DAN SHOCKER's MACABROS
Konga, der Menschenfrosch Ein atemberaubender Macabros mit Björn Hellmark, dem Todfeind der Gei...
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DAN SHOCKER's MACABROS
Konga, der Menschenfrosch Ein atemberaubender Macabros mit Björn Hellmark, dem Todfeind der Geister und Dämonen.
„Ich hätte Angst“, sagte der Mann mit dem bleichen Gesicht und den hervorquellenden Basedowaugen. „Angst? Wovor?“ Der Jüngere hob den Kopf und unterbrach die Arbeit, mit der er sich gerade beschäftigte. Vor ihm auf dem klobigen Tisch lag auf einem Brett ein Frosch gespannt. Der gedrungene Körper war mit vier silberschimmernden Nadeln aufgespießt. Zwischen den Spannhäuten der kurzen Vorderbeine steckten die Nadeln ebenso wie in den langen hinteren Gliedmaßen. Der Frosch lag wie zum Sprung bereit. In dem erdbraunen Körper schien noch Leben zu sein. Ein leichtes Zucken lief durch die Gliedmaßen. Es waren elektrische Impulse, denen die Muskeln noch unterworfen waren. Jörg Maruschka hob den Blick, als sein Gast, dessen Alter schwer zu schätzen war, nicht weiter sprach. „Was wolltest du sagen?" hakte Maruschka nach. Sein unsteter Blick wanderte über den Mann, der auf der anderen Seite des Tisches stand, das Gesicht halb im Schatten. Die tief von der Decke herabgezogene Lampe leuchtete
nur einen bestimmten Fleck auf dem Tisch aus, der zur Operationsfläche geworden war. Hier wollte Maruschka den Frosch auseinandernehmen und sezieren. Er wollte die drüsenreiche Hautschicht ablösen und freilegen. Ähnliche Versuche hatte er mit Käfern und Insekten und auch anderen Fröschen schon gemacht. Maruschka war zumindest ebenso merkwürdig wie sein bleicher Besucher. Der junge Mann kannte den älteren seit geraumer Zeit. Wie Maruschka, so lebte auch Tössfeld in einer selbstgewählten Abgeschiedenheit. Tössfeld war eines Tages hierher zu ihm ins Moor gekommen, und so hatte ihre Bekanntschaft begonnen. Sie hatten entdeckt, daß sie fast die gleiche Leidenschaft hatten: seltsamen und ungewöhnlichen Dingen auf den Grund zu gehen, Käfer und Insekten zu sammeln und zu konservieren. Doch ihr Interesse ging weit über das eines Biologen oder Naturwissenschaftlers hinaus. Maruschka kam es darauf an, nach Wahrheiten zu suchen, die jenseits der sichtbaren Dinge lagen. Er hatte in alten Büchern entdeckt, daß es für viele Käferund Insektenarten göttliche wie teuflische Bestimmungen gab. Dieses oder jenes Tier erfüllte einen bestimmten Zweck im okkulten Bereich. So wußte er von Käfern und Insekten, deren Eingeweide man in Liebestränke gemischt hatte.
Auch der Frosch, der ihn seit geraumer Zeit am stärksten interessierte, war ein geheimnisvolles Tier. Im alten Ägypten war er als weibliche Gottheit bekannt, die für glückliche Geburten und ein langes Leben zuständig war. In der Bibel dagegen wurde er als zweite Plage apostrophiert, die Gott schickte, um die Ägypter zu bestrafen. Der Frosch war das Symbol für die unreinen Geister. Dies hatte jedoch die Menschen im 4. Jahrhundert nicht daran gehindert, den Frosch als Zeichen der Wiedergeburt und des ewigen Lebens auf Lampen und Gefäßen darzustellen. Maruschka und Tössfeld hatten sich oft über diese rätselhaften Probleme unterhalten. Für Maruschka war Tössfeld der ideale Gesprächspartner. Tössfeld versuchte sich in okkulten Praktiken, und sein Wissen auf dem Gebiet der Astrologie war bemerkenswert. Tössfeld war ein Grübler und Sucher und überzeugt davon, den Sinn seines Lebens nur erfüllen zu können, wenn er abseits der menschlichen Gesellschaft lebte und ganz in seinen Forschungen aufging. Er schrieb an einem Buch, das — dieser Überzeugung war er — nach seiner Veröffentlichung eine Sensation werden würde. Tössfeld druckste herum. Er wollte mit der Sprache nicht heraus. Aber man sah ihm an, daß er sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte.
Als Jörg Maruschka nach einem scharfen Seziermesser griff und mit einer beinahe zärtlichen Bewegung die großen, rückziehbaren Froschaugen zurückschob, lief ein eisiger Schauer über den Rücken des bleichen, etwas gedrungenen Mannes. „Ich wollte eigentlich schon immer dabei sein, wenn du das tust", bemerkte Tössfeld mit belegter Stimme. Seine Augen glitzerten. „Aber es macht mir doch 'ne Menge aus. Ich habe geglaubt, abgebrühter zu sein." Jörg Maruschka lachte. Er hielt den Kopf gesenkt. Trotz seiner Jugend wurde sein Haar schon schütter, und das gelbliche, unruhige Licht der Petroleumlampe spielte auf der gebräunten Kopfhaut, die durchs Haar schimmerte. „Es ist doch nur ein Frosch", bemerkte Maruschka. Seine Miene war gespannt. Mit dem Handrücken rieb er an seiner großen, breiten Nase. „Nur ein Frosch", echote Tössfeld. Die Angst in seinem Blick war nicht zu übersehen. „Wieviel von ihnen hast du auf diese Weise schon umgebracht?" Maruschka zuckte die Achseln. Er warf einen raschen Blick auf das Brett, das neben dem alten Glasschrank stand, in dem hauptsächlich Käfer und Schmetterlinge aufbewahrt wurden. Auf dem Brett waren rund zwanzig Frösche aufgespießt. Die Körper schimmerten grün und braun und wirkten wie gegerbtes Leder. Die Frösche waren
ausgenommen. Ganz oben auf dem Brett gab es zwei fein säuberlich präparierte Froschskelette. Die feinen Knöchelchen schimmerten mattweiß. Das, was Maruschka aus diesem Körper entnommen hatte, schwamm in Rexgläsern in einer Konservierungsflüssigkeit. Die Gläser standen auf dem Regal neben dem Glasschrank. Kalte Glotzaugen einst lebender Frösche starrten aus den gläsernen Behältnissen und schienen jede Bewegung zu registrieren und aufzunehmen. In flachen Schalen lagen von den Fingern entfernte Brunstschwielen, welche nur die männlichen Frösche aufzuweisen hatten. Nerven und Schallblasen waren ebenso konserviert wie Drüsen, einzelne Zellen und Gehirne. Maruschka hatte alles fein säuberlich aufbewahrt und führte über seine Forschungen, Operationen und Versuche genau Buch. „Vielleicht achtzig, vielleicht hundert", meinte er beiläufig. „So genau weiß ich das nicht mehr. Ich könnte nachsehen. Aber warum interessiert dich das?" Er setzte das Messer an. „Moment", rief Tössfeld. Sein Gesicht wurde noch weißer als es von Natur aus schon war. Dieser Mann schien seit Jahren nicht mehr an der Sonne gewesen zu sein. „Noch nicht. Ich möchte dir erst etwas sagen, und dann will ich gehen. Ich glaube, ich kann es doch nicht sehen. — Hast du schon mal von ihm gehört?"
Er war sprunghaft in seinen Überlegungen und schien vorauszusetzen, daß der andere seinen Gedankengängen folgen konnte. „Von ihm?" fragte Maruschka. „Wer ist 'ihm'?"
Jörg
„Vom Fliegengott." Maruschka mußte schlucken. „Fliegengott? Was soll der Unfug?" „Ja, ich habe mal davon gehört. Oder auch gelesen. So genau weiß ich das nicht mehr. Aber das spielt auch keine Rolle. Nur eines habe ich behalten: er wird kommen, um den Tod seiner Untertanen, den Tod seines Volkes, zu rächen!" „Was redest du da für einen Unsinn?" Jörg Maruschka hob den Kopf. Er versuchte in dem erschrockenen, bleichen Gesicht seines Gegenüber zu lesen. Dietrich Tössfelds Züge waren starr wie eine Maske. „Ich red keinen Unfug", fuhr er mit dumpfer Stimme fort. „Es gibt ihn wirklich. Wenn jemand Fliegen tötet, immer und immer wieder, muß er damit rechnen, eines Tages durch den Fliegengott hingerichtet zu werden. Man erzählt sich, daß er so groß wie ein Mensch ist." Maruschka lächelte abwertend. „Und was hat das mit dem zu tun, was ich ..." Seine Augen wurden plötzlich groß. Mit einem Mal schien er zu begreifen, was Tössfeld andeutete. „Oha", sagte er und kratzte sich am Hinterkopf. „Du meinst, daß mir dann unter Umständen der Froschgott begegnet um mich für das Unheil, das ich an seinem Volk angerichtet habe... Weißt du, das ist aber
ziemlich an den Haaren herbeigezogen, was du da von dir gibst." Jörg Maruschka versuchte das Ganze von der heiteren Seite zu nehmen, aber Tössfeld meinte es bitter ernst. Seine Miene blieb eisig. „Deshalb will ich gehen", murmelte er, als habe er plötzlich einen geheimen Befehl erhalten. „Fast hundert sagst du? Es ist ein Teufel- und Hexentier. Vielleicht solltest du bald damit aufhören, wenn dir dein Leben lieb ist." Hatte Tössfeld den Verstand verloren? Wie kam er auf einmal auf eine solch absurde Idee? Dietrich Tössfeld nickte ihm zu. „Ich wünsch dir weiterhin viel Erfolg! Aber treib's nicht auf die Spitze! Denke an den Fliegengott, Jörg!" Wer diese Männer in der abseits gelegenen Hütte am Rande des Moors heimlich hätte beobachten können, würde sie beide für verrückt gehalten haben. Das Gespräch war das zweier Besessener, die ihre eigene Sprache sprachen und ihr ureigenes, von einem Außenstehenden nicht begreifbares Leben führten. Dietrich Tössfeld warf noch einen scheuen Blick in die Runde und auf den frischen am Brett festgespießten Frosch und hatte es plötzlich sehr eilig, sich zu verabschieden. Es war, als hätte er eine lautlose Warnung empfangen, dieses gefährdete Haus zu verlassen.
Jörg Maruschka, der sonst viel auf die Worte und das Verhalten seines älteren Freundes gab, konnte dies nicht verstehen. Er glaubte an finstere Mächte, an böse Geister und Dämonen, die sich überall etablieren konnten, und er war in seiner Naivität sogar überzeugt davon, daß unreine Geister sich besonders in ekelerregenden Tieren, in Insekten und Gewürm einnisteten, um besonders empfindsame und von ihnen auserkorene Menschen zu erschrecken, zu ängstigen und zu peinigen und dann von ihrem Wirtskörper aus ihre Opfer belauerten und beobachteten. Das konnte ein Vogel sein, eine Krähe vielleicht, eine Katze, es konnte aber auch ebensogut ein Käfer sein, eine Fliege oder in dieser feuchten Gegend ein Frosch. Die gab es hier in Massen, in dem alten, brackigen Tümpel existierten sie zu Tausenden. Die Menschen in dieser Gegend nannten den Tümpel den „Teufelsteich". Ein seltsamer Name für einen Teich. Niemand mehr wußte, wie und wann dieser Name zustandegekommen war... Maruschka begleitete seinen Gast bis zur Tür. Draußen war es schon dunkel. Das Haus Maruschkas stand mitten im Wald. Es war früher eine Wochenendhütte gewesen, die ein Schauspieler aus Hamburg vor und während des Krieges bewohnte. Der Mann hatte nach dem Krieg dann einige Jahre lang ständig in dieser Hütte gelebt, in der es kein elektrisches Licht, kein fließendes
Wasser und Anlagen gab.
keine
sanitären
Mit diesem exzentrischen Mimen war Jörg Maruschkas Vater befreundet gewesen. Er war in einem Testament zum Erben des Nachlasses des Schauspielers, der keine Angehörigen hatte, bestimmt worden. Als Junge hatte Jörg Maruschka unbeschwerte Tage und Wochen hier verlebt. Und es hatte ihn immer wieder in diese Einsamkeit gezogen. Hier in der Nähe des Moores, mitten im Wald, fühlte er sich wohl. Dieses Stück Land war sein Paradies, war sein Eigentum. Dietrich Tössfeld warf einen scheuen Blick zum Himmel. Durch aufgerissene Wolkenfetzen blinkten vereinzelt die Sterne. Der Mond war von einem Wolkenberg verdeckt. „Deine Sterne stehen nicht günstig, Jörg", murmelte der Alte. „Wir sind alle abhängig von ihren Einflüssen. Laß die Finger von deinen Experimenten! Paß auf dich auf!" Das waren seine letzten Worte. Dann verließ er die Hütte und schritt auf dem schmalen Pfad in den Wald, wo ihn die Dunkelheit verschluckte. Nachdenklich kehrte Maruschka in seine Hütte zurück. Er zündete sich eine Zigarette an, goß sich einen Whisky ein und stand gedankenverloren eine Zeitlang vor dem Tisch. Er schüttelte den Kopf und machte sich dann wieder an seine Arbeit. Fachgerecht zerlegte er den Frosch, nahm Nerven und Muskeln
heraus, das Gehirn, die Augen, die Nickhaut. Obwohl er breite, beinahe klobige Hände hatte, führte er die kleinen Operationsgeräte sicher und gekonnt. Jeder Schnitt saß.
sonderlich leise verhielt, einen Strich durch die Rechnung machen.
Jörg Maruschka arbeitete lautlos wie ein Roboter. Er machte Vermerke in seine Tabelle, wog und vermaß. Er suchte das Besondere in diesem Tier, das alte Völker verehrten und verteufelten. Er wußte, daß er es eines Tages finden würde. Da... Ein Geräusch... Maruschka zuckte zusammen.
Etwas schlich auch von außen heran. Als Maruschka der Überzeugung war, daß der Unbekannte genau vor der Tür stand, handelte er.
Es kam von der Tür. Da gab es eine aus Holzbrettern zusammengefugte breite Terrasse. Und dort lief jemand...
Jörg Maruschkas Augen wurden groß wie Untertassen.
Maruschka hielt den Atem an. Die Schritte draußen hörten sich an, als würde jemand mit naßen Füßen herumtappen. Mit breiten, nassen Plattfüßen. Es schmatzte und klatschte, als ob Flossen oder Schwimmhäute zwischen den Zehen wären... Jörg Lippen.
* Maruschka
verzog
die
Tössfeld! dachte er. Der war zurückgekommen und erlaubte sich nun einen Scherz. Er wollte ihm Angst machen. Etwas stimmte mit dem Astrologen nicht. Sein merkwürdiges Verhalten heute abend kam Maruschka wieder in den Sinn. Er wollte seinem heimlichen Besucher, der sich nicht gerade
Jörg Maruschka huschte auf Zehenspitzen Richtung Tür, stellte sich dahinter und hielt den Atem an, abwartend was weiter geschah.
Blitzartig riß er sie auf. „Na ...", mehr brachte er nicht über die Lippen. Was er sagen wollte, wird für alle Zeiten ein Rätsel bleiben.
Sein Atem stockte, und seine Stimme versagte ihm den Dienst, als er schreien wollte. Was vor ihm stand, war groß, massig und dunkel. Bedrohlich füllte das Höllenwesen den Raum zwischen dem Türrahmen. Es war ein Riesenfrosch, der dort hockte und Maruschka um Haupteslänge überragte! * Der Erstarrung und Schrecken folgten Zweifel.
dem
Das konnte nicht sein! Jörg Maruschka war überzeugt davon daß er nur träumte. Eine Halluzination, ein Trugbild! Tössfeld und sein dämlicher Fliegengott, von dem er gesprochen hatte... Auch die Frösche sollten so ein Überwesen haben. Er, Maruschka, mußte sich eingestehen, daß die Saat, die
Tössfeld ausgesät hatte, aufgegangen war. Er hatte seit dem Weggang seines Besuchers nur an diese phantastische Gestalt gedacht... „Sei mir willkommen", sagte er einfach. In Bruchteilen von Sekunden gingen ihm Gedanken durch den Kopf und er glaubte, die richtige Lösung gefunden zu haben. Er gab sich ruhig und gelassen, doch man sah ihm an, daß es ihm größte Mühe bereitete. Im entscheidenden Augenblick benahm er sich hilflos wie ein Neugeborenes. Dabei hatte er sich die Begegnung mit einem Dämon in tausend verschiedenen Variationen ausgemalt. Das Zusammentreffen — so hatte er immer geglaubt — würde mit Gestank, Krach und einer Vielzahl abstoßender Dinge verbunden sein. Zu allen Zeiten hatten sich Dämonen und bösartige niedere und höhere Geister so gemeldet. In der Gegenwart würde das nicht anders sein. Aber ausgerechnet ein Frosch? Warum ein Frosch? Hing es mit den Versuchen zusammen, die er unternahm? Glaubte man im Dämonenbereich, ihm einen Gefallen zu tun, wenn man ein Bild wählte, das ihm vertraut sein mußte? Dann würde er dies, als eine besondere Art von Zuneigung oder Aufmerksamkeit zu werten haben. Er war noch unbeholfen im Umgang mit Dämonen und wußte nicht, wie er diese oder jene Geste werten sollte.
Eines allerdings fiel ihm dabei siedendheiß ein. Dämonen Namen!
und
Geister
hatten
Wenn man sie damit anrief, machte man sie sich Untertan, vorausgesetzt, daß einige Vorbedingungen gewisser Zeremonien und geheimer Riten erfüllt waren. „Wie ist dein Name?" fragte Maruschka. Seine Stimme klang schon sicherer. Langsam kehrte seine Fassung zurück, und er versuchte, die unheimliche, massige Froschgestalt auf seiner Türschwelle zu ignorieren und sich von dem riesenhaften Wesen keinen Schrecken einjagen zu lassen. Der Maul.
Riesenfrosch
öffnete
sein
Die dicke, festgewachsene Zunge sah aus wie ein Stück Fleisch unter dem Oberkiefer. Dumpfe, gutturale Laute drangen aus dem sich aufblasenden Kehlkopf des vermeintlichen Dämons. „Ich bin Konga." Wie ein kalter Wind wehte ihn der Atem des mehr als menschengroßen Frosches an. Konga? Blitzschnell überlegte Maruschka. Dieser Name stand nicht in den alten Büchern, die er zusammengetragen hatte. Er hätte eher erwartet, den Namen Qualpa, Asmodis, Pluto oder Arkum zu hören. Diese Namen hätten ihm etwas gesagt. Diese Dämonen hatten Macht und konnten auch ohne Rücksprache
mit ihrem höllischen Gebieter Entscheidungen treffen. Vor allen Dingen waren sie imstande, jede erdenkliche Gestalt anzunehmen. Aber ein Dämon namens Konga war ihm nicht bekannt. Vielleicht handelte es sich bei dem Riesenfrosch um einen der zahllosen niederen Geister, die es im höllischen Bereich gab? Der Riesenfrosch sprach weiter. Seine dumpfe, laute Stimme dröhnte durch das Innere der Hütte. „Du heißt deinen Henker willkommen?" Wie war verstehen?
das
nun
wieder
zu
Jörg Maruschka erkannte, daß er die Situation noch immer nicht begriffen hatte. Er handelte instinktiv, als ihm bewußt wurde, daß er die Begegnung offensichtlich unterschätzt hatte. Die Worte des Riesenfrosches bestätigten ihm die Gefahr, in der er schwebte, und die er intuitiv erfaßt hatte. Dementsprechend verhielt er sich. Er warf sich gegen die Tür, aber Konga, der unheimliche Frosch, schien darauf gefaßt gewesen zu sein. Seine rechte Hand mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern klatschte gegen die Tür, noch ehe Maruschka sie ins Schloß drücken konnte. Die Tür flog zurück. Und mit ihr der junge Deutsche.
Maruschka taumelte. Er fing sich wieder und stürzte nicht zu Boden. Blitzartig entschied er sich für das Fenster, wollte es aufreißen und in die Nacht hinausspringen. Er brauchte Abstand zu den Dingen und mußte auf alle Fälle Konga, dem Riesenfrosch, entrinnen. Doch das war nicht so einfach, wie er sich das vorstellte. Den großen, starren Augen der unheimlichen Kreatur entging nichts. Mit seinen langen Sprungbeinen stieß der Frosch sich ab. Wie ein großer, bizarrer Schatten kam sein gedrungener Leib durch die Türöffnung, schwebte sekundenlang in der Luft und senkte sich dann hart auf Maruschka herab. Der Mensch hatte das Gefühl, von einem Berg erdrückt zu werden. Schreiend warf er sich noch herum, versuchte in die äußerste Ecke zu entkommen und dann durch die Tür zu flüchten, die so plötzlich frei vor ihm lag. Doch dies Überlegung.
alles
blieb
nur
Jörg Maruschka war überwunden, noch ehe er an weitere Abwehr denken konnte. Der Riesenfrosch riß ihn vom Boden empor. Verzweifelt schlug Maruschka um sich und versuchte sich dem Zugriff zu entziehen. Vergebens!
Konga war schneller, größer und stärker. Seine Rechte lag schwer wie ein Bleiklotz auf der Brust des Menschen, drückte ihn hinab und hockte sich dann mit seinem dicken Hinterteil kurzentschlossen auf die strampelnden Beine. Maruschka keuchte und spannte alle seine Muskeln an, aber seine Kraft war die eines Säuglings gegen einen Erwachsenen. Die andere Hand des nächtlichen Besuchers kam in die Höhe und legte sich auf seinen schreienden Mund und auf sein schweißüberströmtes Gesicht. Ihm wurde die Luft abgestellt. Konga wollte ihn ersticken. Maruschkas Augen traten hervor. Sein Gesicht wurde erst rot, dann blau. Dumpfe Geräusche kamen aus seiner Kehle. Alles vor seinen Augen verschwamm. Dann verließen ihn die Sinne. * Aber Konga wollte ihn nicht töten. Noch nicht und offenbar nicht auf diese Weise. Maruschka war ein anderes Schicksal vorbestimmt. Konga hob den schlaffen Körper ohne besondere Anstrengung in die Höhe. Die fast handtellergroßen Augen des furchteinflößenden Geschöpfes bewegten sich. Die Blicke blieben an dem Brett kleben, das neben der gläsernen Vitrine, die als Sammlerschrank umfunktioniert worden war, stand.
„Ich bin dein Henker, Jörg Maruschka", dröhnte es aus dem großen Froschmaul. „Konga, der Menschenfrosch wird sein Volk rächen. Du bist nicht der erste, du bist der dritte, der so enden wird, wie du es den Angehörigen meines Volkes angetan hast. Auch du wirst auf einem Brett enden, aufgespießt wie ein Frosch." * Sie schlenderten Hand in Hand den schmalen Weg entlang. Links hinter ihnen breitete sich ein dichter Wald aus, rechts die mattschimmernde Fläche eines großen, stillen Sees. Sie waren hierher an den Balksee gekommen, um ihre Flitterwochen zu verbringen. In einer kleinen Pension, die den wenig romantischen Namen Schützenhaus trug, hatten sie sich einquartiert. Dies geschah nicht nur aus Ersparnisgründen. Hier, im Norden Deutschlands, konnte man noch allein sein und wirkliche Ferien machen, wenn man die entsprechenden Ecken aufsuchte, die von Touristen noch nicht überschwemmt waren. Sie hätten ohne weiteres nach Kämpen auf Sylt fahren können, oder nach Helgoland oder auf eine der Nordseeinseln wie Borkum oder Norderney. Aber da gab es jetzt, zum Sommeranfang, schon zuviele Gäste. Und genau dem wollten sie entgehen. Am Balksee war es ruhig, nur wenige Ausflügler verirrten sich hierher, und das Schützenhaus stand so weit abseits, daß man sich
fragte, wie der Inhaber überhaupt existierte. Die Verpflegung war preiswert, gut und reichlich. Die nahen Wälder und Wiesen verlockten zum Spazierengehen. Seit ihrer Ankunft vor drei Tagen war dies ihre dritte abendliche Tour. Die milde Luft verführte dazu, noch mal nach draußen zu gehen. Peter und Claudia Lickert gingen Hand in Hand durch die Dunkelheit. Die Wolkendecke war weiter aufgerissen. Noch mehr Sterne glitzerten am Himmel und spiegelten sich in dem nahen See, von dem sie sich immer weiter entfernten. Peter Lickert und seine junge, gutaussehende Frau, gingen den kleinen Bach entlang. Birken säumten das Ufer des Baches, der sich durch die Landschaft schlängelte. Auf der Nordseite der Wiese stand ein altes, verlassenes, reetgedecktes Bauernhaus, wie es typisch für die norddeutsche Landschaft war. Immer mehr von diesen Häusern jedoch zerfielen und fanden keine Käufer mehr, weil sie bereits unbewohnbar geworden waren. Einige Kilometer weiter jedoch sah man nichts mehr von der Armut. Dort standen schon wieder wunderschöne Familienhäuser und in der Wingst, einem der Beliebtesten Erholungsorte in dieser Gegend, hatte man vor geraumer Zeit finnische Ferienhäuser errichtet, um dem
von Benzingestank geplagten Großstädter ein Naherholungszentrum zu schaffen, in dem er sich wohl fühlen und die geschwärzten Lungen in reiner Waldluft säubern konnte. Der Weg fiel etwas bergab. Der Bestand der Birken wurde dichter. Büsche und Sträucher säumten die Seite des kleinen Trampelpfades, der direkt auf das alte Bauernhaus zuführte. Dahinter wurde das Unterholz wieder dichter, der Pfad noch enger. Im Licht des bleichen Mondes war dort eine alte, unbewohnte Mühle zu erkennen. Das graue, von Dickicht fast umwucherte Bauwerk, stand wie ein Relikt aus einer anderen Zeit in dieser Landschaft. Die Mühle mußte ursprünglich zu dem Bauernhaus gehört haben. Aber als sie sich nicht mehr lohnte, hatte der Eigentümer sie einfach verlassen. Hier verkam sie, Wind und Wetter nagten an Holz und Steinen. Das Mühlrad wirkte schon ziemlich klapprig und morsch, und auch die hölzernen Wände der Windmühle, die auf einem massiven, steinernen Podest standen, waren wurmstichig. Flach und wie hingeduckt schloß sich ein Schuppen der Mühle an. Peter zog seine hübsche Frau blitzschnell an sich. Ehe sie sich versah, preßte er seine Lippen auf ihren Mund. Sie schmiegte sich an ihn, und er fühlte ihr pochendes Herz an seiner Brust. „Fast eine romantische Situation", murmelte Claudia, nachdem sie ihre Lippen von den
seinen gelöst hatte. „Wir zwei allein auf weiter Flur, frische milde Waldluft, Vollmond, was will man mehr, hm?" Sie blickte zu ihm auf. In ihren Augen spiegelte sich das Licht der fernen Sterne. Sie hatte schöne, große Augen. Das offene Haar war in der Mitte gescheitelt. Es fiel über ihre Schultern, bis fast in Hüfthöhe. Claudia Lickert war das, was man ohne Übertreibung eine rassige Frau nennen konnte. Sie war zartgliedrig und beweglich mit der Eleganz eines Mannequins. Sie war klug und hübsch. Eine seltene Mischung. Und sie paßte zu Peter Lickert. Auch er ein gutaussehender Bursche, dem es leicht fiel, eine Frau für sich zu erobern. Sein volles schwarzes Haar paßte im Farbton genau zu dem Claudias. Seine Haut hatte immer einen leichten braunen Schimmer, als würde er des öfteren Urlaub im Süden machen. Aber es war eine natürliche Bräune der Haut. Lickert wirkte wie ein Playboy. Er kannte seine Chancen beim anderen Geschlecht. Dies war eine Sache, die Claudia eigentlich ernsthafte Sorgen bereitete. Auch sie hatte er im Sturm erobert. Innerhalb von zwei Monaten hatten sie geheiratet, ehe Claudia überhaupt begriff, wie ihr geschah. Peter Lickerts Hände umfaßten ihr zartes, hübsches Gesicht. Weich wie Samt fühlte die Haut ihrer Wangen sich an. Langsam zog er ihr Gesicht nach vorn und wollte sie zärtlich küssen. Da riß sie sich los.
Lachend sprang sie davon. „So einfach ist das nicht, mein Lieber!" rief sie, und ihre helle, klare Stimme schallte durch den Wald. „Heirat allein genügt nicht! Komm und fang mich ein! Wenn es dir innerhalb von fünf Minuten gelingt, verspreche ich dir etwas ganz besonders Nettes!" Im Handumdrehen war eine Idee geboren. Claudia war verspielt wie ein Kind, sie sah das ganze Leben als ein Spiel an, das man meistern mußte, um zu gewinnen. Ihre langen Beine trugen sie schnell vorwärts. Sie rannte auf dem schmalen Pfad an den Büschen entlang, warf einen Blick zur Seite und überlegte, wo sie sich am besten verbergen könne, um die nächsten fünf Minuten unentdeckt zu überstehen. Ihre Blicke irrten umher. Der Wald war dicht und dunkel. Aber sie hatte eigentlich keine Lust, so weit zu laufen. Die alte Mühle, kam es ihr da in den Sinn. Das wäre ein gutes Versteck. Gedanke und Handlung waren eins. Leichtfüßig sprang sie zwischen den Büschen durch, duckte sich und lief zunächst auf den Schuppen neben der baufälligen Mühle zu. Die Schritte ihres jungvermählten Ehemannes knirschten hinter ihr auf dem Boden. Claudia hatte ihren Vorsprung so schnell ausgebaut, daß Peter sie in der Tat aus den Augen verloren hatte. Und das machte sie sich zunutze.
Sie hatte Freude gefunden an dem Spiel. Rasch bückte sie sich, hob einen Stein auf und warf ihn kurzerhand in den Wald. Das Geräusch sollte ihren Verfolger in die Irre leiten. Sie ging um den Schuppen herum, lautlos auf Zehenspitzen und achtete selbst in der Dunkelheit darauf, daß sie mit dem Fuß auf keinen Zweig trat, um kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Hinter dem Schuppen entdeckte sie die schmale Holztür. Sie spähte durch den Spalt und stellte fest, daß die Tür sich öffnen ließ. Drei Sekunden blieb sie lauschend stehen und registrierte mit Wohlwollen, daß Peter sich tatsächlich in die Irre hatte führen lassen. Er rannte zu der Stelle, wo der Stein ins Unterholz gefallen war. Bis Peter merkte, daß Claudia getrickst hatte, konnte sie hier in dem alten Schuppen sorglos untertauchen... Sie war weder ängstlich noch scheu. Es gab für sie keinen plausiblen Grund, weshalb sie ihr Versteck nicht in den Schuppen verlegen sollte. Mit einem Blick nach innen, stellte sie fest, daß es im Schuppen eine Menge Unrat gab, Kisten und Kästen herumstanden, alte Eimer und aufeinandergeschichtetes, nach Schimmel und Moder riechendes Holz. Trockenes Laub über fauligem, das der Wind in den vergangenen Jahren durch die Ritzen und Löcher geblasen hatte, raschelte unter ihren Füßen.
Claudia rechnete zumindest damit, in dem alten Gerumpel auf Mäuse oder Ratten zu stoßen. Aber weder das eine noch das andere war der Fall. Offenbar gab es hier nichts, wovon sich die Schädlinge hätten ernähren können. Um sie herum bleib es völlig still, als sie in die Dunkelheit huschte und die finsterste Ecke aufsuchte, um sich zu verkriechen. Das schwache Licht des Mondes fiel schräg durch ein paar Ritzen im Dach und durch die Tür. Das Fenster, das ehemals das Tageslicht eingelassen hatte, war mit einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt. Spinngewebe hing von der Decke herab, wehte in ihr Gesicht und blieb in ihrem Haar und an ihren Augenbrauen kleben. Ohne Erschrecken, ganz ruhig und natürlich, wischte sie mit der Hand darüber hinweg, um die Fäden wieder zu lösen. Sie lächelte unwillkürlich und unbewußt, in der Vorfreude darauf, daß sie Peter ein Schnippchen geschlagen hatte. Und sie machte noch einen Schritt vorwärts... Der Sturz in die Tiefe kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel! Zuerst wußte Claudia nicht, wie ihr geschah. Und als sie es merkte, war es schon passiert. Der Schlund der Hölle schien sich unter ihr geöffnet zu haben. Sekundenbruchteile schwebte sie in der Luft, der Boden unter ihren Füßen war verschwunden.
Haltsuchend streckte sie die Hände aus, und ihr Aufschrei hallte wie der Ruf eines überraschten und zu Tode erschrockenen Tieres durch den Schuppen. Geistesgegenwärtig zog sie die Beine an und spannte ihre Muskeln, in der Hoffnung, den Sturz aufzufangen. Vielleicht tief...?
war
das
Loch
nicht
Mit dieser Überlegung hatte sie recht. Sie spürte schon wieder Boden unter den Füßen. Aber sie kam unglücklich auf und kippte auf die Seite. Aus der rauhen Wand ragte etwas Spitzes, Hartes. Und dagegen schlug sie mit dem Kopf. Ohne einen Laut von sich zu geben, blieb sie liegen. * Claudia Lickert sah und hörte nichts mehr. Doch etwas um sie herum ging vor. Wie von Geisterhänden bewegt, schob sich die steinerne Platte wie aus einem riesigen Schuber. Das große rechteckige Loch, in das Claudia Lickert gefallen war, schloß sich. Es war, als ob ein urwelthaftes Ungetüm seinen Rachen schließe, um das gefangene Opfer für immer festzuhalten. Peter herum.
Lickert
* warf
den
Kopf
„Claudia?" fragte er und lauschte. War da nicht ein Schrei gewesen?
Mit brennenden Augen starrte er in die Finsternis, hinüber zu der alten Mühle, die nur steinwurfweit von ihm entfernt stand. Der Wind fächelte in den Baumkronen, und die Blätter raschelten. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Ein klarer, klagender Ruf. Wie ein Todesschrei. Der Mann erschauerte. Und da war noch ein Geräusch. Etwas schabte oder knirschte, als ob Mühlsteine sich bewegten. Unwillkürlich heftete er seinen Blick auf die morschen und von hier aus wie feines Gespinst wirkenden Windmühlenflügel. In den Ruten säuselte der Wind. Je länger und angestrengter er nach drüben starrte, desto intensiver gewann er den Eindruck, daß die Mühlenflügel sich drehen. Aber das war eine optische Täuschung. Peter Lickert löste sich von der Stelle, und trat wieder auf die Lichtung hinaus. Unruhe und Mißtrauen erfüllte ihn mit einem Mal, und er beschleunigte seinen Schritt, um zur Mühle zu kommen. „Claudia!" rief er wieder und ließ den Blick in die Runde schweifen. „Wo bist du? Ich geb' auf. Die fünf Minuten sind gleich um. Komm her!" Aber die junge Frau kam nicht. Er schluckte. Er mußte wieder an das Geräusch denken. Erst an den Schrei, dann an das Mahlen der Steine... War Claudia in die Mühle gekrochen, war ihr etwas passiert?
Er wußte nicht, ob er die Geräusche wirklich gehört hatte oder ob alles auf seine überreizten Nerven zurückging. Ja, er war überreizt! Er konnte sich diese Tatsache nicht erklären, aber die Umgebung, in der er sich aufhielt, gefiel ihm mit einem Mal nicht mehr.
Er hoffte sehr, daß er eine Antwort erhielt, aber er blieb bei dieser Hoffnung. Entweder war Claudia stur — genoß das Spiel und seine Verwirrung, oder aber sie konnte keine Antwort mehr geben!
Er suchte das Gelände ab, entdeckte die angelehnte Schuppentür und zog sie nach außen.
Er befürchtete das Letztere. Es muß etwas passiert sein. Bei der Suche nach einem günstigen Versteck hatte sie sich möglicherweise in eine Situation manövriert, die ihr zum Verhängnis geworden war.
„Claudia?" verhallte.
Er malt sich Schlimmste aus.
Seine
Stimme
Keine Antwort! Peter Lickert riß ein Streichholz an. Mit der flackernden kleinen Flamme durchsuchte er den Schuppen. Einzeln herabhängende Spinnwebfäden verglühten rasch, wenn sie der Streichholzflamme zu nahe kamen. Die Kisten und langen Stangen, die an der Bretterwand lehnten, warfen verzerrte Schattenbilder. Peter Lickert suchte den Schuppen ab. Er ahnte nicht, daß er mit seinen Füßen jene Stelle passierte, wo es vorhin keinen Boden, sondern nur eine Falltür gegeben hatte. Er suchte die hintersten Ecken ab. Nichts! Schon zehn Minuten waren vergangen. „Treib's nicht auf die Spitze", redete er leise vor sich hin. „Du hast gewonnen. Die fünf Minuten sind längst um. Ich habe dich nicht gefunden."
plötzlich
das
Im Geist sah er Claudia unter einem Mühlstein liegen... in einer großen Blutlache... Er folgte der Eingebung. Wütend riß er die Kisten und Kästen auseinander, suchte auch dahinter und rannte aus dem Schuppen, als er keine Spur fand. Vielleicht in der Mühle? Er hetzte die knarrenden Stufen nach oben, erreichte die Tür und wollte sie einfach aufstoßen in der Erwartung, auch sie nicht versperrt zu finden. Aber das erwies sich als ein Irrtum. Die Tür war verschlossen. Lickert schlug dagegen. „Mach endlich auf! Laß den Unfug jetzt", rief er. Sein Atem ging schnell. „Ich weiß, daß du drin bist." Seine Phantasie ging wieder mit ihm durch. Claudia war in die Mühle gelaufen. Es gab keinen Zweifel mehr für ihn. Und er war ihr
gelungen, die Tür von innen abzusperren. Bei der Suche nach ihrem Versteck mußte es dann passiert sein. Der ferne, erschreckte Schrei hallte wieder in seinen Ohren. Lickert mußte seine Frau finden. Vielleicht war jede Minute kostbar. Er warf sich kurzentschlossen gegen die Tür, die erstaunlich massiv war. Er wollte und durfte nichts unversucht lassen. Zwei-, dreimal warf er sich mit aller Kraft dagegen. Es knirschte im Holz, aber die Tür flog nicht nach innen. Er wollte sich ein weiteres Mal dagegenwerfen. Doch mitten in der Bewegung hielt er inne. Er sah plötzlich einen Lichtschein! Er fiel durch die Türritzen und bewegte sich. Der Schein kam näher. Schritte! Sie kamen von der Treppe ... Peter Lickert wußte nicht, was er davon halten sollte. Dem Ganzen haftete etwas Gespenstisches, Unwirkliches an. Er erlebt die Dinge wie in einem Traum. Er dachte daran, daß Claudia und er bereits am ersten Tag ihrer Ankunft einen Spaziergang am Bach entlang gemacht hatten. Dabei waren sie auch an der Mühle vorbeigekommen. Sie hatten dem alten Gebäude nur wenig Beachtung geschenkt. Das war am Tag gewesen, und sie hatten geplaudert und über ihre gemeinsame Zukunft gesprochen.
Das war ihnen alles natürlich vorgekommen.
ganz
Jetzt befand er sich wie in einem Taumel und wußte nicht, ob er wachte oder träumte. Er war ratlos und verwirrt. „Ja? Was ist denn los? Wer ist da?" fragte eine Stimme. „Und zum Donnerwetter nochmal, was soll eigentlich der Krach. Mitten in der Nacht." Die Stimme hinter der Tür klang verärgert. Es war nicht Claudias Stimme. Es war die eines Mannes. Hart drehte sich der Schlüssel im Schloß. Dann wurde die Tür geöffnet. In der Hand eine brennende Petroleumleuchte, stand ein hagerer, bleicher Mann mit grauen, buschigen Augenbrauen vor Lickert. Der frischverheiratete Ehemann mußte erst mal schlucken. Dies alles ging Begriffsvermögen.
über
sein
„Sie wohnen ... hier?" wunderte er sich. „Wie Sie sehen, ja", antwortet der Bleiche unwirsch. „Sie scheinen sich in der Haustür geirrt zu haben, junger Freund. Wohl etwas zu tief ins Glas geschaut, wie?" Lickert schüttelte den Kopf und griff sich an die Stirn. Er preßte die Augen zusammen. Sein Gesicht fühlte sich heiß und fiebrig an. „Weder das eine noch das andere", murmelte er benommen. „Aber daß jemand in der Mühle wohnt... ich hätte schwören können, daß hier kein Mensch ..."
Er setzte seine Ausführung nicht bis zu Ende fort. „So kann man sich eben irren", entgegnete der andere. „Wie Sie sehen, wohne ich hier. Wenn Ihnen das nicht ins Konzept paßt, kann ich nichts daran ändern, aber es ist nun mal Tatsache. Für einen Geist bin ich noch ein bißchen zu massiv, nicht wahr?" Er grinste, seine gelblichen Zähne waren stumpf. „Ich suche meine Frau", preßte Lickert hervor. „Nanu, und da kommen Sie zu mir?" Der Hagere leuchtete dem jungen Besucher ins Gesicht. „Glauben Sie, daß Ihre Frau bei mir Unterschlupf gesucht hat? Für solche Scherze nun bin ich wieder ein bißchen zu alt, mein junger Freund. Ich glaube doch, daß sie mit Ihnen besser bedient ist. Nein, mit Ihrer Frau kann ich Ihnen nicht dienen. Tut mir leid!" Peter Lickert zuckte die Achseln. Die Situation war ihm peinlich. Er erklärte wie alles gekommen war, daß das Ganze eigentlich auf ein Spiel zurückging, das Claudia sich spontan ausgedacht hatte. „Merkwürdige Spiele, die Sie sich da ausdenken", murmelte der Alte. „Den Schrei", bemerkte Lickert, „haben Sie vorhin den Schrei gehört? Er kam von hier." „Ja, hab' ich!" Der Bleiche drehte sich um und leuchtete in den schmalen Gang zurück, der direkt zur Treppe führte. Zwei grüne Augen blitzten auf. Eine fettgefressene Katze hockte auf dem Treppengeländer und glotzte herüber.
„Ich hab' dem armen Tier auf die Pfoten getreten", erklärte der bleiche Mühlenbewohner. „Es hat geschrien wie am Spieß. Das werden Sie wohl gehört haben." Lickert nickte. Er wußte nicht mehr, was er noch denken sollte — „Wenn Ihre Frau so gern Verstecken spielt, dann wird sie wohl längst im Schützenhaus sein, sich in ihr Bett verkrochen haben und einen Heidenspaß bei dem Gedanken haben, daß Sie jetzt hier in der Gegend herumsuchen." Lickert nickte wieder mechanisch. „Ja so wird es wohl sein." Mit den letzten Worten des Alten wurde plötzlich alles erklärlich. Claudia war zuzutrauen, daß sie sich heimlich davongeschlichen hatte, während er sich hier eine blutrünstige Geschichte zusammengesponnen hatte. Er lächelte müde und scheu. „Vielen Dank! Und entschuldigen Sie die Störung. Es wird nicht wieder vorkommen. Gute Nacht!" Er wandte sich ab und stieg die Stufen herab. Hinter ihm klappte die schwere Holztür ins Schloß, ohne das der bleiche Bewohner der Mühle noch eine weitere Bemerkung gemacht hätte. Peter Lickerst Blick fiel auf das breite Namensschild aus Holz, wo in großen verschnörkelten Buchstaben ein Name aufgepinselt war. Die Farbe war ganz frisch. 'Tössfeld' stand in schwarzer Tusche auf dem Schild. *
Lickert kehrte verwirrt Schützenhaus zurück.
zum
Der Wirt wischte die Tische ab. Nicht einen einzigen Gast gab es mehr. Alle Fenster waren geöffnet. Der Wirt, ein Einheimischer mit rotblonden Haaren und wasserblauen Augen, blickte auf. „Spaziergang gemacht?" erkundigte er sich, während er seinen Lappen in einem Eimer auswrang. „Ohne die verehrte Frau Gemahlin?" „Ist meine Frau schon zurück?" fragte Lickert sofort, ohne auf die Bemerkung des Mannes einzugehen. Wenn Claudia das Zimmer aufgesucht hatte, wie der Mühlenbewohner vermutete, dann hatte sie durch den Wirtsraum des Schützenhauses gehen müssen. „Ihre Frau? Zurück?" Der Wirt schien nicht ganz zu begreifen, wie er die Frage zu verstehen hatte. „Haben Sie meine Frau in der letzten Viertelstunde gesehen?" „Nein." Der Rotblonde schüttelte den Kopf. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, rannte Lickert durch die Schwingtür, passierte den nach kaltem Fett riechenden Korridor und stürmte die hölzerne Treppe empor. Sein Herz raste. Er kam sich oben komisch vor. Sein eigenes Verhalten störte ihn. Wenn er Claudia wirklich im Zimmer fand, dann würde dieser Abend wenig zufriedenstellend enden. Er war auf den ersten handfesten Ehekrach eingestellt. Claudias Verhalten ging
weit über das hinaus, was man selbst bei großzügigem Denken noch als Spaß bezeichnen konnte. Peter Lickert betrat das Zimmer und fand es leer. Zwei Minuten lang war sein Gehirn, der Spielball einer raschen Folge von Gedanken und Überlegungen. Dann stürmte er die Treppe hinunter. Etwas stimmte hier nicht. Der Wirt war dabei, alle Fenster zu schließen. „Geben Sie mir bitte einen doppelten Korn, Herr Martens", sagte er mit leiser Stimme. Stockend und niedergeschlagen erzählte er dem Besitzer des Schützenhauses das, was er erlebt hatte. „Ich werde die Polizei benachrichtigen. Die Möglichkeit daß meine Gattin sich verirrt hat, scheint mir nun doch sehr groß. Sie gestatten, daß ich telefoniere?" „Selbstverständlich, Herr Lickert." Das gesunde, frisch wirkende Gesicht des Wirtes sah mit einem Mal etwas angegriffen aus. „Was Sie da von der Mühle erzählt haben, verstehe ich allerdings nicht ganz", fügte er hinzu, just in dem Moment, als Lickert den Hörer abnahm. „Sie waren vorn bei der alten Mühle? Um diese Zeit?" Seine Stimme klang etwas erschreckt, hatte Peter Lickert den Eindruck. „Ja, wo das alte, reetgedeckte Bauernhaus steht." Die Hand, mit der Ernst Martens die Flasche Korn umspannte, zitterte. „Bei der alten Mühle. Nach Einbruch der Dunkelheit. Ich hätte Sie warnen sollen." Seine Stimme war wie ein Hauch.
„Warnen sollen? Wovor?" „Es ist dort nicht ganz geheuer. Der Ort ist verhext, verzaubert!" „Unsinn!" „Sagen Sie! Nun vermissen Sie ihre Frau. Sie ist dort verschwunden." Ernst Martens sah erschreckend bleich aus. „Sie waren selbst an der Mühle, haben Sie gesagt. Und Sie haben angeblich dort jemand getroffen, der mit Ihnen sprach." „Angeblich? Ich habe ihn getroffen! Einen alten Mann, hager, groß, bleich." „Mit einer Katze?" „Ja", entgegnete Lickert knapp. „Ein Spuk", preßte Martens hervor. Seine Augen glühten. „In der Mühle wohnt seit Jahren kein Mensch mehr! Sie sind — einem leibhaftigen Gespenst begegnet, Herr Lickert! * Björn Hellmark, der deutsche Millionär schlief.
junge
Weit stand das Fenster zum Raum offen, in dem er lag. Die Nachtluft fächelte kühl ins Zimmer. Eine paradiesische Ruhe herrschte in dem ausgedehnten Park am Genfer See. Wenige Stufen unterhalb der Terrasse lag der große SwimmingPool. Sanftes Mondlicht spiegelte in dem blauen Wasser. Leise säuselte der Wind in den dichtbelaubten Baumkronen. Björn Hellmark drehte sich auf die Seite. Er träumte. Er sah eine flache Wiesenlandschaft vor sich. In der
Ferne eine Baumgrenze. Ein schmaler Bach schlängelte sich bis zum Horizont. Es war Nacht. Wie in Genf. Björn Hellmark erlebt einen Traum wie die Wirklichkeit. Bewußt, klar, unverzerrt. Er sah das reetgedeckte alte Bauernhaus, dahinter schemenhaft schwach die Umrisse einer alten Mühle. Nicht weit davon entfernt einen alten Tümpel, in dem Frösche hausten. Das Traumbild, das sein Bewußtsein empfing, prägte sich ihm ein. Er würde diese Landschaft immer wieder erkennen. Aber da war noch etwas. Sein schlanker, durchtrainierter Körper bewegte sich wie unter einem Zwang über die Wiese. Der Boden unter seinen Füßen war feucht. Björn Hellmark fühlte das Ungewöhnliche. Jemand befand sich in Gefahr. Die Luft um ihn herum nahm mit einem Mal eine seltsame Färbung an. Der Himmel zeigte sich in bedrohlichem Grün, in dem violette Schatten tanzten. Schwefelgelbe Dämpfe hüllten die dunkle, baufällige Mühle ein. Die Dämpfe formierten sich zu einem bizarren Gebilde, das langsam klarere Formen annahm. Unruhe und Nervosität machten sich in ihm bemerkbar. Hellmark begriff, daß er hier gebraucht wurde, daß er jemand helfen sollte, doch der Weg zu dieser unbekannten Person war ihm versperrt.
Das gespenstische Gebilde, das sich wie eine bizarre Wolkenlandschaft über der verhexten Mühle zusammenbraute, schien von großer Bedeutung zu sein. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die unheimliche Wolke, die sich wie ein Berg über der Mühle türmte.
Er richtete sich auf. Sein Blick war in eine Ungewisse Ferne gerichtet, und er versuchte vor seinem geistigen Auge noch mal die Kulisse der Landschaft Revue passieren zu lassen, die er gesehen hatte. Es gelang ihm auf Anhieb. Und dann unternahm er einen weiteren, weit schwierigeren Versuch.
Und dann wurde alles in tintenschwarze Finsternis getaucht. Björn Hellmark erwachte.
Er konzentrierte sich auf seine Fähigkeit, seinen Doppelkörper entstehen zu lassen.
Er nahm die vertraute Umgebung seines Zimmers wahr. Er war zu Hause. Wieder mal. Meistens befand er sich unterwegs. Der Traum, der eigentlich recht inhaltslos gewesen war, beschäftigte ihn. Seit seiner Begegnung mit Al Nafuur während der kritischen Stunden seiner Verletzung nach dem Unfall, hatte er sich angewöhnt, sein Leben mit anderen Augen zu sehen. Kleinigkeiten konnten für ihn wichtig werden. Sein Leben hatte sich von Grund auf verändert. Überall konnte Gefahr lauern, um seine Mission zu stören. Überall aber konnte es auch Hilfe geben, wenn er verstand, die Zeichen zu lesen. Auch Träume Zeichen sein.
konnten
solche
Er erinnerte sich lebhaft an die Einzelheiten der Landschaft, seiner Stimmung und Gefühle, daß er es von vornherein ausschloß, diesen Traum nur als Traum zu betrachten.
Hellmark alias Macabros war überzeugt davon, daß nicht nur sein Geist, sondern sein Zweitkörper an Ort und Stelle gewesen war und persönlich die Wiese, das Haus und die Mühle gesehen hatte. Im Schlaf mußte sich sein Doppelgänger, sein Ätherkörper von seinem Originalkörper getrennt haben und durch jene Landschaft spaziert sein, an die er sich so lebhaft erinnert. Diese wunderbare Gabe, über die er seit seiner ersten Begegnung mit dem geheimnisvollen Al Nafuur verfügte, war ihm vertraut und beinahe alltäglich geworden. Er hatte sich in die neue Rolle, die er zu spielen hatte, eingefügt. Hatte Al Nafuur diese Einflüsse geschickt? Wollte er ihm, Hellmark, irgend etwas sagen? Oder waren sie Bilder, über die er sich Gedanken machte, von den Schwarzen Priestern geschickt worden? Sie waren seine Feinde, sie bekämpften ihn. Seit er bewiesen hatte, daß er der Nachkommen des 'Toten Gottes'
war, jenes mächtigen und verehrungswürdigen Herrschers, der einst Xantilon, die versunkene Insel, regierte, gab es unsichtbare Mächte, die ihn daran hindern wollten, seinen Weg zu gehen, den er selbst erst in Umrissen erkannte, und von dem er nicht wußte, wohin er eigentlich führte. Auch er, Björn Hellmark, war ein Mensch wie alle anderen. Aber sein Leben trug seit geraumer Zeit einen besonderen Stempel. Unsichtbare Mächte waren in sein Dasein getreten. Sowohl gute als auch böse. Er hatte die Macht der Schwarzen Priester zu spüren bekommen, die mit Hilfe der Dämonen ewiges Leben erlangt und nur darauf gewartet hatten, daß er auftaucht, um zu beweisen, daß er derjenige war, der in der Prophezeiung genannt war. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie verpflichtet gewesen, Ruhe zu halten. Aber nun waren sie dieser Verpflichtung enthoben. Der offene Kampf hatte begonnen. Es galt, sein Leben zu vernichten. Doch er stand nicht allein. Al Nafuur, ein Magier der weißen Priester, die einst in Xantilon lebten und dort ebenfalls das Geheimnis des Ewigen Lebens entdeckten, ohne sich und ihre Seelen an den Herrn der Finsternis zu verkaufen, existierte in einem Reich zwischen Diesseits und Jenseits. Von dort aus nahm er hin und wieder Kontakt zu Hellmark auf, leistete Unterstützung wo ihm dies möglich war. Al Nafuur war ein Geistwesen, das Hellmark sich nicht vorstellen
konnte. Er kannte dessen Stimme.
bisher
nur
Björn Hellmark lauschte in sich hinein. Er suchte vergebens den geistigen Kontakt zu seinem Geistführer. Er kam nicht imstande. — Hellmark verließ sein Bett, schlüpfte in die Hausschuhe und ging auf die Terrasse, wo er einige Minuten lang sitzen blieb, um sich über seine Gedanken Klarheit zu verschaffen. Zehn Minuten später legte er sich wieder schlafen. Mehr als einmal hatte er versucht, seinen Kopiekörper erstehen zu lassen und ihn an jenen Ort zu versetzen, den er im Schlaf offenbar mit seinem Ätherkörper aufgesucht hatte. Es gelang ihm nicht. Nachdenklich starrte er zur Decke empor. Was er auch empfand und überlegte, er kam zu dem Entschluß, daß die Botschaft, die er empfangen oder selbst unbewußt herbeigeführt hatte, von Bedeutung für ihn würde. Aber was auch geschehen war, er konnte es nicht rekonstruieren. Es fehlten ihm weitere Anhaltspunkte. Er verfügte nur über Fragmente. Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen sehr aufmerksam zu sein, und seine Umgebung und alle Ereignisse genau zu beobachten ... * Ihr Schädel summte, und ihr linkes Ohr schmerzte. Das waren die ersten Eindrücke, die sie empfing.
Dann schlug sie die Augen auf. Doch kein Lichtstrahl traf ihre Pupillen. Sie befand sich in tiefster Dunkelheit. Angst, Ungewißheit und Ratlosigkeit machten sich in ihr breit.
Siedendheiß pulste das Blut durch ihren Körper, ihr Herz pochte wie rasend und sie hörte die lauten Schläge. Peter, schoß es ihr durch den Kopf. Warum suchte er nicht nach ihr.
Wo befand sie sich? Was war geschehen?
Da kam ihr eine furchtbare Idee. Vielleicht hatte er schon gesucht, aber sie nicht gefunden.
Die letzte Frage konnte sie sich leicht selbst beantworten. Sie erinnerte sich an den Vorfall, der zu dieser Situation geführt hatte, sehr genau. Claudia Lickert verzog die Lippen und richtete ihren Oberkörper auf. Der Boden unter ihr war eiskalt. Sie ärgerte sich über ihren Leichtsinn, den sie unter Beweis gestellt hatte. Im Fußboden des Schuppens war ein Loch gewesen, das sie in der herrschenden Dunkelheit nicht sehen konnte. Da hinein war sie gestolpert. Und sie hatte sofort das Bewußtsein verloren. Die junge Frau starrte nach oben und kniff die Augen zusammen. Warum sah sie nichts? Doch wenigstens hätte sie die Wände, das Dach oder zumindest die Ränder des Schachtes sehen müssen, in den sie gestürzt war. Aber absolute Schwärze hüllte sie ein. Claudia schluckte. Eine furchtbare Ahnung überfiel sie. Der Schacht über geschlossen! Sie war Umwelt abgesperrt...
ihr war von der
Sie hatte sich nach ihrem Sturz in die Tiefe nicht bemerkbar machen können. Vielleicht woanders? gewesen.
sucht Peter sie Sie war bewußtlos
Sie kam taumelnd in die Höhe. Ihr Schädel brummte noch stärker. Vorsichtig tastete sie nach der schmerzenden Stelle an ihrer Schläfe. Sie War aufgeschlagen. Das Blut klebte an ihren Finger. „Peeeeteeeer! Peeeeteeeer!" Sie rief laut und langgezogen den Namen ihres Mannes. Als ihre Stimme verhallt war, lauschte sie in der Hoffnung, ein Geräusch zu vernehmen, das die Annäherung ihres Mannes signalisierte. Sie wartet vergebens! Panik überfiel die junge Frau und sie mußte daran denken, daß diese Falle eventuell ihr Schicksal besiegelte. Claudia Lickert tastet die Wände ihres unfreiwilligen Gefängnisses ab. Es war etwa zwei auf zwei Meter groß. In einer Wand fand sie einen Durchlaß. Sie tastete sich vorsichtig weiter und bedauerte, kein Streichholz
und keine Taschenlampe dabei zu haben, um sich zu vergewissern, wie es um sie herum aussah. Die Dunkelheit machte alles doppelt schwer. Die Gefangene befand sich in einer Art Stollen. Aber genau sagen konnte sie das nicht. Sie war ganz auf ihr Gefühl und ihre Intuition angewiesen. Langsam schob sie sich vorwärts, um nicht noch mal eine Überraschung zu erleben. Claudia Lickert hielt sich immer dicht an der Stollenwand. Plötzlich ragte eine senkrechte Mauer vor ihr auf. Aus! Dies war eine Sackgasse! Sekundenlang schloß die junge Frau die Augen und versuchte der erneut aufsteigenden und sich verstärkenden Panik Herr zu werden. Sie durfte jetzt nicht versagen!
war und ob es vielleicht nicht doch einen Gang gab, der weiter unter die Mühle führte und von dort eventuell in einen Keller mündete, von dem aus es möglich war, ins Freie zu gelangen. Sie hielt den Atem an, als sie erkannte, daß die Querwand nicht kerzengerade zur anderen Seite des Stollens weiterführte, sondern einen Bogen machte. Sie folgte dem Knick. Claudia Lickerts Aufmerksamkeit entging es nicht, daß der Bogen sehr scharf war und die Form eines Hufeisens hatte. Nach der langgezogenen Kurve ging es weiter. Und sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu dürfen, als sie in der Dunkelheit vor sich schwachen Lichtschein wahrnahm. Peter, schoß es ihr durch den Kopf...
Sie atmete tief durch. Die Luft hier unten war besonders sauerstoffreich und Claudia Lickert bemerkte das leichte, ansteigende Schwindelgefühl, das von ihr Besitz ergriff. Sie stützte sich ab. Der Schwindelanfall verflog. Was tun? hämmerte es in ihrem Bewußtsein...
Offenbar war er durch die Mühle in den Keller gekommen und suchte im Lampenoder Kerzenlicht nach ihr. Die Anspannung und Nervosität, unter der sie die ganze Zeit gelitten hatte, fielen schlagartig von ihr ab.
Peter würde sicher nichts unversucht lassen, sie zu suchen. Schließlich war sie nicht allein hierher gekommen.
Sie lief schneller und erwartete, daß das Licht ihr entgegengetragen würde. Doch es war nicht der Fall.
Dieser Gedanke gab ihr neuen Mut und die nötige Ruhe. Sie ging an der vor ihr aufsteigenden Wand entlang, um festzustellen, wie breit der Stollen
Nun wurde doch noch alles gut. „Peter!" rief sie froh. „Hier! Im Stollen. Ich bin im Stollen!"
Hatte Peter sie nicht gehört? Das konnte sie sich kaum vorstellen. Hier unten hörte man doch jedes Geräusch.
Sie fand jedoch Erklärung dafür.
sofort
eine
Vielleicht war Peter weiter weg, in einem änderen Raum der Mühle und suchte dort nach ihr. Vielleicht hatte er da vorn seine Kerze oder eine andere Lichtquelle abgestellt. Claudia Lickert eilte durch den Stollen. Aber das Licht kam nicht unmittelbar von dem ovalförmigen Ende des Stollens her, in den der Gang mündete. Genau gegenüber lag eine Tür. Die war nur angelehnt und das Licht, das durch den breiten Türspalt fiel, war beachtlich. Hier mußte schon eine Anzahl Kerzen oder Lampen brennen. Es roch nach Petroleum und Rauch. Doch ein bißchen mißtrauisch, aber keinesfalls mehr ängstlich näherte sich der Tür. Das gelblich-rote Licht im Raum dahinter reichte aus, um die Umgebung auszuleuchten. Sie blickte in einen Keller, in dem ein Sammler obskurer Dinge sein Reich eingerichtet zu haben schien. In der Ecke vor ihr war eine Abstellfläche befestigt, auf der ausgestopfte Vögel, Iltisse, Marder und eine Katze standen. Claudia glaubte in eine Alchimistenküche zu blicken. Auf einem Regal standen Tonkrüge und Einweckgläser. Was in den Krügen war, konnte sie nicht erkennen, dafür um so besser das, was sich in den Gläsern befand.
Kleinere Tiere, Insekten und Käfer, Würmer und abgehäutete Embryos von Mäusen, Ratten, Fröschen und eines kleinen Affen fielen in ihr Blickfeld. Erschreckend fand sie ein größeres Glas, in dem der Leib einer Schlange spiralförmig in der klaren Konservierungsflüssigkeit aufbewahrt wurde. Was hatte das alles zu bedeuten? Wohin war sie geraten? Diese Fragen drängten sich ihr auf. War die Mühle unerwarteterweise doch bewohnt? Dann konnte sie Hilfe erwarten. Vorsichtig drückte sie die Tür nach innen und kam ein paar Schritte weiter vor. Jetzt sah sie auch die Lichtquellen. Drei Petroleumleuchten standen in Reih und Glied auf einem Regal, das genau über einem quer stehenden Tisch hing. Auf dem Tisch lag ein Mensch. * Ihr Herzschlag stockte. Alle möglichen Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Aber weniger als zuvor war sie imstande zu begreifen, was hier vorging. Neugierde trieb sie weiter in dieses seltsame Labor, das den Eindruck bei ihr hinterließ, als würde ein eigenwilliger Sammler naturkundlichen Studien frönen. Aber was hatte der Mensch auf dem kahlen Tisch zu bedeuten? Es war ein übergroßer Tisch.
Der Mann lag mit ausgestreckten und gespreizten Beinen. Die Arme waren ebenfalls nach oben gestreckt und über seinem Kopf gespreizt. Er lag völlig ruhig wie ein Sammlerstück in diesem seltsam gruseligen Kabinett. Mit ernstem Gesicht und weit aufgerissenen Augen, als müsse sie alles um sich herum aufnehmen, trat Claudia Lickert näher. Der Mensch auf der Tischplatte war kreidebleich. Er war bewußtlos oder betäubt. Der Geruch von Äther entströmte seiner Haut. Es war ein junger Mann, Anfang dreißig höchstens. Er hatte blondes, schütteres Haar. Claudia Lickert wußte nicht, daß Jörg Maruschka vor ihr lag und daß sie in das geheimnisvolle Reich von Konga, dem Menschenfrosch, Eingang gefunden hatte. * Erregung, Neugierde und Ratlosigkeit hielten sich die Waage, Sie wußte nicht, was sie von alledem halten sollte. War sie durch Zufall einem Verbrechen auf der Spur? Die Umstände, die sie hier antraf, drängten förmlich eine solche Überlegung auf. Zeit zum Nachdenken und für Erklärungen aber fand sie nicht mehr. Claudia registrierte die blitzsauberen Instrumente in der Schale auf einem kleinen Nebentisch und sah, daß mit dem Betäubten bereits etwas angestellt worden war.
Der linke Oberarm des Mannes war geöffnet. Haut und Tisch waren blutbesudelt. Es war frisches Blut. Der süßliche Geruch mischte sich unter den Ätherdunst, der sie ein wenig taumeln machte. Die Szene sah aus wie bei einer Operation. Aber hier wurde keine normale Operation durchgeführt: Hier wurde experimentiert! Mit Tieren und mit Menschen. Dies alles erinnerte sie unwillkürlich an Frankensteins Labor. Fast gelang es der jungen Frau, Zusammenhänge klar zu erkennen. An der Wand dem Tisch gegenüber — genau im Blickfeld des narkotisierten Mannes — stand ein Brett. Zahlreiche Frösche waren dort aufgespießt, präpariert und seziert. Manchmal war nur noch die ausgetrocknete, lederartige Haut übrig. Bei einzelnen Exemplaren waren die kurzen Vorderbeine, bei anderen die langen Hinterbeine geöffnet und fein säuberlich Muskeln, Sehnengeflecht und Nerven bloßgelegt. Claudias Blick irrte zu geöffneten Oberarm Narkotisierten.
dem des
Sie preßte die Hand vor die zitternden, bleichen Lippen. Eine schreckliche Ahnung erfüllte sie. Der Atem des Betäubten wurde schwächer. Der Arm, der aufgeschnitten war, hatte eine bräunliche Färbung angenommen. Die leichten Nachblutungen hörten auf.
Nerven und Muskien lagen frei, waren fachgerecht bloßgelegt worden. Hier wurde ein Mensch wie ein Frosch behandelt! Die Erkenntnis traf sie wie ein Keulenschlag. Dann das Geräusch... Es hörte sich an wie ein dumpfes Gurgeln, ein unterdrücktes Quaken. Sie befand sich nicht mehr allein in dem unheimlichen Labor. Jemand beobachtete sie. Claudia fühlte den Blick großer, sie förmlich sezierender Augen auf sich gerichtet. Sie warf den Kopf herum. Ihr gellender Aufschrei durch den dumpfen Keller.
hallte
Was sie sah, übertraf alle Schreckensbilder ihres bisherigen Lebens. Der Riesenfrosch stand wie eine Kreatur aus der Hölle an der Verbindungstür zu dem Kellerraum, der sich diesem makabren Labor anschloß. Ein Zittern lief durch Claudias Körper. Sie fror, und gleich darauf wurde, es ihr glühendheiß, als schüttelten sie Fieberschauer. Sie riß den Mund auf und wollte ein zweites Mal schreien, aber es kam nur noch ein entsetztes, qualvolles Stöhnen aus ihrer Kehle. Das scharfe Messer in der Rechten des übermenschengroßen Frosches blitzte in dem schwachen Licht. In der anderen Hand des Giganten befand sich ein Eimer mit einer scharfriechenden Flüssigkeit.
Darin schwamm ein saugfähiges Tuch. Konga stellte den Eimer ab. Etwas von der Flüssigkeit schwappte über. Milchige Dämpfe stiegen auf. Der Riesenfrosch schob sich näher. Er bewegte sich fast lautlos. Claudia Lickert biß sich auf die Lippen. Ein Alptraum ihres Lebens wurde wahr. Sie wurde mit einer Situation konfrontiert, die sie nicht mehr meistern konnte. Die rassige junge Frau wich angsterfüllt hinter den Tisch zurück und brachte ihn zwischen sich und dem unheimlichen Wesen. Konga bewegte sich wie ein Mensch und setzte einen Fuß vor den anderen. Die Schwimmhäute spannten sich zwischen seinen großen, dicken Zehen. Das riesige rote Maul mit der festgewachsenen Zunge öffnete sich. Stinkender Atem schlug Claudia entgegen. Mit der linken Hand stieß Konga die Tür hinter sich zu, durch die er gekommen war. Der Frosch war doppelt so groß wie Claudia Lickert. Sein unförmiger, gedrungener Körper türmte sich vor ihr auf wie ein zum Leben erwachtes Urwelttier. Sein breiter, flacher Kopf berührte fast die schwarze, unebene, kahle Decke. Konga beugte sich nach vorn. Seine Rechte schoß blitzartig vor. Aber blitzartig reagierte auch die junge Frau. Sie tauchte nach unten weg.
Die Hand wischte über sie hinweg. Konga war schnell. Nach vorn beugend stieß er sich ab. Sein großer Körper schien schwerelos zu werden, als er den Tisch übersprang, wo der sterbende Maruschka lag. Claudia Lickert handelte wie in Trance. Sie wußte nicht, woher sie die Raffinesse und die Kraft nahm, diesen ungleichen Kampf zu beginnen. Sie wollte leben! Dafür mußte sie etwas tun. Sie krabbelte unter den Tisch, während der Riesenfrosch mit seinen breiten Füßen klatschend hinter ihr landete. Zur Tür, fieberte ihr Gehirn. Ehe dieses unheimliche Monstrum erneut zum Angriff überging, mußte Claudia ausreichend Abstand zu ihm gefunden haben. Sie rutschte nach vorn. Ihr Puls raste. Schweiß lief über ihr Gesicht, und sie war von einer furchtbaren Angst erfüllt. Nur drei Sekunden brauchte sie, um unter dem Tisch vorzukommen, aber die kamen ihr vor wie eine Ewigkeit. Die junge Frau warf sich nach vorn, der Tür entgegen. Etwas wischte durch die Luft. Claudia Lickert warf sich instinktiv zur Seite und entging der großen Hand des Frosches, der nach ihr grapschte. Einer der spitzen, beweglichen Finger hakte sich in ihr leichtes Kleid, es ratschte, als Claudia weiter zur Seite rollte. Der Stoff riß, und von der Hüfte bis zu den
Schenkeln hinab wurde das Kleid aufgeschlitzt. Die nackte braune Haut und der Ansatz des Schlüpfers waren zu sehen. Claudia Lickert kam auf die Beine. Sie stürmte der Tür entgegen, von der sie wußte, daß sie nicht verschlossen sein konnte, weil der gigantische Frosch sie nach seinem lautlosen Eintritt nur hinter sich zugedrückt hatte. Claudia Lickert riß die Tür auf. Das Licht, das aus dem makabren Labor fiel, reichte aus, um den Korridor, die steilen Steinstufen und die dunkle Holztür am Ende der Treppe zu erkennen. Die junge Frau rannte los. Sie dachte nicht mehr, sie handelte einfach. Sie jagte die Treppe hoch. Schnell und flach ging ihr Atem, ihre Lungen keuchten, und die Kleidung klebte auf ihrer Haut. Claudia erreichte die oberste Tür. Auch sie war nicht verschlossen. Eine Plattform lag vor ihr, dann folgten noch mal drei Treppen, die direkt in einen einfachen, mit alten, verstaubten und vergammelten Möbeln eingerichteten Raum führten. Die Wände bestanden ineinandergefugten Latten.
aus
Dahinter erkannte Claudia bleiches Mondlicht. Sie durchquerte den Raum, rannte auf die nächste Tür zu und stellte fest, daß sie verschlossen war.
Aber neben der Tür gab es ein kleines Fenster. Dreckig und verschmiert war die Scheibe. Sie war in Brusthöhe angebracht. Zwei-, dreimal riß Claudia Lickert vergebens an der Klinke. Es war auch unmöglich, von der jungen Frau zu erwarten, daß es ihr gelänge, die Tür einzudrücken.
bereitete es ihr größte Schwierigkeiten durch das nur dreißig Zentimeter breite Fenster zu gelangen. Konga hechtete mit einem Sprung die Treppe hinter ihr hinauf.
In ihrer Verzweiflung tat Claudia das einzig mögliche und richtige. Sie knallte ihre Faust gegen das verdreckte Fenster.
Da sprang Claudia ab. Trotz der Eile berechnete sie ihren Sprung verhältnismäßig genau, um das Risiko, schlecht aufzukommen, so nieder wie möglich zu halten.
Glas splitterte. Das Geräusch der zerspringenden Scheibe klirrte durch die Nacht.
Federnd fing sie sich ab. Ihre Beine zitterten, als sie auftrat und davonrannte.
Claudia Lickert zwängte durch das enge Fenster.
Jetzt nicht locker lassen... Claudia Lickert hatte freies Land vor sich. Bis zur Pension konnte sie es schaffen, wenn sie nur durchhielt und der Unheimliche sie nicht verfolgte.
sich
Sie schnitt sich an den scharfkantigen Scherben, und das Blut quoll aus zahlreichen winzigen Wunden. Claudia Lickert schluchzte. Sie war verzweifelt, weil alles nur so langsam ging. In zwei Meter Tiefe sah sie den rettenden Boden, die Freiheit vor sich. Vertraut war ihr die mondbeschienene Umgebung. Die Wiesenlandschaft, die Umrisse des dunklen, menschenleeren Bauernhauses, der gewundene Lauf des Baches, der im Mondschein wie flüssiges Blei schimmerte. Claudias Oberkörper ragte nach draußen. Kühl fächelte die Nachtluft ihre erhitzte, fiebrig heiße Stirn. Bald hatte sie es geschafft. Ihr Gesicht verzerrte sich, als sie ihre Hüften nachdrückte. Dies war die breiteste Stelle ihres Körpers. Obwohl schlank wie eine Tanne,
Sie stellte sich vor, von dem Froschriesen verspeist zu werden wie eine Fliege. Und dieser Gedanke trieb sie noch schneller vorwärts. Einmal drehte sie den Kopf, blieb zwei Sekunden lang stehen und warf einen ängstlichen Blick zurück. Ihre Lippen zuckten, und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, der alle, die sie kannten, aufs äußerste erschreckt hätte. Claudia Lickert sah aus, als hätte sie den Verstand verloren. * Hinter dem zerschmetterten Fenster sah sie die Umrisse des dunklen, massigen Körpers. Der Froschmensch starrte ihr nach.
Claudia Lickert lief über die Wiese, stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf und rannte mechanisch weiter. Die Luft wurde ihr knapp, doch die junge Frau gab nicht auf.
Wütend knallte Peter Lickert den Hörer auf die Gabel.
Ein Weinkrampf schüttelte ihren Körper, sie stieß manchmal Schreie aus wie ein waidwundes Tier.
Ernst Martens beeilte sich, das Glas zu füllen. Er goß weit über den Meßstrich.
Verkrampft und kantig waren ihre Bewegungen. Claudia erreichte den Pfad. Hier fiel ihr das Laufen leichter.
Mit einem einzigen Schluck kippte Lickert den Korn. Er schüttelte sich, und seine Augen tränten.
Doch ihre Kräfte hatten schon merklich gelitten. Sie setzte mehr zu, um das Tempo zu halten und mußte es schließlich mäßigen. Sie taumelte mehr, als daß sie ging.
„Verdammter Mist", schimpfte er und knallte das Glas lautstark auf die Theke. „Die nehmen doch nichts ernst. Wenn Claudia nun wirklich etwas zugestoßen ist, kann man doch nicht warten, bis der Morgen graut. Da muß gleich etwas geschehen." Ernst Martens seufzte. „Die Umstände, die Sie geschildert haben, lassen verschiedene Schlüsse zu. Die Polizei macht sich ihre eigenen Gedanken. Der Gedanke, daß Ihnen Ihre Frau weggelaufen sein könnte, liegt nahe und ..."
Und mit einem Mal war ihr alles egal. Mochte der Unheimliche doch kommen und mit ihr machen, was er wollte. Sie rannte in Richtung Pension. Schon von weitem sah sie das dunkle, alleinstehende Haus und erblickte die beiden beleuchteten Fenster, die ihr bewiesen, daß noch jemand im Gastraum war. * Der Wirt und Peter Lickert hielten sich dort auf. Lickert hatte ein ausführliches Telefongespräch mit der nächsten Polizeidienststelle geführt. Der Beamte hatte sich alles in Ruhe angehört und dann gemeint, daß er, Lickert, sich bis Tagesanbruch wohl gedulden müsse. Offenbar habe seine Frau sich verirrt. Das sei in dieser Gegend leicht möglich.
„Noch 'nen Klaren", sagte er und fuhr den Wirt an, als sei der Mann daran schuld, daß alles so gekommen war.
Er unterbrach sich. Ein Geräusch war im Haus. Irgendwo klappte eine Tür. Schritte kamen die knarrende Treppe hoch. Dann öffnete sich die Tür zum Treppenhaus. Ein Mann stand auf der Schwelle und nickte grüßend. Es war der Pensionsgast Hermann Breitstetter. „Hab' ich mich doch nicht getäuscht", sagte er fröhlich und blickte sich in der Runde um. Breitstetter war Anfang fünfzig. Er machte einen sympathischen,
gutsituierten Eindruck. Sein Haar war noch voll, graumeliert. Er trug lange Koteletten und ein schmales, graues Lippenbärtchen. Breitstetter hielt sich schon einige Wochen im Schützenhaus auf. Bei den wenigen Gästen, die hier logierten, war es kein Problem, schnell herauszufinden, woher einer kam, was er tat, und wer er war. Man kam schnell ins Gespräch, und so wußte Peter Lickert, daß Breitstetter noch bis vor drei Monaten das Leben eines biederen Buchhalters geführt hatte. Ein Onkel, der in Kämpen auf Sylt ein großes Haus besessen hatte, schien in den letzten Stunden seines arbeitsreichen Lebens sein Herz für Hermann Breitstetter entdeckt zu haben. In einer letzten Verfügung hatte der Sterbende sein umfangreiches Vermögen einer Stiftung zur Erforschung von Krebskrankheiten vermacht und sage und schreibe zwei Millionen in bar seinem Neffen.
lautstarkes Verhalten Breitstetter nach unten gelockt hatte, wo er hoffte, noch einen kleinen Plausch zu machen. Dies stimmte jedoch nur zum Teil. Niemand wußte, daß Hermann Breitstetter bereits die Rückkehr Peter Lickerts beobachtet hatte und auch Zeuge des Dialogs zwischen dem Wirt und dem frischen Ehemann geworden war. Breitstetter hatte hinter der Tür gestanden, die zum Treppenhaus führte. Hier hatte er alles hören können. Er war ein sehr aufmerksamer und nachdenklicher Zuhörer. Heimlich war er wieder die Treppe hochgeschlichen, hatte dann seine Zimmertür fest ins Schloß gedrückt und so getan, als käme er erst jetzt von oben.
Er sprach wie ein pensionierter General. Zackig und abgehackt. Wo er sich ein Wort ersparen konnte, tat er das.
„Nein, kein Ehekrach", bemerkte Lickert auf die entsprechende Frage und erzählte, was sich zugetragen hatte. Seine Wut auf die Polizei unterdrückte er nicht. „Dem können wir nachhelfen", knurrte Breitstetter, der den Kopf schüttelte und dem die Reaktion des Polizisten am Telefon offenbar auch nicht gefiel. „Wenn Sie ernsthaft Sorgen haben, dann kümmern wir uns persönlich darum. Machen wir uns auf den Weg. Sehen wir nach dem rechten. Eine kleine private Suchaktion wäre nicht verkehrt. Ich helfe Ihnen, und Herr Martens wird sich sicher anschließen, nicht wahr?" Der Wirt nickte, aber ganz glücklich schien er bei dieser Vorstellung nicht zu sein.
Martens und Lickert waren fest überzeugt davon, daß ihr
„Mysteriös, das mit der Mühle", schüttelte Breitstetter den Kopf.
Breitstetter machte — seinen eigenen Worten nach — erst mal Urlaub, um sich von der Erbschaft zu erholen. „Hab' Stimmen und Krach gehört. Denke, da scheint's noch mehr Leute zu geben, die nicht schlafen können. Nach diesem prachtvollen Sonnentag ist das kein Wunder. Man fühlt sich gleich aufgepulvert, nicht wahr?"
„Hätte schwören können, daß dort niemand wohnt. War schon ein paarmal dort. Ein baufälliges Relikt. Sieht so aus, als würde die Mühle beim nächsten Herbststurm umfallen. Und da wohnt ein Mensch drin?" Peter Lickert nickte. „Ein komischer Knabe. Alt und zerbrechlich wie seine Mühle. Und grau. Das Namensschild an der Tür war nagelneu. Tössfeld stand darauf." Ernst Martens biß sich auf die Lippen. Hermann Breitstetter sah es aus den Augenwinkeln heraus. Martens hatte Angst. „Gehen wir. Die Sache interessiert mich. Dem Alten gucken wir mal auf die Finger." Breitstetter war ganz aus dem Häuschen. „Wenn der junge Frauen fängt, dann versalzen wir ihm die Suppe. Ich gehe schnell noch mal aufs Zimmer. Taschenlampe holen und ..." Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Schritte draußen auf dem Sand vor der Pension erregten seine Aufmerksamkeit. Peter Lickert und vernähmen die ebenfalls.
der Wirt Geräusche
Ein unmenschliches, Stöhnen.
qualvolles
Jemand war vor der Tür. Er kratzte daran wie ein Hund. Unmenschliche Laute. „Hooo... aaargggh..." Unartikulierte Laute, als wäre jemand nicht mehr imstande, richtig zu sprechen.
Das war kein Tier, das war ein Mensch! Peter Lickert löste sich zuerst aus der Erstarrung. „Claudia!" kam es gurgelnd über seine Lippen. Dann rannte er auch schon los. Wie ein Pfeil schnellte er zur Tür, drehte den von innen steckenden Schlüssel herum und riß die Tür auf. Seine Augen weiteten sich. Auf der mittleren Stufe der Treppe stand Claudia. Das zerzauste Haar hing wirr in ihre verschwitzte Stirn. Ihre Augen glühten. Der blanke Wahnsinn schimmerte darin. Ihr Kleid war zerfetzt, ihre Haut blutig und zerkratzt. „Ooogggh ... haaa ..." gurgelte sie und deutete mit verzerrten Bewegungen hinter sich. Sie plapperte heiser und brachte kein vernünftiges, verständliches Wort zustande. Peter Lickert hob seine Frau auf die Arme und trug sie mit kalkweißem Gesicht in die Gaststube, wo Martens und Breitstetter standen und nicht wußten, was sie von dieser Situation halten sollten. „Einen Arzt, schnell", keuchte Lickert. „Es muß etwas Schreckliches passiert sein." Er legte Claudia einfach auf eine harte Bank, sprach beruhigend auf sie ein und wollte Näheres wissen. Aber die Frau konnte nichts mitteilen. Sie stand unter einem schweren Schock. Ernst Martens rief einen Arzt an. Er wohnte in Hemmoor.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Doktor kam. Er konnte nicht viel machen und veranlaßte die Einweisung der jungen Frau in ein Krankenhaus. Rauchend und vor sich hinstarrend folgte Lickert dem Krankenwagen. Der Chefarzt des Krankenhauses sah sich die Patientin genau an. Man injizierte Beruhigungsmittel und versorgte die Wunden. Claudia Lickert fiel in einen tiefen Schlaf. Als sie am nächsten Morgen erwachte, war ihr Zustand kaum besser. Wieder wurde sie unter erregungsdämpfende Mittel gesetzt. Sie merkte nicht, daß sie am Morgen des gleichen Tages weiter transportiert wurde. Man brachte sie nach Cuxhaven. In einer neurologischen Spezialklinik sollte die weitere Behandlung stattfinden. Die Sonne Genfer See.
* stand
über
dem
Björn Hellmark frühstückte auf der Terrasse. Carminia Brado, die attraktive Brasilianerin saß mit ihm am Tisch. Wohlriechende Kaffeedämpfe stiegen in die Luft. Hellmark, sonst ein angenehmer Unterhalter, war schweigsam. Nicht nur, daß er noch immer an den gespenstischen Eindruck denken mußte, von dem er nicht wußte, ob es sich wirklich um einen belanglosen Traum, um eine Botschaft oder um ein Erlebnis
handelte, das gehabt hatte.
er
als
Macabros
Seit wenigen Minuten beschäftigte ihn auch noch etwas anderes. Vor einer halben Stunde war der Postbote gekommen und hatte einen dicken Expreßbrief gebracht. Der war in Atlanta abgestempelt und trug als Absender den Namen Bert Merthus. Hellmark hatte auf diesen Brief gewartet. Nach seiner persönlichen Kontaktaufnahme in Atlanta war damit zu rechnen, daß über kurz oder lang von dort eine Nachricht kam. Nun war es endlich so weit. Er konnte es kaum erwarten, den Brief zu öffnen. Er war höflich genug abzuwarten, bis das Frühstück beendet war. Carminia Brado seufzte. In ihren dunklen Augen blitzte es. „So also wird man abgemeldet", murmelte sie. „Dabei habe ich geglaubt, du seist in mich verliebt." Er sah sie zärtlich an. „Ich bin es auch". Er nahm zärtlich ihre Hand und hauchte einen Kuß darauf. „Aber mit meinen Gedanken bin ich woanders." „Das merke ich. Deshalb ist es besser, ich laß dich jetzt allein." Sie war nicht böse. Sie kannte Hellmark lange genug, um zu wissen, wie er zu ihr stand. Carminia trug einen schicken Hausanzug. Die enge Hose umschloß ihre Beine und ihren Po wie eine zweite Haut. Die Art, wie sie sich bewegte, zog unwillkürlich den Blick eines jeden Mannes auf sich.
Das lange schwarze Haar fiel seidenweich auf die schönen Schultern. Das Oberteil des Anzugs war weit ausgeschnitten, und der Ansatz der festen Brüste ein angenehmer Blickpunkt. Carminia nahm das Tablett mit, auf dem die Utensilien für den Frühstückstisch standen. „Während du dich hier sonnst und den Morgen genießt, werde ich meine hausfraulichen Qualitäten erproben", sagte sie zum Abschied. „Ich werde jetzt die Spülmaschine anstellen und mich dann ins Büro begeben. Wenn du etwas brauchst, ruf an." Hüftewackelnd zog sie sich ins Haus zurück. Hellmark riß den Umschlag auf. Professor Merthus, ein Mann, der sich wie kein zweiter in der Vergangenheit der Erde auskannte und einige erstaunliche Entdeckungen gemacht hatte, die die Öffentlichkeit noch nicht kannte, war der einzige, dem er zutraute, einiges von dem Text zu entziffern, der im Buch der Gesetze stand. Dieses Buch sollte für Hellmark schicksalshafte Bedeutung erlangen. Eine solche Andeutung hatten sowohl die ihm feindlich gesinnten Schwarzen Priester gemacht als auch Al Nafuur, der Geheimnisvolle aus dem legendären Lande Xantilon gemacht. In dem Buch der Gesetze sollte einiges zu finden sein, das ihm weiter Klarheit darüber verschaffte, wie er sich verhalten und was er tun sollte. Bert Merthus war in der Lage, die geheimnisvollen Schriftzeichen zu
lesen und übersetzen. Das hatte er bereits angedeutet. Nun würde sich zeigen, was er bis jetzt herausgefunden hatte. Hellmark erkannte sofort, daß es mehrere DIN A 4-Bogen waren, die Merthus in der Mitte geknickt hatte, Die Bogen waren in eine Folie eingeschlagen. Ganz oben lag ein persönlich an Björn Hellmark gerichteter Brief: „Sehr geehrter Herr Hellmark, gern erinnere ich mich an unser Zusammentreffen, das leider unter keinem guten Stern stand. Dank Ihrer Hilfe jedoch ist seinerzeit doch noch alles gut geworden. Ihnen habe ich mein Leben zu verdanken! Wir hatten Gelegenheit, über die anstehenden Probleme danach in aller Ruhe zu sprechen. Die Geschichte Ihres Lebens und Ihrer Person hat mich fasziniert. Ungewöhnlich und unglaublich ist das, was man von Ihnen erwartet. Einen Menschen wie Sie hat es bisher nicht gegeben. Ihr Leben ist wie ein Märchen. Aber in einem Märchen erwartet man, daß das Böse bestraft und das Gute belohnt wird. Niemand weiß beim jetzigen Stand der Dinge zu sagen, wie das jedoch bei Ihnen aussehen wird. Da liegen die Karten nicht so klar. Sie sind Kaphoon, der Namenlose. So bezeichnen die Propheten der versunkenen Insel Xantilon den, der da kommen wird, um das Schwert zu holen. Dieses Schwert hat in der Sprache von Alt-Xantilon mehrfache Bedeutung: erstens die Waffe, die Sie gefunden und an sich nehmen konnten, zweitens Herrschaft, drittens Reinigung. Es
gibt überhaupt sehr viele Doppelbegriffe. Etappenweise war es leicht, ganze Textstellen zu übersetzen. Dann war es wieder überhaupt nicht mehr möglich, und ich habe festgestellt, daß Zeichen und Symbole, Bilder und Formen aus verschiedenen Zeitepochen und von verschiedenen Völkern stammen. Die Sprache, die ich zunächst aufspürte, und die ich teilweise entziffern konnte, bildet zu einem früheren, dann wieder zu einem späteren Zeitpunkt, keine homogene Einheit. Ich befürchte, daß deshalb die Texte die ich Ihnen heute mitschicke, nicht den Anspruch auf Vollwertigkeit erheben und auf keinen Fall endültig sind. Ganz extrem ausgedrückt möchte ich es so sagen: Sie müssen damit rechnen, daß ich eines Tages behaupte, genau das Gegenteil von dem ist wahr, was ich zuvor übersetzt habe. Die Dinge zerfließen! Man hat viele Sicherungen eingebaut, um zu verhindern, daß Außenstehende Einblick in das Buch der Gesetze nehmen. Eigentlich ist der Text nur für den bestimmt, der diese Gesetze kennen muß. Ich bin dank Ihrer freundlichen Unterstützung und Ihres Vertrauens zu einem Mittler geworden. Doch ich fürchte, ich bin nicht in der Lage, Ihnen jenes Maß an Hilfe zu geben, wie Sie es vielleicht hoffen und erwarten. Und auf noch etwas möchte ich Sie aufmerksam machen, verehrter Herr Hellmark: ich habe festgestellt, daß ich oftmals nur unter äußerst erschwerten
Bedingungen in der Lage war, einzelne Textstellen auszuwählen, zusammenzustellen und zu übertragen. Es war, als ob eine unsichtbare Macht mich daran hindern wollte, die Übersetzung anzufertigen. Mir wurde klar, daß ich manchmal wie in Trance vor dieser oder jener Textstelle gesessen habe, ohne auch nur ein Wort weiterzukommen. Manchmal wiederum war mir beim ersten Anblick eines Textes sofort die Bedeutung klar. Sobald ich den Stift ansetzte und Notizen machte, kamen völlig fremde Worte zu Papier, die ich eigentlich gar nicht hatte Schreiben wollen. Verwirrendes Zeug kam zustande, das keinen Sinn ergab. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen auch dies zu sagen. Als letztes einen weiteren Hinweis, der mich bedrückt und der mir zu denken gibt: Während der Übersetzungsarbeiten hatte ich oft das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Ich spürte, daß ich in verbotene Bereiche eindringe und daß unsichtbare Mächte mir dabei über die Schulter sehen. Wie vereinbart, arbeite ich nicht direkt mit dem Buch, fertige von der Seite, die ich bearbeite, eine Kopie an und verschließe das Original wieder in einem Stahltresor. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob dies ausreichend ist. Ständig habe ich das Gefühl, daß über kurz oder lang eine Entwicklung ablaufen wird, die ich nicht mehr beeinflussen kann. Ich muß gerade an manche Textstelle denken, deren Übersetzung und Erfassung mir nicht gelang. Jetzt, in diesem
Moment, während ich diesen Brief niederschreibe, fühle ich mich frei und unbeobachtet. Es scheint, als ob die rätselhaften Einflüsse nur dann wirksam werden, wenn ich das Buch der Gesetze anfasse und mich damit beschäftige. Ich glaube, daß sehr viele Bannformeln und Schriftsätze, Zaubersprüche und magische Riten in dem Buch enthalten sind, welche die Mächte der Finsternis rufen und zwingen können. Über viele Jahrtausende hinweg war dieses Buch, von dem es nur ein einziges Exemplar gibt, in sicherem Gewahrsam und wartete auf den, dem es Hilfe bringen soll. Dieses Buch ist eine Waffe gegen das Böse, das alle Menschen plötzlich befallen kann, gegen unheimlichen Zwang, der auf Menschen ausgeübt wird, um sie zu willenlosen Werkzeugen des Fürsten der Finsternis zu machen. Dieses Buch erklärt, warum dies und jenes geschehen kann. Ich sehe den Sinn meines Lebens darin, Ihnen im Kampf gegen satanische Widersacher und Dämonen beizustehen, Ihnen also meine Hilfe anzubieten. Inwieweit mir das möglich ist, und wie lange ich noch dazu fähig sein werde, weiß ich nicht. Ich werde weiterhin die Texte bearbeiten und versuchen, sie in der hoffentlich richtigen Form Ihnen nahezubringen. In der Anlage erhalten Sie alle Versuche, Veränderungen und Notizen, auch jene verworrenen Texte, die keinen Sinn ergeben. Ich halte es jedoch für richtig, daß Sie jederzeit über alles unterrichtet
sind und sich Ihre eigene Meinung bilden können. Nun hoffe ich, daß dieser Brief und vor allem die gesamte Sendung wohlbehalten bei Ihnen ankommen. Sollte sich hier bei mir etwas verändern, sollte ich auf eine andere unverhoffte Lösung stoßen, werde ich mich umgehend bei Ihnen melden, wenn es sein muß telefonisch. Bis zum nächsten Mal verbleibe ich. Ihr sehr ergebener Bert Merthus." Hellmarks Gesicht war ernst, als er den Brief zusammenfaltete. Merthus war gefährdet! Das Buch der Gesetze enthielt mehr als nur die Gesetze der Herrschers des versunkenen Landes Xantilon. Zu den Prophetien waren Zauberformeln und magische Schriftsätze hinzugekommen. Merthus spürte die unsichtbaren Mächte, die ihn belauerten. Wie und wann konnten sie ihm gefährlich werden? Hellmark fühlte sich verpflichtet, so schnell wie möglich Vorbereitungen zu treffen. Professor Merthus durfte nicht sich selbst überlassen bleiben. Er durfte sein Leben nicht aus Spiel setzen. Am besten würde es sein, das Buch der Gesetze so schnell wie möglich wieder zurückzuholen und Merthus unter ständiger Beobachtung zu halten. Der Bungalow bot sich als idealer Aufenthaltsort an. Hellmark war ein Mann schneller Entschlüsse. Obwohl er es kaum erwarten konnte, die ersten Blätter mit den
Übersetzungen vorzunehmen, betrat er erst sein Büro und meldete ein Blitzgespräch nach Atlanta in den Vereinigten Staaten von Amerika an. Dort war es jetzt drei Uhr morgens. Eine ungewöhnliche Zeit, um anzurufen. Hellmark hätte dies unter normalen Umständen nicht getan. Doch er mußte Merthus warnen. Instintiv spürte auch der Professor die Gefahr, aber er ahnte vielleicht nicht, wie ernst sie wirklich war. Hellmark wollte Merthus dazu bringen, noch an diesem Tag auf Björns Kosten ein Ticket in die Schweiz zu buchen. Auf keinen Fall sollte der Professor seine Arbeit an der Übersetzung des risikoreichen Textes fortsetzen. Je früher er damit aufhörte desto besser würde es sein... Das Telefon schlug an. Hellmark atmete auf. Die Telefonistin meldete sich. „Die Leitung ist frei, mein Herr. Der Teilnehmer meldete sich jedoch nicht." „Versuchen Sie es bitte in gewissen Abständen immer wieder! Ich warte!" „Ja, gern." Hellmark legte auf. Er ging wieder hinaus auf die Terrasse und nahm die Schriftsätze an sich. * Auszug aus dem Buch der Gesetze, Seite 1, Prophetie des Oberpriesters ,Es steht geschrieben: die Priester werden ihre Einheit verlieren und zwei neue Kasten werden entstehen, die
der „Weißen" und die der „Schwarzen". Wenn diese Trennung vollzogen ist, erfüllt sich das Schicksal Xantilons. Die Insel wird untergehen, das Volk wird bis auf einige wenige ausgelöscht werden. Die Nachkommen jener Überlebenden werden in alle Winde verstreut werden. Es wird Ihnen gelingen, auf anderen Inseln und auf dem Festland Fuß zu fassen und sie werden sich mit den anderen Völkern verbinden, deren Kultur geistig-seelische und moralische Entwicklung weit hinter der unseres Volkes zurückliegt. Die Kinder Xantilons werden sich mit diesen Menschen vermischen, und sie werden ihre Herkunft vergessen. Aber das Blut eines Xantiloners wird in den Adern der Nachkommen fließen und sich niemals verleugnen lassen. So werden die Nachkommen Xantilons es sein, auf die Erfindungen und Entdeckungen zurückgehen. Und sehr viele, in denen das alte Blut von Xantilon fließt, werden in forschenden und lehrenden Stellen zu finden zu sein, zu einem Zeitpunkt, wo niemand mehr etwas von Xantilon weiß und selbst die große Insel Atlantis, der Kontinent Hyperborea und die Dracheninsel Mu nur noch sagenhafte, legendäre Bedeutung haben werden. So wird aber das, was seinen Ursprung einst in Xantilon hatte, weiterleben. Mit dem Untergang unserer Welt wird großes Wissen vernichtet. Aber die „Schwarzen Priester" werden ihr endgültiges Ziel nicht erreicht haben. Jene, die die Verbindung mit den Dämonen
gesucht haben, wurde ewiges Leben versprochen. Sie werden dieses ewige Leben haben. Sie werden nicht altern. Im versunkenen Xantilon werden sie die Jahrhunderte, die Jahrtausende überdauern. Von dort aus werden sie sich unter die Menschen der neuen Zeit mischen und werden deren Gestalt annehmen, werden körperlos sein können, ganz wie sie es wünschen. Aber mit dem Untergang Xantilons sind sie verflucht. Ein normales Leben werden sie nicht mehr führen können. Ihre Seelen und ihre Körper gehören den Dämonen, die sie zurückgerufen haben, obwohl Xantilon von ihnen gereinigt war. Was auf Xantilon begann, wird sich in ferner Zukunft fortsetzen. Jene Individuen, in denen das Blut unseres Volkes fließt, werden zunächst einsam und vereinzelt gegen das Böse und Dämonische kämpfen, das ihnen immer wieder irgendwo begegnet, und die Dämonen mitsamt ihrem höllischen Anführer geben keine Ruhe, jene unerschrockenen Kämpfer zu vernichten und auszurotten. Überall in der zukünftigen Welt, werden sie auf Haß und Neid, Widerstand und Unverständnis stoßen. Sie sind Einzelgänger, Außenseiter, und man versteht sie nicht immer. Aber nicht alle Einzelgänger und Außenseiter, die sich als solche zu erkennen geben, müssen unbedingt das Blut unseres Volkes in ihren Adern haben. Die Mächte der Finsternis sind schlau.
In ferner Zeit wird es viele Wölfe im Schafspelz geben. Sie geben sich den Anstrich, genauso zu sein wie jene, die sie bekämpfen. Sie reden so und geben sich den Anstrich, gute Werke zu vollbringen. Aber an ihren Taten wird man sie erkennen. Dies wird nicht leicht sein. Man muß den Mantel der Leichtgläubigkeit und der Geheimnistuerei, mit dem sie sich umhüllen, von ihnen reißen, um ihre wahre Gestalt zu erkennen. Diese Menschen dienen den Dämonen, oder es sind leibhaftige Dämonen, die menschliche Gestalt angenommen haben. Wie die Kinder Xantilons nicht von den Menschen jener Zeit unterschieden werden können, so wird man auch die „Schwarzen Priester" und deren unheilbringende Brut nicht von den Normalsterblichen unterscheiden können. Ihre Aufgabe ist es, Menschenleben zu gefährden, zu vernichten, zu bedrohen. Damit stehen sie im krassen Gegensatz zu jenen, die das verhindern wollen, welche die Dämonen suchen, um sie zurückzudrängen. Aber als Individuen können sie nur wenige oder kaum nennenswerte Erfolge erringen. Die Zeit muß reifen ... Sie werden sich verbünden müssen, all die Sucher und Kämpfer, die Alleingelassenen, die Verkannten: sie brauchen Kaphoon, den Namenslosen. Für ihn wird das Buch der Gesetze erhalten bleiben, für ihn wurde es geschrieben.
Einer wird aufstehen und die Brüder und Schwestern einer fernen Zeit um sich sammeln, die denken wie er, in denen ebenfalls das Blut Xantilons fließt. Ich weiß, daß er kommen wird. Der Sohn des „Toten Gottes", unseres großen, gerechten Herrschers, wird seine wahre Aufgabe erkennen. Das Blut der Königsfamilie wird in einem Menschen der Zukunft seine Wirkung zeigen, und er wird erkennen, daß er Kaphoon ist...' An dieser Stelle endete die erste Seite aus dem Buch der Gesetze. * Björn Hellmark goß- sich noch eine Tasse Kaffee ein. Der junge Millionärssohn rückte mit dem Stuhl weiter nach hinten unter die überdachte Terrasse. Warum und hell schien die Sonne, die Luft war windstill. Hellmark rückte die dunkelgetönte Brille zurecht, griff nach dem zweiten Bogen und faltete ihn auseinander. Hier stand weniger Text. Björn Hellmark begann zu lesen: 'Kaphoon ist Xantilons Hoffnung. Gepflastert sein wird sein Weg mit Mühsalen, Entbehrungen, Kämpfen und Gefahren. Allein auf sich gestellt — ist er verloren. Er braucht Freunde. Die Mächte der Finsternis werden ihm auf Schritt und Tritt folgen. Mit List und Tücke werden sie ihn ins Verderben zu locken versuchen. Ungewöhnlich und gefahrvoll wird sein Leben sein. Er wird oftmals nicht merken, wer seine Freunde sind wer seine
Feinde, so geschickt werden seine Gegner vorgehen. Aber der Namenlose, der Sohn des „Toten Gottes", hat eine Chance. Er muß ein Kämpfer sein, ein willensstarker Mensch, der sich von dem einmal eingeschlagenen Weg nicht abbringen läßt. Dann ist Xantilons Wiedergeburt möglich.' Hellmark seufzte. Er hatte das Gefühl, als läse er einen Brief, der persönlich an ihn gerichtet war. Diese Eröffnungen galten ihm. Man hatte ihn bereits an einem anderen Ort als Kaphoon bezeichnet. Dieser Begriff kam in der Xantilon'schen Sprache öfter vor, und Bert Merthus hatte ihn in seine Übersetzung mit übernommen. Er sah jetzt klarer. Die Hinweise in dem Buch der Gesetze waren Prophetien, die vor vielen Jahrtausenden ein Oberpriester niedergeschrieben hatte. Es war ungeheuerlich, über welche Weisheit dieser Mann verfügt und welchen Weitblick er gehabt hatte. Die Zeilen, die Björn bis jetzt in sich aufgenommen hatte, lasen sich wie ein Kriminalroman. Kaum konnte er es erwarten, weitere Neuigkeiten zu erfahren. Er nahm den dritten Bogen zur Hand. Aber hier zeigten sich bereits die ersten Schwächen, von denen Professor Merthus geschrieben hatte.
Nur noch Fragmente waren übersetzt. Sätze waren angefangen und nicht zu Ende gebracht. Hinter vielen Begriffen standen Fragezeichen. Es war unmöglich, etwas daraus zu entnehmen. Björn Hellmark biß sich auf die Lippen. Irgend etwas stimmte hier nicht. Merthus zeigte hier einen ganz anderen Geist in seinen Texten. Er wußte offenbar nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Das Buch der Gesetze war kein harmloses Werk, das man einfach aus der Hand geben konnte. Warum hatte Al Nafuur ihn nicht gewarnt? „Es gibt Dinge, auf die kommt man früher oder später selbst", sagte da die Stimme in ihm. Al Nafuur wußte Björn, weshalb nichts Zauberpriester aus dem Lande Xantilon, meldete sich auf telepathischem Weg. Klar und deutlich vernahm Hellmark die Stimme in seinem Hirn. So, als stünde der Sprecher direkt neben ihm. „Aber dann kann es manchmal auch schon zu spät sein." Björn bewegte die Lippen nicht. Er hatte im Umgang mit Al Nafuur, dem Unsichtbaren, eine gewisse Übung erlangt. Es genügte, einen Gedanken klar zu formulieren, es erübrigte sich, ihn auszusprechen. „Das ist das Risiko, in das jedes denkende Wesen geboren wird", entgegnete die vertraute Stimme in ihm.
„Was geschah mit Professor Merthus?" wollte Björn wissen. „Er hatte Besuch. Von den Dämonen. Sie beeinflußten seine Arbeit. Merthus ist nicht mehr frei." Hellmarks Lippen wurden schmal. „Kann man ihm noch helfen? Ist er unmittelbar in Gefahr?" „Nein. Noch nicht." „Dann muß schnellstens etwas geschehen." „Du hast bereits etwas unternommen. Das war gut und richtig so, Björn." „Aber er reagiert nicht auf meinen Telefonanruf! Schläft Merthus? Ist er nicht zu Hause, Al Nafuur?" „Er ist zu Hause. Er kann nicht antworten." Hellmark fuhr zusammen, als er diese Antwort in einem Bewußtsein vernahm. „Ist er tot?" Unwillkürlich flüsterte er. „Nein. Er sitzt an seinem Schreibtisch und grübelt. Er steht im Bann des Buches der Gesetze. Er sucht nach neuen Wegen, nach neuen Lösungsmöglichkeiten. Aber das ist es nicht allein. Seine Feinde umringen ihn wieder. Wohl hört er das Geräusch des rasselnden Telefons, doch er kann sich nicht erheben." „Es muß sofort etwas geschehen! Kannst du nicht etwas tun, Al Nafuur?" „Leider nein. Ich vermag manches — aber ich bin nicht allmächtig."
„Aber wir können Merthus nicht im Stich lassen. Wenn die Dämonen..." Al Nafuurs Gedanken übertrumpften seine Überlegungen. „Noch ist Merthus geschützt. Es mag ironisch klingen, aber die Dinge stehen so: das Buch selbst steht unter einem Bann, der es den Feinden schwer macht, aktiv zu werden. Zwar vermögen gewisse lähmende Störelemente aufzutreten, doch sind sie nicht so schwerwiegend, daß sie tödliche Auswirkungen erhalten. Dies allerdings ist auch nur noch eine Frage der Zeit, und insofern hast du die Situation richtig eingeschätzt. Bert Merthus muß in eine andere Umgebung. Die dämonenbannende Kraft des Buches von Kan Takoor verliert ihre Wirkung." „Ich werde in die Staaten fliegen und Merthus persönlich dort abholen. Was soll weiter mit dem Buch geschehen?" „Du mußt den Inhalt kennen, soll dein Kampf gegen die Feinde der Menschen auch nur einigermaßen erfolgreich werden." „Im Moment weiß ich nicht, wie es weitergehen soll", bemerkte Hellmark lautlos in Gedanken. „Was soll werden, wenn ein Mann wie Merthus nicht mehr in der Lage ist, weitere Übersetzungen anzufertigen? Es heißt, der Inhalt des Buches sei wichtig für mich. Aber wie sonst kann ich Kenntnis vom Inhalt bekommen, wenn nicht durch Übersetzungen?" Al Nafuur beantwortete die Frage nicht direkt. „Merthus wird
weiterarbeiten können. Aber in deiner Nähe. In der Nähe des Schwerts. Buch und Schwert gehören zusammen. Du wirst die Dinge meistern. Schwieriger allerdings wird etwas anderes." Mit diesen Worten erstand in seinem Bewußtsein ein Bild, das er nur zu gut kannte. Die Landschaft aus dem Traum der vergangenen Nacht! „Du warst dort gewesen, während du gleichzeitig in deinem Bett gelegen und geschlafen hast", fuhr Al Nafuur fort. „Du hast meine Stimme gehört, die dich nach dort geleitet hat. Aber du konntest dich nicht mehr daran erinnern, als du erwachest." Mit den Worten Al Nafuurs kam gleichzeitig die Szene wieder, die er gesehen hatte. Das reetgedeckte alte Haus, die alte graue Mühle, die etwas Gespenstisches ausstrahlte. Und er wußte mit einem Mal, wo diese Mühle zu finden war. Im Norden Deutschlands, in der Nähe des Erholungsgebietes der Wingst. Al Nafuur gab ihm diesen Hinweis. Merkwürdigerweise erfuhr er auch den Namen der Pension „Zum Schützenhaus". Was sollte das nun wieder bedeuten? Das Gefühl, nach Deutschland in den hohen Norden zu fahren, die Pension und die Mühle aufzusuchen, wurden plötzlich ungeheuer stark in ihm. Für den Bruchteil eines Augenblicks schien es so, als wolle Al Nafuur noch etwas hinzufügen.
„Dämonen-Maske ..." klang es noch in Hellmarks Bewußtsein. Aber bei diesem Fragment blieb es. Die Leere in seinem Bewußtsein signalisierte Al Nafuurs Rückzug. Unverhofft und spontan wie sein Auftauchen erfolgte sein Rückzug. So war es immer. Ganz klar sah Hellmark dabei noch nicht. Für den geheimnsivollen geistigen Kontakt, den Al Nafuur hin und wieder errichtete, schien es ein Kriterium zu geben, das er, Hellmark nicht kannte. Nur unter bestimmten Umständen und oft auch unter Schwierigkeiten meldete sich Al Nafuur aus jenem Reich zwischen Diesseits und Jenseits, in das er Eingang gefunden hatte. Die Geister und Dämonen, die er und seine Freunde schon in der fernen Vergangenheit der Erde auf Xantilon bekämpft hatten, suchten ihre Rache auszuüben. Wenn Al Nafuur sich meldete, wurden Kräfte frei, die von den unsichtbaren Geistern geortet und registriert werden konnten. Das war seine, Björns, Vermutung. Hellmark überlas die nachfolgenden Bogen, die Merthus aus Atlanta geschickt hatte, nur noch flüchtig. Aus dem Geschriebenen ließ sich sowieso nicht mehr viel entnehmen. Es war zu einem Orakel geworden. Er faltete die Bogen zusammen und steckte sie in den Umschlag zurück. Diesen verschloß er im Tresor des Arbeitszimmers.
Dann rief er Vermittlung an.
noch
mal
die
Die Verbindung mit Bert Merthus war noch immer nicht geglückt. Aufgrund der Kontaktaufnahme zu Als Nafuur wußte Björn, weshalb nichts zustandekam. Er bestand darauf, daß die Versuche in bestimmten Abständen wiederholt würden, bis sich jemand meldete. Dann rief er Carminia. Die Brasilianerin kam aus dem Büro, wo sie die anfallende schriftliche Arbeit erledigte, die mit der Kosmetik-Firma zusammenhing, welche Hellmark leitete und die ihm die notwendigen Gelder einbrachte. Diese Dinge mußten ihre Richtigkeit haben, damit nach außen hin keine Schwierigkeiten auftraten. Die Arbeit selbst war minimal. Carminia konnte sie nebenher erledigen. Die Hauptarbeit bereitete eigentlich der Bungalow. Carminia Brado war hier Mädchen für alles. Es wäre Hellmark ein leichtes gewesen, eine Hausangestellte und einen Diener zusätzlich einzustellen. Doch vorerst hatten sie beide auf dieses Privileg verzichtet. Björn wußte nach seinem Unfall nicht, wie sich sein Leben weiterentwickeln würde, und er war vorsichtig damit gewesen, sich mit fremden Menschen zu umgeben, die mißtrauisch werden konnten, wenn sie dies oder jenes im Haus mitbekamen. Bei Carminia war das etwas anderes. Von Anfang an war sie
Zeuge einer ungewöhnlichen Entwicklung geworden. Die junge rassige Südamerikanerin mit dem Körper einer Göttin, die Björn Hellmark liebte, kannte auch das große Geheimnis seines Lebens. „Der Meister ruft, der Lehrling folgt", rief Carminia Brado. Ihre schönen Lippen lächelten. „Was wünscht der Herr?" „Nicht so untertänig", meinte Hellmark, als sie einen tiefen Knicks vor ihm machte, den Kopf gesenkt hielt und ihm nicht in die Augen sah. „Das mag bei euch in Brasilien noch so sein, daß die Frau dem Mann zu Füßen liegt, aber hier bei uns ist das schwache Geschlecht emanzipiert." Er zog sie hoch, und Carminia kam einen Schritt auf ihn zu. Er führte ihren Busen an seiner Brust. Ein dezentes Parfüm, das genau zu ihrem Typ paßte, entströmte ihrer Haut. „Ich habe einige Bitten an dich", begann er und erklärte, was los war. „Ich werde ein oder zwei Tage nicht hier sein. Länger dauert es bestimmt nicht. Versuch unter allen Umständen, Merthus zu erreichen! Er soll umgehend sein persönliches Eigentum zusammenpacken und die nächste Maschine nach Europa nehmen. Das Buch soll er auf alle Fälle mitbringen. Alles weitere erkläre ich ihm dann persönlich, aber wahrscheinlich bin ich bis dahin schon wieder zurück." Er machte sie auf einen weiteren Punkt aufmerksam, der ihm am
Herzen lag. Carminia sollte ihm sofort Bescheid geben, wenn von Merthus weitere Briefe oder sonst irgendeine schriftliche Nachricht eintrafen. „Du kannst mich anrufen. Ich nehme an, daß die Pension, in der ich mich einquartiere, Telefon hat." Er nannte ihr den Namen und den Ort, in dessen Nähe, das Gasthaus stand. „Ich weiß nicht, ob so etwas geschehen wird, aber wenn es dazu kommen sollte, ist jeder Hinweis für mich dringend notwendig." „Versprochen." Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Lippen. „Das war's dann. Ich denke, das alles sind nur Kleinigkeiten, die ich nur beiläufig zu erwähnen brauchte. Ich hoffe deine Hilfe nicht in Anspruch nehmen zu müssen." Und irrte sich sehr... * Er nahm seinen kleinen schweinsledernen Koffer in die Hand, als das Telefon anschlug. Carminia, die Björn nach draußen begleitete, lief zurück und meldete sich. Dann gab sie Hellmark ein Zeichen. „Merthus!" sagte sie nur, mechanisch die Muschel mit der Hand bedeckend. Björn stellte seinen Koffer ab und eilte zum Telefon. Am anderen Ende war wirklich der Professor. Hellmark atmete auf. „Tut mir leid", sagte er, „ich bin ein unmöglicher Mensch, Sie mitten in der Nacht aus dem Bett
zu reißen. Ich hoffe. Sie können mir noch mal verzeihen?"
Sprachwissenschaftler freimachen.
„Aber Sie haben mich nicht aus dem Bett geholt, Mister Hellmark!"
„Es dauert mindestens drei Tage. Aber ich komme gern. Ihre Erklärung leuchtet mir ein. Was für eine Bedeutung hat das Schwert? Liegt vielleicht ein magischer Bann darauf?" „Wir werden es ausprobieren."
Björn lauschte der Stimme. Sie klang ruhig, besonnen und klar. „Haben Sie etwa gearbeitet?" reagierte Hellmark überrascht. Er konnte nicht sagen, daß er bereits wußte, in welcher Situation Bert Merthus vom Telefon überrascht worden war. „Ja. Ich habe es versucht. Das Buch läßt mich nicht mehr los, Mister Hellmark. Aber ich bin keinen Schritt weitergekommen. Es ist wie verhext! Ich muß wie in Trance davor gesessen und keinen Strich gemacht haben. Mein Notizblock ist leer. Seit geraumer Zeit höre ich im Hintergrund schon das Telefon, aber es ist, als ob man träumt. Man nimmt die Dinge nur verschlafen und wie aus weiter Ferne wahr. Plötzlich aber war der Bann gebrochen. Ich wachte regelrecht auf, mir wurde das Geräusch des Telefons bewußt, und ich hob ab." Hellmark erklärte ihm, weshalb er angerufen hatte. Er bedankte sich für die Postsendung und bat Merthus, aufgrund der sichtbaren Warnzeichen die Arbeit am Buch sofort einzustellen und zu ihm nach Genf zu kommen. Hier könne man überlegen, was weiter zu tun sei. Merthus leuchtete der Vorschlag ein, nachdem Björn Hellmark ins Detail gegangen war. So schnell wie der Deutsche allerdings erwartete, konnte der Archäologe und
sich
nicht
„Sie haben auch meine zweite Post schon bekommen?" fragte Bert Merthus unvermittelt. „Ihre zweite Post? Nein!" „Dann wird sie heute, spätestens morgen eintreffen, Mister Hellmark. Ich habe unmittelbar nach Aufgabe der ersten Sendung einen zweiten Brief geschickt. Es geht um die dritte Seite aus dem Buch der Gesetze." „Wo Kan Takoor die DämonenMaske erwähnt?" „Möglich, ich weiß das nicht mehr so genau." „Merthus Stimme wurde plötzlich müde. „Ich entsinne mich nur, daß ich den Text, der mir zuvor soviel Schwierigkeiten machte, mit einem Mal zügig erfassen und übertragen konnte. Ich habe die Urschrift, so wie sie mir aus der Feder floß, sofort in einen Umschlag gesteckt. Die Stimmung, unter der ich arbeitete, war bemerkenswert. Ich fühlte mich beschwingt und frei, als würde eine unsichtbare Macht mich von den feindlichen und unheilvollen Einflüssen abschirmen." „Können Sie mir in etwa sagen, was in der Übersetzung steht, Professor?" wollte Björn wissen.
„Eben das ist es ja. Das wollte ich von Ihnen wissen, deshalb meine Frage, Mister Hellmark. Ich kann mich nicht mehr an ein einziges Wort erinnern, das ich geschrieben habe. In dem Augenblick, als ich den Brief zur Post gab, habe ich alles vergessen." * Hellmark überlegte. Das konnte zu seinem Schutz sein. Auch von dieser Seite mußte man die Dinge beachten. Auf diese Weise würde Merthus nie zum Verräter werden können. Doch alles waren nur Vermutungen. Das Buch der Gesetze aus der fernen Vergangenheit der Erdgeschichte schien mehr Geheimnisse zu bergen, als ursprünglich angenommen wurde. Die beiden Männer verblieben so, daß Merthus auf jeden Fall nach Genf kam. Telefonisch würde er seinen Abflug bekanntgeben, so daß man sich in Hellmarks Haus dementsprechend einrichten konnte. Dann verließ Björn Hellmark nachdenklich sein Haus. In der Garage standen zwei Wagen. Ein schneeweißer Mercedes 300 SEL und ein orangefarbener Lamborghini. Björn stieg in den Lamborghini. Er legte den kleinen Koffer auf den Sitz neben sich. Mit einem langen Kuß verabschiedete er sich von Carminia. Kurze Zeit später Hellmark durch Genf Flughafen.
brauste Richtung
Im Rückspiegel beobachtete er eine Zeitlang einen dunkelblauen Ford Mustang. Hinter dem Steuer dieses Wagens saß ein dunkler Typ, Italiener oder Spanier. Rund drei Kilometer blieb der Mustang hinter ihm, dann bog er in eine Seitenstraße ab, und Hellmarks Mißtrauen, das gerade geweckt worden war, schwand wieder. Für einige Minuten hatte er ernsthaft geglaubt verfolgt zu werden. Doch er konnte sich keinen Reim darauf machen. Dennoch blieb er vorsichtig. Er mußte zu jeder Zeit mit allem rechnen. Und wenn wirklich jemand hinter ihm her war, dann hatte das seine guten Gründe. Jeder konnte unverhofft seinem Richter werden.
zu
Die unsichtbaren Geister und Dämonen, von den „Schwarzen Priestern" alarmiert, belauerten ihn. Sie warteten nur auf einen günstigen Moment, um zuschlagen zu können Der Kampf, der seinerzeit auf Xantilon zwischen den Anhängern der „Weißen" und der „Schwarzen" Kaste unentschieden auslief, sollte — so die Prophetie Kan Takoors — in ferner Zeit fortgeführt und zu seiner endgültigen Entscheidung gebracht werden. Der Kampf hatte begonnen, und Kan Takoor schien wieder mal recht zu behalten. Sein prophetischer Geist hatte die Auseinandersetzung vorausgesehen. Am Ende der Rue de Lausanne, durch die er die ganze Zeit gefahren war, reihte er sich nach
links ein und folgte dem Schild Cointrin, das den interkontinentalen Flughafen anzeigte. Dort stand in einem Hangar seine zweistrahlige Privatmaschine vom Typ Boeing. In einer gemieteten Halle wurde das Düsenflugzeug von einem Angestellten Hellmarks gewartet. Björn steuerte seinen Lamborghini in die untere Etage des Parkhauses. Hinter ihm schloß sich ein weinroter amerikanischer Straßenkreuzer an. Es war ein chromblitzender Chrysler. Hellmark fuhr weiter und konzentrierte sich auf die suche nach einem freien Platz. Leise lief der Motor des Lamborghini. Hellmark liebte schnelle und sportliche Wagen. Für die kurze Strecke zum Flughafen allerdings war es unnötig gewesen, den Lamborghini zu nehmen. Doch aus Erfahrung wußte er, daß Carminia lieber den 300 SEL benutzte, wenn sie zu einer Erledigung in die Stadt oder sonst irgendwohin fahren mußte. Der Wagen war bequem und reagierte nicht so rasant wie der Lamborghini. Fast lautlos glitt der weinrote Chrysler hinter Hellmarks orangefarbenem Fahrzeug her. Björn beobachtete Wagen und Farbe im Rückspiegel. Da geschah es! Vor ihm tauchte ein Schatten auf. Aus einer Einbahnstraße, von wo normalerweise kein Auto hätten kommen dürfen, nahm er eine
Bewegung wahr. Ein Wagen schoß auf ihn zu. Reifen quietschten. Lamborghini stand sofort.
Der
Geistesgegenwärtig stützte Hellmark sich am Lenkrad ab und spannte seine Muskeln an. Es gab einen Ruck. Mit dem Kopf stieß er gegen die Frontscheibe. Aber der Aufprall war nur schwach. Der aus der falschen Richtung kommende Wagen stellte sich quer. Björn erkannte das Fahrzeug wieder. Es handelte sich um den dunkelblauen Ford Mustang, der ihn vorhin eine Zeitlang durch die Rue de Lausanne verfolgte. Hier stimmte etwas nicht! Er hatte es geahnt. Die Burschen wollten etwas von ihm. Dieser überraschende Überfall aber verlief offenbar nicht ganz nach Plan. Das plötzliche Bremsmanöver, das Hellmark vernahm, hatte ihn nicht nach vorn geworfen. Die Kerle, die etwas von ihm wollten, schienen der Überzeugung zu sein, ihr benommenes und halb ohnmächtiges Opfer nur noch aus dem Wagen ziehen zu müssen. Björn saß in der Falle. Er konnte weder zurück noch vor. In dem schwach beleuchteten Untergeschoß des Parkhauses spielte sich ein Drama ab.
Die Tür des Lamborghini wurde aufgerissen. Drei, vier Männer tauchten im Blickfeld Hellmarks auf. Björn handelte. Er ließ sich nicht aus dem Wagen ziehen, zog die Beine an und stieß sie blitzschnell nach außen. Der erste Angreifer bekam den Tritt voll in den Unterleib. Der Getroffene jaulte wie ein Hund, sprang von einem Bein aufs andere und tanzte zur Seite. Björn ließ sich vom Sitz rutschen, entwischte dem zweiten Gegner unter den zugreifenden Händen, schoß seine Rechte ab und senkte sie dem Dritten, der sich auf ihn stürzte, in die Magengrube. Hellmark wehrte sich im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen und Füßen, um den Angreifern erst gar keinen Spielraum zu geben. Er wirbelte seine Beine herum und benutzte sie wie Windmühlenflügel. Doch er konnte seine Augen nicht überall haben. Ein Angriff von der Seite her entschied sein Schicksal, nachdem er bereits drei Gegner innerhalb von dreißig Sekunden kampfunfähig gemacht hatte. Eine Stiefelspitze traf ihn an der Schläfe, als er versuchte sich aufzurichten, um sich seinem nächsten Gegner zu stellen. Instinktiv drehte er noch den Kopf weg. Aber der Tritt traf ihn voll.
Sein Schädel brummte, sein Kopf flog zur Seite, und farbige Sterne tanzten vor seinen Augen. Drei Sekunden lang glaubte er, die Decke des Parkhauses würde auf ihn herabkommen. Die Gestalten vor seinen Augen verschwammen. Dennoch fand er die Kraft, sich hochzuschrauben und den Angriff des vor ihm Stehenden abzufangen. Von irgendwoher streckte sich in diesem Moment auch schon eine Hand in sein Gesicht. Ein betäubender, markanter und unverwechselbarer Geruch drang in seine Lungen. Chloroform, grellte es durch sein Gehirn. Dann wurde alles zu einem rauschenden Wirbel, der ihn mit in eine unwirkliche Tiefe zog. Seine Sinne schwanden. Aus weiter Ferne vernahm er eine Stimme. „Na endlich! Hat lange genug gedauert. Das Theater hat viel zu viel Zeit in Anspruch genommen. Jetzt nichts wie weg hier, ehe die Leute zusammenlaufen ..." * Die Gangster beeilten sich. Hellmark wurde über den Boden geschleift und in den Chrysler gezerrt. Kurzentschlossen warf man den Chloroformierten auf den Hintersitz. Die bei dem kurzen Kampf lädierten Komplicen huschten in den Straßenkreuzer zurück. Einer von ihnen klemmte sich hinter das
Steuer von Hellmarks Lamborghini und lenkte ihn in die erstbeste Box.
Auf den grüngestrichenen Metalltischen lagen keine Decken.
Er schloß den Wagen ordnungsgemäß ab, so daß es aussah, als wäre der Millionärssohn hier angekommen und hätte den Wagen abgestellt.
Breitstetter dachte an die letzte Nacht und was ihn seitdem immer mehr beschäftigte. Er wäre längst zu seinem Morgenspaziergang aufgebrochen, wenn er nicht auf ein Telefongespräch warten würde. Seine Dienststelle in Cuxhaven hatte die notwendigen Recherchen aufgenommen, um alles zusammenzutragen, was er so weit abseits vom Schuß unbedingt wissen mußte, um sich eine Meinung über die mysteriösen Vorkommnisse zu bilden. Niemand wußte so recht, was wirklich passiert war. Fest stand nur eins: das Ehepaar Lickert war froh und munter am späten Abend noch mal spazierengegangen. Dann war Peter Lickert ziemlich nervös zurückgekommen und hatte seine Frau gesucht. Er behauptete, sie verloren zu haben. Aber kurz darauf tauchte Claudia Lickert auf. Am Ende ihrer Kraft, geschockt und erregt, war sie nicht imstande gewesen, ihren Aufenthalt zu erklären.
Der südländische Fahrer des dunkelblauen Mustang eilte zu seinem Wagen. Seine frischlackierten Schuhe glänzten und reflektierten das Licht der Deckenlampen. Innerhalb von zwei Minuten war der Überfall über die Bühne gegangen. Niemand war Zeuge. Der blaue Mustang und weinrote Chrysler verließen Parkhaus.
der das
Die beiden Wagen passierten die Barriere und tauchten wenig später im Verkehrsgewühl unter. Kurze Zeit später fuhren sie Richtung französische Grenze. * Hermann Breitstetter legte die Morgenzeitung aus der Hand. Er saß allein in dem Gastraum. Eine angebrochene Flasche Bier stand vor ihm. Der Wirt war nirgends zu sehen. Er hielt sich in der Wohnung auf. Draußen war es windig und kühl. Der Himmel war bedeckt, und es sah nach Regen aus. Hermann Breitstetter erhob sich und starrte nachdenklich durch den Vorhang des Fensters hinaus in den mit Bäumen bestandenen Hof der Pension.
Eine wahrhaft makabre und mysteriöse Geschichte! Claudia Lickert befand sich in der Klinik und wurde einer Nervenbehandlung unterzogen. Breitstetter ließ sich diese Dinge noch mal chronologisch durch den Kopf gehen. Er benahm sich wie ein Kriminalist. Und genau das war dieser Mann auch, der in der Maske eines Biedermannes und
glücklichen Millionenerben hier in der Abgeschiedenheit auftrat. Breitstetter war Kriminalkommissar und bearbeitete das Resort Kapitalverbrechen bei der Kripo in Cuxhaven. In Wirklichkeit hieß Breitstetter auch nicht Breitstetter, sondern nur Stetter. Er hatte seinen Sommerurlaub geopfert, um in dieser Gegend ungestört vom kriminalistischen Alltag einige Wege nachvollziehen zu können, die ihm am Herzen lagen. Hier in dieser Gegend waren vor gar nicht allzu langer Zeit zwei Menschen spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen waren im Sand verlaufen. Doch Stetter alias Breitstetter, dessen Dienststelle den Fall zur Bearbeitung bekommen hatte, wurde das Gefühl nicht los, daß irgend etwas mit dieser einsamen und schlecht gehenden Pension nicht stimmte. Der Wirt war ein Mensch, über den er sich noch kein Bild machen konnte. Deshalb spielte er den Biedermann und erkundigte sich nach Land und Leuten. Ernst Martens stand unter dem Verdacht, zwei Menschen ermordet zu haben. Es gab einige Spuren, die einen solchen Schluß rechtfertigten. Doch außer einem Verdacht konnte man bis jetzt nichts weiter behaupten. Es fehlten die Beweise, und die wollte Breitstetter beschaffen. Von der anfänglichen Theorie, daß die beiden Verschwundenen Opfer des nahen Moores geworden sein könnten, hielt er gar nichts. Die in Frage kommenden Stellen
waren Zentimeter für Zentimeter abgesucht worden. Man hatte nichts gefunden. Auch in dem alten, verlassenen Bauernhaus und ebenso in der Mühle hatten die Beamten ohne Erfolg nachgesehen. Breitstetter stand mit beiden Beinen fest auf der Erde und glaubte alles andere als an Geister, Spuk und Spökenkieker, die gerade hier in dieser Landschaft so zahlreich wie nirgendwo anzutreffen waren. Doch das Erlebnis der letzten Nacht hatte ihn nachdenklicher gestimmt, als er sich eingestehen wollte. Peter Lickert schien ihm alles andere als leichtgläubig zu sein. Lickert behauptete, mit einem Mann gesprochen zu haben, der in der Mühle wohne. Aber das war ganz unmöglich! Er, Breitstetter, wußte genau, daß die Mühle unbewohnt war. In der Nacht und auch am Morgen hatte er leider keine Gelegenheit gefunden, diese Angaben zu überprüfen. Und gerade dieser mysteriöse Punkt war es wert, daß man ihn beachtete. Sobald er von Cuxhaven näheren Bescheid über den Zustand und eventuelle weitere Neuigkeiten über Claudia Lickert erfuhr, wollte er das Versäumte nachholen. Er ging an seinen Tisch zurück, holte seine Pfeife heraus und stopfte aus dem Tabaksbeutel einen wohlriechenden Virginia in den Pfeifenkopf. Die Tür hinter der Theke klappte.
Ernst Martens erschien auf der Bildfläche. Unter dem Arm trug er einige Flaschen diverser Spirituosen, die er in den Glasschrank hinter der Theke stellte. Der Austausch verbrauchter Flaschen erfolgte nur selten. Der Umsatz ließ zu wünschen übrig. Hier und da ein Korn, einen Kognak, gelegentlich ein Glas Likör für die Damen, wenn Spaziergänger sich so weit verliefen und im Schützenhaus einkehrten. Martens schob sein spitzes Kinn nach vorn, blickte an Breitstetter vorbei zum Fenster hin und meinte: „Wohl nicht das richtige Wetter heute zum Spazierengehen, wie? Oder ist Ihnen die Geschichte mit den Lickerts so in die Haut gefahren, daß Sie sich nicht mehr an die frische Luft wagen? Ist nicht nötig, so zu reagieren. Tagsüber kann da drüben nichts passieren." Er lehnte sich halb über die Theke, streckte wie ein Schulmeister den Zeigefinger aus und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Aber nachts sollte man in seinen vier Wänden bleiben, Herr Breitstetter. Ich meine, ich kann ruhig darüber sprechen. Ich tu's nicht gern, aber es liegt mir am Herzen, daß so etwas wie gestern nicht wieder vorkommt." „Haben Sie es geahnt," hakte der Kommissar sofort nach. Martens seufzte. Er kratzte sich am Kinn und sah bedrückt aus. Dieser Mann hatte Sorgen, nicht nur wirtschaftliche. „Geahnt, so kann man das wohl nicht nennen.
In der Mühle geht's nicht mit rechten Dingen zu. Das wissen alle." „Wer ist alle," „Die Leute aus dem Dorf, die Bauern. Sie machen einen großen Bogen um die Mühle." „Warum," „Weil's eben spukt." „Das beantwortet nicht meine Frage." „Eigentlich hätte ich gar nicht davon sprechen dürfen. Es bringt nur Nachteile mit. Aber da Sie sowieso schon gestern abend Zeuge wurden, ist es egal, ob ich davon rede oder nicht. Wahrscheinlich werden Sie so oder so abreisen. — In der Mühle hat vor rund hundert Jahren ein Mann namens Dirk Tössfeld gewohnt. Er hat die Mühle und den Hof von einem alten Ehepaar übernommen, das hier groß und alt geworden war und ohne einen Nachkommen zu hinterlassen seinem Lebensabend entgegensah. Dirk Tössfeld war ein Fremder, niemand kannte ihn hier. Die Alten vertrauten ihm und nahmen ihn auf. Er sollte die Mühle übernehmen. Nach dem, was man heute weiß, sollte er mit seiner Arbeitskraft die beiden Alten ernähren und sich bis an ihr Lebensende um sie kümmern. Tössfeld war ein fleißiger und guter Mensch. Solange die Alten noch lebten, klappte alles auf dem Hof und auch auf der Mühle. Die Kunden kamen, Tössfeld war beliebt. Er lernte ein Mädchen aus dem Dorf kennen und heiratete es. Alles schien gut zu werden. Die beiden Alten, denen die Mühle
immer noch gehörte, wurden eines Tages krank. Sie sollen beide sehr schnell hintereinander gestorben sein. Zu diesem Zeitpunkt kam das Gerede bereits auf, daß Dirk Tössfeld offenbar doch nicht der Mensch war, für den man ihn hielt. Böse Zungen behaupteten, er stünde mit Geistern in Verbindung und habe sie angerufen, um die beiden Alten, die ihn so gut behandelten, endgültig loszuwerden und ihren Besitz zu erben. Dirk Tössfeld sei ein Erbschleier, hieß es. Das böse Gerede griff um sich, das Gerücht begann zu wirken und Tössfeld die Auswirkungen zu spüren. Man mied ihn. Er blieb auf seinen Produkten sitzen, und die Mühle war nicht mehr ausgelastet. Dirk Tössfelds Frau war zu jenem Zeitpunkt schwanger. Die Aufregungen und das unsichere Leben, der Haß und die Beleidigungen jener Menschen, unter denen sie groß geworden war, zehrten an der Frau. Sie brachte eine Frühgeburt zur Welt. Es war ein Junge, und sie nannten ihn Dietrich. Frau Tössfeld hat sich von dieser Geburt nie wieder richtig erholt. Sie wurde Zusehens schwächer. Überall erzählte man sich, sie litte an Auszehrung, und das sei Teufelswerk. Sie würden bestraft werden für das, was sie den Alten angetan hätten, die es doch so gut mit ihnen gemeint hatten. Tössfeld bemühte sich vergebens, das Vertrauen und die Freundschaft jener Männer und Frauen zurückzugewinnen, die er einmal besaß. Aber man wandte sich von ihm ab. Seine Frau starb,
eineinhalb Jahre nach der Geburt ihres Sohnes. Alle hielten das für die gerechte Strafe, die ihr und Tössfeld widerfahren sei. Menschen können grausam sein. Dirk Tössfeld hatte das zu spüren bekommen. Er kämpfte um seine Existenz und um das Leben seines Sohnes. Er war allein auf sich selbst gestellt. Sein Leben war eine Plage. Niemand unterstützte ihn. Zeugenaussagen nach zu urteilen, soll man bis tief in die Nacht hinein im Haus Geräusche gehört und Licht gesehen haben. Das Verhalten seiner Umwelt habe Dirk Tössfeld später dazu veranlaßt, sich noch weiter zurückzuziehen. Das ehemalige Wohnhaus des Hofes verkam immer mehr. Es wurde nichts mehr daran getan. Tössfeld zog sich in die enge Mühle zurück. Dort soll er sich ganz dem Teufel und den bösen Geistern gewidmet haben. Zu nachtschlafener Zeit hörte man furchtbare Geräusche, Schreie und Stöhnen. Man vernahm finstere Beschwörungsformeln, und geisterhaftes Licht umhüllte die einsame Mühle. Dirk Tössfeld widmete sich der Schwarzen Magie, erzählte man. Angst bemächtigte sich der, Menschen. Tössfeld soll mit leibhaftigen Dämonen Umgang gehabt haben. Und — auch das erzählte man sich — seinen Sohn würde er in die Geheimnisse seiner unheilvollen und ruchlosen Künste einweihen. Er sollte das Erbe seines Vaters übernehmen. Eines Tages starb dann Tössfeld. Man sah, wie ihn sein Sohn hinter dem Haus in einer Totenkiste
beerdigte. Aber im und um das Haus und in der Mühle ist es niemals ruhig geworden. Dirk Tössfeld spukt noch immer auf seinem Hof, in seiner Mühle, die zu Lebzeiten schon zu seinem Gefängnis wurde. Jetzt, nach seinem Tod, empfängt er noch immer die unreinen Geister, die zu seinen einzigen Gefährten in der ihm aufgezwungenen Einsamkeit wurden. Man hört die Geräusche in der Mühle, die Stimmen, das Kichern und die unmenschlichen Schreie. Und man sieht Lichterscheinungen. Wer sich der Mühle nähert, läuft Gefahr, Dämonen zu begegnen, die Tössfelds Hexensprüche aus dem Höllenreich gerufen haben. Und er läuft nicht nur Gefahr, von ihnen besessen, sondern auch getötet zu werden. Die arme Frau Lickert! Ihr zerkratztes Gesicht, ihr blutender, geschundener Körper. Die Pranken eines Dämons müssen nach ihr geschlagen haben." Hermann, Stetter alias Breitstetter hatte den Wirt nicht ein einziges Mal unterbrochen. Zügig hatte der Mann seine ungeheuerliche Geschichte erzählt. Der Kommissar schüttelte den Kopf. „Unfaßbar! Hört sich an wie eine Horror-Story. Man kriegt's direkt mit der Angst zu tun. Weshalb haben Sie diese Geistergeschichte nicht schon früher erzählt." „Eben aus diesem Grund." „Aus welchem," „Daß es die Leute mit der Angst zu tun kriegen. Ich brauche Kunden, Gäste! Davon lebe ich.
Wenn die von vornherein wissen, was sie hier erwartet, dann packen sie erst gar nicht ihre Koffer aus." Ernst Martnes sah bleich und angegriffen aus. „Eine Frage noch, Herr Martens", bemerkte Breitstetter nachdenklich. „Ja, bitte?" „Der Sohn von Dirk Tössfeld. Sie haben mir nicht gesagt, was aus ihm geworden ist." Der Wirt zuckte die Achseln. „Keiner weiß das so genau. Sein Vater hat ihn aufgezogen und unterrichtet. Nach dem Tod des alten Tössfeld soll er aus der Mühle verschwunden sein. Einige behaupten, er streife als Landstreicher herum. Hin und wieder sieht man in dieser Gegend auch wirklich einen zerlumpten alten Mann. Er soll Dirk Tössfeld sehr ähnlich sein." „Woher weiß man das? Die Menschen, die heute hier leben, kennen den alten Tössfeld unmöglich vom Sehen. Das ist alles doch schon so lange her." „Die Alten haben es den Jungen weitergegeben, Herr Breitstetter. Die Alten haben Tössfeld genau beschrieben. Man hat ein Bild von ihm." „Ah, so ist das. — Und Sie haben den Landstreicher, den Dirk Tössfeld so ähnlich sein soll, auch schon gesehen?" „Ja." „In der Nähe der Mühle?" „Ja." „Am Tag?"
„Selbstverständlich. Nach Einbruch der Dunkelheit würde ich mich dort nicht mehr hinwagen. Die bösen Geister ..." „Ah ja, richtig. Das hatte ich schon wieder vergessen." Da schlug das Telefon an. Das Geräusch unterbrach das angeregte und ungewöhnliche Gespräch. Ernst Martens meldete sich. Dann nickte er. „Ja, ist hier. Einen Moment bitte." Er richtete den Blick auf Breitstetter und reichte ihm den Hörer. „Für Sie", wisperte er unnötigerweise. „Dr. Hargen, der Anwalt." „Na endlich", bemerkte Breitstetter einfach. Das war das Stichwort. Im Kommissariat in Cuxhaven war man auf Breitstetters Situation eingestellt. Angeblich rief hin und wieder ein gewisser Dr. Hargen an und gab sich als Breitstetters Anwalt aus. Das klang ganz natürlich, und niemand schöpfte Verdacht. Dr. Hargen war aber niemand anders als Herbert Hark, Breitstetters Stellverterter in Cuxhaven. „Ja, Breitstetter", meldete der Kommissar sich. Er konnte hier frei reden. Martens zog sich diskret in die Küche zurück, wo seine Frau hantierte. Herbert Hark hatte Neuigkeiten. Er kam direkt aus der Klinik, in die Claudia Lickert am frühen Morgen eingeliefert worden war. Er hatte mit dem Chefarzt und einem Psychiater gesprochen, der einige frühe Tests mit ihr vorgenommen
hatte und zu erstaunlichen Feststellungen gekommen war. Claudia Lickert war noch immer nicht in der Lage, sich zu äußern. Sie hatte die Sprache verloren. Ihr Schock war so heftig und umfassend, daß er nur durch ein ungeheuerliches Erlebnis ausgelöst werden konnte. Claudia Lickert war aber keineswegs so lethargisch, daß sie vollkommen unansprechbar gewesen wäre. Von sich aus versuchte sie sich mitzuteilen. „Dabei ist dem Psychiater aufgefallen, daß sie etwas zu Papier bringen wollte. Er hat ihr eine Tafel gegeben. Darauf hat Claudia Lickert das Bauernhaus und die Mühle gezeichnet, als sie gefragt wurde, wo ihr das Unheil zugestoßen sei. Und dann hat sie einen großen Frosch dargestellt und eine Frau, die vor diesem Ungetüm davonläuft." Herbert Hark war gut zu verstehen. Die Verbindung klappte vorzüglich. Mit einem Blick zur Seite vergewisserte der Kommissar sich, daß Ernst Martens noch immer in der Küche und damit außer Reichweite war. „Konnte Sie noch weitere Einzelheiten angeben", fragte Breitstetter schnell. „Schriftliche Hinweise?" „Merkwürdigerweise nicht. Sie hat anfangs versucht, zu schreiben, aber das mißlang. Die Buchstaben waren völlig verzerrt und unleserlich. Die Bilder waren keine Meisterleistung. Ich habe sie selbst gesehen. Doch man konnte immerhin erkennen, was sie
aussagen wollte. Auf die Frage, ob sie vor diesem Frosch geflüchtet sei, den sie so riesig dargestellt habe, hat sie genickt. Der Psychiater vermutet eine Phobie. Eine krankhafte Angst vor Fröschen." Breitstetter nickte. „Von den Viechern gibt es hier eine stattliche Anzahl. Gerade drüben im Moorgelände. Gut, man kann sich vor einem Frosch erschrecken, daß man schreiend davonrennt. Aber woher stammen ihre Verletzungen?" „Auch das scheint durch diese Bildtafeln geklärt, Hermann. Danach muß Claudia Lickert Unterschlupf im Schuppen gesucht haben. Dort ist sie in ein Loch gefallen und eine Zeitlang ziellos herumgeirrt. Sie kam durch einen Stollen, der in eine Art merkwürdiges Labor mündete. Dort hat sie den Riesenfrosch wieder eingezeichnet und wieder größer als sich dargestellt! Und jetzt kommt was ganz Komisches, Hermann: sie hat einen Tisch gemalt, einen Menschen darauf, gefesselt und aufgeschnitten, und sie hat wieder den Frosch vor den Tisch gestellt, mit einem großen Messer in der Hand. Offenbar floh sie durch dieses Gruselkabinett, mit dem weder der Psychiater noch wir hier im Kommissariat viel anfangen können. Interessant ist ihr Fluchtweg. Danach kam sie eine Treppe hoch. Von hier aus in die Mühle, fand die Tür verschlossen und zwängte sich durchs Fenster. Und jetzt der Abschlußgag: in den Wunden hat man tatsächlich winzige Glassplitter gefunden!"
Breitstetter Nacken.
kratzte
sich
im
„Wir können uns auf dies alles keinen Reim machen", fuhr Herbert Hark fort. „Wir hätten tausend Fragen zu stellen, jetzt wird das Verbrechen erst für uns interessant. Aber diese Fragen kann die Frau nicht beantworten. Auch Herr Lickert kann hier nicht einhaken. Er war nicht dabei, als das mit seiner Frau geschah. Er hat uns allerdings sehr detailliert seine Gefühle geschildert, die er in der Nähe der Mühle empfunden hat. Sie schwankten zwischen Angst und Grauen und Panik, und er geht sogar so weit zu behaupten, daß er fest überzeugt davon gewesen sei, in den schlimmsten Minuten seines Zustandes sei jemand in seiner Nähe gewesen, hätte er die Anwesenheit von irgend etwas gespürt." „Jetzt brat' mir einer aber einen Storch", entfuhr es Breitstetter. „Warum? Deckt sich das mit deinen Überlegungen? " „Nein, aber es paßt zu der Gespenstergeschichte." „Was für Gespenstergeschichte?"
eine
„Darüber kann ich jetzt nicht sprechen. Ich erzähle dir ausführlich davon. Ein andermal. Ich werde mir jetzt erst mal die Mühle ansehen, und dann melde ich mich wieder." „Genau das wollte ich dir vorschlagen. Näher als du ist im Moment keiner von uns. Wenn du Verstärkung brauchst..." „Erst mal schönen Dank, daß du mir das Denken abnimmst", sagte
Breitstetter, und seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. „Aber zunächst mal bist du mein Stellvertreter und nicht mein Nachfolger. Ich habe noch kein Interesse daran, meinen Stuhl aufzugeben. Jetzt führe ich mir erst mal eine anständige Portion von Mutter Martens' Hausmannskost zu Gemüte, und dann mache ich einen Spaziergang. Zur Mühle. Dort untersuche ich jeden Zentimeter Boden, um festzustellen, wie ernst die Bildergeschichte von Frau Lickert wirklich ist." * Es war grau. Ein regnerischer Tag. Hin und wieder fielen ein paar Tropfen. Breitstetter trug einen Wettermantel und einen Hut, in der Rechten schwenkte er einen Spazierstock. Der Kommissar ging den Weg, den er immer ging. Kein anderer führte hier aus dem Wald. Er stieß dann auf eine Lichtung. Noch ein paar Bäume, Büsche, Sträucher, hie und da eine Gruppe Birken, als müßten sie mit ihren schwarzweiß gefleckten Stämmen eigenwillige Farbtupfer in die Landschaft setzen — und Breitstetter erreichte diese Wiese. Grau und sich kaum vom verwaschenen Himmel abhebend sah er das reetgedeckte Haus. Dahinter groß, alles überragend die Mühle. Ebenfalls grau. Und baufällig. Breitstetter beobachtete die düstere Landschaft und mußte an die gruselige Geschichte denken, die Martens ihm erzählt hatte. Komische Sache das ...
Zuerst sah er sich das Haus an, in dem Dirk Tössfeld anfangs gelebt hatte. Alles war verstaubt, verdreckt und baufällig. Windschief hingen die Fensterladen an den Fenstern, die Türen waren aus den Angeln gerissen. Das Dach hatte so gut wie keine Funktion mehr. Es schützte das Innere nicht mehr vor Wind und Wetter. Ungehindert konnten Regen und Schnee, Wind und Sonnenschein eindringen und ihr permanentes Zerstörungswerk verrichten. Die Treppe, die in die oberen Räume führte, war schon so baufällig, daß es riskant war, einen Fuß daraufzusetzen. Breitstetter ging hinüber zur Mühle. Sachlich versuchte er sie so zu sehen, wie er sie auch bisher betrachtet hatte. In der Nähe des Eingangs befand sich ein schmales, altes Fenster. Es war riesig, und das Holz war vermodert und faul. So war auch die Tür. Mit einem einzigen Fußtritt konnte man sie eintreten, und sie flog scheppernd zurück. Der Kommissar fand weder Glasscherben, die Claudia Lickerts Version bestätigt hätte, noch fand er das große und neue Namensschild, von dem Peter Lickert erzählt hatte. Zwar stieß er auf eine ausgefranste, stockfleckige Mulde in dem fauligen Holz und mit etwas Fantasie konnte man sie vorstellen, daß hier mal ein Schild befestigt gewesen war. Doch sicher war dies nicht. Und den Namen Tössfeld entdeckte er schon gar nicht.
Der Kommissar stieß hörbar die Luft durch die Nase und schob seinen Hut, in den Nacken. „Einer ist verrückt. Entweder die anderen oder ich", meinte er im Selbstgespräch, während er seinen Blick in die Runde schweifen ließ. „Oder aber die Welt ist nicht mehr in Ordnung!"
Björn hob den Blick. Was er sah, erinnerte an die Kulisse eines schlechten Gangsterfilms.
* Als Björn Hellmark wach wurde, fühlte er Übelkeit in sich aufsteigen. Er glaubte sich übergeben zu müssen.
An seinem Finger ein beachtlicher Ring, der ein Goldgewicht von mindestens zweihundert Gramm auf die Waage brachte.
Er mußte eine gehörige Portion Chloroform inhaliert haben. Wo bin ich? Warum bin ich hier? Diese beiden Fragen drängten sich ihm zuerst auf, als seine Umgebung sich aus dem Nebel schälte. Er befand sich in einem prächtig eingerichteten Salon. Kostbare Möbel, Teppiche und Bilder. Das war sein erster Eindruck. Dann eine Stimme. „Ah, sieh einer an! Unser Wickelkind. Jetzt wird es wach." Die Stimme klang spöttisch. Hellmark erkannte, daß er in einem dickgepolsterten Sessel saß. Hände und Füße waren gefesselt. Er konnte sich keinen Zentimeter regen. Aber er konnte den Kopf drehen. Zwischen dem Deutschen und seinem unbekannten Gastgeber befand sich ein Tisch mit einer armdicken Marmorplatte. Darauf standen eine Whiskykaraffe und zwei Gläser. In einem Glas funkelte noch ein Schluck Bourbon.
Ihm gegenüber saß, die Beine übereinandergeschlagen, ein gutgenährter Mann. Er trug einen hellen, fast weißen Anzug, ein marineblaues Hemd, dazu eine weiße Krawatte.
Hinter dem Mann im Sessel stand ein Typ mit einer Lockenfrisur. Die Löckchen schien er sich mit einer Brennschere gebrannt zu haben. Der Mann bewegte keine Miene. Er stand da wie eine Statue. Als Dekoration hing eine Maschinenpistole, auf die ein Schalldämpfer aufgeschraubt war. über seinem rechten Unterarm. Der im Sessel grinste ölig. „Nett, daß Sie endlich ausgeschlafen haben, mein lieber Freund! Wir haben uns schon Sorgen um Sie gemacht. Es hat uns ein bißchen lange gedauert. Aber mit solventen Kunden nehmen wir uns gern Zeit. Es lohnt sich." Hellmark preßte die Augen mehrmals fest zusammen, als wolle er die Schleier vertreiben. Er hatte einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. „Ich fürchte, Sie haben sich bei der Auswahl Ihres Schauspielers geirrt. Da muß es jemand geben, der mir verdammt ähnlich sieht", bemerkte Hellmark mit eisiger Stimme. Der im Sessel grinste von einem Ohr zum anderen. „Aber Monsieur", sagte er, hob die Hand und ließ sie
gespreizt auf seinen dicken Schenkel fallen. „Sie glauben doch nicht, daß ich einen Fehler in der Besetzung mache? Aber nein! Sie sind genau der Mann, den ich brauche. Sie sind im richtigen Studio. Hier wird der Film gedreht: Ein Toter kehrt zurück." Etwas in der Stimme klang lauernd: Hellmark wurde hellhörig. Trotzdem ließ er sich eine besondere Aufmerksamkeit nicht anmerken. „Ein interessanter Streifen. Horrorfilme sind beliebt beim Publikum." „Richtig. Und deshalb haben wir Björn Hellmark alias Bernd Hellmer engagiert. Was sagen Sie dazu?" Dunkle, verengte Augen blitzten ihn an. Hellmark blieb ungerührt, obwohl eine Alarmglocke in ihm anschlug und ihm zu erkennen gab, daß dieses Gespräch unangenehme Folgen haben konnte. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden", sagte er einfach. Er gab sich ruhig. In seinem Innern aber brodelte ein Vulkan. Was wußte der vor ihm Sitzende wirklich? Bluffte er nur? Für einen Bluff allerdings hatte er schon eine zu genaue Andeutung gemacht. Der ölige griff nach seinem Glas. Er deutete auf das zweite unbenutzte. „Das ist für Sie, Monsieur! Wenn wir handelseinig werden, und wie ich mich kenne, schaffen wir das." Dann erzählte er, daß er auf Grund langwieriger Recherchen, die er und seine Leute angestellt hätten, herausgefunden
habe, daß er, Hellmark, niemand anders sein könnte als jener Rennfahrer, der seinerzeit beim Grand Prix in Südfrankreich tödlich verunglückte. „Zufällig war ich dabei. Das Rennen war eine aufregende Sache, Monsieur Hellmark. Daß Sie unter einem Pseudonym an den Start gingen, kann ich noch verstehen. Nicht verstehen allerdings kann ich, weshalb Sie so versessen darauf waren zu verschweigen, daß Sie den Unfall doch überstanden haben. Das muß doch seinen Grund haben. Sicher wollen Sie, daß dies ein Geheimnis bleibt, nicht wahr? Und ich kann mir vorstellen, daß es Ihnen einiges wert ist, dieses Geheimnis zu erhalten!" Daher also wehte der Wind. Hellmark blieb äußerlich ruhig. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er war einer kriminellen Gruppe in die Hände gefallen, die in der noch gar nicht so fernen Vergangenheit seines Lebens herumgeschnüffelt hatten. Und sie waren fündig geworden. Die Gefahr, daß allgemein bekannt wurde, daß jener Björn Hellmark, der seinerzeit angeblich im kleinsten Familienkreis beigesetzt worden war, in Wirklichkeit noch lebte konnte, einigen Wirbel verursachen. Genau das aber durfte nicht der Fall sein! Alles war bis ins Detail ausgeklügelt, um die Öffentlichkeit zu täuschen. Dieser Vorschlag war von Al Nafuur gekommen, damals, als sein Leben an einem seidenen Faden hing.
Heute wußte er, weshalb diese Täuschung notwendig geworden war. Die Menschen, die von dem Vorfall wußten, waren damit irritiert worden. Unter diesen Menschen gab es Feinde, welche die menschliche Seele besaßen oder die nur menschliche Gestalt angenommen hatten. Seine Feinde waren es, die Dämonen, die Abgesandten finsterer Mächte. Aber in der Vielzahl handelte es sich hier um niedere Geister, die nur geringe Macht besaßen. In Scharen aufgetreten, wurden diese Geister aber zu einer Plage, die ihn ständig irritierten, quälten und sogar verletzten. Er brauchte aber freie Hand, um den höheren Geistern Widerstand entgegenzusetzen, um den Gefahren, welche ihm hier drohten, ins Auge sehen zu können. Anfangs hatte es ihn gewundert, daß er dieses Täuschungsmanöver zwar durchführen, aber dabei seinen alten, wirklichen Namen behalten sollte. Seiner Meinung nach wäre es doch besser und sicherer gewesen, einen neuen Namen anzunehmen und unter dem fortan zu leben. Doch Al Nafuur hatte ihm das erklärt. Der Name tat nichts zur Sache. Seine Gegner richteten sich nicht nach dem Namen. Es gab für sie andere Kriterien, denjenigen aufzuspüren, dessen Leben sie zur Hölle machen wollten. Die Wahrnehmungen der Menschen, die sie wie Wirtschaftskörper benutzten, waren maßgebend und spielten dabei eine große Rolle. Aufgrund dieser Wahrnehmungen
existierte für sie nicht mehr jener Björn Hellmark, der durch die Manipulationen des MonsterMachers Konaki angeblich ums Lebens gekommen war. So war Hellmark vorerst vor diesen Mächten gefeit. Vorerst! Es blieb abzuwarten, ob dieser Zustand, wo das Heer der niederen Dämonen und jener Menschen, die ihm übel wollten, wirklich auf Distanz gehalten wurde, damit er sich auf seine große Aufgabe konzentrieren konnte. Aber nun war doch etwas passiert, was er nicht erwartet hatte. Kriminelle hatten seine wahre Identität gelüftet. „Nachdenklich geworden?" höhnte die Stimme des Mannes im Sessel. „Das ist schon ein Vorteil. Wir haben lange gebraucht, bis wir Ihnen auf die Schliche gekommen sind. Dann mußten wir einen Weg finden, um Sie abzupassen. Schnell und ohne großen Wirbel zu veranstalten mußten wir Sie in die Hände bekommen. Das war nicht ganz einfach, Monsieur Hellmark." Der Sprache nach war der Mann ein Franzose. „Sie sind oft unterwegs. Wir fanden heraus, daß es am besten wäre, Sie abzufangen, wenn Sie mal wieder zum Flughafen führen. Und das haben wir gemacht. Das Warten hat sich gelohnt! Große Fische brauchen immer etwas länger, ehe sie an der Angel hängen. Aber nun ist's geschafft. Dafür, daß wir Sie in unseren Club aufnehmen und nicht weitererzählen, daß wir einige recht interessante Sachen über Sie erfahren haben, erwarten wir einen besonderen Beitrag für die
Mitgliedschaft. Wir haben an eine kleine Spende von einer runden Million gedacht! Jahresbeitrag!" „Sie sind verrückt", entfuhr es Björn Hellmark. Der ölige schien das nicht gehört zu haben. „Dabei handelt es sich selbstverständlich um eine Anfangssumme. Wir müssen flexibel bleiben, müssen Sie verstehen. Steigende Steuern, Geldentwertung, zunehmende Unkosten überall — auch meine Angestellten wollen leben — das erfordert schon hin und wieder eine kleine Veränderung. Keiner von uns tritt gern auf der Stelle." Der Mensch war widerlich. Hellmark wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen. Wie viele Opfer mochte er schon an der Leine führen? Hier wurde mit Mafia-Methoden gearbeitet. „Ich will Ihnen gleich die Vorund Nachteile aufzählen", fuhr der ölige fort und stellte demonstrativ sein leeres Whiskyglas auf die dicke Marmortischplatte. „Wenn wir handelseinig werden, woran ich nicht zweifle, denn ich halte Sie für einen vernünftigen Menschen, dann werden Sie auf der Stelle freigelassen. Sie können gehen, wohin Sie wollen. Werden wir nicht einig, dann sieht die Sache schon etwas komplizierter aus. Ich bin kein Freund langer Reden." Die dunklen Augen des Anführers waren unablässig auf ihn gerichtet. „Ich werde Ihnen deshalb in diesem Fall nicht lange gut zureden. Ich werde handeln! Zuerst werden wir Ihre Freundin vorknöpfen. Die kleine Brasilianerin ist verdammt hübsch, und es wäre
doch wirklich schade, wenn sie etwas von ihrer Schönheit einbüßte. Wenn ihr zum Beispiel ein Finger fehlte oder ein Ohr — gräßlich, nicht wahr?" Hellmark antwortete nicht. Scheinbar aufs äußerste konzentriert, lauschte er den Ausführungen seines Gegenüber. Aber diese Konzentration galt nicht den häßlichen Worten. In Björn Hellmark ging etwas ganz anderes vor... Den Kerlen, denen er in die Hände gefallen war, mußte so schnell wie möglich das Handwerk gelegt werden. Hier arbeitete eine Gruppe der Mafia. Und sie arbeitete mit deren Methoden, unbarmherzig, kalt und skrupellos. Der Anführer war dabei, weitere unappetitliche Einzelheiten für den Fall aufzuzählen, wenn Hellmark sich nicht von Anfang an fügte. „Und wenn Sie Mätzchen machen sollten — vorausgesetzt, Sie tun nur so und gehen zum Schein auf unser Angebot ein — dann endet das mit einer Katastrophe", fuhr der andere kaltlächelnd fort. „In diesem Fall werden Sie zum Abschreckungsbeispiel. Irgendwann und irgendwo wird man ihre von Maschinenpistolen zerfetzte Leiche finden. Aber dazu wird es wohl nicht kommen. Die wenigsten lassen sich darauf ein. Dieser Weg ist auch endgültig, es gibt dann keine Rückkehr mehr, und wer wagt das schon, nicht wahr?" „Eben", bemerkte Hellmark mit leiser Stimme. Er triumphierte innerlich. Es gelang! Das, was er
vorhatte, nahm im wahrsten Sinn des Worte Gestalt an. Björn Hellmark verdoppelte sich. Aus dem Nichts bildete sich ein Doppelkörper, der unmittelbar neben dem Bewaffneten vor der Tür erstand. Die Kopierung gelang glatt und ungewöhnlich schnell. Hellmarks Originalkörper, sehr oft bei diesen Verdoppelungsvorgängen geschwächt und fast durchscheinend und leblos werdend, sah man nichts an. Weder der Anführer noch der Bewaffnete bekamen im ersten Moment mit, daß hier etwas geschah. Es ging völlig lautlos vonstatten. Und so gab es mit einem Mal nicht mehr nur einen Björn Hellmark, sondern deren zwei. Macabros war erstanden! Und Macabros handelte! Seine Rechte kam blitzschnell in die Höhe. Der an der Tür sah nicht mal den Schatten, der sein Gesicht streifte. Macabros traf die richtige Stelle. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte der Bewacher der Szene in die Knie. Macabros entriß ihm die geladene und entsicherte Maschinenpistole. Der ölige im Sessel warf den Kopf herum. Instinktiv fühlte er, daß es plötzlich hier etwas gab, was eigentlich nicht sein durfte und konnte. Die Mundwinkel des Gangsters klappten herab.
„Aber... das ist doch ..." Sein Blick irrte von Hellmark zu Macabros. Beide glichen sich wie ein Ei dem anderen. Der ölige schraubte sich aus dem Sessel hoch. Die Maschinenpistole in Macabros' Hand war genau auf die Brust des Gangsters gerichtet. Der Franzose wurde erst blaß, dann puterrot. „Das ist mein Zwillingsbruder", bemerkte Björn Hellmark. „Ich habe von Anfang an gesagt, daß Sie sich getäuscht haben! Ich bin nicht der, für den Sie mich halten! Der Mann, den Sie erpressen wollten, ist tot!" „Aber, aber..." Der Gangster schwitzte. Die Tatsache, daß es einen Zeugen dieser Zusammenkunft gab, machte ihn nervös, zumal er keine Erklärung für dieses gespenstische Ereignis fand. „Nehmen Sie ihm sofort die Fesseln ab", sagte Macabros da. Die Stimme war identisch mit der Björn Hellmarks. Macabros hob demonstrativ die Maschinenpistole an. „Und machen Sie keinen Unfug! Ich habe einen nervösen Zeigefinger!" Der Gangster griff sich an den Knoten seiner blütenweißen Krawatte, lockerte ihn und öffnete den oberen Hemdknopf. Der Franzose, der die ganze Zeit den dicken Gangsterboß gespielt hatte, machte plötzlich einen kranken und kraftlosen Eindruck. Ganz unter dem Bann des rätselhaften Geschehens stehend, war er nur zu gern bereit, all das
zu tun, was verlangte.
man
von
ihm
Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu! Die Person Hellmarks steckte voller Rätsel und Geheimnisse. Daran mußte er denken, als er mit zitternden Fingern die Fesseln löste. Björn Hellmark war frei. Sofort erhob er sich. Sein Doppelkörper stand in Reichweite von ihm entfernt wie ein Spiegelbild, und doch bewegte er sich anders, stand er da in einer anderen Haltung und beobachtete den Gangsterboß, der mit einem Male nur noch um sein nacktes Leben besorgt war und kein großes Interesse mehr an seinem Supergeschäft zu haben schien.
schienen ihm vor Verwunderung, Ratlosigkeit, Verwirrung und Angst aus dem Kopf zu fallen. Macabros näherte sich dem Originalkörper. Der ungeheuerliche Trick, den Björn angewendet hatte und den er nun zu Ende führte, hatte die Situation für ihn gerettet. Der Ätherkörper veränderte sein Aussehen. Er wurde milchigweiß, dann durchscheinend, nahm etwas Geisterhaftes an und zerfloß. Der Gangster stöhnte. Der Schweiß perlte über sein glattes, feistes Gesicht.
Björn Hellmark machte kurzen Prozeß. Er forderte den Gangster auf, nacheinander seine Leute in den Salon zu rufen. Der Franzose war folgsam wie ein Lamm. Immer wieder starrte er ungläubig auf Hellmark und auf die Gestalt, die ihm so ähnlich war, und man sah ihm förmlich an, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Doch eine Lösung fand er nicht.
Macabros verschmolz mit Björn Hellmark. Der Ätherkörper wurde vom Originalkörper aufgenommen. Über mehrere Minuten lang hatte Hellmark alias Macabros den Zustand des sogenannten „MajaviRupa" aufrechterhalten. Dieser Zustand war keine Selbstverständlichkeit. Er erforderte das absolute Höchstmaß an Kräfteverschleiß und Konzentration. Beim „Majavi-Rupa" waren beide Körper, sowohl das Original als auch der ausgeschiedene Doppelgänger lebendig, und ansprechbar.
Hellmark trieb das Spiel — und damit die Verfassung des Seelenzustandes des Gangsters — auf einen neuen Höhepunkt.
Normalerweise war nach der Ausscheidung des Ätherkörpers von Hellmark sein Originalkörper geschwächt und kaum lebensfähig.
Er konzentrierte sich auf seinen Doppelgänger, der zu voller Stärke materialisiert war. Und nun löste er ihn wieder auf.
Der Gangster riß Mund und Augen auf. Wie durch Zauberei lag die schwere Maschinenpistole nun in der Hand des Mannes, den er, der Franzose, erst vor wenigen Sekunden von seinen Fesseln befreit hatte.
Das Bild, das sich bot, war einmalig. Der Mafiosi bekam jede Einzelheit mit, und die Augen
„Das gibt es nicht... das ist unmöglich ... Halluzination! Sie hypnotisieren mich, in Wirklichkeit...", stammelte der Erpresser und Entführer und brachte keinen vernünftigen Satz zusammen. „Es ist keine Halluzination und keine Hypnose", warnte Hellmark ihn. „Ich würde es an Ihrer Stelle nicht darauf ankommen lassen, es auszuprobieren. In dem Augenblick, wo ich abdrücke, zerfetzt die Garbe Ihren Bauch." Er redete die harte, skrupellose Sprache der Mafiosi. Die verstand man hier am besten. Und der Gangsterboß wußte, woran er war.
Bevor Björn alle fein säuberlich wie die Heringe in der Dose nebeneinander liegen hatte, rief er die Kantonspolizei an. Vom Anführer der Verbrecherorganisation hatte er sich eine genaue Beschreibung des Standortes der Villa geben lassen, damit die Beamten nicht erst lange suchten mußten. Der Gangsterboß kochte innerlich, aber er stand noch sehr unter dem Eindruck der mysteriösen Ereignisse, daß er alle Forderungen erfüllte.
* Es lief alles glatt und nach Hellmarks Plan über die Bühne.
Eine Viertelstunde später hatte Hellmark offensichtlich alle Galgenvögel dingfest gemacht. Die Beamten trafen in einer Stärke von fünfundzwanzig Mann ein. Sie kamen mit vier Fahrzeugen, mit denen sie das Gebäude und die beiden Ausgänge kontrollierten.
Der Gangsterboß rief seine Leute herein. Einen nach dem anderen. Hellmark schlug sie nieder und ließ sie dann von dem Erpresser fesseln. Er wollte nicht das geringste Risiko eingehen und verhinderte durch seine konsequente Art auch, daß jemand lautstark um Hilfe schreien oder sonstwie ein Warnsignal geben konnte. Björn kontrollierte den Sitz der Fesseln genau. Insgesamt gingen ihm auf diese Weise acht fette Fische ins Netz, die hier in der Villa, fünf Kilometer von der französischen Grenze entfernt, ihr Domizil aufgeschlagen hatten und ein feudales Leben führten.
Auch der Anblick der ständig auf ihn gerichteten Waffe war nicht dazu angetan, sein moralisches Tief zu heben.
Doch die Männer fanden vollendete Tatsachen vor. Sie brauchten die Gauner nur noch abzutransportieren. Hellmark erklärte dem Einsatzleiter die Lage und die Situation, die dazu geführt hatte. Jetzt war erst mal die Vernehmung dieser Erpressergruppe vorrangig und die Untersuchung des feudalen Hauses, das sie bewohnte. Sicher würde man erstaunliches Material zu Tage fördern. Hellmark selbst erklärte sich bereit, eine umfassende Aussage zu machen. Allerdings erst in zwei
oder drei Tagen, wenn er wieder in Genf zurück sei. Als der den Einsatz leitende Beamte die Umstände erfuhr, erklärte er sich umgehend bereit, Björn Hellmark zum Flughafen zu fahren, damit er von dort die Reise antreten konnte, die durch widrige Umstände unterbrochen wurde. Björn nahm sofort an.
dieses
Angebot
Der Obergangster, inzwischen Handschellen als Verzierung tragend, blickte ihm haßerfüllt nach. „An mich werden Sie sich noch erinnern", stieß er hervor. „Wir werden uns noch mal begegnen!" „Ich hoffe nicht. Ich glaube schon, daß man genug findet, um Sie lebenslang von der Gesellschaft fernzuhalten", entgegnete Björn Hellmark umgerührt. „Ich heiße Gilbert. Merken Sie sich den Namen gut!" Jetzt, wo alles vorbei war, schien sein alter Mut wieder zurückzukehren. „Gilbert! Damit sie immer an mich denken!" Er spuckte Hellmark vor die Fußspitzen. Björn reagierte nicht. „Mir reicht Ihr Gesicht", sagte er einfach. „Ihre miese Visage behält man sowieso in Erinnerung!" * Die zweistrahlige Maschine war silbergrau. Am Rumpf stand in klaren, tiefschwarzen Buchstaben der Name Feuervogel. Björn, ein leidenschaftlicher Flieger und Pilot, hatte seinen Pilotenschein mit Vollendung des 21. Lebensjahres gemacht. Ein Unternehmen von der
Größe und der Ausdehnung der Hellmarkschen Werke, war einfach auf Privatflugzeuge angewiesen. Termine mußten wahrgenommen werden, bei denen man unabhängig vom konventionellen Flugplan der Fluggesellschaften war. So war Björn schon früh mit der Fliegerei vertraut. Sein Vater, Alfred Hellmark, ein reicher Industrieller, hätte es gern gesehen, wenn Björn das Management der Firma übernommen hätte. Die Ausbildung des intelligenten Sohnes war ganz darauf abgestimmt gewesen. Doch Björn Hellmarks Leben galt einer anderen Aufgabe. Die Maschine war drei Jahre alt, und er hatte mit ihr rund eine Million Flugkilometer hinter sich gebracht. Mit einer Dauergeschwindigkeit von knapp achthundert Kilometern pro Stunde jagte Hellmarks Feuervogel in einer Höhe von 3800 Meter Richtung Hamburg. * Hermann Breitstetter machte sich ein zweites Mal die Mühe, Schuppen und Mühle genau anzusehen in der Erwartung, er könne möglicherweise etwas übersehen haben. Aber auch jetzt fand er alles so vor wie beim ersten Mal. Keine Falltür, keinen Geheimgang, keinen Stollen, durch den Claudia Lickert angeblich geflohen war.
Breitstetter seufzte und setzte seinen Spaziergang in der näheren Umgebung fort.
sogar verstärkt, und es schien schon mehr Abend als Nachmittag zu sein.
Er kannte hier jeden Fußbreit Boden. Seine Spaziergänge in der letzten Zeit hatten ihn oft durch diese Gegend geführt. Aber zum ersten Mal sah er sie mit ganz anderen Augen und Gefühlen.
Die Umgebung strömte etwas Geisterhaftes, Verlassenes aus. Die Landschaft war merkwürdig. Wenn die dunklen Wolken so tief herabhingen, wenn man die glatten Stämme des Waldes vor sich sah, die zerfallene Kulisse des Bauernhauses, des Schuppens und der Mühle, die sowieso wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit wirkte, dann konnte er die Leute verstehen, die von diesem Fleck Erde so seltsame Geschichten erzählten. In seiner Einsamkeit und Verlassenheit strahlte dieser Ort tatsächlich Beklemmung und Gespenstigkeit aus.
Nachdenklich näherte er sich dem brackigen Tümpel, der ursprünglich ein Bombenkrater gewesen war und noch vom letzten Krieg herrührte. Unkraut und Schilf wuchsen hier. Von einer dichten Algendecke war die Wasserfläche fast zugewachsen. Als Breitstetter sich näherte rannte eine große Spinne mit ihren langen Beinen über das Blattwerk und verkroch sich irgendwo im Gewirr der Pflanzen. Die Wasseroberfläche bewegte sich, unter einem Blatt tauchte ein Frosch empor, hing reglos im Wasser, und nur die großen Augen mit der hellen Nickhaut bewegten sich und schienen den einsamen Mann, der am Rande des Tümpels auf einem abgesägten alten Baumstumpf Platz nahm, zu beobachten. Es war vier Uhr nachmittags. Breitstetter warf einen Blick auf seine Armbanduhr, als er seine Pfeife hervorzog, sie stopfte und den Tabak anzündete. Er schmauchte vor sich hin, starrte in eine Ungewisse Ferne und hing seinen Gedanken nach. Der Himmel war noch immer grau, die Wolkendecke hatte sich
Und dann die Stille... Nicht mal die Vögel zwitscherten. In der ungewöhnlichen Ruhe nur hin und wieder leises Glucksen, wenn ein Frosch an die Oberfläche des Tümpels kam, um nach Luft zu schnappen. Es raschelte... Das Geräusch war so ungewöhnlich und wirkte in der allgemeinen Stille so laut, daß Breitstetter nach der Ursache sah. Es wurde von Fröschen verursacht, die es hier in Unmengen gab, stellte er fest. Es waren dunkle Moorfrösche und grünere Laubfrösche. Sie waren in einer so großen Zahl vorhanden, daß er sich fragte, woher die wohl kamen. Ein richtiger Froschregen.
Sie krochen und hüpften auf ihn zu. Und sie kamen sogar aus dem Tümpel. Zu Hunderten.
Schwer und naß und klebrig hingen sie an ihm. Eine ganze Wand baute sich vor ihm auf.
Um ihn herum lebte, atmete und quakte es. Breitstetter wurde unruhig, und die Situation langsam unheimlich. Er erhob sich, um zu gehen. Sein Fuß trat auf etwas Weiches, Nachgiebiges. Er zerquetschte einen Frosch... Kein Zentimeter Boden mehr um ihn herum war frei.
„Verdammt noch mal!" Hermann Breitstetter schlug um sich. Er fühlte die kalten, glitschigen Körper unter seiner Hand, zwischen seinen Fingern. Er schüttelte sie von sich. Aber wenn es ihm gelang, drei, vier oder fünf von seinem Mantel abzupflücken, sprangen zehn, fünfzehn andere wieder in die Höhe.
Er erschauerte, als er daran dachte, daß er durch ein Meer von quakenden Fröschen wandern mußte, ehe er wieder zum Pfad kam. Es drängte ihn, so schnell wie möglich von hier wegzukommen, Gefahr lag in der Luft. Warum waren mit einem Mal so viele Frösche da? Was wollten sie hier? Weshalb umringten sie ihn? Sie beobachten ihn, sie wollten etwas von ihm! Breitstetter erschreckte vor seinen eigenen Gedanken. Er begriff seine Überlegungen nicht und nicht die Ängste, die ihn erfüllten. Er machte den nächsten großen Schritt, und fürchtete sich davor. Unter ihm krachte und knartschte es. Die Todesschreie der Frösche hallten wie Hilferufe durch die trübe, mit eigenartiger Atmosphäre geladene Luft. Breitstetters Kopfhaut zog sich zusammen. Und dann kam der Angriff! Sie sprangen ihn an...
Sie hockten auf seinen Schultern, krochen in seine Ärmel, auf seinem Kopf herum und glitten in seinen Nacken. Der Angriff der Frösche! Gänsehaut bedeckte seinen Körper. Frösche sprangen in sein Gesicht. Ihr Gewicht riß ihm die Pfeife aus dem Mund. Breitstetter löste sich aus dem Bann. Er schlug um sich. Er schüttelte sich und trat. Breitstetter taumelte. Er wich zurück. Das Gewicht auf seinem Körper war beachtlich. Er atmete schwer. Er merkte, daß er es allein nicht schaffte. Hunderte, Tausende von Fröschen waren eine Macht, die man sich nicht vorstellen konnte. Hermann Breitstetter fing an zu schreien. Da kroch etwas in seinen Mund. Groß, glatt, kalt. Der Kommissar riß die Augen auf. Einer, nein zwei Frösche saßen ihm in der Kehle. Er konnte nicht mehr atmen. Er zog vergebens nach Luft. Vor den Augen des Unglücklichen
begann sich alles zu drehen. Er fühlte kalte, zuckende Körper überall um sich herum und stürzte zu Boden. Schilf schlug über ihm zusammen. Brackiges Wasser spritzte als Fontäne empor. Blau angelaufen und mit weit aufgerissenen Augen stürzte Hermann Breitstetter in den Tümpel. In die vielen tausend Frösche, die den Tümpel belagerten, geriet Bewegung. Sie hüpften davon. Es bildete sich eine Gasse. Ein großer Schatten. Der Meister kam. Konga, der Menschenfrosch. Wie ein Berg wirkte er zwischen den atmenden, quakenden Leibern, die mit hellen Stimmen frohlockten, daß der Gegner besiegt war. Kongas Rechte mit den durchscheinenden Schwimmhäuten zwischen den Fingern tauchte in den Tümpel. Der Menschenfrosch fand den versinkenden Leib des Kommissars auf Anhieb. Der unheimliche, menschenleere Ort rund um die verhexte Mühle war zum Tummelplatz der Geister geworden. In der allgemein herrschenden Dämmerung wickelte sich ein gespenstisches Treiben ab. Konga zog den Kommissar aus dem Tümpel und schleifte ihn über den Grasboden. Breitstetters Augen waren noch immer aufgerissen. Aber die riesengroßen Pupillen nahmen nichts mehr wahr. Breitstetter war tot! Nun würde sein Platz in
Cuxhaven doch vorzeitig von seinem Stellvertreter Herbert Hark eingenommen werden. Breitstetter hatte die Gefahr und die Lage unterschätzt. Konga ließ den schlaffen, durchnäßten Körper los. Nicht ein einziger Frosch hockte mehr auf dem Leichnam. Dem lautlosen, mysteriösen Befehl des Meisters folgend waren sie gewichen. Sie waren nur niedere Geister und benutzten die Körper der Frösche, um die Menschen zu belauschen, um so getarnt in ihrer Nähe zu sein. Hermann Breitstetter war nicht ertrunken, er war erstickt. Sein Mund war prall gefüllt. Heraus hing das Hinterteil eines langbeinigen Frosches. In seiner Panik und seinem Todeskampf hatte Breitstetter einfach zugebissen und den Frosch genau mitten durch. Die hintere Hälfte hing nur noch an dünnen Sehnen und Hautfetzen von seinen Lippen herab. * Konga, der Menschenfrosch, bückte sich und nahm den leblosen Körper auf. Er brachte ihn in die Mühle. Im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends zeigte sich das unheimliche Haus verändert. Es wirkte nicht mehr so alt, so baufällig. Die Tür schien massiver zu sein als zu dem Zeitpunkt, da der Kommissar hierher gekommen war, um nach dem rechten zu sehen.
Die Atmosphäre war unheimlich. Dies hier war ein Ort, wo Geister und Dämonen zu Hause waren! Konga ging durch die Tür, und neben dieser Tür hing ein Schild. Frisch und sauber. Und darauf stand der Name Tössfeld. Wie durch Zauberei war im Innern der Mühle auch der Eingang zu dem Geheimstollen sichtbar. Das, was am Nachmittag Breitstetter noch als alte Mauer gesehen hatte, war nun durchbrochen. Der Durchlaß war heute mittag zugemauert gewesen. Aber die Hexen- und Zauberkraft dämonischer Geister hatte den Stollen geöffnet. Hier diese gespenstische Atmosphäre unterstand ihren eigenen Gesetzen. Wenn die Stunde der Geister und Dämonen kam, zerbrachen die Gesetze, nach denen sich die Menschen zu richten hatten, stimmten auch die Naturgesetze nicht mehr, welche nur für die Wesen der dritten Dimension, für die Wesen des Diesseits auf dieser Erde, Gültigkeit hatten. Konga passierte den Stollen und suchte sein geheimnisvolles, makabres Labor auf. Jörg Maruschka war inzwischen auf einem großen Brett befestigt, das senkrecht an einer Wand stand, direkt neben einem kleineren Brett, auf dem jene Frösche aufgespießt und aufgeschnitten waren, die Maruschka zu seinen Lebzeiten gefangen und bearbeitet hatte. Dieses Brett mit den kostbarsten Stücken des Sammlers hatte Konga aus der einsamen Hütte entfernt und hierher gebracht.
Der Riesenfrosch legte den Toten auf die Tischplatte, riß ihm die Kleider vom Leib und entfernte dann den Frosch und die beiden Froschhälften aus dem Mund Breitstetters. Der erste Frosch, der in die Kehle des unglücklichen Mannes geraten war, lebte noch. Er hüpfte davon, die ausgetretenen Treppen hoch und verschwand irgendwo im Innern der Geistermühle. Konga holte einen Eimer und einen breiten Pinsel und bestrich Breitstetters nackten Leib mit einer nach Erde und Krautern riechenden Flüssigkeit. Die Oberfläche der Haut wurde hart unter der aufgetragenen Schicht. Konga konservierte sein neues Opfer. * Björn Hellmark landete mit seiner Maschine. In Hamburg war es trübe und kühl. Die Landebahn war naß. Es hatte kurz zuvor geregnet. Die Maschine rollte an den Rand der Piste und wurde dann hereingewunken. Hellmark überließ „Feuervogel" der Technik und begab sich nach Erledigung bürokratischer Details zur Paßkontrolle. Durch seinen unfreiwilligen Aufenthalt in Genf hatte er viel Zeit verloren. So war nur wenige Minuten vor ihm eine planmäßige Linienmaschine aus der Stadt eingetroffen, aus der er selbst kam. Diesmal hätte er fast eine Linienmaschine nehmen können,
und er wäre sogar noch früher dagewesen. Als er durch die Halle ging, wurde er auf eine grazile braunhäutige Schönheit aufmerksam. Sie war gekleidet wie Carminia und hatte einen Gang wie seine Freundin. Unwillkürlich seinen Schritt.
beschleunigte
er
Die schlanke Schöne steuerte auf eine der Telefonzellen zu. Er blieb stehen und blickte ihr nach. Als sie an der Glastür war und sich zufällig umdrehte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen dürfen. Das war Carminia Brado! Sie sah ihn im gleichen Augenblick. Ihr Strahlen Verheißung.
war
wie
eine
„Na, wer sagt's denn", murmelte Björn und eilte auf sie zu. „Wenn man dich sieht, dann geht die Sonne auf, und selbst ein regnerischer Tag hier in Hamburg wird zum Vergnügen!" Sie fiel ihm um den Hals, als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen. „Nein, ist das ein Zufall, Björn!" In wenigen Sätzen erklärte sie ihm den Grund ihrer Anwesenheit. Danach war kurz nach seiner Abfahrt jener Expreßbrief aus New York gekommen, den Professor Bert Merthus schon telefonisch angekündigt hatte. Carminia, eine Frau von schnellen Entschlüssen, hatte mit einem Blick in die Briefsendung erkannt, daß es nicht gut wäre, erst Hellmarks Ankunft in der betreffenden Pension
abzuwarten, die er ihr als Ziel genannt hatte. Fest im Glauben, daß er mit der Privatmaschine bereits abgeflogen sei, hatte sie kurzerhand ein Ticket gebucht und war mit einer Linienmaschine hinterhergeflogen. „Das glaubte ich jedenfalls", schloß die hübsche Brasilianerin, „Ich konnte natürlich nicht ahnen, daß du im Schneckentempo am Himmel entlangkriechst. Oder hast du irgendwo eine Zwischenlandung eingelegt, um eine Freundin zu besuchen?" fragte sie augenzwinkernd. Carminia Brado nahm das Couvert aus der Reisetasche, die sie als einziges Gepäck mit sich führte. Darin befanden sich Kosmetikartikel, Wäsche und zwei Bikinis. Auf ein zusätzliches weiteres Kleidungsstück hatte sie verzichtet. „Ich hab' mir gedacht, wenn wir so nah an der Nordsee sind, läßt sich bestimmt auch mal eine Schwimmstunde einlegen. Vielleicht gibt's auch einen Swimming-Pool im Schützenhaus?" Björn griff in den Umschlag. Er erklärte ihr, daß es auf dem Flughafen in Genf zu einer Verzögerung gekommen sei. Genaues erwähnte er nicht, um sie nicht zu beunruhigen. Für ihn gehörte diese Episode bereits schon wieder zur Vergangenheit. Gemeinsam gingen sie ins Flughafenrestaurant. Er erfuhr, daß Carminia gerade dabei gewesen war, ihn, Hellmark, telefonisch zu verständigen, um ihn darauf aufmerksam zu machen, daß sie
unterwegs sei. Danach hatte sie beabsichtigt, sich einen Leihwagen zu nehmen. „Dies alles erübrigt sich jetzt", meinte er. „Einen Leihwagen habe ich bereits vom Flugzeug aus per Funk bestellt, und da ist soviel Platz drin, daß wir beide hineinpassen. Jetzt legen wir erst 'ne kleine Pause ein, und ich seh' mir an, was du mir mitgebracht hast." Sie nahmen gleich an einem Ecktisch hinter der großen Glastür Platz. Viele Menschen waren hier, und dumpfes Stimmengemurmel erfüllte das Restaurant. „Wäre es nur Text gewesen, ich würde bestimmt nicht hierhergeflogen sein", sagte Carminia. „Aber es ist eine Zeichnung dabei. Die läßt sich schlecht am Telefon erklären. Ich wußte nichts mit ihr anzufangen. Auch der Text ist merkwürdig." „Wir werden sehen". Björn faltete den Bogen auseinander. Darauf befand sich eine Zeichnung und ein knapper Text. Merthus hatte diesmal verzichtet, noch einige erklärende Angaben hinzuzufügen. Die Zeichnung ergab fast ein Quadrat, in dem mehrere Schnittlinien aufeinanderstießen. Jede Linie hatte eine Bezeichnung. Mit schwarzer Tusche hatte Merthus die fremdartigen Symbole und Schriftzeichen eingetragen, wie er sie offenbar dem Buch der Gesetze entnommen hatte. In Klammern hatte er in roter Tusche Buchstaben und Zahlen vermerkt. Für manch einen wären diese Angaben ein Buch mit sieben
Siegeln gewesen. Hellmark, mit der Navigation vertraut, konnte sie lesen. Die Angaben betrafen eindeutig Längenund Breitengrade, Winkelminuten und Sekunden. Ein Schnittpunkt war dichter als der andere. Der mußte maßgebend sein. Den Zahlenangaben nach legte Hellmark den Punkt in der Nähe von Hamburg an. Und plötzlich wurde ihm heiß, als er daran dachte, daß diese Berechnung bereits vor langer Zeit durchgeführt worden war. Die Kenntnisse, über die man bereits im alten Xantilon verfügt hatte, verblüfften ihn jedesmal aufs neue. Seine Augen verengten sich, als er den Text las. Auszug aus dem Buch der Gesetze, Seite 3, Prophetie des Oberpriesters Kan Takoon: Eine Generation, bevor Kaphoon, der Namenlose, geboren sein wird, wird ein Mann leben. Sein Leben wird erfüllt sein von Beschwernissen aller Art. Man wird ihn hassen, ihn in die Einsamkeit treiben und verkennen. In dieser Atmosphäre können die bösen Geister sich entwickeln, die dem Sucher und Abgesonderten Qualen und Foltern bereiten. Dieser Mann ist ein Kind Xantilons, in seinen Adern fließt das Blut der Alten. Er ahnt, daß er anders ist, aber er kann es nicht begründen. Und er weiß nichts von Xantilon, weil die Zeit noch nicht reif dafür ist. Sein ganzes Leben wird ganz dem Kampf der bösen Geister gewidmet sein, die sich überall im
Hause einnisten. Durch List und Tücke wird es diesem Sucher gelingen, einen Dämon in seine Gewalt zu bringen und ihn zu einem Abtrünnigen zu machen. Dieser Dämon wird abfallen und wird sein geisterhaftes Leben in den Dienst des Suchers stellen, wird dieses Leben sogar aufgeben, als er erkennt, daß damit dem neuen Freund, dem er zugetan ist, am meisten gedient ist. Björn Hellmark unterbrach die Lektüre. Jetzt wurde es noch geheimnisvoller. Er wußte nicht recht, was er mit dem Text anfangen sollte. Dann las er weiter: Der Mensch und der abtrünnige Dämon verbünden sich. Was in jener Zeit geschieht, wird Auswirkungen auf das Leben jenes haben, den seine Anhänger einmal den „Sohn des toten Gottes" nennen werden. Der Sucher wird das Angebot des abtrünnigen Dämons annehmen und ihn vernichten, ihn von den Nachstellungen der Geisterwelt ein für allemal befreien. Dieser Dämon aber wird dem Menschen ein Geheimnis anvertrauen, dessen Kenntnis Verwirrung im Geisterreich anrichtet. Doch dem Sucher, in dessen Adern reines Xantilon-Blut fließt, gelingt es trotz aller Schwierigkeiten, die mysteriöse Dämonen-Maske anzufertigen, welche die niederen und unreinen Geister fürchten. Die Maske ersteht aus der Haut des Abtrünnigen. Aber der Sucher, der Einsiedler, arbeitet nicht schnell genug und nicht unter allen notwendigen
Sicherheitsmaßnahmen. Er riskiert vieles, er setzt alles auf eine Karte. Er weiß, wenn er die DämonenMaske anwendet, ist das Haus befreit. Aber die Dämonen sind listig. Sie bemächtigen sich des eigenen Sohnes, der sich gegen den Vater kehrt, sie machen sich den Sohn zu ihrem Verbündeten. Dies ist das größte Opfer, der höchste Preis, den der zahlen muß, der die Dämonen-Maske formt. Der Sucher verliert alles. Die bösen Geister beschließen, ihn ein für allemal sich vom Leib zu schaffen. Der eigene Sohn legt Hand an den Vater. Aber die Dämonen-Maske ist fertig. Der Sucher kann sie nicht mehr anwenden, die Dämonen waren schneller. Aber die Maske existiert. Und die Geisterwelt setzt alles daran, daß diese Waffe, die sie fürchten, niemals gegen sie zur Anwendung kommt. Der Ort ist verflucht, die Menschen meiden jenen Fleck Erde, den ich in diesem Augenblick vor mir sehe. Geister und Dämonen beherrschen jenen Ort um alle fernzuhalten, die eventuell die Dämonen-Maske finden könnten. Kaphoons Weg wird nicht daran vorbeiführen... Hier endete die Prophetie, die wie aus einem Guß von Bert Merthus übersetzt worden war. Hellmarks Blick fiel wieder auf die Tuschezeichnung. Im Schnittpunkt der dicksten Linie lag jene Stelle, die als maßgebend bezeichnet worden war. Er fing an auf einem Notizpapier zu rechnen, zu zeichnen und auszustreichen.
Aber er kam zu keinem Ergebnis. Ihm fehlte eine weitere Angabe. Er hatte einen Verdacht, aber den konnte er im Moment nicht nachprüfen. Doch sicher an Ort und Stelle. Carminia Brado und Björn Hellmark tranken schnell etwas. Dann verließen sie das Restaurant. Der Leihwagen stand vor dem Empfangsgebäude des Flughafens bereit. Björn brauchte nur noch den Empfang zu quittieren, seine American Express-Karte vorzuzeigen und eine Unterschrift zu leisten und alles war erledigt. Wenige Minuten später fuhren sie ihrem Ziel entgegen, das sie knapp eine Stunde später erreichten. Es war Abend geworden. Dennoch fand Björn die mitten im Wald gelegene Pension auf Anhieb. Eine Wanderkarte, die er an einem Kiosk kaufte, erleichterte die Suche. Mit Hilfe dieser Karte nahm er anhand der Angaben des Textes aus dem Buch der Gesetze erneut eine Berechnung vor, während Carminia den kirschroten Jaguar steuerte, der ihnen zur Verfügung stand. Und punktgenau fand er die Berechnungen bestätigt. Sie näherten sich immer mehr der Stelle, die in der Prophetie des unglaublichen Kan Takoor entscheidende Bedeutung für Hellmark haben sollte. Sie kamen mitten durch den Wald. Kein Mensch weit und breit. Keine Häuser. Das einzige Geräusch in der Luft war der laufende, gleichmäßig drehende Motor.
Dicke, weiße Geisterfinger, die Lichtbündel, aus den Scheinwerfern huschten lautlos über den Weg und Bäume. Dann folgte eine Lichtung. Das Haus. Die Pension. Fast quadratisch drei Stockwerke hoch. Lichter brannten nur unten. Das Geräusch des ankommenden Wagens lockte eine schattengleiche Gestalt ans Fenster. Schwarz zeichnete sich die Silhouette eines Mannes hinter dem linken beleuchteten Fenster ab. Carminia und Björn betraten wenig später die Gaststube. Der Wirt kam ihnen bereits an der Tür entgegen. Der Raum war menschenleer. Eine ungemütliche Stimmung. Carminia warf Björn einen Blick zu, doch der schien ihn nicht zu bemerken. „Können wir noch zwei Zimmer haben?" fragte Hellmark. „Vielleicht für zwei oder drei Nächte." Der Wirt war bleich. „Das Haus ist leer. Aber es kommt darauf an, ob Sie bleiben wollen." Seine Stimme klang dumpf und tonlos. Carminia und Björn traten näher. Es roch nach Essen. Die Tür hinter der Theke war nur angelehnt. Durch den Spalt konnte man in die Küche sehen. Dort klapperte Geschirr. Mit einem Blick in die Runde entdeckte Hellmark auf dem Tisch direkt vor der Theke eine aufgeschlagene Zeitung. Der Wirt meinte: „Ich würde Sie gern hier behalten, Sie dürfen nicht glauben, daß ich meine Gäste
freiwillig hinauskomplimentiere." Die Art, wie er sprach, ließ den Verdacht aufkommen, daß er selbst der beste Kunde seiner Spirituosen in diesem gemiedenen Gasthaus war. Aber der Eindruck täuschte. Das erkannte Björn Hellmark. „Bevor Sie sich hier einquartieren, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen etwas mitzuteilen", fuhr Ernst Martens mit schwerer Stimme fort. „Ich ..." „Ernst!" erklang da die Stimme von der Küchentür her. Frau Martens, das Haar hochgesteckt, ein graublaues Kopftuch darum geschlungen, streckte ihren Oberkörper durch den Türspalt. Ernst Martens warf nur einen scheuen Blick zurück und schüttelte den Kopf. „Ich muß das sagen, Mutter", sagte er bedrückt. „Ich habe sonst keine Ruhe. Hier kann nichts passieren, aber wenn die Herrschaften ein paar Tage bleiben, dann ist damit zu rechnen, daß Sie sich auch die nähere Umgebung ansehen wollen. Ich will nicht noch mal schuldig werden, nicht noch mal den gleichen Fehler machen und schweigen..." Er war entschlossen, sich von seiner Frau nicht herumkriegen zu lassen. Ernst Martens griff nach der aufgeschlagenen Zeitung. „Die habe ich heute mittag im Dorf drüben gekauft. Es steht alles drin. Es ist in der letzten Nacht hier passiert." Björn Hellmark las den Bericht, der auf der zweiten Seite der
Tageszeitung für dieses Gebiet stand unter der Überschrift: „Mysteriöse Begegnung Junge Frau in Nervenklinik eingeliefert. Rätselhafter nächtlicher Vorfall beschäftigt Polizei in Cuxhaven." Hellmark las die Geschichte von Claudia Lickert. Er merkte, wie es in seinem Nacken anfing zu kribbeln. Letzte Nacht war das passiert. Die Gegend war genau beschrieben, ohne daß sie näher bezeichnet worden wäre. Er, Hellmark, war als Macabros in der Nähe gewesen, aber etwas hatte ihn davon abgehalten. Er klappte die Zeitung zusammen, und Ernst Martens sagte: „Da ist noch etwas. Wir hatte noch einen Gast. Der ist heute gleich nach dem Essen aus dem Haus gegangen. Hinüber zur Mühle. Es ist jetzt acht, und er ist immer noch nicht da. Normalerweise wird um sechs Uhr Abendbrot eingenommen. Herr Breitstetter ist ein pünktlicher Mensch. Er ist noch nie zu spät gekommen. Wir fürchten das Schlimmste." „Aber wieso?" fragte Hellmark. „Es muß mit der Mühle zusammenhängen. Ich habe vorhin, kurz bevor sie eintrafen, die Polizei benachrichtigt und meine Befürchtungen mitgeteilt. Fünf Minuten später schon hat sich die Kripo aus Cuxhaven gemeldet. Dabei mußte ich erfahren, daß der Herr, den ich für einen Geschäftsmann gehalten habe, in Wirklichkeit Kriminalbeamter gewesen ist. Man erwartete seinen
Anruf, der für sechs Uhr vorgesehen war. Nun macht man sich in Cuxhaven Sorgen. Ein gewisser Kommissar Hark hat mich gebeten, nichts zu unternehmen. Er würde heute abend noch mit einigen seiner Leute hier eintreffen."
„Es ist Wahnwitz. Sie laufen in Ihren Tod! Ich kann nicht genau sagen, was Sie dort erwartet, aber es muß furchtbar sein. Dort geht es wieder um. Menschen werden wahnsinnig oder verschwinden spurlos." Ernst Martens sprach abgehackt.
Hellmark nickte. „Es ist nett von Ihnen, uns dies alles zu sagen. Das erleichtert unsere Entscheidung." „Ich bin Ihnen nicht böse, wenn Sie aufgrund dieser Vorkommnisse nicht mehr bleiben wollen", entgegnete Ernst Martens mit matter Stimme. „Ich kann Sie verstehen."
Hellmark vernahm die Stimme wie aus weiter Ferne. „Wo genau ist die Mühle? Wie weit ist sie entfernt von hier?" wollte er wissen.
„Wir bleiben! Gerade wegen der Mühle. Ich möchte sie kennenlernen", erwiderte Hellmark.
Martens erklärte es ihm. Björns Lippen wurden hart. Er kannte den Punkt, an dem die Pension lag. Von hier aus waren es nicht mal mehr achthundert Meter bis zu der Stelle, wo die Geistermühle stand.
„Deswegen bin ich hierher gekommen", fügte Björn hinzu.
Björn hatte Zahlen und Linien und Schnittpunkte im Kopf.
„Sie sind... Sie wollen... ich meine..." Ernst Martens konnte nicht ausdrücken, was er meinte. Seine Stimme versagte ihm den Dienst.
Seine Feststellung war ungeheuerlich. Die Mühle stand an dem Punkt, der eine Bedeutung in Kan Takoors Visionen gehabt hatte!
„Ich habe von der Mühle gehört. Deswegen bin ich hier. Ich möchte sie mir ansehen. Heute abend noch." '
Martens berichtete stockend von der Geschichte der Mühle, von dem unheimlichen Fluch und von den Qualen, die nach Zeugenaussagen den späteren Besitzer Dirk Tössfeld, heimgesucht haben sollen.
Bei jedem einzelnen Wort schien Ernst Martens körperlichen Schmerz zu empfinden. Er konnte die Reaktion des fremden Gastes, der sich weder durch den Zeitungsartikel noch durch das mysteriöse Verschwinden des Cuxhavener Kommissars einschüchtern ließ, nicht verstehen. Björn Hellmarks Gehirn arbeitete wie ein Computer.
Hellmark hörte aufmerksam zu. Diese Geschichte beweis die Wahrheit des Textes von Kan Takoor! Nur waren hier in Martens' Erzählung die Fakten verdreht. Dirk Tössfeld war der Sucher und nicht der, der die Dämonen gerufen hatte, der dem Geheimnis
der schwarzen Kunst auf die Spur kommen wollte. Die Menschen hatten Tössfeld verkannt. Die Dämonen und bösen Geister schwebten über dem Ort, erschreckten die Menschen und hielten sie fern von dem Versteck, wo die legendäre Dämonen-Maske lag, die unheimliche Geistwesen bewachten und die nicht in Menschenhand gelangen durfte. Hellmark war entschlossen. „Ich gehe! Und ich danke Ihnen für Ihre ausführliche Erzählung! Sie hat mir sehr geholfen!" Ernst Martens schwitzte. Er warf, einen flehentlichen Blick auf Hellmarks Begleiterin. „So sagen Sie doch etwas, halten Sie ihn bitte von seinem Vorhaben ab! Es geht in das sichere Verderben. Das Ganze hört sich unglaubwürdig an. Aber es ist die Wahrheit." „Ich habe Ihnen von Anfang an jedes Wort geglaubt, Herr Martens", bemerkte Björn. „Aber gerade dann..." Martens' Schultern sackten herab. Carminia Brados Miene war ernst. Dann legte sich ein verlorenes Lächeln um ihre Lippen. „Er muß so handeln. Er muß gehen." „Aber warum?" „Das würden Sie nicht begreifen", antwortete die Brasilianerin anstelle Björn Hellmarks. „Ich verstehe es selbst nicht." * Björn blieb weniger als zehn Minuten in der Pension. Er suchte nur kurz sein Zimmer auf, nahm Carminia das Versprechen ab, in ihrem Zimmer
zu bleiben und auf keinen Fall auf eigene Faust das Gasthaus zu verlassen, um eventuell nach ihm zu suchen. Hätte er von vornherein Näheres über die Probleme gewußt, die ihn hier erwarteten, hätte er darauf bestanden, daß Carminia in Hamburg geblieben wäre. Björn benutzte den schmalen Pfad, der vom Gasthaus wegführte. Das einsame Haus fiel zurück. Dann breitete sich vor ihm die Wiesenlandschaft aus. Der Himmel war bewölkt, kein Stern zeigte sich. Wie Schemen zeichneten sich die Umrisse des alten Bauernhauses, des Schuppens und der Mühle ab. Björns Herz schlug schneller. Die Umgebung war ihm vertraut, und er erinnerte sich an jeden Fußbreit Bodens. Er war letzte Nacht in der Tat hiergewesen als Macabros. Es war vorausbestimmt, daß er hier eine wichtige Mission zu erfüllen hatte. Wie sie ausging, das wußte kein Mensch. Oder doch? Hatte Kan Takoor in einer späteren Vision vielleicht auch gesehen, was demjenigen, der sein in aller Welt verstreut lebendes Volk wieder sammeln sollte, geschehen würde? Das Buch der Gesetze, das erkannte er jetzt wieder, war von ungeheuerer Bedeutung. Für ihn war es so etwas wie ein Blick in die Zukunft. Wenn er genau den Inhalt kannte, konnte er sein Leben und das, was auf ihn wartete, dementsprechend einrichten und
beeinflussen. Aber dies war sicher Illusion. Auch Kan Takoor würde keine Universallösung zu bieten haben. Das wäre zu einfach. Er ging direkt auf die Mühle zu. Unwillkürlich richtete er seinen Blick auf das schmale Fenster neben dem Eingang. Dort befand sich keine zersplitterte Scherbe, wie das in dem Zeitungsartikel über Claudia Lickert erwähnt worden war. Hellmark empfand das gleiche Gefühl wie in der vergangenen Nacht. Die alte Mühle, die gar keinen so baufälligen Eindruck machte, wie von Ernst Martens geschildert, strahlte Bedrohung aus. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Irgendwo im Gebüsch raschelte es. Hellmark warf den Kopf herum und entdeckte mehrere Frösche, die auf den Pfad hinaushüpften, auf dem er sich bewegte. Als wäre es selbstverständlich, bewegte er sich die hölzernen Stufen zum Eingang der Mühle hoch und stand vor der verschlossenen Tür. Die Mühle ist unbewohnt, behauptete Ernst Martens. Die Mühle sei bewohnt — kam durch die verworrene Berichterstattung von Claudia Lickert und deren Mann zustande. Was stimmte? Zumindest gab es um die Mühle ein Geheimnis. Und dieses "Geheimnis mußte er ergründen!
Es hing mit zusammen.
seiner
Zukunft
Er klopfte an. Dreimal, viermal. Dumpf hallten die Schläge durch die Nacht. Mehr als einmal fühlte er, daß er beeinflußt werden sollte, von hier wegzugehen. Aus dem Gebälk flatterten Fledermäuse, überall um ihn herum hüpften und krochen auf der feuchten Wiese Frösche. Die gespenstische Atmosphäre war beinahe körperlich spürbar. Geräusche im Innern der Mühle. Schritte... Dann wurde von innen ein Riegel zurückgeschoben. Ein Mann stand auf der Schwelle. Ein alter Mann, hager, bleich und Augen wie glühende Kohlen. In der Hand hielt der Einsiedler eine flackernde Petroleumlampe. Hinter dem Mühlenbewohner blitzten grüne Augen. Die Katze! Davon hatte auch Peter Lickert gesprochen. Unruhe und Nervosität erfüllten Hellmark. Er versuchte seine Gefühle besser unter Kontrolle zu bringen. Die Situation war bei weitem noch nicht so, daß er irgend etwas zu fürchten brauchte. Alles schien noch ganz normal zu sein, aber er wußte, daß er dies nicht war. Die Mühle war alt und baufällig, er sah sie nur anders. Ihm wurde etwas vorgegaukelt. Und die Mühle war der Treffpunkt böser Geister. Er war gekommen, um dieses Nest auszuheben. Denn von hier aus konnte sich eine gefährliche Gruppe formierer die zu Helfershelfern der Schwarzen Priester werden konnte, die nach
der Begegnung mit ihm nicht wieder aufgetaucht waren. Es war wie jene berühmt-berüchtigte Ruhe vor dem Sturm. Es schien, als wollten sich erst alle Kräfte sammeln, die schließlich seine Mission zu stören beabsichtigten. Er mußte ihnen zuvorkommen und sie bereits bei den Vorbereitungen stören. Er begriff, daß er die DämonenMaske brauchte, von der Al Nafuur etwas bemerken wollte und von der der geheimnisvolle Seher Kan Takoor so ausführlich berichtet hatte. Björn sagte, daß er auf der Suche nach Hermann Breitstetter sei. Der Mann sei heute von der Pension weggegangen und bis zur Stunde nicht zurückgekehrt. Das sei ungewöhnlich. „Und nun wollen Sie ihn suchen?" fragte der Alte auf der Schwelle. „Sie glauben, ich halte ihn versteckt? Finden Sie das nicht ein bißchen komisch?" Hellmarks hatte geglaubt, mit dieser Ausrede am einfachsten in die Mühle zu kommen. Im ersten Moment schien es so, als ob der geheimnisvolle Einsiedler ihn so schnell wie möglich wieder loshaben wollte. Doch dann — noch ehe Hellmark überhaupt eine Antwort auf die letzte Frage geben konnte — reagierte der Alte schon. Er trat zur Seite. „Bitte", meinte er einfach und zuckte die knochigen Achseln. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können! Treten Sie näher und sehen Sie sich um!"
Achtung, schlug eine Alarmglocke in Björns Bewußtsein. Lauf nicht in die Falle! Er kam näher. Im trüben Licht blickte er sich blitzschnell um. Die Katze sprang fauchend auf ihn zu. Geistesgegenwärtig drehte Hellmark sich ab. Die Krallen des Tieres verfehlten ihn um Haaresbreite. Die Katze sprang gegen die Bretterwand, rutschte mit ihren Krallen darüber und stieß sich erneut ab. Diesmal war Björn darauf gefaßt. Er ging zum Angriff über, stieß die Hand, zur Faust geballt, in das Maul des wütenden Tieres und schleuderte es herum. Die Katze biß sich fest, und lange Kratzer und Bißwunden blieben auf Hellmarks Handrücken zurück, als er das Tier die Treppe hochschleuderte. Miauend und fauchend huschte die Katze davon. „Sie ist unberechenbar", sagte der Alte. „Sie ist keine Fremden gewöhnt. Entschuldigen Sie bitte!" Bedauern klang in seiner Stimme mit. Aber Björn glaubte eher, daß dieses Bedauern nicht ihm, sondern der Katze galt. Der Alte bedauerte offensichtlich, daß der Angriff des Tieres so wenig Erfolg gezeigt hatte. Wäre es ihm lieber gewesen, es hätte Hellmark die Augen ausgekratzt? „Gehen wir nach oben. Sehen wir dort zuerst nach. Wenn ich Ihnen damit dienen kann", fuhr der Hagere fort.
„In den Keller! Laß dir den Keller zeigen!" ertönte es da in Björns Bewußtsein. Die Stimme Al Nafuurs war in ihm. „Ich möchte gern den Keller sehen", meinte Hellmark. „Fangen wir doch dort an!"
„Sie sind hier überall", dröhnte die Stimme des Hageren von unten her zu ihm hoch. „Da darf man sich nichts draus machen." Er kicherte. Der Stollen machte einen Knick. Dann wieder ein Durchlaß, eine Tür. Knarrend öffnete sie sich.
Die Augen des Alten wurden zu schmalen Schlitzen.
Der Alte blieb stehen. „Mein Labor. Sie wollten es selbst sehen. Bitte!" Der Hagere leuchtete nach innen. Neugierig kam Hellmark näher. Al Nafuur schien seinen besonderen Grund gehabt zu haben, daß er ihn hierher gelotst hatte. Ausgestopfte Tiere auf den Regalen, an langen dünnen Fäden in den Ecken des düsteren Raums.
„Schön, ganz wie Sie wollen." Er ging dem Deutschen voran. Sie passierten den Durchlaß, den Hermann Breitstetter am Mittag nicht bemerkt hatte. Von hier aus in den Stollen. Wispern und geheimnisvolle Stimmen erfüllten die Luft um sie herum. Die unheimliche Atmosphäre war wie elektrisch geladen. Überall schien irgend etwas zu leben und sich zu bewegen. Sogar die Luft war in Bewegung. Sie war stickig und dumpf. Sie stieg wie eine unsichtbare Wolke aus dem Keller empor. Das gelbliche Licht der Petroleumlampe spielte an den rauhen Wänden, an der mit Spinnweben fast zugewachsenen Decke. Große Spinnen hingen in den Ecken, und Hellmark hatte das Gefühl, als würde jede seiner Bewegungen verfolgt Ein leises, Klatschen hinter herumwirbeln. Frösche!
schmatzendes ihm ließ ihn
Feuchtglänzend glitten sie aus lichtlosen Ecken und Winkeln und kamen die steinernen Stufen herab.
Auf dem Tisch in der Mitte eine große Gestalt. Ein Mensch? Hellmark winkte den Alten nach vorn. Er wollte den geheimnisumwitterten Einsiedler, der offensichtlich nur zur Nachtzeit hier hantierte und anzutreffen war, keine Sekunde aus den Augen verlieren. „Mehr Licht! Zünden Sie mehr Lichter an", verlangte Björn. Seine Erregung wuchs. Vor ihm stand ein Schrank. Daneben ein Brett. Aufgespießte Frösche in Reih und Glied. Zwei riesige präparierte Tierschädel — der eines Pferdes, der eines Ochsen — fiel ihm ebenfalls auf. Sie hingen an der Wand und die großen gläsernen Augen reflektierten das Licht der altmodischen Lampe. Was wurde hier getrieben? Im ersten Augenblick sah das Ganze nach naturkundliche Studien aus.
Aber der tote Mensch auf dem Operationstisch, dessen Brustkasten geöffnet und blutleer war, verwischte diesen ersten Eindruck. Hier wurden Experimente auch mit Menschen gemacht! Nicht nur mit Tieren. Ein gefährliches Grinsen lag plötzlich um die Lippen des Alten. Der Hagere zündete zwei weitere Petroleumleuchten an. Mehr war zu sehen. Deutlicher! Es war makaber! Und da gab es noch etwas. Björn Hellmark fühlte die Gefahr mehr, als daß er sie sah. Wie unter einem inneren Zwang wandte er den Kopf. Hinter ihm wimmelte und lebte es. Hunderte von Fröschen hockten auf den Stufen und quollen durch die Tür. Hinten im Stollen leuchteten die Augen von mindestens fünf Katzen, und Fledermäuse flatterten wie wildgeworden durch die Luft. Die Spinnen und Käfer aus den Ecken und Ritzen raschelten, und ihre Chitinpanzer schabten über das rauhe Mauerwerk. Alles, was kreuchte und fleuchte, war auf den Beinen. „Meine Lieblinge! Sie lassen mich nie im Stich. Sie sind alle sehr aufgeregt. Muß heute wohl ein besonderer Besuch sein, den wir da haben, wie?" fragte der Hagere höhnisch, und seine Augen blitzten kalt. Hellmark saß in der Falle. Das Gefühl, eingeschlossen zu sein, wuchs. Er war unbewaffnet
wie immer. Aber er war nicht hilflos. Wenn er den Alten packte und... Da wieder die Stimme! Al Nafuurs Stimme... „Reiß den kleinen Schrank von der Wand weg! Dahinter gibt es ein Versteck!" Die Dinge überstürzten sich, alles war in Fluß geraten. Die bösen Geister, die hier lauerten und ihm übelwollten, setzten zum Angriff an. Sie schienen zu wissen, daß hier etwas vorging, dem sie so schnell wie möglich ein Ende machen mußten. Die Frösche hüpften durch die Luft und klatschten gegen ihn wie faustgroße Schlammbrocken. Er taumelte und schlug um sich. Da waren auch die Fledermäuse. Er spürte die harten Flügel an seinem Kopf entlangwischen, Spinnen und Käfer ließen sich an klebrigen Fäden von der Decke herab und krochen über sein Gesicht in seinen Nacken. Björn handelte. Wenn er jetzt versagte, wenn jetzt etwas schiefging, dann würde dieses gespenstische Erlebnis still und geheimnisvoll ablaufen, ein neues Opfer fordern, und kein Mensch würde jemals erfahren, was hier wirklich passiert war. Er mußte Al Nafuur vertrauen. Wenn der Geheimnisvolle aus Xantilon es wirklich gut mit ihm meinte, dann konnte er es jetzt unter Beweis stellen. Nie zuvor hatte er die Hilfe seines
unsichtbaren Freundes notwendiger gehabt als jetzt. Björn riß den angegebenen Schrank mit harter Hand herum. Es rumpelte und schepperte, Glas zersprang. Die ausgestopften Vögel, die aufgespießten Käfer und Spinnen, die Schmetterlinge und in glasklaren Flüssigkeiten konserviertes Gewürm flogen durch die Luft. Schreckliche Stimmen hallten durch den Kellerraum. Plötzlich noch mehr Frösche! Die Fledermäuse griffen Björn an. Dann die Katzen. Sie wollten ihn davon abhalten, das Versteck hinter dem Schrank zu finden. Hellmark war halbblind. Er pflückte einzeln die Frösche von seinem Gesicht und schleuderte sie kraftvoll von sich. Benommen taumelte er gegen die Wand. Hinter dem Schrank in der Wand war eine mit Latten vernagelte Nische. Nicht sehr groß. Darauf befand sich ein einfaches, selbstgefertigtes Holzkreuz. „Dahinter ist die Maske, Björn!" Al Nafuur reagierte wie ein General, der von erhöhter Warte aus Zeuge des Kampfes wurde und erwartete, daß seinen Befehlen blindlings gefolgt wurde. Aber seine Stimme in Hellmarks Bewußtsein klang nicht befehlend. Er gab Ratschläge und Hinweise. Er wußte etwas und teilte dieses Wissen seinem Schützling mit. „Die Dämonen-Maske! Du mußt sie aufsetzen!" Schon rissen Hellmarks Finger den Verschlag auseinander. Es knirschte.
Furchtbare Schreie erfüllten die Luft. Als das Holzkreuz zu Boden fiel, spritzten die Frösche, die bis hierher gekrochen waren, entsetzt auseinander. Aber die Macht des Kreuzes allein war nur auf einen winzigen Umkreis beschränkt. Die Dämonen und bösen Geister, die sich hier versammelt hatten und in Tierkörpern hausten, tobten und jammerten. Dies alles dauerte nur Sekunden, die Björn Hellmark wie eine Ewigkeit vorkamen. Er stieß seine Hand in das Loch hinter den Brettern. Er spürte etwas Weiches, wie Stoff. Aber es knisterte wie Pergament. Er hatte keine Gelegenheit, erst nachzusehen, was er da in der Hand hielt und wie es aussah. Er stülpte es sich in großer Hast über den Kopf. Er sah gerade noch, wie ein großer Schatten, der nach ihm greifen wollte, vor ihm zurückwich. Instinktiv bückte er sich. Er sah etwas aufblitzen und mußte an den Alten denken, den er in der Aufregung und in dem Durcheinander ganz vergessen hatte. Ein großes, scharfes Messer blinkte vor ihm in der Luft. Aber da war nicht der Alte. Ein riesiger in seiner Massigkeit und Breite unheimlich wirkender Frosch nahm sein Blickfeld ein. Der Eindruck währte nur Sekunden. Das Messer, bereits nach ihm gezielt, fiel klirrend zu Boden. Alles floh!
Die Frösche jagten davon, die Fledermäuse segelten schattengleich durch die weit offenstehende Tür, die Katzen fauchten und miauten, und ihre Schreie zerfetzten die Nacht.
Die Ratten verließen das sinkende Schiff. Die Mühle, die den Geistern und Nachtwesen jahrzehntelang als Unterschlupf gedient hatte, erfüllte nicht mehr ihren Zweck.
Die Dämonen-Maske, die er aufhatte, mußte fürchterlich sein. Er hatte sie selbst noch nicht gesehen, er trug sie. Aber er registrierte die durchschlagende, ungeheuerliche Wirkung. Viele Käfer und Spinnen, in denen die niedrigen Geister hausten, lösten sich auf. Kleine schwefelgelbe Wolken wehten davon, einzelne Frösche wurden zu dicken Nebeln, der sich nur schwer auflöste. Es roch nach Feuer und Schwefel.
Ein Balken stürzte von der Decke herab, legte sich quer und blieb zitternd eine Handbreit über Hellmarks Kopf hängen.
Der Riesenfrosch hetzte die Treppe hervor. Er trampelte alles nieder. Ehe Hellmark sich versah, war der Gigant aus seinem Blickfeld verschwunden. Björn rannte aus dem unheimlichen Keller. Er raste die Stufen nach oben. Eine Tür knallte zu. Konga rannte aus der Mühle, folgte den Katzen und Fledermäusen, den Fröschen, die über die Wiesenlandschaft davon sprangen, als würde eine Feuersbrunst sich hinter ihnen ausbreiten. In den Wänden knisterte es.
der
Mühle
Sand rieselte von der Decke, die morschen Balken ächzten, als wären sie plötzlich ihres letzten Haltes beraubt.
Der Deutsche jagte auf den Ausgang zu. Er spürte nicht die kühle Nachtluft. Auf seinem Gesicht klebte wie eine zweite Haut die Maske. Er sah wie durch Augenlöcher die Landschaft vor sich und den riesigen dunklen Frosch, der in gewaltigen Sätzen davon hüpfte. Die Luft um Hellmark war frisch und rein, die Bedrohung, die von der Mühle ausgegangen, war gewichen. Er hatte die Dämonen-Maske gefunden und eingesetzt! Aber die Gefahr war noch nicht gebannt. Da war Konga, der Menschenfrosch. Hellmarks Herz blieb stehen, als er erkannt, in welche Richtung der unheimliche Töter eilte. Richtung Pension! Konga, von Dämonen geleitet, selbst ein dämonisches Wesen, wußte, daß es dort jemand gab, dessen Wohl Björn Hellmark am Herzen lag. Wenn Carminia Brado etwas zustieß, war Hellmark persönlich getroffen! * Björn erkannte die Gefahr.
Konga war schneller als er, der Mensch.
wurde getroffen wie von einer überdimensionalen Fliegenklatsche.
Hellmark rannte wie von Sinnen hinter dem kleiner werdenden Menschenfrosch her. Die Büsche und Bäume jagten an ihm vorüber. Am Wegrand saßen zwei Frösche, die eilig davon sprangen. Nichts mehr belästigte ihn.
Der Wirt kippte vom Stuhl. Der Schrei hatte Martens' Frau alarmiert. Sie tauchte an der Tür zur Küche auf. In der Hand ein scharfes Fleischermesser. Frau Martens wurde ohnmächtig beim Anblick des Giganten. Das Messer fiel aus ihrer Hand. Konga bückte sich und riß es an sich. Er wirbelte herum. Die großen starren Augen waren auf die Treppe nach oben gerichtet. Die Stufen knarrten, als der Menschenfrosch die Stiege emporjagte.
Wer die Dämonen-Maske sah, floh. Björn holte das Letzte aus sich heraus. Konga war verschwunden. Hatte er die Pension schon erreicht? Björn Hellmark wußte, daß jede Minute, die er zu spät kam, die Katastrophe bedeuten konnte. Und es war unmöglich, den Vorsprung aufzuholen, den der Riesenfrosch sich geschaffen hatte. Hellmark konzentrierte sich auf seine Fähigkeit, seinen Doppelkörper entstehen zu lassen... Macabros erstand. Zwei Meter von der Eingangstür der einsamen Waldpension entfernt, materialisierte der Doppelkörper Björn Hellmarks... Macabros sah, wie Konga in dieser Sekunde durch die Tür rannte. * Ernst Martens sah den Unheimlichen in den Gastraum eilen. Sein Schrei gellte durchs Haus. Konga wischte einfach mit der Rechten durch die Luft. Martens
Er schien genau zu wissen, wohin er sich zu wenden hatte. Er brauchte nicht zu suchen. Er fand die Tür, hinter der Carminia Brados Zimmer lag, auf Anhieb. Er warf sich einfach dagegen. Es splitterte in den Scharnieren. Holzspäne flogen durch die Luft, die Tür kippte mit Donnergetöse nach innen. Carminia Brado, mitten im Zimmer stehend, vom gellenden Aufschrei des Wirts beim Lesen aufgeschreckt, wich mit ungläubig aufgerissener. Augen zurück. Ihr markerschütternder Schrei hallte durch das Haus, als Konga das große Fleischermesser eiskalt hob und zustach. * Aber die Messerspitze senkte sich nicht in den Leib der Brasilianerin. Wie ein Schatten flog Macabros durch den Raum, riß die das Messer führende Hand in die Höhe. Konga wirbelte herum...
Das Ungetüm erzitterte. Die großen starren Augen zuckten. Kongas Blick fraß sich fest in der Dämonen-Maske, die vor rund sechzig Jahren von einem Mann namens Dirk Tössfeld aus der Haut eines leibhaftigen Dämons gefertigt worden war. Konga hob beide Hände. Für den Bruchteil eines Augenblicks schien es. als wollte er sie auf Macabros herabsausen lassen. Aber er war wie gelähmt. Er riß sein großes, furchtbar rotes Maul auf. Ein schrecklicher Schrei kam aus der Tiefe seiner Kehle. Konga schrie. Carminia schrie. Sie stand in der hintersten Ecke, hatte die Hände zur Faust geballt, so daß die Fingernägel ihr ins Fleisch drangen. Sie war unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Konga erging es ebenso. Er war wie gebannt. Macabros führte das Dämonen-Maske zurück.
auf
die
Der Riesenfrosch zerfloß. Er wurde Zeuge der Auflösung. Er war ein Dämon. Welche Kräfte auch immer hier frei wurden: Macabros kannte sie nicht. Er war nicht der Verursacher. Alles wurde durch die unheimliche Maske gesteuert, die durchschlagende und ungeheuerliche Wirkung zeigte. Der unheimliche Frosch wankte hin und her. Er war nicht in der Lage, seinen Standort zu wechseln und zur Tür hin zu entkommen. Grüne und gelbe Dämpfe stiegen aus seinem Körper. Die Luft in dem kleinen Zimmer wurde stickig.
Das Licht veränderte sich. Es wurde düster, als würde eine dunkle Wolke alles Licht verschlucken. Da wurde die Tür aufgerissen. Björn Hellmark tauchte auf. Originalkörper und Kopie waren dicht beieinander. Hellmarks Fähigkeit, sich zu verdoppeln, war nicht nur auf seine eigene Zellstruktur beschränkt, sondern er konnte sie auch auf die Dinge erweitern, die er unmittelbar am Körper trug und die zum Zeitpunkt der Verdoppelung „zu ihm" gehörten. Die beiden Masken, hatten verstärkte Wirkung und beschleunigten den Vorgang. Die außergewöhnliche Gabe Björns vermochte nicht nur die äußere Erscheinung zu kopieren, sondern auch die Kraft und das Leben, das in ihnen wohnte. Wäre dies nicht so gewesen, würde der Ätherkörper, den er produzierte, ohne Leben gewesen sein. Dieser Vorgang lief mechanisch ab und ohne daß er es beeinflussen konnte, ebenso wenig wie ein Mensch Herzschlag und Atmung beeinflussen konnte. Beides wurde vom vegetativen Nervensystem aus gesteuert. Konga schrumpfte. Aus der Froschgestalt schälte sich die eines Menschen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Dietrich Tössfeld auf Macabros und Hellmark. Konga und Dietrich Tössfeld waren ein und dieselbe Person! *
Björn mußte an die Prophetie Kan Takoors denken.
Aber Carminia Brado schrie noch immer.
Der Sucher, der mit Dirk Tössfeld identisch war, würde einen Sohn haben. Als Rache dafür, daß Dirk Tössfeld den Dämonen ein Geheimnis entrissen, hatten sie seinen einzigen Sohn auf ihre Seite gezogen. Dietrich Tössfeld bewegte seine zerfließenden Lippen.
„Es ist alles in Ordnung. Es kann dir nichts mehr passieren", sagte Björn. Auch sein Doppelkörper löste sich auf.
„Es ist mißglückt... ich habe meinen Auftrag nicht erfüllt..." Stockend und verzerrt klangen die Worte durch den düsteren, mit giftgrünen und schwefelgelben Nebeln erfüllten Raum. „Ich hatte gehofft, dich in meiner Sammlung zu haben... ausgenommen, ausgestopft, konserviert... ich wollte das aus dir machen, was die Menschen aus meinen Helfern gemacht haben ... ausgestopfte Vögel, Katzen und Affen, konservierte und aufgespießte Frösche ... Häuser, in denen die Helfer wohnten ... vernichtet ... ich wollte Menschen ... gleiche Weise heimzahlen ... überall habe ich sie gesucht... die Verlorenen... hatte ich sie gefunden, habe ich sie an mich genommen..." Seine Stimme wurde schwächer. Konga war verschwunden. Nun verschwand auch Dietrich Tössfeld. Er löste gewaltigen schwefelgelb die Hölle ihre
sich auf in einer Wolke. Die war und stank, als hätte Pforten geöffnet.
* Dann war der Spuk vorbei.
Aber Carminia gab keine Ruhe. Sie erkannte ihn nicht, auch seine Stimme bedeutete ihr nichts. Die Maske, schoß es ihm plötzlich durch den Kopf. Blitzschnell riß er sie sich vom Gesicht, hielt sie in der Hand und starrte verwundert darauf. * Er hielt ein graubraunes Etwas in der Hand. Weich wie Stoff, knisternd wie Pergament. Aber die Maske war nicht geformt. Sie war ein Lappen, ein einfacher, nichtssagender Lappen aus Dämonenhaut! Was war daran so erschreckend? Er konnte nichts feststellen. Das Ganze erinnerte ihn irgendwie an eine Strumpfmaske, wie sie sich Kriminelle überstülpten, wenn sie ihr Gesicht verbergen wollten. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe Carminia wieder ansprechbar war. Er nahm sie in die Arme und sprach ihr beruhigend zu. „Björn", hauchte sie schließlich. „Ich — habe dich nicht erkannt. Du hast schrecklich ausgesehen." „Wie hast du mich gesehen?" wollte er wissen. „Als Tod! Du hast ausgesehen wie der leibhaftige Tod!" * Seine Kritik wurde sofort wach.
Konnte es sein, daß das Bild eines Totenkopfes einem Dämonen derart zusetzte, daß er vor Entsetzen floh, daß seine Gestalt zerfloß und er in jenes finstere Reich zurückkehrte, aus dem er geschickt worden war. Hellmark glaubte das nicht. Während Carminia Brado auf dem Bett lag und sich entspannte, ging er ins Badezimmer und stellte sich vor den Spiegel. Er stülpte sich die unscheinbare Maske über den Kopf. Was seine Augen sahen, ließ ihm den Atem stocken. Er erblickte sein Gesicht als Totenschädel. Die dunklen Augenhöhlen glühten, der große lippenlose Mund bewegte sich. Der Eindruck, den er von sich selbst bekam, war erschreckend. Sein Gesicht wirkte nicht als Maske. Es wirkte lebensecht, so, als würde er tatsächlich einen solchen Kopf auf seinen Schultern tragen. Und gerade darin lag die Wirkung der Furcht. Er hatte eine Idee. Al Nafuur, dessen Stimme in diesem Augenblick in seinem Bewußtsein ertönte, bestätigte ihm seine Überlegungen. „Nur ein Mensch sieht darin die Abbildung eines Totenkopfes, Björn! Der Tod ist der Scheideweg in diesem Leben der Tod beschäftigt alle, er verbreitet die meiste Angst und die größte Not. Du bist Kaphoon, der Namenlose. Die Maske zeigt dich so, wie du wirklich von denen gesehen werden sollst, die dich mit der Maske sehen: du bist von den Toten zurückgekehrt... Die
Dämonen aber sehen dich anders. Wie sie dich sehen, kann ich dir nicht sagen und nicht zeigen. Würdest du dich so erblicken — der Anblick würde dich auf der Stelle töten." * Drei Minuten lang blieb Björn reglos vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich genau. Zahllose Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Jetzt war er wirklich Macabros, jetzt machte er diesem Namen alle Ehre. Der Besitz der Maske wurde zu einer Waffe, die er nicht hoch genug einschätzen konnte. Aber er mußte lernen, damit umzugehen. Nicht immer und nicht zu jeder Zeit konnte er sie tragen. Sie wirkte nicht nur auf die Dämonen, sondern auch auf Menschen grausam. Hier hießt es Vorsicht walten zu lassen, Er nahm die Maske ab und rollte sie zusammen. Björn ging ins Zimmer zurück. Carminia Brado lächelte ihn an. Er erwiderte dieses Lächeln ... * Inzwischen war Ernst Martens zu sich gekommen, und auch seine Frau war wieder bei Bewußtsein. Hellmark und Carminia Brado bemühten sich um sie. Die Brasilianerin hatten den Schreck schneller von sich schütteln können, als die beiden älteren Leute. Eine Stunde später kam die Abordnung aus Cuxhaven. Herbert Hark, stellvertretender Leiter, nahm die Aussagen zu Protokoll.
Zu phantastisch hörten sie sich an, als daß er auch nur ein Wort glaubte.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Carminia Brado und Björn Hellmark bereits wieder in Genf.
Hellmark und seine Begleiterin blieben diese Nacht in der Pension. Hark und seine Leute ebenfalls. Am nächsten Tag gingen sie zur Mühle.
Hellmark wußte, daß dies nicht seine einzige Begegnung mit der finsteren, unglaublichen Welt der Dämonen und bösen Geister gewesen war. Noch härtere und unglaublichere Abenteuer würden ihm bevorstehen. Von einer Minute zur anderen konnte irgend etwas in seinem Leben passieren, von dem er nicht wußte, ob es ihn nicht endgültig ins Verderben stürzte, weil er die Gefahr nicht rechtzeitig erkannte.
Das Bauwerk war eingestürzt. Vor Altersschwäche, wie Hark meinte. Er organisierte die Aufräumungsarbeiten. In einem geheimen Stollen, hinter einer doppelten Mauer, fünf Meter unter der Erde stieß er schließlich auf das makabre Labor. Er fand die ausgestopften Tiere und die konservierten, aufgespießten Leichen. Unter ihnen nicht nur Jörg Maruschka und Kommissar Breitstetter, sondern auch die beiden Männer, nach denen der Kommissar vergebens gesucht hatte und die Konga, dem Menschenfrosch in die Hände gefallen waren.
Aber daran Wollte er nicht denken, als er zwei Tage später seinen Besuch aus Amerika vom Flughafen abholte. Bert Merthus kam pünktlich wie versprochen. Und Hellmark hoffte, Haß er diesem Gast in seinem Haus all die Sicherheit geben konnte, die sie beide brauchten, um ihren Weg unbeirrt fortzusetzen.
ENDE