor ist nicht gerade ein Durchgangslager für interessante Männer.« »Nein, wirklich nicht«, bestätigte Peter. »Auf die Idee, wegzugehen und anderswo dein Glück zu versuchen, bist du nie gekommen? Ich meine, du kannst doch nicht in diesem Haus versauern. Du hast keine Aufgabe, du hast nicht einmal ein besonderes Hobby, so viel ich weiß.«
»Ich lese viel«, antwortete Alicia leise. »Wie schön«, bemerkte er sarkastisch. »Trotzdem, das ist kein Leben für dich.« »Marthe und ich, wir haben uns damit abgefunden«, behauptete Alicia. Peter glaubte es nicht, ging jedoch nicht weiter auf dieses Thema ein. Er ließ seinen Blick über die pechschwarzen Haare der Schwester, ihr schmales, zartes Gesicht und ihre schlanke Figur gleiten. »Du siehst genau wie unsere Mutter auf Fotos aus«, sagte er leise. »Du hast sie noch gekannt. Stimmt das?« Alicia nickte traurig. »Ich bin ihr Ebenbild.« Peter dachte schaudernd an den Geist des alten Mortland, seines Großvaters. Was war aus ihm geworden, nachdem er die eigene Tochter in den Tod geführt hatte? War er für immer im Nichts verschwunden, oder lauerte er zwischen den Dimensionen, um wieder einmal zuzuschlagen, wenn sich eine günstige Gelegenheit bot? »Warum sprichst du plötzlich so oft von unserer Mutter?« fragte Alicia. Peter hob die breiten Schultern und ließ sie unschlüssig wieder sinken. »Weißt du«, erklärte er seiner Schwester, »seit von dieser Zusammenkunft der angeblichen Antiquitätenfreunde die Rede ist, fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt.« »Warum?« hakte sie nach. »Ich glaube, ich kenne die Erklärung.« Peter nahm das letzte Sandwich und stellte den Teller weg. »Ich erinnere mich daran, daß Dad viele solche Zusammenkünfte abhielt, als ich noch ein kleiner Junge war. Diese ganzen Vorbereitungen in den letzten Tagen haben diese alten Erinnerungen in mir hochsteigen lassen. Damit kam auch das Interesse an unserer Mutter.« »Die von dem Geist unseres Großvaters in den Tod getrieben wurde«, sagte Alicia. Jetzt fiel Peter tatsächlich vor Überraschung das Sandwich aus der
Hand. Es landete mit der Butterseite auf seiner Jeans. »Das weißt du?« fragte er bestürzt und nahm das Brot, den Schinken und den Spargel mit spitzen Fingern von seiner Jeans. »Sieh nur, was du angerichtet hast, Alicia! Kannst du nicht schonender mit mir umgehen?« »Tut mir leid, du Nervenbündel!« Alicia holte ein Taschentuch hervor und wischte die Butter von seiner Hose. »Es stimmt, Marthe und ich wissen seit einigen Jahren Bescheid, wie es wirklich war. Dad ahnt es aber nicht, und wir wollen es dabei belassen. Ich glaube, er würde sich noch mehr grämen, wüßte er, daß wir eingeweiht sind.« Alicia legte ihr fettverklebtes Taschentuch auf ihren leeren Teller. »Weißt du, es gibt noch einen Grund, warum Marthe und ich ledig sind. Wir haben beide Angst vor einer Ehe.« »Verstehe ich nicht«, murmelte Peter, betrachtete seine butterglänzenden Finger und leckte sie kurzerhand ab. »Emanzipationsängste? Denn häßlich seid ihr beide gerade nicht, daran kann es nicht liegen.« »Danke für die Schmeicheleien, Peter.« Alicia lächelte bitter. »Wir haben Angst, uns in einen Mann zu verlieben und eigene Kinder zu haben. Sagon Manor ist durch einen weißmagischen Bann gesichert. Aber ein Ehemann verläßt auch einmal das Haus. Kinder müssen zur Schule und wollen Ausflüge machen. Sie möchten Freunde besuchen und etwas erleben. Und was geschieht, wenn sie außerhalb von Sagon Manor sind?« Peter begann etwas zu ahnen, sagte jedoch nichts, um es von Alicia zu hören. Sie strich sich fahrig eine schimmernde Strähne des schwarzen Haares aus der Stirn. »Das Böse lauert überall und kennt seine Feinde«, erklärte sie. »Das Böse kennt, vor allem uns. Sagon Manor, die Burg des Großmeisters des weißmagischen Ordens, ist das Hauptziel unserer Feinde. Deshalb ließ Vater dich ja bisher auch nicht nach London gehen. Nach der Zusammenkunft seiner Bundesgenossen
wollte er es dir erlauben. Er dachte, die Ordensversammlung würde einen vernichtenden Schlag gegen das Böse führen, und du könntest danach sicher in London leben. Nun sieht alles anders aus.« »Du und Marthe, ihr fürchtet, daß eure Männer und Kinder ermordet oder entführt werden könnten«, sagte Peter erschüttert. »Wie schrecklich für euch!« »Und wie schrecklich für dich«, sagte Alicia mit brüchiger Stimme und stand auf. Mitleidig sah sie auf ihren Bruder hinunter. »Du bist noch so jung und voller Hoffnungen! Du wirst alle diese Hoffnungen begraben müssen. Du wirst nie ein erfülltes Leben führen können.« Sie wandte sich ab und verließ mit fast lautlosen Schritten den Speisesaal. Peter blickte seiner Schwester wie betäubt nach. Sie hatte recht! Und wie recht sie hatte! Erst jetzt ging es ihm auf, daß auf ihn dasselbe wie auf seine Schwestern zutraf. Auch er konnte nicht heiraten und Kinder haben, ohne Frau und Kinder wehrlos den bösen Mächten auszuliefern. Seine eigene Mutter war das entsetzlichste Beispiel für die Gefahren, die der Familie eines Großmeisters drohten. Peter hätte sich sicher noch einige Zeit dieser bestürzenden Erkenntnis hingegeben, wäre er nicht gestört worden. »Helft ihnen!« gellte eine schrille Frauenstimme durch das Haus. Das war die Frau mit den vier Augen! »Helft ihnen, im Namen des Ordens, helft ihnen!« schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Schnell, sonst sind sie alle verloren! Helft! Helft!«
* Peter Winslow jagte hoch und hetzte aus dem Speisesaal.
Das Haus war von Rufen erfüllt, dem Klang hastiger Schritte und den schrillen Schreien der Frau mit den vier Augen. Peter richtete sich nach der Stimme seines Vaters und gelangte in die Bibliothek. Hier fand ein heftiger Kampf statt. Mehrere Stühle waren umgeworfen, Bücher aus den Regalen gefegt. Lord Winslow steckte mitten in dem Knäuel aus Menschen, die verbissen kämpften. Er erblickte seinen Sohn. »Lauf!« schrie er Peter zu. »Rette unsere Freunde! Sie sind auf dem Weg hierher!« Peter zögerte einen Moment, bis er erkannte, daß er sich getäuscht hatte. Hier fand gar kein Kampf statt. Die Frau mit den vier Augen tobte, als habe sie den Verstand verloren. Sie schlug wahllos um sich und versuchte, sich aus den Griffen der anderen zu befreien. Lord Winslow und seine Helfer mußten sie festhalten, sonst hätte sie sich selbst verletzt. Sie war in Trance gefallen und in diesem Zustand nicht mehr Herrin über ihren Körper. »Lauf!« rief Lord Winslow noch einmal. Jetzt hielt seinen Sohn nichts mehr. Er stürmte in die Halle hinaus und sah sich um, wer ihm folgte, um ihm im Kampf zu helfen. Niemand! Mit einem Sprung war er im angrenzenden Garderobenraum und riß seine Lederjacke vom Bügel. Es krachte, als er den Bügel dabei zerbrach, und es knirschte, als er das Futter zerriß. Beides störte ihn nicht. Es ging um Menschenleben! Wie sollte er ganz allein rettend eingreifen? Vermutlich überfielen die Untoten von Mortland die Mitglieder des Ordens! Peter wartete vergeblich darauf, daß sich die gleichen ungewöhnlichen Kräfte einstellten wie drüben auf Mortland. Im Moment fühlte er sich recht normal, im Gegenteil, er schlotterte sogar vor Angst und fror erbärmlich. Schon streckte er die Hand nach der Vordertür aus, als er seinen Namen hörte.
»Peter, komm her!« rief Mrs. Applegast. Er wirbelte herum. Sie stand in dem Korridor, der zur Küche führte, und winkte ihm mit ihren dicken Armen zu. Ihr rundliches Gesicht wirkte nicht freundlich und vergnügt wie sonst, sondern kalt und entschlossen. Er lief hinter ihr her in die Küche. Auf dem Hackblock lag ein blitzendes Beil. Mrs. Applegast, die er stets als humorvolle, nur am Essen interessierte Köchin gekannt hatte, beugte sich über das Beil, murmelte etwas, küßte die blitzende Klinge und reichte es Peter. »Und jetzt lauf, mein Junge«, sagte sie. Ihre Stimme vibrierte vor Angst, und ihre Augen schimmerten feucht. »Und denke stets an die Grundregel des Ordens! Töte nie einen Menschen, auch nicht in höchster Not!« Peter hatte keine Zeit, um über ihre Worte nachzudenken. Er packte das Beil, mit dem Mrs. Applegast seit Jahren die Knochen für ihre Suppen hackte, und stürmte direkt aus der Küchentür ins Freie. Der Sturm peitschte ihm entgegen, und der Regen tippte wie mit Tausenden von Fingern auf seine Jacke. Er hatte eine Kopfbedeckung vergessen, so daß seine Haare schon nach wenigen Sekunden strähnig herunter hingen. Das Wasser lief in seinen Nacken. Doch während er losrannte, spürte er keine Kälte mehr. Und nun durchflutete ihn auch endlich wieder das Gefühl, es mit jedem Gegner aufnehmen zu können. Das Beil verlor sein Gewicht und lag federleicht in seinen Händen. Es machte sich bezahlt, daß er oft durch die Dünen gelaufen war, um sich fit zu halten. Ausdauernd trabte er die Straße entlang, sehr schnell und doch Kräfte sparend. Noch war nichts von einem Kampf zu sehen. Ob sich die Frau mit den vier Augen getäuscht hatte? Er kannte sie nicht gut und wußte nicht, ob ihre Fähigkeiten tatsächlich herausragten. Bei Mrs. Gimple hatte sie sich zum Beispiel im Zeitpunkt des
Mordes getäuscht. Also war sie nicht unfehlbar. Noch befand sich Peter auf dem Gebiet von Sagon Manor, aber er näherte sich der Abzweigung nach Mortland. Dort war der Besitz seines Vaters zu Ende. Neutraler Boden begann. Auch an der Abzweigung war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Peter warf einen Blick auf die halb zugewachsene Straße nach Mortland. Falls die Untoten einen Posten aufgestellt hatten, hielt er sich gut verborgen. Er suchte während des Laufens mit Blicken Büsche und Bäume ab, die neben der Straße wuchsen. Kein einziger Untoter ließ sich sehen, und Peter kam immer mehr zu der Überzeugung, daß die Frau mit den vier Augen fehlsichtig war. »Die soll sich eine Brille kaufen!« rief er und lachte wild auf. Die zurückgestaute Anspannung brach aus ihm heraus. Es tat ihm gut, sich auf diese Weise zu erleichtern. Gleich darauf zog sich seine Kopfhaut zusammen. Ein unangenehmes Kribbeln lief über seinen Rücken. Es war ihm nämlich etwas eingefallen. Das Gefühl, über sich selbst hinauszuwachsen, stellte sich doch wohl nur ein, wenn wirklich Gefahr drohte. So war es auf Mortland gewesen. So war es jetzt. Also gab es diese Gefahr! Und schon war sie da, die Angriffswelle. Von links sprangen etwa ein Dutzend Skelette über den wassergefüllten Straßengraben. Sie hatten hinter einer kniehohen Steinmauer gelegen, die Weidegrund von der Straße abtrennte. Sie erreichten Peter nicht, weil er schneller war als sie und sie hinter sich ließ. Er erreichte die Stelle, an der die Straße eingebrochen war. Wasser strömte breit und lehmigbraun darüber hinweg. Mit einem weiten Satz schnellte sich der junge Winslow auf die andere Seite, kam gut auf und hetzte weiter, drehte sich im Laufen um und sah die Skelette auf seiner Fährte. Mit weit ausholenden, grotesk wirkenden
Sprüngen versuchten sie, ihn einzuholen. »Trainiert erst mal!« rief er ihnen wütend zu und erhöhte sein Tempo. Doch der Gegner hatte mehr zu bieten als das Dutzend Skelette. Weiter hinten kamen lebende Leichen zum Vorschein und schnitten Peter den Rückweg nach Sagon Manor ab. Eine Idee blitzte in seinem Kopf auf. Vielleicht war die Frau mit den vier Augen die gesuchte Verräterin, die ihn durch die falsche Botschaft hierher in den Hinterhalt der Untoten gelockt hatte. Er wollte stehenbleiben und sich zum Kampf stellen, so lange er es mit verhältnismäßig wenigen Feinden zu tun hatte. »Lauf weiter, Peter«, sagte eine unglaublich sanfte Stimme. Sie wehte ihm entgegen wie ein warmer Frühlingshauch und schien für Momente Sturm und peitschenden Regen zu vertreiben. »Lauf, Peter! Bleib nicht stehen!« Er lief weiter und kam gar nicht auf den Gedanken, diese weiche Frauenstimme könne ihm Böses zufügen. Sie war ihm vertraut, ohne daß er sie kannte, und sie beruhigte ihn und gab ihm neuen Mut. Und sie hatte ihm richtig geraten. Er sah es, als er die nächste Kurve nahm und ein langes, gerades Straßenstück überblickte. Hier tobte ein grauenvoller Kampf. An die hundert Untote hatten eine Wagenkolonne überfallen, und der Sieg der lebenden Leichen war nur eine Frage von Sekunden.
* Die Vorsitzende des Kongresses der Untoten triumphierte. Alles lief nach Plan. Ihre Getreuen würden unter den Weißmagiern so aufräumen, daß der Rest nicht lange standhalten konnte. Der zukünftige Großmeister sollte in diesem Kampf ruhig mitmi-
schen. Er würde bald ein toter Kandidat sein, und ein toter Weißmagier war für die Vorsitzende ein idealer Weißmagier. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Diese Augen waren die einzige Gefahr für ihre Stellung. Wenn sie mit dem Bösen in direktem Kontakt stand, erkannte man es an ihren Augen. Doch so lange sie vorsichtig war, konnte ihr nichts passieren, und bald war sie ohnedies die unumschränkte Herrin! In Gedanken dirigierte die Vorsitzende des Kongresses den Kampf auf der Zufahrtstraße. Sie sah mittels ihrer schwarzmagischen Fähigkeiten jeden ihrer Streiter und jeden ihrer Feinde. Besonders deutlich erkannte sie Peter Winslow, der im Moment ihr ärgster Feind war. Den Großmeister fürchtete sie nicht mehr. Er war verbraucht. Dreißig Jahre in dieser anstrengenden Stellung hatten ihn aufgerieben. Peter hingegen war jung und kraftvoll. Er zeigte noch keine Verschleißerscheinungen. Deshalb warf die Vorsitzende des Kongresses der Untoten diesem jungen Streiter für das Gute die Hälfte ihrer Getreuen entgegen, um ihn abzudrängen und von den Weißmagiern in den Autos zu trennen. Nur so konnte sie ihn vernichten, ohne daß ihm seine Freunde halfen! Ihr Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Lächeln, als es zu klappen schien, doch plötzlich richtete sie sich steil auf. Ihr Gesicht verzerrte sich in namenlosem Entsetzen, und in ihrem Schreck vergaß sie alle Vorsicht. Sie riß die Augen auf und starrte ins Leere, tastete nach einem Halt und krallte sich fest. Ihre Augen glichen flüssigem Eisen, so grell rot leuchteten sie. An der gegenüberliegenden Wand bildeten sich zwei große rote Flecken, die über die Tapete huschten, wenn die Vorsitzende den Kopf drehte.
Gleich darauf wurde ihr der Fehler bewußt, und sie schloß hastig wieder die Augen. Das Leuchten verschwand. Sie konzentrierte sich voll auf die Kampfstätte. Eine Störung war aufgetaucht, die sie nicht erklären konnte. Eine unvorstellbar mächtige Kraft des Guten hatte sich eingemischt und sich auf Peter Winslows Seite gestellt. Die Vorsitzende hatte eine vage Ahnung, wer diese Macht sein konnte, doch sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Zu ungeheuerlich erschien er ihr und zu bedrohlich. Sicherheitshalber mobilisierte sie die letzten Reserven von Mortland und schickte auch jene Untoten in den Kampf, die sie bisher auf dem Stützpunkt der Hölle zurückgelassen hatte. Es durfte keine Niederlage geben, sonst waren ihre Pläne in Gefahr. Sie lehnte sich erst wieder entspannt zurück, als sich sämtliche lebenden Leichen auf dem Weg zur Straße befanden.
* Es war höchste Zeit, daß Peter Winslow eingriff. Die Wagen gehörten den Teilnehmern der Zusammenkunft auf Sagon Manor. Soviel wußte Peter. Die Autobesitzer hatten diejenigen mitgenommen, die mit der Bahn oder dem Bus gekommen waren. Daher war jedes Auto bis auf den letzten Platz besetzt. Um jeden Wagen scharten sich mindestens zehn bis zwölf Untote, und es waren etwa ein Dutzend Autos. Die Weißmagier verteidigten sich mit Mitteln, die Peter nicht kannte. Manche der angreifenden Leichen flogen in hohem Bogen durch die Luft, andere wieder wurden in gleißende Helligkeit gehüllt, taumelten zurück und vergingen. Wieder andere wankten zur Seite und erholten sich, sobald sie außer Reichweite der Autos waren.
Aber es gab auch schon Verluste auf Seiten des Ordens. Ein Wagen lag neben der Straße umgekippt auf der Seite. Die Untoten zertrümmerten das Wrack und zerrten die Insassen ins Freie. Sie wehrten sich nicht mehr, und nach einem kurzen Blick auf die Überwältigten wandte Peter sich schaudernd ab. Diesen Unglücklichen konnte er nicht mehr helfen … Doch da waren die anderen, und sie brauchten dringendst seine Unterstützung. Lautlos brach er über die Untoten herein, ohne jeden Kampfruf, aber mit wilder Entschlossenheit. Der Anblick der Ermordeten beflügelte ihn mindestens genauso stark wie die besonderen Fähigkeiten, die ihn auch jetzt über sich hinauswachsen ließen. Das Beil wirbelte im Kreis und fand sein Ziel, und diesmal war es anders als bei dem Kampf auf Mortland. Das Schwert der Statue hatte die Untoten nur zurückgetrieben. Dieses Beil jedoch schaltete die schauerlichen Gegner aus dem Jenseits völlig aus. Mrs. Applegast hatte das Beil besprochen! Das gab Peter Auftrieb. Endlich konnte er die Sendboten der Hölle entscheidend schlagen. Aber es verleitete ihn auch zu einer Unvorsichtigkeit. Der hinterste Wagen wurde besonders heftig umkämpft. An die fünfzig Untote umringten ihn. Ungeachtet bläulicher Lichtblitze, die aus dem Inneren schlugen, hoben sie den Wagen hoch und versuchten, ihn umzukippen. Peter hatte gesehen, was das für die Insassen bedeutete! Deshalb fuhr er mitten in die Horde der lebenden Leichen hinein und schlug sie in die Flucht. Er ahnte nicht, daß es sich um eine raffinierte Falle handelte, die von einem bösen Gehirn gesteuert wurde. Er sah den Pulk der Untoten vor sich, die soeben versucht hatten, sechs Mitglieder des Ordens zu ermorden. Und er fühlte das Beil in seinen Händen.
Er rannte hinter ihnen her, als sie sich plötzlich nach allen Seiten verteilten und ihm kein Ziel mehr boten. Sie stellten sich nicht zum Kampf. Verwirrt blieb Peter stehen und wandte sich um. Er hatte sich weit von den Autos entfernt. Sie hatten ihn geschickt weggelockt. »Lauf nach links über die Wiesen!« erklang die vertraute Frauenstimme. Sie hallte an sein Ohr, als befände er sich in einem riesigen Kuppelbau, und er drehte sich einmal im Kreis, um festzustellen, woher die Worte stammten. Das war jedoch unmöglich. Sie kamen von überall und nirgends, drangen von außen an seine Ohren und entstanden gleichzeitig in ihm. Dennoch zögerte er keine Sekunde und befolgte den Rat, hetzte über die Wiesen davon und stöhnte entsetzt auf. Wäre er stehengeblieben, hätte er trotz des besprochenen Beils keine Chance gehabt! Sie quollen hinter einem Hügel hervor, stießen in Keilform auf die Straße zu und kreisten die Stelle ein, an der er sich eben noch befunden hatte. Einhundert Untote, die sich bisher versteckt gehalten hatten! Er erkannte endlich die Falle. Der Feind wollte gleichzeitig die Ordensmitglieder und den künftigen Großmeister ausschalten! Dank der Stimme aus dem Nichts war es nicht gelungen! Peter hetzte über die Wiesen, erreichte wieder die Wagen und sprang zu dem vordersten Fahrzeug. Der Fahrer blutete aus einer Kratzwunde an der Stirn. Doch nicht deshalb stockte Peter für einen Moment der Atem, sondern weil die Augen des Mannes in tiefem Blau leuchteten – genau wie bei seinem Vater und ihm selbst! Die Augen der übrigen Insassen schimmerten in dem gleichen beinahe unnatürlichen Farbton. »Fahren Sie, fahren Sie!« schrie Peter dem Mann am Steuer zu.
»Von hinten kommen einhundert Untote! Brechen Sie durch!« Die Beifahrer kämpften weiter und wehrten die lebenden Leichen ab, und Peter schaltete mehrere Gegner mit dem Beil aus. Der Fahrer ließ den Motor aufheulen und fuhr an. Die übrigen Motoren röhrten ebenfalls in einem überhasteten Start. Die anderen Fahrer machten alles dem Vordermann nach. Peter brauchte nichts mehr zu erklären. Er lief von einem Auto zum anderen und hieb die Wagen aus der Umklammerung der Untoten. Dabei stellte er fest, daß die Augen aller Ordensmitglieder während des Kampfes gegen das Böse blau leuchteten. »Weg hier!« schrie er den Freunden im letzten Wagen zu, als hinter der Kurve die Hauptmacht der Untoten erschien. Er wandte sich wieder nach vorne und überholte in rasendem Lauf die fahrende Kolonne. Er kam an dem vernichteten Auto vorbei. Die Ermordeten waren verschwunden. Die Untoten hatten sie weggeschleppt. »Wir haben keinen Platz mehr!« rief der Fahrer des ersten Wagens, als Peter mit ihm auf gleiche Höhe zog. Peter Winslow antwortete nicht. »Spring auf«, mahnte die Stimme aus dem Nichts. Peter spannte sich, schnellte sich hoch und landete flach auf dem Wagendach. Er hakte die gespreizten Füße in den geöffneten Wagenfenstern unter, verschaffte sich dadurch festen Halt und hob die Axt. Als habe er es geahnt, erschien vor ihnen ein Pulk lebender Leichen. Es waren ungefähr genauso viele, wie ihnen auf den Fersen waren. Die Kolonne durfte nicht stehenbleiben. Das wäre ihr Ende gewesen. Peter schätzte blitzartig ihre Chancen ab. »Vollgas!« brüllte er dem Fahrer zu.
Der Wagen machte einen Sprung vorwärts und zog an. Noch hatten die Untoten die Straße nicht erreicht, sondern befanden sich auf Mortland-Boden. Die ersten beiden Wagen kamen glatt durch, die nächsten wurden bereits angegriffen, aber die meisten Wiedergänger wurden durch die rasenden Wagen beiseite geschleudert. Nur am letzten Wagen splitterten die Scheiben, doch auch er blieb auf der Fahrbahn und jagte mit den anderen über die Grenze von Sagon Manor. Sie waren gerettet. Peter stieß einen gellenden Jubelschrei aus, obwohl er gar keinen Grund zum Jubeln hatte. Diesen Überfall und die Ermordung der Wageninsassen hatten sie dem Verräter aus den eigenen Reihen zu verdanken. Wer bisher noch an der Gefährlichkeit dieser Person gezweifelt hatte, war jetzt eines Besseren belehrt worden.
* Entsprechend der niedergedrückten Stimmung wurde die Ankunf der Ordensmitglieder nicht gefeiert. Es gab nicht einmal Lob für Peter Winslow, worüber er froh war. Er hätte in dieser Stimmung keine Anerkennung ertragen. Er sah nur den dankbaren Blick seines Vaters auf sich ruhen. Und er sah den Alten aus dem Moor, der ihn beinahe ehrfürchtig betrachtete. Peter schauderte davor, eines Tages für alles die Verantwortung tragen zu müssen. Er hatte nur noch das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und eine Weile allein zu sein. Vorher machte er einen Umweg durch die Küche, wo Mrs. Applegast schon wieder an ihren riesigen Kochtöpfen arbeitete, als gäbe es keine Schwarze Magie und keine lebenden Toten auf Mortland. Sie drehte sich um, als Peter eintrat. Sie hatte geweint.
Er legte das Beil auf den Hackblock und lächelte Mrs. Applegast aufmunternd zu. »Ich wußte ja immer, daß keine so viel ißt wie du! Aber daß du eine so wunderbare Hexe bist, ist mir neu! Dein Bannspruch hat gewirkt.« »Sie sollten nicht so vertraulich mit mir reden«, entgegnete die Köchin und schluckte. »Mr. Peter, Sir! Sie sollten den nötigen Abstand zum Personal einhalten.« »Wer sagt das?« fuhr Peter gereizt auf. »Ihr Vater, Sir.« Peter warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend, aber es war kein lustiges Lachen. Es verstummte schlagartig. Er sah wieder in das gerötete Gesicht der Köchin. »Ich schlage mich da draußen mit ein paar Hundert lebenden Leichen!« rief er wütend. »Drüben auf Mortland lauern noch einige Dutzend von diesen Bestien! Und mein Daddy hat nichts anderes zu tun, als an den nötigen Abstand zum Personal zu denken! Weißt du noch, du fette Hexe, wie ich dich früher immer nannte? Nicht Applegast, sondern Mrs. Appleghost, und das bist du geblieben. Ein Apfel-Geist! Dick und rund wie ein Apfel, zwar kein Geist, aber immerhin eine Hexe! Und dabei bleibt es! Ich habe es satt, mich ständig an Formen zu halten. Das habe ich noch vor wenigen Tagen getan, als in diesem Haus das Leben seinen üblichen Gang nahm. Jetzt ist alles auf den Kopf gestellt! Mein Vater ist Lord Winslow und Großmeister. Meinetwegen! Aber wenn ich schon meinen Kopf hinhalten muß, bestimme ich über mich selbst!« »Das war eine lange Rede, mein Junge«, sagte die Köchin lächelnd. »Und ich meine jedes Wort, wie ich es sagte!« bestätigte Peter und verließ die Küche. Er lief in seine Räume hinauf und warf sich auf seine Couch. Die Kopfhörer mit ohrenbetäubender Rockmusik entrückten ihn für die nächste Zeit und schlossen ihn von seiner Umwelt ab. Er wollte im Moment nichts sehen und hören.
Als sich seine Tür öffnete, blieb er ruhig liegen, spannte sich jedoch innerlich an. Erst als Marthe den Kopf herein schob, sank er erleichtert zurück. Marthe bewegte die Lippen. Peter schaltete die Anlage aus und streifte die Kopfhörer ab. »Was hast du gesagt?« erkundigte er sich bei seiner Schwester. »Ob ich dich stören darf«, wiederholte Marthe. »Das tust du doch bereits«, erwiderte er grinsend. »Setz dich! Was verschafft mir die Ehre deines ungewöhnlichen Besuches?« »Ist es wirklich eine Ehre?« Seine Schwester, äußerlich sein Ebenbild, setzte sich und schlug die in engen schwarzen Hosen steckenden Beine übereinander. Sie spielte nervös mit der Perlenkette an ihrem Hals. »Hast du was zu trinken?« »Cola?« bot er an. »Wir feiern keinen Kindergeburtstag«, antwortete sie. »Also Whisky.« Peter schenkte ein und reichte ihr das Glas. Ihre Finger zitterten, als sie es entgegen nahm. »Du hast Angst?« fragte er. »Du nicht?« Marthe schüttelte den Kopf, daß die blonden Haare flogen. »Nein, du natürlich nicht! Du bist ja ein Wundertier! Begabt und stark und schnell! Der ideale neue Großmeister! Cheers!« Sie kippte den Whisky auf einen Zug und schüttelte sich. Peter nippte vorsichtig an seinem Glas. »Willst du unter einer Themsebrücke enden, daß du den Whisky jetzt schon so übst?« fragte er. »Was soll das?« Die blauen Augen seiner Schwester richteten sich groß und staunend auf ihn. »Bist du so dumm, oder begreifst du es wirklich nicht?« »Wahrscheinlich bin ich so dumm, Marthe«, erwiderte er ruhiger, als er wirklich war. In dieser angespannten Situation konnte er keine Schwester brauchen, die womöglich den Kopf verlor und etwas anstellte, das nicht zu reparieren war.
»Na gut, kleiner Bruder, ich werde es dir erklären!« Marthe lehnte sich zurück und starrte zur Zimmerdecke. »Du bist zwanzig, Alicia ist sechsundzwanzig, ich bin vierundzwanzig.« »Was für umwälzende Erkenntnisse in der Familienforschung«, spottete Peter. »Laß mich aussprechen und hör mir zu!« fuhr Marthe ihn an. »Du, der Jüngste in der Runde, hast eine ausgefüllte Zukunft als Großmeister vor dir. Wie ausgefüllt sie sein wird, ahnst du noch gar nicht. Dad vernachlässigt seine Aufgabe bereits seit zehn Jahren. Nicht, daß er es aus Faulheit oder Unfähigkeit tut! Er ist ausgebrannt. Die Sache mit Mutter damals hat ihn gebrochen. Er hat es noch eine Weile geschafft, dann war er verbraucht.« »So darfst du nicht sprechen!« rief Peter. »So muß ich sprechen, kleiner Bruder!« Marthes Wangen schimmerten vor Aufregung rot. Ihre blauen Augen blitzten. »Du wirst also Großmeister sein und enorm viel aufarbeiten müssen. Alicia ist eine ganz andere Natur als ich. Vielleicht macht es auch etwas aus, daß sie zwei Jahre älter als ich ist. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sie sich mit ihrem Leben abgefunden. Es macht ihr nichts mehr aus, auf Sagon Manor die brave Tochter zu spielen, die liest, spazieren geht, Musik hört und sich bis an das Ende ihrer Tage langweilt.« Peter dachte an sein Gespräch mit Alicia. Er wußte nicht, was er Marthe antworten sollte, doch sie wartete gar nicht auf eine Erwiderung. »Ich, Peter, ich bin aus anderem Holz geschnitzt!« rief Marthe. Sie stellte das leere Glas weg und beugte sich ruckartig vor. »Ich möchte etwas aus meinem Leben machen. Gut, ich kann nicht heiraten und Kinder haben. Aus den gleichen Gründen wie bei Alicia geht das nicht! Aber ich will etwas tun! Ich möchte Mitglied im Orden werden! Verstehst du mich?« »Du schreist laut genug«, antwortete Peter verwundert. »Ja, warum wirst du es dann nicht?«
»Weil mich nur der Großmeister aufnehmen kann, und Dads Antwort kann ich dir jetzt schon sagen!« »Du meinst, Dad lehnt ab?« »Ganz bestimmt!« rief Marthe. »Sieh dich selbst an! Er hätte so viel Zeit gehabt, dich auf deine Aufgabe vorzubereiten. Aber nein, er verschloß die Augen vor den Tatsachen und ließ dich ahnungslos in diese gefährliche Auseinandersetzung hineinlaufen.« Peter wurde sehr nachdenklich. »Ja, du hast recht«, stimmte er schließlich zu. »Was kann ich machen?« »Sprich mit dem Alten aus dem Moor«, bat Marthe. »Wenn er mich in den Orden aufnimmt, kann Dad nichts dagegen unternehmen.« »Warum sprichst du nicht selbst mit dem Alten?« »Ich habe Angst vor ihm«, gestand Marthe. »Alle diese Leute sind mir noch so fremd. Vergiß nicht, daß du besondere Fähigkeiten in dir trägst, ich nicht. Ich weiß gar nicht, wie ich mit dem Alten aus dem Moor sprechen sollte.« »Also gut, ich werde mich für dich einsetzen«, entschied Peter. »Obwohl du froh sein könntest, daß man dir ein ruhiges Leben gestattet.« »Ich will kein ruhiges, sondern ein erfülltes Leben«, entgegnete Marthe und lächelte ihrem Bruder zu. »Danke, kleiner Bruder! Das werde ich dir nie vergessen!« Er blickte ihr nach und versuchte, sich vorzustellen, warum sie sich lieber in die Gefahren eines Kampfes gegen die bösen Elemente stürzen wollte, als sicher auf Sagon Manor zu wohnen. Er hatte noch nicht oft mit Schwarzer Magie und ihren Anhängern zu tun gehabt. Genau genommen erst zweimal, nämlich auf Mortland und vorhin auf der Straße. Die anderen Male hatte er nur die Auswirkungen Schwarzer Magie gesehen, die Leichen der Ermordeten am Strand und im Seafarer Hotel. Trotzdem wünschte er sich jetzt schon nie etwas von all diesen unheimlichen Dingen gehört zu haben. Er
wünschte sich, als gewöhnlicher junger Mann in London zu leben und sein Leben zu genießen. Aber das mußte er sich für immer aus dem Kopf schlagen. Seufzend stand er von seiner Couch auf. Jetzt hatte er keine Lust mehr, Musik zu hören. Nicht einmal sie konnte ihn zerstreuen.
* Die Hände in die Taschen geschoben, schlenderte Peter Winslow durch das Haus. Überall waren Fremde. Sechzig Personen verliefen sich auch auf Sagon Manor nicht, obwohl das Haus mit allen Anbauten beträchtliche Ausmaße besaß. Diese Fremden gingen ihm auf die Nerven, obwohl sie Freunde und Ordensmitglieder waren. Er ließ sich seine Gefühle nicht anmerken und nickte freundlich, wenn sie ihn respektvoll grüßten. Es erstaunte ihn nicht einmal mehr, daß sich viele vor ihm verneigten. Besonders seltsam wirkte es, weil sie alle mindestens um zehn Jahre älter als Peter waren. Er wußte, daß sie nicht vor ihm, sondern vor seiner künftigen Stellung innerhalb des Ordens Respekt zeigten. In der Küche war außer Mrs. Applegast ein Dutzend Personen an der Arbeit. In den größten Gefäßen, die auf Sagon Manor aufgetrieben werden konnten, kochten sie Eintopf für alle. »Sir!« Butler Harvey trat auf Peter Winslow zu. »Die Ordensmitglieder werden ab sofort auf Sagon Manor wohnen. Ihr Vater hat es angeordnet.« Peter nickte, doch Harvey blieb stehen. Peter runzelte die Stirn. »Ist noch etwas?« fragte er den Butler. »Ich erwarte Ihre Entscheidung, Sir«, sagte Harvey leise. Peter schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist der Herr dieses Hauses. Halten Sie sich an seine Befehle.« Harvey neigte den Kopf und kehrte an seine Arbeit zurück.
Peter sah ihm forschend nach. Das Verhalten der Leute kam ihm von Minute zu Minute merkwürdiger vor. Zuerst behandelten ihn seine Schwestern, das Hausmädchen Maud und die Köchin sowie der Butler, als wäre er König von Großbritannien. Jetzt fehlte nicht viel, und die Leute wären vor ihm in einen Hofknicks gesunken. Der Butler nannte ihn plötzlich Sir und erwartete seine Befehle, obwohl Lord Winslow sie schon erteilt hatte. Peter mußte jemanden um Auskunft bitten, doch das war bestimmt nicht sein Vater, den er in der Halle traf. »Peter!« Lord Winslow versperrte seinem Sohn den Weg, als dieser weiter eilen wollte. »Peter! Es geht irgend etwas vor sich, von dem ich nichts weiß.« »Das Gefühl habe ich auch«, murmelte Peter. »Alle sehen mich an, als wäre ich ein Kalb mit zwei Köpfen.« »Nein, nein, das meine ich nicht.« Sein Vater streckte ihm die Hand entgegen. »Ich habe dir noch gar nicht gratuliert. Du hast dich zweimal fabelhaft geschlagen. Ohne deine Hilfe wären unsere Freunde schlimm dran gewesen.« Peter schlug zögernd ein. »Danke! Was meintest du, Dad, daß etwas vor sich geht, wovon du nichts weißt?« »Es hat mit dir zu tun«, behauptete sein Vater. »Ich habe schon den Alten aus dem Moor gefragt, aber er versteht es auch nicht. In deiner Nähe hält sich eine Macht auf, die ich nicht erkennen kann. Vergiß nicht, daß ich noch immer der Großmeister bin. Ich spüre Dinge, die anderen verborgen bleiben.« Peter dachte an die warnende Stimme während des letzten Kampfes. »Schon möglich, daß da etwas ist«, meinte er vorsichtig. »Ich weiß es auch nicht. Ich hörte eine Stimme. Ohne diese Stimme wäre ich verloren gewesen.« »Wer war es?« rief sein Vater aufgeregt. Peter hob die Schultern. »Eine Frauenstimme, die aus der Unendlichkeit zu kommen schien. Sie war mir vertraut, obwohl ich sie
noch nie gehört hatte.« Lord Winslow nickte betroffen. »Dann ist es so, wie ich vermutete«, sagte er leise. »Der Geist deiner Mutter hat dir geholfen!« Peter blickte ihm ungläubig hinterher, als er rasch in jenen Seitentrakt ging, in dem seine Privaträume lagen. Deshalb war ihm die Stimme vertraut erschienen! Der Geist seiner Mutter! Es kam ihm gar nicht in den Sinn, an den Worten seines Vaters, des Großmeisters, zu zweifeln! Gerne hätte er sich mit seinem Vater weiter unterhalten, doch der Lord wollte offenbar allein sein. Leute traten in die Halle, neigten sich vor Peter und machten ihn nervös. Harvey kam ihm gerade recht. Peter fragte nach dem Alten aus dem Moor. Der Butler führte ihn. Zu Peters Überraschung bewohnte der Greis die einzige Dachkammer auf Sagon Manor. Man mußte drei Treppen steigen, um dorthin zu gelangen. Er bat Peter zu sich herein. »Warum wohnen Sie so unbequem?« erkundigte sich Peter. »Sehen Sie aus dem Fenster, mein junger Freund«, forderte ihn der Alte aus dem Moor auf. Peter tat es. »Eine schöne Aussicht«, bemerkte er sarkastisch. »Es war mir noch gar nicht aufgefallen, daß man von hier oben Mortland beobachten kann.« Der Alte schwieg. Peter wandte kurz den Kopf, sah den erwartungsvollen Blick auf sich gerichtet und drehte sich wieder zu dem Fenster. Düster drohend ragten die Gebäude von Mortland in den abendlichen Himmel. In spätestens einer halben Stunde mußte es wegen der Regenwolken ganz dunkel werden. »Ich habe eine Frage, Mr. Brown«, murmelte Peter. »Weshalb benehmen sich unsere Gäste, als wäre ich ein König?« Leises Lachen antwortete ihm. »Der Vergleich ist gar nicht so schlecht, auch wenn die Jugend aus Ihnen spricht, Sir!« Jetzt redete
ihn sogar der Alte aus dem Moor so respektvoll an! »Der Grund ist sehr einfach! Sie werden vermutlich auf der nächsten Versammlung zum Großmeister gewählt!« »Wann?« rief Peter und wirbelte erschrocken herum. »Auf der nächsten Versammlung, die heute nach dem Abendessen stattfindet«, erwiderte der Alte aus dem Moor. »Ihr Vater, Sir, hat angedeutet, daß er für seine Aufgabe zu müde ist. Er möchte zurücktreten!« »Kann ich das nicht auch tun?« fragte Peter hoffnungsvoll. Der Alte aus dem Moor nickte. »Ja, aber dann wird der Orden über Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte keinen Großmeister haben. Menschen mit Ihren Fähigkeiten gibt es nicht wie Sand am Meer. Das Böse wird wachsen und die Oberhand gewinnen, und die versprengten Mitglieder des Ordens werden nicht wirkungsvoll genug arbeiten können. Das wäre die Folge Ihres Rücktritts!« »Aber … mein Vater ist der Großmeister und muß es bleiben!« rief Peter außer sich. »Ihr Vater muß nicht, er hat lange genug mit ganzer Kraft für den Orden gearbeitet«, entgegnete der Greis. »Sie sind noch jung und unverbraucht!« »Ich muß jedoch die Wahl annehmen?« fragte Peter bebend. »Ja, das ist nötig«, sagte der Alte aus dem Moor. Peter nickte. Er wußte genug. »Der Geist meiner Mutter hat mir geholfen, ist Ihnen das bekannt?« fragte Peter nach einer Weile. Der Alte richtete sich überrascht und bestürzt auf. »Nein, das ist mir neu!« Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Das ist nicht gut!« »Sie hat mir mehrfach das Leben gerettet«, wandte Peter ein. »Was soll daran nicht gut sein?« »Die Geister der Verstorbenen kehren nicht ohne schwerwiegenden Grund zurück«, behauptete der Greis. »Ja, das leuchtet mir ein.« Peter sah noch immer nicht klarer. »Ich
wurde in einen schweren Kampf verwickelt, und deshalb half mir der Geist meiner Mutter.« »Er half Ihnen bei dem ersten Kampf nicht«, gab der Alte zu bedenken. »Es muß einen zusätzlichen Grund geben. Uns allen droht eine so grauenhafte Gefahr, daß es sogar den Geist Ihrer Mutter zurückgetrieben hat! Es muß eine für uns unvorstellbare Gefahr sein, die vor allem gegen Sie gerichtet ist! Das ist meine feste Überzeugung!« Peter brauchte einige Zeit, ehe er diese Nachricht verarbeitete. »Dann war mein Vater wohl deshalb so bestürzt«, murmelte er. »Und ich dachte, er wäre es, weil meine Mutter Kontakt aufgenommen hat.« »Der Großmeister weiß genau, was das zu bedeuten hat!« Der Alte aus dem Moor erhob sich schwerfällig aus einem Sessel und ergriff Peters Hände. »Führen Sie uns durch die Gefahr, Sir! Helfen Sie uns!« Diese eindringliche Bitte des erfahrenen, weisen Mannes berührte Peter seltsam. Was konnte er schon ausrichten, wenn alle diese Spezialisten und weißmagisch geschulten Männer und Frauen nichts erreichten. »Kann denn keiner unserer Gäste in die Zukunft sehen, die nächsten Ereignisse voraussagen und den Verräter entlarven?« fragte er zaghaft. »Das wäre schön!« Der Alte aus dem Moor seufzte. »Doch leider gibt es keine exakte Hellseherei. Nicht einmal die Frau mit den vier Augen ist dazu fähig, und sie ist die Beste auf ihrem Gebiet! Gäbe es solche Hellseher, sähe die Welt anders aus. Keine Morde mehr, keine Kriege, keine Katastrophen, nicht einmal Unfälle einzelner Personen. Nein, mein Freund! Wir müssen uns damit abfinden, daß auch uns Ordensmitgliedern die Zukunft verborgen bleibt. Nur ab und zu lüftet das Schicksal eine Ecke des Schleiers, und läßt uns erahnen, was auf uns zukommt. Gewißheit haben wir jedoch nicht! Und des-
halb wiederhole ich meine Bitte, Sir! Helfen Sie uns mit allen Ihren Kräften!« Peter erwiderte fest den Händedruck des Alten aus dem Moor. »Ich werde es tun«, gelobte er.
* Zuerst war Peter erleichtert, daß sich die Familie zum Abendessen in das kleine Frühstückszimmer zurückzog, während sich die Gäste auf den Speisesaal, den Festsaal und die übrigen Räume verteilten. Doch schon nach zehn Minuten verwünschte Peter den Umstand, mit seinem Vater und seinen Schwestern allein zu sein. »Sollten wir uns nicht um eine heitere Unterhaltung bemühen?« fragte er gereizt. Die Hand seines Vaters, die gerade einen Bissen zum Mund führte, stockte. »Peter, nicht«, murmelte Alicia. »Die Stimmung ist geladen«, stellte Marthe trocken fest. In ihre blauen Augen trat ein spöttisches Funkeln. »Ein falsches Wort, und es kommt zur Explosion.« Lord Winslow sagte noch immer kein Wort. »Ich werde euch verraten, wieso die Stimmung geladen ist.« Peter legte das Besteck weg und lehnte sich zurück. »In diesem Haus herrscht Unehrlichkeit. Jeder verschleiert irgend etwas.« »Peter, jetzt ist nicht der richtige Moment«, mahnte Alicia. Sie wirkte an diesem Abend noch zarter und blasser. Ihre schwarzen Augen erinnerten Peter an einen verletzten Vogel. Noch nie hatte sie den Fotos ihrer Mutter so ähnlich gesehen wie in diesen Minuten. »Wenn jetzt nicht der richtige Moment ist, wann denn?« fragte Peter. »Seit zwanzig Jahren ist nie der richtige Moment gekommen. Ich behaupte, dieser Moment ist genauso gut oder so schlecht wie jeder andere.«
»Harvey, gehen Sie bitte hinaus«, sagte Lord Winslow. »Maud, Sie auch.« Die beiden hatten serviert und gingen zur Tür. »Harvey, Maud, Sie bleiben!« bestimmte Peter. Die beiden blieben stehen, kehrten an ihre Plätze zurück und rührten sich nicht mehr. Peters Vater blickte unsicher auf, begegnete dem festen Blick seines Sohnes und senkte den Kopf wieder. Es war ein Zeichen, daß der künftige Großmeister schon mehr Respekt genoß als der gegenwärtige. »Warum tust du das, Peter?« murmelte der Lord. »Weil es in diesen Stunden höchster Gefahr keinen Sinn mehr hat, den Schein eines herrschaftlichen Haushaltes aufrecht zu erhalten«, antwortete Peter. »Harvey und Maud bleiben hier, und zwar nicht in ihrer Eigenschaft als Butler und Hausmädchen, sondern als Ordensmitglieder.« »Ich habe all die Jahre den Schein aufrecht erhalten«, sagte der Lord wie in einem Selbstgespräch. »Vielleicht hältst du mich deshalb für verschroben. Wenn du erst einmal so lange Großmeister bist, wie ich es war, wirst auch du dich verzweifelt an den Schein klammern. Du wirst erkennen, daß du etwas brauchst, das dir Halt gibt. Etwas, das dir vorgaukelt, du würdest ein, normales Leben führen.« Peter zog unbehaglich die Schultern hoch. »Mag schon sein, Dad, aber jetzt müssen wir reinen Tisch machen. Alicia und Marthe kennen die Wahrheit über Mutters Tod.« Der Lord zeigte keine Regung. »Und Marthe möchte in den Orden eintreten«, fuhr Peter fort. Noch immer rührte sich der Lord nicht. Lord Winslow hob den Kopf und sah seinen Sohn müde an. »Bestimmst nicht ohnedies du schon alles in diesem Haus? Und daß die beiden alles wissen, überrascht mich nicht. Wir haben zwar nie dar-
über gesprochen, aber sie sind nicht dumm. Sie haben viel aufgeschnappt. Doch wozu sollten wir die alten Wunden neu aufreißen?« Schweigen senkte sich über das Frühstückszimmer. Harvey und Maud standen wie Statuen neben der Anrichte. Peter kam sich schrecklich dumm vor. Er hatte seinen Vater weit unterschätzt. »Mach dir nichts draus, mein Junge«, sagte Lord Winslow mit einem verstehenden Lächeln, als habe er Peters Gedanken erraten. »Du bist jung und ungestüm. Das ist kein Nachteil. Heute abend wird es bei der Versammlung für dich sogar ein Vorteil sein, wenn dich unsere Freunde zum neuen Großmeister wählen.« »Willst du wirklich zurücktreten?« fragte Peter bange. »Ja! Ich bleibe nur so lange im Amt, bis der Verräter in unseren Reihen entlarvt ist. Deine Wahl ist jetzt schon so gut wie sicher.« Peter blickte zu seinen Schwestern. Sie saßen stumm am Tisch. Marthe ließ sich nicht anmerken, wie sehnlich sie sich die Mitgliedschaft im Orden wünschte. Im Moment hielt sie sich aus allem heraus, wie sie das jahrelang getan hatte. Und Alicia wirkte von Minute zu Minute mehr wie ein verschreckter, verletzter Vogel. Peter fragte sich, wie es mit ihrer Familie weitergehen sollte. »Wann kommt es zum Kampf mit den Untoten auf Mortland?« Peter sah seinen Vater an. »Dad! Weißt du es wirklich nicht?« »Nein, aber es wird bald geschehen«, behauptete der Großmeister. »Der Feind drängt auf eine Entscheidung. Er kann in Sagon Manor nicht einbrechen, aber er provoziert uns. Unsere Toten auf der Zufahrtsstraße waren das letzte Signal zur Konfrontation. Wir können nicht ausweichen.« »Wir wissen nicht, wie es inzwischen auf Mortland aussieht«, wandte Peter ein. »Das werden wir alles auf der Versammlung besprechen«, wehrte sein Vater ab. »Dad, wäre es nicht wichtig …« setzte er an.
»Das werden wir alles heute abend auf der Versammlung besprechen!« sagte sein Vater so energisch, daß Peter verstummte. Er begriff, weshalb sein Vater nicht über diese Fragen am Tisch diskutierte. Zwei Personen im Raum gehörten nicht dem Orden an! Peter fragte sich, ob sein Vater Alicia und Marthe in nichts hineinziehen wollte. Oder ob er aus Prinzip schwieg. Oder ob er etwa gar seinen Töchtern mißtraute! Das Essen ging in tiefstem Schweigen zu Ende. Danach meldete Harvey, daß die Ordensmitglieder zur Versammlung bereit waren. Lord Hubbard Winslow nickte seinem Sohn zu. »Deine große Stunde ist gekommen«, erklärte er feierlich. »Gehen wir!« Plötzlich hatte Peter das Gefühl, in einen tiefen Abgrund gestoßen zu werden und nicht zu wissen, wie er unten aufkommen würde. Aber jetzt war keine Zeit mehr für einen Rückzieher. Harvey hielt ihnen die Tür auf und verneigte sich vor dem gegenwärtigen und dem künftigen Großmeister!
* Auf dem Weg in den Festsaal bekam Peter Winslow Hilfe von einer Seite, von der er sie nicht erwartete. »Hallo, Rotschopf«, sagte er mit einem matten Lächeln, als sich das Hausmädchen Maud an seine Seite schob. »Wie geht es deinen Sommersprossen?« »Noch genauso gut wie vor sieben Jahren, als ich in dieses Haus kam«, erwiderte Maud mit ihrem unverwüstlich fröhlichen Lächeln. »Nur du hast dich in diesen sieben Jahren gewaltig verändert.« »Das kannst du wohl laut sagen«, erwiderte Peter mit einem unglücklichen Grinsen. »Wie alt war ich denn damals?« »Im Kopfrechnen warst du schon immer schwach, du großer künf-
tiger Großmeister«, spottete Maud. »Du warst ein Junge von dreizehn Jahren und hattest nichts als Comic-Hefte im Kopf. Du weißt schon, diese Geschichten, in denen ein ganz toller Held gegen ganz tolle Bösewichte immer gewinnt.« »Ich wollte, ich wäre wieder dreizehn«, murmelte Peter. »Du bist zwanzig«, erwiderte Maud und hakte sich bei ihm unter. »Hast du Angst?« »Ja.« »Das ist gut.« Sie nickte eifrig und blinzelte verschmitzt. »Hättest du nämlich keine, wärst du dumm. Und würdest du sagen, daß du keine hast, wärst du ein Lügner.« »Mach es nicht so kompliziert«, murmelte Peter. »Was willst du von mir?« »Von dir – gar nichts. Ich möchte dir ein wenig Mut machen. Du wirst nicht allein sein. Dein Vater ist da, Harvey und ich bleiben auch, und daß Mrs. Applegast eine ganz gute Hexe im Dienst der Weißen Magie ist, hat sie bewiesen.« »Das stimmt«, gab Peter mit einem schüchternen Lächeln zu. »Trotzdem fürchte ich mich vor der Zukunft.« »Wer nicht?« Maud rüttelte ihn leicht. »Kopf hoch, Peter, du wirst es schaffen. Darauf lege ich jeden Eid ab.« »Vorsicht, daß es kein Meineid wird«, warnte er. »Du bist kein geborener Pessimist, Peter. Benimm dich jetzt nicht wie einer, dem alle Felle weggeschwommen sind. So kenne ich dich nicht, und so will ich dich nicht kennen!« Er lächelte ein wenig befreiter. »Du bist die einzige Person in diesem verrückten Haus, die mit mir normal redet und nicht in Ehrfurcht erstarrt, wenn sie mich sieht.« »So spreche ich mit dir nur, so lange es niemand hört«, entgegnete Maud. »Vor den anderen werde auch ich dich mit Sir anreden!« »Schade«, meinte er. »Weißt du übrigens, Maud, daß du mit deinen Sommersprossen wie Doris Day aussehen könntest?«
»Wie die Filmschauspielerin?« fragte Maud verblüfft und erfreut. »Ja«, versicherte er ernsthaft. »Wenn du ihr nur ein wenig ähnlich sähst!« Eh sie begriff, daß er sie auf den Arm genommen hatte, war er schon im Festsaal und setzte sich auf einen Platz neben einer Tür. Dabei hielt er möglichst großen Abstand zum Rednerpult. Sein Vater unterhielt sich mit einigen Leuten. Der Alte aus dem Moor saß in der ersten Reihe und schien zu schlafen. Peter entdeckte auch die Frau mit den vier Augen. Neben ihm saß die angebliche Miss Smith. – »Wer sind Sie?« fragte er. »Die rote Wanda«, erwiderte Miss Smith mit einer Kopfneigung. Peter betrachtete sie kritisch. »Sie haben keine roten Haare. Woher stammt Ihr Name?« »Ich sehe Brände voraus, Sir«, erwiderte die rote Wanda. »Sehen Sie, dort drüben sitzt Miss Wood!« Miss Wood war die Jüngste der Gäste, die ursprünglich auf Sagon Manor gewohnt hatten, eine dreißigjährige Frau von völlig durchschnittlichem Aussehen. »Sie ist Kinderspäherin«, erklärte die Rote Wanda hochachtungsvoll. »Sie erkennt, ob ein Kind schwarzmagische oder weißmagische Anlagen besitzt.« »Und Mr. Baker, der Mann mit dem schwarzen Vollbart und der Glatze?« fragte Peter, der sich im Moment nicht erinnern konnte, ob er die besonderen Eigenschaften dieses Mannes schon erfahren hatte. »Das ist der Satansspürer«, flüsterte die Rote Wanda. »Er riecht sozusagen die Spuren, die das Böse in unserer Welt hinterläßt.« Sie hatte leise gesprochen, weil Lord Winslow bereits an das Rednerpult trat. Peters Vater begann mit der Begrüßung der Gäste und faßte die gegenwärtige Lage zusammen. Das interessierte Peter nicht. Deshalb wandte er sich noch einmal an die Rote Wanda. »Gibt es eigentlich außer den Mitgliedern unse-
res Ordens andere Menschen, die gegen das Böse kämpfen?« erkundigte er sich. Sein Wissensdurst war unersättlich. »Viele«, bestätigte die Rote Wanda. »Die meisten sind Einzelkämpfer, andere arbeiten in Teams. Wir besitzen jedoch die einzige lose zusammenhängende Organisation. Von den Fremden hat sich fast jeder Geisterjäger und Dämonenkämpfer auf ein Spezialgebiet festgelegt. Wir haben allerdings mit ihnen nichts zu tun, und sie nichts mit uns. Das liegt an den unterschiedlichen Methoden.« Peter horchte auf. Nun kam die Rede auf den Verräter in den Reihen des Ordens. Erst jetzt erfuhren alle von dieser Gefahr. Im Saal brach ein Tumult los, der sich nur langsam beruhigte. »Über diesen Verräter sprechen wir später!« verkündete Lord Winslow. »Jetzt zu einem anderen Punkt. Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt als Großmeister. Dreißig Jahre in dieser Funktion genügen! Ich mache Platz für einen jüngeren Nachfolger, und ich schlage meinen Sohn Peter vor! Falls Sie ihn wählen, bleibe ich jedoch im Amt, bis der Verräter entlarvt und die Gefahr auf Mortland beseitigt ist!« Donnernder Beifall brach los, sowohl für den scheidenden als auch für den künftigen Großmeister. Peter wußte in diesem Moment, daß seine Wahl feststand, obwohl sie noch nicht erfolgt war. Er erinnerte sich an die Worte des Alten aus dem Moor, daß er diese Wahl annehmen müsse, damit sie gültig wurde. Ablehnen konnte er nicht. Das verbot ihm sein Gewissen. Er war jedoch noch nicht bereit, das Amt anzunehmen. In diesem Moment fiel ihm ein Ausweg ein. Während alle nach vorne zu seinem Vater blickten, huschte er zur Tür und war im nächsten Moment im Korridor. Jetzt sollten sie ihn ruhig wählen. Er bekam eine Gnadenfrist bis zur Annahme, und er konnte nur annehmen, wenn er da war. So einfach ging das. Er freute sich wie über einen gelungenen Streich, lief in seine Räume hinauf, schlüpfte in einen Parka und rannte ins Freie. Er wollte einen langen Spaziergang auf dem Gebiet von Sagon Manor unter-
nehmen, um zur Ruhe zu kommen und sich auf die Annahme der Wahl vorzubereiten. Doch schon nach wenigen Minuten durchzuckte ihn eine Idee, die ihn sofort faszinierte. Keiner von ihnen wußte, wie es auf Mortland aussah. Sie hatten keine Ahnung, ob die Untoten noch da waren, ob sie Verstärkung erhalten hatten, ja nicht einmal, wer sie geschickt hatte. Waren die lebenden Leichen auf Mortland nur zusammengekommen, um die Teilnehmer des weißmagischen Treffens zu stören? Oder hatten sie noch eine andere Aufgabe zu erledigen? Auf alle diese Fragen bekam er möglicherweise eine Antwort, wenn er ein großes persönliches Risiko einging. Er mußte hinüber nach Mortland und die Untoten beobachten! Sein Entschluß stand fest. Er wollte es wagen.
* Peter Winslow ging von der Überlegung aus, daß sich die Untoten letztlich genau wie Menschen in der gleichen Situation verhielten. Sie lagen auf Mortland auf der Lauer und wußten ihre Feinde auf Sagon Manor. Daher würden sie die meisten Posten an der Grenze zu Sagon Manor aufstellen. Die anderen Seiten waren bestimmt auch gesichert, aber eben nicht so scharf. Darauf baute Peter seinen Plan auf. Er lief los, und wieder bewies er seine gute Kondition. Ohne außer Atem zu geraten, erreichte er jene Grenze von Mortland, die von Sagon Manor am weitesten entfernt war. Er dachte nicht mehr an die Versammlung in seinem Elternhaus. Der junge Großmeister konzentrierte sich auf seine Aufgabe, und sein inneres Gefühl gab ihm recht. Er spürte das Wachsen seiner Kräfte nicht mehr so deutlich wie zu Beginn, was er jedoch auf die
Gewöhnung schob. Er wußte, daß auch jetzt seine einzigartigen Fähigkeiten vorhanden waren, und das genügte ihm. Als er sich der Grenze von Mortland näherte, wartete er gespannt auf die Stimme seiner Mutter. Sie hätte ihn gewarnt, wäre er blindlings in den Tod gelaufen. Darauf vertrauend, kannte er kein Schwanken und Wanken. Der Parka war die ideale Bekleidung. Er ließ ihn mit seiner Umgebung verschmelzen. Das galt allerdings nur, wenn die Untoten ihn mit den gleichen Mitteln wie Menschen wahrnahmen. Er wußte jedoch nicht, ob sie einen besonderen Sinn für Leute von Sagon Manor besaßen, ob sie die Aura der Weißen Magie förmlich rochen oder nicht. Es gab für ihn aber keine andere Möglichkeit, das herauszufinden, als die Grenze zu überschreiten. Das tat er nicht offen. Kurz vor der Grenzlinie, die durch alte Steine markiert war, kauerte er sich nieder und huschte tief geduckt weiter. Vor vielen Jahren war entlang aller Grenzen des verfallenden Herrenhauses eine Hecke aus immergrünen Pflanzen angelegt worden. Peter hatte seinen Vater im Verdacht, daß er Mortland auf diese Weise den Blicken Fremder hatte entziehen wollen. Jetzt bot die hoch gewachsene Hecke beiden Schutz,, Peter und den Untoten. Auf Händen und Knien schob er sich näher heran. In Zukunft, das ahnte er schon, würde sein Verschleiß an Jeans ins Gigantische wachsen. Am besten, er legte sich einen Vorrat an. Dieser Gedanke vertrieb die aufkeimende Angst. Peter überwand die Grenze und glitt zwischen zwei dicht beisammen wachsenden Bäumen durch. Sein Herzschlag stockte für einen Moment, als er die beiden Wächter erblickte. Links und rechts von ihm stand eine lebende Leiche, zum Glück aber in einem ausreichenden Abstand. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Zumindest rührten sie sich nicht und hielten die zerstörten Gesichter weiterhin auf die Grenze gerichtet.
Auf der Seite zu Sagon Manor wäre es ihm bestimmt nicht gelungen, unbemerkt einzudringen. Er war jetzt doppelt froh, daß er den Gedanken gehabt hatte, den Landsitz zu umgehen. Die Gefahren waren damit aber noch lange nicht ausgeschaltet. Einer der Untoten brauchte sich nur ein Stück zu drehen, um Peter zu entdecken. Flach ausgestreckt, robbte er vorwärts. Eine Rinne in der Wiese bot ihm Deckung, aber gleichzeitig bedeutete es für ihn ein kaltes Bad. Nach den sintflutartigen Regenfällen war jede Bodenvertiefung mit Regenwasser gefüllt, das nicht mehr versickern konnte, weil sich die Erde bereits übervoll gesogen hatte. Peter biß die Zähne zusammen, damit sie nicht laut klapperten, fror tapfer und still und kroch so lange, bis er eine Buschinsel erreichte. Dort endlich konnte er aus der Rinne heraussteigen. Das Wasser lief an ihm wie an einem gebadeten Hund ab, und er hatte große Lust, sich zu schütteln. Da es nichts gebracht hätte, unterließ er es. Weiter! Mortland hob sich auch in dieser mondlosen, bewölkten Nacht deutlich vom Himmel ab. Dieses Gebäude schien alles Licht zu verschlucken. Nur so erklärte sich Peter die tiefe Schwärze, die das Haupthaus von Mortland kennzeichnete. Die Untoten brauchten kein Licht. Wozu auch, konnten sie doch nicht mehr wie Menschen sehen. Das war eine einfache Erklärung für die völlige Finsternis des ehemaligen Herrenhauses. Peter nahm sich vor, auch in Zukunft die einfachsten Erklärungen vorzuziehen, weil sie eher zutrafen als komplizierte Spekulationen. Sein schönes Gedankengebäude brach zusammen, als für einen Moment hinter einem Fenster des Herrenhauses Licht aufblitzte und gleich darauf wieder verschwand. Licht in diesem Gebäude! Es war so unglaublich, daß Peter an eine
Sinnestäuschung dachte. Gespannt blieb er hinter den Büschen stehen und starrte so lange auf das Haus, bis seine Augen tränten. Die Mühe lohnte sich scheinbar nicht, und er wollte weitergehen, als es wieder aufblitzte, diesmal länger und ein Stockwerk tiefer. Kein Zweifel! Da drinnen ging jemand mit einem tragbaren Licht durch das Haus! Ein Schauer schüttelte den jungen Mann. Wer mochte das sein? Ein Untoter war es nicht, das stand fest. Er hätte kein Licht benötigt. Also war es ein lebender Mensch! Lebende Menschen hatte er bisher nicht auf Mortland gesehen, und wenn sie sich hier aufhielten, waren sie Söldner des Bösen. Andernfalls hätten sie die Untoten auf der Stelle getötet. Ein Mensch, der Mortland inspizierte und den die Untoten schonten. Der Verräter! Peter stieß durch die zusammengebissenen Zähne ein leises Zischen. Es mußte der Verräter sein! Er konnte sich ungehindert auf dem Boden von Mortland bewegen, da ihm die Untoten verpflichtet waren. Das war die einmalige Gelegenheit, den Todfeind zu entlarven. Peter durfte sie sich nicht entgehen lassen. Angst überfiel ihn, der Verräter könne nach Sagon Manor zurückkehren, bevor Peter ihn zu Gesicht bekam. Er durfte sich jedoch zu keiner unvorsichtigen Eile verleiten lassen, sonst konnte er gleich sein Testament machen. So schnell es ging, eilte er auf das Hauptgebäude zu. Dabei half ihm nicht nur die Steigerung all seiner Sinne, sondern auch der Umstand, daß sich auf dem Gelände des Herrensitzes keine lebenden Leichen befanden. Er konnte in der dunklen Nacht hervorragend sehen, viel besser als gewöhnlich. Jetzt lohnten sich seine Fähigkeiten als künftiger Großmeister. Er entdeckte sogar die Posten an den
Grenzen. Zwei Leichen standen vor dem Hauptportal wie Schildwachen. Die übrigen mußten sich im Haupthaus aufhalten. In letzter Sekunde dachte Peter an die unterirdischen Gewölbe, von denen die Untoten einige als Falle hatten einstürzen lassen. Bei seinem ersten Kampf auf Mortland wären sie ihm beinahe zum Verhängnis geworden. Jetzt boten sie sich als Schleichweg an. Peter erreichte die erste riesige Öffnung im Rasen vor dem Herrenhaus und blickte angestrengt hinunter. Wo er sonst eine Taschenlampe benötigt hätte, erkannte er schemenhaft den Steinboden des Gewölbes, auf dem die Trümmer der eingestürzten Decke verstreut lagen. Die Erdschicht mitsamt dem Rasen war ebenfalls in die Tiefe gestürzt. Peter nahm Maß, ließ sich über den Rand gleiten und prallte mit den Füßen voran auf ein solches Rasenstück. Es wirkte geräuschdämpfend, und er federte sich elastisch ab, so daß er völlig lautlos aufkam. Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Stille. Nichts zu hören! Kein Feind in seiner Nähe! Peter erspähte im Hintergrund des ehemaligen Gewölbes ein schwarzes Loch. Dort führte ein Stollen zum Hauptgebäude. Genau das brauchte er, um seinen Feinden in den Rücken zu fallen. Alle Sinne zum Zerreißen angespannt, machte er sich auf den Weg. Entweder gelang ihm ein beispielloser Triumph, oder seine Leute würden vergeblich nach seiner Leiche suchen …
* Auf Sagon Manor sprach sich die Versammlung der Weißmagier einstimmig dafür, aus, Peter Winslow zum neuen Großmeister zu
bestellen. Als der Alte aus dem Moor Peter fragen wollte, ob er bereit sei, die Wahl anzunehmen, war der neugewählte Großmeister nicht zu finden. Während noch Ratlosigkeit bei den Weißmagiern herrschte, zog Lord Winslow sein Hausmädchen Maud beiseite. Die beiden sprachen unter vier Augen und der Lord unterbreitete Maud einen Plan, der ihr das Blut aus dem Gesicht trieb …
* In einem Gebäude voller Untoter mußte Peter auf Stimmen verzichten, nach denen er sich orientieren konnte. Die lebenden Leichen besaßen keine Sprache. Alles spielte sich lautlos ab. Er lauschte auf andere Geräusche, und diesmal hatte er Glück. Klappern und Scharren erinnerte ihn an die Skelette, die ihre Mitstreiter von den Fenstern aus angefeuert hatten. Das Schaben von blanken Knochen auf Stein verursachte Geräusche, die Peter warnten. Wiedergänger, die noch mehr Ähnlichkeit mit ihrer ursprünglichen Gestalt besaßen, verursachten dafür so gut wie gar keine Geräusche. In dem Korridor, der von dem eingestürzten Gewölbe wegführte, half Peter auch sein geschärftes Sehvermögen nicht mehr. Hier gab es kein Licht. Folglich konnte er nichts sehen. Dafür unterstützte ihn sein Gehör, das auf das feinste Echo seiner vorsichtigen Schritte reagierte. Er dachte an das Prinzip der Fledermäuse, die Ultraschall ausstießen, die Echos davon auffingen und sich danach orientierten. Er war soeben zur Fledermaus geworden. Das innerliche Grinsen verging ihm, als er hinter sich lautes Klappern hörte. Dann war es wieder still. Sein Verstand reagierte blitzartig. Eines der Skelette war in die Grube gesprungen oder gefallen. Falls es nicht an den senkrechten
Wänden wieder ins Freie stieg, nahm es denselben Gang wie er. Und es kam vermutlich rascher voran als er. Peter beschleunigte seine Schritte, obwohl das gefährlich war. Viel zu leicht konnte er über ein Hindernis stolpern, sich den Kopf an einem niedrigen Querbalken stoßen oder in einen offenen Schacht fallen. Aber die tappenden Schritte hinter ihm trieben ihn an. Das Skelett folgte ihm! Mit weit aufgerissenem Mund rannte der junge Großmeister weiter. Das Atemgeräusch sollte ihn nicht verraten. Die Arme vorgestreckt, hoffte er, ein Hindernis rechtzeitig zu erkennen. Noch führte der Korridor schnurgerade und auf gleicher Ebene weiter, aber das Skelett holte auf. Peter konnte sich noch so bemühen, der Knochenmann rückte unaufhaltsam näher. Verzweiflung stieg in ihm hoch, und dagegen half auch seine besondere Veranlagung nicht. Die Mutlosigkeit verleitete ihn, zu wenig auf seine Umgebung zu achten. Vor seinen Augen explodierte eine grelle Sonne. In seinem Schädel dröhnte es wie in einer Glocke, gegen die von außen ein gewaltiger Hammer schlug. Peter riß die Fäuste hoch, um sich gegen den Angreifer zu verteidigen, wankte benommen und merkte, daß es keinen Angreifer gab. Er war gegen eine niedrig angebrachte steinerne Querstrebe gerannt. Sie hatten ihn genau an der Stirn getroffen. Wasser schoß in seine Augen. Er biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen, und wollte sich gegen die Wand lehnen, um sich einen Moment lang zu erholen. Da war keine Wand, und Peter stürzte ins Leere. Doch nicht! Er prallte auf den Boden eines Seitenstollens. Sein Herz hämmerte. Nun hörte er die Schritte des Skeletts so
nahe, als müsse der Knochenmann bloß noch die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren. Er preßte sich flach auf den Boden und gleichzeitig gegen die Wand und hoffte, das Skelett würde nicht ausgerechnet in den Seitengang einbiegen, in dem er lag. Das Skelett tat aber genau das. Modergeruch prallte Peter wie eine Pestwolke entgegen. Tapp … tapp … tapp … Das Skelett war heran. Peter spürte den Luftzug, als der Knochenfuß dicht an seinem Kopf vorbeiwischte. Keine Handbreit von seinem Gesicht entfernt schrammte der Skelettfuß über den Steinboden, faßte Tritt, stieß sich wieder ab. Das Skelett war vorbei! Peter Winslow mußte sich gewaltsam dazu zwingen, keinen Jubelschrei auszustoßen. Diese Untoten waren doch nicht so einsatzfähig wie richtige Menschen. Sie sahen und hörten nicht so gut. Ein Mensch hätte ihn wahrscheinlich bemerkt. Noch dröhnte Peters Schädel wie die bewußte Glocke, die nach dem Anschlag nachschwang, aber sein Verstand arbeitete schon wieder einwandfrei. Er jagte vom Boden hoch und folgte dem Knochenmann in einer Distanz von nur wenigen Schritten. Er nutzte die Stumpfheit des Skeletts aus und heftete sich an seine Fersen. Es klappte! Der Knochenmann machte weite Schritte. Peter hielt den gleichen Rhythmus ein. Wenn seine Schuhe doch ein Geräusch verursachten, wurde es von den Schritten des Skeletts überlagert. Da er noch immer nichts sah, blieb er sicherheitshalber tief gebückt, um nicht noch einmal unliebsame Bekanntschaft mit einem Querbalken zu machen.
Nach einigen Minuten gab Peter die Hoffnung auf, bei der Verfolgung des Knochenmannes an ein lohnendes Ziel zu gelangen. Sie blieben nämlich auf gleicher Ebene, also unter der Erde. Peter aber hatte das Licht in den oberen Räumen gesehen. Er wartete nur auf eine Treppe. Dann wollte er das Skelett weiterwandern lassen, wohin es wollte. Wieder kam es anders. Der Knochenmann bog um eine Ecke, und Peter konnte sich in letzter Sekunde zurückziehen. Ein Schritt weiter hätte unweigerlich sein Ende gebracht. Der Gang mündete nämlich in ein riesiges Gewölbe, in dem sich sämtliche lebenden Leichen versammelt hatten. Nicht nur Hunderte von Untoten bevölkerten das Gewölbe. An der Stirnseite stand eine Gestalt, die Peter in ihren Bann schlug. Er zweifelte keine Sekunde daran, den Verräter, den Anführer der Untoten vor sich zu haben. Er konnte nicht unterscheiden, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, weil die Gestalt unter einem fast bodenlangen Mantel verborgen war. Der Kopf des Verräters schien nicht bedeckt zu sein, doch die Augen glühten wie Lava. Ihr Schein war so unerträglich hell, daß er das ganze Gewölbe erleuchtete und Peter blendete. Auch wenn er blinzelte, sah er das Gesicht nicht. Es war, als versuche er, mit bloßem Auge in die Sonne zu blicken. Der Verräter sprach, aber es war nur ein heiseres Murmeln, das Peter nicht einmal verstanden hätte, wäre er direkt hinter dem Verräter verborgen gewesen. Nicht die Worte selbst waren für die Untoten bestimmt, sondern die damit verbundenen Gedanken ihres Anführers. Diese Gedanken senkten sich nicht nur auf die lebenden Leichen, sondern drangen auch in Peters Gehirn ein. Er verstand die Botschaft! Er verstand auch den Plan, der ihn erschauern ließ, und er begriff,
daß dort vorne die Vorsitzende des Kongresses der Untoten stand. Alles erfuhr er, bis auf eines. Den Namen der Verräterin! Doch er war zuversichtlich, sie an ihren Augen zu erkennen, falls er sie nicht im direkten Kampf überwältigte und entlarvte. Der junge Großmeister machte sich auf den Rückweg nach Sagon Manor. Die Stunde der Entscheidung war gekommen!
* Zurück kam Peter schneller voran. Nicht nur, daß er den Weg bereits kannte, er brauchte auch auf die Untoten wenig Rücksicht zu nehmen. Seiner Meinung nach waren sie alle in dem größten Gewölbe von Mortland versammelt. »Bleib stehen und gehe drei Schritte nach rechts«, flüsterte völlig unerwartet die warme Stimme seiner Mutter in seinen Gedanken. Peter prallte zurück, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen, streckte die Hände zur Seite und schob sich genau drei Schritte nach rechts. Er fühlte eine Nische in dem unterirdischen Gang und preßte sich flach hinein. Seine Mutter, genauer ihr Geist, hatte ihn wieder einmal gerettet, denn gleich darauf kamen von draußen lebende Leichen. Peter kannte den Grund für ihr Auftauchen nicht. Er war auch nicht weiter wichtig. Er zählte nur, daß sie an ihm vorbei schritten, obwohl ihn das moderig riechende Gewand eines Wiedergängers sogar streifte. Ohne die Hilfe seiner Mutter wäre er den Untoten in die Arme gelaufen. Sie gehörten zu den noch fast vollständig erhaltenen Untoten, so daß ihre Schritte kaum Geräusche verursachten. Er zählte bis zwanzig, ehe er sich aus der Nische löste und weiter
hastete. Der Geist seiner Mutter meldete sich nicht mehr. Peter erreichte die Grube, fand eine Stelle, an der er hinaufklettern konnte, und schob sich an den Rand heran. Ein rascher Rundblick! Die Luft war rein! Mit Schwung stieß er sich ab und landete flach auf dem Rasen. Unter ihm polterten einige Steine in die Tiefe, ohne seine Feinde zu alarmieren. Geduckt rannte Peter die gleiche Strecke, die er gekommen war, erblickte die beiden Posten, die sich nicht gerührt hatten, und biß in den sauren Apfel. Auch auf dem Rückweg mußte er durch die wassergefüllte Rinnen kriechen, aber jetzt störten ihn weder Nässe noch Kälte. Er kannte nur noch ein Ziel. Er mußte nach Sagon Manor, um seine Freunde so schnell wie möglich zu warnen und gegen die Untoten zu führen. Das Laufen fiel ihm schwer, obwohl er Mortland schon hinter sich gelassen hatte. Seine Kleider waren mit Wasser vollgesogen und hingen zentnerschwer an ihm. Wasser quietschte in seinen Schuhen und lief aus seinen Haaren. Als es auch noch zu regnen begann, lachte er lautlos und mobilisierte seine restlichen Kräfte. Es war schon gleichgültig, ob er zusätzlich von oben naß wurde! Es spielte wirklich keine Rolle. Aber er mußte es bis Sagon Manor schaffen! Er mußte! Er überschritt die Grenze und lief, Schritt um Schritt, jede einzelne Bewegung ein Kampf gegen die Müdigkeit. Arme und Beine wurden schwerer und schwerer. Kaum konnte er noch die Füße heben, und nur der Anblick der hell erleuchteten Fenster von Sagon Manor belebte ihn. Auf dieser qualvollen Meile lernte Peter Winslow wieder etwas dazu. Auch seine besonderen Fähigkeiten als neuer Großmeister waren begrenzt. Er konnte keine übermenschlichen Leistungen vollbringen.
Das sollte ihm für die Zukunft eine Lehre sein, sich nicht vorzeitig zu verausgaben. Die Lichter schienen nicht näher zu kommen, doch Peter zwang sich dazu, nicht an die Entfernung zu denken. Den Blick starr auf die hellen Rechtecke gerichtet, rannte er wie eine Maschine weiter und weiter … … bis er es endlich geschafft hatte! Mit letzter Kraft schleppte er sich durch die Halle, den Korridor, auf eine offene Tür zu, taumelte in den hell erleuchteten Versammlungssaal, sah die erschrockenen Gesichter der Weißmagier, öffnete den Mund … und brach zusammen! Peter Winslow kam in einer Badewanne zu sich. Eine harte Bürste rieb über seine Haut. Jemand tätschelte sein Gesicht. Ein scharfer, stechender und doch angenehmer Geruch drang in seine Nase und riß ihm förmlich die Augen auf. Mit einem Schrei fuhr er hoch und wässerte die Umstehenden gehörig ein. Stöhnend sank er in die Wanne zurück. Es war noch genügend warmes Wasser vorhanden, um ihn zu bedecken. Sein Vater war in dem großen Baderaum, ebenso Harvey, Mr. Baker, der Satansspürer, zwei Fremde und der Alte aus dem Moor. »Peter Winslow!« rief der Greis, der auf einer der Liegen saß. »Nehmen Sie die Wahl zum Großmeister an?« Peter wollte schon von seinen Erlebnissen erzählen. Statt dessen nickte er. »Ja, ich nehme an«, sagte er schwach. »Endlich!« Der Alte aus dem Moor schlug die Hände zusammen. »Endlich! Damit sind alle unsere Probleme gelöst!« »Sie täuschen sich!« rief Peter und schob den Mann beiseite, der mit der belebenden Bürstenmassage fortfahren wollte. Er griff nach dem Badetuch, das Harvey ihm reichte, und stieg aus der Wanne. »Die größte Gefahr liegt noch vor uns!« »Das wissen wir bereits, mein Sohn«, erklärte sein Vater und deu-
tete auf einen der Fremden. »Er hat deine Gedanken während deiner Ohnmacht gelesen. Wir wissen alles über die Verräterin, die Vorsitzende des Kongresses der Untoten.« »Wißt ihr aber auch, daß diese Verräterin die Untoten alle erst eingeladen hat?« rief Peter hektisch. »Und daß diese Untoten die Abgesandten der mächtigsten Schwarzmagier Europas sind? Daß jeder Untote das gesamte Wissen seines Herrn oder seiner Herrin in sich trägt, daß die Untoten es untereinander austauschen und mit dem neuen Wissen zu ihren Herren zurückkehren sollen?« »Wir wissen alles«, beruhigte ihn der Alte aus dem Moor. »Auch den Schlachtplan der lebenden Leichen!« »Wenigstens etwas«, sagte Peter seufzend. »Es ist wohl zu spät, die Verräterin zu stellen. Sie ist in der Zwischenzeit bestimmt von Mortland nach Sagon Manor zurückgekehrt.« »Wir können es nicht feststellen«, gab sein Vater zu. »Aber wir haben schon die Taktik ausgearbeitet, nach der wir vorgehen.« »Wer führt die Leute?« fragte Peter knapp, während er in frische Kleider schlüpfte. »Ich«, sagte sein Vater. »Ich bin Großmeister, bis diese Bedrohung vorbei ist. Das war meine Bedingung bei meinem Rücktritt.« »Klar!« Peter sah ihn fragend an. So gut wie an diesem Abend hatte er sich mit seinem Vater noch nie verstanden. »Was wirst du tun?« »Die Untoten wollen uns bei einem Angriff bis Mortland vordringen lassen«, sagte Lord Winslow. »Sie wollen die meisten von uns verschütten, indem sie die restlichen Gewölbe einstürzen lassen. Und sie wollen viele von uns in das Hauptgebäude von Mortland locken, das sie dann mit Höllenfeuer ausräuchern.« »Das habe ich auf Mortland erlauscht«, bestätigte Peter. »Ich werde den Untoten diesen Gefallen tun«, sagte sein Vater lächelnd. Es war ein kaltes, hartes und unbeugsames Lächeln. Peter wollte aufbrausen, erkannte jedoch rechtzeitig, daß sein Va-
ter eine List plante. »Du bist schon vollständig angezogen«, stellte Lord Winslow fest. »Dreh dich mit dem Gesicht zur Wand!« Peter gehorchte, und er hörte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete. Leichte Schritte näherten sich und verstummten. »Dreh dich um«, sagte der Lord. Peter gehorchte auch diesmal und sah eine zierliche, schwarzhaarige Frau mit leuchtend blauen – naturblauen – Augen vor sich. Sie wirkte wie fünfzehn, doch sein geübter Blick verriet ihm, daß sie älter sein mußte. Mitte zwanzig, vermutete er. »Kommen Sie!« rief der Lord. Die Tür öffnete sich ein zweites Mal, und eine exakt gleich aussehende Frau trat ein, kam lächelnd auf Peter zu und blieb neben ihrem Ebenbild stehen. Beide Frauen nickten, beide Frauen lächelten, und beide Frauen sagten wie aus einem Munde: »Wie gefalle ich Ihnen, Sir?« »Was fangen wir mit Zwillingen an?« fragte Peter gereizt. »Wir veranstalten hier doch keine Show, oder?« Niemand sagte ein Wort, als die beiden Frauen aufeinander zutraten. Peters Augen weiteten sich, als sich die Schultern der beiden berührten und miteinander verschmolzen. Die zwei Gestalten schoben sich ineinander, bis nur noch eine Frau vor ihm stand. »Man nennt mich die Dopplerin«, sagte sie ernst. »Ich kann nicht nur mich selbst, sondern auch jeden anderen verdoppeln. Der zweite Körper ist nur eine Illusion, wenn auch eine perfekte. Was immer mit diesem Zweitkörper geschieht, überträgt sich nicht auf den Erstkörper.« »Dann stellen Sie vermutlich von uns allen Kopien her, die den Untoten scheinbar in die Falle laufen?« fragte Peter atemlos. »Genau«, bestätigte Lord Winslow. »Wenn die lebenden Leichen
glauben, sie hätten gewonnen, fallen wir über sie her. Jeder von uns hat seine eigene Methode, Untote zu vernichten. Und diesmal kämpfen wir hart. Die Untoten werden nicht nur vertrieben, sondern für immer unschädlich gemacht. Das wird sie gleichzeitig von ihrem unruhigen Dasein erlösen.« Peter straffte sich. »Wann geht es los?« fragte er entschlossen. »Jetzt«, entschied Lord Winslow, der Großmeister des weißmagischen Ordens. »Dopplerin! Beginnen Sie!« Die zarte junge Frau ging vor das Haus hinaus, und jedes einzelne Mitglied des Ordens trat vor sie hin. Von jedem entstand ein Ebenbild. Original und Ebenbild traten zur Seite und machten dem nächsten Platz. Eine Stunde später stürmte eine Geisterarmee gegen Mortland davon. Es war für Peter Winslow ein merkwürdiges Gefühl, sich selbst an der Spitze dieser Streitmacht zu sehen. Es war ein noch viel unangenehmeres Gefühl, Minuten später donnerndes Krachen, grauenvolle Schreie und das Fauchen von Flammen zu hören. Neben Peter wartete sein Vater, das Gesicht schweißbedeckt. Dem Großmeister und seinem Sohn stand überdeutlich das eigene Schicksal vor Augen. Falls sie versagten, würde es ihnen wie ihren Kopien ergehen. Vater und Sohn sahen einander an und nickten. »Los!« befahlen sie gleichzeitig. Der eigentliche Angriff auf die Bastion der Hölle begann.
* An der Grenze zu Mortland standen noch einige Posten der leben-
den Leichen, doch sie waren schnell beseitigt. Peter hielt sich nicht damit auf. Das übernahmen andere aus dem Pulk der Weißmagier. Jetzt kam alles auf Schnelligkeit an. Die Untoten durften keine Zeit haben, sich zu sammeln, und ihre Anführerin durfte keinen neuen Plan entwerfen. Hoffentlich war sie noch nicht geflohen, dachte Peter und nahm sich vor, hauptsächlich auf die Verräterin zu achten. Er mußte sie fangen! Er trug wieder eine Waffe. Mrs. Applegast hatte ihm vor dem Abmarsch das Beil gebracht und es erneut mit einem weißmagischen Bann belegt. Auf dem Gelände von Mortland sah es wie auf einem Kriegsschauplatz aus. Die Erde rings um das Hauptgebäude war eingesunken. Das waren die nunmehr offenen Gewölbe, in denen die vermeintlichen Weißmagier verschwunden waren. Nur schmale Wege führten zwischen den einzelnen Gruben auf das Haupthaus zu, das in hellen Flammen stand. Die Nebengebäude wurden von dem Höllenfeuer verschont, denn nur in das Hauptgebäude waren die Kopien gelockt worden. Gegen die lodernden Flammen sah Peter die Untoten. Sie hatten sich vor dem ehemaligen Herrenhaus in Doppelreihen aufgestellt, um die Flucht der vermeintlichen eingeschlossenen Weißmagier aus dem Feuer zu verhindern. Was aber noch viel wichtiger war – Peter sah die Vorsitzende des Kongresses der Untoten! Sie stand vor dem Portal, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf in den Nacken gelegt. Er stellte sich das triumphierende Lächeln in ihrem Gesicht vor, mit dem sie dem Untergang ihrer Feinde zusah. Die Weißmagier drangen lautlos vor. Sie überquerten die schmalen Brücken zwischen den Gruben und fielen über die lebenden Leichen her. Peter kümmerte sich nicht um den Kampf, obwohl ihm die Schreie
seiner Verbündeten durch Mark und Bein gingen. Aus den Augenwinkeln sah er, daß viele während des Kampfes in die Gruben stürzten und daß lebende Leichen zu ihnen hinunter sprangen, um in der Tiefe den Kampf fortzusetzen. Er blickte starr auf die Anführerin, die sich noch nicht aus ihrer verzückten Haltung gelöst hatte. Er sah pechschwarze Haare, und ein schlimmer Verdacht stieg in ihm auf. Die Untoten wichen von ihrer Anführerin zurück und griffen in den Kampf ein. Die Frau war jetzt allein. Peter war auch allein. Niemand von seinen Mitstreitern war in seiner Nähe. Er lief auf die Vorsitzende des Kongresses zu. Sie löste sich aus dem Trancezustand und drehte sich um. Peter prallte mit einem heiseren Aufschrei zurück. »Alicia!« stammelte er, als er seiner Schwester gegenüberstand. Ebenbild ihrer Mutter! Dieser Gedanke jagte durch seinen Kopf. Sie war nicht nur äußerlich dieses Ebenbild. Ihr widerfuhr nun das gleiche Schicksal wie ihrer Mutter. Auch sie war von einem bösen Geist ergriffen, von dem Geist ihres Großvaters. Der alte Mortland hatte Alicia zu diesem Verrat gezwungen. Auch wenn sie kein Mitglied des Bundes war, so hatte sie doch in alles Einblick gehabt und für das Böse gearbeitet! »Ergib dich!« verlangte Peter heiser. Er dachte an den Leitsatz seines Ordens, nie einen Menschen zu töten. Dieser Leitsatz war in seiner Situation nicht nötig. Er hätte seine eigene Schwester niemals getötet, nicht einmal, wenn sie ihm in Satansgestalt entgegen getreten wäre! Dazu wäre er nicht fähig gewesen! Es war ein lautloses Duell zwischen den Geschwistern. Alicia Winslow sprach kein Wort. Ihr Gesicht war zu einer Maske
gefroren. Ihre schwarzen Augen ließen den Bruder nicht los. Ihre schwarzen Haare flatterten in dem Wind, der durch das brüllende Feuer im Herrenhaus entfacht wurde. »Ergib dich!« forderte Peter ein zweites Mal, ließ das Beil fallen und ging mit hängenden Armen auf seine Schwester zu. Sie ließ ihn bis auf drei Schritte herankommen, wirbelte herum und lief in weiten Sätzen auf das Feuer zu. Vor ihr klaffte das Portal weit auf. Dahinter donnerten die Flammen. Unerträgliche Hitze strahlte ins Freie. »Rette sie!« tönte die Stimme des Geistes seiner Mutter durch Peters Gedanken. Schon bevor sich der Geist bei ihm meldete, war er losgelaufen. Unter Einsatz seines Lebens schnellte er sich auf die Flammen zu, hetzte hinter Alicia die eingesunkene Freitreppe hinauf und rang nach Luft, als ihm die Hitze entgegenschlug. Eine Flammenzunge leckte aus dem Portal und griff nach Alicia, doch im selben Moment war Peter heran. Er schlang einen Arm um seine Schwester, riß sie zurück und zerrte sie aus dem Bereich des Feuers. Benommen taumelte er mit ihr die Treppe hinunter. Das Beil war weg! Peter hielt sich nicht damit auf, genauer nachzuforschen, wo die Waffe geblieben war. Irgend jemand hatte sie vermutlich aufgehoben und mitgenommen. Es war viel wichtiger, Alicia wegzuschaffen. Ein Rundblick überzeugt ihn davon, daß die Schlacht gewonnen war. Es gab keine lebenden Leichen mehr! Sie lagen auch nirgends herum, denn waren sie einmal von ihrem schauderhaften Dasein befreit, lösten sie sich zu Staub auf. »Wir kehren nach Sagon Manor zurück!« verkündete die hallende Stimme seines Vaters. »Der Feind ist restlos besiegt. Es gibt auf Mortland keine Untoten mehr!« Alicia zuckte bei dem Klang dieser Stimme zusammen. Peter preßte die Lippen aufeinander.
Er konnte es nicht ändern. Er mußte seinen Vater mit der schrecklichen Wahrheit konfrontieren. Alicia wehrte sich auch nicht, als er sie zur Grenze von Sagon Manor zerrte. Der Lord stand vor seinem Haus. Neben ihm hatte sich der Alte aus dem Moor aufgestellt. Die übrigen Weißmagier, von denen manche heftig bluteten, bildeten einen weiten Halbkreis. »Wir haben keine Toten zu beklagen!« rief Lord Winslow. Er sah Peter und seiner Tochter Alicia entgegen. »Die Gefahr ist vorbei! Ich übergebe mein Amt an meinen Sohn!« Peter stutzte. Der Blick seines Vaters war auf ihn, nicht auf Alicia gerichtet. Dabei mußte sein Vater begreifen, weshalb er Alicia von Mortland hierher brachte! Es war doch alles klar! Zehn Schritte vor seinem Vater und dem Alten aus dem Moor blieb Peter mit seiner Gefangenen stehen. »Peter Winslow!« rief der Alte aus dem Moor feierlich. »Sind Sie bereit, das Amt des Großmeisters jetzt und hier zu übernehmen?« Peter verstand überhaupt nichts mehr. Trotzdem nickte er. »Ja!« verkündete er laut. Von diesem Moment an war Peter Winslow der Großmeister des Ordens der Weißmagier!
* Ich bin der neue Großmeister, dachte Peter und sah seinen Vater an. Begriff er wirklich nicht, daß seine Tochter Alicia hier als Verräterin stand? War der Schock für ihn zu groß? Maud näherte sich von der Seite. Langsam und feierlich schritt sie auf Peter zu. »Ich habe sie in Mortland ergriffen!« verkündete Peter laut und
schob Alicia ein Stück von sich. »Sie ist die Verräterin! Sie hat die Untoten angeführt!« Der Alte aus dem Moor streckte befehlend die Hand aus. »Schicken Sie sie zu mir!« Peter begann, vor Aufregung zu zittern. Machte der Alte auch keinen Fehler? Wenn Alicia freikam, konnte sie Unheil anrichten! Dennoch gehorchte er eingedenk der Tatsache, daß sich sogar der Großmeister dem Ordensältesten unterwerfen mußte. Er ließ Alicia los, und sie schritt auf den Alten zu. Maud erreichte Peter und blieb vor ihm stehen. »Was willst du?« fragte er leise. Das Hausmädchen antwortete nicht. Alicia erreichte den Alten. Lord Winslow packte seine Tochter und zog sie mit sich, bis sie beide an der Hausmauer standen. »Peter!« rief der Lord. »Du bist der Großmeister und hast soeben deinen ersten Fehler begangen! Ich erkläre hiermit, daß Alicia unschuldig ist. Sie ist keine Verräterin!« Der Alte aus dem Moor bewegte seine Hände beschwörend über Alicias Kopf. Im nächsten Moment brach sie mit einem Schrei in den Armen ihres Vaters zusammen. Peter war so von dieser Szene gefesselt, daß er den zweiten Fehler beging. Zu spät sah er das satanische rote Leuchten. Es strahlte vom Dach Sagon Manors herunter. Peters Blick zuckte hoch. Er sah zwei Dinge gleichzeitig. Die glühend roten Augen der wahren Verräterin aus denen das Böse leuchtete. Und sein Beil, das die wahre Verräterin auf ihn schleuderte. Es war zu spät. Das Beil war schon heran. Peter konnte nicht mehr
ausweichen. Doch Maud warf die Arme hoch und klammerte sich an ihn, und das Beil traf sie. Peter schrie auf, als er zusammen mit Maud zurücktaumelte. Die tote Maud in den Armen, starrte er zum Dach hinauf. Das rote Leuchten schwand. »Ich habe mein Ziel auf Mortland nicht erreicht, aber ich habe wenigstens den Großmeister getötet!« schrie Marthe vom Dach herunter. »Ich habe …!« Sie verstummte, als sie sah, daß sie auch dieses Ziel verfehlt hatte. Von ihren Lippen brach ein schauerlicher Fluch. »Hol mich hier weg, Herr!« schrie sie. Ihre blonden Haare flatterten im plötzlich einsetzenden Sturm. Ihre Augen hatten wieder das natürliche Blau angenommen. Der Sturm packte Marthe und riß sie in den Nachthimmel empor. Im nächsten Moment war sie verschwunden … Peter öffnete die Arme und ließ die tote Maud zu Boden sinken. Kaum berührte sie die Erde, als sie sich auflöste. Erschüttert und verwirrt hob Peter den Blick und prallte zurück. Neben seinem Vater, Alicia und dem Alten aus dem Moor stand – Maud! Maud kam auf ihn zu und deutete auf die Stelle, an der sie scheinbar soeben gestorben war. »Das war meine Kopie«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Die Dopplerin hat mir geholfen, und Marthe ist darauf hereingefallen!« Peter griff sich stöhnend an die Stirn. »Was ist bloß geschehen?« fragte er stammelnd. »Erklärt es mir, bevor ich den Verstand verliere!« Der Alte trat auf ihn zu und legte ihm den Arm um die Schultern. »Der Geist Ihrer Mutter, Sir, kam nicht ohne Grund aus dem Jenseits zurück«, sagte er leise. »Ihr Vater und ich ahnten, daß es eine unermeßliche Gefahr geben müsse. Ihr Vater hatte seine Töchter schon lange beobachtet, weil er eine Wiederholung der Ereignisse um Ihre
Mutter fürchtete, und gefühlsmäßig hegte er den Verdacht, daß Marthe von dem Geist ihres Großvaters zum Bösen gezwungen wurde. Er konnte jedoch nichts dagegen tun.« Lord Winslow sah man die Erschütterung an, als er Alicia zu Peter führte. »Marthe würde sich während unseres Angriffes auf Mortland verraten, das hoffte ich«, sagte der Lord und kämpfte gegen die Tränen an. »Deshalb bat ich Maud, ständig in deiner Nähe zu bleiben, um dich zu beschützen, mein Sohn.« »Marthe zwang Alicia mittels Schwarzer Magie«, fuhr der Alte fort, »in ihre Rolle zu schlüpfen und Sie vor dem brennenden Mortland zu erwarten. Das wußten wir nicht. Marthe zwang Alicia ferner, in das Feuer zu laufen. Wäre Alicia darin gestorben, hätte Marthe ungestört ihre Rolle weiterspielen können. Sie haben Alicia gerettet und hierher gebracht. Inzwischen hatte die Frau mit den vier Augen gesehen, wer Ihr Beil aufhob und hierher trug. Marthe!« »Um Marthe zu entlarven«, erklärte nun Maud, »inszenierten wir diese feierliche Übergabe des Titels. Marthe sollte dazu verleitet werden, den neuen Großmeister zu töten. Deshalb erklärte Ihr Vater, Sir, Alicia für unschuldig, und der Alte befreite sie von dem Bann. Marthe fiel darauf herein. Sie schleuderte das Beil, das meine Kopie auffing.« »Und wo ist Marthe jetzt?« fragte Peter schaudernd. Der Alte breitete die Arme aus. Er warf Lord Winslow einen mitleidigen Blick zu. »Das weiß niemand«, sagte er weise. »Sie kann überall und nirgends sein. Sie hat ihren Herrn angefleht, sie zu holen, und er hat ihre Bitte erfüllt. Seien wir froh, daß uns Menschen die letzten Geheimnisse verborgen bleiben.« Lord Winslow führte die einzige ihm verbliebene Tochter in das Haus. Harvey, Mrs. Applegast und die anderen schlossen sich an. Vor Sagon Manor blieben nur Peter Winslow, Maud und der Alte aus dem Moor. Peter drehte sich um und warf einen langen Blick auf Mortland,
über dem der Feuerschein lag. »Dieser Stützpunkt des Bösen ist vernichtet«, sagte Peter rauh, »aber wir haben einen fürchterlichen Preis dafür bezahlt.« »Jeder unserer Kämpfe kostet viel«, sagte der Alte aus dem Moor. »Wir müssen bereit sein, den Preis zu bezahlen, sonst können wir unsere Aufgabe nicht erfüllen.« Der Feuerschein über Mortland fiel in sich zusammen. »Lohnte es sich?« fragte Peter Winslow zweifelnd. »Es lohnt sich immer dem Guten zum Sieg zu verhelfen und das Böse zu bekämpfen«, sagte der Alte aus dem Moor. Maud legte ihre Hand behutsam auf Peters Arm. »Wir alle helfen Ihnen dabei, Sir!« Peter wandte sich an sie. Er lächelte unter Tränen. »Sag heute abend Peter zu mir«, bat er. »Dann fühle ich mich vielleicht nicht ganz so elend.« Maud lächelte tapfer. »Okay, Peter«, sagte sie. »Komm, wir gehen hinein!« Sie führte ihn ins Haus, und der Alte aus dem Moor sah ihnen lange nach. Seine Mission auf Sagon Manor war beendet. Der Orden hatte einen neuen Großmeister. Der Alte aus dem Moor war sicher, daß Peter Winslow ein hervorragender Großmeister sein würde. Und das war auch nötig in diesen schweren, gefährlichen Zeiten. ENDE
Die Meute des Satans von Henry Wolf Er hörte das Keuchen und Hecheln hinter sich, glaubte sogar, bereits den heißen Atem seiner Verfolger im Nacken zu spüren. Dabei hatte er, Chefinspektor Earl Johnson, nur einen langgesuchten Verbrecher zur Strecke bringen wollen. Die Falle war vorbereitet, das Wild eingekreist, und die Handschellen schienen schon zuzuklappen, doch da gelang es dem Ganoven, Hilfe aus einer Dimension jenseits dieser Welt herbeizurufen. Und Earl Johnson sah sich plötzlich an zwei Fronten kämpfen. Doch dieser Kampf würde schon bald zu Ende sein, denn ihn jagte
Die Meute des Satans