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Science Fiction UllsteinBuchNr.31073 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Titel der Originalausgabe: Children of the Atom Aus dem Amerikanischen übersetzt von Uwe Anton Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagillustration: Vincent DiFate Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1953 by Wilmar H. Shiras Nachwort Copyright © 1978 by Marion Zimmer Bradley Übersetzung Copyright © 1983 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Printed in Germany 1983 Gesamtherstellung: Elsnerdruck GmbH, Berlin ISBN3548310737 Oktober 1983
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Shiras, Wilmar H.: Kinder des Atoms / Wilmar H. Shiras. [Aus d. Amerikan. übers, von Uwe Anton]. - Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1983. (Ullstein-Buch; Nr. 31073: Science-fiction) Einheitssacht.: Children of the atom «dt.) ISBN 3-548-31073-7 NE: GT
Wilmar H. Shiras
Kinder des Atoms
Für meinen Gatten RUSSELL und meine Tochter ALICE
INHALT 5 VERSTECKSPIEL 46 SICH ÖFFNENDE TÜREN 88 NEUE GRUNDLAGEN 133 PROBLEME 189 KINDER DES ATOMS 231 NACHWORT
VERSTECKSPIEL Der Psychiater Peter Welles musterte den Jungen nachdenklich. Warum hatte die Lehrerin Timothy Paul zur Untersuchung geschickt? »Ich weiß selbst nicht, ob mit Tim etwas nicht stimmt«, hatte Miss Page zu Dr. Welles gesagt. »Er kommt mir völlig normal vor. In der Regel ist er ziemlich ruhig und antwortet im Unterricht nicht ungefragt, das ist es nicht. Er kommt mit den anderen Jungs ziemlich gut zurecht und scheint auch einigermaßen beliebt zu sein, obwohl er keine speziellen Freunde hat. Seine Noten sind zufriedenstellend - in sämtlichen Fächern hat er Zweien. Aber wenn man so lange Lehrerin war wie ich, Peter, dann bekommt man ein gewisses Gespür dafür. Er macht so einen verkrampften Eindruck - manchmal hat er einen gewissen Blick - und ist oft geistesabwesend.« »Und was vermuten Sie?« hatte Welles gefragt. Manchmal waren solche Hinweise sehr wertvoll. Miss Page befand sich seit dreißig Jahren im Schuldienst; sie war vor einiger Zeit Peters Lehrerin gewesen, und er hielt sehr viel von ihrer Meinung. »Ich hätte es nicht sagen sollen«, gab sie zurück. »Eigentlich habe ich nichts in der Hand noch nicht. Aber bei ihm liegt etwas in der Luft, und wenn man das unterbinden könnte ...« »Ärzte werden oft gerufen, bevor sich die Symptome weit genug ausgeprägt haben, so daß auch der Doktor sie erkennen kann«, sagte Welles. »Ein Patient, die Mutter eines Kindes oder ein geübter Beobachter kann oft erkennen, daß etwas verkehrt läuft. Aber in solchen Fällen hat der Arzt es schwer. Verraten Sie mir, worauf ich Ihrer Meinung nach achten sollte.« »Bitte geben Sie nicht allzuviel darauf, Peter. Es ist mir einfach so in den Sinn gekommen; ich weiß, daß ich kein ausgebildeter Psychiater bin. Aber es könnt Größenwahn sein. Oder auch ein Rückzug aus der Gesellschaft. Ich muß ihn stets zweimal ansprechen, bevor er mich im Unterricht bemerkt - und echte Kumpel hat er auch nicht.« Welles hatte zugestimmt, den Jungen zu untersuchen. Und er hatte versprochen, sich nicht zu sehr von >den Spinnereien einer alten Frau<, wie Miss Page es selbst nannte, beeinflussen zu lassen. 5
Als Timothy zur Untersuchung erschien, machte er den Eindruck eines ganz normalen Jungen. Er war vielleicht etwas zu klein für sein Alter, hatte große, dunkle Augen und kurzgeschnittenes, dunkles, lockiges Haar, schmale, feinfühlige Finger und ... ja, einen entschiedenen Anfing von Verspannung. Aber viele Jungen waren nervös, wenn sie zum ersten Mal einen Psychiater aufsuchten. Peter wünschte sich oft, er könne sich auf eine oder zwei Schulen konzentrieren und etwa einen Tag pro Woche damit verbringen, mit all den Jungen besser vertraut zu werden. In Erwiderung auf Welles' einleitende Befragung antwortete Tim mit klarer, leiser Stimme; höflich und ohne zu viele Worte zu machen. Er war dreizehn Jahre alt und lebte bei seinen Großeltern. Seine Mutter und sein Vater waren gestorben, als er noch ein Baby gewesen war. Er erinnerte sich nicht an sie. Er sagte, er sei glücklich zu Hause, möge die Schule >recht gern< und spiele auch gern mit den anderen Jungen. Als Welles ihn nach seinen Freunden fragte, nannte er mehrere Namen. »Welche Schulfächer magst du?« Tim zögerte und sagte dann: »Englisch und Rechnen ... und Geschichte... und Erdkunde«, schloß er nachdenklich. Dann schaute er auf, und in seinem Blick lag etwas Seltsames. »Was tust du gern in deiner Freizeit?« »Lesen, und spielen.« »Welche Spiele?« »Ballspiele ... und Murmeln ... und solche Sachen. Ich spiele auch gern mit den anderen Jungs«, fügte er nach einer kaum wahrnehmbaren Pause hinzu, »alles, was sie spielen.« »Spielen sie bei dir zu Hause?« »Nein, wir spielen auf dem Schulhof. Meine Großmutter mag keinen Lärm.« War das wirklich der Grund? Wenn ein stiller Junge Erklärungen anbietet, müssen sie nicht unbedingt stimmen. »Was liest du denn gern?« Aber über seinen Lesestoff blieb Timothy ziemlich unbestimmt. Wie er sagte, las er gern >Bücher für Jungs<, konnte aber keine Titel nennen. Welles ließ den Jungen die üblichen Intelligenztests durchführen. Tim schien willig zu sein, doch seine Antworten kamen nur zögernd. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, dachte Welles, aber er ist zu bedacht - zu vorsichtig. Ohne sich die Zeit zu nehmen, Tims 6
Intelligenzquotienten genau auszurechnen, wußte Welles, wo er liegen würde - bei 120. »Was tust du, wenn du nicht in der Schule bist?« fragte der Psychiater. »Ich spiele mit den anderen Jungs. Nach dem Abendessen mache ich Hausaufgaben.« »Was hast du gestern gemacht?« »Wir haben auf dem Schulhof Ball gespielt.« Welles wartete eine Weile, ob Tim aus sich heraus etwas sagen würde. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten. »Ist das alles?« fragte der Junge schließlich. »Darf ich jetzt gehen?« »Nein, ich würde heute gern noch einen Test mit dir machen. Eigentlich mehr ein Spiel. Wie steht es mit deiner Fantasie?« »Ich weiß nicht.« »Risse in der Decke - wie die dort drüben - kannst du irgend etwas darin sehen? Gesichter, Tiere, irgend etwas?« Tim sah hin. »Manchmal. Und auch Wolken. Bob hat letzte Woche eine Wolke gesehen, die wie ein Nilpferd aussah.« Wieder klang der letzte Satz wie etwas, das im letzten Moment angehängt worden war, wie eine sorgfältige Hinzufügung aus einem ganz bestimmten Grund. Welles holte die Rorschach-Karten hervor. Als sein Patient sie sah, steigerte sich seine Spannung; seine Vorsicht wurde unmißverständlich deutlich. Als sie die Karten zum ersten Mal durchgingen, ließ sich der Junge kaum dazu bewegen, außer »Ich weiß nicht« überhaupt etwas zu sagen. »Du kannst das doch viel besser«, sagte Welles. »Wir gehen sie noch einmal durch. Wenn du in diesen Bildern gar nichts siehst, muß ich dich als Versager einstufen«, erklärte er. »Das stimmt doch nicht. Bei den anderen Tests hast du gut abgeschnitten. Und vielleicht machen wir nächstes Mal ein Spiel, das dir besser gefällt.« »Ich habe jetzt keine Lust, dieses Spiel zu spielen. Können wir es nicht beim nächsten Mal wiederholen?« »Dann können wir es genausogut jetzt hinter uns bringen. Weißt du, es ist nicht nur ein Spiel, Tim, sondern ein Test. Gib dir mehr Mühe, und sei ein guter Sportsmann.« 7
So erklärte Tim diesmal, was er in den Tintenklecksen sah. Sie gingen die Karten langsam durch, und der Test zeigte Tims Furcht und daß es da etwas gab, das er verbarg; er zeigte seine Vorsicht, einen Vertrauensmangel und eine ungewöhnlich hohe emotionelle Selbstkontrolle. Miss Page hatte recht gehabt; der Junge brauchte Hilfe. »Das war schon alles«, sagte Welles fröhlich. »Wir gehen die Karten nur noch einmal schnell durch, und ich erzähle dir, was andere Leute in ihnen gesehen haben.« Einen Augenblick lang huschte echtes Interesse über das Gesicht des Jungen. Als Welles die Karten langsam durchging, bemerkte er, daß Tim auf jedes Wort achtete. Als er das erstemal sagte: »Und einige haben hier das gleiche wie du gesehen«, war die Erleichterung des Jungen offensichtlich. Tim fing an sich zu entspannen und machte sogar von sich aus einige Bemerkungen. Als sie damit fertig waren, wagte er es, eine Frage zu stellen. »Dr. Welles, könnten Sie mir den Namen dieses Tests sagen?« »Manchmal nennt man ihn den Rorschach-Test, nach dem Mann, der ihn ausgearbeitet hat.« »Würden Sie das bitte buchstabieren?« Welles buchstabierte es. »Manchmal nennt man ihn auch den Tintenklecks-Test«, fügte er hinzu. Tim zuckte überrascht zusammen und entspannte sich dann wieder - mit sichtlicher Mühe. »Was ist los? Du bist ja bald aus dem Stuhl gesprungen.« »Nichts.« »Oh, komm schon! Laß hören.« Welles wartete. »Nur weil mir der Tintenteich in den Kipling-Geschichten eingefallen ist«, sagte Tim, nachdem er eine Minute überlegt hatte. »Das ist aber anders.« »Ja, völlig anders«, lachte Welles. »Ich habe es nie versucht. Würdest du es gern?« »Oh nein, Sir«, rief Tim ernst. »Du bist heute etwas unkonzentriert«, sagte Welles. »Wir haben aber Zeit, uns noch etwas zu unterhalten, wenn du nicht zu müde bist.« »Nein, ich bin nicht sehr müde«, sagte der Junge vorsichtig. Welles nahm eine Injektionsspritze aus der Schublade. Es war nicht üblich, aber vielleicht... »Ich gebe dir nur eine kleine 8
Spritze, damit sich deine Nerven entspannen, ja? Dann kämen wir besser voran.« Als er sich umdrehte, ließ das nackte Entsetzen auf dem Gesicht des Jungen ihn innehalten. »Oh nein! Nicht! Bitte, bitte nicht!« Welles legte die Spritze zurück und schloß die Schublade, bevor er auch nur ein Wort sagte. »Ich werde es nicht tun«, sagte er ruhig. »Ich habe nicht gewußt, daß du Spritzen nicht magst. Ich werde dir keine geben, Tim.« Der Junge, der noch immer um seine Beherrschung kämpfte, schluckte und sagte nichts. »Schon in Ordnung«, sagte Welles, zündete sich eine Zigarette an und gab vor, dem aufsteigenden Rauch nachzublicken. Jetzt nur nicht den Eindruck erwecken, er würde den verstörten Jungen beobachten, wie er auf dem Stuhl gegenüber zitterte. »Es tut mir leid. Du hast mir nichts von den Dingen erzählt, die du nicht magst, vor denen du Angst hast.« Die Worte hingen im Schweigen. »Ja«, sagte Timothy langsam, »ich habe Angst vor Injektionen. Ich hasse Spritzen. Das ist nun mal so.« Er versuchte zu lächeln. »Dann werden wir auch ohne sie auskommen. Du hast alle Tests bestanden, Tim, und ich würde gern mit dir nach Hause gehen und deiner Großmutter davon erzählen. Hast du etwas dagegen?« »Nein, Sir.« »Wir können ja irgendwo etwas essen«, fuhr Welles fort und öffnete seinem Patienten die Tür. »Ein Eis oder einen Hot Dog.« Sie gingen zusammen hinaus. Timothy Pauls Großeltern, Mr. und Mrs. Herbert Davis, wohnten in einem großen altmodischen Haus, das auf Geld und Einfluß hinwies. Das Grundstück war groß, eingezäunt und von Hecken umgeben. Im Haus gab es wenig moderne Einrichtungsstücke, und alles war gut in Schuß. Timothy führte den Psychiater in Mr. Davis' Bibliothek und begab sich dann auf die Suche nach seiner Großmutter. Als Welles Mrs. Davis sah, glaubte er, einen Teil der Erklärung zu haben. Manche Großmütter sind leichtmütig, vergnügt und verhältnismäßig jung. Diese Großmutter war, wie sich bald her9
ausstellte, ziemlich anders. »Ja, Timothy ist ein sehr guter Junge«, sagte sie und lächelte ihrem Enkel zu. »Wir sind immer streng mit ihm gewesen, Dr. Welles, aber ich glaube, das zahlt sich aus. Selbst als er noch ein Baby war, versuchten wir ihm beizubringen, was sich gehört. Als er gerade erst drei war, las ich ihm zum Beispiel ein paar kleine Geschichten vor. Und ein paar Tage später versuchte er uns weiszumachen, ob Sie's glauben oder nicht, daß er lesen könne. Vielleicht war er zu jung, um das Wesen einer Lüge zu erkennen, doch ich sah es als meine Pflicht an, ihm das verständlich zu machen. Als er darauf bestand, habe ich ihm einen Klaps gegeben. Der Junge hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis, und vielleicht dachte er, das sei alles, was das Lesen ausmacht. Nun ja! Ich will nicht mit meiner Härte prahlen«, sagte Mrs. Davis mit einem charmanten Lächeln. »Ich versichere Ihnen, Dr. Weites, es war ein schmerzliches Erlebnis für mich. Wir haben sehr wenig Anlaß für Bestrafungen gehabt. Timothy ist ein guter Junge.« Weites murmelte, daß er davon überzeugt sei. »Timothy, du darfst jetzt deine Zeitungen austragen«, sagte Mrs. Davis. »Ich bin sicher, daß Dr. Weites dich entschuldigen wird.« Und sie machte es sich für ein gutes, langes Gespräch über ihren Enkelsohn bequem. Timothy schien ihr Augapfel zu sein. Er war ein ruhiger Junge, ein gehorsamer Junge, ein intelligenter Junge. »Wir haben natürlich unsere Regeln. Ich habe Timothy nie zu vergessen erlaubt, daß man Kinder nur sehen und nicht hören ^ darf, wie das gute alte Sprichwort lautet. Als er mit drei oder vier Jahren lernte, Purzelbäume zu schlagen, kam er ständig zu mir und sagte: >Großmutter, sieh doch!< Ich mußte einfach streng mit ihm sein. >Timothy<, sagte ich, >ich will nichts mehr davon sehen. Das ist doch nur Angeberei. Wenn es dir Spaß macht, Purzelbäume zu schlagen, gut und schön. Aber es macht mir keinen Spaß, dich endlos dabei zu beobachten. Spiel weiter, wenn du willst, aber verlange keine Bewunderung.<« »Haben Sie nie mit ihm gespielt?« »Sicher habe ich mit ihm gespielt. Und es hat mir auch Freude gemacht. Wir - Mr. Davis und ich haben ihm sehr viele Spiele beigebracht, und auch viele Arten handwerklicher Fertigkeit. Wir haben ihm Geschichten vorgelesen und ihm Gedichte und Lieder beigebracht. Ich habe einen speziellen Kursus in Kindergarten10
Ausbildung mitgemacht, um dem Kind Freude zu machen - und ich muß eingestehen, daß es mir auch Freude gemacht hat!« fügte Tims Großmutter hinzu und lächelte bei dem Gedanken daran. »Wir haben Häuser aus Zahnstochern gebaut, mit Tonbällchen an den Ecken. Sein Großvater ging mit ihm spazieren und hat ihn im Wagen mitgenommen. Wir haben kein Auto mehr, weil das Augenlicht meines Mannes leicht nachgelassen hat, deshalb ist die Garage jetzt Timothys Werkstatt. Wir haben Fenster einsetzen lassen, und eine Türe, und das große Tor zugenagelt.« Es stellte sich bald heraus, daß Tims Leben keineswegs gänzlich aus Vorschriften bestand. Er hatte seine eigene Werkstatt, und in der ersten Etage neben seinem Schlafzimmer eine eigene Bibliothek und ein Arbeitszimmer. »Dort verwahrt er seine Bücher und Schätze«, sagte seine Großmutter, »sein eigenes kleines Radio, die Schulbücher und seine Schreibmaschine. Mit nur sieben Jahren hat er uns um eine Schreibmaschine gebeten. Aber er ist ein vorsichtiges Kind, Dr. Welles, er paßt auf seine Sachen auf. Ich habe gelesen, daß man in vielen Schulen Schreibmaschinen benutzt, um kleinen Kindern Lesen, Schreiben und Buchstabieren beizubringen. Wissen Sie, dann sehen die Wörter genauso aus wie in gedruckten Büchern, und es beansprucht viel weniger Muskelkraft. So hat ihm sein Großvater eine sehr schöne, geräuschlose Schreibmaschine gekauft, und sie war ihm auf Anhieb lieb und wert. Wenn ich durch die Halle gehe, höre ich sie oft summen. Timothy hält sein Zimmer selbst gut in Ordnung, und seine Werkstatt auch. Das ist sein eigener Wunsch. Sie wissen ja, wie Jungs so sind - sie möchten nicht, daß andere sich in ihre Angelegenheiten mischen. >Also gut, Timothy <, habe ich zu ihm gesagt, >wenn ich auf den ersten Blick sehe, daß du es selbst anständig machst, wird niemand deine Zimmer betretene aber du mußt sie in Ordnung halten.< Und das klappt jetzt schon seit einigen Jahren. Ja, Timothy ist ein sehr ordentlicher Junge.« »Timothy hat nicht erwähnt, daß er Zeitungen austrägt«, bemerkte Welles. »Er sagte nur, daß er nach der Schule mit den anderen Jungen spielt.« »Aber sicher«, meinte Mrs. Davis. »Er spielt bis fünf Uhr, und dann trägt er Zeitungen aus. Wenn er sich verspätet, geht sein Großvater hinab und ruft ihn. Die Schule ist nicht sehr weit von hier, und Mr. Davis geht häufig hinab und sieht den Kindern 11
beim Spielen zu. Mit dem Zeitungsaustragen verdient sich Timothy Geld für das Futter seiner Katzen. Mögen Sie Katzen, Dr. Welles?« »Ja, ich mag Katzen sehr«, erwiderte der Psychiater. »Viele Jungs mögen lieber Hunde.« »Timothy hatte einen Hund, als er ein Baby war - einen Collie.« Ihre Augen wurden feucht. »Wir alle haben Ruff sehr geliebt. Aber ich bin nicht mehr die Jüngste, und die Pflege und Ausbildung eines Hundes ist schwierig. Timothy ist einen Großteil der Zeit in der Schule oder im Pfadfinderlager oder so etwas, und ich hielt es für das beste, ihm nicht noch einen Hund zu geben. Aber Sie wollten etwas über unsere Katzen erfahren, Dr. Welles. Ich züchte Siamkatzen.« »Interessante Haustiere«, sagte Welles freundlich. »Meine Tante hat auch einmal welche gezüchtet.« »Timothy ist sehr stolz auf sie. Aber vor drei Jahren fragte er mich, ob er ein Paar schwarzer Angorakatzen haben könne. Zuerst hielt ich nicht viel davon, aber wir wollten dem Jungen den Gefallen tun, und er versprach, ihre Käfige selbst zu bauen. Er hatte in einem Schullandheim einen Tischlerkursus mitgemacht. So haben wir ihm dann ein Paar wunderschöner schwarzer Angorakatzen erlaubt. Aber der allererste Wurf stellte sich als kurzhaarig heraus, und Timothy gestand ein, daß er seine Königin mit meinem Siamkater gekreuzt hatte, um zu sehen, was passieren würde. Was noch schlimmer war, er hatte seinen Kater mit einer meiner Siamkatzen gekreuzt. Ich war wirklich stark versucht, ihn zu bestrafen. Aber schließlich sah ich ein, daß er nur über das Ergebnis dieser Kreuzung neugierig gewesen war. Natürlich ordnete ich an, daß die Jungen getötet wurden. Der zweite Wurf war genau wie der erste - alle schwarz und kurzhaarig. Aber Sie wissen ja, wie Kinder sind. Timothy bettelte darum, sie am Leben zu lassen, und es waren seine ersten Jungen. Drei in dem einen Wurf, zwei in dem anderen. Ich sagte, er dürfe sie behalten, wenn er sich allein um sie kümmern und für alle Kosten aufkommen würde. Er mähte Rasen, erledigte Botengänge, tischlerte kleine Fußbänkchen und Bücherregale, verkaufte sie und tat alles mögliche - und sein Taschengeld hat er wahrscheinlich auch noch dafür gebraucht. Aber er behielt die Kätzchen und hat eine ganze Reihe von Käfigen auf dem Hof neben seiner Werkstatt.« »Und deren Junge?« fragte Welles, der nicht einsehen konnte, 12
was das alles mit seiner eigentlichen Frage zu tun hatte, aber bereit war, sich alles anzuhören, das ihn zu neuen Informationen führen konnte. »Einige aus dem Wurf scheinen reine Angorakatzen und andere reine Siamesen zu sein. Er bestand darauf, sie zu behalten, obwohl es unehrenhaft wäre, sie zu verkaufen, wie ich ihm erklärt hatte, da sie ja nicht reinrassig sind. Ziemlich viele Kätzchen sind schwarz und kurzhaarig, und diese töten wir. Doch genug von Katzen, Dr. Welles. Und ich fürchte, ich rede zuviel von meinem Enkel.« »Ich kann verstehen, daß Sie sehr stolz auf ihn sind«, sagte Welles. »Das sind wir, wie ich eingestehen muß. Und er ist ein kluger Junge. Wenn er mit seinem Großvater spricht, oder auch mit mir, stellt er sehr intelligente Fragen. Wir ermutigen ihn nicht, seine Meinung auszusprechen - ich verabscheue diese altklugen kleinen Jungs -, und doch glaube ich, daß er für ein Kind seines Alters schon recht vernünftig ist.« »War seine Gesundheit immer gut?« fragte Welles. »Im großen und ganzen ja. Ich habe ihm den Wert von Körperertüchtigung, Spiel, richtiger Ernährung und ausreichendem Schlaf beigebracht. Er hatte ein paar der üblichen Kinderkrankheiten, nichts Ernsthaftes. Und er hat niemals Erkältungen. Aber natürlich läßt er sich wie wir auch zweimal im Jahr gegen Erkältung impfen.« »Machen ihm die Spritzen etwas aus?« fragte Welles so beiläufig wie möglich. »Überhaupt nicht. Ich sage immer, daß er, obwohl er so jung ist, uns ein Beispiel gibt, dem ich nur schwer folgen kann. Ich zucke immer noch zusammen und verabscheue die Prozedur eher.« Ein plötzliches, leises Geräusch ließ Welles zur Tür schauen. Timothy stand dort, und er hatte zugehört. Wieder stand ihm die Angst im Gesicht geschrieben, und in seinen Augen lag nackter Schrecken. »Timothy«, sagte seine Großmutter, »starre doch nicht so.« »Es tut mir leid, Sir«, brachte der Junge endlich hervor. »Hast du deine Zeitungen alle ausgetragen? Ich habe gar nicht gemerkt, daß wir uns eine Stunde unterhalten haben, Dr. Welles. Möchten Sie gern Timothys Katzen sehen?« fragte Mrs. Davis 13
huldvoll. »Timothy, zeige Dr. Welles deine Haustiere. Wir haben ausführlich über sie gesprochen.« Welles ging mit Tim so schnell aus dem Raum, wie er nur konnte. Der Junge führte ihn ums Haus herum und auf den Hof, wo die ehemalige Garage stand. Dort blieb Welles stehen. »Tim«, sagte er, »wenn du nicht willst, brauchst du mir die Katzen nicht zeigen.« »Oh, das ist schon in Ordnung.« »Gehört das zu dem, was du verbirgst? Wenn ja, will ich es nicht sehen, bis du bereit bist, es mir zu zeigen.« Da schaute Tim zu ihm hoch. »Danke«, sagte er. »Mir macht es nichts aus. Ihnen die Katzen zu zeigen. Nicht, wenn Sie Katzen wirklich mögen.« »Ganz bestimmt. Aber, Tim, das möchte ich jetzt gerne wissen: Du hast keine Angst vor Spritzen. Würdest du mir verraten, warum du Angst hattest... warum du gesagt hast, daß du vor meiner Spritze Angst hast? Diejenige, von der ich dir versprochen habe, sie dir doch nicht zu geben?« Ihre Blicke trafen sich. »Sie werden es nicht weitersagen?« fragte Tim. »Ich werde es nicht weitersagen.« »Weil es Pentothal war. Das war es doch?« Welles kniff sich leicht. Ja, er war wach. Ja, ein kleiner Junge fragte ihn nach Pentothal. Ein Junge, der ... ja, ganz bestimmt, ein Junge, der sich damit auskannte. »Ja, es war Pentothal«, sagte Welles. »Eine sehr kleine Dosis. Du weißt, was es ist?« »Jawohl, Sir. Ich ... ich habe irgendwo darüber gelesen. In der Zeitung.« »Schon gut. Du hast ein Geheimnis - etwas, das du verbergen willst. Deswegen hattest du Angst, nicht wahr?« Der Junge nickte stumm. »Wenn irgend etwas nicht stimmt oder irgend etwas nicht stimmen würde, könnte ich dir vielleicht helfen. Du wirst mich vorher besser kennenlernen wollen. Du wirst sicher sein wollen, daß du mir vertrauen kannst. Aber ich würde mich freuen, dir helfen zu können, jederzeit, du brauchst es nur zu sagen, Tim. Oder ich stoße vielleicht zufällig darauf, wie jetzt gerade. Und noch etwas 14
- ich verrate niemals Geheimnisse.« »Niemals?« »Niemals. Ärzte und Priester verraten keine Geheimnisse. Ärzte selten, Priester niemals. Und ich bin wohl mehr ein Priester, wegen der ärztlichen Fachrichtung, die ich eingeschlagen habe.« Er blickte auf den gesenkten Kopf des Jungen hinab. »Indem ich Leuten helfe, die vor Angst krank sind«, sagte der Psychiater ganz behutsam. »Indem ich Leuten helfe, die in Schwierigkeiten sind, die Dinge wieder ins rechte Lot bringe, Dinge entwirre, die durcheinander geraten sind. Wenn ich kann, heißt das. Und ich verrate niemandem etwas. Das geht nur mich und den anderen etwas an.« Aber, fügte er in Gedanken hinzu, ich muß es herausfinden. Ich muß herausfinden, was diesem Kind fehlt. Miss Page hat recht. Er braucht mich. Sie gingen zu den Katzen. Da waren die Siamesen in ihren Käfigen, und die Angorakatzen in den ihren, und dort, in einigen kleinen Käfigen, die kurzhaarigen schwarzen Katzen und ihre hybriden Jungen. »Wir bringen sie ins Haus, oder lassen sie in diesem großen Käfig, wo sie genug Bewegung haben«, erklärte Tim. »Manchmal nehme ich meine in die Werkstatt mit. Das da sind alles meine. Großmutter hält die ihren auf der Sonnenveranda.« »Man käme nie darauf, daß die hier nicht alle reinrassig sind«, bemerkte Welles. »Was hast du noch gesagt - wo sind die echten Angorakatzen? Hast du ein paar von ihren Jungen hier?« »Nein, ich habe sie verkauft.« »Ich würde gern eine kaufen. Aber die sehen ganz genauso aus - für mich würde es keinen Unterschied machen. Ich will ein Haustier und würde es nicht für die Zucht benutzen. Würdest du mir eine von diesen verkaufen?« Timothy schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Außer den Reinrassigen verkaufe ich keine.« Welles verstand allmählich, mit welchem Problem er es zu tun hatte. Ganz trübe sah er es, mit Freude, Erleichterung, Hoffnung und wilder Begeisterung. »Warum nicht?« drängte Welles. »Wenn es dir lieber ist, kann ich auf ein reinrassiges Junges warten, aber warum keine von diesen hier? Sie sehen doch genauso aus. Vielleicht wären sie interessanter.« 15
Tim sah Welles für einen langen, langen Moment an. »Ich zeige es Ihnen«, sagte er. »Versprechen Sie mir, daß Sie hier warten? Nein, ich rufe Sie in die Werkstatt hinein. Bitte warten Sie eine Minute.« Der Junge zog einen Schlüssel unter dem Hemd hervor, der ihm an einer Kette um die Brust hing, und schloß die Tür der Werkstatt auf. Er ging hinein, verschloß die Tür wieder, und Welles konnte ein paar Augenblicke lang hören, wie er sich dort bewegte. Dann kam er zur Tür und winkte ihm zu. »Erzählen Sie Großmutter nichts«, meinte Tim. »Ich habe ihr noch nichts gesagt. Wenn es überlebt, werde ich es ihr nächste Woche sagen.« In der Ecke der Werkstatt befand sich unter einem Tisch eine Schachtel, und in der Schachtel lag eine Siamkatze. Als sie den Fremden sah, versuchte sie ihre Jungen zu verstecken, doch Tim hob sie vorsichtig hoch, und dann sah Welles es. Zwei der Jungen sahen aus wie kleine weiße Ratten mit faserigen Schwänzen und gefleckten Pfoten, Ohren und Nasen. Aber das dritte - ja, das würde völlig anders aussehen. Wenn es durchkam, würde es eine wundervolle Katze werden. Es hatte langes, seidenweißes Fell, wie die schönste Angorakatze - und auch die Siamzeichnung war deutlich zu erkennen. Welles hielt den Atem an. »Meinen Glückwunsch, alter Knabe! Hast du es schon jemandem erzählt?« »Ich kann sie noch nicht vorzeigen. Sie ist noch nicht einmal vier Wochen alt.« »Aber du wirst sie ihnen zeigen?« »Oh ja. Großmutter wird ganz durcheinander sein. Sie wird ihr gefallen. Vielleicht kommen noch mehr davon.« »Du hast gewußt, daß dies geschehen würde. Du hast dafür gesorgt. Du hast es von Anfang an geplant«, sagte Welles ihm ins Gesicht. »Ja«, gestand der Junge ein. »Woher konntest du das wissen?« Der Junge wandte sich ab. »Ich habe es irgendwo gelesen«, sagte Tim. Die Katze sprang zurück in die Schachtel und fing an, ihre Jungen abzulecken. Welles glaubte, es nicht mehr aushaken zu können. Ohne einen Blick auf etwas anderes im Raum zu werfen 16
und alles andere war unter Persenning-Planen und Zeitungen verborgen - ging er zur Tür. »Danke, daß du es mir gezeigt hast, Tim«, sagte er. »Und denke an mich, wenn du eine zu verkaufen hast. Ich werde warten. Ich möchte so eine wie diese.« Der Junge folgte ihm hinaus und schloß die Tür sorgfältig ab. »Aber, Tim«, sagte der Psychiater, »du hattest keine Angst davor, daß ich das mit dem Kätzchen herausfinden würde. Das war es nicht. Ich würde doch keine Droge brauchen, damit du mir das sagst, oder?« »Ich wollte nichts davon sagen, bis es soweit war«, gab Tim vorsichtig zurück. »Großmutter sollte es wirklich als erste erfahren. Aber Sie haben mich dazu gebracht, daß ich es Ihnen verrate.« »Tim«, sagte Peter Welles ernst, »wir werden uns wieder sprechen. Wovor du auch Angst hast - habe keine Angst vor mir. Ich errate oft Geheimnisse. Ich bin auf dem besten Weg, deins schon zu erraten. Aber sonst braucht niemand davon zu wissen.« Er ging schnell nach Haus und pfiff dabei von Zeit zu Zeit vor sich hin. Vielleicht war er, Peter Welles, der größte Glückspilz auf der Welt. Als Timothy das nächste Mal im Büro erschien, hatte er das Gespräch mit dem Jungen kaum begonnen, als das Telefon im Korridor klingelte. Als er zurückkam und die Tür öffnete, sah er ein Buch in Tims Händen. Der Junge schien es verstecken zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Welles nahm das Buch und betrachtete es. »Wolltest mehr über Rorschach wissen, was?« fragte er. »Ich habe es auf dem Regal gesehen und ...« »Oh, das ist schon in Ordnung«, sagte Welles, der das Buch absichtlich neben dem Stuhl liegengelassen hatte, auf dem Tim Platz nehmen würde. »Aber warum hast du es denn nicht in der Bibliothek versucht?« »Sie haben ein paar Bücher darüber, aber die stehen in den abgeschlossenen Regalen. Ich kam nicht an sie heran.« Tim hatte gesprochen, ohne vorher zu überlegen, und hielt nun erschreckt inne. Welles gab ruhig zurück: »Ich werde dir eins davon besorgen. Wenn du das nächste Mal kommst, habe ich es da. Wenn du gehst, 17
kannst du ja das hier mitnehmen. Tim, ich meine das wirklich -du kannst mir vertrauen.« »Ich kann Ihnen überhaupt nichts sagen«, meinte der Junge. »Sie haben einiges herausgefunden. Mir wäre es lieber... oh, ich weiß nicht, was mir lieber wäre. Aber ich würde lieber in Ruhe gelassen werden. Ich brauche keine Hilfe. Vielleicht werde ich nie welche brauchen. Kann ich nicht zu Ihnen kommen, wenn ich wirklich Hilfe brauche?« Welles zog sich den Stuhl heran und setzte sich langsam. »Vielleicht wäre es so am besten, Tim. Aber warum willst du warten, bis die Axt fällt? Ich könnte dir helfen, sie abzuwehren - das, wovor du Angst hast. Was die Katzen betrifft, kannst du die Leute an der Nase herumführen; sage einfach, du hättest herumgespielt, um zu sehen, was dabei herauskommt. Aber du kannst nicht alle Leute die ganze Zeit über täuschen, sie sagen es mir. Und wenn du auffliegst, wäre es vielleicht leichter für dich, wenn ich dir den Rücken decke. Und auch für deine Großeltern.« »Ich habe nichts Unrechtes getan!« »Langsam werde ich mir dessen sicher. Aber die Dinge, die du zu verbergen versuchst, könnten irgendwann ans Licht kommen. Das Kätzchen - du könntest es verstecken, aber das willst du doch gar nicht. Um es vorzuzeigen, mußt du etwas riskieren.« »Ich werde ihnen sagen, daß ich es irgendwo gelesen habe.« »Das war dann also nicht wahr... ich habe es mir gedacht. Du hast es dir also überlegt.« Es folgte Schweigen. Dann sagte Timothy Paul: »Ja, ich habe es mir überlegt. Aber das ist mein Geheimnis.« »Bei mir ist es sicher.« Doch der Junge vertraute ihm noch nicht. Welles erfuhr bald, daß er auf die Probe gestellt worden war. Tim nahm das Buch mit nach Hause und brachte es wieder zurück, nahm auch die Bücher mit, die Welles ihm aus der Bibliothek besorgt hatte, und brachte auch sie wieder zurück, wenn die Leihfrist abgelaufen war. Doch er sprach wenig und blieb weiterhin wachsam. Welles konnte reden, soviel er wollte, doch er bekam wenig oder nichts aus Tim heraus. Tim hatte alles gesagt, was er sagen würde. Er sprach einfach über nichts anderes außer den Dingen, über die jeder andere Junge auch sprechen würde. Dies ging zwei Monate so weiter, in denen Welles Tim offiziell 18
einmal die Woche und inoffiziell öfter sah - wenn er am Schulsportplatz erschien, um ihm beim Spielen zuzusehen, oder Tim beim Zeitungsaustragen begegnete und ihn zu einer Limonade einlud, wenn er fertig war - und Welles hatte nur wenig mehr herausgefunden. Er versuchte es wieder. Während der zwei Monate hatte er nicht weiter gebohrt, das Schweigen des Jungen respektiert und versucht, ihm Zeit zu geben, ihn besser kennen und vertrauen zu lernen. Aber eines Tages fragte er: »Was wirst du machen, wenn du erwachsen bist, Tim? Katzen züchten?« Tim lachte abwehrend. »Ich weiß noch nicht, was ich dann tun werde. Ich überlege mir manchmal dies, manchmal das.« Das war eine typische Jungenantwort. Welles schenkte ihr keinen weiteren Glauben. »Was würdest du am liebsten tun?« fragte er. Tim beugte sich eifrig vor. »Was Sie tun!« rief er. »Du hast dich also eingelesen, nehme ich an«, sagte Welles so beiläufig wie möglich. »Dann weißt du vielleicht, daß man, bevor man tun kann, was ich tue, es selbst durchmachen muß, wie ein Patient. Man muß auch Medizin studieren und natürlich ein voll ausgebildeter Arzt sein. Das kannst du jetzt noch nicht. Aber du kannst erleben, wie es ist - als Patient.« »Warum? Der Erfahrung willen?« »Ja. Und der Heilung willen. Du wirst dieser Angst gegenübertreten und sie bewältigen müssen. Du wirst eine Menge anderer Dinge gerade rücken oder ihnen zumindest ins Auge sehen müssen.« »Wenn ich erwachsen bin, wird meine Furcht verschwunden sein«, sagte Timothy. »Ich glaube es. Ich hoffe es.« »Kannst du dir da sicher sein?« »Nein«, gestand der Junge ein. »Ich weiß nicht genau, warum ich Angst habe. Ich weiß nur, daß ich gewisse Dinge verstecken muß. Ist das auch schlimm?« »Vielleicht gefährlich.« Timothy dachte eine Weile schweigend nach. Welles rauchte drei Zigaretten und wäre liebend gern auf und ab gegangen, wagte aber nicht, sich zu rühren. »Wie würde es denn sein?« frage Tim schließlich. »Du würdest mir von dir erzählen. Woran du dich erinnerst. 19
Deine Kindheit - so wie deine Großmutter loslegt, wenn sie über dich spricht.« »Sie schickt mich immer hinaus. Ich soll nicht auf den Gedanken kommen, daß ich intelligent wäre«, sagte Tim mit einem seiner seltenen Grinsen. »Und du sollst nicht erfahren, wie gut sie dich großgezogen hat?« »Das hat sie gut gemacht«, sagte Tim. »Sie hat mir die klügsten Dinge beigebracht, die ich kenne.« »Und das wäre?« »Etwa, daß man den Mund hält. Nicht alles sagt, was man weiß. Nicht prahlt.« »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Welles. »Kennst du die Geschichte vom heiligen Thomas von Aquin?« »Nein.« »Als er Student in Paris war, hat er beim Unterricht nie etwas gesagt, und die anderen hielten ihn für dumm. Einer von ihnen bot freundlicherweise an, ihm zu helfen, und ging den ganzen Stoff mit ihm durch, damit er ihn auch verstand. Und dann kamen sie eines Tages zu einem Punkt, wo der andere Student ganz durcheinander geriet und eingestehen mußte, daß er es nicht begriff. Da schlug Thomas eine Lösung vor, und es war die richtige. Er hatte die ganze Zeit über schon mehr als irgendeiner der anderen gewußt, aber sie nannten ihn den dummen Ochsen.« Tim nickte ernst. »Und als er erwachsen war?« fragte der Junge. »Er war der größte Denker aller Zeiten«, sagte Welles. »Ein Supergehirn des dreizehnten Jahrhunderts. Er hat mehr geleistet als zehn andere große Männer; und er ist jung gestorben.« Danach war es einfacher. »Wie soll ich anfangen?« fragte Timothy. »Am besten am Anfang. Erzähle mir alles, woran du dich über deine frühe Kindheit erinnern kannst, bevor du zur Schule gegangen bist.« Tim dachte darüber nach. »Ich werde öfter vor und zurück springen müssen«, sagte er. »Ich könnte nicht alles der Reihe nach bringen.« »Das ist schon in Ordnung. Erzähle mir heute einfach alles, woran du dich aus jener Zeit deines Lebens erinnern kannst. Bis 20
nächste Woche wird dir mehr eingefallen sein. Wenn wir zu späteren Abschnitten deines Lebens übergehen, fallen dir vielleicht Dinge ein, die zu einer früheren Zeit gehören; erzähle mir sie dann. Wir werden dann irgendeine Ordnung daraus erstellen.« Welles hörte sich die Enthüllungen des Jungen mit wachsender Aufregung an. Es fiel ihm schwer, nach außen hin ruhig zu bleiben. »Wann hast du mit dem Lesen angefangen?« fragte Welles. »Ich weiß nicht mehr, wann das war. Meine Großmutter las mir ein paar Geschichten vor, und irgendwie begriff ich, was es mit den Worten auf sich hatte. Aber als ich ihr zu sagen versuchte, daß ich lesen konnte, hat sie mich bestraft. Sie sagte immer wieder, daß ich das nicht könnte, und ich sagte immer wieder, ich könnte lesen, bis sie mich geschlagen hat. Eine Weile ging es mir ganz schrecklich, weil ich kein einziges Wort kannte, das sie mir nicht vorgelesen hatte ich habe wohl neben ihr gesessen und sie beobachtet, oder ich habe es mir gemerkt und bin es dann sofort danach allein durchgegangen. Ich muß es gelernt haben, sobald mir der Gedanke kam, daß jede Buchstabengruppe auf der Seite ein Wort war.« »Die Ganzheitsmethode«, stellte Welles fest. »Die meisten autodidaktischen Leser haben es so gelernt.« »Ja. Darüber habe ich inzwischen auch gelesen. Und Macaulay konnte lesen, als er drei war, aber nur verkehrt herum, weil er immer entgegengesetzt stand, wenn sein Vater der Familie aus der Bibel vorlas.« »Es gibt viele Fälle von Kindern, die wie du lesen gelernt und damit ihre Eltern überrascht haben. Nun? Wie hast du dann weitergemacht?« »Eines Tages fiel mir auf, daß zwei Worte fast gleich aussahen und fast gleich klangen. Das waren >kann< und >Mann<. Ich weiß noch, wie ich sie anstarrte, und dann war es, als ob etwas Wunderschönes in mir emporkochte. Ich fing an, mir die Worte genau anzusehen, aber mit einer ganz verrückten Aufregung. Das machte ich sehr lange so, denn als ich das Buch beiseite legte und aufzustehen versuchte, war ich ganz steif. Aber ich hatte es begriffen, und danach war es nicht mehr schwer, mir fast alle Worte vorzustellen. Die wirklich schwierigen Worte sind die ganz gewöhnlichen, die man die ganze Zeit in einfachen Büchern findet. Andere Worte werden so ausgesprochen, wie man sie schreibt.« 21
»Und niemand wußte, daß du lesen konntest?« »Nein. Großmutter hat mir gesagt, ich sollte es nicht verraten, also habe ich es auch nicht. Sie las mir oft vor, und das half. Wir hatten sehr viele Bücher. Natürlich gefielen mir die mit den Bildern. Zwei- oder dreimal erwischten sie mich mit einem Buch, das keine Bilder hatte, und dann nahmen sie es mir weg und sagten: >Ich werde dir ein Buch für einen kleinen Jungen suchen.<« »Erinnerst du dich, welche Bücher dir damals gefallen haben?« »Ja, ich weiß es noch... Bücher über Tiere. Und über Erdkunde. Das mit den Tieren war komisch ...« Sobald man Timothy einmal zum Reden gebracht hatte, bemerkte Welles, war es nicht schwierig, ihn zum Weitermachen zu bewegen. »Eines Tages war ich im Zoo«, sagte Tim, »allein bei den Käfigen. Großmutter ruhte sich auf einer Bank aus und ließ mich alleine herumgehen. Die Leute sprachen über die Tiere, und ich fing an, ihnen alles zu erzählen, was ich wußte. Irgendwie muß das ziemlich komisch gewesen sein, denn ich hatte eine Menge Worte gelesen, die ich nicht richtig aussprechen konnte; Worte, die ich noch nie ausgesprochen gehört hatte. Sie hörten mir zu und stellten mir Fragen, und ich dachte, ich wäre wie Großvater und würde ihnen etwas beibringen, wie er mir etwas beigebracht hatte. Und dann riefen sie einen anderen Mann herbei und sagten: >Hören Sie sich diesen Burschen an; er ist eine Wucht!<, und ich begriff, daß alle über mich lachten.« Timothys Gesicht war röter als gewöhnlich, doch er versuchte zu lächeln, als er hinzufügte: »Ich sehe jetzt ein, wie komisch es damals geklungen hat. Und auch unerwartet; das ist ein wichtiger Bestandteil des Humors. Aber meine kleinen Gefühle waren so schrecklich verletzt, daß ich weinend zu Großmutter zurücklief, und sie konnte nicht herausfinden, warum ich weinte. Aber es geschah mir recht, weil ich ihr nicht gehorcht hatte. Sie hat immer gesagt, ich solle den Leuten nichts erzählen; sie sagte, ein Kind habe Erwachsene nichts zu lehren.« »Vielleicht nicht auf diese Weise - in diesem Alter.« »Aber ehrlich, manche Erwachsene wissen auch nicht sehr viel«, sagte Tim. »Als wir letztes Jahr mit dem Zug verreisten, kam eine Frau ins Abteil, setzte sich neben mich und fing an, mir Dinge zu erzählen, die ein kleiner Junge über Kalifornien wissen sollte. Ich sagte ihr, ich hätte mein ganzes Leben hier verbracht, 22
doch ich glaube, sie wußte nicht einmal, daß wir so was in der Schule beigebracht bekommen, und versuchte mir einiges zu erzählen, und fast alles war falsch.« »Zum Beispiel?« fragte Welles, der auch schon unter Touristen gelitten hatte. »Nun ... sie hat so vieles gesagt... aber das hielt ich für das Lustigste: Sie sagte, die Missionen wären alle so alt und interessant, und ich sagte ja, und sie sagte: >Weißt du, die sind alle gebaut worden, lange bevor Kolumbus Amerika entdeckt hat<, und ich dachte, sie hätte einen Witz machen wollen, und so lachte ich. Sie warf mir einen sehr ernsten Blick zu und sagte: >Ja, diese Leute sind alle von Mexiko hier heraufgekommene Ich nehme an, sie hat sie für Tempel der Azteken gehalten.« Welles schüttelte sich vor Lachen und konnte nicht umhin zuzugeben, daß es vielen Erwachsenen leider am rudimentärsten Allgemeinwissen fehlte. »Nach diesem Erlebnis im Zoo und ein paar ähnlichen Dingen sah ich es langsam ein«, fuhr Tim fort. »Die Leute, die etwas wissen, wollen nicht, daß ich es ihnen wieder vorkaue, und die, die es nicht wissen, wollen sich nicht von einem vierjährigen Kleinkind belehren lassen. Ich glaube, ich war vier, als ich mit dem Schreiben anfing.« »Wie?« »Oh, ich dachte einfach, ich müßte platzen, wenn ich nie etwas zu jemandem sagen konnte. Also fing ich an es niederzuschreiben - in Druckbuchstaben, wie in Büchern. Dann fand ich das mit der Schreibschrift heraus, und wir hatten ein paar altmodische Schulbücher, in denen einem das Schreiben beigebracht wurde. Ich bin Linkshänder. Als ich zur Schule ging, mußte ich die rechte Hand gebrauchen. Aber bis dahin hatte ich schon gelernt, wie man so tut, als wisse man nichts. Ich sah den anderen zu und tat, was sie taten. Meine Großmutter sagte, ich solle mich so verhalten.« »Ich frage mich, warum sie das gesagt hat«, wunderte sich Welles. »Sie sagte, sie wisse, daß ich nicht an andere Kinder gewöhnt sei, und es war das erste Mal, daß sie mich der Obhut eines anderen Menschen überließ. So trug sie mir auf, zu tun, was die anderen taten und was die Lehrer sagten«, erklärte Tim einfach, »und ich folgte ihrem Rat aufs Wort. Ich gab vor, nichts zu wissen, bis 23
die anderen es langsam auch lernten. Zum Glück war ich schüchtern. Doch ich konnte dort durchaus noch etwas lernen. Wissen Sie, am ersten Schultag war ich enttäuscht, weil die Lehrerin sich wie jede andere Frau kleidete. Die einzigen Bilder von Lehrerinnen, die ich bis dahin gesehen hatte, stammten aus einem alten Mother-Goose-Buch, und ich dachte, alle Lehrerinnen würden Reifröcke tragen. Aber als ich sie dann gesehen und die kleine Überraschung verkraftet hatte, wußte ich, wie albern es war, und habe es keinem erzählt.« Der Psychiater und der Junge lachten gemeinsam. »Dann spielten wir. Ich mußte lernen, mit Kindern zu spielen und nicht überrascht zu sein, wenn sie mich schlugen oder schubsten. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, warum sie das taten oder was sie davon hatten. Aber wenn sie mich damit erschrecken wollten, sagte ich einfach >Buh!< und erschreckte sie etwas später selbst; und wenn sie wütend waren, weil ich einen Ball oder etwas anderes genommen hatte, das sie auch haben wollten, spielte ich eben mit ihnen.« »Hat mal einer versucht, dich zu verprügeln?« »Oh ja. Aber ich hatte ein Buch über das Boxen - mit Bildern. Man kann nicht viel aus Bildern lernen, aber ich hatte auch etwas Übung, und das half. Ich wollte sowieso nicht gewinnen. Das mag ich so an Kraft- oder Geschicklichkeitsspielen - da habe ich gleichwertige Gegner und brauche nicht immer darauf zu achten, ob ich vielleicht angebe oder versuche, die anderen herumzukommandieren.« »Du mußt also manchmal versucht haben, die anderen herumzukommandieren.« »In den Büchern drängen sie sich alle um den Jungen herum, der neue Spiele kennt oder sich neue Sachen ausdenkt, mit denen man spielen kann. Aber ich fand heraus, daß das nicht so klappt. Sie wollen einfach die ganze Zeit das gleiche tun - etwa Verstecken spielen. Es macht keinen Spaß, wenn der erste, der entdeckt wird, das nächste Mal suchen muß. Die anderen treiben sich nur in den gleichen alten Verstecken herum oder versuchen gar nicht erst, sich zu verstecken oder davonzulaufen, weil es egal ist, ob man sie erwischt. Aber man kann die Jungs einfach nicht dazu bringen, es einzusehen und richtig zu machen, so daß der im nächsten Spiel suchen muß, der als letzter gefangen wird.« Timothy sah auf die Uhr. 24
»Es wird Zeit«, sagte er. »Es hat mir Spaß gemacht, mit Ihnen zu sprechen, Dr. Welles. Hoffentlich habe ich Sie nicht zu sehr gelangweilt.« Welles erkannte das Echo und lächelte dem Jungen verständnisvoll zu. »Du hast mir nichts vom Schreiben erzählt. Hast du angefangen, ein Tagebuch zu führen?« »Nein. Es war eine Zeitung. Eine Seite pro Tag, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe das beibehalten«, gestand Tim. »Doch jetzt bekomme ich mehr auf die Seite. Ich schreibe sie mit der Maschine.« »Und du schreibst inzwischen mit beiden Händen?« »Mit der linken Hand schreibe ich nur insgeheim. Für die Schule und solche Sachen benutze ich die rechte.« Als Timothy gegangen war, gratulierte sich Welles. Aber im ganzen nächsten Monat kam er nicht weiter. Tim wollte kein einziges Faktum von Bedeutung verraten. Er sprach über Ballspiele, beschrieb die erstaunte Überraschung seiner Großmutter, als sie von dem schönen Kätzchen erfahren hatte, und berichtete, wie es wuchs und welche Streiche es machte. Er berichtete in vollem Ernst von solch fesselnden Einzelheiten - daß er gern mit der Eisenbahn fuhr, sein wildlebendes Lieblingstier der Löwe war und er sich sehr wünschte, Schnee fallen zu sehen. Aber kein Wort von dem, was Welles hören wollte. Da der Psychiater wußte, daß er wieder auf die Probe gestellt wurde, wartete er geduldig ab. Und dann, eines Nachmittags, als Welles auf seiner Veranda eine Pfeife rauchte, glücklicherweise, ohne mit einem Patienten beschäftigt zu sein, schlenderte Timothy Paul in den Garten. »Gestern hat mich Miss Page gefragt, ob ich zu Ihnen ginge, und ich habe ja gesagt. Sie meinte, sie hoffte, meine Großeltern fänden das nicht zu kostspielig, weil Sie ihr gesagt haben, daß ich in Ordnung sei und sie sich keine Sorgen um mich machen müßten. Und dann fragte ich Großmutter, ob es kostspielig wäre, wenn Sie mit mir reden, und sie sagte: >0h nein, mein Schatz; die Schule kommt dafür auf. Und es war die Idee deiner Lehrerin, daß du ein paar Gespräche mit Dr. Welles führen solltest^« »Ich bin froh, daß du zu mir gekommen bist, Tim, und ich bin sicher, daß du mich bei ihnen nicht verraten hast. Niemand be25
zahlt mich. Die Schule zahlt für meine Dienste, wenn ein Kind schlecht dabei ist und seine Eltern arm sind. Das ist eine Einrichtung, die es seit 1956 gibt. Man kann vielen verhaltensgestörten Kindern helfen - das kommt den Staat viel billiger als die Kosten, die entstehen, wenn sie verrückt oder kriminell werden oder so. Du verstehst das alles. Aber setze dich doch, Tim! - ich kann dem Staat nichts berechnen, und deinen Großeltern auch nicht. Soweit ich es sehen kann, bist du in jeder Hinsicht wunderbar angepaßt; und wenn ich den Rest sehe, werde ich mir dessen noch sicherer sein.« »Nun ... oh je! Ich wäre nicht gekommen ...« Tim stammelte vor Verwirrung. »Sie müßten bezahlt werden. Ich beanspruche so viel von Ihrer Zeit. Vielleicht sollte ich besser überhaupt nicht mehr kommen.« »Ich glaube schon, daß du weiterhin kommen solltest. Du nicht?« »Warum machen Sie das umsonst, Dr. Welles?« »Ich glaube, du weißt warum.« Der Junge setzte sich auf den Schaukelstuhl und stieß sich nachdenklich vor und zurück. Der Schaukelstuhl quietschte. »Sie interessieren sich für mich. Sie sind neugierig«, sagte er. »Das ist nicht alles, Tim.« Quietsche-quietsch. Quietsch-quietsch. »Ich weiß«, sagte Timothy. »Ich glaube es. Hören Sie, ist es in Ordnung, wenn ich Peter zu Ihnen sage? Wir sind doch jetzt Freunde.« Bei ihrer nächsten Sitzung ging Timothy in Details über seine Zeitung. Er hatte alle Ausgaben verwahrt, von der ersten verschmierten, mit unbeholfenen Druckbuchstaben geschriebenen Bleistiftausgabe bis zu den allerneuesten, ordentlich getippten. Doch er wollte Welles keine davon zeigen. »Ich habe einfach jeden Tag die Dinge aufgeschrieben, die ich am dringendsten sagen wollte, die Neuigkeiten oder Informationen oder Meinungen, die ich ungesagt hinunterschlucken mußte. So ist es ein wildes Durcheinander. Die früheren Ausgaben sind schrecklich komisch. Manchmal muß ich raten, womit sie zu tun hatten, weshalb ich sie geschrieben habe. Manchmal kann ich mich noch erinnern. Ich mache mir auch Notizen über die Bücher, die ich gelesen habe, und bewerte sie wie mit Schulnoten, in 26
zwei Punkten - ob mir ein Buch gefallen hat und ob es gut war. Und auch, ob ich es schon einmal gelesen habe.« »Wie viele Bücher liest du? Wie groß ist dein Lesetempo?« Es stellte sich heraus, daß Timothys Lesegeschwindigkeit bei neuen Büchern, die für erwachsene Leser geschrieben waren, zwischen achthundert und neunhunderfünfzig Worten die Minute schwankte. Für durchschnittliche Kriminalromane - die er sehr gerne las - brauchte er kaum eine halbe Stunde. Die Hausarbeiten für den Geschichtsunterricht eines Jahres bewältigte er spielend, indem er sich das Lehrbuch im Laufe dieses Jahres drei- oder viermal durchlas. Er entschuldigte sich dafür, erklärte jedoch, daß er wissen müsse, was in dem Buch stehe, damit er bei Klassenarbeiten nicht zuviel von dem verriet, was er aus anderen Quellen erfahren hatte. Die Abende, von denen seine Großeltern glaubten, er mache Hausaufgaben, verbrachte er damit, andere Bücher zu lesen, seine Zeitung zu schreiben oder »irgend etwas anderes zu tun«. Wie Welles schon vermutet hatte, hatte Tim alle Bücher aus der Bibliothek seines Großvaters gelesen, alles aus der öffentlichen Bibliothek, das sich nicht in den verschlossenen Regalen befand, und alles, was er von der Staatsbibliothek bestellen konnte. »Was sagen die Bibliothekare?« »Sie glauben, die Bücher wären für meinen Großvater. Wenn sie fragen, was ein kleiner Junge mit einem so großen Buch will, sage ich ihnen das immer. Peter, es macht mich ganz krank, so viele Lügen zu erzählen. Aber ich muß es doch, oder?« »Soweit ich es sehen kann, ja«, stimmte Welles zu. »Aber hier in meiner Bibliothek ist auch Material für eine Weile. Es muß jedoch auch hier ein verschlossenes Regal geben, Tim.« »Könnten Sie mir sagen, warum? Ich weiß über die Bücher in der Bibliothek Bescheid. Einige davon könnten den Leuten Angst machen, und andere sind ...« »Einige meiner Bücher könnten auch dir Angst machen, Tim. Wenn du willst, werde ich dir eines Tages ein wenig über abnormale Psychologie erzählen, und ich glaube, daß du dann einsehen wirst, daß es besser ist, nicht zuviel darüber zu wissen, bis du wirklich dazu ausgebildet bist, dich mit solchen Fällen zu beschäftigen.« »Ich will nicht morbide sein«, stimmte Tim zu. »Schon gut. Ich werde nur das lesen, was Sie mir geben. Und von nun an will ich offen zu Ihnen sein. Wissen Sie, es gab da mehr als nur 27
die Zeitung.« »Das habe ich mir schon gedacht. Willst du mit deiner Erzählung fortfahren?« »Es fing damit an, als ich zum ersten Mal einen Leserbrief an eine Zeitung schrieb natürlich unter falschem Namen. Sie haben ihn gedruckt. Eine Weile fand ich das ganz toll - fast jeden Tag einen Brief unter allen möglichen Decknamen. Dann weitete ich mich auf die Magazine aus, wieder mit Leserbriefen. Und mit Kurzgeschichten - ich versuchte es mit Kurzgeschichten.« Er sah Welles ein wenig zweifelnd an, aber der sagte nur: »Wie alt warst du, als du deine erste Geschichte verkauft hast?« »Acht«, entgegnete Timothy. »Und als der Scheck kam, mit meinem Namen darauf, >T. Paul<, wußte ich um alles in der Welt nicht, was ich damit anfangen sollte.« »Das ist ein Problem. Was hast du damit gemacht?« »Die Bank hatte ein Schild im Fenster. Ich habe schon immer Schilder gelesen, und das fiel mir wieder ein: > Bankgeschäfte per Post.< Wie Sie sich vorstellen können, war ich ziemlich verzweifelt. So suchte ich den Namen einer Bank auf der anderen Seite der Bucht heraus, schrieb ihr - mit meiner Schreibmaschine -, und sagte, ich wolle ein Konto eröffnen, und hier sei ein Scheck dafür. Oh, ich war starr vor Angst und mußte mir immer wieder sagen, daß mich ja niemand großartig dafür bestrafen konnte. Es war ja mein eigenes Geld. Aber Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man nur ein kleiner Junge ist! Sie Schickten mir den Scheck zurück, und als ich ihn sah, bin ich zehn Tode gestorben. Aber der Brief klärte alles auf. Ich hatte ihn nicht indossiert. Sie schickten mir ein Formular, das ich selbst ausfüllen sollte. Ich wußte nicht, wie viele Lügen ich wohl wagen konnte. Aber es war mein Geld, und ich mußte es haben. Wenn ich es in die Bank hineinbringen konnte, konnte ich es eines Tages auch wieder hinausschaffen. Ich gab als Beruf >Schriftsteller< und mein Alter mit vierundzwanzig an. Das kam mir damals schrecklich alt vor.« »Ich würde die Geschichte gerne sehen. Hast du noch ein Exemplar dieses Magazins?« »Ja«, sagte Tim. »Aber es fiel niemandem auf - ich meine, > T. Paul<, das konnte ja jeder sein. Und als ich dann Magazine für Schriftsteller am Kiosk sah und sie kaufte, kam ich dahinter, für die Geschichte ein Pseudonym zu benutzen und meinen eigenen Namen und meine Adresse oben in die Ecke zu schreiben. Davor 28
benutzte ich einen Falschnamen und bekam die Manuskripte manchmal nicht mehr zurück und hörte auch nichts mehr von ihnen. Manchmal allerdings doch.« »Was dann?« »Oh, dann habe ich den Scheck indossiert, also auf mich ausgestellt und mit meinem Pseudonym unterschrieben und meinen eigenen Namen darunter gesetzt. Hatte ich eine Angst davor! Aber es war mein Geld.« »Nur Kurzgeschichten?« »Auch Artikel. Und anderes. Das reicht für heute. Nur - was ich noch sagen wollte - vor einer Weile hat T. Paul der Bank gesagt, daß ein Teil seines Geldes auf ein Scheckkonto überwiesen werden solle. Um Bücher per Post zu kaufen und so. Ich könnte Sie also bezahlen, Dr. Welles«, sagte er plötzlich ganz formell. »Nein, Tim«, entgegnete Peter Welles entschieden. »Das Vergnügen ist ganz meinerseits. Ich möchte aber gerne die Geschichte sehen, die du mit acht Jahren veröffentlicht hast. Und einige andere Dinge, die T. Paul reich genug gemacht haben, daß er sich einen beratenden Psychiater auf der Gehaltsliste leisten kann. Und würdest du mir den Gefallen tun und mir verraten, wie das alles vor sich gehen kann, ohne daß deine Großeltern etwas davon bemerken?« »Großmutter glaubt, ich würde Gutscheine sammeln und einschicken«, sagte Tim. »Sie bringt mir nicht die Post. Sie meint, ihr kleiner Junge würde seine Freude an dieser kleinen Prozedur haben. Auf jeden Fall hat sie das gesagt, als ich acht war. Ich spielte Postbote. Und es gab anfangs auch Gutscheine - ich habe sie ihr immer wieder gezeigt, bis sie schließlich zum dritten Mal sagte, sie sei wirklich nicht an solchen Dingen interessiert. Inzwischen hat sie sich abgewöhnt, darauf zu warten, daß ich die Post hereinhole.« Peter Welles glaubte, daß dies wirklich ein Tag der Enthüllungen gewesen war. Er verbrachte einen ruhigen Abend zu Hause, hielt sich den Kopf, stöhnte und versuchte das alles in sich aufzunehmen. Und dieser IQ - 120, Unsinn! Der Junge hatte ihn hereingelegt. Tims Lesestoff hatte offensichtlich genügend über Intelligenz umfaßt, genug Rätsel und Knobelaufgaben in Magazinen und so weiter, daß er in der Lage gewesen war, ihn mit Erfolg an der Nase herumzuführen. Wozu er wohl fähig war, wenn er mit ihm 29
zusammenarbeitete? Welles beschloß, genau das herauszufinden. Er fand es nicht heraus. Timothy Paul brachte den ganzen Bereich der Tests für überdurchschnittlich intelligente Erwachsene schnell hinter sich, ohne einen einzigen Fehler zu begehen. Es waren noch keine Tests entworfen worden, die seine Intelligenz wirklich messen konnten. Während er sein Alter noch einstellig schrieb, hatte Timothy Paul ganz allein Problemen gegenübergestanden und sie gelöst, die einen durchschnittlichen Erwachsenen überfordert hätten. Er hatte sich der schwierigsten Aufgabe von allen angepaßt - der, wie ein ganz normaler, durchschnittlicher kleiner Junge zu wirken. Und es mußte bestimmt noch mehr über ihn herauszufinden sein. Was schrieb er? Und was tat er außer Lesen und Schreiben, Tischlerei lernen und Katzen züchten und auf großartige Weise die ganze Welt täuschen? Als Peter Welles einige von Tims Werken gelesen hatte, fand er zu seiner Überraschung heraus, daß die Kurzgeschichten des Jungen von einer lebhaften Menschlichkeit waren, das Ergebnis der scharfen Betrachtung der menschlichen Natur. Die Artikel andererseits waren strikt logisch und stellten gründliche Vorstudien und Recherchen unter Beweis. Offensichtlich las Tim mehrere Zeitungen Wort für Wort und dazu noch ein Dutzend oder mehr Monatszeitschriften. »Oh, sicher«, sagte Tim auf die betreffende Frage. »Ich lese alles. Manchmal nehme ich mir auch alte Ausgaben erneut vor.« »Wenn du so schreiben kannst«, fragte Welles und deutete auf ein Magazin, in dem ein eher gesetzter wissenschaftlicher Artikel erschienen war, »und so« - das war ein politischer Meinungsartikel, der Argumente für und wider eine Änderung im ganzen Kongreßsystem lieferte - »warum redest du dann immer in der Sprache eines ganz gewöhnlichen Schuljungen mit mir?« »Weil ich nur ein kleiner Junge bin«, erwiderte Timothy. »Was würde geschehen, wenn ich herumlaufen und dabei so reden würde?« »Bei mir könntest du es riskieren. Du hast mir doch diesen Artikel gezeigt.« »Ich würde es niemals wagen, so zu reden. Ich könnte mich vergessen und es vor anderen auch tun. Außerdem kann ich die 30
Hälfte der Worte nicht richtig aussprechen.« »Was!« »Ich schlage die Aussprache nie nach«, erklärte Timothy. »Falls es mir doch mal passieren und ich ein Wort benutzen sollte, das über dem Durchschnitt liegt, kann ich immer noch hoffen, daß ich es richtig ausgesprochen habe.« Welles lachte schallend, wurde aber schnell wieder ernst, als ihm die Implikationen hinter dieser Überlegung klar wurde. »Du bist wie ein Forscher, der unter Wilden lebt«, sagte der Psychiater. »Du hast die Wilden sorgfältig studiert und versuchst sie nachzuahmen, damit sie nicht bemerken, daß es Unterschiede gibt.« »So was in der Art«, gestand Tim ein. »Deshalb sind deine Kurzgeschichten auch so menschlich«, sagte Welles. »Die eine über das schreckliche kleine Mädchen ...« Sie kicherten beide. »Ja, das war meine erste Geschichte«, sagte Tim. »Ich war fast acht, und in meiner Klasse gab es einen Jungen, der einen Bruder hatte, und der Junge von nebenan war der andere, der, auf dem sie immer herumhackten.« »Wieviel von der Geschichte war wahr?« »Der erste Teil. Immer, wenn ich zu ihnen hinüberging, sah ich, wie das Mädchen auf dem Freund von Bills Bruder, auf Steve, herumhackte. Sie wollte die ganze Zeit selbst mit Steve spielen, und jedesmal, wenn die Jungs drüben waren, tat sie etwas Schreckliches. Und Steves Eltern waren genau, wie ich sie beschrieben habe - sie ließen einfach nicht zu, daß Steve einem Mädchen etwas tat. Als sie die Wassermelonenschalen über den Zaun in seinen Garten warf, mußte er sie alle aufsammeln und durfte ihr nicht Bescheid sagen; und sie lachte ihn über den Zaun aus. Sie schob ihm die Schuld für Sachen zu, die er nie gemacht hatte, und wenn er auf dem Hof arbeiten mußte, hing sie im Fenster und schrie ihn an und machte Witze über ihn. Zuerst fragte ich mich, weshalb sie sich so benahm, und dann ließ ich mir eine Möglichkeit einfallen, wie er ihr auch eins auswischen konnte und schrieb es so nieder, wie es hätte passieren können.« »Hast du diese Idee nicht Steve verraten und sie ihn ausprobieren lassen?« »Herrjeh, nein! Ich war nur ein kleiner Junge. Siebenjährige 31
Kinder schlagen Zehnjährigen nichts vor. Das war das erste, was ich lernen mußte immer der zu sein, der stillhält, besonders, wenn irgendein älterer Junge oder ein Mädchen dabei ist, selbst wenn er nur zwei oder drei Jahre älter ist. Ich mußte lernen, ausdruckslos auszusehen, den Mund offen stehen zu lassen und zu fast jedem zu sagen: >Das kapier ich aber nicht!<« »Und Miss Page hielt es für komisch, daß du keine engen Freunde deines Alters hattest«, sagte Welles. »Du mußt der einsamste Junge sein, den es je auf dieser Erde gegeben hat. Du hast wie ein Verbrecher ein Leben im Verborgenen geführt. Aber verrate mir, wovor du eigentlich Angst hast?« »Natürlich davor, daß man es herausfindet. Ich kann auf dieser Welt nur in Verkleidung leben - zumindest, bis ich erwachsen bin. Zuerst waren es nur meine Großeltern, die mich gescholten und mir gesagt haben, ich solle nicht so angeben, und die Art, wie die Leute über mich gelacht haben, wenn ich versuchte, mit ihnen zu reden. Dann sah ich, daß die Leute jeden hassen, der besser, intelligenter oder glücklicher ist als sie. Manche Leute kompensieren das irgendwie; wenn man in manchen Dingen gut ist, ist man in anderen schlecht, doch sie verzeihen einem, daß man bei der einen Sache gut ist, weil man es bei der anderen nicht ist und sie das so ausgleichen können. Irgendwo können sie einen schlagen. Man muß die Balance ausgeglichen halten. Ein Kind hat überhaupt keine Chance. Kein Erwachsener kann es ertragen, wenn ein Kind etwas weiß, das er nicht weiß. Oh, eine Kleinigkeit vielleicht, wenn es sie amüsiert. Aber nicht viel von allem. Es gibt eine alte Geschichte von einem Mann, der sich in einem Land wiederfand, in dem alle anderen blind waren. So bin ich auch - aber sie werden mir nicht die Augen ausstechen. Ich werde sie niemals wissen lassen, daß ich überhaupt sehen kann.« »Siehst du denn Sachen, die Erwachsene nicht sehen können?« Tim deutete mit der Hand auf die Magazine. »Nur so etwas, meinte ich. Ich höre Leute reden, in der Straßenbahn und in Geschäften, und wo sie arbeiten und in der Nachbarschaft. Ich lese darüber, wie sie sich verhalten - in den Tageszeitungen. Ich bin wie sie, genau wie sie, nur daß ich hundert Jahre älter zu sein scheine - reifer.«
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»Meinst du damit, daß die anderen alle ziemlich unvernünftig sind?« »Nein, nicht genau. Ich meine, daß nur so wenige von ihnen vernünftig sind oder es zeigen, wenn sie Vernunft haben sollten. Sie scheinen noch nicht einmal vernünftig sein zu wollen. Auf ihre Art sind es gute Menschen, aber was würden sie wohl aus mir machen? Selbst als ich sieben war, konnte ich ihre Motive verstehen, doch sie selbst konnten ihre eigenen Motive nicht begreifen. Und sie sind so faul - sie scheinen nichts wissen oder begreifen zu wollen. Als ich zum ersten Mal in die Bibliothek ging, um mir Bücher zu besorgen, hatten die meisten Erwachsenen die Bücher, aus denen ich lernen konnte, nicht einmal angerührt. Doch sie waren für normale Erwachsene bestimmt. Aber die Erwachsenen wollen nichts wissen - sie wollen nur ihr Vergnügen haben. Ich bringe den meisten Leuten ähnliche Gefühle entgegen wie meine Großmutter Babys und jungen Hunden. Nur braucht sie nicht die ganze Zeit vorzugeben, ein junger Hund zu sein«, fügte Tim ein wenig verbittert hinzu. »Du hast jetzt in mir einen Freund.« »Ja, Peter«, sagte Tim mit einem zögernden Lächeln. »Und ich habe auch Brieffreunde. Die Leute mögen, was ich schreibe, weil sie nicht wissen, daß ich ein kleiner Junge bin. Wenn ich erwachsen bin...« Tim führte diesen Satz nicht zu Ende. Welles verstand jetzt einige der Ängste, die Tim überhaupt nicht in Worte zu fassen gewagt hatte. Würde er, wenn er erwachsen war, ebenso weit über allen Erwachsenen stehen, wie er sein ganzes bisheriges Leben lang über seinen Altersgenossen gestanden hatte? Die erwachsenen Freunde, denen er jetzt unter einigermaßen gleichen Voraussetzungen begegnete - würden sie ihm dann auch wie Babys oder junge Hunde vorkommen? Peter wagte es auch nicht, den Gedanken auszusprechen, und noch weniger, auf eine andere Überlegung hinzuweisen. Bislang hatte Tim kein besonderes Interesse an Mädchen; sie existierten für ihn als Teil der menschlichen Rasse, doch es würde eine Zeit kommen, da Tim ein erwachsener Mann sein und sich wünschen würde, zu heiraten. Und wo unter den jungen Hunden konnte er eine Gefährtin finden? »Auch wenn du erwachsen bist, werden wir noch Freunde sein«, sagte Peter. »Aber wer sind die anderen?« 33
Es stellte sich heraus, daß Tim Brieffreunde auf der ganzen Welt hatte. Er spielte Briefschach - ein Spiel, das er niemals persönlich zu spielen wagte, außer, wenn er sich dabei zu unnützen Zügen zwang und den Gegner mindestens die Hälfte aller Partien gewinnen ließ. Er hatte auch viele Freunde, die einige seiner Veröffentlichungen gelesen und ihn daraufhin angeschrieben hatten, um eine Brieffreundschaft zu beginnen. Nachdem ihm das zwei oder dreimal passiert war, hatte er einige von sich aus begonnen, immer mit Menschen, die in großer Entfernung lebten. Bei den meisten davon gab er einen Namen an, der zwar nicht falsch war, aber danach aussah. Zum Beispiel Paul T. Lawrence. Lawrence war sein zweiter Vorname; und mit einem Komma hinter dem Paul war es sogar sein eigener Name. Er hatte sich ein Postfach unter diesem Namen gemietet, für das der T. Paul mit dem großen Bankkonto seine Referenz war. »Brieffreunde im Ausland? Beherrscht du Fremdsprachen?« Ja, das tat Tim. Er hatte auch Fernstudienkurse belegt, wie sie von vielen Universitäten angeboten wurden; sie liehen den Studenten Schallplatten, nach denen man die richtige Aussprache erlernen konnte. Tim hatte mehrere solcher Kurse absolviert und andere Sprachen aus Büchern gelernt. Mittels der Briefe in andere Länder und der Antworten, die ihn erreichten, hielt er sich in der Übung. »Ich kaufe mir immer ein Wörterbuch und schreibe dann an die Bürgermeister irgendwelcher Städte oder an eine ausländische Zeitung und bitte darum, eine Anzeige aufzugeben, in der ich nach Brieffreunden suche, die mir helfen können, die Sprache zu erlernen. Wir tauschen immer Andenken und so was aus.« Welles war auch nicht im geringsten überrascht, als er herausfand, daß Timothy auch andere Fernkurse belegt hatte. Innerhalb von drei Jahren hatte er über die Hälfte aller Fächer absolviert, die von vier verschiedenen Universitäten angeboten wurden, und diverse andere Kurse, von denen der letzte Architektur gewesen war. Mit noch nicht ganz vierzehn Jahren hatte der Junge einen vollen Kurs in diesem Fach absolviert und hätte, wäre er in der Lage gewesen, sich als Erwachsener zu verkleiden, sofort hingehen und alles mögliche bauen können, das einem nur einfiel, denn er kannte auch viele der dazu nötigen handwerklichen Grundlagen. »Es wird stets vorgegeben, wie lange ein durchschnittlicher Stu34
dent braucht, und so lange brauche ich dann auch«, sagte Tim, »so daß ich natürlich gleichzeitig an verschiedenen Schulen arbeiten muß.« »Und Tischlerei im Feriensommerlager?« »Oh ja. Aber das konnte ich nicht viel machen, weil die Leute mich beobachten konnten. Aber ich habe es gelernt, und es war eine gute Tarnung, und so konnte ich Käfige für die Katzen und all diese Dinge machen. Und viele Jungs sind gut mit ihren Händen. Ich arbeite gern mit den Händen. Ich habe mir auch mein Radio selbst gebaut - es bekommt alle ausländischen Sender herein, und das hilft mir bei den Sprachen.« »Wie hast du das mit den Katzen herausgefunden?« fragte Welles. »Oh, es muß Rezessive geben, das ist alles. Die Färbung der Siamkatze war rezessiv, und man mußte sie mit einem anderen Rezessiven kreuzen. Schwarz war eine Möglichkeit, und Weiß eine andere, aber ich fing an mit einer schwarzen, weil mir das besser gefiel. Ich könnte es auch mit einer weißen versuchen, aber ich habe so viel anderes im Kopf...« Er brach plötzlich ab und wollte nichts mehr sagen. Für ihr nächstes Treffen hatten sie sich in Tims Werkstatt verabredet. Welles holte den Jungen nach der Schule ab, und sie gingen gemeinsam zu Tim nach Hause; dort schloß der Junge die Tür auf und schaltete das Licht ein. Welles sah sich interessiert um. Da waren eine Werkbank und ein Werkzeugkasten. Schränke mit Vorlegeschlössern!. Ein Radio, eindeutig nicht im Laden gekauft. Ein Aktenschrank, auch verschlossen. Etwas auf einem Tisch, mit einem Tuch bedeckt. Ein Kasten in der Ecke - nein, zwei Kästen in zwei Ecken. In jedem darin eine Mutterkatze mit Jungen. Beide Muttertiere waren schwarze Angorakatzen. »Das hier muß eine ganz schwarze Angorakatze sein«, erklärte Tim. »Ihr dritter Wurf, und keine einzige Siamesenzeichnung. Aber die hier trägt beide Rezessiva in sich. Letztesmal hatte sie ein kurzhaariges Siamkätzchen. Heute morgen - ich mußte zur Schule. Mal sehen.« Sie beugten sich über die Schachtel, in der die neugeborenen Kätzchen lagen. Ein Kätzchen war wie die Mutter. Die beiden anderen waren Angorasiamesen; ein Männchen und ein Weibchen. 35
»Du hast es wieder geschafft, Tim!« rief Welles. »Meinen Glückwunsch!« Sie schüttelten sich erfreut die Hände. »Ich trage es in meine Aufzeichnungen ein«, sagte der Junge glückselig. Tim ergänzte mit der linken Hand die Eintragungen in einem Schulheft, auf dem »Aufsätze« stand. Er hatte die korrekten Symbole benutzt - Fl, F2, F3; Ks, Sl. »Die Dominanten in Großbuchstaben«, erklärte er, »S für schwarz, und K für kurzhaarig; die Rezessiven in Kleinbuchstaben - s für Siamkatze, l für langhaarig. Wunderbar, wieder 11 über ss zu schreiben, Peter! Noch zweimal. Und das andere Kätzchen trägt die Siamzeichnung als rezessives Gen.« Triumphierend schloß er das Buch. »Und jetzt«, und er ging zu dem zugedeckten Ding auf dem Tisch, » mein neuestes großes Geheimnis.« Tim hob das Tuch vorsichtig und enthüllte ein wunderschön gebautes Puppenhaus. Nein, ein Modellhaus - korrigierte sich Welles schnell. Ein wunderbares Modell, und - ja, maßstabgetreu gebaut. »Man kann das Dach abheben. Sehen Sie, es hat einen großen Vorratsraum und einen Raum, den man als Spielzimmer oder für ein Hausmädchen oder so verwenden kann. Dann hebe ich das Dachgeschoß ab ...« »Gott im Himmel!« rief Peter Welles. »Jedes kleine Mädchen würde seine Seele dafür hergeben!« »Als Tapeten habe ich buntes Geschenkpapier benutzt. Die Brücken habe ich mit einem kleinen Handwebstuhl gewebt«, freute sich Timothy. »Die Möbel sehen doch einfach echt aus, nicht wahr? Einige habe ich gekauft; die sind aus Plastik. Einige habe ich aus Pappkartonschnittmustern selbst gemacht. Die Vorhänge waren am schwierigsten; doch ich konnte Großmutter ja nicht bitten, sie zu nähen ...« »Warum nicht?« brachte der erstaunte Arzt über die Lippen. »Vielleicht hätte sie sie nachher wiedererkannt«, sagte Tim und nahm das Obergeschoß ab. »Es erkannt? Du hast es ihr nicht gezeigt? Wann wird sie es dann sehen?« »Vielleicht gar nicht«, gestand Tim ein. »Aber ein Risiko gehe ich ja immer ein.« 36
»Du hast einen sehr wohnlichen Grundriß benutzt«, sagte Welles und beugte sich tiefer hinab, um das Haus in allen Einzelheiten zu betrachten. »Ja, das fand ich auch. Es ist schrecklich, wie viele Baupläne nicht genügend freien Wohnraum für Bücher oder Bilder haben. Bei manchen sind die Türen sogar so angeordnet, daß man jedesmal um den Eßzimmertisch herumgehen muß, wenn man vom Wohnzimmer in die Küche will, oder so, daß eine ganze Raumecke zu nichts gut ist, weil die Türen alle im Winkel stehen. Nein, ich habe dieses Haus entworfen, um ...« »Du hast es entworfen, Tim?« »Aber sicher. Oh, ich verstehe - Sie haben gedacht, ich hätte es nach Plänen gebaut, die ich gekauft habe. Bei meinem ersten Modellhaus habe ich das noch gemacht, aber durch die Architekturkurse bekam ich so viele Ideen, daß ich sehen wollte, wie sie im Modell wirken. Jetzt der Keller und der Hobbyraum ...« Welles kam eine Stunde später wieder zu sich und schnappte nach Luft, als er auf die Uhr sah. »Schon zu spät. Mein Patient ist mittlerweile wieder nach Hause gegangen. Ich kann genausogut bleiben - was ist mit dem Zeitungaustragen ?« »Das habe ich aufgegeben. Als ich Großmutter das Kätzchen schenkte, bot sie sich an, die Katzen zu füttern. Und ich wollte die Zeit dafür verwenden. Hier sind die Bilder von dem Haus.« Die Farbabzüge waren sehr gut. »Ich habe sie mit einem Artikel an die Magazine geschickt«, sagte Tim. »Diesmal bin ich T. L. Paul. Manchmal habe ich so getan, als würden all die verschiedenen Leute, die ich bin, miteinander sprechen - aber nun rede ich statt dessen mit Ihnen, Peter.« »Macht es den Katzen etwas aus, wenn ich rauche? Danke. Hoffentlich gibt es hier nichts, was ich in Brand setzen könnte. Setze das Haus zusammen und laß mich hier sitzen und es betrachten. Ich möchte durch die Fenster sehen. Schalte die kleinen Lampen an, ja, dort.« Der junge Architekt strahlte und knipste die kleinen Lampen an. »Hier kann niemand hineinsehen. Ich habe mir Jalousien besorgt und schließe sie manchmal sogar, wenn ich hier arbeite.« »Wenn ich alles über dich wissen will, werde ich das Alphabet 37
von A bis Z durchgehen müssen«, sagte Peter Welles. »Das ist Architektur. Was gibt es noch unter A?« »Astronomie. Ich habe Ihnen diese Artikel gezeigt. Meine Berechnungen stellten sich als korrekt heraus. Astrophysik - ich bekam in dem Kurs eine Eins, habe jedoch bislang noch nichts Eigenes vorgelegt. Ars, um den lateinischen Ausdruck zu benutzen; ich kann sehr gut zeichnen und malen, außer bei technischen Zeichnungen. Und bei den Pfadlindem habe ich in alphabetischer Reihenfolge alle Verdienstplaketten bekommen.« »Will verdammt sein, wenn ich mich dich als Pfadfinder vorstellen müßte«, protestierte Welles. »Ich bin ein sehr guter Pfadfinder. Ich habe fast genauso viele Plaketten wie alle anderen gleichaltrigen Jungen in der Truppe. Und im Lager bin ich genausogut wie die meisten Stadtjungen.« »Tust du jeden Tag eine gute Tat?« »Ja«, erwiderte Timothy. »Fing damit an, als ich das erstemal etwas über die Pfadlinder gelesen hatte - ich war im Herzen schon Pfadlinder, ehe ich alt genug für einen Wölfling war. Wissen Sie, Peter, man nimmt das alles so ernst, wenn man noch ein kleiner Junge ist, das mit der guten Tat jeden Tag und dem guten Benehmen und den Idealen und so weiter. Und dann wird man älter, und es kommt einem langsam komisch, kindisch, aufgesetzt und künstlich vor, und man lächelt überlegen und macht Witze darüber. Doch es gibt auch noch einen dritten Schritt, indem man es nämlich wieder ernst nimmt. Leute, die sich über Pfadfinder lustig machen, schaden den Jungs eine Menge; doch jene, die an solche Dinge glauben, wissen nicht, wie sie es sagen sollen, ohne besserwisserisch und platt zu klingen. Über kurz oder lang werde ich einen Artikel darüber schreiben.« »Ist das Pfadfindergesetz deine Religion - wenn ich es so ausdrücken darf?« »Nein«, sagte Timothy. »Aber >ein Pfadfinder ist ein Priester. Ich habe einmal versucht, die verschiedenen Religionen zu studieren und herauszufinden, was die Wahrheit ist. Ich schrieb Briefe an Priester aller Glaubensrichtungen - alle, die im Telefonbuch und den Zeitungen stehen; als ich im Osten in den Ferien war, habe ich die Namen bekommen, und als ich wieder zu Hause war, schrieb ich ihnen dann. Ich konnte ja nicht an Leute hier in der Stadt schreiben. Ich habe geschrieben, ich wolle wissen, welche Glaubensrichtung die richtige sei, und habe erwartet, daß sie mir 38
schreiben und alles über die ihre erzählen und mit mir diskutieren würden. Wissen Sie, ich konnte die Bücher aus der Bibliothek lesen, und ich schrieb ihnen, sie brauchten mir nur welche zu empfehlen und dann ein wenig mit mir darüber zu korrespondieren.« »Haben sie es getan?« »Einige haben geantwortet«, sagte Tim, »doch fast alle schrieben mir, ich solle mich an jemanden in der Nähe wenden. Einige schrieben, sie seien sehr beschäftigt. Einige gaben mit die Titel von ein paar Büchern an, doch keiner bat mich, erneut zu schreiben, und ... und ich war nur ein kleiner Junge. Neun Jahre alt, so daß ich mit niemandem darüber reden konnte. Als ich darüber nachdachte, wurde mir bewußt, daß ich mit meinen jungen Jahren nicht einfach einer Kirche beitreten konnte, es sei denn die meiner Großeltern. Ich gehe immer noch dorthin - es ist eine gute Kirche, und ich bin sicher, daß sie viel Wahres vermittelt. Ich lese alles, was ich finden kann, damit ich weiß, was ich zu tun habe, wenn ich alt genug bin. Was würden Sie sagen, Peter, wie alt ich sein sollte?« »Collegealter«, gab Welles zurück. »Du gehst doch aufs College? Bis dahin werden alle Priester mit dir reden - außer denen, die zuviel zu tun haben!« »Eigentlich ist es ein moralisches Problem. Habe ich das Recht zu warten? Aber ich muß warten. Es ist wie mit dem Lügen - ich muß manchmal lügen, aber ich hasse es. Wenn ich die moralische Verpflichtung habe, der wahren Kirche beizutreten, sobald ich sie gefunden habe, nun, was dann? Das kann ich nicht, bevor ich nicht achtzehn oder zwanzig bin?« »Wenn es nicht geht, geht es eben nicht. Damit sollte es erledigt sein. Dem Gesetz nach bist du ein Minderjähriger, unter der Obhut deiner Großeltern, und obwohl du vielleicht das Recht beanspruchen könntest, dorthin zu gehen, wohin dein Gewissen dich führt, wäre es möglich, deine Wahl zu rechtfertigen und zu erklären, ohne dich völlig zu verraten - genau wie du verpflichtet bist, zur Schule zu gehen, bis du mindestens achtzehn bist, obwohl du mehr weißt als die meisten Doktoren der Philosophie. Es gehört alles zum Spiel, und dein Schöpfer muß das verstehen.« »Ich werde Sie nie belügen«, sagte Tim. »Ich wurde langsam so verzweifelt einsam meine Brieffreunde wußten in Wirklichkeit nichts über mich. Ich schrieb ihnen nur, was sie wissen durften. 39
Kleine Kinder sind zufrieden, mit älteren Leuten zusammen zu sein, aber wenn man ein wenig älter wird, muß man wirklich Freunde haben.« »Ja, das gehört zum Heranwachsen. Man muß an andere herantreten und seine Gedanken mit ihnen teilen. Wie es aussieht, bist du zu lange allein geblieben.« »Das wollte ich ja gar nicht. Aber ohne einen echten Freund war es nur Heuchelei, und meine Spielgefährten durften niemals etwas über mich erfahren. Ich studierte sie, schrieb Geschichten über sie und gehörte ganz zu ihnen, aber das war eben nur ein kleiner Teil von mir.« »Ich bin stolz, dein Freund zu sein, Tim. Jeder braucht einen Freund. Ich bin stolz, daß du mir vertraust.« Tim streichelte die Katze einen Moment lang schweigend und blickte dann grinsend auf. »Würden Sie gern meinen Lieblingswitz hören?« fragte er. »Sehr gern«, sagte der Psychiater und bereitete sich auf jeden möglichen größeren Schock vor. »Es ist ein Tonband. Ich habe es von einer Musiksendung im Radio aufgenommen.« Welles hörte zu. Er verstand wenig von Musik, doch die Symphonie, die er nun hörte, gefiel ihm. In kleinen Einführungen vor und nach jedem Satz lobte der Ansager sie in den höchsten Tönen. Timothy kicherte. »Gefallt es Ihnen?« »Sehr. Ich sehe bloß den Witz nicht.« »Ich habe sie geschrieben.« »Tim, ich bin einfach platt! Aber den Witz verstehe ich immer noch nicht.« »Der Witz ist, daß ich es mit der Mathematik gemacht habe. Ich berechnete, was wie Freude, Trauer, Hoffnung, Triumph und so weiter klingen sollte - das war, kurz nachdem ich die Harmonielehre studiert habe; Sie wissen ja, wie mathematisch sie ist.« Welles nickte sprachlos. »Ich habe die Rhythmen aus verschiedenen Stoffwechseln herausgearbeitet - so, wie man unter dem Einfluß dieser Gefühle reagiert; so, wie die Stoffwechselphasen variieren, der Herzschlag, die Atmung und all das. Ich habe es an diesen Orchesterleiter geschickt. Er kam nicht auf die Idee, daß es ein Scherz war - natürlich habe ich es ihm auch nicht erklärt - und hat die Musik produ40
ziert. Ich bekomme auch hübsche Tantiemen daraus.« »Du wirst mich noch ins Grab bringen«, sagte Welles mit vollem Ernst. »Erzähle mir heute nichts mehr; ich könnte es nicht verkraften. Ich gehe nach Hause. Vielleicht verstehe ich morgen den Witz und komme dann zurück, um zu lachen. Tim, hast du jemals irgendwo versagt?« »Ich habe zwei Schränke voller Artikel und Geschichten, die ich nicht verkaufen konnte. Bei einigen tut mir das sehr leid. Da war diese Sachgeschichte. Wissen Sie, bei >Alice hinter den Spiegele war es kein sehr gutes Spiel, und man konnte die Beziehung zwischen den Zügen und der Geschichte nicht sehr gut mitbekommen.« »Ich habe sie überhaupt nicht begriffen.« »Ich dachte, es würde Spaß machen, ein Meisterschaftsspiel zu nehmen und darüber eine Märchengeschichte zu schreiben, als wäre es ein Krieg zwischen zwei kleinen alten Ländern, mit Rittern und Fußvolk und Festungsmauern, die von Feldherren befohlen werden, und die Läufer konnten nicht wie Soldaten kämpfen, und die Königinnen waren natürlich Frauen - man tötet sie nicht, nicht im Nahkampf, und ... nun, verstehen Sie? Ich wollte die Angriffe und Schachzüge verwerten und die Leute am Leben lassen, ein Märchenkrieg, verstehen Sie, und die Strategie des Spiels und die des Krieges übereinstimmen lassen und habe mir soweit alles passend ausgedacht. Ich brauchte sogar sehr lange dafür, alles auszuarbeiten und niederzuschreiben. Das Spiel als Schachspiel zu verstehen und es dann in menschliche Taten und Motive zu übertragen und Dialoge einzuführen, damit es zu den verschiedenen Leuten paßt. Ich werde es Ihnen zeigen. Mir hat es sehr gefallen. Aber niemand wollte es veröffentlichen. Schachspieler mögen keine Märchen, und niemand sonst mag Schach. Man muß schon einen ganz besonderen Verstand haben, um beides zu mögen. Aber es war eine Enttäuschung. Ich habe gehofft, die Geschichte würde veröffentlicht werden, weil sie den wenigen Leuten, die so etwas mögen, sehr gut gefallen hätte.« »Ich bin sicher, daß sie mir gefällt.« »Nun, wenn Sie so etwas mögen, dann ist sie das, worauf Sie Ihr ganzes Leben vergeblich gewartet haben. Niemand sonst hat so etwas geschrieben.« Tim hielt inne und wurde rot wie eine Tomate. »Jetzt verstehe ich, was Großmutter meint. Wenn man erst mal mit dem Angeben angefangen hat, findet man kein Ende. Es 41
tut mir leid, Peter.« »Gib mir die Geschichte. Mir macht es nichts aus, Tim - gib an vor mir, soviel du willst; ich verstehe das. Sonst platzt du noch, wenn du nie deinen berechtigten Stolz und dein Vergnügen über solche Leistungen ausdrücken kannst. Ich verstehe nur nicht, wie du das alles so lange unterdrücken konntest.« »Das mußte ich«, sagte Tim. Die Geschichte entsprach genau den Worten ihres jungen Verfassers. Welles kicherte, als er sie an diesem Abend las. Er las sie erneut und überprüfte alle Züge und deren Strategie. Es war wirklich eine gute Arbeit. Dann fiel ihm die Symphonie ein, und diesmal konnte er lachen. Er blieb bis nach Mitternacht auf und dachte über den Jungen nach. Dann nahm er eine Schlaftablette und ging zu Bett. Am nächsten Tag besuchte er Tims Großmutter. Mrs. Davis empfing ihn freundlich. »Ihr Enkel ist ein sehr interessanter Junge«, sagte Peter Welles vorsichtig. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ich fertige eine Studie über verschiedene Jungen und Mädchen aus diesem Bezirk an, über ihre Fähigkeiten und Hintergründe und Umgebungen und Charakterzüge und ähnliche Dinge. Es werden natürlich keine Namen genannt, doch ich werde statistische Berichte führen, über zehn Jahre oder länger, und die Geschichte einiger Fälle später vielleicht veröffentlichen. Könnte ich Timothy darin einschließen?« »Timothy ist so ein guter, normaler kleiner Junge, daß ich nicht verstehe, welchen Zweck es hätte, ihn in solch eine Studie aufzunehmen.« »Das ist ja gerade der Punkt. Bei dieser Untersuchung sind wir nicht an verhaltensgestörten Kindern interessiert. Wir eliminieren alle psychotischen Jungen und Mädchen. Wir sind an Jungen und Mädchen interessiert, denen es gelungen ist, ihre jugendlichen Probleme zu bewältigen und sich dem Leben befriedigend anzupassen. Wenn wir eine ausgewählte Gruppe solcher Kinder studieren und ihre Fortschritte zumindest für die nächsten zehn Jahre beobachten - und dann eine Zusammenfassung der Ergebnisse veröffentlichen könnten, natürlich, ohne Namen zu nennen ...« »In diesem Fall sehe ich keine Einwände«, sagte Mrs. Davis. 42
»Würden Sie mir dann etwas über Timothys Eltern erzählen ihre Geschichte?« Mrs. Davis machte es sich für ein gutes, langes Gespräch bequem. »Timothys Mutter, meine einzige Tochter, Emily«, begann sie, »war ein reizendes Mädchen. So talentiert. Sie spielte bezaubernd Violine. Timothy ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, hat aber das dunkle Haar und die Augen seines Vaters. Edwin hatte sehr schöne Augen.« »Edwin war Timothys Vater?« »Ja. Die jungen Leute lernten sich kennen, als Emily im Osten auf dem College war. Edwin studierte dort Atomphysik.« »Ihre Tochter studierte Musik?« »Nein; Emily studierte Kunst. Über Edwins Arbeit kann ich Ihnen nur wenig erzählen, aber nach ihrer Hochzeit kehrte er wieder in sein Fach zurück und ... Verstehen Sie, es schmerzt mich, all dies wieder in Erinnerung zu rufen, aber ihr Tod war ein solcher Schlag für mich. Sie waren so jung.« Welles hielt seinen Bleistift schreibbereit. »Wir haben es Timothy nie gesagt. Schließlich muß er ja in dieser Welt aufwachsen, Dr. Welles, und wie furchtbar hat sich diese Welt in den letzten dreißig Jahren verändert! Aber Sie werden sich nicht an die Tage vor 1945 erinnern. Zweifellos haben Sie von der schrecklichen Explosion in dem Kernkraftwerk gehört, im Jahre 1958, als man versuchte, einen neuen Bombentyp zu bauen? Damals schien keiner der Beschäftigten verletzt worden zu sein. Man hielt die Schutzmaßnahmen für ausreichend. Aber zwei Jahre später waren sie alle tot oder lagen im Sterben.« Mrs. Davis schüttelte traurig den Kopf. Welles hielt den Atem an, senkte den Kopf und schrieb. »Tim wurde gerade vierzehn Monate nach der Explosion geboren, vierzehn Monate auf den Tag genau. Damals dachten alle noch, es sei kein Schaden angerichtet worden. Doch die Strahlung hatte ein paar Auswirkungen, die sehr langsam vor sich gingen - ich verstehe nichts von solchen Dingen -: Edwin starb, und dann kam Emily mit dem Jungen zu uns nach Haus. Nach ein paar Monaten verschied sie ebenfalls. Oh, wir klagen jedoch nicht wie jene, die keine Hoffnung haben. Es ist schlimm, daß wir sie verloren haben, Dr. Welles, doch Mr. Davis und ich haben die Zeit in unserem Leben erreicht, da 43
wir uns darauf freuen können, sie bald wiederzusehen. Unsere Hoffnung ist, lange genug zu leben, bis Timothy alt genug ist, um allein zurechtzukommen. Wir waren so besorgt um ihn; aber Sie haben ja gesehen, daß er in jeder Beziehung völlig normal ist.« »Ja.« »Die Spezialisten haben alle möglichen Tests gemacht. Aber mit Timothy ist alles in Ordnung.« Der Psychiater blieb noch etwas, machte sich noch einige Notizen und ging dann, so schnell er konnte. Er kehrte direkt zur Schule zurück, sprach ein paar Worte mit Miss Page und ließ dann Tim in sein Büro kommen, wo er ihm erzählte, was er erfahren hatte. »Sie meinen - ich bin eine Mutation?« »Ein Mutant. Ja, das bist du wahrscheinlich. Ich weiß es nicht. Aber ich mußte es dir sofort sagen.« »Muß auch ein Dominant sein«, sagte Tim, »wenn es in der ersten Generation schon so zum Vorschein kommt. Sie meinen - es könnte noch mehr geben? Ich bin nicht der einzige?« fügte er aufgeregt hinzu. »Oh, Peter, selbst wenn ich über Sie hinauswachse, muß ich nicht mehr einsam sein?« Da. Er hatte es gesagt. »Es könnte sein, Tim. In deiner Familie ist sonst nichts, was dich erklären würde.« »Aber ich habe nie einen anderen gefunden, der so ist wie ich. Ich hätte es doch gewußt. Ein anderer Junge oder ein Mädchen in meinem Alter - wie ich -, ich hätte es gewußt.« »Du bist mit deiner Mutter in den Westen gekommen. Wohin sind die anderen gegangen, wenn es sie gibt? Die Eltern müssen sich überall verstreut haben, als sie nach Hause zurückgekehrt sind, im ganzen Land, auf der ganzen Welt. Wir können sie jedoch aufspüren. Und hast du noch nicht daran gedacht, Tim, daß es bei all deinen Pseudonymen und verschiedenen Kontakten nicht doch ein wenig verwunderlich ist, daß die Leute nicht mehr darauf bestehen, dich kennenzulernen? Alles wird per Post erledigt? Es ist fast so, als wären die Redakteure an Leute gewöhnt, die sich verbergen. Es ist fast so, als wären die Leute an Architekten, Astronomen und Komponisten gewöhnt, die nie jemand sieht, die nur Namen zu Händen anderer Namen bei Postfächern sind. Es gibt eine Chance - denke daran, nur eine Chance -, daß es noch andere gibt. Wenn es sie gibt, werden wir sie linden.« 44
»Ich werde einen Code ausarbeiten, den sie verstehen«, sagte Tim, das Gesicht vor Konzentration verzerrt. »In Artikeln - ja, das mache ich - einigen Magazinen und Briefen kann ich Kopien beilegen - einige meiner Brieffreunde könnten diejenigen sein . . .« »Ich werde die Akten durchforsten - sie müssen irgendwo aufbewahrt werden. Psychologen und Psychiater kennen alle möglichen Tricks - wir können uns irgendeine Entschuldigung ausdenken, ihnen allen nachzugehen. Die Geburtsregister ...« Beide sprachen gleichzeitig, doch die ganze Zeit über dachte Peter Welles traurig, daß er Tim jetzt vielleicht verloren hatte. Wenn sie die anderen fanden, jene, zu denen Tim rechtens gehörte, wo würde der arme Peter dann bleiben? Draußen, unter den Welpen ... Timothy Paul blickte auf und sah Peter Welles' Augen auf sich gerichtet. Er lächelte. »Sie waren mein erster Freund, Peter, und Sie werden immer mein Freund bleiben«, sagte Tim. »Ganz egal wie oder was.« »Aber wir müssen nach den anderen suchen«, sagte Peter. »Ich werde niemals vergessen, wer mir geholfen hat«, sagte Tim. Ein gewöhnlicher Junge von dreizehn Jahren mag so etwas mit vollem Ernst sagen und hat eine Woche später alles vergessen. Doch Peter Welles war zuversichtlich. Tim würde es niemals vergessen, Tim würde immer sein Freund bleiben. Selbst wenn Timothy Paul und jene anderen, die so waren wie er, sich in einer ungeahnten Reife vereinen würden, um die Welt zu beherrschen, wenn sie diesen Weg wählten, würde Peter Welles Tims Freund bleiben - kein Hündchen, sondern ein geliebter Freund - wie ein treuer Hund, der von seinem Herrn geliebt und niemals verstoßen wird.
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SICH ÖFFNENDE TÜREN Timothy Paul, der am nächsten Donnerstag vierzehn werden würde, und Dr. Peter Welles, Psychologe und Psychiater, befanden sich auf dem Weg zum Postamt. Tim platzte bald vor Aufregung, sagte jedoch kein einziges Wort. Welles, der ihn schweigend beobachtete, kannte den Grund. Ein Wort von einem von ihnen würde einen unaufhaltsamen Redefluß auslösen, den sie sich in der Öffentlichkeit nicht leisten konnten. Denn sie wollten die ersten Antworten auf die Anzeige abholen, die sie im ganzen Land in Zeitungen und Zeitschriften aufgegeben hatten. Die Anzeige war von Tim selbst gestaltet worden, und er war sehr stolz darauf. Mit fieberhafter Ungeduld erhoffte er sich, die anderen Kinder zu finden, die so waren wie er wenn es sie gab, Es bestand jedoch Grund zur Hoffnung. Welles hatte auf andere Möglichkeiten zurückgegriffen und erwartete im Laufe der nächsten Woche den ersten Bericht der Detektei, die die Spuren all der Kinder verfolgte, deren Eltern nach der Atomexplosion im Jahre 1958 gestorben waren. »Waisen, g c 59, I q drei Stern plus«, stand in der Anzeige. »Wir werden alle möglichen verrückten Antworten bekommen«, hatte Tim gesagt, »doch sie muß deutlich genug sein, damit sie sie nicht übersehen können.« »Wir können sie aussortieren«, hatte Welles erwidert. »Wir können denen, die darauf schreiben, Halsketten im Postversand verkaufen oder so etwas. Wir können alles damit erklären, indem ich als Psychologe behaupte, wissen zu wollen, welche Antworten auf solch eine geheimnisvolle, unsinnige Anzeige eingehen.« »Das g steht für geboren, und das c für cirka«, hatte Tim deutend erklärt. »Und die 59 ist das Jahr; sie müssen alle im Jahre 1959 geboren worden sein, jedenfalls nicht viel später. Der Rest ist klar genug: Sie werden alle Waisen sein, und als erstes Wort erregt es genug Aufmerksamkeit.« »Ja«, hatte Welles geduldig erwidert. »Ich wollte es nicht erklären«, entschuldigte sich Tim beschämt. »Verzeihen Sie mir, Peter. Es ist nur so, daß ich daran gewöhnt bin, daß die Leute nie etwas allein herausfinden.« »Das kommt mir fast zu einfach vor«, sagte der Psychologe. 46
»Aber wir werden sehen.« Nun, im schlimmsten Fall würden die Antworten intelligente Kinder betreffen, und es würde Tim nichts schaden, mit intelligenten Kindern Kontakt aufzunehmen, selbst wenn sie sich nur im Intelligenzquotientenbereich von 150 bis 200 befanden. Peter Welles schloß das Postfach auf und fing wortlos an, die sieben Briefe, die sich darin befanden, zu verteilen. Einen für Tim und einen für sich selbst, einen für Tim und einen für sich selbst, so daß der überzählige an den Jungen fiel. Peter verließ das Postamt schnellen Schrittes, und als Tim - der langsam ging und das Äußere der Umschläge untersuchte - auf die Straße trat, sah er, daß der Doktor ein Taxi herbeigewunken hatte. »Schnelligkeit ist das Gebot der Stunde«, bemerkte Welles. Tim lächelte mit geschlossenen Lippen. Der Psychologe begriff, daß der Junge es nicht wagte, den Mund zu öffnen, damit er nicht verräterisch losplatzte. Es fiel ihm immer wieder schwer, sich daran zu erinnern, daß dieses Kind, dessen Intelligenz die von herausragenden Erwachsenen übertraf, gefühlsmäßig nur etwa dreizehn Jahre alt war. »Halte dich zurück, Kumpel«, sagte Welles aufmunternd. »Jetzt dauert es nicht mehr lange.« Als sie am Büro des Doktors anlangten, das gleichzeitig seine Wohnung darstellte, sprang Tim aus dem Taxi und stürmte hinein. Als Peter dort eintraf, hatte er den ersten Brief schon geöffnet und gelesen. »Die hier glaubt, wir suchen nach Kinderstars für Rundfunk oder Film«, sagte der Junge. »Aber sie weiß nicht, warum es Waisen sein sollen, schreibt sie - außer mit unseren Geschäftsbedingungen stimmt etwas nicht.« »Was sollen wir antworten?« fragte Peter und riß einen Umschlag auf. »Schreiben Sie ihr, wir wollen nicht, daß die Eltern des Kindes etwas von dem Honorar abbekommen«, sagte Tim. »Dann wird sie schon Ruhe geben. Wie sieht Ihr erster Griff aus?« »Der hält die Anzeige für so ein Sex-Zeug, weil sie so geheimnisvoll klang«, sagte Welles und warf den Brief in den Kamin. Tim schenkte ihm keine Aufmerksamkeit; er hatte sich in den zweiten Brief vertieft, der ihm zugefallen war. 47
»Das ist eine Möglichkeit!« rief der Junge. »Er ist obskur, aber...« »Der hier«, unterbrach Welles, »fragt an, ob wir Waisen zur Adoption anbieten oder welche adoptieren wollen. Ein Fehlschlag. Aber wir müssen antworten.« Er riß einen weiteren auf. »Heda!« rief er. »Der ist in einem Kode.« Sie lasen ihn zusammen und legten ihn für den Augenblick mit dem anderen Brief, den sie zwar für obskur, aber für eine Möglichkeit hielten, beiseite. »Der hier sammelt komische Anzeigen, schreibt er jedenfalls«, berichtete Tim nach einem Blick auf seinen dritten Brief. »Könnte eine Möglichkeit sein, aber ich glaube nicht daran. Wir können ihm vorsichtig nachgehen. Und der letzte ... Hey! Das ist auf jeden Fall interessant!« Er las den Brief laut vor: »Sehr geehrter Herr, Ihre Anzeige scheint ein größeres Publikum zu verdienen, deshalb strahle ich sie zu jeder vollen Stunde in dieser Woche über meinen Kurzwellensender aus. Darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß ich persönlich an dieser Angelegenheit interessiert bin ? Ich würde mich freuen, wieder von Ihnen zu hören. Jay Worthington« »Ich glaube, das ist einer«, rief Tim. »Das heißt, falls es überhaupt noch welche wie mich gibt.« »Könnte sein. Wir müssen uns überlegen, was wir ihm antworten wollen; es darf jedoch nicht mehr so deutlich wie in der Anzeige sein, Tim. Im Prinzip sollten wir uns für jeden Brief eine Antwort einfallen lassen, nur um sicher zu gehen.« »Alles bis auf den, den Sie ins Feuer geworfen haben«, sagte Tim. »Sehen wir uns den kodierten Brief noch einmal an.« Sie beugten sich darüber. »Tür-Kopf Zahn-Kopf Hand Haken-Zahn Haus-Kopf-Fisch Fisch Ochse-Schlange-Faust Schlange ...« Tim fing an zu kichern. Auf viele Arten war er ein ganz gewöhnlicher kleiner Junge. »... Mund-Kopf-Fisch-Zeichen-Zahn Tür Fisch-Stütze Ochse-Zeichen-Wasser HandHinterkopf Stachel-Kamel Stachel-Fisch-Stachel-Hand.« 48
»Sonst noch etwas?« »Kein Wort mehr, bis auf den Namen und die Adresse auf dem Umschlag. Marie Heath ein Mädchen!« »Zweifellos müßte es auch Mädchen geben«, sagte Tim mit einer betonten Unbekümmertheit, die einen beiläufigen Beobachter getäuscht hätte. »Aber warum hat sie dieses Blatt benutzt? Es ist wie eine Glückwunschkarte zusammengefaltet. Öffnen Sie es, bis es völlig flach ist, Peter.« Welles faltete das Blatt auseinander und glättete es. »Hier hat sie etwas mit Bleistift gekritzelt. Ein Strichmännchen. Nein, laß es mich mal genau ansehen ... Tim, das ist Hebräisch!« »Ich kann kein Hebräisch. Sie vielleicht? Dann gehe ich auf dem Nachhauseweg bei der Bücherei vorbei und übersetze es. Jetzt zu dem obskuren Brief.« Timothy las ihn langsam laut vor: »Liebes Postfach, es ist augenscheinlich, daß dieser Hinweis an mich gerichtet ist. Vielleicht bist Du jedoch genauso tief in der Dunkelheit wie ich, und das ist wahrscheinlich besser so. B. Burke« »Klingt vielversprechend«, sagte Welles. Tim murmelte einen Augenblick vor sich hin und rief dann aus: »Besser in der Dunkelheit!« Dann stürzte er aus dem Zimmer. Als Peter Welles auf die Füße kam, hörte er, wie Tim ihn aus seinem eigenen Schlafzimmer rief, und dort winkte ihn Tim dann zum Kleiderschrank. Sie schlössen sich in den Schrank ein, und in der Dunkelheit konnten sie schwach leuchtende Worte zwischen den mit der Maschine getippten Zeilen ausmachen: »Es würde viel erklären, wenn ich als Baby reine Geistesnahrung in der Flasche bekommen hätte. Haben andere die gleiche Nahrung bekommen? Ich muß dieses Risiko eingehen, ich muß es herausfinden. Beth Burke.« »Noch ein Mädchen«, rief Tim triumphierend. »Hören Sie, wir haben schon zwei gefunden, und ich kann es nicht abwarten, mich an diesen Kode zu machen. Vielleicht klappt es, wenn wir die hebräischen Worte ins Englische übertragen; sonst müssen wir jemanden fragen, der sich mit der Sprache auskennt.« »Dann lauf schon los und ruf mich an, wenn du etwas heraus49
gefunden hast.« »Nicht telefonisch«, sagte Tim vorsichtig. »Ich trete aber wieder mit Ihnen in Verbindung.« »Drück dich nicht in Rätseln aus, junger Mann. Wenn das so weitergeht, haben wir genug Kodes zu knacken. Also los! Das Laufen wird dir gut tun.« »Und wie!« stimmte Tim zu. Er jagte davon. Ein wenig später klingelte er wie verrückt an Welles' Tür. »Ich habe es! Als ich das Wörterbuch aufschlug, um die hebräischen Buchstaben zu übersetzen, erkannte ich die Bedeutung jedes einzelnen Zeichens. Sehen Sie ... Tür steht für s, und Kopf für r...« Er hatte es auf einem Zettel niedergeschrieben. »Sr grtr Hrr wrd gbm ... und das nächste müssen Ziffern sein. Die Buchstaben haben auch einen numerischen Wert... 1-9-5-0-9. Das ist ein guter Kode, da er keine Vokale enthält. Das bedeutet: >Sehr geehrter Herr wurde geboren 1959.< Dann geht es weiter, Ltm tt ns was das heißt, weiß ich nicht - atm i q grss nsm. Das ist alles.« »Eltern tot, und das ns verstehe ich auch nicht; vielleicht hat der Briefschreiber etwas durcheinandergeworfen. Die numerischen Werte wären 50-60. Aber atm ist natürlich Atom, und das nächste heißt IQ groß. Was ist nsm?« »Einsam«, sagte Tim zuversichtlich. »Das kommt mir fast zu einfach vor«, überlegte Welles. »Doch es verrät wohl niemandem zuviel, der nichts von den Wunderkindern weiß.« Er hielt die Luft an, doch es war zu spät. Tim grinste nur. »So nennen Sie uns also?« »Nicht dich, Tim. Die anderen... nun, ich mußte mir ja irgendeinen Namen für sie einfallen lassen.« »Ach ja? Ich nenne sie wohl >die meinem. >Können wir noch andere der meinen finden<, sage ich mir. Aber das ist auch albern. Jetzt können wir einige mit dem wirklichen Namen nennen; doch wir sollten uns einen passenden Namen für die Gruppe ausdenken und ihn auch benutzen, Peter. Das heißt, falls wir jemals wirklich eine Gruppe zusammenbekommen.« »Timothy, es ist bald Zeit zum Abendessen«, sagte Welles, als die Uhr sechs schlug. »Lauf schon!« 50
»Darf ich die Antwortbriefe schreiben?« »Ja, aber schicke sie nicht ab, bis ich sie gesehen habe«, gab der Arzt nach. Das Verfassen der Antworten war das köstlichste Spiel, das Tim jemals gespielt hatte. Jungen und Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren haben ein sehr beschränktes Postgeheimnis; alle Briefe mußten sorgfältig kodiert und außerdem auf diejenigen »zugeschnitten« werden, für die sie als Antwort gedacht waren. Tim arbeitete mit Anspielungen auf »Zurück zu Methusalem« von Shaw und »Das Land der Blinden« von Wells. Der erste Bericht von der Detektei traf zwei Tage später ein, und Welles schickte einen Patienten übereilt fort und ging schnellen Schrittes zu der Schule, auf der Timothy seine Tage verbrachte. Miss Page runzelte die Stirn, als Welles von der Tür auf Timothy deutete, nickte jedoch und gab dem Jungen die Erlaubnis, den Unterricht zu verlassen. Welles zog den Jungen in die Mitte des leeren Ganges, wo sie nicht belauscht werden konnten, und sagte leise: »Ich habe die Liste - schon beim ersten Schub stehen neunzehn Namen darauf. Einer davon, ein Mädchen, ist in einer Heilanstalt. Sie ist wahrscheinlich völlig gesund. Ich muß sofort zu ihr.« »Sie muß sich verraten haben, und niemand hat ihr geglaubt«, zeigte sich Tim schockiert und traurig. »Sie können sie doch dort herausholen, nicht wahr, Peter?« »Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie wirklich verrückt. Und ich habe kein Recht, mich einzumischen. Aber ich werde tun, was ich kann.« »Kann ich etwas tun? Oder wollten Sie mir nur Bescheid geben, daß Sie verreisen?« »Du kannst eindringlich beten, Tim. Und hier ist die Liste, die ich bekommen habe. Wenn du willst, kannst du dir einen Brief ausdenken, den wir an alle Namen darauf schicken können. Aber warte damit, bis ich zurück bin.« Tim überflog die Liste und grinste. »Hier ist einer meiner Brieffreunde, Gerard Chase. Ich habe mir schon gedacht, daß einige meiner Brieffreunde dazugehören könnten. Ihm werde ich dann direkt schreiben. Hören Sie, kann ich nicht all meinen Brieffreunden eine Kopie der Anzeige schicken und einfach behaupten, sie wäre mir aufgefallen, weil sie so 51
komisch ist?« »Sicher. Fange direkt damit an. Und hole auch die Post, wenn du willst. Hier ist der Schlüssel fürs Schließfach.« Timothy steckte den Schlüssel ein und kehrte in den Unterrichtsraum der achten Klasse zurück. Armer Junge, dachte Welles, als er zum Flughafen eilte. Irgendwie mußte er kurz über lang all diese anderen Kinder kennenlernen. Aber nicht auf dieser Reise. Die Anstalt war eine kleine Privatklinik, drei Flugstunden entfernt. Sie hatte einen schönen Garten mit Blumen und Bäumen. Dr. Mark Foxwell leitete sie. Ob Dr. Welles bitte Dr. Foxwell sprechen könne? Natürlich, Sir, hier entlang bitte. »Ja, Elsie Lambeth ist eine unserer Patientinnen«, sagte Foxwell. Er war ein hochgewachsener Mann, mindestens fünfzig Pfund schwerer als Peter und vielleicht fünfzehn Jahre älter. Er sieht so zuverlässig wie ein Felsbrocken aus, dachte Peter. Und freundlich; er sieht freundlich und geduldig aus. Gut! »Eigentlich«, sagte Welles, »wurde ich von einem Freund von ... nun, man könnte sagen, einem Freund von Elsies Eltern gebeten ... Ich erkläre es Ihnen später, Dr. Foxwell. Könnten wir sagen, daß ich ein freundschaftliches Interesse an dem kleinen Mädchen habe, obwohl ich bis heute morgen nichts von ihrer Existenz gewußt habe. Meine Beglaubigungsschreiben ...« Foxwell überflog Welles berufliche Beglaubigungen und nickte. »Habe schon von Ihnen gehört«, murmelte er. »Was wollen Sie wissen? Oder wollen Sie das Kind sehen?« »Wenn möglich, möchte ich alles über sie erfahren«, sagte Peter. »Und wenn ich darf, möchte ich sie später auch sehen. Dafür kann ich Ihnen meinerseits von einem sehr interessanten Fall berichten, Doktor... ein Junge etwa gleichen Alters. Ich habe Grund zu der Annahme, daß diese beiden Fälle in einem Zusammenhang stehen könnten.« »Schön!« sagte der hochgewachsene Arzt herzlich. »Elsies Fall ist verwirrend, und das ist eine Tatsache. Ich möchte nichts lieber als etwas Licht in ihren Fall bringen. Die ganze Stadt weiß davon; da kann ich Ihnen genausogut gleich alles sagen, was ich weiß. Ihr Onkel ist ihr Erziehungsberechtigter; die Eltern des Mädchens starben, als sie noch ein Baby war. Mit nicht ganz sechs Jahren 52
wurde sie zu uns gebracht... schwer erziehbar, das war der Grund zur Einweisung.« »Gefährlich?« »Nicht besonders, aber gewalttätig. Plötzliche Koller, die sich mit Phasen von Depressionen und Verschlossenheit abwechseln. Liederliche Sprache - hat behauptet, alle anderen seien dumm. Wollte überhaupt nicht mit anderen Kindern spielen. Damit begann eigentlich der wirkliche Ärger. Sie wollte nicht zur Schule gehen. Noch bevor sie fünf Jahre alt war, lag das Hauptproblem darin, daß sie immer wieder ausriß. Aber immer an den gleichen Ort. Was glauben Sie, wohin läuft ein Mädchen von drei Jahren fort?« »In diesem Fall zur Bibliothek«, sagte Peter. »Herrjeh! Sie müssen etwas wissen, das ich nicht weiß.« Ehrlich überrascht rieb sich Dr. Foxwell nachdenklich das Kinn. »Bis heute haben Sie nie etwas von Elsie gehört? Wer hat Ihnen das erzählt?« »Niemand«, sagte Peter. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich mit einem Fall vertraut bin, der möglicherweise ähnlich gelagert ist.« »Nun ... die Bibliothek. Ja. Sie hat sich aufs Geratewohl ein Buch gegriffen, es irgendwo aufgeschlagen, verkehrt herum oder auch richtig herum gehalten und stundenlang angesehen. Dabei hat sie schneller umgeblättert, als irgendein Erwachsener lesen kann, aber wiederum langsamer als ein Kind, das bloß die Seiten umblättert. Die Bibliothekare haben ihre Tante angerufen, und Tantchen kam dann sofort herbeigestürmt. Aber das war sinnlos. Elsie hat dann nur den Lesesaal auseinandergenommen.« »Hat sie die Bücher beschädigt?« »Nein, niemals. Einen Stuhl in Stücke schlagen ... einen Tisch umkippen ... Schreien, toben und schlagen ... aber sie hat niemals ein Buch beschädigt. Nein, das muß ich zurücknehmen, einmal doch. Hat ein Buch in Fetzen gerissen. Behauptet, es würde Lügen erzählen. Ein Kind von drei Jahren!« »Hat das Buch Lügen verbreitet?« »Das weiß ich nicht. War vor meiner Zeit. Doch die Bibliothekarin konnte mit Kindern umgehen und hat Elsie gesagt, daß sie nie mehr in die Bücherei kommen dürfe, wenn sie so etwas noch einmal macht. Und da das Kind völlig ruhig war, wenn es sich Bücher angeschaut hat, hat sie dann vorgeschlagen, daß man ihr er53
lauben solle, dort zu bleiben, wenn sie unbedingt will. Danach hat irgendwer ihre Tante angerufen, wenn sie wieder vorbeikam, und nach Arbeitsschluß kam ihr Onkel jeden Abend auf dem Nachhauseweg vorbei, um zu sehen, ob sie da war, und hat sie dann zum Abendessen mit nach Hause genommen.« »Ging sie dann friedlich mit?« »Normalerweise schon. Manchmal nicht.« »Ich nehme an, das hing davon ab, was sie gerade gelesen hat«, sagte Welles. »Und was geschah, als sie fünf Jahre alt war?« »Sie wollte nicht in den Kindergarten gehen. So ähnlich wie in dem alten Witz über den kleinen Jungen, der zu seiner Mutter sagte: >Na gut, wenn du willst, daß ich an den Marionettenschnüren aufwachse, dann gehe ich eben.< Doch Elsie wollte nicht gehen. Vielleicht machte sie sich auf den Schulweg, aber sie kam selten dort an. Sie landete immer in der Bibliothek oder im Gymnasium. Die Schüler dort schmuggelten sie hinein, und sie saß immer ganz hinten in der Klasse, wo der Lehrer sie nicht sehen konnte. Die Schüler hielten das für komisch, sie dort sitzen zu haben, wobei sie anscheinend den ganzen Unterrichtsstoff aufnahm. Der Ärger war nur, daß sie sich nach ungefähr einer Woche nicht mehr ruhig verhielt. Sie schrie dann: >0h. Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden<, oder äußerte andere kleine Komplimente dieser Art. Sie nannte die Schüler Dummköpfe oder Trottel, wenn sie versuchten, etwas auswendig aufzusagen. Ein Lehrer unterbrach seinen Unterricht und schlug ihr vor, sie solle doch nach vom kommen und die Klasse unterrichten, wenn sie soviel wüßte, und Elsie sagte: >Das könnte ich genausogut wie Sie, aber werde ich dafür bezahlt?« Welles kicherte. »Hat er ihr nicht angeboten, sie zu bezahlen?« »Er nicht, aber ein paar Tage später ein anderer Lehrer. Und Elsie sagte: >Das ist doch sinnlos; diese dummen Leute wollen doch sowieso nichts lernen.<« »Süßes Mädchen«, murmelte Welles. »Darf ich Sie jetzt etwas fragen? Wußte Elsie wirklich selbst etwas? Hat sie jemals bewiesen, daß sie über ein bestimmtes Wissen verfügt?« »Nichts, das wir jemals beweisen konnten. Manchmal hat sie gesagt: >Können Sie nicht lesen? Das steht doch alles in dem Buch< oder >Sie haben das jetzt oft genug gehört; jeder Narr müßte das inzwischen wissen.< Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob das Mädchen damals schon lesen konnte. Ich kam erst später ins 54
Geschehen. Nun, über kurz oder lang wurde Elsie ein öffentliches Ärgernis. Selbst die Bibliothekare verloren dann und wann die Geduld. Normalerweise verhielt sich Elsie in der Bibliothek ruhig, aber als eines Tages andere Leute Bücher entliehen, ging sie zu ihnen und sagte: >Wofür brauchen Sie diesen Mist?<, und eines anderen Tages, als ein Mann zur Bibliothekarin sagte, nur vier Menschen hätten die Encyclopedia Britannica von vom bis hinten gelesen, zog Elsie ihn am Ellbogen und sagte: >Dann bin ich die fünfte und sechste. Ich habe sie zweimal von vom bis hinten gelesen.<« Foxwell hielt inne, um sich eine Zigarette anzustecken. »Sie können darüber lachen«, bemerkte er ziemlich bissig, »aber das ist nicht lustig. Das Mädchen ist hier in dieser Anstalt, weil die Leute es nicht sehr lang für lustig hielten. Tante und Onkel hatten keine Kontrolle mehr über sie und brachten sie schließlich hierher. Sie befand sich etwa ein Jahr hier, als ich kam und die Leitung des Hospitals übernahm.« »Ist sie nicht ausgerissen?« »Sie hielten das Mädchen eingesperrt. Mußten es wohl. Aber als ich kam, schlug ich einen anderen Weg ein. Elsie, sagte ich, willst du zur Bibliothek? Nun, wenn du ein braves Mädchen bist, müssen wir dich nicht einsperren. Kein Ausreißen, kein Koller und kein unflätiges Reden, und ich erlaube dir, einmal pro Woche in die Bibliothek zugehen und Bücher zu entleihen. Dann kannst du sie hier lesen, in deinem Zimmer oder draußen auf dem schönen großen Hof. Du mußt nur hier auf dem Gelände bleiben, Elsie, sagte ich, und ein braves Mädchen sein. Es funktionierte ziemlich gut. Wir mußten sie ein paar Mal einsperren, bis sie begriffen hatte, daß wir es ernst meinten.« »Was tut sie außer lesen?« »Sie schreibt«, sagte Foxwell. »Ein Gekritzel, das niemand entziffern kann. Sieht aus wie eine Art Kurzschrift. Sie hält es in einer Schublade in ihrem Zimmer verschlossen und trägt den Schlüssel an einem Band um den Hals. Ich erlaube es ihr, aber dann und wann muß sie jemanden die Schublade durchsehen lassen - wir müssen sicher gehen, daß dort nichts ist, was da nicht hingehört, wissen Sie, Streichhölzer oder andere Konterbande. Sie weiß, daß sie die Schublade nicht mehr abschließen darf, wenn sie sich nicht anständig benimmt. Gelegentlich räumt sie ordentlich auf und verbrennt eine Menge Zeug. Das heißt natürlich, daß jemand an55
ders es verbrennt; sie steht daneben und sieht zu. Sie hat ein Radio; spielt es leise, so daß wir damit keinen Ärger haben.« »Wie sieht die Diagnose aus?« »Wer kann das schon sagen? Wir nennen es einen Fall für die Lehrbücher.« »Wie hoch ist ihr Intelligenzquotient?« »Das werden wir niemals erfahren. Sie antwortet auf keinen der Tests. Zweifellos überlegene Intelligenz, aber unwillig zur Zusammenarbeit. Wir kommen jedoch ganz gut miteinander aus. Ich weiß, was sie tun und nicht tun wird, und wir kommen gut zurecht. Sie wird nicht reden, sie wird keine Fragen beantworten, sie wird keine Tests durchführen und nicht bei Spielen mitmachen. Doch sie hält ihr Zimmer sauber und macht ihr Bett und all das; sie hat diverse Arten von Handarbeiten gelernt, näht ganz hübsch - macht sich einige Kleider selbst - sie hilft im Garten und hat inzwischen gelernt, sich höflich zu unterhalten. Elsie, sagte ich, kein unflätiges Reden hier; wenn du willst, daß wir nett zu dir sind, mußt du auch nett zu den anderen sein. Ganz egal, was du denkst, wenn du nicht wie eine Dame sprechen kannst, hältst du den Mund. Und wenn ihre Tante und ihr Onkel sie besuchen kommen, macht sie höfliche, belanglose Konversation und ist so nett, wie man es sich nur wünschen kann. Ich habe ihr gesagt, daß sie antworten muß, wenn man mit ihr spricht, freundlich zu sein hat und nicht ungezogen oder stur. Es gibt keine anderen Kinder hier, doch Elsie kümmert das nicht; sie haßt Kinder. Sie gibt sich nicht viel mit den anderen Patienten ab, und doch scheint sie irgendein Interesse an ihnen zu haben. Ich habe damit angefangen, ihr ein wenig über die anderen Fälle zu erzählen, damit sie sich nicht vor deren seltsamem Benehmen fürchtet, und sie hört mir immer so ernst wie ein Richter zu. Es kann auch kein Zufall sein, daß sie ihnen manchmal in kleinen Dingen hilft. Wir haben ein großäugiges altes Mädel hier, das immer den Elektrorasenmäher bedienen will. Treibt den Gärtner in den Wahnsinn, doch Elsie läßt alles stehen und liegen und geht hinüber und tut irgend etwas, um das alte Mädel abzulenken. Der Gärtner schwört, daß sich Elsie einmal, als sie das alte Mädel davongelockt hat, umgedreht und ihm zugeblinzelt hat.« »Halten Sie sie für verrückt?« »Sie ist nicht normal. Sie benimmt sich nicht normal. Was meinen Sie mit verrückt?« 56
»Könnte sie sich vernünftig benehmen, wenn sie es wollte?« »Ja, das könnte sie wahrscheinlich. Doch wohin führt das? Elsie will nicht. Sie .sagt, daß es ihr hier gefällt.« Foxwell ging zum Fenster und zeigte hinaus. »Da ist sie, dort drüben unter dem Baum. Sie liest, wie üblich. Wollen Sie zu ihr gehen und mit ihr sprechen? Ich kann nicht versprechen, daß Sie Ihnen eine Antwort gibt, jedenfalls keine, die es wert ist.« »Konversation, wie man es ihr beigebracht hat, was?« grübelte Welles. »Klingt das jemals karikierend?« »Meistens ja«, gestand Foxwell ein. »Ich nehme an, daß sie versucht, uns zu gefallen. Vielleicht haben Sie recht... es lag immer ein sarkastischer Ton darin. Oder es klang so, als würde sie mit uns spielen. Herrjeh! Ich will von Ihrem Fall da hören! Na ja, kommen Sie.« Die beiden Männer gingen in den Garten hinaus und näherten sich Elsie. Sie war in ihr Buch vertieft und hörte nicht, daß sie kamen. »Guten Tag, Elsie«, sagte Dr. Foxwell. Das Mädchen schaute auf, sprang auf die Füße und gab mit süßer Kinderstimme zurück: »Guten Tag, Herr Doktor.« Sie war ein sehniges kleines Mädchen mit schwarzen Locken; sie war angezogen wie jedes andere Kind ihres Alters auch. »Dr. Welles, darf ich Ihnen Elsie Lambeth vorstellen?« »Guten Tag, Elsie.« »Guten Tag.« Das Mädchen hielt den Finger im Buch, um die Seite nicht zu verschlagen. Sie war sehr höflich und völlig desinteressiert. Peter zog die Augenbrauen hoch und blickte Foxwell an, der die Bitte verstand und nickte. »Ich bin extra hierhergekommen, um dich kennenzulernen, Elsie«, sagte Peter. »Ich kenne einen Jungen, dessen Fall ähnlich liegt wie deiner. Deshalb kam ich hierher, um festzustellen, ob du bereit bist, diesen Ort zu verlassen. Dr. Foxwell sagt, daß du auf seine Fragen nicht antwortest und bei den Tests nicht mitmachst. Vielleicht wirst du anders darüber denken, wenn du meine Geschichte gehört hast.« Elsie starrte ihn an. Nach einem Augenblick senkte sie den Blick, und Farbe strömte in ihr Gesicht. 57
»Es ist schon in Ordnung, Elsie«, fuhr er fort. »Ich werde Dr. Foxwell meine Geschichte erzählen; dann können wir dich holen lassen und sie dir ebenfalls berichten.« »Sie gehen ziemlich schnell vor«, sagte Foxwell und stieß Welles heimlich in die Rippen. »Vielleicht ist sie noch nicht bereit, uns zu verlassen. Vielleicht will sie nicht draußen leben.« »Es gibt Probleme mit dem Leben dort draußen, nicht wahr, Elsie? Vielleicht können wir sie aber lösen. Der Junge, von dem ich dir erzählen werde, hat sie gelöst. Aber er ist auch ein sehr intelligenter Junge.« Der Blick, den Elsie Dr. Welles zuwarf, ließ ihn lächeln, als er ihr zunickte. »Er hat es richtig gemacht. Aber jetzt werden die Dinge für einige andere Mädchen und Jungen auch in Ordnung kommen. Du wirst dir meine Geschichte doch anhören, nicht wahr, Elsie?« »Ich will sie zuerst hören«, sagte Foxwell ein wenig grob. »Muß sicher gehen, ob sie es auch wert ist, daß Sie sie ihr erzählen. Vielleicht ist sie nicht sehr interessiert daran.« Welles blinzelte dem Mädchen zu und wandte sich um. Mit großer Zufriedenheit gingen die Ärzte zusammen zurück. »Sie haben ihr Interesse geweckt«, meinte Foxwell. »Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, wie Sie mein Interesse erregt haben, Welles! Hinweise, Andeutungen! Sie müssen sich Ihrer sehr sicher sein.« »Wir dürfen nicht belauscht werden. Tims Fall ist ein Geheimnis.« »Mein Büro ist völlig schalldicht.« »Ich bin sicher, daß Sie die Hinweise bereits verstanden haben?« »Wäre nicht überrascht, wenn ich das hätte. Sie glauben, daß Elsie zu intelligent ist und keine faire Chance hatte, sich anzupassen. Zu der Zeit, da ich ins Spiel kam, war sie schon über ein Jahr hier, und ich konnte nicht mehr viel für sie tun.« »Glauben Sie, daß sie normal ist?« »Ich könnte es nicht beweisen. Nun, wie sieht denn Ihr Fall aus, Dr. Welles?« Sie gingen in Foxwells Büro und schlössen die Tür; und dann erzählte Peter Welles die Geschichte von Timothy Paul. Foxwell hörte mit offenem Mund zu. »Sie glauben, daß Elsie simuliert?« 58
»Sich versteckt. Sie hat nicht den besten Weg dazu gewählt, und inzwischen würde es ein besseres Gehirn als ihres in Anspruch nehmen, einen Ausweg zu finden. Ihre Eigensinnigkeit und ihr aufbrausendes Temperament haben sie in Schwierigkeiten gebracht, bevor sie alt genug war, eine bessere Möglichkeit zu finden, sich ihr Leben einzurichten; und was kann sie jetzt noch tun?« »Was haben Sie anzubieten, Dr. Welles?« »Wenn Sie beweisen kann, daß sie normal ist, können wir sie hier herausholen und in eine andere Umgebung bringen. Sie haben ihr Selbstbeherrschung und gute Manieren beigebracht; dort, wo ihre Vorgeschichte nicht bekannt ist, könnte sie mit Leichtigkeit einen neuen Anfang machen. Das wäre mein Vorschlag. Aber sie befindet sich unter Ihrer Obhut.« Foxwell machte eine ausholende Handbewegung. »Wenn Sie glauben, daß Sie etwas für sie tun können, steht Sie jetzt unter Ihrer Obhut. Ihr Timothy könnte ihr helfen, sich anzupassen?« »Das ist möglich«, sagte Welles. »Es wäre einen Versuch wert. Er will selbst einmal Psychiater werden. Und es würde ihm unendlich gut tun, einige der anderen Kinder kennenzulernen.« »Ich möchte Ihren Tim gern kennenlernen.« »Natürlich müssen Sie ihn kennenlernen. Und wenn wir Elsie mitnehmen und dort eine Begegnung arrangieren könnten... aber vielleicht sollte er zuerst einige der anderen kennenlernen.« »Es wäre vielleicht am besten, wenn er Elsie als erste kennenlernt«, sagte Dr. Foxwell langsam. Welles nickte. »Ich verstehe. Ja, Sie haben recht.« »Wenn sie normal ist, braucht sie immer noch Zeit, um sich anzupassen«, sagte Foxwell. »Sie müssen mir dabei helfen.« »Ich hatte gehofft, daß Sie das sagen würden. Und ich hoffe, daß Sie in der Lage sind, mir bei den anderen Kindern zu helfen, falls ich sie finde. Die Aufgabe ist zu groß, als daß ein Mann sie bewältigen könnte; und nicht viele sind dafür qualifiziert. Es muß eine Weile völlig geheim bleiben.« Es klopfte an die Tür; eine Schwester erinnerte Dr. Foxwell daran, daß es an der Zeit fürs Abendessen war. Die Männer aßen schnell und geistesabwesend und sprachen dabei nur wenig. Nach der Mahlzeit schickten sie nach Elsie. Das Mädchen war auf seinem Zimmer und schritt dort nervös 59
auf und ab. »Dr. Foxwell möchte dich jetzt sehen«, sagte die Schwester. »Sein Freund ist bei ihm.« Elsie nickte gehorsam. »Hoffentlich benimmst du dich gut, Elsie«, sagte die Schwester bittend. »In letzter Zeit bist du solch ein braves Mädchen gewesen. Wenn du nur mit dem Doktor sprechen und seine Fragen beantworten würdest...« »Sie warten«, sagte Elsie scharf. »Warum gehen wir nicht sofort?« »Nun«, rief die Schwester ein wenig pikiert, »wenigstens bist du folgsam. Komm mit.« Die Schwester ging mit Elsie zum Büro und wurde dann fortgeschickt. »Setz dich, meine Liebe, und lasse dir von Dr. Welles von dem Jungen erzählen, dessen Fall genauso wie deiner ist«, sagte Foxwell. »Kein Fall ist wie meiner«, entgegnete Elsie. »Ich glaube, Tim ist ein wenig intelligenter als du«, meinte Welles nachdenklich. »Er hatte die gleichen Schwierigkeiten und hat die meisten überwunden. Jetzt rücken wir die Sache für dich ins Lot.« »Das haben Sie schon einmal gesagt«, meinte das Mädchen. »Und ich sage es vielleicht noch einmal, bevor ich fertig bin. Aber jetzt zu der Geschichte«, und ohne weitere Vorrede stürzte sich Peter in die Geschichte von Timothy Paul. Elsie hörte mit konzentrierter Aufmerksamkeit zu. »Nun, ich weiß, daß du das Kind von Eltern bist, die der gleichen Strahlung ausgesetzt waren«, schloß er, »und die kurz nach deiner Geburt an deren Auswirkungen gestorben sind. Ich glaube, und Dr. Foxwell glaubt es auch, daß du des weiteren gesund bist und eine hochüberlegene Intelligenz besitzt. Wenn du gesund bist, kannst du diese Anstalt verlassen und unter unserer Anleitung das Leben führen, das ein brillantes Mädchen wie du führen sollte. Aber wenn du gesund bist, mußt du es beweisen.« »Natürlich bin ich gesund«, sagte das Mädchen ruhig. »Ich hätte es die ganze Zeit über in diesen fünf Jahren beweisen können.« »Warum hast du es nicht?« »Ich konnte nicht einsehen, wozu es gut sein sollte. Ich hätte 60
mit einem Haufen dummer Kleinkinder zurück in die Schule gemußt und mich wie ein Baby benehmen und bei meiner dummen Tante und dem Onkel leben müssen. Hier kann ich zwar nicht ich selbst sein, habe jedoch mehr Freiheiten, als ich draußen haben würde. Bis ich hierher kam, war ich immer unglücklich.« »Ich bin froh, daß du meine Fragen beantwortest«, sagte Peter und lächelte das Mädchen an, bis es sein Lächeln erwiderte. »Waren Tante und Onkel nicht gut zu dir?« »Sie haben mich verkommen lassen«, sagte Elsie geradeheraus. »Ist das gut? Sie haben mir nicht beigebracht, mein Temperament zu zügeln oder höflich zu den Leuten zu sein oder so etwas.« »Sie haben es doch versucht, oder nicht?« »Kaum. Meine Tante hat immer gesagt, sie könne mit mir nichts anfangen. Ich sei ein schreckliches Balg. Aber Erwachsene müßten mehr Kontrolle über ein Kleinkind haben, selbst über ein intelligentes Kleinkind. Sie haben nicht versucht, mir etwas beizubringen. Ich hätte es verstehen können, wenn sie es mir erklärt hätten. Dr. Foxwell hat es von Anfang an richtig gemacht. Warum haben sie nicht vernünftig mit mir gesprochen, so wie er? Zuerst haben sie gelacht und gelacht und gedacht, ich sei ein komisches Kind, und dann wurden sie böse auf mich. Dummköpfe!« »Ich glaube nicht, daß du dich sehr vernünftig verhalten hast, Elsie.« »Dr. Foxwell hat sich mit mir unterhalten, und dann habe ich mehr Bücher gelesen, darüber, wie man Kinder erzieht, und über Psychologie. Da wußte ich, wie dumm ich gewesen war, mich so ungezogen zu benehmen. Doch ich wußte nicht, was ich tun sollte, außer, hier zu bleiben.« »Und was schreibst du alles so?« fragte Welles neugierig. »Gedichte und Kurzgeschichten und mein Tagebuch und solche Sachen. Ich werde eine Menge veröffentlichen, wenn ich hier herauskomme. Ich hatte natürlich vor, die Anstalt zu verlassen, sobald ich volljährig bin.« »Und was willst du jetzt tun?« fragte Dr. Foxwell. »Ich will hier heraus und diese Sache jetzt veröffentlichen«, sagte Elsie überrascht. »Haben Sie beide nicht gesagt, daß ich das könnte? Timothy Paul tut es ja auch.« »Du wirst dich so gut benehmen müssen wie er und als geistig gesundes Mitglied der Gesellschaft akzeptiert werden müssen«, entgegnete Foxwell. 61
»Nun, wenn ich all diese Jahre vorgegeben habe, verrückt zu sein«, sagte Elsie schroff, »dann kann ich auch vorgeben, normal zu sein, wenn ich will.« »Was meinst du damit? Vorgegeben, verrückt zu sein?« »Sobald ich erkannt hatte, wohin mich meine Unbeherrschtheit führte, wußte ich natürlich, wie ich mich benehmen mußte. Doch ich mußte weiterhin Koller kriegen und bockig sein und nicht reden, wenn ich hier meinen Frieden haben wollte.« »Du hast die falsche Anpassung gewählt, meine Liebe«, sagte Peter sanft. »Das weiß ich. Das weiß ich schon seit langem. Doch ich bin noch immer bloß ein kleines Mädchen, und ich könnte es nicht ertragen, mit Onkel und Tante und anderen Kindern zusammenzuleben. Die sind alle so dumm!« »Elsie«, sagte Dr. Foxwell, »ich bin froh, dich so viel reden zu hören; aber du mußt den Begriff >dumm< aus deinem Wortschatz streichen. Vielleicht ist er angemessen, vielleicht auch nicht; aber lasse ihn jedenfalls fort.« »Jawohl, Sir«, sagte das Mädchen gehorsam. »Jetzt zum Schreiben«, sagte Welles. »Kannst du auch so schreiben, daß die Leute es lesen können?« »Ja; aber für meine privaten Unterlagen mußte ich mir eine Geheimschrift zulegen, sonst hätte jeder gewußt, daß ich normal bin. Wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen alles jederzeit ab.« »Du bist sicher, daß das, was du geschrieben hast, normal ist?« Elsie überlegte einen Augenblick lang. »Ja, ich bin sicher. Soll ich Ihnen ein wenig davon erzählen? Wir haben heute abend ja nur Zeit für einen Bruchteil, nehme ich an.« Sie war eindeutig zum Erzählen bereit, und die Ärzte drängten sie, fortzufahren. »Ich habe eine Schublade voll von Sachen, die ich in Büchern und Zeitungen fand, die ich gelesen habe und die eindeutig falsch sind; Erwiderungen auf Zeitschriftenartikel und Buchrezensionen und so weiter, die nicht stimmen. Ich konnte die Leute nicht mehr öffentlich berichtigen, so habe ich alles niedergeschrieben, damit ich es aus dem Kopf bekam. Aber die Zeitschriften werden es nicht abdrucken; das meiste ist inzwischen auch veraltet. Manche Bücher behaupten die verrücktesten Sachen. Und auch manche Lehrer. Einige von diesen Lehrern am Gymnasium ... einer 62
von ihnen behauptete, wir würden überhaupt nichts wissen! Er sagte, daß es so etwas wie die Wahrheit nicht gäbe, und wenn es sie gäbe, könnten wir sie nicht wissen, oder nicht einmal wissen, daß wir sie wissen. So verrückte Leute wollen auch noch unterrichten! Und...« »Elsie«, sagte Dr. Foxwell, »du darfst die Leute nicht verrückt nennen. Das ist auch nicht nett. Unterlasse das bitte.« »Ein Privileg, das für Sie reserviert ist«, sagte Elsie mit einem koboldhaften Grinsen, das den Ärzten den Atem verschlug. Und dann fügte sie rasch hinzu: »Sehen Sie, Sie dürfen mich auch nicht verrückt nennen. Ich kann sogar Witze machen.« »Du hast mir die Worte aus dem Mund genommen«, scherzte Welles zurück. »Erzähle weiter. Was hast du sonst noch geschrieben?« »Die Gedichte kann ich nicht auswendig aufsagen, und jeder andere Vortrag würde sie verschandeln. Aber das Stück ist schön. Ihnen wird das Stück gefallen, das ich gerade beendet habe. Mögen Sie Shakespeare, Dr. Welles?« »Äh ... ja.« »Ich auch... in gewisser Hinsicht. Aber manchmal ist er ver... Ich meine, manchmal gefällt er mir nicht so gut wie sonst«, sagte das Mädchen ruhig und blinzelte. »Ich glaube, er hat eine gute Gelegenheit ausgelassen, über Catilina zu schreiben ...« »Catilina?« sagte Dr. Foxwell schwach. »Ja, und Cicero, wissen Sie. So kam ich auf die Idee, ein Stück wie >Julius Caesan zu schreiben, über die Verschwörung von Catilina, und einige von Ciceros großartigen Reden in reimlose Verse zu übertragen, und... ich hielt es für einen amüsanten Schwindel, einfach vorzugeben, es sei wirklich von Shakespeare und bis jetzt verschollen, doch ein Schwindel wäre unehrlich, und so habe ich mich dagegen entschieden. Es ist mein erstes Schauspiel«, fügte sie bescheiden hinzu, »doch mir gefällt es. Es hat mir solchen Spaß gemacht. Ich bin so froh, daß Sie es lesen können, Sie beide. Das wirklich Schwere daran war, alles geheim zu halten. Wenn ich frei sein kann, wie Tim - meine Tante und mein Onkel waren so neugierig. Seine Großeltern müssen wunderbar sein. Sie vertrauen ihm, nicht wahr? Würden Sie mir vertrauen?« - »Das sollte nicht unbedingt nötig sein«, sagte Welles. »Du weißt, daß du dich auf uns verlassen kannst. Nun, es wird schon spät, und wir müssen dich zu Bett schicken. Wenn Dr. Foxwell dir morgen 63
die Tests vorlegt - Wirst du sie anständig durchführen?« »Jawohl, Herr Doktor.« »Und jede Frage beantworten, die wir dir stellen?« »Jawohl, Herr Doktor.« »Und was sollen wir dann mit dir machen?« Das kleine Mädchen kaute auf dem Daumennagel und wandte ihnen dann das Gesicht zu. »Sie könnten allen erzählen, daß Dr. Welles mit einer neuen Behandlungsmethode in die Stadt gekommen ist«, sagte es triumphierend. »Er könnte sich mit mir unterhalten, und Sie beide könnten ziemlich schnell behaupten, die neue Behandlung habe Erfolg gehabt. Es gibt ja immer wieder neue Psychotherapien, die man ausprobiert.« »Elsie«, ächzte Dr. Foxwell, »übst du es, diese schwierigen Worte auszusprechen, wenn du alleine bist?« »Natürlich. Ich muß doch lernen, wie man sich unterhält, oder nicht?« war die kühle Antwort. »Nun ... kann ich hinaus und irgendwo in der Nähe von Tim wohnen? Würde seine Großmutter mir helfen? Aber nein. Sie haben ja gesagt, daß sie nichts für Kinder übrig hat, außer für ihren Enkel. Und bei Ihnen kann ich natürlich nicht wohnen, Dr. Welles, weil ich ein Mädchen bin.« »Sie denkt an alles«, wunderte sich Foxwell. »Natürlich«, konterte Elsie. »Ich mag verrückt sein, aber dumm bin ich nicht. Ich ... oh, Herr Doktor, verzeihen Sie mir bitte, ich hatte es ganz vergessen!« »Schon verziehen«, lachte der Arzt. »Welles? Haben Sie eine Lösung für diese Schwierigkeiten?« »Es müßte eine Frau geben, bei der sie wohnen kann«, sagte Peter, »und ich habe eine im Sinn. Es besteht jedoch kein Grund, allen von Elsie zu erzählen. Sie muß Tim nachahmen und der Welt ein ganz normales Gesicht zeigen. Wir können vorgeben, daß es ihr nicht gut ergangen ist, daß sie einen Nervenzusammenbruch oder so etwas erlitten hat, verzogen ist und Ausbildung braucht. Daß man ihr erlauben muß, sich auf anständige Art - wie andere Mädchen auch - zu amüsieren. Wenn Dr. Foxwell dich aus der Klinik entläßt, Elsie, solltest du von hier fortgehen und deine gesamte Vergangenheit hinter dir zurücklassen.« »Das war auch ein Grund, warum ich keinen Sinn darin sah, geheilt zu werden«, sagte Elsie. »Diese Stadt würde glauben, daß alles, was ich getan habe, ver... seltsam war, ganz egal, was ich 64
auch gemacht habe.« »Werden ihre Erziehungsberechtigten zustimmen, sie in eine andere Stadt ziehen zu lassen?« »Ihr Onkel wird gerne für Kost und Logis aufkommen, ganz egal wo. Sie wollen wirklich das Beste für das Kind, obwohl sie es nicht verstehen - und ich kann ihnen jetzt, wo ich einsehen muß, daß ich selbst sie nicht sehr gut verstanden habe, keinen Vorwurf machen.« »Ich muß ein sehr schwieriges Kind gewesen sein«, sagte das Mädchen. »Ja, das warst du wohl«, entgegnete Foxwell. »Holen Sie Ihre Tests«, sagte Elsie und breitete die Hände aus. »Aber ich will hierbleiben, wenn ich nicht normal bin. Ich will nicht vorgeben, normal zu sein, wenn ich es nicht bin. Wie viele andere Jungen und Mädchen gibt es noch? Können wir nicht alle beisammen wohnen?« »Das ist mein Traum«, gestand Welles ein, »aber vielleicht läßt er sich auch nicht verwirklichen. Ihr seid alle Kinder, und ohne die Zustimmung eurer Erziehungsberechtigten kann man gar nichts tun. Wenn die Tests morgen beendet sind, werde ich als erstes deinen Onkel und deine Tante besuchen.« »Sie werden die Erlaubnis geben«, sagte Elsie. Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Sie sind schrecklich du ... träge, arme Wesen. Aber sie meinen es gut. Und sie werden so glücklich sein, wenn sie hören, daß ich wieder gesund werde. Es war auch nicht leicht für sie.« Sie rannte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Der Rest war einfach. Am nächsten Morgen legte Dr. Foxwell Elsie die Tests vor, und sie bewältigte sie ebenso wie Timothy Paul. Bei den verschiedenen Methoden der Intelligenzbestimmung ging sie über die Spitzenwerte hinaus, und bei den RorschachTests gab sie normale, eindeutig nicht einstudierte Antworten, die ihre Prüfer oftmals zum Lächeln brachten. Als man ihrem Onkel und ihrer Tante soviel berichtete, wie sie wissen durften, erwiesen sie sich ohne Heuchelei froh darüber, daß Elsie »geheilt« werden konnte, und erklärten sich bereitwillig einverstanden, daß sie, wie Dr. Foxwell empfahl, in die Nähe von Dr. Welles und unter seine Obhut ziehen sollte, wobei sie bei jedweder Frau wohnen konnte, die Dr. Welles vorschlug, um ihre Anpassung an ein normales Le65
ben abzuschließen. Peter nahm das Nachmittagsflugzeug zurück und erreichte seine Heimatstadt gerade noch rechtzeitig, um Tim bei Schulschluß abzufangen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Komm nach dem Mittagessen in mein Büro.« Die anderen Jungen riefen Tim zu, mit ihnen Fußball zu spielen. »Ja, ich komme«, rief Tim zurück. »Darf ich jetzt gehen, Sir? Danke, Herr Doktor«, und er kehrte wohl oder übel zu ihnen zurück. Welles beobachtete ihn mit Bewunderung. Die Jahre der harten Selbstbeherrschung hatten Wunder gewirkt. Niemand hätte auch nur auf die Idee kommen können, daß Peter ihm etwas von Bedeutung mitgeteilt hatte, irgend etwas, das einen Jungen interessieren konnte, dessen Klassenkameraden mit ihm spielen wollten. Der Psychologe betrat das Schulgebäude und nahm hinter Miss Pages Schreibtisch Platz. Die energische Dame warf ihm einen unheilahnenden Blick zu und erkundigte sich nach seiner Gesundheit. »Mir geht es gut. Und Ihnen, Miss Page?« »Oh, danke, aber man wird nicht jünger. Über dreißig Jahre im Schuldienst lassen ein Mädel vor der Zeit altem.« »Ich habe mich gefragt.. .das heißt, haben Sie etwas Besonderes für den Sommer vor?« »Nein«, entgegnete die Lehrerin und stapelte einige Papiere ordentlich aufeinander. »Nichts Besonderes. Kann ich etwas für Sie tun?« »Das kommt darauf an. Wissen Sie, ich kenne da ein kleines Mädchen ... Mögen Sie intelligente Kinder, Pagey?« »Das ist schwer zu sagen. Man begegnet nur so wenigen.« »Mir ist es wirklich ernst damit. Viele Erwachsene ärgern sich über ein intelligentes Kind, und ich muß eine Frau finden, die sie mag.« »In meiner Lehrzeit sind mir zwei oder drei untergekommen«, gestand Miss Page ein, »und ich weiß, was Sie meinen. Aber ich mag sie. Ganz besonders ein bestimmtes...« Ihre Stimme verwehte zu Schweigen. »Also haben Sie herausgefunden, daß Timothy intelligenter ist, als die meisten Leute glauben?« fragte Welles dankbar. 66
»Das habe ich immer schon vermutet. Aber er war nicht derjenige, den ich im Sinn hatte. Dieser ist Psychologe geworden ... aber langsam glaube ich, daß er doch nicht so intelligent ist.« Rot geworden mußte Peter unwillkürlich lachen. »Pagey, meine Liebe, mein Kopf ist so voll von einer Reihe von wichtigen Angelegenheiten, daß darin für mich überhaupt kein Platz mehr ist! Aber hören Sie mal, könnten Sie dieses Mädchen -eine neue Patientin aus der Stadt - den Sommer über bei sich aufnehmen? Ein Mädchen von dreizehn Jahren.« »Ein intelligentes Mädchen? Ja, das kann ich, gern sogar. Wie intelligent?« »Zu intelligent«, sagte Welles. »Darin liegt ein kleines Problem.« »Dessen Sie sich zweifellos annehmen werden. Die Ferien beginnen in vier Wochen. Wann wird sie kommen? Geht sie zur Schule?« »Sie ist nicht zur Schule gegangen. Äh ... Privater Unterricht. Sie ist nicht an andere Kinder gewöhnt. Das ist zum Beispiel eines ihrer Probleme.« »Bringen Sie sie vorbei, Peter. Wenn sie früher kommt, kann sie den restlichen Unterricht bei mir in der Klasse mitmachen, wenn Sie wollen. Es täte ihr vielleicht ganz gut, die kurze Zeit vor den Ferien über eine Schule zu besuchen.« »Das denke ich auch. Aber Sie würden lieber warten, bis die Schule vorbei ist, nicht wahr?« »Wenn das Kind Ihre Hilfe braucht, Peter, warum wollen Sie nicht damit anfangen?« »Pagey, Sie sind ein Juwel.« Als Timothy an diesem Abend zum Hause des Psychologen kam, hatte er drei Briefe in der Hand. »Ich habe herausgefunden, was dieses ns bedeutet«, sagte er und fing fast zu sprechen an, bevor Welles ihm die Tür geöffnet hatte. »Die Buchstaben sollten nicht zusammen, sondern getrennt stehen. Das n bedeutet in, und das s ist das Datum - 60. Eltern in 1960 gestorben, das bedeutet es.« Peter Welles, der den kodierten Brief ganz vergessen hatte, blickte für ein paar Sekunden erstaunt drein. Dann begriff er, wovon der Junge sprach, und in der nächsten Sekunde wurde ihm klar, welch verzweifelte Aufregung hinter dieser vorbereiteten Rede über andere Angelegenheiten gelegen haben mußte. Er 67
schloß die Tür hinter Tim und erklärte ihm schnell alles. »Das Mädchen ist in Ordnung«, sagte er. »Alles ist in Ordnung. Wir werden ihr ein wenig helfen müssen, doch sie kommt hierher, um den Sommer über bei Miss Page zu wohnen. Ich habe gerade eben mit ihrem Arzt telefoniert. Am nächsten Sonntag bringt er sie her. Willst du jetzt alle Einzelheiten hören?« Der Junge zögerte. »Ob das richtig ist? Ich will nicht neugierig sein. Weiß sie von mir?« »Ja, sie weiß fast alles, was ich über dich weiß ... so viel, wie ich ihr in der kurzen Zeit erzählen konnte. Ihr Arzt auch. Verstehst du, ich mußte es ihnen erzählen.« »Dann erzählen Sie mir auch alles über sie.« Eine Stunde später fielen ihnen wieder die drei Briefe ein. »Der hier klingt vielversprechend. Der Junge schreibt, daß er sich wie Gulliver vorkommt - er ist immer viel größer oder viel kleiner als die Leute, mit denen er zusammen ist, doch er schreibt, daß er uns die Vermutung überläßt, was geistig ist und was körperlich. Er heißt Robin Welch. Und dieses Mädchen schreibt, daß sie den passenden Vornamen Alice bekam - ihr Nachname lautet Chase - und in Verbindung mit allem steht, selbst ihren eigenen Füßen, und was in der Flasche mit der Aufschrift >Trink mich!< war, von der getrunken zu haben sie sich nicht einmal erinnern kann. Sie gehört wohl auch dazu. Der dritte Brief taugt nichts, ein Werbeprospekt für ein Internat, das sich besonders mit Waisen befaßt. Nun, Peter, ich muß langsam nach Hause. Sie kennen ja Großmutters Regeln. Wann ... kann ich Elsie sehen?« »Sonntagabend um sieben. Wir müssen sie zuerst zu Miss Page bringen und ihr Zeit geben, den Koffer auszupacken und sich ein wenig mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Dr. Foxwell und ich werden wohl mit ihr hier zu Abend essen, und du kannst sofort nach dem Abendessen vorbeikommen.« So gut sie konnten, füllten sie die restlichen Tage mit ihren verschiedenen täglichen Pflichten und dem Schreiben von Briefen aus. Welles hatte Tim erklärt, daß er seine Ferien im August damit verbringen wolle, so viele Jungen und Mädchen zu besuchen, wie er konnte, und daß sie sich bis dahin den Weg nur ebnen konnten, indem sie ihnen schrieben. Tim bereitete eine Kartei aller möglichen Namen vor und trug alle bisher gewonnenen Informationen zusammen. 68
Sonntagabend! Timothy, geschrubbt, bis er glänzte, präsentierte sich mit der Pünktlichkeit eines Menschen, der draußen auf den richtigen Augenblick gewartet hatte, und wurde mit aller Förmlichkeit Dr. Foxwell und einer schüchternen, aber neugierigen Elsie vorgestellt. »Elsie hat einige ihrer Manuskripte mitgebracht, um sie dir zu zeigen«, sagte Dr. Foxwell, »und sie hofft, daß du ihr bei der Entscheidung helfen kannst, welche sie zur Veröffentlichung anbieten soll.« »Nehmt sie in mein Arbeitszimmer mit, Kinder«, schlug Peter vor. »Einen Drink, Foxwell?« »Danke, gern. Gute Idee, Welles«, fügte er hinzu, als die Kinder verschwunden waren, »doch ich würde liebend gern erfahren, was da vor sich geht.« »Wir würden gar nichts zu hören bekommen, wenn wir nur dasäßen und sie anstarrten. Geben Sie ihnen zehn Minuten. Wie macht sich Elsie in letzter Zeit?« »Gut! Ausgezeichnet! Sie hat jede freie Minute damit verbracht, das Zeug zu überarbeiten, das sie ihm jetzt zeigt. Erstaunliches Zeug, Peter! Ach ja ... man hat mir ein Angebot für die Anstalt gemacht. Ich habe daran gedacht, sie vielleicht zu verkaufen und hierher zu ziehen. Um Ihnen bei der Arbeit zu helfen, wissen Sie.« Der hochgewachsene Arzt sprach sehr schnell und nahm den Drink entgegen, ohne aufzublicken. »Will mich nicht einmischen. Aber da ist Elsie, und ...« »Ich habe keine Einwände«, sagte Welles. »Jederzeit, sobald es Ihnen möglich ist. Elsie ist Ihre Patientin. Aber ich glaube, die beiden Kinder sollten zusammenbleiben, und die anderen sollten ebenfalls kommen, wenn wir das arrangieren können. Aber wie sollen wir das anstellen? Können wir die anderen Kinder hierher holen? Und wovon sollen wir leben, wenn wir zuviel Zeit für die Kinder verwenden?« Sie diskutierten die Angelegenheit kurz, ohne jedoch zu einem Schluß zu kommen. Sie waren auch nicht ganz bei der Sache; und sobald die zehn Minuten verstrichen waren, holte Peter eine Kanne Obstsaft und einen Teller mit Gebäck aus der Küche und ging leise zum Arbeitszimmer voraus. Die Männer blieben an der offenen Tür stehen und lauschten dem Geplauder der Kinder. »Das ist toll«, sagte Timothy gerade. »Diese Gedichte ... aber die sind fast zu gut, Elsie! >Die langsame, süße Kurve des Lichts< 69
- das ist großartig! Aber ich weiß nicht, ob sie sich verkaufen.« »Ich weiß, daß sich Gedichte nicht verkaufen. Ich wollte nur, daß du sie siehst, mehr nicht. Ich tippe sie alle ab.« »Das ganze Gedicht über die Unendlichkeit und die Schöpfung, ehrlich, das ist großartig! Die anderen sind auch gut, und der Roman wird sich wohl auch verkaufen. Es gab einmal einen Roman, Die Schlangengrube, und er wurde ein großer Erfolg, als er damals herauskam, vor dreißig Jahren oder so. Von der Inhaltsangabe und den ersten Seiten her ist deiner ... Oh, hallo, Peter! Und Dr. Foxwell.« »Wir dachten, ihr könntet eine kleine Erfrischung vertragen«, sagte Welles und trat mit dem Tablett näher. »Klar... danke«, entgegnete Tim und schob die Manuskripte höflich beiseite. »Hören Sie, wissen Sie, was Elsie gemacht hat? Sie hat alle Bücher über die Wissenschaften gelesen, derer sie habhaft werden konnte, und sie dann in Gedichte umgestaltet!« »Ist es gut?« fragte Foxwell und nahm sich einen Keks. »Ob es gut ist? Hören Sie, es ist großartig! Wissen Sie, damit sagt sie einem, was das alles bedeutet. Sie läßt es einen erkennen, Und sie hat drei Romane geschrieben, sagt sie, und einige können wir ganz bestimmt verkaufen. Sie hat mir gerade die Inhaltsangaben gezeigt, und einige Musterkapitel. Wir werden uns eine ganze Reihe von Pseudonymen ausdenken müssen, Elsie.« »Wie viele hast du denn, Timothy?« »Oh, das weiß ich nicht... Ich habe einen Kartenindex darüber angelegt. Einige Dutzend, glaube ich. Etwas Punsch?« Tim füllte die Gläser. »Du hast noch nicht alle Romane abgeschrieben, nicht wahr?« fragte Dr. Foxwell. »Nein, noch nicht«, sagte Elsie. »Die anderen Manuskripte hier sind Artikel und Kurzgeschichten und eine Menge Gedichte. Ich wollte die kürzeren Sachen zuerst abschreiben. Darf ich einen Keks haben?« Als es an der Zeit war, Elsie nach Hause zu bringen, zögerte Dr. Foxwell in der Halle für einen Moment. »Führen Sie Notizen«, bat er Welles flüsternd. »Ich muß die Nachtmaschine zurück nehmen und werde das alles hier verpassen. Aber führen Sie Notizen, Sohn!« »Wir werden niemals alles erfahren«, gab Welles zurück, »Doch was wir heute abend gehört haben... in dieser letzten 70
Stunde...« »Ich komme nächsten Sonntag vorbei... nein, Samstag«, versprach Foxwell. Am Montag saß Elsie ruhig im Unterricht. Tim sprach den ganzen Tag kaum mit ihr, und wenn, dann gab sie einsilbige Antworten. Er ging nach Hause, ohne ihr auch nur einmal nachzublicken; zehn Minuten später jedoch war er vor Miss Pages Haus. Miss Page öffnete ihm und ließ die Kinder allein. »Hör mal«, sagte Tim, »du mußt mit den anderen Freundschaft schließen.« »Ich mag sie nicht. Sie sind albern.« »Sie können eine Menge Dinge besser als du. Spiele und so was. Jetzt hör mal zu - du mußt einfach, anders gehts nicht, Elsie. Du weißt, was die Ärzte dir gesagt haben.« »Ich will mit dir zusammen sein, mehr nicht«, sagte Elsie geradeheraus. »Die anderen haben keinen Grips. Und du bist noch nicht einmal mit mir nach Hause gegangen.« »Herrjeh, nein! Willst du, daß alle Kinder sagen, du wärst mein Mädchen?« Elsie starrte ihn erschreckt an. »Natürlich nicht! Das ist doch dumm!« »Nun, du mußt dir Freundinnen suchen. Miss Page hat es dir einfach gemacht. Sie hat den Kindern letzte Woche erzählt, daß ein neues Mädchen kommt...« »Sie mögen mich nicht. Niemand hat mit mir gesprochen, außer >Hallo!<« »Miss Page hat ihnen erzählt, daß du schüchtern bist, deshalb. Sie hat gesagt, daß du nicht zur Schule gegangen und nicht daran gewöhnt bist, mit anderen Jungen und Mädchen zusammen zu sein, weil du krank warst, verstehst du? Sie glauben, du hättest Probleme mit dem Herzen oder so gehabt und wärst gerade erst darüber hinweggekommen. Ich habe gesehen, wie sie dich angelächelt haben. Sie versuchen nur, höflich zu sein und dich am ersten Tag nicht zu sehr zu drängeln. Jetzt hör mal zu! Du mußt üben, mit ihnen zu spielen und zurechtzukommen ... oder ich werde dir nicht helfen, deine Manuskripte zu veröffentlichen!« »Das brauchst du auch nicht«, sagte Elsie und wandte das Gesicht ab. »Es gibt noch andere, die so sind wie wir. Vielleicht sind die netter zu mir.« 71
»Niemand wird nett zu dir sein, wenn du nicht auch nett zu ihnen bist. Du könntest genausogut jetzt schon damit anfangen«, sagte Tim unbarmherzig. »Du kannst klar denken und gut schreiben, aber was kannst du sonst noch?« »Ich hatte niemals eine faire Chance«, funkelte Elsie ihn an. »Du hast sie jetzt«, sagte der Junge grimmig. Sie starrten sich noch eine Minute herausfordernd an, dann fingen sie beide an zu lachen. »In Ordnung«, sagte Elsie. »Ich weiß, daß ich schlecht erzogen bin und das in den Griff bekommen muß. Du hast mir ganz gehörig den Kopf gewaschen, aber ich kann dich in dieser Hinsicht noch erreichen. Du mußt mir nur etwas Zeit geben.« »Wir werden eine Weile Basketball üben«, sagte Timothy. »Komm zu unserem Haus herüber. Ich habe dort einen Korb, an dem ich selbst übe. Und wenn du willst, zeige ich dir dann meine Katzen.« Peter Welles, der die letzte Stunde vor dem Essen für Elsie reserviert hatte, mußte sie erst suchen. Er fand die Kinder bei Timothy, wie sie sich über die Katzenkäfige beugten und einige junge Kätzchen bewunderten. Doch worüber sprachen sie? »Sind wir Dominante oder Rezessive?« fragte Elsie voller Ernst. »Meine Eltern bekamen beide die Strahlung ab, und deine auch.« »Ja, und deshalb könnten wir rezessiv sein. Wir werden es herausfinden müssen«, gab Tim zurück. »Doch wir können auch herausfinden, ob bei manchen anderen nur ein Elternteil der Strahlung ausgesetzt war. Wenn es ein rezessives Gen ist, würden du und ich und einige andere es doppelt tragen, aber...« »Aber was, wenn wir außerhalb der Gruppe heiraten? Nein, wir müssen es einfach wissen. Und das ist noch ein Grund, die ganze Gruppe zusammenzubekommen.« »Statistiken«, lachte sich Tim mit leuchtenden Augen ins Fäustchen. »Unmengen von Statistiken, Graphiken, Karten, Tests ... zu schade, daß wir nicht experimentieren können. Hallo, da ist ja Peter. Ich habe Elsie die Kätzchen gezeigt. Hier, ich habe einen silberhaarigen Angorakater mit einer dieser Siamkatzen gekreuzt, und sehen Sie, was ich herausbekommen habe! Eine Silbergefleckte!« »Das ist die schönste von allen«, rief Elsie entzückt. »Mir gefal72
len kurzhaarige Katzen sowieso am besten.« »Du kannst ein paar davon haben«, bot Tim an. »Aber vielleicht möchte Miss Page nicht, daß ich Katzen halte«, warf das kleine Mädchen ein. »Sie wird nichts dagegen haben. Peter kann ihr erzählen, daß du Haustiere brauchst«, gab Timothy zuversichtlich zurück. »Was haben Sie ihr erzählt, Peter?« »Ich habe ihr erzählt, daß Elsie sehr intelligent, aber auch sehr verhaltensgestört sei und in meiner Nähe wohnen müßte, damit ich sie behandeln kann«, erklärte Welles. »Und mir wäre es lieber, daß ihr beide vorsichtig seid, wenn Miss Page euch hören kann, obwohl wir sie früher oder später ins Vertrauen ziehen müssen, falls wir Schritte ergreifen, daß eines Tages noch mehr von euch Kindern hier leben. Ich weiß allerdings immer noch nicht, wie uns das gelingen sollte.« »Wir werden uns einen Weg ausdenken«, sagte Tim. »Elsie hätte vor einer halben Stunde in meinem Büro erscheinen sollen.« Die beiden Kinder erröteten. »Oh, es tut mir leid«, rief sie. »Ich wußte nicht, daß es schon so spät ist. Wir haben Ball gespielt, und dann ...« Timothy wollte sich auch entschuldigen, doch Welles winkte ab und sagte, daß er ihnen dieses eine Mal verzeihen würde. Sie brachten Elsies eingeplante Stunde in Tims Werkstatt hinter sich, und er gab ihr einige seiner veröffentlichten Manuskripte, damit sie sie mitnehmen und lesen konnte. Die Kätzchen, sagte er, könne man in etwa einer Woche von der Mutter trennen, und inzwischen konnte Elsie Miss Pages Zustimmung einholen. Peter sah Tim die nächsten Tage nicht mehr, wußte jedoch, daß die beiden Kinder einen Großteil ihrer Freizeit gemeinsam verbrachten, Manuskripte diskutierten, Ball spielten, ständig miteinander plauderten und sich allmählich gut kennenlernten. Am Freitag suchte er Tim auf und stellte ihm einige Fragen. »Nun, Timothy? Gefällt sie dir?« »Oh ja! Hoffentlich sind die anderen genauso nett«, sagte Tim glücklich. »Es ist wunderbar, mit einer anderen Person meines Alters sprechen zu können, und die versteht dann alles, was ich sage, einfach so« - er schnippte mit den Fingern, - »ganz egal, worüber wir uns unterhalten. Ich kann alles sagen, was ich will, genau wie 73
bei Ihnen. Sie weiß natürlich nicht genau die gleichen Dinge wie ich, aber sie versteht alles.« »Ich frage mich, wer von euch wohl intelligenter ist«, deutete Peter Welles an. Timothy dachte darüber nach. »Ich habe mich das auch schon gefragt«, sagte er, »und versucht, es zu beurteilen, aber es ist schwer, sich ein Urteil zu bilden, wo ich doch selbst einer der beiden bin. Ich würde sagen, daß wir nicht genau gleich sind, so daß wir nicht nach diesem Maßstab gemessen werden können. Wissen Sie, sie sieht viele Dinge einfach anders. Sie will wissen, was sie bedeuten, und ich will wissen, was man mit ihnen macht. Wir können uns gegenseitig viel beibringen. Ihr Gedächtnis arbeitet auch anders als meins. Natürlich lesen wir beide so viel, daß wir uns nicht an alles erinnern können, nicht einmal an den Hauptteil dessen, was wir lesen; wir erinnern uns dergestalt, wie wir die Dinge verstehen, was sie für uns bedeuten. Sie erinnert sich an wissenschaftliche Fakten, als wären sie Gedichte oder Bilder, und denkt über die Bedeutung dieser Dinge nach; ich jedoch erinnere mich daran, wie diese Dinge funktionieren, und denke über Erfindungen und soziale Leistungen und so etwas nach, Dinge, die sie nicht interessieren. Ich überlege, welchen praktischen Nutzen die Dinge haben und welche theoretischen Grundlagen. Und doch ist sie auf eine gewisse Art viel praktischer veranlagt als ich. Sie denkt über die Philosophie der Dinge nach und wie sie in das ganze Konzept von all dem hier passen. Man kann zwei Menschen nicht mit dem gleichen Zollstock messen, nicht wahr, Peter?« »Wohl kaum«, lachte der Psychologe. »Hast du einiges über sie herausgefunden, etwas, worüber ich mir schon den Kopf zerbrochen habe? Kannst du mir vielleicht sagen, woher sie ihre komische Kurzschrift hat?« »Sie hat es mir erzählt«, gab Tim zurück. »Als sie noch klein war, hat sie gesehen, daß die Leute nicht in Druckbuchstaben schreiben; die Buchstaben waren anders als die Gedruckten. Aber keine zwei Handschriften waren gleich, und sie hörte, wie ihr Onkel sagte, daß er die Handschrift eines anderen nicht lesen könne; und so dachte sie, als sie wirklich noch klein war, daß jedermann seine eigene Schnörkelschrift entwickelt. So hat sie das auch gemacht. Und dann kam sie ihr so nützlich vor, daß sie sie beibehielt.« 74
»Dann könnte man sie wie einen Ersatzkode knacken?« »Ich weiß nicht; ich habe nicht genug davon gesehen. Vielleicht ja; auf jeden Fall hat sie niemanden die Kurzschrift genau untersuchen lassen, als sie noch im Krankenhaus war, wissen Sie. Sie hatte einige besondere Zeichen für häufig vorkommende Worte und Buchstabenkombinationen, doch größtenteils buchstabiert sie richtig; es ist kein phonetisches Alphabet.« »Und warum hielt sie die Bücher so oft verkehrt herum? War das ein Teil ihres Spieles?« »Das habe ich sie nicht gefragt, doch wahrscheinlich konnte sie so genausogut lesen wie richtig herum. Ich kann es auch. Sie nicht? Normalerweise tue ich das nicht, weil es komisch aussieht; sie könnte es getan haben, gerade weil es komisch aussieht. Aber das tut jeder mehr oder weniger.« »Und warum hat sie den Leuten immer gesagt, daß sie unrecht haben, aber nie, was richtig ist?« fragte der Arzt. »Sie hat sich geweigert, sie zu belehren. Warum?« Tim lachte. »Das hat sie nicht gesagt; ich glaube aber, sie weiß warum. Sie wollte immer recht haben. Sie hat die anderen verachtet, weil sie dumm waren, aber sie konnte den Gedanken nicht ertragen, selbst einen Fehler zu begehen. Ich glaube, sie hat Geschichten von Halbgöttern und verzauberten Prinzessinnen und so weiter gelesen, als sie noch klein war. Vielleicht ist ihr irgendwann der Gedanke gekommen, daß sie gar nicht mehr so großartig wäre, wenn sie mal einen Fehler machte; das würde den Zauberbann brechen, die Magie zerstören oder so etwas. Auf jeden Fall bin ich mir ziemlich sicher, daß das bei ihr nicht gestimmt hat; sie konnte sich den Gedanken nicht aus dem Kopf schlagen, eine Million mal mehr zu wissen als alle anderen. Als sie dann älter wurde, mehr gelesen und gewisse Dinge herausgefunden hatte, muß sie auch begriffen haben, wie albern es war, und sie hat auch erkannt, daß andere Leute, die sie kennenlernte - Dr. Foxwell zum Beispiel - viel intelligenter waren, als sie es bei anderen Leuten für möglich gehalten hatte. So hat sie niemandem von sich aus etwas gesagt. Bei mir ist das in Ordnung - es stört sie nicht, mir zu verraten, daß es Dinge gibt, die sie nicht weiß oder durchführen oder behalten kann.« »Ich glaube, sie ist in Ordnung, Tim. Sie muß einige Jahre lang völlig normal gewesen sein, wenn nicht die ganze Zeit über. Vielleicht war sie für eine Weile auch ein wenig sonderbar, aber ich 75
glaube nicht, daß man das verrückt nennen kann. Wenn dir jedoch etwas auffällt, das ich wissen müßte - nennen wir Elsie deine erste Patientin, Tim -, dann konsultiere mich bitte.« Timothy grinste. »Ich würde doch nichts vor Ihnen verbergen, Peter. Sie sind der Arzt. Sie freundet sich mit den anderen Mädchen an der Schule an. Wann kommt Dr. Foxwell wieder vorbei, Peter?« »Morgen, nehme ich an.« »Meine Großmutter möchte Sie beide gerne sprechen, solange er hier in der Gegend ist«, sagte Tim. »Können Sie morgen abend vorbeischauen?« »Nun ja, ich glaube schon. Was gibt es denn?« »Oh, sie möchte nur mit Ihnen beiden sprechen«, sagte Tim achtlos. »Großvater verreist dieses Wochenende, sonst wäre er auch dabei.« »Wir werden kommen«, sagte Peter. Die Junitage waren lang, und die Ärzte fanden Elsie, wie sie am Tor herumhüpfte, als sie sich Timothys Haus näherte. Als sie sie bemerkte, klaffte ihr Mund auf. »Tim hat gesagt, heute abend könnte ich mein Kätzchen bekommen«, sagte sie, »und Miss Page sagt, ich könnte kommen. Wollen Sie zu mir?« »Nicht direkt. Wir möchten Mrs. Davis besuchen«, sagte Dr. Welles. »Ich laufe voraus und klingle für Sie«, sagte Elsie und setzte ihre Worte direkt in die Tat um. »Großes Haus«, bemerkte Foxwell, als er sich auf dem Grundstück umschaute. »Ja. Tims Großeltern sind sehr wohlhabend, und er hat eine eigene Werkstatt hier draußen; früher diente sie als Garage. Wenn wir Mrs. Davis gesprochen und noch Zeit haben, zeige ich Sie Ihnen«, sagte Welles. »Sie will wahrscheinlich wissen, wer Elsie ist, da die beiden Kinder so viel Zeit zusammen verbringen. In gewisser Hinsicht läßt sie Tim sehr viele Freiheiten, aber sie ist sehr streng, was seine Gesellschaft betrifft.« »Wie konnte er überhaupt so leicht durchkommen? Sie sagen, sie habe keine Ahnung, daß er alles andere als ein ganz gewöhnlicher Junge ist.« »Sie nimmt alles in Kauf, nur um dafür zu sorgen, daß er ein 76
guter Junge ist und keinen Unfug anstellt. Seine Schreiberei, die Modellbauten und das alles hält sie für ganz normale Hausaufgaben und Jungenspiele, nehme ich an; sie hat nie etwas davon gesehen. Er hat sie davon überzeugt, daß seine Experimente in der Katzenzucht die Ergebnisse einer zufälligen Neugier sind. Man kann sie kaum dafür verantwortlich machen, daß sie die Wahrheit nicht im Entferntesten ahnt.« Tim hatte die Tür geöffnet und wartete auf die Ärzte. Sie beschleunigten ihre Schritte, wurden ins Haus geführt und Mrs. Davis vorgestellt. »Und jetzt darfst du mit deiner kleinen Freundin hinausgehen und spielen«, sagte die Dame zu ihrem Enkel, als sie ihre Gäste empfangen hatte. »Nehmen Sie Platz, Dr. Foxwell, und Sie auch, Dr. Welles. Ich habe einen kleinen Plan - einen Vorschlag, von dem ich glaube, daß er Ihr Interesse finden wird. Und da Ihre Zeit kostbar ist und ich weiß, daß Sie nur wenig davon für diesen Besuch erübrigen konnten, Dr. Foxwell, möchte ich sofort zur Sache kommen. Mein Gatte ist im Moment verreist, doch er kennt den Vorschlag, den ich Ihnen unterbreiten werde, und billigt ihn ausdrücklich. Timothy, mein Enkel, hat mir erzählt, daß Sie beide eine experimentelle Schule für Kinder eröffnen möchten, deren Intelligenz ein wenig über dem Durchschnitt liegt. Ich habe gehört, daß es ein paar Schulen in diesem Land gibt, die Kinder aufnehmen, deren Intelligenzquotient das ist doch der richtige Ausdruck - über 150 liegt. Ich weiß nicht, welche Zahl Sie im Sinn hatten, mein lieber Dr. Welles; vielleicht eine etwas weniger extreme; jedenfalls Kinder über dem Durchschnitt, hat mir Timothy erzählt. Wie ich es verstehe, sind Ihre Pläne und Methoden noch nie vorher versucht worden und stellen etwas völlig Neuartiges im Ausbildungssystem dar. Doch wir haben völliges Vertrauen in Sie, Dr. Welles, und da Timothy angedeutet hat, daß er wegen Ihres Interesses an ihm vielleicht als Schüler einer solchen Schule unter Ihrer Leitung in Betracht käme ...« Mrs. Davis hielt inne und runzelte die Stirn. »Ja«, sagte Peter schwach. »Timothy würde bestimmt... äh ... in Betracht gezogen.« »Und er hat mir erzählt, daß Sie einen hervorragenden Architekten kennen, Paul T. Lawrence«, fuhr die gute Dame fort, nachdem sie einen Blick auf einen Zettel geworfen hatte, auf dem der Name offensichtlich stand. »Glauben Sie, daß man ihn überreden 77
könnte, die Gebäude zu entwerfen?« »Äh - ja, das glaube ich durchaus.« »Seit vielen Jahren hatten wir, mein Gatte und ich, im Sinn, eine Gedenkstätte für meine Tochter und ihren Mann zu bauen. Doch bis jetzt hat sich nichts Passendes ergeben. Timothys Bemerkungen über Ihr Vorhaben haben uns zutiefst interessiert, und wir haben ihn wirklich ... äh ... ausgehorcht; das dürfte wohl der richtige Ausdruck sein. Nun, Dr. Welles, wenn Sie und Dr. Foxwell einverstanden sind, würden wir Ihnen anbieten, ein großes Grundstück zu benutzen, das meinem Gatten gehört und direkt am Stadtrand liegt, und wir erbieten uns, die angemessenen Schulgebäude, wie immer Sie Ihnen vorschweben, erstellen zu lassen. Kostenvoranschläge und solche geschäftlichen Einzelheiten müßten wir natürlich später durchsprechen. Und wie viele Schüler haben Sie im Sinn?« »Nicht sehr viele«, sagte Peter und versuchte, seine Stimme im Griff zu halten. »Für den Anfang vielleicht nicht mehr als zehn; insgesamt dann vielleicht vierzig oder fünfzig. Ich muß wirklich betonen, daß dies alles ein Traum von mir ist. Ich habe noch nicht versucht, mögliche Schüler für solch eine Schule anzusprechen. Ich...« Mrs. Davis neigte den Kopf. »Das verstehe ich alles, Dr. Welles. Wir dachten, daß Sie in diesem Sommer vielleicht potentielle Schüler befragen könnten. Mit den Bauarbeiten würden wir dann im Herbst beginnen, und die Schule könnte im nächsten Herbst eröffnet werden, wenn Timothy das richtige Alter für die High School erreicht hat. Ich erwarte nicht, daß Sie mir auf der Stelle sagen, ob Sie unser Angebot annehmen werden; mir ist klar, daß Sie noch keine definitiven Pläne gemacht haben und dafür ungeheuer viele Überlegungen nötig sind. Lassen Sie mich nur kurz erklären, was mir vorschwebt: Die Benutzung des Landes; angemessene Gebäude; aber da wir ja Geschäftsleute sind, bleibt alles im Besitz meines Gatten und wird Ihnen für einen Zeitraum von vielleicht fünf Jahren für einen Dollar jährlich vermietet, mit dem Optionsrecht auf Verlängerung für den gleichen Betrag. Ihre Einkünfte und die einer angemessenen Zahl von Mitarbeitern werden für den gleichen Zeitraum garantiert, ebenso Ihre Ausgaben. Sie möchten sich vielleicht mit eigenem Kapital an dem Unternehmen beteiligen, und in diesem Fall können wir eine Vereinbarung treffen, die die Einnahmen und 78
Ausgaben aufteilt; ich persönlich halte dieses Unternehmen nicht für eine profitorientierte Angelegenheit, sondern für ein Experiment in neuen Ausbildungsmöglichkeiten.« Die Ärzte beeilten sich, Mrs. Davis zuzustimmen. »Es trifft zu, Mrs. Davis, daß, wenn man solch eine Schule eröffnet, es überhaupt keine Gewinne, sondern schwere Verluste geben wird«, sagte Dr. Foxwell aufrichtig. »Ich bin mir dessen bewußt«, stimmte die Dame ruhig zu, »doch das Land und die Gebäude werden bleiben. Und wenn wir den Verlust gemacht haben, den wir uns gerade noch leisten können, werden wir die Schule einfach schließen. So lange kommen Timothy und die anderen Kinder jedoch in den Nutzen Ihrer Führung. Sie werden entsprechend den Vorschriften der staatlichen Gesetze die volle Verantwortung tragen, Dr. Welles; wir bestätigen Ihnen vertraglich volle Unabhängigkeit bei der Schulleitung, vorausgesetzt, die staatlichen Behörden haben keine Einwände vorzubringen. Sie verstehen, Dr. Foxwell, daß ich mich hauptsächlich an Dr. Welles wende und ihm die Leitung anvertraue, weil er Timothys Freund ist und wir ihn gut kennen; ich wollte jedoch, daß Sie bei diesem Vorschlag anwesend sind und daran teilhaben, da Timothy mir gesagt hat, daß die Idee zum Teil von Ihnen stammt und seine neue kleine Freundin - Elsie - eine der Schülerinnen sein würde. Sie ist wirklich ein überaus intelligentes kleines Ding, nicht wahr? Und so gute Manieren. Kann ich meinem Gatten nun bei seiner Rückkehr ausrichten, daß Sie sehr ernsthaft über diese Angelegenheit nachdenken werden?« Irgendwie stammelten die Männer ihren Dank heraus und versprachen, den Sommer damit zu verbringen, ihre Pläne auszuführen. Dann entließ Mrs. Davis sie mit der Bemerkung, Elsie habe sicher schon vor ein paar Minuten zu Bett gemußt - eine Aussage, die eindeutig den Hinweis beinhaltete, daß die Schlafengehenszeit für ihren Enkel ebenfalls kurz bevorstand. »Die Kinder werden draußen bei den Katzen sein«, sagte Peter Welles. »Wir finden allein hinaus.« Sobald sie das Haus verlassen hatten, wandte sich der ältere Mann an Peter und fragte: »Hat sie das ernst gemeint?« »Ganz bestimmt. Die Frage ist nur - meinen wir es auch ernst?« »Aber woher konnte sie das wissen?« wunderte sich Foxwell. »Was unseren Traum über die Gruppe betrifft - davon weiß sie mehr als wir selbst! Und doch hat sie noch nicht die geringste Ah79
nung, was das alles zu bedeuten hat!« »Passen Sie auf, daß Tim Sie nicht so reden hört. Für ihn ist das so einfach wie Buchstabieren, und er hat geglaubt, wir würden es blitzartig erfassen. Deshalb hat er sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, uns vorzuwarnen.« »Oh! Dann ist das sein Werk? Aber er ist doch nur ein Kind. Und Mrs. Davis schien zu glauben, ihn damit überraschen zu können.« »Er weiß schon, wie er sie nehmen muß.« »Aber verdammt noch mal, sollen auch wir geleitet werden? Von einem Kind, wie ...« »Bei einem Kind wie Tim, Foxwell, ist das eine Ehre. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir werden es schon richtig machen.« »Ich will verdammt sein, wenn ich von einem Jungen dieses Alters herumgeschubst werde«, protestierte der hochgewachsene Arzt. »Mann, wir wissen ja noch nicht einmal, was er überhaupt tut!« »Wenn Sie es nicht wissen, ist das Ihre eigene Schuld. Psst. Da sind sie!« Die Kinder kamen zu den beiden Männern gelaufen, und Elsie fragte neugierig: »Doktor, was glauben Sie, wieso wir so geworden sind? Ich habe gelesen, daß die Leute niemals mehr als nur einen sehr kleinen Teil ihres Gehirns benutzen. Glauben Sie, daß die Strahlung unsere Gehirne angekurbelt hat, so daß wir einen größeren Teil benutzen können? Tim glaubt nicht, daß es daran liegt.« »Nun, es ist eine Möglichkeit«, sagte Tim langsam. »Ich weiß nicht viel davon. Vielleicht können wir uns einige Tests einfallen lassen, um mehr darüber zu erfahren. Nach allem, was ich weiß, könnte es auch etwas mit unseren Drüsen zu tun haben.« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Peter, »und würde das lieber erst einmal zurückstellen. Tim, hast du gewußt, was deine Großmutter uns sagen wollte?« Tims Augen tanzten. »Es würde mich nicht überraschen. Aber sie glaubt das wahrscheinlich doch. Nun? Werden Sie es tun?« »Ich ganz bestimmt«, sagte Welles, »und Foxwell wahrscheinlich auch, wenn er sich soweit beruhigt hat, daß er es glauben kann.« »Es wird ein Vermögen kosten«, wandte Foxwell ein. »Deine 80
Großmutter begreift das nicht - allein das Honorar für den Architekten wird ... Wer ist der Bursche überhaupt, den sie da erwähnt hat?« »Ich«, sagte Tim. »Sie weiß es nicht. Ich bin nicht berühmt, aber sie glaubt das. Auf jeden Fall kann ich die Gebäude erstellen, und einer von Ihnen kann mich repräsentieren und die Bauarbeiter und die Lieferanten beaufsichtigen. Hören Sie zu, ich muß gleich ins Haus. Aber ich werde die Pläne entwerfen. Einheiten von zehn, denke ich, so daß wir eine oder zwei bauen können und weitere dann später bei Bedarf; das ist besser, als mit einem großen Gebäude anzufangen, das doch niemals die richtige Größe haben würde. Eine eigene Werkstatt für jeden Studenten, mit einem Waschbecken, einer Schutzhaube und einigen Tischen, Stühlen, Regalen, Schränken ... und hohen Fenstern, damit niemand von außen hineinspähen kann ... und Glastüren wie bei einer normalen Schule, und die Wände müßten schalldicht sein, und...« »Moment mal! Was ist mit den Klassenzimmern?« »Wir werden nur eine Klasse haben. Eher eine klassenlose Schule. Mal sehen, als High School... Da brauchen wir eine Aula, damit wir Theaterstücke und so was aufführen und Vorlesungen und Klassenversammlungen abhalten können. Und die kleineren Klassengemeinschaften können sich vielleicht in einer der Werkstätten treffen, oder draußen, oder sonstwo ...« »Du brauchst wohl nur eine Hütte mit einem Schüler an einem und einem Lehrer am anderen Ende«, murmelte Foxwell. »Na klar. Wir brauchen nur genug Platz für Laboratorien und Refugien, wo wir lernen und überlegen können, und einen Ort, wo wir alle zusammen sind. Fernsehausrüstung ... dann können wir uns die Vorlesungen der großen Universitäten auf der ganzen Weit anhören. Und einen Schlafsaal für die Mädchen und Frauen auf dieser Seite ...« Tim machte eine schnelle Skizze auf einem Zeichenblock. »Frauen!« rief Dr. Foxwell. »Miss Page, und wen wir sonst noch bekommen«, sagte Tim. »Und die Jungs und Männer auf dieser Seite ... Ich nehme an, daß Sie beide dort wohnen werden?« »Wir?« keuchte der große Arzt. »Nun, dann eben Peter, wenn Sie nicht wollen.« »Und ob ich will!« brüllte Foxwell. »Ihr habt alle gesagt, daß 81
ich mitmachen kann. Versucht nur, mich davon abzuhalten. Aber du gehst mir zu schnell vor, mein Junge.« »Eine Turnhalle«, kritzelte Tim schnell, »und vielleicht ein Schwimmbecken. Das können wir uns selber bauen.« »Und woher willst du das Geld nehmen?« fragte Dr. Foxwell. »Werden Sie sich nicht einkaufen?« rief Tim überrascht. »Ich doch, und ich dachte, ihr alle wolltet es, und die anderen Jungen und Mädchen werden sich sicher auch einkaufen.« »Ich kann das nicht«, jammerte Elsie mit plötzlich vor Kummer zerknirschtem Gesicht. »Natürlich kannst du es!« rief Tim. »Warte nur ab, bis du deine Manuskripte verkaufst! Du ...« »Timothy, es gibt Gesetze, die Schulen betreffen«, sagte Peter Welles. »Oh, man kann doch mit allem möglichen durchkommen, wenn man die Sache als Experimentalschule bezeichnet«, sagte Tim achtlos. »Geben Sie sie als Schule für Kinder mit hohem IQ aus, und wir können tun und lassen, was wir wollen. Man wird dann nur danach fragen, ob wir die allgemeine Abschlußprüfung bestehen können und jedes Halbjahr Turnunterricht haben. Und genug Duschen für alle Schüler. Ich habe deshalb eine Schule für Kinder mit hohem Intelligenzquotienten daraus gemacht, weil wir uns dann nicht mehr zu verstecken brauchen. Das gibt uns eine Menge Freiheiten. Aber wir müssen darauf achten, es nicht zu übertreiben.« »Und was, wenn andere aufgenommen werden wollen? Leute, die nicht zur Gruppe gehören?« »Wenn wir Platz genug haben und sie beim Aufnahmetest gut genug abschneiden, können wir sie ja aufnehmen. Sie werden uns eine Norm liefern, wie wir uns in der Öffentlichkeit zu benehmen haben, und die wird höher liegen als jede andere, die wir bislang hatten. Das wird uns eine große Hilfe und ihnen gleichzeitig von Nutzen sein. Sie wissen ja, daß jemand mit einem IQ von 152 so weit vom Durchschnitt entfernt steht wie jemand mit einem IQ von 48. Und die meisten Schulen tun nichts für Kinder über 120.« »Bitte erzähle mir genau, was du vorhast«, sagte Peter Welles, »und zwar alles. Vergiß die Gebäude erst einmal.« »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte Timothy. »Ich habe es noch nicht in Worte gefaßt. Wissen Sie, das ist auch für mich alles ganz neu. Ich habe erst diese Woche angefangen, darüber nachzu82
denken, wegen Elsie. Verstehen Sie, wir müssen auch die anderen befreien. Wir müssen sie sofort befreien. Ich hielt mich für jemanden, der im Verborgenen lebt und gefesselt ist, doch als ich von Elsie hörte, wußte ich, daß wir wegen der anderen sofort etwas unternehmen müssen. Diese Schule ist die beste Möglichkeit, weil wir uns dabei nicht mehr so sehr verstecken müssen - wir können vorgeben, einen IQ von 150 statt von 100 zu haben. Und wir können alle zusammen sein, und Sie beide können uns als Ärzte beaufsichtigen und allen helfen, die Hilfe brauchen. Verstehen Sie? Es ist doch eine Million mal schlimmer für die anderen, als es für mich war, wenn einige davon nicht frei sind oder sich nicht anpassen können. Und eine Schule kam mir ganz natürlich vor. Wenn wir sie nicht anpreisen, brauchen wir wohl niemanden hereinzulassen, der darum bittet, und auf jeden Fall können wir Tests entwerfen und behaupten, unsere Quoten seien schon erfüllt, oder die Bewerber würden es ganz einfach nicht schaffen. Und machen Sie sich des Geldes wegen keine Sorgen - das wird schnell genug hereinkommen. Ich bin sicher, daß einige der anderen schon Geld haben, genau wie ich, und sobald wir frei sind, können wir noch viel mehr verdienen. Wir müssen lernen, wie wir zusammenarbeiten und uns gegenseitig helfen können, wir alle. Wir können nicht mehr lange warten, sonst werden wir die Gewohnheiten der Einsamkeit und des Versteckspiels annehmen - und dann kommen wir niemals in Ordnung. Wir können zusammen sein, frei und unabhängig, und Freunde haben; man kann uns helfen. Wir helfen uns gegenseitig, arbeiten alle gemeinsam auf die gleichen Ziele hin und ...« Tim hatte so schnell gesprochen, daß er schließlich außer Atem war und innehalten und Luft holen mußte. »Auf welche Ziele?« Tim breitete die Arme aus. »Auf die, die wir ausführen müssen. Zum Nutzen aller.« »Die, die Gott uns vorgegeben hat«, bekräftigte Elsie, die mit gefalteten Händen hingerissen danebengestanden und alles in sich aufgenommen hatte. »Ein paar von den anderen glauben vielleicht nicht an Gott«, sagte Welles. »Viele Menschen glauben nicht an Gott.« Elsie wandte sich zu ihm um. »Ich weiß nicht, wie ich mit den Leuten darüber reden kann, wenn ich weder >dumm< noch >verrückt< sagen darf«, meinte sie bissig. 83
»Nun, das trifft mich nicht; ich bin Thomist«, erklärte Welles sanft. »Was ist das?« »Ich borge dir morgen die Summa aus, und du kannst sie vor dem Abendessen durchlesen«, erwiderte Welles. In der Werkstatt klingelte es laut. »Mein Wecker«, sagte Tim. »Ich muß ins Haus. Ich werde die Pläne anfertigen, dann können wir uns bald über alles unterhalten.« »Was habe ich zu tun?« fragte Peter Welles. »Es hört sich ganz danach an, als wolltest du alles alleine machen.« »Oh nein, Peter!« rief Tim besorgt. »Alles hängt von Ihnen ab. Sie müssen für uns an die Front und die anderen suchen, und wahrscheinlich auch die Lehrer.« »Lehrer!« schnaubte Dr. Foxwell. »Ganz richtig. Wir brauchen Peter und Sie in erster Linie, damit Sie uns lehren, wie wir das sein können, was wir sein sollten, damit Sie uns auf den richtigen Weg bringen, uns helfen, richtig zusammenzuarbeiten. Sie haben ja gesehen, was Elsie gebraucht hat! Andere werden auch dringend Hilfe benötigen. Und trotz allem sind wir nur Kinder. Erfahrung kann durch nichts ersetzt werden. Sie können all diese Individualisten zu einer Gruppe verschmelzen, in der jeder den anderen helfen kann und trotzdem niemand seine Individualität opfern muß ...« »Timothy! Timothy!« kam der Ruf aus dem Haus. »Ja, Großmutter!« rief Tim zurück. »Ich komme!« »Gute Nacht, Tim«, sagte Welles und schob die anderen zum Tor. »Meine Kätzchen!« fiel Elsie wieder ein. Tim suchte hastig zwei aus und drückte sie ihr in die Arme. Die Männer brachten sie in einem Schweigen zu Miss Pages Haustür, das nur durch die summenden Liebkosungen des Mädchens für die sich wehrenden, jammernden Kätzchen unterbrochen wurde. »Gute Nacht«, sagte Mark Foxwell zu dem Mädchen. Sie sah zu ihm auf. »Tim hat vergessen, es zu erwähnen«, sagte sie, »aber die Schule wird eine Mensa und eine Küche brauchen. Die Mensa können wir gelegentlich auch als Klassenraum benutzen. Und wir werden einen Koch brauchen.« 84
»Ja.« »Meine Tante ist eine wundervolle Köchin«, sagte Elsie. »Mein Onkel kann sein Lebensmittelgeschäft verkaufen und hier ein neues aufmachen. Er kann uns Rabatt auf all die Sachen geben, die wir brauchen. Und meine Tante kann das Kochen erledigen.« »Glaubst du, daß sie hierherziehen und in deiner Nähe wohnen wollen?« fragte Foxwell. Elsie wandte sich unbehaglich. »Ich glaube schon, daß sie das möchten«, sagte sie. »Und... ich bringe ihnen jetzt andere Gefühle entgegen. Die Henne, die versucht, ein Entlein großzuziehen, kann einem leid tun - ob es nun häßlich ist oder nicht!« Sie lief mit ihren Kätzchen ins Haus. Die Ärzte gingen ohne ein Wort zu Welles' Haus weiter. Foxwell schüttelte nur gelegentlich den Kopf und murmelte sich etwas in den Bart. »Nun?« sagte Mark Foxwell, als er sich die Pfeife angezündet hatte. »Haben Sie sich dazu entschlossen, bei dieser Sache mitzumachen, wenn man sie bewältigen kann?« »Es gibt keine Wahl«, sagte Welles. »Ich habe meine Lebensaufgabe gefunden. Diese Kinder sind gerade vierzehn, fünfzehn Jahre alt und brauchen sehr viel Hilfe, und zwar sehr dringend. Irgendwie werden sie sich in den nächsten paar Jahren aus ihren Verstecken begeben und in die Welt der Erwachsenen hinaustreten müssen. Ich werde alles tun, was ich kann, damit sie die Chance erhalten, es richtig anzustellen. Und Tim hat uns die Gelegenheit dazu gegeben - uns eine Chance in den Schoß gelegt, wie man sie nur einmal im Leben bekommt.« Foxwell wiegte langsam den Kopf. »Das stimmt. Die meisten Kinder mit einem IQ von über 160 müssen sich an ein tieferes Niveau anpassen, damit sie überhaupt in dieser Welt leben können. Das habe ich immer als große Verschwendung aufgefaßt. Und diese Kinder hier... Wie werden sie sein, wenn sie erwachsen sind?« »Das hängt jetzt mehr oder weniger von uns ab«, sagte Peter Welles. »Sie brauchen einander, und sie brauchen uns. Tim hat recht - Elsie ist der Beweis.« »Sie glauben, die anderen könnten allen möglichen schlechten 85
Einflüssen unterlegen sein?« rief der große Arzt. »Vielleicht. Einige von ihnen bestimmt. Nur allzuoft sind intelligente Kinder zu verschrobenen, verhaltensgestörten und unglücklichen Erwachsenen geworden. Oder sie haben die Hälfte ihrer Intelligenz verschleudert, damit sie sich anpassen und glücklich sein können, um in der Gemeinschaft zurechtzukommen. Diese Kinder sind intelligenter als alles, was die Welt jemals gesehen hat - wenn wir Tim überhaupt als Beispiel nehmen können, doch Elsie ist genauso begabt. Stellen Sie sich eine Intelligenz vor, die mit Machtlust gepaart ist, mit ichsüchtiger Gier oder einen überwältigenden Sinn der Überlegenheit verspürt, so daß alle anderen Menschen von durchschnittlicher oder leicht gehobener Intelligenz ihr so wertlos vorkommen müßten wie ... Hinterwäldler.« »Elsie ...« begann Dr. Foxwell erschreckt. »Elsie ist in Ordnung. Sie bewundert Sie, sie gehorcht Ihnen und befolgt die Ratschläge, die Sie, ich und Tim ihr geben. Man mußte sie nur befreien. Aber die anderen ...« »Das ist eine schreckliche Verantwortung«, sagte Foxwell. »Und haben Sie gehört, wie diese Kinder letzte Woche über Vererbung gesprochen haben?« »Ja«, sagte Peter. »Wenn sie erwachsen sind, werden sie so weit über uns stehen«, seufzte Dr. Foxwell, »daß ich ehrlich Angst habe, daran zu denken.« »Ich glaube, Timothy Paul hat die Antwort. Eine Schule, in der sie unter unserer Anleitung zusammenarbeiten können und so viel Freiheit haben, wie sie vertragen können, zusammen mit der Psychotherapie, die Sie und ich dort geben können, wo sie gebraucht wird. In vieler Hinsicht ähneln sie wohl ganz normalen Kindern - sie suchen Hilfe bei Erwachsenen, sind gefühlsmäßig aber noch Kinder. Aber Tim hat seine eigenen Probleme bislang ganz gut alleine lösen können und kann uns bei dieser Schule durchaus helfen. Ich bezweifle nicht, daß er schon alle Pläne gemacht hat, was die Leitung der Schule betrifft, aber er sucht in uns die Aufsicht durch Erwachsene - und die psychologische Führung, die junge Menschen haben müssen.« Foxwell rieb sich das Kinn und schüttelte den Kopf, paffte an der Pfeife, mußte feststellen, daß sie erloschen war, und zündete sie sich wieder an. 86
»Langsam fange ich an, an all das hier zu glauben«, sagte er. »Man braucht Zeit, bis man die Möglichkeiten erfaßt hat.« »Vorlesungen via Fernsehen«, grübelte Mark Foxwell. »Ein eigenes Labor für jedes Kind. Die Schüler tragen zur Finanzierung des Unternehmens bei, investieren ihr eigenes Geld; Geld, das sie in Konkurrenz mit der ganzen Welt der Erwachsenen verdient haben, und ... Peter, heraus damit, glauben Sie wirklich, daß Sie genug von diesen Kindern finden können, um mit ihnen eine Schule aufzumachen?« »Sie haben zwei von ihnen kennengelernt. Timothy und ich stehen in Korrespondenz mit wenigstens einem halben Dutzend anderer, und Mrs. Davis gibt uns die Schule und garantiert, für alle Kosten aufzukommen.« »Wo ist Ihr Telefon?« »Im Korridor.« Der große Arzt stürzte aus dem Raum. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück und hielt wieder ein Streichholz an seine Pfeife. Welles wartete. »Ich habe den Burschen angerufen, der mein Krankenhaus haben will«, sagte Foxwell. »Es ist verkauft. Ich kann in etwa einem Monat aufbrechen. Und jetzt kommen Sie, Peter, fangen wir mit der praktischen Planung an! Dieser Junge ist uns schon Meilen voraus. Wahrscheinlich wird er das immer sein, doch ich würde gern so tun, als hätten wir wenigstens für ein paar Monate das Sagen.«
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NEUE GRUNDLAGEN » ... und das ist bislang die vollständige Geschichte von Timothy Paul und Elsie Lambeth, den Wunderkindern«, schloß Welles. Miss Page hielt den Atem an. »Ich hätte es vermuten sollen«, sagte sie, »oder etwas Ähnliches zumindest. Doch wer konnte schon so etwas ahnen? Tim kam mir wie ein ganz normaler kleiner Junge vor. Und noch, seitdem Elsie kam, habe ich mir nichts von solchen Ausmaßen träumen lassen. Sie kamen mir nicht vor wie super-wunderbare Intellekte, obwohl jeder sehen konnte, daß sie ziemlich intelligent waren.« »Sie haben sich vor Ihnen versteckt«, lächelte Welles, »und zwar aufgrund selbstgewählter Regeln. Doch nun, da wir vorschlagen, eine Schule für diese Kinder zu eröffnen und Lehrer und Hausmütter benötigen, sind Sie die erste, die Dr. Foxwell und ich haben wollen. Wollen Sie sich zu uns gesellen?« »Und ob ich das will! Wann wird die Schule eröffnet?« »Zuerst müssen wir die Schüler haben. Ich beabsichtige, den August damit zu verbringen, durchs Land zu fahren, die Kinder aufzusuchen und mich mit ihren Erziehungsberechtigten zu arrangieren. Wenn ich nächste Woche zur Psychiatertagung fahre, will ich Jay Worthington besuchen. Deshalb breche ich schon einen Tag vorher auf.« Er schloß eine Schublade auf - sie unterhielten sich in seinem Büro - und blätterte einige Papiere durch, bis er fand, was' er suchte. »Hier ist die Korrespondenz. Jay hat uns geschrieben, daß er unsere Anzeige gesehen und geglaubt hat, sie verdiene eine weitere Verbreitung, wobei er hinzufügte, daß er ein persönliches Interesse an dieser Aufgabe habe. Ein paar Tage später tauchte sein Name auf der Liste auf. Die Detektei hat mittlerweile fast alle Kinder für uns ausfindig gemacht, indem sie jeden überprüft hat, der den Strahlungen ausgesetzt war. Dabei sind jene aussortiert worden, von denen man weiß, daß sie kinderlos gestorben sind.« Es klopfte an der Tür, und zwei ungeduldige Kinder steckten die Köpfe herein. »Was sagt sie?« fragte Elsie. »Sie sagt ja«, lachte Peter. »Können Sie ihn nicht überreden, daß er früher damit anfängt, 88
Miss Page?« bat Tim. »Das ist etwas, was ich bei Erwachsenen nicht verstehe. Sie scheinen so viel weniger Zeit zu haben als wir, und doch scheinen sie nicht zu glauben, daß Zeit überhaupt eine Rolle spielt.« »Ältere Menschen haben gelernt, mit Weile zu eilen«, erklärte Dr. Welles. »Die Idee von der Schule ist gerade einen Monat alt. Glaube mir, Tim, wir sind genauso ungeduldig wie du, doch wir müssen alles genau planen und der Reihe nach vorgehen.« Elsie bewegte sich ruhelos. »Wenn Sie die Kinder nächsten Monat besuchen«, warf sie ein, »dann verstehe ich nicht, warum Sie nicht schon einen Monat später anfangen können. Wir brauchen gar nicht all diese Gebäude, die Tim geplant hat.« Tim stimmte sofort zu. »Wir sind schon vierzehn Jahre alt«, sagte er, »und in ein paar Jahren werden wir erwachsen und verstreut sein. Wir können doch einfach schnell ein paar Fertighäuser aufstellen und noch in diesem September beginnen, oder nicht?« Peter Welles schüttelte den Kopf. »Bei einer Woche pro Gespräch mit jedem Kind und den Vereinbarungen mit den Erziehungsberechtigten werden wir Monate brauchen.« »Warum eine Woche?« riefen beide Kinder. »Weil«, sagte Peter düster, »es vielleicht mehr Schwierigkeiten gibt, als ihr euch vorstellen könnt.« »Jay Worthington?« Der Junge nickte. »Sie müssen Dr. Welles sein«, sagte er mit sich dreifach überschlagender Stimme. »Kommen Sie herein, Herr Doktor.« Er zitterte vor Aufregung. Ein großer, schmächtiger Junge, linkisch und das, was Tims Großmutter als »hochgeschossen« bezeichnet hätte, wartete er nun darauf, mit seinen Worten herauszuplatzen. Er ging ins Wohnzimmer voraus und sprach dabei die ganze Zeit doppelt so schnell wie normal. »Meine Tante ist nicht da«, sagte er, »und mein Onkel ist spazierengegangen. Ich habe versucht, sie loszuwerden, aber wir müssen trotzdem aufpassen. Es gibt so viel zu sagen; ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Aber das gilt auch für Sie, nicht wahr, Doktor Welles? Diese Sache muß einen ganz besonderen Hintergrund haben, einen Grund für Ihren Besuch und Ihre Fragen 89
nach meinen Eltern. Wissen Sie, die Curtis' sind nicht wirklich mit mir verwandt; sie haben mich adoptiert, als ich zehn Monate alt war. Das ist der bequemste Stuhl, und hier ist ein Aschenbecher, wenn Sie einen möchten.« »Unsere Briefe waren kurz, weil es deine auch waren«, sagte Dr. Welles und nahm Platz, »und das ist auch die bessere Vorgehensweise. Jetzt aber sollten wir auf jeden Fall ohne Wortgefechte zur Sache kommen. Du mußt eine ziemlich gute Vorstellung haben, was das alles zu bedeuten hat.« Jay nickte nachdrücklich. »Mir wäre es jedoch lieber, wenn Sie es sagen würden«, erwiderte er. »Du hast auf unsere Anzeige geschrieben und dein persönliches Interesse an Kindern ausgedrückt, die im Jahre 1959 geboren worden und von sehr hoher Intelligenz sind.« »Das bedeutet es im Klartext«, sagte Jay und hielt die Luft an. »Ich wollte nicht so deutlich sein ... wenn ich meinte ... ich ...« »Wir reden jetzt offen miteinander. Das hat die Anzeige bedeutet, und du wußtest es. Dein Name war auch auf der Liste, die mir eine Detektiv-Agentur gegeben hat, die die Spuren von Kindern verfolgt hat, deren Eltern auf die gleiche Weise wie die deinen gestorben sind. Du weißt, wie sie gestorben sind?« »Ja, die Explosion in dem Atomkraftwerk.« »Richtig. Wenn wir diese beiden Punkte zusammenziehen, wissen wir, wo wir stehen. So hat Tim dir geschrieben, daß wir eine Schule für Kinder mit hohem Intelligenzquotienten eröffnen und gerne mit dir darüber sprechen würden.« »Das war ein Tiefschlag«, sagte Jay. »Mir war nicht klar, woher Sie mein Alter kannten. Und dann begriff ich, daß Sie gar nicht wirklich behauptet hatten, es zu kennen, und ich Sie vielleicht mißverstanden hatte. Mir wurde klar, daß Sie vielleicht meinten, ich würde ein paar intelligente Kinder kennen. Deshalb habe ich zurückgeschrieben, ich würde keine solchen intelligenten Kinder kennen, und dann hat Tim mir geantwortet, da ich im gleichen Jahr wie er geboren sei, müsse ich einige der Dinge kennen, für die er sich interessiert. Da war ich mir ziemlich sicher, daß irgend etwas in der Luft lag, doch ich antwortete ihm mit einem kurzen Brief, in dem ich schrieb, vielleicht sei er an den Büchern von Dr. Hollingsworth interessiert, und er antwortete auf einer Postkarte, sie seien zu allgemein. Und während ich noch überlegte, was ich dazu schreiben sollte, kam der Luftpostbrief, Sie würden eine Wo90
ehe nach meinem vierzehnten Geburtstag mit Grüßen und einer Botschaft vorbeikommen. Sie scheinen mehr über mich zu wissen, als ich mir erklären kann, aber ich weiß noch immer nicht, wieviel Sie wissen.« »Ich werde völlig aufrichtig sein. Die Atomexplosion ließ Hunderte von Männern und Frauen langsam zu Tode siechen. Doch bevor sie starben, hatten einige der Paare, die der Strahlung ausgesetzt waren, Kinder, und einige, vielleicht alle dieser Kinder sind Mutanten mit einer außergewöhnlich hohen Intelligenz. Wir wollen sie jetzt alle an einem Ort zusammenziehen, an dem sie den Nutzen der Gesellschaft der anderen haben und sich so entwickeln können, wie sie es sollten.« »Genauso habe ich es mir vorgestellt«, sagte Jay mit einem Seufzer der Erleichterung. »Tim ist natürlich auch einer davon? Und Elsie?« »Ich muß dir viel über sie erzählen. Aber verrate mir zuerst etwas über dich. Ich weiß, daß dein Onkel der Historiker John Curtis ist. Wer bist du?« »Nun ... ich bin sein Adoptivsohn, Jay Worthington. Die Curtis' haben mich meinen eigenen Namen behalten lassen, weil...« »Das meine ich nicht«, sagte Dr. Welles. »Ich meine dein Pseudonym, oder den Namen, unter dem du deine Patente einreichst, oder was auch immer du tust. Du benutzt doch nicht deinen eigenen Namen für solche Sachen, oder?« Ihre Blicke trafen sich, und einen Augenblick lang herrschte gespanntes Schweigen. »Dann wissen Sie es also«, sagte Jay. »Ich bin James Vernon Worth.« Dieser Schock war zu groß für Peter Welles, als daß er ihn ohne Regung hinnehmen konnte. Er schluckte sogar. »Weiß dein Onkel davon?« fragte er, als er wieder sprechen konnte. »Natürlich nicht. Das ist es ja gerade. Wenn die Leute es wüßten, würden sie sagen, daß es alles seine Arbeit gewesen ist oder er mir so sehr geholfen hat, daß es seine sein könnte. Und wenn er von Anfang an gewußt hätte, was ich tue, hätte er versucht, mir zu helfen. Das wollte ich nicht. Natürlich muß ich ihm helfen; aber das ist etwas anderes.« »Du hilfst /A/M?« »Ja«, sagte der Junge. »Er ist blind.« Während Peter noch zu verdauen versuchte, was er gerade ge91
hört hatte, klingelte das Telefon. Jay stürzte mit einem gemurmelten Wort der Entschuldigung aus dem Zimmer. James Vernon Worth - dieser Junge? Diese drei großartigen Biographien waren von diesem Jungen geschrieben worden? Doch wenn er der Adoptivsohn von John Curtis war und Curtis bei dessen Arbeit unterstützt hatte ... Jay kam zurück, atemlos, aber fast so schnell sprechend wie zuvor, als er die Tür geöffnet hatte. »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte er. »Mein Onkel wird wahrscheinlich in ein paar Minuten zurückkommen. Er unternimmt niemals lange Spaziergänge.« »Nun, so sieht es aus«, sagte Peter und sprach zehn Minuten lang eilends, während Jay genau zuhörte und mit eifriger Zustimmung nickte. »Das klingt wunderbar«, sagte Jay schließlich und holte tief Luft. »Ich wünschte, ich könnte bei Ihnen mitmachen. Aber das kann ich nicht.« »Wir werden eine Möglichkeit finden, es einzurichten.« Doch Jay schüttelte den Kopf. »Sehen Sie, bei mir ist es anders«, erklärte er. »Ich komme gut zurecht. Die Leute glauben, daß es ganz natürlich ist, wenn ich viel weiß, da ich meinem Onkel seit seiner Blindheit, die vor fünf Jahren angefangen hat, jeden Tag vorlese, und davor auch schon. Und ich bin immer mit Leuten zusammen gewesen, die über alles mögliche gesprochen haben. Auf ihrem Gebiet ist meine Tante eine sehr brillante Frau. Die Amateurfunkanlage gehört eigentlich ihr. Sie hat sie gekauft, damit mein Onkel mit Leuten auf der ganzen Welt sprechen kann, seit er nicht mehr lesen kann. Jedermann weiß, daß sie darum gebeten haben, ein intelligentes Baby zu adoptieren, und der Rest wird meiner Umgebung und Erziehung zugeschrieben. Dies hier ist eine Universitätsstadt, und die Leute sind an intelligente Jungen gewöhnt und mögen sie. Deshalb brauche ich mich kaum zu verbergen. Natürlich weiß niemand, daß ich Bücher schreibe. Doch ich komme sehr gut zurecht. Und natürlich muß ich bei meinem Onkel und meiner Tante bleiben. Außer mir haben sie niemanden. Und ich bin hier wirklich glücklich. Wissen Sie, wir müssen die Blindenhunde ausbilden. Ich habe Grigio, den Hund meines Onkels, natürlich nicht ausgebildet, aber kurz darauf haben wir Guarda gekauft. Wir bil92
den ihre Jungen zu Blindenhunden aus und verschenken sie an Leute, die sie brauchen. Meine Tante und ich bilden sie aus, und mein Onkel hilft uns dabei.« Vor dem Haus fuhr ein Wagen vor, und eine lebhafte Frau in den Vierzigern sprang heraus. »Meine Tante«, erklärte Jay in aller Eile. »Schnell, bitte! Kommen Sie mit hinaus, und sehen Sie sich die Welpen an. Wir haben zwei für die Haustierzucht zu verkaufen. Für Blindenhunde eignen sie sich leider nicht.« Peter ließ sich zur Hintertür hinaus und zu den Zwingern führen. »Ich verstehe, was du meinst, Jay«, sagte er, »aber dabei können wir es doch nicht bewenden lassen.« »Das müssen wir«, sagte Jay. »Doch wir können korrespondieren, und Sie können mich wissen lassen, wie es bei Ihnen läuft. Das werden Sie doch?« Peter kritzelte etwas auf eine Karte. »Hier ist mein Hotel. Ich rufe dich bald an, und dann können wir uns noch zwei- oder dreimal treffen, bevor ich abreisen muß, oder?« »Oh ja, sehr gern.« Als der Junge niederkniete, um durch den Maschendraht den Kopf eines Welpen zu streicheln, erhaschte Peter einige Tränen in seinen Augen. »Wir werden es schon hinbekommen, Jay«, versprach er. »Nein«, sagte Jay und schluckte. »Ich werde nicht gehen. Selbst wenn ich könnte, würde ich nicht gehen. Ich werde immer bei meinem Onkel bleiben.« Ein paar Minuten später, nach einer interessenlosen Begutachtung der Welpen, ging Peter Welles fort. Dabei fühlte er sich zutiefst niedergeschlagen. Im Hotel erwartete Peter ein Telegramm von Mark Foxwell. »Detektei berichtet weitere Möglichkeit in gleicher Stadt. Stella Oates, 432 Vine Avenue.« Peter starrte das Telegramm eine volle Minute an. Und wie, fragte er sich, soll ich an dieses Mädchen herankommen, wo ich doch gar nichts über sie und ihren Hintergrund weiß, über ihr jetziges Heim oder die Erziehungsberechtigten? Wie soll ich ohne jede Vorwarnung da hereinplatzen und sie auf die andere Seite des Kontinents verpflanzen? Was kann ich ihrer Familie sagen? 93
Wie erhalte ich die Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen? Sollte ich zuerst anrufen oder schreiben und mir so den Weg ebnen? Doch Peter wußte, daß er nicht warten konnte. Er mußte sie heute abend noch sehen. Der Psychiater schaute auf die Uhr; es war kurz vor sechs. Nun, zuerst das Abendessen; vielleicht konnte er sich dabei etwas einfallen lassen. Als er um halb sieben an der Tür der Nummer 432 Vine Avenue klingelte, hatte sich Peter immer noch nicht entschlossen, was er sagen sollte. Bevor der Klingelton verhallte, brach hinter der geschlossenen Tür lautes Getöse los. Der Arzt sortierte die Geräusche mit seinem ausgebildeten Verstand und identifizierte sie. Die Stöße und Schreie zur Linken klangen nach zwei oder drei Kindern, die sich auf einmal durch die gleiche Tür drängelten und sich dabei gegenseitig schubsten und sich über die Schubserei beschwerten. Die schnelle Folge von Püffen stammte von jemandem, der mit schweren Schuhen die Treppe hinabeilte. Die langsameren schweren Schritte und die grollende Stimme deuteten wahrscheinlich auf einen Mann hin, der versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, und die schnellen trippelnden Schritte stammten wahrscheinlich von der Dame des Hauses, die auf dem Weg zur Tür war. Eine Frau mit bunter Schürze öffnete die Tür. Von hinten kam eine Hand, zog die Türe etwas weiter auf und enthüllte den Blick auf mehrere dunkelhaarige Kinder, die etwa zehn Jahre alt sein mochten. In einer Türöffnung zur Rechten stand ein großer Mann mit einer Zeitung in der Hand. Und hinter ihm, in dem Raum, den er gerade verlassen hatte, saß ein dralles, blondes Mädchen mit einem Buch auf dem Schoß. Es hatte sich so eindeutig von dem lauten Quartett abgesondert, das ihn neugierig kichernd anstarrte und sich gegenseitig heimlich anstieß, während es von den wohlmeinenden Knüffen der Frau zurückgedrängt wurde, und musterte mit solch kühler Verachtung die Szene in der übervölkerten Eingangshalle, daß Peter es instinktiv ansprach. »Stella«, sagte er. Das Mädchen erhob sich schnell und kam lächelnd langsam auf ihn zu. »Entschuldigen Sie bitte diesen Aufruhr«, sagte die Frau. »Sie haben ein paar Freunde erwartet...« »Das ist schon in Ordnung«, sagte Peter, und plötzlich brach ein noch schlimmeres Getöse als zuvor um ihn herum aus. Auf der 94
Straße hinter ihm erschien laut hupend ein schneidiges Auto. Zu den Rufen und Schreien der jungen Menschen im Auto gesellten sich die schrillen Freudenrufe des wartenden Quartetts im Korridor. Dr. Welles trat in aller Eile aus dem Weg; die vier lauten Heranwachsenden schössen an ihm vorbei und waren verschwunden. »Ich bin froh, daß Stella sie nicht begleiten wollte, da Sie ja mit ihr sprechen wollen«, sagte die Frau. »Ich mache mich dann wieder an den Abwasch.« Mit diesen Worten verschwand sie ebenfalls. Peter wandte sich an den großen Mann in der Tür. »Sind Sie Mr. Gates?« »Ja. Kommen Sie herein.« »Mein Name ist Welles. Dr. Peter Welles.« Die Männer schüttelten sich die Hände. Peter fing an zu lachen. »Das erinnert mich«, sagte er, »an den Ratschlag der Königin für Alice; >Ein Knicks, während du überlegst, was du sagen sollst.<« >»Fange am Anfang an<«, zitierte das kleine Mädchen, »>und fahre fort, bis du zum Ende gelangst. Dann höre auf.<« Mr. Oates schaute sie verständnislos an. »Sie wollten auch mit mir sprechen?« fragte er. »Hat es etwas mit ihrer Gesundheit zu tun?« »Nein, Mr. Oates. Sie sind Stellas Erziehungsberechtigter?« »Ja. Ihr Onkel. Sie ist die Tochter meines Bruders. Setzen Sie sich doch.« Sie nahmen Platz, wobei Stellas erwartungsvoller Blick auf Peter haftete. Das schäbige alte Haus und der Schwärm halbwüchsiger Kinder ließ Peter zu einem Schluß kommen. Der einzig mögliche Versuch einer Annäherung war der über ein Stipendium. »Man hat in Erwägung gezogen«, sagte er, »daß Stella für eines der kostenlosen Stipendien in Betracht kommt, die wir anzubieten haben.« Das Gesicht des Mannes verhärtete sich. »Darf ich mich Ihnen zuerst vorstellen«, sagte Peter und lächelte entwaffnend. »Ich bin Mediziner und besuche das Psychologische Seminar, das diese Woche hier abgehalten wird. Zu Hause arbeite ich als Schulpsychologe für die Stadt Oakland in Kalifornien; doch ich gebe diese Stellung auf, um die Leitung einer Schule zu übernehmen, die dort von einem wohlhabenden 95
Ehepaar, Mr. und Mrs. Davis, als Gedenkstätte für ihre Tochter und deren Ehemann eröffnet wird. Es ist ihr Wunsch, daß an dieser Schule Kinder ausgebildet und erzogen werden, die zur gleichen Zeit und auf die gleiche Weise wie ihr Enkel Waise wurden.« »Auf die gleiche Art?« wiederholte Mr. Oates. »Sie meinen die Todesfälle durch Strahlung?« »Ja«, sagte Dr. Welles. »Sie werden meinen Namen in der heutigen Abendzeitung finden, in der Liste der Besucher dieser psychologischen Versammlung. Darf ich Ihnen meine Papiere zeigen? Ich kann Ihnen die Namen einiger örtlicher Anwohner nennen, die für mich bürgen können.« Der große Mann überflog die Papiere, die Peter ihm reichte, und nickte. »Die Schule wird junge Menschen durch die High School- und College-Ausbildung bringen«, fuhr Dr. Welles fort, »und wird in ein paar Monaten eröffnet werden. Die jungen Menschen müssen zuerst gewisse Tests bestehen; wenn sie sie zur Zufriedenheit bewältigen, können sie ein Stipendium in Anspruch nehmen, das für einen Teil oder auch das gesamte Schulgeld aufkommt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gefallen würde, wenn Stella so weit von zu Hause entfernt lebt, aber wenn Sie ihr erlauben, sich der Tests zu unterziehen und sie besteht sie ...« »Wollen Sie uns etwas verkaufen oder uns etwas schenken?« fragte Stellas Onkel. »Wenn sie die Tests besteht, hängt es ganz alleine von Ihnen ab, ob Sie überhaupt etwas bezahlen«, sagte Peter. »Jene, die es sich leisten können und auch willens sind, bezahlen soviel sie wollen. Sie haben, glaube ich, mehrere eigene Kinder, denen Sie eine Ausbildung zukommen lassen müssen?« »Die vier, die Sie im Korridor gesehen haben, sind meine.« »Dann könnte man in Ihrem Fall wahrscheinlich übereinkommen, daß die gesamten Ausgaben für Stella von der Schule getragen werden. Das Ziel von Mr. und Mrs. Davis ist es, die Kinder im Andenken an die Eltern ihres Enkels auszubilden. Sie können sich gern selbst davon überzeugen, daß Stella in guten Händen sein wird.« Mr. Oates betrachtete wieder die Papiere, die er noch in der Hand hielt. »Was haben Sie gesagt... Worin liegt Ihr Anteil dabei?« »Ich leite die Schule«, erwiderte Peter, »und Dr. Mark Foxwell 96
wird mich bei dieser Arbeit unterstützen. Miss Emily Page übernimmt das Rektorat für die Mädchen. Eine unserer voraussichtlichen Schülerinnen, Elsie Lambeth, wohnt bei Miss Page, bis die Schule eröffnet wird.« »Nun, Sir«, sagte Mr. Oates, »wenn alles so ist, wie Sie es sagen, und Sie beweisen können, daß es rechtens ist, kann ich Ihnen ruhig sagen, daß wir es uns überlegen und vielleicht zustimmen werden. Das heißt, wenn Stella der Vorschlag gefällt.« Die beiden Männer wandten sich zu dem Kind, das wortlos zugehört hatte. »Ich glaube schon, daß es mir gefallen würde, Onkel Ralph«, sagte Stella. »Wie wäre es, wenn du in die Küche gehst, uns Kaffee kochst und ein paar Stücke Kuchen abschneidest«, schlug ihr Onkel vor. »Gib mir ein wenig Zeit, um die geschäftlichen Dinge mit Dr. Welles zu besprechen«.« Er ging zum anderen Ende des Raumes, und Stella trat neben den Doktor und sagte mit leiser, drängender Stimme: »Man hat Sie zu mir geschickt, nicht wahr?« »So könnte man es ausdrücken«, erwiderte der Psychiater. Was meinte sie damit? Ihr Onkel kehrte mit Zigaretten und Streichhölzern zurück, und Stella verließ das Zimmer. »Ich wollte, daß sie hinausgeht, damit ich offen sprechen kann«, sagte er. Dr. Welles nahm dankend eine Zigarette an. »Es stimmt schon, Stella ist hier nicht glücklich«, sagte ihr Onkel, »und ich kann nicht viel daran ändern. Doch ich sage Ihnen aufrichtig, daß wir kein Geld für eine kostspielige Schulausbildung haben.« »Es ist kein Geld nötig, Mr. Oates.« »Sie und ihre Vettern und Cousinen kommen nicht gut miteinander aus. Sie argem das Mädchen ziemlich oft, und ich kann mich darüber auch nicht wundem. Stella lebt in einer Vorstellungswelt. Sie ist irgendwie geziert und gibt sich huldvoll überlegen. Die anderen Kinder können das nicht vertragen. Sie ärgern sie, wo sie nur können. Wir sind in dieses Haus gezogen, damit sie ein eigenes kleines Zimmer hat, und ich habe mir gesagt, mich da herauszuhalten und sie allein damit fertig werden zu lassen. Sie hat einmal versucht, ein paar Gedichte zu schreiben, und die an97
deren haben sie laut vorgelesen und Stella ausgelacht. Ja, Stella ist schon ein ziemlich intelligentes kleines Ding, aber manchmal so widerspenstig. Ich habe mir schon oft gedacht, daß es das beste für sie wäre, sie auf ein Internat zu schicken.« »Dann ist sie also anders als ihre Vettern?« »Ja, sie ist aus der Art geschlagen, wirklich. Und sie empfindet für ihr Anderssein auch einen gewissen Stolz. Ich bin sogar soweit gegangen, mich im letzten Mai mit ihrer Lehrerin zu unterhalten. Sie hat mir erzählt, daß sich Stella von anderen Kindern stark unterscheidet und zu einem Genie heranwachsen könnte. Ich komme ihr entgegen, soweit ich kann, aber ich kann sie wirklich nicht verstehen. Sie läßt mich die meisten ausländischen Bücher aus der Bibliothek für sie holen, aber keine, für die sich ein normales Kind interessieren würde.« »Was für Bücher?« »Oh, alte Sprachen mit andersartigen Alphabeten, und über die Geschichte des Altertums, und Sachen über Asien und Afrika. Ich kann darin keinen Schaden sehen, aber ich weiß nicht, wo in aller Welt sie von solchen Sachen gehört hat. In der Schule ist sie gut - viel besser als die anderen Kinder. Das zeigt sie ihnen natürlich auch, und die anderen mögen es überhaupt nicht. Meine haben genug im Kopf, doch sie unternehmen immer etwas und treiben sich in lauten Gruppen herum und zeigen überhaupt kein Interesse für Bücher. Meine Frau ist so gut zu Stella wie nur eben möglich, und doch ist es ganz schön schwer. Meine Kinder richten sich danach und machen absichtlich Lärm, wenn sie wissen, daß Stella ihre Ruhe haben will, und sie zeigt ihnen deutlich, daß ihr das nicht paßt. Sie steckt immer die Nase in ein Buch. Sie mag auch schwere Sachen. Sie sagt, die anderen wären einfach Wilde. Natürlich nehmen Kinder schon mal Schimpfwörter in den Mund, und meine behaupten, Stella würde nur angeben. Sie sagen, sie würde nur vortäuschen, all diese Geschichtsbücher zu lesen.« »Und was glauben Sie?« »Ich kann mir auch keinen Reim auf die Bücher machen, und ich bezweifle, daß Stella es kann, aber sie scheinen sie zu interessieren. Jetzt sehen Sie, in welcher Lage ich stecke. Wenn ich sie auf meine eigenen Kosten auf ein Internat schicken würde, kämen sich meine Kinder doch benachteiligt vor, oder? Sie neiden ihrer Cousine ihren angemessenen Anteil nicht und würden das auch 98
niemals tun, aber da hätte man ihr doch eine viel dickere Scheibe abgeschnitten, als ihr eigentlich zusteht. Ich habe nicht allzuviel damit zu tun. Wenn es also irgendeine Möglichkeit gibt, bei der meine eigenen Kinder nicht zu kurz kommen, Dr. Welles, dann würde ich sagen, daß ich es als Gottesgabe ansehe.« »Mr. Oates, ich freue mich, daß Sie mir dies alles erzählt haben, und ich verstehe Ihre Probleme voll und ganz«, sagte Peter Welles. »Sie haben gesagt, daß Sie in Ihrem Heimatort Schulpsychologe sind«, sagte Ralph Oates, »und ich halte es für wahrscheinlich, daß Sie das Mädchen besser verstehen als wir.« »Wenn Sie sie uns anvertrauen, verspreche ich, daß Sie es niemals bereuen werden.« »Wissen Sie, ich will ganz sicher gehen. Ihre Referenzen überprüfen und so.« »Ich werde Ihnen eine Liste von hier Ansässigen geben, die mich kennen«, sagte Peter und kritzelte eilends auf den Umschlag eines benutzten Briefes. »Rufen Sie diese Leute hier an. Und noch andere hier im Westen.« Er schrieb noch ein paar Namen nieder. »Die Schule wird erst in ein paar Monaten eröffnet«, sagte Peter, der gerade eine brillante Idee gehabt hatte, »doch Sie können uns Stella jederzeit schicken oder bringen. Miss Page würde sich freuen, sie bei sich zu Hause aufzunehmen. Miss Page ist seit über dreißig Jahren Lehrerin an den Grundschulen von Oakland; sie war eine meiner Lehrerinnen, als ich noch ein Junge war. Stella könnte genau wie Elsie bei ihr wohnen und zur Schule gehen, und ich werde für sie tun, was in meinen Kräften steht. Sie nehmen doch auch an, daß sie einer ganz besonderen Aufmerksamkeit bedarf?« »Ja, das nehme ich an. Ich weiß nicht viel über solche Dinge, aber sie scheint sich in der Schule nicht gut einzufügen, oder auch zu Hause, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hat. Meine Kinder werden wohl besser dran sein, wenn sie fort ist, und sie ihrerseits wohl auch. Sie sind zu verschieden, um zurechtzukommen, und mit der Zeit wird es immer schlimmer.« Als Stella mit dem Kaffee und Kuchen hereinkam, den sie hatte holen sollen, war es bereits beschlossene Sache, daß Dr. Welles ihr übermorgen die erforderlichen Tests vorlegen würde. Vielleicht bekomme ich nur das Problemkind, dachte Peter bedauernd, als er zum Hotel zurückkehrte. Was für ein Problem ist 99
Stella? Wir können auf Jay nicht verzichten; aber er hat recht, er kann nicht fort. Gibt es irgendeinen Ausweg? Und was hat das mit Stella zu bedeuten? Und was die Seminare des Konvents betraf, die zu besuchen er angereist war, sah es so aus, als würde er nicht allzu viele davon mitbekommen. Peter nahm eine Schlaftablette und ging früh zu Bett. Mrs. Gates öffnete Dr. Welles um neun Uhr des verabredeten Morgens die Tür. »Ich habe die anderen zu einem ganztägigen Picknick losgeschickt«, sagte sie, als sie ihn hineindrängte. »Mein Mann war vorgestern abend bis Mittemacht auf und hat telefoniert und Telegramme abgeschickt. Er sagt, ich soll Ihnen ausrichten, daß er Sie überprüft hat und Sie offenbar in Ordnung sind.« Ich habe vergessen, sie zu bitten, zu niemandem über die Kinder zu sprechen, stöhnte Peter innerlich auf. Klar, früher oder später mußte es sowieso herauskommen, aber... »Wir wollen nicht, daß Sie einen Fehler machen«, fuhr Mrs. Oates fort. »Wir lieben Stella wie unser eigenes Kind. Ich habe sie aufgenommen, als sie ein kleines Baby vom gleichen Alter wie meine Polly war, und ich hatte vor, sie wie Zwillinge aufzuziehen. Doch Stella war ganz anders. Aber das spielt keine Rolle. Wir wollen sie genausowenig loswerden wie eines der anderen, außer es wäre zu ihrem Besten. Ralph meint. Sie hätten ihm gesagt, er solle sich eine Meinung über Sie bilden, und das tut er.« Ja, aber warum habe ich nicht daran gedacht, ihn zu bitten, nicht verlauten zu lassen, warum er all das wissen will? seufzte Peter hinter seiner lächelnden Miene. Oh, warum habe ich nicht gesagt, daß es eine Schule für hochintelligente Kinder sei und nichts über die Abstammung der Kinder verraten. Aber wie hätte ich dann überhaupt etwas über Stella wissen können? Offensichtlich hat sie niemand für sehr intelligent gehalten. Sie hält wie Tim ihre Intelligenz verborgen. Peter durchlitt eine Welle des Schreckens, als er begriff, daß er überhaupt noch keinen Beweis für die Begabung dieser Kinder hatte. Dann sagte er sich, daß Tim, Elsie und Jay sicherlich begabt waren, und ... aber was sagte die Frau gerade? » ... aber ich habe ihm gesagt, daß Sie vielleicht nicht wollen, daß man über Ihre Angelegenheit redet, die Schule und das alles, oder die Angelegenheiten der Kinder, ihre Eltern oder so, und 100
deshalb hat er zu niemandem ein Wort darüber geäußert.« »Vielen Dank, Mrs. Oates«, sagte Peter mit inniger Erleichterung. »Es stimmt, uns liegt nichts an einer vorzeitigen Enthüllung unserer Pläne. Es sollten nur die davon wissen, die davon betroffen sind. Wir hoffen, der Schule und ihren Schülern so wenig Publizität wie möglich geben zu können. Es ist nicht gut für Kinder, wenn sie im Blickpunkt stehen.« Ich schwatze dummes Zeug, sagte er sich, und hielt inne. »Nun, ich habe Ralph gesagt, es läge an Ihnen und nicht an uns, verlauten zu lassen, was Sie bekanntgeben wollen. Er hat einen Freund bei der Polizei und einen bei der hiesigen Zeitung. Sie haben sich mit dem Polizeipräsidenten von Oakland und dem Vorsitzenden der Schulbehörde in Verbindung gesetzt und sich nach Ihnen, dem anderen Arzt und der Lehrerin, die Sie erwähnt haben, erkundigt, und auch nach der Familie Davis. Sie haben gestern den ganzen Tag über Eilbriefe und Anrufe bekommen. Ihre Beschreibung und sogar ein Bild von Ihnen; ich nehme an, sie haben geglaubt, jemand könne sich hier für Sie ausgeben, und nachgefragt, ob Sie auch hier sind. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, Dr. Welles, aber wir mußten sichergehen.« »Natürlich mußten Sie sichergehen. Ich hoffe, daß ich Sie jetzt als Referenz nennen kann, wenn ich die Erziehungsberechtigten anderer Kinder anspreche.« »Ralph hat mir gesagt, ich solle Ihnen ausrichten«, fuhr Mrs. Oates fort, »daß wir es ihr ersparen würden, eine so weite Reise allein zu machen, wenn Sie sie jetzt bei Ihrer Rückkehr mitnehmen und dann bei Miss Page unterbringen. Wir können ihr das Fahrgeld und die Verpflegung bezahlen, und auch die Verpflegung bei der Schule, wenn sie kein Schulgeld bezahlen muß und auch ihre Bücher umsonst bekommt, wie Sie gesagt haben. Es kommt mir schrecklich plötzlich vor, doch Ralph sagte. Sie hätten den Eindruck erweckt, als würde Ihnen das passen. Wenn es ihr dort nicht gefällt, kann sie sofort wieder nach Hause kommen. Ich würde es nicht anders haben wollen.« »Bestimmt. Und sie wird Ihnen wahrheitsgetreu schreiben. Doch was hält Stella davon?« »Das Kind ist ganz wild darauf, aufzubrechen. Sie sagt immer wieder, man habe Sie zu ihr geschickt, was immer sie auch damit meint. Wie ich sie kenne, könnte sie es sich natürlich wieder anders überlegen. Man sollte sie nicht von hier fortschicken, außer 101
sie will es wirklich. Ich werde sie jetzt rufen. Oder gibt es noch etwas, das Sie mit mir besprechen wollen?« »Ich möchte Sie nur bitten, daß sie die Tests mit mir unter vier Augen durchführen kann. Sie bestehen zu einem gewissen Teil aus psychologischen Fragen, und ...« »Das verstehe ich. Ein Kind wird immer abgelenkt, wenn andere Leute herumstehen und es beobachten. Wozu sind die Tests gut? Um zu beweisen, daß ihre schulischen Leistungen den Anforderungen ihrer Klassenstufe gewachsen sind?« »Ja, und um herauszufinden, wo ihre hauptsächlichen Interessen und Fähigkeiten liegen, und wie ausgeglichen sie ist, und so weiter.« »Sie ist ihrem Unterrichtsstoff gewachsen und in mancher Hinsicht sogar voraus, aber sie hat kein wirkliches Interesse an ihren Hausaufgaben. Sie ist aber schnell und hat ein wunderbares Gedächtnis. Ah, da kommt sie ja. Herein mit dir, Stella. Jetzt sei ein braves Mädchen und tue, was Dr. Welles sagt, und wenn du mich brauchst, ich bin in der Waschküche oder auf dem Hof.« Sobald ihre Tante gegangen war, setzte sich Stella Dr. Welles gegenüber und fragte: »Man hat Sie doch zu mir geschickt, oder nicht?« »Nun, ich bin hier«, sagte Peter. »Das reicht für den Augenblick hoffentlich aus.« So seltsam es war, dies schien Stella zu genügen, ja ihr sogar Vergnügen zu bereiten. Doch als er ihr die ersten Seiten des Alpha-Tests des Heeres vorlegte, winkte sie ab. »Solche Rätsel und Spiele langweilen mich«, sagte sie. »Hast du jemals einen solchen Test in der Schule gemacht?« »Sie haben uns mal einen gegeben. Ich konnte mich damals nur nicht damit abgeben.« »Für die schwierigen Stellen muß man sich schon anstrengen«, sagte Dr. Welles. Stella starrte ihn an. »Welche schwierigen Stellen«, fragte sie. »Was hast du mit dem Test in der Schule gemacht?« fragte der Psychiater. »Ihn einfach so beiseite gestoßen?« »Oh nein. In der Schule kann man so was nicht machen. Ich habe einige Fragen beantwortet. Aber eigentlich habe ich gerade 102
ein Gedicht geschrieben, so daß ich keine Zeit hatte, mich mit solchen Rätseln zu beschäftigen. Ich muß Gedichte schreiben, wenn ich dazu in der Stimmung bin.« Peter holte tief Luft und zählte bis zehn. »Schreibst du auch jetzt ein Gedicht?« »Nein«, sagte das Mädchen, die Augen weit aufgerissen. »Wenn du in meine Schule aufgenommen werden willst, mußt du meine Tests bestehen«, sagte er. »Aber... ich dachte. Sie wußten es.« Und das Mädchen schaute alarmiert drein. »Ich weiß es«, sagte Peter. »Ich weiß sehr viel mehr über dich, als du glaubst. Aber wir müssen einen Beweis haben.« »Dann liegt es nicht daran, daß ich ein Waisenkind bin und jemand zu Waisen wie mir freundlich sein will. Ich dachte, ich hätte recht damit«, sagte Stella. »Sie wollen etwas anderes an mir beweisen. Wie meine Eltern gestorben sind, ist nur eine Entschuldigung.« Diese Rede, so konfus, wie sie klang, erweckte wieder Hoffnung bei dem Arzt. Zum ersten Mal in diesem außergewöhnlichen Gespräch fühlte sich Peter in der Lage, offen zu ihr zu sein. »Ich glaube, daß du eine sehr hohe Intelligenz besitzt«, sagte er. »Und die möchte ich mit Hilfe gewisser herkömmlicher Tests beweisen.« »Na gut, wenn es unbedingt sein muß«, sagte Stella. Sie ergriff den Bleistift, und Dr. Welles schaute auf die Uhr. »Fünfzig Minuten sind angemessen«, sagte er. »Du schaffst es in sehr viel weniger Zeit.« Und Stella schaffte es. »Sollen wir einen anderen Test machen oder uns lieber ein wenig unterhalten?« fragte Peter, als sie fertig war. »Ich würde lieber reden. Was sind das für andere Tests?« »Einer von den Tests für überlegene Erwachsene von Sanford-Binet, ein RorschachTest, der Bellevue-Wechsler und ein Persönlichkeitsquotienten-Test.« »Hoffentlich sind sie interessanter. Werden Sie mir jetzt sagen, weshalb Sie zu mir gekommen sind?« »Ich glaube, für den Augenblick weißt du genug«, sagte der Arzt. »Ich möchte mehr über dich herausfinden, Stella. Erzähl mir was von dir. Wie alt bist du? Vierzehn?« »Im Oktober werde ich vierzehn.« 103
»Du hast dein ganzes Leben bei deinem Onkel und deiner Tante gelebt. Bist du gesund?« »Ja.« »Schläfst du gut?« »Ja.« »Träumst du sehr viel?« Stella zögerte und sagte, sie träume nicht; doch das war eindeutig geschwindelt. »Dein Onkel und deine Tante - sind sie gut zu dir?« fragte der Arzt. »Sie geben sich Mühe.« »Deine Vettern und Cousinen?« »Ich glaube schon.« Peter stellte eine Reihe gewöhnlicher Fragen, bis Stella offen antwortete. Dann versuchte er es mit einer Überraschungsfrage. »Wie lautet dein Pseudonym?« »Ich dachte, das wüßten Sie mittlerweile«, entgegnete sie. »Ich weiß, daß du schreibst. Gedichte, nicht wahr?« »Ich bin Estelle Starrs.« Plötzlich wurde Peter vieles klar. Bei den Lyrikern wurde Estelle Starrs meist mit Emily Dickinson verglichen; bei den Romanciers mit Marie Corelli. Ihr erster Roman hatte sich nicht überragend verkauft, und der zweite war gerade erst erschienen. Peter hatte sie nicht gelesen, aber gehört, daß einige seiner Kollegen sie mit beträchtlichem beruflichem Interesse diskutiert hatten. Das Sternenkind hatte viele Diskussionen ausgelöst, und Inkarnation in Ägypten mußte, so hatte eine Autorität behauptet, von der leicht verschrobenen Frau eines Experten für Ägyptologie geschrieben worden sein. Natürlich hatte sich niemand erträumen lassen, daß die Verfasserin ein Mädchen von dreizehn Jahren war. »Wer weiß, daß du diese Sachen schreibst?« »Niemand. Nicht einmal der Verleger weiß, wer ich bin.« »Wie ziehst du deine Honorare ein?« fragte Peter. »Sie verwahren es für mich«, erwiderte Stella ruhig. »Ich könnte es ja doch nicht ausgeben, oder? Wenn ich volljährig bin, kann ich an das Geld heran. Ich habe ihnen geschrieben, ich würde um das Geld bitten, sobald ich es brauche.« Peter Welles öffnete wieder die Aktentasche und legte dem Mädchen einige Papiere vor. Doch das Kind zögerte erneut. 104
»Das kann ich nicht«, sagte Stella. »Es ist ein Persönlichkeitsquotienten-Test«, erklärte er. »Ich möchte herausfinden, was für ein Mädchen du bist, was dir gefällt und so weiter. Du kannst überhaupt nicht durchfallen. Hier gibt es keine falschen Antworten.« »Ich kenne die Antworten, die man von mir erwartet«, sagte sie. »Jeder kann sehen, was verlangt wird. Ich kann das nicht ausfüllen und dabei ehrlich sein. Sie werden sehr schnell herausfinden, wie ich bin.« Das hatte etwas für sich, überlegte Peter. »Stellen Sie mir die Fragen doch einfach selbst, statt diesen vorbereiteten Test zu nehmen«, schlug sie vor. »Sie können es nicht sagen, ohne diese Fragen zu stellen, nicht wahr?« »Ich kann dir einiges über dich selbst sagen«, stimmte er zu. »Mal sehen, wie gut ich darin bin. Tun wir einfach mal so, als wäre ich ein Wahrsager am Strand. Du glaubst, daß dich niemand versteht, daß es dein Schicksal ist, für immer allein zu leben, und daß man deine wirklichen Werte erst schätzen wird, wenn du schon lange tot bist.« »Ich fürchte, das könnte stimmen«, sagte das Kind ernst, »doch wird nicht nun, wo Sie zu mir gekommen sind, alles anders?« »Wenn du mit mir kommst, wird alles besser für dich«, erwiderte Peter mit dem gleichen Ernst, »doch es wird seine Zeit brauchen.« Er steckte den Test weg, den sie abgelehnt hatte, und zog die Rorschach-Karten hervor. Stella gefiel dieser Test und plauderte während seines Verlaufs frei darauflos. »Ich stelle fest«, sagte Dr. Welles, »daß deine Antworten - wie auch deine Bücher - ein Interesse an Ägypten, Indien und dem Orient im allgemeinen zeigen. Ist dieses Interesse nicht ungewöhnlich für ein Mädchen deines Alters?« »Vielleicht.« »Wie ist es gekommen, daß du ein besonderes Interesse an diesen Dingen hast?« fragte er. »Das darf ich nicht verraten«, erwiderte das Mädchen steif. Der Psychiater versuchte es auf eine andere Art. »Wie kannst du mir von deinen Büchern erzählen, wenn du es nicht einmal dem Verleger verraten kannst?« »Ich wußte, daß Sie mir glauben würden«, sagte Stella. 105
»Würde deine Familie dir nicht glauben?« »Vielleicht. Aber sie würde es nicht verstehen«, sagte das Mädchen mit deutlicher Abneigung. »Wie kommst du mit deiner Familie zurecht?« »Ich lebe hier wie eine Fremde«, sagte Stella. »Du meinst, sie verstehen dich nicht?« »Natürlich nicht. Und ich habe keine Sympathie für sie. Wir sind zu verschieden.« Mrs. Oates klopfte an die Tür und rief sie zum Essen. Das Mädchen aß gut und normal und spülte das Geschirr, während sich der Psychiater mit der Tante unterhielt. Dann nahmen sie die Befragung und Prüfung Stellas wieder auf. Als Dr. Welles zum Aufbruch bereit war, zeigte er sich über ihre Intelligenz zufrieden und rief beim Flughafen an, um ihr in seiner in vier Tagen gehenden Maschine einen Platz zu reservieren. Sie war mit Sicherheit eins der Wunderkinder - und sie brauchte seine Hilfe. Nach dem Abendessen vervollständigte Peter im Hotel seine Notizen. Geburt normal. Kindheit normal. Allgemeine Gesundheit gut. Kein »nervöses Kind«. (Jays Bericht würde in dieser Hinsicht wahrscheinlich das Gegenteil ergeben.) Keine ernsthaften Krankheiten. Kein Verfolgungswahn, doch auf beiden Seiten das eindringliche Gefühl, daß Stella nicht zum Rest der Familie paßte. Stella gab zu, vor Jahren die kindliche Vorstellung gehabt zu haben, überhaupt nicht mit ihnen verwandt zu sein, aber sie behauptete, sie wisse es inzwischen besser und könne sich nicht mehr vorstellen, eine verwunschene Märchenprinzessin oder eine verkleidete Königstochter zu sein. Sie war sicher, wirklich das Kind von Ralph Oates Bruder zu sein, und sie glaubte, daß ihr Vater - und besonders ihre Mutter - sie vielleicht besser verstanden hätten. »Wenn nicht völlig«, hatte sie hinzugefügt. »Wie kommst du darauf?« »Mein Onkel versteht mich besser als der Rest seiner Familie«, erklärte Stella. »Also müßte mich sein Bruder, mein leiblicher Vater, wahrscheinlich noch besser verstanden haben. Meine Tante ist nicht blutsverwandt mit mir, und die Kinder sind nach ihr geraten. Ich nehme an, daß ich nach meiner Mutter geraten bin.« »Warum würde deine Mutter dich nicht völlig verstehen?« »Ich glaube einfach nicht, daß sie es könnte«, erwiderte Stella standhaft. Und sie weigerte sich, mehr dazu zu sagen. 106
Was ihren gefühlsmäßigen Zustand anbetraf, sagte Stella, so sei sie glücklicher als früher, bevor sie angefangen habe, ihre Manuskripte zu veröffentlichen, aber sie habe niemals erwartet, in einer solch unangemessenen Umgebung je wirklich glücklich zu sein. »Mein Onkel versucht mitfühlend zu sein und unterstützt mich, wo er nur kann«, sagte sie, »aber ich glaube nicht, daß er sich wirklich Mühe gibt, mich richtig zu verstehen.« Stella gab zu, in schläfrigem Zustand »Dinge zu sehen«, aber sie sagte, daß sie »gewöhnlich nichts bedeuten. Es ist wie im Traum, nur daß ich nicht ganz schlafe.« Sie zeigte keine Anzeichen von Halluzinationen, Wunschvorstellungen oder Verfolgungswahn und war nicht mehr Besessenheiten, Phobien oder Zwangshandlungen ausgesetzt als ein normaler phantasiereicher, einsamer Jugendlicher. Ihre Aufrichtigkeit bei der Diskussion dieser Dinge sprach nur für sie. Sie hatte eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und konnte gewandt argumentieren, wenn sie es wollte, doch ihr Lesestoff war sehr begrenzt gewesen - weil, wie sie erklärte, Kinder unter sechzehn Jahren keinen Zutritt zur Erwachsenenabteilung der Bibliothek hatten. Stella war daher auf Bücher angewiesen, die sie sich von Freunden ausleihen konnte oder die ihr Onkel ihr besorgte, wenn sie ihn darum bat. Sie war überglücklich zu hören, daß sie in Oakland auch Bücher aus der Erwachsenenabteilung auswählen konnte. Als Dr. Welles sie fragte, was sie alles mitnehmen wolle - seine Absicht war es, damit die praktische Seite ihrer Natur zu durchleuchten -, nannte Stella prompt die notwendigen Gegenstände, beschrieb ihre Kleider nach dem Aspekt der Sommer- und Wintergarderobe, erkundigte sich über das Klima, in das sie ziehen würde, und schlug dann vor, daß Peter ihre Kleider durchsehen solle, um die geeigneten herauszusuchen. »Deine Tante wird das schon wissen«, erwiderte er. »Bitte«, sagte Stella. In ihren Augen war ein neuer Blick, und in ihrem Gesicht besorgte Linien. Zum ersten Mal schien sie nervös zu sein. Gehorsam erhob sich der Arzt und folgte ihr. Als Stella oben in ihrem Zimmer die Tür geschlossen hatte, wandte sie sich zu ihm um. »Sie werden nichts verraten?« flüsterte sie ungestüm. »Nein«, versicherte er verblüfft. »Sie wird es sehen, wenn ich sie zusammenpacke. Bitte, nehmen Sie sie jetzt mit?« 107
»Oh! Manuskripte?« vermutete er. »Ja, und Notizen. Wenn Sie dieses Schränkchen schnell vorrücken würden - darunter befindet sich ein loses Brett, ich brauche nur den Nagel herauszuziehen. Da.« Sie kniete nieder, griff unter den Fußboden und zog ein Bündel hervor, das in Zeitungspapier eingeschlagen war. »Darf ich sie mir ansehen?« Peter öffnete die Umhüllung und zog einen Stapel dünner Blätter hervor, die von einer Heftklammer zusammengehalten wurden, das oberste von einem Dutzend oder mehr. »Mercers Äthiopische Grammatik, mit einer Chrestomathie und einem Glossar«, las er erstaunt halblaut vor. »Was ist eine Chrestomathie, wenn ich fragen darf?« »Das kommt vom griechischen chrestos, nützlich, und mathanein, lernen«, erwiderte das kleine Mädchen. »Es bedeutet Auszüge aus Büchern in einer fremden Sprache, mit Anmerkungen, so daß man daraus lernen kann.« Sie griff wieder unter die Fußbodenbretter und zog ein zweites und drittes Bündel hervor. »Das ist alles«, sagte sie. »Notizen, und die Manuskripte von ein paar Gedichten. Stecken Sie sie alle in diese Aktentasche - es ist meine Schultasche, doch Tante wird glauben, daß sie Ihnen gehört. Ihr fällt nicht sehr viel auf.« Stella deutete auf die Bücher auf dem kleinen Regal neben ihrem Bett. »Das sind Romane und Gedichte und so. Darf ich die Bücher mitnehmen?« »Dein Onkel kann sie dir nachsenden.« Er konnte einige der Titel erkennen; Stellas drei Bücher befanden sich dabei. Ihre Gedichtsammlung trug den Titel Sternenbündel. »Psst! Da kommt meine Tante«, sagte Stella. Peter schob die drei Papierpacken in die Aktentasche, während Stella ein Kleid aus dem Schrank riß und es ihm vorhielt. »Für den nächsten Winter brauchst du ziemlich warme Sachen, und für die kühlen Abende jetzt schon«, sagte er, als Mrs. Oates die Tür öffnete. »Ich werde dafür sorgen«, sagte Mrs. Oates. »Ich wollte den Mädchen in diesem Sommer ein paar Kleider nähen; die von Stella werde ich schicken, sobald ich sie fertig habe.« Peter Welles, der an diesem Abend über all diese Dinge in sei108
nem Hotelzimmer nachdachte, fügte seinen Notizblättern eine Zeile hinzu und öffnete die Aktentasche. »Eine Konversations-Grammatik der hindustanischen Sprache«, las er. »Biblisches Hebräisch. Einführung ins Schriftchinesische. Arabische Sprache und Grammatik. Ein angelsächsisches Lesebuch. Lesebuch des modernen Persischen. Eine kurze Grammatik des attischen Griechisch.« Es gab noch mehr, doch Peter fühlte sich nicht in der Lage, sie durchzusehen. Er öffnete das zweite Päckchen. »Der Glaube im alten Ägypten, von E. Naville«, las er. »Breasteds Die Geschichte Ägyptens von den Ursprüngen bis zur Persischen Eroberung.« Es befanden sich Notizen über Indien, Tibet, Babylon und Persien darunter. Peter las nicht mehr weiter. Mit einem leichten Schaudern schob er alle Aufzeichnungen in die Aktentasche zurück und verschloß sie. Stella sollte sie den ganzen Weg durch den Kontinent in eigenen Händen tragen. All diese Seiten mit Anmerkungen in einer sauberen, winzigkleinen Handschrift mußten lange Stunden harter Arbeit im verborgenen gekostet haben. Das waren die seltsamen Bücher, die sie »nur mal durchblättern wollte« und an denen »überhaupt kein Kind interessiert« sein konnte. Es war das Quellenmaterial für ihre Bücher gewesen. Peter besuchte die restlichen Konferenzen, die zu besuchen er hergekommen war. Er rief Stella täglich an, sah sie jedoch nicht mehr. Auf ein Telegramm an Miss Page, das ihr die Ankunft des Mädchens mitteilte, folgte ein Brief mit der ganzen Geschichte. Peter traf Jay fast täglich und sprach mit ihm über alles, was sie unternahmen oder zu unternehmen gedachten, erzählte den beiden Kindern jedoch nichts voneinander. Jay, der mit vor Aufregung klopfendem Herzen allem lauschte, das Dr. Welles ihm über Tim, Elsie und die Schule erzählte, trieb zwar das Versprechen ein, daß Peter und die anderen ihm oft schreiben würden, weigerte sich jedoch standhaft, die Möglichkeit zu überdenken, die Schule zu besuchen. Es sei unmöglich, sagte er, und es wäre sinnlos, es sich zu überlegen. Im Taxi zum Flughafen stellte Stella eine Frage. »Die anderen Kinder... ähneln sie mir sehr?« »Kaum«, erwiderte Peter. »Ich hoffe, daß du sie mögen wirst und mit allen so gut wie möglich zurechtkommst. Ich glaube aber nicht, daß sie deine besonderen Interessen in großem Ausmaß teilen werden.« 109
Stella, die schon verwirrt ausgesehen hatte, sah nun noch verwirrter drein. »Was haben wir gemeinsam?« fragte sie. Peter bedeutete ihr zu schweigen, aber am Flughafen ging er mit ihr zu einer Stelle, an der sie nicht belauscht werden konnten, und gab ihr Erklärungen, die sie unbedingt erhalten mußte. »Wir wollen euch alle zusammenholen, weil die meisten von euch Schwierigkeiten haben, sich dem Leben normaler Kinder anzupassen. Natürlich sind die Geschmäcker und Interessen eines jeden Kindes rein persönlich und unterscheiden sich von denen der anderen. Tim, Elsie und du - ihr seid so verschieden, wie man es sich nur vorstellen kann. Bis auf die Tatsache, daß ihr alle eine ungewöhnlich hohe Intelligenz besitzt. Ihr solltet in der Lage sein, euch aneinander zu gewöhnen, wenn ihr es versucht, und ihr könnt voneinander lernen und euch gegenseitig etwas beibringen. Wahrscheinlich habt ihr alle breite Interessengebiete; obwohl sich eure besonderen Interessen unterscheiden, muß es viele Dinge geben, an denen ihr gemeinsam Anteil nehmen könnt.« Stella wirkte bestürzt, dann äußerst nachdenklich, und schließlich nickte sie. Was in ihrem Geist vor sich ging, konnte Peter nicht einmal ahnen. »Ich überlasse es dir, ihnen von dir so wenig oder so viel zu berichten, wie du willst«, sagte er. »Ich weiß, daß es viel gibt, was du mir nicht gesagt hast.« Derart vorgewarnt verriet Stella Elsie und Tim zuerst nur wenig über sich, und Miss Page und Dr. Foxwell noch weniger. Die Kinder lasen ihre veröffentlichten Arbeiten mit einiger Verblüffung, und sie las die ihren. »Tim ist bestimmt kaum etwas unmöglich«, vertraute sie Dr. Welles an. »Er weiß auch zu fast allem etwas zu sagen.« »Aber du weißt mehr über den Orient und über Afrika«, erwiderte er. »Was Sie mir darüber erzählt haben, wie sehr sich ihre Interessen von den meinen unterscheiden, ist schon richtig.« »Deine Interessen werden sich zweifellos ausweiten«, sagte Dr. Welles, »und die ihren auch. Es kann nur von Vorteil sein, daß ihr verschiedene Wissensgebiete habt, die ihr den anderen mitteilen könnt.« Nachdem Dr. Foxwell Stella vorgestellt worden war und er sich Peters Briefe über sie in Erinnerung gerufen hatte, traf er die miß110
liehe Voraussage, daß man, brächte man Elsie und Stella erst einmal zusammen, den Zusammenprall der beiden Persönlichkeiten wahrscheinlich meilenweit würde widerhallen hören. Doch Elsie bemühte sich gewaltig, ihre Schwächen zu überwinden, besonders ihre Neigung, an allem lauthals Kritik zu äußern, was sich auch nur leicht von ihren Vorstellungen unterschied, und sie war fest entschlossen, mit den anderen Wunderkindern zurechtzukommen oder bei dem Versuch zu sterben. Stellas Verhalten pflegte sich eher in Rückzügen als Gewalttätigkeiten zu äußern, wenn man sie nicht »verstand«. Und was Tim betraf- diesem eifrigen angehenden Psychiater war nichts Menschliches fremd. Für alle drei Kinder zählte im Prinzip nur, daß sie andere ihres Alters gefunden hatten, die auf der gleichen geistigen Stufe standen. Sie waren bereit, ihre Interessen zu teilen und einander zu helfen. Sie gerieten in der Tat häufig aneinander und verstanden sich oft falsch, aber das Band, das sie zusammenhielt, war stärker als ihre Verschiedenartigkeit. Dr. Welles merkte, daß Stella etwas auf dem Herzen hatte. Sie versuchte, sich deshalb etwas einfallen zu lassen. Es kam ihm vor, als würde sie, bis sie das getan hatte, jede eindeutige Stellungnahme vermeiden und lediglich feststehende Tatsachen akzeptieren. Sie starrte die anderen oft voller Verblüffung an, und die schienen genauso verblüfft über sie zu sein. Während der ersten vierzehn Tage unternahm Dr. Welles keinen Versuch, Stella zu befragen, sondern überließ sie größtenteils der Gesellschaft von Elsie und Tim. Er beobachtete sie, so gut er konnte. Als man ihr ein Kätzchen anbot, sagte Stella, da alle anderen Katzen züchteten, wäre sie für sich mit einem einzelnen Tier zufrieden und suchte sich einen kohlschwarzen, kurzhaarigen, grünäugigen Kater aus, den sie kastrieren ließ. Sie nannte ihn Hegai. Peter Welles hatte fast die gleichen Schwierigkeiten, dem Ursprung dieses Namens nachzuspüren, wie er es bei dem Grigios gehabt hatte, nach dem der Blindenhund von Jays Erziehungsberechtigtem benannt worden war. Stella und Elsie gingen fast täglich zur Bibliothek und kamen mit Büchern beladen zurück. Miss Page führte insgeheim eine Liste der Titel. »Ich kann in ihrem Lesestoff keinen gemeinsamen Nenner finden«, berichtete sie Dr. Welles. »Stella ist in einer Art Leserausch und verschlingt alles, was sie in die Finger bekommt; und Elsie geht sämtliche Titel durch, über die die Bibliothek in ihrer Hei111
matstadt nicht verfügte. Beide lesen sie auch das meiste von dem, was die andere mit nach Hause bringt. Ich würde meinen, daß sie bald eine Kolik davon bekommen müßten.« »Und haben sie genug Gelegenheiten zum Turnen und Spielen?« »Oh ja, dafür sorge ich. Und Tim kommt fast jeden Nachmittag vorbei, oder sie gehen zum Spielen zu ihm herüber.« Elsie verbrachte jede Woche einen Abend bei Dr. Welles und einen bei Dr. Foxwell. Tim besuchte den Arzt nicht mehr zu beruflichen Konsultationen, und beide Ärzte waren äußerst beschäftigt, da Dr. Welles die Arbeit mit seinen anderen Patienten noch nicht aufgegeben hatte und Dr. Foxwell von den geschäftlichen Angelegenheiten beansprucht wurde, die mit den Plänen für die Schule zusammenhingen. »Wie kommst du mit Stella zurecht?« fragte Dr. Welles Elsie eines Abends. »Sehr gut«, sagte Elsie. »Manchmal bin ich aber böse auf sie. Heute zum Beispiel.« »Erzähl mir davon.« »Wir haben gegenseitig unsere Manuskripte gelesen«, sagte Elsie, »und als ich ihr eine Sonettfolge zeigte, sagte sie, sie sei wortreich und stilisiert. Wortreich!« »Ich habe noch nicht die Zeit gehabt, eins ihrer Gedichte zu lesen. Wie sind sie?« erkundigte sich der Psychiater. »Sie hat ein neues geschrieben, das sie >Muster< nennt. Sprachmuster, meint sie damit. Kein Rhythmus, es ist gar nichts an ihnen dran. Ganz einfache kleine Sachen.« »Nun, jemand, der ein Sonett >wortreich< nennt, muß wohl sehr kurze Sachen schreiben«, lächelte Peter. »Kannst du eins auswendig?« Elsie schmiß sich in Pose und sagte auf: »Ausgestreckte Zweige ... Deine Arme. Ich bin ein furchtsamer Vogel Kuschle mich hinein.« »Ist das alles?« »Die anderen sind genauso. Oder schlimmer. So habe ich ihr natürlich nicht meine neue Sequenz gezeigt, die Summa.« Der 112
letzte Satz war sarkastisch. Elsie und Tim hatten die Summa Theologica gelesen. Wie der Psychologe wußte, war Tim von ihren mathematischen Qualitäten sehr beeindruckt und sagte immer wieder, daß es möglich sein müsse, sie auf ihre Gleichungen zu reduzieren, wenn man nur die richtigen Symbole finden könnte. Elsie hingegen sah sie als Kunstwerk an, jede Frageabteilung so knapp und diszipliniert wie ein Sonett; und sie war wirklich dabei, ihre Meinung mit Beispielen zu belegen - jeder Einwand in der Oktave ausgedrückt, die Erwiderung und Antwort auf den Einwand in der Sexte. Diese äußerst schwierige Aufgabe war ihr geheiligtes Geheimnis; bis auf Dr. Welles wußte niemand davon. »Und wie kommst du mit der Summa-Sequenz voran?« »Schrecklich!« Elsies Augen strahlten vor Enthusiasmus. »Ich muß jedes Wort an seinen Platz rücken, wie... wie Gott die Sterne im Himmel angeordnet hat. Dabei bin ich mit keinem einzigen Sonett zufrieden. Im Original ist die Dichtung einfach besser. Aber der Versuch macht Spaß.« An welch komischen Definitionen diese Kinder für Spaß hatten, überlegte Peter. »Da fällt mir noch ein Versuch Stellas ein«, sagte Elsie, und sie rezitierte: »Ich bin die öde Erde, Du der Blitz, Versuch, mich zu erheben In einem Augenblick.« »Das macht sie gut«, sagte Peter ziemlich ernsthaft. »Du kannst nicht behaupten, dies sei keine Dichtkunst.« »Hah!« sagte Elsie etwas einfältig. »Sie nimmt eine gute Idee oder Phrase und bringt sie zu Papier, und damit hat es sich dann. Sie arbeitet nicht daran, und das ist nicht in Ordnung. Aber was kann man schon erwarten? Sie glaubt an die Inspiration.« Hocherhobenen Kopfes verließ Elsie den Behandlungsraum, und der Psychiater war mit seinen Gedanken allein. Nach einem Augenblick hob er das Telefon ab und rief Miss Page an. »Hallo? Peter Welles am Apparat. Ich glaube, wir geben den Kindern für diesen Sommer besser eine kleine Aufgabe ... Nein, 113
nichts Lästiges ... Ich habe einen Aufsatz im Sinn, den sie zusammen lesen und diskutieren sollen ... Ja, Sie haben recht, es gibt einen Grund dafür... Poes >Methode der Komposition< wird für den Anfang genügen.« »Wie er den >Raben< schrieb?« kam Miss Pages Stimme über die Leitung. »Zu hören, was sie darüber zu sagen haben, wird das Eintrittsgeld schon wert sein.« »Geben Sie morgen nach dem Essen jedem eine Ausgabe, oder sobald Sie drei Ausgaben auftreiben konnten«, ordnete Peter an, »und lassen Sie es mich zuvor wissen. Während sie lesen, haben wir beide einiges zu tun.« So beschäftigten sich ein paar Abende später Dr. Welles und Miss Page ausgiebig mit Plänen und Berechnungen am einen Ende des Wohnzimmers, während die drei Kinder, die sich auf Klubsesseln zusammengerollt hatten oder auf dem Boden lagen, den Aufsatz lasen und dann herausplatzten. Niemals hatte man jemandem eingehender widersprochen. Und doch wurde bald offensichtlich, daß auch zwischen den Kindern selbst beträchtliche Meinungsverschiedenheiten herrschten. »Es kommt nur darauf an, was er meint«, bemerkten sie oft, bezweifelten jedoch, ob schon viele Meisterwerke von hinten geschrieben worden waren und stellten noch mehr in Frage, ob Poe wirklich so schrieb, wie er behauptete. »Das hat er sich wohl nachträglich ausgedacht«, behauptete Tim, während Elsie dazu neigte, den Aufsatz für einen ausgemachten Schwindel zu halten, und Stella ihn als eine Verteidigung auffaßte gegen »diese törichten Leute, die immer wieder fragen, wie man es macht, und es auch nicht verstehen würden, wenn man es ihnen erklärte.« Sämtliche Kinder verhöhnten Poes Bemerkungen über die Schönheit. Nicht einmal Stella war bereit, einzuräumen, daß Schönheit einen zum Weinen bringen kann. Tim behauptete standhaft, daß der Tod für einen Christen kein sehr melancholisches Thema sei, und Elsie konnte im Verlust eines geliebten Menschen nichts Schönes sehen, »besonders, wenn man sein ganzes Leben darüber heult«. Zur Überraschung der lauschenden Erwachsenen meinten alle drei Kinder, daß Poe es mit der Originalität sehr übertrieb. »Nur Menschen, die nicht viel wissen und nie viel gelesen ha114
ben, glauben überhaupt originell zu sein«, sagte Elsie. »Ja, schon vor Jahrtausenden hat man fast alles mögliche getan oder erdacht«, stimmte Stella zu, »auf literarische Art, meine ich.« »Das ist wohl eine Art von Stolz«, grübelte Tim. »Als ob man behauptet, niemand sonst in der ganzen Schöpfung hatte jemals einen so großen Geist wie ich; ich kann mir etwas einfallen lassen, an das man noch nie gedacht hat.« »Nun, er gesteht ein, daß es nur die Kombinationen sind, die originell sein können«, verdeutlichte Elsie, »wie die Form seiner Stanzen.« »Ja, aber ich wette, daß sie schon mal dagewesen sind, wenn man nur lange genug sucht«, sagte Tim. »Achten wir mal auf diese Art von Stanzen, wenn wir Gedichte lesen.« »Poe strengt sich dermaßen an, grausig zu sein, daß er die halbe Zeit über nur lustig ist«, sagte Elsie. »Der dumme alte Rabe würde bald verhungern, wenn er immer auf dieser Büste sitzt«, kicherte Tim. »Ich halte das Gedicht auch für viel zu lang, und durch den Refrain wirkt es veraltet.« In dieser Hinsicht stimmten die Mädchen nicht mit ihm überein. »Es gab Zeiten«, sagte Elsie, »da gehörte ein Refrain einfach in ein Gedicht, selbst wenn man das in anderen Epochen bis zur Verwesung gemacht hat.« »Aber der ganze Aufsatz stimmt nicht«, sagte Stella hitzig. »Er macht alles so mechanisch. Wir könnten so nicht schreiben, und ich bezweifle, daß es überhaupt einer kann.« »Vielleicht, wenn man überhaupt nichts Taugliches schreibt«, sagte Elsie. »>Der Rabe< ist wirklich nicht gut.« »Man sollte meinen, daß du dich viel zu sehr mit der Mechanik beschäftigst, um überhaupt etwas zu vollenden«, sagte Stella. »Und er schreibt gar nichts über das Vorstellungsvermögen.« »Ich habe schon was von Poe gelesen«, runzelte Tim die Stirn, als er versuchte, sich daran zu erinnern, »und zwar, wie er auf den Namen Lenore gekommen ist, indem er die musikalischsten Konsonanten und Vokale ausgewählt und so viele wie möglich davon in einem Namen kombiniert hat, oder so etwas.« Die Mädchen riefen durcheinander. »Nun, wenn er nicht weiß, wie er ohne dieses ganze Brimborium schreiben kann«, sagte Elsie heftig, »dann taugt er nicht viel als Schriftsteller.« 115
»Er behauptet ja gar nicht, inspiriert worden zu sein«, sagte Stella. »Aber er spricht immer über die Intuition«, sagte Elsie, »und er legt nicht viel Wert darauf.« »Was ist schon Intuition?« fragte Tim eifrig. »Und die Inspiration, an die einige Schriftsteller glauben - glaubt ihr daran?« »Natürlich glaube ich daran«, sagte Stella entrüstet. »Deshalb weiß ich ja, daß Poe kein richtiger Dichter war. Er weiß nicht mal, was Inspiration ist. Er hat wie ein Roboter gearbeitet.« »Nun, ich weiß auch nicht, was das ist«, erwiderte Elsie schlagfertig. »Ich arbeite einfach so lange, bis es mir richtig erscheint. Und ich arbeite überhaupt nicht wie ein Roboter.« »Nein, natürlich tust du das nicht«, sagte Stella. »Aber ich glaube, daß du deine Sachen zu oft überarbeitest«, fügte sie freundlich hinzu. »Warum schreibst du deine Dinge nicht unverdorben nieder, wie sie gerade kommen?« Elsie starrte sie an. »Einfach roh?« Tim, der niemals Gedichte geschrieben hatte, war aufs äußerste gespannt. Die Erwachsenen, die die Kinder völlig vergessen hatten, täuschten schon lange nicht mehr vor, zu arbeiten. »Du schreibst nicht so, wie er es sagt, oder?« wollte Stella wissen. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Elsie, »aber ich behaupte auch nicht, inspiriert zu sein. Was hältst du davon, Tim?« »Nun, ist es nicht möglich«, sagte Tim mit einer ausgezeichneten, aber unbewußten Nachahmung von Peter Welles beruflichem Gehabe, »daß Poe alles genauso durchlebte, wie er behauptet, allerdings sehr schnell, und dann darauf zurückgriff und es analysierte, als sei es absichtlich und zweckbestimmt geschehen? Deine Gedankengänge laufen so schnell ab, Stella, daß du wahrscheinlich nicht weißt, daß du überhaupt denkst. Es scheint alles in einem Ausbruch hervorzukommen.« »Ich weiß, daß es Inspiration ist«, sagte Stella fest. »Ich schreibe Gedichte, die wie überhaupt nichts sind, das ich jemals denke. Sie fliegen mir zu. Letzte Woche bin ich eines Abends aufgewacht und habe ein langes Gedicht geschrieben. Ich war wirklich erstaunt darüber. Es war nichts ähnlich, an das ich je im Leben auch nur gedacht habe, und zuerst konnte ich es selbst nicht verstehen. Aber es hat eine große Bedeutung für mich - wenn 116
auch vielleicht nicht für irgendeinen anderen.« »Wenn es solch eine große Bedeutung für dich und niemand sonst hat«, sagte Elsie, »dann muß es aus dir selbst gekommen sein, aus deinen eigenen Erfahrungen und Gedanken. Also kann es nicht von außen inspiriert worden sein.« »Wie Träume«, schlug Tim vor. »Manchmal kann man sich nicht vorstellen, woher sie kommen, aber... Peter kann es uns verraten!« schrie er zuversichtlich, als ihm die Anwesenheit der Erwachsenen wieder einfiel. Und die Kinder stürmten alle durchs Zimmer und riefen im Chor ihre Fragen heraus. »Beruflich weiß ich nichts über Inspiration«, gab Dr. Welles zurück. »Meine Patienten leiden manchmal unter Halluzinationen, bei denen Stimmen zu ihnen sprechen; ihr jedoch meint etwas völlig anderes. Miss Page, können wir in Ihrem Wörterbuch nachschlagen? Ah, hier haben wir es. Von inspirare, auf oder in etwas blasen, in etwas atmen. >Auf übernatürliche Art und Weise Ideen oder Wahrnehmungen konzentrieren oder eingeben; göttliche Anweisungen an den Geist weitergeben In diesem Sinne sind die Autoren der Heiligen Schrift inspiriert worden. Sie schrieben unter Gottes Anweisung.« »Das trifft sicher nicht auf unsere Gedichte zu«, sagte Elsie zu Stella, die heftig errötete und emsig zustimmte. »> Vorstellungen oder dichterischen Geist eingeben<«, las Peter vor. »Darin steht nicht, wodurch das geschieht. Wer oder was inspiriert deine Gedichte, Stella?« Das Mädchen schaute verblüfft drein. »Ich weiß es nicht. Ich habe niemals darüber nachgedacht.« »Nun, das mit der Bibel verstehe ich nicht«, begann Tim, doch der Arzt brachte ihn zum Schweigen. »Lassen wir es jetzt darauf beruhen. Es ist irrelevant. Nun, Stella?« Als Stella keine Antwort gab, sprang Elsie für sie ein. »Man sollte doch meinen, der Kern ist - wer einen inspiriert«, sagte sie. »Mir würde es nicht passen, wenn es mir einfach von jemandem oder etwas aufgetragen wird. Es könnte eine Halluzination sein, oder ein Dämon, oder meine eigene Vorstellungskraft. Ich glaube, das sind einfach Ideen, die einem in den Kopf kommen, und man hört nicht auf, darüber nachzudenken, woher sie kamen, doch sie haben alle eine natürliche Erklärung.« »Es könnte größtenteils das Unbewußte oder Unterbewußtsein 117
sein, wie bei den Träumen«, schlug Tim vor. »Dann würde es schwer sein, ihnen nachzuspüren, wie auch bei Träumen.« »Ja, und wenn man eine gute Idee hat, hält man nicht inne, um sich die Psychologie ihrer Herkunft zu erklären, sondern hält sie schnell fest, bevor sie verschwindet«, meldete sich Elsie. »Was ist das mit der Intuition, Dr. Welles? Wissen Sie es?« »Darüber weiß ich wohl etwas, und ich kann es auch erklären. In dem, was Jung die Psyche nennt, liegen vier grundlegende Funktionen, von denen eine die Intuition ist.« »Die Psyche? Meint er damit die Seele?« »Mehr oder weniger. Jungs Begriff schließt auch das Unbewußte ein. Die Terminologie variiert beträchtlich. Wie ihr bemerkt habt, bezieht sich Poe auf... na, wo ist es denn gleich ... das Objekt Wahrheit, oder die Befriedigung des Intellekts, und das Objekt Leidenschaft oder die die Anreizung des Herzens. Die Scholastiker behaupten, die Seele habe Intelligenz und einen freien Willen; der Intellekt suche das Wissen, wolle die Wahrheit erfassen, während der Wille Glück fordert. Die Liebe ruht im Willen.« »Ich dachte, Liebe würde in den Gefühlen liegen«, unterbrach Elsie. »Das hängt von der Definition ab«, sagte Tim sofort. »Es ist unmöglich, daß der Mensch von einem Objekt tief bewegt wird, behauptet der Heilige Thomas von Aquin, ohne daß Leidenschaft von den Sinneseinflüssen erregt wird. Die geistige Liebe entstammt dem Willen, und die Gefühle und Sinnesreize treten damit zusammen auf. Bei all diesen Sachen müssen wir die Worte so verstehen, wie sie gemeint sind, und einerseits die Identität des Gedankens unter verschiedenen Terminologien und andererseits die Unterschiedlichkeit des Gedankens in vielen Fällen erkennen, wo die benutzten Worte identisch sind. Das Wort Liebe hat zum Beispiel viele Bedeutungen.« Miss Page staunte erneut über die Kinder, die alles mit konzentriertem Interesse in sich aufnahmen. »Was Jung den >Gedanken< nennt, stimmt mit dem überein, was Poe und die Scholastiker >Intellekt< und andere >Vernunft< nennen, und diese Funktion entspringt mittels der Erkenntnis aus dem Standpunkt >wahr-falsch<. Ist das klar?« »Ja. Weiter!« riefen die Kinder im Chor. »Was Poe > Leidenschaft und die Scholastiker >den Willen< 118
nennen, ist das, was Jung >Gefühle< nennt, die sich aus Emotionen entwickeln, und zwar, wie er sagt, aus dem Standpunkt übereinstimmend - nicht übereinstimmende In anderen Worten, wir wählen, lieben oder begehren, was uns als gut erscheint.« »Im moralischen Sinn gut?« fragte Tim. »Alle Arten von gut. Gute Kunst... guter Apfelkuchen... oder gute Unterhaltung. Der Wille wählt etwas unweigerlich unter dem Aspekt des Guten aus - wegen des darinliegenden Guten. Es mag moralisch schlecht sein, ein Stück Kuchen zu essen, aber du ißt es vielleicht doch, weil es gut schmeckt. Diese beiden Funktionen der Psyche werden nun rationale - vernunftsmäßige -Funktionen genannt, weil sie sich mit Werten befassen. Empfindungen und Eingebung andererseits werden als irrational bezeichnet, weil sie mit bloßen Wahrnehmungen arbeiten. Empfindungen nehmen die Dinge, wie sie sind, ohne sie zu werten oder darüber nachzudenken.« »Aber Menschen denken darüber nach ...« »Ja, aber warte ab, das ist der Einsatz einer weiteren Funktion. Ein Mensch, der ein Wahrnehmungstyp ist, sieht sich ein Bild oder eine Landschaft an und nimmt die Details wahr - etwa die Bäume, die Farbe der verschiedenen Blumen, und so weiter. Oder er nimmt auf gleiche Art von einem Ereignis Kenntnis, aber nicht von der Bedeutung. Solch ein Mensch wird in einer Kunstgalerie die Engel zählen, die um den Kopf eines Heiligen herumfliegen, und glauben, daß es einem an Beobachtungsgabe mangelt, wenn man später nicht sagen kann, wie viele es waren. Die Intuition nimmt auch wahr, aber auf eine besondere Art, indem sie die innere Bedeutung und die Möglichkeiten einer Sache sieht, eher Impressionen gewinnt als definitive, fotografische Details. Wo ist das Wörterbuch? Ah ja. >Der Akt des Wissens durch direkte Wahrnehmung oder Auffassung oder Überlegung oder Deduktion; eine erste oder primäre Wahrheit; Einsicht; Begrifflichkeit.<« »Aber wenn es die Wahrheit betrifft, warum gibt es dabei keine Überlegung oder Schlußfolgerung?« wollte Tim wissen. »Die Axiome und so weiter, die Voraussetzung für den Überlegungsprozeß sind, müssen irgendwoher kommen«, erklärte Dr. Welles. »Selbstverständliche Wahrheiten, wie wir sie manchmal nennen, sind zu einfach, um demonstriert zu werden. Die Axiome der Geometrie, die ersten Tatsachen so wie >ich bin< und >ich 119
denke< sind direkt bekannt. Ihr lest euch alle besser erst einmal ein Lehrbuch über die Kriteriologie durch - das von Glenn steht irgendwo auf meinen Regalen. Das ist das Studium von den Tests und Normen, mit denen man beurteilen kann, was im menschlichen Denken, Überlegen und Wissen richtig und sicher ist. Um jetzt zur Intuition zurückzukommen ... Im gebräuchlichen Sinne bezieht sich das Wort auf einen Hinweis, Rat oder sogar einen Impuls, der auch falsch und böse sein kann. Vielleicht glaubt ihr manchmal intuitiv, einer bestimmten Person vertrauen zu können, und sie stiehlt euch den letzten Pfennig. Ich persönlich bin kein intuitiver Typ. Aber man kann etwas auch intuitiv wahrnehmen und dann durch vernünftiges Überlegen überprüfen. Es gibt Menschen des intuitiven Typs, des Überlegungstyps und des intuitivüberlegenden Typs. Genauso kann etwas den Sinnen gefallen und dann vom Willen zurückgewiesen werden. Das Stück Torte, das man unter dem Befehl der Sinne essen würde, weil es gut schmeckt, könnte durch die Willenskraft zurückgewiesen werden, die ein höheres Gut, ein moralisches Gut anstrebt. Wir könnten noch lange darüber sprechen«, - Dr. Welles schaute auf die Uhr -, »doch ich sehe, daß es für Tim an der Zeit ist, nach Hause zu gehen, und ihr Mädchen müßt auch bald zu Bett.« »Vorstellungskraft«, bat Elsie. »Was ist das?« »Nur ganz kurz«, versuchte Tim ihn zu beschwatzen. »Oh, die Vorstellung ist die Kraft, mit der wir uns Bilder von Dingen in Erinnerung zurückrufen oder entwerfen, die unsere Sinne aufgenommen haben. Der Heilige Thomas sagt, es sei die Fähigkeit, sich materielle Dinge in ihrer Abwesenheit zu versinnbildlichen. Jung nennt es eine kreative Kraft, die aus dem Stoff des Unbewußten ein Bild erzeugt. Man kann sich nicht vorstellen, was man noch nicht gesehen hat, doch man kann verschiedene Bilder zu einem kombinieren. Wenn du dir eine Nixe vorstellen willst, kombinierst du den Oberkörper einer Frau mit dem Schwanz eines Fisches. Oder wenn du versuchst, dir eine Szene auf der Venus oder dem Mars vorzustellen, denkst du dir vielleicht eine Pflanze aus, die die Form von Gras, die Größe eines Baumes, die Farbe des Himmels, eine Blüte wie ein Katzenkopf, Augen wie eine Biene und Fühler wie eine Schnecke hat. Versteht ihr, was ich sagen will?« »Sie meinen, daß wir uns nicht alles vorstellen können?« rief Stella. 120
»Es ist wie mit Poes Originalität - nur die Kombinationen können originell sein?« schrie Elsie. »Natürlich, ein Mann, der blind geboren wurde, kann sich nicht rot oder blau vorstellen«, sagte Tim. »Versucht mal, euch eine neue Farbe auszudenken. Na los, versucht's.« »Nun, denkt darüber nach, und lest etwas darüber«, riet Dr. Welles. »Wenn ihr wollt, leihe ich euch die Bücher. Gute Nacht ihr alle, bitte! Miss Page und ich werden unsere Arbeit hier beenden.« Die Mädchen gingen zu ihren Zimmern hinauf, und Timothy verließ das Haus. »Was in aller Welt werden sie damit anfangen?« fragte sich Miss Page. »Tim hat es verstanden, und Elsie größtenteils auch«, erwiderte Dr. Welles. »Die Frage ist nur, was Stella denkt. Sie soll es für eine Weile überdenken. Mal sehen, was dabei herauskommt.« »Sie sind alle so verschieden.« »Ja. Und Jay ist wiederum anders als sie. Er schreibt mir in seinem letzten Brief - ich habe vergessen, ihn mitzubringen -, daß er mehrere Sprachen gelernt hat. Es scheint so, als habe Jay sich Unterricht gewünscht, als seine Tante damit anfing, seinem Onkel wegen dessen nachlassender Sehkraft vorzulesen. Seine Tante hat ihn einen Monat mit besonderer Betonung auf die Aussprache unterwiesen, und danach konnte er auf deutsch vorlesen und sagte, er wolle eine andere Sprache lernen. Anscheinend glauben sie noch immer, daß er nicht versteht, was er liest, und bloß gelernt hat, wie man die Worte ausspricht, um seinem Onkel zu helfen, genau, wie ein Sänger lernt, in mehreren Sprachen zu singen, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, was die Worte bedeuten. In Wirklichkeit liest er Deutsch, Französisch, Latein, Spanisch und Italienisch perfekt und wartet jetzt eifrig auf die Chance, die Sprachen sprechen und schreiben zu können.« »Wie würde es Tim doch gefallen, mit Jay zusammen zu sein!« »Ja. Wir müssen uns eine Möglichkeit ausdenken, Jay hierherzuholen. Wir brauchen ihn, und ich glaube, daß wir ihm auch viel zu bieten haben.« »Wenn er unter den jetzigen Umständen käme, würde ich ihn nicht haben wollen«, sagte Miss Page. »Das ist das Problem«, meinte Dr. Welles. 121
»Hallo, Stella.« »Hallo, Dr. Welles. Miss Page sagte mir. Sie wollten mich sprechen.« »Mach es dir bequem.« Peter bat sie, Platz zu nehmen, und stellte einen Teller mit Gebäck in verlockende Nähe, während er sprach. »Ich habe vor, mit jedem unserer Schüler ziemlich oft private Gespräche zu führen und euch bei allen Problemen zu helfen, die ihr vielleicht habt. Nun, wo du dich eine Weile hier einleben konntest und uns alle kennengelernt hast, können wir genausogut mit unseren Gesprächen beginnen.« »Jawohl.« »Ist alles in Ordnung? Bist du glücklich?« »Oh ja, Dr. Welles«, erwiderte Stella. »Es ist so interessant hier. Miss Page ist so nett zu mir. Und ich kann alles lesen, was ich will.« »Gar keine Probleme?« »Nein, überhaupt keine.« »Worüber hast du in letzter Zeit nachgedacht?« »Ich habe darüber nachgedacht, was wir alle über die Inspiration gesagt haben, und Tim gab mir ein paar Bücher über Träume und ihre Ursprünge zu lesen«, sagte Stella. »Ich glaube. Sie haben recht. Wir haben alles durchgesprochen. Am besten gefällt mir«, fügte sie in einem Ausbruch von Vertraulichkeit hinzu, »daß sie niemals gemein zu mir sind, selbst wenn sie nicht mit mir übereinstimmen oder mich nicht verstehen. Ich schrieb ein Gedicht, in dem ich mich mit einem furchtsamen Vogel verglich, und meine Vettern und Kusinen oder alle anderen Kinder, die ich jemals kannte, hätten mich wochenlang damit gehänselt und gerufen: »He, furchtsamer Vogel!« und mir alle möglichen Streiche gespielt. Elsie wußte jedoch, was ich meinte, selbst wenn ihr das Gedicht nicht gefiel. Sie ist ziemlich offen, aber sie nimmt die Dinge so, wie sie gemeint sind. Und Tim ist schrecklich nett. Selbst wenn sie mich verrückt nennen, wirken sie nicht so, als würden sie sich darüber amüsieren.« »Dann hast du mir im Augenblick also keine Probleme zu unterbreiten?« sagte Peter, gab über diese so unschuldig enthüllende Rede keinen Kommentar und zeigte auch nicht, wie sehr sie ihn bewegte. »Dann unterhalten wir uns eben etwas. Wie wäre es denn, wenn du mir verrätst, wie deine Lebensphilosophie aussieht?« 122
Tim hätte sofort eine Definition des Begriffes verlangt. Stella schaute nur nachdenklich drein. »Ich habe wohl nie eine formuliert«, sagte sie. »Ich muß darüber nachdenken. Diesen Ausdruck habe ich noch nie gehört.« »Würdest du sagen, daß deine Philosophie einfach oder kompliziert ist?« »Ziemlich kompliziert, glaube ich.« »Aber du glaubst nicht, daß man eine einfache Philosophie leichter anwenden könnte?« »Nun ja, aber man muß mit einer komplizierten Philosophie beginnen, weil das Leben so kompliziert ist und die Philosophie dazu passen muß«, sagte Stella vorsichtig. »Vielleicht wird sie nach einer Weile einfacher werden, wenn ich die Dinge besser verstehe.« Dr. Welles nickte langsam. »Wie wäre es denn, wenn du mir erzählst, wie du es dir erklärst, daß du so anders bist als deine Vettern und Kusinen - oder andere Kinder?« »Im Augenblick bin ich mir dessen noch nicht sicher. Tim sagt, es läge an der Strahlung. Aber ich verstehe nichts davon. Ich hatte eine Theorie aufgestellt, aber...« Ihre Stimme bröckelte zu Schweigen ab, und sie schaute Peter zweifelnd an. »Ich würde sie sehr gern hören«, sagte der Psychiater. »Ich bin nicht sicher, ob Sie sie verstehen werden.« »Ich versuche es.« Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, gab es nichts, was Peter Welles mehr verabscheute als die Annahme einer Person, sie wäre auf zu wunderbare Weise einzigartig, als daß man sie verstehen könne. Beruflich war er daran gewöhnt. »Timothy sagt, daß man sich irren muß, wenn niemand sonst so denkt wie man selbst.« »Nun, wie wäre es, wenn du mir erzählst, wie deine Theorie aussieht, wie du darauf gekommen bist, welche Gründe und Annahmen sie unterstützen und was dagegen spricht«, schlug Peter ermutigend vor. Er setzte ein Streichholz in Brand und schenkte seine Aufmerksamkeit einen Moment der Pfeife. Das Kind verbrachte den Augenblick mit konzentriertem Nachdenken. »Es macht die Sache etwas leichter, wenn man die göttliche Eingebung nicht in Betracht zieht«, sagte Stella, »aber trotzdem gibt es noch so viele Komplikationen und Alternativen; vielleicht 123
können Sie mir dabei helfen. Ich will es Ihnen erzählen. Wo soll ich anfangen?« murmelte sie und kam dann zur Sache. »Ich glaube, es fing an, als man mich zum ersten Mal in ein Museum mitnahm. Pete hatte sich in der Schule für das Fach Geschichte des Altertums entschieden, und Pat mußte interessante Orte in der Nähe besuchen, und meine Tante nahm Pokey, Polly und mich mit. Sie rannten umher und sagten: >Ist das nicht komisch ?< Und sie lachten über alles oder langweilten sich und wollten sich überhaupt nichts ansehen. Sie quatschten und quäkten so ...« »Ich weiß«, sagte Dr. Welles, als Stella innehielt und ihm einen Blick zuwarf, der um Verständnis bat. »Entweder rannten sie alle los und ließen mich stehen, oder ich setzte mich ab und ging allein in den großen dunklen Räumen umher und konnte mir alles in Ruhe so lange ansehen, wie ich wollte.« »Dunkel?« Stella runzelte die Stirn. Sie versuchte sich die Szene in Erinnerung zu rufen. »Sie kamen mir dunkel vor. Es gab natürlich Lieht, aber es war dämmrig. Da waren Mumien und Vasen und so, und ich wanderte wohl ziemlich lange umher. Dann fand ich mich vor einem großen steinernen Ding mit einer Aufschrift wieder, die ich als ägyptisch erkannte. Es war groß und breit und schwer, und einen winzigen Augenblick lang konnte ich mich an alles erinnern. Ich wußte, daß ich schon mal dagewesen war - in Ägypten; und daß ich es schon oft gesehen hatte.« Stella hatte beim Erzählen den Augenblick noch einmal durchlebt. Nun schaute sie herausfordernd und gleichzeitig ängstlich zu Peter empor, der ruhig und mit ausdrucksloser Miene an der Pfeife sog. »Damit hat es angefangen«, sagte Stella und wartete auf einen Kommentar. »Weiter.« »Dann ging ich in andere Räume und sah mir andere Sachen an. Mit der Keilschrift war es fast ebenso. Ich konnte mich beinahe erinnern, wie man sie lesen mußte, obwohl ich diese speziellen Schriftzeichen wohl noch nie gesehen hatte. Dann fanden mich die anderen, und wir gingen nach Hause. Oh, wie sie immer redeten. So dumm. Sie hielten alles, das auch nur ein bißchen andersartig war, für komisch und konnten sich darüber kaputtla124
chen. Pat sorgte immer für die Kinder, und sie zeigte ihnen Bilder und sagte: > Schaut euch den komischen Mann an. Er ist ganz schwarz. Ist er nicht komisch? Schaut euch den Mann mit den Federn auf dem Kopf an. Ist er nicht komisch ?<, und wenn sie auf der Straße an einem Chinesen vorbeigingen, stießen sie sich gegenseitig an und sagten: >Seht mal, seht mal, ist der nicht komisch ?< Was ist komisch daran?« »Gar nichts«, sagte Peter mit solch unerwarteter Wärme, daß sich Stella ein Herz faßte und fortfuhr. »Dann bat ich meinen Onkel um Bücher über alte Zeiten und Länder und Sprachen, und er hat mir alles besorgt, was ich haben wollte. Zuerst fragte er nach Romanen, und als er mir Haggard brachte, war ich sicher, daß ich recht hatte. Er ging wieder mit mir ins Museum, ohne die anderen. In der Bibliothek holten wir Bücher über verschiedene Sprachen, und ich begann sie wieder zu lernen.« Sie schien einen Kommentar zu erwarten, doch das Nicken des Psychiaters war kommentarlos. »Ich bekam Bücher in Arabisch, Chinesisch, Hebräisch, Griechisch, Hindustanisch, Sanskrit, Angelsächsisch und Sumerisch.« »Sumerisch!« »Ja. Ein Sumerisches Lesebuch von C. J. Good.« Stellas Augen leuchteten. »Einiges davon ist in Keilschrift.« »Ich verstehe. Weiter.« »Und so habe ich mir diese Theorie aufgestellt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Dinge einen Sinn ergaben, außer, wenn ich wiedergeboren wurde und eine gewisse Erinnerung an diese anderen Leben habe. Oder es war eine Gotteseingebung, und ich bin mir jetzt ziemlich sicher, daß es keine Inspiration ist. Andere Jungen und Mädchen hatten für solche Sachen kein Interesse; warum sollte ich es also haben? Sie dachten nicht über Dinge wie Leben, Tod, Zeit, Persönlichkeit und andere Religionen nach - nicht mal über ihre eigene Religion. Wie konnte ich mich dafür so sehr interessieren und so viel wissen und so schnell lernen, wenn ich mich nicht zum Teil daran erinnerte? Und die Geschichten, die ich las, bestärkten mich nur noch. Kipling und ...« »Gibt es keine andere mögliche Erklärung?« »Mir fällt keine ein. Ich weiß, daß die anderen Kinder mir nicht zustimmen werden, doch ich glaube, daß es bei ihnen genauso ist wie bei mir, nur daß sie nicht wissen, daß sie sich überhaupt an 125
etwas erinnern.« »Glaubst du blind an diese Theorie?« »Nein«, sagte Stella. »Manchmal war ich mir ganz sicher. Einmal habe ich unseren Pfarrer gefragt, ob es Reinkarnation gebe, und er sagte, er wisse es nicht. Er sagte, er habe einmal eine kleine Sturmböe vorbeiziehen sehen, und als sie zu einem Heuhaufen kam, nahm sie die Gestalt herumwirbelnden Heus an, und als sie die Straße überquerte, nahm sie einen Staubkörper an, und wäre sie zu einem Teich gekommen, wäre sie zu einem Wassergebilde geworden.« »In anderen Worten - ja?« »Er meinte >vielleicht<. Aber die Analogie erschien mir nicht ganz passend. Sie ist gute Dichtkunst, aber schließlich ist eine Lebensphilosophie nicht nur Dichtkunst. Poesie ist natürlich wahr, aber man weiß niemals ganz genau, wie oder wo sie wahr ist. Man kann nicht sein ganzes Leben auf einer lyrischen Idee aufbauen. Übrigens - ich habe es meinem Onkel erzählt, und er wurde richtig wütend.« Langsam mochte der Psychiater Stellas Onkel immer mehr. »Wieviel davon hast du deinem Onkel erzählt?« »Nichts. Ich habe ihm nur gesagt, mir gefiele die Geschichte des Altertums und so weiter. Zu meiner Tante meinte er, daß sei eine seltsame, aber harmlose Neigung.« »Du hast gesagt, daß du bei deinem ersten Besuch ägyptische Schrift erkannt hast«, sagte Peter und legte eine kleine Falle aus. »Nun, ich hatte sie schon einmal in Petes Geschichtsbuch gesehen«, sagte Stella aufrichtig. »Hast du dir einen Zeitplan für die verschiedenen Inkarnationen ausgearbeitet? Ist das die erste in den USA?« »Darüber weiß ich überhaupt nichts. Ich erinnere mich kaum an etwas - wenn überhaupt. Nur scheint alles zu mir zurückzukommen, wenn ich es wieder sehe. Und da sind meine Gedichte. Sie sind meinem Alter mit Sicherheit voraus. Die Kritiker behaupten alle, sie zeigten eine außergewöhnliche Einsicht. Wenn sie nicht inspiriert worden sind, muß ich mich aus vorherigen Leben erinnern, um so viel älter zu sein, wie ich an Jahren zähle. Und als Sie gesagt haben, wir könnten uns überhaupt nichts vorstellen, was wir noch nicht gesehen haben, hat das die Sache natürlich sehr vereinfacht.« »Weiter.« 126
»Das ist alles. Was halten Sie davon? Irre ich mich da völlig?« »Willst du meine ehrliche Meinung hören, Stella?« »Ja, das will ich.« »Ich glaube, du hast dir das alles sehr intelligent zurechtgelegt«, sagte er langsam, »und ich verstehe nun einigermaßen, wie du darauf gekommen bist. Aber ich halte deine Theorie nicht im geringsten für zutreffend. Du hast dir wahrscheinlich gewünscht, an einem anderen Ort zu sein, nicht mehr dort zu leben, wo du nun einmal gelebt hast, nicht wahr? Und du warst besonders versessen darauf, dich im Museum von den anderen abzusondern. Als du in den halbdunklen Hallen herumgewandert bist, hast du dich in einen selbsthypnotischen Zustand gebracht, in einen Zustand des Tagträumens. Viele Leute, die Dinge aus diesen alten Zivilisationen sehen, werden dadurch sehr tief bewegt und aufgewühlt. Ihr Alter spricht stark die Vorstellungskraft an. Wahrscheinlich war das Geschichtsbuch dein erster Blick in eine Welt jenseits deines Alltags. Du hast diesen Schauer für eine erwachende Erinnerung gehalten. Hast du dich jemals an etwas erinnert, das du in diesem Leben nicht gesehen oder gelesen hast?« »Nein. Auf jeden Fall nichts, das ich beweisen könnte.« »Nichts, dessen du dir sicher bist, meinst du? Das habe ich mir gedacht. Das Buch, das du gelesen und auch die, die du geschrieben hast, waren eine Flucht vor dem, was du alltäglich erlebt hast, so weit wie nur möglich in Raum und Zeit, und sie dienten auch als Ausfluß für deine kreative Energie und Phantasie und deinen Impuls, Geschichten zu schreiben und so weiter. Das Sternenkind zeigt zumindest den Wunsch, nicht wirklich zur Familie zu gehören, einen ganz anderen Ursprung gehabt zu haben.« »Als ich den Roman schrieb, wußte ich es besser«, verteidigte sich Stella. »Ich hielt den Stoff für eine gute Geschichte.« »Natürlich ist er das. Und Inkarnation in Ägypten drückt den Wunsch aus, irgendwo anders zu leben, in einer Welt, die so fremdartig wie möglich ist. Als du über Ägypten nachgedacht, gelesen und geschrieben hast, mußt du es genossen haben, dort zu leben.« »Halten Sie Reinkarnation überhaupt für möglich?« »Sie spricht die Phantasie stark an«, erwiderte Dr. Welles. »Sie verspricht denen eine Art Unsterblichkeit, die sich keine andere vorstellen können; ich sehe jedoch nicht viel Sinn darin, mehrere Leben zu leben, wenn man sie alle vergessen muß ...« 127
»Man könnte an ihnen wachsen, ohne sich zu erinnern.« »Man könnte viel besser mit der Hilfe des Gedächtnisses wachsen, meinst du nicht auch?« »Ich habe von einem Gesetz der Materieerhaltung gehört. Es könnte auch ein Gesetz über die Erhaltung von Seelen geben.« »Es könnte fast alles geben. Man multipliziert Hypothesen nicht ohne Grund. Hast du irgendeinen Beweis für die Reinkarnation?« »Viele Zivilisationen haben daran geglaubt.« »Ich weiß. Ach ja, was ist deine Religion? Ägyptisch? Buddhistisch?« »Natürlich nicht«, rief Stella entrüstet. »Glauben Sie, ich bete Kühe, Katzen und Käfer an?« »Hast du jemals als irgendein Tier oder Vogel gelebt?« »Das muß nicht unbedingt sein.« »Es kommt darauf an, welcher reinkarnistischen Religion du folgst. Warum war dein Onkel so wütend auf den Geistlichen, mit dem du gesprochen hast?« »Er sagte, es sei nicht christlich.« »Nun, ist es das nicht auch? Diese Vorstellung läuft der gesamten jüdisch-christlichen Offenbarung und dem Großteil unserer Philosophie zuwider. Plato hat an eine Form davon geglaubt, und Origen hat wohl auch eine Doktrin gelehrt. Wenn du die Reinkarnation ernst nehmen willst, solltest du die Lehren in ihren unterschiedlichen Ausprägungen studieren und dir überlegen, welche du akzeptieren kannst und warum. Ich für meinen Teil bin immer dem praktisch denkenden Aristoteles gefolgt. Ich muß eingestehen, daß ich die Metempsychose niemals ernsthaft in Erwägung gezogen habe. Meiner Meinung nach kann man sie mit philosophischen und psychologischen Methoden widerlegen. Glaubst du, beweisen zu können, daß sie wahr ist?« »Ich will keine imaginäre Vorstellung von mir oder der Welt haben«, protestierte Stella. »Viel lieber hätte ich eine vernünftige und wahre, wie Sie und Tim und die anderen eine zu besitzen glauben. Bis ich hierher kam, hielt ich die Religion einfach für etwas, daß man glaubensmäßig hinnimmt, ohne jede Beweise oder philosophischen Überlegungen. Aber... aber ...« »Dann laß uns doch eine Philosophie aufbauen, der du folgen kannst«, schlug der Psychiater vor. »Eine, die man überprüfen und beweisen kann. Ich gebe dir Bücher, die du studieren kannst, 128
und du sollst alles gegen sie vorbringen, was du nur kannst.« Er wählte einen Band vom Regal aus. »Ein Praktiker, dieser Aristoteles; fangen wir mit ihm an. Wie ist dein Griechisch?« »Oh, das ist in beiden Sprachen«, rief Stella erfreut. »Thomas von Aquin hat einiges relevantes Material in Contra Gentiles zusammengefaßt«, sagte Peter. »Stella, deine Kenntnisse über Ägypten sind wirklich bemerkenswert, und deine Bücher sind außerordentlich interessant.« »Sie müssen einen großen Teil über mich verraten«, sagte Stella. »Tim meinte, man könne Romane und Gedichte genauso analysieren wie Träume. Könnten wir das nicht einmal versuchen?« »Sicher, wenn du gern willst«, sagte Dr. Welles. »Laß dich dadurch aber nicht entmutigen, mehr über diese Dinge zu schreiben, über die du so viel weißt und die du so eingehend studiert hast.« »Wenn ich eine vernünftige Philosophie habe, kann ich viel weiser schreiben und auch viel weiser leben«, sagte Stella ernst. »Vielen Dank, Dr. Welles. Ich will herausfinden, was man beweisen kann.« Als sie gegangen war, entspannte sich Peter völlig und seufzte vor Erleichterung. Ein Problem war aus seinem Sinn. Er wußte, was im Verstand des Mädchens vorgegangen war, und Stella hatte eingewilligt, unter seiner Anleitung zu lernen. Es würde Monate, vielleicht Jahre dauern, um beide Seiten der Fragen auszuwiegen, die sie gestellt hatte, aber es würde gut für alle Kinder sein. Jetzt blieb noch ... »Ich habe es!« Peter sprang auf und wählte eine Nummer. »Ich möchte eine Flugreservierung«, sagte er, »wenn möglich, sofort.« Wie spät er doch erst das Offensichtliche erkannt hatte! »Jay? Hier ist Peter Welles. Ich bin hier in der Stadt. Ich bin gekommen, um mit deinen Erziehungsberechtigten zu sprechen, aber ich möchte deine Erlaubnis haben.« »Aber... Was wollen Sie ihnen sagen?« »Ich will mit ihnen über dich sprechen«, sagte der Psychiater. »Du kannst das Geheimnis nicht mehr länger aufrecht erhalten; die Schule wird unvermeidlich Publizität bekommen, und sie haben das Recht, alles direkt von uns zu erfahren, bevor es soweit kommt.« 129
»Ich habe auch schon daran gedacht. Aber Sie müssen mir versprechen ...« Er zögerte. »Können sie vielleicht hören, was du sagst?« vermutete Peter. »Willst du, daß ich dir verspreche, sie nicht zu bitten, dich auf unsere Schule zu schicken?« »Ja, genau das.« »Ich gebe dir mein Wort. Ich werde die Möglichkeit nicht einmal erwähnen.« »Dann kommen Sie.« Der Arzt war in einer halben Stunde dort, und die Formalitäten der Vorstellung waren bald erledigt. »Ich repräsentiere«, sagte Dr. Welles, »eine Schule für Kinder mit gehobener Intelligenz, die wir an der Westküste eröffnen.« »Wir könnten uns nicht vorstellen, Jay fortzuschicken«, sagte Mrs. Curtis. »Darum wollte ich Sie auch nicht bitten«, sagte Dr. Welles. »Ich habe ein anderes Anliegen. Ich bin hierher gekommen, um Sie zu bitten, uns bei der Ausbildung der Kinder zu helfen.« »Sie dürfen nicht vergessen, daß ich mein Augenlicht verloren habe«, erwiderte Mr. Curtis, »und seit vielen Jahren nicht mehr im Lehrberuf tätig gewesen bin. Einige Jahre, bevor meine Sehkraft nachließ, habe ich mich aus diesem Beruf zurückgezogen, um mich ganz und gar dem Verfassen historischer Werke widmen zu können.« »Das ist mir bekannt, mein Herr. Aber hören Sie mich an. Die Kinder, die ich in dieser Schule versammle, haben eine außerordentlich hohe Intelligenz. Obwohl sie gerade erst vierzehn oder fünfzehn sind, haben sie viele Bücher geschrieben und unter anderen Namen Ruhm als Erfinder und so weiter erlangt. Ich kann jedes Wort beweisen, das ich hervorbringe. Was wir von unseren Lehrern verlangen, ist eine Sympathie für das begabte Kind und ein Reichtum an Wissen und Weisheit, den man mit den Kindern teilen kann. Sie sind lernwillig; man würde von Ihnen nur erwarten, daß Sie sich eine oder zwei Stunden pro Tag mit ihnen unterhalten. Darf ich Sie fragen, ob Ihnen der Name James Vemon Worth bekannt ist?« »Ja, natürlich. Meine Frau hat mir seine Bücher vorgelesen. Aber er ist doch sicher kein Kind?« »Er ist Ihr Sohn Jay.« Und dann berichtete Peter ihnen die ganze Geschichte. Ihr Un130
glaube war bald ausgeräumt, die Situation klargestellt, und Beweise wurden präsentiert der wichtigste aller davon Jay selbst. »Na warte, du Schuft«, protestierte sein Vormund, »als ich das erste Buch gelesen hatte, das von dir stammen soll, habe ich dir einen Brief diktiert, den du an den Verfasser schicken solltest!« »Ja, Onkel«, sagte Jay, »und das hat mich auch mächtig stolz gemacht.« »Ich bin nicht sicher, ob ich stolz auf dich sein soll oder ob du mir einen schäbigen Streich gespielt hast«, sagte Mr. Curtis. »Sie sollten sehr stolz sein«, sagte Peter Welles. »Es war keine Böswilligkeit, sich Ihnen nicht anzuvertrauen; er wollte Sie auch nicht des Vergnügens über das Wissen seiner Arbeit berauben. Diese Kinder wünschen oder brauchen nicht mehr Unterstützung von Erwachsenen wie jeder erwachsene Autor - wenn überhaupt. Wir dürfen ihre Pseudonyme niemals verraten. Ihre Errungenschaften müssen unter anderen Namen verborgen bleiben. Doch sie müssen wirklich Geschichte lernen, wie Sie sie lehren können, und ich bin mit der Annahme zur Hoffnung hierhergekommen, daß Sie für diese anderen jungen Menschen das gleiche tun werden wie für Jay.« »Er mußte mir versprechen, euch nicht zu bitten, mich gehen zu lassen«, sagte Jay. »Aber wenn ihr geht, darf ich dann bitte mit euch kommen?« »Die ganze Sache ist äußerst reizvoll«, sagte Mr. Curtis, »aber ich ziehe es kaum in Betracht, wieder unterrichten zu wollen ...« »Natürlich willst du das, John«, sagte seine Frau fest. »Du kannst deine Bücher dort genausogut wie hier schreiben. Wir haben nicht für immer in dieser Stadt Wurzeln geschlagen, oder? Und Jay muß bei diesen anderen jungen Leuten sein, wird aber nicht ohne uns gehen. Das Gehalt spielt keine Rolle - es muß überhaupt keins geben. Wenn Sie wollen, unterrichte ich auch Sprachen; ich bin eine gute Linguistin. Wir wollen doch einen großen Anteil in dieser wunderbaren Sache haben, nicht wahr, John?« »Ja, das wollen wir«, sagte Mr. Curtis. »Und vielen Dank für die Einladung, Mr. Welles.« Das wäre also auch erledigt, dachte Peter, als das Flugzeug ihn nach Hause trug. Die Kosten dieser unvorhergesehenen Reise waren mehr als nur wieder hereingeholt. Er hatte Jay und außerdem noch zwei gute Lehrer. Nächsten Monat konnte er damit begin131
nen, weitere Kandidaten zu befragen - ohne die nagenden Sorgen über Jay oder Stella. Es würden weitere Probleme entstehen, doch sie würden sich auch lösen lassen. Alles war unter Kontrolle. Peter konnte sich entspannen. Er schlief ein.
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PROBLEME Peter Welles und Timothy Paul standen nebeneinander, betrachteten ihre Schule und seufzten zufrieden. »Es ist alles bereit«, sagte Tim glücklich. »Es ist alles bereit, Peter, und die anderen Kinder sind inzwischen auf dem Weg.« »Dein Traum ist schnell wahr geworden«, erwiderte Welles und lächelte den Jungen an. »Vor drei Monaten war es nur eine leise Hoffnung irgendwo in unseren Hinterstübchen, und nun stehen wir hier und sind bereit, das Unternehmen vom Stapel zu lassen. Aber es ist zu schade, daß wir nicht die Gebäude haben konnten, die du zuerst entworfen hast.« »Fertigbauten sind gut genug«, sagte Tim. »Schließlich sind wir schon vierzehn, und die Gruppe bleibt vielleicht nicht länger als fünf oder sechs Jahre zusammen. Diese Zeit kommt mir so kurz vor, Peter! Ich weiß, daß Sie letzten Monat nicht die Zeit hatten, mehr als vier neue Mädchen und Jungen zu holen, doch ich wünschte, jeder könnte von Anfang an hier sein. Andererseits läßt sich dies nur ermöglichen, wenn wir den Anfang hinausschieben.« »Vielleicht ist es am besten, für den Anfang nicht zu viele dabei zu haben«, erwiderte Dr. Welles. »Es könnte Probleme geben.« »Elsie und Stella hatten Probleme«, sagte Tim, »und Sie haben sie in Nullkommanichts ausgeräumt.« Dr. Welles schüttelte den Kopf. »Elsie und Stella waren bereit, sich helfen zu lassen«, sagte er. »Was ist, wenn wir jemanden bekommen, der sich nicht helfen lassen will?« »Sie meinen jemanden, der nicht nur ein Problem hat, sondern ein Problem ist?« runzelte Tim die Stirn. »Nun, damit werden Sie auch fertig, Peter. Und das wissen Sie auch.« »Manche Ärzte können ihre Kunstfehler begraben, wie das alte Sprichwort sagt«, gab der Psychiater zurück, »aber nicht ich, Tim. Du mußt den Tatsachen ins Auge sehen. Wir können keinen hundertprozentigen Erfolg bei den Wunderkindern erwarten, genausowenig wie bei jeder anderen Gruppe. Dr. Foxwell und ich werden alles tun, was in unserer Macht steht, um ihnen zu helfen, aber vielleicht haben sie mehr Probleme, als du dir vorstellen kannst, und schon vom Gesetz des Wahrscheinlichen her werden 133
einige härtere Problemfalle als Elsie und Stella sein. Was die beiden Mädchen betrifft, scheinen sie jetzt auf dem richtigen Weg zu sein, doch beide können wieder davon abkommen. Ehrlich gesagt, Tim, ich bin froh, daß ich mich nicht mit zwanzig oder dreißig völlig unbekannten Wunderkindern abgeben muß, die mir alle zugleich in den Schoß fallen.« Tim sah seinen Freund erschreckt an. »Bestimmt jedoch«, rief er, »sind sie alle intelligent! Und können unter erfahrener Obhut und Anleitung wie der Ihren ...« Peter Welles grinste schief. »Mache dir doch nichts vor, Tim«, gab er zurück. »Intelligente Menschen haben mindestens genauso viele Probleme wie alle anderen, und wenn sie sie bewältigen wollen, sind sie oft schlimmer dran. Und wenn ein Kind von überlegener Intelligenz ein Problemkind ist, Tim, dann werden wir wirklich Probleme haben!« »Aber sie werden genug Intelligenz besitzen, um zu erkennen, daß etwas nicht stimmt und in Ordnung gebracht werden muß, und zu wissen, daß Sie ihnen helfen können«, protestierte Tim. »Deshalb wollen wir sie überhaupt erst hierher bringen. Natürlich werden sie sich gern helfen lassen. Doch ich kann Ihren Standpunkt einsehen, Peter«, fügte er nachdenklich hinzu. »Es bedeutet eine Menge Arbeit für Sie, uns alle auf dem richtigen Weg zu halten und die anderen zusätzlich herzuschaffen. Haben Max, Fred, Beth und Jay große Probleme, Peter?« »Das kann ich noch nicht sagen«, erwiderte Dr. Welles. »Ich weiß nicht genug über sie. Zweifellos haben sie Probleme; haben wir die nicht alle? Beth scheint äußerst schüchtern und in sich zurückgezogen zu sein. Max ist immer verzweifelt arm gewesen; er mußte ums nackte Überleben kämpfen und sehr schwer arbeiten. Jetzt, wo er durch sein Spiel sehr viel Geld verdient, wagt er es kaum zu glauben. Fred scheint wie Jay als kluger Junge akzeptiert worden zu sein, doch er lebte in einer Anzahl von Pflegeheimen und ist hocherfreut, hier sein zu dürfen. Max wird wahrscheinlich seine Großmutter vermissen; es gab sehr enge, liebevolle Beziehungen in seiner Familie, und seit dem Tod seines Großvaters hat er versucht, sich und auch seine Großmutter durchzubringen. Sie kann den Laden ohne ihn nicht führen, und er ist äußerst eifrig dabei, sich ein neues Spiel auszudenken oder irgendeine andere Möglichkeit zu finden, damit sie in aller Bequemlichkeit leben kann. Aber seine Großmutter hat darauf bestanden, daß er zu uns 134
kommen sollte.« »Sein Spiel muß das Geld doch nur so hereinströmen lassen. Überall spielt man es«, sagte Tim. »Was ist mit Beth? Hatte ihre Familie etwas dagegen, daß sie ging?« »Nein, das nicht. Sie haben deutlich darauf hingewiesen, wie sehr sie es nötig hat, gezwungen zu werden, mit anderen Kindern zurechtzukommen und von ihrem extremen gesellschaftsfeindlichen Verhalten kuriert zu werden. Sie sind sich ziemlich sicher, alles über sie zu wissen und ihren Fall genau zu verstehen, mußten jedoch eingestehen, daß sie anscheinend nicht in der Lage waren, sie dazu zu bringen, sich anzupassen.« »Das klingt nicht gerade so, als hätten sie sie sehr gemocht.« »Nein; aber wir werden sie bestimmt mögen«, sagte Welles und lächelte breit. »Was hat sie im Verborgenen getan?« »Das soll sie dir selbst sagen, wenn sie dazu bereit ist«, gab Dr. Welles zurück. »Eigentlich dürfte ich das gar nicht wissen.« Als ihr Zug sich dem Ziel näherte, versteifte sich Beth vor fast unerträglicher Aufregung. Die Leute, besonders Kinder ihres eigenen Alters, waren immer der Annahme gewesen, Beth Burke sei stur, unfreundlich und an allem uninteressiert. Sie war die stumme Beobachterin aller Zusammenkünfte der Jugendlichen und in der Schule und der Nachbarschaft so still, daß man sie oft einfach vergaß. Manche Erwachsene behaupteten, sie wolle sich mit niemandem abgeben; andere sagten, sie sei von Natur aus zurückhaltend. Freundliche oder energische Frauen versuchten zwar, Beth zu Gruppenspielen zu zwingen, gestanden ihre Niederlage aber bald ein und verdammten das Kind als hoffnungslos schüchtern. Lehrer, die von Vorstellungen über »Schulgeist« und »Gruppenspiele« besessen waren, schüttelten den Kopf über Beth und erklärten, sie füge sich in keine Gemeinschaft ein. Sie raufte nicht mit anderen Kindern, spielte nicht mit ihnen und schien außerstande zu sein, wie ein durchschnittliches Kind zu arbeiten oder zu spielen. Und doch konnte man oft sehen, wie sie andere Leute beobachtete und ein kurzes, scheues Lächeln für all jene übrig hatte, die nicht versuchten, sie zu zwingen oder zu beschwatzen, sich dem Tun anderer Kinder anzuschließen. In Wirklichkeit sehnte sich Beth leidenschaftlich nach Freunden und Spielgefährten ihres eigenen Alters. Doch sie konnte ge135
nausowenig Freundschaft mit ihnen schließen wie mit Kätzchen oder jungen Hunden; denn Freundschaft schließt Gleichheit mit ein. Sie näherte sich Menschen jeden Alters, besonders aber Menschen ihres eigenen Alters mit der gleichen Schüchternheit, die furchtsame Menschen fremden Hunden entgegenbringen, mit dem gleichen Bewußtsein ihrer Unfähigkeit, mit ihnen zu kommunizieren oder sich ihnen verständlich zu machen. Jetzt würde sie Leuten ihres Alters begegnen und mit ihnen zusammenleben ; Leuten, die sich auf ihrem Niveau befanden und ihre Sprache sprachen. Sie wußte dies mit Bestimmtheit, denn sie hatte mit Tim, Elsie und Stella Briefe gewechselt und war von Dr. Welles befragt worden. Man hatte in aller Eile die nötigen Vereinbarungen getroffen, damit Beth mit ihnen und den anderen Kindern leben und arbeiten konnte, die mit dieser erschreckend hohen Intelligenz gesegnet oder verflucht waren, die sie vom Rest der Welt unterschied. Es war alles so plötzlich gekommen, daß es Beth selbst jetzt noch nicht richtig glauben konnte. »Sind fast da, kleines Fräulein«, sagte der Schaffner, und auf Beths kleines Keuchen und erschrockenes Aufblicken lächelte er beruhigend. »Ich sorge dafür, daß du zurechtkommst, mit der Tasche und dem Gepäck. Ich nehme jetzt diesen Koffer und hole dich in fünf Minuten ab. Entspanne dich, und mache dir keine Sorgen.« Immer dankbar für Freundlichkeit, wollte Beth den Schaffner höflich anlächeln, doch ihr Mund war trocken, und sie zitterte. Aber als Beth aus dem Zug trat, sah sie Dr. Welles mit langen Schritten auf sich zukommen, und sein Willkommenslächeln vertrieb all ihre Nervosität. »Du bist die erste«, sagte er und blickte zu ihr hinab, als sie zu seinem Wagen gingen. »Du wirst ein herzliches Willkommen erhalten - fast zu herzlich, fürchte ich. Tim, Elsie und Stella sind vor Aufregung fast nicht mehr bei Sinnen.« »Ich auch«, gestand Beth ein. »Natürlich«, stimmte Dr. Welles zu. »Wir alle stecken jetzt zusammen, und das spornt uns vor allem gewaltig an. Doch wenn wir diesen Tag, diese Woche und diesen Monat überstehen, ohne vor lauter Aufregung zu sterben, müßten wir imstande sein, miteinander klarzukommen.« Beth lachte. Das war eine willkommene Abwechslung. Normalerweise sagten die Leute immer: Hab keine Angst! Niemand will 136
dir was tun. Stürz dich hinein, und spiel wie die anderen!« Sobald Di-. Welles die Wagentür entriegelt hatte, sprang Beth hinein, und sie fuhren in behaglichem Schweigen durch die Stadt und die Hügel hinauf zu dem Grundstück dicht hinter der Stadtgrenze, wo ein Traum wahr wurde. »Dieser Zaun ist nicht da, um euch einzusperren«, sagte Dr. Welles, als der Wagen durch das offene Tor rollte, »sondern, um Fremde fernzuhalten. Das zweite Haus links ist deins auf der Mädchenstraßenseite, wie wir sagen. Du wirst mit Miss Page, Elsie und Stella zusammenwohnen. Das erste Gebäude auf dieser Seite ist die Mensa.« Er hielt den Wagen an, und Beth konnte Gesichter hinter den Vorhängen des Hauses hinauslugen sehen, in dem sie wohnen sollte. »Die andere Straßenseite«, fuhr Dr. Welles fort, als er ihren Koffer aus dem Wagen holte, »ist für die Jungen, und das scheunenähnliche Ding da ist das Studienhaus, in dem wir uns von nächstem Montag an Punkt neun Uhr morgens zu unseren Unterrichtsstunden und Vorlesungen treffen werden.« Seine Hand hinter ihrem Ellbogen schob sie die Stufen hinauf; die Tür flog auf, und Beths Schüchternheit verschwand. Miss Page legte ihr den Arm um die Schultern, Tim nahm ihre Hand und schüttelte sie, Stella umarmte sie, Elsie schnappte sich den Koffer, und dann polterten sie alle zusammen die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Tim trug den Koffer, Elsie ihren Hut und Stella ihren Mantel. Die Kinder hielten sich gerade lange genug auf, diese Gegenstände wieder abzusetzen, dann schleiften sie Beth wieder hinaus und die Treppe hinunter, durch die Küche - aus einer Schüssel nahmen sie sich Äpfel, als sie daran vorbeistürmten, und drückten ihr einen in die Hand - und jagten alle zusammen zur Hintertür hinaus. Dr. Welles und Miss Page wechselten befriedigte Blicke und ließen sie gehen. »Das sind meine Katzen, und die da gehört Stella«, sagte Elsie stolz. »Wir haben eine Regel, daß Haustiere im Käfig bleiben müssen, wenn sie nicht in Gebrauch sind.« Beth lächelte über den schwachbrüstigen Scherz. »Hast du irgendwelche Haustiere?« fragte Stella. »Nein, aber ich hätte gern welche. Können wir jetzt mit den Katzen spielen?« »Oh, zuerst wollen wir dir alles zeigen«, sagte Elsie und kraulte 137
Silberkönig den Kopf durch den Maschendraht. »Danach gerne. Tims Katzen sind hinter seinem Haus und die seiner Großmutter auch.« »Dann haben sich deine Großeltern also entschlossen zu verreisen. Gut!« sagte Beth, die aus den Briefen schon viel wußte. »Ja; sie kamen zu dem Schluß, von Glück reden zu können, daß ich nun in dieser schönen Schule wohne, und sind zu einer Reise aufgebrochen«, sagte Tim, der schwer auf dieses Ziel hingearbeitet hatte. »Komm und sieh dir meine Katzen an. In Jays Haus gibt's noch nichts zu sehen.« Die Kinder nahmen die Abkürzung über den Seitenhof, wo frisch gepflanzte Sträucher noch erwogen, ob sie gedeihen oder eingehen sollten; und sie erstarrten, als sie einen Fremden sahen. »Stellt euch dumm!« stieß Tim eine strenge Warnung hervor. »Ein Reporter!« »Rennt!« drängte Elsie, und sie hetzten den gerade erst befestigten Straßenstreifen zwischen den beiden Hausreihen entlang und in Tims Haus hinein, wo die anderen Beth flüsternd warnten, daß sie eine Regel hatten, die strikt untersagte, irgendeinen außerhalb der Gruppe etwas von ihren Leistungen oder Fähigkeiten wissen zu lassen. »Gib vor, daß du nur einen IQ von etwa 150 hast«, erklärte Tim. »Erzähl niemandem, daß du jemals etwas getan hast...« »Das wird sie nicht«, sagte Elsie. »Sie hat es noch nicht einmal uns erzählt.« Sie schauten Beth erwartend an, die jedoch nur sagte: »Ich weiß. Ich werde kein Pseudonym oder so etwas verraten.« »Schleichen wir wieder zurück und verstecken uns«, sagte Stella. »Dr. Welles wird diesen Reporter schnell wieder los werden. Außer dir ist noch niemand gekommen; er will eine große Menschenmenge sehen.« Das gerodete Land um die Häuser herum bot nur spärliche Deckung, doch die Kinder waren bald außer Sicht, als sie ein Dickicht von Eukalyptusbäumen, Lorbeer, Rosenholzbäumen und sonstigem Gestrüpp erreichten, das hier auf diesem Stück Land ihrer ureigenen Domäne - wuchs. »Hast du inzwischen noch etwas verkaufen können, Elsie?« fragte Beth, als sie sich in sicherer Entfernung befanden. »Der zweite Roman ist noch nicht angenommen worden«, sagte Elsie, »aber etwa die Hälfte der kürzeren Manuskripte, die 138
ich hinausschicke, verkaufen sich. Natürlich biete ich nicht die Sachen an, von denen ich sowieso nicht glaube, daß sie sich verkaufen.« »Hast du das Stück über Katilina eingeschickt?« fragte Stella. »Nein. Mir gefällt es zu gut; ich könnte nicht ertragen, daß es abgelehnt wird.« »Wir werden es hier aufführen«, schlug Tim vor. »Peter - Dr. Welles - sagt, daß wir auch etwas gemeinschaftlich tun müßten, nicht nur persönliche Projekte.« »Meint er damit diese Art der Gruppenarbeit?« fragte Elsie. »Ich dachte, er meinte etwas Kreatives, etwas, das wir alle zusammen erschaffen haben.« »Wir müssen etwas tun, das wir der Öffentlichkeit vorführen können«, stellte Peter klar. »Wenn wir aus allem ein fürchterliches Geheimnis machen, werden sich die Reporter in den Kleiderschränken verstecken und durch die Kamine herabklettern. Wie wir es geplant haben, lassen wir sie im Glauben, sie könnten jederzeit hineinspazieren, den Unterricht beobachten und so weiter. Aber wenn sie kommen, stellen wir uns alle dumm.« »Wenn wir ein Stück aufführen, das Elsie geschrieben hat«, sagte Beth, »werden sie dann nicht alles wissen?« »Wer soll denn erfahren, daß ich es geschrieben habe, Dummerchen?« fragte Elsie. »Hast du noch nie von Pseudonymen gehört?« »Selber Dummerchen. Wenn es noch nie gedruckt worden ist«, hielt Beth dagegen - und stockte, um sich über sich selbst zu wundern, denn noch nie in ihrem Leben war sie auf gleicher Ebene mit einem Schimpfwort belegt worden und hatte es sogleich zurückgegeben - »wird dann nicht jemand darauf kommen, daß es komisch ist, wenn ausgerechnet wir es aufführen?« »Potzblitz, daran habe ich nicht gedacht«, sagte Tim bestürzt. »Vielleicht läuft uns wirklich jemand mit so viel gesundem Menschenverstand über den Weg.« Beth dachte sich eine Lösung aus. »Laß es irgendwo im Osten drucken, und mach Reklame dafür«, riet sie. »Auf diese Art verkaufst du vielleicht sogar ein paar Exemplare. Das kostet nicht viel, und du kannst es unter Urheberrecht stellen und so weiter. Und dann kann die Schule auf die Anzeige stoßen und Exemplare kaufen, und alles ist in Butter.« »Gut«, rief Elsie. »Das werde ich tun.« 139
»Aber wirkliche Schriftsteller lassen ihre Bücher nie auf eigene Kosten drucken«, sagte Tim pikiert. »Dann will ich versuchen, es zuerst zu verkaufen«, sagte Elsie, »und wenn es sich innerhalb eines Jahres nicht verkauft, können wir es drucken lassen. Inzwischen können wir uns darauf vorbereiten, es hier jederzeit aufzuführen, sobald es gedruckt ist.« (Und so kam es, daß eine kleine Experimentalschule an der Westküste Catilina mit einer Besetzung von vierzehnjährigen Amateuren zwei Wochen vor dem Tag aufführte, da die Rekordvorstellung auf dem Broadway mit Donald Garrick als Cicero und Sidney Siddons in der Titelrolle begann.) »Diese Glocke bedeutet, daß es in einer halben Stunde Mittagessen gibt«, sagte Elsie. »Meine Tante ist die Köchin, und mein Onkel hält das Grundstück in Ordnung. Komm mit, Beth, wir gehen uns waschen.« »Haben wir Glocken und das alles?« fragte Beth, wand die Beine auseinander und kam auf die Füße. »All diese Regeln, wie jede andere Schule auch?« »Natürlich haben wir Regeln«, sagte Tim. »Die Ärzte haben eine Liste in jedes Schlafzimmer gelegt. Wir müssen pünktlich zu den Mahlzeiten erscheinen, dürfen das Grundstück nach dem Abendessen nicht ohne ausdrückliche Genehmigung verlassen, und auch sonst nicht, ohne in ein Buch einzutragen, wohin wir gehen und wann wir zurück sein werden. Lauter solche Sachen.« »Und auch die ungeschriebenen Gesetze, wie etwa sich dumm stellen und den anderen nicht hinterherschnüffeln«, sagte Stella. »Natürlich ist es nett, wenn die Leute sagen, was sie gerade machen - nur unter uns, versteht sich.« Beth reagierte nicht auf diesen Wink mit dem Zaunpfahl, und sie legten drei oder vier Schritte schweigend zurück, bevor Tim fröhlich sagte: »Wir müssen auch unsere eigenen Zimmer, die Gebäude und den Hof sauberhalten. Mr. und Mrs. Waters können nicht alles allein schaffen, und da wir keine anderen Leute um uns herum haben wollen, müssen wir die Arbeit eben selbst erledigen, nicht wahr? Und Peter sagt, daß uns das gut tun wird.« »Ich habe nichts gegen solche Arbeit«, sagte Beth. »Beth, nach dem Mittagessen wirst du wohl auspacken müssen«, sagte Tim ein wenig eifersüchtig. »Die Mädchen werden dir helfen. Jay wird nicht in meinem Haus, sondern bei seinen Pflegeeltern, den Curtis', wohnen.« 140
»Max und Fred werden bald hier sein«, sagte Stella mitfühlend. »Tim, du hast ja Seife in die Augen bekommen«, sagte Elsie, als sie sich dem Haus näherten. »Spare nicht mit den Handtüchern!« gab Tim zurück. »Das sagen wir immer, wenn wir uns waschen müssen, Beth. Ist Elsies Tante streng mit dem Abschrubben! Mann!« Jay kam am Nachmittag an, und Dr. Foxwell holte ihn vom Bahnhof ab. Der Junge war sich seiner Verantwortung deutlich bewußt, denn man hatte ihn vorausgeschickt, damit er sich überzeugte, daß das Haus seinem blinden Pflegevater genehm und die Zwinger weitläufig genug für die Hunde waren. Groß für sein Alter, schmächtig, linkisch, redselig und selbstsicher, stellte er den genauen Gegensatz zu Beth dar. Den ganzen Weg vom Zug zur Schule redete er munter drauflos, und als sie dort angelangt waren, bat er, das Haus sehen zu dürfen. »Ich glaube, die anderen sind im Studienhaus«, sagte Dr. Foxwell. »Komm mit, und lerne sie alle kennen.« »Gerne, aber ich würde lieber zuerst sehen, ob das Haus und die Zwinger in Ordnung sind, und meiner Tante telegrafieren, daß alles bereit ist«, sagte Jay. »Es dauert ja nicht lange.« »Nun, da ist es - das dritte Gebäude auf dieser Seite«, sagte Dr. Foxwell, und Jay machte sich zu seiner Inspektionstour auf. »Jetzt verstehe ich, warum Sie Beth als erste kommen ließen«, sagte der hochgewachsene Arzt zu seinem Kollegen, der hinaustrat und sich zu ihm gesellte, »und auch, warum Sie Jay als zweiten kommen ließen.« »Jay mußte sich niemals großartig zurückhalten«, gab Dr. Welles zurück. »Jedermann glaubte, es sei die Erziehung und das Vorbild der Curtis', das ihn so gescheit werden ließ. Selbst die Curtis' waren dieser Meinung, nehme ich an. Als sie ein Kind adoptieren wollten, hatten sie um ein intelligentes gebeten, doch Jay war noch nicht einmal ein Jahr alt, und niemand konnte sich auch nur im geringsten eine Vorstellung davon machen, wie klug er wirklich war. Ja, Jay?« Der Junge kam von den Zwingern zurückgelaufen, an den beiden Männern vorbei und begrüßte Tim, der sich ihnen leise genähert hatte. »Es tut mir leid, daß ich mir nicht die Zeit genommen habe, 141
dich zuerst zu begrüßen, Tim«, sagte Jay. »Du bist doch wohl Tim? Aber ich mußte mich überzeugen, daß alles für meinen Onkel eingerichtet ist. Er macht überhaupt kein Aufhebens, und meine Tante und ich müssen dafür sorgen, daß alles stimmt. Es ist alles in Ordnung, und ich freue mich, daß ich hier bin. Schläfe ich heute abend hier?« »Das ist dein Zuhause«, sagte Tim ein wenig steif. Er versuchte sich noch klarzumachen, daß es überhaupt keinen Grund gab, warum man ihn in der Minute hätte rufen sollen, da Jay durch das Tor gekommen war. Er war nur ein kleiner Junge. Die Schule gehörte auch nicht wirklich ihm. Sie stellte nur sein ganzes Leben dar - im Augenblick. »Ja, und natürlich will ich nicht das ganze neue Zimmer eines anderen verschandeln«, gab Jay zurück. »Aber können wir nicht zwei oder drei Nächte ein Zimmer teilen, Tim? Wir haben uns so viel zu erzählen! Soll ich bei dir einziehen, oder du bei mir?« Sein Eifer ließ Tim innehalten. Wer war Jay, daß er hier hereinstürmte, Tim zuerst ignorierte und dann Befehle erteilte und Pläne machte? Und Jay war auch fast einen Kopf größer als er. Aber deshalb gehörte die Schule noch lange nicht Jay. Während er zögerte, schwand ein Teil des Eifers aus Jays Miene. Dr. Foxwell unterbrach das kurze Schweigen. »Wenn du lieber nicht allein in dem Hause wohnst, Jay ...« »Das ist es nicht«, stotterte der Junge. »Es ist nur, daß ich nie zuvor einen Jungen zum echten Freund hatte. Ich dachte, daß ... daß Timothy genauso fühlen würde.« Es war das »Timothy«, das den Wandel vollbrachte. Jays Briefe waren kurz und formell, aber immer an »Tim« adressiert gewesen. Jetzt fühlte er deutlich, daß er sein Willkommen überschätzt hatte, und war so verletzt und verwirrt, daß er formalen Gebrauch von Tims vollem Vornamen machte. Der kleinere Junge sprang vor. »Ich komme natürlich zu dir«, rief Tim. »Dann kann Dr. Welles nicht an die Wand klopfen, daß wir endlich still sind und schlafen. Sofort nach dem Abendessen ziehe ich ein. Und jetzt komm, ich stelle dir die Mädchen vor.« Es war strikt gegen die gedruckten Regeln für die Kinder, nach der Zeit zum Schlafengehen jemanden in seinem Zimmer zu besuchen, doch keiner der beiden Ärzte sagte ein Wort. Die Mädchen waren in dem Studienhaus. 142
»Sie haben das Tonbandgerät wahrscheinlich nicht eingeschaltet«, bemerkte Tim, »aber sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Sie dürften diesen Augenblick für ein historisches Ereignis halten.« »Ihr könnt aufnehmen, was hier vor sich geht?« zeigte sich Jay erfreut. »Können wir es zurückspielen und immer wieder anhören, wenn wir wollen?« »Ja, und deshalb können wir auch Unterrichtsstunden schwänzen, wenn wir wollen«, gab Tim zurück. »Das ist ganz praktisch. Nur dieser Raum ist mit einem Tonband versehen - und die Büros der Ärzte; aber deren Aufzeichnungen sind natürlich privat.« »Hast du dir alle Regeln durchgelesen?« fragte Stella, nachdem Jay vorgestellt worden war. »Ja, und ich kenne auch die ungeschriebenen Regeln«, erwiderte Jay. »Aber mir kommt es dumm vor, daß wir uns nicht gegenseitig über unsere Arbeit befragen sollen. Wir sollten froh sein, wenn wir jemanden haben, dem wir darüber erzählen können. Und wir sollten auch Pläne für unsere zukünftige Arbeit diskutieren.« »Wenn du willst, geht es in Ordnung«, sagte Tim, »aber wir sollen nicht glauben, daß wir es den anderen erzählen müssen, und auch nicht erwarten, daß sie es einem erzählen, wenn sie nicht wollen. Also gibt es die Regel, daß niemand etwas erzählen muß, außer, er will es. Und wir erzählen uns auch nichts, bis wir wissen, daß es hinhaut. Vielleicht ist etwas noch nicht ausgereift genug.« »Nun, mir ist es egal, wenn die ganze Bande weiß, daß ich James Vernon Worth bin«, sagte Jay, »und ich habe all meine Bücher für die Schulbibliothek mitgebracht. Oh, hierhin kommen die Bücher also, in die Regale an den Wänden hier. Ich bringe meine vorbei, sobald ich sie ausgepackt habe. Wenn es gegen die Regeln ist, werde ich keine Fragen stellen, aber ich würde brennend gern sehen, was ihr alles so gemacht habt.« »Wir haben einen Kode«, sagte Tim. »Wenn es dir egal ist, wer aus der Gruppe - und das schließt auch die Erwachsenen ein -wissen soll, daß du etwas geschrieben hast, malst du einfach ein Sternchen an den Rand und schreibst deine echten Initialen daneben. Und wenn du solch ein Sternchen findest, kannst du jeden aus der Gruppe darauf hinweisen. Mein Zeug, und das von Stella und Elsie, steht überall hier herum.« »Und Beth?« 143
»Kein Wort, wenn du nicht willst, Beth«, sagte Elsie schnell. Beth stand auf und durchquerte ruhig den Raum. Sie nahm eine Zeitung vom Tisch und schlug die Seite mit den Comics auf; und dort malte sie neben den beliebtesten ComicStrip in ganz Amerika ein kleines, sauberes Sternchen und schrieb ihre Initialen daneben. »Beth! Du machst Die Quatschköpfe'.«, kreischte Elsie. »Ja«, sagte Beth. »Ich habe es Dr. Welles nicht gesagt, aber er weiß es wahrscheinlich. Meine Familie sagte ihm, daß ich zeichnen könne - das weiß jeder -, und kurz darauf erwähnte jemand, es sei doch komisch, wie oft der Quatschköpfe-Strip etwas brachte, das kurz zuvor in unserer Nachbarschaft passiert ist. Wißt ihr, das ist immer so in ComicStrips, die dem wirklichen Leben nachempfunden sind. Ich lächelte jedoch nur still in mich hinein, und Dr. Welles schaute mich an, ihr wißt ja, wie er einen immer ansieht ...« »Ich weiß«, sagte Stella. »Da dachte ich mir, daß er es vermutet. Aber mich hat noch nie jemand gemustert, und deshalb war ich mit dem Lächeln so sorglos.« »Du wolltest, daß er es sieht«, sagte Tim. Beth sah für einen Augenblick verwirrt aus, dann nachdenklich, und fing schließlich an zu lachen. »Nun ... ja, ich glaube schon!« sagte sie. »Wie hast du mit dem Strip angefangen?« fragte Jay äußerst interessiert. »Ich war so einsam«, gab Beth einfach zurück. »Ich hatte nur meine Großeltern, und die einzige Möglichkeit, wie ich Brüder, Schwestern, junge Eltern, Tanten, Onkel und Kusinen haben konnte, war, sie mir vorzustellen. Als ich herausfand, daß ich zeichnen konnte, hatte ich im Geiste schon jahrelang mit der ganzen Familie zusammengelebt. Es fiel mir leicht, einen Comic auszuarbeiten. Ich konnte mich abwechselnd den sieben Kindern widmen, und einige Ideen reichten für einen Tag, andere für zwei oder drei Wochen, und manche konnte man variiert immer wieder vorkommen lassen. Und dann baute ich langsam die Nachbarn und die Untermieterin, Mimi O'Graph, ein, und alle anderen ... Ich glaube nicht, daß mir je der Stoff ausgehen wird. Ich lauschte und achtete die ganze Zeit auf Sachen, die ich benutzen konnte, und ich habe einige Notizbücher voll, alle mit Inhaltsverzeichnis144
sen. Es gibt immer jemanden, der einem Anregungen gibt. Wenn ich auf dem Bürgersteig stand und andere Leute beobachtete, habe ich wirklich mit den Quatschköpfen gelebt. Ich habe kaum die Oberfläche des Materials angekratzt, das ich zur Hand habe.« »Worüber machst du dir dann Sorgen?« fragte Tim. »Sorgen?« »Du weißt selbst, daß du dir Sorgen machst, sonst würdest du uns nicht immer wieder erzählen, daß du genug Stoff zur Hand hast, mit dem du arbeiten kannst.« Beth trat schnell einen Schritt auf ihn zu. »Oh, du verstehst es!« rief sie, und als sie sich umschaute, sah sie das gleiche Verständnis in den anderen Gesichtern geschrieben. »Ich habe Angst, hier so glücklich zu sein, daß ich die Quatschköpfe nicht mehr brauche. Und ich hasse die Vorstellung, sie sterben zu lassen.« Dr. Welles, der gerade hereingekommen war, hatte die letzten Sätze gehört. »Du wirst immer das Bedürfnis haben, etwas zu erschaffen, Beth«, sagte er. »Und wir hoffen, daß der Prozeß der Erschaffung der Quatschköpfe niemals enden wird. Die Realität, die du ihnen eingehaucht hast, weil du sie brauchtest, damit sie mit dir leben, hat ihnen fast eine eigenständige Existenz verliehen.« »Wenn du damit aufhörst, bist du eine Mörderin und gehörst hingerichtet!« sagte Elsie heftig. »Ich käme mir auch wie eine vor«, sagte Beth. »Ich komme mir eher wie irgendein Schurke vor«, sagte Dr. Welles. »Doch Jay und Beth haben noch nicht ausgepackt, und die anderen müssen sich noch an die Hausarbeit machen. Fred und Max werden morgen hier eintreffen. Das bedeutet eine zusätzliche Anstrengung von euch allen, bis sie sich eingelebt haben. Wie wäre es also, wenn ihr euch an die Arbeit macht und heute soviel erledigt wie eben möglich?« Fred und Max kamen am nächsten Tag fast gleichzeitig an, der eine aus dem Osten und der andere aus dem Norden. Als erstes bat Fred darum, das Labor zu sehen. »Ich will Chitin künstlich herstellen«, sagte Fred. »Was in aller Welt ist das?« fragte Stella. »Käfer«, wagte sich Elsie vor. »Ich bin sicher, daß es etwas mit Käfern zu tun hat.« 145
»Richtig; die harte Hülle oder äußere Schale eines Käfers. Im Verhältnis zu Gewicht und Dicke ist es der härteste Stoff überhaupt und kann so starke Vibrationen aushallen, daß man ihn synthetisch für Flugzeuge und Raketen produzieren könnte ...« »Einen Moment, Fred!« sagte Dr. Foxwell leicht überrascht. »Hört mal zu, Kinder. Eine der Regeln, eine der striktesten Regeln überhaupt, besagt, daß niemand ohne die Zustimmung von Mr. Gerrold experimentieren darf. Keine Raketen... keine Raumschiffe ... nicht, daß ihr mir das ganze Grundstück und alle, die darauf leben, in die Luft jagt!« »Wann kommt Mr. Gerrold denn? Und was ist er für einer?« fragte Fred. »Er ist ein junger Mann, knapp über zwanzig«, gab Dr. Weites zurück, »und selbst ein ganz schön heller Bursche. Er will Lehrer werden, mag die Leute aber nicht, die Elsie als >dumm< zu bezeichnen pflegte, und wollte etwas Zeit und Geld für Forschungsarbeiten. Ich kenne ihn schon seit zehn Jahren; deshalb habe ich ihn gebeten, bei uns mitzumachen. Seine Weisungen, die er herzlich gerne akzeptiert hat, lauten, euch fast alles anstellen zu lassen, was ihr wollt, aber dafür zu sorgen, daß ihr am Leben und unverletzt bleibt. Seine Verantwortung liegt darin, alles zu beobachten, was vielleicht gefährlich sein könnte, und allein er - und nicht ihr - hat darüber zu urteilen.« »Es dürfte ziemlich schwer sein, den überlebenden Aktionären zu erklären, weshalb wir geduldet haben, daß eure Fortschritte zu Explosionen führten.« »Er ist noch ziemlich jung, nicht wahr?« sagte Jay zweifelnd. Dr. Foxwell hustete so heftig, daß Tim argwöhnisch aufschaute. Der große Arzt holte eine Tüte Hustenbonbons aus der Tasche und steckte sich eins in den Mund. Elsie erhaschte seinen Blick und grinste. »Mr. Gerrold hat vier Jahre Graduationsarbeit in naturwissenschaftlichen Fächern hinter sich«, sagte Dr. Welles, »und ich bin mir ziemlich sicher, daß er in der Laborarbeit und bei Experimenten all meinen Wunderkindern weit voraus ist. Wir gaben Tims Vorstellung von getrennten Laboratorien auf und haben uns für ein großes, gemeinsames Labor entschieden, damit Mr. Gerrold leichter auf dem laufenden bleiben kann, was da so vor sich geht. Niemand wird sich in die Arbeit eines anderen einmischen und sie noch nicht einmal ohne Erlaubnis begutachten. Bitte, haltet 146
euch an diese Regeln und erklärt sie den Neuankömmlingen.« »Muß er mir die Genehmigung geben, bevor ich anfangen kann? Wann wird er kommen?« fragte Fred. Er hatte verärgert die Stirn gerunzelt. »Er wird Montag hier sein. Ja, du mußt auf seine Genehmigung warten«, sagte Dr. Welles. »Nun, muß er auch mein Vorhaben billigen, bevor ich damit anfangen kann?« fragte Elsie. »Es kann überhaupt nicht gefährlich sein.« »Was ist es denn?« »Tantchen züchtet Hühner, und fast täglich legen sie Eier mit zwei Dottern. Ich will so schnell wie möglich einen Inkubator bauen und sie ausbrüten. Das ist doch in Ordnung, oder? Tim und ich dachten, Dr. Foxwell könnte uns mit den Röntgenaufnahmen helfen.« »Aber warum?« fragte Stella. »Hältst du die Teratologie nicht auch für schrecklich interessant?« Elsie schien die Sache damit für erledigt zu halten. Die Ärzte wechselten einen Blick, und Dr. Foxwell bot Dr. Welles ein Hustenbonbon an. »Ich habe gerade zum ersten Mal davon gehört«, sagte der Arzt, »aber ich werde mich höchstpersönlich um die Röntgenstrahlen kümmern, Dr. Welles.« »Was halten Sie von Fred?« fragte Dr. Foxwell später Peter Welles. »Ich weiß nicht so recht«, gestand Welles ein. »Ich gebe zu, daß er mir ein wenig Sorgen bereitet - diese Aggressivität und Selbstsicherheit, die er äußerlich zur Schau stellt, könnte auf eine tiefe grundlegende Unsicherheit hindeuten. Andererseits könnte es sich auch bloß um überspielte Schüchternheit in einer neuen Situation handeln, die sich in ein paar Tagen, wenn er sich an die anderen Kinder gewöhnt hat, vielleicht wieder legt. Leider gibt es keine Möglichkeit, dies mit Sicherheit festzustellen, außer wir warten ab, was geschieht.« »Er ist doch bei einer Reihe von Pflegeeltern aufgewachsen, nicht wahr?« sagte Dr. Foxwell. »Ja. Als seine Eltern zwei Jahre nach der Explosion in Helium City den üblichen dahinsiechenden Strahlentod erlitten, kam der Staat für seine Unterbringung bei mehreren Privatfamilien auf. Dabei eignete er sich ein gutes naturwissenschaftliches Wissen an, 147
doch das ist anscheinend sein einziges Interesse. Ich fürchte, daß er die Schule vielleicht nur als eine Art gemeinnützige Institution ansieht, die lediglich zu seinem Nutzen eingerichtet wurde und die von seiner Seite keinerlei Entgegenkommen erwartet. Natürlich könnte er der Meinung sein, nachdem er unter solchen Umständen gelebt hat, daß sich andere Leute nur wegen des Geldes, das der Staat ihnen bezahlt, für ihn interessieren.« Innerhalb von vierzehn Tagen lief das schulische Leben schon routinemäßig ab. Der offizielle Unterrichtsstoff des ersten Halbjahres bestand für die Kinder aus Algebra, Literatur, Grammatik, Aufsatz und elementarer Sozialwissenschaft. Man erlaubte ihnen auch, mit einer Sprache zu beginnen, und da ihre gehobene Intelligenz ja allgemein bekannt war, wurde ihr Unterrichtsstoff durch das Erlernen eines Musikinstrumentes ihrer Wahl bereichert und auch durch einen Lesestoff, der weit über das hinausging, was man Kindern von vierzehn Jahren normalerweise zugestand. Über diese Arbeit mußten sie regelmäßig Hausaufgaben abfassen, die für Reporter und gelegentliche Besucher aufbewahrt wurden. In Wirklichkeit versammelten sich die Kinder jeden Morgen um neun in der Aula und verbrachten drei Stunden damit, über das Fernsehen übertragenen Universitätsaufbaukursen beizuwohnen. In diesem Jahr, 1973, befanden sich die Kurse im dritten Semester. Drei Tage pro Woche wurden halbstündige Kurse für Astronomie, Physik, Psychologie, Biologie und organischer und nichtorganischer Chemie abgehalten. An den anderen drei Wochentagen bestanden die Vorlesungen aus Kunst der Renaissance, Wirtschaftswissenschaft, ökonomischer Geographie, europäischer Geschichte, der Geschichte der Vereinigten Staaten und Philosophie. Theoretisch konnte ein Student zwischen vier und sechs dieser Kurse auswählen, zu Hause studieren und durch die jährlich abgehaltenen Prüfungen der Universität Bescheinigungen über die einzelnen Kurse erhalten. Später sollten weitere Kurse ausgestrahlt werden. Auf diese Art konnte ein Schüler sogar die Hochschulreife bekommen, ohne jemals einen Klassenraum betreten zu haben. Mathematik jedoch verlangte so viele schriftliche Aufgaben, daß sie noch immer ausschließlich über Fernkurse gelehrt wurde. Sprachen wurden mittels einer Kombination aus Schallplatten und Korrespondenzkursen gelehrt. Die Wunderkinder konnten sich ihre Fächer aussuchen. Elsie 148
zum Beispiel kämpfte mit der analytischen Geometrie. Nach dem Mittagessen konnten sich die Kinder ihren privaten Projekten widmen. Für einige stellte das Laboratorium die Hauptattraktion dar. Andere zogen sich auf ihre Zimmer zurück und schrieben. Die Pflege der Haustiere und die täglichen Hausarbeiten beanspruchten eine beträchtliche Zeit, und auch ihr Spielbedürfnis kam keineswegs zu kurz. »Auf jeden Fall brauchen wir uns niemals Sorgen zu machen, wie wir sie beschäftigt halten«, bemerkte Miss Page. »Sie haben mehr zu tun, als sie Zeit haben. Und es spornt sie auch an, daß sie zusammen sind. Haben sie wirklich all diese Kurse belegt?« »Nein, natürlich nicht«, gab Mr. Gerrold zurück. »Den meisten ist der Stoff bereits bekannt, und sie hören nur zu, um sich zu überprüfen, wenn und falls sie Lust dazu haben.« Mr. Curtis, der blinde Historiker, rief die Kinder zu einer Stunde, die allen paßte, manchmal zusammen, sprach mit ihnen über die Geschichte und empfahl ihnen Bücher. Sie alle mochten den Blinden, der, da er nicht sehen konnte, daß sie bloß Kinder waren, ihr zartes Alter immer wieder vergaß und mit ihnen wie mit reifen Erwachsenen sprach. Er hoffte, daß jeder von ihnen einen Text schreiben würde, der auf der Geschichte basierte - einen historischen Roman, eine Biographie, vielleicht ein Drama oder ein Lehrbuch -, und einige hatten sich bereits für ein Thema entschieden und angefangen, sich Notizen zu machen. An diesem Abend kam es um Mitternacht zu einem großen Aufruhr auf dem Hof. »He!« schrie Max aus dem Fenster. »Was ist los?« »Die Hunde sind alle draußen«, rief Jay zurück. »Ich muß die Gattertüren offengelassen haben. Komm schon, und hilf uns!« Max und die anderen Jungen zogen sich schnell Hosen, Pullover und Schuhe über und eilten hinaus. Die Dunkelheit war ein Alptraum aus bellenden, umherrennenden Schemen. Grigio, der Blindenhund von Mr. Curtis, war als einziger nicht auf freiem Fuß. Guarda und ihre sechs Welpen und Companion und ihre sieben Welpen vergnügten sich ausgiebig bei einem Rennen, dessen Parcours einer Acht folgte und, wenn er überhaupt einen Anfang hatte, bei den Katzenkäfigen hinter Tims Haus begann, an der Nordseite des Jungenhauses vorbeiführte, dann über die Straße, vorbei an der Südseite des Mädchenhauses, 149
um die Katzenkäfige herum, in denen sich Elsies und Stellas Tiere befanden, über die Straße, an der Südseite des Jungenhauses vorbei und wieder um Tims Katzenkäfige ging. Die Katzen verliehen ihrer Mißbilligung über diese Heimsuchung lautstark Ausdruck. Je emsiger die Jungen die halbwüchsigen Welpen zu fassen versuchten, desto wilder wurde die Jagd. Jay und seine Tante konnten sich nicht mehr Gehör verschaffen, als sie den Hunden Befehle zuriefen. Die Welpen waren noch nicht dressiert, und obwohl Mrs. Curtis und Jay sich darauf zu konzentrieren versuchten, die Muttertiere zu fangen, hatten Guarda und Companion die Gelegenheit beim Schöpf ergriffen und zeigten sich keineswegs willig, zu gehorchen. Elsies Onkel kam mit einer Schachtel unter dem Arm herbeigelaufen. »Knochen!« rief er. »Ich habe Knochen. Wenn ihr Jungs vielleicht mit dem Schreien und Herumlaufen aufhören würdet, können wir die Hunde hineinbringen.« »Gut«, sagte Mrs. Curtis. »Bleibt alle stehen - je mehr wir sie jagen, desto schlimmer wird es. Stellt euch hier unter das Flutlicht. Laßt die Knochen nicht los; versucht die Hunde zurück in ihre Zwinger zu locken.« Das war alles andere als einfach, doch schließlich gelang es ihnen. »Du mußt wirklich besser darauf achten, daß die Türen der Verschläge richtig zugesperrt sind, Jay«, sagte Mrs. Curtis, als die Welpen sich endlich in ihren Gattern befanden. »Tantchen, ich habe sie geschlossen«, sagte Jay. »Ich weiß noch, wie ich an der Tür gerüttelt habe, um sicher zu gehen, weil sie letzte Woche einmal offen war und zwei von Guardas Welpen hinausliefen. Schon damals war mir nicht klar, wie ich so unaufmerksam gewesen sein konnte.« »Das ist aber komisch«, sagte Tim und gähnte. »Ich war so sicher, daß ich immer meine Katzen einsperre, aber gestern war mein großer Angorakater draußen.« »Gehen wir zu Bett«, sagte Mrs. Curtis müde. »Vielen Dank für die Knochen, Mr. Waters.« Während der Abendstunden hörten Dr. Weites und Dr. Foxwell manchmal die Tonbänder ab, die in der Aula die Gespräche der Kinder vor den Vorlesungen aufgezeichnet hatten. 150
»Hört mal, das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Elsies Stimme. »Was?« fragte Tim. »Dieses Mathe. Hier steht: vier Bruchstrich null gleich Unendlich.« »Das stimmt.« Das klang wie Max. »Wie ist das möglich? Vier Bruchstrich null bedeutet vier geteilt durch null. Wenn man durch nichts teilt, teilt man überhaupt nicht. Die Lösung müßte vier lauten.« Mehrere Stimmen wollten ihr antworten, aber die Ärzte konnten nichts verstehen. Elsie anscheinend auch nicht, denn ihre Stimme erhob sich über den Lärm. »He! Einer auf einmal. Was hast du gesagt, Tim?« »Ich sagte, daß es die richtige Lösung ist. Es ist eine Übereinkunft.« »Du meinst, man hat sich einfach die Lösung ausgedacht und behauptet nun, sie sei richtig? Aber wie kann man so etwas tun?« »Das ist schon richtig. Genau, wie man festlegt, daß jede Zahl mit der Potenz null eins ergibt.« »Herrjeh! Wie kann man so was in Gleichungen einsetzen, und sie erweisen sich als richtig?« »Es funktioniert. Deshalb wissen wir, daß es richtig ist.« »Willst du damit sagen, daß die Leute mit solchen Informationen Brücken bauen und Flugzeuge fliegen? Das kapier ich nicht.« »Das hast du falsch verstanden, Elsie.« Das war wieder Max. »Es heißt nicht vier geteilt durch nichts. Null ist nicht nichts. Null ist null.« »Nun, wenn null nicht nichts ist, möchte ich gern wissen, was sonst.« »Es ist null, das ist es. Du mußt es so lesen: das Verhältnis von vier zu null.« »Oh! Und was bedeutet das - wenn es überhaupt etwas bedeutet? Meinst du damit, daß vier unendlich größer als null ist? Das ergibt auch keinen Sinn.« »Doch, das ergibt Sinn«, sagte Max hitzig. »Nein. Das ergibt keinen Sinn. Vier ist nicht unendlich mehr als nichts. Es ist nur vier mehr. Wenn ich kein Geld hätte und dann vier Dollar bekäme, wäre ich dann unendlich reich?« »Ich sagte, es ist das Verhältnis, Elsie.« »Nun, dann das Verhältnis. Im Verhältnis zu nichts ist vier immer noch vier. Es ist nicht unendlich.« 151
»Hört mal zu, ihr beiden«, sagte eine andere Stimme. »Spart euch den Atem. Ihr könnt es niemals so erklären, daß sie es auch begreift.« »Wenn es Sinn ergäbe, Fred, könnten sie es«, warf Elsie ein. »Es muß eine Möglichkeit geben, es zu erklären«, sagte Tim hartnäckig. »Das Verhältnis ...« »Ich glaube, ich weiß, was Verhältnis bedeutet«, sagte Elsie schroff. »Verhältnis heißt in Bezug zu. Es bedeutet, eins geteilt durch das andere. Hört mal, was ist null geteilt durch vier?« »Null«, gaben die Jungs im Chor zurück. »Nun, das stimmt ja wohl. Nichts ist immer noch nichts, egal, durch was man es dividiert. Aber vier überhaupt nicht geteilt...« »Sag mal, Elsie, kannst du nicht die Klappe halten?« unterbrach die Stimme eines Mädchens. »Ich muß diese Seite noch beenden, bevor das Programm beginnt.« Ein paar Minuten lang nahm das Band noch die üblichen leisen Geräusche eines Raumes auf, in dem mehrere Menschen zusammengekommen waren. Dann konnte man die ersten Worte des Universitätsdozenten für organische Chemie hören. »Heute werden wir uns Estern widmen«, sagte der Professor langsam. »Ein Ester ist sehr leicht zu verstehen. Aus Ihren Kursen über unorganische Chemie werden Sie sich erinnern, daß ein Salz entsteht, wenn sich eine Base mit einer Säure verbindet. Nun, wenn sich eine organische Säure und eine organische Base verbinden, ist das Ergebnis ein Ester. Ein Ester ist ein organisches Salz. Ich wiederhole, ein Ester ist ein organisches Salz.« »Oh, ich verstehe!« rief Elsie. »Genau wie Lots Frau!« Tumult, und dazwischen Stellas Stimme, die rief: »Hieß sie wirklich so?« Dann Pandämonium. Am nächsten Morgen erschien Elsie zu spät zum Frühstück. Sie ging direkt zu Tim und Max, die beisammen saßen. »Tut mir leid, daß ich gestern so dumm war«, sagte Elsie. »Ich habe es jetzt herausbekommen. Max hatte recht; ich habe es nicht richtig gelesen, sonst hätte ich es sofort verstanden. Es heißt nicht vier geteilt durch null, oder das Verhältnis von vier zu null, sondern vier Bruchstrich null. Die vier steht über der Null. Dann begreift natürlich jeder, daß die Antwort >unendlich< lautet, weil...« - sie schaute sich um, um sich zu vergewissern, daß alle zuhörten - »wenn es nichts unter der vier gibt, das eine Schwer152
kraftanziehung auf die vier ausüben kann, geht sie natürlich in einen ewig währenden freien Fall über, der bis in die Unendlichkeit führt.« Peter Welles bedauerte, daß er nicht alle Gesichter gleichzeitig beobachten konnte. Einige der Zuhörer begriffen sofort und konnten sich vor Lachen nicht mehr halten. Stella, die sich nicht für Mathematik interessierte, blickte verwirrt drein; Max, der Mathematik ernst nahm, sah Elsie besorgt an, bis er begriff, daß sie ihn aufzog, und Fred schnaubte: »Hält die sich für klug!« und widmete sich wieder dem Frühstück. Dr. Welles fühlte sich verpflichtet, Elsie später unter vier Augen die Leviten zu lesen, sich in Zukunft nicht mehr so herauszustellen, war mit dem Herzen jedoch nicht bei der Sache. »Ich habe diese dumme Aufgabe wirklich nicht verstanden«, verteidigte sich Elsie. »Und als ich auf die Idee kam, es so herum darzustellen, hielt ich es für lustig. Außerdem wird jetzt keiner von uns die richtige Lösung jemals vergessen.« »Du solltest versuchen, es wirklich zu verstehen, statt dir die richtige Antwort mechanisch durch einen Scherz einzuprägen.« »Oh, ich habe es verstanden«, erwiderte Elsie. »Danach bin ich daraufgekommen. Sechs geteilt durch zwei ist drei, weil man drei Zweien braucht, um eine Sechs zu bekommen. Aber wie viele Nullen ergeben eine Vier? Eine unendliche Anzahl natürlich.« »Und Lots Frau?« Elsie kicherte. »Das ist mir nur so herausgerutscht«, sagte sie. »Ich habe noch nie etwas gehört, das so wie die Faust aufs Auge paßte. Sie etwa?« »Wie wäre es denn, wenn du auf etwas genauso Zutreffendes wartest, bevor du wieder eine ganze Vorlesung ruinierst?« sagte Peter, obwohl er still in sich hineinlachte. In der dritten Woche nach Unterrichtsbeginn wurde eine Schulzeitung vorgeschlagen. »Die können wir nicht brauchen«, lautete Tims Meinung. »Wir müssen uns dumm stellen. Was nutzt eine Zeitung, wenn wir darin nichts zeigen können?« »Wir müssen irgend etwas zeigen«, sagte Max. »Drucken wir doch eine, die wir vorzeigen können. Wir müssen sie nach Hause schicken und so weiter.« »Es macht nicht viel Spaß, eine dumme Schülerzeitung zu 153
schreiben«, murrte Elsie. »Gewissermaßen doch«, grübelte Fred, und einige Kinder fingen an zu strahlen, als sie diese Idee in Betracht zogen. »Wir können darin veröffentlichen, was die Leute sowieso schon über uns wissen«, stimmte Beth zu. »Tims Katzen und Jays Hunde - schließlich hat Tim doch gute Zuchtergebnisse vorzuweisen, und Jay bildet Blindenhunde aus -und ein paar von den Buchbesprechungen und einige Nachrichten über die Reisen, die wir machen, und so weiter.« »Wir könnten einiges von dem Zeug verwenden, das wir vor langer Zeit geschrieben haben und das niemand veröffentlichen würde«, sagte Tim. »Und ein paar von Stellas Gedichten«, sagte Fred boshaft. »Die sind genau richtig, um Außenstehende zu verwirren.« Beth rettete die Situation schnell, indem sie sagte: »Ich werde für jede Ausgabe einen Cartoon zeichnen. Alle wissen, daß ich zeichnen kann.« »Hin und wieder könnten wir etwas Gutes hineinnehmen«, sagte Elsie. »Soll es eine literarische Zeitung oder ein Nachrichtenblatt werden?« Nach ausgiebiger Diskussion wurde beschlossen, daß die Zeitung hauptsächlich Nachrichten enthalten solle. Max wurde zum Chefredakteur gewählt, und die Kinder wollten sich mit dem Vervielfältigen abwechseln. Sie wollten jedem Schüler ein Maximum von einer Seite zugestehen, einschließlich einer vollen Seite mit Nachrichten. »Wie sollen wir sie nennen?« fragte Elsie. »Nennen wir sie doch >Nichts Neues<«, schlug Tim vor. »Das ist ein Hinweis für uns, nichts wirklich Neues zu veröffentlichen.« »Diese Schule hat doch noch keinen Namen, nicht wahr?« fragte Stella. »Wir sollten einen haben. Tim?« »Mir ist kein guter Name eingefallen«, gestand Tim ein. »Vielleicht könnt ihr euch einen ausdenken. Ich habe gedacht, wir könnten sie die A.A.A.-Schule nennen, nach Aristoteles, Albert und Aquin, aber das gefällt mir nicht sehr gut.« »Das ist ein scheußlicher Name«, sagte Stella offen. »Ja, aber er paßt. Wißt ihr, drei so große Denker...« »Oh, wenn er zutrifft«, sagte Fred, »müssen wir ihn unbedingt benutzen. Zieht euch den Schuh an, wenn er paßt. Aber ich habe mir immer schon gedacht, daß sie über ein dreifaches >A< nicht 154
hinauskommen.«'"" Die Kinder brüllten vor Lachen. »Fred ist clever«, sagte Tim ein wenig unwillig zu Elsie. »Es war ein schrecklicher Name, das mußt du eingestehen«, sagte Elsie. »Du solltest dir lieber einen der Männer aussuchen und die Schule nach ihm benennen.« »Oh, vielleicht fällt uns doch noch ein guter Name ein«, sagte Max. »Denken wir eine Weile darüber nach. Wer wird etwas für diese Zeitung einreichen? Wir wollen sie doch jetzt Samstag herausbringen, nicht wahr?« Unter den Dingen, die nicht in »Nichts Neues« erschienen, war Maxens aufrechter Versuch, Elsie weiter in Mathematik zu unterweisen. Max war ein brillanter Mathematiker, und er bewunderte Elsie sehr, in der er schnell eine andere Art von Brillanz festgestellt hatte. Ein paar Tage später brachte er, nachdem er und Tim völlig daran gescheitert waren, Elsie die Null begreiflich zu machen, die Sache beim Mittagessen wieder zur Sprache, wobei Max nicht wußte, daß Elsie die Erklärung inzwischen verinnerlicht hatte. »Sieh mal hier, Elsie. Null ist infinitesimal.« »Nein, ist es nicht. Null ist nichts.« »Das ist ja der Witz dabei. Wenn du vier über null setzt, wird die Null im Vergleich zu einer Infinitesimalen.« »Das ergibt doch keinen Sinn!« rief Elsie. »Doch«, sagte Max, während alle anderen hoffnungsvoll lauschten. »Der Mensch ist infinitesimal; im Vergleich zu Gott ist der Mensch nichts.« »Nein, das ist er nicht!« schrie Elsie. »Gott hat das Nichts nicht gemacht! Das hat er den Arabern überlassen!«** »Da hat sie dich, Max«, kreischte Tim vor Freude, und Dr. Foxwell fühlte sich befleißigt, auf den Tisch zu klopfen und um Ruhe zu bitten, während die unglückliche Beth, die ihre Milch getrunken hatte, als Elsie sprach, sich mit mehreren ihr angebotenen Servietten so trocken wie möglich rieb, sich aber aus Angst, sie könne etwas verpassen, weigerte, den Raum zu verlassen. Elsies ungestümes Flüstern wurde von einem hitzigen Ge*• Anm. d. Übers.: Unübersetzbares Wortspiel. »A« ist eine amerikanische Schulnote, die der deutschen »Eins« - also Sehr gut entspricht. Gemeint ist demzufolge in etwa: » ... daß sie über drei Einsen nicht hinauskommen.« •" Anm. d. Übers.: Die Araber haben die Null in die Mathematik eingeführt.
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sprach am anderen Ende des Tisches übertönt, wo Fred und ein neuer Junge, Giles Bradley, Absolut-Null diskutierten, ohne irgendwohin zu kommen. Es stellte sich bald heraus, daß Fred über das mathematische Absolut-Null gesprochen hatte, während Giles nicht unverständlicherweise der Meinung war, er habe sich auf die Temperatur bezogen. Stella und Beth schnappten das auf und begannen mit einer Diskussion über das Absolute in der Philosophie, woran sich Tim und Jay prompt beteiligten. Fred redete dagegen, indem er behauptete, es gäbe überhaupt nichts Absolutes. Dr. Foxwell hämmerte vergeblich auf den Tisch, als die Diskussion hitziger wurde, und marschierte dann in den Gang und schlug die Essensglocke. »Ich bitte um Ruhe!« sagte er. »Bei Tisch sollten keine Streitgespräche geführt werden. Das nächste Kind, das mehr sagt als >Würdest du mir bitte das Salz geben<, wird den Raum verlassen.« Die Kinder sahen seinen Standpunkt ein und bewahrten Schweigen. »Wie wäre es denn, wenn jeder von euch einen Aufsatz über irgendeinen Aspekt des Absoluten oder einen korrekten Gebrauch dieses Wortes vorbereitet und bei mir abgibt«, sagte Peter Welles. »Wir werden die Arbeitspapiere einsammeln und später eine Debatte über dieses Thema veranstalten. Auf diese Art wird die Diskussion in ordentlichen Bahnen gehalten. Sorgt dafür, daß ihr eure Begriffe klar definiert.« Die verantwortlichen Erwachsenen hatten sich einen Abend pro Woche für ein Gespräch freigehalten, das jedoch mitunter verschoben werden mußte, wenn Dr. Welles verreist war, um eins der Wunderkinder zu befragen. Wenn er von solch einer Reise zurückgekehrt war, rief er stets eine Sitzung ein und ließ sich erzählen, was während seiner Abwesenheit geschehen war. »Ich frage mich, ob wir schon irgendwelche Verallgemeinerungen über diese Kinder treffen können«, wandte Mrs. Curtis bei einer solchen Gelegenheit ein. »Wir hatten sechs Wochen Zeit, um sie zu studieren. Ähneln sie sich auf irgendeine Art?« »Von ihrer extrem hohen Intelligenz abgesehen, würde ich das verneinen«, sagte Dr. Foxwell. »Die, die wir inzwischen hier versammelt haben, entsprechen keineswegs dem gleichen psychologischen Typus, und die, die wir noch erwarten, werden wahrscheinlich, sobald erst mal alle hier sind, alle Typen repräsentie156
ren, die es gibt.« »Einige haben einseitige Interessen entwickelt«, gab Mr. Gerrold zu bedenken. »Sie alle brauchen viel mehr Laborarbeit. Das ist ihr ernsthafter Mangel. Einige haben sich gute Kenntnisse über die Wissenschaften angelesen, andere jedoch haben viel zu viel Zeit mit Literatur, Sprachen, Geschichte und so weiter verschwendet.« »Alle wissenschaftliche Kenntnisse«, sagte Mr. Curtis, »sind bedeutungslos im Verhältnis zu der Geschichte dessen, was menschliche Wesen mit ihren wissenschaftlichen Kenntnissen angestellt haben. Junger Mann, die Geschichte enthält alles Wissen, denn sie zeigt uns, was die Menschen mit ihrem Wissen machen. Die menschliche Natur in Aktion, das ist das Wichtigste.« »Entschuldigen Sie bitte, Sir«, sagte der junge Mann steif, »doch ich stimme Ihnen da nicht zu. Wir schreiben das Zeitalter der Wissenschaften. Was in der Vergangenheit geschehen ist, unter völlig anderen Bedingungen, betrifft uns heute wenig.« »Die menschliche Natur verändert sich nicht«, sagte Mr. Curtis. »Hätten die Wissenschaftler im Zweiten Weltkrieg die elementarsten geschichtlichen Grundkenntnisse besessen, dann hätten sie etwas anderes getan, als die Bombe auf die Welt loszulassen.« »Wie können Sie so reden? Bedenken Sie, was diese Wunderkinder hervorgebracht hat!« sagte Mr. Gerrold. »Ein Unfall hat sie hervorgebracht, oder ein Wunder«, sagte der Historiker. »Sonst ist nur Böses aus der Bombe hervorgegangen. Wir können uns nicht ständig auf die Vorhersehung verlassen, um uns vor uns selbst zu retten. Es ist schon einmal vorgekommen - in den Tagen, da die gesamte Zivilisation von den Tartarenhorden bedroht wurde -, daß der Tod eines einzelnen Menschen die Welt vor der Vernichtung bewahrt hat. Doch diese Auseinandersetzung ist müßig. Dr. Welles hat die Leitung der Schule inne, und wir müssen uns seinen Ansichten fügen.« »Er könnte vorschlagen, nichts außer Psychologie und Psychiatrie zu lehren«, sagte Dr. Foxwell. »Ich persönlich halte die Medizin für das Wichtigste. Doch als Arzt würde ich eine gut ausbalancierte Diät empfehlen. Mr. Gerrolds Argument hat etwas für sich; die schlimmsten Mängel müßten behoben werden, und die Kinder sind schwach in Laboratoriumstechnik und angewandten Wissenschaften. Altklassisches Schrifttum haben sie auf eigene Faust studieren können.« 157
»Natürlich sollten sie über geschichtliche Kenntnisse verfügen«, sagte der junge Mr. Gerrold höflich. »In der Tat scheint die Gefahr der Überspezialisierung vorhanden zu sein«, sagte Dr. Welles. »Alle Kinder haben weitgefächerte Interessen, und die, die sich auf einem Spezialgebiet nicht auskennen oder kein großes Interesse dafür zeigen, bekommen dieses Interesse von den anderen oder werden auf irgendeine Weise von den größeren Kenntnissen der anderen herausgefordert. Als ihre Lehrer sollten wir diese Tendenz so weit wie möglich fördern. Wir können ihr letztendliches Schicksal nicht kontrollieren, doch all ihre Interessen und Berufe sollten voll entwickelt sein.« »Wie gut arbeiten sie zusammen?« fragte Mr. Curtis. »Es gefällt ihnen, zusammen zu sein«, sagte Miss Page, »doch sie würden es ablehnen, dazu gezwungen zu werden.« »Sie arbeiten ohne Theaterdonner und Fahnenschwenken zusammen«, stimmte Dr. Foxwell zu. »Was würde jedoch geschehen, wenn wir sie zu einer Gemeinschaftsarbeit laut der üblichen Schulstandards zwingen wollten?« »>Gemeinschaftsarbeit<«, zitierte Miss Page sarkastisch, »>heißt, das zu tun, was ich euch sage, und zwar schnell.< Ich würde es nicht wagen, bei ihnen nach dieser Methode vorzugehen. Selbst gewöhnliche Kinder lassen sich das nicht gefallen.« »Sie hatten immer eine faire Haltung, Pagey«, sagte Peter Welles. »Das verstehe ich nicht«, sagte Mr. Curtis. »Verlangt man von den Kindern nicht, die Regeln einzuhalten?« »Und ob man das verlangt. Wir beziehen uns auf die Schularten, die darauf bestehen, daß alle Kinder ihre eigenen Interessen und Aktivitäten aufgeben müssen, um daran teilzuhaben, was die Schule für sie beschlossen hat; die Art von Schule, die darauf besteht, daß alle Schüler an allen Ballspielen teilnehmen müssen ; oder an allen Tanzkursen. Miss Pages Ansicht ist immer gewesen, daß die Regeln befolgt werden müssen, den Kindern ansonsten aber freie Hand gestattet wird; keine rhetorischen Taschenspielertricks oder Schmachtfetzen über die ureigene Freizeitgestaltung eines Kindes.« »Was, kein >Schulgeist« grinste Mr. Gerrold. Miss Page lächelte ihm zu. »Ich war das Mädchen, das im Sommer vor dem letzten Jahr 158
auf der High School zwei Geschichten an die Erlebnismagazine verkauft hat«, sagte sie. »Während des letzten Jahres habe ich all meine Geschichten und den größten Teil meiner Freizeit an die Schulzeitung gegeben. Ich habe auch alle Eintragungen fürs Jahrbuch verfaßt, die niemand sonst schreiben wollte. Doch ich graduierte nur honore anstatt summa honore und fand auch den Grund heraus. Anscheinend war ich gegen die Schulgemeinschaft eingestellt und besaß keinen Schulgeist. Ich ging zu keinem Ballspiel und war auch nicht beim Studententanzfest.« »Warum denn nicht?« fragte Mr. Gerrold. »Ich spiele lieber Ball statt zuzuschauen«, sagte Miss Page. »Und was den Tanzabend betrifft - mich hatte kein Junge aufgefordert.« Es herrschte kurzes Schweigen, dann räusperte sich Dr. Foxwell und ergriff das Wort. »Ich muß eine wichtige und ziemlich besorgniserregende Tatsache erwähnen«, sagte er. »In letzter Zeit wurden uns einige böse Streiche gespielt. Diese Tatsache müssen wir wohl akzeptieren und herauszufinden versuchen, welches Kind daran Schuld trägt.« Wieder herrschte Schweigen, und die Erwachsenen warfen sich unbehagliche Blicke zu. »Was ist vorgefallen?« fragten Dr. Welles und Mr. Curtis gleichzeitig. »Bislang hat man zweimal die Hunde hinausgelassen«, sagte Dr. Foxwell, »und bei einer anderen Gelegenheit hat man einen Welpen im Hühnerstall gefunden. Mr. Waters war außer sich.« »Das klingt ganz nach Elsie«, sagte Mr. Curtis. »Sie scheint ihrem Onkel und ihrer Tante nur wenig natürliche Zuneigung entgegenzubringen.« »Sie hat selbst vorgeschlagen, die beiden zu bitten, hierherzukommen«, sagte Dr. Foxwell. »Manchmal hat sie einen Hang zur Gewalttätigkeit«, sagte Mr. Gerrold. »Sie versucht diese Heftigkeit zu unterdrücken«, sagte Mrs. Curtis nachdenklich. »Vielleicht bricht sie in diesen kleinen Vorfällen wieder auf. Es kann ja sein, daß sie sich zu sehr anstrengt, sich zu benehmen.« »Ich würde eher damit rechnen, daß sie wie ein Vulkan explodiert, so daß die Fensterscheiben in alle Richtungen zerspringen«, 159
gab Miss Page zurück. »Ich würde sagen - das ist natürlich meine persönliche Meinung -, daß Elsie für ihre überschüssige Energie genug Ventile hat, ohne auf solche handfesten Scherze zurückgreifen zu müssen. Uns wurden auch noch andere Streiche gespielt. Bei zwei Gelegenheiten riß eine von Tims Katzen aus. Und...« »Beth wird es wahrscheinlich nicht gewesen sein«, sagte Dr. Foxwell. »Einer der Streiche richtet sich gegen sie. Sie war anscheinend spät dran mit ihrem Quatschköpfe-Strip und hat den ganzen Abend daran gearbeitet; sie sagte, er müsse am nächsten Tag per Luftpost abgeschickt werden, um noch rechtzeitig einzutreffen. An diesem Abend hat sie das Material frankiert und im Umschlag im Postbeutel gelassen. Am nächsten Morgen legte einer der Jungs den Postbeutel in mein Auto, und ich gab das ganze Zeug wie immer an einem Schalter der Hauptpost ab, ohne darauf zu achten, was an diesem Tag hinausging. Als Mrs. Waters zwei Tage später sauber machte, fand sie das Material hinter einem Regal im Mädchenhaus. Wir schickten es per Spezialboten ab, und der Strip wurde nur für einen Tag unterbrochen. Doch wir fürchten, daß derjenige, der den Streich spielte, darauf gehofft hat, daß der Verlust nicht bemerkt werden würde. Ihnen allen ist bekannt, daß man uns mit einem Telegramm nicht erreichen kann, da niemand weiß, wo sich Beth aufhält.« »Wenn man auch Tim und Jay Streiche gespielt hat, ist es unwahrscheinlich, daß sie die Schuldigen sind«, sagte Mr. Gerrold, »außer, es sollte den Verdacht von ihnen ablenken.« »Ich vertraue Tim völlig«, sagte Dr. Welles. »Jay ist es bestimmt nicht gewesen«, sagte Mrs. Curtis. »Es könnte Stella sein«, sagte Dr. Foxwell, »wenn sie sich aus irgendeinem Grund über die anderen Kinder geärgert hat. Fast jedes Kind könnte auf die anderen eifersüchtig sein, nur weil sie überhaupt existieren. Hat sich Stella jemals von dem Schock erholt, den sie erlitt, als sie feststellen mußte, daß es auch noch andere Kinder gibt, die so intelligent sind wie sie?« »Das würde ich schon sagen«, meinte Dr. Welles. »Sie liebt jedoch Geheimnisse und Magie. Vielleicht bildet sie sich ein, eine Hexe oder ein Poltergeist oder so etwas ähnliches zu sein. Sie hat einen unzulänglichen Humor und könnte solche Sachen für komisch halten oder komisch sein wollen, ohne zu wissen wie.« »Was ist mit Max? Dieses Spiel, das er erfunden hat...« 160
»Bitte beschreiben Sie das Spiel«, sagte Mr. Curtis. »Oh, man zieht seine Figur übers Spielfeld entlang, wie bei dem alten Monopoly«, sagte Miss Page. »Bei jeder zurückgelegten Runde bekommt man ein Gehalt. Landet man auf einem blauen Feld, bekommt man einen Jungen, auf einem rosa Feld ein Mädchen. Man bekommt eine rosa oder eine blaue Karte, um nicht den Überblick über seine Familie zu verlieren. Kommt man auf andere Felder auf, muß man jedem Mädchen ein Kleid, jedem Jungen einen Anzug oder Schuhe für die ganze Familie kaufen, Miete bezahlen, im Lebensmittelgeschäft die Rechnung bezahlen - der Betrag, den man für Lebensmittel aufbringen muß, wird entschieden, indem man noch einmal würfelt - und so weiter. Es gibt eine Karte, mit der man eine Gehaltserhöhung bekommt. Auf einem anderen Feld muß man eine Schicksalskarte ziehen; die kann gut oder schlecht sein, eine Erbschaft, eine Arztrechnung, Zwillinge, den Erwerb eines neuen Autos oder anderer kostspieliger Dinge. Die kann man manchmal auf Raten kaufen.« »Ein kompliziertes Spiel«, murmelte Dr. Foxwell. »Es macht sehr viel Spaß«, sagte Miss Page. »Als ich es zum erstenmal spielte, hatte ich siebzehn Kinder, und dann zog ich drei Runden hintereinander >Schuhe für jedes Kind<.« »Das klingt mir ziemlich antisozial«, bemerkte Mr. Curtis. »Man könnte glauben, das Spiel lehrt die Lektion, daß eine Familie kostspielig ist.« »Max war stets arm und ist sich seiner Armut auch bewußt gewesen.« »Ja«, sagte Dr. Welles, »aber vielleicht ist er jetzt zufrieden, wo er soviel Geld mit seinem Spiel gemacht hat. Wie ich weiß, hat er das Spiel erfunden, bevor er hierherkam; selbst wenn er damals so fühlte, muß er es jetzt nicht mehr. Die Streiche sind hier geschehen. Welchen Grund sollte er haben, die anderen Kinder zu drangsalieren?« »Und Fred?« fragte Mr. Curtis. »Er scheint völlig über solchen Dingen zu stehen.« »Natürlich, wenn überhaupt einer der Jungs einsieht, wie dumm und unbedeutend solche Streiche sind, dann er«, sagte Mr. Gerrold, der in Fred einen eifrigen Schüler gefunden und den Jungen demzufolge ins Herz geschlossen hatte. »Sie alle besitzen genügend Intelligenz, um dies einzusehen«, sagte Dr. Foxwell. »Dr. Welles, was denken Sie?« 161
»Ich würde keinem der Kinder etwas davon sagen, außer vielleicht Tim; aber wir müssen alle aufpassen. Ich werde nicht mehr verreisen oder andere Kinder hierherbringen, bis wir diese Angelegenheit geklärt oder die Streiche aufgehört haben. Es könnte ja noch etwas Ernstes nachkommen«, sagte Welles, während er im Geiste noch damit beschäftigt war, den Großteil dieser beunruhigenden Informationen zu verdauen. »Sie glauben doch nicht, daß es gefährlich werden könnte, oder?« rief Mrs. Curtis aus. »Die Streiche haben doch keine Bedeutung, nicht wahr? Sie sind natürlich nicht schön, aber auch nicht gefährlich.« »Ich halte es noch für zu früh, um das zu behaupten«, sagte Dr. Welles. »Jedoch sollten wir dieses Problem gelöst haben, bevor wir weitere Schüler aufnehmen.« Als Miss Page zwei oder drei Tage später des Nachmittags am Fenster saß, hörte sie, wie es draußen auf dem Seitenhof zu einem Streit kam. »Habt ihr gehört, was Elsie gesagt hat?« quiekte Stella. »Ein älterer Mann, der mal Lehrer an irgendeinem College gewesen war, kam heute hereinspaziert, schnappte sich Elsie und mich und fing an, uns etwas vorzupredigen, und er sprach über diesen Aufsatz über >Das Klima der Meinung<, ihr kennt ihn ja ...« »Ja, ich habe ihn gelesen«, sagten Fred und Max. »Und er fragte, ob wir ihn gelesen hätten, und als wir nickten, fragte er, ob wir erklären könnten, was er aussagt. Und Elsie schaute ihn so süß an und sagte: >Ja, Sir, er sagt aus, daß wir an einem Regentag alle triefend naß sein sollten.<« Die Kinder heulten vor Freude auf. »Wäre ich doch nur dabeigewesen«, sagte Beth. »Er war ein schrecklicher alter Langweiler«, sagte Stella. »Ihr habt Glück gehabt. Elsie und ich mußten ihn herumführen und ihm fast eine Stunde lang zuhören.« »Elsie hätte das nicht sagen sollen«, meinte Fred. »Sie hat die Regel über das Dummstellen gebrochen. Aber sie gibt ja sowieso immer an.« »Er war zu dumm, um es zu kapieren«, sagte Stella. »Ich würde das kaum einen Regelbruch nennen«, sagte Tim. »Sie hat nicht erzählt, was wir geschrieben haben, oder irgendwelche Pseudonyme oder so verraten. Schließlich möchte ich doch 162
meinen, daß wir dann und wann einmal eine kluge Bemerkung fallenlassen können. Das ist ja keine Schule für Schwachsinnige.« »Oh, du hältst alles, was sie tut, für perfekt?« rief Fred. »Tu ich nicht«, sagte Tim. »Und ich glaube, sie sollte bestraft werden.« »Kannst du ja mal versuchen«, warnte Tim. »Halt mich doch auf, dann haue ich dich um, daß du einen Purzelbaum schlägst«, sagte Fred. »Ich schlag dich durch ein Epizykloid und zwei Trochoide«, konterte Tim schlagfertig. Miss Page machte keinen Ton hinter den Gardinen. »Ich schlage dich zu einem Zweispitz!« schrie Fred triumphierend. »Das ist ein Klischee«, bemerkte Stella verächtlich. »Ist es nicht«, hielt Fred dagegen. »Sondern eine mathematische Kurve.« »In welcher Form?« fragte Elsie. »Ich zeig's euch«, sagte Fred, begierig, seinen Witz zu verdeutlichen. Und augenblicklich hatten die Kinder den ganzen Zank vergessen und malten alle möglichen Arten von Strichen in den Staub. In aller Freundlichkeit stritten sie um den besten Ort, in oder durch den man jemanden schlagen konnte, und auch über den Ursprung des Klischees, das zu verwenden Fred beschuldigt worden war. Nach einiger Zeit zogen sie los, um in den Gebräuchlichsten Zitaten nachzuschlagen, und Miss Page konnte endlich alles notieren, woran sie sich noch erinnerte. Als sie den anderen Erwachsenen darüber berichtete, machte Mr. Gerrold einen Vorschlag. »Ich habe oft darüber nachgedacht, ob wir die Aufzeichner nicht auch an anderen Stellen aufbauen sollten«, sagte er. »Was draußen geschieht, können wir unmöglich aufnehmen«, sagte Mrs. Curtis. »Nein, aber wir könnten Leitungen in die Häuser legen und ... Oh, das würde wohl ein Vermögen kosten.« Dann erhellte sich Mr. Gerrolds Gesicht. »Wir könnten das Tonbandgerät in der Aula so einstellen, daß es sich immer einschaltet, wenn jemand hineinkommt.« »Ist es fair, sie auszuspionieren?« fragte Miss Page kühl. »Warum nicht?« fragte Dr. Foxwell. »Als erstes an jedem Morgen schalten sie das Gerät selbst an, und sie wissen, daß wir es 163
manchmal abhören. Sie wissen auch, daß wir herumstreichen und hinter Vorhängen lauschen, wann immer sich die Gelegenheit ergibt. Als Gruppe sollten sie keinerlei Geheimnisse vor uns haben.« »Ich stimme Dr. Foxwell zu«, sagte Dr. Welles. »Es wäre unzumutbar, alles zu verkabeln in den Häusern und Schlafzimmern, um die privaten Gespräche zweier Kinder auszuspionieren. Aber was schadet es, daß wir zuhören, wenn sie in die Aula kommen die jedem von uns jederzeit offensteht -, um zu spielen oder sich zu entspannen? Wir könnten wunderbare Dinge hören. Zum Beispiel das Gespräch, das uns gerade berichtet wurde. Da hatten sie nichts zu verbergen, und doch hätte sich keiner von ihnen die Mühe gemacht, es uns auszugsweise zu wiederholen. »Wie wäre es denn, wenn ich eine Verbindung mit dem Lichtschalter herstelle?« fragte Mr. Gerrold. »Wenn das Licht an ist, nimmt das Gerät auf. Wenn das Licht ausgeschaltet wird, bleibt es stehen.« Die anderen stimmten dem zu, und Mr. Gerrold nahm die erforderlichen Einstellungen noch am gleichen Abend vor. Tim schaltete das Licht ein, als er in die Aula vorausging. »... als ob du dich selbst mit dem Hammer auf den Kopf schlägst«, sagte Fred gerade. »In der Minute, da du sagest: >Das ist doch klar<, hörst du auf zu denken.« »Das geht in Ordnung, wenn du zuvor darüber nachgedacht hast«, sagte Jay. »Wer will denn schon ewig über das gleiche nachdenken? Ich für meinen Teil hätte gern ein paar Sachen geregelt. Gemeinplätze sind natürlich schon richtig. Sie stellen die konzentrierten Wahrheiten dar, über die sich alle Zeitalter einig geworden sind.« »Nicht alle Gemeinplätze«, widersprach Stella. »Laut Definition«, sagte Max hochmütig, »ist ein Gemeinplatz eine Wahrheit, die wir alle schon millionenmal gehört haben. Manchmal verstehen die Leute natürlich eine falsch oder wenden sie falsch an.« »Ist es nicht überraschend, wie oft wir etwas ausarbeiten und dann, nachdem wir endlich ein Fazit gezogen haben, feststellen, daß als Endergebnis nur ein Gemeinplatz herausgekommen ist?« sagte Tim. Fred schnaubte. 164
»Ich verstehe, was ihr meint«, sagte Elsie. »Dich, Tim, und auch Fred. »Wir kommen uns irgendwo betrogen vor, wenn wir etwas entdecken, das alle schon wußten und uns immer gesagt haben. Aber es ist etwas anderes, selbst daraufgekommen zu sein, zu wissen, was es bedeutet und wie wahr es ist. Und das beste Denken fängt an, nachdem man eingesehen hat, daß einige der abgedroschensten Wahrheiten besonders wahr sind.« Die anderen machten fragende Geräusche. »Ihr müßt euch nur zwei Aussagen nehmen, die beide wahr sind, aber scheinbar nicht zusammen passen«, erklärte Elsie, »und über beide nachdenken. Dann seid ihr wirklich irgendwohin gekommen.« »Meinst du etwa > Licht tritt partikelförmig auf< und > Licht tritt wellenförmig auf< ?« fragte Max. »Das wäre eine Vorstellung.« »Oder etwa >Ich besitze einen freien Willen< und >Gott ist all-mächtig« sagte Jay. »Wer behauptet, das sei wahr, Jay?« »Ich, Fred, und wenn du mir etwas Zeit gibst, beweise ich es auch«, sagte Jay. »Oder soll ich direkt damit anfangen?« »Oh, halt die Klappe«, riet Max. »Vertieft euch jetzt nicht dort hinein. Es wird mehr Zeit kosten, als wir vor der Versammlung haben, um überhaupt etwas Vernunft in Freds Schädel zu bekommen.« »Jemand hat ihm erzählt, der Materialismus treffe offensichtlich zu, und er hat aufgehört, darüber nachzudenken«, sagte Gilles. »Das ist kein Gemeinplatz; das ist völlig falsch, Fred. Aber laß den Kopf nicht hängen; eines Tages wirst du die Wahrheit an ihrer Umkehrung erkennen«, sagte Elsie mit übertriebener Freundlichkeit. »Ich kann beweisen ...« »Niemand hat sich je die Mühe gemacht, Fred zu erklären, wie schwer es ist, eine Verneinung zu beweisen«, sagte Beth. »Besonders, wenn sie nicht stimmt.« »Oh, hört doch auf, ihn zu ärgern!« bat Tim. »Einigen von uns hat Fred ziemliche Kopfschmerzen bereitet; wir wurden eines Besseren belehrt. Wir sollten lieber nicht vergessen, was wir hinter uns haben. Kommen die anderen nicht? Wir müssen anfangen. Wir können uns am besten treffen, solange die Erwachsenen ihre 165
eigene Versammlung abhalten.« »Bildet einen Stuhlkreis, damit wir uns gegenseitig sehen können«, schlug Elsie vor, und als dies geschehen war, waren die anderen auch eingetroffen. »Ich glaube nicht, daß wir noch länger warten sollten, um alle anderen aus der Gruppe aufzuspüren«, sagte Tim, »bevor wir damit beginnen, was hoffentlich in unser aller Absicht liegt. Es werden noch ein paar kommen, und andere müssen wir noch ausfindig machen. Aber wir alle sind aus einem bestimmten Grund hier, und ich denke, wir sollten diesen Grund an den Tag legen und daran arbeiten. Eigentlich gibt es mehrere Gründe. Zuerst hatte ich die Vorstellung, daß wir der Gesellschaft wegen zusammenkommen sollten, die keiner von uns finden konnte - weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Dann fand ich heraus, daß einige von uns befreit werden mußten, damit wir unser Bestes geben oder überhaupt etwas vollbringen konnten. Die Ärzte konnten uns helfen, und die Lehrer konnten einigen helfen, und ich hatte gehofft, daß wir uns alle gegenseitig helfen könnten. Einige von uns waren regelrecht gefangen, andere hatten keine Perspektive für ihre Tätigkeiten, und einige von uns waren geistig oder seelisch verwirrt. Stella wird nichts dagegen haben, wenn ich mich hier auf sie beziehe. Stella, willst du uns allen erzählen, was du mir letzte Woche berichtet hast?« »Ja, das will ich. Meine Auffassung von mir selbst war völlig konfus und falsch. Ich hatte mir eine Art Erklärung ausgearbeitet, doch als ich den Rest von euch kennenlernte, wurde mir klar, daß ich mich geirrt hatte. Also unterhielt ich mich mit Dr. Welles, und ich hoffte, daß ich jetzt auf dem richtigen Weg bin. Aber die wirkliche Hilfe bestand darin, hier zu sein und euch zu kennen, denn das ließ mich einsehen, daß ich falsch liegen könnte. Dr. Welles sagte, ich hätte mir alles sehr intelligent zurechtgebogen, doch ohne ausreichende Kenntnis der Tatsachen, so daß alles Stückwerk bleiben mußte. Und denen von euch, die vor einer Weile glaubten, Fred werde sie zum Wahnsinn treiben, möchte ich sagen, gebt ihm Zeit, und behandelt ihn anständig, denn bevor ich hier war, war ich bei weitem nicht so vernünftig wie er.« Diese direkte Anspielung auf den Jungen, der ihr größter Quälgeist gewesen war, ließ die anderen losrufen. »Danke«, sagte Fred laut. »Darf ich darauf antworten, Herr Vorsitzender?« 166
»Bitte nicht jetzt, Fred«, sagte Tim. »Wir können alle austeilen, und wir können alle einiges vertragen. Aber wir sind hier, um mit dieser Sache weiterzukommen.« »Richtig«, sagte Fred und setzte sich wieder. »Ich wollte also nur klarstellen, daß wir alle hier sind, um zu helfen und damit uns geholfen wird, und daß die Erwachsenen uns helfen werden, wo sie nur können. Die Erwachsenen sind unentbehrlich; sie haben die langjährige Erfahrung, die Ausbildung, die Praxis und das Wissen. Doch es werden so viele andere Dinge auf uns zukommen. Zum Beispiel die Frage, die Beth und ein paar andere letzte Woche mit Dr. Welles diskutiert haben: Warum sinken so viele intelligente Kinder beim Aufwachsen auf ein niedrigeres Niveau ab? Wird das auch mit uns geschehen? Werden wir als Erwachsene kaum noch intelligenter sein als andere Leute? Was können wir dagegen tun?« In Kindern liegt manchmal eine Ernsthaftigkeit, zu der Erwachsene kaum fähig sind. Trotz all ihrer Intelligenz konnten diese Kinder immer noch völlig ernst sein, wenn sie etwas wirklich interessierte. Kein Zynismus, keine Befangenheit und keine Pose unterbrach ihren Eifer, als sie dieses Problem in Betracht zogen. »Max?« »Meiner Meinung nach geben die anderen ihre Überlegenheit aus einer Mischung von Verzweiflung und Einsamkeit für menschliche Gesellschaft auf«, sagte Max. »Einige spezialisieren sich zu sehr«, sagte Giles. »Wie Darwin; er gab die Musik, die Dichtkunst und alle anderen Künste auf, um sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Wenn man einmal damit anfängt, seinen Horizont einzuengen, engst er sich immer weiter ein.« Dem folgte donnernder Applaus. »Wir haben damit begonnen, über dieses Thema Arbeitspapiere zu erstellen«, sagte Tim. »Und wir sammeln auch Material über das Absolute. Nun, aus diesem Grund habe ich mir einen Plan für die Gruppe ausgedacht.« Tim räusperte sich, reckte die Schultern und fuhr fort: »Ich glaube, daß wir etwas Großes bewerkstelligen müssen. Nicht nur unsere individuellen Projekte und unsere persönlichen Beiträge, nicht nur, daß sich jedes Individuum gänzlich entwickelt, nein, auch etwas als Gruppe, das zu groß für eine einzelne Person ist, selbst für einen von uns. Und ich 167
habe darüber nachgedacht, wie wir das anstellen können.« Sie waren alle still und lauschten jeder Silbe. »Der letzte Mensch, der fast alles wußte, was früher bekannt war, lebte im dreizehnten Jahrhundert - Albertus Magnus. Seit dieser Zeit hat sich das Wissen so schnell entwickelt, daß sich die Leute spezialisieren müssen. Selbst zu seinen Zeiten bedurfte es eines überaus außergewöhnlichen Mannes, um alles zu wissen, was bekannt war, und alles zusammenzustellen und zu korrigieren, egal, wie locker wir diesen Ausdruck fassen. Aber wir als Gruppe können wirklich das Wesentliche all dessen, was bekannt ist, wissen, und sogar noch etwas mehr. Wir haben die Intelligenz und den guten Willen - hoffe ich -, und wir haben unsere gegenseitige Hilfe. Wie ich es sehe, müssen wir alles verstehen lernen und in einen Bezug bringen. Jeder von uns spricht zwei oder drei Sprachen, und man könnte sagen, daß Elsie sowohl die Dichtkunst als auch die Wissenschaften begreift obwohl noch nicht die Mathematik! - und wirklich beginnt, Philosophie in Dichtkunst und Dichtkunst zurück in sowohl Fakten als auch Handlungen verwandelt. Die Wahrheit ist eins, und wir müssen diese Einheit, diese eine Wahrheit - so sehe ich es - suchen und finden. Ich meine keine philosophische Wahrheit, noch weniger eine religiöse, und im Moment weiß ich noch nicht einmal, was wir eigentlich genau suchen. Wenn wir all unser Wissen in Einklang und Harmonie gebracht und alles interpretiert und miteinander geteilt haben, dann werden wir alle verstehen. Jedes Spezialgebiet, und wir haben mehr als eins, muß in Bezug zum Ganzen gesetzt werden, und jedes Individuum zur Gruppe, denn endlich besitzt diese Welt eine Gruppe Menschen von ausreichender Intelligenz, um die Gesamtheit zu verstehen, obwohl ihre Einzelteile so sorgsam herausgearbeitet und so kompliziert sind. Unser Ziel ist es, zu vereinfachen und zusammenzufassen. Ich habe schon mit einigen von euch einzeln darüber gesprochen, deshalb sage ich >unser Ziel<, weil sie alle gleich darüber denken. Es ist nicht nur meine Idee, sondern auch die ihre, und hoffentlich wird es eines Tages die Idee von uns allen sein.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Würdet ihr jetzt bitte darüber diskutieren?« Jay sprach als nächster. »Tim und ich haben uns gedacht, ein jeder könne sich ein Spezialgebiet auswählen und daran arbeiten«, sagte er, »denn da wir 168
nicht alles wissen können, müssen wir versuchen, alles zu verstehen. Man nehme zwei Wahrheiten, die scheinbar in keinem Beziehung zueinander stehen, und finden die Beziehung heraus. Thomas von Aquin hat gesagt, er sei darüber am dankbarsten, daß er jede einzelne Seite verstanden habe, die er jemals gelesen hat. So wollen wir auch sein.« »Hat Korzybski nicht etwas Ähnliches getan?« fragte Fred. »Er hat es wohl versucht, aber er hat schrecklich viel ausgelassen - ganze Wissenszweige und Erfahrungen, wie etwa die Religion«, sagte Tim. »Auf jeden Fall habe ich diesen Eindruck. Seine Texte sind manchmal so verwirrend - ich habe seit Jahren sehe keinen mehr gelesen, aber diesen Eindruck hatte ich jedenfalls. Auf jeden Fall müssen wir es versuchen. Es wird Jahre, wen nicht Jahrzehnte dauern, aber wir müssen immer daran denke und daran arbeiten.« »Ich werde Dichtkunst und Sprachen nehmen«, sagte Stell. »Tim sagte. Sprachen seien dabei nicht wichtig, aber das glaub ich doch, zumindest, sobald man seine eigene Sprachgruppe verläßt, und ich werde es auch beweisen. Sprache wird durch ständige Entwicklung .geformt und hat einen Bezug zur Kultur. Max wird die Mathematik als Sprache nehmen, und Giles die Musik.« »Ich werde Psychologie und Philosophie nehmen«, sagte Tim »Wißt ihr, daß es in der Psychologie noch keine Synthese gegeben hat? Keine Schule hat auch nur eine der anderen beachtet. Es hat alle möglichen Arten von Schulen gegeben – Behaviorismus, Jung, Adler und Freud, und scholastische Psychologie, und funktionelle, und Parapsychologie und noch viele andere interessant Nebenlinien. Niemand hat je eine Arbeit über Jungs Animusauffassung und zugleich über die Anima verfaßt. Ich meine...« E wollte zu einer Erklärung ausholen, doch Beth unterbrach ihn. »Du meinst, daß es Haggards Sie und andere Bücher dieser AI gibt, aber keine Frau jemals über einen Mann geschrieben hat, de der Animus ist.« Stellas Mund klappte weit auf, und alle schauten sie an. »Ich glaube, Marie Corelli hat solch ein Buch geschrieben« sagte sie, nachdem sie nach Luft geschnappt hatte. »Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich werde daran arbeiten. Nun, einige meiner eigenen ...« »Gut!« triumphierte Tim. »Du bist genau die Richtige dafür Stella!« 169
»Ich will auch etwas über Psychologie machen«, sagte Elsie. »Im Moment möchte ich mich mit Anomalitäten beschäftigen, körperlichen, geistigen und psychischen - alle Abweichungen von der Norm, ob vorteilhaft oder nicht. Dr. Foxwell meint, ich müsse damit warten, bis ich erwachsen bin.« »Und wir müssen die Philosophie all dessen ausdrücken«, rief Jay. »Wir müssen alle gemeinsam daran arbeiten.« »Bildhauerei, Malerei und Architektur, wie sie eine Gesellschaft ausdrücken und beeinflussen«, erinnerte ihn Giles. Dann sprachen sie alle durcheinander, bis Tim wieder aufstand und mit dem Hammer auf den Tisch klopfte. »In Ordnung. Also haben wir es alle begriffen. Es bedeutet jahrelange Arbeit, und die gesamte Arbeit muß von der ganzen Gruppe respektiert, beobachtet und diskutiert werden. Wir müssen soviel wie möglich veröffentlichen, um den allgemeinen Wissensstand zu erhöhen, doch es darf nichts vorzeitig veröffentlicht werden, was mit dieser Aufgabe zusammenhängt.« »Du hast etwas davon gesagt, wir sollten alles verstehen, was wir lesen«, sagte Giles. »Wie stellst du dir das vor? Manche Dinge sind einfach Unsinn.« »Wir müssen es trotzdem verstehen. Wir müssen verstehen, was der Autor meinte, was er versuchen wollte, welche psychologischen Motive ihn leiteten und wo und warum er irrte«, erklärte Tim. Er endete glücklich: »Psychologie ist das Faszinierendste überhaupt!« »Dichtkunst in einen Bezug mit der Musik setzen, und Musik mit der Sprache«, sang Elsie leise vor sich hin, »Sprache mit Mathematik, und Mathe mit den Naturwissenschaften; physische Prozesse mit chemikalischen ...« » ... und chemikalische mit biologischen«, nahm Max den Faden auf. »Biologische mit psychologischen und psychologische mit metaphysischen und philosophischen ... Große Lücken, die noch nicht geschlossen sind ... Verwandte, aber nicht vermischte Dinge...« Tim bearbeitete wieder den Tisch. »Und darüber hinaus«, sagte er, »müssen wir unsere Einzelarbeiten fortführen. Wir müssen Erfindungen und Entdeckungen aller Art nachspüren. Und wir müssen hier und jetzt leben; deshalb würde ich sagen, daß es an der Zeit ist. Sie werden gleich kommen und uns ins Bett jagen, und morgen können alle, die 170
daran Interesse haben, uns bei der Arbeit am Swimmingpool helfen. Ich habe die Stelle heute Nachmittag ausgestochen, und wenn das gute Wetter anhält, können wir uns vielleicht an die Arbeit machen.« Zwei Tage später spielte Peter Welles routinemäßig die Tonbänder ab, die sich bis dahin angesammelt hatten. An den meisten war er kaum interessiert, doch als er die Aufzeichnung dieser Versammlung abhörte, begab er sich schleunigst auf die Suche nach seinen Kollegen. »Was ist los? Bauen sie ein Raumschiff? Oder wieder ein Streich?« fragte Mr. Gerrold. »Mehr als das«, sagte Peter. Sie lauschten, und was sie hörten, ließ sie die Luft anhalten. Schließlich atmete Dr. Foxwell tief ein und sagte mit zitternder Stimme: »Ich glaube nicht, daß sie das schaffen.« »Ich bin sicher, daß sie es schaffen werden«, sagte Miss Page. »Sie werden den Lauf der ganzen Weltgeschichte ändern und einen Hebel finden, mit dem sie die Welt aus den Angeln heben können«, sagte Mr. Curtis. »Ja, und daneben bauen sie zweifellos einen Swimmingpool und ein Raumschiff«, sagte Mr. Gerrold. »Zweifellos«, sagte Dr. Peter Welles. Es klopfte an der Tür. Rotwangig und atemlos vom Laufen, strichen Beth und Stella ungeduldig auf dem Gang herum, bis die Tür geöffnet wurde. »Bitte, Max sagt, es sei sinnlos, schon mit dem Swimmingpool anzufangen«, keuchte Beth, »weil es bald regnen wird. Ist es in Ordnung, wenn wir eine Rollschuhbahn anlegen und den Zement dafür verwenden? Wir können den ganzen Winter Rollschuhlaufen und im Frühjahr mit dem Pool anfangen.« »Wir werden sie nicht zu nah an die Gebäude bauen, weil das Rollschuhfahren so laut ist«, versprach Stella. »Gute Idee«, sagte Welles. »Fangt ruhig an.« Zwei Tage später wurden sie wieder mit Nachdruck daran erinnert, daß sie ein dringenderes Problem hatten als Rollschuhbahnen oder die Verbesserung der Welt. Elsie kam zu spät zum Frühstück in die Mensa gestürmt. »Wer hat an meinem Inkubator herumgespielt?« rief sie wütend. »Jemand hat die Hitze ganz, ganz groß gestellt! Die Eier sind gekocht\« 171
Die meisten aus der Gruppe blickten schockiert drein, aber ein paar grinsten auch. »Ich dachte, diese Dinger wären mit automatischen Temperaturreglern ausgestattet«, sagte Giles. »Wieso konnte man ihn so weit aufdrehen?« »Ich habe keinen Teuren gekauft«, sagte Elsie heftig. »Meiner war ein Modell Eigenbau und mußte eingestellt werden. Und ich habe so aufgepaßt... und ein paar doppeldottrige Eier haben sich so prächtig entwickelt. Und jetzt...« Sie riß ihren Stuhl hervor und warf sich heulend darauf. »Ich will kein Frühstück«, sagte sie. »Besonders«, und sie schaute auf die Tabletts, »keine Eier.« Dr. Welles bedeutete den anderen Kindern, ruhig zu sein. Sein Gesicht war ernst. Ein paar Kinder murmelten mitfühlend vor sich hin; sie alle beendeten das Frühstück hastig und verließen den Raum. Peter Welles bat Tim in sein Büro. »Irgend etwas geht hier vor«, sagte Tim wütend. »Das war kein Unfall. Und die anderen Dinge auch nicht. Haben Sie davon gehört? Was geht hier vor?« »Das wollte ich dich fragen, Tim«, sagte sein Freund. »Bist du sicher, daß es keine Unfälle waren?« »Ich habe ganz sicher nicht Beautys Käfig offengelassen, als sie läufig war«, sagte Tim. »Als sie entlief, wußte ich, daß jemand den Käfig geöffnet haben mußte.« »Hast du eine Idee, wer das sein könnte?« »Nein«, sagte Tim. »Was für ein Mensch würde so was schon tun? Alle Hunde hinauslassen ... der Welpe im Hühnerkäfig ... und Beths Comic-Strip zu stehlen... Und jetzt die Eier! Wer würde das schon tun!« »Es könnte fast jeder gewesen sein.« »Aber das sind doch so dumme, sinnlose Sachen!« rief der Junge. »Man würde niemals glauben, daß jemand, der seine Sinne noch beieinander hat, so etwas tut! Es kann keiner von uns gewesen sein, nicht wahr, Peter?« »Mit hoher Wahrscheinlichkeit doch«, sagte Dr. Welles. »Sprich nicht mit den anderen darüber, Tim, aber halte die Augen offen und versuche, einen Hinweis zu finden.« »Ich hatte gehofft, ihnen etwas zum Nachdenken gegeben zu haben«, sagte Tim. »Und auch die Rollschuhbahn. Ich wollte ... Nun, wir werden es eben herausfinden müssen, mehr nicht. Ich 172
soll besser nicht darüber reden?« »Einfach beobachten und lauschen. Komme zu mir, wenn du glaubst, du wüßtest es«, sagte Welles, doch hinter seinen ruhigen Gesichtszügen war er zutiefst betroffen. Aber es verstrichen mehrere Tage, ohne daß ihnen ein weiterer Streich gespielt wurde. Man schrieb Ende November, und die Abende waren kalt. Die meisten Kinder fanden sich jeden Abend nach dem Essen in der Aula ein, um dort zu spielen. Max arbeitete ein neues und sehr kompliziertes Spiel aus, das sechs Spieler, drei verschiedenfarbige Würfel und sechs verschiedene Spielbretter erforderte, von denen jedes einen Laden darstellte, der einem Spieler gehörte, und bei dem die anderen Kunden waren. Einige Kinder zogen es vor, einen Großteil ihrer Freizeit mit dem Ausarbeiten komplizierter Anachronistiken oder doppelsinniger Rätsel zu verbringen, die die anderen lösen sollten die, die leicht genug waren, wurden an Rätselzeitschriften verkauft -, und es fand ein fortwährendes Schachturnier statt, über das Giles akkurate Aufzeichnungen mit Graphiken und Karten führte. Besonders bei den Mädchen beliebt war »Wort und Frage«, das Beth in einem sehr alten Lesebuch gefunden hatte; aber sie hatte nie jemanden überreden können, es mit ihr zu spielen. (»Aber das ist viel zu schwer!« hatten die Erwachsenen immer gerufen.) Jeder Spieler schrieb ein Wort auf ein Blatt Papier, und die Zettel wurden in eine Schüssel geworfen. Dann schrieb jeder Spieler auf ein anderes Blatt eine Frage, die in eine andere Schüssel gelegt wurden. Dann zogen die Spieler ein Wort und eine Frage und schrieben einen Reim, in dem das Wort vorgestellt und die Frage beantwortet wurde. Stella bemerkte dazu, daß sich Gedichte nicht unbedingt reimen mußten, doch sowohl Beth als auch Elsie konterten, indem sie sich auf die Spielregeln beriefen, die ganz und gar keine Dichtkunst, sondern Reime verlangten. »Übung im Reimen«, sagte Beth zu Elsie im Vertrauen, »wird Stella gut tun.« Es war Samstag, an einem Nachmittag. Dr. Foxwells Telefon klingelte. »Hallo? Hallo?« 173
»Ist dort die Schule von Dr. Welles?« »Ja.« »Einer Ihrer Schüler wurde bei einem Verkehrsunfall getötet.« »Was!« »Einer Ihrer Schüler ist tot. Es geschah bei einem Verkehrsunfall in der Vier...« Es klickte, und die Leitung war tot. Einen Moment später stürmte Mark Foxwell in Peter Welles' Büro. »Kommen Sie mit in mein Büro... Wir wurden unterbrochen ... Er könnte noch einmal anrufen.« Aber als er die Botschaft wiederholt hatte, hatte das Telefon nicht mehr geklingelt. »Wir wurden unterbrochen, als er mir erzählen wollte, wo es passiert ist«, sagte er. »>Vier.. .< - es könnte die Vierzehnte oder die Vierzigste Straße oder Avenue sein. Und die Vierzehnte Straße verläuft geradewegs nach San Leandro. Davon abgesehen, wird man das Kind wahrscheinlich in ein Hospital oder ins Leichenhaus oder hierher bringen ... Es hängt alles von dem ab, der am Unfallort die Sache in die Hand genommen hat. Peter ...« »Moment mal«, sagte Peter Welles. »Wer wurde getötet?« »Hat er nicht gesagt.« »Junge oder Mädchen?« »Hat er nicht gesagt.« »Wer hat angerufen?« »Hat er nicht gesagt. Gedämpfte, erregte Stimmen. Hörte sich an wie eine Frau. Wer ist draußen?« »Am Samstagnachmittag? Wahrscheinlich alle. Betätigen Sie die Essenglocke, und rufen sie jeden herbei, der auf dem Gelände ist. Ich werde das Buch überprüfen, wer sich ausgetragen hat.« »Betätigen Sie die Glocke«, sagte Dr. Foxwell. »Ich werde in den Krankenhäusern und bei der Polizei anrufen und versuchen, nähere Einzelheiten zu erfahren.« Auf den Klang der Glocke eilten die Curtis' und Mrs. Waters herbei, und Mrs. Waters konnte berichten: »Sie sind alle draußen, Doktor, und auch Miss Page, Mr. Gerrold und mein Mann. Und jedes Kind hat ins Buch eingetragen, daß es bis halb sechs draußen bleiben wird. - Wenn es Elsie ist...« fügte sie hinzu und fing an zu schluchzen. »Wenn es Jay ist...« sagte Mrs. Curtis und hielt abrupt inne. 174
»Ich habe bei allen Krankenhäusern in der ganzen Gegend angerufen, und bei der Polizei«, sagte Dr. Foxwell. »Es liegt nichts vor. Habe aber das Telefon blockiert, so daß uns niemand anrufen konnte. Alle Kinder haben Schulausweise bei sich, nehme ich an?« »Ganz bestimmt. Wenn ein Kind ein neues Portemonnaie bekommt, füllt es zuallererst einen neuen Schulausweis aus und steckt ihn hinein«, sagte Miss Page, die gerade zurückgekehrt war. »Außerdem hat jemand angerufen.« »Ob es Zweck hätte, die möglichen Straßen abzufahren?« fragte Mrs. Waters. »Wir müssen doch irgend etwas tun.« Dr. Foxwell schüttelte den Kopf. »Wenn wir dort ankämen, hätte man alles schon geregelt, und wir würden am Unfallort vorbeifahren, ohne ihn zu bemerken. Nein, die Polizei oder die Krankenhäuser müßten uns jetzt jede Minute zurückrufen. Oder es wird jemand kommen. Können wir etwas tun?« »Ich werde neben dem Telefon sitzenbleiben«, sagte Mr. Curtis trübsinnig. »Soviel kann ich tun.« »Ich werde zum Tor zurückgehen und dort aufpassen«, sagte Mrs. Waters. »Die anderen Kinder könnten zurückkommen, und ich kann dort sein, um es ihnen zu erzählen.« »Warum ruft niemand an?« grämte sich Mrs. Curtis. »Vielleicht waren ein paar andere dabei und sind schwer verletzt worden. Vielleicht ruft deshalb niemand an. Ich werde alle Häuser abklappern, nur für den Fall... Vielleicht sind sie zu beschäftigt, um anzurufen, doch sie könnten die Kinder herbringen.« Die beiden Frauen verließen den Raum, und Mark Foxwell bedeutete Peter Welles, nach draußen zu kommen. Mr. Curtis ließen sie neben dem Telefon zurück. »Mittlerweile«, sagte Peter, »hätten wir etwas hören müssen. Fast eine halbe Stunde ist verstrichen.« Er blieb stehen und schaute den Arzt an. »Das denke ich langsam auch«, sagte Foxwell. »Sie meinen, selbst wenn wir unterbrochen würden - und so etwas geschieht nicht oft -, gibt es keinen Grund, warum man uns inzwischen nicht noch einmal hätte anrufen sollen.« »Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken«, sagte Peter Welles. »Aber langsam glaube ich, daß man uns wieder einen Streich gespielt hat. Sie sagen, die Stimme hätte überhaupt nichts 175
Definitives gesagt - etwa >Ein Junge wurde getötet<, oder >ein Mädchen<. Wenn man weiß, daß das Kind hier zur Schule geht, kennt man auch seinen Namen. Entweder kennt man es persönlich, oder man hat den Schulausweis gelesen. Normalerweise beginnen die Leute damit, indem sie den Namen nennen und dann versuchen, einem die Nachricht sanft beizubringen. Man würde sagen: >Ist... äh ... Timothy Paul ein Schüler von Ihnen ?< oder so etwas. Es ist nicht völlig unmöglich, daß jemand >ein Schulen sagen würde, doch immerhin unwahrscheinlich. Die Leute sagen fast unvermeidlich >Ein Mädchen ist verletzt worden<, oder >Ein Junge ist überfahren worden< und ... aber das wollte ich den anderen nicht sagen.« »Am besten warten wir ab«, stimmte Dr. Foxwell zu. »Aber ich werde die Polizei noch einmal anrufen.« Zwei Minuten später legte er den Hörer auf. »In der ganzen Bay Area ist heute Nachmittag kein einziges Kind getötet worden, außer, es ist innerhalb der letzten fünfzehn Minuten geschehen«, sagte er. »Zumindest liegt der Polizei kein Bericht vor. Vielleicht ist jemand verletzt worden, und der Anrufer hat übertrieben. Aber die Kinder werden ja bald kommen.« »Eins der Mädchen kommt gerade durchs Tor«, sagte Peter Welles, der in diese Richtung schaute. »Es ist Elsie. Ich werde sie fragen, ob sie weiß, wo die anderen sind.« Mrs. Waters hatte bereits gefragt. »Elsie sagt, sie sei mit Stella zur Bibliothek gegangen, und Stella hätte lesen wollen, so daß Elsie allein um den See spaziert ist. Danach hat sie Stella nicht mehr gesehen.« »Ich habe meine Bücher dagelassen, und nachdem ich um den See spazierengegangen bin, ging ich wieder hinein und holte neue Bücher, aber Stella habe ich nicht gesehen«, sagte Elsie. »Ich habe auch nicht nach ihr gesucht; ich dachte, sie wäre inzwischen irgendwo anders hingegangen. Warum? Es ist noch früh. Was haben Sie denn alle?« »Es könnte wieder einer dieser Scherze sein«, sagte Dr. Foxwell, »aber... bestimmt hätten wir inzwischen etwas gehört! Jemand rief vor fast einer Stunde an und sagte, einer von euch wäre bei einem Verkehrsunfall verletzt worden. Aber ... da kommt einer der Jungs! Fred, bist du in Ordnung. Wer war bei dir?« Um siebzehn Uhr fünfzehn fehlten nur noch Max und Beth. Die anderen erwarteten sie mehr mit Spannung als mit Angst; und 176
kurz bevor die Uhr die halbe Stunde schlug, kamen die beiden den Hügel hinaufgeeilt; sie hatten den gleichen Bus von der Stadt genommen. Nicht noch so viele Fragen - und jeder befragte jeden - führten irgendwohin. Keine zwei Kinder waren zusammengewesen. Tim und Jay hatten ein großes Warenhaus erforscht, um schon einige Weihnachtsgeschenke zu kaufen, waren zusammen gegangen und zusammen zurückgekehrt, hatten sich aber im Laufe des Nachmittags ein Dutzendmal getrennt und wieder getroffen. Sobald Tim die Gelegenheit bekam, unter vier Augen mit Dr. Welles zu sprechen, bestand er darauf, daß man einen Lügendetektor und einen Wortassoziationstest anwenden solle. »Dieser Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht, Tim, doch vielleicht wird es wirklich notwendig sein. Beruhigen wir alle uns erst einmal ein paar Tage. Schließlich ist ja kein wirklicher Schaden entstanden«, sagte Welles, obwohl er insgeheim die größten Zweifel hatte. »Es war grausam! Das wäre es nicht gewesen, wenn man einen bestimmten Namen genannt hätte. Wenn man den Curtis' gesagt hätte, Jay wäre verunglückt, oder Mrs. Waters, daß es Elsie sei... Aber nein, man mußte sie alle zu Tode erschrecken«, sagte Tim verbittert. »Nach dem ersten Augenblick waren wir eher verwirrt als besorgt; und wir konnten nicht trauern, weil wir nicht wußten, um wen wir trauern sollten. Als sich Dr. Foxwells Telefongespräche als negativ erwiesen, bekamen wir alle den Verdacht, daß es sich nur um einen Scherz handelte«, sagte Welles, um ihn zu beruhigen. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie überhaupt nichts unternehmen werden?« »Tim, es könnte Mr. Gerrold sein, oder Miss Page, oder Mrs. Waters. Das könnte auch bei den anderen Streichen der Fall sein.« »Miss Page!« schnaubte der Junge. »Ich habe die Wahl, alle Kinder wie Kriminelle zu behandeln oder ein wenig subtiler vorzugehen«, sagte Dr. Welles. »Ich werde es herausfinden, das verspreche ich dir. Aber gib mir ein wenig Zeit. Und nimm es nicht so ernst. Es besteht keine akute Gefahr, ich gebe dir mein Wort als Fachmann. Wir sind jetzt alle 177
gewarnt und passen genau auf. Inzwischen verbiete ich dir ausdrücklich, irgendwelche Wortassoziationstests oder etwas Ähnliches auszuprobieren. Du mischt dich überhaupt nicht ein, Timothy. Überlasse es mir. Versprochen?« »Noch ein Streich, Peter, und alle Versprechen sind hinfällig«, sagte Tim grimmig. »Bis dahin verspreche ich es Ihnen, in Ordnung.« »Noch ein Streich, und ich verspreche dir, daß ich alle notwendigen Schritte einleiten werde, einschließlich Daumenschrauben.« »In Ordnung.« Besänftigt schritt Tim hinaus. Ein paar Abende später hatten sich die Kinder in der Aula zusammengefunden. Beth tuschte gerade die letzten Striche eines Cartoons für »Nichts Neues«. Er zeigte einen älteren, heruntergekommenen Wagen, in dem zwei alte Damen saßen, die gerade an einer Tankstelle Benzin erstanden hatten. Die eine alte Dame fragte die andere: »Bist du sicher, daß er voll ist?«, worauf der Wagen erwiderte: »Hick!« »Das ist gerade eben so intelligent, wie man es von uns erwartet«, sagte Max anerkennend. »Es ist schwer, nicht wahr, sich immer darauf zu beschränken?« »Nun, wir können auf andere Arten intelligent sein«, sagte Beth fröhlich. »Wie kommst du voran, Max?« »Unser großes Spiel ist zu kompliziert, sagt Mr. Gerrold, aber ich habe eine Idee für ein anderes. Hast du noch etwas verkauft, Stella?« »Ich konzentriere mich darauf, den Roman über Petra zu Ende zu schreiben«, gab Stella zurück. »Was hast du in letzter Zeit so gemacht, Fred? Irgendwelche neuen Patente?« »Ich bin mit dem Chitin noch nicht weitergekommen«, sagte Fred. »Das ist eine harte Sache. Aber ich hatte ein paar Ideen, und diese beiden Patente werden wahrscheinlich zugelassen. Und ich könnte an einer neuen guten Idee arbeiten, wenn ich ein paar Kühe halten darf.« »Kühe?« fragte Giles. »Die Milch können wir sicher gebrauchen. Hast du schon um Erlaubnis gebeten?« »Nein, noch nicht. Ich wollte die theoretische Arbeit zuerst abschließen«, sagte Fred. »Dann brauche ich ein paar Kühe, um sie zu überprüfen.« 178
»Willst du uns die Idee verraten?« »Folgende Idee: Wißt ihr, daß bei einer Kuh, wenn sie Zwillingskälber hat und eins männlich und eins weiblich ist, das weibliche steril ist?« »Ein Zwitterrind«, nickte Elsie. »Ja. Ich nehme an, der Grund ist euch allen bekannt. Die Hormone des männlichen Kälbchens geraten ins Blut der Mutter und beeinflussen das weibliche Kälbchen. Vielleicht ist es möglich, einen Test zu entwickeln - einen biologischen, wenn nicht chemischen -, um schon früh festzustellen, ob das Kalb männlich oder weiblich ist, wenn es nur eins gibt. Bei kleinen Tieren, die große gemischte Würfe haben, klappt es nicht. Aber es sollte möglich sein, es frühzeitig festzustellen, und wenn man eine Färse haben will, und es war ein Bullenkalb, könnte man es abtreiben und müßte nicht soviel Zeit verschwenden«, erklärte Fred. »Zweifellos wird es auch bei Menschen funktionieren; so etwas wie der Froschtest in der Frühschwangerschaft. Das will ich auch ausarbeiten; vielleicht finden die Ärzte einen Ort, wo man es testen kann, sobald ich es ausgearbeitet habe.« Die anderen Kinder schauten sich an. »Vielleicht will eine Mutter wissen, ob sie einen blauen oder einen rosa Strampelanzug häkeln muß«, sagte Beth. »Oh ja, ich glaube schon, daß man es anwenden kann, um die natürliche Neugier zu stillen«, sagte Fred. »Aber ich dachte eher, da die Leute selten mehr als ein oder zwei Kinder haben wollen, wäre es doch sinnlos, wenn sie ein Kind des Geschlechts bekommen, das sie nicht haben wollen. Man könnte das Geschlecht des Fötus von der achten Woche an feststellen und ...« »Du!« Tim sprang so plötzlich auf die Füße, daß er seinen Stuhl umstieß. »Du bist es!« rief er. »Du bist derjenige, der uns all diese Streiche gespielt hat!« »Aber wie ...«, rief Giles erstaunt. »Woher ich es weiß? Ganz einfach. Es mußte derjenige sein, der überhaupt nichts kennt außer seiner Intelligenz. Jemand, der auf gefühlsmäßiger Seite völlig unterentwickelt ist«, schrie Tim. »Einer, der überhaupt keine richtigen Gefühle hat. Nur solch ein Mensch könnte sich einen Plan ausdenken, wie er ihn uns eben unterbreitet hat. Er hat sich soeben verraten!« »Das stimmt«, sagte Elsie aufgeregt. »Es muß Fred sein. Er 179
weiß überhaupt nicht, was man für seine eigene Arbeit empfindet, oder was man davon hält. Kälbchen oder Babys oder so was zu töten. Welche Gefühle man seinen Haustieren entgegenbringt. Und die Cartoons ... Was die Leute für die Quatschköpfe empfinden, und wie sie sie vermissen würden.« »Könnt ihr denn überhaupt keinen Spaß vertragen?« sagte Fred hitzig. »Diese Streiche, das war doch nur ein Spaß, wer immer sie uns auch gespielt hat. Ich war's jedenfalls nicht...« »Wenn sie schon jemand für einen Spaß hält«, sagte Max grimmig, »dann wissen wir schon Bescheid. Deshalb sind Marie und Robin wohl auch nicht planmäßig gekommen. Dr. Welles hat nicht den Grund genannt, aber wir wußten, daß sie beinahe startbereit waren, und dann wurde ihnen abgesagt. Diese Streiche haben uns allen die Schule miesgemacht.« »Es gibt keinen Grund, aus dem die Leute meine Experimente benutzen sollten, außer ihre Neugier zu befriedigen«, sagte Fred stur. »Ich habe nicht behauptet, jemand müsse Kälbchen oder Babys töten, wie ihr es so sentimental ausdrückt.« »Scherze nennt er das, was er getan hat«, wunderte sich Giles. »Komm schon, Tim, gib uns eine Lektion in Psychologie.« »Nun, wie ihr wißt, macht eine Person, die auf einer Gefühlsebene lebt, die unglaublichsten, taktlosesten, dümmsten Sachen, wenn man sie mit einer Situation konfrontiert, in der sie nachdenken muß«, begann Tim. »Dinge ohne eine Spur gesunden Menschenverstand. Nun, auf die gleiche Art begeht eine Person, die nur für den Intellekt lebt und alle Gefühle ins Unbewußte verdrängt, die schrecklichsten Sachen gegen das Gefühlsleben. Wenn man eine Funktion völlig ins Unbewußte verdrängt, rächt sie sich an einem. Sie veranlassen die primitivsten, unmenschlichsten Sachen - wie Freds Streiche und stehen genau im Gegensatz zu dem, was ein intelligenter Mensch tun würde. Es will eine Überbetonung der anderen Seite kompensieren, kann dies aber nicht auf richtige Weise und wird völlig altertümlich.« »Du sprichst so, als ginge es um eine gespaltene Persönlichkeit«, sagte Giles. »Nun, das ist eine Redeweise, aber sie drückt die Art aus, wie die Dinge stattzufinden scheinen«, gab Tim zurück. »Bis zu dieser Stunde habe ich es nie richtig verstanden. Fred konnte auf einer normalen Basis nicht lieben, nicht einmal hassen. Er mußte etwas völlig Unmenschliches tun, damit es unter jeder Schwelle der 180
Liebe oder des Hasses liegt, die wir verstehen können, wenn wir unsererseits überhaupt gefühlsmäßige Seiten entwickelt haben. Diese Seite von ihm existiert und muß sich auch Ausdruck verleihen, hat aber keine Chance, dies auf einer menschlichen Ebene zu tun.« »Und der ganze Mist, von dem du letzte und vorletzte Woche geredet hast?« fragte Fred sarkastisch. »Ich dachte, du hättest gesagt, Liebe sei keine Emotion, sondern ein Willensakt.« »Sicher, diese Art von Liebe«, gab Tim prompt zurück. »Doch in einem menschlichen Wesen verläuft die Gemütsbewegung im Einklang mit dem Willen. Ein reiner Geist müßte lediglich mit dem Willen lieben - ich nehme an, daß muß er sogar -, doch menschliche Wesen haben auch Gefühle. Dein Wille hat jedoch alle Gefühle als verachtenswert unterdrückt. Doch der Wille gehört zur gefühlsmäßigen Seite, denn er wählt auf einer Liebe-Haß-Basis aus. Du hast dich geweigert, all das zu tun; du hast versucht, nicht zu lieben oder zu hassen und nur vernunftsmäßig vorzugehen. Du bist derjenige, der keinen Sinn in der Dichtkunst oder der Musik, der Kunst, der Schönheit, der Religion oder allem ähnlichen sieht.« »Ich dachte, ihr Thomisten behauptet, Religion sei etwas rein Intellektuelles«, sagte Fred. »Du hast niemals so etwas gedacht«, rief Elsie. »Du weißt, daß das Unsinn ist. Wenn du die Religion für eine rein intellektuelle Angelegenheit halten würdest, wärst du ihr gegenüber nicht so negativ eingestellt.« »Zuerst war ich im Glauben, es könne auch ein anderer sein«, sagte Tim, rückte den Stuhl gerade und setzte sich wieder. »Ich habe an dich gedacht, Max, bis ich dich bei deinem Spiel beobachtet habe.« Max keuchte und starrte ihn an. »An mich?« »Ich dachte, du hättest das Spiel erfunden, weil du keine Kinder magst und beweisen wolltest, daß die Gründung einer Familie mehr kostet, als sie wert sei«, erklärte Tim, »bis ich sah, wie du es spieltest. Da wußte ich, daß du gern immer mehr Kinder haben wolltest und das Spiel nur ein Weg war, Kinder zu bekommen oder einer großen Familie anzugehören. Der kostspielige Teil stellte eine Kompensation dar - du mußtest dich immer selbst daran erinnern, daß Kinder teuer sind, eben weil du so gern welche wolltest und deine Großeltern vollauf damit beschäftigt wa181
ren, ein einziges großzuziehen.« »Mann, was weißt du nicht alles«, wunderte sich Max. »Ich habe nie an so etwas gedacht. Aber du hast natürlich recht, Tim.« »Und dann dachte ich, es könnte Elsie sein, weil sie immer brav sein wollte, denn wenn man nicht in aller Offenheit explodieren kann, wird man es wahrscheinlich im geheimen tun. Aber ich halte Elsie für zu ehrlich für solch heimtückische Sachen. Hätte sie Radau machen wollen, dann hätte sie die Tiere vielleicht hinausgelassen, wäre aber gleichzeitig daneben gestanden und hätte euch ausgelacht. Und ich dachte sogar an Stella, weil manche ihrer Eigenschaften noch so unterentwickelt sind. Sie hätte eine unterentwickelte Gabe haben können, die auf ein verschrobenes, völlig sinnloses Verhalten hinausgelaufen wäre. Ich mußte jeden für den Täter halten. Ich habe sogar an Mr. Gerrold und Mr. Waters gedacht.« »Ich weiß, was du bei mir gemeint hast«, sagte Stella, »doch ich bin hauptsächlich auf der Empfindungsebene unterentwickelt. Weißt du, ich arbeite mit Dr. Welles daran.« »Aber Fred hat seinen Intellekt immer übertrieben«, fuhr Tim fort. »Das haben die Leute an ihm gemocht - er war so ein intelligenter Junge. Den einzigen anderen Wert, den sie in ihm sahen - so glaubte er zumindest -, lag in dem Geld, das der Staat bezahlte, damit sie sich um ihn kümmerten. Vielleicht war er auf diese Art immer besser dran als jeder andere, denn es gab nicht viel, was man an ihm mögen konnte. Er ist allem gegenüber so kaltblütig. Elsie hätte Babys vielleicht umgebracht, wenn sie böse auf sie war, aber sie hätte einen Grund haben müssen - etwa, daß die anderen eine Rakete bauten, wenn sie ein Gedicht schreiben wollte. Haß ist die andere Seite der Liebe und des Mitgefühls. Er ist verwandt mit der Liebe, doch Fred hat überhaupt nichts über die gefühlsmäßige Seite gewußt; das hat er alles unterdrückt. Er dachte, daß einzig Gute an ihm sei die geistige Seite, aber wir alle haben vier Eigenschaften und müssen sie alle irgendwie entwickeln. Man kann nicht nur einseitig sein, man muß vierseitig sein. Sehr intellektuelle Leute stellen die verrücktesten Sachen an. Jeder, der eine Eigenschaft entwickelt und die anderen dabei ausschließt, befindet sich nicht mehr im Gleichgewicht.« »Was sollen wir mit ihm machen?« fragte Max und warf Fred einen kritischen Blick zu. »Sollen wir ihn aus der Schule werfen?« »Wir sollten ihn Dr. Welles melden«, sagte Giles. 182
»Na, ich weiß nicht«, sagte Tim. »Warum erledigen wir das nicht unter uns?« »Ihn hinauswerfen, meinst du?« »Jetzt, wo wir wissen, daß er es war, können wir uns zuerst einmal anhören, was er zu sagen hat«, schlug Tim vor. »Es ist kein wirklicher Schaden entstanden«, sagte Fred nachdrücklich. »Ich weiß nicht, was das Ganze soll.« Doch seine Wangen hatten sich vor Scham und Zorn gerötet. »Das beklagen wir ja gerade!« rief Elsie. »Du weißt es einfach nicht!« »Hör mal, du willst doch hierbleiben und mit uns arbeiten, oder? Und du willst geheilt werden?« fragte Tim. »Geheilt!« sagte Fred wütend. »Bei mir muß nichts geheilt werden. Ihr redet, als wäre ich krank oder verrückt.« »Was würde Dr. Welles mit ihm machen?« fragte Giles. »Ihn heilen. Das heißt, wenn Fred geheilt werden will«, gab Tim wie aus der Pistole geschossen zurück. »Er würde seine anderen Eigenschaften entwickeln, damit er wirkliche Gefühle und eine gute Intuition bekommt und seine Sinne richtig anwenden kann. Fred weiß eine Menge - über gewisse Dinge vielleicht mehr als irgendein anderer von uns -, aber er versteht überhaupt nichts davon. Seine allmächtige intellektuelle Seite gestattet ihm keine Liebes-Haß-Wahl. Um der Entwicklung dieser Gabe zuzustimmen, müßte er seinen Willen verändern.« »Das ist doch alles sentimentaler Quatsch«, sagte Fred. »Was geht mich das überhaupt an?« Kalt blickte er den anderen Kindern entgegen. »Ist es dir egal, ob wir dich mögen oder nicht?« fragte Max. »Oder ob du überhaupt bei uns bleiben kannst?« »Ich kann auch zu Hause arbeiten«, sagte Fred. »Mir ist es egal, ob ihr mich gern habt; was sollte mich das kümmern! Aber wenn ihr so von mir denkt...« »Du bist ein Mensch«, sagte Max. »Ich weiß, du willst, daß wir dich mögen, weil du ein Mensch bist. Vielleicht lassen deine vernunftsmäßigen Kräfte nicht zu, daß du darüber nachdenkst, aber du willst es. Ich glaube jedoch, du warst eifersüchtig, als du herausgefunden hast, daß andere genauso klug wie du sind, und du wolltest es ausgleichen, indem du uns alle schikaniert hast. Und ich glaube, daß du hauptsächlich vergessen willst, daß es uns gibt - wenn du nach Hause zurückkehrst, kannst du es ja versuchen, 183
aber du wirst immer wissen, daß es ein Fehler war. Hör mal, Fred, willst du nicht dein Leben mit uns teilen und lernen, alle Seiten deiner Persönlichkeit zu entwickeln?« »Ich würde sagen«, meinte Elsie, »die wirkliche Frage ist -wollen wir ihn noch?« »Ja, wir wollen ihn«, sagte Tim, »weil wir menschlich sind. Er ist einer von uns, und er könnte so liebenswert sein, und wir bewundern ihn auf manchen Gebieten, und wir haben nicht genug Angst vor ihm, um ihn einfach hinauszuwerfen. Natürlich darf er jetzt, wo wir alles über ihn wissen, keinen weiteren Schaden mehr anrichten. Aber will er hierbleiben und lernen? Willst du, Fred?« »Wer ist dafür, daß er bleiben kann, wenn er will?« fragte Jay, und Elsies Hand hob sich als erste. »Siehst du, Fred, wir alle möchten, daß du hierbleibst. Du wirst vom Intellekt her am Studium der Psychologie Interesse finden, Fred. Dr. Welles wird dich ausbilden. Du brauchst ihm ja nicht zu sagen, warum.« »Psychologie ist keine Wissenschaft«, sagte Fred. Tim grinste. »Das hast du schon oft gesagt. In den Tagen Albert des Großen waren auch Astronomie, Biologie oder Physiologie keine Wissenschaften«, sagte Tim. »Wie wäre es denn, wenn du ganz unten anfängst und uns hilfst, eine echte Wissenschaft daraus zu machen? Beginne mit dem, was Dr. Welles weiß, und überlege, was man darauf aufbauen kann. Im Mittelpunkt des Studiums der Menschheit steht der Mensch, und wenn es noch keine Wissenschaft der Psychologie gibt, setzen wir uns schleunigst auf den Hosenboden und bauen eine auf.« Zum ersten Mal wirkte Fred interessiert. »Ich wollte keine Psychologie studieren - jedenfalls nicht die Art, von der ihr sprecht«, sagte er. »Da ihr jedoch auf diese Weise herausgefunden habt, daß ich es war, könnte etwas daran sein. Ich habe gedacht, ihr würdet es mit... hm, mit Sherlock-HolmesMethoden herausfinden, um ein archaisches Beispiel zu benutzen. Doch das meiste von dem, was ihr sagt, klingt wie schrecklicher Unsinn.« »Wenn Dr. Welles hier wäre - oder Carl Jung, oder jemand dieser Couleur, hätte er alles viel besser ausgedrückt.« »Nun, dann können wir ja. einen Handel abschließen«, sagte Jay rasch. »Wir werden Fred nicht verraten, die Streiche werden aufhören, und jeder wird sie vergessen. Fred wird zu Dr. Welles 184
gehen und der Sache einen ehrlichen Versuch schenken. Fred, du kannst ihm ja sagen, du hättest Tim, mich und die Mädchen darüber reden hören und wolltest jetzt mehr darüber wissen und diese Wissenschaft kennenlernen - oder diese sogenannte Wissenschaft, wenn du darauf bestehst; aber du bist besser höflich zu Dr. Welles. Es wird natürlich Zeit kosten, aber du willst ja verstehen, was vor sich geht.« »Weißt du, Fred, du kannst deine eigene menschliche Natur nicht verleugnen«, sagte Tim. »Gib der ganzen Sache eine Chance, um es dir selbst zu beweisen.« »Ich werde es versuchen«, sagte Fred. »Aber ich warne euch, ich glaube nicht, daß ich in dieser ganzen Psychologie einen Sinn sehen kann.« »Es ist einen fairen Versuch wert«, sagte Tim. »Mehr verlangen wir gar nicht von dir. Sag dir nur einfach immer wieder, daß irgendein Sinn darin liegen muß und daß du diesen Sinn herausfinden willst.« »Wenn es einen Sinn gibt«, sagte Fred, »dann werde ich ihn finden.« Tim und die anderen Kinder hielten Wort, doch das Tonband verriet Peter Welles und Dr. Foxwell die ganze Geschichte. Mit bleichen Gesichtern schauten sich die Erwachsenen an, als das Band ihnen alles enthüllte. »Oh, Tim, Tim«, seufzte Dr. Welles. »Warum mußtest du nur so damit herausplatzen?« »Stimmt das alles - was Tim gesagt hat?« »Die Frage ist, ob er es hätte sagen sollen«, gab der Arzt zurück. »Welcher Junge kann es ertragen, wenn man ihn so mit Vorwürfen bepflastert? Und Fred ist schrecklich stolz.« »Ich begreife nicht, worauf er stolz sein sollte«, sagte Mrs. Curtis. »Sein intellektueller Stolz ist zu einem äußerst hohen Grad ausgeprägt. Theologen sind der Meinung, durch diese Sünde würden selbst die Engel fallen - und wenn dies nicht in wortwörtlichem Sinne zutrifft, Mr. Gerrold, dann aber ganz bestimmt in psychologischem Sinn. Man hat Fred mit einer Direktheit, zu der nur Kinder fähig sind, die schrecklichsten Dinge vorgeworfen. Er ist stolz darauf, sehr, sehr überlegen zu sein, und sie haben ihn unmenschlich genannt. Sie sagten, er wisse nichts über Gefühle, sei auf die185
ser wichtigen Seite seiner Natur völlig unterentwickelt, wisse nichts über die Natur des Menschen und daß die Leute ihn nur wegen seines Intellekts schätzen. Und indem sie ihm sagten, er habe fast alles noch zu lernen, verkleinerten sie seinen Intellekt und sein Verständnis.« »Sie sind nicht der Meinung, sein Stolz könne das alles verkraften«, sagte Mr. Curtis. »Das war harter Tobak. Doch gegen Ende haben sie an ihn appelliert, und er schien darauf einzugehen.« »Ja, aber hat er dies auch ehrlich gemeint?« fragte Miss Page. »Er könnte doch nur so tun. Natürlich will er nicht schimpflich davongejagt werden. Wenn er den Gedanken verabscheut, daß ihm andere intellektuell gewachsen sind, wie sehr müßte er es denn verabscheuen, daß sie ihn sogar als minderwertig betrachten?« »Ich würde mich nicht zu sehr auf seinen guten Willen verlassen«, gestand Dr. Welles ein. »Für den Moment könnte seine intellektuelle Neugier angesprochen worden sein. Vielleicht gibt er sich damit zufrieden, zu hören, was ich anzubieten habe, selbst wenn er völlig dagegen ankämpft. Vielleicht hört er nur zu, um zu widerlegen, was ich ihm beibringen will. Diesen Geisteszustand finden Wir manchmal bei Atheisten, die gefühlsmäßig unterentwickelt sind und jedem vernünftigen Argument in bezug auf Religion widersprechen, weil für sie die ganze Religion gefühlsmäßig bedingt ist.« »Viele religiöse Menschen wären von der Vorstellung schockiert, die Religion vernunftsmäßig anzugehen«, bemerkte Dr. Foxwell. »Was jedoch Fred betrifft - glauben Sie, Sie können ihn auf den richtigen Weg bringen?« »Es wird behutsamer Arbeit bedürfen, um zu verhindern, daß seine alte Blindheit für alles andere außer der intellektuellen Seite seiner Psyche wieder zutage tritt, sobald die Auswirkung des Schocks, den er heute erlitt, erst einmal nachgelassen hat. Ich kann gar nichts tun, wenn sein Wille gegen mich eingestellt ist«, sagte Dr. Welles. »Wenn er seinen Intellekt bis zu solch einem Ausmaß verehrt, daß der Wille lediglich eine Marionette des Intellekts ist, und alle Gefühle unterdrückt werden, wird es einen harten Kampf geben. Ein Mensch, der gegen seinen Willen überzeugt wird, ist immer noch der gleichen Meinung wie zuvor. Zwei Dinge sprechen gegen mich: Tim ließ mir keine Gelegenheit, die Sache sanft in Angriff zu nehmen; er hat Fred alles erzählt, was er 186
am wenigsten hören wollte, und es auch allen anderen eröffnet. Freds Stolz verbleibt nur noch der Glaube, daß wir Erwachsenen nichts davon wissen. Jetzt werden wir seinen Stolz wieder aufbauen müssen. Wir sollten versuchen, ihm zu zeigen, daß wir ihn nicht nur seines Intellekts willen schätzen.« »Ja, und wir müssen alles daransetzen, ihm zu zeigen, daß wir ihn wirklich schätzen«, sagte Dr. Foxwell. »Nach solch einem zerschmetternden Angriff braucht er alle Ermutigung, die wir ihm nur geben können.« »Ich frage mich, ob er möglicherweise nicht doch gefährlich ist«, sagte Mr. Curtis. »Und ob wir ihn vielleicht fortschicken sollten.« »Nein«, sagte Dr. Welles. »Wir müssen ihm helfen. Er ist ein menschliches Wesen, ein Junge, der unserer Obhut übergeben wurde. Er ist uns genauso kostbar wie jedes andere Kind und darüber hinaus noch besonders begabt. Und er braucht uns mehr als die anderen. Ich würde eher die anderen fortschicken und Fred hierbehalten.« »Sollte er gefährlich sein, so ist dies nur noch mehr ein Grund, ihn hierzubehalten und zu heilen versuchen«, fügte Dr. Foxwell hinzu; »Wir können ihn nicht auf die Welt loslassen und angesichts der Auswirkungen die Köpfe in den Sand stecken.« »Genau. Alle anderen sind bis zu einem gewissen Grad in der einen oder anderen Hinsicht unvollkommen, doch nur Fred ist in jeder Hinsicht bis auf die intellektuelle Seite völlig unzureichend ausgestattet. Als Psychologe würde ich sagen, daß die derartige Überbetonung eines bestimmten Aspekts auf Kosten der anderen gefährlich ist - nicht nur für den Jungen und für uns, sondern auch für die ganze Welt. Menschen, die lediglich den Intellekt bewerteten, haben die Atomwaffe geschaffen und sie auf die Welt losgelassen, ohne zu wissen oder sich daran zu stören, was man alles mit ihr tun kann. Lange zuvor entwickelte ein ausgeglichenerer Erfinder das Unterseeboot und zerstörte seine Pläne, weil er fürchtete, die Menschheit könnte solch eine Erfindung zum Bösen einsetzen. Ich weiß nicht, was Fred vielleicht noch erfinden wird; doch wenn ich kann, will ich ihn davor bewahren, die menschliche Natur und die menschlichen Gefühle zu vergessen -und das, was Gefühle bewirken können. Es liegt in unserer Natur, alle vier Funktionen zu entwickeln, und derjenige, der seine eigene Natur verleugnet, ist in Gefahr und gleichzeitig gefährlich.« 187
»Selbst ein Teilerfolg wäre schon einiges wert«, sagte Dr. Foxwell. »Sie können nicht völlig versagen, Peter. Und Sie haben eine Chance; er hat versprochen, zu Ihnen zu kommen, und die anderen werden dafür sorgen, daß er sein Versprechen hält.« »Ich muß in einigen Büchern nachschlagen und überlegen, was wir ihm zuerst anbieten«, sagte Peter Welles und erhob sich langsam. »Bücher sind am besten, weil sie unpersönlich sind, wenn sie sie jemanden angreifen. Er kann dem Angriff allein entgegensehen, und es gibt keinen Zeugen für die Niederlage; niemanden, gegen den man zurückschlagen könnte. Ich hoffe nur, daß Fred wirklich zu mir kommt.« Er hätte mehr Vertrauen in die Wunderkinder haben sollen, denn an diesem selbigen Nachmittag kamen Tim und Fred in sein Arbeitszimmer. »Peter?« »Ja, Tim?« »Wir haben Fred etwas von den vier Funktionen der Psyche und so weiter erzählt, und er will mehr darüber lernen«, sagte Tim. »Könnten Sie sich die Zeit nehmen, ihn in der Theorie zu unterweisen?« »Ja, wenn er etwas darüber erfahren möchte«, gab Dr. Welles zurück, blickte ruhig auf und ließ sich seine außerordentliche Erleichterung nicht anmerken. »Ich kann dir einige Bücher empfehlen, Fred, und mich ein- oder zweimal die Woche mit dir unterhalten, wenn ich in der Schule bin.« »Hätten Sie jetzt Zeit?« fragte Tim. »Ich hätte in einer halben Stunde Zeit, wenn du dann noch einmal kommen würdest, Fred.« »In Ordnung, Dr. Welles.« Fred kam zurück, allein und aus eigenem Antrieb. Und das, so dachte Peter Welles, war mehr, als er für den Anfang erwarten konnte.
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KINDER DES ATOMS Die nächsten Wochen verstrichen friedlich. Es wurden ihnen keine Streiche mehr gespielt, und als die Erwachsenen keinen Grund mehr zur Annahme hatten, daß noch welche folgen würden, kamen mehrere neue Kinder zur Schule - Robin Welch, Rose Jackson, Marie Heath, Alice Chase und Gerard Chase. Die beiden letzten stellten sich als Vetter und Kusine zweiten Grades heraus, die nur verschwommen voneinander wußten, da sie von unabhängigen Stellen in Vormundschaft genommen worden waren. Robins Spezialität war die Paläontologie, doch er zeigte auch lebhaftes Interesse für Schlangen aller Art und verbrachte seine Freizeit in den Wäldern, um neue Exemplare für seine Sammlung zu fangen. Er war überglücklich, als man ihm erlaubte, ein Schlangenhaus zu bauen, und hatte nicht das geringste gegen die sorgfältige Inspektion einzuwenden, die die älteren Mitglieder der Schule dem Klapperschlangenkäfig widmeten. »Meine Familie hatte was gegen die Schlangen«, erklärte er eines Tages kurz vor Weihnachten, als Elsie seine neuen Tiere sehen wollte. »Die mit den Ringen ist die schönste«, sagte Elsie. »Eine wunderbare Korallenfarbe! Und wie mir die Spirale gefällt, in die sie ihren Schwanz windet! Was ist das wohl für eine mathematische Kurve?« »Da müssen wir Max fragen«, sagte Robin und legte die kleine Schlange wieder in den Käfig. »Du solltest mal eine Korallenschlange sehen, Elsie; sie sind wunderschön. Aber Dr. Welles will nicht, daß ich Giftschlangen kaufe.« »Vielleicht darfst du ein paar andere gefährliche Schlangen halten, wenn die Klapperschlangen nicht ausbrechen«, tröstete Elsie ihn. »Wann werden die nächsten Kinder kommen?« fragte Robin. »Gerard will eine Fußballmannschaft aufstellen.« »Dr. Welles hatte noch keine Zeit, sich um weitere Schüler zu kümmern. Es wurden über dreißig geboren, und nur von zweien wissen wir, daß sie gestorben sind, aber wir haben noch nicht alle ausfindig machen können.« »Hilfst du mir dabei, Würmer für die Schlangen auszugraben?« 189
fragte Robin. »Hallo, Fred - wolltest du meine Schlangen sehen?« »Nein, danke, ich habe sie schon gesehen«, sagte Fred. »Aber wenn du willst, helfe ich dir dabei, die Würmer auszugraben.« »Warum hast du eigentlich kein Haustier, Fred?« fragte Robin, holte einen Spaten und eine Gartenforke und gab Elsie ein Glas für die Würmer. »Ich wüßte nicht, warum ich eins haben sollte«, sagte Fred, wählte die Mistgabel und bedeutete Robin vorauszugehen. »Hunde sind manchmal nützlich, aber ich brauche keinen Blindenhund, und ich bin froh, daß die Welpen endlich verkauft sind. Die meisten Leute mögen Hunde, weil sie so sklavisch unterwürfig sind und nur leben, um ihr Herrchen zu verehren, wie Ben Bolts Sweet Alice. Dann kommt sich der Besitzer wichtig vor«, sagte er. »Oh, wenn das so ist«, meinte Elsie sarkastisch. »Und Katzen?« Fred hob mit der Gabel einen Klumpen wilden Grases an und zog einen Wurm aus den Wurzeln. Bevor er antwortete, ließ er den Wurm vorsichtig in das Glas fallen. »Sinnliche Leute mögen das Gefühl von Pelz«, sagte er, »besonders bei einem warmen, schnurrenden Tier. Und Katzen sind solch gnadenlose Jäger, daß manche Leute eine stellvertretende Grausamkeit an ihnen genießen. He!« Der Ausruf galt Elsie, die ihm das Glas mit samt dem Wurm und allem anderen an den Kopf geworfen hatte; er hatte sich gerade noch rechtzeitig ducken können. »Wenn ich jemanden weh tun will, erledige ich das selbst«, sagte Elsie überflüssigerweise. »Was hat dir dieser arme Wurm getan?« fragte Robin und hob den Wurm und das Glas wieder auf. »Meinst du mich oder den Lumbricus?« fragte Fred. »Hör zu, Elsie, ich weiß, daß du Katzen hältst, aber du brauchst keine Einmachgläser nach mir zu werfen. Wenn du das nochmal tust, wirst du es bereuen! Und du. Robin ...« »Ich habe dich nicht Wurm genannt«, sagte Robin ehrlich. »Ich bin neu hier, und ... sag mal, Elsie, machst du so was öfter?« »Es tut mir leid«, beteuerte Elsie mit rotem Gesicht. »Es war ein... eine Art Reflex. Fred, ich wollte das Glas nicht nach dir werfen, ehrlich nicht. Das ist mir nur so passiert. Sind wir jetzt we190
gen der Eier quitt?« »Eier?« fragte der verwirrte Robin. »Oh, vergiß es«, sagte Fred und errötete ebenfalls. »Ich habe dich sowieso nicht gemeint, Elsie. Ich meinte nur, warum kaufen die Leute Tims Katzen. Er bekommt gutes Geld dafür, deshalb verstehe ich, warum er sie züchtet. Aber ich verstehe nicht, warum die meisten Leute Katzen halten. Ich habe nur über den Grund nachgedacht, und ich sehe ein, daß das nicht sehr höflich geklungen hat. Ich nehme an, du hältst Katzen., weil Tun auch miete hält. Ich meine«, fuhr er schnell fort, als Elsie Anzeichen machte, daß ihr dies auch nicht gefiel, »er hat dir welche angeboten, also hast du sie genommen. Aber sie machen so viel Ärger - wie alle Haustiere. So viel Arbeit, wo man doch andere Dinge tun könnte. Ich habe nichts dagegen, Würmer auszugraben ...« - er trieb die Mistgabel in den Boden, warf einen Erdklumpen herum und brach ihn auf -, »von Zeit zu Zeit jedenfalls, aber müßte ich das jeden Tag tun, würde es mir auch nicht passen. Etwas spricht für Schlangen; sie bellen nicht und springen einen nicht immer an...« »Man muß sie auch nicht täglich füttern«, bemerkte Röbin. »Nun, es war nicht, weil ich Katzen habe, und auch nicht nur wegen der Eier - aber du machst mich so wütend, Fred! Du verstehst aber auch gar nichts!« »Warum halten Leute dann Katzen?« »Welche Eier?« fragte Robin. »Oh, das ist schon lange her. Robin«, sagte Elsie ungeduldig und kehrte zum eigentlichen Thema zurück. »Die Leute halten Katzen, weil sie Katzen mögen! Hast du eigentlich nie begriffen, daß Leute Sachen mögen können, die du nicht magst?« »Eine Menge Leute sagen, Katzen wären heimtückisch und falsch, doch das glaube ich nicht, jedenfalls nicht mehr als bei Schlangen«, sagte Robin und akzeptierte mannhaft, daß man ihm die Sache mit den Eiern nicht erklären würde. »Sie verhalten sich nur laut ihrer Natur. Wie Fred sagt, bellen Katzen nicht. Da sie keine Aasfresser sind, schleichen sie sich an ihre Beute an; und eine Katze hat genausoviel Recht auf ihr Fressen wie jedes andere Geschöpf auch.« »Ich mag Katzen, weil sie so selbständig sind«, sagte Elsie, »und so graziös und tüchtig. Ich halte sie für die perfektesten Tiere überhaupt, wie sie sich bewegen, wie sie springen, wie sie 191
sich ausruhen. Und wenn sie wollen, stellen sie eine gute Gesellschaft dar. Aber du, Fred, sprichst den Leuten die verderbtesten Gefühle zu!« »Schließlich ist ein Haustierchen ja etwas, das man streicheln soll«, sagte Robin. »Ich weiß nicht, ob man eine Schlange überhaupt Haustier nennen sollte. Die meisten Leute halten ein Haustier, um etwas Verständnis bei ihm zu finden. Ich halte Schlangen, weil sie interessant sind.« »Da sind drei Würmer!« rief Elsie und deutete auf einen Erdklumpen. »Fred, es tut mir leid, daß ich das Glas nach dir geworfen habe. Ich habe immer mit Sachen geworfen, als ich ...« » ... im Krankenhaus war!« unterbrach Fred schnell. »Oh, das ist kein Geheimnis - in der Irrenanstalt. Ich würde es Dr. Foxwell ja selbst sagen, aber dann müßte ich es wieder erklären, und...« »Oh, vergiß es - vergiß es«, sagte Fred. »Das mit den Eiern tut mir auch leid. Es hat keinen Sinn, ein Geheimnis daraus zu machen. Als ich gerade ein paar Tage hier war, habe ich den anderen ein paar schäbige Streiche gespielt. Robin; zum Beispiel habe ich Elsies Inkubator höhergestellt und alle Eier gekocht.« »Du brauchtest es nicht zu erzählen«, sagte Elsie, »aber da wir es zur Sprache gebracht haben, ist es wohl besser so. Es tut mir leid, daß ich es erwähnt habe, ich habe dabei einfach nicht überlegt. Aber du verstehst ja. Robin, daß wir nicht jedesmal, wenn ein neuer Junge oder ein neues Mädchen kommt, zurückgreifen und alles von Anfang an erklären können.« »Ich bin heute sowieso daneben«, gestand Fred ein. »Deshalb bin ich mit herausgekommen. Ich habe nach Tim und den anderen gesucht, um sie etwas zu fragen. Dich auch, Elsie ... du bist ja auch schon länger hier. Hast du eine Ahnung, wo Tim ist? Weißt du, Robin, Tim ist praktisch unser Häuptling.« »Ich glaube, sie sind alle in der Aula«, sagte Robin. »Das sind genug Würmer. Geht ihr ruhig; ich werde noch meine Schlangen füttern.« »Nein, ich möchte, daß du mit uns kommst«, sagte Fred. »Es ist kein Geheimnis dabei; auf diese Art brauchen wir den ganzen Hintergrund nicht erst groß und breit zu erklären. Ich brauche auch deine Hilfe. Komm schon!« 192
Die meisten Jungen und Mädchen waren in der Aula und lasen, hörten Radio oder aßen Äpfel, als das Trio dort eintraf; nachdem Fred sich umgeschaut und sich vergewissert hatte, daß die meisten von denen, die »schon länger« die Schule besuchten, anwesend waren, ging er nach vorn und schlug mit dem Hämmerchen auf den Tisch. »Wenn ihr nicht zuviel zu tun habt, möchte ich euch etwas fragen«, sagte er. »Ich habe darüber nachgedacht, und dann machte mich Elsie wütend, deshalb werde ich es jetzt tun.« Beth schaltete das Radio aus, und sie kamen näher heran und hörten zu. »Seit einem vollen Monat suche ich Dr. Welles auf«, sagte Fred, »und habe alles gelesen, was er mir gab, aber ich kann nicht erkennen, daß es irgendwohin führt. Ihr wißt ja, wie die Erwachsenen sind, sie brauchen ewig, um etwas getan zu bekommen. Wir leben mit einer anderen Geschwindigkeit. Nun, einige von euch wissen eine ganze Menge über diese Sache mit der Entwicklung der vernachlässigten und unterdrückten Persönlichkeitsfunktionen - und jene, die nichts darüber wissen, sind bitte ruhig; ich wende mich an jene, die etwas davon wissen -, und wenn ihr vielleicht auch nicht so viel darüber wißt wie Dr. Welles, wärt ihr auf jeden Fall nicht so langsam damit. Einige haben natürlich mehr darüber gelesen als ich und müssen es besser verstehen, denn ich verstehe es überhaupt nicht. Ich konnte nicht einen praktischen Vorschlag finden, und genau die will ich haben. Ich brauche etwas, mit dem ich arbeiten kann, damit ich sehen kann, ob ich irgendwelche Ergebnisse bekomme. Elsie sagte gerade, ich würde überhaupt nichts von allem verstehen. Welchen Sinn hat dieses ganze Herumtasten? Es ist doch Blödsinn, mir zu sagen, ich solle diese Funktion entwickeln und jene Funktion hervorheben und die andere Funktion aufleben lassen, wenn mir keiner sagt wie. Also sagt mir wie, und ich werde es versuchen.« Es herrschte ein verblüfftes Schweigen, bei dem alle Tim erwartungsvoll anschauten. »Auf diese Art habe ich wohl noch nie darüber nachgedacht«, sagte Tim, biß ein großes Stück Apfel ab und kaute überlegend. »Du mußt doch irgend etwas Konkretes tun können«, stimmte Max zu. »Wenn uns das nur einfallen würde«, gab Elsie zu bedenken. »Nun, dann überlegt«, sagte Fred. 193
»Wir können kein vollständiges Programm in fünf Minuten erstellen«, sagte Jay, »aber innerhalb von zwei oder drei Tagen müßten wir ein paar Vorschläge machen können. Reicht dir das, Fred?« »Das wäre schön«, sagte Fred. »Aber ich stehe direkt vor euch, falls einem doch noch etwas einfallen sollte. Ich erwarte kein vollständiges Programm; nur das, was man ein paar einfache Übungen nennen könnte.« Tim nickte. »Ich verstehe«, sagte er. »Wenn jemand blutarm ist, hat es ja auch keinen Zweck, ihm einfach zu sagen, er wäre anämisch und müsse kräftiger werden, und dann solange abzuwarten, bis er eine Möglichkeit dazu findet. Man müßte ihm zum Beispiel sagen, er solle jeden Tag ein Ei essen. Das richtet nicht gerade viel aus, aber es wäre auf jeden Fall eine schnelle, konkrete Hilfe.« »Schon wieder Eier?« sagte Elsie ein wenig zu laut. Dann fügte sie schnell hinzu: »Vielleicht kann das für uns andere auch von Nutzen sein. Wir könnten versuchen, auf die gleiche Art an unseren eigenen Schwächen zu arbeiten.« »Und die Vorschläge ausprobieren«, sagte Jay und schaute sehr interessiert drein. »Fällt irgend jemandem etwas ein? Geben wir doch das Herumschnattern auf und denken nach!« »Nun«, sagte Tim, »mir ist da etwas eingefallen. Wirst du alles tun, was wir sagen, Fred? Und es ehrlich ausprobieren und dir dafür auch genug Zeit nehmen?« »Klar«, sagte Fred, »wenn es euch so wichtig ist. Alles, was einigermaßen vernünftig klingt.« »Da gerade dein Intellekt überentwickelt ist, ist es unwahrscheinlich, daß du irgend etwas Vernünftiges brauchst«, merkte Stella an. »Alles in einem vernünftigen Rahmen ... alles, was möglich ist... alles, was ich tun kann«, sagte Fred ungeduldig. »Ihr wißt doch, was ich meine. Tim, wie sieht deine Idee aus?« »Ich habe eine Geschichte über Agassiz und einen seiner Schüler gelesen«, sagte Tim langsam. »Agassiz gab dem Schüler einen Fisch in einem Glas und trug ihm auf, kein Nachschlagebuch oder sonstwas zu Rate zu ziehen, sondern einfach dazusitzen und diesen Fisch zu betrachten, bis er alles darüber wisse, was es nur gab. Er wolle zurückkommen, wenn der Schüler seiner Meinung nach damit fertig sei. Also arbeitete der Schüler ein paar Stunden 194
daran und dachte, er sei fertig, doch Agassiz kam nicht zurück, und so schlug er wieder sein Notizbuch auf und begann von vorn und schaute sich den Fisch diesmal richtig an. Er arbeitete eine Woche daran, und als Agassiz zurückkam und die Notizen gelesen hatte, sagte er, sie reichten nicht aus. So verbrachte der Student weitere zwei Wochen damit, und erst danach hatte er wirklich gute Arbeit geleistet.« Tim hielt inne und biß wieder in den Apfel. »Das soll wohl den Gebrauch der Sinne entwickeln«, sagte Max. »Das könnte es«, sagte Tim. »Aber in einem seiner Bücher schrieb Gerald Vann, daß Mystiker aller Art, auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten, die Intuitionen ihrer Schüler entwickelt hätten, indem sie ihnen einen kleinen Gegenstand gaben, etwa ein Blatt, eine Blume oder einen Kiesel, den die Schüler dann in der Hand halten und stundenlang betrachten sollten, bis sie gelernt hatten, ihn wirklich zu sehen und seine Bedeutung zu erkennen.« >»Blumen in der rissigen Wand<«, zitierte Bein. »Ganz richtig. Und so«, - Tim biß vorsichtig ein kleines Stück Apfel ab und spuckte etwas in seine Hand -, »wird es deine erste Übung sein, Fred, diesen Apfelkern in die Hand zu nehmen und ihn so lange ruhig und sorgfältig zu betrachten, bis du dir vorstellen kannst, wie lange es dauern wird, bis dieser Kern zu einem Baum herangewachsen ist und selbst Früchte trägt.« Es brach ein fürchterliches Gelächter aus, und Fred sprang mit zusammengeballten Fäusten auf. »Ich meine es ernst«, sagte Tim. »Willst du es versuchen?« »Du hast es versprochen!« schrien alle anderen im Chor. »Du meinst das ernst? Einfach diesen Kern in die Hand nehmen, ihn anstarren und nachdenken ...?« »Bis du gewisse Dinge etwas besser verstehst. Genau«, sagte Tim. Fred ging zu Tim hinüber und streckte die Hand aus. »Seid bitte still«, sagte er. »Ich könnte irgendwohin gehen, wo ich Ruhe habe, doch ich möchte, daß ihr seht, wie ich es mache. Ich stehe zu meinem Wort.« Während Fred den Kern auf seiner Handfläche grimmig anstarrte, tauschten die anderen Blicke aus. Einige begannen, etwas auf Zettel zu kritzeln, die sie gelegentlich weiterreichten oder die Runde machen ließen. Einige aus der Gruppe fuhren mit dem 195
fort, was sie vorher gemacht hatten und warfen Fred von Zeit zu Zeit einen Blick zu. Einer oder zwei gingen auf Zehenspitzen zu den Regalen und suchten sich Bücher für ihre Studien heraus. Als Alice Chase eintrat, bedeutete ihr Vetter ihr zu schweigen und zog sie mit hinaus, wo er ihr erklärte, was hier vor sich ging. Nach einiger Zeit veränderte sich Freds Gesichtsausdruck. Er wirkte nachdenklich, dann interessiert, und dann fing er an zu grinsen. Schließlich stand er auf und streckte sich. »Soll ich über meine Fortschritte berichten?« fragte er. »Ich verstehe viele Dinge nun besser. Zum einen habe ich des Pudels Kern begriffen; es ist kein dummer Racheakt und kein verrückter Einfall, sondern eine sehr treffende Lektion in Geduld und der Bereitwilligkeit, zu warten, daß die Dinge wachsen. Und ich verstehe, wie sich die beiden Dinge, die du gemeint hast, Tim, gegenseitig ergänzen und wie sie zu alldem passen. Und ich verstehe, was du mit dem Ei pro Tag meinst; das war das Ei für heute. Herrjeh, habe ich diesen Kern wirklich eine ganze Stunde angestarrt? Oder... oder war es nur eine Stunde?« Eine Minute lang sagte niemand etwas. Dann räusperte sich Tim und fragte: »Wie fühlst du dich, Fred?« »Ganz gut. Ein wenig steif, das ist alles. Aber ich bin euch allen jetzt viel freundlicher gesonnen und weiß jetzt, daß ihr mir alle helfen wollt und daß ihr mir gegenüber auch freundschaftlich gesonnen seid - jetzt weiß ich, warum ihr alle gelacht habt.« »Würdest du bitte sagen, woher du das weißt?« fragte Jay. »Ihr habt mir gesagt, ich solle nicht so viel überlegen und ich würde zu sehr der Vernunft und dem Intellekt folgen, also war mir klar, daß ich etwas anders machen mußte«, sagte Fred. »Zuerst war ich ziemlich sauer und habe nur vor Wut gekocht. Aber dann fiel mir ein, wie ihr gesagt habt, ich solle überlegen, wie ein Kern zu einem Baum heranwächst, und dieses >Überlegen< habt ihr wohl nicht in dem gleichen Sinn gemeint, mit dem ihr über die >Denkfunktionen< sprecht, also konnte ich nur versuchen, es mir vorzustellen, praktisch so, als würde ich einen Zeitrafferfilm davon sehen. Das habe ich wieder und wieder gemacht. Und als ich dann auf einmal Apfelblüten im Wind tanzen sah, erkannte ich eine Schönheit, die das Versprechen auf etwas ... äh ... Reiferes darstellte. Nach einer Weile sah ich Genuß und Erfüllung. Einen Fisch in einem Glas kann man wohl nur als Fisch sehen, aber einen Kern muß man mit all seinen Möglichkeiten sehen. Das also 196
habe ich bislang in etwa erreicht.« »Mir kommt's vor«, sagte Elsie kritisch in das erstaunte Schweigen, das auf diese kleine Ansprache folgte, »daß du ihm etwas Falsches gegeben hast, Tim. Statt eines Apfelkerns hättest du ihm einen Radieschen-Samen geben sollen. Oder gibt es etwas, das noch schneller wächst?« »Nun, dies alles zeigt doch«, sagte Max, »daß dir fast nichts unmöglich ist, Fred, wenn du es nur versuchst.« »In Ordnung«, sagte Fred. »Ich bin bereit für weitere Experimente. Wir werden ja sehen, ob die Ernte letztlich aus einem Radieschen oder einer Kiste Äpfel besteht.« »Zuerst einmal ein paar prinzipielle Grundsätze«, sagte Jay. »Ich würde vorschlagen, daß du nach folgenden Prinzip deine Vergleiche ziehst und handelst: >Es gibt keine uninteressanten Dinge, nur uninteressante Menschern, wie Chesterton es ausgedrückt hat. Du hast immer wieder gesagt, du könntest dir nicht vorstellen, warum die Leute dieses oder jenes tun oder warum sie etwas mögen oder nicht. Wenn ich du wäre, Fred, würde ich versuchen, ein paar dieser Dinge nacheinander auszuprobieren, bis du langsam erkennst, was andere Leute in ihnen sehen. Dinge, die fast alle mögen, meine ich.« »Ja, und er sollte andere Gegenstände nehmen und sie genauso betrachten wie diesen Apfelkern«, sagte Stella. »Und er sollte Gedichte lesen.« »Er sollte all unsere Lieblingsbücher lesen, die ihm nicht gefallen haben, und eine Reihe kleiner Aufsätze schreiben, warum sie uns wohl gefallen«, schlug Elsie vor, »und sich vorzustellen versuchen, wie wir darüber denken, und - das hat mir am meisten geholfen sich zu überlegen, warum man alle möglichen verschiedenartigen Leute braucht, um eine wirkliche Welt zu haben, und warum die anderen psychologischen Typen auch ihren Platz darin haben und das Recht auf Existenz und Selbstverwirklichung und auf ihre Art genauso wichtig sind wie die anderen. Erinnerst du dich an den Aufsatz, den Giles über >Das Recht, introvertiert zu sein< geschrieben hat?« Ein neues Spiel, ein neues Steckenpferd war geboren. Es schwappte durch die ganze Schule und riß selbst die erstaunten Lehrer mit. »Sollten wir diese Amateurtherapie nicht stoppen?« machte sich Dr. Foxwell Sorgen. 197
»Wie können wir sie überhaupt aufhalten?« fragte Peter Welles. »Ebenso könnte man versuchen, eine Lawine aufzuhalten. Was können wir schon tun, außer danebenzustehen und sie sich austoben zu lassen. Ich kann nicht einmal voraussehen, ob sie sich zum Nutzen oder Schaden auswirken wird, doch sie fertigen über alle Experimente und deren unmittelbare Ergebnisse ausführliche Berichte an, und als bloßer Schüler bin ich dankbar für die Gelegenheit, das alles beobachten zu können.« »Es wird zum größten Teil von Nutzen sein, nehme ich an«, sagte Dr. Foxwell, »doch ich habe Angst, daß sie es übertreiben, die Dinge zu schnell vorantreiben - obwohl jetzt alles noch spontan stattfindet und sie es freiwillig und gerne tun.« »Sie folgen jetzt ihrer eigenen Geschwindigkeit«, verdeutlichte Welles. »Ganz richtig«, sagte Miss Page. »Wenn ich nicht seit über dreißig Jahren mit Kindern dieses Alters gearbeitet hätte, hätte ich nie geglaubt, daß sich bei Fred so schnell ein solcher Sinneswandel vollziehen könnte.« »Er hat diese unterdrückten Funktionen ausgegraben und ist auf eine Ölquelle gestoßen«, sagte Peter. »Ich hoffe nur, um bei dieser Metapher zu bleiben, daß sich nicht seine gesamten Vorräte erschöpfen, wie es ja bei einer Ölquelle geschieht. Doch warum sollte dies eintreffen? Diese Dinge standen die ganze Zeit unter Druck und sprudeln jetzt hervor, doch sobald diese neue Masche erst einmal zur Gewohnheit geworden ist, werden wir nicht nur alle Quellen geöffnet und frei sprudeln, sondern auch unter Kontrolle haben.« »Wären Sie dieses Risiko auch bei einem normalen Patienten eingegangen?« fragte Mr. Gerrold. »Normale Patienten sträuben sich. Ein kooperativer Junge mit großem Enthusiasmus und eifriger Bereitschaft zur Selbstverwirklichung, kombiniert mit hoher Intelligenz, wird nicht oft Patient eines Psychiaters. Freds Herausforderung war echt, seine Neugier wurde geweckt, und er war bereit, jeden Test über sich ergehen zu lassen, den man ihm vorschlug. Und anscheinend steht er zu seinem Wort.« »Er hat die ganze Sache auch intelligent angefaßt«, sagte Mr. Gerrold. »Wissen Sie, unsere kleinen Genies überraschen mich immer wieder.« »Wie meinen Sie das, Mr. Gerrold?« fragte Mr. Curtis. 198
»Ich warte noch immer auf ein wirkliches Problemkind«, erklärte der junge Lehrer. »Diese Kinder stellen doch überhaupt kein Problem dar?« »Nein?« murmelte Dr. Foxwell. »Unter dieser Generation von Kindern müßte es doch zumindest einen schweren Fall geben«, fuhr Mr. Gerrold ernsthaft fort. »Zum Beispiel könnte es ja ein Kind geben, das nach dem Tod seiner Eltern in ein armes, instabiles Heim gesteckt wurde, fortlief und in die Unterwelt geriet. Mit solcher Intelligenz könnte es doch sicher gut auf sich selbst aufpassen und zu einem erfahrenen Verbrecher werden, mit einer langen Ausbruchgeschichte aus Reformschulen und einem nationalen Vorstrafenregister über Jugendstrafen. Wahrscheinlich würde solch ein Kind ein Doppelleben als anerkannte Autorität der Kriminologie führen und in seiner Freizeit Hunderttausende mit dem Verfassen von Kriminalromanen verdienen. Mit einem kindlichen Enthusiasmus für das Melodram und den Sensationalismus würde es doch geradezu einen Schauder daraus ziehen, ein Art Unsichtbarer Detektiv zu sein.« »Wie The Spider in den Büchern von Michael Innes?« fragte Miss Page. »Die habe ich nicht gelesen«, sagte Mr. Gerrold. »Bei der Situation, die Sie gerade umrissen haben, ergeben sich mehrere Widersprüche«, sagte Mr. Curtis. »Sie sollte ja auch nur ein allgemeines Bild geben«, sagte Mr. Gerrold. »Und es müßte und das gibt es wahrscheinlich auch - mindestens ein paranoides Kind geben. Ein Paranoiker ist immer gefährlich, weil er überzeugt ist, die Leute seien gegen ihn, und seine ganze Logik auf dieser falschen Grundlage basiert. Seine Logik wäre so gut, daß ihn niemand vom Gegenteil überzeugen könnte, und er würde anstreben, aus Rache die ganze Welt zu beherrschen und unter der Knute zu halten. Ich für meinen Teil hätte von diesen Kindern, oder einem Teil von ihnen - Fred vielleicht, wenn er sich nicht so plötzlich geändert hätte - zumindest erwartet, daß sie sich als die natürlichen, vom Schicksal bestimmten Herrscher über die ganze Welt sehen. Er wäre zu intelligent, um wie Hitler etwa diese Herrschaft durch Massenmord zu erringen, doch er könnte leicht zu einer Gefahr für die ganze Welt geworden sein. Er war nur ein kleines Ärgernis, und jetzt verhält er sich wie Ferdinand der Stier und schnuppert an den Blumen!« 199
»Bei maximal dreißig Kindern ist die Chance gering, daß eins wirklich verrückt ist«, sagte Dr. Welles. »Bislang sind alle Kinder normal. Obwohl sie in manchen Fällen nicht in der Lage waren, in eine Beziehung mit der Welt zu treten, haben sie alle genügend Intelligenz und Vernunft besessen, um zu erkennen, daß die anderen Leute ihnen gegenüber keine bösen Absichten hatten. Sie waren verwirrt und frustriert, hielten sich aber nicht für bedroht. Wir könnten noch auf ein Kind stoßen, das in etwa Ihrem böswilligen Monster entspricht, Mr. Gerrold, doch eigentlich rechne ich nicht ernsthaft damit.« »Wenn ich dies sagen dürfte, ohne äußerst unhöflich zu erscheinen«, meinte Mr. Curtis, »dann kommt es mir doch vor, als besäße Mr. Gerrold selbst einen jugendlichen Hang zum Sensationalismus und Melodram. Er möchte anscheinend gern, daß irgend etwas schrecklich - ich benutze dieses Wort absichtlich - daß irgend etwas schrecklich Aufregendes passiert.« »Indem man sich in die Sicherheit der Geschichte und der Vergangenheit zurückzieht«, konterte Mr. Gerrold, »kann man natürlich leicht die Auffassung vertreten, Alexander der Große, Dschingis Khan, Napoleon und Hitler wären alle tot, und daher müsse es in dieser besten aller möglichen Welten auch zum Besten stehen.« »Nichtsdestotrotz, sind Sie nicht ein wenig enttäuscht, daß sich Fred in Ferdinand den Bullen und nicht in Attila den Hunnenkönig verwandelt hat?« »Ich wollte gerade vorschlagen«, unterbrach Miss Page taktvoll, »daß wir dem Beispiel der Kinder folgen, selbst einige ihrer Übungen ausprobieren und genau wie sie Berichte darüber verfassen. Dr. Welles könnte uns ja anleiten.« »Wenn dies zu einem besseren Verständnis zwischen mir und Mr. Curtis führen würde, bin ich gern dazu bereit«, sagte Mr. Gerrold. »Und falls in seinen Behauptungen ein Stück Wahrheit liegt...« Mr. Curtis lächelte plötzlich. »Ich wollte Sie nicht beleidigen«, sagte er. »Mir fiel nur meine eigene Jugend ein, die noch nicht so weit zurückliegt, daß sie außerhalb jeder Erinnerung steht, und ich übertrug die gleichen Charakteristika auf andere. Mr. Gerrold wird entschuldigen, daß ein Mann meines Alters nur wenig Unterschied zwischen Menschen von dreizehn bis siebzehn einerseits und Anfang zwanzig 200
andererseits sieht.« »Wenn Sie mir historische Werke empfehlen könnten, die dazu beitragen würden, mich zu einem ausgeglicheneren Menschen werden zu lassen«, sagte Mr. Gerrold mit einem kaum wahrnehmbaren sarkastischen Unterton, »würde ich Ihnen gern einige wissenschaftliche Werke empfehlen und vorlesen, aus denen Sie Ihren Nutzen ziehen könnten.« »Ich nehme Ihr großzügiges Angebot gerne an«, sagte der blinde Historiker, »und stimme damit überein, daß auch wir Nutzen aus den Experimenten ziehen können, die die Kinder gerade durchführen. Und was weitere Übungen betrifft... Was schlagen Sie vor, Dr. Welles? Schließlich kann ich weder einen Apfelkern noch meinen Bauchnabel betrachten.« »Wie die Kinder könnten auch wir es mit Musik versuchen«, schlug Peter Welles vor. »Kurz bevor ich sie heute morgen verließ, führten sie eine heiße Debatte über Musik. Man hatte Marie beigebracht, daß Musik überhaupt nichts >bedeutet<, daß jede Art von Musik völlig subjektiv ist, so daß der eine ein gewisses Opus als Ausdruck heller Freude und der andere als Ausdruck melancholischer Tragik auffassen und beide im Recht sein könnten. Die meisten Kinder hielten heftig dagegen, daß der Komponist auf jeden Fall eine bestimmte Stimmung oder Emotion ausdrücken wollte, konnten jedoch nicht übereinkommen, ob sich dies durch gefeilte Worte ausdrücken oder ob die Musik für sich selbst sprechen sollte. Daher beschlossen sie, sich einige Schallplatten anzuhören, und jeder sollte herauszuhören versuchen, was die Musik darstellt, und niederschreiben, was sie mitteilt, doch ohne miteinander zu diskutieren oder in irgendwelchen Lexika nachzuschlagen. Nach ungefähr vierzehn Tagen wollten sie ihre Notizen vergleichen und sich einige Schallplatten erneut anhören. Das könnten wir auch tun; wir müßten nur die gleiche Auswahl treffen.« »Manchmal hängt es von der Interpretation der Musiker ab«, sagte Mrs. Curtis. >»Humoreske< kann man unterschiedlich interpretieren - einmal als leichtes, sehr glückliches Stück, andererseits als herzzerreißend pathetisch.« Als Dr. Welles die ersten Platten für dieses Experiment holte, flüsterte Mr. Gerrold Miss Page zu: »Meinen Sie nicht auch, daß hier bald etwas Aufregendes geschehen wird?« Sie flüsterte zurück: »Die glücklichsten Menschen haben genau wie die glücklichsten Länder keine Geschichte. Freds erfolgreiches Abenteuer 201
mit dem Apfelkern ist für mich genauso aufregend und interessant, als wäre er in die schrecklichsten Extreme abgeglitten, und wesentlich befriedigender.« Und als er ganz und gar nicht so zufrieden aussah, fügte Miss Page leise hinzu: »Lassen Sie den Kopf nicht hängen! Vielleicht passiert ja doch etwas Schreckliches!« In den nächsten drei Wochen waren alle sehr beschäftigt. Fred hatte auf Stellas Anweisung den Roman The Lady's Notfor Burning gelesen und beklagt, er könne nicht verstehen, worauf der Autor hinauswolle. »Aber nur, weil du versuchst, darüber nachzudenken«, erklärte Stella. »Überlege nicht; genieße einfach.« Da die meisten Kinder darin übereinstimmten, daß die Lektüre von Gedichten die intuitive Funktion entwickelte, erschlug man Fred fast mit allen möglichen Sammlungen von Lieblingsgedichten, woraufhin er sich zu verkünden genötigt sah, daß er pro Tag nicht länger als eine Stunde Gedichte lesen würde. Max schenkte ihm eine wunderschön eingebundene Ausgabe der Psalme und fügte hinzu: »An Hiob wirst du nicht viel finden, bis du eine wirkliche Tragödie erlitten hast, aber du solltest ihn trotzdem ein paarmal lesen.« »Wir sollten herausfinden, warum die Leute zur Kirche gehen und was sie davon haben«, sagte Robin, »und was die verschiedenen Kirchen anzubieten haben.« »Die Leute gehen zur Kirche, weil sie glauben, sie müßten gehen, nicht wahr?« fragte Rose. »Nein«, sagte Jay fest. »Natürlich tun sie das nicht. Wenn sie nichts davon hätten, würden sie auch nicht gehen.« »Besuchen wir so viele Kirchen wie möglich, um herauszufinden, was die Leute davon haben«, schlug Giles vor. »Meinst du, vom Kirchgang selbst, dem Ansuchen dieses speziellen Gebäudes an einem besonderen Tag, oder von der Religion überhaupt?« »Vom Kirchgang«, sagte Robin nachdrücklich. »Suchen wir jedesmal dort nach gewissen Werten, und lassen wir die Religion vorerst außer acht.« Dies führte zu einer hitzigen Diskussion, die Alice Chase unabsichtlich unterbrach, als sie mit zwei Büchern hereinkam, die Fred lesen sollte - Once in Cornwall von S.M.C. und Perelandra von C.S. Lewis -, und eine Frage an ihren Vetter zu stellen. 202
»Darf ich dich fragen. Gerard, woran du gerade arbeitest, oder ist das ein Geheimnis?« »Ich wollte es euch sowieso bald zeigen«, sagte Gerard, »aber wir waren alle so beschäftigt, daß ich nicht dazu gekommen bin. Ich wollte es euch zeigen, weil wir vielleicht ein Gruppenprojekt darauf aufbauen können, wenn es irgendeinen interessiert.« »Heute abend?« fragte Alice hoffnungsvoll. »Morgen abend, wenn es euch paßt. Ich wollte auch die Erwachsenen einladen«, sagte Gerard. Da man wußte, daß Gerards Arbeit Mikroskope, bewegliche Filmkameras, Tonmodelle, viel Basteln mit Metallstücken, komplizierte Lichteffekte und fette Schecks von einer Literarischen Agentur beinhaltete, waren alle äußerst gespannt, als der Vorschlag zur Zusammenarbeit gemacht war. Alle versprachen, zur verabredeten Stunde zur Stelle zu sein. »Was ich euch zeigen möchte«, sagte Gerard, »sind einige Kurzfilme und Standbilder. Was mir vorschwebt, ist ein abendfüllender Film, an dem wir alle auf der Basis einer prozentualen Beteiligung oder zugunsten der Schule arbeiten könnten.« Seine Worte erzeugten einiges Interesse. »Mein Vater«, sagte Gerard, »war Metallurg, der sich auf die Mikrofotografie von Metallarten spezialisiert hatte. Mein Onkel interessierte sich für dieses Gebiet nicht so sehr, aber für andere Arten der Fotografie, und brachte mir das Fotografieren und ziemlich viele Berufstricks bei. Ich habe ein wenig damit herumgespielt, drinnen und draußen, und als ich zwölf Jahre alt war, übergab er mir die gesamte Ausrüstung meines Vaters. Ich machte Fotos und dachte mir dann Geschichten dazu aus. Das erste Standbild machte ich mit zehn Jahren.« Ein Farbfoto erschien auf der Leinwand. »Über dieses Bild schrieb ich meine erste Geschichte. Die Verteidigungstruppen hier« Gerard benutzte den Zeigestock-»und die angreifenden Truppen hier. Sie nahmen diesen Weg, kamen über diesen Bergkamm; sie machen einen Ausfall, kommen hier zur Linken durch diese Schlucht zur Rechten und ziehen sich auf diesem Weg wieder zurück. Das ganze Gelände sieht zwar groß genug aus, als könnten zwei Armeen darauf ausschwärmen, es war aber in Wirklichkeit nur ein Stück ziemlich verrotteten roten Sandsteins oder so, von etwa einem Meter Länge und einem 203
halben Meter Höhe. Doch ich habe mir einfach vorgestellt, was darauf passieren könnte, wenn es riesengroß oder die Leute sehr klein wären. Es ähnelt einem ziemlich rauhen Felsengelände, und so habe ich mir diese Geschichte ausgedacht. Ich habe sie mit diesen Fotos illustriert«, - während er sprach, wechselten die Bilder auf der Leinwand - »und auch mit Zeichnungen. Hier sind die Zeichnungen, sie stellen sich bewegende Leute an den richtigen Stellen dieser zerrissenen Landschaft dar.« Von den Kindern kam höflich zustimmendes Gemurmel. »Das war nur eine Abenteuergeschichte. Ich habe kaum welche davon gemacht, sondern fing mit der richtigen Arbeit an, als ich die Ausrüstung meines Vaters bekam. Ich habe kurze Filme von mikroskopischen, sich bewegenden Gegenständen gemacht, und für den Hintergrund Standbilder von unbeweglichen; ich habe mich umgeschaut und mir so einiges vorgestellt und die verschiedenen Hintergründe und Bewegungsabläufe kombiniert. Ich habe euch ja gesagt, daß mein Onkel mir die Tricks dieses Berufes beigebracht hat. Und dann habe ich die Geschichten geschrieben, mit Leuten darin, und sie illustriert. Aber könntet ihr das jetzt alles vergessen und euch die Filme ansehen? Vielleicht hätte ich es genau andersherum machen sollen. Die ersten Spulen zeigen einen Baum auf dem Planeten Venus.« Die Kinder hockten mittlerweile auf den Stuhlkanten und sahen gespannt zu. Eine Art blattloser Baum schwenkte seine gekrümmten Äste, anscheinend eine Unterwasseraufnahme. Ein kleines Geschöpf mit einem Segmentkörper schwamm in Sicht. Es hatte zwei Antennen, die behaarten Mohrrüben ähnelten, und direkt dahinter zwei kleinere; des weiteren besaß es zwei Stummelschwänze, von denen sich je ein Ansatz erstreckte, der eher wie das Rückgrat eines Fisches aussah. An den Seiten dieses Geschöpfes hingen Kugelballungen. Es hatte nur ein Auge. Dieses Wesen schwamm an dem Baum vorbei und berührte dabei einen Zweig. Sofort geriet Bewegung in die Zweige; das kleine Geschöpf wurde eng umschlungen und trotz seiner Gegenwehr in eine Öffnung an der Spitze des Stammes gestopft, die sich verbreiterte, um es zu verschlingen. Dann stand der Baum selbstgefällig und angeschwollen wieder alleine da und wedelte sanft mit den verknoteten Ästen. »Dieser Baum«, kommentierte Gerard, als er die nächste Filmspule aufzog, »kann auch verreisen.« 204
Zuerst war der Held - oder der Schurke - der ersten Spule zu sehen, wie er auf seinem Sockel einherglitt. Dann beugte er sich vor, berührte mit den Ästen den Boden, löste den Sockel und warf sich mit einem Purzelbaum herum. »Einige von euch haben die Geschichte, die auf diesem Geschöpf basiert, vielleicht gelesen«, sagte Gerard. »Mein Pseudonym ist ein Anagramm meines echten Namens, wobei ich nur einen Buchstaben verändert habe.« »Du bist Roger Schaed«, sagten zwei oder drei Kinder gleichzeitig. »Stimmt genau. Und diese Geschichte in den Filmen? Einige wissen zweifellos, wie sie heißen?« fragte Gerard und legte dabei eine neue Spule ein. »Das ist eine Hydra«, sagte Dr. Foxwell. »Im ersten Film hat sie einen Zyklopen gefressen.« »Richtig. Die nächste Spule zeigt die Faden- und Stachelkapseln der Hydra in Aktion.« In schneller Folge zeigte der Film, wie eine Amöbe ein Geißeltierchen verschlang; euglenoide Bewegungen eines grünen Geißeltierchens, gefolgt von der Gefangennahme und dem Verzehr der Euglena durch ein Trompetentierchen; einen Borstenwurm (»Das ist der venusische Drache«, erklärte Gerard), einen Fächerwurm und einen SüßwasserPlattwurm, die sich an auf- und abflackernden Lichtem und einer Strömung orientierten, die einer Rohrleitung entstammt. Elsie gefiel »dieser süße, kreuzäugige Wurm« ausgezeichnet und wollte den Film noch einmal sehen. »Die Lebenszyklen der Obelien und auch der Aurelien haben mich auf ein paar gute Ideen gebracht«, sagte Gerard, »und wenn ihr meine Geschichte gelesen habt, wißt ihr, was ich mit diesen liebenswerten kleinen Ungeheuern angefangen habe. In meiner Vorstellung war ich klein genug, um in dieser mikroskopischen Welt leben zu können, oder habe sie groß genug gemacht, um darin leben zu können. Sobald sich diese Glühbirne ein wenig abgekühlt hat, werde ich euch dann einige Filme zeigen, in denen ich diese Handlungsmuster auf andere Hintergründe übertragen habe -vergrößerte Mineralienoberflächen, Tonmodelle und so weiter, die manchmal ganz verschiedene Maßstäbe haben. Und jetzt möchte ich - vorausgesetzt, ein paar von euch sind daran interessiert -, einen abendfüllenden Spielfilm drehen, der menschliche Schauspieler zusammen mit den ...« 205
Das enthusiastische Gebrüll, das diesem Vorschlag folgte, machte für mehrere Minuten jedes Gespräch unmöglich. »Nun, das wird dem Herumgepfusche an den Psychen ein Ende setzen«, sagte Mark Foxwell zu Peter Welles, als man die Kinder zu Bett geschickt hatte. »Ich habe auf eine Zerstreuung gehofft, bevor sie es leid wurden«, gab Peter zurück. »Aber sie werden es nicht völlig aufgeben.« »Sie haben sich hauptsächlich darauf konzentriert, Freds Intuition zu entwickeln, nicht wahr? Was ist mit der Entwicklung von Freds Gefühlen?« »Tim hat irgend etwas vor«, erwiderte Dr. Welles, »doch ich muß abwarten, bis der Reiz dieser neuen Sache etwas nachgelassen hat. Ich hoffe nur, daß sich dieses Projekt nicht als undurchführbar erweist; an diesem Film könnte man wunderbar eine Zusammenarbeit einüben.« »Und jede Menge Spaß haben«, sagte Dr. Foxwell. Die nächsten beiden Wochen wurde nur über Fotografie, Mikroskopie, Science FictionExposes und Filmpläne gesprochen. Als die Größe der iß Angriff genommenen Aufgabe ersichtlich wurde, legte sich die erste Aufregung, und um die Verschwendung kostbaren Materials zu vermeiden, beschloß man, alles sorgfältig zu planen, einzustudieren und die Modelle zu bauen, bevor man mit den eigentlichen Dreharbeiten begann. Man verteilte die Verantwortlichkeit für die einzelnen Arbeitsgebiete, und Max und Fred bekamen eine intensive Ausbildung in der Kunst des Fotografierens, damit auch Gerard in einigen Szenen mitspielen konnte. Gerard machte sich mit dem Drehbuch an die Arbeit und schrieb Rollen für alle Schüler, darüber hinaus aber noch weitere, da man mit weiteren neuen Schülern rechnete, bevor die Dreharbeiten begannen. »Ich möchte gern wissen, was für Kostüme wir in dem Film tragen sollen«, sagte Rose. »Er spielt größtenteils unter Wasser, nicht wahr?« »Das muß er leider«, sagte Gerard. »Die meisten unserer nichtmenschlichen Schauspieler leben nun einmal im Wasser. Wir müssen sie unter Wasser filmen, und unsere Teile werden im Swimmingpool gedreht werden müssen, wenn er bis dahin fertig ist. Das wird einen guten leeren Hintergrund ergeben.« 206
»Dann werden wir wohl Schwimmunterricht nehmen müssen.« »Darauf kannst du wetten, Giles. Wer nicht gut schwimmen kann, wird erheiternde Nebenrollen spielen müssen.« »Aber was ist mit den Kostümen?« fuhr Rose fort. »Taucheranzüge sind so scheußlich, und in ihnen kann man die eine Person nicht von der anderen unterscheiden.« »Wir werden Plastikhelme benutzen«, sagte Gerard. »Über den Rest müssen wir uns noch einig werden. Auf einem warmen Planeten wie der Venus würde ein Badeanzug genügen, aber ihr Mädchen wollt doch sicher nicht wie nachgemachte Pin-up-Girls aussehen, und die Frage ist auch, ob man mit Taucherhelmen schwimmen kann. Wir überlegen uns, ein paar Plastikanzüge anzufertigen, die ähnlich wie Taucheranzüge aussehen - in verschiedenen Farben für jede Person, und ob wir blanke Helme benutzen. Wir können auch vorgeben, sie würden die Temperatur senken, weil das Wasser auf der Venus zu warm ist. Und sie würden einen Schutz gegen scharfkantige Gegenstände und die anderen Lebewesen abgeben. Wenn irgend etwas in der Tiefsee spielen soll, können wir natürlich Taucheranzüge benutzen. Unter den Plastikmonturen können wir Badekleidung tragen, aber sie muß ganz besonders geschneidert sein - wie eine Uniform oder so.« »Ich kann schwimmen«, sagte Rose ein wenig zweifelnd, »aber nicht gut genug. Sollte ich Unterricht im CVJM nehmen, oder bekommen wir ihn hier?« »Beides«, riet Giles. »Nun, Fred, wie kommst du voran?« fragte Tim eines Tages. »Du meinst, mit den Funktionen und so? Ziemlich gut, glaube ich. Aber ich verstehe den Unterschied zwischen den Typen noch nicht ganz. Glaubst du, du könntest es mir deutlicher erklären? Ich bin wohl der Gedankentypus, weil ich immer alles wissen will.« »Aber du kannst alles auf allen vier Wegen erfahren«, sagte Tim. »Das ist der Sinn dabei. Als ob du einen Gegenstand aus allen vier Himmelsrichtungen betrachtest - wenn du es nur von einer Seite oder von einem Standpunkt aus anschaust, erfährst du nicht mal halb so viel darüber. Du solltest alles auf mindestens drei Arten betrachten. Ich stelle mir diese Funktionen vor wie vier Flugzeuge, die nebeneinander herfliegen, oder wie vier Schiffe in Formation, die zusammen als Flotte agieren. Eins führt in der Re207
gel an, aber die beiden anderen decken die Flanken, und das vierte dient als Nachhut, muß aber den gleichen Kurs wie die anderen haben. Wenn sie sich alle in verschiedene Richtungen bewegen, gibt es Probleme. Verstehst du?« »Peter sagte, er habe einmal eine Patientin gehabt«, meinte Stella, »und als er ihr vorschlug, ihren Ehemann nicht nur dem Gefühl oder der Intuition nach auszuwählen, habe sie gesagt: >Aber wenn ich nach der Vernunft vorgehe, würde sie mir nur sagen: Nimm ihn nicht, wenn er nicht reich ist. Und das will ich auch nicht.< Er mußte ihr erklären, daß die Vernunft viel mehr als nur das zu sagen hat und daß sie so etwas vielleicht überhaupt nicht vorbringt, obwohl ein Mann, der Frau und Familie nicht ernähren kann, wohl keine gute Partie wäre.« »Oh, jetzt verstehe ich. Was genau bewirken die Funktionen denn?« »Nun, ein Wahrnehmungs-Typus benutzt einfach seine fünf Sinne«, sagte Tim, »und einer, der blind oder taubstumm zur Welt gekommen wäre, hätte fast keine Sinne mehr zur Verfügung; er würde also das genaue Gegenteil darstellen. Das Denken beruht auf einer wahr/richtig Basis, das Gefühl auf einer aus Liebe/Haß, doch die irrationalen Funktionen, Gefühl und Intuition, nehmen einfach nur wahr. Sie sehen ein Ding, wie es ist. Die Intuition ist wohl die beste große Funktion, weil sie alles an Ort und Stelle sieht, ohne etwas auszuschneiden, weil es schlecht oder falsch ist, und die Dinge einfach wahrnimmt und als das erkennt, was sie sind, ihre Bedeutung und ihren Stellenwert im Gesamtzusammenhang. Und dann hat man natürlich die beiden anderen Funktionen als Flankenabsicherung, um die Wahrheit zu überprüfen, die Gefühle richtig einzuschätzen und alles im Gleichgewicht zu halten. Die Sinne stehen dabei zur Verfügung und können eingesetzt werden, wenn man sie braucht. Da du nun ein Gedankentypus bist, Fred, und zwar durch Entwicklung, wenn nicht sogar von Natur aus, sollten deine beiden unterstützenden Funktionen das Gefühl und die Intuition sein ...« »Deshalb hast du auch den Fisch von Agassiz und den Samenkern von Vann ausgesucht«, sagte Fred. »Nun, ich habe mir einfach gedacht, da sie dem jeweiligen Typus entsprechen, müßten sie entweder den einen oder den anderen unterstützen. Das Gefühl ist das Gegenteil des Intellekts, also würde es ein wenig schwerer werden. Wenn ich dir eine Übung 208
dazu gebe, eine wirklich schwere, wirst du sie dann ausprobieren?« »Ich will die Dinge erfahren«, sagte Fred hartnäckig, »und zwar von allen Seiten.« Und so kam Tim ein paar Tage später eines Nachmittags mit einem Pappkarton unter dem Arm in die Aula und stellte ihn vor Fred auf den Tisch. »Das ist deine neue Übung«, sagte er. »Tretet alle zurück - das ist ganz allein Freds große Vorstellung.« Fred sah Tim und dann den Karton an. Aus der Schachtel kam ein Geräusch, und Fred kniete nieder, schnitt die Schnur mit seinem Taschenmesser durch und klappte den Karton auf. In einer Ecke des Kartons hockte ein kleines, winselndes weißes Hündchen. »Du grüne Neune!« rief Fred. »Es gehört dir«, erklärte Tim. »Es ist ein Mischling, ein Weibchen, und niemand wollte sie haben. Sie friert, hat Angst und höchstwahrscheinlich auch Hunger. Dr. Welles erlaubt, daß du dich um sie kümmerst, bis du herausgefunden hast, warum die Leute Hunde mögen. Niemand sonst wird etwas mit ihr zu schaffen haben.« »Aber... ich will nicht... Ich weiß nicht«, korrigierte sich Fred hastig, »wie man ein Hündchen pflegt.« »Jay und die Curtis' können es dir sagen.« Fred schaute Jay hilflos an. »Du holst sie am besten zuerst einmal aus dem Karton«, sagte Jay. »Ist sie stubenrein, Tim?« »Ich würde es nicht garantieren«, sagte Tim. »Bring sie hinaus, Fred.« Fred faßte das Hündchen vorsichtig an, setzte es auf den Boden und ging dann, das Hündchen lockend, zur Tür, aber das Tier duckte sich nur wimmernd auf den Boden. Fred ging zurück, hob das Hündchen auf und trug es hinaus; die anderen folgten ihm. »Wovor hat sie Angst?« fragte Fred. »Anscheinend wurde sie gut behandelt, bis die Mutter sie entwöhnt hat, und da sie ein Weibchen und dazu noch eine Promenadenmischung ist, konnte man sie nicht verkaufen, und so hat man sie der Mutter weggenommen und irgendwo ausgesetzt. Man hat sie wahrscheinlich herumgestoßen und gejagt, und Kinder nah209
men sie mit nach Hause und mußten sie wieder aussetzen, bis sich jemand ein Herz faßte und sie zum Tierheim brachte. Von da habe ich sie dann geholt.« »Streichle sie doch endlich!« rief Elsie entrüstet. »Sieh doch, wie verängstigt sie ist!« Fred kniete nieder und streichelte den Welpen langsam, der hingebungsvoll seine Hand zu lecken begann. »Was ist das für ein Hund, Jay?« »Zum größten Teil ein Foxterrier, würde ich meinen«, sagte Jay nachdenklich. »Ohren und Augen deuten auf einen Chihuahua hin, und bei dem Schwanz bin ich mir nicht sicher. Über diese Kleinrassen weiß ich nicht viel. Du solltest sie lieber füttern, Fred.« »Knochen?« »Wanne Milch. Überprüfe sie mit dem Finger - sie darf nur Körpertemperatur haben. Ich hole dir etwas Hundekuchen, wir haben wohl noch etwas übrig«, sagte Jay, der sich in Vorkenntnis dieses Ereignisses einen Vorrat zugelegt hatte. Diesmal folgte das Hündchen mit unsicheren Schritten ein paar Meter; als Fred jedoch weiterging, setzte es sich und fing an zu jaulen. Fred blieb stehen, ging zurück und hob es auf. »Weiß nicht, was daran so verdammt lustig ist«, sagte er, »nur weil ich noch nie einen Hund gehabt habe.« »Wenn du sie gut pflegst, wirst du wahrscheinlich herausfinden, warum die Leute Hunde mögen«, sagte Jay. »Du meinst diesen Unsinn wie, wenn du für jemanden arbeitest, wird er dir gefallen?« fragte Fred zornig. »An dieser Sache muß doch mehr als nur das sein.« »Ist es auch«, sagte Jay. Tim, Dr. Welles und Jay hatten den anderen bereits eingepaukt, wie sie sich verhalten sollten. Obwohl sie alle gute Ratschläge gaben, half niemand unmittelbar, das Hündchen zu pflegen, streicheln oder zu füttern. Sanft, aber nachdrücklich wiesen alle den Welpen ab und riefen Fred herbei. Fred fütterte das Hündchen pflichtgemäß und baute ihm mit einer Schachtel eine Schlafstelle. Doch wenn der Welpe nachts mitleiderregend jaulte und bellte, war es Fred, der schläfrig hinabtapste und, wenn alle Stricke rissen, aus Verzweiflung das Hündchen mit ins Bett nahm. Es war Fred, der in grimmigem Schweigen hinter dem Hündchen herputzte. »Sie ist stubenrein«, erklärte Jay, 210
»aber noch so schrecklich jung, und du mußt öfter mit ihr Gassi gehen, besonders bei diesem regnerischen Wetter.« Es war Fred, der »Nein, nein!« und »He!« sagte, als das Hündchen an Selbstvertrauen und Munterkeit gewann und alles annagte, was sich annagen ließ, auf Stühle sprang, versuchte, den anderen das Gesicht abzulecken und sich mit der Abendzeitung dadurchtat. Es war Fred, der es für diese Vergehen züchtigte, laut Jays Anweisungen mit einer zusammengefalteten Zeitung - und es zuerst an der eigenen Hand ausprobierte, um sicherzugehen, daß es nicht zu schmerzhaft war. Und es war Fred, dem das Hündchen folgte, auf dessen Schoß es immer springen wollte, zu dessen Füßen es immer schlafen wollte, mit dem Kopf auf seinem Schuh, und dessen Schuhe und Socken es vorzugsweise annagte. Es beobachtete ihn aus hellbraunen Augen und jaulte, wenn er fortging, bis Fred schließlich Jay voller Verbitterung fragte, ob das ewig so weitergehen würde. »Sie ist doch noch ein Baby«, beruhigte Jay ihn. »Du hast sie noch nicht lange genug; sie ist sich deiner noch nicht sicher.« »He!« rief Fred verärgert, und das Hündchen ließ den Bleistift fallen, den es angenagt hatte, und floh zur anderen Seite des Zimmers, blickte ängstlich zurück und sprang dann auf ihn zu, hopste in seinen Schoß und leckte ihm das Gesicht. Fred stieß es hinunter, doch es sprang wieder hinauf. Er setzte es auf den Boden und streichelte es. »Platz, kleiner Hund«, sagte er. »Natürlich werde ich dich gern haben - wenn du schön brav bist. Nag deine Gummiratte an!« »Äh... hast du schon herausgefunden, warum die Leute Hunde mögen?« fragte Jay ein wenig schüchtern. »Warum du deine gern hast, weiß ich nicht. Aber diese kleine Landplage, diesen quietschfidelen Störenfried ... der ist mir ans Herz gewachsen.« »Weil er deinem Ego schmeichelt, indem er dich gern hat?« »Nein«, sagte Fred. »Mir wäre es lieber, mich würde jemand mit mehr Urteilskraft mögen. Doch wenn ich sie wegen irgend etwas bestrafe, hört sie sofort damit auf und kommt zu mir zurück, als wolle sie sagen: >Du bist doch nicht wirklich böse auf mich, oder? Habe ich etwas angestellt, daß du mir nicht verzeihen kannst? Du hast mich doch gern, nicht wahr?< Und wenn ich wirklich böse klinge oder sie nicht streichle, dann sieht sie aus, als hätte es ihr das Herz gebrochen. Sie strengt sich so sehr an, mich 211
zufriedenzustellen und ein guter Hund zu sein - sie hat natürlich nicht viel Verstand, lernt aber so schnell, wie sie kann. Sie braucht so dringend jemanden, der sie gern hat, dem sie vertrauen kann. Stimmt das etwa nicht, kleiner Hund? So dusselig sie auch ist, sie hat niemanden auf der ganzen Welt bis auf den alten Fred, und wenn der sie nicht gern hat, wer dann?« Voller Freude, daß man in solch hingebungsvollen Tönen über sie gesprochen hatte, rollte sich das Hündchen über den Fußboden, und Fred kraulte ihm mit dem Finger das rosa Bäuchlein. »Wirst du sie behalten?« »Das muß ich wohl«, sagte Fred. »Du könntest sie zum Tierheim zurückbringen.« »Dann würde man sie töten«, sagte Fred. »Ich muß sie behalten. Was kann ich sonst tun? Ich will sie nicht unbedingt... Sie beansprucht mehr Zeit, als sie wert ist. Aber sie braucht mich und vertraut mir. Also muß ich sie behalten.« »Nicht, weil sie dich gern hat, sondern weil sie bewirkt, daß du sie gern hast?« »Genau.« »Nun, soll ich Tim sagen, daß du mit deiner Übung fertig bist?« »Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Ich habe mich so bemüht, der perfekte Hundeziehvater zu sein, daß ich ganz vergessen habe, aus welchem Grund ich das mache. Tja, meine Psyche scheint sich ja ganz gut zu entwickeln. Sag mal, was ist aus der Regel geworden, daß alle Haustiere in Käfigen gehalten werden müssen?« »Wir haben sie außer Kraft gesetzt, weil dieser Welpe zu jung war, ohne Muttertier in einem Käfig gehalten zu werden. Aber jetzt kannst du jederzeit damit anfangen, sie an einen Käfig zu gewöhnen.« »Die Kleine wird keinen Käfig mögen«, sagte Fred. »Wenn sie auch weiterhin so brav ist, müßten wir sie ja eigentlich überhaupt nicht einsperren. Steckt mich doch lieber in einen Käfig, damit sie nicht mehr an mich herankommt und mir nicht mehr die Finger annagen kann.« Und als Jay das alles den Erwachsenen mitteilte, meinte Peter Welles dazu: »Eins muß man Fred ja lassen - was er anpackt, das macht er richtig!« 212
Der Abend begann wie jeder andere auch. Einige der Kinder waren mit einem Spiel beschäftigt, zu dem Rose sie herausgefordert hatte. Dabei mußte man die Namen der achtzehn Säugetierkategorien nennen oder wahlweise Tiere aus jeder Kategorie; sie schnitten dabei ganz schlecht ab, da sich niemand trotz ihres breiten Lektürespektrums, das sehr viel Naturgeschichte beinhaltete, näher mit der Zoologie beschäftigt hatte. »Willst du mir etwa weismachen, daß Robben und Walrosse zur gleichen Kategorie wie Hunde, Katzen und Füchse gehören?« rief Fred. »Ich dachte immer, Kaninchen wären Nagetiere«, jammerte Alice. »Mich verblüfft hauptsächlich«, gestand Tim ein, »daß Ameisenigel, Gürteltiere, der Große Ameisenbär und der Kragenameisenbär vier verschiedenen Gruppen angehören. Das muß man sich mal vorstellen - vier verschiedenen Kategorien!« »Keiner hat mehr als sechzehn Richtige«, sagte Rose mit Genugtuung. »Mensch, bin ich froh. Ich bekam nur vierzehn heraus, und ich dachte, ich sei dumm geboren und müsse auch dumm sterben.« Just in diesem Augenblick betrat Stellas Tante die Aula, und da sie nur selten hierherkam, unterbrachen die Kinder ihre Gespräche, um sie zu begrüßen; »Ich wollte nur fragen, ob ich mir Tommy Mundy im Fernsehen anschauen darf, Dr. Welles«, sagte sie. »Ich könnte ihn mir auch im Radio anhören, aber ich möchte ihn gern einmal sehen, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Natürlich, Mrs. Waters«, sagte Peter und bot ihr einen Stuhl an. »Er kommt um acht, nicht wahr?« »Ja ... Heute morgen stand eine Meldung in der Zeitung. Es hieß, er wolle heute abend eine besonders wichtige Rede halten, und da ich ihn noch nie zuvor gehört habe, hielt ich es für eine gute Gelegenheit.« Peter Welles runzelte die Stirn, als er das Fernsehgerät einschaltete. Tommy Mundys wachsende Fähigkeit, die Öffentlichkeit anzulocken, war ein Aspekt des modernen Lebens, den er nur schwer würdigen konnte. »Wer ist Tommy Mundy?« fragte Stella, die den Stars aus Film, Funk und Fernsehen eine solch erhabene Gleichgültigkeit entgegenbrachte, daß die meisten ihr nicht einmal dem Namen nach 213
bekannt waren. »Er ist eine Art Laienprediger«, erklärte Mrs. Waters. »Ich weiß eigentlich kaum etwas über ihn, aber er ist sehr beliebt.« »Ich habe gehört, er sei in einem Priesterseminar gewesen«, sagte Jay. »Er ist schon ziemlich alt - er besuchte eins dieser Seminare für verspätete Berufungen. Aber er trat wieder aus; einige behaupten, er wäre ausgestoßen worden. Auf jeden Fall hat er dem Seminar vor einigen Jahren den Rücken gekehrt. Er hat seitdem auf eigene Faust gepredigt und seine unorthodoxen Vorstellungen unter die Menschen gebracht. Er ist sensationslüstern. Auf der Universität von Massachusetts hat man uns vor ihm gewarnt; er soll keine Predigerbefugnis besitzen.« »Hat man ihn exkommuniziert?« fragte Alice. »Nein ... das hätte ihm zu viel Bedeutung verliehen. Vielleicht ist es ihm gelungen, gerade eben im Rahmen des Erlaubten zu bleiben. Man kann ihn eigentlich nicht als Katholiken ansehen, er ist offensichtlich unabhängig von der Kirche und hat eine große nichtkatholische Gefolgschaft. Man hat uns nicht verboten, ihm zuzuhören. Ich habe eine seiner Reden verfolgt, und sie hat mich gelangweilt, doch ich kann verstehen, warum er eine gewisse Art von Leuten anzieht, die rein gefühlsmäßig leben und denen es irgendwie gelingt, die Logik völlig zu ignorieren.« Im Fernsehen wurde das Programm mit einer gewaltigen Orgelfanfare eröffnet. Dr. Welles fiel auf, daß die Musik nur oberflächlich einigen sehr bekannten kirchlichen Melodien folgte und in Wirklichkeit ein grobschlächtig zusammengebrautes Mischmasch darstellte. Auf dem Bildschirm erschien ein heller Vorhang, der gekonnt von der Seite ausgeleuchtet war, um die vertikalen Schatten seiner Falten zu betonen. Als die Sendung begann, bewegte sich die Kamera darauf zu und fixierte die tiefste Nische der größten Falte. Dr. Welles lächelte. Wenn dieses Programm auch weiterhin so typisch verlief, konnte man jetzt jeden Moment einen Scheinwerfer erwarten... Da kam er schon. Der Lichtstrahl fiel aus einer leicht erhöhten Position, so daß die Augenhöhlen des kleinen, angespannten Mannes, der bewegungslos dastand, im Schatten lagen und ihm dadurch einen finsteren Gesichtsausdruck verliehen. Dann richtete sich der Mann zu voller Größe auf; sein Publikum hatte er anscheinend vergessen. Die Zuschauer im Saal applaudierten heftig. 214
Gleichzeitig erlosch die Musik. Tommy Mundy fing an zu sprechen. »Heute abend«, sagte er, sich anfangs noch stark zurückhaltend, »unterbreche ich meine regulären Predigten, um Ihnen etwas von äußerster Bedeutung für die ganze Welt mitzuteilen.« Seine Zuhörer raunten leise. Er trat vor. Das kunstvoll entworfene Spiel aus Licht und Schatten folgte ihm, als er sich seinen Zuhörern näherte. Welles begriff jetzt, warum er in der Lage war, mit dieser sorgfältig in Szene gesetzten Vorstellung so viele Menschen zu beeindrucken. Tommy Mundy schien plötzlich fünf Zentimeter größer zu werden, als er sich auf die Zehenspitzen stellte und die Arme gen Himmel reckte. »Die Welt schwebt in tödlicher Gefahr!« schrie er plötzlich. Auf seine Zuschauer hatte die plötzliche Wandlung seines Verhaltens eine explosive Wirkung. Langsam schritt er auf der Bühne auf und ab, schlug mit der Faust auf die offene Handfläche, flüsterte und schrie abwechselnd, gestikulierte und stampfte mit den Füßen auf den Boden. »Mein Volk!« rief er. »Erhöre mich! Höret, alle ihr Leute im ganzen Land, und besonders ihr, meine lieben Mitbürger in Oakland, Kalifornien.« Seine Stimme fiel zu einem Flüstern ab und nahm wieder an Tonhöhe und Lautstärke zu, als er fortfuhr: »In den Hügeln direkt vor unserer Stadtgrenze, verborgen vor dem wachsamen Auge der Welt, versunken in monströser, übler, widerlicher Blasphemie, haben sich unmenschliche Monstren versammelt! Ausgebrütet von der gewaltigen Explosion des Atomwerks in Helium City vor sechzehn Jahren, geben diese Vipern vor, gewöhnliche, unschuldige, menschliche Kinder zu sein. Sie haben sich aus ihren Schlupfwinkeln im ganzen Land dort zusammengefunden, um der Menschheit Unheil und Verderben zu bescheren!« Seine Stimme hallte in dem großen Saal wider. Mark Foxwell erhob sich mit einem Zornesschrei aus dem Sessel, doch Peter Welles stieß ihn zurück und befahl nüchtern: »Still! Wir dürfen nichts verpassen!« »Unter der Tarnung einer Schule für begabte Kinder haben sie hinter starken, hohen Mauern Laboratorien errichtet. Dort erschaffen sie die geheimen und tödlichen Waffen, die sie gegen uns einsetzen wollen, und führen gleichzeitig schreckliche Experimente an hilflosen Tieren durch!« schrie Mundy. 215
»Und ist das der einzige Plan, den sie gegen uns aushecken?« Mundy sprach jetzt anscheinend völlig ruhig, nur um dann mit höchstem, hysterischstem Tonfall fortzufahren: »Nein, liebe Leute, nein! Diese > Kinder des Atoms< haben sich bereits in alle Aspekte des täglichen Lebens eingeschlichen, indem sie falsche Namen benutzen, sich überall bekannt machen und ihre vergiftete Propaganda in jenen Zeitschriften verbreiten, die ihr ahnungslos mit nach Hause nehmt! Ihr gewaltiger, unmenschlicher Intellekt bedroht heute die ganze Welt! Ich will euch sagen, meine Freunde, was sie wirklich sind!« Mit einer geschwungenen Bewegung seines rechten Arms deutete Tommy Mundy mit einem Zeigefinger gen Himmel und setzte mit hysterischer Stimme hinzu: »Es sind monströse Mutationen, die durch die ungezügelten Kräfte des Atoms aus dem Tod und der Vernichtung von Helium City hervorgingen! Kräfte, die Gott im wirbelnden Universum der Atome unter Seiner Kontrolle halten wollte; Kräfte, die Satan für seine ureigenen Zwecke auf die Welt losgelassen hat! Unter dem äußeren Schein von Fleisch und Blut ziehen diese Kinder des Atoms durch die Welt und planen euern und meinen Tod!« Tommy Mundy holte tief Luft, und die Menschen in dem großen Saal beugten sich vor, um seinen nächsten Worten zu lauschen. »Sie behaupten, sie seien mehr als Menschen! Sie behaupten, sie besäßen mehr Wissen und höhere Intelligenz als jeder Mensch, der bislang gelebt hat! Aber diese Kinder des Atoms widerspiegeln keine moralische oder geistige Güte, da die einzigen Werte, die sie kennen, in technologischer Fertigkeit, Erfahrung im Geldscheffeln und Macht über uns alle liegen, die sie als unterlegene Rasse betrachten! Nur auf dieser Basis beurteilen, akzeptieren oder lehnen sie Leute ab, die sie kennenlernen. Doch sehet die Blasphemie! Kann eine Mutation des Menschen wirklich noch Mensch sein, jener Mensch, den Gott am sechsten Tage erschaffen hat? Wer hat diese Monster erschaffen? Die blinde Gewalt hat sie erschaffen! Ich glaube und weiß, daß der Mensch, wie Gott ihn geschaffen hat, der einzig wahre Mensch ist! Diese Kinder des Atoms sind Gott und all Seinen Geschöpfen völlig fremd.« Mit offenem Mund stierten die Kinder auf den Fernsehschirm. Sie beobachteten voller Schrecken, wie Tommy Mundy Grimassen zog und wild gestikulierte. 216
»Sie liegen außerhalb der Grenzen von Liebe und Barmherzigkeit!« schrie Mundy. »Was ist lieblich oder liebenswert an Geschöpfen, die von sich annehmen, sich von jedem anderen Mitglied der Menschheit zu unterscheiden und überlegen zu sein? Die wissen, daß diese Überlegenheit nicht aus Liebe, sondern aus blinder Vernichtungskraft entstanden ist? Satan selbst, so abtrünnig er auch sein mag, ist liebenswerter als diese Kinder, denn er wurde von Gott geschaffen, um ein Engel des Lichts zu sein, obwohl er beschloß, sich diesem ehrenvollen Schicksal zu widersetzen. Aber wie können wir nur im geringsten diese Kinder des Atoms lieben oder auch nur tolerieren, die behaupten, daß ihre Natur, die nur durch die physische Gewalt einer schrecklichen Explosion entstand, die ansonsten nur Trauer über die Menschheit gebracht hat, der Natur jener Menschen, die von Gott erschaffen wurden, überlegen ist?« Tommy Mundy warf sich in Pose, atmete tief ein und ging zum Höhepunkt seiner Rede über. »Betet, mein Volk, betet! Dieses Vipernest, diese Ausgeburt des Atoms, diese umzäunte und geheime Ansammlung von Monstern, die aller Menschlichkeit und der gesamten Schöpfung Gottes fremd sind ...« Gekonnt hob er seine Stimme bis zum kritischen Punkt, ließ sie vor hysterischer Erregung unverständlich werden und begrub das Gesicht in verkrampften Händen. Er stöhnte theatralisch auf. »Oh, mein Volk ... mein Volk...« Er hob das Gesicht, und die Scheinwerfer hoben es deutlich vom Hintergrund ab, so daß sich die gesamte Aufmerksamkeit des Publikums auf seine Lippen konzentrierte. »Ihr sollt nicht dulden, eine Hexe leben zu lassen!« Die Orgel donnerte wieder auf, und Tommy Mundy trat zurück; die samtenen Vorhänge schlössen sich hinter ihm, und er war verschwunden. Ein Gong läutete das Ende der Sendung ein. Jay schaltete den Fernseher aus, drehte sich stotternd zu der versteinerten Gruppe um und stürmte aus dem Zimmer. Mrs. Waters war die erste, die die Fähigkeit des zusammenhängenden Sprechens zurückerlangte. »Nun!« sagte sie. »Wir haben sicher mehr gehört, als uns lieb ist, nicht wahr? Ich glaube, wir schließen lieber die Tore ab. Ich hoffe nur, daß dieser Mensch überhaupt keine Kirche repräsentiert, doch er wird seine Zuhörer ziemlich aufgepeitscht haben.« Sie eilte hinaus, und einige Kinder brachen in Tränen aus. Be217
vor man sie beruhigen konnte, stürmte Jay wieder hinein, gefolgt von allen anderen Schülern, die die Sendung nicht beobachtet hatten. »Heult euch irgendwo anders aus«, befahl er. »Die anderen müssen die Tonbandaufzeichnung dieser Sendung sofort hören!« Die beiden Ärzte geleiteten die aufgeregten Kinder hinaus, und Jay folgte ihnen kochend vor Wut. »Glauben Sie, daß es Ärger geben wird?« fragte Dr. Foxwell Dr. Welles leise. »Gut möglich. Dieser ... dieser Unruhestifter hat unsere genaue Position zwar nicht bekanntgegeben, aber die Leute werden nicht lange brauchen, um sie herauszufinden. In allen örtlichen Zeitungen sind Nachrichten und Bilder von uns erschienen. Wir haben Stellungnahmen herausgegeben und über alles mögliche berichten lassen, und dieser... dieser sensationslüsterne Narr hat alles zusammen in einen Hexenkessel geworfen, der... Nun, wer weiß, wie die Leute reagieren werden?« Elsie putzte sich die Nase und hatte sich anscheinend wieder etwas beruhigt. »Sollen wir die Polizei rufen, oder was?« fragte sie. »Wenn ich uns nicht kennen würde, käme ich, nachdem ich diese Rede gehört hätte, sofort her und würde uns allesamt vom Antlitz der Erde fegen!« »Aber in seinen Worten liegt doch überhaupt kein Sinn!« rief Jay. »Das war von Anfang bis Ende reine Blasphemie. Und er hat sich fünfzigmal widersprochen!« »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen solchen Unsinn gehört«, sagte Fred. »Ich würde die Rede gern semantisch analysieren. Das werde ich auch, sobald ich mich einigermaßen beruhigt habe.« »Was stimmt nicht mit diesem Mann, Dr. Welles?« fragte Giles. »Er ist ein Gefühlstyp, der durchgedreht hat«, erklärte Peter. »Das kann man schon daran erkennen, wie er den Intellekt verachtet und zurückweist, der, wie ich hinzufügen darf, ja auch eine Gabe Gottes ist und deshalb nicht unterdrückt oder vernachlässigt werden darf. So ein Mann reagiert nur auf Liebe oder Haß, ohne im geringsten der Vernunft zu folgen oder einen Moment innezuhalten, um über die Problematik wahr/falsch nachzudenken - weder in der Theorie noch bei den Fakten. Es fällt einem Ge218
fühlstyp schwer, logisch zu denken, wenn es ihm nicht sogar unmöglich ist, aber er könnte sich durch das, was er wahrnimmt, an der Wahrheit orientieren, entweder mittels seiner Sinne oder durch seine Intuition. Damit müßte er feststellen können, was das Objekt seiner Liebe oder seines Hasses wirklich ist. Hmm ... Jetzt habe ich doch vor lauter Aufregung den Faden verloren - und dafür gibt es keinerlei Entschuldigung!« »Ja, er hätte wenigstens vorbeikommen und sich uns ansehen können, bevor er uns so vor der ganzen Welt darstellt«, sagte Dr. Foxwell. »Kommt jetzt, Kinder, wascht euch das Gesicht... nehmt ein Aspirin ... Und bekommt euch wieder in den Griff! Ihre kleine Vorlesung hat dazu beigetragen, sie etwas zu beruhigen, Peter«, fügte er hinzu, als die Kinder gehorsam gegangen waren. »Wenn mich jetzt nur jemand beruhigen würde«, meinte Peter und zog die Brauen hoch. Als man auf dem Tonband die ganze Rede noch einmal abgespielt hatte und die anderen völlig entrüstet aus der Aula gekommen waren, hatte sich am Tor schon eine wütende Menge eingefunden. »Ich werde mich auf jeden Fall darüber beschweren«, sagte Mrs. Curtis hitzig. »Es ist unverzeihlich, daß man diese Sendung nicht einfach unterbrochen hat!« »Bitte schalten Sie hier alle Lampen aus«, sagte Mr. Gerrold zu Mr. Waters, als der erste Stein ganz in der Nähe niederging. »Schalten Sie das Flutlicht am Tor ein. Dann können wir sie sehen, sie uns aber nicht.« »Wenn das Tor abgeschlossen ist, wüßte ich nicht, welchen Schaden sie anrichten könnten«, sagte Mr. Curtis. »Es tut mir leid, Mr. Gerrold, daß ich Sie um dieses Abenteuer prellen muß.« »Die Rede war Abenteuer genug«, sagte Mr. Gerrold inbrünstig. »Da!« rief er, als die Lichter am Haus erloschen und die am Tor aufleuchteten. »Selbst wenn sie Gewehre mitgebracht haben, können sie jetzt nicht mehr auf uns zielen. Was nun? Soll ich versuchen, den Zaun unter Strom zu stellen?« »Das würde ich nicht tun«, riet Miss Page standhaft ab. »Bekommt auch nur einer aus dieser aufgebrachten Menge einen kleinen Schock ab, sind alle überzeugt, daß wir Strahlenpistolen oder Geheimwaffen gegen sie einsetzen. Vertrauen Sie auf den Stacheldraht. Die Jungen haben mir bestätigt, daß man nicht über den 219
Zaun klettern kann.« »Mit Leitern ...« begann Mr. Gerrold, doch Peter brachte ihn zum Schweigen. »Sie haben die Telefonleitungen durchgeschnitten«, berichtete Mrs. Waters. »Wir haben eine ausgezeichnete und aufmerksame Polizei«, sagte Dr. Welles. »Der wird nicht verborgen bleiben, was hier vor sich geht.« »Was tut solch ein Mob normalerweise?« fragte Alice. »Oh, sie werfen Steine«, gab Dr. Foxwell zurück, »und wenn sie herein könnten, würden sie Sachen zertrümmern oder Feuer legen oder ein paar von uns verletzen wollen. In diesem Teil der Welt hat es seit über hundert Jahren keine Lynchjustiz mehr gegeben, und so kurzfristig kommt man an die Zutaten nicht heran, die man braucht, um einen zu teeren und zu federn. Wenn wir verhindern, daß sie hereinkommen - da ging eine Fensterscheibe zu Bruch! -, glaube ich nicht, daß sie heute abend großen Schaden anrichten werden.« »Ja, dieser Mob stellt wohl einen Antiklimax zu der Rede dar«, sagte Dr. Welles. »Die Zukunft dürfte uns jedoch mehr Sorgen machen. Diese vergiftende Rede wurde im ganzen Land ausgestrahlt, und es dürfte uns schwerfallen, Mundy völlig zu widerlegen.« »Kein Wunder, daß er aus diesem Seminar geflogen ist«, sagte Jay mit schriller Stimme, »aber einige Leute werden vielleicht glauben... Schließlich spricht er ja von Gott und Liebe und so weiter...« »Wir haben eine Reihe von mächtigen Freunden, die die Wahrheit über uns wissen«, sagte sein Onkel. »Der Erzbischof wird dazu zweifellos auch etwas zu sagen haben. Wir können Mundy auf Verleumdung und üble Nachrede verklagen, man wird ihm verwehren, weiterhin im Fernsehen und Radio aufzutreten ...« »Warum unternimmt diese Menschenmenge nicht etwas?« sagte Elsie verdrießlich. »Ich werde mich wie bei der Schlangenjagd anschleichen und versuchen, sie zu belauschen«, bot sich Robin an. Kurz darauf kehrte er grinsend wieder zurück. »Da scheint es ein kleines Mißverständnis gegeben zu haben«, sagte er. »Die meisten haben damit gerechnet, daß Tommy Mundy hierherkommen und zum Angriff gegen uns blasen würde. 220
Aber er ist nicht gekommen. Wie ihr euch erinnert, hat er ihnen nur zu beten aufgetragen. Bis jetzt ist das ein Mob ohne Führer.« »Ein Mob ohne Führer«, sagte Tim. »Das ist wie eine Schlange ohne Kopf.« Ruhig trat er in die beleuchtete Fläche hinaus und streckte den Leuten die leeren Hände entgegen. »Was wollen Sie hier?« fragte er. »Wir wollen wissen, was hier vor sich geht«, schrie eine Männerstimme zurück, und die Menge jubelte. »Tommy Mundy hat uns von euch erzählt«, rief ein anderer. »Jetzt wissen wir alles.« »Ihr wißt schon mehr als er«, gab Tim laut und deutlich zurück. »Ihr seht mich. Mundy hat niemals diesen Ort oder auch nur einen von uns gesehen. Er kennt die Tatsachen nicht. Wir haben gerade seine Rede gehört, daher wissen wir, was er behauptet hat. Er...« »Wir wollen, daß ihr von diesem Land und aus unserer Stadt verschwindet!« »Dieses Land gehört Mr. und Mrs. Herbert Davis aus Oakland«, erwiderte Tim. »Sie haben es uns zur Verfügung gestellt. Ihr kennt sie doch, nicht wahr? Sie haben lange genug in dieser Stadt gelebt! Sie sind angesehene Bürger von Oakland. Warum sollten sie ihr Land Leuten schenken, die euch Böses wollen?« »Sie wissen nicht, was ihr seid!« schrie eine Frau aus der Menge. »Sie wissen, was ich bin«, rief Tim zurück. »Sie kennen mich schon mein Leben lang. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und die MacArthurSchule besucht. Wenn ich näher an euch herankomme, damit ihr mein Gesicht im Licht sehen könnt, werden mich wohl auch einige von euch erkennen. Wer mich kennt, soll es sagen!« Tim legte den Kopf etwas zurück, damit man die Gesichtszüge klar im Schein des Flutlichtes erkennen konnte, und trat langsam vor. Aus der Menge meldete sich eine Jungenstimme. »Das ist keine Atomausgeburt. Ich bin jahrelang mit ihm zur Schule gegangen. Das ist nur Timothy Paul!« »Hallo, Greg!« gab Tim leichtmütig zurück und winkte. »Dann erzähle ihnen auch, wer ich bin.« »Ich habe vergessen, daß er hier ist. Es stand ja in der Zeitung«, 221
sagte Greg. »Er ist der Enkel der Davis'. Die kenne ich auch - bin schon bei ihnen zu Hause gewesen. Tim ist kein Monster. Er ist in meiner Pfadfindergruppe. Wo sind denn die ganzen Monster, Tim?« »Ich kenne keine Monster«, sagte Tim. »Aber du kennst mich, Greg. Wenn man unsere Telefonleitungen nicht durchgeschnitten hätte, könnte ich jede Menge Leute aus der Stadt anrufen, die beweisen können, wer ich bin; Leute, die meine Familie schon seit meiner Geburt kennen, hier im Marton-Hospital, mit Dr. Frank Roberts als diensthabendem Arzt.« »Wer sind dann all die anderen?« schrie eine Männerstimme. »Einige davon kennt ihr vielleicht auch. Wie viele von euch sind in den letzten dreißig Jahren auf die MacArthur-Schule gegangen? Entweder als Schüler oder als Eltern beim Tag der offenen Tür?« Aus der Menge folgten diverse bestätigende Rufe. Miss Page trat tapfer vor und blieb neben Tim stehen. Mehrere Stimmen riefen sie beim Namen. »Einige von euch kennen wahrscheinlich auch unseren Arzt«, fuhr Tim fort. »Er ist schon eine ganze Weile Schulpsychologe des ganzes Bezirks. Ihr habt gehört, wie er Vorlesungen gab, ihr habt sein Bild in der Zeitung gesehen, vielleicht habt ihr auch schon über die Probleme eurer Kinder mit ihm gesprochen.« Peter Welles trat vor. »Na klar, ich kenne ihn. Der ist auch in Ordnung«, rief ein Mann. »Sagen sie mal, was geht hier vor, Doc?« »Was hier vorgeht? Eine Menge von euch haben die gleiche Fernsehsendung wie wir gesehen und sind hierhergekommen, um mal zu schauen, was hier so passiert«, sagte Dr. Welles heiter. »Nachdem wir diese Rede gehört haben und euch kommen hörten, haben wir die Tore geschlossen, weil wir ja nicht wissen konnten, daß ein paar von euch zu unseren alten Freunden gehören. Wir kennen Tommy Mundy nicht, und er kennt uns nicht. Aber ihr kennt einige von uns, und würdet ihr die anderen nicht auch gern kennenlernen? Mr. Curtis, würden Sie bitte mal kommen. Wie ihr bemerkt, ist Mr. Curtis auf einen Blindenhund angewiesen. Leute, das ist John Curtis, der Historiker. Ihr kennt ihn doch dem Namen nach, und auch seine Bücher? Mrs. Curtis, seine Frau. Jay, ihr Sohn. Sie bilden Blindenhunde aus. Dr. Foxwell ist unser diensthabender Arzt für Allgemeinmedizin na, komm 222
schon, Mark! - Er und ich leiten diese Schule. Mr. Gerrold, unser Lehrer für Naturwissenschaft; die von euch, die irgendwann in den letzten acht Jahren an der Cal studiert haben, haben ihn sicher dort kennengelernt. Oh, wie ich sehe, kennt ihr ihn. Und das ist Mrs. Waters, Mr. Water, ihre Nichte Elsie ...« Schnell nannte er die Namen der anderen Kinder. »Aber diese Kinder hätten eigentlich schon längst zu Bett gemußt, und deshalb möchte ich euch bitten, ein andermal wiederzukommen, bei Tageslicht, und euch alles anzusehen und uns einzeln kennenzulernen und mit uns zu sprechen. Mr. Mundy ist auch willkommen, wenn er etwas darum gibt. Aber es ist schon spät, und wir hatten einen anstrengenden Abend. Also, gute Nacht allerseits!« Daraufhin erklang leises Gemurmel, und ein paar Stimmen erhoben sich. Doch ein uniformierter Hilfssheriff trat auf die erhellte Fläche vor dem Tor. »Als der Sheriff die Fernsehsendung sah, hat er ein paar von uns hier hinaufgeschickt, um nach dem Rechten zu sehen«, sagte der Hilfssheriff. »Soweit ich es überblicken kann, ist ja alles in Ordnung. Doch wenn jetzt jemand nicht in aller Ruhe nach Hause gehen und diese Kinder ihren Schlaf bekommen lassen will, werden wir sehen, was wir tun können.« »Kennt der Sheriff diese Leute?« fragte eine Frau. »Aber sicher.« Beim Anblick der bewaffneten Hilfssheriffs wurde die Menschenmenge ruhig. »Äh ... wir sind nur hier heraufgekommen, um zu sehen, was hier vor sich geht«, sagte ein Mann mit bärbeißiger Stimme. »Und wie ich die Sache sehe, ist alles in Ordnung. Mundy ist sowieso ein Schwätzer. Ich gehe nach Hause.« Die Menge zerstreute sich schnell; das Telefon wurde bald repariert; Mrs. Waters versorgte die Kinder mit Kokoskuchen und warmem Kakao und schickte sie dann zu Bett. Der Sheriff hatte einen Hilfspolizisten abgestellt, die ganze Nacht hindurch Wache zu halten, da die Sicherheit der Kinder gefährdet schien. Als die führende Tageszeitung des Bezirks anrief - ein Reporter hatte sich unter die Menge gemischt und war mit der Story zurückgeeilt - gab Peter Welles ein Statement ab und versprach, für den nächsten Tag eine vollständige Gegendarstellung vorzubereiten. »Jetzt ist zu viel durchgesickert«, kündigte er seinen Kollegen 223
an. »Zu viel und nicht genug. Mundys Rede zieht vielleicht weitere Kreise durch die Welt, und unsere Gegendarstellungen und Statements kommen nie ganz mit. Doch nun müssen wir eine offene Stellungnahme abgeben, so umfassend wie möglich. Wir können nicht alle Errungenschaften und Pseudonyme der Kinder preisgeben, doch wir können und müssen den Rest berichten und uns auf eine wirkliche Überprüfung vorbereiten.« »Als erstes werde ich mich morgen früh mit diesem erbärmlichen Mundy abgeben«, schwor Dr. Foxwell. »Der Mann muß doch für verrückt erklärt werden!« »Meiner Meinung nach sollten wir zu einer völligen Überprüfung auffordern«, sagte Miss Page, »und offizielle Darstellungen der Erziehungsberechtigten, Lehrer, Freunde und Nachbarn eines jeden Kindes veröffentlichen. Die Erziehungsberechtigten sollten sie vorbereiten und eidesstattliche Erklärungen von allen einholen, die die Kinder von Geburt an kennen. Ich habe ein Telegramm verfaßt, und wir können jedem Vormund ein Exemplar schicken.« »Gerade kam ein Ferngespräch von Stellas Onkel«, sagte Mrs. Waters, als sie den Raum betrat. »Er will jemandem den Hals umdrehen. Ich habe ihm gesagt, wir würden rechtliche Schritte einleiten, doch er möchte Sie persönlich sprechen, Dr. Welles.« »Ich sorge dafür, daß er die Leitung freimacht, und schicke dann die Telegramme ab«, sagte Peter. Die nächsten paar Tage verliefen für jeden an der Schule sehr geschäftig. Reporter, Fotografen, Rechtsanwälte und Schaulustige schauten in einem Versuch, die Szene für sich auszuschlachten, mit Freunden und Verwandten vorbei. Elsie beschwerte sich darüber, daß nach ihrem besten Wissen und Gewissen drei Tage lang kein einziger Satz auf dem Schulgelände ungestört zu Ende gesprochen worden war. Jeder Erwachsene, der auf irgendeine Weise mit der Schule verbunden war, setzte sofort seinen ganzen Einfluß ein, um die absurden Vorwürfe zurückzuweisen und die Gegendarstellung mit allen verfügbaren Beweisen zu unterstützen. Es kam eine Fülle von Zeugenaussagen zu ihren Gunsten. Geistliche - Priester, Pastoren und Rabbis - taten sich energisch zur Verteidigung zusammen. Freds semantische Analyse von Mundys Rede, die er am nächsten Tag geschrieben hatte und die unter seinem respektierten Pseudonym erschien, war nur einer von den vielen Artikeln, die die Fernsehsendung in Grund und 224
Boden verdammte; und der Artikel eines Hilfsbischofs der Erzdiozöse, eines persönlichen Freundes von Peter Welles, brachte Mundy unter seiner katholischen Gefolgschaft völlig in Mißkredit. Als Tommy Mundy von allen Seiten angegriffen wurde, gab er auch eine Stellungnahme ab, in der er letztendlich behauptete, von falschen Informationen ausgegangen zu sein. Wenn die Kinder wirklich, wie man ihm berichtet hätte, unmenschliche Intelligenzen gewesen wären, die zufällig aus der Atomkraftwerkexplosion hervorgegangen und nicht von menschlichen Eltern geboren wären, wie er nun ausdrücklich versicherte, dann wäre, so behauptete er, seine Rede gerechtfertigt gewesen. Er sei froh, fuhr er fort, behilflich gewesen zu sein, daß sie die Beschuldigungen ausräumen konnten, die ihm andere zugetragen hätten. Und, so fügte er hinzu, es sei nicht seine Absicht gewesen, jemanden zu einem Aufruhr aufzuhetzen; er habe seine Gemeinde lediglich zum Beten aufgefordert. Erst als der Tumult sich gelegt hätte, rief Tim alle Kinder zu einer Beratung über ihre Zukunft zusammen. »Dr. Welles hat die Anordnung gegeben, die Tore während der Schulstunden geschlossen zu halten, und er erwartet von uns, daß wir uns wieder unseren Studien zuwenden. Stelle diesen Lehrgang ab. Robin, wir müssen uns darüber unterhalten. Max, schaltest du bitte das Licht ein? Es ist düster hier.« »Haben wir nicht schon genug darüber gesprochen?« sagte Gerard. »Ich kann den Namen Mundy nicht mehr hören. Ich bin diesen ganzen Mist leid. Können wir ihn nicht einfach vergessen und mit unserer Arbeit weitermachen?« »Das könnten wir schon«, gab Tim zurück. »Nur... Ich muß euch etwas sagen. Morgen werde ich zur MacArthur-Schule zurückgehen, und ich möchte euch bitten, ebenfalls diese Schule zu besuchen oder, was noch besser wäre, euch auf die anderen großen öffentlichen und kirchlichen Schulen der Stadt zu verteilen.« Diese Nachricht schlug noch mehr als Mundys Rede wie eine Bombe ein. Entgeistert brachen die Kinder in Protest aus. »Du willst diese Schule schließen?« - »Zurück zur Hauptschule gehen?« - »Tim, du kannst uns doch nicht so im Stich lassen!« - »Dr. Welles wird das niemals erlauben!« »Die Erwachsenen werden durchdrehen!« - »Unsere Gruppe aufzubrechen!« 225
»Ich weiß, wie ihr euch fühlt«, sagte Tim. »Ich weiß, was ihr denkt. Doch ich habe darüber nachgedacht, und das ist der einzige Weg. So muß es gemacht werden, für mich wenigstens. Wir waren besser dran, als wir im Verborgenen geblieben sind, als nun, wo wir uns in diesem Elfenbeinturm eingeschlossen haben. Laß mich bitte ausreden, Jay. Ich sage euch doch, ich habe es mir gründlich überlegt. Ihr könnt reden, wenn ich meinen Spruch gesagt habe.« »Hört ihn doch erst mal an«, sagte Max. »Ich möchte genausowenig wie ihr noch weiter über Mundy reden. Aber es gibt zwei Dinge zu seiner Rede zu sägen. Zum einen haben die Leute sie gehört und werden sie niemals vergessen. Wir haben ihn niedergebrüllt - alle, die auf unserer Seite sind -, aber man wird die Rede nicht vergessen. Teile davon werden uns unser ganzes Leben lang beschäftigen. Wir können alles abstreiten, bis wir blau im Gesicht sind, doch tief im Kopf derjenigen, die ihn gehört haben, wird ein Rest Argwohn bleiben, und Furcht und Haß. Tief unten auf diesen irrationalen Ebenen, die kein Beweis, kein Augenschein, keine Logik oder Vernunft jemals erreichen kann, wird trotz allem, was unsere Freunde und Verbündete erreichen können, ein Stück davon lebendig bleiben.« »Er hat recht«, sagte Stella. »Das stimmt, fürchte ich«, nickte Jay. »Und zum anderen«, fuhr Tim fort, »liegt in all diesem Durcheinander aus Lügen, Unsinn, falscher Argumentation, Eifersucht und Unkenntnis, so entstellt und verzerrt auch alles war, ein Stückchen Wahrheit.« »Wenn du diese völlig irrelevanten, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate über die Dinge meinst, die man den lieben Kleinen enthüllt hat...« begann Marie ärgerlich. »Oder daß wir uns hinter Pseudonymen verbergen ...« »Oder daß Gott...« »Könnt ihr nicht mal eine Minute den Mund halten?« rief Tim. »Mir fällt es schon schwer genug, das überhaupt zu sagen. Doch ich gehe auf die öffentliche Schule zurück, weil Intelligenz allein nicht ausreicht. Sie ist nicht einmal am wichtigsten.« »Wenn du über Religion sprechen willst...« begann Fred, doch Tim schüttelte den Kopf. »Nein«, sägte er. »Psychologie. Nichts davon wäre passiert, wenn wir uns nicht von der Welt und ihren Bewohnern abgeson226
dert hätten. Solange wir wie andere Kinder gelebt haben, hat uns niemand gehaßt oder gefürchtet, und war niemand gegen uns. Einige von euch, und auch die Magazine und Zeitungen glauben, ich hätte uns vor echtem Ärger bewahrt, indem ich mit der Menschenmenge gesprochen habe. Aber nicht wegen dem, was ich gesagt oder getan habe, sondern, weil mich jemand kannte. Einige von ihnen kannten Miss Page, andere Dr. Welles. Aber wenn ihr Fremde für die Stadt seid, und auch die anderen, die noch kommen werden, euch hier einschließt und innerhalb dieses Zaunes lebt, dann wird euch niemand kennen. Und wenn ich mich hier mit euch einschließe, wird mich auch niemand mehr kennen. Und wenn sie uns nicht alle kennen und mögen und vertrauen lernen und an uns glauben, dann wird das ganze Zeug, das Mundy in ihre Köpfe gelegt hat, eines Tages wieder gegen uns losgehen. Es muß schon eine ganze Weile in den Köpfen der anderen gelegen haben, mehr oder weniger schwelend, und er hat diese Verdächtigungen und Ängste mitbekommen. Aus dem, was er gehört hat, hat er das Beste gemacht, aber er hat es nicht ausschließlich frei erfunden. Er hat es lediglich eine Weile schmoren und dann explodieren lassen.« Von den Kindern kam sowohl protestierendes als auch zustimmendes Gemurmel, doch sie warteten, bis er fortfuhr. »Und so stelle ich mir also vor, daß wir wieder die regulären Schulen besuchen und uns jeden Tag unter die anderen Kinder mischen. Ich will nicht, daß mich Leute vergessen, die mich von Geburt an gekannt haben, und dann Lügen über mich glauben, mich als Fremden, als Bedrohung, als Monster sehen. Wenn ich in meiner eigenen Schule und in der Pfadfindergruppe geblieben wäre, nach der Schule die anderen Kinder besucht und ihre Familien kennengelernt hätte, hätte niemand solchem Zeug zugehört. Also werde ich zurückkehren und dort weitermachen, wo ich aufgehört habe. Und ich glaube, die anderen sollten sich auch in der Stadt bekannt machen, nicht als feste Gruppe auf einer Schule, sondern einer oder zwei auf jeder Schule, um die Solidarität aufzubrechen, die wir hier haben, und allen zeigen, daß wir auch Menschen sind. Außer, natürlich, ihr wollt keine Menschen, sondern eine fremdartige Rasse sein.« »Da spricht was für dich«, sagte Rose. »Mann, hatte ich Angst. kann ich euch sagen. Bei dieser Fernsehsendung dachte ich immer wieder, ich bin neu hier, niemand außerhalb dieser Gruppe 227
kennt mich. Die Leute könnten tatsächlich Angst vor uns haben, vor allem, wenn wir älter werden ... die Laboratoriumsarbeit und so weiter.« »Aber hier alles aufzugeben ...« jammerte Elsie. »Oh, sei doch vernünftig!« sagte Max hart. »Du meinst doch, daß wir auch weiterhin hier wohnen sollen, nicht wahr, Tim? Das ist doch unser gemeinsames Heim? Ein ganzes Kalenderjahr hat nur etwa vierzig Schulwochen, nicht wahr? Und Schultage sind kurz.« »Ich habe das überprüft.« Tim war wieder ganz geschäftsmäßig. »In den fünf Monaten des ersten Schulhalbjahres gab es letztes Jahr siebenundachtzig Schultage; im zweiten Halbjahr einundneunzig. Zusammen macht das einhundertundachtundsiebzig Schultage von insgesamt dreihundertfünfundsechzig eines Jahres. Bei Weniger als der Hälfte aller Tage eines Jahres nur etwa fünf Stunden täglich damit verbringen, uns als wirkliche Menschen zu etablieren - ist es das nicht wert?« »Klar«, sagte Fred grinsend. »Mischen wir uns unter die menschliche Rasse.« »Wir sind immer Menschen gewesen«, sagte Stella schnell. »Ja, aber einige von uns dachten daran, abtrünnig zu werden«, gab Fred zurück. »Kehren wir zurück, und bleiben wir dabei.« »Wir haben den ganzen Sommer für uns«, fuhr Tim fort, »und bis wir mit dem Gymnasium und der Universität fertig sind, werden uns Hunderte von Leuten kennen, und wir werden dafür sorgen, daß sie stolz darauf sind, uns zu kennen. Nach dieser ganzen Publicity können die anderen sofort kommen, sobald sie wissen, daß es sicher ist - es gibt keine Geheimnisse mehr. Jetzt zum psychologischen Teil. Es wäre sinnlos, einfach beim Unterricht dazusitzen.« »Genau das habe ich mir auch gedacht«, sagte Beth. »Weiter. Wir hören zu.« »Kürzlich haben wir eine Menge Zeit damit verbracht, Fred zu helfen, seine Psyche zu entwickeln, und die anderen haben an sich selbst gearbeitet und eine Menge Spaß daran gehabt«, erinnerte Tim sie. »Kann mir jetzt jemand sagen, wofür das gut ist? Unsere intellektuelle Arbeit haben wir mit der Welt geteilt - oder es jedenfalls vorgehabt -, indem wir veröffentlicht haben, was wir erschaffen haben. Aber der Intellekt allein reicht nicht aus. Was hat es für einen Sinn, unsere Gefühlswelt zu entwickeln, wenn wir 228
nicht zu anderen Leuten hinausgehen, damit sie sie sehen können und daran profitieren; wenn wir nicht auf das reagieren, was liebenswert an ihnen ist? Was haben Intuition und Gefühle für einen Sinn, wenn wir andere Leute oder Dinge nicht wahrnehmen? Mundy hat die Leute auf einer emotionalen Basis erreicht, denn jeder denkende Mensch muß wissen, daß das, was er behauptet hat, falsch und völlig unvernünftig ist. Aber wir können sie auf einer soliden Basis der richtigen Gefühlswelt erreichen, einschätzen, was gut an ihnen ist, und darauf reagieren, indem wir ihnen zeigen, was an uns liebenswert ist. Das ist der normale Weg einer Freundschaft. Wir müssen uns unter den anderen Menschen auf dieser Welt Freunde machen, oder sie werden uns für Feinde halten. Die meisten können wir nicht auf intellektueller Ebene erreichen. Fred kann keinen intellektuellen Kontakt mit einem kleinen Hündchen erschaffen, zumindest sehr schwer, aber er kann eine Beziehung auf der Basis der Zuneigung erschaffen und tut dies ja auch, indem er auf die Bedürfnisse des Hündchen reagiert. Leute, die noch ein wenig Angst vor uns haben, brauchen immer wieder Beruhigung; sie müssen wissen, daß wir ihnen die richtigen Gefühle entgegenbringen - und wenn wir die nicht haben, entwickeln wir sie besser so schnell wie möglich. Aber wir werden nichts erreichen, indem wir hier hinter einem hohen Zaun auf dem Hügel sitzen und das Spiel spielen: >Die Antons sprechen nur mit Hahns, und die Hahns sprechen nur mit Gott.<« »Und was ist mit unseren Projekten und Plänen?« fragte Gerard, »als Individuen und als Gruppe?« »Sie werden dadurch ein wenig abgebremst, mehr nicht«, sagte Max. »Das wird es wert sein. Tim, zuerst dachte ich, das wäre das Ende von allem, mit dem wir angefangen haben, aber jetzt erkenne ich, daß du recht hast.« »Es war ein Fehlstart«, erwiderte Tim. »Jetzt fangen wir erst richtig an.«
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NACHWORT Wilmar Shiras' Kinder des Atoms ist ein sehr ungewöhnliches Buch. Es berichtet von der Geschichte eines Kinderpsychologen, Peter Welles, der argwöhnt, daß einer seiner jungen Patienten, Timothy Paul, das Ausmaß seiner Intelligenz verbirgt - Timothy, ein schüchterner, angepaßter Junge mit dem konstanten Notendurchschnitt »gut« ist einfach zu perfekt durchschnittlich. Zuerst entdeckt Welles, daß Timothy ein Genie ist, das ein Leben im Verborgenen lebt, indem er Bücher geschrieben und bedeutende wissenschaftliche Forschungsarbeit geleistet hat; dann widmet er sich der Aufgabe, Tim dabei zu helfen, Partner, Gleichrangige und Freunde zu finden. Das Buch ist die Geschichte dieser Suche. Doch für uns alle, die wir es in den kritischen, konformistischen, ausgleichsorientierten fünfziger Jahren gelesen haben, war es viel mehr als nur das. Die einzige Entschuldigung, eine persönliche Geschichte zu erzählen, liegt darin, daß in gewissen Zeiten, unter gewissen sozialen Umständen, das Persönliche universell wird. Einige Bücher sprechen eine ganze Generation an. In der ursprünglichen Novelle »Versteckspiel« sprach Wilmar Shiras die ganze Generation der Science Fiction-Fans an, die in den vierziger und fünfziger Jahren aufwuchsen. Immer wieder mußten Fans, die diese Geschichte gelesen hatten und in dieser Zeit aufgewachsen waren, eingestehen: »Sie hat über mich geschrieben.« Wir sind natürlich keineswegs alle Genies. Doch im Kern ist »Versteckspiel«, beraubt man die Novelle aller Science Fiction-Elemente von Mutanten, die von radioaktiver Strahlung geschaffen wurde, die Geschichte des intellektuellen Kindes, das darum kämpft, in einer feindselig gesonnenen Umgebung zu überleben; nicht nur in einer Umgebung, die sich hartnäckig weigert, seine Einzigartigkeit anzuerkennen, sondern auch in einer solchen, die sich aus eigenem Antrieb jedem gegenüber feindlich verhält, der »anders« ist. Allzu viele von uns haben für sich selbst den Kompromiß entdeckt, den auch Timothy Paul einging: das intellektuelle Leben und den Unterschied verzweifelt zu verheimlichen und vorzutäuschen, völlig normaler Durchschnitt zu sein. Es ist die Geschichte eines jeden abspenstigen, intelligenten Kindes, das 231
schon früh im Leben herausgefunden hat, daß es überlegen ist -und verwirrt und unglücklich feststellen muß, daß es statt dessen als unterlegen behandelt wird, als wäre sein Intellekt eine Art Behinderung. Timothy Paul wußte immer - genau wie Sie und ich -, daß seine überlegenen Fähigkeiten nützlich waren; doch er wußte auch, daß man ihn - sollte die Maske des »netten, normalen Jungen« auch nur für einen Augenblick verrutschen- behandeln würde, als wäre seine Besonderheit irgendeine bizarre Krankheit, und dafür sorgen würde, daß man sie ihm hinaus psychoanalysiert. Er wird gezwungen sein, sich anzupassen; wenn möglich, in aller Freundlichkeit, wenn nicht, dann mit Gewalt. Er wird sich jedoch auf jeden Fall anpassen; er wird so werden wie jeder andere auch. Denn in jenen Tagen - und in einem etwas kleineren Rahmen auch in diesen - war es das größtmögliche Verbrechen, anders zu sein. Das beste Kompliment, das man einem Kind machen konnte, war, »gut angepaßt« zu sein. Den Jungen wurde gestattet, ein wenig intelligenter zu sein als normal - schließlich gab ihnen das ja einen gewissen Vorsprung im Kampf um den Erfolg; bei Mädchen jedoch, die zu intelligent waren, glaubte man, ihnen dabei helfen zu müssen, sich ihrer wichtigsten entwicklungsmäßigen Aufgaben des Heranwachsens anzupassen - ich zitiere aus einem Einführungstext für das erste Semester Psychologie, den ich mit Erschrecken und wachsendem Abscheu studiert habe -, der hauptsächlichen Aufgabe der sozialen Entwicklung, wie sie durch ein erfolgreiches Benehmen, Jungen kennenzulernen und der Vorbereitung auf eine gesunde heterosexuelle Anpassung und Ehe besteht. Zu diesem Zweck war es für Mädchen in Ordnung, ein wenig hübscher zu sein als der Durchschnitt, eben um »Are besonderen Ziele zu erreichen, wobei sie miteinander konkurrieren mußten; doch Gott helfe dem Jungen, der zu hübsch, oder dem Mädchen, das zu klug war! Ich kann nicht mehr sagen, wie oft ich als Kind - und mein Mann, der ebenfalls ein intelligentes Kind war, hatte die gleiche Erfahrung - die Geschichte von Nathan Leopold gehört habe, der mit zwölf den Beruf des Ornithologen ergriff, mit fünfzehn in Harvard graduierte, mit siebzehn sein Jurastudium abschloß und mit achtzehn einen berüchtigten Mord beging, worauf er lebenslänglich hinter Gitter wanderte. Die Moral war klar; jeder, der zu intelligent sein wollte (man prägte den Begriff der »Überlei232
stung«), würde zweifellos nicht im Guten enden. Eine andere beliebte abschreckende Geschichte war die eines ähnlichen Wunderkindes, das, knapp zwanzig Jahre alt, einfach »ausbrannte« und den Rest seines Lebens damit verbrachte. Autoabziehbilder zu sammeln. Intelligenz, die über enge normale Grenzen hinausging, wurde als unausweichlicher Weg zu einem schrecklichen, beängstigenden, bizarren Versagen angesehen. Selbst unsere überlegene Lesefähigkeit wurde uns vorgeworfen, als hätten uns unsere Eltern zu dieser Leistung angetrieben, um vor ihren Freunden prahlen zu können, wie intelligent ihre Kinder doch wären. Die Tatsache, daß wir gerne lasen und mit Gewalt davon abgehalten werden mußten, wurde als trauriges Eingeständnis eines sozialen Versagens gesehen. Natürlich hat niemand in aller Deutlichkeit zu uns gesagt: »Sei nicht so gut in der Schule, oder du wirst zum verrückten Mörder, wenn du erwachsen bist.« Doch es war allzu deutlich, daß sie sich über uns geärgert haben. Die gleichen Lehrer, die andere Kinder peinigten, weil sie schlechte Schüler waren, peinigten uns, weil wir uns zu sehr für das interessierten, was wir lernten. So ist Timothy Paul, multipliziert mit einer Million, jedes intelligente Kind, das unter den Händen seiner Altersgenossen gelitten und versucht hat, seine Intelligenz zu verbergen. Seine Geschichte lebt unsere eigene Phantasievorstellung aus: daß wir eines Tages einen intelligenten, behütenden Erwachsenen gefunden hätten, der uns nicht Klugscheißer oder Schlimmeres genannt hätte; der, wenn er entdeckte, daß wir Romane schrieben, nicht den Kopf geschüttelt und gesagt hätte, wir sollten lieber an der frischen Luft sein und Fußball spielen (oder zum Tanzen gehen), sondern statt dessen die Bücher, die wir schrieben, gelesen und verstanden hätte. Viele von uns haben - wie Tim - Lösungen gefunden. Wir traten dem Science FictionFandom bei, nicht so sehr aus einer Liebe zur Science Fiction heraus, sondern des Netzwerks intelligenter junger Menschen unserer eigenen Art willen, mit denen man korrespondieren und Ideen austauschen konnte, ohne daß irgendein Erwachsener uns hinausjagte, damit wir Fußball spielten. Als wir zu kommunizieren lernten, ließen wir unsere Eltern im Glauben, wie Tim seine nachsichtige Großmutter, wir würden nur Sammelmarken versenden und uns auf Adressenkarteien setzen lassen. Und als Peter Welles sagte: »Du mußt der einsamste Junge 233
sein, den diese Welt je gesehen hat, Tim«, da zitterte eine ganze Generation von uns im Selbstmitleid der Erinnerung. Bei den beiden Mädchen war Wilma Shiras weniger erfolgreich - oder je nach Standpunkt auch erfolgreicher. Elsie Lambeth endete in einer Anstalt für Geistesgestörte und wurde mit den Worten bestochen: »Keinen Rappel, kein schmutziges Gerede, und du kannst lesen und schreiben, was du willst.« Elsies Anpassung ist allen geistig brillanten Frauen bekannt, der Triumph des »Sie hält ihr Zimmer sauber, macht ihr Bett und all das, näht ganz hübsch, macht sich einige ihrer Kleider selber, hilft im Garten und hat inzwischen gelernt, sich höflich zu unterhalten.« Niemand kümmert sich um ihr intellektuelles Leben oder erkundigt sich auch nur danach. Selbst Dr. Welles hält die Lektion für nützlich, Tim »zuallererst Elsie« kennenlernen zu lassen, damit auch er einsehen kann, was mit Leuten passiert, die sich nicht anpassen. Er rät ihr, sich »Tim anzupassen und zu lernen, der Welt ein normales Antlitz zu präsentieren.« Als ich Anfang zwanzig war, habe ich darüber mit den Zähnen geknirscht; es war schon ganz in Ordnung, daß diese Kinder intelligent waren, vorausgesetzt, sie bekamen ein wenig Psychotherapie, die ihnen half, sich anzupassen und der Welt jenes normale Antlitz zu zeigen. Welles' Sympathie, und auch die von der Autorin, scheint immer bei dem intelligenten Vortäuscher, dem erfolgreichen Maskenträger zu liegen; Tim, und Jay, der ruhige, philosophische Junge, der es vorzieht, bei seinem Onkel zu bleiben. Und die erwarteten sexistischen Vorurteile, die für die fünfziger Jahre ganz normal sind, zeigen sich in der Tatsache, daß es die Jungs sind, die Wissenschaftler und Erfinder sind, und die beiden Mädchen, Elsie und Stella, die Poetinnen und Romanciers. Der Schluß des Buches war immer ein Rätsel für mich. Als ich das Buch mit Anfang zwanzig las, kam er mir irgendwie aufgesetzt vor; die Stadtbewohner greifen die Schule der »andersartigen« Kinder aus der Furcht heraus an, es handele sich bei ihnen um mutierte Monster, und als Reaktion darauf kommen die Kinder zu dem Schluß, daß ihre ganze Methode falsch war und sie sich herablassen und sich mehrere Stunden täglich »unter die menschliche Rasse mischen«, sich mit den anderen Schulkindern zusammentun müssen, von denen sie genau wissen, daß sie »die meisten davon nicht mit intellektuellen Mitteln erreichen« können. Oberflächlich gesehen liest sich das, als würden sie völlig das Hand234
tuch werfen; sie können ihren ureigenen, ernsthaften Interessen in aller Heimlichkeit nachkommen, müssen sich jedoch anpassen, konform gehen, vorspielen, genauso zu sein wie alle anderen, damit man sie nicht wie gefährliche Fremdlinge behandelt, die sich jederzeit in wahnsinnige Mörder oder Schlimmeres verwandeln können. Jetzt, in meinen zynischen Vierzigern, nachdem ich die wiederholten Anschläge auf die Freiheit miterlebt habe, nach dem Schock des Scheiterns der großen humanistischen und liberalen Bewegungen der sechziger Jahre, kommt es mir vor, als habe Ms. Shiras eine große Parabel wiederholt: das Scheitern aller edelmütigen Versuche, die Tyrannei der egalitären Mythen und des gewöhnlichen, allzu gewöhnlichen Menschen zu entkommen. Ich weiß nicht mehr, welcher Philosoph gesagt hat, der Intellektuelle lebe immer wie ein Spion in einem feindlichen Land. Das großartige Experiment, das die »Kinder des Atoms« in die Lage versetzt hätte, ihr volles Potential als überlegene Menschen auszuleben, scheitert, weil der Mensch immer jeden hassen und fürchten wird, der andersartig ist; der homo superior ist dazu verdammt, wenn nicht gekreuzigt, so doch zumindest in die Oberflächenkonformität abgeschmettert zu werden; bestenfalls bleibt folgende Botschaft übrig: »Denke, was du magst, solange du dich nur benimmst wie jeder andere.« Genau wie Olaf Stapledon in dem viel bittereren und traurigeren Buch Insel der Mutanten (das sich ebenfalls mit im Geheimen lebenden Kindern des homo superior beschäftigt) sagt Wilmar Shiras uns allen, die wir in die Hoffnung geflüchtet sind, eines Tages doch unsere wirklichen Gleichgesinnten zu finden: »Es gibt kein Entkommen. Man kann niemals dem gewöhnlichen Allgemeinmenschen entkommen. Man kann niemals der menschlichen Beschaffenheit entkommen.« Und während viele Leser - besonders jene, die sich gefühlsmäßig engagiert, sich an unsere eigenen Probleme der mißverstandenen und verfremdeten Kindheit erinnert haben - diesen Schluß übelnehmen werden, muß man die künstlerische und moralische Wahrheit der Geschichte eingestehen. Wilmar Shiras ist optimistischer als Stapledon. Der komische John (die Titelfigur seines Buches) und seine ganze Mutantenrasse sterben lieber, als sich von ihren Unterlegenen einzuverleiben lassen; Wilmar Shiras hinterläßt ein Fünkchen Hoffnung, daß eines Tages die Menschheit vielleicht herausfindet, daß die Kinder keine Bedrohung darstellen, und gestattet ihnen somit das Überleben. Aber wie im Leben 235
wird es auch für die Wunderkinder keine einfachen Triumphe geben. Die Menschheit fürchtet und haßt alles, was anders ist; und wir müssen dadurch freundliche Aufnahme gewinnen, indem wir lernen, »der Welt ein normales Antlitz« zu präsentieren. Dies ist kein Happy-End. Aber es ist ein wahres Ende, und das ist vielleicht besser als ein Happy-End. Oder, wie eins der Mädchen sagt: »Wir kommen uns irgendwie betrogen vor, wenn wir etwas entdecken, das alle schon wissen und uns immer schon gesagt haben ... aber es ist etwas anderes, selbst darauf gekommen zu sein, zu wissen, was es bedeutet und wie wahr es ist.« Und auf dieser Ebene ist Kinder des Atoms ein ausgesprochener Erfolg. Marion Zimmer Bradley