Gruselspannung pur!
Killerbestien!
von C.W. Bach Dämonenjäger
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Gruselspannung pur!
Killerbestien!
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Als Paul Brettnasch am Montagmorgen aufwachte, spürte er, daß es mit ihm rasant bergab ging. Statt in seinem Bett lag er bäuchlings unter dem Tisch, mit dem Gesicht nach unten. Der 85jährige bewohnte ein Einzelzimmer im Grauen Kloster, einem Altenheim in der Greifswalder Pylstraße. Brettnasch war dringend auf fremde Hilfe angewiesen, denn er litt an der Alzheimer Krankheit. Mühsam und wie in Zeitlupe kroch der Patient unter dem Tisch hervor und rappelte sich auf. Barfuß tappte er ein paar Schritte durchs Zimmer. Er warf die Arme in die Luft, knickte die Knie ein, um die Steifheit aus seinen Knochen zu schütteln. Dann setzte er sich auf die Bettkante und starrte auf den Boden. In seinem Kopf reifte der Entschluß zu einem Vorhaben, das tagelang für grausige Schlagzeilen sorgen sollte… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! 2
Paul Brettnasch stand im Vorraum der Sparkassenfiliale und spähte durch die Glastür hinaus auf den Marktplatz. Dort herrschte Hochbetrieb. Überall gab es Verkaufsstände, zwischen denen Kauflustige flanierten. Es war halb zwei, und viele Leute nutzten die Mittagspause, um auf dem Markt ihre Vorräte zu ergänzen. Mit Argusaugen betrachtete Brettnasch das muntere Treiben. Er hatte guten Grund, umsichtig zu sein. Unterm Arm hielt er eine abgewetzte Aktentasche. Darin steckten glatte zwanzigtausend Mark! Niemand nahm von ihm Notiz. Er atmete auf. Die Tasche fest gepackt, trat der Rentner an die Tür. Wie durch Zauberhand sprang sie auf, und schon befand er sich auf der Plattform einer kleinen Treppe, die auf den Gehsteig führte. Brettnasch bemühte sich um ein harmloses Gesicht. Die Märzsonne schien, und er schwitzte vor unterdrückter Anspannung. Sein Herz klopfte wild. Im Schneckentempo tappte er in Richtung Mühlenstraße. An der Ecke blieb er stehen. Er sah sich um. Eine junge Frau, die einen Kinderwagen schob, überquerte die Straße und ging dicht an ihm vorbei. Der Alte roch ihr Parfüm. Er schloß die Augen und träumte einen Augenblick. Von Gerda, seiner Frau, die mittlerweile fünfzehn Jahre auf dem neuen Friedhof lag. Sie hatte Parfüm über alles geliebt. Bald würde auch er unter der Erde liegen. Paul Brettnasch war der letzte Sproß der Familie, der letzte Mohikaner, denn Klaus, ihr einziges Kind, war in den sechziger Jahren an Leukämie gestorben. Er seufzte. Dann marschierte er weiter, unbeirrt auf das nahe Ziel zu: das Altenheim in der Pylstraße. Der Gebäudekomplex lag an der Stadtmauer. Dahinter erhob sich die Wallanlage mit ihren Kastanienbäumen, Sträuchern und dem Stadtgraben. Einst war Brettnasch ein respekteinflößender Mann gewesen. Einsachtzig groß, mit breitem Brustkorb und Händen, die kräftig 3
zupacken konnten. Bis 1945 arbeitete er beim KGW, der Greifswalder Kleinbahn, Komm Glücklich Wieder genannt. Nach dem Krieg wurde der Kleinbahnbetrieb eingestellt. Er wechselte zur Deutschen Reichsbahn. Bis zum Fahrdienstleiter hatte er sich emporgearbeitet. Jetzt, mit fünfundachtzig, fühlte er sich als unnützes Wrack. Absolut nichts war ihm geblieben, nur die Erinnerung. Und sogar die begann sich allmählich zu verflüchtigen. Die Alzheimer Krankheit hatte Brettnasch fest im Griff. Daher hatte er den Entschluß gefaßt, all sein Erspartes von seinem Konto abzuheben. Wenn er starb, sollte das Geld nicht in die Hände von Leuten fallen, die ohnedies kaum noch wußten, wohin mit ihren Millionen. Lieber würde er es selbst mit vollen Händen ausgeben. Doch er wußte noch nicht, wofür. Vielleicht als Spende für den Tierpark, für die Obdachlosen oder für krebskranke Kinder. Er würde beruhigt sterben, wenn er sicher war, das Geld würde Bedürftigen helfen. Ecke Rakower Straße klaffte eine tiefe Baugrube. Hier sollte ein riesiges Parkhaus errichtet werden, auf den Fundamenten eines Franziskanerklosters! Brettnasch runzelte die Stirn. Die Menschen wurden immer bequemer. Jeder Schritt, den sie tun mußten, schien ihnen zuviel. Am liebsten würden sie aus ihrem Auto direkt in die Geschäfte hineinplumpsen. Das Portal des Grauen Klosters kam in Sicht. Schnaufend stieg Brettnasch die Treppe hinauf. Er war froh, daß er niemanden traf. So brauchte er keine neugierigen Fragen zu beantworten. Außerdem wollte er ja seine zwanzigtausend Mark verstecken. Da war ein Menschenauflauf fehl am Platze. Auf der ersten Plattform gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause. Mit einemmal glaubte er, hinter der Zimmertür zu seiner Linken ein heftiges Atmen zu hören. Belauschte man ihn? Er horchte angestrengt. Im Haus war es gespenstisch still. Ihm war, als klebten die gierigen Blicke sämtlicher Mitbewohner an der Aktentasche, die er trug. Er kriegte Angst. Eilig setzte er seinen Weg fort. 4
Oben angelangt, schloß er mit zittriger Hand die Tür seines Zimmers auf. So schnell er konnte, huschte er hinein und drückte die Tür wieder zu. Drinnen lehnte er sich eine Zeitlang gegen die Türfüllung und entspannte sich. Obwohl das Fenster gekippt war, roch es nach Mottenpulver und feuchter Wäsche. Geisterhafte Schatten tanzten über den Teppich. Der Wind rauschte in den Zweigen der Kastanienbäume. Ein Kuckuck rief. Es war Frühling, und Brettnasch wußte sogar, welcher Tag heute war: der 13. März. Bei dem Gedanken erschrak er. Minutenlang stand der alte Mann so da, den Rücken an der Tür, die Tasche an seine Brust gepreßt. Dann gab er sich einen Ruck. Zuerst sperrte er die Tür zu und legte die Kette vor, Anschließend holte er die gebündelten Geldscheine aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Als die schmalen Packen so nebeneinanderlegen, juckte er mißmutig sein Kinn. Vor ihm lag die ganze Ausbeute eines 85jährigen Lebens. Nicht mehr als ein Möwenschiß! Paul Brettnasch fluchte. Steifbeinig ging er in die Küchennische. Neben dem Herd stand eine angebrochene Flasche Bier. Er trank einen Schluck. Das Bier schmeckte warm und abgestanden, und er verzog angewidert das Gesicht. Er goß es ins Waschbecken und spülte mit Wasser nach. Aus dem Werkzeugschränkchen nahm er Stemmeisen, Zange, Hammer, Stahlnägel und einen Lappen, der einmal seine Unterhose gewesen war. Er ging zu seinem Bett, rückte es ein Stück zur Seite, kniete davor nieder und begann, eine Holzdiele zu lösen. Es ging leichter als vermutet. Das Holz war morsch, von Würmern zerfressen und die Nägel darin verrostet und lose. Nach fünf Minuten nahm er die erste Diele hoch, dann die zweite und die dritte. Probehalber schabte er mit dem Stemmeisen, auf dem bröckligen Unterboden. Da klopfte es laut an die Tür. Paul Brettnasch erschrak. Er hatte verbissen gearbeitet und keine Schritte gehört. Das Stemmeisen in seiner Hand zitterte. »Paul?« rief eine Frau. »Paul, bist du da?« Er gab keine Antwort. 5
Aber die Frau draußen ließ nicht locker. »Paul? Du bist doch da, oder?« »Nein!« grunzte Brettnasch. »Ich bin nicht da, Ruth. Ich bin woanders.« Die Frau kicherte hohl. »Immer lustig und vergnügt, bis der Mors im Sarge liegt! - Aber Spaß beiseite, Paul. Der Herr Kaiser hat nach dir gefragt. Komm am besten gleich runter in sein Büro.« Alfred Kaiser war der Heimleiter des Grauen Klosters. »Um was geht's denn?« schnarrte Brettnasch. Seine Blicke schweiften unruhig von der Tür zu seinem Schatz auf dem Tisch. »Das weiß ich doch nicht.« Brettnasch lachte heiser. »Soll das ein Scherz sein, Ruth? Seit zwanzig Jahren hörst du im Kloster die Flöhe husten. Willst mich für dumm verkaufen, wie?« »Laß mich rein!« Die Schulzen klopfte. »Nur dann sag ich's dir.« Ruth Schulze galt im Heim als größte Klatschbase. Daher wurde sie von den Mitbewohnern gemieden. Zudem war sie überaus lästig. Einmal freundlich hereingebeten, nutzte sie die Gastfreundschaft gnadenlos aus. Sie blieb stundenlang, schwatzte und schwatzte, mit wachsender Begeisterung. Man wurde sie einfach nicht mehr los. Natürlich wußte das auch Paul Brettnasch. »Mir egal, was Kaiser von mir will«, sagte er interesselos. »So wichtig wird es schon nicht sein. Nachher, wenn ich Zeit hab, geh ich mal zu ihm runter.« Die Türklinke bewegte sich. »Was treibste denn da drinnen?« bohrte die Schulzen. »Hast dich ja eingeschlossen.« »Geht dich 'nen feuchten Kehricht an.« »Alter Glatzkopf!« wetterte die Alte. »Tratsche!« »Krummer Hund!« konterte sie. Dann hörte Brettnasch, wie die Schulzen schimpfend die Treppe hinabschlurfte. Ihr Krückstock klapperte gegen das Geländer. Brettnasch wartete so lange, bis die Tür zu ihrem Zimmer ins Schloß fiel. Und wie sie fiel. Es hallte im ganzen Haus wider! Die Schulzen ist stinksauer, dachte er amüsiert. Todsicher wird die alte Vettel jetzt wieder neuen Unfug über mich in Umlauf bringen. Aber was soll's? 6
Er arbeitete weiter. Mit Hammer und Meißel begann er, den Unterboden auszuhöhlen. Damit es nicht zu laut wurde, hatte er den Lappen um das Stemmeisen geschlagen. Das Loch sollte nicht übermäßig groß, nur tief genug mußte es sein. Er würde die Scheine in eine Aldi-Tüte legen und es unter den Dielen deponieren. Obenauf ausgelesene Ostsee-Zeitungen, Werbeblätter und ein paar Bücher, die er in diesem Leben doch nicht mehr las. Erst wenn seine Barschaft sicher verwahrt war, würde er in aller Ruhe über den Verwendungszweck nachdenken. Brettnasch griff in das Loch und schöpfte es nach und nach aus. Zerriebenes Gestein, Holzsplitter, Sand, Strohfasern, Mörtel, Schmutz - und? »Auah!« Seine Hand zuckte zurück, als hätte er in eine Steckdose gefaßt. Von einer Fingerkuppe tropfte Blut, das rasch im Unterboden versickerte. Um die Blutung zu stillen, hielt er den verletzten Finger eine Weile in die Luft. Er fragte sich, woran er sich wohl geschnitten haben könnte. Neugierig geworden, nahm er den Lappen, legte ihn schützend über die Hand und griff tief in das Loch. Er kratzte den Schmutz an den Rand und erfühlte unversehens einen harten Gegenstand. Da schien jemand, der in grauer Vorzeit hier gehaust hatte, eine ähnliche Idee gehabt zu haben wie er. Was hatte dieser Unbekannte verborgen? Das geheimnisvolle Teil steckte in einem Futteral aus Sackleinen. Brettnasch versuchte, es ruckweise herausziehen. Es klappte nicht. Er hatte nicht so viel Kraft. Außer Atem richtete er sich auf, schlackerte mit den Armen und holte tief Luft. Er mußte verpusten. Die ungewohnte Tätigkeit verlangte ihren Tribut von dem 85jährigen. Plötzlich züngelte aus dem Loch, das er in den Boden gestemmt hatte, ein dünner Rauchfaden. Der alte Mann rieb sich die Augen. Der Rauch stieg kerzengerade auf, bis an die Decke, dann waberte er aus dem Fenster. Seltsam! Brettnasch kriegte eine Gänsehaut. Doch er unterdrückte seine Furcht. Zu groß war seine Neugier. Er wedelte den Rauch beiseite und griff abermals in das Loch. Er drang immer tiefer. Neben dem Loch türmte sich bereits ein 7
ansehnlicher Haufen Dreck. Bald hatte er den mysteriösen Gegenstand freigelegt. Mit einem Ruck zerrte er das klobige Teil ans Tageslicht. Er wickelte es aus der Hülle. Fast war er enttäuscht, denn ein verborgener Schatz war es ja nun gerade nicht. Eher ein ulkig geformtes Beil. Als er den Eisenknauf berührte, glühte das Beil auf, als würde es zerschmelzen. Brettnasch prallte zurück. Seine Hand sprang auf. Er wollte das Beil fallen lassen. Es ging nicht. Der Griff des Beiles klebte in seiner Handfläche, als wäre er daran festgewachsen. Brettnasch merkte, wie es in seinen knotigen, von Altersflecken übersäten Fingern kribbelte. Starräugig sah er zu, wie sich seine Faust wie ferngesteuert um den Beilgriff krallte. Obwohl das Ding aus geschmiedetem Eisen war, schien es ihm nicht schwerer als eine Hühnerfeder. Und plötzlich wußte Paul Brettnasch, was er da in der Hand hielt. Es war das Werkzeug von Meister Hans. Dem Henker von Greifswald… * Mein BMW hatte den Geist aufgegeben. Schnurstracks hatte ich das gute Stück in die Werkstatt gebracht. Ich ging zu Fuß nach Hause. Als ich an meinem Briefkasten vorbeikam, sah ich es darin schimmern, und zwar rosa! Wow! dachte ich. Ein rosa Briefkuvert. Etwa Fanpost? Irgendwo bohrte jemand ein Loch in die Wand. Sonst war es still im Treppenhaus. Dafür stank es nach angebranntem Kohl. Ich fischte den Brief aus dem Kasten und las den Absender. Links unten stand nur ein Wort: Clarissa. Der Umschlag war in Greifswald abgestempelt worden. Schon knisterten meine grauen Zellen. Während ich die Treppe hinaufging, rastete es ein. Mir kam die Erleuchtung. Natürlich, Clarissa! Es war im Herbst des vorigen Jahres gewesen. Mein Freund, der 8
Fotoreporter Vincent van Euyen, und ich jagten den Todesboten von Greifswald. Im Hotel Zum Kronprinzen hatten wir Quartier bezogen. Eines Abends blieb Vincent in der Brasserie hocken, auf einen Fingerhut Beaujolais. Ich stieg allein ins Zimmer hinauf. Dort erlebte ich einen köstlichen Sinnenrausch. Ein appetitlicher Nackedei mit den Maßen von Pamela Anderson räkelte sich unter meiner Dusche und trällerte Dieter-Bohlen-Songs. Nachdem wir uns im Sauseschritt angefreundet hatten, fand ich heraus, daß die gebirgige Dame einen Hang zum Tischfetischismus hatte (Siehe MH 16!). Vor meinem inneren Auge tauchte ihr Abbild auf. Frivoles Lächeln, pitschnasses Blondhaar, hopsende Brüste… Vorsichtshalber unterbrach ich meinen Gedankengang. Das Bild zerplatzte wie eine Seifenblase. Contenance! rief ich mich zur Ordnung. Beherrsche dich, Mark Hellmann! Immerhin bist du kein junger Hüpfer mehr, sondern ein reifer Mann von neunundzwanzig Lenzen. Am Küchentisch las ich den Brief. »Lieber Mark, seit ich mein Tagebuch weggeworfen habe, führe ich einen Sündenblock. Beim Blättern darin fand ich deinen Namen. Und sofort fühlte ich Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Sternchen auf deiner Brust. Gern würde ich dein Mal noch einmal spüren. Ruf mich an! PS: Mach schnell, ich habe einen Tisch, der noch nicht eingeweiht ist. PPS: Du wirst es nicht bereuen.« Unverzüglich tippte ich ihre Nummer ein. Ich konnte einfach nicht anders. Tröstete mich mit dummen Sprüchen wie: Eine hübsche Frau läßt man nicht warten und Man muß das Eisen schmieden, solange es warm ist. Ich hatte Glück, nach dreimaligem Klingeln nahm Clarissa ab. »Hab gerade dein Rundschreiben gelesen«, flachste ich. »Schade, daß du dich nur an mein Hexenmal erinnerst. - Wie geht's dir, Clarissa?« Einen Augenblick herrschte Stille. Dann: »Ich verstehe kein Wort. Wer ist dran und welches Rundschreiben?« »Clarissa?« Irgendwas lief hier quer. »Ja, am Apparat.« »Ich bin's, Mark Hellmann aus Weimar. Ich halte gerade deinen Brief in der Hand.« 9
»Was für einen Brief?« kam es erstaunt zurück. »Darin steht, du möchtest mich sehen.« Wieder Stille. In der Leitung knisterte es buchstäblich vor Spannung. Dann schrillte ein herzhaftes Gelächter an mein Ohr. »Was ist los, Clarissa?« forschte ich. »Laß mich nicht dumm sterben.« Allmählich wurde ich ärgerlich. »Es ist zum Piepen!« kicherte sie. »Tut mir leid, Mark. Aber du weißt ja, ich hab eine Zwillingsschwester. Ellen ist ein total verrücktes Huhn. Und neulich, da haben wir über dich gesprochen.« »Offenbar äußerst detailgetreu«, spielte ich auf mein Hexenmal an. »Naja«, gab sie zu. »Ellen und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Schon als kleines Kind war Ellen aufmüpfig wie Pittiplatsch. Eine richtige Nervensäge, sag ich dir. Und einsame Spitze im Ausdenken von Dummheiten und Unfug.« Mit einemmal klang Clarissas Stimme fast mitleidig. »Hm, jetzt bist du wohl sehr enttäuscht, nicht wahr?« »Wer? Ich?« Ich tat gleichgültig, während ich mit aller Macht versuchte, nicht an ihre elektrisierende Figur zu denken. »Ich bin nicht enttäuscht, nicht die Bohne. - Nein, überhaupt nicht, außerdem habe ich ja eine Freundin.« »Tatsächlich?« spottete sie. »Wie lange kennst du sie schon? Seit zwei oder drei - Nächten?« »Länger. Viel länger.« »Und warum klingst du, als hättest du Zahnschmerzen?« Dieses kleine Luder mimte die Unschuld vom Lande. Aber der lauernde Unterton in ihrer Stimme verriet mir ihre wahren Gefühle. Ich habe da so meine Erfahrungen… Spornstreichs entschied ich, das Versteckspiel aufzugeben und Klartext zu reden. »Es ist nur wegen dem neuen Tisch. Ich hätte mir das Teil gern mal angesehen.« Clarissa kicherte. Dann fragte sie ganz leise: »Und was wird deine Freundin dazu sagen?« »Unsere Beziehung ist von recht lockerer Natur«, log ich und verschwieg Tessas krankhafte Eifersucht und mein Versprechen, sie nicht mehr zu betrügen. »Bei uns ist Toleranz Trumpf.« Mich ritt der Teufel. Ich war super drauf und scharf wie eines dieser neumodischen japanischen Messer. 10
Mir war, als hörte ich ein leichtes Aufatmen. »Übrigens hab ich noch eine andere Überraschung für dich«, sagte Clarissa lebhaft. »Welcher Art?« »Ich habe herausbekommen, wer meine Vorfahren waren, vor ein paar hundert Jahren. Als ich es erfuhr, war ich wie vom Donner gerührt. Du hast doch Völkerkunde studiert und beschäftigst dich mit den skurrilsten Dingen. Es wird dich interessieren. Meine Urahnen waren in der Tat äußerst bemerkenswerte Leute.« »Du stammst doch nicht etwa aus einer ScharfrichterDynastie?!« fragte ich schmunzelnd. Clarissa schwieg einen Augenblick. Ich spitzte die Ohren. Hatte ich unbewußt ins Schwarze getroffen? Ich war fast sicher. Zu schnell wechselte sie das Thema. Im Nu hatten wir alle erforderlichen Einzelheiten besprochen. Ich würde mit der Eisenbahn anreisen, denn mein fahrbarer Untersatz war einstweilen aus dem Rennen. Die hübsche Clarissa bot an, mich vom Bahnhof abzuholen. Während sie sprach, schnurrte sie wie ein verschmustes Kätzchen. Zehn Minuten später hatte ich all meine Termine abgesagt. Zum Glück beschäftigte mich derzeitig nichts Wesentliches. Bis auf mein schlechtes Gewissen, das an mir nagte. Ich dachte an Tessa, meine Freundin. Wir hatten bereits die heftigsten, gemeinsamen Erlebnisse gehabt. Um sie nacheinander aufzuzählen, müßte ich vorher ziemlich tief Luft holen. Und ich wußte in diesen Augenblicken, daß ich mir doch noch nicht alle Hörner abgestoßen hatte. Es war auch nicht zu übersehen. Als ich die Fahrkarte löste, kam ich mir beinahe vor wie ein Sextourist. Doch die Aussicht, mit der Nachfahrin eines Carnifex in alten Unterlagen zu wühlen, versetzte mich in Hochstimmung. Erwartungsfroh bestieg ich den Zug. Mich erwartete das Grauen! * Kerstin Marx saß in einem antiken Ohrensessel im Büro des Heimleiters und wartete auf Alfred Kaiser. 11
Sie trug ein mintgrünes, figurbetontes Kostüm, hatte die schlanken Beine übereinandergeschlagen und blätterte gelangweilt in einem Versandhauskatalog. Immer wieder schaute sie zur Uhr. Wo Alfi nur so lange blieb? fragte sie sich. Er wollte doch nur auf einen Sprung zu einem Heimbewohner, wegen einer Bagatelle, wie er erklärt hatte. Jetzt ließ er sie schon eine Viertelstunde schmoren. Ärgerlich packte sie den Katalog auf den Fenstersims. Sie stand auf und trat vor den Spiegel, der hinter dem Schreibtisch des Heimleiters hing. Was sie erblickte, gefiel ihr über alle Maßen. Keiner sah ihr an, daß sie schon einundvierzig war. Sie selbst »schätzte« sich auf Anfang, allerhöchstens Mitte Dreißig. Kerstin Marx schenkte sich ihr bezauberndstes Lächeln. Sie freute sich auf den bevorstehenden Kinobesuch. Im CineStar spielten sie einen Liebesfilm. Anschließend wollten Alfred und sie in eine verruchte Nachtbar. Und danach würde sie ihn fragen, ob er noch Lust auf einen Kaffee hätte - in ihrem Apartment. Sie spürte, wie wohltuende Wärme in ihr aufstieg. Jäh wurden ihre erotischen Phantasien unterbrochen. Im Spiegel sah sie, daß sich eine Tür hinter ihr öffnete. Sie wußte nicht, wohin die Tür führte. Alfred war durch eine andere hinausgegangen. Ein Mann, der einen schwarzen Trenchcoat und einen Schlapphut trug, trat langsam in das Büro. Als sich die Frau erschrocken umdrehte, hob der Unbekannte drohend einen Arm. Kerstin Marx wurde kreidebleich. Plötzlich hatte der Mann ein Beil in der Hand! Ich muß schreien! schoß es ihr durch den Kopf. Aber die unaussprechliche Angst, die sie empfand, lähmte ihre Stimmbänder. Sie röchelte nur. Der Mann kam näher, trat vor das Fenster. Draußen dämmerte es. Aus der Ferne erklangen Motorgeräusche. Der Wind bauschte die Gardine. »Was - wollen Sie von mir?« hauchte Kerstin Marx. Sie wich zurück. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben. Sie trug hohe Pumps und knickte mit einem Fuß um. Wie gebannt starrte 12
sie die unheimliche Gestalt an. Die breite Krempe des Hutes verdeckte das Gesicht. Die Hand, die das schwere Beil umkrampft hielt, war knotig und wimmelte von Krampfadern und Altersflecken. Als der Mann unter das Deckenlicht trat, sah sie, daß sein Mund dünnlippig und abstoßend verzerrt war. »Ich werde dich richten, wie du arme Sünderin es verschuldet hast«, sagte er dumpf. »Nein!« Verzweifelt warf Kerstin Marx beide Arme in die Höhe. Der Mann kam ihr bedrohlich nahe. Urplötzlich schwang er die Axt, pfeilschnell und mit einer gespenstischen Leichtigkeit. Sie versuchte, aus seiner Reichweite zu entkommen. Er trat ihr in den Weg. Das Beil wirbelte über ihrem Kopf. »Warum?« rief sie mit weinerlicher Stimme. »Du hast kein Recht dazu!« Da schlug er zu. Es war nur ein kurzer, trockener Ton, als das Beil über ihren Kopf in die Wand krachte. Im Unterbewußtsein bekam sie mit, daß irgendwas von oben auf ihre Schuhe fiel. Gleichzeitig strömte die Kraft aus ihrem Körper. Sie rutschte in sich zusammen, bis ihr Po den Boden berührte. Mit einem Ruck riß der Mann das Beil aus der Wand. Er bückte sich und nahm etwas vom Boden auf, das er so zügig unter seinen Trenchcoat verbarg, daß sie nicht sah, was es war. Dann verschwand er durch die Hintertür. Kerstin Marx atmete auf. Der Spuk war vorüber. Endlich war der Wahnsinnige fort, und, was das Wichtigste war, sie war am Leben! Offenbar hatte der Beilmann ihr nur einen Schrecken einjagen wollen. Aber wieso tat ihr linker Unterarm denn so weh? Hatte der Unhold sie verletzt? Erst jetzt ließ Kerstin Marx die Arme sinken… Alfred Kaiser zitterte an Hand und Fuß, während er zu seinem Büro hastete. Ohrenbetäubendes Gebrüll hatte ihn alarmiert. Solche Schreie hatte der Heimleiter noch nie gehört. Er hatte furchtbare Angst um seine hübsche Freundin. Sie wartete auf ihn. Aber warum schrie sie? Als Kaiser ins Büro stolperte, wußte er warum. Kerstin kam ihm auf dem Teppich entgegengekrochen. Das mintgrüne Kostüm war blutverschmiert. 13
Ihr linker Arm war nur noch ein kurzer, blutiger Stumpf, aus dem die weißliche Kugel des Ellbogengelenkes schimmerte. Jetzt war es Alfred Kaiser, der schrie. Der greuliche Anblick der Verstümmelten versetzte ihm den Schock seines Lebens. Vor Schmerz winselnd, richtete sich die Frau auf. Ihre Augen quollen aus den Höhlen. »Der Beilmann!« wimmerte sie. »Er hat meinen Arm mitgenommen…« * Auf dem Wall in Höhe des Jahn-Gymnasiums suchte Gustav Mantzel gerade seinen Foxterrier. »Moppi!« rief er den Hund immer wieder. »Moppi, wo steckst du denn?« Ich hätte ihn nicht von der Leine lassen sollen! Mantzel machte sich bittere Vorwürfe. Er hatte Geburtstag, wurde an diesem Tag sechzig, und nach all dem guten Essen und Trinken hatte er beschlossen, sich einen Verdauungsspaziergang auf der nahen Wallanlage zu gönnen. Und Moppi konnte gleich Gassi gehen. Ein Abwasch. Mantzel wohnte nur um die Ecke, im Schuhhagen. »Moppi!« Zwei Jungen gingen an ihm vorüber. Sie waren ungefähr fünfzehn, trugen Jeans und beigefarbene Anoraks. »Habt ihr meinen Hund gesehen?« fragte sie Mantzel. Wortlos schüttelten die beiden die Köpfe. Da bemerkten sie, daß sich der Mann auf eine Krücke stützte. Er wirkte ziemlich gebrechlich. Sie blieben stehen. Der Größere fragte: »Wo ist Ihr Hund denn hingerannt?« Mantzel zeigte auf das Denkmal an der Stadtmauer. »Dort unten, neben dem Durchgang zum Grauen Kloster hab ich Moppi zum letzten Mal gesehen. Aber ich kann die Treppe dorthin nicht runtersteigen, zu steil für mich.« »Bleiben Sie hier!« sagte der Kleinere freundlich. »Wir übernehmen das schon.« »Nett von euch.« Mantzel sah zu, wie die Jungen leichtfüßig die Granitstufen der Walltreppe hinunterflitzten. Es war fast sieben, und die Dunkelheit nahm mit jeder Minute zu. Aber der Mann konnte die 14
gelb-beigen Anoraks der Jungen gut erkennen. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte ihn. So schlecht, wie die Jugend dargestellt wurde, war sie eigentlich gar nicht. Er griff in die Manteltasche. Dort klimperten noch zwei Fünfmarkstücke. Die würde er den beiden schenken, als Belohnung. Und außerdem hatte er ja heute Geburtstag. Da durfte man sich nicht so haben… Derweil stöberten Tom und Andreas in dem dichten Gesträuch am Fuße des Walles. Hin und wieder riefen sie den Namen des kleinen Ausreißers. Tom, der Größere, bückte sich und schlüpfte in ein dichtbelaubtes Buschwerk. Andreas suchte den Hund hinter dem Denkmal, »'ne Funzel müßte man dabeihaben. Es ist ja finster hier wie in 'nem Kohlensack.« »Uff!!!« kam es aus dem Gesträuch, in dem Tom herumstöberte. »Hast du was, Tom?« fragte Andreas. »Komm mal!« Andreas bekam einen Schreck. Die Stimme des Freundes klang so zittrig. So schnell er konnte, lief er zu dem Strauchwerk, in das Tom untergetaucht war. »Was ist los?« Tom deutete auf eine Stelle vor seinen Füßen. »Das ist die größte Schweinerei, die mir je untergekommen ist«, preßte er zornig hervor. Schnell hatten sich Andreas' Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Vor ihm lag der verkrümmte Körper eines Foxterriers. »Moppi«, keuchte er. »ich glaub, mir wird schlecht.« Tom nickte. »Irgendsoein Saukerl hat ihm den Kopf abgeschnitten.« »Und mitgenommen«, ergänzte Andreas. Eine Weile standen sie stumm vor dem Kadaver des unschuldigen Vierbeiners. Über ihren Köpfen raschelte das kahle Geäst der Roßkastanien. »Und was sagen wir dem Alten?« wisperte Tom. »Er steht oben und wartet.« Andreas zuckte die Achseln. »Wenn ich das wüßte…«
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* »Einen Kuß willst du?« »Ja.« »Aber wir kennen uns doch erst drei Stunden.« »Höchste Zeit also.« Das Liebespärchen saß auf einer Bank, auf dem Hügel gegenüber vom Bahnhof. Falko war siebzehn, Madeleine ein Jahr jünger. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Sein Mund suchte ihre Lippen. »Du gehst aber ran wie Zatopek!« meinte sie schmunzelnd. Er grinste. »Halbe Sachen liegen mir nicht.« »Macho!« »Was ist das Schlimme daran?« Falko sah sie an. »Ein Junge möchte ein Mädchen küssen. Sag jetzt nicht, daß du das als sexuelle Nötigung empfindest.« »Natürlich nicht«, versicherte sie. »Und warum zierst du dich so?« hakte er nach. »Ich kenne gerade mal deinen Namen, aber du meldest schon deine Ansprüche an. Deswegen.« »Also gut, wie du willst. Schalte ich eben einen Gang zurück oder noch besser, gleich in den Leerlauf.« Er nahm den Arm von ihrer Schulter und pfiff die Melodie eines aktuellen Top-Hits. »Spielst du jetzt die beleidigte Leberwurst?« fragte sie spöttisch. Falko antwortete nicht. Ein seltsamer Anblick hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Er saß da, weit nach vorn gebeugt, und starrte auf den Bahnhofsvorplatz. Das Mädchen folgte seinem Blick. »Was gibt's denn da so Interessantes zu sehen?« fragte sie spitzbübisch. »Dort!« Falko deutete mit der Hand. »Der Mann in dem langen, schwarzen Mantel und dem Hut, der gerade über den Platz geht. Spinn ich, oder schimmert er rötlich?« Plötzlich spürte der 17jährige, wie sich das Mädchen eng an ihn herankuschelte. »Du spinnst nicht«, hauchte sie. »Es sieht bald aus, als würde ein Feuer in ihm brennen. Falko, ich habe auf einmal solche Angst. Laß uns woanders hingehen ja? Vielleicht zu den CrednerAnlagen am Schwanenteich. Da ist's auch voll romantisch.« 16
Falko sprang auf. »Den Typen möchte ich mal genauer unter die Lupe nehmen. Mal sehen, was er noch für Tricks auf Lager hat.« »Tu's nicht!« Sie packte ihn am Ärmel. Er schüttelte ihren Arm ab. Seine Abenteuerlust war entfacht. »Bin doch gleich wieder da, Kleines.« »Falko!« Zwecklos. Schon rannte er den schräg abfallenden Weg zum Bahnhofsvorplatz hinab. Bald war seine gelbe Windjacke hinter einem Gebäude untergetaucht. Madeleine spürte, wie sich eine Klammer aus Gletschereis um ihr Herz krallte. Etwas Ungeheuerliches lag in der Luft. * In Berlin, auf dem Ostbahnhof, hatte mein Zug einige Minuten Aufenthalt. Ich sprang auf den Bahnsteig und hielt nach einem Zeitungskiosk Ausschau. Nach kurzem Suchen fand ich einen. Während mir die Verkäuferin die verlangten Zeitungen heraussuchte, betrachtete ich die Auslagen. Das reißerische Cover eines Romanheftchens fiel mir auf. Ich mußte schmunzeln. Das Titelbild zeigte einen Vampirjäger im altmodischen Gehrock und Melone auf dem Kopf. Gerade hob er den verwitterten Deckel eines Sarges an. Mit einer Kerze leuchtete er hinein. Sein Gesicht hatte die Farbe eines Harzer Rollers. Ich kaufte das Heft, bezahlte, kletterte in den Zug und stiefelte in mein Abteil. Bis dahin hatte ich allein darin gesessen. Doch als ich nun, mit meiner Lektüre unterm Arm, eintrat, saß ein Mann mittleren Alters auf dem Platz gegenüber. Artig grüßte ich ihn. Schließlich hatten mich meine Adoptiveltern zu einem höflichen Menschen erzogen. Es war 1980 gewesen, ich war ungefähr zehn, als man mich nackt und bloß in der Weimarer Innenstadt aufgriff. Verwirrt und ohne Gedächtnis. Ich trug eine Kordel um den Hals, an der ein Silberring hing. Später fand ich heraus, daß dieser Ring magische Kräfte besaß und auf dämonische Aktivitäten reagierte. 17
Aber das war noch nicht alles. Rieb ich den Ring an dem siebenzackigen Mal, das ich auf der Brust hatte, erschien ein heller Lichtstrahl. Damit konnte ich Befehle auf Gegenstände schreiben. Schrieb ich die Runen für das Wort Reise, war ich in der Lage, Zeitsprünge zu bewältigen. Natürlich nur, um den Ursprung des Dämonischen zu bekämpfen. Dann katapultierten mich magische Energieströme automatisch in die Jetztzeit zurück, wenn ich mich nicht schon vorher auf den Weg dorthin machte. Mir war klargeworden, daß mein plötzlichen Auftauchen vor neunzehn Jahren triftige Gründe gehabt haben mußte. Bald fand ich heraus, daß ich den Ring von Nostradamus, dem sagenhaften Hellseher, erhalten hatte. Schon die zwei Initialen, die auf der Ringoberfläche eingraviert waren, wiesen darauf hin: M und N. Markus und Nostradamus. Fortan wußte ich, was meine Aufgabe war. Die Vernichtung jeglicher Dämonen mit Stumpf und Stiel. Es gab da nämlich Prophezeiungen, die das Jahr 2.000 gleichsam mit dem Jahr 1 der Herrschaft des Antichristen in Verbindung brachten. Ein beunruhigender Gedanke. Immerhin hatte Nostradamus eine Vielzahl geschichtlicher Ereignisse bis aufs I-Tüpfelchen genau vorausgesehen, die hunderte Jahre nach seinem Tod stattfanden… »Sie lesen Horror?« Ich schrak zusammen. Um Haaresbreite wäre mir das Heftchen vom Schoß gerutscht. Zu tief war ich in Gedanken versunken gewesen, als mich mein Abteilnachbar ansprach. Ich bemerkte, daß er mich anschaute, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. »Klar lese ich Horror. Sie nicht?« fragte ich zurück. Der Mann grinste abfällig. Er war ungefähr Fünfzig, hatte eine Stirnglatze und trug ein exakt geplättetes Oberhemd. In seiner kakelbunten Krawatte steckte eine Silbernadel. »Nein.« Geringschätzig deutete er auf das Heft in meiner Hand. »Es ist doch alles barer Unfug, was sich diese Schreiberlinge da aus den Fingern saugen. Mit der Realität hat das doch nichts gemein. Oder haben Sie schon mal einen wandelnden Zombie gesehen?« Er kicherte kurz, und mir war klar, daß seine Frage rein 18
rhetorischer Natur war. Er wollte gar keine Antwort. Seine Meinung stand unumstößlich fest. Ignorant, dachte ich und sagte: »Der eine guckt sich solche Sachen in der Glotze an und macht wegen der Werbeblöcke mehr Pinkelpausen als nötig, der andere liest…« »Pff!«, war die Antwort, dann hob er sein Kinn und tat, als wäre ich Luft. Als der Zug in den Anklamer Bahnhof einlief, hatte ich meinen Schmöker ausgelesen. Er war spannend bis zur letzten Seite gewesen. Ich quetschte den kleinen Roman in meine Reisetasche, die neben mir auf der Bank stand. Um Platz zu schaffen, rückte ich den Inhalt etwas beiseite. Neben Wäsche zum Wechseln hatte ich auch einige Dinge aus meinem Einsatzkoffer für den Kampf gegen das Böse eingepackt. Für alle Fälle. Der Mann mit der Stirnglatze bemerkte das Kruzifix. Ich sah ihm an, daß ihn die Neugierde fast auffraß. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Doch er beherrschte sich und mimte den Obercoolen. »Bin Exorzist«, foppte ich ihn. »Aber nur auf 630-Mark-Basis.« »Was es nicht alles gibt«, murmelte er kopfschüttelnd. Da ertönte ich ein Hilferuf. Jemand schrie um sein Leben. Es war müßig, zu spekulieren, was der Grund dafür war. Ich zögerte keine Sekunde, sprang auf, eilte zur Tür und schob sie auf. »Bleiben Sie hier!« rief mir mein Reisegefährte nach. »In Pasewalk sind Glatzköpfe zugestiegen. Kann sein, daß die Jungs gerade die Sau rauslassen!« »Jemand hat um Hilfe gerufen!« schnarrte ich ihn an. »Wollen Sie nicht mitkommen?« Die Stirnglatze zuckte die Schultern. »Ich? Sehe ich etwa aus wie ein Bulle?« Ein reizender Zeitgenosse! Wütend knallte ich die Tür zu. Schon wieder dröhnte ein Schrei. Ich hastete über den Gang. Zwei, drei Männer standen am geöffneten Fenster und pafften seelenruhig ihre Glimmstengel. Wahrscheinlich hätten sie auch keinen Finger gerührt, wenn neben ihnen ein Raubmord geschehen wäre. Ich kannte solche Typen zur genüge. Sie zeigten nur für ihre eigene Person lebhaftes Interesse. 19
Als ich die beiden Raucher zwangsläufig zur Seite drängte, pöbelten sie mich an. »He, keine Manieren, wie?« Ich blieb ihnen die Antwort schuldig. Vor einem Abteil, dessen Vorhänge zugezogen waren, blieb ich stehen und horchte. Hinter der Glastür erklang eine beängstigende Geräuschkulisse: Gegröle, Flüchen, Pfeifen, Lachen und - Angstschreie. Ohne viel Federlesens rammte ich die Tür zur Seite. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Zwei breitschultrige Kerle in gestreiften Muskelshirts waren gerade dabei, einen dritten Mann aus dem Fenster zu werfen. Bis zu den Hüften hing der Gequälte bereits draußen. Sein Gesicht war erbarmungslos zerschlagen, eine breiige Masse. Der Mann blutete aus mehreren Wunden. Ein Schneidezahn fehlte ihm. Ich sah, wie namenlose Angst in seinen Augen funkelte. »Laßt den Mann los!« Ich trat ins Abteil. »Seid ihr besoffen oder was?« Die Glatzköpfe starrten mich an. In ihren abgestumpften Blicken las ich blanke Verwunderung über meinen Einsatz. »Hau ab!« schrie mich ein Mädchen an, das auf der Bank links vor mir kauerte. Sie war nicht älter als achtzehn und von verschmierten Tattoos übersät. Skelette, Totenköpfe, ordinäre Schriftzüge. Ein wahrhaft teuflisches Trio! Ich scherte mich einen Dreck um das Gejapse der ausgeflippten Göre. Zwei, drei Sätze, und ich war am Fenster. Der kalte Fahrtwind schlug mir ins Gesicht. Mit voller Wucht stieß den überraschten Glatzen meine Ellbogen gegen die Brust. Sie plumpsten auf die Sitzbänke. Ich zerrte den Gepeingten ins Abteil. Der Mann sackte wimmernd auf den Boden. Sofort schlug er beide Arme vor den Kopf, um sein Gesicht vor weiteren Hieben zu schützen. »Das hast du blonder Misthaken nicht umsonst gemacht!« brüllte das Mädchen. »Eddi, Jochen, zeigt es diesem Laufen! Oder ich mach's selbst!« Wie ein angestochenes Kalb sprang sie auf. Die halbe Portion ballte die tätowierten Fäuste und knallte sie kampfbereit ineinander. Gelenkig wie eine Katze, hob sie ein Bein und ließ es durch die Luft wirbeln. 20
»Bin eine bekannte Kickboxerin!« rühmte sie sich. »Paß mal auf, wie ich dich zur Sau mache!« Meine Lage war prekär. Ich befand mich genau in ihrer Mitte. Eine denkbar ungünstige Ausgangssituation. Wenn sie von allen Seiten zugleich angriffen, würde ich kaum eine Chance haben. Deswegen glitt ich zurück, bis ich die Fensterscheibe im Rücken spürte. Die angebliche Kickboxerin war noch dabei, ihre Show abzuziehen. Theatralisch ließ sie ihre Beine durch die Luft wirbeln, erst das linke, dann das rechte. Wahrscheinlich hielt sie sich für die Rote Sonja. Aber nicht mit Mark Hellmann! Ich bin nicht nur der Träger des magischen Rings, sondern auch Träger des schwarzen Gürtels in Judo. Seit Jahren trainiere ich mit meinem Kumpel, dem Hauptkommissar Pit Langenbach, in den Übungsräumen des Weimarer Polizeisportvereins. Normalerweise hätte ich meine Gegner auf diesen nicht unwesentlichen Umstand aufmerksam machen müssen. Doch urplötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Die Kickboxerin näherte sich. »Es geht ganz fix«, feixte sie. »Dann biste hinüber.« Ihr linkes Bein wirbelte. Blitzartig tänzelte ich zur Seite - da trat mir einer der Streifenhörnchen brutal in den Bauch! Ich hatte mich direkt in seinen Stoß geworfen. »Getroffen!« jubelte er. Der Tritt nahm mir die Luft zum Atmen. Ich stöhnte. Und dann sah ich rot! Was nun folgte, hatten sich diese brutalen Idioten selber zuzuschreiben. Den Burschen, der mir den Tritt verpaßt hatte, nahm ich als ersten aufs Korn. Ich packte seinen Arm, drehte ihn und hebelte ihn wider das Gelenk. Es knirschte, und der Kraftprotz führte einen Veitstanz auf. »Verdammt! Macht ihn doch endlich alle!« brüllte er wie von Sinnen. »Er hat mir den Arm gebrochen.« Das Mädchen durchbohrte mich mit ihren Blicken. Ich ahnte, sie war die gefährlichste des Trios. Doch mein plötzlicher Armhebel hatte ihr augenscheinlich Respekt eingeflößt. »Eddi, du Idiot!« schnaufte sie herrisch. »Geh beiseite! Ich werde es dieser Type schon zeigen.« 21
Ich nahm all meine Sinne zusammen und war auf den Angriff gefaßt. Ehe ich mich versah, erschien Nummer drei auf der Bühne. Bisher hatte der Glatzkopf nur dagehockt und staunend von einem zum anderen geguckt. Jetzt schraubte er sich auf der Sitzbank in die Höhe. Seine Rechte umkrallte einen Baseballschläger. Sein feistes Gesicht glänzte wie eine Maske aus Metall. Seine Schweinsäuglein blinzelten heimtückisch auf mich herab, als er mit dieser Neuzeitkeule ausholte. Ich reagierte instinktiv. Die meisten Kämpfe werden gewonnen, indem man dem Kontrahenten zuvorkommt. Meine Hände schnellten vor. Ich packte den Glatzkopf am Hosenbund, riß ihn um. Gleichzeitig warf ich mich zurück. Mein Rivale war ziemlich schwer, aber auf meine Attacke nicht vorbereitet. Er strauchelte, drohte, von der Bank auf den schmalen Gang zu stürzen. Ruckartig ging ich in die Hocke, zog noch ein zweites Mal. Er fiel. In seine Abwärtsbewegung hinein schoß mein wuchtiger Aufwärtshaken. Sein Kopf flog ins Genick. Sein Unterkiefer schwoll, verfärbte sich dunkel. Er sackte auf die Bank und gab keinen Mucks mehr von sich. Mit Schaum vor dem Mund ging die tätowierte Giftspritze auf mich los. Ich machte kurzen Prozeß. Das Mädel ging mir nämlich auf die Nerven. Ich packte zu, bekam ihr Bein zu fassen und stieß ihren Körper wuchtig zurück. Die selbsternannte Kickboxerin hob ab. Sie segelte durch die offenstehende Abteiltür hinaus auf den Gang. Dort krachte sie gegen einen der beiden Raucher, die sensationslüstern hereingafften. Erst jetzt hatte ich Zeit, mich um den Verletzten, einen Ausländer, zu kümmern. Hinter mir hörte ich, wie die Göre weinerlich behauptete, ich hätte sie und ihre Kumpel hinterrücks im Abteil überfallen und zusammengeschlagen. Und ich hörte, wie man sie tröstete! Für einen Moment glaubte ich, meinen Verstand zu verlieren, riß aber mich zusammen. »Thank you«, murmelte der Fremde, als ich ihm half, auf die Beine zu kommen. »Thank you, Sir.« 22
Ich nickte wortlos. Es hatte mir die Sprache verschlagen. Während ich betroffen zusah, wie der Mann tapfer seine Reisetasche aus dem Gepäcknetz nahm, sagte eine mäklige Stimme vom Gang: »Anzeigen müßte man Sie, jawohl! Wie können Sie es wagen, ein Mädchen zu schlagen?« Zustimmendes Gemurmel begleitete seine Worte. Ich drehte mich um. Der Sprecher war der Raucher vom Gang, der, der mich vorhin angepöbelt hatte. Er trug einen gestutzten Vollbart und tat, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen. Voller Abscheu starrte ich ihn an und hielt ihm seine Feigheit vor. »Wenn hier jemand angezeigt werden sollte, dann Sie! Und zwar wegen unterlassener Hilfeleistung. - Gehen Sie von der Tür weg! Sonst garantiere ich für nichts!« Der Vollbart trollte sich. Offenbar war es ihm nicht geheuer, wie ich mich hier gegen die Übermacht durchgesetzt hatte, und er wollte sich auf nichts Unkalkulierbares einlassen. Auch die übrigen Schaulustigen hatten es mit einemmal sehr eilig. Die Show war zu Ende. Sie drängelten sich in ihre Abteile. Der Zug verlor an Fahrt. Schon lief er in den Greifswalder Bahnhof ein. Mein Gepäck! Ich stürmte in mein Abteil. Dort traf mich der nächste Schlag. Ungeachtet seiner exquisiten Bundfaltenhose, kniete mein Reisegefährte auf dem schmutzigen Fußboden. Er schlotterte vor Angst und betete! Und zwar so inbrünstig, als wäre ihm in meiner Abwesenheit Jesus Christus persönlich erschienen. »Was haben Sie?« fragte ich besorgt. Anstatt zu antworten, löste er seine verkrampften Hände voneinander. Seine Zähne klapperten, als er mit der Rechten auf das nachtdunkle Fenster deutete. Zum zweiten Mal binnen weniger Augenblicke verschlug es mir die Sprache. Die Fensterscheibe war blutverschmiert! Was hatte das zu bedeuten? * »Ich will sie sehen«, beharrte Monika Dankert. Dr. Wilmots seufzte. »Vielleicht ist es besser, wenn Sie Ihre 23
Mutter so in Erinnerung behalten, wie sie früher aussah. Um ihren jetzigen Anblick zu ertragen, müßten Sie sehr, sehr tapfer sein.« »Ich bin tapfer«, wisperte die Frau. Arzt und Besucherin standen im Gang vor der IST, der Intensivstation der Medizinischen Klinik. Monika Dankerts Mutter litt an Brustkrebs, im Endstadium. Es gab keine Hoffnung mehr. Die Uhr ging auf Mitternacht. Dr. Wilmots hatte sie angerufen, weil er befürchtete, daß seine Patientin die Nacht nicht überleben würde. Monika Dankert hatte ihn darum gebeten. Eine Schwester erschien, und Dr. Wilmots sagte: »Bringen Sie Frau Dankert einen Kittel.« Die Angesprochene zuckte zusammen. Sie warf dem Arzt einen erschrockenen Blick zu und öffnete den Mund, als wolle sie etwas erwidern. Doch sie schluckte den Einwand hinunter und eilte fort. Mit einem grünen OP-Kittel überm Arm kam sie wieder. Monika Dankert schlüpfte in den Kittel. Er war viel zu groß für sie. Die Schwester raffte ihn hinten zusammen und verknotete ihn geschickt. Der Arzt öffnete die geriffelte Glastür, hinter der sich die IST befand, und die Besucherin spürte ihre Hände zittern. Hastig ballte sie sie zu Fäusten. Lautlos trat sie in die Schleuse zwischen Leben und Tod. Der Raum hatte kolossale Ausmaße. Dicht an dicht Betten auf kleinen Rädern, auf denen Sterbenskranke lagen. An den Kopfenden der Betten modernste medizinische Apparaturen, Computer, Herz-Lungen-Maschinen und fahrbare Ständer, an denen Glasbehälter mit Infusionslösungen baumelten. Auf Monitoren zuckten Impulse und gezackte Linien. Bunte Lämpchen flackerten. Zwei Schwestern waren dabei, einem Verstümmelten die blutigen Verbände zu erneuern. Monika Dankert hielt den Atem an. Das mußte der Fischer sein, von dessen gräßlichen Unfall sie in der Zeitung gelesen hatte. Im Sturm war er über Bord seines Kutters gefallen und mit dem Unterleib in die Schraube gekommen… Sie schluckte. Der Mann war in ihrem Alter, Mitte Dreißig. Sein zerfetztes Gesicht war geklammert, damit es nicht auseinanderfiel. Als sie vorbeiging, bemerkte sie, daß sie der Todgeweihte anstarrte und die Lippen bewegte, als wolle er lächeln. Ihre Augen wurden feucht. Von dem medizinischen Personal 24
abgesehen, war sie vielleicht der letzte Mensch, den dieser Mann je in seinem Leben sehen würde! Sie lächelte schwach zurück. Der Mann stöhnte, und Blut sickerte ihm aus Nase, Mund und Ohren. Gegenüber kniete ein junger Geistlicher in schwarzer Robe. Er war leichenblaß und hielt den Kopf lauschend über die Lippen einer alten Frau gebeugt. Dabei streichelte er unentwegt die blauangelaufenen Hände der Greisin. Männer und Frauen einträchtig nebeneinander. Lag der Sensenmann auf der Lauer, spielte es keine Rolle mehr, ob man Männchen war oder Weibchen. »Wir sind da«, sagte Dr. Wilmots. Monika Dankert blieb stehen. Sie sah ihre Mutter. Nur unter Aufbietung all ihres Willens gelang es ihr, nicht laut aufzuschreien. Sie fühlte, wie der Arzt ihren Ellbogen ergriff, sie stützte. »Geht es?« fragte er. »Ja, ich glaub schon«, hauchte sie. Das Gesicht der Mutter war eingefallen und wachsbleich. Die Augen lagen tief und waren geschlossen. Die dünnen Härchen, die auf dem fleckigen Schädel sprossen, konnte man an einer Hand abzählen. Aus Mund und Nase führten Schläuche. Auch unter der Zudecke lugten Schläuche hervor, die an Instrumente und Computer angeschlossen waren. »Wird Mutter noch einmal aufwachen?« fragte Monika. Dr. Wilmots schüttelte den Kopf. »Sehr unwahrscheinlich.« Im selben Augenblick ertönte in der Nähe ein alarmierender Fiepton. Herzstillstand! »Entschuldigen Sie!« Der Arzt hastete zum benachbarten Bett, überprüfte die Monitore und rief nach einer Schwester. Während Monika Dankert die sterbende Mutter anschaute, versank sie in Erinnerungen. Dieser gottverdammte Krebs! Mutter war doch erst sechzig Jahre alt. Unversehens fiel Monika ein, daß unlängst auch zwei Frauen an Brustkrebs gestorben waren, die sie immer sehr bewundert hatte: die Popsängerin Dusty Springfield und Belinda McCartney, die Ehefrau des legendären Ex-Beatle. Beide mitten aus dem Leben gerissen. Dr. Wilmots kam. »Ehe ich's vergesse«, meinte er und hielt Monika einen gelben Zettel hin. »Ihre Mutter hat Schwester Bettina eine Nachricht für 25
Sie diktiert.« »Wie?« »Eine Nachricht«, wiederholte der Arzt. Monika Dankert schniefte. Tränen kullerten über ihre Wangen. »Was für eine Nachricht?« Dr. Wilmots las sie vor: »Liebe Moni, ich dachte immer, Du hättest väterlicherseits keine Angehörigen. Dein Vater starb, bevor Du geboren wurdest. Wir kannten uns nur kurze Zeit. Aber eine alte Mitpatientin hat mir erzählt, daß noch jemand aus seiner Familie lebt. Liebe Moni, Du hast einen Großvater. Er heißt Paul Brettnasch. Die Frau sagte, er lebt in einem Greifswalder Altenheim. Wenn Du möchtest, besuche ihn. Gott schütze Dich! Deine Mutter.« Monika Dankert war baff. Sie hatte also einen Großvater! Draußen, auf dem Gang, beschloß sie, ihn unverzüglich aufzusuchen. Als sie den Kittel auszog und ihn der Schwester zurückgab, klingelte irgendwo ein Telefon. Der Anruf schlug ein wie eine Sprengbombe. Plötzlich wuselten Ärzte, Krankenpfleger und Schwestern aufgeregt durcheinander. Als hätte man in einem Bienenstock Feuer gelegt. Überall sprangen Türen auf, Liegen wurden auf den Gang gerollt. Anweisungen wurden gerufen, medizinisches Gerät herbeigeschleppt oder -gefahren. Monika Dankert sprang aus dem Weg. »Gehen Sie jetzt!« rief Dr. Wilmots ihr zu. »Was ist passiert?« »Ein Blutbad!« keuchte der Arzt. »Auf dem Greifswalder Bahnhof! Gehen Sie jetzt bitte! Die Notaufnahme muß sich jetzt darauf vorbereiten.« * Als ich aus dem Zug kletterte, zeigte die runde Uhr am Bahnsteigs die zwölfte Stunde an. Geisterstunde! Im wahrsten Sinne des Wortes, denn Bahnsteig zwei war ein Ort des Grauens. Normalerweise hätte der Bahnsteig idyllisch und friedlich gewirkt, wenn da nicht diese verkrümmten Körper gelegen hätten. Und die unheimlichen, dunklen Pfützen um sie herum. 26
Es gab keinen Zweifel. Die Leute waren tot. Der erste Leichnam hing rücklings auf einer blaulackierten Sitzbank. Ein Mann in Jeans und Parka. Hinter ihm, an der Fassade, warb ein Plakat, Urlaub in der Region zu machen. Drei Meter entfernt, direkt unter der Uhr, zwei weitere Männer. Der Kopf des oberen ruhte auf dem Bauch des anderen. Beide hatten gräßliche Halsverletzungen. Ein Reisekoffer war aufgesprungen. Wäschestücke und Toilettenartikel quollen hervor. Der Nachtwind zerrte an einem Frotteehandtuch, das auf den Bahnsteig gefallen war. Der vierte Körper lag an der Bahnsteigkante. Eine ältere Frau, soweit ich es ausmachen konnte. Wahrscheinlich war es ihr Blut, das die Scheibe meines Abteils verdunkelt hatte. Ich bemerkte, daß ihr Leichnam am Hals zu Ende war. Ihr Kopf fehlte. Übelkeit stieg in mir auf. Clarissa! knatterte es durch meinen Schädel. Sie wollte mich vom Zug abholen. Wo war Clarissa? Lebte sie? Irgendwo erklangen Polizeisirenen. An einem Pfeiler lehnte ein junger Bursche und atmete schwer. Er trug eine rapsgelbe Windjacke. Ich rannte zu ihm. Er schien der einzige zu sein, der hier noch lebte. »Was ist passiert?« brüllte ich ihn an. Er glotzte nur. Ich packte ihn am Kragen und rüttelte ihn. »Verdammt! Red schon! Gibt es keine Lebenden hier?« »Der Teufel!« röchelte der Bursche. »Er kam, tötete und löste sich in Luft auf.« »Gab es noch andere Leute, die auf dem Bahnsteig waren?« »Nein, nur wir fünf - und er.« Seine Augen flackerten wie Irrlichter. »Ich saß auf der Bank, auf dem Wall vor dem Bahnhof, zusammen mit Madeleine. Auf einmal sah ich, wie ein Mann über den Platz ging. Er sah seltsam aus.« »Was meinst du?« »Naja, sein Körper flimmerte rötlich, als wäre sein Mantel elektrisch geladen.« »Und weiter?« »Zuerst dachte ich, ein Spinner, ein Trickser. Ich lief los, wollte mir den Flimmerkerl mal von nahem begucken. Und dann ging es los! Der Mann sprang auf die Leute los, die auf den Zug warteten. Wie vom wilden Affen gebissen! Ein Beil blitzte auf. Sssst! Ich 27
hörte es bloß so surren. Ekelhaft.« »Ein Mann mit einem Beil?« bohrte ich. »Genauso war es«, bekräftigte der Augenzeuge. »Und er brabbelte so komische Dinge.« »Was für Dinge?« »Ich weiß es nicht mehr.« »Überlege!« Der Bursche legte seine Stirn in Falten, während er angestrengt nachdachte. »Es klang wie Ich werde euch richten, wie ihr armen Sünder es verschuldet habt. Irgendsowas Wahnwitziges. Dann schlug er um sich. Er gebärdete sich wie ein Irrer. Ich hatte Glück, konnte noch zur Seite hechten. Als der Zug ankam, spritzte überall Blut, bis hoch an die Abteilfenster. Im nächsten Moment war der Wahnsinnige weg, wie vom Erdboden verschluckt.« »In welche Richtung?« »Keine Ahnung. War wie im Zeitraffer.« »Wie sah er aus, dieser Mann mit dem Beil?« »Abscheulich.« »Geht es eine Prise genauer?« »Er hatte einen langen Mantel und einen Hut mit breiter Krempe. Deswegen konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Er bewegte sich unglaublich schnell, wie ein Raubtier auf Jagd. Aber trotzdem sah er ziemlich gebrechlich aus. - Weshalb quetschen Sie mich eigentlich so aus? Sind Sie von der Polente?« »Und eine Frau, so Mitte Zwanzig, hast du nicht gesehen?« Ich hing an seinen Lippen. »Nein, auf dem Bahnsteig standen nur die, die jetzt tot sind.« »Ganz sicher?« »Ja doch.« Ich atmete erst mal durch. Auf dem Bahnsteig wurde es lebendig. Uniformierte Polizisten liefen heran und sperrten das Gelände ab. Sie schoben die Reisenden, die neugierig aus dem haltenden Zug drängten, burschikos in die Abteile zurück. Sanitäter hetzten mit Tragen heran, knieten vor den Opfern, befühlten die Körper und richteten sich sofort wieder auf. Sie konnten sich Zeit lassen. Nicht einer hatte die Attacke des mysteriösen Beilmannes überlebt. Welch eine Ironie des Schicksals! sagte ich mir. Da bin ich mit 28
einer Frau verabredet und stolpere auf dem Weg zu ihr über verstümmelte Leichen. Diese gnadenlos verübten Morde erschütterten mich zutiefst. Eine Stimme riß mich aus den Gedanken. »Mark!« schrie es. »Mark Hellmann!« Auf dem Absatz wirbelte ich herum. Clarissa! Sie stand am Paßbildautomaten, neben einem Presseshop, und winkte mir. Zwei Uniformierte hielten sie mit sanfter Gewalt davon ab, die Absperrung zu durchbrechen. Offenbar wußte sie noch nicht, was passiert war, denn sie strahlte mich fröhlich an. »He, Mark!« jubelte sie. »Du überraschst mich immer wieder. Hast du das alles arrangiert?« Die Polizisten schauten sich betreten an. »Um Himmels willen«, schnaufte ich. »Sag nicht so etwas. Jemand hat den Bahnsteig in ein Schlachtfeld verwandelt.« Die Pfeife des Zugführers schrillte. Eine brüchige Stimme rief: »Zurücktreten bitte! Vorsicht bei der Ausfahrt des Zuges…« * Das Haus, in dem Clarissa Jank wohnte, war ein ziemlich verwahrloster, zweistöckiger Schinken in der Greifswalder Kapaunenstraße. Die Außenwände starrten vor Schmutz. Efeu kroch über die bröckligen Fassaden. Bis zur Dachrinne züngelte der grüne Vorhang empor. Ich folgte Clarissa in ihre kleine Wohnung. Es gab keinen Flur. Vom Treppenhaus gelangte man sofort in die Wohnstube. Hier standen eine bequeme Sitzecke, ein dickbäuchiges Büffet, eine Kommode und ein ovaler Tisch. Flauschige Auslegeware dämpfte unsere Schritte. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Clarissa zündete eine Altarkerze an, flitzte in die Küche und kam mit einer Platte Köstlichkeiten wieder: Räucheraal, Geflügelstreifen mit Creme fraiche, Schillerlocken und kleine Steaks. »Du wirst Hunger haben, Mark«, sagte sie und lächelte. 29
Ich biß mir auf die Lippe. »Lieb gemeint, aber mir spukt noch immer dieser gräßliche Anblick vom Bahnhof im Kopf herum. Ich glaub, ich kriege jetzt keinen Bissen runter.« Rotwein plätscherte in zwei kugelige Gläser. »Tut mir leid«, sagte Clarissa schuldbewußt. »Ich meine, wegen vorhin, als ich bis zum Knie in den Fetttrog gestapft bin. Ich konnte aber doch nicht wissen, daß etwas so Schreckliches passiert ist.« »Schon gut.« Ich sah sie an. Clarissa Jank war eine ungemein attraktive Vertreterin ihres Geschlechts. Ihre blonden Haare hatte sie streng zum Pferdeschwanz zurückgekämmt. Sie trug ein knappes, hellblaues Kleidchen, mit schmalen Trägern und V-förmigem Ausschnitt. Als sie meinen Blick bemerkte, errötete sie, fuhr sich mit der Hand flüchtig übers Gesicht und sagte: »Falls du dich abbrausen möchtest, ich habe alles bereitgelegt. Frische Handtücher, Duschbad, Shampoo, Waschlappen.« »Danke.« Bevor ich ins Bad ging, hauchte ich ihr einen Kuß auf die vollen Lippen. Das Parfüm, das sie benutzte, war schlichtweg betörend. Ein Hitzeschwall brodelte in mir auf, doch ich riß mich am Riemen. Wir beide brauchten jetzt erst einmal Abstand. Schließlich war es noch keine Viertelstunde her, daß nicht weit von hier vier Menschen ihr Leben ausgehaucht hatten. Da konnte man unmöglich übergangslos zur Tagesordnung übergehen. Ich jedenfalls nicht. Nachdem ich mich frischgemacht hatte, setzten wir uns an den Tisch. Ich testete den Rotwein, auch Clarissa nippte an ihrem Glas. Eine Zeitlang schwiegen wir. »Ich würde gern wissen, was in einem solchen Menschen vorgeht, der ein solches Verbrechen verübt«, sagte sie auf einmal. »Wahrscheinlich war es ein Psychopath«, erklärte ich. »Er steckte bis zur Schädeldecke voller Frust und mußte sich abreagieren. Solche Menschen gab es schon immer.« »Schauderhaft.« Ich nickte. »Ihre Seele ist krank. Eigentlich können sie gar nichts dafür.« »Nichts dafür?« Clarissa starrte mich an. »Ich finde, man sollte 30
sie für allezeit aus dem Verkehr ziehen. Sie sind gefährlicher als Landminen. Die kann man entschärfen, vorausgesetzt, man findet sie.« »Ich wußte gar nicht, daß du so unerbittlich sein kannst«, sagte ich. »Was heißt unerbittlich?« Clarissa redete sich in Rage. »Bist du der Ansicht, man könnte jemanden therapieren, der ein halbes Dutzend unschuldiger Menschen abgeschlachtet hat? Dieses Monstrum nach ein paar Jahren den Angehörigen der Opfer in Freiheit präsentieren? Wer kann sich anmaßen, darüber zu befinden, daß das Böse nicht ein weiteres Mal zum Ausbruch kommt?« »Naja, ich bin kein Psychologe«, wich ich aus. Clarissa trank einen Schluck Rotwein, stellte das Glas ab und schaute mir in die Augen. »Mark, denk doch mal an die Hinterbliebenen der Dahingemordeten. Ich weiß von einem Fall, da mußte sich ein Mann kopfüber in Schulden stürzen. Und weißt du, warum? Ein Triebtäter hatte seine Tochter umgebracht, und der Vater mußte deren Wohnung renovieren und ein paar Monatsmieten zahlen. Hinzu kamen die Anwaltskosten als Nebenkläger. Und der Urheber all dessen? Keinen Pfennig mußte der Mörder löhnen. Väterchen Staat hatte die Spendierhosen an.« Unwillig schob ich meinen Ring auf und ab. Ein heißes Eisen, dieses Thema. Möglicherweise war es gar kein Psychopath, der das Blutbad auf dem Bahnhof angerichtet hatte. Aber wer war es sonst? Ein Geschöpf der Finsternis? Dann hätte mein Ring aber die dämonische Aktivität sofort angezeigt. Doch nichts dergleichen war passiert. Mein Ring hatte nicht gemuckst. Demnach nichts Dämonisches… Vor meinem geistigen Auge erschien der angstschlotternde Bursche vom Bahnsteig. Ich kramte in meinem Gedächtnis. Was hatte er gesagt? Sein Mantel flimmerte rötlich, als sei er elektrisch geladen. Als Flimmerkerl hatte er den Mörder bezeichnet. »Ich werde euch richten, wie ihr armen Sünder es verschuldet habt«, murmelte ich geistesabwesend. »Mark?« Verdattert blickte ich auf. Clarissa Jank stutzte. »Was hast du da eben geflüstert? Ich hab's nicht verstanden.« 31
Im Begriff, abzuwinken, wurde ich plötzlich hellhörig. »Ich werde euch richten, wie ihr armen Sünder es verschuldet habt«, ließ ich die Worte auf meiner Zunge zergehen. »Den Ausspruch kenne ich«, sagte Clarissa. »Ich auch. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich.« Ich piekte meine Gabel in einen Aalhappen. »Diese Redensart stammt aus dem Mittelalter. Hatte der Henker eine Hinrichtung vollzogen, salutierte er dem Richter. Daraufhin sagte der: Du hast recht gerichtet, wie Urteil und Gesetz es geben und wie der arme Sünder es verschuldet hat.« »Und der Henker antwortet: Dafür danke ich Gott und meinem Meister, der mich diese Kunst gelehrt.« »Du bist gut informiert.« Clarissa lachte hell auf. »Ich selbst bin Nachfahrin eines Scharfrichters. Schon vergessen?« Mein Blick glitt über ihren Busen, da sie sich gerade vorbeugte, als ich den Happen runterschluckte. »Man braucht eine gehörige Portion Phantasie, um sich eine Gemeinsamkeit zwischen dir und einem Scharfrichter vorzustellen«, sagte ich eher beiläufig. Sie stand auf. »Du brauchst einen klaren Kopf. Ich geh mir etwas überziehen. Okay?« Ich lehnte mich über den Tisch und ergriff ihre Hand. »Keine Bange, ich werde schon nicht über dich herfallen. Aber wenn du dir was anderes anziehen willst, habe ich nichts dagegen. Natürlich nicht. Ach, bleib so.« Lächelnd sank sie auf den Sessel zurück. »Wie du willst. Aber beschwere dich nachher nicht.« Wir begannen, über das Leben von Scharfrichtern zu fachsimpeln. Clarissa erwies sich als äußerst kompetente, scharfsinnige Gesprächspartnerin. Diese Frau war nicht nur auffallend gutaussehend, sondern auch ein kluges Köpfchen. Eine großartige Mixtur, mal abgesehen von ihrem Hang, sich rücklings auf Tischen zu vergnügen. Scharfrichter galten als Geächtete. Die Mitbürger mieden ihre Nähe und ihre Berührung. Daher mußten Henker vor den Toren der Städte leben. In Gastwirtschaften mußten sie auf dreibeinigen Schemeln hocken und ein eigenes Trinkgefäß mitbringen. Sie durften nicht in öffentliche Badehäuser. Ihr Vieh mußte weitab von dem der anderen Bürger weiden. Ihre Töchter durften keinen ehrlichen Mann heiraten. Die Söhne wurden ausgestoßen und 32
durften kein Handwerk erlernen. Ihnen blieb keine Wahl, als in die Fußstapfen der Väter zu treten. »Da fällt mir eine Episode ein«, meinte Clarissa. »Es geschah 1557 in der Schweiz. Ein wertvolles Pferd war in einen Fluß gefallen. Zwei Männer sprangen hinzu, um das ertrinkende Tier zu retten. Ein Gastwirt zog neben einem Henker am selben Seil. Dem Wirt wurde der Prozeß gemacht. Er wurde für unehrlich erklärt. Sein Besitz eingezogen. Der Mann mußte sich umbringen.« »Und dein Urahn?« fragte ich Clarissa. »Weißt du Näheres über sein Schicksal?« »Nicht viel«, antwortete sie. »Er hieß Hans Jank. Lebte einige Jahre am Hof des Herzogs Johann Friedrich in Stettin. Er war es, der 1599 den Hofnarren Claus Hintze richtete. Daher weiß ich auch von seiner Existenz.« »Claus Hintze?« Ich kratzte mich am Kinn. »Das war doch der Spaßvogel, der seinen Herzog aus Übermut in den Schloßgraben gestoßen hatte.« »Richtig«, bestätigte Clarissa. »Der Herzog verurteilte ihn zum Tode. Aber er spielte Komödie, um den frechen Hintze reinzulegen. Auf dem Richtblock wurden dem Narren die Augen verbunden. Alle Anwesenden grinsten. Sie sahen, daß der Henker, Hans Jank, kein Beil in der Hand hielt, sondern eine riesige dampfende Bratwurst. Nur Claus Hintze wußte das nicht. Er bangte um sein Narrenleben. Als der Henker die Bratwurst niederschwang, donnerte brausendes Gelächter über den Schloßhof. Aber Claus Hintze rührte sich nicht. Vor Schreck war er gestorben.« »An einem Hieb mit der Bratwurst«, sinnierte ich. Clarissa fuhr fort: »Herzog Johann Friedrich starb ein Jahr darauf. Ich meine, ausgleichende Gerechtigkeit. Hans Jank siedelte dann nach Greifswald über. Eine Quelle meint, er habe sich geweigert, eine junge Kindsmörderin zu ertränken. Statt dessen wollte er sie heiraten. Der Rat mißbilligte seinen Wunsch, und er floh bei Nacht und Nebel. Die junge Frau nahm er mit. Jahre später spürte sie ein mißgünstiger Schinderknecht auf. Hans Jank wurde selbst zum Richtblock geschleift. Bevor er starb, verfluchte er das Henkersbeil, das ihm das Leben nahm. Man behauptet, der Himmel habe sich verdunkelt, und ein Blitz wäre niedergefahren. Das unselige Beil verschwand in der Nacht darauf. Es wurde nie 33
wiedergefunden. Alles in allem ziemlich mysteriös, oder?« Während sich Clarissa ereiferte, hüpften ihre Brüste immer weiter aus den Körbchen. Ich wußte schon nicht mehr, wo ich hinschauen sollte. »Woran denkst du eigentlich immerzu?«, fragte sie plötzlich. »Äh, wie?« »Du grinst in einem fort.« »Ich denke daran, daß wir deiner Schwester Ellen sehr dankbar sein sollten. Und ich denke daran, daß du in diesem hellblauen Kleid einfach umwerfend aussiehst. Aber noch besser würdest du mir ohne gefallen.« Sie lächelte still, hob das Glas und hielt es gegen die flackernde Kerze. »Aha«, neckte sie mich. »Mark Hellmann hat sich demnach von dem Schrecken erholt.« »Du bist sehr schön«, schmeichelte ich, langte über den Tisch, umfaßte ihren Busen und begann, ihn sacht zu massieren. Clarissa stöhnte auf. Die Augen fest geschlossen, genoß sie eine Zeitlang meine Streicheleinheiten. Dann wurde ihr Atmen heftiger. Sie stand auf, streifte sich das Kleid vom Körper und griff nach meiner Hand. Ohne ein Wort führte sie mich ins Nebenzimmer, dorthin, wo ihr neuerworbener Tisch stand… Dann, irgendwann, das Nickerchen danach. Ein entsetzlicher Alptraum katapultierte mich in die Realität zurück. Ich schlug die Augen auf. Im Zimmer war es stockdunkel. Durchs Fenster sah ich den sichelförmigen Mond. Clarissa seufzte im Schlaf. Ich starrte auf die grünen Ziffern des Radioweckers. Kurz nach drei. Die ersten Vögel begannen, leise zu zwitschern. Bald würde der Morgen dämmern. Ich hatte eine grauenvolle Vision gehabt. Bruchstückweise erinnerte ich mich. Da war ein Mann in Schwarz, der mich unbarmherzig jagte. Er schwenkte ein Henkersbeil und kam immer näher. Wie ein Känguruh hüpfte er über Stock und Stein, schnitt mir den Weg ab und ließ sein Beil über meinem Kopf kreisen. Ich hatte meine Pistole in der Faust, peilte ihn an und gab Feuer. Aber der Mann wehrte alle Kugeln mit blitzschnellen Bewegungen seines Beils ab. Wie ein Bumerang pfiffen die Kugeln zurück. Eine von ihnen ritzte sogar meine Wange. Als er zum finalen Schlag ausholte, um mich endgültig zu erledigen, war ich aufgewacht. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich rappelte mich auf, warf die Zudecke beiseite und tappte in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Meine Zunge fühlte sich an wie die Haut eines Pfirsichs. Als ich das Licht anknipste, raschelte es hinter mir. Ich fuhr herum. Im 34
hauchdünnen Neglige, die Haare zerzaust, kauerte Clarissa Jank im Türrahmen. Aus traurigen Augen musterte sie mich. »Du hast im Schlaf gesprochen«, flüsterte sie. »Es ist dieses Beil, nicht wahr?« Ich nickte. »Ja, Clarissa. Das Henkersbeil deines Urahnen ist der Schlüssel. Es ist wieder da…« * Über Nacht waren dunklen Wolken aufgezogen. Trübes Licht fiel auf die Straße zwischen der Vorderfront des Rathauses und der Häuserzeile gegenüber. Vor dem Eingang einer Buchhandlung gab es zwei Ständer, vollgestopft mit verbilligten Taschenbüchern, Broschüren und Romanheften. Ein Mann, in Hut und Mantel, blieb vor dem linken Ständer stehen. Er tat, als betrachtete er die Einbände der ausgestellten Bücher. Es war Paul Brettnasch. Seine Hand hielt den geriffelten Knauf des verborgenen Beiles gepackt. In seinen Eingeweiden brannte es lichterloh. Töten… Schräg über ihm, auf dem Dach des Rathauses, lärmten Krähen. Der Alte sah, daß ihre Zahl immer mehr zunahm. Sie kamen vom Marktplatz, vom nahegelegenen Hafen, aus der Fleischer-Vorstadt - eigentlich von überallher. Die Vögel wetzten ihre schwarzen Schnäbel auf den Dachziegeln. Sie spreizten ihr Gefieder, sprangen aufgeregt hin und her. Bisweilen flogen sie auf, um sich sekundenlang im Wind treiben zu lassen. Neue Schwärme flogen heran. Der Himmel über der Straße wurde unsichtbar. Eine gewaltige, schwarze Wolke hatte sich davorgeschoben. Eine Wolke aus hysterisch kreischenden Krähen. Einen Augenblick schien es Brettnasch, als beobachteten die Vögel ihn. Während er zu ihnen hochschaute, schwoll ihr Kreischen an. Es klang wütend, als mißbilligten sie seine bloße Anwesenheit. Brettnasch wandte sich ab. Sollten die Viecher doch soviel Radau machen, wie sie wollten. Er mußte dem Impuls folgen, der ihn vorantrieb. Er starrte durch die gläsernen Flügeltüren in die Buchhandlung. Links vorn die Verkaufstheke. Ein grauhaariger Mann, mit Brille und gestreiftem Oberhemd, hämmerte auf die Tasten eines Computers. Nebenbei unterdrückte er ein Gähnen, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare und spähte anschließend gleichgültig in die Runde. Eine junge Frau, die einen winzigen Rucksack auf dem Rücken trug, trat zu ihm. Sie legte einen 35
Bildband auf den Kassentisch. Der Verkäufer schob das Buch in eine Plastiktüte, reichte sie der Kundin und bongte den Preis ein. Gebannt verfolgte Brettnasch jede Bewegung. »Ich werde dich richten, wie du armer Sünder es verschuldet hast«, murmelte er feierlich. Während er sprach, streichelte er die scharfe Klinge des Beiles. Dann knurrte er zornig. Eine Handvoll Krähen flatterte über seinem Kopf. Andere stießen von dem Rathausdach herab, ließen sich in die Tiefe sinken und drehten Kreise in der Häuserschlucht. Sie erhoben ein Geschrei, als wären sie plötzlich wahnsinnig geworden. Brettnasch zog den Hut tiefer ins Gesicht. Schon blieben einige Passanten stehen. Mit einer Mischung von Neugier und Furcht beobachteten sie den hektischen Lufttanz der Schwarzgefiederten. »Papi? Was haben die Krähen bloß?« fragte eine piepsige Kinderstimme. »Ich weiß es nicht, Fabian. Wahrscheinlich regen sie sich über irgendwas auf.« »Aber es sind so viele. Papi, ich hab Angst.« Das Kind fing an zu weinen. Brettnasch stieß einen kehligen Laut aus. Seine Augen wurden zu Schlitzen. Der Mann mit dem Kind an der Hand erschrak, als er den furchteinflößenden Alten bemerkte. Rasch zog er seinen Sprößling fort. Vater und Sohn verschwanden im benachbarten Hauptpostamt. Jetzt! Der besessene Rentner huschte in die Buchhandlung. Mit einem Blick stellte er fest, daß der Verkäufer allein war. Vom hinteren Teil des Raumes führte eine breite Treppe ins Obergeschoß. Die junge Frau mit dem Minirucksack stieg gerade hinauf. Er wartete, bis sie die Plattform erreicht hatte und um die Ecke bog. Dann trat er an den Kassentisch. Der Verkäufer blickte auf. »Ja, bitte? Kann ich Ihnen helfen?« Er lächelte freundlich. Ohne eine Miene zu verziehen, griff Bretthasch unter seinen Mantel. Er murmelte leise. Der Mann am Kassentisch hieß Kurt Reißland. Er hüstelte. »Wie bitte? Ich hab sie nicht verstanden.« Bevor Brettnasch sein Beil herauswirbeln konnte, öffneten sich 36
die automatischen Flügeltüren nach draußen. Und plötzlich waren die Krähen über ihm. Die Buchhandlung war von Flügelschlagen und irrem Kreischen erfüllt. Im Sturzflug griffen die Vögel den Besessenen an. Harte, spitze Schnäbel hämmerten auf ihm herum. Und immer mehr Vögel flatterten herein. Reißland, der Verkäufer, stand wie gelähmt. Was hier passierte, lag jenseits aller Vorstellungskraft. Zuerst diese Vögel, die wie ein entfesselter Orkan in die Buchhandlung stoben. Dann dieser Mann, der plötzlich eine Axt unterm Mantel vorzog und wie ein Wilder um sich drosch. Er fragte sich, warum ein Rentner ein Beil in die Buchhandlung mitbrachte. Paul Brettnasch brüllte vor Wut. Mit affenartiger Geschwindigkeit wirbelte sein Beil durch die Luft. Wie ein prasselnder Hagelschlag stürzten die zerfetzten Körper verstümmelter Krähen nieder. Bald waren Bücherregale, Fußboden und Schauvitrinen mit Blut, Federn und Fleischfetzen übersät. Reißland klatschte ein kopfloser Vogelkörper auf das Hemd. Aufschreiend duckte er sich hinter die Registrierkasse. Und immer wieder komplettierten Schwärme neuer Angreifer die dezimierten Reihen ihrer Vorkämpfer. Die Tiere schlugen mit den Flügeln, hackten Brettnasch ins Gesicht und rissen ihm klaffende Wunden in die Haut. Er verspürte keinen Schmerz, nur ohnmächtigen Zorn. Warum verhinderten diese dummen Tiere, daß er seinen Auftrag ausführte? Die Biester taten ja gerade so, als wolle er ihnen ans Leder. Brettnasch hieb um sich wie ein Berserker. Unter seinen Sohlen knirschten Vogelleichen. Der Geruch von Blut breitete sich aus. Reißland spürte seine Zähne klappern. Von seinem sorgsam frisierten Haar trieften Blutfäden. Er wollte um Hilfe rufen, brachte aber nur ein klägliches Röcheln heraus. Trotzdem tauchten aus der oberen Etage alarmierte Kunden auf. Als sie sahen, was Sache war, standen sie wie belämmert. Der Verkäufer riß einen Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen. Seine Vorsicht war unnötig. Die Krähen mieden seine Nähe. Nicht ein einziger Flügelschlag streifte ihn. Offenbar galt das Interesse 37
der amokfliegenden Tiere ausschließlich dem beilschwingenden Brettnasch. Ein besonders dreister Vogel verkrallte sich im Mantelkragen des Rentners. Die Krähe versuchte, ihm die Augen auszuhacken. Mit der freien Hand langte Brettnasch nach dem tollkühnen Angreifer. Er packte die Krähe im Gefieder, wollte sie zerquetschen. Aber die Krähe war auf der Hut. Geschickt wich sie aus, pickte ihm wuchtig in die Finger und balancierte auf seiner Schulter wie eine Turnerin auf dem Schwebebalken. Brettnasch merkte, wie sein Hut verrutschte. Er wollte ihn zurechtrücken, aber da war wieder diese Krähe. Sie hackte ihm in den Handrücken. Wenn er sein Augenlicht verlor, würde der ungleiche Kampf entschieden sein. Im Begriff, den Vogel zu packen, ihn fortzuschleudern, flog ihm eine andere Krähe mitten ins Gesicht, wie eine Kamikaze-Geschoß. Sie krächzte, und ihre schwarzen Augen funkelten böse. Brettnasch zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Ein pfeilschneller Hieb mit dem Schnabel - und er prallte überrumpelt zurück. Er sah kaum noch etwas. Alles war wie hinter einem milchigen Nebelvorhang. Außerdem lief eine wäßrige Flüssigkeit über seine Wangen. Schon hackte die Krähe ein zweites Mal zu. Im letzten Moment riß Brettnasch den Kopf zur Seite. Der mörderische Schnabelhieb drang tief in sein Ohr. Ein widerwärtiges Trommeln hallte durch seinen Schädel. Auf dem Hacken schleuderte er um die eigene Achse, dem Ausgang entgegen. Er spürte, er würde unterliegen. Er mußte fort, und zwar so schnell es irgend ging. Ansonsten würden ihn die Vögel erbarmungslos zerfleischen. Ihre Übermacht war erdrückend. Er schoß hinaus auf die Straße. Vor der Buchhandlung hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Wie Fett spritzten die Schaulustigen auseinander, als Brettnasch, die kreischenden Vögel im Schlepptau, um die Ecke rannte, über ein geparktes Auto sprang und in einer Nebenstraße verschwand. Niemand hielt ihn an. Niemand folgte ihm. Zu tief saß den Zuschauern der Schock des eben Erlebten. Als 38
sich die Leute von ihrem Schrecken erholt hatten, wollten sie die Buchhandlung stürmen. Doch die gläsernen Flügeltüren waren verriegelt. Reißland, der grauhaarige Verkäufer, hatte ein Schild aufgehängt: Geschlossen! * Ich wartete auf Clarissa in einer Imbißstube in der Langen Straße. Sie wollte auf einen Sprung zu ihrer Schwester und hatte versprochen, in wenigen Minuten wieder da zu sein. Ich war der einzige Gast. Über meinen Kaffee gebeugt, sah ich mich um. Der Gastraum war klein, aber überaus gemütlich eingerichtet. An den Wänden hingen farbige Kopien historischer Ansichten der Umgebung. Zur Straße hin gab es eine große Schaufensterscheibe. Hinter der Theke wirtschaftete eine Frau, die eine rot-weiß gestreifte Cocktailschürze trug. Als sie meinen Blick bemerkte, lächelte sie und fragte, ob ich noch einen Wunsch hätte. Ich bestellte ein Mineralwasser. Zehn Sekunden später stand das Verlangte an meinem Platz. »Das geht ja wie bei der Feuerwehr«, lobte ich den flotten Service. Die Wirtin war ungefähr fünfundvierzig, trug eine moderne Kurzhaarfrisur und ähnelte ein wenig Uschi Glas, sah aber nicht so ausgeglichen aus wie die Schauspielerin. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Der tägliche Kampf um die Existenz hinterläßt nun mal Spuren. »Möchten Sie gar nichts essen, Herr Hellmann?« fragte sie. »Uff!« staunte ich. »Sie kennen mich?« »Natürlich. Ich kenne Ihr Foto aus der Zeitung. Der Skandal im Cafe Frankenstein im vorigen Jahr war doch in aller Munde.« (Siehe MH 23!) »Daher weht der Wind also.« Sie nickte. »Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn Sie diesen gräßlichen Jupp Haarmann nicht aus dem Verkehr gezogen hätten! Vielleicht würde dieser Satan noch heute 39
Urlauber in die Falle locken, sie töten und portionsweise einfrosten. - Sagen Sie, Herr Hellmann!« Sie blinzelte neugierig. »Was hat Sie diesmal hergeführt? Wieder ein Monster?« Ich sah, daß sie fröstelnd die Schultern hochzog. Ihre Blicke klebten auf meinen Lippen. »Nun ja«, wich ich aus. »Ich denke, ein Monster ist es diesmal nicht.« Sie atmete auf. Plötzlich schmunzelte sie: »Dann ist es eine Frau, nicht wahr?« Ehe ich etwas erwidern konnte, ging die Tür auf. Ein Glöckchen erklang, und ein aufgeregter Mann stürzte auf die Wirtin zu. Er packte sie am Arm, zog sie hinter die Theke und breitete eine Zeitung aus. »Mord!« keuchte er fassungslos. »Gestern abend wurden auf dem Bahnhof vier Menschen ermordet! Hier, lies, Heidi! Da steht's. Schwarz auf Weiß.« Die Wirtin stieß einen spitzen Schrei aus. Aus angstgeweiteten Augen starrte sie mich an. Ihr Unterkiefer zitterte. Sie hielt ihn fest und beugte sich über die aufgeschlagene Zeitung. Die Wirtin hatte nahe am Wasser gebaut. Sekunden später heulte sie wie ein Schloßhund. »Die armen Menschen!« schluchzte sie. Berührt blickte ich aus dem Fenster - und stutzte. Auf der Straße ging es auf einmal sehr lebhaft zu. Passanten rannten hin und her. Sie gestikulierten wild und debattierten über irgend etwas, das sie in höchste Aufregung versetzte. Ich stand auf. In diesem Augenblick fegte Clarissa Jank in die Imbißstube. »Mark!« Sie japste nach Luft. »Du mußt sofort mitkommen. Laß alles stehen und liegen und komm!« »Was ist los?« »Das erkläre ich dir unterwegs.« Sie drängte mich hinaus. Ich kam gerade noch dazu, einen Geldschein auf den Tisch zu werfen. Schon bimmelte das Türglöckchen, und ich stand auf der Straße. Einige Leute jagten an uns vorüber. Alle liefen in dieselbe Richtung. Zum Marktplatz. Dort mußte etwas Unerhörtes passiert sein. Wir schlossen uns ihnen an. Während wir die Straße entlanghasteten, klärte mich Clarissa 40
auf. Angeblich hatten sich zigtausende Krähen auf dem Rathaus versammelt und waren über einen Mann hergefallen. Als der in eine Buchhandlung floh, kam es darin zu einem mörderischen Kampf. »Und das Seltsamste ist«, Clarissa prustete atemlos, »der Mann, den die Vögel aufs Korn genommen haben, wehrte sich mit einem Beil.« Wie vor den Kopf geschlagen, blieb ich stehen. Meine graue Zellen knatterten wie ein Traktor. Der Mann mit dem Beil! Das konnte kein Zufall sein. Kein Mensch schleppte ein Beil mit sich herum. Offenbar plante der geheimnisvolle Unbekannte gerade einen weiteren Mord. Dabei kamen ihm die Vögel in die Quere. Aber was hatte die Krähen alarmiert? Ich hatte noch nie davon gehört, daß ganze Vogelschwärme über Menschen hergefallen waren. Die Sache wurde immer mysteriöser. Wir hasteten weiter. Nachdem wir zwei Häuserblocks umkurvt hatten, überquerten wir den Fischmarkt und standen kurz darauf vor dem Rathaus. Ich sah mich um. Von Vögeln keine Spur. Ich entdeckte nicht eine einzige Krähe, nicht mal einen Spatz. Den debattierenden Menschenauflauf dagegen konnte ich nicht übersehen. »Es war schrecklich«, posaunte ein Mann, der eine Grünpflanze unterm Arm trug. »Die Krähen waren wie vom wilden Affen gebissen! Noch nie hab ich so viele auf einem Haufen gesehen. Der Himmel war schwarz. Und dann stürzten sich die Viecher auf einen alten Mann. Der stand ganz ruhig da und sah sich Bücher an.« »Ja, das stimmt. Genauso war es«, fuhr ihm eine dicke Frau in Radlerhosen über den Mund. »Der Alte rettete sich in die Buchhandlung. Und die Vögel holterdiepolter hinterher. Sie kreischten wie verrückt. Ich dachte, ich werde taub. Durch die Glastüren konnte man sehen, wie sie an ihm herumpickten…« Sie hechelte nach Luft. Das nutzte der Mann mit der Grünpflanze. »Plötzlich schwenkte der Alte ein Beil. Aber es war kein Beil, wie wir es kennen. Die Klinge war viel größer. Ein komisches Beil. Der Alte schlug um sich wie ein Irrer. Er zerfetzte die Krähen in der Luft. Er muß Dutzende getötet haben. Bis sich welche in seinem Gesicht verkrallten. Ich glaube, eine hat ihm ein Auge ausgepickt.« 41
»Ach was«, sagte die Frau. »Jetzt übertreiben Sie aber. Die Krähe hat nur an seiner Wange gepickt.« Ich drängelte mich zu den beiden Augenzeugen durch. »Einen Moment mal«, ich zog dem Mann am Ärmel. »Sie sagten, es wäre ein alter Mann, den die Vögel überfielen?« Der Grünpflanzen-Mann nickte. »Genau. Ich schätze, er war mindestens achtzig. Wenn der am Friedhof vorbeigeht, binden sich die Würmer schon das Lätzchen um.« Ich runzelte die Stirn. »Was hatte der Mann an?« hakte ich nach. »Trug er einen breitkrempigen Hut?« »Ja, einen Hut hatte er auf, und dazu einen viel zu weiten Mantel. Er muß ein schmaler Hering sein, der Alte, denn der Mantel flatterte wie ein Segel um seinen Leib. Mir kam es vor, als schimmerte das Ding rötlich.« »Hat niemand gesehen, wo der Mann hingerannt ist?« »Das ging zu schnell«, antworteten mehrere Stimmen zugleich. Ich rieb mein Kinn. »Ich denke, es war ein alter Mann, so um die achtzig?« »Trotzdem«, sagte die Frau in den Radlerhosen. »Der Opa war flink wie ein Frettchen. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich würde es selbst nicht für möglich halten.« Die Buchhandlung. Ohne lange zu fackeln, drängte ich einige Leute beiseite und spähte durch die geschlossenen Glastüren. Das Innere der Bücherei ähnelte einem Schlachtfeld. Die Bücherregale waren blutbespritzt, überall, wo ich hinsah, türmten sich zerfetzte Krähenkadaver. Auf gut Glück preßte ich meinen Ring an die Scheibe. Die Spuren waren noch frisch. Wenn das magische Teil jetzt reagierte, hatte ich eine heiße Fährte. Mit dem Ring des Nostradamus hatte ich bereits so manchen Schwarzblüter in seinem Schlupfwinkel aufgestöbert. Aber diesmal war es Essig. Kein Flimmern, kein Prickeln. Mein Ring gab keinen Mucks von sich. Aber wenn das Henkersbeil tatsächlich von Hans Jank stammte und mit einem Fluch beladen war, mußte mein Ring doch darauf reagieren! Es war ein überirdisches Phänomen… »Jetzt haben Sie aber genug geguckt!« riß mich eine barsche Stimme aus meinen Gedanken. »Wir wollen alle mal 'nen Blick 42
riskieren!« Abwesend marschierte ich zurück zu Clarissa. Sie stand an der Rathaustreppe, begutachtete ihr hübsches Gesicht in einem Taschenspiegel und zog ihre Lippen nach. Der blutrote Lippenstift brachte mich auf eine. Idee. »Flimmerkerl«, dachte ich laut. »Sie haben ihn Flimmerkerl genannt.« Clarissa steckte ihr Schminkzeug ins Handtäschchen. Sie gab mir einen flüchtigen Kuß und sagte: »Vielleicht flimmert er, um sich mit den Strahlen vor irgendwas zu schützen. Naja, bei den Krähen hat's ja nicht viel genützt…« Ich schlug mir vor die Stirn. »Das ist es!« rief ich aus. »Clarissa, du bist ein Goldkind. - Das Flimmern verhindert, daß mein Ring auf das Dämonische in ihm reagiert. Es ist seine Schutzhülle!« * Durch einen Hintereingang war Paul Brettnasch ins Graue Kloster geschlüpft. In der ersten Etage roch es nach Farbe. Kaiser, der Heimleiter, hatte nach dem Überfall auf Kerstin Marx sein Büro frisch gestrichen. Lautlos schlich Brettnasch über den Gang, huschte die Treppe hinauf und verschwand in seinem Zimmer. Sofort verriegelte er die Tür, pellte sich aus dem Mantel und schmetterte den Hut auf das Bett. Er schnupperte. In seiner Behausung roch es nicht nach Farbe. Statt dessen nach Verwesung, Fäulnis und Blut. Er öffnete das Fenster, verhakte es am Fensterbrett und beugte sich über die Truhe, die darunter stand. Langsam hob er den Deckel. Bisher hatte seine Wäsche darin gelegen. Angerauhte Unterhosen, Strümpfe, Oberhemden, Nierenschützer. Auch einige Blusen seiner verstorbenen Frau. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen. Aber jetzt bewahrte er in der Truhe andere Dinge auf. Trophäen! Der Kopf einer Frau war dabei, der Unterarm von Kaisers Freundin und der Schädel eines Hundes. Heute hatte er die Truhe 43
weiter füllen wollen. Aber dann waren die verdammten Vögel gekommen. Zum Glück hatte er sie im letzten Moment abgehängt. Dennoch hatten die Biester alles vermasselt. Obendrein fehlte ihm jetzt ein Auge. Brettnasch befühlte sein zerhacktes Gesicht. Eine Augenhöhle war leer. Nur ein glibberigen Faden hing heraus. Bei seiner Flucht mußte er, ohne es zu merken, den Augapfel verloren haben. Er fluchte lästerlich. Aus der Truhe starrten ihn blicklos die weit aufgerissenen Augen des Frauenkopfes an. »Glotz nicht so blöde!« knurrte er und hob drohend das Beil. Grollend wandte er sich ab. Er lehnte das Mordwerkzeug an die Wand und begann, die Spuren des Kampfes zu beseitigen. Im Spiegel betrachtete er sein zertrümmertes Gesicht. Wangen, Stirn und Unterkiefer waren blutverschmiert. Ein Ozean aus zerhackter Haut. Im linken Nasenflügel klaffte ein fingernagelgroßes Loch. Ihm wurde klar, daß er nicht mehr unter Menschen gehen konnte, ohne aufzufallen. Entweder man schaffte ihn schnurstracks in ein Krankenhaus, oder man zählte eins und eins zusammen und erriet, daß er der geheimnisvolle Beilmann war. Er steckte in der Klemme. Grollend drehte er den Wasserhahn auf, ließ das Waschbecken vollaufen und betupfte sein blutiges Gesicht mit dem Handtuch. Plötzlich erschrak er. Normalerweise hatte er die Fähigkeit, Angst zu spüren, verloren. Seit er das schwarzmagische Beil berührt hatte, fühlte er sich stark wie ein tausendjähriger Mammutbaum Eiche. Aber mit einemmal schlug sein Herz bis zum Hals. Der Grund war das Foto von Gerda. Er sah es im Spiegel. Er sah Gerdas freundliches, warmherziges Gesicht. Sie schien ihm zuzulächeln. Ihm, der Mörderbestie! Eine glühende Nadel stach in sein Herz. Brettnaschs Hände zitterten. Im Unterbewußtsein stellte er den Wasserhahn ab. Er schaffte es nicht, den Blick von Gerdas Abbild zu lösen. Ihm war, als würde Gerda den Mund öffnen. Sie wollte ihm etwas sagen. »Ja, Gerda?« murmelte er. Das Gefühl, das ihn packte, war stärker als die Macht, die von dem Beil ausging. Es strömte wie glühende Lava durch seine 44
Adern. Es ließ die schneidende Kälte darin verdampfen. Er horchte angestrengt. Draußen, auf dem nahen Wall, rauschten die Kastanienbäume. Noch konnte er Gerdas Botschaft nicht verstehen. Minutenlang stand er da, übers randvoll gefüllte Waschbecken gebeugt, mit zerfetztem Gesicht, und starrte einäugig auf das Spiegelbild seiner geliebten Gerda. Dann sah er, wie jegliche Warmherzigkeit aus ihrem Gesicht verschwand. Gerda blickte ihn flehend an. Und Brettnasch hörte es jetzt ganz genau. Gerda sagte: »Bei allem, was du liebst, Paul. Vernichte das Böse, das dich gefangenhält. Beende den Fluch!« »Wie?!« schrie er wie von Sinnen. »Gerda, sag mir wie???« Gerdas Abbild lächelte schmerzlich. »Es ist sehr einfach. Paul«, sagte sie. »Komm zu mir! Und alles wird gut sein.« »Alles wird gut sein«, echote er. Schon spürte Brettnasch, wie sich das Böse anschickte, seine Seele zurückzuerobern. Wie tiefgefrorene Eissplitter stach es in seine Eingeweide. Mit jeder Sekunde, die verging, gewann das Böse an Substanz. Spürbar ließ der kurze Hitzeschwall, der ihn in Aufruhr versetzt hatte, nach. Ein Schwindelanfall ließ Paul Brettnasch taumeln. Er ballte die Fäuste, sprach sich Mut zu. Er versuchte, der geheimnisvollen Magie die Stirn zu bieten. Doch er war dem Dämonen, der in ihm hauste, nicht gewachsen. Sein Blick schweifte durchs Zimmer, über die Truhe, in der die Leichenteile seiner Opfer lagen, bis zum Henkersbeil, das unter dem Fenster lehnte. Schnell! Das Böse durfte nicht triumphieren… Brettnasch rannte zur Kommode, riß die oberste Schublade auf. Die Wäscheleine lag obenauf. Er fetzte sie heraus, jagte zum Fenster, schlang die Leine um das Kreuz und verknotete sie. In Windeseile hatte er eine Schlinge geknüpft. Er zog sie straff, legte sie um den Hals, daß der Knoten unterm linken Ohr saß, und kletterte auf das Fensterbrett. Als sich Paul Brettnasch hinausstürzte, passierten zwei Dinge gleichzeitig. Das Henkersbeil, das an der Wand lehnte, machte sich selbständig. Als wäre es ein Lebewesen, bewegte es sich. Es 45
schwang sich in die Luft und kreiste unter der Decke. Wie ein Raubvogel, der auf Beute lauerte. Im selben Augenblick klopfte es an die Tür. »Herr Brettnasch!« rief ich. »Machen Sie bitte auf. Ich hab mit Ihnen zu reden…« * Alfred Kaiser war ein Mann, der großen Wert auf sein Äußeres legte. Er trug einen exquisiten, grauen Anzug mit Weste, eine korrekt gebundene Krawatte und Schuhe, die sogar im Halbdunkel des Treppenhauses blitzten. Er stand zwischen Clarissa und mir, ein Ohr an die Tür gelegt. »Herr Brettnasch! Öffnen Sie bitte!« rief er. »Ich weiß, daß Sie im Zimmer sind. Ich bin's, der Herr Kaiser!« Als sich drinnen nichts rührte, ruckelte der Heimleiter an der Türklinke. »Er hat sich eingeschlossen«, sagte Clarissa. »Fragt sich nur, warum er das getan hat.« Kaiser seufzte nach meinem Satz. »Er ist ein komischer Kauz. Man sagt, früher soll er eine große Nummer gewesen sein. Bei der Reichsbahn. Aber Sie kennen das ja: Wenn der Zahn der Zeit an einem nagt, geht es im höllischen Tempo abwärts.« »Wie lange, sagten Sie, lebt dieser Mann schon allein?« fragte Clarissa den Heimleiter. »Zehn Jahre?« »Seine Frau starb 1984, demnach sogar fünfzehn Jahre«, gab Kaiser Auskunft. »Seitdem läßt sich Brettnasch nur noch selten draußen sehen. Er mißtraut allen. Aber ich schwöre jeden Eid, vor einer halben Stunde war er unterwegs. Ich habe ihn gesehen, als er zurückkam. Durchs Fenster meines Büros. Es geht nämlich nach hinten, zum Wall hinaus.« »Der Hintereingang«, dachte ich laut. Kaiser nickte. »Kommt es öfter vor, daß Heimbewohner den Hintereingang benutzen?« legte ich nach. »In letzter Zeit häufiger. Schon wegen der Baustellen in der Gegend. Deswegen lassen wir die Tür offen. Es ist nichts Ungewöhnliches.« »Also könnte jeder, wenn er es darauf anlegt, ungesehen ins 46
Haus gelangen.« »Richtig. Ich gucke ja nicht den ganzen Tag aus dem Fenster. Außerdem ist das Graue Kloster kein Gefängnis.« Kaiser fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Der Mann war fix und fertig. Ich kannte den Grund. Er hatte ihn mir erzählt. In seinem Büro war seine Freundin Kerstin überfallen worden, als sie auf ihn wartete. Der Beilmann hatte sich Einlaß verschafft und sie entsetzlich verstümmelt. Ich sah zu Clarissa. Was würde wohl in mir vorgehen, wenn ich in einen Raum kommen würde, in dem sich Tessa Hayden oder Clarissa Jank in ihrem Blute wälzten? Ich wußte es nicht und wollte es auch gar nicht wissen! Unversehens verspürte ich einen schwachen Luftzug. Er kam durch die Türritze, aus dem Zimmer, vor dem wir standen. »Bäh!« Ich trat einen Schritt zurück. »Da drinnen riecht's ja nicht gerade nach Veilchen.« Vorwurfsvoll musterte ich den Heimleiter. Kaiser räusperte sich. »Brettnasch läßt keinen rein. Seit Jahren nicht. Er sagt, er schaffe es selbst, seine Bude in Ordnung zu halten.« »Den Eindruck habe ich nicht«, sagte ich und klopfte noch mal. Erfolglos. Niemand antwortete. »Vielleicht sollten wir später noch mal wiederkommen«, schlug Kaiser vor. »Brettnasch könnte sich hingelegt haben, um eine Runde zu schlafen.« Ich sah den Anstaltsleiter scharf an. »Eigentlich war es nur ein Zufall, daß ich bei Ihnen hereingeschneit bin. Ich wurde auf das Fundament des ehemaligen Klosters aufmerksam. Dann erfuhr ich, daß dahinter dieses Altenheim liegt. Erst als Sie den Beilmann erwähnten, kam mir ein Verdacht…« Kaiser hob die Augenbrauen. »Soll das heißen, Sie glauben, Paul Brettnasch sei der Beilmann?« Er senkte die Stimme. »Noch glaube ich gar nichts«, sagte ich. Kaiser schüttelte den Kopf. »Das klingt total verrückt. Der Mann ist fünfundachtzig. Er hätte niemals die Energie, solche Verbrechen zu verüben. Herr Hellmann, nichts für ungut. Aber ich denke, Sie haben eine blühende Phantasie.« Clarissa wedelte mit einer Hand. Sie hatte ein Ohr an die Tür gepreßt und das Gesicht verzogen. »Seid doch mal still!« wisperte 47
sie ärgerlich. »Da drinnen bewegt sich irgendwas.« »Ich finde, wir sollten nicht unnötig Zeit vertrödeln«, blaffte ich Kaiser an. »Sie haben sicher Nachschlüssel, oder?« Alfred Kaiser nickte. »Es klingt, als pendelte etwas Dumpfes gegen die Wand«, sagte Clarissa. »Nicht so regelmäßig wie bei einer Uhr, aber immerhin!« »Schließen Sie auf!« Ich sah Kaiser ernst an. »Die Privatsphäre der Heimbewohner…«, begehrte er auf. »Denken Sie an Ihre Freundin«, schockte ich ihn. »Und die Toten auf dem Bahnhof. Wenn Brettnasch tatsächlich etwas mit den Überfällen zu tun hat, könnte es passieren, daß weitere Morde geschehen. Ich frage Sie, was wiegt schwerer? Privatsphäre oder Menschenleben?« »Das ist unfair«, protestierte Kaiser. Trotzdem griff er in die Hosentasche, zog ein Schlüsselbund vor und ratschte einen der Schlüssel ins Schloß. Der Bart knirschte, und ich war mir sicher, daß uns eine gepfefferte Überraschung bevorstand. Ich sollte recht behalten. Kaiser schob langsam die Tür auf. »Herr Brettnasch!« rief er. »Wir kommen jetzt herein. Sie brauchen keine…« Er verstummte. Uns erwartete ein abscheuliches Szenario. Abgesehen von dem fauligen Gestank, der in dem Zimmer herrschte, gab es Dinge, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Mit einem Blick sah ich, was hier los war. Brettnasch hatte sich am Fensterkreuz erhängt. Clarissa schrie auf. Ich packte Kaiser am Ärmel. »Kommen Sie! Wir müssen ihn abschneiden. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.« Wir stürzten zum Fenster. Ich packte die Beine des alten Mannes und stemmte seinen Körper in die Höhe. Kaiser war auf die Fensterbank geklettert. Ich verfolgte, wie seine Hände flatterten, als er den Knoten des Strickes, den der Alte um den Hals hatte, löste. Paul Brettnasch befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Sein Gesicht war übel zugerichtet. Ein Wunder, daß er den Angriff der Vögel lebend überstanden hatte. Kaum ein Stück Haut, das unversehrt geblieben war. Sogar ein Auge fehlte ihm. »Ich rufe den Rettungswagen!« Kaiser rannte hinaus. Derweil trug ich den Alten zu seinem Bett, ließ ihn behutsam darauf sinken und riß sein Hemd auf. Ich legte ein Ohr auf seine 48
Brust und horchte, ob sein Herz noch schlug. »Er ist tot, nicht wahr?« hauchte Clarissa. »Ja«, sagte ich traurig. »Scheint so. Weder Herztöne, noch Puls. Keine Atmung. Ich fürchte, wir sind zu spät gekommen.« Ich betrachtete die Leiche nachdenklich. Obwohl im schlimmen Zustand, wirkte das Gesicht des Mannes friedlich und entspannt. Als freute er sich darauf, diese Welt endlich verlassen zu dürfen. Ich nahm seine knorrigen Hände, plazierte sie auf seinem eingefallenen Brustkorb und richtete mich auf. »Glaubst du, er ist der Beilmann gewesen?« fragte mich Clarissa. Ich zuckte die Schultern. »Alles weist darauf hin. Und sein Gesicht spricht Bände. Ich meine, wir sollten uns mal gründlich hier umsehen, bevor es in der Bude von Polizei wimmelt.« »Wo kommt bloß dieser furchtbare Geruch her?« Clarissa hielt sich die Nase zu und trat ans Fenster. Ich sah mich um. Der Staub lag daumendick. Auf dem Tisch ein vergilbtes Fernsehprogramm von 1984. Das Tischtuch starrte vor Schmutz und Fettflecken. Wahrscheinlich lag es ebenso lange auf dem Tisch wie die Zeitung. Fünfzehn Jahre! Der verfilzte Teppich war ein Meer von Krümeln, Fusseln und Sandkörnchen. Auf der Kommode stand eine angetrunkene Flasche Bier, in der sich eine schimmlige Neige befand. Daneben ein Farbfoto, in einem Rahmen mit Ständer. Es zeigte eine freundlich lächelnde alte Dame. Rechts oben ein ausgefranstes Stück Trauerflor. Und überall schwirrten diese gräßlich anhänglichen Fliegen. Besonders viele saßen auf dem verschnörkelten Deckel einer Holztruhe. Manche versuchten, durch die Schlitze hineinzukriechen, doch die Öffnung war zu schmal. Hartnäckig flogen die Fliegen immer wieder auf, um es aufs Neue zu probieren. Die Truhe. Ich scheuchte die Fliegen beiseite, hob den Deckel - und begegnete dem gläsernen Blick aus einem toten Augenpaar. Der abgetrennte Kopf einer älteren Frau. Die Leiche auf dem Bahnhof! Daneben ein Armstumpf, in ein Stück mintgrünen Stoff gehüllt. Und der Schädel eines Hundes… »Verdammt!« Mir war ganz elend zumute. »Clarissa! Hier ist der letzte Beweis. Brettnasch ist tatsächlich der Beilmann gewesen.« 49
Schnell klappte ich den Deckel zu. »Das Henkersbeil«, entfuhr es Clarissa. »Du mußt es finden, Mark!« Da passierte es! Während ich in der Hocke vor der Kommode stand, um den Inhalt unter die Lupe zu nehmen, spürte ich über, mir eine Bewegung. Im selben Augenblick rief Clarissa warnend meinen Namen. Instinktiv hechtete ich zur Seite. Das Henkersbeil, das ich suchte, schwebte über mir. Ich sprang auf die Beine, hetzte zu Clarissa und stellte mich schützend vor sie. »Das Beil des Hans Jank«, hauchte sie tonlos. »Brettnasch muß es unter den Dielen gefunden haben.« Ich ließ das schwebende Henkerswerkzeug nicht aus den Augen. Plötzlich erklang ein dumpfes Geräusch vom Bett des Toten her. Obwohl ich seine Hände auf der Brust übereinandergelegt hatte, war ein Arm über die Bettkante herab auf den Fußboden gesunken. Ich sah, wie sich die runzligen Finger der Hand auf dem Teppich spreizten. »Mark!« schnaufte Clarissa. »Er ist nicht tot.« Das schwebende Beil glühte plötzlich auf. Wie ein Chamäleon wechselte es seine Farbe. Statt von einem stumpfen Schwarzgrau war es nun blutrot. Auf der Klinge tanzten züngelnde Flämmchen. Der geriffelte Griff pulsierte, als ob ihm jemand Leben eingehaucht hätte. »Ich hab solche Angst!« Clarissa verbarg ihr Gesicht an meiner Schulter. Auch ich hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Rasch drückte ich meinen magischen Ring an das siebenzackige Mal auf meiner Brust. Der dünne Strahl, mit dem ich Runen zeichnen konnte, zuckte hervor. Er glitt an den Wänden empor, sauste über den Fußboden und berührte einen Augenblick das schwebende Beil. Ein kurzes, abgehacktes Knistern erklang, und das Beil jagte wie eine Kanonenkugel in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers. Ich dirigierte den hellen Lichtstrahl vor meine Füße. In den Runen des Futnark-Alphabets schrieb ich das keltische Wort für Schütze. Kaum waren unsere Körper von der hellen Lichtpergola umrahmt, die uns das Dämonische vom Leibe hielt, reagierte das 50
schwebende Henkersbeil. Pfeifend brauste es heran. Wir zogen die Köpfe ein. Das Beil beschrieb einen Bogen, als wolle es ordentlich Schwung holen. »Mark, es wird uns umbringen!« schrie Clarissa. »Keine Angst« sagte ich ruhig. »Wir sind sicher wie in Abrahams Schoß.« Schon krachte das fliegende Beil mit ungeheurer Wucht auf den Boden, direkt vor das Bett, auf dem der tote Rentner lag. Zitternd blieb es in einer Diele stecken. Das Henkersbeil rührte sich nicht mehr. Es war wieder von einem dumpfen Schwarzgrau. Endlich! dachte ich. Die Show ist zu Ende. Aber Fehlanzeige. Mich erwartete eine neuerliche Überraschung. Die Klinge des Beiles hatte die herabgefallene Hand des Toten durchschlagen und drei Finger abgetrennt. (Siehe Titelbild!) Aber sosehr ich auch nach den Fingern suchte, ich fand sie nicht. Es war, als hätte sie der Erdboden verschlungen. Als wir das Zimmer des Grauens verließen, ertönte ein dünnes Fiepen im Treppenhaus. »Iiih!« Clarissa schüttelte sich. »Mäuse gibt's hier auch noch…« * »Bitte, Nehmen Sie doch Platz!« Der Heimleiter wies auf den Sessel, der vor seinem Schreibtisch stand. Die Frau lächelte. »Danke, sehr nett von Ihnen.« »Was führt Sie hierher?« fragte Kaiser, als seine Besucherin saß. »Möchten Sie einen Platz für einen Ihrer Angehörigen erwerben?« »Nein, mein Kommen hat einen anderen Grund.« Kaiser fixierte die Frau unauffällig. Er schätzte sie auf ungefähr dreißig, zwar fand er sie nicht ganz so hübsch wie seine Kerstin, aber sie hatte eine gute Figur. Sie könnte aber ruhig zehn Pfund zunehmen, dachte er. »Schießen Sie los!« ermunterte er die Besucherin. »Mein Name ist Monika Dankert«, sagte die Frau. »Und ich bin gekommen, um jemanden zu besuchen. Es ist eine verzwickte 51
Sache, Herr…« »Kaiser«, half der Heimleiter weiter. »Also, Herr Kaiser, ich habe erst vor kurzem erfahren, daß ich einen Großvater habe. Bisher dachte ich, ich hätte keine lebenden Verwandten. Und genau dieser Großvater lebt hier, im Grauen Kloster. Nun würde ich ihn gern besuchen. Er ist schon alt, und es wird ihn sicherlich freuen, zu erfahren, daß er eine Enkelin hat.« Kaiser ahnte Böses. »Und?« fragte er mühsam beherrscht. »Wie heißt Ihr Großvater?« »Paul Brettnasch.« Kaiser saß da, als hätte ihn der Blitz getroffen. Nein, nicht schon wieder, dachte er. Ich halte das nicht aus. Ich kann den Namen Brettnasch nicht mehr hören! Sein Blick irrte über den Fußboden, blieb an der Stelle haften, auf der seine Kerstin gekniet hatte, blutüberströmt und verstümmelt. Wieso sollte gerade er der Frau, die ihm gegenübersaß, erklären, daß ihr Großvater der Beilmörder von Greifswald war. »Herr Kaiser?« »Hm, entschuldigen Sie«, raunte er. »Für einen Moment war ich abgelenkt. Es handelt sich also um den Herrn Brettnasch.« Monika Dankert nickte. »Ich bin sehr gespannt auf meinen Opa. Es kommt nicht alle Tage vor, daß man einen Großvater findet.« Sie beugte sich seitwärts, zog den Reißverschluß ihrer Tasche auf und nahm einen Fotoapparat heraus. »Sie erlauben doch, daß ich einige Fotos knipse, nicht wahr?« Kaiser wurde weiß wie die frischlackierte Tür. Das gab's in keinem DEFA-Film. Fünfzehn Jähre hat sich kein Mensch um diesen Brettnasch geschert, und heute, wo er sich aufgehängt hatte, rannten sie ihm die Bude ein! Brettnasch hier, Brettnasch da. Er fragte sich, wie er der Frau schonend beibringen konnte, daß ihr Großvater mausetot war. »Nun ja«, meinte er und biß nervös auf seiner Unterlippe herum. »Das ist ja alles gut und schön, aber ich fürchte, Ihre Erwartungen werden sich nicht erfüllen.« Sie hantierte am Auslöser der Kamera. »Nicht erfüllen? Inwiefern? Wie meinen Sie das, Herr Kaiser?« Der Heimleiter nahm sich zusammen. »Ihr Großvater, Frau Dankert, ist leider verstorben.« »Das ist nicht Ihr Ernst!« Sie sprang aus dem Sessel, rammte 52
gegen die geöffnete Tasche, daß sie umfiel. »Machen Sie keine Scherze mit mir!« Alfred Kaiser spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Im hinteren Teil des Büros erklang ein leises Fiepen. Doch er hatte jetzt andere Dinge im Kopf, als sich um Gefiepe zu kümmern. Er räusperte sich und gab seiner Stimme einen betroffenen Klang. »Es ist nun mal der Lauf aller Dinge«, sagte er. »Das Graue Kloster ist eine Wohngemeinschaft alter Leute. Und Ihr Großvater war fünfundachtzig. Ein stolzes Alter, wenn Sie mich fragen.« Monika Dankert taumelte. »Er ist also tot, mein Großvater…« »Es tut mir leid«, sagte Kaiser. »Und? Wann ist er gestorben? Ist es schon lange her?« Kaiser sah sie mitleidig an. »Nein, um genau zu sein, ist es erst vier Stunden her.« »Vier Stunden?« Monika Dankert umklammerte die Sessellehne. »Ja.« »Woran ist er gestorben? Ich hoffe, er hatte einen leichten Tod.« Der Heimleiter wog seinen Kopf. Er beschloß, der Frau reinen Wein einzuschenken. Keinem nützte es, wenn er um den heißen Brei herumredete. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. »Es ist besser, Sie erfahren es gleich aus erster Hand«, sagte er. »Ihr Großvater hat sich heute vormittag in seinem Zimmer erhängt.« Monika Dankert entschlüpfte ein spitzer Schrei. Sie schlug eine Hand vor den Mund und starrte den Todesboten fassungslos an. »Mein Gott«, hauchte sie. »Ich bin vier Stunden zu spät gekommen.« »Machen Sie sich keine Vorwürfe«, tröstete Kaiser sie. »Sie konnten doch nicht ahnen, was in ihm vorging. Alte Menschen sind mitunter äußerst wunderlich.« Die Frau brauchte eine Weile, ehe sie sich wieder in der Gewalt hatte. Kaiser stand auf, ging um den Schreibtisch herum und legte eine Hand auf ihre bebende Schulter. Als hätte sie die Berührung unter Strom gesetzt, schraubte die Frau sich aus dem Sessel, ergriff die Tasche mit den Mitbringseln und hastete fluchtartig zur Tür. Die Klinke in der Hand, drehte sie sich noch einmal um. »Wo hat man ihn hingeschafft?« Ihre Stimme vibrierte. »In die Kuhstraße«, sagte Kaiser. »Dort ist die 53
rechtsmedizinische Abteilung der Universität.« »Danke.« Die Tür schlug zu. Alfred Kaiser war allein. Es war ganz still im Büro. Seit Monika Dankert fort war, fiepte es auch nicht mehr.
* Clarissa stand am Herd in ihrer kleinen Küche. Sie kochte Spaghetti, wusch nebenbei Kaffeegeschirr ab und summte eine verträumte Melodie. Ich hockte im Wohnzimmer. Vor mir, auf dem Boden, lag das Henkersbeil. Heimlich hatte ich es mitgehen lassen. Bevor es noch mehr Unheil anrichtete. Doch ich wurde nicht schlau aus dem Teil. Aus irgendeinem Grund hatte es seine magische Kraft eingebüßt. Jetzt war es nur noch ein museumsreifes Stück Eisen. Über eine Stunde hatte ich das Beil auf Herz und Nieren geprüft. Ohne zählbares Resultat. Ich setzte mich auf den Teppich und brütete vor mich hin. Im Geiste rekapitulierte ich die letzten Ereignisse: Ein Rentner findet ein Beil, auf dem ein jahrhundertealter Fluch liegt. Er faßt es an und wird zur mordenden Bestie. Dann bringt sich der Mann um. Das Beil glüht auf und schwebt in der Luft. Plötzlich saust es herab. In die Hand seiner Leiche. Es trennt drei Finger ab. Aber die Finger sind nirgends zu finden. Die Finger! Was war mit den drei abgetrennten Fingern passiert? Normalerweise hätten sie irgendwo im Zimmer liegen müssen. Aber Pustekuchen! Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. »Mark!« rief Clarissa. »In zehn Minuten gibt es Essen.« Als ich nichts erwiderte, kam sie herein, ging neben mir in die Hocke und betrachtete eine Zeitlang das Henkersbeil. »Du trittst auf der Stelle, nicht wahr?« Ich schaute sie an. Der Pulli, den sie trug, war hauteng, und die Umrisse ihrer verführerischen Attribute waren gut zu erkennen. Irgendwann, als ich über dem Beil brütete, mußte sie ihren BH ausgezogen haben. Offenbar war es ihr am Herd zu warm geworden. 54
»Du riechst recht appetitlich«, meinte ich. »Das ist die Tomatensoße.« »Hast du sie vom Kochfeld gezogen?« Sie kicherte. »Wieso? Sollte ich das?« »Wäre ganz günstig«, sagte ich und gab ihr einen sanften Schubs. Sie verlor die Balance. Auf juchzend plumpste sie auf den Hintern. »Aua!« quiekte sie. »Jetzt hab ich einen blauen Fleck. Und das am Po. Du bist ein Grobian!« »Ich werde es auf der Stelle wieder gutmachen.« Zärtlich kniff ich in ihre Wange, da meldete sich mein Handy. Clarissa schälte sich aus meinem Griff und stand auf. »Nimm schon ab, Mark«, sagte sie spöttisch. »Ich tippe, es ist deine tolerante Freundin Tessa.« Sie ging zurück in die Küche, während ich mürrisch das Gespräch entgegennahm. »Ja?« »Mark Hellmann, du bist ein verdammter Schuft!« dröhnte es aus der Hörmuschel. »Du hast mich ausgetrickst. Was ist bloß in dich gefahren? Klammheimlich, ohne ein Wort, hast du dich abgesetzt. Ich bin dir wohl vollkommen schnuppe, wie? Du bist bei einer Frau, hab ich recht? Sag, kenne ich Sie? Oder sag's mir lieber nicht. Ich kann es mir schon vorstellen. Ich kenne ja deinen Geschmack. Es ist ein aufgedonnertes Blondchen, mit einer Menge Holz vor der Hütte. Und wahrscheinlich spitz wie ein Apachenpfeil. Mark Hellmann, du trägst deinen Verstand in der Hose…« Ich hielt das Handy ein Stück von meinem Ohr weg. Tessa war auf hundertachtzig. Wieder einmal tat sie, als wäre ich ihr Eigentum. Freundschaft, Liebe - das bedeutete doch wohl nicht Gefangenschaft. »Bist du fertig?« fragte ich, als sie nach Luft schnappte. »Ja, fertig mit dir!« schrie Tessa. »Du bist auf dem falschen Dampfer, Tess«, erklärte ich seelenruhig. »Ich bin nicht hinter kurvenreichen Blondinen, sondern hinter einem scheußlichen Relikt aus der Vergangenheit her. Es gab Tote, grausam verstümmelt, und du gebärdest dich wie ein eifersüchtiges Krümelmonster. Ach, Tess, du machst es mir auch nicht gerade leichter.« Gespannt lauschte ich auf die Wirkung meiner eindringlich 55
gesprochenen Worte. Einen Augenblick herrschte Stille in der Leitung. In der Küche klapperte es. Clarissa hatte eine Holzkelle fallen lassen. Sie bückte sich, und ich sah, wie der Stoff ihres Röckchens über ihrem verlängerten Rücken spannte. Keinen gesunden Mann auf der Welt hätte dieser Anblick kaltgelassen. »Du lügst!« giftete Tessa, aber es klang unsicher. Kurz entschlossen legte ich nach. In knappen Worten schilderte ich das bisher Vorgefallene. Ohne natürlich Clarissa zu erwähnen. Ich wollte Tessa nicht vor den Kopf stoßen. Manchmal ist es eben nicht ratsam, eine selbstmörderische Offenheit an den Tag zu legen. Ohne mich zu unterbrechen, hörte mir Tessa zu. Als ich fertig war, fragte sie: »Und du hast diese drei Finger nicht gefunden?« »Nein«, antwortete ich zerknirscht. »Gerade dieser seltsame Umstand bereitet mir Kopfzerbrechen. Erst dachte ich, das Beil des Hans Jank sei der Schlüssel. Ein Trugschluß, wie sich herausgestellt hat. Jetzt ist das Teil nur Makulatur.« Tessas Ärger schien verflogen zu sein. »Da hab ich wohl den Bogen etwas überspannt, wie?« Clarissa wurde gerade damit fertig, Spaghetti und Tomatensoße auf zwei Teller zu füllen. Sie stellte das Essen auf den Küchentisch und gab mir ein stummes Zeichen. »Sei nicht böse, Tess«, sagte ich in die Muschel. »Ich muß jetzt Schluß machen. Diese drei Finger gehen mir nicht aus dem Kopf.« »Viel Glück!« »Danke. Ich kann es brauchen.« Als ich das Handy ausschaltete, spürte ich, daß meine Wangen brannten. Meine Schwindelei hatte mir einen Knacks versetzt. »Was möchtest du trinken, Mark?« fragte Clarissa. »Ich habe italienischen, französischen und spanischen Rotwein.« Ich entschied mich für den französischen. Als ich an den Tisch kam, hob meine Gastgeberin ihr Weinglas und kniff verschwörerisch ein Auge zu. »Du hast es faustdick hinter den Ohren«, bemerkte sie. »Ich kenne diese Tessa zwar nicht, aber ich gehe jede Wette ein, du hast es geschafft, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden.« »Das lag nicht in meiner Absicht.« »Du hast es dennoch getan.« »Hm, glaubst du wirklich?« Clarissa Jank nickte. »Ich käme dir 56
auf die Schliche, Mark. Und dann würde ich dir die Augen auskratzen. Du Schuft. Aber ich bin nicht diese Tessa. Vielleicht sollte ich sie mal anrufen.« Nach dem letzten Satz mußte Clarissa lachen. »Jetzt wird erst mal gegessen. Die Spaghetti können schließlich nichts dafür. Und ein hungriger Dämonenjäger ist ein schlechter Dämonenjäger.« Bei Clarissas Worten war mir echt heiß geworden, doch ausgehungert, wie ich war, machte ich mich über die Spaghetti her. Immerhin war es nachmittags um halb vier, und mein Magen schlug bereits kräftig Alarm. In der gleichen Minute, als ich den ersten Bissen herunterschluckte, brach in einem Cafe am Boulevard die Hölle los… * Martin Sielaff lehnte an der hufeisenförmigen Theke des Cafe Lorke. Er süffelte GinTonic und naschte Salzsticks. Von Zeit zu Zeit gönnte er sich einen heimlichen Blick auf die schlanken Beine der attraktiven Dame, die am Ecktisch am anderen Ende der Theke über einem Cappuccino brütete. Es war Monika Dankert, die noch unter der Hiobsbotschaft litt, den Großvater verloren zu haben. Gerade hatte Sielaff wieder ein Auge riskiert. Die Frau ist ein Augenschmaus, dachte er. Genau meine Kragenweite. Wäre ich nicht so eine Bangbüx, säße ich schon längst bei ihr am Tisch und würde eine Runde Süßholz raspeln. Aber Sielaff war nun mal kein Draufgänger. Im Gegenteil. Stand er schönen Frauen gegenüber, wurde er krebsrot, begann zu stottern und fühlte sich wie ein abstoßend häßliches Wurzelmännchen. Wenn es ihm nicht bald gelänge, seine Komplexe abzuschütteln, würde er wohl für alle Zeit unbeweibt bleiben. Düstere Aussichten. Mißmutig schüttelte Sielaff sein Glas. Das Eis darin klirrte. Mechanisch suchten seine Blicke die herrlichen Beine seiner Favoritin. Diesmal schaute er länger hin. Die Frau schien es nicht zu bemerken. Zusammengekauert saß sie da. Völlig regungslos starrte sie in ihre Tasse. 57
Allmählich wurde Sielaff mutiger. Er weidete sich an dem zierlichen Körper der Unbekannten, dem hochgesteckten Blondhaar, den fein gezeichneten Gesichtszügen, dem Stupsnäschen… Es fiepte zum ersten Mal. Sielaff drehte das Glas zwischen den Fingern. Das klang ja ulkig, als wenn jemand ein Tier mit ins Lokal gebracht hatte. Möglicherweise eine Hundewelpe oder ein kleines Kätzchen. Als es abermals fiepte, neigte er den Kopf. Er horchte angestrengt. Er war nicht sicher, aber der merkwürdige Ton schien aus der Richtung des Tisches zu kommen, an dem die hübsche Brünette saß. Neben ihrem Stuhl lehnte eine hellbraune Segeltuchtasche mit Reißverschluß. Hatte sie etwa ein Tier darin eingesperrt? Sielaff war, als hätte sich in der Tasche etwas bewegt. Mit einemmal schwitzte er. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals? Er könnte zu der Dame gehen, sie auf die Tasche hin ansprechen und sie möglicherweise näher kennenlernen. Mit einem Zug trank er sein Glas leer. Vor Aufregung schlug sein Herz bis zum Hals. Er bekam Lampenfieber. Dennoch gab er sich einen Ruck. Steifbeinig tappte er ans Ende der Ecke, wo die Angebetete noch immer reglos verharrte. Auf halbem Wege blieb er stehen. Seine Pupillen weiteten sich. Er spürte, wie sich nackte Angst zu seinem Lampenfieber dazugesellte. Die Tasche… In ihrem Innern wurde es lebendig. Sie beulte aus, nach allen Seiten, sie bewegte sich, schurrte ein Stück in den Gang hinein. Und das Fiepen wurde jetzt so laut, daß es auch der letzte Anwesende gehört haben mußte… Mit verschwommenem Blick sah Sielaff, wie die Brünette nach den Henkeln der Tasche faßte, um sie aus dem Gang zu ziehen. Sie tat es mechanisch, in Gedanken, ohne genau hinzuschauen. Als die Tasche an ihrem alten Platz, neben dem hinteren Stuhlbein, stand, zerriß ein berstendes Geräusch die beschauliche Kaffeehaus-Atmosphäre. Sielaff stand wie ein Denkmal. Er glaubte zu träumen. In der Tasche klaffte ein zwanzig Zentimeter langer Riß. Zipfel von Wäschestücken quollen hervor. Ein Ärmel, der Rollkragen eines blauen Pullovers - und ein graues, pelziges Etwas mit 58
scharfen, spitzen Zähnen! Das Geschöpf zwängte sich aus dem Schlitz und fiepte durchdringend. Sielaff starrte es an. Das Alptraumwesen war nicht größer als ein Meerschweinchen. Sein länglicher Körper war von verfilzten Fellbüscheln bedeckt, die aussahen wie Schimmel auf verdorbenen Lebensmitteln. Es hatte krumme Stummelbeine, die in vogelartige Klauen mündeten. Statt eines Schwanzes wuchs ein krummer Wespenstachel aus dem Hinterteil. Der Schädel der Kreatur war kantig, unter der fliehenden Stirn lief er spitz zu, in ein Maul, das weit aufgerissen war. Eine teerschwarze, viel zu fette Zunge spitzelte heraus, leckte an den gebogenen Reißzähnen. Gelblichgrüner Schleim sickerte aus dem Maul und tropfte auf das blankgewienerte Parkett. Aus winzigen Punktaugen glotzte das Wesen um sich, als wolle es sich orientieren. Das Cafe war gut besucht. Ungefähr zwanzig Leute hockten vor Kaffee, Kuchen und Eisbechern. Im Hintergrund spielten Evergreens vom Orchester James Last. Niemand dachte auch nur im entferntesten daran, daß er in akuter Lebensgefahr schwebte. Bis auf Martin Sielaff. Auf brüllend riß er einen herumstehenden Barhocker an sich. Er stemmte ihn hoch. Wie eine Gemse sprang er auf das kleine Scheusal los. Einige Gäste drehten sich um. Entgeistert schüttelten sie die Köpfe. Ein junger Mann, der ein blaues John-Wayne-Hemd anhatte, tippte sich vielsagend an die Stirn. Die Frau an seinem Tisch kicherte belustigt. Unbeirrt steuerte Sielaff auf das gespenstische Wesen zu. Es duckte sich. Lauernd preßte es den Bauch auf den Boden. Es wich jedoch nicht einen einzigen Millimeter. »Gehen Sie beiseite!« rief Sielaff der Frau mit den schönen Beinen zu. Er schwang den Barhocker über ihrem Kopf. Aus verweinten Augen sah ihn Monika Dankert an. Sielaff schlug zu. Der Barhocker donnerte aufs Parkett und ging in die Brüche. Ein Bein sprang ab, flog durch die Luft und traf einen Gast am Hinterkopf. Der Mann jaulte auf. Er schnellte in die Höhe und beschimpfte Sielaff. Von seinem Standort konnte er das Höllenwesen nicht erkennen. 59
Sielaff hielt den zerbrochenen Barhocker seitlich vom Körper weg. Hatte er das kleine Mistding erwischt? Er hielt nach Überresten Ausschau, fand aber keine. Der Alptraum mit dem Wespenstachel hatte sich verdrückt. »Wo steckst du?« schnaufte er. »Zeig dich, verdammte Dämonenbrut!« Das Ding gehorchte. Als hätte es Sielaffs Aufforderung verstanden, kam es unter dem Tisch hervor. Es richtete sich auf, stützte sich auf den Stachel und fiepte laut. Dann sprang es Martin Sielaff an! Vor Schreck torkelte der Mann zurück. Er rammte gegen einen Zierknauf der Theken-Reling und stauchte seine rechte Lunge. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Er japste nach Luft. Derweil hatte sich das Wesen in seiner Hose verkrallt. Mit widernatürlicher Geschwindigkeit kletterte es an seinem Bein empor. Sielaff spürte, wie skalpellscharfe Krallen den Stoff seiner Bundfaltenhose zerfetzten und seine Haut aufschlitzten. »Verdammt! So helft mir doch!« Er bückte sich, wollte das Ding packen, es fortschleudern, aber der kleine Teufel war einen Tick schneller. Schon erklomm es den Hosenbund des Mannes. Seine widerhakigen Krallen klinkten sich in den Gürtel. Sielaff packte zu. Er erwischte das Höllending und grub seine Finger tief in das schimmlige Fell. Der kleine Angreifer war kalt wie Eis. Er schien geradewegs aus dem Gefrierfach zu kommen. Sielaffs Hand zuckte zurück. Blitzschnell. Aber nicht schnell genug. Das ekelerregende Geschöpf hatte ihn gebissen. Und zwar mit solcher Kraft, daß Sielaff glaubte, seinen Fingerknöchel splittern zu hören. Behende kletterte das Wesen höher, bis es aufs Sielaffs Brust angelangt war. Hier verhakelte es seine Hinterläufe im Oberhemd, stützte sich auf seinen Stachel und fletschte die Zähne. Dabei ruckte es mit dem Kopf hin und her. Die Punktaugen glitzerten gierig. Die Zunge glibberte über den scharfkantigen Unterkiefer. Es war, als verhöhnte es sein Opfer, das um so vieles größer war als es selbst. Sielaff merkte, daß das Ding auf seiner Brust ihn auslöschen wollte. Er ahnte, daß es auch die Macht dazu besaß. Verzweifelt 60
begann er, mit den Fäusten auf den kleinen Körper einzuprügeln. Doch die Wirkung seiner Trommelschläge war gering. Das kleine Geschöpf steckte die Schläge weg, als wären es Streicheleien. Es fiepte lediglich und bohrte seine Krallen tiefer in Sielaffs Brustkorb. Dann schnappte es zu. Die säbelförmigen Reißer verbissen sich im fleischigen Hals des Mannes. Sielaff schrie. Zum ersten Mal dachte er ans Sterben. Verzweifelt federte er um die eigene Achse. Er warf sich gegen die Wand, versuchte, das kleine Monstrum zu zerquetschen. Aber das Dreckstück verbiß sich nur noch fester in seinem Hals. Im Unterbewußtsein hörte Sielaff, wie ein kollektiver Aufschrei die Luft im Lokal erzittern ließ. Er riß die Augen auf. Ein Mann mit Halbglatze und einem Obstmesser in der Faust stürzte auf ihn zu. Die übrigen Gäste waren von den Plätzen gesprungen. Manche rannten nach draußen, auf den Boulevard. Andere standen da wie belämmert, mit fassungslosen Blicken das groteske HorrorSchauspiel verfolgend, das sich zum Anfassen nahe, vor ihnen abspielte. »Halten Sie still!« krähte die Halbglatze. »Ich werde das kleine Monster abstechen!« Im gleichen Augenblick rammte er die Klinge in den pelzigen Leib. Durch die Schnellkraft des Stoßes wurde Sielaff gegen die Wand geschleudert. Die Halbglatze ließ das Messer los. Sielaff sah, daß es bis zum Heft im Rücken des greulichen Höllenwesens stak. Aber das kleine Ungeheuer blutete nicht. Es schleimte nur ein bißchen. Und beantwortete die Attacke mit schrillem Fiepen. Das Messer im Leib, löste es seine blutigen Reißzähne aus Sielaffs Hals. Es drehte den Kopf, sonderte qualligen Speichel und wippte drei, vier Male, als wolle es Schwung holen. Urplötzlich sprang es dem Obstmesser-Mann ins Gesicht! Aufschreiend prallte der zurück. Er krachte auf einen Tisch, wälzte sich zwischen umstürzenden Kaffeetassen, Eisbechern, Bargläsern. Dann polterte er dumpf auf den Fußboden. Er zappelte wie ein Ertrinkender, während das Wesen mit diabolischer Emsigkeit sein Gesicht enthäutete. Ungeachtet der Angst, die er empfand, eilte Sielaff dem Mann zu Hilfe. Inzwischen war dessen Gesicht eine blutige Masse. Hautpartikel, manche mit Barthaaren und Leberflecken, flogen 61
umher. Sielaff warf sich zu Boden, spannte beide Hände um den klebrigen Leib des Wesens und quetschte es, so kräftig er konnte. Als er merkte, daß das widerliche Geschöpf allmählich vom Gesicht seines Opfers abließ, verdoppelte er seine Anstrengungen. Da spürte er im Nacken einen eisigen Luftzug. Und er spürte noch etwas anderes. Nadelspitze Zähne, die sich erbarmungslos in das knorplige Fleisch seines Nackens fraßen. Das Höllenwesen… Es hatte Verstärkung bekommen! * Es passierte, als ich mir von Clarissa einen Nachtisch holen wollte. Der magische Siegelring streifte das Hexenmal auf meiner Brust. Sogleich knisterte es in meinem Innern, und ich schob Clarissa sanft zurück. Sie zog einen Flunsch. Doch auf zurückgewiesene Liebhaberinnen konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ein innerer Impuls kündigte mir etwas Schreckliches an. Der bleistiftdünne Lichtfaden war erschienen. Von einer Sekunde zur anderen war mein Drang nach Zärtlichkeiten wie weggewischt. »Das ist kein Zufall«, brummte ich und dachte an die abgehackten Finger. »Irgendwo in der Nähe hat das Böse zugeschlagen.« Clarissa schmollte. Sie brachte ihre Kleidung in Ordnung. Dann sah sie mich fragend an. »Sagtest du nicht, dein Ring könne das dämonische Schutzschild nicht überwinden? Ich meine, wieso kann er es jetzt?« »Ich weiß nicht«, grübelte ich. »Ich weiß nur, daß ich mich sofort auf die Socken machen muß.« »Und? Wohin willst du?« »Das haben wir gleich.« Ich schrieb das keltische Wort für Suche an die Tapete. »Mark!« rief Clarissa überrascht auf. »Sieh nur, der Strahl! Jetzt reagiert er!« Ich nickte erleichtert. »Also los! Verlieren wir keine Zeit. Ich 62
hoffe, ich komme noch rechtzeitig.« Im gestreckten Galopp jagten wir aus dem Haus. Der Lichtfinger wies uns den Weg. Er tanzte in wahnwitzigem Tempo vor uns her. Leute blieben stehen und schauten uns hinterher. Wahrscheinlich dachten sie, wir hätten eine Schraube locker. Ein erwachsener Mann und eine Frau rannten mit einem Lichtstrahl um die Wette. Wirklich komisch. Aber mir war weiß Gott nicht nach Ulk zumute. Uns erwartete das Böse. Als wir das Cafe Lorke am Boulevard passierten, funkelte mein Ring mit derartiger Intensität, daß Clarissa geblendet den Blick abwenden mußte. Der dünne Strahl verschwand. Statt dessen prickelte der Ring und wurde heiß wie Feuer. »Du wartest draußen!« rief ich Clarissa zu. Ich wischte ins Lokal. Drinnen herrschte das reinste Armageddon. Eine Handvoll Leute wälzte sich schreiend am Boden. Zwischen umgestürzten Tischen und Stühlen. Die Scherben zerbrochenen Geschirrs knirschten unter ihnen. Ein Mann, der vor dem Küchenbüffet lag, warf sich vor Schmerz winselnd von einer Seite auf die andere. Sein Gesicht war von Bißwunden übersät. Aber was hatte das Chaos ausgelöst? Gehetzt blickte ich mich um - und sah den Mann ohne Gesicht. Er kniete vor der Theke, die Fäuste an die Schläfen gepreßt, um sich herum eine Lache aus Blut. Oberhalb der Stelle, wo einmal seine Nase gewesen sein mußte, blinkte ein weißlicher Knorpel. Darunter ein dunkles Loch, aus dem Blut quoll. Der Totenköpfige deutete in einen Winkel des Gastraumes. Instinktiv folgte ich dem Fingerzeig. Ich spürte, wie sich mein Nackenhaar aufrichtete. Zwei rattenartige Wesen waren gerade dabei, den Körper einer leblos daliegenden Frau zu erklimmen. Sie stießen schrille Fieptöne aus, als feuerten sie sich gegenseitig an. Das Fiepen! Ich hatte es schon einmal gehört. Im Grauen Kloster, auf der Treppe. Clarissa hatte gemeint, es wären Mäuse gewesen. Von wegen Mäuse. Eher blutrünstige Killerbestien! Ich mußte die Frau retten. Eines der Mistviecher hatte sich schon in ihre Wange verbissen. Ohne zu zögern, hechtete ich über einen Tisch. Ich schlug hart auf dem Boden auf. 63
Mit zwei, drei Zügen robbte ich ihr entgegen. Sie zitterte am ganzen Leib. Ich packte eines der kleinen Biester hinter dem Kopf. Die Kälte, die es ausströmte, ließ mich erschauern. Das Monstrum ließ von der Frau ab. Es drehte seinen Hals. Aus funkelnden Knopfaugen musterte es mich. Selten sah ich einen boshafteren Blick. Es fiepte drohend, als wollte es sagen: Finger weg, du Idiot! Siehst du nicht, daß wir die Stärkeren sind? Ich wälzte mich auf die Seite. Im Stile eines Gunfighters zog ich blank. Bei Clarissa hatte ich meine SIG Sauer mit geweihten Silberkugeln geladen. Mal sehen, was das Mistding davon hielt. Ich peilte seinen Schädel an, gab acht, daß ich keinen Menschen erwischte, und gab Feuer. Wie ein Peitschenknall hallte der Schuß durch das Lokal. Der Schädel des frechen Fleischbeißers zerplatzte. Aus dem zerfransten Halsstumpf schossen Schleimfontänen. Der schimmlige Rumpf bäumte sich auf. Er erzitterte, als hätte er die Parkinsonsche Krankheit. Die Vorderläufe schnappten ziellos in der Luft herum. Dann plumpste das Schattenwesen auf das Parkett. Die Stummelbeine strampelten. Die Krallen daran krümmten sich. Der Dorn, der aus dem Hinterteil des kleinen Teufels ragte, schrumpelte zusehends zusammen. Endlich gab es den Geist auf. Reglos blieb es liegen. Das zweite Wesen wartete nicht, bis es ebenfalls eine Kugel in den Pelz bekam. Es hatte Lunte gerochen. Das unrühmliche Ende seines Spießgesellen hatte es in Panik versetzt. Wie ein geölter Blitz jagte es auf den kleinen Leichnam des anderen zu, nahm ihn ins Maul, kletterte auf den Bauch der Frau und sprang auf der anderen Seite wieder hinunter. Wieselflink tippelte es davon. Hinter die Bartheke. Die Pistole in Anschlag, jagte ich hinterher. Als ich am Gesichtslosen vorbeipreschte, hob er einen Arm. Er wollte mir etwas sagen. Ich blieb stehen. »Am Küchenbüffet…«, gurgelte er, »der Mann - ES ist in ihm…« In ihm? Was meinte der arme Kerl? Ich schleuderte ein paar Stühle, die mir den Weg verbauten, beiseite. Der Mann, der vor dem Büffet lag, warf sich nicht mehr hin und her. Die Augen weit aufgerissen, starrte er an die Decke. Ob er noch lebte oder schon tot war, konnte ich noch nicht 64
erkennen. Je näher ich kam, desto wilder gebärdete sich mein Ring. Ein schier ungeheuerlicher Verdacht beschlich mich. In ihm… Ich sah, daß der Unterkiefer des Mannes aufklaffte wie ein Scheunentor. Eine der Kreaturen mußte ihm durch den Mund geschlüpft sein. Sekundenlang rührte ich mich nicht vom Fleck. Kraftlos ließ ich meine Pistole sinken. Zu gräßlich war der Gedanke, der in meinem Kopf hämmerte. Das kleine Monster war dabei, sein Opfer von innen… Mir wurde übel. Ein Brechreiz würgte in meinem Hals. Ich pumpte meine Lungen voll Sauerstoff. Da sah ich, wie sich der Hals des Mannes weitete. Der kantige Schädel des widerlichen Geschöpfes kam zum Vorschein. Mit einer Pfote wischte es sich das Blut von den Augen. Der kleine Teufel spähte wild um sich, wie ein Soldat, der aus der Luke eines Panzers schaute. Ich riß die Pistole hoch, nahm seinen Kopf ins Visier. Zu spät. Das Höllenwesen ergriff die Flucht. Es huschte aus seinem Versteck und glitt wie eine Eidechse an der Schulter des Leblosen hinunter. Flummimäßig hoppelte es über das blutgesprenkelte Parkett. Kurz darauf hörte ich es hinter der Theke aufgeregt fiepen. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß die drei Finger des Paul Brettnasch eine dämonische Metamorphose hinter sich hatten. Die Schwarze Magie ist nun mal unberechenbar. Als ich hinter die Theke stürmen wollte, erklang vom Eingang des Lokals eine näselnde, aber äußerst energische Stimme: »Halt! Waffe weg! Und keine Bewegung!« Ich erstarrte zur Salzsäule. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Fluchend ließ ich meine SIG Sauer fallen und nahm langsam die Hände hoch. Die Höllenwesen nutzten die Gunst des Augenblickes, um sich aus dem Staub zu machen. Das Fiepen war verstummt. *
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An Ort und Stelle wurde ich in die Mangel genommen. Clarissa mußte draußen auf mich warten. Während sich herbeigeeilte Rettungssanitäter um die Verletzten und Toten kümmerten, saß ich im Hinterzimmer des Cafe Lorke. Ich beantwortete Fragen, die mir ein völlig überforderter Kommissar stellte. Der Mann hieß Schumacher, hatte einen glattrasierten Schädel und einen Schnauzbart, dessen Enden nach oben gezwirbelt waren. Er trug ein gelb-schwarz gestreiftes Sakko. Irgendwie erinnerte er mich an eine Drohne. Einige wesentliche Dinge waren bereits geklärt. Zumindest glaubte Schumacher nicht mehr, daß ich das Cafe Lorke aufgemischt hatte. Glücklicherweise gab es Augenzeugen in Hülle und Fülle, die prompt meine Angaben bestätigt hatten. Daraufhin gab er mir meine SIG Sauer zurück. Schumacher saß über seinen Notizblock gebeugt und fummelte an seinem Kuli. »Herr Hellmann, noch mal von vorn. Ich komme da nicht mit. Die Fakten des Tathergangs erscheinen mir geradezu - hm, phantastisch.« Ich erhob keine Einwände. »Ganz recht. Wenn friedliche Kaffeehausbesucher von Killerbestien überfallen werden, dann klingt das in der Tat phantastisch. Leider ist es aber keine Phantasie, sondern Realität.« Der Kommissar versuchte, seiner näselnden Stimme einen sachlichen Klang zu geben. »Hm, Sie sprechen da von Killerbestien. Sie haben die Täter demnach mit eigenen Augen gesehen?« »Richtig. Die Bestien waren ungefähr so groß wie Ratten. Ihre Mordlust war unbeschreiblich.« »Aha, also Ratten.« Schumacher schien aufzuatmen. Ich zog ihm den Zahn. »Ich hab nur gesagt, sie wären so groß wie Ratten. Aber es waren keine.« Seufzend strich Schumacher das Wort Ratten von seinem Zettel. »Haben Sie eine Ahnung, woher diese Dinger kamen?« Ich hatte keine Lust, dem Polizisten lang und breit die Vorgeschichte zu schildern. Er hätte mir sowieso kein Wort geglaubt. Ebenso verzichtete ich darauf, meinen Ring ins Spiel zu bringen. Der irritierte Beamte bekam es fertig und beschlagnahmte ihn. Das Risiko konnte und wollte ich nicht eingehen. 66
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, keine Ahnung, wo die kleinen Bestien herkamen. Als ich eintraf, waren sie schon da. Sie massakrierten gerade die Gäste. Ein Exemplar hab ich erschossen. Und wären Sie nicht reingeplatzt, hätte ich auch die anderen erledigt.« Der Kommissar bedachte mich mit einem wütenden Blick. »Meine Männer sind den Flüchtigen auf den Fersen. Wir werden das ganze Haus auf den Kopf stellen, unter jeden Teppich gucken, bis wir sie…« Er suchte nach dem passenden Wort. »Verhaftet haben?« ergänzte ich. Schumacher starrte mich wütend an. »Lassen Sie gefälligst Ihre Scherze. Sagen Sie mir lieber, wieso Sie als einziger der Anwesenden nicht verletzt sind!« »Ganz einfach. Diese Killerbestien waren anderweitig beschäftigt.« »Wie viele waren es denn?« »Drei.« »Nur drei?« Er verzog das Gesicht. »Das Lokal sieht aus, als wären es mindestens hundert gewesen.« »Nein. Es waren nur drei.« Langsam platzte mir der Kragen. »Wären es mehr gewesen, hätte nicht ein einziger der Gäste das Cafe lebend verlassen.« »Bitte halten Sie sich mit Prognosen zurück«, schnarrte mich der Kommissar an. »Ich will nur eines von Ihnen, und zwar Fakten. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?« »Fakt ist, daß durch Ihr Eingreifen die Biester die Kurve kratzen konnten!« konterte ich. »Mäßigen Sie sich, Herr Hellmann! Ich sagte bereits, meine Männer sind hinter ihnen her.« Bevor ich etwas erwidern konnte, ging die Tür auf, und ein Uniformierter trat ins Zimmer. Seine Wangen waren flammendrot, seine Augen flirrten hektisch. Zackig legte er zwei Finger an seine Schirmmütze. »Was ist los, Müller?« fuhr Schumacher ihn an. »Das Rattenpack«, grunzte der Uniformierte. »Es hat sich dünnegemacht. Im Treppenhaus stand ein Fenster offen. Daneben verläuft das Fallrohr von der Dachrinne. Sie müssen daran auf den Hinterhof hinuntergeklettert sein. Und von da aus haben Sie sich in die Büsche geschlagen.« Der Kommissar ließ seinen Kuli fallen. »Das darf doch nicht 67
wahr sein!« keifte er Müller an. »Wieso haben Sie das nicht verhindert?« »Sie waren einfach zu flink.« Schumacher stand auf und tigerte eine Weile auf und ab. Dann stoppte er und fauchte seinen Untergebenen zornig an. »Stehen Sie hier nicht so dumm herum!« bellte er. »Durchkämmen Sie das Gelände. Durchsuchen Sie jeden Winkel. Die Mistviecher können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.« Die Gestalt des Uniformierten straffte sich. Er salutierte und machte, daß er hinauskam. Der Kommissar wurde von einem jähen Wutanfall gepackt. Er donnerte eine Faust gegen die Wand, zuckte zurück, weil es offenbar weh getan hatte, und keuchte: »Es ist zum aus der Haut fahren. So eine Woche hab ich noch nie erlebt! Noch so 'n Ding, und ich bin reif für die Klapsmühle.« »Beruhigen Sie sich«, riet ich ihm. »Es wird schon werden.« Er begann, wieder hin- und herzurennen. »Beruhigen? Sie haben gut lachen. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Fälle, schneller, als ich gucken kann. Morde, Verstümmlungen, sogar ein zerhackter Hund ist mit von der Partie. Dazu Anzeigen wegen tätlicher Angriffe von wahnsinnig gewordenen Vögeln. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht.« Plötzlich blieb er stehen und schaute mich an. »Meinetwegen können Sie jetzt verduften. Ihre Adresse und Telefonnummer hab ich ja. - Machen Sie sich einen schönen Tag!« Als ich hinausging, hörte ich ihn murmeln: »Ich Rhinozeros! Wieso bin ich bloß zur Polente gegangen?« * Im Keller war es düster. Es gab nur eine schräge Fensterluke, durch die schmutziggelbes Licht fiel. Die gekalkten Wände waren feucht. Der Boden starrte vor Schmutz. Es roch dumpf und muffig. Tippelnde Schritt erklangen. Und aufgeregtes Fiepen. In einem Winkel des Raumes lagen leere Kohlesäcke aufgeschichtet. Zwei kleine Wesen kletterten auf den Stapel hinauf. Eines hatte ziemliche Mühe, dem Vorankletternden zu 68
folgen. Es trug den kopflosen Kadaver eines dritten im Maul. Oben angelangt, ließ es seine grausige Last fallen. Die beiden Wesen sanken neben dem Rumpf des toten Artgenossen nieder. Eine Zeitlang kauerten sie völlig reglos, ohne einen Ton von sich zu geben. Fast sah es aus, als würden sie trauern. Dann, wie auf Kommando, fiepten sie wild durcheinander. Es schien beinahe, als prallten zwei unterschiedliche Meinungen aufeinander. Nach kurzer Zeit wurde das aufgebrachte Fiepen deutlich leiser. Jetzt fiepte nur noch das Wesen, das das tote im Maul gehabt hatte. Das andere schwieg. Eine halbe Stunde später… Die beiden Wesen waren nicht mehr allein. Ihre Zahl hatte sich verdoppelt. Die Neulinge waren knapp halb so groß wie die ersten beiden. Aber vom Körperbau waren sie deren Ebenbilder. Nach zwei Stunden wimmelte es im Keller von kleinen, herumtollenden Schattenwesen. Sie tippelten von einer Wand zur anderen, balgten sich übermütig und fiepten dabei, was das Zeug hielt. Weitere zwei Stunden vergingen. Das schmutzige Licht, das durch die Kellerluke fiel, gelangte nicht mehr zum Boden. Eine unübersehbare Masse von schimmelfelligen Geschöpfen kämpfte um jeden Quadratzentimeter Platz. Manche fielen über kleinere Artgenossen her, fuhren ihre Krallen aus und hackten erbarmungslos auf sie ein. Die Kleinen quiekten vor Entsetzen. Ein paar von ihnen wurden buchstäblich in Stücke gerissen, ihre Überreste gierig verschlungen. Dennoch wuchs die Zahl der Geschöpfe ins Unermeßliche. Bald wuselten sie in mehreren Schichten übereinander. Eine Wolke fauligen Gestanks hing unter der Kellerdecke. Das schmutzige Licht verschwand. Draußen war es dunkel geworden. Da ertönte ein kurzes Zirpen. Es übertönte jedes andere Geräusch im Keller. Schlagartig brach der Tumult ab. Wie gelähmt verharrten die Heerscharen schimmelfelliger Wesen. Gehorsam wandten sie die Köpfe, richteten ihre Blicke auf die Kohlesäcke. Obenauf thronte ein Geschöpf, das alle anderen an Größe übertraf. 69
Es reckte sich auf die Hinterläufe, stützte sich auf den Stachel und begann, durchdringend zu zirpen. Die Legion der Höllenwesen erstarrte vor Ehrfurcht. Keines gab einen Muckser von sich. Stumm lauschten sie den schrillen Tönen. Endlich gab das Oberhaupt der Geschöpfe das Zeichen zum Aufbruch. Der Sturm auf die Kellertür begann. Ab jetzt befanden sich die Höllenwesen im Krieg. Im Krieg gegen die Menschen. Der Befehl war eindeutig formuliert: Jeder einzelne Vertreter der menschlichen Rasse war unverzüglich und gnadenlos zu vernichten. Schon erreichte der erste Stoßtrupp die Zwischentür, die ins Erdgeschoß des Grauen Klosters führte. Die Tür war nur angelehnt, und die Wesen wischten durch den Türspalt ins Treppenhaus. Dort stellten sie sich auf zwei Beine, reckten ihre Hälse und schnupperten. Rasch wandten sie sich nach links. Hinter einer braunlackierten Tür gab es Menschen. Viele Menschen. Die Wesen witterten es genau… * Jenseits des Fensters fuhr ein gezackter Blitz über das graue Wolkengebirge am Himmel. Im Kerzenschein blätterte ich in den Unterlagen über Clarissas Abstammung. In der ganzen Kapaunenstraße war das elektrische Licht ausgefallen. Eine Panne im E-Werk. Clarissa sagte, das passierte hier häufig. »Ich muß etwas übersehen haben«, brummte ich. »Wenn ich nicht bald fündig werde, befürchte ich ein Debakel.« Clarissa Jank erschrak. »Du mußt diese kleinen Teufel aufhalten, Mark. Sie bringen es fertig und rotten die ganze Stadt aus.« »Zum Glück sind sie nur zu zweit«, meinte ich. »Aber trotzdem sind sie brandgefährlich. Außerdem scheinen sie mehr Grips in ihren Alptraumschädeln zu haben, als einem lieb sein kann. Die Biester haben es geschafft, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen. Und kein Mensch weiß, was sie in diesem Moment 70
aushecken.« »Der Fluch des Hans Jank«, flüsterte Clarissa. »Genau. Aber es muß eine Kleinigkeit geben, die wir bisher außer acht gelassen haben. Und gerade dieses Detail ist anscheinend der Schlüssel zu diesem Rätsel.« Clarissa ging zum Fenster, zog die Gardinen vor und blieb eine Weile gedankenverloren stehen. Ich widmete mich wieder den eselsohrigen Aktenkopien. Plötzlich horchte ich auf. Clarissa summte die ersten Takte einer Melodie. Dann brach sie ab und stimmte eine neue an. »Halt!« Ich starrte sie an. »Wie?« »Summ noch mal das Lied von vorhin.« »Welches Lied?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, worauf du anspielst.« »Konzentrier dich! Die erste Melodie. Sie klang schwermütig und irgendwie hoffnungslos. Sie kommt mir bekannt vor.« Ich schlug die flache Hand auf den Tisch. »Verflixt! Woher kenne ich sie bloß?« »Meinst du die?« Clarissa spitzte ihr Schmollmündchen und pfiff. Ich hielt den Atem an. »Perfekt.« Der Groschen war gefallen. Ich sprang auf, nahm Clarissa in die Arme und drückte sie vor übersprudelnder Freude. »Ich hab's!« »Was hast du?« »Des Rätsels Lösung«, sagte ich und strahlte. »Sie ist so einfach, daß man tatsächlich nicht darauf kommt.« »Ich kapiere keine Silbe.« »Hör zu!« Ich nahm ihre Hände. »Hans Jank war Scharfrichter. Also ein Geächteter, rechtlos und gemieden. Er floh mit einer Kindsmörderin und heiratete sie. Sie hatten Kinder. Dann wurde er selbst ans Messer geliefert. Er verfluchte das Beil, das ihn enthauptete.« Clarissa dämpfte meine Freude: »Aber soweit waren wir doch schon. Dort, in der Ecke, steht das Henkersbeil. Es bringt uns keinen Deut weiter. Vielmehr sollten wir diesen kleinen Fleischbeißern die Hölle heiß machen. Sie sind es, die mich in panische Angst versetzen.« Ich winkte ab. »Hör weiter zu: In den Unterlagen steht, daß 71
Hans Jank im Grunde genommen ein empfindsamer Mensch war. Viele der Leute, die er töten mußte, taten ihm leid. Er mochte die Menschen, obwohl sie ihn verachteten.« »Schon möglich. Nicht jeder Henker war ein Sadist. Aber was hat das alles mit dem Lied zu tun?« »Dazu komme ich gleich.« Ich holte tief Luft, bevor ich meinen Faden weiterspann. »Kurz bevor Hans Jank gehenkt wurde, fuhr ein Blitz nieder. Der Himmel verdunkelte sich. Es liegt auf der Hand, daß das nicht auf seinem Mist gewachsen sein konnte. Schließlich war er kein Magier. Und außerdem geht aus den Unterlagen hervor, daß am Tag seiner Hinrichtung die Sonne schien. Also gab es da noch jemanden. Ein geheimnisvoller Dämon, der den Fluch verdreht und auf teuflische Weise mit einem anderen Sinn versehen hat.« »Wie kommst du auf das schmale Brett?« »Ich hab da meine Erfahrungen«, sagte ich. »Nicht umsonst nennt man den Antichristen Lügenverbreiter.« »Du glaubst, der Satan hätte…?« »Wenn nicht er selbst, dann einer seiner Spießgesellen. Jedenfalls riecht die Angelegenheit penetrant nach Schwefel.« »Okay. Schieß los! Wie lautet deine Vision, Mark?« »Ich denke, Hans Jank hat - den Kopf bereits auf der Richtstatt - mitbekommen, daß ein übernatürliches Wesen auf der Bildfläche erschienen ist. Kurz vor dem Tod sind die Sinne des Menschen bekanntlich sehr geschärft. Jank muß versucht haben, seinen Fluch zu widerrufen. Aber es gelang ihm nicht vollständig, denn im entscheidenden Augenblick wurde ihm der Kopf abgeschlagen. Kurz und gut: Ich habe guten Grund, anzunehmen, daß ich das Böse mit Stumpf und Stiel ausrotten könnte - fände ich die Gebeine deines Urahnen.« »Waaas?« Clarissa war außer Rand und Band. »Wie willst du die denn finden, nach so langer Zeit?« Ich hob meine Hand. Der magische Ring funkelte im Kerzenschein. Für einen Moment breitete sich Schweigen im Zimmer aus. »Jetzt geht mir ein Licht auf«, sagte Clarissa dann. »Im Mittelalter war es üblich, die Gebeine von Henkern und Hingerichteten in ungeweihter Erde zu verscharren. Irgendwo vor den Toren der Stadt. Du willst sie aufstöbern?« »Bravo!« lobte ich sie. »Eine Therapie mit Weihwasser wird ein 72
übriges tun.« Clarissa ging ein paar Schritte durchs Zimmer. Diese Neuigkeit mußte sie erst einmal verdauen. »Die Schwarze Magie steckt in Janks Gebeinen«, sinnierte sie. »Durch ihre Energieströme schöpfen diese kleinen Fleischbeißer ihre Kraft. Angenommen, du findest Janks Überreste, würde der Spuk dann vorüber sein?« »Todsicher«, bestätigte ich überzeugt. »Die Fleischbeißer würden zu Staub verfallen.« Clarissa biß sich auf die Unterlippe. »Gut und schön. Aber es gibt noch einen anderen Haken.« »Welchen?« »Die Grenzen der Städte wurden im Laufe der Zeit erweitert. Es könnte passieren, daß dich der Lichtstrahl deines Ringes zu einem Platz führt, an dem es unmöglich ist, Janks Gebeine zu bergen.« »Stimmt«, gab ich zu. »Schlimmstenfalls könnte ein Haus darauf gebaut worden sein. Aber malen wir den Teufel nicht an die Wand.« »Du hast mir noch nicht gesagt, was diese Melodie mit allem zu tun hat.« »Naja, zu DDR-Zeiten kannten wir nicht nur Pionierlieder. Es gab da mal ein ziemlich makabres Kinderlied. Als ich ein Junge war, hab ich es selbst gesungen.« »Oh«, sagte Clarissa trocken. »Als Sänger hast du dich auch versucht?« »Leider mit sehr mäßigem Erfolg«, gab ich zu. »Für 'nen Plattenvertrag bei AMIGA hat's nicht gereicht. Aber wenn ich scharf nachdenke, fallen mir glattweg die ersten beiden Zeilen des Refrains ein.« »Die wären?« Ich senkte die Stimme. »Ihr wißt ja nicht, wie weh das tut, wenn man in ungeweihter Erde ruht.« »Mein Gott«, entfuhr es Clarissa. »Da kriegt man ja 'ne Gänsehaut.« Wir stiegen in den Keller hinab. Hier fand ich Schaufel, Spitzhacke und Spaten. * Der Speisesaal des Grauen Klosters war umgeräumt worden. 73
Sämtliche Tische standen, übereinandergestapelt, in der hinteren linken Ecke. Sie waren mit Wolldecken, alten Bettlaken und Tüchern abgedeckt. Die Stühle hatte man wie im Kino nebeneinandergereiht. Heute abend fand eine Buchlesung statt. Die Heimbewohner freuten sich auf die willkommene Abwechslung. Obwohl die Veranstaltung erst in einer Stunde anfing, war die erste Stuhlreihe bereits zu drei Vierteln gefüllt. Ruth Schulze war die erste, die erschienen war. Sie trug eine gelbe Strickjacke über ihrem schwarzen Kleid. Neben ihr saß eine Neue, Johanna Weißgerber. Die Neue wußte noch nicht, daß die Schulzen im Heim von den anderen wegen ihrer Klatschsucht gemieden wurde. Sie war heilfroh, jemanden zu haben, mit dem sie plaudern konnte. »Ich bin schon richtig kribbelig«, sagte sie. »Es ist das erste Mal, daß ich eine waschechte Schriftstellerin sehe, persönlich meine ich. Und dabei bin ich schon zweiundsiebzig.« Die Schulzen griente. »Du wirst hier im Grauen Kloster noch ganz andere Sachen zu sehen bekommen.« »Was meinst du, Ruth?« »Naja«, die Schulzen tat geheimnisvoll. »In letzter Zeit gehen hier sehr wunderliche Dinge vor sich.« Johanna Weißgerber schluckte. Gern hätte sie ihre neugewonnene Freundin gefragt, was die meinte, aber sie befürchtete, allzu viel Neugierde würde die andere abstoßen. Schließlich kannten sie sich erst ein paar Stunden. Sie blickte zur provisorisch aufgebauten Bühne. Dort stand der Tisch, hinter dem die Autorin ihre Lesung vornehmen würde. Ein Packen Heftromane lag darauf. Daneben brannte eine Leselampe mit grünem Schirm. Nach der Buchlesung konnten Interessierte den Roman kaufen. Auch Johanna Weißgerber hatte vor, sich ein signiertes Exemplar zu besorgen. »Glaubst du an Gespenster?« fragte Ruth Schulze plötzlich. Johanna Weißgerber erschauderte. »Ich weiß nicht«, hauchte sie. »Manchmal ja, manchmal nein. Es ist unterschiedlich. Warum fragst du?« »Weil es im Grauen Kloster welche gibt.« »Bist du sicher?« Ruth Schulze beugte sich vor. »Und ob. Seit Jahrhunderten soll 74
es in unseren Gemäuern spuken. Aber diese Umtriebe werden verheimlicht und totgeschwiegen.« Bei dieser Bemerkung fiel Johanna Weißgerber ein, daß die Freundin des Heimleiters im Büro von einem Unbekannten angegriffen worden war. In den Zeitungen stand nichts Genaues, aber es wurde gemunkelt, daß die Überfallene einen Arm eingebüßt hatte. Der Täter war noch nicht ermittelt. Möglicherweise trieben im Altenheim tatsächlich übernatürliche Geschöpfe ihr Unwesen. Sie spürte, daß ihre Hände zu zittern anfingen. Rasch legte sie sie auf den Schoß. Für einen Moment fragte sie sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, ihren Lebensabend ausgerechnet im Grauen Kloster zu verbringen. Es gab sicher auch andere Heime, in denen es nicht spukte. »Hat du schon mal ein Gespenst gesehen, Ruth?« wisperte sie. Die Angesprochene nickte. »Na klar. Und das nicht nur einmal. In der Etage über mir, da wohnte Paul Brettnasch. Seit Jahren hat er keinen mehr hereingelassen. Dreimal darfst du raten, warum!« »Warum?« Johanna Weißgerber war ganz durcheinander. »Der Kerl hatte einen Untermieter.« »Sag bloß, einen Geist?« Ruth Schulze nickte bekräftigend. »Nachts, wenn es ganz still im Haus war, konnte man hören, wie er sich mit dem Geist unterhielt.« »Über was sprachen sie denn?« Die Schriftstellerin kam herein. Ihr Name war Uschi Brix. Hier und da erklang zögernder Applaus. Uschi Brix war eine füllige Frau um die Fünfzig, hatte ihr Haar tizianrot gefärbt und trug eine knallige Designerbrille. Schwerfällig stieg sie auf die Bühne und überprüfte die Standfestigkeit des Tisches. Offenbar zufrieden, zündete sie sich ein Zigarillo an und hielt nach einem Ascher Ausschau. »Brettnasch und der Geist sprachen über entsetzliche Dinge«, behauptete Ruth Schulze. »Es ging um Mord und Totschlag. Ich weiß nicht, ob du es nervlich aushältst, wenn ich weiter ins Detail gehe.« Johanna Weißgerber zitterte an Hand und Fuß. Seit geraumer Zeit litt sie an einem essentiellen Tremor. Immer, wenn sie sich allzu sehr aufregte, machten sich ihre Hände selbständig. Dann 75
verschüttete sie Kaffee, ließ Geschirr fallen und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der Arzt hatte ihr Primidon verschrieben, aber die Tabletten lagen oben im Zimmer. Sie traute sich nicht, jetzt allein hinaufzugehen. »Ich halte eigentlich 'ne ganze Menge aus«, flüsterte sie gepreßt. »Damals, im Krieg, habe ich die greulichsten Sachen gesehen. Ich bin in Ostpreußen aufgewachsen. Und als die Russen kamen…« Ihre Stimme versagte. »Sie haben eine Truhe gefunden, in Brettnaschs Zimmer«, Ruth Schulzes Stimme klang dumpf. »Bis oben voll mit Leichenteilen. Köpfe, Arme, all solches Zeug. Ein Festmahl für die Würmer. Weißt du, was ich denke?« Johanna Weißgerbers Gedanken überschlugen sich. Wo war sie nur hingeraten? Wie sollte man in Frieden leben können, wenn sich hinter der Tür des Nachbarn menschliche Überreste stapelten? »Du bist ganz käsig«, bemerkte die Schulzen zufrieden. »Dir wird doch nicht etwa übel?« »Ach wo. Es ist nichts. Wirklich.« Insgeheim hoffte Johanna Weißgerber, die Freundin würde endlich das Thema wechseln. Doch sie sollte sich gründlich getäuscht haben. Ruth Schulze hatte Blut geleckt. »Hat dir Kaiser gesagt, in welchem Zimmer dieser teuflische Brettnasch gewohnt hat?« fragte sie lauernd. »Nein.« »Das finde ich komisch.« »Ich denke, Brettnasch ist tot.« Ruth Schulze schien es Vergnügen zu bereiten, die Freundin in Angst und Schrecken zu versetzen. »Ja«, sagte sie. »Brettnasch hat sich in seinem Zimmer aufgehängt. Am Fensterkreuz, mit einer Wäscheleine.« Ihre Stimme bekam einen gehässigen Unterton. »Und du weißt wirklich nicht, welches sein Zimmer war?« »Die Lesung geht gleich los«, lenkte Johanna Weißgerber ab. »Sieh nur, Ruth, die Autorin hat sich schon hingesetzt.« »Papperlapapp! Ich finde, du hast ein Recht darauf, es zu wissen.« »Was soll ich wissen?« »Daß es Zimmer 38 ist, in dem die ganzen Ungeheuerlichkeiten passiert sind.« 76
Johanna Weißgerber schrie auf. »Aber das ist doch mein Zimmer!« keuchte sie fassungslos. »Ich wohne in der 38.« Ruth Schulze nickte kurz. Dann warf sie ihrer angstschlotternden Mitbewohnerin einen flüchtigen Blick zu. »Pst!« machte sie. »Es fängt an. Du darfst jetzt nicht stören.« Während Uschi Brix ihre Zuhörer in das Liebesleben der Romanheldin einführte, kauerte Johanna Weißgerber niedergeschmettert auf ihrem Stuhl. Vor ihrem inneren Auge erschienen die abscheulichsten Bilder. Und sie war so froh gewesen, als Kaiser ihr das Zimmer zugeteilt hatte. Aus dem Fenster sah man den Stadtwall und einen Schulhof, auf dem es in den Pausen munter herging. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Und jetzt? Schon der Gedanke daran, nach der Lesung das gräßliche Zimmer zu betreten, ließ Johanna Weißgerber frösteln. Sie beschloß, sofort mit dem Heimleiter zu sprechen. Kaiser mußte ihr ein anderes Zimmer geben. Sonst würde sie ausziehen. Sie sah sich um. Wo steckte Kaiser? Uschi Brix las gerade eine Passage vor, in der ihre Heldin bei Nacht und Nebel aus ihrem Elternhaus floh, um den Grafen von Ducherow um Asyl anzuflehen - da wurde plötzlich eine Tür aufgestoßen! Alfred Kaiser wankte herein. Von Kopf bis Fuß bedeckt mit schimmelfelligen Rattenwesen. Für den Bruchteil einer Sekunde saßen die Heimbewohner wie versteinert. Das Entsetzen hatte ihre Stimmbänder gelähmt. Geschockt sahen sie zu, wie Kompanien widerlicher Kreaturen in den Speisesaal strömten. Dann brach das Chaos aus. Doch die Schreckensschreie der Rentner wurden von einem anderen Geräusch übertönt - es war ein irrsinniges Fiepen… * »Halt!« sagte ich. Clarissa nickte. Sie brachte ihren Ford Fiesta zum Stehen. Als wir ausstiegen, verkrümelte sich der Mond gerade hinter den Wolken. Es wetterleuchtete, aber zum Glück blieb es trocken. Der dünne Lichtfaden meines Ringes zuckte über den Gehsteig. 77
Zwischen zwei unbeleuchteten Gebäuden hindurch wies er auf einen breiten Kiesweg, der in die Finsternis führte. »Wo geht's denn da hin?« fragte ich. »Es ist ein großer Platz«, erklärte Clarissa. »Zu DDR-Zeiten wurde er Pionierpark genannt. Es gab Wippen, Klettergerüste, Sandkästen und kleine Karussells. Auch Sportunterricht wurde hier durchgeführt. Seit Jahren läßt man den Platz verkommen. Wahrscheinlich ist noch nicht geklärt, wer ihn sich unter den Nagel reißen darf. - Sag bloß, hier liegt Hans Jank?« »Alles deutet darauf hin«, antwortete ich knapp. Aus dem Kofferraum holte ich meinen Einsatzkoffer, Schaufel, Spaten und Spitzhacke. Als ich die Klappe zudrückte, sah ich, daß Clarissa nervös auf ihrer Unterlippe herumhackte. Sie hatte Angst. Ich überlegte, womit ich sie beruhigen konnte. Die SIG Sauer fiel mir ein. Wenn ich ein Loch buddelte, würde ich die Pistole nicht brauchen. Ich gab sie Clarissa. »Kannst du damit umgehen?« fragte ich. Ihre Gesichtszüge strafften sich. »Ich denke schon.« Ich schulterte meine Totengräber-Ausrüstung, und Clarissa ließ die Pistole in ihre Manteltasche gleiten. Die Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos strahlten uns an. Clarissa war käseweiß, wirkte jedoch sehr tapfer und entschlossen. Sie nahm die Taschenlampe und leuchtete. Nach ein paar Schritten passierten wir ein Eisentor. Es war kurz und klein und hing schief in den Angeln. Der Weg, der sich danach anschloß, wurde von hohen Weiden gesäumt. Plötzlich bemerkte ich den rotflackernden Lichtschein. Ich blieb stehen. Aus dem hinteren Winkel des ehemaligen Parks ertönten Stimmen. Ich sah drei Gestalten um ein prasselndes Feuer hocken. Flaschen klirrten und Zigaretten glühten. Eine Mitternachtsparty im Freien! »Frohes Jugendleben.« Ich unterdrückte einen Fluch. »Sie könnten dir helfen«, warf Clarissa ein. Wir setzten unseren Weg fort. Eine der Gestalten sprang auf. »Eddi!« rief sie. »Du, ich glaub, da kommen welche.« Jemand hob eine Taschenlampe und leuchtete zu uns herüber. Beim Näherkommen sah ich, wer da um das Feuer hockte und uns ungläubig entgegenstarrte. Die drei Typen, die den Ausländer 78
aus dem Zugfenster hatten schmeißen wollen. Im letzten Augenblick hatte ich dieses sadistische Vorhaben durch schlagkräftige Argumente vereiteln können. »Ei, wen haben wir denn da?« empfing mich die Kickboxerin. »Man trifft sich doch immer zweimal im Leben.« Schon sprangen ihre Begleiter auf. Im Schein des Lagerfeuers sah ich ihre erhitzten Gesichter hinterhältig grinsen. »Diesmal lassen wir den Kerl nicht entwischen«, fauchte das Mädchen. »Er wird sein blaues Wunder erleben.« Der Strahl meines Ringes stoppte, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Die Stelle, an der Hans Jank verscharrt worden war. Mußten die Glatzköpfe gerade auf diesem Fleck ihren Bierdurst stillen? Egal. Eine innere Stimme verriet mir, daß ich mich sputen mußte. Irgendwas Abscheuliches war im Anmarsch. Ich durfte jetzt keinen Rückzieher machen. Wenn ich patzte, konnte es unschuldigen Menschen das Leben kosten. Und Zeit für lange Erklärungen hatte ich keine. »Clarissa«, ich drehte mich um. »Zeig sie ihnen.« Zwei Sekunden später glotzte das prügelsüchtige Trio in die Mündung der SIG Sauer. »Geht beiseite!« sagte ich scharf. »Ihr seht, wir haben hier zu tun!« Überrumpelt taumelten die drei ein Stück zurück. Einer von ihnen stolperte über eine Bierkiste und setzte sich auf den Hosenboden. Ich ließ meine Werkzeuge auf den Rasen fallen. Glücklicherweise hatte der Regen den Boden aufgeweicht. Ich brauchte also keine Spitzhacke. Das vereinfachte alles. Ohne zu zögern, packte ich den Spaten und begann, eine Grube auszustechen. »Eih«, sagte das kahlköpfige Mädchen. »Was soll 'n die Kacke? Spinnt ihr Fuzzis, oder wie? Wir hängen hier ganz locker rum, und ihr kreuzt mit 'ner Knarre auf buddelt Löcher? Habt ihr noch alle?« Ich verzichtete auf jeglichen Kommentar. Aber Clarissa sagte: »Bleibt, wo ihr seid. Es dauert nicht lange, dann sind wir wieder weg.« Ich grub und grub. Der Schweiß lief mir in Strömen übers Gesicht. Als ich knietief in der Grube stand, richtete ich mich auf. »Du da«, sagte ich zu einem der Jungen, »stell dich mal hierher 79
und leuchte. Aber mach keine Zicken, okay?« Der Angesprochene verzog das Gesicht. »Ich glaub, mich knutsch 'n Elch«, murmelte er, tat aber, was ich verlangt hatte. Im Schein der Taschenlampe buddelte ich weiter. Erst nachdem der Erdhaufen neben der Grube eine respektable Größe erreicht hatte, verpustete ich einen Augenblick. »Sieht aus wie 'n verdammtes Grab«, sagte das Mädchen. »Bingo«, schnaufte ich. »Das hier ist ein verdammtes Grab. Ich hoffe nur, es ist noch nicht zu spät.« »Zu spät?« »Bald werdet ihr wissen, was ich gemeint habe.« Obwohl ich bereits jeden einzelnen meiner Knochen spürte, grub ich verbissen weiter. Da hörte ich das Fiepen. »Mark!« schrie Clarissa auf. »Sie kommen!« Ich sprang aus dem Erdloch, trat auf das Tattoo-Mädchen zu und raunte: »Gleich ist hier die Hölle los. Die Rattenwesen sind unterwegs. Sie machen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt. Wir müssen kämpfen!« »Kämpfen?« Sie fauchte mich an. »Wieso sollen wir kämpfen, Alter? Wir machen 'ne Biege. Hol deine Kastanien allein aus dem Feuer. Wir sind doch nicht bescheuert.« Die beiden Jungen nickten zu ihren Worten. »Susi hat recht«, sagte der mit der Taschenlampe. »Wir hauen jetzt ab.« Ich sah, daß ihm die nackte Angst ins Gesicht geschrieben stand. Aber er bewegte sich keinen Schritt. Ihm schien bewußt zu werden, daß er von einer tödlichen Gefahr umgeben war, egal, wo er sich hinwandte. Es fiepte bereits ganz in der Nähe. »Schnappt euch jeder 'ne Schippe!« brüllte ich. »Macht schon!« Zögernd griffen die Streifenhörnchen zu. Ich nahm Clarissa die Lampe aus der Hand und hielt sie in die Richtung, aus der ich das Fiepen gehört hatte. Der Lichtkegel holte die kleinen Ungeheuer aus der Finsternis. Es waren ungefähr ein Dutzend. Zu einer Schützenkette formiert, pirschten sie sich durch das unkrautverwucherte Gras. Ihre schwarzen Punktaugen funkelten. Vom Lichtstrahl geblendet, quiekten sie wütend. »Was, zum Henker, ist das?« Das Mädchen wich zurück. Ein Schatten sauste durch die Luft. Die Kahlköpfige schrie 80
kreischend auf. Sie taumelte zur Seite, griff sich an den Rücken und hüpfte wild herum. Eine Killerbestie hatte sich unbemerkt von hinten angeschlichen. Jetzt zappelte sie an der Jacke ihres Opfers. Ich packte meinen Spaten und sprang über die Grube. Das schimmelfellige Miststück sah mich kommen. Es drehte seinen Kopf und fiepte mich an. Ich rammte ihm den Spaten in den Leib. Die kleine Bestie ließ von der Jacke ab und fiel zu Boden. Obwohl ihr Unterleib halb abgetrennt war, gab sie nicht auf. Halbtot kroch sie auf mich zu und schnappte nach meinen Füßen. Mit einem wuchtigen Spatenhieb machte ich dem Spuk ein Ende. Das kleine Mörderwesen war platt wie eine Flunder. Sollte es sich in den Höllenschlund scheren. Da gehörte es nämlich hin. Ein Schuß knallte. Ich fuhr herum. Clarissa hatte den Anführer der Killerbestien erledigt. Das Scheusal flog durch die Luft und fiel ein paar Meter weiter wie ein Stein zu Boden. Seine Kumpane quittierten sein Ende mit schrillem Gefiepe. Dann sprangen sie alle zugleich auf uns los. Ich spürte, wie sich drei, vier Wesen in meine Jeans verkrallten. In Windeseile versuchten sie, sich an mir emporzuhangeln. Ihre messerscharfen Klauen zerschnitten den Cottonstoff meiner waschechten Levis. Sie schienen nur ein Ziel vor Augen zu haben: mir den Hals umzudrehen. Nach allem, was ich mit diesen Kreaturen schon erlebt hatte, wußte ich, daß sie unerbittlich und mit tödlicher Präzision vorgingen. Der Flakon mit dem Weihwasser! Eigentlich wollte ich die kostbare Flüssigkeit dazu benützen, Hans Janks Gebeine zu erlösen. Doch erst einmal mußte ich mir diese Killerbestien vom Leib halten. Der Flakon steckte in der Innentasche meiner Jacke. Ich fetzte ihn heraus, riß den Stöpsel aus dem Hals und stutzte. Allein der Anblick des Flakons versetzte die Biester in Panik. Auf ein warnendes Fiepen hin lösten sie ihre Krallen aus meiner Hose. Wieselflink huschten sie durch das Gras. In sicherer Entfernung stellten sie sich auf die Hinterläufe und glotzten mich an. »Mark! Zu Hilfe!« Ich rannte zu Clarissa. Eines der Wesen baumelte bereits am 81
Kragen ihres Mantels. Ich spritzte ihm ein paar Tropfen Weihwasser auf den Pelz. Die Wirkung war phänomenal. Jeder einzelne Tropfen fraß sich in atemberaubendem Tempo in seinen Leib. Das Wesen schrie. Augenblicklich plumpste es zu Boden. Es wälzte sich auf den Rücken strampelte wie von Sinnen mit den Stummelbeinen, während die Flüssigkeit seinen Leib buchstäblich in seine Atome zerlegte. Ich beendete sein schäbiges Dasein mit einem kräftigen Spatenschlag. Der zertrümmerte Kadaver rutschte in die Grube, die ich ausgehoben hatte. Es zischte auf, und eine dünne Rauchsäule stieg empor. Gern hätte ich nachgeschaut, was da vor sich ging. Aber man brauchte meine Hilfe. Die Glatzköpfe führten einen grausigen Tanz auf. Am schlimmsten hatte es das Mädchen erwischt. Gleich drei Killerbestien krochen über ihre Brust. Sie wippten bereits, um Schwung für einen Sprung an ihre Gurgel zu holen. Für einen Moment mußte ich an den Mann denken, der im Cafe Lorke vor dem Küchenbüffet gelegen hatte. Eines der Wesen war in seinen Mund geschlüpft. Wenn ich nichts unternahm, würde das Mädchen dasselbe Schicksal erleiden. Zack! Einige Spritzer aus meinem Flakon, und die mordwütigen Rattenwesen kollerten wie Kastanien im Herbststurm auf den Boden. Das Mädchen atmete auf. »Das war knapp«, japste sie. Im Begriff, mich von ihr abzuwenden, um ihren Kumpels zur Hilfe zu eilen, bemerkte ich, daß ihr Blick plötzlich starr wurde. Ihre dunklen Augäpfel schienen ihre Höhlen verlassen zu wollen. Was war nun schon wieder los? Da sah ich, was das Mädchen in Angst und Schrecken versetzte. Aus der Grube erhob sich ein bleicher Knochenarm in die Luft. Die Hand daran öffnete sich langsam, spreizte die Finger und ballte sich anschließend zur Faust. Dann sackte der Arm in sein Grab zurück. »Mark, die Killerbestien!« rief Clarissa. »Sie zerfallen!« Aber ich hatte nur Blicke für den skelettierten Arm. Vom Rand der Grube aus betrachtete ich ihn fasziniert. Es gab keinen 82
Zweifel. Der Arm, der sich aus dem Erdreich gebohrt hatte, gehörte Hans Jank, dem gehenkten Scharfrichter. Spritzer aus meinem Weihwasser-Flakon mußten die sterblichen Überreste des Unseligen getroffen haben. Und prompt hatten sie reagiert. Das glatzköpfige Mädchen riß mich aus meinen Grübeleien. »Wenn mir nicht gleich jemand sagt, was hier angesagt ist, wird' ich verrückt!« Sie stampfte mit dem Fuß auf, und ich machte kehrt, um ihr und ihren Kumpanen ein paar Takte zu erzählen. Je länger ich sprach, desto tiefer rutschten ihre Kinnläden. * Keuchend kletterte Johanna Weißgerber auf die Bühne. Sie rutschte zum Tisch, von dem der Stapel Romane geflattert war, und zog sich an einer Kante hoch. Uschi Brix, die Autorin, hatte den Tisch bereits erklommen. Einen Absatzschuh in der Hand, trommelte sie schreiend auf die Rattenwesen ein, die sich über den Rand auf die Platte schwingen wollten. Widerlicher Schleim aus den getroffenen Leibern spritzte durch die Gegend. Johanna Weißgerber glitt aus und fiel lang auf das Holzpodium. So schnell sie konnte, rappelte sie sich wieder auf. Zum Glück hatte sie keinen Schaden erlitten. Die Hände an die Ohren gepreßt, starrte sie in den Saal. Ein Tornado aus schimmelfelligen Rattenwesen fegte über die versammelten Bücherfreunde hinweg. Aus jeder Ecke erschollen verängstigte Schreie. Doch eine Rettung war nicht in Sicht. Das jüngste Gericht! dachte Johanna Weißgerber. Jetzt müssen wir für unsere Sünden büßen. Sie hielt nach dem Heimleiter Ausschau. Obwohl die Kreaturen an ihm hingen wie Kugeln an einem Christbaum, versuchte Alfred Kaiser, die Tür zum Treppenhaus ins Schloß zu drücken. Aber er lag am Boden und schien bereits zu sehr geschwächt, um den Bestien Paroli bieten zu können. Immer wieder strömten neue Heerscharen der kleinen Teufel in den Saal. Johanna Weißgerber kletterte auf den Tisch. Da spürte sie einen gräßlichen Schmerz in ihrer Wade. 83
Dann einen Schmerz in ihrer Kniekehle. Sie verlor das Gleichgewicht, taumelte und wäre um Haaresbreite erneut auf die Bühne gestürzt. In letzter Sekunde bekam sie den Tisch zu fassen. Doch sie hatte keinen Grund, erleichtert zu sein. Die Biester, die an ihr hochkrochen, erreichten gerade ihren Bauch. Die alte Frau schloß die Augen. Inbrünstig betete sie. Kaum hatte sie die ersten Worte gemurmelt, verstummte das irrsinnige Gefiepe um sie herum. Mit einem Schlag. Nur noch vereinzelte Schmerzenslaute erklangen. Als Johanna Weißgerber die Augen aufriß, war ein Wunder geschehen. Die Höllenwesen waren wie vom Erdboden verschluckt. Statt dessen lagen überall kuhfladenartige Gebilde herum. Sogar an ihrem Kleid klebten welche. Schnell schüttelte sie die ekligen Klumpen ab. Fassungslose Stille setzte ein. Dann hörte sie die Stimme des Heimleiters: »Bei Gott! Ich glaube, wir haben es geschafft, Leute!« Das freudige Gebrüll, das jetzt erklang, ließ die Fensterscheiben erzittern. Es übertönte sogar die Sirene der heranbrausenden Feuerwehr. * Der kühle Wind auf dem Bahnsteig zerzauste Clarissas Blondhaar. Ich hatte das Abteilfenster runtergekurbelt, drückte ihr die Hand und sagte: »Du siehst müde aus, Kleines. Versprichst du mir, gleich in die Falle zu hüpfen, wenn ich abgedampft bin?« Sie lächelte schmerzlich berührt. »Klaro. Ich werde zwölf Stunden am Stück schlafen, und davon elf von dir träumen.« Der ältere Mann, der gerade vorbeiging, starrte sie sprachlos an. Es war mir fast peinlich, daß solch ein Superweib wie Clarissa in aller Öffentlichkeit ihre Karten auf den Tisch legte. Prompt grinste ich geschmeichelt. »Du hast dir viel vorgenommen.« »Und du?« Sie sah mir in die Augen. »Was hast du dir 84
vorgenommen, Mark?« In Clarissas Stimme schwang ein lauernder Unterton mit. Ich ahnte, worauf sie hinauswollte. Sobald ich in Weimar eintrudelte, befand ich mich wieder unter Tessa Haydens Fuchtel. Offenbar befürchtete Clarissa, ich würde sie im Handumdrehen aus meinem Gedächtnis radieren. Immerhin waren zwischen unserer ersten und der zweiten Begegnung ein paar Monate vergangen. Ich drückte ihre Hand. »Vielleicht schickt deine Schwester mir wieder mal ein Rundschreiben. Apropos Ellen, wir haben sie nicht ein einziges Mal besucht. Sie wird ganz schön sauer sein, wie?« »Ich glaube nicht.« In Clarissas Augen funkelte es auf. Schnell wandte sie sich ab, aber ich hatte die Gefühlsregung bemerkt. »Was macht dich so sicher?« fragte ich neugierig. Auf dem Bahnsteig ertönte ein Pfiff. Ich sah, daß der Zugführer seine Kelle hob. Aus unsichtbaren Lautsprechern hallte die Warnung, bei Ausfahrt des Zuges von der Bahnsteigkante zurückzuweichen. Der Zug ruckte an. Clarissa ging noch einige Schritte nebenher. Hinter ihr erschien die blaue Bank, auf der ich bei meiner Ankunft den ersten Toten entdeckt hatte. Der Zug fuhr schneller. Clarissa konnte nicht mehr Schritt halten. Sie ließ meine Hand los und winkte. »Mach's gut, Clarissa! Und ruf mich an, wenn du einen neuen Tisch einweihen möchtest.« Mit einem Ruck blieb Clarissa stehen. Es sah aus, als würde sie innerlich einen Kampf mit sich selbst ausfechten. Dann formte sie beide Hände trichterförmig vor ihren Mund und brüllte, so laut sie es vermochte: »Ich bin nicht Clarissa, Mark. - Ich bin Ellen!« Mir schlief fast das Gesicht ein. Die einsame Gestalt auf dem Bahnsteig wurde immer kleiner, bis sie nur noch ein winziges Pünktchen war. Verdattert zog ich den Kopf ein, schloß das Fenster und plumpste auf die Sitzbank. Eine Zeitlang saß ich wie betäubt, dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Potz Blitz!« dachte ich laut. »Ist denn niemand da, der mir eine runterhaut? Ich hab die ganze Zeit nicht gemerkt, daß ich mit der verkehrten Frau zusammen war.« Eine Zeitung raschelte, und der Mann, der mir gegenübersaß, 85
steckte seinen Kopf hervor. Er hatte einen Igelschnitt und ein großes, rotwangiges Gesicht, aus dem fröhliche Augen blitzten. »Lassen Sie den Kopf nicht hängen, junger Mann«, sagte er. »Ich habe gerade gelesen, daß es wesentlich schlimmere Dinge geben kann. Ich…« Plötzlich verhaspelte er sich. Er neigte lauschend seinen Kopf. Aus geweiteten Pupillen starrte er auf meine Reisetasche. Stirnrunzelnd folgte ich seinem Blick. »Was haben Sie?« »Wahrscheinlich nur Einbildung«, meinte er. »Aber für eine Sekunde dachte ich ernsthaft, aus Ihrer Tasche würde so ein ulkiges Fiepen kommen…«
ENDE Der Verkäufer in dem Koblenzer Musikladen war außer sich vor Zorn. Starrte auf seine verstümmelte, blutende Hand und dann auf das Mädchen, das ihn gebissen hatte. Er drohte dem Mädchen, wollte es schnappen, zur Polizei schaffen und seine Eltern verklagen. Aber gegen diesen Teufelsbraten kam er nicht an.
Horror-Kid Sarah stand mit dem Teufel im Bunde! Das ahnte der Verkäufer spätestens dann, als er den penetranten Gestank wahrnahm, der das Mädchen wie eine unsichtbare Hülle umgab… Was Sarah sonst noch so anstellt, erfahren alle Hellmann-Leser in einer Woche in dem Band 42.
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