Killer-Camping
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 102 von Jason Dark, erschienen am 12.09.1989, Titelbild: Vicente Bal...
18 downloads
702 Views
367KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Killer-Camping
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 102 von Jason Dark, erschienen am 12.09.1989, Titelbild: Vicente Ballestar
Urlaub - die schönsten Wochen des Jahres. Für zahlreiche Menschen wurden sie zu den schrecklichsten. Der Camping-Platz am Meer verwandelte sich in eine Hölle. Niemand war mehr sicher, und niemand konnte fliehen. Sobald die Sonne sank, begann der Schrecken. Jeder konnte als nächster auf der Liste des Mörders stehen, auch ich ...
Der Druide mußte sterben! Ihn am Leben zu lassen, hätte für die anderen Menschen Grauen und Unglück bedeutet. Der Druide hatte die Gottheiten verraten und sich mit den Mächten der Finsternis verbündet. So etwas durfte nicht ungesühnt bleiben. Da gab es nur den Tod. Es war Nacht. Tiefschwarze Dunkelheit deckte die zahlreichen Wälder auf den sanftrunden Hügelkuppen mit dem Schleier des Vergessens zu. Aber dort, wo der Druide sein Leben aushauchen sollte, flackerte das Feuer. Aus der Ferne sah es so aus wie ein unruhiges Auge, das geheimnisvoll rot in der Schwärze leuchtete, um den Menschen den Weg zum Platz des Todes zu weisen. Sie waren gekommen, aber sie hielten sich zurück. Nur die Weisen, die den Tod des Druiden beschlossen hatten und ihn als Verräter aus ihren eigenen Reihen stoßen wollten, umsaßen das Feuer wie gespenstische Statuen, denn sie rührten sich nicht. Tief versunken in ihrer Meditation beschäftigten sie sich mit den Gedanken des Todes, in den sie einen der ihren hineinschicken wollten. Nicht weit entfernt und soeben noch vom Widerschein der Flammen angeleuchtet, befand sich die Grube. Sie hatten sie am vergangenen Tage ausgehoben und mit einer bestimmten Masse gefüllt, die dunkel aussah und auf der Oberfläche einen glänzenden Schimmer besaß. Hin und wieder stiegen aus der zähen Masse Blasen auf. Sie beulten die Oberfläche aus, bevor sie zerplatzten und Gase entließen, die sich auf dem Viereck verteilten, Einer stand plötzlich auf. Ein alter, gebeugt gehender Mann. Er trug einen dunklen Umhang, der auch Taschen besaß. Dicht neben dem Feuer blieb er stehen, griff in eine der beiden Taschen und schaufelte ein bestimmtes Mehl heraus, das er ins Feuer streute und dabei leise Worte murmelte. Das Rot der Flammen verschwand und schuf einem giftigen Grün Platz. Auf einmal nahm das Licht einen gespenstisch-fahlen Glanz an, der sich ebenfalls verteilte und sogar hinauf bis zu den Baumwipfeln reichte, wo sich ein länglicher, kompakter Schatten abhob, der menschliche Umrisse besaß. Dort hing der Verräter! Gefesselt, zur Bewegungslosigkeit verdammt und mit dem schweren Trank des Schlafes versehen, der später übergehen sollte in den endlosen Tod. Als der Weise wieder in den Kreis zurückgekehrt war und dort seinen Platz eingenommen hatte, erhob sich ein anderer, der einen länglichen Gegenstand in der Hand hielt, den er nun in Richtung Mund führte. Es war eine Holzflöte. Der jüngere Mann hatte sie selbst geschnitzt. Unter den Druiden galt er als Künstler, er war sehr geschickt und spielte auf seinem Instrument des öfteren zum Tanz auf.
Nicht in dieser Nacht. Da würde er seiner Flöte eine andere Melodie entlocken. Das Totenlied . .. Die letzte schwermütige Melodie für einen aus ihren Reihen. Es waren die Töne, die den Druiden vom Leben in den Tod begleiten sollten. Er berührte sie nur mit den Lippen — ein kurzes Antippen, mehr nicht. Dann holte er tief Luft. Wenig später durchbrach das Totenlied die Stille. Klagende Töne schwangen, wie auf Wellen getragen, durch die Finsternis. Schwermütig berichteten sie von einer großen Trauer und Angst, aber auch von Vergeltung und Rache. Der Künstler spielte und weinte selbst dabei. Über sein hageres Gesicht rannen die Tränen in schmalen Bächen. Er hatte Mühe, den Ton zu halten. Immer wieder wollte ihn das Schluchzen unterbrechen, doch er schaffte es, das Lied zu beenden. Die anderen hörten ihm zu. In ihren Gesichtern regte sich nichts. Sie blieben starr wie Stein, bis die Melodie des Totenliedes mit einem schrillen und gleichzeitig harten Ton verklang. Er sollte das gesprochene Urteil musikalisch darstellen. Der Mann senkte seine Arme. Erließ die Flöte wieder verschwinden, nahm Platz und wartete darauf, daß ein weiterer aus dem Kreis der Druiden seine neue Aufgabe anging. Als Vollstrecker war er von allen anderen ausgesucht worden. Auch er erhob sich mit langsamen Bewegungen, das Gesicht unbewegt. Unter dem gelbblonden Haar sah es grau wie Stein aus. Man brauchte ihm nicht zu sagen, was er zu tun hatte. Er kannte die alten Regeln genau. Einmal schritt er um die Grube herum, trat nicht mehr zurück in den Kreis, sondern blieb unter dem Baum stehen, wo der Verräter seinen Platz im Geäst gefunden hatte und auf seine endgültige Bestrafung wartete. Der gelbhaarige Mann streckte seinen Arm aus und bewegte dabei die Finger. Er tastete nach ei nein bestimmten Gegenstand, der wie in lianenartiges Gewächs aus der Baumkrone herab nach unten hing und nichts anderes war als eine geflochten«• Schmu Sic war am Baumstamm befestigt und hielt den Verräter im Geäst. Der Mann kappte die Schnur, packte sofort nach und stemmte sich gegen das nach unten drückende Gewicht des Körpers. Der geriet in leichte Schwingungen und rutschte nach unten. Da glitt der Körper aus dem Geäst weg und sank langsam in die Tiefe. Zuerst auf einem ziemlich geraden Weg, kurze Zeit später geriet er in Schwingungen, als wollte er sich von seinem Flechtseil lösen. Auch die anderen Druiden erhoben sich. Der Musiker griff wieder zur Flöte und intonierte eine neue Melodie. Sehr leise diesmal, dem Tod
entsprechend. Sie begleitete den Verräter auf seinen Weg nach unten, der ihn direkt in die Grube führen würde, über der weiterhin Dämpfe schwangen. Starre Gesichter verfolgten den Weg des Schlafenden. Niemand sprach ein Wort. Lippen waren so fest zusammengedrückt, daß sie Striche bildeten. Nur die Augen leuchteten, und in den Pupillen schimmerte das Licht des grünlichen Feuers, wo Reflexe tanzten wie Irrlichter. Der schwere Körper geriet stärker ins Pendeln. Es sah für einen Moment so aus, als wollte er sein Ziel verfehlen, aber die Grube war groß genug, um ihn aufnehmen zu können. Dann verstummte die Melodie. In der Stille war nur das Schleifen des Seils über den starken Ast zu hören. Der Erdboden und damit das ungewöhnliche Grab rückten immer näher. Er würde genau in der Mitte eintauchen, und zwar mit dem Kopf zuerst. Mittlerweile geriet das Gesicht in den Schein des Feuers. Die Züge zeigten eine ungewöhnliche Starre, so als wäre die Person nicht mehr am Leben. Ein Irrtum, wie sich sehr bald zeigte. Als hätte er einen Befehl bekommen, so öffnete der Regungslose plötzlich die Augen. Über die schmalen Lippen drang ein zischendes Geräusch. Jeder hörte es, auch der Druide, der ihn in die Masse hinablassen wollte. Er stockte und schaute hinüber zu den anderen Männern, die regungslos auf der Stelle standen. Dann redete der Druide. Die krächzend gesprochenen Worte schienen in den dünnen Rauch hineinzufließen, der über dem ungewöhnlichen Grab waberte. Es waren schlimme Sätze. Die Worte vereinigten sich zu einem Fluch, der alle Männer treffen sollte. Die Weisen schraken zusammen. Der Älteste unter ihnen streckte seinen Arm vor. »Nein!« rief er laut. »Nein, du wirst keinen Schaden mehr anrichten können, auch wenn du versuchst, uns zu verfluchen. Wir sind stärker als du. Wir werden von der Strafe keinen Abstand nehmen. Du sollst verderben, sterben ...« Der Verräter lachte. Es war ein schlimmes Lachen und schien von einem Monstrum zu stammen. Es hatte kaum etwas Menschliches mehr an sich. Der älteste Druide senkte seinen noch immer ausgestreckten Arm. Das Zeichen für den Vollstrecker. Blitzschnell ließ dieser das Seil los. Mit dem Kopf zuerst tauchte der Verurteilte in den wabrigen Schlamm. Ein klatschendes Geräusch erklang, das in einem widerlich anzuhörenden Schmal zen endete.
Dann faßte der Schlamm zu. Er verschlang den kor per des Verräters wie ein gefräßiger Sumpf. Die enl standenen Wellen verliefen sich, schwappten gegen den Rand, ohne jedoch darüber hinwegzulaulen. »Nie!« rief der Älteste aus dem Kreis. »Nie mehr soll er dem Bösen dienen. Nie mehr soll er zurückkehren, nie. Schließt die Grube, laßt ihn verderben und vn modern, auf daß sein Körper eins wird mit der Natur.« Viele Jahre vergingen, und die Welt begann sich zu verändern. Das Reich der Kelten blieb Erinnerung, die allerdings auch böse Überraschungen produzieren konnte... *** Der junge Mann atmete so heftig, daß ich um seine Gesundheit fürchtete. Dabei streiften die Handflächen über die Wangen, als er sich den Schweiß abwischte. »Was haben Sie?« fragte ich ihn. »Ist Ihnen nicht gut? Wollen Sie wieder fahren?« Er starrte mich an und lachte. Es hörte sich krächzend an. »Mann, Sie haben Nerven. Spüren Sie denn nichts?« Ich hob die Augenbrauen. »Was, bitte schön, sollte ich denn spüren?« »Die Atmosphäre, Sinclair. Das Unheimliche. Ich sage Ihnen, hier lauert etwas.« »Möglich.« Er umfaßte mit hartem Griff meinen Arm in Ellbogenhöhe. »Nicht nur möglich, Sinclair, da ist was. Ich bin sensibel, verstehen Sie. Ich habe einen Freund verloren. Er ist getötet worden. Bäume haben ihn umgebracht, Bäume und Büsche und die Erde hier. Alles ist verflucht, alles.« Er bewegte sich im Kreis und ruderte mit den Armen, als wollte er die gesamte Umgebung erfassen. Ich runzelte die Stirn. Was mir Ed Williams gesagt hatte, konnte ich nicht unterstreichen. Okay, wir befanden uns hier in einer ziemlich einsamen Gegend, mit viel Wald, Hügeln, Wiesenflächen und der Küste in der Nähe, aber das Flair des Unheimlichen merkte ich leider nicht. In einem jedoch hatte er recht. Sein Freund war tatsächlich unter ungewöhnlichen Umständen ums Leben gekommen. Etwas hatte ihn ermordet! Ich sage bewußt etwas, weil niemand wußte, wer oder was dieses Etwas war. Möglicherweise ein Monster, vielleicht ein Mensch, oder eben die Umgebung. Man hatte den Toten unter einem Baumstamm gefunden. In gewisser Hinsicht völlig natürlich, nur war der Baum bei Windstille umgefallen. Er hatte den Körper nicht nur zerquetscht, seinen Zweigen war es zusätzlich gelungen, sich um den Hals des Toten zu drehen. Der junge Mann war also auch erwürgt worden.
Die Polizei hatte vor einem Rätsel gestanden. Der Vater des Toten gehörte zu den führenden Mitgliedern der Londoner Metropolitan Police und hatte seine Beziehungen spielen lassen und mit meinem Chef, Sir James Powell, gesprochen. Sir James und ich waren beide skeptisch gewesen. Er hatte mich dann dazu überredet, einmal an die Südostküste zu fahren, um mich dort umzusehen. Ed Williams begleitete mich. Er war der beste Freund des Toten Jack Sheen gewesen und hatte mir auf der Fahrt von vielen unheimlichen Dingen berichtet. Im Mittelpunkt stand immer der Campingplatz. Auf ihn und auf die unmittelbare Umgebung sollte sich das Grauen konzentrieren. Da schlich es wie Gift umher und war dabei, die Menschen zu verändern. Gleichzeitig überkam die Camper das Gefühl der Angst. Es schien aus dem Boden zu steigen, als wäre dort etwas Schlimmes vorhanden. Mich berührte es schon, daß ich davon nichts spürte, denn das Kreuz erwärmte sich nicht. So blieb ich ziemlich gelassen und schaute mir, während sich Ed Williams drehte, die Umgebung an, soweit es in der Dunkelheit möglich war. Der Mond mußte noch zunehmen, er brauchte kaum Licht. Sterne schimmerten irgendwo in der Unendlichkeit des Himmels. Ein schwacher Wind wehte über das Land und ließ das Blattwerk der Bäume zittern. »Merken Sie denn nichts?« fragte Ed Williams verzweifelt. »Ich habe mir sagen lassen, daß Sie auf dem Gebiet ein Spezialist sind, was das Unheimliche und Ungewöhnliche angeht.« »Wunder können Sie nicht erwarten. Ich bin ein Mensch wie jeder andere!« Ich deutete auf den Waldrand, der fast in Reichweite lag. Dort war Jack Sheen ums Leben gekommen. Der Campingplatz lag vor uns, in einer weiten Mulde, die zum Strand hin auslief. Es war ein gepflegtes Areal mit guten, sauberen Toilettenanlagen, zwei Restaurants, wobei dem einen noch ein Lebensmittelladen angegliedert war. Dort konnten die Camper sich selbst versorgen. Alles normal, wenn nicht dieser Mord passiert wäre, für den es kein Motiv gab. »Sie stehen hier und schauen ins Leere, Sinclair!« blaffte mich Williams an. »Moment mal.« Allmählich wurde ich sauer. »Erstens heißt es Mr. Sinclair, soviel Zeit muß sein, und zweitens starre ich nicht ins Leere, ich denke nach.« »Ach ja?« Allmählich ging mir dieses blasierte und arrogante Getue auf den Wecker. Ich wollte den Streit nicht forcieren und winkte ab.
»Lassen wir es dabei, Ed. Sie haben mich hergeführt, ich sah es mir an, aber Sie können nicht von mir verlangen, daß ich Ihnen den oder die Mörder präsentiere.« Er fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen. »Dazu müßten Sie auch in den Wald gehen. Sie stehen nur hier herum und tun nichts. Gehen Sie zwischen die Bäume, wo die Dunkelheit lauert und Kräfte aus einer anderen Welt ein Versteck finden.« »Das werde ich auch«, erwiderte ich lächelnd. »Wie ist es denn mit Ihnen? Wollen Sie mich begleiten?« »Ich?« »Wer sonst?« »Und wenn mir das gleiche passiert wie Jack? Wenn plötzlich die Bäume leben, einfach umkippen und das Geäst anfängt, mich zu erwürgen? Was ist dann?« »Glauben Sie das so?« »Ich rechne damit.« »Aber diesmal bin ich bei Ihnen.« Seine Lippen bewegten sich, wobei ich nicht wußte, ob er lächelte oder nicht. »Entschuldigen Sie, Mr. Sinclair, aber bisher haben Sie nicht viel gebracht. Ich fühle mich in Ihrer Gegenwart weder sicher noch beschützt. Sorry, daß ich dies so deutlich sagen muß.« »Wenn es Ihre Ansicht ist, bitte.« »Ich werde trotzdem mit Ihnen gehen, damit Sie meinen guten Willen sehen.« »Ich weiß es zu schätzen.« Williams hörte den Spott aus meiner Stimme, enthielt sich jedoch eines Kommentars. Den Rover hatte ich auf einem schmalen Feldweg geparkt, der das Waldstück im Osten hin abgrenzte. Wir waren den Rest zu Fuß gegangen und erlebten eine ungemein warme Mainacht. So sollte es auch die n.u h sten Nächte sein. Ed Williams atmete noch immer schwer, als er neben mir herging. Körperliche Überanstrengung konnte es nicht sein, er mußte einfach Angst haben. Als ich den Wald erreichte, war Ed zurückgefallen. Ich drehte mich um und sah ihn auf dem Rasen stehen. »Was ist? Wollen Sie nicht mit?« »Doch — schon.« Seine Stimme klang leicht weinerlich. »Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich Angst, den Ort zu besuchen, wo es Jack erwischt hat. Dieser Wald ist ebenso furchtbar wie das andere Gelände hier. Hören Sie das Rauschen der Blätter?« »Nicht bei Windstille.« Er hob einen Zeigefinger. »Spotten Sie nicht, Mr. Sinclair, das ist der Atem des Bösen.«
Als ich meine Lampe hervorholte, erschrak er. »Um Himmels willen, kein Licht, bitte!« »Weshalb nicht?« »Das kann das Böse nicht vertragen. Es wird sich schlimm an uns rächen.« Ich winkte ab. »Ach, kommen Sie, Ed. Ich bin bei Ihnen und kann mich dagegen wehren.« Er war nicht einsichtig. »Als normaler Mensch nicht, aber ich will Ihnen den Gefallen tun und komme mit.« »Meinetwegen können Sie auch warten.« »Dann wäre ich allein.« »Stimmt auch.« Er näherte sich mit zögernden Schritten, seine Schuhe schleiften dabei durch das Gras. Im Dunkeln sah ich seine Augen leuchten und wußte nicht, ob es die Furcht war, die ihm diesen Blick verliehen hatte, oder Tränen wasser. Ed Williams verspürte eine Angst, als würde er permanent körperlich bedroht. Hohes Farnkraut trat ich aus dem Weg. Man hatte den Baum noch nicht entfernt. Wie ein gewaltiges Streichholz lag er quer in der Gegend. Beim Umkippen hatte er auch andere Bäume beschädigt und sie teilweise von ihren Ästen und Zweige befreit. Der mächtige Stamm hatte eine regelrechte Bresche geschlagen. Ich blieb dort stehen, wo uns die Krone nicht behindern konnte. Sie lag dort wie ein hoher, halbrunder Treppich. »Hier ist es nicht gewesen«, sagte Ed. Er strich sein langes, blondes Haar zurück, in dem Schweiß klebte. Ed machte einen etwas weibischen Eindruck mit seinem zu weichen Gesicht, konnte allerdings auch sehr arrogant wirken, wie das verzogene Söhnchen der Eltern, die viel Geld hatten und bei denen andere nichts galten. Er wollte zwar nicht, daß ich die Baumkrone anleuchtete, ich kümmerte mich nicht darum. Zu sehen war nichts. Die Zweige hatten zwar um den Hals des Toten gelegen, aber sie bewegten sich nicht. Nur die Blätter zitterten leicht im Wind. »Das Unheil«, flüsterte mein Begleiter. »Sie können sagen, was Sie wollen, es ist noch immer nicht fort. Ich spüre es genau, wirklich, ich merkte, daß es hier lauert.« »Unter dem Baum?« »Nein, überall! Es hat diese Gegend unter Kontrolle und zieht sich hin bis zum Strand. Alle Camper befinden sich in großer Gefahr. Ich habe sie gewarnt, sie wollten mir nicht glauben. Ich sage Ihnen, Mr. Sinclair, es wird in der nahen Zukunft noch mehr Tote geben. Das spüre ich
genau.« Er trat näher an mich heran »Und wissen Sie, was ich auch noch höre?« »Nein.« Ed schob sein Kinn vor. »Stimmen«, sagte ei leise. »Ich höre Stimmen. Hier.« Er deutete auf seinen Kopf, »Da sind sie. Es ist einfach nicht zu fassen, ich kann sie genau verstehen.« »Wer spricht denn?« »Die Geister«, hauchte er. »Die Geister, die diesen Wald unter Kontrolle halten. Sie sind es, die mit mir reden, die über meinen Geist Kontakt aufnehmen und mir erklären, daß alles erst ein Anfang gewesen ist. Das große Morden fängt noch an. Dann wird das Grauen zuschlagen und sich seine Opfer holen.« Ich schwieg, denn ich wußte nicht, wie ich den jungen Mann einschätzen sollte. War er ein Spinner, oder steckte tatsächlich mehr hinter seinen Worten? Ich hatte selbst oft genug auf telepathischem Weg Kontakt mit Geistwesen aufgenommen. So unwahrscheinlich, daß nur er die Botschaft hörte, war es nicht. »Da schauen Sie, wie?« »Sicher.« »Ich würde vorschlagen, daß wir von hier verschwinden. Sehen Sie sich den Baum an. Er liegt dort so harmlos, als könnte er keinem Menschen etwas zuleide tun. Ich aber weiß, daß er lebt, von einem unseligen Geist beeinflußt ist.« »Hat der Geist einen Namen?« Ed begriff nicht. »Wieso sollte er einen Namen haben?« »Vielleicht Mandragora?« »Den kenne ich nicht. Gibt es den denn? Was ist er?« »Vergessen Sie es.« Williams nickte, wollte sich umdrehen, als er mitten in der Bewegung stockte. Plötzlich stand er stocksteif. Über sein Gesicht rieselte eine Gänsehaut. Der junge Mann atmete mit offenem Mund, die Augen waren groß geworden. »Ich glaube, es ist da. Hören Sie . . .?« »Was denn?« Ed drehte sich weiter, wobei er sich duckte und erst stehenblieb, als er auf die Krone des gestürzten Baumes schauen konnte. »Es ... es kommt von dort«, wisperte er. »Das Böse ist dabei, uns einzukesseln. Ich habe es genau gemerkt.. .« Wieder leuchtete ich in die Krone. Ich bewegte mich ebenfalls nicht und mußte Ed recht geben. Da raschelte tatsächlich etwas . . . Dann lachte ich, was ihn verwunderte. »Wieso können Sie darüber lachen, Mr. Sinclair?«
»Keine Sorge, das wird ein Tier gewesen sein, das Sie da gehört haben.« »Nie!« rief er. Da spürte ich es. Auf einmal breitete sich auf der Brust, wo das Kreuz seinen Platz gefunden hatte, ein warmer Schimmer aus. Wie ein Hauch wehte er darüber hinweg. Eine Warnung! Ed hatte an meinem Gesicht bemerkt, daß etwas nicht stimmte. »Na?« fragte er. »Merken Sie es auch?« »Ja, ich glaube.« »Ha!« keuchte er und sprang zurück. »Glauben, Sie glauben nur immer etwas!« »Seien Sie ruhig!« Er verstummte. Ich hörte das leise Geräusch, dann ein Stöhnlaut, drehte die Lampe und strahlte Ed Williams an. Sein Gesicht hatte sich verzerrt. Kalkweiß war es geworden, der Mund stand offen. Ein dünnes Rinnsal Blut sickerte daraus hervor, ebenso wie aus seinem Hals. Als ich auf ihn zusprang, kippte er und fiel rücklings über den Baumstamm. Reden konnte er nichl mehr, sein Blick war bereits gebrochen. Ed Williams war tot. Getötet mit einer Fahrradspeiche, die noch in seinem Hals steckte .. . Da hörte ich es wieder — und tauchte weg. Mit einem Hechtsprung warf ich mich über den Baumstamm, landete auf Zweigen und Humus und spürte, wie etwas über meinen Kopf hinwegstrich, fast durch mein Haar. Gedankenschnell rollte ich mich herum und blieb hinter dem Baumstamm liegen, darauf hoffend, eine Deckung zu haben. Sekunden verstrichen. Ich wartete lauernd, aber es tat sich nichts. Eine dritte Waffe wurde nicht eingesetzt. Die Beretta hielt ich in der Hand. Wer immer dieses ver-dammte und heimtückische Mordinstrument auch geschleudert haben mochte, er mußte sich in einem guten Versteck befinden und auch nicht allzuweit entfernt sein. Es wurde so still, daß ich nur das Klopfen meines eigenen Herzen vernahm. Auch der Wald war erstarrt. Nach dem Grauen hielt er den Atem an, noch immer sein fürchterliches Geheimnis verbergend. Es tat sich nichts. Wenn der Killer in der Nähe lauerte, besaß er ebenso gute Nerven wie ich und hielt sich zunächst zurück. Allmählich nur gewöhnte ich mich wieder an die normalen, üblichen Geräusche, die einfach dazugehörten. An das Rascheln der Nachttiere, das leise Huschen, das Schaben der Blätter, normale Laute die mich wahrhaftig nicht in Lebensgefahr brachten. Und doch war da etwas anderes vorhanden. Ich spürte es anhand meines Kreuzes, das sich erwärmt hatte. Diese Wärme wollte einfach nicht weichen, sie blieb vorhanden, und es kam mir vor, als sei der gesamte Wald von einem bösen Fluch infiziert.
Von einem Fluch? Meine Gedanken hakten. Hatte Ed Williams nicht davon erzählt, daß ein Fluch vorhanden war? Daß Böses in diesem Gebiet lauerte und alles umfangen hatte? Jetzt glaubte ich es. Leider hatte es erst einen Toten geben müssen. Natürlich machte ich mir Vorwürfe, ich hätte dem jungen Mann glauben sollen. Eine unbändige Wut auf den heimtückischen Killer stieg in mir hoch, ließ mich aber nicht unvorsichtig werden. In der rechten Hand hielt ich die Beretta fest. Ich drückte mich etwas ab, damit ich über den Baumstamm hinwegschauen konnte. Mein Blick konzentrierte sich auf die Krone, weil ich damit rechnete, daß die heimtückische Waffe von dort geworfen worden war. Wie ein heller Arm stach das Licht der Lampe hinweg. Dabei peilte ich nur über den Rand hinweg, bereit, mich sofort wieder zurückziehen zu können. Ich sah nichts. Nur das normale Blattwerk, die gebogenen Äste und Zweige, aber nicht den Umriß eines Körpers. Allmählich kam ich zu der Überzeugung, daß die Waffe nicht aus dieser Krone geschleudert worden war. Sie mußte einen anderen Weg genommen haben. Ich stemmte mich in die Höhe, natürlich ungemein wachsam, auch wenn es wegen der Finsternis nicht viel Sinn haben konnte. Niemand griff mich an, nur die leichte Erwärmung des Kreuzes blieb, ein sicheres Zeichen, daß sich das Böse, das Unheimliche noch nicht zurückgezogen hatte. Die nächsten Schritte brachten mich zu dem Toten, Ich konnte ihn nicht liegenlassen. Bis zu meinem Wagen lag ein beschwerlicher Weg vor mir, Ed Williams hatte nicht gerade zu den Leichtgewichten gehört. Ich lud ihn mir über die linke Schulter und machte mich auf den Heimweg. Meine Schritte übertönten die anderen Geräusche. Wenn es jetzt jemand auf mich abgesehen hatte, konnte er mich immer erwischen. Das geschah nicht. Unangefochten konnte ich den Weg fortsetzen und war froh, als ich den Pfad an der Ostseite des Waldes erreicht hatte. Es war nur mehr ein schmaler Feldweg, von der Sonne ausgetrocknet, der nach Staub roch und in der Mitte einen langen Grasstreifen aufwies. Der Tote drückte auf meiner linken Schulter, die ich kaum noch spürte. Bei jedem weiteren Schritt knickte ich nach links ein, es war eine verfluchte Quälerei geworden, die bald ein Ende hatte, weil ich die Umrisse des Rovers bereits sah. Die Kraft, den Toten in den Wagen zu legen, besaß ich nicht mehr. Deshalb legte ich ihn über die Motorhaube, um mir etwas Ruhe zu gönnen. Ich keuchte heftig, dehnte den Körper, streckte mich und hätte normalerweise die Schritte schon früher gehört, so aber vernahm ich sie
erst im letzten Augenblick, als die Person schon dicht hinter mir stand und nur einen Satz schrie: »Verdammter Killer!« Ich wuchtete mich zur Seite. Der Schatten raste vorbei und gongte auf die Haube. Es war kein Schatten gewesen, sondern ein Hartholzknüppel, den die nervige Faust eines bärtigen Mannes umschloß. In dieser Umgebung kam er mir vor wie ein Waldschrat, der durchdrehte. »Mörder!« Er schrie, ich schlug zu. Diesmal rannte ich in seinen Schlag hinein. Meine Handkante traf seinen Arm und fegte ihn zur Seite. Er stolperte. Mein Tritt in den verlängerten Rücken schleuderte ihn auf den Bauch. Mit dem Gesicht verschwand der Mann im Staub. »Und so bleiben Sie liegen!« sagte ich. »Es sei denn, Sie wollen noch größeren Ärger!« »Hast du eine Kanone, Killer?« »Und ob.« »Dann schieß doch, verdammt! Auf einen Toten mehr oder weniger kommt es nicht an.« »Wer sind Sie?« fragte ich, seine Frage einfach ignorierend. »Willst du immer die Namen deiner Opfer wissen?« »Vielleicht.« »Ich heiße Cromwell, Killer. Art Cromwell. Ist dir jetzt gedient? Willst du mich killen?« »Weiter!« »Wieso? Ich bin der Wi rt vom Campingplatz. Hast du das nicht gewußt? Mit gehören die Kneipen.« »Dann stehen Sic mal auf.« Er lachte und blieb liegen. »Nichts da, schieß mich in den Rücken, Killer!« Ich wurde ungeduldig und schnauzte ihn an, endlich mit dem Wort Killer aufzuhören. Das erzielte Wirkung. Er kam tatsächlich auf die Beine, und dies mit schwerfälligen Bewegungen. Er befand sich noch in der Drehung, als ich ihm meinen Ausweis zuwarf. »Fangen, Mister.« Der Bärtige griff gedankenschnell zu. Im Schein meiner Leuchte las er und bekam große Augen. »O verdammt, ein Polizist, sogar ein YardMann. Ich begreife das nicht.« »Jedenfalls bin ich kein Killer«, erklärte ich ihm. »Und der Tote?« »Ich fand ihn, das heißt, er wurde praktisch unter meinen Augen getötet. Jetzt wollte ich ihn wegfahren, das ist alles.« »Darf ich ihn sehen?« »Natürlich.« Ed Williams lag noch immer über der Haube. Ich strahlte ihn an und sah Cromwell nicken. »Den kenne ich vom Platz her. Der hat bei uns gezeltet. Er war mit dem zusammen, der getötet worden ist. Himmel, was ist denn mit seinem Hals geschehen?« »Dort hat ihn die Mordwaffe erwischt.« Cromwell schüttelte sich, er bekam eine Gänsehaut. »Verdammt, das sieht aus wie eine Fahrradspeiche.«
»Es ist auch eine.« Er konzentrierte sich wieder auf mich. »Und wer?« hauchte er mit offenem Mund. »Das weiß ich nicht.« Der Wirt warf einen Blick in das Gelände, besonders interessierte ihn der Wald. »Ich habe das Gefühl, daß es hier nicht mehr geheuer ist. Hier lauert etwas.« Er hob die Schultern. »Die Camper strömen in Scharen herbei, sie wollen schauen, sie wollen den Nervenkitzel — furchtbar.« »Sie persönlich haben keinen Verdacht?« erkundigte ich mich. Er druckste herum. »Was heißt Verdacht? Sie sind Realist als Polizist. Sie werden mich auslachen . . .« »Kaum, reden Sie!« »Man spricht davon, daß es hier etwas geben soll, das man nicht begreifen kann. Ein böses Omen, einen alten Fluch oder so ähnlich. Dieses Böse hat dann getötet.« »Sie glauben daran?« »Jetzt wieder. Erst hatte ich Sic in Verdacht.« Ich nickte. »Das ist verständlich. Aber egal, wir werden der Sache nachgehen.« »Das ist bestimmt nicht einfach.« »Glaube ich auch. Wenn Sie bitte so nett wären und mir dabei helfen, den Toten in meinen Wagen zu setzen!« »Klar, mache ich.« Wir hievten ihn gemeinsam hoch. »Mann, der ist richtig schwer.« »Klar, das habe ich gemerkt.« Wir legten ihn schräg in den Fond. Wer nicht genau wußte, daß der Mann tot war, hätte ihn für einen Schlafenden halten können. Bevor ich einstieg, schaute mich Art Cromwell über das Dach des Wagens hinweg an. »Sehe ich Sie wieder, Mr. Sinclair?« »Darauf können Sie sich verlassen, Mister!« »Na ja.« Er hob die Schultern und trat vom Wagen zurück. Ich startete, und Cromwell schaute mir so lange nach, bis die Heckleuchten in der Finsternis verschwunden waren... *** Jane Collins schaute mich an, wühlte ihr Haar hoch, lehnte sich im Sessel zurück, so daß ihr weit geschwungener Rock den größten Teil der Oberschenkel freigab und Lady Sarah Goldwyn, die neben ihr stand, mißbilligend den Kopf schüttelte. »Das darf doch nicht wahr sein, John. Du willst wirklich mit mir auf einen Campingplatz?« »Richtig.« Sie drückte sich wieder vor. »Zelten Lind so?« »Mir wäre ein Wohnmobil lieber«, gab ich zu. »Aha«, mischte sich Sarah Goldwyn, die Horror-Oma ein. »Auch noch bequem.« »Wenn es eben geht.« »Dann könnte ich ja auch mit.«
Ich erbleichte. Himmel, da hatte ich etwas angerichtet. Die Horror-Oma mit auf dem Campingplatz, das gab Probleme, dessen war ich mir sicher. »Campen wollte ich schon immer«, erklärte sie uns. »Und wenn du mich nicht mitnimmst, fahre ich euch nach oder mit Jane allein. Jedenfalls bleibe ich nicht hier. »Ich brauche auch nicht im Zelt zu wohnen, ich werde . . .« »Bleib doch hier«, flehte ich. »Nein, das kommt nicht in Frage. Fs ist ein öffentlicher Platz, du kannst mir nicht verbieten, dort zu campen.« »Ich habe gehört, daß der Besitzer des Restaurants auch Zimmer für den Notfall vermietet. Vielleicht könntest du dort wohnen, wenn es dir nichts ausmacht.« Lady Sarah blickte mich scharf an. »Ist das so etwas wie ein Kompromißvorschlag?« »Durchaus!« »Gut, dann werde ich ihn auch in Anspruch nehmen. Und wie ist das mit dir, Jane? Wo willst du wohnen?« Die Detektivin und ehemalige Hexe bekam einen roten Kopf. »Wenn es dir nichts ausmacht, Sarah, schlafe ich bei John.« »Aha, das habe ich mir gedacht.« Jane brachte noch ein Argument vor. »Für eine Person ist der Wohnwagen oder das Wohnmobil zu groß, finde ich. Im Zelt will John ja nicht übernachten .. .« »Nein, dabei bleibt es auch. Aber etwas anderes. Ihr tut so, als wäre alles geritzt. Das gilt vor allen Dingen für dich, Sarah. Weißt du eigentlich, auf was du dich da einläßt?« Sie bekam einen bösen Blick. »Wenn du jetzt auf mein Alter anspielst, John, bin ich dir ernstlich böse.« »Um Himmels willen, davon habe ich kein Wort gesagt. Ich dachte eher an die Gefahren, die auf dem Platz drohen. Schließlich haben wir bereits zwei Morde gehabt. Ungewöhnliche Morde, mit normalen Maßstäben nicht zu mcsen. Von einem Baum erschlagen und erwürgt die eine Person, die zweite von einer umherfliegenden Fahrradspeiche getötet. Das alles darfst du nicht vergessen.« »Weshalb nimmst du Jane dann mit?« »Weil es in diesem Fall harmlos aussehen soll. Wenn ich zusammen mit Suko fahre, riecht das irgendwie komisch. Verstehst du? Wir wollen als harmloses Paar auftreten, damit man uns nicht die Polizisten schon von weitem ansieht.« Sarah begann zu lachen und trank aus der hauchdünnen Tasse einen Schluck Tee. »Das nehme ich dir sogar ab, John. Und es wird noch harmloser aussehen, wenn eine alte Dame wie ich mit von der Partie ist. Nur darfst du nicht vergessen, daß es da jemand gibt, der über deine Identität genau Bescheid weiß. Dieser Campingplatz-Wirt oder Aufpasser.«
»Stimmt, den habe ich bereits telefonisch erreicht und zu Stillschweigen verdonnert.« Lady Sarah schaute auf Jane. Die Horror-Oma trug ein weit geschnittenes, luftiges Sommerkleid aus gelbem Stoff, Jane Collins rote Bermudas. Auf der Hose verteilten sich kleine bunte Blumen. Das weite T-Shirt hing locker und zeigte breite Armausschnitte. »Sag du mal was!« Jane lachte. »John ist hier der Chef.« Die Horror-Oma runzelte die Stirn. »Ja, das ist mir klar. Ich bin nach wie vor der Ansicht, daß wir zu drilt weniger auffallen als sonst. Ich nehme mir ein Zimmer, und damit basta. Ihr könnt noch so viel erzählen, ich werde einige Tage Urlaub machen. Sonne, Sand und Monster, das ist was für mich.« Ich verdrehte die Augen. Natürlich hatte ich keine rechtliche Handhabe, Sarah zu verbieten, sich aul dem Platz einzunisten. Was sie sich zudem in den Kopl gesetzt hatte, führte sie auch durch, und wenn es Backsteine regnete und der Teufel tobte, sie ließ sich von ihren Plänen einfach nicht abbringen. Ihr Gesichtsausdruck zeigte mir zudem an, daß sie noch etwas in petto hatte. »Ich habe schon reservieren lassen, meine Lieben«, erklärte sie und lächelte hinterhältig. »Ls ist alles klar. Man freut sich auf meinen Besuch.« »Hast du gesagt, daß du uns kennst?« wollte ich wissen. »Aber John. I lältst du mich für so dumm?« »Nein, das nicht.« »Wie schön, danke. Ich hätte allerdings noch eine Frage. Wo liegt der Ort genau, den wir ansteuern?« »Es ist kein Ort, Sarah, sondern ein Campingplatz an der Küste. Er liegt zwischen Eastborne und Brighton, wo es noch hügelig ist.« »An der Steilküste?« Ich schüttelte den Kopf. »In einer Art Lücke. Durch eine Laune der Natur ist hiereine Bucht entstanden, die für Camper genutzt werden kann. Direkt hinter dem Platz beginnt der Wald, da fangen dann auch die zahlreichen Hügel an.« »Wo die Morcie passiert sind?« »Genau.« Lady Sarah Goldwyn atmete tief durch. »Dann freue ich mich schon auf einen tollen Urlaub auf dem Campingplatz. Auf Sonne, Sand und . . .« »Hoffentlich keine Monster«, sagte ich schnell. »Wer weiß.« Dieses Gespräch ging mirdurch den Kopf, als wirdie letzten Meilen vor dem Ziel hinter uns brachten. Wir hockten in einem bequemen Mercedes-Wohnmobil, das zwar nicht mit einer Klimaanlage versehen war, durch seine Aluaußenhaut jedoch einen Großteil der warmen Sonnenstrahlen abhielt. So war es im Innern einigermaßen erträglich.
Wir waren in der Früh aus London abgefahren, und Jane hatte die Fahrt genossen, was mir ihr lächelndes Gesicht bewies. Lady Sarah hatte den Zug genommen und war von Brighton aus mit dem Taxi eingetroffen. Am Telefon hatte sie uns erklärt, wie toll sie es fand, unter jungen Menschen zu sein. Als älteste Person auf dem Platz war sie so etwas wie eine Königin. Jane lächelte, was mir auffiel. »Worüber freust du dich so?« »Ich dachte gerade an Lady Sarah. Die wird schon dafür sorgen, daß es rundgeht.« »Leider«, stöhnte ich. »Trotzdem freue auch ich mich.« Sie strich kurz über meine linke Hand. »Da habe ich das Gefühl, daß es wieder so ist wie früher, vor meinem Dasein als Hexe.« »Was hat sich denn geändert?« »Ah, John, bitte. Jetzt bist du aber komisch. Da hat sich doch einiges geändert. Du hast deine Erfahrungen gesammelt, ich ebenfalls, und in mir steckt noch immer ein Rest des Hexendaseins, wenn du verstehst. Das wird auch nie ganz wegzubekommen sein.« »Freu dich darüber, Jane. Du kannst deine Kräfte schließlich zum Guten einsetzen.« »Irgendwo hast du recht.« Es war nicht mehr weit bis zum Ziel. Die Hügel hatten wir bereits erreicht. Mir war die Gegend bekannt, Jane sah sie zum erstenmal und zeigte sich ebenfalls sehr angetan. »Ein herrlicher Flecken Erde, auf dem ich muh auch wohl fühlen könnte. Meer, Strand und Wald, lohn. Gibt es eine bessere Mischung?« »Du hast den zweifachen Killer vergessen.« »Daran denke ich erst später.« »Hoffentlich nicht zu spät.« Wir rollten auf eine Kreuzung zu. Ein Lieferwagen kam uns entgegen, beladen mit leeren Getränkekisten. Bestimmt hatte er Nachschub für den Campingplatz gebracht. Über uns lag der Himmel, weit, blau und wolkenlos. Ein wunderschöner Teppich, der keinen Anfang und kein Ende hatte. Selbst über dem Meer zeigten sich keine Wolken. Das Gelände fiel zum Campground hin etwas ab. Wir konnten bereits auf das Ziel schauen und sahen das mit Bäumen und Hecken bewachsene Areal vor uns. Das Restaurant und der ihm angeschlossene kleine Supermarkt lagen im vollen Sonnenlicht. Mit weißen Schaumkronen versehen liefen die Wellen gegen den Strand hin aus. Auf dem Meer tanzten die bunten Segel der Surfer und der Boote. Der Wind hielt sich in Grenzen, reichte allerdings aus. Badende stürzten sich in die Fluten. Der Platz war nicht voll belegt, viel fehlte allerdings nicht. »Zufrieden?« fragte ich Jane und lenkte das Wohnmobil nach rechts in einen schmalen Weg hinein. Er führte in einem großen Bogen dem
Schlagbaum zu, der den Eingang des Platzes markierte. Dort stand auch ein Haus, in dem der Kontrolleur normalerweise hockte. Nicht an diesem Tag. Auch er genoß das herrliche Wetter, hielt sich im Freien auf und stützte seine Ellbogen auf der Oberseite des Schlagbaumes ab. Er trug blaue Shorts, einen weißen Leinenhut und kein Hemd. Gelassen schaute er uns entgegen und setzte sich erst in Bewegung, als ich das Wohnmobil vor dem Schlagbaum angehalten hatte. Ich öffnete die Tür, hörte seinen Gruß und die anschließende Frage. »Ihr seid neu hier, wie?« »Ja, Mister.« Der Mann schob seinen Hut zurück. Wir konnten sein sonnenbraunes Gesicht besser erkennen. Die hellen Augenbrauen fielen auf. Sie besaßen die gleiche Farbe wie sein Haar. Er hatte ein gemütliches Gesicht mit lustigen Augen. »Hört zu, Freunde, hier duzen sich alle. Ich bin nicht der Mister, ich heiße Judd.« »John.« »Ich bin Jane.« »All right, ihr beiden. Dann steigt mal aus und kommt mit. Wir müssen leider noch etwas Formelles regeln.« »Die Gebühr, nicht?« »Genau.« Das Formelle regelten wir in einem kleinen Holzhaus. Ich zahlte, bekam Quittungen und gewisse Regeln überreicht. Auf dem Platz herrschten Gesetze, die mußten eingehalten werden. So war die Mittagsruhe ebenso garantiert wie eine gewisse Nachtruhe. »Dann gibt es noch etwas Besonderes«, sagte Judd. »Es betrifft die Nachtruhe. Wer sie nicht einhält, sollte zumindest die anderen an seiner Feier teilhaben lassen. Da kann keiner schlafen.« Er grinste. »Wie gesagt, so genau nehmen wir es nicht. Hier campen zumeist jüngere Leute, die gern feiern.« »Wir werden es uns merken, danke.« »Ich zeige euch den Platz. Wollt ihr direkt am Strand stehen?« »Eigentlich ja«, sagte Jane, die Wasserratte. Judd wiegte den Kopf. »Das geht nicht, die Plätze sind weg und meist für die Stammgäste vorgesehen. Ihr müßt schon ein paar Schritte laufen, um an den Strand zu gelangen.« Jane winkte ab. »Ist mir auch recht.« »Ich gehe dann vor.« Judd hatte es nicht eilig. Breitbeinig, fast im Enten-gang, watschelte er vor uns her. Er war beliebt. Wer ihm auch begegnete, grüßte, hatte ein freundliches Wort für ihn. Mal schoß er einen Ball zurück, dann rief er jemandem einen Witz zu. Ich schaute zum Strand. Dort hielten sich die meisten Camper auf. Die Sonne stand hoch, wir hatten Mittag. Zwar besaß das Wasser noch nicht
die Wärme des Hochsommers, aber einige, die nicht froren, trauten sich schon hinein. Neben mir rutschte Jane unruhig auf dem Sitz hin und her. »Ist was?« fragte ich sie. »Im Prinzip nicht, aber ich finde es einfach total super. Stell dir vor, in einer halben Stunde spätestens bin ich im Wasser.« »Ist dir das nicht zu kalt?« »Woher denn? Ich nehme das Schlauchboot und lasse mich treiben. Kommst du denn mit?« »Noch nicht.« »Wieso?« Sie runzelte die Stirn. »Was hast du denn vor?« Ich deutete durch die Scheibe, wo die Front des Restaurants vorbciglitt. Sie war hell gestrichen. Die weiße Fläche wurde dabei von grünen Balkenstreifen aufgelockert, so daß es einen Fachwerkhaus-Stil bekommen hatte. Jane hatte verstanden. »Du willst mit Sarah reden?« »Genau.« »Vielleicht liegt sie auch am Strand.« Ich lachte glucksend. »Das glaubst du doch selbst nicht.« »Traust du es ihr nicht zu?« »Na ja, wenn du mich so fragst, möglich ist bei ihr eigentlich alles. Das kennen wir ja.« »Eben.« Wir gerieten in das durch Hecken und Bäume parzellierte Gebiet, das für die Wohnwagen und Wohnmobile vorgesehen waren. Judd winkte uns in eine Tücke hinein. Ich kurbelte etwas und ließ den Wagen rückwärts hineinfahren, stoppte, stieg aus und reckte mich. Judd fuhr mitdem ausgestreckten Fingerunterseiner Nase her. »Ja, hier seid ihr also.« Ich schaute mich um. »Sehr schön.« »Wasseranschluß ist vorhanden.« Er deutete auf eine kleine Mauer, die den Platz an der Rückseite begrenzte. Sie war durchgebaut worden. Aus ihr schauten die Rohre der Anschlüsse hervor. »Schon Erfahrung im Campen?« erkundigte er sich. »Ein wenig.« »Dann weißt du ja Bescheid. Wenn ihr essen wollt — das kann man bei Art Cromwell recht gut. Kein Feinschmeckerladen, aber es gibt gute Hausmannskost.« »Das ist wichtig.« Er tippte gegen seine Mütze. »Dann wünsche ich euch viel Spaß. Sollten Probleme auftreten, bitte wendet euch an mich! Ich bin hier das Mädchen für alles.« »Danke, Judd.« Er watschelte davon. Zwei Kinder entdeckten ihn und rannten auf ihn zu. »Onkel Judd!« riefen sie. »Onkel Judd! Spielst du mit uns?« »Was denn?«
»Fangen!« »Nein.« Er lachte. »Ihr lauft mir ja sowieso davon.« »Deshalb wollen wir es auch spielen.« »Später vielleicht, heute hat Onkel Judd noch einiges zu tun, ihr kleinen Tiger.« Ich mußte grinsen, drehte mich um und sah einen Schatten hinter der Scheibe des Führerhauses. Jane stieß die Tür auf und stand geduckt vor mir. Ich pfiff, dann verließ sie den Wagen. »Ist was?« fragte sie. Ich strich über mein Haar. »Im Prinzip nicht, aber wie du aussiehst, das ist was für einen Feinschmecker.« »Meinst du?« fragte sie ganz unschuldig. Sie sah tatsächlich unheimlich sexy aus. Was sie trug, war einer dieser ultra-modernen Bikinis: Höschen mit hohem Beinausschnitt und einem Nichts von Oberteil. Beides in den Farben Rot und Schwarz. Sie trug Bade-Sandaletten, das Schlauchboot, schon aufgepumpt mit dem daran befestigten Paddel, und ein großes, weißes, flauschiges Badelaken. Auch eine Kos-mektiktasche hatte sie unter den Arm geklemmt. So bepackt wollte sie zum Strand. »Gehst du mit?« »Später, Jane. Ich kann dir aber tragen helfen.« »Danke, das schaffe ich allein.« Sie lächelte kokett. »Hast du schon gesehen, John?« »Was soll ich gesehen haben?« »Die netten jungen Männer. Ich glaube, da wird einiges los sein, kann ich mir vorstellen.« Ich nickte. »Und du wirst ebenfalls für Furore sorgen, mein Schatz.« »Nun, langsam . . .« »Doch, ich kenne dich, Jane. An dir kann man einfach nicht vorbeiblicken.« »Danke«, sagte sie und schlenderte davon. Daß ich ihr nachschaute, wußte sie. Vielleicht schwang sie deshalb die Hüften wie einst die BB in ihren besten Zeiten. Verfluchter Job, dachte ich, als ich in das Wohnmobil stieg. Ich hätte mich auch lieber neben Jane gelegt, aber das war nicht zu machen. Zuerst mußte ich Lady Sarah finden. Allerdings wollte ich die durchgeschwitzten Klamotten ausziehen. Die großen Duschhäuser befanden sich nicht weit von unserem Standplatz entfernt. Wir brauchten nicht auf die enge Wohnmobildusche zurückgreifen. Ich wechselte die Kleidung, streifte die dünnen Sommerjeans über die Badehose, hüllte mich in ein weißes Leinenhemd und zog eine ebenfalls helle Leinenjacke an. Eigentlich verrückt, aber ich wußte nicht, wo ich sonst die Beretta hätte verstecken sollen.
Das Wohnmobil stand recht günstig. Die Hecke schützte uns vor allzu neugierigen Blicken und das Geäst der Bäume vor den starken Sonnenstrahlen. , Die Parzelle zur linken Seite war nicht belegt, dafür die an der rechten. Stimmen hörte ich nicht, die Camper hielten sich bestimmt am Strand auf. Zwei Morde hatte es in der Nähe gegeben. Dennoch hatten sich die Menschen nicht davon abhalten lassen, hier zu campen. Auch Judd hatte nichts von den Vorfällen erwähnt, man machte in Optimismus. Falls eine Angst vorhanden war, wurde sie verdrängt. Ich schlenderte in Richtung Strand, ging dann einen Umweg und schaute mir auch das Areal an, wo die Camper ihre bunten Zelte aufgebaut hatten. Man grüßte mich oder winkte träge aus irgendwelchen Liegestühlen. Die Leute genossen die Ruhe, das faulen zen, die Sonne. Einige Frauen lagen oben ohne und lie ßen sich braten. Durch die Fenster des Restauranis hallle mir das Klappern von Geschirr und Bestecken entgegen. Dort wurde der Tisch für das Mittagessen gedeckt. Ich betrat den sehr breiten Raum mit der langen Theke und sah zwei Mädchen bei der Arbeit. »Sorry, Sir«, sagte eine. »Es wird noch etwas dauern. In einer halben Stunde können Sie . . .« »Ich möchte Art Crom well sprechen.« Die Kleine schaute mich an und blies eine Haarsträhne von der Stirn weg in die Höhe. »Mr. Crom-well!« rief sie. »Das ist jemand, der mit Ihnen reden will.« »Wer denn?« »John Sinclair!« antwortete ich laut. »Ahhh — gut. Warten Sie, ich komme.« Sekunden später hörte ich seine Schritte. Er tauchte aus der Küche auf, die weiße Mütze auf dem Kopf, die Schürze umgebunden. Er wischte seine Hand ab, bevor er sie mir reichte. »Ich wunderte mich schon, daß Sie nicht früher gekommen sind.« »Wir haben uns mit der Fahrt Zeit gelassen.« »Wir, sagten Sie?« »Ich nahm noch eine Bekannte mit. Miß Jane Col-lins.« Er grinste. »Kann ich voll und ganz verstehen. Sie wollen das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Hätte ich auch gemacht an Ihrer Stelle.« Er deutete auf einen kleinen Zweiertisch neben der Theke. »Setzen wir uns dorthin. Was zu trinken?« »Ein Wasser.« »Nehme ich mir auch.« Wir tranken, dann nickte Cromwell. »Sie fragen sich bestimmt, ob sich etwas ereignet hat in der Zwischenzeit?« »Natürlich.«
»Es ist alles normal geblieben. Kein drittes Verbrechen, nicht die Spur davon. Etwas Ungewöhnliches ist doch passiert. Ich habe gestern einen Gast bekommen, den ich wohl als den ältesten in diesem Moment ansehe. Eine echte Lady, die schon für Furore gesorgt hat.« Ich mußte mir ein Grinsen verkneifen, denn ich kannte Lady Sarahs Art, die Leute zu unterhalten. Dennoch schwieg ich mich darüber aus, daß sie mir bekannt war und fragte nur: »Und?« »Die hat die Jugend auf ihre Seite gezogen und kennt sich unwahrscheinlich aus, was Filme und Gruselbücher angeht. Da ist sie äußerst firm, schon eine richtige Schau.« »Wohnt diese Dame bei Ihnen?« »Ja, aber sie hockt am Strand. Die Leute haben für sie einen großen Strandkorb besorgt. Dort hält sie Hof, verstehen Sie?« »Nicht ganz.« »Spielt auch keine Rolle. Sie werden unsere Miß Marple Nummer zwei ja kennenlernen.« »Wieso sagen Sie das? Will sie die Morde aufklären?« Cromwell beugte sich vor. »Nein, Mr. Sinclair, aber sie kommt uns fast so vor wie die selige Miß Rutherford, die ja die Figur so toll spielte.« Er nahm einen Schluck. In seinen dunklen Barthaaren schimmerten kleine Schweißperlen. Er trank einen Schluck. »Ich hoffe nur, daß keine weiteren Taten mehr geschehen. Wenn ich daran denke, daß hier in der Nacht ein Mt» der umherschleicht, wird mir ganz anders.« Ich runzelte die Stirn. »Das ist verständlich. Eine Frage mal: Was sagen die anderen Gäste dazu?« »Nicht viel, wenn ich ehrlich sein soll. Die Meinungen sind geteilt. Die einen haben Angst, die anderen freuen sich über den Nervenkitzel. Das ist von Typ zu Typ verschieden.« »Kann ich mir denken.« »Wenn ich mal neugierig sein darf, Mr. Sinclair, wie wollen Sie den Fall angehen?« »Das weiß ich nicht.« Er tat erstaunt. »Sie haben keinen Plan?« »Irgendwo schon. Ich schaue mich hier ein wenig um, verstehen Sie? Ich werde hin und wieder mit Leuten sprechen und hören, was diese zu sagen haben.« »Als Polizist?« »Nein, Mr. Crom well, ich bleibe schon inkognito. Zudem möchte ich Sie bitten, ebenfalls den Mund zu halten.« »Das versteht sich!« Er nickte heftig und peilte dabei auf seine Uhr. »So, jetzt muß ich aber verschwinden, sonst mißlingt mein Essen. Kommen Sie auch? Soll ich reservieren lassen?« »Nein, das ist nicht nötig.« »All right, wir sehen uns.« Er stand auf und verschwand in der Küche.
Ich erhob mich ebenfalls, leerte im Stehen mein Glas und ging auch zurTür. Die Blicke der beiden Bedienungen begleiteten mich. Auf ihren Lippen lag ein leichtes Lächeln. Draußen setzte ich die dunkle Brille auf. Wind wehte mir entgegen und warf die Jackenschöße zurück. Meine Beretta wurde sichtbar. Ich knöpfte das Jackett zu und bewegte mich in Richtung Strand, wobei ich über einen Pfad laufen mußte, der eine Grasfläche teilte. Noch nahmen mir Bäume und Hecken einen Großteil des Blicks, aber ich hörte bereits die Stimmen der am Wasser liegenden Camper. Die Menschen hatten ihren Spaß. Heiße Sonnenstrahlen brannten auf die türkisfarbenen Wellen nieder und überdeckten das Wasser mit ihren Reflexen. Ich blieb stehen und suchte nach dem gelben Schlauchboot, in dem Jane Collins liegen mußte. Sie war etwas abgetrieben und schaukelte ziemlich weit draußen, wo auch die Segelboote kreuzten. Schon einmal hatten wir hier an der Küste ein gefährliches Abenteuer erlebt. Da waren Knochenteile angespült worden, und wir hatten dem Ort einen anderen Namen gegeben — Knochenküste. Es roch nach Ferien, nach Urlaub, nach Faulenzen und nach dem richtigen Genießen. Nur ich konnte mich nicht recht freuen. Zu viele Probleme lasteten auf mir. Noch immer hatte ich meine Mutter nicht aus den Klauen des Blutsaugers Mallmann befreien können, und das war sehr hart. Wenn ich etwas Muße hatte, kam es mir immer wieder in den Sinn. Ich strich mein Haar zurück und bewegte mich wenige Schritte später mit meinen Leinenschuhen durch den dünnen, feinen Sand. In meiner Kleidung fiel ich auf. Wer hier lag, trug Badehose oder Bikini oder noch weniger. Es waren tatsächlich viele junge Leute, die das Wetter ausnutzten und einen unbeschwerten Urlaub genossen. Es verteilten sich mehrere Strandkörbe auf dem Gelände, aber einer nur war umlagert. Ich konnte mir vorstellen, wer da saß und die große Schau abzog. Aufstöhnend ging ich weiter. Ich hörte bereits ihre Stimme, denn Lady Sarah erzählte den vor ihr im Sand hockenden jungen Leuten die größten Greuelgeschich-ten. Ich blieb stehen und peilte in den Strandkorb, wo ich von Sarah Goldwyn nicht viel mehr sah als einen großen Strohhut. Auf drei Ketten hatte sie nicht verzichtet. Sie lagen auf dem Stoff eines Leinenkleides, mehr ein weiter, luftiger Hanger. Ihre Zehennägel hatte sie rot lackiert. »Gibt es hier etwas umsonst?« fragte ich. »Ja, tolle Geschichten.« Ein Mädchen lachte. »Kann ich zuhören?« »Bitte.«
Lady Sarah hob einen Arm und schob ihren Hut zurück. Sie sah mich, sie sah mein knappes Grinsen, runzelte die Stirn und fragte: »Wie sehen Sie denn aus, Mister?« »Wie meinen Sie das?« »Ja, in dem Aufzug wollen Sie ins Wasser. Snob, wie?« Natürlich erntete sie Gelächter, fuhr auf dieser Schiene nicht weiter und nickte ihren Zuhörern zu. »Ihr könnt sagen, was ihr wollt, Kinder, ich muß mir die Beine vertreten. Am Abend sind mir bestimmt wieder neue Geschichten eingefallen.« »Da machen wir ein Lagerfeuer!« »Auch das.« »Okay, Lady, wir nehmen Sie beim Wort.« Die Gruppe stürmte gemeinsam den anrollenden Wellen entgegen. Lachend, jauchzend rannten sie in das kühle Naß. Lady Sarah schaute ihnen nach. »Ich habe es ja immer gesagt, die Jugend ist nicht schlecht, sie wird nur oft schlechtgemacht.« »Möglich.« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Hilf mir mal aus dem Korb, du Kavalier.« »Und dann?« »Gehen wir etwas spazieren? Jane habe ich ja schon gesehen. Toll sieht sie aus, echt stark. Die Männer bekommen glänzende Augen.« Ich zog sie aus dem Strandkorb. Sie reckte sich und schlüpfte in ihre Sandalen. »So, dann wollen wir mal ein lustiges Bild abgeben, Herr Geisterjäger.« »Wieso das denn?« »Schau dich um, wie zahlreich die knackigen Mädchen sind. Und du gehst mit einer alten Frau am Steuer spazieren. Das muß doch ungemein frustrierend für dich sein.« Ich hob die Schultern. »Weißt du, Sarah, jeder bekommt eigentlich das, was er verdient.« »Aha, da bist du bei mir genau richtig...« *** Jane Collins freute sich wie selten, als sie in Richtung Strand schlenderte. Nach ihrer schrecklichen Zeit tat es ihr besonders gut, die Blicke der Menschen zu spüren. Sie brauchte keine Angst mehr davor zu haben, tagsüber mit einem Totenschädel durch die Gegend zu laufen. Durch die Hilfe der Sternprinzessin war dieser Fluch von ihr genommen worden. Sie hatte Lady Sarah gehört und gesehen, ihr kurz zugewinkt und durch das anschließende Nicken der Horror-Oma erkannt, daß sie auch beachtet worden war.
Jane wollte sich einen günstigen Platz aussuchen, von dem sie es bis zum Wasser nicht zu weit hatte. Sie breitete das große, rote Badetuch auf dem feinen Sand aus und wollte es zurechtzupfen, um es anschließend zu beschweren, als ein dunkelhaariger junger Mann vor ihr auftauchte. Zuerst sah sie seinen langen Schalten. Als sie hochschaute, gerieten seine engen, gestreiften Badeshorts in ihr Blickfeld, dann die nahtlos braune Brust, ein Gesicht wie Kevin Kostner, nur mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren, in den noch Tropfen schimmerten. Der Mann lächelte. »Kann ich dir helfen?« »Zu spät, ich bin fertig.« »Oh — schade.« »Sind Sie als Helfer angestellt?« »Man sagt hier du. Ich heiße übrigens Ken.« Er reichte ihr die Hand, die sie auch nahm. »Ich bin Jane. Womit du meine Frage noch nicht beantwortet hättest.« Er lachte strahlend. »Ich bin so etwas wie ein Helfer, ein Bademeister, wenn du verstehst. Ich halte ein wenig die Augen auf.« »Und schaust nach Frauen.« Er hob die Bodybuilding-Schultern. »Was soll man machen? Ich habe das Gefühl, als würden sich die hübschesten Frauen der Insel gerade diesen Ort hier aussuchen. Das sieht man an dir.« Jane schob die Sonnenbrille nach vorn. Das Gestell sah aus wie die Flügel von Schmetterlingen. »Laß die fadenscheinigen Komplimente, Junge. Wie oft bist du die schon losgeworden?« »Sehr oft.« »Du bist wenigstens ehrlich.« »Immer. Aber im Ernst. Du solltest mit deiner Matratze nicht zu weit raus.« »Das ist ein Schlauchboot.« Er winkte ab. »Im Prinzip kommt beides auf eins raus. Wir haben hier Strömungen.« »Und ich ein Paddel. Keine Sorge ich bin kein heuriger Hase mehr. So, jetzt will ich nur noch genießen.« Er trat einen Schritt zurück und verbeugte sich. »Ich habe nichts dagegen.« Jane nahm ihre Kosmetiktasche mit, in der sie das Sonnenöl verborgen hatte. Um sie herum tobten und lachten die Camper. Sie bekam die ersten Spritzer mit und mußte feststellen, daß das Wasser Ende Mai noch ziemlich kalt war. Das machte ihr nichts. Sie schob das Schlauchboot ins Wasser und paddelte gegen die Wellen an. Mit einiger Anstrengung schaffte sie es, diese zu überwinden.
Sehr ruhig fuhr sie die See hinaus. Schon bald brauchte sie das Ruder nicht mehr. Die Wellen trugen sie schaukelnd und hielten das Boot fast auf der Stelle. Jane schaute sich um. In ihrer Nähe sah sie die Surfer und Segler, nur wenige Schwimmer durchpflügten die Wellen. Die hielten sich mehr in Strandnähe auf. Jane wollte ins Wasser. Sie öffnete die große Kosmetiktasche, in der auch noch ein Handtuch seinen Platz gefunden hatte und ein zweiter winziger Bikini, den sie zum Sonnen anziehen konnte. Eine Badehaube streifte sie ebenfalls über das Haar, bevor sie sich behutsam in das kalte Wasser gleiten ließ. Zuerst fror sie. Die Gänsehaut zog hoch bis zur Stirn. Sie atmete noch einmal ein — und verschwand im nächsten Augenblick unter Wasser. Fs war noch kälter, als sie es sich vorgestellt hatte. Um die Brust schien ein eiserner Ring zu liegen. Jane bewegte sich sehr schnell, tauchte auf und spürte sofort die wärmenden Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht, die das Wasser wegzudampfen schienen. Es war herrlich, sich von den Wellen tragen zu lassen. Da konnte sie auf Schwimmbewegungen fast verzichten. Das Schlauchboot behielt sie stets im Auge. Zuerst erschrak sie, wenn sie das Rauschen horte, das sich rasch steigerte. Dann hatte sieli |ane daran gewöhnt, daß in ihrer unmittelbaren Nähe Surfer vorbeiglitten, und das Rauschen durch die geblähten Segel erzeugt wurden. Es war nicht ungefährlich, hier zu schwimmen. Glücklicherweise hielten die Surfer einen genügend großen Abstand. Nach einigen Minuten fror Jane. Sie kraulte zum Schlauchboot zurück, umfaßte den Gummiwulst — und schrak zusammen, als etwas nach ihrem Fuß griff, sich aber nicht festhielt, sondern vorbeiglitt. Jane erstarrte in ihrer Haltung, konzentrierte sich auf die Berührung, die nicht wiederkehrte. Allmählich löste sich die Starre aus dem Gesicht. Die Lippen legten ein Lächeln auf. Sie war verrückt. Vielleicht waren es vorbei treibende Algen gewesen, die sie berührt hatten, mehr auch nicht. Sie rollte sich in das schwankende Boot, blieb liegen, atmete tief durch, griff nach dem Handtuch, um sich abzutrocknen, und spürte erst jetzt den Schmerz an ihrem rechten Bein. Jane setzte sich, winkelte das Bein an, da tropfte es schon. Blut rann aus der kleinen Wunde und klatschte in das Boot. Die Tropfen verteilten sich zu einem makabren Muster. Nicht daß Jane sich jetzt schrecklich gefürchtet hätte, aber sie dachte wieder an die Berührung unter Wasser. Die kleine Wunde mußte von
dort stammen, es gab einfach keine andere Möglichkeit. Aber wer hatte sie da erwischt? Wirklich eine Alge? Nein, das zu glauben, wäre Unsinn gewesen. Jedenfalls wollte sie die Wunde bepflastern. Die Strips fand sie auf dem Boden ihrer übergroßen Kosmetiktasche, riß einen Streifen ab und klebte ihn auf die Stelle, bevor sie sich abtrocknete. Die Lust, wieder ins Wasser zu steigen, war ihr zunächst vergangen. Statt dessen setzte sie die Brille auf. Jane schaute sich um. Es hatte sich nicht verändert. Die Menschen waren guter Laune, sie hatten ihren Spaß. Das war auch in dem Film >Der weiße Hai< so gewesen, bis dann das Grauen über die Küste hereingebrochen war. Komisch, daß sie daran gerade jetzt denken mußte. Von einem Hai stammte die kleine Wunde bestimmt nicht. Heiß brannte die Sonne auf ihre Haut. Um den Brenneffekt nicht zu erhöhen, wischte sie auch die letzten kleinen Tropfen ab, um sich anschließend einzucremen. Sie wählte ein Sonnenöl mit hohem Lichtschutzfaktor. Eine Haut, die noch fast weiß war, brauchte so etwas. Gelassen und auch irgendwie nachdenklich rieb sich Jane ein. Von der Stirn bis zu den Zehenspitzen, nur am Rücken hatte sie etwas Schwierigkeiten. Dort löste sie aber die Schlaufen ihres Oberteils. Die beiden Schalen sanken zur Seite. Nur das Höschen ließ sie an. Wenn schon braun, dann auch richtig. Jane lehnte sich zurück. Das Boot war groß genug, um sich ausstrecken zu können, auch wenn die Füße mit den I Luken auf dem dicken Rand willst lagen. Hinter den Gläsern der dunklen Brille schloß sie die Augen und spürte, wie sich ihr Körper entkrampfte. Auch seelisch ging es ihr besser. So ließ Jane Körper und Seele baumeln. An die Geräusche hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Sie hörte sie kaum noch, weil sie nur mehr wie ein fernes Rauschen an ihre Ohren drangen. Die Stimmen der Urlauber, das Klatschen der Wellen, das manchmal harte Schlagen gegen die Außenwand des Schlauchboots, all das Gehörte einfach dazu. Jane Collins genoß auch das sanfte Schaukeln. Mal das Hochgleiten auf einen Wellenkamm, danach das Hineinfahren in das Wellental. Hin und wieder blinzelte sie und schrak leicht zusammen, wenn Gischttropfen über die Bordwand wirbelten und Platz auf ihrer Haut fanden. Auch daran gewöhnte sie sich. Dennoch kehrten ihre Gedanken immer wieder zu der kleinen Wunde an der rechten Hacke zurück. Wenn sie nur gewußt hätte, wer sie da gebissen hatte, dann wäre ihr wohler gewesen.
Zu einem Resultat kam sie trotz des intensiven Nachdenkens nicht. Träge wälzte sie sich herum, und blieb auf dem Bauch liegen. Die Sonne brannte nun auf ihren Rücken. Eigentlich war es ja Unsinn, sich braten zu lassen, doch Jane wollte sich nicht ausschließen. Sie genoß es einfach, Urlaub zu haben, und gratulierte sich zu dem Entschluß, mitgefahren zu sein. So verstrich Zeit. Manchmal lächelte sie, wenn sie an John Sinclair dachte. Dem ging es bestimmt nicht so gut. Wahrscheinlich hockte er mit Sarah am Strandkorb. Der Gedanke ließ sie aufblicken. Über den Wulst schaute sie hinweg in Richtung Strand. Dort sah sie viel, auch die Strandkörbe, aber keinen John Sinclair und keine Lady Sarah. Zudem blendete sie die Sonne. Wenn sie ihre Strahlen auf die Wasserfläche schickte, sah es aus, als würde sie über ihr eine zitternde, helle, wabernde Mauer bauen. Sie lehnte sich wieder zurück, nahm die erste Lage ein und dachte daran, sich wieder einzucremen. Da geschah es! Das Boot kippte nach Steuerbord weg! Jane schrie unwillkürlich auf, weil sie damit rechnete, ins Wasser geschleudert zu werden, doch als sie das Lachen hörte, atmete sie auf. Sie schaute nach rechts, sah zwei braungebrannte Handflächen auf dem Wulst und dazwischen einen Kopf erscheinen, über dessen Gesicht das Wasser in kleinen Perlen rann. »Hallo, schöne Frau!« rief Ken und lachte, bevor er seine Haltung veränderte und die Arme auf die Bordwand legte. »Findest du das fair?« fragte Jane, »mich dermaßen zu überraschen?« »Dafür bin ich immer gut.« Er schaute auf ihre Brüste. »Damit kannst du dich sehen lassen, Jane.« Sie griff nach dem Oberteil, um es anzulegen. »Willst du das wirklich, wo ich schon alles gesehen habe, Darling?« »Okay, ich lasse es. Aber eines laß dir gesagt sein, du heißer Strandläufer. Alles hast du noch nicht gesehen, und du wirst es auch nicht sehen. Kapiert?« »Ich wette dagegen.« »Hau nicht so auf den Putz!« »In der folgenden Nacht habe ich alles gesehen, Jane. Ich muß es einfach.« »Abwarten, Junge.« Sie räusperte sich. »Eigentlich wollte ich mich ja in Ruhe sonnen .. .« »Das Boot bietet Platz für zwei.« »Weiß ich.« »Dann werde ich jetzt. ..« »Nichts tun«, sagte Jane. »Ich suche mir die Leute aus, mit denen ich in mein Schlauchboot steige. Außerdem bin ich verletzt.«
»Gibt es da jemanden?« »Vielleicht.« »Schade.« Er zog ein zerknirschtes Gesicht, was sie ihm nicht abnahm. »Wie war das mit der Verletzung?« Eine Welle schwemmte heran und trieb ihn etwas höher. Jane drehte den Fuß so, daß er das Pflaster erkennen konnte. »Scheint eine Schnittwunde zu sein. Dabei sorgen wir immer dafür, daß der Strand gesäubert wird.« »Die kleine Verletzung habe ich mir nicht am Strand geholt.« Jane deutete über den Bordwulst. »Hier im Wasser, als ich schwamm, da berührte mich plötzlich etwas. Damit war es geschehen, verstehst du?« »Nein.« »Etwas Scharfes muß durch das Wasser getrieben sein. Ich kann es dir auch nicht sagen.« Ken lächelte. »Das bildest du dir nur ein, Jane. Du wirst dich selbst mit dem Zehennagel verletzt haben. Bei einer etwas hastigen Schwimmbewegung kommt so etwas vor.« Sie lachte und nickte. »Das wüßte ich aber. Nein, nein, Kenny, so ist da nicht, ich . . . Ken?« flüsterte sie. »Was hast du?« Jane wunderte sich über das verzerrte Grinsen auf seinem Gesicht. Anstrengung zeichnete Adern unter der Stirnhaut nach. Ihr fiel auf, daß er sich fester an das Boot klammerte. »Was ist denn?« »Füße?« keuchte er plötzlich. »Verdammt noch mal, da ist was an meinen Füßen.« »Wieso?« »Ja, ich spüre es. Da hält mich was fest. O Gott, das brennt, ich werde verrückt!« Plötzlich zeichnete Panik sein Gesicht. Erriß den Mund weit auf, um zu schreien. Jane packte zu und ergriff Kens Handgelenke. Sie konnte ihn nicht mehr halten. Eine Welle, verursacht durch einen Surfer, rollte heran. Sie machte die Flaut glatt. Ken konnte sich nicht mehr halten. Jane schaffte es auch nicht. Die Gelenke des Mannes rutschten aus ihrem Griff. Was immer da unten in der Tiefe lauerte, es war einfach furchtbar und grauenvoll. Dann schrie er doch. Niemand außer Jane hörte ihn. Sie fiel zurück, während seine Gelenke aus ihrem Griff rutschten. Kenny war weg! Jane setzte sich hin. Sie starrte dort über die Bordwand, wo Ken verschwunden war. Ihr Herz klopfte hoch bis zum Hals. Die Furcht hatte einen Schauer auf ihrem Körper gelegt. Keiner hatte etwas von diesem Ereignis mitbekommen. Die Stimmen hörte sie wie aus weiter Ferne. Sie selbst kam sich vor wie auf einer Insel des Schrek-kens. Unablässig starrte sie dorthin, wo Ken verschwunden war.
Es war nichts zu sehen? Oder bewegten sich nicht Schatten unterhalb der Fläche? Sie konnte es nicht erkennen. Wellen verzerrten ihren Blickwinkel. Wie lange befand sich Ken schon unter Wasser, und wer oder welche Kraft hatte ihn in die gläsern wirkende, aber auch tödliche Tiefe gezogen? Auf die Uhr hatte Jane nicht geschaut, sie ging jedoch davon aus, daß zuviel Zeit verstrichen war. Kenny tauchte einfach nicht mehr auf. Sicherheitshalber suchte sie auch an der anderen Seite des Bootes, auch dort war er nicht zu sehen. Hatte ihn das Meer verschluckt? Jane spürte den harten Druck. Die Urlaubsstimmung war wie fortgeblasen. Jetzt wußte sie, weshalb sie auf dem Wasser dümpelte. Sie und John suchten einen Killer, ein Monstrum, ein . . . Sie drehte sehr langsam den Kopf, weil sie es nicht glauben wollte, was sie da sah. Aus der Tiefe war etwas hochgestiegen. Ein Schatten, wolkig und dabei langgezogen, der sich ausbreitete, als er die Oberfläche erreicht hatte. Zuerst hatte sie angenommen, daß es sich um einen dunklen Schatten handelte. Irrtum, er war rot wie Blut. Jane wußte Bescheid. Was da an die Oberfläche trieb, war eine Blutwolke, und sie wußte nun, daß Ken sie niemals mehr würde ansprechen können. Etwas Unheimliches, Unerklärliches hatte ihn geholt und getötet, und das fast vor ihren Augen. Kalt war ihr geworden. Sie saß da und starrte auf die Blutwolke, die sich allmählich im Wasser verteilte. Ein Körper trieb nicht in die Höhe, auch Minuten später war er nicht mehr zu sehen. Das Meer hatte ihn verschluckt, das Meer würde ihn nur hergeben, wenn es das wollte. Jane atmete tief durch. Hierbleiben konnte sie nicht. Sie wollte es nicht. John mußte Bescheid wissen. Mit zitternden Fingern griff sie zum Paddel. Als sie das Blatt eintauchte und durchzog, hatte sie das Gefühl, allmählich in eine dünne Wand aus Eis hineinzufahren, so kalt war ihr plötzlich geworden... *** Lady Sarah hatte sich bei mir eingehängt und wunderte sich über meinen Blick, den ich ständig über das Wasser schweifen ließ. »Was hast du, John? Bist du wegen Jane besorgt?« »Ja.« »Ah — gönn ihr doch das Vergnügen. Sie hat sich sehr auf diese Tage gefreut.« »Du auch?« »Klar.« »Ist denn etwas passiert?«
Sarah Goldwyn blieb stehen, um ihre Sonnenbrille zu richten. »Nein, mein Junge, es ist nichts passiert, obwohl ich in der vergangenen Nacht aufgepaßt habe.« »Dann hast du nicht geschlafen?« »Ein wenig nur, da wurde es bereits hell. Eine Frau in meinem Alter kommt mit wenig Schlaf aus.« »Kann sein.« »Das ist so, mein Junge. Also, ich habe die Augen offengehalten und habe leider nichts entdecken können.« »Schade.« »Meine ich auch, zum Glück. Obwohl ich, das muß ich dir sagen, bereits mit vielen Leuten gesprochen habe, auch über diese Taten, die hier geschehen sind.« »Wie sind Meinung und Stimmung?« Die Horror-Oma räusperte sich und hob die Schultern. »Wenn ich ehrlich sein soll, nicht besonders.« »Aber man will nicht abreisen.« »Nein. Jeder glaubt, daß ihn der Killer nicht ausgesucht hat?« »Sind Verdachtsmomente ins Spiel gekommen? Haben Leute eine Meinung, was den Mörder angeht?« Eady Sarah ging weiter und faßte nach meinem Arm. »Überhaupt nicht, man steht vor einem Rätsel und geht eigentlich davon aus, daß es sich bei dem Täter um einen Fremden handelt, der den Campingplatz heimlich beobachtet.« »Glaubst du auch daran?« Sie lächelte. »Nicht so sehr, aber es kann sein.« »Weshalb nicht so sehr?« »Das weiß ich nicht. Mir ist das alles sowieso sehr suspekt. Wie kommt es, daß jemand durch eine Fahrradspeiche ermordet wird? Kannst du mir das sagen?« »Nein.« »Aber es ist geschehen. Also kann oder muß hier irgendeine Kraft lauern, die sich der Speiche bemächtig hat. So sehe ich das. Ich glaube nicht, daß sie von jemandem geschleudert wurde, John. Du etwa?« Ich blieb stehen und schaute nach vorn. Der Strand war bald zu Ende. Da begannen dann die Felsen, die sich steil in die Höhe wuchteten, als wollten sie die Sonne begrüßen. Sie wiederum schickte ihre Strahlen auf die weißen Wände und gab ihnen einen unverwechselbaren Glanz. Ein junger Mann joggte uns entgegen. Sein Surfbrett hatte er unter den Arm geklemmt. Heftig schnaufend lief er vorbei. »Es ist verflixt schwer, Sarah, dir auf diese Frage eine Antwort zu geben.« »Das stimmt.« Ich lächelte sie an. »Wie ich dich kenne, hast du doch schon intensiver darüber nachgedacht?« »Man könnte es so sagen.«
»Und was hat unsere zweite Miß Marple gefunden?« Sie schaute zu Boden, wo sie mit dem rechten Fuß im Sand herumrührte. »Eigentlich gar nichts, überhaupt nichts. Wenigstens nichts, was uns weiterhelfen könnte. Also keine Fakten, nur Annahmen. Begreifst du das, John?« »Bisher nicht.« »Dann will ich es dir sagen. Ich kann nur annehmen, daß es hier Dinge gibt, die sich irgendwo entladen haben. Die einmal dagewesen sind, verschwanden und jetzt wieder zum Vorschein kamen.« »Toll. Das hätte ich mir auch sagen können. Das ist alles und auch gar nichts.« »Leider.« »Aber so kommen wir nicht weiter.« »Hast du einen besseren Plan?« »Das nicht gerade, doch ich setze gewisse Hoffnungen auf die Nacht.« Sie winkte ab. »In der vergangenen ist nichts, aber auch gar nichts passiert, John.« »Das muß nicht so bleiben.« »Klar, du hast recht. Auch ich werde wieder meine Augen offenhalten. Wo steht denn dein Wagen?« Ich erklärte es ihr. »Dann werdet ihr das Gebiet unter Kontrolle halten und ich meines. Ist doch gut, nicht?« »Nein, du bleibst am besten im Zimmer. Wahrscheinlich hast du durch deine Fragerei gewisse Leute schon aufmerksam gemacht, falls sie damit zu tun haben.« »Sieh das nicht so eng, mein Junge. Ich habe nie direkt anfangen, nach den Vorgängen zu forschen. Die jungen Leute haben mir von sich aus davon berichtet, als ich mit Gruselgeschichten anfing. Da erklärten sie mir, daß hier auch eine Gruselgeschichte passiert ist, eben dieser Doppelmord. Was ich noch sagen wollte, John. Die Nacht ist lau, wunderschön, es kühlt ab, wir bekommen keine Schwüle, aber trotzdem ist sie irgendwie anders als an der übrigen Küste, und dort kenne ich mich aus, mußt du wissen. Ich bin in früheren Jahren oft hier unten gewesen.« »Wie ist sie denn?« »Komischer. Vielleicht auch unheilschwanger. Man kann es nicht beschreiben, aber man fühlt es.« Sie bewegte Daumen und Zeigefinger, als wollte sie Geld zählen. »Das kenn' ich.« »Dann gibst du mir recht.« »Auf eine gewisse Art und Weise schon, Lady Sarah. Nur ist unser Gefühl kein Beweis.« »Das weiß ich leider selbst. Vielleicht wirst du es ja auch spüren.«
»Das habe ich schon, als ich mit Ed Williams zusammen war. Hier lauert etwas, es wohnt hier, es will uns vertreiben, mein Kreuz meldete sich. Diesmal gebe ich nicht nach.« »Das meine ich auch.« Diesmal schaute Sarah Gold-wyn über das Wasser. »Ha, Jane kommt zurück.« Sie schüttelte den Kopf. »Meine Güte, hat die es aber eilig. Die rudert ja, als säße ihr Asmodis persönlich im Nak-ken. Sieh mal.« Die Horror-Oma hatte sich nicht geirrt. Jane beeilte sich tatsächlich. Keiner, nicht einmal die Surfer, bewegte sich so hektisch auf den Wellen wie sie. Ich räusperte mich. »Komisch ist das schon. Sie wird auch einen Grund gehabt haben.« »Bestimmt«, gab Lady Sarah mir recht. »Ich kann mir auch vorstellen, daß es ein verflixt übler gewesen ist.« »Man sieht sonst nichts.« Ich schüttelte den Kopf. »Alles ist sehr normal.« »Du solltest sie trotzdem fragen.« »Was meinst du, was ich vorhabe.« Ich ließ die Horror-Oma stehen und lief wieder ein Stück des Weges zurück, weil ich dort warten wollte, wo Jane anlegen würde. Ich wartete, winkte, kümmerte mich nicht um die Blicke der anderen Camper und hoffte, daß sie mich gesehen hat. Erst als sie in den Bereich der auslaufenden Wellen geriet, erkannte sie mich. Ich lief ihr entgegen. Daß ich dabei nasse Füße bekam, störte mich nicht weiter. Ich brauchte nur Janes Gesicht zu sehen, um erkennen zu können, was los war. Trotz der großen Sonnenbrille zeichnete sich der Schrecken darin ab. Sie mußte etwas Schlimmes erlebt haben. Jane taumelte mir entgegen. Der Kiel des Bootes war über den nassen Sand geschranmmt. Ich fing sie ab. Ihr Atem blies mir ins Gesicht. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Oberteil anzulegen. Ihre Brüste bebten unter den heftigen Atemzügen. »Was ist denn passiert, Jane?« »Ken ist tot!« »Wer?« Sie schluckte, bewegte ihre Lippen, wiederholte den Satz, ohne eine Erklärung zu geben. »Wer, zum Henker, ist oder war Ken?« »Ein junger Mann!« stieß sie schwer atmend hervor. »Einer, der hier aufpassen sollte. Jetzt ist er tot. Und, das kannst du mir glauben, John, er wurde fast vor meinen Augen umgebracht. Sie oder etwas zog ihn ins Wasser, in die Tiefe. Dort geschah das Drama, lautlos und brutal. Ich konnte nichs tun. Was wieder an die Oberfläche trieb, war eine Wolke Blutlache.«
Ich sagte nichts, starrte sie an und sah erst ihr heftiges Nicken. »Du glaubst mir nicht, wie?« »Es fällt mir schwer.« »John, ich habe dich nicht angelogen. Es ist tatsächlich passiert. Man hat Ken getötet.« »Und wer, bitte schön?« »Das habe ich nicht sehen können. Vielleicht derjenige, der auch mir eine Verletzung beigebracht hat.« »Du bist verletzt?« »Nicht der Rede wert.« Sie hob ihren Fuß an, ich sah das Pflaster. »Es passierte im Wasser. Etwas berührte mich, den Schmerz spürte ich erst später. Nichts von Bedeutung.« »Möglicherweise eine Warnung?« »Kann sein, muß aber nicht. Ich möchte dich nur um eines bitten. Rudere mit mir hinaus. Möglicherweise finden wir die Leiche, dann hast du den Beweis.« »Ich glaube dir auch so.« Sie hob die Schultern. »Man kann nie wissen.« Jane faßte mich an und zerrte mich in Richtung Schlauchboot. »Bitte, tu mir den Gefallen! Ich muß da noch mal hin.« »Ist gut.« Die übrigen Urlauber verloren das Interesse an uns, als wir in das Boot stiegen. Jane hatte leise gesprochen. Ihre Worte waren hoffentlich nicht gehört worden. Ich enterte das Boot, half Jane beim Einsteigen, ließ die Jacke noch an und griff mir das Ruder. »Kennst du denn den genauen Punkt?« »Das hoffe ich.« Ich ruderte. Schon bald war ich mehr als durchgeschwitzt, zog mein Jackett aus, da uns nicht mehr so viele Menschen umgaben, die an meiner Waffe hätten Anstoß nehmen können. Jane starrte über das Wasser. Hin und wieder korrigierte sie den Kurs. Abwechselnd links und rechts tauchte ich das Paddel ein, um einen einigermaßen geraden Kurs halten zu können. Gischt spritzte über, die Sonne brannte heiß auf uns nieder. Jane suchte nach den roten Blutwolken. Die Chancen, etwas zu entdecken, stufte ich als gering ein. In der Zwischenzeit hatten die Wellen das Blut sicherlich weggeschwemmt. Surfer wischten an uns vorbei. Junge Männer und Frauen mit gebräunten Körpern. Sportlich, locker, lässig. Jane hatte ihr Oberteil wieder angelegt. Ich sah die Gänsehaut auf ihrem nackten Rücken. »Langsamer«, sagte sie. »Wenn mich nicht alles täuscht, muß es hier gewesen sei.« Ich zog das Ruder ein. Knallhart stach die Sonne. Das Wasser reflektierte die Strahlen, es wurde sehr heiß. Zum Glück wehte ein
leichter Wind. Hier bekam man innerhalb von zehn Minuten einen Sonnenbrand. Über den Wellen flimmerte die Luft. Da schaute ich nicht hin. Ich wollte ausprobieren, wie weit ich in die Tiefe blicken konnte, um dort einen Schatten zu sehen, den das Blut bestimmt hinterlassen hatte. Leider war nichts zu entdecken. Ich starrte ins Leere, das heißt, in das türkisfarbene Wasser, das mich an treibendes Glas erinnerte. »Kein Blut, Jane!« meldete ich. Sie bekam den Satz in die falsche Kehle. »Glaubst du etwa, daß ich dich angelogen habe?« »Um Himmels willen — nein, ich stellte nur etwas fest. Sei doch nicht so pingelig.« »Das hängt mir eben noch in den Knochen.« Sie schaute mich fast wütend an. »So etwas kann man nicht einfach wegstecken und zur Tagesordnung übergehen.« »Okay, schon gut. Ich werde weiterrudern.« »Ja, tu das.« Diesmal bewegte sich das Schlauchboot in einem Kreis. Zuerst eng, dann immer weiter ziehend. Beide schauten wir auf die Wellen, ohne etwas sehen zu können. Das Blut hatte sich im Wasser verteilt und würde bestimmt nicht mehr an der Oberfläche erscheinen. »Wenn schon kein Blut«, sagte ich, das Ruder dabei einziehend, »müßte doch zumindest die Leiche zu sehen sein. Jeder weiß, daß sie nach oben treibt.« Jane nickte. »Da hast du eigentlich recht. Nur ist sie nicht zu sehen.« »Was kann das bedeuten?« »Ich habe keine Ahnung, John. Vielleicht . . .« Sie schluckte. »Vielleicht hat irgendeine Kraft den Toten in den Grund gedrückt. Ich weiß ja nicht, wie tief die See hier ist und ob man tauchen kann.« Mein Lächeln war Antwort genug, dann zog ich die Schuhe aus, die Hose, die Socken, eine Badehose trug ich sowieso, zum Schluß kam das Hemd an die Reihe. »Du ... du willst tauchen, John?« »Hattest du das nicht gewollt?« »Nein, ja, aber das ist gefährlich.« »Wir werden sehen.« Ich schaute noch einmal auf die Wasserfläche, wo sich das Licht der Sonne brach. Allein wegen dieses Glanzes konnte ich nicht viel erkennen. Der Schatten war da. Auf einmal und urplötzlich. Woher er seinen Weg gefunden hatte, konnte ich nicht sagen. Wenn mich nicht alles täuschte, besaß er einen menschlichen Umriß. Auch Jane Collins hatte ihn entdeckt, deutete über Bord und rief: »John, das ist es.« »Okay, Mädchen, werden wir gleich haben.« Dolch und Beretta hatte ich abgelegt. Nur mit dem Kreuz bewaffnet, hechtete ich über Bord und
bekam einen leichten Schock, als sich die Kälte wie ein Reif um meinen Körper legte. Nach der Hitze kam mir das Wasser besonders kalt vor. Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich an diese Temperaturen gewöhnt hatte. Der Schatten war mittlerweile nach rechts hin abgetrieben worden. Unter Wasser schwamm ich in seine Richtung, mußte aber zuvor auftauchen, um Luft zu holen. Dann bewegte ich mich weiter, ging schräg in die Tiefe, hielt die Augen weit offen und suchte nach diesem länglichen Gegenstand, der durchaus menschliche Umrisse haben konnte. Ich sah ihn wieder. Das Wasser verzerrte, die Entfernungen stimmten nicht. Was zum Greifen nahe aussah, war in Wirklichkeit ziemlich weit entfernt. Ich legte einen Zahn zu. Trotzdem gelang es mir erst beim dritten Versuch, den Schatten zu erreichen und auch zuzugreifen. Meine Hand fand zielsicher das vom Wasser aufgeschwemmte Haar. Auch wenn es kurz war, konnte ich es fassen. Ich wollte den Toten zu mir heranziehen — und hielt den Kopf in der Hand! Im gleichen Augenblick zerrte ein gewaltiger Strudel an meinen Füßen... *** Den Kopf wollte ich auf keinen Fall loslassen. Meine Finger hatten sich regelrecht darin verkrallt. Ich merkte auch, wie die Masse an den Kuppen nachgab, so als würde ich mit den Spitzen die Haut eindrücken. Das alles schoß mir in Sekundenschnelle durch den Kopf, während der Sog weiterhin an meinen Beinen zerrte, um mich in die düstere Tiefe zu zerren, wo ich ein nasses Grab finden sollte. Ich kämpfte dagegen an, arbeitete mit den Beinen und dem linken Arm. Zusätzlich wurde mir die Luft knapp. In den folgenden zehn Sekunden mußte ich hoch und atmen. Ich startete einen verzweifelten Kampf gegen die Tücke der See, nicht sicher, ob ich ihn gewinnen konnte. Auf einmal kam ich frei. Dabei hatte ich das (lefühl, mich irgendwo abgestoßen zu haben. Wie ein Korken schnellte ich der Oberfläche entgegen, tauchte auf, schnappte gierig nach Luft und bekam mit, daß Jane und ihr Schlauchboot abgetrieben waren. Den Kopf hielt ich noch immer fest, wobei ich die rechte Hand unter die Wasserfläche gedrückt hatte. Ich wollte die langsam näherrudernde Jane nicht zu sehr erschrecken. Eine Welle erwischte das Boot und trieb es dicht an mein Gesicht heran. Ich griff mit der linken Hand zu, hielt mich fest, und Jane beugte sich über mich.
Ihr Gesicht war so nahe, daß ich die kleinen Schweißperlen auf der Haut erkennen konnte. »John, zum Teufel, was war das?« »Wahrscheinlich der Teufel. Bitte, erschrick jetzt nicht, Mädchen. Ich habe ein verdammt makabres Souvenir mitgebracht.« »Was denn?« |ane erschrak trotzdem, als ich die rechte Hand aus dem Wasser schwang. Sie sah den Kopf, auch das verzerrte Gesicht, wurde bleich und vergaß, mich beim Entern zu unterstützen. Ich rollte mich über den Wulst, den Kopf hatte ich losgelassen. Er lag wie ein schauriges Mahnmal auf dem Boden des Schlauchbootes. »Ist das Ken gewesen?« fragte ich leise. Sie nickte nur. Eine Hand hatte Jane gegen den Hals gepreßt. Ich schaute mir den Kopf trotzdem näher an. Dafür daß er nur eine halbe Stunde im Wasser gelegen hatte, sah er ungewöhnlich aus. Die Haut hatte eine dunkelgrüne Färbung angenommen. Ich strich darüber hinweg, wobei ich mich überwinden mußte, und sah deutlich die kleinen Eindrücke meiner Fingerkuppen in Höhe der Stirn. Dort bröselte er auch auseinander. Der Schädel zu einer öligen Masse, und nichts anderes schwamm darin. Sie blieb wie Sirup auf dem Boden des Schlauchboots liegen. Sekundenlang schloß ich die Augen, weil ich dieses Bild einfach aus meinem Gedächtnis verbannen wollte. Es klappte nicht. Immer wenn ich die Augen öffnete, sah ich die Flüssigkeit, die einmal ein Kopf gewesen war. Was hatte hier stattgefunden? Welch unheimliche Magie hatte ihre Hand im Spiel? Drei Tote hatte es gegeben, und jeder war auf eine andere Art und Weise umgebracht worden. Einmal durch einen Baum, der zweite durch eine Fahrradspeiche, der dritte hatte sich unter Wasser zwar nicht aufgelöst, aber er war dort vorbereitet worden. »Ich habe keine Erklärung«, sagte Jane leise. »Du kannst mich fragen, was du willst, ich weiß nichts.« »Ich auch.« »Er war da!« flüsterte sie und strich durch ihr Gesicht. »Er hat gelebt wie du und ich. Und jetzt so etwas. John, was sollen wir tun? Willst du den Platz räumen lassen?« »Mit welcher Begründung?« »Ich weiß es nicht. Gefahr und . . .« »Kannst du ihnen denn eine Leiche präsentieren? Wenn das der Fall wäre, hätten sie dir geglaubt. So aber werden wir einfach bleiben müssen und nichts sagen.« Jane blickte in Richtung Ufer. »Das ist eine Hölle, John. Eine verdammte Hölle, die sich hinter einem Spiegelbild von Freizeit, Urlaub und glücklichen Menschen verbirgt. Das wahre Gesicht zeigt sich nur hin und wieder. Was geht hier vor?« Sie hob den Kopf etwas an und schaute
weit hinüber zu den Kronen der grünbelaubten Bäume. »Was verbirgt dieser Wald, das Meer, den Strand? Welch ein Satan haust hier, der auf keinen Menschen Rücksicht nimmt? Ist es wirklich die Hölle?« »In einer bestimmten Form sicherlich. Nur glaube ich nicht, daß unser Freund Asmodis dahintersteckt.« »Werdann?« »Ich dachte schon an Mandragora und gehe auch davon aus, daß es irgendeine Naturmagie ist, der wir zum Opfer gefallen sind. Fs kann sein, daß eine alte Kultstätte wieder erwachte und ihr Grauen verteilte.« »Kultstätte ist gut. Kannst du mir sagen, wer hier vor langer Zeit seine Heimat gehabt hat?« »Im Zweifelsfall die Kelten.« »Womit wir bei den Eichenkundigen, den Druiden, wären.« »Richtig.« »Aber die Druiden waren positiv.« »Auch richtig«, gab ich zu. »Nur kannten sie gefährliche und finstere Gottheiten, denen sie hin und wieder Opfer brachten, um sie zu besänftigen. Frag mich noch etwas Leichteres. Wir müssen die Zeit abwarten. Vielleicht erreichen wir ja in der folgenden Nacht einen Durchbruch.« Jane nickte. »Ja, möglich, obwohl ich daran nicht so recht glauben will. Da, John, die Lache.« Sie rückte so weit wie möglich zurück, als sie mich ansprach. An der Sonne lag es bestimmt nicht, daß sich die Reste allmählich auflösten. Wir schauten dem trägen Qualm zu, der widerlich stank, als er fortgeweht wurde. Uns kam es trotzdem vor, als würden die Strahlen der Sonne den Rest verdampfen. Ich zog meine Kleidung wieder an, ein Irrsinn in der Hitze, doch ich war nicht hier, um Urlaub zu machen, das hatten mir die letzten Minuten wieder einmal bewiesen. Ich nahm das Ruder von der schweigenden Jane entgegen. Bevor ich das Paddel ins Wasser stach, drehte ich mich um, weil ich nicht dort an Land gehen wollte, wo sich die meisten Urlauber aufhielten. Etwas abseits war besser. Fragen würde man uns wohl nicht stellen. Von all den Schrecken hatte niemand etwas mitbekommen. »Man wird Ken vermissen«, sprach Jane leise. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Wirst du denn gefragt?« »Das ist möglich. Surfer können beobachtet haben, wie er mit mir redete. Er schwamm auf mein Boot zu. Ich hatte ihn schon am Strand kurz kennengelernt.« »Was wollte er denn von dir?« Jane Collins wickelte sich in das bereits wieder trok-kene Handtuch, als würde sie frieren. »Was schon? Flirten, einen Urlaubsflirt beginnen. Mich in Augenschein nehmen.«
»Okay, das reicht.« »Und jetzt lebt er nicht mehr«, flüsterte sie und sprach gegen den lauen Wind. »Was oder wer kann ihn getötet haben? Hast du noch immer keine Idee, John?« »Nein, leider nicht.« »Ich bin auch völlig von der Rolle. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Wir bewegen uns wie auf Glas, das jeden Augenblick zerbrechen kann und damit die schöne Welt zerstört, damit die andere ihr wahres Gesicht zeigt. Ich hasse das einfach.« Eine Antwort bekam Jane von mir nicht. Ich konzentrierte mich mehr auf das Rudern. Das Ufer war mittlerweile näher gerückt und damit auch die nicht so belebte Stelle am Strand, die ich anvisiert hatte. Dort wartete Lady Sarah, die uns nicht aus den Augen gelassen hatte. Ihr heller Hut leuchtete, und der Wind spielte mit der Krempe. »Was sollen wir Lady Sarah sagen?« »Die Wahrheit, Jane.« »Meinst du?« »Sie muß wissen, daß wir in Gefahr sind.« »Auch alle anderen.« Ich nickte. »Richtig, aber wenn dich ein Zeuge beim Gespräch mit Kenny beobachtet hat, kann dieser Zeuge ohne weiteres aussagen. Du verstehst, was ich damit meine?« »Sicher. Der Mörder könnte es erfahren.« »Falls der Zeuge nicht selber der Killer ist. Alle hier sind verdächtig, wir drei ausgenommen.« »Nein, das kann ich nicht unterstreichen. Ich glaube nicht, daß die jungen Menschen so etwas tun würden. Da irrst du dich bestimmt, John. Wir müssen uns auf wenige konzentrieren.« »Wunderbar. Und wer ist das?« »Das kann ich dir leider auch nicht sagen.« »Eben.« Lady Sarah winkte. Jane grüßte zurück und legte noch einen Schlag zu, geriet in das flache Gewässer und hörte, wie der weiche Sand unter dem Bootskiel schabte. »So«, sagte sie zur Begrüßung und mit einer strengen Internatsdirektorenstimme, »jetzt möchte ich gern erfahren, was dort draußen auf dem Wasser los war. Von hier aus konnte ich leider nicht viel erkennen.« »Sei froh«, antwortete ich beim Aussteigen. »Was denn?« »Es gab einen Toten.« Sarah Goldwyn war so leicht nicht zu erschüttern, auch in diesem Moment nicht. Sie ging nur einen Schritt zurück und schluckte. »Das kann doch nicht wahr sein, der dritte Mord?« »Leider.«
»Und wo ist der Tote?« »Sein Kopf lag bei uns im Boot«, erklärte Jane Collins. »John brachte ihn mit, als er tauchte.« »Wie .. .?« Ich erklärte die Zusammenhänge, und Sarah Goldwyn wollte es kaum glauben. Sie war aschgrau geworden, nagte auf der Unterlippe und meinte schließlich: »Das ist schlimmer, als ich gedacht habe. Dann scheint wohl die gesamte Umgebung verseucht zu sein — oder?« »So sehe ich das auch«, gab Jane ihr recht. »Ich würde vorschlagen, daß wir uns in den Wohnwagen zurückziehen.« »Soll ich mitkommen, John?« »Nein, Sarah, bisher hat niemand auf uns geachtet. Versuch du, etwas herauszufinden. Vielleicht hörst du wichtige Dinge, wenn du dich mit den anderen Menschen unterhältst.« Sie nickte. »Darauf kannst du dich verlassen. Ich werde meine Augen und Ohren nicht verschließen. Sollen wir einen Treffpunkt ausmachen?« »Das Restaurant wäre nicht schlecht«, schlug Jane vor. Damit war ich einverstanden, auch Sarah Goldwyn hatte nichts dagegen. »Ich gehe dann«, sagte sie. Wir schauten ihr nach, wie sie in den Schatten hineinschritt. Es kam uns vor wie ein Symbol... *** Er freute sich, denn er hatte es geschafft! Der dritte Tote! Die Gestalt rieb sich die Hände. Allmählich weitete sich der Schrecken aus. Das war auch vorgesehen, so hatte er es haben wollen. Der längst vergangenen Zeit mußte Tribut gezollt werden. Niemand ahnte, was sich hier verbarg. Idioten waren es gewesen, die auf dem Gelände einen Campingplatz errichteten. Aber sie würden sich wundern, alle sollten sich wundern. Keiner entkam. Der Mann atmete tief durch. Er wußte, daß man ihn nicht sehen konnte, denn er hatte das Versteck längst erreicht, war hineingegangen in die andere, die unheimliche Welt, die von einem Hauch des Grauens durchweht wurde. Hier war er der zweite Herrscher, der erste war leider noch nicht befreit worden. Er tappte weiter. Nichts erhellte die Finsternis, und der Mann brauchte zudem kein Licht. Erkannte sich in den Tiefen unter der Erde gut aus, er war ein Suchender gewesen, doch nun hatte er gefunden. Das Geheimnis des Schreckens . . . Uralt, längst in Vergessenheit geraten, durch ihn wieder zu neuem Leben erweckt worden. Magisches Leben, das sich ausbreitete, das wieder die Herrschaft übernahm, vor dem sich die Natur verbeugte, so wie es
einmal festgehalten worden war in den alten Mythen, Legenden und Sagen der Kelten. Leben, das vernichten konnte. Er lachte leise, denn er dachte wieder an die drei Leichen. Denen hatte er es gezeigt. Dann blieb er plötzlich stehen, und ebenso abrupt endete sein Lachen. Ihm war ein Gedanke gekommen. Zwei Fremde waren am heutigen Tag erschienen. Ein Mann und eine Frau. Sie gaben sich harmlos, doch er wußte und spürte, daß sie es nicht waren. Aber sie würden sich wundern, denn auch sie sollten nicht entkommen. Er ging weiter, schüttelte einige Male den Kopf. Daß Spinnweben durch sein Gesicht strichen, störte ihn nicht weiter und auch nicht die kleinen Käfer und Insekten, die ihn umschwirrten oder mal über seine Hände krabbelten. Er wollte zu ihm, da war ihm keine Mühe zu groß. Die Dunkelheit blieb bis zu einem bestimmten Punkt. Da wurde sie erhellt durch ein sehr schwaches grünes Leuchten, das allerdings an Intensität zunahm, je mehr er sich dem Punkt näherte. Licht drang aus dem Boden und verteilte sich dabei wie eine Wolke. Der Mann verringerte seine Schrittgeschwindigkeit. Sehr langsam ging er in das Licht hinein. Noch einen kleinen Schritt wagte er sich vor, dann stand er am Rand der Grube. Uralt war sie, er hatte sie entdeckt und befreit von den Zeugen der Vergangenheit. Er schaute in die Tiefe, wo das Licht seinen Ursprung besaß. Grün, bald schon schwarz drang es aus der Grube in die Höhe und hellte den alten, zähen Schlamm auf, der die Grube ausfüllte. Die Blicke des Mannes durchdrangen den Schlamm. Das genau zählte, denn so sah er das uralte Gesicht, dessen Umrisse sich in dem Schlamm abzeichneten. Ein verzerrtes Gesicht, eines, das aussah, als bestünde es aus allmählich verwesender Baumrinde. Ein Gesicht, das nur durch den Druck des Schlammes gehalten werden konnte, eine Fratze des Schreckens und ein Relikt aus tiefer Vergangenheit. Ein Gesicht, das zu ihm gehörte, zu demjenigen, der die Botschaft des Schreckens gebracht und seinen Diener gefunden hatte. Der Mann beugte sich vor, er tauchte in das grüne Licht und empfing die neuen Befehle. Dabei verzog sich sein Mund zu einem bitterbösen Grinsen. Was er da hörte, war einfach phantastisch. Der Nacht des Blutes stand nichts mehr im Weg... ***
Jane hatte Kaffee gekocht und behauptet, das wäre bei dieser Hitze das beste. Ich hatte nur genickt und ihr kaum zugehört. Im Wagen konnte man es aushalten, dennoch schwitzte ich, denn der dritte Mord war mir tief unter die Haut gefahren. Wer killte hier? Hin Mensch, ein Monster, möglicherweise eine Mischung aus beiden? Ich fand einfach keine Antwort. Zudem hatte ich den Killer noch nicht zu Gesicht bekommen. Als ich Geschirr klappern hörte, drehte ich mich um. Ich saß mit dem Rücken zum Fenster. Das starke Sonnenlicht wurde von der Hecke abgeschwächt, und auch die Dächer der Bäume sorgten für weniger Wärme. »Hier, trink mal einen Schluck.« »Danke.« Ich trank, als sich Jane mir gegenüber setzte. Gedankenverloren schaute ich auf die Flüssigkeit, und Jane mußte ihre Frage zweimal stellen, bevor ich sie überhaupt verstand. »Wie schmeckt er denn?« »Ach so, ja, gut.« »Wie der von Glenda?« »Sicher.« »Lügner«, erklärte Jane. »Du lügst, ohne rot zu werden.« Ich winkte ab. »Laß mich nachdenken. Was kann hier vorgehen? Was lastet über diesem verdammten Areal, das so aussieht wie ein kleines Paradies? Wer bringt das Grauen?« »Fin Killer!« Ich wiegte den Kopf. »Im Prinzip hast du recht, aber dieser Killer kann in verschiedenen Verkleidungen oder Mutationen auftreten. Sogar die Zweige eines Baumes hat er unter seine Kontrolle bekommen. Kannst du dir das vorstellen?« »Nein.« »Ich im Prinzip auch nicht. Dennoch bleibe ich immer an Mandragoro hängen.« »Da muß ich dir widersprechen. Was hat Mandragoro mit dem Wasser zu tun? Weißt du das?« »Nein.« »Na, bitte.« Ich leerte die Tasse und spürte, daß ich anfing zu schwitzen. »Mit dem Wasser direkt möglicherweise nichts, dafür aber mit anderen Dingen, die im Wasser schwimmen. Algen, zum Beispiel.« »Das kann ich nicht glauben.« »Ich aber.« »Gehst du davon aus, daß dieser Kenny von Algen angegriffen worden ist, die ihn töteten?« »Ich schließe die Möglichkeit zumindest nicht aus, Jane. Ich habe zum Beispiel diesen verdammten Sog gespürt, der mich plötzlich packte. Weißt du, woher er kam?« »Keine Ahnung.« »Fs muß einfach eine Verbindung zwischen dem i Grauen im Wasser und dem an Land geben.« »Durch wen?«
Ich drehte den Kopf und schaute gegen die Decke. »Wenn ich das wüßte, Jane, wäre mir wohler. Ja, ich rechne damit, daß eine Brücke existiert, doch leider weiß ich nicht, wer diese Brücke darstellt. Noch nicht.« »Du setzt viel Hoffnung auf die Nacht?« »Ja.« Jane stand auf. Sie ging zur Kaffeemaschine. Über den Bikini hatte sie ein weit schwingendes Kleid mit dicken Sommerblumen als Aufdruck gestreift. Noch bevor sie den Kaffee einschenken konnte, hörte ich das Geräusch. Ein leises Kratzen draußen an der Aluwand, mehr nicht, aber es reichte aus, um mich zu warnen. Ich stand auf. »Bleib noch sitzen, ich werde . . .« Jane verstummte, weil ich meinen Finger auf den Mund gelegt hatte. Auf leisen Sohlen schlich ich zur Tür. Die Jacke zog ich nicht an, legte eine Hand auf den Griff der Beretta. »Was ist denn?« wisperte Jane, die nichts gehört hatte und sich nur wunderte. Ich schüttelte den Kopf und warf ihr einen warnenden Blick zu, jetzt nur nicht weiter zu reden. Sie verstand das Zeichen und hielt sich zurück. Das Schaben auf der Aluhaut wiederholte sich nicht. Dafür glaubte ich aber leise, schleichende Schritte zu hören, die sich an der Front des Wagens entlangbewegten. Jane war inzwischen zu mir gekommen. »Ist da draußen jemand? Schleicht dort einer herum?« »Genau.« Sie schaute mich an, ging dann zum Fenster, stellte sich schräg daneben und peilte durch die Scheibe, ohne allerdings jemand entdecken zu können. »Der ist im toten Winkel!« flüsterte sie. »Klar doch.« Ich schaute noch einmal auf die Klinke, drückte sie und zog die Tür mit einer Bewegung auf. Zum Glück klemmte sie nicht, gab kaum Geräusche ab. Erst als ich den Wagen verließ und nach draußen sprang, hätte jemand aufmerksam werden können. Der Mann drehte mir den Rücken zu. Obwohl er seinen Sonnenhut nicht mehr trug, erkannte ich ihn auch von hinten. Es war Judd, der Aufpasser vom Schlagbau m. »He, was ist?« Als er meine Stimme hörte, fuhr er herum. Sein Gesicht verlor an Farbe, die bleichen Augenbrauen kamen mir noch balkenähnlicher vor. Er versuchte zu grinsen; es gelang ihm halbwegs verlegen. »Wollten Sie etwas, Judd?« »Ja, nach euch sehen.« »Spionieren?«
»Nein, nein, das darfst du nicht so denken. Ich wollte nicht spionieren, nur nach euch schauen.« »Weshalb denn? Mißtraust du uns? Glaubst du, daß wir die Gebühr nicht bezahlen können?« Auch Jane erschien in der offenen Tür des Wohnmo-bils. Sie nickte Judd zu und wartete ebenso auf seine Antwort wie ich. »Das habe ich nicht gemeint. Wirklich . . . ahm ... es ist nichts. Ich mache nur meinen Rundgang, schließlich bin ich für die Sicherheit auf dem Platz verantwortlich.« »Das stimmt, Judd«, gab Jane zu. »Gibt es einen besonders aktuellen Grund, da du den Gang jetzt schon unternimmst?« Er wollte nicht so recht mit der Sprache heraus. Erst auf unser Drängen hing bemühte er sich. »Ja, das schon, doch ich mag nicht darüber reden. Es ist eine Privatsache.« Wir bekamen ihn trotzdem dahin und erfuhren, daß er sich Sorgen um Kenny machte, mit dem er verabredet gewesen war. »Ja, und nun suche ich ihn eben. Habt ihr ihn gesehen?« »Nein«, sagte Jane. »Dann kann man nichts machen.« Er hob die Schultern. »Ich will ja nicht neugierig sein, Judd«, sagte Jane, »aber was wollten Sie von Kenny?« Der Mann verstand. »Ah, Sie kennen ihn bereits. Ja, er ist ein Mädchenheld, und wenn man so aussieht wie du, ist es kein Wunder, daß Ken ...« Er lachte. »Aber ich lenke ab. Ken arbeitet ja für uns. Er ist eine Art Bademeister, ich mußte mich mit ihm zusammensetzen, um über gewisse Dinge zu reden.« Ich lehnte mit der Schulter am Wagen. »Sind die Dinge von allgemeinem Interesse?« »Wie meinst du das?« »Nun ja, sie könnten uns alle betreffen.« Judd senkte den Kopf. »Ich weiß es noch nicht, John, ich weiß es wirklich nicht. Ich kann bisher nur vermuten, was mir übrigens auch nicht liegt, aber ich habe das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmt.« Er redete noch schneller weiter. »Bitte, jetzt dürft ihr mich nicht falsch verstehen. Es ist vieles okay, es ist alles klar, aber es gibt etwas, das mich stört.« »Was denn?« »Ich wollte mit Kenny in den Wald gehen und herausfinden, ob ich mich geirrt habe. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß sich die Atmosphäre geändert hatte. Sie ist so seltsam und komisch geworden, einfach anders.« »Wie denn?« »Kälter.« Er sah mein Lächeln. »Sicher, die Sonne strahlt nicht mehr so stark wie am Mittag.«
»So meine ich das nicht, wenn ich von einer kälteren Atmosphäre spreche. Man muß es selbst spüren.« Er hob die Schultern. »Sorry, ich habe euch schon zu lange aufgehalten. Mal sehen, wo ich Kenny finden kann.« »Wie wäre es denn, wenn ich dich begleite?« schlug ich Judd vor. »Ich habe Zeit.« Er war froh über meinen Vorschlag, meinte aber, daß er es nicht annehmen könnte. »Keine Sorge, ich bin froh, wenn ich etwas zu tun habe. Und Jane kann sich selbst beschäftigen, nicht?« »Klar doch.« »Nun ja«, druckste er herum, »wenn es dir wirklich nichts ausmacht, kannst du ja mitkommen.« »Wann seid ihr denn ungefähr zurück?« erkundigte sich Jane. »Ich gebe dir keine Zeit!« Jane lächelte. »Wie du willst, John. Und halte die Augen auf, bitte. Manchmal lauern auch im Wald Gefahren, die sind nicht zu unterschätzen.« »Ich weiß.« Judd ging vor. Als wir den Hauptweg erreichten, schüttelte der den Kopf. »So ganz wohl ist mir bei der Sache nicht, verstehst du? Ich hätte dich bei Jane lassen sollen.« »Mach dir keine Sorgen. Ich weiß schon, was ich tue.« »Ihr seid nicht verheiratet — oder?« »Nein, wir leben auch nicht zusammen. Jeder hat eine Wohnung für sich. Wir sind Singles.« »Soll ja jetzt modern sein.« »Ja, das klappt bei uns recht gut.« Judd war anderer Ansicht. »Ich bin mehr für eine Familie, weißt du? Aber ich habe die Richtige noch nicht gefunden, die bei mir hier leben will. Vielleicht taucht sie noch auf. Hin und wieder ein Verhältnis, das hatte ich schon, aber die Camper hier sind mir meist zu jung. Außerdem kommen sie als Pärchen.« Da hatte er nicht gelogen. Ich konnte es sehen. Der Strand leerte sich allmählich. Im Camp dagegen herrschte ein reges Leben und Treiben. Besonders an den Duschbauten, wo sich die Zelter eingefunden hatten. Dort lachte und scherzte man um die Wette. Ich schaute mir die Zelte an. Auch sie standen nicht wild durcheinander, sondern in Reihen. Jeder besaß praktisch ein kleines Grundstück. Vor vielen Zelten standen Sitzmöbel, hin und wieder entdeckte ich auch einen Grill und sogar einen TV-Apparat. Wer Radio hörte, der tat dies meist über Kopfhörer oder hatte die Kiste ziemlich leise gestellt. Man mußte Rücksicht nehmen, man nahm Rücksicht, da spielten auch die jüngeren Personen mit.
Wir schlugen den Weg ein, der auch am Restaurant vorbeiführte. Unwillkürlich schaute ich nach links. Über den l'reßräumen wohnte Lady Sarah. Sicherlich dort, wo sich ein offenes Fenster befand. Sie selbst zeigte sich allerdings nicht. Dafür kam uns der Wirt entgegen. Er schob eine Sackkarre, auf der leere Bier- und Limokästen übereinander standen. Als er uns sah, blieb er stehen. »Na, wohin wollt ihr denn?« »Hast du Ken gesehen?« fragte Judd. Art Cromwell streichelte seinen dichten Bart. »Nein, nein«, murmelte er nach einer Weile. »Da seid ihr bei mir an der falschen Adresse. Ich habe ihn nicht gesehen. Außerdem war ich lange nicht am Strand. Da müßt ihr suchen.« »Nein, da habe ich schon nachgeschaut.« Cromwell hob die Schultern. »Was wollt ihr jetzt machen?« »Weitersuchen«, erklärte Judd. »Wirschauen uns mal im Wald um, der mir gar nicht gefällt.« »Wieso das denn?« Judd war etwas verlegen. »Das ist schwer zu sagen. Ich war vorhin mal da und finde, daß sich dort einiges verändert hat. Die Atmosphäre ist irgendwie komisch geworden. Frostig, verstehst du?« »Nein.« »Ist auch egal, Art. Wir sehen uns später.« »Und bringt Ken mit, wenn ihr ihn gefunden habt. Er könnte mir zur Hand gehen. Ich habe das Gefühl, daß es in der nächsten Nacht einen heißen Tanz geben wird. Die Leute haben Durst.« »Was sagt denn der Wetterbericht?« fragte ich. »Schwüle und Gewitter. Ja, es soll Wärmegewitter geben. Bei diesem Wetter kein Wunder. Na ja, dann werde ich mal weitermachen.« Er schob mit seiner Sackkarre davon. »Kommt ihr gut miteinander aus?« wollte ich wissen. »Ja, der ist stark. Art ist ein Mann, der alles im Griff hat. Er blickt durch. Sein Restaurant floriert, er hat es mit seinen eigenen Händen gebaut. Ist 'ne stramme Leistung.« »Das glaube ich.« Wir brauchten nicht weit zu gehen, um den Wald zu erreichen. Er begann gleich hinter dem Restaurant. Die Sonne war gewandert. Wenn sie mal durch das Dach der Bäume ihre Strahlen schickte, so schuf sie helle Lichtinseln im Dämmer des Waldes. Sie zeichnete die Kreise und Figuren auf das Moos, manchmal regelrecht blendend, dann wieder als sanfter Schleier. Die Luft hier zwischen den Bäumen war mit der auf dem Wasser nicht zu vergleichen. Feucht, drückend, irgendwie belastend für den menschlichen Körper, schwül. ..
Judd schwitzte schneller als ich, obwohl ich wieder meine Jacke übergestreift hatte. »Was ist das nur, John? Ist das normal?« Ich lachte leiser. »Jedenfalls spüre ich nichts von deiner erwähnten Kälte.« »Hast recht, aber sie ist da.« »Du mußt die Atmosphäre schnuppern«, erwiderte er leise. »Nur so kannst du es feststellen.« Wir hatten einen schmalen Pfad erreicht. Er führte in Windungen höher. Strauchwerk flankierte ihn. Es füllte die Lücken zwischen den Baumstämmen. Auf einer kleinen Lichtung blieben wir stehen. Wäre der Blick frei gewesen, hätten wir den Campingplatz sehen können, so hörten wir nur die Stimmen der Urlauber, die gedämpft zu uns hochklangen. »Schau dich mal um und genau hin«, flüsterte Judd mir zu. »Siehst du etwas?« Ich tat ihm den Gefallen. »Was sollte ich denn sehen?« »Die Schleier.« »Wie bitte?« Er legte mir eine Hand auf die Schulter und deutete mit der anderen nach vorn. »Die Schleier zwischen den Bäumen. Sie ... sie hängen dort fest wie dünne Tücher.« »Ja?« »Klar doch.« Er selbst ging vor und bewegte seine Hand zwischen Strauch und Baumstamm hin und her. Dabei sah ich auch etwas blitzen und mußte ihm recht geben. Es waren tatsächlich feine Fäden, die auch Spinnen gezogen haben konnten. »Na, habe ich recht?« »Stimmt. Nur sehe ich daran nichts Ungewöhnliches.« »Noch nicht«, sagte er leise. »Du mußt herkommen und horchen, dann wirst du feststellen, daß sie singen.« Ich schüttelte den Kopf. »Was sollen sie? Singen?« »Ja, zum Henker, ja. Die singen. Die haben eine Botschaft. Hier kannst du sehr deutlich erleben und bekommst es sogar bewiesen, daß die Natur nicht tot ist, sondern lebt. Du mußt nur deine Ohren auf Lauschposition stellen.« Er hatte dermaßen überzeugend gesprochen, daß ich seinen Rat befolgte und mich neben ihn stellte. Ich drehte auch den Kopf so wie er, sah seinen erwartungsvollen Blick und hörte es in der Tat. Diese kleinen Spinnweben gaben Geräusche ab. Zu vergleichen mit dünnen Gummifäden, die gespannt wurden und einen Moment später wieder in ihre alte Position huschten. »Na?« »Du hast recht.« Er lachte leise. »Sag' ich doch. Und jetzt erzähl du mir, wo das herkommen könnte.« »Keine Ahnung.«
»Weißt du was, John? Ich habe allmählich das Gefühl, in einem verzauberten Wald zu stehen. Da kannst du grinsen oder lachen, aber es ist so. Dieser Wald ist nicht mehr normal, er ist verzaubert. Hier sind möglicherweise Urkräfte freigeworden.« »Wie meinst du das?« »Keine Ahnung. Vielleicht will uns die Natur ein Zeichen geben, daß wir sie nicht weiter zerstören.« Er wechselte das Thema. »Hast du eigentlich von dem Mord gehört, der hier im Wald geschehen ist?« »Gerüchteweise.« »Es stimmt, John, hier ist jemand ermordet worden. Ein junger Camper. Man hat ihn auf verdammt miese Art und Weise umgebracht.« »Kennt man den Killer?« »Ja.« Er blickte mich ernst an. »Man spricht davon, daß es ein Baum gewesen ist!« »Ein .. . Baum?« »Der stürzte um und begrub ihn unter sich. Das ist nicht alles. Die Zweige bewegten sich plötzlich und erwürgten ihn. Die legten sich wie Henkerschlingen um seinen Hals. Jetzt hören wir das Singen. Der Baum ist auch nicht grundlos umgefallen. Dahinter steckt Methode, sage ich dir. Irgend etwas geht hier vor, der Wald ist mir schon seit Tagen nicht mehr geheuer.« »Aber wir wollten Kenny suchen.« »Richtig, Kenny. Ein Muster an Zuverlässigkeit. Daß wir ihn nicht finden, macht mich nachdenklich und stutzig. Ich werde einfach die Idee nicht los, daß ihm etwas passiert ist.« Bei diesen Worten schaute er sich um, als könnte ihm der Wald eine Antwort geben. Der aber schwieg sich aus. »Sollen wir weitergehen?« fragte ich Judd. »Wäre nicht schlecht. Komm.« Er ging wieder vor. Diesmal geduckt und auch gespannt, als wartete er darauf, daß etwas passierte. Wir näherten uns dem dichten Teil des Waldes. Hier standen die Büsche manchmal wie Wände. Wer sie durchbrechen wollte, mußte sich schon anstrengen. Judd ging vor. »Das Singen«, hörte ich ihn sprechen. »Das verdammte Singen ist nicht zu stoppen.« Er drehte sich zu mir um. »Hörst du es auch, John?« »Nein.« »Aber ich.« Er blieb stehen. »Der Wald lebt. Er hat sich verändert, das habe ich vorhin auch gespürt, als ich die Fäden anfaßte. Da überkam mich ein ungewöhnliches Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Aber der Wald lebt.« Er ging weiter, blieb dann stehen und deutete nach vorn. »Da, sieh doch. Ist das normal?« Er hatte den Arm ausgestreckt. Ich schaute in eine regelrechte Wolke hinein, die sich aus dünnen, quer und längs laufenden Fäden gebildet hatte und eine regelrechte Sperre bildete.
Das war nicht normal, da hatte er schon recht. Mein Blick glitt in die Höhe. Das grüne Laub wirkte wie ein gewaltiges Dach. Es filterte schräg einfallendes Sonnenlicht, ließ nur lange Streifen durch, die sich auf dem Boden und entlang der Stämme verteilten. Dazwischen blitzten die Fäden, zu vergleichen mit winzigen Schnüren, die Judd aus dem Weg schleudern wollte. Er berührte sie mit der rechten Hand, schrie auf — und zog die Hand hastig zurück. »Was ist denn?« Als ich ihn erreicht hatte, drehte er sich um. »Da!« keuchte er, »schau selbst.. .« Ich bekam große Augen, denn seine Handfläche sah aus, als hätten mehrere Messer hineingeschnitten. Aus kleinen Schnittwunden quoll Blut in zahlreichen, perlenartigen Tupfen. Wir waren beide ziemlich stumm. Ich fand als erster die Sprache wieder. »Hast du ein Taschentuch?« Judd nickte. Ich zerrte es aus seiner Hosentasche. Der Stoff war nicht mehr sauber, deshalb nahm ich meins und wik-kelte es um seine Hand. Er stöhnte auf, sein Gesicht bekam einen verbissenen Ausdruck. »Verdammt, damit habe ich nicht gerechnet. Nein, John, das ist urplötzlich gekommen. Ich hatte das Gefühl, als hängen zahlreiche Messer zwischen den Bäumen. Ein Wahnsinn, kann ich dir sagen.« »Halte deine Hand ruhig.« »Und du?« »Ich sehe mir die Spinnweben mal genauer an.« »Hör auf, verdammt! Willst du dich auch schneiden?« »Das hatte ich nicht vor.« Ks waren nur wenige Schritte bis zu dieser Stelle. Grünes Dämmer bildete den entsprechenden Hintergrund. Vor ihm zeichnete sich die hellen Fäden sehr genau ab. Harmlos im ersten Augenblick, tatsächlich jedoch eine Mordfalle. Ich ging sie mit dem Kreuz an. Fs war mir egal, ob Judd zuschaute oder nicht. Ich mußte einfach wissen, wie magisch dieses Phänomen war und ob überhaupt. Das Kreuz zeigte schon Temperatur, als ich es in der Hand hielt. Fin Zeichen, daß meine Theorie stimmen konnte. Ich mußte es nur mit dem Netz zusammenbringen. Da hörte ich das Rauschen und den gleichzeitigen Schrei. Ich kreiselte herum. Etwas peitschte durch den Wald. Geschrien hatte Judd, denn er sah, daß sich uns etwas näherte, von dem wir keine Ahnung hatten. Wir konnten nur den Weg verfolgen. Hätte es hier Elefanten gegeben, so hätte ich daran geglaubt, denn es war furchtbar, was sich durch das Unterholz schob. Wir konnten es nur
hören und bekamen mit, wie sich die Zweige der Büsche bewegten, peitschten, knackten und rissen. »Da kommt jemand auf uns zu!« keuchte mein Begleiter. »Verdammt, was kann das sein?« »Darauf bin ich auch gespannt«, erklärte ich und holte sicherheitshalber die Beretta hervor. Sie nutzte mir nicht viel. Das Ding oder der Gegenstand, der sich seinen Weg bahnte und freischlug, war durch eine Kugel kaum zu stoppen. Den mußte man schon mit bloßen Händen angehen, diesen verdammten Killerspaten... *** »Kinder, das ist für eine alte Trau wie mich eigentlich viel zu heiß«, stöhnte Lady Sarah, als sie das Restaurant betrat und sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Möchten Sie etwas trinken?« fragte die blonde Bedienung. Sarah Coldwyn nahm den Hut ab. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bringen Sie mir bitte einen Saft, mein Kind.« »Welchen denn?« »Grapefruit.« »Gern.« Die Mädchen hatten noch nicht viel zu tun. Die Urlauber hielten sich bei ihren Zelten oder an den Duschräumen auf. An den Strand würde jetzt kaum jemand gehen. F.s war die Zeit, wo man die Sonnenbrände bekam oder die frisch erworbene Bräune pflegte. Sie bekam den Saft, trank und stöhnte auf, als sie die Flüssigkeit noch einmal nachgoß. »Oh, das mußte einfach sein, nach einem Tag wie diesem.« »Ja, es war heiß.« »Das können Sie sagen. Wie heißen Sie eigentlich, Kind?« »May.« »Okay, May, wollen Sie auch etwas trinken?« »Gern, aber der Chef .. .« »Erstens ist Mr. Cromwell nicht anwesend, und zweitens bezahle ich das Getränk.« »Ja, danke.« »Wann kommt denn Ihre Kollegin?« »Erst gegen Abend.« May kam von der Theke zurück, das Glas mit Saft in der Rechten. Sie war ein etwas farbloses Geschöpf mit einem blassen Gesicht, cias trotz des schönen Sommerwetters so gut wie keine Bräune zeigte. Auf der Haut glänzten Schweißperlen. »Geht es Ihnen nicht gut?« erkundigte sich Sarah. »Nicht besonders.« »Wie kommt das?«
»Ich weiß nicht. Seit dem Nachmittag habe ich das Gefühl, in einem Käfig zu hocken. Verstehen Sie das?« »Noch nicht. Sie müßten es mir erklären.« May hob unbehaglich die Schultern. »Das ist so, als wäre ich eine Gefangene auf dem Platz. Ich kann es nicht genau erklären, es ist wirklich so. Ich glaube, daß sich etwas verändert hat. Manchmal bekomme ich Schweißausbrüche.« »Das kann am Wetterliegen, Kind.« »Auch. Nur bin ich nicht in der Sonne. Ich vertrage sie einfach nicht. Die Schweißausbrüche kommen mehr von innen, wenn Sie verstehen. Das Gefühl ist plötzlich da, natürlich die Angst. Ich fühle mich bedroht. Vorhin war ich der Meinung, daß sich sogar das Besteck in den Schubladen bewegt. Nach diesem komischen Erdstoß.« »Wie war das?« »Haben Sie das denn nicht gespürt?« »Nein.« May senkte den Blick und trank noch einmal. »Dann hat er sich wohl nur auf dieses Haus hier beschränkt.« »Was ich auch kaum glauben kann.« Das Mädchen hob die Schultern. »Ich sprach mit einer Freundin darüber. Auch ihr ging es nicht gut. Doris meinte, daß etwas in der Luft liegt und sich bald entladen würde.« »Ist das Ihre Kollegin?« »Ja.« »Wo steckt sie denn?« »Sie hat sich hingelegt. Die Kopfschmerzen wurden übermächtig. Und heute abend muß sie fit sein. Da will eine Clique ein Grillfest starten. Ich kenne die Feten. Es geht oft heiß her. Sie dauern bis in die frühen Morgenstunden.« »Wernimmt denn dran teil?Oder wer darf daran teilnehmen?« »Eigentlich alle.« »Auch ich?« »Klar, wenn Sie einen Obulus für Getränke und Fleisch zahlen.« »Wie hoch?« »Fünf Pfund.« Lady Sarah zückte ihre Geldbörse und drückte der Bedienung den Schein in die Hand. »Ich werde dabeisein, wenn ihr heute grillt. Wo findet das denn statt?« »Vor diesem Lokal. Der Platz ist am größten. Art besorgt bereits Nachschub. Was gegessen und getrunken wird, das kaufen wir natürlich bei ihm.« »Verstehe.« May nickte und leerte ihr Glas. »So, jetzt muß ich weitermachen. Ich will noch die Gläser rausstellen und auch die Bestecke bereitlegen.« »Lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich gehe inzwischen auf mein Zimmer.« Lady Sarah erhob sich, und auch das junge Mädchen stand auf. Sarah ließ die Kleine nicht aus den Augen. May schwankte plötzlich,
als hätte sie einen Schwindelanfall bekommen. Mit einer Hand mußte sie sich auf der Tischplatte abstützen. »He, was ist?« Schwerfällig drehte sich May um. »Schon gut, Mrs. Goldwyn. Für einen Moment war ich von der Rolle.« »Liegt es am Wetter?« »Nein, das ist was anderes.« Sie atmete laut. »Das Wetter kann es nicht gewesen sein. Es ist alles so komisch, verstehen Sie? Die Umgebung ist eine andere, obwohl sie noch immer gleich aussieht. Hier hat sich etwas im Unsichtbaren verändert.« Sehr vorsichtig schritt sie auf die große Theke zu, sorgfältig von Sarah Goldwyn beobachtet, die sich plötzlich Sorgen machte. Bevor sie hoch zu ihrem Zimmer ging, stellte sie sich noch nach draußen. Das Leben und Treiben hatte sich äußerlich nicht verändert. Und doch kam es ihr nicht mehr so vor wie sonst. Über dem Campgrund schien ein Schleier zu liegen, der aber nicht sichtbar war und trotzdem drückte wie eine Decke. Eine ungewöhnliche Atmosphäre, über die Lady Sarah nachdenken wollte. Als sie das Lokal durchschritt, stand May hinter der Theke und sortierte Gläser. »Mir geht es wieder besser.« »Na, zum Glück, mein Kind.« »Ach, Unkraut vergeht nicht.« Sarah Goldwyn schritt die Holztreppe hoch. Außer ihr wohnte kein Gast mehr in der ersten Etage, wo mehrere Räume lagen, die bezogen werden konnten. Ihr Zimmer lag auf der linken Seite. Wenn sie aus dem Fenster schaute, fiel ihr Blick auf den Platz vordem Restaurant, wo vier junge Männer damit bechäftigt waren, einen großen Schwenkgrill aufzubauen. Die mächtige Pfanne wurde von einem Stangendreieck gehalten. Auch das eiserne Kohlebecken stand bereits darunter. Die jungen Männer arbeiteten zügig, sie sprachen kaum miteinander. Lady Sarah wandte sich wieder ab. Sie warf ihren Hut auf einen Stuhl und strich über die Stirn. Nicht nur die junge May fühlte sich zerschlagen, auch die Horror-Oma hatte es erwischt. Man hatte sie zwar durch keine Mangel gedreht, dennoch kam es ihr so vor. Als sie zum Bett ging, waren ihre Schritte schwerer geworden. Sie ließ sich auf der Kante nieder und fiel langsam nach hinten. Okay, sie war nicht mehr die Jüngste, trotzdem erlebte sie Tage wie" diese höchst selten. Es war ihr, als wäre jemand dabei, die Energie aus dem Körper zu saugen und sie für sich zu beanspruchen. Man wollte sie regelrecht abstumpfen lassen und wehrlos machen. Mit diesem Gebiet war einiges nicht in Ordnung. Da lief viel schief, hier hatte etwas Einzug gehalten, das sich der Menschen schleichend bemächtigte.
Sarah Goldwyn wurde nicht grundlos als Horror-Oma bezeichnet. Sie wußte, wie stark die Magie das Dasein der Menschen beeinflussen konnte. Seit Jahren schon kämpften John Sinclair und seine Freunde dagegen an und hatten es immer wieder geschafft, die Angriffe zurückzuschlagen, obwohl sie so vielfältig waren. Das Liegen tat ihr gut. Es schläferte sie auch ein. Obwohl das Fenster offenstand, drangen von draußen kaum Geräusche in den Raum. Die unnatürliche Ruhe lag wie ein Tuch über dem Platz. Wie von selbst fielen ihr die Augen zu. Es war kein Tiefschlaf, der sie überkam, mehr ein Wegtauchen, wobei sie irgendwo noch wach blieb und die Sinne geschärft hatte. Sie hörte. Da knackte und raschelte es. Manchmal vernahm sie auch ein weich klingendes Singen. Selbst flüsternde Stimmen waren zu vernehmen, als würde sich jemand in ihrem Zimmer aufhalten. Sie wollte nachsehen, fand jedoch nicht die Kraft aufzustehen. Träge schlich die Zeit dahin. Es wurde warm. Lady Sarah brach der Schweiß aus. Sie bildete sich ein, das Bett würde schwanken. Dann vernahm sie die flüsternde Stimme, die davon sprach, daß sie sich rächen und den Menschen ihre Grenzen aufzeigen würde, weil diese auf verbotenen Pfaden wandelten, worüber Lady Sarah nachdenken wollte, es aber nicht schaffte, da sie wieder einmal zu schlapp war. Die Luft lag wie stickiges Blei im Raum. Es gab keine Stelle am Körper der Frau, die nicht schweißbedeckt war. Sogar zwischen den Zehen schwitzte sie. War es die Angst, die ihren Körper derart überzogen reagieren ließ? Oder hing es mit der ungewöhnlichen Stille und den Druck zusammen, der sie belastete. Sie hörte sich atmen. Sehr laut und keuchend. Sie sehnte sich nach einer Dusche. Nach kaltem Wasser, das auf ihren Körper spritzte wie ein Gewitterguß und den Schweiß abspülte. Mit einer Dusche konnte dieser Raum nicht dienen. Wer das wollte, mußte zu den allgemeinen Naßräumen gehen, was Lady Sarah in ihrem Zustand viel zu mühselig gewesen wäre. Etwas knarrte .. . Das Geräusch störte und warnte sie gleichzeitig. Sie überlegte träge. Erst Sekunden später kam ihr der Gedanke, daß es die Zimmertür gewesen sein mußte, die aufgeschwenkt war. Von selbst? Sie hatte sie hinter sich geschlossen, aber nicht von innen verschlossen. Eigentlich wäre es jetzt für sie an der Zeit gewesen, aufzustehen und nachzuschauen, nur brachte sie die Energie nicht auf. Wie ermattet blieb sie liegen.
Schlafen, nur mehr schlafen, einfach wegkippen, hineintauchen in das Dunkel, das Fremde, nur schlafen... Bis sie das Trappeln oder Kratzen vernahm. Geräusche, die Lady Sarah nicht einordnen konnte, weil sie ihr einfach zu fremd waren, die aber wie eine Invasion das Zimmer überfallen hatten und auch nicht verschwanden. Im Gegenteil, sie wurden noch lauter, als sie sich dem Bett der Frau näherten. Und Lady Sarah rührte sich noch immer nicht. Völlig down und steif wie ein Stück Holz lag sie auf dem Rük-ken, die Augen halb geschlossen, den müden Blick gegen eine schattige Ecke des Raumes gerichet, die der Tür gegenüberlag. In der Ecke lauerte die Stille. Die Geräusche kamen einzig und allein aus Richtung Tür. Sie blieben, sie näherten sich, als würde jemand einen Teppich zu ihrem Bett hinziehen. Lady Sarah wollte etwas tun. Sie schaffte es sogar, die Augen aufzureißen, aber sie sah nur die Decke über sich, obwohl etwas mit ihrem Bett sein mußte. Da hatte sich das Scharren und Kratzen ausgebreitet und bereits das Bett erreicht. Die Frau stöhnte. Wenn sie sich bald nicht von diesem Druck befreite, würde es ihr schlecht ergehen. Lady Sarah mußte mehrere Anläufe nehmen, um sich aufzurichten. Als sie es endlich geschafft hatte, kam sie sich vor, als würde sie wegfliegen. Irgendwohin, hinein in den Raum und dann weiter, aus dem Fenster, einfach weg, ins All oder . . . Sie öffnete die Augen, sie senkte gleichzeitig den Blick und konnte es endlich erkennen. Die Geräusche, das Trappeln, sie waren bereits in Höhe ihrer Füße, diese zahlreichen, kleinen, widerlichen Käfer, die das Zimmer wie ein Invasion überfallen hatten... *** Jane Collins schaute den beiden Männern vom Wagen aus nach, wie sie über die Campstraße gingen. Sie hatten den Weg eingeschlagen, der zum Wald führte. Jane mußte daran denken, daß es einen der Toten im Wald erwischt hatte, und ihre Gedanken waren gar nicht gut, als sie die Tür schloß. Der Wald bildete eine Gefahr, daran glaubte sie mittlerweile fest. Doch nicht nur er, auch die übrige Gegend durfte nicht außer acht gelassen werden.
Sie war gefährlich, irgend etwas lauerte und lebte hier. Vielleicht seit Urzeiten, doch jetzt erst war es ihm gelungen, an die Oberfläche zu kommen. Sehr nachdenklich trat Jane in den hinteren Teil des Wagens, um sich umzuziehen. Wenn sie eine Hose und ein dünnes T-Shirt trug, war sie beweglicher als in diesem weiten Kleid, das beim Laufen den Körper umflatterte. Die Hose reichte ihr bis zu den Knien und war weiß. Sie saß nicht so eng wie eine Rennfahrerhose. Das T-Shirt fiel über den Rand, die kleine Astra-Pistole konnte von dessen Saum verborgen werden. Vor einem der Fenster blieb Jane Collins stehen. Sie schaute durch die Scheibe und auch über die Hecke hinweg auf die Nach bar-Parzelle, die von keinem Wagen besetzt war. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit der früheren Zeit, als sie eine Dienerin des Teufels gewesen war und als Hexe herumlief. Okay, der Fluch war gebrochen worden, aber es gab da noch ein Fünk-chen dieser alten Kraft, das in ihr steckte. Wie gesagt, nur ein Fünkchen, das manchmal zu einer Flamme werden konnte. Jane Collins hatte sich dazu entschlossen, diesen winzigen Rest der alten Kraft zu kultivieren und sie für eine gute Sache einzusetzen. Sie mußte einfach davon ausgehen, daß sie es hier mit Naturgeistern zu tun hatte. Hexen und Naturgeistern! Oft genug waren beide eine Symbiose eingegangen. Die Hexen liebten die Naturgeister, sie ließen sie für sich arbeiten, nutzten sie aus, wobei es umgekehrt manchmal ebenso lief. Daran hielt sich Jane Collins fest. Sie wollte einfach, daß die kleine Flamme zu einer großen wurde und sich die Kraft so ausweitete, daß sie herausfand, was hier ablief. So ging sie etappenweise vor. Den Platz am Fenster verließ sie nicht, weil sich ihr Blick dort verfangen sollte, wo das dunkle Grün der Baumkronen einen weiteren Himmel unter dem natürlichen bildete. Wenn es eine Gefahr gab, dann mußte sie dort irgendwo lauern oder ihre Geburtsstätte haben. Jane schloß die Augen zur Hälfte. Sie war froh darüber, keinen Lärm zu hören. Die Wände hielten das meiste ab. So konnte sie sich der Konzentration hingeben. Es gab alte Zaubersprüche, die von manchen Hexen gesprochen wurden, auf sie verzichtete Jane, zudem kannte sie die meisten nicht auswendig und hatte sie vergessen. Ihr Interesse galt der unmittelbaren Umgebung und dem Wald, in dem etwas lauern mußte. Noch blieb es ihr verborgen, doch Jane schaffte es, die Kraft in ihr zu stärken. Es kam ihr vor, als würde sie dabei ihre Seele umdrehen, um
die unauslotbaren Tiefen nach oben zu kehren. Die reale Umwelt interessierte sie nicht mehr, wichtig war jetzt die metaphysische, wozu sie auch die Natur zählte, und deren eigentliche Geheimnisse, die dem menschlichen Auge und auch einem noch so starken Mikroskop verborgen blieben. Das war eben das eigentliche Leben der Wälder, der Bäume, der Sträucher und der in sie eingebetteten geheimnisvollen Geisterwelt. Jane bekam Kontakt! Sie wußte nicht einmal, wie lange sie sich konzentriert hatte. Aus dem Funken war eine kleine Flamme geworden, die auf sie wie ein Indikator wirkte. So entstanden Bilder, so sah sie Zusammenhänge, und sie merkte, daß sich etwas über dem Platz zusammengebraut hatte. Es war wie ein Zeichen, das jemand gesetzt hatte. Vor langer, langer Zeit hatte hier ein Wesen oder ein Geist gelebt, dessen Erbe nicht vergangen und auch heute noch zu spüren war. Jane hatte mit ihm Kontakt aufgenommen, und sie spürte dabei, daß dieser Geist sehr gefährlich und menschenverachtend war. Er kannte nur die Rache, nur das Böse, er wollte aus den Tiefen hervorkommen und hielt bereits vieles unter Kontrolle. Ihm gehorchte die Natur, sogar die leblosen Dinge, die er allein durch seine Kraft bewegen konnte, und er war dabei, sich auch in die Seelen der Menschen zu stehlen, um sie zu manipulieren. Es war schlimm für Jane. Menschen wie sie, die eine gewisse Gabe besaßen, brauchte man nicht zu beneiden, denn sie sah den Schrecken, aber sie wußte nicht, wie sie ihn stoppen konnte. Er war da, er hatte kein Gesicht, noch nicht, und Jane spürte die Kälte wie einen Ring. Das Böse hatte sich bereits freie Bahn verschafft und hielt auch sie umklammert. Sie drehte sich um, wollte nicht mehr sehen. Mitten in der Bewegung taumelte sie, als stünde ihr Kreislauf dicht vor dem Zusammenbruch. Soeben konnte sich die Frau durch ein Abstützen an der Wand vor einem Lall bewahren. Was war das? Jane bewegte sich auf das schmale Bett zu und ließ sich auf der Kante nieder. Sie senkte den Kopf, preßte schweißfeuchte Handflächen gegen ebenso schweißfeuchte Wangen und mußte sich einfach die Zeit nehmen, um das >Gesehene< zu verdauen. Sie hatte viel gesehen und gleichzeitig nichts. Eines allerdings stand fest. Die Menschen, sie, Lady Sarah und John Sinclair eingeschlossen, befanden sich in einer Gefahr, die minütlich an Dichte und Stärke zunahm. Dieser Ort war verflucht, nicht geheuer. Aus den Tiefen der
Vergangenheit war etwas hervorgekrochen, das die vernichtende Kraft einer Bombe besaß. Jane hatte gesehen und wußte trotzdem nichts. Die Gefahr hatte noch kein Gesicht bekommen. Nach wie vor blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten, zu warnen vielleicht und . . . Etwas ließ ihre Gedanken stocken. Es war kein Geräusch im eigentlichen Sinne, mehr eine Bewegung, die sich über das Wohnmobil verteilte. Jedenfalls stand es nicht mehr so wie zuvor, auch wenn es sich auf der gleichen Stelle befand. Jane wartete ab. Sicherheitshalber hatte sie sich breitbeinig hingestellt. Sollte der Wagen noch einmal geschüttelt werden, konnte sie den Stoß schnell ausgleichen. Zunächst geschah nichts. Sehr träge vergingen die Sekunden. Dann aber fuhr wieder ein Schütteln durch den Wagen. Kr kippte nach vorn .. . Mit einer sehr langsamen Bewegung, als hätte sich jemand an die flache Kühlerhaube gehängt. Jane lief nach vorn und auf der schiefen Ebene automatisch schneller. Das Wohnmobil sackte dann in dem Morast ein. Kür Jane gab es keine andere Lösung. Sie wußte auch, daß sie aus dieser Falle heraus mußte. Hastig rannte sie zur Für, öffnete — und erstarrte! Sie sah den schwammigen Boden, die zerplatzenden Blasen auf der Oberfläche, und sie bekam den Beweis geliefert, daß sich der normale Untergrund in einen tückischen und tödlichen Untergrund verwandelt hatte. In der offenen Für blieb sie stehen. Jane suchte nach einem Ausweg. Viel Zeit konnte sie sich nicht lassen, auf keinen Fall durfte sie normal aussteigen und den Boden berühren, dann war sie verloren. Was auf dieser Parzelle geschah, wurde von keinem anderen bemerkt, nur sie sah es, und sie spürte sogar körperlich die Lebensgefahr. Die Vorderreifen waren schon fast im Morast verschwunden. Der Wagen kam ihr vor wie ein mit dem Bug zuerst sinkendes Schiff. Raus und weg! Aber wie? Es gab für Jane Collins nur eine Chance. Sie mußte es schaffen, in die Hecke zu springen, die eine natürliche Grenze dieses magisch veränderten Arealen bildete. Jane Collins holte noch einmal Luft, duckte sich möglichst tief, stemmte sich ab — und sprang... ***
Ich hatte erlebt, daß eine Speiche, geleitet durch magische Kräfte, als Mordinstrument durch die Luft schwebte. Nun war es ein Spaten, eine noch gefährlichere Waffe, die sich buchstäblich den Weg bis in unsere Nähe freigeschaufelt hatte und sich von keinem Hindernis aufhalten ließ. Daß er uns angreifen würde, lag auf der Hand. Wenn er mit dem Blatt zuerst gegen einen Hals stach, konnte er einen Menschen sogar köpfen. Judd stand da und starrte ihn an. Er war unfähig, sich zu rühren, im Gegensatz zu mir. Ich sprang auf ihn zu. Noch lag er waagerecht, drehte sich dabei. Ich wollte ihn packen, stoppen und durfte dabei nicht in das Blatt fassen, das meine Hand vielleicht für immer abgehackt hätte. Es war ein großes Wagnis, als ich auf ihn zurannte, noch einmal schaute und in dem Moment Zugriff, als sich Judd endlich bewegte und zur Seite fiel. Ich hatte Glück. Mit beiden Händen bekam ich den Griff, hielt das Gerät auch weiterhin fest und bekam sofort dessen Kraft zu spüren, denn der Spaten riß mich mit einer dermaßen ernormen Wucht nach vorn, daß ich dagegen nicht ankam. Ich stolperte über den unebenen Boden, hob die Beine so gut wie möglich und landete irgendwo in einem Gebüsch, dessen Zweige über mir zusammenschlugen, als ich fiel. Der Spaten zitterte, als hätte er mehrere Stromstöße bekommen. Im Liegen konnte ich ihn drehen und rammte ihn mit dem Blatt zuerst in den weichen Boden. Da blieb er stecken! Ich aber lag, keuchte und schloß für einen Moment die Augen, bevor ich mich wieder erhob. Schwere Schritte stampften auf mich zu. Es war der kalkbleiche Judd, der auf mich zustolperte und mit beiden Armen winkte. »Gott sei Dank, du lebst.« »Ja, soeben noch.« »Was war das?« Ich hob die Schultern. »Ein Spaten, mein Junge. Einer, der irgendwo im Gelände gelegen hat und wohl nicht wollte, daß wir unseren Weg fortsetzen.« Über Judds Gesichtsausdruck mußte ich lachen. »Nimm es nicht tragisch, alter Junge, wir haben es ja geschafft.« »Richtig, John, aber wer hat ihn geschleudert? Kannst du mir das sagen? Wer besitzt überhaupt diese Kraft, so etwas tun zu können? Da komme ich nicht mit.« »Es ist der Wald oder die Kraft, die in der Tiefe des Bodens existiert und sehr mächtig sein muß.« »Das sind Märchen, so etwas gibt es nicht.«
»Hat man uns nicht gerade vom Gegenteil überzeugt? Judd, hier lebt und haust etwas, das den meisten Menschen tödlich überlegen ist. Kannst du dich daran erinnern?« »Es hat schon drei Tote gegeben.« »Wieso drei?« Ich ärgerte mich über meine Geschwätzigkeit und sagte nur: »Vergiß es!« Er sprach mich auch nicht darauf an, Judd hatte andere Sorgen. Ängstlich schaute er sich um, stets auf der Suche nach neuen Gefahren, doch der Wald verhielt sich ruhig. Auch auf dem Platz lief alles normal. Das Geräusch der Stimmen schallte durch den Wald zu uns hoch. Es gab keinen Grund, dort eine Gefahr zu sehen. Sie lauerte hier zwischen den Bäumen, noch lauerte sie da. Ich war mir allerdings sicher, daß sie schon sehr bald ihr Zentrum verändern würde und sich dorthin wandte, wo sich die Menschen befanden. Ich schaute gegen die Bäume. Es gehörte zu meinen Eigenschaften, daß ich die Natur sehr mochte. Besonders den Wald, der die große, grüne Lunge für unsere Welt darstellte. So war es unverantwortlich, daß in Südamerika die Regenwälder abgeholzt wurden, nur um die Profitgier einiger Geschäftsleute zu stillen. In Europa hatten wir andere Probleme. Da starb der Wald durch Umweltgifte, deshalb freute ich mich so sehr über den Anblick der Baumkronen. Nur hier nicht. . . In diesem Wald wirkten sie plötzlich dunkel und drohend. Sie kamen mir nicht mehr wie ein Schutz vor, hier war eher das Gegenteil eingetreten. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Kronen angefangen hätten zu zittern, um dann auf den Boden zu schlagen und alles unter sich zu vergraben. Ich mußte mich zudem damit abfinden, daß es lebende Bäume gab. Getrieben oder am Leben gehalten von einer Kraft, die hier alles unter Kontrolle hielt. »Ich glaube«, sagte Judd, »daß es besser ist, wenn wir gehen. Ich fühle mich hier nicht mehr sicher.« »Das verstehe ich. Aber fühlst du dich zwischen den anderen besser?« »Das weiß ich nicht. Sollten wir sie nicht warnen? Wenn der Schrecken um sich greift, kann es doch zu einer Katastrophe kommen.« »Richtig.« »Dann gibt es nur die Flucht!« Er schüttelte den Kopf und ging dorthin, wo der Spaten steckte. Ich wollte ihn noch warnen, doch er hatte ihn bereits aus dem Boden gezogen. Mit ihm in den Händen drehte er sich um, starrte mich an, wobei er sich innerhalb der nächsten beiden Sekunden sehr veränderte.
Es fing bei seinem Gesicht an. Plötzlich zeigte es einen harten, fast mordgierigen Zug. Sein Körper streckte sich, als wollte er noch wachsen. Die Augen bekamen einen Glanz, vor dem ich mich eigentlich hätte fürchten müssen. »Jetzt«, sagte Judd und lachte rauh. »Jetzt werde ich dich packen, verdammter Hund!« Er hob den Spaten mit einer ruckartigen Bewegung an, so daß sein Blatt genau auf mich wies. »Laß ihn fallen!« warnte ich. Er schüttelte den Kopf. Dann ging er los. Es waren nicht mehr als fünf Yard, die uns trennten, eine Sache von Sekunden, die noch schneller vorbei sein konnten, wenn er den Spaten plötzlich vorrammte. Ich wich zurück, zog die Waffe, zielte gegen ihn, ohne Judd damit beeindrucken zu können. Die andere Kraft war wesentlich stärker als er. Sie ließ ihn nicht aus den Klauen. Er marschierte weiter. »Verdammt, mach keinen Unsinn, Junge! Das kann gewaltig ins Auge gehen!« Da schlug er zu. Er hatte mir den Schädel spalten wollen, aber ich war zu schnell. Das scharfe Blatt fegte vorbei und erwischte einen Baumstamm, wo es einen hellen Streifen in derdunklen Rinde hinterließ. Judd fluchte, er riß den Spaten wieder hoch. Mein Tritt traf ihn in den Rücken und schleuderte ihn gegen den Baumstamm. Plötzlich blutete er im Gesicht, die Rinde war doch sehr hart gewesen, aber ich hatte ihn nicht ausschalten können, denn er kam wieder, diesmal dirigiert durch den Spaten. Es war für mich genau erkennbar, daß nicht er den Spaten dirigierte, sondern der ihn. Diese abgehackten Bewegungen, das Zucken, das Antäuschen ging nicht von ihm aus. Noch konnte ich entwischen. Okay, ich hätte schießen können, aber der Mann konnte nichts dafür, der stand unter einem anderen Bann. Die Baumstämme gaben mirDeckung. Er hackte hinein. Ich hörte das pfeifende Geräusch, wenn das verdammte Blatt durch die Luft fuhr, und wartete darauf, daß ein Schlag so hart erfolgte, daß es mal in der Rinde steckenblieb. Das passierte schon nach kurzer Zeit. Ein Hieb, mein Wegtauchen, dann war es soweit. Etwa eine Armlänge neben meiner Schulter entfernt rammte der Spaten in den Baumstamm. Bevor Judd ihn hervorreißen konnte, hieb ich zu. Meine Handkante schwang von rechts heran.
Es war ein Säbelhieb, gut gezielt, dabei federnd geschlagen. Ein Volltreffer. Judd stieß zischend die Luft aus, als sich seine Hände vom Griff lösten. Er hielt sich noch auf den Beinen und torkelte rückwärts, aber er schaffte es nicht mehr stehenzubleiben. Irgendwo stolperte er. Der Fall trieb ihn hinein in das Unterholz, das knackend brach. Er blieb liegen. Geschafft. Ich rieb meine Handfläche. Der Spaten lag neben dem Baum, er war noch herausgekippt. Ich hob ihn nicht so ohne weiteres auf. Sicherheitshalber griff ich zur zweiten Waffe, dem Silberdolch. Vielleicht konnte ich in den Griff mein Monogramm schnitzen. Dolch und Griff trafen sich. Nur ein Gegenstand zuckte. Iis war der Spatengriff. Durch die Berührung hatte er sich verändert, war zu einer Schlange geworden, die weghuschen wollte. Ich rammte den Dolch Hinein. Er teilte das auf magische Art und Weise entstandene Tier ungefähr in der Körpermitte. Zwei Hälften blieben zurück, die sich gleichzeitig dunkelgrün bis schwarz färbten, um Sekunden später vor meinen Augen zu verkohlen. Meine Magie hatte die andere gelöscht. Zurückgeblieben war das blanke Spatenblatt. Ich wollte es auch zerstören, es klappte nicht. Wohl war mir dabei nicht, denn ich dachte daran, daß dieses Blatt durchaus magisch beeinflußt werden konnte und dann wie ein Fallbeil auf die Menschen zuraste. Doch wohin damit? Jedenfalls trat ich es so tief in den Boden, wie es eben möglich war. Dann kümmerte ich mich um Judd. Mein Treffer hatte ihn ins Reich der Bewußtlosigkeit geschickt, aus der er noch immer nicht aufgewacht war. Er lag da, hielt die Augen halb offen und stöhnte, als ich einige Male leicht mit den Händen gegen seine Wangen schlug. »Judd, los, komm zu dir.« Er blieb liegen, stöhnte und sagte die ersten Worte. »O verdammt, mein Kopf!« »Ich mußte es tun, sorry.« »Hast du mich niedergeschlagen?« »Leider.« »Warum?« »Weil du mich killen wolltest. Ein Killer-Camping veranstalten, das ist der Grund.« »Nein, wieso? Ich . . .« »Bleib ruhig, Junge, ganz ruhig. Dich trifft keine Schuld. Es war der Wald oder die Magie, die hier lauert. Damit mußt du dich zufriedengeben.« Ich hievte ihn an. »Das . . . das will ich aber nicht«, flüsterte er, »nein, verdammt, so etwas will ich nicht.« Er preßte seine Hand vor die Augen. »Ich weiß allmählich gar nichts mehr. Ich komme überhaupt nicht
zurecht, fühle mich eingekesselt von tausend Feinden. Hier ist alles anders geworden.« »Das stimmt leider.« »Und was können wir dagegen tun? Im Vergleich zu den Geschehnissen sind wir lächerliche Anfänger.« »Nicht ganz, mein Lieber, nicht ganz.« Er betastete seinen Hals. »Du hast mich ganz schön erwischt. Mann, ich habe schon gedacht, von einer Walze überfahren zu werden. Wo hast du das gelernt?« »Im Do-it-your-self-Verfahren.« »Ach so. Wie war das noch? Wir könnten eventuell doch eine Chance haben?« »Ja, man darf die Hoffnung nicht aufgeben.« »Das hätte ich dir auch sagen können.« Er wollte wieder zurück, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Gehen. Nach den ersten Schritten stützte ich ihn ab, jetzt klappte es besser. Er bedankte sich bei m ir, atmete schwer, starrte dabei mehr auf seine Schuhspitzen, im Gegensatz zu mir, denn ich ließ die Gegend nicht aus den Augen. Dieser Wald war für jede Überraschung gut. Aus dem Nichts konnten sich Bäume in gefährliche Fallen verwandeln, wurde sogar der Boden zu einem tödlichen Morast, um dem Wesen, das hier herrschte, Tribut zu zollen. Wer war es? Ich beschäftigte mich stark mit diesem Gedanken und warf wie zufällig einen Blick in die Höhe, wo die Kronen der Bäume so aussahen, als wollten sie sich verneigen. Ein kühler Windzug streifte meine Haut. Er war wie von oben herabgefallen. Noch einmal schaute ich hin. Mein Blick traf die Krone, und ich sah die Veränderung. Durch den dahinter liegenden Sonnenschein zeichneten sich das Bild zum Glück deutlicher ab. Zuerst wollte ich meine Augen nicht trauen. Beim nächsten Hinschauen erkannte ich es besser. Was sich da zwischen den Zweigen abmalte, war ein Gesicht! *** Ich war längst stehengeblieben, und auch Judd ging keinen Schritt mehr weiter. Ersah es nicht, hatte genug mit seinem malträtierten und angeschwollenen Hals zu tun, ich aber konzentrierte mich auf das Gesicht in der Baumkrone.
Sofort kam mir ein Name in den Sinn — Mandragora! Einige Male hatte ich mit dem Hüter des Waldes zu tun gehabt. Ich stand ihm nicht einmal zu negativ gegenüber, aber er war es diesmal nicht. Sein Gesicht bestand aus einem Geflecht von Ästen, Wurzeln und Zweigen. Das über mir sah ganz anders aus. Erstens viel breiter, und zweitens hatte es mit dem Geäst nichts zu tun. Es wurde nur davon umgeben, als wäre dies ein schützender Mantel. Ansonsten hielt es den Vergleich mit einem menschlichen Gesicht durchaus stand, auch wenn seine Haut nicht die Farbe zeigte, wie es normalerweise üblich war. Sie besaß einen dunklen Schimmer. Ob grün oder schwarz, war für mich nicht genau zu erkennen. Von der Form her länglich. Eine Haut wie Rinde oder dunkle Erde. Zwei Augen, ein Mund, falls Haare vorhanden, waren sie im Blattwerk verschwunden. Eine Fratze, die blieb und die sich uns bewußt gezeigt hatte. Furcht vor dem Anblick spürte ich nicht, eher eine gewisse Neugierde. Zudem arbeiteten meine Gedanken auf Hochtouren. Ich versuchte, das Gesicht irgendwo einzuordnen. Gesehen hatte ich es noch nie. Es kam mir trotzdem bekannt vor, weil ich es vergleichen konnte. Meine Gedanken wanderten ab, hinein zu fernen Zeiten und Reichen. Aibon, Druiden, die Eichenkundigen genannt! Das war es. Ich hatte die Lösung, war zumindest davon überzeugt. Was dort oben in der Baumkrone schwebte, mußte das Gesicht eines uralten Druiden sein. Jetzt war mir auch klar, wer diesen Platz beherrschte. Ein Druide, dessen Kraft mächtig war und der es tatsächlich geschafft hatte, die Natur unterzuordnen. Ein starkes Stück. Andererseits waren die Druiden der Keltenzeit nicht unbedingt negative Personen. Als Hohepriester des Volkes der Kelten hatten sie ein großes Ansehen besessen. Sie waren oftmals die Verbindungsglieder zwischen den Menschen und den Göttern. Andererseits dachte ich auch an einen mächtigen Druiden namens Guywano, diesen gefährlichen Dämon, der in einem Reich namens Aibon die negative, die böse Seite beherrschte und dabei versuchte, sich das gesamte Land Untertan zu machen. Sollte dieser Druide ähnlich denken wie Guywano? Ich ging einfach davon aus. Das Gesicht verschwamm. Ls kam mir jetzt so vor, als hätte es sich nur eben zeigen wollen, um sich dann zurückzuziehen. Judd halte nicht einmal etwas bemerkt. Er fragte nur: »Sag mal, John, weshalb gehst du nicht weiter?« »Ich wollte dir etwas Ruhe gönnen.« »Nein, ich muß zurück.«
»Und weshalb?« Erstaunt blickte er mich an. »Weißt du denn nicht, daß heute abend und auch noch viel später in der Nacht das große Grillfest vor dem Restaurant stattfindet?« »Das wußte ich nicht.« »Dann mach dich auf was gefaßt.« Ich glaubte es ihm aufs Wort, und mir war plötzlich sehr mulmig zumute... *** Für Lady Goldwyn begann der Horror etappenweise. Die unzähligen Käfer hatten längst nicht alle das Bett erreicht. Die meisten befanden sich noch auf dem Fußboden, wo ihre dicht zusammengedrängten, schuppigen Körper einen Teppich zeichneten, der an der Für begann und sich zunächst bis zum Bett hinzog. Aber sie kletterten an den Pfosten in die Höhe, um die Decke und damit Lady Sarah zu erreichen. Ihre Starrheit hatte sie schnell überwunden. Ihr war klar, daß sie das Zimmer verlassen mußte, wollte sie nicht überfallen werden. Bevor die ersten Käfer hochkrabbeln konnten, zog sie die Beine an. Einige hatten ihre Schuhe trotzdem erreicht und klammerten sich an dem Leder fest, als wäre es geleimt worden. Sarah Goldwyn bewegte sich nicht mehr wie eine Dreißigjährige. Sie war gut vierzig Jahre älter und dementsprechend steif, obwohl sie für ihr Alter noch Erstaunliches zeigte. Sie schwang sich vom Bett, die Beine dabei hochhaltend. Vor dem Bett gab es keinen freien Fleck mehr, auf dem sie ihre Füße hätte setzen können. So trat sie dann auf den sich bewegenden, zitternden und raschelnden Teppich. Sie hörte, daß zahlreiche Tiere unter dem Druck der Füße regelrecht zerknacken. So schlimm die Geräusche auch waren, die gaben ihr einen gewissen Auftrieb. In die Käfer hineintretend und sie dabei in eine matschige Rutschbahn verwandelnd, näherte sie sich der Für, wo der Strom der Tiere plötzlich nicht mehr zu sehen war. Weg, wie abgeschnitten. Sie taumelte in den Flur. John mußte Bescheid wissen. An der Wand stützte sie sich ab, als sie in Richtung Treppe lief, wo sie Schritte hörte und ein Schatten erschien. Art Cromwell, der Wirt, erschien. Sein Gesicht zeigte ein ebensolches Erstaunen wie die Züge der Horror-Oma. »Himmel, was ist mit Ihnen los? Sie sehen ja so schlecht aus, Mrs. Goldwyn!« Die Horror-Oma lachte nur. »Was mit mir los ist? Fragen Sie mal lieber, was in meinem Zimmer liegt.« »Was denn?«
»Käfer, Mister! Dicke, widerliche Käfer.« Sie zeigte die Größe mit Daumen und Zeigefinger an. Er schaute ihr ins Gesicht. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Das glaube ich nicht.« »Kommen Sie mit, es sind Tausende.« »Ja, gut, die sehe ich mir an.« Er spürte ihre harten Finger an seinem Arm. Lady Sarah hatte es bis zur Zimmertür eilig. Dort wurde sie dann vorsichtig, peilte in den Raum hinein und verlor auch den letzten Rest der Farbe aus dem Gesicht. »Wo sind denn Ihre Käfer?« fragte Cromwell, der über Lady Sarahs Schultern blickte. »Sie ... sie waren vorhin noch da.« »Ach so — ja.« Er lachte schrill, auch etwas hämisch, was Lady Sarah aufregte und herumfahren ließ. »Glauben Sie etwa, ich hätte Sie geleimt?« »Na ja, nicht direkt.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Mehr ein Spaß, nicht?« Lady Sarah ließ ihn nicht aus den Augen. »Ein Spaß also? Nein, Mr. Cromwell, das ist kein Spaß. Ich habe die verdammten Käfer gesehen.« Die folgenden Worte zischte sie ihm leise entgegen. »Sie waren auf einmal da. Als gewaltige Horde kamen sie an, durch die verdammte I ur hinter ihnen. Sie bewegten sich in meinem Zimmer wie ein wandelnder Teppich und wollten sogar auf das Bett.« Sie standen längst im Raum und schauten sich um. »Aber ich sehe keine.« Art Cromwell kratzte über seine Stirn. »Außerdem müssen Sie mich entschuldigen, ich habe nämlich noch zu tun. Ich will den Leuten die Bänke und Stühle für das Grillfest rausgeben. Die können ja nicht im Stehen feiern.« Er wollte sich abwenden, als Lady Sarah den Beweis doch fand. »Kommen Sie her, Mr. Cromwell, schauen Sie.« Die Horror-Oma deutete auf ihren rechten Fuß. »Was ist das?« »Ein Käfer, Mister. Einer, der noch übriggeblieben ist. Er krabbelt über die Spitze.« Art Cromwell hob die Schultern. »Das ist für mich kein Beweis. So etwas können Sie mir nicht erzählen. Diese Käfer gibt es hier. Wenn einer in Ihr Zimmer eingedrungen ist, sprechen Sie gleich von Tausenden. Entschuldigen Sie, das ist mir zu hoch.« Er nickte Lady Sarah zu, drehte sich um und verließ das Zimmer. Sie schaute ihm nach. Dabei wußte sie nicht, ob sie ihm böse sein sollte oder nicht. Hätte man ihr eine derartige Geschichte erzählt, sie hätte wohl ebenso reagiert.
Daß sie keinen Alptraum erlebt hatte, stand für sie fest. Diese verfluchten Käfer waren Wirklichkeit gewesen und hatten es geschafft, innerhalb weniger Sekunden zu verschwinden. Das wiederum wollte Lady Sarah ebenfalls nicht in den Kopf. Sie suchte das Zimmer nach Spuren ab, ohne auch nur einen Käfer zu finden. Den letzten schickte sie von ihrem Schuh und zertrat ihn mit einer gewissen Genugtuung. Da sie sich bereits nahe des Fensters aufhielt, schaute sie auch hinaus. Nicht nur der große Schwenkgrill war vor dem Restaurant aufgebaut worden. Fleißige Hände waren dabei, lange Tische aufzustellen, und bauten auch die entsprechenden rückenlehnenlosen Sitzbänke zusammen. Die Horror-Oma beobachtete die Menschen. Sie gaben sich gelassen, nicht übereifrig. Manchmal kam es ihr vor, als würden sie sich langsamer bewegen als sonst. Hatte sie eine gewisse Lethargie erfaßt, oder lag es an der Luft, die Lady Sarah schnupperte? Sie hatte sich im Gegensatz zum Nachmittag verändert. Besser war sie nicht geworden, nur anders, vielleicht schwüler und irgendwie auch dicker. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten. Schräg schien sie gegen die Bäume und zauberte Lichtreflexe in den Blätterwald. Lady Sarah fiel ein, daß es keinen Sinn hatte, länger am Fenster stehenzubleiben. John Sinclair und Jane mußten über den Vorfall mit den Käfern informiert werden. Sie ging davon aus, daß die beiden ihr glaubten. Die Horror-Oma nahm ihre Handtasche mit und verließ das Zimmer. Sie drehte sich doch noch um, weil sie ihren Stock vergessen hatte. Ihn zierte seit kurzem ein prachtvoller Silberknauf, den sie sich auch hatte weihen lassen. Mit diesem Stock konnte sie gut umgehen und hatte ihn schon einige Male als Lanze eingesetzt. In der oberen Ftage wares ruhig. Von unten herhörte sie das Klappern der Gläser und Bestecke. Die Mädchen von Art Cromwell sorgten für die Bedienung. Sie vernahm auch die Stimme des Wirts, der rief: »Ich werde mich jetzt um das Grillen kümmern und schon die Kohle anheizen. Liegt das Fleisch bereit?« »Ja, Chef!« »Gut.« Mit schweren Schritten verließ er das Haus, während Lady Sarah auf die Treppe zuschritt. Das Geländer sah dunkel aus. Zudem stand die Sonne ungünstig. Durch die schmalen Fenster fiel nur wenig Licht. Lady Sarah hatte das Gefühl,
als würden auch über den Handlauf des Geländers zahlreiche Käfer hinwegkrabbeln. Wieder mußte sie an den Wirt denken. Der Bärtige hatte sie ausgelacht, aber war das Lachen echt gewesen? Hatte es nicht auch eine Spur gekünstelt geklungen? Sie sah sich selbst nicht als Pessimistin an, doch ein Grillfest unter diesen Bedingungen fand sie nicht gerade segensreich. Sie schritt vorsichtig die Stufen hinab. Den Stock hielt sie unter den Arm geklemmt, sie brauchte ihn jetzt nicht einzusetzen. Am Fuße der Treppe wollte sich Sarah Goldwyn nach rechts wenden. Das unterließ sie, denn sie hatte genau gegenüber, an der linken Seite, eine offene Für gesehen. Alseinen neugierigen Menschen sah Lady Sarah sich nicht gerade an, allerdings als eine Person, die gewissen Dingen gern auf den Grund ging. Offene Türen hatte sie schon immer gereizt, besonders dann, wenn aus der Öffnung ein Geruch strömte, der ihr überhaupt nicht gefiel. Fs roch nicht nach Rssen oder Gegrilltem, sondern muliig, als würden aus einem tiefen Kellerloch irgendwelche alten Moderdüfte strömen. Sie schaute nach rechts. Weder der Wirt noch seine Bedienungen waren zu sehen. Sie hatte also freie Bahn, um einen Blick hinter die Für werfen zu können. Wenn sie wollte, konnte sie sich auch schnell bewegen. Das tat sie mit raschen Schritten, zog die 'Für noch weiter auf und schaute in eine Abstellkammer hinein, in der zusammengeklappte Gartenmöbel an den Wänden lehnten und Tischdecken aus Plastik lagen. Davor aber befand sich der Einstieg. Ein Loch im Boden, sonst vor einer Klappe verborgen, die allerdings hochgestellt war und an der Wand lehnte. Vor dem Loch blieb Sarah stehen. Der widerliche Geruch drang ihr aus der Tiefe entgegen. Sie ging davon aus, daß der Weg in den Keller führte oder noch tiefer. In gewissen Situationen steigerte sich die Neugierde der Horror-Oma. Und die alte Treppe sah ihr trotzdem ziemlich stabil aus. Sarah Goldwyn überlegte keine Sekunde länger. Sie wagte es und machte sich auf den Weg in den Keller... *** Plötzlich bekam Jane Collins Angst. Hände hatten ihre Füße gepackt, um den Sprung zu bremsen oder sogar zu stoppen. Die Hecke grinste sie an. Sie stieß im Sprung einen Schrei aus und gab sich gleichzeitig noch mehr Schwung.
Der Körper streckte sich. Sie war einigermaßen fit, und sie hätte jubeln können, daß sie es trotz allem noch schaffte, die Hecke zu erreichen. Mit ihrem vollen Gewicht prallte sie hinein. Dabei schloß sie die Augen, sie wollte keine gefährlichen Verletzungen riskieren. Die Hecke fing sie auf. Zu vergleichen war sie mit einer federnden nachgiebigen Unterlage, die den Aufprall bremste, so daß Jane nicht bis zum Boden durchfiel. Ruhe gönnte sie sich nicht. Sie robbte weiter, wobei sie Hände und Füße einsetzte. Die Angst vor der Nachbarparzelle verschwand, denn diese war völlig normal. Es gab keinen Sumpfboden wie auf der ihren, wo das Wohnmobil stand. Heftig atmend richtete sie sich auf. Der Schweiß rann in Strömen über ihr Gesicht. Die letzte Aktion hatte Nerven gekostet. Das Zittern in den Knien kam ebenfalls nicht von ungefähr. Beobachtet worden war sie nicht. Die Camper hatten sich verteilt. Nur wenige waren unter den warmen Zeltdächern oder in ihren Wohnwagen verschwunden. Sie teilten sich praktisch auf. Einige duschten, die meisten beschäftigten sich mit dem Aufbau der Sitzbänke und der Tische vor dem Restaurant. Sie wollten, daß das große Grillfest pünktlich über die Bühne lief. Die Kohle war ebenfalls angeheizt worden. Jane nahm den typischen Geruch wahr, der sich über dem Gelände ausbreitete. Den Diskussionen und dem Klang der Stimmen entnahm sie, mit welch einer Begeisterung die Camper am Werk waren. Dem konnte sie sich nicht anschließen. Sie hatte Schlimmes erleben müssen, nur sah sie davon keinerlei Spuren mehr. Als sie an der Einfahrt zur Parzelle stehenblieb, hatte sich der Boden abermals verändert. Er zeigte den gleichen festen Untergrund wie bei ihrer Ankunft. Keine Spur mehr von einem Morast oder Sumpf. Alles war wieder völlig normal geworden. Sie fragte nicht, ob sie einem Irrtum erlegen war, sie hatte es erlebt. Jetzt war es vorbei, die andere, hier existierende Kraft hatte alles wieder geradegerückt. Nicht einmal Schlammreste waren zurückgeblieben. Selbst die Reifen sahen normal aus. Dennoch wollte Jane das Risiko nicht eingehen und wieder den Wagen betreten. Ein zweites Mal kam sie bestimmt nicht so glimpflich davon, außerdem wollte sie mit John noch ein paar Takte darüber sprechen. Sie wunderte sich sowieso darüber, daß er noch nicht zurückgekehrt war. Irgend etwas mußte ihn festgehalten haben. Vielleicht hielt er sich auch beim Restaurant auf. Wenn nicht, wollte sie sich mit Lady Sarah in Verbindung setzen. Auf dem Weg hörte sie, daß sich einige Camper über Kens Fehlen unterhielten. Die Leute konnten nicht verstehen, daß er sich verdünnisiert hatte.
Wenn ihr wüßtest, dachte Jane und ging weiter. Die Tische und Bänke waren bereits aufgebaut worden. Sie standen nicht zu weit von dem großen Schwenkgrill entfernt. Die runde Pfanne über dem Kohlebecken erinnerte sie an eine fliegende Untertasse. Zwei Männer waren noch dabei, mit bunten Birnen dekorierte Girlanden in die Bäume zu hängen. Sosehr Jane die Augen auch offenhielt, von John Sinclair und auch von Judd sah sie nichts. Sie sprach einen jungen Mann, der soeben von einer Leiter kletterte. »Hast du Judd gesehen?« Die Antwort erfolgte spontan und klang ärgerlich. »Das möchte ich auch gern wissen, wir suchen ihn ebenfalls.« Er winkte ab. »Wenn man ihn mal braucht, ist er nicht da.« »Was soll er denn?« »Er kennt sich aus. Wir brauchen Strom für unsere Musik. Wie gesagt, es wird ein heißes Fest werden. Hast du schon mal Grillfeste hier mitgemacht?« »Nein, ich bin zum erstenmal hier.« »Sei versichert, das wird eine Schau.« Er lachte. »Beim letztenmal sind alle noch ins Wasser gelaufen.« Er ließ seine Blicke über Janes Figur laufen. »Die meisten nackt. Könnte ich mir bei dir auch gut vorstellen.« »Sicher, du Wiesen-Playboy. Mal was anderes. Kommt dir hier etwas verändert vor?« Er runzelte die Stirn. Sein Haar war kurz geschnitten. Es roch nach einem Gel. »Nein, wieso?« »Hätte ja sein können.« »Fs ist alles normal. So waren die Feten immer.« »Danke.« Jane ging weiter. Sie sorgte sich um John und Judd. Der Wirt half kräftig mit. Fr versorgte den Grill und kümmerte sich auch um die Fressalien. Mit einem Messer schlitzte er die Plastikhülle auf, die sich eng um die Würste gelegt hatte. Als er Jane erkannte, grinste er zu ihr rüber. Sie nickte zurück. Wo steckte Lady Sarah? Ausgerechnet die Horror-Oma gehörte zu den Personen, die auf derartigen Festen nie fehlten, wenn sie schon mal in der Nähe war. Denn wo Action geboten wurde, war auch sie zu finden. Befand sie sich auf ihrem Zimmer? Jane schaute an der Front hoch. Ein Fenster im ersten Stock stand weit offen. Sie konnte sich vorstellen, daß es zum Zimmer der Sarah Goldwyn gehörte. »Probleme?« Jane schrak zusammen, als sie Art Cromwells Stimme hörte. Sie drehte sich um und schaute in sein bärtiges Gesicht, auf dem Schweißtropfen lagen. »Nein, eigentlich nicht.« »Du machst den Eindruck.«
»Das kann täuschen.« »Sicher, ich suche nur jemand.« »Wenn ich helfen kann .. .« Von Lady Sarah sagte Jane nichts. »Ich vermisse meinen Freund John, mit dem ich gekommen bin.« »Ach den. Vielleicht ist er im Wasser.« »Nein, nein, erging mit Judd weg!« Cromwell strich durch sein Bartgestrüpp. »Die beiden gingen weg?« wunderte er sich. »Wohin wollten sie denn?« »In den Wald, glaube ich.« Art Cromwell trat einen Schritt zurück. »Das darf doch nicht wahr sein. Was soll das?« »Keine Ahnung.« »Scheiße«, sagte er, »und wir vermissen Judd hier. Er sollte mithelfen, jede Hand wird gebraucht.« Jane hob die Schultern. »Kann ich etwas tun?« Er lächelte. »Es gibt eine Arbeit, für die sich freiwillig niemand meldet.« »Welche?« »Am Grill stehen und aufpassen, daß nichts anbrennt.« »Das kann ich mir vorstellen, Art. Keine Sorge, ich werde dir dabei zur Hand gehen.« Erschlug ihr auf die Schulter. »Du bist gut, Mädchen. Jetzt schon sage ich danke.« »Wie lange muß ich denn . . .?« Er winkte ab. »Nicht die ganzen Stunden über. Meine Mädchen lösen uns mal ab.« »Soll ich jetzt schon helfen?« »Ich sage dir Bescheid. Die Kohlen müssen noch heißer werden. Aber noch eine Frage. Hatten sie einen besonderen Grund, den Wald zu betreten? Ich weiß ja, wer John Sinclair ist. Da ist doch nichts passiert, von dem ich nichts weiß?« Jane hob die Schultern. »Sony, ich kann dir keine Auskunft geben. Vielleicht hat Judd etwas entdeckt. Außerdem ist es seltsam, daß wir Ken nirgendwo finden.« »Ach?« Jane hatte sich entschlossen, dem Wirt nicht die Wahrheit zu sagen. »Ich hatte mich mit ihm verabredet. Weißt du mehr?« »Nein.« »Er hätte sicherlich helfen sollen.« »Das kann ich nicht unterstreichen. Ken war mehr für die Küste zuständig. Er hat dort so etwas wie einen Bademeister gemimt, wenn er nicht gerade auf Mädchenfang war. Hat er es bei dir auch versucht, Jane?« »Sicher.« Cromwell grinste. »Der nahm auf nichts Rücksicht. Auch nicht auf irgendwelche Begleiter hübscher Damen.«
»Was will man da machen?« Jane ging weiter. »Wir sehen uns dann gleich am Grill.« »Gut.« Die Detektivin war froh, daß Cromwell abdrehte, so konnte sie das Restaurant betreten, wo die beiden Helferinnen Gläser zusammenräumten und sich über das schwül gewordene Wetter beklagten. »Hier wird nicht serviert«, erklärte man Jane. »Das weiß ich. Ich suche eine Frau.« Das Mädchen strich eine Haarsträhne zurück. »Müßte ich die kennen?« »Ja, sie ist älter und wohnt bei Ihnen.« »Sarah Goldwyn meinen Sie.« »Genau.« »Die habe ich in den letzten Stunden nicht gesehen. Warten Sie mal, ich frage mal meine Kollegin. Hör mal, Doris, hast du Mrs. Goldwyn aus dem Zimmer kommen sehen.« »Nein, May.« »Da haben Sie es. Sie muß noch oben sein. Bestimmt hat sie sich vor dem Trubel hingelegt.« »Das denke ich auch. Ist es das Zimmer, bei dem das Fenster offensteht?« »Kann sein.« »Darf ich nachschauen?« »Meinetwegen. Kennen Sie den Weg?« »Noch nicht.« May führte Jane bis an eine Treppe, die im Flur begann und in die erste Etage führte. »Da müssen Sie hoch, dann durch den Gang und auf der linken Seite.« »Danke sehr.« May hatte wieder zu tun und eilte in das Restaurant zurück. Jane Collins schritt die Stufen hoch. Sie wußte selbst nicht, aus welchem Grund sie derart langsam und auch vorsichtig ging. Möglicherweise tat sie es unbewußt. Der Gang war leer. Er lag vor ihr in einem schummri-gen Halbdunkel. Um diese Zeit drangen keine Sonnenstrahlen mehr durch die kleinen Rechtecke der Fenster. Einen Gast traf sie nicht. VorderZimmertür, sie hatte genau nachgezählt, blieb sie stehen, klopfte, bekam keine Antwort und drückte die Klinke. Abgeschlossen hatte Lady Sarah nicht. Jane erwartete, sie auf dem Bett liegen zu sehen, doch der Raum war leer. Keine Spur mehr von der Horror-Oma. Darüber wunderte sie sich. Jane durchsuchte den Raum nach einer Nachricht. Die Mühe hätte sie sich sparen können. Sarah Goldwyn war sang- und klanglos verschwunden. Niemand wußte oder wollte wissen, wo sie hingegangen war.
Es gefiel Jane überhaupt nicht. Sie kannte die Aktivitäten der alten Dame. Wenn Sarah irgendwo Verdruß roch, war sie nicht zu halten, da mußte sie ihre Nase reinstecken. Ihren Stock hatte sie mitgenommen. Wenigstens konnte Jane ihn im Zimmer nicht entdecken. Was tun? Sie schaute aus dem Fenster, vorsichtig, um nicht gesehen zu werden. Art Cromwell stand am Grill. Die ersten Fleischstücke hatte er bereits in die Schwenkpfanne gelegt. Qualm umgab ihn wie Wolken. Er wedelte ihn mit beiden Händen zur Seite. Wo konnte Sarah Goldwyn stecken? Hatte sie vielleicht eine Spur gefunden und war entdeckt worden? Jane traute ihr das durchaus zu, denn sie gehörte zu den Menschen, die in dieser Beziehung immer >Glück< hatten. Sie trat vom Fenster zurück, blieb mitten im Raum stehen, um ihn noch einmal zu durchforsten. Nein, sie entdeckte nichts Neues, vor allen Dingen nicht einen Hinweis auf Lady Sarahs Verbleib. Es hatte keinen Sinn, sich weiterhin im Raum aufzuhalten. Jane verließ ihn. Wieder schritt sie leise die Treppe hinab. Dabei fiel ihr etwas auf. Es war der Geruch, der sie störte. Er schwebte als nicht sichtbare Wolke über die Treppe und wollte zu dem Grillgeruch überhaupt nicht passen. Was ihr da entgegenschwebte, erinnerte sie an den Gestank, der in alten Kellern lag. Jane blieb am Fuße der Treppe stehen, drehte den Kopf und sah links von sich eine schmale Tür, die offenstand. Aus dieser Öffnung drang auch der Gestank. Über ihre Lippen zuckte ein Lächeln. Sollte Sararh Goldwyn die Tür ebenfalls entdeckt haben, was sogar ziemlich wahrscheinlich war, konnte sie sich gut vorstellen, daß die Horror-Oma dahinter verschwunden war, um in irgendwelchen Kellerräumen zu landen, die sie durchstöbern wollte. Sie war eben sehr neugierig, was sie schon des öfteren in Lebensgefahr gebracht hatte. Jane wollte den gleichen Weg gehen, als sie hinter sich Schritte hörte. Doris kam und winkte mit beiden Händen. »Art Cromwell sucht Sie. Er sagte, Sie hätten ihm versprochen, am Grill zu helfen.« »Das habe ich auch.» »Dann bitte, es geht gleich rund.« »Okay.« Jane ärgerte sich. Lady Sarah gegenüber hatte sie ein schlechtes Gewissen. Wie aber hätte sie dem Mädchen erklären sollen, daß es für sie wichtig gewesen wäre, den Keller zu durchsuchen und nach der Verschwundenen zu forschen. Nein, das hätte sie niemals geschafft.
Also ging sie mit und wurde von Crom well durch rauhes Lachen begrüßt. »Ah, da ist ja meine freiwillige Helferin. Toll, daß du dein Versprechen eingehalten hast.« Er reichte ihr eine der langen Grillgabeln, die bis in die Mitte der Pfanne reichte. Ich habe dich als Würstchen-Verantwortliche vorgesehen - okay?« »Meinetwegen.« »Nimm die Schürze.« Jane band sie um. Die Schürze war weiß, auf der Vorderseite mit Motiven bedruckt. Line kleine Planne, aus der senkrecht stehende Würstchen schauten und mit aufgemalten Gesichtern grinsten. »Tolle Schürze.« »Ja, sie gefällt mir auch.« Jane drehte sich um und spielte dabei mit der Gabel. »Suchst du wen?« »Meinen Partner.« Cromwell lachte und beugte sich zu ihr. »Polizisten haben eben die Angewohnheit, hin und wieder zu verschwinden. Sie lauern dann im Dunkeln, um besser zuschlagen zu können.« »Meinst du?« »Klar doch. Ich kenne mich aus, ebenso wie bei meinen Würstchen.« Für ihn war das Thema erledigt. Er kümmerte sich um ein anderes. »Hört zu, Leute!« rief er laut und unüberhörbar. »Bei uns sind gleich die ersten Würstchen heiß. Ich sage euch, das sind die besten, eigentlich zu schade, um gegessen zu werden. Und jetzt will ich Musik hören. Hier findet doch keine Beerdigung statt, zum Teufel!« »Hoffentlich nicht«, murmelte Jane Collins und dachte dabei an Sarah Goldwyn. Ihr war überhaupt nicht wohl. Am liebsten hätte sie jedes einzelne Würstchen ins Gelände geschleudert... *** Sarah hatte es geschafft und die alte Treppe hinter sich gelassen, ohne das eine Stufe gebrochen war. Sie war froh gewesen, ihren Stock dabeigehabt zu haben, auf den sie sich hatte abstützen können. War es nun ein Keller, den sie erreicht hatte? Nein, Keller sahen anders aus. Die bestanden nicht nur aus einem Stollen, der in die Tiefe schnitt wie ein Tunnel. Es gab keine weiteren Räume, auch einen zweiten Gang entdeckte Lady Sarah nicht, eben nur diesen finsteren Stollen, aus dem der widerliche Gestank drang und einen Teil des Sauerstoffs geraubt hatte. Hatte es überhaupt Sinn, noch weiter zu gehen? Darüber machte sich Lady Sarah große Gedanken. Zudem ärgerte sie sich, keine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Ein Feuerzeug konnte zwar Licht geben, doch nicht in der Menge, die sie benötigte. Es war schon verzwickt und irgendwie unverständlich, aber sie tat es trotzdem.
Woran es letztendlich lag, konnte sie selbst nicht sagen. Möglicherweise verbarg der Stollen ein Geheimnis, und für so etwas hatte sie eine Antenne. Sie gehörte zu den Menschen, bei denen die Neugierde angeboren war, und die sich auch immer wieder bestätigt sahen, weil sie stets etwas entdeckten. Bereits nach wenigen Schritten bekam sie die erneute Bestätigung. So finster, wie sie gedacht hatte, war dieser Tunnel nicht. Vor ihr — entfernungsmäßig nicht zu schätzen — sah sie einen Schein. Nicht hell, beileibe nicht, aber auch nicht so dunkel wie die Finsternis. Der Schein besaß eine dunkelgrüne Aura, die den Stollen bis zur Decke anfüllte. Die Horror-Oma gab sich einen Ruck. Daß auf diesem Gelände etwas nicht in Ordnung war, davon waren sie, Jane und John einfach ausgegangen. Die Sache mit den Käfern hatte diese Ansicht untermauert, und jetzt hatte sie das Licht entdeckt. Ein Zentrum des Schreckens vielleicht? Lady Sarah steckte plötzlich voller Spannung. Sie räusperte sich den Frosch aus der Kehle und wollte auch nicht mehr umkehren. So dicht vordem Ziel nicht. Je tiefer sie in den Stollen hineinschritt, um so merkwürdiger kam ihr ciie Umgebung vor. Iis waren nicht die Äußerlichkeiten, die sich verändert hatten, nein, das Flairoderdie Atmosphäre stimmten nicht mehrmit dem überein, was sie noch vor wenigen Minuten empfunden hatte. Hier war mittlerweile alles dichter geworden. Fremde, nicht sichtbare Gedanken umschwirrten sie. Herauskristallisiert aus einer weit zurückliegenden Zeit. Erlebnisse der Vergangenheit, Berichte über Dinge, die damals passiert waren und die man als außergewöhnlich bezeichnen konnte. Unheimliche Dinge, verwoben in einem Netz aus finsterer Magie, aus gefährlichen Naturkräften, die lange in der Erde gelauert hatten und nun zum Vorschein kamen. Versuchte jemand, mit ihr zu reden? Wollte das Unbekannte sie beeinflussen? Sie konnte es nicht sagen. Line Antwort würde sie höchstens am Ziel finden, wo das Licht sich ausbreitete und als grüner Schleier an der Decke entlangschwebte. Er war auch nicht aus dem Nichts gekommen. Irgendwo mußte sich die Quelle befinden. Der Gang verengte sich. Die Wände rückten von zwei Seiten näher zusammen, als wollten sie einen Eindringling davor warnen, die nächsten Schritte zu gehen. Jetzt wäre für Lady Sarah noch Zeit genug gewesen, wieder zurückzugehen, das tat sie nicht. Sie setzte ihren Weg fort, ihr Hunger mußte einfach gestillt werden.
Sie erkannte, daß es sich nicht nur um reines Licht handelte. Innerhalb des Schein schwebten sogar Wolken, die wie weit ausladende Gebilde aus dem Boden drangen. Ihr fielen wieder die Käfer ein. Konnte es sein, daß diese Tiere hier ihre Heimat hatten? Sie legte die letzten Schritte zurück, blieb vor dem Ziel stehen und erkannte die volle Wahrheit. Mit den Fußspitzen berührte sie fast den Rand einer viereckigen Grube im Boden. Das Rechteck war nicht leer, sondern mit einer wabernden Masse gefüllt, die auch das unheimlich wirkende Licht abgab und die dünnen Rauchwolken. Die Masse lebte. Gas stieg in ihr hoch. An der Oberfläche zerplatzten die Blasen und gaben eben diesen grünen Rauch ab. Sarahs Mundwinkel zuckten, als sie auf die Masse schaute. Sic wußte, daß sie sich am Ziel befand, aber sie schaffte es nicht, eine Erklärung zu finden. Sollte es tatsächlich allein an dieser sumpfartigen Masse liegen, daß sich auf dem Gelände des Campingplatzes derart viel verändert hatte? Das wollte sie einfach nicht glauben, konnte sie sich kaum vorstellen. Der Knauf des Stocks hielt sie mit der rechten Hand umklammert. Sehr behutsam hob sie den Stock an und stemmte ihn schräg vor, so daß die Spitze über der Grube schwebte. Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel, als sie die Spitze in die Masse hineinstach und darauf wartete, daß etwas geschah. Es geschah nichts . . . Sie konnte ihn der Masse herumrühren, sie konnte die Blasen zerstechen, sie wurde nicht angegriffen. Was immer an magischer Kraft in der Masse lauerte, sie hielt sich zurück. Und doch war noch etwas vorhanden. Die Horror-Oma sah es, als sie sich vorbeugte. Ihre Augen waren nicht mehr die besten, die Brille lag im Zimmer. Sie mußte schon sehr nahe herangehen und stellte fest, daß sie sich nicht getäuscht hatte. In der Masse schwamm etwas, dort zeichnete sich etwas ab — ein Gesicht! »Das ist die Lösung!« flüsterte Sarah. »Das ist es, um was sich alles dreht. Das Gesicht. . .« Es war eine scheußliche Fratze, deren Faszination sich Lady Sarah trotzdem nicht entziehen konnte. Irgend etwas hatte das Gesicht an sich. Es war zwar scheußlich und sah aus wie tot, aber es lebte trotzdem. Von ihm gingen eine Faszination und eine Botschaft aus, wobei Lady Sarah gerade das letzte interessierte. Eine Botschaft, die sie als schlimm empfand, denn sie berichtete von Tod, Grauen und einem ungeheuren Schrecken. An manchen Stellen kam ihr das Gesicht vor, als bestünde es aus altem Wurzelwerk. Nach
einem Mund oder einer Nase suchte sie vergeblich, dafür entdeckte sie ein blasses Augenpaar mit ebenfalls leichtgrünlich schimmernden Pupillen. Es wäre zuviel gewesen, eine Botschaft aus dem Augenpaar lesen zu wollen, doch irgend etwas war schon vorhanden, über das sie nachdenken mußte. War es das Versprechen zu töten? Lady Sarah ließ sich auf ein Wagnis ein, in dem sie abermals ihren Stock nahm und ihn eintauchte. Diesmal zielte sie mit der Spitze direkt auf das Gesicht. Es schwamm dicht unter der grünlichen Oberfläche, sie kam auch gut durch, traf das Gesicht und spürte gleichzeitig den Ruck, der durch den Stock raste und sich zuerst auf die Hand und danach auf den Arm übertrug. Hastig zerrte sie den Stock wieder zurück. Es gelang ihr, er wurde nicht festgehalten, doch an der Spitze blieb ein dicker Tropfen kleben, den sie nicht abschütteln konnte, obgleich sie es mit heftigen Bewegungen versuchte. Sie traute sich auch nicht, es mit den Fingern zu versuchen. Lady Sarah war in diesem Augenblick froh, daß nicht noch mehr passiert war, denn nun wollte sie so schnell wie möglich weg. Einen letzten Blick warf sie zurück. Dabei bekam sie den Eindruck von einer gewissen Durchlässigkeit des Gesichts. Es zeichnete sich nicht mehr so klar ab. Lag es an ihr? Hatte sie etwas falsch gemacht, das eventuell andere, unschuldige Menschen später bereuen mußten? Wie dem auch war, für sie zählte nur eines. Sie mußte John Sinclair und Jane Collins warnen, alles andere konnte und sollte man möglichst vergessen. Unangefochten lief sie den ganzen Weg zurück. An den Tropfen dachte die Horror-Oma nicht mehr. Wie konnte sie auch ahnen, daß sie den Tod mit sich führte...? *** Der Wind hatte uns den Geruch schon zugetragen, noch bevor wir den Grillplatz erreichten. Es gibt Menschen, die beim Geruch von Bratwurstbuden und Grillständen immer Hunger bekommen. Dazu gehörte ich auch. Mir lief trotz der Vorfälle das Wasser im Mund zusammen, und auch ich konnte an den Imbißständen kaum vorbeigehen, wobei ich ja ein Fan von Currywürsten war, die es in Germany gab, aber leider nicht bei uns. Judd blieb neben mir. Wir bewegten uns auf einem schmalen Pfad, der sich schlangenähnlich durch das Gelände zog. »Sie grillen schon«, sagte Judd, »als wäre nichts gewesen.« »Vielleicht ist auch nichts gewesen.« »Meinst du?«
»Ja.« Er tastete wieder über seinen Hals. »Wenn ich mir vorstelle, daß alle Gäste durchdrehen, wird mir ganz anders. Ich komme mir jetzt schon vor wie in einem Gefängnis, bewacht von unheimlichen Geistern und Dämonen, die überall lauern.« Judd rieb seine Hände, war in ständiger Bewegung und versuchte, so weit wie möglich den Kopf zu drehen, um sich umschauen zu können. Mir wollte das Gesicht nicht mehr aus dem Kopf. Ich glaubte daran, daß es der wahre Herrscher dieses Campgrounds war, aber es zeigte sich leider nicht mehr. Die Stimmen der Camper klangen fröhlich. Nichts wies darauf hin, daß dieses Grillfest durch irgend etwas gestört werden könnte. Als wir auf den Platz schritten, entdeckte ich Jane Collins sofort, die zusammen mit Art Cromwell am Grill stand und die ersten Würstchen verteilte. F)a sie mir den Rücken zudrehte, hatte sie mich nicht sehen können. Ich mußte unbedingt mit ihr reden. Sehnlichst erwartet worden war vor allen Dingen Judd. Als man ihn entdeckte, liefen gleich zwei Camper auf ihn zu. »Verdammt noch mal, wo hast du gesteckt?« »Im Wald.« »Wir brauchen Musik, du bist dafür verantwortlich. Los, stell mal die Boxen auf und schließ sie an! »Ja, ist gut.« Judd verschwand achselzuckend. Lieber wäre er bei mir geblieben. Auch Art Cromwell hatte den letzten Dialog mitbekommen. Er verließ seinen Platz am Grill, wedelte Rauch zur Seite. Auch Jane Collins hatte sich umgedreht. Ich konnte ihr einen schnellen Blick zuwerfen. Trotz des Qualms entdeckte ich den erleichterten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Vor mir blieb Cromwell stehen. Er roch nach Grillkohle. »Da sind Sie ja wieder.« »Klar.« »Darf man fragen, wo Sie gewesen sind?« Ich deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Im Wald, einen Spaziergang machen.« »Und?« Täuschte ich mich, oder hatte er die Frage lauernd gestellt, so als wüßte er Bescheid? Ich lächelte harmlos. »Nichts, Mr. Cromwell, überhaupt nichts. Wir haben nur einen kleinen Spaziergang gemacht, das ist alles.« Er zeigte sich enttäuscht, möglicherweise auch ungläubig. Mit der Rechten strich er durch den Bart. »Ich dachte schon, es wäre wieder etwas passiert.« »Was denn?« Er hatte auf der Zunge, über einen neuen Mord zu sprechen, schluckte es aber herunter. »Wir können später darüber reden. Ich habe keine Zeit, muß zum Grill.«
»Das war das Stichwort, Mr. Cromwell. Können Sie meine Freundin für zwei Minuten entbehren?« »Ungern«, nörgelte er. »Sie würden mit aber einen großen Gefallen erweisen.« Meine Stimme blieb freundlich, der Blick war es weniger. Cromwell sah ein, daß es keinen Sinn hatte, sich zu weigern. »Okay, für zwei Minuten sicher.« Fr redete mit Jane und winkte dann eines seiner Mädchen heran, das ihre Stelle einnahm. Die Detektivin lächelte, als sie auf mich zukam. Sie wedelte mit beiden Händen den Rauch zur Seite, der sie noch immer umwirbelte. »Na?« fragte ich. »Toll gegrillt?« »Den Job möchte ich auch nicht immer machen. Der ganze Rauch bleibt in den Klamotten hängen.« »Das kann ich mir vorstellen. Sonst geht es dir gut?« Jane runzelte die Stinrn. »Gut?« fragte sie leise und schaute sich dabei um, ob wir auch keine Zuhörer hatten. »Ich will dir etwas sagen, das hätte glatt ins Auge gehen können. Das war haarscharf, mein Lieber. Sogar ganz knapp.« »Inwiefern?« »Es hätte mich fast erwischt, mitsamt dem Wohnmobil.« Sie berichtete, und ich konnte nur staunen. Also stand auch dieses Areal unter der Kontrolle dieses unheimlichen Wesens, nicht nur der Wald. Allmählich wurde mir mulmig, das sah auch Jane. »Was sagst du, John?« »Nicht viel, mir ist Ähnliches passiert.« »Laß hören.« Jane bekam eine Gänsehaut, als ich von meinen Erlebnissen erzählte. »Fehlt nur noch Sarah Goldwyn«, sagte sie. »Das ist das Stichwort. Wo treibt sie sich herum?« »Wenn ich das wüßte, John. Ich habe in ihrem Zimmer nachgeschaut, da ist sie nicht.« Ich bekam das kalte Gefühl, das meinen Nacken zusammenzog. »Wo könnte Sie denn sein?« Jane hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe auch nachgefragt. Niemand hat sie gesehen oder will sie gesehen haben. Wenn du mich fragst, ist das eine schöne, na, du weißt schon.« »Ja, da hast du recht. Ich frage mich nur, ob Sarah nicht wieder einen Alleingang probiert hat?« »Das befürchte ich auch.« »Was machen wir dann?« »Sie zu suchen, mußt du übernehmen. Ich werde hier am Grill gebraucht, möchte die Arbeit auch nicht abgeben, denn ich werde den Eindruck nicht los, daß das eigentliche Zentrum der Magie der Platz vor dem Restaurant ist.«
»Das kann sein. Andere Frage. Wie stehst du zu Art Cromwell? Was ist er für ein Mann?« Sie hob die Schultern. »Aus ihm werde ich nicht richtig schlau. Er kommt mir ziemlich brummig und sauer vor, das kann natürlich täuschen, muß aber nicht. Ich glaube kaum, daß ich eine Chance habe, ihn näher ken n en z u 1 e rn e n.« »Das stimmt.« Ich nickte, weil ich sah das Cromwell sich gedreht hatte und schon böse schaute. »Nimm deinen Platz wieder ein, und sorge dafür, daß die Würstchen gut durchgebraten werden.« »Worauf du dich verlassen kannst.« Sie ging, ich schaute ihr nach und dachte wieder an Sarah Goldwyn. Ihr Verschwinden gefiel mir überhaupt nicht. Von meinem Standort aus hatte ich einen guten Blick über den Platz. Kaum einer der Camper hielt sich noch an seinem Zelt oder Wohnmobil auf. Was Beine hatte, hockte an den Tischen oder stand um den Grill herum. Die meisten hielten Gläser in den Händen und schlürften das kühle Bier. Noch war es verhältnismäßig ruhig, bis zu dem Zeitpunkt, als es Judd gelungen war, die beiden Verstärker aufzustellen und anzuschließen. Da ging es plötzlich rund. Und es war keine Kammermusik, die über den Platz, schallte, sondern heiße Rhythmen, intoniert von bekannten Rockbands und anderen Gruppen. Es schien so, als hätten die Gäste nur auf diese Musik gewartet. Trotz der drückenden Schwüle fingen sie an, sich zu bewegen. Und das nicht zu knapp. Besonders taten sich die weiblichen Camper hervor. Ich ging zu Judd, der im Hintergrund stand und noch einmal die Lautstärke regulierte. Als er mich sah, grinste er. »Damit kann man die bösen Geister vertreiben, hoffe ich.« Ich winkte ab. »Sei dir nicht so sicher, mein Lieber. Vielleicht stört sie die Musik.« Schwitzend richtete er sich auf. »Sie werden sie sicherlich abstellen.« »Da gibt es was auf die Rübe.« Judd grinste, er hatte die Schrecken verdaut. Ich sprach ihn auf Lady Sarah an. »Hast du sie vielleicht gesehen?« Er bekam eine Beschreibung. »Nein, die nicht.« »Okay.« »Campiert sie denn hier?« »Sie übernachtet in den Fremdenzimmern.« »Ach so, dann schau doch dort mal nach.« »Danke, das werde ich auch.« Ich schlenderte wieder zurück und geriet genau in die Schallwellen der Lautsprecher. Meine Güte, die Musik malträtierte das Trommelfell. Wer
da zu lange zuhörte, würde irgendwann Kopfschmerzen bekommen, das stand für mich fest. Ich betrat den Gastraum. Eine schwitzende Kellnerin kam mir entgegen. Sie schleppte ein mit Bierkrügen gefülltes Tablett. Der Durst der Gäste war unwahrscheinlich. Da würden einige hundert Liter Bier durch die Kehlen fließen. Bier macht müde, obwohl es den Durst löscht. Menschen, die träge und müde sind, reagieren nicht so gut. Ob das der Sinn der Sache war? »Es wird nur draußen serviert«, sprach mich die blonde May an. »Sie müssen schon . ..« »Ich trinke noch nichts. Hier ist es angenehmer. Ich möchte mich nur für einen Moment abkühlen.« »Wie Sie wollen, Mister.« In den folgenden Sekunden waren beide Kellnerinnen verschwunden. Für mich günstig. Den Weg, der zu den Zimmern führte, war schnell gefunden. Nur machte ich die gleiche Entdeckung wie Jane Col-lins. Ich starrte ratlos in einen leeren Raum. Wo steckte Sarah Goldwyn? Es war nicht gerade zum Heulen, aber ich kannte die Horror-Oma gut genug, daß sie sich oft abseilte und gewisse Alleingänge unternahm, die uns gar nicht gefielen. Obwohl ich keinen Beweis hatte, ging ich davon aus, daß sie ihrer alten Devise wieder treu geblieben waren. Am liebsten hätte ich sie irgendwo eingesperrt. Ich schritt die Treppe hinab. Das Halbdunkel im Flur hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Da wechselten sich Licht und Schatten ab, wobei letztere überwogen. Noch auf der Treppe hörte ich die Schritte und das leise Klopfen dazwischen. Ich brauchte sie nicht zu sehen, das Klopfen des Stocks hatte sie verraten. Lady Sarah befand sich in der Nähe, und mir fiel ein mittelschwerer Stein vom Herzen. Sie hatte mich nicht gesehen und erschrak, als ich leise ihren Namen sagte, wobei ich mich aus dem Dämmer löste. »John, meine Güte.« »Hi, Sarah.« »Junge, du hast mich erschreckt. Und das nach all dem Neuen.« Ich spitzte die Ohren. »Du hast etwas entdeckt?« »Das kannst du wohl laut sagen.« Sie lachte hart. »Ich komme gerade aus der Unterwelt, nachdem man mein Zimmer mit unzähligen Käfern gefüllt hat.« »Wieso?« Ich bekam einen Bericht und den Hinweis, daß Art Cromwell ihr nicht hatte glauben wollen. »Hältst du mich auch für eine Spinnerin, John?«
»Gewiß nicht. Jane und ich haben verzweifelt nach dir gesucht. Wir dachten, dich hätte es erwischt.« »Nein, nein, mein Junge. So leicht kann man altes Unkraut auch nicht ausrupfen. Wie ist es euch ergangen?« »Das Gesicht, Sarah, daß habe ich ebenfalls gesehen. Allerdings nicht im Boden, sondern in einem Baum, wo es sich im Geäst abzeichnete.« »Dann . . . dann«, flüsterte sie, »ist es unser eigentlicher Gegner, John. Das muß er sein.« »Ich frage mich nur, um wen es sich dabei handelt. Kannst du mir da eine Auskunft geben?« »Man d ra goro!« Sie erschrak fast, als sie mein hartes »Nein, er nicht« hörte. »Das ist nicht Mandragora, denn den kenne ich. Dieser Geist, Dämon oder was immer er sein mag, muß auf einen anderen Namen hören. Ich habe mir meine Gedanken gemacht und bin zu dem Entschluß gekommen, daß dieser Ort früher möglicherweise eine Kultstätte der Kelten gewesen ist.« »Das heißt, du denkst an die Druiden.« »Genau.« Lady Sarah strich über ihr Gesicht. »Die Eichenkundigen, waren sie denn schlimm?« »Im Prinzip nicht. Aber es gab Ausnahmen. Ich denke da nur an Guywano aus Aibon.« »Ja, das kann hinkommen.« Sie strich durch ihr Gesicht und hob die Schultern. »Wie man es auch dreht und wendet, ich komme hier nicht klar. Ich weiß nur, das es gefährlich werden könnte, das Grillfest zu besuchen, aber kneifen können wir nicht.« »Das werden wir auch nicht«, erklärte ich. »Jane hilft übrigens Cromwell beim Grillen mit.« Sie zuckte mit den Mundwinkeln. »Cromwell«, murmelte sie. »Irgendwie werde ich aus ihm nicht schlau.« »Wie meinst du das?« »Kann ich dir auch nicht sagen, aber mir kommt er vor wie ein Ignorant, wenn du verstehst.« »Wegen der Käfer.« »Nicht nur. Vielleicht mag ich ihn auch vom Typ her nicht.« Sie winkte ab. »Ist auch egal, John. Hier hält mich nichts mehr. Ich werde mich mal draußen u m schauen.« »Tu das.« »Und du?« »Hier bleibe ich auch nicht. Wenn du mich nicht siehst, brauchst du trotzdem keine Furcht zu haben. Ich halte mich am Rand des Platzes auf.« »Viel Glück.« Sie zwinkerte mir zu und ging. In der Gaststätte war es heller. Ihre Gestalt zeichnete sich genau ab, als sie durch die Türöffnung
schritt. Ich konnte auch die Spitze ihres Stocks sehen und hatte das Gefühl, als würde sie etwas mitschleifen . . . Darüber dachte ich nicht nach und verließ das Restaurant ebenfalls. Unterwegs nahm ich einen Bierkrug an mich, denn ich wollte nicht auffallen. Der Trubel hatte sich gesteigert, das Grillfest war im vollen Gang. Keiner dachte an eine Gefahr, die Menschen amüsierten sich prächtig, auf mich achtete niemand. Das war gut, so konnte ich mich ungesehen entfernen. Halbleer stellte ich den Bierkrug ab und schnupperte, weil mir die mächtige Wolken entgegengeblasen wurden. Wenn der Wind ungünstig stand, verteilten sie sich vom Grill her kommend fast über den gesamten Platz. Ich wandte mich nach rechts. Der kleine Supermarkt war an das Restaurant angebaut worden. In seiner Nähe standen auch die großen Lautsprecherboxen zusammen mit der Verstärkeranlage, die Judd zu bedienen hatte. Wiederum ein paar Yards entfernt begann ein schmaler Weg, der in den Wald führte. Der Wald hatte es mir angetan. Ich wurde einfach das Gefühl nicht los, dort nachschauen zu müssen. Lady Sarah hatte mir von dem Gesicht erzählt, ich hatte es selbst gesehen und ging davon aus, daß es seinen Platz im Stollen verlassen hatte, um sich innerhalb der Natur zu manifestieren. Druiden, die Lichenkundigen, die Zauberer der Natur. Die Menschen, die sehr weise waren und vieles wußten, was den anderen verborgen blieb. Es gab Druiden, oder es hatte Druiden gegeben, die es schafften, die Natur zu beeinflussen und dabei ihre eigentliche Aufgabe vergaßen. Der Wald schluckte mich. Von Judd hatte ich nichts gesehen, was mir wiederum Sorgen bereitete. Ich konnte davon ausgehen, daß er sich einer Gefahr befand. Blätter strichen durch mein Gesicht. Sie fühlten sich klebrig an. Die drückende Schwüle hatte Feuchtigkeit produziert. Diese wiederum lag wie ein Film auf dem Laub. Die Spinnweben kamen mir besonders dicht vor. Wie klebrige Finger schleiften sie über Haut und Haare. Des öfteren mußte ich mich ducken. Der Boden war ebenfalls weicher geworden, jedenfalls konnte ich mich nicht mehr so abdrücken wie sonst. Und die Stille fiel mir auf. Ich hatte mich zwar nicht in eine andere Welt begeben, dennoch kam es mir so vor. Die Geräusche des Grillplatzes waren zurückgeblieben, man konnte sie nur mehr als eine ferne Kulisse ansehen. Auch die Sonne hatte sich zurückgezogen. Sicherlich würde sie mit ihren letzten Strahlen die Oberfläche des Meeres vergolden, aber innerhalb des Waldes reagierte eine beinahe stumpfe und auch dumpfe
Dämmerung. Es war eigentlich die Zeit, wo die Vögel zu singen anfingen, auch das vermißte ich. Ich war umgeben von einer lastenden Stille, die mir mehr als unnatürlich vorkam. Auf einer kleinen Lichtung blieb ich stehen. Sträucher verwehrten mir den Blick. Sie wuchsen im Schutz der hohen Baumkronen, gegen die ich schaute. Irgendwo im Geäst bewegte sich etwas, als hätte ein Windstoß Blätter berührt. Das war es nicht gewesen, eine Amsel hüpfte von einem Ast zum anderen. Ich wollte den Blick schon abwenden, da fiel sie plötzlich wie ein Stein zu Boden. Ich sprang noch zur Seite, sonst hätte sie mich genau auf dem Kopf erwischt. So landete sie dicht vor meinem Fußspitzen, sie wollte sich mit ihrem gelben Schnabel in den Boden rammen. Sie war tot! Ich nahm sie zwischen die Finger. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre er versteinert. Das Gefieder veränderte auch sehr schnell seine Farbe. War es vorhin noch schwarz gewesen, so zeigte es sehr bald ein stumpfes Grau. Ich schüttelte den Kopf und spürte gleichzeitig die Kälte auf dem Rücken. Wieder hatte ich den Beweis bekommen, daß dieses Areal von einer anderen Kraft regiert wurde. Tote Vögel fielen normalerweise nicht von den Bäumen. Sollte dies ein Zeichen gewesen sein? Fin Beweis dafür, daß der Tod in diesem Gebiet regierte? Davon mußte ich fast ausgehen. Ich legte den toten Vogel weg und setzte meinen Weg fort. Dabei schaute ich öfter in die Höhe, als es normal gewesen wäre, und bekam einen zweiten Schreck. Aus einer Astgabel rutschte etwas hervor. Zuerst sah es so aus, als könnte sich das J'ier noch an der Baumrinde festklammern, dann verließen es die Kräfte, und es rutschte an der Rinde herab nach unten, bis es dicht vor mir liegenblieb. Ein totes Eichhörnchen . . . Ich schluckte. Erst der Vogel, jetzt das. Die unheimliche Kraft war dabei, die Tiere des Waldes auszurotten. Und dies untermalt von der Musik aus den beiden Lautsprechern. Schlimm .. . Ich holte mein Kreuz hervor und hängte es offen vor meine Brust. Sollte sich eine Magie in der Nähe aufhalten, mußte ich sie einfach aufspüren. Das Kreuz ließ ich nicht im Stich. Es erwärmte sich zwar nicht, doch es veränderte um eine Winzigkeit seine silberne Farbe. Und das lag nicht
am Dämmern des Waldes, sondern an der fremden Magie, die ihm einen leicht grünlichen Schimmer gab. Ein Druidengrün . . . Ich atmete tief ein. Die Luft kam mir vor, als wäre sie flüssig geworden. Sehr langsam ging ich tiefer in den Wald. Das Gelände stieg wieder an. Die Natur schwieg. Sie war schon gestorben, was ich sah, konnte ich als Makulatur bezeichnen. Dann hörte ich das Stöhnen . . . Es war schlimm, denn ein Tier konnte dieses unheimliche Geräusch nicht ausgestoßen haben. Ich blieb stehen und konzentrierte mich, weil ich noch nach der eigentlichen Richtung forschen mußte. Rechts von mir . . . Ich wühlte mich durch Strauchwerk. Ein wild wachsender Bambustrauch brachte mir einen derartigen Widerstand entgegen, daß ich nicht hindurchkam und ihn umgehen mußte. Als ich es geschafft hatte, sah ich ihn. Es war Judd. Er steckte bis zum Hals im Boden. Hervor ragte nur mehr sein Kopf. Seine Lippen bewegten sich, als er flüsterte: »Ich werde gefressen, ich werde gefressen...« *** Art Cromwell stand rechts von ihr und grinste Jane ab und zu scharf an, wenn der laute Wind es mal wieder geschafft hatte, die beißenden Wolken zu vertreiben. »Wie gefällt es dir?« Jane drehte schnell zwei Rippchen um. »Nicht schlecht, aber ich kann mir etwas Besseres vorstellen.« Sie hatten kaum Zeit, sich zu unterhalten, der erste Ansturm auf den Grill war besonders stark. Da wollte jeder etwas essen, als wäre er ausgehungert. Jane brauchte nur zu verteilen, nicht zu kassieren. Das übernahm eine andere Camperin, die sich freiwillig gemeldet hatte. Sie saß neben dem Grill auf einem Stuhl mit Stoffbespannung. Vor ihr stand ein Tisch mit einer Metallkasse darauf. Die Käufer bekamen Bons, dann erst konnten sie ihre Waren kaufen. Jane Collins wußte nicht, wie viele Würstchen, Koteletts oder Rippchen sie schon auf die Tabletts geschaufelt hatte. Bereits nach wenigen Minuten hatte sie aufgehört zu zählen. Sie stand nur da, umgeben von dichten Qualmwolken, drehte Würstchen um, schaufelte die Rippchen von einer Seite auf die andere und balancierte Koteletts durch das Fett in der Pfanne. Auch das Denken stumpfte ab. Dabei hatte sie sich vorgenommen, hin und wieder zu schauen, ob ihr vielleicht etwas auffiel, es war unmöglich,
die Arbeit nahm sie einfach zu sehr in Anspruch, hinzu kamen noch die dichten Wolken. Der erste Ansturm ging auch vorbei. Immer weniger Kunden kamen, immer mehr hockten an den Tischen und aßen, wobei noch große Bierkrüge geleert wurden. Kinder befanden sich kaum unter den Campern, was sich während der offiziellen Ferienzeit stark ändern würde. Eine rothaarige Frau mit grünen Strähnen im Haar schob sich näher und wollte eine bestimmte Bratwurst haben. Sie zeigte mit dem rotlackierten Fingernagel auf den Gegenstand. »Bitte schön.« »Danke. Mieser Job, wie?« Jane lachte. »Ich habe mich freiwillig gemeldet, und einer muß es schließlich tun.« »Ja, das kenne ich.« Sie ging wieder. Jane trat zurück, nur raus aus der Hitze. Zudem schmerzte ihr Rücken. Immer die gleichen Bewegungen, das tat keiner Bandscheibe gut. Mit der Grillschürze wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht. Art Cromwell hatte sich gebückt und aus einer Kiste neue Bratwürste geholt. Er hielt die Massen mit beiden Händen zusammen, bevor er sie auf der Grillpfanne verteilte. »Knochenarbeit, wie?« »Das kann man wohl sagen.« »Mach mal eine Pause und laß dir ein Bier geben. Das macht wieder fit für den nächsten Run.« »Ich dachte immer, ich würde abgelöst.« »Wirst du auch. Sagen wir - in einer halben Stunde.« Jane stöhnte durch. »All right.« »Hier, das tut dir gut.« Von der Seite wurde Jane angesprochen. Sie drehte sich und sah Lady Sarah, die lächelnd neben ihr stand, in der Linken einen gefüllten Bierkrug. »Du?« staunte Jane. »Warum nicht?« »Mein Gott, wir haben dich gesucht.« »Ich habe mich mal umgeschaut.« »Wo denn?« »Trink erst mal.« Das Bier war kalt. Fs tat gut, löschte den Durst, als es durch die Kehle rann. Jane schaute über den Rand hinweg in das Gesicht der HorrorOma, das ihr überhaupt nicht gefiel, weil es ihr einfach zu ernst wirkte. Irgend etwas war mit Lady Sarah nicht in Ordnung. Den zur Hälfte leeren Krug stellte Jane zur Seite und wischte über ihre Lippen. Der nächsten Schweißausbruch erfolgte auf der Stelle. »Weiß John eigentlich, daß du . . .« »Ich habe bereits mit ihm gesprochen.« »Und?«
Sarah warfeinen Blick auf Art Crom well, der von beiden Frauen offiziell keine Notiz nahm, hin und wieder jedoch zur Seite schielte, damit ihm nichts entging. »Es gibt Probleme.« Sie hatte leise gesprochen. Jane verstand und trat zur Seite. »Bei mir auch.« »Ich habe unter dem Restaurant etwas entdeckt«, flüsterte die HorrorOma. »Da gibt es einen Stollen, der zu einem, sagen wir, Grab führt. Dort fand ich eine ungewöhnliche Masse. Darin entdeckte ich ein uraltes Gesicht.« »Was sagt John dazu?« »Er denkt an einen Druiden.« »Du auch?« »Sicher.« Jane nickte langsam, irgendwie bestätigend. »Ja, das kann hinkommen, das glaube ich allmählich auch, wenn ich bedenke, daß sich die Erde unter dem Wohnwagen verwandelt hat. Ich steckte plötzlich in einem Sumpf. Okay, ein Druide, ich glaube dir.« »Wollen Sie auch bei uns mitgrillen?« fragte Crom-well, der näherkam, »oder träumen Sie noch immer von Ihren Käfern?« »Die hat es gegeben.« Cromwell legte den Kopf zurück und lachte. »Also, ich weiß nicht. Mir ist schon vieles untergekommen, aber eine Armee von Käfern nun doch nicht. Ihnen scheint die Hitze nicht bekommen zu sein.« »Vielleicht besser als Ihnen, Mr. Cromwell.« »Ich möchte ein Würstchen.« Jane hörte die Stimme eines kleinen Mädchens, das ihr einen Bon reichte. »Klar, das bekommst du sofort, mein Schatz.« Das Auftauchen des Kindes besaß so etwas wie Signalwirkung, denn nun kamen auch andere Gäste, die ihren Hunger stillen wollten. Lady Sarah zog sich zurück. Es gefiel ihr nicht, daß Jane da stand und grillte. Sie beschloß, die Detektivin im Auge zu behalten. Ihr Blick fiel auf den Stock. Noch immer schleifte sie den Rest aus der Grube mit sich herum. Fr war zäh wie Leim und ließ sich einfach nicht entfernen. Das gefiel der HorrorOma überhaupt nicht. Am liebsten hätte sie ihn mit den bloßen Händen abgezogen, doch sie traute sich nicht. Noch immer lief die Musik vom Band. Jetzt nicht mehr die harten Rhythmen, etwas mehr Background-musik war zum Essen gefragt. Die Gäste hörten kaum hin. Daß die Musik verstummle, fiel Sarah auch erst nach einer Weile auf. Keiner kümmerte sich darum, daß ein neues Band eingelegt wurde. Ihr Blick fiel wieder auf die Stockspitze.
Die Masse war verschwunden! Lady Sarah erschrank zwar nicht gerade, komisch war ihr trotzdem. Sie schüttelte den Kopf, ließ den Blick über den Boden gleiten und hatte plötzlich den Eindruck, als würde dieser sich bewegen. Das stimmte nicht. Nicht der Boden bewegte sich, sondern das, was über ihn hinweglief. Eine Armee von Käfern... *** Es war ein furchtbares Bild, das sich meinen Augen bot. Ich sah nur das Gesicht des Mannes, in dem sich all die Qualen abzeichneten, die er spürte. Die Augen waren weit aus den Höhlen getreten, als hätte sie jemand vorgeschoben. Der Mund stand weit offen, so als wäre er bewußt geöffnet worden, um Käfer oder andere Kriechtiere hineinkrabbeln zu lassen. Schweiß rann über die Haut, und der dunkle Untergrund schloß dicht unter dem Kinn wie eine Halskrause ab. Was hatte er gesagt? Sie fressen mich, ich werde gefressen? »Mein Gott, Judd!« flüsterte ich. »Was haben Sie? Wie ist das möglich?« Er konnte kaum sprechen. Jedes Wort fiel ihm schwer. »Der Boden, der verdammte Untergrund. Plötzlich war er weich wie Pudding. Ich habe keine Chance gehabt. Ein teuflischer Sumpf. Ich sank ein, dann kamen sie. Sie steckten in der Erde. Sie wollen mich aussaugen. Sie wollen alles, mein Blut, mein Fleisch, sie sind grauenhaft und furchtbar.« »Okay, ich hol' dich raus.« »Das schaffst du nicht.« »Ich versuche es, keine Sorge.« Wenn ich ehrlich war, mußte ich zugeben, mich übernommen zu haben. Der Mann steckte regelrecht fest. Es würde mir kaum gelingen, ihn an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, zudem wirkte die Erdmasse bei ihm wie eine Klammer, die auch seine Arme niemals freigeben würde. Was sich im Untergrund tat, sah ich auch nicht, da konnte ich nur raten oder mich auf die Worte des Mannes verlassen. Ich unternahm den Versuch trotzdem und legte beide Handflächen gegen seine Wangen. Die Haut war heiß geworden, unter ihr pochte das Blut, als würde es kochen. Das Kreuz baumelte dicht vor Judds Augen. Er atmete saugend die feuchte Luft ein. »Ich . . . ich kann bald nicht mehr. Es ist. . .« »Okay, Judd, ich versuche es anders.« »Nicht die Haare, nicht die .. .« »Nein, nein, keine Sorge. Was mit Gewalt nicht zu erreichen ist, schafft möglicherweise die Magie.« Er reagierte nicht und schaute nur zu, wie ich die Kette über den Kopf streifte, an der mein geweihtes Kreuz hing. Ich sank nicht ein, obwohl ich
daran glaubte, daß der Boden unter mir ebenso weich werden konnte. Möglicherweise lag es am Kreuz. Wieder fiel etwas aus den Bäumen. Zwei tote Vögel landeten im nahen Gebüsch. Wer immer hier regierte, der kannte keine Rücksicht mehr und hatte zum Frontalangriff geblasen. Ich legte das Kreuz dicht vor Judds Kinn. Er schielte auf das Silber, ich wartete, es tat sich nichts. Selbst die Verfärbung nahm nicht zu. Das Kreuz, obwohl wieder mit all seinen früheren Zeichen versehen, nahm die Magie nicht an. »Du kannst es nicht!« keuchte er. »Das ist alles vergebene Liebesmüh, tut mir leid.« »Ich bin noch nicht am Ende.« »Aber ich bald.« Auf seine Antwort nahm ich keine Rücksicht und sprach die Aktivierungsformel. Gewissermaßen das letzte Mittel, um gegen die hier wohnenden Kräfte anzugehen. »Terra pestem teneto — salus hic maneto!« — Die Erde solle das Unheil halten, das Heil soll hier bleiben. So ungefähr lautete die Übersetzung dieses lateinischen Spruchs. Und er holte alles aus dem Kreuz hervor. Ich sah, wie sich der Untergrund veränderte, und war gleichzeitig wie vor den Kopf geschlagen. Der Untergrund bekam einen grünen Schimmer, wurde durchsichtig, doch was sich meinen Augen bot, war unwahrscheinlich und für Judd wahrscheinlich tödlich. Seinen Körper gab es nicht mehr. Dafür die bleichen Knochen seines Skeletts... *** Wer hatte recht behalten. Irgend etwas mußte ihn in der Tiefe angegriffen und seine Haut von den Knochen genagt haben. Auch Judd war nicht dumm, er hatte mich beobachtet und sah nun meinen erschreckten Gesichtsausdruck, wobei er zudem erkannte, wie ich bleich geworden war. »Was ist denn?« keuchte er. »Was ist, verd am m t?« »Judd, du mußt jetzt verflixt stark sein, versprichst du mir das?« »Red schon, John!« Ks fiel mir nicht nur schwer, es kostete mich geradezu Überwindung, ihm eine Antwort zu geben. »Es ist tatsächlich etwas mit deinem Körper geschehen, Judd. So unrecht hast du nicht gehabt. . .« »Wie denn?« jammerte er. »Gefre . . .« »Fast.«
»Aber ich lebe doch. Ich spüre alles. Meinen Kopf, meine Arme, die Beine . . .« Ich nickte. »Okay, natürlich.« Bisher war Judd noch nicht dazu gekommen, sich die neue Umgebung genauer anzuschauen. Das tat er nun. Die Umgebung hatte sich verändert. Der Boden erinnerte mich an gefärbtes Glas, und auch Judd schaute mit verdrehten Augen nach unten. Ersah hinein, aber ersah sich nicht selbst, der Winkel war einfach zu schlecht. Das empfand ich als gut. So blieb ihm der größte Schock noch erspart. Kr wechselte die Blickrichtung, sah flehend in mein Gesicht und flüsterte mit kaum verständlicher Stimme: »Versuch es noch einmal, John. Bitte, du kannst mich nicht allein lassen.« »Okay, Judd.« Wieder legte ich meine Hände gegen seinen Wangen. Die Temperatur der Haut hatte sich nicht verändert, nach wie vor stand sie unter Glut. Ich preßte die Handflächen nicht sehr stark dagegen, wollte ihm eine kleine Chance geben. Dann zog ich. Zuerst sehr langsam und mit Bedacht. Ich wartete einen Moment, bevor ich den Druck verstärkte. Dabei ließ ich Judd nicht aus den Augen, weil ich auf seine Reaktion gespannt war. Zwischen meinen Handflächen bewegte er seinen Mund, ohne allerdings ein Wort zu sagen. Auf einmal hatte ich ihn frei! Es gab einen Ruck — und ich hielt seinen Kopf in der Hand. Das Skelett steckte nach wie vor in der magisch verseuchten Erde und würde auch dort bleiben. Der Ruck war so plötzlich erfolgt, daß ich es nicht schaffte, in der hockenden Stellung mein Gleichgewicht zu behalten. Ich kippte nach hinten und rollte mich ab. Die folgenden Sekunden gehörten zu den schlimmsten in der letzten Zeit, denn ich hielt Judds Kopf zwischen meinen Kingern und wußte genau in diesem Moment, daß er kein Mensch mehr war. Der Kopf wurde weich und verging zwischen meinen Handflächen, wobei die letzten Reste als Krumen zu Boden rieselten und dort liegenblieben. Ich stand auf. Mein Körper war dabei von einer zweiten Haut überdeckt worden, die ich einfach nicht wegbekam. Sie rieselte von den Zehen bis zur Stirn. Ich schaute in die Höhe, sah die dunklen Baumwipfel und zwischen ihnen die grünlichen Umrisse des alten Gesichts. Der Druide genoß seinen Triumph. Er hatte mir gezeigt, wer die Natur in diesem Gebiet kontrollierte. Das Geäst geriet in Bewegung, als wäre es von einer Faust geschüttelt worden.
Tote Vögel waren es nicht, die mir entgegenrieselten. Sie wären auch schneller gefallen. Von einem Moment zum anderen hatte sich das Blattwerk verändert, als wären die Jahreszeiten darüber hinweggeweht. Als rostiges Laub fiel es mir entgegen . . . Ein Regen aus verfaulten Blättern, begleitet von einem häßlich klingenden Knirschen. Ein Geräusch, das ich kannte und das mich auch warnte. Da kippte ein Baum. Ich schaute nach links. Noch war der Boden durchsichtig, was aber nichts besagte und ich vor dem schweren Gebilde auch nicht retten würde. Ich mußte rennen. Wie ein Torpedo flog ich in ein Gebüsch, noch immer begleitet vom Knirschen des Stammes. Dann fiel der Baum. Schon einmal war jemand von einem fallenden Baumstamm zerquetscht und danach von seinen Zweigen erwürgt worden. Mir sollte es auf keinen Fall so ergehen. Der Baum krachte, er fiel, er räumte auf, machte Sträucher platt, und ich zitterte darum, daß er mich um Himmels willen nicht erwischte. Irgendwo in meiner Nähe prallte alles zu Boden. Die Äste peitschten wie Gummiarme, sie räumten fürchterlich auf, aber ich hatte Glück, sie erwischten mich nicht. Noch nicht. . . Als ich mich drehte, da sah ich, daß die kahlen, blattlosen Zweige und Äste tatsächlich lebten. Es war schlimm. Sie krochen über den Boden, wollten mich erwischen, und ich mußte mich zur Seite rollen, mein Kreuz dabei fest hallend. Ich entkam ihnen mit einem gewaltigen Sprung. In die Lücke, wo vor kurzem noch der Baum gestanden hatte, raste ich hinein, blieb stehen und holte mehrere Male tief Luft. Dabei schaute ich in die Höhe, weil ich den anderen Bäumen ebenfalls nicht traute. Sie rührten sich nicht. Wie mächtige, stumme Wächter standen sie da und beobachteten das, was sich unter ihnen abspielte. Ein paar Blätter segelten noch nach. Durch die Lücke sah ich den Himmel. Ich konnte mich täuschen, aber ich wurde den Findruck nicht los, daß auch er einen leicht grünlichen Farbton angenommen hatte. Reichte die Magie des Druiden etwa so weit? Stille breitete sich aus. Es war eine fühlbare Ruhe, allerdings untermalt von den Geräuschen des Campingplatzes, die als dumpf klingendes Echos zu mir hochhalten. Es war ein Fehler gewesen, in den Wald zu gehen und die anderen allein zu lassen.
Dieser Gedanke stellte sich sehr plötzlich ein, obwohl ich keinen Grund für eine Unruhe sah, denn auf dem Platz lief alles seinen normalen Gang. Tatsächlich alles? Etwas war anders geworden, das fiel mir auf. Ich konnte zuerst nur nicht sagen, was sich da verändert hatte. Dann wußte ich es. Die Musik spielte nicht mehr. Ich war zwar kein Freund dieser schrillen Klänge, doch in diesem Fall hatten sie so etwas wie eine Beruhigung bedeutet. Nun nicht mehr. Die Stimmen klangen auch jetzt noch durch den Wald. Eine Gruppe Männer und Frauen lachte besonders laut. Die Camper hatte ihren Spaß und ahnten von nich ts. Vielleicht war auch das Band abgelaufen. Judd hatte für die Untermalung zu sorgen. Da er nicht mehr da war, fühlte sich keiner zuständig. So einfach aber wollte ich es nicht sehen, ich mußte mich selbst davon überzeugen. Noch einmal ging ich dorthin zurück, wo ich Judd zuletzt gesehen hatte. Seine Asche lag unterdem kahlen Geäst des Baumes vergraben. Der Boden hatte wieder seine normale Farbe angenommen. Fr war auch nicht mehr weich. Ich schlug den Weg zum Campingplatz ein. Schon nach wenigen Schritten beschleunigte ich mein Tempo. Fs hing mit dem unguten Gefühl zusammen, das mich überkommen hatte. Es bestätigte sich Sekunden später. Ich sah nichts, ich hörte es nur, und es war wie ein Alarmzeichen, bei dem alles auf Sturm stand. Ein gellender Schrei, geboren aus zahlreichen Kehlen! *** Wieder die Käfer! Die kleinen Tiere mit ihren schillernden Panzern, die übcreinanderschabten, wenn sie zu schnell rannten und einer auf den anderen kletterte. Lady Sarah konnte es kaum fassen. Sie sah die Armee aus dem Wald kommen, wo sie den Boden verlassen haben mußten. Über die Schräge schoben sie sich näher, und keiner der Camper hatte sie bisher gesehen, nur eben Sarah Gold-wyn. Da sollte dieser Cromwell noch mal etwas sagen und sie als Lügnerin bezeichnen. In Lady Sarah hielten sich Wut und Angst die Waage, bevor sie Alarm gab, wollte sie mit Cromwell reden, der an der Grillpfanne stand und sich
über sie gebeugt hatte, damit er die Grilladen umdrehen und wälzen konnte. Sie lief auf ihn zu und hämmerte ihre linke Hand so heftig auf seine Schulter, daß er zusammenzuckte. »Verdammt, was ist. . .?« »Drehen Sie sich um, Cromwell!« Auch )ane hatte Sarahs Stimme gehört. Sie wandte sich ebenfalls in die andere Richtung. »Na und?« »Die Käfer, Cromwell!« flüsterte Sarah. »Wollen Sie die verdammten Dinger sehen?« Art sagte nichts, er grinste nur. Und wie er grinste, fiel es Sarah wie Schuppen von den Augen. Dieser Mann wußte mehr; er wußte vielleicht alles und steckte als Drahtzieher dahinter. »Haben Sie nicht gehört?« »Ja, Sie sprachen laut genug. Ich weiß, die Käfer. Es wurde auch Zeit, daß sie kamen. Sie sind die Aasfresser, die Todesboten des Druiden. Sie haben ihn am Leben gelassen und ihm die Nahrung gebracht, die er benötigte, um überleben zu können. Sie sind Fresser, Körperfresser.« Seine Augen glänzten. Er lachte plötzlich. Jane Collins hatte die Worte mitbekommen. »Was haben Sie da gesagt?« fuhr sie Cromwell an. »Alles stimmt, alles wird sich erfüllen. Heute ist seine Nacht. Heute kehrt er zurück. Ich habe ihn gefunden, ich diente ihm. Er wird mich reich belohnen.« Lady Sarah deutete mit ihrem Stock in die Richtung. Die Spitze war wieder frei, und sie erinnerte sich daran, daß sie die Masse aus der Höhle mitgebracht hatte. Das wußte auch Cromwell. Er lachte. »Wie schön, daß du mit deinem Stock da herumgerührt hast. Du hast den Boden getränkt, jetzt kann sie nichts mehr aufhalten.« »Oh, doch, wir werden ...« »Gar nichts werdet ihr. Auch du nicht, Jane Collins. Und deinen Freund, den habe ich in den Wald locken lassen, ebenso sie Judd. Beide werden dort ihr Ende linden. Die Käfer kann niemand mehr stoppen. Sie kommen; sie werden sich auf die Menschen stürzen, und dem Druiden neue Nahrung bringen. Diese Welt hier steht unter seinem Einfluß. Er kann die Natur mobilisieren. Soll er noch andere Monstren schicken? Möchtet ihr sehen, wie die Bäume zu wahren Todesfällen werden? Ja, möchtet ihr das?« Jane drängte die Horror-Oma zur Seite. Sie wollte sich den Kerl schnappen. »Aufpassen, Jane!« Lady Sarah war zurückgetreten und hatte sie gewarnt.
Die Detektivin drehte sich um. Zugleich erhoben sich von einem der Tische mehrere Camper, die sich auf ihren Plastiktellern Nachschlag holen wollten. Da traf alles zusammen, denn die Masse der Käfer hatte sich in Bewegung gesetzt. Und sie hatte sich geteilt, so daß sie den Angriff von zwei verschiedenen Seiten führen und die Menschen praktisch in die Zange nehmen konnten. Es war alles geregelt. Jane dachte nur an Cromwell. Sie mußte ihn packen, doch als sie vorsprang, gellten die Schreie aus zahlreichen Kehlen gegen den dunkler werdenden Himmel. Die Käfer waren entdeckt worden. Art Cromwell aber tauchte wie ein Blitz zur Seite. Lachend lief er den Tieren entgegen, wie ein großer Zampano, auf dessen Befehle sie hörten. Die Schreie gelten weiter, und Cromwell lachte in wilder, böser Vorfreude auf. Bewaffnet mit einer dieser Grillzangen, zog er sich zurück und lief der Masse der Käfer entgegen. Die Personen, die sich mit neuen Würstchen hatten eindecken wollen, waren stehengeblieben. Sie starrten den zahlreichen Käfern entgegen. Sie konnten es nicht glaube, bis die Frau an der Kasse aufsprang und flüchtete. Für sie war es bereits zu spät, denn die ersten Käfer hatten sie erreicht. Sehr gelenkig krabbelten sie an ihren Beinen in die Höhe und hatten sehr bald schon die Waden erreicht. Jane Collins wollte Sarah und sich aus der Gefahrenzone bringen. Sie packte die Horror-Oma, bevor die ersten Käfer sie erreichen konnte. »Weg, wir müssen weg!« Sarah stolperte mit. Zusammen mit Jane umkreiste sie den Grillstand. Sie liefen dorthin, wo die Bänke und Tische standen, an denen die Gäste wie erstarrt hockten. Nicht alle schrien. Einige waren kalkbleich geworden und schauten der Invasion entgegen. »Fliehen!« brüllte Jane. »Verdammt noch mal, haut ab!« Ihre Worte wurden zwar gehört, leider nicht befolgt. Bis auf einige Ausnahmen. Es waren die Camper, die zusammen an einem Tisch hockten. Sie hielt nichts mehr auf den Sitzen, aber sie taten das Falsche. Anstatt in Richtung Meer zu flüchten, kletterten sie zuerst auf die Sitzbänke und von dort weiter bis auf den lisch, wo Bierkrüge umkippten und Sandalensohlen in die Reste der Würstchen oder Koteletts hineinrutschten. Ein Mann fiel. Da ihn keiner auffing, fiel er zu Boden und sah die Käfer auf sich zukommen.
Schreiend sprang er auf und rannte davon. Er tat es damit den meisten Gästen nach, die endlich begriffen hatten und ihre einzige Chance im Wasser sahen. Auch Jane und Sarah hatte sich zurückgezogen. Sie standen im Hintergrund, von wo aus sie alles überblik-ken konnten. Von Art Cromwell war nichts zu sehen. Sie konzentrierten sich auf die Käfer, die den Grillplatz wie einen schwarzen, schillernden Teppich überschwemmt hatten und von keinem Hindernis mehr aufgehalten werden konnten. Wenn die Gruppe der Camper jetzt von ihrem Tisch sprang, würde jeder von ihnen inmitten der verdammten Käfer landen, die es auf die Menschen abgesehen hatten und damit begannen, an den Sitzbeinen der Bänke in die Höhe zu klettern. »Die . . . die hält niemand auf!« flüsterte Sarah. »Verflixt noch mal, was könnten wir tun?« »Ich ... ich weiß es nicht.« »Aber wir müssen doch . .. « »Nein, nicht wir.« Jane lachte hart. »Vielleicht mit einem Flammenwerfer, sonst nicht.« »Und Cromwell?« Jane starrte die ältere Frau an. »Wie meinst du das?« »Wenn wir ihn uns schnappen und ihn zwingen, die verdammte Invasion zu stoppen.« »Glaubst du, daß wir es packen?« »Jane, laß es uns versuchen! Es ist die einzige Möglichkeit. Ansonsten sehe ich schwarz.« Die Detektivin nickte. »Okay, jetzt brauchst du mir nur zu sagen, wo er sich aufhält.« An einen Erfolg glaubte Sarah zwar selbst nicht, trotzdem drehte sich die Florror-Oma auf der Stelle -und hatte Glück, denn sie entdeckte Cromwell am Waldrand. Er stand in der Lücke zwischen zwei Baumstämmen, das Dach der Blätter hoch über sich. Für die beiden Frauen hatte er keinen Blick, sein Interesse galt einzig und allein den Käfern. Jane und Sarah zogen sich etwas zurück. Sie gerieten damit in die Deckung einer Hecke. Noch hielten sich die Käfer auf dem Areal vor dem Restaurant auf und hatten sich nicht an die Verfolgung der Flüchtigen gemacht. Sie wollten zuerst die Zurückgebliebenen, die sich nicht trauten, die Tischplatten zu verlassen und dort standen, als wären sie mit ihren Sohlen festgeleimt worden. »Hin zu ihm!« Lady Sarah hatte Jane den Befehl zugezischt. »Okay, ich werde es versuchen.«
Über John Sinclair sprachen beide nicht. Sie fürchteten sich davor, dieses Thema anzuschneiden. Jane verschwand, ließ Sarah allein zurück, was ihr wiederum nicht gefiel. Doch was sollte sie noch tun? Es gab nur die eine Chance, um einen Sieg zu erreichen. Um ungesehen an Art Cromwell heranzukommen, mußte sie einen Bogen schlagen, der sie durch den Wald führte. Erst dann konnte sie in seinen Rücken gelangen. Jane tauchte in das Unterholz. Es klappte nicht lautlos, deshalb verließ sie es wieder und suchte sich die Zelte als Deckungsmöglichkeiten aus. Natürlich immer auf Käfer achtend, weil sie damit rechnete, daß einige von ihnen doch einen anderen Weg eingeschlagen haben konnten. Sie kam gut durch. Auch Crom well hatte seinen Platz nicht gewechselt. Jane ärgerte sich, daß sie die Waffe im Wohnmobil gelassen hatte, so mußte sie es mit den Händen versuchen. Auch dabei hatte sie ihre Chance, denn eine Anfängerin in Kung Fu oder Karate war sie gerade nicht. Art Cromell merkte nichts. Nach wie vor stand er auf seinem Platz und schaute dem Treiben fasziniert zu. Für ihn war es ein großer Sieg, er genoß zudem die Angst der Menschen. Jane kam gut an ihn heran. Sie ging geduckt und parallel zum schrägen Hang. Noch merkte er nichts. Er wartete und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Da sprach sie ihn an. »Es wird Zeit, Cromwell, daß du deine verdammten Käfer zurückpfeifst...« *** Zuerst rührte er sich nicht. Er zwinkerte nicht einmal mit den Wimpern. Innerhalb einer winzigen Zeitspanne war der Mann erstarrt. Jane nutzte die Gelegenheit, veließ ihre Deckung und schlich auf den Mann zu. Schräg neben ihm blieb sie stehen, aber so, daß sie ihm ins Gesicht schauen konnte. Cromwell kümmerte sich nicht um sie. Er deutete auf den schwarzen, krabbelnden Teppich. »Toll sieht es aus, wie? Einfach faszinierend. Sie haben damals gedacht, der alte Druide sei tot, aber sie irrten sich, denn sie wußten nicht, daß die Natur ihm gehorchte, besonders die im Wald lebenden Käfer. Sie waren es, die ihm die Zeit über halfen, am Leben zu bleiben, denn sie versorgten ihn mit einer guten Nahrung, durch die er stets satt war.« »Damit ist heute Schluß!« erklärte Jane. Cromwell nahm ihre Worte nicht zur Kenntnis. Er sprach in seinem Sinne weiter. »Die Magie der Naturgeister wird von den Druiden kontrolliert. Sie
beherrschen das Feld, sie werden den Boden wieder auffüllen. Schau dir die Menschen auf dem Lisch an. Sie sind verloren, die Käfer werden sie überfallen. Es gibt keine Stellen, in die sie nicht hineindringen können. Sie werden durch die Nasenlöcher gleiten, auch durch die Ohren. Sie werden sich im Innern der Körper ausbreiten und sie zernagen, sie sind so etwas wie Körperfresser und halten damit den alten Druiden am Leben, wobei sie ihm zusätzlich noch seine Macht geben.« »Das mag für dich faszinierend sein, Cromwell, für mich ist es das nicht. Ich will, daß du sie stoppst.« Er redete einfach weiter. »Selbst der Boden ist von seiner Magie getränkt worden. Sie leben in der Erde, aber sie verbreiten den Odem des Unheimlichen. Der Druide ist tot, so haben sie geglaubt, doch seine Kraft hat sich hier flächendeckend verteilt.« Jane wollte nicht, daß der Bärtige weiterredete. Sie ging einen weiteren Schritt auf ihn zu, schlug beide Hände auf seinen Schultern, packte ihn und schüttelte ihn hart durch. »Verdammt noch mal, Sie sollen diese Brut stoppen, Cromwell. Ich will, daß sie angehalten wird! Sonst. ..« Er lachte sie an, drehte den Kopf und fragte, wobei er in ihr Gesicht schaute. »Was ist mit sonst?« »Dann werfe ich dich den Käfern zum Fraß vor!« Jane spürte, wie es in ihr kochte. »Das willst du tun?« »Ja, zum Henker!« »Mich den Käfern!« Er stieß ein irres Kichern aus. »Das kann ich nicht glauben. Nein, das ist einfach unmöglich. So etwas nehme ich dir nicht ab. Ich bin ein anderer. Du bist des Wahnsinns, nein,das gehtauf keinen Fall! Das ist einfach nicht möglich.« »Wenn du dich da mal nicht irrst, mein Freund.« Er schaute sie an. In seinem Bart zitterten die Härchen, dann öffnete erden Mund. Jane sah ihn zwischen dem Gestrüpp. Sie erkannte auch seine Zunge, über die zwei kleine Tiere krabbelten. Es waren Käfer, die seinen Körper über den Mund verließen. Gleichzeitig spürte Jane auch die Bewegung unter ihren Hände, wo sich die Schultern des Mannes befanden. Und sie wußte, daß sich der Körper des Art Crom well aus Käfern zusammensetzte. »Und jetzt bist du an der Reihe!« versprach er, wobei zwei weitere Tiere aus seinen Nasenlöchern glitten und ihren Weg durch das Bartgestrüpp suchten... ***
Mir bot sich ein unwahrscheinliches Bild. Eine Szene, die von einem Horror-Regisseur nicht besser hätte gedreht werden können. Zwischen der aufgebauten Grillpfanne und dem Restaurant gab es keinen festen Boden mehr. Alles schwamm in der zappelnden, krabbelnden Suppe, die sich aus unzähligen Käfern zusammensetzte, die alles wie ein Meer überschwemmt hatten. Es war einfach unglaublich. Die Käfer waren überall, und sie waren aus einer anderen Richtung gekommen als ich, sonst hätten sie mich unterwegs längst erwischt. Ich wußte nicht, was ich unternehmen sollte. Auch ich war im ersten Augenblick geschockt. Damit hätte ich nicht gerechnet, aber ich mußte etwas tun, denn zwischen der krabbelnden Masse der Tiere, die bei ihren Bewegungen mit den Panzern übereinander-schabten, standen die Tische mit den Sitzbänken. Die meisten von ihnen waren bereits von der Invasion erobert worden. Bis auf irgendwelche Pappteller oder umgestürzte Bierkrüge und Essensreste waren sie leer. Eine Ausnahme gab es. Zwei Tische von mir entfernt hatte sich ein halbes Dutzend Menschen versammelt, denen die Flucht nicht mehr geglückt war. Die meisten waren zum Wasser gelaufen, denn von dort hörte ich ihre Stimmen und Schreie. Die Menschen auf dem Tisch mußten kämpfen, weil es die Käfer schafften, an den Beinen hochzuklettern und die Tischplatte zu erreichen. Die ersten waren von den Füßen zu einem breiigen Schleim zerstampft worden, aber es waren immer mehr, die den Weg fanden. Ich konnte mir ausrechnen, wann die Camper es nicht mehr schafften, dieser verfluchten Invasion Herr zu werden. Deshab mußte ich etwas tun. Ich ging davon aus, daß die Käfer magisch beeinflußt waren. Magie bekämpfte man am besten mit Magie. Auch wenn mir bei dem Gedanken, durch die Masse der Körper zu schreiten, nicht eben wohl war, es gab keine andere Chance. Drei Männer und drei Frauen versuchten, den Run der Tiere zu stoppen. Auf der Tischplatte breiteten sich die Flecken der zertretenen Tiere aus. Rutschige Stellen, auf denen man leicht ausgleiten und anschließend fallen konnte. Wer dann zwischen den Tieren am Boden lag, würde kaum noch eine Chance haben. Noch hielten sich die drei Paare, nur wurde es von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Ich mußte durch. Es kam mir vor wie ein Lauf auf Eiern. Der Boden bewegte sich, da hatte ich kaum noch Halt, kam nur langsam voran, rutschte hin und her, mußte mich einmal auf einer Tischkante abstützen, aber ich kam dem Ort des Geschehens näher.
Ich hätte die Beretta ziehen und in die Masse der Käfer schießen können, nur hätte es nichts gebracht. Möglicherweise eine schmale Gasse, mehr auch nicht. Diese beeinflußten Tiere gehorchten einer anderen Macht, die ich zerstören wollte. Einmal hatte ich sie gesehen, das Gesicht im Baumgeäst war mir nicht aus dem Sinn gegangen. Und ich hoffte stark, daß ich diejenige Person wieder entdeckte, die hinter allem stand. Bisher hatte mich das Glück verlassen, ich war immer hinter ihm hergerannt, aber es änderte sich. Einem Zwang, nach rechts zu schauen, folgte ich nicht. Es war mehr Zufall, daß ich es tat und die Bewegung an der offenen Tür des Restaurants sah. Dort stand jemand! War es ein Mench, ein Monster oder beides in einem? Ich kam nicht so recht klar, schaute nur hin und erkannte ein Wesen, das um einiges kleiner war als ich und ein mumienhaftes Aussehen angenommen hatte. Es wirkte steif, klotzig, und als es sich jetzt in Bewegung setzte und ins Freie schritt, schälte es sich deutlich hervor, so daß ich erkennen konnte, um was es sich tatsächlich handelte. Um eine uralte, grünliche Mumie. Versehen mit einem Gesicht, dessen Abbild ich schon im Baum gesehen hatte. Das war der wahre Herrscher des Campgrounds, der alte Druide oder was auch immer. Bei jedem zögernd gesetzten Schritt wichen die Käfer respektvoll zur Seite. Sie erkannten ihren Herrn und wollten ihm bei seinen Taten nicht im Wege stehen. Noch befand er sich ein Stück von mir entfernt. Ich riskierte einen Blick zu dem Tisch mit den drei Pärchen, trat selbst einige Käfer kaputt und wartete auf ihn. Daß er mich als Ziel ausgesucht hatte, daran bestand kein Zweifel, und er hatte keine Angst. Hinter mir befand sich der große Grill. Das Feuer kohlte noch immer unter der Pfanne, die leicht zitterte, obwohl sie nicht mehr bewegt wurde. Wahrscheinlich schwang sie aus. Das alles waren Nebensächlichkeiten, die ich trotzdem wahrnahm, wie auch das Schluchzen der Camper, die auf dem Tisch standen. Der Druide ließ sich nicht aufhalten. Er kam Schritt für Schritt näher, ich erkannte ihn besser, sah das zerfurchte Gesicht, in dem man von einer Haut nicht mehr sprechen konnte. Was sich da über die Knochen spannte, glich einer dünnen Rinde, die jemand so weit wie möglich gestrafft hatte.
Der Druide starrte mich an. Ich suchte nach Augen in seinem Gesicht und sah schwarz gefüllte Löcher, mehr war da für mich nicht zu erkennen. Er ließ sich nicht aufhalten. Kleidung trug er nicht, auch wenn sein Körper so aussah, als wäre er einbalsamiert worden. Vor meiner Brust hing das Kreuz. Es spürte die Magie, denn es flimmerte wie ein kleines Leuchtfeuer in einem grünen Lichtkranz, ohne allerdings direkt zu reagieren und zerstörend einzugreifen. Versagte seine Magie? Es war kein Allheilmittel. Hesekiel, sein Erschaffer, hatte nicht an alles denken können und die alte Keltenmagie dabei ausgespart, wenigstens teilweise. Was hatte er vor? Ich schaute ihm entgegen. Er starrte mich aus der Schwarze irgendwelcher Augen an. Konnte er reden? Ich schaute ihn von oben bis unten an und suchte eine Schwachstelle. Sie war nicht zu finden, dieses Wesen bestand aus einer durchgehend rindenartigen Haut, und es kam so nahe, daß es mich anfassen konnte. Ich schoß mit der Beretta. Die Silberkugel hackte hinein. Staub pulverte an der Einschußstelle hoch, die Kugel hatte einen regelrechten Kanal in den Körper geschlagen und war am anderen Ende wieder hervorgetreten. In der Öffnung zuckte und bewegte sich es, bevor sich das Loch Wiederaus für mich unerklärlichen Gründen zusammenzog. Nichts.. . Und das Kreuz? Ich wollte die Kette über den Kopf streifen, um noch einmal die Formel zu rufen, als mir der alte Druide zuvorkam. Er, der längst tot und begraben hätte sein müssen, war derart schnell, daß ich es nicht mehr schaffte, zur Seite zu weichen. Plötzlich packte er mich. Seine Hand wühlte sich unterhalb des Kreuzes in meinen Bauch. Es kam mir plötzlich vor, als würden zahlreiche Krabbelkäfer den Weg in meinen Körper finden, sich durch die Haut beißen. Ich dachte an Judds Schicksal. Deshalb reagierte ich blitzschnell. Mit beiden Händen umfaßte ich die Hüften der Gestalt, drückte sie hart und ruckartig von mir weg. Ich kam frei, aber ich hatte ihn. Es war mehr ein Reflex, als ich mich drehte, den Grill wieder sah und mir eine wahnsinnige Idee durch den Kopf schoß, die ich sofort in die'l'al umsetzte und die an sich leichte Mumie hochstemmte. »Ja, John! Wirf ihn! Röste diese verfluchte Mumie!« Lady Sarah hatte geschrien. Sie zeigte sich auch und stand wie eine alte Rachegöttin nicht weil entfernt, den Stock erhoben.
Ich schleuderte ihn auf die Grillpfanne. Eine geröstete Mumie hatte ich auch noch nicht erlebt. Die Pfanne kippte, die Mumie rutschte durch das Fett. Unter der Pfanne kokelte noch das Feuer. Es war dankbar für jede Nahrung, auch wenn es eine uralte Mumie war. Sofort packten die Flammen zu. Grün loderten sie auf. Ich stand da und schaute nur zu. Viel begriffen hatte ich trotzdem nicht... *** Wenn die Käfer freikommen, werden sie dich fressen! Dieser eine Gedanke beherrschte Jane Collins, und sie wollte dagegen angehen. Es war verrückt, der blanke Irrsinn, aber sie setzte ihre Fäuste ein und hämmerte sie beide zugleich dorthin, wo sich der Hosenbund des Mannes spannte. Gleichzeitig riß sie ihr rechtes Knie hoch, um den Druck zu verstärken. Jane hatte Erfolg. Die Masse gab unter den Fäusten und der Kniescheibe nach. Ihr kam es vor, als brauchte sie nur noch einen Schlag, um den Körper restlos zu zerstören. Wieder drosch sie zu. Käfer waren auf einmal da. Sie krabbelten, sie bewegten sich, sie stießen gewaltsam aus dem Mund des Mannes und rannen durch seinen Bart der Brust entgegen. Jane hatte sich durch diese Aktion wunderbar befreien können, und sie wollte noch einmal angreifen, als sie die Stimme der Horror-Oma vernahm. Lady Sarah sprach von einer Mumie, von Rösten und Grillen, auch der Name John fiel. Jane ließ Cromwell, wo er war und rannte auf die Horror-Oma zu. Als sie neben ihr stand, war schon alles vorbei. Sarah Goldwyn sagte nur: »Schau auf den Grill.«« Das brauchte Jane nicht. Sie sah ins Feuer, das einen hellgrünen Schein bekommen hatte und alles zerstörte... *** Auch ich schaute mir die Flammen an. Ich hörte kein Brausen, nein wir vernahmen in der Stille das Knistern, mit dem der Körper der DruidenMumie verging. Hin und wieder spritzten grünlich leuchtende Partikel in die Höhe und zerplatzen.
Wer genau hinsah, konnte die Käfer erkennen, die sich vom Körper des alten Druiden gelöst hatten. Die Flammen zerstörten das, was andere vor langer Zeit hatten töten wollen, wobei sie nicht gewußt haben konnten, daß die Käfer auf den Druiden hörten. Ich drehte mich um. Die Menschen standen bewegunglos auf dem Tisch. Sie konnten nichts begreifen. In ihren Gesichtern hatte sich der Schock festgesetzt wie eine bleiche Malerei. Sie schauten zu Boden, wo die Käfer ebenfalls in Bewegung gerieten und sich zusammenkrümmten, als würden sie geröstet. Sie starben alle. Sie zerfielen, sie zerknackten. Manchmal sprangen sie noch in die Höhe, und als Reste blieb nur mehr graugrüner Staub zurück. Fs gab den Druiden nicht mehr. »Da ist noch Cromwell!« hörte ich Jane krächzend sprechen. »Wirsollten hingehen.« »Wo?« Sie deutete mir die Richtung. »Okay, ich bin gleich wieder zurück.« Das war ich auch, denn von Cromwell war ebenfalls nichts mehr zurückgeblieben. Er hatte auf den Druiden und dessen alte Magie gesetzt, hoch gepokert und hoch verloren. Ich kam zu den beiden Frauen zurück. Sie stellten keine Fragen, mein Gesichtsausdruck sagte ihnen genug... *** Was anschließend passierte, war kaum zu fassen. Die Camper kehrten zurück. Wir wurden mit Fragen bestürmt, konnten nur ausweichend antworten, weil die Wahrheit einfach unglaublich klang. Jedenfalls stellten wir fest, daß es sich um keinen normalen Vorgang gehandelt hatte. Lady Sarah machte es nichts aus, daß man sie mit Fragen löcherte. Sie genoß das Bad in der Menge. Die Menschen umstanden sie und hörten sich ihre Erklärungen an. Jane und ich hatten uns ins Wohnmobil zurückgezogen, weil wir beide duschen wollten. Ich ließ Jane zuerst gehen und wartete an einem Tisch. Ich hatte ein Bier vor mir stehen und rauchte eine Zigarette. Die Luft im Wagen kam mir kühler vor als die draußen, aber auch sie war besser geworden, nicht mehr so schwül. Mit der Vernichtung des Druiden konnte auch dieser Wald wieder frei atmen. Jane kam aus der Dusche. Um ihren Körper hatte sie ein Handtuch gewickelt. »Es ist frei«, sagte sie und lächelte.
»Danke.« »Ich warte dann so lange auf dich.« »So?« fragte ich erstaunt. »Nein, so«, erklärte sie und ließ das Badetuch fallen. »Zufrieden, Mr. Geisterjäger?« Und ob ich das war. Ich schaffte es sogar, mich in Rekordzeit zu duschen, denn eines war klar: Frauen durfte man nicht warten lassen...
ENDE