PITIGRILLI Kokain
Über den Autor Pitigrilli, Pseudonym des italienischen Schriftstellers Dino Segre, wurde 1893 in Tur...
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PITIGRILLI Kokain
Über den Autor Pitigrilli, Pseudonym des italienischen Schriftstellers Dino Segre, wurde 1893 in Turin geboren, wo er auch 1975 starb. Bereits während er die höhere Schule der Dominikaner besuchte, fiel er durch seine kritischen Fragen auf und veröffentlichte später brillant freche Artikel in Studentenzeitungen. Der promovierte Rechtswissenschaftler arbeitete als Redakteur für verschiedene Zeitungen und gründete die Zeitschrift «Le Grandi Firme» (Die großen Namen). Bevor er 1940 Lina Furlan («er war schön, groß, elegant, bescheiden») heiratete, Italiens erste Rechtsanwältin an einem Schwurgericht, galt Pitigrilli als Salonlöwe und war längere Zeit mit der mondänen Dichterin Amalia Guglielminetti («er war frech, höhnisch, faszinierend, wunderbar») liiert. Die zwanziger Jahre verbrachte er als Zeitungskorrespondent in Paris, wo auch seine ersten, heftig diskutierten Bücher entstanden. Als 1939 auch in Italien die Rassengesetze in Kraft traten, mußte er wegen seiner jüdischen Herkunft auswandern, zunächst in die Schweiz, dann nach Argentinien. Mit den nach seiner Rückkehr aus dem Exil entstandenen Büchern dokumentierte der zynische Skeptiker Pitigrilli seine Hinwendung zum Moralismus und sein spätes Bekenntnis zum Katholizismus. In seinem wohl bekanntesten Werk schildert Pitigrilli erschreckend eindrucksvoll den physischen und psychischen Verfall des dandyhaften Tito Arnaudi, der sich aus einer Laune heraus auf das dekadente Spiel mit der Droge einläßt. «Das liest sich so mondän wie die erotischen Kriminalgeschichten seines Geistesbruders Walter Serner und so larmoyant wie ein Krimi von Raymond Chandler.» («Der Abend», Berlin) Von den originellen, skandalumwitterten Frühwerken aus den zwanziger Jahren sind im Rahmen der Neu-Edition bereits erschienen: «Ein Mensch jagt nach Liebe» (rororo Nr. 5979), «Der falsche Weg» (rororo Nr. 5987), «Die Jungfrau von 18 Karat» (rororo Nr. 12150), «Betrüge mich gut» (rororo Nr. 12179), «Luxusweibchen» (rororo Nr. 12201) und «Vegetarier der Liebe» (rororo Nr. 12240).
PITIGRILLI Kokain Roman
Bearbeitete Ausgabe der Übersetzung aus dem italienischen von Maria Gagliardi
Die italienische Originalausgabe erschien 1911 unter dem Titel «Cocaina: romanzo» im Verlag Sonzogno, Mailand. Die deutsche Übersetzung von Maria Gagliardi erschien erstmals 1917 im Eden Verlag, Berlin, und wurde 1988 für die vorliegende Ausgabe bearbeitet. Umschlagbild Hendrik Dorgathen
1 In der Klosterschule der Barnabitermönche hatte er Latein gelernt, die Messe zu bedienen und falsch zu schwören. Drei Dinge, die man jeden Augenblick nötig haben kann. Aber als er die Schule verließ, vergaß er sie alle drei. Er studierte einige Jahre Medizin; aber bei der chirurgischen Prüfung wurde ihm gesagt: «Ich kann Ihnen nicht gestatten, die Prüfung mit dem Monokel im Auge abzulegen. Entweder Sie verzichten auf das Monokel, oder Sie machen kein Examen.» «Schön, ich mache kein Examen», antwortete Tito und stand auf. Und er verzichtete auf die Doktorprüfung. Er kaute chewing-gum, den ein Onkel aus Amerika ihm als Vorschuß auf die Erbschaft schickte, und rauchte billige Zigaretten. War er ergriffen von dem Anblick einer Frau, so schrieb er ihren Namen in sein Notizbuch, in eine Spalte unter die anderen Namen derjenigen, die ihm schon vor ihr gefallen hatten; und sobald er der ständigen Geliebten überdrüssig war, zog er sein Verzeichnis zu Rate: jetzt ist die Reihe an Luisella. Und er ging zu Luisella: «Jetzt sind Sie dran, aber beeilen Sie sich, denn nach Ihnen wartet schon Mariuccia.» Wenn er Mariuccia begegnete, sagte er zu ihr: «Du bist noch nicht dran. Erst kommt Luisella.» Da er keinen Schnurrbart trug, hatte er sich angewöhnt, an den Augenbrauen zu drehen. «Warum zerren Sie immer an Ihren Augenbrauen?» fragte ihn eines Tages eine junge Dame. «Jeder zieht an den Haaren, die er hat, je nach seinem Alter und seinem Geschlecht», erwiderte Tito. Die junge Dame hielt ihn für sehr geistreich und verliebte sich in ihn. Dieses Fräulein war eine Hausnachbarin und zählte zwanzig Jahre. Das sind Dinge, die allen jungen Leuten beiderlei Geschlechts passieren, wenn sie neunzehn Jahre alt geworden und bevor sie in das einundzwanzigste Jahr eingetreten sind. Aber über dieses Alter hinausgelangt, wendet man sich mit Bedauern rückwärts, wie nach einer wunderbaren Zeit, die wir nicht genügend ausgekostet haben. Sie hieß Maddalena, und obwohl sie eine Stenotypistenschule besuchte, war sie ein anständiges Mädchen. Die restlos unbescholtene Mutter schien des Sonntags, wenn sie spazieren gingen, mit ihrer eigenen Brust die zwanzigjährige Jungfräulichkeit der Tochter zu schützen. Der Vater, einer jener altmodischen Männer, die noch nach Talern und Groschen rechnen, wartete Abend für Abend, die ausgegangene Zigarre zwischen den Fingern und die Brille auf die Stirn geschoben,
auf ihre Rückkehr, und wenn sie sich um zehn Minuten verspätete, unterzog er Maddalena einem Verhör, wobei er die hundert Jahre alte, mit einem Schlüssel aufzuziehende Uhr wie ein Schwert in der Luft schwang. Er wußte, daß es bei den Mädchen mit einer Verspätung von fünf Minuten anfängt und mit einer Verspätung von vierzehn Tagen, und auch länger, aufhört. Die ganze Geschlechtsmoral zielt im Grunde nur darauf ab, bei den jungen Mädchen die Gefahr der Verspätungen abzuwenden. Die moralischen Grundsätze dieses Vaters und dieser Mutter waren nicht zu erschüttern. Eines Tages, als man gesehen hatte, daß Maddalena Küsse mit Tito, dem Studenten der Medizin und Hausnachbar, tauschte, brachen aus der wackeren Brust der Mutter die malerischsten, von der vergleichenden Zoologie eingegebenen Schimpfworte, die sich über die Treppe verbreiteten und widerhallten, dann ging sie zu Ausdrücken der gerichtlichen Medizin über (degeneriert, unverantwortlich, Satyr), und als Repertoire und Lungen erschöpft waren, packte sie das Mädchen beim Arm und zerrte es ins Haus. Am nächsten Tag trat Maddalena in eine Besserungsanstalt für gefallene oder gefährdete Mädchen ein, wo sie zehn Monate, das heißt bis sie großjährig war, blieb. Denn die Mutter - arm, aber anständig - und der Vater - arm, aber tadellos - konnten nicht gestatten, daß die Tochter auf Abwege geriete. In der Königlichen Besserungsanstalt wurde der Kontakt mit den verderbten Gefährtinnen neutralisiert durch den täglichen Besuch gewisser frommer und aristokratischer Damen, die durch ihre Anwesenheit, ihre Worte und ihr Beispiel den Zöglingen den blühenden Pfad zur Tugend zeigen sollten. Aber die vertrockneten und bebarteten Damen, ohne Busen und ohne Eierstock, hatten die heilsame Wirkung, die Zöglinge der Anstalt mit Besorgnis zu erfüllen und ihre noch zögernde Einbildungskraft auf die Paradiese des Lasters zu richten. Es ist ein schwerer Irrtum, das Kaleidoskop der Tugend garstigen und abstoßenden Frauen anzuvertrauen. Die Reformatoren des weiblichen Geschlechts müßten, für einen gerechten Ausgleich, die glänzendsten Kokotten auffordern, die Sträflinge zu besuchen und ihnen zu verstehen zu geben, daß sie so schön, so anziehend und verführerisch geworden seien, weil sie Bescheidenheit und Keuschheit geübt haben. Während man die alten und frommen und garstigen und aristokratischen und bebarteten Damen nützlich verwenden könnte, um den Zöglingen zu zeigen, in welches Unglück Ausschweifung und zügelloser Lebenswandel führen. Die älteren Gefährtinnen lehrten Maddalena alle Künste der Galanterie, vom heimlich herbeigeführten Abort bis zur Entolage. Sie machte einen vorbereitenden theoretischen Kurs der Prostitution durch, und als sie die Anstalt verließ, um unter das väterliche Dach heimzukehren, verzieh sie ihren lieben Eltern die übermäßig strenge Maßregel, die sie vor beinahe einem Jahr (zu ihrem Besten) ergriffen hatten. Die Eltern ihrerseits verziehen ihr den jugendlichen Fehltritt, erklärten ihr aber, daß, wo es sich um die gute Sitte handelte, ihre Ehrenhaftigkeit keine Ausnahmen zulassen dürfe. Kurze Zeit nach ihrer Rückkehr nannte Maddalena sich Maud, denn sie war die Geliebte eines
großen Industriellen und eines sehr reichen Priesters geworden. Ihre Eltern - arm, aber rechtschaffen - störten ihre Karriere nicht, um so weniger, als die Mutter das Recht hatte, sich alltäglich nach ihrem Befinden zu erkundigen sowie nach den übriggebliebenen Resten der Küche. Der Vater erklärte: nein, ich nehme nichts an, nahm aber selbst Banknoten an, bediente sich bei den Zigarren des Industriellen und bei den Likören des Priesters, aus dessen Mantel er verstanden hatte, einen prachtvollen Gehrock zu machen, den er zu ganz großen Gelegenheiten trug und zu Besuchen bei der Tochter. Und da diese noch ganz neue Schuhe und Strümpfe ablegte, unternahm der Vater es, sie zu verkaufen, teilte natürlich dann den Ertrag in zwei gleiche Teile: einen für sich und den anderen für seine Frau. Als Tito erfuhr, daß Maddalena in eine Besserungsanstalt eingesperrt worden war, warf er sich verzweifelt in einen nach Frankreich fahrenden Zug und gelangte achtzehn Stunden später in Paris an. Er hatte in der Tasche wenige Hundertlirescheine und keinerlei Empfehlungsbriefe. Alle Menschen, die ihren Weg gemacht haben, sind ohne Empfehlungsschreiben aufgebrochen. Er begab sich sogleich zu einem Typographen, um hundert Visitenkarten zu bestellen, die er im Lauf des Tages erhielt. Prof. Dr. Tito Arnaudi Prof. Dr. Tito Arnaudi Prof. Dr. Tito Arnaudi... Er las sämtliche Karten einzeln durch... Als er bei der hundertsten ankam, war er überzeugt, dass er wirklich Doktor und Professor sei; um andere zu berzeugen, müssen wir vor allem uns selbst überzeugen. Die erste Karte schickte er jenem Pedanten, der ihm befohlen, das Monokel herunterzutun, und ihn so gehindert hatte, das Doktorexamen abzulegen. Wozu also Examen, wenn eine Visitenkarte dieselben Dienste tut wie ein Diplom? Auf dem Asphalt eines Boulevards, wo er, eine Beute der Melancholie der ersten Tage, einherschlenderte, in den Himmel guckend, als suchte er den geeignetsten Punkt für einen Strick, um sich aufzuhängen, begegnete er einem Schulkameraden. «Ich erinnere mich sehr gut an dich. Du hast die Geschichtsdaten gelernt, als wären es Telefonnummern: Krönung Karls des Großen acht null null; Entdeckung Amerikas vierzehn neun zwo. Bist du schon lange hier? Wo speist du?» «Bei Diners de Paris», antwortete der andere. «Komm doch auch hin. Man ist sehr gut dort aufgehoben.»
«Du bist alle Tage dort?» fragte Tito. «Alle Tage.» «Aber immer in dasselbe Restaurant zu gehen, dazu gehört eine beneidenswerte Ausdauer!» «Nein», entgegnete der andere, «man muß nur tun, was ich tue.» « Und was machst du ?» «Den Kellner.» Tito Arnaudi speiste im Diners de Paris. «Wie fängt man es an, an diesem Ort eine Geliebte zu finden?» fragte er den Freund und Kellner. «Man spricht eine Dame an und schlägt ihr vor, etwas zu trinken; sie nimmt an. Du bietest ihr ein Mittagessen an, sie weist es nicht zurück. Du bietest ihr einen Platz in deinem Bett an, und wenn sie keine Verpflichtungen gegen andere hat, geht sie mit dir zu Bett.» Am folgenden Tag näherte sich Tito Arnaudi einer jungen Dame und bot ihr ein Getränk an, ein Mittagessen und traf eine Verabredung mit ihr für den nächsten Tag, vor einem Theater. «Ich werde die Billetts nehmen.» «Nehmen Sie sie.» «Werden Sie auch kommen?» «Gewiß, ich werde kommen.» «Ganz bestimmt?» «Sans !» Das Fräulein war schön. Sie hatte erzählt, daß sie Mannequin bei einem großen Schneider im Opera-Viertel sei. Elegant, lebhaft, dekorativ, besaß sie alle Erfordernisse für eine ideale Geliebte. Im Ausland kann man nicht ohne eine Geliebte leben. Wenn es nicht gelingt, sich eine zu verschaffen, ist man gezwungen, nach einem Monat in die Heimat zurückzukehren. Es muß eine Frau sein, um derentwillen du die Heimat vergißt, deinen Aufenthaltsort wechselst und deine Nationalität verleugnest. Sobald ein Mann allein in einem fremden Ort ankommt, überfällt ihn das Gefühl trostloser Einsamkeit. Unablässig kehrt der Gedanke zurück zu der Landschaft, zu den Straßen, zu den Mauern, die wir verließen. Begegnet man aber einer Frau, die bereit ist, sich hinzugeben, so ist sie für uns sogleich eine neue Welt, ein neues Vaterland; ihre Zärtlichkeit, aufrichtig oder simuliert, umgibt uns wie eine schützende Kapsel. Sie verleiht gleichsam eine Exterritorialität, eine Art Asylrecht. Die Frau ist für den Landesverwiesenen ein Stück Heimat auf fremder Erde.
Das Auswanderungskommissariat müßte an der Grenze einen Dienst einrichten für die Verteilung von Frauen an die einsamen Auswanderer. Tito war überströmend glücklich. Er hatte eine Frau gefunden und würde sie am folgenden Tage wiedersehen. Mit dieser Gewißheit im Herzen oder vielmehr auf den Lippen - denn er redete unaufhörlich davon -, begann er in Paris umherzuschlendern und die Schaufenster zu betrachten. Paris gefiel ihm. Die Frau ist ein Kristallprisma, durch das man die Dinge betrachten muß, um sie schön zu finden. Drei Tage danach fragte der Kellner Tito: «Hast du dir eine Geliebte angeschafft?» «Sprich nicht davon», antwortete Tito. «Für eine Frau, der ich im Cafe begegnete, hatte ich zwei Billetts für La Pie qui chante genommen. Eine halbe Stunde vor Anfang der Vorstellung war ich, wie verabredet, vor dem Theater und wartete auf sie. Um neun Uhr war das Fräulein noch nicht erschienen. Die beiden Billetts kosteten mich fünfzig Komma siebzig Francs. Allein hineingehen? Was denkst du? Der leere Platz neben mir hätte mir das ganze Schauspiel vergällt. Nicht hingehen? Mit den beiden Billetts in der Tasche wäre mir damit auch nicht wohl gewesen. Ich stelle mich also in die Tür des Theaters, um Leute, die noch keine Einlaßkarten haben, anzusprechen. Ein alter Herr mit Gattin und Opernglas, dem ich sie anbiete, bezahlt sie mir, ohne ein Wort zu verlieren, und gibt mir fünf Francs Trinkgeld. Er hält mich für einen Billetthändler. Ich sträube mich. Der andere glaubt, daß ich mit fünf Francs nicht zufrieden bin und bietet mir zehn. In dem schlechten Französisch, das ich stottere, weise ich sie zurück mit der großartigen Geste des Curius Dentatus, der die Geschenke der Samniter abweist. Der Mann reicht mir zwanzig, wobei er mit den Zähnen knirscht und mich einen Dieb schimpft.» «Und du?» fragte der Freund. «Ich fühlte mich gekränkt.» «Und hast ihm seine zwanzig Francs ins Gesicht geworfen?» «Was denkst du? Wären es fünf oder zehn gewesen...! Ich habe sie in die Tasche gesteckt.» «Bravo. Und jene Frau?» «Nie wiedergesehen.» So waren die ersten Tage vergangen, und Tito hatte sich eingewöhnt. Bei der Begegnung mit der Frau, die ihn einen Augenblick entzückt hatte, hatte er Maddalena vergessen. Und da er sie nun einmal vergessen hatte, erinnerte er sich ihrer nicht mehr. Dumm, aber wahr. Die Frauen sind wie Maueranschläge in unserem Herzen. Um den ersten zu verstecken, wird ein zweiter darübergeklebt, der ihn vollständig bedeckt. Vielleicht siehst du, solange der Kleister noch weich und das Papier noch feucht ist, die Farben des ersten vage durchschimmern. Aber bald ist auch keine Spur davon mehr sichtbar. Wird alsdann der zuletzt befestigte losgelöst, so
werden alle beide gleichzeitig entfernt, und die Erinnerung und das Herz bleiben kahl zurück wie eine Mauer. Jeden Abend, sobald er frei war, führte der Kellner Tito in Paris herum. «Beim Herumstreifen durch die Stadt findet man auch eine Anstellung», meinte der Kellner, «aber sicher niemals, wenn man sich an Vermittler und Bureaus wendet. Wenn du, wie ich, Kellner sein willst, so finde ich dir eine Stelle. Es ist kein schwerer Beruf. Es genügt, daß du liebenswürdig mit den Kunden bist. Bist du in der Küche, kannst du in die Schüssel spucken, aber die Schüssel muß mit einem eilfertigen Lächeln und einer elastischen Verbeugung serviert werden. Jeder Arbeiter hat das Bedürfnis, sich selbst ab und zu zu beweisen, daß er kein Knecht ist, oder wenigstens, daß er in irgendeiner Weise der bedienten Person überlegen ist. Der letzte selbständige Angestellte in einem Amt, der von einer endlosen Reihe von Oberbeamten überwacht wird, macht sich dem ersten Unterbeamten gegenüber Luft; der armseligste der Gerichtsboten mißhandelt den Laufburschen, um nicht das Gefühl zu haben, unter den Niedrigen der Niedrigste zu sein. Der Laufbursche beschimpft das Publikum. Der größte Lump unter den Menschen mißhandelt das Kind, das ihm in den Weg kommt; das Kind mißhandelt den Hund. Das ganze Leben ist eine Stufenleiter von Gemeinheiten. Wir müssen immer denken, daß jemand noch tiefer steht als wir, schwächer ist als wir. Der Kellner spuckt in die Schüssel des Gastes und täuscht sich dabei vor, daß er jemanden erniedrigt, der ihn erniedrigt, weil er ihn duzt und ihm ein Trinkgeld gibt. Vielleicht widerstrebt dir, der du noch vollgesogen bist von Vorurteilen, der Gedanke zu dienen, aber wir dienen alle; selbst der Präsident des Reichsgerichts dient; auch die große Kurtisane, die fünftausend Franken einnimmt dafür, daß sie sich das Hemd aufbinden läßt, dient; es dient auch der Börsenmann, der mit einem Telefongespräch eine halbe Million in die Tasche steckt. Auch der Künstler, der Arzt, der Erzbischof, sie alle dienen... Willst du mich begleiten? In ein paar Tagen lehre ich dich, acht gefüllte Teller in der Linken und zwölf in der Rechten zu halten und bringe dich dahin, die Namen von fünfundzwanzig verschiedenen Gerichten zu wiederholen und an ganz anderes dabei denken zu können.» Tito erwiderte: «Nein, danke. Wenn ich Lust habe zu spucken, spucke ich auf die Erde.» Tito wohnte in einem kleinen Hotel auf dem Montmartre, wo die Treppe, die zur Hälfte der durch Preßluft betriebene Fahrstuhl einnahm, so steil und schmal war, daß man gezwungen war, die Koffer durch Stricke an der äußeren Wand in die oberen Zimmer des Hauses hinaufzubefördern und durch das Fenster hineinzuziehen. Man atmete dort jenen Geruch nach Seife, Tabak, weiblicher Transpiration, Militärleder, ordinären Parfüms, von denen die maisons closes für bescheidene Börsen saturiert sind. Das Haus war so hoch und schmal, daß die Zimmer des letzten Stockwerks zitterten wie die Zeiger eines seismographischen Apparats; es genügte, daß, wenn irgend jemand auf der Straße
ein wenig kräftig fluchte, Titos Bett dreißig Meter über der Erdoberfläche erschüttert wurde. Beinahe jede Nacht machte die Polizei dort einen Besuch und waltete ihres Amtes. An Dauermietern gab es außer Tito nur noch einen geheimnisvollen Mann von ungefähr fünfzig Jahren, dem ein Bein fehlte, das er durch ein plumpes und geräuschvolles Holzglied ersetzt hatte. Er hatte das Aussehen eines Viehmaklers und eine braune, vertrocknete Hautfarbe, gleich einem Bootsmann auf einem Segelschiff... Niemand wußte, welchem Gewerbe er nachging. Der Hotelwirt sagte: «Alles, was ich von ihm weiß, ist, daß er mich alle fünf Tage regelmäßig und pünktlich bezahlt.» Jeden Morgen um vier Uhr hörte man sein Holzbein die Treppe hinaufhinken. Alle die anderen waren vorübergehende Gäste, die zu zweit kamen und nie länger als eine halbe Stunde verweilten. Tito hatte sich nunmehr daran gewöhnt, vier- oder fünfmal in der Nacht von den beiden, neben seinem Zimmer liegenden Schlafräumen die Reihenfolge der üblichen Geräusche zu hören, die den Liebeskauf zu begleiten pflegen: eine Tür öffnet sich, das Licht wird angeknipst, langsame Schritte im Zimmer, eine Männerstimme, eine Frauenstimme, Geräusch von Küssen, keuchender, rhythmisch bewegter tierischer Atem, Wassergeplansch, Männerstimme, Frauenstimme, Umdrehen des Lichtschalters, die Tür wird geschlossen, um sich kurz danach wieder zu öffnen und die gleiche Reihenfolge ganz derselben und in derselben Folge vor sich gehenden Geräusche hören zu lassen. Und er dachte bei sich: «Wie sich die Liebe doch immer wieder gleicht! Liebe, die man verschenkt, hat immer dieselben Worte; Liebe, die man verkauft, hat immer die gleichen Formeln!» «Woher kommst du?» «Aus Toulouse.» «Wie heißt du?» «Margot.» «Und seit wann führst du dieses Leben?» «Seit einem Jahr.» «Du hast keine Krankheit?» «Sehe ich so aus?» «Nun, dann zieh dich aus.» Aus dem anderen Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite ein anderer Mann mit einer anderen Frau, aber die gleichen Reden.
«Wie heißt du?» Louise. «Aus Paris?» Aus Lyon. « Schon lange her, daß du...» «Acht Monate.» «Bist du gesund?» «Ich habe nie im Bett gelegen - ich meine, allein...» «Zieh dir das Hemd aus.» In die verschlossenen Türen, die von seinem Zimmer in die beiden daranstoßenden führten, hatten unbekannte Neugierige oben und unten Löcher gebohrt, passend für jede Größe, die erfahrene Hände mit vergänglichen zerkauten Papierkügelchen zugestopft hatten. Die Stimmen der zufällig und vorübergehend vereinten Paare, die zu einer Liebesnacht hierherkamen, hatten ihn in der ersten Zeit so krankhaft erregt, daß sie ihn veranlaßt hatten, lange nächtliche Stunden mit dem Auge am Beobachtungsposten zu verbringen, um in das Zimmer nebenan zu spähen. Aber immer war es dasselbe Schauspiel. Auch die lasterhaftesten Formen, die verbotensten Kniffe, die außergewöhnlichsten Praktiken, immer waren sie die gleichen. Jedes männliche Wesen glaubte etwas Neues, etwas ganz Extravagantes zu tun und tat nichts anderes, als mit einer anderen oder auch derselben Frau das zu wiederholen, was eine halbe Stunde zuvor ein anderer ausgeführt hatte, in dem Glauben, Gott weiß welche seltene Neuheit auf dem Gebiet der animalischen Zeremonie er erfunden habe. Eines Abends sah er einen jungen Japaner hereinkommen mit einem japanischen Dirnchen, dem er, Tito, schon auf den Boulevards begegnet war. Der junge Japaner und die jugendliche Landsmännin wechselten einige einleitende Sätze miteinander, während der Mann seinen Rock ablegte. Ganz deutlich und klar vernahm Tito die Laute der orientalischen Sprache, alles gleichsam voneinander unabhängige Silben, eine von der andern losgelöst, wie das Ticken telegrafischer Tasten. Der Mann sprach gelassen, ein verschleiertes Lächeln um den rätselvollen Mund. «Was mögen sie einander sagen?» dachte Tito. Und er antwortete sich selbst: Er wird sie fragen, ob sie schon lange das Gewerbe der Geisha betreibt, und sie wird ihm antworten, erst seit wenigen Monaten, und daß sie in Yokohama geboren sei, daß sie Haru heiße, Frühling, oder auch
Urne, Kirschenblüte. Montmartre, diese Amme, die das Glück hat, Frankreichs Hirn zu ernähren, wie Rodolphe Salis, der Vater der Pariser humoristischen Zeitungen, sagte. Montmartre oder einfach la Butte, dieser von der Moulin de la Galette beherrschte Hügel, unterstrichen von den äußeren Boulevards und zwischen der Place Pigalle und der Place Clichy wie von zwei großen Schließen befestigt. Montmartre, das moderne Babylon, das elektrisierte Antiochien, das kleine Bagdad, der Traum des kosmopolitischen Somnambulismus, der fesselnde, betäubende, erstaunliche Winkel, dem sich der Traum der Blasierten des ganzen Erdenrunds zuwendet, wohin alle erfahrenen Konzessionäre der Liebe, die es auf der Welt gibt, pilgern, um das Taschentuch zu werfen, auch solche, die nichts zu schneuzen haben. Montmartre, die Sphinx, die Circe, die käufliche Meduse, strotzend von vielen Giften und unzähligen Liebestränken, lockt den Reisenden mit einem Zauber an, der alle Grenzen überschreitet. Komödien, Romane, Zeitungen wehen in alle Kontinente den Duft von Montmartre: den literarischen, theatralischen, journalistischen Hauch, dem jeder Künstler seine Moleküle beigefügt hat. Montmartre sendet in die Ferne aller Windrichtungen sein Glänzen berühmter Kahlköpfe, großherzoglicher Dekolletierungen, königlicher Edelsteine, fürstlicher Hemdbrüste, spitzer Zähne von unersättlicher Raubgier. Jeder von uns hat sich aus der Ferne ein künstliches Montmartre erdichtet, hingelagert in das Gefüge einiger Straßennamen, moulins, tabarins oder Nachtrestaurants. Und wenn wir auf dem Montmartre ankommen, fühlen wir eine Enttäuschung, die wir nicht immer einzugestehen wagen, um uns nicht den Anschein zu geben, als gebärdeten wir uns wie abgelebte Leute. Aber im Grunde sagt jeder von uns: «Ist das alles?» «Ist das alles?» fragte Tito Arnaudi den Kellner-Freund, nachdem sie die berühmtesten und charakteristischsten Vergnügungsorte aufgesucht hatten. -«Ich gestehe dir, daß mir das Quartier Latin und Montparnasse erheblich interessanter erscheinen; hier geben die Leute vor, sich zu amüsieren, dort geben sie vor, nachdenklich zu sein; zwischen beiden ziehe ich die falschen Denker vor, weil sie weniger geräuschvoll sind.» Tito hatte eine Erwerbsquelle gefunden. «Ich hatte es dir vorausgesagt», erwiderte der Freund, als er es diesem mitteilte. «Ich hatte dir gesagt, daß man einen Verdienst findet, wenn man in Paris umherschlendert.» «Ja», entgegnete Tito, «du hast recht. Aber während ich in Paris herumlief, habe ich einen Erwerb in New York gefunden.» «Löse mir das Rätsel.» «Ein Onkel von mir, in Amerika...» «Es gibt also wirklich Onkel in Amerika?» «...Direktor einer großen Morgenzeitung, hat mir gekabelt, daß er sehr gern die Artikel, die ich
ihm angeboten habe, veröffentlichen würde. Zur Großmut des Onkels kommt noch der Vorteil des Kurses; ich kann mir ein kleines, durchaus nicht verächtliches Monatssalär verdienen. Der erste Artikel, den ich schreiben werde, wird von Kokain und den Kokainschnupfern handeln.» Der Kellner hatte ihn ebendeshalb nach Montmartre geführt, auf der Suche nach den Höhlen, wo sich die Anbeter des coco captivante einnisten. «Hier?» fragte Tito auf der Schwelle des Cafes. «Hier», antwortete der Freund hineindrängend. Von außen machte das Cafe einen trübseligen Eindruck. Im allgemeinen machen die Pariser Cafes von außen einen trübseligen Eindruck: die Türen und die Fenster haben zuwenig Glas und zuviel Holz. Und das bißchen Licht, das eindringen könnte, wird zum Teil noch durch große Emailleschilder mit den Namen der Getränke und den Preisen der Gifte ausgesperrt. Während sie im Begriff standen, über die Schwelle zu treten, wurden sie von dem Mann mit dem Holzbein eingeholt, der einen Schritt zurückblieb, um sie vorzulassen. «Dieser Mann wohnt in meinem Hotel», sagte Tito, «und niemand weiß, was er treibt.» «Was er treibt?» antwortete der Freund. «Einen sehr schwunghaften Handel. Sein ganzes Kapital steckt in seinem Holzbein.» «Er bettelt?» sagte Tito. «Von wegen betteln!» «Ein Holzbein kann man anders doch nicht ausnützen.» «Meinst du? Er nützt es besser aus. Aber warte nur ab. Binnen kurzem wirst du dich davon überzeugen.» Der Wirt des Lokals stand hinter dem Tresen und schenkte einer Gruppe von Droschkenchauffeuren, die nach schlechtem Tabak und durchnäßten Regenmänteln rochen, große Gläser voll Bier ein. Hinter ihm schimmerten auf Kristallplatten lustig Likörflaschen, durch Girlanden von Fähnchen miteinander verbunden, welche die leuchtende Spiegelwand in dem gegenüberliegenden Spiegel verdoppelt widerspiegelte. Auf dem Schanktisch beherbergte ein großes kugelförmiges Aquarium die gewundenen Evolutionen einiger spleeniger Goldfische, die durch die Brechung der Lichtstrahlen und die Vermischung der künstlichen und natürlichen Beleuchtung das Aussehen bizarrer chinesischer Drachen erhielten. «Es gibt Leute», sagte Tito, während er am Tresen ein Glas Portwein schlürfte, «die sich, wenn sie ein paar Regentropfen abbekommen, mit Schmerzen ins Bett legen müssen, und die Fische, die ihr ganzes Leben im Wasser verbringen, wissen nichts von Rheumatismus.»
Ein metallisches, kreischendes Lachen ertönte, als hätte man gegen ein mit Gläsern gefülltes Gefäß gestoßen. «Mach, daß du fortkommst, dumme Gans!» schrie der Wirt. Das Mädchen mit gläsernen Augen und blassem Gesicht, das gelacht hatte, wich drei Schritte zurück, als hätte man sie bei der Kehle gepackt, und verschwand hinter den rötlichen Vorhängen, die den Zugang zum nächsten Zimmer schlossen. «Pas de petard ici», fügte der Wirt im argot hinzu; und da er sah, daß Tito ein Fremder war, übersetzte er: «Pas de bruit.» «Sprechen Sie zu mir?» fragte Tito gereizt. «A la môme», erklärte der Wirt, «a la poule...» Als die Chauffeure das Lokal verlassen hatten, flüsterte Titos Freund dem Wirt ein paar Worte ins Ohr, der, statt einer Antwort, sich verbeugend die rötliche Samtportiere hob: «A vôtre service!» Tito und sein Freund gingen hinein, so wie man jene Sorte Wachsfigurenkabinett betritt, die nur für männliche Personen über achtzehn Jahre zugelassen sind. Ihr Eintritt wurde mit einem gewissen Mißtrauen aufgenommen. Ein gelbliches, mattes Licht fiel auf die mit grünem Stoff bezogenen Tische, wie man sie beim Kartenspiel und bei Universitätsprüfungen hat. Das Zimmer war nicht sehr geräumig: ringsum an der Wand stand ein Diwan, acht kleine Tische, ein Klavier, einige mit Likör und Fingerabdrücken beschmutzte Zeitungen, ein wie von Diamantsplitterchen zerkritzelter Spiegel. Bevor er die Menschen beobachtete, beschäftigte Tito sich mit dem Milieu; dem natürlichen Impuls der Neugier folgend hätte er es umgekehrt machen müssen, aber um sich nicht einem ungerechten Verdacht auszusetzen und sich den Anschein zu geben, ein mit den Geheimnissen der Alkaloide Erfahrener zu sein, setzte er sich mit größter Unbefangenheit neben den Freund auf das Sofa. Er nahm eine Zeitung. Drei Frauen betrachteten ihn mit einem gewissen Mißtrauen und tuschelten über ihn, ohne daß Tito verstand, was sie sagten. Aber das Mädchen, das kurz zuvor im Nebenzimmer in der Nähe des Schanktischs eine seiner Bemerkungen mit lautem Lachen quittiert hatte, wandte sich an die anderen und verkündete, auf den neuen Gast deutend: «Pas béte le type!» Tito sah die Frauen, eine nach der anderen, prüfend an und stellte fest, daß alle vier Kleider von korrektem Schnitt und aus zartem Stoff trugen, die aber abgetragen, alt und zerdrückt wirkten und ohne die geringste Sorgfalt behandelt worden waren: das Weiß des Organdistoffes war gelb geworden, die Ledereinfassungen brüchig, die Seide zerschlissen, der Gürtel verdreht, die Schuhe
nicht abgenutzt, aber durch den nachlässigen Gang ausgetreten; der Hals der einen war nicht makellos sauber, und die lakierten, aber nicht gesäuberten Nägel boten ein widerliches Gemisch von rosa Emaille und schwarzem Schmutzrand. Die Frauen, eine dicht neben der anderen hockend, wie Vögel in einem Käfig, Hüfte an Hüfte, gleichsam um sich gegenseitig zu wärmen, stemmten ihre Füße gegen die horizontale Metallstange des Tischchens. Eine von ihnen hatte die Hacken auf ihren Sitz gestellt, die Waden und die Oberschenkel zusammengepreßt wie ein geschlossenes Taschenmesser, und sie stützte das Kinn auf die Knie. Alle vier hatten einen etwas glasigen Blick; die blutlosen, unbarmherzig mit Zinnober gefärbten Münder lebten in den blassen Gesichtern ein künstliches Leben. Diese vier stummen (oder durch den Eintritt der beiden Unbekannten verstummten?) Frauen schienen ihre Verurteilung durch ein unsichtbares Gericht zu erwarten, das jeden Augenblick durch die Vorhänge eintreten konnte. Der Blick einer von ihnen, der am wenigsten verstörten, richtete sich in der Tat dann und wann nach jener Seite, von der jedoch niemand hereinkam. Unter dem großen Spiegel würfelten zwei hagere Männer mechanisch, mit der unlustigen Gleichgültigkeit von alten Beamten, die Schreiberdienste in einem verstaubten Bureau leisten und die nicht für die Arbeit bezahlt werden, die sie tun, sondern für die Zeit, die sie drangeben. Einer von ihnen hatte den Rockkragen über das Halstuch geschlagen, das bestimmt war, den fehlenden Hemdkragen und die Krawatte zu ersetzen. Von dem zweiten Spieler sah Tito nur den Rücken und den Nacken; die ungepflegten Haare hingen ihm bis auf den Hals, aber bei einer Bewegung, die er machte, um die neuen Ankömmlinge zu mustern, konnte Tito sein Gesicht sehen. Eine jener üblen Visagen, denen man nur an den Tagen des Generalstreiks begegnet. Ein langes, mageres Gesicht, fast völlig zerfressen; es erinnerte an die fleischlosen Köpfe der von den Architekten Ochsenkopf genannten baulichen Verzierungen. Das Mädchen, das vorher gesprochen hatte, erhob sich, um mit einem der Spieler zu reden: indem sie sich über ihn beugte, streifte sie mit ihrer Wange liebkosend sein Ohr; aber unbekümmert fuhr der Mann in seinem Spiel fort. Nun hob sie seinen Rock und nahm aus seiner hinteren Hosentasche das Zigarettenetui, kehrte mit einer brennenden Zigarette zu den Freundinnen zurück, hob ein Bein bis zur Höhe der Schulter und ließ es mit bubenhafter Frechheit auf die Tischplatte fallen, daß die Gläser klirrten. «Amüsieren Sie sich?» fragte sie, sich an Tito wendend, der noch kein Wort gesprochen hatte. «Es geht nicht gerade lustig zu hier drin.» «Das merke ich. In der Morgue ist es lustiger!» entgegnete Tito. «Alsdann geh dorthin!» knirschte die beleidigte Frau. Aber der Würfelspieler wandte sich mit einem Ruck um und warnte sie: «Christine!» Tito Arnaudis Freund vermutete: «Wahrscheinlich halten sie uns für zwei Polizisten oder etwas Ähnliches.»
Tito lachte und wandte sich an die am wenigsten schweigsame Frau: «Ihre Freundinnen und der spielende Herr scheinen eine seltsame Meinung von uns zu haben. Ich habe den Eindruck, als seien Sie alle etwas verlegen. Aber wir sind nicht das, was Sie fürchten. Ich bin Journalist, und dies hier ist ein Kollege von mir. Nichts Gefährliches, wie Sie sehen.» «Journalisten?» mischte sich eine der drei schweigsamen Frauen ein. «Und was tun Sie hier?» «Was man in einem Cafe zu tun pflegt.» «Und weshalb haben Sie gerade dieses gewählt, anstatt irgendein Cafe auf den großen Boulevards, wo man die grues und die trottins vorbeigehen sieht?» «Weil dieses mir besser paßt, für das, was ich suche...» «Und was suchen Sie?» «Das Koko!» Die beiden Spieler legten die Würfel beiseite und näherten sich Tito. Einer von ihnen nahm einen Stuhl, setzte sich rittlings drauf, die Brust gegen die Lehne gestützt, und aus der Westentasche eine kleine silberne Schachtel ziehend, bot er sie geöffnet Tito an. Die vier Frauen stürzten sich auf ihn. Ah, Kanaille! «Vilain monstre!» Egoist! «Und sagt, daß er keins mehr hat.» «Und läßt uns sterben vor Begier!» Eine von ihnen langte mit Daumen und Zeigefinger in die Schachtel, aber der Mann schlug sie, scharf wie eine Messerklinge, indem er wütend schrie: «Hände weg!» Die Weiber beruhigten sich nicht. «Das Pulver!» «Das Gift!» «Das Koko!» Mit geöffneten Nasenlöchern und brennenden Augen reckten sie sich gierig vor, sehnsüchtig nach dem weißen Pulver verlangend, wie Schiffbrüchige, die um ein Eckchen in der Schaluppe kämpfen. Tito Arnaudi betrachtete diese wirren und ineinander verschlungenen Körper, getrieben von der
gleichen Begierde um eine Metallschachtel. Vier selbsttätige Elemente eines einzigen Ungeheuers, das sich gierig um eine kleine geheimnisvolle Beute windet und dreht, die sich aus der gemeinen pharmazeutischen Brutalität zur Würde eines Symbols erhebt. Tito schaute hin, aber er sah nichts als Hände, wie erstarrt im Schmerz, Hände mit knochigen, bleichen, gekrümmten Fingern, die sich zu Fäusten schlössen, so daß die Nägel sich in ihre Handflächen bohrten, um einen Schrei zu ersticken oder ein Verlangen zu beschwichtigen, oder um dem Schmerz eine andere Gestalt zu geben, oder um das Martyrium anderswohin zu lokalisieren. Die Hände der Kokainsüchtigen vergißt man nicht. Sie scheinen ihr eigenes Leben zu leben, sich früher als die anderen Körperteile auf das Sterben vorzubereiten und immer einen bevorstehenden Kampf mit Mühe zurückzuhalten. Die Augen, bald belebt von der Qual der Erwartung und bald matt und kraftlos von furchtbarer, durch das Fehlen des Giftes verursachter Melancholie, haben ein unheimliches Leuchten, etwas Erstorbenes, mit dem Tode ringendes Totes, während die Nasenflügel sich in ungeheuerlicher Weise weiten, um hier und da vielleicht in der Luft verstreute Moleküle von Kokain einzuatmen. Bevor Tito noch Zeit gehabt hätte, sich zu bedienen, steckten die vier Frauen ihre Finger in die Schachtel, und vorsichtig die andere offene Hand gleichsam als Teller unterhaltend, zogen sie sich an die Wände zurück, wie ein Hund, der, nachdem er einen Knochen gestohlen hat, einen entfernten Winkel aufsucht, um ihn zu verzehren. Alle Augenblicke sahen sie sich, während sie das kostbare Pulver an die geblähten und einsaugenden Nasenlöcher brachten, mißtrauisch um. Der bis zum Wahnsinn Geizige, die Frau, die nach Juwelen giert bis zum Delirium, vergöttern ihre Schätze nicht so, wie der Kokainomane sein Pulver. Für ihn ist diese weiße, schimmernde, bitterliche Substanz etwas Heiliges: er nennt sie mit den teuersten, zärtlichsten, süßesten Namen. Er spricht zu ihr, wie wir zu einer Geliebten sprechen, die wir wiedereroberten, als wir glaubten, sie unwiederbringlich verloren zu haben. Das Schächtelchen mit dem Gift ist heilig wie eine Reliquie, und er hält es einer Monstranz für würdig, eines Altars, eines Tempelchens. Wenn er es auf den Tisch stellt und es anschaut, dann ruft er es an, liebkost es, lehnt seine Wange dagegen, drückt es an seinen Hals, auf sein Herz. Kaum daß sie ihre Prise von dem Pulver geschnupft hatte, stürzte eine der Frauen sich auf den Mann, der sie angeboten hatte, und während dieser im Begriff war, den Rest der Schachtel zu schnupfen, packte sie seine Hand, hielt sie fest, brachte sie an ihr Gesicht und sog das Pulver, bebend vor Leidenschaft, ein. Mit einem heftigen Ruck befreite sich der Mann und atmete wollüstig den Rest ein. Nun nahm die Frau seinen Kopf zwischen ihre Handflächen (oh, diese blutlosen, gekrümmten Finger, wie Krallen auf jenen schwarzen Haaren!), und mit den feuchten, vibrierenden, zuckenden Lippen warf sie sich auf seinen Mund, leckte gierig seine Oberlippe, steckte die Zunge in seine Nasenlöcher, um die wenigen Körnchen, die am Eingang hängengeblieben waren, aufzusammeln.
«Du erstickst mich!» winselte der Mann, den Kopf nach hinten gebeugt, die Arme gegen die Stuhllehne stemmend: die Halsadern waren geschwollen, infolge der unregelmäßigen Schluckbewegungen floß ihm Speichel aus dem Mund. Die Frau schien eine kleine Bestie, die, bevor sie ihr Opfer zerreißt, den Duft des noch unversehrten Fleisches auskosten will. Einem zierlichen Vampir glich sie: es schien, als hafteten ihre Lippen mittels der saugenden Kraft des einatmenden Mundes fest an dem Gesicht des Mannes. Als sie sich loslöste, waren ihre Augen verschleiert, wie die einer Katze, die während des Schlafes sanft die Augen öffnet; und in dem geöffneten Mund (wie gelähmt schlössen sich die Lippen nicht wieder) grinsten die Zähne, wie die Zähne der Toten auf der stummen Maske. Die Frau taumelte und setzte sich auf dem Klavierschemel nieder, ließ ihren Kopf auf den Unterarm und den Unterarm auf die Tasten fallen. Das Instrument gab ein nachklingendes Geräusch von sich. Der junge Mann, der sich rittlings auf den Stuhl gesetzt und Tito das Kokain angeboten hatte, stand auf, als stiege er von einem Zweirad, und tat einige Schritte in das Zimmer. Der schwarze Rock saß auf seinen mageren Schultern wie auf einem Schrankriegel: seine O-Beine sahen aus wie die Stiele der paarweisen Kirschen. Sein Freund, ein ins Blonde spielender, kränklicher blasser Jüngling, nahm Platz auf dem freigewordenen Stuhl und wandte sich an Tito: «So haben die mômes. Sie nicht einmal eine Prise von dem Pulver kosten lassen», sagte er zu ihm. «Diese Mädchen sind tückisch und wild. Ich bedaure, daß ich Ihnen nichts anzubieten habe. Aber sehr bald wird der Lahme kommen.» «Der Lahme?» «Kennen Sie ihn nicht?» «Gewiß, doch», mischte sich sein Freund, der Kellner, ein, «der Mann, der in deinem Hotel wohnt.» «Nun wohl, der kommt immer um diese Zeit. Nie geht er vor fünf Uhr oder halb sechs aus. In gewissen Kalendern, in denen, die ein bißchen gelehrter sind, steht geschrieben: die Sonne geht um 5 Uhr 45 Minuten 27 Sekunden auf: die Sonne geht um 6 Uhr 9 Minuten 12 Sekunden unter... Nun möchte man sagen, daß der Lahme sich beim Ausgehen nach dem Kalender richtet. Kaum ist die Sonne untergegangen, sieht man ihn langsam durch die Straßen von Montmartre gehen, wie jemanden, der weder Ziel noch dringende Geschäfte hat, immer dicht an den Häusern entlang, als hätte er Furcht, von den Autobussen zermalmt zu werden. Zuweilen trifft er mit seltsamen Gestalten zusammen, tritt in eine Bar, in ein Bistro oder einfach in einen Hausflur, und dann kommen sie wieder heraus, wie zwei Menschen, die einander nicht kennen, erst der eine und dann der andere.» «Aber kurz zuvor, als ich eintrat, war der Lahme dort drinnen, am Schanktisch», sagte Tito.
«Ich weiß. Aber er hatte das Pulver noch nicht. Er sollte sich mit einem Studenten in der Apotheke treffen. Gleich wird er hier sein.» «Da ist er!» kündigte der Mann mit den Beinen wie Kirschenstiele an. Die vier Frauen stürzten ihm entgegen, als wollten sie über ihn herfallen. «Weg, ihr Schakale!» drohte der Lahme. «Beruhigt euch, sonst rücke ich nichts heraus.» «Fünf Gramm für mich!» zischelte ein Mädchen. «Ich will acht haben!» stöhnte eine andere. «Es ist abscheulich, abscheulich, abscheulich!» wütete eine dritte, sich allmählich überschreiend. «Zuerst komme ich dran, erst ich, ich habe dich gestern im voraus bezahlt.» Der Mann mit dem Holzbein sah Tito an, bevor er seine Ware herausnahm, und sagte mit grüßender Miene: «Oh, Nummer einundsiebzig!» «Habt ihr euch in der Strafanstalt kennengelernt?» fragte der Freund. «Es ist meine Zimmernummer.» Eine der vier Frauen legte ihre Hand auf die Schulter des Skelettmenschen: «T’as du pèze?» «Ich habe keinen Sous!» erklärte kurz und bündig der Liebhaber. «Um so schlimmer! Ich werde mein Armband verpfänden», beschloß die Frau. «Haltet das Geld bereit!» gebot in scherzendem, aber autoritativem und entschlossenem Ton der Lahme. «Erst das Geld, dann das Paradies.» Das Mädchen, das fünf Gramm gefordert hatte, zog aus der Börse einen Fünfzigfrancschein. «Gib mir den Rest von fünfundzwanzig Francs heraus.» «Ich habe kein kleines Geld.» «Dann behalte die fünfzig und gib mir anstatt fünf zehn Gramm.» Der Händler strich den Schein ein, steckte eine Hand in die Seitenöffnung der Hosen und brachte eine kleine runde Schachtel zum Vorschein: der obere Teil des Holzbeins, auf dem der Stumpf ruhte, bildete ein wohlversorgtes und unverdächtiges Lager. «Man möchte sagen, daß er sich das Bein zu diesem Zweck amputieren ließ», kommentierte Tito Arnaudi. «Wieviel gibst du mir für dieses goldene Armband?» rief pathetisch die Frau und ließ es an ihrem vorgestreckten Zeigefinger vor der Nase des Händlers kreisen. «C’est du toc!» entgegnete der Lahme. «neapolitanisches Gold.»
«Wirst selbst aus Neapel sein, Spitzbube!» schimpfte das Weib. «Wenn du Geld willst statt des Armbands, werde ich dich morgen bezahlen.» «Immer pränumerando. Postnumerando niemals», schnitt der Mann ihr das Wort ab. Und indem er Tito ein Schächtelchen reichte: «Vier Gramm, zwanzig Francs.» Tito nahm die Schachtel, zahlte zwanzig Francs und las: «L’universelle idole!» Dann wandte er sich an die Frau, die ihr Armband hatte preisgeben wollen. «Gestatten Sie?» fragte er, ihr das Pulver reichend. «Für mich?» «Ich biete es Ihnen an.» Das Mädchen zögerte nicht: und mit den weißen, hageren Händen griff sie nach Titos Hand und dem Schächtelchen, das er ihr schenkte, und beides zäh festhaltend, küßte sie die Hände und die Schachtel mit gierigem Ungestüm. «Ach, das feine, das schöne, das geliebte Pulver, mein Paradies zu Lebzeiten, meine Liebe, mein Licht...!» ächzte sie, indem sie es an ihre Stirn führte, wie man in einem frommen Ritus eine Reliquie oder ein Symbol aufhebt. Und mit einer Haarnadel zerriß sie den Papierstreifen, der rings um die Schachtel lief, und hob vorsichtig den Deckel ab. Dann ging sie an eines der entfernteren Tischchen, kniete sich auf den Boden, legte das Päckchen mit dem Rauschgift auf den Marmor, zog aus ihrer Tasche eine kleine Schachtel aus Schildpatt und eine winzige weiße Schaufel, wie sie die Apotheker benutzen, um die Pulver in die Papiertütchen zu verteilen. Und mit unendlicher Vorsicht, mit angehaltenem Atem füllte sie das Pulver aus der groben Pappschachtel in die würdigere aus Schildpatt. Als erstere geleert war, drehte sie sie um, über ihrer Handfläche, trommelte mit der Spitze der harten Nägel gegen den Boden der Schachtel und brachte dann die Hand an die geblähten Nasenflügel und sog den Rest ein. Und immer mit der gleichen Vorsicht schüttelte sie die schöne Schachtel in horizontaler Richtung, damit das Pulver eben lag, sich dann und wann scheu umblickend. Und als handelte es sich um Radium, nahm sie mit der allergrößten Behutsamkeit eine Prise und schnupfte sie. Die Brust weitete sich beim Aufsaugen, und die Augen blieben halb geschlossen, vie in Verzückung. Dann nahm sie noch eine Fingerspitze voll, stopfte sie in die Nase, die sie mit dem Daumen zuhielt, und das wenige, das zwischen Fingernagel und Fleisch zurückblieb, lutschte sie heraus, wobei sie die Schneidezähne in das Nagelbett grub. Tito hatte sich dem hageren Mann gegenüber seiner Vorliebe für das Rauschgift gerühmt. Unter lasterhaften Menschen schämt man sich, frei von dem Laster zu sein. Sitzt man eines leichten Vergehens wegen im Gefängnis, so übertreibt man die Schwere, um nicht geringer zu erscheinen als die anderen. Tito Arnaudi, der niemals den Geruch dieses Pulvers kennengelernt hatte,
schwor, daß er es nicht entbehren könnte. Und als die Frau ihn aufforderte, sich zu bedienen, bediente er sich. Als er das weiße Pulver durch die Nase einsog, hatte er die Empfindung einer aromatischen Erfrischung, als verflüchtigten sich ihm in der Kehle ätherische Öle aus Thymian und Zitrone. Einige winzige Teilchen, die durch die Nase ihm hinten in den Mund kamen, verursachten ihm ein leichtes Brennen im Hals und einen bitteren Geschmack auf der Zunge. «Noch eine?» Und Tito nahm eine zweite Prise. Dann hüllte er sich in Schweigen. Er versank in eine Art von Grübelei. Ah, da kam es: ein Kältegefühl an der Nase, eine Lähmung inmitten des Gesichts; die Nase war völlig unempfindlich, sie existierte nicht mehr. Der Mann mit dem Magazin im Holzbein fuhr fort, Geld einzustecken und kleine Schachteln herauszubefördern, die Frauen schnupften stillschweigend; die beiden Männer ließen sich Likör bringen und schütteten eine ganze Schachtel in die kleinen Gläschen. «Weshalb schnupft ihr es nicht?» fragte Titos Freund. Einer der Befragten antwortete, indem er seinen Kopf nach hinten bog und die von einem Geschwür zerfressene Nasenscheidewand zeigte. «Vom Koko?» fragte Tito. «Vom Koko», bestätigte der junge Mann. «Es fängt mit einer juckenden, leichten Schorfkruste an, die sich nach und nach verdickt, dann bildet sich ein Geschwür, das den knorpligen Teil der Scheidewand zerstört: glücklicherweise gelangt es nie bis an den Knochen.» «Und die Ärzte?» Rien a faire! Keine Möglichkeit? «Doch. Auf das Kokain verzichten. Aber ich ziehe vor, auf die Nasenscheidewand zu verzichten.» Tito lächelte. Der Mann mit dem Geschwür lachte. Er lachte unmäßig, frenetisch. Die vier Frauen, der andere Mann und Tito lachten im Chor mit. Tito griff instinktiv nach seiner Nase. Es schien ihm jetzt, als hätte er keine mehr, aber gleichzeitig, obwohl nicht mehr vorhanden, fühlte sie sich sehr schwer an.
«Ein Nichts, das schwer wiegt.» Und wieder lachte er. Auch die anderen lachten. «Auf Wiedersehen, meine Herrschaften!» sagte der Händler, als wollte er fortgehen. «Nein, noch nicht!» rief Tito, ihn am runden Stock des künstlichen Gliedes zurückhaltend. «Bleib hier und trink noch ein Gläschen mit uns.» Der Händler setzte sich neben Tito, streckte das Holzbein unter den Tisch und zog das andere an sich. «Du verdienst mehr dabei als beim Betteln», sagte der gelbhäutige, ausgemergelte junge Mann. «Ja», gab der Giftverkäufer zu, «aber denke nicht, daß Betteln ein schlechtes Geschäft wäre. Alles hängt von dem Ort ab, wo man den Betrieb eröffnet. Man verdient überall, das ist richtig, aber es gibt Plätze, wo man mehr verdient. An den Türen der Bordelle, zum Beispiel, macht man Riesengeschäfte! Nicht ganz so wie vor den Kirchentüren, das nicht. Aber es geht einem ganz gut dabei. Ich habe mich am liebsten vor den Kirchentüren aufgestellt. In den Straßen, auf den Boulevards, an den Cafes geht die Menge mit einem Durchschnittsprozentsatz von Schlauköpfen und Dummköpfen vorbei; auf den Kirchenstufen ist der Prozentsatz der Dummköpfe größer: neunzig Prozent, du kannst nicht fehlgehen. Freilich, auch Spitzbuben gehen in die Kirche, aber beim Herauskommen oder Hineingehen in das Gotteshaus, vom pied-à-terre Gottes, wollen sie sich nicht unbarmherzig zeigen, bevor oder nachdem sie den Schwur der Nächstenliebe geleistet haben.» Der Mann trank aus, stellte das Glas hin und bedankte sich. Als er schon auf der Schwelle war, kaufte eine Frau noch eine Schachtel von ihm. «Auf Wiedersehen, Herrschaften!» Er spekulierte auf den Effekt seines Aufbruchs; und in der Tat, als verschwände ihr Erlöser, umringten ihn die anderen Weiber und gaben ihm von neuem Geld. Auch Tito erstand noch ein Schächtelchen, öffnete und schnupfte es. «Wohin der Journalismus führt!» meinte sein Freund, der Kellner. «Um Studien über die Kokainisten zu machen, mußt auch du dich berauschen...» «Was willst du? Es könnte mir was Schlimmeres passieren. Als Pythagoras zu den Ägyptern reiste, mußte er sich beschneiden lassen, um ihren Mysterien beiwohnen zu können...» «Für welche Zeitung schreibst du?» fragte ihn vertraulich der blasse Mann. «Für ein amerikanisches Blatt», antwortete Tito. «Und du», fragte er ihn, «was treibst du?»
«Nichts», entgegnete der Bleiche mit großer Selbstverständlichkeit, «Christine arbeitet für mich. Wenn ich, wie Christine, ohne große Mühe arbeiten könnte, würde ich für sie arbeiten. Aber da ich es nicht kann...» Titos Freund konnte einen leichten Ausdruck der Verwunderung nicht unterdrücken über die Dreistigkeit, mit der dieser Mensch seine Profession als alphonse, als Zuhälter erklärte. «Der Bourgeois», sagte jener, auf den Kellner deutend, «euer Freund, der Bourgeois, ist verblüfft. Aber was ist so Besonderes dabei? Christine und ich, wir arbeiteten in einer Fabrik, wo fünfhundert Frauen beschäftigt waren. Alle miteinander waren der Schwindsucht oder wenigstens der Bleichsucht verfallen. Der Fabrikbesitzer beutete sie aus. Da ich nicht alle fortnehmen konnte, veranlaßte ich Christine, fortzugehen. Jetzt beute ich sie aus. Ich weiß nicht, warum ich deswegen verachtenswerter sein soll als dieser Fabrikbesitzer, der fünfhundert auf einmal ausbeutet. Um so mehr als die Arbeit, die sie jetzt tut, weniger mühevoll, hygienischer und einträglicher ist. Man sagt, daß sie das Gewissen beschmutzt. Aber was tut’s? Wenn sie nur nicht die Hände beschmutzt.» «Wie spät ist es?» fragte Tito, um aufzubrechen. «Ich habe keine Uhr. Der Mann, der die Uhren erfand, hat die Tage verkürzt, und der die Kalender erfand, verkürzte die Jahre: ich besitze weder Uhr noch Kalender.» «Meinen Kalender habe ich hier», sagte Christine, indem sie eine unzüchtige Gebärde machte. «Und sie irrt sich nie», fügte ihr Geliebter lachend hinzu. Tito wandte sich zu seinem Freund und sagte leise zu ihm: «Die ersten Dinge, die das Kokain vernichtet, sind der Wille und die Scham.» «Welches Schamgefühl ist denn bei diesen Leuten noch zu vernichten?» scherzte der Kellner. «Sie sind schlimmer als die anständigen Frauen.»
2 Der Artikel über die Kokainsüchtigen hatte großen Erfolg. Der Direktor der amerikanischen Zeitung überwies, noch bevor der Artikel in der Rubrik der sensationellen Begebenheiten erschienen war, dem Neffen telegrafisch hundert Dollar. Hundert Dollar bedeuteten tausend Francs und besagten, daß man ein hervorragender Journalist sei. Mit dieser Überzeugung in der Magengrube (die Magengrube ist der Sitz der Überheblichkeit,
der Anmaßung und des Stolzes) nahm er sich als erstes ein Automobil, eilte in das kleine obskure Montmartre-Hotel, zahlte seine Rechnung, packte seine Sachen zusammen und ließ sich zum Hotel Napoleon auf dem Vendôme-Platz fahren, einem der elegantesten Hotels der Stadt, nahm dort ein Zimmer im vierten Stock, nach hinten heraus, ohne Heizung. Noch am selben Nachmittag stellte er sich bei dem Herausgeber einer großen Tageszeitung mit beträchtlicher Auflage vor: L’Attimo fuggente - Der flüchtige Augenblick. Es war dies ein sehr eleganter Herr. (Nur die alten Professoren der technischen Lehranstalten können nicht begreifen, daß man Geist haben und sich gleichzeitig gut kleiden kann.) An seinem Finger leuchtete ein großer Rubin, der wie ein kleines Fanal glänzte. Wie eines jener kleinen Leuchtfeuer, die die Romanschriftsteller in ihren Werken oft mit großen Rubinen vergleichen. «Ja, ich kenne Ihren Onkel», sagte er, indem er mit seinem Schaukelstuhl hin und her schwankte wie das Gewissen eines Zeitungsdirektors, das immer aufrecht bleiben muß, auch wenn das Schiff schwankt. «Und wenn Sie das journalistische Temperament Ihres Onkels besitzen», fügte er hinzu, das elfenbeinerne Papiermesser an seinem Schenkel wetzend, als wollte er es schleifen, «werden Sie eine großartige Karriere machen. Und wo arbeiten Sie in Italien?» «Beim Corriere della Sera.» «Und Sie waren?» «Chefredakteur.» «Haben Sie Ihren Doktor gemacht?» «Den juristischen und medizinischen.» «Und welches sind Ihre politischen Ansichten?» «Ich habe keine.» «Sehr gut. Um mit Überzeugung eine Meinung zu vertreten, darf man keine haben. Aber die Schwierigkeit ist», fügte der Zeitungsdirektor hinzu, indem er mit der Schere einen Ausschnitt aus einer englischen Zeitung trennte, «daß meine Redaktion komplett ist, und ich wüßte wahrhaftig nicht, welche Arbeit ich Ihnen anvertrauen könnte. Auf alle Fälle will ich mir aber Ihren Namen notieren, und sobald ich Sie benötige, werde ich Sie rufen lassen. Wo wohnen Sie?» Auf die sensationelle Wirkung seiner Antwort rechnend, ließ Tito die Worte mit absichtlicher Feierlichkeit fallen: «Im Hotel Napoleon.» Der Direktor, der schon auf den Knopf gedrückt hatte, um ihn vom Diener hinausbegleiten zu lassen, und der im Begriff war, die Adresse in ein Notizbuch zu schreiben, legte Feder und Notizbuch aus der Hand, schickte den Diener hinaus und machte Tito den Vorschlag: «Ich stelle Sie versuchsweise für einen Monat an, mit fünfzehnhundert Francs Gehalt. Morgen ist der Erste.
Fangen wir morgen an. Wenn Sie in die Redaktion kommen, melden Sie sich sofort bei mir an. Ich werde Sie Ihren Kollegen vorstellen. Auf Wiedersehen.» Und er drückte von neuem auf den Knopf. An diesem Abend ging Tito zum Essen zu Poccardi und nahm sich ein Orchesterfauteuil in der boitte à Fursy, wo er auch den neuesten Schlager lernte. Ihn pfeifend betrat er das Hotel. Das Hotel-Napoleon. Denk daran, daß du im Hotel Napoleon wohnst. Allerdings im vierten Stock, ohne Heizung, nach hinten heraus, aber immerhin, du wohnst... Im Hotel Napoleon. Als er im Zimmer war, packte er seine Koffer aus, ordnete auf dem Waschtisch die Instrumente, um sich zu kämmen, zu waschen, zu enthaaren, breitete in den Kästen die Hemden aus, die Hosen, die Westen und hing auf die Riegel des Spiegelschranks die Röcke. Sogar ein Telefon war in diesem Zimmer. «Wie schade», dachte er, «daß man niemand hat, mit dem man telefonieren muß. Einen Apparat besitzen und nicht wissen, wen man anrufen kann, das ist betrüblich. Und dennoch, das ist kein ausreichender Grund, daß ich es nicht benutze.» Und mit diesem Gedanken nahm er den Hörer zur Hand und verlangte eine beliebige Nummer, die erste, die ihm in den Sinn kam. Er brauchte nicht lange zu warten. Eine weibliche Stimme meldete sich. «Sind Sie es?» fragte Tito. «Wie? Gnädige Frau... wie gut, gerade Sie wollte ich sprechen. Seien Sie auf der Hut, Ihr Mann weiß alles. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Dringen Sie nicht weiter in mich. Es sollte Ihnen genügen zu wissen: Ihr Gatte weiß alles. Nein, nein, nein, fragen Sie mich nichts weiter. Ich kann Ihnen nichts mehr sagen. Nein, ich bin nicht Giacomino. Nun gut, ja. Da Sie es erraten haben... ich bin Giacomino. Gute Nacht.» Und er hängte den Hörer wieder an den Haken. «Gott weiß, wer Giacomino sein mag», dachte er lächelnd, «und wer weiß, wer diese Frau sein mag.» Aber plötzlich verfinsterte sich Titos Miene. «Die Ärmste, ich habe ihr einen schlechten Streich gespielt», bereute er ernsthaft. «Durch meine Schuld wird sie eine häßliche Nacht verbringen... Vielleicht wird sie meinetwegen Unannehmlichkeiten zu erdulden haben. Jetzt rufe ich sie noch einmal ans Telefon und teile ihr mit, daß. Aber nun weiß ich die Nummer nicht mehr. Um so schlimmer, oder um so besser. Vielleicht habe ich ihr doch einen guten Dienst geleistet.»
Und er lachte wieder. Indem er sich auskleidete, legte er die Uhr auf den Nachttisch, das Geld und ein goldenes Schächtelchen. Er öffnete es. Es war beinahe leer: in den Pausen, zwischen den drei Teilen des Schauspiels, hatte er einige Gramm geschnupft, um seinen Eintritt in die große Tageszeitung L’Attimo fuggente zu feiern. Es war nur wenig mehr als ein Gramm darin geblieben. Tito schüttete es auf seinen Handrücken und sog es wollüstig ein. Er entnahm dem Koffer die letzten darin gebliebenen Sachen: den Pyjama, eine Bibel, einen Revolver. Den Pyjama zog er an, und die Bibel legte er auf den Nachttisch. «Alle sagen, daß dieses Buch auf dem Tisch jedes anständigen Menschen liegen muß», murmelte er. «Ich habe es nie gelesen, aber es liegt immer auf dem Nachttisch.» Als er im Bett war, zog er die Decke bis zum Kinn herauf und löschte das Licht. Das Kokain drang bis in seine Lungen mit seinem frischen, sich verflüchtigenden Aroma. «Aber fußkalt ist es, dieses Hotel!» brummte er, sich zusammenkrümmend. Auf dem Kissen empfand er mit dem Ohr das Schlagen seines eigenen Herzens. «Mein Herz nimmt den Wettlauf auf. Es läuft hinter der Nase her, die mir entkommen ist. Ich werde sehr schnell aufsteigen bei dieser Zeitung. Binnen eines Jahres werde ich Direktor sein. Dann heirate ich die Tochter eines Ministers und werde Deputierter werden. Abgeordneter im Palais Bourbon. Und dort werde ich eine Rede halten: „Glaube mir, Alkibiades, daß es besser ist, mit einem dieser nicht widerstrebenden Jünglinge zu tun zu haben, als mit diesen Hetären Athens“...» Wieso tauchte gerade jetzt in seiner Erinnerung ein Satz aus dem Gastmahl des Platon auf, den er, Gott weiß wo und Gott weiß wann, in den fernen Schuljahren gelesen hatte? Und diese Kälte an den Beinen! Das Herz beruhigte sich. Aber in seinem Kopf wirbelten weiter die tollsten Phantasien. Sein Gehirn glich einem Karnevalsfest in einem Irrenhaus: die geschlossenen Augen sahen ein Dunkel, ein blaues Dunkel, in dem kalte Funken sich entzündeten, explodierten. Jeder Funke teilte sich in zwei Hälften, und aus jeder Hälfte bildeten sich neue, die sich ihrerseits wieder in leuchtende Kreise zerteilten. Einer dieser Funken breitete sich faserartig aus, zuckte wild, nahm sein ganzes Gesichtsfeld ein, saugte das Dunkel auf. Seine geschlossenen Augen waren voller Licht. Und in diesem Licht formte sich ein beweglicher, elastischer Kreis zu einem Quadrat, dann zu einem Rechteck, dann zu einer dreidimensionalen Figur: ein schwarzes Parallelepiped mit einer, mit zwei, mit drei goldenen Seiten, ein Buch, die Bibel! «Die Genesis... Was für ein Spaßvogel, dieser liebe Gott, was für ein großer Humorist, dieser gute Gott!...» dachte Tito, während sein Herz stark klopfte und im Bett widerhallte wie in einem
Resonanzkasten. «Ein Spaßvogel, ein Humorist, dieser liebe Gott!... Gott sprach: Es werde Licht, es werde der Himmel, es werde das Gras, es werden die Bäume, es werde die Sonne, es werden die Sterne, da es kein Gas gibt, es werde Gas, wenn keine Sterne da sind, es werden die Reptilien, es werden die Vögel, es werden die Haustiere, es werden die reißenden Tiere für die Menagerien, es werde der Mann, es werde das Weib... Und dann gab er den beiden letzteren den Rat, Kinder zu machen, und er ermächtigte sie, über die Fische des Meeres zu herrschen, über die Vögel in der Luft, über die Tiere auf der Erde. Es genügte, daß er sprach: es werden die Sterne, es werden die Krokodile, es werden die Perlhühner, es werden die Klapperschlangen, es werde die Nonnenrobbe und es werde das Stachelschwein; und bei Nennung ihres Namens, siehe, da erhoben sich automatisch fix und fertig diese Tiere. Wenn es sich so verhält, war es keine große Mühe, die Welt zu erschaffen. Und dennoch fühlte dieser Lazzarone am siebenten Tag das Bedürfnis zu ruhen. Welch ein Farceur, dieser liebe Gott! Mag sein, daß er es gewesen ist, der die Gottesgaben schuf: das Wasser, um das Gras zu begießen, das Gras, um die Tiere zu sättigen, die Tiere, um den Menschen zu sättigen, die Frau, um sich vom Mann unterhalten zu lassen, die Schlange, um alle beide zu ärgern, die Trüffeln, um den Hummer damit zu garnieren, die Sonne, um die Wäsche zu trocknen, die Sterne, um die Dichter zu erleuchten, den Mond, um ihn mit neapolitanischen Liedern zu besingen. Aber seltsam dünkt es mich, daß die Dinge aus dem Nichts entstanden sein sollen, nur beim Hören ihres Namens. Ich glaube, daß der ewige Vater Spielereien liebte und daß er alles vorher ausgetüftelt hatte. Als guter Taschenspieler hatte er Schachteln mit doppeltem Boden und Gläser präpariert und in den sechs Tagen seiner Schöpfungstournee den echt amerikanischen Streich gespielt, das Ganze wie aus dem Nichts zu schaffen, um Eindruck auf die Bürger zu machen. Aber es war noch ein Trick dabei. Um dem Menschen das Leben zu geben, blies er ihm Lebensodem in die Nase. Ich glaube nicht, daß er das tat, um ihm Leben einzuflößen, sondern um ihm einige künstlerisch
assortierte Bazillentypen zu verabreichen. In der Tat lebte Adam nur 930 Jahre, während er viel länger hätte leben können. Er hatte mit einer großartigen Geste begonnen, der liebe Gott. Die Sterne geschaffen aus dem unendlichen Raum, die Sonne aus dem ewigen Licht, zahllose Arten von Pflanzen und Tieren... Auf Kosten hatte er dabei nicht gesehen. Aber um das Weib zu erschaffen, beging er die Knauserei, dem Adam eine Rippe zu entziehen. Was für ein Humorist, dieser ewige Vater! Er wußte aus Erfahrung, daß, wenn man liest: Rauchen verboten! man ein unwiderstehliches Verlangen hat, eine Zigarette anzuzünden. Da er Reue empfand wegen der dem Adam und seiner Gattin allzu freigebig gewährten Gaben, wollte er sie ihnen entziehen, ohne eine schlechte Rolle zu spielen; er wandte sich an die Schlange und suggerierte ihr jene ausgeklügelte Schändlichkeit mit dem Apfel, die wir alle kennen. Die Schlange war einverstanden mit Gottes Vorschlag. Frucht dieser Frucht war dieses: die Augen Adams und Evas wurden aufgetan, und sie erkannten, daß sie nackt waren; daher nähten sie aus Feigenblättern nach Maß ein Komplet. Aber wie konnten sie wissen, daß sie nackt waren, da sie nie zuvor Kleider gesehen hatten? Am Morgen danach suchte der Herr Adam auf, der, immer Kavalier, die Schuld auf seine Gattin schob. Gott ließ sich, ein wenig erbärmlich, den Apfel teuer bezahlen, indem er die Übelkeiten der Schwangerschaft und die Schmerzen des Gebarens erfand. Die Frauen mit der nach rückwärts gelagerten Gebärmutter wissen also, wem sie das zu danken haben, denn Gott sprach: du sollst mit Schmerzen Kinder gebären, die Erde wird Dornen und Disteln hervorbringen, im Schweiße deines Angesichts und desjenigen deines Bäckers sollst du dein Brot essen und du wirst es teuer bezahlen, denn der Wechselkurs mit Amerika ist entsetzlich hoch. Dann vertrieb er sie aus Eden und postierte auf der Schwelle Karabinieri mit flammendem Schwert, die er Cherubim nannte. Kurz, die Ehe zwischen Adam und Eva war unglücklich wie alle vereinbarten Eheschließungen. Was mich aber am meisten abstößt, ist, zu sehen, daß Gott sich dumm stellt. Er ist allsehend, allwissend, er ist es, der alle die schlimmsten Komplikationen veranlaßt, und dann, geht er zu Adam und fragt ihn mit heuchlerischer Treuherzigkeit: „Was tatest du mit dem Apfel?“ Und er geht zu Kain und fragt ihn: „Was tatest du mit deinem Bruder?“ Wäre ich an Kains Stelle gewesen, hätte ich ihm einen Faustschlag ins Auge gegeben. Das Auge Gottes. Gottes Auge, das alles sieht... und alles hört. Vielleicht hört er auch meine Lästerungen. Und er ist auch in der Lage, mich zu zerschmettern.
Oh, diese Kälte an den Füßen! Dennoch wäre ich beinahe glücklich, wenn ich jetzt sterben müßte. Mich töten, nein, das nicht. Aber sanft sterben. Aus dem Leben gehen, wie man aus dem Bad geht. Wie schön zu sterben! Glücklich sind nur die Menschen in der Auflösung, und je weiter vorgeschritten die Auflösung ist, um so größer ist ihr Glück. Und wenn ich nicht sterben sollte, will ich wenigstens hier liegenbleiben, untätig, wie ein Mineral, ohne Willen, ohne Initiative, ohne Auflehnung; alles um mich her soll sich bewegen wie es will; alles mag zusammenstürzen, ohne daß ich einen Finger rege; ich will sein wie die anständigen Frauen von einst, die alterten, häßlich wurden, verbraucht, ohne sich das Gesicht weiß und rot anzumalen. Aber was für eine seltsame Wirkung hat das Kokain auf mich! Die Füße eiskalt, im Gehirn ein Feuerwerk, eine Kaskade von Unsinn, das Herz hämmert wie eine Nähmaschine, und dabei dieses zufriedene Sich schicken in die Untätigkeit. Und es würde mir Spaß machen, zwei, drei Tage im Bett zu bleiben, bis die Kellner anklopften, und dann der Wirt und dann die Polizei kommen würde, und ich würde niemandem antworten, ich würde mich schütteln und rütteln, mich fortbringen lassen, wohin sie wollen, wie sie wollen... Welch seltsame Wirkung hat das Kokain auf mich, das Koko, das bezaubernde Koko!» Das Herz fuhr weiter fort stark zu schlagen, was zur Folge hatte, daß der ganze Körper zitterte, vibrierte, zitterte, bebte wie ein stillstehendes Automobil, dessen Motor angekurbelt ist. Aber die erregende und deprimierende Wirkung des Gifts begann nachzulassen. Tito kam zu sich. Und er schlief ein. Er erwachte, als die Sonne schon hoch stand. Aber Tito bemerkte es nicht; denn in Paris steht die Sonne immer gleich hoch; so hoch, daß man sie niemals sieht. Um zehn sollte er im Zeitungsbureau sein. Der Direktor hatte zu ihm gesagt, indem er ihm seinen tadellos gezwirbelten, unwiderstehlichen Schnurrbart vor die Augen pflanzte: «Melden Sie sich bei mir.» «Ich muß mich also gut rasiert bei ihm zeigen.» Vor dem Spiegel stehend, die mageren, eingeseiften Wangen mit dem Rasiermesser bearbeitend, dachte er: «Wie widerwärtig das Leben! Wie überflüssig! Jeden Morgen aufstehen, sich die Schuhe anziehen, sich rasieren, Leute sehen, mit ihnen reden, die Zeiger der Uhr verfolgen, die unermüdlich immer zu denselben Punkten zurückkehren, wo wir sie Millionen Male gesehen haben. Essen. Stücke von Leichen essen, gestorbene Früchte verspeisen, ja, schlimmer noch, durch Kochen entstellte Dinge; die herrlichen Früchte abbrechen, um sie durch unsern Körper zu treiben und in Dung zu verwandeln. Tote Dinge zu verspeisen, in der Erwartung, daß wir selbst ein totes Ding sein werden. Neue Dinge schaffen, um sie dann zu benutzen und wieder zu vernichten, damit aus ihrer Zerstörung wiederum Neues sich erhebt. Alles, was uns umgibt, ist tot; hier und da ist irgendeine lebendige Probe vorhanden, aber alles übrige ist tot: die Wolle meines Rocks ist tot, die Perle, die den Hals einer jungen Frau ziert, ist der Totenschrein eines Wurms... den Frauen zulächeln zu müssen, sich anstrengen, um sich ein wenig von der Masse zu unterscheiden. Und dennoch, auch wir, die wir anders zu sein versuchen als die anderen und weite Umwege machen, um nicht die landläufige
Straße einzuschlagen, finden uns schließlich an demselben Punkt, wo die Mittelmäßigen anlangen, die den Weg auf ausgetretenen Pfaden zurücklegten. Das Leben ist ein Bogen von A nach B. Es ist keine ebene Strecke, außer für die Totgeborenen oder für Kretins von Geburt an. Für etwas intelligente Menschen ist die Steigung leicht; für die Hochintelligenten ist der Weg am steilsten; für die Einfachen ist der Pfad fast geradlinig: sie gelangen über einen sanften Hügel nach B. Die Gehirnmenschen, die Exzentrischen, die Bizarren, die etwas Neues suchen, etwas Gepfeffertes, etwas, das abseits liegt vom Normalen, gelangen langsamer zwar, aber mit unheimlicher Sicherheit gleichfalls zu jenem Punkt, zu dem ohne weiteres, ohne zu zögern, die kleinen Leute ihre Schritte lenken. Der einzige Unterschied zwischen dem einfachen und dem exzentrischen Menschen ist die Steigung des Weges. Wer die Ehe verspottet hat, endet eines Tages damit, nachdem er gesättigt ist von Freiheit und Abenteuern, denjenigen zu beneiden, der früh eine Gattin gewählt und Kinder in die Welt gesetzt hat; wer ein Leben voller unvorhergesehener Abenteuer geführt hat, abwechselnd zwischen Armut und Reichtum, Überfluß und Hunger, wird eines schönen Tages bedauern, daß er nicht Beamter geworden ist. Ich glaube, daß die große Schauspielerin im Grunde die gute Ehefrau beneidet, die ihre vielen Würmer wäscht und klapst; ich glaube, daß der große Politiker, der Geschichte macht, bedauert, nicht Schulmeister auf dem Lande oder Stationsvorsteher zu sein. Vollkommen ist nur die Mittelmäßigkeit. Vollkommen ist der Buchhalter, der sich einen Tag um den andern rasiert, zweiter Klasse reist, eifrig nach dem Fegefeuer trachtet; ihm genügt eine Mitgift von fünfzigtausend Lire, er wohnt im dritten Stock, war Unteroffizier, trägt Röllchen anstatt der Hemdmanschetten und an den Manschetten silberne, vergoldete Knöpfe. Gesegnet sei der Mittelstand! Weshalb nehme ich dann eine Stelle bei einer Zeitung an, in der geheimen Hoffnung, irgendwie dabei mein Glück zu machen? Unsinn! Im Grunde hoffe ich gar nichts. Ich habe keine Ideale. Aber ich habe einen sehr spröden Bart, und diese Klinge schneidet nicht. Aber jetzt genug. Ich habe mich genügend geschunden. Der Direktor des Attimo fuggente braucht mich doch nicht zu umarmen und zu küssen, denke ich. Ich werde ein Angestellter sein, ein ganz bescheidener Angestellter. Ich werde niemals den Anspruch haben, ein Abgott der Menge zu werden. Die Menge liebt den, der sie amüsiert und ihr dient. Aber um sie zu unterhalten, muß man sie lieben. Ich liebe niemanden, am allerwenigsten die Menge. Die Massen sind wie die Frauen: sie verraten den, der sie liebt.» Tito beugte sich über den Waschtisch und wusch sein Gesicht. Die frische Kälte des Wassers klärte seine Gedanken. «Mein Pessimismus ist blödsinnig! Blödsinnig und verlogen. Ich will, daß es mir gelingt. Und es wird mir gelingen.» Geschwind stieg er die Treppen hinunter, und auf der Schwelle angelangt, schickte er einen Boy
in flammend roter Uniform, die wie das Trikot eines Akrobaten seinen Körper umspannte, um ein Taxi zu holen. Der Direktor des Attimo fuggente war im Fechtsaal, wo er mit dem Theaterkritiker die Klingen kreuzte. Aber in drei Viertelstunden würde er in seinem Bureau sein. Tito Arnaudi hatte indessen seinen Überzieher ausgezogen und seinen Hut abgelegt. Dies ist der einleitende Akt, der die Besitzergreifung eines Amts kennzeichnet. «Sie sind der neue Redakteur?» kam ihm mit der ausgestreckten Rechten ein Herr in Schwarz (Rock und Haare), ganz gerade Linien (Haarscheitel, Bügelfalten der Hose, Schnitt des Mundes, Schultermaß) entgegen, der mit dem Lineal und chinesischer Tusche gemacht zu sein schien. «Ich bin Ménier, der Redaktionssekretär. Wollen Sie die Güte haben?» Und er schritt ihm voran durch drei Riesensäle, deren Wandbekleidung aus Stoffen und Marmor und deren Einrichtung aus leichtgebauten Schreibtischen und enormen Sesseln bestand: jenen weichen Sesseln, die sich so zärtlich allen Einbuchtungen und allen Ausbuchtungen des Körpers anschmiegen. Der Unterschied des Kalibers zwischen den zierlichen Schreibtischen und den gastlichen Klubsesseln bildete eine zutreffende Anerkennung von der Überflüssigkeit der Arbeit gegenüber dem Recht auf Müßiggang oder Trägheit. Nachdem sie die drei Säle auf einem langen orientalischen Teppich durchschritten hatten, befanden sie sich vor der amerikanischen Bar. Der Barmann, dessen edle Lenden weiße Leinwand umhüllte, glich einem antiken ägyptischen Priester, der in seiner Zerstreuung das schwarze Wams eines zeitgenössischen Spaniers übergezogen hatte, war vertieft in die Zubereitung höchst komplizierter Getränke für drei oder vier Redakteure, die auf sehr hohen und sehr schlanken Hockern saßen oder besser: sich hinaufgewunden hatten, wie Wachtposten in den Mastkorb. «Zwei Cocktails», bestellte der Redaktionssekretär. Der Barmann schüttelte mit der Präzision eines Chemikers, der eine gelehrte Laboratoriumsarbeit intensiv verfolgt, drei verschiedene Liköre in eine Art großer Glasschale, füllte sie mit zerstoßenem Eis, ließ aus drei verschiedenen Fläschchen einige Tropfen von Gott weiß was hineinfallen, arbeitete mit einem Rührlöffel in der Schale; dann drückte er die Ränder von zwei Gläsern in eine Zitronenhälfte und tauchte sie in Zucker, der an den Rändern wie Reif haftenblieb, und goß das Gemisch in die Gläser. Der Mann mit den schwarzen geometrischen Zügen, wohlgepflegt, feierlich wie das Begräbnis eines Millionärs, sah den Italiener von der Seite an, um auf seinem Gesicht die Verwunderung über ein so katastrophales Gebräu zu lesen. Die Franzosen und besonders die Pariser glauben, wenn sie es mit einem Italiener zu tun haben, daß sie ihm wer weiß welche unerwarteten Horizonte entschleiern und erwarten immer, daß er vor Erstaunen außer sich gerate, wie die wilden Völkerstämme Amerikas, als Christoph Columbus ihnen den Zigarrenanzünder oder die Schachtel mit Emser Pastillen zeigte. Selbst die Pariser Kokotten erwarten, wenn sie sich vor einem Italiener entkleiden, daß er sich vor Staunen an den Kopf greift, wenn er sieht, daß die Frauen anders beschaffen sind als die Männer. Tito dachte: Auch in meiner Heimat wird Cocktail
in der gleichen Weise bereitet. Wenn du alle Cocktails getrunken hättest, die ich je geschluckt habe, so littest du jetzt am Delirium tremens. «Darf ich Ihnen Doktor... vorstellen, der die deutsche Politik zu bearbeiten hat; Professor..., unser Redakteur für den russischen Teil. Herr..., unser medizinischer Referent.» Und auf Tito deutend: «Herr Tito Arnodi.» «Tito Arnaudi», berichtigte der Vorgestellte. «Tito Arnodi, unser neuer Redakteur.» Die drei Herren, von deren Namen Tito nur die Endungen behalten hatte (... ein für den deutschen,... off für den Russen und ... ier für den Mediziner), sprangen von ihren Schemeln, um dem neuen Kollegen die Hand zu drücken. «Und jetzt führe ich Sie in Ihr Bureau», sagte der Redaktionsskretär, «dort stelle ich Sie inzwischen einem Landsmann vor, der die italienische Politik bearbeitet. C'est un charmant garçon. Tito stellte das Glas auf den Bartresen, drückte dem Deutschen, dem Russen, dem Wissenschaftler die Hand, die wieder auf ihre Beobachtungsschemel hinaufkletterten. Jenseits der Bar ging es in einen anderen Saal mit zwei Billards, und von dem Billardraum führte der Weg in das Restaurant des Attimo fuggente für die Redakteure und ihre Freunde. Sie gingen über einen Korridor, drei oder vier Türhüter erhoben sich bei ihrem Vorübergehen und setzten sich wieder; er glich einem Hotelflur, Türen auf beiden Seiten; es fehlten nur die Schuhe neben den Türen und die an den Haken der Pfosten aufgehängten Beinkleider. Im Vorbeigehen hörte man das Ticken der Schreibmaschinen, alle auf denselben Ton abgestimmt, Klingeln, das Schrillen der telefonischen Apparate und weibliche Stimmen. Der Sekretär klopfte an eine Tür. «Entréz! antwortete es von drinnen. Auf einer dormeuse lagen viele bunte Kissen; und auf den Kissen lag ein Mann. Ein Bein glitt sanft zu Boden, und auf diesem Bein richtete sich Pietro Nocera auf. «Oh, Tito Arnaudi?» «Sieh da, Pietro Nocera!» «Du in Paris.» «Seit einem Monat. Und du?» « Seit einem Jahr. Bist du auf der Durchreise hier?» «Bewahre!» «Bleibst du in Paris?»
«Mehr noch: ich bleibe in dieser Zeitung.» Und bevor Pietro Nocera sich von seinem maßlosen Erstaunen erholt hatte, fügte der Sekretär hinzu: «Sie bekommen das Zimmer hier nebenan. Ich werde die Verbindungstür öffnen lassen, so brauchen Sie nicht einmal über den Korridor zu gehen, wenn Sie miteinander sprechen wollen.» «Aber wie kommt es, daß du hier bist?» «Das werde ich dir erzählen. Und du?» «Auch ich werde dir erzählen.» «Hast du für das Frühstück eine Verabredung?» «Keineswegs.» «Das Restaurant ist hier im Haus.» «Ich habe es gesehen.» «Dann frühstückst du also mit mir.» «Wenn du dir der Tragweite deiner Worte bewußt bist.» «Absolut.» «Nun, dann nehme ich an.» «Ich werde dir Austern servieren lassen, die den ganzen Duft des Meeres in sich haben.» Der Redaktionssekretär verließ das Zimmer, um die beiden wiedergefundenen Freunde der Expansion aller ihrer Gefühlsgase zu überlassen. Pietro Nocera telefonierte mit der Bar: «Zwei Turin.» Und sich gleich darauf wieder an Tito wendend: «Ich biete dir den Vermouth der Lokalfarbe wegen an. Setz dich hierher, mir gegenüber, damit ich dich anschauen kann. Du hast dich etwas verändert, was die Haut betrifft, aber der Kindertypus ist dir geblieben. Wie bist du nur nach Paris gekommen? Und deine alte Tante?» «Sprechen wir vor dem Essen nicht von Schweinereien.» «Also auch du hast dich dem Journalismus ergeben?» «Wie du siehst.» « Und auf welche Art ?» «Ganz einfach: ich betreibe den Journalismus, wie ich Kinovorführer sein könnte, oder Obermaat auf einem Segler oder Zauberkünstler. »
«Du hast recht», stimmte Pietro Nocera zu, «zum Journalismus nimmt man seine Zuflucht, wie man sie zum Theater nimmt, nachdem man die ungleichsten und verzweifeltsten Berufsarten probiert hat: Priester, Zahnarzt, Versicherungsagent; einige verlieben sich in den Journalismus, weil sie von weitem seine glänzendsten Seiten gesehen haben oder seine glücklichsten Vertreter, wie sie sich beim Theater in den Beruf des Schauspielers verlieben, weil sie gesehen haben, wie dem Darsteller des Othello applaudiert wurde. Und sie sagten sich: auch ich werde den Othello spielen.» «Statt dessen spielen sie den Diener, der nichts zu sprechen hat.» «Wie viele Diener, die nichts zu sagen haben, gibt es im Journalismus ! -Wir sind keine Wesen, die im Leben leben. Wir stehen am Rande des Lebens; wir müssen eine Meinung unterstützen, die wir nicht haben, und sie dem Publikum aufdrängen; Fragen behandeln, die wir nicht kennen, und sie dem Publikum schmackhaft machen; wir dürfen keinen eigenen Gedanken haben; wir müssen den des Zeitungsdirektors haben; aber nicht einmal der Leiter der größten Zeitung hat das Recht, mit seinem Gehirn zu denken, denn wird er vor den Verwaltungsrat gerufen, muß er seine Ansicht unterdrücken, wenn er überhaupt eine hat, und diejenige der Aktionäre vertreten... Aber wenn du wüßtest, wie erbärmlich es hinter den Kulissen dieser großen Bühne aussieht! Du hast viele Säle gesehen, viele Teppiche, viele Lampen, die Bar, den Fechtboden, das Restaurant; aber die Menschen kennst du noch nicht: welch ein tenorhaftes Milieu! Wie viele politische Bramarbasse machen ihre anmaßenden Stimmübungen in diesen Räumen, und wie viele Größenwahnsinnige rühmen sich der Erfolge, die sie niemals hatten! Wer nicht in diesem Betrieb steckt, glaubt, daß der Journalist ein bevorzugtes Wesen ist, weil die Theater ihm die Fauteuilplätze überlassen, die Minister ihm vor den Präfekten und den Senatoren, die sie antichambrieren lassen, Zutritt gewähren, die großen Künstler ihn duzen. Aber das Publikum ahnt nicht, daß alle diese Leute ihn in ihrem Inneren verachten, obwohl sie ihm dem Anschein nach jede Zuvorkommenheit erweisen: vom Portier des Krankenhauses an, der den Reporter über den Trambahnzusammenstoß informiert, bis zum Präsidenten der Republik, der dem parlamentarischen Berichterstatter eine Unterredung gewährt. Alle denken über den Journalisten das schlechteste. Und sie behandeln ihn gut, weil sie Furcht haben vor der großen Erpressung oder der kleinen Niedertracht; willig erteilen sie ihm alle erbetenen Informationen, und zuweilen geben sie sie ihm gleich schriftlich oder diktieren sie ihm wörtlich, weil sie fürchten - da sie seine bodenlose Unwissenheit kennen -, daß er ihnen wer weiß welchen Blödsinn in den Mund legen könnte. Der hervorragende Musiker, der beliebte Dramatiker oder der vielapplaudierte Schauspieler behandeln den Zeitungskritiker durchaus familiär, aber sie wissen ganz genau, was dieser Kritiker ist: er ist ein Individuum, das zwischen dem achtzehnten und fünfundzwanzigsten Jahr als Reporter in eine Zeitung eingetreten ist, wie ich dort eingetreten bin und wie du eingetreten bist, wie man zum Handel mit Lebertran oder zur Buchhaltern eines Zirkus übergegangen wäre. Das Leben als Journalist brachte ihn in Berührung mit Literaten, Schauspielern, Malern, Bildhauern, Musikern. Durch lange währenden Kontakt mit ihnen behielt
er eine nicht sehr weit reichende Phraseologie im Gedächtnis, aber mehr als ausreichend, um einen genialen Menschen mit einer Spalte von Beschimpfungen zu schmähen oder einen Kretin mit apologetischen Lobeshymnen zu überschütten. Ich will damit nicht sagen, daß der Journalismus eine Druckerpresse im Dienst der Unverantwortlichkeit und Inkompetenz ist: in jeder Redaktion gibt es zwei oder drei Intelligente, zwei oder drei Ehrenmänner, und zuweilen auch ein oder zwei, die gleichzeitig Urteil und Gewissen haben. In dieser Karawanserei, zu der du seit einer Viertelstunde deine Zuflucht genommen hast, wirst du einige bewundernswerte Personen finden: den Direktor, den Chefredakteur, den Theaterkritiker, einen sehr strengen Kritiker und Dramenschreiber...» «Erfolgreich?» «Niemals; den ersten Stenographen, den deutschen Redakteur. Aber die anderen... Oberflächliche Leute, die einen summarischen Katalog nie gelesener Bücher im Kopf haben, und die reden, reden, reden, in Bruchstücken, in gedrechselten Sätzen, so ungeordnet, daß, wenn man sie hört, es einem scheint, als hätte man ein Bündel Zeitungsausschnitte in der Hand und man läse hier einen Satz und dort einen Satz ohne irgendeinen verbindenden Faden. Dann wieder gibt es andere, die niemals reden. Und dennoch scheinen sie tiefe Denker zu sein, denn sie gehen mit gesenktem Kopf, gleichsam hypnotisiert vom Asphalt; sie betrachten jeden Speichelklacks und glauben einen Diamant zu finden; du würdest denken, daß sie in tiefe Gedanken versunken sind, aber sie denken gar nichts: Sie sind wie die Droschkengäule, die an der Straßenecke stehen und scheinbar von gewaltigen Problemen wie erstarrt sind, aber ihr Gehirn ist leer, nicht das geringste darin. Ich glaube jedoch, daß du dich in dieser Zeitung wohl fühlen wirst. Alle hier kranken ein wenig an àquoi-bonisme, an Pfeifdraufismus, und es geschieht nicht das, was anderswo passiert, daß nämlich die Arrivierten die Arrivisten verachten, so wie Frauen, die einen Mann gefunden haben, die Unverheirateten verspotten, die noch auf der Suche nach einem sind.» Während Pietro Nocera redete, betrachtete Tito sein Arbeitszimmer. Ein großes Fenster mit Milchglasscheiben, ein Schreibtisch, darauf einige auseinandergefaltete Zeitungen, ungeordnete Papierblätter und eine Schere von gähnender Länge, Tintenfaß, flüssiger Gummi, eine brennende Lampe, ein Aschbecher mit vielen Streichholzköpfchen, die winzigen kleinen Schädeln in einem zierlichen Beinhaus glichen, untermischt mit kleinen Beinknöchelchen (ein wenig Kokain spukte noch in Titos Gehirn); ein Telefon, auf Pappe geklebte Zeitungsausschnitte, ein leichtes Regal mit einigen hineingeworfenen Büchern. Es schien eher, daß die Bücher dem Regal zu Gefallen daraufgelegt worden waren, als daß dieses Gestell im Dienst der Bücher aufgestellt war. «Dein Arbeitszimmer gleicht diesem hier aufs Haar», sagte Pietro Nocera, «sie sind alle gleich, wie die Kabinen eines Überseedampfers.»
Jemand klopfte an die Tür; ein Bote trat ein. «Lassen Sie sie heraufkommen», sagte Pietro zum Boten, und sich an Tito wendend: «Es ist eine meiner provisorischen Geliebten. Geh dort hinein und nimm Besitz von deinen Räumen. In einer Stunde rufe ich dich.» «Wie? Du empfängst auch Damen in deinem Bureau?» «Und wo, meinst du, daß ich sie empfangen soll? Vielleicht in deinem, du Kleinstädter?» Tito ging hinaus. Die Dame trat ein.
3 Es besteht eine Art Freimaurerei unter den Kokainisten. Sie erkennen sich untereinander an gewissen Anzeichen, die nur sie erfassen: sie haben ihre Logen, gleichviel, ob demokratischer oder aristokratischer Art, denn sie geleiten sich gegenseitig von einer Loge zur anderen, von den Kabaretts des Montmartre zu den Villen der Porte Maillot, von den boîtes à étudiants des Quartier Latin zu den Tavernen des Montparnasse. In wenigen Monaten kannte Tito Arnaudi die mit Geschichten und Legenden verbundenen Cafes, die kleinen Theater der Butte Sacrée, die Destillen, die unterirdischen Säle, die von fünf Uhr abends bis zur Morgendämmerung bei rhythmischer Blechmusik von lasziven Tänzen widerhallen; er verkehrte in all diesen halb geduldeten und halb verborgenen Orten, Treffpunkte der Kokainisten, die fünfzig Prozent der habitués bilden. Er kannte jene kleine Welt, die rings um die Universität wimmelt: kleine Weibchen zwischen fünfzehn und fünfunddreißig, die den romantischen Beruf der Studentenfreundin betreiben: kleine, anspruchslose Freundinnen, die sich mit einem halben Zimmer, einem halben Bett, einer Mahlzeit am Tag begnügen. Der empfindsamen Laune einer Stunde folgend, heften sie sich an einen Studenten, aber die Stunde vergeht, die Neigung dauert an, zieht sich in die Länge, wandelt sich, und inzwischen vergeht ein Jahr, vergehen zwei Jahren, vergeht die erste Jugend, und die Freundin bleibt, beinahe treu, beinahe verliebt. Dann macht der junge Mann sein Doktorexamen und verläßt sie; und sie weint, vielleicht im Ernst, sie verzweifelt, vielleicht aufrichtig, und um sich zu trösten hängt sie sich an einen anderen jungen Mann, jünger noch als der, der sie verlassen hat, jünger als sie selbst, und ihn in seiner Weisheit und seinen Torheiten lenkend begleitet sie ihn durch seine sämtlichen Universitätskurse, durch die verschiedenen möblierten Zimmer, die ihr nicht mehr, aber ihm neu sind, in die Cafes, wo Carambolage und jacquets gespielt wird, in die vielen bouillons Chartier, wo man für fünf Francs die Illusion hat, zu zweien zu Mittag gespeist zu haben. Und eines Tages bietet ein Student, der Arzneikunde studiert, dem Freund aus Großsprecherei ein wenig von dem weißen Pülverchen an, das er im Universitätslaboratorium unterschlagen hat; der andere nimmt es an, im Scherz oder aus Snobismus, nicht zum Vergnügen, denn die erste Prise ist immer unangenehm; aber dann wird es ihm unentbehrlich, und er sinkt umnebelten Geistes
durch alle Stufen der Erniedrigung, bis zum Untergang. Die Gefährtin, die ihm durch die verschiedenen möblierten Zimmer, durch die Bars und bouillons folgt, beginnt gleichfalls, lächelnd, wie sie es tat, als sie sich zum erstenmal puderte, und dann... Und diese kleinen Damen treten einander näher, treffen sich, erinnern sich, sich gesehen zu haben, erkennen sich und verstehen sich: wir sehen sie zu zweit, zu dritt in den Bars zur Aperitifstunde; sie bewegen sich voller Unruhe, wittern ringsumher wie Foxterrier, zu zweien, zu dreien treten sie in die Waschräume, in die Telefonkabinen und kommen nach wenigen Minuten mit glänzenden Augen wieder heraus, mit strahlendem Gesicht, lebhafter in den Bewegungen, fröhlicher, plaudersamer, schöner. In dem Waschraum, in der Telefonzelle haben sie sich mit Kokain versorgt. Sie befinden sich noch im ersten Stadium der Vergiftung; sie üben noch Zurückhaltung; sie bekennen sich noch nicht zu ihrem Laster, wenn sie nicht ganz überzeugt sind, daß diejenige, der sie das Bekenntnis ablegen, gleichfalls eine renifleuse ist; sie vergiften sich noch im geheimen, keusch, schamhaft: In einigen Monaten sehen wir dieselben Frauen ihre Schachteln ostentativ auf den Bartisch legen, wie man ein Zigarettenetui mit der Herzogskrone auffällig zur Schau stellen würde. In ihren Augen ist etwas Erstarrtes, Erloschenes: der Wille ist erloschen. Und wenn der Wille noch vorhanden wäre, wozu könnte er dienen? Um sie aus der Starrheit zu erlösen? Nein, nein, das Rauschmittel ist ihnen nunmehr unentbehrlich: Nicht der Mangel desselben, nur der Gedanke an das Fehlen regt sie auf, bringt sie in Aufruhr, erbittert sie; dann nehmen sie deine Hand und drücken sie an ihr Herz, wo ein dürftiger Busen gleichsam als Trommelgehäuse dient. «Fühlst du es schlagen? Wie schnell es hämmert... jetzt läßt es nach... es scheint stillzustehen. nun fängt es wieder an.» «Meine Nächte», so erzählen sie, «sind durch entsetzliche Frostschauer gestört, Schlaflosigkeit hält mich in ihren Fängen, das Gift nicht zu haben ist furchtbar, noch furchtbarer aber ist ier Gedanke, nicht zu wissen, wie man es sich verschaffen kann.» Und um es sich zu verschaffen, greifen sie zu den verderblichsten Mitteln. Nicht zu den unehrlichsten, denn um eine unehrliche Handlung zu begehen, bedarf es einiger Energie. Man beginnt die überflüssigen Ausgaben zu unterdrücken, alsdann die notwendigen, man tritt seine Wohnung ab, um ein möbliertes Zimmer zu mieten, man gibt auch dies ab gegen eine Dachstube, man verkauft die Pelze und Schmucksachen zu lächerlichen Preisen; dann kommen die Kleider an die Reihe; dann der Körper. und man verkauft den Körper, bis zu dem Tag, wo er so verbraucht st, daß er keinen Käufer mehr findet; auch die Koketterie geht zum Teufel und die Reinlichkeit, obschon in jenem Milieu Koketterie und Sauberkeit Lebensbedingungen sind. Und daher kann man gewisse bescheidene, ärmlich gekleidete Frauen treffen, die einige Monate
vorher die Mode in Auteuil und in Longchamp lancieren. «Und der Pelz?» «Fünfzig Gramm Koko.» «Und die goldenen Armbänder?» «Eine so große Schachtel, die ganz voll doppeltkohlensaures Natron und Antipyrin war...» Und die Frau lacht ein erstarrtes Lachen, um nicht zu weinen, vielleicht, daß sie nicht einmal mehr weiß, wie man weint. Unter diesen Wesen, halb Frau, halb Gespenst, bewegt sich der Händler, die Taschen voller Pappschächtelchen mit verschiedenem Etikett: rot, grün, gelb; jede Farbe ist das Zeichen einer mehr oder weniger betrügerischen Mischung. Er verkauft kein reines Kokain: Das Gift beträgt nur einen kleinen Teil der Mischung, der lest ist Borsäure oder Milchsäure oder Magnesia. Der Händler weiß, daß der Vergifteten ein weißes Pulver genügt, das annähernd wie Kokain aussieht; wenn sie nur etwas zu ; schnupfen hat, macht sie keine Analyse von dem, was sie schnupft; in den letzten Stadien der Vergiftung würde sie das Kokain nicht von Zucker unterscheiden, und in den ersten Stadien interessiert sie mehr die Form der Anwendung als die Substanz; sie interessiert sich für die Art, es zu sich zu nehmen. Mit einer Goldfeder? Mit einem elfenbeinernen Nagelreiniger? Mit einer kleinen, einem Salzfäßchen entnommenen beinernen Schaufel? Mit dem eigens zu diesem Zweck gepflegten Nagel des kleinen Fingers? Und so bereichert sich der Händler in wenigen Monaten. Mit hundert Gramm Kokain kauft er für zehntausend Lire Schmucksachen, und wenn die Kundinnen ihm die leeren Schachteln anbieten, so nimmt er sie zurück und bezahlt zehn Stück mit einem Soldo. Der Direktor des Attimo fuggente wußte sogleich Titos Vorzüge zu schätzen. Acht Tage, nachdem er ihn eingestellt hatte, telefonierte er mit dem Buchhalter, und als Tito bei diesem erschien, um sein Gehalt entgegenzunehmen, wurden ihm fünfhundert Francs mehr ausgezahlt. «Was soll das bedeuten?» fragte Tito den Direktor. «Das soll heißen, daß Sie ein gescheiter Bursche sind.» «Das haben Sie mir niemals gesagt.» «Ich sage nicht. Ich handle.» Er nahm die größte Rücksicht auf ihn, erließ ihm alle lästigen Amtsverrichtungen. «Wollen Sie als Berichterstatter zu diesem Kongreß gehen?» «Nein», antwortete Tito. «Warum nicht?» «Ich langweile mich dort. Kongresse sind Versammlungen von Personen, die über die Art diskutieren, wie eine Diskussion zu führen ist und zum Schluß ein Huldigungstelegramm an den Minister schicken.»
«Sie haben recht. Ich werde einem Ihrer Kollegen den Auftrag geben.» Auch der Chefredakteur sah ein, daß Tito ein aufrichtiger Mann war und bot ihm das Du an. Sie duzten sich. Der Chefredakteur war keine wichtige Persönlichkeit bei der Zeitung, obschon sein Titel Chefredakteur - den Glauben hervorrief, daß er Gott weiß welch hohes Amt in der journalistischen Hierarchie bekleidete; im Grunde aber war er ein braver Mann, allen untergeben. Unsere Gesellschaft kreiert solche tröstlichen Gegensätze, solche ergötzlichen Widersprüche: Nachdem sie das Pferd sich haben abschinden lassen wie den niedrigsten Proletarier, nennen sie es das «edle Roß»; die Verbildung des Rückgrats, die Hypertrophie der Knochen, der Kretinismus, physische Monstrositäten werden spaßhaft «Launen der Natur» genannt; die Anstalten, in die man geht, um zu sterben, heißen Sanatorien; und der Mönch, den man dazu verurteilt, keine Kinder zu zeugen und keinerlei Übung zu treiben, um welche zu bekommen, den reden sie mit «Vater» an. Pietro Nocera, der italienische Freund, stand Tito Arnaudi in den ersten Monaten seiner Anstellung bei der Zeitung mit großer Herzlichkeit bei, führte ihn in liebevoller Weise in alle journalistischen Dienste ein. «Bald wird der Tag kommen, an dem du mir den Rücken kehrst», sagte Tito Arnaudi zu ihm. «Solange mein Posten und mein Gehalt dem deinen nachstehen, hilfst du mir recht gern und protegierst mich und erzählst den Kollegen, daß ich Talent habe; aber sobald mein Gehalt, der ungefähre Wertanzeiger, dem deinen gleich ist, wirst du behaupten, daß ich ein Kretin bin. Das ist im übrigen durchaus menschlich. Auch der Ewige Vater bereute es, nachdem er Adam eine gute Lage im irdischen Paradies verschafft hatte, und erfand sogleich irgendeinen Vorwand, um ihn zu ruinieren.» «Du hast wieder Kokain genommen!» behauptete Pietro Nocera in leise vorwurfsvollem Ton. «Wenn du biblische Vergleiche machst, hast du ein paar Gramm von diesem Pulver in der Nase.» «Laß uns nicht abschweifen», fuhr Tito Arnaudi fort, «du wirst mich verlassen.» «Aber nein - lieber Freund», entgegnete Pietro Nocera, sich in den weichen Diwan des Cafe Richelieu zurücklehnend. «Du hast noch nicht begriffen, daß ich nicht die kleinlichen dummen Fehler der anderen Menschen besitze. Ich beneide weder dich noch unseren Zeitungsdirektor, noch den Präsidenten der Republik, noch den Wursthändler Felix Potin, der der größte Wursthändler von Paris ist. Ich arbeite, weil ich jeden Monat notwendig zweitausend Francs in der Tasche haben muß; aber die Arbeit als solche will ich nicht adeln, weder durch Begeisterung noch durch Neid oder Wetteifer. Das Leben ist nur ein kurzes Antichambrieren, bevor wir in das Nichts eintreten. Wer denkt daran, in den Vorzimmern zu arbeiten? Man plaudert, man betrachtet die an den Wänden hängenden Bilder und wartet, daß die Reihe an uns kommt. Aber arbeiten! Das hat keinen Zweck, denn sind wir erst im Jenseits angelangt, werden wir nichts mehr davon
haben. Ich begreife nicht, wie alle diese Leute sich aufregen, sich zanken und streiten können. Einer spielt den Helden, ein anderer fordert das Volk heraus, ein Dritter gefällt sich als Bramarbas, als Eisenfresser; einer entwickelt Ideen, der andere reißt Systeme nieder, und wieder ein anderer stürzt Werte. Aber zu welchem Zweck? Wenn du bedenkst, daß ein Triumphator, der heute die Massen in seiner Gewalt hat, morgen in ein Cafe geht, aus einem schlecht gespülten Glas trinkt, zwei oder drei Bazillen, höchstens einen tausendstel Millimeter lang, schluckt und zurück zu seinem Schöpfer kehrt! Um wieder auf dich zurückzukommen: wenn ich eines Tages zu irgend jemand sagen sollte, daß du ein Kretin bist, so müßte ich diesen anderen für intelligent halten. Hingegen sehe ich um mich nur Leute, die sich anders zeigen, als sie sind: Sie entwickeln Ideen, die sie nicht haben, bekunden Überzeugungen, die nicht die ihren sind, machen schöne Gesten und sagen schöne Phrasen, um dahinter Unfähigkeit und Inferiorität zu verstecken. Wer im Winter keinen Überzieher trägt und behauptet, daß es gesünder sei, würde einen schönen Pelz, wenn er ihn besäße, selbst im Bett tragen; wer den Misanthropen spielt, den Einsamkeitssucher, der ist hundert zu eins ein Mensch, mit dem niemand umgehen will; wer systematisch schweigt und versucht, den Eindruck hervorzurufen, als sei er in unbestimmte philosophische Reflexionen versunken, ist kein von der Skepsis gekreuzigter Gehirnmensch, sondern ein Tropf, der eine leere Pneumatik im Gehirn hat. Wenn jemand mir sagt, daß er vom taedium vitae befallen sei, daß ihm alles zuwider, die Welt ihm zum Ekel, das einzige Glück der Tod sei, so fange ich erst an, ihm zu glauben, wenn er sich eine Kugel in den Kopf geschossen und man ihn begraben hat. Aber bevor nicht ein Kubikmeter Erde seinen Leib deckt, glaube ich noch, daß er die Komödie des Pessimismus spielt...» Während Pietro Noceras Erörterung betrachtete Tito Arnaudi durch die Fensterscheiben des Cafes das Leben und Treiben des Boulevards: ein mit einem weißen Stab ausgerüsteter Polizist regelte den Verkehr der Automobile und der Fußgänger in dem betäubenden Lärm des Stimmengewirrs und der zahllosen Geräusche. Indessen dachte Arnaudi: Diese Dinge hat er mir schon am ersten Tag unserer Begegnung gesagt; in der ersten halben Stunde, in der ein Mensch spricht, sagt er dir die interessantesten Dinge, die er weiß; später wiederholt er sich entweder oder variiert dasselbe Thema. «An was denkst du?» fragte Pietro. «Ich denke, daß du ein aufrichtiger Freund bist. Aber der Chefredakteur kommt nicht. Ob er es vergessen hat?» Und wie es in den Lustspielen geschieht, kaum hatte Tito ausgesprochen: «Er wird nicht mehr kommen», als die erwartete Person erschien. Der Chefredakteur war einer jener gutmütigen Menschen, die, wenn dir etwas ins Auge geflogen ist, dir wertvolle Ratschläge geben, damit du es wieder los wirst (schneuzen Sie sich die Nase, sehen Sie nach oben, gehen Sie rückwärts, ziehen Sie eine Quadratwurzel).
Er war vierzig Jahre alt: das schrecklichste Lebensalter! Der Greis macht einem keine Sorge mehr, weil er alt ist; der Tote nicht, weil er tot ist; leid tut einem nur der, der sich dem Alter nähert, dem Tod. Vierzig Jahre! Bei Volksfesten sehen wir Vehikel, die auf Schienen einen steilen Hang hinaufjagen, dem ein Abhang folgt und wieder ein Aufstieg; auf der Höhe der Steigung, vielmehr noch einen Meter vor dem höchsten Punkt, verlangsamt das Fahrzeug, das bei der Steigung die ganze gesammelte Energie fast verbraucht hat, zögernd seine Schnelligkeit, als sei der Gipfel unerklimmbar und als fürchte es den Sturz in den Abgrund. Der Mensch von vierzig Jahren befindet sich in diesem Augenblick der Unsicherheit, der Furcht: sein Lauf verlangsamt sich, der Gipfel und damit der Abstieg, den er nicht sieht, aber errät, lähmt ihn. Der Chefredakteur war vierzig Jahre alt. «Ich verabscheue die tabarins», sagte er, indem er das vierte Gläschen Kognak leerte, «all diese Menschen, die in den Souterrains tanzen, um sich gegenseitig die Nerven aufzureizen, und die glauben, sich selbst ein Vergnügen zu bereiten und in ihrer ungezügelten Begierde nicht ahnen, daß sie passive Instrumente in den Händen der Natur sind, die ihnen die Erregung des Tanzes zum Fortbestand der Spezies liefert.» Und er leerte noch ein Gläschen. «Ich lache aus Wohlerzogenheit», fuhr er gleich danach fort, «ich lache, um meine Melancholie zu verbergen. Und da es mir nicht gelingt, sie hinter dem Lachen weder vor mir noch vor den anderen zu verbergen, so trinke ich, um sie wenigstens vor mir selbst zu verbergen: Ich trinke, um die Falten der Seele zu glätten, aber die Falten der Seele bringt man nicht weg; man kann sie wohl für einen Augenblick glätten wie die Gesichtsfalten, die die Damen mit der Massage glätten: sie verschwinden für eine Stunde, kommen dann aber wieder zum Vorschein und graben sich um so tiefer ein.» Und wieder trank er. «Durch das Leben in den Zeitungsdruckereien habe ich mich daran gewöhnt, verkehrtherum zu lesen, die Dinge auf dem Kopf stehend zu sehen. Eine sehr traurige Gabe! Dank ihrer habe ich das Vertrauen in die Aufrichtigkeit eines Freundes verloren, der mir teuer war, dank ihrer habe ich begriffen, daß die Frau, die vorgab, mich zu lieben, mich verachtete und mich betrog... Und nun trinke ich. Ich trinke und ich richte mich zugrunde. Ich weiß es. Ich richte mich zugrunde, aber ich sehe alles rosig. Mir genügt es, alles rosig zu sehen. Und dann habe ich, indem ich die Welt betrachte, den Eindruck, als sei sie wirklich so, wie die Optimisten mich gern glauben machen wollen, daß sie ist.»
«Und wenn du nicht getrunken hast?» fragte ihn Tito. «Wenn ich nicht getrunken habe... Machen wir eine Parenthese: die Gläubigen, die Mystiker sehen, wenn sie ihren Blick auf die Welt werfen, keine schönen und aufreizenden Frauen, sie sehen nicht genußsüchtige Männer; sie sehen Skelette, sehen Schädel mit tiefen Augenhöhlen, Kinnladen ohne Zunge, Zähne ohne Zahnfleisch, unwürdig kahle Köpfe, Füße, die aus unregelmäßigen Würfeln zusammengesetzt scheinen, langgestreckte Hände, die aufgereihte Pfeifenmundstücke zu sein scheinen. Ich hingegen, wenn ich die Männer anschaue, sehe Wirbelsäulen, Rückenmark, von dem Nervenverzweigungen ausgehen.» «Dies gilt für die Männer», meinte Tito, «aber die Frauen?» «Die Frauen? Wandelnde Uterusse. Nichts weiter. Ich sehe wandelnde Uterusse und Männer, die ihnen hypnotisiert folgen und von Ruhm, Idealen, Menschlichkeit durcheinanderreden... Und so trinke ich!» Durch die vom Rauch getrübten Scheiben sah man zwei dichte und ununterbrochene Menschenströme. Das Stimmgewirr der Massen, das Getöse, das Getrampel, das Auf- und Abfluten der Menge gab der Phantasie die Vorstellung von einer Farbe: einer mit Gelb und Grau vermischten Erdfarbe, auf der von Zeit zu Zeit der Ruf eines camelot, das kichernde Lachen eines Straßenjungen, eine kreischende Frauenstimme, rote Flecken, weiße Tupfen, violette Spritzer, silberne Parabeln, graublaue Kleckse, grüne Lichter, gelbe Hieroglyphen, blaue Pfeile hervorriefen. Inmitten dieser bleiernen Monotonie blitzten behende, elastische Frauenbeine auf, glitten vorüber; und alle lang, schlank, dünn, muskulös, rosig und von Seide umhüllt, wie von einer Fadenspirale, die sich um Waden und Scheinbein windet, wie die Rillen einer Grammophonplatte. Die moderne Venus besitzt nicht mehr die weichen molligen Reize, die unsere Großväter (mit den Händen) suchten: die Venus von heute muß so gestaltet sein, daß sie dem Zwittergirl einer englischen Gymnastiktruppe gleicht. «Und so trinke ich», fuhr der aus Wohlerzogenheit Lächelnde fort. «Mir würde vielleicht die Liebe bleiben. Aber ich habe schließlich begriffen, was die Liebe ist. Sie ist ein süßes Vergiften durch die Frau, die mir gefällt. Nach einiger Zeit macht all das Gift, das ich geschlürft habe, mich immun, und dann hat das Gift, das sie mir weiter verabreicht, nicht mehr die geringste Wirkung. Früher einmal berauschte es mich, mich einem Gegner gegenüberzusehen, und ich versuchte, ihn zu bekämpfen; aber jetzt, wo ich Chefredakteur der Zeitung bin, jetzt, wo ich ein Arrivierter bin, bin ich auch ein Erledigter. Und die Freude am Kampf fehlt mir vor allem deshalb, weil ich keine Feinde mehr habe, und selbst wenn ich welche hätte, würde ich mir nicht die Mühe geben, sie zu bekämpfen. Ich habe begriffen, daß Feinde notwendig sind, um vorwärtszukommen. Die Opposition ist unentbehrlich, um Karriere zu machen. Vom Uranfang unseres embryonalen Lebens an hätten wir diese elementare Wahrheit begreifen müssen: die Spermatozoen bedürfen der Gegenströmung, um dem Eierstock zuschwimmen zu können.» «Das ist ein Paradoxon!»
sagte Tito. «Ich drücke mich nie in Paradoxen aus», erwiderte der Chefredakteur, «denn in den meisten Fällen sind es nur frisierte Dummheiten. Ich behaupte, daß Feinde äußerst nützlich sind, jedoch müssen sie gut zu manövrieren verstehen. Benutzt man in der Medizin, du als Arzt müßtest das ja wissen, nicht auch Bazillen, um die Krankheiten, die sie hervorrufen, zu bekämpfen? Die ganze Serumtherapie ist auf der Ausnutzung unserer Feinde zu unserem Besten begründet. Ist nicht der Blutegel ein Parasit des Menschen? Und doch wird er in den Händen des Arztes ein sehr nützlicher Gegenstand. Die Feindschaft ist eine Kraft, eine negative, gegensätzliche, aber immerhin eine Kraft; und alle Kräfte sind durch den Menschen ausnutzbar. Wie denkst du darüber?» Pietro Nocera entwertete: «Ich meine, daß es bei einem Talent wie dem deinen...» Und Tito fuhr fort: «... eine Sünde ist, daß es sich mit Alkohol zugrunde richtet.» Der Chefredakteur wandte sich an Tito: «Ich muß bei dir an die Menschen denken, die sagen: Es ist dumm, an den Einfluß der Zahl Siebzehn zu glauben; siebzehn ist eine Zahl wie alle anderen; die Dreizehn bringt Unglück, das ist richtig; aber die Siebzehn, nein. So machst du es, Arnaudi. Du bringst dich mit Kokain um, und es erscheint dir Wahnsinn, daß ich mich durch Alkohol töte. Und du willst nicht verstehen, daß, wenn wir uns so gut vertragen, der Grund darin liegt, daß zwischen uns eine Affinität der Gifte vorhanden ist, die wiederum eine Gleichartigkeit der Ideen erzeugt hat. Du und ich, wie haben die gleiche forma mentis, die im Grunde auch diejenige Pietro Noceras ist. Wir stimmen so vollkommen überein, weil wir auf dieselbe Note abgestimmt sind. Wir sind einfach Männer unserer Zeit, durchaus nicht drei Ausnahmetypen, die sich zusammengeschlossen haben, um ein in seiner Art einziges Dreieck zu bilden. Vielleicht irre ich mich, wenn ich sage, daß wir durch das Gift so geworden sind, oder ist es, daß weil wir so sind, wir uns heroisch in unseren süßen Giften ertränken? Wie dem auch sei, ich bin glücklich bei dieser Vergiftung. Und es wäre sinnlos, sie zu unterlassen, in Anbetracht, daß sie meinem Leben ein wenig Freude gibt. Wenn ein halber Liter Alkohol genügt, die Melancholie zu vertreiben, vor meinen Augen diese dreckige Welt umzuwandeln, und wenn ich, um diesen halben Liter Alkohol zu erhalten, nichts anderes zu tun brauche, als auf einen elektrischen Knopf zu drücken, weshalb sollte ich es mir dann versagen? Wenn es schmerzhaft wäre, würde ich es verstehen; wenn es, zum Beispiel, um mich von allen den durch die Liebe erzeugten Schmerzen zu befreien, genügen würde, mich einer chirurgischen Operation zu unterziehen; aber auch das wäre ja schmerzhaft, und eine chirurgische Operation ist immer eine große Unbekannte; den Alkohol hingegen reguliere ich selbst, er ist ein Instrument, das ich mit eigenen Händen bei mir anwende. Ich weiß sehr wohl, daß er mir nicht bekommt, aber nichtsdestoweniger trinke ich weiter; denn diese fünf oder sechs Gläschen verursachen mir Wohlbehagen, und ihre Wirkung ist, daß die Kränkungen mir Artigkeiten zu sein scheinen, die Schmerzen, wenn auch nicht in Freuden, aber wenigstens in Gleichgültigkeit
verwandeln, und ich werde jenseits der Realität der Dinge befördert und sehe sie von jener veränderten Perspektive aus, die den Grundzug der Ironie bildet. Was gibt es Schöneres, als an seinem Nächsten vorüberzugehen, ohne irgend jemanden zu erkennen und in einer Art von unbewußtem Rausch zu leben? Die Dummköpfe sagen, daß ich mich zugrunde richte; meiner Meinung nach sind Dummköpfe diejenigen, die das unnütze und verächtliche Ding, die Existenz, zu erhalten trachten. Auch der Direktor unserer Zeitung, ein Mann von so lichtvoller Intelligenz, fordert mich zuweilen freundschaftlich auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und rät mir, indem er durch die Sanftheit seiner Stimme versucht, den Hochmut seiner Va-t-en-guerre-Schnurrbarts zu mildern, das Trinken zu lassen. Aber der Ärmste, wo ich doch nur, wenn ich getrunken habe, dienstfertig, fügsam, geschmeidig werde! Wenn ich getrunken habe, könnte er mir befehlen, den Fußboden zu bohnern, und ich würde es tun...» Eine magere und blasse, ganz in Schwarz gekleidete Dame trat ein, sah sich um und setzte sich an einen der Tische, «De quoi écrire et un Grand Marnier.» Der Kellner brachte den Likör und das zum Schreiben Erforderliche. «Frau Ter-Gregorianz», sagte Pietro Nocera, auf die schöne Neueingetretene zeigend. «Sie ist eine Armenierin, die an der Porte Maillot wohnt und berühmt ist wegen ihrer weißen Messen.» Die Dame trug einen Hut aus schwarzem Schleierstoff, durch den man das gewellte, tiefschwarze Haar glänzen sah; ein schwarzer Paradiesvogel hing über der einen Schläfe, reichte hinunter bis zum Hals, den er liebkosend berührte, und bog sich zum Kinn um. Es schien, als sei ihr Gesicht von einem weichen, wollüstigen, umgekehrten Fragezeichen umrahmt. Als die Dame mit Schreiben fertig war, rief sie einen Jungen, ganz in Grün und Gold gekleidet, über und über glänzend und galoniert, und händigte ihm den Brief aus, der Knabe legte die rechte Hand in vertikaler Richtung, die Handfläche nach außen, an die runde, grüne, schirmlose Mütze, die schräg durch einen schwarzen Riemen festgehalten wurde. Er ging hinaus auf den Boulevard. Man sah ihn mitten zwischen den Autobussen hindurchschlüpfen. «Gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich Ihnen meine Freunde vorstelle?» fragte Pietro Nocera sie, zu ihr herantretend und sie auffordernd, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Die Dame blickte ihn durch das Fragezeichen an und lächelte; sie war bleich, und der schmale, geradlinige Mund war wie mit dem Meißel eingeschnitten. Beim Lächeln zog sie ihn in die Länge, nach jeder Seite um einen Zentimeter, ohne die Lippen zu öffnen. Der Chefredakteur war im journalistischen Dienst in Armenien gewesen. Zwischen ihm und der schönen Armenierin entwickelte sich sofort ein doppelter Strom von Herzlichkeit. Die Dame beschwor die Sitten ihres Landes herauf, das Martyrium ihres Volkes, die Farbe ihrer Berge, die Sinnlichkeit der Frauen dort unten.
Während zwischen den beiden die kalten Flämmchen der Erinnerung hin- und herzuckten, flüsterte Tito Arnaudi Pietro Nocera auf italienisch zu: «Welch wunderbare längliche Augen!» «Versuche, es ihr zu sagen», entgegnete Nocera, «und du wirst sehen, daß sie sie sogleich in Betrieb setzt. Es ist die Dame, von der ich dir gestern erzählte. Sie ist es, die in ihrem Zimmer einen prächtigen Sarg hat aus Ebenholz, mit Federn gepolstert und mit antikem Damast überzogen.» «Und ist es wahr, daß...» «Frage sie.» «Ganz direkt?!» «Sie ist eine Frau, an die man diese Frage richten kann.» Und sich an sie wendend: «Ist es wahr, gnädige Frau, daß Sie einen Katafalk von schwarzem Holz besitzen und...» «Es ist wahr», bestätigte sie. «Und daß...» erkühnte Tito sich fortzufahren. «Und daß ich ihn für meine Liebesabenteuer benutze? Gewiß! Er ist bequem, er ist köstlich. Wenn ich sterbe, wird man mich für immer dort einschließen, und ich werde in jenem Sarg die süßesten Erinnerungen meines Lebens wiederfinden...» «Ja, wenn es deswegen ist...» gab Tito zu. «Nicht nur deswegen», fügte die Dame hinzu, «es hat noch einen anderen Vorteil, im Sarg genommen zu werden; danach bleibe ich allein, ganz allein; der Mann ist gezwungen, fortzugehen; der Mann flößt mir danach Widerwillen ein. Verzeihen Sie mir, aber danach erregt der Mann immer Widerwillen; denn entweder folgt er dem Impuls des gesättigten Mannwesens und erhebt sich eiligst, wie aus dem Armstuhl des Zahnarztes, oder er bleibt aus Wohlerzogenheit, aus Zartgefühl dort, neben mir; und dann stößt er mich ab, weil an ihm etwas ist, das nicht mehr männlich ist, es ist etwas..., wie soll ich sagen, etwas, entschuldigen Sie, Feuchtes...» Und sie nahm die unterbrochene Unterhaltung wieder auf. «Wer ist ihr jetziger Liebhaber?» fragte Tito. «Ein Maler», antwortete Nocera, «aber eine Frau wie sie hat immer fünf oder sechs Ersatzmänner an der Hand.» In der nächsten Nacht waren Tito Arnaudi und Pietro Nocera in die Villa der Frau Kalantan TerGregorianz eingeladen, eine Villa, die weiß schimmerte zwischen dem Étoile und der Porte
Maillot, zwischen den Champs-Élysees und dem Bois, in jener mondänen Zone, die das aristokratische Kokainviertel bildet. In den luxuriösen Villen, in denen sich die verschiedenen Tout Paris versammeln (das politische Tout Paris, das mondäne Tout Paris, das künstlerische Tout Paris), finden regelmäßige Zusammenkünfte statt, veranstaltet, um sich gemeinsam dem fröhlichen Rausch hinzugeben, den das Gift verursacht. Es sind Kollektivvergiftungen von Menschen, die der Wind hier zusammengeweht hat. Die jugendlichen Besucher des Turf und der Generalproben, die Unerwachsenen oder gerade eben mannbar gewordenen Kavaliere, die es für ihre Pflicht halten, auf ihrem Schreibtisch die letzte auf den Büchermarkt geworfene Dichtung und im Bett die jüngste in die Lebewelt lancierte Kokotte zu haben; die jugendlichen Pariser, die sich von den Künstlern der Vie Parisienne die Pyjamas zeichnen lassen und sich von tropischen Vögeln in Gelee nähren, lassen in die Konversation über kleine und große Argumente «qui pullulent autour de nos tasses de thé», wie Sully Proudhomme sagte, die Modegifte einfließen, die phantastischen Überspanntheiten, die Äthersucht, die Chloralsucht und das weiße bolivianische Pulver, das zu Halluzinationen führt. Und dann kommen sie überein, einen Versuch zu machen. So entsteht im Haus einer normalen Familie von einem Tag zum andern ein Brutnest von Kokainsüchtigen: Männer und Frauen laden sich gegenseitig zu «Kokaingesellschaften» ein, wie man sich zum Mittagessen einlädt. In gewissen Familien breitet sich die Ansteckung von den fünfzehnjährigen Enkeln bis zum siebzigjährigen Großvater aus: die Kokainomanie zu zweien, die Vergiftungsmanie unter Eheleuten findet sich oft; wenn sie nicht den männlichen Teil impotent und den weiblichen gebärunfähig machte, so glaube ich, daß das neugeborene Kind solcher Ehepaare sogleich nach dem weißen Pulver suchen würde, wie es bei dem Kind der Morphinisten geschieht, dem man als erstes eine Morphiuminjektion macht. Der Alkoholiker hat noch die Kraft, sein Übel zu erkennen und dem, der noch frei davon ist, zu raten, sich des vergifteten Getränkes zu enthalten. Der Kokainist hingegen liebt es, Proselyten zu machen: jedes Opfer des Rauschgiftes bildet, anstatt eine sichtbare Warnung zu sein, einen Herd der Ansteckung.
4 Die Villa der Frau Kalantan Ter-Gregorianz war weiß wie ein Beinhaus und rund wie ein antiker griechischer Tempel; an der Seite breitete sich ein kleiner dreieckiger, immergrüner Garten aus, der dem Grün zu einem hochzeitlichen Gebinde glich. Man würde sagen, die garçonnière einer Fee, die noch nicht in Ideen bekannten Märchen figuriert, aber die man einführen sollte: die Fee der Ausschweifung. Tito Arnaudi und Pietro Nocera trafen spätabends in einer offenen Autodroschke ein. Von dem
völlig runden Mond löste sich eine bandförmige Wolke, die einem Arm glich, der eine Laterne hält; hier und da zuckten am Himmel ungeordnete Sternenbündel auf, wie Feilstaub aus Platin, den ein Hauch dort oben auseinandertrieb. Aus dem Dunkel des Gartens leuchteten im Mondlicht aus den Laubengängen und den blühenden Hecken die vom Frack umrahmten, gestärkten Rechtecke der Hemden weiß hervor. Die Luft war angefüllt vom Duft der Nacht, dieser immer jungen und schönen Kokotte. Das Vestibül war eine römische Vision: an den Wänden mythologische Fresken auf rotem Grund, wie die pompejanischen, die die schamhaften, undeflorierbaren englischen Fräuleins als shocking bezeichnen. Temperatur eines Tepidariums. Die beiden Italiener gaben ihre Zylinderhüte ab und folgten einem Diener, der mehr betreßt war als ein türkischer Admiral, durch einen halbrunden Korridor, wie im Theater, in einen großen Saal. Es war der Saal der Pinguine. Auf großen Spiegeln, die rings um die Wände gingen, waren Polarlandschaften gemalt: endlose Schneefelder, Eisblöcke, riesenhafte Eisberge, die den Versammlungen der Pinguine als Plattform dienten. Und da nur der untere Teil der Spiegel bemalt war, so reflektierte der obere nackte Teil die Landschaften des gegenüberliegenden Spiegels bis ins Unendliche. Auch die Pinguine glichen vornehmen Herren im Frack, die die Hände auf dem Rücken hielten. Ein großer Teppich mit weißen, grünen und blauen Hieroglyphen nahm die ganze Breite des Saales ein. Auf den halbkreisförmigen Diwans Tigerfelle und Brokatkissen. Keine Lampe, kein Fenster: Aber durch eine bläuliche Glasdecke sickerte ein verschleiertes Licht aus unsichtbaren, aber geahnten farbigen Lämpchen. «Wir bewundern gerade die Höhle der Zauberin», sagte Tito, der Kalantan entgegengehend, die hereinkam und eine Hand ihm, die andere seinem Gefährten reichte. «Wir sind die ersten. Ist es zu früh?» «Allerdings. Aber einer muß doch der erste sein.» Der Diener hatte kaum das wie ein Königsmantel zottige Fell, das als Portiere diente, zurückfallen lassen, als er es wieder hob und drei Titel und drei Namen anmeldete. Drei Herren traten ein. Der eine war groß, mager, ohne Schnurrbart, ganz weiße Haare; zwei ebenso weiße Favoris gaben seinem Gesicht das strenge Aussehen eines mâitre d’hötel. Die Dame stellte ihn vor: «Professor Cassiopeja, Direktor des Observatoriums; er besitzt das schärfste Fernrohr der Welt.» Verbeugungen.
Und die beiden Italiener stellte sie vor: «Doktor Chiaro di luna; Professor Oü fleurit l’oranger: Redakteure einer Pariser Zeitung.» Verbeugungen. Gleichzeitig mit dem Astronomen waren zwei andere Herren eingetreten. «Der Maler Triple-Sec.» Blond, jung, mager, dreifach dürr. Verbeugungen. «Doktor Pancreas, von der medizinischen Fakultät.» Verbeugungen, Händeschütteln. Auf einen Wink der Hausfrau traten die fünf Herren zu einem Diwan. Die beiden Italiener wurden aufgefordert, den drei Franzosen voranzugehen. Der Diwan war so weich und elastisch, daß, wenn man einmal saß, die Knie sich auf der Höhe der Schultern befanden. Um nicht eine unschöne Haltung anzunehmen, konnte man nichts Besseres tun, als aufzustehen oder sich lang auszustrecken. Der Diener meldete weitere Gäste an. Einen reichen Industriellen, Antiquar, zu dessen Kundschaft einige depossedierte Könige zählten; eine blonde Frau von unbestimmbarem Alter zwischen dreißig und sechzig, eine Kokotte jüngsten Datums, andere Herren und Damen. Eine der letzteren teilte mit, daß Herr ..., da er in einer Tragödie von Corneille spielen müsse, erst später kommen werde. Ein alter Herr entschuldigte einen seiner Kollegen, der Paris hatte verlassen müssen, um eine chirurgische Operation in Marseille auszuführen. Der Maler begriff sogleich, was die chirurgische Operation in Marseille bedeutete. Der Chirurg, Großmeister einer bedeutenden Freimaurerloge, war am Donnerstag niemals frei. Es erschienen noch mehr Gäste: Vorstellungen, Verbeugungen; niemand überrascht, einander zu treffen. Vier Diener schleppten Hunderte von großgefleckten Kissen in allen Farben herbei und häuften sie übereinander um die Damen, die auf den Diwanen saßen. In dem großen Kreis des Saales bildete sich im Hintergrund ein kleinerer Kreis: ein Gemisch von Herren und Damen, Kissen, rosigen Frauenschultern, Frauenhaaren, Zigarettenrauch; das von oben strömende Licht färbte alles rosig und blau und die Schatten grünlich und violett. Eine große Gemessenheit in den Gebärden verlieh dieser ge-meinsamen Benutzung der Kissen,
diesem Kreuzen der Beine, diesem engen Aneinander ernster, seniler Fracks und verräterischer weiblicher Tuniken eine gewisse Vornehmheit. Kalantan, die schöne Armenierin, steckte gleichsam in einer dunklen Scheide: das dunkelgraue Kleid, mit grünlichen und bläulichen Reflexen, paßte sich wie ein Trikot den Formen an: keine Garnierung, keine Nähte, die die Seide gegen die konkaven Körperteile gepreßt hätte; sie schien eine bronzene Nacktheit; sie glich einer Basaltstatue, aber bei der Berührung mußte sie von der saugenden Weichheit des Vampirs sein; zwischen Kleid und Haut nicht einmal ein Seidenhemd; um die Taille eine grüne, über dem Leib verschlungene Kordel mit Quasten, die in zwei großen Smaragden endeten. Grüne Strümpfe, grüne Atlasschuhe, die Nägel grün emailliert. Eine Art von Versenkung öffnete sich. Heraus stieg ein bleicher Jüngling mit einem Mädchengesicht, der in einer Hand eine Geige, in der andern den Bogen hielt... Die Dame machte ihm ein Zeichen, und der Jüngling verschwand. Die Versenkung schloß sich. Durch den Fußboden-erst jetzt begriff man die Leichtigkeit des dünnen Fußbodens ertönte eine einschmeichelnde und langsame Musik, die aus Abgrundtiefen zu kommen schien. «Ich sehe Sie nicht zum erstenmal», sagte der Maler Triple-Sec zu seinem Nachbarn, «gestern morgen im Grand Palais haben Sie gesagt, daß eins meiner Bilder von erhabener Falschheit sei. Ihr Ausspruch hat mich betroffen gemacht.» «Ja, aber wie denn?» fragte der Herr mit dem strengen Gesicht eines màitre d’hòtel und mit den weißen Favoris. «Standen Sie denn in der Nähe Ihres Bildes?» «Selbstverständlich», lächelte eine Dame mit metallisch blondem Haar, «der Maler steht immer vor seinem Bild, wie hinter dem Leichenwagen immer die Verwandten des Verstorbenen gehen. Wenn man schlecht vom Bild oder vom Toten sprechen will, ist es ratsam, ein wenig beiseite zu treten.» «Und Sie lieben das Falsche in der Kunst?» fragte der Maler. Astronom: «Gewiß, nur im Falschen ist Schönheit: Die verschrobenen Entstellungen, die visionären Verzerrungen, die heftigsten Kontraste sind die einzigen Mittel, mit denen es dem Künstler gelingt, mich in einige Erregung zu versetzen. Wir haben genug vom Wahren, Menschlichen, Wahrscheinlichen; ich wünschte, daß es einem Künstler gelänge, mir die Illusion zu verschaffen, daß ich durch die Straßen der Stadt ginge, die mit Sternen gepflastert wären, auf dem Kopf ein Paar Galoschen, mit denen ich mit dem Kopf in den Pfützen des Firmaments herumpatschte, während der Regen oder der Sonnenschein mich von unten bis oben einhüllten. Anstatt die Blüten der Pflanzen zu bewundern, möchte ich die Blumen in der Erde begraben und die Wurzeln dem Wind preisgeben; statt der Produkte die Ursachen; statt der Folgen die Ursprünge; die Wurzeln der Margeriten sind viel interessanter als die Blumenkronen.» Chirurg: «Für einen Astronomen wie Sie ist all dies ein wenig stark.»
Astronom: «Die Astronomen sind nur verfehlte Dichter; denn anstatt die Sterne zu prüfen und die Mißgestalt ihrer Eigenschaften zu untersuchen, machen sie sich nur an die genaue Analyse der Entfernung, und das ist albern.» Kalantan, die schöne Armenierin: «Und dennoch hält man große Stücke auf euch...» Astronom: «Ja, weil wir Riesenfernrohre haben, Zahlen von reißig Ziffern schreiben, mit Sechstillionen und Viertelsekunden rechnen und unentzifferbare Formeln schreiben. Aber in Wahrheit: was hat es für einen Zweck, die Entfernung der Sterne zu messen?» Kalantan, die schöne Armenierin: «Wenn ihr euch wenigstens bei den Messungen und den Vorausberechnungen irrtet! Aber ihr habt den erschwerenden Umstand der Exaktheit!» Ein Herr trat ein mit dem Gesicht des chronisch Gehörnten, der nach den üblichen Formalitäten sich auf die Erde setzte und einschlief, mit dem Kissen zwischen den Beinen, wie die Auswanderer es mit dem Reisesack machen. Kalantan, die schöne Armenierin: «Er schläft immer.» Die von den Geschäften zurückgezogene Kokotte: «Und wer ist der?» Kalantan, die schöne Armenierin: «Ein Großkaufmann.» Tito: «Und wie kann er seinen Geschäften nachgehen?» Kalantan: «Er hat einen Sozius.» Chirurg: «Wer weiß, wie der ihn ausnehmen mag!» Kalantan: «Nein, der Sozius ist der Liebhaber seiner Frau, und die Frau, die ein Auge auf das Geschäft hat, hindert ihn daran, wenigstens was das Geschäft angeht, Schweinereien zu machen.» Man lachte, ein wenig aus Wohlgefallen und ein wenig aus Bosheit. Ein Diener brachte auf einem silbernen Tablett einige zwanzig Champagnerkelche, bis zum Rand mit Früchten gefüllt, und bot jedem Gast an. Ein anderer Diener teilte jedem einen goldenen Löffel aus. «Das Mazedonien der Früchte», sagte Pietro zu Tito, indem er eine von winzigen Eiskristallen glänzende und mit Champagner und Äther vollgesogene Erdbeere zum Munde führte. Der Geruch des Äthers hatte sich schon im ganzen Saal verbreitet: das Äußere der Kelche war beschlagen von dem erkalteten Dunst der Umgebung. Ein dritter Diener erschien mit einem kleinen silbernen Würfel, dessen Oberfläche siebartig gelöchert war, und streute auf jedes Kelchglas ein weißes Pulver, das sich sogleich in der Flüssigkeit auflöste. Der unsichtbare Geiger ließ sehnsuchtsvolle Klagen ertönen, wie ein wegen Liebesschuld in einem Turmverlies eingekerkerter Troubadour. Das matte und zitternde Licht, die weichen Teppiche, die bequemen Kissen, die runden Wände, die schwarzgekleideten Herren und die beinahe gänzlich verstummten Damen gaben das Bild einer heidnischen Zeremonie: Zwischen den nach türkischer Art gekreuzten Beinen hielten die Männer das Kelchglas, die entnervende
Quelle der Halluzinationen, und kosteten mit langsamer Gelassenheit die intelligente, alkoholisierende Mischung von herben und süßen Früchten. Auf einem übermannshohen Dreifuß wirkte ein Büschel violetter Nelken und schwarzer Rosen (sie schienen geschickte schmiedeeiserne Arbeit), wollüstig nach Ambra duftend, in einer chinesischen Vase aus Yuè, wie ein Schrei malerischer Unkeuschheit. Die Töne der unsichtbaren Geige waren wie Tautropfen, die an einem sonnenbeglänzten Spinngewebe entlangglitten. Tito Arnaudi: «Wer ist dieser gehörnte Rekonvaleszent dort?» Pietro Nocera: «Er ist ein Antiquar. Dieser und die andern beiden mit den Gesichtern unheilbarer Sentimentaliker sind drei Ex-Liebhaber der Hausherrin. Sie werden die Mumiengalerie genannt, da die vulkanische Geliebte sie für die Liebe buchstäblich unverwendbar gemacht hat. Es wird gesagt, daß die Dame sich bei Gelegenheit einmal geäußert hat: „Was liegt mir daran, ob ein Mann, nachdem er mir gedient hat, nicht mehr anderen Frauen dient?“» Tito Arnaudi: Unsinn. Du glaubst wirklich, da die Ausschweifung zu... Chirurg: «Und warum nicht? Seht die Schildkröte an. Sie lebt hundert Jahre, aber nur einmal im Jahr vollzieht sie den Liebesakt. » Maler: «Ich beneide die Schildkröte nicht. Für mich gibt es nur eine Sache, die schlimmer ist als Ausschweifung.» Chirurg: «Und das ist?» Maler: «Die Abstinenz.» Der Mann, der immer schläft, aufwachend: «Ich habe gehört, daß von mir gesprochen wird: Ihr habt gesagt, ich sei ein Hahnrei. Hahnrei, Dirne... Worte! Es ist alles eine Frage von Worte, Der Hahnrei ist lächerlich, weil das Wort existiert, das ihn so bezeichnet. Auch die hintergangene Frau würde lächerlich sein, wenn es ein Wort für sie gäbe wie Hahnrei. Die untreue Frau ist eine Dirne. Der untreue Mann ist nur ein untreuer Mann, weil noch kein Wort für die männliche Dirne geprägt worden ist. Im übrigen, was geht’s mich an? Ich verbringe meine Zeit zwischen Schlaf und Traum: Habe ich Morphium in den Adern, träume ich; wenn ich keins habe, schlafe ich.» Und er schlief wieder ein. Tito Arnaudi: «Warum schläft er immer?» Chirurg: «Morphium.» Die Portiere hob sich: Zwei Diener traten ein und hielten die Vorhänge hoch, um für zwei Tänzer den Durchgang freizumachen.
«Danse polynésienne!» kündigte der Tänzer an, indem er den Arm um die Taille seiner Partnerin legte. Aber niemand beachtete sie. Der Chirurg hatte aus der Tasche seiner weißen Weste ein goldenes Schächtelchen genommen und eine große Prise Kokain geschnupft, und ein Diener hatte, auf einen Wink von Kalantan, die Gläser von neuem mit Äther und Champagner gefüllt. Vor einem auf der Erde stehenden Kelchglas kniete die Armenierin und trank, als sei es das helle Wasser eines Sees. Während sie trank, näherte Tito Arnaudi sein Gesicht ihrer schwarzen Haarfülle, von der ein erregender Moschusduft, wie chinesische Tusche, ausging. Das Tänzerpaar zog sich zurück, und wieder erschienen die Diener mit kleinen weißen Tassen, gleich denen, aus denen die Araber den Kaffee trinken. «Erdbeeren in Chloroform», erklärte eine schmächtige Dame mit grüner Perücke. «Wer ist das?» fragte Tito. «Eine Hetäre neuester Destillierung. Man würde denken, daß sie an einem kaiserlichen Hof geboren und aufgewachsen sei; statt dessen war sie noch im vergangenen Jahr Stubenmädchen bei einem Polizeikommissar. Diese Frauen bieten die eindrucksvollsten Phänomene von Mimetismus der Tierwelt: Im vergangenen Jahr hatten sie noch schmutzige Füße, und jetzt reichen sie dir die gewölbte Hand und sind beleidigt, wenn du sie ihnen nicht küßt. Im vergangenen Jahr wußten sie nicht, ob man die Zahlen von links nach rechts oder umgekehrt liest, und jetzt sprechen sie mit dir von den Aktien der Eisenbahn vom Senegal nach Sansibar über den Tanganjikasee und diskutieren über den letzten Prix Goncourt und über die Bilder von Cézanne.» Ein Schwarm von Schmetterlingen, freiheitsdurstig und erschreckt, brach in den Saal ein; einige stießen gegen die Spiegel, andere flatterten unter den seltsamsten Evolutionen zwischen den Gästen umher. Sie glänzten wie Stoffe, durchwirkt von Metall und Purpur, Gold und Glas, Silber und Eis, Luft und Kupfer; sie flatterten verzweifelt hierhin und dorthin, ließen sich, Kopf nach unten, auf der leuchtenden Saaldecke nieder oder zitternd auf dem Fußboden; einer setzte sich auf den Moireaufschlag eines Fracks, mit ausgebreiteten Flügeln und großen, bestürzten Augen. Dann löste er sich los, voltigierte unentschlossen zwischen den roten Haaren einer Dame und einem Glas und fiel dann, von den Ausdünstungen des Äthers und des Chloroforms erstickt, in das Champagnerglas, es mit seinen ausgebreiteten Flügeln wie ein Kelchdeckel bedeckend. Die anderen ließen sich auf den Blumen nieder. «Einer meiner Freunde schickt sie mir aus Brasilien. Es sind die schönsten Schmetterlinge der Welt. Jedes Schiff, das aus Rio de Janeiro kommt, bringt mir einen kleinen mit Schmetterlingen gefüllten Käfig. Ich wollte gern wunderbare, wilde Bestien haben, die zu Ihrer Unterhaltung in
einer Arena meine Sklaven zerreißen sollten, aber leider kann ich Ihnen von der exotischen Fauna nur Schmetterlinge darbieten.» «Eine schöne Kanaille, diese Frau», sagte Tito zu Nocera. «Wenn in ihrer Heimat alle so sind, fange ich an, den Kurden recht zu geben und die armenischen Greuel zu billigen.» «Ich gebe Ihnen das Schauspiel vom Sterben der Schmetterlinge. Sie sterben berauscht von zartesten Giften und vom Duft. Die Schmetterlinge leiden am Duft wie die Edelsteine. Sie wissen, daß Edelsteine Düfte nicht vertragen können? Es ist ein beneidenswerter Tod, weil die Schmetterlinge die ganze Schönheit bewahren, die sie im Leben hatten. Ihr seht sie, auf Nadeln gespießt, in den Insektensammlungen, und sie scheinen lebendig zu sein mit ihrem bunten Flügelstaub. Wenn ich gestorben bin, so müßt ihr alle herkommen und mich pudern und schminken, als sollte ich mich bei einer Generalprobe in der Comédie zeigen.» «Arme Tiere!» sagte der unheilbare Sentimentaliker. «Genug!» warnte die Armenierin. «Übrigens glaube ich, daß mein Haus ein sehr würdiges Grab für einen Schmetterling ist. Ein Haus», fügte sie lächelnd hinzu, «in das berühmte Leute wie Sie kommen, um sich nach und nach zu töten.» «Und wo ist Ihr Sarg?» fragte Tito. «Sie werden doch nicht wollen, daß ich ihn in Prozession hier vor Ihnen herumtragen lasse, nach ägyptischer Gastmahlssitte», erwiderte Kalantan. «Und warum nicht?» sagte Tito. «Unter uns ist niemand, dem der Tod Schrecken einflößt.» «Ich stehe überdies in einem gewissen vertrauten Verhältnis zu Särgen», erzählte der skelettartige Maler. «Zu der Zeit meiner Bohème, in den tragischsten Tagen, hatte ich die Erlaubnis erlangt, auf einem Haufen Sägespäne in einer Sargfabrik, dicht bei dem Zollamt von Bercy, zu nächtigen. In der ersten Nacht kam kein Schlaf in meine Augen. Es half nichts, daß ich mir vorstellte und mir selbst immer wiederholte, daß diese Kisten für Sendungen von Obst oder Damenwäsche bestimmt wären, die seltsame Form strafte mich Lügen. Die zweite Nacht schlief ich mit Unterbrechungen. Die dritte Nacht schlief ich vortrefflich. Aber wenn auch das Alpdrücken mich nicht mehr beunruhigte, so drang doch die Feuchtigkeit des Bodens mir bis in die Knochen und die Sägespäne in meine Haut. Eines Abends hatte man einen prächtigen Sarg für einen Bischof bereitgestellt, der am nächsten Tag seine ständige Wohnung darin aufschlagen sollte. Es war ein Meisterwerk an Ausschmückung und Komfort. Am unteren Ende befand sich ein Kissen, als Stütze für die bischöflichen Füße, und oben ein Kopfkissen, um den bischöflichen Schädel darauf zu betten. Es fehlte nur noch die bischöfliche Leiche. Jedoch war eine Art von Schirmständer vorhanden, um den priesterlichen Stock darin unterzubringen.
Daß ein lebendiger Künstler auf Spänen schlafen und ein Toter in einem so bequemen Sarg verwesen soll, ist ungerecht, dachte ich. - Und als ich sicher war, daß der Wächter im Bett lag, streckte ich mich darin aus. In diesem Bischofssarg lag ich wie ein König. Am nächsten Tag brachte man ihn fort. Aber alle Abende stand ein eleganter da. So schön wie dieser gerade nicht. Solch einen gab es nur bei dem Tod eines Bischofs. Immerhin waren sie zu luxuriös für einen Proletarier meiner Färbung. Ich gestehe Ihnen, daß es anfangs ein wenig unbequem ist, jeden Abend das Bett, den Sarg, zu wechseln. Aber dann gewöhnt man sich vortrefflich daran, und man würde einen Sarg nicht gegen das Bett des Sonnenkönigs eintauschen, das in Versailles aufbewahrt wird. Zwei Monate lang schlief ich in jener Fabrik. Aber eines Tages liefen ernsthafte Beschwerden ein. Irgend jemand protestierte, weil die Särge schon benutzt worden seien.» «Wer protestierte? Der Tote?» «Seine Angehörigen.» «Was für dumme Menschen! Wenn einer tot ist, auch selbst wenn dann der Sarg aus zweiter Hand...» meinte die Armenierin. «Aber die fromme Ehrfurcht», bemerkte der Astronom, «die Ehrfurcht der Verwandten, der Kult der Toten...» «Die Pietät der Verwandten hat nichts damit zu tun», erklärte der Maler. «Der Fabrikant ließ mich nicht mehr in seinem Magazin schlafen, nicht weil die Kunden im Namen der Religion protestiert hätten, sondern weil die Angehörigen des Toten die Gelegenheit ergriffen, um eine Reduktion der betränten Faktur zu verlangen.» Das Tänzerpaar erschien wieder und kündigte an: «Andalusischer Tanz.» «Und welches Nachtquartier bezogen Sie alsdann?» fragte eine trockene Zwergenstimme. «Ich begann einige Bilder zu verkaufen und mietete eine Dachstube. Von da an datiert mein Erfolg. Erinnerst du dich», wandte er sich an die Dame mit den gelben Haaren, «erinnerst du dich an die Empfänge, die ich in meiner Bude veranstaltete, dort oben in der butte? Ich hatte sogar silberne Bestecke.» «Ich erinnere mich an deine silbernen Bestecke», bestätigte die Frau mit den gebrannten Haaren, «auf einer Gabel stand eingraviert „Restaurant Duval“ und auf einem Kaffeelöffel „BahnhofsBuffet“.» «Aber das war nur ein liebenswürdiger Einfall für euch», erklärte der Maler, «ich wollte, daß meine Gäste das Gefühl hätten, sie befänden sich in einem hocheleganten öffentlichen Ort.»
«Ich besuchte damals das Lyzeum Voltaire», entsann sich ein Herr, der bisher noch nicht gesprochen hatte. «Nein, das Lyzeum Louis-le-Grand», verbesserte der Maler. «Unsinn! Das Lyzeum Voltaire.» «Ich sage nein. Das Lyzeum Louis-le-Grand. Der Maler Triple-Sec hat recht, bestätigte ein Freund des Herrn, du hast das Lyzeum Louis-leGrand besucht. Der Chirurg wandte sich an Tito: «Es ist schon sehr weit mit ihm! Gedächtnisschwund.» «Kokain?» fragte Tito. «Morphium», antwortete der Chirurg. Der Herr blieb mit offenem Mund und starren Augen, wie magnetisiert durch irgendeine Besonderheit des Teppichs. Er zog aus der inneren Fracktasche ein metallenes Etui und stach sich mit einer Nadel durch den Stoff hindurch in den Schenkel; und einige Minuten später rief er mit wachem Geist aus: «Jawohl, ihr anderen habt recht; ich habe alle Kurse im Lyzeum Louis-le-Grand durchgemacht und war Klassengefährte von Iwan dem Schrecklichen und Scipio Africanus.» Die vom Äther betäubten Schmetterlinge flatterten hierhin und dorthin und fielen im Todeskampf in den Saal. Einer blieb zerquetscht unter den Füßen der Tänzer. Ein anderer, über eine Rose geneigt, als wollte er sich in einem Tautropfen spiegeln, starb entkräftet in dieser koketten Haltung. Wieder ein anderer mit schneeweißen Flügeln, der sich auf dem Rand eines Aschentellers niedergelassen hatte, schien sich in Demut kleiden zu wollen, bevor er starb. Die Armenierin steckte ihren kleinen Finger in ein Glas und ließ einen Tropfen auf den Kopf des Tierchens fallen, das wie vom Blitz getroffen rücklings fiel. «Nein, nein, Kalantan, das ist eine dumme Grausamkeit!» rief die blonde Frau, als ob man ihr die Hände mit einer großen Nadel durchbohrt hätte. «Das ist eine dumme Grausamkeit. Du bist schlecht und wahnsinnig, Kalantan!» Die Stimme der Frau klang hölzern und herb, als wäre ihr etwas Wasser im Hals geblieben, das, während sie sprach, gurgelte. Die Augen gläsern, die Finger verkrallt, als wollte sie sich an jemandes Arm festklammern... Die Violine klagte. Die aufgeregte Frau sank zurück, von einer heftigen Krise befallen. Die Armenierin riß dem Chirurgen das Kokainschächtelchen aus der Hand, füllte die Nasenlöcher der wutentbrannten
Frau, die mit gerunzelter Stirn und schreckerfüllten Augen fortfuhr zu zischen: «Schlecht, schlecht, schlecht!» Tito Arnaudi erhob sich, trat an die angelehnte Falltür der Versenkung; durch die Öffnung sah er weder den Geiger noch das Instrument; nur der weißliche Bogen wurde bald sichtbar, bald verschwand er wieder. «Sie kommt wieder zu sich», sagte Kalantan, die schöne Armenierin, und gab die goldene Schachtel zurück. Das Gift heilte sie für den Augenblick: die Stirn glättete sich, die Finger streckten sich, in die Augen kam ein fast heiterer Ausdruck. «Du bist gut, meine kleine Kalantan», flüsterte sie. «Verzeihe mir.» Und sie fing an zu weinen. Kalantan nahm sie unter die feuchten, nackten Achseln, als wäre sie ein kleines Mädchen, und setzte sie neben sich. « Armes Äffchen! Hat ein verwüstetes Gesichtchen! Weine nicht mehr, und vor allem, lache nicht!» Kalantan kannte diese Krisen gut. Sie wußte, daß auf das Weinen ein krampfartiges Lachen folgte, grauenhafter als die Verzweiflung. Ein aus Schluchzen bestehendes Lachen; diese Frau lachte und weinte mit ihrer ganzen Person; bläuliche, zu einer Grimasse verzerrte Lippen; eine bestürzte Fröhlichkeit, eine klägliche Heiterkeit, als sähen ihre Augen einen als Hanswurst verkleideten Leichnam mit einer Eidechse eine wilde Pantomime aufführen. Der immer schlafende Mann fuhr fort zu schlafen. Der Astronom hatte aus dem Strauß eine Rose gelöst, hatte sie in den Äther getaucht und sog wollüstig ihren Duft ein, sie mit ekstatischen Augen betrachtend. Sein linkes, auf dem Boden ausgestrecktes Bein zitterte wie ein elektromagnetisches Phänomen. Die Mumiengalerie schwieg; einer von ihnen hatte, nachdem er sich eine Einspritzung gemacht, nicht mehr die Kraft gehabt, die Spritze fortzulegen, da er sogleich von unfaßbarer Glückseligkeit ergriffen wurde. Um in einem Rest von Würde glauben zu machen, daß sein Geist noch einigermaßen klar sei, begann der Chirurg von Malerei zu sprechen. «Etwas Norwegisches bemerke ich in Van Dongen: Meiner Ansicht nach wendet er zu viel warme Töne und zu viel Bleiweiß an; aber in der Anordnung der Flächen fehlt es an Stereokopizität. Was meinen Sie dazu ?» «Ich, verehrter Doktor, meine», antwortete der Künstler, «daß die neue Heilmethode der Arteriosklerose mir gut scheint: in das Ohr des Kranken die Niere eines Pferdes pfropfen und ihm Inhalationen heißen Vitriols in die Augen verordnen; ich würde jedoch raten, ihm zwischen dem ersten und zweiten Rückenwirbel eine Injektion von chlorsaurem Kali und Ipekakuan zu
machen.» «Was für einen Blödsinn reden Sie da ?» brauste der Chirurg auf. «Ich wollte die Schuld abtragen für den Ihrigen, als Sie über Malerei sprachen.» Und der Maler stand auf. «Der bengalische Tanz», kündigte der Tänzer an. Ein weißseidener Turban umwand seine Stirn und wurde von einem großen Brillanten, an dem eine umfangreiche Aigrette befestigt war, zusammengehalten. Die völlig nackte und enthaarte Frau trug auf dem Kopf eine goldene Mütze, von der zwei Zipfel längs ihrer Wangen herunterhingen, um die ovale Linie zu akzentuieren. Die bronzene Gelbheit und die glänzende Feuchtigkeit des Fleisches vibrierte und bebte in den katzenartigen Bewegungen: Das weiche Beben des Körpers wechselte ab mit lauerndem, kurzem Stutzen, wie ein junger Jaguar, der zögert und emporschnellt. In den mit Antimon breit untermalten Augen glänzte die schmachtende, trübe Flamme des Opiums; die Haut strömte einen zweideutigen, aber sehr starken Duft von Safran, Sandelholz und Benzol aus; in dem dunklen Gesicht mit den grünlichen Reflexen erschien die blanke Zahnreihe wie ein elfenbeinernes Papiermesser, das zwischen den geöffneten Lippen gehalten wurde; und die biegsamen Arme drehten, wanden, bogen sich elastisch, schlangen sich um den Hals, glitten längs der Hüften hinunter, schlängelten sich um den Leib, machten eine kühne Wendung, wie zwei Schlangen, deren Köpfe die gestreckten und gekrümmten Finger bildeten, an denen zwei lockende und kalte Chalzedone leuchteten, wie zwei magnetisierende Augen. Der Körper des jungen Jaguar kämpfte verzweifelt innerhalb der Spiralwindungen, und das Lachen wandelte sich in die Gebärde tödlicher Angst. Diese Agonie, voll krampfhaften und unfruchtbaren Erotismus, beschwor in wunderbarer Weise alle jenen märchenhaften Mysterien der jungla herauf, viel besser als ein endloser Vortrag über Indien mit Lichtbildern. Entzückt von den Beinen der Tänzerin, sagte Tito: «Betrachten Sie diese schlanken Fesseln! Was mich am meisten bei einer Frau erregt, sind die Fußknöchel. Der Busen, die Hüften, das Geschlecht begeistern kaum die Seminaristen...» Die Musik erstarb. Die Tänzerin verschwand. In der gläsernen Decke wurde ein Rechteck geöffnet, um die vergiftete Luft entweichen zu lassen; durch das Luftloch drang der scharfe Morgenwind und brach das Indigo des klaren Himmels herein. Vom Garten her trillerte ein Vogel eine kurze, fröhliche Weise, ironisch und gedrängt wie ein Epigramm. Die Schlafenden fuhren auf: Kalantan, die schöne Armenierin, rücklings auf einem Teppich liegend, die Hände vor dem Mund, winselte: «Schließt das Fenster!» Man schloß das Luftloch. Wach oder wenigstens beinahe klar waren nur Tito Arnaudi und der Maler. «Ich schätze Ihre Kunst sehr hoch und freue mich, daß das Publikum Ihnen folgt.»
«Es ist nicht das Publikum, das uns folgt», entgegnete der Maler, «sondern wir sind es, die unbewußt dem Publikum folgen, obgleich dem Anschein nach das Gegenteil der Fall ist. Sind Sie niemals in den Jahrmarktsbuden gewesen, wo abgerichtete Flöhe kleine Wagen aus Aluminium ziehen? Es sieht aus, als zieht der Floh den Wagen, nicht wahr? In Wirklichkeit aber ist es der Wagen, der, da er sich auf einer schiefen Ebene befindet, im Hinunterrollen den Floh vor sich herschiebt. Nie hätte ich gedacht, daß ich eines Tages dahin gelangen würde, Republikpräsidenten und asiatische Herrscher zu porträtieren. Ich glaubte, daß ich mein Leben lang Karikaturist humoristischer Blätter oder Illustrator von Magazinen oder Kabarettmaler bleiben würde; und daher habe ich mir das lächerliche Pseudonym Triple-Sec zugelegt. Das Pseudonym, wissen Sie, das ist wie die Tätowierung: man legt es sich zuerst ganz unüberlegt zu, und dann muß man es sein ganzes Leben lang behalten. Ich habe sehr viele Freunde unter den Journalisten, und wenn ich meinen Weg gemacht habe, so muß ich auch ihnen dankbar sein, denn sie haben für mich geworben. Das Verdienst genügt nicht, wenn nicht Reklame damit verbunden ist.» «Ich weiß», erwiderte Tito, bei dem die Umrisse der Dinge anfingen zu verschwimmen, «Reklame ist notwendig. Wenn Jesus Christus berühmt geworden ist, so kann er sich bei den Aposteln bedanken, seinen zwölf großen Agenten der Öffentlichkeit.» Pietro Nocera, der den Namen Jesus Christus nennen hörte, raffte seine Kräfte noch einmal zusammen und trat zu Tito: «Wenn du dich mit biblischer Geschichte befaßt, hast du mehr Kokain als graue Masse im Gehirn. Setz dich.» Und mit einem mehr energischen als sanften Stoß warf er ihn schweigend zwischen zwei Kissenhaufen nieder. Ein unsichtbarer Ventilator begann zu surren. Der Astronom blickte verwirrt umher, wie um sich zu fragen, ob dieses Geräusch eine Gehörhalluzination wäre; aber der immer schlafende Mann, der in diesem Augenblick erwachte, sagte auf das gleichmäßige Summen anspielend: «Diese Schmetterlinge hätten besser getan, zu Hause an ihrem Orinoko zu bleiben.» Der Maler kniete neben Tito nieder. «Auch von den Frauen ist mir viel geholfen worden», sagte er, «die Frauen erleichtern in weitgehendem Maße die Erfolge. Wenn Sie nicht wissen, wie Sie sich aus einem schwierigen Unternehmen herausziehen sollen, wenden Sie sich an eine Frau.» «Ich weiß», sagte Tito, die Worte kauend, Silben verschluckend und vom tiefsten Baß in das kreischendste Falsett übergehend, «ich weiß: Von den Hochverratsverbrechen, zu denen die internationalen Hetären benutzt werden, um den gegnerischen Generälen die Kriegspläne zu entreißen, bis hinauf zu Eva, die die Vermittlerin zwischen der Schlange und dem Mann machte, ist die Frau zu allen Zeiten in den unsaubersten Affären erfolgreich gewesen. Und ich wundere mich nicht, daß sie auch einem Hund von Maler wie Ihnen geholfen hat zu triumphieren!»
Der Künstler reagierte nicht. Er hätte nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Außerdem bewirkte das Kokain bei ihm, außer dem Wohlbehagen, einen außerordentlich starken Optimismus und eine besondere Empfänglichkeit für Beleidigungen, die sich, wenn sie an sein Ohr drangen, in die artigsten Schmeicheleien verwandelten. Er lächelte. Alle Dinge in jenem Saal hatten ein unwahrscheinliches Aussehen, eine phantastische Bedeutung angenommen: Die Stimme hatte nicht mehr menschliche Töne; das aus verschiedenen Quellen und vielfältigen entgegengesetzten Reflexen erzeugte Licht zeigte fließende, durchsichtige Schwingungen, wie das Licht in Aquarien: die gerade Linie wird gebrochen; in die Festigkeit der Dinge tritt ein unbestimmtes Fluten, ein vages Zittern, das den unbeweglichen Gegenständen einen lebenden Atem einflößt; und all jene Menschen mit den kraftlosen und langsamen Bewegungen, die umsanken, hinstürzten, sich an der Erde wanden zwischen vielfarbigen Kissen, mit gelösten Haaren, in feuchter Nacktheit, inmitten zerbrochener Gläser, waren gleichsam die Fauna des Aquariums, bei der die umgebende Flüssigkeit jede Bewegung abschwächt, mildert und jeden Rhythmus verlangsamt. Der grünliche und von vergossenen Getränken feuchte Teppich war wie ein schlammiger Meeresgrund, auf dem die Kissen die Muscheln bildeten, und die gelösten Frauenhaare glichen faserigen Büscheln von Haarmoos oder fabelhaften Pflanzen unterweltlicher Landschaften. Und die Musik tönte weiter, aufgeregt und aufreizend - eine heißblütige Zigeunerweise -, von einem blinden Geiger geschaffen, der nicht gewahr wurde, daß er vor einem Publikum von Leichen spielte. Niemand sprach mehr. Dann und wann ein unheimliches Geräusch: das Aufschlagen eines Messers auf einen anatomischen Marmor; irgendeine klagende, kaum vernehmbare Stimme: Rang jemand mit dem Tode? Die Felle, die als Portiere dienten, bewegten sich, wer weiß, welche drohenden Geheimnisse verbergend; der leichte Fußboden, der den Saal von dem darunterliegenden Raum trennte, schien von einem langsamen Atem bewegt zu werden und rhythmisiert von tiefen Tönen, die ihn herunterdrückten, und hohen Tönen, die ihn hoben. Wenn in jenem Augenblick aus irgendeinem zufälligen Grund das Licht erloschen wäre, so wären alle diese Menschen wahnsinnig geworden, und beim Wiedereinsetzen des Lichtes würden die großen Spiegel vielleicht von Blutspritzern gerötet gewesen sein. Kalantan lag ausgestreckt auf der Erde, mit dem Gesicht, der Brust, dem Bauch, den Schenkeln, den Knien und einem Fuß auf dem Teppich. Der zweite Fuß lag ausgestreckt auf dem anderen. Die Stellung der Frau war so vollkommen symmetrisch, als hätte ein Künstler, Freund ausgeglichener Stilisierung, sie komponiert. Die schlanken Schienbeine und die gerundeten Waden waren von sinnenbestrickender, auserlesener sehniger Grazie und von einer festen Muskelkraft; wenn man sie mit der Hand drückte, mußten diese Waden sich anfühlen wie frisches Brot. Tito lag in ihrer Nähe, mit dem Gesicht ihren Beinen zugewandt, seine Augen ertranken in Grün:
die grüne irisierende Seide der Strümpfe. Der durch die Nähe seiner Augen an dem Gegenstand von Seide und Fleisch außerordentlich verdunkelte Sehwinkel veränderte in phantastischer Weise die Perspektive: diese leuchtende, smaragdgrüne Sache, umgeben von einem lauen, weiblichen Duft, war ein sanft ansteigender zyklopischer Hügel, wo die Atmosphäre nach jugendlichem Fleisch roch. Die Frau lag in einem beinahe kataleptischen Schlaf. Ganz verwirrt, mit unsicheren Fingern, hob Tito sachte, sachte das Kleid, um die fortschreitende Entblößung bis zur Hälfte des Schenkels auszukosten; die Strümpfe wurden von einem Kettchen aus Platin und Perlen gehalten, das eine mit armenischen Zeichen verzierte Schnalle schloß. Leicht, andächtig, als schälte er eine Mandel, als enthüllte er eine Reliquie, schlug er den Strumpf um, streifte ihn ab bis zur Hälfte der Wade und betrachtete die sanfte Höhlung der Kniekehle - bei der Frau sind die Vertiefungen viel erregender als die Rundungen! -, die von zwei Sehnen, fein wie Violinsaiten, eingefaßt war. Ein wundervoller Becher. Ein noch unberührter Champagnerkelch stand bescheiden in der Nähe, an den Rändern ein wenig ausgelöster Schaum; aus dem Grunde stiegen einige Bläschen auf, die an der Oberfläche zersprangen. Tito ergriff es mit zitternden Fingern beim zierlichen Fuß und goß den blonden Inhalt in die anmutige Höhlung; kein Tropfen ging daneben. Die Frau rührte sich nicht; die Kniekehle bot sich ihm an wie ein geöffneter Mund. «Kalanran!» stöhnte Tito. Über diesen Mund aus weißem Fleisch beugte sich Tito mit seinen fiebertrockenen Lippen und schlürfte mit geschlossenen Augen. Es schien, als tränke er aus einer Magnolie. «Kalantan! Schöne, wunderbare Kalantan!» Kein Schauer überlief die Frau, auch nicht, als Tito, von der Betäubung niedergedrückt, auf sie fiel, mit der Kehle auf ihrem Fleisch, winselnd: «Kalantan!» Irgend jemand öffnete wieder eine der rechteckigen Glasscheiben. Es war fast Tag: vom absinthfarbenen Himmel tropfte matt der Schimmer der letzten zögernden Sterne. Eine Automobilhupe blies die Reveille auf der Avenue des Champs-Élysees. Heute gingen der Aurora nicht mehr ihre beiden Rosse Lampos und Phaethon; um den Tag anzukündigen, bedarf sie achtzig auf weichen Pneus dahingleitender Pferde eines langen Torpedos, das sie selbst mit rosigen Fingern führt, noch rosiger durch die Emaillierung einer erfahrenen Maniküre.
5 Kalantan. Kalantan... Kalantan...» wiederholte Tito Arnaudi, zwischen Betäubung und Schlaf, während das Automobil der Armenierin ihn von der Villa, weiß wie ein Beinhaus und rund wie ein kleiner griechischer Tempel, über den Place de la Concorde und die Rue Royal zu seinem Hotel auf der Place Vendôme brachte. In dieser Morgenstunde war Paris bevölkert von Leuten auf dem Weg zur Arbeit: Beamte aus den Vororten mit noch frisch gewichsten Schuhen, die den Weg nach den Bahnhöfen St. Lazare, Orléans und des Invalides einschlugen; Arbeiter mit frisch gewaschenen Gesichtern, alles eilige Menschen, als wollten sie der Sonnenbahn voranlaufen. Vor «Chez Maxim» stöberten ein Hund und ein Armer ohne Rivalität in einem Haufen von Austern- und Zitronenschalen. «Kalantan... Kalantan... Kalantan.» kam es von seinen Lippen, die hinter dem bis zur Nase hochgeschlagenen Mantelkragen versteckt waren, während das Automobil in der grauen und frischen Luft in die Rue Saint-Honore einbog - Kalantan, süßer Name für eine holde Geliebte; nicht für ein vergiftetes und vergiftendes Weib... Kalantan... Kalantan, ein weicher Name, den man ausspricht, ohne die Lippen zu bewegen, als ob man ihn mit der Seele sagte; ein Name, gemacht, um tausendmal langsam wiederholt zu werden im Angesicht einer blassen und reinen Frau... Kalantan, Name, der die gleichen Laute hat wie jener Vers des Dante Gabriele Rossetti: «O mano mansueta in man d'amante...- O sanfte Hand in des Liebenden Hand... Kalantan... In man d'amante ... Kalantan... Kalantan. Das Automobil hielt geräuschlos an, als hätte ein Windhauch es zum Stehen gebracht. Der Boy des Hotel Napoleon öffnete den Wagenschlag. Beim Aussteigen steckte Tito dem Chauffeur fünfzig Francs in die Hand. Dieser wies sie zurück. «Nehmen Sie sie; ein Sentimentaliker gibt sie Ihnen; ich weiß: in man d'amante. Ich bin ein Sentimentaliker. Ich errege Abscheu. Aber nehmen Sie sie trotzdem.» Der Chauffeur steckte sie würdevoll in die Tasche und glitt davon mit einem spöttischen Hupensignal. Zwei Briefe lagen für Tito da. Einer aus Italien, der andere von der Zeitungsdirektion. Letzteren las er zuerst. Der Direktor schrieb: «Morgen früh um vier Uhr wird auf dem Boulevard Arago Marius Amphossy, der „Gouvernantenmörder“ aus Jamaika, mit dem Fallbeil hingerichtet.
Schreiben Sie mir einen lebhaften, eindrucksvollen Artikel. Zwei Spalten. Seit sieben Jahren hatten wir keine Hinrichtung mehr in Frankreich. Der neue Präsident hat von dem Begnadigungsrecht für die zum Tode Verurteilten keinen Gebrauch gemacht. Ich rechne auf Sie. Der Artikel muß um sechs Uhr morgens in der Druckerei sein. Um acht geben wir ein Extrablatt aus. Grüße...» Er rollte den Brief zusammen und öffnete den anderen: «Lieber Freund! Ich habe gestern Deine Karte erhalten. Wie gut Du bist! Erinnerst Du Dich noch an Maddalena? Aber ich bin nicht mehr Maddalena. Ich bin Maud. Nach zehn Monaten in der Besserungsanstalt kam ich heraus und bin mit mehreren Männern zusammengetroffen, unter anderen einem Veranstalter von Cafe-Konzerten, der, da er meinte, daß ich es mit meinen Beinen weit bringen könnte, mich tanzen lehrte und mir bei den bedeutendsten Varietes Italiens zum Engagement verhalf. In einem Monat komme ich nach Paris an das „Petit Casino“. Wirst Du Dich freuen, mich zu sehen? Maud.» Bei dem Liftboy, der ihn bis in den vierten Stock hinaufgefahren latte, bestellte er einen Aufguß von Lindenblüten mit ein paar Tropfen napoleonischer Orangenblüte. Der Kellner, der ihm das gewünschte Getränk heraufbrachte, mußte dreimal klopfen, bevor er eintrat, weil Tito im Bett lag und schlief. Als er erwachte, hatte der Lindenblütentee achtzig Grad Wärme Orangenblütentropfen waren verdunstet, und die Uhr stand unbeweglich still... Klingel. Kellner. «Wie spät ist es?» «Vier Uhr morgens.» «Was haben Sie gesagt?» «Vier Uhr morgens, mein Herr.» «Was für ein Tag?» «Donnerstag.» «Und um welche Zeit bin ich nach Hause gekommen?» « Um sieben Uhr morgens.» «An welchem Tag?» «Mittwoch.»
eingebüßt,
die
«Und heute ist welcher Tag?» «Donnerstag.» «Wieviel Uhr?» «Vier Uhr morgens.» «Also habe ich geschlafen...» «Von gestern acht Uhr bis heute um vier Uhr.» «Im ganzen sind das...» «Zwanzig Stunden.» «Das ist viel.» «Es haben sich schon schlimmere Fälle ereignet als der Ihre, mein Herr. Kann ich das Tablett fortnehmen? Ich sehe, daß der Lindenblütentee dem Herrn gutgetan hat.» «Wieso?» «Sie haben geschlafen.» «Aber ich habe ihn nicht einmal gekostet.» «Das ist nicht nötig. Es ist eine Spezialität des Hauses.» «Schon gut. Tragen Sie diese Spezialität hinaus.» Das Tablett, gefolgt in Schrittweite vom Kellner, verschwand. Indem er, ohne die Fassung zu verlieren, den Brief des Direktors noch einmal las, dachte Tito: «Um diese Zeit müßte ich am Boulevard Arago sein und zusehen, wie man dem Herrn Marius Amphossy den Kopf abschneidet. Aber ist es unbedingt notwendig, daß ich dort hingehe? Der Artikel muß geschrieben werden, das gebe ich zu... Aber hingehen... Wie schön war die Armenierin...! Kalantan... Ein Name wie ferner Glockenton. Die Glocke, die den Tod des Marius Amphossy einläutet, des Totschlägers aus Jamaika, der sich Gouvernanten zu seiner Spezialität erwählt hat. Und wenn ich auch hinginge, was würde ich bei dieser nachtschwarzen Dunkelheit sehen? Und doch, geschrieben muß etwas werden. Die Extraausgabe wegen der Enthauptung des... Um sechs muß das Manuskript in der Druckerei sein...» Mit diesen Gedanken war er aus dem Bett gestiegen und hatte sich mit einem Teil seines Körpers auf den Stuhl fallen lassen, mit dem andern auf den Schreibtisch. Große Bogen Papier von gespensterhaftem Weiß harrten seiner Schriftzeichen. Er glich einem Selbstmörder, der sich anschickte, seinen letzten Willen aufzusetzen.
«Ich habe nie begriffen», dachte er, «weshalb die Todesurteile immer am frühen Morgen vollzogen werden. Zu so früher Stunde den Henker zu stören, den Geistlichen, den Verurteilten, die so gern schlafen würden! Wäre es nicht angebrachter zur Aperitifzeit?» Und er schrieb: Die Hinrichtung des Marius Amphossy, des Gouvernantenmörders aus Jamaika. Und anstatt mit der Chronik der traurigen Zeremonie zu beginnen, fing er an, nachzudenken: Wie abscheulich, im Sommer Journalist zu sein, wenn die Abgeordneten in den Ferien sind, die Schauspieltruppen in die Provinz gehen, das Schwurgericht geschlossen ist! Da weiß man nicht, womit man die Zeitung füllen soll. Und dann befiehlt der Direktor zwei Spalten über einen so unwichtigen Vorgang wie diesen. In Italien jedoch würde es noch schlimmer sein. Wenn dort unten Stoffmangel herrscht, werden lange Artikel erquält über den Tod von Johann Orth, über die Intelligenz der Ameisen, über Drillingsgeburten (kalabresische Spezialität), über die Pest in der Mandschurei, über die Launen des Blitzes, über den Raub der Halskette (Nordamerika) sie diskutieren über die Bewohnbarkeit des Mars, über das Alter der Erde und über den wahren Namen von D'Annunzio (D'Annunzio oder Rapagnetta?); oder sie beschreiben den Fang eines «enormen Walfisches», auch wenn es nur ein Haifisch oder ein Schwertfisch ist. In den Zeitungen glaubt man, daß alle etwas größeren Fische Walfische seien. Idioten! Die Uhr zeigte auf ein Viertel nach vier. Er las noch einmal den Titel. Aber die Ideen wollten nicht kommen. Sie waren untätig, eingeschlossen, zusammengepreßt wie in einer Konservenbüchse. Gastronomischer Vergleich: Übelkeit erregend um vier Uhr des Morgens, nach zwanzigstündigem Schlaf! Die Gedanken waren eingesperrt wie in einer Schachtel Kokain, wie in jenem zierlichen, verführerischen Metallschächtelchen, das dort vor seinen Augen neben dem Schreibzeug stand - oh, teuflische Komplizität von Kokain und Tinte! -, um ihn in Versuchung zu führen. Er wußte, daß unter der Wirkung des Kokains die zusammengerollten Gedanken sich öffnen, sich entfalten, sich ausbreiten, wie trockene Teeblätter unter kochendem Wasser. Er schnupfte. Schrieb. Er schrieb, eine Seite, zwei, drei, ohne Unterbrechung, ohne zu zögern, ohne zu verbessern, ohne sich ablenken zu lassen. Seine Phantasie sah grauenvolle Szenen: alte Reminiszenzen aus Berichten von Hinrichtungen vermischten sich mit ironischen und mitleidigen Kommentaren; die unheilvolle Klinge des furchtbaren Geräts, die in dem fahlen und regnerischen Morgen funkelt; die wenigen Vorüberkommenden, die stehenbleiben, um die Vorbereitungsarbeit des Henkers und seiner Gehilfen zu beobachten; der graue Kerker, feierlich angesichts des Todes; die Soldaten der republikanischen Garde, die das tragische Quadrat um den Richtplatz bilden. Als die sieben schwarzgekleideten Herren in die Zelle treten, liegt Amphossy in tiefem Schlaf. Bis zum vorhergehenden Abend hat er noch an eine Begnadigung geglaubt. Der Anblick jener Herren in Gehrock und Zylinder läßt ihm keine Hoffnung mehr.
«Marius Amphossy», deklamiert einer der Herren in Schwarz, «seien Sie mutig! Die Bitte um Begnadigung ist zurückgewiesen worden. Die Stunde, Ihre Schuld zu büßen, hat geschlagen. Seien Sie stark.» «Ich werde stark sein», antwortet mit höhnischem Lachen der zynische Sträfling. Hinter dem Staatsanwalt der Republik stehen der Gefängnisdirektor und der Verteidiger. Die anderen Herren vermögen ihre tiefe Bewegung nicht zu unterdrücken. Dumpf ertönen vier Schläge von der Gefängnisuhr. Der Herr, der vorher gesprochen hat, verliest eine Verfügung. Sobald er geendet hat, nehmen die beiden Henkersknechte den Verurteilten in ihre Mitte. Die anderen Herren machen Platz und stellen sich rechts und links zu beiden Seiten auf. Marius Amphossy geht mit festem und sicherem Schritt. Mit ironischem Lächeln blickt er auf uns Journalisten, die wir den tragischen Vorgang von einem dunklen Winkel des kalten geräumigen Korridors aus, an dem die Zellen liegen, beobachten; durch das Guckloch jeder Tür starren wie magnetisiert zwei entsetzte Augen - auch Verurteilte oder Unglückliche, die das gleiche Urteil erwarten? Der Henker eröffnet den Zug durch den langen und geradlinigen Korridor. Hinter ihm der Verbrecher und die beiden Gehilfen. Dann der Verteidiger, der Gefängnisdirektor, die anderen Beamten, die Journalisten. Wir steigen einige Stufen hinunter, gehen durch einen gedeckten Gang. In dem tiefen Grabesschweigen hallt das Echo unserer Schritte. Wir treten in einen Saal. Ein Priester mit dem Kruzifix in der Hand, auf einem Tischchen Champagnerflaschen und Liköre. Der Priester umarmt den Delinquenten, während ein Gefängniswärter ihm Champagner einschenkt. Der Verurteilte bittet um eine Zigarette. Es wird ihm eine angezündet und gereicht. Die beiden Gehilfen schneiden den Hemdkragen ab und scheren ihm die Haare im Nacken; dann packen sie ihn bei den Armen und binden sie ihm auf dem Rücken fest. Der Zug setzt sich in Bewegung. Plötzlich hat Amphossy beim Hinuntersteigen der Treppen einen Augenblick der Unsicherheit; die Beine versagen ihm den Dienst, und er wäre hingestürzt, wenn die Gehilfen ihm nicht sofort beigesprungen wären, ihn gehalten und unter den Armen gestützt hätten.
Zahllose Fensteraugen blicken im Gefängnishof auf den grauenvollen Zug. Wir durchschreiten den Hof. Außerhalb der Tür wartet in der eisigen Morgenluft ein mit zwei Schimmeln bespannter Karren. Es ist der panier à salade. Man legt eine Treppenleiter an. Der Todgeweihte besteigt mit dem Henker, den beiden Gehilfen und dem Rechtsanwalt das Gefährt. Hundert Meter weiter erwartet das furchtbare Gerüst sein Opfer. Die Pferde gehen in leichtem Trott, mit ahnungsloser Gleichgültigkeit, wie sie eine Braut geleiten würden. Ein Ruck: der Karren hält an. Die beiden Gehilfen öffnen die Türen, lassen die Trittleiter herunter. Der Henker springt aus dem Wagen, Marius Amphossy steigt voller Entsetzen aus. Sein Anwalt bleibt unbeweglich, versteinert sitzen, als ob er nicht imstande wäre, seinen Platz zu verlassen. Die Henkersknechte haben den Unglücklichen unter den Armen gepackt und tragen ihn; als sie um den Wagen herumkommen, sieht er einen großen leeren Platz; ringsherum blitzen Waffen und Uniformen; die Soldaten der republikanischen Garde ziehen die Säbel aus der Scheide. Die Bürger nehmen den Hut ab. Der Verurteilte ist von geisterhafter Blässe. Der in wahnsinniger Angst verzerrte Mund scheint die Menschen, den heraufdämmernden Tag, das Leben, von dem er sich umgeben sieht, vergeblich um Erbarmen zu flehen. Aber sieht der Unglückliche überhaupt noch etwas? Nein, nein, seine Augen sehen nichts mehr, obwohl sie unbeweglich auf jene dunkle Maschine starren, die zwischen dem Laub der Boulevardbäume emporragt; ein hoher und schlanker Bau; drei Balken, zwei senkrechte und ein Querbalken. Zwei Schweißtropfen rinnen ihm längs der Schläfen die Wangen herunter; das Kinn ist mit Schweißperlen bedeckt; er macht den Mund weit auf, wie um zu schreien, aber kein Laut wird hörbar. Er ist am Ende des Schafotts angelangt. Sein Leben zählt nur noch nach Sekunden; auf dem großen Platz kein Laut, nicht das Rascheln eines fallenden Blattes, kein Flügelrauschen; selbst der feine Sprühregen scheint schweigsamer, andächtiger zu fallen. Ohne die Beine zu bewegen, steigt er hinauf; der Tod scheint ihn schon in seinen Krallen zu haben, ihn hochzuheben über die anderen Menschen; in der Tat schreitet er nicht mehr. Die Füße, schon erstorben, schleifen auf dem Boden, wie jene Blechschachteln, die die Straßenkinder an einem Bindfaden hinter sich herziehen. Die auf den Rücken gebundenen Hände zucken krampfhaft; die Brust dehnt sich bis zum Zerplatzen; der Hals schwillt an. Das Fallbeil blitzt auf; eine runde Öffnung wird sichtbar, bereit, sich noch weiter zu öffnen, um den Kopf hindurchzulassen und sich dann fest auf dem Hals zu schließen. Jenseits der Korb, der
binnen weniger Sekunden den Kopf des Mörders aufnehmen wird. Er macht eine krampfhafte Anstrengung, bei dem grauenerregenden Anblick der Guillotine zurückzuweichen. Aber zurücktreten kann er nicht, er biegt den Oberkörper rückwärts, stemmt den Kopf, als gelte es Gott weiß welche Stütze zu entfernen: in der Luft zittert ein grausames Entsetzen. Aber entschlossen drücken die Henkersknechte den Kopf gewaltsam nach unten und stellen ihm ein Bein, so daß er wie leblos auf die Bascule fällt. Der Henker steckt ihm den Kopf in die halbbogenförmige Öffnung; der Kreis schließt sich und preßt ihn unerrbittlich mit eiserner Hand. Es folgt der Augenblick; jener furchtbare Augenblick; ein endloser Augenblick. Der auf das Fallbrett geworfene Mann, die Hände auf den Rücken geschnallt und den Kopf unbeweglich wie in einer Zange eingeklemmt, erblickt den Korb, der sich vor seinen entsetzten Augen wie ein Sarg öffnet. Ein kurzer Schlag. Ein dumpfer Fall. Der Kopf kollert herunter, «eine halbkreisförmige Blutwelle hinter sich herziehend. Die Gerechtigkeit hat ihren Lauf genommen. Uns Journalisten ist es gestattet, näher zu treten. Der Körper wird in einen Sarg aus Tannenholz gelegt; die Augen im Kopf stehen noch offen, die herausgestreckte Zunge bewegt sich unmerklich, und grünlicher Schaum tritt aus dem Mund. Auch der von einem Gehilfen bei den Haaren gehaltene Kopf wird in den Sarg gezwängt und dieser auf einem Lastauto in eines der physiologischen Institute gebracht. Der Platz liegt nun im Morgensonnenlicht; die republikanische Garde zieht ab, während der Henker und seine Knechte das grausige Gerüst abbauen. Im physiologischen Institut, wohin wir uns wenige Minuten nach der Exekution begeben haben, versichert man uns, daß das Herz noch pulsierte, und daß in der Netzhaut zweifellos noch Lebenszeichen bemerkt wurden. Oh, erbarmungslose menschliche Gesetze, oh, ihr Rechtsgelehrten, vielleicht daß... Aber Tito Arnaudis Artikel füllte noch keine zwei Spalten: so erging er sich noch in langen tolstoianischen Erörterungen über das Recht, Urteil zu sprechen, über die Gewalt über Tod und Leben; und als auch dies noch nicht genügte, stellte er seinem Bericht einige Auslassungen über die Guillotine voran. Er erinnerte an die letzten Worte des fettleibigen und raubgierigen Ludwig XVI., der ausrief: «Français, je meurs innocent de tout»; er erinnerte an Marie Antoinette, deren Haar über Nacht weiß geworden, die, als sie unversehens den Henker angestoßen, liebenswürdig zu ihm sagte. «Pardon, Monsieur!» Er erwähnte Elisabeth, die Schwester Ludwigs XVI., die, als sie schon mit entblößten Schultern umgestürzt unter dem Fallbeil lag, schamhaft flehte, sie zu bedecken; er beschwor den alten Bailly herauf, dem die Zähne im Novemberregen klapperten. «Du zitterst!» sagte jemand zu ihm. «Das macht die Kälte», antwortete er. Er erwähnte noch Charlotte Corday,
die gleichfalls vor Scham errötete wegen des entblößten Oberkörpers; Danton («Du wirst meinen Kopf dem Volke zeigen, es ist dessen würdig»); Desmoulins, der den Henker beauftragte, seiner Mutter eine Locke seines Haars zu überbringen; Adam Lux, der Charlotte Corday küßte, bevor er starb; Jourdan Coupe-Tête, der das Gerüst bestieg mit einem Fliederzweig zwischen den Lippen... Aber da die zwei vorgeschriebenen Spalten noch immer nicht gefüllt waren, griff er noch einmal zurück auf die Geschichte des Verbrechers Marius Amphossy, des grausigen Gouvernantenmörders aus Jamaika. Er sprach von Jamaika und seinem Rum; er erklärte, weshalb die Regierung nicht der Auslieferung zustimmte, trotz des internationalen Rechts... Er beschäftigte sich des längeren mit den Lücken des internationalen Rechts. Er schilderte die Person des Henkers, beschrieb ein kurzes Interview mit dieser unheimlichen Persönlichkeit, eines letztlich guten Menschen; aber die Zeiten seien hart, alles sei teuer, und man müsse doch leben... Er erläuterte die Konstruktion der Guillotine und fügte einige eindrucksvolle Bemerkungen über den Seelenzustand des Verurteilten hinzu. Er erzählte, wie es ihm durch eine geschickte Kriegslist als einzigem der Pariser Journalisten gelungen sei, wenige Stunden vor der Enthauptung in die Zelle Zutritt zu erlangen. «Aber weshalb ermordeten Sie alle diese Gouvernanten?» fragte ich den Mörder. «Ich mochte sie nicht», erwiderte er lächelnd mit der größten Natürlichkeit. «Wenn es erlaubt ist, den Menschen zu töten, der ein Attentat auf dein Leben verübt oder der deine Frau besessen hat oder der in dein Haus eingedrungen ist, um zu stehlen, warum soll es nicht erlaubt sein, einen Menschen umzubringen, der dir zuwider ist? Ist Antipathie nicht der beste aller Gründe?» Da es ihm schien, als habe er die Haltung des Unglücklichen angesichts des Fallbeils nicht genügend geschildert, so nahm er sich noch seiner letzten Worte an. «Ich bin unschuldig! Vor Gott und den Menschen schwöre ich, daß ich die siebenundzwanzig Gouvernanten nicht ermordet habe.» Dieser Satz war allzu rhetorisch. Er strich ihn aus und schrieb statt dessen: «Ich habe die siebenundzwanzig Gouvernanten ermordet, und ich bereue es nicht, wenn ich noch einmal auf die Welt käme, würde ich es wieder tun.» Aber er begriff, daß bei einem so zynischen Benehmen des Todgeweihten die Menge in ein Wutgeschrei ausgebrochen sein würde. Dann hätte er einige Punkte seines Berichts ändern müssen. So strich er die Worte des Mörders noch einmal aus und ersetzte sie durch die folgenden: «Mutter, Mutter, rette du mich!» Aber das Haupt fiel unter dem Beil, weil die Mutter in Jamaika war und ihn nicht hörte, auf
einem schönen, mit blühenden Ananas bestandenen Friedhof in Jamaika. Titos Uhr zeigte auf sechs. Er hatte dreißig Blätter eng beschrieben. Er las es nicht noch einmal durch. Er tat die Blätter in einen Umschlag, schrieb darauf: «Eilt. Sofort in die Druckerei», und drückte auf die Klingel. «Kellner, lassen Sie dies, so schnell es irgend geht, in meine Zeitung bringen, nötigenfalls mit einem Taxi.» Und während der Kellner hinausging, sprang er ins Bett, ließ erst eine Sandale und dann die andere auf den Teppich fallen. Die Laken waren noch lauwarm. Sechs Stunden später weckte ihn das Telefon mit schrillem Ton. «Ja. Ich bin es», gähnte Tito. «Unglückseliger! Ich bin Ihr Direktor.» «Ah, guten Morgen, Herr Direktor.» «Sie ruinieren mir meine Zeitung. Die Hinrichtung jenes Elenden hat nicht stattgefunden.» «Schön, Herr Direktor.» «Er ist im letzten Augenblick begnadigt worden.» Vorzüglich, Direktor.» «Wie denn das? Ihr Bericht...» «Sie brauchen ihn nicht zu veröffentlichen.» «Wir haben ihn auf die erste Seite gesetzt.» «Sie nehmen ihn wieder heraus, Direktor.» «Seit vier Stunden wird die Zeitung in Paris verkauft.» «Ach, wirklich? Wie spät ist es jetzt?» «Zwölf Uhr!» «Ich verstehe nicht, was daran schlimm ist.» «Er ist vom Präsidenten der Republik heute morgen um drei Uhr begnadigt worden!» «Aber hat der Präsident der Republik des Morgens um drei Uhr nichts Besseres zu tun? Im übrigen sind wir im Recht vor unserem Gewissen und vor der öffentlichen Meinung. Unsere
journalistische Pflicht haben wir bis zum äußersten, bis zum Opfer erfüllt. Hätten wir, wegen des dummen Zwischenfalls der Begnadigung seitens des Präsidenten, unsere Leser um einen so interessanten Bericht bringen sollen! Nach der modernen Strafrechtsauffassung soll die Hinrichtung nicht so sehr als Strafe wirken, sondern mehr als abschreckendes Beispiel; indem wir von dem Vorgang berichteten, als hätte er sich zugetragen, haben wir unsere journalistische Pflicht erfüllt, im vollen Bewußtsein der sozialen Mission der Tagespresse.» Keine Antwort vom anderen Ende des Telefondrahts. Tito fuhr unentwegt fort zu reden, ohne zu merken, daß der Zeitungsdirektor den Apparat verlassen hatte. Vom Platz unten drang bis an seine Ohren im vierten Stock des Hotel Napoleon das laute Ausrufen der Zeitung, die in einem Extrablatt alle Einzelheiten der Hinrichtung von Marius Amphossy, dem Gouvernantenmörder aus Jamaika, berichtete. Frau Kalantan Ter-Gergorianz hatte einen Gatten, Besitzer unerschöpflicher Petroleumquellen. «Ich stelle dir Doktor Tito Arnaudi vor.» «Sie bleiben zum Essen bei uns», sagte der Gatte. Der Gatte war, trotz des Petroleums seiner Gruben, kahl. Aber obschon er reich war, war er jung. Er liebte Paris nicht und seine Gattin wenig; aber das eine wie das andere gefielen ihm von Zeit zu Zeit; alle zwei oder drei Monate unterbrach er seine Pilgerfahrten in fremde Städte und zu fremden Frauen, um bei den Lastern von Paris und denen seiner Gemahlin zu rasten. Aber die schöne Armenierin konnte ihm auf die Dauer nicht gefallen, sie war zu schlank, zu nervös. Ihm gefielen nur die dicken Frauen. Je dicker sie waren, um so anziehender waren sie für ihn. Was die Liebe angeht, gehorchte er dem bekannten physikalischen Gesetz: die Anziehungskraft ist proportional der Masse. Die Gattin hatte für ihn nur den Reiz der Abkühlung. «Morgen fahren meine Frau und ich nach Deauville. Lieben Sie die See? Dann bestellen wir auch Quartier für Sie.» Tito nahm die Einladung an. Da der Direktor ihm den Monat Urlaub nicht gewährt hatte, nahm er ihn sich am folgenden Tag und reiste mit dem Ehepaar Ter-Gregorianz in das fashionable Seebad. Die beiden Männer waren sich vollständig einig im Schimpfen auf die Türken (Tito waren sie absolut egal) und in der Lobpreisung des vegetarischen Prinzips (der Armenier kümmerte sich keinen Deut darum). Sie spielten Bridge und Billard, machten lange Automobilfahrten längs des Meeres, lauschten der Stimme der Wellen, die in Hexametern und Pentametern redeten, während Tito zuweilen, sentimentaler als ein Pierrot, mit Verlaine sagte: «La mer est plus belle que les cathédrales»; die Nächte verbrachten sie beim Bakkarat, und sie schwammen zusammen. Tito konnte schwimmen. Der Herr Gemahl nicht. Aber Tito lehrte ihn, wenn auch nicht gerade den Kanal zu durchschwimmen, aber wenigstens doch, sich bei einem Schiffbruch zu retten. Was
nicht gelang, ihm beizubringen, vermutlich wegen der übergroßen Schlankheit des Schülers, war, den «Toten Mann» zu machen. Tito hielt ihn auf seinen Armen und forderte ihn auf, den Kopfwirbel vier Finger tief unter die Wasserfläche zu tauchen und mit ausgebreiteten Armen still zu liegen. Er setzte ihm das Prinzip des Archimedes auseinander, wonach ein in einer Flüssigkeit liegender Körper... Aber kaum ließ Tito ihn los, versank der Armenier gänzlich. «Wie gehen die Lektionen?» lächelte Frau Kalantan jeden Morgen, wenn sie im feuchten Pyjama in das Hotel zurückkamen. «Ich schwimme schon unter Wasser, zwölf Meter in der Minute, aber den „Toten Mann“ zu machen will mir nicht gelingen.» Eines Tages wollte Herr Ter-Gregorianz allein in einer stillen Bucht schwimmen. Aber eine treulose Welle riß ihn fort, verschluckte ihn. Er versuchte zu schreien, doch das Wasser drang ihm in den Mund; man sah zwei Füße hilferufend aus dem Wasser ragen und dann nichts mehr. «Nun?» fragte die Dame, die Hände auf männliche Art in den Taschen haltend, als sie Tito, der allein ins Hotel zurückkehrte, entgegenkam. «Hat mein Mann gelernt, den „Toten Mann“ zu machen?» Tito antwortete: «Ja.» Er wurde in Paris auf dem armenisch-gregorianischen Friedhof begraben. Im Trauergefolge wurden alle ehemaligen Liebhaber der Gattin bewundert und auch die zukünftigen. Unter diesen in erster Linie Tito. Auf welche Weise Tito der Geliebte der Armenierin geworden ist, kann der Leser in ausführlichster Schilderung in jedem beliebigen anderen Roman nachlesen; ich empfehle insbesondere solche, die der Reihe nach alle Phasen der Verliebtheit projizieren und die mit tadelloser Keuschheit genau in dem Augenblick enden, in dem er und sie, nachdem dreihundert Seiten mit nichtssagenden Mätzchen sterilisiert wurden, sich den ersten wirklichen würdevollen Kuß geben. Ich bin der Meinung, daß an diesem Punkt der Roman, anstatt zu enden, anfangen muß. Und da wir bei Seite 91 angelangt sind und die Hauptperson (die nicht die Armenierin sondern die Italienerin ist) noch nicht erschienen ist, so lassen wir sie endlich einmal auftreten.
6 Maud, die Fracktänzerin, traf in Paris mit einem kleinen rotbraunen Hund und acht Koffern ein. Sie trug ein hellgraues Tailleurkleid, an den Handgelenken mit Affenfell garniert, fließend und weich wie der Bart Leonardo da Vincis. Maud, die Fracktänzerin, stieg im Hotel Napoleon ab, weil Tito nicht nur an den Bahnhof gegangen war, um sie abzu-holen, sondern weil er auch für sie zwei Zimmer, einen Salon und ein Badezimmer, in seinem Hotel bestellt hatte. Gewisse ausgestopfte Hunde ahmen in vollkommener Weise den lebendigen Hund nach. Mauds Hund ahmte in vollkommener Weise einen ausgestopften Hund nach: Wenn man ihn streichelte, mußte man fürchten, daß ein Haar seines Fells einen in den Finger stach; die unter einer Franse versteckten Augen offenbarten darwinistisch die Überflüssigkeit des Sehens, durch die Gewohnheit, von einem fremden Willen und an einer Leine geführt zu werden. Er war klein, fast in die Tasche zu stecken und entzückend dumm. Bei aufmerksamer Untersuchung konnte man auch feststellen, an welcher Seite der Kopf und an welcher der Schwanz war; er verkörperte die beauté de la laideur. «Wie heißt dein Hund?» fragte Tito. Maud formte mit ihren heftig roten Lippen einen kleinen Kreis Mit einer kleinen Öffnung in der Mitte (wie eine halbe Kirsche ohne Kern) und ließ einen gehaltenen Pfiff hören, der sich fast wie die G-Note anhörte. «So heißt er.» «Schöner Name!» Sie hatte sich auch aus Italien eine Zofe mitgebracht, die erfahren war im Kleidermachen, im Frisieren und im Umgang mit Besuchern und die, wenn sie Lust hatte, auf den Namen Pierina hörte. Pierina, die niemals in Paris gewesen war, wunderte sich über alles, was sie sah. Ihre Herrin Maud besuchte ebenfalls zum erstenmal Paris; aber sie wunderte sich über nichts... Tito erkannte in dieser Frau sogleich den Embryo der internationalen, transozeanischen Abenteurerin, die sich Männern jeder Rasse anpassen würde. Daß in der Tänzerin Maud die Maddalena von vor zwei Jahren nicht wiederzuerkennen war, die ehrbare Besucherin einer verderbten Stenotypistenschule, daß man in dem eleganten und elektromagnetischen Geschöpf das brave Bürgermädchen, das im vierten Stock mit Balkon nach
dem Hof heraus wohnte, nicht wiedererkannte, ist so selbstverständlich, daß es unnötig scheint, es zu erwähnen. Alle großen Künstlerinnen, Tänzerinnen, Kurtisanen stammen aus einem vierten Stock, und wenn man ihre Vergangenheit unter die Lupe nehmen wollte, so würde man entdecken, daß ihre physische Nahrung in höchst ergötzlichen Salaten, ihre geistige Nahrung in Romanen von Ponson du Terrail bestand und eine Zink-Sitzwanne für die Reinigung des Phidiasschen oder Canovaschen Körpers sorgte, der prädestiniert war für fürstliche Liebschaften oder kaiserliche Begierden. Wie in jedem Aufwärter einer Bierwirtschaft der zukünftige Besitzer eines Grand Hotel schlummert, so in jedem Mädchen aus dem vierten Stock, das Salbei züchtet und die Kanarienvögel mit frischem Wasser versorgt, die Möglichkeiten einer schönen Otero oder einer Cleo de Me-rode. Tito besaß den Takt, sie nicht nach ihren Eltern zu fragen. Er erinnerte sich der makellosen Mutter, die ihr von der Höhe ihres unerschrockenen Busens beschleunigte Moralkurse erteilte; er erinnerte sich des makellosen Vaters, der noch nach Talern und (wenn er sie hatte) Dukaten rechnete, und der die hundertjährige Repetieruhr, wie bei einer Fechtübung, jedesmal durch die Luft schwang, wenn die Tochter mit einigen Minuten Verspätung nach Hause kam. Er erinnerte sich des armen, aber ehrenhaften Hauses, das jedoch reich an jenen Ziergegenständen war, die mittels der Wohltätigkeitslotterien, diesen Abzugsgräben des schlechten Geschmacks, von einem Haus ins andere wandern, bis sie ein Haus wie das Maddalenas finden und dort verbleiben. Aber an dem Tag, wo Maddalena sich in Maud wandelt, nehmen sie den Weg in eine neue Wohltätigkeitslotterie. Tito und Maud konnten sich daher nicht jener mnemonistischen Onanie, die das Heraufbeschwören und die Rührung beim Heraufbeschwören bedeutet, hingeben. Maud war für Tito nichts anderes als ein Wesen, in dem er einige Berührungspunkte mit einem fast häßlichen, beinahe dummen Mädchen fand, dem er vor zwei Jahren auf einem Balkon begegnet war. Heute trug diese Frau Handschuhe aus Känguruhleder und gebrauchte schwierige Wörter, wie Idiosynkrasie, Eurhythmie und Tetragon, und legte den Ton auf die falschen Silben, wie die Pedanten und Wörterbücher es lehren. Maud lachte über Maddalena wie über eine ferne Freundin. Ihre bekennbare Vergangenheit begann nunmehr mit dem ersten Tag, an dem... kurz, mit dem ersten Mal, als... «Es geschah so», erklärte sie Tito, während die Zofe im anderen Zimmer die Koffer auspackte. «Es geschah so», und indessen be-trachtete sie die Vendômesäule, die der bronzene Napoleon überragte, während Tito, gegen das Fenster gelehnt, dem Platz den ' [Rücken zuwendete. «Es geschah, als ich an einem Tag im Sommer allein im Hause war; die Mama hatte ein Zimmer an einen Bankbeamten vermietet; es war warm, ich fühlte ein Verlangen, das mein Blut in Wallung brachte und sich der ganzen Haut mitteilte. Wir waren allein; die Mama konnte jeden Augenblick hereinkommen, da sie den Schlüssel hatte; der junge Mann fing an mich zu küssen, dann drängte er mich mit dem Rücken gegen die Tür und nahm mich stehend, so ohne Lärm, wie man einen
von der Sonne trunkenen Schmetterling durchbohrt.» «Aber gefiel dir dieser Mann? Liebtest du ihn?» «Nein», antwortete Maud, ihre Augen auf die Vendômesäule geheftet, deren Porphyr im Sonnenlicht gleich einer transparenten Flüssigkeit vibrierte. «Nein, in jenem Augenblick fühlte ich ein yerlangen. Nicht einmal wer dieser Mann war, wußte ich. Er gefiel mir nicht; aber er war ein Mann. Mich trieb ein Verlangen, und er war imstande, es zu befriedigen. Als man von der Sache erfuhr, folgten wahre Tragödien. Ich habe niemals begriffen, weshalb. Weil ich in jenem Augenblick - stell dir vor, es war August - Verlangen nach einem Mann hatte, mußte ich in der Folge das Gekreisch meiner Mutter, die Insulten meines Vaters, den Fluch beider über mich ergehen lassen.» «Und der Mann?» «Nie wieder gesehen. Bevor ich mich ihm hingab, hatte ich mich zwei oder drei Männern, die mich liebten, verweigert.» «So macht ihr es immer. Ihr verweigert euch den Männern, die euch lieben, um euch eines Tages einem Mann zu schenken, der euch nicht verdient.» «Verdienen? Was hat das damit zu tun? Ich habe mich nicht verschenkt, wir Frauen geben uns niemals hin, um Gott weiß wen für Verdienste zu belohnen. Wir geben uns hin, weil wir das Bedürfnis fühlen, uns hinzugeben...» « Fräulein!» Es war die Stimme der Zofe, die sie aus dem Nebenzimmer rief. «Im großen Koffer ist...» «Du gestattest», sagte Maud, Tito verlassend. Allein geblieben lehnte dieser sich an das Fensterbrett. Das Gesicht zwischen seinen Ellenbogen, die Hände im Nacken verschränkt, beobachtete und verfolgte er, ohne eine Miene zu verziehen, die Automobile, die aus der Rue de la Paix auf dem großen grauen Platz anlangten und ihn durch die Rue Castiglione verließen, auf dem Asphalt ein Geräusch verursachend wie eine Schere, die Seide zerschneidet... Und er dachte: Was für eine intelligente Person! Mit welcher Unbefangenheit, mit welcher Reinheit hat sie erzählt, wie es zum erstenmal passierte! Es war warm, ein Mann stand zu meiner Verfügung, ich war erregt, voll triebhafter Sehnsucht, ich habe mich hingegeben, ohne zu schreien, ohne mich zu verstellen... Die anderen Frauen erzählen dir: ich bin einem erbärmlichen Schuft begegnet; ich war ein Kind, wußte von nichts, ich verstand nichts; er hat meine Unwissenheit mißbraucht... Oder auch: er gab mir etwas zu trinken, ich weiß nicht was. Ich schlief ein. Als ich aus einem tiefen Schlaf erwachte...
Oder: meine Mutter lag im Sterben; wir hatten nicht das Geld für die Medikamente, für den Arzt, für die Sterbekasse; und da habe ich mich einem reichen Mann hingegeben... Und sie fügen hinzu: oh, wenn Sie wüßten, welcher Ekel, welcher Haß gegen jenen Mann, und welcher Widerwille gegen mich selbst...! Indessen spricht diese köstliche Maud «vom ersten Mal» als erinnere sie sich ihrer ersten Kommunion, wenn es sich überhaupt lohne, darüber zu sprechen. Sie legt diesem physischen Vorgang, diesem epidemischen Zwischenfall, diesem ungefährlichen, einfachen, stillen Geschehnis, über welches die Dichter, die Moralisten, die Richter zu allen Zeiten Geschrei erhoben haben, gar keine Wichtigkeit bei; dieser unbedeutende, nervenreizende Vorfall, der im Namen der guten Sitten grausame Ungerechtigkeiten und philosophische Schwachsinnigkeiten hervorgerufen hat; diese natürlichste Annäherung zweier Körper, die so verschieden erscheint, je nachdem ob sie vor oder nach der Fahrt zum Standesamt geschieht, die als anständig gilt, wenn sie sich in dem einen Bett vollzieht, und als schimpflich, wenn sie in einem anderen vollzogen wird. Maud erzählt mit schöner Einfachheit von dem, was die Menschen «Schuld» nennen. Und mit der Einfachheit ihres Berichts geht sie fleckenlos und rein aus dem Sumpf der angefaulten Moral hervor. Die irrtümliche Wertung dieser Geste - der Kontakt zweier Körper - hat nur dazu gedient, Verbrechen zu zeitigen. An dem Tag, an dem die Hingabe eines Mädchens nicht mehr als schimpflich angesehen wird, werden Aborte und Kindesmorde nicht mehr existieren, weil das Kind aufhören wird, die «Frucht der Sünde» zu sein; an jenem Tag wird es nicht mehr nötig sein, es zu verbergen. Die Juden steinigten das Mädchen, das sich vor der Ehe hinge-geben hatte. Das Volk selbst tötete es. Vielleicht befand sich unter denen, die die Steine auf sie schleuderten, auch das Individuum, das es verführt hatte. Heute zwingt man sie zur Abtreibung. Kommt es heraus, daß sie einen Abort herbeigeführt hat, wird sie verurteilt. Treibt sie nicht ab, muß sie das Neugeborene töten. Tötet sie es nicht, wird sie samt dem Kind aus dem Haus gejagt. Ich wünschte, daß bei jedem Fall von Abtreibung oder Kindesmord nicht das Mädchen, das abgetrieben oder getötet hat, bestraft würde, sondern daß man ihren Vater, ihre Mutter, ihre älteren Brüder, ihre Hausnachbarn und diejenigen köpfte, die ihr durch Klatschereien, falsche Einschätzung, Vorurteil und Erziehung die Meinung beigebracht haben, daß die Schwangerschaft, ohne vorherige Ansage beim Standesbeamten, ein Verbrechen sei. Wir würden schließlich die Genugtuung haben, zu sehen, wie die Mädchen-Mütter auf der Straße gegrüßt werden gleich Erzbischöfen und Königen. Und das wäre gerechter. Das Mädchen, das ein Kind in die Welt setzt, ist die einzig bewundernswerte Mutter. Sie ist die Freiwillige der Mutterschaft. Das Verdienst der anderen, der Verheirateten, wo steckt es? Sie wissen, daß das Gebären eines Kindes oder das Versprechen, es zu gebären, ihnen eine Position verschafft: die Familie. Sie wissen, daß ihnen von den ersten Übelkeiten an jemand beistehen wird, bis nach vierzig Tagen
alle Ingredienzen wieder an Ort und Stelle sind. Sie wissen, daß eine Hebamme, ein Chirurg, die Mutter, die Schwiegermutter, der Gatte, die Amme alles tun werden, um die Qual der Entbindung, des Wochenbetts und des Stillens zu mildern; sie wissen, daß das «freudige Ereignis» gefeiert werden wird wie eine Seligsprechung. Hingegen kann das Mädchen, das schwanger wird, auf nichts von alledem rechnen. Im Gegenteil: der Mann wird ihr den Rücken kehren, ihre Eltern überhäufen sie mit Schmähungen und Verachtung; sie allein muß für ihr Geschöpf sorgen; sie weiß, daß sich der Sohn eines Tages gegen sie auflehnen und ihr vorwerfen wird, daß sie ihn als Bastard geboren hat. Und dennoch trotzt sie alledem, um ihrer Liebe, ihres edlen Naturtriebs willen! Diese, allein diese ist die wahre Mutter! Die anderen sind die Mutterschaftskrämerinnen. Die anderen haben, im Vergleich mit diesen, nicht das geringste Verdienst. Die anderen machen Kinder mit allen Garantien. Sie sind wie jemand, der mit verwegener Kühnheit auf den Kampfplatz tritt, wissend, daß der Gegner nur mit Kugeln aus zerkautem Papier schießen wird. Es war fünf Uhr. Der Platz belebte sich allmählich immer mehr. Es ist die schönste Zeit in Paris: de cinq à sept. Man sagt, daß die Pariser Nachtgeschöpfe sind. Ich würde sagen, Dämmerungsgeschöpfe. «Entschuldige mich», sagte Maud, ihm den entblößten Arm um den Hals legend, «diese Pierina versteht wundervoll, die Koffer zu packen, aber sie versteht nicht, sie auszupacken. Ich dagegen...» «Du kannst sie weder aus- noch einpacken. Und weiter? Wann hast du dein Elternhaus verlassen?» «Das interessiert dich wirklich? Ich habe zwei oder drei Männer kennengelernt, die sehr nett mit mir waren: einen Richter, der die Priester nicht leiden konnte; einen Priester, der schlecht auf das Gericht zu sprechen war; einen Zimmervermieter, der möblierte Zimmer stundenweise vermietete, der sowohl die Geistlichen wie die Richter lobte, weil beide seine besten Kunden waren. Dann habe ich angefangen zu tanzen; ich habe ganz Italien durchreist. In Neapel lernte ich einen Amerikaner kennen, einen Neffen des Besitzers des Metropolitan-Theaters in New York.» «Ich habe in meinem Leben sicher fünfundzwanzig Amerikaner beiderlei Geschlechts getroffen, die behaupteten, Neffen oder Nichten des Metropolitan-Besitzers zu sein. Die Geschwister dieses Mannes müssen von einer katastrophalen Fruchtbarkeit sein. In Amerika werden auch die Kinder serienweise fabriziert.» «Aber dieser war wirklich der Neffe von...» «Ich glaube es, ich glaube es. Es ist eine Spezialität der Amerikaner im Ausland, einen Theaterbesitzer zum Onkel zu haben. Die Russen, denen man außerhalb Rußlands begegnet, sind Freunde von Maxim Gorki. Die Spanier duzen die Brüder Quintero; die Norweger sind von Ibsen
über die Taufe gehalten worden...» Ein Kellner und ein Hausknecht traten ehrerbietig ein (die Hotelkellner sind unsere ehrerbietigen Feinde), um das Bett auseinanderzunehmen und das Gestell hinauszutragen. «Mir genügen der Strohsack und zwei Matratzen», erklärte Maud dem Freund. «Ich breite Teppiche und türkische Schals darüber und einen Chinchillapelz, den ich mir aus Italien mitgebracht habe.» «Kommst du mit mir zum Essen?» fragte Tito Arnaudi, seine Uhr einsteckend. «Danke, aber ich bin müde. Ich werde mir etwas aufs Zimmer bringen lassen. Wenn du fortgehen willst, geh nur ruhig. Wann sehen wir uns?» «Morgen.» «Nicht heute abend?» «Ich werde spät nach Hause kommen.» «Auf morgen dann...» «Du wirst deine Impresarien aufsuchen müssen. Wann fangen die Vorstellungen an?» «In drei Tagen.» «In deinen freien Stunden werde ich dich durch Paris chaperonieren...» Indem sie ihm die Hand reichte, lehnte Maud ihren Kopf hintenüber, und Tito küßte sie auf den Kehlkopf. Dann ging er in sein Zimmer. Während er vor dem Spiegelschrank stand, schwankend zwischen einem schwarzen und einem grauen Anzug, brachte man ihm einen Rohrpostbrief. Nun entschied er sich für den Smoking, denn der Rohrpostbrief rief ihn zu Kalantan, der schönen Armenierin, die sich allzu traurig und allein fühlte. Das Automobil der Dame erwartete ihn wie gewöhnlich vor der des Hotels. Tito stieg ein. Kurz danach ließ er vor einer Blumenhändlerin in der Rue de Rivoli halten, ließ sich von ihr eine Gardenie in das Knopfloch des Smokings stecken und stieg wieder ein. In dem zartesten Blütenstaub der Blätter bewahrte die Gardenie den sehnsüchtigen Duft der Côte d'Azur. Durch die Luft fluteten Wellen, die die physikalischen Laboratoriumsapparate nicht registrieren, aber die unsere Nerven auffangen, wenn wir in der Abenddämmerung durch die Schatten der Elysäischen Felder wandeln: Liebes- und Ehebruchswellen. Hier und dort Liebespaare, die
heimkehren. Von woher? Vielleicht aus den Cafés, vielleicht aus den tea-rooms, vielleicht aus den Kunstgalerien des Grand Palais oder von den Ufern der Seine. Aber in ihrem Gang, in ihren Gesichtern, in der Atmosphäre, die sie umhüllt, ist etwas schmachtend Erschöpftes. Liebespaare... Liebende. Liebende. Das schönste Wort, das es auf der Welt gibt. Liebende. Das Automobil fuhr in Richtung der geradlinigen Spuren, die Tausende anderer Automobile auf dem feuchten Asphalt zurückgelassen hatten. Dort unten, am Ende, durchschnitt der weiße Triumphbogen die Dunkelheit. Die Bogenlampen zitterten in bläulichem Licht. Der Wagen bog in den Garten ein. Die herabfallenden Blätter streichelten ihn liebkosend und ließen Tropfen auf der wie japanischer Lack leuchtenden Maschine zurück. Ein Diener meldete Kalantan, daß der Herr gekommen sei. Wenn ein Herr für die Dienerschaft nicht mehr Herr Arnaudi, sondern einfach «der Herr» ist, so bedeutet das, daß er offiziell als der einzige oder wenigstens der hauptsächlichste Liebhaber der Herrin anerkannt ist. «Du kannst dich zurückziehen, Csaky», sagte die schöne Armenierin beim Eintreten, noch bevor sie dem Gast die Hände reichte. Csaky stand stramm und verließ majestätisch das Zimmer unter lautem Knarren seiner blanken Ledergamaschen. Kalantan warf sich in des Geliebten Arme und preßte sich in sehnsuchtsvollem Verlangen an seine Brust. Noch bevor er sprach, drückten seine Hände sie, an den Lenden, dem Kreuz, den Schultern, dem Rücken entlanggleitend, in zitternder Liebkosung. Der Körper der Frau bog sich nach hinten, gleich einer gequälten Schlange. Sie trug auf der Haut nichts als ein auf der Schulter durch eine grüne Kamee geschlossenes griechisches Peplon, das sich in weiten Falten um ihren Körper schmiegte: nackte Beine, nackte Arme, die Füße in leichten Sandalen aus Palmengeflecht, die Haare gelöst und von einem Band einfach, anmutig und bescheiden zusammengehalten, wie die Haare eines kleinen Mädchens. 0nten um den Saum des Peplons lief, als eine Art Borte, ein griechisches Muster aus grober Wolle, die mit Pflanzenextrakten und Cochenille gefärbt war. Bisher durch krankhaften Zustand und künstliche Mittel vergiftet, fühlte sie heute durch Liebe das Bedürfnis, zu der entlegenen mythologischen Einfachheit eines hellenischen Gewandes
zurückzugehen. Jener Raymond Duncan, halb Kaufmann, halb Träumer, der trotz zwanzigjährigen Aufenthaltes in Paris seinen amerikanischen Akzent noch nicht abgelegt hat, hatte es für sie angefertigt. Er ist der Bruder der Isidora Duncan, der großen klassischen Tänzerin, die häufig zum Grabe ihrer Kinder pilgert, von Schleiern und Geschmeide umwallt, um ihre Tränen der Mutterliebe zu vergießen und zu Gott die Gebete und die Beine zu er-heben. Raymond Duncan hat im Quartier Latin, neben der Kirche Saint-Germain-des-Prés, ein Kloster mit seltsamer Ordensregel und seltsamen Gottesdiensten gegründet. Er und seine Anhänger tragen lange Haare, die Chlamys und Sandalen, und in dieser Kleidung trotzen sie, bald in Scharen, bald allein, den ironischen Kommentaren der Boulevards, wo man sie, mit leiser Unehrerbietigkeit, les hommes nature nennt. Es ist das Kleid, sagen sie, das man anlegen muß, um die lange Reise auf der Suche nach dem Ideal zu machen. Das Kloster verbirgt keine geheimen Zeremonien, sondern öffnet nach der Rue Jacob große Glasscheiben, durch die man gesunde und blühende Mädchen Teppiche breiten und auf den bis zu den Achseln nacktem Armen blonde Wollsträhnen abhaspeln sieht. Von den Webrahmen, die die eilige Ungeduld des Hobels verraten, hängen bemalte Stoffe, ungebleichte Leinwand, braune Wollstoffe wie für Hirtenkleider herab. Längs der Pfeiler, die eine Architektur nach primitiver griechischer Art stützen, hängen Trauben von Wollknäueln, die Riesenfrüchten gleichen, gereift zum Lobpreis von Vertumnus, Proserpina und Pomona. Dicke Zöpfe gelber Wolle, ineinander verflochten wie Haartrachten entlegener Mythologien, hängen von dem Rahmen herab, an dem ein junges Kind das Schiffchen arbeiten läßt, wobei die Muskeln der Arme und der nackten Beine spielen. Einer Andromache gleicht sie - im déshabillé. In diesem Kloster ohne Kreuze, ohne Götzenbilder und ohne Altäre hatte Frau Kalantan TerGregorianz das gefunden, was die großen Schneiderkünstler der Rue de la Paix ihr nicht hatten bieten können, nämlich: ein fließendes und einfaches Gewand, in Harmonie mit dieser reinen und primitiven Liebe, die sie nach so vielen Jahren aufregender Zweideutigkeiten und krankhafter Komplikationen, chemischer Hypnosen und künstlich hervorgerufener Exaltationen endlich in Titos Armen, des jungen Italieners mit dem blassen Gesicht und den feuchtblickenden blauen Augen, gefunden hatte. Bis vor wenigen Wochen hatte Kalantan seltsame Liebhaber gehabt, die eine seltsame Vorstellung von der Liebe hatten. Sie hatte sich im Rausch des Morphiums oder der Musik hingegeben; lag hingestreckt in einem Sarg unter gewalttätigen Männern, zwischen Liebe und Tod; sie hatte die wahnsinnigsten Komplikationen und die gewaltigsten Verzückungen gesucht. Seit 5682 Jahren (Kalender der Juden) läßt sich die Frau in der üblichen und traditionellen Weise nehmen. Kalantan Ter-Gregorianz suchte verzweifelt nach irgendeiner neuen Form. Aber je mehr
sie Jagd machte auf eine erkünstelte Lust, um so entfernter fühlte sie sich der Wollust. Endlich hatte Tito, Tito, den sie in einer Nacht der Orgie kennengelernt hatte, während einer jener weißen Messen, die sie in ganz Paris berühmt gemacht hatten, endlich hatte Tito ihr seine einfache Jugend gebracht, wie man in den beiden bloßen Händen eine köstliche Frucht darreicht. Tito, der junge Kokainist, dem das Kokain eine außergewöhnliche Heiterkeit verlieh. «Du bist noch am richtigen Zeitpunkt!» sagte Kalantan. «Ich kenne dieses furchtbare, tödliche Pulver. Du bist noch nicht im Stadium der schrecklichen Depressionen angelangt, der unüberwindlichen Melancholien. Jetzt lächelst du, wenn du dieses Pulver im Blut hast... Du bist im ersten Stadium, in dem man wieder zum Kind wird.» Sie sprach zu ihm wie zu einem Kind; und sie waren im gleichen Alter. Das Kokain vollzieht das grausame Wunder, die Zeit zu entstellen. Csaky, der Majordomus, hat ein leichtes, rundes Tischchen gedeckt, von so geringem Durchmesser, daß die Lippen der beiden Tischgenossen sich bequem über demselben im Kusse vereinigen konnten. «Csaky!» sagte einfach die Dame. Und Csaky servierte auf einer silbernen Platte große Scheiben eines rosigen Fisches, die mit meergrünen Ananasscheiben abwechselten. In einer Karaffe, wie man sie für frisches Wasser hat, perlte der Champagner. Den Champagner in seiner Flasche mit seinem Etikett auf den Tisch bringen, ist, als ob man ein Geschenk darbietet, in dem man den Kaufpreis angeheftet läßt. Ein siamesischer Kater rieb sich wollüstig an Titos Beinen. Kalantan streckte den nackten Arm über den Tisch und strich mit leichten Fingern liebkosend über des Geliebten Haar und glitt über seine blasse Wange hinab. Die Liebkosung war von solcher Zartheit, daß sie fast geisterhaft schien. Und Tito empfand mehr als eine süße Wonne, einen süßen Schauer. Seitdem die Armenierin sich in Tito verliebt hatte, hatte sie keinen ihrer alten Freunde mehr sehen wollen. Die Trauer um den Gatten war ein vorzüglicher Vorwand für die freiwillige Isolierung. Keine Orgien mehr, bei denen der Wahnsinn der Gifte, der Strawinskyschen Musik und der Farbenschmelz der Schmetterlinge vom Amazonenstrom die Sinne umnebelten. Jetzt liebte sie die reine Liebe, wie eine ringlose Hand, einfach wie aufgelöstes Haupthaar. Sie bot sich Tito ohne Parfüms und ohne Puder, wie sie dem Bad entstieg; in ihrem Darbieten war nur der Duft des Fleisches, ein wenig wilder Duft, nicht mehr westeuropäisch und noch nicht asiatisch. An ihrer Haut haftete ein unbestimmter Geruch von Salz, als hätte sie die Luft, die längs der Steinsalzgruben ihrer fernen Heimat weht, eingesogen. Kalantan!
Träger und dunkler und klangvoller Name, wie der Wind, der die Schluchten des Kaukasus beseelt. Kalantan! An seinen Knien spürte er die laue Nacktheit von Kalantans Knien. Der junge Mann streckte unter dem Tisch eine Hand aus und liebkoste ein rundes, glattes, weiches, frisches Etwas, wie das Gesichtchen eines Kindes. Der Majordomus kam verschiedene Male herein. Nach dem Kaffee und den Likören erschien er nicht wieder. An einer Wand des kleinen, wie eine transatlantische Kabine emaillierten Zimmers stand ein niedriges, rautenförmiges Lager, breit, tief, aus drei oder vier übereinandergelegten Matratzen bestehend, über die ein großer Teppich gebreitet war... Es war die takhta, jene Art von Altar der asiatischen weiblichen Trägheit, auf dem die orientalischen Frauen mit gekreuzten Beinen ihre müßige Zeit verbringen, Süßigkeiten knabbernd und alte Legenden heraufbeschwörend. «Und Sie haben recht!» sagte Tito, sich zu Kalantan setzend, die sich dort zwischen zwei Kissen hingekauert hatte. «Welchen Sinn hat es, sich aufzuregen? Wir sind wie jene Kinder, die mühsam ihren kleinen Wagen den Berg hinaufziehen, um das kindische Vergnügen des erfrischenden Hinunterfahrens zu genießen. Du sagst, Kalantan, daß ich mich im beglückenden Stadium der Vergiftung befinde. Du glaubst, ich lache. Aber ich habe diesen Moment schon hinter mir. Ich bin immer traurig. An himmelblaue Träume glaube ich nicht mehr... Es gibt eine Krankheit, bei der man eine bestimmte Farbe nicht sieht: Blaublindheit. Ich leide an einer geistigen Blaublindheit. Ich sehe das Blau des Lebens nicht mehr. Mein liebes Kleinchen, der große Schaden, den das Kokain anrichtet, beschränkt sich nicht darauf, wie die Hygieniker glauben, die Lungen zu schwächen, die Herztätigkeit zu stören. Das Hauptübel ist rein psychischer Natur. Das Kokain reißt die Persönlichkeit auseinander; es verrichtet eine gewaltige, beinahe elektrolytische Arbeit der Spaltung des Gewissens. Ich glaube, daß in jedem intelligenten Menschen zwei Wesen leben, mit entgegengesetzten Anschauungen, antithetischem Geschmack; und ich glaube, daß der Mann ein Künstler ist, in dem diese beiden Wesen so deutlich voneinander getrennt sind, daß das eine das andere Kritisch beurteilen kann, ihm Heilmittel für Laster suggerieren oder, sind sie schön, sie kultivieren und seine Tugenden pflegen kann, wenn sie nicht langweilig sind. Durch das Kokain geschieht diese Spaltung der Persönlichkeit wie eine Antipathie-Explosion: Die beiden Wesen in mir kritisieren sich, zerfressen sich gegenseitig in einer Weise, daß das Resultat mein Haß gegen mich selbst ist. Und dann beginnt man die Nutzlosigkeit von allem einzusehen: Ich fühle mein Herz schlagen. Wozu? Um das Blut in die Lungen zu treiben. Zu welchem Zweck? Um es mit Sauerstoff zu füllen. Wozu? Damit der Sauerstoff die Gewebe verbrennt. Und dann kehrt es zurück zu den Lungen, um sich von den Verbrennungsmaterialien zu befreien. Und dann? Dann tut es dasselbe weiter, auch wenn ich schlafe, auch wenn ich gehe, auch wenn ich in deinen Armen ruhe, auch wenn mein Gedanke abwesend ist. Sage mir, sage du
mir, Kalantan, zu welchem Zweck schlägt mein Herz? Wenn du wüßtest, wie oft ich versucht bin, ihm eine kleine Botschaft aus Blei zu schicken und ihm zu sagen: „Steh augenblicklich still; natürlich wirst du eines Tages von selbst stillstehen; gib dir nicht die Mühe, bis dahin zu schlagen.“» «Kind!» sagte Kalantan. Und anstatt ihm die üblichen Worte, mit denen die Frauen uns zu trösten pflegen, entgegenzuhalten, anstatt die ganze Kiste der dringenden Hilfsmittel des gesunden Menschenverstandes zu öffnen, ihm auf die Stirn, in Ergänzung der zärtlichen Worte, einen sanften Kuß zu drücken, anstatt ihm zu beweisen, daß er unrecht habe, tröstete sie ihn mit der süßesten Herzstärkung, der einzigen, die uns wirklich erleichtert, die die verhängnisvollen Gebilde der Phantasie zerstört. Kein anderes Wort gebrauchte sie als dies: «Kind!» Aber indem sie es durch die geschlossenen Zähne flüsterte, nahm sie ihn beim Kopf, ließ sich hintenüber in die Kissen fallen, zog sein Gesicht an ihre schneeweiße Brust und versiegelte den bitteren Mund mit ihrem Busen.
7 Tito Arnaudis Artikel über die nicht stattgefundene Hinrichtung hatte einen sensationellen Erfolg. In wenigen Stunden war die Zeitung ausverkauft; die Wiederverkäufer in der Provinz telegrafierten wegen Nachsendungen; drei Auflagen wurden von der Extraausgabe hergestellt. Alle anderen Pariser Tageszeitungen, die die Nachricht von der Begnadigung seitens des Präsidenten gebracht hatten, fielen in die Versenkung, während der Attimo fuggente sich in wenigen Stunden den Ruf erwarb, das am besten unterrichtete Blatt Frankreichs zu sein. Eine wilde Polemik entbrannte zwischen dem Attimo fuggente und dem T. S. F., wobei der letztere behauptete, daß die Institutionen der Republik in bestem Lichte gezeigt werden müßten; der erstere protestierte mit lauter Stimme gegen die falsche Nachricht von der Begnadigung seitens des Präsidenten, die das Ministerium den Blättern mitgeteilt habe, damit diese ihre Berichterstatter nicht an Ort und Stelle schicken sollten. Er proklamierte mit anderen Worten, daß die Hinrichtungen bekanntgegeben und von allen Bürgern mit bloßem Auge mit angesehen werden müßten, anstatt sie hinter falschen Nachrichten über Umwandlung der Strafe zu verstecken. Um ihren Informationsdienst, der sich an jenem Tag als ungenügend erwiesen habe, zu entschuldigen, behaupteten andere Zeitungen, daß sie von der stattgefundenen Hinrichtung
unterrichtet gewesen seien, aber aus einem Gefühl der Menschlichkeit und wegen des vornehmen Ziels, das sie sich gesetzt, die Seelen zu erheben, den Bericht über das furchtbare Ereignis nicht gebracht hätten. Und als zwei Tage später der Justizminister den Zeitungen mitteilte, daß Marius Amphossy in der Tat begnadigt worden sei, schenkte ihm niemand mehr Glauben, weil die Beschreibung im Attimo fuggente so reich an Einzelheiten gewesen war, die man unmöglich anführen könnte, wenn sie nicht der Wirklichkeit entsprachen. Wenig fehlte und der Henker selbst hätte Tito Arnaudis Bericht geglaubt. «Sie sind ein so wunderbarer Mystifizierer», sagte der Direktor des Attimo fuggente zu Tito, «daß ich Sie von der Chronik befreien und Ihnen dafür die innere Politik anvertrauen will. Später gehen Sie dann zur äußeren Politik über. Sie müssen mir jedoch einen Gefallen tun.» «Gern.» «Unser Korrespondent in Bordeaux ist gestorben, und bis ich inen anderen gefunden habe, ist es notwendig, daß Sie ihn auf zwei oder drei Tage ersetzen.» «Aber ich bin nie in Bordeaux gewesen.» «Das macht nichts: morgens werfen Sie einen Blick in die Lokalblätter und telefonieren uns die Nachrichten durch, von denen Sie glauben, daß sie unsere Zeitung interessieren können.» Am nächsten Tag war Tito Arnaudi in Bordeaux, äußerst ver-bittert, weil er seine beiden Geliebten, die Armenierin mit den ielfältigen Lastern und Maud, die Fracktänzerin, in Paris hatte zurücklassen müssen. Als erstes kaufte er drei oder vier Zeitungen, ging an das Tele-fon und verlangte die Verbindung mit Paris, dem Attimo fug-gente. «Eine ganze Familie durch Pilze vergiftet», las er auf der dritten Seite, und mit dem Mund am Apparat, die Augen auf der Zeitung und die Gedanken bei der Armenierin und Maud, begann er dem Stenografen zu diktieren, der in einer Entfernung von achthundert Kilometern stehend folgsam schrieb. Es war eine ganz grausige Geschichte von einer bescheidenen Bürgerfamilie, die sich, um die goldene Hochzeit der Großeltern zu feiern, bei einem vortrefflichen Gericht gebackener Pilze, die unerfahrene Personen gesammelt, zusammengefunden hatte und die plötzlich an heftigen Schmerzen erkrankte, und als die Großeltern, die Kinder, die Enkel, die Amme eines der Enkel schon im Begriff waren, ihre Seele auszuhauchen... Aber die Notiz endigte mit der Anpreisung gewisser Produkte (unter Garantie von Sachverständigen) einer namhaften Fabrik in Bordeaux. Die Geschichte von der Vergiftung war nur eine ge-sphickte Reklameannonce. Tito war sprachlos. Er hatte seiner Zeitung eine Anzeige telefoniert, an Stelle einer tatsächlichen Begebenheit.
«Nun weiter?» drängte der Pariser Stenograf am anderen Ende des Drahts. «Was ist geschehen. Weshalb haben Sie sich unterbrochen?» Titos Würde gestattete ihm nicht, das Versehen einzugestehen. Er telefonierte weiter: «Trotz der schleunigen ärztlichen Hilfe konnte niemand gerettet werden.» Wieviel Tote also ?» sagte der Stenograf. Und Tito entschlossen: «Einundzwanzig.» In der Nachmittagsausgabe des Attimo fuggente gab es mit einem Titel über drei Spalten eine Nachricht, die kein anderes Blatt sich rühmen konnte, gebracht zu haben: «Tragische goldene Hochzeit in Bordeaux. Einundzwanzig Tote durch Pilzvergiftung. Nachforschung seitens der Behörde. Kollektiv-Selbstmord oder Verbrechen?» Tito Arnaudi würde sich in Bordeaux ganz wohl gefühlt haben, wenn die Erinnerung und die Sehnsucht nach den beiden Frauen ihn nicht in dauernder Erregung gehalten hätte. Bordeaux ist eine Stadt, die - nach Ansicht der Bordolesen - die Hauptstadt nicht zu beneiden braucht; sogar die eleganten Damen dort sprechen Pariser argot. Von dem berühmten Bordeauxwein hält man in Bordeaux nicht viel, und niemand gebraucht den weltberühmten bor-dolesischen Mostrich, aber der Atlantische Ozean schickt seinen unendlichen Wohlgeruch dorthin und die fleischigen Austern aus Arcachon. Aber er schickte ihm nicht Maud und schickte ihm nicht Kalantan, die armenische Witwe mit den vielen Lastern und den vielen Petroleumquellen. Der journalistische Dienst in Bordeaux war ermüdend wegen seines Mangels an Stoff. Nie ein wichtiges Ereignis. Nie ein Skandal. Kein schönes Verbrechen. Kein berühmter Mann, der stirbt! Der Direktor hatte ihm telegrafiert: «Ihr Dienst ungenügend. Berichten Sie sensationelle Nachrichten.» «Wenn aber nichts Sensationelles geschieht!» verteidigte sich der arme Tito mit zusammengepreßten Zähnen, den Mund am Apparat, und drehte und wendete die farblosen und ausgesogenen Zeitungen, um etwas zu finden. «Der Direktor läßt Sie durch mich bitten», telefonierte ihm der Stenograf, «möglichst viele Berichte zu schicken, wirklich hochinteressante Nachrichten!» «Wirklich?» brüllte Tito. «Dann schreiben Sie: Ein großer Wurstfabrikant Südfrankreichs, dessen Namen wir noch nicht iangeben können, tötete, als er von dem unerlaubten Liebesverhältnis seiner Frau mit einem valdensischen Pastor, dem zwei uneheliche Kinder entsprossen, erfuhr, die Frau und die Kinder. Um das Verbrechen zu verbergen, zerhackte er sie des Nachts in seiher abgelegenen Fabrik in ganz kleine Stücke und stopfte Hunderte von Würsten damit, die er über ganz Frankreich verbreitete. Morgen werden wir in der Lage sein, weitere Einzelheiten zu
berichten.» Aber am nächsten Morgen fiel in ganz Frankreich der Preis für Wurstwaren in unerhörter Weise. Niemand aß mehr Würste. Die Viktualienhändler nahmen die ankommenden Würste nicht mehr ab und stellten die Aufträge und die Bezahlungen ein. Ein Fabrikant aus Toulouse, der wegen seiner unverbesserlichen Ehrlichkeit magere Geschäfte machte, verkaufte seit jenem Tag überhaupt nichts mehr, und da er sich am Vorabend des Bankrotts sah, tötete er sich durch einen Revolverschuß ins Herz. Der größte Aktionär des Attimo fuggente, bedeutender Wurstwarenexporteur, berief den Verwaltungsrat der Zeitung ein und erlangte die Absetzung des Direktors. Alle Wurstkonsumenten wollten die Fabrikmarke der verbrecherischen Würste kennenlernen. Alle zugrunde gerichteten Wursthändler verlangten den Namen des mörderischen Fabrikanten zu erfahren, der in die Würste Fleisch von Frauen und Kindern anstatt von Eseln getan hatte. Der Direktor des Attimo fuggente rief Tito Arnaudi nach Paris zurück. Tito Arnaudi traf mit dem ersten Zug ein. «Ich bin ruiniert!» jammerte der Direktor. «Man verlangt, daß ich den Namen des Fabrikanten veröffentliche.» «Veröffentlichen Sie ihn!» antwortete Tito. «Und welchen Namen erfinde ich?» «Es ist nicht nötig, ihn zu erfinden. Ein großer Wurstfabrikant in Toulouse hat sich das Leben genommen; nehmen wir an, daß r es war; sein tragisches Ende ist ein Geständnis. Er heißt Thomas Salmätre.» Der Direktor strahlte vor Glück. In der Abendausgabe des Attimo fuggente erschien in schwarzen Lettern der ehrliche Name des Selbstmörders Thomas Salmätre. Und die Situation war gerettet. Da die Würste dieses Mannes keine Fabrikmarke hatten, so ergab sich bei niemand, daß er davon gegessen hatte; der Verwaltungsrat bestätigte dem Direktor seinen Posten, der sich jedoch verpflichten mußte, der Witwe des Thomas Salmätre eine lebenslängliche Pension auszuzahlen und für die Zukunft und das Studium der neun unschuldigen Kinder zu sorgen. Tito wurde nicht wieder nach Bordeaux geschickt. So konnte er in die Arme der schönen Armenierin und in die der nicht minder schönen Italienerin, seiner Zimmernachbarin im Hotel Napoleon, zurückkehren. Er hatte angefangen Maud zu lieben am Tag ihrer Ankunft in Paris. «Tag» ist ein noch zu vager Ausdruck. Den Beginn und das Ende einer Liebe kann man mit astronomischer Präzision in
Stunden, Minuten und Sekunden feststellen. Seine Liebe hatte angefangen in dem Augenblick, als Maud, an das Fensterbrett gelehnt (die Vondômesäule zitterte in der flüssigen Transparenz des Porphyr), ihm erzählt hatte, wie sie sich zum erstenmal hingegeben hatte: «Ich kannte ihn kaum. Er war irgendein beliebiger Mann. Aber nach irgendeinem beliebigen Mann sehnte ich mich gerade. Es war Sommer, stell dir vor! Ein Sommernachmittag. Er nahm mich, stehend, gegen eine Tür gedrängt, ohne Lärm, wie man einen Schmetterling durchbohrt.» Und infolge jener dunklen, unerklärlichen Reaktion, die in uns das Wissen, wie sie sich einem anderen gewährt hat, erzeugt, fühlte Tito, wie ein unbestimmtes heißes Aufwallen sein ganzes Wesen durchglühte. Wir sind eifersüchtig auch auf die Frau, die wir noch nicht lieben. Er hatte sie gekannt, als sie noch einfach Maddalena war, eine farblose Mädchengestalt, prädestiniert für die behutsame Liebe eines vorsichtigen und neomalthusianischen Buchhalters, oder auch für die unbedachten Angriffe eines zeugungskräftigen, handfesten und organisierten Metallurgen, Sie war ein ganz makelloses Geschöpf; die Reichsbesserungsanstalt hatte noch keine Prostituierte aus ihr gemacht. Sie wusch ihre Handschuhe mit Benzin auf dem Balkon, warf den herumziehenden Musikern Soldi in den Hof, damit sie den letzten Gassenhauer, unendliche Male wiederholten. Aus den Küchen der unteren Stockwerke stieg ein Duft von in Marsala gekochtem Fleisch und von gebranntem Vanillezucker herauf. Maud war versiegelt und intakt wie eine Samenkapsel am Zweig. Sie frühstückte stehend, gegen die Jalousie gelehnt, in der einen Hand die Tasse, in der andern die knusprige Gebäckstange, Sie aß Kirschen auf dem Balkon und schleuderte die Kerne auf die Balkone der Nachbarn. Traf ein Kern die Glasscheibe, lief sie kichernd ins Haus. Und nun war sie nicht mehr die unbefleckte Kapsel; Tito fand in ihr eine Blume (laßt mich einen Vergleich aus Floras Reich wählen; die Vergleiche mit Blumen und Vögeln sind so ungenau und laxierend), er fand in ihr eine Blume, die vom Knopfloch in den Alko-ven und in ein Hotel meuble gelangend, die Fingerspuren allzu vieler Männer trug. Dies genügte, um in ihm die störende Eifersucht auf die Vergangenheit zu wecken, das Bedauern, nicht der erste gewesen zu sein, nicht der einzige gewesen zu sein, Haß auf die Männer, die sie besessen hatten, und Haß auf sie, die sich angeboten hatte, Haß auf die Zeit, die die Wirklichkeit kristallisiert hatte, Haß auf die Wirklichkeit, die man nicht ändern konnte, aber noch mehr auf die Zeit, die er nicht wieder einbringen konnte. Die Zeit nicht zurückschrauben können! Das ist die verzehrendste Qual; wir be-gfehren das Wunder, die Jugend oder die Jungfräulichkeit der Frau zu erleben, die wir zu lieben anfingen, als sie schon reif war oder nicht mehr intakt. Und dann greifen wir mit beiden Händen nach der entfliehenden Zeit wie nach dem letzten
Wagen eines enteilenden Schnellzugs. Man verschlingt den Rest des Wegs, man schwört, daß man ihn bis zum Ende zurücklegen wird, und da uns die Vergangenheit unwiederbringlich ist, versuchen wir, uns wenigstens die Zukunft zu sichern. Dennoch wissen wir, daß eine Zukunft von zehn Jahren, daß der ganze Rest des Lebens nicht den wenigen Monaten der Jugend gleichkommt, die sie einem anderen geschenkt hat. Die Fotografien aus ihrer Vergangenheit zeigen uns, daß sie nicht so schön, so raffiniert, so verführerisch war, wie sie heute ist; und doch ist es diejenige auf den alten Fotografien, noch vor den alten Fotografien, die wir besitzen möchten. Der Liebhaber (der verliebte Liebhaber) der berühmtesten und schönsten Schauspielerin würde gern in die Zeit zurückkehren, wo sie als einfache kleine Komödiantin von Schmiere zu Schmiere reiste mit ihrem Köfferchen, mit der Nähmaschine und mit ihrer unbeachteten Jungfräulichkeit. Tito verliebte sich in Maud an jenem Spätfrühlings- oder Frühsommertag, als sie an einem Fenster des Hotel Napoleon auf die Automobile blickte, die mit dem Geräusch, das ein über Seide streifender Fingernagel macht, zwischen Rue Castiglione und Rue de la Paix vorbeifuhren, und ihm ihre kleine Geschichte erzählte. Und als er sie kurz danach bei ihren geöffneten Koffern verließ, um in Kalantans, der schönen Armenierin, Villa zu eilen, würde er vielleicht gemerkt haben, daß er Maud liebte, wenn er an der Rue Rivoli nicht hätte aussteigen müssen, um sich eine blasse Gardenie in den Smoking stecken zu lassen, deren Blütenblätter noch den sehnsüchtigen Duft der Côte d'Azur in sich bargen. Seine Liebe keimte, blühte und wuchs, weil er sich nicht damit aufgehalten hatte, über sie nachzugrübeln. Ein slowenischer Bergbewohner sagte mir einmal, daß man die kleinen, kaum erschlossenen Pilze sammeln muß, wie sie sind, denn sie würden nicht mehr wachsen, nachdem wir sie betrachtet haben. Unnütz, am nächsten Tag zurückzukehren mit der Hoffnung, sie vollkommen entwickelt zu finden. Auch die Liebe, wenn du sie beim Keimen beobachtest, bleibt stehen. Zuweilen resorbiert die Erde sie wieder. Tito hatte sie nicht beobachtet, weil er in die kleine Villa, weiß wie ein Beinhaus und rund wie ein hellenisches Tempelchen, hatte eilen müssen, wo Kalantan ihn erwartete, völlig nackt unter dem Peplon und über und über zitternd in der fast keuschen Nacktheit. Nach einem vornehmen Mahl, das aber so schnell serviert wurde wie an den Büfetts der Bahnhöfe, hatte Kalantan sich auf das Lager von Teppichen niedergekauert und Tito zugehört, der neben ihr, mit gekreuzten Beinen, ihr von seiner Melancholie erzählte. Aufmerksam hörte Kalantan ihm zu, das Gesicht gegen die eigenen Knie gedrückt, in der zärtlichen Haltung der Selbstliebe, wie sie Katzen und Frauen gern einnehmen. Von dort hatten sie sich in Kalantans Schlafzimmer begeben.
Als am nächsten Morgen das Automobil der Dame den Herrn in ein Hotel zurückbrachte, war der Herr völlig erschöpft; Kalantaa hatte sich ihm in dieser Nacht in einem rasenden Fieber verschwendet. «Siehst du», hatte sie ihm fast errötend anvertraut, «heute nacht, in diesen Tagen, habe ich mich wahnsinnig nach dir gesehnt, denn... höre... ich erkläre es dir: an gewissen Tagen, an gewissen Tagen, an denen wir vor Verlangen brennen, können wir es nicht befriedigen, eben weil es die Tage sind... Ach, wie schwer ist es, sich auszudrücken! Verzeihe mir. Ich stammle wie eine umme Person. Entsinnst du dich an Margherite Gauthier, die Kameliendame, die sich alle Tage mit weißen Kamelien schmückte, aber in jedem Monat zwei oder drei Tage hintereinander sich mit einer roten Blume am Busen oder im Haar zeigte? Das bedeutete, daß an jenen Tagen... Nun wohl, ich dürfte mich nie mit roten Kamelien schmücken. Es ist das Morphium, das mich so gemacht hat. Margherite würde dich heute nicht in ihrem Alkoven empfangen. Ich darf dich empfangen. Es sind dies die Tage der schreck-Jichsten, der echtesten Liebe.» So hatte die dunkle Armenierin zu ihm gesprochen, in ihrer un-stillbaren Begierde. Als Tito heimkehrte, war er am Ende seiner Kräfte, wie ein Rekonvaleszent bei seinem ersten Ausgang nach der Krankheit; das Übermaß an Liebe hatte den Mann in ihm getötet. Dennoch empfand er, als er in Mauds Zimmer eintrat, die dabei war, die Handschuhe aus Känguruh an ihrem schlanken Gelenk zuzuknöpfen, eine unbestimmte Verlegenheit. «Wie hast du geschlafen, Kleinchen?» «Sehr gut. Und du?» «Ich habe die Nacht im Klub verbracht», antwortete Tito. Maud bedeutete ihm nichts. Er liebte sie nicht. Sie liebten sich nicht. Nicht die geringsten Anzeichen eines künftigen Bandes ließen sich blicken. Dennoch hatte Tito nicht den Mut, ihr zu gestehen, daß er bei seiner Geliebten gewesen war, weil ihm schien, daß er ihr eine Untreue gestände. Bei dieser törichten, unnützen, aber instinktiven spontanen Lüge bemerkte Tito zum erstenmal, daß er die kleine Maud gern, sehr gern hatte.
8 Maud, die Fracktänzerin, hatte im Petit Casino nur mäßigen Erfolg. Sie wurde beklatscht wie Talan-ki, der Abrichter der kurzsichtigen, trägen chinesischen Hündchen, wie Kerry, der schwarze Boxer, wie der sechzehnjährige Irländer Sibémol, Musikclown, der, auf den Händen laufend, mit den Füßen auf einer Glockenklaviatur spielte. Sie wurde zweimal an die Rampe gerufen. Gewährte ein bis. Sie würde eine zweite Zugabe gewährt haben, wenn das weniger zahlende Publikum sie nicht stillschweigend davon dispensiert hätte. Sie verpflichtete sich trotzdem für einen Monat; für den nächsten Monat wurde sie als Solotänzerin für eine Revue der Folies Monmartoises engagiert. Ihr mittelmäßiger Pariser Erfolg entmutigte sie nicht, denn sie prätendierte nicht der Ville Lumière ein neues Licht aufzustecken. Ihre Kunst hatte nichts Originelles; Tänzerinnen im Frack wie sie hatte man zu Dutzenden gesehen; die Musik war Pariser Musik, die, nach Italien importiert, durch ihre Vermittlung an den Ursprungsort zurückgekehrt war. Ihre Schönheit war nicht so überwältigend, daß sie die Aufmerksamkeit der anspruchsvollen Metropole auf sich zu lenken vermochte. So kehrte sie am Abend nach ihrem Debüt ohne Enttäuschung, ohne Mißmut in ihr Hotel zurück, da sie genau die mageren Lorbeeren geerntet hatte, die sie sich erwartete. Tito Arnaudi, Redakteur des Attimo fuggente, war nicht dieser Meinung. Der Schausteller der kleinen Hunde, ein Chinese, der auch einen schwunghaften Handel mit Opium und Kokain betrieb, hatte ihm eine Schachtel mit diesem Pulver verkauft, die er schleunigst geöffnet hatte. Und unter der berauschenden Wirkung Schienen ihm Mauds Tänze wie Offenbarungen einer neuen Kunst; die Offenbarung der Kraft des Universums; das Göttliche, geregelt durch den Rhythmus. Erwartungsvoll, auf seinem Sessel in der ersten Reihe, hatte er ihr bei ihrem Auftreten lebhaft applaudiert. Aber Titos Applaus, der isoliert blieb, fand kein anderes Echo als einen beschämenden Ausbruch leichter Heiterkeit. Mauds schwarzer Frack leuchtete in seinen Augen von blauen Lichtern, als ob er aus von Phosphor durchwehtem Stoff wäre. Die rügerische Verzückung des Kokains verwandelte ihm Mauds wallende Haare in ein Geflecht weißglühender Metallfäden. Die Musik schien ihm aus
unsichtbaren Fernen zu kommen, und der Boden der Schaubühne lebte in seinen Augen wie eine von der Sonne und vom Wind erleuchtete und bewegte Landschaft. Als er mit ihr sprechen konnte, sagte er ihr: «Mit deinen Tänzen ffenbarst du unbekannte Welten, nie erschaute Wunder.» Und er wiederholte es ihr später, als sie in ihr Zimmer im Hotel Napoleon hinaufstiegen. Und er wiederholte es ihr oftmals in dieser Nacht, während die blaue Feuchtigkeit, die vom Himmel auf die schlaflose Nacht tropfte, durch das geöffnete Fenster auf ihre nackten, dampfenden Körper eindrang. Am nächsten Tag mußte Tito nach Bordeaux abreisen. Dort lieb er eine Woche und kam dann nach Paris zurück. Nach einer Unterredung mit dem Direktor seiner Zeitung, die ramatisch und entscheidend verlief wie eine Szene von Bernstein, kehrte er ins Hotel Napoleon zurück und fand Maud mit einem Unbekannten im Bett. «Vierzig!» sagte der Unbekannte, setzte sich im Bett auf und betrachtete Tito, ohne zu zittern und ohne sich schamhaft die Brust zu bedecken. «Was bedeutet diese Nummer?» fragte Maud. «Es ist der vierzigste Gatte.» « Er ist nicht mein Mann.» «Wer ist es?» «Mein Geliebter.» «Dann sechsundsiebzig!» Tito hatte den Unbekannten sofort erkannt. Es war Kerry, der schwarze Boxer. Es gibt Typen, die man nicht vergißt, wenn man sie einmal gesehen hat. Seine Haut war mit einer so kompakten und so glänzenden Schicht galvanisch überzogen, daß die Kugeln eines Revolvers daran abgeprallt wären wie von einem Panzer. Zwecklos also, abzudrücken. Tito verließ das Zimmer mit großer Würde und beschwerte sich nur über die Schlösser in den Hotels, die sich nicht von innen verschließen lassen. Er kleidete sich um, nahm eine frische violette Krawatte zu einem sandfarbenen Anzug und ging zu Fuß zur Villa von Kalantan, der schönen Armenierin, die ein irrtümlich in die Avenue des Champs-Élysees verpflanztes griechisches Tempelchen zu sein schien. Ich will kein Loblied auf die Bigamie singen, aber man muß zugeben, daß Tito zwischen diesen beiden Frauen im vollkommensten Gleichgewicht lebte. Er liebte weder Maud noch Kalantan, glaubte aber beide zu lieben. Wenn die eine ihm Leiden verursachte, fand er Trost am Busen der andern. Betrog ihn die eine, so fand er alsbald in der anderen Reinheit und Treue. Wenn ihm Maud allzu
lange die Treue hielt und er nicht mehr die belebende Wirkung der Eifersucht spürte, so begann seine Liebe nachzulassen und er näherte sich Kalantan. Kaum aber merkte er, daß Maud sich an ein anderes männliches Wesen attachierte, so entbrannte seine Eifersucht; und dann verließ er Kalantan, um seine ganze Leidenschaft auf Maud zu konzentrieren. Und als ob seine Liebe genüge, um andere männliche Passanten von ihr fernzuhalten, konstruierte er förmlich einen Liebespanzer um sie. Kaum aber sah er, daß andere Männer ihren Widerstand besiegten, so lief er zu Kalantan, um auf der takhta, dem eckigen Bau aus Teppichen und Kissen, das Vergessen zu suchen. Die arme Maud verdiente beim Petit Casino täglich den fünften Teil von dem, was sie für ihren Bedarf ausgab. Aber einige sehr reiche Herren gaben ihr in bar das Zehnfache von dem, was sie ausgab. Man fragt sich: Wieviel verdiente Maud? Und wieviel gab sie aus? Wieviel bekam sie von den sehr reichen Herren? Was für eine Figur spielte dieser halbe Zuhälter von Tito dabei? Das sind Probleme, die sich nicht mit Logarithmentafeln lösen lassen, sondern mit viel einfacheren Methoden. Es genügt, es ebenso zu machen wie Tito Arnaudi: man klopft an vlauds Tür. Wenn sie antwortet: «Es geht nicht», so sagt man Pardon« und kommt erst nach Ablauf von drei Stunden wieder. Oh, wie viele Male mußte der sehr nachsichtige, der sehr geduldige Tito drei Stunden warten, bevor er eintreten durfte. Aber er betrog die Erwartung, indem er sich mit einer zarten violetten Krawatte auf sandfarbenem Anzug in das Haus der arme-nischen Dame begab, die stets in der Lage war, ihn zu trösten; denn die konnte ja jeden Tag die moschusduftenden Haare mit weißen Kamelien schmücken. Wenn er dann in Mauds Zimmer zurückkehrte und einen schüchternen Vorwurf wagte, so antwortete sie, indem sie ihn umarmte und sich mit ihrem ganzen Gewicht an seine Brust warf: «Aber sprich doch nicht so, mein Liebling! Jetzt bin ich ganz dein. Die andern Männer, auch der, der mich vor einer halben Stunde verlassen hat, gehören der Vergangenheit an. Und die Vergangenheit gehört uns nicht. Komm, komm, wir wollen Frieden schließen!» Zwei Männer, die Frieden schließen wollen, gehen zusammen zum Essen. Ein Mann und eine Frau gehen ins Bett. Tito und Maud schlössen fast jeden Tag Frieden, um die nächste und die fernere Vergangenheit zu vergessen. Auch in Kalantans Haus gab es eine Vergangenheit. Diese Vergangenheit befand sich im Ehegemach, das durch einen Schwimmzwischenfall zum Witwengemach geworden war.
Und sie bestand in einer antiken Truhe aus Samt und getriebenem Zinn, einem erlesenen Beispiel kaukasischer Kunst. «Was ist da drin?» hatte Tito eines Abends, während er seine zartlila Krawatte löste, gefragt. «Eines Tages werde ich es dir sagen», hatte Kalantan verspro-chen, indem sie einen kleinen, mit Goldplättchen verzierten Schuh fallen ließ. «Kann dieser Tag nicht heute sein?» beharrte Tito und zog sein sandfarbenes Jackett aus. «Noch nicht!» entschied Kalantan, ihren Gürtel aufschnürend. «Und warum?» fragte beharrlich Tito, die Weste aufknöpfend. «Weil ich dir heute viel wichtigere Dinge zu sagen habe», scherzte Kalantan und ließ auf ihrem Schenkel das grüne Strumpfband springen. «Und was hast du mir zu sagen?» «Daß ich in diesem geräumigen Bett Gefahr laufe, mich zu verlieren, wenn du nicht sofort zu mir kommst. Zieh die Uhr nicht auf. Leg sie hin.» « Und wenn sie stehenbleibt ?» «Eben! Warte mit dem Aufziehen, bis sie stehengeblieben ist.» Und so gelang es Tito nicht, den Inhalt dieser Truhe aus Samt und getriebenem Zinn, seltenes Beispiel kaukasischer Kunst, die Kalantans Vergangenheit barg, kennenzulernen. Maud, die italienische Tänzerin, kannte einen Präfekturbeam-ten von sehr hohem Rang und sehr kleiner Gestalt, der die Brust herausstreckte und den Kopf nach rückwärts trug und, im Profil gesehen, wie ein Teelöffel wirkte. Er gehörte zur Sittenpolizei. Sie war auch einem jungen Chirurgen vorgestellt, der eine Privatdozentenstelle an der Sorbonne erstrebte und Verfasser eines sehr schätzenswerten Werks über operative Medizin und chirurgische Therapie war. Der junge Chirurg, der die schöne Tänzerin nicht aus wissenschaftlichen Gründen, sondern einfach als amateur besuchte, versicherte ihr, daß alles bei ihr vollkommen richtig säße und prächtig in Ordnung sei. Er sagte ihr sogar voraus, daß sie mit einigem guten Willen und mit einiger Unvorsichtigkeit eine vorzügliche Familienmutter abgeben würde. Aber Tanz und Mütterlichkeit lassen sich nicht leicht in Einklang bringen. Der hohe Präfekturbeamte, der, im Profil gesehen, einem Teelöffel glich und der um seine Ruhe äußerst besorgt war, bat sie flehentlich, ja nicht in die Hoffnung zu kommen. Aber sie beruhigte
ihn, indem sie ihm mitteilte, sie habe für alle Fälle einen jungen Chirurgen an der Hand, Verfasser eines Buches über operative Medizin und chirurgische Therapie. Niemand würde geglaubt haben, daß dieser blonde junge Doktor, Typus eines Öldrucktroubadours mit den melancholisch resignierten Augen einer Wöchnerin, imstande wäre, einen Kaiserschnitt zu machen, einen Krebs zu operieren und Eierstöcke zu exstirpieren. Und dabei war er ein so tapferer kleiner Kerl! Er hatte sich dann auf eine Operation spezialisiert, die ziemlich läufig in Wien, in Paris, in Berlin gemacht wird, und die jetzt auch in Italien anfängt, ausgeführt zu werden... Eine kleine Operation, die der Chirurg mit den sanften Augen einer Wöchnerin ohne As-sistenten binnen einer Stunde machte, Sterilisierung der Instrumente und Hände einbegriffen. Und für dies kleine Operatiönchen begnügte er sich mit zehntausend Francs... In Mauds Fall aber Begnügte er sich mit dem Doppelten, denn er wußte, daß sein Honorar von dem hohen Präfekturbeamten, dem Liebhaber Mauds und der Ruhe, bezahlt werden würde; der auch noch etliche Tau-ender-Scheine mehr herausgerückt haben würde, um seine noch im dunklen Schoß der Zukunft schlummernden Kinder nicht zu beeinträchtigen. Selten in seinem Leben war dieser würdige Funktionär so glücklich, als, nachdem er wieder einmal Maud, die Tänzerin, angefleht hatte, doch ja nicht in die Hoffnung zu kommen, er die Antwort erhielt, daß vermittels der Hilfe des jungen Chirurgen nunmehr jede Gefahr beseitigt sei. Der junge Chirurg begnügte sich mit der kleinen Summe, mit inigen persönlichen Belobigungen und mit der dankbaren Pro-ektion des sehr einflußreichen Beamten der Präfektur, der ja auch esonders der Sittenpolizei zugeteilt war. Als aber Tito erfuhr, daß seine Maud sich stoisch einer chirurgischen Operation unterzogen hatte, um ihre Liebe verkaufen zu können, ohne diese delikate Ware der Gefahr einer ungelegenen Mutterschaft auszusetzen, fühlte er seine Sinne schwinden, als ob die Instrumente des jungen Chirurgen anstatt Mauds Eierstöcken ihm das Herz herausoperiert hätten. Seine früheren physiologischen Studien waren seinem Gedächtnis nicht ganz entschwunden. Tito hatte zwei Jahre lang eine gnäkologische Klinik besucht und mit tiefer Bekümmernis das Schicksal gewisser Frauen verfolgt, die aus pathologischen Gründ den sich derselben Operation unterziehen mußten, die jetzt Maud durchgemacht hatte, und die am Urquell des Lebens, am Kernpunkt der Weiblichkeit getroffen, nie wieder richtige Frauen geworden waren. Er wußte, was für eine wesentliche Bedeutung in der ganzen funktioneilen Ökonomie des Weibes die der inneren Sekretion dienenden Geschlechtsdrüsen haben, die dieser Verbrecher ihr aus Gewinnsucht, einiger Tausendfrancscheine wegen, herausgenommen hatte. Er erinnerte sich einiger blutjunger Geschöpfe, die, nachdem sie aus der Klinik zurückgekehrt waren, in Stimme, Lächeln und jugendlicher Anmut nach und nach von Weiblichkeit eingebüßt hatten. In ihre Stimme kam etwas Rauhes, in ihren Strenges; etwas Geschlechtlich-Hermaphroditisches, früh Gealtertes in ihr Gesicht, einem männlichen Flaum bedeckte, und in ihren Körper, der zum Fettwerden neigte.
in ihr Heim alle Zeichen Blick etwas das sich mit
All das sah Tito für Maud voraus. «Arme, arme Maud!»sagte er zu ihr mit unterdrücktem Weinen in der Kehle. Und da Maud ihn nicht verstand und er nicht den Mut hatte, ihr dies furchtbare geschlechtliche Drama zu erklären, wußte er nichts anderes zu tun, als vor ihr auf die Knie zu fallen wie in einem Zeitungsroman und verzweifelt auszurufen: «Maud! Was hast du getan, was hast du getan, Maud!» Maud bat ihn, seine Tränen zu trocknen und sich zu entfernen; denn der hohe Beamte konnte jeden Augenblick kommen, der, seitdem sie sich der kleinen Operation unterzogen, seine Besuche sehr viel häufiger abstattete. Ehe sie sich aber von Tito losmachte, fragte sie ihn: «Warum hast du geweint?» Und er: «Ich habe nur so getan.» «Aber wenn du doch die Augen voller Tränen hattest!» Und Tito: «Wir Passionierten, wenn wir so tun, als ob wir weinten, so weinen wir im Ernst.» Er hatte nicht den Mut, ihr die fürchterliche Wahrheit zu enthüllen. Der junge, aber tüchtige Chirurg wurde für die Ehrenlegion vorgeschlagen. Tito rannte einige Tage wie ein Verrückter durch Paris, und da er sich von Zeit zu Zeit daran erinnerte, daß er Redakteur des Attimo fuggente war, machte er ein paar kurze Besuche bei der Zeitung, um zu sehen, ob man ihn dort brauchte. Kraftlos wie ein in vorgeschrittener Verwesung begriffener wandelnder Leichnam schleppte er sich bis in den Redaktionssaal. Er war so fahl, als ob man sein Gesicht in reinem Ammoniak mazeriert hätte. Im Redaktionssaal traf er den Mann, von dem man nicht weiß, wer er ist, der ihm mit ausgestreckten Händen und einem über seine ganze Person verbreiteten Lächeln entgegenkam. Der Mann, von dem man nicht weiß, wer er ist, ist eine Persönlichkeit, die in jeder Zeitungsredaktion zu finden ist; niemand kann sagen, was er dort tut oder warum er geduldet wird, aber alle, vom Portier bis zum Direktor, grüßen ihn mit verschiedenen Graden von Freundlichkeit. Er ist kein Redakteur, auch kein Angestellter, und er hat keine besonderen Funktionen; und trotzdem setzt er sich an irgendeinen Schreibtisch, bedient sich des Telefons, behält den Hut auf dem Kopf, liest die Zeitungen, benutzt das Briefpapier der Firma und erteilt den Hausangestellten Befehle. Der Mann, von dem man nicht weiß, wer er ist, sagte unvermittelt: «Du führst ein zu unregelmäßiges Leben, mein lieber Arnaudi! Ist das nicht wahr, Nocera?»
Nocera: «Du läßt dich von diesen zwei Frauen ruinieren, mein lieber Tito.» Chefredakteur: «Du solltest dich verheiraten.» Tito: «Hol dich der Henker!» Chefredakteur: «Eine unterwürfige Frau, die im geeigneten Fall die richtigen Worte zu finden weiß, um dich über die Unannehmlichkeiten, die deine Mätressen dir zufügen, zu trösten.» Nocera: «Wenn du willst, helfen wir dir suchen.» Tito: «Im Grunde habt ihr recht. Ich sollte mich in die Ehe flüchten, wie um mich kastrieren zu lassen.» Der Mann, von dem man nicht weiß, wer er ist: «Man muß heiraten, um die Art der Langeweile zu verändern.» Chefredakteur: «Du solltest eine Witwe heiraten. Für mich ist die Witwe das Ideal der Frau -. Aber nicht deine armenische Witwe: eine niedliche Witwe, deren erste Bedürfnisse schon befriedigt sind. Ich hätte so eine an der Hand.» Tito: «Es ist nicht leicht, meinen Geschmack zu treffen. Wenn ich mich verheiraten sollte, müßte meine Frau gleichzeitig intelligent und dumm sein, von der Einfalt eines gezähmten Seekalbs. Und was das Physische betrifft...» Nocera: «Fett oder mager?» Tito: «Weder zu amazonenhaft noch zu ausgepolstert.» Chefredakteur: «Ich kenne eine kleine Witwe, sehr lieb, sehr reich. Eine Witwe, warum nicht? Eine Frau aus zweiter Hand, aber fast wie neu. Sie wurde Witwe, nachdem sie sechs Monate ihre Pflichten erfüllt hatte. Übrigens bin ich der Meinung, daß man mit den Frauen verfahren sollte wie Brummel mit seinen Anzügen; er ließ sie, wenn sie neu waren, zunächst von seinem Diener tragen. Diese ist außerdem sehr tugendhaft und so ökonomisch, daß sie nach Ablauf des Trauerjahres ihre Trauerkleidung in Naphthalin verpackt hat, mit den Worten, „so können sie auch noch für einen zweiten Mann dienen“.» Nocera: «Ich würde dir raten, eine Prostituierte zu heiraten. Nicht eine Straßendirne, versteh mich recht! Aber so eine, die als Minimum zweihundert Lire für die Sitzung nimmt. Die Erfahrung hat stets gelehrt, daß sie die besten Ehefrauen abgeben. Wenn du ein Mädchen aus guter Familie heiratest, das dir als Mitgift einige Rentenpapiere und eine völlig unversehrte Membrane mitbringt, wird sie es für ihr Recht halten, dich das ganze Leben lang zu ihren Füßen in selbstverständlicher Anbetung zu sehen. Heiratest du hingegen eine Prostituierte, so bringt sie dir als Mitgift eine vollständig eingerichtete Wohnung, die mit allen Vorzügen ausgestattet ist, die langjährige Benutzung mit sich bringt. Sie besitzt eine ansehnliche Schmuckschatulle und eine hübsche Summe sorgsam ersparten Geldes.»
Chefredakteur: «Prostituierte sparen nicht.» Nocera: «Und ich sage dir, daß sie ökonomisch, fast geizig sind. Den Mann veranlassen sie, tausend Francs für eine unnütze Sache, wie etwa einen Blumenkorb, zum Fenster hinauszuwerfen; aber wenn sie, die Prostituierten, einen Brief mit einer unversehrten Freimarke bekommen, so lösen sie sie sorgsam ab, um sie bei nächster Gelegenheit zu benutzen.» Tito: «Das tun die anständigen Frauen auch. Wenn eine Frau vier Sous ausgeben soll, sind es eben vier Sous; aber hundert Lire, die der Mann ausgibt, sind in ihren Augen weniger als ein Trambahnbillett. Die schlimmsten Fälle von Knickerei habe ich immer bei Frauen beobachtet. Aber sprich weiter.» Nocera: «Die Prostituierte, die du heiratest, ist im Besitz von Geld, das du nicht verpflichtet sein wirst, aus Anstandsgefühl an die Armen deines Kirchspiels zu verteilen. Ab und zu wirst du vielleicht in Versuchung geraten, es zu tun; aber im Augenblick, wo du es tun willst, wird die Versuchung weichen; Geld beschmutzt die Hände, wenn es in geringen Summen vorhanden ist. Aber in großen Quantitäten reinigt es sie. Glücklicherweise steht auf den Banknoten keine andere Unterschrift als die des Generaldirektors und des Hauptkassierers, und wer eine Frau bezahlt, fügt seine Unterschrift nicht hinzu; folglich ist deine Würde gerettet. Da sie ihr Geld durch süße Bemühungen verdient hat, wird sie es verstehen, daß auch die deinigen einigen Lohn wert sind; ein Umstand, den das Mädchen von Familie nicht versteht. Auch hat deine Frau, wenn du die heiratest, die ich dir empfehle, alle vergänglichen Freuden des Luxus kennengelernt, hat ihre tollsten Launen befriedigt; die Villa am Vierwaldstätter See, oder die Yacht in Nizza, oder das Automobil mit doppelter Karosserie reizen ihren Appetit nicht mehr. Sie wird ein köstliches Heimweh nach ländlicher Einfachheit empfinden. Anstatt dir täglich vorzuhalten: „Weißt du, Liebster, was du mir kaufen solltest?) wird sie dir raten: „Mach keine unnötigen Ausgaben, Liebling!“ Sowohl das Mädchen aus bester Familie wie die Kurtisane werden dich unweigerlich zum Hahnrei machen. Aber es ist ein Unterschied in der Art und Weise: Das Fräulein wird dich in geräuschvoller, auffallender Weise betrügen, die, wenn nicht deine eigene, so doch sicher die Aufmerksamkeit aller anderen auf dein Unglück lenken wird. Da sie wenig Erfahrung im Umgang mit Männern hat, wird sie diesen Dummkopf von Geliebten (denn sie verliebt sich unfehlbar in einen Dummkopf) für einen superioren Menschen halten. Und wenn der ihr einreden wird, daß du ein Einfaltspinsel bist, wird sie ihm aufs Wort glauben und ihm behilflich sein, dich bei allen gemeinsamen Bekannten lächerlich zu machen. Die Prostituierte hingegen wird dich auf elegante Art betrügen, mit Methode, mit Zurückhaltung, mit Takt, mit Stil, mit Rechtschaffenheit. Sie wird, da sie die Männer kennt, einen gewissenhaften, genauen und heiteren Vergleich zwischen deinen und seinen Vorzügen ziehen
können; während die aus den jungfräulichen Familientöchtern ausgewählte Gattin nur zwei Männer kennt: dich und den anderen. Die junge Frau, die dir Hörner aufsetzt, wird über die Situation, in die sie dich versetzt hat, lachen; denn ihr erscheint es als eine bizarre, einmalige, außergewöhnliche Situation. Die Prostituierte wird nicht lachen, denn sie weiß, daß es natürlich, normal und herkömmlich ist. Die junge Dame wird verlangen, daß du ihrem Liebhaber beistehst, ihm fond perdu Geld borgst, ihn in schwierigen Lagen unterstützt. Die Prostituierte wird dich zu so etwas nicht nötigen; denn sie ist gewöhnt, von Männern Geld zu bekommen, aber nicht, ihnen welches zu geben. Deine Frau wird in der guten Gesellschaft nicht empfangen werden; so wirst du der Unannehmlichkeit enthoben sein, Bekanntschaften zu machen, Besuche zu erwidern und dich im Milieu wohlgesitteter Leute zu verunreinigen. In dein Haus wirst du nur sympathische und vorurteilslose Menschen wie uns einladen, die wir weder durch Verdrossenheit noch durch Prüderie je die Unterhaltung stören werden; denn bei einer Exprostituierten braucht man die Worte nicht auf die Goldwaage zu legen; und andererseits wird man nie gemein werden; denn schließlich ist diese Prostituierte doch deine Frau geworden. Diese Frau wird sich nie deinen Wünschen versagen.» Tito: «Keine Frau versagt sich.» Der Mann, von dem man nicht weiß, wer er ist: «Das scheint dir so. Aber es gibt Ehefrauen, die den Mut haben, ihren Männern zu sagen: „Nein, mein Lieber, heute nacht nicht.»“ Nocera: «Unter dem Vorwand, müde zu sein, wird sie sich nie versagen, denn du könntest ihr ja antworten: „Aber wieso denn? Du, die du täglich zwanzig Männer empfangen hast?“ Wenn aber sie von der Begierde gepackt würde, gerade in dem Augenblick, wo du müde wärest, so könntest du ihr erwidern: „Aber hast du denn nach deiner bewegten und arbeitsamen Laufbahn immer noch nicht genug davon?“ Du könntest dir so viel Mätressen zulegen, wie immer du wolltest. Und wenn sie dagegen zu protestieren versuchte, könntest du ihr mit dem ersten besten männlichen Taufnamen, der dir in den Sinn käme, den Mund verschließen. Das Mädchen von Familie wird sich niemals die Unbequemlichkeit machen, ihre üble Laune, ihren Spleen zu verbergen; sie wird dich ihre Nervenanfälle ausbaden lassen, und wenn sie sich dir gewährt, wird sie dir ihre Gleichgültigkeit oder ihre Abneigung zeigen. Die Prostituierte, gewöhnt, sich stets mit dem Anschein lächelnden Genusses hinzugeben, wird
mit dir verfahren wie mit ihren angesehensten Kunden, und sie wird dir die vollendete Illusion von ungeduldiger Begierde und Lust geben, selbst wenn an diesem Tag ihr Vater und ihre Mutter am gelben Fieber gestorben sind. Sie wird sich bis in vorgeschrittenes Alter schön zu erhalten wissen; denn da Schönheit das notwendige Requisit ihres Metiers ist, wird sie alle Geheimnisse zu deren Konservierung kennen. Es könnte geschehen, daß es ihr eines Tages erginge wie den von der Bühne zurückgetretenen Schauspielern, die der Sehnsucht, wieder aufzutreten, nachgeben oder zum mindesten in einer Extravorstellung rezitieren wollen. Nun, niemand wird sich darüber wundern, niemand wird dich deswegen verachten. Im Grund übt sie ihr altes Metier aus. In der Hochzeitsnacht wirst du vielleicht einen sonderbaren Eindruck haben. Du wirst nicht die Empfindung haben, mit einer Gattin im Bett zu liegen, sondern mit einer Frau, die dich auf der Straße angehalten hat. Und scheint dir das nicht köstlich? Du wirst nicht die Mühe haben, die Sicherheitsschlösser einer Jungfrau sprengen zu müssen, eine Bequemlichkeit, die keineswegs zu verachten ist! Aber wenn du so dumm wärest, eine jungfräuliche Gattin besitzen zu wollen, glaube mir, mein Freund, daß du bei der Prostituierten auch das finden wirst; denn nur die Prostituierten - und nicht die Jungfrauen - kennen, wenn sie wollen, das Geheimnis, dir die vollendete Illusion der Jungfräulichkeit zu geben.» Tito: «Du hast recht, mein Freund.» Nocera: «Das erste, was du tun mußt, ist, mit diesen beiden Frauen zu brechen, sie nicht mehr zu sehen.» Tito: «Ich werde sie nicht mehr sehen.» «Schwörst du es?» «Ich schwöre es.» Das Telefon klingelte. «Man wünscht Herrn Tito Arnaudi.» Tito ging ans Telefon und sagte: «Ja, Liebste, ich bin es. In deinem Haus? In einer halben Stunde? Auch noch früher!» «Wer ist es?» fragte Nocera. «Die Armenierin», antwortete Tito. Und er verließ das Zimmer.
9 Er kam ein wenig verspätet in Kalantans Villa an, denn er hatte am Eingang einer Untergrundbahnstation jenen Kellner, seinen alten Studiengenossen, getroffen, der die Geschichtsdaten wie Telefonnummern auswendig lernte (Friede von Campoformio: siebzehn neun sieben) und der ihn durch die Cafes von Montmartre geführt hatte, als er seine Lokalstudien über das Kokain machte. «Ich gehe nach Italien zurück», sagte der Freund, indem er seine mit Handkoffern beschwerten Arme ausbreitete. «Paris ist mir verekelt; ich habe es satt zu dienen, ich habe es satt, mein Geld Franc um Franc, selten mehr auf einmal, zusammenzuscharren. Die Umwelt, in der ich lebe und die mich vergiftet, erregt mir Übelkeit. Wenn ich nur noch ein wenig hierbliebe, stürzte ich mich in die Seine; und die Seine ist ein Fluß, der zur Hälfte aus dem Wasser der Bidets von öffentlichen und geheimen Prostituierten besteht.» «Gehst du nach Italien, um einen reinlicheren Fluß zu suchen? Vielleicht wirst du ihn finden, weil die italienischen Frauen sich weniger waschen.» «Ich will Mönch werden. Bei Turin existiert ein Kloster, wo sie jeden aufnehmen, der Einlaß begehrt. Es ist eine Art mystischer Fremdenlegion.» «Aber kannst du denn Mönch werden?» «Ich glaube nicht, daß es schwer ist.» «Und bist du gläubig?» «Nein.» «Fühlst du dich berufen?» «Nein.» « Und wieso dann ?» «Sie haben da einen kleinen Garten, die Zellen sind hübsch gelegen, sie arbeiten wenig, die Regel ist nicht drückend, die Ernährung ist hygienisch, es gibt viele Bücher, man geht niemals aus, nicht einmal, wenn man gestorben ist, denn sie haben den Friedhof im Hause. Äußerst bequem.»
Tito sah ihn betreten an. Dann sagte er: «Du hast irgendeine unglückliche Liebe gehabt. Deine Geliebte hat dich mit ihrem Gatten betrogen?» Der Mönchsaspirant schlug die Augen nieder, und mit verzweifelter Gebärde seine Handkoffer aufnehmend antwortete er: «Kann sein. Ich werde dir Nachricht geben, damit du mich, wenn du einmal in die Gegend kommen solltest, im Kloster besuchen kannst. Adieu.» Und im Sturmschritt, den Kopf voraus, lief er die Treppe der Metro hinauf. Die Truhe aus Samt und Zinn, sehr raffiniertes Beispiel kaukasischer Kunst, die Kalantan TerGregorianz' Vergangenheit barg, war angefüllt mit Goldmünzen. Es schien wie der fabelhafte Schatz, der in den Gewölben einer versunkenen Stadt verborgen sein soll. Als Kalantan ihm sagte: «Sie ist voll von Goldmünzen», lachte Tito wie über einen lustigen Scherz und antwortete: «Kind, solche Dinge kommen nur in phantastischen Romanen oder in deutschen Filmen vor.» Da erzählte ihm Kalantan ihre Geschichte: «Mein Mann war sehr reich. Er besaß unerschöpfliche Naphthaquellen und die berühmtesten Fischereien von ganz Persien.» «Ich weiß.» «Und er war mit einer schrecklichen Lebensunlust auf die Welt gekommen. Man möchte sagen, daß er mit der ganzen asiatischen Erfahrung in seinem Blut geboren war. Nichts reizte ihn mehr, nichts interessierte ihn. Gleichgültig gegenüber Haus und Familie hatte er in seinem Zimmer Plakate anschlagen lassen, wie sie sich in Hotelzimmern finden, mit dem Preis der blanchissage, des im Speisesaal oder auf dem Zimmer servierten Frühstücks und mit der Aufforderung an die Herrschaften, die mit den Abendzügen abreisen, das Zimmer vor zwei Uhr nachmittags zu räumen. Es war sein Traum zu reisen, aber er reiste sehr wenig. Er war eine Art Paralytiker voll Sehnsucht nach der Ferne. Seine weitesten Reisen waren Paris-Berlin, Paris-London, Paris-Brüssel. Nach einmonatiger Abwesenheit kam er dann wieder nach Haus. Er hatte Gefallen an Kokotten. Ich glaube, daß die berühmtesten grues durch seine Hände gegangen sind. Aber er hätte sie immer alle zusammen in seiner Bereitschaft haben mögen, in einem tragbaren Haus, wie eine Zigeunerkarawane, die von einem sachverständigen Pariser maître d'hôtel hätte dirigiert werden müssen. Ich gefiel ihm in langen Zwischenräumen. In der ersten Zeit unserer Ehe hat er mich sehr geliebt, obgleich ich einen Fehler hatte: den, seine Frau zu sein. Um sich darüber hinwegzutäuschen, bezahlte er mich. Jedesmal, wenn ich ihn in meinem Bett
empfing, ließ er in diese Truhe aus Samt und Zinn einige Goldstücke fallen. Er behauptete, auf diese Weise die Funktion der Ehefrau zu veredeln, indem er sie zur Würde der Kurtisane erhöbe.» «Und man hat nie versucht, diese Truhe zu erbrechen?» «Ich habe treue Diener, und niemand argwöhnt, daß sich Gold arin befindet.» «Sie kann wohl etliche hunderttausend Francs enthalten?» «Vielleicht eine halbe Million.» Tito ging an die Truhe und versuchte sie anzuheben; von der i Anstrengung schwollen ihm die Stirn- und Halsadern. «Armer Geliebter!» sagte Kalantan und zog ihn auf die dormeuse neben sich; und während sie ihm das plötzlich erbleichte Gesicht küßte, fing sie an, seine Hände zu liebkosen. «Siehst du, Kalantan, diese Truhe enthält deine Vergangenheit, die mich unsäglich schmerzt, weil ich eifersüchtig auf sie bin. Ich möchte dich als erster gehabt haben. Jede dieser Goldmünzen ist Zeichen der Leidenschaft, der Lust, die du einem anderen gegeben hast.» «Aber was liegt daran?» staunte Kalantan, indem sie ihn auf die bösartig verschleierten Augen küßte. «Mein wahrer Herr bist du. Mein Mann war nur ein Nutznießer. Und meine Liebhaber? Ich erinnere mich ihrer nicht, weil ich niemals genossen habe wie in deinen Armen. Im übrigen ist die Vergangenheit vergangen und gehört uns nicht!» Tito zog seine Hände aus den Händen der Frau. Die Vergangenheit gehört uns nicht. Dieselbe Phrase wie Maud. Diese zwei Frauen, von denen eine aus der Poebene, die andere aus den Schluchten des Kaukasus stammt, Produkte zweier verschiedener Kulturen, gebrauchten die gleichen Worte, um ihn zu trösten. Ach, er hatte recht, sein Kellner-Freund, der gegangen war, um sich in ein Kloster zu verschließen, als er seinen Ekel mit den Worten zusammenfaßte: «Ich bin dieser ganzen Umwelt überdrüssig!» Und Tito war fortan irritiert von Kalantan, die schwerreiche Armenierin, der es im Grunde paßte, wie eine Prostituierte behandelt zu werden. Eine unbestimmte, latente Sehnsucht nach dem Bordell schlummert mehr oder weniger in jeder Frau. An diesem Tag konnte Tito nicht zärtlich mit der Armenierin sein.
«Ich komme morgen wieder», entschuldigte er sich. «Aber heute - nein. Heute bin ich traurig. Laß mich fort.» Und er ging zu Maud. Aber wenn es ihm vor wenigen Wochen noch möglich gewesen war, in Kalantans Armen Mauds Treulosigkeit oder in Mauds Bett Kalantans Vergangenheit zu vergessen, so bedrohte ihn heute seine doppelte, ins Riesenhafte gesteigerte Liebe wie zwei gleiche und entgegengesetzte Kräfte. Nichts von Kalantans Vergangenheit war ihm mehr verborgen: die Fiktion ihrer dem Gatten verkauften Liebe; die weißen Orgien im Salon der Pinguine; die durch die Reizmittel entfesselten Rauschzustände; die Niedergeschlagenheit nach den Narkotika; der Beischlaf im Sarg; das angeborene Heimweh nach dem Bordell, gefolgt vom Heimweh nach Reinheit, das nichts anderes war als Ekel nach der übermäßigen und irregeleiteten Sinneslust; Ekel zerebraler Natur, den das Morphium in ein Delirium der Keuschheit umwandelte. Nichts von Mauds Vergangenheit und Gegenwart war ihm mehr verborgen. Er wußte, wie und wem sie sich das erste Mal gewährt hatte; er wußte, wem sie sich in Italien und Paris verkauft hatte; er hatte sie mit dem Neger mit der ölgetränkten Pachyderma-Haut im Bett gesehen, er hatte den Regierungsbeamten im Aufzug herunterkommen gesehen, die kleinen Äuglein geschwollen und glänzend von Wollust; er wußte, daß der junge Chirurg sie am Quell des Lebens und der Liebe verstümmelt hatte, ihr Klimakterium vorwegnehmend, ihre Jugend verkümmernd. Er kannte die geheimen Absteigequartiere, die garçonnières, in die sie ging, um sich zu verkaufen; in jedem Arrondissement von Paris wohnte einer von Mauds Kunden. Maud und Kalantan waren ganz verschiedene Wesen, zwei ganz verschiedenen Kulturzonen angehörend; aber in der Verständnislosigkeit seiner qualvollen Eifersucht begegneten sie sich. Alle beide hatten sie, mit verschiedenem Ausdruck, aber mit demselben Nichtverstehen im Blick, zu ihm gesagt: «Die Vergangenheit gehört uns nicht.» Maud und Kalantan, verschiedene Frauentypen, die er trotzdem mit derselben Tollheit liebte, weil ihn beide, die eine mit der Eifersucht auf die Gegenwart, die andere mit der Eifersucht auf die Vergangenheit, in Fesseln hielten. Mauds Haut duftete nach dem Thymian ihrer grünen Berge. Kalantans Haut schmeckte nach Salz. Jung waren sie alle beide; und doch sickerte bei beiden irgend etwas Altes, auf verschiedene Art Altes durch. Maud, von unersättlicher Sinnlichkeit, suchte in der Liebe unbekannte Formen, fremdartige Erregungen, krankhafte Laster.
Kalantan, angeekelt von den krankhaften Extravaganzen, suchte in Titos Liebe etwas Reines, Einfaches, Primitives. Zwei Arten von Alterserscheinung in diesen beiden jungen Frauen. Die eine war durch die kompliziertesten Formen des Lasters gegangen, um die Einfachheit von Umarmungen ohne Raffinement zu suchen; die andere hatte die ganze Skala einfacher Liebe durchschritten, um sich auf die Suche nach dem Laster zu machen. Zwei entgegengesetzte Wege, mit demselben keuchenden Sehnen durchschritten, Zeichen zweier verschiedener, aber gleichermaßen starker Persönlichkeiten. Tito stand unentschieden zwischen diesen beiden Frauen, zwischen diesen beiden Leidenschaften. Er wußte nicht, von welcher er sich verbrennen lassen sollte. Er befand sich intra due fuochi distanti e moventi... Ach, dieser Dante Alighieri! Er hat es erreicht, sich auch von mir zitieren zu lassen! Wie der Mann, der sich den Gummiabsatz ausgedacht, Millionen säckelt, wie der Erfinder des Jazz-Instruments, das, wenn man darauf drückt, die widerliche Stimme eines hysterischen Frosches von sich gibt, sich dadurch ein bequemes und unabhängiges Leben geschaffen hat, so hatte Tito durch seine journalistischen Extravaganzen eine feste Anstellung am Animo fuggente erworben. Sie erhöhten sein Gehalt, aber mit dem strikten Verbot, eine Zeile zu schreiben. «Sie wären imstande zu verkünden, daß der Papst sich hat beschneiden lassen, um Sarah Bernhardt zu heiraten!» sagte der Direktor zu ihm. «Wenn Sie wollen, daß wir Freunde bleiben, so nehmen Sie das Gehalt, kommen Sie in die Redaktion, spielen Sie auf meinem Billard Karambolage. Gehen Sie an die Bar, fechten Sie mit meinem Florett, bedienen Sie sich meiner Zigarren und meines Daktylografen, aber schreiben Sie keine Zeile, auch wenn ich es Ihnen befehle!» Tito hatte also keine andere Mühe, als sich monatlich einmal in der Verwaltung einzufinden, einen Empfangsschein zu unterzeichnen und ein Kuvert mit Scheinen der Banque de France einzustecken. Er benutzte seine Zeit zu einsamen morgendlichen Spaziergängen durch die abgelegenen Stadtteile von Paris; manchmal verbrachte er auch zwei oder drei Tage in Kalantans Haus, wo ein Zimmer für «den Herrn» immer bereitstand; dann verließ er Kalantan für eine Woche, während der er ausschließlich mit Maud beschäftigt war; zuweilen ließ er auch mehrere Tage verstreichen, ohne sich weder bei Maud noch bei Kalantan blicken zu lassen. Dann kehrte er zurück in die halb geheimen Cafes von Montmartre oder Montparnasse, in diese zweideutige Atmosphäre von Billard- und Pokerlehrern, Meistern des Films, von Vermittlern von Liebesabenteuern zu populären Preisen, von Polizeispitzeln, ewig hoffnungslosen Debütanten, von verhungerten Straßendirnen, die von Anchovisbrötchen und in Kaffee gestippten Hörnchen leben.
Der lahme Händler verkaufte ihm sechs Glasröhrchen mit vorzüglichem Kokain aus Mannheim. Und er lief durch ganz Paris mit sechs Röhrchen in der Tasche; wie Kinder, die mit ihrem gesamten Spielzeug unterm Kopfkissen schlafen. Er suchte die bescheidensten Straßen von Vilette und Belleville auf, deren Mauern mit den Anzeigen unheimlicher Theaterstücke wie Die Tochter des Bastards, Das Geheimnis des Henkers, Die Rache des Gehenkten tapeziert waren. Er schritt durch die Avenuen des Friedhofs Père Lachaise, der sauber, übersichtlich, aufgeräumt wie ein Musterlager ist; er stieg zu den Schlachthäusern hinauf, wo er sanfte Lämmer und widerspenstige Kälber hineinführen sah. «Aber ihnen erzählt wenigstens niemand etwas von einem Vaterland!» dachte er. Ein armer, von Müdigkeit und Durst halbtoter Hund trottete hinter einem leichten Wagen her, der, dem Staub nach zu urteilen, von weit her kommen mußte. Der Bauer, der ihn lenkte, hätte das Tier in den fast leeren Wagen hinaufnehmen können, anstatt es so leiden zu lassen! «Aber die Bauern», dachte Tito, «gehören einem inferioren Menschenschlag an; sie sind schlimmer als die Neger; ihre Handlungen sind vom stinkendsten Egoismus, von der nutzlosesten Grausamkeit, von der starrköpfigsten Unwissenheit bestimmt. Ich wäre glücklich, wenn der Hagel jedes Jahr die Ernte zerstörte, die Reblaus die Weinberge verwüstete und ein großes Sterben das Vieh hinwegraffte. Die Bauern verdienen nichts Besseres.» Eine lange Reihe weißgekleideter Mädchen mit nackten Beinen die schwatzend dem Park des Buttes Chaumont zuschritten, lösten eine fast weinerliche Rührung in ihm aus. Er folgte ihnen. In jeder von ihnen schien ihm ein Schicksal vorbestimmt. Gesichtchen von Operettensoubretten; Blicke in lustiger Weise verschmitzt, wie von zukünftigen Zerstörerinnen von Nervensystemen; runde Gesichter von Familienmüttern, die zwischen zwei Wochenbetten Mittel und Wege finden werden, irgendeinem seriösen Herrn sympathisch zu werden. Alle weißgekleidet, in gleicher Art, an Größe und Gestalt fast identisch; und doch schlummerte in ihnen bereits im Keim die Kurtisane, die Künstlerin, das gemeine Weib, die superiore Frau. Sie bargen in sich die kleinen Eierchen, aus denen eines Tages vielleicht große Männer oder große Verbrecher geboren werden würden, sie bargen in sich die typischen Zellen eines Krebsgeschwürs oder die Bazillen der Tuberkulose... Eine von ihnen wird eine neue Maud, eine neue Kalantan werden, um einen kleinen Tito Arnaudi in Verzweiflung zu stürzen, der sich in diesem Augenblick in irgendeinem Winkel der Welt vielleicht mit einem Finger in der Nase bohrt! Dieses Herumschweifen, kreuz und quer, verschaffte ihm die stumpfe Glückseligkeit des Vagabunden. Das Leben des Vagabunden hat ja auch seine Reize: nicht Sklave der Stunden, des Zwecks, der Konvention zu sein, nicht in vorgeschriebener Richtung zu schreiten. Die Zeit zwischen einer Gerichtsverhandlung und einer Universitätsvorlesung auf der Bank eines
öffentlichen Parks oder am Flußufer verbringen; einer Auktion beiwohnen, stehenbleiben, um den zu schwer beladenen Wagen zuzuschauen, die sich nicht aus den Geleisen herausarbeiten können; die Leichen in der Morgue besuchen, die melancholischen Abendzüge sich entfernen sehen; mit den Maurern reden, die Ausrufe der Zeitungsverkäufer anhören, in den alten Büchern an den antiquarischen Ständen der friedlichen Quais blättern, auf dem grünen Samt der Museen dahindämmern, den geduldigen und täppischen Bären und diesen Riesenkindern, die die Elefanten des Jardin des Plantes sind, Brotstücke zuwerfen. Zuweilen projiziert sich plötzlich Mauds Bild in einer Straßenvertiefung oder auf dem hellen Spiegel des Trottoirs. Um dieser Vision zu entgehen, trat er in ein Cafe oder in eine Konditorei ein. «Wenn ich eine alte Frau Törtchen essen sehe, scheinen sie mir unnütz vergeudet.» Alles irritierte ihn bis zum Zorn. Aber unter einem gewissen Gesichtspunkt lebte er in einer Art von Wohlbefinden, das sich seit einiger Zeit nach und nach in ihm verbreitet hatte, ohne daß er es bemerkte. Das Kokain, das im ersten Stadium der Vergiftung eine sinnliche Beunruhigung, eine beinahe unersättliche erotische Exaltation in ihm hervorgerufen hatte (zwei Mätressen genügten nicht, ihn zu befriedigen), hatte angefangen die Flamme seiner Sinnlichkeit niederzuschlagen. Es vergingen Tage, ohne die Sehnsucht, Mauds schmale Knöchel zu sehen oder den Moschusduft, den Kalantans Haare ausströmten, einzuatmen. Wenn zuweilen seine Gedanken zu dem weichen Lotterbett zurückkehrten, auf dessen Teppichen sich die schöne Armenierin im wollüstigen Akt der Selbstanbetung zusammenkauerte, wenn seine Erinnerung ihn zu Maud, der nach Laster und Neuheit unersättlichen Frau, zurückführte, betrachtete Tito beide als seinem Leben entfremdete Wesen, fühlte sich selbst als ein Überlebender. Seine Sinnlichkeit war ein Flämmchen, im Begriff zu erlöschen. Aber dann genügte ein Hauch plötzlicher Eifersucht, der die belebende, zündende Wirkung von Sauerstoff hatte. Er stellte sich Maud in den Armen eines andern vor, in irgendeinem verlorenen Haus, in irgendeinem der zwanzig Arrondissements, und die Eifersucht weckte plötzlich wieder seine Begierde. Und dann kam er zurück nach Haus, um Maud zu suchen, und er fand sie (wenn er sie fand) stets bereit, sich ihm mit ihrem ganzen vibrierenden Körper und den göttlich feuchten Lippen zu gewähren. «Kokaina!» sagte Tito zu ihr in seiner Fassungslosigkeit, «Kokaina! Du bist nicht Maud, du bist Kokaina, das Gift, das ich brauche. Ich fliehe vor dir, schwöre, dich niemals wiederzusehen, aber dann treibt mich mein Verhängnis zu dir zurück, weil du notwendig bist für mich, wie ein Gift, das mich rettet und mich tötet. Ich fliehe vor dir, weil ich auf deiner Haut die Spuren anderer Männer fühle. Ich fühle sie, ich sehe sie, wie man auf einer Gardenie die Abdrücke der Finger sieht.
Ich fliehe vor dir, weil du nicht ganz mein bist; weil es mich rasend macht, dich mit anderen zu teilen. Manchmal erfüllst du mich mit Schauder, und trotzdem kehre ich zu dir zurück, du einziges Weib, das mir gefällt, einziges Weib, das ich wahrhaft lieben kann.» Und sie, auf dem großen zerwühlten Bett sitzend, hörte mit einem heiteren und beinahe abwesenden Lächeln auf die glühenden Worte, mit denen Tito ihre Hände zu verbrennen versuchte. Und da ihre Hände, die Tito an seinen Mund preßte, beschäftigt waren, so unterhielt sie sich zerstreut damit, mit ihren Zehen ihre Schildpatthaarspangen vom Boden aufzulesen. Kokaina hatte Greiffüße, wie die Affen, die Anamiter und zwanzig Prozent aller Verbrecher. Eifersucht ist eine Empfindung, durch die ein Mann, wenn er im Bett einer Frau empfangen worden ist, sich berechtigt glaubt, dort Alleinherrscher zu sein. Kein Mann wird zugeben, daß das eine anmaßende Absurdität ist. Jede Frau hingegen erkennt dies klar und unmittelbar. Und es scheint ihr eine so groteske Vorstellung, daß sie die Nutzlosigkeit jeder Beweisführung einsieht. Eine intelligente Frau läßt den Mann sich in seiner Eifersucht wälzen, denn sie weiß aus Instinkt, daß nichts ihn von seinem Übel heilen kann. Dennoch erklärte Kokaina ihm eines Tages: «Ich bin nicht reich; als Tänzerin gelte ich wenig; einen Handel anfangen, eine Industrie schaffen kann ich nicht. So muß ich eben das Geld annehmen, das man mir anbietet, und die Bedingungen, die man mir stellt.» Und Tito fing bei diesem offenen Geständnis zu weinen an, wie ein naßgeregneter, geschlossener Regenschirm. Um ihn zu trösten, würde sie ihn unter anderen Umständen aufgefordert haben, sich zu entkleiden und ins Bett zu kommen. Da sie aber gerade im Bett lagen, schlug sie ihm vor: «Zieh dich an, wir wollen ausgehen.» Eine halbe Stunde später waren sie an der Invalidenstation, von wo der Zug nach Versailles abgeht. Paris fing an in unerträglicher Weise auf Titos Herz zu lasten. Ihm schien, als ob er sie in jeder Straße im Automobil mit einem andern Mann vorbeifahren sähe, Gott weiß wohin; jedes Restaurant hatte einen reservierten Tisch oder ein cabinet particulier für sie und einen andern Gott weiß wen! - in Bereitschaft gehabt. In ihrem Zimmer im Hotel Napoleon hatte sie - Gott weiß wie viele! - Kunden, die sie heraufgeschleppt hatte, empfangen. Sogar in ihrer Garderobe im Petit Casino hatte sie sich halb unentgeltlich Abenteurern der Liebe gewährt. Seit einiger Zeit war Tito von der Manie besessen, neue Schlupfwinkel für ihre Liebe zu suchen,
eine Umwelt, in der sie noch nie mit anderen gewesen wäre; neue Betätigungen der Lust zu erfinden, die sie noch mit niemandem genossen hätte. Er wollte von dieser Frau haben, was sie noch nie einem anderen gegeben hatte, wäre es auch nur eine Kleinigkeit; ein Wort, das noch nie jemand von ihr gehört, ein Hemd, das er als erster gesehen hätte, ein Restaurant, das sie zum erstenmal beträte. Eines Tages hatte er mit ihr ein Schiffchen dieses Riesenrades bestiegen, das man jetzt abgeschafft hat, und das man auf allen Pariser Ansichtskarten sah; und als sie auf den höchsten Punkt der Drehung angelangt waren, hatte er sie in dieser schwindelnden Höhe auf einer Bank besessen. «Hier wenigstens», frohlockte er heimlich, «hat noch keiner sie gehabt!» Kaum aber waren sie wieder unten, so sagte sie mit kindlicher Unschuld: «Das vorige Mal, als ich hier war, drehte es sich langsamer, will mir scheinen.» Es gelang Tito, eine kleine Wirtschaft aufzustöbern, die aus vier oder fünf Lauben bestand und von kleinen Malern, Studenten und Laufburschen besucht war; und hierher hatte er sie geführt, als an einen Ort, der ihm sicher die gefürchteten Vorstellungen ersparen würde. Als sie aber auf der Schwelle standen, sah sie sich, als ob sie sich erinnere, um: «Nicht nach der Seite, Tito. Dort liegt die Küche, und an der Straße rankt ein Geißblatt, das einem mit seinem Duft Migräne macht.» Aber wo war diese Frau nicht gewesen? Wohin hatten sie sie noch nicht geführt? Und als sie in Versailles ankamen, in die Gärten, die in den goldbraunen Herbstfarben erglühten, in jener zugleich heiteren und melancholischen Pracht, die Musset und Verlaine besungen haben, da gestand ihm die einfache, naive, kindliche Kokaina, die im Grunde immer Maud war, welche im Grunde immer Maddalena blieb:« Siehst du ? Unter diesem Fliederbaum hat man vor zwei oder drei Monaten mein erstes weißes Haar entdeckt.» Von da an gab Tito jeden Versuch auf. Früher hätte er noch in Kalantans Haus flüchten können, um seine Eifersucht auf der weichen, einladenden asiatischen takhta zu betäuben; aber jetzt nicht mehr. Keine Flucht mehr und kein Umherschweifen; jetzt brauchte er Kokaina, um nicht verrückt zu werden. «Wenn du jeden Abend eine Einnahme von tausend Francs hättest», fragte er sie bei der Rückkehr nach Paris, «aber nur mit deinem Tanzen; würdest du dich da entschließen, alle diese Männer zu verabschieden, die...» «Die mich bezahlen? Selbstverständlich! Und ich würde niemandem mehr gehören, niemandem als dir allein! Aber scheint dir das denn möglich? Es ist ein Traum! Siehst du nicht, Tito, daß ich wie ein Bügeleisen tanze?»
Tito erwiderte: «Ich habe einen wundervollen Plan; du wirst schon sehen!» Da der Direktor des Attimo fuggente zu einer Wahlschlacht in die Auvergne gereist war und der Chefredakteur sich einer kleinen Operation an der großen Zehe hatte unterziehen müssen, so konnte niemand Tito daran hindern, ein umfangreiches Manuskript in die Druckerei zu schmuggeln, das mit einer enormen Überschrift auf der zweiten Seite erschien. An diesem Abend machte die Alhambra eine Kasse von fünftausend Francs, und Maud, «la gründe beauté italienne» wurde bei ihrem Auftreten begrüßt als diejenige, die der Attimo fuggente, eines der meistgelesensten Blätter der Hauptstadt, ein elektrisierendes Geschöpf, Terpsichore rediviva, genannt hatte. Diesem überlangen Artikel zufolge erhob sich Maud mit ihren Beinen auf die schwindelndsten Gipfel der Philosophie, um dann den Zuschauer in die tiefsten Abgründe des Absoluten zu stürzen. Die Metaphysik ihres Tanzes war die Offenbarung des Ewigen, des Unendlichen... Das hinters Licht geführte Publikum protestierte beim Schluß ihrer Tanzerei nicht. An die unverschämtesten Bluffs der Reklame gewöhnt, begnügte es sich mit Kommentaren wie: «Dazu gehört Dreistigkeit!», Die weniger Gebildeten meinten: «Direkt 'ne Gemeinheit!» Aber alle lachten. Es lachten auch die Unternehmer; es lachten auch die anderen hauptstädtischen Zeitungen; es lachte sogar Maud. Nur eine Person lachte nicht: der Direktor des Attimo fuggente. Am nächsten Tag nach Paris zurückgekehrt, ließ er sofort Tito, den Verfasser des Artikels, zu sich rufen. Tito war im Vorzimmer des direktorialen Arbeitsraumes, als ein dreimaliges heftiges Klingeln ihn aufschreckte. Man brauchte kein Musikphilosoph zu sein, um die entfesselte Wut in diesen drei Glockenzeichen zu erkennen. Beim Eintritt in das Arbeitszimmer sah er den großen Schnauzbart auf dem großen Schreibtisch ausgebreitet. Der Direktor war wie ein Tier... Aber er sprach ruhig, gemessen, wie einer, der infolge eines furchtbaren Schmerzes den ganzen Jähzorn, den die Gallenblase enthielt, aufgebraucht hat. Um eine Idee davon zu vermitteln, stellen Sie sich einen armen Vater vor, dessen einzige Tochter mit einem Seiltänzer durchgebrannt ist, ein Kind bekommen und es umgebracht hat, im Gefängnis gesessen hat, entlassen wurde und nach sechs Monaten eines üblen Lebenswandels ins Elternhaus zurückkehrt. Der arme Vater hat genügend Zeit gehabt, sie zu verfluchen, zu verachten, zu hassen, zu verabscheuen. Und wenn sie heimkehrt, so sind seine Vorräte an Verzweiflung und Zorn aufgebraucht, und er kann ruhig, beinah sanft mit ihr sprechen. So sprach, mit Tränen an den Augengläsern, der unglückliche Direktor.
«Sie haben meine Zeitung ruiniert», stöhnte er langsam, mit leiser Stimme, «Sie haben mich vor der ganzen Pariser Presse lächerlich gemacht.» Tito stand vor ihm, hielt die Augen gesenkt und die Hände über dem Leib gekreuzt, wie die verführte und entehrte Tochter angesichts des greisen Erzeugers. «Der Streich ist zu toll gewesen», fuhr der gebrochene Direktor fort und fiel ins Italienische, um noch milder zu erscheinen, «mein Schmerz ist zu heftig, als daß ich Sie verwünschen, Sie verfluchen könnte. Ich verzeihe Ihnen. Aber kommen Sie mir niemals wieder vor die Augen, weder lebendig noch tot. Geben Sie mir die Hand, . wenn Sie wollen. Wenn Sie wollen, erlaube ich Ihnen auch, mich zu umarmen. Ich habe hier zwei Fauteuil-Plätze für die Opera Comique. Ich biete sie Ihnen von Herzen an. Mehr kann ich nicht tun.» Und er fiel, nach Luft schnappend, in seinen Sessel zurück. Als er wieder zu sich kam, war Tito Arnaudi nicht mehr da. Er befand sich auf der Straße.
10 Seit längerer Zeit hatte Tito nicht mehr gelacht. Über dies Mißgeschick mußte er lachen. Er hatte seine Stellung verloren; er hatte nicht die Kraft, sich nach einer neuen umzusehen, und das Geld, das er noch hatte, genügte kaum für eine Woche. Um erhebliche Ersparnisse vorzunehmen, kaufte er bei einem Antiquitätenhändler in der Rue Saint Honore zwei runde Aschenurnen, die wie Seifenblasen irisierten und eine vergoldete, silberne Monstranz, die aus irgendeinem verfallenen oder verweltlichten Bergkirchlein stammte und der die Zeit und die Weihrauchdämpfe eine bräunliche Politur verliehen hatten. Die heilige Hostie war durch eine Oblate aus der Apotheke ersetzt worden, um die herum die vergoldeten Strahlen aber den gleichen mystischen Glanz bewahrt hatten. In sein Zimmer im Hotel Napoleon zurückgekehrt, entfernte er , die Apothekeroblate, die diesen heiligen Gegenstand in unwürdiger Weise profanisierte, aus der Monstranz und ersetzte sie durch eine vollständige Fotografie von Kokaina. Die Aschenurnen stellte er in einen Schrank, dem er ein Fläschchen mit «Avatar», Kokainas Lieblingsparfum, entnahm. Er befestigte den Zerstäuber an dem Fläschchen und erfüllte die ganze Luft des Zimmers mit dem Duft, als wolle er ein dem Bildnis würdiges heidnisches Opfer darbringen. Unerwartet kam Kokaina ins Zimmer, während er unbeweglich, in einem Akt stummer
Anbetung, ihre Nacktheit betrachtete; sie sagte nichts, war aber so gerührt, daß sie ihr rotes Schirmchen aufs Bett warf, ihr Gesicht an Titos Hals verbarg und ihre heißesten Tränen auf seine Krawatte aus grünem Trikot mit großen blauen Querstreifen strömen ließ. Ihr wißt, wie Tränen duften, wenn sie über ein frisches Frauenantlitz rinnen, und welchen Duft Krawatten annehmen, wenn Frauen darauf weinen! Titos Krawatte wurde dadurch befeuchtet und sein Gemüt erleichtert. Auch Kokainas Gemüt wurde leicht und licht wie eine andalusische Mantille. «Dein Artikel über meinen Tanz hat gute Resultate erzielt.» «Ja, ich weiß», antwortete Tito mit sauersüßem Lächeln. «Ich hatte eben eine Unterredung mit einem großen amerikanischen Impresario. In acht Tagen reisen wir nach Buenos Aires ab. Wird dir deine Zeitung die Erlaubnis geben, mich zu begleiten?» «Sie erlaubt es mir», erwiderte er einfach. « Gewährt sie dir sechs Monate ?» « Sogar zwölf. Und die Bedingungen ?» «Die besten.» Und sie lief, um es der Zofe mitzuteilen, die - zuweilen mit einiger Arroganz - auf den Namen Pierina hörte. Als der Majordomus Csaky meldete, daß Herr Arnaudi (nicht mehr «der Herr») nach der gnädigen Frau frage, wunderte sich Kalantan nicht darüber. Sie kannte seine langen und seine kurzen Perioden von Melancholie und von Misanthropie; sie wußte, wie unbeständig seine Launen waren, und sie fühlte, daß Gewohnheit, wenn nicht gar irgendein Mißgeschick ihn wieder zu ihr führte. Aber er schien sonderbar verändert; seine Zärtlichkeit hatte etwas Gewölkes, Falsches, und in seiner Liebe lag nicht mehr die frühere Hingabe. «Dein Zimmer ist, wie du es verlassen hast», sagte Kalantan, seine Haare liebkosend, «und auch meine Liebe ist unverändert.» Wirklich spürte Tito an diesem Abend, daß die schöne armenische Geliebte, die von Lastern übersättigte, sich ihm mit derselben Begierde nach einfacher Natur hingab. Und am nächsten Morgen, als er in dem Palisanderbett erwachte, erkannte er dieselben Möbel, dieselben Stiche und dieselbe Livree von Csaky, dem dekorativen und feierlichen Majordomus, der «den Herrn» fragte, ob er russischen oder grünen oder Ceylontee wünsche. «Ich will ihn im Zimmer der gnädigen Frau.» Und er ging in Kalantans Zimmer, die noch schlief, Hände und Knie gegen das Gesicht gedrückt,
ganz in sich geschlossen, wie des Nachts Magnolien schlafen. Später kleidete er sich langsam an, knüpfte sorgfältig die grüne Trikotkrawatte mit den blauen Querstreifen und ging ins Hotel Napoleon, um einige Kleidungsstücke zu holen. «Komm bald wieder», ermahnte ihn Kalantan. «In einer halben Stunde!» berechnete Tito. Und wirklich fuhr nach einer halben Stunde das Automobil der Frau Ter-Gregorianz wieder in den Garten, mit zwei großen gelben Handkoffern beladen. Titos Nächte waren unruhig; am Abend nahm er starke Dosen Chloral, um die Schlaflosigkeit zu bannen, die das ihm unentbehrlich gewordene Pulver verursachte. Aber aus der unbezwinglichen Schlaflosigkeit und dem wirkungslosen Narkotikum entwickelte sich eine halluzinatorische Überspannung; er verbrachte lange Stunden in wachem Zustand, in dem er zu träumen glaubte, im Schlaf, der ihm die Empfindung des Wachseins vortäuschte. Sich in dieser Villa zu befinden, die einem weißen Beinhaus glich, Gast und Geliebter eines Geschöpfes wie aus einer asiatischen Rhapsodie, sklavisch von Dienern wie ein Usurpator umschmeichelt zu werden; dieses Ensemble orientalischer Erscheinungen mitten im Herzen von Paris, das eine Umwelt wie aus einer kaukasischen Legende hervorzauberte, und der Gedanke an Maud, an seine Kokaina, die in fünf Minuten mit dem Automobil erreichbar, ihm trotzdem wie ein fernes, fernes, undeutliches, weltenfremdes Wesen vorschwebte - alles das bildete in seinem Gehirn das Bild eines vielfarbigen musikalischen Bienenstocks, dessen Summen von Zeit zu Zeit zerrissen wurde durch die ironisch-sentimentalen Zwitschertöne eines verliebten Vogels im Garten. Im Hotel übergab man ihm einen Brief des Mönch gewordenen Freundes, der alle Abende auch für ihn betete, und er fand Kokaina im Begriff, eine Auswahl entzückender lingerie aus mauvfarbenem Crepe de Chine, mit feinen Plissees aus Organdi, anzuprobieren. «Weißt du, Tito, daß ich dicker werde?» rief Kokaina ihm lachend zu. «Ich weißes.» Und wie er es wußte! Er hatte es vorausgesehen. Dies war das erste Anzeichen des Verfalls. Die grausame Verstümmelung, der sie sich unterzogen hatte, begann jetzt, ein Jahr nachher, sich gemäß Virchows Ausspruch: «Das Weib ist, exakt gesagt, nur Weib durch ihre Geschlechtsdrüsen» zu beweisen. Die ganze weibliche Anmut, die Weichheit der Linie, die Zartheit der Glieder, die Entwicklung des Busens, die Feinheit des Flaums, der wallende Reichtum des Haarwuchses, die musikalische Biegsamkeit der Stimme hängen von dieser Drüse ab. Exstirpieren wir den Eierstock, so sehen wir die harmonische Linie sich in Fettleibigkeit verwandeln, die Stimme männlich werden, die Lebhaftigkeit des Geistes degenerieren in Gedächtnisschwäche, die Zärtlichkeit einer reizbaren Hypochondrie weichen, den Mund sich mit Barthaaren beschatten, den Blick trübe werden. Und
nach wenigen Jahren werden wir das Mannweib in seiner ganzen abscheulichen Zwitterhaftigkeit vor uns haben. Und trotz alledem war Tito so verliebt in diese Frau, daß er den Tag herbeisehnte, an dem sie so garstig geworden sein würde. «Niemand wird sie dann mehr begehren», dachte er, «und sie wird endlich, endlich mir ganz allein gehören! Und ich werde das einzige Glück genießen, von dem ich träume: Ihr letzter Geliebter zu sein.» Und als sie bat, sich mit der Hand zu überzeugen, daß sie wirklich dicker würde, preßte er sie mit solcher Heftigkeit an seine Brust, daß sie schrie: «Gib doch acht! Du zerdrückst mir ja meine ganzen Plissees!» Der Hund fing an, zu ihrer Verteidigung zu bellen. Aber Tito sah einzig diese beginnende Fettleibigkeit, diesen Anfang von Unförmigkeit, der für ihn den Anfang von Mauds Rückkehr zu ihm bedeutete. Es war der erste Hoffnungsstrahl, der in diese Art von amourösem Irredentismus fiel. Csaky, der Majordomus des Hauses Ter-Gregorianz, betrachtete ihn mit den respektvollen Blicken eines Giftmischers. «Die gnädige Frau ist ausgegangen. Das Zimmer des Herrn ist bereit.» Jeden Tag, zu vorgerückter Nachmittagsstunde, begab Kalantan sich in ein physikotherapeutisches Institut, um gegen ein eingebildetes Übel illusorische Kuren vorzunehmen, und wenn sie nach Sonnenuntergang mit einigen Blumen im Gürtel heimkehrte, war das erste, was sie unternahm, ein Besuch in Titos Zimmer, ohne vorher die Diener zu befragen, um sich an der Überraschung zu freuen. Wenn er nicht dort war, dachte sie: «Er wird morgen kommen.» Und sie ging in ihr Zimmer, um sich von Sonia, einer Kammerfrau vieux temps, entkleiden zu lassen. Eines Abends sagte Csaky zu ihr: «Der Herr hat ganz plötzlich nach Italien abreisen müssen.» «Hat er einen Brief hinterlassen?» «Nein, Herrin.» «Hast du ihn an den Bahnhof gebracht?» «Nein, Herrin. In sein Hotel.» «Seine Koffer sind hiergeblieben?»
«Er ist mit den Koffern abgereist, Herrin. Aber er hat einige Anzüge hiergelassen.» «Es ist gut. Du kannst gehen.» Sie legte die Blumen ab, löste den Gürtel, entledigte sich des Hutes und legte die Schleier auf die Truhe aus Samt und Zinn, jene Truhe, die «ihre Vergangenheit» darstellte. Dieser Schrein, der die Erinnerungen an die frostigen Hingaben an einen anderen Mann in sich barg; dieser Schrein voller Goldmünzen, mit denen ihr Gatte sie bezahlte, um sich vorzutäuschen, daß sie etwas Besseres als eine Ehefrau, daß sie eine Kurtisane wäre. Diese Truhe, die den armen Tito so grausam gequält hatte, daß sie ihn dazu gebracht hatte, die Beschläge zu erbrechen, ihre Geheimnisse zu durchstöbern und ihren Inhalt in die beiden gelben Handkoffer zu leeren, zwischen die Taschentücher und Krawatten, die Antilopenhandschuhe und die seidenen Pyjamas. Kalantan, wie alle Frauen unfähig, die Eifersucht zu verstehen, und besonders die Eifersucht auf die Vergangenheit, lächelte wohlwollend in sich hinein, als sie an Titos Verzweiflung dachte und wie sie, um ihn zu trösten, zu ihm gesagt hatte: «Kind! Die Vergangenheit gehört uns nicht!» Sie gehört uns nicht mehr, wenn man sie uns stiehlt, um sie in zwei Handkoffern nach dem fernen Südamerika zu entführen. Kaum war das Dampfschiff aus dem Hafen ausgelaufen, so fing Maud mit einigen Passagieren verschiedenster Nationen zu kokettieren an. Und da das Meer während der ganzen Überfahrt wild bewegt war, verließ Tito seine Kabine fast gar nicht. Jemand riet ihm, keine Nahrung zu sich zu nehmen, um die Seekrankheit zu überwinden. Und Tito fastete. Andere rieten ihm zu essen. Und Tito aß. Eine ältere und sehr fromme Dame gab ihm einige antihysterische Tropfen aus Santa Maria Novella. Tito schluckte das antihysterische Wasser. Ein rastaquero, der in die Pampa zurückkehrte, empfahl ihm Sardellen. Tito versuchte es mit den Sardellen. Ein anderer riet ihm, sich auf den Rücken zu legen.
Tito legte sich auf den Rücken. Ein dritter schwor, daß man auf dem Bauch liegen müsse. Aber nichts half ihm. Er ließ den Schiffsarzt kommen. «Doktor, was tut man, wenn man seekrank ist?» «Man übergibt sich.» Dieser Arzt war ein gleichgültiger Skeptiker, wie alle Händler mit wechselnder Kundschaft. Auf den Promenadendecks plauderte die sprühende Maud mit den aus den seltsamsten Nationalitäten zusammengewürfelten Passagieren. Ein bolivianischer Diplomat fragte sie, ob Tito nicht über ihre andauernden Treulosigkeiten in Verzweiflung geriete; und sie antwortete, daß in bezug auf die Untreue das Herz der Männer sich verhielte wie die Lackschuhe; alles hängt vom ersten Mal ab. Wenn sie nicht sofort springen, springen sie später nicht mehr. Man sah sie auch in einigen Kabinen erster Klasse verschwinden; aber da das außer Tito niemanden etwas anging und der sich mehr mit seinem Magen als mit seinem Herzen beschäftigte, ist es unnötig, daß wir uns bei solchen kleinen, auf transatlantischen Dampfern üblichen Schweinereien aufhalten. Als sie den Äquator passierten, tanzte Maud und erntete viel Beifall und viele Geschenke. Tito lag in seiner Kabine auf dem Bauch und aß im antihysterischen Wasser von Santa Maria Novella aufgeweichte Sardellen. Und der Mond sah über dem Meer aus wie ein hinter einem Porzellanteller angezündetes Streichholz. Ein Wagner-Tenor, blond wie ein Kamel, der en todos los grandes teatros de Europa y de America gesungen hatte, flüsterte ihr, indem er mit melodramatischer Leidenschaft beide Hände an sein Herz drückte, zärtlich zu, daß er an ihrer Seite toda la vida auf dem Ozean verweilen könnte, weil jamas como en esta noche, el perfume del mar me ha parecido tan dulce. Eines Tages, als der rastaquero aus den Pampas einsah, daß seine Bemühungen um diesen armen Tito vergeblich wären (denn er fuhr fort, el sueno agitado, la lengua sucia y pastosa y el color pajizo zu haben), beschloß er, sich mit Maud zu beschäftigen. Der rastaquero schien ihr wesentlich beachtenswerter als der Wagner-Tenor, der ihr bereits offen erklärt hatte, daß es ihm in seinem Leben nie per la cabeza gegangen wäre, einer mujer auch nur un centavo zu geben, da las mujeres es sogar für eine große Ehre hielten, ihm un capricho oder, wie man in Paris sagt, un beguin zu gewähren. Über das Stadium der beguins und caprichos war Maud längst hinaus. Der rastaquero war für Leute, die nie einem solchen begegnet waren, der Typus des
Emporkömmlings, was man so mit einem Euphemismus höflich den gentilhomme campagnard nennt. Er trug sein gutgespicktes Portefeuille in der inneren Westentasche, gleichsam auf der Haut, und trug leinene Unterhosen mit Bändern am unteren Ende, die fünfmal um die Knöchel gewunden wurden. Seine Augen sahen nach verschiedenen Seiten, wie Wegweiser, die in zwei verschiedene Richtungen deuten. Wenn er nicht so reich gewesen wäre, hätte er gut eine Stellung als Aufseher in einem großen Kaufhaus annehmen können, weil er mit diesen Augen anscheinend alle Abteilungen übersehen konnte. Da seine Kabine unmittelbar an den Musiksalon stieß, konnte Maud beim Klang eines Walzers, der von einer fernen Insel herüberzuwehen schien, für ihn ganz allein tanzen. Zum Zeichen seiner Dankbarkeit erlaubte er ihr, sich aus seinem Portefeuille in der inneren Westentasche, gleichsam auf der Haut, ein kleines Reiseandenken auszuwählen. Artigkeit gegen Artigkeit, Dankbarkeit gegen Dankbarkeit, erlaubte auch Maud ihm, seine Hand zwischen ihre Tunika und ihre Haut zu führen und zu nehmen, was er wollte. Aus dem Musiksaal drangen die Klänge eines langsamen Walzers, während das Schiff mit der unveränderlichen Geschwindigkeit von sechzehn Meilen direkt nach Südwesten steuerte. Als der rastaquero einige Stunden später allein in sein Bett zurückkehrte, fand er in den Kissen eine Haarnadel, die noch ganz nach Mauds Parfüm duftete, dem exquisiten Parfüm dieser duftigen lingerie aus violettem Crèpe de Chine, die mit feinen Plissees aus Organdi garniert war. Tito fühlte instinktiv, wußte, daß Kokaina instruktive Besuche in den verschiedenen Kabinen des Dampfers abstattete. Aber jetzt hatte er die Empfindung einer schmerzlosen Eifersucht. Versuchen wir, dies zu erklären: Die Eifersucht bestand, aber ohne die Beunruhigungen von Paris hervorzurufen. Sie war wie eine Rolle, die sich dreht, ohne schmerzhaft oder leidenschaftlich in die Zahnräder des Getriebes einzugreifen. Wenn man physisch leidet, sei es auch nur an einer einfachen Seekrankheit, so fühlt man die moralischen Schmerzen nicht mehr. Ich möchte eine neue Heilmethode aufstellen, seelische Krankheiten mittels körperlicher Krankheiten zu kurieren. Gewissensbisse durch Einimpfen von Influenza heilen. Eifersucht durch Malariabazillen kurieren. Liebe durch Injektionen von Streptokokken heilen. Ich glaube, die Medizin der Zukunft sollte sich in diese Richtung entwickeln. Der Dampfer lief in Rio de Janeiro ein. Kaum fühlte Tito festen Boden unter sich, wollte er mit der Eisenbahn nach Buenos Aires weiterfahren. Als er aber hörte, daß Kokaina auf dem Schiff bleiben würde, entschloß er sich, wieder in die Höhle des Löwen hinunterzusteigen, aus welcher er nach weiteren fünf Tagen Übelkeit zu achtzehn Meilen die Stunde wieder herauskroch. Man war in Buenos Aires angelangt. Wir wollen weder die Ausschiffung noch den imposanten
Anblick der Avenida di Mayo beschreiben. Jeder, der in Buenos Aires gewesen ist, erinnert sich daran. Und sollte es einen Elenden geben, der noch nicht dort war, so schäme er sich und fahre schleunigst hin. Und wir wollen auch Mauds mäßigen Erfolg nicht beschreiben. Ihre Schönheit war auf dem Abstieg; aber die elektrischen Reflektoren der großen Varietés und die Zauberkünste von Puder» Schwarzstift und roter Schminke machten eine immerhin noch begehrenswerte Frau aus ihr. Nachdem sie einige Monate in Buenos Aires getanzt hatte, ging sie in Begleitung von Tito, von Pierina und dem Hund nach Montevideo. Montevideo: drei Monate. Rosario: vierzehn Tage. Bahia Bianca: Heiratsantrag eines Lackfabrikanten. Fray Bentos: vulkanische Liebe von seiten des Direktors einer großen Fleischkonservenfabrik. Ein Jahr nach ihrer Ankunft auf amerikanischem Boden schloß Maud, Fracktänzerin, einen vorteilhaften Kontrakt mit dem Kasino in Mar del Plata ab, dem eleganten Seebad, einem der luxuriösesten klimatischen Kurorte von ganz Südamerika. Die halbe Million, die den teuren Familienerinnerungen von Frau Kalantan Ter-Gregorianz entnommen war, war nahezu aufgebraucht. Mit Titos Gesundheit ging es bergab. Dieses Herumziehen von Hotel zu Hotel, von Stadt zu Stadt, mit dem Bewußtsein, daß allerorten auf Kokainas Wegen Verliebte und Liebhaber wie Pilze aus dem Boden schössen, ruinierte nach und nach seine Nerven und verdarb sein Blut. Er war nach Amerika gekommen in der Hoffnung, daß die guten Engagements und das Geld, das er aus der Reinigung von Kalantans Vergangenheit gewonnen hatte, ihm den alleinigen Besitz von Kokainas Körper sichern würden. Aber der rastaquero vom Schiff, dieses ölige Gesicht des gentilhomme campagnard, hatte ihn auf Schritt und Tritt verfolgt mit seinem unerschöpflichen Portefeuille und seiner Lüsternheit des kraftvoll zeugenden Mannes. Kokaina verteilte ihre Gaben zu höchsten Preisen oder auch gratis. Da sie sich jetzt ihres rapiden Verfalls bewußt war, stürzte sie sich heißhungrig auf das Vergnügen, um keinen Tag zu versäumen, keine Gelegenheit ungenutzt vorübergehen zu lassen. Und sie hatte sich auch Männern hingegeben, die sich solcher Vergeudung ganz unwürdig gezeigt hatten. «Du bietest ihnen Lust, und sie danken es dir nicht.» «Und glaubst du vielleicht», lachte sie höhnisch, «daß ich jedesmal, wenn ich mich einem von ihnen hingebe, auf ihre Achtung oder ihre Dankbarkeit rechne? Dankbarkeit für was? Ich gebe mich ihm nicht zu seinem Vergnügen hin, sondern zu meinem, oder für das Geld, das er mir geben kann. Was kümmert es mich, was er sagen mag, wenn ich nur während der fünf Minuten,
in denen ich das Gewicht seines Körpers sich mit dem meinen verbinden fühlte, die Spannung der Wollust empfunden habe. Achtung.. . Dankbarkeit... Wahn! Wenn du hoffst, mich mit solchen Argumenten einzufangen, kann ich dir nur raten, andere zu suchen.» «Deine Schönheit ist in Liquidation», sagte Tito außer sich zu ihr, nachdem er schon nutzlos gedroht hatte, sie zu verlassen. «Du bist alt; trotz deiner vierundzwanzig Jahre siehst du viel älter aus. Ich liebe dich, weil ich dir mit Haut und Haaren verschrieben bin, weil eine Wahlverwandtschaft mich an dich knüpft, ganz unabhängig von deiner Schönheit. Du bist alt. Es kann sich nur noch jemand für dich interessieren, der durch das tierische Vergnügen, dich zu besitzen, aber nicht etwa durch deine Reize zu dir hingezogen wird; der dich aufsucht, weil du weibliche Organe hast, aber nicht, weil du schön und jung bist. Deinen Reiz kann einzig ich fühlen, der ich deine verflossene Schönheit gekannt habe. Du bist beinahe der Kadaver einer Frau. Du kannst allenfalls einen Kurzsichtigen noch täuschen mit Hilfe deiner Puder und Schminken; aber dann wird er dich zurückweisen wie eine schlecht gefälschte Banknote. Du hast noch Aussicht auf fünf, höchstens sechs Männer. Nun wohl, Kokaina, wenn du nicht willst, daß ich für immer von dir gehe, so verzichte auf diese paar Abenteuer. Ich will dir mein ganzes Leben lang treu ergeben bleiben; wenn dich niemand mehr ansehen wird, so werde ich noch da sein, um dich zu lieben, um dir zu sagen, daß du schön bist, um dir vorzutäuschen, daß du noch begehrenswert bist. Ich biete dir eine Existenz an. Aber als Entgelt für dieses Anerbieten verlange ich von dir während des Todeskampfes deiner Schönheit die Treue, die du mir niemals gehalten hast. Bedenke, daß das Gespenst der Einsamkeit dir auf den Fersen ist. Denke an die Zeit, in der du gezwungenermaßen deine Nächte allein wirst verbringen müssen, alt und frosterstarrt, und du beim Erwachen in deinem Bett deine vergilbte Haut sehen wirst, die niemand mehr begehren wird. Auch dann noch werde ich dich lieben, wenn du dich heute entschließt, die Männer, die dich aufsuchen, zurückzuweisen.» Kokaina hörte ihn an, mit trockenen Augen auf ihn starrend, und erwiderte: «Die Vorstellung des Verzichts erschreckt mich.» «Aber legst du dir Rechenschaft ab über das, was ich dir zum Ersatz anbiete?» «Ja. Und ich ziehe es vor, morgen und für immer einsam und verlassen zu sein, statt heute nacht auf mein Vergnügen zu verzichten. Das Gespenst der Einsamkeit schreckt mich weniger als die unmittelbare Realität des Verzichts.» «Unselige! Aber hast du denn eine Bestandsaufnahme dessen, was dir bleibt, gemacht? Weißt du
nicht, daß du jeden Morgen die Barthaare um deinen Mund ausreißen mußt? Siehst du nicht, daß die Haut von deinem Hals lose und fett herunterhängt?» «Doch. Aber das Abenteuer lockt mich noch.» «Bedenke, daß du morgen alt sein wirst.» «Ja. Aber du übermorgen auch.» «Wenn ich sie nur bezahle, kann ich junge, schöne, frische Frauen haben.» «Auch ich werde mir leistungsfähige Männer verschaffen können, wenn ich sie bezahle.» «Das ist etwas anderes», gab Tito zurück. «Ich habe immer bezahlt. Der Mann bezahlt immer, auch wenn er zwanzig Jahre alt ist, auch wenn die Frau sich ihm aus Liebe zu geben scheint. Während du, die sich immer verkauft hat, die Erfahrung machen wirst, wie traurig es ist, zu kaufen. Du wirst merken, wie kläglich es ist, Liebe zu bezahlen.» «Das ist eine Sache, die ich noch nicht probiert habe. Wer weiß, ob sie nicht auch ihre angenehme Seite hat. Warten wir's ab. Und jetzt laß mich gehen, denn es ist neun Uhr. Meine Tanznummer im Kasino fängt um ein Viertel nach zehn an. Adieu.» Nach der Aufführung wurden die wenigen freigebliebenen Plätze um den Roulettetisch lärmend gestürmt, während der Chef der Croupiers von seinem erhöhten Sitz aus schrie: «Un peu de silence, s'il vous plait.» Tito kreiste um die vier Tische. Internationale Hetären, Männer, von denen man nicht weiß, wovon sie leben, Damen eines gewissen und von Ungewissem Alter, mères encore aimables, nackte Jungfrauen, irgendwo ein bißchen bedeckt, radioaktive Frauen, die sich eine geräumige weiße, von zwei gerunzelten Augenbrauen beherrschte Stirn, das Gesicht der grausamen Frau also, geschminkt hatten; die ersten, die man sieht, sind hübsch; aber später werden sie gewöhnlich wie die Wolfshunde und goldene Schlangenarmbänder. Ruhige, gesammelte Männer. Dienstbeflissene chasseurs, die die heruntergefallenen Spielmarken aufhoben und die Zigarettenasche vom grünen Tuch abfegten. Anmutige Spielerinnen, die mit bürokratischem Fleiß alle herausgekommenen Nummern notierten, weil die Serien sich wiederholen. Die an solche Wiederholungen des Glücksfalls glauben, gleichen den Männern, die meinen, sie könnten ihre Erfahrungen mit früheren Frauen auf ihre künftigen Geliebten anwenden. Beim Spiel wie im Leben verlieren sie unweigerlich. Und Tito fand keinen Platz. «Es würde reichen», dachte er, «daß irgendeine dieser Personen von einem Schlaganfall getroffen würde. Dann würden sofort mindestens drei Plätze frei; der Tote würde entfernt, und die zwei Nachbarn würden den Leichnam forttragen. Die Leute haben mehr Mitleid mit den Toten als mit den Lebenden.»
«Trente et un: rouge impair et passe!» Eine Alte, die alles verloren hatte, rührte sich nicht vom Fleck. Nur nicht den Platz auch noch verlieren. «Egoistisch wie ein Bandwurm!» sagte Tito laut. Ein Herr, der vor ihm saß, drehte sich um: «Arnaudi?» Es war ein uralter Jugendfreund. Was für eine schauderhafte Plage, diese Freunde aus der Kinderzeit! Weil du das Unglück gehabt hast, ihnen zu begegnen, als das Licht der Vernunft dir noch nicht leuchtete, mußt du sie das ganze Leben lang ertragen, in welchem Teil der Welt auch immer du sie triffst! «Ich verliere noch diese tausend Pesos», sagte der Freund, auf zwei oder drei Haufen von Spielmarken zeigend, «und dann gehen wir.» Der Spielsaal mit seiner unbestimmbaren Geräuschkulisse, mit seiner Ausstrahlung dunkler Strömungen erinnerte Tito an gewisse Zeichnungen in den Abhandlungen über Experimentalphysik, die die Eisenspäne darstellen, wie sie sich auf Magneten in Richtung der Kraftlinien anordnen. Er fühlte diese Kraftlinien in der Luft, auf den hellen grünen Teppichen, und er verstand es, daß es Menschen gibt, die mit dem Spiel leben und sterben. Das Spiel ist nichts als eine Verdichtung der Existenz; das Leben ist nichts als eine Viertelstunde am Roulette; die Arrivierten sind die, die siegen; und um zu siegen, genügt es, daß der Nachbar zu deiner Rechten dich ablenkt, daß die Dame zu deiner Linken dich verhindert, da zu setzen, wo du gewollt hättest; es genügt, daß dein Stuhl in der Nähe der niedrigen Nummern steht, wenn die niedrigen Nummern herauskommen; es genügt, daß durch die Luft eine Stimme, eine Nummer an dein Ohr schlägt, von einer anonymen Stimme geflüstert, und du setzt sie. Das Spiel ist nicht Freude am Gewinn, sondern erhöhtes Lebensgefühl. Es ist Wahnsinn, sein Geschick gewissen Nummern anheimzugeben, die nichts weiter sind als Späne und Abfälle vom Tisch der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Von ehrlicher Arbeit zur Launenhaftigkeit des Spiels überzugehen ist, als ob man die Wissenschaft verließe, um es mit dem Empirismus zu versuchen. Wer mit dem Empirismus eines Wundertränkchens oder einer Martingale Erfolge hatte, wird schwerlich wieder zu subkutanen Einspritzungen oder zu vorsichtigen Handelsgeschäften zurückkehren. «Und für gewöhnlich gewinnst du?» fragte ihn sein Freund. «Heute abend habe ich nicht gespielt, aber ich verliere immer»,, antwortete Tito. «Des Gewinns
wegen spielen nur pensionierte Kokotten.» Die beiden Freunde trennten sich. Tito schlug den Weg zum Hotel ein. Es war Nacht. Unter den Palmen längs der Seepromenade waren die eisernen Bänke von Liebespaaren besetzt, die sich still verhielten wie Insekten beim Liebesakt; ab und zu warfen vorübersausende Automobile, aus denen im raschen Fahren helles Lachen tönte, Lichtbündel auf die Promenade. Eine Gesellschaft von schweißduftenden jungen Mädchen, unwiderstehlichen Jünglingen, Offizieren kam an ihm vorüber. Wie in allen Gesellschaften, wo sich irgendein intellektuelles Fräulein und irgendein dämlicher Elegant befinden, sprach man von Spiritismus und Theosophie. Die jungen Mädchen flochten in ihre spanische Sprache portugiesische Brocken ein. In Italien schmückten sie die Sprache mit französischen Ausdrücken, in Frankreich mit englischen; im Rom des Horaz benutzten sie griechische Worte. In welches Land du immer gehst, überall findest du die nämliche Blaustrümpfigkeit. Der Portier, der das Knirschen des Kiesbodens unter seinen Füßen gehört hatte, öffnete die Tür, im Vestibül führte ein kleiner Bengel kreischend einen Ringkampf mit seiner phlegmatischen Nurse auf. Er trat in den Aufzug, und drei Stockwerke des Hotels blieben unter ihm zurück. In seinem Zimmer angelangt, lief er wie ein Irrsinniger über die geräuschlosen Teppiche. Eine Mücke summte durch den Raum, sich mit ihren langen Beinchen, die denen eines bleichsüchtigen Mädchens glichen, bald hier, bald da niederlassend. Sie flog um Titos Kopf und setzte sich auf seine Hand. Es war eine von denen, die die Malaria erzeugen. Tito zerquetschte sie mit der anderen Hand. Aber dann dachte er finster: «Wie entsetzlich grausam ist der Mensch gegenüber dem Insekt! Das Insekt braucht, um den Menschen zu töten, nichts anderes zu tun, als ihn zu stechen; der Mensch, um das Insekt zu töten, muß es zerquetschen.» Maud war immer noch nicht nach Haus gekommen. Tito setzte sich aufs Bett, sein Blick fiel auf die Weckuhr; er zog sie auf und stellte sie wieder hin; unterhalb der Lampe war eine Preisliste angeschlagen. Tito las, während er sich nervös die Nägel feilte: Le prix de la chambre sera augmenté dans le cas où il ne sera pris aux moins un des repas principaux a l'Hôtel. The prize of this room will be augmented if one of the principal meals (lunch or dinner) is not taken in the hotel. Der Zimmerpreis erfährt Erhöhung, wenn keine der beiden Hauptmahlzeiten (Lunch oder Dinner)
im Hotel eingenommen werden. Aus dem Schacht des Fahrstuhls hörte man das Geräusch des Heraufrollens. Aber der Fahrstuhl hielt in einem unteren Stockwerk an. Einen Augenblick wartete er noch in der Hoffnung, er habe nur angehalten, um irgend jemanden von da unten aussteigen zu lassen und weiterzufahren, um seine Maud bis zu ihm zu befördern. Aber statt dessen hörte er das Fahrzeug langsam nach unten gleiten, mit dem Geräusch eines sich entleerenden Reifens die Luft im Schacht verdrängend. Er durchschritt das Zimmer und öffnete das Fenster. In weiter Ferne flutete in der Nacht wie durch Phosphordämpfe die unbestimmte Helligkeit irgendeiner Stadt, als wäre sie, gleichsam widergespiegelt in einem konvexen Glas, der Himmel. Tito betrachtete den Sternenhimmel der südlichen Hemisphäre. Gruppen von Sternen, Sternensplitter, kleine Überbleibsel von Sternen, naive Kombinationen primitiver Goldschmiedekunst; er fühlte das Blau der Nacht auf sein erhitztes Gesicht niederrieseln; er suchte am Himmel zwei Sternbilder, von denen er als Kind gehört hatte: das südliche Kreuz und die Hydra; aber er hatte die Empfindung, daß der Himmel dieses anderen Weltteils genauso in willkürliche Unordnung geraten wäre wie sein eigener Himmel. Längs des Meeres glitzerten die elektrischen Bogenlampen einer breiten Allee in gleichmäßigen Entfernungen ihr Licht auf die dunkle Tiefe des Wassers; sie wirkten wie beleuchtete Deckfensterchen eines großen Schiffes, das gravitätisch bei voller Beleuchtung seines Weges zog. Durch die Luft drangen abgerissene Akkorde einer fernen Musik aus irgendeiner Villa; ihm schien, als ob nicht die Brise ihm die Musik zutrüge, sondern als ob die Musik ihm in dieser schwülen Nacht einen Hauch der Brise entgegenbrächte. In dem Dickicht der großen schwarzen Bäume funkelten die Lichter mit flimmerndem Glanz, wie Straß-Agraffen in gewelltem Haar. Tito streckte die Hände zum Fenster hinaus, wie man es im heißen August auf der Eisenbahn tut, um durch die schnelle Bewegung eine scheinbare Abkühlung zu erlangen. Er zählte die Stockwerke unter sich. Einige vierzig Meter vom Erdboden. Auf der Bucht fuhr ein Motorboot mit Gitarren und brennenden Zigaretten. Tito hob die Augen, um sich zu überzeugen, daß ihm gegenüber nicht der Vesuv rauchte. Aber seine Kokaina war noch immer nicht nach Hause gekommen. Er schloß das Fenster, berührte den Schalter des auf dem Nachttisch stehenden Ventilators und fing an sich langsam auszuziehen.
«Bist du noch nicht im Bett?» fragte Maud, die plötzlich eintrat, den Hut in der einen Hand, während sie mit den Fingern der anderen über ihre Stirn fuhr. «Wie du siehst...» erwiderte Tito kühl, die Schnur seines Pyjamas um die Taille knüpfend. «Was hast du?» fragte Kokaina, die den Grund seiner Übellaunigkeit auf der Stirn ihres Geliebten las. «Wo bist du bis jetzt gewesen?» «Das alte Lied! Wo willst du, daß ich gewesen bin?» «Das frage ich dich.» «Ich habe eine Automobilfahrt gemacht.» «Mit wem?» «Mit Arguedos.» «Dem Studenten?» «Ja.» «Im Automobil? Aber bevor er Geld für ein Automobil ausgibt, sollte er lieber ein Bett in einem Sanatorium nehmen!» «Was weißt du davon?» protestierte sie. Die Haut der Frauen reagiert sofort auf ihrem Liebhaber zugefügte Stiche. «Und woher nimmt dieser Unglückliche ein Automobil?» beharrte Tito. «Wenn du es ihm nicht geborgt hast, wird er es sich von jemand anders geborgt haben.» «Kein Mensch würde ihm auch nur ein Schuhband anvertrauen. » «Er wird es gemietet haben.» «Mit wessen Geld?» «Mit meinem. Du glaubst, daß niemand ihm Kredit gewährt? Ich habe ihm Kredit gegeben. Ich habe ihm tausend Pesos geborgt.» « Und aus welchem Grund ?» «Aus Freundschaft.» «Er wird sie dir nie zurückgeben.» «Das weiß ich.»
«Dann ist es also ein Geschenk...» «Nenne es, wie du willst.» Und mit diesen Worten öffnete sie die Verbindungstür zu ihrem Zimmer und verschwand, mit ihren Ringen gegen den Türpfosten stoßend. Tito, kühl, ruhig, schmerzhaft feindselig, kehrte ans Fenster zurück, um vom Unendlichen den Trost zu empfangen, den die Unermeßlichkeit der Nacht dem nie verweigert, der ihn mit schmerzlicher Beredsamkeit von ihr erbittet. Und während er mit offenem Mund einen Atemzug von Luft und Azur in sich aufnahm (ein Grammophon sang von irgendwoher), dachte er, innerlich grausam lachend: «Früher ging sie mit Männern ins Bett, um Geld von ihnen zu bekommen. Heute bezahlt sie die Männer, um mit ihnen zu schlafen. Wenn sie eines Tages zu abscheulich geworden sein wird, um noch einen Mann zu finden, wird sie an den Gefängnistüren lauern auf den erstbesten verhungerten, entlassenen Sträfling. Aber niemals werde ich ihre Treue erfahren.» Das nahe Grammphon sang nicht mehr. Eine Nachtigall hielt den verschlafenen Garten einer Villa wach. Eine unsichtbare Geige erstarb in einer anderen Villa. Die Geige und die Nachtigall sahen sich nicht, aber sie erzählten sich gegenseitig ihre Melancholie. Es schien dieselbe Nachtigall, dieselbe Geige, die man von Kalantans weißer Villa des Nachts in Paris hörte. Wie gleichförmig die Welt ist! Und wenn zwischen jener Pariser Villa und diesem südamerikanischen Hotel sich nicht der Ozean dehnte, so würde die Straße hier wie dort von Nachtigallen und Geigen, wie diese hier, bevölkert sein! Das Grammophon setzte wieder ein. Man hatte die Platte ausgewechselt. Es setzte wieder ein, um mit seinem gurgelnden Gekrrächz die anderen Klänge zu übertönen. Das Grammophon ist der quäkende Frosch in diesem großen Sumpf, den jede große Stadt verkörpert. In dieser Nacht fand Tito keinen Schlaf. Er hörte das Klingeln: einmal für den Kellner, zweimal für das Stubenmädchen, dreimal für den Hausknecht... Er hörte das Geräusch von Schritten auf dem Teppich des Korridors. Er hörte vom Hafen das Stöhnen einer Sirene für die Ankunft (wie traurig) oder für die Abreise
(welche Enttäuschung!). Er zündete das Licht an: ein Hotelzimmer; Zimmernummer und Bemerkungen; Preise; die Direktion ist nicht verantwortlich für Wertgegenstände, die nicht im Bureau abgeliefert sind. Er löschte das Licht wieder. Er hatte das Gefühl einzuschlafen, aber er schlief nicht. Ihm schien, er hätte mit dem Rücken an einer sehr hohen Balustrade gelehnt, die mit einemmal nachgab und ihn hintenüber in den leeren Raum stürzen ließ. Aber mitten im Sturz erwachte er mit offenen, ausgebreiteten Armen. In dem Schrank im Stil Ludwigs XV. klopfte ein Wurm seinen eintönigen Rhythmus. Tito erinnerte sich, daß man in seiner Heimat dies Insekt die Totenuhr nannte, weil man glaubte, dies Geräusch zeigte im voraus die Todesstunde an. Statt dessen ist es Liebe. Es ist ein Liebeszweikampf; es ist der Lockruf, den beide Geschlechter hervorbringen, indem sie mit dem Kopf gegen das Holz ihrer garçonnière klopfen. «Und die Menschen töten sie, weil sie Parasiten sind», dachte Tito. «Als ob der Mensch nicht das schlimmste Phänomen von animalischem und vegetabilischem Parasitentum wäre! Maud, Kokaina! Fürchterliche und notwendige kleine Frau, Kokaina; tödliches und lebenspendendes Gift; kleine Frau, an der ich hafte wie ein Parasit, wie das Diplozoon paradoxum.» Längst vergessene Dinge, ferne Kenntnisse, Erinnerungen aus seiner Jugendzeit tauchten in seinem Gedächtnis auf. «Wie das Diplozoon paradoxum, ein Tierchen, das, wenn es einen Gefährten vom anderen Geschlecht gefunden hat, sich an diesem mit einer Saugvorrichtung, die so groß ist wie der ganze übrige Körper, festsaugt. Und sie bleiben für immer zusammen. Für immer. Ein Ausdruck, den alle Liebenden gebrauchen. Ein Traum, den einzig diese kleinen Lebewesen realisieren, die in den Büchern über Schmarotzertiere vergraben sind. Ich und Maud, wir sind aneinander festgesogen mit einem gegenseitigen solchen Schröpfkopf...» So phantasierte Tito, während der Holzwurm fortfuhr, seinen werbenden Ruf zu klopfen. Tito zog es vor zu denken, es sei die Totenuhr. «Alles ist tot um uns herum. Wir leben auf Kosten des Humus, das heißt des Todes. Auch die lebendigen, modernen, der Zeit vorauseilenden Ideen leben von einem Humus abgestorbener Ideen.
Leben, welche Pein! Die Menschen sehen... Wie schön könnte das Leben sein, wenn es keine Menschen gäbe! Die Vögel könnten sich in völliger Freiheit vermehren, die Wälder in die Städte hineinwuchern; das Gras auf den Tischen der Cafehäuser wachsen; die Hennen ihre Eier legen und sie auf den Altären verlassener Kathedralen ausbrüten; Pilze auf den Pergamenten der Bibliotheken wachsen; die Blitze in vereinsamte Ehebetten einschlagen... Sogar den Blitzen hat der Mensch den Weg gewiesen! Ach, endlich die Pferde in Freiheit durch die öffentlichen Parks rasen und sie die Veilchen fressen sehen!» Das mit lautem Geräusch zugeschlagene Gitter des Fahrstuhls weckte ihn auf. Er legte eine Hand auf sein Herz. «Das Herz, die Lungen, das Blut... Ich bin es leid, zu wissen daß mein Körper ein Laboratorium ist, dazu bestimmt, mein Protoplasma zu erneuern und zu ernähren. Ich bin nichts weiter als Phosphor, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff. Ich habe es satt, mich in acht zu nehmen, mich von oben anzusehen, als ob ich meine Augen außerhalb von mir hätte. Ich habe es satt, zu lieben, das heißt meinen Phosphor, meinen Stickstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff aufzuzehren.» Während der ganzen Nacht war Tito besessen von solchen Wahnvorstellungen. Die Uhren schlugen von einem Turm, einer Schule, einem Bahnhof herüber. Dann krähte ein Hahn, ein zweiter antwortete, ein dritter mischte sich ein. Wie sich die Hähne und die Uhren und die Nachtigallen und die Grammophone und die Geigen wiederholen und sich nachäffen! Er wälzte sich auf seinem Laken. Er legte den Kopf auf das Fußende des Bettes, ließ ein Bein auf der einen, das zweite auf der anderen Seite herunterhängen. Er berührte den Ventilator, sah auf die Uhr, hielt den Ventilator an, kleidete sich an. Er klingelte zweimal. Ein Stubenmädchen kam. Er klingelte viermal. Der Portier trat ein. Der ersten befahl er, die Koffer bereitzumachen. Nur die seinen. Die von der gnädigen Frau nicht. Dem anderen gab er den Auftrag, auf dem ersten Dampfer, der nach Europa abginge, eine Kabine zu belegen. «Heute dürfte es etwas schwierig sein», bemerkte der vorsichtigte Portier. «Immerhin kann ich nach Buenos Aires telefonieren.» «Wenn sämtliche Kabinen eines Überseedampfers verkauft sind», antwortete Tito, «so findet der Portier eines großen Hotels immer Mittel und Wege, noch eine aufzutreiben, und es ist dann die schönste auf dem ganzen Schiff.» Ein paar Stunden später, gegen Mittag, als Kokaina ohne anzuklopfen aus ihrem Zimmer in das von Tito eintrat, fand sie daselbst eine eben angekommene angelsächsische Dame, die im Begriff war, das überhängende Fett ihres vollblütigen Gesichts einzuseifen.
Maud stammelte beim Protest der erstaunten Dame einige schüchterne Entschuldigungen und ließ den Kellner kommen. «Der Herr hat das Hotel vor einer halben Stunde verlassen.» Maud antwortete nicht. «Aber da der Dampfer», fügte der erstaunlich psychologische Kellner hinzu, «erst gegen Abend ausreisen wird, so könnte ich, wenn die Dame es wünschen, ihn zurückrufen, ein Automobil nehmen, und in acht Stunden bringe ich ihn Ihnen wieder her.» «Bringen Sie mir», erwiderte Maud, «Butterbrote.» Der Kellner machte Miene hinauszugehen. Maud rief ihn zurück: «Und etwas Honig.»
11 Das Meer war ruhig. An Bord lernte er, noch ehe das Schiff den Hafen verließ, sogleich einen berühmten polyglotten ungarischen Gelehrten kennen, der beim Sprechen spuckte, wie es zur Verteidigung Heupferde, gereizte Raupen und Portierfrauen tun. Er widmete sich wichtigen Studien über die Psychologie der Frau bei verschiedenen Völkern im Verhältnis zum Gewicht ihrer Organe. Die deutsche Frau: Herz 1 Kilogramm; Gehirn 825 Gramm; Statur 1,70... Österreicherin: Herz 950 Gramm; Gehirn 850; Haare 65 Zentimeter. Nordamerikanerin: Milz... Er machte weiterhin die Bekanntschaft einer Spanierin aus Granada, die aus Versehen in seine Kabine gekommen war. Dieses Versehen kostete Tito zweihundert Pesos, die die Spanierin sich beim Akt der Übergabe auszahlen ließ. «Haben diese Spanierinnen eine kecke Stirn!» « Gewicht 2.5 g...» erwiderte der Gelehrte. Dieser hatte, wie die Könige im Märchen, zwei Töchter, die sich sehr ähnlich sahen; sie waren sicherlich Töchter von derselben Mutter. Die eine rundlich, rotbackig, blühend; die andre kleiner, zarter, feiner; aber beide waren sie vom gleichen Typ; sie ähnelten sich wie eine Orange und eine
Mandarine. Tito schälte sie alle beide. Er führte das übliche Leben an Bord: die ungefähre Höhe des Schiffes abschätzen; die Offiziere nach den Längen- und Breitengraden, der drahtlosen Telegrafie und dem Kompaß befragen; die eigene Uhr nach den Schiffsuhren stellen; die vom Wind zerzausten Wolken betrachten; auf einem Liegestuhl auf Deck sich das Gesicht von der frischen Luft kosen lassen wie von duftenden Haaren; den Radiotelegrafisten mit dummen Fragen belästigen; Geschichten von Schiffbrüchen anhören, die sich nie ereignet haben; sich vom barman die kompliziertesten Cocktails bereiten lassen. Beim Anlaufen von Brasilien suchte er nach den Schmetterlingen, die in Kalantans Salon herumflogen, der schönen Armenierin aus der kleinen Villa in den ChampsÉlysees; beim Passieren des Äquators nahm er an dem üblichen Fest teil - und steckte zum Andenken einen Korken in die Tasche; an der Küste von Senegal ging er für einige Stunden an Land, um die Negerbordelle unter freiem Himmel zu besichtigen. Von einem chilenischen Händler, der hinten auf dem Schiff seine geschwätzige Ware von vielsprachigen Papageien, onanierenden Affen, bengalischen Finken und Stieglitzen mit Phantasiewesten feilbot, kaufte Tito während der ersten Reisetage einen Affen. Am letzten Tag stellte er ihn ihm geschenkweise wieder zur Verfügung. Der chilenische Händler nahm ihn als Zeichen der Gunst an. Alle, die sich in den ersten Tagen einen Affen kaufen, geben ihn vor dem Ausschiffen zurück. Man erzählt sich von Affen, die auf diese Weise zehnmal die Überfahrt gemacht haben. Eine holländische Dame, Tochter eines großen Marmeladenfabrikanten, die viel gereist war, erzählte ihm, daß sie in Port Said eine Ägypterin «die äußerste Schmach» (wie die Moralisten sagen) durch einen Esel habe erdulden sehen. «Es sind gerade die Esel», bestätigte Tito, «die bei Frauen das meiste Glück haben.» «Aber dieser», klärte ihn die Erzählerin auf, «war kein metaphorischer Esel. Es war ein Esel mit vier Beinen.» «Und wo? Auf einer Wiese ?» «Nein, in einer Jahrmarktsbude. Man bezahlte ein Pfund Sterling, um der Opferhandlung beizuwohnen.» «Und wer bekam das Geld?» fragte Tito die Tochter des holländischen Marmeladenfabrikanten. «Die Frau.» «Ich hätte es dem Esel gegeben.» Man machte ihn mit einer gesitteten Dame bekannt, mit der er die üblichen wohlerzogenen Unterhaltungen führte, die auf solche Vorstellungen zu folgen pflegen.
«Aber, gnädige Frau, Sie haben wirklich schon einen so großen Sohn?» «Ach, ich war ja noch ein halbes Kind, als ich heiratete.» Auch die holländische Dame empfing ihn aus Versehen in ihrer Kabine, und sie machte es ihm nicht sehr schwer, die Linie des Äquators zu passieren. Sie war so daran gewöhnt, daß sie im Bett pfiff und Tito die peinliche Vorstellung nicht loswurde, mit einem Mann zu schlafen, obgleich sie heiß und glatt und rund wie eine Glühbirne war. Auch die gesittete Dame, die schon einen so großen Sohn hatte, stieg in das Massengrab seiner verflossenen Geliebten hinab. Er aß mit Appetit, wenn schon der Schmerz, Maud verlassen zu haben, ihn in eine gewisse Unruhe versetzte. Manche Leute können nicht essen, wenn sie seelische Qualen leiden. Sie fühlen sie in ihren Eingeweiden. Tito aß ausgezeichnet, wenn er an Liebeskummer litt. Oft stieg er in den Maschinenraum hinunter, um beim betäubenden Lärm der Triebwerke die nackten, bronzierten, athletischen Heizer zu beobachten. Diese prächtigen Männer, bei deren Anblick den Jungfrauen das Wasser im Munde zusammenläuft. Er machte auch die Bekanntschaft einer Dame, die, als sie erfuhr, daß er Journalist, also etwas der Literatur Benachbartes sei, ihn um ein Motto bat, das sie auf die Schließe ihres Strumpfbandes gravieren lassen könnte. An Bord antichambriert man nicht im Herzen der Frauen. Bei einer Reise von vierzig Tagen oder zwei Monaten vielleicht, aber bei einer vierzehntägigen niemals. Er erinnerte sich wieder jener dumpfen Pariser Tage, der einsamen Wanderungen zu den Schlachthäusern, zum katalogisierten Kirchhof von Père Lachaise, als seine abgestumpften Sinne es zuließen, sich Maud nackt durch das Haus eines andern streifend vorzustellen, ohne dabei zu leiden. Und jetzt fühlte er sich von einer so brünstigen Männlichkeit durchströmt! Es war die Erregung des Meeres. Der Geruch der Unendlichkeit ist ein perfides Aphrodisiakum. Eines Abends saß er im Rauchzimmer vor einer Dame; ihre Beine, von perlgrauen Seidenstrümpfen umschlossen, hatten den Glanz von Fischen, die eben erst gefangen worden waren. «Was tun Sie?» fragte die Dame. «Ich bete», erwiderte Tito. «Mir scheint, Sie betrachten meine Beine!» protestiert die Dame, ihn mit verführerischen Blicken bombardierend. «Das ist die Art, wie wir Atheisten beten.»
An diesem Abend betete Tito in der Kabine jener Beine. Das Meer war ruhig. Jedermann weiß, daß ein Mann und eine Frau, die nicht durch das Band der Ehe vereinigt sind, von großen Unannehmlichkeiten bedroht sind, falls sie an Bord in verdächtigen Stellungen überrascht werden. Gut, das ist nichts weiter als eine äußerst raffinierte Erfindung der Schiffahrtsgesellschaften, die niemals knausern, wenn es sich um die Amüsements und Vergnügungen für die Passagiere von Rang handelt; und nach den Zigeunerkapellen (den Karikaturisten der Musik), der Bibliothek, der Heiligen Messe, der täglichen Zeitung mit den neuesten Nachrichten (die vor der Abreise eingetroffen sind), dem Gymnastiksaal haben sie die Bestrafung von Liebesabenteuern ausgeheckt, zu dem Zweck, sie für die Passagiere der Luxuskabinen, der ersten Klasse und, gegen Trinkgeld, auch der zweiten Klasse noch pikanter zu machen. Für die dritte: nein. Das wäre zu unmoralisch. Sofortiger Arrest. «Sie machen allen Damen den Hof», sagte sein Tischnachbar zu ihm, ein Rabbiner aus Warschau, der aus Amerika heimkehrte mit einer chanteuse, zart wie eine Iris, und mit vielen für die Sache der Zionisten gesammelten Geldern. «Ja», erwiderte Tito. «Für die Offiziere ist das Duell eine Verfehlung; aber es ist eine viel schwerere Verfehlung, wenn sie sich nicht schlagen. Genauso ist es mit der Galanterie; gestehst du einer Frau deine Wünsche, so beleidigst du sie, aber du beleidigst sie viel mehr, wenn du sie nicht begehrst.» «Sie müssen viele Frauen gehabt haben!» sagte der Rabbiner aus Warschau. «Sie müssen die Frauen gründlich kennen!» «Ich habe Mätressen gehabt», gab Tito bescheiden zu. «Aber die Annahme, daß, wer viele Frauen gehabt hat, tief in die weibliche Psychologie eingedrungen sei, ist ebenso irrig wie die Annahme, ein Museumsdiener könne Kunstkritiken schreiben. Im übrigen: was braucht man, um eine Frau zu erobern? Nichts. Es genügt, sich erobern zu lassen. Der Mann wählt niemals. Er glaubt zu wählen, und statt dessen wird er gewählt. Der Mann, der einer Frau den Hof macht, versucht nicht, sie an sich zu reißen, sondern er begibt sich einfach in die Lage, genommen zu werden. Wollen Sie einen Beweis? Beobachten Sie die Tierarten! Fast immer ist das Männchen schöner als das Weibchen. Was bedeutet das? Daß das Männchen der Teil ist, der gewählt werden soll. Das Weibchen wird nicht umbuhlt, es hat auch gar nicht nötig, sich schön zu machen. Das Männchen, ja. Schauen Sie den Paradiesvogel an, wie prächtig er ist; sein Weibchen, wie ärmlich!» «Das ist richtig», gab der Rabbiner zu, an seinem horizontal gestrichenen Schnurrbart ziehend, als wolle er dadurch seine Worte bekräftigen. «Aber das schwierigste ist nicht, die Frau zu
erobern, sondern mit ihr zu brechen!» «Irrtum!» rief Tito. «Der Mann verläßt nicht die Frau, sondern er begibt sich in die Lage, von ihr verlassen zu werden. Wenn aber Ausnahmefälle vorkommen, in denen der Mann die Ketten zerreißen möchte, so gibt es ein Mittel, sich auf elegante Weise zurückzuziehen, nämlich: der Frau das Messer an die Kehle zu setzen und in drohendem Ton zu sagen: Ich weiß alles!» «Alles, was?» staunte der Rabbiner. «Glauben Sie mir, auch die unschuldigste Frau hat in ihrer näheren oder ferneren Vergangenheit immer irgendeine Schuld, die eben dieses alles, auf das Sie anspielen, sein kann.» Zwei junge Engländerinnen, die gegenüber saßen, hörten sprachlos mit geblähten Nasenflügeln zu, die Augen weit aufreißend, wie Kälber beim Vorüberrasen eines Expreßzuges. Der Rabbiner war ein sehr sympathischer Mann. Er lachte über die Karikatur der Bibel, die Tito in einer seiner Kokainrauschperioden entwarf, und erklärte ihm, daß die in Amerika gesammelten Gelder zur Wiederherstellung des Reiches Israel in Palästina dienen sollten, um die über die Welt verstreuten Juden dorthin zurückzuführen. «Und werden auch Sie nach Palästina gehen?» fragte Tito. «Nein, ich nicht», antwortete der Rabbiner, «ich bin zu gern in Warschau.» «Aber die Verfolgung, die Pogrome...» «Fabeln!» erwiderte der Rabbiner lachend. «Das sind Gerüchte, die wir polnischen Juden in Umlauf setzen. Wir verbreiten den Glauben, daß es den Juden in Polen schlechtgeht, um den Zuzug von anderen zu verhindern.» In zweiundzwanzig Reisetagen befriedigte Tito zehnmal mit fünf verschiedenen Frauen seine erregten Sinne, erregt durch die Sonne, den Geruch des ruhigen Meeres, den Liebeszauber, der in allen Ozeandampfern mitreist, durch den geschlechtlichen Dunst, mit dem das Metall, die Wandverkleidungen, die Oberfläche der Schiffsbrücken, die geräumigen Säle und die langen Korridore imprägniert sind. Er befriedigte seine Sinne und tötete dadurch beinahe die Erinnerung an Maud, die ihm mit jeder Drehung der Schiffsschrauben ferner rückte. Die Liebe (erotische Attraktion) vermindert sich, wie die Anziehungskraft, proportional zum Quadrat der Entfernung. Als sie sich dem Festland näherten, bedauerte Tito, daß er sich von dem holländischen Fräulein mit den Kurven, die süß und vollendet waren wie ihres Vaters Marmeladen, trennen müßte; und von der ehrbaren Frau, die schon einen so großen Sohn hatte, weil sie als halbes Kind verheiratet worden war; und von den beiden Professorentöchtern, einander so ähnlich und so unähnlich wie eine Orange und eine Mandarine; und von der Dame mit den glänzenden Beinen, auf der Suche nach einem Motto; und von der Geliebten dieses pince-sans-rire-Juden, des Rabbiners aus Warschau, die so zart wie eine Iris, aber so dumm wie eine Holunderblüte war...
Er bedauerte alle diese Frauen, die er niemals wiedersehen würde. Aber er beweinte nicht Kokaina, seine Kokaina, der er in seinem Leben nicht mehr zu begegnen wünschte, Kokaina, die sich in dieser Stunde zum Schein in den Armen jenes multimillionären rastaquero zur Wehr setzte, der Rizinusöl auszuscheiden schien, wenn er seinen Mund auf den ihren preßte, oder an der schmalen Brust dieses Studenten Arguedos lag, der vergeblich einen halben Freiplatz in einem Sanatorium suchte. Kaum aber saß er im Zug, der ihn nach Turin brachte, so war das einzige, was ihm von der Überfahrt geblieben war, die Erinnerung an eine Zigarette, die ein verschwenderischer Passagier ihm angeboten hatte, und eine von der Tropensonne etwas gerötete Haut. Und seine Gedanken liefen zu Kokaina, der kleinen, auf der andern Seite des Ozeans zurückgelassenen Kokaina; seine Kokaina, mit dem Duft, den er auf der Haut keiner andern Frau wiederfinden konnte; seine Kokaina, auf deren Epidermis alle wohlriechenden Essenzen wunderbar reagierten wie auf keiner andern weiblichen Haut; Kokaina, Maud, Weib, vor dem man flieht, und zu dem man zurückkehrt, Weib-Gift, das man haßt und das man liebt, weil es zu gleicher Zeit Ruin und Verzückung, Leiden und Rausch, süßer Tod und fürchterliches Leben ist. Er sah Turin wieder, Wiege von Italiens Wiedergeburt und Hüterin von Christi Leichentuch; dieselben Gesichter, dieselben Dinge. Hunderte von Schwalben kreisten um die Türme des Palazzo Madama, um fortwährend das ungeordnete Durcheinander ihrer Flüge zu verwirren und zu entwirren; er sah die gewohnten Personen an der gewohnten Haltestelle zur gewohnten Stunde in die gewohnte Trambahn steigen. Er begegnete irgendeinem Freund, irgendeiner Frau, die wohlerwogen - ihm angehört hatte. Es kommt zuweilen vor, daß wir diejenige treffen, die für eine Stunde oder für einen Monat unsere Geliebte gewesen ist, und fast erinnern wir uns nicht mehr daran, daß wir ihr jene feierliche Zeremonie gewidmet haben, die der arbeitsame Esel mit der Ägypterin von Port Said feierte, diese höchst bedeutsame Zeremonie, die eigentlich automatisch in unserm Gedächtnis aufspringen müßte. Dieser Akt war also von so geringer Wichtigkeit! Nichts mehr ist in uns zurückgeblieben von ihrem Fleisch, von ihrer Elektrizität, von ihrem Atem. Nichts! Kaum war der Akt vollzogen, haben wir, während sie die Kleider in Ordnung brachte, wieder angefangen, von fremden und gleichgültigen Dingen zu sprechen. Diese Funktion hatte also in uns keinen stärkeren Nachgeschmack hinterlassen, als eine Zigarette in unserm Mund zurückläßt, nachdem wir sie in den Aschbecher geworfen haben. Und trotzdem, wenn wir erfahren, daß unsere derzeitige Geliebte, unsre Geliebte von heute, sei es auch nur für fünf Minuten, einem andern angehört hat, so empfinden wir auch noch nach Jahren einen unerträglichen Schmerz. Der Akt, den sie von andern erduldet hat, scheint uns eine untilgbare Befleckung; ihr Blut scheint uns besudelt, ihr Fleisch in nie wiedergutzumachender Weise entstellt, verderbt, prostituiert durch diesen Akt, denselben Akt, von dem wir uns kaum noch entsinnen, ihn mit der Frau, die eben auf dem Trottoir an uns vorüberging, vollzogen zu haben. Eifersucht ist ein Fieber, das seinen Ursprung in einer dummen, grundlosen Erregung unseres
gedankenleeren Gehirns hat. Eifersucht ist ein Phänomen der Autosuggestion. Deine Geliebte ist mit Y. ins Bett gegangen. Du haßt Y., du haßt sie, du hast dauernd das Gespenst der beiden vor Augen, wie sie in enger Umschlingung den Akt vollziehen, der dich entsetzt. Auch du hast eines Tages deine Geliebte betrogen, um im Bett der Frau Z. dasselbe zu tun, das Y. im Bett deiner Geliebten getan hat. Nun wohl, was ist von Frau Z. in deiner Haut, in deiner Seele zurückgeblieben? Nichts. Nicht mehr als das, was die Liebkosungen von Y. im Fleisch deiner Geliebten zurückgelassen haben können. Autosuggestives Phänomen also. Soll ich dies beweisen? Kennst du dieses Individuum nicht, so stellst du ihn dir abscheulich, abstoßend, widerwärtig vor, und du fühlst, daß du, wenn du ihm begegnetest, ihn töten würdest. Hast du aber Gelegenheit, sein Foto zu sehen, so fängst du an zu begreifen, daß du ihn ohne Abscheu betrachten kannst. Wenn man ihn dir dann persönlich vorstellen würde, glaube mir, so würdest du ihm mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen entgegengehen, würdest ihm, ohne zu beben, in die Augen blicken, und bist du erst bei meinem Grad von Vollkommenheit angelangt, so würdest du auch imstande sein, ihm wohlwollend einen fröhlichen Schlag gegen die Brust zu versetzen mit den Worten: «Vortrefflicher junger Mann!» Mit vernünftigem Nachdenken, durch die Erziehung wird man in nicht allzu ferner Zukunft dahin gelangen, den Männern die Grundlosigkeit der Eifersucht klarzumachen. Der Tag wird kommen, an dem unsere lieben Buben (die Gehörnten von morgen) darauf vorbereitet sind, Hahnrei zu werden und gar nicht mehr darunter leiden werden; denn wir werden ihnen Injektionen von gesundem Menschenverstand, Antihahnreiimpfungen gemacht haben. Titos Eifersucht war jetzt, wo er die Männer nicht sah, quälender als zwanzig Tage zuvor, wo er sie in erreichbarer Nähe hatte, mit der Möglichkeit, mit der Luft den Geruch der letzten elektrischen Funken einzuatmen, der unsichtbar Mauds Körper entströmte. Eine herumlungernde Frau bot sich ihm für zwanzig Lire an. «Das ist nicht teuer. Ich bezahle nicht einmal die Herstellungskosten. Komm. Aber zuvor laß dich über und über parfümieren.» Die Lustverkäuferin folgte Tito in sein Zimmer und ließ sich mit Avatar, Mauds Parfüm, besprengen. Er versuchte es mit vielen Frauen, zu festen Tarifen. Sie waren schön, jung, erfahren. Aber sie waren nicht Kokaina! Er goß Kokainas Parfüm, das köstliche Avatar, auf ihre Haut, aber es nahm bei ihnen einen
anderen Geruch an als auf Kokainas Haut. Jede Haut interpretiert auf ihre Art die Parfüms, wie jeder Künstler auf seine Art die Musik interpretiert. Er versuchte, seine Sinne zu erschöpfen, sich durch das Übermaß zu entspannen, indem er von einer Frau in das Bett einer andern ging; aber wenn sein Fleisch wie abgestorben war für jeden Reiz, gab es eine Sache, die ihn noch aufpeitschte: die Erinnerung an die Begierde nach Maud. Er hatte diese Erfahrung schon in Paris gemacht, wenn er, durch die Tollheiten der unersättlichen Kalantan erledigt, beim Anblick von Mauds Körper neue Quellen der Lust in sich fühlte. Er schweifte durch die Außenviertel von Turin, wie er es damals in den Tagen des Trübsinns in Paris getan hatte. Aber beim Gehen fühlte er schon auf seinen Beinen das Gewicht seines Körpers lasten. Es ist das erste Anzeichen nahenden Alters. Es ist das Alter, in dem die Männer anfangen, sich braun zu kleiden. In einem vergessenen Kofferfach entdeckte er die grüne Trikotkrawatte mit den breiten blauen Querstreifen und legte sie an einem Vormittag an, um seinen Mönch-Freund in dem Kloster zu besuchen, das eine Art von Fremdenlegion für die Opfer sentimentaler Zusammenbrüche war. Ein Sonnenstrahl ließ auf der Krawatte einen schwachen Duft von Avatar aufleben. Ihr wißt, wie Tränen, die über ein frisches Frauenantlitz rieseln, duften und wie Krawatten duften, wenn Frauen daraufweinen! Im Klostergarten flatterten Schwalben, den Boden berührend, und dann stiegen sie hoch in die Luft, wie um sich den Schnabel an den Wolken zu wetzen. Ein armer Bruder warf den Spatzen, die so arm wie er waren, winzige Brotstückchen zu. Der Mönch-Freund kam ihm mit ausgestreckten Armen entgegen und grüßte ihn als Bruder in Christo. Dann sagte er: «Ja, ich bin zufrieden.» Und er riet ihm, auch ins Kloster einzutreten. «Aber das ist keine einfache Sache...» «Ganz einfach! Bist du Freimaurer?» «Nein.» «Also, es ist, als ob du in eine Freimaurerloge einträtest.» Er sagte ihm, der Gute Hirte wäre glücklich, die verirrten Schäflein wieder zu versammeln. «Ich weiß», antwortete Tito. «Denn wenn er sie nicht versammelte, könnte er sie nicht melken und scheren.» Sie besuchten seine Zelle, die Bibliothek, das Laboratorium eines alten Mönchs, der voller Liebe
Käfer und Schmetterlinge studierte. Er führte ihn in die Kirche. «Es tut mir leid», sagte das Mönchlein zu Tito, «daß ich dir nicht einen Wermut anbieten kann, wie damals, als ich noch in Paris Kellner war. Aber wenn ich dir mit einer Messe dienen kann...» «Gut», willigte Tito ein, «soll es eine Messe sein.» «Willst du sie einfach oder gesungen?» « Wie geht's am schnellsten ?» «Das ist ganz gleich.» «Wenn du gern singst...» «Ja, doch.» «Dann also: eine gesungene.» Und er hörte die Messe. «Willst du auch den Segen?» «Danke, nein. Es geht mir ausgezeichnet.» Sie promenierten langsam durch die Säulenhalle und besuchten das Refektorium. «Wie ißt man?» «An der table d'hôte. A la carte speisen nur die Kranken.» Das Mönchlein erklärte ihm, daß man Christus lieben müsse, weil er sich für die Menschheit geopfert habe. Und Tito erwiderte ihm, daß dann die Maulwürfe und Kaninchen, die in den physiologischen Laboratorien geopfert würden, um neue Heilmittel zum Wohle der Menschheit auszuprobieren, ebensogut Jesus Christus seien. Entsetzt flehte ihn der Mönch an, nicht zu lästern, und erklärte ihm, daß der Maulwurf niemanden rettet, während Jesus Christus die Menschen erlöst hat. «Dann ist ein Feuerwehrmann, der stirbt, um einen Menschen zu retten, bewunderungswürdiger als Christus; denn es ist ein größeres Verdienst, sich zu opfern, um einen einzelnen zu retten, als um Milliarden und Milliarden zu retten.» Der Bruder war nicht zu überzeugen (oder er war schon zuvor überzeugt gewesen), und er setzte alles daran, Tito zu überzeugen, auch er möge die niederen Weihen nehmen. Und er gebrauchte so überredende Worte, daß Tito beim Abschied nicht wagte, ihn einen Narren zu heißen, sondern ihm versprach: «Ich will mein Gewissen befragen.»
Er antwortete wie die Damen, die aus einem Laden, ohne etwas zu kaufen, herausgehen möchten und deshalb sagen: «Ich werde mit meinem Mann wiederkommen.» An zwei oder drei Abenden ging er in ein Cafe in der Via Po, das er in seiner Studentenzeit frequentiert hatte, und er fand den Dialektdichter wieder, der so viel schwarzen Kaffee trank, und den alten Maler, der sich auf Marslandschaften und phantastische Saturnblumen spezialisiert hatte, weil er unfähig war, die Landschaft und die Blumen unserer Heimat zu malen. Alle nennen sich Künstler. Die Welt ist freigebig mit Attesten. Wenn es irgendeinem gelungen ist, ein bißchen Erde zusammenzukleistern und eine Nase daraus zu formen, so wird er zum Künstler erhoben; für einen anderen genügt es, daß er im Besitz von vier Büchern und einem Mikroskop ist, und er wird zum Gelehrten ernannt. Aber glücklicherweise vernichtet die Welt diesen Ruhm mit derselben Leichtigkeit, mit der sie ihn geschaffen hat. Man erzählte ihm, daß Pietro Nocera, sein Kollege bei der Pariser Zeitung, gleichfalls in Turin wäre. Und wirklich traf er ihn ein paar Tage später auf der Straße. «Ja, ich habe gehört», antwortete ihm Nocera, «daß du den Streich mit der halben Million gemacht hast. Aber ich habe mich durchaus nicht darüber gewundert. Es ist kein Grund zum Staunen, wenn ein Mensch stiehlt. Ich wundere mich, daß ein Mensch nicht stiehlt. Denn in jedem Menschen steckt ein latenter, potentieller Dieb; ich mache absolut keinen Unterschied zwischen einem, der gestohlen hat, und einem, der erst stehlen wird.» «Es war die Gelegenheit», entschuldigte sich Tito. «Bis dahin war ich immer ehrlich gewesen.» «Ich weiß es. Mein Freund Marco Rampetti pflegt zu sagen, daß Ehrlichkeit nichts weiter ist als Betrügerei auf lange Sicht. Und was treibst du jetzt?» «Ich wohne in einem möblierten Zimmer, ein paar Soldi habe ich noch beiseite gelegt. Wenn die aufgebraucht sind, bringe ich mich entweder um oder ich werde Mönch.» «Näherst du dich dem Glauben?» «Nein. Das Christentum erinnert mich an diese großen von der Regierung gestützten Gesellschaften zur Ausbeutung von Minen, die nie irgend jemand gesehen hat. Die andern Religionen bekämpfen es ein wenig, aber nicht zu offen, damit man nicht merkt, daß auch sie auf nicht existierenden Minen begründet sind. Aber da der liebe Gott Ehrenpräsident ist, so werden alle ernst genommen. Kann sein, daß auch ich eines Tages eine von ihnen ernst nehme, um so mehr, da ich bei der fehlgeschlagenen Spekulation nichts zu verlieren habe. Aber du, was hast du in Paris getrieben, seitdem wir uns verlassen haben? Und warum bist du nach Italien zurückgekommen ?» «Ich hatte mich in eine ganz ordinäre Person verliebt, die mir wegen einiger ihrer Unzulänglichkeiten gefiel, aber sie hatte allzu viele, und einige davon gefielen mir nicht; ich versuchte, sie mit Ratschlägen, mit orthopädischen und heilkräftigen Vorlesungen zu verfeinern; aber zu glauben, daß man eine Frau mit guten Worten verfeinern kann, ist, als wolle man
Kastanien mit Zucker bestreuen, um sie dadurch zu marrons glacés zu machen. Als Gegengift verliebte ich mich dann in eine superiore Frau: über jede Prüfung erhabene Vornehmheit; ältester Adel; und schön war sie auch. Aber ich habe festgestellt, daß in jeder Frau, ob hoch, ob niedrig, sich immer diese vier Bestandteile finden: Vornehmheit, ordinäres Weib, Prostituierte und Sklavin. Die Dosen sind verschieden, aber die Substanzen sind immer die gleichen. In der hochstehenden Frau wirst du dreiundneunzig Teile Vornehmheit finden, aber die übrigen sieben... Und diese sieben Teilchen verstehen sie leider nicht zu verbergen. Du hörst sie als große Damen sprechen; jeder ihrer Gedanken ist hoch und rein und erhaben wie der Regenbogen; sie spielen die Zimperlichen gegenüber den kleinen Miseren des Lebens; wenn sie mit einem Mann zusammen sind, so sind Droschken und Mietautomobile zu vulgär für ihre zarten Personen; aber wenn sie allein sind, fahren sie aus Sparsamkeit in der Trambahn; wenn du sie in einen tea-room begleitest, ist das Trinkgeld, das du dem Kellner gibst, auch wenn es den Gesamtpreis der Getränke übersteigt, in ihren großmütigen Augen stets zu kärglich. Aber wenn sie allein gehen, lassen sie auf dem Teller eine Münze, die du nicht einem Drehorgelspieler anzubieten wagen würdest. Wenn es dir passiert, daß du dein Portefeuille verlierst, lachen sie und beschimpfen dich, falls du dich präokkupiert zeigen solltest. Aber wenn sie sich ein Schuhband kaufen müssen, handeln sie hartnäckig um zwanzig Centesimi.» «Ich kenne das», unterbrach ihn Tito. «In diesen Dingen könntest du von mir lernen. Aber derartige Mängel wirken sympathisch, wenn du sie bei hochstehenden Frauen antriffst, weil es die Abgründe sind, die ihren schwindelnden Höhen entsprechen. Ich bitte dich, erzähl weiter.» «Und so habe ich diese Frau und Paris verlassen und bin nach Turin zurückgekehrt. Jetzt vermittle ich den Verkauf von Grundstücken. Möchtest du nicht ein paar Quadratmeter Wiesenland kaufen?» «Auf dem Friedhof vielleicht. Aber später. Und hast du hier eine Geliebte?» «Ja», antwortete Nocera. «Ein junges Mädchen, von außen sehr einfach in Kleidung und Haltung; aber unter den bescheidenen Manieren birgt sie einen Schatz von zartester Natürlichkeit und unter den schlichten Kleidern die raffinierteste intime Wäsche.» Tito sah augenblicklich die lingerie aus mauvefarbenem Crepe de Chine vor sich, mit feinen Organdi-Plissées garniert. «Sie ist wie die mohammedanischen Häuser», fuhr Nocera fort, «die von außen unbedeutend, quadratisch, mit Kalk geweißt sind; aber im Innern offenbaren sie wahre Wunder von Mosaiken, Gärten und Blumen.» «Und du willst nicht wieder nach Paris gehen?»
«Nein, Tito, ebensowenig wie du zurückgehen wirst. Du, ich, dein Freund, der Kellner und Mönch, deine Maud, deine... wie heißt sie doch... Calomelan...» «Kalantan.» «...wir alle sind durch ein und dasselbe Geschick geleitet; wir sind wie Hunde in der Agonie, die sich unter Betten und unterTischen verkriechen; wir sind wie verwilderte, vagabundierende Katzen, die in ihr Heim zurückkehren, um zu sterben. Wir sind Menschen einer verfallenden Gesellschaft; du, ich, dein Kellner-Freund, wir verlassen aus diesem oder jenem Grund Paris, die großen Straßen, die großen Veranstaltungen, weil wir dem Tode unserer Begierden nahe sind; keine Wünsche mehr haben, keine Neugier mehr haben, heißt soviel wie sterben. Deine Armenierin, wenn ich mich dessen, was du mir von ihr erzählt hast, recht entsinne, hat den Kreislauf der Laster rasch zurückgelegt, um sich in die reine Liebe, in das „keusche Delirium“, wie du es nanntest, zu flüchten. Deine Maud durchlief die einfache Stufenfolge reiner Liebschaften auf der Suche nach dem Laster, und um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die die Organe gewähren können, mordete sie sogar die Organe der Liebe. Unser Leben ist ein Sichüberstürzen von Ideen; dein Kellner-Freund, der ein Atheist war, ist plötzlich ein Mystiker geworden. » «Warum nicht! Er trägt das Kleid des Mystikers, aber er lacht darüber!» «Um so besser! Aus dem Bedürfnis, auf irgend etwas zu verzichten, hat er, ohne den Glauben zu haben, eine Klausur auf sich genommen, als ob jemand eine Verurteilung auf sich nimmt, die er nicht verdient. Das Leben von heute ist eine Jagd nach Leidenschaften; du hast lange zwischen zwei Frauen geschwankt, und aus Überschwang des Gefühls hast du alle beide auf einmal geliebt. Du hast mir erzählt, daß Maud heute beinahe eine alte Frau ist; und auch sie hat sich freiwillig in das Rennen dem Ende entgegen gestürzt. Wir morden uns alle, jeder auf seine Weise, und wir sterben, auch wenn das Herz weiterschlägt. Erinnerst du dich daran, was jener sympathische Chefredakteur, jener Alkoholiker, mehr aus System, Methode und Überzeugung als aus Laster zu uns gesagt hat? Aber nicht doch - du erinnerst dich nicht daran, was er im Café Richelieu an dem Tag, als wir dich der armenischen Dame vorstellten, gesagt hat? Er sagte: „Für mich ist die Frau eine umherschweifende Gebärmutter, hinter der die Männer herlaufen, während sie von Ruhm und von Idealen reden. Um diese Brutalität nicht zu sehen, trinke ich, als Alkoholiker aus Überzeugung! Und ich töte mich.“ Wir töten uns alle. Wir alle, die Menschen unserer Zeit. Und das Überhandnehmen des Kokainschnupfens ist ein Symbol für die Vergiftung, der wir alle erliegen. Das Kokain ist nicht das Alkaloid der Kokapflanze; es ist der süße freiwillige Tod, den wir alle mit verschiedenen Stimmen und verschiedenen Worten herbeirufen! Ich wohne hier, im zweiten Stock. Falls du mich einmal besuchen willst... Adieu.» Tito ging allein weiter, nach Haus.
Er entdeckte in einem Koffer die Aschenurnen und die Monstranz. Die Urnen waren kugelförmig und irisierten wie Seifenblasen, und die Monstranz umschloß die Fotografie von Mauds nacktem Körper. Er nahm die Fotografie heraus und steckte sie in die Tasche, um sie immer bei sich zu tragen. Dann ging er wieder aus. Nach einigen Minuten, oder nach einigen Stunden, kam er wieder nach Haus, mit einem festen, unerschütterlichen Entschluß: Mönch werden, ebenfalls in das Kloster eintreten, in dem die geistigen Bankrotteure eine Zuflucht finden. «Ich werde mich dem Studium der Schmetterlinge und Käfer widmen wie jener alte Mönch. Ein Insekt ist eleganter als die elegantesten Damen; in einem Kasten mit farbenprächtigen Sand- und Borkenkäfern ist mehr Prunk als in den Schaufenstern der Pariser Juweliere; auf Botschaftsbällen habe ich Geschmacklosigkeiten gesehen; auf den Flügeln der Insekten niemals! Ich werde mich mit dem Gemüsegarten beschäftigen; ich werde dem Wunder des Samens beiwohnen, der keimt und mit seinem zarten grünen Lächeln aus dem Erdboden sprießt. Es ist wunderbar, wie das Mysterium der Liebe, und vollzieht sich ohne Schwierigkeiten. Ich werde mir einen langen Bart wachsen lassen. Einen ungeheuren Bart. Einen wallenden Bart, der das Hauptquartier aller meiner Schmetterlinge und Käfer sein wird. Ich werde kein Kokain mehr nehmen, nicht einmal mehr beim Zähneziehen. Morgen um diese Zeit klopfe ich an die Pforte. Übermorgen werde ich schon Sandalen tragen; nicht alles auf einmal; aber einiges werde ich schon haben; vermutlich die Gürtelschnur. Den Soldaten gibt man als erstes den Suppennapf und den Löffel. Und nach acht Tagen wird es mir so vorkommen, als wäre ich immer Mönch gewesen.» «Ist's erlaubt?» Es war die Wirtin, welche ihm ein Radiotelegramm überbrachte. «Ich telegrafiere Dir von Bord der „Caronia“, fahre nach Genua, aber bleibe acht Tage in Dakar, um im Gouvernementspalast zu tanzen, bitte Dich, mir nach Dakar entgegenzukommen, ich liebe Dich. Kokaina.» Tito nahm ein Blatt Papier und schrieb: «Maud Fabrège, Tänzerin, Dampfer „Caronia“, Linie Buenos Aires-Genua. Reise mit nächstem Dampfer nach Dakar, begehre Dich unendlich. Tito.»
Und er lief aufs Telegrafenamt.
12 Man kann Genua noch sehen», sagte sein Tischnachbar zu ihm, ihm seinen prismatischen Operngucker mit zwölffacher Vergrößerung reichend. «In einer halben Stunde sind wir auf offener See. Wohin reisen Sie?» «Nach Dakar.» «Und ich nach Teresina.» «Was ist Teresina?» «Das ist eine brasilianische Stadt. Ich bin der Besitzer einer großen Fabrik von Nährstoffen meiner eigenen Erfindung.» «Und wozu dienen sie?» «Es ist eine Neuheit, die ich binnen sechs Monaten in die ganze Welt lancieren werden. Es ist eine wunderbare Sache, verblüffend. Sie wissen, daß es Blumenessenzen gibt, um Toilettenwasser zu präparieren: Rosen, Verbenen, Nelken; ebenso Fruchtextrakte, um Himbeer-, Zitronen-, Mandarinen-Fruchtsäfte herzustellen. Aber weder Früchte noch Blumen haben etwas damit zu tun; es sind chemische Synthesen, Präparate aus Teer. Nun wohl, ich habe spezielle Essenzen erfunden, die, wenn man sie auf Brot oder auf Mehl träufelt, diesem den Geschmack bestimmter Speisen geben; die Illusion ist vollständig. Sie haben den Extrakt von Kotelette à la milanese mit Kartöffelchen, von blutigem Roastbeef mit Trüffeln, von Brathuhn mit Spargel garniert. Wenige Tropfen genügen.» Das Meer war nicht so ruhig wie bei der letzten Überfahrt. «Sie erlauben, daß ich mich in meine Kabine zurückziehe», sagte Tito erbleichend und die Faust auf die Darmgegend pressend, wie der sterbende Meleager. «Diese Dinge interessieren Sie nicht?» fragte beleidigt der Chemiker aus Teresina. «Nach dem Essen wird mir übel, wenn ich von Speisen sprechen höre. Ich bin wie jene Männer, die, wenn sie eine Frau gehabt haben, sich sofort nach der andern Seite wenden.» «Was für Männer?»
«Alle.» Und ohne sich auf weitere Erklärungen einzulassen, stieg er in seine Kabine hinunter, aus der er erst acht Tage später herauskam, um sich an der aromatischen Küste des Senegal auszuschiffen. Dakar. Am Landungsplatz leuchteten in der Menge der schwarzen Träger die weißen weiten Gewänder der Araber und die leichten Uniformen der europäischen Offiziere, auf deren helle Gesichter die Tropenhelme aus Kork schwarze Schatten warfen. Kokaina? Sie war nicht da. Er würde sie sofort erkannt haben an ihrer weißen Gestalt, die von der leuchtenden Scheibe ihres Sonnenschirms vergoldet war. Nachdem die Formalitäten der Landung erledigt waren, schlug er die Straße ein, die sich direkt vor ihm öffnete: zur Linken das Berberdorf, zur Rechten das europäische; im Hintergrund ragte in den roten Himmel ein Minarett, das aus einer Art Oase aufstieg. Senegalesische Soldaten, in Khaki gekleidet, Europäer, Bazare von arabischem Typ; mit Tressen überladene Unteroffiziere; friedliche Menschen; Schwarze von unbestimmbarem Alter, die auf Blättermatten vor dem tukul sitzend gelassen ihr nargileh rauchten. Zwei Neger kamen auf Tito zu und erboten sich in einem erstaunlichen Französisch (eine Sorte von Französisch, wie die Kalabresen, die es nicht können, es sprechen), ihm für ein paar Soldi die Schuhe zu putzen und ihn zu rasieren. Ein paar Schritte weiter sah er einen anständig gekleideten Mann, auf einem Stuhl sitzend, die gleichen Belästigungen von seiten eines Barbiers und eines Schuhputzers erdulden. Berberweiber mit hängenden, nach rückwärts über die Schultern geworfenen Brüsten, um den Hunger und die Ungeduld ihrer in ein Wickel eingebundenen Negerkindchen zu befriedigen. Und die kleinen Würmer saugten die Milch an der Brust, vielmehr am Rücken der Mutter, mit derselben gleichgültigen Teilnahmslosigkeit, mit der ihre Väter, auf die Matten gekauert, ihr nargileb rauchten. Ein Bübchen von vier oder fünf Jahren, splitternackt, heftete sich an seine Sohlen: «Mossié, moà avoàr belle mere dormir avec vous, dix francs.» Tito versuchte, ihn loszuwerden. «Mossié, moà avoàr très belle soeur sept ans, dormir avec vous vingt francs.» Ein von der Vorsehung gesandter Europäer befreite ihn von dem lästigen Bübchen. Er war der Inhaber eines eleganten Teehauses, das mit ganz jungen Berbermädchen versehen war, das älteste sechzehn Jahre alt; er setzte ihm auseinander, daß die Berberinnen die aufregendsten Frauen der Welt seien, denn sie hätten kochendheißes Blut; sie rasierten sich jeden Morgen mit einem halbmondförmigen Messer und besprengten sich mit Rosenwasser. «Wenn Sie erst einmal eine Berberin gehabt haben», sagte der Kuppler, «gefällt Ihnen danach
keine andre Frau mehr.» «In diesem Fall wäre es eine Unklugheit, sich an sie zu gewöhnen, in Anbetracht der Tatsache, daß es in meiner Heimat keinen Überfluß an Berberinnen gibt. Könnten Sie mir nicht lieber das beste Hotel der Stadt nennen?» «Gewiß: Hôtel République Française. Können wir also nichts vereinbaren? Der Herr würde sich wohl dabei befunden haben. Auf alle Fälle hier meine Visitenkarte. Und wann immer Sie mich beehren wollen...» Tito nahm die Karte. Der Mann war in seiner Beharrlichkeit so freundlich gewesen, daß Tito ihm nicht mit einem schroffen Nein antworten mochte. So verabschiedete er sich von ihm wie vierzehn Tage zuvor von dem befreundeten Mönch, der ihn durchaus zu Gott hatte zurückführen wollen: «Ich will darüber nachdenken.» Der vielsprachige Portier erklärte ihm, daß Miss Maud Fabrège in der Tat das Hotel mit ihrer Gegenwart beehre und die Zimmer neun und siebzehn bewohne. Tito rechnete: neun und siebzehn - sechsundzwanzig; dividiert durch zwei macht dreizehn. Bringt Glück. «Mein Liebling, du kommst in einem schlechten Augenblick. In einer Stunde muß ich im Offizierskasino sein, wo mir zu Ehren ein Empfang stattfindet; und das Rot an meinen Lippen will durchaus nicht haften! Es ist so furchtbar heiß in diesem Land. Pierina, in dem flachen Koffer sind noch viel feinere Strümpfe; siehst du denn nicht, wie dick diese sind? Die sind gut zum Schlittschuhlaufen auf dem Eis. Einerlei: gib mir, welche du willst, nur mach schnell.» Während Pierina vor ihr kniete, um ihr die Strümpfe aus- und wieder anzuziehen, betrachtete sie Tito. «Ich sehe, daß es dir gutgeht. Du hast mir noch keinen Kuß gegeben. Wenn ich zurückkomme, will ich dir viele, viele geben, aber jetzt nicht; dieses Rot will absolut nicht haften. Bin ich sehr häßlich geworden?» «Durchaus nicht.» «Du willst es nur nicht sagen, aber ich weiß es. Und trotzdem, sieh: dort auf dem Tischchen liegt ein Telegramm.» Tito nahm das Telegramm. «Lies es laut.» Tito las: «Barbamus Falabios Tagiko Ramungo Bombay 200000 Vigaros Wolff.» Und er fragte: «Ist das Esperanto?»
«Nein. Du kennst nicht das Lexikon der telegrafischen Abkürzungen; das ist ein im Handel gebräuchliches Buch. Der Absender des Telegramms ist ein reicher Teppichhändler in Bombay, namens Wolff. Und dieses Barbamus Falabios usw. will besagen, wenn ich sofort zu ihm käme (Falabios heißt, ich habe das dringende Bedürfnis), würde er meine Ramungo, das ist meine kostbare und anmutige Ware, mit zweihunderttausend Francs, zuzüglich der Hin- und Rückreise, bezahlen.» «Und was hast du ihm geantwortet?» «Daß die Ramungo sich aus dem Geschäft zurückzieht. Der Ärmste, es wird ihm sehr nahegehen, denn er liebt mich; aber ich kann ihn nicht mehr ertragen, weder ihn noch die anderen Männer. Der einzige, den ich noch ein bißchen liebe, bist du; dich habe ich lieb wie einen Bruder, wie einen Sohn. Und sämtliche Barbamus Falabios schicke ich zum Teufel. Ich habe auf diesen verzichtet, der sogar geneigt gewesen wäre, mit mir zusammen in Italien zu leben; er hatte zu mir gesagt: „Von Bombay aus besuchen wir Persien, Arabien, Syrien, die Nordküste von Afrika, und dann gehen wir nach Italien; das ist die Reise, die die Schwalben machen, wenn sie zurückkehren.“ Denn mein Händler ist auch ein Poet. Jetzt ist es vier Uhr. Um halb sieben bin ich wieder im Hotel; wir speisen dann zusammen. Danach tanze ich auf dem französischen Konsulat. Dorthin begleitest du mich. Auf Wiedersehen.» Tito sah sie mit einem Wiegen der allzu üppigen Hüften die von Staub und Sonne rotglühende Straße überqueren. «Pierina, glaubst du, daß du mir vermittelst deiner Protektion ein Bad verschaffen könntest?» «Ich kam gerade, um Ihre Befehle in Empfang zu nehmen», antwortete ein fast pariserischer Kellner. «Aber es dauert ein Weilchen, Herr.» «Um es zu heizen ?» «Um es abzukühlen.» Als der Eisblock geschmolzen war, stieg Tito in das Bassin und blieb eine Stunde darin. Dann zog er sich langsam, langsam, langsam wieder an, von Zeit zu Zeit ein mit Eis gekühltes, grünliches Getränk schlürfend. Maud Fabrège, danseuse, kam erhitzt und mit Rosen beladen wieder nach Hause. Der Konzertsaal des Gouvernementspalastes hatte eine Decke, die wie ein tiefblauer Himmel wirkte, so reich mit Sternen besät, als ob man sie vom ganzen Firmament zusammengekehrt hätte, um sie auf diesem kleinen Rechteck zu vereinigen. Als Tito ziemlich unbemerkt eintrat, war das geladene Publikum schon versammelt; europäische Offiziere, von der Sonne so gebräunt, daß man sie, wären sie durch ihre goldgalonierten Khakiuniformen nicht unterschieden gewesen, leicht für Eingeborene hätte halten können;
feierlich in ihre weißen weiten Gewänder eingehüllte Würdenträger; einige trugen den seidenen Turban, geschnürte Gamaschen, den inoffensiven Dolch in weißer Hülle. Die nackten Arme der Damen, von denen einige verschleiert waren, hingen auf der reich drapierten, rauschenden Seide. Von all diesen Männern und Frauen strömte eine drückende Hitze aus und stieg in die Höhe, als wollte die Erde dem Himmel die von ihm empfangene Wärmeenergie zurückerstatten. Auf dem kleinen, von Pfauenfedern und Palmen umgebenen Podium bewegte sich ein kleines Orchester von schwarzen Cellisten, von einem beinah weißen Kapellmeister in beinah modernem Smoking dirigiert. Die Diener des Gouverneurs liefen hin und her, um auf klappernden Tabletts zerlaufenes Gefrorenes herumzureichen. Die Hitze der Tropen und das Kolonialmilieu wirken in den Reproduktionen, die man in Paris in den unterirdischen nächtlichen tabarins bietet, viel sympathischer. Tito las das Programm; und da vor Mauds Nummer ein englischer Zauberkünstler, ein ägyptischer Magnetiseur und eine deutsche chanteuse sich produzieren sollten, ging er auf die Straße hinaus. Auf dem kleinen dunklen Marktplatz roch es nach verfaulten Früchten und Gemüsen. In einem Café, wo er sich einen geeisten Tee bestellte, fand er eine Marseiller Zeitung. Neben ihm wartete ein senegalesischer, mit Medaillen und goldenen Hieroglyphen überladener Sergeant, daß sein Absinth sich gelöst hätte; ein französischer Soldat, Typus des schnoddrigen Straßenlümmels, trat mit ungenierter Dreistigkeit ein und setzte sich. Der senegalesische Sergeant stand auf und verwarnte ihn: «Porquoi ti pas saluer moi?» Und der Pariser Soldat, einen verächtlichen Blick auf den galonierten Neger werfend: «Foutezmoi la paix, vieux con!» «Et ça? Et ça?» protestierte der senegalesische Unteroffizier, auf die Rangabzeichen deutend, die seinen Ärmel verzierten. «Ça? Ça c'est de la merde de pigeon!» antwortete der Pariser. Und er bestellte sich ein Glas Bier. Der Unteroffizier mit den vielen Rangabzeichen und den vielen Medaillen fand darauf keine Antwort und ging an seinen Tisch zurück, wo sich sein Absinth inzwischen völlig gelöst hatte. Und er trank ihn mit tropischem Ernst. Tito ging wieder auf die Straße. Aus einer Art Hütte drang der Ton von Gitarren und Kastagnetten, die den Gesang einer spanischen Dirne begleiteten: «Dónde vas con mantòn de Manila? Dónde vas con vestido chinés?»
Eine Art von Regisseur lud ihn mit öliger Dringlichkeit ein, in das Variete einzutreten. Die Vorstellung hätte eben erst begonnen. Ein Junge verkaufte ihm Orangen. Alles in Afrika hat den Geschmack von gekochten, verbrannten Sachen; die Blumen riechen wie getrocknete Exemplare in einem Herbarium; das Fleisch der Frauen schmeckt nach Suppenfleisch; und wenn man in eine Frucht beißt, hat man im Mund den warmen, süßlichen Geschmack von Kompott. Er ging die Straße zurück und trat wieder in den Konzertsaal des Gouvernementspalastes. Die deutsche chanteuse, blond wie Zabaglione, sang auf die Musik der Lustigen Witwe die melancholischen Verse von Alfred de Musset: «... Quand je mourrai, Plantez un saule au cimetière.» Das Publikum, die eingeborenen intellektuellen Damen klatschten enthusiastisch und schwitzend. Dann kam Mauds Nummer. Nie hatte Tito sie so schön gesehen. Sie wand sich in einem neuen Tanz, dessen Rhythmus durch das Klopfen der Holzabsätze auf dem widerhallenden Podium unterstrichen wurde. Ihr ganzer Körper schien aus den Gelenken gelöst, und ihre weichen, fast knochenlosen Arme hoben sich gen Himmel, gegen dieses Rechteck des afrikanischen Himmels, auf dem die Sterne des Weltalls sich versammelt hatten, um sie zu betrachten; ach, diese Arme von Maud, wie sie sich in ihrer wundervollen Nacktheit erhoben, sich dehnten, sich den Sternen entgegenstreckten! Sie ist ein weiches, ein elastisches Ding, das sich nach rechts, nach links, nach vorn biegt, mit der Geschmeidigkeit einer Lilie, deren Blüte so schwer ist, daß sie den vom Duft betäubten Körper bis zur Erde niederzieht. Auf Brust und Armen und Knöcheln glänzen Schweißtropfen, und von den aufgelösten Haaren rieseln Rosen und Haarnadeln; sie lächelt und zeigt dabei ihre blendend weißen Zähne und zwei große, erstaunte Raubvogelaugen. Von den Lippen tropft mit dem Schweiß die rote Schminke: es scheinen Blutstropfen zu sein; die schwarzen Flecke der Achselhöhlen glänzen, wie sie nie geglänzt haben, nicht einmal in den Nächten krampfhafter Verzückung. Und die Tänzerin fährt fort, sich zu wiegen und sich hin und her zu beugen, wie ein vom Sturm gepeitschter Lilienstengel. Die Schlangenwindungen wechseln ab mit den trägen Bewegungen der verliebten Katze; in ihrem Blick leuchtet plötzlich ein böses Licht auf, um alsbald einem Lächeln von schmeichelnder Süße zu weichen. In ihren Augen wechseln Lüsternheit, Laune, Grausamkeit, Verbrechen. Tito entsann sich, einen Tanz wie diesen in einer fernen, fernen Pariser Nacht während einer weißen Messe in der Villa von Kalantan in den Champs-Élysees gesehen zu haben. Wie alles sich
erneut, wie das gleiche immer wiederkehrt! Kokaina kniet nieder, lehnt sich nach rückwärts und verharrt in der Schwebe, als wolle sie ihr Geschlecht dem Publikum anbieten. Sich wieder erhebend, verfinstert sich ihr Blick; und sie lacht. Ein plötzlicher Zorn packt sie; sie schlägt wütend mit den Absätzen und empört sich, als ob etwas Unreines sie beschmutzt hätte; und dann kauert sie sich zusammen, erhebt sich wieder, windet sich, lächelt zum Himmel hinauf; kurze Zeit steht sie unbeweglich und starrt in die Sterne, wie ans Kreuz geschlagen durch das Wunder, steht wie ein lebloser Körper und erhebt sich nur, um sich zu bedanken und all diesen Leuten zuzulächeln, die mit schwarzen Händen und unverständlichem Schreien applaudieren. Tito sah nichts als violette Nägel auf Hunderten von schwarzen Händen, die sich bewegten. Auf der Straße eine Reihe von Automobilen, alles alte Modelle. Aus dem Haus strömten die weißen Burnusse, die Turbanträger, die nackten Arme, die Khakiuniformen, die Musikanten, der ägyptische Zauberkünstler mit einer Art von Gattin, die unterm Arm den Kasten mit den Instrumenten schleppte; die lichtblonde deutsche Sängerin, in einem Schwarm ausgehungerter Offiziere; und zuletzt Maud, ganz allein. Die brennende Hitze hatte sich gelegt; vom Meer drang eine feuchtfrische Brise. Tito nahm seine Kokaina um die Taille, und sie schritten auf einen weißen Punkt zu, die Moschee, die von einer Art Oase eingefaßt war; von dort nahmen zwei endlose Karawanenwege ihren Ausgang. Sie schritten in die Nacht und in die Einsamkeit (die letzten Hütten hatten sie hinter sich gelassen), mit der Beschwingtheit von zwei jungen Menschen, die ihren ersten Spaziergang machen an dem Abend, an dem sie sich ihre Liebe erklärt haben. Aber auf ihnen lastete eine verhängnisvolle Todesahnung. «Ich habe Buenos Aires verlassen, um nach Italien zurückzukehren, und ich habe heute abend zum letztenmal getanzt. Ich bin nicht mehr schön; ich habe etwas Geld zurückgelegt; ich will mich in mein Haus zurückziehen, in jenes nach dem Hof gelegene Stockwerk, wo der Duft aus den Küchen der Reichen in mir den leidenschaftlichen Wunsch nach Wohlleben erregt hat. Erinnerst du dich daran? Vielleicht finde ich noch irgendeinen Mann, dem ich nicht mißfalle; vielleicht sterbe ich einsam; mein Leben steht an einem Scheideweg wie diesem hier: zwei große Straßen, die in Gott weiß welche Teile von Afrika führen. Ich glaube, welche von ihnen immer ich wählen würde, beide würden mich früher oder später, von der Sonne versengt, dem Tode entgegenführen.» So sprach trost- und hoffnungslos die Frau. Tito aber hatte niemals an die Hoffnungslosigkeit der Menschen geglaubt. Im Grunde sind wir alle Optimisten. Es gibt Leute, die «eine aufrichtige
Liebe» in den Zeitungsannoncen suchen. In dem Maß, in dem die Zeit vergeht, entwickelt sich in uns eine Fähigkeit der Angleichung, ähnlich der, die bei den Blinden die Organe des Gehörs und des Tastsinns zu höherer Entwicklung bringt. Mit dem Älterwerden lernen wir, uns zu akkommodieren. Künstler, die sich bei den ersten grauen Haaren für erledigt halten, werden, wenn sie einen weißen Bart haben, finden, daß sie noch ganz jung seien; Frauen, die mit dreißig Jahren aufrichtig darauf verzichten zu heiraten, hoffen mit fünfunddreißig wieder, doch noch einen Mann zu finden. Bei den allerersten Runzeln sagen sie: «Ich bin häßlich, kein Mann sieht mich mehr an.» Aber zehn Jahre später sind sie überzeugt, daß sie noch verheerende Leidenschaften entfesseln können. Der letzte Geliebte einer Frau zu sein, ist ein Ding der Unmöglichkeit; denn sei sie noch so alt, noch so häßlich, immer wird sie glauben, nach dir noch einen anderen Mann zu finden. Aber Kokaina fuhr fort: «Ich habe dich gebeten, mir nach Dakar entgegenzukommen, weil ich den letzten Abschnitt meiner Heimreise mit dir gemeinsam machen wollte. Der Brief, in dem du mir von deinem so traurigen und so einsamen Turiner Leben erzählt hast, hat mir viel Kummer bereitet. Du sprachst darin vom Sterben. Auch ich wäre bereit zu sterben.» Kokaina sprach diese Worte in ruhigem, niedergedrücktem Ton, während sie einen ihrer weichen Arme Titos glühendheißer Hand überließ. Sie schritten auf gut Glück hinaus ins Freie; die öden Unendlichkeiten sind weit mühseliger als die verworrensten Labyrinthe. Eine Patrouille von Soldaten, aus der Dunkelheit auftauchend, machte halt. «Geben Sie acht», sagte der Korporal in einem leidlich guten Französisch. «Bald wird der große Westafrika-Expreß hier durchfahren, und Sie sind ganz nah an den Geleisen. Das ist ein Zug, der einen immer überrascht; er rückt einem auf den Leib, ohne daß man ihn hört, denn in dieser Einsamkeit gibt es nichts, was die Geräusche auffängt und zurückwirft.» «Danke», sagte Tito. «Pas du tout, mon prince. Bonne nuit à la dame.» Und die Patrouille verschwand. An diesem Abend hatte Tito Kokaina so schön gefunden wie nie zuvor und so begehrenswert, wie sie ihm nie erschienen war. Diese wiedererstandene Schönheit hatte ihm neben der Freude einen neuen Schmerz verursacht. Er fühlte, daß, um ihr letzter Geliebter zu sein, er sich noch geraume Weile würde gedulden müssen, ehe die Zerstörung vollendet wäre. Kokaina sah sich häßlich, Kokaina fühlte sich alt; aber ihm schien das noch nicht genug, um niemandem mehr zu gefallen. Noch konnte Tito nicht die Genugtuung haben, der letzte zu sein. Der letzte!
Morgen würde man ihr einen neuen Empfang anbieten im Hause des Hauptsteuereinnehmers; Donnerstag würde sie auf dem englischen Konsulat eingeladen sein; Samstag wurde sie in der Villa eines reichen eingeborenen Kaufmanns erwartet. Morgen oder übermorgen würde Mauds nordischer Duft in dieser bis zum Widerwillen von dem Wildengeruch der Negerinnen übersättigten europäischen Kolonie neue Begierden entfesseln. Und Tito war überzeugt, daß die eben von Maud geäußerten Vorsätze von Entsagung beim ersten Lächeln eines eleganten Europäers sich verflüchtigen würden. Das fühlte Tito. Aber Kokaina, krank im Willen und müde in den Nerven, war wie eine passive Masse, die sich durch irgendeinen etwas stärkeren Willen formen lassen würde. «Du hast gesagt, daß du bereit wärest zu sterben», murmelte Tito. «Du hast gesagt, daß du dich als Frau erledigt fühlst, daß du nichts mehr vor dir siehst. Auch ich bin nur noch ein wandelnder Leichnam. Auch ich sehe keinen anderen Weg mehr als den des Todes. Wenn ich dir vorschlüge, heute nacht mit mir zu sterben: würdest du einwilligen?» Kokaina wartete einen Augenblick. Ein Stern bewegte sich am Horizont; die Frau schnellte zurück, als wäre sie von jemandem berührt worden. Titos Augen glänzten wie damals, wenn er von jenem weißen Pulver, das ihm der lahme Händler im Cafe von Montmartre verkaufte, berauscht war. «Wärst du bereit zu sterben?» «Ja.» «Mit mir?» «Ja.» «Auch sogleich?» «Auch sogleich.» «So schlage ich dir den allerherrlichsten Tod vor, einen, der die tollste Erregung verschafft; binnen kurzem wird hier, auf diesen Geleisen, der Expreßzug der Westafrika-Linie vorbeikommen. Das ist ein Zug, der seit Tagen fährt und noch viele Tage lang fahren wird, und der blindlings seinen Weg macht, ohne zu sehen, wohin er fährt, ohne zu sehen, was er mit sich reißt; die Maschinisten schlafen auf den Bremsen ein und fahren, fahren auf den schnurgeraden Schienen Tag und Nacht...» «Und von diesem Zug möchtest du dich zerstückeln lassen?» «Ja.» «Aber merkst du denn nicht, Tito, daß du gar nicht wie ein Mensch von dieser Welt, sondern wie eine Romanfigur sprichst? Du bist exaltiert.»
«Ja. Die Exaltation, der Rausch ist nichts anderes als eine Hand, die das Schicksal uns reicht, ein Stoß, den es uns versetzt, wenn unsere Willenskraft nicht mehr ausreicht. Die afrikanische Nacht, dein Schweiß, deine Stimme, alles das zusammen führt mich über mich hinaus; und auch dein Zweifel am Leben gibt mir Mut zum Sterben. Stell dir vor, wie aufregend es ist, sich hier auf diese endlosen Geleise zu werfen, mit den Wangen auf dem kalten Stahl zum letztenmal das Verschmelzen unserer vor Angst bebenden Körper zu spüren. Jedes Licht, das wir aus der Ferne auftauchen zu sehen glauben, jedes Geräusch, das wir zu hören glauben, wird uns in einen Wahnsinnszustand versetzen, lang wie die Ewigkeit. Und endlich hören wir in der engen Verschlingung unserer Körper, die die allertollste unseres ganzen Lebens sein wird, das Heranbrausen des Zuges, wir sehen seinen Schatten näher kommen, wir ducken uns zusammen wie geprügelte Hunde, aber die schwarze Sache ist über uns, sie wirbelt uns durcheinander, sie zermalmt uns, sie vermischt für immer unser Blut. Bedenke, daß weder du noch ich fortan etwas vom Leben zu erwarten haben. Wir sind müde. Wir sind wie tot. Komm, komm, daß ich dich noch ein letztes Mal küsse.» Und bei diesen Worten, die Tito mit grenzenloser Leidenschaft ausgesprochen hatte, schlang er beide Arme um Maud und zwang sie, die beinahe ohnmächtig war, sich hinzuknien, sich zu setzen, sich auf der Erde auszustrecken. Der Himmel war eine vollkommene Muschel; man sah seine Ränder ein genaues Rund beschreiben, wie wenn man auf hohem Meer ist. Kokaina war bleich, die Stirn in Schweiß gebadet, die Augen unwahrscheinlich weit geöffnet, als ob sie das Angesicht des Todes über sich sähe. Es war Titos Gesicht, der über ihr liegend sie mit krampfhafter Gewalt auf Mund und Augen küßte. Unter ihrem Kreuz spannte sich der endlose Schienenstrang wie eines Messers Klinge. Das aus dem Boden hervorragende Ding aus glattem Eisen schnitt schmerzhaft in ihren Rücken, denn sie wurde mit dem ganzen Gewicht ihres eigenen Körpers und dem Körper von Tito, der auf ihr lag, darauf niedergepreßt. «Kokaina!» stöhnte Tito, ohne einen Augenblick aufzuhören, ihre Wangen zu küssen, ihr den Mund zu zerbeißen, «Kokaina, es sind unsere letzten Minuten. Sage mir noch, daß du mich liebst.» «Ich liebe dich!» stöhnte mit hinsterbender Stimme die Frau. «Ich will dich!» röchelte Tito, der sie mit dem Druck seines Mundes erstickte und sie in seine Arme preßte, als ob er sie töten wollte. «Ich will dich! Ich will sterben, während ich dich zum letztenmal nehme. Ich will dein letzter Geliebter sein.» «Ja!» schrie sie. «Nimm mich!» Tito zerriß mit zitternden Händen ihre leichten Gewänder, er entblößte sie vollständig, und als er sie ganz nackt sah, fing er an, sie wie ein Wahnsinniger über und über zu küssen, den ganzen
Körper, die Brust, die Augen, die Achselhöhlen, mit seinen Zähnen ihr Haarbüschel ausreißend und an ihrem Fleisch, das unter seinen Bissen schwitzte und blutete, saugend. «Nimm mich!» keuchte sie noch einmal. In einem Augenblick waren die beiden Körper ineinander gedrungen, verschmolzen zu einem einzigen. Sie sah über ihrem Gesicht das keuchende, dunkel gerötete Gesicht von Tito, eingerahmt von den Sternen und dem Blau des Himmels; sie fühlte sich zerdrückt zwischen den harten Stahlschienen und der röchelnden Last des Mannes, der in dieser äußersten Not die Glut seines ganzen Lebens und die Raserei seiner ganzen Leidenschaft hingab. Der Sterbende litt, wie er nie gelitten hatte, denn dieses war das letzte Mal. Sie vibrierte, wie sie nie vibriert hatte, denn sie hatte nie einen Reiz empfunden, der wunderbarer war als der Tod. Das Gesicht des Mannes war ein einziger Muskelkrampf; sein Mund schäumte, seine Augen glänzten wie Email, und sein Rhythmus war so heftig, als ob er sie nicht mit seinen Sinnen nähme, sondern als ob er sie mit einem Messer durchbohrte. Aber plötzlich ächzte er langsamer; er hielt inne; der Krampf löste sich; die Stirn hellte sich auf, die Augen verloren den furchtbaren Glanz, und alle Muskeln entspannten sich. Der Druck der grausamen Arme erschlaffte, er erhob sich. Kokaina lag noch in derselben Stellung ausgestreckt. Es war nichts Schamloses in ihrer leblosen Nacktheit, in dieser ungeheuren Nacht, unter dem keuschen Glanz der Sterne, unter dem blauen Alkoven der Unendlichkeit. Aber ihr Geliebter, ihr letzter Geliebter, spähte nach Süden, sah auf den glänzenden Schienen einen schwarzen Schatten näher kommen. Da nahm er die nackte Frau auf seine Arme und setzte sie auf das trockene Gras, wenige Schritte von den Geleisen entfernt. Der große Westafrika-Expreß tauchte auf, raste vorüber, verschwand, mit der großen Luftmasse einige Fetzen der zerrissenen lingerie mauve mit feinen Organdi-Plissees mit sich fortwirbelnd. Kokaina öffnete die Augen und sah das schwarze, schnaubende Ungeheuer mit seinen Lichtern in die Nacht stürzen und verschwinden, die glänzenden, endlosen Stahlschienen hinter sich lassend. Der Zug stieb Funken. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, war Tito ihr beim Ankleiden behilflich, steckte mit Nadeln notdürftig die zerrissenen Kleider zusammen, und sie schlugen den Weg nach der Stadt, nach dem Hotel ein. Auf der Schwelle ihres Zimmers küßten sie sich noch einmal.
Am nächsten Nachmittag, während Maud auf einem neuen, ihr zu Ehren gegebenen Empfang ein Bananengefrorenes schlürfte, schiffte sich Tito auf einem direkt nach Genua gehenden Dampfer ein. Im Augenblick der Abreise, als die Schiffsschrauben anfingen, die melancholisch-heitere Romanze des Lebewohls zu singen, fand Tito, als er die Hand in eine Tasche seines Reiseanzuges versenkte, eine Visitenkarte. «Wer ist das doch? Wo bin ich dem begegnet?» Und dann erinnerte er sich. Es war der Europäer, der bald nach seiner Landung ihm das Lob der Berberweiber gesungen und ihm erklärt hatte, er habe einige zu seiner Disposition, die älteste von ihnen sechzehn Jahre alt. Tito las lächelnd die Karte. Und er dachte: «Wenn ich auf den gehört hätte, so wären mir meine Selbstmordgedanken schnell vergangen. Meine Eifersucht war auch in diesem letzten Falle das Produkt der langen Abstinenz, der aufgespeicherten Begierde.» Und er erinnerte sich, daß er sich in der vergangenen Nacht, als er mit Kokaina, nachdem er sie auf den Eisenbahnschienen besessen hatte, ins Hotel zurückkehrte, viel heiterer gefühlt hatte. Er hatte daran gedacht, daß sie sich am nächsten Tag vielleicht anderen hingeben würde, und er hatte nicht darunter gelitten. Dakar lag schon weit hinter ihm, und Tito, am Achterschiff stehend, rief sich die Zeiten ins Gedächtnis zurück, in denen er zu Kalantan gestürzt war, um in ihrem Fleisch die Eifersucht zu ersticken, die Maud in ihm entfacht hatte. Seit damals wußte er, daß Eifersucht ein physisches Phänomen ist, ein Phänomen der Keimdrüse. Er wußte, daß die Eifersucht verschwindet, sobald diese Keimdrüse sich entleert hat. Aber manchmal, allzuoft, hatte er es dennoch wieder vergessen. Jetzt waren seine Sinne beruhigt, denn in der vorigen Nacht hatte er, unter dem Hauch der nächtlichen Brise und unter dem Atem des Todes, auf jener Stahlschiene ohne Ende seine ganze Eifersucht ergossen. Aber jetzt? Jetzt, wo der Dampfer sich entfernte, jetzt, wo die Jahreszeit, der aufregende Duft des Meeres, die Erinnerung, die Erotik, von der die Korridore, die Säle, die Kabinen der Transatlantik-Liner geschwängert sind, seine Begierde und seine Eifersucht wieder neu beleben würde; jetzt, wo er wie nie zuvor auf Mauds Fleisch gewütet hatte, jetzt, wo er sie zu erneuter Schönheit hatte erblühen sehen, jetzt, wo er sie so wunderbar hatte tanzen sehen, jetzt, wo sie ihm gefiel, wie sie ihm nie gefallen hatte; wie sollte er da weiterleben?
Und jetzt, wo er versucht hatte, mit ihr zu sterben, wie sollte er den Mut finden, dem Tod allein ins Auge zu blicken? Wieder sah er in Richtung Dakar zurück. Aber man konnte nichts mehr erspähen. Das Schiff war inmitten des Ozeans, und das Firmament spannte sich über ihm, ein kreisförmiger Rundhorizont, so wie er ihn am Abend zuvor gesehen hatte, gewölbt über ihn, über Kokainas Stirn, die tödlich erblaßt war, über ihrer letzten Umarmung. Und auf das Meer hinaus rief er den süßen Namen: «Kokaina!» Kokaina, weiß wie das Pulver, das berauscht und tötet; Kokaina, passives Weib, unverantwortlich wie eine Sache, wie eine Fingerspitze voll Gift, das niemand sucht, aber das tötet, wenn man es verschluckt; Kokaina, willenloses Wesen, das eingewilligt hatte zu sterben, als Tito es ihr vorgeschlagen hatte, und das sich gefügt hatte, weiterzuleben, als Tito nicht mehr sterben wollte; Kokaina, die sich allen gegeben hatte, die sie nehmen wollten, die sich niemandem verweigert hatte, weil es eine Mühe ist, sich zu verweigern; Kokaina, weibgewordenes, weißes, köstliches Gift; das Gift unserer Zeit, das Gift, das uns in den süßesten Tod hineinschmeichelt. Tito hatte das Glück, auch diesmal ein wildbewegtes Meer zu erleben, das ihn nötigte, bis zur Ankunft in Genua in seiner Kabine zu bleiben. Und da es, wenn ein Unglücklicher sich übel befindet, am besten ist, ihn allein zu lassen, so bitte ich den Leser, einen Augenblick aus der Kabine herauszukommen, um so mehr, da ich ihm etwas zu sagen habe. Die Sache ist die: Der große Westafrika-Expreß, den ich Dakar habe passieren lassen, existiert nicht. Aber das ist nicht meine Schuld. Ich wollte ja, daß es ihn geben sollte. Und da wir einmal bei den Konfidenzen sind, will ich gestehen, daß dies Hotel Napoleon auf der Place Vondôme, wo Tito und Maud mehrere Monate wohnten, ebenfalls meine Erfindung ist. Ich hätte ja die Handlung ebensogut ins Hotel Bristol oder in das stereotype und snobistische Hotel Ritz verlegen können; aber ich will keine Reklame für Hotels machen, schon weil die Hoteliers meine Reklame nicht nötig haben. Und so gehen wir wieder in Titos Kabine zurück, der eben im Begriff ist, sein Gepäck in Ordnung zu bringen; denn der Hafen von Genua ist in Sicht.
13 Wie Tito es vorausgesehen hatte, wurde er wenige Tage nach der Trennung erneut von der
Sehnsucht nach Kokaina gepackt. Alle paar Schritte blieb er auf der Straße stehen, um unter geschickten Manövern, die ihn vor der Entdeckung seines Tuns bewahren sollten, die Fotografie der nackten Kokaina aus der Tasche zu ziehen und sie zu betrachten. «Bist du wieder in Turin?» fragte ihn Nocera. «Wie du siehst.» «Und was gedenkst du jetzt hier zu tun?» «Zu sterben.» «Und dort konntest du nicht sterben?» «Ich habe es nicht fertiggebracht.» «Du hast recht, es ist zu heiß in Senegambien. Zu leben macht weniger Mühe.» Nocera pflegte über diesen Punkt zu scherzen, denn er glaubte nicht an Titos Selbstmordpläne. Er hatte zuviel davon gesprochen. Wer entschlossen ist, sich zu töten, schweigt, um nicht seinen Nächsten in die Lage zu bringen, die Tat zu verhindern oder ihr zuvorzukommen. Wer sich umbringen will, tötet sich, ohne es vorher anzusagen. Eines Tages hatte er gesagt: «Ich habe nun alles im Leben probiert: die Liebe, das Spiel, die Drogen, die Hypnose, die Arbeit, den Müßiggang, den Diebstahl. Ich habe Frauen aller Rassen und Männer aller Farben gesehen. Eine Sache kenne ich noch nicht: den Tod. Auch den will ich ausprobieren.» Pietro Nocera, der aus solchen Worten mehr die Lust an der Phrase als eine bestimmte und unumstößliche Überzeugung herauszuhören glaubte, hatte ihm geantwortet: «Spiele nicht den Tragischen, Tito! Sprich nicht von Sterben. Das Leben ist eine Farce, une pochade.» «Das weiß ich, Nocera. Aber da ich mich dabei nicht amüsiere, drücke ich mich vor dem Ende der Vorstellung.» «Auf deinem Leichentuch sind literarische Spritzer», konstatierte Nocera. «Du wirst dich nicht töten. Du sprichst mit zu großer Beharrlichkeit davon; in deinen eigenen Worten suchst du einen Enterhaken, an den du dich klammern kannst, um dir selbst zu beweisen, daß du unrecht hast. Was du mir da sagst, zielt einzig darauf hin, daß ich dich widerlegen soll, damit du mir dann triumphierend antworten kannst: „Was du mir da sagst, ist vollkommen richtig; du hast mich überzeugt, ich bringe mich nicht mehr um.“ Statt dessen, mein lieber Tito, antworte ich dir: Aber ja, du tust recht: töte dich nur.» «Bravo, Nocera! Was ich von dir wollte, war genau diese Ermutigung. Das einzige, worüber ich
noch unschlüssig bin, ist die Todesart, die ich wählen soll. Mich durch ausströmendes Gas vergiften? Das geht zu langsam. Es ist nicht höflich, den Tod so lange antichambrieren zu lassen, wenn wir es sind, die ihn eingeladen haben; man darf ihn nicht durch die Hintertür eintreten lassen, sondern er muß durch das Hauptportal plötzlich hereinbrechen. Das Ideal wäre, auf hoher See zu sterben. Das ist der schönste Tod. In einem Salon der ersten Klasse sein, in einer zauberhaften Nacht, bei einem dieser Ozean-Feste, fiebernd von Musik, von Bläue, von Ferne und von Schnelligkeit. Inmitten dieser milliardären Frauen sein, die tiefausgeschnitten nur mit Bändern und Diamanten bekleidet sind, von schönen, strahlenden Frauen, die sich für diese Gelegenheit mit Juwelen beschwert und an Jahren erleichtert haben. Herren im Frack, die Geschäfte zwischen zwei Kontinenten vermitteln. Trinksprüche, Champagner, ein Orchester, das einen ragtime spielt, eine Tänzerin, die ihre internationalen Formen auf einer von Palmen umgebenen, von Lampen bekränzten Bühne herumwirbeln läßt. Kosmopolitisches Durcheinander: Chinesen, Neger, Mulatten, Kaufleute, Lebemänner, Diplomaten, Kokotten, die den Erdteil wechseln, um ihren Tarif zu erhöhen oder um neue Jungfrauenschaften zu erwerben. Alles Leute, die vom Schicksal, vom Verhängnis unter verschiedenen Vorwänden, aber mit demselben Ziel, dem Tod, auf diesem Schiff zusammengewürfelt wurden. Plötzlich: ein Stoß. Tausende von Existenzen, die aufschreien, einige Revolverschüsse; und das Wasser dringt ein, wirft alle durcheinander, überspült alle, erstickt die Stimmen, schwemmt die Tische fort, bläht die Teppiche auf, löscht alle Lichter. Und schnell sinkt man, ist begraben unter einem Schleier, unter einer charmeuse von blauem Wasser, während du noch die Rhythmen des ragtime, die dir einen herrlichen Trauermarsch bereiten, in den Ohren hast. Ich glaube, ich könnte sterben, fast ohne mich zu wehren; während die anderen sich wie wahnsinnig in den Wellen winden würden, könnte ich, wenn auch nicht gerade mir eine Zigarette anzünden, so doch sicher mit größtem Phlegma ein Stück chewing-gum kauen. Aber was willst du, lieber Nocera ? Ich kann diese Todesart nicht wählen, weil ich an Seekrankheit leide. So muß ich also auf diesen Tod verzichten, aber glaube mir, es wäre elegant, so im Ozean begraben zu werden, ohne diese Demütigung der Verpackung im Sarg und dem Begräbnis in der Erde, in dieser schmutzigen Sache, die man Humus nennt! Du, Nocera, wirst derjenige sein, dem meine Leiche zur Last fallen wird. Ich will verbrannt werden.» «Was für ein Unsinn!» «Ich weiß es. Jean Moreas sagte: „Ich will verbrannt werden, gerade weil es idiotisch ist.“» «Was mich betrifft», meinte Nocera, «so ist es mir ganz gleich, ob man mich in einen Sumpf wirft oder in der Westminster-Abtei beisetzt.» «Mir im Gegenteil», erwiderte Tito, «lacht die Vorstellung, diese Heerschar von unterirdischen
Würmern hinters Licht zu führen, die schon darauf gerechnet hatten, in meinem Leichnam ein Festmahl abzuhalten. Nach dem Tode verspeist zu werden, ist abstoßend. Bei Lebzeiten nicht. Sieh die Auster an, die lebendig verzehrt wird; was für ein nobles Tier! Du übernimmst also die Last meiner Einäscherung; das ist ein interessantes Schauspiel; hast du es nie gesehen? Der Körper scheint noch lebendig, er erhebt sich, er windet sich, kniet, zieht die Arme zusammen, nimmt komisch obszöne Stellungen ein.» «Das ist nicht wahr.» «Wenn du mich verbrennen siehst, wirst du dich davon überzeugen können und wirst mir recht geben. Aber schweifen wir doch nicht ab. Also rate mir eine schöne Todesart.» «Wirf dich aus dem fünften Stockwerk.» «Da kann man leicht auf einen fremden Balkon fallen.» «Wirf dich unter einen Eisenbahnzug.» «Das habe ich schon einmal versucht. Gefällt mir nicht. Und dann diese Verspätungen...» Nocera verlor die Geduld: «Ich weiß nicht, was ich dir raten soll. Wenn man so heikel ist, dann bittet man nicht um Rat und bringt sich nicht um. Man lebt.» Nun begann er allein darüber nachzudenken, und nach langem Besinnen kam er zu folgendem Schluß: «Wenn ich ein starkes Gift zu mir nehme, oder wenn ich mir fünf Revolverkugeln in den Leib jage, ist mir der Tod allzu gewiß. Ich möchte aber ein Mittel wählen, das mir ein Hintertürchen offenläßt, oder um mich genauer auszudrücken, ein Gewaltmittel gegen mich selbst, das dem Schicksal, wenn ein Schicksal existiert und wenn dies gegen meinen Tod ist, gestatten würde, mich zu retten. Wenn ich einige Sublimatpastillen esse, sterbe ich ganz bestimmt; das Schicksal kann dagegen nichts machen, das Los kann nicht anders fallen. Stürze ich mich von der Höhe eines Turms herunter, so zerschmettere ich mir das Gehirn auf dem Pflaster, und weder das Schicksal noch der Zufall, noch der liebe Gott können mich in der Luft aufhalten. Ich will es dem Zufall überlassen, mich zu retten, wenn der Zufall will, daß ich gerettet werde.» Er stellte diese Betrachtungen auf dem Weg zum Krankenhaus an. Er trat durch eine Tür ein, wandte sich an einen Hauswart, atmete den Geruch von Reinlichkeit und von Karbolsäure, stieg einige Treppen hinauf, bog in einen Korridor. Die Doktorin, die er suchte, kam ihm entgegen, mit männlichen Händen und einem Laboratoriumskittel, der die weibliche Anmut der hübschen Ärztin nicht entstellte. Sie waren einmal Kommilitonen gewesen; sie hatten an demselben anatomischen Marmortisch gearbeitet, sie hatten gemeinsam den Weg von einer Klinik in die andere gemacht. Und es hatte auch eine kurze Periode gegeben, in der Tito in die Studentin gewissermaßen verliebt war; wieder
in einer anderen Zeit liebte sie ihn, aber mit einer oberflächlichen Liebe, die mehr aus Neckerei als aus tieferem Gefühl bestand. Die Umstände waren ungünstig für ein gegenseitiges Geständnis. Als Tito die Universität verließ, versprach er ihr, daß sie sich wiedersehen würden. Von Paris schickte er ihr noch eine Ansichtskarte mit dem Eiffelturm, die sie erwiderte mit der Ansicht des Palazzo Carignano (ein Werk von Juvara) und der Frage: «Was treiben Sie Schönes?», eine Frage, auf die er nicht mehr antwortete. «Ja, Arnaudi, wir hätten unserem Leben eine andere Richtung geben können. Ich entsinne mich, wie wir uns eines Morgens gemeinsam zur Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten begaben. Sie hatten mir mit einer gewissen schüchternen Erregung einige liebe Worte gesagt. Es war kalt, die Alleebäume waren kahl und verästeltwie Bronchien auf einer anatomischen Tafel. Plötzlich traten Sie in einen Tabakladen; ich wartete draußen. „Wenn er wieder herauskommt“, dachte ich und nahm es mir vor, „dann sage ich ihm, daß ich ihn liebe.“ Aber als Sie herauskamen, schimpften Sie auf den Staat oder den Tabak oder auf den Laden, und unsere Unterhaltung nahm andere Wege. Und die dermatologische Klinik war in der Nähe. Wir traten ein, und wir sprachen nicht mehr davon.» «Ich würde glücklicher geworden sein!» gestand Tito traurig. «Unsere ganze Existenz kann davon abhängen, ob wir in diese Trambahn oder in eine andere steigen, ob wir in einen Tabakladen eintreten, ob wir eine Minute früher oder später das Haus verlassen. » Tito fügte hinzu, daß alle, die aus zwingenden Gründen ihren Beruf oder ihre Studien wechseln, untröstlich ihren Büchern oder verlassenen Instrumenten nachweinen; es ist wie mit der ersten Liebe: Man vergißt sie nie, weil sie uns als die einzige echte erscheint. Er erzählte ihr, wie sein Leben verbittert wäre durch das Heimweh nach dem Mikroskop, nach den Auskultationen, den Untersuchungen, den Analysen, den Reaktionen. Und er bat sie, ihm die Laboratorien, die Operationssäle, die Instrumente zu zeigen. «Es macht mir wirklich Freude, Ihnen diesen Gefallen zu tun. Wollen wir mit den Krankensälen anfangen?» Sie verließen das Laboratorium, durchschritten eine weiße Vorhalle mit großen, sauber geputzten Fensterscheiben. Schweigende Krankenschwestern. Geruch nach Küche und Desinfektion. Sie schritten durch zwei endlos lange Reihen von weißen Betten, alle gleich, nur durch Namensschilder kenntlich. Sie betrachteten die ganz typischen Fälle, ebenso die seltsamsten Erscheinungsformen. Wie viele verschiedene Krankheiten in diesen ganz gleichartigen Betten, wie viele verschiedene Schicksale in diesen symetrischen, gleichförmigen Gängen! Die junge Frau führte Tito kreuz und quer, bei den interessantesten Kranken verweilend, um ihm die letzten diagnostischen Methoden und die neuesten Behandlungsweisen zu erklären. In der chirurgischen, stark nach Jodoform riechenden Abteilung tröstete eine Schwester einen in Fieberphantasien irreredenden Kranken: «Bedenke doch», sagte sie, «daß dein eines Bein schon im Paradies ist, und daß du nun bald wieder mit ihm vereinigt sein wirst.»
Sie traten in einen anderen Saal. Andere Betten, andere Gänge. Schweigende Krankenschwestern, weiße Hemden, sehr hohe Fenster mit geputzten Scheiben. Im Leichensaal lag auf einem niedrigen Bett der Leichnam eines Hauptmanns, mit seinen Medaillen und dem Degen. Nahe dem Kopf auf einem Kissen seine Mütze. «Ein Hut auf dem Bett bringt Unglück», warnte Tito lächelnd. «Was für ein Unglück könnte ihn noch treffen, jetzt, wo er tot ist?» «Wiederaufzuerstehen.» Sie betraten das Amphitheater. Einige Jahre zuvor hatte Tito auf diesen halbkreisförmigen Bänken gesessen. «Wir haben uns immer auf diesen Platz da gesetzt», sagte das Fräulein. «Erinnern Sie sich noch? Ich hier und Sie zu meiner Rechten.» Sie stiegen ein Stockwerk höher, besichtigten andere Säle, erprobten die Funktion einiger Apparate und gingen wieder zurück ins Laboratorium. In einer großen Vitrine hohe Gläser, mit gelbem Alkohol gefüllt, von denen jedes einen menschlichen Fötus enthielt: von drei Monaten, von vier, fünf, sechs, sieben und acht; einige noch mit dem Nabelstrang, der sie wie eine Locke umwand, andere mit ironischem Ausdruck, andere mit höhnischem Lächeln. Aber alle mit fröhlichem Gesicht und mit einer spöttischen Haltung der Hände, als ob sie sich lustig machten über das Leben, dem es nicht gelungen war, sie einzufangen. Im nächsten Saal standen große Vitrinen voller Röhren mit weißen Rokokoperücken aus getränkter Watte an Stelle der Pfropfen. « Sind das Bazillenkulturen ?» «Ja», antwortete die Ärztin. «Diphtherie, Lungenentzündung, Malaria, Typhus...» und dabei zeigte sie auf die verschiedenen Reagenzgläser, von denen jedes mit einer Aufschrift versehen war. Während sie ihm die Färbung der Bazillen für mikroskopische Versuche erklärte, ging ein Mann vorüber, unter dessen weißem Kittel enorme Füße herauskamen. «Doktor», sprach die junge Frau, sich von Tito loslösend, der allein vor den Bazillenkulturen stehenblieb. «Man hat vom anatomischen Institut aus angerufen; sie brauchen eine weibliche Leiche, womöglich eine junge.» «Augenblicklich habe ich keine», antwortete der Arzt nach kurzem Besinnen, «aber bis heute abend spätestens hoffe ich eine beschaffen zu können. Eine weibliche, sagen Sie? Ich habe, was man benötigt. Antworten Sie dem Professor, daß ich hoffe, ihm heute abend das Gewünschte
schicken zu können.» Und er ging in das andere Zimmer. Tito hatte diese augenblickliche Abwesenheit der jungen Doktorin benutzt, um sich einer der Glasröhren zu bemächtigen und sie geschickt in seiner inneren Rocktasche zu verbergen. Er blieb noch kurze Zeit da und hörte zerstreut und ungeduldig die Erklärungen seiner anmutigen Führerin an. Aber sobald er sich verabschieden konnte, lief er in Eile nach Hause, das Reagenzglas mit der Kultur von außen zärtlich streichelnd. «Typhus! Typhus! Typhusbazillen. Ich trinke all dieses auf einmal. Ich gehe dem Tod entgegen. Der Todesart, die ich suchte. Wenn das Schicksal mich retten will, wird es mir einen Arzt schikken, der fähig ist, mich gesund zu machen.» Er schüttelte die flüssige und schleimige Substanz, goß sie in ein Glas und trank sie aus. Sie hatte einen salzigen und säuerlichen Geschmack. «Bazillenkulturen sind gar kein so übles Getränk.» Und darauf leerte er ein Gläschen Chartreuse. Er nahm die Fotografie der splitternackten Kokaina, betrachtete sie und legte sie wieder zurück. Dann breitete er auf dem Schreibtisch ein Blatt weißes Papier aus und schrieb: «Ich töte mich, weil es mir widerwärtig ist, weiterzuleben. Jeder intelligente Mensch sollte das gleiche tun, wenn er achtundzwanzig Jahre alt ist. Ich will bei meiner Beisetzung keine Priester. Aber da die Priester nicht dem Wohl des Toten, sondern der Lebenden dienen, so will ich, wenn ein Priester dabei sein sollte, auch einen Rabbiner und einen Waldenser-Prediger. Ich habe viel Sympathie für die Geistlichen aller Konfessionen; denn entweder sind sie guten Glaubens, und dann halte ich sie jeder Bewunderung für würdig; oder sie sind ungläubig, und in diesem Falle sind sie bewunderungswürdig wie alle geschickten Betrüger. Ich will im grünen Pyjama, mit den Händen in der Tasche, in den Sarg gelegt werden. Ich verlange eingeäschert zu werden. Meine Asche soll man in die beiden runden, buntbemalten Aschenurnen füllen, die eine soll Pietro Nocera zur Erinnerung an mich bekommen; die andre meine Maud Fabrege. Pietro Nocera vermache ich auch alle meine Bücher und meine Kleider. Meinem Freund, dem Mönch, hinterlasse ich die silberne, vergoldete Monstranz. Maud Fabrege (Maddalena Panardi) meine wenigen Schmuckstücke. Das Geld, das ich zurücklasse, vermache ich dem Tierschutzverein. » Er unterschrieb, setzte das Datum darunter, steckte es in einen so großen Briefumschlag, daß er
die doppelte Menge Speichel dazu benötigte, und schrieb darauf: Mein Testament, sofort nach meinem Tode zu öffnen. Und um seine Melancholie zu vertreiben, ging er aus und sah sich vorsichtig nach rechts und nach links um, um nicht unter einer Trambahn den Tod zu finden. Er sog eine Prise des weißen Pulvers in seine Nase und betrat ein Kino. Aber er sah nichts. «Wenn ich meiner Mutter sagte, daß ich Zahnschmerzen hätte, ließ sie mir den Zahn ausziehen; wenn ich mich über einen Furunkel beklagte, drückte sie ihn mir aus; wenn ich ihr gestand, daß ich einer Frau wegen litte, nannte sie mich ein Dummerchen. Bald nach meiner Geburt ließ mein Vater einen Priester kommen; weil mein Vater zufällig diesen Priester kommen ließ und nicht einen andern, mußte ich zufällig einen Gott verehren anstatt seines Konkurrenten; als ich die Religion wechselte, nannte man mich einen Renegaten, weil der Priester, der für meinen Vater zuständig war, nicht mehr für mich zuständig sein sollte. Von der Knabenzeit an haben sie mir Benehmen beigebracht. Benehmen ist nichts anderes als lügen. So tun als wüßten wir von einer Sache nichts, weil es einem andern peinlich wäre, wenn wir etwas darüber wüßten; einer Person zulächeln, der wir am liebsten ins Gesicht spucken möchten; danke sagen, wenn wir „hol dich der Henker“ sagen möchten. Ein paar Jahre später habe ich mich gegen die Erziehung aufgelehnt und habe die Flagge der Aufrichtigkeit gehißt. Wieder später habe ich erkannt, daß die Aufrichtigkeit mir nur zum Schaden gereichte. Und so bin ich wieder zum Lügen zurückgekehrt. Da wäre es vorteilhafter gewesen, gleich den ersten Lehren zu folgen. Zuerst hatte man mir beigebracht, daß die vox populi, die öffentliche Meinung, wahrhaftig sei; in gewissen Fällen, die mich näher angingen, habe ich auf eigene Faust Untersuchungen angestellt und habe entdeckt, daß die öffentliche Meinung irrte; aber später habe ich meine Forschungen vertieft und habe feststellen müssen, daß die öffentliche Meinung im Recht war. Wenn so und so viele sagen, daß Tizio ein Schuft und Tizia eine Dirne sei, glaubst du ihnen nicht; ein oder zwei Jahre schwörst du auf ihre Unschuld; aber nach dem dritten Jahr eurer Bekanntschaft entdeckst du, daß in ihm ein gut Teil Unredlichkeit und in ihr ein gut Teil Dirnenhaftigkeit steckt. Da hätte man lieber gleich der v ox populi glauben können. Mit zwanzig Jahren hat man mich geheißen, dem König Treue zu schwören, einem Individuum, das König ist, weil sein Vater König war, und weil vor dem sein Großvater es gewesen ist. Ich habe den Eid geleistet, weil man mich dazu gezwungen hat. Hätte man mich nicht gezwungen, so würde ich nicht geschworen haben. Und dann hat man mich hinausgeschickt, um Leute umzubringen, die ich nicht kannte, und die ungefähr ebenso gekleidet waren wie ich. Eines Tages sagte man mir: „Siehst du? Der da ist dein Feind. Schieß auf ihn!“ Ich schoß. Ich traf ihn nicht. Er schoß auf mich. Er verwundete mich. Ich wußte nicht, warum man mir gesagt hatte, daß das eine glorreiche Verwundung wäre.» Und inzwischen lief der Kinematograph. Nach dem Film folgte eine Pause, das Publikum wechselte, und Tito blieb auf seinem Stuhl bewegungslos sitzen und phantasierte. Er hatte das ganze Kokain aus der Schachtel geschnupft. Ein Bediensteter kam, um ihn darauf aufmerksam zu machen, daß er das Stück schon dreimal gesehen hätte, und forderte ihn auf zu gehen.
Auf der Straße fuhr er fort, über die entlegensten und unzusammenhängendsten Dinge zu phantasieren; er dachte daran, daß er nun achtundzwanzig Jahre alt war, das tragische Alter für liebende Männer; man hat nicht mehr die Kraft des jugendlichen Liebhabers, man hat noch nicht das Geld des alten Liebhabers. Er dachte, daß die Frau, die, wenn sie dich liebt, jedes Opfer zu bringen imstande wäre, wenn sie dich nicht mehr liebt, fähig ist, dir jedes Übel zuzufügen, um ihre Bestialität auszutoben, fähig ist, Verleumdungen auszuhecken, Verschwörungen anzuzetteln, sich zur Helferin bei gegen dich gerichteten Intrigen zu machen. Er lachte über die Ideale; auch in den edelsten Bestrebungen klingt der metallische Widerhall des Geldes. Er fühlte alle entschwundenen Emotionen in sich aufsteigen; es gibt keine Liebe ohne Eifersucht, nur Frauen und Kuppler behaupten das Gegenteil. Er dachte sich neue Formen des Selbstmords aus: sich kopfüber von der zweiten Galerie eines Theaters auf die Sperrsitze stürzen. Die Frauen, die sich dem ersten besten gewähren, verweigern sich dem Mann, der sie liebt, an dem Tag, an dem sie ihn nicht mehr lieben. An dem Tag, an dem sie sich dir hingeben, tun sie so, als sei die Gewährung ihres Körpers ein Geschenk aus Himmelshöhen; wirfst du ihnen aber vor, daß sie sich einem andern hingegeben haben, so antworten sie dir, diese Berührung sei ein Zwischenfall ohne Bedeutung. Er ging durch die von Geschäftsleuten frequentierten Cafes. «Ich habe nie verstanden, wie man vom Handel leben kann, das heißt zu hundert verkaufen, was zehn gekostet hat; jedesmal, wenn ich etwas verkaufen mußte, habe ich für zehn hingegeben, was mich hundertundfünfzig gekostet hatte.» Er stellte fest, daß, wenn er noch einmal auf die Welt käme, er Vagabund oder Bettler werden würde. «Geld hat nur insofern Wert, als du es ausgeben kannst. Wenn du arbeiten mußt, fehlt dir die Zeit, das erworbene Geld auszugeben. Man muß reich geboren werden oder stehlen. Was ist das, einen Menschen töten? Fünf Minuten hast du Zeit zu überlegen, auszuführen, zu bereuen, zu vergessen. Und was bedeutet eine schmerzhafte Operation (für den andern), die nicht länger als dreißig Sekunden dauert, im Vergleich zu dem Glück eines ganzen Lebens?» Ab und zu erinnerte er sich daran, daß er an der Pforte des Todes stünde. Die Bazillen hatten ihr wohltätiges Werk schon begonnen. Beim Fortgehen aus dem Leben fühlte er sich müde und gelangweilt wie beim Fortgehen aus dem Bett einer Kurtisane, und er empfand mit Genugtuung, daß er sich immer gelangweilt hätte, glücklich sind die, die sich langweilen, denn sie werden ohne Bedauern scheiden. Und da die treibende Kraft in seinem Leben stets die Frau gewesen war, so kehrten seine schweifenden Gedanken unweigerlich zu ihr zurück. «Ihr grübelt darüber nach», dachte er, «welches die psychologischen, physiologischen, pathologischen, degenerierten Ursachen sein mögen, aus denen eure Geliebte euch betrügt. Aber eine Frau gibt sich in den meisten Fällen lediglich, weil sie ein Paar schöne Strumpfbänder hat, die sie bewundern lassen möchte.»
Er rief sich, aber ohne Schmerz, einige Bruchstücke aus seinem Liebesleben zurück. Kokaina, seine ferne Kokaina, hatte ihm die Verzückung einer Stunde gegeben; nachdem er sie besessen hatte, fühlte er eine Raserei von Schöpfungskraft, einen Enthusiasmus zu leben; aber eine Stunde danach schlich sich die Entkräftung wieder ein, das taedium vitae, die Eifersucht, die Angst, sie zu verlieren, die unheilbare Niedergeschlagenheit. Diese Frau und das Pulver hatten dieselben Erscheinungen einer Vergiftung bei ihm hervorgerufen, die ihn dem Ende entgegenführen mußte. Wenn er dieser Frau nicht begegnet wäre, so würde er jetzt Arzt sein, würde in ein Mikroskop gucken, ohne etwas zu sehen, oder er würde alles sehen. Die blinden Augen eines Dichters wie Homer oder Milton sahen mehr als die schärfsten Präzisionsapparate. Vor seiner Phantasie tauchte Kokainas Bild auf, alt und häßlich geworden, aber geschickt zurechtgemacht. «Mein Unglück kommt von einer Tube Karminrot für die Lippen, von einem Blaustift und einer Schachtel Puder.» Ihn überkam ein vages Gefühl von Reue, daß er die Aufforderung des Mönch-Freundes nicht angenommen hatte. «Asketentum, entstehe es daraus, daß der Mensch nichts wünscht, wie der Eunuch, oder nicht mehr wünscht, wie der heilige Franziskus von Assisi, ist immer ein Zeichen schwacher Vitalität. Ich könnte heute ein Mystiker sein. Mystizismus ist nur Männlichkeit in Liquidation, fehlgegangenes Sperma. Aber warum stelle ich diese phantastischen Betrachtungen an? Ich muß wohl etwas Fieber haben», sagte er zu sich selbst und fühlte sich den Puls, während er den Heimweg einschlug. In einem Schubfach zu Hause fand er ein Thermometer; er klemmte es unter die Achsel: neununddreißig. Er nahm das Thermometer fort, zog einen Schuh aus, dann den anderen, dann das übrige und legte sich ins Bett. Die Krankheit kündigte sich mit den Symptomen einer Angina an: Fieber, allgemeine Schwäche... «Aber wieso Angina? Ich habe Typhusbazillen geschluckt. Es wird also ein abnormer Fall von Typhus.» Er ging das Programm seines Todes von neuem durch: «Ich will dem Schicksal die Weitestgehende Freiheit lassen, mich zu töten oder mich zu retten; ich werde also handeln wie jeder beliebige Kranke; ich werde einen Arzt kommen lassen, ich werde ihm die Symptome erklären, ich werde seine Vorschriften befolgen. Wenn das Schicksal will, daß ich am Leben bleibe, so wird es mich am Leben lassen. Ich werde mich nicht widersetzen. Wenn es will, daß ich sterbe, werde ich dem Tod keinen größeren Widerstand entgegenbringen als jeder gewöhnliche Kranke. Ich werde nicht sagen, auf welche Weise ich mir die Krankheit zugezogen habe. Wenn das Schicksal will, daß der Arzt es erkennt, so wird er es von selbst erkennen.» Er schlief ein paar Stunden unruhig und fiebrig. Als er erwachte, sah er an seinem Kopfende
Pietro Nocera, seine Wirtin und Maud. Maud, die vor ein paar Stunden aus dem Senegal angekommen war, hatte ihn sofort aufgesucht. Beim Anblick der Frau erwachte in Tito ein leiser Wunsch zu leben. Er erinnerte sich, daß man bei Typhus Eisbeutel auf den Bauch legt; und er verlangte, in Erwartung des Arztes, einen Eisbeutel. «Soll ich ihm eine Zabaglione machen, Herr Nocera?» «Ja», gab Nocera seine Zustimmung. «Nein», widersetzte sich der Kranke, der sich erinnerte, daß bei Typhus absolute Diät vorgeschrieben ist. Fasten und Eisbeutel auf den Bauch. Eisbeutel auf den Bauch und Fasten. «Der Arzt ist gekommen», meldete Maud, die die Tür geöffnet hatte. Der berühmte Professor Libani trat ein, ein junger, ultramoderner Gelehrter mit goldenen Haaren, goldener Brille und vielerlei Goldschmiedearbeit an den Fingern und auf dem Bauch. Er setzte sich; ließ sein klinisches Auge auf dem Kranken ruhen; fühlte ihm den Puls, zog die Bettdecke herunter, zog das Hemd herauf, beklopfte, behorchte, betrachtete und setzte sich von neuem, um die Antwort der Wissenschaft in allgemeinverständliche Worte zu übersetzen. Kaum daß Tito den Gelehrten den Mund öffnen sah, so glaubte er ihm ein Wort entschlüpfen zu sehen: Typhus. Statt dessen erklärte der Mann der Wissenschaft: «Sie trinken Ziegenmilch.» «Nein, Herr Doktor.» «Doch, Sie trinken Ziegenmilch.» «Unmöglich, Doktor.» «Woher wollen Sie das wissen? Sie trinken das, was der Milchmann Ihnen gibt.» «Der Milchmann gibt mir gar nichts, weil ich Milch, diese ekelhafte Ausscheidung der Drüsen, verabscheue. Ich habe als Kind, bis zum Alter von zehn Monaten, Milch getrunken, weil man mir nichts anderes gab. Kaum aber hat das Licht der Vernunft mir geleuchtet...» «Das ist gleichgültig», sagte der Arzt mit Ernst. «Sie haben...» Und wiederum erwartete Tito das schreckliche Wort zu hören: Typhus. «Sie haben eine Coli-Septichämie, das heißt eine Blutinfektion. » «Ist das gefährlich?» fragte Maud erbleichend. «Nein», beruhigte sie der Arzt. «Und die Behandlung ist folgende: vor allem den Eisbeutel
entfernen; alsdann geben wir Klistiere mit hohem Druck, um den Darm zu entleeren.» «Klistiere mit was?» mischte sich die Wirtin ein. «Mehrere Liter mit physiologischem Serum, das ist Wasser und Salz. Wenn das Fieber nachläßt, oder wenn es gesunken ist, kann er essen, was er will.» Tito riß die Augen weit auf. «Aber wie denn?» dachte er. «Der Typhus verursacht im Darm eiternde Wunden. Um diese Wunden nicht zu reizen, sie nicht aufzureißen, verordnet man Fasten. Dieser hingegen erlaubt mir zu essen, was ich mag, und verordnet mir Klistiere mit hohem Druck, die meine Gedärme wie einen Reifen aufblähen werden. Aber soll es so sein. Ich will dem Werk des Zufalls nicht entgegenarbeiten. Der Zufall hat mich in die Hände eines Arztes gegeben, der sich in der Krankheit irrt und eine Behandlung anordnet, die derjenigen, die mich vielleicht retten könnte, genau entgegengesetzt ist. Ich werde essen, ich werde die Klistiere nehmen, ich werde platzen.» Für alle Fälle wagte er eine Hypothese. «Entschuldigen Sie, Doktor, könnte es nicht Typhus sein?» «Das muß ich absolut verneinen. Es fehlen alle Symptome von Typhus: Halluzinationen, Betäubung, Schmerzen in allen Knochen; die Milz ist kaum zu spüren, es sind keine Roseolae auf dem Bauch, der Puls ist zu beschleunigt im Verhältnis zur Temperatur. Sie wissen, daß beim Typhus der Puls im umgekehrten Verhältnis zur Temperatur steht, Sie im Gegenteil haben neununddreißig Grad Fieber und hundert Pulsschläge. Aber wenn Sie sichergehen wollen, können wir eine Serumdiagnose machen. Ich komme nachher mit allem Notwendigen wieder.» Er wusch sich die Hände, trocknete sie gravitätisch und ging huldvoll hinaus. Im Vorzimmer besprachen sich noch Nocera, Maud und die Wirtin mit ihm in halblautem Ton, dann kamen sie an das Bett des Kranken zurück, um ihn zu fragen, was er zuerst wolle, essen oder... «Es ist einerlei», sagte resigniert Tito, der die wahre Natur seiner Krankheit kannte und wußte, daß sowohl die eine Sache wie die andere ihm verhängnisvoll werden mußte. «Dann also machen wir diese hydraulische Operation», sagte Nocera, «während die Frau Wirtin dir ein großes Beefsteak à la milanaise bereitet.» «Gut!» akzeptierte stoisch der Kranke. Und mit entschlossener Ergebung legte er sich auf den Bauch, um die zwei Liter Wasser aufzunehmen, die mit glucksendem Geräusch in seinen empfindlichen Darm einströmten. Der kokette Gummischlauch, der von der Wand herunterhing, erinnerte ihn an das nargileh, das er in Dakar von den reichen Negern, die auf einer Matte vor ihrer Hütte saßen, hatte rauchen sehen.
«Jetzt dreh dich um und setz dich auf», entschied Nocera, «denn jetzt sollst du essen.» Der Verurteilte drehte sich um, setzte sich auf und nahm mit seinen Händen das Beefsteak entgegen, wie Sokrates den Schierlingsbecher aus den Händen des Abgesandten der Elf entgegengenommen hatte. Als er es ganz hinunterbefördert hatte, legte er sich auf die Seite und stellte sich mit geschlossenen Augen die Reise vor, die es machte: «Jetzt hat es die Speiseröhre durchlaufen, durchschreitet den Magenmund, tritt in den Magen ein, wird von den . Magensäften festlich begrüßt, wird ein wenig malträtiert von den peristaltischen Bewegungen, tritt aus dem Pylorus, schlüpft in den Zwölffingerdarm, gerät in den Dünndarm, zirkuliert hin und zurück durch den Dickdarm. Wenn mein Fall ein Darmtyphus ist, Gott weiß, wieviel Bazillen es dort vorfindet! Holla! Da sind wir beim aufsteigenden Grimmdarm, dem Blinden. Der Blinddarm mit seinem wurmartigen Fortsatz; Achtung bei diesem Übergang, da ist Gefahr einer Blinddarmentzündung; vorwärts, durch den Quergrimmdarm, den absteigenden Grimmdarm oder Kolon. In Buenos Aires habe ich ein Theater gesehen, das Theater Kolon hieß... Aber ist es möglich, daß mein Beefsteak schon hier angelangt ist? Es hat auf der Reise einige Erscheinungen mit vornehmen Namen angetroffen, die seine Physiognomie verwandelt haben: die Galle, das Trypsin, das Leuzin, das Tyrosin. Und die Bazillen, alle diese lieben Bazillen, die im Feuchten in dem Reagenzglas schwänzelten und die ich getrunken habe, wer weiß, wie die es aufgenommen haben? Sie werden es aufgefressen haben. Wenn es sich so verhält, ruiniert es mir nicht mehr meine geschwächten Gedärme. Jetzt müßte ich schon tot sein. Warum sterbe ich nicht?» «Beruhige dich, beruhige dich, Liebling!» beschwor ihn Maud, als sie ihn so aufgeregt sah. Das leichte Fieber verursachte ihm dieselben irren Phantasien, mit denen sein Gehirn sich das erste Mal herumgeschlagen hatte, als er sich im Hotel Place Vondôme mit Kokain berauscht hatte. Und auch jetzt dachte er wieder: «Nein, Gott ist kein großer Humorist. Er ist ein kleiner, ein elender Humorist. Er hat die Mentalität eines Feldmessers. Um die Massen zu töten, bedient er sich der Kriege und Epidemien. Er hat nicht einmal Sinn für schöne Ungerechtigkeit! Die einzigen Extravaganzen, die ich ihn habe aushecken sehen, sind die Taschendiebstähle in der Kirche, während der Bestohlene betete; aber er hat nie einen grandiosen Einfall. Wenn ich an seiner Stelle wäre, so würde ich plötzlich die Schwerkraft aufheben. Der Mensch würde versuchen, einen Zigarrenstummel fortzuwerfen, und der Stummel würde ihm in der Hand bleiben. Er würde versuchen, eine Treppe hinunterzugehen, und würde sich gezwungen sehen, niederzuknien, mit dem Kopf nach unten und sich mit den Händen die Stufen hinunterzuziehen, größere Mühe anwendend, um abwärtszukommen, als um hinaufzuklimmen. Oder ich würde die Zentrifugalkraft der Erde beschleunigen. Anstatt daß sie in vierundzwanzig Stunden die Drehung vollzieht, würde ich sie in einer Stunde vollziehen lassen. Und alles würde in katastrophaler Unordnung auf ungeheure Entfernung, durcheinandergeworfen werden. Japanische Pagoden auf die Gletscher des Montblanc geschleudert werden, mohammedanische Minaretts wie Biskuits in den Krater des Vesuvs eingetaucht werden, die Pyramide des Cheops auf die Place de la Concorde verpflanzt werden. Gott ist kein Künstler. Um die Menschen zu töten, nimmt er seine
Zuflucht zu so unendlich kleinen Meuchelmördern, daß man nicht einmal weiß, ob sie vegetabilischer oder animalischer Natur sind. Was für ein beschränktes Gehirn, dieser Gottvater! Und was für ein Mangel an Würde!» «Beruhige dich, beruhige dich, Liebling!» fuhr seine Geliebte fort, ihn zu beschwören. «Er fiebert. Wenn wir ihm eine Morphiumeinspritzung machten, Doktor?» «Ist nicht nötig. Jetzt geht es um die Blutuntersuchung. Auf diesem Wege», erklärte der Gelehrte, während er ihm den Arm mit zwei Schlingen abschnürte, um die Ader zu füllen, «werden wir die Gewißheit erlangen, daß es sich nicht um Typhus handelt. Ich übrigens bin davon ja schon mehr als überzeugt; es fehlt die Schwellung der Milz, es fehlen die Roseolae...» Und Tito, der noch imstande war, einige Sätze aufzufassen, und trotz des Fiebers kurze, lichte Momente hatte, sagte bei dem Wort Roseolae: «Es fehlen die Roseolae, aber die Bazillen sind da. Wer will sagen, wieviel Milliarden von ihnen ich getrunken habe?» Als die Ader gefüllt war, führte der Arzt die Nadel einer Spritze ein, sog das Blut heraus und füllte es in ein Röhrchen. Er nahm es mit nach Haus. Am nächsten Tag kam er wieder (Tito hatte ausgezeichnet geschlafen) und erklärte, die Blutuntersuchung habe ein negatives Resultat für die verschiedenen Formen des Typhus, Paratyphus A und Paratyphus B, ergeben. «Über diesen Punkt können wir uns also beruhigen. Typhus ist es nicht. Der größeren Sicherheit wegen können wir, wenn wir wollen, noch eine Urinanalyse machen, die sogenannte Ehrlichsche Diazoreaktion.» «Gut, machen wir die Diazoreaktion.» «Wir werden sie machen. Inzwischen fahren Sie fort zu essen und bleiben Sie bei den Klistieren.» Tito glaubte sich noch unter der halluzinatorischen Wirkung des Kokain; er war ganz sicher, eine Krankheit zu haben, die man damit kurierte, daß man den Organismus in äußerster Ruhe hielt, und nun, obwohl man ihn mit diesen Wassergüssen quälte und ihn zum Essen zwang, starb er nicht. Es ging ihm sogar besser. Er tat genau das Gegenteil von dem, was die Wissenschaft bei Typhus vorschreibt, und sein Zustand verschlimmerte sich nicht. «Auch die Diazoreaktion ist negativ», proklamierte der Arzt triumphierend bei seinem vierten Besuch. «Wir haben ja auch Typhus von Anfang an ausgeschlossen. Ich habe sogar eine wesentliche Besserung zu konstatieren.» «Ja», sagte Maud, «des Morgens und des Abends ist er erregt. Am Nachmittag ist er ruhig.»
«Könnte man sagen», bemerkte Tito, «daß die Mikroben nachmittags ihr Schläfchen machen?» «Aber das Fieber ist ständig vorhanden.» «Es wird auch verschwinden», versprach der Arzt, während er seinen Überrock anzog. Als er fortgegangen war, sagte Nocera zu Maud: «Ich sehe keinen Fortschritt. Mir kommt es so vor, als wäre es noch immer wie am ersten Tag.» «Wollen wir einen anderen Arzt zu Rate ziehen?» «Ich meine, ja.» Tito widersetzte sich nicht. Wenn sie ihm vorgeschlagen hätten, einen Elektriker kommen zu lassen oder Vitriol zu trinken, so wäre er einverstanden gewesen. So kam ein neuer Arzt. Er war der Typus des alten Diagnostikers, des seriösen Mediziners. Er blieb am Bett stehen, die Arme überm Bauch gekreuzt, als ob er an einem Fensterbrett lehnte. Er fühlte den Puls, ließ sich die Zunge zeigen, sah auf die Uhr, auf das Thermometer, machte den üblichen Hokuspokus. «Wer ist Ihr Arzt?» Nocera nannte einen Namen. Der Doktor zog eine Grimasse, die sein Urteil zusammenfaßte. «Und was hat er gesagt?» «Blutinfektion. Coli-Septichämie.» «Ach, nein!» lachte der seriöse Arzt. «Dieser Herr ist erkrankt an...» Der Kranke sah auf den Lippen des seriösen Mediziners sich ein kurzes Wort formen: Typhus. Statt dessen sagte dieser: «Er leidet an Malaria.» «Was sagen Sie?» «Maltafieber.» «Ist das eine ernste Krankheit?» «Nein. Bei dieser Krankheit wirkt die Behandlung mit Heilserum Wunder. Man behandelt sie mit der Wrightschen Impfung. Aber man muß sofort eingreifen. Zunächst muß man die bisher befolgte Methode aufgeben. Inzwischen gehe ich fort, hole die Lymphe und komme wieder. In einer Stunde bin ich zurück.» Dieser seriöse Arzt las die medizinischen Zeitschriften und begeisterte sich für die neusten Methoden. Vor sechs Monaten war ihm ein Patient an Malaria gestorben, und seitdem sah er bei
allen Kranken nichts als Malaria. «Es ist ganz einfach», erklärte er Tito. «Ich spritze einige Milliarden verdünnter Bazillen in Ihr Blut. Sehen Sie dieses Pröbchen? Das sind drei Milliarden.» Der Kranke bewahrte die Ruhe eines Märtyrers. Er ließ sich die Bazillen einspritzen, ohne die geringste Bewegung zu verraten, weder in seinem Gesicht noch in dem Teil, in den die Nadel eindrang. Er sagte einfach: «Doktor, so haben Sie mir also die Bazillen des Maltafiebers injiziert?» «Ja.» «Wenn ich, hypothetisch gesprochen, diese Krankheit nicht hätte, so würden Sie sie mir zugefügt haben?» « Selbstverständlich.» «Wenn Sie sich also in der Diagnose geirrt hätten und ich, sagen wir, zum Beispiel, an Typhus litte, so würde ich jetzt zwei Krankheiten haben.» «Ganz gewiß. Aber Sie haben keinen Typhus.» «Ich weiß, ich weiß», fügte der Kranke eilendst hinzu, «ich habe ein einfaches Beispiel gebraucht. Ein spaßiges Beispiel.» Jetzt wußte Tito, daß er in seinem Körper nicht mehr nur eine Krankheit, sondern deren zwei hatte: Typhus und Malaria. «An einer von beiden werde ich sterben», dachte er. Das Fieber, das gesunken war, stieg um einige Striche. Tito klagte über starke Schmerzen im ganzen Körper. «Das hat nichts zu sagen», meinte der seriöse Arzt. «Beim Maltafieber veranlaßt die Wrightsche Impfung naturgemäß diese Reaktionen. Das alles ist ganz in Ordnung und beweist vor dem Auge der Wissenschaft, daß meine Diagnose stimmt. Ich kann daraus nur die günstigsten Rückschlüsse ziehen.» Maud und Nocera waren weder von der ersten noch von der zweiten Behandlungsweise recht befriedigt. «Wie sich der erste Arzt geirrt hat, kann sich auch der zweite irren.» «Der erste erkennt eine Krankheit; er macht Untersuchungen; die Reaktionen geben ihm recht. Der zweite erkennt eine andere; er macht ebenfalls Untersuchungen; und auch ihm geben die Reaktionen recht. Ich würde vorschlagen, einen dritten Arzt kommen zu lassen. Und ich würde mich ohne Verzug an den berühmtesten Arzt der Stadt wenden.» Vor dem Abend noch betrat der hochberühmte Arzt, der unfehlbare, die Leuchte der Medizin, der Hohepriester der Wissenschaft, Titos Zimmer.
Er reichte den andern beiden Ärzten würdevoll die Hand und sprach: «Typhus! Das würde ein Zahnarzt begreifen!» «Unmöglich!» wies der erste Arzt zurück. « Haben Sie die Vidalsche Blutuntersuchung gemacht ?» «Ja.» «Wie oft?» «Einmal.» «Das genügt nicht», orakelte die Leuchte. «Machen Sie sie ein zweites Mal.» Tito hatte endlich den vom Schicksal gesandten Arzt gefunden, der ihn retten würde. Er ließ sich von neuem Blut aus der Ader entziehen. Diesmal war die Untersuchung positiv: 1 : 100. «Typhus», bestätigten alle drei. Und Tito dachte: «Bis jetzt haben sie mich nicht geheilt, weil sie meine Krankheit nicht erkannt hatten. Jetzt, wo sie sie kennen, werden sie mir die richtige Kur verschreiben, und ich werde gesund werden.» «Nichts mehr essen!» sagte der hochberühmte Arzt. Und Tito dachte: «Ich wußte es ja, daß man bei Typhus nicht ißt.» «Und keine Darmklistiere mehr!» Und Tito freute sich heimlich: «Ich wußte es ja, daß die Därme in Ruhe gelassen werden müssen.» In der Tat wandte sich die Leuchte zu den beiden andern: «Wenn man ein Darmklistier gibt, bringt man ihn um. Das würde sogar eine Hebamme begreifen!» «Und dabei haben sie mir vierundzwanzig gegeben, und ich bin nicht gestorben», dachte Tito. «Und es waren förmliche Niagarakatarakte.» «Um das Fieber zu beruhigen, werde ich ihm eiskalte Bäder verordnen. Haben Sie verstanden?» «Ja, Herr Doktor», antworteten Maud, Nocera und die Wirtin. «Nach dem Bad bringen Sie ihn wieder zu Bett. Morgen früh kommen wir wieder.» Und alle drei verließen das Zimmer. Der Kranke fühlte sich dem Leben zurückgegeben. Es ist gar nicht erstaunlich, daß eine Behandlung unwirksam bleibt, wenn man sich in der
Krankheit irrt; aber wenn die Diagnose genau stimmt... Und in diesem Fall stimmte die Diagnose ganz genau; er wußte, daß er einen ganzen Becher voll von Kulturen getrunken hatte, auf den «Typhus» geschrieben stand. Nur gelang es ihm nicht, sich zu erklären, wieso die Beefsteaks und dieses «Laticlavium» (wie Maud es nannte) von zwei Litern täglich ihn nicht umgehend getötet hatten. In den Händen dieser drei Ärzte fühlte er sich, als ob drei unter der Decke eines Zirkus hängende Akrobaten ihn an den Füßen durch die Luft schleuderten, und es kam ihm so vor, als ob er während langer Flüge wirbelnde Drehungen mache und immer nur im letzten Augenblick durch einen bloßen Zufall wieder ergriffen würde. Aus diesen Betrachtungen rissen ihn der Freund und die Freundin, die ihn sanft in das eiskalte Wasser des Bades niederließen. «Es ist fürchterlich!» brüllte Tito, schlug um sich und knirschte mit den Zähnen, als wenn man zwei Feuersteine aneinanderreibt. «Habe Geduld, mein Lieber!» «Habe Geduld, Liebling!» «Noch eine Minute!» flehte die Wirtin mit der Uhr in der Hand. «Es setzt das Fieber herab», sagte Nocera. «Es wird dich gesund machen», stöhnte Maud. «Ich erstarre hier drin», sagte zähneklappernd der Badende. Sie trockneten ihn rasch ab und trugen ihn, blau wie einen Ertrunkenen, ins Bett. «Jetzt wirst du dich erwärmen, Liebling!» Aber anstatt sich zu erwärmen, fror er im Bett noch mehr als im Bad und fühlte einen stechenden Schmerz in der linken Brust. Und er hustete. Hustete wiederholt. Dann spuckte er Blut. Der erste Arzt, der gerade gekommen war, als man ihn aus dem Bad genommen hatte, meinte, daß dieser stechende Schmerz zwischen den Rippen weiter nichts wäre als ein interkostaler Schmerz. Der berühmte Arzt, die Leuchte der Wissenschaft, beruhigte alle: «Das hat nichts zu sagen. Es
handelt sich um einen knöchernen Typhus-Abszeß. Das würde sogar ein Militärarzt begreifen.» Tito hingegen begriff, daß er sich bei dem Bad eine tödliche Lungenentzündung geholt hatte. Maud ging, um die Ärzte zurückzurufen, die sich beim ersten Sputum gedrückt hatten. Und Tito sah vor sich einen Priester, schwarz, feierlich, der mit einer Stimme jenseits alles Menschlichen zu ihm sprach. «Wer hat ihn hergerufen?» fragte der Patient. «Niemand», log die Wirtin. «Die Priester riechen die Sterbenden», sagte Tito mit bindfadendünner Stimme. «Sie sind wie die Fliegen, die ihre Eier in die Nasenlöcher der in Agonie Befindlichen legen. Aber da er einmal hier ist, mag er bleiben.» Der Geistliche zeigte ihm ein Kruzifix, ließ ihn unter seiner Anleitung ein Gebet sprechen. «Hören Sie, Hochwürden», stöhnte Tito, «in dem Kasten dort liegt eine Schachtel, und in der Schachtel liegt eine Fotografie. Bringen Sie mir die her.» Der Priester brachte die Schachtel. Tito nahm die Fotografie der splitternackten Kokaina heraus. «Um sie zu zerstören», ermahnte mit blitzenden Augen der Priester. «Nein. Um sie zum letztenmal zu sehen», seufzte Tito mit zufriedenen Augen. «Aber in diesem höchsten Augenblick steht Gott vor Ihrem Bett», drohte sein Diener. «Gut! So wird auch er sie sehen.» «Und jetzt werden Sie beichten», befahl der Priester, ihm diese unsittliche Sache entreißend und sie in den Seiten seines Breviers bergend. «Beichten? Ist diese kohlensaure Seelenlimonade notwendig?» «Lästere nicht, Unglücklicher!» «Dann scher dich zum Teufel, Einfaltspinsel!» Und er legte sich auf die Seite, dem Priester den Teil zuwendend, in den sie ihm drei Milliarden verdünnte Bazillen (Wrightsche Lymphe) eingespritzt hatten. Der Priester ging. Als er auf der Mitte der Treppe war, öffnete er errötend das Brevier. Mit Nocera trat eine Tante von Tito ein, ein Ekelbiest, das er nur selten sah. In jeder Familie existiert mindestens ein Ekelbiest von Tante. In meiner auch. Sie war glücklich, daß Tito starb. Und trotzdem weinte sie bittere Tränen.
«Wenn du weinst», sagte Tito zu ihr, «so will das besagen, daß ich gesund werde; wenn ich im Sterben läge, würdest du darüber vor Glück lachen.» Ein Mann brachte drei Ballone mit Sauerstoff. «Drei! Aber warum drei?» fragte das Ekelbiest von Tante, eine von diesen Ekelbiestern von Tanten, wie sie in jeder Familie existieren. In meiner auch. «Weshalb hat er gleich drei gekauft? Und wenn er nur zwei davon verbrauchte? Und ob der Apotheker die, die er nicht verbraucht, zurücknehmen wird?» «Ja.» «Und das Geld wieder herausgeben?» «Höre, Nocera», schrie mit dem letzten Atem, der ihm noch verblieb, der arme Tito. «Bringe diese Schweinerei von einer Frau fort, wenn ich mich nicht rächen soll; ich tue ihr den Tort an und krepiere nicht.» Der Hohepriester der Wissenschaft trat ein. «Nun, gehen wir der Besserung entgegen?» fragte der berühmte Arzt und fühlte Titos Puls. «Gehen wir der Besserung entgegen?» «Ja. Wir gehen.» Und er verschied. Nocera, Maud und die Wirtin knieten um das Bett, mit der Stirn auf der Decke, wie man es auf den Öldrucken sieht, die den Tod von Anita Garibaldi oder von Camillo Benso, Graf von Cavour, darstellen. Und so kann es geschehen, daß, wenn man Typhusbazillen geschluckt hat und zuerst auf Septichämie, dann auf Malaria behandelt worden ist, man genesen kann. Aber wenn man beim Typhus die klassische Typhusbehandlung anwendet, kann man an galoppierender Lungenentzündung sterben.
14 Bei der Testamentseröffnung, die Pietro Nocera vornahm, war nur Maud zugegen, mit
rotgeweinten Augen. Tito hatte deutlich geschrieben: «Ich töte mich.» Und er hatte sich ihretwegen getötet. Es war das erste Mal, daß Maud Reue fühlte. «Wenn ich treuer gewesen wäre, oder wenn ich ihm wenigstens Treue vorgespielt hätte, so wäre er jetzt...» «Aber denken Sie nicht daran, Fräulein Maud», tröstete Nocera sie. «Reue ist das Nutzloseste von der Welt. Gehen Sie lieber nach Haus und schlafen Sie. Für die Beisetzung werde ich sorgen.» Maud küßte noch einmal Tito auf die Stirn, färbte sich die Lippen ein wenig rot und ging nach Haus, in ihr Kinderzimmer, nach dem Hof zu gelegen, in das die darunterliegenden Stockwerke einen so guten Geruch nach perfekter Herrschaftsküche entsandt hatten. Ihr Vater fragte sie mit dem Respekt, den man dem Schmerz schuldet, ob sich im Nachlaß des Verstorbenen nicht vielleicht ein Überzieher für die mittlere Jahreszeit befände. In die Wohnung des Toten kam der Leichenbeschauer, der schnell wieder fortging, und ein Priester, der eine halbe Stunde blieb. «Mein armer Freund war Atheist», wandte Nocera ein. «Es ist nicht notwendig, daß der Verstorbene gläubig war», erklärte der Priester. «Es genügt, daß die Hinterbliebenen es sind.» «Was mich anbetrifft...» «Sie nicht, aber...» «Kurz und gut: Wieviel würde es kosten?» «Jeder Priester fünfundzwanzig Lire.» «Wie viele Priester würde man brauchen, damit der Zug sich würdig präsentiert?» «Mindestens acht.» «Macht zweihundert Lire.» «Und die Schwestern.» «Wieviel kosten die?» «Zwei Lire die mit den gebrauchten Kerzen; drei Lire die mit den frischen Kerzen.» « Und wieviel Kerzen braucht man ?» «Hundert Stück.» «Macht zweihundert Lire.»
«Aber nicht mit frischen Kerzen.» «Wenn sie doch angezündet werden müssen, scheint mir, wenn sie auch schon einmal gebrannt haben...» «Dann muß man noch fünfzig Lire für die Teppiche berechnen, die man an der Tür ausbreitet.» «Notwendig?» «Unumgänglich. Und die Messe, und der Segen.» «Wollen wir nicht einen Gesamtpreis machen? Eben nur das strikt Notwendige.» «Messe, Segen, Teppiche: hundert Lire. Priester und Nonnen extra.» «Einverstanden.» «Möchten Sie mir nicht ein Handgeld auf die ersten Auslagen geben?» «Genügen zweihundert?» «Ja.» «Und werden Sie an alles denken?» «An alles. Morgen nachmittag um vier Uhr?» «Um vier Uhr, Hochwürden. Aber wie kann man die Messe um vier Uhr nachmittags lesen, wenn die Hostie doch nüchtern genommen werden muß?» «Wir haben Fastenzeit.» Dann kam der Agent der Bestattungsgesellschaft, um den Leichenwagen und die Aufschirrung der Pferde zu besprechen. Nocera telefonierte mit der Gesellschaft für Feuerbestattung, empfing einen Angestellten, der auch einen gewissen Herrn, der gleichzeitig Musiker und Dirigent war, mitbrachte. «Ich bin der erste Klarinettist der preisgekrönten Kapelle Musica in testa und kann Ihnen Vorzugspreise machen. Wir haben ein ausgewähltes Repertoire von Trauermärschen: Gounod, Donizetti, Wagner, Patrella, Grieg und Chopin. Wir verfügen über eine verschlissene Fahne, deren Inschrift man nicht mehr lesen kann. Sie macht den Eindruck, als sei sie die Fahne, die der arme Verstorbene einer Wohlfahrtsanstalt gestiftet habe. Jeder Spieler trägt sein Barett und, bei einer kleinen Zulage, auch seinen Degen.» «Wieviel würde der Degen kosten?» «Zweihundert Lire.» «Wir sind uns einig. Bis morgen.»
« Haben Sie die Stücke ausgewählt ?» «Was für Stücke ?» «Die Musikstücke.» «Das überlasse ich Ihnen. Die schönsten, die Sie führen.» Der Sarg wurde gebracht. Nocera holte den grünseidenen Pyjama und ließ sich helfen, den Toten einzukleiden. Dann legten sie ihn in den Sarg. «Sollen wir ihn gleich schließen?» «Ja, schließen Sie ihn gleich, wenn weiter nichts hineinzutun ist.» Der Wagen hielt schon vor der Tür. Die Leichenträger trugen den Sarg hinunter und schoben ihn mit Präzision und Eleganz in den Wagen; und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Balkone waren gestopft voll von Neugierigen, und vor den Türen klatschten die Ladenbesitzerinnen. Der Zug wurde eröffnet durch einen Leichenbesorger mit amerikanisch gestutztem Schnurrbart. Dann kam die Musikgruppe, bestehend aus: einer Pikkoloflöte, acht Flöten, zwei Hörnern, zwei Posaunen, Schlagzeug und Triangel, zwei Bombardons, einer Baßtuba. Es folgten die grüngekleideten Nonnen. Sie sahen aus wie wandernder Salat. Dann kamen die psalmodierenden Priester. Es waren acht. Aber einer hinkte. Der Leichenwagen, ehrfurchtsvoll gegrüßt und mit Chrysanthemen geschmückt, die wehten und duftig wie Straußenfedern wirkten. Pferde in Gala. Maud mit schwarzen Schleiern. Nocera. Mauds Vater, mit einem Überzieher des Toten, der ihm wie angegossen paßte. Viele Frauen. Viele Männer. Leute, die Nocera nie im Leben gesehen hatte. Manche alte Frauen aus dem Volke schlugen beim Vorüberfahren des Wagens das Zeichen des Kreuzes. Ein Junge auf einem Fahrrad hielt sich neben der Musik, einen Schenkel auf dem Sattel, beide Beine nach derselben Seite und mit einem Fuß tretend. Zwei Hunde, die sich aneinander ergötzten, ließen sich nicht stören. «Es ist die Schwester des Verstorbenen», sagte jemand aus dem Geleit, auf Maud deutend. «Die Frau.» «Die Geliebte.» «Sie ist passabel.» «Hat einen schönen...»
«Und schöne...» «Sie ist alt.» «Ich glaube nicht. Fünfunddreißig.» «Wohl noch älter.» «Was treibt sie?» «Sie ist...» «Oh, das ist sie von jeher gewesen.» «Und er?» «Er hat ein Auge zugedrückt.» «Und die Börse geöffnet.» «Aber das hat er mit Geschmack getan.» «Das wurde allgemein bemerkt.» «Er hat auch im Gefängnis gesessen.» «Wechselfälschungen.» « Und woran ist er gestorben ?» «Schwindsucht.» «Syphilis.» «Wahrhaftig?» «Und an einer tüchtigen...» «Der amerikanischen...» «Da wird sie sich auch angesteckt haben.» «Im Gegenteil, sie hat ihn angesteckt.» «Wahrhaftig?» «Das wissen doch alle.» «Ich kenne den Arzt, der sie alle beide behandelt hat.» «Das sind Sachen!»
Die Musiker, die Nonnen, der Klerus, der Wagen, das Gefolge waren stehengeblieben. Die Träger hoben den Sarg an, trugen ihn in die Kirche; dann trugen sie ihn wieder heraus und schoben ihn wieder zurück. Und wieder setzten sie sich in Marsch. Langsam, langsam. Viel zu langsam. Das Leichenbegängnis müßte mit Benzin gemacht werden; der Tote im Automobil, das Gefolge auf Motorrädern. Die Nonnen auf Motorrädern, die Musikanten auf Motorrädern, die über den vorzeitigen Verlust untröstlichen Verwandten auf Motorrädern. Nocera drehte sich um. Die Leute waren zusammengeschmolzen, aber es blieben immer noch eine Masse. Irgendein armer Teufel, dem man im Leben nie zwei Lire geborgt oder ein tröstliches Wort vergönnt hätte, wird von einer Schar beflissener Personen zum Friedhof geleitet. Der kleine Elementarlehrer bekommt eine Leichenrede vom Oberstudienrat; der Gerichtsadvokat erhält das letzte Lebewohl vom Gerichtspräsidenten; der quacksalbernde Gemeindearzt wird beweint wie ein wahrer Verlust für die Wissenschaft; der Vereinsamte, den man auf einer öffentlichen Bank seine Zeitung lesen sah, wird «zur letzten Ruhestätte» von ein paar hundert Intimen in betrübtem und wohlgeordnetem Zuge geleitet. Der lebende Mensch ist immer etwas Zweideutiges und Hinterhältiges: er kann schaden, verraten, seine Meinung ändern, sein Testament umstoßen. Der Tote dagegen ist etwas Definitives. Der Sarg wird auch immer von den intimen Feinden des Verstorbenen begleitet: der Gatte vom Liebhaber der Frau; der im Duell gefallene Mann von seinem Gegner; der Schuldner von seinen Gläubigern. Und die Vorübergehenden ziehen den Hut. Und der Zug bewegt sich weiter. «Wer schmerzlich anzusehen ist, das ist sie.» «Sie wird sich trösten.» «Aber nicht so schnell.» «Sobald sie einen anderen gefunden hat.» «Sie wird schon einen an der Hand haben.» «Mehr als einen.» «Die Männer bleiben an jeder Schürze hängen.»
«Und dann solche Weiber wie die.» «Mit einem so geschminkten Gesicht.» «Und mit falschen Zähnen.» «Und die Perücke.» «Und das Handwerk, das sie treibt.» «Was arbeitet sie?» «Sie dient dem Mann.» Man näherte sich dem Friedhof. Der weiße Schornstein des Verbrennungsofens ragte empor. Sie durchschritten die Gitter, sie gingen auf das Krematorium zu. Halt. Den Sarg heraus! Schweigen. Ansprache eines Herrn, den niemand je zuvor gesehen hatte. Noch jemand da, der reden will? Niemand. Zwei Bedienstete nahmen den Sarg, traten in einen weißen Saal, hoben ihn auf einen Karren, der hinausrollte. Der Beauftragte der Verbrennungsgesellschaft machte darauf aufmerksam, daß die dem Verstorbenen Nahestehenden der Handlung beiwohnen könnten. Maud blieb in der Kapelle, um zu beten, und Nocera begab sich vor das große Guckloch, durch das er den von den Flammen verzehrten Körper des Freundes würde sehen können. «Es dauert eine Stunde», sagte der Beauftragte. Nocera gab ihm zwanzig Lire. «Daß er ja gut verbrannt wird.» «Lassen Sie mich nur machen.» Nocera sah nichts. Plötzlich trat der Leichnam in Sicht, nackt. Aber die Flammen ergriffen ihn nicht; trotzdem bewegte er sich, zog sich zusammen, wand sich. «Es ist richtig», dachte Nocera, das Gesicht am Guckloch, «daß er sich erhebt, niederkniet, sich zusammenzieht, zusammenrollt, obszöne Stellungen einnimmt. Tito hatte recht. Schade, daß er nicht hier ist, um es zu sehen. Es würde ihn amüsieren. Jetzt führt er die Hand an die Stirn wie zu einem militärischen Gruß. Er drückt beide Fäuste auf die Augen wie die Embryonen. Ob das die ewige Wiederkunft des Gleichen bedeutet?»
Der Leichnam wechselte die Farbe, er wurde spitzer, er schwärzte sich, verzehrte sich, verkohlte, zerfiel in Asche. Nachdem das Verfahren beendet war, zogen sie den Karren heraus und sammelten mit einer silbernen Kelle die Asche. Nocera hatte die beiden irisierenden, kugelförmigen Urnen mitgebracht; er ließ sie beide füllen. Einige Knochenfragmente wurden in eine reglementmäßige Urne aus rotem Terrakotta verschlossen und in einer mit kleinen Steinen angefüllten Wand beigesetzt. Er steckte in eine Tasche die eine Urne, in eine andere die andere und bot Maud seinen Arm. Alle anderen hatten sich zerstreut. «Und wohin gehen wir jetzt?» fragte Nocera, während er ihr in einen vor dem Friedhof haltenden Mietwagen half. «Ich müßte wegen der Trauerkleider zur Schneiderin gehen.» «Schwarz muß Ihnen gut stehen.» «Hoffentlich. Aber kein stumpfes Schwarz. Mir steht glänzendes Schwarz gut. Ich bestelle sie mir in glänzendem Schwarz, das ist dann keine tiefe Trauer.» Der Wagen fuhr der Stadt zu, ohne daß man ihm eine Adresse gegeben hätte. «Ich habe keinen Appetit», sagte Nocera. «Ich könnte keine Speise anrühren», sagte Maud. Nocera seufzte. Maud seufzte. «Ach ja!» «Trotz alledem kann man doch nicht einen Monat lang fasten. Wollen wir in ein Restaurant gehen?» «Ich esse nichts.» «Ich auch nicht.» «Ein bißchen Fleischbrühe.» «Ein Ei.» Nocera rief dem Kutscher den Namen eines Restaurants zu, und Maud dachte, daß es nun wohl angezeigt wäre, ein bißchen zu weinen. Und sie weinte ein bißchen, während der schweigende Nocera sich das dantesche Schauspiel des Leichnams im Ofen zurückrief.
Und so langten sie im Restaurant an, ohne es zu bemerken. Die gesamte Hierarchie der Kellner stürzte sich auf sie, um ihnen Plätze anzuweisen und ihnen die Garderobe abzunehmen. Maud hatte keinen Appetit. Die Speisen blieben ihr stecken. Nocera konnte keinen Bissen herunterschlucken. Trotzdem aßen sie. Er bezahlte hundertachtzig Lire. Das ist nicht teuer; denn die Getränke waren Inbegriffen, mit denen sie die Languste und die getrüffelten Rebhühner hinunterspülen mußten. «Wie entsetzlich traurig, jetzt nach Haus zu müssen!» «Wenn wir ins Theater gingen?» «Das kommt mir wie eine Entweihung vor.» «Oh, nicht um uns zu amüsieren. Nur um nicht an unseren Schmerz denken zu müssen.» «Was wird gegeben?» «Die Pillen des Herkules.» «Ist das sehr zotig?» «Ja.» Nach dem Theater brachte Nocera sie im Wagen nach Hause, öffnete den Schlag und gab ihr die beiden Urnen zur Auswahl. «Das ist ja ganz gleich», sagte sie und nahm wahllos eine der beiden. Niemals ist eine Erbschaftsteilung friedfertiger vollzogen worden. Nocera steckte die zweite Urne in die Tasche und stieg wieder in den Wagen. Arme Frau! Wie dürftig kam ihr ihre bescheidene Wohnung vor, jetzt wo sie sich an die großen Hotels der Metropolen und an die eleganten Villen der modernen Treffpunkte gewöhnt hatte! Sie war vor ein paar Wochen nach Turin zurückgekehrt, nachdem sie ihren letzten Tanz unter dem senegalesischen Himmel getanzt hatte, und etwas vom afrikanischen Fieber war in ihrem Blut zurückgeblieben. Sie war nach Turin zurückgekehrt, um sich vom Leben zurückzuziehen, um sich in dieses ärmliche Zimmer zu verschließen, in dem sie ihre Mädchentage verlebt hatte. Sie fand alte Ansichtskarten, leere Konfektschachteln, zerschlissene und unvollständige Romane, vergilbte Stenografiehefte, Stoffreste von Hemden, verschossene Bänder. In ihrem Gedächtnis stellten sich alte Erinnerungen wieder ein: der genaue Punkt, an dem Tito ihr den ersten Kuß gegeben hatte; die Tür, gegen die gelehnt sie an einem Augustnachmittag, als alle ihre Sinne kochten, stehend genommen worden war, wie man einen Schmetterling durchbohrt, von einem Mann, dessen Namen sie nicht einmal kannte.
Es schien ihr fast süß, melancholisch süß, sich für immer in diesem Zimmer zu verbergen, von ihren Erinnerungen zu leben, an ihnen zu sterben. Hier schloß sie sich ein mit der Reue, Tito nicht treu gewesen zu sein, oder ihm nicht wenigstens Treue vorgetäuscht zu haben. Aber jetzt widmete sie ihm endlose Hingebung, Ausschließlichkeit in alle Ewigkeit. Tito würde ihr letzter Geliebter gewesen sein, wie er es verlangt hatte. Sie breitete über ihr Bett den Chinchillapelz, arrangierte in einer Ecke des Zimmers ein weiches Lager für den lebendigen kleinen Hund, der einem ausgestopften zum Verwechseln ähnlich sah, und war untröstlich über Pierinas, des allwissenden Kammermädchens Abreise, die einen unbegrenzten Urlaub erhalten hatte. Das Zimmer war voll von Koffern, die auf den Seiten und auf den Deckeln Namen von Dampfschiffen und Hotels trugen. Die Pelze und Mäntel strömten einen Duft von Avatar aus. Auf einem Tischchen, das als Schreibtisch diente, nah am Fenster, stand eine Fotografie von Tito und auf einer alten Spitze die kugelförmige, irisierende Aschenurne, mit einem grauen Pulver angefüllt. Dieses graue Pulver war Tito. Ein Bein? Der Kopf und ein Arm? Zwei Schenkel und der Hals? Wer weiß, welche Glieder sie bei der Teilung getroffen hatte! Und jetzt hatte alles seine Form verloren in diesem gelblichgrauen Pulver, das aussah wie Puder rachel! «Inmitten dieser Erinnerungen», dachte sie, «kann ich mich zum Sterben vorbereiten.» Nocera bezahlte die Ärzte, den Apotheker, die Bestattungsgesellschaft und begab sich auf die Pfarrei. «Wieviel macht es also?» Die Rechnung war bereits aufgestellt und quittiert. Er beglich sie, ohne eine Reduktion zu beanspruchen, obgleich unter den acht Priestern (fünfundzwanzig Lire pro Mann) einer gewesen war, der gehinkt hatte. Er bezahlte einige andere Personen, die sich um die Beisetzung bemüht hatten. Gott weiß, warum so viele Leute mobil gemacht werden müssen, wenn ein Individuum stirbt. Der Tag wird kommen, an dem man die Leichen in die Kanäle werfen wird wie die toten Katzen. Er befolgte die letzten Wünsche des Verstorbenen, verschickte einige Danksagungskarten, suchte die letzten Sachen in Titos Zimmer zusammen. Unter dem Bett stand noch ein Paar Schuhe. Ach, die Schuhe der Toten, was für ein kummervoller Anblick! Diese schwarzen Dinger, die die Form von einem, der nicht mehr existiert, noch bewahren! In Paris hatte Pietro Nocera nie Gelegenheit gehabt, sich Maud zu nähern; wenn er sie dort inmitten all dieser elektrisierenden Pariserinnen gesehen hätte, so würde sie sich ihm in ihrer ganzen Kümmerlichkeit der kleinen italienischen Provinzialin enthüllt haben.
Kaum aber sah er sie in Turin, so fühlte er sich fasziniert von ihrem wundervoll pariserischen Zauber der Weltreisenden. Ihre Anhänglichkeit an den kranken Geliebten rührte ihn, und von der Rührung zur Begierde ist nur ein kleiner Schritt. Eines Morgens, drei Tage nach der Bestattung, als Maddalena auf dem Balkon frühstückte, überbrachte man ihr einen Brief. Sie las ihn nur einmal und schrieb mit Bleistift auf das erste Papierblatt, das ihr unter die Hände kam: «Lieber Nocera. Sie lieben mich nicht. Sie glauben bloß, mich zu lieben. Ich werde weder Ihnen noch irgendeinem anderen je angehören! Tito soll mein letzter Geliebter sein.» Am nächsten Tag kam ein neuer Brief von Nocera, der ihr seine Begierde ausdrückte, ihren herrlichen Körper zu küssen. Sie trat vor den Spiegel, der ihre ganze Gestalt wiedergab, und antwortete: «Lieber Nocera. Mein Körper ist verbraucht. Ich kann nicht mehr lieben, und ich will mich nicht mehr lieben lassen. Mein letzter Geliebter war der arme Tito, dem ich in alle Ewigkeit die Treue wahren werde.» Am folgenden Tag erwartete sie wieder einen Brief; der nicht kam. Sie wartete zwei Tage, drei Tage, mit körperlicher Ungeduld. Warum war Nocera nicht beharrlicher? «Ein Brief für dich, Maddalena.» «Danke, Papa.» Es war ein letzter leidenschaftlicher Brief von Nocera, der sie anflehte, in seine Wohnung zu kommen, in eine beinahe poetische Straße eines stillen Viertels. Maddalena blieb einige Augenblicke nachdenklich, dann nahm sie eine Karte und einen Briefumschlag und schrieb ruhig und mit einem frühlingshaften Lächeln: «Ich werde um vier Uhr in Deiner Wohnung sein. Küsse mich.» Sie suchte nach einem Löschblatt. Sie fand keins. Sie sah sich um. Auch Streusand war nirgends zu sehen. Aber vor ihren Augen glänzte, auf einer antiken Spitze aufgestellt, eine Kugel aus perlmutterfarbenem, irisierendem Glas, mit einem gelblichgrauen Pulver angefüllt, das wie Puder rachel aussah. Maddalena hob sie mit geschickten Fingern hoch, leerte sie auf den von Tinte noch nassen Brief, ließ das Pulver über die Schrift laufen und schüttete es in die Urne zurück, die Karte leicht zusammenbiegend. Sie steckte die Botschaft in das Kuvert, ließ es dem Dienstmann übergeben und blieb einen Augenblick, nicht länger als eine musikalische Pause, nachdenklich. Sie biß sich auf die Unterlippe, um sie anzufeuchten, trocknete sie an der Oberlippe und führte
dann über beide, langsam und bedächtig, den Rotstift. Aus einem Schlüsselbund wählte sie ein kleines Schlüsselchen, das zu dem flachen Kabinenkoffer gehörte. Sie fühlte ihr Gemüt leicht und licht wie eine spanische Mantille. Mit geschlossenen Lippen improvisierte sie ein Liedchen, und vor unzähligen Paaren von Strümpfen niederkniend suchte sie die dünnsten aus, die das nackte Fleisch am besten durchschimmern ließen.