Nr. 307
Kämpfer der Nacht Balduurs Wolf jagt neue Opfer von Hans Kneifel
Sicherheitsvorkehrungen, die auf Atlans Anra...
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Nr. 307
Kämpfer der Nacht Balduurs Wolf jagt neue Opfer von Hans Kneifel
Sicherheitsvorkehrungen, die auf Atlans Anraten noch gerade rechtzeitig getroffen wurden, haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftauchen von Atlantis oder Pthor von den Herren der FESTUNG zur Strafe für sein »menschliches« Handeln auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Leiter der Invasion ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Ausrüstung. Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am »Berg der Magier«. Ihr weiterer Weg führt sie über die »Straße der Mächtigen« zu den Seelenhändlern und an die Stahlquelle. Schließlich begegnen der Arkonide und der Pthorer dem KÄMPFER DER NACHT …
Kämpfer der Nacht
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Razamon - Die Wanderer auf Pthor werden verfolgt. Balduur - Sohn Odins. Fenrir - Balduurs grauer Jäger. Deckenwiezel - Ein Robotzwerg. Opal - Eine lebende Tote braucht neue Opfer.
1. Hinter den Büschen, die wie fahlgrüne, staubige Halbkugeln aus der flachen Landschaft des Waldrands wuchsen, ging die Sonne auf. Sie zeigte sich als riesenhafte, messingfarbene Scheibe. Es war ein Licht, das Verderben ausstrahlte und in mir die Erwartung hervorrief, daß auch dieser Tag uns weder Ruhe noch Besinnung bringen würde. Der Geruch aus dem Blutdschungel verstärkte diese Vorahnung. Razamon und ich hatten diesen Gestank in unseren Nasen und in der Kleidung. Wir erwachten blinzelnd, als das Sonnenlicht uns zu blenden begann. Ich setzte mich auf und betrachtete unser kleines, provisorisches Lager. Weder unsere Waffen noch die geringen Vorräte waren über Nacht angetastet worden. Nur von einer der Saftblüten zog sich eine nervös kribbelnde Spur winziger blutroter Insekten bis zum Waldrand. Die Asche des erloschenen Lagerfeuers roch stechend. Tautropfen glitzerten noch an den Zweigen der nahen Büsche. Ein feuchter Nebel hing zwischen den riesigen Stämmen drüben, am Rand des wahnsinnigen Dschungels. Ich streckte einen Arm aus und schüttelte Razamon leicht an der Schulter. »Aufstehen!« sagte ich halblaut. »Ich kümmere mich um das Feuer.« Er gähnte; sein schmales, hartes Gesicht verzog sich unwillig. Dann streckte er sich, legte die Hände in den Nacken und tastete an einer Satteltasche herum. »Wir leben noch? Tatsächlich?« fragte er und räusperte sich mehrmals. »Ja. Obwohl es ein Wunder ist. Vielleicht erreichen wir auch die Straße der Mächtigen, ohne daß uns wieder Ungeheuer oder
Dschungelbestien anfallen. Jedenfalls ist es vorbei mit dem Reiten. Wir sind wieder zu Wanderern geworden.« Er gähnte und entblößte seine strahlend weißen Zähne. »Wir waren schon viel übler dran, Atlan. Im Augenblick sind wir geradezu mit Wohlergehen gesegnet.« Ich stand auf, holte einige Arme voll trockenen Holzes und entfernte vorsichtig die Ascheschicht von der Glut. Ich blies in die dunkelrotschwarzen Stücke hinein, brachte einige Ästchen zum Glimmen und schließlich zum Brennen, und kurz darauf hatten wir wieder ein winziges Feuerchen, das fast ohne Rauch brannte. Rauch war verräterisch in dieser gänzlich veränderten Welt, scheinbar Äonen und Lichtjahre von Terra, der Außenwelt, entfernt. Ohne sonderliche Hast bereiteten wir ein erstes Essen an diesem neuen Tag. In einer kleinen Pfanne brieten wir etwas von dem getrockneten Fleisch. Die sechs großen, gesprenkelten Vogeleier, die wir gefunden hatten, schlugen wir darüber. Inzwischen schälte Razamon schweigend einige Früchte und schnitt sie in Stücke. Zwei der zum Teil geleerten Saftblüten wurden ausgetrunken. Immer wieder wechselte die Temperatur innerhalb einer geringen Grenze. Ein Schwall kalter Morgenluft kam aus dem flachen Land, dann drang wieder eine Wolke des feuchtheißen Dschungelhauchs zu uns heran. Wir legten uns die pelzbesetzten Lederjacken um die Schultern und sahen uns um. Wir hatten gute Gründe, unruhig zu sein. Am späten Nachmittag des vergangenen Tages waren wir erschöpft und von Insekten zerstochen aus dem Blutdschungel hinausgestolpert. Dieser Dschungel verdiente dieses
4 Adjektiv; es war ein Wald des Schreckens gewesen. Immerhin hatten wir dieses Abenteuer nur mit dem Tod der beiden Yassels bezahlen müssen. Aber wir fühlten uns noch immer wie Fremde in einer phantastischen Welt. Wir mußten ununterbrochen alle unsere Erfahrungen und unser gesamtes Können einsetzen, sämtliche Listen und Tricks, um auf Pthor zu überleben. »Eigentlich müßten sie inzwischen nach uns suchen. Sie haben jede Möglichkeit, eine Strukturlücke in die Schutzschirme zu schalten«, murmelte ich und fühlte, wie mir der klebrige Fruchtsaft übers Kinn lief. »Sie würden es tun, Atlan, wenn sie wüßten, daß wir gefährdet sind!« knurrte Razamon. Er wirkte ruhig und gefaßt, aber ich wußte, daß er – ohne jede Vorwarnung für mich – wieder einen seiner Anfälle bekommen konnte. »Sie wissen es nicht. Sie ahnen es nicht«, sagte ich. Handle so, als ob du allein wärest. Verlasse dich auf nichts und auf niemanden, warnte mich der Logiksektor. Langsam beendeten wir unser Essen. Wir saßen uns gegenüber, zwischen unseren Füßen schwelte das Feuer. Jeder beobachtete hundertachtzig Grad der Umgebung. Aber keine Bewegung zeigte an, daß sich eine der vielen Bestien anschlich und uns gierig beäugte. Trotzdem … Gespannte Erwartung hing in der Luft. Wir spürten eine greifbare Gefahr: Die Sonnenscheibe war inzwischen höher geklettert, und ein stechendes Rot überschüttete die Landschaft mit einem gefährlich wirkenden Licht. Einige Windstöße ließen die trockenen Blätter der Büsche zitternd rascheln. Wir sahen uns in die Augen und wußten Bescheid. Etwas veränderte sich. Wir waren schätzungsweise fünftausend Meter östlich des Dschungelrandes, inmitten einer Zone zwischen Wald und Wüste. Razamon nickte mir zu. Seine Augen schienen unergründliche Höhlen zu sein. Schweigend beendeten wir die karge, aber kräftigende Mahlzeit und
Hans Kneifel packten zusammen. »Versuchen wir's, Atlan?« fragte Razamon. »Nichts anderes bleibt uns übrig. Suchen wir die Straße der Mächtigen!« erwiderte ich und stand auf. Wir zogen die schweren Lederjacken an, schulterten die Taschen mit jenen rätselhaften Tropfen aus glasähnlicher Substanz und die wenigen Vorräte, befestigten die Köcher und nahmen die Skerzaals in die Hände. »Auf nach Wolterhaven«, sagte Razamon und hob den Arm, dann deutete er in südwestliche Richtung. Noch einmal sahen wir uns um, ob wir nichts zurückgelassen hatten, aber nur die Glut des Feuers schwelte unter dem Sand, den wir über die Brandstätte geschaufelt hatten. Wir machten uns auf den Weg. Wir kamen gut vorwärts. Die großen Büsche standen in weiten Abständen. Jetzt, als der Tau der Nacht verdunstete, begannen sie stechend und narkotisch zu riechen. Razamon führte, ich hielt mich in fünf Schritten Abstand hinter ihm. Obwohl ich keinen Grund hatte, mich als unerfahrenen Anfänger zu betrachten, vertraute ich den geradezu gewaltigen Kräften und Kraftreserven Razamons, und darüber hinaus wußte ich, daß seine Reflexe mindestens so schnell waren wie meine eigenen, wenn nicht schneller. Schweigend stapften wir durch den festen Sand. Je mehr wir uns vom Rand des Blutdschungels entfernten, desto größer wurden die Abstände zwischen den Büschen, und desto kleiner waren jene Büsche. Aber der Geruch, der aus den ledrigen Unterseiten ihrer lanzettförmigen Blätter drang, wurde intensiver. Wir atmeten die Miasmen ätherischer Öle ein. Irgendwelche Substanzen riefen bestimmte Wirkungen in unserem Verstand hervor. Wir hörten auf, uns zu fürchten. Alles erschien plötzlich leicht und unbeschwert. »Diese Farbe! Diese Sonne! Sie sieht aus, als wäre sie die Sonne eines fremden Systems!« rief Razamon über die Schulter. »Es ist Sol, die Sonne der Erde. Ich kenne
Kämpfer der Nacht solche Farbeffekte. Es sind atmosphärische Besonderheiten, aber sie wirken auf jedes lebende Wesen ein. Ein durchaus erklärbarer, psychologischer Effekt, Razamon«, rief ich. Wir konnten jetzt schon geradeaus gehen, denn die Abstände zwischen den Gewächsen wurden größer. Der betäubende Geruch blieb. Kräftig und relativ schnell schritten wir aus; die silberglänzende Straße war unser Ziel. Nach meiner Schätzung war sie etwa sechstausend bis siebentausend Meter entfernt. »Psychologie hin oder her – eine Sache, die mich unruhig macht«, rief mein Gefährte. »Mich macht sie nicht nur unruhig, sondern erwartungsvoll. In meinem Leben …«, ich ging schneller, um aufzuholen, »… gab es unzählige solcher Momente. Siehst du die Sonne? Eine Wolke schiebt sich vor die Scheibe.« Eine fahle Dunkelheit raste über das Land. Der gesamte Himmel war klar und wolkenlos. Aber dort im Osten braute sich etwas zusammen, denn die Fülle des orangeroten Lichts nahm ab. Von links schob sich eine Wolkenwand oder eine Trombe vor die kleiner werdende Sonne. Auffallend schnell wurde es wärmer. Etwa fünf Minuten lang gingen wir weiter in die zuerst eingeschlagene Richtung. Dann blieben wir beide plötzlich stehen und hielten den Atem an. Ein neues, irgendwie bekanntes Geräusch. Ein langgezogenes, schaurig klingendes Geheul. Ein Ton, der das Blut in den Adern stocken ließ. Wolfsgeheul! zischte der Logiksektor alarmierend. Ja, es war der Schrei dieses einsamen Jägers, der riesige Entfernungen zurücklegte, um seine Beute zu treiben und zu schlagen. »Es klingt wie ein Wolf, der seine Beute hetzt«, meinte Razamon. Ich blieb neben ihm stehen und versuchte, die Richtung zu erkennen, aus der dieses Geheul kam. »Es ist ein Wolf. Aber Wölfe, die in der Wüste jagen – ich habe derlei nie erlebt.«
5 Wieder heulte der Wolf, klagend und langgezogen. Es war ein Heulen, das in jedem Terraner Urängste weckte. Das Tier war sehr weit entfernt, aber es war keine Illusion. Irgendwo vor uns rannte ein Wolf und schrie seine Wut, seine Einsamkeit oder seinen Hunger in die Luft hinaus. Ich erinnerte mich schlagartig an zwei Dutzend irdischer Gegenden, in denen ich nachts von diesem Ton geweckt worden war und schweißgebadet aufgefahren war. Ich streckte den rechten Arm aus und hob die Armbrust vor die Augen meines Gefährten. »Jedenfalls kenne ich keinen Wolf, der immun gegen eine solche Waffe ist. Weiter, Razamon!« Razamon hob seine schmalen Schultern und stieß ein forderndes Gelächter aus. »Einverstanden. Wir werden auch einen Wolf bezwingen können!« Wir gingen geradeaus. Wieder rasten dunkle Schatten über das Land. Obwohl sich die Temperatur nicht um ein Kelvin änderte, hatten wir den Eindruck, daß eine gewaltige Kälte über die Halbwüste vor uns fiel. Unwillkürlich hüllten wir uns enger in die Felljacken. Rechts und links blieben die letzten verkrüppelten Büsche zurück. Unter dem Sand gab es nun keinen Kies mehr. Vor uns öffnete sich eine wüstenhafte Gegend. Zuerst war sie flach und von den wellenartigen Markierungen des windgeformten Sandes gezeichnet, dann stieg sie langsam in Form von langgezogenen Dünen an. Unsere Schritte hatten noch immer dasselbe Maß und dieselbe Länge. Als wir die flache Seite einer gewaltigen Düne hinaufgestiegen waren, wandten wir uns nach links und stapften entlang des messerscharfen Grates. Vor uns lag die Wüste. Irgendwo dort vorn erstreckte sich die Straße, die wir erreichen mußten. Und von dort vorn erklang jetzt wieder das schaurige Wolfsgeheul, aber ein neuer, gefahrverheißender Ton mischte sich in das Heulen. Ich packte Razamon an der Schulter und deutete in die Richtung der Sonne. Sie war jetzt nur eine
6 Scheibe hinter einer bernsteingelben Wand. »Dort braut sich etwas zusammen. Es sieht wie ein Sturm aus«, sagte ich und machte mich halb laufend, halb rutschend an den Abstieg. Razamon folgte mir und rief hinter mir her: »Ein Sandsturm. Sieht wie eine mächtige Windhose aus, wie ein Tornado.« »Das kann uns umbringen!« Mit einem kleinen Anlauf rannte ich den nächsten Dünenhang aufwärts und starrte wieder in die Richtung, aus der das summende Geräusch kam. Die Sandkörner bewegten sich unter unseren Schritten. Ein erster Windstoß trieb sie über die Oberfläche der Düne, die wie eine erstarrte Ozeanwoge aussah. Die Körner gaben ein silbern klingendes Flüstern von sich, ehe sie am Fuß der Düne zur Ruhe kamen. Wir flüchteten so schnell wie möglich quer zu der Richtung, aus der sich die immer schwärzer und kompakter wirkende Wolke näherte. Natürlich war der Sturm schneller, aber vielleicht glückte es uns, in dieser tödlichen Zone aus Sand und trockener Hitze einen Fleck zu finden, an dem wir uns schützen konnten! Nicht in den Wald zurück! Ihr seid zu weit davon entfernt! rief der Logiksektor. »Wir schaffen es nicht, Atlan!« keuchte Razamon vor mir. Wir rannten jetzt im Zickzack durch die tiefsten Stellen zwischen den Dünen. Zwanzig Meter über uns riß der heranrasende Sturm bereits die Sandmassen von den Dünenkämmen herunter und warf sie in die scharf eingekerbten Täler. »Bleibt abzuwarten. Notfalls lassen wir uns überrollen«, schrie ich durch das wütende Heulen des Sturmes. Wenn uns der heranrasende Tornado voll traf, waren wir verloren. Aber wenn es uns gelang, in die Randgebiete zu kommen, hatten wir echte Chancen. Wir stolperten also weiter, immer wieder von waagrecht durch die Luft gewirbelten Sandmassen überschüttet. Inzwischen hatte das Wolfsgeheul aufgehört; es war im viel lauteren Heulen des Sturmes untergegangen. Wir schnappten
Hans Kneifel nach Luft. Sand geriet zwischen unsere Zähne, blendete uns immer wieder und verstopfte die Nasen. Das Tageslicht war fast völlig verschwunden, und ein braungrauer Schatten lag über allem und verwandelte die Dünen in eine sturmzerwühlte Geisterlandschaft. Ich sah nur noch den schmalen Rücken Razamons vor mir und folgte ihm. Das Rennen wurde immer beschwerlicher, unsere Lungen arbeiteten wie Blasebälge. Halb blind, keuchend und spuckend rannten wir weiter. Die Luft war siedendheiß, aber völlig ohne Feuchtigkeit. Immer mehr Sand verdunkelte die Luft. Das Heulen war jetzt ein dauerndes Geräusch, das jede Verständigung fast unmöglich machte. Wir unterdrückten den Wunsch, uns einfach fallen zu lassen und vom Sand begraben zu werden; unser Wille trieb uns vorwärts, immer den Einschnitten im Boden entlang, die sich ebenfalls langsam mit nachrutschendem und aus der Luft herunterfallendem Sand füllten und uns das Vorwärtskommen noch mehr erschwerten. Einige Minuten später, als das Heulen zu einem orgelartig röhrenden Ton geworden war, wichen vor uns zwei Dünenhänge breit auseinander und gaben den Blick frei auf einen vom Sturm fast waagrecht zu Boden gebogenen Baum mit weißen Wedeln. Neben diesem Baum lag etwas, das aus Stein zu sein schien und aussah wie eine halb versunkene Kugel von doppelter Mannshöhe. Razamon deutete mit dem Skerzaal darauf, dann rannte er auf das schwarze Loch in der weißen Kugel zu. Das kann die Rettung sein! schrie der Logiksektor. Mit letzter Kraft überwanden wir in mehreren Sprüngen die etwa dreißig Meter bis zum Baum. Der Baum und die Kugel befanden sich in der Mitte eines kreisförmigen Flecks. Am Rand erkannten wir undeutlich eine Reihe von rundgeschliffenen Steinen; die uralten Reste von Sandsteinfelsen. Die winzige Ebene, von den schrägen Hängen der Dünen gesäumt, war jetzt ein Inferno aus Sandwir-
Kämpfer der Nacht beln. Razamon rannte direkt auf die Kugel zu. Nach vier, fünf Schritten schrie er gellend auf. Ich sah, daß seine Füße bei jedem weiteren Schritt mehr und mehr im Sand versanken. »Treibsand, Atlan!« Stehenbleiben! rief der Extrasinn alarmiert. Ich konnte nicht stehenbleiben, aber ich änderte sofort meine Laufrichtung. Der Wind jagte mich seitlich an Razamon vorbei. Aber auch ich sank ein. Ich fühlte, wie der Druck auf meine Sohlen sich verringerte, aber meine Geschwindigkeit war noch so groß, daß ich mich retten konnte. Ich sprang auf einen der Steine zu und merkte, daß sich der Sand wieder festigte. Schnell drehte ich mich um. Ich handelte ganz automatisch. Ich ließ Waffe, Satteltaschen und Nahrungsmittelvorrat fallen, griff an das Gurtschloß und zerrte das Leder aus den Schlaufen. Dann riß ich die Riemen der Satteltaschen aus den Verschlüssen, schob sie wieder zusammen und schlang einen Knoten in meinen Gürtel. Aber das Lederseil war noch immer zu kurz. »Hilf mir, verdammt!« brüllte Razamon. Er stand bis zu den Knien im Treibsand. Der Sand wirkte wie zäher Schlamm oder wie Sirup. Trotzdem versuchte mein Kampfgefährte, sich zu befreien. Sein Gesicht war vor Anstrengung und Angst gezeichnet. Ich griff in eine der Taschen und zog dort ein Stück Seil aus Pflanzenfasern hervor, die ich von den Yaghts geschenkt bekommen hatte. Ich knotete es in die Schnalle meines Gürtels und wickelte es zweimal um mein Handgelenk. Dann näherte ich mich dem Rand der Sandfläche, stemmte mich gegen den wütenden Sturm und warf mich zu Boden. »Auffangen!« schrie ich. Ich schleuderte Riemen und Seil in die Richtung Razamons. Der Sturm riß sie in einer Sandwolke zur Seite. Ich konnte sehen, wie Razamon immer tiefer einsackte. Ich zog rasend schnell die Mischung aus Seil und Riemen ein, rollte sie zusammen und
7 schleuderte sie zum zweitenmal nach vorn, diesmal aber schräg gegen den Sturm. Das letzte Teil dieses Hilfsmittels blieb in der Nähe von Razamon liegen. Er griff mit der rechten Hand danach. Dann packte er die Satteltaschen und warf sie mit großem Schwung in meine Richtung. »Halte dich endlich fest!« Hier, flach auf den Sand gepreßt, schien der Orkan ein wenig von seiner urhaften Stärke verloren zu haben. Aber trotzdem wurden wir von heulenden Sandwolken zugedeckt. Als Razamons Griff fest war, begann ich zu ziehen und robbte langsam rückwärts. Ich zog und zerrte, und Razamon versuchte, mich zu unterstützen. Zentimeterweise zog ich ihn aus dem Treibsand. Dunkelheit und peitschende Sandschleier, das irrsinnige Kreischen des Sturmes, die furchtbare Trockenheit, die uns peinigte und unsere Haut rauh werden und bluten ließ – das alles vergaßen wir jetzt, als wir um das Leben Razamons kämpften. Wir zitterten vor Anstrengung, das Bündel aus Seil und Riemen war straff, und ganz langsam näherte sich Razamon dem Rand des Treibsandfelds, aus dem der Baum und die mysteriöse Kugel herausragten. Sein Körper lag jetzt flach auf dem Sand, seine Schienbeine steckten noch innerhalb der trügerischen Schicht. Mehr Kraft einsetzen! Benutze deine Rückenmuskeln! drängte der Extrasinn. Ich stemmte meine Absätze in den Sand, richtete mich auf und faßte mit beiden Händen zu. Razamon zog sich mit der Rechten aus dem Sand, ruderte mit der linken Hand wie besessen und warf dann seine Fernwaffe auf sicheres Gelände. Als ich ihn vor Anstrengung aufstöhnen hörte, merkte ich erst, daß das Brüllen und Kreischen des Sturmes aufgehört hatte. Ich hob den Kopf, aber stemmte mich weiterhin gegen die schwere Last. Die Dunkelheit wich innerhalb weniger Sekunden, dann erfüllte schwefelgelbes Licht die Umgebung. In der Ruhe, die förm-
8 lich in unseren Ohren rauschte, hörte ich Razamons Keuchen und dann ein hartes, klickendes Geräusch und ein Zischen wie von einer riesigen Schlange. Aus dem Loch der Kugel schob sich eine Masse von Gelenken, schimmernden Panzerteilen und röhrenförmigen Gliedern. Ich blickte schnell hin und wußte, daß der Baum, die Kugel und der Treibsand eine Falle waren, eine mörderische Einheit, die das Überleben dieses fremden Raubwesens sicherte. Ein letztes Mal setzte ich meine restlichen Kräfte ein. Wir befanden uns für wenige Momente in der windstillen Zentrumszone des Tornados, aber jede weitere Sekunde konnte den Sturm aus der anderen Richtung bringen. Jetzt kippte der skorpionartige Körper der riesigen Bestie metallisch rasselnd aus dem Loch und tappte mit acht Beinen über den Treibsand auf Razamon zu. Mit einem gewaltigen Ruck zog ich, jetzt über die Schulter, Razamon aus dem Treibsand heraus und auf festen Grund. »Hinter dir, Razamon!« schrie ich und merkte an dem geringeren Gewicht, daß er sich außerhalb der gefährdeten Zone befand. Augenblicklich ließ ich die Riemen fallen und stürzte mich auf meine Skerzaal. Als ich den gerundeten Griff in den Fingern hatte, hörte ich durch das Rieseln und Knirschen des zur Ruhe gekommenen Sandes wieder den Schrei des Wolfes. Er schien hinter der nächsten Düne zu erklingen. Ich wirbelte herum und legte einen Bolzen in die Schußrinne. Der riesige Skorpion, dessen gekrümmter Schweif zitternd über dem Kopf und den schnappenden Scheren hing, kam schnell über den Treibsand heran. Die Endglieder der Füße liefen in haarige, flache Dreifachschalen aus und sanken nur wenige Fingerbreit ein. »Nimm die Waffe!« brüllte ich und zielte auf den Kopf der Bestie. Sie war bis auf wenige Schritte herangekommen. Ich registrierte in der überraschenden Ruhe, daß wieder der unsichtbare Wolf schrie. Dann sah ich den langen, nach unten federnden Stachel und den grünschillernden Tropfen, der sich
Hans Kneifel aus dem gekrümmten Dorn löste. Rechts und links des Giftdorns erkannte ich in dem Organ Verfärbungen der Haut, die wie Augen wirkten. Die Sehne der Skerzaal schleuderte den Bolzen vorwärts. Ich hatte gut gezielt. Der lange Bolzen drang in das Auge dieses gigantischen Skorpions ein, zerfetzte die Facetten und ließ eine wäßrige Flüssigkeit austreten. Razamon handelte ebenso wie ich schnell und besonnen. Er hob seine Waffe auf, spannte sie mit einem harten Ruck und fischte einen Pfeilbolzen aus dem Köcher. Dann rannte er wenige Schritte zur Seite und schoß ebenfalls. Der erste Treffer ließ das Tier herumschnellen. Es stierte uns mit dem unversehrten Auge an und riß die beiden gewaltigen Scheren hoch. Die Tötungswerkzeuge waren so groß, daß sie einen Arm mühelos auseinander schneiden konnten. Als der zweite Bolzen ins andere Auge traf, stellte das Tier seinen Stachel gerade und geriet in blinde Raserei. Die acht Beine vollführten rasend schnelle Bewegungen. Die Scheren klapperten unausgesetzt. Immer wieder schlug der hochgekrümmte Schwanz nach uns, und die Bestie drehte sich im Kreis. »Weg von hier!« rief ich. Im gleichen Augenblick heulte ein neuer Windstoß heran, der Wolf schrie hinter uns, und wir bückten uns und hoben die Ausrüstungsgegenstände hoch. Dann schlugen wir einen Bogen um das Tier ein, hielten uns jenseits der Steinreste und liefen, mit unseren Taschen beladen, auf den Einschnitt der nächsten zwei Dünen zu. Hinter uns verklangen im Sturm die Geräusche der zuschnappenden Scheren und die tappenden Laute der haarigen Beine. »Das war tatsächlich eine Falle, und zwar eine tödliche!« schrie Razamon, aber das Heulen des Sturmes schnitt seine Worte ab. Der Mittelpunkt des Wirbelsturms war über uns hinweggezogen, und abermals schlug der Sandsturm mit seiner gewaltigen Wucht zu. Trotzdem rannten wir, die Sonne oder je-
Kämpfer der Nacht denfalls die Helligkeit zur Rechten, in die Richtung der Straße. Riesige Schleier aus Sand wehten um uns, der Wind riß und zerrte an unseren Körpern und ließ uns taumeln. Wir schützten unsere Gesichter, indem wir die Unterarme hochrissen. Je schneller sich Razamon, der Pthorer, bewegte, desto weniger merkte ich von seinem nachgezogenen linken Bein. Die Wirkung des Zeitklumpens war immer dann am deutlichsten, wenn er langsam ging. Ich senkte den Kopf und versuchte, von unten herauf etwas zu erkennen, aber wir beide waren nur Schatten in einer Welt anderer Schatten. Und plötzlich gab es da einen dritten Schatten. Er kam von links aus den wütenden Sandschleiern auf uns zu. Ein Riesenwolf! rief der Logiksektor erschreckt. Das Tier, mindestens eineinhalb Meter hoch, sprang genau auf Razamon zu. Eine neue Überraschung in dieser Welt voller Gefahren. Ich hob die Skerzaal, und gleichzeitig reagierte Razamon, blitzschnell wie immer. Er sprang zur Seite, mitten im Hagel der Sandschleier. Aber der Wolf schien noch schneller zu sein. Er blieb mit aufgerissenem Rachen und gespreizten Vorderbeinen vor uns stehen. Der Wolf senkte den Kopf, sprang in die Höhe und lief drei Schritte in die Wüste hinaus, in die Richtung der Straße. Wir stutzten und zogen die Köpfe zwischen die Schultern. Beide Skerzaals deuteten auf den schmalen, kantigen Wolfsschädel. Das Tier warf seinen Körper wieder herum und schien uns etwas anzeigen zu wollen. Es bewegte sich im Sturm mit verblüffender Leichtigkeit, während wir zu tun hatten, um nicht von den Beinen gerissen zu werden. Durch das Heulen drangen Razamons Worte an meine Ohren. »Er greift uns nicht an! Er hat etwas vor.« »Er will etwas von uns«, schrie ich zurück, aber hielt noch immer die Waffe hoch. Der Riesenwolf kam langsam näher und blieb dicht vor uns stehen. Wir wagten einige Schritte nach vorn. Als wir bis auf zwei Meter an den Wolf herangekommen waren,
9 drehte sich die Bestie wieder herum und lief ganz langsam vor uns her. »Der Wolf will, daß wir uns von ihm führen lassen«, brüllte ich und stapfte vorwärts. Immer wieder drehte der Wolf den Schädel und entblößte sein furchtbares Gebiß. Wir folgten jetzt, uns gegen den Sturm stemmend, dem schlanken und muskulösen Körper. Der Sandsturm schien den Wolf lediglich zu belästigen, aber nicht ernsthaft in Gefahr zu bringen. Razamon packte mit einer Hand das Rückenfell und hielt sich daran fest. Willig zog ihn das Riesentier mit sich. Aber ich hatte die Erfahrung Razamons unterschätzt. Nach schätzungsweise zehn Minuten, in denen wir schweigend und mit schwindenden Kräften durch den Sturm rannten, ließ Razamon das Fell des Tieres los und blieb stehen. Übergangslos stolperte er, mit dem Wind im Rücken, in eine andere Richtung. Der Wolf hielt an und drehte sich herum. Wieder betrachtete er uns aus seinen lodernden Augen. Dreimal bewegte das Tier seinen Kopf und den Oberkörper und deutete unverkennbar in jene Richtung, in die wir bisher gerannt waren. Es war ein Zeichen; ohne jeden Zweifel. Razamon und ich verständigten uns mit einer knappen Geste und folgten dem grauen Riesenwolf durch den Sandsturm, dessen Wut von Sekunde zu Sekunde noch zuzunehmen schien.
2. Keiner von uns konnte die Zeit genau abschätzen, aber es dauerte für uns beide eine kleine Ewigkeit. Wir kämpften uns schweigend und verbissen durch den Sandsturm. Hin und wieder gelang es uns im Windschatten einer sich auflösenden Düne, Luft zu holen und den Sand auszuspucken. Meine Augen tränten und brannten. Überall war dieser feine Sand; zwischen der Haut und der Kleidung ebenso wie in den Stiefeln und im Haar. Dann wieder liefen wir zwischen den Dünen hervor und in die volle Wut des Sturmes.
10 Razamon ließ sich von dem grauen Wolf mitziehen, ich folgte dem Pthorer in geringem Abstand. Wir waren drei Gestalten in der sanderfüllten Luft, allein in der Wüste zwischen Blutdschungel und der Straße der Mächtigen. Fast automatisch, nur von einem übermächtigen Selbsterhaltungstrieb erfüllt, mit schwindenden Kräften und ständig im Kampf gegen den Impuls, uns hinzuwerfen und der Erschöpfung nachzugeben, widerstanden wir dem Orkan und fühlten uns wie winzige Insekten angesichts eines grausigen, gigantischen Naturschauspiels. Wir merkten nicht, daß die Dünen niedriger zu werden begannen. Wir übersahen, daß unter unseren Sohlen stachlige, verdorrte Grasbüschel die Sandfläche unterbrachen. Wir mußten uns aber noch mehr gegen den Sturm stemmen, der mit vergrößerter Schnelligkeit und Wucht über das flachere Land hinwegfauchte. Nur der Riesenwolf bewegte sich mit spielerischer Leichtigkeit durch das Inferno. Hin und wieder sah ich die dicken Muskelbündel unter dem zerzausten Fell. Schweiß vermengte sich mit Sand und fiel in dicken Fladen von den Flanken des Wolfes. Ich blieb stehen und erinnerte mich an eine der Sagen Terras, in der ein solcher mythologischer Wolf vorkam: Fenris, Fenrir oder Fenriswolf. Rufe seinen Namen, und dann weißt du, ob er auch ein Teil einer Sagenwelt ist, aus der du schon andere Gestalten kennst, meinte der Logiksektor. Vor mir verschwanden Fenrir und Razamon im dichten Sandgestöber. Ich preßte meine Unterarme vor das Gesicht und holte keuchend und würgend Atem, dann lief ich ihnen nach. Endlich erkannte ich, daß der Sturm nachgelassen hatte und wir uns auf nahezu ebenem Boden befanden. Aber noch war die Sicht stark eingeschränkt. Razamon und Fenrir liefen in einem kräfteschonendem Trab weiter. Die Sandschleier wurden dünner, und in demselben Maße, wie der Sturm seine Kraft verlor, wurde es heller und freier. Aus der Dunkelheit wurde
Hans Kneifel ein magisches Zwielicht, wir sahen immer deutlicher und immer weiter, einzelne grüne Punkte durchbrachen die bräunlichweiße Einöde, und schließlich blieb der Riesenwolf stehen und drehte sich zu uns herum. Ich rief, Sand ausspuckend und den Kopf heftig schüttelnd: »Razamon! Fenrir hat uns aus dem Sturm hinausgeführt. Wir müssen dicht vor der Straße sein.« Langsam drehte sich der Atlanter um und blickte mich aus seinen unergründlichen Augen an. Obwohl ich ihn nun kannte und wußte, was ich von ihm zu halten hatte, schauderte ich noch immer vor der unheimlichen Aura zusammen, die Razamon ausstrahlte. »Wer führte uns?« Auch er versuchte, sich zu erholen. Während wir unsere Wassersäckchen vom Gürtel schnallten und uns den Mund ausspülten, die Augen benetzten und zwinkerten, beobachtete uns der Wolf aus seinen klugen Augen. Ich sah einen Moment sein nadelspitzes Raubtiergebiß und wußte, daß ein Biß genügen würde, eine tödliche Wunde zu reißen. Der erste Schluck Wasser spülte Sandkörner über die Zunge, aber er schmeckte wie Nektar. »Fenrir. Ich nenne diesen Riesenwolf so. Er ist wie die Gestalt einer terranischen Mythologie. Vielleicht hast du in deiner Zeit als Kurgo Feltran oder Tervor Aretosa etwas darüber gelesen?« Die letzten glutheißen Windstöße fauchten über die Ebene. Die wenigen Pflanzen, die hier wuchsen, fingen an, ihre stacheligen Halme aufzurichten. In der Richtung, aus der jener furchtbare Wirbelsturm herangebraust war, erschien ein breiter blauer Streifen über dem Horizont. »Ich habe wenig Gelegenheit gehabt, etwas zu lesen. Jedenfalls erinnere ich mich nicht an ein Wesen namens Fenrir«, erwiderte Razamon unruhig und schüttelte Sand aus seiner Felljacke. Ich zog meinen Gürtel wieder durch die Lederschlaufen der Hose. »Ich dafür um so besser«, meinte ich und beobachtete immer wieder den Wolf, der
Kämpfer der Nacht seine dreieckigen Ohren nach vorn gestellt hatte und uns zuzuhören schien. Er stieß ein leises, aber warnendes Knurren aus, als ich meine Skerzaal spannte und einen Bolzen einlegte. Aber als ich die Waffe vorsichtig gegen die Satteltaschen lehnte, beruhigte sich das Tier wieder. »Erzähle mir etwas«, bat Razamon. »Es ist deprimierend, nichts zu wissen und sich an so wenig erinnern zu können.« »Ich bin im Gegenteil zu dir mit einem perfekten Erinnerungsvermögen gestraft«, antwortete ich. »Aber diese Sage wurde ein Teil des Götzensystems einer barbarischen Rasse im nördlichen Teil des alten Europa. Fenrir oder der Fenriswolf ist der Sohn des Gottes Loki und einer Riesin, die man Angrboda nannte. Wenn er den Rachen aufsperrte, berührte er zugleich die Erde und den Himmel.« »Beeindruckend«, erwiderte Razamon und fuhr fort, Sand aus seiner Kleidung und aus dem zerzausten, blauschwarzen Haar zu entfernen. Beim Aussprechen des Wortes Fenris riß der Wolf den Kopf hoch, sperrte den Rachen auf und starrte mich scharf an. Aus dem ganzen Ausdruck des Wolfsschädels sprachen Mißtrauen und wachsame Spannung. Ich war kein Tierpsychologe, aber ich glaubte, auch in der Veränderung der Muskulatur von Rachen, Ohren, der Umgebung der Wolfsaugen und den fellbedeckten Muskeln der Schnauze etwas zu erkennen, das ich mit »Klugheit« bezeichnen mußte. Nur schwer konnte ich mich an den Gedanken gewöhnen, daß hier nicht exakte Naturwissenschaften zusammenwirkten, sondern daß überall Magie oder Zauberei im Spiel waren. Alles in mir weigerte sich, diese Erkenntnis für richtig zu halten. »Nachdem Baldur getötet worden war, wollten die Götter Loki bestrafen. Aber Loki flüchtete. Also versuchten sie, seinen Sohn, das Ungeheuer Fenris, an seiner Stelle zu bestrafen. Nur ein Sohn des Odin hatte genug Mut, sich der Bestie zu nähern. Zuerst fesselte man Fenris mit einer wuchtigen Kette, aber er zerriß sie.«
11 Razamon blickte hinüber zu Fenris, der sich jetzt schüttelte und einen kleinen Sandwirbel erzeugte. Der Streifen sichtbaren Himmels war auf die dreifache Breite angewachsen. Es wurde heller, und auch die sengende Glut, die mit dem Sturm einhergegangen war, hörte auf. »Er scheint stark genug zu sein, um eine solche Kette zerreißen zu können«, meinte Razamon und spannte nun auch seine Waffe. Der Wolf lief einen Viertelkreis und stellte sich zwischen Blutdschungel und uns auf, in derselben wachsamen Haltung und mit heraushängender Zunge zwischen den furchtbaren Reißzähnen. »Nicht nur das«, sagte ich mit Betonung. »Wenn du ihn genau ansiehst, dann wirst du erkennen, daß er kein gewöhnlicher großer Wolf ist, sondern ein außerordentlich kluges Tier. Er scheint zu verstehen, was wir sprechen. Ich glaube, er will uns etwas zeigen, oder vielleicht soll er uns irgendwohin bringen.« »Schon möglich. Was sagt deine antike Legende noch?« Ich verschloß das Wassersäckchen und schneuzte mich wieder. Langsam hörte das Jucken des Sandes auf der Haut auf. »Die nächste Kette, mit der man ihn zu fesseln versuchte, war noch viel stärker, aber er zerriß auch diese. Die schwarzen Elfen und die erfindungsreichen Zwerge, von den Göttern um Hilfe gebeten, stellten eine neue Art von Fessel her. Sie verwendeten den ›Schall des Katzentrittes‹, den ›Bart der Weiber‹, die ›Stimme der Fische‹ und den ›Speichel der Vögel‹. Diese geheimnisvolle Kette war weich und dünn, aber sie konnte von Fenris nicht zerrissen werden. Als man den Wolf damit gefesselt hatte, verlangte er, daß der Sohn des Odin seine rechte Hand in seinen Rachen legen sollte. Der Odinsohn wagte es, und Fenris biß ihm die Hand ab. Aber trotzdem kam er nicht frei und ist bis zum heutigen Tag gefesselt und unbeweglich. Das ist die Legende von Fenris, dem gewaltigen Wolf.« Razamon hinkte auf seine Waffe zu und
12 hob die Taschen voller »Illusionssteine« auf, dann schnallte er die Satteltaschen wieder an seinen Gürtel und sagte ruhig: »Wollen wir weitergehen? Ich habe eine ganz bestimmte Ahnung.« »Uns bleibt nichts anderes übrig«, antwortete ich und begrüßte das Sonnenlicht. Razamon wandte sich nach Norden und machte einige zögernde Schritte. Fenris knurrte, schob die mächtige Brust vor und spannte die Muskeln seiner Hinterbeine. Entlang der scharfrückigen Nase bildeten sich vier tiefe Falten. Trotzdem ging Razamon unbeeindruckt weiter; er vertraute seinen Kräften. Der Kopf des Wolfes befand sich jetzt in Höhe seiner Brust. »Achtung! Er ist stärker als du!« rief ich warnend. Der Wolf wich nicht aus. Razamon machte einen Satz nach rechts, breitete die Arme aus und versuchte, Fenris schnell zu umgehen. Aber der Wolf war schneller. Er sprang rückwärts und zur Seite und knurrte wütend. Ich kannte Razamons Kräfte, aber ich hob die Skerzaal und hoffte, nicht eingreifen zu müssen. Razamon senkte den Kopf und sprang los. Er warf seine ganze Körperkraft nach vorn und rammte den Wolf mit der linken Schulter. Fenris taumelte einige Handbreit zur Seite, dann schien sich sein Schädel zu einem lautlosen und höhnischen Grinsen zu verziehen. Der Wolf griff lautlos an und bewegte sich so schnell, daß ich wie gebannt stehenblieb und den Kampf beobachtete. Razamon hatte in Wirklichkeit keine Chance. Der Riesenwolf senkte den Kopf, riß den Rachen auf und sprang auf Razamon los. Das Tier bäumte sich auf und schlug mit beiden Vorderpranken die Skerzaal zur Seite. Der Schuß löste sich, der Bolzen summte schräg in die Luft. Dann packte Fenris mit dem Rachen zu, bewegte seinen Schädel von rechts nach links und schleuderte Razamon mit einer einzigen, wilden Bewegung voll ungestümer Kraft zur Seite. Der Atlanter verlor den Halt, ruderte hilflos mit Armen und Beinen und handelte dann überraschend
Hans Kneifel richtig. Er krümmte seinen Körper genau in dem Augenblick zusammen, als er mit dem Rücken den Sand berührte. Er rollte sich ab und verschwand in einer Sandwolke. Fenris setzte nach und war mit einem einzigen Weitsprung genau über dem Körper des Pthorers. Als Razamons Körper zur Ruhe kam und er sich hochstemmen wollte, drehte Fenrir den Kopf und setzte den Rachen genau an den Hals des Pthorers. Die Reißzähne berührten rechts und links des Halses die Haut. Ein heiseres Knurren, unverkennbar eine Drohung, grollte aus der Kehle des Wolfes. »Razamon! Eine Geste der Unterwerfung. Er will dir nichts tun. Es war nur eine Warnung«, schrie ich aufgeregt. Razamon begriff und streckte beide Arme aus, drehte die Handflächen nach oben und lag ganz still da. Fenrir hob ruhig und langsam den Kopf. Seine Kiefer klappten mit einem harten, metallischen Geräusch zusammen. Er ging rückwärts, ohne Razamon aus den großen, leuchtenden Augen zu lassen. Razamon stand auf, er wirkte wie betäubt. Er schüttelte den Kopf und rief heiser, mit einer Stimme, die seine Ratlosigkeit kennzeichnete: »Ich glaube dir jetzt. Dein verdammter Fenris hat mich überzeugt.« »Es gibt sicher einen guten Grund dafür«, sagte ich, ging schnell zu ihm hin und half ihm. Wir blieben nebeneinander stehen und sahen zu, wie der Wolf sich herumwarf und in südliche Richtung lief, also wieder direkt auf die Straße zu. Wir würden also wohl doch nach Wolterhaven gehen müssen. Oder verfolgte der Riesenwolf eine andere Absicht? »Folgen wir ihm?« fragte mich der Atlanter. »Es gibt keine andere Wahl, mein Freund«, meinte ich besorgt. »Fenrir oder Fenris will, daß wir ihm folgen.« »Ich wünschte, ich hätte diese Fessel der Zwerge und Schwarzelfen«, zischte der Atlanter und nickte mir zu. Wir folgten dem Wolf, der einen leichten Trab einschlug. Inzwischen war der Himmel
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über uns wieder völlig klar. Seit unserem Aufbruch waren rund zweieinhalb Stunden vergangen, nach dem Stand der Sonne geschätzt. Fenrir blickte sich immer wieder nach uns um, aber er verringerte sein Tempo nicht. Seine großen Pfoten tappten fast lautlos über den Sand. Sein Schwanz, ebenso hellgrau wie der gesamte Körper, federte auf und ab. Razamon widerstand der Versuchung, sich wieder im Nackenfell anzuklammern und sich schleppen zu lassen – nach der Zurschaustellung von Kraft und Schnelligkeit Fenrirs eine begreifliche Reaktion. Nach kurzem Lauf durch die flache Landschaft, die jetzt wieder von mehr Grün belebt war, erreichten wir die Straße der Mächtigen. Wir erkannten sie schon aus einiger Entfernung; ein schmales Band aus einem Metall, das wie uraltes Silber aussah und ziemlich genau fünf Meter breit war. Wir wußten, daß sie scheinbar ohne Ansatz ganz urplötzlich am Südtor der Stadtmauer Orxeyas anfing. Wo sie endete – irgendwo vor oder in Wolterhaven –, entzog sich unserer Kenntnis. Auch Razamon konnte sich nicht daran erinnern. Der Wolf wandte sich nach rechts. Die Straße verlief hier, soweit wir erkennen konnten, nach Südwesten. Ein nahezu gerades Band aus Silber erstreckte sich durch die wüstenartige Landschaft. Mehr Steppe als Wüste; merkwürdig geformte Büsche unterbrachen die Fläche, die sich für unsere Augen von Horizont zu Horizont erstreckte. Wir waren schätzungsweise sechs oder sieben Stunden scharfen Fußmarsch von der Stadt entfernt. Wir trotteten, so schnell es ging, hinter dem Riesenwolf her. Das Tier hielt sich auf dem schmalen Streifen zwischen Sand und Straße und lief ruhig und kraftvoll dahin. Unter dem Fell spielten die markanten Muskeln. Etwa zwei Stunden lang folgten wir dem Wolf, und wir merkten, wie unsere Kräfte langsam nachließen.
* Die Straße, die im Sonnenlicht geheimnis-
voll funkelte und strahlte, trotz der dichten Staubschicht, änderte jetzt ihre Richtung. Sie bog langsam nach Süden ab, also nach rechts, von uns aus gesehen. Aus den Sandmassen vor der fernen, flimmernden Kulisse des Dschungelrands erhob sich ein langgestreckter Hügel, der an einem Ende ganz steil abfiel; er wirkte wie ein Steinbruch, wie eine fast senkrechte Klippe. Wir liefen weiter und sahen schweigend, wie vor uns dieser Hügel immer deutlicher wurde und seine Größe offenbarte. Aus der glatten, gerundeten Oberfläche stachen irgendwelche Felsen oder versteinerte Baumstümpfe hervor. Die Krümmung der Straße der Mächtigen wurde stärker, aber ganz weit am Horizont verriet uns das Flimmern und Strahlen, daß die Kurve wieder nach Nordwesten zurückschwang, auf den Blutdschungel zu und vermutlich weiter zur Stadt Wolterhaven. Der geheimnisvolle Hügel befand sich also wie eine Festung oder ein Sperrfort am tiefsten Punkt dieser Ausbuchtung. Wieder einige Zeit später blieb Razamon stehen und deutete mit dem Arm nach vorn. »Das ist kein Hügel, wie ich zuerst gedacht hatte, Atlan«, sagte er laut. Fenrir hielt an und peitschte ungeduldig mit dem Schwanz die Luft. »Aber es sieht nicht künstlich aus. Wir kommen ja direkt vorbei, dann sehen wir den Hügel genauer.« »Ich traue weder dem Wolf noch diesem Hügel«, sagte Razamon. Der Fenriswolf scharrte ungeduldig mit dem rechten Vorderlauf. Zwischen der Straße und der scharf abfallenden Vorderkante des Hügels sahen wir Bäume und Büsche. Es schien ein verfilztes Gebiet zu sein, das recht ausgedehnt wirkte und sehr alt. Über den Baumwipfeln flirrte die aufsteigende heiße Luft. »Ich traue ihnen auch nicht«, antwortete ich. »Warten wir ab, wohin uns der Wolf führen wird. Immerhin sind wir nicht ganz wehrlos.« Fenrir heulte auffordernd. Wir zuckten die Schultern und gingen also weiter, hinter dem Wolf her. Der Hügel und die Klippe, der
14 ausgedehnte, dem Zentrum zu immer höher und dunkler wirkende Wald davor, die einzelnen aus dem gelbweißen Hügelkamm herausragenden Teile wurden größer und deutlicher. Als wir nahe genug heran waren und der Hügel sich hinter den Wald zurückzog, erkannten wir die Größe und Ausdehnung dieser eigentümlichen Anlage. Wind und Sand hatten den Hügel abgeschliffen und geglättet. Aus den einzelnen Steintrümmern, die aus dem Material herausragten, wurden aus der Nähe hakenförmige Dinge, die ebenso gut Belüftungsanlagen wie auch Beobachtungsgeräte sein konnten. Sie waren aus demselben Stein, der die Struktur von Bimsstein aufwies, wie der rund hundertfünfzig Meter lange Hügel, der an seinem Ende mit der sandigen Umgebung verschmolz. An der Kante zwischen Boden und Bimsstein wuchsen Gräser und dornige Ranken. Jetzt verschwand der schätzungsweise vierzig Meter hohe, steil abfallende Teil des seltsamsten aller Hügel hinter dem Wald. Die Luft wurde kühler und begann nach Blüten und Fäulnis zu riechen. Fenrir stob plötzlich davon und blieb stehen, als er den tiefsten Punkt der Kurve erreicht hatte. An der Stelle, an der wir uns befanden, reichte die magere Vegetation bis an das silberne Band der Straße heran, wurde mit jedem Schritt höher, saftiger und dichter und verschmolz schließlich mit den knorrigen, scheckigen Stämmen von unbekannten Bäumen mit zitternden Kronen. Das Tier stand da, beäugte uns unausgesetzt und riß den Rachen auf, als ob es gähnen würde. »Es wartet dort auf uns«, sagte ich. »Was schlägst du vor, Razamon?« Die Ausstrahlung Razamons, düster und geheimnisvoll, paßte zu diesem Ort und zum Verhalten des riesigen Wolfes. Ich schüttelte mich und ging langsam weiter. »Gehen wir hin. Er will etwas von uns. Sein Handeln ist von einer deutlichen Absicht erfüllt.« »Zweifellos.«
Hans Kneifel Der senkrechte Absturz war etwa halbkreisförmig, mit einer scharfen Ausbuchtung nach oben. Hinter dem wuchernden Laub konnten wir nur einen kleinen Teil davon sehen, als wir den Wolf eingeholt hatten. Er starrte uns an und wedelte mit seinem langen, buschigen Schwanz. »Was will er?« Fenrir lief hinüber zu dem verfilzten Gestrüpp und bahnte sich einen Weg, dann kam er mit weiten, federnden Sprüngen wieder zurück und legte sich vor uns auf den Sand und die trockenen Gräser. Schwarze und diamanten funkelnde Insekten und Käfer schwirrten und krabbelten davon und erfüllten die lauernde Stille mit ihrem Summen und Sirren. Ein Insekt stach mich zwischen Jackenärmel und Handgelenk; ich schlug wütend danach und tötete es. Fenrir lag ausgestreckt da, starrte Razamon und mich abwechselnd an und schien uns damit ein Signal zu geben. »Ich denke, wir sollen hier warten«, meinte ich nach einigem Nachdenken. Der Wolf nickte, als habe er mich verstanden. War das Tier tatsächlich derartig intelligent, wie ich vermuten mußte? »Warten? Worauf warten, Atlan?« knurrte Razamon. Er zeigte starke Nervosität. Ich vermutete, daß sich seine Unruhe zu einem Ausbruch verstärken konnte. »Keine Ahnung. Vielleicht will er etwas oder jemanden aus dem kleinen Dschungel hier herausholen. Oder wir sollen jemandem helfen? Ich weiß es nicht.« Wir beide waren unschlüssig, aber wir blieben stehen, während der Riesenwolf auf die Pfoten sprang, sich vergewisserte, daß wir ihm nicht folgten, und dann im Unterholz verschwand. Mit seinem mächtigen Körper bahnte er sich mühelos eine schmale Gasse durch die raschelnden und knackenden Gewächse. Schließlich rammte er einen zurückfedernden Busch zur Seite und ließ uns einigermaßen ratlos, durstig und müde zurück. Mißmutig spannte Razamon seine Skerzaal und legte mit sicherem Griff einen Bol-
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zen in die Führungsrinne ein. Aus dem Dschungel vor uns ertönte ein greller, langgezogener Schrei, der plötzlich abriß. Ich fühlte, wie kalte Schweißtropfen meine Stirn zu bedecken begannen.
3. Er war fast zwei Meter groß, aber er bewegte sich wie ein uralter, von unendlicher Müdigkeit ausgezehrter Mann. Sein Körper war muskulös und athletisch, aber wenn er mit seiner dunklen Stimme sprach, klang es traurig und resignierend. Das harte Gesicht mit den hellblauen Augen wirkte männlich, aber bei starkem Licht konnte man erkennen, daß ein unverkennbarer Zug von Naivität die Augen und die Mundwinkel prägte. Das blonde Haar war kurz, aber es verdeckte einen Teil der Stirn. Der Mund mit den dicken Lippen war breit und leidenschaftlich, aber er vermittelte demjenigen, der den einsamen Mann in seinem weißen Umhang kannte, den Eindruck, daß dieser Mann verdrossen und schlaff war. Schlaff war auch die Haltung des Körpers in dem langen, schlichten Umhang aus weißem Stoff. Balduur tappte durch die unzähligen Räume seines Heims, das mehr einem Museum oder einer schlecht zusammengetragenen Ausstellung glich als jeder Art von Innenraum, der bewohnt wurde. Balduur ging nach vorn gebeugt durch die Passage zweier Mauern, die weiß strahlten und glatt angestrichen, aber an den Kanten abgewetzt und stark verschmutzt waren. Das gesamte Steinheim war innen ein einziges System von Mauern und Mauerwinkeln, von schmalen und breiten Rampen, die von einer Ebene zur anderen hinaufführten. Aber es gab keine einzige Tür, sondern nur offene, eckige Durchlässe. Es war ein verschachteltes Nebeneinander und Übereinander von großen, mittelgroßen, kleinen und kleinsten Kabinen, die voller fremdartiger Gegenstände waren. Aus Öffnungen der Decke, die anscheinend Linsen oder Spiegel enthielten, fielen fächerförmige Streifen
Sonnenlicht in das Steinheim und leuchteten die eckigen Kammern aus. Überall, selbst an den Seiten der Rampen und Treppen, befanden ich Kisten oder Schränke. Es gab viele würfelförmige oder säulenartige Sockel, auf denen Figuren, seltsam verschnörkelte Geräte oder andere Dinge standen, die einmal wie ganz besonders geformte Steine aussahen oder wie Teile erstarrter Tiere oder fremder Wesen, wie Bruchstücke aus dem Innern seltsamer Maschinen oder Aggregate – leblos, stumm und geheimnisvoll. Einige Wände bestanden aus vielen steinernen Fächern, in denen wieder andere Museumsstücke standen oder lagen. Es war absolut keine Übereinstimmung zwischen den einzelnen Stücken. Kugeln und Ringe, Vielecke aus stumpfen und glänzenden Metallen, kleine, unregelmäßig geformte Geräte, die wertvoll und kostbar wirkten, aber keinen sichtbaren Zweck erkennen ließen. Darüber und daneben befanden sich wieder Ausstellungsstücke, die unverkennbar einst lebend gewesen sein mußten. Sie wirkten auf erschreckende Weise nicht wie präparierte Tiere, sondern wie intelligente kleine Wesen. Der Mann blieb zwischen zwei großen, prunkvoll geschnitzten und verzierten Vitrinen stehen und betrachtete niedergeschlagen, ohne sie wirklich mit Interesse zu sehen, die darin enthaltenen Sammlerobjekte. Ein tiefes Seufzen kam aus seiner Kehle. Dann zuckte Balduur zusammen und drehte sich langsam herum. »Ja?« Vom Eingang her kam ein leises, trauriges Winseln. Der Fenriswolf schob sich langsam durch einen breiten Lichtstreifen, in dem Stäubchen flimmernd tanzten. Die runden Pfoten kratzten auf dem weißgelben Stein. »Du bist es, Fenrir«, murmelte Balduur leise. »Komm her, mein Grauer.« Er schlich gebeugt und wie mit gichtigen Gelenken die Rampe hinunter und ging auf den Wolf zu, der heranlief. Das Tier legte
16 seinen Kopf in die zögernd erhobenen Hände Balduurs und knurrte als Laut der Freundschaft. Die Stimme Balduurs war ebenso gebrochen wie sein Verhalten. Die klugen Augen des Tieres hefteten sich auf das gramerfüllte Gesicht des Mannes, der nicht älter schien als dreißig Jahre. »Du weißt doch, daß ich jetzt nicht hinaus kann«, murmelte Balduur und machte eine Bewegung, mit der er Fenrir hinausscheuchen wollte, zurück in das Gebiet der Straße. Der Riesenwolf stimmte ein lautes, forderndes Heulen an, das in ein dumpfes Knurren überging. »Nein!« Eigensinn und Resignation klangen aus der Stimme. Und die Einsicht, wirklich nichts tun zu können. Fenrir knurrte und röchelte voller Tatendurst; aber Balduur schob den Kopf zur Seite und lehnte sich entkräftet gegen eine Mauer. »Geh hinaus! Versuche, sie bis nach Sonnenuntergang festzuhalten! Dann komme ich! Los, verschwinde, mein Grauer!« Winselnd, die Läufe eingeknickt und den langen Schwanz zwischen die Hinterläufe gezogen, schlich der Wolf wieder rückwärts hinaus. Vor dem Ausgang drehte er sich herum und sprang durch den Eingang hinaus in das Muster aus Licht und Schatten des Dschungels vor der senkrechten Kante des Steinheims seines Herrn. Balduur sah Fenrir nach, bis das Tier das Haus verlassen hatte, dann wandte er sich wieder um und ging langsam und kraftlos zu den drei größeren Räumen, die er selbst bewohnte. Er betrat das Schlafgemach. Es roch nach muffigen Stoffen und feuchten Fellen. Der Raum war kühl und dämmerig. Über dem alten, wuchtigen Ledersessel hing die Rüstung des Mannes, an Metallhaken und Knöpfen über dem schwarz gefütterten, hellroten Kampfumhang befestigt. Die Rüstung, bestehend aus Leder, Metallschuppen und metallenen Formteilen mit Haken und Schnallen, zeigte an, daß Baldu-
Hans Kneifel ur zumindest irgendwann ein furchtbarer Kämpfer gewesen sein mußte. Die Metallteile der Rüstung, ob es die Stiefel oder die Beinschienen, die Knieschützer oder die Teile des Brust und Rückenpanzers waren, schimmerten in blauem Hochglanz. Das Licht brach sich an den schuppenartigen Teilen der Armteile und leuchtete auch auf dem dunkelbraunen Leder, das hart wie Eisenholz war. Das Schwert hing am Wehrgehänge auf der einen, der halbgroße, mehrfach eingekerbte Schild mit dem zornigen Adler und Balduurs Zeichen darauf auf der anderen Seite. Alles wurde von dem kantigen Helm gekrönt, aus dem zwei mächtige gelbe Hörner aus der Schläfengegend hervorwuchsen, in wuchtigen Stahlfassungen gehalten. Balduur war der zweitälteste Sohn Odins, und die Blicke, mit denen er die Rüstung und die Waffen betrachtete, waren von einer unergründlichen Trauer. Er wankte weiter in den nächsten Raum. Schon hier konnte er deutlich das Zischen und Brodeln der Anlagen des Schreins hören. Die Bibliothek: An drei Wänden befanden sich fast bis zur Decke wuchtige Regale. In ihnen und auf ihnen lagen und standen die Aufzeichnungen. Es waren Bücher, Schriftrollen aus Papyrus und Pergament und gefaltete Pappen, künstliche Folien, Papiere und dünne Holzblätter, die in vielen Fällen mit dicken Brettern zusammengepreßt und zu Büchern genagelt worden waren. Bekannte und unbekannte, leserliche und unleserlich gewordene Schriften waren auf den Rücken der uralten Folianten zu erkennen. Alle Aufzeichnungen strömten jenen Geruch aus, der kennzeichnend war für ihr hohes Alter, ihre fremdartige Herkunft und die lange Zeit, in der sie bereits hier standen und meist ungelesen warteten, bis jemand die Seiten aufschlug … Auch die andere Einrichtung der Bibliothek schien aus einigen verschiedenen Kulturen zu stammen. Die besten und phantasievollsten Handwerker mußten vor undenkbar
Kämpfer der Nacht langer Zeit oder in verschiedenen Hochkulturen – daran gearbeitet haben. Tische und Sessel, einige Planetengloben und wissenschaftliche Instrumente standen verstaubt da, aber sie ließen ihre Schönheit unter der Staubschicht erkennen. Nur die Tischplatte und die komplizierte Beleuchtung schienen vor kurzem von jemandem gereinigt worden zu sein. Balduur ließ die Tischkante los. Seine Hand hatte Schweißflächen hinterlassen. Der rätselhafte Mann tappte weiter, in den nächsten Raum hinein, und dort blieb er in der Mitte des Raumes stehen und betrachtete den Schrein und die Maschinen, die aufgebaut waren. »Opal! Opal!« flüsterte er. Nackte Seelenqual grub tiefe Linien in sein Gesicht, dessen Nase plötzlich zu spitz und zu klein für die Proportionen wirkte. Er trat so langsam an den Schrein heran, als ob er sich fürchte. Aber er kannte dieses Bild schon seit sehr langer Zeit. Dieses Bild war so alt wie seine inneren Qualen und wie seine melancholische Erschöpfung. Der Schrein war etwa zwei Meter lang, völlig durchsichtig und aus schweren gläsernen Platten zusammengesetzt. Auf einer weißen, leicht eingedrückten Fläche lag Opal, die Augen geschlossen, das rotblonde Haar breitete sich bis hinab zu ihren vollkommenen Hüften aus. Das Gesicht und der Körper der jungen Frau waren von einer märchenhaften Schönheit, deren Existenz in diesem Steinheim jeden überraschen und lähmen mußte. Aber nur Balduur war hier, um sie anzusehen. Opal aus dem Sternenarchipel Zuklaan lag erstarrt wie eine Skulptur in dem Schrein. Die Unterseite der Anlage bestand aus einem schwarzen Metallkasten, in den zahllose Leitungen und Schläuche mündeten. Balduur legte beide Hände auf das Glas, als wolle er hindurchgreifen und den Körper der Frau liebkosen. Die Qualen in seinem Gesicht waren jetzt mehr als deutlich. Bal-
17 duur veränderte sich geradezu unter dem Einfluß dessen, was er dachte und empfand. »Opal! Würdest du doch aufwachen. Dann hätte alles ein Ende.« Sein gequälter Schrei ging im Brodeln, Summen und Zischen der kastenförmigen Anlageteile unter, in denen geheimnisvolles, technisches Leben arbeitete und Dinge verwandelte. Oder waren es Zauberkräfte, die diesen regungslosen Körper davor bewahrten, zu sterben und endgültig zu zerfallen? Balduur schüttelte langsam den Kopf. Seine Augen bohrten sich förmlich in dieses Bild, das er immer und immer wieder ansah. Er wußte, worauf er hoffte: daß plötzlich das Unglaubliche geschah, daß Opal ihre märchenhaften Augen öffnete. Aber jedesmal wurde er aufs neue enttäuscht – Opal lag bewegungslos und unverändert unter dem dicken, luftdicht abschließenden Glas. Er hob die Arme hoch und taumelte rückwärts, bis ein schwerer Sessel ihn auffing. Er fiel in den Sessel hinein und klammerte sich verzweifelt an den Lehnen fest. Der Sessel neigte sich nach hinten und sank tiefer. Balduur verbarg sein Gesicht in den Unterarmen und stöhnte tief. Balduur blieb regungslos liegen und überließ sich seinem Schmerz und seiner Erschöpfung, und die Geräusche der Anlage schafften es mit ihrer Monotonie, ihn ein wenig einzuschläfern.
* Als nach einer unbestimmten Zeitspanne Balduur die Augen öffnete, sah er in die Richtung des offenen Durchgangs. Dort stand Deckenwiezel und wartete stumm und regungslos. Das Sonnenlicht fiel schräger in die Räume; der Abend näherte sich. »Was willst du?« murmelte Balduur und blinzelte. Der Maschinenzwerg, kaum höher als einen Meter, kam geräuschlos näher. Sein Körper, die Gliedmaßen und der Kopf waren eigentlich nichts anderes als stark abgerundete Röhren und Kastenelemente.
18 »Mich haben dir die Herren von Wolterhaven zum Geschenk gemacht, Balduur. Ich soll dir beistehen. Jetzt habe ich das Gefühl, daß du mich brauchst.« Nicht nur die Vorderseite seines Körpers war von Skalen, Uhren und Leuchtanzeigen bedeckt, von aufklappbaren Deckeln, hinter denen Programmierungstasten und Wählhebel zu sehen waren, von Eingabe und Ausgabeschlitzen und Membranen. Von irgendwoher aus diesem Gewirr runder und eckiger Anordnungen kam seine knarrende, aber deutliche Stimme. Sie rief in jedem intelligenten Wesen den Eindruck von fleißiger Gutmütigkeit hervor. In Balduur erwachte ein winziges Quantum von Energie. Dies hing damit zusammen, daß das Tageslicht bald verschwunden sein würde. »Du kannst mir doch nicht helfen«, erwiderte Balduur und stöhnte gequält auf. »Ich will und kann dir helfen!« beharrte der Roboterzwerg und griff in ein Fach an seiner Seite. Dort holte er ein hauchdünnes, durchscheinendes Stück Schnur hervor, das wie ein Gespinst aus Seide oder Spinnenfäden wirkte. Er wickelte es sich um die Finger einer Robothand. »Ich könnte zum Beispiel hinausgehen und Fenrir wieder fesseln.« »Deckenwiezel! Was soll das? Du weißt, daß er mir hilft, Opals Leben zu erhalten.« »Ich würde alles tun, wenn ich dich nur überzeugen könnte, Balduur!« »Du willst nichts anderes, als daß ich Opal töten soll!« Balduurs Stimme war zu schwach, als daß sie hätte zornig klingen können. Deckenwiezel kam näher und spielte mit der lächerlich hauchfeinen Schnur, mit der er Fenrir fesseln wollte. Einige Linsen verstellten sich, ein paar winzige Lämpchen glühten und erloschen. »Seit Pthor in der Galaxis war, in der du Opal kennenlerntest, leidest du!« gab der Robot zurück. »Ich war glücklich mir ihr. Ich liebte sie. Und ich liebe sie noch heute!« Deckenwiezel stieß ein besorgtes Sum-
Hans Kneifel men aus. »Und in deiner Liebe, in der blinden Vernarrtheit, hast du alle Warnungen in den Wind der Zeit geschlagen.« »Sie wird aufwachen. Wir werden uns wieder lieben.« »Sicher«, summte Deckenwiezel beschwichtigend, »wenn Pthor wieder zwischen den Sternen von Zuklaan erscheint auf seinem unordentlichen, unlogischen Weg.« »Das kann bald sein!« »Oder erst in einer kleinen Ewigkeit«, beharrte der Robot. »Das ist für dich und für mich nicht die eigentliche Frage. Der Sohn des Odin wurde wider Willen zum Wegelagerer aus Leidenschaft und Narrheit. Und er läßt einen Wolf für sich jagen, jener Mann, dessen herrliche Rüstung zu rosten beginnt. Ich werde hinausgehen und Fenrir fesseln.« »Du kannst es mir nicht antun, Deckenwiezel! Sie muß am Leben bleiben!« Deckenwiezel kam um den Sessel herum und neigte sich über Balduur. Mit seiner sympathisch knarrenden Robotstimme sagte er: »Sobald Pthor die Sterne von Zuklaan verlassen hatte, verfiel deine schöne Geliebte in diese Starre. Wir mußten sie an das Überlebenssystem anschließen. Aber das ist nicht der Punkt, der meine Logik und meine moralischen Schaltungen stört. Es ist deine Sache. Daß sie erstens dir einen Großteil deiner eigenen Lebensenergie aus dem Körper gezogen hat, ist etwas, das meinen Maximen entgegensteht. Ich darf nicht zulassen, daß du leidest und nur in der nächtlichen Dunkelheit handlungsfähig bist. Und ich darf nicht zulassen, daß harmlose Wanderer gefangen und hierher geschleppt werden, um ihre Körperaura für deine Leidenschaft zu opfern. Schalte das System ab, und du wirst sehen, daß alles wieder so sein wird wie in alten Zeiten.« Eine Weile lang herrschte Schweigen, dann erwiderte Balduur schwach und leise: »Auf deine Weise hast du recht, Deckenwiezel.«
Kämpfer der Nacht »Dann werde ich also hinausgehen und Fenrir an die Fessel legen. Er hat zwei neue Opfer gefunden. Aber sie sehen nicht danach aus, als ob sie sich gern opfern lassen werden.« »Nein!« rief Balduur klagend. Er hatte fast viel zu spät erst selbst gemerkt, wie er verfiel, ohne sichtbar zu altern. Den Grund fand er auch erst heraus, als er sich kaum mehr bewegen konnte. Opal sog die paraphysischen Ids seiner Körperaura in sich ein, um zu überleben – um nicht zu zerfallen, um wenigstens den totenstarreartigen Tiefstschlaf aufrechtzuerhalten. Etwas in ihr lebte noch und griff geheimnisvoll hinaus zu den wirklichen Lebenden, verstärkt durch die zischende und brodelnde Apparatur, leitete deren Energie in sich selbst ein und erwachte dennoch nicht. Nach dieser Erkenntnis schleppte sich Balduur hinaus, fing zwei Kaufleute und opferte sie dem Überlebenssystem. Daraufhin und solchermaßen gesättigt, wartete Opal in langen Zwischenräumen auf weitere Opfer und ließ ihn selbst in Ruhe. Er erholte sich kaum, doch er verfiel nicht mehr weiter. Am Tag konnte er sich nur innerhalb der lichtgeschützten Zone seines Steinheims bewegen. »Oder willst du in der Nacht wirklich hinausgehen und die Opfer freilassen?« fragte der Robotzwerg abschätzend. »Freilassen …? Nein!« »Dann werde ich es am Tag tun, Balduur. Ich bin da, um dir zu helfen. Natürlich gehen unsere Meinungen darüber weit auseinander. Aber ich als Geschöpf der Herren von Wolterhaven weiß, daß ich recht habe.« »Ich jage die Helfer ja nicht, Fenrir tut es.« »Eine Ausrede, deren Wahrheitsgehalt lächerlich gering ist«, gab die Maschine knarrend zurück. »Fenrir wird sie heute nach Sonnenuntergang bringen. Ich werde ihm helfen. Dann ist wieder für lange Zeit alles so, wie es harmonisch ist.« »Das ist eine Feststellung, deren optimi-
19 stische Grundhaltung von einer gänzlich falschen Prämisse ausgeht«, widersprach der Robotzwerg. »Ich habe dir beizustehen. Ich kann nichts anderes. Meine Systeme sind durch großzügige Auslegung bereits überbeansprucht.« »Was willst du mir als Ausweg anbieten?« stöhnte Balduur. Jetzt erschöpfte ihn die Anstrengung dieses Dialogs. »Lasse die beiden nächsten Opfer frei, Balduur!« »Damit bringe ich Opal um und töte meine einzige, wahre Liebe.« »Dann müssen wir andere Wege finden, um Opal zu retten. Vielleicht einen Vertreter der Horden der Nacht. Wenn seine Körperaura in Opal einfließt, wird der Schock sie erwecken. Dann brauchst du nicht mehr auf das Wunder des zufälligen Zusammentreffens mit Zuklaans Sternen zu hoffen.« »Nein! Ich verbiete dir alles, was Opal gefährden würde, Deckenwiezel!« Mürrisch versicherte der Zwergroboter: »Ich habe verstanden. Aber ich kann nicht billigen, was du mir befiehlst. Keinesfalls. Sicherlich ist ein Ausweg möglich.« Er drehte sich herum und verließ mit flinken Schritten den Raum. Als er ging, spielte er wie in tiefem Nachdenken mit dem dünnen Fesselfaden, mit dem er Fenrir an die Leine legen wollte. Kurz bevor er in die Nähe des Ausgangs kam, zögerte Deckenwiezel und rief etwas in die Räume hinter sich. Aber Balduur, viel zu erschöpft, hörte und verstand den Satz nicht mehr.
4. Razamon sprang auf und schrie: »Beim verdammten Gebein der YuughKatze! Ich halte es nicht mehr aus. Ich werde verrückt! Ich merke es!« Er starrte mich aus seinen Augenhöhlen an, in denen sich schauerliche schwarze Erscheinungen abspielten. Dann zog er sein Messer, steckte es hinter den Gürtel und hob die Skerzaal. »Was hast du vor?« fragte ich und blieb
20 sitzen, blickte aber an seiner Hüfte vorbei auf den Wolf, der uns seit Stunden bewachte. Wir saßen zwar im Schatten eines Busches, aber es war heiß, unbequem und langweilig. Fenrir sprang auf die Füße und zog sich in Sprungentfernung zurück. Die weißen Zähne in seinem Rachen funkelten. Tief aus der Kehle des Tieres kam ein drohendes Grollen. »Ich greife ihn an. Wir müssen endlich weiter nach Wolterhaven. Zuerst habe ich ja auch gedacht, daß wir hier jemandem helfen müssen. Aber wenn er verletzt war, so ist er inzwischen längst gestorben.« Vorsicht. Der Wolf bewacht euch nicht grundlos, warnte der Extrasinn. Ich wischte den Schweiß von meiner Stirn, schlug nach einigen Fluginsekten und entgegnete: »Du hast mit jedem Wort recht, Razamon. Ich empfinde genau dasselbe wie du. Aber ich sage dir, daß der Wolf letzten Endes stärker ist als wir beide.« Er wandte sich halb zu mir herum. Im selben Moment sprang Fenrir wie ein Schemen durch die Luft, seine Kiefer schnappten zu und rissen die Waffe aus der Hand Razamons. Gleichzeitig rammten Brust und Schulter des Riesenwolfs den Körper des Atlanters und schleuderten ihn in meine Arme. Fenrir sprang weiter, an uns vorbei und hinaus in die Wüste. Neben einem auffallenden Busch legte er die noch immer gespannte Waffe nieder, schien uns mit seinem wölfischhöhnischen Grinsen zu verspotten und trottete ruhig näher. Dicht vor uns legte er sich wieder in den Sand und knurrte unentwegt. Seine lodernden Augen kontrollierten jede unserer Bewegungen. Razamon stieß einen Schwall fürchterliche Flüche in Pthora und in Terranisch hervor. Ich hörte aufmerksam zu; sie waren zumeist völlig neu für mich. Dann mußte ich grinsen und sagte: »Wir können noch einige solcher Versuche unternehmen, mein Freund. Sie gehen alle so oder ähnlich aus.«
Hans Kneifel Ohne daß wir uns bewegten, reagierte der Wolf, noch während Razamon fluchte. Das Tier stand auf und blickte zwischen uns hindurch und in die Richtung des dichteren Dschungelteils. Dort bewegten sich raschelnd die Zweige. Jemand, der sich nicht verbergen wollte, kam sorglos und schnell auf uns zu. »Und schon«, bemerkte ich, ohne meine Befürchtungen zu zeigen, »ändert sich die Szene wieder! Die nächste Überraschung.« Unsere Schatten waren lang geworden. Das Grün des Dschungels, der vermutlich hier nicht selbst gewachsen war, sondern vor langer Zeit eingepflanzt wurde, wurde dunkler. Aber noch immer herrschte die mitleidslose Hitze des Tages, und das Silberband der Straße strahlte in blendendem Licht. Die raschelnden Büsche teilten sich, und eine verblüffende Gestalt schob sich zwischen Zweigen und sumpfig riechenden Blüten hervor. »Was soll das sein?« rief Razamon und griff wieder nach seinem Messer. Der Wolf begann furchtbar zu knurren. Ich drehte mich nach ihm um; er stand mit gespreizten Beinen und gesträubtem Fell da. »Das sieht wie ein Roboter aus«, erklärte ich. »Wie ein sehr altertümlicher, aber offensichtlich sehr gut entwickelter kleiner Robot.« Ich dachte kurz an Rico, der noch immer in meiner unterseeischen Kuppel am Rand des alten, an den Planeten gebundenen Inselkontinents Atlantis wachte, nordnordöstlich von Pthor. Und dann mußte ich schmerzhaft an Irsthya denken, die mich verlassen hatte und den Tod fand, den man mir zugedacht hatte. Der Robot war etwa einen Meter hoch. Er sah wie ein hochentwickeltes Spielzeug aus, aber ich hatte den Eindruck, daß er eine ausgezeichnete Maschine sei. Er bestand aus ineinandergefügten Röhren und Kästen, deren Ecken stark gerundet waren. Zahllose Fächer, Bedienungselemente und Kontrollinstrumente befanden sich auf dem Vorderteil seines Körpers. Die Konstruktion war goldfarben lackiert oder emailliert, und die farb-
Kämpfer der Nacht lich genau abgegrenzten Flächen auf seinem Vorderteil bildeten einen verwirrenden Eindruck. Mit einer lauten, knarrenden Stimme sagte er in einwandfrei betontem Pthora: »Ich bin Deckenwiezel. Ihr seid die Opfer.« »Fasse mich an, und ich werde dich auseinandernehmen«, drohte Razamon. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Ich bin nicht aus Balduurs Heim herausgekommen, um ihm oder Fenrir zu schaden. Trotzdem nütze ich euch dadurch«, erklärte der Robotzwerg selbstsicher. Ich mußte an einen untersetzten, kleinen Arbeiter denken, wenn ich ihn sah und hörte. Irgendwie strahlte er, während er heranstapfte, Behendigkeit und eine merkwürdige Art von Sympathie aus. Die Anordnung von Linsen, Einfassungen und Montagerillen in seinem Kopfbereich ließ sein Gesicht in einem Lächeln erstarren. Lichtreflexe taten ein übriges. Wider Willen mußte ich breit grinsen und erwiderte: »Du würdest uns am meisten nützen, wenn du auf unsere Fragen antwortest, Deckenwiezel.« »Alles zu seiner Zeit«, knurrte er und nahm zielstrebig Kurs auf Fenrir, der angriffslustig dastand und die Zähne fletschte. Wieder erschienen auf der langen Nase des Riesenwolfs die tiefen Längskerben; ein Zeichen äußerster Wut. »Wichtige Vorhaben werden durch müßiges Plaudern nur sabotiert.« »Wenn ich mich doch nur erinnern könnte …!« stöhnte Razamon voller Verzweiflung. Er packte meine Schulter, als wir beide gleichzeitig sahen, daß der Robot mit der rechten Hand einige Schlingen einer hauchdünnen Schnur von den Fingern der Linken abwickelte. Die Schnur war so dünn und durchscheinend, daß nur die Sonnenstrahlen und irgendwelche silbernen Körnchen im Gewebe sie sichtbar machten. »Sieh! Da! Er geht auf Fenrir los! Unglaublich … er wird ihn auseinanderreißen«, flüsterte Razamon gebannt. »Es ist nicht unser Kampf. Beherrsche
21 dich, Freund!« warnte ich und zwang mich selbst zur Ruhe. Der Griff des Freundes schmerzte in meiner Schulter, aber vor Erregung merkte ich den Schmerz nicht, und Razamon entging, daß er so fest zugriff. Der Robot wirbelte die Schlingen in seiner rechten Hand wie ein Miniaturlasso. Er ging schnell auf Fenrir zu und wartete auf den Angriff. Der Fenriswolf blieb mit zitternden Läufen stehen und knurrte. Aus seiner Kehle drang ein tiefes Grollen, jedes einzelne Haar des grauen Felles stand gesträubt da, der Schwanz war gestreckt wie eine Standarte. Dann griff Fenrir mit überraschender Plötzlichkeit an. Er drehte den Kopf und riß den Rachen auf. Die technisch gesteuerten Reflexe der kleinen, zierlichen Maschine waren schneller. Ehe die nadelfeinen Reißzähne den Körper des Kleinen erreichten, sprang er schräg vorwärts, tauchte unter Hals und Brust des Tieres hindurch und schleuderte sein dünnes Seil in die Richtung der Vorderbeine. Plötzlich schien diese Fessel zu leben. Mitten in dem Angriffssatz strauchelte Fenrir, wuchtete sich wieder hoch und schnappte, sich rasend schnell herumdrehend, nach Deckenwiezel. Sandfontänen flogen an mehreren Stellen in die Höhe und überschütteten die beiden Kämpfer. Razamon und ich sahen fasziniert diesem eigentümlichen Kampf zu. Über dieser Überraschung vergaßen wir einige Sekunden lang die eigentlich verblüffende Wahrheit: Ein Robotzwerg kam aus »Balduurs Heim« und versuchte, den Wolf zu fesseln, der uns hierher geführt hatte. Wieder schnappte Fenrir ins Leere. Das laute Geräusch der aufeinanderschlagenden Kiefer trieb uns kalte Schauer über den Rücken. Aber Deckenwiezel war nicht mehr dort, wo Fenrir ihn gesehen hatte. Die Arme der Maschine wirbelten herum. Wir sahen die kreisenden Schlingen des dünnen Seiles, das plötzlich zu leben schien wie eine magische Schlange. Mit einem Arm riß Deckenwiezel an seiner Fessel, die sich daraufhin eng um
22 die zusammengerissenen Vorderbeine legte und den Wolf abermals umwarf. Die nächsten Schlingen wanden sich um die Hinterläufe, die wild um sich schlugen. Der Robotzwerg sprang hin und her, machte einen Satz über den Körper des Fenriswolfs hinweg und zerrte und riß noch immer an der Fessel. Die beiden Beinpaare waren an mehreren Stellen umschlungen und fest aneinander gefesselt. Der Roboter sprang aus der Sandwolke hervor und zog die kaum sichtbare Fessel hinter sich her. Die Beinpaare wurden mit brutaler Gewalt zusammengeschlossen. Der Wolf stieß ein irres Heulen aus, Furcht, Haß und unheimliche Wut klangen aus diesem Schrei. Dann vollendete Deckenwiezel seinen schnellen, sprunghaften Kampf und wickelte seine Schnur mehrmals um den Hals des Fenriswolfs. Er schlang einen einfachen, sich selbst zuziehenden Knoten in die Fessel zwischen den vier Läufen. Dann breitete er die Arme aus und verschwendete keine Sekunde mehr an den Wolf, der nur noch seinen Rücken krümmen und den Hals senken konnte. Razamon löste seinen Griff und stieß die Luft aus. »Das war unglaublich. Das war absolut das Verrückteste, das ich jemals gesehen habe!« »Es gibt mysteriösere Vorfälle«, schränkte ich ein. »Aber du solltest besser deine Skerzaal holen.« Der Roboterzwerg kam schnell auf uns zu und erklärte mit seiner rauhen, rasselnden Stimme: »Fenrir ist für die nächste Zeit neutralisiert. Ich denke, ihr habt viele Fragen? Das unwahrscheinliche Ereignis verliert an Witz, wenn es zur Gewohnheit wird.« »Es ist für dich Gewohnheit?« fragte ich heiser. Einige Nadeln schlugen aus, Zeiger zuckten über Zifferblätter mit undefinierbaren Symbolen. »Mehr oder minder. Ihr solltet die Beine unter die Arme nehmen. Bald geht die Son-
Hans Kneifel ne unter.« »Das wissen wir. Warum hat uns der Wolf hierher gebracht?« stieß Razamon hervor. »Ihr seid durch Fenrir in eine bestimmte Gefährdung gebracht worden. Je schneller ihr Wolterhaven erreicht, desto sicherer seid ihr vor Balduur.« »Er kann nicht nach Wolterhaven?« »Aus bestimmten Gründen, die mit dem Einfluß des Sonnenlichts zusammenhängen, ist ihm dies verwehrt«, erklärte Deckenwiezel ruhig. »Ihr solltet eure Chance nutzen.« Razamon warf mir einen Blick zu, warf sich herum und spurtete hinaus in die Wüste. Dort fand er neben dem charakteristischen Busch seine Skerzaal und kam schnell mit der Waffe zurück. »Warum hast du Fenrir gefesselt?« »Um Balduur zu zwingen, sich selbst zu helfen. Ich bin dazu da, um ihm zu nutzen.« »Und was haben wir in diesem Spiel zu tun?« »Ihr seid als Opfer ausgesucht worden, vom Zufall freilich, der Fenrir in eure Richtung brachte.« »Und nun sollen wir flüchten?« schrie Razamon aufgebracht. »Mitten in die eiskalte Nacht hinaus?« »Ihr könnt euch entscheiden zwischen leichtem Frösteln, was Unbehagen bedeutet, und dem sicheren Tod, einer Entwicklung, die endgültig ist.« »In diesem Fall wählen wir das Unbehagliche!« entschied ich für mich und hob die Satteltaschen und das übrige Zeug auf. »Ich schließe mich dir an, Atlan!« meinte Razamon entschlossen und machte sich kopfschüttelnd an die gleiche Arbeit. Deckenwiezel rief uns zu: »Je schneller ihr die Stadt erreicht, desto sicherer überlebt ihr. Denn Balduur ist nachts ein furchtbarer Kämpfer.« Wir waren fertig, aber wir hatten keine Gelegenheit gefunden gehabt, etwas zu essen. In der Nacht würde uns der Hunger überfallen. Wir wandten uns nach Südwesten und sahen im roten Licht der sinkenden
Kämpfer der Nacht Sonne die Straße der Mächtigen am Horizont verschwinden. »Am Tag kämpft er nicht?« rief Razamon über die Schulter zurück. »Ich darf ihm nicht schaden; jeder Kommentar würde euren Vorteil in seinen Nachteil verwandeln. Jedoch ist äußerste Eile geboten. Lauft!« Ich warf einen letzten Blick auf den Dschungel vor dem Eingang zu Balduurs Heim. Der Fenriswolf versuchte knurrend und winselnd, sich von den Fesseln zu befreien. Ich beschleunigte meine Schritte. Die dritte Fessel aus der Fenrir-Legende, flüsterte der Logiksektor. Während wir am Rand der Straße in Richtung auf Wolterhaven davoneilten, dachte ich darüber nach, was ich gesehen und erfahren hatte. Alle Geschehnisse waren verblüffend und unlogisch, aber sie charakterisierten deutlich die gänzlich schwer verstehbare Fremdartigkeit von Atlantis oder Pthor, dem Materiebrocken, der durch Zeit und Raum reiste. »Razamon! Hast du gesehen, von welch einer haarfeinen Fessel Fenrir festgehalten wird? Erinnerst du dich, was ich dir aus der Legende erzählt habe?« Unsere schnellen Schritte knirschten im Sand oder erzeugten tappende Geräusche auf dem Metall. Staub wallte auf, unsere Fußspuren waren deutlich zu erkennen. Balduur würde es einigermaßen leicht haben, wenn er uns in der Nacht verfolgte. »Du meinst die Fessel, die von den Zwergen und den Schwarzelfen gewebt worden ist?« »Ja. Aus Katzentrittschall, Weiberbart, Fischstimmen und Vogelspeichel. Das Seil, das Deckenwiezel verwendete, war hauchdünn und durchsichtig. Es scheint eine verblüffende Parallele zu sein.« »Fast alles ist auf Pthor verblüffend, bei rechtem Licht betrachtet.« »So ist es.« Wir wußten nicht genau, wovor wir eigentlich flohen, aber eine unergründliche Furcht hatte uns erfaßt. Wir folgten dem
23 Lauf der Metallbahn. Die Sonne berührte jetzt den Horizont und wurde zu einem lodernden, dunkelroten Feuerball, von dem lange Strahlenbündel den dunkelnden Himmel diesseits des Wölbmantels berührten. Oder war es der Eindruck, der jenseits dieser Barriere hervorgerufen wurde? Es kümmerte uns nicht, als wir versuchten, einem drohenden Schicksal zu entkommen. Langsam verging die Hitze des Tages; wir begannen Hunger und, noch stärker, Durst zu spüren. Keiner von uns beiden sprach. Wir dachten an die Schrecken, die hinter uns lagen – und an diejenigen, die hinter dem Horizont im Südwesten auf uns lauerten.
5. Der lodernd rote Lichtfleck badete einen drei Handbreit hohen Kopf in düstere Helligkeit. Der Kopf starrte aus drei großen Augen mit Schlitzpupillen aus dem Fach einer Vitrine heraus und schien jede Bewegung Balduurs genau zu verfolgen. Noch lag das glühende Licht auf dem Scheitel des seltsamen Kopfes mit seinem grausamen Ausdruck, aber schon schwand die Helligkeit. Der letzte Sonnenstrahl ließ noch einmal die Augen aufstrahlen, brach sich in den breiten Metallstreifen, die in die Haut eingelassen waren, flimmerten auf den Kristallen, die aus den Poren des Antlitzes wucherten. Der Schädel war konserviert, aber die unmittelbare Wildheit, die aus diesem toten Gegenstand sprach, war eindrucksvoll und lebendig. Je mehr das Licht abnahm, desto mehr konzentrierte sich die restliche Helligkeit auf die drei Augen, die in einer Reihe angeordnet waren. Balduur hing erschöpft in seinem Sessel, aber seine Finger bewegten sich unruhig. Die letzte Sekunde des Abends näherte sich schnell. »Opal. Alles geschieht deinetwegen«, flüsterte Balduur und fühlte, wie frische Luft seine Lungen füllte. Es war eine Illusion, aber dieselben falschen Gefühle erfüllten ihn jeden Abend.
24 Als Balduur seine Augen wieder öffnete, sah er vor sich nur noch undeutlich Kanten und Schatten. Die Sonne war endlich untergegangen. Einige Augenblicke später schaltete sich die künstliche Beleuchtung ein. Sämtliche Räume, Kammern und Rampen des langgezogenen Steinheims wurden von einer verwirrenden Vielfalt von gebündelten oder weit gefächerten hellen Strahlen ausgeleuchtet. Es war, als ob jeder einzelne Lichtstrahl reinste Nahrung war, eine Kraft, die den kräftig scheinenden Körper durchdrang und innerhalb weniger Augenblicke reagieren ließ. Balduur stöhnte in einem wohligen Schauer auf. Seine Muskeln schwollen an, sein Brustkorb dehnte sich, die Knie verwandelten sich in mächtige Gelenke. Die Hände öffneten und schlossen sich wie in einem Kampf. »Ich spüre die Veränderung!« rief Balduur. Auch seine Stimme, die durch das System von Rechtecken hallte, war kräftig geworden und entsprach dem Aussehen des Körpers. Balduur stand auf, schob den Sessel mit einer nebensächlichen Bewegung zurück und warf einen langen Blick auf den wunderschönen Frauenkörper, der wie immer regungslos unter den Scheiben des Schreins lag. »Die Rüstung! Ich erfühle die Kraft! Sie durchschauert mich …« Balduur eilte mit schnellen, kräftigen Schritten in seinen Schlafraum. Von allen Seiten drangen die Strahlenbündel der Kunstlichter auf ihn ein. Er streifte den weißen Umhang mit einigen flüchtigen Bewegungen ab und nahm die einzelnen Teile der Rüstung von den Haken und aus den Schlaufen. Schnell und mit sicheren Griffen legte er die Rüstung an, befestigte die Schnallen und Haken, spannte das riesige Gurtschloß und hob dann den Helm herunter. Die langen Hörner verwandelten sich im Kunstlicht in goldgelbe Waffen. Das Schwert schlug gegen die Knie und erzeugte krachende Geräusche an den Stahlbändern und den kugelförmig gekrümmten Schutz-
Hans Kneifel elementen. Klappernd schlug der Panzerhandschuh gegen die Innenseite des Schildes. Je mehr Zeit verging, desto mehr verwandelte sich der kraftlose und erschöpfte Mann in einen Kämpfer, aus dessen Bewegungen Kraft und Entschlossenheit sprachen. Je dunkler es draußen über der Wüste wurde, desto mehr verschwand von diesem Körper unter dem harten Leder und dem blauschimmernden Stahl. Schließlich verdeckte der Helm den Kopf; die Gesichtszüge hinter dem gezackten Augengitter waren hart und scharf geworden. Balduur streifte den zweiten Handschuh über und befestigte den wallenden Umhang an seinen Schultern. Dann stapfte er waffenklirrend und mit wuchtigen Schritten aus dem Schlafraum hinaus und zum Zentralgang. Ohne Aufenthalt ging der Kämpfer die Rampen aufwärts und über Stufen abwärts und blieb im Eingang stehen. Kühle Nachtluft, der Geruch der Pflanzen, die er vor vielen Jahren hierher gebracht und eingepflanzt hatte, der Odem, der aus dem hellen Sand aufstieg – auch diese Gerüche nach Empfindungen waren unsichtbare Kräfte, die ihn durchdrangen. Er brach durch den verfilzten Dschungel und rannte den ausgetretenen, schmalen Pfad entlang. »Wo sind die Wanderer? Ich werde sie finden, wo immer sie sich versteckt halten!« murmelte er, als er das Winseln des Wolfes von links hörte. Der Glanz der Sterne lag auf dem breiten Band der Straße. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich schnell um. Das Ziergehörn seines Helmes drehte sich hin und her. »Fenrir? Wo bist du, mein treuer Grauer?« rief Balduur. Seine Stimme klang wie die eines wütenden Bullen. Sofort antwortete das Riesentier mit einem kläglichen Heulen. Balduur erkannte die tiefen Spuren im Sand, die von einem verbissenen Kampf zeugten. Er lief schnell zu der Stelle, an der er den grauen Körper sah, der gegen die Fesseln kämpfte. »Wo sind die zwei Wanderer, die du bewachen solltest?« rief Balduur. Der Wolf
Kämpfer der Nacht knurrte und verdoppelte die Anstrengungen, aber die Fesseln hielten. Balduur packte die Schwertscheide und riß die Waffe heraus. Dann versuchte Balduur, die Fessel des Zwergrobots zu durchschneiden. Er wagte es nicht, mit dem Schwert zuzuschlagen, denn er fürchtete, er könne Fenrir verletzen. Aber die Fessel schien der Schneide und der Schwertspitze auszuweichen. Wütend schnitt und zerrte Balduur an dem dünnen Gespinst, das er im Sternenlicht erkannte. »Sie sind geflüchtet, nicht wahr? Deckenwiezel hat dich gefesselt. Nichts anderes ist möglich, Grauer!« keuchte Balduur. Er rammte das nutzlose Schwert in den Sand, warf den Schild daneben und kauerte sich nieder. Seine Finger versuchten, die Knoten der Fessel aufzuziehen. Mit großen Augen und mühevoll herumgedrehten Kopf sah Fenrir seinen vergeblichen Bemühungen zu. Immer wieder rutschten die ledernen Fingerlinge ab, die Stahlplättchen schlugen aufeinander. Die Knoten schienen sich zu straffen und zwischen den Fingern fortzugleiten oder sich zu drehen. »Verdammter Deckenwiezel! Wo ist dieser verräterische Metallzwerg?« schrie Balduur wütend auf. Er packte die feinen Stricke und riß mit beiden Fäusten daran, versuchte sie auseinanderzureißen. Sie dehnten sich nur ein wenig, aber sie rissen nicht. Der Wolf wimmerte und knurrte röchelnd. Immer wieder bäumte er sich auf und schnappte nach den eigenen Tatzen und nach Balduurs Fingern. Balduur stand wieder auf und packte sein Schwert. Er holte mit der Rechten aus und griff mit der anderen Hand die gefesselten Hinterläufe. Das Schwert zuckte sausend herunter und traf genau die Mitte zwischen den beiden Beinpaaren. Die Schneide grub sich tief in den Sand, traf die Fessel und riß beide Beinpaare zusammen. Aber als Balduur fluchend das Schwert wieder aus dem Sand herausriß, mußte er kennen, daß auch er die Fessel des Zwergrobots nicht zerreißen konnte. »Ich kann dir nicht helfen, mein Grauer«,
25 sagte er traurig und stieß das Schwert zurück in die Scheide. »Aber wenn ich Deckenwiezel sehe, werde ich ihn bestrafen.« Der Wolf heulte laut. »Aber dein Kampf mit dem Sturm war nicht umsonst. Ich sehe die Spuren. Ich renne den Wanderern nach und werde sie einholen. Dann wird Opal wieder weiterleben können …« Balduur sprang zur Seite und ergriff den Schild, steckte den Unterarm durch die Griffe und sah hinauf zu den Sternen. Dann holte er tief Atem. Die kalte Luft erfüllte ihn mit brausender, wilder Kraft. Er begann zu laufen und rannte auf der Straße der Mächtigen den Spuren nach, die er im Sand und im Staub deutlich erkannte. Die Wanderer flüchteten nach Wolterhaven, aber sie hatten keine Chance, ihm zu entkommen. Er begann zu rennen und freute sich über die klirrenden und krachenden Geräusche, die Rüstung und Waffen erzeugten. Jeder Schritt brachte ihn den Wanderern näher, jenen Unglücklichen, die für Opals Existenz geopfert werden mußten. Opal brauchte ihre Körperaura. Er brauchte die Hoffnung, daß Opal aufwachen und sich ihre Liebe erfüllen würde. Dafür würde er alles tun. Er würde kämpfen und die beiden Männer zurückschleppen in sein Museum und in die Apparate, aus denen Opal ihr steinernes Leben erhielt. Der Wolf hörte Balduur noch lange auf der stählernen Straße der Mächtigen rennen. Es war, als ob sich eine mächtige Maschine krachend und stoßend davonbewegte, dem schwarzen Horizont zu. Dort verschmolz die helle, gewellte Fläche der kargen Wüste mit den starren Lichtpunkten der Sterne. Fenrir stieß ein langes Heulen aus. Es war die traurige Klage, die sämtliche Tiere der Nacht erstarren und dann vor Furcht zittern ließ.
6. Obwohl es kalt und kälter wurde, badete die Anstrengung der Flucht unsere Körper in
26 Schweiß. Nach allem, was wir wußten, war Wolterhaven von jenem Punkt aus, an dem wir, aus dem Blutdschungel kommend, in den Sturm geraten waren, noch fünf Stunden Marsch entfernt. Wir rechneten damit, noch vier Stunden zu brauchen, wenn wir so weiterrannten wie bisher. »Es ist eine verdammte Kälte. Ich sehne mich nach einem Feuer und einem Essen«, rief Razamon stoßweise. Seine Stimme hatte einen gepreßten, bösen Beiklang. »Sehne dich lieber nach dem Stadttor von Wolterhaven«, rief ich zurück. Wir liefen mit langen Schritten nebeneinander. Unsere Ausrüstung schien von Schritt zu Schritt schwerer zu werden. »Wonach ich mich sicher nicht sehne«, rief Razamon und sah sich um, obwohl er genau wußte, daß die Dunkelheit und das geringe Licht der Sterne kaum etwas erkennen lassen würden, »ist dieser Balduur.« »Wir kennen ihn nicht. Es kann ein schwächlicher Zwerg mit einem stumpfen Messer sein«, gab ich zu bedenken. Wir rannten durch den festen, von Grasbüscheln durchsetzten Sand neben dem Metallband. »Jemand, der einen solchen Riesenwolf besitzt und dazu einen wunderbaren Roboterzwerg, kann unmöglich ein kränkelnder Jüngling sein!« schränkte Razamon ein. Jetzt war ich es, der sich umblickte – aber auch ich hörte und sah keinen Verfolger. Noch immer tauchten die Lichter von Wolterhaven nicht vor uns auf. Die Straße, die im Sternenlicht glänzte, bildete eine breite Linie, die sich perspektivisch zum Horizont hin bis zu einem dünnen Faden verkleinerte. »Ich glaube, du hast recht«, antwortete ich. Wir sahen etwa eine halbe Stunde später, wie sich Rauhreif an den Gräsern niederzuschlagen und wuchernde Kristalle zu bilden begann. Die Atemluft wehte in weißen Wolken von unseren Mündern. Die kalte Nachtluft begann an den Händen und in den Gesichtern zu stechen und zu prickeln. Wir ver-
Hans Kneifel suchten, unsere Geschwindigkeit zu halten. Immer wieder sahen wir zurück, aber konnten keinen Verfolger erkennen. Aber ebenso wenig sahen wir Lichter am Horizont, die uns sagten, daß Wolterhaven hinter der nächsten Düne auftauchen würde. Über uns standen starr und blinkend die Sterne Terras in den vertrauten Formationen und Sternbildern. Wir waren trainiert und kräftig, aber allmählich machten sich die Strapazen Zeit bemerkbar. Noch hielten wir das Schrittmaß ein, aber das Keuchen wurde immer lauter. Schließlich fiel ich in Schrittempo zurück und stieß hervor: »Langsamer. Ich brauche etwas Erholung.« »Schon gut.« Bildete ich es mir ein, oder erkannte ich von hier ganz schwach im Sternenlicht die höchsten Gipfel der Großen Barriere von Oth? Ich blickte aus schmerzenden Augen hinüber nach Süden, aber die Erscheinung verging, wie sie gekommen war. Nur langsam beruhigte sich mein rasender Pulsschlag, nach und nach hörten wir auf zu keuchen und spürten die Kälte um so deutlicher. Erinnerungen und Vorstellungen begannen mich zu belästigen und riefen mir die Lage ins Bewußtsein, in der wir uns befanden. Trotz der Skerzaals, deren Geschosse für gute Schützen wie wir tödliche Werkzeuge darstellten, waren wir so schlecht bewaffnet und ausgerüstet, daß wir den ersten Überfall nicht überleben würden. Das wußten wir, aber wir sprachen nicht darüber. Wir gingen so lange in diesem Trott weiter, bis wir zu frösteln anfingen, sich unsere Körper aber beruhigt hatten. Dann stieß Razamon hervor: »Weiter, Atlan!« »Hoffentlich überlebe ich diese Nacht.« Wir fluchten innerlich und fingen wieder zu laufen an. Als ich mich diesmal umsah, bemerkte ich deutlich unsere Spuren im Sand und auf der Straße der Mächtigen. Sie sahen wie scharf eingestanzte Löcher aus. Ich hörte ein metallisch wirkendes Geräusch aus weiter Ferne, aber als ich kurz stehen-
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blieb, um meine Beobachtung nachzuprüfen, hörte ich nichts mehr. »Nur eine Grille …«, murmelte ich und rannte Razamon nach, der mit der Regelmäßigkeit einer Maschine weiterlief, auf das unsichtbare Wolterhaven zu.
* In dem Augenblick, als wir den vorläufig höchsten Punkt des breiten Metallbandes erreicht hatten, hörte ich dieses verdammte Geräusch wieder. Diesmal war es härter und deutlicher. Es kam aus der Richtung von Balduurs Steinheim. Die Straße der Mächtigen schnitt jetzt durch einen niedrigen Hügel, aber selbst die geringe Steigung verschaffte uns einen ziemlich guten Überblick. Razamon griff nach meinem Oberarm und sagte aufgeregt: »Dort sind die Lichter der Stadt. Es muß Wolterhaven sein, Atlan.« Ich nickte ihm zu, schlug die eine Hälfte des Fellkragens der Jacke wieder hoch und deutete hügelabwärts. »Und dort kommt jemand, laut und in großer Geschwindigkeit.« »Tatsächlich. Ich höre es auch!« Angestrengt lauschend hielten wir den Atem an und blickten dorthin, wo wir selbst noch vor einer halben Stunde gerannt waren. Wut und Enttäuschung ergriffen mich. Noch eine Stunde, und wir wären gerettet gewesen, weil wir unser Ziel erreicht hätten. Wenn es Balduur war, der uns verfolgte, so schien er alles andere als ein kränkelnder Jüngling zu sein. Razamon sagte bitter: »Das hört sich nicht gut an. Kannst du schon etwas erkennen?« »Noch nicht. Still!« Die Nachtluft trug weit; der Schall kam leicht verzerrt und sehr deutlich an unsere Ohren. Es war ein schnelles, rhythmisches Stampfen und Klirren, begleitet von metallischem Rasseln. Es klang, als würde ein defekter Roboter dort rennen. Oder ein Mann in voller Rüstung. Archaische Erinnerungen
kamen in mir hoch. Ich kannte diese Geräusche sehr genau. Der Mann in der stählernen Rüstung lief sehr schnell. Seine Schritte ließen keinerlei Ermüdung erkennen. Die Drohung kam schnell und unaufhaltsam näher. »Es wird Kampf geben, sobald er uns eingeholt hat«, versicherte Razamon. Ich wußte, daß er recht hatte. »Wenn wir es schaffen, ihn immer wieder etwas aufzuhalten und weiter zu flüchten, dann können wir vielleicht die Stadtmauer erreichen.« »Möglich. Versuchen wir es. Die alte Taktik, Atlan?« »Wir wenden sie an, wenn er ein Schwertkämpfer ist. Fast jeder Kämpfer in einer Rüstung ist ein Schwertkämpfer. Weiter. Wir haben schon zuviel Zeit verloren.« Hatten wir überhaupt Chancen? Mein Logiksektor meldete sich und flüsterte warnend: Nur dann, wenn ihr sehr geschickt und listig vorgeht! Während das Klappern, Klirren und Scheppern lauter wurde und näher kam, warfen wir uns herum und flüchteten. Plötzlich schienen wir wieder neue Kräfte zu haben und rannten schneller. Die wenigen Lichter weit vor uns schienen sich zurückzuziehen, aber der Eindruck trog. Was wir über Balduur wußten, war höchst verwirrend, aber dieses Geräusch in unserem Rücken überzeugte uns davon, daß Balduur auf alle Fälle gefährlich und sehr ausdauernd war. Wenn er mit derselben Kraft kämpfte, dann schwanden unsere Chancen schnell dahin wie der Rauhreif in der Morgensonne. Jetzt rannten wir um unser Leben. Trotz des Rauschens in unseren Ohren und der schweren Atemzüge hörten wir unseren Verfolger von Minute zu Minute deutlicher. Wenn wir einen langen Schritt machten, so machte er einen ebenso langen Schritt und noch ein bißchen mehr. Er rückte unentrinnbar auf. Wir legten noch mehr Tempo zu und erreichten dadurch gar nichts. Hinter uns klirrten Waffen und Rüstungstei-
28 le immer lauter. Endlich rief Razamon atemlos: »Es hilft nicht mehr. Wir müssen uns stellen.« Wir verringerten unser Tempo. Jetzt konnten wir in schätzungsweise drei Kilometern Entfernung schon einzelne Gebäudeteile unterscheiden. Wir lockerten die Messer, rückten im Laufen die Köcher der Skerzaals zurecht und nahmen die gespannten und geladenen Waffen in die Hände. Die Straße war jetzt ein einziges, gerades Stück zwischen dem Hügel und der nahen und doch unerreichbaren Stadt. Inzwischen gingen wir scheinbar ruhig weiter und bereiteten uns darauf vor, unsere Traglasten abzuwerfen und zu kämpfen. Ich blieb stehen und sah unseren Verfolger auf der Kuppe des Hügels. Sternenlicht und die fahle Helligkeit von Wüste und Straße ließen die Gestalt undeutlich erkennen. Ein großer Mann, durch die Kampfstiefel und einen Helm mit ausladendem Ziergehörn noch größer und breiter, stapfte schnell in der Mitte der Straße hangabwärts und auf uns zu. Schlagartig überfiel uns die Erregung des bevorstehenden Kampfes. Wir vergaßen Hunger, Durst, Erschöpfung und beißende Kälte. Der Koloß stürmte mit gesenktem Schild heran. Von seinen Schultern wehte ein riesiger, dunkler Umhang, dessen Farben wir nicht erkennen konnten. »Halt!« schrie Razamon mit einer Stimme, die vor Wut und Erregung heiser klang. »Wer bist du? Was willst du von uns?« Razamon lief einige Schritte weiter. Wir standen jetzt etwa fünfzehn Meter voneinander entfernt. Unsere Traglasten flogen in den Sand. Der Verfolger gab mit donnernder Stimme zu Antwort: »Ich bin Balduur, der Herr des Fenriswolfs. Ihr wart meine Gefangenen und seid durch die Hilfe des Zwerges entkommen. Jetzt werde ich euch besiegen und zurücktreiben zu meinem Steinheim.« »Ist Balduur ein Wegelagerer?« fragte ich
Hans Kneifel und sah, wie sich die linke Hand mit dem Schild zum Schwertgehänge senkte, die Scheide festhielt und wieder hochfuhr, als Baldur mit der rechten Hand das mittellange Schwert hervorriß. Die Schneiden und die Spitze funkelten schwach, als er es hochschwang. »Balduur ist kein Wegelagerer. Aber er braucht die gefangenen Wanderer. Ihr werdet sehen, welches Ende ich euch bereiten werde.« »Wir haben keine Schwerter!« schrie ich und erwartete Balduurs ersten Angriff mit gespreizten Beinen und vornübergebeugtem Oberkörper. Die Hörner seines Helms schwankten durch die Luft wie die Fühler eines gepanzerten Insekts. Undeutlich erkannte ich zwischen den Wangenschutzrändern und dem Gitter vor der Augenpartie das kantige Gesicht eines Mannes von rund dreißig Jahren. »Dafür seit ihr zwei Kämpfer«, gab Balduur zurück und nahm den Schild bis zu Augenhöhe vor die Brust. Ich sah den stechenden Blick eines heraldischen Adlers schwach glänzen. Balduur wurde langsamer, hielt das Schwert hoch und griff mich mit einem abtastenden Schlag an; ich wich mühelos aus und sprang zur Seite, die Skerzaal in beiden Händen. Razamon beobachtete uns scharf und wartete. So war es ausgemacht. Ich duckte mich unter einem weiteren waagrechten Hieb, der über meinem Kopf durch die Luft pfiff, sprang schräg rückwärts, als sich an der Stelle das Schwert in den Sand bohrte, an der ich eben noch gestanden hatte. Als Balduur das Schwert herausreißen wollte, zielte ich mit der Skerzaal und feuerte den Bolzen ab. Ich hatte auf das Gesicht des Verfolgers gezielt, aber er schien schon vorher meine Absicht klar erkannt zu haben. Er riß das Schwert heraus, hob den Schild und senkte den Kopf. Der Bolzen streifte den oberen Schildrand und prallte nach einem harten Schlag von Helm ab. Balduur schrie auf und führte, ohne das Schwert in Schlagposition gebracht zu haben, einen flo-
Kämpfer der Nacht rettartigen Stoß aus. Im letzten Sekundenbruchteil konnte ich meinen Körper nach vorn krümmen und mit der rechten Hüfte ausweichen. Ich schlug die Waffe mit der Skerzaal zur Seite und machte drei Sprünge in die Richtung auf Razamon. Während ich floh, versuchte ich, die Armbrust wieder zu spannen, aber ich schaffte es erst, als ich dicht vor Razamon fintierend auswich und Balduur, der mit schwingendem Schwert hinter mir her rannte, geradeaus lief. Razamon hatte diese Taktik vorgeschlagen. Es war die einzige, die überhaupt etwas Erfolg versprach. Einer lenkte den Kämpfer ab, der andere versuchte, etwas auszurichten. Als ich zur Seite sprang, zischte summend der Bolzen mit der scharfen Spitze an mir vorbei. Aber Balduur schlug das Geschoß mit der blanken Schwertklinge zur Seite. Unschädlich schwirrte der Bolzen davon und schlug in den Sand. »Verdammt«, schrie Razamon und wich aus, denn Balduur stürmte an mir vorbei und griff ihn an. Während ich einen Bolzen einlegte, verteidigte sich Razamon, so gut es möglich war. In der Dunkelheit entbrannte ein schneller und erbarmungsloser Kampf. Ich versuchte zu zielen, aber sowohl Balduur als auch Razamon bewegten sich blitzschnell. Als ich den ächzenden Schrei des Atlanters hörte, begriff ich, daß wieder das Böse in ihm die Oberhand gewann. Auf Terra hatte er sich in dem »Stahlbad« seines Hauses austoben müssen – aber hier sah er plötzlich einen Gegner vor sich, mit dem er seine unkontrollierten Kräfte messen konnte. Balduur wußte nicht, was geschah, aber er merkte, daß sich Razamon plötzlich rasend schnell zu bewegen begann. Razamon benutzte die leergeschossene Skerzaal als Angriffswaffe. Er sprang Balduur an, riß dessen Schild zur Seite und versuchte, das Handgelenk des Angreifers zu packen. Die stählernen Bogenschenkel der Skerzaal klirrten gegen Metall. Balduur versetzte mit Schwertgriff, Knauf und seiner gepanzerten Faust dem Atlanter einen mächtigen Schlag gegen
29 die Schulter. Auch jetzt wieder sah ich nicht mehr, daß Razamon hinkte; sein Zeitklumpen schien bedeutungslos geworden zu sein. Ich zielte mit äußerster Vorsicht, aber die beiden Kämpfer bewegten sich so schnell, und änderten so häufig ihre Positionen, daß ich irgendwohin treffen würde, aber nicht dorthin, wohin ich gezielt hatte. Ich begann vor Nervosität zu zittern; was sollte ich tun? Razamon wurde zurückgeschleudert und überschlug sich im Sand. Für eine Sekunde stand Balduur frei, und ich schoß die Skerzaal ab. Der Bolzen schlug mit dröhnendem Krachen gegen die Seite des Helmes. Balduur stieß einen Schrei aus, fuhr herum und sah, wie Razamon mit ausgestreckten Händen auf ihn lossprang, schräg die Schwerthand unterlaufend. Er schmetterte den Arm mit dem schweren Schild zur Seite. Razamon prallte gegen die Metallplatte und klammerte sich daran fest, ich schwang meine leergeschossene Waffe und traf mit dem Schaft den Schwertarm dicht über dem Handgelenk. Balduur keuchte laut, schüttelte sich und machte abermals eine gewaltige Armbewegung. Razamon hing am Schild und trat mit den Füßen um sich, aber obwohl ich die einzelnen Bewegungen nicht mehr unterscheiden konnte, richtete er nichts aus. Balduur schmetterte ihn genau in dem Augenblick mitsamt dem Schild flach gegen den Boden, in dem ich meine Finger um das Handgelenk dicht über dem scharfen Schwert klammerte. Ich fühlte, wie mich Balduur mit einem Arm in die Höhe hob, mit mir zwei Sprünge nach rechts machte und dann den Schwertarm steil nach oben stemmte. Ich hing hilflos daran und starrte einen Moment in ein schweißüberströmtes, von harten Linien durchzogenes Gesicht mit funkelnden Augen, dann rammte mich Balduur nach unten, schlug seinen gepanzerten Ellenbogen in meine Kehle und wurde im selben Moment zu Boden gerissen. Razamon hatte ihm ein Bein nach hinten gerissen und sprang jetzt mit beiden Füßen zwischen die Schultern des Verfolgers.
30 Ich taumelte rückwärts. Ein rasender Schmerz lähmte mich. »Schieß doch, Atlan!« heulte Razamon auf. Ich hatte überhaupt keine Chance, mich zu wehren oder zu handeln. Balduur schüttelte sich und sprang wie eine Katze hoch, schlug wütend nach Razamon und traf ihn mit der flachen Klinge am Kopf. Ich fühlte, wie meine Knie zu zittern begannen und meine Beine unter mir nachgaben. Ich schwankte hin und her und brach zusammen. Razamon schien den Schlag nicht gespürt zu haben. Er sprang zum zweitenmal in Balduurs Rücken, schlang seine Arme um seinen Hals und versuchte, Balduurs Kopf nach hinten zu reißen. Ich kniete mit zitternden Gliedern im Sand, holte würgend Luft und sah Ringe, Funken und Sterne vor den Augen. Schemenhaft nahm ich wahr, wie sich der Gepanzerte nach vorn krümmte und Razamon über seinen Kopf hinweg schleuderte, augenblicklich nachsetzte und ihm das Schwert an die Kehle setzte. Die dreieckige Spitze deutete auf die Haut unterhalb des Kinns. Ich sah ein paar Schritte vor mir im hellen Sand eine Skerzaal liegen und kroch darauf zu. Aber als ich die Hand danach ausstreckte, schrie Balduur: »Halt, Wanderer. Dein Freund stirbt, wenn du die Waffe anfaßt.« Ich sackte zusammen und blieb liegen. Razamon, dessen Raserei unterbrochen worden war, lag wimmernd vor Wut und Haß vor Balduur. Das Schwert, das sich in die Haut unterhalb des Kinns bohrte, zitterte nicht einmal, als ich versuchte, näher heranzukriechen. »Komm her!« forderte mich Balduur auf und warf etwas Längliches vor mir in den Sand. Ich gehorchte und vergaß meinen Vorsatz, ihn anzuspringen und das Messer in sein Gesicht zu bohren, weil ich mich noch immer nicht richtig bewegen konnte. Jedesmal, wenn ich aufstehen wollte, sank ich wieder auf Knie und Ellenbogen zurück. Meine Finger tasteten im Sand und schlossen sich um ein dünnes Lederseil.
Hans Kneifel »Was willst du?« stöhnte ich. »Dein Freund stirbt, wenn du nicht tust, was ich will. Binde seine Hände zusammen.« »Warum soll ich …?« Gehorche! drängte der Logiksektor. »Weil du sonst einen Toten bis zu meinem Heim schleppen mußt«, sagte er deutlich. »Schnell, die Zeit drängt, die Nacht ist schon halb vorbei.« Ich packte die Arme Razamons und band sie nebeneinanderliegend zusammen. Ich versuchte, mich zwischen Balduur und Razamon zu schieben, um die Fessel so anzulegen, daß sie von Razamon selbst zu öffnen sein würde. Aber Balduur war zu erfahren; er trat mit seinem gepanzerten Stiefel gegen meinen Oberschenkel. Ich schaffte es trotzdem, die Fessel nicht ganz brutal anzuziehen und so uns noch eine Chance zu geben. Balduur warf seinen Schild weg, steckte das Schwert unter den linken Arm und zog aus dem Gürtel ein zweites Lederseil. »Deine Hände her, Wanderer!« befahl er. Mit blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er band meine Handgelenke kreuzweise auf den Rücken und hob den Schild wieder auf. »Wir gehen jetzt schnell zu Fenrir zurück. Ihr lebt noch; es gibt keinen Grund für sinnlosen Widerstand.« Seine Hand packte mich am Gürtel und riß mich hoch. Ich blieb taumelnd stehen und holte schmerzhaft Luft. Kalter Schweiß bedeckte die Haut. Ich begann zu frieren und vor Erschöpfung zu zittern – die Folge des viel zu langen Kampfes mit falschen Mitteln und zuwenig Chancen. Balduur lief schweigend und noch immer voller ungebrochener Kraft hin und her, hob unsere Ausrüstungsgegenstände auf und die Satteltaschen, machte aus allem ein Bündel und warf es über seinen Rücken. Dann zerrte er Razamon auf die Beine und deutete mit dem Schwert nach Nordosten. »Warum sollen wir den ganzen Weg zurücklaufen?« fragte ich heiser. Bei jedem Wort zuckte neuer Schmerz durch meine
Kämpfer der Nacht
31
Kehle. »Eure Fragen werden zur rechten Zeit beantwortet werden«, war die knappe Antwort. »Los, schnell. Ich kenne keine Gnade.« Der lange, ermüdende Marsch begann. Unbarmherzig trieb uns Balduur über die Straße der Mächtigen vorwärts. Wenn wir es riskierten, langsamer zu werden, fühlten wir die Schwertspitze im Rücken. Aber noch hatten wir Chancen. Den gesamten Tag lang hatte sich Balduur nicht aus dem steinernen Hügel hervorgetraut. Ein Roboter hatte den Wolf in unzerstörbare Fesseln geschlagen, und erst in der Nacht entfaltete Balduur seine Kräfte. Es gab irgendwelche Zusammenhänge, und vielleicht konnten wir sie für uns nutzen. Für den Rest der Nacht hatten wir Zeit genug, unsere Lage zu bedauern und uns eine Möglichkeit einfallen zu lassen, wie wir aus der Gewalt von Fenrir, Deckenwiezel und Balduur entkommen konnten. Es gab nicht den geringsten Grund für Optimismus. Wir gingen so schnell wie möglich über das metallene Band der Straße. Wir waren hungrig, erschöpft und durstig. Wir froren, und unsere Zukunftsaussichten waren dunkler als die rätselhafte Nacht über Atlantis.
* Beachte die Sterne! sagte der Extrasinn nach mehr als zwei Stunden schnellen, qualvollen Marsches. Den Weg der meisten hellen Sterne Terras, den sie im Lauf einer Nacht über den Himmel beschrieben, kannte ich auswendig. Auch hier ließ mich mein photographisch exaktes Gedächtnis nicht im Stich. Seit Jahrtausenden kannte ich diese Sterne und Konstellationen mit ihren wechselnden Namen. Jetzt erkannte ich, daß einige Bezugssterne sich wieder dem Horizont näherten. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis die Nacht vorbei war. Vor uns würden die ersten Sterne verschwinden, würde ein grauer, dann rosafarbener Streifen über dem Horizont erscheinen, dann würden wir direkt in
die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne marschieren. »Ich bin hierhergeschwommen, um mich zu rächen«, wisperte neben mir Razamon in heißer, aber ohnmächtiger Wut. »Und ich werde mich rächen, verlasse dich darauf, Atlan.« Die Schwertspitze bohrte sich in seine Rückenmuskeln. »Schweigt!« donnerte Balduur. »Lauft schneller.« »Wir können nicht mehr«, sagte ich. »Wir sind keine Yassels.« »Mein Schwert sorgt dafür!« versprach Balduur. Ich spürte die scharfe Spitze und beschleunigte meine Schritte. Ein bestimmtes Maß an Panik hatte aus der Stimme des Siegers geklungen. War also doch etwas an meiner verrückten Theorie? Fast gleichzeitig verfielen Razamon und ich auf denselben Trick. Wir versuchten, die Zeit zu beeinflussen, indem wir unsere Geschwindigkeit drosselten. Wir bewegten uns heftiger, aber dafür machten wir kürzere Schritte. Wir achteten sehr darauf, nicht zu übertreiben, aber es schien gutzugehen. Noch mehr Sterne versanken hinter dem Wüstenhorizont. Aber noch immer hatten wir das kritische Stück der Straße, nämlich die Biegung, die jetzt nach rechts führte, nicht erreicht. Die deprimierende Wanderung ging weiter. Immer schärfer waren die Stiche, mit denen uns Balduur vorwärtszwang. Jetzt war es so gut wie sicher für mich: Er wollte sein Heim hinter dem kleinen Dschungelfleck noch vor Sonnenaufgang erreichen, weil er es zu dieser Zeit erreichen mußte. Jetzt änderte sich unmerklich die Schwärze des Nachthimmels. Die blinkenden Sterne verschwanden nach und nach. Die Kälte biß in unseren Wangen, der knisternde Reif wuchs an den Pflanzen. Ganz vage begann sich weit vor uns ein dunklerer Fleck in der Wüste abzuzeichnen: das Waldstück vor dem künstlichen Bimssteinhügel. Ich stolperte, schrie wie vor Schmerz auf und fiel nieder. Im letzten Moment drehte
32 ich meinen Körper und fing den Aufprall mit der Schulter auf. Ich blieb liegen und entspannte meine gefolterten Muskeln. Ich spürte die wohltuende Wirkung des auf so rätselhafte Weise in meinen Körper hineingewachsenen Zellaktivators, aber dieses Gerät konnte auch keine Wunder wirken. Razamon blieb stehen und keuchte übertrieben laut. Mehrere Sekunden vergingen, ehe Balduur reagierte. »Aufstehen. Du wirst weiterhinken wie dein Freund, wenn ich dich mein Schwert habe kosten lassen!« »Balduur!« wimmerte ich und wälzte mich auf den Rücken, um seine Reaktionen besser abschätzen zu können. »Ich kann nicht mehr. Er ist kräftiger. Er soll mich tragen oder wenigstens stützen!« Der Aufenthalt kostete immer mehr Zeit. Razamon torkelte auf mich zu und versuchte mich hochzuziehen. Dabei rutschte er aus und fiel in den Staub der Straße. »Gut gemacht«, wisperte er mir zu. Balduur überlegte eine kurze Zeit, dann schob er das Schwert in die Scheide zurück und packte uns an den Gürteln. Mit schier überwältigender Kraft hob er uns hoch und hielt uns an ausgestreckten Armen von sich weg. Seine Augen funkelten uns an. Er schrie aufgeregt: »Es ist nicht mehr weit. In meinem Haus findet ihr alles. Ihr habt gut gekämpft, jetzt werdet ihr gut laufen können.« »Wir rannten den ganzen Tag ununterbrochen und die ganze Nacht!« protestierte ich. »Unsere Sohlen brennen. Wir hungern und dürsten. Und unsere Rücken sind wund vom Schwert des Siegers.« Er ging nicht darauf ein, drehte sich herum und zog wieder sein Schwert. »Weiter! Vorwärts!« Wir versuchten in der folgenden Zeit jeden Trick. Wir stolperten immer häufiger. Es war sicher: er brauchte uns lebend, sonst würde er schon die zahlreichen Gelegenheiten ergriffen haben, die wir ihm boten. Er mußte sich mit uns weiter quälen. Wir ver-
Hans Kneifel suchten, langsamer zu werden, simulierten schnelleren Lauf, legten kurze Pausen ein und riskierten Stichwunden im Rücken und Tritte. Aber jetzt gab es im Osten keine scharfe Trennungslinie zwischen nächtlicher Wüste und Himmel mehr, sondern nur einen breiten grauen Streifen. Nur noch wenige Sterne funkelten über uns. Die Büsche und Grasinseln der Halbwüste wurden zu schwarzen, phantastischen Formen. Die Silhouette des Hügels mit seinen Aufsätzen schob sich aus den Dünen hervor, der Wald mit seinen Bäumen und Klettergewächsen nahm deutlichere Formen an. Aber wir waren tatsächlich inzwischen dem Zusammenbruch näher als je zuvor. Die Straße machte jetzt den Bogen, wir torkelten hinaus in den Sand, und wieder mußte uns Balduur hochreißen. Er war ratloser als wir, aber er versuchte sein Äußerstes. Zuletzt, als wir noch mindestens fünfzehnhundert lange Schritte vom Anfang des Dschungels entfernt waren und sich über der Wüste ein schmales Band stechender Helligkeit zeigte, als die Atmosphäre sich rosa zu färben begann, packte uns Balduur an den Gürteln und schob uns förmlich vor sich her. Wir konnten nicht mehr langsamer gehen, aber wir ließen uns in diesen Griff hineinsacken und machten uns schwer. Entweder ließen die unfaßbaren Kräfte unseres Verfolgers nach, oder das Licht machte ihm zu schaffen. Das Rot vor uns wurde stechender und bekam weiße Ränder. Jetzt gab es nur noch einen einzigen Stern, der auch kurz darauf verschwand. »Weiter, schneller! Ihr Hunde! Wollt ihr mich umbringen …«, schrie Balduur. Aus der Wüste neben der Straße erklang ein schauerliches Heulen, das in unsere Ohren schnitt. »Ich komme und bringe sie, mein Grauer«, murmelte hinter uns Balduur. »Aber du bist noch immer gefesselt … sonst würdest du mir … helfen.« Wir merkten es an dem wechselnden Druck seiner Fäuste an unseren Wirbelsäulen. Er begann zu schwanken, aber er nahm
Kämpfer der Nacht sich zusammen und eilte mit uns vorwärts. Seit Stunden gab es nichts anderes in unseren Ohren als die rasselnden und metallisch klingenden Schrittgeräusche. Die Helligkeit des kommenden Morgens wurde jetzt deutlicher. Jede Sekunde würde sich ein Bündel von weißgelben Sonnenstrahlen über die Kimm nach allen Seiten stürzen, dann würden wir geblendet werden von Balduurs Untergang, der aufgehenden Sonnenscheibe. Wir liefen jetzt auf dem letzten Stück der Straße vor dem absoluten Scheitelpunkt der weiten Kurve. Wald und Steinheim wurden jetzt deutlich und scharf. Wir entdeckten auch auf der rechten Seite einen riesigen grauen Körper, der sich verzweifelt in den Fesseln wand. Razamon hinkte, sein Fuß nachziehend, neben mir und flüsterte: »Ich ziehe dein Messer, klar?« »Nütze den Moment der Überraschung.« Jetzt wurde Balduur in unserem Rücken hysterisch vor Furcht. Also waren meine Überlegungen doch nicht so abwegig gewesen! Wir kamen zu dem Punkt, an dem der schmale Pfad durch das Buschwerk und die Bäume mit ihren flachsartigen Bärten und den schräg baumelnden Schmarotzerpflanzen in die Wüste überging. Jetzt ergoß sich eine Flut aus Strahlen nach allen Seiten. Wir mußten blinzeln und senkten die Köpfe. Aber unsere Sinne waren gespannt wie die Saite einer Skerzaal, wir bereiteten uns auf unseren Fluchtversuch vor. Keuchend und mit fast wimmernden Atemzügen rannte Balduur hinter uns her. Aber er lockerte seine Griffe nicht. Irgendeine fanatische Idee mußte ihn vorwärtspeitschen; sie beinhaltete wohl unsere lebendige Ankunft im Steinheim. Fenrir gebärdete sich wie ein tollwütiges Raubtier. Seine Läufe zuckten, sein Körper wurde hochgerissen und sank wieder zurück, sein langer Wolfsschädel mit Schaum vor den Lefzen und Blut an den Nüstern drehte und wand sich wie der Kopf einer Schlange. Dabei heulte, knurrte und winselte das Riesentier ununterbrochen. Es schien zu ahnen, was sich hier abspielte.
33 »Nein! Das Licht! Ich muß …«, schrie Balduur auf und stieß uns mit einem letzten Kraftakt von sich. Wir rannten, vom Schwung weitergetragen, schneller als er selbst auf die Mündung des Pfades zu, als sich der oberste Rand einer stechendgelben Sonne hochschob und die Landschaft mit einem Muster aus gleißender Helligkeit und langen schwarzen Schatten überzog. Im selben Moment hörten wir das Krachen, Klirren und Prasseln, mit dem der Mann in der schweren Rüstung zusammenbrach. Gleichzeitig blickten wir uns um und sahen die zweite Hälfte seines schweren Sturzes, mit dem er mehrere Grasbüschel entwurzelte, seinen Schild gegen den Boden warf und das Schwert verlor. »Messer!« Ich blieb stehen, wirbelte herum und streckte die Hüfte vor. Sofort spürte ich die tastenden Finger Razamons, der das Messer mit einem Ruck aus der Scheide riß und mit zwei, drei Schnitten das dünne Lederband zertrennte. Ich griff nach dem Messer und zerschnitt seine Fesseln. Dann streiften wir uns die Reste der Schnüre von den aufgescheuerten Handgelenken und bliesen in unsere klammen Finger. »Er verträgt kein Tageslicht, Atlan!« sagte Razamon und hinkte auf Balduur zu. Unsere Satteltaschen, die Nahrungsmittel, zwei Saftblüten und die Skerzaals lagen überall verstreut. Balduur bewegte sich wie ein verendendes Tier. Er kroch mit zuckenden Bewegungen immer tiefer in die schütteren Büsche hinein, wobei seine Helmzier sich in den stacheligen Zweigen verfing. Wir vergaßen das Heulen und Toben des Fenriswolfs und blieben verblüfft und erschüttert neben Balduur stehen. Aus dem Helm kam ein dumpfes, langgezogenes Stöhnen. Razamon nahm das Schwert und löste den Schild vom Arm des Mannes, dann sagte er scharf: »Ein solches Schwert heute nacht, als mich das Böse übermannte! Ich hätte ihn in Stücke geschlagen. Aber die Skerzaal – es sind Kinderspielzeuge.«
34 Seit ich Tiere und Atlanter durch diese Waffen hatte sterben sehen, wußte ich es besser. Aber gegen diese Rüstung konnte sie absolut nichts ausrichten. »Er ist entwaffnet und schutzlos«, sagte ich. »Bringen wir ihn in sein Haus. Wenn er dort wieder zum Berserker werden sollte, treiben wir ihn ins Licht zurück.« Razamon zog seine schmalen Schultern hoch und warf mir einen Blick aus seinen merkwürdigen Augen zu. »So edel?« Ich schüttelte den Kopf. »Weniger edel als pragmatisch. Wir können hier mit Sicherheit eine Unmenge Informationen finden. Los, pack an!« Wir faßten nach den gepanzerten Armen des Mannes und versuchten, ihn in die richtige Richtung zu schleppen. Er war schwer und ebenso beweglich wie ein totes Mastodon. Aber Razamons Riesenkräfte schafften es im Verein mit meiner Anstrengung. Und auch Balduur half uns, vermutlich rein instinktiv, indem er sich uns nicht direkt widersetzte, sondern tappte, zuckte und sich immer wieder aufzurichten versuchte. So schleppten, zerrten und stießen wir den Ritter aus Pthors phantastischer Welt zwischen die größeren Büsche und in den eisigkalten Schatten zwischen den Stämmen hinein. Plötzlich raschelte es, und der Roboterzwerg rannte aufgeregt heran. Einige Kontrollichter zuckten flackernd. »Ich sehe, ihr seid zurück. Es spricht für euch, den Verfolger zu retten, aber es kann mit einiger Wahrscheinlichkeit euer Verderben sein.« »Er verträgt das Tageslicht nicht, wie?« brummte Razamon und stemmte sich gegen den Arm, der über seinen Schultern lag. »Nur Kunstlicht erhält sein Leben. Die Stunden zwischen Sonnenuntergang und Morgendämmerung enthalten die Phase äußerster Aktivität«, versicherte Deckenwiezel. »Vielleicht ist mein Herr nach diesem Debakel etwas mehr kooperationsbereit.« Wir wuchteten den Koloß weiter, dem zwischen Zweigen und Blättern undeutlich
Hans Kneifel sichtbaren Eingang zu. »Mir scheint«, stöhnte ich schweißüberströmt, »daß Herr und Knecht oftmals verschiedener Meinung sind?« »Differenzen existieren zweifellos, jedoch sind sie weitestgehend moralischlogischer Art; keineswegs übergreifend zu definieren.« Deckenwiezel umkreiste uns und lief vor uns behende eine schräge Rampe hinauf. Dann stieß er abermals schrill hervor – seine knarrende Stimme überschlug sich fast dabei: »Ich muß euch abermals warnen. Hochherziges Vorgehen kann hier schnell ins Gegenteil verkehrt werden.« »Eine Frage«, sagte ich und krachte mit dem Rücken und Balduurs rechtem Handgelenk gegen die Eingangswand, »die ich beantwortet haben möchte, Deckenwiezel: Ist dein Herr während des Tages aktiv genug, um uns beide zu besiegen?« »Negativ«, erklärte mit beruhigendem Knarzen der Robot. »Aber ihr begebt euch in einen Einflußbereich des Gefährlichen, Unsichtbaren hinein.« »Wir sind sicher, auch dies zu überstehen«, sagte Razamon grob. »Aus dem Weg. Wohin mit diesem Nachtkämpfer?« »Hierher, auf den Boden.« Ohne genau zu sehen, wohin wir kamen, schleppten wir Balduur bis zu einem freien Platz, auf dem ein dicker Teppich lag. Er sah aus, als wäre er aus lebenden Schlangen geknüpft, die ein stechendes Aroma ausströmten. Deckenwiezel begann augenblicklich, seinem bewußtlosen Herrn die Rüstung auszuziehen. Er entwickelte dabei eine beträchtliche Geschwindigkeit und ein hervorragendes mechanisches Geschick. »Gehen wir hinaus, weiden wir uns ein bißchen an dem Sandtanz unseres wölfischen Freundes!« schlug Razamon vor. »Und dabei sammeln wir unser Eigentum und die Waffen Balduurs ein. Wie sagte der Robot: Hoffentlich ist Balduur auch uns gegenüber kooperationsbereit.« »Wenn er nicht eine verborgene Truppe
Kämpfer der Nacht gegen uns einsetzt, werden wir ihn zu überzeugen wissen!« schloß Razamon. Als wir schwer beladen wieder das langgestreckte Gebäude betraten und uns genauer umsahen, erkannten wir die Fremdartigkeit der Einrichtung. Wir waren völlig benommen, aber trotzdem wachsam. Deckenwiezel hatte die Rüstung inzwischen ausgezogen und weggebracht. Jetzt sahen wir auf dem Teppich einen muskulösen Mann liegen, dem der Robot irgendwelche Getränke einflößte. Aber dieser Körper war jetzt schlaff, teigig und aufgeschwemmt. Aus dem Gesicht sprachen nur noch Resignation, totenähnliche Erschöpfung und eine Bitterkeit, die uns überraschte. Wir hörten ihn flüstern: »Odin! Mein Vater! Warum hilfst du mir nicht?« Razamons Grimm war zu groß, als daß er sich vom Mitleid oder übergroßen Verständnis hätte mitreißen lassen. Er trat vor Balduur hin, bohrte ihm die Spitze des Schwertes in den Hals und versicherte mit scharfer Betonung: »Das Blatt, Kämpfer der kalten Nacht, hat sich gewendet. Mir persönlich macht es nichts aus, dich übel zuzurichten. Wir verlangen nicht mehr, als hier bis morgen Gäste zu sein, mit allen Rechten. Sonst zerstören wir jede Handbreit deines muffigen Hauses und alles, was wir finden. Bis zum Abend ist es auch nicht schwer, dich zu töten. Haben wir deine Gastfreundschaft?« »Ja, bleibt. Vielleicht finden wir gemeinsam eine Möglichkeit. Deckenwiezel, zeige ihnen alles.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, bekannte der Robot. »Vergiß nicht, mir einen entsprechenden Auftrag zu erteilen. Ich werde nur zu deinem Besten handeln, denn zu diesem Zweck haben die Herren Wolterhavens mich dir geschenkt.« »Ich komme und werde es mit dir ausführen. Zuerst muß ich ruhen.« Der Robot folgte dem wankenden, müde schlurfenden Mann, der nur eine enge Hose unter der Rüstung getragen hatte. Wir gin-
35 gen hinter diesem ungleichen Gespann her und mußten langsam begreifen, daß dieses Haus, vom gelben Morgenlicht auf raffinierte Weise ausgeleuchtet, eine Art Museum zu sein schien Nichts von dem, was wir sahen, war bekannt. Alles war unvorstellbar fremd und teilweise grausig und makaber. Wir wurden von Deckenwiezel zu einem gut ausgestatteten Bad gebracht, in dem wir uns eine Stunde lang, unsere Vorräte dabei verzehrend, wieder einigermaßen ausruhten und erfrischten.
7. Der einzige freundliche Akzent inmitten der fremdartigen und teilweise abstoßenden Umgebung war Deckenwiezel. Er schien mit sämtlichen Verhaltensmustern des »fröhlichen, guten Hausgeistes«, programmiert worden zu sein, denn er arbeitete unermüdlich und antwortete auf jede Frage mit einem seiner sprichwortartigen Hinweise. Im Augenblick kümmerte er sich um unsere Schuhe, um die Hosen und die Felljacken, er polierte die Gürtel, sortierte die Bolzen in den Köchern und wieselte umher wie in beschleunigter Geschwindigkeit. Er wusch unsere Hemden und brachte sie getrocknet und duftend zurück, und schließlich, als wir nach heißen und kalten Duschen, rasiert und mit trockenem Haar, von Deckenwiezel mit duftenden Ölen einmassiert, das Bad verließen, fühlten wir uns ein bißchen wie neugeboren. »Balduur scheint zu schlafen. Oder er ist so erschöpft, daß er seine Opfer in Ruhe läßt!« bemerkte Razamon zweifelnd. Was immer wir in den letzten Stunden unternommen hatten – immer waren unsere Waffen und Balduurs Schwert in unmittelbarer Nähe gewesen. »Ich traue weder ihm noch Fenrir. Ich traue nicht einmal Deckenwiezel«, sagte ich und studierte aufmerksam die einzelnen Nischen und die darin ausgestellten Gegenstände. Der Eindruck des Fremdartigen und Unverständlichen vertiefte sich, andererseits
36 begannen wir zu ahnen, welche Bedeutung dieses Museum haben konnte. Razamon deutete düster auf die Geräte, Artefakte, Bruchstücke, auf die seltsamen Waffen und die Köpfe, die in Blöcke glasklarer Materie eingeschmolzen waren. »Auf mich wirkt es wie das Strandgut eines langen Streifzugs durch viele Kulturen«, murmelte er. Im Hintergrund hörten wir plötzlich das schnarrende Sprechorgan des Zwergrobots. »Wenn deine Erzählungen richtig und wahr sind – die wenigen! –, dann ist Pthor auf einem langen Streifzug durch fremde Kulturen«, antwortete ich. »Dies erscheint sicher zu sein. Nach allem, woran ich mich bruchstückweise erinnern kann«, pflichtete er mir bei. Seine Finger berührten den starren Körper eines Wesens, das aus Haut und Metall zu bestehen schien und bei der Berührung ein grausiges Ächzen von sich gab, aber sich nicht um einen Millimeter bewegte. »Dann sind zumindest viele Dinge, die wir hier sehen und sehen werden, aus fremden Kulturen«, schloß ich logisch. »Was bedeutet, daß Balduur vermutlich alles hier auf eine noch zu klärende Weise gesammelt hat.« Razamon nickte und warf mir einen Blick zu, der skeptisch und wissend zugleich war. »Vermutlich auf dieselbe Weise, wie wir ›eingesammelt‹ wurden, mein Freund.« »Du magst recht haben. Ein Grund mehr, vorsichtig zu sein.« Langsam bewegten wir uns aus den Räumen rechts der Mittelachse jenes merkwürdigen, wie aus einem Guß wirkenden Gebäudes nach hinten, dem schmäler und niedriger werdenden Teil zu. Schweigend und in Gedanken versunken, betrachteten wir die vielen Ausstellungsstücke in den Vitrinen, an den Klammern und Haken der Wände, angestrahlt von der Sonne, deren Licht durch raffiniert angebrachte Spiegel und Linsen durch die Decke des langgestreckten Steinheims geleitet wurde. »Deckenwiezel scheint sich mit seinem
Hans Kneifel Chef noch immer zu streiten«, sagte Razamon. Ich erkannte die Stimmung, in der er sich befand. Er war, trotz unseres relativen Wohlbefindens, gespannt und voller mißtrauischer Aufmerksamkeit. »Es scheint so. Wir werden gleich merken, worum es geht«, gab ich zurück. Mich faszinierten diese eingesammelten Stücke. Ich hatte den Eindruck, als wäre die Zusammenstellung willkürlich. Abhängig von dem, was Balduur, der Nachtkämpfer, auf den verschiedenen Welten »fand«. »Was macht unser Gegner?« fragte Razamon laut in Gedanken. »Er schläft. Oder besser: nach dem Geschrei des Zwerges zu schließen, ist er inzwischen aufgewacht und diskutiert.« Der Eindruck, den dieses Haus auf uns machte, schlug sich auf unsere Stimmung nieder. Das wenigste von dem, was wir binnen des letzten Tages gesehen und erlebt hatten, ließ sich mit den Mitteln der Logik erklären. Fast alles war irreal und gehorchte Gesetzmäßigkeiten, die mir wesensfremd waren. Bisher hatte ich den Einfluß von Zauberei und anderen unerklärlichen Vorfällen abgelehnt und immer wieder erlebt, daß in Wirklichkeit nur unbekannte oder geschickt manipulierte Naturwissenschaft dahinter steckte. Hier auf Atlantis oder Pthor wurde ich irr an dieser Überzeugung. Hier war alles anscheinend anders. Je mehr ich von diesen Ausstellungsstücken sah, desto schwankender wurden meine Überlegungen. Alles hatte, genau genommen, mit dem rätselhaften Vorgang begonnen – als ich sah, aber nicht spürte, wie sich der Zellschwingungsaktivator förmlich in meinen Körper verkroch. »Wir sollten die Diskussion mitanhören«, schlug der unsterbliche Atlanter vor, der neben mir einherhinkte und fassungslos die einzelnen Stücke dieser makabren Ausstellung betrachtete. »Genau dasselbe wollte ich gerade vorschlagen«, sagte ich hart. »Wir sind noch lange nicht gerettet. Nur die Schwäche Balduurs und der Umstand, daß der Wolf gefes-
Kämpfer der Nacht selt ist, gibt uns etwas Freiheit.« »Du betrachtest das Problem in der rechten Weise«, pflichtete mir Razamon bei. Kurz darauf bogen wir in einen Querstollen ein. Die knarrende, aber mit schrillen Untertönen gemischte Stimme des geschäftigen Robotzwergs wurde mit jedem Schritt lauter. Wir hörten interessiert zu, denn es ging offensichtlich darum, daß ein gefährliches Gerät abgeschaltet werden sollte oder eine Entwicklung inzwischen untragbar geworden war. Leise schlichen wir näher und waren, ohne daß es einer von uns aussprach, gespannt und darüber hinaus sicher, daß unser Schicksal von den Informationen abhing, die wir hier vielleicht auffingen. Razamon wisperte schließlich: »Leise. Sie streiten. Unser Sieger scheint irgendwie eine verkrüppelte Psyche zu haben.« Ich flüsterte dicht an seinem Ohr zurück: »Gerade diese kosmischen Sozialfälle bringen die eigentlichen Gefahren in unser Leben!« Wir blickten vorsichtig um die Ecke einer Wand, die türlos einen Raum vom anderen abgrenzte. Wir sahen in einen Schlafraum hinein. Balduur lag auf seinem riesigen Bett, seine Rüstung hing teilweise über einem wuchtigen Ledersessel und zum größten Teil an Haken und Knöpfen an einer weißen Wand, vom gelenkten Sonnenlicht scharf ausgeleuchtet. Ich vertiefte mich, während ich auf Deckenwiezels Stimme lauschte, in die handwerklich perfekten Details der Brünne; die Masse aus Stahl, Leder und anderem Material wirkte auf mich ebenso wie ein anderes Ausstellungsstück. »… abschalten. Wenigstens einen Teil. Opal wird dein Leben ruinieren, dein scheinbar ewiges Leben, Balduur. Sie ist der Dämon, der dich zu Dingen zwingt, die Odin niemals gutheißen könnte!« Ein neuer Name. Opal. Vermutlich der Name für eine Frau oder ein Mädchen. Ich hielt den Atem an und hörte zu. »Ich kann es nicht!« Balduurs Stimme. »Ich bin kein Mörder!«
37 »Ein Argument, das weitestgehend brüchig ist. Die Jagd auf Wanderer entlang der Straße der Mächtigen mit Hilfe des Fenriswolfes ist eine andere Form von Mord.« »Es ist etwas anderes! Du willst, daß ich die Eingangsleistung der Lebenserhaltungsanlage drastisch verringere. Opal wird endgültig sterben, wenn ich dies tue. Sie hat seit …«, Balduurs Stimme sank zu einem undeutlichen Murmeln herab, »… Jahren nicht einmal einen Finger bewegt. Und ich brauche ihre Liebe und ihr Leben.« »Du betest eine Scheintote an. Wie kann ein Mann wie du eine Statue aus tiefgefrorenem Eis anbeten?« »Ich habe keine andere Wahl!« wimmerte leise Balduur auf. »Jeder Tag, an dem du Opal gestattest, die Welt außerhalb ihres Schreins anzuzapfen und dir deine eigene Lebensenergie zu entziehen, bringt dich dem Tod näher.« »Odin, mein Vater, wird kommen und alle Fragen klären!« »Eine Serie unvernünftiger Handlungen wird mit Sicherheit nicht dadurch legitimiert, daß sie durch unsinnige Erwartungen angereichert wird, Balduur.« »Opal darf nicht sterben.« »Ich sehe es folgendermaßen: Opal lebt weiter und saugt deine Körperaura aus. Am Ende dieses Prozesses stirbst du, Herr. Dann gibt es niemanden mehr, der einsame Wanderer überfällt und sie der erstarrten Opal vorwirft. Also wird dann Opal sterben, und deine Liebessehnsucht ist lächerlich geworden, weil zwei Leichen einander schwerlich lieben können. Diese Schlußfolgerung ist logisch und deswegen richtig. Selbst du, Kämpfer der Nacht, kannst dieser Entwicklung nicht entrinnen. Jeder andere Gedanke ist rechnerisch falsch und daher lächerlich.« »Du hast teilweise recht, Deckenwiezel!« stöhnte Balduur. Razamon und ich sahen uns in die Augen. Wir begannen zu ahnen, daß die Probleme mehrschichtig waren und wir wohl als Versuchspersonen hätten gefangengenommen werden sollen. Wir fingen an, uns wie die Opfer von Schlupfwespen zu
38 fühlen; jenen Insekten, die vergleichsweise größere Tiere lähmten, sie in ihre Erdhöhlen schleppten und dort als lebende Nahrung für die Larven verwendeten. Es war eine grausige, ernüchternde Erkenntnis, die uns überraschte und gleichermaßen in Wut versetzte. Aber noch immer beherrschten wir uns und schwiegen, hörten den merkwürdigen Dialog zwischen dem Robotzwerg und Balduur an und versuchten, unsere Lage klar zu definieren. »Ich habe nicht nur teilweise recht«, erklärte der Robot. »Ich gehe jetzt und schalte einen Teil der Lebenserhaltungssysteme von Opal ab.« »Ich würde dich zerstören, wenn meine Kräfte nicht so gering wären!« wimmerte Balduur. »Deine Kräfte sind derartig gering, weil Opal die Körperaura eines jeden Wesens aussaugt, das sich innerhalb des Steinheims befindet«, gab der Zwergrobot ungerührt zurück. »Das mag stimmen. Gut. Verringere die Kapazität, Deckenwiezel!« Abermals wechselten wir einen langen Blick. Jetzt wußten wir, was hier vor sich ging. Wir sollten als Opfer dienen. Wer war Opal? Was geschah hier? Razamon flüsterte fast unhörbar: »Greifen wir ein, Atlan?« »Es wäre nicht das Dümmste«, gab ich ebenso leise zurück. Wir hatten die gespannten Skerzaals in den Händen. Der Atlanter trug Balduurs Schwert in der Rechten. Im Augenblick sah es so aus, als ob uns niemand überraschen könnte und wir die wahren Herren dieses Hauses wären. Aber dies konnte sich innerhalb von Sekunden ändern. Wir hörten die schweren Atemzüge des ehemaligen Verfolgers, der regungslos und zu Tode erschöpft auf seinem Bett lag. Wir nahmen wahr, daß der Robot mit seinem kurzen, schnellen Schritten den Raum verließ und in beträchtlicher Eile weiterlief. Ich nickte Razamon zu. Wir sprangen in den angrenzenden Raum hinein und sahen gerade noch den Rücken des kleinen Maschinen-
Hans Kneifel menschen, der in den nächsten, von technischen Apparaturen strotzenden Raum hineinlief. Balduur lag regungslos da und hatte die Augen geschlossen. Wir folgten auf Zehenspitzen dem Robot und blieben stehen, als wir den gläsernen Schrein erblickten. Dies muß Opal sein! wisperte der Logiksektor aufgeregt. Wir sahen den gläsernen Schrein, die vielen Kabel und die Schläuche und die undefinierbaren Apparate, die mit dem Sarg aus Glasplatten verbunden waren. Wir erkannten eine Art Schaltpult und den Roboter, der an Hebeln und Reglern hantierte. Das Summen, Zischen und Blubbern, das diesen Raum erfüllte, wurde leiser oder weniger intensiv. Wir gingen näher an den Schrein heran und starrten das bildschöne, rothaarige Mädchen an, das wie eine Statue aus Marmor darin lag. »Keine sarkastischen Bemerkungen! Schönheit ist eine Tatsache irrationaler Art, die von Fall zu Fall anders beurteilt wird. Diese Art von Schönheit ist tödlich, besonders für Opfer, wie ihr sie seid.« »Eine Lebenserhaltungsanlage?« fragte ich leise. »Jawohl. Ich habe sie fast abgeschaltet. Euch droht keinerlei Gefahr mehr.« Der Robotzwerg trat vom Schaltpult zurück. Die Geräusche wurden noch leiser, und viele Zeiger und Leuchtanzeigen begannen über die Zifferblätter zu wandern. Die junge Frau mit dem langen roten Haar rührte sich nicht. Auf dem Schlüsselbein hatte sie einen kleinen Leberfleck. »Also hätten wir …«, begann Razamon verblüfft. Der Roboter entgegnete: »Ihr solltet die Anlage mit eurer Körperaura versorgen. Das hätte für lange Zeit das Überleben der Opal gesichert. Deswegen holte euch der Fenriswolf hierher, und aus diesem Grund schleppte euch Balduur zurück in seine Räume. Aber nun ist die Gefährdung beseitigt, ihr seid frei und könnt gehen.« Ich schüttelte entschlossen den Kopf und
Kämpfer der Nacht deutete in den angrenzenden Raum. Er sah wie eine uralte Bibliothek aus. Daneben befand sich das Zimmer, in dem Balduur halb schlafend dalag und keuchte. »Vorher werden wir uns noch mit dem Kämpfer der Nacht unterhalten, denke ich.« »Genau das hatte ich vor«, sagte Razamon hart. »Ich will Rache! Und dazu gehören Informationen. Er wird mein verlorengegangenes Gedächtnis unterstützen.« Wir stapften zurück in Balduurs Schlafraum. Deckenwiezel schleppte aus einer unergründlichen Ecke zwei seltsam geformte Stühle herbei. Wir setzten uns dergestalt neben die wuchtige Liege, daß wir Balduur im Auge hatten. Er wirkte erholt, aber es war klar, daß auch er ein Opfer Opals war. Sie hatte seinem Körper die Kraft des Tages entzogen; die Zusammenhänge wurden für uns etwas klarer. »Wir haben dich in dein Haus geschleppt und somit gerettet«, sagte Razamon und balancierte Balduurs Schwert auf seinen kantigen Knien. »Berichte uns, wie es zu allem kam. Wir sind neugierig.« »Und da wir wissen, daß wir von deinem versteinerten Liebling ausgesogen werden sollten, sind wir auch sehr verärgert. Was hat es mit Opal und diesem museumsähnlichen Haus auf sich?« fragte ich gespannt. Balduur stöhnte, richtete sich auf und zog seinen schwarzen, hellrot gefütterten Kampfmantel über seine Knie. »Ich werde euch von meiner privaten Hölle berichten. Sie dauert schon eine Ewigkeit an. Aber eines Tages wird mein Vater, der tote Odin, mich aus allem erretten. Mit Opal fing alles an. Ich traf sie auf einer Welt der Galaxis Zuklaan. Wir verliebten uns ineinander …« Er sprach mit müder Stimme. Wir erfuhren nicht alles, aber wir erhielten einen erschreckenden Einblick in die Vorgänge um dieses steinerne Haus an der Straße der Mächtigen. Pthor wurde von unbekannten Mächten, entweder innerhalb des Systems oder gar außerhalb, durch Raum und Zeit gesteuert und landete immer wieder auf an-
39 deren Welten. Balduurs Bericht endete damit, daß er uns sagte, wie sehr er die Schaltung des Roboters bedauerte, aber dann seufzte er: »Es geht wohl nicht anders. Niemand weiß, wann wir wieder nach Zuklaan kommen werden. Ich bin völlig ratlos.« Ich blickte die geputzten Teile der Rüstung an und überlegte. Dann begriff ich plötzlich abermals, was eigentlich dieses Haus bedeutete, angefüllt mit musealen Gegenständen. Voller böser Vorahnung fragte ich den erschlafften Mann vor mir: »Das alles, was hier ausgestellt ist, gehörte anderen Wesen ja?« »Es waren Teile ihrer Ausrüstungen. Es sind Waffen und Teile von Körpern.« Razamon hob warnend das Schwert und stieß hervor: »Alles gehörte einst lebenden Wesen. Du hast sie mit Fenrir zusammen zu Opfern für Opals Überleben gemacht?« »Ja. Es gab keinen anderen Weg. Sie darf nicht sterben, meine Opal. Es ist die Hölle, glaubt mir!« »Das sind Hunderte von Überfallenen! Überall stehen und hängen Waffen herum.« »Ich kann dir nicht widersprechen«, murmelte Balduur und blickte verlegen zu Boden. Wir waren entsetzt und erschüttert. Dies war also die Wahrheit: Auf dem unbekannten Weg durch Zeit und Raum hatte Pthor viele verschiedene und fremde Kulturen angetroffen. Und von den Planetariern waren in unregelmäßiger Folge Wanderer oder Abenteuer wie wir von Fenrir hier hereingetrieben worden. Balduur hatte sie gefangengenommen und gezwungen, ihre Körperaura abzugeben. Natürlich waren sie gestorben. »Wann hast du die ersten Wanderer umgebracht?« fragte ich. Ich konnte nicht einmal zornig auf ihn sein. Er führte ein Leben, das derartig von jeder Norm entfernt war und ihm mit jedem Tag größere Qualen bereitete. »Nachdem ich begriff, daß Opal nicht anders zu retten war.«
40 »Wann? Wie viele Jahre?« »Wer kann das sagen? Es ist eine Ewigkeit her. Die Mächtigen in der FESTUNG werden es wissen.« »Die Herrscher von Pthor in der FESTUNG? Führen sie Befehle aus, oder handeln sie aus eigenem Antrieb?« »Das weiß ich nicht.« Für mich rundete sich das Bild dieses erstaunlichen Kontinents abermals ein bißchen ab. Die Menge phantastischer Gegebenheiten und Beobachtungen war weder zufällig noch unglaublich. Aus allen Zeiten, allen Dimensionen und allen vorstellbaren und nicht mehr vorstellbaren Planeten stammten die Wesen, die Einrichtungen, die Sitten und die Legenden von Pthor/Atlantis. Auch Balduur, seine leblose Geliebte und die Art und Weise, wie er ihr Lebensenergie zuführte, gehörten in dieses System der Rätsel und Phantasien. Ich stand auf und ließ die Skerzaal sinken. »Du lebst also auf dieser kleinen Welt und weißt nicht, wer die Herren über Pthor sind, und wie alles funktioniert?« »Nein.« »Ich sehe hier eine Bibliothek voller Aufzeichnungen. Wir wollen uns darin umsehen und das lesen und nachschlagen, was wir entziffern können«, warf Razamon ein. »Du wirst es erlauben?« »Ja geht nur. Ich zeige euch alles.« Ächzend stand Balduur auf. Razamon betrachtete ihn ohne eine Spur von Mitleid oder Verständnis. Razamon ließ ihn nicht aus den Augen. Er hielt das Schwert schlagbereit, die Finger lagen auf dem Auslöser der Skerzaal. Noch immer witterte er eine neue Teufelei. Ich schätzte seine vorsichtige Skepsis, aber ich glaubte nicht, daß wir im Augenblick gefährdet waren. Deckenwiezel kam aus dem Raum, in dem sich der Schrein befand, und er winkte uns. »Schont Balduur; er ist schwach von den Anstrengungen der Nacht. Ich werde euch die Bibliothek zeigen.« »Schon gut. Wir hungern nach der Weisheit der Bücher«, knurrte ich.
Hans Kneifel Der Zwergrobot ging schnell mit seinen kurzen, kleinen Schritten zwischen uns hindurch und winkte. Wir folgten ihm in die Kammer, die als Bibliothek bezeichnet wurde. Wir blieben stehen und sahen uns zum erstenmal richtig um. Vermutlich war hier ein wahrer Schatz an Informationen enthalten. Ledergebundene Bücher, Rollen aus Pergament oder Papyrus, holzähnliche Blätter, dünne Steintafeln – das alles war wild durcheinander in den riesigen Regalen gestapelt. Globen standen und hingen in hervorragend gearbeiteten Gestellen und drehten sich, fremdartige Instrumente waren zu sehen. »Wir brauchen Informationen über Pthor«, sagte ich. »Hilf uns, Deckenwiezel.« »Ihr könnt Pthora sprechen, also könnt ihr diese Sprache auch lesen. Ich werde euch die wichtigsten Schriften bringen. Hier, der Tisch.« Zusätzlich zum eingespiegelten und gelenkten Sonnenlicht – es schien die Zeit zwischen spätem Morgen und Mittag zu sein – schaltete sich eine auffallend modern aussehende, große Lampe an. Deckenwiezel schleppte unermüdlich Bücher und Pergamentrollen herbei und wies uns auf die große Bedeutung hin, die diese Aufzeichnungen hatten. »Von wem stammen diese Schätze?« wollte ich wissen. Razamon und ich stürzten uns auf die Schriftrollen und versuchten, bestimmte Zusammenhänge zu erkennen. Natürlich wäre es faszinierend, eine Art Tagebuch oder Logbuch dieses Dimensionsseglers zu finden. »Ich habe keine Antwort. Alles war bereits so, als ich hier abgeliefert wurde«, sagte Deckenwiezel. Wir schlugen die ledernen und metallverzierten Deckel auf und bliesen die Staubwolken zur Seite. Deckenwiezel war in unserer Nähe und versuchte, den Staub mit Hilfe eines trichterähnlichen Geräts aufzufangen. Wir sahen Bücher mit unbekannten Schriftzeichen und phantastischen Bildern, die einmal wirkten wie Photographien, dann wieder
Kämpfer der Nacht wie die Malereien von phantasiebegabten Künstlern. Dann gab es eine Rolle, mit Pthora-Schriftzeichen bedeckt, die einen Vorfall schilderte, der mit dem Auftauchen des kleinen Landbrockens zusammenhing, für uns aber kaum verständlich war. Es wurden Grausamkeiten geschildert, die von den Horden der Nacht und den Berserkern verübt worden waren. Der Robotzwerg schleppte noch mehr Bücher und Rollen herbei und versuchte, diejenigen zur Seite zu stellen, die wir nicht entziffern konnten. »Atemberaubend!« murmelte Razamon plötzlich und zog mich am Arm zu sich herüber. Vor ihm lag ein mächtiges Buch mit Seiten, so groß wie eine kleine Tischplatte. Bilder und Texte wechselten einander ab. »Was gibt es?« fragte ich alarmiert. »Hier! Karten und Aufnahmen von einem fremden Planeten und die Schilderung eines Beutezugs. Ohne den Namen des Verfassers, aber uralt.« Wir beugten uns über die schweren, dicken Seiten. Wir würden Monate dazu brauchen, diese Bibliothek zu sichten, alles Unbrauchbare zur Seite zu schaffen und in die lesbaren Manuskripte eine gewisse Ordnung zu bringen. Aber hier fesselte uns die Schilderung einer Landung auf einer fremden Welt, die irgendwann stattgefunden haben mochte – es gab keine einzige Zeitangabe. Wir lasen, betrachteten die Bilder, entdeckten Ähnlichkeiten und unterhielten uns leise über das, was wir begriffen. Deckenwiezel half uns, aber er konnte uns nicht die geringste Aufklärung über die Gesichtspunkte geben, nach denen die Bibliothek aufgebaut war. Es herrschte vollkommenes Chaos in den vielen Dokumentationen, von denen wir nur einen Bruchteil begriffen. Immer wieder holten wir neue Steintafeln, furnierähnliche Holzrollen mit Schriftzeichen, von Brettern zusammengehaltene dünne Holztafeln, Rollen und Pakete hervor, und immer andere Bücher. Die Zeit verging wie im Fluge, und wir
41 lasen … lasen … Immerhin wußten wir schon nach ganz kurzer Zeit, daß unsere Überlegungen bestätigt wurden. Pthor bewegte sich völlig souverän und ohne irgendwelchen Gesetzen von Logik und Vernunft unterworfen, noch viel weniger den Gesetzmäßigkeiten der bekannten Naturwissenschaften, durch Zeit und Raum und überbrückte schnell gewaltige Entfernungen in beiden Ebenen. Überall beeinflußte die vorgefundene Kultur die von Atlantis, und ebenso beeinflußte Atlantis auf mörderische und verderbliche Art die Zivilisationen und Kulturen, in denen es landete und sich manifestierte. Wir verloren vorübergehend das Zeitgefühl und das Gefühl für mögliche Gefahren.
* Balduur stemmte sich von seiner Liege hoch, legte eine Hand hinter das Ohr und lauschte atemlos. Deckenwiezel und die beiden Wanderer waren beschäftigt, sie sahen und hörten nichts. Balduur schleppte sich zu seinem Sessel und streifte seinen einfachen Umhang über seine Schultern. Er fühlte, wie zwei starke Impulse in seinem Innern miteinander stritten; es war die alte, sinnlose Hoffnung, und es war der Versuch, dieses Leben zu beenden, das er seit Ewigkeiten führte. Er schlurfte die wenigen Schritte hinüber in die Bibliothek und sagte leise: »Deckenwiezel!« Der Roboter stapelte vier Bücher auf den Tisch und kam schnell herbeigerannt. Die zwei Fremden beachteten Balduur kaum, aber das Schwert und die Skerzaals lagen griffbereit zwischen den Folianten, in denen die Männer mit den harten Augen lasen. »Du hast Fenrir gebunden. Geh und löse seine Fesseln, damit er jagen und seinen Durst stillen kann. Er ist kein Robot, er muß sich frei bewegen können.« »Die vorübergehende Entaktivierung ist seiner blinden Wildheit zuzuschreiben«, erklärte Deckenwiezel und verließ den Wohn-
42 trakt des Steinheims. Langsam ging Balduur zurück in seinen Schlafraum und von dort in die Kammer, in der sich die leise vor sich hinbrummenden Geräte und der gläserne Sarkophag standen. Opal war schön und reglos wie immer, unbeweglich und begehrenswert. Wenn sie erst lebte, würde sich alles ändern. Jetzt waren die Geräte auf Minimalleistung geschaltet, was bedeutete, daß Opal nur winzigste Mengen Körperaura zugeführt bekam. Die Antennen, von denen die Innenräume Steinheims erreicht wurden, waren fast bedeutungslos geworden. Die beiden Opfer saßen ahnungslos dort, lasen und begafften die Bilder. Balduur ging zum Schaltpult und wußte, daß er Deckenwiezel und die Wanderer überlistet hatte. Sie würden ihre Körper opfern, bis sie mumifizierte Skelette waren und ihre Aura in Opal übergegangen war. Seine Finger zitterten, Schweiß trat auf seine Stirn und sickerte aus den Achselhöhlen. Nur noch einige Schaltungen, und die Antennen würden wieder ihr Saugen und Auflösen, die Umformer ihre speisende Tätigkeit aufnehmen. Langsam! Keine Hast. Die anschwellenden Geräusche konnten die Wanderer mißtrauisch machen! Vorsicht! Er drehte einen schweren Schalter langsam herum. Dann drückte er einen Knopf hinein und zog einen Regler. Die schweißnassen Finger glitten an dem Material des Griffes ab, mit einem zirpenden Geräusch schnellte der daneben liegende Regler in die Maximum-Stellung. Einige Sekundenbruchteile vergingen. In eiskaltem, fassungslosem Erschrecken drehte Balduur den Schalter wieder zurück, aber dabei stützte er sich schwer auf einen anderen Knopf, der knackend hineingedrückt wurde. Die Geräte rings um den Schrein begannen aufzuheulen. Aus einem Schaltkasten kroch ein dünner Rauchfaden. Die Spitzen der Antennen fingen an, rot zu glühen. Einige Dutzend mehrfach verzweigter Blitze fuhren aus dem Sockel des Schreins, mündeten in die Umformer und Energiege-
Hans Kneifel räte, erzeugten ein hartes, prasselndes Knistern und dann laute, hallende Schläge, die rundherum trommelnde Echos hervorriefen. Dann bildeten die feurigen Zungen der Blitze einen Vorhang an den Flanken des Schreins und schlugen über der Deckplatte zusammen. Mehrere Stromstöße trafen Balduur, der zurücktaumelte, mit dem Fuß ein Kabel aus der Fassung riß und dann wie gelähmt stehenblieb. Die ersten Flammen und schwarzer Rauch quollen aus den Ecken, an denen die Verkleidungen der Transformer zusammenstießen. Mitten im Rauch, hinter den Blitzen und dem Feuer, begann sich Opal zu bewegen. Zuerst hob sie den Kopf, sah verwirrt um sich, dann hefteten sich ihre Augen auf Balduur, dessen Umhang an zwei Stellen schwelend abtropfte. »Opal! Du … lebst!« schrillte Balduurs Stimme. Er vermochte sich vor Schmerz und Erschrecken nicht zu rühren. Opal winkelte die Arme ab, stützte sie gegen die schwere Deckenplatte und schleuderte mit unfaßlich mächtigen Kräften die schwere, durchsichtige Platte von sich. Sie überschlug sich, prallte gegen die Wand und bohrte ihre Trümmer in einige Geräte. Ein furchtbares Klirren übertönte Balduurs Entsetzensschrei, als er sah, wie sich Opal ganz aufrichtete und aus dem offenen Schrein zu Boden sprang. Ihr langes Haar loderte im Schein des Feuers auf. Oder brannte es ebenfalls? Opal stürzte sich auf Balduur. Ihre schlanken Finger krallten sich in sein Gesicht und rissen blutige Striemen über die Stirn und die Wangen. Dann schlossen sich die Hände um Balduurs Hals. Er machte, ohne zu begreifen, schwache Abwehrbewegungen. Opal kämpfte lautlos und in ständig zunehmender Raserei. Ihre Knie trafen seinen Körper, sie löste eine Hand aus der Klammer und schlug mit der Kante zu. Jeder Hieb traf Balduur mit der Wucht eines Schwerthiebs. Überall loderten jetzt Flammen. Der
Kämpfer der Nacht
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schwarze Rauch hob sich unter die Decke und breitete sich dort aus. In den Umformern ertönten ununterbrochen dumpfe Detonationen. Fauchend entwich irgendwo komprimierte Luft und fachte die Flammen immer wieder an. Balduur knickte in den Knien zusammen, und der Körper der nackten Frau warf sich über ihn. Ein Ellenbogen traf sein linkes Auge und rief eine Welle von Schmerz hervor, die ihn fast besinnungslos machte. Aus seiner Kehle löste sich, während ununterbrochen weitere Hiebe und Tritte auf ihn hereinprasselten, ein langgezogener, hallender Schrei. Dann änderte sich die Szene, aber Balduur nahm von allem nichts mehr wahr.
8. Zuerst hörten wir ein heulendes Geräusch, dem wir nicht viel Bedeutung beimaßen. Wir unterbrachen kurz unsere Versuche, weitere Texte zu entziffern, und hoben die Köpfe. Aber dann, nach einigen Sekunden, starrten wir wieder auf die Zeilen der Schriftzüge und versuchten, auf den Bildern interessante Einzelheiten zu erkennen. Dann hörten wir ein Knistern, das in eine Serie harter, krachender Töne überging. Sie hörten sich wie Schüsse an. »Verdammter Balduur! Er überfällt uns!« schrie Razamon auf, griff nach dem Schwert und stieß seinen Stuhl um, als er in die Richtung der Schlafkammer rannte. Ich folgte ihm, nachdem ich zwischen Schriftrollen und Folianten die Armbrust gefunden hatte. Kaum stand ich im offenem Durchgang der Bibliothek zum Schlafgemach, roch ich bereits den Rauch. »Kein Überfall«, rief ich. »Da gehen irgendwelche Maschinen durch.« Zehn Schritt weiter wußten wir mehr. Uns schlugen Flammen und Rauch entgegen. Dahinter sahen wir die schwachen Versuche Balduurs, sich gegen einen Angriff der nackten rothaarigen Frau zu wehren, der mit der Erbitterung einer verwundeten Raubkatze geführt wurde. Der Kämpfer der Nacht
wankte hin und her, kippte zur Seite und versuchte, aus dem Bereich von Funken und Hitze und der Schläge und Würgegriffe der Frau zu entkommen. Wir versuchten, zu ihm vorzustoßen, aber eine waagrechte Flamme, die aus einem zerborstenen Rohr zu kommen schien, versperrte uns den Weg. »Laßt mich durch! Ich bin hier, um ihm zu helfen!« schnarrte Deckenwiezels Stimme plötzlich hinter uns. Wir sprangen zur Seite. Deckenwiezel rannte schwankend in den Raum hinein, schlug einen Haken und sprang auf einen für uns nicht sichtbaren Schaltkasten zu. Wieder knallte ein Blitz quer durch den Raum und trieb uns mehrere Schritte zurück. Sucht Wasser. Sonst verbrennt das Steinheim mit den unersetzlichen Schätzen! rief der Extrasinn. Deckenwiezel hantierte lautstark. Es gab mehrere harte Schaltgeräusche, dann kamen die heulenden und funkensprühenden Geräte zur Ruhe. Der Robot kam aus der Ecke hervor, rannte durch die Flammen und warf sich zwischen Opal und Balduur. »Es zeugt von charakterlich schlechter Art, seinen Lebensretter zu schlagen«, kreischte er, aber Opal wischte ihn mit einem Rückhandschlag zur Seite. Der Zwergenkönig wurde in die Höhe gerissen, rutschte aus und flog mit Armen und Beinen rudernd mitten in die schmorende und sich verformende Anlage. Razamon sah den krachenden Blitz nicht mehr, der Deckenwiezel zerriß, aber eins der Bruchstücke schlug dicht neben seiner Schulter in die Wand. Langsam kroch Balduur auf uns zu. In der Mitte des Raumes, in dem noch immer Opal in völliger Lautlosigkeit und besinnungslosem Haß auf ihn einschlug und seine Schulter mit den Zähnen zerfleischte, gab es weniger Flammen, dafür mehr Rauch. Ich sah endlich an der Wand des Schlafraumes eine Art Hahn, sprang darauf zu und drehte den langen Hebel. Ein kräftiger Wasserstrahl fauchte daraus hervor.
44 Vor Stunden hatte ich bereits ein tonnenförmiges, hohles Gefäß stehen sehen; mit Gold und Schnitzereien versehen. Ich schleppte es in fliegender Hast zum Hahn, wartete ab, bis es halb voll war und leerte es in die Flammen, wo sie am stärksten waren, nachdem ich es zwanzig Meter weit geschleppt hatte. »Hierher, Razamon!« schrie ich. Gerade, als ich zum zweitenmal die Tonne zum brennenden Raum schleppte, erhielt ich einen schweren Stoß an der Schulter. Das Gefäß kippte um und leerte seinen Inhalt fast genau auf Balduur und Opal. An mir sprang Fenrir vorbei, ein grauer Schemen. Der Riesenwolf handelte blitzschnell und furchtlos. Er sprang Opal in den Rücken, sein mörderisches Gebiß schloß sich um ihren Nacken, dann riß er die Frau hoch und schüttelte seinen Kopf mehrmals hin und her. Es waren Bewegungen, gegen die sich nicht einmal die Frau mit ihren übernatürlichen Kräften wehren konnte. Razamon kam mit einem zylindrischen Gegenstand herbeigerannt, der in eine gekrümmte Düse auslief. Der Wolf ließ sein Opfer los, hob den Kopf und heulte kurz auf. Dann packte er ein zweitesmal zu und riß mit einem kurzen Biß die Kehle Opals auf. Als sich seine Kiefer schlossen, ging ein letztes Aufbäumen durch den Körper. Beine und Arme flogen zur Seite, der Rücken krümmte sich. Dann sackte Opal schlaff zusammen. Sofort, mitten in dem brausenden Nebel, den Razamons Gerät versprühte und einem gewaltigen Schwall Wasser, das ich herbeigeschleppt hatte, warf sich Fenrir auf Balduur und packte ihn unsanft am Oberarm. Rückwärts zerrte der Wolf den schweren Körper durch die nachlassenden Flammen. Razamon richtete seinen Löscher darauf. Der Rauch wurde von unsichtbaren Geräten abgesaugt. Plötzlich kam uns die Stille zu Bewußtsein. Balduur stöhnte schwach auf, seine Muskeln erschlafften, er verlor das Bewußtsein. Wieder rannte ich mit einer neuen Ladung
Hans Kneifel Wasser heran und schüttete es auf schwelende Reste irgendwelcher Geräte. Das Wasser lief bereits hinter mir auf dem Boden in den Raum hinein und verwandelte sich überall, wo es auf glühende oder brennende Trümmer traf, in kochenden Dampf, der sich mit dem Rauch und den feinen Tröpfchen aus Razamons Gerät vermischte und die letzten Flammen erstickte. Der Raum war völlig verwüstet, geschwärzt und durchnäßt. Ich schüttete einen halben Kübel über Fenrir und Balduur aus. Auch das Fell des Wolfes war an den Schultern versengt. Ich bildete mir ein, daß Fenrir mich dankbar anblickte. Aber er hörte nicht auf, Balduur weiterzuschleppen. Sie befanden sich bereits in der Nähe des riesigen Bettes. Razamon warf sein leeres Gerät in den Raum hinein, rieb sich Rußflocken und Schweiß aus dem Gesicht und knurrte: »Wenn er stirbt, hat er es sich selbst zuzuschreiben. Ich bin ganz sicher, daß Balduur die Anlage eingeschaltet und dabei einen Fehler gemacht hat. Das hat einen Effekt ausgelöst, den er nicht haben wollte.« Ich dachte an den Roboter, der sich selbst vernichtet hatte, indem er die Hauptenergiezufuhr unterbrach und Opal von ihrem Opfer wegreißen konnte. »Warum hat Opal den Mann, den sie angeblich liebte, mit einer solchen Verbissenheit angegriffen?« murmelte ich nachdenklich. Fenrir ließ Balduur los und stieß ein klagendes Winseln aus. Es klang wie ein Hilferuf. »Wir werden es nicht erfahren. Wahrscheinlich hat der Schock der plötzlichen Erweckung sie nachhaltig geschädigt.« Wir gingen auf Balduur zu. Er blutete aus vielen Wunden. Teile seiner Haut waren verbrannt und sahen blasig und rot aus. »Nun ist sie tot. Der Wolf ist wirklich ein gelehriges Tier. Ich hätte nicht anders gehandelt.« Jetzt waren wir allein mit einem Verwundeten, diesem hungrigen Riesenwolf und dem Steinhaus voller Monstrositäten. Verg-
Kämpfer der Nacht lichen mit der Lage vor einem Tag hatten wir plötzlich sehr viel mehr Macht. Und wir waren keine Gejagten mehr. Aber diese Verbesserung der Situation war bestenfalls ein Aufschub, nicht mehr. Wir würden, wenn wir dieses Haus verlassen hatten, lediglich ausgeruht sein und eine Spur klüger. »Jetzt ist das Handeln an uns«, sagte ich. »Wir müssen diesen Ritter der Nacht verbinden und auf sein muffiges Bett heben.« Razamon grinste kalt. »Nichts dagegen. Aber: eins nach dem anderen. Erst einmal müssen wir finden, was wir brauchen.« Wir fanden frische Decken und Tücher und statteten das Lager damit aus. Dann zerschnitten wir die Reste von Balduurs Übergewand und vernichteten sie. Im Bad fanden wir das Nötige und gingen daran, die Wunden zu säubern, sie mit Alkohol zu desinfizieren und zu verbinden, nachdem wir Salben daraufgestrichen hatten. Trotz unserer schmerzhaften Prozedur erwachte Balduur nicht aus seiner Bewusstlosigkeit. Der Wolf stand bei uns und verfolgte hechelnd jede unserer Bewegungen, aber er war nicht im mindesten feindselig, sondern machte eher den Eindruck, daß er über unser Handeln froh war. Zweifellos ein Tier von beachtlicher Klugheit. Zwei Stunden später war Balduur versorgt. Wir hatten aufgepaßt Deckenwiezels Magazin und die kleinen Anlagen, in denen er Essen herstellte, waren uns ziemlich gut bekannt. Wir versuchten, eine dicke, nahrhafte Suppe aus vorgefundenen Zutaten zu kochen und waren vom Ergebnis nicht einmal enttäuscht. »Wir warten, bis Balduur wieder zu sich kommt«, sagte Razamon schließlich. »Bis dahin essen wir und studieren weiter. Einverstanden, Atlan?« »Natürlich. Abgesehen davon, daß uns beiden ein längerer Schlaf nicht schaden würde.« »Schlafen können wir noch später. Bringen wir erst einmal dies hier hinter uns.« Der Wolf bewachte die Bewußtlosigkeit
45 seines Herrn. Die Spekulation darüber, ob sich Balduur, nachdem die Geräte ausgefallen waren und Opal keine Körperaura-Impulse mehr brauchte, rasch erholen würde, war für uns müßig. Wir sammelten unsere Ausrüstung ein, steckten noch einige Nahrungsmittel in die Satteltaschen und füllten Wasserbehälter auf. Wir waren, ohne uns zu verständigen, sicher, daß unsere Wanderung nach Wolterhaven nur kurz unterbrochen worden war. Dann kümmerten wir uns wieder um die Folianten und Schriftrollen. Wir lasen viel zu viel für die kurze Zeit. Aber was wir auch lasen, es war interessant und spannend, doch es war nur ein winziges Mosaiksteinchen, das seinerseits nur ein bestimmtes Gebiet betraf, das sowohl geographisch als auch zeitlich abermals nur ein winziger Ausschnitt von Pthor war. Razamon hob irgendwann den Kopf und brummte: »Wir haben eine Menge Geschichten gelesen. Sie zeigen uns die haarsträubenden Abenteuer, die hier sozusagen an der nung sind. Aber wir haben noch lange keinen Überblick über das Ganze. Und dieser Zwischenfall mit Balduur hat uns zwar viel Energien gekostet, aber auf dem Weg nicht richtig weitergebracht. Was sollen wir tun? Dieses Steinhaus auseinandernehmen und nach den Gebeinen derer graben, die für diese rothaarige Leiche gestorben sind?« Ich verzog mein Gesicht und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Du wirst zur unpassenden Zeit und anläßlich des falschen Gegenstands sarkastisch. Balduur wird trauern und verzweifelt sein, wenn er merkt, was geschehen ist. Sein Leben wird sich ändern. Radikal, denke ich.« »Ganz sicher. Mich dauert nur dieser Deckenwiezel, der in Fetzen auseinandergeflogen ist.« »Ja. Fenrir liegt neben seinem Herrn und bewacht seinen Schlaf. Falls wir dieses Haus verlassen – meinst du, daß sie uns in der Nacht wieder verfolgen und einholen, und
46 wenn ja, zu welchem Zweck?« Razamon zog seine Schultern hoch und schlug mit der flachen Hand auf einen Folianten. Eine große Staubwolke breitete sich aus, und wir husteten leicht. »Ich glaube, daß wir von Fenrir und Balduur nichts Unangenehmes mehr zu erwarten haben.« »Bist du sicher?« »Ziemlich sicher.« Unschlüssig betrachtete ich die verschiedenen Systeme von beschriebenem oder bedrucktem Material. Razamon machte auch den Eindruck, als sei er nahe daran, aufzugeben. Was wir hier hatten, waren theoretische Erkenntnisse, die uns in unserem abenteuerlichen Kampf nicht viel weiterhelfen konnten. »Was jetzt? Es wird langsam Abend. Unser Ziel ist nach wie vor Wolterhaven.« »Warten wir noch ein wenig. Ich bin sicher, daß weitere Überraschungen nicht lange auf sich warten lassen.« »Vermutlich. Ich schließe mich deiner Argumentation an.« Wir standen auf und sahen uns einigermaßen ratlos an. Zwar waren wir müde und von den Ereignissen mitgenommen, aber inzwischen sahen wir unsere Lage weitaus klarer. Von Fenrir und Balduur drohte anscheinend keine Gefahr mehr; Balduur war verwundet und würde sein persönliches Desaster überleben, und der Fenriswolf hatte gesehen, daß wir seinem Herrn geholfen hatten. Aber da wir sicher sein konnten, daß sich keiner derjenigen, mit denen wir auf Pthor zusammentrafen, »vernünftig« in unserem Sinn verhalten würde, brauchten wir auf diese Überzeugung nicht sehr viel zu geben. Unser Ziel war einigermaßen klar definiert. Eine kluge Überlegung. Beziehe sie in deine Entscheidungen mit ein, pflichtete mir der Logiksektor bei. Während wir noch schweigend nachdachten, gab es tappende Laute vor uns. Der Fenriswolf kam aus dem Schlafraum hervor und wedelte mit dem Schweif. Er stieß ein leises Jaulen aus und blieb auffordernd vor uns
Hans Kneifel stehen. Dann drehte er sich wieder herum und sah über die Schulter zurück, während er in Richtung auf Balduurs Schlafstätte schlich. »Zweifellos eines der bekannten Signale«, brummte Razamon und hob seine Skerzaal auf. »Balduur dürfte aus der Besinnungslosigkeit erwacht sein.« »So scheint es«, erwiderte ich. »Sehen wir nach.« Wir folgten dem großen, grauen Wolf. Als wir neben dem Lager des verwundeten und kraftlosen Balduur standen, hob der Mann den Kopf und beide bandagierte Unterarme. Er war noch immer schwach, aber auf eine höchst merkwürdige Weise wirkte er, als sei er unendlich erleichtert. Dennoch zeichnete sich in dem zerkratzten und von Pflastern verunzierten Gesicht ein völlig neuer Zug der Entschlossenheit ab. Es war uns, als sei Balduur plötzlich aus seinem langen, phantastischen Traum gerissen worden und sähe jetzt die Realität so, wie sie sich darstellte. »Danke«, sagte er schwach. »Ich erinnere mich an alles. Auch ihr habt keine Erklärung, nicht wahr?« »Nein. Wir bedauern alles. Es war nicht unsere Schuld.« Er starrte zwischen uns hindurch zur Kante des verwüsteten und verbrannten Raumes. Es stank noch immer erbärmlich nach kaltem Rauch und nach Feuchtigkeit. Innerhalb des langgestreckten Bauwerks herrschte völlige Stille. Der Fenriswolf schob seinen Rachen und seine breiten Schultern zwischen uns beiden hindurch und blieb stehen. Er, der Opal getötet und vermutlich Balduurs Leben gerettet hatte, blickte seinen Herrn voller Vertrauen und Trauer an. »Es klingt wahnsinnig und unverständlich«, begann Balduur und streckte eine Hand aus. Er sprach, als redete er zu sich selbst und ohne Zuhörer, aber eindeutig begrüßte er den Umstand, lebende Wesen als Gesprächspartner zu haben. »Für euch unverständlich. Sie ist tot. Ich liebe sie noch immer.«
Kämpfer der Nacht Er richtete sich ächzend auf und griff nach meiner Skerzaal. Ich überließ sie ihm und wußte genau, daß er sie weder gegen Razamon noch mich gebrauchen würde. »Ich liebe Opal noch immer. Obwohl sie mich verletzt und beinahe umgebracht hätte, kann ich sie nicht vergessen. Ihre Schönheit. Ihre Liebensfähigkeit. Ihre Art, mit der sie mich verwöhnte, solange wir zwischen den Welten von Zuklaan waren. Und ich hasse«, seine Stimme wurde überraschend fest und grausam, »denjenigen, der sie getötet hat.« Razamon reagierte richtig, aber ehe er etwas tun konnte, hatte Balduur meinen Skerzaal herumgeschwenkt und ausgelöst. Auf eine Entfernung von weniger als drei Metern schwirrte der Bolzen davon, von den mächtigen Schenkeln des Bogens und der Sehne nach vorn gerissen. Balduur hatte kaum zu zielen brauchen. Der Bolzen traf den Fenriswolf in den offenen Rachen. Das Tier zuckte zusammen und machte einen Satz, der uns beide zur Seite warf. Razamons Waffe wurde dadurch ausgelöst, aber der Bolzen mit der mehrfach geschliffenen Spitze schlug eine Handbreit tief in die Wand und blieb zitternd stecken. Ein Schwall Blut strömte aus dem Rachen des Tieres. Wir waren entsetzt, aber es war zu spät, etwas unternehmen zu wollen. Der Wolf schüttelte seinen Kopf, aber der lange Bolzen blieb in der Wunde stecken. Als ich den Arm ausstreckte, um helfen zu wollen, knurrte Fenrir. Dann heftete er einen langen Blick voller Traurigkeit und Enttäuschung auf seinen Herrn und tappte langsam rückwärts. Mit einem leisen, schmerzerfüllten Winseln verließ Fenrir den Raum und lief in dem charakteristischen Wolfstrab die Rampen und Treppen hinaus. Wir hörten ein letztes, schauriges Heulen der Verzweiflung vom Ausgang her und lösten uns wieder aus der vorübergehenden Erstarrung. Das Ganze hatte keine fünf Sekunden gedauert. Razamon schüttelte den Kopf und sagte hart, seine Skerzaal wieder spannend: »Balduur! Wer immer du bist, jedenfalls
47 bist du ein Narr. Du hast soeben das Wesen verstoßen, das als einziges noch Treue dir gegenüber empfand.« Balduur schwang langsam seine Beine herum und stellte die Füße auf den nassen Belag des Bodens. »Treue?« monologisierte Balduur und sah uns aus fahlen blauen Augen an. »Treue? Von einem Raubtier? Er hat meine geliebte Opal …« Razamon sagte grob: »Und er hat dich aus den Flammen gezerrt und sich dabei das eigene Fell versengt!« Balduur winkte müde ab und stützte sich auf unsere Schultern, als er in die Richtung auf den chaotisch verwüsteten Raum davonging. »Er hat Opal getötet. Er hat mich von meinem ewigen Traum befreit. Er hat mich gezwungen, ich selbst zu werden. Er hat vieles getan, was positiv und gut sein mag. Aber er hat Opal getötet. Ich werde niemals wieder jemanden so lieben können wie Opal. Alles ist sinnlos geworden. Wenn nur Odin käme und mir helfen würde. Er weiß stets Rat, selbst für mich. Ihr müßt gehen, Wanderer.« »Es wäre besser, wir würden gemeinsam hier beraten, was geschehen soll. Und du kannst uns Informationen geben, Legenden und Sagen erzählen, die von Pthor handeln.« Er schüttelte den Kopf und watete durch das verdunstende Wasser auf den Leichnam Opals, zu, der inmitten der Verwüstung lag, ebenso ausgestreckt wie vor dem im gläsernen Sarg. »Nein. Ich will allein sein mit meinem Kummer.« Es war deutlich geworden. Die Stunde des Abschieds hatte geschlagen. Es war ohne jeden Sinn, hier zu bleiben und zu versuchen, ihn aufzuheitern. Balduur war aus einem Traum gerissen und in den anderen Traum gestürzt worden. Er würde lange Zeit in diesem zweiten Traum verharren. Vielleicht mußte er dieses Ende der privaten Hölle bis zum letzten Moment auskosten, auf seine ei-
48 gene bittere Art, um aus dem Teufelskreis der gedanklichen und illusionären Verstrickungen zu entkommen. Aber auch dies war nicht unser Problem, zudem konnten wir ihm dabei nicht helfen. Im Gegenteil: Wir waren durch unsere bloße Anwesenheit ein Hindernis. Irgendwo in der Wüste heulte Fenrir schauerlich. Der schwache Laut klang durch die dünne Luft des Nachmittags und durch rätselhafte Öffnungen bis hierher. »Was hast du vor, gewaltiger Kämpfer der Nacht?« fragte ich, um ihn ein wenig aufzurichten. Der erbarmungslose Feind zeigte viel zu viele menschliche und verständnisheischende Züge. »Ich will mit meiner Geliebten allein sein.« Seine ›Geliebte‹ war übel zugerichtet. Ihr Körper glänzte im Licht der Nachmittagssonne und unter dem Einfluß des Wassers und des Löschmittels, das wir versprüht hatten. Balduur blieb neben Opal stehen. Das Wasser hatte das Blut aus der gräßlichen Wunde fortgespült. Opal wirkte auf erschreckende Weise steril und nicht mehr menschlich, auf keinen Fall begehrenswert. Mit einem ächzenden Stöhnen brach Balduur neben ihr auf die Knie und schob seine Arme unter ihren Körper. »Deine Geliebte ist so tot wie Deckenwiezel«, sagte Razamon. »Geh lieber mit uns, in deine herrliche Rüstung gekleidet. Wir werden die Mächtigen der FESTUNG besiegen und für alles Rache nehmen.« Balduur stemmte sich keuchend hoch. Er trug den wieder erstarrten Körper Opals an uns vorbei und legte ihn behutsam auf seine Liege. Er verhielt sich noch immer so, als würde Opal nur schlafen, und er würde glauben, daß sie jede Sekunde erwachen, seinen Namen stammeln und ihn umarmen würde. »Laßt mich allein. Verlaßt mein Haus und geht eure Wege«, sagte Balduur dumpf. »Wir sind Freunde geworden«, versuchte ich es abermals, was mir einen mehr als verblüfften Blick meines Kampfgefährten eintrug. »Wir wollen bei dir bleiben und dir
Hans Kneifel helfen. Du bist schwer verwundet.« »Ich spüre meine Wunden nicht. Ich habe mit euch nichts mehr zu schaffen. Alles ist mir gleichgültig geworden«, beharrte er. Razamon und ich sahen uns lange und schweigend an, dann zogen wir die Schultern hoch und wandten uns ab. »Sinnlos!« murmelte der Atlanter und schob mich in die Bibliothek zurück. »Vollkommen sinnlos. Er ist irr in seinem Schmerz.« Wieder hörten wir das klagende Wolfsgeheul aus der Wüste, über die sich jetzt die Schatten des späten Nachmittags senkten. »Du hast recht. Es ist sinnlos. Er lehnt jede Hilfe ab. Unsere Erinnerungen an diese Tage werden nicht zu unseren guten Erinnerungen zählen«, erklärte ich. Wir ließen uns Zeit und suchten unsere Ausrüstung zusammen. Zwischen den Folianten entdeckte Razamon das Schwert des Nachtkämpfers, hob es und bohrte es mit einem furchtbaren Schlag tief in die polierte Platte des Bibliothekstisches. Wir zogen die Felljacken an, kontrollierten unsere Ausrüstung und ergänzten sie noch durch einige Nahrungsmittel. Die Illusionssteine waren nach wie vor vorhanden. Wir befestigten die Taschen an unseren Gürteln, schulterten die Nahrungsmittelvorräte und verließen langsam, mit vielen Seitenblicken auf die grausige Ausstellung, die Bibliothek. Der letzte Eindruck, den wir von Balduur hatten, war niederdrückend und erschreckend. Der Mann, der am Tag schlaff und tatenlos umherschlich und nachts einer der härtesten und gewaltigsten Kämpfer war, die uns jemals gegenübergestanden waren, hockte an der Kante seines Lagers und starrte regungslos, mit finsterem Gesicht, den Leichnam der Frau an, die er aus einem unendlich fernen Sternarchipel mitgenommen hatte. Eine Galaxis, die nicht nur unendlich weit weg war, sondern auch irgendwo in der Vergangenheit, der Gegenwart oder gar der Zukunft liegen konnte. Mit jedem Schritt, den wir uns dem Aus-
Kämpfer der Nacht gang näherten, fiel ein bißchen mehr von der Beklemmung von uns ab. Als wir die letzte Rampe hinuntergingen und in den gesprenkelten Schatten des Dschungels eintraten, fühlten wir uns, als habe uns jemand von einer schweren Last befreit. »Weiter nach Wolterhaven«, knurrte Razamon und zog sein linkes Bein leicht nach. »Die Abenteuer, die uns dort erwarten, werden wohl anderer Natur sein.« Wie zur Bekräftigung erscholl aus der endlosen Weite der Wüstenlandschaft abermals das klagende Wolfsgeheul. »Er tut mir leid«, beharrte ich. »Wer? Balduur?« »Ja. Ich weiß, du wirst einwenden, daß sein Schicksal entweder vorbestimmt oder ein Teil des phantastischen Kleinkontinents ist, aber trotzdem denke ich daran, was ein Phantom aus einem Mann machen kann, was es ihm antut, wenn die Sterne ungünstig stehen.« »Dies ist nicht unser Problem«, war die harte Antwort. Wir gingen ohne sonderliche Eile durch den Dschungel und benutzten den schmalen Pfad. Insekten summten und schwirrten, kleine Tiere schwangen und flatterten mit wenigen Geräuschen und unsichtbar durch die Zweige und Äste, und die Sonne wurde hinter den Blättern immer deutlicher und stechender. »Wir werden uns heute nacht in den Sand eingraben und lange schlafen«, erklärte Razamon, als wir zwischen den kleiner werdenden Büschen in die Wüste hinauswanderten und vergebens Ausschau nach dem Fenriswolf hielten. »Das ist sicher«, antwortete ich. »Jetzt gehen wir dieses verfluchte Stück der Straße der Mächtigen zum drittenmal. Hoffentlich ist es auch die am wenigsten unangenehme Reise, die wir vor uns haben.« Razamon stieß ein lautes, gräßliches Gelächter aus. Er breitete die Arme aus und begrüßte den Moment, an dem wir, aus dem Chaos entkommen, wieder die freie Natur betraten.
49 »Wo ist der Wolf?« Wir stapften durch den Sand. Die Grasbüschel hatten sich längst wieder aufgerichtet und wirkten frisch und grün. Jetzt erreichten wir den Rand des breiten Bandes aus unbekanntem Metall, das irgendwo in oder vor Wolterhaven endete. Auch über diese Stadt hatten wir nur höchst unzulängliche Informationen, aber wir kamen weder als Arme noch als Unerfahrene. Allein unsere Quorks, die vorgeblichen Knochen der legendären Katze, sicherten uns eine einigermaßen fundierte Position. Unsere Schritte klangen leise auf dem Metall, auf dem wir unsere eigenen Spuren und die des Wegelagerers erkannten. »Deckenwiezel kam aus Wolterhaven«, gab Razamon zu bedenken und ging leicht hinkend neben mir her. Wir hatten irgendwann den fatalen toten Punkt überwunden und fühlten uns wieder frei und leicht. »Ich wollte, er wäre nicht detoniert und ginge mit uns. Er würde uns wertvolle Informationen liefern – zumindest über seine Heimatstadt.« »Das alles ist vorbei und vorüber. Gehen wir so lange, wie wir können …«, fing ich an, aber ich zuckte zusammen, als wieder das traurige, langgezogene Schmerzgeheul des großen grauen Wolfes erklang, einer der vielen lebenden Legenden. »Vergiß Deckenwiezel und Balduur, vergiß Fenrir und alles andere. Das ist vorbei. Wir sind auf unserem Weg. Schon hinter der nächsten Düne kann neue Gefahr lauern«, sagte Razamon laut. »Ich kann mich leider nicht erinnern. Auch die Schriften haben da nicht viel helfen können. Ich weiß nur eines.« Die Sonne sank immer tiefer. Bald würde die Kälte der Nacht wieder einsetzen. »Was weißt du?« fragte ich und schritt unwillkürlich schneller aus. »Daß wir nicht mehr als einen winzigen Schritt in die Geheimnisse, Gefahren und Legenden von Pthor oder, wenn du es lieber hörst, von Atlantis getan haben. Das ist die Wahrheit. Richte dich danach.«
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Hans Kneifel
»Du hast recht, Razamon«, erwiderte ich und wußte, daß es so war. Aber mit ihm als Kampfgefährten und als Freund brauchte ich mir nicht zu viele Sorgen zu machen. Wir waren auf dem Weg nach Wolterhaven. Und jeder, der sich uns entgegenstellte, würde auf den erbittertsten Widerstand von zwei
erfahrenen Abenteurern stoßen.
ENDE
ENDE