Knochen-Mond
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 118 von Jason Dark, erschienen am 08.01.1991, Titelbild: Steve Crisp
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Knochen-Mond
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 118 von Jason Dark, erschienen am 08.01.1991, Titelbild: Steve Crisp
Noch sehr genau erinnerten wir uns an die Warnung des Apachen Chato. »Es gibt nur einen, der den Dämon Jericho stoppen kann. Zebulon, der Schattenkrieger!« Aber wer war Zebulon? Wer verbarg sich dahinter? Ein Mann, vielleicht eine Frau? Das Rätsel wurde gelöst, als der unheimliche Knochenmond am Himmel stand und seine magischen Strahlen auf die Erde schickte. Da verwandelte sich der Lektor Barry F. Bracht in den geheimnisvollen Schattenkrieger. Zusammen mit Suko und mir tauchte er ein in die mörderische Alptraumwelt des Knochenmonds, wo Jericho schon auf uns gewartet hatte...
Aus seinem Mund drang ein tiefes, rauhes Stöhnen. Genau dieses Geräusch war es, das Barry F. Bracht erwachen ließ! Er dachte darüber nach und wußte im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Überhaupt war vieles anders geworden. Doch darüber zu spekulieren, war jetzt nicht der richtige Ort und auch nicht der rechte Zeitpunkt. Eröffnete die Augen und drehte gleichzeitig den Kopf nach links. Das Fenster seines Schlafzimmers stand weit offen. Am Himmel stand der bleiche Mond wie ein Auge. Er glotzte in den Raum hinein, als wollte er jede Einzelheit in sich aufnehmen. Bracht stand auf. Das heißt, er wollte es, schon beim Sitzen merkte er den Schwindel. Ihm wurde komisch im Kopf. Er fühlte sich unwohl, als hätte er vor dem Schlafengehen noch etwas getrunken. Auf dem Bettrand blieb er zunächst sitzen, den Kopf halb erhoben, den Blick nach vorn gerichtet auf das schmale, bis zum Boden reichende Fenster, dessen Flügel weit offenstand. Bracht wohnte in der letzten Etage des Hauses, gewissermaßen unter dem Dach. Der Blick von hier war frei. Er konnte sich auf den Mond konzentrieren. Eigentlich war es ein romantischer Anblick. Die runde Scheibe hob sich konturenscharf vom dunklen Grau des Himmels ab, silberhell, wie sie von zahlreichen Erzählern und Dichtern beschrieben worden war. Bracht dachte nicht länger darüber nach. Mit einer müden Bewegung strich er über seinen Oberlippenbart, bevor er sich einen Ruck gab und aufstand. Sofort geriet er ins Taumeln, fing sich wieder und stützte sich mit beiden Händen an einem Tisch ab. »Verdammt, du wirst alt, Junge. Du brauchst mehr Bewegung. Nicht immer nur als Lektor am Schreibtisch in einem Verlag hocken.« Trotzdem war er gesund. Er rauchte nicht, er trank nicht, ihm hätte nichts passieren können. Dieses ungewöhnliche Unwohlsein mußte andere Ursachen haben. Nur welche? Wieder dachte er an den Mond. Ob er daran die Schuld trug? Er und seine Strahlen, sein Licht, seine Atmosphäre? Es war alles möglich, und er spürte auch, daß ihn der Mond irgendwo anzog. Bracht räusperte sich, holte danach tief Luft und ging mit unsicheren Schritten auf das Fenster zu, als wäre ihm der Mond vom Bett aus noch nicht nah genug. Vor dem offenen Rechteck blieb er stehen, die Arme durchgedrückt, die Hände mit den Ballen gegen die Fensterbank gestemmt. Er sah das Grau des Himmels und glaubte erkennen zu können, daß dieser Mond abermals seine Farbe gewechselt hatte.
Er war noch blasser geworden. Aber auch mit Schatten versehen, die sich in seinem Innern verteilten. An den berühmten Mann im Mond glaubte er schon lange nicht mehr. Die Schatten entstanden durch die Gebirgszüge auf dem Erdtrabanten. Und doch sahen sie in dieser Nacht anders aus. Sie bildeten eine ihm fremde Formation, als wären sie dabei, einen Gegenstand darzustellen, der etwas Bestimmtes zeigte. Einige Male wischte sich Bracht über die Augen, weil er nicht glauben wollte, was er sah. Es war vorhanden, es gab keinen Zweifel, er hatte sich nicht getäuscht. Auf dem Mond zeichnete sich ein Gesicht ab. Kein normales, sondern eines, das sich aus Knochenteilen zusammensetzte, ein Skelettgesicht... *** Barry F. Bracht blieb stehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Über London stand eine schon tropische Schwüle, die von keinem Windhauch bewegt wurde. Es war ein Wetter, wie es in diesen Breiten eigentlich nicht geben durfte, und das schon seit Tagen. Die Geräusche der Nacht wirkten auf ihn seltsam weit und gleichzeitig nah. Da stimmte einiges nicht mehr, aber dafür hatte Bracht keine Antenne. Der Mond war wichtiger. Er wurde zudem den Eindruck nicht los, daß die bleiche Scheibe etwas mit ihm ganz persönlich zu tun hatte. Daß dieses Knochengesicht nur allein ihm galt und keinem anderen. Die Fratze aus Gebein sah nicht anders aus als ein normaler Knochenschädel, selbst die Mundöffnung konnte er erkennen. Schlimm . .. Seine Gedanken rasten. Plötzlich fühlte er sich aufgeputscht. Die Lethargie war verschwunden. Der Mond hatte ihm Kraft gegeben, und durch seinen Körper rieselte ein Gefühl, das er bisher noch nicht erlebt hatte und sich auch nicht erklären konnte. Konnte ein Mensch zweigeteilt werden? Darüber hätte er noch vor einer Stunde gelacht. Jetzt nicht mehr, denn in diesem Augenblick spaltete er sich, obwohl er äußerlich der gleiche war. In seinem Innern begann es. Seit seiner Geburt hieß er Barry F. Bracht. Er war zweiunddreißig und arbeitete in einem Londoner Verlag als Lektor. Sein Leben war bis zu diesem Zeitpunkt gleich verlaufen. Nun spaltete es sich. Ein zweites Ich, eine zweite Persönlichkeit drang in ihm hoch und war dabei, die erste zu überschatten. Etwas kam ihm in den Sinn, es überschwemmte seinen Geist, ohne daß Bracht es schaffte, sich dagegen zu wehren.
Er wollte es auch nicht, weil erden Eindruck bekam, daß alles sehr wichtig war, was in den folgenden Sekunden geschah. Er hörte sich selbst atmen, der Schweiß brach nicht mehr so stark aus seinen Poren, ein neuer Kraftstrom durchbrandete seinen Körper, und etwas kam ihm in den Sinn, über das erzwar nachdachte, ohne dabei einen Erfolg zu erzielen. Dazu war das Neue einfach zu abstrakt, doch er spürte instinktiv, daß ersieh daran gewöhnen würde. Es war ein Name, ein Begriff, und Barry F. Bracht sprach ihn flüsternd aus. »Zebuion, der Schattenkrieger!« Bracht wunderte sich, wie glatt ihm der Name über die Lippen floß. Als hätte er ihn schon seit Jahren immer wieder gesagt. Das war seltsam ungewöhnlich. In Verbindung mit dem am Himmel stehenden Mond aber nicht. Er, das Knochengesicht darin und der Begriff Zebuion gehörten irgendwo zusammen. Er wiederholte den Namen. Einmal, zweimal, auch ein drittes Mal. Bei jedem Sprechen fühlte er sich wohler. Da schoß der Strom der Kraft durch seine Adern und trieb ihn an. Auf einmal wußte er Bescheid. ErwarnichtnurBarry F. Bracht, sondern gleichzeitig auch ein anderer. Zwei Personen in einer. Barry und Zebuion! Und dieses Wissen gab dem Mann Mut für zukünftige Aufgaben, denn er wußte plötzlich, daß er gebraucht wurde. Man sollte noch von ihm hören. Das hier war erst der Beginn. Andere Aufgaben würden folgen... *** Glenda Perkins stand in der Tür und lächelte. »Ich habe einen Besucher für dich, John.« »Tatsächlich?« Ich schaute kurz hoch und bemerkte trotzdem Glendas Outfit. Die lachsfarbene glänzende Bluse aus Chintz, die graue Hose mit den kurzen, aber ausgestellten Beinen, dazu der zur Bluse passende Gürtel. »Wer ist es denn?« »Laß dich überraschen.« Ich winkte müde ab. »Wie du willst.« »Was ist denn, John? Sauer?« »Nein, ich bin unheimlich fröhlich und agil. Es ist ja so kühl draußen.« »Die Tropenluft geht auch vorbei.« »Das will ich hoffen.« Glenda lachte noch einmal und verschwand. Normalerweise machte sie es nicht so spannend, da redete sie darüber, wer mich sprechen wollte, aber an diesem Tag hatte sie nichts gesagt. Es würde wohl eine Überraschung geben.
Sollte sie, es war mir egal, denn ich hatte sowieso andere Probleme, die mich quälten. Es ging um ein Phänomen, das ich vor zwei Tagen erlebt hatte. Da hatten sich mir andere Welten geöffnet, denn es war einem Menschen gelungen, in die Traumwelten der anderen hineinzudringen und vom Träumer das zweite Ich zu lösen, das sich in einer anderen Welt aufhielt. Dieses zweite Ich konnte Entfernungen zurücklegen, für die es kein Maß gab. Es tauchte in andere Dimensionen, in andere Welten ein, es erlebte dort den Schrecken, und der Träumer konnte nichts dagegen tun. Er lag im Bett, ohne sein zweites Ich, doch er bekam mitgeteilt, was dieses /.weite Ich in der anderen Welt sah. Ich hatte Mason Rafferty kennengelernt, einen Mann, der es tatsächlich geschafft hatte, Pillen zu entwickeln, die dem Träumer die Chance gaben, sein zweites Ich zu entwickeln. Bei seiner Verlobten hatte er sie ausprobiert und sie beinahe in den Wahnsinn getrieben.* Mir war es gelungen, Mason Rafferty zu zerstören. Sowohl sein erstes als auch sein zweites Ich, die Pillen gab es ebenfalls nicht mehr, aber ich war noch nicht dahintergekommen, um was es genau ging und wie sich alles zusammensetzte. Viele Probleme waren offen geblieben. Irgendwo hatte ich das Gefühl, erst am Beginn einer Fährte zu stehen, die irgendwo in die Hölle führte. Ich schüttelte den Kopf, weil es keinen Sinn hatte, weiter darüber nachzudenken. Nicht bei diesem Wetter, bei dieser Schwüle. Da war es schon unmenschlich, überhaupt arbeiten zu gehen. In der letzten Nacht war ich einige Male wach geworden, hatte auf das Thermometer geschaut und festgestellt, daß die Temperaturen noch immer über zwanzig Grad plus lagen. Fin Wahnsinn war das. Vor mir stand ein mit Mineralwasser gefülltes Glas. Das Zeug war auch schon warm. Ich trank es trotzdem. Wer viel schwitzt, braucht viel Flüssigkeit, und ich schwitzte an diesem Morgen viel. Suko war nicht da. Fr hatte sich einen Tag Urlaub genommen und wollte ausspannen. Das hätte ich auch machen sollen. Aber mein Urlaub lag erst einige Tage zurück. Letztendlich war er keiner gewesen, denn Jessica Long hatte mich auf den neuen Fall vorbereitet, eben diese Sache mit den gefährlichen Traumdämonen, deren Kräfte und Motive mir noch unklar waren. Der Besuch paßte mir nicht. Ich wußte ja nicht, mit wem Glenda hochkommen würde, sie hatte es ziemlich spannend gemacht, hoffte aber, keine zu negativen Überraschungen zu erleben.
* Siehe John Sinclair Band 054: »Wo Deborah den Teufel trifft«
Sie ließ sich Zeit. Ob bewußt oder nicht, konnte ich nicht sagen, jedenfalls trank ich mein Glas leer, schaute zur Tür und hörte Stimmen aus dem Vorzimmer. Hatte sie einen Mann oder eine Frau mitgebracht? Nun ja, nach einem Mann hörte sich die Stimme nicht gerade an. Mir kam ein irgendwo schrecklicher Verdacht, denn ich dachte an Jessica Long, mit der ich den Kurzurlaub, der keiner gewesen war, verbracht hatte. Weder Glenda Perkins noch Jane Collins hatte ich von meiner Begleiterin berichtet, aber wer kennt sich schon bei den Frauen aus? Die hören oft genug das Gras wachsen, und gerade Glenda als auch Jane besaßen in dem Fall ein ziemlich gutes Gehör. Dann öffnete Glenda die Tür zu meinem Büro. »Nun, dann geh mal rein, mein Freund. Mr. Sinclair sieht zwar so aus, aber er beißt nicht. Darauf kannst du dich verlassen.« »Danke, Miß Perkins.« Noch hatte ich den Besucher nicht gesehen, weil Glenda ihn mit ihrem Körper verbarg. Doch über den Klang der Stimme >stolperte< ich. Das war weder ein Mann noch eine Frau, der da zu mir sollte. Fin Kind hatte gesprochen! Zwei Sekunden später sah ich den Jungen. Etwas schüchtern schob er sich über die Schwelle, blieb dicht dahinter stehen und schaute sich in meinem Büro um, bis er das Lächeln sah, das ich ihm entgegenschickte. »Willst du nicht zu mir kommen?« »Das ist Mr. Sinclair, den du ja sprechen wolltest!« erklärte Glenda und schob den Jungen näher. Ich schaute ihn mir an. Er hatte blondes Haar, ein nettes, etwas rundliches Gesicht und blaue Augen. Seine Haut wirkte für den Sommer zu blaß, und er zählte kaum mehr als zehn Jahre. Ich stand auf, als er mir entgegenkam und seine Hand ausstreckte. »Ich bin Dennis, Mr. Sinclair.« »Freut mich, Dennis.« Ich schüttelte seine Hand. »Aber zu mir brauchst du nicht Mr. Sinclair zu sagen, nenne mich ganz einfach John. Alles klar, Dennis?« »Ja, Sir . .. äh, John.« »Gut.« »Willst du dich setzen? Soll ich dir etwas zu trinken besorgen?« »Das mache ich schon«, erklärte Glenda, drehte sich um und war verschwunden. Dennis und ich blieben zurück. Ich wußte nicht so recht, was ich mit dem Jungen anfangen sollte, der auf dem Besucherstuhl saß, sich auf der Sitzfläche drehte und seine Blicke durch mein Büro streifen ließ, als wollte er alles genau in sich aufnehmen. »Gefällt es dir hier?« fragte ich.
»Weiß nicht.« Er hob die Schultern. »Es ist so warm, und gemütlich ist es hierauch nicht.« »Da hast du recht.« Ich räusperte mich. »Weshalb bist du gekommen?« »Man hat mich geschickt.« »Und wer?« Er behielt seine Antwort zunächst für sich, denn Glenda kehrte zurück. In der Hand hielt sie einen mit Limonade gefüllten Becher, den sie Dennis in die Hände drückte. »Danke, Glenda.« Als er trank, gab mir meine Sekretärin eine kurze Erklärung. »Er hat schon auf dich gewartet, aber da warst du ja nicht greifbar und in Urlaub.« »Ist das ein Vorwurf gewesen?« »Nein, eine Feststellung.« »Worum geht es denn?« Sie hob die Schultern, ging zu Sukos Platz und ließ sich dort nieder. »So genau weiß ich es nicht. Dennis wollte erst mit dir sprechen. Jedenfalls ist es so, daß er zu mir geschickt wurde.« »Von wem?« »Keine Ahnung.« »Wie alt ist er denn?« »Elf.« Ich verzog die Lippen. »Mit elf Jahren allein in London? Das ist ein Hammer.« Glenda beugte sich vor. »Ob er so allein durch London gegeistert ist, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er dich gesucht und dich auch gefunden.« »Ja, das stimmt.« Dennis stellte seinen Becher auf den Schreibtisch. »Es stimmt alles, ich habe dich gesucht, John, weil man mich geschickt hat.« »Wer war das?« »Alle.« Ich lächelte. »Damit kann ich nichts anfangen, Junge. Was heißt denn alle?« »Die aus dem Dorf.« »Schön. Und wo liegt euer Dorf?« »In Wales.« »Auch gut. Wenn man dich also geschickt hat, muß man einen Grund haben. Und wie kommt ihr auf mich?« »Das ist die Schuld von T.E.!« Ich lachte. »Warum nicht E.T.?« Dennis blieb ernst bei seiner Antwort. »Weil er eben Tom Evans heißt, deshalb.« »Gut, der hat dich also geschickt. Warum gerade dich, Dennis?« Der Junge hob die Schultern. »Weil es bei mir nicht so sehr auffällt.« »Ja, das ist ein Grund«, sagte Glenda, »den du akzeptieren mußt.« »Mal sehen. Hör mal zu, Dennis. Wieso kommt dieser T.E. gerade darauf, dich zu mir zu schicken?«
»Weil er dich kennt, hat er gesagt.« »Ach ja?« Ich schüttelte den Kopf. »Sorry, aber ich kann mich an ihn nicht erinnern.« Der Junge stellte den leeren Becher ab. Er zwinkerte mir zu. »Tom Evans ist etwas Besonderes, sagen wir immer. Er ist wirklich toll, John, obwohl er nicht aus unserem Dorf stammt. Die Leute sagen, daß er ein Aussteiger ist. Gelebt hat er in London. Vor zwei Jahren kam er in unser Dorf. Er hat viel über London erzählt und auch über die Menschen, die hier leben. Er kam mit der Hektik nicht zurecht, wie er immer sagte. Es zog ihn aufs Land.« Ich mußte lächeln, als ich die altklugen Erklärungen des Jungen hörte, aber Dennis war nicht zu stoppen, und er sagte schließlich: »Eines Tages hat er auch über dich gesprochen, John. Er hatte von dir gehört und meinte, wenn uns einer helfen kann, dann bist du es. Kein anderer, John, nur du, ehrlich.« Ich nickte ihm zu. »Danke für das Kompliment, das ich sicherlich zu schätzen weiß. Aber wobei soll ich euch helfen? Welches Problem habt ihr im Dorf?« Dennis lachte. »Problem?« wiederholteer. »Da hätten wir ja das A-Team holen können.« »Nur gibt es das leider nicht.« »Stimmt, John, und die hätten uns auch nicht helfen können. Es geht nämlich um den Mond und um seine Strahlen, der die Menschen verändert.« Bevor ich auf seine Bemerkung einging, erkundigte ich mich nach dem Namen des Dorfes. »Es heiß Llannonwelly.« Ich verdrehte die Augen. »O je, wo kann ich das denn finden?« »Zwischen Carmathen und Swansea.« Das sagte mir mehr. »Gut, Dennis, rede weiter. Was passiert also in Llannonwelly? Wie du sagtest, habt ihr Probleme mit dem Mond.« »Das stimmt auch.« Dennis rieb seine Handflächen gegeneinander. »Der Mond ist schlimm.« »Das finde ich nicht. Ich schaue mir ihn oft an. Mal ist er voll, mal sieht er aus wie eine Gondel.« »Jetzt ist er voll.« »Stimmt.« »Und in ihm ist das Gesicht!« sagte der Junge mit lauter Stimme, damit ich die Worte auch ja verstand. Ich schwieg zunächst einmal. »Ein voller Mond, vor dem man Angst haben kann?« »Wir schon. Denn in ihm sehen wir immer das Knochengesicht. Es ist der Knochenmond, John!«
Ich lehnte mich zurück. In meinem Kopf jagte ein Gedanke den anderen. Sollte ich darüber lachen, den Kopf schütteln oder die Erklärungen ernst nehmen? Ich schaute Dennis an, der mir mit einem sehr ernsten Gesicht gegenübersaß und auf meine Reaktion wartete. Ich strich die Haare zurück. »Du hast Knochenmond gesagt?« »So ist es.« Dennis zeichnete den Kreis mit beiden Händen nach. »Es ist der Knochenmond gewesen.« »In ihm hast du die Knochen gesehen?« »Das Gesicht, John.« Seine hellblauen Augen schauten mich besorgt an. »Und nicht nur ich habe es gesehen, andere ebenfalls. Alle aus dem Dorf sahen die Fratze im Mond.« »Auch T.E.?« »Sicher.« »Was sagte er?« »Nicht viel. Er hatte Angst wie alle Einwohner. Und er sprach davon, daß bald fürchterliche Zeiten anbrechen würden. Das hat er gewußt, und daß die Menschen zu Gefangenen ihrer Alpträume werden würden. Das Mondlicht hat uns verändert.« »Moment mal, Dennis, Moment. Du hast von Alpträumen gesprochen,Junge?« »Ja.« »Warum?« »Weil Tom Evans es sagte.« »Und er hat recht behalten?« »Ich glaube schon. Unter dem Licht des Knochenmondes haben wir uns alle verändert, John, alle. Etwas ist ins Dorf gekommen, das uns Angst macht. Es traut sich niemand mehr, den Ort zu verlassen. Es würde auffallen, wenn ein Erwachsener verschwindet, deshalb haben sie ja mich ausgewählt. Ich bin nach London gefahren. Es war eine lange Reise.« »Das kann ich mir denken.« Glenda stellte ebenfalls eine Frage. »Wie hat euch das Mondlicht denn verändert?« »Wir werden manchmal anders.« Ich lächelte. »Das ist ein weiter Begriff, Dennis. Kannst du da nicht genauer werden?« »Ja, wir ähneln dann dem Mond. Es kommt vor, daß bei uns die Knochen durchschimmern. Da ist die Haut plötzlich durchsichtig, und man sieht die Knochen.« »Auch bei dir?« fragte ich. »Bei allen, John. Es gibt keine Unterschiede. Wir sind alle gleich. Männer, Frauen und Kinder.«
Ich fuhr durch mein Haar, schaute Glenda an, die nur die Schultern anhob. Eine Antwort konnte ich von ihr nicht erwarten. Log Dennis? Spielte er mir hier etwas vor? Ich sah in sein Gesicht. Dort zeigte sich kein verräterisches Zucken an, daß er sich den Bericht etwa aus den Fingern gesaugt hätte. Es mußte schon einiges dahinterstecken. »Und das passiert nur, wenn der Mond scheint?« »Eigentlich ja.« »Was meinst du damit?« »Nun, ich muß dir sagen, was ich von T.E. weiß. Er ist der Meinung, daß die Strahlen des Knochenmonds bereits in uns stecken und man unsere Gerippe auch so sehen kann.« »Ich sehe deine Knochen nicht.« Meine Bemerkung war etwas scherzhaft gemeint, kam aber nicht so an, denn Dennis erwiderte nichts. Dafür machte Glenda einen Vorschlag. »John, ich sehe dir an, daß du skeptisch bist, aber wäre es nicht an der Zeit, nach einem Beweis zu suchen?« »Schon, nur wie?« Sie deutete auf meine Brust. »Wie wäre es mit deinem Kreuz?« »Ja, ja.« Ich winkte ab. Klar, sie hatte recht. Es mußte wohl an der Hitze liegen, daß ich nicht selbst darauf gekommen war. Ich schaute Dennis an und fragte ihn: »Hast du etwas dagegen, wenn ich dich mit meinem Kreuz berühre?« »Nein, John, warum auch?« »Dann komm bitte her.« Er stand auf, und ich kam noch einmal auf die Träume zu sprechen. »Was haben denn die Träume mit dem Knochenmond zu tun, Junge?« »Jeder träumt schlimm, wenn der Mond am Himmel steht. Das ist richtig grausam.« »Auch du?« »Ich mache keine Ausnahme.« »Was hast du denn geträumt?« »Ich war in einem Schloß und habe dort viele Menschen getötet. Wir haben sie dann in Höhlen geworfen, wo welche waren, die diese Menschen aufaßen. Wie Kannibalen.« Ich mußte schlucken, als ich die Antwort vernahm, und Glendas Gesicht wurde bleich. Nun streifte ich die Silberkettc über den Kopf und dachte dabei an die Trennung der beiden Ichs, die ich mittlerweile ja erlebt hatte. Das erste Ich, der Körper, blieb auf der Schlafstätte zurück. Das zweite ging auf Wanderschaft. Es löste sich von dem ersten und stieß hinein in andere Welten und Dimensionen, wo es sich in furchtbare Gestalten und Monstren verwandeln konnte, die oftmals mit einem Menschen nichts mehr zu tun hatten. So war es auch bei Mason Rafferty gewesen. In der anderen Dimension war er ein grauer Reiter auf einem grauen Pferd gewesen und hatte sich in einem schwarzen Berg aufgehalten.
Das Kreuz pendelte mittlerweile vordem Gesicht des Jungen, der seinen Blick nicht von meinem weißmagischen Talismann abwenden konnte. »Es ist so schön«, flüsterte er. Ich nickte. »Ja, mein Lieber, es ist einfach wunderbar.« »Gehört es dir?« »Sicher. Ich habe es bekommen, man hat es mir überlassen, und es ist sehr alt.« »Älter als tausend Jahre?« »Viel älter.« Dennis staunte. Er agierte jetzt seinem Alter entsprechend. Zuvor war er mir einfach zu erwachsen gewesen. Daß er mein Kreuz so anhimmelte, bewies mir auch, daß er ein normaler Mensch war und kein Dämon. Trotzdem wollte ich den endgültigen Beweis und näherte das Kreuz seiner Stirn unter dem hellblonden Haar. »Ich lege es dir jetzt auf, Dennis.« »Ja, tu das, John.« Es kam zu der Berührung. Dennis zuckte für einen Moment zusammen. Glenda war aufgestanden und um den Schreibtisch herumgegangen, weil sie so besser schauen konnte. Unbeweglich wie eine Statue stand Dennis vor mir, das Kreuz noch immer an der Stirn. »Jetzt passiert es, John!« flüsterte er. »Ich spüre es genau, es kommt über mich.« Er hatte recht, denn es kam etwas über ihn. Er hatte vorhin von der durchscheinenden Haut gesprochen. Die trat auch bei ihm auf. Sie verlor an Farbe, wurde sogar dünner, und ich hörte Glendas entsetzt klingendes Flüstern. »Mein Gott, John, da sind ja seine Knochen...« *** Das Kreuz hatte so reagiert wie Röntgenstrahlen. Seine Magie holte tatsächlich die Struktur der Knochen hervor, und Dennis sah aus, als würde ein Skelett vor uns stehen. Ich spürte einen Schauder, während der Junge sich nicht rührte und mich nur anschaute. Glenda hatte ihren ersten Schock überwunden. Sie trat mit lautlosen Schritten an uns heran, schaute genau hin und schüttelte den Kopf. »Das ist doch nicht möglich«, wisperte sie. »Du siehst es.« »Und wie . . .« »Keine Ahnung, Glenda, keine Ahnung.« Ich wandte mich an den Jungen. »Wie fühlst du dich, Dennis?« »Gut, denke ich.« »Du spürst nichts?« »Nein, John. Aber ich weiß, was geschieht. Du siehst meine Knochen, nicht wahr?« »Das stimmt.«
»Dann habe ich nicht gelogen. Der Knochenmond, seine Strahlen, sie .. . sie haben uns eingeholt.« Dennis stand ruhig. Nicht eine Wimper zitterte an ihm. Seine Augen blickten in unerreichbare Fernen, und sein Geist schien von Gedankenströmen durchwandert zu werden. Es war schwer, die richtige Entscheidung zu treffen. Auch unter dem Einfluß des Kreuzes konnte er die von mir gestellten Fragen nicht beantworten. Er blieb bei seiner Behauptung, daß der Knochenmond die Menschen veränderte. Ich nahm das Kreuz wieder zurück, behielt ihn aber unter Beobachtung. Für einen Moment schimmerte sein Gerippe noch in dieser fahlgrünen Farbe durch die dünne Haut, dann verschwand das unheimliche Leuchten allmählich. Vor uns stand der Junge wieder so, wie wir ihn hatten hereinkommen sehen. »Und du bist nicht der einzige, bei dem so etwas passiert ist?« fragte ich. »Alle im Dorf sind verändert.« Ich nickte. »Der Knochenmond scheint mir gefährlich zu sein. Habt ihr euch überlegt, wie es kommt, daß sich dort der Umriß eines Skelettschädels abzeichnet?« »Ja, aber wir wußten nichts.« Er hob die Schultern. »Selbst T.E. kannte keine Lösung. Er hat uns nur geraten, dir Bescheid zu geben, weil du es schaffen kannst, das Böse zu vertreiben. Mich hat man geschickt, weil es am wenigsten auffällt, wenn ich nicht im Ort bin. Ja, so ist es eben gewesen.« »Und es hängt mit euren Träumen zusammen, meinst du?« »Ja, nur mit den Träumen. Wenn der Knochenmond am Himmel steht, beginnt das Grauen der Nacht und der Träume. Auch das hat Tom Evans gesagt.« Dennis schaute mich an und fragte direkt: »Willst du nicht nach Llannonwelly kommen, John?« »Ja, ich werde kommen.« »Und wann?« »So schnell wie möglich, Dennis.« »Dann kann ich ja mit dir fahren, denke ich.« »Natürlich. Aber zuvor wollen wir beide etwas essen. Eine derartige Reise kann man nur gestärkt antreten. Ißt du gern italienisch?« Er runzelte die Stirn. »Was ist das? Bei uns gibt es nur Gasthöfe, wo wir . ..« »Sorry, ich vergaß. Nun ja, ich würde sagen, daß du dir Nudeln bestellst. Klar?« »Die esse ich.« »Na, das ist doch schon was.« Ich wandte mich an Glenda Perkins. »Kommst du mit?« »Nein, John, ich habe noch zu tun. Im Gegensatz zu dir gibt es noch Menschen, die arbeiten müssen.«
»Ha, ha . . .« Glenda strich Dennis über das hellblonde Haar. »Und laß dich von John nicht einseifen.« »Wie bitte?« »Nichts, schon gut.« Ich wollte mit ihm zu meinem Stamm-Italiener gehen. Das Restaurant lag im Yard Building. Auf dem Gang begegnete uns Sir James Powell, mein Chef. Der Superintendent bekam tellergroße Augen, als er mich mit dem Jungen sah. »Ich gehe doch recht in der Annahme, daß es nicht Ihr Sohn ist, John, oder?« »Sie haben recht. Das ist Dennis.« »Hallo, Sir.« Der Junge reichte meinem Chef die Hand. Natürlich wollte Sir James eine Erklärung haben, die gab ich ihm auch. Ich erklärte in knappen Sätzen, daß ich sehr bald in Richtung Wales fahren würde. Sir James, der trotz der Hitze seinen grauen Anzug trug, schaute mich unter hochgezogenen Augenbrauen an. »Was wollen Sie?« »Nach Wales.« »Sie hatten doch«, er räusperte sich, »so etwas wie Urlaub.« »Das war keiner. Außerdem habe ich nicht vor, in Wales Urlaub zu machen.« Er senkte den Blick und schaute meinen jungen Freund ziemlich skeptisch an. Wahrscheinlich konnte er sich nicht vorstellen, daß Dennis der Auslöser für einen Fall war. »Kann ich Sie noch sprechen, John?« »Ja, heute nachmittag.« Dennis mischte sich ein. »Wann wollen wir denn fahren?« Ich lächelte. »Zumindest noch in der Nacht. Oder sagen wir besser, am frühen Morgen. Jetzt aber werden wir erst einmal zusehen, daß wir etwas in den Bauch bekommen.« Der Junge grinste mich an wie ein Lausbub. »Ehrlich gesagt, John, ich habe sogar Hunger.« »Das ist immer ein gutes Zeichen, Dennis!« *** Vor Barry F. Bracht lag die breite Treppe mit den acht Stufen. Sie führte zum verglasten Eingang des Verlagshauses hoch, in dem auch das Büro des Lektors lag. Ein kleiner Raum mit Kunststoffwänden, im Sommer drückend heiß. Da kam es Bracht vor, als würden die Wände unter der stickigen Wärme allmählich zerfließen.
Einzige Auflockerung war die Pinnwand, auf die Bracht die Cover der Taschenbücher gesteckt hatte, die in den folgenden sechs Monaten erschienen. Die Treppe war ihm ein Greuel. Nicht wegen ihrer Stufen, nein, sie war ihm besonders am Morgen zuwider, denn der Lektor gehörte zu den Menschen, deren Bio-Kurve erst dann in Schwung kam, wenn andere schon an den Feierabend dachten. Da konnte er dann zum Tiger werden, aber am Morgen begann jedesmal das große Grauen. Und so schlich er dann die Stufen hoch wie ein alter Mann. Er war wieder einmal zum Schrat geworden, die morgendliche Arbeitslust lag dicht oberhalb des Nullpunkts. Eigentlich munterte ihn nur die Tatsache auf, daß die Sekretärin einen guten Kaffee gekocht hatte. Der würde ihn etwas munterer machen. Zum Glück war an diesem Morgen keine Konferenz angesetzt worden. Der Verleger besaß nämlich die fatale Eigenschaft, die Konferenzen immer sehr früh zu legen. Für Brachts Gehirnspiralen war das irgendwo. Dabei war er erst zweiunddreißig. Er war ein angenehmer Kollege. Die vergangene Nacht allerdings hatte bei ihm für eine innerliche Veränderung gesorgt. Der Mond, das Knochengesicht darin und sein aufgewühltes Inneres hatten ihn nachdenklich werden lassen. Er wollte nicht gerade behaupten, etwas Besonderes zu sein, doch dieser neue Name Zebuion hatte ihn schon erschreckt. Zebuion, ein Schattenkrieger! Damit konnte Barry F. Bracht nichts anfangen. Weder mit dem Namen, noch mit dem Begriff, aber beides mußte für ihn eine Bedeutung haben und würde sicherlich auch sein weiteres Schicksal bestimmen. Er merkte kaum, daß man ihn grüßte. Automatisch nickte er einige Male auf der Treppe in den ersten Stock. Die Türen zu den Büros standen offen. Zu Arbeitsbeginn war es auf dem Gang ziemlich laut. Da zumeist Frauen beschäftigt waren, schallten ihm die hellen Stimmen entgegen, hin und wieder auch ein Lachen, für das Barry nur ein Kopfschütteln übrig hatte. Er konnte zu dieser frühen Zeit nur selten lachen. Und wenn, dann kaum in der Firma. Um sein Büro zu erreichen, mußte er durch das Sekretariat. Der Kaffee gluckerte bereits mit schmatzenden Geräuschen in die Kanne, und die Sekretärin lächelte ihn so nett an, daß er einfach zurücklächeln mußte. »Morgen, Barry«, sagte sie. »Hi, Carla.« Carla Hill war blond, schon lange bei der Firma und wirbelte für zwei. Auf sie konnte man sich hundertprozentig verlassen. Alles war wie sonst, völlig normal. Trotzdem empfand Bracht es als anders. Er wußte selbst nicht, woran es lag, bestimmt nicht an der Umgebung, mehr an ihm, denn er kam sich vor, als würde er selbst neben sich hergehen. Als er hinter seinem Schreibtisch Platz genommen
hatte, brach ihm der Schweiß aus, was nicht allein in der stickigen Luft lag, die wie Blei in den Kunststoffzellen hing. Absolut ungesund. Die Jacke hatte er über die Stuhllehne gehängt, das Rollo surrte nach unten, filterte das helle Sonnenlicht. Als er seinen Kaffee holte, begrüßte er zwei andere Kollegen und verzog sich mit der Tasse in sein Büro. Der erste Schluck tat gut, nach dem zweiten wühlte er durch seine Haare, und vor dem dritten zündete er sich eine Zigarette an, deren Rauch er nachdenklich hinterherschaute. Das aufgeschlagene Manuskript diente ihm nur als Alibi. Seine Gedanken beschäftigten sich mit den Vorfällen der vergangenen Nacht. Seit dieser Zeit wußte Bracht, daß er nicht mehr derselbe war wie noch vor zwei Tagen. Der Anblick des Knochenmonds hatte bei ihm etwas ausgelöst, mit dem er nicht fertig wurde. Es steckte tief in seinem Innern, er suchte nach einer Beschreibung, und ihm fiel eigentlich nur der Begriff Unsicherheit ein. Ja, er war unsicher geworden. Sein Leben war dabei, die eingeschlagenen Bahnen zu verlassen. Es fiel ihm schwer, dies zu verkraften, und er fand einfach keine Richtung, obwohl er sehr intensiv nachdachte. Nur eines stand fest. Er konnte nicht warten, bis die anderen Kräfte die Kontrolle über ihn bekamen. Wenn er etwas dagegen unternehmen wollte, mußte das von ihm ausgehen. Aber wie? Er dachte an den Knochenmond. Dessen Strahlen mußten sein Inneres aufgewühlt und es zweigeteilt haben. Barry F. Bracht und Zebuion. Zwei Namen, wie sie unterschiedlich nicht sein konnten. Eigentlich auch zwei Personen — oder? Ja, das mußte so sein. Trotzdem konnte er nicht daran glauben. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß die beiden Namen und natürlich die zwei Personen zusammengehörten. Barry F. Bracht und Zebuion, das waren seine beiden Hälften, seine Ichs, die schon immer in ihm gesteckt hatten, nun aber geteilt worden waren. Der Knochenmond war erschienen, und mit ihm war seine Erinnerung gekommen. Zebuion . . . Barry sinnierte über den Namen nach. Es war ein biblischer Name, das wußte er schon. Er hörte sich nach Kampf an, nach Durchsetzungsvermögen, nach Ärger und Schwierigkeiten, gleichzeitig auch mit der Hoffnung verbunden, daß Zebuion es schaffte, diese Schwierigkeiten zu überwinden, auf welchen Wegen auch immer.
Konnte ein Mensch tatsächlich aus zwei Wesen bestehen, aus zwei Ichs? Eigentlich jeder Mensch, sagte er sich, nur schafften es die meisten nicht, die beiden Teile voneinander zu lösen. Es sei denn — jetzt freute er sich über seinen Geistesblitz —, das geschah im Traum. Er hatte gelesen, daß es Menschen gab, die tief im Traum ihr anderes Ich lösen konnten und es gewissermaßen auf Reisen schickten. Das hatte Bracht nie erlebt, er kannte auch keinen Menschen, dem dies möglich war, er hatte nur davon gelesen. Natürlich betraf so etwas immer nur die anderen. Wie sollte er auch davon ausgehen, daß es ihn einmal erwischte. Außerdem waren das alles Theorien, keine Beweise. Möglicherweise hatte er sich auch geirrt und sich alles nur eingebildet, er wußte es nicht, aber er merkte, wie ihn eine große Müdigkeit überkam. Okay, als Morgenmensch hatte er sich nie bezeichnet, aber diese Müdigkeit war unnormal. Beinahe kam es ihm vor, als hätte ihm jemand Schlaftabletten eingegeben. Es war zudem nicht einfach für ihn, sich auf seinem Stuhl zu halten. Bevor er nach rechts wegkippen konnte, gab er seinem Oberkörper den nötigen Schwung, damit er mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte liegenblieb. Zum Glück sind die Türen geschlossen, dachte er noch, bevor er in einen tiefen Schlaf hineinsackte, der schon einer Ohnmacht ähnelte... *** Barry F. Brachts Traum Eine andere Welt — düster, fast schwarz. Wenn Licht vorhanden war, dann nicht mehr als ein grauer Schimmer, der sich an gewissen Stellen wie lange Zungen verteilte, aber kaum Helligkeit brachte. Zugleich eine Welt, die sich trotz der Schwärze in einer ständigen Bewegung befand. Sie schwankte, sie schaukelte. Sie griff nach dem Träumer, und sie baute sich noch weiter auf. Nach allen vier Seiten hin öffnete sie sich, als wäre sie ein Ballon, den jemand aufgeblasen hatte. Sie wurde größer, die Schatten nahmen zu, aber auch die grauen Streifen, die sich auf einen bestimmten Platz konzentrierten. Sie irrten zuckend einige Male durch die unheimliehe Düsternis, bevor sie ihr eigentliches Ziel ausgemacht hatten und dort auch blieben. Genau da stand eine Gestalt! Sie schien aus der Leere der Welt in die Höhe gewachsen zu sein, und sie stand da, ohne sich zu bewegen. Wer war sie, wo kam sie her? Möglicherweise konnte selbst die Gestalt die Frage nicht beantworten. Obwohl sie Menschliches an sich hatte, hätte man sie kaum als einen
normalen Menschen bezeichnen können, dazu war sie einfach zu anders, denn sie hätte durchaus in einem Fantasy-Film mitspielen können. Von ihr ging etwas aus, das mit den Begriffen Kampf, Gefahr und Kraft umschrieben werden konnte. Die Füße verschmolzen mit der Dunkelheit des Bodens. Dabei trug die Gestalt Stiefel, an deren Seiten sich ein silbriger Schimmer aus Perlen befand. In den Schäften verschwanden die Enden der langen Hosenbeine. Das Kleidungsstück schimmerte wie gewichstes Leder. Die Jacke besaß die gleiche Farbe. Sie lag so eng an wie ein Trikot. In der Mitte zwischen Jacke und Hose schimmerte ein silberner Gürtel, bei dem an verschiedenen Stellen einige Knöpfe vorstanden. Der Kopf des Kämpfers war von einem Helm umgeben. An drei Seiten dunkel, nicht aber zum Gesicht hin, denn dort befand sich ein durchsichtiger Gesichtsschutz, wie man ihn von den Helmen der Motorradfahrer her kannte. Das Gesicht dahinter war kaum zu erkennen. Nur soviel, daß es sich bei der Gestalt um einen Weißen handelte. Und noch etwas kam hinzu und hob ihn von den anderen Gestalten deutlich ab. Auf dem Rücken wuchsen zwei dunkle Flügel. Vergleichbar mit denen eines Engels. Es war nicht zu erkennen, ob diese Flügel einen filigranen Aufbau zeigten, jedenfalls mußten sie kräftig genug sein, damit sich die Person in Bewegung setzen konnte. Sie stand unbeweglich auf der Stelle. Die Arme hingen locker an den Seiten herab. Spannung kannte die ungewöhnliche Person wohl nicht. Trotzdem strömte von ihr der Hauch einer Gefahr aus. Noch stand die Gestalt ruhig auf dem Fleck, doch nach einer Weile bewegte sie den Kopf. Zuerst schaute sie nach rechts, dann in die entgegengesetzte Richtung, als wollte sie versuchen, die Schwärze zu durchdringen. Aber es war nichts zu sehen, selbst das Licht tauchte immer mehr weg und verschwand schließlich ganz. Wie auch die Gestalt. Nur ein kurzes Zucken ihrer Flügel war zu sehen. Dann jagte sie in einem schrägen Winkel in die Luft, als suchte sie ein bestimmtes Ziel. Zum Beispiel den Knochen-Mond... *** »He, Barry, was ist los? Wach doch auf, bitte. Komm, du kannst doch hier nicht schlafen . . .« Barry F. Bracht hörte die Stimme, als wäre sie meilenweit von ihm entfernt. Dabei stand Carla Hill direkt neben ihm, hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt und schüttelte ihn.
Sehr mühsam öffnete er die Augen, starrte auf seine Schreibtischunterlage und gab als Antwort ein unverständliches Brummen von sich. »Aufwachen, Barry .. .« »Was ist denn?« Carla Hill konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie die Antwort vernahm. So ähnlich reagierte ihr Mann auch, wenn er von ihr geweckt wurde. »Bist du krank, Barry?« Er gab keine Antwort. »He, ist dir nicht gut?« Er holte tief Luft. »Komisch, Carla, ich glaube, ich bin eingeschlafen, nicht?« Er hörte ihr Lachen. »Und ob du eingeschlafen bist, mein Junge. Tief und fest. Nur geschnarcht hast du nicht.« »Immerhin etwas.« »Und was ist sonst?« »Was soll sein?« Carla Hill hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Meine Güte, man schläft doch nicht einfach so ein, auch du nicht, obwohl du ja kein Morgenmensch bist.« »Manchmal schon.« Sie trat einen Schritt zurück. »Hast du was mit dem Kreislauf, Barry?« »Wie kommst du darauf?« »Bei dem Wetter. Draußen ist es nicht nur heiß, sondern noch feucht und schwül. Da kippen selbst die stärksten Athleten um.« Er winkte ab und lächelte kantig. »Klar, Carla, aber ich bin nicht umgekippt.« »Was denn?« Bracht streckte unter dem Schreibtisch die Beine aus. »Ich kann es dir nicht sagen, Carla. Es kam plötzlich über mich. Ich konnte mich nicht mehr halten, verstehst du?« »Ja, ja und dann?« »Schlief ich ein. Bis du mich geweckt hast.« »Komisch.« Sie schüttelte den Kopf. »Aus dir werde ich nicht schlau. Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?« »Frisch?« »Er müßte gerade durchgelaufen sein.« »Ja, er würde mir guttun.« Sie verließ den Raum kopfschüttelnd. Zurück blieb ein sehr nachdenklicher Barry F. Bracht. Okay, er hatte geschlafen. Aber das war nicht alles gewesen. Den Schlaf empfand er als zweitrangig. Viel wichtiger war der Traum gewesen. Durch ihn hatte er in eine Welt hineingeschaut, die ihm bis heute verborgen gewesen war.
Aber eine Welt, die mit ihm unmittelbar zu tun hatte. Nicht mit ihm als Barry F. Bracht, sein zweites Ich war dort hineingestoßen und hatte durch den Traum den Weg gefunden. Zebuion! Er sah die Gestalt noch sehr deutlich vor sich. Ganz in Schwarz gekleidet, bis eben auf den Silbergürtel in der Mitte. Der Helm, die Flügel, all das paßte zwar nicht zusammen, doch er sah es nicht einmal als ungewöhnlich an. Und er hatte auch das Gesicht hinter der Scheibe gesehen. Ein hartes Gesicht, ein kantiges mit scharf geschnittenen Zügen. Ein Gesicht, das er kannte. Sein eigenes! Zwar nicht so aussehend wie jetzt. In dem anderen zeichneten sich die Gefühle und die Kraft des Kämpfers ab, aber ein Gesicht, das ihm gehören mußte. Er war Zebulo, der Kämpfer! Über seinen Rücken rann eine Gänsehaut. Tief holte er Luft, als er darüber nachdachte, und er dachte daran, daß sich sein Leben ändern würde. Das Schicksal hatte auch bis jetzt seine Weichen gestellt, jetzt aber würde der Zug des Lebens in eine andere Richtung fahren. Er saß in einem der Wagen und konnte nicht aussteigen. Carla kam mit dem Kaffee. »Trink ihn, dann geht es dir wieder besser.« »Du bist ein Schatz.« Carla lief rot an. »Hör auf, Barry.« Sie beugte sich vor. »Ich habe mir um dich wirklich Sorgen gemacht. Daß du so plötzlich einschläfst, ist doch nicht normal. Bist du krank?« »Nein, glaube nicht.« Kr trank die ersten Schlucke. »Tja, es ist nur komisch.« »Wie denn?« Barry F. Bracht schaute hoch, und sein Blick fiel in das besorgte Gesicht der Sekretärin. »Träumst du eigentlich hin und wieder?« Carla Hill mußte lachen. »Klar.« »Was denn?« Sie drohte mit dem Finger. »Das sage ich dir nicht.« »So ist das auch nicht gemeint gewesen, Carla. Ich wollte nur wissen, ob du so tief und fest träumst, daß du im Traum etwas ganz anderes erlebst und dich plötzlich als eine Gestalt siehst, die dir völlig fremd ist, wobei du aber trotzdem mit dieser zweiten Gestalt identisch bist?« »Hä?« machte Carla. »Hör mal, denkst du noch normal nach? Oder schwebst du in anderen Sphären?« »Nein, das nicht. Ich habe meine Frage ernst gemeint. Fs gibt diese Träume.« Carla Hill war eine intelligente junge Frau. »Moment mal, Barry. Das käme einer Teilung der Persönlichkeit gleich, wenn ich näher darüber nachdenke.«
»So ist es.« »Nein, Barry, auf keinen Fall. Das habe ich noch nie geträumt. Wenn ich träume, dann bin ich auch im Traum ich selbst und keine andere Person, die nur so aussieht wie ich oder so ähnlich.« Barry F. Bracht nickte. »Ja, Carla, das ist schon ziemlich kompliziert, finde ich.« Carla Hill zog die Nase kraus. »Ist dir denn so etwas schon mal passiert, Barry?« »Vielleicht.« »Jetzt?« Er trank Kaffee und konnte sich vor einer Antwort drücken, weil sie ins Sekretariat mußte, denn dort hatte das Telefon geklingelt. Nachdenklich schaute Barry F. Bracht auf den Schreibtisch. Er wußte plötzlich, daß er nicht mehr länger bleiben konnte. Nein, dieser Raum engte ihn ein. Er mußte weg. Barry F. Bracht stand auf, nahm seine Jacke und hängte sie über die Schulter. Die lasche ließ er zurück. Im Vorzimmer schaute ihn Carla erstaunt an. »Du willst weg, Barry?« »Ja.« »Wann bist du zurück?« Er stand an der Tür, eine Hand lag auf der Klinke. Dann sagte er: »Es kann lange dauern, Carla, sehr lange sogar. . .« Sekunden später war er verschwunden. Zurück ließ er eine Sekretärin, die die Welt nicht mehr verstand und nur noch den Kopf schütteln konnte... *** Von Dennis war nicht mehr viel zu sehen. Der größte Teil seines Körpers war hinter der Speisekarte verschwunden. »Was möchtest du denn essen?« fragte ich. »Das ist schwer, John. So etwas kenne ich alles nicht.« »Nudeln mit Soße?« Hinter der Speisekarte drang ein Brummen hervor, ansonsten hörte ich von Dennis keinen Kommentar. Wir hatten uns nach draußen gesetzt. Die Sonne wollte nicht richtig durchkommen, die Wolkendecke war einfach zu dicht. Dennoch war ihre Kraft zu spüren. Die schwülheiße Luft lag wie ein Druck über uns. London brodelte. Bald sollte das Wetter wechseln. Ich spürte auch den leichten Druck, der immer dann eintrat, wenn das Wetter vor einer Änderung stand. So wie mir erging es Tausenden.
Einer der beiden Inhaber schaute zu uns herüber. Ich winkte noch ab. Ein großes Glas Limonade hatte Dennis bereits bekommen und damit seinen ersten Durst gelöscht. Er ließ die Karte sinken. Zunächst erschien sein hellblondes Haar, dann die Stirn, anschließend die blauen Augen. »Ich habe mich entschieden, John.« »Wunderbar. Für was?« »Ich nehme eine Pizza.« »Klasse. Hätte ich an deiner Stelle auch getan.« »Warum?« Ich winkte dem dunkelhaarigen Besitzer. »Die Pizzen sind hier erstklassig.« »Ich möchte viele Tomaten.« »Da kannst du dir noch einen Salat zusätzlich bestellen.« »Das mache ich auch.« Ich hatte mich für einen großen Salatteller entschieden. Dazu trank ich Wein, den ich mit Mineralwasser mixte. Der Junge schaute auf die Straße, beobachtete den Verkehr. Manchmal fuhr er über seine Stirn, um den Schweiß abzuwischen. »So schlimm ist es bei uns nicht.« »Du sprichst vom Wetter?« »Klar. Bei uns ist es immer frischer. Aber dafür habt ihr nicht den Mond mit den Knochen.« »Stimmt.« Ich fragte bewußt nach, weil er von allein berichten sollte. Das tat er auch und hielt dabei sein Glas in der Hand, aus dem er hin und wieder einen Schluck nahm. »Wenn er scheint, sind die Menschen anders. Dann verlassen sie ihre Häuser und gehen hin, um ihn sich anzusehen.« »Einfach so?« fragte ich. »Nein. Sie haben vorher geschlafen, John. Sie müssen auch geträumt haben. Denn sie sehen so aus, wie Menschen, die aus ihren Träumen herausgerissen wurden.« »Hast du das gemerkt?« »Das sagte man mir.« »Wer?« »Alle, John. Auch ich habe es gespürt. Ich bin aus meinem Traum erwacht und mußte aufstehen. Ich ging mit den anderen los. Viele tragen Laternen. Wir haben dann gegen den Mond geschaut.« »Hast du mit ihnen über die Träume gesprochen?« »Auch das.« »Was sagen denn die Erwachsenen dazu?« »Sie nehmen sie hin. Nur Tom Evans nicht. Er weiß, daß mehr dahintersteckt. Er hat von der teuflischen Kraft der Träume gesprochen. Da ist jemand, der das alles lenkt.« »Hat man dir auch einen Namen gesagt, Dennis?« »Nein, den wußte niemand, glaube ich. Aber es ist nicht einfach für uns, John. T.E. sagte, daß es die allerhöchste Zeit wird. Deshalb bin ich auch gekommen. Jetzt hoffe ich, daß du die Träume stoppen kannst.«
Unser Essen wurde serviert. Zum Glück konnte Dennis abschalten, denn er aß mit gesundem Appetit. Ich beschäftigte mich mit meinem Salat und dachte über einige Dinge nach. Nicht nur über den letzten Fall, der mich in die Traumregionen geführt hatte, denn mit bösen Träumen und deren Lenkung hatte ich schon vor einiger Zeit Kontakt gehabt, als wir mit einem Wesen Bekanntschaft gemacht hatten, das sich Jericho nannte. So hieß er, und so hieß auch die Stadt in der Wüste von Arizona, die er gegründet hatte. * Jericho war es gelungen, ebenfalls Alpträume zu bescheren. Wir hatten die Bewohner der Stadt zwar erlösen können, aber Jericho war entkommen. Und ich erinnerte mich auch an den Apachen Chato, der davon gesprochen hatte, daß es einen Mann auf der Welt gab, der in der Lage war, in die Alpträume der Menschen hineinzudrängen und sie zu verändern. Dieser Mann hieß Barry F. Bracht und war von dem Apachen als Schattenkrieger bezeichnet worden. Als Kämpfer der Nacht, als Fighter in der Dunkelheit. Als Mann, der vom Schicksal ausersehen war, gegen die gefährlichen Traum-Dämonen zu kämpfen. Ich hatte ihn gesucht, aber nicht gefunden, wußte aber, daß er eine wichtige Persönlichkeit war. Obwohl es nicht sehr höflich war, sprach ich Dennis an. »Sagt dir der Name Barry F. Bracht etwas?« Erließ sein Besteck sinken. »Wie kommst du darauf?« »Nur so.« Dann fiel mir noch etwas ein. »Oder hast du schon mal etwas von einem Schattenkrieger gehört?« Jetzt schluckte er. »Wie kommst du darauf?« »Es war nur eine Frage.« »Ja, das habe ich.« Er nickte heftig. »Tom Evans sprach davon. Er meinte, daß der Schattenkrieger kommen würde, um die Träume zu zerstören. Aber er kann es nicht allein, er benötigt Hilfe, verstehst du? Deshalb hat mich T.E. auch nach London geschickt. So ist alles gelaufen, John. Du und der Schattenkrieger, der Kämpfer der Nacht.« Ich lächelte. »Wenn das alles so ist, Dennis, dann kann ich allein kaum etwas tun. Dann müßten wir warten, bis wir Barry F. Bracht gefunden haben. Mir wurde der Name damals genannt.« »Kennst du ihn denn?« »Nein, ich habe ihn nie gesehen, ich hörte nur von ihm. Er muß eine wichtige Person sein.« »Die wir treffen, John.« Ich war überrascht. »Tatsächlich? Woher weißt du das?« »Er muß einfach kommen. T.E. sagte, daß er bestimmt die Botschaft empfängt. Er kann nicht anders. Wenn die Gegenseite zu stark wird, dann kommt auch er. Alles wird anders werden.«
* Siehe Sinclair- Taschenbuch 73116: »Jericho«
»Gibt es denn keinen Hinweis, wo wir ihn finden könnten?« erkundigte ich mich. Dennis aß von seiner Pizza. »Das ist sehr schwer. Er muß einfach den Weg finden, und er wird ihn finden. Es hat sich viel verändert, sagte T.E.« »Meinst du, daß er nach Llannonwelly kommen wird?« »Da muß er hin.« »Dann werden wir ihn ja dort treffen. Oder bist du anderer Meinung, Dennis?« Der Junge schob den Rest des Tomatensalats in den Mund. »Das hofft T.E. auch.« »Dann werden wir ihn in Wales sicherlich treffen.« Dennis räusperte sich, wollte etwas sagen, schluckte seine Bemerkung allerdings und saß steif wie ein Brett. Er hielt das Besteck in den Händen wie eine Waffe, bewegte nur den Kopf und drehte ihn dorthin, wo die Passanten auf dem Gehsteig an uns vorbeigingen. Er zwinkerte mit den Augen, die Lippen bewegten sich, ohne daß er ein Wort sprach. Der Junge zeigte sich verändert, der letzte Rest Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er war blaß wie eine Leinwand. Ich war besorgt. »Was hast du, Dennis?« »John«, hauchte er, wobei ich mich anstrengen mußte, um ihn zu verstehen. »Er ist hier, glaube ich.« »Wer?« »Bracht, Barry F. Bracht. Ich spüre genau, daß der Schattenkrieger in der Nähe ist.« Die Worte elektrisierten mich, denn ich glaubte nicht, daß sich der Junge irrte. Ich stellte auch keine Frage mehr und wartete auf seine Reaktionen. Noch saß er unbeweglich, hatte aber beide Hände auf die Lehnen des Kunststoffstuhls gelegt und sah aus, als wollte er jeden Augenblick aufstehen. In Bewegung waren nur seine Augen. Die Blicke huschten über die vorbeigehenden Menschen hinweg. Er suchte und sortierte sie förmlich aus, ohne sich durch irgend etwas ablenken oder beirren zu lassen. Nur die Stirn hatte er in Falten gelegt, ein Zeichen seiner Anspannung. So verging fast eine halbe Minute. Ich hielt es nicht mehr aus. Leise fragte ich: »Hast du ihn gesehen? Ist er noch da?« »Er ... er kommt näher, John. Ich spüre es genau. Er ist sich auch unsicher, wirklich.« »Wie merkst du das?« »Es ... es ist eine Ausstrahlung, John. Die . . . die kenne ich aus meinem Dorf. Er hat etwas an sich.« »Will er denn zu dir?«
Dennis lächelte kurz. »Ich denke schon, daß er weiß, wer hier sitzt. Er ist auch auf der Suche. Der negative Geist ist einfach zu stark geworden, denn er überschwemmt alles. Er muß es einfach spüren, John.« Ich griff über den Tisch und berührte Dennis' Arm. »Wenn er in unsere Nähe kommt und du ihn genau siehst, wirst du ihn mir zeigen. Ist das okay?« »Das mache ich, John.« »Gut, dann warten wir.« Auch ich schaute mir die Passanten an. Männer, Frauen, Kinder. Geschäftsleute, die hier in der Gegend zu tun hatten. Einige waren auf dem Weg zu ihren Dienststellen und Arbeitsplätzen. Andere wiederum schlenderten nur. Sie alle litten unter der schwülen Wärme. Auf den Gesichtern malte sich die Anstrengung ab, die eine derartige Witterung mit sich brachte. Plötzlich sprang Dennis auf. »Das ist er!« »Wo?« »Da!« Er streckte den rechten Arm aus. »Ich bin mir ganz sicher, John. Das muß er sein!« Der Junge mochte ja recht haben, nur sah ich einfach zu viele Personen, die an uns vorbeimarschierten. »Kannst du mir keine Beschreibung geben?« »Der Große mit dem braunen Haar und dem Bart auf der Oberlippe. Da, jetzt bleibt er stehen.« Ich entdeckte den etwa dreißigjährigen Mann sofort. Er stand in der Tat unbeweglich, schien mir etwas irritiert zu sein. Die helle Jacke hatte er über seine Schulter gehängt. Der Blick glitt dem grauen Himmel entgegen, als würde er dort eine Antwort auf irgendwelche Fragen bekommen. Die gab es dort nicht. »Was willst du machen, John?« Ich stand bereits auf. »Hingehen und ihn ansprechen. Du bleibst hier, Dennis.« »Was wirst du ihm sagen?« »Das weiß ich noch nicht.« Ich war bereits auf dem Weg. An zwei jungen Frauen, die so aussahen wie weibliche Banker, schob ich mich vorbei und hatte Barry F. Bracht, falls er es war, nach wenigen Schritten erreicht. Vor ihm blieb ich stehen. Er schaute mich an. Ich sah, daß er braune Augen hatte, in denen das Mißtrauen wohnte. »Mr. Bracht?« fragte ich. Zögernd nickte er. »Ja - warum?« »Ich möchte gern, daß Sie mit mir kommen.« In diesem Moment holte er aus und schlug zu! ***
Damit hatte ich nicht rechnen können. Deshalb erwischte mich der Treffer auch völlig unvorbereitet. Er explodierte dicht oberhalb des Gürtels. Die Schmerzen fluteten durch meine Körper. Ich sah für einen Moment Sterne, mußte würgen und sackte in die Knie. Pfeifend holte ich Luft, die Gestalt des Mannes schwankte vor meinen Augen. Dann huschte sie weg, und gleichzeitig erreichte ein Schrei meine Ohren. Dennis hatte ihn ausgestoßen, und der Ruf formierte sich zu einem Wort. »Barry, bleib stehen!« Ich kam in dem Augenblick hoch, als der Schrei aufbrandete. Mir war übel. Hände streckten sich mir entgegen, um mir auf die Füße zu helfen, und ich hörte die kreischende Stimme einer Frau, die dicht neben mir stand und brüllte. »Ich habe es gesehen! Ich habe es genau gesehen! Er hat Sie niedergeschlagen, Mister. Ich werde es bezeugen können. Sie müssen ...« »Schon gut, schon gut«, sagte ich würgend. »Danke, aber ich komme allein zurecht!« Sie war noch pikiert. Ich hörte, wie sie sich lautstark beschwerte und hinter mir herschimpfte. Mich interessierten die Menschen nicht. Ich halte nur Augen für Barry F. Bracht und den Jungen. Beide standen vor dem runden Tisch, und Dennis redete auf ihn ein. Als ich zu ihnen trat, fuhr Bracht herum und funkelte mich wütend an. »Keine Sorge, ich bin nicht Ihr Feind.« »Ja, er ist ein Freund«, sagte auch Dennis. Das wollte Bracht nicht so recht glauben. »Ich kenne Sie nicht. Was wollen Sie von mir?« »Zunächst einmal möchte ich, daß Sie sich setzen.« »Nein, ich habe keine Zeit.« »Was hält Sie davon ab?« fragte ich und massierte die Stelle, wo mich die Faust erwischt hatte. »Keine Zeit.« »Wo wollten Sie denn hin?« Bevor er eine Antwort geben konnte, meldete sich Dennis. »Ich würde an deiner Stelle nicht weglaufen, Zebuion!« Die Bemerkung traf ihn schockartig. Brachts Hände öffneten sich. Er sah so aus, als wollte er dem Jungen an die Kehle fahren. Dann schloß er sie wieder zu Fäusten. »Ich kenne deinen Namen, Schattenkrieger.« » Woher?« »Wollen Sie sich nicht setzen, Mr. Bracht?« Er drehte sich, schaute mich an. In seinen Augen las ich nicht mehr die absolute Feindschaft. »Sie kennen meinen Namen, Fremder? Woher? Was wissen Sie?«
»Zu wenig.« »Für mich schon zuviel.« »Wollen Sie mir nicht die Chance einer Erklärung geben?« Ich deutete auf einen leeren Stuhl. Bracht schaute Dennis an, dann mich. Schließlich faßte er den Stuhl an der Lehne und drehte ihn so, daß er beim Sitzen Dennis und mich im Auge behalten konnte. Er bestellte ein Wasser und fragte sofort nach unseren Namen. Dennis sagte ihn selbst. Als ich mich vorstellte, hob Bracht die Schultern. »Ich kenne Sie nicht.« »Das wird und das muß sich ändern!« Er schaute mir ins Gesicht. Prüfend, stumm, sogar ziemlich lange. Dann sagte er: »Sie haben etwas an sich, Mr. Sinclair, das mich irritiert. Ich spüre es genau.« »Möglich.« »Was ist es?« »Vielleicht das?« Im nächsten Augenblick schaute er auf mein Kreuz und zuckte zusammen. »Angst?« »Nein, Mr. Sinclair. Ich bin überrascht.« »Ahnen Sie denn etwas?« Er hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Dann schaute er den Jungen an. »Woher kennst du den Namen Zebuion?« »Aus meinen Träumen.« Bracht saß still. Seine Hände umkrampften die Tischkante. »Aus deinen Träumen?« hauchte er. »Ja, ich sah dich in meinen Alpträumen. In der Schreckenswelt, in dem alten Schloß, wo die Kannibalen hausen. Da erschien der Schattenkrieger Zebuion.« »Wann hast du denn so etwas geträumt?« »Nicht jeden Tag. Aber wenn der Mond am Himmel steht und ein bestimmtes Bild zeigt, dann ...« Er faßte nach Dennis' Hand. »Der Knochenmond.« »Richtig.« Bracht schloß die Augen. Über seine Haut rann ein Schauer. Dann flüsterte er Worte, die ich nicht verstand, wischte über seine Augen und nickte schließlich. »Wollen Sie uns etwas sagen, Mr. Bracht?« Er senkte den Kopf und trank einen Schluck Wasser, das mittlerweile serviert worden war. »Ich will so vieles sagen, aber ich komme einfach nicht dazu.« »Weshalb nicht?« »Weil ich es selbst nicht fasssen kann. Für mich hat sich das Leben völlig verändert.« »Durch Ihre zweite Existenz?« »Ja. Ich sah den Knochenmond am Himmel stehen. Das bleiche Gebein schimmerte durch.«
»Wann war das?« »In der vergangenen Nacht!« »Was haben Sie getan? Wie reagierten Sie?« Er hob die Schultern. »Ich nahm es hin, weil ich es hinnehmen mußte. Ich bin in den Verlag gefahren, in dem ich als Lektor arbeite. Wissen Sie, ich kann mich nicht gerade als einen Morgenmenschen bezeichnen, aber direkt eingeschlafen bin ich am meinem Schreibtisch noch nicht. Das passierte mir am heutigen Tag. Ich schlief ein und . . .«, sein Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. »Dann träumte ich, Mr. Sinclair. Ich träumte, daß ich ein anderer würde.« »Zebuion!« »Ja, Dennis.« Der Junge beugte sich über den Tisch. »Ich sah dich in meinem Traum, und du warst ein Krieger. Du hast einen Helm getragen, und auf deinem Rücken wuchsen Flügel. Ich sah dich in schwarzer Kleidung und mit einem Silbergürtel um die Hüften. Du bist gekommen, um zu kämpfen. Du bist der Held gewesen, der die schrecklichen Welten der Alpträume zerstörte. Du hast die positive Energie ausgestrahlt. Ich spürte es, denn du hast uns befreit. Mein furchtbarer Alptraum endete abrupt.« Ich hielt mich zurück und ließ nur die beiden sprechen. Bracht fragte: »Wo kommst du her?« »Ich wohne in Llannonwelly/Wales.« »Kenne ich nicht.« »Aber dort leuchtete der Knochenmond besonders intensiv. Alle Menschen stehen untere seinem Einfluß. Sie fürchten seine Ausstrahlung, sie haben schreckliche Angst, denn er ist es, der sie während der Alpträume in die anderen Welten entführt. Wir alle haben Angst, schreckliche Angst. Die Träume veränderten unser Leben. Und hinter ihnen steht etwas Furchtbares, Drohendes.« »Was ist es?« fragte ich. »Ich weiß es nicht. Ein böser Geist, etwas Dunkles, Schwarzes, Grauenhaftes.« »Okay, Dennis, lassen wir das.« Ich nickte Bracht zu. »Können Sie dazu eine Erklärung geben?« »Nein.« »Eine andere Frage. Was sagt Ihnen der Name Jericho?« Die Antwort erfolgte spontan. »Es ist eine Stadt, die unter dem Klang der Trompeten zusammenbrach.« »Stimmt!« »Weshalb haben Sie mich danach gefragt, Mr. Sinclair?« Ich schaute ins Leere, als ich meine Antwort gab. »Weil ich, als ich mich um diesen Fall kümmerte, über Ihren Namen gestolpert bin, Mr. Bracht. Ein weiser Apache namens Chato riet mir, nach Ihnen Ausschau zu halten.« Bracht schüttelte verwundert den Kopf. »Sorry, aber ich kenne weder Jericho noch einen Apachen.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Nur wußte er bereits von Ihrer Doppelexistenz. Denn er nannte mir den Begriff des Schattenkriegers und riet mir, Sie zu suchen. Ich habe es versucht, Sie aber nicht gefunden. Erst jetzt hat uns der Zufall zusammengeführt.« Bracht krauste die Stirn. »Sind Sie sicher, daß es nur der Zufall gewesen ist?« »Was hätte es sonst sein sollen?« »Das Schicksal, Mr. Sinclair. Wenn Sie so sprechen, kann es nur mit dem Schicksal zusammenhängen, finde ich. Oder haben Sie da eine andere Meinung?« »Im Prinzip nicht.« »Dann sind wir also Bundesgenossen?« Ich lächelte ihn an. »So ungefähr.« Barry F. Bracht überlegte vor seiner Antwort. »Für mich steht fest, daß ich meinem Schicksal nicht entrinnen kann. Ich habe mich daran zwar nicht gewöhnt, muß mich damit aber abfinden. Ich merke auch, daß meine zweite Existenz beinahe die erste überlagert.« Er suchte nach Worten. »Es ist nämlich so, Mr. Sinclair. Irgendwo fühle ich mich als Auserwählter, wenn Sie verstehen. Der Weg ist vorgeschrieben, ich gehe ihn weiter. Ich will das Grauen stoppen.« »Das ist gut.« »Und was machen Sie?« Ich lächelte. »Hätten Sie etwas dagegen, daß wir den Weg gemeinsam gehen, Mr. Bracht?« Er schaute mich an. In seinen Augen funkelte es. Doch es war ein Funkeln der Freude. »Nein, Mr. Sinclair, ich habe nichts dagegen. Ich spüre, daß auch Sie irgendwo anders sind. Dann werden wir also Kampfgenossen sein, auch wenn mir der Begriff nicht besonders gefällt.« »Mir ebenfalls nicht.« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Ich heiße Barry!« »Und ich John!« Das letzte Wort hatte unser kleiner Freund Dennis. »Das ist ja irre gelaufen«, sagte er, und seine Augen strahlten dabei... *** Suko kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als ich ihm einige Stunden später bei unserem Zusammentreffen berichtete, was geschehen war. »John, dann haben wir ja eine Chance, an Jericho heranzukommen. Chato hat also doch recht behalten.« »So sieht es aus.« Suko zeigte ein kantiges Lächeln, als er sich nach meinen Plänen erkundigte. »Die gibt es im Prinzip nicht. Das heißt, du wirst sie längst kennen.«
»Also Llannonwelly.« »Ja.« Suko fragte: »Zu dritt? Willst du den Jungen wieder mit nach Hause nehmen?« »Und natürlich Barry F. Bracht.« »Das schminke dir mal ab, John. Ich werde ebenfalls mit von der Partie sein.« »Habe ich mir gedacht«, stöhnte ich. »Hast du etwas dagegen?« »Überhaupt nicht. Nur möchte ich nicht, daß wir als geballte Masse auftreten. Also du nicht offiziell. Merke dir einen Namen, Suko. Tom Evans, genannt T.E.!« »Was ist mit ihm?« »Kann ich dir nicht genau sagen, Suko. Er ist ein Aussteiger, kennt mich aus London her. Wahrscheinlich wirst du ihm ebenfalls bekannt sein. Jedenfalls kannst du ihm trauen.« »Das weißt du genau?« »Von Dennis.« »Ja«, sagte Suko, als er seine Beine ausstreckte. »Was ist überhaupt mit ihm? Weißt du etwas über seinen Background? Soll ich zu seinen Eltern gehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Da sagst du was, Alter. Ich kenne nicht einmal seinen Nachnamen. Er hat darüber mit mir nie gesprochen. Ich bin nicht einmal dazu gekommen, ihn zu fragen. Ich weiß nicht, wo er wohnt, was mit seinen Eltern ist und so weiter.« »Schwaches Bild.« »Stimmt.« Suko stand auf. »Wichtig ist demnach dieser Tom Evans. Getrennt marschieren, vereint zuschlagen. Ist auch meine Devise. Ich bin dafür, daß wir London zu unterschiedlichsten Zeiten verlassen. Da du erst morgen früh fahren willst, rolle ich gleich los.« »Einverstanden.« »Das heißt, ich lege mich noch einige Stunden hin. Der BMW braucht zudem etwas Bewegung.« »Da wäre noch etwas«, sagte ich. »Es gibt zwar keinen Beweis, aber wir müssen damit rechnen, daß wir auf einen alten, sehr unangenehmen Bekannten treffen.« »Klar, Jericho.« »Gut mitgedacht, Alter.« Suko grinste. »Tue ich das nicht immer?« Er reckte sich. »All right, wir sehen uns dann in Wales. Wäre doch gelacht, wenn wir die komischen Traumdämonen nicht schafften.« »Die sind nicht ohne, Suko, denk daran. Ich habe bei meinem letzten Fall ganz schön geschwitzt.«
»Klar, den hast du mal wieder ohne mich gelöst.« Die Bemerkung konnte er sich nicht verkneifen. »Noch etwas anderes, John. Wie sieht es allgemein aus. Glaubst du an eine gewisse Großoffensive dieser neuen Dämonenart? Die Traumdämonen, die Visionskünstler des Schreckens? Sind die unterwegs, um die Welt unter ihre Kontrolle zu bringen?« »Kann sein.« Suko grinste. »Dann werde ich versuchen, so wenig wie möglich zu schlafen.« »Vor allen Dingen nicht am Lenkrad.« »Keine Sorge, das packe ich.« Er winkte mir zu. »Bis später dann, Alter.« Er ging und ließ mich sehr nachdenklich zurück. Was uns erwartete, wußte ich natürlich nicht. Ein Spaß würde dieser Fall nicht werden, das stand fest. Ich dachte auch über Bracht nach. In Jericho war sein Name zum erstenmal erwähnt worden. Wir hätten ihn suchen müssen, doch wie finden? Zum Glück hatte sich das Problem von selbst erledigt, und ich war froh, ihn in naher Zukunft an meiner Seite zu wissen. Noch gespannter war ich auf seine Verwandlung, wenn aus ihm Zebuion, der Schattenkrieger wurde... *** Die Fahrt nach Wales hatte Suko zwar von den Problemen nicht befreit, sie zunächst allerdings zurückgedrängt, so daß er sich hatte auf seinen Wagen konzentrieren können. Es tat dem Flitzer gut, tempomäßig gekitzelt zu werden, und als Suko die ersten gälischen Namen der Orte las, da wußte er, daß er diesen geheimnisumwitterten Landstrich im Westen der Insel erreicht hatte. Hier war vieles anders. Zwar nicht so sehr von der Landschaft, aber die Menschen hatten sich eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt, die so weit ging, daß man sie als Sonderlinge bezeichnete. Es gab Waliser, die sich weigerten, das normale Englisch zu sprechen und sich in ihrer alten gälischen Sprache unterhielten, für Suko und andere Menschen regelrechte Zungenbrecher. Von Newport aus führte der Motorway an der Küste entlang. Fr endete nördlich von Swansea, ungefähr dort, wo die Black Mountains begannen. An ihrem westlichen Rand mußte der kleine Ort Llannonwelly liegen. Suko hatte sich in London noch hingelegt. Kurz vor Mitternacht war er losgefahren, hinein in den anbrechenden Tag und auch hinein in die Kühle, denn der vorhergesagte Temperatur- und Wetterumschwung war endlich eingetreten.
Zwar hatte der Wind noch nicht gedreht, er blies noch immer aus Richtung Süden, aber die Sonne war verschwunden hinter dicken Wolken. Es hatte auch einige Male geregnet. Nie ein langer Landregen, nur immer heftige Schauer, die nach einigen Minuten schon vorbei waren. Suko hatte keine Ahnung, wie es in Llannonwelly aussah. Für ihn als Außenstehenden würde es jedenfalls nicht einfach sein, mit den Bewohnern in Kontakt zu kommen. Er mußte sich da auf Tom Evans, den Aussteiger, verlassen. Wenn diesem Mann John Sinclair bekannt war, würde er sich auch an den Inspektor erinnern können. Suko war vom Motorway abgefahren und folgte dem Weg, der sich durch die hügelige Landschaft wand, kurvig, nie gleich breit, mal enger, mal breiter, hin und wieder von Steinwällen flankiert, die mit einer grünen Moosschicht überzogen waren. Hier wehte stets ein Wind. Vom Atlantik her fiel er über das Land, um sich an den Bergen und Tälern zu fangen. Die Orte waren zumeist winzig. Alte Häuser duckten sich oft genug in Talmulden hinein. Zäune und Hecken umgaben viele Gebäude. Menschen waren nicht oft zu sehen, auch der Verkehr schien hier auf dem Stand der fünfziger Jahre stehengeblieben zu sein. Nicht so sehr in die Landschaft hinein paßten die Skelette der Fördertürme. Wales ist reich an Kohle, aber die große Krise hatte viele Zechen eingehen lassen. Die Rechnung dafür hatten leider die einfachen Menschen zahlen müssen. Des öfteren überfuhr Suko alte Steinbrücken oder huschte durch Tunnels. Manche waren so schmal, daß er Mühe hatte, seinen Wagen hindurchzubekommen. Auf der Karte hatte er nachgeschaut, wo Llannon-welly zu finden war. Es lag dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Da wollte Suko nicht einmal tot über'm Zaun hängen. Etwa drei Meilen vor dem Ziel wurde der Weg breiter. Suko konnte wieder etwas mehr Gas geben. Glücklicherweise war der BMW gut gefedert. Er schluckte die Unebenheiten des Bodens weg. Auf der Karte war die lange Kurve nicht eingezeichnet, in die Suko hineinfuhr. Zu beiden Seiten der Straßen wuchsen Böschungen hoch. Bepflanzt mit hohem Gras und mit dichtem Buschwerk. Beides wirkte wie eine Mauer. Es war erkennbar, daß sehr bald wieder einer der Tunnels folgen würde. Und richtig. Am Ende der Kurve entdeckte Suko den schmalen Durchschlupf. Dahinter mußte praktisch sein Ziel liegen. Er fuhr in den Tunnel hinein — und stoppte schon nach wenigen Yards. Denn genau dort, wo sich der Ausgang befand, zeichnete sich ein Hindernis ab.
Es war ein hoher Leiterwagen, beladen mit Korn, und er stand sogar quer, damit niemand daran vorbeikam. Wer so etwas tat, hatte die Straße willkürlich gesperrt. Warum? Suko rollte so weit vor, bis es nicht mehr ging, dann stoppte er und verließ den BMW. Der Geruch von frisch gemähtem Korn drang in seine Nase. Niehl unangenehm, aber der Inspektor war mißtrauisch. Niemand stellte grundlos und nur zum Spaß nach einer Tunnelausfahrt den Wagen quer. Langsam schlenderte er dem Hindernis entgegen. Es war sogar schwer, an ihm vorbeizuschauen, so daß sich Suko gezwungen sah, über die Deichsel zu klettern. Trotz des Ärgernisses glitt ein knappes Lächeln über seine Lippen, als er den Ort vorsieh liegen sah. Erlag in einer kleinen Talmulde. Im Osten schoben sich die dunklen Berge gegen den grauen Himmel. Sie waren noch dicht bewaldet, standen eng zusammen, so daß sie von ziemlich schmalen Tälern zerschnitten wurden. Wenn Suko sein Ziel erreichen wollte, mußte er zu Fuß gehen. Das wiederum wollte er nicht. Nicht daß er etwas gegen einen Spaziergang gehabt hätte, nein, er wurde nur den Eindruck nicht los, daß gewisse Kräfte in Llannonwelly keine Fremden wollten. Menschen sah er nicht, obwohl der Ort von Feldern umgeben war. Nur in der Ferne sah er einige Schafe weiden. Sie fraßen einen lang ansteigenden Flang leer. Suko blieb nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Weg zu machen, denn wegschieben konnte er dieses Gefährt auf keinen Fall. Links neben ihm wuchs ebenfalls eine Böschung ziemlich hoch. Auf dem Damm dahinter war ein Gleis. Der Rost auf dem Schienenstrang und die verwilderte Umgebung zeigten ihm allerdings, daß diese Strecke stillgelegt war. Hier fuhr schon seit Jahren kein Zug mehr vorbei. Er schaute sich um und kam sich mutterseelenallein vor. Selbst im Ort war keine Bewegung auszumachen. Es sah so aus, als würde Llannonwelly schlafen. »Mist auch«, schimpfte er und nahm sich vor, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Er wollte nur noch zurück, um die Alarmanlage anzustellen. Schon auf dem Weg über die Böschung hörte er das ungewöhnliche Rascheln. Das war nicht normal, da rieb kein Windstoß die Gräser aneinander. Suko sah, daß sich die hohe Ladung bewegte. Von innen her bekam sie Druck, und an einigen Stellen erschienen plötzlich Löcher in den Seiten.
Es waren keine Mäuse, die aus dem Stroh stiegen. Allein an seiner Seite zählte Suko drei Männer, die neben dem Wagen stehenblieben und ihm entgegenschauten. Von der anderen Seite her traf die Verstärkung ein. Dort waren sie nur zu zweit. Suko ging ihnen entgegen. Er mußte seine Füße schräg setzen, um auf dem dichten Grasteppich nicht abzurutschen. Die Männer standen da wie geschnitzt. Auch in ihren Gesichtern rührte sich nichts. Suko bekam Zeit genug, sich die Leute genau anzuschauen, und er fragte sich, ob sie normal wirkten. Sie trugen eine Kleidung, wie man sie von Feldarbeitern gewohnt war. Derb und strapazierfähig. Pullover, Hosen aus Cordoder Jeansstoff, dicke Hemden. Ihre derben Schuhe verschwanden im Gras. Vom Alter her waren die Männer unterschiedlich. Es gab jüngere, um die Zwanzig, aber auch welche, die den Zenit des Lebens bereits überschritten hatten. Sie alle besaßen kantige, unbewegliche Gesichter. Zwei von ihnen trugen flache Stoffmützen auf den Köpfen, der älteste einen dunklen Hut. Unter dem Rand zeichnete sich ein Gesicht ab, das aus Wurzelholz geschnitzt zu sein schien. Sie hatten sich nicht in einer Reihe aufgebaut, standen versetzt, bildeten trotzdem eine offene Mauer aus Menschenleibern, deren Lücken jedoch sehr schnell geschlossen werden konnten. Sichtbar trugen sie keine Waffen. Weder Sicheln noch Sensen. Vielleicht waren diese Dinge unter dem Heu verborgen. Möglich war schließlich alles. Dicht vor ihnen blieb der Inspektor stehen. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er wollte den Menschen freundlicher entgegentreten als sie ihm. »Guten Tag, die Herren.« Suko bekam keine Antwort. Sie standen vor ihm wie Statuen. Er konzentrierte sich auf die Augen der Männer, entdeckte darin aber kein Gefühl. Wie Steine kamen sie ihm vor. Er hob die Schultern. »Ich weiß ja nicht, weshalb Sie die Straße hier sperren, aber zulässig scheint es mir nicht zu sein. Ich möchte nämlich gern weiter und nicht so lange im Tunnel stehenbleiben, bis es Ihnen gefällt, den Wagen fortzufahren.« Der Alte gab die Antwort. Seine Stimme klang, als säße in seinem Hals Rost fest. »Fahr wieder zurück. Verschwinde von hier. Aber fahre sofort. Wir wollen es.« »Aber ich nicht.« »Verschwinde.«
»Moment mal«, sagte Suko. »Ich bin eingeladen worden und denke einfach nicht daran, wegzufahren.« »Von uns hat dich keiner eingeladen.« »Das stimmt, es war ein anderer.« »Wer?« »Tom Evans.« »Er zählt nicht«, erklärte der Alte. Seine Stimme blieb monoton. Nichts in ihrem Klang deutete an, ob er sich erregte oder nicht. Suko hatte festgestellt, daß dieser I.E. anscheinend nicht sehr gelitten war. »Geh endlich!« sagte einer der jüngeren Männer. »Sie wollen den Wagen also nicht wegfahren?« »Nein.« »Dann werde ich Ihr Dorf zu Fuß erreichen. Es ist ja nicht weit.« Die Männer schauten sich an. Es war klar, daß es ihnen nicht paßte, einen Fremden in der Nähe zu wissen. Die Spannung stieg. Suko merkte das sehr genau. Er hatte ein gutes Gefühl für diese Dinge, und er sah auch, daß sich die Blicke der Männer veränderten. Sie wirkten nicht mehr so neutral, jetzt stieg in den Pupillen der Ausdruck der Wut hoch. »Da wäre noch etwas«, sagte Suko und räusperte sich. »Ich möchte Ihnen sagen, daß ich einen weiteren Bekannten habe, der aus Ihrem Ort stammt. Ein Junge namens Dennis.« Dieser Name schlug ein. Zum erstenmal kam Bewegung in die Männer. Wieder stellte der Alte die Frage. »Dennis? Was ist mit ihm? Was willst du von ihm?« »Er wollte etwas von mir.« Suko schaute sich um. »Ich habe ihn nicht mitgebracht. Er ist in London geblieben, aber er hat mich geschickt. Sicherlich nicht ohne Grund.« »Wir kennen ihn nicht.« Suko mußte lachen. »Nicht oder nicht mehr?« Der Alte trat einen Schritt vor. Scharf schaute er den Inspektor an. Suko hielt dem Blick stand und entdeckte etwas, das ihn maßlos erschreckte. Unter der bleichen, dünnen Haut des Mannes zeichneten sich seine Knochen ab. Sie schimmerten. Wie bei Dennis, dachte der Inspektor. John Sinclair hatte ihm von der Veränderung des Jungen berichtet. »Hast du es gesehen?« fragte der Alte. »Ich habe gute Augen.« »Willst du jetzt gehen?« »Nein.« Da ging der Alte wieder einen Schritt zurück. Er schaute die anderen vier Männer an. Sie sprachen nicht, aber der Mann mit dem Hut schien die Befehlsgewalt über sie auch ohne Worte zu haben. Er deutete ein Nikken an, und die vier Männergingen. Als wäre Suko nicht vorhanden und als wäre auch überhaupt nichts gewesen, drehten sie ihm den Rücken zu und schritten dem Ort
entgegen. Der Alte blieb noch wenige Sekunden stehen. Er streckte den Zeigefinger nach oben und hauchte: »Hüte dich, Fremder!« Nach dieser Warnung ging auch er. Suko dachte darüber nach, ob er ihn zurückhalten sollte. Das wollte er doch nicht, denn er war nie der erste, der Gewalt anwendete. Nur konnte er sich vorstellen, daß es innerhalb des Ortes nicht so friedlich zugehen würde wie hier. Trotzdem verspürte Suko keine Furcht. Seine Neugierde war noch stärker geworden. Er mußte nach Llan-nonwelly und versuchen, das Geheimnis dieses Ortes zu lösen. Den Männern ließ er einen genügend großen VorSprung. Erst als sie die ersten Häuser erreicht hatten, setzte sich auch Suko in Bewegung und ging über einen breiten Feldweg, auf dem kopfgroße Grasbüschel wuchsen. Der Boden selbst hatte ein Muster aus Reifenspuren bekommen. Es stammte zumeist von den großen Rädern der Trecker. Einladend sah der Ort nicht aus. Er lag zwar inmitten der grünen Umgebung, aber er selbst wirkte sehr grau. Die alten Fassaden schienen den Besucher abweisen oder warnen zu wollen, nicht nach Llannonwelly hineinzugehen. Um so etwas hatte sich der Inspektor noch nie gekümmert. Er betrat den Ort, der zwar nicht ausgestorben vor ihm lag, aber trotzdem ein feindliches Bild abgab. Die Bewohner starrten ihn an. Suko sah die Gesichter hinter den Scheiben, er sah die Leute auch in den schmalen Hauseingängen stehen oder über Hecken schauen. Bleiche Gesichter, bei denen die Haut wirkte, als wäre sie über die Knochen gespannt worden. Es sprach ihn niemand an, und so schritt Suko weiter in das Schweigen hinein. Wo lebte Tom Evans? Suko ahnte, daß ihm auf seine Frage niemand eine Antwort geben würde, mußte es aber herausfinden und suchte sich einen Mann aus, der in der Nähe auf einem Schaukelstuhl hockte und trüb in die Gegend schaute. Der Mann trug einen langen, grauen Mantel. Er stand offen. Über seine Brust spannten sich die Hosenträger, als wären sie als helle Streifen auf das dunkle Hemd gemalt worden. Der Mann schaute nicht auf. Nur der Schaukelstuhl bewegte sich, und Suko blieb in Sprechweite vor ihm stehen. »Guten Tag.« Der Mann schaute jetzt auf. Sehr langsam hob er den Kopf und gleichzeitig die rechte Hand, mit der er durch sein Gesicht strich und dabei die Finger spreizte.
Es sah so aus, als wollte er sich die Haut aus dem Gesicht ziehen. Er spannte sie nur noch weiter, und wieder konnte Suko einen Blick dahinter werfen. Was ersah, ließ ihn jetzt nicht mehr schaudern. Dünn zeichneten sich die Knochen dahinter ab. Schließlich sank seine Hand wieder nach unten, und die Haut glitt zurück in die alte Stellung, wobei sie sich bewegte, als wäre sie aus Gummi. »Darf ich Sie was fragen?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Warum nicht?« »Niemand fragt hier.« »Aber es ist normal, wenn . . .« »Ich träume«, sagte Sukos Gegenüber. »Ich träume, verstehst du das nicht? Heute nacht wird er wieder am Himmel stehen. Ich kenne dich nicht. Geh weg.« »Ich will nur wissen, wo sich Tom Evans befindet. Sag mir, wo ich ihn finden kann?« »In seinem Haus.« »Das hatte ich mir gedacht, aber wo .. .« »Er kann auf den Felsen schauen, über dem der Mond steht. Er sieht es von seinem Fenster . ..« »Es reicht, lieber Freund.« Suko hatte den Mann nicht gehört, der hinter ihm stehengeblieben war und eine Frage gestellt hatte, aber er kannte die Sterne. Es war der Alte vom Heuwagen. Er trug noch immer seinen Hut. Das bleiche Gesicht sah auch nicht anders aus. Aber er zeigte sich jetzt kooperativer als bei ihrer ersten Begegnung, denn er sprach Suko an. »Du willst unbedingt zu ihm?« »Wenn Sie Tom Evans meinen, dann ja.« »Ich werde dich führen.« So einfach machte Suko es dem Alten nicht. »Weshalb dieser Sinneswandel, Mister?« »Wollen Sie oder wollen Sie nicht?« »Doch, doch, ich will schon.« »Dann folg mir.« Er ging, ohne nachzuprüfen, ob Suko auch hinter ihm herkam. Dem blieb nichts anderes übrig, denn er mußte diesen Tom Evans einfach sprechen. Schließlich konnte er so etwas wie die Lösung des Rätsels sein. Der Mann hinter Suko begann wieder mit seiner Schaukelei. Das knarrende Geräusch begleitete den Inspektor eine Weile. Suko hatte den Alten mit wenigen Schritten eingeholt. Der Mann schaute nicht zur Seite, blickte stur geradeaus und traf auch keine Anstalten, ihn anzusprechen.
Ein uralter Mercedes parkte dicht vor einer Straßenecke. In ihm saß eine Frau. Ihr Gesicht schimmerte durch die schmutzigen Scheiben. Sie rührte sich nicht, sah aus, als würde sie schlafen. Auch jetzt wurden die beiden Männer von zahlreichen Augen beobachtet. Nur traute sich niemand, sein Haus oder seine Wohnung zu verlassen. Sie blieben hinter den Mauern wie in Gefängnissen. Irgendwann mußten sie in eine Gasse einbiegen. Sie lag links der Hauptstraße und führte dorthin, wo die Häuser nicht mehr so dicht standen. Hecken schützten sie gegen den Wind, auf dem Boden lag Staub, und so manche Fassade hätte zumindest mal gestrichen werden müssen. Suko erinnerte sich daran, daß der Mann auf dem Schaukelstuhl von einem Felsen gesprochen hatte. Er wollte wissen, was es damit auf sich hatte, bekam auf seine diesbezügliche Frage von seinem Begleiter keine Antwort. Schließlich war er es leid und hielt den Alten an der linken Schulter zurück. »Verflixt noch mal, was ist mit dem Felsen, den auch Tom Evans von seinem Haus her sehen kann?« »Es ist gefährlich.« »Wieso?« »Er ist unwürdig. Er darf nicht träumen, aber er hat geträumt, und das wurde ihm zum Verhängnis.« »Lebt er denn?« Zum erstenmal sah Suko so etwas wie eine menschliche Regung im Gesicht des Alten, »heben und leben ist ein Unterschied. Ja, vielleicht lebt er noch.« »Was heißt das?« »Er hat uns verraten, und deshalb werden ihn seine Träume umbringen. Das steht fest.« »Darf ich fragen, wer die Träume schickt?« Der Alte ging weiter. »Ist es Jericho?« Suko bekam keine Antwort. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Mann zu folgen. Allmählich fing er an, sich zu ärgern. Er kam sich vor wie jemand, der an der Nase herumgeführt wurde, dem man nur hin und wieder eine kleine Information gab, um seine Neugierde weiter anzustacheln. Wie ein langes Dreieck stand ein baufälliger Schuppen vor. Der Alte und Suko umrundeten ihn, und wenig später wußte der Inspektor, was sein Informant vorhin mit dem Felsen gemeint hatte, denn jetzt sah er ihn selbst. In der oberen Partie sah der Fels aus wie ein weit aufgerissenes, gewaltiges Maul. Das rauhe Gestein sah aus, als wären zahlreiche Platten aufeinandergelegt worden. Eine Arbeit, mit der sich eine ganze Generation von Menschen beschäftigt hatte.
Der Alte war stehengeblieben. Suko wunderte sich über dessen Haltung und auch über seinen Gesichtsausdruck, der so etwas wie Andacht oder Respekt aufwies. Über dem Felsen zeichnete sich der Himmel in seinem düster-diesigen Grau ab, als wäre eine Decke davorgezogen worden, die nur aufriß, wenn der Mond sichtbar wurde. »Was ist mit ihm?« Der Alte räusperte sich. Erst dann konnte er sprechen. »Er ist wie ein Schwamm, aber er saugt kein Wasser auf, er beinhaltet unsere Träume, und er gibt sie wieder ab.« »Also wie ein Speicher?« »Ja, so ist es.« Darauf konnte sich Suko keinen Reim machen. Außerdem war aus derDistanz das Rätsel des Knochenmonds oder des Traumfelsens sowieso nicht zu lösen. »Wohnt Evans dort?« fragte Suko und deutete auf ein ziemlich kleines Haus, das in einem sehr günstigen Blickwinkel zum Felsen stand. Er besaß einen Garten, ebenfalls nicht sehr groß. Man konnte ihn mit drei Schritten durchmessen. »Ja, das ist sein Haus.« »Er paßt nicht zu den übrigen Bewohnern, wie?« Der Alte schaute Suko nur von der Seite an, gab keine Antwort. Dafür verzog er die Mundwinkel. Wieder ein Zeichen für Suko, wie wenig beliebt der Fremde war. Er bekam auch die Bestätigung, denn sein Begleiter sprach weiter. »Er gehört nicht zu uns, er ist ein Fremdkörper in unserem Dorf. Er hat nie zu uns gehört, verstehst du?« »Nicht direkt. War er ein Fremder?« »Ja. Er kam aus London. Wir wollten ihn nicht, aber er nistete sich hier ein. Er war nicht zu belehren, obwohl wir ihm sagten, daß Fremde, die nicht akzeptiert werden, hier auch nicht herauskommen. Jedenfalls nicht so, wie sie hergekommen sind.« »Bin ich damit ebenfalls gemeint?« »Das denke ich schon.« »Man kann sich wehren«, sagte Suko bewußt provokant. Er hörte das Lachen des Alten. »Sich wehren? Gegen die Träume? Gegen den Alp?« »Warum nicht?« »Es geht nicht. Die Träume sind ein Teil von uns, und sie sind der stärkere Teil. Du wirst es erleben. Es ist nicht einmal falsch, wenn ich dir vorschlage, schon jetzt nach einem Grab Ausschau zu halten. Du hast die Warnung mißachtet, denke daran. Jetzt bist du ein Gefangener, obwohl es nicht so aussieht.« »Aber ich träume nicht.«
»Das kommt automatisch. Und du wirst in all deinen Alpträumen das finstere Grauen erleben. Es wird dich so stark beeinflussen, daß du nicht mehr rauskannst.« »Mal sehen.« Suko brauchte nicht mehr weit zu gehen. Sie schritten durch einen Vorgarten, in dem bunte Sommerblumen wuchsen. Überragt wurden sie von zwei hohen knallgelben Sonnenblumen. Die Haustür war nur angelehnt. Der Alte trat sie mit einem einzigen Fußtritt nach innen. Er hatte dabei seine Mundwinkel verzogen, als würde er sich davor ekeln, das Haus überhaupt zu betreten. Er ging noch nicht hinein. Auf der Schwelle drehte er sich um, starrte Suko an. »Was ist?« »Wenn du dieses Haus betrittst, wirst du es so nicht mehr verlassen können, wie du hineingegangen bist. Das sollte dir schon klar sein.« »Was geschieht denn?« »Du wirst Gefangener deiner eigenen Träume werden. Der Felsen wird seinen Schatten auf dich werfen, damit er dich umfängt wie ein langer Mantel. Dieser wiederum wird sich tief hinein in deine Seele drücken, dir keine Chance mehr lassen.« »Soll ich es mir noch überlegen?« Der Alte hob die Schultern. »Es ist dein Leben, nicht meines.« Suko lächelte. »Ich würde vorschlagen, daß du das Haus betrittst. Oder wirst auch du der Gefangene deiner Träume?« »Das bin ich. Im Gegensatz zu Tom Evans lebe ich noch. Und die anderen ebenfalls. Wir alle gehören zusammen, aber Evans nicht. Die Träume des Fremden werden nicht akzeptiert.« Es waren seine vorerst letzten Worte, denn er betrat das Haus. Die Erklärungen hatten Suko natürlich neugierig gemacht, aber auch seine innere Unruhe gesteigert. Er konnte sich nicht vorstellen, daß der Mann gelogen hatte. Hier spielte sich Furchtbares ab, denn hier wurden die Menschen manipuliert. Alpträume erleben — wie ging das? Suko wußte es nicht. Es hing mit dem zweiten Ich zusammen, mit der Seele, die dann stärker wurde als der äußerlich sichtbare Körper. Hinter dem Mann betrat er das muffig riechende Haus. Zwar waren die Wände aus Steinen errichtet worden, aber die Decke wurde noch von alten Holzbalken gestützt, von denen einige einen Pelz aus feuchtem Schimmel zeigten, andere wieder renoviert worden waren. Von ihnen war die Oberfläche abgeschabt worden, und das blanke Holz kam zum Vorschein. Es sah so aus, als wäre der Bewohner des Hauses mitten in seiner Arbeit gestört worden. Sie hielten sich in einem relativ großen Raum auf, in dem Tom Evans wohnte und den er sich zugleich als Werkstatt eingerichtet hatte. Es war
nichts aufgeräumt, dennoch wirkte der Raum nicht verdreckt. Suko empfand ihn sogar als gemütlich. Von hier aus führte auch eine Treppe ohne Geländer nach oben. Sie bestand praktisch nur aus breiten Holzstufen, die von zwei Pfosten abgestützt wurden. »Er scheint nicht hier zu sein«, sagte Suko. Der Alte lächelte nur. »Doch«, flüsterte er, »Tom Evans ist hier, das weiß ich.« »Und wo, bitte?« Er deutete die Stufen hoch. »Dort oben schläft er. Da hat er seinen Ruheraum und sein Sterbezimmer.« Suko hatte sehr gut aufgepaßt. »Soll es heißen, daß er bereits tot ist?« »Die Alpträume töten. Dann will das zweite Ich nicht mehr, daß das erste am Leben bleibt.« »Dann lassen Sie uns hochgehen.« »Sicher.« Suko schaute sich noch um. Durch die nicht sehr sauberen Scheiben floß das trübe Tageslicht und ließ auch die Einrichtungsgegenstände grau in grau aussehen. Die Holzstufen bewegten sich, als sie durch das Gewicht des Mannes belastet wurden. Suko blieb hinter ihm, zwei Stufen Zwischenraum ließ er. Der Alte ging nicht bis ganz oben. Er blieb plötzlich stehen und drehte den Kopf. »Was ist denn?« Suko sah das Rollen der Augen, dann erreichte ihn die flüsternde Stimme. »Hörst du es? Hörst du ihn?« »Evans?« »Ja.« »Nein, noch nicht. Was ist denn mit ihm?« »Er leidet unter seinen Qualen. Er leidet sogar furchtbar, denn es hat sich vieles bei ihm verstärkt. Er hat nun das Pech, ein Fremder zu sein. Du wirst ihn sehen.« »Dann geh vor.« Suko hörte es auch, als er die letzte Stufe erreicht hatte. Es waren Laute, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken trieben. Da keuchte und ächzte ein Mensch, der unter furchtbaren Qualen leiden mußte. Er schien gefoltert zu werden, er jammerte, er bat flüsternd um Gnade, doch es war niemand da, der ihn erhörte. An die Treppe schloß sich eine sehr enge Galerie an, die genau dort aufhörte, wo ein dunkelbrauner Vorhang den Blick auf den dahinterliegenden Raum verwehrte. Der Alte hatte den Vorhang nicht zur Seite gezogen, das überließ er Suko. Er stand nur da und wartete ab. Der Blick unter der Hutkrempe hervor war düster. »Geh vor!« »Und Sie?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier. Ich will dir den Anblick gönnen.« Suko zog seine Waffe, was den Mann nicht beeindruckte. Mit tonloser Stimme erklärte er: »Die brauchst du nicht. Sie wird dir gegen die Alpträume nicht helfen.« »Ich weiß ja nicht, was mich dort erwartet.« Der Alte mußte lachen. »Ein Mensch, der seine Träume richtig erlebt. So etwas hast du bestimmt noch nicht gesehen. Sei auf vieles gefaßt.« Er machte sich schmal, damit Suko an ihm vorbeigehen konnte. Der Inspektor faßte den vorstehenden Rand des Vorhangs und zog ihn mit einer heftigen Bewegung zur Seite. Dicht unter der Decke klirrten dabei die Ringe über die Schiene, dann war sein Blick frei. Der Mann lag auf dem Bett. Suko hatte ihn noch nie gesehen, aber was er hier zu sehen bekam, erwischte ihn wie ein Schock. Tom Evans blutete aus unzähligen kleinen Wunden, die sich auf seinem Körper verteilt hatten... *** Es war ein Bild des Jammers, des Grauens und der Angst. Das Blut strömte hervor wie aus winzigen Quellen und hatte längst die Kleidung durchnäßt. Es machte vor dem Kopf ebensowenig Halt wie vor den Füßen oder den Händen. Es war einfach da und schien immer mehr Nachschub zu bekommen, obwohl der Mann eigentlich schon ausgeblutet sein mußte. Suko trat zögernd an das alte Metallbett heran, auf dem die Person lag. Tom Evans lag auf dem Rücken. Er trug einen Vollbart. Dort, wo in seinem Gesicht die Haut zu sehen war, sah sie aus, als wäre die von zahlreichen Rasierklingen zerschnitten worden. Die dunkelrote Flüssigkeit rann über die Haut und hatte dort ein Muster hinterlassen. Daß er noch lebte, grenzte fast an ein Wunder. Suko blieb an der linken Seite des Betts stehen, damit das Licht weiterhin auf die Schlafstatt fallen konnte. Es war nur schwach, denn die Fenster glichen Luken. Der Inspektor schaute in das Gesicht. Obwohl kleine Blutfäden in den Augen geronnen waren, standen sie weit offen. Ebenso wie der Mund, aus dem die furchtbaren Geräusche drangen. Suko wollte wissen, ob ihn der Mann überhaupt erkannte, und er sprach ihn flüsternd an. »Können Sie mich hören, Tom?« Er bekam als Antwort ein tiefes Stöhnen, das ihn davon abhielt, weiterzusprechen. Suko glaubte nicht daran, erkannt oder
wahrgenommen zu sein. Dieser Tom Evans mußte ein Gefangener seiner Alpträume sein, die er körperlich erlebte. Als sich hinter Suko der Holzboden knarrend bewegte, drehte er sich um und sah den Alten näherkommen. »Du hast ihn gesehen?« »Ich stehe ja vor ihm.« Er blieb stehen. »Was sagst du dazu?« »Ich habe noch keine Erklärung, tut mir leid.« Der Mann lächelte. Unter der dunklen Krempe wirkte sein Gesicht noch blasser. »Wenn du Erklärungen willst, mußt du dein eigenes Denken zur Seite stellen.« »Ich versuche es.« Der Alte nickte in Richtung Bett. »Tom Evans, der Fremde in unserem Ort, erlebt sein zweites Ich.« »Wie bitte?« »Er träumt. Er hat Alpträume, aber keine normalen. Sein zweites Ich, seine Seele ist aus dem Körper hervorgeholt worden und irrt durch andere Dimensionen. Sie befindet sich in einer anderen Welt und hat dort Gestalt angenommen. Da ist sie in Gefangenschaft geraten, denn man hat gespürt, daß er nicht zu uns gehört. Er erlebt also in seiner zweiten Gestalt die Folter.« »Das heißt, daß er...« »Ja, er wird in der zweiten Gestalt gefoltert, und die erste erlebt die Qualen mit. Was du hier siehst, spielt sich gleichzeitig in der Dimension der Alpträume ab. Tür ihn scheint der Knochenmond auch dann, wenn er nicht am Himmel steht.« Es war nicht einfach für Suko, das nachzuvollziehen und auch zu begreifen. Möglicherweise wäre er überraschter gewesen, hätte ihm sein Freund John Sinclair nicht von seinem letzten Fall berichtet, wo dieses Phänomen aufgetreten war. »Fängst du an zu begreifen?« Suko nickte. »Ich habe schon begriffen, keine Sorge. Ich weiß inzwischen Bescheid.« »Das freut mich.« Der Alte reckte sein Kinn vor. »Du wirst mit ihm nichts anfangen können. Er bleibt ein Gefangener seiner Alpträume. Die beiden Ichs sind getrennt worden, und auch du kannst es nicht schaffen, sie wieder zusammenzuführen.« »Ich werde es trotzdem versuchen.« »Nein, dann wird ersterben. Außerdem bist du nicht in der Lage, um dich über die beiden Ichs hinwegsetzen zu können. Das schafft kein normaler Mensch.« »Ich will ihm helfen.« »Nicht hier.« »Frage: Wo dann?«
»In seiner zweiten Welt. Du kannst versuchen, mit dem zweiten Ich Kontakt aufzunehmen. Wahrscheinlich wirst du das sogar. Ich habe dir berichtet, daß kein Weg daran vorbeiführt. Du bist fremd, er ist fremd. Ihr werdet beide das Grauen erleben. Auch du wirst hineingleiten in die andere Welt, wenn sich dein zweites Ich aus deinem Körper löst und in der Dimension der Träumer als andere Gestalt umherläuft. Das alles wird auf dich zukommen, Fremder.« »Als was wäre er denn in der Traumwelt?« Der Alte hob die Schultern. »Das kann ich dir nicht sagen. Er mag so aussehen wie immer, er kann aber auch eine andere Gestalt annehmen, die nicht unbedingt menschlich zu sein braucht. Es gibt zahlreiche Wege und Pfade, einen davon wirst auch du gehen, wenn du versuchst, in meine Welt einzutauchen.« »Es gibt also keine andere Möglichkeit für mich?« »Nein.« Suko hatte die Waffe wieder weggesteckt. Er wollte allein nachdenken und sich durch die Worte des Alten nicht ablenken lassen, deshalb ging er zum Fenster und drehte seinem Begleiter den Rücken zu. An der Schmalseite des Hauses schaute er hinaus ins Freie, und sein Blick traf den dunklen Felsen, der auf ihn von der Seite her gesehen wie das weit geöffnete Maul eines Krokodils wirkte, das jeden Moment zuschnappen konnte. Dieser alte Felsen war das Geheimnis. Er mußte den Weg in die anderen Traumdimensionen ebnen. Nur er war in der Lage, den in ihm steckenden Geist weiterzureichen. Der Felsen tat Suko nichts. Er bewegte sich nicht, er blieb in seiner ruhenden Position, aber er strömte etwas aus, das Suko schon berührte. Der Inspektor überlegte, was es sein konnte. Er war keine unmittelbare und körperliche Bedrohung, mehr eine geistige, vielleicht auch seelische, denn diese geheimnisvolle Kraft versuchte tatsächlich, in Suko etwas zu verändern. Das wiederum spielte sich nicht im Körper, sondern im Kopf ab. Er merkte trotzdem, daß sein Körper schwächer wurde. Der Steuermechanismus des Gehirns hatte etwas von seiner Wirkung verloren. Er ließ sich nicht mehr so stark kontrollieren, das wiederum machte dem Inspektor Angst. Etwas anderes hatte bei ihm die Kontrolle übernommen. Der schwarze Felsen, nur er trug daran die Schuld. Suko wollte nicht mehr länger hinschauen, tat jedoch das Gegenteil, denn er sah, daß sich oberhalb des Felsens, noch in der Wolkenschicht verborgen, etwas tat. Genau war es noch nicht erkennbar. Suko erkannte einen runden Fleck, einen blassen Kreis. Eigentlich hätte es die Sonne sein müssen, die einen schüchternen Versuch unternahm, die Wolkenbank zu zerstören.
Sah so bleich eine Sonne aus? Sukos Herzschlag zeigte eine gewisse Unruhe. Er merkte, daß etwas passieren würde und schaute dabei zu, wie der Kreis immer deutlicher hervortrat. Nein, das war auf keinen Fall die Sonne. Hinter dem grauen Wolkenschleier hielt sich etwas anderes verborgen. Rund, bleich und in seinem Innern mit bestimmten Schattengebilden versehen. Der Mond! Auch nicht normal, denn die Schatten gruppierten sich nicht so, wie man sie von der normalen Betrachtung her kannte. Sie hatten sich zu einem Gebilde zusammengefügt. Zum erstenmal sah Suko den Knochenmond, und er wußte genau, daß er nur seinetwegen erschienen war. Ein blasses skelettiertes Gesicht bildete sich dort ab. Wie mit feinen Pinselstrichen hineingemalt, um den Menschen, die nichts mit ihm zu tun hatten, Angst einzuflößen. Suko spürte keine direkte Angst, in ihm steckte vielmehr eine Unruhe, die sich verfielfältigte, vergleichbar mit der, die einen Menschen erreichte, wenn er kurz vor einer Fernreise stand. Da nahm jemand Einfluß auf ihn, und Suko konnte sich kaum dagegen wehren, obwohl er so trainiert war. Er schaffte es nur, sich mit etwas schwerfällig anmutenden Bewegungen umzudrehen, weil er wissen wollte, wie sich sein Führer hinter ihm verhielt. Der tat nichts. Er stand da, starrte Suko an, die Lippen des breiten Mundes noch mehr verzogen. »Was ist das?« fragte Suko. Als er sich sprechen hörte, wunderte er sich über die keuchenden Laute, die aus seinem Mund drangen. Er redete, als würde er unter Streß stehen. »Der Knochenmond!« »Schon am Tage?« »Ja, er hat gemerkt, daß jemand gekommen ist, um zu stören. Auch Evans hat gestört. Er hätte alles so lassen sollen, wie es gewesen war. Aber er mußte'sich ja um die Dinge kümmern, die ihn einfach nichts angingen. Das hat er nun davon.« Suko hörte genau hin. Die Worte erreichten seine Ohren auch. Nur nahm ersie auf wie durch einen Filter. Da paßte einiges nicht mehr zusammen. Sein Gehör war verändert, und auch das Gleichgewicht war aus dem Rhythmus gebracht worden. Als er auf das Bett zuging, schwankte er. Suko konnte es nicht verhindern. Er geriet sogar ins Stolpern. Die fremde Kraft hatte bereits einen zu starken Einfluß auf ihn bekommen. Sie ließ sich auch durch eine Konzentration auf die normale Umgebung nicht vertreiben. Es war
für ihn unmöglich, der Magie des schwarzen Felsens zu entkommen. Suko mußte die Folgen tragen. Der Alte streckte ihm seinen rechten Arm entgegen. Aber nicht, um Suko zu stützen, sondern weil er seine Worte durch die entsprechende Bewegung unterstreichen wollte und er sich fühlte wie ein Feldherr auf dem Hügel. »Wir haben dich gewarnt, aber du wolltest nicht hören. Deshalb wirst du auch die Folgen zu tragen haben. Nichts mehr in deinem Leben wird so sein, wie es einmal gewesen ist. Du bist in den Machtbereich des schwarzen Felsens hineingeraten. Er hat dich getroffen, er ist dabei, deine beiden Ichs zu lösen. Diesmal hat der Knochenmond nur für dich geleuchtet, Fremder. Nur für dich.« »Aber ich . . .« Suko konnte nicht mehr weitersprechen. Erstens versagte seine Stimme, und zum zweiten veränderte sich die Gestalt des alten Mannes vor seinen Augen. Sie wurde zu einer dumpf-grauen Masse, die ihm gleichzeitig wie Hügel aus Knete erschien. Ob er den Arm noch erreichte, konnte er nicht sagen. Jedenfalls stützte ihn der Mann nicht ab, als Suko fiel. Schwer prallte er auf die Bohlen nieder. Ein harter Schlag durchzuckte seinen Körper. Blitze tanzten einen irren Reigen vor seinen Augen, bis sie von einer Schwärze erstickt wurden, die tief aus einer anderen Dimension kam. Wie ein Trichter wirkte sie, als sie den Inspektor zu sich hereinzog. Suko wußte nichts mehr. Er lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht und spürte nicht einmal, daß seine beiden Existenzen voneinander getrennt wurden. Der Körper blieb zurück. Das seelische Ich aber zog es hinein in die fürchterliche Traumwelt. Der Alte lächelte, als er auf leisen Schritten den Raum verließ. Seine Aufgabe war erfüllt. .. Ich hatte lange gewartet und eigentlich damit gerechnet, von Suko eine Nachricht zu bekommen, aber das Telefon blieb stumm. Dabei hätte er von unterwegs her anrufen können. Warum hatte er das nicht getan? Meine Unruhe wuchs, was auch Dennis merkte, der bei mir in der Wohnung war, vor der Glotze hockte, mit seinen Gedanken aber nicht bei der Sache war, weil er immer wieder Fragen stellte, die sich auf meinen Beruf bezogen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Dennis. Ich schaffe es schon.« »Hoffentlich.« Ich beobachtete ihn, wie er des öfteren über seine Haut strich. Die Knochen waren nicht zu sehen, auch wenn die Haut dünner wirkte. Sie traten nur hervor, wenn ich sie mit meinem Kreuz berührte.
Irgendwann fragte ich ihn, ob es wirklich keine Ausnahmen in Llannonwelly gab. »Wie meinst du das?« »Ich denke dabei an dein Gesicht.« Er hob die Schultern. »Das glaube ich nicht. Sie alle haben den Knochenmond gesehen. Sie alle haben die Strahlen mitbekommen, die sie verändern. Alle träumen, John.« »Du auch, wie ich weiß. Willst du darüber reden? Willst du mir deinen schlimmsten Traum erzählen?« Mit einem Ruck stand er auf. Wie ein Alter ging er durch das Zimmer, überlegend, die Hände dabei auf den Rücken gelegt. Vor dem Fenster blieb er stehen, schaute in den Londoner Himmel, wo sich weder Sonne noch Mond abzeichneten und nur die graue Wolkendecke lag. »War das mit den Kannibalen nicht schlimm genug?« »Bestimmt. Aber gab es auch andere Träume? Irgendwelche Hinweise, wie man die Welt zerstören kann?« »Willst du das denn?« Dennis hatte gegen die Scheibe gesprochen. »Und ob ich das will, Junge. Ich muß die Welt zerstören, sonst wird sie immer mehr Menschen mit in den Abgrund reißen. Was sich in Llannonwelly aufgebaut hat, darf sich auf keinen Fall weiterentwickeln. Wenn du verstehst, was ich meine.« Er drehte sich um und schaute dabei zu Boden. Auch seine Arme hingen nach unten, als würden sie nicht zu ihm gehören. Er kam mir so allein und verlassen vor. Ich ging hin, hockte und legte meine Hände auf seine Schultern. »Wir werden zusammenhalten, Dennis, glaube es mir. Aber ich muß mehr über dich wissen.« »Was denn?« »Wir haben nie über deine Eltern gesprochen. Was sagen sie dazu, daß du . . .?« »Es gibt sie nicht mehr.« »Sind sie gestorben?« »Nein, sie zogen weg. Sie . . . haben sich getrennt. Mein Vater ist Soldat, wir haben ihn kaum gesehen. Meine Mum konnte es nicht mehr aushalten. Sie ist dann irgendwann verschwunden.« »Ohne dich?« »Ja.« »Und du hast sie auch nie gesehen?« Da schluckte er, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Doch . . . doch, ich habe sie gesehen. In meinen Träumen in der anderen Welt. Da war sie unter den Schlimmen, die . . .« »Pssst... ich habe verstanden, Dennis.« »Danke.« Ich war ebenfalls blaß geworden und dachte daran, was dieser Junge hinter sich hatte. Konnte es Schlimmeres geben als diese Träume, in die gleichzeitig Fiktion und Wahrheit hineinflössen?
Es klingelte, und ich wußte auch, wer es war. Wenig später betrat Barry F. Bracht meine Wohnung. »Wie ist die Nacht gewesen?« fragte er mit etwas müde klingender Stimme. »Traum frei.« Er strich über sein beiges Jackett. »Nicht bei mir.« »Hast du dich verändert?« »Ja, ich wurde zu Zebuion. Doch ich kam nicht durch, die Sperre war zu groß. Sie setzt sich einfach aus der negativen Kraft zusammen. Meine positive kam dagegen nicht an.« »Das kann ich sogar verstehen. Hast du denn einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden?« Er setzte sich und nickte. »Wir müssen so rasch wie möglich an das Zentrum heran. Nur dort haben wir eine Chance.« Er schaute mich an. »Können wir sofort fahren?« »Ich habe nur auf dich gewartet.« »Gut. Wenn wir gut durchkommen, werden wir die nächste Nacht in Wales erleben und natürlich auch den Knochenmond. Es muß etwas geschehen, John, wirklich.« »Wir werden es schon schaffen, keine Sorge.« Auch Dennis wollte fahren. Ich warf noch einen Blick auf das Telefon, was Barry auffiel. »Hat Suko von sich hören lassen?« Ich hatte ihm berichtet, daß mein Freund vorgefahren war. »Nein, leider nicht.« Er ballte die Hände. »Muß das etwas zu bedeuten haben?« »Ich weiß es nicht, sorry.« »Ja, schon gut.« Er wollte nicht weiter fragen, denn er konnte sich ebenfalls vorstellen, daß ich mir Sorgen machte. Der Rover stand vollgetankt in der Tiefgarage. Er wartete nur darauf, gestartet zu werden. Bracht nahm neben mir Platz. Dennis verzog sich auf einen Rücksitz. Als wir starteten, war es soeben hell geworden, aber der neue Tag über London würde trübe bleiben. Wie auch meine Gedanken... *** Suko war noch er selbst oder ein Teil von ihm, aber er befand sich in einer anderen Welt. Fremde magische Kräfte hatten es geschafft, sein zweites Ich vom ersten zu lösen, an das er nur mehr eine Erinnerung besaß, mehr nicht, denn alles konzentrierte sich jetzt auf das zweite.
Er konnte denken, fühlen, sich bewegen, er war die Projektion seines Körpers in der fremden Dimension. Sein zweites Ich hatte keine andere Gestalt angenommen, wie Suko durch Abtasten feststellen konnte. Aber er befand sich in einer Welt, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es herrschten düstere Farben vor. Schwarz und grau, dazwischen ein dunkles Grün. Trotz dieser Farben schimmerte die Umgebung, als wären sie mit einer Nässe überzogen worden. Der Boden unter ihm war hart. Wenn er hinschaute, konnte er die Pflastersteine erkennen, die dicht nebeneinander lagen und einen Weg bildeten, der als lange Krümmung einem bestimmten Ziel entgegenlief. Es war ein wuchtiges düsteres Etwas, das sich in der Ferne abhob und aussah wie eine Burg. Die Traumburg, gebildet aus den Alpträumen der Menschen, wo auch Suko sein übriges beitat. Ein bestimmtes Ziel hatte er nicht. Wenn sich die Burg schon anbot, dann wollte er dorthin, um sich da genauer umzuschauen, denn er dachte auch an den blutüberströmten Mann, der auf dem Bett lag und von seinen schrecklichen Träumen verfolgt wurde. Wenn es einen Himmel gab, konnte Suko ihn nicht erkennen. Erde und Himmel gingen ineinander über und bildeten irgendwo in der Ferne eine düstere Einheit. Suko wollte die Burg zwar erreichen, er war jedoch vorsichtig und rannte nicht einfach los. Dann tastete er sich ab. Es traf ihn völlig unvorbereitet und zerstörte seine Hoffnungen radikal. Sein zweites Ich sah zwar so aus wie das erste, es gab trotzdem eine Veränderung, und zwar eine sehr schlimme. Suko war waffenlos! Wenn er sich jetzt wehrte, dann mußte er es mit seinen Fäusten versuchen. Er konnte keine Silberkugel abschießen und auch nicht die Dämonenpeitsche einsetzen. Von seinem Stab ganz zu schweigen. Welche Gegner ihm gegenüberstanden, wußte er ebenfalls nicht. Aber diese Geschöpfe würden sicherlich stärker sein, als ein waffenloser Mensch, denn so fühlte er sich. Eine Bewegung lenkte ihn ab. Hoch über ihm hatte er das Flattern wahrgenommen, als wäre ein Segel durch die Luft bewegt worden. Er schaute hoch und sah ein vogelähnliches Etwas, das mit weit ausgebreiteten Schwingen durch die Dunkelheit flog. Das Wesen erinnerte Suko an eine riesige Fledermaus. Aus der angeblichen Fledermaus kristallisierte sich der Körper eines Menschen hervor mit seinem Kopf, den Suko kannte. Er wuchs auf einem affenartigen behaarten Körper wie eine Kugel, die an der Vorder-
seite nicht glatt war, sondern zusammengedrückt erschien, so daß die Haut dicke Falten werfen konnte. Suko erkannte das Gesicht trotzdem. Es gehörte einer Person, die er kannte und die aus dem Dorf Llannonwelly stammte. Es war der Alte! Furchtbar verändert, mit sehr breiten Schwingen, die wie Lappen wirkten, wenn er sie bewegte. Der Kopf saß auf dem dünnen Hals und bewegte sich beim Tieferfliegen nickend, als wollte er Suko auf diese Art und Weise begrüßen. Zusätzlich drang aus seinem Maul ein schrill klingendes Krächzen. Das faltige Gesicht war verzogen, als hätte jemand Samt zusammengedrückt. Hart und dunkel funkelten seine Augen, deren böser Blick in die Tiefe starrte. Suko wich einige Schritte zurück, weil erden Anflugwinkel verändern wollte. Er überlegte, was wohl geschehen wäre, wenn er jetzt eine Waffe gehabt und geschossen hätte. Wahrscheinlich hätte er die Gestalt vernichten können, aber wäre dann nicht auch das erste Ich des Mannes zerstört worden? Urplötzlich änderte das Wesen seine Richtung. Es ließ sich wie ein Stein nach unten fallen, die Flügel dabei zusammengeklappt, dann griff es blitzschnell an. Suko ging noch einen Millimeter zur Seite. Er ließ es darauf ankommen, mußte Klarheit über die Stärke gewinnen. Ebenso rasch riß er beide Fäuste in die Höhe und schnappte zu. Plötzlich umklammerte er den dünnen Hals des Wesens. Suko hatte den Eindruck, einen Knoten hineindrehen zu können. So dünn und gummiartig kam ihm der Hals vor. Er riß sein Maul auf, das dabei einer Luke glich. Aus dem Rachen strömte ihm ein widerlicher Pestgeruch entgegen, so daß Suko sich schütteln mußte. Er ließ nicht los, obgleich das Wesen seine Beine anwinkelte und scharfe Krallen in und durch Sukos Kleidung stieß. Dann kratzten sie über seine Haut. Er schleuderte das Wesen von sich, es prallte auf den Rücken, drehte sich, stieß in die Höhe und breitete augenblicklich die Schwingen aus, die es hinein in die Lüfte trug. Schweratmend trat Suko zurück. Er wußte, daß er einen der leichteren Angriffe hinter sich gebracht hatte. Bestimmt würde es schwerer werden, und er überlegte, ob er tatsächlich den Weg zur Burg einschlagen sollte. Diese Dimension war verrückt, eine widerliche Welt für sich, in der das Grauen wahre Triumphe feierte. Wer konnte schon wissen, was ihn hinter den in der Ferne schwarzglänzenden Mauern erwartete?
Nur blieb ihm keine andere Wahl. Mehr zufällig drehte er sich um und entdeckte, daß sich die Erde bewegte. Sie schlug regelrechte Wellen wie das Meer bei einer langen Dünung. Nur fielen diese Wellen hier nicht wieder zusammen. Sie brachen leider auf. Gewaltige Brocken, bestehend aus Lehm und Steinen flogen in die Höhe. Ihnen folgten furchtbare Gestalten, die an Zombies erinnerten und wie man sie in den entsprechenden Filmen gesehen hatte. Nur waren diese Wesen größer. Sie glichen gefährlichen Riesen mit grauen Körpern und leichenhemdähnliehen Fetzen, die an den Gestalten klebten wie angeleimt. Suko kam nicht vorbei, denn die Erde brach in breiter Front immer weiter auf. Der Weg nach vorn war der einzige, der ihm noch blieb. Und den nahm er auch. Immer wieder schaute er zurück. Die Verfolger trafen keinerlei Anstalten, näherzukommen. Sie blieben in sicherer Entfernung stehen, als sollten sie dort eine dichte Mauer bilden. Suko ahnte, daß die Burg oder die Festung vor ihm das Zentrum der Alpträume war. Dort würde er finden, was er suchte. Vielleicht auch diejenige Gestalt, die hinter allem steckte und alles in Bewegung hielt. Er lief relativ schnell. Bei jedem Aufsetzen des Fußes spürte er ein Echo, was bei diesem Steinboden nicht normal war. Es klang so, als wäre er hohl. Suko blieb nach weiteren Schritten sofort stehen, lauschte und spürte das Vibrieren, das sich bis hinein in seine Waden fortsetzte. War der Boden hohl? Er lief weiter und merkte, daß sich vor ihm etwas tat, denn der Untergrund geriet plötzlich in Bewegung. Vor ihm drückte er sich in die Höhe. Suko mußte sich duk-ken, um von den umherfliegenden Steinen nicht erwischt zu werden. Dann sah er, wer aus dem Loch kroch. Es war eine blutbeschmierte Gestalt, um deren Körper zahlreiche Verbände gewickelt waren, die allesamt vor Schmutz erstarrt waren. Nur das Gesicht lag frei. Das hatte Suko schon einmal gesehen. Es gehörte einem der jungen Männer, die ihn empfangen hatten. Jetzt kam dieser Mann auf ihn zu. In der rechten Hand hielt er eine Stange, die vorn spitz zulief. Es sah so aus, als wollte er sie Suko in die Brust rammen. Der Inspektor reagierte blitzartig. Bevor der Unhold zustoßen konnte, hatte er dessen Arm gepackt und ihn mit einem kräftigen Ruck herumgedreht.
Er schaute noch in das Gesicht mit den Glotzaugen, dann ließ die Gestalt die Waffe los. Mit einem Fußtritt schleuderte Suko seinen Gegner zurück in das Bodenloch und packte die Stange. Sie als Waffe war besser als nichts. Suko schaute sich um. Er konnte keine Feinde mehr entdecken. Wenn welche in der Nähe lauerten, hielten sie sich gut versteckt. Trotz seiner Lage mußte er zugeben, noch Glück gehabt zu haben. Er hätte auch als Monstrum durch diese Welt irren können, so aber war es besser. Noch einmal schreckte er auf, als links von ihm das Wesen vorbeiflog, das in Llannonwelly als alter Mann lebte. Es gab ein kreischendes Geräusch ab, das sich anhörte wie ein hämischer Gruß. Dann war es verschwunden und nicht mehr zu sehen. Suko hatte sich die Richtung eingeprägt. Es war dorthin geflogen, wo sein Ziel lag. Er konnte nicht sagen, daß ihm die Mauer Furcht eingeflößt hätte, viel schlimmer mußte das sein, was dahinter lag. Denn diese Geräusche hallten über die Krone der Mauer hinweg und trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. Nicht nur Schreien, nicht allein Ächzen und Jammern, auch dumpfe, hart klingende und pochende Laute, als wäre dort eine gewaltige Maschine dabei, irgend etwas in die Höhe zu pumpen. Noch wurde ihm die Sicht durch die Mauer und auch durch das große Tor genommen. Aber Suko erkannte bereits die beiden Flügel, die durch einen mächtigen Querbalken zusammengehalten wurden. Wer würde ihm die öffnen? Aus eigener Kraft schaffte er das nicht. Es sei denn, es gab einen anderen Weg, um hinter die Mauer zu gelangen. Je näher er hinkam, um so hämmernder, dröhnender und pochender wurden die lauten Geräusche. Das Mauerwerk selbst schien zu zittern. Von einigen Stellen fielen dicke, schwarze Tropfen nach unten, die wie Regen aussahen, der aus Teer bestand. Suko hatte das Tor erreicht, blieb davor stehen, schaute sich den gewaltigen, baumstammdicken Riegel an, sah aber auch dicht neben dem Tor die glänzenden Haken, die in das dunkle Mauerwerk wuchtig hineingetrieben worden waren. Sie führten bis zur Krone, die einen breiten Abschluß bildete. Dort wollte Suko hin. Er mußte einfach wissen, was hinter dem Hindernis lag. Sehr dicht an der Wand kletterte er hoch. Bevor er auftrat, zog er mit beiden Händen an den provisorischen Stufen, um die Festigkeit zu prüfen. Manche bogen sich zwar durch, aber sie hielten. Suko schaffte den Weg. Hinter dem dicken Gestein waren die Geräusche nicht leiser geworden. Das Rattern und Stampfen, unterbrochen von zahlreichen Schreien hörte einfach nicht auf.
Diese Maschine, oder was immer es war, mußte der reine Wahnsinn sein. Ebenso diese furchtbare Welt. Zu allem Überfluß veränderte sich noch der Himmel. Suko sah es nicht sofort, weil er sich noch auf seine Kletterei konzentrierte, aber er merkte den bleichen Schein, der vor ihm über das Mauerwerk hin wegstrich. Auf halber Strecke hielt er inne und schaute hoch. Da stand er am Himmel. Riesengroß, wie ein mit dem Zirkel gezogener bleicher Kreis. Ein Auge innerhalb der Schwärze, ein Ausschnitt des Schreckens. Blaß, glotzend, gefüllt mit den Schatten, die als große, graue Knochen ein Gesicht bildeten. Der Knochenmond! Er mußte von einem Augenblick zum anderen erschienen sein und versorgte die Szenerie mit seinem nötigen Glanz, damit die Gestalten nicht durch das Dunkel irren mußten. Ein unheimlicher Anblick, der aber — und das stand für Suko fest — in diese Welt hineinpaßte. Er empfand den Knochenmond nicht einmal als fremd, und errechnete auch damit, daß sein Eicht die Wesen dieser Welt als negative Energie beeinflußte. Suko wartete nicht sehr lange. Auch er wurde von den Strahlen erwischt und spürte sie auf seiner Haut wie ein leichtes Brennen, als wäre eine Flamme darüber hin weggestri chen. War das bei allen so? Oder nur bei ihm, dem Fremden. Vielleicht sorgte der Mond durch sein Licht dafür, daß sich irgendwann die Haut von seinem Gesicht löste. Keine Vorstellung, die ihm gefiel. Suko verschwendete keinen Gedanken mehr an diese düsteren Zukunftsaussichten und kletterte höher. Vor ihm ragte bereits das Ende der Mauer hoch. Ein paar Körperlängen noch, dann hatte er es geschafft. Es war schnell erledigt. Keuchend erreichte Suko sein Ziel. Die Luft konnte nicht eben als kühl angesehen werden. Sie war feucht, drückend und stank erbärmlich, wie er sehr bald feststellte, denn aus dem Innenhof wehte dieser Gestank zu ihm hoch. Der Mauerrand war breiter, als Suko es sich vorgestellt hatte. Er konnte sich der Breite nach hinlegen und in die Tiefe schauen, wo sich ein Hof ausbreitete. Was er sah, war furchtbar. Erlebte er in dieser Welt eine Szene aus Gullivers Reisen? Das Stöhnen, Stampfen, Schreien und Ächzen stammte von einer riesenhaften Gestalt her, die bewegungslos auf dem Rücken lag. Über den Riesen hinweg liefen kleine Gestalten, die allesamt mit Hieb- und Stichwaffen bewaffnet waren.
Die Ziele fanden sie immer. Es war genügend Körper und auch Haut vorhanden, wo dem Riesen Wunden beigebracht wurden, aus denen das Blut quoll. Vielleicht war es nicht einmal die Szene, die Suko so erschreckte. Viel schlimmer war das Gesicht, denn die Züge kannte Suko. Er hatte sie schon bei dem schlafenden Tom Evans gesehen und wußte nun, was dieser Mann träumte... *** Freie Fahrt? Nicht ganz. In Wales schon hatte es auf regennasser Straße einen Unfall gegeben. Vier Fahrzeuge waren darin verwickelt. Eine Seite des Motorways mußte gesperrt werden. Der Verkehr wurde umgeleitet, was uns mehr als zwei Stunden kostete. Wir überstanden das auch und kamen gut durch, nahmen die entsprechende Abfahrt und rollten über Land weiter. Neben mir war Barry F. Bracht ziemlich unruhig geworden, was mir natürlich auffiel. »Hast du was?« Er bewegte seine Stirn und zog gleichzeitig die Augenbrauen zusammen. »Ich weiß nicht so recht, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß wir zu spät kommen.« »Tatsächlich?« Er deutete hoch zum Himmel. »Es dämmert schon, John. Das ist die Zeit des Knochenmondes.« Ich hob die Schultern und drückte unwillkürlich das Gaspedal tiefer. Im Innenspiegel sah ich den hinteren Bereich des Rover. Dort lag Dennis schräg und schlief. Der Junge schlief normal. So sah keiner aus, der von Alpträumen gequält wurde. Sein Gesicht wirkte weich und entspannt, der Mund stand offen. Ruhiger Atem drang über Dennis' Lippen. Ich grinste Barry F. Bracht von der Seite her an. »Keine Sorge, mein Freund, wir schaffen es.« »Ja, zumindest bis zum nächsten Tunnel.« Hin und wieder ließ er seinen Humor aufblitzen, so auch jetzt. Weiterkamen wir nicht. Die hohe Böschung lief quer vor uns und konnte nur durch den Tunnel überwunden werden. Dort aber stand ein diamantschwarzer BMW im Weg, dessen Fahrer es ebenfalls nicht geschafft hatte, den Tunnel zu durchqueren. »Fährt Suko nicht einen solchen Wagen?« fragte mich Bracht. »Und ob.« Ich knirschte die Antwort und ließ den Rover dicht hinter Sukos Wagen ausrollen.
Mein Herzschlag hatte sich beschleunigt. Zum erstenmal überkam mich der Eindruck, in eine Falle gefahren zu sein. Ich schaute durch die Scheiben, sah den Wagen leer. Bracht war an der gegenüberliegenden Seite stehengeblieben und strich durch sein Haar. »Ich habe auch keine Erklärung, John. Tut mir leid.« »Das verlangt keiner.« Direkt gewaltsam war Suko nicht gestoppt worden. Jemand hatte nur am Ende des kurzen Tunnels einen mit Heu beladenen Wagen abgestellt. Für Menschen war der Zwischenraum groß genug, für ein Fahrzeug nicht. Auch Dennis war wach geworden und ausgestiegen. Ich hörte, wie er mit Bracht sprach. »Sind wir schon da, Barry?« »Fast. Den Rest müssen wir zu Fuß gehen.« »Ach ja, der Tunnel ist versperrt.« Der Junge lief hinein und blieb neben mir stehen. »Komisch, das machen sie sonst nicht. Ich habe das noch nie erlebt.« »Die wollen wohl keine Besucher. Und uns schon gar nicht.« Ich strich über sein Haar. »Jetzt bist du an der Reihe. Wie weit ist es noch bis Llannonwelly?« »Wir sind so gut wie da.« »Wunderbar.« Ich ging zurück, schloß meinen Rover ab und überprüfte noch einmal meine Waffen. Sie waren alle vorhanden. Ich hatte zudem den magischen Bumerang mitgenommen, den ich jetzt aus dem Kofferraum holte und einsteckte. Dennis hatte mich staunend beobachtet. »Was ist das denn gewesen, John?« »Ein Bumerang.« »Hat man den nicht in Australien?« »Auch.« Ich lächelte ihm zu. »Auf dich kommt es jetzt an, mein Junge, nur auf dich. Du kennst dich hier aus, du wirst uns führen.« »Wohin?« »Zu Tom Evans.« »Klar, mache ich. Er wohnt etwas abseits, weißt du. Er . .. er hat sich abgesondert.« »Das ist uns egal.« Barry F. Bracht tippte mir auf die Schulter. »Wir sollten uns beeilen, John. Ich spüre, daß etwas in der Luft liegt.« Bei diesen Worten bewegte er sich unruhig. »Was ist es?« »Wenn ich das genau wüßte. Es ist irgendein Gefühl, aber gleichzeitig auch das Wissen, daß etwas schiefgehen kann. Ich .. . ich fühle mich nicht mehr wohl.« »Womit kann es denn zusammenhängen?« Brachts Augen verengten sich. »Das ist schwer zu sagen, John. Es ist möglicherweise die gesamte Umgebung, die mir nicht gefällt. Sie enthält
ein fremdes Flui-dum. Sie . . . sagen wir so, ich komme nicht mehr gut mit ihr zurecht.« »Gefahr?« »Noch nicht direkt.« Dennis sagte etwas. »Eigentlich hätte man vom Dorf hier etwas hören müssen. Aber die sind alle still. Das verstehe ich nicht so recht.« Er schüttelte den Kopf. »Dann werden sie schlafen.« »Vielleichtjohn. Schlafen und träumen.« Auch Bracht widersprach nicht. Im Tunnel wollten wir uns ebenfalls nicht länger aufhalten. Um ihn verlassen zu können, mußten wir uns am Heuwagen vorbeidrücken. Die Ladung zeigte an einigen Stellen Löcher, als wären dort Menschen hervorgekrochen, die sich darin versteckt gehalten hatten. Dann lag LIannonwelly vor uns. Etwas gefächert, wie mir vorkam. Dunkle Häuser, die sich in das Gelände hineinschmiegten. Im ungewöhnlichen Licht der einbrechenden Dämmerung hatten sie ein geheimnisvolles Aussehen bekommen. Da wir auf den wenigen Straßen keine Bewegungen sahen und auch keine Lichter brannten, wirkten die Häuser wie leere Schachteln, die darauf warteten, zerstört zu werden, weil man sie irgendwelchen obskuren Forschungszwecken opfern wollte. Zu Fuß liefen wir auf der schmalen Fahrbahn dem Ort entgegen. Daß in der Nähe ein Bach vorbeifloß, hörten wir, sehen konnten wir das Gewässer nicht. Mein Interesse galt dem Himmel. Und natürlich dachte ich an den geheimnisvollen Knochenmond, den ich bisher nicht zu Gesicht bekommen hatte. Aber Bracht kannte ihn. Seine Strahlung sorgte bei ihm für eine Veränderung, löste praktisch das zweite Ich von seinem ersten, ohne daß er dabei schlief wie die anderen. Dennis ging zwischen uns. Sein Gesichtsausdruck war ebenso unbeweglich wie der von Bracht. Auch der Junge schielte hoch zum Himmel, wo die Wolken sich wie lange Zungen ausgebreitet hatten, hinter denen ein etwas bläuliches Licht schimmerte. Ich erkundigte mich bei Barry F. Bracht, was er davon hielt. »'Tut mir leid, John, darüber denke ich auch nach.« »Spürst du denn etwas?« »Wenn du den Zustand meinst, der meine Veränderung herbeiführt, ja.« Er nickte noch. »Es ist anders geworden. Ich merke, daß sich da etwas aufbaut, was ich allerdings schlecht in Worte fassen kann. Lange kann es nicht mehr dauern.« »Das denke ich auch.«
Dennis streckte seinen Arm aus. Bis er sprach, waren nur mehr unsere Schritte zu hören. »Das Licht kenne ich, John. Es ist der Vorbote für den Knochenmond.« Ich blieb stehen. »Da bist du dir sicher?« »Ja, es dauert nicht mehr lange, dann wird er erscheinen. Kommt mit, ich will euch etwas zeigen.« Da er sich hier auskannte, folgten wir ihm. Das wellige Gelände wirkte wie ein erstarrtes grünes Meer, auf dessen Kämmen hin und wieder Bäume wuchsen. Vor uns erkletterte Dennis einen dieser Hügel und blieb auf einer flachen Kuppe stehen. »Seht ihr den Schatten dort? Er liegt hinter dem Dorf und reckt sich in die Höhe. Er sieht aus wie das große Maul eines Raubtiers.« Bracht entdeckte ihn zuerst. Ich etwas später. »Ja, Dennis, was ist damit?« »Es ist der schwarze Felsen. Zu ihm wandern die Menschen hin, wenn der Knochenmond leuchtet.« »Was tun sie dort?« »Sie legen sich nieder.« »Um zu schlafen?« fragte ich überrascht. »Jeder hat dort seinen Platz, um die Energie und die Magie des Knochenmonds in sich aufzunehmen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann steigt er aus der Finsternis hervor. Wenn wir ihn am Himmel sehen, werden auch die Menschen zum schwarzen Felsen gehen.« »Dann könnten wir hier warten«, schlug Bracht vor. »Das wäre gut.« Ich war dagegen. »Den Mond werden wir sicherlich auch vom Dorf aus sehen können.« »Das stimmt.« »Dann los!« Ich wollte so nahe wie möglich an das Ziel herangehen, um schnell handeln zu können. Auch hatte ich das Gefühl, daß es allmählich Zeit wurde, denn davon hatten wir bereits zu viel verloren. Wir hatten Llannonwelly noch nicht erreicht, als es passierte und der Knochenmond aufging. Es war ein Schauspiel, dem auch wir uns nicht entziehen konnten. Mir jedenfalls kam es vor, als hätte jemand einen riesigen Vorhang zur Seite gezogen und die Wolken dabei gleich mitbewegt. Denn sie verschwanden wie lange Stoffbahnen, damit sie den Himmel freimachten und der riesige Mond genügend Platz bekam. Es war ein wunderbares Bild. Schaurig und voller Faszination, ein wirklich einmaliges Erlebnis. Aus dem Boden wuchs der große, bleiche Kreis hervor. Er glitt langsam in die Höhe, war wesentlich größer als der normale Mond und auch bleicher. Ich suchte nach einer Erklärung und konnte mir nur vorstellen, daß es an dieser Stelle, wo der Mond sich zeigte, zu einem Riß zwischen zwei
Dimensionen gekommen war. Deshalb hatte sich dort eine Lücke aufgetan. »So ist es besser«, flüsterte Dennis. »Das . . . das kenne ich. Wenn die Knochen erscheinen, sendet er auch seine Kraft aus.« »Die spüre ich jetzt schon!« erklärte Bracht mit gepreßt klingender Stimme. Er stand rechts neben Dennis, ich links. Wir beide sahen die Unruhe des Mannes, die sich nicht nur in seinem Innern abspielte, auch äußerlich sichtbar war. Er trat auf der Stelle von einem Fuß auf den anderen. Der Schweiß war ihm ausgebrochen, seine Lippen zuckten, und er strich mit beiden Händen über seine Wangen. Ich wußte nicht, auf welchen Vorgang ich mich konzentrieren sollte und entschied mich schließlich für den Mond. Noch stand er da, aber in seinem Innern begann plötzlich die Veränderung. Die ersten Schatten erschienen, lang und breit. Sie drängten aus dem Inneren nach vorn, damit sie für uns alle sichtbar wurden. Und sie begannen damit, sich zu formieren. Von verschiedenen Seiten drängten sie aufeinander zu, damit sie in eine Kreisform geraten konnten und so etwas wie ein Gesicht darstellten. Es war einmalig und gleichzeitig unerklärlich, denn ich hatte mittlerweile die Schatten identifiziert. Es waren tatsächlich Knochen. Sie sahen so aus, als hätte man sie aus einem Gesicht herausgeschnitten, von dem die Haut gelöst worden war. Sie bildeten eine Skelettfratze, bei der wir jede Einzelheit erkennen konnten. Das fing bei den leeren Augenhöhlen an, ging weiter über die Löcher, wo einst die Nase gewesen war, auch das Etwas, wo einst der Mund gesessen hatte, war zu sehen. Es erinnerte mich an eine gewaltige Lücke. »Spürst du seine Kraft nicht?« fragte Dennis leise. »Nein.« »Aber ich.« »Wie macht es sich bemerkbar?« »Mein Blut rauscht in meinem Kopf«, erklärte er. Dann hörte ich Bracht schreien. Es war ein schriller, ein Urschrei, und der Mann sprang in die Höhe wie ein Turner, der nach der Reckstange fassen wollte. Sekunden später war er verschwunden. Er hatte sich auf der Stelle gedreht, tauchte nach rechts weg, und die Dunkelheit schluckte ihn. Sollte ich ihm nachlaufen? Normalerweise hätte ich es getan. Zwei Dinge waren wichtiger. Der Knochenmond und auch Dennis, für den ich die Verantwortung
übernommen hatte. Er stand neben mir, fror und schwitzte zugleich, wobei seine Zähne aufeinanderklapperten. Schweiß trat ihm aus den Poren. Dennis zwinkerte mit den Augen, weil er salzig hineinrann. Ich kam nicht umhin, ihn festzuhalten und beruhigte ihn mit leiser Stimme. »Wir werden durchhalten, Junge, keine Sorge, wir schaffen es schon. Alles klar?« »Sie gehen gleich.« »Wer? Die Bewohner?« »Ja, es ist die Zeit, wo die Strahlen sie treffen werden und ihnen die Befehle geben.« »Hör auf, ich . . .« »Da, sieh!« Er hatte recht. Die Szenerie innerhalb des Dorfes fing an sich zu verändern. Plötzlich sah ich auch die Lichter. Zuerst flackerten sie nur schwach, dann bekam das Feuer Nahrung. Zunächst wußte ich nicht, was es war, bis ich die dunklen Gestalten der Menschen sah, die dabei waren, ihre Häuser zu verlassen. Sie hielten die Lichter in den Händen. Die Flammen brannten in Laternen, in den kleinen viereckigen Behältern, die von den Menschen gehalten und geschwungen wurden. Wir hörten keine Stimmen, nur ihre Schritte. Dennis nickte. »So ist es immer«, sagte er. »Immer dann, wenn der Knochenmond erscheint. Sie brauchen nicht miteinander zu sprechen. Jeder weiß, wo er hinzugehen hat. Sie alle haben den gleichen Weg. Sie laufen zum schwarzen Felsen und legen sich dort nieder.« »Auch T.E.?« fragte ich. »Nein, glaube ich nicht. Ich habe ihn auch nicht gesehen. Ich kenne ja alle Leute hier.« »Wir werden warten!« entschied ich. »Und Tom Evans?« »Wenn er tatsächlich nicht dabei ist, werden wir ihn noch treffen, Dennis. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Während ich mich auf das Geschehen innerhalb des Dorfes konzentrierte, schaute er sich um. Wonach er suchte, war mir nicht klar. Schließlich aber drückte er meine Hand und flüsterte: »Ich möchte wissen, wo Barry ist?« »Wir werden auch ihn finden. Er ist dem Zauber oder der Magie erlegen. Vielleicht sehen wir ihn nicht so wieder, wie wir ihn kennen, aber wir packen es.« Dennis nickte nur. Die Menschen hatten ihre Häuser verlassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sich noch einige dort aufhielten, denn die Eltern hatten auch ihre Kinder mitgebracht. Sie hielten sie an den Händen und schwenkten mit den anderen ihre Laternen, deren Schein geisterhaft bleich über den dunklen Boden huschte und dem Ort ein gespenstisches Flair gab, als wäre er von Geistern bewohnt. Über allem stand der Knochenmond. Seine Strahlung hatte an Kraft zugenommen und sich besonders auf den schwarzen Felsen konzentriert. Von unserer Perspektive sah es aus, als würde er direkt unter ihm liegen und die bleiche Strahlung aufsaugen.
Die Menschen aus Llannonwelly wußten genau, wie sie sich zu verhalten hatten. In unregelmäßigen Abständen zueinander nahmen sie die entsprechende Aufstellung, die Gesichter dem schwarzen Felsen zugedreht, der nicht mehr so dunkel schimmerte, weil er unter dem bleichen Schein des Mondes eine bläuliche Farbe eingenommen hatte. Woher die dünnen Dunstschwaden kamen, wußte ich nicht. Wahrscheinlich vom Bach her. Dort hatte sich der dampfende Nebel gebildet, und er trieb dem Felsen entgegen. Wie dünne Leichentücher kroch er über den Boden. Eingehüllt und eingepackt in Wellen, und als er das Gestein erreichte, kroch er an ihm in die Höhe. Die Menschen waren zufrieden. Einer von ihnen, er trug einen Hut, hob den rechten Arm und ließ ihn sehr bald wieder fallen. Damit hatte er so etwas wie einen Startschuß gegeben. Die Menschen setzten sich in Bewegung. Ich konzentrierte mich auf ihre Bewegungen. Daraus war zu schließen, wie sie sich fühlten und ob sie unter einem gewissen Druck standen. Das war hier der Fall. Llannonwellys Bewohner gingen nicht so locker wie normale Personen, sie schritten irgendwie andächtig dahin, die Köpfe erhoben, um den Knochenmond sehen zu können, unter dessen Einfluß sie letztendlich standen. Dennis und ich verließen unseren Beobachtungsplatz und liefen zum Ortsrand. Jetzt bekamen wir das Geschehen praktisch in Augenhöhe mit, konnten jeden Schritt nachvollziehen und sahen die Gestalten, wie sie über die Hauptstraße gingen, die Köpfe leicht erhoben hatten und dem Mond entgegenblickten. »Willst du ihnen nach?« fragte Dennis. Er faßte nach meiner Hand, weil er Schutz suchte. »Eigentlich schon.« »Ich spüre den Drang, John.« Damit konnte ich nicht dienen. Möglicherweise war ich auch durch mein Kreuz geschützt, das der Strahlung des Knochenmonds sicherlich widerstand. Wir folgten den Personen und blieben auf der normalen Straße, die Llannonwelly praktisch in zwei Hälften teilte. Rechts und links standen die Häuser, öffneten sich Gassen, die bei diesem Licht aussahen wie Tunneleinfahrten. Dahinter lagen die Gärten und Felder, ab und zu unterbrochen durch eine alte Scheune. Ich rechnete mit einer Gefahr, weil ich davon ausging, daß die Bewohner möglicherweise merkten, daß sich ein Fremder in ihren Ort hineingeschlichen hatte.
Niemand drehte sich um. Es war auch keiner zurückgeblieben. Die Häuser lagen dunkel neben uns und sahen aus wie kompakte Schatten, bei denen sich die Dächer dem Boden zuneigten. Die Kraft des Knochenmonds hatte es geschafft, alle störenden Wolken zu vertreiben. Frei umgab ihn der Himmel, der einen bläulichen Schleier gebildet hatte. Wir hatten das Ende des kleinen Ortes schnell erreicht. Nicht einmal zehn Minuten waren vergangen. Die Kette der Menschen war nicht mehr so dicht zusammengeblieben und zog sich auseinander, so daß die ersten ihr Ziel bereits erreicht hatten. Im Vergleich zu dem ungewöhnlich gewachsenen schwarzen Felsen wirkten sie klein, aber sie begannen damit, das Gestein zu erklettern. Sehr trittsicher waren sie. Es wollte auch keiner vor den anderen gehen, die Reihenfolge war einmal festgelegt worden, und es gab niemand, der sie einfach unterbrach. Die ersten kletterten höher. Sie hatten ihre Laternen angestellt und sahen aus wie Schatten, die sich über die Wand bewegten. Zielsicher fanden Hände und Füße die entsprechenden Spalten und Vorsprünge, an denen sie sich abstützen konnten. Ein Mann hatte bereits die flache Spitze erreicht und balancierte auf der oberen Seite der vorspringenden Felsschnauze entlang. Dabei hielt er die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht halten zu können. Dicht vor dem Rand setzte er sich nieder, um sich dann rücklings auszustrecken, als würde er in einem weichen Bett liegen. Dennis gab mir eine Erklärung. »So genießen sie die Strahlen des Knochenmonds. Sie haben den Zustand der Müdigkeit mittlerweile erreicht. Wenn sie die Augen geschlossen haben, wird das Licht des Mondes sie erreichen und in sie hineindringen. Es holt sich ihre Seelen.« »Das heißt, ihr zweites Ich wird entstehen.« »Ja.« Ich hatte damit mittlerweile meine Erfahrungen sammeln können und war tatsächlich in ein völlig neues Gebiet eingedrungen, denn die Traumwelten gehörten noch zu den Gebieten, die man als unerforscht bezeichnen konnte. Der Reihe nach erkletterten die Menschen die schwarzen Felsen. Auch die Lichter verloschen. Die dunklen Laternen hatten sie auf dem Boden abgestellt. Schließlich hielten sie den Felsen besetzt, um das zu erleben, was ihnen der Knochenmond gab. Ich schaute Dennis an. Er hatte bemerkt, wie ich meinen Kopf bewegte. Bevor ich eine Frage stellen konnte, war er bereits mit seiner Antwort da. »Ja, John, so ist es immer.« »Und du?« »Ich möchte auch hin, aber der Drang ist bei mir nie so stark gewesen wie bei den anderen.« »Warum nicht?«
»Weil ich viel mit Tom Evans zusammen war. Er hat mich unter seine Fittiche genommen und versucht, mir die Angst zu nehmen, obwohl er auch nicht gegen den Knochenmond ankam.« »Das kann ich mir denken.« Auch in mir regte sich der Wunsch, dem schwarzen Felsen einen Besuch abzustatten und hautnah zu spüren, wie es ist, wenn man den Strahlen direkt ausgesetzt ist. Doch ich dachte auch an Tom Evans und natürlich an Bracht, der so plötzlich verschwunden war, als sich der Einfluß verstärkte. Ich ging davon aus, daß wir ihn treffen würden. Nur nicht mehr als Barry F. Bracht. Schon jetzt war ich gespannt auf Zebuion, den Schattenkrieger. Dennis hatte meine Gedanken erraten. »Du . . . denkst an unseren Freund, nicht wahr, John?« »Das ist richtig.« »Ich denke auch an ihn.« »Dann werden wir ihn doch suchen.« »Und wo?« »Sollen wir bei Tom Evans beginnen?« Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. »Das ist eine wirklich gute Idee, John.« *** Er konnte nicht mehr, die Kraft des Knochenmondes hatte ihn bereits innerlich zu einem anderen geformt. Deshalb mußte er weg. Seine Verwandlung sollte an einem Platz stattfinden, wo er sich unbeobachtet fühlte. Barry F. Bracht verabschiedete sich ohne Gruß. Er ließ seine neuen Freunde allein und wurde schon bald von einer schmalen Gasse verschluckt, die er bis zu ihrem Ende durchlief. Es gab keinen Menschen, der ihn störte. Er hörte nur seine eigenen Schritte. Neben einem hüfthohen Zaun blieb er stehen. Dahinter lag ein kleiner Garten, eine dunkle Insel, mit Obstbäumen, die ihre Früchte längst verloren hatten. Mit einem Satz setzte er über den Zaun hinweg, landete auf der weichen Obstwiese und huschte so weit vor, bis er unter den Zweigen eines Kirschbaums stehenblieb. Dort ruhte er sich aus. Allmählich kam er zu Atem, obwohl er das Brennen in seinem Körper nicht unterdrücken konnte. Sein Blut hatte die Strahlen des Knochenmonds aufgesaugt. In seinem Innern kämpften die beiden Ichs gegeneinander, und Bracht wußte genau, daß sein erstes verlieren würde, denn so lauteten einfach die Gesetze. Sein Mund war trocken. Und dieses Gefühl pflanzte sich fort bis tief hinein in die Kehle. Bracht umklammerte den Baumstamm, legte den Kopf zurück, dann floß ein langgezogenes Stöhnen aus seinem Mund. Und noch im gleichen Moment sprang sein Rücken auf.
Die beiden Flügel wuchsen hervor, der ursprüngliche Körper konnte sich gegen das andere nicht mehr wehren. Aus seinem Innern drang ein schwarzbläulicher Schein, der seinen Körper wie eine zweite flaut umgab und sich dermaßen stark verdichtete, daß daraus der wie Leder wirkende Schutzanzug entstand. Gleichzeitig war der Schein hoch bis zu seinem Gesicht gewandert und hatte dort den Helm gebildet. Den Kopf des Mannes umgab er wie eine Kugel, die vorn offen war. Dann tanzten helle Funken um seine Taille, die sich ebenfalls verdichteten und schließlich so eng zusammenlagen, daß sie eine silberne Masse bildeten. So entstand der Energiegürtel aus positiver Kraft, mit der zudem seine beiden Waffen geladen waren, die links und rechts am Gürtel ihre Plätze gefunden hatten. Bracht war nicht mehr der, als den ihn viele Menschen kannten. Sein eigentliches Ich gab es nicht mehr. Er war zu Zebuion geworden, einem Schattenkrieger... *** Dennis führte mich. Er hielt dabei meine Hand fest, um sich auch selbst einen Halt zu geben, denn ich spürte den Schweiß auf seiner Haut. Wir wußten beide, daß wir uns dem entscheidenden Punkt näherten. Irgendwann in der nächsten Stunde mußte das Geheimnis des Knochenmonds einfach gelüftet werden. Was genau dahintersteckte wußte ich noch nicht, aber die Idee in meinem Kopf weitete sich immer stärker aus, und ich handelte bereits mit einem gefährlichen Namen und Begriff. Jericho! Durch ihn hatten wir damals von Barry F. Bracht gehört. Er war ebenfalls ein großer Manipulator der menschlichen Träume gewesen, und es war durchaus möglich, daß er es verstanden hatte, seine Macht durch den Knochenmond zu steigern. Gehört hatte ich bisher nichts von ihm, auch keine Spur gefunden, die direkt zu ihm wies. Vielleicht konnte mir Tom Evans eine Antwort geben. Wir waren wieder zurückgegangen und von der Hauptstraße abgebogen. Tom wohnte gewissermaßen im letzten Haus, das noch zu Llannonwelly zählte, am Ortsrand und weg von all seinen Mitbewohnern. Es war von einem Garten umgeben. Bis hierher reichte das Licht des Knochenmondes nicht. Der fahle Kreis stand weit hinter uns wie ein Auge, dem nichts entging. Vor der Tür blieb Dennis stehen. Er atmete heftiger, als hätte er Furcht bekommen. »Was ist, Junge?«
Er hob die Schultern. »Ich kann es dir nicht genau sagen, John, vieles ist anders geworden.« »Kannst du dich genauer ausdrücken?« »Nein, ich spüre nur die Einflüsse und glaube, daß ... also daß Tom nicht allein im Haus ist.« »Aber er wohnt allein.« »Das schon.« Ich lächelte ihn an. »Es ist auch möglich, daß er Besuch von meinem Freund Suko bekommen hat. Schließlich habe ich ihn auch über Tom Evans informiert.« Dennis erschrak. »Das ist schlecht, glaube ich. Dann wird Suko auch in den Einfluß geraten sein.« »Wir werden es herausfinden«, sagte ich und griff nach der Türklinke, die ich leicht bewegte. Im Haus selbst empfing uns eine bedrückende Atmosphäre. Hinzu kam die Dunkelheit, die von keinem Lichtstrahl unterbrochen wurde. Ich faßte automatisch nach meiner kleinen Bleistiftleuchte, und schon strich der Lichtfinger durch einen ziemlich großen Raum, der als Arbeits- und Wohnbereich diente. Ich suchte nach Spuren, auch nach Hinweisen darauf, daß Suko hiergewesen war, aber ich fand leider nichts. Bis mir Dennis zuwinkte und auf eine freischwebende Treppe zuging. »Wo führt sie hin?« fragte ich flüsternd. »In sein Schlafzimmer. Es liegt oben.« »Okay.« Als Dennis vorgehen wollte, hielt ich ihn zurück. »Nein, Junge, laß mich das lieber machen.« »Warum? Ich kenne mich hieraus!« »Aber du weißt nicht, was uns erwartet.« »Das stimmt.« Leider war es nicht möglich, die Treppe geräuschlos zu besteigen. Dennis ging hinter mir. Ich hörte sein heftiges Atmen und blieb erst stehen, als ein Vorhang mir die Sicht nahm. Nach genauer Prüfung entdeckte ich auch den Spalt. Er war also zurückgezogen worden. Dahinter lag Evans' Schlafzimmer, aus dem ich keinen Laut vernahm. Kein Atmen, kein Knarren irgendwelcher Bodenbretter. Dennis schaute mich an. »Was ist?« wisperte er. »Traust du dich nicht, John?« »Das hat damit nichts zu tun, Junge. In ähnlichen Situationen habe ich schon böse Überraschungen erlebt.« Er hob die Schultern und wartete darauf, daß ich den fremden Raum betrat.
Mit einem langen Schritt hatte ich ihn erreicht, mich durch den Spalt geschoben, ließ den Lampenstrahl kreisen - und sah die beiden bewegungslosen Gestalten. Tom Evans lag rücklings auf dem Bett, übersät von zahlreichen Wunden. Daneben lag die zweite Gestalt auf dem Boden, den Kopf ein wenig zur Seite gedreht. Und den Mann kannte ich viel besser. Es war Suko! Das hätte mich nicht einmal so stark in Schrecken versetzt. Es war allein die Tatsache, daß beide Männer aussahen, als wären sie tot... *** Genau das hatte auch Dennis gemerkt. Er wollte an mir vorbeilaufen, doch ich hielt ihn fest. »Nein, Junge.« »Aber Tom und dein Freund Suko . ..« »Langsam, Dennis. Wir haben Zeit, Junge.« Da Suko mir näher stand als Tom Evans, leuchtete ich ihn zuerst an. Sein Gesicht sah aus, als hätte jemand Puder auf den dünnen Schweißfilm gelegt. So bleich und weiß. Ich bemerkte allerdings schon im Stehen, daß er nicht tot war. Im grellen Strahl der Lampe zeichnete sich unter seiner Haut am Hals eine zuckende Ader ab. Vorsichtig beugte ich mich nieder und berührte mit der Fingerspitze die Haut. Sie besaß eine normale Temperatur und war nicht so stark abgekühlt, wie es bei einem Toten der Fall gewesen wäre. Dennis stand gebückt neben mir. »Das ist wie bei allen anderen, John. Sie liegen in einem Tiefschlaf.« »Dann ist auch Suko zu einem Opfer des Knochenmonds geworden, fürchte ich.« »Ja.« »Kannst du mir erklären, was geschieht?« »Was geschehen ist, John. Der Tiefschlaf teilt sie. Ihr zweites Ich ist jetzt stärker als das erste. Es hat ihren Körper verlassen und befindet sich in einer anderen Welt. So und nicht anders mußt du denken.« Er verließ seinen Platz und blieb direkt neben dem Bett stehen, wo er sich mit Tom Evans beschäftigte. Auch ich schaute ihn mir an und ließ den Lampenstrahl über seine Gestalt fließen. Tom gehörte nicht gerade zu den schlanksten Menschen. Er besaß einen kompakten Körper und fiel damit auf. Dazu trug auch der dichte Vollbart bei. »Beide sind nicht tot«, murmelte Dennis mit dumpf klingender Stimme. »Beide schlafen ... «
Ich beobachtete den Jungen genau, denn mir war die Veränderung in seiner Stimme aufgefallen. Dennis machte mir einen sehr abwesenden und müden Eindruck. »Es ist stark, John, ich spüre es im Kopf. Ich . . . ich kann nicht dagegen an.« »Bitte, was hast du?« »Ich ... ich kann nicht mehr, wirklich nicht. Ich... ich stehe auf verlorenem Posten. Ich muß .. . der Knochenmond, die Strahlen und . . .« Er brach zusammen, noch bevor ich zu ihm eilen und ihn auffangen konnte. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Boden. Natürlich hatte ich Angst um ihn, untersuchte den Jungen und stellte fest, daß er nur schlief. Hatte sich sein zweites Ich bereits von seinem ersten gelöst?« Fragen konnte ich ihn nicht, dafür beobachten. Möglicherweise war an seiner Reaktion während des Schlafs zu erkennen, unter welch druckvollen Träumen er litt. Dennis besaß blonde Haare und eine sowieso schon ziemlich blasse Haut. In seinem neuen Zustand hatte diese auch die restliche Farbe verloren. Eine Leiche konnte nicht bleicher aussehen. Auch er hielt während des Schlafs die feuchten Lippen offen, die sich leicht bewegten, ohne daß er jedoch ein Wort hervorbrachte. Plötzlich durchrann ein Zucken seinen Körper. Es sah aus, als hätte der Liegende einen Schlag erhalten. Die Lider der geschlossenen Augen zuckten ebenfalls, sogar die Fingerspitzen bewegten sich, bis zu dem nicht erwarteten Krampf. Er hatte ihn gepackt, er ließ ihn so leicht nicht mehr los. Dennis stöhnte tief auf. Dann erschlaffte er. Wie eine Puppe lag er vor mir. Ich war mir bewußt, daß ich als Zeuge die Trennung der beiden Ichs miterlebt hatte. Nur war es mir nicht gelungen, das zweite Ich zu sehen. Sollte ich das Kreuz einsetzen? Nein, das Risiko erschien mir einfach als zu hoch. Ich konnte es nicht tun, denn der Zeitpunkt, an dem ich das zweite Ich des Jungen aus der anderen Dimension zurückholte, mußte genau getimt werden. Suko lag im Koma, Evans ebenfalls, jetzt auch noch Dennis. Nur mich hatte es nicht erwischt. Froh war ich darüber nicht. Ich fühlte mich eher wie jemand, dem man die Beine weggezogen hatte, um ihn im luftverdünnten Raum schweben zu lassen. Mit ziemlich weichen Knien ging ich durch den Raum, suchte nahezu verbissen nach einer Chance, ohne sie allerdings zu finden. Ich hätte das Haus verlassen und zu dem schwarzen Felsen gehen können, um von dort aus direkt anzugreifen.
Aber wen sollte ich attackieren? Es gab für mich keinen sichtbaren Gegner. Hinein in den Knochenmond springen, um das Skelett zu zerstören, konnte ich auch nicht. Und doch lag bei ihm die Lösung. Ich war an das Fenster getreten, schaute hinaus und hatte den Kopf dabei so gedreht, daß ich den Knochenmond erkennen konnte. Wie ein schauriger Lampion hing er in der Dunkelheit des Nachthimmels. Er beherrschte alles, er war der große Meister, der mit der Psyche der Menschen eiskalt spielte. Nichts rührte sich draußen. Neben den Menschen war auch die übrige Welt in einen tiefen, unnatürlichen Schlaf gefallen. Unter dem Knochenmond sah das Schwarz des Felsens aus, als wäre es mit einer dunklen Farbe überpinselt worden. Für mich war dieser Felsen dort so etwas wie ein Zentrum, in dem es unhörbar und auch unsichtbar brodelte. Um ihn allerdings zu zerstören, war Kraft allein nicht gefragt. Ich ging wieder zurück. Meine Tritte hallten durch die Stille. Das Haus wirkte auf mich wie ein Gefängnis ohne Gitter. Was passierte, wenn ich mein Kreuz ablegte? Würden die Strahlen mich dann ebenso erwischen und mein zweites Ich entführen, wie es bei den anderen Menschen der Fall gewesen war? Der Gedanke, es einfach zu versuchen, reizte mich schon, doch ich widerstand der Lockung, sie erschien mir zu gefährlich. Etwas huschte außerhalb des Hauses und in Höhe des Fensters vorbei. Ich drehte mich schnell um, zu langsam trotzdem, denn der Gegenstand war bereits verschwunden, hin Vogel? Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als die Stille gestört wurde. Daß sich die Haustür unten nicht lautlos öffnen ließ, hatte ich selbst schon festgestellt. Die gleichen Geräusche flohen von unten her an mein Gehör. Sekunden vergingen. Wieder quietschte und knarrte die Tür. Danach hörte ich die Schritte. Sehr vorsichtig gesetzt, aber nicht ohne akustische Voranmeldung. Sie bewegten sich über die Treppe, ließen Stufe für Stufe hinter sich, verstummten vor dem Vorhang. Wer immer der Besucher auch war, ich jedenfalls erwartete ihn mit gezogener Waffe. Die Mündung glotzte gegen den Vorhang, dessen Faltentwurf leicht zitterte, bevor er zur Seite gezerrt wurde. »Nicht schießen, John!« Die Stimme erreichte mich als ein dumpfes Flüstern. Sie klang sehr fremd, ich hatte sie trotzdem erkannt. Bracht war da. Nur diesmal in seiner zweiten Existenz. Zum erstenmal erlebte ich ihn als Zebuion, den Schattenkrieger...
*** Er war gewaltig, er war ein Ereignis, er stand da und schaute mich hinter dem Sichtvisier seines Helms her an. Alles an seinem Körper zeigte die Farbe Schwarz, bis auf den funkelnden Silbergürtel in seiner Körpermitte, der sich in einer permanenten Bewegung befand, als würden ständig Lichtreflexe über ihn hinweghuschen. Einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck machte er mir nicht. Unbedarften Menschen würde er sicherlieh eine gehörige Portion Furcht einflößen, aber ich wußte, daß er auf meiner Seite stand, ließ die Waffe nicht nur sinken, ich steckte sie auch weg. Nun erst kam Zebuion näher. Seine Füße steckten in ebenfalls dunklen Stiefeln aus weichem Leder. Wenn er auftrat, geschah dies lautlos, jetzt aber bewegten sich knarrend die Bodenbretter unter seinem Gewicht. Er kam nicht zu mir, sondern drehte seine Runde im Zimmer, wobei er sich die Träumenden genau anschaute. »Auch Dennis hat es erwischt«, sagte ich leise. »Das sehe ich.« »Und was tun wir?« Zebuion gab keine Antwort. Vordem Fenster blieb er stehen. Erst jetzt entdeckte ich auf seinem Rücken die dunklen Flügel. Bracht war tatsächlich zu einer Figur geworden, die einem Fantasy-Film hätte entsprungen sein können. Wenn ich ihn mir so anschaute, wollte ich ihn nicht eben zum Feind haben, das stand fest. »Können wir sie zurückholen, Zebuion?« Er sprach gegen die Scheibe. »Wie meinst du das?« »Das zweite Ich wieder aus der anderen Welt zerren, um es in den Körper einzupflanzen.« »Wie willst du das tun, John?« Ich lachte gegen seinen Rücken. »Das darfst du nicht mich fragen. Ich wollte es von dir wissen.« »Und ich kann dir nur schwer eine Antwort geben, so leid es mir tut, mein Freund.« »Dann siehst du keine Chance?« Er drehte sich schwerfällig um, als hätte er damit Mühe, sich erst an die neue Montur zu gewöhnen. »Doch, ich sehe eine Chance, aber sie ist sehr gering, was dich angeht.« »Warum mich?« »Kannst du es schaffen, in die Träume der Menschen zu gelangen? Dich in ihrer Welt zu bewegen?« Diese fragende Antwort überraschte mich. Ich mußte erst nachdenken. »Du redest von einer Dimensionsreise, Zebuion?« »Richtig.«
Mein Lächeln fiel etwas verklemmt aus. »Es wäre nicht das erste Mal, daß ich eine derartige Reise unternehme. Ich habe bereits einige hinter mir, das ist keine Lüge.« »Wunderbar«, erklärte er. »Dann könnte es ja klappen.« »Und du schaffst es?« »Nicht als Barry F. Bracht. Nur wenn ich unter dem Einfluß des Knochenmondes stehe und zu Zebuion geworden bin. Ansonsten sieht es nicht gut für mich aus.« »Und wie willst du das anstellen?« »Indem ich den Kreis der Energie unterbreche.« »Erkläre mir das genauer.« »Es ist ganz einfach, John. Die drei Personen, die wir hier liegen sehen, umgibt ein für uns nicht sichtbares negatives Energiefeld. Dies wiederum müssen wir durch positive Energie unterbrechen, um in die Träume hineinzugelangen.« »Wie?« »Nicht als zweites Ich, John. Dazu müßtest du ebenso träumen wie die drei hier.« »Das schaffe ich nicht. Es sei denn, ich lege meine Waffe, das Kreuz, zur Seite.« »Kannst du darauf verzichten?« »Nein.« »Dann versuche es auf meine Art und Weise.« Er hob eine Hand, die ebenfalls in schwarzen Handschuhen steckte. »Allerdings möchte ich dich warnen, John.« »Wovor?« »Du mußt schon ein normaler Mensch sein und nichts tief in dir tragen, das dich von anderen unterscheidet. Du darfst also nicht als eine Doppelexistenz umherwandeln.« »Das ist klar.« »Dann wäre es möglich.« »Okay, einverstanden. Gesetzt den Fall, es klappt bei mir nicht. Was geschieht dann?« »Ich bin gezwungen, den Weg zu gehen. Ich bin ein Schattenkrieger. Ich muß die Welt der grausamen Träume bekämpfen. Es gibt für mich keine andere Möglichkeit. Sagen wir es so. Das Schicksal hat mich dazu ausersehen, und ich weiß es erst seit kurzem. Mir ist auch bekannt, daß irgendwo ein mächtiger Gegner lauert, den nur ich richtig ausschalten kann. Ich kenne ihn nicht, ich habe ihn nie gesehen, nur hin und wieder spüre ich sein Fluidum.« »Vielleicht Jericho?« »Den Namen hast du schon einmal erwähnt. Kannst du da nicht genauer werden?«
Ich hob die Schultern. »Soviel ich weiß, ist er eine Wolke, die sich aus zahlreichen Geistern zusammensetzt. Es ist schwer, dir das jetzt zu sagen, du mußt ihn einfach erleben.« »Dazu wird es bestimmt einmal kommen.« Er umrundete das Bett, auf dem Tom Evans lag. Mit den Fingern strich er über das Gesicht des Mannes, der sich nicht rührte. »Sein zweites Ich ist stärker geworden. Es existiert in der grauenvollen Traumwelt.« »Kennst du sie eigentlich?« Zebuion breitete die Arme aus. »Nein, ich kann sie nicht kennen, niemand kennt sie, niemand kann sie erfassen. Der Grund ist einfach. Diese Welt ist nie gleich. Sie ist relativ. Sie kann heute so aussehen und morgen so. Es kommt immer darauf an, was die Menschen im schwarzen Fels träumen. Danach richtet sich das Aussehen der Welt. Nur kannst du davon ausgehen, daß es immer schlimme Träume sind. Eben die berühmten Alpträume.« »Was hast du denn in der Welt gesehen?« »Alles Böse, was du dir vorstellen kannst, Begierde, Haß, Gewalt, überzeichnete Sexualität. In dieser Welt sind alle Übel versammelt, die auch tief in den Seelenschächten der Menschen schlummern. Sie ist ein Abziehbild ihrer selbst.« Er nickte. »Ja, sie ist - obwohl sie so fremd erscheint - eigentlich menschlich. In gewisser Weise werden die Träume dort wahr und nehmen Gestalt an.« »Gut gesprochen.« Ich deutete der Reihe nach auf die schlafenden Personen. »Kannst du mir sagen, was sie träumen? Träumen sie alle gleich, oder sind es verschiedene Erlebnisse?« »Keiner träumt das gleiche wie sein Nachbar.« »Dann würde Suko einen anderen Traum haben als Tom Evans, oder irre ich mich?« »Du irrst dich nicht.« »Könnten wir uns denn den Traum aussuchen, in den wir letztendlich eindringen wollen?« »Es wäre wahrscheinlich möglich.« »Dann sollten wir es doch tun, Zebuion. Oder bist du strikt dagegen? Ich finde es besser, wenn wir den leichteren Weg gehen. Den schweren können wir noch immer erreichen.« »Ein guter Vorschlag, John.« Ich lächelte. »Trotzdem würde ich mir den Traum aussuchen, der mich zu Suko führt. Gemeinsam sind wir stärker, um auch andere Wege gehen zu können.« Zebuion hob die Schultern. »Es ist allein deine Entscheidung, John. Ich kann dir da nicht reinreden. Nur hoffe ich, daß wir beide den richtigen Kanal finden, der uns in die Traumwelten der Menschen hineinschießt.«
»Kann es Schwierigkeiten geben?« Er hob die Schultern, die durch die Montur noch breiter wirkten. »Ich bin mir nicht sicher. Bei mir hat alles geklappt, als ich den Versuch unternahm, aber ich bin auch für diesen Fall ausgesucht worden, im Gegensatz zu dir. Du bist ein Neuling, und ich kann nur hoffen, daß du dein Ziel auch erreichst.« Ich nickte. »Genug der Theorie. Wie sollen wir es anstellen, daß wir in die Träume hineingleiten?« Hinter dem Sichtschutz des Helms verzog sich der Mund zu einem Lächeln. »Ich besitze die positive Energie, sie wird uns leiten, das verspreche ich dir.« »Dann fang an.« »Nicht hier, John.« Das gefiel mir nicht. »Sag nur, wir müssen noch ...« Er nickte. »Ja, zum Zentrum hin. Der Felsen ist das Zentrum. Dort konzentriert sich die Kraft der Schlafenden. Erst da sind wir in der Lage, in die feinstoffliche Ebene hinüberzusteigen, weil sich unsere Körper dazu auflösen müssen.« »Sie setzen sich also in der anderen Welt wieder zusammen. Und somit entsteht das zweite Ich.« »Richtig. Wobei du dir die Daumen halten mußt, daß dein zweites Ich ebenso aussieht wie dein erstes. Denn es geht leider auch anders, wenn du von Alpträumen geplagt wirst wie die zahlreichen Schläfer. Dann nimmt dein zweites Ich die Gestalt des Alptraums an. Das können möglicherweise schreckliche Monstren sein.« »Sofern wir selbst nicht träumen, ist mir das ziemlich egal, mein Freund. Ich will nur endlich vorankommen.« »Dann nehme ich dich mit.« Er öffnete das Fenster, winkte mir zu. Ich wußte, was kam, denn ich hatte es mehr als einmal beim Eisernen Engel erlebt. Ich klammerte mich an ihm fest, duckte mich mit ihm zusammen, um durch die Fensterluke zu gelangen, dann stieß Zebuion sich ab und zerrte mich mit. Wir fielen hinein in die dunkle Welt — und erreichten den Boden nicht, denn mein neuer Begleiter bewegte seine Flügel, in denen genügend Kraft steckte, um uns beide zu tragen. Und so schwebten wir über die Dächer des Dorfes hinweg, dem Ziel entgegen, das noch immer bleich und kreisrund in der Bläue des Nachthimmels stand. Mit einer Reise auf dem Rücken des Eisernen Engels war diese hier nicht zu vergleichcen. Wir überwanden keine Dimensionsgrenzen, sondern eine normale Distanz und näherten uns dem schwarzen Felsen, der klotzig und dennoch irgendwo schlank wirkend unter dem bleichen Schein des Knochenmonds lag.
Die dort schlafenden und träumenden Menschen waren für mich nicht auszumachen. Durch ihre zumeist dunkle Kleidung verschmolzen sie mit den Schatten des Felsens. Kurz bevor wir ihn erreichten, zog Zebuion in die Höhe. Jetzt stand der Knochenmond direkt über uns, so daß wir beide seine Strahlung intensiv mitbekamen. Auch ich merkte sie, spürte aber gleichzeitig, daß sie von meinem Kreuz abgeleitet wurde. Sie konnte nicht in mein Inneres dringen und von ihm Besitz ergreifen. Zebuion war diesen geringen Umweg nicht grundlos geflogen. Er hatte feststellen wollen, wie ich auf die Nähe reagierte. »Es ist alles okay!« rief ich, darauf hoffend, daß er mich trotz des Helms verstand. »Ja, ich weiß.« Wir sanken. Auch ich senkte den Blick und konnte den Felsen jetzt direkt anschauen. Aus der Distanz hatte er ausgesehen wie ein glattgeschliffenes Gebilde. Das traf nicht zu. Im bleichen Mondschein wirkte er hell genug, um seine Maserung erkennen zu können. Seine Formationen, die Spalten und Einschnitte, die sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit kleinen Höhlen besaßen, gerade so groß, damit auch Menschen darin ihren Platz fanden, die dann in den bettenhaften Mulden lagen und schliefen. Ich sah die Männer, Frauen und Kinder bewegungslos unter mir liegen. Sie hätten ebensogut auch Tote sein können, die jemand zur Bestattung dort hindrapiert hatte. Der Schattenkrieger änderte seine Flugrichtung und steuerte eine kleine Landzunge rechts von dem Ort an. Zebuion senkte sich langsam nieder. Als ich stand, hatte ich weiche Knie bekommen, was sich allerdings ertragen ließ. Zebuion schob sein Sichtvisier hoch und schaute mich an. »Dieser Felsen ist gefüllt mit der Traumenergie der Menschen. Wir befinden uns bereits in ihrer Traumwelt, nur eben in einer anderen Sphäre, die wir verlassen müssen, um in die für uns nicht sichtbare hineinzustoßen. Hast du gesehen, wie sie da liegen und träumen?« »Darauf kannst du dich verlassen.« »Jeder träumt etwas anderes, aber alle Träume vereinigen sich irgendwo, damit sie diese unheimliche Welt bilden können.« »Sollen wir sie zerstören?« Für Zebuion war es nicht einfach, mir darauf eine Antwort zu geben. »Ich weiß nicht, was passiert.« »Es könnten wahrscheinliche seelische Schäden bei den Menschen zurückbleiben, fürchte ich.« »Möglicherweise.« »Dann werde ich versuchen, einen anderen Weg zu finden. Aber zunächst möchte ich hinein. Ich will Sukos Traum finden.«
Zebuion wand sich wie ein Aal. »Das wird nicht einfach sein, John, verstehst du? Wir haben uns leider von ihm zu weit entfernt. Seinen Traumkanal findest du nicht hier. Du mußt schon viel Glück haben, um ihn treffen zu können.« »Hättest du mir das nicht vor unserem Flug sagen können?« »Die 'Traumenergie der drei im Haus liegenden Personen war einfach zu schwach, um in sie eindringen zu können. Hier, John, konzentrieren sich die Träume. Der schwarze Felsen, gefüllt mit der Energie des Knochenmonds, ist das Zentrum in dieser Welt, ein Bahnhof für die Reise in die andere Dimension. Genügt dir das?« »Es muß mir genügen.« »Dann komm mit.« »Wohin?« »Wir müssen uns an eine Stelle begeben, die sehr stark mit der Magie des Knochenmondes gefüllt ist. Nur dort können wir direkt an unser Ziel gelangen. Keine Sorge, es ist nicht weit.« Ich winkte ab. »Solange wir auf dem Felsen bleiben, ist es mir egal, mein Freund.« Das blieben wir auch, und wir legten uns dorthin, wo die meisten Träumer ihre Plätze gefunden hatten und sich die Energie am stärksten konzentrierte. Ich schaute in eine Frau, deren blasses Gesicht dem Mond zugewandt war. Sehr deutlich zeichneten sich unter ihrer Haut die etwas grünlich schimmernden Knochen ab. Es war bei allen so, und mir floß ein Schauer über den Rücken, denn auch Dennis besaß dieses sichtbare Skelett. Einfach war es nicht, sich auf dem glatten Gestein zu halten, trotz der zahlreichen Spalten, Risse und kleinen Vorsprünge, zu denen wir uns immer wieder hintasteten, um dort eine Stütze zu bekommen. Als Zebuion stehenblieb, stoppte auch ich. Er deutete zu Boden. »Bitte, John, nimm Platz.« Ich drückte mich nach unten. Zum Greifen nahe lag ein kleiner Mensch. Die kaum erkennbaren Lippen waren bei ihm zu einem Lächeln verzogen. Ich konnte nur hoffen, daß die Kleine schöne Träume hatte. Vielleicht gab es auch so etwas in der anderen Welt. Zebuion hatte meinen Blick bemerkt und nickte. »Es ist eine Waise, die bei ihren Großeltern lebt. Vater und Mutter wurden bei den Unwettern zu Beginn des Jahres von einem Baumstamm erschlagen.« »Dann hat sie wenigstens schöne Träume.« »Dabin ich mir nicht sicher. Möglicherweise sieht sie im Traum ihre toten Eltern.« Ich bekam eine Gänsehaut, die den Schauer ablöste. Dann ballte ich die Hände und nickte Zebuion zu. »Faß mich an!« forderte er mich auf.
Da wir uns gegenübersaßen, brauchte ich nur die Arme vorzudrücken. Er tat das gleiche, und unsere Hände fanden sich. Zebuions schlossen sich um die meinen. »Das ist der Kontakt«, sagte er, »die Verbindung, die uns in die richtigen Kanäle führen soll.« »Gut.« Ich schaute nur ihn an. Hinter der Sichtmaske des Helms rührte sich nichts in seinem Gesicht. Für mich blieb es eine glatte unbewegte Fläche. Aber die Energie war vorhanden, die als positive Strahlung einen Ring um seine Taille gebildet hatte. Bisher war es mir nicht gelungen, sie richtig wahrzunehmen. Ich hatte sie gesehen, akzeptiert - okay. Nun spürte ich zum erstenmal die Kraft, die sie ausströmte. Zusammen mit der Kraft des Knochenmondes schaffte sie es, uns beide zu beeinflussen. Ich hatte meine Augen verdreht, schaute den Mond an, dessen makabrer Inhalt sich nach meinen Eindrük-ken gummiartig verzerrte, als wollte im nächsten Moment der gesamte Mond auseinanderfliegen. Ein Irrtum. Nicht der Mond teilte sich, es war mein Sichtfeld, das sich veränderte. Gleichzeitig drang der Strom der positiven Energie durch meine Poren in den Körper hinein. Er vollzog die Teilung. Zwei Ichs entstanden. Das zweite war in diesem Augenblick stärker, denn das erste, mein eigener Körper, sank zurück. Ich merkte es nicht und bekam auch nicht mit, daß sich meine und Zebuions Hände voneinander lösten. Eine andere Macht hatte das Kommando übernommen... *** Von nun an war ich mein zweites Ich! Eine verrückte Situation, deren Tragweite ich noch nicht erfassen konnte. Natürlich hatte ich mich damit abfinden müssen, und ich versuchte auch, mich dem unterzuordnen. Denken konnte ich. Fühlte ich auch so? War ich wirklich noch der Mensch oder nur mehr die Seele? Mein Körper war im Koma zurückgeblieben, ich würde eintauchen in die Dimension der Träume, aber nicht als feinstoffliches Wesen, denn dort, das war mir klar, materialisierte ich wieder. Genau als die Gestalt, die mir mein Traum widergab. Das konnte ein Mensch sein, wenn ich Glück hatte. Oder aber ein Monster, falls ich von einem höllischen Pech verfolgt wurde.
Ich trieb dahin wie ein Staubkorn in der Wüste. Es gelang mir nicht, irgendwelche Empfindungen aufzunehmen, aber mein Geist war vorhanden, ein gutes Zeichen. Die andere Welt hatte mich geschluckt - und zeigte sich mir, denn urplötzlich wurde alles anders. Auf einmal verschwand die Leere — oder war sie auch zuvor nicht dagewesen? Ich sah mich in einer fremden Umgebung wieder, nicht im Freien, dafür in einem Zimmer, einem Raum, der überhaupt nicht von der Einrichtung her in meine Zeit hineinpaßte, denn das Interieur sah mir sehr antik aus. Etwas barockartig wirkte der Schrank mit seinen geschwungenen Füßen und der Spiegel an der Wand ebenfalls. Er war nur schwach erkennbar, weil es innerhalb des Raumes einfach zu dunkel war. Er hing neben dem Fenster, und durch die Verglasung wollte ich nach draußen schauen. Die hohe Decke zeigte mir, daß ich mich in keiner Hütte oder Kammer befand. Höchstwahrscheinlich in einem bürg- oder schloßähnlichen Gebäude. Auf dem Weg zum Fenster geriet ich zwangsläufig in die Nähe des Spiegels, wo ich auch besser sehen konnte, da von draußen her fahlgraues Licht durch das Fenster hereinkam. Mehr zufällig warf ich einen Blick in den Spiegel. Es traf mich wie ein Hammerschlag. Die Person, die ich dort sah, war nicht ich und trotzdem ich. Es war derjenige, der in mir wiedergeboren war: Hector de Valois! *** Suko blieb flach auf der Mauerkante liegen und umklammerte seine einzige Waffe fester. Die Szenerie war einfach unglaublich, und er wußte nicht, ob Tom Evans dort unten so stark gewachsen war oder sich die Gestalten der Träumer verkleinert hatten. Er jedenfalls war ein Zeuge, doch er kam sich in diesen Augenblicken so hilflos vor. Suko konnte nichts tun, die Übermacht im Burghof war einfach zu groß. Der Riese ächzte und stöhnte. Es waren die gleichen Geräusche, die Suko auch aus dem Zimmer gehört hatte, wo sein Körper und der des Tom Evans wie im Koma lagen, nur klangen sie hier wesentlich verstärkt, als stünde eine alte Maschine unter Dampf. Der Inspektor drückte sich weiter vor, bis sein Kinn den harten Mauerrand berührte.
Er suchte nach einem Abstieg, denn springen konnte er auf keinen Fall. Da hätte er sich alles gebrochen, einschließlich des Genicks. Sosehr er auch schaute, der Stein war glatt, schimmerte seifig, und die Sprossen waren nicht zu sehen. Suko wollte es einfach nicht wahrhaben. Wer einmal von außen her auf die Mauer geklettert war, mußte an der anderen Seite wieder nach unten kommen. Es sei denn, er besaß Flügel und konnte fliegen. Die hatte Suko nicht, springen wollte er ebenfalls nicht, zurück auch nicht — was blieb ihm also? Er machte aus der Not eine Tugend und robbte auf dem Mauerrand entlang. Seine Waffe hatte er sich dabei in den Hosengurt geschoben. Man kann nicht immer Pech haben. Auch Suko erging es so. Das Pech wechselte mit dem Glück ab, denn wenig später schon entdeckt er innerhalb der Mauer eine Vertiefung, mehr eine viereckige Mulde, in der zusammengerollt etwas Glänzendes lag. Es war eine dickgliedrige Kette. Für einen Moment huschte ein Lächeln über das Gesicht des Inspektors, dessen Haut durch das Licht einen graublauen und fahl glänzenden Schimmer bekommen hatte. Dieses kam ihm wie gerufen. Noch immer auf dem Bauch liegend holte er einen Teil der Kette hervor und maß sie ab, als er sie waagerecht neben sich liegen hatte. Er rechnete aus, in wie vielen Runden sie sich zusammendrehte und multiplizierte. Suko konnte nur schätzen. Er hoffte, daß die Kette bis fast zum Boden reichte. An ihrem Ende war sie durch einen Haken im Mauerwerk befestigt. Eine handgroße Eisenöse, die durchaus etwas vertragen konnte. Suko prüfte noch einmal die Verankerung, war mit sich und der Kette zufrieden. Dann machte er sich an den Abstieg. Daß er mehr als schwierig sein würde, war ihm klar. Er mußte sich an der Kette festhalten und nach unten schwingen lassen. Hand über Hand konnte er sich nicht nach unten hangeln. Er würde in Schwingungen geraten und höchstwahrscheinlich auch gegen die Mauer prallen. Alles Dinge, die nicht eben leicht zu bewältigen waren. Aber es gab keinen anderen Weg. Suko wickelte die Kette noch um beide Handgelenke. Mit den Händen selbst hatte er hart zugegriffen. Auf die Kante stellen, sich fallen lassen, einfach in die Tiefe springen, wie bei einem Fallschirmsprung. Dem Inspektor stand der Schweiß auf der Stirn. Auch sein zweites Ich reagierte so wie das erste.
Es gab kein Zurück. Unter ihm ächzte, keuchte und jammerte der Riese namens Tom Evans. Die anderen waren abgelenkt, sie schauten nicht in die Höhe, und Suko wagte den Versuch. Für einen Moment blieb er noch auf der Mauerkante stehen, dann ließ er sich nach hinten fallen. Suko raste ins Leere! *** Er kam wie ein Schatten! Blitzschnell, mit einer Geschwindigkeit, die kaum meßbar war. In dieser Welt der Träume fühlte er sich zu Hause. Hier war sein eigentliches Reich, hier konnte er seine gesamte Kraft ausspielen, da war er nicht der morgens stets so müde Barry F. Bracht, sondern Zebuion, der Schattenkrieger. Aus dem grauen Himmel stieß er hervor, die Arme gestreckt, die Flügel in ständiger Bewegung, und er raste über eine Welt hinweg, die schaurig genug war. Unter ihm wellte sich das Land. Die Berge standen sehr dicht. Keine Pflanze wuchs auf dem kargen Boden. Aber durch die Dichte hatten sich Canyons gebildet. Zebuion sah nichts, er fühlte es nicht. Da unten tat sich etwas. Menschen waren in großer Gefahr. Die Hilfeschreie ihrer Gefühle erreichten ihn wie akustische Signale. Mitten im Flug stoppte er ab, blieb in der Luft stehen, wie mancher Schwimmer Wasser trat, dann ging es abwärts. Schnell wie ein Stein, rasant wie ein Expreßlift. Der Boden fraß ihn förmlich auf, doch der Schattenkrieger wußte genau, wann er zu stoppen hatte. Beinahe sanft landete er mit beiden Füßen auf dem unebenen, steinigen Boden, und jetzt drangen die Schreie direkt an seine Ohren. Sie schienen direkt aus den karstigen Wänden zu drängen, aber die dunklen Löcher verrieten ihm, daß die Wände mit Tunneleingängen durchzogen waren wie ein Schweizer Käse mit Löchern. Wer diese Traumwelt erschaffen hatte, mußte schwer unter seinen Träumen leiden. Das merkte Zebuion schon sehr bald, als er in einer der Höhlen verschwand. Dumpfes Dämmerlicht umgab ihn. Als helle Quelle sah er in der Ferne ein rötliches Flimmern, und von dort hörte er die Schreie. Geduckt glitt er näher, sah auf einmal furchtbare Szenen, wo Menschen oder Gestalten ihr Menschsein vergessen hatten, aufeinander einschlugen und es dabei nicht beließen, denn einige von ihnen frönten dem Kannibalismus.
Nein, es waren keine Menschen. Dieses Gehirn träumte von untoten Gestalten, von Zombies. Und die mußte Zebuion aus dem Weg räumen. Er kam wie der große Rächer, beide Waffen hatte er gezogen. Sie waren mit positiver Energie aus dem Gürtel geladen, und er brauchte sich nur auf sie zu konzentrieren, um ihre Energie zu entlassen. Harte, blitzende Energiestöße rasten aus den beiden Mündungen, trafen zielgenau und verdampften die Zombie-Brut. Sie gaben keinen Laut ab, als sie starben. Der Schattenkrieger ging schießend weiter, um auch den letzten zu bekommen. Die Höhle erlebte ein wahres Inferno, aber der Traum des Menschen, in den Zebuion eingedrungen war, konnte als ebenso infernalisch angesehen werden. In der Höhle dampfte es. Schatten und Licht vereinigten sich zu einem verwirrenden Reigen. Die Schwaden wehten auf den Schattenkrieger zu, der unbeirrt weiterging. Fr wußte, daß er sich auf dem rechten Weg befand. Irgendein Gefühl trieb ihn voran. Es sagte ihm, daß seine >Arbeit< noch nicht beendet war. Einen Großteil des Traums hatte er dem Schlafenden genommen. Doch er war noch nicht beendet. Ein wenig erinnerte der Schattenkrieger an den künstlichen Robocop, als er in der Höhle stehenblieb und sich umschaute. Er wunderte sich über die ungewöhnlichen Wände. Sie sahen zwar aus, als würden sie aus Stein bestehen, es mußte allerdings ein anderes Material sein, denn an gewissen Stellen bewegten sie sich, als würden hinter ihnen Lungen warten, die tief ein- und ausatmeten. Mal quollen die Wände vor, mal traten sie wieder zurück. Der Schattenkrieger hob den Kopf und schaute gegen die Decke. Auch dort sah er das gleiche Bild. Und noch etwas anderes. Zuerst schien ein Fleck. Blaß, vibrierend, wie durch einen schnellen Pinselstrich gezeichnet. Aus dem Fleck kristallisierten sich Züge hervor, die an ein flaches schwammiges Gesicht erinnerten. Es sah aus, als besäße es nur zwei Dimensionen, keine Tiefe. Es konzentrierte sich allein auf die Länge und Breite. Dann sank es tiefer. Aus dem ungewöhnlichen Gestein wurde es hervorgedrückt. Nicht der flaschenförmig verzogene Kopf erschien, ein Hals tauchte ebenfalls auf, dazu die schmalen Schultern, dann der Körper mit seiner überdurchschnittlichen Länge. Das Wesen fiel nach unten — und genau in den Energiestrom hinein, den ihm Zebuion entgegenschickte. Mit einem Stoß zerblies er das zombiehafte Etwas. Dann drehte er sich wieder um.
Die Höhle wurde zu einem Tunnel, der in eine für ihn nicht erkennbare Tiefe führte. Aus ihr drang etwas hervor, das ihn warnte. F.s war keine Bedrohung, aber er kam sich vor, als wäre jemand dabei, um Hilfe zu schreien, obwohl er nichts hörte und Zebuion in diesem Moment das Phänomen eines stummen Schreis vernahm. Er mußte hin. Schnell huschte er in den Stollen und schaute auf den Rücken eines nackten, total behaarten Monstrums, das sich gebückt und seine Arme noch vorgestreckt hatte, um mit den Händen ein Ziel zu umklammern. Zebuion hörte das Stöhnen einer sehr hellen Stimme. So meldeten sich nur Kinder. Plötzlich wurde er schnell. Bevor das Monstrum reagieren konnte, war der Schattenkrieger bei ihm. Ein Blick reichte ihm. Wie eine Klammer umspannten die Hände die Schultern eines blonden Jungen. Es war dabei, ihn in die Wand zu drücken, in der sich die Zombie-Gestalten versammelt hatten und mit weit aufgerissenen, blutenden Mäulern darauf warteten, Dennis als Beute zu bekommen. Der Energiestrahl umzirkelte das Monstrum einen Augenblick später. Es glühte noch für einen Moment auf, dann war es erledigt und sackte auf der Stelle zusammen. Seine Pranken lösten sich vom Hals des Jungen, während es selbst verdampfte. Der Schattenkrieger hob die Sichtklappen. Er lächelte Dennis zu und sagte nur ein Wort: »Komm!« Wie gern ließ Dennis sich in die Höhe ziehen. Er preßte sich für einen Moment an den Körper des Helfers, der stehengeblieben war, sich jedoch auf der Stelle drehte und seine Waffen gegen die Tunnelwand richtete. Dann schoß er. Die Energiestöße machten vor nichts halt. Sie zerschmolzen die Wand, sie drangen tiefer, sie erwischten die Körper dahinter und sorgten dafür, daß diese zerschmolzen. »Wer bist du?« »Zebuion!« »Du bist es?« »Ja.« Dennis wischte über sein Gesicht. Den Unglauben konnte er aus den Augen nicht fortbekommen. Dann umzuckte ein Lächeln seine Lippen. »Ich habe nie gedacht, daß du . ..« »Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, Junge. Wir werden zusehen, daß wir aus diesem Traum herauskommen.« »Ja.«
Dennis blieb an der Seite seines Befreiers. So gingen die beiden unterschiedlichen Menschen durch eine Welt des Schreckens, der Stille und der Düsternis. Es passierte nichts mehr, so daß sie es schafften, die Höhle zu verlassen und dort stehenzubleiben, wo die Wände so dicht zusammenwuchsen, daß sie eben den Canyon bildeten. Schmal und tief war die Schlucht. Dennis legte den Kopf in den Nacken. Als er sprechen wollte, wirkte er zuvor wie ein Fisch, der nach Luft schnappte. »Wie . . . wie kommen wir da hoch?« »Das klappt schon, keine Sorge.« »Aber ich .. .« »Dennis. Du mußt dich auf mich verlassen. Wir haben es geschafft, den Schlafenden von einem großen Teil seiner Alpträume zu befreien, und wir werden es auch weiterhin packen. Diese Welt bleibt nicht so, wie sie ist. Hat er den Alptraum hinter sich, so muß sie sich einfach verändern.« »Meinst du?« Der Schattenkrieger lachte. »Das weiß ich sogar. Aber so lange wollen wir nicht warten.« Er streckte den linken Arm aus und winkelte ihn dabei so an, daß dieser einen vorn offenen Halbkreis bildete. »Geh dort hinein, Dennis.« Der Junge zögerte noch. »Und dann?« »Hast du etwas gegen eine kleine Reise?« »Nein, aber .. .« Zebuion ließ seinen jungen Begleiter nicht zu Ende sprechen. Er packte zu und hievte ihn an. Bevor Dennis protestieren konnte, jagten sie schon dem schmalen Ausgang der Schlucht entgegen, und Dennis konnte nur staunen, bekam aber plötzlich Furcht, als er sah, wie schnell sich die beiden Seiten der Schlucht bewegten, um sich über ihnen zu schließen. Da kamen sie nicht mehr durch, die Lücke war einfach zu klein. Aber Zebuion war ein Meister seines Fachs. Wieder setzte er die positiven Energiestrahlen ein. Beide hörten keinen Laut, als die Brocken über ihnen hinweggeflogen und auf dem Weg in die Höhe verdampften. Sie bestanden anschließend nur mehr aus schmalen Rauchfahnen, die ihren Weg in die Schwärze des Himmels fanden und dort zerflatterten. Freie Bahn! Und Zebuion jagte mit seinem Schützling über die furchtbare Alptraumwelt dieser Dimension hinweg. Seine Flügel bewegten sich wie die Flossen bei einem Fisch, sie steuerten jede Bewegung und sorgten für eine hohe Geschwindigkeit. »Wohin fliegen wir?« schrie Dennis gegen den warmen, aber scharfen Wind an. »Wir müssen die Träume der Menschen zerstören.« »Alle?« »Wenn möglich - ja.«
»Aber das geht doch nicht. Es sind einfach zu viele. Jeder träumt etwas anderes, und alle sind sie hier vereint. Ich träume doch auch, aber es ist nicht mehr schlimm.« Mit diesem Problem hatte sich der Schattenkrieger ebenfalls beschäftigt und seiner Ansicht nach auch so etwas wie eine Lösung gefunden. Hinter dem Aufbau dieser alptraumhaften Welt mußte einfach mehr stekken als nur die Träume der Menschen. Es gab da ein Wesen, wie John Sinclair es bereits angedeutet hatte, eine Macht, einen mörderischen Geist, der auch einen Namen besaß. Jericho! Sinclair hatte Zebuion auf der Fahrt von dem Fall in der Wüste Arizonas berichtet, als es diesem Jericho ebenfalls gelungen war, in die Träume der Menschen einzudringen. Damals hatte er eine ganze Stadt unter seine Kontrolle bekommen und ihr auch seinen Namen gegeben. Durch die Trompetenstöße der Erzengel war die Stadt zerstört und die Menschen gerettet worden, aber Jericho hatte nicht vernichtet werden können. Ihm war die Flucht gelungen. Und ein sehr weiser Apache hatte John Sinclair gesagt, daß es einen Mann gab, der dem Treiben des Bösen Einhalt gebieten konnte. Zebuion, der Schattenkrieger! Das war er, im normalen Leben ein Lektor namens Barry F. Bracht. Aber nach der Verwandlung eine Person, die von der positiven Energie lebte und sie so einsetzen konnte, daß das Böse aus den Träumen der Menschen herausgebrannt wurde. Er konnte nichts über die Größe der Welt sagen, die sich aus den Träumen der Schlafenden aufbaute. Sie war endlich und unendlich. Irgendwo glich sie dem All, und möglicherweise gehorchte sie auch dessen Gesetzen. Sie waren tiefer gesunken. Die Höhle lag weit hinter ihnen zurück. Vor ihnen, in der Ferne, baute sich etwas auf, das auf sie wie ein mächtiger Klotz wirkte, und unter ihnen schimmerten gewaltige ölige Lachen. Es waren dunkle Gewässer, Seen, deren Oberflächen starr dalagen wie Spiegelflächen. Bis plötzlich ein gewaltiger Arm daraus hervorschoß. Er wirkte wie Gummi, besaß eine dunkle Farbe, war schuppenübersät und es gewohnt, die Beute im Flug zu fangen. Noch schneller war Zebuion. Sein Energiestrahl erwischte den Arm des übergroßen Kraken, zerstörte ihn, aber er zerriß nicht den Körper, der plötzlich aus dem Wasser hervorschoß und an eine gewaltige Kugel erinnerte. Von einer unwahrscheinlichen Kraft gesteuert, schnellte sie in die Höhe, drehte sich und zeigte den beiden ihr Gesicht. Das Gesicht eines Menschen, eingelagert in die schwammige Masse des Kraken.
Dennis schrie, weil er das Gesicht erkannt hatte. Es gehörte einem Schäfer aus dem Ort. Der Mann hieß Fin-ley, und er träumte diese grauenhaften Szenen. Blut schäumte aus dem schmalen, aber sehr breiten Maul. Die Augen besaßen die Größe von Kürbissen und wirkten, als wären sie mit Gewalt in den Kopf hineingestoßen worden. »Finley!« brüllte der Junge. Zebuion schoß, bevor das Maul sie verschlingen konnte, da es schon verflucht nahe herangekommen war. Die positive Energie zerriß den Schädel. Die Teile spritzten weg, glühten noch einmal auf, bevor sie nicht mehr zu sehen waren. Vorbei . . . Sie flogen weiter. Dennis zitterte, er weinte, denn der letzte Vorgang hatte ihn stark mitgenommen. Zebuion hatte seinen Blick nach unten gerichtet. Fr dachte an die verfluchten Seen, aber er spürte auch, wie sich etwas in seinem Kopf zusammensetzte und ihm klarmachte, daß sie zu einem bestimmten Ziel fliegen sollten. Es war dieser große, mächtige Klotz, nur schwach sichtbar, aber vorhanden. Und aus dieser Richtung strömte ihm etwas entgegen, das nicht unbedingt mit den Alpträumen der Menschen zu tun hatte. Es waren positive Signale. Die eines Menschen. »Wo willst du hin?« fragte Dennis. »Wahrscheinlich zu John Sinclair, mein Junge.« »Und dann?« Zebuion lachte. »Werden wir gemeinsam versuchen, diese verfluchte Welt zu vernichten . . .« Schreien, fluchen, jammern oder weinen? Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Da mir die Entscheidung schwerfiel, tat ich nichts, stand nur da, starrte mich und die mir trotzdem fremde Person an und versuchte wenigstens, über dieses Phänomen nachzudenken. Ich war mein zweites Ich. Aber ich war nicht mehr John Sinclair, sondern die Person, als die ich schon einmal gelebt hatte. Hector de Valois! Ein Kämpfergegen das Böse, der seinen Platz in einer Zeit gehabt hatte, als das Mittelalter sich bereits seinem Ende zugeneigt hatte. Auch er war ein unbedingter Feind der Schwarzen Magie gewesen und hatte sich auf die Suche nach dem Dunkeln Gral gemacht, denn als Kreuzträger war ihm nichts anderes übriggeblieben. Das Kreuz!
Dieser Gedanke durchzuckte mich wie ein heißer Strahl. Trug ich es noch bei mir? Und wie stand es mit den anderen Waffen? Ich fühlte nach und war beruhigt, denn weder das Kreuz, die Beretta, noch den Dolch und den Bumerang hatte ich verloren. Alles war noch vorhanden. Aber wie sah ich aus? Okay, meine normale Kleidung trug ich noch am Körper. Nur mein übriges Aussehen hatte sich verändert. Das war kein bartloses Gesicht mehr, das mich anschaute. Ich trug jetzt einen Knebelbart, der etwas eckig mein Kinn umwuchs. Auch die Haarfarbe war eine andere geworden. Dunkel, beinahe glänzend. Die Pupillen glichen der Farbe. Ich war kleiner als sonst, aber etwas breiter in den Schultern. Um die Lippen herum lag ein etwas spöttischer Zug, so kannte ich ihn von Hector de Valois, so hatte ich ihn auf meinen Zeitreisen erlebt, wo ich ihm als John Sinclair gegenüberstand und er mir als er selbst. Wie war so etwas möglich gewesen? Eigentlich ganz einfach. Mein zweites Ich hatte sich gelöst und war mit Hector de Valois zusammengekommen. Es hatte seinen Geist gefunden, es war in die oberen feinstofflichen Ebenen hineingedrungen und hatte sich später in dieser Traumwelt materialisiert. Denn nichts ging verloren. Auch wenn ein Mensch starb, war er noch vorhanden. Mochte der Körper vergehen, der Geist aber blieb. Es fiel mir nicht leicht, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, obwohl ich keine Furcht spürte. In mir steckte vielmehr das Gefühl der Spannung. Ich wartete darauf, wie es wohl weitergehen würde und wie ich als Hector de Valois reagierte. Mein Mund verzog sich zu einem spöttisch-kantigen Lächeln, als ich das Spiegelbild grüßte und dabei sagte: »Willkommen in der Welt der Träumer, mein Freund.« Ich lauschte meiner Stimme nach. Klang sie fremd? Ein wenig schon, aber sie war doch irgendwo meine eigene. Ich schluckte. An Überraschungen konnte ich mich wirklich nicht beklagen. Erst vor einigen Monaten war ich durch Magie zu einem Greis geworden, und jetzt steckte mein zweites Ich in einer längst verstorbenen Person. Eigentlich kam ich mir vor wie verkleidet. Ich dachte ja noch wie John Sinclair, mußte aber in Kauf nehmen, daß mir aus dem Spiegel ein anderer entgegenschaute. Ein verrücktes Leben! Ich trat vom Spiegel weg und erinnerte mich daran, daß ich aus dem Fenster schauen wollte. Schon bei meiner Ankunft war ich davon ausgegangen, mich innerhalb eines hohen Gebäudes zu befinden, eines Schlosses oder einer Burg. Ob das stimmte, wollte ich genau wissen.
Das Fenster bestand aus dickem Bleiglas. Als ich hinausschaute und nach unten blickte, war so gut wie nichts zu erkennen. Nur dichte Schatten, die sich bewegten. Einen Griff oder Schubriegel entdeckte ich leider nicht. So mußte das Fenster geschlossen bleiben. Aber es gab eine Tür. Auch sehr hoch, bestehend aus einer dicken Holzplatte, durch Schnitzereien aufgelockert, die so etwas wie kleine, quadratische Sprossenfenster andeuteten. Über die knarrenden Bohlen, deren Geräusche sich anhörten wie das Stöhnen gequälter Seelen, schritt ich auf die Tür zu. Ich zog sie auf. Bei dieser Handlung zog ich auch die Beretta, denn innerhalb dieses Baus mußte ich mich auf Überraschungen gefaßt machen. Vor mir lag ein breiter Gang, wie er tatsächlich zu einem Schloß paßte. Er war völlig leer. Es hingen nicht einmal Gemälde an den Wänden, kein Teppich bedeckte den Boden, nicht eine Rüstung markierte meinen Weg, ich sah nur das Ende des Ganges, das dort lag, wo die erste Stufe der nach unten führenden Treppe begann. Zwei Kandelaber gaben ihr schwaches Licht ab, das über den Boden und die Wände floß. Wenn ich ging, huschte mein Schatten geisterhaft über die Wände. Je näher ich der Treppe kam, um so mehr verstärkte sich die Unruhe in meinem Innern. Es mochte an den Geräuschen liegen, die aus der Tiefe hochklangen. Ich hörte Stimmen, mal einen dumpfen Fall, hin und wieder ein Lachen oder auch Stöhnen. Meine Füße hinterließen auf den Stufen dumpfe Geräusche. Schon bald hatten mich die Schatten der Dunkelheit eingefangen. Orientieren konnte ich mich allein anhand der von unten hochdringenden Geräusche und eines sehr schwachen Lichtschimmers, der mich kaum erreichte und unterwegs verschluckt wurde. Fs war schwer für mich, an eine Traumwelt zu glauben, in der ich mich letztendlich befand. Alles wirkte so erschreckend real und nicht wie das, was durch die Träume der Schlafenden aufgebaut wurde. Fin jeder, der träumte, fand sich auch in dieser Welt wieder. Irgendwo hingen sie alle zusammen, damit sich der Kreis schließen konnte. Ich mußte achtgeben, denn die Finsternis war einfach zu dicht. Manchmal hatte ich den Eindruck, keine Stufe mehr zu berühren, sondern ins Leere zu treten. Zum Glück gab es keinen Zwischenraum, ich fand immer wieder den nötigen Halt. Es gab auch ein Geländer, das einen sehr breiten Handlauf aufwies. Daran hielt ich mich nicht fest; ich blieb nahe der Wand, weil die Stufen dort breiter waren. Ich war so mit mir selbst und meinen Gedanken beschäftigt, daß ich das Hindernis erst bemerkte, als es fast zu spät war. Fs hockte dicht an der
Wand wie ein dicker, fetter breiter Klumpen, mehr schon eine Kugel oder Qualle. Sollte es ein Wesen mit Empfindungen sein, so tat es nichts, um mich wahrzunehmen. Es hockte einfach da und schien auf irgend etwas zu warten. Ich tat ihm den Gefallen und stieß mit der Fußspitze gegen die Masse, die ungewöhnlich weich war. Der nur geringe Widerstand erinnerte mich an eine teigige Masse. Plötzlich kam das Wesen hoch. Nicht sehr schnell, plump, aber es drehte sich dabei. Innerhalb der Masse entstand ein Loch, aus dem mir ein widerlicher, stinkender Leichengeruch entgegenströmte und wie ein Schleier durch mein Gesicht strich. Ghoulgestank. . . Der Gedanke war kaum in meinem Kopf hochgezuckt, als ich schon zurücksprang, die Kante einer Stufe vergaß und auf den Rücken fiel. Eine derartige Chance ließ sich das Monstrum nicht entgehen. Es warf sich mir entgegen. Ich hätte möglicherweise mit einer Silberkugel alles retten können, aber ich nahm den Dolch. Meine linke Hand war schneller. Sie zuckte heftig vor. Der Widerstand war kaum zu spüren, als sich die Klinge in das stinkende Gewebe bohrte und seine weißmagische Kraft entfaltete. Ein Zischen, und ein dunkel gefärbter Blitz sprühte in alle Richtungen. Vorbei .. . Leer lag die Stufe vor mir. Der Ghoul existierte nicht mehr. Ich hatte ihn aus dem Traum des Schlafenden gelöscht. Normalerweise wäre er bis zur Kristallisation ausgetrocknet, was hier nicht der Fall war. Für einen Moment lehnte ich mich gegen die Wand. Ich mußte mir einfach gratulieren, nein, ich gratulierte Hector de Valois. Auch in seiner Gestalt war ich nicht schwächer geworden. Das wiederum gab mir den nötigen Schwung, um den Weg forzusetzen. Die Treppe änderte sich nicht. Nach wie vor befand sich der breitere Teil der Stufen nahe der dunklen Wand. Jetzt achtete ich besonders auf Hindernisse und konnte ruhig weitergehen, denn kein weiterer Ghoul versperrte mir den Weg. Dafür hatte sich etwas verändert. Die Äußerlichkeiten nicht, nur aus der Tiefe wehten die Geräusche intensiver zu mir hoch. Wenn mich nicht alles täuschte, wurde dort eine Feier abgehalten. Tatsächlich eine Feier? Es wollte mir nicht in den Sinn, weil es einfach nicht zu den Alpträumen der Menschen paßte. Man feierte nicht in diesen Träumen, man erlebte die Angst, die drückende Furcht, die den Geist und auch den Menschen selbst malträtierte. Es gibt natürlich Feiern und Feiern. Ich konnte mir vorstellen, daß diese unter mir nicht nach den Regeln einer Party ablief, wie ich sie kannte.
Ich wollte sehen, was dort unten geschah, ging schneller und hatte sehr bald das Glück, vom ersten Ausläufer des Lichts erreicht zu werden, das die Stufen der Treppe hochfloß. Es bewegte sich, es floß, es schuf Schatten und sorgte auch dafür, daß meiner gegen die Wand gemalt wurde. Mein Gesicht verzog sich zur Grimasse, als ich die plötzliche Musik von unten her hörte. Sie war schlimm, schrill, eine Mischung aus falsch gespielten Tönen und einem sehr plötzlich ertönenden Gesang. Diese Frauenstimme klang noch schriller, als es die Musik war, und sie übertönte sie mit einigen Oktaven. Jedenfalls hörte das Wesen nicht auf zu >singen< und kreischte auch weiterhin, als ich auf dem letzten Absatz der Treppe stehenblieb und in die Tiefe schauen konnte. Vor mir lag ein Saal. Flammen aus langen Röhren blakten und tanzten zur schrillen Musik der Geigenspieler. Was sich tatsächlich dort unten abspielte, spottete jeder Beschreibung. Es war ein Fest des Schreckens, eingepackt in ein furchtbares Pandämonium .. . Selbst ein durchtrainierter und mit allen Wassern gewaschener Mann wie Suko konnte den Schrei nicht unterdrücken, als er so plötzlich in die Tiefe raste. Er hatte das Gefühl, ins Bodenlos zu fallen und später irgendwo aufzuschlagen. Die Burgmauer sah er ebenfalls. Sie jedoch raste wie ein Schatten an ihm vorbei. Er konnte nur hoffen, nicht gegen diesen Schatten zu prallen, der seinen Körper zerschlagen hätte. Noch raste er nach unten. Wenn sich die Kette allerdings spannte, würde sein Körper in Pendelbewegungen geraten und wahrscheinlich mit immenser Wucht gegen die Mauer schmettern. Dann erfolgte der Ruck. Es war ein mörderisches Gefühl. Suko kam sich dabei vor, als hätte man ihm die Arme abgesägt. Er wurde zu einem Spielball der Kräfte, die an ihm zerrten und mit ihm machten, was sie wollten. Der harte Schwung schleuderte ihn nach vorn. Bevor er frontal gegen die Mauer rammte, zog er, in der Luft hängend, die Beine an und stemmte sich mit den Füßen dagegen. Dennoch war der Schlag hart genug. Einem weniger durchtrainierten Menschen wären unter Umständen die Beine gebrochen worden. Suko spürte nur rasende Schmerzwirbel durch die Oberschenkel hochschießen, und selbst in seinem Kopf explodierten sie. Ganz gelang es ihm nicht, den Aufprall abzubremsen. Beim erstenmal hatte er sich gedreht. Der Rückschwung schleuderte ihn wieder auf die Mauer zu, gegen die er nun mit der Schulter prallte, sich aber noch so drehte, daß er mit dem Rücken abrutschte.
Durch seine beiden Aktionen hatte er den Pendelbewegungen die erste unmittelbare Wucht genommen. In seinen Beinen stellte er kein Gefühl mehr fest. Sie waren für den Moment taub geworden. Die sagenden Schmerzen hatten sich verlagert und in den Hüften festgesetzt. Aus seinem Mund pfiff der Atem. Er vereinigte sich mit dem ratschenden Geräusch, das die Kette hinterließ, als sie mit den Gliedern über die Mauer schrammte. Suko kam endlich dazu, sich wieder um seine Umgebung innerhalb dieser Traumwelt zu kümmern. Er drehte den Kopf nach links. Nur so gelang ihm der Blick auf die Szenerie. Er schwebte relativ dicht über dem Boden. Mit einem Sprung war das zu schaffen, und noch immer kümmerte sich niemand um ihn, denn die männlichen und weiblichen Gestalten waren noch immer dabei, dem rücklings liegenden Riesen Wunden zuzufügen. Er ließ sich fallen. Wieder bekam er Furcht, dann prallte er auf, die Beine gaben ihm nach, er fiel, überkugelte sich und merkte erst jetzt, daß ihm einige Glieder schmerzten. Obwohl er die Szenen nur als sein zweites Ich erlebte, fühlte er wie ein Mensch. Für die Dauer einiger Sekunden blieb er liegen. Mit offenem Mund holte er tief Luft. Dabei starrteerauf den Boden, der sich wellte wie ein großes Meer. Daß er sich nicht Zeit lassen konnte, war ihm klar. Und so stemmte er sich hoch, mit einem Gefühl in den Beinen, das sich aus Schmerzen und Taubheit zusammensetzte. Aber seine Waffen hatte er trotz des Fluges behalten. Die Eisenstange steckte noch immer schräg im Gürtel. Mit einem Ruck holte Suko sie hervor. Was sollte er tun? Zwischen die Folterer gehen, um sie von ihrer grausamen Arbeit abzuhalten? Oder nach einem Ausweg für sich selbst aus der Traummisere suchen? Wenn er das schaffte, konnte er möglicherweise auch den übergroßen Tom Evans erlösen. Es mußte eine schreckliche Vorstellung sein, sich im Traum als Riese zu sehen, um anschließend zu merken, wie schwach man doch tatsächlich war, wenn die Gegner in großer Zahl auftraten. Aber sie hatten ihn gesehen. Plötzlich drehten sich vier von ihnen um und ließen von Tom Evans ab. Es waren drei Männer und eine Frau, so gekleidet wie auch ihre auf dem Felsen liegenden ersten Ichs.
Die Männer besaßen Speere, an deren Spitzen das Blut des Opfers klebte. Die Frau hielt eine lange Schneiderschere in der rechten Hand und rannte als erste auf Suko zu. Ihr Gesicht glich einer verzerrten und verlaufenen Wachsmaske. Sie schrie Suko an, als sie zustieß. Der Inspektor erwischte diese Unperson mit einem harten Fußtritt, bevor er erwischt werden konnte. Die Angreiferin wurde hochgeschleudert. Es sah so aus, als wollte sie sich in der Luft überkugeln, dann klatschte sie zu Boden und rammte sich die Schere in den Leib, weil sie nicht achtgegeben hatte. Vor Sukos Augen löste sie sich auf. Dieser Traum war gelöscht. Die Männer griffen ebenfalls an. Suko nahm die Stange mit beiden Händen. Einen Lidschlag später setzte er sie ein wie einen Kendo-Stock. Er war in dieser Kampfart zwar nicht perfekt, kannte sich allerdings darin aus und drosch dem ersten Angreifer die Waffen aus der Hand. In den zweiten ging er hinein. Das Gesicht vor ihm zerfloß, als sich die Stange in den Leib bohrte und die Person aus dem Alptraum gelöscht wurde. Suko kreiselte herum. Die beiden anderen verschwanden. Sie zogen sich schreiend zurück, um Aufmerksamkeit zu erregen. Etwas flog auf ihn zu. Im letzten Augenblick entdeckte Suko die Lassoschlinge aus Stacheldraht, die sich um seinen Kopf und auch den Körper gewickelt hätte. Suko huschte zur Seite. Der Draht kratzte nur an seiner Schulter, ansonsten tat er ihm nichts. Gegen die Übermacht kam Suko nicht an. Er mußte zurück. Als einziger Ausweg blieb ihm die Burg, deren Zugang aus einem gewaltigen Tor bestand, das nicht verriegelt war. Die Foltergestalten hatten bereits von ihrem Opfer abgelassen, um sich ausschließlich um den Inspektor zu kümmern. Und auch über ihm bewegte sich etwas. Suko entdeckte den Schatten, als er einen zufälligen Blick in den Himmel warf. Waren es große Vögel, waren es Monster? Für ihn war es ein Fehler gewesen, so lange darüber nachzudenken, denn diesmal entging er der Falle nicht. Es war kein Lasso, das ihm entgegengeschleudert wurde, sondern ein Netz. Allerdings bestand es auch aus Stacheldraht und senkte sich trotz seines Gewichts zu schnell über ihn. Auch ein kraftvoller Sprung brachte ihn nicht mehr aus der Reichweite dieser verfluchten Stacheldrahtfalle. Sie schnappte zu, und Suko konnte nur noch eines tun.
Er warf sich zu Boden, schützte seinen Kopf durch die Arme, hielt aber seine Waffe fest. Das Stacheldrahtnetz besaß nicht die Elastizität wie ein normales. Deshalb konnte sich Suko darunter noch bewegen, auch wenn die Spitzen über seine Kleidung zerrten und dort ihre Spuren hinterließen. Er wälzte sich auf dem Rücken. Ein Stachel ritzte über seine Wange wie eine Rasierklinge und hinterließ eine rote Spur. Sie waren schon da. Keuchend, auch lachend, mit verzerrten Gesichtern und natürlich bewaffnet. Jemand stieß einen Speer durch die Lücke, um Sukos Oberschenkel zu treffen. Durch ein rasches Abdrehen entging der Inspektor dem Treffer, was die anderen zu einem hämischen Lachen veranlaßte. Sie waren sich ihrer Sache sicher. Den ersten Treffer mußte Suko nehmen. Es hatte sich jemand hinter ihm an das Netz herangeschlichen und zugestoßen. Blut sickerte aus seiner Wunde am Hals. In einer anderen Welt, wo das normale Ich des Inspektors lag, durchdrang ein schmerzerfülltes Stöhnen den Raum unter dem Dach. Der Kampf ging weiter. Suko mußte leider bald feststellen, daß der Stock zu kurz war. Große Erfolge konnte er mit ihm nicht erzielen. Seine Chancen sanken. Der nächste Treffer erwischte ihn an der Hüfte. Es war eigentlilch nur eine Frage der Zeit, wann die Spitze einer Waffe auch die Brust durchbohren würde. Genau da erhob sich der Riese! Er kündigte seine Bewegung durch ein donnerndes Stöhnen an, das den Boden erzittern ließ. Wie eine gewaltige Figur setzte er sich hin, den Rücken durchgedrückt, die Arme dabei bewegend, als wollte er damit lästige Fliegen verscheuchen. Die gab es hier nicht. Dafür erwischte er einige seiner Peiniger, die zur Seite kippten, als wären sie von mehreren Windstößen erwischt worden. War das eine Chance für ihn? Im Moment herrschte Aufregung unter den Peinigern. Sie hatten ihre Aufgabe verloren, denn daß der Riese sich erheben würde, damit konnten sie nicht rechnen. Und noch etwas geschah! Suko hatte sich wohl an die Bewegung am dunklen Himmel erinnert. Jetzt sah er sie wieder. Etwas raste von oben herab. Kein Riesenvogel, kein Monstrum oder Fabeltier. Es war eine Gestalt mit schwarzen Flügeln und einem mit positiver Energie geladenen Silbergurt um die Hüften. Unter dem linken Arm hielt er einen blonden Jungen wie ein Paket.
Zebuion, der Schattenkrieger, war da! In einer leichten Rücklage landete er und rammte seine Stiefel gegen den harten Boden. Hinter ihm ragte der Riese wie ein monströses Gebilde auf. Er drückte den Jungen zur Seite. Seine Waffen hatte er gezogen, und dann erlebte Suko die Explosion der positiven Energie... *** Eigentlich hätte ich die Augen schließen müssen, weil ich die Szene zu unglaublich fand. Da unten feierten Tote! Nein, lebende Tote, Zombies. Sie tanzten durch den großen Saal oder hockten dicht gedrängt an einer Tafel, auf der eine Nahrung oder ein Essen lag, über das ich schweigen möchte. Es war grausam, zu unfaßbar, um es zu beschreiben. Auch ich als Hector de Valois weigerte mich im Prinzip, dies aufzunehmen, denn irgendwo hat jeder seine Schmerzgrenze, und auch bei mir fiel die Klappe. Um mich kümmerten sie sich nicht. Die Fete bei ihnen ging weiter. Eine Frau mit blutverschmiertem Gesicht tanzte wie selbstvergessen nach den schrillen Musikklängen. Die Sängerin hatte sich auf einen Stuhl gestellt, den Kopf zurückgelegt und heulte wie eine Sirene die Decke an. Ihre Haare zitterten dabei wie lange Spinnfäden. Ein Greis mit Glubschaugen hielt eine Kanne umklammert und trank daraus. Ich konnte erst dann erkennen, was es war, als er sie absetzte und sich die roten Streifen von seinem Mund wischte. Um den Ausgang zu erreichen, mußte ich an ihnen vorbei. Und sie würden mich bemerken, das stand fest. Ich hielt die Beretta und auch den Dolch. Wenn es Zombies waren, schaffte ich sie mit beiden Waffen. Der letzte Weg über die Treppe kam mir endlich und gleichzeitig kurz vor. Ich tauchte ein in die ohrenbetäubenden und schrillen Klänge aus Gesang und Musik und blieb auf der letzten Stufe für einen Moment stehen, denn jemand torkelte dicht an mir vorbei. Ein noch junger Mann mit einem teigigen Gesicht, in dem sich der Mund bewegte und schmatzende Geräusche erzeugte. Ich ging weiter, drehte mich zur Seite und bewegte mich auf die Wand so zu, daß ich sie immer im Rücken wußte und sie mir eine gute Deckung geben konnte. Auf keinen Fall wollte ich, daß das eine oder andere Wesen mich von hinten überfiel. Die Musiker spielten weiter. Auch die Tänzerin setzte sich wieder an den Tisch, ließ sich zurückfallen, lachte und griff mit beiden Fingern in das Gesicht des neben ihr sitzenden Nachbarn. Sie bohrte die Kuppen tief in
das Fleisch. Für mich sah es so aus, als wollte sie der Person die Haut aus dem Gesicht zerren. Der Untote rammte mit beiden Fäusten vor und erwischte die Frau so, daß sie über den Tisch kippte. Auf mich hatte noch niemand geachtet. Ich wollte einfach hier raus und zunächst schauen, welche Möglichkeiten sich außerhalb der Mauern für mich ergaben. Dagegen hatte jemand etwas. Es war eine Person oder Unperson, die sich als Spiegelbild im Boden zeigte und deren Anblick mich traf wie ein Schock. Ich kannte das Gesicht. Es war Jericho! *** Ich blieb stehen, weil mich der Schock einfach zu stark erwischt hatte. Denn dieses fürchterliche Gesicht strahlte all das Böse ab, das sich in meiner Umgebung manifestiert hatte. Dabei sah es nicht aus wie eine gräßliche Teufelsfratze, eher wie das Gegenteil davon. Ich wußte, daß Kopf und Gesicht in keinem Verhältnis zu seinem Körper standen, aber hier sah ich nur das Gesicht und natürlich den kugelartigen Schädel. Alles daran war völlig glatt und haarlos. Dazu wirkte die Haut wie blankgeputzt und die Wangen wie aufgeblasen. Der Mund wirkte klein. Er sah aus wie eine allmählich verfaulende Blüte. Darüber stand dick und klumpig die Nase, und seine kugelrunden Augen sahen aus wie damals bei unserer ersten Begegnung. Sie staunten den Betrachter an, aber das lag wohl mehr an den Wülsten, die rechts und links davon hervorwuchsen. So >harmlos< also sah er aus. Aber von diesem Gesicht ging etwas aus, das kaum zu beschreiben war. Etwas Tiefes, Grausames, eigentlich nur Böses, das einen normalen Menschen einfach anwidern mußte. Und das wußte dieser Jericho auch, der dank seiner schwarzmagischen Kräfte die Traumwelten produzieren und die Menschen deshalb manipulieren konnte. Es gab auch noch einen anderen Ausdruck für ihn. Chato, der Apache, hatte ihn mir genannt. Kajura, der Geist des Bösen. Ein Geist, der in die schlafenden Menschen hineinkroch und ihre Träume ausfüllte, damit sie sich in den fürchterlichen Welten bewegen konnten. Und noch etwas Furchtbares kam hinzu. Das Gesicht bestand zwar äußerlich aus einem Teil, aber wenn es wollte und wenn die Umstände gegeben waren, konnte es sich vervielfältigen.
Dann explodierte das Gesicht zu geisterhaften, bla-senförmig aufgedunsenen Gestalten, die wegtrieben. So hatte ich es einmal in der Wüste erlebt und rechnete damit, daß dies auch in dieser Traumwelt stattfinden würde. Noch taten wir beide nichts. Ich riß mich zusammen. Zwar wie die Berettamün-dung in die Tiefe, aber ich scheute mich, auf das Gesicht zu schießen. Eine Silberkugel hätte nichts eingebracht. Der Mund verzerrte sich zuerst. Für mich ein Zeichen, daß Jericho reden wollte. »Auch wenn du anders aussiehst, Sinclair, ich erkenne dich doch. Ich habe nichts vergessen, gar nichts. Ich wußte, daß wir zusammentreffen würden, denn die Traumwelten gehörten mir. Ich regiere, ich erschaffe sie, ich sorge für diese Oase, in die sich die Menschen zurückziehen können, wenn sie schlafen.« »Das weiß ich, Jericho. Aber diesmal hast du dich geschnitten. Du weißt selbst, daß es jemand gibt, der dir über ist. Erinnerst du dich, mein Freund?« »Zebuion, der Schattenkrieger?« »Genau!« »Ich werde mich mit ihm später beschäftigen, Sinclair.« Bei jedem Wort spitzte er die Lippen, als wollte er mir ins Gesicht speien. »Mit ihm werde ich mich später beschäftigen. Zunächst bist du an der Reihe und auch dein Freund, das Schlitzauge. Er befindet sich ebenfalls in dieser Welt, die immer neu und anders entstehen kann. Es kommt nur darauf an, was ich die Menschen träumen lasse.« Ich dachte an mein Kreuz, an die Formel und auch an die vier Erzengel, die erschienen waren, als ich meinen Talismann damals in Jericho gegen ihn aktiviert hatte. Warum sollte das jetzt nicht auch klappen? Dann war diese Welt möglicherweise mit einem Schlag vernichtet. Es kam anders, denn Jerichos Gesicht verzerrte sich, als hätte er unter Schmerzen zu leiden. Gleichzeitig merkte ich das helle, zuckende Licht, das durch die Scheiben ins Innere drang. Ich hörte auch Schreie und rechnete damit, daß draußen eine Hölle tobte. Selbst die Zombies wurden unruhig. Die schrille Musik verstummte mit jammernden Klängen. Die Gestalten wankten durch den Saal stießen sich gegenseitig an und waren völlig durcheinander. Auch Jericho wollte nicht mehr bleiben. Ich starrte noch in seinen jetzt weit geöffneten Mund, dann spie er mir etwas entgegen, das den Boden durchbrach und als stinkende Schleimwolke die Decke erreichte, wo es kleben blieb. Jericho selbst war verschwunden, er hatte nur ein schauriges Erbe hinterlassen, das sicherlich auch gefährlich war.
Ich brachte mich mit einem Sprung in Sicherheit, denn von der Decke tropfte es jetzt herab. Die Zombies hatten darauf nicht geachtet. Sie standen plötzlich unter dem Regen, den ihr Herr und Meister produziert hatte. Als das Zeug gegen sie klatschte, da begannen sie zu brodeln, als wären ihre Körper in Säurebäder gelegt worden. Genau das erlebten die Träumenden so intensiv mit. Jericho Fiatte ihnen unter dem Zeichen des Knochenmonds das Schlimmste geschickt, was eigentlich vorstellbar war. Die tödliche Auflösung. Das Zeug unter der Decke breitete sich aus. Es kroch in alle Richtungen weg. Wenn die Tropfen zu schwer geworden waren, klatschten sie nach unten, um mit tödlicher Sicherheit ihre Ziele zu finden. Die Traumgestalten zerflossen, wenn sie erwischt wurden. Ich jedoch war in dem Sinne keine Traumgestalt, denn ich lag weder auf dem schwarzen Felsen, noch in einem Raum und schlief. Ich war eben nur durch das zweite Ich in die Träume hineingedrungen und konnte zerstört werden. Ein Sprung brachte mich bis dicht an die Tür. Die Sängerin hatte es ebenfalls erwischt. Sie torkelte mit ausgestreckten Armen auf mich zu, während die Flüssigkeit an ihrem Körper vom Kopf her entlangrann und sie in den Zustand der Auflösung brachte. Bevor sie mich erreichte, sank sie zu Boden, und es sah aus, als würde sie dort hineingleiten. Nur eine Handlänge von mir entfernt, klatschte ein Tropfen auf den Boden. Sie fielen jetzt überall herab. Der Stall befand sich in einem tödlichen Regen. Ich floh so weit zurück, bis ich gegen die Tür prallte. Die Klinke war noch frei. Ich zerrte an ihr - und bekam die verfluchte Tür nicht auf. Jericho hatte an alles gedacht. Was jetzt? Zum Fenster oder das Kreuz einsetzen? Ich entschied mich für das Kreuz und wollte die Formel rufen, als die Tür plötzlich aus dem Rahmen flog und raketenartig in das Innere jagte. Sie räumte den Tisch aus dem Weg, sie schlug Stühle um, bevor sie urplötzlich explodierte. Ich fuhr herum, sah das offene Rechteck, dahinter die breiten Stufen einer Treppe und stürmte aus dem Schloß. Was sich vor mir im Burghof abspielte, war kaum zu fassen. Als Mittelpunkt sah ich Zebuion, den Schattenkrieger, und einen Riesen mit dem Gesicht von Tom Evans... ***
Die verdammte Stacheldrahtfalle verbannte Suko zur Untätigkeit. Dabei hätte er für sein Leben gern mitgemischt, aber durch diese Lage mußte er Zebuion das Feld überlassen. Und der kämpfte. Dennis war aus seiner Reichweite entwischt und zu Suko gelaufen, wo ihn der Inspektor mit lauter Stimme ansprach und ihm Zeichen machte, den Stacheldraht zu lösen. Der Schattenkrieger drehte sich auf der Stelle. Seine mit positiver Energie geladenen Waffen schienen unerschöpflich zu sein, was ihr Reservoir anging. Der lautlose Tod zuckte aus den Mündungen hervor, fand treffsicher seine Ziele und zerstörte all die, die sich auf dem Hof befanden und deren normale Körper in einer anderen Welt lagen und dort in tiefe Alpträume versunken waren. Mit jedem Treffer erlöste Zebuion einen Träumer aus dem tiefen Grauen. Die Gestalten konnten nicht entwischen. Schnell wie das Licht waren die Blitze, ließen die Ziele noch einmal kurz aufleuchten, bevor sie zerstrahlt wurden. Dabei bewegte sich Zebuion kaum. Er blieb auf der Stelle stehen, hatte einen Arm nach rechts, den anderen nach links gestreckt und feuerte die Energiestöße ab. Das Sichtvisier des Helms hatte er dabei in die Höhe geklappt, so daß der Ausschnitt von seinem verzerrten Gesicht ausgefüllt wurde. Einige Gestalten versuchten es mit Flucht. Sie rannten auf den Ring der Burg zu, doch die Strahlen waren schneller. Sie holten die Folterer nicht nur ein, sondern zerstörten auch die Tür und einen Teil des Mauerwerks an den Seiten. Suko und Dennis blieben von den Strahlen verschont. Der Junge versuchte fieberhaft, den Inspektor zu befreien, was nicht so einfach war, weil er darauf achtgeben mußte, sich nicht selbst die Stacheln in das Fleisch zu rammen. Mit viel Mühe gelang es ihm, das Netz an einer Seite so weit in die Höhe zu schieben, daß Suko darunter hinwegkriechen konnte. »Je!« keuchte er. »Halte es fest, Dennis, bitte . . .« Inzwischen kümmerte sich Zebuion um den Riesen. Der hatte zunächst nur zugeschaut, sich zur Seite gestreckt und versuchte nun, sich in die Höhe zu stemmen. Sein rechter Arm wirkte dabei wie ein Pfahl. In seinem Körper schien es zu kochen und zu brodeln, denn es entstanden unheimlich klingende Geräusche. Aber er kam hoch. Im Gegensatz zu ihm sah Zebuion, ebenfalls kein Zwerg, direkt klein aus. Der Riese stand breitbeinig schwankend da. Er wirkte wie ein gewaltiger Berg, der jeden Augenblick zusammenstürzen und Zebuion unter sich begraben konnte.
Die Kleidung war an den meisten Stellen zerschnitten. Aus zahlreichen Wunden rann das Blut wie ein dunkler Saft hervor, den das graue, kümmerliche Licht als schwarze Fäden erscheinen ließ. Er träumte sein wahres Ich, erschuf das zweite Ich. Ein Ich, für das Gewalt zählte, denn hinter ihm steckte der böse Geist des Dämons Jericho. Und Tom Evans' zweites Ich wandte sich mit all der hinter ihm stehenden und ihn leitenden Macht gegen Zebuion. Ein Kampf zwischen den beiden war unvermeidbar! Der Riese hob ein Bein. Es wirkte wie eine Säule, als er sich zudem noch drehte und seinen Fuß genau in die Richtung brachte, die er haben mußte, um seinen Gegner zu zertreten. Dabei senkte er auch den Kopf. Das Gesicht war mit zahlreichen Wunden übersät, aus denen das Blut strömte. Der bösartige Ausdruck erstrahlte in einem tiefen Haß. Er wollte jetzt alles vernichten. Das Bein stampfte nach unten. Genau in dem Augenblick jagten die Energiestrahlen auf ihn zu und zeichneten seinen Körper für den Bruchteil einer Sekunde nach, als hätte ihn jemand in den Burghof gemalt. Im Widerschein dieses Energiestoßes war alles an Evans zu erkennen. Das hervorstechende Gesicht, von einer irren Wut gezeichnet — und vom Schmerz übermannt, als er vernichtet wurde. Er klappte zusammen, nein, er zerfiel. Die Gestalt rieselte ineinander, als hätte jemand Staub aus den Wolken geschüttelt. Es war ein Bild, das sich einfach einprägen mußte. Es ließ selbst den Schattenkrieger für einen Moment erstarren. Weder Blut, Fleisch noch Knochen fielen zu Boden. Der Riese war einfach nicht mehr da. Und in einer anderen Dimension würde Tom Evans endlich seine Ruhe haben. Zebuion drehte sich. Sein Blick glitt hin zu dem zerschossenen Eingang, der in das Schloßinnere führte. Dort sah er noch eine Gestalt. Sie hatte die Schwelle schon übersprungen und lief die Treppe hinab. Er kannte die Person nicht, es gab nur eine Möglichkeit für ihn. Er schoß die Energien auf den Flüchtling ab! *** Ich sah die Bewegung, ich wollte ausweichen, ich wollte stoppen, ich wollte eigentlich alles. Dabei kam ich zu nichts. Nur ein Krächzen floß über meine Lippen, bevor es mich traf wie der Blitzschlag.
Ich sah mich hellerleuchtet dastehen, wie in einem Käfig aus Energie eingeschlossen. Ich hatte die Arme hochgerissen, das Gesicht war in einem tiefen Schrecken verzerrt. Das Licht aus den Waffen würde mich auslöschen, und ich hörte auch einen verzweifelten Schrei, den mein Freund Suko ausgestoßen hatte. »Bist du wahnsinnig geworden?« Und dann war ich weg! Zerblasen, zerrieselt. Ich hatte noch einen heftigen Schmerz gespürt, ein Ziehen, das meinen Körper zu zerreißen drohte, dann die heftigen Schläge, die mich kurz vor dem Ende trafen. Ja, es war das Ende, aber auch der Anfang oder der Neuanfang. Das Ende für mein zweites Ich, für Hector de Valois Geist, der wieder zurückgetrieben war. Aber der Anfang für John Sinclair, den Geisterjäger! *** Zebuion, der Schattenkrieger, starrte mich an, er wollte es nicht glauben, er schüttelte den Kopf und sah so aus, als wollte er sich den Helm vom Schädel reißen. Ich sagte nichts. Aus dem Hintergrund rannte Suko hervor. Was er sagte, wara nicht zu verstehen, nur spürte ich meine Beine, die mehr zitternden Stangen glichen, und ich merkte auch, wie die Schauer der Furcht über meinen Rücken rannen. Da ich noch auf der langen Treppe stand, sank ich in die Knie und ließ mich auf der drittletzten Stufe nieder, die Hände vor das Gesicht geschlagen. So hockte ich dort wie ein Häufchen Elend, schüttelte den Kopf und nahm die Hände erst wieder weg, als das Knirschen der Tritte an meine Ohren drang. Zebuion kam auf mich zu. Diesmal hatte er den Helm abgenommen. Aus den harten Augen schaute er mich an. Ich blickte ihm entgegen. »Da hast du noch mal Glück gehabt, Alter. Auch im Streß sollte man aufpassen.« Er nickte nur. »Aber . .. aber . . . warst du denn nicht ein anderer, John? Sag, wie es ist. ..« »Ich war es.« »Hector de Valois!« erklärte Suko, der uns endlich erreicht hatte und so aussah, als wollte er mir um den Hals fallen, auch wenn er einen verdammt erschöpften Eindruck machte. »Sicher, ich bin Hector de Valois gewesen. Dessen Geist hat mein zweites Ich erfüllt. Ich geriet vielleicht in den falschen Tunnel, aber Jericho hat es nicht geschafft, uns beide zu vernichten.« »Was? Du hast ihn gesehen?« »Sicher, Suko.«
»Wo?« Mit dem Daumen deutete ich über die Schulter. »Dort in der Burg spielte sich ein Alptraum ab, kann ich euch versichern. Ein Fest fürZombies, ein fürchterliches...« Ich winkte ab. »Lassen wir das. Ich möchte es nicht beschreiben, aber Jericho stand über allem. Er hat schließlich dafür Sorge getragen, daß die Zombies vernichtet wurden und die Alpträume der Menschen aufhörten. Es war ungefähr der Zeitpunkt, alsZebulon hier erschien und aufräumte.« »Warum tat er das?« Ich hob die Schultern. »Denk an die Warnung des Apachen, damals. Hat Chato nicht gesagt, daß es nur der Schattenkrieger schafft, die Welt zu zerstören?« »Richtig.« »Und damit werde ich auch fortfahren«, erklärte Zebuion. »Hier soll nichts so bleiben, wie es ist. Ihr habt gesehen, wie es mir gelang, die Tür zu zerstören. Das ist nicht alles. Die Energie aus meinen Waffen wird auch Häuser einreißen können, das verspreche ich euch. Ich muß die Traumwelt vernichten. Es ist wie ein Druck, wie ein Befehl, der durch meinen Kopf hämmert.« Ich stand auf und stieß ihn an. »Eine andere Frage. Wie kommen wir dann wieder zurück?« »Das wird sich von allein erledigen.« »Meinst du?« »Ja, wenn diese Welt nicht mehr existiert, ist der Weg frei, wieder in die Realität zu gelangen.« »Wo du dein Leben als Barry F. Bracht weiterführst.« »So ist es.« Noch jemand kam. Wir hatten ihn nicht gesehen, weil er eben so klein war. Es war Dennis, der von Suko gepackt und auf den Arm gehievt wurde. Er schaute uns an. Als einziger machte er keinen erschöpften Eindruck. »Mann«, sagte er mit noch immer erstaunt klingender Stimme. »Ich bin sogar geflogen.« »Tatsächlich?« fragte ich und tat, als wüßte ich nicht Bescheid. »Ja, Zebuion nahm mich mit. Er hat mich auch gerettet. Da . . . da steckte ich in der Höhle und . . .« Suko streichelte Dennis' Wange. »Jetzt aber wirst du bei uns bleiben, Dennis.« »Klar doch. Aber kommen wir wieder zurück?« »Das ist die Frage«, murmelte ich. Ich hatte vorgehabt, Zebuion damit zu provozieren, und das schaffte ich auch. »Ja!« erklärte er. »Ja, verflucht, wir kommen wieder zurück. Ich werde dafür sorgen.« »Und wann?« fragte Suko. »Leider nicht sofort, muß ich euch sagen.«
Ich schaute den Schattenkrieger scharf an. »Weshalb nicht? Was hindert dich daran?« Er hob die Schultern. »Wenn ich ehrlich sein soll, John, kann ich es selbst nicht genau erklären. Es ist möglicherweise das Gefühl, daß hier etwas schiefgelaufen ist. Ich will es euch erklären. Wir haben das Leben in dieser Traumwelt zerstört, aber die Welt existiert noch.« »Klar, das sehen wir.« »Laß mich weiterreden, John. Schau dich um. Sieh dieses fahle Licht, die Schwärze, das Grau. Beides kann meiner Meinung nach ein gutes Versteck für denjenigen bieten, der die Herrschaft über die Welt ausübt. Jericho, der noch nicht ausgeschaltet worden ist. Du weißt es selbst, du hast ihn gesehen . . . .« »Klar, und er hat mir erklärt, daß er mächtiger ist oder mächtiger sein will.« Zebuion nickte. Suko setzte Dennis wieder ab. »Dabei gibt es noch Unterschiede. Dennis und ich stehen hier als zweites Ich vor euch. Oder hat sich daran etwas geändert.« »Ich glaube nicht.« Suko grinste mich schief an. »Dann möchte ich als mein zweites Ich gern wieder in mein erstes zurückkehren, wenn es genehm ist.« »Und ich auch.« meldete sich Dennis mit lauter Stimme. Suko gab ein rauhes Lachen ab. »Aber wie?« rief er. »Wie, zum Henker, soll das geschehen?« »Ich weiß eine Möglichkeit.« Der Schattenkrieger drehte sich zu den beiden um. Suko begriff. Er ging einen Schritt zurück. »Moment mal, du willst unser zweites Ich auslöschen?« »Kennst du eine bessere Möglichkeit?« »Im Augenblick nicht, aber . . .« Er ballte eine Hand zur Faust. »Verdammt, John, sag du doch auch mal was.« »Wir wollten überlegen, ob ...« »Nein!« erklärte Zebuion mit lauter Stimme. Er ließ nichts mehr gelten und jagte die Strahlen auf Suko und Dennis zu. Mich hatte dieser positive Energiestoß wieder als John Sinclair entstehen lassen, bei Suko und Dennis war es anders. Ihr Schicksal glich dem der anderen Traum wesen. Noch für den Bruchteil einer Sekunde standen sie im zitternden Licht, das ihre Umrisse haargenau nachzeichnete. Dann erlebten sie das gleiche wie auch die übrigen Traumgestalten. Sie zerpulverten . . . Und ich schaute zu. Ich wußte in diesen Augenblik-ken nicht, was ich denken sollte. In mir befand sich eine selten erlebte Leere. Da verschwand mein Freund und Partner zusammen mit einem elfjährigen
Jungen, als hätte es ihn nie gegeben. Als wären alle Abenteuer, die wir zusammen erlebt hatten, nicht existent. Das war schon ein Tiefschlag für mich und auch nicht leicht zu überwinden. Mein Blick suchte das Gesicht des Schattenkriegers. »Ich hoffe, du hast d£is Richtige getan, Zebuion.« »Davon bin ich überzeugt.« »Wir werden es sehen, wenn wir diese Welt verlassen haben, in der mich eigentlich nichts hält.« »Einen Augenblick noch. Wir haben ein kleines Problem. Freund Jericho, der Beherrscher der Traumwelten.« Wütend schüttelte ich den Kopf. »Er ist nicht da, verdammt. Wahrscheinlich hat er vor meinem Kreuz zuviel Respekt bekommen. Ich habe es schon einmal gegen ihn eingesetzt.« »Irrtum, John, er ist da.« »Und wo?« Zebuion ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Ich spüre ihn. Ich merke, wie er darangeht, die Welt hier unter seine Kontrolle zu bekommen. Er lauert im Hintergrund. Etwas kommt heran. . .« Die Stimme des Schattenkriegers verwehte zu einem Flüstern. Und er hatte recht. Es begann dort, wo die Burg stand. Auch ich spürte, wie das Unheil nahte. Es war nicht sichtbar, nur mehr ein breiter Strom, der uns entgegenwehte. »Er lauert hinter den Mauern, John . . .« Nach diesen Worten klappte Zebuion das Sichtvisier wieder zu. Der harte Druck an der Seite erinnerte mich wieder daran, daß ich meinen Bumerang bei mir hatte. Konnte es möglich sein, daß er mir half, die Schwierigkeiten zu überwinden. Ich hätte ihn gern gegen den Riesen einsetzen wollen, war aber zu spät gekommen. Zebuion ging einige Schritte vor, bis er die Treppe fast erreicht hatte. Fr drückte sich in den Knien durch. In dieser Haltung erinnerte er an einen Kämpfer, der im nächsten Augenblick losschlagen würde. Das geschah nicht. Dafür bewegten sich die Mauern, und abermals kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Zunächst hatte ich gedacht, sie würden zusammenkrachen, was aber nicht passierte. Sie gerieten nur in Bewegung, schoben sich zusammen, so daß sie eine dunkle, klumpenartige Masse bildeten. Alles lief mit einer gespenstischen Lautlosigkeit ab. Selbst als die Scheiben platzten, vernahm ich keinen einzigen Laut. Es war ein Irrtum, anzunehmen, daß allein diese Alptraum-Welt in Bewegung geraten wäre. Auch der Himmel über unseren Köpfen veränderte sich. In seine glatte, graue Schwärze geriet ebenfalls Bewegung. Da ballte sich einiges von den Seiten her Kommende zusammen, bis es eine bestimmte Dichte erreicht hatte. Und genau dieses Zentrum riß auf.
Ein blasser Kreis entstand, mit Schatten in seinem Innern, die sich zu einem Knochengesicht zusammengefügt hatten. Der Knochenmond leuchtete . .. Und erstrahlte in die Welt hinein, die dabei war, sich allmählich aufzulösen. Zebuion hatte noch immer nicht geschossen. Das brauchte er auch nicht, wie ich sah, denn ohne merklichen Übergang befanden wir beide uns wieder in der Realität. Wie sonst hätten wir direkt gegen den ungewöhnlich geformten Felsen schauen können, der eine Schnauze wie ein Krokodil aufwies und der den Menschen als Schlafplatz für ihre Alpträume diente. »Was ist das . . .?« hauchte ich und trat direkt an Zebuions Seite. »Jericho!« »Ich sehe ihn nicht.« »Glaub mir, er ist da.« »Und wo, bitte?« »Vielleicht steckt er im Felsen«, flüsterte er, wollte vorgehen, brach aber zusammen. Dies geschah so schnell, daß ich ihn nicht auffangen konnte. Er drehte sich vom Bauch her auf die Seite, rollte sich dann auf den Rücken, und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen und Pein, als er mir entgegenkeuchte: »Es ist vorbei, John. Ich ... ich verwandle mich zurück. Ich kann nicht mehr Zebuion sein. Ich bin nicht der Schattenkrieger. Jericho hat uns reingelegt. Ich bin in der anderen Welt, wenn der Knochenmond scheint und ich den Ruf höre. Sorry, John, ich .. .« »Okay, schon gut, Alter. Du wirst wieder zu Barry F. Bracht. Es wird noch andere Zeiten geben, verlasse dich darauf.« »Versuche es, John, versuche es.« Ich konnte nicht mehr hinblicken, wie sich der Schattenkrieger zurück in den Lektor Bracht verwandelte, dann über mir nahm das Strahlen des Knochenmondes an Intensität zu. Aber war es noch der gleiche Mond? Vielleicht, nur konnte ich die Knochen nicht mehr sehen. Sie hatten sich innerhalb des Kreises aufgefüllt, und etwas anderes war draus entstanden. Ein Gesicht. Rund, babyhaft und gleichzeitig widerlich. So sah Jericho aus! *** Allein stand ich ihm gegenüber. Ich starrte auf seinen kleinen Mund, der sich zu einem dämonischen und wissenden Lächeln verzog. Klar, er war gespannt darauf, wie ich reagieren würde. Er vertraute möglicherweise darauf, daß er unerreichbar fern für mich war. Stimmte das-auch?
Ich war mir nicht so sicher, denn die Entfernung von mir bis zum Mond war schlecht abzuschätzen. Das konnten tausend und mehr, aber auch nur hundert Yards sein. Ich ging das Risiko ein und zog meinen Bumerang hervor. Das Ziel war leicht anzuvisieren. Ich wollte auch nicht mehr reden und dem Wesen Zeit geben, ich mußte handeln. Und deshalb schleuderte ich den Bumerang genau auf den verdammten Mond zu. Nein, es war nicht wie im Märchen, obwohl es mir so vorkam. Ich stand allein, ich verfolgte den Weg der silbernen Banane, die ich beim Wurf angeschnitten hatte, so daß sie beim Flug noch in kreisende Bewegungen geriet, sehr schnell war - und in das Ziel hineinraste. Ich konnte es kaum glauben, daß ich derart immense Kräfte besaß, um diesen Mond zu erreichen. Es mußte so gewesen sein, daß die Kraft des Knochenmonds den Bumerang angezogen hatte, und dann peitschte er in das bleiche Rund hinein, stanzte sich förmlich in das widerliche Babygesicht des Dämons, und er zertrümmerte es mit der Kraft seiner herrlichen Weißen Magie. Ich stand da und konnte nicht anders, als diesem einmaligen Schauspiel zuzusehen. Der Bumerang vernichtete den Knochenmond wie eine alte Kugellampe. Er wurde zerrissen, die letzten Reste jagten zackenhaft und strahlenförmig in den tiefdunklen Nachthimmel, wo sie Lücken in die Finsternis hineinrissen, die später dann wieder zusammenfielen, so daß sich eine geschlossene Decke ausbreitete. Wo war das Gesicht? Über den Himmel jagte ein hohles Kreischen, ein kat-zenhaft schrilles Gejammer, und ich glaubte, die aufgeblähten Wolken zu erkennen, die sich weit im Westen verzogen. Jerichos Ende? Vorerst zumindest. Es würde hoffentlich dauern, bis er sich wieder seine Welt aufgebaut hatte. Als ich das Klirren hörte, war der Bumerang zurückgekehrt und auf einer Felskante gelandet. Ich wollte hingehen und ihn aufheben, aber die leise Stimme Brachts hielt mich zurück. »Verdammt, was ist mit mir, John?« »Tut mir leid, alter Junge. Aber du mußt dich daran gewöhnen, mit zwei Existenzen zu leben.« »Vielleicht ist das der Grund«, murmelte er. »Für was?« »Für meine Müdigkeit.. .« Ich konnte darüber nicht einmal lachen. Kopfschüttelnd lief ich zurück und kletterte in die Felsen, wo zahlreiche Menschen dabei waren, aus ihren Alpträumen zu erwachen.
Unter anderem auch Dennis, neben dem ich stehenblieb und ihm meine Hand reichte. »John?« »Ich bin es tatsächlich.« »Das ist komisch, John. Ich habe was geträumt, in dem wir alle mitgespielt haben. Von einer dunklen Burg, von einem Mann, der fliegen konnte und mich mitnahm.« »Echt?« »Total echt, John!« »Ahhh, Dennis«, sagte ich und half ihm auf die Beine. »Das hast du doch sicherlich nur geträumt.« Nach dieser Antwort konnte ich nicht anders und mußte laut lachen... *** Zu dritt betraten wir das Haus Tom Evans'. Etwas komisch war uns schon zumute, als wir die Treppe zum Schlafraum hochschritten. Was und vor allen Dingen wie würden wir die beiden Männer vorfinden. Ich riß den Vorhang zur Seite und hörte Sukos Stimme. »Hallo, John, auch mal wieder da?« »Und ob.« Mein Freund stand am Fenster. Er hatte uns schon kommen sehen. Dann drehte er sich um und deutete auf Tom Evans, der sich von seinem Bett nicht erhoben hatte. Auch er war wach und weinte leise, denn die Schmerzen setzten ihm arg zu. »Woher habe ich die Wunden?« fragte er. Ich gab ihm die Antwort. »Du hast geträumt, Tom.« »Und wer bist du?« »Vielleicht ein Traumdeuter«, erwiderte ich und zwinkerte Suko zu, der den Mund hielt. »Kannst du aufstehen, Tom?« »Ja, warum?« »Weil ein Arzt deine Wunden untersuchen soll.« »Nein, ich brauche keinen Arzt. Ich will nur . . .« Er schaute mich an. »Verdammt, jetzt erkenne ich dich. Du bist John Sinclair.« »Dann hat es der Junge geschafft?« »Jawohl.« »Ist ja irre. Wenn du hier bist und dein Kumpel auch, können wir endlich an die Arbeit gehen.« »Das wird nicht mehr nötig sein.« »Sie ist erledigt«, sprach Suko für mich weiter. Dennis und Bracht nickten dazu. Und Tom Evans verstand die Welt nicht mehr. Aber so etwas passierte nicht nur ihm. Davor ist kein Mensch gefeit... ***
Wir lernten noch eine dritte Seite des Barry F. Bracht kennen. Er ließ sich nicht davon abbringen, eine Siegesfeier zu halten, das war in seiner Firma so üblich. Wir stimmten zu und bekamen große Augen, als wir sahen, wie viele Gläser Pils der Junge in sich hineinschütten konnte. So lange, bis er die Augen schloß, zur Seite rutschte und sich abmeldete. »Was meinst du, John?« fragte Suko. »Ob er schläft?« »Kann sein. Ich hoffe nur, daß er nicht träumt...«
ENDE