HANS HELLMUT KIRST
KEIN VATERLAND Roman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Tatort ist Bonn! Die Verteidigungspolitik soll g...
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HANS HELLMUT KIRST
KEIN VATERLAND Roman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Tatort ist Bonn! Die Verteidigungspolitik soll geändert werden; Interessen stehen auf dem Spiel, Minister, Rüstungsindustrielle, Parteileute sind betroffen. Kein Wunder also, daß der idealistisch gesinnte, gutgläubige Journalist Karl Wander zum Spielball der Mächtigen wird. Besonders, als man eines Tages vor seiner Apartment Tür ein schwer mißhandeltes Mädchen findet. »Kirst’s Kritik am Establishment, an Bonn, ist eine harte Abrechnung, die man aber gleichzeitig auch als spannenden Kriminalroman lesen kann.«
Scan: der_Leser K&L: Yfffi Dezember 2002
Vom gleichen Autor erschienen außerdem als HeyneTaschenbücher Letzte Station Camp 7 • Band 839 Faustrecht • Band 937 Gott schläft in Masuren • Band 981 Held im Turm • Band 998 Mit diesen meinen Händen • Band 5028 Kameraden • Band 5056 Die Wölfe • Band 5111 Aufstand der Soldaten • Band 5133 Fabrik der Offiziere • Band 5163 Sie nannten ihn Galgenstrick • Band 5287 Aufruhr in einer kleinen Stadt • Band 5335 Kultura 5 und der Rote Morgen • Band 5403 Die Nächte der langen Messer • Band 5479
HEYNE-BUCH Nr. 901 im Wilhelm Heyne Verlag, München 9. Auflage Copyright © 1968 by Hans Hellmut Kirst Alle Rechte bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, München 1977 Printed in Germany 1978 Umschlagfoto: Fotoatelier Wagner/Schlesinger, München Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3-453-00224-5
»Bonn ist halb so groß, aber doppelt so tot wie der Zentralfriedhof von Chicago.« Ein amerikanischer Journalist über die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland
»Die Wahrheit«, sagte er, »wiegt uns zu leicht in Sicherheit, und der Irrtum ist oft viel lehrreicher.« »Alles wiederholt sich, und das Recht ist heute so schwach wie gestern, so schwach und so stark.« Alain
1 Ein Schicksal frei Haus – doch nicht gerade billig angeliefert. Sie lag quer im schlauchartigen Korridor, unmittelbar vor der Tür seines Appartements. Wie dort hingeworfen; wie ein wertlos gewordener Gegenstand. Helleuchtendes Haar, wasserstoffzerspült, verbarg ihr Gesicht gleich einem dünnseidigen Vorhang. Klebriges Rot sickerte dort hervor. »Stehen Sie auf, Mädchen!« sagt Karl Wander. »Sie werden sich erkälten.« Sie regte sich nicht. Er beugte sich über sie – sie wirkte leblos wie eine Schaufensterpuppe. Ein Glanzstoffrock spannte sich prall um den herausgereckt wirkenden Hintern. Ihre Beine ließen an glatte Gleitbahnen denken. »Sie versperren mir den Weg, Mädchen«, sagte er. »Offenbar haben Sie sich in der Adresse geirrt. Ich jedenfalls lege keinen Wert auf Hindernisse – gleich welcher Art.« Er hörte sie aufstöhnen – das klang, als ersterbe sie, wenn auch mühsam, in genossener Lust. Er kannte derartige Geräusche, sie gehörten zu den gängigsten weiblichen Berufspraktiken. In dieser Ramschwelt, fand er, wurden auch Gefühle wie nach Versandkatalog angeliefert. Er kniete nieder, um sie näher zu betrachten. Sie roch penerant, mit atemberaubender Aufdringlichkeit, nach kaltem Schweiß, Urin und Blut – und das alles vermischt mit süßlichen Parfümschwaden und saurem Alkoholdunst. Duft der kleinen engen Welt, dachte er. »Kann ja vorkommen«, sagte Karl Wander, »muß aber doch nicht unbedingt vor meiner Tür sein.« Er packte sie bei den Schultern und drehte sie herum. Zum Vorschein kam ein wachsbleiches Gesicht, mit grellrot gepinselten Lippen, die gleich zwei scharfen Strichen waren – 5
wie jene, die das Resultat einer Rechnung ankündigten. Jetzt wimmerte sie vor sich hin. Und als er sie kräftiger anpackte, stieß sie helle, matte, halberstickte Möwenschreie aus. »Nehmen Sie sich zusammen«, sagte er. »Es ist Mitternacht, Mädchen, und mein Bedarf an wildgewordener Weiblichkeit schon seit geraumer Zeit gedeckt. Versuchen Sie also, Ihren im Augenblick nicht besonders schönen Mund zu halten.« Und Karl Wander schleppte sie – gleich einem Holzfäller, der einen Baumstamm bewegt – in sein Zimmer. Appartement 204. Koblenzer Straße. Bonn. »Haben Sie sich das geleistet?« Das fragte der Arzt von der Unfallstation, nachdem er das Mädchen untersucht hatte »Ich leiste mir so manches«, sagte Karl Wander und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Was soll es denn, Ihrer Ansicht nach, diesmal gewesen sein?« »Sie scheinen sich dabei noch ganz wohl zu fühlen.« Der Arzt war knapp über Dreißig, doch seine Augen blickten bereits kalt und greisenhaft. Seine graugelbe Haut wirkte wie ein schlaffer Nylonüberzug. »Aber Ihre Selbstsicherheit wird Ihnen schon noch vergehen – dafür werde ich sorgen.« »Und wie gedenken Sie das anzustellen?« Karl Wander schwenkte sein Cognacglas und betrachtete, wie von einem Logenplatz aus, was sich ihm darbot: das Mädchen im hell beleuchteten Schlafzimmer, über sein Bett gelegt, teilweise entblößt; im Türrahmen der Arzt, der ihn anblickte. »Ich werde eine Meldung machen«, sagte er. »Machen Sie von mir aus, was Sie wollen«, sagte Wander und füllte sein Glas erneut. Dann schob er die Flasche wie einladend dem Arzt entgegen – der übersah sie. Er; erklärte scharf: »Ein Durchschlag dieser Meldung wird 6
an die Polizei gehen.« »Wohin auch immer«, sagte Karl Wander. »Mich jedenfalls geht das alles nichts an.« »Das«, sagte der Arzt beharrlich, »muß sich wohl erst noch herausstellen!« Dr. Bergner musterte angewidert den cognactrinkenden Mann mittleren Alters, der einen herausfordernd lässigen Eindruck machte. Und mit zustoßender Feindseligkeit fügte er leise hinzu, fast zischend: »Was denkt ihr Schweine euch eigentlich dabei?« »Sollten Sie etwa mich damit meinen?« fragte Karl Wander, nur mäßig erstaunt. »Ihr Saukerle kennt keinerlei Hemmungen!« Dr. Bergner beugte sich vor, als beabsichtige er, Wander ins Gesicht zu spucken. »Für euch sind Menschen weiter nichts als Gebrauchsgegenstände – nach Benutzung wegzuwerfen! Sexuelle Aufputschmittel. Aber diesmal werden Sie nicht so einfach davonkommen!« »Sie gehen wohl zuviel ins Kino, Doktor – und dann offenbar noch dazu in die falschen Filme. Oder genügt bei Ihnen schon das Fernsehen? So was rächt sich irgendwann mal.« »Dieses Mädchen«, Dr. Bergner wies auf das Geschöpf, das auf Wanders Bett lag, »ist auf üble Weise mißhandelt worden – vermutlich geschlagen, wohl auch getreten. Und gewürgt.« »Sagten Sie: vermutlich?« Karl Wander blickte höflich interessiert. »Das heißt also: So genau wissen Sie das nicht.« »Versuchen Sie etwa, sich mit billigen Tricks aus der Schlinge zu ziehen?« »Bin ich denn in irgendeiner Schlinge?« Wander deutete ein müdes Lächeln an. »Ganz so einfach, wie Sie sich diese Sauwelt vorzustellen scheinen, ist sie auch wieder nicht – zumindest gibt es da gewisse Nuancen. So etwa könnte unser 7
Mädchen ja schließlich auch, ohne jede Nachhilfe, eine Treppe hinuntergefallen sein – oder etwas in dieser Preislage. Vielleicht eine Art selbstverschuldeter Betriebsunfall?« »Ich lege nicht den geringsten Wert auf derartige infam bequeme Ausdeutungen!« »Ich habe früher einmal eine junge Dame ähnlicher Machart gekannt, die hat versucht, mit dem Kopf Türfüllungen einzurennen – nicht etwa Wände, beachten Sie den feinen Unterschied! So hysterisch sie sich auch aufführte, sie erkannte immer rechtzeitig die Materialunterschiede. Was gibt es da nicht alles an schönen, verwirrenden Möglichkeiten!« »Ich habe lediglich zu registrieren, was ich vorfinde! Und vorgefunden habe ich einen mit Prellwunden und Blutergüssen bedeckten weiblichen Körper. Und den in Ihrem Schlafzimmer, auf Ihrem Bett. Das ist doch wohl unmißverständlich, wie?« »Im Gegenteil, Doktor. Sie sind vielmehr an einer völlig falschen Adresse. Denn ich kenne dieses Mädchen nicht; ich habe es noch nie vorher gesehen; ich weiß nicht, woher es kommt und wie es heißt.« »Sie liegt nur ganz zufällig in Ihrem Bett.« »Sie lag, als ich nach Hause kam, mitten im Korridor, vor meiner Tür. Wie dort deponiert. Ich hatte gar keine andere Wahl, als mich um sie zu kümmern.« »Beweisen Sie das«, sagte Dr. Bergner, »aber nicht mir – denn ich glaube Leuten von Ihrer Sorte sowieso kein Wort. Versuchen Sie mal der Polizei einzureden, daß Sie hier nichts wie Samariterdienst geleistet haben – falls Sie überhaupt wissen, was das ist.« Karl Wander stellte sein Cognacglas ab und erhob sich mühsam. Er ging in das Schlafzimmer, griff nach der auf dem Nachttisch liegenden Handtasche des Mädchens und öffnete sie. Er überprüfte, mit schnellen Bewegungen, den Inhalt. 8
Dann sagte er sachlich: »Sie heißt Morgenrot, Eva mit Vornamen – laut Visitenkarte. Sie wohnt gleichfalls in diesem Haus, im Appartement dreihundertundvier. Vermutlich ist sie also nur falsch angeliefert worden – ihr Transporteur hat sich im Stockwerk geirrt. Und das scheint schon alles zu sein.« »Sie wohnt im gleichen Haus wie Sie – und Sie behaupten, sie nicht zu kennen?« »Dieses Haus besteht aus etwa vierzig Appartements, in denen an die siebzig Personen hausen. Die laufen aneinander vorbei wie Ameisen, wenn sie sich überhaupt jemals begegnen. Häuser wie diese sind alles andere als gepflegte Wohngemeinschaften – es sind moderne Schlaf-, Lust- und Verdauungskasernen.« »Aber so ein Mädchen«, Dr. Bergner wies auf Eva Morgenrot, »pflegt man gewöhnlich nicht zu übersehen.« »Mag sein«, stimmte Karl Wander zu. »Nur hatte ich nicht die geringste Gelegenheit dazu – ich bin nämlich erst heute nachmittag in Bonn angekommen. Und ich will nicht hoffen, daß hier so was allgemein üblich ist – ich habe mich auf eine wesentlich andere Art von Vergnügen eingestellt.« Die Tür des Appartements 304 war – wie alle anderen Türen im Hause – eine modisch dunkelgetönte, Teakholz imitierende Fläche; darauf die Nummer, wie in Gold. Mithin aus blankpoliertem Blech. Karl Wander klingelte nur einmal – schon nach wenigen Sekunden wurde ihm diese Tür geöffnet. Danach durfte er ein Geschöpf von einiger künstlerischkosmetischer Vollkommenheit erblicken, das ihm merkwürdig bekannt vorkam, wenn er auch nicht gleich wußte, woher. Hollywoodfilmformat, dachte er, Abteilung Luxuskomödie. Und so was zwei Stunden nach Mitternacht! 9
»Welche Überraschung«, sagte dieses seidenglatte weibliche Wesen mit samtweicher Ironie. Karl Wanders Augen blinzelten ungläubig in die helle Lichtflut hinein, der er sich gegenübersah. »Sabine?« fragte er äußerst verblüfft. »Ich hoffe, Sie haben sich lediglich in der Tür geirrt«, sagte sie und drehte sich graziös seitwärts, so daß ihr Gesicht beleuchtet wurde – und das wohlgeformte Profil ihres Körpers dazu. Er erkannte: Das war Sabine. Sie trug einen leuchtend mittelmeerblauen Hausanzug, faltenfrei, wie an den Körper geleimt – und diesen Körper hatte er einstmals gekannt, ziemlich genau sogar. Die Erinnerung daran wurde ihm schmerzend deutlich – wenn auch inzwischen an die zehn Jahre vergangen waren. »So also«, stellte er fest, »sehen wir uns wieder.« »An das, was einmal gewesen ist, muß sich keiner von uns erinnern«, sagte sie abweisend. Ihre großen Augen blickten sanft und sicher – wie die Augen heiliger Kühe, sofern diese wüßten, daß sie nicht geschlachtet werden dürfen. »Warum dieser Besuch?« »Ich habe gedacht«, sagte er, »daß hier eine Eva Morgenrot wohnt.« »Die wohnt auch hier.« Sabines Mund öffnete sich kaum; die Augen hatten sich leicht verengt, als betrachtete sie ihn wie durch ein Vergrößerungsglas. »Aber sie ist nicht anwesend.« »Das kann sie auch gar nicht sein.« Karl Wander blickte dabei auf ihren Busen – auch der schien inzwischen, wie vieles andere an ihr, wesentlich stattlicher geworden zu sein. »Denn diese Eva Morgenrot liegt bei mir – genau ein Stockwerk tiefer, im Appartement zweihundertundvier.« »Scheiße!« hörte er sie sagen. 10
Und das sagte sie ohne irgendeine Regung in ihrem orchideenhaften Blütengesicht, so als hätte sie »Hallo« oder »Pardon« gesagt oder auch »Liebling« – sie hatte, wie er sich entsann, nur einen einzigen Tonfall für alle Lebenslagen; und der genügte auch. »Wie konnte das passieren?« wollte sie wissen. »Ein Irrtum in der Adresse, vermutlich«, half er instinktiv aus. Sabine nickte – aber nicht ihm zu. Sie sah ihn nicht einmal mehr an – als wolle sie ihm ganz deutlich machen, daß seine Existenz sie nichts mehr angehe. Das nahm er hin; durchaus bereitwillig sogar. Denn ihre einst gemeinsame, wenn auch glücklicherweise nur kurze Vergangenheit hatte, für ihn, denkbar kläglich geendet – er verspürte nicht das geringste Verlangen, sie erneut heraufzubeschwören. Sabine – sie hieß nunmehr Wassermann-Westen und durfte sich, was er noch nicht wußte, Baronin nennen – rief in das Appartement hinein: »Sie liegt ein Stockwerk tiefer, Klaus.« Unmittelbar danach tauchte Klaus auf – ein Dr. Klaus Barranski, auch ein Arzt und ein höchst erfolgreicher dazu; das war deutlich zu sehen, dann auch zu riechen. Dr. Barranski duftete meterweit nach bestem französischem Parfüm und gab sich sogleich als bewußter Herrenmodejournalmensch zu erkennen. Sein kunstvoll gewelltes Silberhaar schimmerte matt, die grünen Augen wirkten wie die eines Katers, der genau weiß, wo die Vögel sitzen. »Wie schön«, gab dieser Barranski gut geölt von sich, »wie schön, daß wir Eva endlich gefunden haben.« Seiner Stimme Klang schien wie geschaffen für das »Wort zum Sonntag«, ein sonorer Berufschristen- bis Briefkastenonkel-Ton. »Denn wir glaubten bereits, uns Sorgen um unsere Eva machen zu müssen. Wie geht es ihr?« 11
»Sie liegt auf meinem Bett.« Sabine von Wassermann-Westen blinzelte kurz und erstaunt zu Karl Wander hinüber. Danach war sie weiterhin bemüht, ihn möglichst überzeugend zu übersehen. Dr. Barranski verlor nichts von seiner lackglänzenden, seelsorgerischen Eleganz. Er fragte: »Ist soweit alles mit Eva in Ordnung?« »Was haben Sie denn sonst erwartet?« wollte Karl Wander wissen. »Nur eine Auskunft – weiter vorerst nichts.« Wen dieser Barranski auch vor sich hatte, er schien in ihm nichts anderes als einen potentiellen Patienten zu erblicken. So was machte gewöhnlich bescheiden, da sich jeder so Betrachtete gezwungen fühlte, an mögliche Honorare zu denken. Und dieser Mann war alles andere als billig. »Ja, eine Auskunft«, forderte er ermunternd. »Und eine möglichst genaue, wenn ich bitten darf.« »Nun gut – ich habe dieses Fräulein Eva Morgenrot im Korridor aufgefunden, ziemlich lädiert und direkt vor meiner Tür. Ohne so was bestellt zu haben. Ich habe sie dann in mein Appartement geschleppt.« »Hat sie irgend etwas gesagt?« »Was denn, zum Beispiel?« »Also hat sie nichts gesagt.« Dr. Klaus Barranski stellte das fest, ohne dabei etwa Erleichterung zu zeigen. Es schien für diesen Menschen keine Probleme zu geben, mit denen er nicht fertig werden konnte. Überlegen nickte er Sabine zu. Dann sagte er zu Wander: »Führen Sie mich, bitte, zu Eva Morgenrot.« »Gern«, sagte der und ging bereitwillig voran. Sie sahen sich an wie zwei Hunde, zwischen denen ein dicker Knochen liegt – der eine Arzt und der andere Arzt. Dr. 12
Barranski wirkte bulldoggenhaft breit, doch dabei zäh und gelassen; während Dr. Bergner von der Unfallstation mehr den Eindruck pinscherhafter Gereiztheit machte. Karl Wander betrachtete beide mit steigender Anteilnahme. »Bitte, tun Sie sich keinerlei Zwang an«, forderte er sie auf. »Fühlen Sie sich in meinem Appartement wie zu Hause.« »Das hier«, sagte Bergner knurrend, »ist mein Fall.« »Das zu glauben, lieber Herr Kollege, mag Ihr gutes Recht sein.« Barranski tönte das denkbar seriös, mit einem anscheinend durch nichts trübbaren, stets verständnisbereiten Entgegenkommen. »Doch Sie erlauben mir wohl, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß diese junge Dame, Fräulein Eva Morgenrot, zu meinen ständigen Patientinnen gehört.« »Aber nicht jetzt«, erklärte Bergner störrisch. »Nicht nach Lage der Dinge.« Karl Wander ließ sich nieder, schob sich in seinem Sessel zurück, in eine Ecke des Zimmers, als wolle er einen möglichst günstigen Überblick gewinnen. Er wies auf die immer noch regungslos im Schlafzimmer liegende Eva Morgenrot. »Sie ist«, erklärte er bereitwillig, »in die Hände von Saukerlen geraten – nach Ansicht von Doktor Bergner.« »Aber da muß ich doch sehr bitten!« Dr. Klaus Barranski blickte herzlich besorgt. »Offensichtlich ist es hier so, daß sich, wieder einmal, die eigentlichen Zusammenhänge nicht sogleich zu erschließen vermögen.« »Ich habe lediglich einen Befund konstatiert«, sagte der Unfallarzt beharrlich. »Aber der ist eindeutig.« »Es liegt mir fern, das zu bezweifeln, Herr Kollege, ich erlaube mir lediglich, gewissen Bedenken Ausdruck zu geben.« Das »Herr Kollege« klang überaus höflich, doch auf eine Art, als rede der Direktor der Städtischen Müllabfuhr freundlich einen Tonnenauskratzer an. »Ihre Diagnose wird 13
sicherlich stimmen. Nur eben, daß Sie nicht um gewisse Zusammenhänge wissen können, um die ich, als der behandelnde Arzt dieser Patientin, indessen weiß; seit geraumer Zeit bereits.« Dr. Klaus Barranski begab sich zu Eva Morgenrot. Er beugte sich über sie, betastete ihre Stirn, befühlte den Puls, schob ihre Augenlider zurück, behorchte das Herz – das alles mit schnellen, sicheren Bewegungen, als sitze er vor einem Schaltbrett. Er brauchte dafür nur wenige Minuten. »Ich übernehme also meine Patientin«, erklärte er dann. »Das heißt, Doktor, daß Sie hier überflüssig sind«, rief Karl Wander dem Unfallarzt zu. »Mischen Sie sich, bitte, hier nicht ein«, empfahl Barranski mild. Er lächelte Bergner an, griff in seine Brusttasche und zog eine Visitenkarte hervor. Die übergab er. »Ich hoffe annehmen zu dürfen«, sagte er dabei, »daß Ihnen mein Name nicht ganz unbekannt ist.« »Nur zu bekannt«, knurrte der Unfallarzt. Dann blickte er wie hilfesuchend zu Karl Wander hin. Doch der gab sich gelangweilt und betrachtete seine Fingernägel – sie waren pflegebedürftig. »Lassen Sie also bitte, Herr Kollege«, forderte Dr. Klaus Barranski, »Fräulein Morgenrot in ihre Wohnung, ein Stockwerk höher, bringen.« Der Herr Kollege, der zusammengeschrumpft dasaß, erklärte: »Sie ist krankenhausreif!« »Das mag Ihnen, mein lieber junger Kollege, so erscheinen.« Barranskis Wohlwollen grenzte jetzt nahezu an Gnade. »Aber die Entscheidung darüber haben Sie natürlich dem behandelnden Arzt zu überlassen. Sie wollen mich doch nicht zwingen, mit Ihrer vorgesetzten Behörde Verbindung aufzunehmen, nicht wahr? Das würde ich sehr bedauern, in Ihrem Interesse.« 14
Dr. Bergner wartete einen Augenblick; dann, als er Geräusche auf dem Korridor hörte, ging er hinaus und gab den Krankenträgern, die er herbeitelefoniert hatte, Anweisung, Eva Morgenrot ein Stockwerk höher zu transportieren. Das geschah. Dr. Barranski bedankte sich gemessen-verbindlich und entfernte sich. »Mir ist zum Kotzen übel.« Dr. Bergner sah an Wander vorbei; jetzt schien er nur noch die Flasche mit dem Cognac zu sehen. »Gießen Sie mir auch ein Glas ein.« »Für Sie nicht einen Tropfen«, sagte Wander, sich zurücklehnend. »Sie möchte ich vorläufig noch in nüchternem Zustand genießen.« »Wie muß ich Ihnen jetzt vorkommen«, sagte Dr. Bergner und setzte sich wie entkräftet auf das Bett, auf dem Eva Morgenrot gelegen hatte. »Komme ich Ihnen wie jemand vor, den man in den Arsch treten möchte?« »So was ist fast immer pure Zeit Verschwendung«, meinte Wander. »Wer ist eigentlich dieser Barranski?« »Ein gerissener Hund – ein hochangesehener Zeitgenosse. Eins ergibt sich aus dem anderen.« »Sie möchten ihn Ihrerseits in den Arsch treten, wenn ich Sie richtig verstehe – aber Sie trauen sich nicht. Dieser Doktor Barranski dürfte etwa zehnmal soviel wie Sie verdienen. Und da verändern sich eben die Perspektiven.« »So wird es wohl sein«, meinte Dr. Bergner. »Meine Möglichkeiten reichen nicht bis in seine Ferkelwelt hinein. Sie dürfen mich also für einen halbwegs anständigen Menschen halten, mithin für einen Idioten.« »Dennoch versuchen Sie immer wieder, irgend etwas dagegen zu unternehmen – nicht wahr?« Der Arzt nickte. Dann raffte er sich auf und ging zur Tür. »Wer hier wirksam mitspielen will, der muß über eine 15
strapazierfähige Natur verfügen. Haben Sie die?« Die Klingel an der Tür seines Appartements wurde nur leicht angetippt – sie schnurrte katzenhaft. Karl Wander öffnete, als habe er darauf gewartet. Vor ihm stand Sabine von Wassermann-Westen. »Da bin ich«, sagte sie und betrat den Raum, als gehöre er ihr. Sie schritt an ihm vorbei, setzte sich in seinen Sessel und sagte lässig: »Wir haben wohl noch einiges zu klären.« Sie schimmerte nun in meergrünen Farben, denn sie hatte sich in einen japanseidenen Schlafrock gehüllt. Um drei Uhr früh sah sie aus, als käme sie direkt aus einem Kosmetiksalon. »Wir müssen uns nicht unterhalten«, sagte Karl Wander abweisend, »schon gar nicht über frühere Zeiten. Die sind nicht nur vorbei, auch vergessen.« »Sind sie das wirklich?« fragte sie, sanft lauernd. Sie erhob sich, ging an ihm vorüber, direkt in sein Schlafzimmer hinein, und setzte sich auf das Bett, ließ sich dann rückwärts fallen und streckte sich aus. In ihren Samtaugen schimmerte etwas träge Neugier. »Erweckt das bestimmte Erinnerungen?« »Sind die beabsichtigt?« fragte er ablehnend. »Nein!« sagte sie schroff und richtete sich auf. »Wir kennen uns nicht, wir sind uns niemals vorher begegnet! Und wenn wir uns hier oder anderswo wieder einmal über den Weg laufen sollten, was in diesem Nest schwer vermeidlich ist, dann sehen wir uns zum erstenmal. Akzeptiert?« »Ja«, sagte Karl Wander. »Die paar Monate damals in München zählen also nicht – gut so.« »Sie haben nie existiert.« »Noch besser.« »Ich mache diesen Vorschlag nicht allein meinetwegen – das wird sich vermutlich bald herausstellen.« »Ich denke ohnehin nicht daran, mit peinlichen Erinnerungen 16
hausieren zu gehen.« »Darauf muß ich mich auch absolut verlassen können«, sagte Sabine. »Das ist also ein Abkommen! Ein Bruch dieses Versprechens könnte sehr unangenehm werden. – Ist das deutlich genug?« »Bereits zu deutlich! Wenn das nämlich eine Drohung gewesen sein sollte – dann war es die erste und letzte. Verstanden? In diesem Punkt bin ich ziemlich empfindlich.« »Schon gut«, sagte Sabine besänftigend, »ich werde nie mehr darauf zurückkommen, wenn ich nicht dazu gezwungen werde. – Nicht wahr, Herr Wander?« Er nickte. »Das wäre also dieser Punkt. Nun zu einem anderen, wenn Sie erlauben.« »Vermutlich wollen Sie wissen, wie es Ihrer Besucherin von heute nacht geht?« »Lebt sie noch?« Sabine lachte kurz auf; ohne Heiterkeit. »Sie haben offenbar immer noch nicht gelernt, was Frauen alles zugemutet werden kann, ohne daß sie dabei gleich aus dem Leim gehen.« »Dann belehren Sie mich.« Ihre Wimpern waren dichte Fransenvorhänge. Sie sagte, betont deutlich, als diktiere sie: »Eva Morgenrot gehört zu meinem Bekanntenkreis – sie ist mir gewissermaßen anvertraut worden. Doch sie ist reichlich kompliziert für ihre zwanzig Jahre. Neuerdings trinkt sie gelegentlich sogar und ist nicht gerade wählerisch in ihrem Umgang. Ich gebe Ihnen den guten Rat, sich nicht weiter um sie zu kümmern.« »Und bei wem wird sie das nächstemal vor der Tür liegen? Und warum schlägt man ein Mädchen wie diese Eva zusammen – wer macht so was?« »Sie hat einen Unfall gehabt«, erklärte Sabine bestimmt. »Und diese Feststellung sollte Ihnen genügen.« 17
»Sie genügt mir nicht«, sagte Karl Wander. »Und daß gleich ein Arzt, noch dazu einer wie Barranski, nur auf die Anlieferung dieses Mädchens gewartet zu haben scheint, das kommt mir reichlich merkwürdig vor.« »Dieses Gespräch beginnt mich zu langweilen«, erklärte Sabine. »Alles, was zu sagen war, ist bereits gesagt – und es sollte genügen. Das ist ein geradezu freundschaftlicher Ratschlag.« »Ich nehme ihn aber nicht an«, sagte Karl Wander. »Ich bin ein mißtrauischer Mensch – ich bin das geworden. Das fing vor etwa zehn Jahren bei mir an. Damals konnte man mich noch für dumm und gutmütig halten. Heute komme ich nicht wenigen böse und hinterlistig vor wie drei Dutzend Nibelungenzwerge.« »Geschenkt«, sagte sie, »da unglaubhaft.« »In letzter Zeit«, fuhr er fort, »veranstaltete ich mehr oder weniger eine Art geistigen Striptease. Ich produzierte Journalistisches und dann auch Literarisches in fast jeder gewünschten Manier, Machart und Länge; mal heiter, mal sauer, mal unterkühlt, mal pathetisch. Ich war also nicht viel mehr als eine Art Schreibmaschinennutte – und jetzt bin ich hier gelandet. Der Grund dafür ...« »Sie sind besoffen.« Sabine sagte das wie ein Gasmann, der einen Zähler abliest. »Aber das macht nichts, das kann vorkommen. Hauptsache: man schläft sich danach gründlich aus. Und das scheint bei Ihnen dringend notwendig zu sein.« »Erinnern Sie sich noch an mich?« fragte Karl Wander, zwölf Stunden später, einen großgewachsenen bernhardinerhaft dahockenden Mann. »So was wie Sie«, sagte der mit knappem Lächeln, »vergißt man so leicht nicht. Aber daß es Sie noch gibt, wundert mich ein wenig. Was kann ich für Sie tun?« 18
»Einige Auskünfte würden mir genügen, Mister Sandman.« »Ich will nicht annehmen«, sagte der erleichtert, »daß Sie inzwischen bescheiden geworden sind. Das paßt nicht zu Ihnen. Also, Herr Wander, welche Quellen gedenken Sie bei mir anzubohren?« Peter Sandman war, seit zwölf Jahren bereits, deutscher Repräsentant von US-Press, einer einflußreichen Nachrichtenagentur seines Landes. Seine Stellung zwang ihn, im Bereich von Bonn zu amtieren. Dabei bevorzugte er das nahe liegende Bad Godesberg. »Hier«, pflegte er zu sagen, »ist die Luft zwar auch nicht viel besser, aber die Entfernungen sind um etliche Meter größer – so kann man sich einbilden, wenigstens eine gewisse räumliche Distanz zu besitzen. Es ist eine der harmlosesten Täuschungen, denen man hier verfallen kann.« »Was führt ausgerechnet einen Menschen wie Sie hierher?« wollte er wissen. »Ein Job«, sagte Karl Wander ausweichend, »irgendeiner von vielen möglichen.« Peter Sandman lehnte sich erwartungsvoll in seinem Schreibtischsessel zurück. »Sie machen mich neugierig. Denn nach allem, was ich von Ihnen weiß, sind Sie ein erklärter Idealist, also ein ausgesprochen unbequemer Zeitgenosse – zumindest gewesen.« »Auch ich werde älter«, meinte Wander vorsichtig. »Allerdings – schließlich sind Sie jetzt bereits drei- oder vierunddreißig Jahre alt, da vergreist man eben langsam.« Peter Sandman grinste. »Aber da ich noch an die zehn Jahre älter bin, gehöre ich bereits zur endgültig verkalkten Generation. Ich verstehe mithin diese Welt nicht mehr – darüber sollte man eigentlich eher froh sein. Bin ich aber nicht. Es gibt zuviel, was da stinkt – und ich kann immer noch ganz gut riechen.« »Vermutlich sitzen Sie zu dicht an den 19
Informationsquellen«, meinte Karl Wander. »Außerdem scheinen Sie sich gar nicht so schlecht dabei zu amüsieren, Mister Sandman.« »Was bleibt mir denn anderes übrig? Haben Sie etwa die Absicht, sich daran zu beteiligen?« »Ist das ein Angebot?« Sandman breitete die Arme aus, was einladend herzlich wirkte, jedoch reinste Routine war. »Ich bin schließlich noch in Ihrer Schuld. Denn Ihnen verdankte ich damals, vor etwa zehn Jahren, eine Menge ungemein interessantes Material.« »Das Sie dann aber nicht verwertet haben.« »Das konnte ich nicht – nicht zu jenem Zeitpunkt. Versuchen Sie, mich und die Situation meines Landes zu verstehen! Kein Staat kann es sich leisten, einem möglichen Verbündeten zu erklären, daß seine Armee ein ausgemachter Sauhaufen ist.« »Auch dann nicht, wenn es sich beweisen läßt?« »Auch dann nicht. Hinzu kam, daß wir Amerikaner schließlich an der Wiederbewaffnung nicht ganz unschuldig sind. So was als eklatante Fehlspekulation zu erklären, das will natürlich reiflich überlegt sein.« »Nun – dann überlegen Sie getrost weiter, Mister Sandman; ich habe nicht die Absicht, Sie dabei zu stören. Das alles interessiert mich nicht mehr. Aus, vorbei, erledigt – abgeschrieben.« »Und weshalb sind Sie hier?« »So genau weiß ich das noch gar nicht. Nur so viel ist sicher – ich brauche dringend einen Job, und hier ist mir einer angeboten worden. Doch bevor ich damit anfangen kann, beschäftige ich mich in der Wartezeit mit ein paar Dingen, über die ich sozusagen gestolpert bin.« »Und was für Dinge sind das?« »Ist Ihnen eine gewisse Sabine von Wassermann-Westen 20
bekannt?« »Schau mal einer an!« rief der Amerikaner belustigt. »Wie kommen Sie denn ausgerechnet auf diese Dame? Ich fürchte, die werden Sie sich nicht leisten können, lieber Wander!« »Sie interessiert mich nicht als Person, sondern – sagen wir: als Objekt. Was wissen Sie von ihr?« »Eine ganze Menge – aber nicht viel Greifbares.« Peter Sandman griff in seine Brusttasche, holte ein schwarzes Notizbuch hervor und begann darin zu blättern; er fand schnell, was er suchte. »Sabine von Wassermann-Westen«, referierte er, »angeblich siebenundzwanzig Jahre alt, vermutlich etwas über Dreißig ...« »Sie ist neunundzwanzig«, korrigierte Karl Wander. Peter Sandmans graue Augen blickten einen Augenblick Wander an, um dann wieder vor sich hin zu blinzeln. »Sie hieß ursprünglich Sabine Wassermann, stammt aus Süddeutschland, aus Passau vermutlich, hat einige Jahre in München gelebt, sich in der Modebranche betätigt, dann, 1963, einen Baron von Westen geheiratet und ihn schnell und gründlich überlebt; er starb bald nach der Hochzeit durch einen Unfall. Vor etwa drei oder vier Jahren tauchte dann die Baronin hier in der Gegend auf. Sie besitzt ein Haus in Köln und bewohnt außerdem ein Appartement in Bonn.« »In der Koblenzer Straße.« »Woher wissen Sie das?« »Ich wohne auch dort – genau ein Stockwerk tiefer.« »Schön«, sagte Peter Sandman. »Damit habe ich also Ihre Adresse. Oder wollten Sie mir die nicht geben?« »Ich würde auf eine Verbindung zwischen uns Wert legen«, sagte Karl Wander. »Die existiert somit.« Der Amerikaner lächelte seinen Besucher an; und diesmal mit unverkennbarer 21
Erwartungsfreude. »Ich unterhalte mich immer wieder gern mit Ihnen, Herr Wander – Ihnen scheinen die Überraschungen nachzulaufen; ich weiß so was zu schätzen. Also weiter im Text: Ihre Baronin gehört hier sozusagen zur relativ großen Gesellschaft – was das bedeutet, werden Sie bald merken; nirgendwo kann man so schnell wie hier erkennen, was relativ ist. Die Baronin ist jedenfalls allererste Lobby, mit glänzend ausgebauten Beziehungen bis zu Ministerien und Botschaften. Bei ihr scheint Vorsicht geboten!« »Und was ist mit einem gewissen Dr. Klaus Barranski? Kennen Sie den auch?« Mister Sandman hob seinen quadratischen Schädel um einige Zentimeter und betrachtete Karl Wander nicht ohne Verwunderung. »Seit wann sind Sie hier?« »Seit gestern – ich kam am späten Nachmittag an.« »Kaum zu glauben«, meinte der Amerikaner. »Dieser Dr. Barranski hat seine Praxis in Köln, ist aber nicht nur eine Art Modearzt, er besitzt nicht nur beachtliche Verbindungen, sondern auch erhebliche medizinische Fähigkeiten. Seine Diskretion wird allgemein gerühmt und sicherlich viel in Anspruch genommen. Sollte sich etwa ein Botschafter oder eine Dame von Welt eine diskrete Krankheit zugezogen haben oder ein Minister eine Alkoholvergiftung – Dr. Barranksi behandelt alles schnell, wirksam und verschwiegen. Vermutlich ist er Millionär.« »Und ist Ihnen eine Eva Morgenrot bekannt?« Peter Sandman dachte nach. »Sollte die mir auch bekannt sein? Morgenrot –? Eine junge Dame?« »Sie ist an die zwanzig Jahre alt, blond, zierlich und im Normalzustand, nehme ich an, ziemlich attraktiv.« »Bei mir jedenfalls noch nicht registriert.« Sandman schrieb sich den Namen Eva Morgenrot auf einen Zettel. »Sobald ich irgend etwas über sie herausfinden sollte, werde ich Sie gerne 22
verständigen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich dabei die Spezialkenntnisse von unserem Mister Jerome in Anspruch nehme?« »Jerome? Wer ist das?« »Der Mann, den man den dreifachen Affen von Bonn genannt hat – er sieht alles, hört alles, sagt aber nur das, was er zu sagen für richtig hält. Er ist einer der leitenden Männer des amerikanischen Geheimdienstes für Mitteleuropa – ich habe die zweifelhafte Ehre, mit ihm befreundet zu sein. Haben Sie also etwas gegen seine Mitarbeit einzuwenden?« »Ich will nichts als einige Auskünfte.« »Fein! Haben Sie Lust, morgen mittag mit mir zu essen – auf Kosten des amerikanischen Steuerzahlers?« »Morgen gegen Mittag habe ich die erste Besprechung mit meinem neuen Boß. Aber wir könnten dann am Abend gemeinsam feiern, wenn ich auch noch nicht genau weiß, was.« »Abgemacht«, sagte Peter Sandman. Er griff nach dem Zettel, auf den er den Namen Eva Morgenrot geschrieben hatte, und betrachtete ihn versonnen. Dann schaltete er seine Sprechanlage ein und ordnete an: »Ich benötige alle vorhandenen Unterlagen über Mister Feldmann – dazu auch gleich die über Krug, den Parteisekretär. Zuvor jedoch ein Telefongespräch mit Mister Jerome.«
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Zwischenbericht I des Mannes namens Jerome Über die Anfänge, denen man mit Mißtrauen begegnen, und über die Vorurteile, vor denen man sich hüten sollte. Peter Sandman telefonierte mit mir in dieser Angelegenheit erstmals an einem Samstag, im Spätherbst dieses Jahres. Das war ein denkbar günstiger Zeitpunkt. Denn fast an jedem Wochenende ist Bonn wie leergefegt von Politikern. Sie streben dann meist heimwärts, zumindest jedoch bis nach Köln, Frankfurt oder Düsseldorf. Um sich zu entspannen. So was muß ihnen gegönnt werden. Die fünfzig bis sechzig registrierten Huren in Bonn und in der nächsten Umgebung sind höchstens untere Mittelklasse, lediglich für den Markt der ansässigen Bürger berechnet. Der große Großvater dieser Bundesrepublik hatte eine Atmosphäre geschaffen, die unter anderem zu einer gewissen sexuellen Sterilität führte. Eine jener Regeln mithin, die Ausnahmen herausfordern. Etliche aktionsfreudige ausländische Botschaften taten einiges in dieser Hinsicht. Aber auch andere Interessenvertreter gaben sich einige Mühe, die Wochenendlangweile der Zurückgebliebenen zu bekämpfen. So was führte manchmal zu gewissen allzumenschlichen Möglichkeiten. Für unser Metier ließ sich gelegentlich Nutzen daraus ziehen. Doch an jenem Samstag, da Sandman bei mir anrief, waren von uns aus bereits alle diesbezüglichen Weichen gestellt und meine Leute auf die einzelnen ausgewählten Objekte angesetzt. Irgendwelche Resultate waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erwarten. So zögerte ich nicht, mich mit Sandman zu beschäftigen. Was sich dann alles daraus ergeben sollte, konnte selbst ich, zunächst, nicht ahnen. 24
Ober diesen Peter Sandman ist nicht sonderlich viel zu berichten. Vermutlich glaubte er, gelegentlich durchaus ernsthaft, sein Amerika im bundesdeutschen Bonn zu repräsentieren. Ein gewisser salopper Zynismus war die Folge davon. Durchaus denkbar aber auch, daß ihm das schließlich sogar Vergnügen bereitete. In diesem speziellen Fall allerdings schien das in ein nicht ungefährliches Amüsierbedürfnis auszuarten. Sandman nannte mir an jenem langweiligen Herbsttag verschiedene Namen. Den eines gewissen Karl Wander zuerst, über den ließen sich leicht Unterlagen finden. Seinetwegen waren wir, vor nahezu zehn Jahren, um Amtshilfe gebeten worden, vom Bundesdeutschen Verfassungsschutz. Diese Leute mißtrauten Karl Wander tief. Mit Recht. Denn gegen ihn war nichts Greifbares vorzubringen. Bei diesem Karl Wander handelte es sich um einen sogenannten Idealisten. Das ist immer bedenklich. Denn die Reaktionen dieser Leute lassen sich weder berechnen noch manipulieren. Dieser Bursche hielt die Bundeswehr, als er ihr noch angehörte, für einen Hort besten neudeutschen und demokratischen Wesens; so zumindest wollte er diesen Verein sehen. Das mußte natürlich in die Binsen gehen. Die Akten über diesen Wander waren – sehr berechtigt, wie sich bald herausstellen sollte – niemals endgültig abgeschlossen worden. Er verließ vor etwa zehn Jahren seine Bundeswehr unter tönendem Protest – wovon jedoch kaum jemand Kenntnis nahm. Danach arbeitete er, mehr oder weniger militärwissenschaftlich, aber auch auf anderen Gebieten, mitunter literarisch, für einige sich betont überparteilich gebende Zeitungen. Selbst denen jedoch wurde er bald unbequem. So sank er denn schnell abwärts; er sympathisierte offenbar mit DDR-Anerkennern, Ostermarschierern, Proteststudenten. Ein erklärter Weltveränderer. Vorsicht also dringend geboten. 25
Der nächste Name, den mir Peter Sandman nannte, war der des Alexander Krug. Das war sehr bemerkenswert in diesem Zusammenhang. Größere Gegensätze scheinen kaum denkbar. Denn dieser Wander operierte offenbar ohne Rücksicht auf Einnahmen; selbst Verlust nahm er in Kauf. Krug jedoch, einflußreicher Parteisekretär, machte Geschäfte, wo immer sie sich anboten. Er kassierte so gut wie alles, was sich kassieren ließ. Was also, so hatte ich mich zu fragen, war diesen beiden gemeinsam? Das zumindest wußte ich bereits damals: dieser Krug segelte, anscheinend bereitwillig, im Fahrwasser von Minister Feldmann. Dem verdankte er seine derzeitige Position. Und so was pflegte zu verpflichten, zahlte sich auch fast immer aus. Doch nicht mit Selbstverständlichkeit. Denn die Preise für Gesinnungen, Überzeugungen und Gefolgschaftstreue pflegten ständig zu wechseln. Irgend jemand konnte sie überbieten. Doch was, so mußte ich mich fragen, hatte ein Karl Wander damit zu tun? Dabei hätte ich wissen müssen, daß dieses Deutschland, und damit auch diese Bundesrepublik, ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Man muß es nur rechtzeitig erkennen – dann läßt sich selbst damit durchaus einiges anfangen.
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2 Das Verhängnis nimmt Anlauf – doch auch das dauert seine Zeit, wenn es gründlich werden soll. »Ich habe eine Art Vorladung erhalten«, sagte Wander auf dem Polizeirevier 3. Er befand sich in einem verwöhnten Behördenstall, der vorwiegend mit Aktenheftern ausstaffiert war. Geruch von Staub und Männerschweiß durchzog den Raum. Der von Wander angesprochene Beamte warf einen schnellen Blick auf den ihm vorgelegten Zettel. Dann hob er verweisend sein Knödelgesicht und korrigierte: »Das ist keine Vorladung – das ist lediglich eine Aufforderung.« »Und wozu werde ich aufgefordert? Was wollen Sie von mir?« »Ich? Nichts.« Der Beamte schien sich zu bemühen, ihm nicht ins Gesicht zu gähnen. »Vermutlich handelt es sich um eine Auskunft. Aber dafür bin ich nicht zuständig. Warten Sie bitte.« »Worauf denn?« »Auf den, der dafür zuständig ist.« Als zuständig dafür erwies sich, nach einer knappen halben Stunde, ein elefantenhafter Mann, Kohl mit Namen. Ein Kriminaloberinspektor von stabiler Gelassenheit. Seine Augen blickten klein und hell aus den Fleischmassen eines verquollen wirkenden Gesichtes. »Auf Sie«, sagte dieser Kohl, »haben wir hier gerade gewartet.« »Ich bin nicht freiwillig hier – und ich entferne mich gerne wieder.« »Das könnte Ihnen so passen!« Der Kriminaloberinspektor Kohl blickte abschätzend, als habe ein Viehhändler einen Preis 27
zu bestimmen. »Kommen Sie mal mit.« Er führte Karl Wander in einen Nebenraum, in eine Art Vernehmungszelle. Sie war in altdeutschem Gefängnisstil eingerichtet: penetrant karg, grellgrau ausgepinselt, beklemmend eng – dicke Gitter standen vor einem flachen Fenster mit verdreckten Scheiben. Kohl ließ sich auf dem einzigen vorhandenen Stuhl nieder, entfaltete einige Blatt Papier, die dicht mit Maschinenschrift bedruckt waren, und schien sie sorgfältig zu lesen. Dann blickte er auf, sah den vor ihm stehenden Karl Wander genau an und meinte: »Sie sehen gar nicht so aus.« »Wie möchten Sie denn gern, daß ich aussehe?« wollte der durchaus entgegenkommend wissen. »Versuchen Sie hier nicht witzig zu werden! In meinem Beruf ist Humor Mangelware – der verbraucht sich bei uns zu schnell.« »Das ist doch sehr bedauerlich – vielleicht sollten Sie Ihren Beruf wechseln.« »Also doch ein Witzbold!« Der Kriminalbeamte schnaufte angewidert auf. »Mann – gestern stand hier, genau wo Sie jetzt stehen, auch so einer von der naßforschen Sorte. Nach einer Stunde flehte er händeringend um schonende, verständnisvolle Behandlung – schließlich habe er gerade seine liebe Mutter verloren.« »Hatte er sie umgebracht?« »Mit einem Hammer.« »Ich habe schon lange keine Mutter mehr – und im Besitze eines Hammers bin ich auch nicht; falls Sie das beruhigen sollte. Ich nehme aber an, daß Sie auf die Mißhandlung eines weiblichen Wesens hinauswollen – oder wie auch immer der Fachausdruck dafür lauten mag.« »Sie sind nicht nur ein Witzbold«, erklärte Kohl, abermals 28
aufschnaufend, »Sie sind auch noch ein Angeber! Denn so viel hat sich inzwischen herausgestellt – Sie sind, nach übereinstimmenden Aussagen, nicht daran beteiligt gewesen.« »Dann weiß ich wirklich nicht, was Sie von mir wollen.« Karl Wander hatte nichts gegen Elefanten, die er für liebenswerte Geschöpfe hielt – wenn auch unter Umständen für nicht ganz ungefährlich. »Denn daß Sie sich lediglich mit mir unterhalten wollen – das vermag ich mir nur schwer vorzustellen.« »Also versuchen Sie das erst gar nicht!« Der Kriminaloberinspektor Kohl beschäftigte sich wieder mit seinen Unterlagen und fragte dann, wie ablesend: »Sind Sie der Ansicht, eine Strafanzeige unterlassen zu haben?« »Sollte ich das?« Karl Wander beugte sich ein wenig vor, wie um besser hören zu können. »War das soeben eine Anregung, ein Hinweis? Oder haben Sie mich lediglich um eine Auskunft ersucht?« »Ich bin verdammt müde, müssen Sie wissen.« Die kleinen, lauernden Augen des Kriminalbeamten verengten sich. »Ich schlage mich täglich acht bis zwölf Stunden mit allem möglichen Gesindel herum.« »Rechnen Sie mich dazu?« »Gesindel kann jeder sein.« »Auch ein Kriminalbeamter – selbstverständlich.« »Selbstverständlich«, gab Kohl zu. Seine Stimme klang unpersönlich wie die eines Schalterbeamten, der Briefmarken verkauft. »Im Augenblick komme ich mir fast so vor. Denn ich sollte Ihnen Ihre vorlaute Fresse polieren und Sie auspressen wie eine Zitrone.« »Und warum versuchen Sie das nicht? Ich bin schließlich keine Schlägertype – aber Sie wirken, trotz Ihres Alters, noch reichlich rüstig. Was also hält Sie davon ab, Ihren Gefühlen 29
freien Lauf zu lassen?« »Ich werde in knapp fünf Jahren pensioniert«, sagte der Kriminaloberinspektor. »Bis dahin muß ich mich bremsen – so schwer mir das manchmal auch fällt. Bei Ihnen ganz besonders! Aber ich werde mich hüten, einen vielleicht nur kleinen Schweinehund auseinanderzunehmen, der mit einem Minister befreundet zu sein scheint. So was kann ich mir leider nicht leisten.« »Wie kommen Sie denn darauf?« Karl Wander war so überrascht wie etwa ein Bildschirmbetrachter, dem versichert wird: Unsere Waschmittel sind die schlechtesten! »Ich kenne keinen Minister persönlich, und was soll das noch dazu in einem solchen Zusammenhang? Um wen soll es sich dabei, nach Ihrer Ansicht, denn handeln?« »Mann – ich werde mich hüten, Ihnen irgendeine Andeutung zu machen! Nicht, weil ich ein feiger Hund bin, Wander, nur weil ich kein ausgemachter Idiot sein will.« »Vielleicht«, sagte Wander behutsam, »läßt sich etwas dagegen machen – gemeinsam. Denn im Augenblick bin ich es, der sich hier wie ein Idiot vorkommt. Und das ist kein sonderlich angenehmes Gefühl.« Der Kriminaloberinspektor Kohl schien sich jetzt nur noch mit seinen Unterlagen beschäftigen zu wollen. »Ich habe Ihnen also folgende Frage vorgelegt: Ist von Ihnen versäumt worden, eine Strafanzeige zu erstatten? Ihre Antwort lautet: Nein. Ist das so richtig?« »Nun sagen Sie doch endlich, worauf Sie hinauswollen!« »Haben Sie eine Strafanzeige gemacht? Nein! Erstatten Sie jetzt eine? Ja oder nein? Also nein! Und jetzt verschwinden Sie gefälligst, Wander – ehe ich noch meine letzte Beherrschung verliere und Ihnen in den Arsch trete. Und damit indirekt in den eines Ministers, in den Sie hineingekrochen sind.« »Sonst noch was?« 30
»Falls Sie das irgendwie beruhigt – ich würde mich jetzt gerne selbst anspucken! Aber wie macht man das?« »Was wollen Sie denn noch?« fragte Dr. Bergner. Er hob wie abwehrend die Hände beim Anblick seines Besuchers. »Sie haben doch wirklich schon genug angerichtet!« »Dieses Gefühl beschleicht mich langsam auch«, sagte Karl Wander. »Aber vielleicht können Sie mir erklären, warum?« Dr. Bergner arbeitete in der Aufnahmestation seines Krankenhauses. Fast täglich, in den Vormittagsstunden, hatte er antransportierte Erkrankte wie am Fließband abzufertigen. Jetzt betrachtete er ein Kind, das rot angelaufen war, keuchte und sich erbrach. »Röntgenstation«, entschied er. »Haben Sie mir die Kriminalpolizei auf den Hals geschickt?« wollte Karl Wander wissen. Der Arzt betrachtete seinen Besucher, als gedenke er eine Diagnose zu stellen. Doch er schien zu keinem befriedigenden Urteil zu gelangen. Beunruhigt bat er einen Kollegen, ihn zu vertreten. »Für etwa zehn Minuten – dann bin ich mit dem hier fertig!« Hierauf zog Dr. Bergner seinen Besucher in einen Nebenraum. Schmutzige Wäsche stapelte sich hier bis zur Decke. Ein betäubender Verwesungsgeruch umlagerte sie. Karl Wander riß das Fenster weit auf und blieb dann dort stehen. »Ich nehme an, daß Sie mit Ihrer Unfallmeldung nicht weit gekommen sind – und so haben Sie dann eine indirekte Anzeige riskiert. Gegen mich.« Dr. Bergner winkte ab, mit einer knappen, kraftlos wirkenden Handbewegung. »Offenbar scheinen Sie anzunehmen, daß ich, eine Art verhinderter Gerechtigkeitsfanatiker bin.« »Gestern nacht sah das so aus.« 31
»Kann sein«, gab der Arzt zu. Er wirkte müde wie nach einem Langstreckenlauf. »Auch ich habe gelegentlich meine Anwandlung von Mut – oder von Leichtsinn. So genau weiß ich das nicht. Doch so was geht schnell vorüber. Auch werden derartige Regungen immer seltener bei mir.« »Sind Sie wirklich sicher, daß nicht Sie es gewesen sind, der mir die Kriminalpolizei auf den Hals gehetzt hat?« »Die ist vermutlich bei Ihnen genau an der richtigen Adresse. Aber ich bin es nicht gewesen, der ihr diese Adresse gegeben hat.« Bergner blieb neben dem Stapel verschmutzter Wäsche stehen; keine Sorte Verwesungsgeruch war ihm fremd. »Was wollten die Leute von Ihnen?« »Nur eine Kleinigkeit. Ein Kriminalbeamter fragte mich, ob ich eine Strafanzeige wissentlich unterlassen hätte. Was er hierauf hören wollte, war das Wort: nein. Und das glaubte er dann auch vernommen zu haben. Ich kam erst gar nicht dazu, ihn aufzuklären.« »Wir kennen diese Machart. Damit hat sich einer abgesichert; mit dem üblichen Routineverfahren.« »Dieser Dr. Barranski?« »Ich habe den Namen nicht genannt – das haben Sie getan.« Die kaninchenhafte Röte in den Augen des Arztes schien zugenommen zu haben. »Aber jetzt hat der eine schöne amtliche Bestätigung – dank Ihrer freundlichen Mithilfe, Herr Wander. Er kann jetzt nämlich nachweisen, daß gar kein Grund zu einer Strafanzeige vorgelegen hat. So macht man das.« »Kommt so was öfter vor?« »Wie man es nimmt – bei den meisten Ärzten niemals, bei einigen gelegentlich, bei wenigen anderen immer wieder. Vermutlich ist Ihnen bekannt, daß etwa Selbstmorde oder auch Selbstmordversuche automatisch eine polizeiliche Untersuchung zur Folge haben; Unglücksfälle auch, gleich welcher Art, sofern sie zu schweren Verletzungen oder zum 32
Tod führen. Und alles, was irgendeine kriminelle Handlung auch nur vermuten ließe. Gelangt so was zur Kenntnis eines Arztes, dann muß er es melden – oder eben sich absichern. Auch derartige Manipulationen können heute unter gewissen Umständen zur ärztlichen Kunst gehören.« »Und das«, fragte Wander aufreizend, »nehmen Sie und Ihre Kollegen einfach so hin?« »Wir sind, falls wir davon erfahren, natürlich entrüstet und gelegentlich äußerst empört. Aber wir haben schließlich alle unsere Familien, unsere Stellungen, das, was Karriere genannt wird und dazu eine Menge Patienten, die auf uns angewiesen sind – so was lenkt ab.« »Fangen Sie nur nicht noch an, sich zu bedauern, Doktor! Denken Sie lieber mal nach, ob sich im Fall Eva Morgenrot noch irgend etwas machen läßt.« »Nicht von mir aus.« »Können Sie mir dann wenigstens andere, ähnliche Unterlagen liefern – aber nur solche, die einwandfrei, also beweiskräftig sind?« »Ich werde mich hüten!« Dr. Bergner schloß das Fenster knallend und öffnete weit die Tür. »Ich bin tatsächlich ein Arzt, auch wenn Sie das zu bezweifeln scheinen. Mithin nicht der richtige Mann für Sie, falls Sie, wie mir scheint, lebensmüde sein sollten.« »Machen Sie auf!« sagte Karl Wander vor der geschlossenen Tür, auf der die Zahl 304 angebracht war. »Ich möchte Sie gerne mal – wenn das möglich sein sollte – unter halbwegs normalen Umständen sehen.« »Wer sind Sie?« »Ihr Lebensverlängerer – falls Sie Eva Morgenrot sind.« »Der Mann vom unteren Stockwerk?« 33
»Sie dürfen meinen Besuch für pure Höflichkeit halten – wenn Sie so wollen.« Die Tür des Appartements 304 wurde ihm geöffnet. Er sah ein faltenreiches, fliederfarbenes Seidengewand, darüber ein wachspuppenbleiches Gesicht, bemüht lächelnd, von grellblonden Haaren umrahmt. »Eigentlich darf ich niemand empfangen.« »Wer hat Ihnen das denn verboten?« fragte er. Eva Morgenrot hatte eine helltönende Kinderstimme, es hörte sich an, als sei sie auf wirkungsvolle Naivität trainiert. »Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.« »Ich Sie mir auch«, sagte Karl Wander. »Wie denn?« »Krankenhausreifer – das zumindest. Sie scheinen ja wirklich eine ganze Menge vertragen zu können.« »Ich fühle mich aber nicht sehr wohl«, versicherte sie mit anschmiegsamen Tönen. »Dann legen Sie sich schleunigst wieder hin!« Karl Wander trat ein, schob sie zur Seite, vergleichsweise sanft, und schloß die Tür. Er begab sich, ohne sie scheinbar weiter zu beachten, in das Schlafzimmer. Hier wies er auf das aufgedeckte Bett. »Falls Sie etwa wieder einen Arzt brauchen sollten – Ihnen besorge ich keinen mehr!« Eva folgte ihm artig. Sie legte sich hin, die Kinderaugen auf ihn gerichtet – zog die Decke über die Beine, blinzelte ihn erwartungsvoll an. »Gefalle ich Ihnen?« »Nein«, sagte er. »Warum sind Sie dann hier?« »Um Sie etwas genauer zu betrachten! Ich wollte nämlich gerne wissen, für wen oder für was ich hier eigentlich meine Zeit verschwende. Wie kommen Sie sich vor?« 34
»Wie zerschlagen«, sagte sie und schloß vogelartig ihre Augen. »Wollen Sie sich zu mir legen?« »Warum sollte ich das tun?« »Weil Sie mir sympathisch sind – genügt das nicht?« »Mir nicht«, sagte Karl Wander fast streng, sich über sie beugend. Und fordernd fragte er: »Warum sind Sie geschlagen worden? Und von wem?« Eva Morgenrot lag regungslos da; er wartete wie auf das grüne Signal an einer Kreuzung, ohne sonderliche Eile zu verraten. Minutenlang, wie es ihm schien. Schließlich schlug Eva die naßschimmernden Blauaugen auf und fragte: »Ist denn das wirklich so wichtig?« »Ob das wichtig ist, kann ich nicht beurteilen – noch nicht. Aber ich will es wissen!« »Es ist alles so unsagbar kompliziert«, sagte Eva mühsam. »Sie heißen Wander, nicht wahr? Und wie mit Vornamen?« »Karl. Aber lassen Sie sich dadurch nicht ablenken.« »Dann werde ich Sie einfach Charlie nennen – darf ich?« »Wie immer Sie wollen, Mädchen! Aber wenn Sie etwa beabsichtigen, mich in Stimmung zu bringen, dann brauchen Sie mir nur soviel wie möglich von sich zu berichten – und von Ihren derzeitigen Freunden.« »Von mir, Charlie, ist wirklich nicht viel zu erzählen.« Eva dehnte sich kokett. »Ich bin wohl irgendwie ziemlich unglücklich veranlagt – ich meine damit: ich möchte gerne so leben, wie es mir Spaß macht; aber das kann ich nicht. Oder vielleicht sollte ich zutreffender sagen: man läßt mich nicht.« »Reden Sie nicht herum! Wer ist: man?« »Alle Welt! Ich fürchte, es wird sehr schwer sein, mich zu verstehen – ich verstehe mich ja selbst kaum. Sicher mache ich vieles falsch. Aber nicht bei Ihnen, Charlie, das spüre ich.« 35
»Versuchen Sie nicht ausgerechnet bei mir diese süß-sanfte Tour – so was zieht bei mir nicht.« Karl Wander betrachtete sie, als habe er einen jungen Hund vor sich, der mit ihm spielen wollte, nachdem er gerade seinen Teppich verunreinigt hatte. »Versuchen Sie nicht, mir einzureden, daß Sie aus armem, aber ehrbarem Elternhaus sind, mit der Sehnsucht nach angeblich Höherem, unschuldig in schlechte Gesellschaft geraten und dann hinterhältig mißbraucht ...« »Quatsch!« sagte Eva Morgenrot plötzlich geradezu robust. Sie richtete sich auf und betrachtete ihn, als habe sie einen aufdringlichen Illustriertenwerber vor sich. »Ganz so blöd bin ich ja nun doch nicht! »Das hört sich schon wesentlich besser an! Nur weiter so.« »Meine Mutter«, sagte Eva fast hastig, »kenne ich gar nicht. Und mein sogenannter Vater hat mehr Geld, als Sie jemals ausgeben könnten. Ich kann mir einiges leisten – und das leiste ich mir auch. Außerdem bin ich verlobt – und wie! Und hier bin ich nicht in schlechte Gesellschaft geraten, sondern in die derzeit allerbeste!« »Meinen Sie damit etwa Sabine Wassermann?« »Haben Sie irgend etwas dagegen? Warum denn? Sabine kennt Gott und die Welt!« »Beides in Bonn?« »Sie mögen sie nicht – was?« Eva lächelte jetzt wie zutraulich. »Ist sie nicht Ihr Typ? Gefalle ich Ihnen besser? Oder haben Sie irgendwie Angst?« »Bestimmt nicht vor Ihnen, Eva.« »Das freut mich, Charlie. Aber wovor dann sonst? Etwa davor, daß ich Ihnen tatsächlich erzählen könnte, wer mich geschlagen hat – bis ich zusammengebrochen bin? Soll ich Ihnen das wirklich erzählen?« Er zögerte kurz und sagte dann entschlossen: »Tun Sie das!« 36
Eva lachte auf, schrill piepsend, doch nicht sonderlich laut. »Das will ich Ihnen nicht zumuten, Charlie – noch nicht. Wir kennen uns ja kaum. Aber ich möchte gerne, daß wir uns näher kennenlernen. So nah wie möglich.« »Soweit bin ich noch nicht«, sagte Karl Wander an der Tür, wie fluchtbereit. Von dort rief er: »Verflucht noch mal – was gehen mich die Krankheiten anderer Leute an!« »Sie werden wiederkommen«, sagte Eva Morgenrot überzeugt. Sie legte sich auf ihr Bett zurück. »Ich weiß zwar nicht ganz genau, weshalb; aber wiederkommen werden Sie. Und ich werde dann denken: es ist meinetwegen.« »Ach, gehen Sie doch zum Teufel, Mädchen – wenn Sie nicht schon dort sind!« »Na, wie geht’s denn so, Herr Wander?« ertönte eine fröhlichbiedere Stimme. Sie gehörte zu einer schlanken Gestalt, deren Ledermantel sanft im Licht der Straßenbeleuchtung glänzte. »Haben Sie sich hier schon etwas eingewöhnt?« Karl Wander hatte in einer Wirtschaft, in der Nähe des Friedensplatzes, ausgedehnt gespeist – auch getrunken; Rheinwein natürlich. Nun wollte er, müde geworden, am Münster vorbei zur Koblenzer Straße schlendern. Doch der Ledermantelmensch stand ihm im Weg. »Erkennen Sie mich denn nicht?« fragte der. »Ich bin Sobottke, der Chauffeur! Ich hab’ Sie gestern nachmittag vom Flugplatz abgeholt und in Ihre Wohnung gebracht. Haben Sie das ganz vergessen?« »So was wie Sie«, meinte nun Wander, »vergißt man nicht so leicht – aber Sie hätten sich gleich ins volle Licht stellen können.« »Da stehe ich also nun!« erklärte der Mann näher kommend. 37
»Freuen Sie sich darüber?« »Warum sollte ich das?« fragte Karl Wander vorsichtig. »Nun – vielleicht könnte ich Ihnen noch einiges bieten?« Sobottkes Holzhackergesicht lächelte bemüht. »Wie wär’s etwa mit einem kleinen Ausflug nach Köln – der Wagen steht in der Nähe, wir können in einer halben Stunde dort sein. Dort kenn ich Adressen, die nicht von schlechten Eltern sind – Sie kommen da garantiert auf Ihre Kosten. Jedenfalls besser und sicherer als hier! Na – wie wär’s?« »Glauben Sie sich das leisten zu können?« »Aber klar!« versicherte Sobottke herzhaft. »Unser Herr Krug, für den Sie ja hier sind, hat zu mir gesagt: Kümmere dich um unseren Gast, betreu ihn – Spesen spielen keine Rolle, und der Wagen steht auch zur Verfügung. Macht euch ein paar schöne Stunden, ehe der Ernst des Lebens richtig beginnt! Hat er gesagt. Aber so ist er, unser Herr Krug – immer großzügig! Wenn man das verdient.« »Was ich mir hier verdienen werde, weiß ich noch nicht – aber sicher wird sich das bald herausstellen. Trinken wir noch etwas?« »Soviel Sie wollen, Herr Wander!« rief Sobottke erfreut. »Und auf Kosten von unserem Herrn Krug – der zahlt das schon.« Sie suchten eine Kneipe beim Kaiserplatz auf. Dort waren sie die einzigen Gäste. Bonn schien, bereits eine Stunde vor Mitternacht, in tiefen Schlaf gefallen zu sein. Sie blieben an der Theke stehen und bestellten Wein – der wurde in rohrartigen, halbgefüllten Gläsern serviert. Sie bemühten sich, mit einigem Genuß zu trinken. »Warum«, wollte dann Karl Wander wissen, »haben Sie mir aufgelauert?« »Aber wo denken Sie hin!« rief Sobottke in gekränktem Ton. 38
»Ich kam ganz zufällig vorbei und dachte, es wäre Ihnen vielleicht recht, ein bißchen betreut zu werden; die Gelegenheit war günstig – ganz im Sinne von unserem Herrn Krug, der ein feiner Mann ist, was Sie bald merken werden.« »Wollen Sie mich ablenken, Herr Sobottke?« »Sie sehen das nicht richtig, Herr Wander«, sagte Sobottke werbend. Er war, dachte Wander, vermutlich an die vierzig Jahre alt und wirkte wie ein ehemaliger Skilehrer. Biedere, unkomplizierte Männlichkeit. »Mir kommt es nur darauf an, Ihnen, wenn Sie nur wollen, ein paar angenehme Zerstreuungen zu verschaffen – die Sie hier in Bonn nicht haben können. Hier ist alles so gut wie registriert. Und das sollte man möglichst respektieren – so was kann sich sogar auszahlen.« »Worauf spielen Sie eigentlich an?« fragte Wander. »Auf nichts Bestimmtes«, behauptete Sobottke eilig. »Ich meine nur: Sie sind schließlich ein Mann, haben nun mal gewisse Bedürfnisse, können das auch getrost haben – aber eben nicht unbedingt hier. Weiß der Teufel, in was Sie dabei hineingeraten! Also lassen Sie lieber die Finger davon. Schließlich wollen Sie hier einen Job haben!« »Sie«, sagte Wander bedächtig, »sind ein ziemlich kräftiger Bursche, nicht wahr?« »Kann man sagen«, meinte Sobottke lächelnd. »Sie hauen notfalls zusammen, was Ihnen in die Quere kommt?« »Wenn es sein muß – durchaus.« »Auch ein Mädchen?« »Das kommt darauf an. Zumeist bin ich verdammt friedlich. Aber Weibsbilder können sich gelegentlich schlimmer aufführen als manche Kerle.« Sobottke grinste genußvoll. »Wenn es zum Beispiel darauf ankommt, Herrn Krugs Minister 39
zu schützen, wie neulich, als so eine blöde Demonstrantin ihn immer anjaulte – also, das war ja schon beinahe ein Attentat, oder?« »Sie haben sie zusammengeschlagen?« »Man tut eben, was man kann! Man hat da nun mal so seine Verpflichtungen. Und die müssen ernst genommen werden. Aber das brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Oder weshalb wohl, meinen Sie, sind Sie hier?« »Zunächst einmal, um mich auszuschlafen. Versuchen Sie nicht, mich noch länger davon abzuhalten. Und aus welchen Gründen auch immer – ich will gerne nicht weiter darüber nachdenken.« »Hoffentlich bereuen Sie das nicht!« rief Sobottke dem sich entfernenden Karl Wander nach. Der blieb, nur kurz, in der Kneipentür stehen und sagte, noch nahezu heiter: »Wie kann ich etwas bereuen, das ich nicht kenne?« »Ich habe auf Sie gewartet!« Im Korridor des zweiten Stockwerkes – unmittelbar vor der Tür des Appartements 204 – stand breitbeinig ein Jüngling. »Denn ich nehme an, daß Sie Karl Wander sind.« »Was wollen Sie von mir?« »Wenn Sie dieser Karl Wander sind – dann sind Sie ein Schwein!« »Nicht ganz ausgeschlossen«, bemerkte der. »Neuerdings komme ich mir, manchmal, tatsächlich so vor. Aber deshalb brauchen Sie das doch nicht unbedingt um Mitternacht herumzubrüllen. Hier im Hause muß ja schließlich nicht jeder gleich wissen, was Sie vermuten.« Wander blickte in ein leicht verkniffenes, sommerfrischenbraunes Gesicht mit onduliertem, dunklem Haar. Die Augen waren in diesem Moment nicht zu 40
erkennen, denn der Jüngling hatte den Schädel gesenkt, als wolle er vorprellen wie ein Schafsbock. »Was wollen Sie hier eigentlich veranstalten?« fuhr Wander fort. »Ich könnte Sie, wenn ich nur wollte, zusammenhauen, daß Sie daliegen wie ein nasser Sack!« »Überstürzen Sie das nicht«, empfahl Karl Wander. Er fühlte sich wie zerschlagen, er wollte jetzt nichts wie schlafen. »Vielleicht überlegen Sie sich das noch einmal und kommen dann morgen wieder – wenn überhaupt.« Er schloß die Tür seines Appartements auf. Der Jüngling stürmte an ihm vorüber in den Raum hinein und blieb dann stehen, wie scharf abgebremst. Drehte sich herum. Erwartungsvoll, breitbeinig, vorgebeugt. Mit dem Fuß stieß er, nachdem Wander auf ihn zugekommen war, die Tür zu. »Sie sind ja fast so eine Art Onkeltyp«, stellte Karl Wanders Besucher mit bedrohlich klingender Stimme fest. »Da bin ich mindestens zehn Jahre jünger!« »Schon möglich.« Karl Wander versuchte belustigt zu wirken. »Doch was versprechen Sie sich davon?« »Sie haben schon eine Menge Fett auf Ihren Knochen. Und ziemlich käsig sehen Sie auch aus.« Der Jüngling stellte das mit steigender Verachtung fest. »Sehen Sie sich mal an!« »Kein sonderlich erfreulicher Anblick – Sie hätten ihn mir getrost ersparen können.« »Ich bin ziemlich gut durchtrainiert! Ich bin ein ausgezeichneter Boxer – und ich beherrsche auch Karate.« »Das muß eine recht umständliche Ausbildung gewesen sein. Sie hätten wenigstens einen Teil davon besser für Ihre Erziehung verwenden sollen.« »Ich lege Sie in drei Sekunden auf die Bretter!« »Und warum?« 41
»Ich heiße Morgenrot«, erklärte der Schafsbock. Er schien angriffslustig Maß zu nehmen. »Kommt Ihnen dieser Name bekannt vor?« »Allerdings«, sagte Karl Wander – und das hörte sich an, als habe er leider gesagt. Er kam sich jetzt tatsächlich überaus verbraucht vor. Wie ausgeliefert – doch ohne zu wissen, an wen und an was. »Nun gut, gut – Sie heißen Morgenrot. Doch was kann ich dafür?« »Morgenrot«, erklärte der sonnencremefarbige Jüngling mit harter Stimme, »heißt auch meine ältere Schwester, die Sie ja kennen. Eva mit Vornamen. Der meine ist Martin. Was sagen Sie nun?« »Hat Eva – Ihre Schwester – Sie geschickt?« »Sie haben Ihre schmierigen Pfoten nach ihr ausgestreckt!« behauptete Martin Morgenrot. Feuerwerkartig stieg sprühender Haß in seine Augen. »Und das, obgleich Sie wußten, daß Eva verlobt ist. Sie haben sich über sie geworfen wie eine Stoffpuppe, die sich nicht wehren kann; nur um Ihre dreckigen Gelüste zu befriedigen!« »Hat Ihnen Eva das gesagt?« »Ich weiß es! Das genügt!« »Und mir genügt das jetzt auch!« Karl Wander stieß die Tür zum Korridor entschlossen auf. »Vielleicht sollten Sie mir leid tun – doch das scheint mir pure Zeitverschwendung zu sein.« »Weichen Sie nicht aus, Sie Saukerl!« »Hören Sie mir mal zu! Ich kenne Ihre Schwester nur flüchtig – und das genügt mir völlig. Ich habe nicht die geringste Lust, auch Sie noch kennenzulernen. Im Augenblick habe ich nur noch ein Bedürfnis – zu schlafen.« »Das können Sie haben! Und das beste ist, Sie stehen nie wieder auf!« Martin Morgenrot stieß auf Karl Wander zu wie ein 42
Raubvogel auf eine Feldmaus. Er wuchtete ihm eine Faust unter das Kinn, die andere in die Magengegend. Er stieß mit dem Fuß nach, in Wanders Unterleib. Dann schlug er mit der Handkante gegen den Hals des Menschen, der jetzt stöhnend unter ihm lag. Karl Wander versank. Er krümmte sich über den gebohnerten Boden, auf sein Bett zu. Dort blieb er liegen, wie ausgelöscht. Sein Hirn war eine Seifenblase – und die drohte zu zerplatzen.
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Zwischenbericht II des Mannes namens Jerome Über die menschlichen und allzu menschlichen Möglichkeiten; unter Berücksichtigung neudeutscher Konstellationen. Diese Angelegenheit, die später als »der Fall Karl Wander« registriert wurde, ließ mich zunächst ziemlich gleichgültig. Denn diese Bundeshauptstadt bot ungleich interessantere Konstellationen, mit denen verglichen das Auftauchen Karl Wanders als völlig unbedeutend erschien. Ein Zuträger mehr von der Zeitströmung angespült. Doch Peter Sandmans Interesse für diesen Außenseiter, der ihm vielversprechend vorkam, gab für mich den Ausschlag. Sandman mochte zwar ein heimlicher amerikanischer Weltbeglücker sein, er war jedoch mit Sicherheit ein wacher Journalist – ein Mann, der Komplikationen witterte. Wohl nur, um sein Material zu vervollständigen – möglicherweise auch, um mein instinktives Entgegenkommen auszunutzen –, nannte mir Sandman alsbald weitere Namen. Zunächst den der Sabine von Wassermann-Westen. Womit er sozusagen weit offene Türen einrannte. Denn diese Dame war ein durchsichtiger Fall, davon war ich überzeugt: Sie arbeitete, recht erfolgreich, auf eigene Rechnung. Ihre Spezialität: die Herstellung von Kontakten. Sie vermittelte Begegnungen von möglichen Geschäftspartnern; bei deren Abschlüssen kassierte sie mit. So was ist in allen Machtzentren üblich. Um das zu können, muß man Verbindungen haben – und die hatte sie. Sie erreichte das durch Arrangements gepflegter Geselligkeit und auch mit sehr persönlichem Einsatz. Sie hatte das wesentliche Grundprinzip dieser Branche bald erkannt: Nur intensive Investitionen ermöglichen erfolgreiche Gewinne. 44
Kleinlich war sie nie. Ihre Kreuz- und Querverbindungen waren nicht leicht zu durchschauen – zumindest hatte ich mich, bis dahin, nicht sonderlich dafür interessiert. Die ersten Nachforschungen jedoch erbrachten unter anderem, daß der von ihr bevorzugte Geschäftspartner Krug war, der Parteisekretär. Zu vermuten war weiter eine vielleicht ziemlich intensive Verbindung mit Feldmann. Ferner tauchte im Zusammenhang mit ihr der Name Barranski auf. Von diesem Dr. Klaus Barranski existierte bei uns ein laufend benutztes Aktenstück. Denn den werteten wir bereits seit vielen Monaten systematisch aus. Daß der mit allen sich anbietenden krummen Touren seiner Branche arbeitete, war uns bekannt. Seine ausgezeichneten ärztlichen Fähigkeiten ließen jedoch keine alarmierende Katastrophe befürchten. Wir hatten ihn vor geraumer Zeit vor die Entscheidung gestellt: entweder arbeitete er fortan zum Wähle der amerikanisch-abendländischen Welt bei uns mit, oder er wanderte ins Gefängnis. Natürlich arbeitete er mit. So nahmen wir laufend Einblick in seine Karteikarten und Krankenberichte, installierten Mikrophone in seiner Praxis, forderten Berichte von ihm. Tiefe und intime Einblicke in allerlei prominentes Privatleben ergaben sich daraus. Eine solche Gans, die uns goldene Eier legte, konnten wir natürlich nicht leichtfertig schlachten. Doch routinemäßig sicherten wir uns ab. Ich ließ von ihm, vorsorglich, eine Erklärung anfordern, die er prompt lieferte. Darin stand: »... versichere ich, daß Fräulein Eva Morgenrot während der Dauer von zwei Monaten zu meinen Patientinnen gehörte. Sie kam, wie ich glaube, auf Empfehlung von Frau von Wassermann-Westen. Die von mir behandelten Krankheiten waren durchweg leichter Natur. Darunter auch einige Prellwunden, die sich die Patientin, nach ihren Angaben, bei 45
einem zufälligen Sturz auf einer Treppe zugezogen hatte.« Und nun erst, so muß ich gestehen, begann ich aufzuwachen – ohne leider gleich hellwach zu sein. Doch immerhin: die Nennung des Namens Morgenrot ließ mich nicht gleichgültig. Zumal ich erkannte: was dieser Name wirklich zu bedeuten hatte, schien nicht einmal Sandman zu wissen – geschweige denn dieser Karl Wander. Erst von diesem Augenblick an fühlte ich mich versucht, hier persönlich mitzumischen.
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3 Das Verhängnis kann wie ein Aktenstück sein – auch wenn es irgendwo vorübergehend zu verstauben droht. Das Bürogebäude, das auf halbem Weg zwischen Bahnhof, Kaiserstraße und Bundestag lag, war einer der hier derzeit üblichen aufgedonnerten Verwaltungskästen aus Beton und Glas; wirtschaftswunderlicher Erhardt-Barock. Dezente Emsigkeit umwimmelte Wander, als er die Halle betrat. Die Räume, die er aufzusuchen hatte, waren leicht zu finden. Doch der Mann, der darin residierte, schien sich hinter Bürobarrikaden aus Palisanderholz verschanzt zu haben: Konstantin Krug, zweiundvierzig, Parteisekretär, Regierungspolitiker, Verwaltungsjurist. Krug verfügte über einen Empfangsraum und zwei Vorzimmer – durch sie wurde Wander ebenso umständlich wie höflich hindurchgeschleust. »Da bin ich«, sagte er, nunmehr zum drittenmal, da er im dritten Raum angelangt war. »Ich heiße Karl Wander.« »Unmöglich!« rief eine helle, leicht spröde klingende Stimme. »Ich müßte es eigentlich wissen«, meinte er. »Ich wollte damit lediglich sagen, daß Sie einfach unmöglich aussehen! Haben Sie sich vielleicht geprügelt?« »Ich bin geprügelt worden«, erklärte Karl Wander entgegenkommend. »Vermutlich bin ich in irgendein privates Gesellschaftsspiel hineingeraten, ohne dessen Regeln rechtzeitig zu erkennen.« »Herr Krug sieht so was nicht gerne«, stellte das weibliche Wesen vor Wander sachlich fest und deutete dabei auf seine Platzwunde am Kinn. »Herr Krug legt Wert auf stets ordentliches Aussehen.« 47
Sie bewegte sich auf ihn zu; klein, zierlich, eichhörnchenhaft. Karl Wander sah ein schmales Gesicht, ein eulenartiges Brillengestell darauf, kurze, glatte, strohige Blondhaare darüber. Die Hand, die sein Kinn betastete, war kühl und griff fest zu. »Dagegen«, meinte sie, »muß man was tun.« »Sollten Sie etwa die Absicht haben, mir einen guten, verläßlichen Arzt zu empfehlen – Dr. Barranski zum Beispiel?« Das unnahbar wirkende weibliche Wesen zog die Hand zurück und bewegte sich rückwärts auf einen Schrank zu. Sie schien Wanders Bemerkung nicht vernommen zu haben; aber dabei handelte es sich um eine ihrer ausprobiert wirksamsten Reaktionen: Was sie nichts anzugehen schien, das erreichte sie auch nicht. Dann war sie wie aus Glas – aus Glas, das kugelfest ist. »Ich heiße Wiebke«, sagte sie und öffnete den Schrank. »Und wie mit Vornamen?« »Wiebke genügt – für Sie und auch für alle anderen hier.« Das Wesen namens Wiebke stellte auf ihren Schreibtisch einen kaum mehr als aktentaschengroßen Koffer und öffnete ihn – er enthielt Verbandszeug und Medikamente. Sachverständig wählte sie aus. »Kommen Sie her!« ordnete sie an und befeuchtete einen Wattebausch mit einer scharfriechenden, wasserklaren Flüssigkeit. Damit betupfte sie seine Platzwunde. »Empfindlich dürfen Sie hier nicht sein«, meinte die Wiebke, als er zusammenzuckte. »Zumindest sollten Sie das nicht zeigen.« »Sanft behandeln Sie mich gerade nicht!« »Das gehört auch weder zu meinen Verpflichtungen noch zu meinen Umgangsformen – und das sollten Sie frühzeitig 48
erkennen und sich dann danach richten.« Sie wusch seine Wunde abermals aus und klebte dann einen Leukoplaststreifen darüber. »Schön wirken Sie dadurch zwar nicht, aber ordentlicher.« »Sie scheinen auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Haben Sie oft Gelegenheit, sich hier als Aushilfskrankenschwester zu betätigen?« Abermals konnte Karl Wander registrieren, daß dieses Fräulein Wiebke, jung, streng und beharrlich unzugänglich, bestimmte Andeutungen überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Sie bewegte sich, als wäre sie allein im Raum – als lege sie Wert darauf, lediglich als Bestandteil der sie umgebenden Einrichtung in Erscheinung zu treten. »So«, sagte die Wiebke, nachdem sie den Koffer mit den Medikamenten wieder weggeschlossen hatte. »Das wäre dies! Kann ich nun, bitte, Ihren Ausweis sehen?« »Sie trauen mir nicht?« fragte er amüsiert. »Warum sollte ich irgend jemand trauen?« meinte sie lässig. »Gehört nicht zu meinen Aufgaben. Ich führe hier lediglich Anordnungen durch. Und da Sie als einer unserer möglichen Mitarbeiter vorgesehen sind, habe ich eine Karteikarte für Sie anzulegen – das ist so üblich.« Karl Wander überreichte ihr seinen Paß. Die Wiebke übernahm ihn und begann ihn durchzublättern. Dabei betrachtete sie kurz das Foto und hierauf Karl Wander – ihre Augen blinzelten hinter dickem Glas. Und diese Augen hatte in diesem Büro noch niemand anders gesehen; denn die Brille gehörte bei der Wiebke zur Bekleidung – und die pflegte sie hier nicht abzulegen. »Ich empfehle Ihnen, sich inzwischen über Herrn Krug zu orientieren.« »Das habe ich bereits getan.« 49
»Dann tun Sie das noch einmal – und möglichst gründlich.« Die Wiebke schob Karl Wander das bereits aufgeschlagene »Who is who in Germany« entgegen, dazu das »Handbuch des Bundestages«, ferner eine dünne Mappe mit Zeitungsausschnitten. »Herr Krug legt Wert darauf, sich nicht selbst erklären zu müssen. Schon gar nicht möglichen Mitarbeitern gegenüber.« »Und Sie halten diese Oberflächeninformation für ausreichend?« »In Ihrem Fall durchaus. Denn mehr als das, was hier zusammengetragen ist, glaube ich, brauchen Sie über Herrn Krug nicht zu wissen.« Die Wiebke sah ihn dabei nicht an. Sie beschäftigte sich weiter mit seinem Paß und machte sich daraus Notizen. Karl Wander durchblätterte die ihm übergebenen Unterlagen. Er kannte sie alle. »Wie wär’s«, fragte er dann ermunternd, »mit ein paar persönlichen Anregungen, Aufklärungen und Hinweisen?« »Nicht von mir – dafür bin ich nicht zuständig.« Sie schien intensiv beschäftigt. »Wenn es hier zu Ihrer Mitarbeit kommen sollte, dann werden Sie dabei direkt und ausschließlich Herrn Krug unterstellt sein.« »Und wie steht es mit unserer persönlichen Zusammenarbeit, Fräulein Wiebke?« »So was ist keinesfalls vorgesehen«, erklärte sie entschieden. »Sie haben mir weder irgendwelche Mitteilungen zu machen noch Auskünfte von mir einzuholen, noch mir irgend etwas Schriftliches zu übergeben; auch keine Notizen, nicht einmal Zeitungsausschnitte. Für Sie existiere ich lediglich, um möglicherweise notwendig werdende Telefongespräche mit Herrn Krug zu vermitteln und um eventuell unumgängliche Unterredungen zu arrangieren.« »Dabei weiß ich noch nicht einmal, was man hier, genau, 50
von mir erwartet – oder erhofft.« »Das – und alles Weitere – wird Ihnen Herr Krug mitteilen. Auch, selbstverständlich, die Höhe Ihres Honorars und ein Limit für Ihre Spesen. Fragen Sie ihn danach – aber ich nehme ohnehin nicht an, daß Sie das vergessen.« »Sie dürfen befürchten, daß wir beide uns ganz gut verstehen werden.« Hierauf zu antworten, blieb Fräulein Wiebke erspart, denn sie hatte ein Telefongespräch entgegenzunehmen. Routiniert bereitwillig meldete sie sich, hörte regungslos zu, sagte dann: »Einen Augenblick bitte!« Hierauf hielt sie Wander den Hörer entgegen: »Ein Gespräch – für Sie.« »Wer weiß denn, daß ich hier bin?« »Vielleicht hat sich das bereits herumgesprochen.« »Wer ist es denn?« »Frau von Wassermann-Westen – und sie meint, es wäre dringend.« »Erstens«, sagte Konstantin Krug, der Parteisekretär, »Ihr Honorar! Dessen Höhe dürfen Sie selbst vorschlagen – und Sie dürfen sicher sein, daß wir Ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten großzügig entgegenkommen werden.« »Und was«, wollte Karl Wander wissen, »erhoffen Sie dafür von mir?« »Zweitens«, sagte Krug, wobei er auf seine Notizen blickte, »die grundsätzlichen Weisungen für Ihre spezielle Arbeit! Diese erhalten Sie ausschließlich von mir, beziehungsweise vom Herrn Minister, in dessem direkten Auftrag ich mit Ihnen verhandle. Die Methoden jedoch, die Sie bei der Erledigung dieser Ihrer Arbeiten anwenden, bleiben weitgehend Ihnen überlassen. Wir sind allein an den erhofften Resultaten interessiert.« »Und wie sollen die aussehen?« 51
»Zunächst noch drittens! Ihre Tätigkeit und jeder dabei gewonnene Einblick in Vorgänge, Akten, Unterlagen, Dokumente, Notizen unterliegt der Geheimhaltungspflicht – ich werde Sie also bitten müssen, eine entsprechende Erklärung zu unterzeichnen.« »Sonst noch was?« »Noch ein paar Kleinigkeiten. Schriftliche Aufzeichnungen sind tunlichst zu vermeiden; sollten sie sich als unumgänglich notwendig erweisen, so sind sie unverzüglich zur Aufbewahrung in unserem Panzerschrank abzuliefern. Das gleiche gilt für eventuell sichergestelltes Beweismaterial. Berichte haben mündlich zu erfolgen; sollte eine schriftliche Erstellung derselben für unbedingt wünschenswert erachtet werden, so hat diese ausschließlich hier in unserem Büro stattzufinden.« Karl Wander nickte lediglich – etwas anderes schien ihm kaum übrigzubleiben. Der Mann vor ihm, Krug, Konstantin, aus Franken stammend, als gemäßigt geltend, frühes Parteimitglied, derzeit einer der Allerersten von der zweiten Garnitur, führte hier gar kein Gespräch, er erledigte ein Pensum: Er spulte Fakten wie ein Tonband ab. »Rechnen Sie – viertens – mit unserer vollen Unterstützung in jeder Hinsicht. Sie werden Einsicht in alle von uns erreichbaren und für Ihre Arbeit notwendigen Unterlagen erhalten. Wir werden auch für Sie jede gewünschte Verbindung herstellen – oft genügt da schon ein Telefonanruf. Außerdem lassen wir für eventuell entstehende besondere Ausgaben ein Sonderkonto auf Ihren Namen einrichten – in Höhe von zehntausend Mark. Darüber können Sie frei verfügen. Weitere Beträge nach Rücksprache.« Krug zählte alle diese Punkte mit gleichförmiger Stimme auf. Sein Billardkugelkopf blieb dabei von starrer Glätte; lediglich sein Mund bewegte sich darin – nicht jedoch die 52
Augen; die blickten, wie die eines Fisches, kühl und ausdruckslos in weite Räume. Vermutlich bis zu irgendeinem Ministersessel hin. »Vielleicht«, gab nun Karl Wander zu bedenken, »sollte ich Sie zunächst einmal über gewisse Punkte in meinem Vorleben aufklären – ehe es vielleicht zu spät ist.« »Ihre Aufrichtigkeit, Herr Wander, gefällt mir – aber sie ist überflüssig. Bitte, betrachten Sie das Aktenstück, das hier neben mir liegt.« Dieses Aktenstück war armdick und von schreiendroter Farbe. »Es enthält eine Menge Unterlagen über Sie – von Ihrer Geburtsurkunde, etlichen Ihrer Schulzeugnisse und Kopien Ihrer Militärpapiere bis zu diversen Ihrer Zeitungsartikel und sonstigen öffentlichen – aber auch privaten – Äußerungen und Aufzeichnungen.« »Sie kennen also die Auseinandersetzungen, die ich mir vor etwa zehn Jahren mit der Bundeswehr, beziehungsweise mit dem damaligen Verteidigungsministerium geleistet habe?« »In allen Einzelheiten.« »Und das halten Sie nicht für bedenklich?« »Ganz im Gegenteil, Herr Wander – gerade das ist es, was Sie für uns so anziehend macht. Genau deshalb haben wir Sie kommen lassen.« »Nun gut – wenn Sie sich das genau überlegt haben, was ich ja wohl annehmen darf, dann könnten wir eigentlich damit anfangen, deutlich zu werden.« Konstantin Krug zeigte jetzt die Andeutung einer Regung – er nickte, und zwar wohlwollend. Sein Kugelkopf schien dabei leicht zu glänzen. Dann sang seine Baritonstimme, völlig unverändert in Tonhöhe und Lautstärke, die entscheidenen Details Wander entgegen. »Es handelt sich um die Bundeswehr; genauer: um die Bundeswehrführung; noch 53
genauer: um den derzeitigen Bundesverteidigungsminister. Was halten Sie von ihm?« »Unverändert das gleiche, was ja vermutlich in Ihren Unterlagen über mich steht und was Sie mir, bitte, zu vereinfachen erlauben: der Verteidigungsminister ist vielleicht ein ehrenwerter Mann, aber sicher ein Dummkopf. Er besitzt eine Menge Energie und Ausdauer, aber keinen Funken Phantasie, kein Gramm Genie. Unter seiner Führung droht die Bundeswehr ganz zwangsläufig zu einem fetten, trägen, gleichgültigen, durchaus mißbrauchbaren Haufen zu werden.« Krug nickte abermals, was seine innere Erregung verriet. Er legte die Hände übereinander und schloß kurz seine Fischaugen. »Das ist es!« bestätigte er. »Genau das ist Ihr Ausgangspunkt. Wenn das, was Sie da soeben durchaus überzeugend geäußert haben, der Herr Minister vernimmt, wird es ihn hoffnungsvoll stimmen.« »Welcher Minister?« »Der, in dessen Auftrag Sie hier arbeiten werden.« »Und wer ist das?« »Sie werden ihn bald kennenlernen«, versprach Krug. »Die Hauptsache zunächst: wir sind uns grundsätzlich einig.« »Noch nicht in allen Einzelheiten«, sagte Wander bedächtig. »Ihr Honorar? Rechnen Sie – für mindestens sechs Monate – mit dem Gehalt eines Ministers. Wir sind, wie gesagt, nicht kleinlich – wirksame und wertvolle Arbeit vorausgesetzt.« »Um Geld geht es mir gar nicht! Eher schon um die Bundeswehr: Ich will sie in den denkbar besten Händen sehen und gerne mithelfen, die Voraussetzungen für eine Entwicklung zu schaffen, die sie auf den denkbar besten Weg führt. So wie diese Bundeswehr jetzt ist, scheint sie kurz vor ihrem moralischen Ende zu stehen. Ihr fehlen schöpferische Kräfte, jede überzeugende demokratische Grundlage; purer 54
Nazigeist droht sich breitzumachen.« »Aber ja, ja! Ich kenne alle Ihre Argumente – und ich akzeptiere sie. Der Herr Minister akzeptiert sie gleichfalls. Ihre Bedenken sind auch die seinen. Auch er will diese Bundeswehr in ein demokratisches Element allererster Ordnung verwandelt sehen. Und dabei rechnen wir mit Ihnen.« »Das können Sie auch, wenn es so ist, wie Sie das sagen.« »Es ist so!« sagte Konstantin Krug fast feierlich. »Unsere Bundeswehr braucht wieder Menschen wie Sie, Herr Wander. Und der Herr Minister meint: Wenn alles glückt, was wir erstreben, dann sollten auch Sie wieder einen festen Platz dort finden – am besten, weil am wirksamsten, meint der Herr Minister, wohl direkt im Verteidigungsministerium.« »Wann«, fragte Wander zuschnappend, »fangen wir an – und wie?« »Zunächst erwarten wir von Ihnen – dies als Ausgangspunkt für Ihre weitere Arbeit – eine Art Analyse. Erstens: wo liegen die schwachen Punkte der derzeitigen Bundeswehrführung; wo bietet sie erkennbare Angriffsflächen? Zweitens: wo existieren verwendungsfähige, ablösungswillige Gegenkräfte und wie sind diese am besten zu mobilisieren? Drittens: wo sind derzeit neutrale Elemente vorhanden und mit welchen Mitteln könnten diese wirksam zur Mitarbeit für uns gewonnen werden?« »Die derzeitige Bundeswehrführung«, meinte Karl Wander, »ist tatsächlich ablösungsreif. Was sich dort etabliert hat, verwaltet nur noch. Unter den mittleren Offiziersdienstgraden befinden sich zahlreiche restgroßdeutsche Elemente – auch sie müssen beschleunigt abserviert werden. Ehrlich bemühte Reformer unter den Jüngeren sollten endlich eine greifbare Chance erhalten. Einverstanden somit – versuchen wir zu retten, was möglicherweise gerade noch zu retten ist!« »Ausgezeichnet!« sagte Krug. »Sie sind ein Idealist – und damit haben wir auch gerechnet. Nur so kommen wir wirklich 55
weiter! Ihr erster Scheck liegt bereit – Sie brauchen ihn nur bei Fräulein Wiebke abzuholen, Auf gute Zusammenarbeit also!« »Schön, daß Sie gekommen sind!« sagte Sabine von Wassermann-Westen in herzlich klingendem Konversationston. Sie empfing ihn in ihrem Haus in Köln. Sabine streckte Karl Wander eine mattglänzende Hand entgegen, über die funkelnde Lichtreflexe fielen – das Armband, das sie trug, entsprach etwa dem Gegenwert von fünf Ministergehältern. »Ich möchte Sie gerne mit einigen von meinen Freunden bekannt machen.« »Sie haben mir am Telefon gesagt, daß Sie mich dringend sprechen wollten – und zwar allein.« »Hauptsache – Sie sind zunächst einmal hier. Alles andere wird sich dann schon finden.« Sabine führte Karl Wander – durch eine weitgeöffnete breite Glastür hindurch – in einen saalartigen Raum: Empiremöbel, Wandteppiche, eine gotische Madonna, zwei volkstümlich gemalte Holländer statteten ihn aus. Dazwischen ein Dutzend Zeitgenossen, die in kleinen Gruppen beieinanderstanden; sie hielten Gläser in der Hand und schienen sich angeregt miteinander zu unterhalten. »Was sind denn das für Treibhausprodukte?« bemerkte Karl Wander mißtrauisch. »Einige von meinen Bekannten, wie gesagt. Sie werden sich an diese Leute gewöhnen müssen, wenn Sie hier einigermaßen erfolgreich tätig sein wollen – denn die gehören ganz einfach dazu.« »Auch womöglich dieser Bruder der Eva Morgenrot?« »Vermissen Sie den etwa?« fragte Sabine mit milder Ironie. »Ich sehne mich geradezu nach dem Jungen!« »Auch über ihn werden wir uns unterhalten«, versprach sie, 56
fast hastig. »Ich hoffe sehr, daß Sie inzwischen noch nichts gegen ihn unternommen haben?« »Nein – noch nicht! Denn sonst würde er sich bereits im Krankenhaus befinden. Wenn nicht gar in einer Leichenhalle – wo der bestimmt einmal landen wird, wenn er so weitermacht.« Sabine von Wassermann-Westen – hier allgemein mit »Frau Baronin« angeredet – schien erleichtert zu sein. Sie lachte und führte Karl Wander ihren Gästen zu. Als sie ihn vorstellte, war es, als präsentiere sie eine Neuerwerbung für ihre Sammlung, die sich unter Kennern interner Verhältnisse durchaus einer gewissen Anerkennung erfreute. Anwesend waren sieben Männer und fünf Frauen; sie bewegten sich in diesem Kölner Haus, als gehöre es ihnen; ein Staatssekretär, zwei Bundestagsabgeordnete, drei schwerindustrielle Interessen Vertreter, ein Diplomat; dazu die Damen der derzeitigen Gesellschaft: hier ein ausgesprochenes Luxusweib, dort eine ehrbare Beamtenfrau, dazwischen eine für Abwechslung sorgende Intellektuelle; schließlich zwei erfahrene Edelhuren. Alle diese Leute gehörten zur zweiten Garnitur und waren lebhaft bestrebt, bald zur ersten zu gehören. Wander wanderte von einer Gruppe zur anderen. Jeder kannte hier offenbar jeden. Auch was sie redeten, schien jedermann bekannt – sie versuchten dennoch, es einigermaßen bedeutsam zu sagen. Voll aufgedrehte Wortbrausen schien man als erfrischend zu empfinden. »Man soll den derzeitigen Kanzler nicht unterschätzen«, sagte der eine der beiden anwesenden Bundestagsabgeordneten. »Denn gerade diese ausgesprochene Zurückhaltung kann nur als kluge Taktik ausgelegt werden. Zumindest ist er kein Mann wie seinerzeit Kiesinger, der geschäftig Harmonie zwischen unvereinbaren Gegensätzen zu verkaufen versuchte.« 57
»Sie meinen damit doch nicht«, mischte sich Wander ein, »daß Kiesinger erst mit den Nazis und dann sogar noch mit den Sozis paktiert habe? Das eine, nicht wahr, gilt bei uns weitgehend als verständlich, zumindest als verzeihlich; das andere galt einst nahezu als Hochverrat und später dann, nach einigen Umwegen, zumindest als politische Dummheit.« »Ganz so einseitig«, gab der Abgeordnete zu bedenken, »darf man derartige doch mehr taktische Erwägungen nicht sehen. Dabei geht es vielmehr um ganz bestimmte, nicht immer allgemein sichtbar auf der Hand liegende Nuancen. Denn es handelt sich in solchen Fällen ja nicht etwa um Politik schlechthin, nicht wahr, sondern eben um eine spezifisch deutsche Politik. Ich zum Beispiel, als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses ...« Karl Wander gab sich einige Mühe, seine Überraschung nicht zu zeigen. Er hatte den Namen dieses Abgeordneten leichtfertig überhört. Denn dessen schlichtes, sorgenvoll wirkendes Schulmeistergesicht war ihm zunächst nicht sehr interessant vorgekommen. Nun jedoch, nach etwas näherer Betrachtung, konstatierte er, daß man etwa die kantige Kinnpartie dieses Abgeordneten durchaus als ein Zeichen besonderer Energie ansehen konnte. Wenn man wollte. »Aber ist nicht auch die Arbeitsweise des Ausschusses, dem Sie vorstehen«, beeilte sich Wander provozierend zu behaupten, »ungemein typisch für das derzeitige innenpolitische Klima? Man erweckt den beständigen Eindruck des wohlberechneten Ausgleichens und der bedachtsamen Neutralität; mit Hilfe einer Dauerberieselung, mit wohlklingenden Unverbindlichkeiten und der genau dosierten Rückversicherung nach allen erdenklichen Seiten ... Eine gezielte Spekulation auf die weltbeherrschende Macht der Dummheit – nach Ansicht der sogenannten Radikalopposition.« Das nahezu gutmütig wirkende Gesicht des Abgeordneten 58
erstarrte in besorgter Ablehnung. Doch die Stimme klang routiniert entgegenkommend. »Sollte tatsächlich jemals, bedauerlicherweise, ein derartiger Eindruck entstanden sein, so kann ich nur sagen: er täuscht.« »Schon möglich, daß es sich dabei um eine Täuschung handelt«, sagte Wander mit herausforderndem Lächeln. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses blickte fragend zur Baronin hinüber – die lächelte ihm ermunternd zu. Und das brachte ihn dazu, vorsichtig und verbindlich zu sagen: »Nun, die Ansichten, die Sie da vorgebracht haben, sind gewiß eines eingehenden Gespräches wert. Bei anderer, günstigerer Gelegenheit ... Wie war doch gleich Ihr Name?« Karl Wander nannte seinen Namen und entfernte sich dann bereitwillig. Er manövrierte sich auf Sabine zu; doch bevor ihm das gelang, mußte er noch einiges an partyüblichen Gemeinplätzen über sich ergehen lassen – über Mord und Mode, Rechtsstaat und Linksextremisten, politische Moral und Politessensexualität. Er empfand steigendes Verlangen nach einem dreifachen Gin – und den bekam er denn auch. »Was kann ich Ihnen sonst noch bieten?« fragte Sabine. »Vielleicht den Generalvertreter einer Rüstungsfirma? Oder einen weiteren Abgeordneten, der sich für einen Experten in Bundeswehrfragen hält?« Karl Wander ließ sich erschöpft in eine Sofaecke fallen. Sabine agierte schnell und sicher als sorgsame Gastgeberin; lächelte in die Runde, gab der Bedienung Anweisungen und setzte sich schließlich neben Wander. Der betrachtete sie wie einen Kassenzettel mit einem Resultat, das ihn nicht überzeugte. »Im Augenblick beschäftigen mich andere Dinge weit mehr als dieses politisch angepinselte Partygeschwätz. So etwa wüßte ich gerne die Antwort auf zwei Fragen. Erstens: Woher wußten Sie, als Sie mich telefonisch sprechen wollten, daß ich 59
mich bei Krug, dem Parteisekretär, aufhielt? Zweitens: Warum glauben Sie, daß mich Bundeswehrexperten und insbesondere der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses interessieren?« Sabine lächelte mit verzeihender Überlegenheit. »Sie reden beinahe schon so wie der gute Konstantin!« »Sie kennen also Krug?« »Den kennen hier viele – das ergibt sich so.« Sabine versuchte ihr Lächeln zu intensivieren. »Und ihn zu kennen, kann durchaus von Vorteil sein – auch für Sie, wenn Sie wollen. Und sofern Sie inzwischen gelernt haben sollten, Menschen und Gegebenheiten richtiger zu beurteilen. Ich helfe Ihnen gerne – ich bin sogar schon dabei.« »Und was gedenken Sie damit bei mir einzuhandeln?« Sabine lehnte sich zurück. Sie betrachtete prüfend ihre Gäste – doch die waren weitgehend abgelenkt, sie redeten und redeten und starrten dabei in Brusthöhe, wie auf mögliche Brieftaschen oder in tiefe Ausschnitte hinein. Sabine konnte sich also ungestört Karl Wander widmen. »Jede Ware«, sagte sie, »hat ihren Preis. Und die besten Abschlüsse sind immer die, welche gegenseitige Vorteile einbringen.« »Ich bin kein Schrott- oder Altwarenhändler.« »Jeder kann immer nur verkaufen, über was er verfügt – und das ist bei Ihnen vielleicht gar nicht wenig; Sie wissen es vermutlich nur noch nicht. Bis dahin sollten Sie bemüht sein, Fehler zu vermeiden – Dinge, die Sie nichts angehen, gehören dazu.« »Meinen Sie damit Eva Morgenrot?« »Eva ist ein überaus liebenswerter Mensch – doch sie hat ihre Komplexe.« »Die würde ich an ihrer Stelle vermutlich auch haben – bei einem Bruder wie diesem Lümmel!« 60
»Sollten Sie nun etwa die Absicht haben, etwas gegen Martin Morgenrot zu unternehmen?« »Ist das der Punkt, bei dem unser Geschäft beginnt – oder bereits, seit gestern, begonnen hat?« »Sie sehen das falsch – Sie können noch gar nicht wissen, auf was Sie sich da eingelassen haben.« »Versuchen Sie ruhig, mich aufzuklären – ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommen wird.« »Sie wissen so gut wie nichts von Eva – vielleicht sollten Sie froh darüber sein. Sie ist alles andere als glückbringend; ich fürchte, sie hat bereits eine Menge Unheil angerichtet – vielleicht ohne es zu wollen.« »Vermutlich hat dabei ihr Bruder kräftig mitgeholfen?« »Martin ist zu vielem fähig. Doch er liebt seine Schwester. Aber vielleicht ist gerade das die Erklärung für vieles, was geschehen ist – und was womöglich noch geschehen könnte. Das beste ist, Sie kümmern sich ganz einfach nicht darum. Schließlich haben Sie jetzt hier wichtigere Dinge zu erledigen – allein darauf sollten Sie sich konzentrieren.« »Und wenn ich das nicht tue?« »Dann würde ich das sehr bedauern – und Sie würden es mit Sicherheit auch. Davon bin ich überzeugt. Allein schon, wenn ich an den sogenannten Verlobten von Eva denke, an diesen Felix Forst – um den sollten Sie einen besonders großen Bogen machen.« »Sie wirken nicht gerade ausgesprochen glücklich«, meinte Peter Sandman, während sie sich die Hände schüttelten. »Haben Sie den Job, der Ihnen in Aussicht gestellt war, nicht bekommen?« »Der ist mir geradezu serviert worden«, sagte Karl Wander, »und noch dazu auf einem goldenen Tablett.« »Dann haben wir also einigen Grund zum Feiern.« 61
Sie hatten sich, verabredungsgemäß, beim Bundeshaus getroffen. Nun strebten sie, auf der Uferpromenade, dem von Sandman empfohlenen Restaurant in Nähe der Berliner Freiheit zu – dort war bereits für sie ein erlesener BordeauxWein, ein Chateau Coufran, auf Zimmertemperatur gebracht. »Ich habe immer geglaubt«, meinte Wander, »daß ich eine ganze Menge vertrage – aber langsam gerate ich hier in ein Stadium, das mir kaum noch Gelegenheit läßt, mich zu wundern.« »Das ist in dieser Gegend eine Haupttugend«, sagte Sandman. »Damit kann man weiterkommen.« »Und wohin?« Herbstliche Nebelschwaden krochen auf sie zu. Das versinkende Tageslicht entschärfte di£ Konturen der Betonklötze, ließ sie wie massive Bausteine für den Dom erscheinen, der sich machtvoll den Häusern der Stadt enthob. Die Straße vor ihnen, die zur Rheinbrücke führte, war ein grellfunkelnder, brüllender Strom; ein Fließband für Autos. »Wer steht hinter Krug?« wollte Karl Wander wissen. Peter Sandman blieb stehen und zündete seine Pfeife an, wofür er sich Zeit ließ. Dann sagte er bedächtig: »So was ist sehr schwer einwandfrei festzustellen. Immerhin ist dieser Konstantin Krug so eine Art Generalsekretär seiner Partei, wozu nicht wenig gehört. Aber so einen Posten muß man sich nicht nur verdienen, man muß ihn sich auch erhalten. Und das weiß Krug – und sein derzeitiger Protektor auch.« »Minister Feldmann?« »Kann sein«, meinte Sandman wie ausweichend. »Aber was bedeutet das schon praktisch? Keine derartige Konstellation muß ein endgültiger Zustand sein. Auch ist dabei kaum durchschaubar, wer eigentlich wen in Bewegung setzt und wohin.« 62
»Minister Feldmann gilt als ein überaus fähiger Mann.« »Zweifellos! Wobei noch zu klären wäre, wozu er tatsächlich befähigt wäre. Daß er hier lediglich Minister für Heimatvertriebene und Flüchtlinge ist, besagt wenig: Ein Randministerium wie dieses kann ebensogut Altersversorgung wie Sprungbrett sein. Feldmann aber ist ein Springer.« Sie standen jetzt beim Fußgängerübergang westlich der Rheinbrücke. Das Lichtband der Straße umflackerte ihre Gesichter. Motorenlärm umdröhnte ihr Gespräch. Wander sagte: »Vielleicht hätte ich gar nicht herkommen sollen.« »Dann«, meinte Sandman, »wäre ich um ein vermutlich ziemlich umfangreiches Vergnügen gekommen.« »Ich habe zuletzt Artikel für Monatsmagazine geschrieben – für Fleischer, Friseure und Ferienreisende. Davon konnte ich leben; nicht gerade glänzend, aber doch ganz gut. Dabei hätte ich bleiben sollen.« »Schenken Sie sich solche Bescheidenheitsanwandlungen«, sagte der Amerikaner amüsiert. »Denn die passen nicht zu Ihnen. Ich jedenfalls bin überzeugt: Sie können, Sie wollen und Sie werden hier mitmischen! Sie sind ja bereits mittendrin! Und dabei offenbar gleich auf eine Art Goldader gestoßen – ahnungslos vermutlich.« »Dann klären Sie mich mal auf«, forderte Karl Wander. Sandman zog Wander mit sich, aus dem Licht und dem Lärm heraus. Er lehnte sich gegen eine Hauswand, klopfte seine Pfeife sorgfältig aus, vertauschte sie mit einer anderen – in jeder Tasche seines Anzuges schien er mindestens eine Pfeife zu haben. Danach zog er sein schwarzes Notizbuch hervor, orientierte sich schnell, steckte es dann wieder weg. »Sie haben mir den Namen Morgenrot genannt. Der kam mir 63
sofort bekannt vor, aber ich wußte nicht, woher. Das lag daran, daß ich nur an ein Mädchen dieses Namens dachte, an Ihre Eva, nicht aber an deren Vater.« »Sie ist nicht meine Eva!« erklärte Karl Wander schroff. »Warten wir ab«, meinte Sandman. »Und Sie haben inzwischen nicht herausgefunden, wer dieser Vater ist? Also passen Sie auf: Morgenrot, Maximilian, 59, ist Großindustrieller im Raum von Essen. Ein Rüstungsfabrikant. Seine Spezialität: Panzerabwehrraketen. Daneben Granatwerfer, Kleinkaliberkanonen, Schnellfeuergewehre. Ein ziemlich umfangreiches, aber noch ausbaufähiges Unternehmen – jedoch: auf Exporte angewiesen. Was praktisch heißt: kein direkter Draht zum Verteidigungsministerium vorhanden. Noch nicht.« »Und so was läuft ausgerechnet mir über den Weg!« »Ja – ein recht bemerkenswerter Zufall.« »Aber eben nur ein Zufall.« »Werden Sie ihn ausnützen – oder haben Sie bereits, ohne es zu wissen, damit angefangen?« »Der Herr möge mich davor bewahren! Ich habe mehr als genug von dieser Dame – zumindest von ihrem Bruder Martin.« »Sie ist nicht seine Schwester«, erklärte Peter Sandman. »Eva ist, bereits als kleines Kind, von Morgenrot und dessen damaliger Frau adoptiert worden. Dieser Martin wurde einige Jahre später geboren; Sie sind also nicht blutsverwandt miteinander.« »Nahmen Sie an, daß sich damit einiges erklären läßt?« »Vielleicht. Zumindest könnte darin eine Deutungsmöglichkeit mehr stecken – eine unter vielen anderen.«
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Zwischenbericht III des Mannes namens Jerome Über die sich anbietenden Vermutungen und die Gefährlichkeit derjenigen, die keine Spielregeln anerkennen wollen. Sandman mochte durchaus seine Qualitäten besessen haben, vielleicht sogar ungewöhnliche, doch ein guter Pokerspieler ist er nie gewesen. Wenn er glaubte, gute Karten in der Hand zu haben, gelang es ihm nicht, das zu verbergen – mir gegenüber jedenfalls nicht. In dieser Hinsicht kannte ich seine Reaktionen genau. Sein besonderes Interesse für diesen Karl Wander war unverkennbar. Ober den wollte er möglichst alle erreichbaren Details wissen. Und die waren fast mühelos herbeizuschaffen, denn Wander gehörte zu jenen, die nichts zu verbergen versuchten, wohl weil sie glauben, daß sie nichts zu verbergen haben. Von unserer Sicht aus ein weitverbreiteter Irrtum. Ob dieser Wander, so wollte Sandman beispielsweise wissen, das wäre, was man einen ehrlichen Menschen nennt. Er war einer. Ob es heikle Punkte in dessen Vergangenheit gegeben habe. Nicht einen einzigen – vom juristischen Standpunkt aus gesehen. Eine ganze Menge – von unserem Blickpunkt aus. Denn: erklärte Idealisten, wie eben dieser Wander, sind denkbar anfällig, also leicht zu mißbrauchen – man mußte bei denen nur zur rechten Zeit den richtigen Hebel umlegen. Schließlich wollte ich, bei einem nächtlichen Gespräch, von Sandman wissen: »Was traust du eigentlich diesem Wander zu?« Und der sagte lapidar: »Alles!« Nun erst fühlte ich mich angeregt: »Alles – auch einen Mord?« Sandman zuckte mit den Schultern; jedenfalls verneinte er die Frage nicht. Aber wirksamer hätte der meine Neugier kaum ankurbeln können – 65
dieser ausgekochte Bursche! Ich ersuchte Sandman hierauf, bei der zweiten Flasche Cognac, etwas ausführlicher zu werden. Und dazu schien der auch bereit. Er zitierte, was ich ihm diesmal nicht übelnahm, zunächst mal Goethes Satz, daß es kein Verbrechen gäbe, dessen er sich unter den entsprechenden Umständen nicht fähig gefühlt habe. Dann meinte er: »Natürlich ist dieser Wander kein krankhaft veranlagter Krimineller – aber er ist ziemlich kompliziert. Bevor es bei ihm zu einem Zerstörungseffekt kommt, muß wohl erst eine ganze Kette von Impulsen ausgelöst werden.« Nun ja – so ist das. Zu einem Verbrecher werden kann jeder; ohne Ausnahme. Jeden von uns kann eine bestimmte Konstellation gefährlicher Umstände nahezu automatisch dazu bringen. »Dieser Wander«, meinte Sandman, »hat eine ganze Anzahl schwerer Belastungen hinnehmen müssen. Doch was für mich das Bestürzende ist: er weicht ihnen gar nicht aus, er sucht sie geradezu. Ohne es zu wollen, vielleicht ohne es zu wissen, hinterläßt er dann nichts wie Trümmerhaufen.« Soviel Anteilnahme lieft schließlich auch mich nicht ganz gleichgültig. Außerdem hielt ich die Gelegenheit für günstig, hierbei jüngeren Nachwuchs zu trainieren. Ich setzte also einige Anfänger auf diesen möglichen fall an. Porzellan, das sie zerschlagen konnten, dachte ich verdammt ahnungslos, war weit und breit nicht zu erblicken. Tatsächlich sah dann zunächst auch alles mehr nach einem wie rein zufälligen Puzzlespiel aus. Meine ehrlich bemühten Nachwuchsrechercheure schleppten an, was ihnen in die Hände fiel. Eine Menge Mist darunter, wie kaum anders zu erwarten. So etwa Auszüge aus einem Tagebuch der Sabine von Wassermann-Westen – offenbar kalkuliertes Geschwätz, zur Absicherung niedergeschrieben. Dabei war über Eva 66
Morgenrot nachzulesen: ... total betrunken, wie betäubt ... vermute die Einnahme von rauschgiftähnlichen Mitteln ... halte es für dringend notwendig, einen verläßlichen Arzt zu Rate zu ziehen ... immer wieder diese gefährlichen, fürchterlichen Rückfälle ...« Dann die Stellungnahmen von ehemaligen Vorgesetzten dieses Karl Wander, als er noch zur Bundeswehr gehörte. Tenor dabei: durchaus intelligent, aber auch denkbar eigenwillig; habe mit Soldaten umgehen können, sich aber auch manchmal mit ihnen angebiedert; habe keinen Sinn für gewisse Feinheiten zu entwickeln vermocht; zwischen Gehorsam und Disziplin habe er nicht exakt unterscheiden können. Fazit: alles andere als ein bequemer Untergebener, keinesfalls ein wünschenswerter Vorgesetzter. Von Eva Morgenrot konnte ein Brief – an eine Freundin gerichtet – fotokopiert werden. Frech überspitzte, insofern sehr jugendliche Formulierungen darin. Etwa: »... was für eine fidele Gesellschaft ... ein Schweinestall, aber wie vergoldet ... parfümierte Scheiße ... benimmt sich die gute Sabine manchmal wie eine Puffmutter ...« So was nimmt niemand in unserer Branche ernst. Aber ein Bericht der von mir angesetzten Rechercheure alarmierte mich. Es war ein guter Mann, der verblüffenderweise einen nahezu weißen, zumindest weithin unbeschriebenen Bogen ablieferte. Und das bei einem Konstantin Krug! Über den konnte er so gut wie nichts berichten. Nichts vermochte mich mißtrauischer zu machen. Ich begab mich sogleich in unser Archiv und konnte zunächst nur das feststellen: Krug, Konstantin, aus sogenannten gutbürgerlichen Verhältnissen, denkbar einwandfreies Vorleben: ein braver Knabe, ein guter Schüler, ein verläßlicher Beamter – stieg dann in die Politik ein, als sei das vollkommen selbstverständlich. Keine eingestandenen Hobbys, keine irgendwie erkennbaren Leidenschaften, kein 67
nachweisbares Interesse an Frauen, aber auch nicht an Männern; anscheinend kunstliebend, doch in Grenzen, bar jeglichen Privatlebens – somit ein schaudererregendes Neutrum. So was aber regt meine Phantasie an – sie ist gewiß nicht allzu stark ausgeprägt, doch manchmal kann ich sie nicht völlig verleugnen. Aber wer von uns hat nicht seine gelegentlichen Schwächen!
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4 Ein Plan, der den Tod manipulieren hilft – auch wenn der Tod nichts davon weiß. »Es mangelt unserer Bundeswehr an Profil«, erklärte der Minister Feldmann. »Sie besitzt keinen ausgeprägten Geist, keinen Charakter, in ihr existiert nichts, was sie zu einer dynamischen Kraft machen kann. Dies im wohlverstanden demokratischen Sinne natürlich. Sind wir uns dahingehend einig?« »Durchaus«, sagte Karl Wander. Sie speisten im Hotel Rheinhof, am linken Ecktisch des Terrassenzimmers. Durch die breiten Fenster sahen sie den Strom träge dahinfließen; Frachtkähne glitten lautlos, wie abgestorben, hinter schalldichten Glasscheiben vorüber. »Es ist viel – bereits zu viel – versäumt worden.« Der Minister zerteilte seinen Lachs. »Die Bundeswehr ist nicht zuletzt zu einem aufgeblasenen Waffenverwaltungsapparat geworden, zu einer uniformierten Versorgungseinrichtung, einem staatlich sanktionierten Schrottplatz für Kriegsmaterial.« »Auch dies«, meinte Wander, »war eins meiner Argumente.« »Die sind uns bekannt«, bemerkte Krug. Er war der dritte am Tisch – was dennoch nicht ausschloß, wie Wander erkannt hatte, daß hier ein Gespräch zu zweit geführt wurde; Krug besaß die Fähigkeit, im rechten Augenblick nur noch Schatten oder Echo des Ministers zu sein. Minister Feldmann wirkte würdig. Er hatte die Stirn eines Gelehrten und Gesichtsfalten wie ein Staatsschauspieler. Ähnlich klang seine Stimme. Doch seine graublauen Augen irritierten ein wenig, sofern man Gelegenheit erhielt, sie näher zu betrachten – sie sahen dann aus wie die eines Rennfahrers, vielleicht auch eines Boxers: scharf, auf der Hut und immer auf einen Punkt gerichtet. Der war diesmal Wander. 69
»Die Bundeswehr«, führte Feldmann weiter aus, »muß aus diesem ihrem derzeitigen Dämmerzustand herausgebracht werden. Sie sollte, auf der rechten Basis, getrost mehr Selbstvertrauen entwickeln, das ja doch zu den Voraussetzungen wirklicher Höchstleistungen gehört. Diese unsere Bundeswehr muß den Rang einnehmen, der ihr gebührt; sie muß zu einem vervollkommneten, hochentwickelten Instrument werden. Präzision und ein neuer Geist.« Wander begann zu ahnen, was der Minister von ihm zu hören wünschte. »Ja – eine radikale Veränderung, die radikale Maßnahmen erforderlich macht! Bildlich gesagt: Da sich die derzeitige Führungsspitze bestimmt weder ändern noch von alleine auflösen wird, muß sie sozusagen abgeschlagen oder sagen wir, abmontiert werden – um dann durch eine neue ersetzt werden zu können. Ist es das?« Minister Feldmann blickte nicht unzufrieden. Er schwieg, denn nun wurde Rehrücken serviert. Als das geschehen war, sagte er: »Es handelt sich um einen Vorgang, den man als Wachablösung bezeichnen könnte. Das aber einer möglichst breiten Öffentlichkeit zwingend klarzumachen – darauf wird es ankommen.« »Und das, Herr Minister, fällt in Ihr Ressort?« »Diese Frage, Herr Wander, ist überflüssig«, fiel Krug sofort ein, »sie hat nichts mit Ihrem Auftrag und Ihren Aufgaben zu tun.« »Ich will sie dennoch beantworten«, sagte der Minister. »Aber bitte betrachten Sie das, Herr Wander, worüber ich Sie jetzt informiere, als absolut vertraulich.« »Eine Verpflichtung zur weitgehenden Geheimhaltung«, erklärte Krug, »ist von Herrn Wander bereits unterschrieben worden.« »Eine reine Formsache – so hoffe ich.« Der Minister legte vertraulich-kameradschaftlich eine Hand auf Wanders Arm; 70
und die war überraschend schwer, fast klobig, eine Hand mit Schraubstockfingern. »Also – mein verehrter Parteifreund, der Herr Bundeskanzler, ist zutiefst besorgt. Denn er ist der Ansicht, daß der wirkliche Wert dieser Bundeswehr in einem geradezu grotesken Mißverhältnis zu den enormen Ausgaben steht, die für sie geleistet werden.« »Und das«, sagte Krug leise, »ist die eigentliche Ausgangssituation für uns.« »Lassen Sie mich aber vorerst noch eins sagen«, sagte der Minister. »Nämlich dies: Die so entstandene Konstellation bereitet mir alles andere als Freude; doch ich fühle mich dem Kanzler gegenüber verpflichtet – auch als sein persönlicher Freund. Er hat mich um diesen Dienst gebeten, und einer muß das schließlich tun.« »Und die personellen Veränderungen, die sich daraus ergeben könnten?« fragte Wander. »Die«, wurde ihm prompt versichert, »sind Sache des Kanzlers – die letzte Entscheidung jedenfalls liegt bei ihm. Wir versuchen lediglich, eine veränderungsreife Situation zu schaffen. Sie verstehen das?« Der Minister schob den geleerten Teller von sich und fuhr fort: »Kommen wir also zur Sache, Herr Wander! Sie haben sich vermutlich bereits einige konkrete Gedanken darüber gemacht, wie das ja auch mein Freund Krug, soweit ich informiert bin, bereits gestern angeregt hat.« »Mit dem derzeitigen Verteidigungsminister«, führte Karl Wander nun aus, »werden Sie sich vermutlich selber intensiver beschäftigen müssen. Denn er gehört zu Ihrer Partei, und alle internen Unterlagen werden Ihnen leichter als jedem anderen zugänglich sein. Rein menschlich ist gegen ihn wohl nicht allzuviel einzuwenden; sachlich-organisatorisch vermutlich auch nicht sehr viel – er ist eine reichlich farblose Figur. Doch politisch schon eher. So existieren von ihm nicht nur sich 71
mehrfach eklatant widersprechende allgemeine Äußerungen, sondern auch, aus früheren Jahren, etwas peinliche diesbezügliche Sonntagsformulierungen.« Der Minister nickte. Krug machte sich eine Notiz und meinte: »So was ist an sich ja nichts Besonderes – doch als Detail unserer Aktion könnte auch das zu gebrauchen sein.« »Mit dem Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses«, führte Wander weiter aus, »habe ich – dank Ihrer Manipulationen vermutlich, Herr Krug – bereits Fühlung aufnehmen können. Der persönliche Eindruck scheint das zu bestätigen, was allgemein von diesem Mann bekanntgeworden ist: Er ist schwammartig verbindlich und offenbar sehr bemüht, nirgends anzustoßen. Doch ich werde mich gerne näher mit ihm beschäftigen. Gleichfalls mit dem derzeitigen Wehrbeauftragten, von dem ja bereits einiges Fragwürdige durchgesickert ist – und das, vermute ich, müßte sich auch beweisen lassen.« »Damit wir uns von vornherein richtig verstehen, Herr Wander«, erklärte Konstantin Krug warnend. »Sie sind lediglich für die Beschaffung von Material zuständig! Aber die Auswertung desselben bleibt allein mir, uns überlassen.« »Ich verstehe Sie durchaus richtig«, versicherte Wander. »Und ich vermag mir Ihre Konzeption recht gut vorzustellen. Die sieht etwa so aus: Wenn ich Ihnen, zum Beispiel, den Beweis liefern kann, daß der Wehrbeauftragte bestechlich ist, ein Alkoholiker oder ein Homosexueller, der ausgenützt wird oder seine Stellung ausnutzt – dann werden Sie entscheiden, ob dieser Mann nun mit Hilfe des angelieferten Materials für Sie angekurbelt oder von Ihnen abgeschossen werden soll.« »Um Himmels willen!« rief Krug aus, widerwillig sich herablassend, Temperament zu zeigen. »Versuchen Sie doch bitte in Zukunft, derartige Vulgärausdrücke zu vermeiden! Kasernenhofjargon ist hier wirklich nicht am Platz.« 72
»Aber was ich damit sagen wollte, stimmt doch?« »Weiter, Herr Wander«, sagte der Minister, der sich bei Kaffee und Zigarre außerordentlich wohl zu fühlen schien. »Kommen Sie jetzt zum nächsten springenden Punkt – zum Generalinspekteur.« »Der und sein Minister sind ein Gespann – man wird daher beide zugleich auswechseln müssen. Doch gerade das dürfte nicht sonderlich schwerfallen – mindestens ein halbes Dutzend Generale sind liebend gerne bereit, den Posten des derzeitigen Generalinspekteurs zu übernehmen; und etwa zwei davon sind auch befähigter.« »Aber sind die auch willens, es auf eine möglicherweise notwendig werdende Kraftprobe ankommen zu lassen?« Wieder war es Krug, der für seinen Minister bereitwillig heiße Eisen anzupacken schien – wenn auch mit der Feuerzange. »Mindestens einen solchen Mann gibt es!« versicherte Karl Wander. »Es handelt sich dabei um den Anführer derjenigen, die sich mal Traditionalisten nennen, auch mal nationalbewußtkonservativ, gelegentlich auch konkrete Soldaten. Das Gegenteil davon sind dann die angeblichen Erneuerer, die hoffnungslos romantischen Reformtheoretiker.« »Zu denen Sie, Herr Wander«, warf Krug sanft ein, »auch einmal gehört haben.« Wander nickte unbeeindruckt. »Inzwischen habe ich einsehen müssen, daß allzu viele von diesen angeblichen Reformern reichlich trübe Tassen sind: Sie bringen vor lauter dezenter Anständigkeit und Zaghaftigkeit einfach nichts zustande! Das sind doch keine wirklichen Erneuerer, keine entschlossenen Revolutionäre, sondern träumende Mondschafe. Es ist nichts mit ihnen anzufangen – so entsteht keine neue Bundeswehr! Ein denkbar radikaler Neubeginn ist tatsächlich die einzige, die letzte uns noch verbleibende Lösung. Und deshalb stimme ich mit Ihrem Unternehmen überein.« 73
»Doch es ist unser Unternehmen!« mahnte Krug. »Selbstverständlich! Ich liefere lediglich die dafür notwendige Munition.« Der Minister hatte sich zurückgelehnt, doch vermutlich nur, um seine Gesprächspartner besser sehen zu können. Er hatte seine Augen leicht geschlossen, so wirkten sie trügerisch mild. Mit einer knappen Handbewegung forderte er Wander auf, seine Ausführungen fortzusetzen. »Der derzeitige Generalinspekteur«, sagte der, »laviert kreuzlahm und entschlußlos nach beiden Seiten. Einmal tätschelt er den Halb- und Zehntel-Reformern angeblich kameradschaftlich die schmalen Schultern, vermeidet aber strikt, den stocksteifen Superkonservativen kräftig in den breiten Arsch zu treten. Auf ihn könnte wirksam die derzeit schärfste Bulldogge der Bundeswehr von der Kette gelassen werden – der General Keilhacke.« »Ein ausgezeichneter Soldat«, meinte Krug bedächtig. »Ein kriegserfahrener Panzerspezialist – noch dazu aus der Schule von Rommel und Guderian. Ein Draufgänger! Auch am 20. Juli beteiligt.« »Und ob«, sagte Wander. »Er hat damals mitgeholfen, mindestens drei seiner Kameraden der Gestapo auszuliefern – natürlich nur aus höchst ehrenvollen Motiven, versteht sich.« »Lassen wir das«, entschied der Minister. »Das gehört nicht hierher!« »Aus unserer deutschen Tragik«, sagte Krug ergänzend, »drehen wir keine Stricke mehr – das wäre einfach unanständig.« »Keilhacke also«, meinte der Minister, in einem Ton, als ob er nachdenke. »Keine schlechte Wahl. Auch ich habe ihn, seit einiger Zeit übrigens schon, in Erwägung gezogen.« »Aber hoffentlich nicht als neuen Generalinspekteur!« rief 74
Wander warnend. »So was«, warf Krug eilig ein, »überlassen Sie, bitte, dem Kanzler! Das steht doch nicht zur Debatte.« Der Minister registrierte Wanders unwillige Reaktion mit schnellem Blick. Er lächelte – dann meinte er, in verständnisvollem Ton: »Die jeweilige Brauchbarkeit von Generalen muß nicht unbedingt gleich zu irgendwelchen Zugeständnissen führen – was sie erhoffen, ist ihre Sache, was wir daraus machen, bleibt uns überlassen. Wenn es einem Keilhacke, dem Panzerspezialisten, tatsächlich gelingen sollte, den derzeitigen Generalinspekteur zu überrollen, so soll uns das nur recht sein – verbindliche Verpflichtungen irgendwelcher Art ergeben sich daraus nicht.« »Allein die Bundeswehr«, versicherte Krug assistierend, »ist unser Objekt. Nur an sie sollten Sie bei unserer Aktion denken, Herr Wander – was Ihnen doch wohl eine Art Herzensbedürfnis ist.« »Das ist es, nicht wahr?« sagte der Minister entgegenkommend. Er lächelte erneut. »Lassen Sie hören, was Sie sich sonst noch ausgedacht haben.« »Ein weiterhin vielversprechendes Feld«, führte Wander nun, nach kurzem Zögern, aus, »ist der vielschichtige Rüstungskomplex. In Besonderheit mit den Methoden und Praktiken der derzeitig gehandhabten Auftragserteilung wird sich sicher einiges anfangen lassen; und mehr noch mit der geradezu verschwenderischen Finanzierung von Versuchskonstruktionen.« »Eine ungemein schwierige Materie«, gab Krug zu bedenken. »Hier handelt es sich um außerordentlich komplizierte und unübersichtliche Zusammenhänge der Verteidigungswirtschaft. Um die ganz zu durchschauen, würden wir einen ganzen Stab von Wissenschaftlern und Waffenexperten benötigen. Und die können wir uns, bei aller 75
Großzügigkeit, nicht leisten.« »So was braucht praktisch keinen Pfennig zu kosten«, sagte Wander. »Wenn wir nur den richtigen Hebel erwischen! Da existiert zum Beispiel die Firma Bölsche bei München – ihre Versuche werden, direkt aus dem Verteidigungsetat, mit etlichen Millionen Mark monatlich subventioniert. Und da existiert eine andere Firma von ähnlicher Größenordnung und Leistungskapazität, die nicht subventioniert wird. Die nicht im Genuß dieses finanziellen Segens sind, dürften, höchstwahrscheinlich, mit einigem Vergnügen bereit sein, alle Pläne ihrer Konkurrenz, die sie gegebenenfalls auf treiben können, bei uns anzuliefern: Und das nur, um zwingend nachzuweisen, daß wieder einmal Millionen von Steuergeldern leichtfertig verschleudert worden sind.« »Und wer käme dafür in Frage?« Karl Wander sagte, nahezu andächtig: »Die Firma Morgenrot in Essen.« Der Minister hockte stumm und steinern in seinem Sessel. Krug hob, gleich einem Verkehrspolizisten, warnend die Hand. »Wir wollen nichts überstürzen! Ich glaube, das genügt für heute.« »Es genügt – völlig«, sagte der Minister und öffnete weit seine kaltscharfen Rennfahreraugen – und es war, als erblicke er Karl Wander zum erstenmal. »Nein!« rief Karl Wander entschieden. Er tat das, nachdem er die Tür seines Appartements geöffnet hatte, vor der Eva Morgenrot stand. »Sie kommen hier nicht herein – nicht, solange Sie diesen Bruder haben.« »Der ist in Köln«, sagte sie leise. »Bitte, ich muß Sie sprechen.« »Nicht in Ihrer oder in meiner Wohnung. Am besten mitten 76
auf dem Marktplatz in Bonn.« »Ich darf aber das Haus nicht verlassen – hat mein Arzt gesagt.« Sie lächelte ihm zu; es wirkte fast schüchtern. »Ich sollte eigentlich noch im Bett bleiben.« »Dann tun Sie das, Mädchen – aber ohne mich.« Er musterte sie unentschlossen. »Ich begleite Sie bis zur Tür Ihres Zimmers.« »Mir geht es aber nicht gut«, behauptete Eva, auf ihn zuwankend. Karl Wander gab widerwillig die Tür frei; Eva bewegte sich, mit betont matten Bewegungen, an ihm vorüber, nicht ohne ihn, diesmal dankbar, angelächelt zu haben. »Aber kommen Sie nicht auf die Idee«, sagte er grob, »sich auf mein Bett zu setzen – Ihretwegen habe ich schon Komplikationen genug.« Eva Morgenrot setzte sich auf sein Bett. Dabei sah sie zu ihm auf und äußerte: »Schade, wirklich schade, daß ich Sie nicht schon früher kennengelernt habe.« »Bedauern Sie das lieber nicht«, sagte er, vor ihr stehenbleibend. »Und zunächst einmal möchte ich folgendes feststellen: Ich habe Sie nicht hergebeten, Sie sind von selbst gekommen; ich wollte Sie nicht hereinlassen, aber Sie haben darauf bestanden! Ist wenigstens das klar?« »Sie brauchen sich Martins wegen wirklich keine Sorgen zu machen – der ist tatsächlich in Köln und kommt vorläufig nicht zurück.« »Sind Sie wirklich sicher?« »Ich habe erst vor wenigen Minuten mit ihm gesprochen.« »Hat er mit Ihnen – oder haben Sie mit ihm telefoniert?« »Ich habe ihn in Köln angerufen.« »Dann also«, stellte Karl Wander fest, »sind wir hier tatsächlich ungestört – mindestens eine Viertelstunde lang. Denn selbst mit seinem Sportwagen benötigt Ihr feiner Bruder 77
für eine Fahrt von Köln bis hierher an die dreißig Minuten. Also – warum sind Sie gekommen?« »Um Sie zu sehen, Charlie.« »Nun gut – jetzt haben Sie mich also gesehen.« »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Es tut mir alles so leid!« »Was denn – daß Sie Ihrem lieben Bruder meine Adresse gegeben haben?« Eva lachte kindhaft auf, offenbar fühlte sie sich noch geschmeichelt – dann wurde sie, ganz plötzlich, wieder ernsthaft; zumindest gab sie sich so. Sie hatte jetzt traurige Babyaugen. »Sie müssen das wissen – ich bin nicht seine richtige Schwester.« Das wußte er. »Er hat sich auch eher wie ein Liebhaber benommen.« »Und genau das möchte er auch sein. Ich bin fast noch als Säugling adoptiert worden – ich bin ahnungslos neben ihm aufgewachsen und hätte es mir nie vorstellen können, daß er jemals versuchen würde, mich anders zu behandeln als ein Bruder seine Schwester. Doch das hat er immer wieder versucht, seit Jahren nun schon und zuletzt immer heftiger. Aber das liegt wohl in der Familie – sein Vater hat sich ähnlich benommen.« Nun erst setzte sich Karl Wander. Er zog seinen Stuhl auf das Bett zu und betrachtete Eva Morgenrot wie ein Plakat – wie eins, das einen prallen Sittenfilm ankündigt. »Ihre Phantasie scheint ziemlich lebhaft zu sein – mir ist das schon neulich aufgefallen.« »Ich lüge Ihnen nichts vor, Karl – oder Charlie –, und ich bilde mir auch nichts ein.« Sie griff nach seiner Hand wie nach einem Rettungsring. »Aber ich komme nicht davon los, ich werde damit nicht fertig – wenn man mir nicht hilft. Werden 78
Sie mir helfen? Ich bitte Sie darum! Zu Ihnen habe ich Vertrauen.« »Kommen Sie mir nicht damit!« rief Karl Wander und zog seine Hand zurück. »Was geht mich Ihr verdammt kompliziertes Privatleben an!« »Ich habe nicht nur diesen Bruder und diesen Vater, ich bin so gut wie verlobt – mit einem Mann, der Felix Frost heißt. Sagt Ihnen dieser Name etwas?« »Ach was, Mädchen, ersparen Sie mir doch dieses interne Gemütsschmalz! So was schlägt sich mir glatt auf den Magen. Sie sind, Eva, oberflächlich betrachtet, ein recht nettes Wesen. Sie wirken außen und innen hellblond, und dazu, manchmal, auf rührende Weise schutzbedürftig.« »Also gefalle ich Ihnen doch?« »Nein! Denn dazu gehört mehr. Aufrichtigkeit, zum Beispiel. Mag ja sein, Eva, daß Sie mich nicht anlügen – aber dafür verschweigen Sie mir eine ganze Menge.« »Ich kann Ihnen nicht alles sagen – noch nicht. Aber das werden Sie verstehen, später – eines Tages.« »Auf diesen Tag«, sagte er herausfordernd, »bin ich gespannt. Aber Geduld gehört nicht gerade zu meinen Tugenden. Wie wär’s mit einer kleinen Auskunft sozusagen als Vertrauensvorschuß – etwa über Ihr Verhältnis zu Frau Wassermann-Westen?« »Sabine«, versicherte Eva Morgenrot lebhaft, »ist vielleicht der einzige Mensch, dem ich mich wirklich anvertrauen kann. Sie hat mir immer geholfen, wo sie nur konnte, selbstlos und großzügig; denn so ist sie!« »Sie lügen entweder schon wieder wie gedruckt, Eva – oder Sie sind bodenlos naiv!« »Sie kennen Sabine nicht! Sonst würden Sie so was nicht sagen!« 79
»Sie muß Martin auf mich angesetzt haben, wenn Sie es nicht gewesen sind. Denn nur eine von euch beiden kann es gewesen sein!« »Sie irren sich – bestimmt!« »Und warum sind Sie so sicher?« »Martin«, sagte sie, seinem prüfenden Blick ausweichend, »ist überzeugt davon, daß er mich gesehen hat, wie ich nachts aus Ihrem Appartement gekommen bin.« »Aber das ist doch Unsinn!« »Natürlich ist es das! Aber er glaubt ganz fest daran!« Karl Wander fühlte sich unbehaglich. Er erhob sich, wich zurück, blieb dann mitten im Raum stehen. »Mädchen«, fragte er, »was wird hier eigentlich gespielt?« »Sind Sie etwa schon wieder herbestellt?« Der Kriminaloberinspektor Kohl sah träge lauernd von seinen Akten auf. »Oder sollten Sie lediglich Langeweile haben?« »Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten, Herr Kohl – privat.« »Ich habe kein Privatleben, Herr Wander.« »Dann nach Dienstschluß – falls Sie diese Formulierung lieber hören.« Der Kriminalbeamte klappte den vor ihm liegenden Aktendeckel zu und erhob sich. »Ich habe jetzt Dienstschluß«, sagte er. Er griff nach seinem Regenmantel und begab sich zur Tür. Karl Wander folgte ihm nicht ohne Verwunderung. Der Kriminaloberinspektor erklärte im Vorraum: »Die übliche Routinearbeit! Falls ich dringend gebraucht werden sollte, bin ich bei Mutter Jeschke zu erreichen.« Der angesprochene Polizist grinste kameradschaftlich. Er 80
schrieb auf die Personaltafel, neben dem Namen Kohl, mit dicker Kreide ein J. Im Freien blieb der Kriminalbeamte schnuppernd wie ein Jagdhund stehen. Dann hüllte er sich in seinen Regenmantel, steckte die Hände tief in die Taschen und schritt, leicht gebückt, davon. Er überließ es Wander, ihm zu folgen. Der setzte sich neben Kohl in Bewegung und meinte: »Daß Sie überhaupt noch mit mir reden, verwundert mich.« Der Kriminaloberinspektor lachte heiser auf. »Sie haben, vermute ich, meine Neugier richtig eingeschätzt – auch das spricht für Sie.« »Was sonst noch?« »Ihre Dummheit«, sagte Kohl. »Dabei könnte es sich vielleicht auch um eine Art Anständigkeit handeln – so was ist oft schwer voneinander zu unterscheiden. Ich gedenke jetzt, wie jeden Abend, ein Glas Bier zu trinken – immer nur eins, aber ein großes. Sie sind nicht etwa eingeladen; und Sie sollten auch nicht auf die Idee kommen, mich einladen zu wollen. So was dürfen bei mir nur Freunde; doch zur Zeit habe ich keinen; schon seit Jahren nicht.« Sie überquerten den Marktplatz und schritten auf die Brüdergasse zu – in deren Nähe betraten sie eine kleine, schlauchförmige Wirtsstube. Nur wenige Besucher waren anwesend; sie saßen, zumeist vereinzelt, an kleinen Rundtischen, deren Sockel Fässer waren; und sie schienen sich ausschließlich auf Wein, der vor ihnen stand, zu konzentrieren. Hinter der Theke hantierte eine schwergewichtige Person mit fröhlichem Fettgesicht und Baßstimme. Sie schenkte, als sie Kohl erblickte, sofort ein großes Glas Bier ein – sie füllte es mit geradezu zeremonieller Sorgfalt. Das war Mutter Jeschke. »Für mich das gleiche«, sagte Karl Wander. Dann tranken sie – jeder für sich allein; der bullige 81
Kriminalbeamte mit bedächtigem Genuß, Wander mit leicht nervös wirkender Hast. Sie stellten die halbleeren Gläser vor sich auf den Schanktisch und schienen sie wie versonnen zu betrachten. Schließlich fragte Karl Wander: »Warum haben Sie mich hierher mitgenommen?« »Ich gönne Ihnen dieses Bier«, sagte Kohl bedächtig. »Es kommt direkt aus Irland, aus Dublin. Nicht jedem schmeckt es.« »Mir auch nicht«, sagte Wander. »Aber vermutlich verstehe ich nicht viel von Getränken.« »Von Menschen vermutlich auch nicht viel«, meinte der Kriminalbeamte. »Scheint so. Und warum setzen Sie sich wirklich mit mir an einen Tisch?« »Vorläufig stehen wir hier nur, Herr Wander. Und das nicht zuletzt, weil ich Ihre Angaben, die Sie neulich auf der Polizeistation gemacht haben, gründlich nachgeprüft habe. Die scheinen tatsächlich zu stimmen.« »Warum haben Sie sie nachgeprüft?« wollte Wander wissen. »Aus reiner Routine? Oder nur so – aus Langeweile etwa.« »Unsagbar langweilig«, erklärte der Kriminalbeamte, »ist das ganze Metier, in dem ich nun mehr als dreißig Jahre tätig bin. Dieser ständige Umgang mit Kriminellen ödet einen sehr schnell an – Leute wie mich jedenfalls. Nur ganz selten stoße ich auf einen Menschen, der mich zu beschäftigen beginnt.« »Bedauern Sie, daß Sie mir nichts anhängen konnten?« »Vielleicht sollte ich das bedauern, Herr Wander. Das könnte möglicherweise bei Ihnen ein rechtzeitiger Warnschuß vor den Bug sein. Denn Sie scheinen ziemlich hart am Rand verbotener Gewässer zu segeln.« »Vielleicht bin ich schon mittendrin! Und nehmen wir an – 82
das weiß ich sogar. Nehmen wir weiter an, Sie wissen das auch. Warum also stehen wir dennoch hier zusammen?« »Die meisten Menschen«, sagte der Kriminalist, »sind schlechthin uninteressant. Aber Sie, Herr Wander, sind anders als die meisten. Vielleicht auch gefährlicher. Doch für wen? Aber eben das wird sich vermutlich schnell herausstellen.« Karl Wander trank das schwere, milchige, betäubende irische Bier – er begann Gefallen daran zu finden. Er leerte sein Glas und ließ es wieder von Mutter Jeschke füllen. Kohl blieb bei seiner Abendration. »Könnten Sie mir einige Unterlagen verschaffen?« fragte nun Wander offen. »Das könnte ich, durchaus«, meinte der Kriminalbeamte. »Unter einer bestimmten Voraussetzung.« »Und die wäre?« »Lassen Sie mich erst wissen, was Sie von mir verlangen.« »Einzelheiten über Eva Morgenrot. Alles, was Sie darüber aufspüren können. Ist das zu machen?« Kohl beroch intensiv das erdbraune Getränk. Sagte dann: »Innerhalb von zwei bis drei Tagen – ich melde mich dann bei Ihnen.« »Und die Gegenleistung dafür?« »Die könnte vielleicht in einer Art indirekten Rechtshilfe für mich bestehen – nennen wir das mal so. Denn auch ich lege Wert auf einige ganz bestimmte Unterlagen, an die ich aber nicht herankann, nicht als Polizeimann, also nicht auf normalem Weg.« »Und wen gedenken Sie aufs Kreuz zu legen?« »Doktor Barranski«, sagte Kohl. »Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, Herr Wander«, 83
versicherte der modejournalreife Jüngling, der sich als Frost, Felix Frost, vorgestellt hatte. Er lächelte, als umwerbe er ein weibliches Wesen. »Ich wollte mich gerne ein wenig mit Ihnen unterhalten.« »Tun Sie das«, sagte Karl Wander und ließ sich in einem Sessel nieder. Sie hatten sich, nach kurzem, von Frost ausgelöstem Telefongespräch in der Halle des Exelsior-Hotels in Köln, beim Domplatz, getroffen – mithin sozusagen auf neutralem Boden und überdies im luxuriösen Milieu: Das Exelsior galt als das beste, das beste Haus am Platze. Felix Frost schien genau hierher zu gehören. »Ich bin«, begann Frost nahezu herzlich, »mit Fräulein Eva Morgenrot, was Sie vermutlich wissen, so gut wie verlobt.« »War sie es, von der Sie meine Telefonnummer bekommen haben?« »Wo denken Sie hin!« Felix Frost wirkte besorgt, als wäre er irgendeiner Indiskretion verdächtigt worden. Er hob, wie beschwörend, die zierlichen Hände. »Zwischen Eva und mir herrscht weitgehende Großzügigkeit.« »Wenn das tatsächlich so ist«, meinte Wander, »dann könnten wir uns eigentlich diese Unterredung ersparen.« »Das wünschte ich auch! Doch ich muß gestehen – ich bin beunruhigt!« »Etwa Martins wegen? Fürchten Sie, daß dieser prügelfreudige Bruder auch über Sie herfallen könnte – oder hat er das bereits getan?« »Nicht doch!« wehrte Felix Frost geradezu entsetzt ab. »Wir sind Freunde! Sehr gute Freunde sogar.« Diese überraschende Eröffnung machte Wander vorübergehend sprachlos. Doch dann überkam ihn eine Heiterkeit, die er zunächst nicht zu erklären vermochte. Bis er 84
sich dann Martin, den Stiefbruder, neben Felix, dem So-gutwie-Verlobten, möglichst Arm in Arm, vorzustellen versuchte – was für ein Gespann ! »Er«, erklärte Felix Frost in seinem werbenden Schlagersängerton, »ist gleichermaßen um Eva besorgt – wenn wohl auch aus anderen Beweggründen als ich.« Karl Wander sah, an Frost vorbei, in die gepflegte Hotelhallenpracht – niemand schien sie zu beachten. Die Menschen, die dort saßen, vorübergingen, beieinanderstanden, waren wie Inseln, wie Treibeis, wie Bäume, die sich nicht zu einem Wald vereinigten. Hier störte sie niemand. »Nach Ansicht von Martin«, sagte nun Karl Wander, »schlafe ich mit seiner Schwester, mißbrauche sie und schädige sie körperlich, seelisch und finanziell... so ungefähr. Ist das auch Ihre Ansicht?« »Natürlich nicht!« beeilte sich Felix Frost zu versichern. Er lächelte, als werde er für eine Zahnpastareklame fotografiert – und er lächelte garantiert umsatzsteigernd. »Ganz abgesehen davon, daß ich denkbar großzügig bin – und das in jeder Hinsicht, bitte, beachten Sie das ... Was mich jedoch besorgt macht, ist eine gewisse, ziemlich unbekümmerte Leichtfertigkeit Evas.« »In welcher Hinsicht?« Felix Frost legte seine Hände ineinander und rieb sie dann nahezu zärtlich. Dabei sagte er: »Sind Sie öfter mit Eva zusammen gewesen?« »Zusammen – niemals.« Karl Wander gab sich amüsiert. »Ich habe sie halb bewußtlos aufgefunden – und sie hat sich dann noch zweimal mit mir unterhalten.« »Worüber – bitte?« »Nun – etwa darüber, daß sie sich alles andere als glücklich fühlt. Trotz schwerreicher Familie, einem handfesten, 85
treusorgenden Bruder, einem filmschönen Verlobten –« Felix Frost nahm dies als Kompliment – es schien ihm angemessen. Doch sein Lächeln erstarrte maskenhaft, während er sagte: »Weder Eva noch ich können uns irgendeinen Skandal leisten.« »Befürchten Sie den etwa durch mich?« »Ich«, erklärte nun Felix Frost bemüht nebensächlich, »bin alles andere als ein armer Mann – ich kann also zahlen, für alles, was seinen Preis wert ist.« »Glauben Sie, ich könnte Ihnen irgend etwas verkaufen?« »Nicht ganz ausgeschlossen – nach Lage der Dinge.« »Dann machen Sie mir mal ein Angebot«, forderte Karl Wander. »Und vergessen Sie nicht zu sagen, wofür.« Felix Frost blickte in die Halle hinein. Sein dunkles Chorknabengesicht hatte zu lächeln aufgehört. Die rechte Hand betastete den Kragen seines schneeweißen Seidenhemdes, glitt dann an der zartblauen Windsorkrawatte hinunter. Er sagte: »Haben Sie Evas Handtasche durchsucht? Haben Sie irgend etwas dabei gefunden – und dann an sich genommen?« »Was denn – genau?« »Irgend etwas – wie gesagt. Ein Papier etwa. Ein Dokument. Befindet sich so etwas in Ihrem Besitz?« »Nein.« Felix Frost schloß kurz die Augen – er hatte lange, dichte Wimpern; sie schienen ein kosmetisches Erzeugnis zu sein, doch sie waren echt. »Ich erwarte nicht, Herr Wander, daß Sie sich sofort dazu entschließen, sich mir anzuvertrauen – nur daß Sie darüber nachdenken. Lassen Sie sich dafür Zeit; doch nicht allzulange, wenn ich bitten darf. Und denken Sie immer daran: Mein Angebot kann so leicht von niemandem überboten werden. Berücksichtigen Sie das, bitte – auch im Interesse von Eva. Es könnte sonst sehr schlimm für sie werden.« 86
»Eine Armee«, behauptete der General Keilhacke, »ist kein Kindergarten. Soldaten wollen nicht umsorgt, gehegt und gepflegt sein, sondern erzogen, ausgebildet und einsatzbereit gemacht werden. Sie müssen mit dem Material zu einer Einheit verschmelzen!« General Keilhacke stand, am Rande des Übungsgeländes, auf einem Schrotthügel. Von dort aus beobachtete er im Heidegelände manövrierende Panzer. Die Herren seiner engeren Umgebung – sein Adjutant, ein Truppenkommandeur, dessen Adjutant, ein Waffenexperte im Majorsrang, dazu ein technisch ausgebildeter Zivilist – hielten sich, rufbereit, im Hintergrund. Allein Karl Wander durfte sich neben dem General aufhalten, was wie eine vertrauensvolle Auszeichnung war. »Es gibt immer nur ein Ausbildungsziel«, erklärte Keilhacke überzeugt, »das allein erstrebenswert ist – die Abmessung der äußersten Leistungsgrenze! In meinem Bereich hat so was pure Selbstverständlichkeit zu sein!« Er nickte Wander energisch zu. »Sagen Sie das Ihrem Minister!« Der General Keilhacke war von mittlerer Statur, wirkte jedoch ungleich größer – denn er schritt zumeist gereckt einher, mit leicht erhobenem Kinn, mit abgezirkelt energievollen Bewegungen. Seine Augen blickten adlerscharf, seine Stimme war kasernenhoffüllend. Alles in allem stellte er eine geballte Führerpersönlichkeit dar. »Dieses samtseidene Geschwätz vom Staatsbürger in Uniform«, führte er weiter aus, »droht langsam in Wehrkraftzersetzung auszuarten! Natürlich bin auch ich ein erklärter Demokrat, doch in erster Linie habe ich Soldaten auf den Krieg vorzubereiten!« »Zur Verteidigung auszubilden«, korrigierte Wander dezent. »Was praktisch auf dasselbe herauskommt!« General Keilhacke ließ sich nicht aus seinem Konzept bringen – doch 87
selbst er hatte es inzwischen gelernt, daß gewisse Rücksichten unvermeidlich geworden waren. Mit ihnen fertig zu werden, hielt er für notwendige Kriegslist. »Das Ganze noch einmal von vorn!« rief General Keilhacke energisch seiner Begleitung zu. »Die Panzer wieder in Ausgangsstellung und dann, in gleicher Formation, erneut vorpreschen! Doch mit erhöhtem Tempo – alles rausholen, was die Kisten hergeben!« Der Truppenkommandeur meldete sich mit gebotener Vorsicht. »Die Motoren sind noch nicht ausreichend erprobt, Herr General. Wir wissen nicht, wie weit sie belastet werden können. Auch scheint die Magazinierung der scharfen Munition ...« »Höchste Zeit, das endlich herauszufinden!« rief Keilhacke ungeduldig. »Und wenn dabei die Fetzen fliegen! Die Bundeswehr ist schließlich kein Sanatorium! Und unsere Panzertruppe zählt immer noch zur Elite – so was verpflichtet!« Die Panzer, durch Funk umdirigiert, schoben sich wieder zurück, tauchten in einem Wäldchen unter, dröhnten dort weiter. Dann preschten sie abermals hervor. Taumelten über den durchfurchten Boden, begannen bärenartig zu tanzen, rasten zitternd weiter vorwärts. Der General schien sie kaum zu beachten. »Verweichlichung«, sagte Keilhacke zu Wander, »ist das tödliche Gift, dem wir ausgesetzt sind. Das beginnt bei Kleinigkeiten – bei der Frisur etwa, der Rasiercreme oder diesen plakatgroßen Onanierunterlagen, die von schweinischen Magazinen geliefert werden und deren Lektüre niemand – außer mir – nachdrücklich zu verbieten wagt. Doch ich lasse mir meine Soldaten nicht versauen! Kraftkerle brauchen wir, nicht Modepuppen!« »Darüber die Öffentlichkeit ausreichend aufzuklären, ist 88
bisher versäumt worden.« »Allerhöchste Zeit!« versicherte der General. »Denn gerade in dieser Hinsicht haben unsere Politiker eine ganze Menge nachzuholen. Bisher ist eine ausgesprochen zivilistische Trägheit dominierend gewesen, auch schwächliche Rücksichtnahme auf vermeintliche Verbündete, kurz: mangelndes nationales Selbstbewußtsein!« »Es wird sich einiges ändern«, erklärte Wander. »Gott gebe es!« rief der General Keilhacke fast feierlich aus. »So was ist nicht zuletzt eine Personalfrage – nach Ansicht des Ministers.« Der General neigte, wie in Ergebenheit, seinen knolligen Kopf, der allein schon eine eigenwillige Persönlichkeit suggerierte. »Wer sich den Beruf eines Soldaten erwählt hat«, sagte er, »muß weitgehend selbstlos sein. Und das bin ich, wahrlich, immer gewesen.« »Als junger Offizier«, fuhr er nach einer bedächtigen Pause fort, »habe ich nicht ganz unmaßgebliche Teile der strategischen Konzeption Guderians entworfen und ihm die daraus resultierenden Erfolge von Herzen gegönnt. Auch an Rommels Afrikaschlachten haben meine Entwürfe ihren bescheidenen Anteil, wenn sie auch nicht immer gewürdigt wurden. So was, mein Lieber, ist Dienst am Vaterland, der niemals nach Lob und Lorbeer schielt – der jedoch eine gerechte Anerkennung, und sei sie noch so verspätet, verdienen würde.« Die Panzer hüpften jetzt mächtig durchs Gelände. Ihre Motoren jaulten gleich vielhundert geprügelten Hunden. Des Generals Umgebung starrte gebannt in die triste Landschaft. Der General widmete sich weiter, hoffnungsvoll gestimmt, Wander. Der sagte: »Ich bin lediglich eine Art Koordinator hier, als indirekter Verbindungsmann, auch als publizistischer Ratgeber, 89
wenn Sie so wollen. Und ich weiß, daß der Herr Minister gewisse Hoffnungen auf Sie setzt – und das durchaus berechtigt, meiner Ansicht nach.« »Ich habe noch niemanden enttäuscht«, versicherte General Keilhacke. »Wer mir Vertrauen entgegengebracht hat, der hat das auch nicht zu bereuen brauchen.« Er warf einen schnellen Blick in Richtung der taumeltänzerischen Panzer. »Voll aufdrehen!« befahl er. »Auf höchste Leistungsstufe schalten!« »Endlich einmal«, erklärte Karl Wander auftragsgemäß, »sollte eine völlig klare, unmißverständliche Sprache gebraucht werden. So etwa wäre mit Nachdruck deutlich zu machen, daß unsere Bundeswehr weder eine Filiale der Amerikaner ist noch eine leichtfertig integrierte europäische Söldnertruppe, aber auch keinesfalls ein herausfordernder Spielball für die Sowjets – sondern vielmehr: ein sehr eigenes Element!« »Ich habe«, behauptete General Keilhacke, »derartige Erkenntnisse bereits seit Jahren vertreten – nur hat mich niemand gehört.« »Das wird nun anders werden. Schon in den nächsten Tagen wird sich ein Team des Fernsehens bei Ihnen einfinden, um über Sie und Ihre Panzerwaffe zu berichten. Ein Massenblatt ist lebhaft an persönlichen Details interessiert. Und sogar das bekannte Nachrichtenmagazin soll Wert darauf legen, ein möglichst effektvolles polemisches Gespräch mit Ihnen zu veröffentlichen. Hinzu kommt dann noch die Absicht einer großen deutschen Wochenzeitung, Ihre Einstellung gegenüber der Sowjetunion zu publizieren.« »Die«, rief Keilhacke, »ist kristallklar!« »Die haben Sie sogar, soweit ich informiert bin, praktisch bewiesen«, bemerkte Wander. »Damals, im Rußlandfeldzug, wurden Sie als Kommandeur eines Panzerregiments dafür mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet.« »Das Eichenlaub«, sagte der General erinnerungsträchtig, 90
»kam dann später noch dazu – anläßlich der Ardennenoffensive gegen die Amerikaner. Kriegserfahrungen sind für einen Soldaten bares Kapital, das hohe Zinsen tragen sollte. Glauben Sie mir, der Amerikaner weiß ganz genau, daß er uns dringend braucht, wenn er mit den Sowjets fertig werden will. Doch mißbrauchen sollten wir uns nicht lassen – das haben wir doch gar nicht nötig!« »Der derzeitige Generalinspekteur«, packte nun Wander aus, »ist offenbar nicht Ihrer Ansicht – und vermutlich auch gar nicht davon zu überzeugen.« »Dessen waschlappenartige Theorien sind höchst bedauerlich.« Keilhacke hielt es jetzt für angebracht, den zwar abwägenden, doch auch zupackenden Taktiker in sich zu offenbaren. »Der Generalinspekteur ist gewiß ein guter Kamerad, schon immer gewesen, aber doch von einer höchst bedenklichen Kompromißbereitschaft – und zur Zeit falsch eingesetzt. Gefährlich falsch!« »Tun Sie also was dagegen?« General Keilhacke schien vorübergehend abgelenkt. Er beobachtete – durch sein Fernglas – das Gelände, doch nicht die Panzer, sondern einen Funkwagen, der bei einem Gebüsch stand; und dort beobachtete er den Funker. »Der Kerl frißt!« rief der General mit kaum unterdrückter Freude aus. »Der frißt mitten im Dienst! Vor meinen Augen!« Und zum Truppenkommandeur sagte Keilhacke: »Lassen Sie diesen verfressenen Kerl sofort ablösen! Eröffnen Sie ein Disziplinarverfahren. Vollzugsmeldung innerhalb von 24 Stunden an mich.« »Jawohl«, sagte der Truppenkommandeur automatisch. Wander wußte, von Berichten her, daß er hier soeben an der Lieblingsbeschäftigung dieses Generals hatte teilnehmen dürfen – denn der pflegte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, für Zucht und Ordnung zu sorgen. Und zwar so, daß sich das 91
herumsprach. Das gehörte zu seinem persönlichen Stil. Völlig übergangslos setzte Keilhacke sein Gespräch mit Wander fort. »Dann werde ich also nunmehr aus allen verfügbaren Rohren feuern! Darüber gedenke ich aber Ihren Minister persönlich zu informieren, zumal ich von dem noch einige konkrete Zielpunkte zu erbitten beabsichtige. Sie jedenfalls, Wander, werden von mir als Verbindungsmann akzeptiert.« General Keilhacke blickte versonnen in das Übungsgelände. Dort aber verwandelte sich einer der dahinschießenden Panzer plötzlich in einen grellgelben Feuerpilz – er explodierte! Er zersplitterte wie eine Nußschale, auf die ein Schmiedehammer fällt, hüllte sich in blutleuchtendes Feuer ein, begann dann stinkend und dick zu qualmen. Nichts als ein brennender Schutthaufen blieb übrig. »Was ist denn das für eine elende Sauerei!« schrie der General dem Truppenkommandeur zu. »Veranlassen Sie sofort, daß eine eingehende Untersuchung durchgeführt wird. Dabei ist scharf darauf zu achten, ob auch alle Sicherheitsbestimmungen eingehalten worden sind!« »Jawohl«, sagte der Truppenkommandeur. Und zu Karl Wander sagte der General: »Da sehen Sie es selbst! Das sind so die Opfer, die bei uns gebracht werden müssen. Doch wir wollen endlich wissen, wofür!«
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Zwischenbericht IV des Mannes namens Jerome Über: die Verführungen und Versuchungen des EwigWeiblichen, also über das Selbstverständlichste in dieser Welt. Das wirklich Fatale bei dieser ganzen Angelegenheit war – was sich aber erst nachträglich herausstellte – die geradezu phantastische Ahnungslosigkeit dieses Karl Wander. Im Grunde war der ja doch ein verblüffend typisch deutscher Jüngling geblieben: Er wollte nichts wie glauben. Und so glaubte er. Etwa an das selbstverständliche Pflichtbewußtsein anführender deutscher Menschen, an das Gute, Edle, Anständige, das sich durchsetzen werde. Man muß da nur, dachte er, möglichst kräftig nachhelfen! Gleichzeitig entwickelte dieser Wander durchaus eine gewisse Skepsis, ein halbwegs gesundes Mißtrauen, einen annähernd brauchbaren Sinn für Realität – seine speziellen Bundeswehrerfahrungen waren nicht vergessen. Dennoch konnte auch er die entscheidende Hürde nicht nehmen – und brach sich dabei sozusagen das Genick. Denn das dominierende deutsche Nationaltrauma, der vermutlich unausrottbare Obrigkeitskomplex, warf sogar ihn schließlich um. Die wohlberechnete, nahezu intime Vertrauensdemonstration eines Ministers reichte bereits aus. Feldmann hatte sich höchst vorsichtig zu einem zielbewußten Taktiker der Macht entwickelt. Nach jahrelangen intensiven Vorbereitungen war dies seine erste erkennbare größere Aktion. Daß dabei nicht wenige mitverdienen wollten, hatte er frühzeitig einkalkuliert. Nicht einmal ein Wander vermochte ihn ernsthaft dabei zu stören; dafür zeugt ein Bericht, der in meine Hände gelangte. Lieferant war ein gewisser Konrad Kalinke, Kellner im 93
Hotel Rheinhof in Bonn. Der hatte Feldmann bedient, bei dem entscheidenden Gespräch mit Karl Wander, im Beisein von Konstantin Krug – und dabei auch eine abschließende Äußerung des Ministers aufgeschnappt. Diese lautete: »Der Mann (also Wander) ist durchaus brauchbar – nur müssen wir da scharf aufpassen. Denn wir können nur hoffen, daß wir uns mit dem nicht auch gleich einen potentiellen Totengräber engagiert haben.« Diese geradezu weitsichtige Äußerung spricht für Feldmanns besondere Qualitäten – wie denn auch die Antwort, die er darauf erhielt, für die ungewöhnliche Manipulationsfähigkeit Konstantin Krugs sprach. Denn der meinte: »In dieser Hinsicht glaube ich uns weitgehend und verläßlich abgesichert zu haben. Denn dieser Wander kann es nicht riskieren, hier mit großem Geschrei auszusteigen, ohne für alle Zeiten erledigt zu sein.« Diese Formulierung hätte mich frühzeitig stutzig machen müssen. Doch damals kannte ich Konstantin Krug und seine Methoden noch nicht ausreichend. Ich konzentrierte mich vielmehr auf den Minister und dessen mögliche Schwächen, denn die hat jeder. Zu den seinen gehörte auch die Baronin von Wassermann-Westen – unter anderen, wie sich bald herausstellen sollte. Dabei muß ich gestehen, daß mir diese Dame eine lange Zeit als völlig unberechenbar erschien, als kaum zu durchschauen, nicht zu überführen. Weibsbilder, die in unserem Metier mitzumischen versuchen, sind immer voller Fragwürdigkeiten. Vermutlich war sie ihr eigener Auftraggeber. Sie glaubte wohl, mit ihren Interessen die ihres Vaterlands und die ihrer Firma mühelos vereinen zu können. Wo aber nun mehr das eine oder mehr das andere Motiv vorherrschte, mochte der Teufel wissen. Ihr Hauptinteressengebiet lag vermutlich unterhalb des Nabels. 94
Aber das war es nicht allein. Einen Menschen durchschauen zu wollen, kann immer wieder zu einem Abenteuer werden. Gelegentlich lasse selbst ich mich noch dazu verführen.
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5 Der Zugriff des Todes ist unberechenbar – wenn auch immer wieder versucht wird, möglichst gültige Rechnungen aufzustellen. »So – Sie kennen also Eva, meine Tochter«, sagte Direktor Morgenrot, wobei er sich die Hände rieb, als friere ihn. »Kennen Sie Eva näher?« »Ich bin ihr lediglich ein paarmal begegnet«, erklärte Karl Wander. »Wir wohnen, vermutlich nur vorübergehend, im gleichen Haus.« »Sind Sie ihretwegen gekommen?« »Nicht direkt.« »Glauben Sie irgend etwas Bestimmtes über sie zu wissen?« »Eine ganze Menge«, sagte Karl Wander mäßig amüsiert, »jedoch nichts, was für eine Art Erpressung ausreicht – denn das ist es doch wohl, was Sie vermuten. Aber in dieser Hinsicht kann ich Sie beruhigen. Ich bin nur der Mann, der Ihnen durch Herrn Krug – beziehungsweise durch dessen Bonner Büro – gestern angekündigt worden ist.« »Warum sagen Sie denn das nicht gleich!« rief Morgenrot, erleichtert auflachend. »Setzen Sie sich – machen Sie es sich bequem. Kann ich Ihnen irgend etwas anbieten?« Direktor Morgenrot war klein und knochig, er schien sich aber mit der Geschwindigkeit und beinahe mit der akrobatischen Sicherheit eines Affen zu bewegen. Er pendelte fast pausenlos im Raum einher, zwischen Schreibtisch und Schrank, Fenster und Tür. Nur wenn er sprach, blieb er stehen. Dann legte er gewöhnlich die Handflächen aufeinander und neigte seinen kahlen Schädel vor, als lausche er sich selber. Und seine Bernsteinaugen strahlten sanfte Wärme aus. »Ihre Tochter«, sagte Wander, »ist ein recht dekoratives 96
Wesen.« »Waren Sie schon mit ihr im Bett?« fragte Morgenrot und genoß die Überraschung, die er bereitete. »Offenbar noch nicht. Denn dort ist sie reichlich enttäuschend.« »Woher wissen Sie das so genau?« fragte Karl Wander in schneller, instinktiver Reaktion. Morgenrot blieb ganz plötzlich stehen, als wäre er gegen eine Glasscheibe gestoßen – zwei Sekunden lang blieb er bewegungslos, auch ohne zu sprechen. Dann lachte er auf und sagte: »Man weiß immer ziemlich viel von seinen Kindern – wenn man sich Mühe gibt.« »Mühe – in welcher Hinsicht?« Der Direktor schien sich köstlich zu amüsieren. »Sie sollten mit Eva schlafen«, sagte er völlig ungeniert. »Sie könnten sogar mit ihr ein ausgedehntes Verhältnis anfangen – und ich wäre nicht einmal abgeneigt, das auch finanziell zu unterstützen. Denn so was wie Sie scheint meine Tochter dringend nötig zu haben. Sie braucht jemanden, der sie nicht nur körperlich befriedigt, sondern der auch ihr Hirn ein bißchen durchlüftet, sonst macht die Dummheiten, die selbst ich nicht mehr bezahlen kann.« »Nach Ansicht Ihres Sohnes jedoch hat Eva für mich tabu zu sein – das hat der mir neulich ziemlich handfest klarzumachen versucht.« Morgenrot steigerte sich in heftige Heiterkeit hinein. »Dieser Lümmel ist immer noch in seinen Flegeljahren; außerdem sexuell völlig auf dem falschen Gleis – der steigt seiner eigenen Schwester nach, wie ein Kater. Das hat er schon als Kind versucht, aber damals wirkte es nur komisch. Eine Zeitlang schien sich das dann gelegt zu haben; neuerdings jedoch, besonders in den letzten Monaten, benimmt der sich wieder wie verrückt. Dabei kommt es mir manchmal so vor, als versuche der Bengel hier lediglich eine Show abzuziehen. Und 97
dann wieder habe ich den Eindruck: wenn der so weitermacht, ist er bald sanatoriumsreif.« »Sonderlich viel Freude scheinen Sie mit Ihren Kindern nicht zu haben«, meinte Wander. »Eine ganze Menge sogar! Aber auf meine Weise; und das wissen die.« Morgenrot rieb sich, mit immer schnelleren Bewegungen, die Hände – dann klatschte er sie zusammen. »Es ist alles wie in solchen Fällen üblich: Meine Frau starb früh, unmittelbar nach der Geburt des Jungen; und ich verheiratete mich danach, ganz schwer, mit meinen Fabriken. Ich scheffelte Millionen und die Kinder verwilderten – soll ich jetzt darüber weinen?« »Ganz so verwildert, wie Sie offenbar meinen, ist Eva sicher nicht.« »Nein? Wirklich nicht? Sollten Sie tatsächlich davon überzeugt sein? Ich hoffe es nicht. Denn ich würde es bedauern, wenn mir Krug einen ausgemachten Dummkopf hergeschickt haben sollte. Aber eben das traue ich dem nicht zu. Kommen wir also zur Sache.« Direktor Morgenrot eilte hinter seinen Schreibtisch und setzte sich auf seinen Stuhl. Dann schob er eine Fotografie im Silberrahmen ein wenig zur Seite, mit einer sehr sanften, fast streichelnden Bewegung – offenbar legte er Wert darauf, Wander voll betrachten zu können. Der blickte über die schweren, dunklen, strapazierten Möbel zu den dicken fahlroten Plüschvorhängen hinauf, dann auf den abgewetzten Teppich hinunter – nichts paßte hier zusammen, nichts davon wirkte auch kostbar, manches sogar billig. Eine Umgebung, die einem provinziellen Kurpfuscher angemessener gewesen wäre als einem erfolgreichen Industriekapitän. »Herr Krug«, begann Wander tastend, »hat Ihnen vermutlich am Telefon angedeutet, worum es sich handelt.« »Aber auch nur angedeutet«, versicherte Morgenrot. »Denn 98
der ist ein ziemlich gerissener Bursche – früher hätte sich so was als Viehhändler betätigt, aber die Politik ist ja ein ähnlicher Beruf. Geworden, oder täusche ich mich da? Sie dürfen mich aufklären.« Karl Wander hatte inzwischen erkannt, daß er es hier nicht nötig hatte, diplomatische Umwege zu gehen – es wäre Zeitverschwendung gewesen. Er sagte daher: »Wir würden Wert auf einige Unterlagen legen – über Waffenproduktion, Planung und Finanzierung.« »Das sind bei mir Betriebsgeheimnisse.« »Wir haben dabei nicht an Ihr Werk gedacht – sondern an irgendeine andere Firma, etwa Bölsche bei München.« Der alte Morgenrot blinzelte geradezu beglückt vor sich hin. »Soll das etwa bedeuten, daß Sie von mir so etwas wie Industriespionage erhoffen?« »Herr Krug liebt derartige Formulierungen nicht – er würde vermutlich lieber sagen: verwendbare fachmännische Gutachten, an Hand von einwandfreien Unterlagen.« »Für wen verwendbar? Für Minister Feldmann?« »Warum fragen Sie danach? Sie wissen doch vermutlich genau, was hier gespielt werden soll.« »Ich lege Wert darauf, das, was ich weiß, bestätigt zu sehen«, sagte Morgenrot. »Was sich lohnen soll, muß gründlich vorbereitet werden.« Er sprang aus seinem Stuhl, nahm sein affenartiges Herumschauen wieder auf und blieb zwischendurch immer wieder kurz stehen. »Billig ist so was jedenfalls nicht. Ich werde eine Menge investieren müssen – für Aufkäufe, Abwerbungen, Erkundigungen; und was der schönen Spiele mehr sein mögen.« »Sie haben es erfaßt«, meinte Wander. »Vor allen Dingen dies: Hierbei handelt es sich um einen Einsatz, der die Aufträge für Sie und damit Ihre Reingewinne ohne weiteres verdoppeln, 99
ja verdreifachen könnte.« Morgenrot stand jetzt an der Tür. »Sie können Ihren Auftraggebern folgendes sagen: Grundsätzlich ja – und das bei jeder sich ergebenden Größenordnung. Aber ich lege Wert auf gewisse Garantien, nicht zuletzt auf die direkte, persönliche Bestätigung durch den Minister. Deshalb werde ich Ihnen, sozusagen als Köder, einige konkrete Zahlen für Feldmann mitgeben. Warten Sie hier.« Morgenrot verschwand. Karl Wander blieb vor dem Schreibtisch sitzen, leicht vorgebeugt, als habe er Magenschmerzen. Dabei fiel sein Blick auf den Silberrahmen, den Morgenrot vorhin so behutsam zur Seite gerückt hatte. Er griff danach und betrachtete die Fotografie. Sie stellte Sabine von Wassermann-Westen dar. Karl Wander parkte seinen Leihwagen in einer Nebenstraße; dann erst näherte er sich dem Haus, in dem er wohnte. Er betrachtete prüfend die Fenster des dritten Stockwerkes – im Appartement 304 brannte Licht, im Wohnzimmer ebenso wie im Schlafzimmer; Eva Morgenrot war also anwesend. Fast zögernd ging er auf die Haustür zu. Aus dem Schatten eines Baumes löste sich eine hochgewachsene Kleiderschrankgestalt – Peter Sandman war trotz der mäßigen Nachtbeleuchtung unschwer zu erkennen. »Ich kam – rein zufällig, sagt man nicht so? – hier vorüber.« Er belachte seinen mäßigen Witz entsprechend kurz. »Und da dachte ich mir, ich könnte ja mal nachsehen, wie Sie hier wohnen.« »Ausgesprochen vornehm«, versicherte Karl Wander, die Tür öffnend. »Und außerdem mietfrei. Denn sonst würde ich mir einen derartigen Luxusstall kaum leisten können; zumal ich bereits für meine Altersversicherung spare.« »Eine Lebensversicherung«, meinte Sandman, »wäre 100
vermutlich angebrachter.« Sie betraten das Appartement. Wander schaltete alle vorhandenen Lampen ein. Sandman stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Dann fand er mit sicherem Spürhundinstinkt heraus, wo die Getränke lagerten – ein halbes Dutzend Flaschen, gutsortierte Standardmarken: französischer Cognac, schottischer Whisky, englischer Gin; dazu Calvados und Kirschwasser. »Gehört alles mit zur Einrichtung«, meinte Wander einladend. »Ich habe einen denkbar großzügigen Gastgeber erwischt.« »Eher einen, vermutlich, der kalkulieren kann.« Sandman wählte den Calvados. »Denn dieses prächtige Appartementhaus – und noch ein zweites dazu – wird von einer Agentur verwaltet, die einer Baugesellschaft untersteht, die wiederum einer Finanzierungsfirma gehört. Mitinhaber dieser Firma aber ist ein gewisser Konstantin Krug. Schon mal diesen Namen gehört?« »Noch weitere Scherze in dieser Preislage?« »Zumindest noch einen«, versicherte Sandman. »Dann behalten Sie den für sich«, sagte Karl Wander. »Haben Sie wirklich nichts Besseres zu tun, als sich so intensiv mit meinen Angelegenheiten zu beschäftigen?« »Nicht im Augenblick«, sagte Sandman und beroch seinen Calvados. »Außerdem sind Sie daran schuld – ich weiß nämlich, in welche Art Spannungsfeld Sie hineingeraten sind.« »Aber Sie wollen, wenn ich Sie richtig verstehe, Ihre Kenntnisse gar nicht ausnützen – im Augenblick wenigstens noch nicht.« »Da haben Sie mich ganz richtig verstanden«, sagte Sandman. »Denn ich kann mir Großzügigkeit leisten, wenn ich will – besonders Freunden gegenüber.« 101
»Wenn Sie tatsächlich mein Freund sind, Mister Sandman – dann wäre es mir lieber, Sie ließen mich möglichst ungestört machen, was ich hier machen muß.« »Ich glaube Sie zu kennen, Karl – und eben das stimmt mich nicht nur optimistisch, es macht mich ziemlich neugierig.« »Ich werde Sie also nicht so leicht wieder los?« »Wollen Sie das wirklich? Sie sind doch alles andere als ein geborener letzter Mann, der versessen darauf ist, einsam mit wehender Flagge unterzugehen! Dafür haben Sie zu viel Verstand.« »Nun gut – wenn Sie sich täuschen sollten, Peter, ist das Ihre Angelegenheit. Was bieten Sie mir also an?« fragte Wander munter. »Einen prima Erpresser! Der scheint genau in Ihr derzeitiges Konzept hineinzupassen.« »Wie kommt denn so was in Ihren Bekanntenkreis?« »Er wurde mir von einem Mitarbeiter des derzeitigen Wehrbeauftragten offeriert. Schauen Sie mich nicht so ahnungslos an, Karl, so was ist nicht unbedingt selten – man nennt es gern Schützenhilfe; Journalisten, natürlich nur solche mit Einfluß, sind dabei recht brauchbar. Ein strebsamer Untergebener, der möglichst schnell vorwärtskommen will, erreicht das in gewissen Fällen am sichersten, wenn er seinen Vorgesetzten abschießt. Tun Sie ja nicht so, als ob ausgerechnet Ihnen so was unbekannt wäre.« »Sie wissen ganz genau, Peter – warum ich nicht begeistert von Ihren Ausführungen bin: Mir gefällt’s nicht, daß Sie so genau zu wissen glauben, womit ich mich hier beschäftige.« »Ich glaube es nicht, ich weiß es. Und gelegentlich werde ich Ihnen auch sagen, warum. Zunächst jedoch sollen Sie sich mit dem Brocken beschäftigen, den ich Ihnen hier serviere. Im Büro des Wehrbeauftragen ist ein Schreiben von einem 102
Soldaten aus dem Raum Koblenz eingegangen. Und der stellt, mit einiger Frechheit, wie mir gesagt wurde, verschiedene Forderungen. Sogar mit einer unverkennbaren Drohung: Falls seine Anregungen, so nennt er sie, nicht auf fruchtbaren Boden fallen sollten, dann könnte er sich leider genötigt sehen, von seiner Kenntnis gewisser peinlicher Vorgänge Gebrauch zu machen. Und damit meint er, unverkennbar, den Wehrbeauftragten persönlich.« Karl Wander gab sich mißtrauisch, was jedoch, wie er schnell erkannte, Sandman nur belustigte. »Und was gedenkt nun dieser – Mitarbeiter des Wehrbeauftragten damit anzufangen?« »Zunächst vermutlich das, was bei Verwaltungsbehörden allgemein üblich ist – er ordnet diesen Vorgang ein. Zwecks routinegemäßer Bearbeitung. So was dürfte erfahrungsgemäß drei bis vier Tage dauern – so lange haben Sie also Zeit.« »Wofür?« »Um sich diese Zeitbombe zu sichern! Sie könnten dann nämlich bestimmen, wann sie losgehen soll – oder eben nicht hochzugehen braucht. Je nachdem, was gerade für Sie praktisch ist.« »Von wem bekomme ich die Adresse des vermeintlichen Lieferanten eines derartigen Sprengmaterials? Von diesem sogenannten Mitarbeiter?« »Von dem natürlich nicht. Wo denken Sie hin! So was pflegt in der Praxis ganz anders auszusehen. Dieser Herr – sagen wir im Range eines Oberregierungsrates – bat mich zu sich, nur um mit mir zu plaudern. Dabei erzählte er mir von einigen Fällen, die sich bei ihm stapelten und die er kurios nannte, darunter auch diesen, mit dem er, augenzwinkernd, nicht viel anzufangen wisse; der wäre ihm einfach zu absurd.« »Verstehe – damit hatte er Sie, indirekt, informiert.« »Und zugleich sich abgesichert. Jedenfalls mußte er dann bald mal 103
austreten gehen. Und dabei ließ er das geöffnete Aktenstück in meiner Reichweite liegen. Und hier ist die von Ihnen gewünschte Adresse.« Karl Wander öffnete die Tür, die auf den kaum mehr als waschkorbgroßen Balkon seines Appartements führte. Er trat hinaus, sah in die Koblenzer Straße hinunter wie in eine von Lichtketten durchzogene Schlucht. Der Himmel darüber schien zu gähnen. Es war Mitternacht. Durch diese Straßenschlucht bewegte sich Sandman. Er wendete den Kopf, Wander zu – ein heller verschwommener Fleck, mondartig, rund. Dann war es, als verlösche er. Die Nacht verschluckte ihn. Karl Wander lächelte ihm nach – er hob, wie grüßend, die Hand. Verwunderte sich dann ein wenig über diese für ihn ungewohnte, hier ganz überflüssige Geste. Er erkannte, daß er für Sandman freundschaftliche Gefühle empfand – ein Luxus, den er sich, wie er meinte, kaum leisten konnte; denn schließlich war er hier als eine Art Jagdhund angestellt. Er beugte sich lauschend vor, blickte aufwärts, zu den Zimmern des Appartements 304 hin. Sie waren noch erhellt, wie vor zwei Stunden; doch die Vorhänge, das fiel Wander jetzt auf, verdeckten die Scheiben nicht. Er sah einen breiten Streifen der purpurrot tapezierten Wand. »Eva!« rief er, nur gering gedämpft, hinauf. Er war sicher, daß sie ihn hören würde. Aber sie hörte ihn nicht. Auch dann nicht, als er abermals nach ihr rief. Lauter. Wander begab sich in seinen Wohnraum zurück, ohne die Balkontüre zu schließen. Er griff nach der länglichen Karte, die neben dem Telefon lag – sie verzeichnete die Nummern der im Haus befindlichen Anschlüsse. Er fand die des Appartements 304, wählte und wartete. Er vernahm die eintönigen Summergeräusche – sie schienen sich zu verstärken, zu verlängern, in der Tonlage zu steigern. Nichts sonst geschah. 104
Karl Wander wählte noch einmal, abermals vergebens. Dann legte er den Hörer in die Gabel und verließ seine Wohnung. Er eilte die Treppe hinauf, die den Fahrstuhl wie eine mächtige Schlange umwand. Vor der Tür des Appartements 304 blieb er stehen. Sekundenlang horchend. Dann klingelte er. »Eva«, rief er nach kurzem Warten. Er klingelte und klopfte zugleich gegen die Tür. Dann horchte er und ihm war, als vernehme er ein gepreßtes Stöhnen oder auch nur Atmen. Aber es konnte auch der Nachtwind sein, der durch sein geöffnetes Fenster blies. Doch er war es nicht. Karl Wander kniete sich hin, um durch das Schlüsselloch zu blicken – der Schlüssel steckte von innen. Abermals klopfte er, nun mit der geballten Faust, gegen die Tür. Eine Antwort hierauf wartete er nicht ab; er eilte zum Fahrstuhl, schaltete ihn ein, fuhr abwärts, bis in das Kellergeschoß. Hier klingelte und rief er den Hausmeister wach. »Kommen Sie! Schnell! Wir müssen die Tür zu 304 öffnen.« Der Hausmeister gähnte ihn an. Sein fettiges Hamstergesicht hing träge über einen braunschwarz gestreiften Bademantel. »Wie kommen Sie mir vor!« knurrte er Wander an. »Was haben Sie fremde Wohnungen anzugehen?« »Reden Sie nicht herum!« rief Wander scharf. »In 304 scheint irgend etwas passiert zu sein.« »Was denn? Was denn? Passieren tut hier manches – aber darum habe ich mich nicht zu kümmern. Außerdem gehört 304 der Baronin, und die befindet sich in Köln. Ich muß sie erst anrufen, bevor ich was unternehmen kann – das hat sie so angeordnet.« »Entweder Sie schnappen sich sofort Ihren Nachschlüssel – oder ich breche die Tür auf!« »Na schön!« murrte das Hamstergesicht. »Auf Ihre 105
Verantwortung! Denn so was muß ich unverzüglich der Hausverwaltung melden!« Karl Wander eilte zum Fahrstuhl, hielt dessen Tür so lange auf, bis der Hausmeister erschien – dann fuhren sie gemeinsam hinauf. Vor 304 stellte sich der Mann im Bademantel breitbeinig auf, hantierte mit seinem Nachschlüssel und schob mit ihm das Schlüsselloch frei. »Gekonnt ist gekonnt«, sagte er dabei selbstgefällig; dann öffnete er die Tür. Wander schob ihn zur Seite und stürzte in das Appartement, in dem alle Lampen brannten. Im Schlafzimmer sah er Eva Morgenrot liegen – wachsbleich, schweißnaß und keuchend; mit weit aufgerissenen, gelblichen Augen, die ins Leere blickten; ihre Hände waren vor der Brust verkrampft. »Was ist denn mit der schon wieder los!« rief das Hamstergesicht. »Nichts wie Ärger hat man mit dieser Person!« Karl Wander suchte mit zitternden Fingern in seiner Brieftasche nach einem Zettel, auf dem Namen und Nummern notiert waren. Als er ihn gefunden hatte, begab er sich zum Telefon, nahm den Hörer ab, wählte durch. Dann meldete sich eine sachliche Männerstimme: »Krankenhaus – Bereitschaftsdienst.« »Bitte Dr. Bergner.« Der wurde nach einer knappen Minute erreicht; seine Stimme klang verschlafen. Karl Wander nannte seinen Namen und fragte hastig: »Erinnern Sie sich noch an mich?« »Bedauerlicherweise ja«, sagte der Doktor und schwieg. »Ich bin im Zimmer von Eva Morgenrot. Sie liegt röchelnd in ihrem Bett. Auf ihrem Nachttisch befindet sich eine leere Packung, die vermutlich Schlaftabletten enthalten hat.« »Sind Sie in der Lage, Erste Hilfe zu leisten?« »Ja – die üblichen Maßnahmen bei 106
Vergiftungserscheinungen.; ich werde tun, was ich kann.« »Inzwischen werde ich sofort einen Unfallwagen losschicken.« »Warum«, fragte Wander, »kommen Sie nicht selbst?« »Mein Verlangen, Sie wiederzusehen, ist denkbar gering. Außerdem habe ich heute nacht lediglich Bereitschaftsdienst im Krankenhaus – für die Unfallstation ist, glücklicherweise, ein anderer Arzt zuständig.« »Können Sie tauschen?« »Und warum sollte ich das?« »Hören Sie auf damit!« rief Wander heftig. »Kommen Sie her – ich brauche Sie!« Dr. Bergner räusperte sich heftig und fragte: »Haben Sie irgendwas damit zu tun? Ich meine: besteht die Möglichkeit, daß man Sie, in diesem Zusammenhang, irgendwie verantwortlich machen könnte?« »Direkt vermutlich nicht«, sagte Wander vorsichtig. »Aber indirekt vielleicht. Ist das nicht verlockend für Sie?« »Ich komme«, sagte Dr. Bergner und warf den Hörer auf die Gabel. Der Unfallwagen fuhr knapp fünfzehn Minuten später vor. Karl Wander erwartete ihn an der Haustür. Er sah Dr. Bergner aussteigen. Der ordnete an, daß die Krankenträger zurückbleiben könnten, sich jedoch rufbereit zur Verfügung zu halten hätten. Dann ging er auf Wander zu und fragte in offiziellem Ton: »Haben Sie die Unfallstation benachrichtigt?« Und Wander erwiderte, ausreichend hörbar für die Krankenträger: »Das hielt ich für notwendig.« Das für unvermeidbar gehaltene Behördenspiel war damit gespielt. Bergner ließ sich nun, von Wander begleitet, in das dritte Stockwerk fahren; hierbei fragte er: »Sind Sie auch sicher, 107
keinen Fehler gemacht zu haben, als Sie ausgerechnet mich anriefen?« »Nicht dann, wenn Sie auch nur halbwegs der Arzt sind, für den ich Sie – dennoch – halte.« »Ihnen, Wander, traue ich glatt zu, daß Sie versuchen könnten, mir ein Kuckucksei zu unterschieben – das ich dann ausbrüten soll.« »Wir beide«, sagte Wander, die Tür des Fahrstuhls öffnend, »leiden offenbar an der gleichen Krankheit – Gemeinheiten verursachen uns Brechreiz. Nur eben, daß wir keineswegs daran erstickt sind.« »Also gut«, sagte Dr. Bergner entschlossen. Er ging auf Eva Morgenrot zu, die nur noch schwach röchelte, und beugte sich über sie. »Es ist jetzt soweit«, sagte Karl Wander, der am Fenster stand. Er blickte in die nun blaugraue Straßenschlucht, durch die sich die ersterbende Nacht quälte – ein stahlblauer Cadillac hielt vor dem Haus. »Wir bekommen Besuch – Dr. Barranski.« Dr. Bergner, der Evas Herzgegend abtastete, erstarrte in seinen Bewegungen; er sah Wander anklagend und verächtlich zugleich an. »Also doch!« sagte er. »Sie haben es tatsächlich fertigbekommen, diesen Kerl herbeizutelefonieren – das hätte ich mir denken können.« »Sie irren sich, Doktor.« »Wenn Sie das nicht getan haben – wer denn sonst?« »Der Hausmeister vermutlich. Der hat seine Baronin benachrichtigt – und die hat dann sofort Dr. Barranski alarmiert. So was hätte ich zwar ahnen, aber ich habe es nicht mit Sicherheit wissen können. Doch nun weiß ich wieder einmal einiges mehr.« »Und ich, so nehmen Sie an, werde das für Sie ausbaden?« »Sagen wir lieber: Sie erhalten somit Gelegenheit, sich wie 108
ein richtiger Arzt zu benehmen. Denn genau das wollen Sie doch, wenn ich Sie richtig verstanden habe.« Dr. Bergner senkte den Kopf – er betrachtete die jetzt reglos daliegende Eva Morgenrot mit einem Ausdruck ratloser Trauer. Dann sagte er: »Ich habe es gefühlt, seit unserer ersten Begegnung, daß Sie zu den Typen gehören, Wander, die versuchen, den Teufel zu reiten – und jeder Steigbügelhalter dafür ist Ihnen recht.« Dr. Barranski betrat den Raum. Die Lichtflut schien ihn anzufallen. Er machte den Eindruck, soeben, wohlausgeruht, einem erfrischenden Bad entstiegen zu sein. Dezente Duftwolken umschwebten ihn. Sein Anzug war nachtblau, sanft leuchtend, exakt zu der Farbe seines Cadillacs passend. Er grüßte flüchtig, schien Wander eher zu übersehen und Dr. Bergner lediglich zu registrieren. Er schritt auf Eva Morgenrot zu, beugte sich über sie, betrachtete ihre Augen, befühlte den Puls, horchte das Herz ab. Dann sagte er: »Schlimm. Sehr schlimm.« Nun erst begann er sich mit Dr. Bergner zu beschäftigen. »Wie kommen Sie hierher?« »Uns hat eine Unfallmeldung erreicht.« Dr. Bergner erklärte das mit kühler Sachlichkeit. »Der mußten wir nachgehen.« »Und Ihr Befund, Herr Kollege?« »Starke Vergiftungserscheinungen«, sagte Bergner mehr zu Wander. »Vermutlich hervorgerufen durch eine Überdosis an Schlaftabletten.« »Ein Selbstmordversuch also«, stellte Dr. Barranski fest. Sein gutgebräuntes Höhensonnengesicht blickte betrübt. »Haben Sie das bereits schriftlich niedergelegt?« »Dazu«, wehrte Dr. Bergner ab, »besteht vorerst noch keine Veranlassung. Denn es handelt sich lediglich um eine erste Diagnose – mit allem Vorbehalt. Sie muß nicht stimmen.« 109
»Aber sie stimmt«, erklärte Dr. Barranski. »Warum sind Sie so sicher?« fragte Karl Wander hervorstoßend. »Weil das in Ihr Konzept paßt?« »Ich darf Sie bitten«, forderte Dr. Barranski mit kühler Höflichkeit, »sich hier nicht einzumischen. Das könnte möglicherweise zu unangenehmen Mißverständnissen führen – unangenehm für Sie, Herr Wander.« »Warum nur für mich?« fragte Wander streitbar. »Warum nicht auch für Sie – oder für Sabine Wassermann, die Sie herbeitelefoniert hat? Aus welchem Grund?« »Weil ich bekanntlich«, sagte Dr. Baranski reserviert, »der für diese Patientin zuständige, behandelnde Arzt bin. Ich kenne sie seit geraumer Zeit, ich weiß um ihre Depressionen – dieser Selbstmordversuch überrascht mich daher nicht.« »Daß es sich hier um einen Selbstmordversuch gehandelt hat«, sagte Dr. Bergner, »ist keinesfalls eindeutig bewiesen.« »Für mich schon«, erklärte Dr. Barranski im Ton vornehmer Zurückhaltung. Dabei legte er die Hand der Eva Morgenrot, deren Pulsschläge er überprüft hatte, überaus sorgsam seitwärts an ihren Körper. Dann blickte er langsam auf – wie in unendlichem Schmerz. »Es ist überdies – und ich bin sehr betrübt, das feststellen zu müssen – ein erfolgreicher Selbstmordversuch gewesen. Eva Morgenrot ist tot. Darf ich Sie nun bitten, mich mit ihr allein zu lassen.« »Wie habe ich mir jetzt vorzukommen?« fragte Dr. Bergner, als er Wanders Appartement betrat. »Bisher habe ich mich immer noch, in der Tat, halbwegs wie ein Arzt gefühlt – doch Sie und dieser Kerl aus Köln scheinen versessen darauf zu sein, mich zu einem Scharlatan zu degradieren.« »Und dagegen, glauben Sie, ist nichts zu machen?« Karl Wander zwang sich dazu, das zu sagen. Sein Gesicht war 110
bleich; seine Hände schienen zu zittern. Dr. Bergner ließ sich in den nächsten Sessel fallen. Er sagte erschöpft: »Falls Sie irgend etwas zu trinken haben, etwas, das purem Alkohol möglichst nahe kommt, dann geben Sie mir das bitte.« Wander stellte, mit unsicheren Händen, die Flasche mit dem Kirschwasser auf den Tisch – im Schwarzwald gebraut, morgenklar und messerscharf; fünfzigprozentig. Er goß zwei faustgroße Gläser voll; die Flüssigkeit lief über den Rand, sickerte auf den Tisch, breitete sich dort aus. Ein betäubender Geruch quoll ihnen entgegen. »Dieses Schwein Barranski«, sagte Dr. Bergner wie für sich, »läuft mir in letzter Zeit immer wieder über den Weg; ich stolpere förmlich darüber – aber schlachtreif machen kann ich den nicht!« »Diese Eva Morgenrot«, sagte Karl Wander, »wollte leben, nichts weiter sonst – das glaube ich zu wissen. Ihr erschien alles, was sie durchmachte, was sie durchmachen mußte, wie eine Übergangsstation: zu irgendeinem neuen Anfang hin.« »Wie zielsicher dieser Sauhund Barranski auf seine Selbstmordtheorie zusteuerte! Gewiß – das ist nicht ausgeschlossen. Es ist sogar das Wahrscheinlichste. Aber es ist auch nicht zu beweisen. Diese Drecksau Barranski behauptet es einfach. Vergiftung– gut. Aber es muß sich ja nicht unbedingt allein um Schlaftabletten handeln – irgendein anderes Gift kann hinzugekommen sein ...« Karl Wander trank aus der Flasche. »Und warum ist dieses Leben nichts als eine endlose Kette von Kapitulationen?« »Sie ist seine Patientin«, sagte der Arzt. »Barranski wird den abschließenden Befund festlegen und dann den Totenschein ausstellen. Ein möglicher Verdacht von meiner Seite reicht nicht aus, etwas daran zu ändern.« »Eva kann keinen Selbstmord begangen haben«, sagte 111
Wander, »da bin ich sicher.« »Sind Sie mit ihr befreundet gewesen – oder sogar mehr?« »Ich weiß nicht«, sagte Wander vor sich hin. »Und manchmal, wie jetzt, frage ich mich: Was weiß ich denn überhaupt? Am besten, Doktor, man zieht eine hohe Mauer um sich, mit einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun darüber und Bluthunden dahinter. Das allein könnte, zumindest zeitweilig, ein gewisses Eigenleben garantieren.« »Und ich habe gedacht«, sagte der Arzt müde, »daß Sie mir helfen werden, diesen Barranski zu erlegen – denn allein kann ich das nicht! So werde ich denn also den üblichen Bericht machen; der wird dann im Krankenhaus zu den Akten gelegt.« »Zwei Blatt Papier also – mehr kommt dabei nicht heraus! Zwei Blatt Papier inmitten von Aktengebirgen. Packen wir ein!« »Mein Bericht wird registrieren, daß die festgestellten Vergiftungserscheinungen enorm stark gewesen sind – daher durch Schlafmittel in der vermutlich benützten Größenordnung möglicherweise nicht allein zu erklären. Aber das ist alles, was ich hierbei tun kann.« »Wie aber, Doktor, wenn ich Ihnen einen ausgekochten Kriminalisten herbeischaffe, Kohl mit Namen, der bereitwillig aufs Ganze geht?« »Auch er wird vermutlich nichts daran ändern können, daß sich diese Selbstmordtheorie zwangsläufig anbietet. Jeder muß das annehmen, der auch nur halbwegs normale Verhältnisse annimmt.« »Was hat Sie dann so alarmiert, Doktor?« »Weil dieser Barranski, wie ich ganz genau spürte, einen Mord durchaus für möglich hält – und er versucht alles Erdenkliche, ihn zu vertuschen. Das, mein Lieber, ist die Situation, die mich nicht nur alarmiert – sie macht mich 112
krank.« »Sie sind ein armer Hund, Doktor«, sagte Karl Wander. »Und ich bin auch einer.« »Ich weiß«, sagte Karl Wander zu Fräulein Wiebke, der Sekretärin, »daß hier nicht Ihr Büro ist und daß Sie jetzt keine Dienststunden haben – aber ich muß Sie sprechen.« »Kommen Sie herein«, sagte die Wiebke nach kurzem, prüfenden Blick. »Dort ist das Badezimmer – kaltes Wasser wird Ihnen guttun. Auch sollten Sie sich die Haare kämmen. Ich werde inzwischen einen starken Kaffee machen.« Ihre Stimme klang – auch jetzt, spät in der Nacht – unverändert sachlich; ihr kühlglattes Gesicht zeigte keinerlei Spuren von Schlaf. Sie bewegte sich in ihrer karg möblierten Einzimmerwohnung nicht anders als im Büro des Konstantin Krug. »Ich muß mit irgend jemandem sprechen«, sagte Wander, nachdem er das Badezimmer wieder verlassen hatte. Er setzte sich, ohne Aufforderung, an ihren Tisch; von hier aus sah er ihr zu, wie sie in der Kochnische mit dem Kaffeegeschirr hantierte – ihre wohltuende Selbstverständlichkeit beruhigte ihn. »Es ist etwas Scheußliches passiert.« »Mit Ihnen?« »Mit Eva Morgenrot – sie ist tot. Sie ist vor knapp zwei Stunden gestorben.« Die Wiebke, die ihm den Rücken zukehrte, hörte auf, sich mit ihrem Kaffeegeschirr zu beschäftigen. Sie schien einen Augenblick erstarrt; dann drehte sie sich herum, sah ihn groß an und fragte: »Wie ist das geschehen?« »Zu viele Schlaftabletten, vermutlich.« »Selbstmord?« »Anzunehmen.« 113
Fräulein Wiebke wandte sich wieder ihrer Beschäftigung zu – sie stellte eine Kaffeekanne und zwei Tassen auf ein Tablett und trug es zum Tisch hinüber. »Sind Sie in irgendeiner Weise daran beteiligt?« »Sie sind schon die zweite Person, die mich danach fragt.« »Also nicht – gut.« Sie stellte eine Tasse vor ihn hin und füllte sie mit schwarzem Kaffee. »Kommt sonst jemand dafür in Frage?« »Erwarten Sie jetzt einen bestimmten Namen zu hören? Einen Namen etwa, den Sie kennen?« »Ich erwarte überhaupt nichts von Ihnen, Herr Wander. Denn ich nehme nicht an, daß Sie hergekommen sind, um sich bei mir auszuweinen – wie ich Sie kenne, würden Sie mir ein derartiges Vergnügen nicht gönnen. Aber Sie kennen mich, leider, noch gar nicht – denn sonst würden Sie nicht versuchen, mich derartig primitiv auszufragen. Oder warum sonst sind Sie hier?« Karl Wander trank seine Tasse leer – ohne sie abzusetzen. Er schob sie der Wiebke zu, die sie erneut füllte. Dann fragte er: »Haben Sie schon einmal einen Menschen sterben sehen?« Sie antwortete darauf nicht. Sie sah ihn nur an, als schätze sie ihn aufs neue ab. Sie schien zu keinem Resultat zu gelangen, das sie befriedigte. Sie fragte: »Warum geht Ihnen dieser Tod so nahe?« »Er macht mich hilflos«, sagte Karl Wander. »Als Junge war ich für einen Hund verantwortlich – er wurde vor meinen Augen überfahren. Ich lief zu ihm hin, hielt seinen Kopf und beugte mich über ihn. Er winselte, japste nach Luft und sah mich dabei an, mit seinen gutmütigen Augen, in denen grenzenloses Vertrauen stand. Aber ich war hilflos. Er hatte Schmerzen, und dann starb er. Das werde ich niemals vergessen. Denn – ich hätte besser aufpassen müssen!« »Trinken Sie Ihren Kaffee aus«, sagte die Wiebke fast 114
schroff. »Und dann müssen Sie schlafen – von mir aus auch hier in meinem Zimmer; ich kann zu einer Freundin gehen, die im gleichen Haus wohnt. Und morgen reisen Sie am besten ab – wieder zurück zu Ihrer menschenfreundlichen Schriftstellerei. Denn dieses Klima scheint Ihnen nicht zu bekommen. Für irgendeine halbwegs brauchbare Ausrede werde ich sorgen.« »Und wenn ich nicht will?« »Sie werden sich das genau überlegen, Karl. Bis morgen ist noch viel Zeit. Und dann werden Sie einsehen: es ist die beste Lösung!« »Und wenn ich nicht kann?« In den Augen der Wiebke schimmerte Verwunderung auf. »Was wollen Sie wirklich?« fragte sie. »Geld verdienen? Das wäre immerhin ein Argument – doch das kann auch Sie einiges kosten. Oder glauben Sie hier so etwas wie eine Aufgabe erfüllen zu müssen – womöglich eine, die Sie sich selbst gestellt haben? Das kann manchmal teuer zu stehen kommen – gerade Menschen von Ihrer Sorte. Denn Sie scheinen bereit zu sein, eine Menge Gefühle zu investieren. Ausgerechnet in dieser Branche! Wissen Sie wirklich nicht Besseres zu tun?« »Schließlich sind Sie auch hier! Warum?« »Ich bin hier gelandet«, erklärte die Wiebke, »ohne mir besonders ausgesucht zu haben, wo und bei wem! Ich investiere dabei weder irgendwelche privaten Gefühle noch politische Ansichten – ich erledige hier eine Alltagsarbeit; weiter nichts. Verstehen Sie – mehr ist nicht drin! Für niemand.« »Immerhin sitze ich jetzt hier!« »Das hat nichts zu bedeuten – weder für mich noch für Sie!« »Ich respektiere das«, versicherte Karl Wander. Er fühlte sich versucht, seine Hand auf die des Fräuleins Wiebke zu 115
legen – und er tat es auch. Und sie ließ es geschehen. »Darf ich wiederkommen – wenn mir wieder einmal sauelend zumute ist?« »Sie wollen doch nicht etwa bei mir Stammgast werden?« sagte sie nahezu erheitert. »Aber wenn Sie hier weiter den Bock als Gärtner spielen wollen ...« »Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?« unterbrach er sie. »Sie müssen doch auch einen Vornamen haben, oder?« »Nun gut«, sagte sie mit schnell überspielter Verlegenheit. »Eine gewisse Belustigung kann Ihnen ja nur guttun – ich heiße Marlene.« »Dieser Name paßt gut zu Ihnen«, sagte Karl Wander ganz ernsthaft. Marlene Wiebke fuhr sich, mit gespreizten Fingern, durch ihr kurzes, strohblondes Haar. Sie blickte unwillig, versuchte vergeblich eine möglichst unpersönliche Atmosphäre zu verbreiten, erhob sich und sagte: »Sie sollten jetzt endlich schlafen gehen.« »Bin bereits so gut wie unterwegs«, versicherte Karl Wander, sitzenbleibend. »Und vielen Dank für das überaus verlockende Angebot, Marlene, mir Ihr Bett überlassen zu wollen – vielleicht ein andermal. Von mir aus bald. Jedenfalls fühle ich mich jetzt schon wieder etwas wohler.« »Je weiter weg Sie von hier sind, desto wohler würden Sie sich fühlen – davon bin ich überzeugt.« Marlene Wiebke ging zur Tür und öffnete sie. »Aber wer weiß, ob Sie nicht tatsächlich ein hoffnungsloser Fall sind.« »Vielleicht«, sagte Karl Wander, sich erhebend, »bin ich das erst in dieser Nacht geworden.« Er griff nach seinem Regenmantel. »Versuchen Sie nicht, mich zu verstehen – das habe ich selbst schon seit einiger Zeit aufgegeben.« 116
»Sie werden morgen nicht abreisen?« »Nein.« Marlene Wiebke gab ihm die Hand. »Versuchen Sie, diese Nacht zu vergessen – ich meine unser Gespräch. Und wenn Sie den Tod von Eva Morgenrot nicht vergessen können, dann sollten Sie vielleicht folgendes bedenken: Jeder angebliche oder wirkliche Selbstmord wird automatisch polizeilich untersucht – wobei es wohl entscheidend darauf ankommt, von wem eine derartige Untersuchung durchgeführt wird.« »Sicher«, sagte Karl Wander abgelenkt, denn er hielt Marlenes Hand. »Aber so was ist gewöhnlich reine Routine.« »In jenem Fall? Bei jedem Beamten? Auch bei einem Kriminaloberinspektor Kohl?« »Wie kommen Sie auf den?« »Er hat gestern abend bei uns im Büro angerufen und Sie dringend zu sprechen verlangt. Er hätte etwas für Sie, sagte er. Sie sollten sich bei ihm melden.« »Das mache ich«, sagte Karl Wander. »Dieser Kohl ist im Grunde seines Wesens ein heimlicher Racheengeltyp. Ich weiß, seine Onkelstimme klingt nicht danach; er sieht auch nicht so aus – und vielleicht weiß er es auch selber nicht.« »Reisen Sie ab!« rief die Wiebke fast heftig – eine Regung, die sie selbst betroffen registrierte. »Ich habe hier noch niemand einen Ratschlag gegeben – aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme. Nur so! Fragen Sie mich nur nicht, warum! Und kommen Sie um Himmels willen jetzt nicht auf falsche Gedanken! Das können Sie sich in Ihrer Situation gar nicht leisten.« »Gute Nacht, Marlene«, sagte er. »Versuchen Sie, trotz allem, so zu bleiben, wie Sie sind.«
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Zwischenbericht V des Mannes namens Jerome Über die Funktion von Fehlern, die unvermeidlich erscheinen – so daß sie wie selbstverständlich anmuten. Kein Fall existiert, der glatt und ganz zu durchschauen oder exakt zu rekonstruieren wäre. Selbst bei den primitivsten Mitmischern meines Metiers, den Briefträgern der Nachrichten, sind gefährliche Komplikationen nicht ausgeschlossen. Um so vielfältiger die Möglichkeiten, wenn höchst verschiedenartige Triebkräfte, Charaktere und Konzeptionen im Spiel sind. Immer wieder wird eine Sackgasse für eine Hauptstraße gehalten. Ein noch so entscheidendes Schlüsseldokument kann in unsere Hände gelegt werden, ohne daß wir es, vorerst, richtig lesen können. Ist das Spiel dann gelaufen, das Ergebnis bekannt, wissen wir natürlich mehr – aber immer noch nicht alles. Kein Fall mithin, bei dem wir nicht Fehler machen. Das verführt natürlich dazu, daß wir diese Fehler wie Selbstverständlichkeiten von vornherein in Kauf nehmen. Selbst dann noch, wenn der eine oder die andere dafür mit dem Leben bezahlen muß. Aber man kann nichts tun gegen Triebkräfte, die man nicht kennt, oder eben nicht erkennt. Diese ganze Angelegenheit war für mich – zunächst – nicht viel mehr als eine Art Privatvergnügen. Ein Gefälligkeitsunternehmen für Peter Sandman. Die Möglichkeit, Nachwuchs zu schulen, kam hinzu. Worum es wirklich ging, wurde nicht rechtzeitig erkannt. Die Kombination Feldmann–Krug–Wander war für mich das eigentlich Interessante und Dominierende; sie schien einige sehr schöne Dschungelkämpfe zu versprechen. Wir glaubten 118
dafür die besten Plätze bezogen zu haben. Und in gewisser Weise war das ja auch so. Nur eben, daß uns bei dieser Staatstheaterdarbietung von unserer Loge aus der Einblick in Kulissenschlachten nicht gewährt war – auch was in den Garderobenräumen passierte, entging uns. Ich glaubte damals folgendes erkennen zu können: Das Ende dieser Eva Morgenrot war vergleichsweise unwesentlich. Ein Selbstmord – nichts weiter sonst. So was kommt, mit unschöner Regelmäßigkeit, in den besten Kreisen vor. Sandman stimmte mir zu. Allein dieser Wander wollte nicht daran glauben. Doch dessen beharrliche Mutmaßungen, Kombinationen und Verdächtigungen vermochten mich nicht zu irritieren. Zumal sich herausstellte, daß Wander, wie ich vermutete, eine Schwäche für dieses Mädchen besessen hatte – wahrscheinlich war es ein sehr privates Interesse, möglicherweise auch nur ausgeprägtes Mitleid. Leute wie Wander reagieren so. Sandman war es denn auch, der mich auf den Kriminaloberinspektor Kohl aufmerksam machte. Der war mir bekannt – er versuchte, möglichst komplikationslos seiner Pensionierung entgegenzuleben. Bis zu jenen Tagen hin hat er jedenfalls, soweit für mich erkennbar, nichts anderes getan. Dabei ist dieser Kohl, unbezweifelbar, ein Kriminalist von hohen Graden gewesen; eben das ermöglichte ihm denn auch eine schnelle, glatte, auf das rein Fachliche beschränkte Arbeit. Eigene oder gar eigenwillige Gedanken über Maßstäbe und Methoden seiner Branche schien er nicht zu kennen. Seine Vorgesetzten bezeichneten ihn als vorbildlich korrekt. Um so enormer die Überraschung, die er uns dann bereitete. Dabei hätte sogar sie vorausgesehen werden können. Es wäre nur notwendig gewesen, diesen Kohl als eine unmaßgebliche Figur in diesem Schachspiel zu erkennen, das wie auf mehreren Brettern zugleich stattfand. Dafür hätte es ausgereicht, ein Bier in einer Kneipe zu trinken, die einer Frau 119
Jeschke gehörte, oder mit Kohls Revierkollegen zu plaudern, oder Dr. Barranski etwas intensiver zu befragen, oder eben diesem Wander den Puls zu fühlen. Frau Jeschke jedenfalls plauderte später, unter anderem, folgendes über Kohl: »... kannte ich ihn seit zwanzig Jahren, mindestens ... kam jeden Abend und trank sein Bier, immer nur eins, ohne viel zu reden ... schleppte eines Tages diesen Wander an ... begann danach zu saufen und sogar zu reden ... sagte mal so was wie: ›Wir sind immer auf der Flucht – und wenn wir Glück haben, werden wir nicht eingeholt. Aber viel Glück habe ich niemals gehabt.‹ So ähnlich.« So was entging uns damals – wir glaubten uns über ganz andere Dinge amüsieren zu dürfen. Etwa über einen Zeitungsausschnitt, den Sandman ausgegraben hatte. Er stammte aus einem Leitartikel, war an die zehn ]ahre alt und hatte unseren Karl Wander zum Verfasser. Der hatte damals folgendes geschrieben : »Das Jahr 1954 ist, für uns, die Stunde Null gewesen. Die denkbar größte Chance, die diese Weltgeschichte zu vergeben hat, war uns zugefallen: der völlige Neubeginn! Und darüber hinaus ist uns eine Lehre erteilt worden, wie sie teurer wohl noch niemals vorher verkauft worden war, mit Millionen von Toten und der totalsten Trümmerlandschaft der Städte und Herzen. Doch was ist nun daraus entstanden?« Ober so was kann ich nur lächeln – und bei einigen meiner engeren Mitarbeiter war es ein ausgesprochener Lacherfolg. Sandman allerdings blieb skeptisch; er nahm in diesem Punkt Karl Wander vollkommen ernst. Denn er war überzeugt davon: auch Wander war es vollkommen ernst damit. Er hatte geschrieben, woran er glaubte. Das aber konnte für mich nur ein Beweis mehr sein, daß wir es hier mit einem notorischen Weltverbesserer zu tun hatten. 120
Und die wollten mir schon immer reichlich komisch vorkommen. Ein Fehler mehr!
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6 Auch ein armseliges Menschenleben kann Millionen wert sein – aber so gut wie nichts kosten. »Da sind Sie ja endlich!« stellte der Kriminaloberinspektor Kohl beim Anblick von Wander erwartungsvoll fest. »Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich Sie vorführen lassen – durch zwei Polizeibeamte und einen Funkstreifenwagen.« »Und was erwarten Sie von mir?« Karl Wander befand sich im Polizeirevier 3. Die Beamten im großen Raum beachteten ihn kaum; für sie gehörte er zu irgendeinem von den drei bis vier Dutzend Fällen, die hier täglich zu bearbeiten waren. Von Kohl, dem Langgedienten, Hochbewährten, am sichersten zu erledigen. »Kommen Sie mit!« forderte der und ging voran, durch den schlauchartigen Korridor in die Vernehmungszelle. Hier deutete der Kriminalbeamte auf den einzigen Stuhl. Wandet? setzte sich; Kohl blieb an der Tür stehen. Er fragte: »Was nun?« »Werden Sie deutlicher«, forderte ihn Wander auf. »Woher soll ausgerechnet ich wissen, was gerade in Ihrem Gehirn vorgeht?« »Der Tod der Eva Morgenrot – warum haben Sie mich nicht sofort darüber unterrichtet?« »Ich wollte das jetzt tun.« »Zu spät«, erklärte der Kriminalbeamte. »Warum?« »Ist das ein Verhör – oder ein Gespräch?« Wander begann sich durch Kohls Schroffheit beunruhigt zu fühlen. »Sollten wir etwa wieder dort gelandet sein, wo wir neulich angefangen haben? Sie glauben doch nicht, daß ich etwas damit zu tun habe?« 122
»Direkt nicht«, sagte der Kriminaloberinspektor; und das klang fast bedauernd. »Und indirekt vermutlich auch nicht. Eher schon könnte das in Frage kommen, was bei uns ›auf Tauchstation gehen‹ genannt wird: nichts wissen wollen, um nichts sagen zu müssen.« »Ich habe mich gestern, den ganzen Tag über, nicht hier in Bonn aufgehalten.« Kohl nickte. »Sie haben Direktor Morgenrot in Essen aufgesucht.« »Irritiert Sie das?« »Nicht unbedingt. Nehmen Sie an, ich registriere das lediglich. Nach einem Gespräch mit Mister Sandman mußte bei mir der Eindruck entstehen, daß Sie ein lückenloses Alibi besitzen.« »Und wer sonst noch?« fragte Wander. »Auch Sabine von Wassermann-Westen? Oder dieser Martin Morgenrot?« »Sie mögen diese beiden wohl nicht?« fragte Kohl fast sanft. »Die kotzen mich an!« »Verständlich«, sagte der Kriminalbeamte. »Auch ich habe mich mit beiden ein wenig beschäftigt – zwangsläufig. Denn dieser mögliche oder angebliche Selbstmord der Eva Morgenrot scheint seinen Zeitplan zu haben. Und der sieht so aus: Etwa zwei Stunden brauchte das Gift, vermutlich Schlaftabletten, um voll wirksam zu werden. Weiter: Entscheidend wichtig ist die Zeitspanne vor der Einnahme der tödlichen Dosis – denn in ihr wurde der Entschluß zur Tat gefaßt. Aber diese Wassermann-Westen ebenso wie dieser Martin Morgenrot erklären, den ganzen Tag, zumindest den Nachmittag, gemeinsam in Köln verbracht zu haben.« »Sie sichern sich gegenseitig ab?« »Vielleicht. Dagegen ist nur schwer etwas zu machen. Mag der Teufel wissen, worauf sich diese Beziehung gründet – doch 123
sie besteht.« »Dieser Martin Morgenrot ist alles andere als harmlos – er hat mich überfallen und zusammengeschlagen wie einen nassen Sack!« »Das ist mir bekannt. Und auch das hätte ich gerne frühzeitig von Ihnen gehört. Doch so mußte ich fast eine Stunde Zeit verschwenden, bis ich es aus Martin Morgenrot herausbekam. Er behauptete – und zwar ziemlich überzeugend –, er habe Ihnen die Fresse poliert, weil er gesehen hat, wie Eva Ihr Appartement verließ, in völlig unmißverständlichem Zustand ...« »Diese Behauptung ist ganz einfach absurd!« »Aber kaum zu widerlegen – denn Eva, Ihr bisher einziger möglicher Entlastungszeuge, ist tot.« »Wollen Sie das gegen mich ausspielen?« »Sie haben unsere Vereinbarung nicht eingehalten, Wander! Denn ich habe Sie wissen lassen, wieviel mir an diesem Barranski liegt. Unmittelbar an Ort und Stelle, in direkter Konfrontation mit dem Objekt, hätte ich ihm vielleicht gewisse Schwierigkeiten bereiten können – jetzt ist es zu spät!« »Sie wollen also auch nicht daran glauben, daß dieser Tod lediglich einer der üblichen Selbstmorde gewesen ist?« »Sagten Sie: auch? Wer glaubt denn sonst noch nicht daran?« »Barranski – vermutlich.« Jetzt war Kohl ehrlich überrascht – und das zeigte er sogar. »Wie kommen Sie darauf?« »Nicht ich bin darauf gekommen – sondern Dr. Bergner. Den hatte ich alarmiert; er erschien noch vor Barranski. Nach seinen Befunden war ein Selbstmord durchaus möglich, ja wahrscheinlich. Doch er war sicher: Dieser Barranski, der diesen Fall mit beharrlicher Bemühung an sich zog, hielt so 124
etwas wie einen Mord durchaus für möglich.« »Diesen Dr. Bergner muß ich sprechen!« »Das kann ich arrangieren – sehr gerne sogar.« »Dann tun Sie das bald.« Kohl griff nach seiner Brieftasche und entnahm ihr einen Zettel. »Hier ist übrigens die Adresse von Eva Morgenrots Mutter, dazu genaue Daten über Geburt und Adoption. Werden Sie die Dame aufsuchen?« Wander nickte. »Nach allem, was geschehen ist, alles andere als ein Vergnügen.« »Und vergessen Sie diesmal nicht«, sagte Kohl, »mich möglichst früh über eventuelle Entdeckungen aufzuklären.« »Sie haben einen Brief an den Wehrbeauftragten geschrieben«, stellte Karl Wander fest, um dann sofort zu fragen: »Stimmt das, was darin steht?« Der Gefreite der Bundeswehr, Fünfinger mit Namen, mit dem sich Wander in Koblenz, in einer Kneipe in Bahnhofsnähe, getroffen hatte, blickte verwundert. »Kommen Sie von diesem Haufen?« »Nein.« »Gehören Sie zu einem ähnlichen Verein?« »Auch das nicht, Herr Fünfinger.« »Polizei? Verfassungsschutz? Irgendwas in dieser Preislage?« »Ich bin gewissermaßen privat und auf eigene Rechnung hier«, erklärte Wander und schob sich auf den Schanktisch zu. »Wozu darf ich Sie einladen?« »Privat«, sagte der Gefreite, »bevorzuge ich Champagner. Können Sie sich das auf eigene Rechnung leisten?« Karl Wander nickte und bestellte. Der Wirt hatte im Eisschrank seiner Bretterbude trockenen Veuve Cliquot 125
gelagert – bei ihm verkehrten Damen, die mit Soldaten verkehrt hatten. Champagner war ihr bevorzugtes Erfrischungsgetränk in Arbeitspausen. Der Gefreite Fünfinger musterte den Mann, der ihn angerufen und eingeladen hatte. »Woher wissen Sie überhaupt, daß so ein Brief existiert?« »Nehmen Sie an, das hat sich herumgesprochen.« »In welchen Kreisen?« Fünfinger war ein kleiner, rundlicher Mann mit einem Kartoffelgesicht, in dem kluge, wachsame, listige Augen blinzelten. Knollig wirkten auch seine Hände. Doch seine Stimme klang sanft, besaß fast zärtliche Untertöne, mit denen er seine lauernde und dennoch fröhliche Ironie kaschierte. Karl Wander schob ihm ein gefülltes Champagnerglas zu. Dabei sagte er: »Ich will Ihnen folgendes vorschlagen: Sie verlangen Ihren Brief zurück, den Sie an den Wehrbeauftragten geschrieben haben; und den überlassen Sie dann mir.« »Mann«, sagte Fünfinger, »Sie scheinen ja eine ziemlich flotte Kugel zu schieben! Woher wissen Sie denn, daß Sie bei mir nicht auf dem falschen Bahnsteig sind? Und warum soll ich meinen schönen Brief zurückfordern?« »Aus zwei Gründen«, erklärte Karl Wander. »Zunächst dies: Ihr Brief könnte, soweit ich informiert bin, als glatte Erpressung ausgelegt werden. Denn Sie haben eine Forderung mit einer Drohung verbunden.« »Quatsch«, meinte Fünfinger. »Ich habe lediglich eine Beschwerde losgefeuert – und der dann einigen Nachdruck verliehen. Das ist alles.« »Ihrer Ansicht nach – aber die muß dort, wo Ihr Brief gelandet ist oder noch landen wird, nicht unbedingt maßgeblich sein. Sie haben nicht formalgerecht gebellt, und deshalb kann man Ihnen ein Schloß vor die Schnauze montieren. Außerdem 126
hört bei einem Erpressungsversuch bei unserer Staatsanwaltschaft jeder Spaß auf.« Der Gefreite griff nach seinem Glas; er leerte es anscheinend genußvoll, wobei er Karl Wander nicht aus den Augen ließ. »Hören Sie mal«, sagte er dann in entgegenkommendem Ton, »versuchen Sie vor allen Dingen nicht, mich für dumm zu verkaufen! Ich nehme an, daß Sie der Wehrbeauftragte zu mir in Marsch gesetzt hat – Sie sollen ihm vermutlich eine Art Freundschaftsdienst leisten. Nun gut, dann sagen Sie ihm: Von mir aus kann er lustig sein, wann, wo und wie immer! Um ihn geht es mir gar nicht. Er soll nur meiner Beschwerde nachgehen – und das mit Schwung!« »Was erwarten Sie denn genau, Herr Fünfinger?« »Daß der Wehrbeauftragte mir hilft, eine Drecksau aufs Kreuz zu legen.« Karl Wander hatte einige Mühe, sich zurechtzufinden. Er füllte bedächtig die Gläser, um Zeit zu gewinnen. Er betrachtete die Bretterbude, in der sie standen – ein weibliches Wesen sah verlangend zu ihnen herüber. Fünfinger ließ ihr Champagner bringen, mit der Aufforderung: sie störe hier und sie werde gebeten, sich ein wenig weiter wegzusetzen. Das tat sie. »Und wenn der Wehrbeauftragte Ihnen bei der Umlegung Ihrer Drecksau keine Hilfestellung leistet?« »Dann lege ich eben ihn aufs Kreuz – ganz einfach!« »Stellen Sie sich das wirklich so einfach vor?« »Klar!« behauptete der Gefreite. »Ich nehme an, Sie wollen wissen, was ich eigentlich in der Hinterhand habe. Nun, das will ich Ihnen gerne sagen. Nur um Ihnen und Ihrem Auftraggeber mal kurz klarzumachen, woher hier der Wind weht. Also – ich habe einen Freund und der hat einen Freund. Meiner ist Etagenkellner im Hotel ›Hohes Eck‹, seiner ist Liftboy im gleichen Prominentenpuff. Und dort steigt auch der 127
Wehrbeauftragte ab, wenn er hier zu tun hat – und hier hat er oft zu tun, wenn er will. Koblenz ist Supergarnison, somit sind die Gelegenheiten günstig – für den Liftboy ebenso wie für den Wehrbeauftragten.« »Vermutete Homosexualität?« »Nachweisbare!« Fünfinger blickte nahezu bedauernd. »Ich kann Unterlagen anbieten! Mehrere. Und alle einwandfrei beweiskräftig.« »Sind Sie wirklich so versessen darauf?« »Hören Sie denn schwer?« fragte der Gefreite fast unwillig. »Von mir aus kann jeder auf seinem Klavier spielen! Und welche Melodie auch immer. Geht von mir aus in Ordnung; solange man nicht versucht, auch mir so eine Nummer reinzuhängen.« »Sie haben ja geradezu tolerante Anwandlungen.« »Dieser Wehrfürsorger und sein Spielknabe, die können mich mal ... nein, das denn lieber doch nicht; ich wollte sagen: von mir aus – geschenkt! Zumal bei denen die Sache überhaupt mehr geistiger Natur gewesen ist – so mit Päderastenpoesie und Lästerlyrik, doch immerhin mit Hotelbett als Unterlage. Warum nicht! Sollen sie, wenn ich nur meine spezielle Drecksau abservieren kann.« »Und wer ist das?« »Ein gewisser Major Drau«, erklärte der Gefreite Fünfinger. »Mein derzeitiger Kommandeur – auch Panzerdrau genannt. Ein altes, erfahrenes Frontschwein, aber auch eine ausgemachte Sittensau – vermutlich seelisch lädiert, weil sie ihn nicht schnell genug befördert haben, denn normalerweise hätte er, seiner Ansicht nach, längst Oberst sein müssen. Daß er das noch nicht ist, könnte mich minutenlang mit dieser Bundeswehr versöhnen. Dieser Drau jedenfalls, von uns nur Drecksau genannt, kompensiert seine Minderwertigkeitsgefühle dadurch, daß er fast pausenlos 128
Unflätiges produziert. Der redet, wie ein normaler Mensch scheißt.« »Und so was, Herr Fünfinger, bringt ausgerechnet Sie auf die Palme? So viel Feingefühl hätte ich Ihnen kaum zugetraut.« »So irrt man sich eben!« Der Gefreite grinste breit. »Geben Sie sich weiter keine Mühe, mich erklären zu wollen. Dieser Drau, diese Drecksau, kann meine Mutter beleidigt haben, meine Schwester oder irgendeine Braut, einen Freund oder mich – was geht Sie das an? Fest jedenfalls steht: allein seine Existenz ist eine einzige Beleidigung.« »So was ist immer schwer zu fassen«, gab Karl Wander zu bedenken. »Der sogenannte Kasernenhof Jargon gilt zwar, offiziell, als unerwünscht, er ist jedoch nicht strafbar. Sonderlich weit würden Sie also mit Ihrer Beschwerde vermutlich nicht kommen. Doch nehmen wir einmal an, Herr Fünfinger, daß es mir gelingen würde, diesen Dräu auszuschalten – wären Sie dann bereit, mir Ihre Unterlagen über den Wehrbeauftragten auszuliefern?« Der Gefreite Fünfinger zog die Champagnerflasche zu sich, betrachtete sie prüfend, goß sich dann den Rest davon ein. »Dazu wäre ich bereit. Aber wie wollen Sie an diesen Drau herankommen ? « »Schätzen Sie, daß der besonders schwer abzuservieren wäre?« »Nicht, wenn man den richtig anpackt! Mal abgesehen von allem, was er im Lauf der Jahre alles angestellt hat: nicht nur sein Wortschatz ist überaus bemerkenswert, sondern er trägt auch stets saftige Trippertexte mit sich herum – in der Brieftasche. Und die hat er sogar, auf Bierabenden, öffentlich verlesen.« »Nun gut«, meinte Karl Wander. »Ich liefere Ihnen also diesen Drau, und Sie liefern mir dafür Ihre Unterlagen – dieses Geschäft wird gemacht!«
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»Ich verstehe Sie nicht«, sagte die Frau, die Karl Wander gegenübersaß. »Ich bin niemals verheiratet gewesen. Ich habe kein Kind gehabt.« Das war in Frankfurt, wo er auf der Rückreise von Koblenz Station gemacht hatte. Er befand sich in einem Modegeschäft in der Nähe der Paulskirche – im Büro der Inhaberin; ein Raum, der gleichzeitig auch Warenlager und Ersatzschlafzimmer war, mit einer doppelbreiten Couch, die von farbkräftigen Stoffballen abgeschirmt war. »Ihre Tochter heißt Eva, nicht wahr?« »Lassen Sie das!« sagte die Frau abwehrend. »Wir vergeuden damit nur unsere Zeit. Und das wäre doch schade, nicht wahr?« Es war unverkennbar, daß sie bereit war, ihn sympathisch zu finden. Sie wirkte ungemein fraulich, wohlgerundet, und schien von sanfter Sinnlichkeit zu sein. Der volle, breite, das Gesicht beherrschende Mund entblößte leicht ihre Zähne; ihre Augen erinnerten an die einer trägen, zärtlichen, lauernden Katze. »Ich mag keine Probleme«, sagte die Frau, wobei sie sich, wie einladend, zurücklehnte, in seidige, anschmiegsame Kissen hinein. »Es gibt Besseres, Schöneres – wenn man nur will. Ein Mann wie Sie, Herr Wander, sollte sich nicht mit der Vergangenheit einer Frau beschäftigen, bei der er sich aufhält.« »Ihre Tochter Eva«, sagte Karl Wander unbeirrt, »ist 1949 geboren, am 15. Juli, in Berlin. Der Vater ist angeblich unbekannt. Eva lebte zunächst bei ihrer Großmutter in Bremen und wurde dann, etwas mehr als ein Jahr später, im November 1950, von dem Ehepaar Morgenrot übernommen und bald danach adoptiert.« »Woher wissen Sie das so genau?« Sie richtete sich auf und blickte ihn mit steigender Unruhe an – dann versuchte sie aufzulachen. »Was geht Sie das eigentlich an?« »Mehr als Sie wohl vermuten können. Denn ich habe Ihre 130
Tochter kennengelernt.« »Na und? Haben Sie was mit ihr?« »Nein!« sagte Wander schroff. »Nun, das wäre doch immerhin möglich – so wie Sie aussehen! Aber vielleicht ist Eva noch zu jung dafür, zumindest zu jung für Sie, Herr Wander. Außerdem geht mich das gar nichts an!« »Ich habe auch Evas Adoptivvater kennengelernt, Herrn Maximilian Morgenrot.« »Ah!« rief sie aus und verlor ihre katzenhafte Trägheit – ihre Stimme bekam schrille Untertöne. »Hat etwa der Ihnen meine Adresse gegeben? Und was hat der über mich gesagt? Aber das kann ich mir schon denken! Doch ich hoffe, Sie glauben ihm nichts davon – denn um ihn zu durchschauen, gehört ja wirklich nicht allzuviel.« »Immerhin haben Sie zugelassen, daß er Eva adoptierte.« »Nicht er! Seine Frau. Und wenn er Ihnen etwas anderes erzählt haben sollte, dann lügt er – wie fast immer. Aber ich bin eine entfernte Verwandte seiner Frau – und da ihre Ehe zunächst kinderlos blieb, übernahm sie Eva, meine Tochter. Denn mir ging es damals ziemlich übel. Außerdem bin ich kein Muttertyp. Diese Adoption war die beste Lösung – für uns alle. Und sie hat sich gelohnt!« Karl Wander schwieg und vermied es, sie anzusehen. Er erhob sich unruhig, schritt auf einen Stapel Stoffballen zu und lehnte sich dagegen. »Die Ehe der Morgenrots blieb dann aber nicht kinderlos«, sagte er ausweichend. »Ja – einige Jahre später kam dann noch dieser Sohn. Wer weiß, wie Maximilian Morgenrot den zustande gebracht hat! Vielleicht ist dieser Martin auch gar nicht von ihm – das war meiner Cousine glatt zuzutrauen. Ich glaube, sie hat in ihrem vergleichsweise kurzen Leben nichts so sehr bereut wie dies: 131
diesen Mann geheiratet zu haben. Und das kann ich ihr nachfühlen, oder sollten Sie diesen Morgenrot etwa für einen Gentleman halten?« »Das ist ein zynischer Egoist und ein penetranter Geschäftemacher«, sagte Karl Wander nicht ohne Berechnung. »Aber von seiner Sorte gibt es eine ganze Menge – sie halten das, was sie treiben, für zeitgemäßen Lebensstil. Aber es könnte doch auch sein, daß dieser Morgenrot erst in den letzten Jahren so geworden ist. Irgendwie machen wir schließlich alle unsere Fortschritte.« »Der war schon immer so!« rief sie enthemmt. »Das war nur nicht gleich herauszufinden. Aber sehr bald fiel dann meine Cousine aus allen Wolken, als sie erkennen mußte, an wen sie da geraten war! Doch eben deshalb hat sie sich ja auch abgesichert.« »Abgesichert? Wie denn?« »Durch die Adoption von Eva! Denn die Fabriken gehören ihr, die hat sie mit in die Ehe gebracht – dieser Morgenrot war dort lediglich ein leitender Angestellter, Verwaltungsdirektor oder so was. Es hat sich also um eine kalkulierte Heirat gehandelt, in erster Linie der Fabriken wegen. Doch als sich dieser Morgenrot immer mehr und mehr als großer Einkassierer entpuppte, kam meine Cousine auf die Idee dieser Adoption. Und dabei ließ sie notariell folgendes festlegen: Falls sie frühzeitig sterben sollte, erhielt Eva, an dem Tag ihrer Volljährigkeit, das Verfügungsrecht über die Hälfte des gesamten Barvermögens und aller sonst noch registrierbaren Vermögenswerte.« »Also in knapp zwei Jahren!« Karl Wander zog einen Stuhl zu sich und ließ sich darauf nieder. »Und während der ganzen Jahre, die Eva im Hause Morgenrot verbringen mußte, haben Sie sich niemals um sie gekümmert?« »Das war die Bedingung! Und ich habe sie eingehalten.« 132
»Um welchen Preis?« Die Frau vor ihm gefiel sich nun in einer großen Geste; sie breitete die Arme aus, mit Besitzerstolz um sich weisend. »Der Preis dafür war dieses Geschäft! Es ist weit und breit eins der besten seiner Art. Und wie konnte ich denn auch dem Glück meines Kindes im Weg stehen? Eva besaß schließlich alles, was sich ein Mensch nur wünschen kann!« »Ein Leben ohne Mutter! Auch ohne Adoptivmutter. Aber mit diesem Menschen als Vater.« »Was wollen Sie denn!« rief die Frau, sich heftig verteidigend. »Nur noch ein paar Jahre, und es hat sich gelohnt – dann kann Eva über Millionen verfügen.« »Das kann sie nicht«, sagte Karl Wander. »Denn Eva ist tot.« »Ich bin heute ganz friedlich«, behauptete Martin Morgenrot und grinste Wander nahezu vertraulich entgegen. »Sie können also ziemlich unbesorgt sein – ich habe, im Augenblick, keinerlei gewalttätige Absicht. Falls Sie mich nicht dazu zwingen.« »Wie sind Sie hier hereingekommen?« »Durch die Tür«, erklärte Martin. Er saß mitten im Appartement 204, als gehöre es ihm. Er hatte sich in einen Sessel gelümmelt und die Beine auf den Tisch gelegt. Ein Aschenbecher, der dort stand, enthielt zahlreiche Reste von Zigaretten – Martin mußte längere Zeit auf Wander gewartet haben. »Wer hat diese Tür aufgeschlossen? Haben Sie einen Schlüssel dafür? Und wenn ja – von wem?« »Das ist doch unwichtig«, meinte Martin Morgenrot, während er Wander, der in Türnähe stehengeblieben war, nahezu verächtlich betrachtete. »Sie sollten sich jetzt lieber für 133
das im Augenblick Wichtige interessieren.« Er ballte seine Rechte zur Faust. »Schließlich bin ich der Bruder einer Schwester, die sich umgebracht hat. Mit Ihrer Hilfe – vermutlich.« »Raus hier!« sagte Karl Wander energisch. »Langsam«, wehrte Martin Morgenrot ab. »Ich weiß – Sie stecken bis zum Hals in Vorurteilen. Nur weil ich jeden Sportwagen haben kann, den ich will, und die meisten Weiber dazu, die ich gar nicht will – weil sie mich ankotzen. Geil sind die vor allem nach meinem Monatswechsel, und dessen Summe ist vierstellig.« »Was ist das schon«, meinte Karl Wander, »etwa verglichen mit siebenstelligen Summen – mit den Millionen, die Ihnen der Tod von Eva einbringt.« »Sagen Sie so was nicht noch einmal«, forderte Martin mit fast leiser Stimme. Es schien, als wolle er aufspringen. Doch fast im gleichen Augenblick versuchte er zu lächeln. Und das gelang ihm sogar. »Irgendwann einmal«, meinte er, »beerbe ich meinen Alten sowieso – und auf ein paar Millionen mehr oder weniger kommt es dabei doch nicht an. Ich verfüge jetzt schon über mehr Geld, als ich ausgeben kann.« »Somit hätte also Eva Ihretwegen gar nicht zu sterben brauchen.« »Genau das ist es, Wander, was ich Ihnen zu erklären versuche! Das müssen Sie mir glauben. Eva war im Grunde ihres Wesens nichts wie eine dumme Kuh – die konnte nicht einmal richtig Milch geben; sie hat nichts wie Mist gemacht. Aber alle wollten bei ihr melken.« »Meinen Sie auch mich damit?« »Natürlich! Und eine Kuh, die man melken möchte – nicht wahr –, schlachtet man nicht. Man pflegt und betreut sie vielmehr, so gut man kann.« 134
»Ich beginne zu verstehen«, sagte Karl Wander. »Für direkt schuldig an Evas Tod halten Sie mich offenbar nicht – wen aber dann?« »Machen Sie mal einen Vorschlag?« Martin Morgenrot sah ihn lauernd an. »Hoffen Sie, einen bestimmten Namen zu hören?« »Allerdings!« rief Martin scharf. »Denn das, Wander, ist in meinen Augen für Sie die einzige Chance – entweder Sie sagen mir, was Ihnen nicht allzu schwerfallen sollte, wer für Evas Tod verantwortlich ist ...« »Oder – was?« »Oder ich mache Sie – allein Sie – dafür verantwortlich. Sie können jetzt wählen.« Die Kundgebung der Vereinigten Vertriebenen-Verbände fand im Kennedy-Park statt, der früher Befreiungspark genannt worden war, noch früher Adolf-Hitler-Park und weit früher Kaiser-Wilhelm-Park. Außer den Namen schien sich hier nicht allzuviel im Verlauf der Jahrzehnte verändert zu haben: Stets aufs neue herrschte auf diesem Gelände der allzeit bereite, stolz provozierende deutsche Kundgebungsgeist. Zumeist Männer, aber auch einige ältere Frauen und dazu willige Kinder und patriotische Halbschwache waren hier zusammengetrommelt und herbeigepfiffen worden. Sie hatten nichts gegen den Namen Kennedy einzuwenden – da ja auch Kennedy nichts gegen diese Vertriebenen einzuwenden gehabt hatte: So hielten sie ihn für einen ihrer Förderer; zumal sie sicher sein konnten, von ihm nicht mehr korrigiert zu werden. Sie marschierten völlig ungestört auf. Fanfaren schrien grell, Ehrenformationen erstarrten, Köpfe reckten sich neugierig empor – denn das Erscheinen des zuständigen Ministers kündigte sich an. Des Ministers Feldmann. 135
Karl Wander hielt sich im Hintergrund; er hatte sich gegen einen Baum gelehnt, von dem ein Lautsprecherpaar wie eine schwere Doppelfrucht herabhing. Unmittelbar daneben wehte eine Fahne im sanften Wind; ein Landeswappen war aufgestickt oder aufgedruckt, eines jener Symbole verlorener Provinzen nach einem verlorenen Krieg. Die Menge, die nicht nur aus der näheren, auch aus der weiteren Umgebung zusammengeströmt war, begann dankbare Begeisterung zu bekunden. Die Versammelten klatschten in die Hände, und einige riefen gerührt: »Bravo!« Es galt dem auf der Tribüne sichtbar gewordenen Minister Feldmann. Dieser Feldmann wirkte wie immer recht würdig, schien selbst ergriffen, nickte väterlich. Auch hob er die Hand, mit der er jedoch lediglich seinen Hut schwenkte, vielleicht auch, um sich in der überreifen Herbstsonne Kühlung zuzufächeln. »Auch er«, sagte eine sonore Stimme neben Karl Wander, »ist ein großer Bruder – doch bereits im Entwicklungsstadium zum Volksväterlichen hin. Das wirkt immer; nicht nur in diesem Lande. Doch hier besonders.« Ohne hinzusehen wußte Wander, wer neben ihm stand. »Sie beabsichtigen doch nicht etwa, Peter, Ihr hundeschnauzenkühles Gemüt an der mehr oder weniger kochenden Volksseele zu wärmen?« »So was funktioniert schon des längeren nicht mehr in der erhofften Weise«, meinte Sandman. »Ich habe inzwischen schon etliche Dutzend Artikel über derartige und ähnliche Veranstaltungen produziert. Und ich habe, während ich schrieb, meine Leser gähnen sehen, zumindest in letzter Zeit. Denn diese flinke Geschäftswelt hat sich inzwischen mühelos an so was gewöhnt – solange nicht Blut fließt, sehen die meisten nur rosa.« In Tribünennähe wurde ein Fernsehjournalist von Versammlungsschützen umstellt und hinausgebeten, wie sie es 136
nannten. Was praktisch hieß: er wurde unter Ordnungsrufen handgreiflich abtransportiert. Der Leiter der Blaskapelle »Heimatklänge«, auf derartige Zwischenfälle vorbereitet, ließ sogleich den Marsch »Alte Kameraden« ertönen. Der Herr Minister plauderte inzwischen, unabgelenkt, mit dem Veranstaltungsleiter. Und der gleichfalls anwesende sogenannte Oppositionsführer betrachtete intensiv seine Stiefelspitzen; immerhin schien es fast, als drohe er zu erröten. »Eine Schweinerei!« rief Wander lautstark den Ordnungshütern zu, als diese mit dem abgeführten Fernsehjournalisten vorübermarschierten – dem Ausgang entgegen. »Eine Schweinerei ist das!« Mister Sandman lachte. »Was wollen Sie denn? Wenn diese Bereitschaftsbullen die sie störenden Elemente nicht gleich zusammenschlagen, ist das fast schon als Fortschritt zu bezeichnen. Selbst sie haben zugelernt – sie wissen zumindest, daß man nicht gleich jemanden erschlagen muß, um ihn zu erledigen.« »Und so was, Peter, erheitert Sie?« »Immerhin kann ich lesen«, versicherte der Amerikaner ungetrübt belustigt. »Außerdem verfüge ich über ein recht brauchbares Gedächtnis. Und das funktionierte, als mir heute, am Sonntagvormittag, das Konzept der Rede, die der Minister jetzt halten wird, auf den Schreibtisch geflattert ist – Sie wissen ja: das ist die übliche Methode, Journalisten frühzeitig zu informieren, damit sie unverzüglich, spätestens Montag früh, voll ins Geschäft steigen können.« »Dieser Versandbetrieb«, sagte Wander, »geht mich nichts an. Und was Sie auch immer vermuten mögen – Sie können es nicht beweisen.« »Natürlich nicht! Denn der Minister wird niemals offen zugeben, daß irgend jemand – in diesem Fall: Sie – an seinem Manuskript herumgebastelt hat.« 137
»Ach was!« wehrte Wander ab. »Solche Sonntagsreden gleichen sich wie ein Ei dem anderen.« »Nur eben, daß hier gar keine Sonntagsrede ist! Was hier ertönt, erinnert mich merkwürdig an die Manuskripte, die Sie mir damals, vor fast zehn Jahren, überlassen hatten. Zumindest sind einige Ihrer damaligen Formulierungen mehr oder weniger wörtlich in der heutigen Rede des Ministers enthalten.« Karl Wander schwieg. Er schien den aufrauschenden Lautsprecherwellen zu lauschen. Nach dem erwählten Versammlungsleiter sprach ein garantiert verläßlicher Landsmannschaftsführer; nach diesem ein zweiter, hierauf ein dritter – Schlesier, Pommern und Ostpreußen meldeten sich. Auch Sudetendeutsche. Sie alle sprachen von der nie erlahmenden Treue zur unvergessenen Heimat, von bedingungslosen Bindungen und heiligen Verpflichtungen. Recht muß Recht bleiben, hieß es. Und: was den Negern im dunkelsten Afrika billig ist, Selbstbestimmung nämlich ... Und müßte man nicht endlich, einerseits dafür, andererseits dagegen, etwas Entscheidendes tun? Nun dröhnte feierlich Minister Feldmann. Er sprach Gruß und Dank aus, auch im Namen des Kanzlers, der leider verhindert wäre. Er versicherte, immer noch einleitend, sein volles Verständnis. Er behauptete, das hier in Erscheinung tretende Gefühl bedingungsloser Bindungen und heiliger Verpflichtungen genau zu kennen. Er versprach, er gelobte geradezu, sich stets dessen bewußt zu sein! Niemand vermöge sich .dem zu entziehen! »Die Weltgeschichte«, erklärte jetzt Feldmann, vom Manuskript ablesend, »muß ihren Sinn haben! Denn sonst stünden wir nicht hier!« »Eine besonders geglückte Formulierung!« meinte Sandman vergnügt zu Wander. »Auch von Ihnen? Allein schon deshalb 138
verzeihe ich Ihnen manches.« Wander schüttelte den Kopf, während der Minister ausrief: »Die Belange von Menschen, die ihrer Heimat beraubt worden sind, wider alles Recht und alle Moral, dürfen niemals vergessen werden!« »Dieser Routine-Seich ist bestimmt nicht von mir«, versicherte Wander. »Nein, wohl kaum«, meinte Sandman. »Aber wie steht es mit dem, was jetzt kommt?« »So viel tapfere Schicksalsbewältigung, so viel aufrichtiger Glaube, so viel reine Zuversicht«, rief jetzt der Minister, »verdienen nicht nur schöne Worte – das alles verdient und fordert den Willen zu klaren Entscheidungen, zu unmißverständlicher, illusionsloser Stellungnahme, ja endlich zur klärenden Tat!« Langsam arbeitete sich der Minister an sein Lieblingsobjekt, die Bundeswehr, heran. Zunächst redete er von der Anteilnahme an den Belangen der Schutzbedürftigen; und schließlich hieß es: »Wir alle bedürfen eines starken und selbstverständlichen Schutzes, einer beruhigenden Kraft, zu der wir völliges Vertrauen haben dürfen. Was praktisch heißt: wir müssen über eine Bundeswehr verfügen, die absolut unmißverständlich von wahrhaftem Verantwortungsgefühl erfüllt ist. Aber, so muß ich jetzt fragen – ist das denn auch tatsächlich der Fall?« Das war nicht der Fall – nicht nach Ansicht des Ministers. Das ebenso ausgedehnt nachzuweisen, war er bestrebt. Wohl lobte er den »ehrlich bemühten« Geist, der die Truppe erfüllte – prächtige Leute, fast alle, wohltuend selbstlos viele, aber leider ohne sicheres Wissen um die entscheidenden Konsequenzen. Warum? »Unsere Soldaten haben noch nicht das Glück gehabt, jene wegweisenden Persönlichkeiten zu finden, die sie verdienen.« 139
»Schenken wir uns den Rest«, meinte Peter Sandman und zog Karl Wander aus dem Bannkreis der dröhnenden Lautsprecher. Erst dicht beim Drahtmaschenzaun blieb er stehen. »Was hat das zu bedeuten? Will denn Feldmann mit Gewalt Verteidigungsminister werden?« »Das«, sagte Karl Wander aufrichtig, »glaube ich nicht. Denn schließlich ist der derzeitige Verteidigungsminister einer von Feldmanns langjährigen Parteifreunden.« »Na und –? Was ist das schon! Wer vorwärtskommen will, pflegt andere beiseite zu drängen, möchte sie hinter sich lassen, auch in der eigenen Partei – haben Sie noch nie davon gehört?« »Es kann doch auch sein«, verteidigte sich Wander, »daß es sich hierbei um einen direkten Auftrag des Kanzlers handelt. Der will endlich die fragwürdigen, unübersichtlichen Zustände in der Bundeswehr geändert sehen. Warum sollte ich zögern, dabei mitzuhelfen? Statt abseits zu stehen? Ich bin, wie Sie wissen, überzeugt davon, daß die Bundeswehr endlich ein stabiles geistiges Fundament bekommen muß.« »Und diesen schönen Wunschtraum, meinen Sie, könnte ausgerechnet ein Typ wie Feldmann realisieren?« »Zur Zeit«, sagte Wander, »scheint wohl kaum jemand so befähigt wie Feldmann, wirklich Übergänge zu schaffen ... Und allein darauf kommt es jetzt wohl an!« Peter Sandman lehnte sich gegen den Drahtzaun. Er sagte, fast nachsichtig: »Und was dann, Karl, wenn dieser Feldmann gar nicht an konstruktiven Übergängen interessiert ist? Versuchen Sie sich einmal vorzustellen, daß er die Bundeswehr als eine Hausmacht will, allein für sich. Halten Sie das nicht für möglich?« »Nein«, versicherte Wander überzeugt. »Das kann ich nicht glauben. Er handelt im Auftrag des Kanzlers.« »Dennoch macht mich einiges überaus mißtrauisch. Da ist einmal die heutige Rede des Ministers – mit diesen 140
Formulierungen, die in seinem Munde und bei dieser Gelegenheit zumindest zweideutig klangen. Hinzu kommen ganz gezielt anmutende Interviews mit General Keilhacke in zwei weitverbreiteten Sonntagszeitungen – sie sprechen eine ziemlich deutliche Sprache. Offenbar versucht sich dieser Mann als zukünftiger Generalinspekteur zu verkaufen. Und was dann? Meinen Sie vielleicht, der führt sich selbst ad absurdum, sich und seine Leute? Das wäre ein gefährliches Spiel ... Fühlen Sie sich dem wirklich gewachsen? Aber weiter. Fast gleichzeitig ist eine recht gut aufgemachte Broschüre in ziemlich hoher Auflage in die Öffentlichkeit gebracht worden, schön bebildert – alles über Feldmann; jedenfalls alles, was er für wissenswert zu halten scheint. Ein perfekter politischer Ehrenmann; ein liebender, treusorgender Familienvater; ein verdienstvoller, vielversprechender und zugleich bescheiden dienender Staatsmann. Darüber hinaus: Feldmann als tapferer Frontsoldat, als Reserveoffizier in letzter Minute, einerseits für den Widerstand gegen Hitler aufgeschlossen, andererseits kam es nicht etwa wirklich dazu – und so weiter. Wenn das nicht kalt kalkulierte Macht ist, was dann?« »Ach, Sandman! Sie haben, wie Alfred Polgar das einmal beschrieben hat, einen Pfeil abgeschossen und dort, wo er steckengeblieben ist, eine Schießscheibe drum herum gemalt; auf diese Weise ist Ihnen ein Kernschuß gelungen. Doch von den derzeit maßgeblichen Politikern scheint mir Feldmann einer der saubersten zu sein.« »Ja, das scheint so. Denn der vereinigt Gentleman-Look mit Bullenenergie, also entscheidende Eigenschaften seiner Vorgänger; zusammen mit seiner betonten Undurchsichtigkeit oder Vieldeutigkeit ist das eine beklemmende Mischung. Und was seine Sauberkeit anbelangt, auf die Sie so bereitwillig hereinzufallen bereit sind, so wissen Sie offenbar wenig von den menschlichen Möglichkeiten; auch er hat, wie jeder Mensch, seine mehr oder minder geheimen Laster.« 141
»Das kann ich nicht glauben.« »Dabei haben Sie sich doch ziemlich dicht an der dafür in Frage kommenden Quelle angesiedelt – ich meine Sabine von Wassermann-Westen.« »Das müssen Sie mir näher erklären.« »Nicht gleich jetzt«, meinte Mister Sandman mit höflichem Spott. »Denn zunächst einmal scheint Ihnen gar nichts anderes übrigzubleiben, als eine kleine Lektion in Zeitgeschichte hinzunehmen, mit der Sie offenbar ebensowenig gerechnet haben.« Er wies mit weiter Geste hinter Wanders Rücken. Der drehte sich herum und erblickte jene Ordnungshüter, die vorher den Fernsehjournalisten abtransportiert hatten. Sie näherten sich jetzt, gewichtig einherschreitend, Karl Wander. Bauten sich vor ihm auf: fett, fleischig und stark. Während die versammelte Menge bereits dabei war, das Deutschlandlied zu singen – und davon nur die erste Strophe. Einer der sich auf Wander zudrängenden Ordner posaunte: »Du hast uns als Schweine bezeichnet.« »Ich habe lediglich Schweinerei gesagt.« »Und uns damit gemeint!« Sie umringten Karl Wander. »Das ist eine gemeine Verleumdung.« Sie griffen ihm unter die Arme. »Das verstößt gegen die demokratische Ordnung – und hier üben wir das Hausrecht aus.« Sie transportierten ihn zum Ausgangstor hin. Dort versuchte einer, Karl Wander einen schwungvollen Tritt in den Hintern zu versetzen. Doch der wich aus, ließ sich zu Boden fallen, rollte sich zur Seite. Trockener Staub wirbelte auf. Dann vernahm er Peter Sandmans Stimme: »Ich behaupte nicht, Karl, daß Sie das verdient haben – aber ich gerate allmählich in Versuchung, es Ihnen zu gönnen.«
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»So, da bin ich!« rief Sobottke, der Chauffeur, mit der ihm eigenen biederen Herzlichkeit. Er schüttelte Wander kräftig die Hand und schien sich dann im Appartement 204 häuslich niederlassen zu wollen. »Also – was soll ich tun, Boß?« »Von mir aus alles, wozu Sie Lust haben – sofern Sie mich in Ruhe arbeiten lassen.« Wander wies auf einige beschriebene Bogen Papier und meinte, mit vorsichtiger Ironie: »Für Ihren Herrn Krug! Wollen Sie mich etwa dabei stören?« »Niemals!« versicherte Sobottke. »Ganz im Gegenteil. Ich will Sie absichern, sozusagen – damit Sie möglichst ungestört rangehen können.« »An was?« »Nun – an Ihre Probleme, gewissermaßen.« Karl Wander schob seine Papiere beiseite. Sobottkes Holzhackergemütlichkeit machte ihn mißtrauisch. »Also, Herr Sobottke – wenn ich Sie richtig verstehe, dann sind Sie nicht hier, um mir eine Nachricht oder ein Schriftstück zu überbringen oder um etwas Derartiges von mir zu empfangen. Sie sind aber auch nicht hier, um mir einen privaten Besuch abzustatten.« »Stimmt. Genau!« Worauf Sobottke bereitwillig anerkennend hinzufügte: »Sie sind ein heller Kopf, darauf muß man achtgeben – damit dem nichts passiert. Das meint auch unser Herr Krug.« »Ist der besorgt um mich?« »Nun ja wohl nicht mehr – wo ich doch bei Ihnen bin.« »Ich erinnere mich aber nicht daran, Herr Sobottke, so was wie Sie bestellt zu haben.« »Haben Sie auch gar nicht nötig, Herr Wander – unser Herr Krug weiß immer genau, was einem fehlt. Sobottke – hat er zu mir gesagt –, unser Herr Wander hat eine schwere, verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen, und die müssen wir 143
ihm erleichtern. Und da bin ich nun.« Wander schob seinen Stuhl zurück, der Wand entgegen, als suche er Rückendeckung. Dann fragte er: »Wie stellen Sie sich das eigentlich vor?« »Ganz einfach – ich begleite Sie in Zukunft, bei allen Ihren Unternehmungen, sozusagen als Geleitschutz.« »Das heißt vermutlich – Sie sollen mich überwachen.« Sobottke blickte nun geradezu entsetzt und hob beschwörend beide Hände – Hände wie Schaufeln. »Aber, Herr Wander – wie kommen Sie darauf! Das dürfen Sie doch unserem Herrn Krug nicht antun – nicht einmal denken dürfen Sie so was! Nur begleiten soll ich Sie – für den Fall, daß Sie mich mal brauchen.« »Sollte das der Fall sein, werde ich Sie anfordern.« »Aber was, wenn ich dann nicht gleich erreichbar bin – dann stehen Sie da! Und das würde mir unser Herr Krug nie verzeihen. Oder haben Sie was gegen mich?« Wander hielt es für ratsam, diese Frage zu verneinen. »Ich bin ein Einzelgänger auf freier Wildbahn«, meinte er erklärend. »Meine Methoden kann ich nur allein anwenden.« »Ich störe Sie nicht dabei – mein Wort darauf. Ich gebe keine Ratschläge, mische mich in kein Gespräch, halte mich sogar abseits – Sie brauchen nur zu befehlen. Im übrigen kann ich Ihren Wagen fahren, wenn Sie wollen, Ihre Aktentasche tragen, Platz für Sie in einem Restaurant reservieren – und so was. Auch internere Sachen – Mädchen etwa. Sie wissen ja, ich habe da Adressen in Köln ...« »Danke, Herr Sobottke, ich habe immer noch keinen Bedarf. Außerdem fahre ich gerne selbst, habe keine Aktentasche und Platz in einem Restaurant hat man mir noch nie zu reservieren brauchen. Herzlichen Dank also für Ihr freundliches Angebot!« »Und was dann, wenn Ihnen mal was passiert?« 144
»Was denn zum Beispiel?« »Nun – Sie könnten ja mal überfallen werden? So was kommt vor! Und was dann?« »Das ist es also«, meinte Karl Wander nachdenklich. »Sie sollen mich gar nicht in erster Linie überwachen – Sie sollen mich vor allen Dingen beschützen. Krug hat Sie somit für mich als Leibwächter vorgesehen. Glaubt er denn wirklich, ich habe einen nötig? Und wenn ja – warum glaubt er das, was hat ihn dazu inspiriert?« »Sie machen da einen schweren Fehler!« rief Sobottke beschwörend aus. »So was sollten Sie nicht tun, Herr Wander! Unser Herr Krug ist wirklich in Sorge um Sie – und Sie verdächtigen ihn.« »Tue ich das? Und woher wissen Sie es dann?« »Ach – was soll ich da noch länger reden!« Sobottke war nun heftig bemüht, das Gespräch, das für ihn peinlich wurde, möglichst schnell zu beenden. »Befehl ist schließlich Befehl – für mich ist das immer noch so, besonders wenn es von unserem Herrn Krug kommt. Sobottke – hat der zu mir gesagt –, du wirst ab sofort Herrn Wander zur Verfügung gestellt, der ist jetzt dein Boß! Fertig! Und da bin ich.« »Also gut«, sagte nun Wander energisch, »wenn ich jetzt Ihr Boß bin – wie Herr Krug gesagt hat –, dann befehle ich Ihnen: Sie verschwinden und lassen sich bis auf weiteres nicht in meiner Reichweite blicken – wenn ich Sie brauchen sollte, werde ich Sie kommen lassen.« »Aber der Herr Krug ...« »Dem richten Sie aus: Ich arbeite für ihn zwar nach seinen Richtlinien, aber ausschließlich nach meinen Methoden – oder überhaupt nicht! Das war’s. Und nun guten Tag, Herr Sobottke – und herzliche Grüße an unseren Herrn Krug.«
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»Wenn ich Sie sehe«, sagte der Kriminaloberinspektor Kohl beim Anblick von Karl Wander, »dann schmeckt mir nicht einmal mehr mein irisches Bier! Aber ich werde mir dennoch ein drittes bestellen, denn dieses ist bereits mein zweites – soweit ist es, dank Ihrer Hilfe, mit mir gekommen!« »Besaufen Sie sich nicht«, empfahl Wander, sich zu ihm setzend. »Denn Ihr Typ wird hier noch dringend gebraucht. Zumal ich einiges weiß, was Sie vermutlich aufmuntern wird.« »Ihre saudummen Geschichten stehen mir bis oben!« sagte Kohl grollend. »Ich habe genug davon! Denn Sie haben mich da schön in die Scheiße manövriert, Wander; jedenfalls ist der Gestank für meine Nerven zuviel.« Sie saßen sich in der Kneipe von Mutter Jeschke gegenüber, in der hintersten Ecke, an einem klobigen Tisch. Eine laternenartige Lampe hing über ihnen. Sie waren die einzigen Gäste. Die Wirtin polierte Gläser. »Für wen arbeiten Sie hier eigentlich, Mutter Jeschke?« fragte der Kriminalbeamte herausfordernd laut. Sie sagte gelassen, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen: »Für meine Gäste.« »Nicht auch für den Verfassungsschutz oder für irgendeinen Geheimdienst? Gleich für welchen – dreckig sind sie alle! Oder liefern Sie Informationen für Rüstungsbetriebe, Parteizentralen, Nachrichtenbüros?« »Quatsch«, sagte Mutter Jeschke energisch. »Sie scheinen tatsächlich nicht mehr als ein Glas Bier vertragen zu können.« »Sie werden sich wundern«, verkündete Kohl, »wie ich mich heute besaufen werde! Denn das habe ich nicht nur nötig, das kann ich mir auch leisten. Ich bin nämlich beurlaubt – bis auf weiteres. So nennt man das.« »Haben Sie«, fragte Wander, »etwa Schwierigkeiten bekommen?« 146
»Ja – nachdem ich welche gemacht habe. So scheint es wenigstens.« Mutter Jeschke griff nach einem Glas, rieb es mit einem frischen Tuch ab, was sicherlich überflüssig war, füllte es mit dem dunkelbraunen, milchigen irischen Bier und stellte es dann vor Kohl hin. Dabei sagte sie: »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, Herr Kohl – manchmal arbeite ich als Zuträger für die Kriminalpolizei; aber nur für Oberinspektoren, die Kohl heißen.« »Schon gut«, sagte der heftig aufschnaufend. »Ich entschuldige mich.« »Unser Freund«, klärte Wander Mutter Jeschke auf, »hat zwar seine Verdächtigungen bei Ihnen abgeladen – aber mich damit gemeint.« »Stimmt genau«, bestätigte Kohl knurrend. »Denn langsam beschleicht mich das fatale Gefühl, Wander, daß Sie hier in Bonn nur gelandet sind, um mich um meine Pension zu bringen. Oder was sonst veranstalten Sie hier?« Karl Wander sagte: »Nun gut – da Sie es offenbar unbedingt wissen wollen, warum soll ich es Ihnen nicht sagen? Also – ich arbeite für das Büro des Parteisekretärs Konstantin Krug. Für ihn habe ich Recherchen über die Bundeswehr durchzuführen.« »Und Sie wollen mir einreden, Wander: das ist schon alles?« »Mir genügt es.« »Und was ist mit dieser Angelegenheit, über die ich gestolpert bin? Was ist mit dieser Eva Morgenrot?« »Ein Zufall, von meiner Sicht aus – nichts weiter!« Der Kriminalbeamte trank langsam sein Glas leer. »Noch so ein Bier«, rief er Mutter Jeschke zu. »Und noch eins für Herrn Wander – damit auch dem schlecht wird!« »Hoffentlich berücksichtigen Sie«, sagte Karl Wander, »daß ich immer nur das sagen konnte, was ich wußte – oder eben zu 147
wissen glaubte.« »Berücksichtigt!« versicherte der Kriminalist. »Dabei muß ich aber vermuten, daß ich Sie nicht richtig befragt habe. Ich hätte mich zum Beispiel weitaus intensiver nach Direktor Morgenrot erkundigen müssen.« »Ist es Morgenrot gewesen, der Ihnen diesen Urlaub besorgt hat?« Der Kriminaloberinspektor Kohl nickte nahezu verlegen, »Ich hätte mich eben besser vorsehen müssen!« »Für leichtsinnig habe ich Sie eigentlich nicht gehalten.« »So kann man sich täuschen. Beispielsweise habe ich über Sie gedacht: hinterhältig ist der nicht.« »Versuchen Sie, weiter so zu denken«, sagte Karl Wander. »Fällt Ihnen das wirklich so schwer?« »Sie haben mir versprochen, eine Unterredung mit diesem Dr. Bergner zu arrangieren – warum haben Sie das nicht getan?« »Der hat inzwischen kalte Füße bekommen. Aber ich bin dabei, ihn zu bearbeiten – er wird auf die Dauer seine Anständigkeit nicht verleugnen können, da bin ich sicher.« »Verdammt noch mal, Wander!« rief Kohl. »Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie sind offenbar immer bereit, sich in tausend Dinge einzumischen, die Sie nichts angehen.« »Die laufen mir nach«, sagte Wander achselzuckend. »Aber ich weiß nicht viel mit ihnen anzufangen – und deshalb verlasse ich mich auf Sie! Sie sind hier der Fachmann!« »Und was für einer!« sagte Kohl resigniert. »Ich bin ein Esel, der unentwegt Bewässerungsräder für die sogenannte Gerechtigkeit in Bewegung setzt. Na ja. Ich habe also – mit einiger Gründlichkeit – alles durchsucht, was dieser Eva Morgenrot gehört hat. Einfach alles – ihre Kleider, ihre Koffer, das ganze Appartement. Und dabei, Wander, habe ich dann 148
etwas gefunden, was Sie vermutlich interessieren wird. Einen Schlüssel! Und in den war die Zahl 205 hineingestanzt. Nun?« »Was wollen Sie mir damit suggerieren?« »Ich bin auch nicht sofort darauf gekommen, was sich damit anfangen läßt. Aber dann fiel mir dieser Martin Morgenrot ein – und dessen Behauptung, er habe Eva direkt aus Ihrem Zimmer kommen sehen.« »Was ich entschieden bestreite.« »Nicht mehr nötig. Denn ich habe mir diesen zweiten Korridor des Hauses, in dem Ihr Appartement liegt, etwas näher angesehen. Und ich bin ziemlich sicher: Dieser Knabe hat sich ganz einfach in der Tür geirrt! Eva ist nämlich gar nicht aus Ihrem Zimmer, also aus 204, gekommen, sondern aus dem Zimmer daneben, aus 205.« »Und wer wohnt dort?« »Niemand – angeblich. Dieses Appartement ist, offiziell, gar nicht vermietet.« »Aber ich habe gelegentlich von nebenan Geräusche gehört – fließendes Wasser, das Schlagen einer Tür, nicht viel mehr. Und alles undeutlich. Die Wände dort sind ziemlich schallsicher.« »Ich habe nur gesagt: Es ist nicht vermietet. Dennoch kann es gelegentlich bewohnt worden sein – voll möbliert ist es ja.« »Besaß nur Eva einen Schlüssel davon?« »Es gibt oder gab davon drei, wie ich herausgefunden habe. Zwei dieser Schlüssel hatte der Hausverwalter – auf Anordnung der vermietenden Agentur – Sabine von Wassermann-Westen ausgehändigt; und zwar bereits vor einigen Wochen. Nur einer dieser zwei Schlüssel befand sich, wie gesagt, unter den Sachen der Eva Morgenrot. Der andere war im Besitz dieser Wassermann-Westen. Nach einem möglichen dritten Schlüssel befragt, meinte sie zunächst, das 149
ginge mich nichts an – ein Standpunkt, zu dem sie ja auch, nach dem Gesetz, berechtigt war.« »Aber Sie ließen nicht locker – wie ich Sie kenne.« »Natürlich nicht. Bei einem weiteren Gespräch behauptete unsere Baronin, nicht zu wissen, ob überhaupt noch ein dritter Schlüssel existiere und wo der sich befinden könne; möglicherweise wäre er abhanden gekommen. Doch bevor ich noch einen weiteren wirksamen Anlauf in dieser Richtung nehmen konnte, mischte sich bereits dieser Morgenrot ein.« »Direkt?« »Wo denken Sie hin! So dumm ist dieser Mann doch gar nicht! Der hat lediglich eine Art höfliche, aber wohl auch deutliche Beschwerde losgelassen – und zwar gleich ziemlich hoch oben! Darin wird vermutlich von mangelndem Taktgefühl der Polizei die Rede gewesen sein, von plumper Einmischung in private Angelegenheiten, von der ständigen Belästigung trauernder Hinterbliebener – und ähnliches in dieser Preislage. Jedenfalls hat Morgenrot auf diese Weise eine ganze Herde von Vorgesetzten aufgescheucht – vermutlich sogar welche aus irgendeinem Ministerium. Die Folge davon war, daß meine Methoden überprüft wurden – und da sitze ich nun! Bis zu meiner Pensionierung vermutlich, wenn ich Glück habe.« »Und Sie konnten nichts dagegen tun?« »Nicht ohne Dr. Bergner – nicht ohne Sie – nicht ohne eine tüchtige Portion Glück. Aber eben darauf scheine ich nicht abonniert zu sein.« »Vielleicht«, sagte Wander, »kann ich da ein wenig nachhelfen. Denn ich bin bei der Mutter von Eva Morgenrot gewesen. Nach deren Angaben, die ich für glaubwürdig halte, hätte Eva bei Erreichung ihres 21. Lebensjahres die Hälfte des Morgenrot-Vermögens zugesprochen bekommen.« »Sagen Sie das noch einmal!« rief der Kriminalbeamte ungläubig. 150
»Durch die Existenz von Eva war das Morgenrot-Vermögen praktisch so gut wie halbiert. In knapp zwei Jahren hätte sie ihrem Pflegevater die Luft abdrehen können – und warum hätte sie das nicht tun sollen, nach Lage der Dinge? Das aber bedeutet weiter: Nicht der Sohn, also Martin, hätte in erster Linie geerbt, sondern sie! Und einer möglicherweise zweiten Frau des Morgenrot wären durch die lebende Eva Millionen entgangen. Bieten sich da nicht Motive an?« »Und wer käme, Ihrer Ansicht nach, als zweite Frau für Morgenrot in Frage?« »Genau die, welche Sie vermuten! Denn auf dem Schreibtisch dieses Morgenrot steht ein einziges Bild, in schwerem Silber gerahmt – ein Foto der WassermannWesten.« Kriminaloberinspektor Kohl schüttete das Irish Stout in sich hinein. Es war, als hätte er lediglich Limonade getrunken. Schließlich sagte er schwer: »Sie sind ein verdammt großer Verführer, Wander! Sie bekommen es noch fertig, mich soweit zu bringen, daß ich mich gar nicht beurlaubt fühle. Zumal auch ich schon so ein Foto gesehen habe. Nur ganz woanders – aber gleichfalls am bevorzugten Platz. Darüber muß ich jetzt mal nachdenken. Und das kann durchaus dazu führen, daß ich irgend etwas unternehme – aber was?«
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Zwischenbericht VI des Mannes namens Jerome Über die Funktion der sogenannten Öffentlichkeit, das Funktionieren von Machtapparaturen und die Pannen, zu denen beides führen kann. Natürlich ist keine Armee dieser Welt vollkommen; und jede hat – je nachdem, von welchem Blickwinkel aus sie betrachtet wird – ihre Helden und ihre Schweinehunde, ihre Karrierehengste und ihr Schlachtvieh, ihre Märtyrer und ihre sentimentalen Idioten. Warum sollte das gerade in diesem Lande anders sein? Minister Feldmann wußte offenbar ziemlich genau, wie sein Spiel am ehesten zu gewinnen war. Vielleicht war das ferne Modell dafür: die seinerzeitige Ausschaltung des ersten bundesdeutschen Verteidigungsministers, obwohl die Verhältnisse damals natürlich in mehrfacher Hinsicht anders lagen und andere Typen im Spiel waren. Bei der jetzigen Pokerpartie jedenfalls war Wander nur eine Karte, wenn auch eine Trumpfkarte. Vermutlich waren noch mindestens drei, wahrscheinlich fünf weitere Zuträger in irgendeiner Form daran beteiligt. Zumindest zwei davon vermochte ich einwandfrei zu bestimmen: der eine ein Journalist, der von hier aus für einen betont deutschdemokratischen Zeitungskonzern nationalbewußte Anliegen koordinierte; der andere ein ehemaliger Gestapobeamter – persönlich unbelastet –, der sein angesammeltes Spezialwissen nur gegen angemessenes Honorar investierte. Daß Karl Wander nichts Konkretes von diesen anderen Mitarbeitern wußte, ist anzunehmen; daß er deren Existenz vermutet hatte, ist jedoch wahrscheinlich. Er jedenfalls 152
erledigte sein Pensum vorbildlich – im Sinne von Feldmann. Oder mehr noch in dem von Krug. Was das jedoch im Enderfolg praktisch zu bedeuten hatte, vermochte ich nicht gleich zu erkennen. Sandmann natürlich auch nicht. Wander erst recht nicht. Wir ließen uns durch die relativ leicht durchschaubaren Grundkonstellationen dieses Unternehmens täuschen. Der Ausgangspunkt dieser Aktionen war folgender: Jede Armee muß jederzeit mit Schwierigkeiten und Komplikationen rechnen, was davon weder unterdrückt noch verschwiegen werden kann, gerät zwangsläufig an die Öffentlichkeit. Das ist an sich noch nicht weiter schlimm. Denn die sogenannte Öffentlichkeit hat ein miserables Gedächtnis, aber einen enormen Magen – was praktisch heißt: Das Volk vergißt schnell und verdaut alles. Und die herrlichen Worte von heute können schon morgen wie häßliche Schatten von vorgestern wirken. Am besten immer, sie versinken möglichst schnell in den Orkus der vergessenen Zeit. Feldmanns Trick bestand darin, für eine kurze Zeitspanne eine pausenlose, beständige, sich möglichst steigernde Unruhe zu schaffen. Er versuchte dabei, gegen das schnelle, willige Vergessen anzugehen. Er elektrisierte oder schockierte müde Hirne mit konzentrierten Alarmnachrichten. Wenn früher einmal die Starfighter mit fast monotoner Regelmäßigkeit aus allen Wolken fielen, wenn Deserteure in Schweden Asyl suchten, wenn vergeudete Schützenpanzermillionen zu dubiosen, mühsam belachten Untersuchungen führte, wenn ein Oberst wegen schwerer passiver Bestechung unter Anklage gestellt wurde und ein Oberregierungsrat und ein Bundestagsabgeordneter dazu, dann hatte man dergleichen hingenommen, als wären es ganz alltägliche, gelegentliche Pannen. Das wurde nun anders. Wenn früher etwa Soldaten schikaniert wurden, dann wurde das von der Öffentlichkeit bald als mehr oder weniger 153
unvermeidlich betrachtet; oftmals wurde es gar nicht mehr veröffentlicht – oder es wurde von zwei oder mehreren Konkurrenten aus geschäftlichen Gründen hochgepeitscht. Genau dies, das systematische Hochspielen, gehörte zu Feldmanns Nachrichtentaktik. Er wie auch Krug, dazu einige mit ihnen verbundene Politiker, hatten schon lange Wert auf Kontakt mit einflußreichen Journalisten gelegt, was zumeist auf Gegenseitigkeit beruhte. Das Ergebnis war hier und dort: eine interne oder frühzeitige Information – dort und hier: ein gemeinsam gezielter Blattschuß oder eine scheinbar nicht unkritische Lobeshymne. Ein sogenanntes »Arbeitsessen« im Hotel Rheinhof vereinigte Feldmann, Krug und fünf weitere Parteigefährten mit sieben sorgfältig ausgesuchten, bereitwilligen Journalisten. Dies war der Auftakt. Minister Feldmann gab dabei zum erstenmal das von ihm persönlich für diese Aktion geprägte Schlagwort zum besten. Es lautete: »In tiefer, anhaltender Sorge um die Bundeswehr!« Zwei der teilnehmenden Journalisten berichteten mir davon, getrennt, doch mit übereinstimmenden Details. Als aber plötzlich im Ausland offenbar unbewiesene Alarmnachrichten über eine angeblich geheimgehaltene Meinungsbefragung auftauchten, wonach bereits jeder dritte Bundeswehrangehörige mit den neuen Nazis sympathisiere, und daraufhin die Wogen nationaler Empörung über solche Verleumdung hochschlugen, stellte sich Feldmann verteidigend – wenn auch nicht ohne besorgte Kritik – vor seine Bundeswehr, noch ehe der eigentlich dafür zuständige Minister überhaupt den Mund aufbekam. Nicht etwa er, sondern Feldmann gewann diese erste Runde vor der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Daß Feldmann selbst es gewesen sei, der jene Nachrichten lanciert habe, um sie unter allgemeinem Beifall zurückweisen zu können, ist nie nachgewiesen worden. 154
Feldmann erhielt nicht nur den Beifall seines Kanzlers, sondern sogar die Schützenhilfe des Innenministers; offenbar war der, ein gleichfalls geschickter Taktiker, heilfroh darüber, daß es Feldmann nicht auf seinen Sessel abgesehen hatte. Auch der augenblickliche Außenminister soll aufgeatmet und Feldmann, telefonisch, seine Sympathie versichert haben. So begann denn alles recht munter. Auf die Idee jedenfalls, uns intensiver mit dem Privatleben eines Wander zu beschäftigen, kamen wir nicht. Um so peinlicher dann für uns der spätere Eindruck: Diese Kampagne ist möglicherweise gar nicht an einer der naheliegenden Schaltstellen entschieden worden, nicht in einem Zentrum der Macht – sondern in irgendeinem Bett.
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7 Voll guten Willens und in bester Absicht – ganz gleich, wer daran glaubt oder glauben muß. Keilhacke, der General, war gerade dabei, wünsch- und weisungsgemäß einen großen, verdienstvollen Truppenführer darzustellen – einen, der sich, stets einsatzbereit, selbst um kleinste Details persönlich kümmerte. Diesmal begutachtete er Leibesübungen. Das geschah auf Anregung einer großen Illustrierten, die ihrerseits dazu von Wander angeregt worden war. Nahezu hundert Hinterteile streckten sich dem General entgegen. Er betrachtete sie mit freudigem Lächeln. Denn er wurde dabei fotografiert. »Gut so?« fragte er Karl Wander, der ihn begleitete. »Versuchen Sie, sachlicher zu wirken«, empfahl der. »Man könnte sonst womöglich auf die Idee kommen, Sie wären ganz besonders am Anblick von Hinterteilen interessiert.« »Unterlassen Sie gefälligst derartige schweinische Andeutungen!« sagte der General empört. »Herr General«, meinte Karl Wander, »ich versuche Sie lediglich darauf aufmerksam zu machen, daß Sie, in Ihrer Position, mit derartigen Unterstellungen jederzeit rechnen müssen. Sie dagegen möglichst immun zu machen, ist eine meiner Aufgaben.« »Verstehe«, behauptete der General. Er war in letzter Zeit strebsam bemüht, über sich hinauszuwachsen. »Zu diesem Punkt befragt, werde ich etwa sagen: gesunder Körper, gesunder Geist! Schöpferische Kraft und kraftvolle Gesundheit. Sind wie Brüder. Schwächlinge, Säufer, Herzkranke, Schwindsüchtige oder sonstwie Körperbehinderte sind nicht selten zersetzende Literaten geworden.« 156
»Ganz so, Herr General, würde ich das an Ihrer Stelle nicht sagen – besonders nicht Journalisten gegenüber. Denn die haben gar nicht selten mehr oder minder heimliche literarische Ambitionen. Sie könnten sich also persönlich angesprochen fühlen. Das aber sollte man vermeiden –, Literaten sind gefährlich empfindsam.« »Sie machen es reichlich kompliziert. Wander«, sagte der General. »Es ist kompliziert«, versicherte Wander. »Aber es gibt dabei eine Faustregel: Versuchen Sie, stets positiv zu wirken! Konzentrieren Sie sich möglichst immer nur auf das, wofür Sie sind – schieben Sie in den Hintergrund, wogegen Sie sind.« »Ich bin ein aufrichtiger Mann!« bekannte Keilhacke. »Ich habe es mir stets geleistet, zu sagen, was ich denke!« »Sie wollen doch Generalinspekteur werden – und wer das werden will, muß auch Diplomat sein können.« »Na und – bin ich das denn nicht?« Keilhacke wies auf seine Begleiter, die sich dezent einige Schritte seitwärts aufhielten. Von hier aus folgten sie dem General und den Vorgängen in der Turnhalle – sie lag zwischen Mainz und Wiesbaden – mit sichtlicher Anteilnahme. Zwei von ihnen waren sogenannte Militärseelsorger, ein katholischer und ein evangelischer. »So was imponiert neuerdings immer.« »Darauf würde ich mich nicht unbedingt verlassen. Selbst noch so gut getarnter kämpferischer Religionsgeist stimmt leicht mißtrauisch. Vielmehr sollte deutlich gemacht werden: Die Bundeswehr toleriert natürlich die Kirche, sogar mit großzügigem Entgegenkommen – findet sich aber nicht auf sie angewiesen.« »Die Geistlichen können abtreten«, befahl der General energisch reagierend. Wander referierte weiter: »Ungleich wirksamer – und des 157
Wohlwollens einer breiteren Öffentlichkeit stets gewiß – ist die Demonstration des absoluten Gefühls für sittliche Sauberkeit.« »Meine Rede – bei jeder sich bietenden Gelegenheit!« »So was sollten Sie einmal praktisch vorführen.« »Wie denn – zum Beispiel?« Der General wanderte, scheinbar begutachtend, an den nackten schweißglänzenden Männeroberkörpern vorüber. Er versuchte nun, sachlich zu blicken. Die begleitenden Fotografen nickten Karl Wander anerkennend zu – männliche Halbnackte und bundesdeutsche Generalswürde, so was ließ sich verkaufen. Zumal Keilhacke, glücklicherweise, ein lesebuchreifes Heerführerprofil besaß. »Eine günstige Gelegenheit dafür läßt sich zum Beispiel in Koblenz finden. Dort existiert ein Major namens Drau, über den ich detailliertes Material zur Verfügung stellen kann. Er wird allgemein nur ›Drecksau‹ genannt; er redet und benimmt sich unentwegt auf die denkbar ordinärste Weise. Ein schädlicher Mann. Den sollten Sie abservieren – möglichst vor aller Öffentlichkeit.« »Mach ich«, versprach der General bereitwillig entgegenkommend. »Sonst noch was?« »In Ihrem Bereich gibt es eine Generaloberst-HoepnerKaserne – Sie haben sie persönlich eingeweiht.« »Jawohl! Denn Hoepner ist ein ganz hervorragender Panzerführer gewesen. Kommt gleich hinter Guderian, meiner Ansicht nach.« »Dieser Hoepner«, sagte Karl Wander lächelnd, »gehörte zu den Männern des 20. Juli.« »Weiß ich!« sagte General Keilhacke großzügig. »Das Vorgehen dieser Leute – ehrenhafte Männer, durchaus, habe verschiedenen nahegestanden – widerspricht zwar meiner soldatischen Überzeugung, aber der damaligen Situation, 158
einem einzigartigen, unwiederholbaren Ausnahmezustand, kann eine gewisse Dings, eine gewisse Staatsnotwendigkeit ja, doch wohl entschieden zugebilligt werden! Gut so, Wander?« »Sie müssen in Ihrer Situation auf alle erdenklichen Provokationen vorbereitet sein – besonders dann, wenn Sie in den nächsten Tagen ein amerikanischer Journalist, Sandman mit Namen, aufsuchen wird. Dem ist so leicht nichts vorzumachen.« »Ich mache niemandem etwas vor!« behauptete der General mühsam. »Ich bin lediglich bestrebt, verpflichtende deutsche Traditionen aufzuspüren. Ich weiß genau, daß dieser 20. Juli eine Art Rohrkrepierer gewesen ist – viel Staat ist damit nicht zu machen. Aber was halten Sie von den Befreiungskriegen? Damit läßt sich doch gewiß einiges anfangen?« »Ist bereits geschehen – und zwar in der von Ihnen sogenannten DDR. Ihre dortigen Generalskollegen haben sich bereits als Nachkommen von Scharnhorst und Gneisenau empfohlen. Wollen Sie den Verdacht riskieren, im gleichen Fahrwasser zu schwimmen?« »Das natürlich nicht!« »Was aber sonst?« fragte Karl Wander unerbittlich. »Wollen Sie etwa auf den Soldatenkönig zurückgreifen, der seine Untertanen geprügelt hat und auch seine Soldaten, die er angeblich so liebte? Oder auf den Großen Kurfürsten, dessen Reitergeneralen durch Nichtbefolgung von Befehlen verheerende Attacken gelangen?« »Was also empfehlen Sie?« fragte der General Keilhacke, noch verwirrter. »Einen völligen Neubeginn! Die vorbehaltlose Anerkennung einer Stunde Null. Versuchen wir endlich einmal, völlig reinen Tisch zu machen!« Stumm und endgültig verwirrt, wenn auch nicht ohne eine gewisse Monumentalität, blickte der General wie in weite 159
Fernen. Die Fotografen arbeiteten entzückt; sie waren sicher, ein neues Feldherrngenie entdeckt zu haben – denn so sah der General jetzt aus. Sein Gesicht schwebte hoheitsvoll über hundert Hinterteilen. »Wir werden also«, behauptete Keilhacke, nunmehr fest entschlossen, in jedem Fall fest entschlossen zu wirken, »aufs Ganze gehen!« »Vorausgesetzt«, sagte Wander leise und weiterhin in höflich-beratendem Ton, »Sie haben tatsächlich eine Ahnung davon, was darunter vorstellbar sein könnte.« »Sie sind wohl verdammt neugierig – wie?« fragte Maximilian Morgenrot, nachdem er Wander begrüßt hatte. Unruhig hüpfte er in seinem altprächtigen Bürokäfig umher. »Und worauf? Auf mein Verhalten, meine Stellungnahme, irgendein Angebot?« »Ich bin lediglich gekommen, weil Sie mich hergebeten haben«, behauptete Karl Wander, ohne sich zu setzen – er musterte den Schreibtisch des Direktors: Das Foto im Silberrahmen stand noch dort. »Sie wollten mir, wenn ich Sie richtig verstanden habe, einige Unterlagen übergeben.« »Da sind sie!« Der alte Morgenrot wies auf ein vergleichsweise dünnes Bündel von Papieren, das in seiner Reichweite lag. »Kaum mehr als zwanzig Seiten – doch nichts als Fakten und Zahlen. Eine Art taktische Atombombe. So bin ich!« »Ich werde dieses Material Herrn Krug übergeben«, sagte Wander, ohne sich zu rühren. »Sonst noch was?« Maximilian Morgenrot schien sich am schweren Fenstervorhang anklammern zu wollen. »Ihr legt euch mächtig ins Zeug – soweit ich das beurteilen kann.« »Die besten Darbietungen kommen erst noch«, versprach 160
Wander, der Morgenrot nicht aus den Augen ließ. »Ihre Aktien steigen mithin von Tag zu Tag – Sie können also denkbar hoffnungsvoll in die Zukunft schauen. Oder stört Sie etwas dabei?« »Setzen Sie sich!« befahl Morgenrot fast heftig. »Im Augenblick stört mich Ihr lauerndes Herumstehen.« Karl Wander setzte sich – doch nicht vor den Schreibtisch, sondern in einen Sessel in Türnähe. »Was kann ich sonst noch tun, um Sie zu beruhigen?« »Sie leisten ganze Arbeit«, versicherte Morgenrot, zur anderen Seite des Fensters hinüberhuschend. »Das erkenne ich an. Vermutlich habe ich Sie unterschätzt.« »Falls das ein Kompliment sein soll – Sie können es sich sparen. Ich bin lediglich im Interesse unserer Sache an greifbaren Resultaten interessiert.« »Die bekommen Sie! Ich habe den Unterlagen für Krug und Feldmann einen Zettel hinzugefügt – allein für Ihren persönlichen Gebrauch bestimmt. Betrachten Sie den als eine Art Geschenk von mir.« »Ein Geschenk? Aus welchem Anlaß?« »Nehmen Sie an – ich finde Sie sympathisch. Und ich sage Ihnen auch noch, warum – später,« Maximilian Morgenrot turnte nun zur Tür hinüber, wobei er sich die Hände rieb; vermutlich war ihm kalt. »Es handelt sich dabei um einen Regierungsdirektor im Bonner Verteidigungsministerium, einen gewissen Ewertz – dem sind, nach diesen allein Ihnen zur Verfügung gestellten Unterlagen, in den letzten Jahren zumindest zwei schwere passive Bestechungen nachzuweisen. Die Summen sind einmal zwanzigtausend, sodann achtundsechzigtausend Mark.« »Einwandfrei nachweisbar?« 161
»Mit allen Einzelheiten! Sie brauchen sich nur zu bedienen – und das werden Sie auch gerne tun, wie ich Sie einschätze. Zumal dieser Regierungsdirektor vom derzeitigen Verteidigungsminister in sein Amt geschoben worden ist. Nun haben Sie also einen Fallstrick mehr.« »Und den liefern Sie mir ohne jede Bedingung?« Maximilian Morgenrot eilte an seinen Schreibtisch, hockte sich dort tief in einen Sessel, zog das silberumrahmte Foto wie mechanisch an sich und meinte hierauf, in betrübtem Ton: »Falls ich Ihnen jetzt noch erklären muß, Wander, was ich von Ihnen wirklich will, dann sind Sie ganz einfach das Geld nicht wert, das ich in Sie zu investieren gedenke.« »In welcher Höhe?« »Zehntausend Mark.« Karl Wander nickte – er gab sich bedächtig, um seine Überraschung zu überspielen. »Sie wollen also, wenn ich Sie richtig verstehe, mit mir über Eva sprechen.« »Was ist mit ihr – tatsächlich – geschehen?« »Alle Anzeichen«, sagte nun Wander vorsichtig, »deuten auf Selbstmord hin.« »Gibt es auch andersartige Vermutungen?« »Offiziell offenbar nicht.« Wander berichtete von den Reaktionen der Polizei und über die Vermutungen von Dr. Bergner, den Befund des Barranski. »Eine Diagnose, die kaum zu erschüttern sein wird.« Morgenrot saß jetzt da wie eine Schleiereule; er schien den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern ziehen zu wollen. »Nun gut, gut!« stieß er hervor. »Das alles mag so sein! Die sagen immer Selbstmord, wenn sie keinen finden können, der in der letzten Phase direkt mitgeholfen hat. Aber was ist vorher gewesen? Wer hat Anteil daran?« »Ist es das«, fragte Wander, ebenso neugierig wie besorgt, 162
»was Sie von mir erwarten – eine präzise Antwort, für den Preis von zehntausend Mark?« »Genau das, Wander!« Morgenrot sprang auf, stellte sich hinter seinen hochlehnigen Sessel, lugte von dort wie ein Scharfschütze hervor. »Ich will – möglichst exakt – wissen, was tatsächlich geschehen ist und wer dabei seine Finger im Spiel gehabt hat.« »Eva machen Sie damit nicht wieder lebendig.« »Versuchen Sie nicht, mich mit solchen Phrasen zu provozieren!« sagte der alte Morgenrot. »Ich leiste mir keinerlei Rachegefühle oder ähnliche Fehlinvestitionen – ich will Tatsachen wissen, um mich gegebenenfalls abschirmen zu können. Wenn man weiß, wozu jemand fähig ist, kann man sich darauf einstellen.« »Und ihn sogar vorbeugend – mit möglichem Belastungsmaterial in der Hand – in die für Sie richtige Richtung zwingen.« »Stimmt!« gab Maximilian Morgenrot zu. »Sie machen Fortschritte. Sie haben gute Chancen, sich Ihre zehntausend Mark zu verdienen.« »Auch dann, wenn jemand aus Ihrer nächsten Umgebung als entscheidende Triebkraft für diesen Selbstmord in Frage kommen sollte?« »Dann erst recht!« rief Morgenrot scharf. »Dann erst habe ich mein Geld richtig investiert.« »Was Sie da von mir verlangen«, sagte Dr. Bergner bestürzt, »widerspricht meinen ethischen Grundsätzen – ich kann doch nicht einen Kollegen hinterhältig ans Messer liefern.« »Aber gerade das möchten Sie doch ganz gerne«, meinte Wander. »Man sieht es Ihnen an.« »Sie reagieren falsch, Wander«, sagte der 163
Kriminaloberinspektor verweisend. »Und Sie, Herr Dr. Bergner, denken nicht richtig.« Karl Wander hatte Dr. Bergner vor dem Krankenhaus aufgelauert und ihn dann in Mutter Jeschkes Kneipe geschleppt. Hier wurden sie bereits von Kohl erwartet. Er hatte die hintere Ecke reservieren und einen Chablis kalt stellen lassen; einen harmlos aussehenden, würzig duftenden, doch wirksam enthemmenden französischen Weißwein. Den schienen sie dann auch zu genießen. Kohl gab sich überraschend gesprächig, erzählte von seiner Arbeit, plauderte über Dunkelziffern und kam dann – sehr schnell – auf jene Kriminellen zu sprechen, die mithelfen, »Mitmenschen langsam zu töten«. Damit war er bei Dr. Barranski angelangt. »Das hat nichts mit richtigem Denken zu tun«, verteidigte sich Dr. Bergner, »so was macht man einfach nicht. Oder würden Sie, Herr Kohl, einen Ihrer Kollegen zur Anzeige bringen?« »Aber natürlich«, sagte der mit großer Selbstverständlichkeit. »Und das ist auch schon geschehen. Sogar mehrmals – und immer mit einer gewissen Überzeugung. Wie kann ich, wenn ich ein ehrlicher Kriminalist sein will, neben mir Kriminelle dulden?« »Bei Ärzten natürlich«, meinte Wander herausfordernd, »liegt das anders. Da kann es jedem, auch dem Besten, mal passieren, daß er eine Leiche produziert. Und so was macht eben solidarisch.« »So ist es natürlich nicht!« sagte Dr. Bergner heftig. »Wahr ist vielmehr, daß es in unserem Beruf vieles gibt, das weder exakt nachzuweisen ist noch mathematisch genau zu berechnen. Und zu den Fundamenten dieses Berufes gehört nun einmal Vertrauen.« »Na, wie schön!« rief Wander, ihn bewußt mißverstehend. »Er hat Vertrauen – zu einem Barranski!« 164
»Nein, das habe ich nicht, Herr Wander! Das habe ich Ihnen gegenüber doch wohl bereits deutlich genug ausgesprochen. »Aber Konsequenzen wollen Sie daraus nicht ziehen!« Der Kriminalbeamte Kohl genoß es, seine Gesprächspartner aneinandergeraten zu sehen. Alles verlief wie mit Wander verabredet – ein sich prächtig entwickelnder Partner; hoffentlich, dachte er, entwickelt der sich nicht gleich allzu prächtig. »Auch einem Barranski muß zugebilligt werden«, sagte Bergner, »daß er schließlich im guten Glauben handeln kann.« »Mann Gottes!« rief Karl Wander empört aus. »So was glauben Sie doch selbst nicht.« »Werden wir mal sachlich«, mischte sich nun Kohl ein – er hielt den rechten Augenblick dafür gekommen; und so war es denn auch. »Soweit ich informiert bin, Herr Dr. Bergner, bestehen bei Ihnen – nun, sagen wir: Bedenken gegen die Praxis-Methoden dieses Barranski. Nur so – aus Ihrem Gefühl heraus? Nein? Weshalb dann? Aufgrund von Vermutungen unter Kollegen? Auch nicht? Also wissen Sie Konkretes?« »Was ist das schon in diesem Metier?« »Also wissen Sie ganz bestimmte Einzelheiten«, stellte Kohl zielbewußt fest. »Allerdings! Aber leider sind Wissen und Beweisen-Können zwei verschiedene Dinge.« »Wem sagen Sie das!« seufzte Kohl bereitwillig zustimmend auf. Dann fragte er, in ausgesucht sanftem Ton, wie völlig nebensächlich: »Und wer, bitte, hat Ihnen zu Ihren Spezialkenntnissen in diesem Fall verhelfen?« »Das ist aber streng vertraulich ...« »Wird selbstverständlich akzeptiert«, versprach Kohl ungeniert. »Um wen handelt es sich also?« »Um eine langjährige gute Bekannte von mir«, sagte Dr. 165
Bergner nach kurzem Zögern. »Sie arbeitet seit einiger Zeit in der Praxis von Dr. Barranski.« Wander hatte einige Mühe, sich zu beherrschen – doch Kohl legte, mit festem Griff, seine Hand auf den Arm seines Partners. Dabei sagte er, unverändert sanft: »Ihre Bekannte hat sich also Ihnen anvertraut – und ich brauche wohl nicht erst danach zu fragen, ob diese junge Dame vertrauenswürdig ist?« »Sie ist es in hohem Maße!« Dr. Bergner war jetzt fast schwungvoll bei seiner Sache. »Was sie beobachtet hatte, alarmierte mich! Aber was konnte ich tun? In seine Praxis eindringen und dann eingreifen? Oder dort gemeinsam mit meiner Bekannten nach Beweisen suchen?« »Das konnten Sie natürlich nicht!« rief Kohl entgegenkommend. »Aber wir – wir können das! Wobei ich Ihnen nicht vorenthalten will, Herr Dr. Bergner, worum es sich hierbei in erster Linie handelt. Um Rauschgift. Bei mir im Büro liegt ein ganz stattliches Aktenstück darüber – aber praktisch ist damit so gut wie nichts anzufangen. Nur Verdächtigungen, Vermutungen, Behauptungen, Spekulationen – kein verwendbares Beweismaterial. Bis jetzt nicht.« »Erwarten Sie das von mir?« »Nein«, sagte Kohl. »Damit will ich Sie nicht belasten – und Ihre Bekannte auch nicht. Sie bleiben beide aus dem Spiel, zumindest unsichtbar im Hintergrund. Was ich allein benötige, ist ein konkreter, rechtzeitiger Hinweis – also eine Zeitangabe, eine Namensnennung, ein möglichst genaues Detail. Den erst erledigen dann wir. Abgemacht?« »Ich habe Ihnen nichts mitzuteilen«, versicherte Sabine von Wassermann-Westen und sah über Karl Wander hinweg. »Und das, was Sie mir möglicherweise zu erklären beabsichtigen, interessiert mich nicht.« »Sie sind aber gekommen«, stellte er fest. 166
»Höchst ungerne«, sagte Sabine, sich überlegen gebend. »Aber Sie haben mein Telefon geradezu blockiert – und mir diese Begegnung aufgedrängt.« Sie hatten sich im Glocken-Cafe in Köln getroffen. Polierte Chromeleganz umschimmerte sie. Gedämpfte Lichter spiegelten sich in dunklem Lack. Die Menschen um sie schienen kosmetische Masken zu tragen; sie wirkten, als seien sie Massenmagazinen entstiegen. Sie starrten auf Sabines blutrotes Kleid. »Jedenfalls«, sagte sie, »scheinen Sie nun wenigstens nicht mehr unter fernen persönlichen Erinnerungen zu leiden.« »Ich genieße sie – wie etwa das schöne Gefühl, eine schwere Krankheit längst hinter mich gebracht zu haben.« »Jeder muß schließlich sehen, wie er mit sich fertig wird«, sagte Sabine lässig. »Ich jedenfalls weiß ziemlich genau, was ich will. Und was uns beide angeht: ich verlange nichts von Ihnen, und Sie sollten sich aus meinen Angelegenheiten heraushalten. Ganz gleich, wer –« »– wer dabei draufgeht«, ergänzte Wander. »Unverbesserlich«, stellte sie, nahezu gelangweilt, fest. Sie ließ für sich einen doppelten Whisky mit Eis und Sodawasser kommen. Was Wander wünschte, interessierte sie nicht. »Diese Einmischung in die Angelegenheiten anderer sind nicht nur aufdringlich, sondern ganz einfach dumm.« »Nun gut – vielleicht bin ich dumm.« Sabine von Wassermann-Westen blickte ihn mißbilligend an. »Ein paar Grundregeln für den alltäglichen Gebrauch dürften selbst Ihnen nicht völlig entgangen sein. Zum Beispiel: Was einer gewinnt, hat ein anderer verloren. Man kann schlafen mit wem man will, irgendwer wird dabei immer betrogen. Wer liebt, erzeugt irgendwo Haß. Damit muß man sich abfinden.« »Auch damit, daß manche annehmen, Sie könnten Ihren 167
Lebensstandard aufbessern auf Kosten des Lebens anderer?« »Immer noch diese penetrante Hochdruckdramatik!« Sabine blinzelte unbeeindruckt in das blaufunkelnde Dämmerlicht. »Das ödet mich an – diese verbohrte, moraltriefende Selbstgerechtigkeit, diese zähklebrige Sittenapostelborniertheit.« »Was«, fragte Wander, gedämpft, sich vorbeugend, mit bohrender Beharrlichkeit, »haben Sie mit Eva Morgenrot angestellt? In meinen Augen sind Sie für alles verantwortlich, was mit ihr geschehen ist! Also auch für ihren Tod!« »Was begreifen Sie schon davon!« Sabine von WassermannWesten griff nach ihrem Whiskyglas, trank jedoch nicht daraus und stellte es wieder auf den Tisch zurück. »Ich hatte das Gefühl, es wäre gut, wenn sich irgend jemand um sie kümmerte.« »Um sie – oder um die Millionen, die sie erben sollte?« Sabine richtete sich auf, was ihre Figur überzeugend zur Wirkung brachte – die blutrote Seide des Kleides umspannte effektvoll ihren Oberkörper. Sie atmete tief ein. Das erwies sich als sehr wirkungsvoll. Dann sagte sie leise: »Ich will die Bemerkung, die soeben gefallen ist, vergessen. Ich bin, in gewisser Weise, sehr großzügig – ich bin das auch Ihnen gegenüber gewesen, was Sie vielleicht gar nicht wissen. Denn ich habe dafür gesorgt, daß Sie hier verdienen können.« »Erwarten Sie nun meine Dankbarkeit dafür?« »Das nicht – das erwarte ich von keinem Menschen –, nur die Bereitschaft, angefallene Rechnungen zu begleichen. Zumindest das ist doch wohl selbstverständlich.« »Und was, glauben Sie, ist ein Menschenleben wert?« »Sie verrennen sich!« Sabine gab ihr nachsichtiges Lächeln auf. »Tun Sie das lieber nicht. Sie haben hier einen Job, der 168
nicht nur gut bezahlt wird, sondern Ihnen auch Spaß zu machen scheint. Wollen Sie den unbedingt verlieren – und noch einiges dazu?« »Ich will wissen, warum Eva Morgenrot sterben mußte. Wegen ihrer Millionenerbschaft? Und wenn ja – mit wem eigentlich sollte die geteilt werden? Mit dem Vater – oder mit dem Sohn? Wen von beiden haben Sie sich ausgesucht?« »Reden Sie so nicht weiter«, sagte Sabine kaum vernehmbar. »Und was ist mit Eva Morgenrot wirklich geschehen? Wer hat sie unter Alkohol gesetzt? Hat sie Rauschgift genommen? Wer hat sie zusammengeschlagen? Und mit wem hat sie sich im Appartement 205 getroffen?« »Kein Wort weiter!« Sabines Hände verkrampften sich. Die Haut ihres Halses, der frei von Schminke war, wirkte graubleich. »Sie haben Eva systematisch an den Rand ihrer Existenz getrieben! Sie haben sie betrunken gemacht, ihr Drogen eingeflößt, sie schließlich verkuppelt – an denjenigen, der den dritten Schlüssel zum Appartement 205 besitzt? Wer ist das?« »Sie wissen nicht mehr, was Sie sagen!« Sabines Hände zitterten. »Haben Sie diesen Stiefbruder auf Eva angesetzt? Oder genügte schon ein Hinweis an Sobottke? Und warum harmoniert Martin mit dieser Playboytype Frost? Wieweit ist auch das Ihr Werk und warum? Nur um Eva von einer Schwierigkeit in die andere zu jagen? Und das wohlberechnend – weil es sich in phantastischer Weise lohnt?« »Sie sind ein widerlicher, schäbiger Schnüffler«, sagte Sabine leise. »Das wird Sie teuer zu stehen kommen!« »Nicht so voreilig! Wem hier was einmal teuer zu stehen kommen wird, muß sich erst noch herausstellen. Haben Sie eigentlich im Einvernehmen oder gar im Auftrag von Evas 169
Pflegevater gehandelt, auf dessen Schreibtisch Ihr Bild steht? Oder haben Sie irgend jemanden zu decken versucht, weil der Sie ruinieren könnte, den zu vernichten aber auch Sie in der Lage wären – weil Sie beide zuviel voneinander wissen? Wer ist das?« Sabine griff nach ihrem Glas. Sie schüttete dessen Inhalt Karl Wander ins Gesicht. Dann stand sie auf und schritt davon – durch die starrende Menge hindurch. Steif, um Haltung bemüht, nicht ohne den Anschein weiblicher Würde. Ein Vorgang, über den später etwa ein Dutzend Zeugen übereinstimmend auszusagen vermochten. Und keiner davon zugunsten von Wander. »Sie werden bereits erwartet«, sagte Marlene Wiebke, auf ihre Armbanduhr sehend. »Sie haben sich um sechs Minuten verspätet.« »Dann können wir noch neun Minuten miteinander plaudern.« Karl Wander setzte sich auf den Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand. »Einen Minister eine Viertelstunde warten zu lassen, kann ich mir doch wohl gerade noch leisten.« »Nicht unbedingt bei Feldmann«, sagte die Wiebke und griff zum Telefon. »Melden Sie mich noch nicht an«, sagte Wander und legte seine Hand auf die ihre, so daß der Telefonhörer wieder auf die Gabel gedrückt wurde. »Ich hätte gerne vorher um eine kleine Auskunft gebeten.« »Warum nicht«, sagte die Wiebke, ihre Hand wegziehend. »Besonders gern, wenn Sie etwa wissen wollen, wann das nächste Flugzeug für Sie in Richtung Heimat abgeht.« »Wollen Sie mich unbedingt loswerden, Marlene?« »Ja«, sagte sie kühl, doch mit funkelnden Augen. »Denn Sie wissen bereits zuviel – Sie kennen sogar schon meinen 170
Vornamen.« »Das genügt mir noch nicht«, sagte er, sie betrachtend. »Ich würde mich gerne etwas eingehender mit Ihnen unterhalten.« »Worüber denn«, fragte sie spöttisch. »Doch nicht etwa über Ihre verschiedenen Damenbekanntschaften?« »Die werden immer weniger – wenn das hier so munter weitergeht.« Wander versuchte, wohlberechnet, darüber zu scherzen. »Aber vorläufig verzage ich noch nicht – zumal man ja so ungemein besorgt um mein Wohlergehen ist.« »Gut, daß Sie mich an Herrn Sobottke erinnern.« Die Wiebke schaltete schnell und sicher. »Zu diesem Punkt soll ich Ihnen von Herrn Krug, wortwörtlich, folgendes ausrichten: Es hat sich um eine Vorsichtsmaßnahme gehandelt; deren Ablehnung durch Sie wird akzeptiert; diese Angelegenheit ist somit erledigt.« »Und was heißt das – genau?« »Deutlicher«, meinte die Wiebke leicht belustigt, »kann man das doch wohl kaum sagen?« »Erledigt heißt also vermutlich in diesem Fall: kein Wort mehr darüber, auch nicht, oder schon gar nicht in Gegenwart von Feldmann. Ist diese Auslegung richtig?« Marlene Wiebke nickte kaum merklich und fragte dann wie erheitert: »Sonst noch was?« »Nun – wir können uns, zum Beispiel, über Schlüssel unterhalten – über Schlüssel zu Appartementtüren. Ich schätze, daß Sie mich mit Leichtigkeit darüber aufklären könnten. Denn soweit ich informiert bin, hat dieses Büro direkten Einfluß auf verschiedene Baugesellschaften, zu denen auch etliche Vermietungsagenturen gehören. Eine davon hat der Wassermann-Westen diverse Schlüssel ausgehändigt – möglicherweise jeweils nur zwei. Wer hat den Auftrag dazu gegeben? Und in wessen Besitz befindet sich der dritte 171
Schlüssel?« »Nein«, sagte die Wiebke schroff ablehnend. »So was geht mich nichts an.« »Auch dann nicht, wenn es für mich sehr wichtig ist?« »Dann erst recht nicht!« sagte sie. »Bei weitem wichtiger wäre für Sie Ihre Heimreise – das nicht zuletzt, um mir weitere nächtliche Besuche von Ihnen zu ersparen. Denn dazu könnten Sie sich schnell wieder veranlaßt sehen, wenn Sie hier weiter wie ein Elefant in allen erreichbaren Porzellanläden herumtrampeln.« »Wissen Sie eigentlich«, fragte Karl Wander, »daß Sie unglaublich schön aussehen? Auch ohne daß ich mir Ihre Brille wegdenken muß, dazu Ihre Helmfrisur und Ihr Sackkleid? So was wie Sie, meine ich, muß man sich wohl erst schwer verdienen – und ich fange gerade erst damit an.« »Ach, Karl, ich kenne jemanden, der Sie einen völlig hoffnungslosen Fall genannt hat – und das nicht zu Unrecht, fürchte ich.« »Unsere Aktion«, stellte Konstantin Krug, nach einem Kopfnicken von Minister Feldmann, fest, »scheint einigermaßen planmäßig zu verlaufen.« »Was ja weiter nicht verwunderlich ist«, meinte Karl Wander. »Mir kommt die deutsche Mentalität manchmal wie ein Lesebuch vor, das allen Schulkindern zugänglich ist; man muß nur verstehen, zur rechten Zeit die richtigen Seiten darin aufzuschlagen.« »Dennoch«, gab der Minister zu bedenken, »sollten wir uns nicht dazu verleiten lassen, uns allzu sicher zu fühlen. Ein einziger Fehler nur – und eine Kettenreaktion von Rückschlägen könnte sich daraus ergeben.« Sie hatten sich, zur routinemäßigen Überprüfung ihrer Aktionen, diesmal in Krugs Büro getroffen. Nur die drei waren 172
anwesend – ein Arrangement, das sich in der Praxis bewährt hatte, da es einem niemals völlig nachweisbaren Gespräch unter vier Augen gleichkam. Akten lagen zwischen ihnen. Doch die enthielten lediglich Berichte von dritter Seite, Zeitungsausschnitte, Kopien von Dokumenten, statistisches Material; keine Aktennotiz, die von Feldmann oder Krug stammte, keine Randbemerkung von ihnen, nicht einmal ein Handzeichen. Selbst den Aktendeckeln fehlte der geringste Hinweis darauf, zu welchem Büro sie gehörten. Diese Sicherungsmethoden, die Wander nicht ganz ohne Bewunderung für nahezu vollkommen hielt, machte auch er sich zueigen – er lieferte nichts Schriftliches und erschien lediglich, wie auch Krug, mit Notizen zu jeder Besprechung, die er unmittelbar danach wieder vernichtete. Der Minister selbst verwertete dabei ausschließlich sein staunenswertes Gedächtnis. »Eine Gruppe befreundeter Bundestagsabgeordneter«, referierte Krug, »ist bereits dabei, sich mit dem Amt des Wehrbeauftragten zu beschäftigen.« »Nicht mit diesem Amt – lediglich mit dem Wehrbeauftragten persönlich«, korrigierte Wander ernsthaft. »Und das darf diesmal nicht derartig fragwürdig unbeholfen vor sich gehen wie damals vor Jahren ...« »Dem Wehrbeauftragten«, sagte Krug, »muß mit Nachdruck klargemacht werden, daß er sich nun schnell entscheiden muß – für oder gegen uns.« »Besser wohl«, empfahl der Minister, »wenn wir sagen: wir versuchen, ihn zu überzeugen.« »Daß dieser Versuch diesmal gelingt«, erklärte Wander, »kann ich fast schon garantieren.« »Ich will nicht danach fragen, welche Methoden Sie anzuwenden gedenken«, erklärte der Minister 173
entgegenkommend, »denn es ist ja wohl selbstverständlich, daß alles absolut legal vor sich gehen wird.« »Klar«, versicherte Wander. »Leuten seiner Art unter Wahrung aller erdenklicher Legalität mehr oder weniger die Luft abzudrehen, ist ja nicht allzu schwer.« Krug erkannte, daß sich die Haltung seines Ministers spürbar versteifte – obgleich dessen Gesicht nicht die geringste Regung verriet. So beeilte er sich dann, diesen Punkt schnell zu überspringen. »Ihre Rede vor den Vertriebenen, Herr Minister, hat sich als ein außerordentlich wirksamer Auftakt erwiesen. Auch die gut vorbereiteten Interviews von General Keilhacke scheinen ihren Effekt nicht verfehlt zu haben. Weitere Generale beginnen aktiver zu werden; ein Teil unserer Presse, auch einige Rundfunk- und Fernsehkommentatoren, schalten sich sinngemäß ein. Sogar der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses beginnt bereits, mit spürbarer Vorsicht zu taktieren.« »Wobei dem noch nachgeholfen werden kann«, versicherte Wander. »Soll ich ausführen, wie?« Der Minister hob warnend-weisend die Hand. »Details dazu«, erklärte er in vertrauensvollem Ton, »würden den Rahmen unserer Besprechung sprengen – die überlasse ich Ihnen, Herr Wander. Mir kommt es in erster Linie auf die Gesamtwirkung an. Die muß überzeugen.« »Um nun zum Verteidigungsminister und seinem Generalinspekteur zu kommen«, berichtete Konstantin Krug weiter, diesmal mit knapp gezeigter Genugtuung, was bei ihm freudiger Erregung entsprach. »Diese beiden scheinen sich in nobel gedachter Zurückhaltung üben zu wollen. Was praktisch heißt: sie haben noch gar nicht richtig erkannt, was gespielt wird. Oder aber: es mangelt ihnen an Gegenargumenten.« »Allein die besseren Argumente«, erklärte Minister Feldmann, ohne etwa dabei zu lächeln, »die besseren 174
Konzeptionen, die besseren Leute müssen überzeugen. Es muß natürlich alles streng demokratisch zugehen.« »Natürlich«, sagte Krug, »es sollte jetzt alles möglichst schnell über die Bühne gehen. Schwerpunkt: das kommende Wochenende. Unmittelbar danach kann dann die Angelegenheit vor den Bundestag ...« »... falls nicht inzwischen der Kanzler eingreift, was ich für nicht ausgeschlossen halte.« Minister Feldmann wies auf die rote Mappe, die vor ihm lag. »Das inzwischen aus Richtung Morgenrot eingetroffene Material über eklatante Fehlinvestierungen im Bereich der Rüstungsindustrie ist höchst alarmierend. Demnach sind für die Entwicklung und Erprobung von neuen Waffen Beträge von etlichen hundert Millionen Mark verschleudert worden.« »Wenn nicht Milliarden!« »Herr Wander«, sagte nun Minister Feldmann bedeutsam vertraulich, »ich weiß, daß Sie eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben haben. Betrachten Sie es bitte nicht etwa als Mißtrauen, beileibe nicht, wenn ich Sie angesichts dieses Materials noch einmal auf Ihre strikte und bedingungslose Geheimhaltungsverpflichtung hinweisen darf. Gerade dieses Material könnte zur höchsten Geheimhaltungsstufe zählen.« »Wer bestimmt so was eigentlich?« fragte Wander. »Das ergibt sich so«, meinte Konstantin Krug, »manchmal ganz zwangsläufig. Zumindest muß man immer darauf gefaßt sein.« »Es könnte sich dabei möglicherweise«, fuhr der Minister fort, »um Material handeln, das Existenzgrundlagen unserer Verteidigung berührt; falls irgend etwas davon in die Öffentlichkeit dringen sollte, könnte das als Landesverrat gedeutet werden. Also, meine Herren, kein Wort, bis ich dem Kanzler berichtet habe. Keine Andeutung! Keinen Namen! Das 175
gebietet das Staatsinteresse.« »Na – zufrieden?« fragte Karl Wander den Gefreiten Fünfinger. »Zufrieden ist gar kein Ausdruck«, versicherte der geradezu dankbar. »Ich bin vielmehr entzückt!« »Fein – dann haben Sie also dieses Theater genossen.« »Es ist eine Show mit allen Schikanen gewesen, die dieser Keilhacke abgezogen hat! Vor breitestem Publikum!« Fünfinger schwärmte fast davon. »Ich glaubte meinen Augen und Ohren nicht zu trauen. Der fuhr in unserer Kaserne auf wie ein Panzer. Dann hat er vor versammelter Mannschaft eine Rede vom Stapel gelassen, bei der mir fast die Tränen gekommen sind. Einfach zum Schießen, wie der Mann getönt hat! Von Ehre und Würde des Menschen, speziell des Soldaten. Von Sitte und Sauberkeit. Er gedenke, rief er uns zu, keine üblen Schweinereien in seinem Bereich zu dulden. Dann forderte er uns auf, ihm dabei behilflich zu sein; denn auch das wäre unsere Pflicht und Schuldigkeit. Na, und damit war das Eis gebrochen – er bekam zu hören, was er so sichtlich gerne hören wollte. Und bereits zwei Stunden später war dann Drau, die Drecksau, so gut wie endgültig wieder Zivilist. Mann, Wander – wie haben Sie das angestellt?« »Ich saß – ganz zufällig – am richtigen Hebel«, meinte er. Sie hatten sich wieder in der gleichen Kneipe getroffen, sich in eine Ecke gesetzt und Champagner bestellt – Fünfinger hatte behauptet, seine Trinkgewohnheiten nicht ändern zu können, zumal doch ein überaus freudiges Ereignis zu begießen wäre. »Daher die ganze Zeche heute auf meine Kosten!« Zwei pausierende Straßenmädchen lud er großzügig ein, sich, in allerdings mindestens vier Metern Entfernung, vollaufen zu lassen. »Spätere Verwendung nicht ausgeschlossen.« »Damit also«, stellte Karl Wander fest, »habe ich meinen Teil unserer Vereinbarungen erfüllt. Nun sind Sie an der 176
Reihe.« »Bin ich das?« fragte Fünfinger grinsend. »Was aber, wenn ich jetzt sage: Tut mir leid – ich kann leider nicht liefern, Sie haben sich den falschen Geschäftspartner ausgesucht? Was dann?« »Dann«, behauptete Wander, »würde ich Ihnen die Fresse einschlagen.« »Schade«, sagte der Gefreite, »daß ich Ihnen ein solches Vergnügen nicht bieten kann. Ich bin ein ganz guter Boxer, Divisionsmeister im Mittelgewicht. Das sieht man mir nicht an, was? Ja, man sieht mir so manches nicht an. Auch nicht, daß ich – auf meine Weise – in dieser Dreckwelt eine Art Ehrenmann geblieben bin, wie ich hoffe. Das bedaure ich zwar manchmal schwer, aber nicht bei Ihnen.« Fünfinger knöpfte umständlich seinen Uniformrock auf, griff in eine tiefliegende Brusttasche und zog ein fingerdickes Bündel Papiere hervor, die ein Gummiband zusammenhielt. Dieses Päckchen warf er vor Wander hin und sagte: »Inhalt: ein Tagebuch, drei populärpoetische Bekenntnisse, fünf Briefe; dazu acht Adressen. Zufrieden?« Karl Wander nahm die gebündelten Papiere an sich, entfaltete sie, überflog ihren Inhalt kurz. Seine Augen blickten dunkel. Dann sagte er, Fünfinger kopierend: »Zufrieden ist gar kein Ausdruck – aber ausgesprochen entzückt kann ich natürlich nicht sein.« »Bin ich auch nicht«, erwiderte Fünfinger. »Aber diese Drecksau endlich platt auf dem Bauch landen zu sehen, ist mir schon einiges wert gewesen. Werden Sie dieses Material verwerten?« »Nur indirekt – ich hoffe, das wird genügen.« »Um so besser«, sagte Fünfinger und grinste wieder. »Sind Sie etwa weiter an ähnlichen Geschäften interessiert? Vielleicht kann ich Ihnen noch eine andere Gegenleistung für 177
eine abermalige Moralparade bieten – ich sehe nämlich so was furchtbar gerne!« »Nein, danke!« rief Karl Wander. »Mein Bedarf an Intimitäten ist gedeckt.« Er zuckte mit den Schultern. »Dieser Fall ist ein Ausnahmefall. Ein Notfall sozusagen.« »Ich meine auch keineswegs Intimitäten«, sagte Fünfinger. »Es gibt da doch noch ganz andere Möglichkeiten. Man muß sie nur finden.« »Wie stellen Sie sich das denn praktisch vor?« »Nun – es gehört ein wenig Phantasie dazu; und die habe ich, wenn ich will.« Der Gefreite Fünfinger blinzelte genießerisch vor sich hin. »Da ist doch mal, vor einiger Zeit, eine ganze Rakete mit vollmagnetischem Sprengkopf verschwunden – einfach verschwunden! Mensch, haben die sich damals aufgeregt! Und die bundesdeutsche Nation errötet geradezu vor Scham, wenn auch nur vorübergehend, daß so was überhaupt passieren konnte.« »Das jedoch hat zur Folge gehabt, daß nun derartige Objekte von drei- und vierfachen Sicherungskreisen umgeben werden!« »Sie sind ein militärischer Fachmann, Kamerad Wander«, sagte der Gefreite Fünfinger. »Aber ein Alltags-Praktiker sind Sie nicht. Es stimmt: diese Absicherungen sind konzentrisch um die Objekte herum angeordnet. Na – und? Es genügt doch völlig, so eine Rakete, oder sonst irgend etwas in ähnlicher Preislage, einfach verschwinden zu lassen. Und nichts leichter als das. Man gräbt es ein! Man versenkt es! Etwa in eine Baugrube. Darauf kommt so leicht niemand. Sie werden dann suchen, bis ihnen die Luft ausgeht; sie werden einen Wirbel veranstalten, der aller Voraussicht nach in alle Zeitungen dringt ... Na, was halten Sie davon?« »Fünfinger«, erklärte Wander, »Sie sind eine Art Genie. Machen Sie das! Möglichst noch in dieser Woche. Wir bleiben ab sofort in ständiger Verbindung.« 178
»Hatte ich nicht bereits das Vergnügen, Sie kennenzulernen?« fragte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses entgegenkommend. »Wir sind uns, wenn ich nicht irre, bei der Frau Baronin begegnet.« »Sie irren sich nicht«, sagte Karl Wander, gleichermaßen höflich. »Aber ob es sich für Sie dabei tatsächlich um ein Vergnügen gehandelt hat, das muß ich leider bezweifeln.« Der Mann mit dem Oberlehrergesicht und der energievollen Kinnpartie lächelte mit guttrainierter Duldsamkeit. »In einem Amt wie dem meinen muß man immer auf vieles gefaßt sein – auf Vorurteile, Einmischungen, Verleumdungen, Intrigen, sogar Erpressungsversuche ... Natürlich habe ich von Ihnen, Herr Wander, nichts dergleichen zu erwarten. Zumal Sie mir durch meinen langjährigen Parteifreund Krug angekündigt worden sind. In bestimmter Mission?« »Ich soll Sie zum Abendessen einladen«, sagte Wander lächelnd. »Und dafür gedenke ich Ihnen interessanten Gesprächsstoff zu liefern.« Der Vorsitzende hatte Wander im Bundeshaus, in dem ihm dort zur Verfügung gestellten Raum empfangen – lindgrün war der Fußboden belegt, die Wände waren mit dunkelbraunem Holz verkleidet, blütenweiß leuchtete die Deckenfarbe, auch die der Vorhänge. Sonderlich prächtig war das alles nicht, doch es wirkte gediegen. »Machen Sie es sich bequem«, forderte der Vorsitzende Wander auf und wies auf einen dunkelbraunen Ledersessel. Wander schlug die Beine übereinander und sagte: »Sie gehören zu denen, die weithin unbelastet erscheinen.« »Das bin ich tatsächlich.« Der Vorsitzende stellte das nicht ohne schlichten Stolz fest. »Sagen wir: ein Glücksfall! Denn die so überaus beklagenswerte deutsche Vergangenheit hat wohl kaum jemanden unbefleckt gelassen – ich jedoch bin sozusagen rein geblieben.« 179
»Bis auf eine Kleinigkeit – die jedoch nichts wie ein zufälliger Schönheitsfehler zu sein scheint.« Der Vorsitzende lachte unbekümmert auf. »Ich kann mir denken, worauf Sie hinauswollen – auf das, was zunächst von der Ostzonenpropaganda künstlich aufgebauscht, doch inzwischen bei uns restlos aufgeklärt worden ist.« Er offerierte erlesene Havanna-Zigarren aus einem silbernen Kästchen – für besondere Besucher bestimmt; offensichtlich hatte er Wander instinktiv als solchen erkannt, »Ich bin«, klärte er seinen Gesprächspartner auf, »im Jahre 1944 in einen Prozeß verwickelt worden, in dem es um angeblichen Hoch- und Landesverrat ging. Meine Zeugenaussage konnte leider nicht verhindern, daß der damals Beschuldigte zum Tode verurteilt wurde.« »Darüber«, sagte Karl Wander, »existieren sehr unterschiedliche Versionen.« »Sie existieren – wie schon zugegeben. Und sie wurden, nachweisbar, von staatsgefährdenden Elementen, darunter Kommunisten, in die Welt gesetzt, um meine Ernennung zum Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses zu hintertreiben. Doch niemand nimmt so was heute noch ernst.« »Der damals zum Tode verurteilte Unteroffizier hieß Kayser, nicht wahr – Friedrich Johann Kayser.« »Ja. Und ich bin bemüht gewesen, zu seinen Gunsten auszusagen – er selbst könnte das am besten bezeugen. Doch er lebt ja nicht mehr.« »Sind Sie sicher?« fragte Wander lauernd. Zum erstenmal zeigte sich eine erkennbare Wirkung – der Vorsitzende öffnete den Mund und ließ ihn einen Augenblick offen. Nur mühsam sagte er dann: »Was Sie da andeuten, Herr Wander, das ist doch völlig ausgeschlossen!« »Nehmen Sie einmal an, dieser Mann lebte noch; er hätte 180
damals gerade noch überlebt. Und nehmen Sie weiter an, er wäre nunmehr bereit, die damaligen Vorgänge wieder aufzurollen und dabei zu behaupten, daß eine einzige Zeugenaussage zu seiner Verurteilung geführt hat – die Ihre!« »Ich bitte Sie – das kann nicht sein!« rief der Vorsitzende nun entsetzt. »Es wäre die Unwahrheit!« »Ihrer Ansicht nach.« »Und warum, frage ich Sie, sollte dieser Mann – falls er tatsächlich noch lebt – eine derartige Ungeheuerlichkeit behaupten?« »Nun«, sagte Karl Wander, »vielleicht, weil ihm Ihre Nase nicht gefällt. Oder aus purem, jetzt erst richtig entdecktem Gerechtigkeitssinn. Kann aber auch sein, daß dieser Mann einen neuen, vielversprechenden Posten antreten möchte, etwa in einer Rüstungsfabrik, und daß der ihm auch zugesichert wäre – vorausgesetzt, daß er sich nunmehr bereit zeigt, seine Vergangenheit überzeugend zu bereinigen. Wollen Sie es unbedingt darauf ankommen lassen?« »Nein – das nicht!« Der Vorsitzende war blaß geworden. »Unter keinen Umständen. Aber was soll ich tun?« »Abendessen um zwanzig Uhr«, sagte Karl Wander. »Daß Sie sich überhaupt noch hierher trauen, Sie Schlitzohr!« rief ihm Peter Sandman entgegen. »Sie sind einer der gerissensten und unverschämtesten Burschen, die mir jemals über den Weg gelaufen sind!« »Haben Sie mich herkommen lassen, um mir das zu sagen?« Karl Wander ließ sich im Büro des amerikanischen Journalisten nieder. »Auf Komplimente dieser Art, zumal von Ihrer Seite, kann ich gerne verzichten.« »Wander – Sie haben ganz offensichtlich versucht, sogar mich übers Ohr zu hauen! Und das ist so ziemlich der einzige 181
Punkt, in dem ich empfindlich bin.« »Aber das ist doch Unsinn, Peter!« rief Karl Wander bestürzt. »Dabei kann es sich nur um ein Mißverständnis handeln. Los, packen Sie aus, lassen Sie uns das sofort bereinigen.« »Gut – wir werden also reinen Tisch machen!« Peter Sandman griff nach seiner bereitliegenden Aktenmappe, in der sich offenbar ein Stapel Fotos befand. »Und ich bin jetzt schon mächtig gespannt darauf, welchen Bären Sie mir diesmal aufzubinden versuchen werden, Wander.« »Hören Sie mal, Peter – oder Mister Sandman!« Karl Wander wechselte von seiner Bestürzung übergangslos zu Empörung. »Sie können mir ja zutrauen, was auch immer – und vieles davon mag zutreffen. Nur zwei Dinge nicht! Einmal dies: ich werde niemanden betrügen, der mir ehrlich entgegenkommt. Und dann: ich werde einen Menschen, mit dem ich befreundet sein möchte, nicht wie einen Dummkopf behandeln. Ist das deutlich genug?« »Ja, Karl«, sagte Sandman mit hervorbrechender Herzlichkeit. Doch dann schlug er auf sein Aktenstück mit den gestapelten Fotos. »Aber das hier werden wir klären müssen – darauf bestehe ich! Und wenn auch nicht mehr aus Mißtrauen, dann aus Neugier.« »Einverstanden, Peter – fangen Sie an.« Sandman zog seine Schreibtischschublade auf; ihr entnahm er eine Whiskyflasche und zwei Gläser. »Trinken wir zunächst einmal.« Er füllte die Gläser, schob eins davon Wander zu, hob das seine und sagte: »Möge es nicht das letzte sein!« »Sie machen das verdammt spannend, Peter! Und langsam fange ich tatsächlich an, mich zu fragen, ob ich vielleicht irgend etwas angestellt habe, von dem ich gar nichts weiß.« »So was kann vorkommen! Also – Sie haben mir mehrmals versichert, daß es Ihnen allein um eine möglichst 182
einschneidende Reform der Bundeswehr geht, jedoch nicht unbedingt darum, daß Feldmann der nächste Verteidigungsminister wird.« »Stimmt genau!« »Aber ich halte diesen Minister für einen Mann, dem zugetraut werden kann, daß er diese Bundeswehr glatt verkauft – und zwar an jeden, der es ihm ermöglicht, Kanzler zu werden. Was praktisch heißt: er schafft sich ein Machtinstrument und degradiert es dann zur Ware. Und dabei helfen Sie mit.« »Unter keinen Umständen! Bisher weiß ich nur folgendes: Feldmann handelt im Auftrag oder doch mit Billigung des Kanzlers. Das ist mir versichert worden, und daran glaube ich auch.« »Ich aber nicht. Ich bin vielmehr überzeugt davon, daß zwischen Ihnen und Feldmann außerordentlich interne, sogar sehr persönliche Beziehungen bestehen. Beziehungen, die verdächtig weitreichend sind.« »Peter – das ist einfach absurd!« »Das kann ich beweisen«, sagte Sandman. Er schlug, nahezu umständlich, seine Mappe auf, entnahm ihr ein Foto und reichte es zu Wander hinüber. »Fangen wir damit an – der Minister mit Familie! Ein schön arrangiertes, gemütvolles Kleingartenidyll; sie ein freundlich nichtssagender Hausfrauentyp, dazu zwei herzige Allerweltskinder, ferner ein garantiert reinrassiger deutscher Schäferhund. Und darüber – strahlend wie eine milde Heimsonne – ein gütiger, gnädiger und wohl auch gottesfürchtiger Familienvater, der Minister.« »Na herrlich!« sagte Wander unbeeindruckt. »Aber ich kenne die Familie des Ministers gar nicht – ich habe seine Frau und seine Kinder noch niemals persönlich gesehen, nicht einmal seinen Schäferhund. Dieses Foto sagt mir also nichts.« »Das will ich Ihnen zugestehen«, meinte Sandman. »Wie Sie 183
auch mir, hoffentlich, einige spezielle Erfahrung zugestehen müssen. So etwa bin ich sicher, daß sich ein Feldmann nur dann in Positur stellt, wenn er sich einiges davon verspricht – wie etwa hier.« Das Foto, das nun Karl Wander vorgelegt wurde, zeigte Teilnehmer einer Abendgesellschaft von der Art, die man hier gern als klein, aber erlesen bezeichnete; Herren, etwa zwölf, zumeist im Frack, mit Orden; Damen, etwa sechs, im großen Abendkleid; zwei Minister, zwei Botschafter, ein General und ähnliches in derzeitiger Konjunkturqualität. Feldmann im Mittelpunkt. »Die Gastgeberin dieser illustren Illustriertengesellschaft steht links vorne«, sagte Peter Sandman. »Ich habe sie keinesfalls übersehen«, entgegnete Karl Wander. »Und eben deshalb, Karl, darf ich doch wohl annehmen, daß Sie recht gut darüber Bescheid wissen, welche Rolle die Baronin, Sabine von Wassermann-Westen, in dieser Gesellschaft spielt.« »Sie sind dennoch, Peter, fürchte ich, auf dem falschen Dampfer!« »Befürchten Sie ruhig einiges – das aber nicht! Denn nun glaube ich zu wissen, woher hier eigentlich der Wind weht! Denn diese Sabine, die Baronin, ist vermutlich bereits seit einigen Jahren mit Feldmann befreundet, wie man so sagt. Was praktisch heißt: er tut einiges für sie, und sie ist ihm dafür dankbar und durchaus bereit, einiges für ihn zu tun.« »Das«, meinte Wander nachdenklich, »könnte sein. Denn Sabine ist ziemlich geschäftstüchtig.« »Bin ich noch nicht deutlich genug gewesen?« fragte Sandman sichtlich erstaunt. »Die beiden schlafen miteinander!« 184
»Tatsächlich?« fragte Wander, gleichfalls mit Erstaunen. Sie starrten einander an. Dann begann Peter Sandman schallend aufzulachen. Er sagte: »Junge, Junge – Sie sind einer der besten Pokerspieler, die mir jemals über den Weg gelaufen sind! Denn Sie wollten nichts als mich bluffen!« Sandman entnahm seiner Mappe ein weiteres Foto und hielt es triumphierend hoch – die Bildseite in Richtung Wander. »Denn das hier habe ich gefunden, beim Durchstöbern alter Papiere, die mir vor fast zehn Jahren über Sie in die Hände geraten sind: der einstige Bundeswehrrebell – ganz privat.« Und dann knallte er, wie eine Spielkarte, dieses Foto vor Wander auf den Tisch. Der warf einen kurzen Blick darauf – das Bild zeigte: ihn, in Offiziersuniform, auf einem Presse-Ball in München; ein sichtlich fröhlicher junger Mann, glatt, knabenschlank und munter. Lächelnd betrachtete er das weibliche Wesen an seiner Seite – Sabine. »Ein bemerkenswerter Fund, dieses Foto – geben Sie das zu?« Peter Sandman sah Wander nicken. »Und geben Sie weiter zu, daß ich berechtigt war, daraus gewisse Folgerungen zu ziehen?« Abermals nickte Wander. »Damit also, mein Lieber, schließt sich diese Kette – um Ihren Hals. Denn damit wird bewiesen, daß zwischen Sabine, Feldmann und Ihnen weit engere Beziehungen bestanden haben, als das zu vermuten gewesen war. Es handelt sich also um eine Aktion mit ausgesprochen intimen Privatinvestitionen. Oder wollen Sie das ableugnen?« Karl Wander schüttelte heftig verneinend den Kopf. »Gewiß, ich gebe zu, ich habe Sabine Wassermann – so hieß sie damals – gekannt. Doch dann trennten sich unsere Wege, auf wenig schöne Art; vielleicht erzähle ich Ihnen das mal gelegentlich. Danach glaubte ich sie völlig und gerne vergessen zu haben. 185
Bis ich sie hier wiedersah, einmal in Person, dann aber auch als Foto – auf dem Schreibtisch von Maximilian Morgenrot. In Silber gerahmt. Das sollten Sie sich ansehen, Peter.« »Das mache ich auch«, sagte der lebhaft; er schien erleichtert zu sein. »Denn daraus scheinen sich völlig neuartige Aspekte zu ergeben.«
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Zwischenbericht VII des Mannes namens Jerome Über die Fragwürdigkeiten, verbindliche Regeln aufzustellen – man muß vielmehr immer damit rechnen, daß sich nicht alle daran halten. Während nun das große Theater begann – es sah für Laien durchaus überzeugend aus –, nahm ich, etwas abgelenkt, die von einem unserer Nachwuchsleute angeschleppte »Erklärung« eines Kriminaldirektors entgegen. Darin versicherte der: »Die Ansicht ist unzutreffend, daß jemals in meinem Bereich irgendein Fall irgendeinem Kriminalbeamten entzogen worden wäre.« Womit Kohl gemeint war. Und weiter hieß es: »Sollte dennoch dieser Anschein entstanden sein, dann könnte es sich dabei nur um eine verwaltungstechnisch notwendig gewordene Veränderung der Zuständigkeitsverhältnisse gehandelt haben.« Darunter konnte ich mir damals, als ich das las, nicht sonderlich viel vorstellen, zumal ich eine ausgeprägte Abneigung gegen Behördendeutsch habe. Natürlich war es ein Fehler, es dabei bewenden zu lassen. Für weiter nicht bedeutungsvoll gehalten wurde damals auch ein mir zugeleiteter Bericht über ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses. Das war, in »vorgeschrittener Stunde«, auf Tonband aufgenommen worden. Darin hieß es, unter vielem anderen: »... mußte mir die Frau Baronin als eine Persönlichkeit von einigem gesellschaftlichem Rang erscheinen ... zumal der Herr Minister, der zu ihrem engeren Bekanntenkreis gehörte ... was die Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre ...« Und so weiter. Das übliche unverbindliche Geschwätz, vermutete ich. Wohl registrierte ich: Feldmann und die 187
Wassermann-Westen scheinen im gleichen Boot zu sitzen. Ferner: sie bearbeiten, vermutlich gemeinsam, den Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses. Wen sonst noch? Aber warum denn nicht. Politik und Geschäft sind für mich alles andere als feindliche Brüder. Und Leute wie Wander sind glücklicherweise dünn gesät. Über den häuften sich bei mir bald die Unterlagen. Ich überflog sie nur noch. Denn wesentlich Neues war über den nicht zu erfahren. Doch sein Bild zeichnete sich mit immer schärfer werdenden Konturen ab. Ganz offensichtlich hatten wir es mit einem leichtfertig unpolitischen Exemplar zu tun, bei dem private Gefühle immer Vorfahrt hatten. Ich gab Sandman den Ratschlag, diesen Wander abzuschreiben – doch Sandman war in diesem Punkt kaum zu beeinflussen. Er behauptete, die meisten dieser sich häufenden »Beurteilungen« seien nachgerade Unverschämtheiten, da ihre Lieferanten sich erdreisten, ein Menschenleben in ein paar Dutzend Zeilen erklären zu wollen. Eins dieser Urteile stammte von einem gewissen Unterpointner; ein Studienrat, ehemaliger Lehrer von Wander. Er schrieb: »... muß man alles in den gebotenen Zusammenhängen sehen ... wohl ist er ein vielseitig begabter Schüler gewesen ... dennoch wie heimlich belastet ... fühlte sich offenbar niemals erfolgreich genug ... aus denkbar einfachsten Verhältnissen stammend ... Vater Metallarbeiter oder so etwas Ähnliches ... Mutter sehr häufig krank ... litt er, niemals eingestanden, unter seiner Herkunft ...« Wander besaß eine ausgeprägte Schwäche für literarisch klingende Gemeinplätze – vielleicht hätte er doch Poet werden und bleiben sollen; er schrieb ja alles mögliche. Ein idealer Materiallieferant. Mitunter leistete er sich Formulierungen wie etwa diese: »Die Organisationen der jeweiligen Macht glauben nur bestehen zu können, wenn es ihnen gelingt, möglichst viele törichte, gläubige, genügsame Untertanen heranzuzüchten.« 188
Stimmt natürlich. Aber: sich darüber dann leidenschaftlich zu ereifern, beweist eine beklagenswerte Weltfremdheit. So auch, wenn er von sich gab: »Das einzige Vermächtnis unserer Väter ist die totale Pleite.« Na und? Aber so war der Gute nun mal – er hatte immer etwas von einer Art Weltrevolutionär im Westentaschenformat. An sich nicht weiter schlimm. Halbwegs kluge Herrschende dulden Hofnarren gerne. Bedenklich wird so was erst, wenn es in Rudeln auftritt – mögen die zunächst auch noch so klein sein. Aber eben das war hier der Fall.
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8 Mitten im Taifun kann eine Zone der Stille sein. Darauf muß man achten. »Was«, wollte der Wehrbeauftragte höflich wissen, »kann ich für Sie tun?« »Nichts«, sagte Karl Wander, sich setzend. Er überblickte abschätzend den Raum: das übliche Büro der höheren Mittelklasse mit breitgesponnenem Industrieteppich und auf wuchtig getrimmten Warenhausmöbeln. »Und warum«, fragte nun der Wehrbeauftragte mit unverminderter Höflichkeit, »haben Sie mich aufgesucht?« »Um Sie mit Lektüre zu versorgen.« Der derzeitige Wehrbeauftragte, ausgeschiedenes Mitglied des Bundestages, gelernter Jurist wie seine Vorgänger und ehemaliger Reserveoffizier, hatte sich offenbar mit seinem schweren und bei jeder sich bietenden Gelegenheit erschwerten Amt abgefunden. Geduld blickte aus seinen angestrengt wirkenden Augen. Sein Gesicht wirkte dekorativ müde und männlich. Vertrauenerweckend. »Was also«, fragte er, Wander nicht ohne Wohlwollen betrachtend, »gedenken Sie mir anzubieten?« »Ich bin«, meinte Wander, »praktisch nur als Briefträger hier.« Damit zog er den Reißverschluß seiner Aktenmappe auf, entnahm ihr ein Bündel Papiere und schob sie dem Wehrbeauftragten zu. »Es handelt sich um Kopien. Aber Sie werden mühelos erkennen, daß die dazugehörenden Originale existieren. Sie werden kaum mehr als zehn Sekunden benötigen, um mir das zu bestätigen.« Der Wehrbeauftragte nahm die Papiere an sich – Tagebuch, Gedichte, Briefe; dazu Adressen. Seine Hände blätterten hastig darin; er biß die Zähne zusammen und sein Gesicht färbte sich 190
grau. Es war, fand Wander, fast wie in einem Hollywoodfilm – kurz bevor schlagartig dröhnende Musik einsetzt: das Katastrophenmotiv. »Was«, fragte der Wehrbeauftragte, »bezwecken Sie damit? Was wollen Sie von mir?« »Ihnen eine Einladung zu einem Abendessen im kleinen Kreis überbringen! Für heute – zwanzig Uhr. Im Hotel Rheinhof. Gastgeber ist Herr Krug.« »Ich bin ein vorsichtiger Mann – das bin ich geworden.« Das behauptete, durchaus glaubhaft, ein gewisser James Leinberger, Journalist, Korrespondent mehrerer mittelgroßer Tageszeitungen. »Mir kann man nichts unterjubeln – ich kenne mich in diesem Geschäft aus.« »Ich hatte Ihnen, bevor wir uns trafen, eine Art Referenz genannt – Herrn Krug.« Wander öffnete in seinem Appartement den Schrank, in dem die Getränke standen. »Haben Sie sich mit ihm in Verbindung gesetzt?« »Klar«, sagte James, der in Wirklichkeit Jakob hieß. Er war heringsmager, bleichgesichtig und schien sich nur mit Mühe zu bewegen – diesmal auf die Flaschen zu; unter ihnen wählte er sachverständig die teuerste Marke aus. »Was haben Sie mir – außer diesem Whisky – zu bieten?« Karl Wander überreichte einen Zettel, auf dem – in Schreibmaschinenschrift – verschiedene Details verzeichnet standen. Über Ewertz, Regierungsdirektor im Verteidigungsministerium. Betrifft: schwere passive Bestechung. Bestechungssummen: zwanzigtausend und achtundsechzigtausend Mark. Dazu Daten, Namen von Banken, Nummern von Konten. James Leinberger las das, verzog dabei keine Miene und meinte dann: »Brauchbar – wenn es sich beweisen läßt.« 191
»Sie können«, versicherte Wander, »bei den MorgenrotWerken in Essen nachfragen – und dort bei einem bevollmächtigten Buchhalter, dessen Namen als letzter auf Ihrem Zettel steht.« »Und der«, fragte James leicht belustigt, »wird mir diesen Seich bestätigen?« »Natürlich nicht direkt. Aber dieser Buchhalter ist auf diese Rückfrage vorbereitet. Er wird Ihnen, wenn Sie ihn anrufen, zunächst erklären, daß er jede Bestätigung verweigere. Das ist doch wohl hierbei die übliche Spielregel. Danach brauchen Sie ihn nur noch zu fragen, ob er in der Lage ist, diese Ihre Informationen für falsch zu erklären – worauf er zunächst schweigen, dann aber zögernd ›nein‹ sagen wird. Das aber bedeutet praktisch eine Bestätigung.« »Und die bekomme ich, wenn ich will, auch schriftlich?« »Selbst das ist vorgesehen«, bestätigte Karl Wander. »Eine schöne, hinterhältige Schweinerei«, versicherte James. »Typisch Machart Krug. Was natürlich höchst anerkennend gemeint ist. Und was soll diese Information kosten?« »Nichts.« »Ich nehme ungern etwas geschenkt«, sagte James Leinberger mißmutig. »Das widerspricht meinen Prinzipien – und den weitgehend üblichen Geschäftspraktiken. Welche Gegeninformation erwarten Sie von mir?« Karl Wander blickte auf die bereits zu einem Drittel geleerte Whiskyflasche und meinte dann vorsichtig: »Ich würde gerne etwas mehr über Minister Feldmann wissen – möglichst über dessen Privatleben.« »Das können Sie gerne haben«, meinte James entgegenkommend. »Besonders viel darüber weiß ich zwar, auch nicht – doch ein paar ganz nette Kleinigkeiten durchaus. Kennen Sie eine gewisse Erika Ritter?« 192
»Nein.« »Seien Sie froh darüber.« Er steckte den Zettel mit den Details über Ewertz in seine Brieftasche und zog dann die Whiskyflasche dicht an sich. »Wenn ich auch zugeben muß: gewisse, sehr spezielle Qualitäten hat diese Dame durchaus gehabt.« »Auch im Zusammenhang mit Feldmann?« James verzog sein blasses Heringsgesicht zu einem breiten Grinsen. »Wo man auch immer in ihrer stets sturmfreien Bude stand oder saß oder lag – überall erblickte man ihn. IHN – jeden einzelnen Buchstaben davon groß geschrieben. Auf ihrem Nachttisch, sanft rot angestrahlt, stand sein Paradebild: ER als kommender Staatsmann und potentieller Landesvater. Und er hatte quer darüber, über Brust und Bauch, mit markigen Schriftzügen geschrieben: Für Erika Ritter, meiner stets getreuen Mitarbeiterin, mit Dank für ihre vorbildliche Pflichterfüllung.« Karl Wander füllte aufmerksam das Glas seines Besuchers. James hielt es gegen das Licht, lächelte und sagte: »Sie erfreute Feldmann durch ihre vorbildliche Pflichterfüllung etwa ein Jahr. Dann schob er sie ab – und zwar mit der denkbar besten Methode: in eine höhere Gehaltsklasse und ein Beamtenverhältnis hinein.« »Es hat sich also für sie gelohnt.« »Nicht nur das – sie hat es wirklich genossen und nur schwer vergessen können. Das wurde mir plötzlich einmal klar, bei einer ihrer intimen Spezialitäten – sie biß nämlich, wenn sie besonders auf Touren kam. Sie biß dann in alles hinein, was sich gerade in ihrer Reichweite befand.« »Worauf Sie aber gefaßt waren.« »Nicht immer«, meinte James. »Doch zumindest gelang es mir meist, ein Kopfkissen dazwischenzuschieben. Aber einmal blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihr ein paar Ohrfeigen zu 193
verpassen, die nicht von schlechten Eltern waren.« »Womit Ihr Verhältnis, vermute ich, endete.« »Irrtum – da begann es erst richtig. Sie war äußerst entzückt davon, sie heulte geradezu auf vor Begeisterung. Und dann stöhnte sie begeistert: ›Du bist ja wie er!‹« »Ich muß schnell mal zu unserem Brotgeber«, forderte Karl Wander. »Herr Krug«, erklärte Marlene Wiebke abweisend, »ist zur Zeit beschäftigt und empfängt niemand.« »Ich habe aber etwas sehr Wichtiges mit ihm zu besprechen – und das eilt.« »Was hier allein eilt«, sagte die Wiebke, Wander musternd, »und zwar mehr und mehr, ist Ihre Abreise.« »Hören Sie auf damit! Oder wollen Sie etwa mitkommen?« »Versuchen Sie nicht immer wieder, sich hier als Spaßvogel aufzuspielen! Sie gehören zu einer ganz anderen Gattung.« »Sie haben mich durchschaut – genauso wie mein Freund Peter Sandman, und wer weiß, wer nicht noch alles! Jawohl – ich bin eine Art Aasgeier! Ich sorge hier lediglich für meinen Bauch und versuche mein Hirn zu verleihen. Und die letzten Reste meines Charakters sind in der Gepäckaufgabe am Flugplatz Köln-Wahn deponiert. Aber selbst das sollte Sie nicht daran hindern, mich bei Ihrem Herrn Krug anzumelden.« Unbeirrt sachlich sagte sie: »Ich habe hier meinen Job und Sie haben Ihren – beide müssen keinesfalls miteinander übereinstimmen. Zumindest ist für Sie auf dem heutigen Terminkalender kein Platz reserviert.« »Auch dann nicht, wenn ich mit Krug über ein wichtiges Telegramm sprechen muß? Hier ist es.« Er reichte es ihr hin. Die Wiebke zögerte und machte dann deutlich, daß sie dieses Telegramm nicht entgegenzunehmen 194
gedenke. Er legte es ihr auf die Schreibtischplatte, schob es auf sie zu. Marlene tat, als übersehe sie es – doch sie registrierte den Inhalt des Telegramms mit sicherem Blick: ROSENSTOCK WIE VEREINBART EINGEPFLANZT STOP ER BLÜHT UND GEDEIHT PRÄCHTIG ABER NOCH IM VERBORGENEN STOP ERWARTE BALDIGE ANERKENNENDE ANTEILNAHME STOP HERZLICHST FÜNFINGER »Was soll denn das?« fragte sie, offenbar überlegend. »Im Grunde hört sich das genauso albern an wie vieles, mit dem Sie sich hier abgeben.« »Ich denke«, fragte er erheitert, »Sie wissen gar nichts darüber.« »Natürlich nicht«, sagte Marlene fast heftig. »Ich jedenfalls werde nicht dafür bezahlt, um mich in die Dinge anderer Leute einzumischen, das überlasse ich denen, die sich dazu berufen fühlen. Aber ich werde Herrn Krug jetzt melden, daß Sie ihn dringend zu sprechen wünschen.« Konstantin Krug kam Karl Wander bis in den Vorraum entgegen. Er streckte sogar seine Hand aus. Doch sein Kugelkopf zeigte ein unbewegtes Gesicht, mit eingepreßtem kargem Lächeln. »Was haben Sie Wichtiges für mich?« »Im Raum Koblenz«, berichtete Karl Wander, nun bereits in Krugs Büro, »ist vor zwei oder drei Tagen aus einem Bundeswehrdepot eine Kiste verschwunden.« »Und deshalb bestehen Sie darauf, mich zu sprechen?« fragte Krug ungläubig. »Ist das alles?« »Das ist alles – und es genügt. Denn dabei handelt es sich um ein verschärft bewachtes Depot – und die nicht auffindbare Kiste enthält drei Sprengkörper für Kurzstreckenraketen mit magnetischem Steuerungssystem: ein Geheimprojekt allererster Ordnung, frisch aus den USA importiert.« 195
»Und das ist bereits vor zwei oder drei Tagen geschehen?« fragte Konstantin Krug aufhorchend. »Allerdings. So was passiert ausgerechnet jetzt, wo das Verteidigungsministerium aus allen verfügbaren Rohren beschossen wird – kurz vor dem Endspurt. Aber die Öffentlichkeit wird nicht unterrichtet!« »Wer verhindert das?« »Der örtlich zuständige Kommandeur – zweifellos auf Weisung des Verteidigungsministeriums. Denn die haben dort klar erkannt, daß diese Angelegenheit mächtig Staub aufwirbeln kann. Und deshalb ließen sie den ganzen Sicherheitszauber abrollen: Sie erklärten diesen Vorgang für tabu, dichteten ihm also höchste Geheimhaltungsstufe an. Hierauf wurde das Gelände für Unbefugte völlig abgeriegelt; und damit sind zugleich möglicherweise auch nur halbwegs informierte Soldaten isoliert worden. Sodann wurden verstärkte Streifen, Wachtposten und Kontrollen angeordnet; sogar Offiziere, auch Hauptleute, sind für diese Absperrungen eingesetzt.« »Und niemand kommt an das Material heran?« »Einige Journalisten ahnen bereits, daß dort irgend etwas kräftig stinkt. Doch Auskünfte werden ihnen verweigert, Details sind ihnen nicht zugänglich, und mit bloßen Vermutungen können sie wenig anfangen – außerdem sind sie systematisch verwarnt worden, mit der Hindeutung auf möglichen Landesverrat; und selbstverständlich wimmeln zwischen diesen Journalisten nun schon, in mindestens gleicher Einsatzstärke, Leute vom Verfassungsschutz und allerlei Geheimdiensthengste herum.« »Und woher sind Sie so genau über das alles unterrichtet?« »Ich nehme nicht an, Herr Krug, daß Sie unsere bisher so bewährten Arbeitsprinzipien umstoßen wollen – allein das Material ist wichtig, Details über dessen Beschaffung interessieren nicht. Doch falls Sie das beruhigt: ich weiß das alles sozusagen aus erster, aus allererster Hand.« 196
Konstantin Krug griff zum Telefon. »Eine Verbindung mit dem Minister!« sagte er. Minister Feldmann empfing Karl Wander – ihn allein – in Köln. Und zwar, wie er sagte, »zwischen zwei Besprechungen«. Treffpunkt war ein Haus, das Wander bereits bekannt war: Die Wassermann wohnte darin. Sabine ließ sich nicht blicken. Allein der Minister, in eine bequeme Hausjacke gehüllt, saß beherrschend im großen Salon und winkte seinen Mitarbeiter zu sich. Er wies auf einen bereitstehenden Servierwagen, der mit Flaschen, Eiskübel und Gläsern vollgestellt war. »Bedienen Sie sich – alles, was Sie wollen! Nur verschonen Sie, wenn es irgend geht, den Wodka – denn der wird nachher, für meine nächste Besprechung, noch dringend gebraucht.« Der Minister blickte, als habe er soeben eine höchst vertrauliche Andeutung fallen lassen – als eine Art Auszeichnung für Wander. Doch dann sagte er ruhig und sachlich: »Krug hat mir andeutungsweise berichtet, um was es sich handelt – ein erstaunlicher Vorgang, wenn alles stimmt. Bitte, geben Sie Details.« Karl Wander, in den gleichen Kissen sitzend wie vor ein paar Tagen, damals neben Sabine, spulte noch einmal sein Garn ab; fast mit den gleichen Worten wie bei Krug, denn die waren wohlüberlegt. Der Minister hörte mit großer Aufmerksamkeit zu – dabei deutete er ein wohlwollendes Lächeln an, das sich alsbald verstärkte. »Wirklich, ein erstaunlicher Vorgang«, sagte er abermals, nachdem Wander seinen Bericht beendet hatte. »Doch Sie erkennen natürlich, daß diese Angelegenheit – für uns – einen dicken Pferdefuß besitzt.« Karl Wander nickte. »Allerdings. Denn das Verteidigungsministerium hat sich wirksam hinter der Landesverratsklausel verschanzt – ob auch Rechtens, ist zu 197
bezweifeln, doch im Augenblick einfach nicht zu übersehen. Das ist denn auch der Strick, der unserem allseits verehrten General Keilhacke und den anderen Generalen die Hände bindet. Wirklich schade, bei diesem schönen Material.« »Und ein Zeitungsmann«, meinte der Minister behutsam, »der diese Vorgänge aufgreift, wird sich auch nicht finden lassen? Sie kennen das doch – was ein einziger Journalist weiß, das wissen spätestens 24 Stunden danach alle anderen auch.« »So was aber wissen zu wollen«, meinte Wander, »wird ein Journalist, nach augenblicklicher Lage der Dinge, kaum riskieren können, ohne sich möglicherweise ins Gefängnis zu bringen. Jedenfalls: ein deutscher Journalist nicht.« »An wen denken Sie denn, Wander?« »An einen Amerikaner.« »An wen genau?« »An Mister Sandman.« »Kennen Sie den näher?« »Ja«, gab Wander zu. Der Minister ließ sich Zeit. Er griff nach einem Glas, schüttete Mineralwasser hinein und sagte: »Also – einverstanden. Geben Sie diesem Sandman Ihr Material – und machen Sie ihm klar, daß allein Sie der Lieferant sind. Bieten Sie ihm keine Gelegenheit zu irgendwelchen voreiligen Schlußfolgerungen.« »In Ordnung.« Karl Wander griff, fast automatisch, zur Wodkaflasche, goß sich ein Wasserglas halb voll und trank davon. Dann sagte er: »Ich bin schon einmal hier in diesem Raum gewesen.« »Ich weiß«, erwiderte der Minister freundlich. »Ein schönes Haus«, versicherte Wander, in sein Glas schauend. »Sehr attraktiv eingerichtet – und recht kostspielig dazu, vermute ich.« 198
»Sie vermuten richtig«, sagte der Minister – und es war, als habe er auf diese Wendung des Gespräches geradezu gewartet; zumindest schien sie ihm nicht unangenehm zu sein. »In meiner Position«, erklärte Feldmann sodann, »muß man manchmal, wohlüberlegt, der Öffentlichkeit ausweichen. Es gibt eben Vorgänge, die sich weder im Amt noch im Familienkreise erledigen lassen – äußerst vertrauliche Gespräche zum Beispiel. Etwa mit einem führenden Mann der Wirtschaft, mit einem vorübergehend gegnerischen Politiker oder mit Angehörigen von Botschaften, deren Länder nicht, oder eben noch nicht mit uns verbündet sind. Dafür braucht man seine Freunde – wie etwa Frau von Wassermann-Westen.« »Von dieser Freundschaft habe ich bereits gehört.« »Vermutlich sogar intime Details.« Der Minister sagte das, als plaudere er über Qualitätsunterschiede in der deutschen Automobilindustrie. »Denn daß mich tatsächlich mit der Dame dieses Hauses eine gewisse Freundschaft verbindet, werden Sie inzwischen vermutlich vernommen haben. Und was darunter in unseren Kreisen verstanden wird, stimmt auch in diesem Fall – beziehungsweise es hat gestimmt, bis vor wenigen Wochen noch.« »Diesbezügliche Behauptungen sind also nun überholt?« »So kann man es bezeichnen«, sagte der Minister, wie versonnen – er streifte Wander lediglich mit kurzem Seitenblick. »Sehen Sie, mein Lieber, ich bin in einem Alter, das sich wohl für jeden Mann als nicht ganz ungefährlich erweist – günstige Gelegenheit vorausgesetzt; aber die bietet sich, für mich, geradezu massenhaft an, was nicht mein persönliches Verdienst ist, ich weiß. Außerdem habe ich eine überaus liebenswerte Frau, zwei außerordentlich vielversprechende Kinder – ich könnte also zufrieden sein.« »Doch das sind Sie nicht – wenn ich Sie richtig verstehe.« »Sagen wir: ich war es nicht! Denn ich bin Frau von 199
Wassermann-Westen begegnet, die Sie ja kennen.« »Nur höchst flüchtig«, behauptete Wander. »Und wer kennt schon wen wirklich?« Der Minister nahm die Erklärung mit freundlicher Gelassenheit hin. »Die Freundschaft zwischen Sabine und mir«, sagte er bedächtig, »ist mir stets wie ein großes wunderbares Geschenk vorgekommen, zumindest für mich – doch im Grunde war das für uns beide von Anfang an völlig hoffnungslos. Das haben wir dann auch eingesehen. Ich könnte mich niemals ganz von meiner Familie lösen – Sie würden das verstehen, lieber Wander, wenn Sie meine Frau und die Kinder kennengelernt hätten. Aber das sollten wir vielleicht nachholen?« »Sehr gerne.« »Das machen wir auch«, versprach der Minister. »Frau Sabine und ich jedenfalls sind nun nichts mehr als gute Freunde! Sie wird demnächst heiraten, glaube ich – irgend jemanden aus der Industrie.« »Ich werde dann meine herzlichen Glückwünsche aussprechen«, sagte Karl Wander. »Wo treiben Sie sich denn überall herum!« rief der Kriminaloberinspektor Kohl unwillig. »Ich warte hier schon fast zwei geschlagene Stunden auf Sie!« »Das können Sie sich ja auch leisten«, meinte Karl Wander, »denn schließlich haben Sie Urlaub.« »Nur noch bis morgen – dann bin ich wieder ordentliches Mitglied der Lasteselgewerkschaft im Zuträgerdienst für die Justiz.« Kohl wirkte unruhig, fast nervös. »Und deshalb, Wander, ist heute die letzte Gelegenheit für mich, diesen Barranski auf meine Weise zu schaffen. Dr. Bergner hat nämlich geliefert – beziehungsweise dessen gute Freundin. 200
Jetzt sind Sie an der Reihe!« »Mann!« sagte Wander zu dem Kriminalbeamten, der den Eingang zum Appartementhaus blockierte. »Ich bin verdammt müde – in jeder Hinsicht.« »Ach was!« meinte der Kriminalbeamte drängend. »Versprechen ist Versprechen. Also los – wir müssen sofort nach Köln.« Wander versuchte einen letzten Protest. »Aber von dort komme ich gerade!« »Na fein – dann kennen Sie ja diesen Weg wie im Schlaf.« Kohl grinste seinen Partner hoffnungsvoll an. »Außerdem habe ich Ihnen etwas mitgebracht, was Sie vielleicht ermuntern wird.« Er zog einen flachen, handtellergroßen Gegenstand aus seiner Manteltasche – er war in ein graues Leinentuch gehüllt. »Eine Art Geschenk von mir.« »Was haben Sie sich denn diesmal für mich ausgedacht?« fragte Wander mißtrauisch. »Eine Pistole. Fabrikneu sozusagen – noch niemals benutzt. Eine Walter, Kaliber 7,65, mit sechs Schuß im Magazin. Sie haben doch gelernt, damit umzugehen – Sie sind sogar, soweit ich informiert bin, bei der Bundeswehr ein recht guter Schütze gewesen. Also ist wohl kaum zu befürchten, daß Sie Volltreffer erzielen, wenn Sie nur Warnschüsse abgeben müssen.« »Was bezwecken Sie mit diesem Angebot, Kohl?« »Ganz ehrlich – das weiß ich nicht. Ich meine nur: man kann nie wissen! Außerdem traue ich Ihnen keinen Mißbrauch in dieser Hinsicht zu. Und das Gefühl, daß Sie direkt bedroht sein könnten, habe ich schon seit einigen Tagen.« Er hielt Wander die Waffe hin. Der nahm sie an sich und steckte sie ein. Danach bestieg er erneut seinen Leihwagen, murrend und Kohl beschimpfend, was völlig verlorene Liebesmüh war. Auf 201
dem Weg nach Köln hatte sein Mitfahrer reichlich Zeit, ihn aufzuklären. Er tat es gründlich; es war eine Art Anfängerkurs. »Entscheidend wichtig dabei«, erklärte der Kriminalbeamte, »ist ein richtig funktionierender Zeuge. Das ist Sicherheitsregel Nummer eins! Was nämlich zwei einander übereinstimmend bestätigen, das vermag ein Dritter allein nicht wirksam zu entkräften. Und deshalb sind Sie jetzt mein Zeuge, und ich bin der Ihre!« »Und einen anderen Dummen haben Sie wirklich nicht finden können?« »Ich bitte Sie, mein Bester – so was ist doch Vertrauenssache!« Hierauf entwickelte der Kriminalbeamte seinen Plan weiter. Wander verminderte, als er Einzelheiten vernahm, seine Geschwindigkeit, als müsse er befürchten, die Kontrolle über seinen Wagen zu verlieren. Kopfschüttelnd bestaunte er den bulligen Mann an seiner Seite. »Das grenzt ja schon an Gangstermethoden, Kohl! Und ich hatte Sie tatsächlich für einen Kriminalisten gehalten!« »Gar nicht einmal so selten sind Kriminalisten verhinderte Gangster – und umgekehrt. Denn beide haben, wenn sie überdurchschnittlich begabt sind, eins gemeinsam – sie beherrschen das Metier. Und das oft mit exakt entsprechenden Methoden, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen.« »Warum«, meinte Wander, »mußten ausgerechnet Sie mir hier über den Weg laufen!« Kohl lachte und gab weitere Einzelheiten über seine Urlaubsgestaltung bekannt: Er habe sich, von Dr. Bergner empfohlen, mit der Sprechstundenhilfe dieses Dr. Barranski geradezu angefreundet. »Eine Dame, die mich nicht enttäuscht hat.« Nunmehr kenne er verschiedene Namen, Uhrzeiten, die Verwendung von bestimmten Medikamenten; den Übergabemodus derselben; die Preise dafür vermöge er sich 202
vorzustellen. »Und heute abend, pünktlich um neun Uhr, ist wieder einmal eine Dame jener Gesellschaft, die sich für die beste hält, an der Reihe, sich einer Barranskischen Spezialbehandlung zu unterziehen – die Frau eines südamerikanischen Botschafters. Geben Sie also Gas, damit wir rechtzeitig zur Stelle sind!« An Ort und Stelle waren sie zehn Minuten vor der angegebenen Zeit. Sie standen vor dem Eingang eines Hauses an einer Querstraße hinter dem Dom. Im ersten Stockwerk hatte Dr. Barranski seine Praxis. Der Verkehr war gering. Nur vereinzelt schlenderten Menschen durch die altdeutschidyllische Gegend – zumeist paarweise. Die Straßenlaternen schienen vor sich hinzublinzeln. Karl Wander bezog dann verabredungsgemäß im hell erleuchteten Flur Posten. Kohl hielt sich in Türnähe auf. Sie warteten. Dann rauschte ein Fahrstuhl abwärts, hielt sanft, seine Tür öffnete sich – ein großgewachsenes, knochiges, weibliches Wesen in grauem Kostüm verließ die Kabine. Der Kriminalbeamte nickte Wander zu. Wander näherte sich der Frau, prallte fast mit ihr zusammen, sagte volltönend »Pardon, Madame!« und griff nach ihrer Handtasche. Die überließ sie ihm, verwirrt und erschreckt, ihn anstarrend, offenbar ungläubig überrascht darüber, in ein vergleichsweise sympathisches Gesicht zu blicken – wie mechanisch öffnete sie dann den Mund und drohte zu schreien. Doch nun nickte Wander, nach einem Blick in diese Handtasche, Kohl zu. Freudig eilte Kohl herbei und fragte: »Fühlen Sie sich nicht wohl, meine Dame?« »Ich«, stieß sie hervor, »bin überfallen worden!« »Nicht doch!« wehrte Kohl ab. »Sie haben sich nicht wohl gefühlt – ein kurzer Schwächeanfall, vermutlich –, und dieser Herr kam Ihnen zu Hilfe. Das habe ich ganz deutlich gesehen. 203
Ich bin nämlich von der Kriminalpolizei. Darf ich fragen, was dieses Päckchen in Ihrer Handtasche enthält?« »Das«, rief die Dame heftig und mit hysterischen Tönen aus, »geht Sie nichts an!« »Morphium«, stellte Kohl fest; er hatte das oder ähnliches erwartet. In bewährtem Amtston wollte er wissen: »Von wem haben Sie das?« »Das«, fauchte die bedrängte Dame, »ist allein meine Angelegenheit.« »Nun nicht mehr«, sagte der Kriminalbeamte. »Es sei denn, Sie besitzen für diese Menge Morphium ein Rezept. Nein? Also haben Sie es außerhalb der gesetzlichen Vorschriften erworben. Nun – dann möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie unter Umständen nicht angezeigt zu werden brauchen, falls Sie ab sofort freiwillig und vorbehaltlos mit uns zusammenarbeiten – wenn Sie uns also den Lieferanten dieses Morphiums nennen.« »Niemals!« rief sie zurückweisend. »Sie verkennen Ihre Situation«, erklärte der Kriminalist »Vermutlich lassen sich auf dieser Packung Fingerabdrücke nachweisen – einmal die Ihren, dann die von Barranski. Geben Sie nun zu, daß er Ihnen dieses Morphium ausgehändigt hat – gut, dann werden wir ihn dafür verantwortlich machen. Geben Sie es nicht zu, ergibt sich automatisch der dringende Verdacht, daß Sie sich diese Packung angeeignet, sie also gestohlen haben. Was das aber für Folgen haben muß, werden Sie sich sicherlich denken können – ich müßte Sie sofort verhaften. Nun?« Die Frau blickte um sich wie ein gestelltes Wild. Karl Wander vermochte den Anblick kaum zu ertragen; doch Kohl schien ihn eher zu genießen: denn mit ihr hatte er Barranski gestellt. Und allein darauf kam es ihm an. »Ja«, sagte sie tonlos. »Er hat es mir gegeben.« 204
»Das war’s denn also!« stellte der Kriminaloberinspektor fest. »Dies hätten wir geschafft.« »Sie scheinen es tatsächlich fast schon geschafft zu haben.« Peter Sandman sagte das ohne Anerkennung. »Und das hätte ich Ihnen kaum zugetraut, Karl – denn von Ihnen habe ich viel gehalten.« »Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Peter. Aber ich war in einen Schnellzug geraten – abspringen konnte ich nicht mehr.« »Sie wollten das doch wohl auch gar nicht, Karl, oder?« »Kann sein.« Wander ging neben Sandman dahin, auf ein Weinlokal am Berghang zu. »Aber so ist das nun mal – da war einmal das hohe Honorar; da waren viele Verlockungen, auch die zu fröhlicher Jagd; die Versuchungen der menschlichen Dummheit kamen hinzu; und schließlich sind wir fast alle, wenn wir Gelegenheit erhalten, leichtfertige Spieler ... Fehlt noch etwas?« »Eine Kleinigkeit. Aber darüber später.« »Ich sehe schon, Peter, das droht ein ungemein gemütlicher Abend zu werden.« Der Wirt des kleinen Gasthauses am Berghang eilte auf sie zu – offenbar kannte er den Amerikaner schon seit geraumer Zeit – und berichtete so leise, in vertraulichem Ton, als dürfe kein anderer Gast vernehmen, was er mitzuteilen habe: »Der von Ihnen bevorzugte Bordeaux, der Cháteau Coufran, hat bereits die richtige Temperatur; das Spanferkel wird in etwa dreißig Minuten zur Verfügung stehen; Sahne-Eis, Spezialimport von Higgins, New York, ist ausreichend vorhanden.« »Zum Abschluß Champagner – den besten, den Sie haben«, sagte Peter Sandman. »Mein Freund zahlt alles – er kann sich 205
auch das noch leisten. Doch zunächst das Übliche, wie immer auf der Terrasse.« Das hier bei Sandman »Übliche« war ein Schwarzwälder Himbeergeist, fünfzigprozentig – ein seiner Ansicht nach dem Klima besonders gut angepaßter Aperitif. Er wurde auf der Terrasse serviert, die völlig leer war, ohne Tische und Stühle, der Jahreszeit entsprechend – ein früher, harter Winter kündigte sich an. Die Gläser standen vor ihnen auf der Ballustrade; unter ihnen floß der Rhein in trägem Gleichmaß durch die Nacht. »Mein Lieblingsplatz«, sagte Sandman mit großer Geste. »Kann ich verstehen«, meinte Karl Wander. »Hier oben hat man das zwingende Gefühl, jedem dort unten in die Suppe spucken zu können – doch was soll’s! Würde man es tun, sie würden es vermutlich gar nicht bemerken oder eben annehmen, das müsse so sein.« »Einen sonderlich glücklichen Eindruck, Karl, machen Sie nicht gerade. Dabei hätten Sie doch alle Veranlassung dazu.« Peter Sandman blickte zu den Lichtbündeln hinunter, die jetzt die Stadt erhellten. »Das von Ihnen mitorganisierte Preisschießen jedenfalls scheint ein voller Erfolg zu werden.« Karl Wander nickte. »Alles wie nach Maß! Der Wehrbeauftragte hat soeben einen Bericht über alarmierende Mißstände im Bereich der Inneren Führung angekündigt; der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses glaubte dem Kanzler eine Aufstellung über eklatante Fehlinvestitionen in industrielle Entwicklungsprogramme vorlegen zu müssen; der Bundespräsident hat den Verteidigungsminister zu sich befohlen, wohl kaum zu einer freundlichen kleinen Plauderei; inzwischen tagen bereits der Vorstand der Regierungspartei, die Vorsitzenden der Landesverbände und die Bundestagsfraktion – Minister Feldmann wird diesen Gremien, wie es heißt, Bericht erstatten.« 206
»Na, dann gratulieren Sie sich mal, Herr Wander!« Sandman hob sein Glas und trank es leer. »Herr Wirt!« rief er dann über die Terrasse. »Noch einmal das gleiche Zeug – weil’s so schön scheußlich ist!« »Sollte Ihnen etwa der Appetit vergangen sein?« fragte Wander. »Da kennen Sie mich aber schlecht«, meinte der Amerikaner. »Oder eben: ich kenne Sie wesentlich besser, als Sie mir zuzutrauen scheinen. Denn ich kenne Ihr Land, Karl, einigermaßen zumindest. Als ich hier zum erstenmal aufgekreuzt bin, gingen Sie noch zur Schule. Ich war damals ein blutjunger Soldat, reichlich unbekümmert, in typischer Siegerlaune noch dazu. Doch selbst mir wurde damals ganz zwangsläufig klar, daß wir in einen so gigantischen Trümmerhaufen hineingeraten waren, wie es ihn wohl noch nirgendwo und niemals in der Weltgeschichte gegeben hat. Und was ist daraus geworden?« »Nichts«, sagte Karl Wander. »Eine Anhäufung von Beton, Glas, Blech, Chemikalien und Geld. Das Herz Europas – meinen einige Größenwahnsinnige. Ich würde eher sagen: ein vergoldeter Arsch!« »Ich weiß – Sie gehören zu denen, die über diese Entwicklung Ihres Landes tief bestürzt sind. Eben weil es Ihr Land ist und Sie es anders sehen wollen.« »Das alles widert mich an!« rief Wander heftig. »Was hier geschieht – und was nicht geschieht! Und was man geschehen läßt.« »Armes Amerika«, sagte Peter Sandman, »als ob es nicht schon unbeliebt genug in der Welt ist! Nur weil es damals großzügig und hilfreich sein wollte, aber wieder mal nicht wußte, wie man so was am besten anstellt, wird man es womöglich auch noch für das alles und besonders für Ihren Lieblingsverein verantwortlich machen.« 207
»Wen denn sonst?« »Unser verehrter Botschafter würde über diesen Verein sagen: Das ist eine rein deutsche Angelegenheit! Doch es stimmt schon: Die Amerikaner haben geholfen, und zwar ziemlich kräftig, das alles auf die Beine zu stellen. Aber konnten sie wissen, was sich dann daraus entwickeln würde?« »Nein? Konnten Sie das wirklich nicht? Nicht nach allem, was nur wenige Jahre vorher geschehen war? Hat die bluttriefende Lektion des Tausendjährigen Reiches immer noch nicht genügt? Und waren die fünf oder sechs Millionen Juden nichts als eine peinliche Nebenerscheinung – etwas wie unvermeidlicher Staub zwischen den Mahlsteinen der Geschichte? Und alles das soll nun nichts weiter sein als möglichst schnell vergessene, als angeblich völlig überwundene Vergangenheit – und das mit Amerikas Hilfe?« »Das ist es also«, sagte Peter Sandman leise. »Ich habe es fast vermutet: Sie hassen dieses Deutschland.« Karl Wander sagte: »Vielleicht. Aber dann hasse ich dieses Deutschland, weil ich mein Deutschland liebe.« »Was Sie ›Ihr Deutschland‹ nennen, hat es in Wirklichkeit niemals gegeben.« »Aber das hätte es geben können. Die denkbar günstigsten Möglichkeiten dafür haben sich angeboten – die Stunde Null, der absolute Tiefpunkt, die sicherste Voraussetzung für wirklichen Neubeginn; dazu Menschen, die überlebt und sich in Zeiten schwerer Prüfungen bewährt und bewahrt hatten; weiter jene zahllosen jungen Menschen, die Hitler nicht gewählt hatten, die von der Generation ihrer Eltern in den Krieg hineingeführt worden waren und die nun erkannten, in welchem Ausmaß sie betrogen worden waren! Welch eine Fülle von Menschen, mit denen man neu anfangen konnte!« »Sind Sie deshalb damals zur Bundeswehr gegangen, Karl?« »Das weiß ich nicht. Fest steht nur, daß ich heute mehr weiß 208
als damals. Ich war damals knapp zwanzig Jahre alt. Vermutlich wollte ich an irgend etwas glauben können, mich für irgend etwas einsetzen – ich bin nun mal so veranlagt. Vielleicht hätte ich lieber Krankenpfleger werden sollen. Oder Straßenkehrer, was weiß ich. Aber ich wurde Offizier. Und dann mußte ich erkennen: Es hatte sich im Grunde verdammt wenig verändert und es wollte sich auch nichts verändern – die gleichen Pleitemilitärs, die alten Kasernenhofhengste, technisch völlig überfordert und geistig rückständig. Die einen lebten innerlich noch in Großdeutschland, die anderen in der Zeit des Alten Fritz! Und so was wagt zu behaupten, es könne die Freiheit verteidigen?« »Und solche Vermutungen reichen schon aus, Sie anzutreiben? Sie zu veranlassen, Beihilfe zu leisten, damit diese Bundeswehr aus den Angeln gehoben werden kann?« »Das reicht völlig aus, Peter.« »Nun, Karl – dann gnade Ihnen Gott, wenn sich herausstellen sollte, daß Sie keineswegs auf einen radikalen Neubeginn zusteuern, sondern hier einer geschäftstüchtigen, skrupellosen, unmoralischen Clique nichts als Zutreiberdienste geleistet haben. Was dann?« »Jetzt bist du fällig«, verkündete Martin Morgenrot. »Und zwar endgültig!« Karl Wander hatte das Weinlokal verlassen – Sandman war nicht mitgekommen; er wäre noch, hatte er gesagt, mit einem Mann namens Jerome verabredet. Die Nacht war sternenklar, feucht und kalt. Der Parkplatz lag im müden Licht einer nahen Straßenlaterne. Hier stellte Martin ihn. Er schwang in seiner rechten Hand einen metallischen Gegenstand – vermutlich die Kurbel eines Wagenhebers. Wie mechanisch bewegte er sich vorwärts. Hinter ihm schob sich Felix Frost, der einstige angebliche Verlobte von Eva Morgenrot, gleichfalls vor – auf Wander zu. 209
Er schien selbst jetzt noch zu lächeln. Und er meinte, in geradezu wohlwollendem Ton: »Es ist die letzte Gelegenheit für Sie!« »Wofür?« wollte Karl Wander wissen, während er schrittweise zurückwich. »Für ein Geständnis«, meinte Felix. »Und das möglichst schriftlich.« »Ich habe nichts zu gestehen.« »Was reden wir überhaupt noch mit dem!« sagte Martin. »Der scheint überhaupt nicht zu begreifen, was er alles anrichtet – das muß man ihm klarmachen.« »Er ist nicht dumm«, meinte Felix, »aber vielleicht denkt er nur langsam.« Karl Wander sah sich, während er weiter vorsichtig zurückwich, hilfesuchend um – niemand sonst schien auf dieser Welt. Fern röhrte ein Radioapparat, über eine tiefer gelegene Straße rollte ein Auto – nichts anderes regte sich. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen!« »Er weiß von nichts!« höhnte der junge Morgenrot. »Er ist die Unschuld in Person. Ein Lamm! Er treibt Eva in Panik, er hetzt meinen Alten gegen mich auf, er versucht Sabine zu erpressen und mich ins Gefängnis zu bringen – aber er weiß von nichts!« »Was, wenn wir Ihnen das Geständnis schenken, Herr Wander?« fragte Frost, Martin zurückhaltend. »Vielleicht genügt es, wenn Sie uns eine bestimmte Unterlage aushändigen, die Sie Eva abgenommen haben.« »Welche denn?« Karl Wander prallte nunmehr, etwas erleichtert, gegen seinen Leihwagen. Dessen rechtes Fenster war offen – so war das Handschuhfach in seiner Reichweite. Und dort lag die von Kohl gelieferte Pistole. »Ihr scheint wirklich nicht alle Tassen im Schrank zu haben!« rief er jetzt 210
herausfordernd. Felix Frost wich zurück – und Martin Morgenrot setzte sich aufs neue in Bewegung. »Dem wollen wir jetzt mal beibringen, was wir von ihm halten.« »Versuchen Sie das lieber nicht«, sagte jetzt Karl Wander; es war ihm gelungen, die Pistole zu ergreifen, er spürte sie in seiner Hand, umschloß sie fest, zog sie an sich. »Was Sie auch immer beabsichtigen sollten – Sie sind bei mir an der falschen Adresse. Denn keine Ihrer Vermutungen trifft zu. Das hat Ihnen irgend jemand eingeredet – und ich kann mir auch denken, wer. Ganz abgesehen davon, daß Sie beide vermutlich darüber hinaus versuchen, sich gegenseitig für dumm zu verkaufen – auf meine Kosten!« »Das reicht!« jaulte Martin Morgenrot auf. »Den mache ich fertig!« Felix Frost wich eilig weiter zurück – in die Dunkelheit hinein. Und von hier aus rief er warnend: »Vorsicht! Der hat eine Pistole!« Und die hielt ihnen nun Karl Wander entgegen, nachdem er den Sicherungshebel umgelegt hatte. »Ich gelte als ziemlich guter Schütze – hat irgend jemand Lust, es auszuprobieren? Und wenn ja – was soll’s denn sein?« Er blickte allein Martin an. »Soll ich Ihre Zehenspitzen durchlöchern? Ihnen den Totschläger aus der Hand schießen? Es gibt eine Menge Möglichkeiten, Sie außer Betrieb zu setzen.« Felix Frost schien verschwunden zu sein. Und Martin Morgenrot ließ sein Schlaginstrument sinken – sein Gesicht war verzerrt, als leide er unter Magenkrämpfen. Dann jedoch sprang er ganz plötzlich, wie von einem Katapult geschnellt, auf Wander zu. Ein Schuß peitschte auf – verursachte eine winzige Fontäne aus Dreck, Steinen und Staub. Sie brachte Martin zum Stehen. »Genügt das?« fragte Karl Wander hart. »Oder wollen Sie es 211
auf einen weiteren Versuch ankommen lassen – dann ziele ich etwas höher. Aber ich hoffe, das ersparen Sie sich und auch Ihrem lieben Freund. Und merken Sie sich eins: Nicht jeder muß ein Leben führen, das Ihrer dreckigen Phantasie entspricht.« Karl Wander setzte sich in seinen Wagen, startete ihn und fuhr davon. Dabei lächelte er erleichtert. Er hatte die Angst seines Gegners gespürt, das beruhigte ihn. Gemächlich fuhr er die kurvenreiche Straße abwärts, Bonn entgegen. Doch in seinem Rückspiegel erblickte er zwei Wagen; sie folgten ihm mit vollem Licht. Voran ein stabiler, breiter, gewichtiger Mercedes, ein Zweisitzer vom älteren Typ 220 SE, ein rollender Panzerschrank, in dunklen Blutfarben, mit Martin Morgenrot am Steuer. Hinter diesem der schneeweiße Jaguar des Felix Frost. Kilometerweit fuhren sie so hintereinander, in mäßigem Tempo, mit kurzen Abständen, mit vollaufgeblendeten Scheinwerfern. Das fiel kaum jemand auf, denn die Straßen waren jetzt, nach Mitternacht, nahezu leer. Wander gab Gas – die Wagen hinter ihm drehten prompt auf; Wander drosselte seinen Motor, die hinter ihm schalteten abwärts. Sie belauerten ihn wie Raubtiere. Karl Wander zwang sich Beherrschung auf – nahezu zwanzig Minuten lang hatte er Zeit dafür. Gelegentlich röhrte hinter ihm eine Hupe – dann wich er aus, scharf rechts steuernd, sein Tempo abermals mindernd. Doch er wurde nicht überholt. So trat er denn auf den Gashebel – doch die hochgezüchteten Wagen hinter ihm waren nicht abzuschütteln. Mit nahezu achtzig Stundenkilometern schoß er auf die Rheinbrücke zu. Doch der von Martin Morgenrot gesteuerte Mercedes kam mühelos an ihn heran – für den Bruchteil einer Sekunde erblickte Wander ein verkniffen grinsendes Gesicht. 212
Dann – auf genau gleicher Höhe mit Wander – riß Martin Morgenrot sein Steuer nach rechts. Und sein Panzerschrankwagen prallte knallend auf das strohhalmdünne Leihautoblech, drückte es zusammen, katapultierte es seitwärts, über den schmalen Fußgängersteg, auf das Brückengeländer zu, zersprengte es und stieß in diese aufklaffende Lücke einen Schrotthaufen hinein. Karl Wander war es, als befinde er sich mitten in einem Feuerwerk. Knallender Lärm drohte seine Trommelfelle zu zersprengen, er sah wirr aufblitzende Lichter, Knüppel schienen schnell und erbarmungslos nach ihm zu schlagen. Er stieß, nahezu besinnungslos, die Tür auf, wälzte sich hinaus, fiel auf den Asphalt, versuchte seitwärts zu kriechen. Sein Auto glitt zunächst langsam, lautlos abwärts – dann klatschte es krachend in den Rhein hinein. Als Karl Wander wieder zu sich kam, sah er, von der Erde aus, in eine lange Scheinwerferkette hinein. Zahlreiche Menschen umgaben ihn, schienen sich über ihn zu beugen, mit ausdruckslosen Gesichtern – Polizisten unter ihnen. Ein Mann, ein Arzt vermutlich, betastete ihn. Eine Frau blickte entsetzt und fasziniert in sein blutverklebtes, dreckverschmiertes Gesicht. Vages Stimmengewirr umflatterte ihn. Er schloß die Augen, vernahm eine Stimme, die er kannte, und versuchte die Worte zu verstehen. Diese Stimme sagte: »Es ist allein seine Schuld. Er hielt den Verkehr auf. Mutwillig. Das kann ich bezeugen. Er blockierte die Fahrbahn. Als der Wagen vor mir, der Mercedes, ihn zu überholen versuchte, gab er Gas. Außerdem begann er Schlangenlinien zu fahren – der muß betrunken oder sonst nicht bei Verstand gewesen sein. Er hat diesen Zusammenstoß geradezu provoziert.« Dieser Zeuge war Felix Frost. »Ich muß hier raus«, sagte Karl Wander und richtete sich 213
auf. »Ich muß noch dringend etwas erledigen.« »Sie haben wohl immer noch nicht genug«, meinte Dr. Bergner kopfschüttelnd. »Sie sollten jetzt zu schlafen versuchen.« »Kann ich aber nicht«, sagte Wander. »Denn ich glaube, ich habe das Resultat einer komplizierten Rechnung herausgefunden, und ich will sehen, ob das stimmt.« »Morgen – frühestens«, sagte Dr. Bergner. »Sofort«, sagte Wander und erhob sich. Er befand sich in einem Untersuchungsraum des Krankenhauses. Gleich bei der Einlieferung hatte er nach Dr. Bergner verlangt. Und der stand nun vor ihm, regungslos, mit wachen Augen. »Wie Sie sehen, Doktor, stehe ich schon wieder einigermaßen fest auf den Beinen.« »Sie hätten in der Leichenhalle landen können«, sagte Dr. Bergner. »Aber ich bin eben nur bis zu Ihnen gekommen – und Sie haben mir gesagt: Eine kleine, eine ganz leichte Gehirnerschütterung, ein paar Quetschungen, eine Abschürfung am Bein, sonst nichts. Und das stimmt doch wohl – oder?« »Das stimmt.« Bergner ließ Wander nicht aus den Augen. »Aber das reicht, Sie ein paar Tage hierzubehalten.« »Nicht eine Stunde! Sonst versäume ich womöglich noch einiges.« »Sie haben leichtes Fieber.« »Aber eine Bullennatur!« »Und dazu, hoffe ich, einen Verstand. Warum wollen Sie nicht einige Tage hierbleiben – ich könnte Sie ohne weiteres vor Neugierigen bewahren. Vor der Polizei etwa, die eine ganze Menge Fragen über Ihren Unfall hat. Oder vor Ihrem Lebensretter, der sich bereits einige Male telefonisch nach 214
Ihrem Befinden erkundigt hat.« »Mein Lebensretter?« Karl Wander blickte überrascht. »Wer soll denn das sein?« »Martin Morgenrot«, sagte der Arzt am Waschbecken, wobei er in den Spiegel blickte, um Wander zu beobachten. »Der behauptet, Sie im letzten Augenblick, als Sie vorübergehend bewußtlos waren, aus Ihrem Wagen gezogen zu haben – gerade als der abzustürzen anfing.« »Lassen Sie mich gehen, Doktor!« Wander versuchte, gerade dazustehen und gelassen zu wirken – doch seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. »Und wenn ich mich weigere, lieber Freund – mit guten medizinischen Gründen?« »Es gibt auch noch andere Gründe. Ich weiß, Doktor, Sie könnten mich hier zurückhalten, mit gutem Gewissen. Aber das werden Sie nicht tun.« »Und warum nicht?« »Weil ich Sie bitte, mich gehen zu lassen. Sagen wir: als Freund. Denn die Rechnung, deren Resultat ich jetzt zu kennen glaube, sieht so aus: Wenn vier Personen für eine bestimmte Tat in Frage kommen – wenn zwei davon einen Dritten verdächtigen – wenn der weiß, daß er schuldlos ist – dann muß es die vierte Person gewesen sein. Und mit dieser Dame möchte ich mich eingehend unterhalten, ehe mir ein anderer zuvorkommt.« »Hoffentlich haben Sie sich nicht verrechnet. Und hoffentlich bedauern Sie es nie, mich um diesen Gefallen gebeten zu haben. Aber ich werde mich Ihnen nicht in den Weg stellen – schließlich bin ich Ihnen verpflichtet, von unseren freundschaftlichen Anwandlungen gar nicht zu reden.« »Danke, Doktor!« »Es ist bereits reichlich spät – kurz nach ein Uhr nachts. Ich 215
werde Ihnen noch eine Spritze geben und einige Medikamente einpacken. Ich verlange nur eins. Sie müssen mich sofort verständigen, falls sich Ihr Zustand verschlechtern sollte, was ich aber nicht annehme; Sie sind ein verdammt zäher Bursche. Und ich sehe: Ihre Reaktionen erscheinen wieder normal, zumindest hat Ihre Aggression nicht nachgelassen.« »Die nimmt sogar beständig zu!« »Ich sehe aber keinerlei Veranlassung dafür.« Dr. Bergner riß die Hülle einer Ampulle auf und legte sich eine Spritze zurecht. Dabei sagte er: »Über Ihren sogenannten Unfall müssen Sie noch folgendes wissen, was ich aus dem Gespräch der Polizeibeamten herausgehört habe: Sie allein gelten als schuldig: zwei Zeugen bestätigen das übereinstimmend – Martin Morgenrot und Felix Frost. Die Alkoholuntersuchung hat 1,1 pro mille ergeben. Die Polizeibeamten haben nach Ihrem Führerschein gesucht, um ihn an sich zu nehmen – aber sie haben keinerlei Papiere bei Ihnen gefunden.« »Gute, aber eben noch nicht ganze Arbeit«, sagte Karl Wander knurrend. Er krempelte seinen linken Ärmel hoch. »Machen Sie schnell – ich habe es eilig. Und falls inzwischen wieder einmal mein sogenannter Lebensretter anruft, dann sagen Sie ihm: er brauche sich keine Sorgen zu machen; ich bin vermutlich so gut wie erledigt.«
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Zwischenbericht VIII des Mannes namens Jerome Über das Verhängnis stets möglicher Mißverständnisse und deren Negierung durch vermeintlich realistische Erkenntnisse. Erst später wurde mir klar, welch ein Glucksfall dieser Gefreite Fünfinger für unseren Wander gewesen ist – zunächst wenigstens. Denn dieser Fünfinger vermochte Methoden und Macharten derzeitiger Machtmechaniker zu durchschauen, fühlte sich dadurch freudig herausgefordert. Wenn er Marionetten vor sich hatte, so meinte er, dann wollte er sie auch tanzen sehen. Und wer kommt denn auch schon auf die Idee, während einer Ministerschlacht auf Gefreite zu achten. Noch später allerdings – und damit zu spät – war denn auch recht deutlich die Kehrseite dieses sonderbaren Kleinkrieges zu erkennen. Denn dieser zunächst so unbekümmert fröhlich in Erscheinung tretende Unsittenbekämpfer entpuppte sich bald als eine Art soldatischer Sozialfürsorger, ein Beschützer von Witwen und Waisen. Und das ahnte nicht einmal Wander. Denn zunächst gefiel sich dieser Fünfinger in Gemeinplätzen, im übrigen packte er willig aus, kannte verblüffende Details, wußte um provozierende Einzelheiten, nannte gerne Zahlen. Und Zahlen pflegen fast immer zu überzeugen – denn wer rechnet schon gerne nach. Hierzu etwa dies diese Armee sei mit Milliardenbeträgen in Grund und Boden gewirtschaftet, mit ihren fragwürdigen Flugprodukten, Bauprojekten, fehlkonstruierten Panzerproduktionen und leichtfertigen Munitionsgeschäften – es sei der teuerste und umfangreichste »Schrotthaufen der Nation«. Doch wer regt sich schon über so was auf? Verbohrte Pazifisten, nichtpreisgekrönte Literaten und Berufsprotestierer 217
– mithin vorwiegend arme Irre. Ihr Vokabular ist hinreichend bekannt. Praktiker der Politik haben langst herausgefunden, daß es am unwirksamsten ist, sie möglichst nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Vergeudung!« etwa riefen sie. Eine angebliche Vergeudung auf Kosten von Kindern, Armen, Kranken, Schülern und Greisen. Jeder dieser Starfighter, dieser Absturzbomber, so argumentieren sie, entspreche dem Gegenwert einer halben Hochschule oder von vier Volksschulen oder von zwölf bis zwanzig Kindergarten. Doch welcher halbwegs normale Mensch rechnet schon so? Fünfinger aber tat das – und dieser Wander rechnete mit. Diese Verschwörung der angeblichen Idealisten zertrümmerte, mit vereinten Kräften, eine ziemliche Menge neudeutschnationales Porzellan. Dabei ging Wander sozusagen aufs Ganze. Der wollte Deutschland – sein Deutschland – blühen sehen, was er dabei anstellte, hielt er für Unkrautbekämpfung. Fünfinger hingegen schien mehr ein verhinderter Seelsorger zu sein, er äußerte einmal, ihm schwebe ein wirklich lebenswertes Leben vor. Und das im Bereich einer Armee. Noch dazu in einem Lande, in dem uniformierten Mitmenschen eingeredet wurde, sie waren Waffenträger der Nation, also ungewöhnliche Lebewesen, auserlesen und mit einer besonderen Ehre ausgestattet, im Dienst dieses Volkes, doch europäischer Mitverantwortung bewußt, Hüter des abendländischen Geistes, Verteidiger der freien westlichen Welt, ja, der Freiheit schlechthin – und so weiter. Man kennt das. Zugegeben – die Deutschen haben es in dieser Hinsicht nicht leicht. Aber sie machen es sich auch gerne schwer. Sie hätten nur die Augen aufzumachen und ein wenig nachzudenken brauchen – ein wirklich überzeugender Schlußstrich wäre ohne weiteres möglich gewesen. 218
Doch eben dazu konnte man sich offenbar in diesem Volk nicht entschließen. So schleppten sie dann nicht nur Hitlers Offiziere mit, sondern auch ihren sogenannten »Geist«, samt ihren »Erfahrungen« und »Erkenntnissen« – also die Borniertheit dieser Leute, ihren Kadavergehorsam, ihre penetrante Unbelehrbarkeit. Kaum jemand schämte sich, als das wieder zum Vorschein kam. Warum denn auch? So waren die nun mal, und so mußten sie verbraucht werden – Realpolitiker in westlichen Weltteilen zeigten sich dazu bereit. Viele waren nicht sonderlich glücklich darüber, aber sie nahmen es hin. Sie gönnten den Restdeutschen das, was diese »Traditionsgefühl« nannten und worauf sie so stolz waren. Ein gefundenes Fressen für Wander und Konsorten. Sie wurden dann auch auf eklatante Weise in ihren Vorurteilen bestärkt. Da gab es die neuen Nazis, die alles andere als eine peinliche Zufälligkeit waren – nicht etwa, wie damals gerne behauptet wurde, ein Erzeugnis Linksradikaler, sondern ein durchaus eigenwilliges, typisch deutsches Produkt. Doch als solches noch lange nicht marktbeherrschend. Aber Wander – wie nicht wenige andere – ließ sich auch durch diesen neuen Nazi-»Geist« in Alarmstimmung versetzen. Und auch daraus ergaben sich etliche Kurzschlußhandlungen. Verhinderte Poeten sollen eben die Finger von der Politik lassen – in ihrer peinlichen Naivität richten sie nichts als Unheil an.
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9 Auch Theorien können Taten zeugen – doch daran glauben anfangs immer nur sehr wenige. »Sicher haben Sie mich erwartet«, sagte der Kriminaloberinspektor Kohl, nachdem Wander die Tür seines Appartements geöffnet hatte. »Und ich nehme sogar an, Sie haben gehofft, daß ich es bin, der Sie aufsucht – und nicht etwa ein anderer.« »Ich schlafe noch«, sagte Karl Wander gähnend. Er gab die Tür frei und ließ den Kriminalbeamten eintreten. »Ich bin müde wie ein Windhund nach einer Rennsaison – oder vielmehr, ich komme mir vor wie eine Tontaube, die man zerschossen hat.« »So ähnlich sehen Sie auch aus«, meinte Kohl. »Sie scheinen eine ziemlich anstrengende Nacht hinter sich zu haben.« »Eine einzige Strapaze! Zunächst hat mich das Wohlwollen eines angeblichen Freundes zermürbt. Sodann hat mich ein sogenannter Unfall vorübergehend völlig fertig gemacht. Haben Sie schon davon gehört?« Der Kriminalbeamte nickte. »Aber ich bin nicht deswegen hier.« »Weshalb denn sonst? Wollen Sie etwa auch noch versuchen, mir aus lauter Freundschaft den Hals umzudrehen?« »Falls mir wirklich nichts anderes übrigbleibt – durchaus.« Der Kriminaloberinspektor Kohl hatte sich mit dem Rücken in Fensternähe aufgestellt – aus purer Gewohnheit: Er wollte möglichst viel sehen und übersehen. Der sichtlich unausgeschlafene, demolierte, um Konzentration bemühte Wander saß, in einen Bademantel gehüllt, leichenblaß auf dem Rand seines Bettes. Kohl betastete versonnen die kantigen Kühlrippen der hinter ihm montierten Zentralheizung. 220
»Nicht schlecht«, meinte Kohl, die Einrichtung abschätzend. »Allerhand Komfort – Parkettboden zum Ausrutschen und Teppiche zum Stolpern. Hausen Sie immer in solchen Luxushöhlen?« »Sie können Ihren schäbigen Polizistenneid getrost wieder an die Kette legen«, sagte Wander, erneut gähnend, wobei er seine mit breiten Leukoplaststreifen verklebten Gesichts- und Kopfwunden betastete. »Ich bin hier lediglich Gast – und wer weiß, wie lange noch.« »Möglicherweise nur bis heute«, meinte Kohl gedehnt. »Kann sein«, gab Wander zu. Dann erst begann er dem nachzuhorchen, was der Kriminalbeamte eben gesagt hatte. »Was war denn das, Kohl – so was wie Konversation, oder eine gezielte Bemerkung?« »Das weiß ich noch nicht«, sagte der lauernd. »Was weiß ich denn überhaupt – etwa von Ihnen. Auch wenn Sie mir schon eine ganze Menge aufgeschwatzt haben, so doch möglicherweise nur, um mich einzunebeln. Aber für so was hätte ich verdammt wenig Verständnis, müssen Sie wissen. Ich kann Sie da nur warnen, Wander – ich bin Kriminalist, kein Fürsorger.« »Legen Sie eine andere Walze auf, Verehrtester«, sagte Karl Wander, der zunehmend wach wurde. »Am frühen Morgen kann ich immer nur wenig Sinn für neckische Kneipengespräche entwickeln. Also – was wollen Sie?« »Wo waren Sie gestern nacht?« »Ein Verhör?« »Noch nicht. Lediglich eine private Information – nennen wir es so!« »Kohl – was ist passiert? Irgend etwas muß passiert sein – das sehe ich Ihnen an!« »Entweder Sie wissen das bereits, Wander, und dann 221
brauche ich es Ihnen nicht zu sagen – oder Sie wissen es nicht, und dann erfahren Sie es immer noch früh genug.« Jetzt war es der Kriminalbeamte, der müde und zerschlagen wirkte. »Sie sollten mir erzählen, wie Sie die vergangene Nacht verbracht haben.« »Mit Reden und Saufen und Spekulieren! Der scheußliche Unfall gehört exakt dazu.« »Bitte – genau! Es ist wichtig.« »Nun gut. Ich habe mich gestern abend gegen zwanzig Uhr mit Mister Sandman getroffen – wir sind zu einem Lokal hinausgefahren; ich verließ ihn kurz nach elf Uhr. Etwa zwanzig Minuten danach, also gegen halb zwölf, habe ich diesen Unfall gehabt – ich könnte auch sagen: man hat ihn mit mir veranstaltet!« »Sagen Sie jetzt nur das, was sich auch beweisen läßt.« »Das will ich versuchen«, versprach Karl Wander. »Ich bin, unmittelbar nach Mitternacht, in das hiesige Krankenhaus eingeliefert worden. Dort wurde ich von Dr. Bergner betreut. Der entließ mich, auf mein Ersuchen, gegen zwei Uhr.« »Nicht später?« »Ist das wichtig? Warum?« »Wann sind Sie in Ihrem Appartement eingetroffen?« »Es mag drei Uhr früh gewesen sein – oder auch noch später.« »Der Weg vom Krankenhaus zur Koblenzer Straße«, stellte der Kriminalbeamte fest, »dauert kaum fünfzehn bis zwanzig Minuten – warum haben Sie mehr als eine Stunde dafür gebraucht?« »Ich habe mich bei dem Friedhof zwischen Dietz- und Hertzstraße ausgeruht. Ich konnte einfach nicht anders – ich brach zusammen. Ich lehnte mich gegen irgendein Gitter und rutschte dort ab. Ich war völlig fertig.« 222
»Und wer kann das bezeugen?« »Verbirgt sich dahinter irgendeine Verdächtigung?« »Nicht doch. Dies ist ein denkbar freundschaftlich gemeinter Hinweis – eine Art Ratschlag. Und es ist vielleicht der erste und der letzte, den ich Ihnen in dieser Angelegenheit geben kann.« »Verdammt noch einmal!« rief nun Wander beunruhigt aus. »Welchen Teufel reiten Sie hier eigentlich – und in welche Richtung?« »Heute nacht«, sagte Kohl, »etwa zwischen zwei und drei Uhr, ist hier in diesem Hause, unmittelbar neben Ihrem Appartement, in 205, Sabine von Wassermann-Westen gestorben – vermutlich durch Aufprallen des Hinterkopfes gegen die Kühlrippen der Zentralheizung. Ein Unfall scheint nicht ausgeschlossen – falls Sie das beruhigen sollte.« Karl Wander starrte den Kriminalbeamten ungläubig an – er sah in ein hartes, verschlossenes Gesicht. Wander beschlich das Gefühl, sich in einem kalten, engen, wie luftleeren Raum zu befinden. »Und was weiter?« fragte er. »Was, wenn dieser Tod kein Zufall war?« »Mord oder Totschlag – meinen Sie? Möglich – vielleicht sogar wahrscheinlich. Doch offenbar nicht überzeugend zu beweisen. Denn zu jeder Tat gehört ein Täter – und zumindest beim derzeitigen Stand der Untersuchungen bietet sich noch keiner zweifelsfrei an.« »Was vermutlich nicht ausschließt, daß Sie bereits in dieser Hinsicht Theorien entwickelt haben.« »Die drängen sich mir geradezu auf«, meinte Kohl versonnen. »Jedenfalls muß ich Sie ersuchen, diese Stadt in den nächsten Tagen nicht zu verlassen. Auch nicht vorübergehend.« 223
»Ist das eine amtliche Aufforderung?« »Die kann ich mir, im Augenblick, gar nicht leisten – das wissen Sie doch. Nehmen wir also an, daß ich auf Ihre Mitarbeit nicht verzichten kann. Ich bitte Sie darum! Erschreckt Sie das?« »Bis achtzehn Uhr dreißig sind nur noch wenige Stunden!« rief Marlene Wiebke Karl Wander zu, als er das Vorzimmer betrat. »Um diese Zeit fliegt eine Maschine von Köln nach München – ist die letzte für heute, in der noch einige Plätze vorhanden sind. Soll ich diesen Abflug für Sie buchen lassen?« »Nicht doch, Mädchen! Nicht in diesem Augenblick, in dem hier alles so ungemein interessant zu werden scheint!« Karl Wander war bemüht, sich scherzhaft zu geben, was jedoch auf die Wiebke nicht die geringste Wirkung ausübte. »Was muß noch alles passieren, bis Sie einsehen, daß Sie hier auf der falschen Hochzeit sind?« »Aber auf dem richtigen Begräbnis!« Er lächelte etwas mühsam. »Was ist denn mit Ihnen geschehen?« wollte Marlene Wiebke nun wissen. »Sind Sie geschlagen oder überfahren worden? Oder beides zugleich? Und warum?« »Warum«, fragte er, »machen Sie hier mit? Wegen Ihrem lieben, verehrten Herrn Krug?« »Den liebe ich nicht, und den verehre ich auch nicht – ich arbeite lediglich für ihn. Und das loyal – falls Sie sich vorstellen können, was darunter zu verstehen ist.« »Kann ich nicht!« Karl Wander versuchte in den Papieren zu blättern, die auf ihrem Schreibtisch lagen. »Lassen Sie die Finger davon!« rief Marlene energisch. »Unser Büro ist kein Bücherkarren, in dem Sie herumwühlen können. Zumal für Sie hier Pause ist – bis auf weiteres.« 224
Wander horchte auf. »Was soll das heißen?« »Genau das, was ich gesagt habe: große Pause für Sie.« »Nur für mich? Oder für die ganze Aktion? Was beabsichtigt Herr Krug? Will er mich lahmlegen?« »Nichts dergleichen! Das soll ich Ihnen ausdrücklich bestellen – und zwar mit aller Höflichkeit, hat Herr Krug angeordnet.« »Er will mich auf ein totes Gleis schieben!« rief Wander. Die Wiebke musterte ihn besorgt. »Herr Krug hat nichts Ähnliches auch nur angedeutet. Er hat mich lediglich beauftragt, Ihnen zu sagen, daß Sie im Augenblick, bis auf weiteres, pausieren können – die Aktion läuft planmäßig. Und es scheint ratsam, sie jetzt ohne weitere Eingriffe ablaufen zu lassen.« »Ich muß Krug sprechen!« »Er ist nicht zu sprechen, nicht zur Zeit – er nimmt an laufenden internen Sitzungen teil. Und dabei will er nicht gestört werden. Von niemandem.« »So einfach sollte er es sich nicht machen. Ich bin keiner, der nach Belieben angekurbelt oder abgeschoben werden kann! Sagen Sie ihm das.« »Sie scheinen tatsächlich einen ziemlich schweren Unfall gehabt zu haben, Karl?« »Sagen Sie ihm«, forderte Wander hartnäckig, »daß ich auf einer unverzüglichen Unterredung bestehe. Wenn nicht – und das teilen Sie ihm, bitte, wörtlich mit, muß er mit allen Konsequenzen rechnen.« »Darauf«, sagte Marlene Wiebke behutsam, »sollten Sie nicht bestehen. Sie kennen ihn kaum.« »Was offenbar auf Gegenseitigkeit beruht! Höchste Zeit, daß sich das endlich ändert.« »Warum reisen Sie denn nicht ab!« rief Marlene Wiebke. 225
»Ihr Auftraggeber hat nichts dagegen. Außerdem liegt für Sie ein bereits unterschriebener Scheck bereit, und die Summe darauf ist, auf Anweisung von Krug, dreimal so hoch als das für Sie vereinbarte Monatshonorar. Was also wollen Sie noch hier?« »Mit Krug plaudern und mich dann in Ihren Armen ausweinen, vermutlich. Doch Ernst beiseite – es existiert hier tatsächlich noch jemand, der auf meine Anwesenheit Wert legt. Die Kriminalpolizei nämlich. Die kann ohne mich nicht sein.« »Karl«, sagte Marlene Wiebke, »haben Sie irgend etwas mit dem Tod dieser Person zu tun?« »Nein. Vielleicht sollte ich sagen: leider nein! Doch ich besitze keinen ausgeprägten Sinn für Gewaltanwendungen. Meine Untaten vollbringe ich ausschließlich mit dem Gehirn.« »Ich habe Sie darauf aufmerksam zu machen«, sagte der Kriminaloberinspektor Kohl streng sachlich, »daß alles, was Sie hier aussagen, gegen Sie verwendet werden kann.« »Erlauben Sie mal!« protestierte Karl Wander. »Das ist die Formel, die bei Vernehmungen von Verdächtigten oder Beschuldigten angewendet wird.« »Stimmt. Aber diese Formel ist zum Schutz derjenigen gedacht, die sich einer Vernehmung unterziehen müssen. Und da wir hier in einem erklärten Rechtsstaat leben – ich ersuche Sie, nicht zu grinsen, Herr Wander –, hat das Justizministerium angeregt, daß diese Formel bereits vorsorglich, sozusagen vorbeugend angewendet werden kann, also auch dann, wenn lediglich die entfernte, die nicht völlig auszuschließende Möglichkeit besteht, daß der Befragte jemals zu den Verdächtigten oder gar Beschuldigten zählen könnte.« »Wenn das so ist«, sagte Karl Wander entschlossen, »dann verweigere ich jede Aussage!« 226
»Sie können aber noch gar nicht wissen, worüber Sie aussagen sollen.« »Das ist mir auch völlig gleichgültig! Eine polizeiliche Vorladung ist schließlich kein rechtskräftiges Zwangsmittel – eine Vorladung durch den Staatsanwalt übrigens auch nicht. Ich betrachte diese Unterredung als beendet.« Kohl begab sich an das vergitterte Fenster. Der mit ihnen im Raum sitzende zweite Beamte, der das Vernehmungsprotokoll zu führen hatte, hockte vor seinem leeren Stenogrammblock und sah ein wenig töricht aus. »Ich brauche Zigaretten«, sagte Kohl zu ihm. Der verstand: Er war hier überflüssig. Er entfernte sich bereitwillig. Das Gespräch, das er eben gehört hatte, wollte ihm nicht ganz geheuer vorkommen – so was wie diesen Wander hatte er auf diesem bescheidenen Revier noch nicht getroffen. Und er fragte sich, ob wohl Kohl mit dieser Klamauknummer fertig werden würde – doch wenn nicht Kohl, wer dann? »Alle Achtung!« sagte der Kriminaloberinspektor auf schnaufend. »Sie versuchen, mich auszumanövrieren – mich!« »Und warum sind Sie immer wieder wie versessen darauf, mich aufs Kreuz zu legen?« »Weil Sie mir unheimlich vorkommen – seit unserer ersten Begegnung.« »Dann haben Sie nichts zugelernt.« »Wander«, sagte der Kriminalbeamte und setzte sich, vertraulich, zu ihm, »Sie haben mir so manche Schwierigkeit bereitet, Sie haben mir aber auch hier und dort weitergeholfen. Sie sind mir nicht unsympathisch – und vielleicht haben Sie das ausgenutzt. Ihr ungutes Recht!« »Werden wir doch jetzt deutlich, Kohl! Sie stecken in irgendeiner Klemme. Und nun fragen Sie sich vermutlich zwei Dinge. Einmal: wer hat mich dort hineingebracht; zweitens: 227
wer könnte mich dort herausholen? Stimmt’s?« »Stimmt genau.« »Dennoch sollten Sie nicht versuchen«, sagte Wander, »mich irgendwie am Tod von Sabine Wassermann zu beteiligen.« »Irgendwie? Sie sind gut!« Der Kriminaloberinspektor lachte bellend auf. »Sie bieten sich schließlich dafür an! Und wenn Sie es ganz genau wissen wollen: nur Sie!« Karl Wander kniff die Augen zusammen, als blende ihn grelles Licht. »Das«, sagte er, »hätten Sie mir ersparen können – und sich auch! Schließlich sind Sie ein Mann mit Instinkt.« »Bin ich, Wander! Und mein Instinkt sagt mir: Sie sind ein Windhund, ein Schlitzohr, ein Pokerspieler – aber im Grunde nicht unfair, nahezu kameradschaftlich.« »Das letztere können Sie sich schenken – diese Vokabel steht nicht mehr in meinem Wörterbuch. Doch weiter!« »Gut. Also da wäre zunächst einmal Ihr fehlendes, zumindest recht fragwürdiges Alibi für die zu vermutende Tatzeit.« »Werden Sie nicht auch noch albern«, sagte Wander unruhig aggressiv. »Genausogut könnten Sie jedermann in Bonn verdächtigen, der nicht völlig exakt nachweisen kann, wo er sich in der fraglichen Nacht zwischen zwei und drei Uhr aufgehalten hat.« »Wie kommen Sie auf diese Zeitangabe?« »Sie lassen nach, Kohl – Sie selbst haben mir diese Uhrzeit genannt, heute vormittag, als Sie vermutlich noch mit Ihrem Instinkt operierten, wobei Sie bleiben sollten.« »Nur nicht voreilig! Für mich sind Sie hier nicht etwa einer unter vielen anderen, sondern derjenige, der erstens in unmittelbarer Nähe der Toten wohnt; der zweitens diese Tote recht gut gekannt hat; der schließlich, drittens, diese Person in 228
einem Lokal tätlich anzugreifen versuchte.« »Woher wissen Sie das alles?« Wander war aufgesprungen. »Wer liefert Ihnen Material gegen mich?« »Ich weiß es, Wander – und das sollte Ihnen genügen. In Köln gibt es nahezu ein Dutzend Zeugen, die gesehen haben, wie diese Dame Ihnen Whisky ins Gesicht geschüttet hat – nach übereinstimmenden Aussagen: bis auf das Blut gereizt!« »Ich habe ihr damals lediglich gesagt, was sie in meinen Augen war – nämlich ein Mistvieh! Aber das war alles. Mord steht nicht auf meinem Programm.« »Wie wär’s denn – sagen wir, als Ausweg – mit einem Totschlag?« »Bedaure, Kohl, aber mich bekommen Sie nicht auf Ihre Schlachtbank.« »Warten wir ab, Wander, ich bin mit Ihnen noch nicht am Ende. Sie haben also diese Person gehaßt ...« »Sagen Sie treffender: verachtet.« »Genauso heftig vermutlich, wie Sie diese Dame einst geliebt haben.« »Diesen Typ kann man gar nicht lieben – man verrennt sich in so was!« »Jedenfalls haben Sie mit Sabine von Wassermann-Westen ein Verhältnis gehabt.« »Das ist an die zehn Jahre her! Hören Sie doch endlich damit auf, Kohl, mit mir Versteckspiele betreiben zu wollen! Und das vielleicht nur, um sich nicht anderswo die Finger verbrennen zu müssen. Nun gut. Aber wie war’s denn mit diesen beiden Nachtlichtern – Morgenrot und Frost? Gibt es etwas, wozu die nicht fähig sind?« »Ich habe sie nicht übersehen«, sagte Kohl. »Aber beide haben sich zur fraglichen Zeit in Köln aufgehalten.« »Das bestätigen die sich gegenseitig, was?« 229
»Sie haben sogar Zeugen dafür.« »Was nur beweist, daß die sich so ziemlich alles kaufen können.« »Schon möglich«, sagte Kohl müde. »Doch bis ich solche Zeugen aufweichen kann, wird einige Zeit vergehen – und inzwischen halte ich mich an Sie, an die Details, die mir über Sie zugespielt worden sind; von wem auch immer. Und das aus einem einzigen, ebenso simplen wie schwerwiegenden Grund: Sie, Wander, werden sich wehren – sich wehren müssen! Das aber können Sie am besten, wenn Sie mithelfen, den eigentlichen Schuldigen zu finden.« »Wollen Sie versuchen, mich auf diese Weise zu Ihrem Apportierhund zu degradieren? Fällt Ihnen wirklich nichts Besseres ein? Wie wär’s denn etwa damit: Sie bitten mich um meine Mitwirkung – sagen wir: in alter, bewährter Zweckfreundschaft.« Kohl holte Luft, schloß die Augen, öffnete sie dann wieder und sagte laut, als müsse er ein Bekenntnis ablegen: »Ja – ich bitte Sie!« »Akzeptiert«, sagte Karl Wander erleichtert. »Die Beantwortung einer Frage vorausgesetzt.« »Fangen Sie schon wieder mit Ihrem Kuhhandel an?« »Diese Frage muß ich stellen, aus ganz persönlichen, mir ungemein wichtigen Gründen. Sie können diese Frage auf drei verschiedene Arten beantworten – mit Ja, mit Nein, oder durch Schweigen. Keine Ausrede sonst, keinen umschreibenden Kommentar – nur das. Diese Frage lautet: Haben Sie die Unterlagen über mein früheres Verhältnis mit Sabine Wassermann von dem Amerikaner Peter Sandman erhalten?« »Und das ist wirklich schon alles« sagte Kohl sichtlich erleichtert. »Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Nein!« »Dann ist es gut«, sagte Karl Wander. »Dann können wir 230
also, wieder einmal, gemeinsam in die Arena steigen! Welche Schaunummer gedenken Sie als nächste mit mir abzuziehen?« »Zunächst kommt die notwendige Absicherung. Grinsen Sie jetzt nicht, Wander, so was stört mich! Also: ich werde eine Aktennotiz darüber anfertigen, daß Sie sich geweigert haben, sich einer Vernehmung zu unterziehen – nach dem Gesetz durchaus berechtigt. Ferner werde ich in einer weiteren Aktennotiz die mir über Sie bekanntgewordenen Tatsachen aufführen, was ja nicht zu vermeiden ist. Doch ich werde kritische, einschränkende Bemerkungen dazu niederlegen.« »Vielen, herzlichen Dank!« sagte Wander ironisch. »Falls ich mildernde Umstände bekommen sollte, werde ich Sie als meinen Lebensretter feiern! Und wie ist das mit den von mir angebotenen Adressen?« »Ein heikler Punkt, Freund Wander! Diese Adressen kenne ich bereits. Um dort heranzukommen, muß ich über greifbares, möglichst unerschütterliches Material verfügen. Können Sie mir so was verschaffen?« »Nein – noch nicht.« »Na eben! Was, meinen Sie wohl, geschieht oder kann jedenfalls geschehen, wenn plötzlich in einem meiner Berichte der Name einer sogenannten hochgestellten Persönlichkeit auftaucht? Nun? Womöglich bin ich dann diesen Fall in Sekundenschnelle los!« »Das«, meinte Wander, »muß natürlich vermieden werden. Doch wie?« »Helfen Sie mit – vorbehaltlos! Ich verspreche mir viel davon.« »Lieber Freund Kohl«, sagte Wander, »Sie scheinen mir nicht nur zu vertrauen – Sie vertrauen sich mir geradezu an. Was verführt Sie dazu?« »Nun«, sagte der Kriminalbeamte, »Sie hätten, mich 231
schließlich ja auch erpressen können – nach unserm gemeinsamen Auftritt im Falle Barranski. Damit hätten Sie mich vermutlich aufs Kreuz legen können. Aber Sie haben das nicht einmal andeutungsweise versucht.« »Vielleicht bin ich alles andere als ein Musterschüler«, meinte Wander mit freundschaftlichem Lächeln, »aber in jeder Stunde lerne ich dazu – und genau das scheine ich nötig gehabt zu haben.« An diesem Tag fand sich der Gefreite Fünfinger – »auf Lustreise«, wie er sagte – bei Karl Wander ein. Er verlangte Champagner zu trinken. Daran habe er sich, mittlerweile, völlig gewöhnt, versicherte er, und er könne nur hoffen, nicht enttäuscht zu werden. »Wollen Sie sich etwa auch über mich amüsieren?« fragte ihn Wander. »Nur zu! Aber versprechen Sie sich nicht allzuviel davon, denn langsam komme ich mir hier selbst wie ein Hanswurst vor.« Fünfinger reckte seine klobige Gestalt im Sessel hoch. »Sie sind in Ordnung«, versicherte er. »Und ich bin lediglich gekommen, um weitere, durchaus lukrative Angebote zu unterbreiten.« »Ich fürchte«, sagte Wander, »mein Bedarf ist gedeckt.« »Dann sollten Sie so eine Art Vorratswirtschaft betreiben«, empfahl Fünfinger. »Sie überschätzen meine Möglichkeiten, Herr Fünfinger – ich bin nicht der, für den Sie mich halten.« »Und was hindert Sie eigentlich daran«, fragte der Gefreite, »jetzt doch ganz zufrieden zu sein – nachdem die Sache, unsere Sache, ganz schön in Schwung gekommen ist!« »Haben Sie tatsächlich diesen Eindruck?« Fünfinger hob sein Glas und nickte Karl Wander ermunternd 232
zu. »Endlich ist Bewegung in diese Herde lahmer Enten gekommen! Sogar als unerschütterlich geltende Paradegäule beginnen Wirkung zu zeigen. Einige fürchten bereits um ihren Job – was praktisch auch heißt: Sie merken endlich, daß sie einen Job haben.« »Sie sind nur aufgescheucht – vorübergehend.« »Und deshalb, Herr Wander, muß ständig für Nachschub an Unruhe gesorgt werden! Und damit stehe ich nicht allein. Es gibt junge Leute, auch junge Offiziere, die unruhig und unzufrieden sind. Sie wollen Kritik, sie wollen Diskussion, das mal zumindest, aber diskutieren Sie mal mit Generalen! Unsere uniformierten Pennbrüder wollen doch nur möglichst ungestört vor sich hin dösen. – Hauptsache, die Waffen und Fahrzeuge sind gepflegt und gewartet. Im übrigen träumen sie von Tressen, blanken Knöpfen, mehr Lack, funkelnden Schulterstücken, Affenschaukeln, schließlich Orden, Medaillen, Auszeichnungen, und von jeder Menge Ehre, Ansehen und Einfluß – das ist für sie Erfüllung ihres Daseins.« »Ich weiß«, sagte Wander, »Glanz und Gloria ... Auch nach zwei katastrophal verlorenen Kriegen sind sie nicht bereit, sich das in den Hintern zu stecken – oder vielmehr in den Hintern der Geschichte, wo es hingehört.« »Klar. Man muß es diesen Ausstattungsspezialisten möglichst radikal beibringen. Sonst lernen die niemals um! Aber Sie, Herr Wander, sind doch gerade recht vielversprechend dabei. Und ich will gerne mithelfen.« »Ohne das Gefühl zu haben, daß so was sinnlos ist?« »Sinnlos ist für mich in diesem Metier: Paradebataillon, Blasmusik, Gottes Spezialsegen, Fahnensticker, Traditionsmüllhaufen, Gehorsamsgeschwätz, Atombombenherrlichkeit und Kasinoseich. Und dieser unausrottbare Katechismus der konsequenten Kasernenhofhengste! Und weil Sie eben dagegen, Herr 233
Wander, endlich etwas zu tun versuchen, bin ich Ihr Mann!« »Immer diese Erwartungen!« sagte Karl Wander erschöpft. »Ich kann hier tun oder lassen, was ich will – immer neue Forderungen ergeben sich daraus. Und Sie, Herr Fünfinger, sind einer der Schlimmsten. Sie fordern keine Honorierung, Sie bieten sich lediglich an – sozusagen als Gesinnungsfreund. Halten Sie das für fair, mitten in dieser Welt?« »Sie werden doch nicht etwa sentimental werden?« fragte Fünfinger verwundert. »Schließlich sind Sie doch ein Ausmistertyp, oder? Und außerdem einer, der notfalls auch dort hinpinkelt, wo es ausdrücklich verboten ist.« »Versuchen Sie mir nichts anzudichten, Fünfinger! Ich bin nämlich im Grunde meines Wesens ein sogenannter deutscher Mensch und gehöre damit zu denen, die mit ihrer Revolte haltmachen, wenn eine Verkehrsampel Rot zeigt. Ich habe als eine Art Menschheitsbeglücker angefangen, doch vielleicht will ich jetzt auch mal kassieren? Wäre doch möglich?« »Dann beteilige ich mich eben an diesem Geschäft.« »Auch dann, wenn so was keinen unmittelbaren Gewinn einbringt?« »Der Spaß genügt mir!« »Und was können Sie mir diesmal anbieten?« »Eine ganze Menge«, versicherte Fünfinger. »Man könnte etwa weitere Spezialeinrichtungen verschwinden lassen – nicht nur Raketenköpfe, auch ganze Zieleinrichtungen. Sogar Geheimakten. Aber der Trick mit dem Versenken von Material in Baugruben wirkt schon beim zweitenmal monoton. Doch was würden Sie von der Zweckentfremdung eines ganzen Panzerfahrzeuges halten – neuester Bauart?« »Sie können sich vermutlich gratulieren«, sagte Peter Sandman ohne jede Herzlichkeit. »Es ist Ihnen tatsächlich 234
gelungen, mich zu täuschen! Dabei galt ich bisher als ganz guter Kenner hiesiger Kulissenintrigen.« »Ach – von mir aus können Sie mir vorwerfen, was Sie wollen!« rief Karl Wander wie angewidert aus. »Warum sollte es nicht stimmen? Ich bin ein Dummkopf, ein Lügner, ein Intrigant – und wer weiß, was noch alles! Vielleicht sogar ein indirekter Mörder!« »Versuchen Sie nur nicht, sich interessant zu machen!« Peter Sandman wirkte verärgert. »Mir genügt völlig, daß Sie es fertigbekommen haben, mich wie ein ausgekochter Pokerspieler zu bluffen.« »Wann denn – und bei welcher Partie?« Peter Sandman hatte Wander um dieses Gespräch ersucht. Es fand in einem Weinlokal in Bad Godesberg statt, in Nähe der Römerstraße, dicht beim Rhein. »Wollen Sie leugnen«, fragte Sandman, »daß nunmehr genau das eingetreten ist, was Sie mir gegenüber für ausgeschlossen erklärt haben?« »Entschuldigen Sie, Peter – aber neuerdings frage ich mich manchmal, was ich hier eigentlich angestellt habe. Einiges davon ohne es zu wissen, ohne es. zu ahnen, ohne es zu wollen. Worum handelt es sich diesmal?« »Um Feldmann natürlich! Der ist auf dem besten Weg, Verteidigungsminister zu werden – und Sie haben kräftig mitgeholfen, diese Ihre Bundeswehr an ihn zu verkaufen. Ausgerechnet an ihn!« »Versuchen Sie mich zu provozieren?« »Ist das überhaupt bei Ihnen noch möglich?« Der Amerikaner schlug mit der flachen Hand auf die schwere Eichenplatte dieses Tisches – es klang, als habe er eine Ohrfeige ausgeteilt. Darüber erschrak er selbst am meisten. Er wirkte nervös. »Sehen Sie denn nicht, was hier nun gespielt 235
wird – oder wollen Sie das nicht mehr mit ansehen?« »Schon möglich«, sagte Wander. »Denn ich komme mir fast wie ein Fußball vor, der hin und her getreten wird. Und was Feldmann anbelangt, so bin ich nach wie vor der Ansicht: Der ist lediglich, und zwar direkt vom Kanzler, vorgeschickt worden.« »Kann ja durchaus sein! Aber ein Typ wie der bleibt vorne, wenn er erst einmal nach vorne gekommen ist – mit wessen Hilfe auch immer. Ich habe das geahnt, doch Sie haben es mir ausgeredet. Aber Sie, Karl, hätten das wissen müssen; so dicht wie Sie ist keiner am Objekt gewesen.« »Vielleicht zu dicht«, Karl Wander schien um Nachsicht zu bitten. »Ich bin offenbar über so manches gestolpert, ohne es zu erkennen. Glauben Sie wirklich, daß Feldmann das Verteidigungsministerium für sich will?« »Das ist ihm schon fast so gut wie sicher«, erklärte Peter Sandman. »Feldmanns Leute – unter ihnen nicht zuletzt Sie, Karl – haben das Ihrige dazu getan. Besonders Krug hat ganze Arbeit geleistet. Seine Fraktion ist zwar nicht geschlossen, aber doch wirksam in Aktion getreten. Schützenhilfe wird von allen möglichen Seiten bereitwillig geleistet – denn jeder meint, da würde sein Spiel gespielt. Und jeder will mitspielen – wehrkraftfreudige Öffentlichkeitsvertreter, Verbände sehr verschiedener Art, freiheitsliebende Männer aus Politik, Wissenschaft und Kunst, einschließlich der sogenannten Opposition ... Sie konnten sicher nicht gleich alles durchschauen – zugegeben. Aber Sie hätten dann sehr wohl sehen können, wohin der Hase lief. Mensch, Wander, wenn man sich im übrigen mit einem Feldmann einläßt, muß man sich absichern!« »Dem«, gestand Karl Wander leise, »habe ich vertraut.« »Idiot«, sagte Peter Sandman herzhaft. »Und mit so was bin ich befreundet!« 236
Beide lachten auf – und dann schüttelte jeder von ihnen seinen Kopf. Sie kamen sich reichlich komisch vor. »Welch eine Fülle von geradezu penetranten und peinlichen Zufälligkeiten!« rief Peter Sandman aus. »Krug mußte ausgerechnet Sie erwischen! Der Kanzler vertraute einem Feldmann! Und der derzeitige Verteidigungsminister übt sich in ehrenwert gedachter Zurückhaltung. Daß Generale mit Generalen Tontaubenschießen veranstalten, wenn es um Machtpositionen geht, ist demgegenüber nur eine schlichte Selbstverständlichkeit.« »Nicht Feldmann«, sagte Karl Wander vor sich hin. »Der darf nicht Verteidigungsminister werden – der ist nicht sauber genug. Ich weiß es jetzt. Und ich bin der festen Überzeugung, daß nur ein sittlich einwandfreier Mensch saubere Politik betreiben kann.« »Auch das noch!« rief Peter Sandman mit ironischem Entsetzen aus. »Hatten Sie schon immer hochmoralische Anwandlungen dieser Art? Das allerdings würde vieles erklären.« »Einem skrupellosen Mann, einem Menschen ohne wirkliches Verantwortungsgefühl, darf keine Macht über Menschen eingeräumt werden.« »Na herrlich! Soll ich Ihnen mal sagen, mein armer Freund, wie die Praxis tatsächlich aussehen wird? Der nächste Generalinspekteur wird Keilhacke heißen; den Verteidigungsausschuß des Bundestages wird Krug übernehmen; und Feldmann wird Oberbefehlshaber Ihrer Bundeswehr.« »Das«, sagte Karl Wander mit großem Ernst«, darf nicht geschehen!« »Wie wollen Sie das verhindern? Feldmann kann gar nicht mehr zurück! Er hat heute vor seiner Fraktion erklärt: ›Ich dränge mich niemals auf, doch wenn man mich ruft, werde ich 237
mich meiner Pflicht nicht entziehen!‹ Wer kann dagegen noch irgend etwas tun! Sie etwa?« »Da sind Sie ja endlich!« rief Karl Wander dem Kriminaloberinspektor Kohl zu, der vor seiner Tür stand. »Aber geradezu glücklich wirken Sie nicht. Was ist mit Ihnen geschehen?« »Ich bin inzwischen Polizeichef von Neuberg geworden. Sie kennen Neuberg nicht? Ich auch nicht. Doch das soll ein schönes, hoffnungsvolles Städtchen sein, etwas abgelegen zwar, doch entwicklungsfähig; so an die zehntausend Einwohner; ein Krankenhaus, drei Kirchen, fast dreißig Vereine und über vierzig Kneipen. Das wird ein Leben werden!« Karl Wander blickte verblüfft. »Wie kommen Sie denn zu diesem Job?« »Den habe ich vermutlich Ihnen zu verdanken! Aber erwarten Sie deshalb keine Dankeskundgebung von mir! Ich bin nur gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden – vielleicht für immer.« »Heißt das – Sie kapitulieren?« »Das ist nicht zutreffend. Ich muß lediglich die Konsequenzen ziehen, weil ich die Regeln unserer Gesellschaftsspiele nicht ausreichend beachtet habe. Ich habe nicht das Material liefern können, oder wollen, das von mir erwartet worden ist. Material über Sie, Wander! Das aber wird vermutlich ein anderer tun. Und eben darauf wollte ich Sie noch vorbereiten.« »Nicht so eilig! Haben Sie denn wirklich nichts Brauchbares herausfinden können, das auf eine mögliche Täterschaft im Fall Sabine Wassermann hinweist – und auf den Fall Eva Morgenrot noch dazu?« 238
»Nichts. Kein greifbarer Hinweis. Kein Ansatzpunkt eines überzeugenden Beweises. Keine direkte, erfolgversprechende Spur – mit Ausnahme derjenigen, die direkt zu Ihnen führt, Wander.« »Aber Sie wissen doch ganz genau, Kohl, daß diese Spur falsch ist!« »Ich weiß es nicht, Wander, ich nehme es lediglich an. Aber dabei frage ich mich, wo ich Ihnen wohl irgendwann noch einmal begegnen werde – vielleicht vor einem Schwurgericht, wo Sie der Angeklagte sind. Und ich werde dann aussagen müssen, was ich weiß, und das wird gegen Sie sprechen.« »Nur gegen mich?« fragte Karl Wander eindringlich und nicht frei von aufflackernder Furcht. »Nicht auch gegen andere?« »Gegen wen denn sonst, Wander?« Der Kriminaloberinspektor sah Wander betrübt an. »Ich habe Ihre direkten und indirekten Hinweise nicht übersehen. Ich bin ihnen sogar nachgegangen.« »Und das ohne jeden Erfolg?« Wander war bestürzt. »Versuchen Sie nicht, mir so was einzureden! Meine Hinweise hatten Hand und Fuß.« »Meine Nachforschungen«, sagte der Kriminalbeamte mit resignierender Geduld, »haben bisher keinerlei wirklich verwertbare Resultate ergeben. Weder bei Ihnen, noch bei diesen Jünglingen Morgenrot und Frost. Nicht einmal bei Ihrer Freundin, diesem Fräulein Marlene Wiebke ...« »Die hat doch nichts damit zu tun!« erklärte Wander. »Außerdem ist sie nicht meine Freundin. Das möchte ich feststellen!« »Mit Bedauern – nehme ich an. Doch gut! Ich jedenfalls habe, glaube ich, wohl so gut wie niemanden ausgelassen, der mit der Toten in irgendeiner Beziehung gestanden hat oder gestanden haben könnte. Nicht einmal Feldmann und Krug 239
habe ich ausgeklammert – und das vielleicht reichlich voreilig und offenbar nicht vorsichtig genug. Denn ich muß annehmen, daß meine Neuberger Karriere die Folge davon ist. Krug jedenfalls hat zur fraglichen Zeit mit Parteifreunden konferiert – und einige von ihnen bestätigen das.« »Feldmann?« »Sie sind gut, Wander!« Kohl knurrte unwillig. »Glauben Sie denn, ich könnte einen ausgewachsenen Minister zu mir aufs Revier bestellen? Denn einmal steht der – wie ja auch Krug – unter dem Schutz der Immunität. Zum anderen sind wir an bestimmte Weisungen gebunden. Nach diesen werden wir, die niederen Kriminaltiere, ersucht, bei bestimmten Fällen mit äußerster Vorsicht vorzugehen. Etwa, wenn auch nur vager Verdacht besteht, daß Mitglieder der Regierung, des Diplomatischen Corps, des Bundestages, des Bundesrates, des Verteidigungsministeriums darin verwickelt sein könnten, einschließlich simpler Verkehrsunfälle. Dann hat sofort eine Meldung an die uns vorgesetzte Dienststelle zu erfolgen. Damit wir, wie es so schön heißt, jede erdenkliche Unterstützung erhalten können. Was praktisch durchaus bedeuten kann: wir werden ausgeschaltet. Verläßliche Spezialisten übernehmen dann diese Fuhre Mist.« »Sie aber, Kohl, pflegen sich nicht an derartige Weisungen zu halten, wie ich Sie kenne.« »Man tut, was man kann«, meinte der Kriminalist versonnen. »Sonderlich viel ist das meistens leider nicht. Minister Feldmann jedenfalls behauptet, in der fraglichen Nacht in seinem Büro gearbeitet und auch dort geschlafen zu haben – eine Angabe, die ich nicht erschüttern kann. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, sie zu bezweifeln, als ich auch schon befördert worden war. Hinausbefördert – bis Neuberg hin. Was wollen Sie noch?« »Nur noch eine einzige Auskunft! Wer hat Ihnen Details 240
über mein früheres Verhältnis mit dieser Sabine Wassermann geliefert?« »Krug natürlich«, sagte der Kriminalbeamte. »Der wußte alles über Sie – auch das, selbstverständlich. In seinen umfangreichen Akten sind die erstaunlichsten Details auch über Sie und diese Sabine vorzufinden. Mehr als ausreichend, Ihnen eine Menge Schwierigkeiten zu machen.« »Das aber«, rief Wander aus, »kann doch praktisch nur eins bedeuten: Krug hat von vornherein mit diesem seinem Spezialwissen spekuliert!« »Durchaus denkbar. Mag sein, daß Sie von Anfang an in seinen Augen nichts als ein brauchbares Objekt gewesen sind, ein ziemlich sicherer Posten in einer zukünftigen Rechnung – falls er sich gezwungen sehen sollte, eine aufzustellen.« »Also etwas wie Einwickelpapier – und danach nur noch Abfall für die Mülltonne!« »Sehen Sie das endlich ein«, empfahl Kohl mit rauher Stimme. »Haben Sie denn überhaupt noch eine andere Wahl?«
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Zwischenbericht IX des Mannes namens Jerome Über den gefährlichen Unsinn, stets vernünftige Denkprozesse zu erwarten; vielmehr sollte man immer auf unkontrollierbare Reaktionen gefaßt sein. So ist es ja nun auch nicht, daß wir in unserem Metier private Kreuz- und Querverbindungen für unwesentlich halten. Jedoch: mehr als zweitrangig pflegen sie in der Praxis kaum jemals zu sein. Wer auch immer mit wem schläft – wenn es um Machtpolitik, öffentlichen Einfluß oder finanziellen Gewinn geht, hat das nur geringen Einfluß. Ein weitverbreiteter Unsinn ist die Überbewertung von Bettgesprächen in unserer Branche. In der diesbezüglichen Banalliteratur mag sich so was recht gut verwerten lassen, im nüchternen Agentenalltag jedoch ist damit nicht viel anzufangen. Was nicht ausschließt, daß sich gelegentlich die Kenntnis gewisser Intimitäten, etwa Homosexualität, als meist zusätzliches Druckmittel nicht durchaus wirksam anwenden ließe. So war das, was »Feldmanns Privatleben« genannt wurde, meiner Dienststelle recht gut bekannt – schon seit Jahren. Dabei handelte es sich keinesfalls um eine ungewöhnliche Ausnahme; im übrigen konnte Feldmann Diskretion und auch so etwas wie Takt bescheinigt werden. Andere machten da weniger Umstände. Feldmann jedenfalls pflegte zielbewußt sein Image; sogar Frauenzeitschriften schwärmten für ihn. Wenn dennoch sein Verhältnis zu Sabine Wassermann-Westen nicht ganz unbekannt geblieben war, so gelang es ihm doch, das mehr oder weniger als gute Freundschaft erscheinen zu lassen. Diese Wassermann-Westen war dann auch klug oder 242
gerissen genug, dieses Verhältnis öffentlich nicht auszuspielen; sie vermied sogar Andeutungen darüber. Doch einschlägige Kreise wußten, was gespielt wurde. Ihr Haus in Köln, ein stattliches Bankkonto, verschiedene wichtige und auch ertragreiche geschäftliche Verbindungen waren die Folge davon. Sie kosteten Feldmann nicht einen Pfennig, machten sich jedoch auf die angenehmste Weise bezahlt. In den letzten Monaten jedoch schien sich Sabine nicht mehr voll einsatzbereit gezeigt zu haben. Möglich auch, daß sie im intimsten Bereich für nicht mehr überzeugend einsatzfähig erachtet wurde. Doch Sabine sorgte ersichtlich für ansprechende Vertretung. Und dazu hat vermutlich Eva Morgenrot gehört. Was damit begann, vermochte jedenfalls nicht einmal Feldmann richtig und rechtzeitig zu erkennen. Er achtete hierbei offenbar nur darauf, keine Gefühle zu investieren, keine unnötigen Versprechungen zu machen und eventuell drohende Peinlichkeiten rechtzeitig zu unterbinden! Auf Wander achtete er dabei – natürlich – nicht. Bei dieser Konstellation hatte Sandman folgende Frage besonderes Kopfzerbrechen bereitet – mir übrigens anfangs auch: Feldmann hatte sich mit der labilen, überreizten, überaus anfälligen Eva Morgenrot eingelassen ... Vielleicht nur ein einziges mal? Vielleicht war er im Rausch in eine Art sanft zuschnappende Falle hineingeraten? Aber eben das mit der Tochter des einflußreichen Morgenrot! Den brauchte er für seine Aktion dringend, dessen wohlwollende Mitwirkung durfte er durch nichts beeinträchtigen! Ein fragwürdiger und möglicherweise komplizierter Vorgang. Einem Feldmann einfach nicht zuzutrauen. Schließlich fand ich die wohl einzig mögliche Erklärung hierfür – und damit den Schlüssel für einige bisher 243
unerklärbare Vorgänge. Das uns zugespielte Tagebuch der Wassermann-Westen – ein kalt berechnetes, nicht unraffiniert kalkuliertes Entlastungsdokument, half mir dabei. Daraus ergab sich: Feldmann wußte offenbar bei der ersten Begegnung tatsächlich nicht genau, wer Eva Morgenrot wirklich war. Vermutlich hielt er sie für eine unter zahlreichen anderen. Um wen es sich gehandelt hatte, erfuhr er erst später – möglicherweise waren einige sicher nur indirekte Pressionen die Folge davon. Doch das wichtigste Ergebnis, für mich, war die Schlußfolgerung: Die Aktion in Sachen Bundeswehr kann durchaus eine Idee von Feldmann gewesen sein, doch inspiriert dazu wurde er vermutlich von Krug. Und Krug wiederum hat vorausschauend und gemeinsam mit Direktor Morgenrot und der WassermannWesten operiert. Bei diesen drei war die eigentliche Quelle aller dieser Ereignisse zu suchen. Kein Wunder daher, wenn Wander, wie Sandman berichtete, instinktiv mißtrauisch wurde, als er das verblüffend bereitwillige Entgegenkommen des alten Morgenrot sah. Dennoch erkannte Wander nicht, natürlich nicht, in welchen Zweckverband er hineingeraten war. Als ich diese. Grundkonstellation endlich zu durchschauen vermochte, löste ich eine Serie von Recherchen aus. Deren Ergebnis war dann nicht mehr allzu überraschend: Wohl bestand zwischen Feldmann und Sabine ein enges, langjähriges Verhältnis, doch zwischen ihr und Konstantin Krug hatte sich inzwischen eine überaus intensive Geschäftsverbindung angebahnt. Als dann Sabine an den alten Morgenrot geriet – beziehungsweise er an sie, von Krug möglicherweise manipuliert –, fanden sich vielversprechende Partner zusammen. Das große Kesseltreiben um ein Milliardenprojekt 244
konnte beginnen. Dabei auch diesen Karl Wander mit ins Spiel zu bringen, war wohl allein Sabines Einfall. In dem sah sie, durchaus berechtigt, einen hochwillkommenen »tumben Toren«: einen idealistisch gesinnten Mülltonnenausleerer, aber auch, falls das notwendig werden sollte, einen brauchbaren Sündenbock. Nun sind Fehler bei derartigen Manipulationen nie vermeidlich. Doch mit diesem Wander hatten sie sich einen Menschen engagiert, dem jedes feinere Unterscheidungsvermögen zu fehlen schien – etwa zwischen Zweck- und Rechtmäßigkeit, Wahrheit und Wunschtraum, Realität und Phantasie, Menschlichkeitstheorie und Alltagspraxis. Nichts kann, in dieser Welt, hoffnungsloser sein.
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10 Die Wahrheit scheint immer unteilbar – doch was darunter vorzustellen ist, wollen die wenigsten wissen. »Wie sehr mich Ihr Anblick freut, Herr Wander, werden Sie sich kaum vorstellen können.« Das versicherte der alte Maximilian Morgenrot, sich die Hände reibend. »Ich habe bereits mehrmals mit dem Gedanken gespielt, Sie um Ihren Besuch zu bitten, doch das hätten Sie möglicherweise als Aufforderung empfinden können, bei mir zu kassieren.« »Wofür denn?« fragte Karl Wander. Er betrachtete den Schreibtisch des Direktors – was er suchte, war dort nicht mehr vorhanden: der Silberrahmen mit dem Foto von Sabine. »Sollte ich mir tatsächlich inzwischen irgend etwas geleistet haben, das für Sie von einigem Wert gewesen ist?« »Eine ganze Menge sogar! Da ist einmal unsere gemeinsame Aktion – die läuft doch hervorragend! Dabei ist die von Ihnen – die von Krug und Konsorten angezettelte Kampagne zwar ein sehr schönes Stück Arbeit, wird aber den Verteidigungsminister lediglich erschüttern. Doch umhauen wird ihn das von mir gelieferte Material.« »Sie haben in dieses Projekt eine Menge Geld investiert, vermute ich.« »Nicht einen Pfennig – unter uns Brüdern gesagt!« Maximilian Morgenrot tänzelte vergnügt durch den Raum. »Als Sie mit Ihrem Angebot hier aufkreuzten, hatte ich bereits das gesamte gewünschte Material beisammen. Danach habe ich mit Feldmann verhandelt, mir alle Auslagen bezahlen lassen und mir darüber hinaus gewisse Zukunftsgarantien eingehandelt. So macht man das.« »Und wie hoch ist meine Provision dabei?« Der alte Morgenrot lachte koboldartig auf. »So was, mein 246
Lieber, muß man immer vorher festlegen. Sie mögen ein ziemlich cleverer Bursche sein, Wander, aber von mir können Sie noch allerhand lernen.« »Das fürchte ich auch«, sagte Wander. Er hatte Mühe, den behenden Morgenrot im Auge zu behalten – der bewegte sich mit schnellem Richtungswechsel. »Aber weshalb ließen Sie mich noch einmal kommen?« »Warum fragen Sie danach – Sie wissen es doch!« Morgenrot wechselte jetzt vom Fenster zum Schreibtisch hinüber. »Sie wissen doch genau, daß ich Wert darauf lege, nähere, interne Einzelheiten über gewisse Vorgänge zu erfahren.« »Über den Tod Ihrer Stieftochter Eva – und über den der Frau von Wassermann-Westen. Und auf welche Details legen Sie dabei besonderen Wert?« »Auf alle, die Ihnen bekannt sind! Und mich würde auch alles interessieren, was Sie vermuten. Das vielleicht nur, um eine Bestätigung dessen zu erhalten, was ich bereits weiß oder doch ahne.« »Dafür haben Sie mir neulich zehntausend Mark angeboten.« »Diese Offerte gilt immer noch«, versicherte der alte Morgenrot. »Einmal, weil ich Ihnen, indirekt, ein kleines Vermögen verdanke und ein weit größeres, hoffentlich, bald dazu. Zum anderen, weil ich Sie gerne irgendwie verpflichten möchte – Männer mit Ihren Talenten darf man nicht leichtfertig der Konkurrenz überlassen.« »Ihre Zahlung verpflichtet mich jedoch lediglich zur uneingeschränkten Information – jetzt und hier! Zu nichts weiter sonst. Akzeptiert?« Wander sah Morgenrot erwartungsfreudig nicken. »Dann schreiben Sie also den Scheck aus – und danach legen Sie ihn auf den Tisch, in meine Reichweite.« 247
Das geschah. Der alte Morgenrot schrieb mit schnellen Fingern einige Zahlen und Worte auf ein längliches, lichtblaues Stück Papier, setzte dann, erwartungsgemäß schwungvoll, seinen Namen darunter und schob es Wander zu. Der las es durch und nickte dann. »Also!« rief nun Morgenrot drängend. »Wer hat Eva auf dem Gewissen?« »Sie – vermutlich. Aber da Sie sich lediglich für die letzte Phase dieser Vorgänge interessieren, will ich mich auch allein darauf beschränken. Es kann Ihr Sohn Martin gewesen sein. Überrascht Sie das?« »Aber warum denn, junger Freund. Das habe ich erwartet.« Es klang, als hätte er sagen wollen: erhofft. Gleichmütig fuhr er fort: »Das denkbar fragwürdige Verhältnis zwischen diesen beiden mußte ganz zwangsläufig irgendwann mit einem Knalleffekt enden.« Morgenrot klärte seinen Besucher bereitwillig auf. »Wäre Eva nur ein wenig gescheiter oder auch nur berechnender gewesen, dann hätte sie seinem Drängen nachgegeben – sie hätte sich dafür einen ergebenen Sklaven eingehandelt.« »Also ist Eva selbst daran schuld, wenn sie von Martin zusammengeschlagen worden ist – vielleicht auch mit Hilfe eines gewissen Sobottke. Und mit einiger Sicherheit unter der Direktion Ihrer Sabine. Auch dieser Felix Frost kann, zumindest indirekt, daran beteiligt gewesen sein.« »Und Ihr Anteil daran, Wander?« »Mir unbekannt. Mein Wort darauf. Ich schwöre, wenn Sie wollen, auf diesen Zehntausend-Mark-Scheck.« Karl Wander fand an seinem Versuch, zu scherzen, nicht den geringsten Gefallen. Fast hastig versicherte er: »Ich weiß wirklich nicht, wie weit ich darauf Einfluß genommen hatte. Ich glaube – ich wollte nur helfen, nichts weiter sonst. Aber schon das kann manchmal eine gefährliche Einmischung sein. Zumal bei einem 248
Menschen wie Eva – sie kam mir vor wie verstört.« Maximilian Morgenrot lauerte hinter seinem Schreibtisch. Fast tonlos sagte er: »Sie müssen ihr Angst eingejagt – sie in Panik getrieben haben! Wodurch? Was wußten Sie von ihr? Haben Sie irgendein Dokument von ihr verlangt? Ihr gedroht?« »Warum denn? Vermutlich hat die Wassermann-Westen Ihnen das eingeredet – Martin und dieser Frost schienen ähnliche Spekulationen zu verfolgen. War denn Eva im Besitz von irgendwelchem gefährlichem Material?« Morgenrot sprang auf und zog sich, wie flüchtend, in die hinterste Ecke seines Direktionszimmers zurück – dort schien er sich an den Wandteppich klammern zu wollen. Und von hier aus rief er, mit unterdrücktem Triumph: »Sie wissen also nichts! Nichts darüber. Sie sind diese zehntausend Mark nicht wert, aber Sie sollen sie dennoch gerne haben.« »Als eine Art Trinkgeld – vermute ich. Denn Evas Tod erspart Ihnen die Halbierung Ihres Vermögens und verdoppelt damit automatisch Martins Erbe. Und Sabine wußte davon. Aber wußten Sie auch, daß Sabine es war, die Ihre Tochter Eva in ein schnelles, schlüpfriges und vermutlich nicht besonders schönes Abenteuer mit Feldmann gestürzt hat?« Der alte Morgenrot wendete sich ab, starrte zum Wandteppich hoch und sagte: »Wenn das stimmt – wird er mir dafür bezahlen!« »Sie versuchen also selbst daraus ein Geschäft zu machen?« »Was bleibt denn da sonst noch übrig!« Morgenrot verließ den Wandteppich, der eine fleischige Göttin in ruhender Pose zeigte. »Erwarten Sie, daß ich in Tränen ausbreche – über Vorgänge, die nicht mehr zu ändern sind?« »Gehört dazu nun auch Sabine? Noch bei meinem letzten Besuch habe ich ihr Foto, in einem silbernen Rahmen, auf Ihrem Schreibtisch stehen sehen.« 249
»Na – und?« Der alte Morgenrot schien jetzt die Sauberkeit seiner Fensterscheiben zu prüfen. »Schließlich ist diese Dame eine hochansehnliche Person – pardon: sie war es! Das werden Sie mir, aus eigener Erfahrung, gewiß bestätigen können. Woher ich das weiß? Von Sabine selbst. Sie hat mir alle Einzelheiten ihres Lebens erzählt – sie war klug genug, das zu tun.« »Und sie war auch klug genug, sich nicht nur mit Ihnen anzufreunden, sondern auch mit Ihren Familienmitgliedern. Dabei hat sie dann Eva verkuppelt, Martin korrumpiert und diesen Felix Frost zu einem fragwürdigen Abenteuer inspiriert – und das denkbar schamlos.« »Sie sehen das vermutlich nicht ganz richtig«, korrigierte ihn Maximilian Morgenrot fast besorgt. »Sabine hat hier zunächst für mich einige Geschäfte vermittelt; das führte zu einer gewissen Freundschaft, schließlich sogar zur Planung einer Ehe.« »Und auch zu einer Art Pakt zwischen Sabine und Martin vermutlich – denn für beide bedeutete Evas Existenz den Verlust von Millionen. So fanden sie sich also, als vorübergehende Interessengemeinschaft, zusammen; zur gemeinsamen Tat – vielleicht auch im Bett.« »Hier, Wander«, meinte der alte Morgenrot lächelnd, »überschlägt sich Ihre Phantasie ein wenig. Sie verkennen die Mentalität einer Frau wie Sabine. Wenn für einen solchen Menschen ein überlegt kalkulierter Einsatz wirklich vielversprechend erscheint, dann bringt er auch jedes Opfer dafür. Von dem Augenblick an, da ich Sabine – wohlüberlegt – aufgefordert habe, meine Frau zu werden, kannte sie nur noch damenhafte Seriosität. Da bin ich absolut sicher.« »Aber Sie wissen, daß sie die Geliebte von Feldmann gewesen ist?« »Natürlich – auch das weiß ich von ihr selbst. Sie hat mit 250
Feldmann geschlafen und mit Krug Geschäfte gemacht. Nicht zuletzt deshalb verdanke ich ihr so manches. Auch die Bekanntschaft mit Ihnen, Wander.« »Ich scheine sie nicht nur unterschätzt zu haben«, sagte Wander nachdenklich. »Ich habe sie offenbar ziemlich verkannt.« »Sie war Gold wert. Sie konnte nicht nur wertvolle Beziehungen herstellen, sie hatte auch Einfalle – in gewisser Hinsicht gehört auch unsere Aktion zum Teil mit dazu. Dann aber muß sie irgendeinen entscheidenden Fehler gemacht haben. Doch welchen?« »Vielleicht hat sie diesen Felix Frost übersehen – oder nicht ernst genug genommen.« »Wander«, sagte Maximilian Morgenrot, »wenn es Ihnen gelingt, diesen Kerl auszuschalten, verdoppele ich die Summe auf Ihrem Scheck – ich verdreifache sie –, so viel ist mir der Skalp dieses heimtückischen Hasardeurs wert.« »Wie konnte der überhaupt an Eva herankommen? Warum ließ sie sich ausgerechnet mit dem ein? Nur um zu provozieren? Und wen? Sie? Oder Martin? Oder Sabine?« »Ich genieße Ihre Ahnungslosigkeit!« erklärte Maximilian Morgenrot. »Denn sie beweist mir, daß selbst Sie, der Sie im Mittelpunkt aller dieser Ereignisse gelandet sind, nicht die geringste Vorstellung zu haben scheinen, was wirklich geschehen ist.« »Vielleicht weiß Ihr Sohn Martin hierauf eine passende Antwort?« »Schon möglich. Aber ich werde ihn nicht danach fragen – das könnte das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen uns stören. Schließlich ist er jetzt mein Alleinerbe.« Und nahezu mit Bewunderung stellte der alte Morgenrot fest: »Er hat offenbar ganz zielstrebig darauf hingearbeitet – und er hat es geschafft!« 251
»Dann passen Sie nur auf, daß er Sie nicht eines schönen Tages auch noch schafft.« »Ich passe immer auf! Ich rechne damit, daß Martin kein Idiot ist – das hat sich hierbei doch ganz deutlich gezeigt!« Morgenrot wechselte zum Wandschrank hinüber. »Martin weiß, daß seine Millionen in den von mir geleiteten Fabriken investiert sind – er ist ohne mich aufgeschmissen.« »Ich an Ihrer Stelle, Herr Morgenrot, wäre da nicht ganz so sicher.« Karl Wander starrte ihn streitbar an. »Mag auch der Tod von Eva eine Art Gemeinschaftsproduktion gewesen sein – doch warum mußte dann auch noch die Wassermann-Westen sterben?« »Vielleicht weil Martin es so wollte?« »Der kann, nachweisbar, gar nicht daran beteiligt gewesen sein – ganz abgesehen davon, daß es sich auch wirklich um einen Unfall gehandelt haben könnte. Denkbar verwirrende Konstellationen kommen noch dazu. Etwa: ein Feldmann, der um Macht und Ansehen fürchten mußte; dazu Krug, dessen Geschäfte gefährdet erscheinen; ein Sobottke sodann, der sich offenbar seinen Lustgewinn zu erprügeln pflegte, wenn er gar keine andere Wahl mehr sah. Ferner dann Martin, Ihr Sohn, und Felix Frost, Ihr Schwiegersohn – beide ganz eindeutig an möglichen Millionengewinnen interessiert. Und vergessen Sie auch mich nicht dabei.« »Sie«, sagte Maximilian Morgenrot, »wollen hier doch weiter nichts als kassieren. Dafür sind Sie sogar bereit, meinen Sohn möglichst effektvoll anzuschwärzen.« »Das«, sagte Karl Wander, »habe ich gar nicht nötig, das ergibt sich von selbst. Ihr Sohn Martin jedenfalls, und dazu Felix Frost, können nachweisen, daß sie zur allein in Frage kommenden Tatzeit in Düsseldorf gewesen sind. Gemeinsam. Und dort in einem Verkehrslokal für Homosexuelle.« Morgenrot kurvte zur Tür hin. Dort betastete er die Klinke 252
mit nervösem Griff. Wie hilfesuchend blinzelte er Wander an. Der stand auf, griff nach dem Scheck, faltete ihn sorgfältig und steckte ihn ein. Dann sagte er: »Wer nun tatsächlich die von Ihnen so sehr geliebte zukünftige Ehefrau umgebracht hat, weiß ich noch nicht genau. Doch ich hoffe und vermute, daß ich Ihnen bald den Namen des Täters servieren kann. Kostenlos. Denn es kann durchaus sein, daß Sie diese Angelegenheit sowieso noch teuer zu stehen kommen wird.« »Sie haben doch nicht etwa Sorgen?« fragte Konstantin Krug. »Oder sind Sie nur gekommen, um sich zu verabschieden?« Er empfing Karl Wander, scheinbar äußerst entgegenkommend, in seinem Büro; die Wiebke hatte den Weg dazu gebahnt. Nun thronte er, wie eine Buddha-Kopie aus dem Warenhauskatalog, hinter seinem Schreibtisch. Er schien zu lächeln – freundlich-verbindlich, versteht sich. »Ich wollte Sie bitten, noch einiges zu klären.« »Aber gerne, sehr gerne, mein Lieber, sofern das überhaupt noch nötig sein sollte.« »Unvermeidlich – möchte ich sagen.« »Wie immer Sie das nennen wollen«, versicherte Krug. »Nur sollten wir uns möglichst auf das Wesentliche beschränken, wenn ich bitten darf. Denn meine Zeit ist äußerst knapp bemessen – was ich nicht zuletzt Ihnen, Herr Wander, zu verdanken habe.« Konstantin Krug scherzte zunächst weiter in dieser Tonart, sprach von der, dank Wanders Tüchtigkeit, so erfolgreich angekurbelten Kampagne, sprach die Hoffnung aus, daß sie so weiterlaufen möge, in gleicher Richtung, mit gleichem Tempo. »Ihr Verdienst daran, Herr Wander, ist wahrscheinlich nicht gering! Ich weiß es zu schätzen und der Herr Minister auch. Er 253
läßt Ihnen übrigens, durch mich, seinen Dank sagen und seine Anerkennung aussprechen. Ein Sonderhonorar liegt, wie Sie ja wohl wissen, für Sie bereit.« »Und womit soll ich das verdient haben?« fragte Karl Wander nun offen. »Meine Tätigkeit ist keineswegs darauf ausgerichtet gewesen, Feldmann zum nächsten Verteidigungsminister zu machen.« »Ah – ist es das, was Sie so unzufrieden erscheinen läßt!« Krugs Stimme klang erleichtert. »Mein lieber Herr Wander, eine Übernahme des Verteidigungsministeriums durch Herrn Feldmann ist ja auch keinesfalls vorgesehen gewesen.« »Zumindest habe ich das geglaubt!« »Und damit recht getan!« Krug hob die Hand, als gedenke er das zu beschwören. »Denn es hat sich tatsächlich – wie auch Ihnen wiederholt versichert wurde – um einen politisch für notwendig gehaltenen Auftrag gehandelt. Vom Bundeskanzler intern erteilt. Diesen Auftrag haben wir getreu und dabei nicht ohne persönliche, doch der Sache wegen zurückgestellte Bedenken schließlich übernommen. Und dann selbstlos ...« »Was verstehen Sie denn darunter!« rief Karl Wander. Konstantin Krugs Gesicht wurde maskenhaft starr. Seine Stimme jedoch verlor nichts von ihrer Verbindlichkeit. »Sie sollten das ohne jede voreilige Leidenschaft betrachten – und warum denn nicht mit wohlwollender persönlicher Anteilnahme? Gerade Sie sollten es begrüßen, wenn Herr Feldmann der nächste Verteidigungsminister werden sollte – was jedoch noch keinesfalls feststeht und wogegen er sich auch ernstlich wehrt.« »Das kennt man doch – er ziert sich erst noch ein wenig. Er kann schließlich nicht gleich und offen zugeben, daß er nur deshalb soviel Porzellan zertrümmert hat, damit er dann den ganzen Laden preiswert übernehmen kann. Er will darum auch noch gebeten werden.« 254
»Herr Wander«, sagte jetzt Konstantin Krug sehr leise, doch äußerst deutlich, »Sie sind offenbar überarbeitet. Das ist verständlich. Sie haben sich zu viel zugemutet. Das wird von uns gewürdigt – schließlich haben Sie es für unsere Sache getan. Jetzt aber sollten Sie ausspannen, sich ein paar schöne Tage gönnen, Ihre strapazierten Nerven beruhigen. Und wenn Sie dann – sagen wir in ein paar Wochen – wiederkommen, dann möglicherweise, wenn alles gutgeht, gleich in das Verteidigungsministerium. Als Personalsachbearbeiter etwa.« »Unter Minister Feldmann? Und mit Keilhacke als Generalinspekteur? Unter Ihrer Aufsicht als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses? Wofür halten Sie mich denn!« »Ich habe Sie bisher, Herr Wander«, sagte Krug, »zumindest für keinen Dummkopf gehalten – enttäuschen Sie mich in dieser Hinsicht nicht noch zuletzt. Um noch deutlicher zu werden: seien Sie zufrieden mit dem, was Sie erreicht haben, und freuen Sie sich darüber, daß wir Ihnen alles, was Sie sich sonst geleistet haben, nicht nachtragen.« »Ich soll also verschwinden und den Mund halten, damit Sie und Morgenrot hier völlig freie Bahn haben.« »Da ist es wieder!« erklärte Krug mit immer noch freundschaftlich gefärbtem Vorwurf. »Ihre unkontrollierte Impulsivität, Ihre gefährliche Maßlosigkeit, Ihre übersteigerte Phantasie – was haben Sie nicht schon alles damit angerichtet! Doch ich habe mir immer wieder gesagt: Der Mann ist tüchtig, er ist begabt, er gibt sich Mühe, für dich zu arbeiten – also setze dich auch für ihn ein.« »Indem Sie der Polizei belastende Unterlagen über mich zugeschoben haben.« »Wie erschreckend einseitig Sie das doch alles sehen! Sie verrennen sich in Ihre eigensinnigen Vorurteile. Natürlich habe ich einem Beamten, der mich befragte, Auskünfte über Sie geben müssen. Ich habe das in Ihrem Interesse getan; dabei 255
habe ich wie Ihr Anwalt gehandelt.« »Das Honorar dafür bezahlt vermutlich Morgenrot mit.« »Wenn Sie so weitermachen, Herr Wander, werden Sie mich verstimmen. Tun Sie das nicht. Sonst könnte ich mich tatsächlich versucht fühlen, der Polizei einige der bei mir lagernden Unterlagen über Sie auszuhändigen – darunter eine eidesstattliche, notariell beglaubigte Erklärung, die Sie schwerstens belasten könnte, und zwar im Hinblick auf den Tod von Eva Morgenrot.« »Wer will denn so etwas liefern?« »Frau von Wassermann-Westen tat es einige Tage vor ihrem Tod.« »Und selbst das bewahrte sie nicht davor, umgebracht zu werden?« »Schluß jetzt, Wander«, sagte Krug scharf. »Sie sind kurz davor, den Endpunkt meiner Geduld zu erreichen. Und das hat noch niemand ungestraft gewagt.« »Nicht einmal Sabine, nicht wahr? Sie starb jedenfalls wie auf Bestellung. Kurz vor dem Abschluß eines großen Geschäftes, das Sie nun allein machen werden. Mit verdoppeltem Gewinn. Eine schöne, willkommene, kostbare Leiche!« »Verschwinden Sie hier – schnellstens!« Krugs Hände begannen zu zittern. »Und vergessen Sie Ihre infamen Verdächtigungen! Oder ich liefere Sie gnadenlos der Polizei aus.« »Was ist denn das für ein Bier!« rief Peter Sandman aus. »Es riecht nach Stutenurin!« »Nach Verwesung«, meinte Karl Wander, »oder auch nach Nebel. Nach Einsamkeit. Ich habe mich ganz gut daran gewöhnt.« 256
»Es handelt sich um ein Getränk«, sagte der Kriminaloberinspektor Kohl, »das zugleich gerochen und getrunken werden will – es ist dann wie aus Honig, Milch und Blut.« Sie saßen am Ecktisch in der Kneipe von Mutter Jeschke und unterhielten sich betont unverbindlich. Sie hatten über das Wetter gesprochen, das schlecht war; über die Bahnschranken mitten in der Stadt, die fast immer geschlossen waren; über den Rhein, der in diesen Tagen stank wie eine gigantische Kloake. Sie hatten sich getroffen, um zum Abschied von Kohl noch ein letztes Glas zu leeren. Daß Sandman mitgekommen war, hatte den Kriminalbeamten gefreut; beide kannten sich und besaßen Sympathie füreinander. »Hier habe ich übrigens ein Abschiedsgeschenk für Sie, Freund Kohl – nicht für Sie persönlich, das läßt sich leider nicht machen. Aber sicher geeignet für einen guten Auftakt Ihrer Arbeit in Neuberg.« Er schob dem Kriminaloberinspektor ein blaßblaues Stück Papier zu. »Es ist ein Scheck, in Höhe von zehntausend Mark.« Kohl nahm das Papier und entfaltete es ungläubig. Sandman beugte sich mit ihm darüber. Beide überprüften zuerst die Summe, dann versuchten sie die Unterschrift zu entziffern – was ihnen gelang. »Mann!« rief Kohl aus. »Wie haben Sie denn das geschafft? Aber vielleicht sollte ich gar nicht danach fragen.« »Sie können ruhig fragen. Sie bekommen auch eine Antwort; und die stimmt sogar. Diesen Scheck habe ich dafür bekommen, daß ich eine halbe Stunde lang lediglich die Wahrheit gesagt habe.« »Fein!« sagte Peter Sandman erleichtert. »Dann sind doch wenigstens Ihre Bemühungen nicht ganz umsonst gewesen. Und diesem Kerl eine solche Summe aus den Fingern zu ziehen, ist eine Leistung.« 257
»Sie scheinen mich schon wieder einmal zu überschätzen, Peter«, meinte Karl Wander. »Denn ich habe leider den Eindruck, daß diese zehntausend Mark das Honorar für meine Dummheit sind. Je länger ich diesem Morgenrot meine Wahrheit sagte, um so erfreuter schien er zu werden – ein sicheres Zeichen dafür, daß ich wesentliche und wichtige Dinge offenbar gar nicht erkannt habe.« Er trank sein Glas leer und bat Mutter Jeschke, es wieder zu füllen. Das tat sie nicht ohne Besorgnis – Wander hatte innerhalb einer Viertelstunde bereits zwei Stout getrunken. Wie wollte der den ganzen Abend durchhalten? Auch Sandman und Kohl betrachteten ihn abschätzend. »So oder so«, meinte der Kriminalbeamte, »Sie haben sich diesen Betrag verdient – warum wollen Sie ihn nicht für sich behalten?« »Genau das ist es vermutlich, was sich dieser Mann erhofft! Er will nachweisen können, daß er mich bezahlt hat, wenn ich versuchen sollte, ihn in Unterhosen zu präsentieren. Und deshalb, lieber Herr Kohl, bitte ich Sie, dieses Geld nach Ihrem Ermessen zu verwenden – es muß ja nicht gleich für eine Polizeihilfskasse sein; Sie könnten damit etwa ein Waisenhaus erfreuen.« Der Kriminalbeamte nickte und schien, vorübergehend, bewegt. Peter Sandman aber fragte scharf: »Was soll das heißen, daß Sie irgend jemand in Unterhosen präsentieren möchten? Ich kann nur hoffen, Sie mißverstanden zu haben.« »Hoffen können Sie das«, sagte Wander. »Haben Sie denn noch immer nicht genug? Ja, zum Teufel, was fehlt Ihnen denn jetzt noch? Sie sind nach allen Regeln der Kunst belegen und betrogen worden, ausgenützt und abgeschoben!« »Aber äußerst großzügig honoriert! Andere zahlen gewöhnlich noch für so was, auf irgendeine Weise. Ich habe 258
immerhin sogar noch einigen Spaß dabei gehabt – und den möchte ich gerne auch noch ein wenig länger haben, wenn’s irgendwie geht.« Sandman sah Kohl fragend an. Der betrachtete Wander und wollte dann wissen: »Haben sich eigentlich bei Ihrem Gespräch mit Morgenrot irgendwelche Hinweise ergeben, die wir noch nicht kannten?« »Herrschaften!« rief nun Peter Sandman. »Könnt ihr euch denn wirklich nicht mehr bremsen! Ich denke, wir wollen hier in aller Gemütlichkeit ein Abschiedsbier trinken. Doch was geschieht? Wander brütet neue Einfalle aus, Kohl bohrt unentwegt weiter an alten Problemen – und ich versuche überdies noch, Wander zur Vernunft zu provozieren!« »Sie versuchen hier, Mr. Sandman«, sagte Kohl anerkennend, »einen Hammel am Spieß zu braten und uns dann noch einzureden, der Hammel selbst habe Sie darum gebeten. Feine Freunde haben Sie sich da ausgesucht, Wander!« »Also gut«, sagte er. »Beschäftigen wir uns mit Morgenrot. Mein Gespräch mit ihm hat ergeben, daß unsere Theorien einigermaßen gestimmt haben, Kohl. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, die wir nicht wissen konnten; und bis auf eine Einzelheit, mit der Sie einiges hätten anfangen können, wenn Sie das rechtzeitig gewußt hätten.« »Fangen Sie mit den Kleinigkeiten an.« Karl Wander ließ sich noch ein Bier kommen, trank davon und sagte dann, nun schon mit schwerer Zunge: »Wenn es um seine Geschäfte geht, ist dieser Morgenrot bereit, seine Pflegetochter zu verkaufen, seine künftige Frau noch dazu und seinen geliebten Sohn über Leichen gehen zu lassen. Worauf er dann zum Schluß auch noch stolz ist.« »Es hat sich demnach um Evas Erbschaft gehandelt«, vereinfachte Kohl. »Auf sie hat er also nicht nur Sabine angesetzt, sondern auch noch Martin. Wenn die erben wollten, 259
dann sollten sie auch was dafür tun.« »So ungefähr«, bestätigte Wander, mit immer müder werdender Stimme. »Im Grunde nichts wie Geschäfte. Spekulationen auf möglichst hohen Gewinn. Und das mit allem und jedem, was sich irgendwie anbot – mit Sohn, Tochter, zukünftiger Frau, Schwiegersohn, Vertragspartner, Parteifreunden, Regierungsvertretern, schließlich der Bundeswehr ...« »Vergessen Sie sich nicht dabei, Karl«, empfahl Sandman. »Wie könnte ich das!« rief Wander. »Ich bin hierbei so etwas wie ein guthonoriertes Schlachtvieh – falls es notwendig werden sollte, irgendwelchen gierigen Hunden Fleischbrocken vorzuwerfen.« »Deshalb also«, sagte Kohl, »Krugs ausgedehnte Aktensammlung über Sie.« Karl Wander nickte. »Nur eben, daß ich früh über ein zusammengeprügeltes Mädchen gestolpert bin. Und deshalb wohl befinde ich mich noch in Freiheit – was praktisch heißt: ich kann mit Freunden ein irisches Bier trinken.« »Aber Sie können es nicht genießen, Karl«, mutmaßte Peter Sandman. »Warum eigentlich nicht? Wegen Sabine?« »Das scheint nur so«, sagte Karl Wander. »Sie haben nie das Unglück gehabt, einer Frau wie dieser begegnet zu sein – Sie würden sonst wesentlich bescheidener argumentieren. Fest steht jedenfalls: Sabine erkannte, daß eine Heirat mit Feldmann für sie nicht in Frage kam – aber Morgenrot schien dazu bereit. So versuchte sie dann beide zugleich zu bedienen – sie reservierte sich für Morgenrot und verschaffte für Feldmann Ersatz. Darunter sogar Eva Morgenrot.« »Ist das nun purer Zufall oder genaue Berechnung gewesen?« wollte Peter Sandman wissen. »Woher soll ausgerechnet ich das wissen!« rief Karl Wander 260
resigniert. »Ich bin immerhin durch eine Wand davon getrennt gewesen. Ja, die vielleicht entscheidenden Ereignisse haben im Appartement unmittelbar neben mir stattgefunden – vielleicht während ich gerade schlief oder Gespräche mit einem von Ihnen führte.« »Ich habe«, sagte der Kriminaloberinspektor Kohl betrübt, »auch meinen letzten Tag in Bonn nicht untätig verbracht. Dabei habe ich folgendes herausgefunden: Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß Feldmann in der Nacht, in der Sabine starb, im Appartement 205 gewesen ist – aber nicht unbedingt zur Tatzeit. Dafür existieren verläßliche Zeugen.« »Und was ist mit Krug?« fragte Wander. »Der will zur gleichen Zeit mit Feldmann die gleiche Serie von Besprechungen absolviert haben. Und mit diversen Abgeordneten dazu. Jede Menge Zeugen!« »Dieses Appartement 205«, sagte Karl Wander, »wem gehörte es nun wirklich? Wer konnte über alle Schlüssel dazu verfügen?« »Ich kann nur sagen: vermutlich gab es drei. Den einen hatte ich bei Eva Morgenrot gefunden. Den zweiten fand ich in der Handtasche der Wassermann-Westen, aber nicht in 205, sondern in dem von ihr benützten Appartement, also in 304, über Ihnen, Wander.« »Das heißt also: der dritte Schlüssel muß benützt worden sein. Und wer besitzt den?« »Um das herauszufinden, hatte ich weder Zeit noch Gelegenheit mehr.« »Auch Sie resignieren.« »Der derzeit denkbar beste Mann übernimmt diesen Fall – der Kriminalkommissar Traugott. Der ist ein anerkannter Einebnungs- und Ausbüglungsspezialist. Er wird Sie bereitwillig freischaufeln – es sei denn, daß unbedingt ein 261
Schuldiger gefunden werden muß; dann wird er Sie, Wander, wie mit einer Planierraupe dem Erdboden gleichmachen.« »Unsinn!« wehrte Peter Sandman besorgt ab. »Wander steht schließlich im Bannkreis von Krug und Feldmann! Und die werden und können sich keinen Skandal um einen ihrer engsten Mitarbeiter leisten.« »Aber was dann«, sagte Kohl, »wenn es gerade dieser Mitarbeiter ist, der hier einen Skandal heraufzubeschwören versucht?« »Sie werden ihn dennoch zudecken, abzudecken versuchen; sie haben in diesem Stadium der Entwicklung gar keine andere Wahl. Denn nur noch zwei oder drei Tage weiter so und es gelingt ihnen tatsächlich, diese Bundeswehr zu vereinnahmen. Danach erst – von ihnen aus – die Sintflut!« »Nur eben, daß in zwei oder drei Tagen noch eine ganze Menge geschehen kann«, sagte Karl Wander. »Dabei ist diesen verehrten Herren durchaus zuzutrauen, daß sie sich, wie von mir selbst dazu angeregt, an Clausewitz orientieren und nach dessen Kernsatz handeln, wonach der Angriff die beste Verteidigung ist.« »Ist das lediglich eine Spekulation von Ihnen, Karl – oder mehr?« »Ich habe inzwischen eine Unterredung mit Krug gehabt – ich habe ihn dazu gezwungen.« Karl Wander sah in zwei äußerst besorgte Gesichter. »Ich mußte endlich wissen, woran ich wirklich war!« »Unser Knabe Karl hat sich also überfahren lassen«, stellte Peter Sandman fest, Kohl zunickend. »Scheint so!« sagte der fast betrunkene Karl Wander. »Ich bin ungeduldig vorgeprescht und mußte einige Schläge auf die Schnauze einstecken. Zuerst wurde versucht, mich einzuseifen. Sogar Dank und Anerkennung wurden mir ausgesprochen. Doch kaum zehn Minuten danach bekam ich zu hören, man 262
könnte sich sozusagen gezwungen sehen, gegen mich gerichtlich vorzugehen. Wegen Nötigung, versuchter Erpressung, bewußter Irreführung, Vorspiegelung falscher Tatsachen, mehrfacher Veruntreuung – was weiß ich, was sonst noch alles!« »Das«, sagte der Kriminalbeamte, »ist schlimm.« »Aber für wen!« rief Karl Wander aus, bevor er unter den Tisch zu fallen drohte. »Da sind Sie ja, Sie Held!« Marlene Wiebke öffnete die Tür ihrer kleinen Wohnung und ließ Karl Wander eintreten. »Ich habe Sie erwartet, allerdings wesentlich früher.« »Versuchen Sie jetzt nicht«, sagte er, »mir starken Kaffee anzubieten – ich habe ihn bereits kannenweise eingeflößt bekommen. Dafür haben zwei angebliche Freunde von mir gesorgt. Ich bin nur hier, um jetzt auch Sie noch über mich lachen zu sehen!« »Ihnen tue ich nicht einmal mehr diesen Gefallen«, sagte die Wiebke. »Denn Sie haben sich aufgeführt wie jemand, der mit bloßen Händen Hechte fangen will – so was konnte doch gar nicht gelingen!« Karl Wander ließ sich auf ihr Bett fallen. Dann sagte er wie ein Jahrmarktsausrufer: »Sie sehen also vor sich, werte Dame, den berühmten Esel, der sich aufs Glatteis begab; und zwar dort, wo es am dünnsten war! Er gedachte, sich an seinem Anblick zu erfreuen, entzückt seinem schönen Spiegelbild zuzulächeln – und brach ein! Was nun?« »Vielleicht können Esel schwimmen? Vielleicht sind Sie auch an einer Stelle eingebrochen, die nicht sonderlich tief ist?« »Sie sind wirklich sehr schön«, bekannte Karl Wander, sie ernsthaft betrachtend, »auch dann, wenn Sie sich ironisch 263
geben – dann funkeln Ihre Augen ungemein verführerisch. Nehmen Sie doch mal Ihre Brille ab, Marlene – und kommen Sie her.« Marlene Wiebke sah ihn tadelnd an. »Was wollen Sie eigentlich hier? Sich von mir trösten lassen? Darauf können Sie lange warten! Mich aushorchen? So viel Zeit, wie Sie dazu brauchen würden, haben Sie gar nicht mehr! Oder wollen Sie erst einmal alles, wie man so schön sagt, in Ruhe überschlafen? Aber doch nicht bei mir! Ich schlafe nicht mit Supermännern.« »Mit wem sonst? Etwa mit sogenannten Volksvertretern?« »Sie geben sich immer noch reichlich munter, aber bei mir können Sie sich solche Anstrengungen schenken. Sagen Sie lieber offen, wozu Sie mich provozieren wollen – vielleicht rennen Sie bei mir offene Türen ein.« »Distanzieren Sie sich endlich von diesem Scharlatan, für den Sie arbeiten, Marlene! Sie gehören ganz einfach nicht in diese politische Warenhauswelt hinein.« »Können Sie mir Besseres bieten, Karl?« »Das sollte wirklich nicht schwer sein!« Karl Wander beugte sich seitwärts und schaltete den Fernsehapparat ein, der auf einem Rolltisch stand. »Sie brauchen nur mal zu vergleichen. Ihr Idol arbeitet zur Zeit an seinem sogenannten Image als hochseriöser Politiker, angehender Staatsmann und betont demokratischer Mensch. Er nimmt gerade an einer jener so schön geordneten und auf allgemeines Wohlwollen ausgerichteten Pressekonferenz teil – Journalisten fragen gesittet, Politiker antworten unverbindlich. Dabei dürfen Sie ihn jetzt bewundern.« Wander wies auf den Fernsehapparat. Dort erschien jetzt, wie aus völliger Dunkelheit auftauchend, schnell an Konturen gewinnend, alsbald von Licht umflutet, der Kopf von Konstantin Krug; mit leicht glänzendem Schädel, doch da er sich wirkungsbewußt etwas vorgebeugt hatte, mit beherrschender Stirn. Seine scharfen Augen wirkten mild, 264
seine Stimme klang sanft. Er äußerte sich über das Verhältnis der menschlichen Moral zur politischen Zweckmäßigkeit. Krugs Fernsehbild .sagte: »Beides müssen keine Gegensätze sein, dürfen es gar nicht sein, sind es auch nicht. Nicht für diejenigen, die verantwortungsbewußt, selbstlos und mit der notwendigen Hingabe ihren Verpflichtungen nachzukommen bemüht sind. Für sie ist allein das zweckmäßig, was auch moralisch ist. Und die Politik hat ausschließlich dem Menschen zu dienen. Meine Parteifreunde und ich ...« »Redet der auch im Büro so?« fragte Wander. »Ich schreibe, was er diktiert – ich vermittle Gespräche und lege Akten an, ich telefoniere und verfasse Notizen. Allein dafür bekomme ich mein Monatsgehalt. Vorher habe ich in der Werbeabteilung einer Waschmittelfabrik gearbeitet – das macht bescheiden.« »Und es hat Sie nie irritiert, für diese Langspielplatte tätig zu sein?« »Nicht bevor Sie kamen, Karl.« »Und was ist jetzt anders geworden?« »Noch nichts Bestimmtes.« Die Wiebke lehnte sich zurück. »Denn bisher habe ich von Ihnen immer nur Wünsche oder Forderungen vernommen, Dinge, die Sie allein betrafen. Sie sehen nur sich – Ihre Probleme, Ihre Vorstellungen, Ihre Art von Gerechtigkeit, Ihre Wahrheit! Und das genügt?« »Nicht ganz! Jetzt nicht mehr. Ich sehe nun noch etwas Wesentliches darüber hinaus – Sie nämlich, Marlene!« »Und was gedenken Sie mit dieser Erkenntnis anzufangen?« »Sie zu einer Entscheidung zu zwingen – und die, meine ich, sollte nun gar nicht mehr schwerfallen.« Das grellscharfe Fernsehbild Konstantin Krugs äußerte sich gerade zu der Frage, wie er die Zukunft der Bundeswehr sehe. Sagte: »Es handelt sich hierbei um ein ebenso notwendiges wie 265
auch unvermeidliches Instrument zur Verteidigung unserer Freiheit, unserer Menschen, unseres Landes. Wir hoffen, dieses Instrument niemals einsetzen zu müssen; sollten wir uns aber dennoch eines Tages dazu gezwungen sehen, so müssen wir uns auch voll und ganz darauf verlassen können. Das aber kann nur dann geschehen, wenn wir dieses kostbare, hochentwickelte Instrument in den Händen eines Menschen wissen, der unser vorbehaltloses Vertrauen verdient und erwarten kann – mein verehrter, von uns allen hochgeschätzter Parteifreund, Minister Feld Karl Wander schaltete den Fernsehapparat aus. Konstantin Krugs Bild versank rasch in fahle Konturlosigkeit, löste sich auf in das Dunkel einer Nacht, die Maschinen erzeugt hatten. Marlene lächelte. »Was wollen Sie eigentlich damit beweisen?« »Seine Verlogenheit – das zumindest.« »Sie nennen das so! Andere nennen es Taktik. Und wer lügt denn nicht in dieser Welt! Aus Zweckmäßigkeit, aus Berechnung, aus Liebe, aus Mitleid, aus Gnade sogar. Sie jedoch wollen unbedingt die letzte, die alleinige, die endgültige Wahrheit. Aber Sie wissen nicht, wie man sich die vorstellen soll?« »Sie sind ein raffinierter, kleiner Teufel, Marlene!« rief Karl Wander in heiterer Empörung. »Sie wollen nur mal sehen, wie weit ich eigentlich gehen würde, um von Ihnen eine Auskunft über drei Schlüssel zu bekommen.« »Also gut, Karl – wie weit gehen Sie?« »Also gut, Marlene – Sie gefallen mir und ich möchte mit Ihnen schlafen. Aber ich werde mich hüten, Ihnen ausgerechnet das zu sagen, worüber Sie sich nur amüsieren würden. Ich sagte nicht, daß ich Sie liebe!« »Und warum eigentlich nicht?« 266
»Weil ich das bisher noch zu keiner Frau gesagt habe! Verstanden?« Karl Wander hatte das dringende Bedürfnis nach eiskaltem Wasser. Er sprang auf und versuchte in das Bad zu gelangen – doch Marlene stand ihm im Weg. Sie hatte ihre Brille abgenommen und sah ihn lächelnd an. »Das mit den Schlüsseln«, sagte sie, »ist ganz einfach. Für jedes Appartement, also auch für 205, existieren drei. Zwei davon sind Sabine von Wassermann-Westen ausgehändigt worden; von diesen beiden behielt sie einen für sich, und der andere wurde der jeweiligen Ersatzdame, die sie besorgt hatte, übergeben, so zum Beispiel auch Eva Morgenrot. Denn das Appartement 205 – gar nicht so zufällig, wie Sie vielleicht denken, unmittelbar neben dem Ihren gelegen – war das erwählte Absteigequartier.« »Dann hat also Feldmann den dritten Schlüssel?« »Nein, der benötigte keinen Schlüssel. Die von Sabine ausgewählten und eingewiesenen Reservedamen pflegten dort auf ihn zu warten.« Karl Wander schien angestrengt zu überlegen, ohne zu einem Resultat zu kommen. »Wer besaß denn aber diesen dritten Schlüssel? Doch nicht etwa Krug?« »Erraten! Das hätte ich Ihnen natürlich niemals gesagt – aber ich konnte ja auch nicht ahnen, daß Sie so scharfsinnig sind. Und um Sie wieder zu beruhigen – Krug besitzt nicht nur einen Schlüssel, sondern insgesamt sechs.« »Sechs?« fragte Wander verwirrt. »Wozu denn das?« »Organisation«, erklärte Marlene Wiebke. »Denn Krug ist – was Sie vermutlich schon wissen – ein sogenannter stiller, doch maßgeblicher Teilhaber einiger privater Finanzierungs- und Baugesellschaften, wozu unter anderem auch das Appartementhaus gehört, in dem Sie vorübergehend wohnen. Sechs dieser Appartements hat Krug für seinen internen Gebrauch reserviert, für durchreisende Geschäfts- und 267
Parteifreunde, für gelegentliche Mitarbeiter, auch für irgendwelche verdienstvollen Gesinnungsgefährten und die Spielgefährtinnen derselben.« »Und zu diesen Appartements gehört auch 204?« »Selbstverständlich! Auch zu Ihrer Luxushöhle hatte Krug, wenn er das wollte, jederzeit Zutritt. Diese sechs von ihm persönlich verwalteten Appartements trugen die Nummern 203, 204, 205 und 303, 304, 305. Alle sechs dazugehörenden Schlüssel befanden sich heute abend in seinem Panzerschrank; ob das auch in den Tagen davor der Fall gewesen ist, kann ich nicht sagen. Und nun rechnen Sie mal nach.« »Bin schon dabei«, sagte Karl Wander. »Allein dieser Krug also ... « »Unterschätzen Sie ihn nicht! Und wenn es irgendwie geht, Karl, übersehen Sie mich nicht.« »Wie könnte ich das ...« »Ich bin bereit, mit Ihnen von hier abzureisen, Karl. Sofort. Ohne jede sonstige Bedingung. Wohin du willst. Willst du das?« »Ich will es – wirklich, Marlene, ich will es! Aber ich kann es nicht.«
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Zwischenbericht X des Mannes namens Jerome Über gewisse menschliche Schwächen – sie sich zu leisten, kann manchmal eine Tugend sein. Von einem bestimmten Zeitpunkt an schien vieles klarer, übersichtlicher; zumindest in einigen wesentlichen Details. Der Vorwurf, daß es da bereits zu spät gewesen wäre, kann mich und meine Dienststelle nicht treffen – zumal es uns schließlich noch, kurz vor Toresschluß sozusagen, gelang, ein ziemlich wirksames Spezialfeuerwerk abzubrennen. Dabei haben sich dann allerdings einige die Finger verbrannt, und wer weiß was sonst noch alles. Doch das ist eine Art Berufsrisiko. Die Hauptbeschäftigung nicht weniger derzeitiger Politiker scheint die Gründung einer Art Wach- und Schließgesellschaft zu sein; mit gegenseitiger Beschränkung und Haftung. Sie spielen ihre Probleme nicht aus, sichern sich ab; sie suchen mit vereinten Kräften nach einem möglichst harmlosen gemeinsamen Nenner für ein jeweiliges Übel. So nervenstarke Spieler wie Feldmann und derartig geschickte Drahtzieher wie Krug rechneten von vornherein damit. Ihre politische Planiertechnik war wohlüberlegt. Und so tönten denn die schönen, großen, nichtssagenden Worte! Immer mit dem Tenor: fest erscheinen, aber sich nicht festlegen; Vertrauen erwecken und Vertrauen fordern, doch offenlassen, worauf es ankam. Und kein Wort gegen irgendein größeres Kollektiv! Ein Abgeordneter von der Partei des Ministers etwa erklärte: »... ein Verdienst, dieses heiße Eisen mutig und beherzt anzupacken ...« Ein Abgeordneter der derzeitigen Koalitionspartei: »... muß eine Berechtigung, wenn nicht gar 269
Notwendigkeit, durchaus zugestanden werden; wobei zu hoffen und zu erwarten ist, daß hier in voller Wahrung unserer Verteidigungsinteressen ...« Und ein Abgeordneter der derzeitigen sogenannten Opposition: »... können wir nicht umhin, zu warnen ... was jedoch unter keinen Umständen als starre, nur negative Haltung ausgelegt werden darf ...« Plötzlich wurde, anscheinend aus Richtung Kanzleramt, die interne Parole ausgegeben: in Zukunft nichts unnötig aufbauschen, nichts mehr hochspielen, Unruhe unter der Bevölkerung tunlichst vermeiden! Denn der Feind, also die Kommunisten aller erdenklicher Arten und Abarten, versuchten diese vorübergehende Schwäche, die ja im Grunde nichts als eine demokratische Stärke wäre, für ihre dunklen Zwecke auszunutzen. »Was wir uns energisch verbitten!« »Erst in der Stunde der Bewährung«, erklärte Feldmann, »zeigt sich der wahre Charakter!« Und »wahren Charakter« zeigen wollten plötzlich nicht wenige; sie versprachen sich einiges davon. Kein möglicher Sieger ohne zahlreiche Gefolgschaft! Nicht etwa, daß ich so was beklage – wie käme ich denn dazu? Schließlich bin ich kein Kinderdorfgründer, sondern ein Nachrichtenspezialist. Als solcher weiß ich schließlich, daß jede vorstellbare Machtkonstellation ihre Anhänger und Mitläufer hat, ihre Propagandisten und Theoretiker, ihre Poeten und Pastoren. So gut wie nichts, an das sich ein Volk, bei entsprechendem Geschick und einigermaßen günstigen Umständen, nicht gewöhnen läßt. Sogar, bekanntlich, an Massenmord. Doch wer lernt schon aus der Vergangenheit? Aus der näheren oder ferneren – nach drei- bis fünftausend Jahren Menschheitsmassakern? Nicht einmal die Atombombe vermochte den geschäftigen Schlachthofbetrieb der Völkerherden aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es hat keinen Zweck, das zu bejammern, ich kann es nur immer wieder 270
feststellen: Menschen sind nun mal so. Soviel über die stets so lautstark begrüßten Fortschritte in unserer Zeit. Peter Sandman konnte oder wollte sich nie ganz daran gewöhnen. Dieser Karl Wander litt sogar darunter. Gestalten wie Kohl halfen dem bereitwillig dabei. Dieses Land – und nicht sosehr Amerika – kam mir schon immer wie ein Spielfeld der unbegrenzten menschlichen Möglichkeiten vor. Mich darüber ausgiebig zu amüsieren, fühlte ich mich immer wieder versucht. Denn was konnte ein Mensch wie dieser Wander, der bemüht war, gegen Windmühlenflügel anzurennen, anderes hervorrufen als im günstigsten Falle: lächelnde Nachsicht! So also versuchte ich den dann auch einzuschätzen. Doch eben das gelang mir nicht. Was wohl praktisch bedeutete: selbst ein Mann wie ich hat da seine Schwächen. Und die leistete ich mir.
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11 Einen möglichst endgültigen Schlußstrich ziehen will jeder einmal – doch wem gelingt das schon ? »Mein Name ist Traugott«, sagte der Mann, der aussah wie ein Briefträger in Zivil, gutmütig, bescheiden und mäßig heiter. »Ich bin Kriminalkommissar, im Sonderauftrag hier. Ich lege keinen Wert darauf, mit meinem Dienstgrad angeredet zu werden – ich denke, das wird Ihnen recht sein, Herr Wander.« »Sie also«, sagte der reserviert, »sollen versuchen, diesen Saustall auszumisten?« »Bitte, Sie können das nennen, wie immer Sie wollen«, sagte überaus höflich der mittelgroße, hagere Mann mit dem irritierend biederen Beamtengesicht. »Über Formulierungen pflege ich grundsätzlich nicht zu streiten. Sie sind weitgehend eine Frage des Temperaments und der daraus resultierenden Werturteile. Für Sie handelt es sich also um einen Saustall, der ausgemistet werden muß, für mich um einen Fall, der zu bereinigen ist. Aber Sie werden sehen, im Endeffekt kommt das auf das gleiche heraus.« Für Kriminalkommissar Traugott war in den Räumen des Polizeireviers 3 ein besonderes Büro zur Verfügung gestellt worden, vermutlich das des Reviervorstehers. Es war ein Raum, der nicht ungemütlich wirkte – sorgfältig gepflegte Blumen, in Töpfen mit Übertöpfen, standen herum, doch nicht wahllos, vielmehr liebevoll spezialisiert: Veilchen in Dutzenden von Spielarten; lichtblaue, himmelblaue, wasserblaue, dämmerungsblaue, nachtblaue. »Hat sich der Beamte, der beauftragt war, Ihnen meine Einladung zu überbringen«, erkundigte sich Traugott geradezu geborgt, »auch mit der gebotenen Höflichkeit benommen?« »Geradezu schockierend höflich«, bestätigte Karl Wander. 272
»Ein in Altengland geschulter Butler hätte das vermutlich nicht besser machen können.« »So muß es auch sein«, sagte der Kriminalkommissar. »Ich jedenfalls lege darauf großen Wert. Falls Sie übrigens, ehe wir uns etwas eingehender unterhalten, noch irgendeinen Wunsch haben sollten – Zigaretten etwa, Süßigkeiten, Kaffee oder ähnliches –, ein Beamter wird es Ihnen gerne besorgen.« »Danke«, sagte Wander. »Aber ich habe nicht die Absicht, hier ein ausgedehntes Picknick zu veranstalten.« »Um so besser! Wir werden also diese Angelegenheit möglichst schnell hinter uns bringen.« »Schnell und gründlich – hoffe ich.« »Das dürfen Sie hoffen, Herr Wander«, versicherte Traugott nahezu herzlich. Er legte seine Hände vor sich auf die völlig leere Tischplatte – und das waren kleine, zierliche, sehr geschmeidig wirkende Hände, wie die eines Knaben, der viel und geschickt mit Bällen spielt. »Die üblichen Einleitungen können wir uns wohl ersparen – Ihre Daten sind mir bekannt, die Details der einzelnen Vorgänge auch. Bleibt also nur noch, eventuelle Mißverständnisse, Vorurteile oder Fehlbeurteilungen aufzuklären.« »Versuchen Sie das mal!« forderte Wander. »Also – da wäre zunächst einmal der Selbstmord des Fräuleins Morgenrot.« »Erlauben Sie, bitte, Herr Kriminalkommissar, eine Frage. Beabsichtigen Sie, mir einen Vortrag über Ihre persönlichen oder eben dienstlichen Ansichten zu halten – oder ist es gestattet, Zwischenfragen zu stellen?« »Aber ich bitte Sie, Herr Wander!« rief Traugott nahezu wie bestürzt. »Dies ist ein Gespräch – allein zu Ihrer Information. Fragen Sie also alles, was Sie wollen, ich werde es zu beantworten versuchen, so gut ich es kann.« 273
»Gut. Dann möchte ich als erstes wissen: Warum bezeichnen Sie den Tod von Eva Morgenrot als Selbstmord?« »Weil es ein Selbstmord gewesen ist – ganz einfach.« »Ganz so einfach scheint mir das gar nicht zu sein.« Wander war nicht ganz unbeeindruckt von so viel sanfter Selbstverständlichkeit. »Oder sollten Sie über gewisse Konstellationen im Bereich Morgenrot nicht im Bilde sein?« »Aber natürlich weiß ich Bescheid«, versicherte der Kriminalbeamte. »Ich kenne alle verfügbaren Unterlagen ganz genau – und die sind nicht nur recht zahlreich, die meisten sind auch außerordentlich fundiert. Ein von mir überaus geschätzter Kollege, Herr Kohl, den Sie ja kennengelernt haben, hat dieses Material erarbeitet; und er ist denkbar gründlich. Dieses mir nun zur Verfügung gestellte Material umfaßt nicht nur erwiesene Tatsachen, auch Kombinationen, Vermutungen, Verdachtshinweise etcetera. Und ich berücksichtige das alles.« »Diesen Eindruck habe ich leider nicht.« »Das wird sich ändern, Herr Wander«, versicherte Traugott fast noch höflicher als bisher. »Welche Einwände glauben Sie denn erheben zu müssen?« »Um ganz systematisch, von Punkt zu Punkt vorzugehen, zunächst dies: Eva Morgenrot ist geschlagen worden – zusammengeschlagen.« »Sehr bedauerlich, gewiß. Scheußlich. Doch was, bitte, hat das die Polizei anzugehen, solange nicht eine Anzeige vorliegt, und zwar eine der Betroffenen selbst? Die liegt aber nicht vor und war auch nicht beabsichtigt. Und da es sich noch dazu um den Bruder – ich weiß: den Stiefbruder! – von Fräulein Morgenrot handelte, ist das Ganze sozusagen als interne Familienangelegenheit zu betrachten. Denn Sie wissen ja wohl – zu den Freiheiten eines Menschen in unserem Rechtsstaat gehört es auch, sich schlagen zu lassen, von wem und wie auch immer. Das können Sie bedauern, aber nicht ändern.« 274
»Vermutlich wollen Sie versuchen, jeden von mir gemachten Einwand einzeln abzuservieren; an möglichen Zusammenhängen scheinen Sie gar nicht interessiert zu sein. Ist das nicht eine reichlich bequeme Methode?« »Nicht unbedingt bequem, Herr Wander, eher schon zweckmäßig. Logisch. Jedenfalls sollten Sie mir nicht zutrauen, daß ich irgendeine der sich anbietenden Kombinationsmöglichkeiten übersehen könnte. Nur eben, daß so ein Selbstmord ein Faktum für sich ist – denn verantwortlich dafür ist immer der Selbstmörder allein. Wenn dabei der Verdacht aufkommt, daß jemand in einen Selbstmord hineingetrieben sein könnte, so müßte es sich dabei erfahrungsgemäß um eine krasse Ausnahme handeln; sie ist fast niemals überzeugend nachzuweisen.« »Auch nicht in diesem Fall?« Wander begann zu provozieren. »Wollen Sie mir das einreden?« »Ich kann mir denken, worauf Sie hinauswollen.« Kriminalkommissar Traugott lächelte seinen Besucher vertraulich an. »Nach den mir zugänglich gemachten Unterlagen vertreten Sie offenbar die Ansicht, daß besagte Eva Morgenrot systematisch mißbraucht worden wäre – ist das so richtig zitiert? Ja? Danke! Systematisch mißbraucht – einmal von ihrem Stiefvater, dann von ihrem Stiefbruder, aber auch von einer angeblichen Freundin, schließlich sogar von einem oder mehreren Liebhabern.« »Vergessen Sie eine weitere in Frage kommende Person nicht – diesen Felix Frost!« »Diesen angeblichen Verlobten? Nun – ich habe ihn nicht übersehen. Nur eben, daß der niemals mit Fräulein Morgenrot verlobt gewesen ist – er behauptete das lediglich, und auch das immer nur andeutungsweise. Wollen Sie daraus mit Gewalt einen Kriminalfall machen?« »Allein daraus nicht!« rief Wander. »Aber er hat auf Eva 275
Jagd gemacht – und dann auf mich.« »Ihrer Ansicht nach, Herr Wander! Und selbst wenn Ihre recht verwegene Vermutung stimmen sollte – wie wollen Sie sie beweisen? Sie müssen doch einsehen: man kann sich immer nur an etwas halten, das wirklich greifbar ist.« »Es ist greifbar – aber Sie wollen es offenbar nicht sehen!« »Nicht diese Vorurteile, Herr Wander! Nicht mir gegenüber, bitte. Ich gebe ja zu, daß Sie völlig recht mit Ihrer Ansicht haben könnten – möglicherweise ist hier tatsächlich Scheußliches geschehen. Doch dabei würde es um rein menschliche, feinverästelte, tief im Seelischen verwurzelte Vorgänge gehen; die aber sind niemals völlig zu ergründen; und außerdem fallen sie nicht unter die bestehenden Gesetze. Denn Gedanken, Wünsche, Hoffnungen, mögen sie auch noch so böse sein, lassen sich nicht bestrafen. Um die hier gegebene Konstellation etwas zu vereinfachen: wenn etwa ein Mädchen aus Liebeskummer Selbstmord begeht, dann kann derjenige, der an diesem Liebeskummer schuldig ist, nicht von der Justiz zur Rechenschaft gezogen werden.« »Und die enorme Höhe der Erbschaft? Ist das kein Motiv für ein Gewaltverbrechen?« »Bisher ist, meines Wissens, noch kein Gewaltverbrechen mit einer Überdosis Schlaftabletten verursacht worden. Es sind zumeist schwere, oft vielschichtige Depressionen, die zu einem Selbstmord führen.« Wander hatte Mühe, sich zu beherrschen – offenbar versuchte er hier gegen Gummiwände anzurennen. »Der angebliche Befund des Dr. Barranski kann angezweifelt werden! Denn nach Aussage von Dr. Bergner ...« »Nein, nein!« wehrte Kriminalkommissar Traugott mit besorgter Höflichkeit ab. »Auch in diesem Punkt muß ich Sie, leider, enttäuschen. Schauen Sie – dieser Barranski mag sich, in einem einzigen wirklich nachweisbaren Fall, als 276
Morphiumlieferant schuldig gemacht haben; dennoch steht fest, daß er ein vorzüglicher und respektierter Fachmann ist. Und Dr. Bergner, der sicherlich sehr schätzenswert ist, kann das Gegenteil davon nicht nachweisen, so sehr der sich auch bemüht hat.« »Das also, Herr Kriminalkommissar, ist die Taktik, mit der Sie mich lahmzulegen versuchen. Sie wenden das sogenannte Salamiverfahren an – Sie zerschneiden meinen Verdachtskomplex scheibchenweise; bis dann nichts mehr davon übrigbleibt.« »Tut mir aufrichtig leid, Sie immer wieder enttäuschen zu müssen, Herr Wander – aber ich bin kein Taktiker.« Traugott sah betrübt aus; seine Knabenhände falteten sich artig. »Vielleicht könnte man mich – mit einiger Großzügigkeit, die Ihnen ja eigen ist – als einen Mann des Rechtes bezeichnen. Worunter ich keinesfalls idealistische Wertbegriffe verstanden wissen will, sondern ganz konkrete Dinge: Gesetze, Verordnungen, Vorschriften.« »Und die legen Sie dann aus! Nach Ihrem Ermessen und zum Wohle der bestehenden Ordnung, beziehungsweise zum Vorteil jener Leute, die diese Ordnung jeweils darstellen.« »Bitte, Herr Wander, bemühen Sie sich nicht, mich zu provozieren – es wird Ihnen nicht gelingen. Denn ich kann Sie und Ihre Reaktionen sehr gut verstehen. Offenbar sind Sie ein Mensch, der alles das verabscheut, verachtet und sogar haßt, was ihm zutiefst unmoralisch und unsittlich erscheint: Es ist in seinen Augen verbrecherisch. Aber eben das muß es nicht sein. Nicht in diesem Fall. Nicht nach den bestehenden Gesetzen – und an die muß und werde ich mich selbstverständlich halten.« »Dabei kann krepieren, wer auch immer! Sobald so ein totes Geschöpf, ob Eva oder Sabine, nicht exakt in eine Ihrer rasch gebastelten Paragraphentruhen hineinpaßt, muß es nicht für Sie existieren.« 277
»Ganz so einfach ist es nicht, Herr Wander.« Kriminalkommissar Traugott blieb geduldig und höflich. »Der Umgang mit toten Menschen ist für uns Alltag. Was praktisch bedeutet: wir begegnen einer Leiche weder mit Rachegefühlen noch mit verlagerten Schuldkomplexen, noch mit irgendwelchen romantischen Grundstimmungen. Leichen sind lediglich Objekte für Ermittlungen. Ermittlungen sind Sacharbeiten. Und danach ist etwa der Tod der Frau von Wassermann-Westen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Unfall gewesen.« »Das glauben Sie doch selbst nicht!« sagte Karl Wander grob. »Sabine Wassermann hat Eva Morgenrot an Feldmann verkuppelt. Sie selbst hat mit Krug Geschäfte gemacht, aber den dann zu übervorteilen versucht, mit Hilfe von Morgenrot möglicherweise. Die Folge davon war: als ein nun denkbar unbequemes Objekt wurde sie ausgeschaltet. Das allein ist die Rechnung, die hier genau aufgeht.« »Das, Herr Wander, ist Ihre Theorie! Und sie sei Ihnen gegönnt. Denn sie spricht für Sie, durchaus – für den leidenschaftlichen Moralisten in Ihnen. Doch nicht unbedingt für einen kühlen, kritischen Verstand, den Sie doch gewiß auch besitzen.« »Was denn – Sie wollen doch nicht versuchen, alles, was hier zum Himmel stinkt, einfach zu vertuschen, weil derzeit hohe oder auch höchste Kreise berührt werden!« »Aber lieber Herr Wander – Ihre sehr persönlichen Moralbegriffe in allen Ehren! Ich jedoch reagiere dem entgegen völlig sachlich. Achten Sie darauf! Mir hat es gänzlich gleichgültig zu sein, wer etwa mit wem schläft und unter welchen Umständen. Das ist Privatsache. Ganz gleichgültig auch, ob es sich dabei um einen Mann von der Müllabfuhr oder um einen Minister handeln sollte – die Gleichheit aller Menschen, Rassen und Religionen erweist sich besonders überzeugend nicht zuletzt im Bett. Gesetze oder 278
Verordnungen dagegen gibt es, zur Zeit, bei uns nicht.« »Worauf«, fragte Karl Wander drängend, »wollen Sie hinaus?« »Sie, Herr Wander«, erklärte nun Traugott sanft, »bewohnen das Appartement 204 – es ist, fast bis ins letzte Detail, genauso eingerichtet wie das Appartement 205. Ist Ihnen dabei der Läufer, vermutlich persischen Ursprungs, aufgefallen, der in der Nähe des Fensters liegt – und damit unmittelbar vor dem Heizkörper, der scharfe Rippen besitzt? Auf diesem Läufer kann man erstaunlich leicht ausgleiten – das ist ausprobiert worden; ich habe diesbezügliche Versuche veranlaßt. Mit dem Ergebnis: wer dabei unglücklich fällt, der kann mit dem Hinterkopf gegen die Rippen des Heizkörpers knallen – und sich dabei tödliche Verletzungen zuziehen. Und nur so kann es gewesen sein!« »Nur so? Ist nicht etwa auch vorstellbar, daß ich es gewesen sein könnte, der Sabine ins Jenseits befördert hat? Ich, Herr Traugott – als ehemaliger, nunmehr verschmähter Liebhaber, besessen und hemmungslos, und entschlossen dazu, diese meine Untat anderen anzulasten – Krug und Feldmann etwa? Weil ich diese Leute aus irgendwelchen Gründen – ganz gleich, warum – hasse?« »Geben Sie sich keine Mühe. Ich habe keinesfalls die Absicht, Sie zu belasten – obwohl ich das, ziemlich mühelos, könnte. Ich versuche lediglich nachzuweisen, daß das eine ein Selbstmord gewesen ist, das andere ein Unfall. Das ist alles. Darf ich nun hoffen, daß Sie mich richtig verstanden haben, Herr Wander?« »Und was ist mit dem Mordversuch dieses Martin Morgenrot, gemeinsam mit Felix Frost, auf der Rheinbrücke?« »Nur ein Irrtum mehr!« Traugott schien betrübt zu sein. »Ich habe mich mit allen diesbezüglichen Unterlagen beschäftigt. Dabei steht Ihre Aussage gegen zwei andere. Sie haben die 279
Fahrbahn blockiert – Sie wurden verkehrswidrig überholt. Ein Zusammenstoß ergab sich daraus. Darüber wird, irgendwann einmal, irgendein Verkehrsrichter entscheiden.« »Ich sollte getötet werden – warum?« Kriminalkommissar Traugott betrachtete versonnen die vielfarbigen Veilchen um sich. Dabei sagte er: »Man kann so etwas Verfolgungswahn nennen – ich weiß, das klingt nicht schön.« »Was veranlaßt Sie, sogar diese beiden Saukerle in Schutz zu nehmen?« »Lieber Herr Wander, Sie sind doch ein Mann von erheblichem Verstand. Gebrauchen Sie ihn! Erkennen Sie doch endlich, daß es sinnlos und nutzlos ist, sich weiter zu widersetzen. Geben Sie es auf. Spielen Sie mit oder setzen Sie sich ab.« Traugott blickte voll Verständnis, das nicht ohne Mitleid war. »Dann werde ich also die Akten dieser Fälle abschließen. Und zwar endgültig.« »Und Sie glauben, ich füge mich?« »Was sonst, Wander, bleibt Ihnen jetzt noch übrig? Denn ein Selbstmörder sind Sie schließlich nicht.« Zwei Aktionen Karl Wanders, hierauf zwei Zwischenspiele, danach zwei weitere Aktionen – das war die unmittelbare Folge dieses Informationsgespräches mit Kriminalkommissar Traugott, Christian mit Vornamen. Während Traugott dabei war, seine Akten abzuschließen, versuchte Wander, seine Fehlleistungen zu revidieren. Beide waren überzeugt, nur so und nicht anders handeln zu können. Aktion eins des Karl Wander. Er suchte den Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses in dessen Büro auf. 280
Der rief ihm entgegen: »Was wollen Sie denn noch?« »Nur noch eins – nicht weiter auf Ihrem schlechten Gewissen herumtrampeln!« »Ich«, erklärte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, während er sein kantiges Kinn verbarg, »habe getan, was ich konnte – verantworten konnte. Ich habe erhebliche Zweifel angemeldet, die mir bekanntgewordenen Details zu bedenken gegeben, dann aber die geradezu diskriminierenden Unterlagen über die BölscheWerke in München weitergeleitet – direkt an den Kanzler.« »Und das alles nur, weil Sie die Aussagen eines möglichen Zeugen fürchten?« »Die Argumente meiner Parteifreunde Feldmann und Krug haben mich schließlich überzeugt«, behauptete der Vorsitzende, seine aufgeweichte Würde wahrend. »Nunmehr trete ich für sie ein.« »Auch wenn Sie das jetzt gar nicht mehr nötig haben sollten?« verlangte Wander zu wissen. »Wie darf ich das verstehen?« »Der nächste Vorsitzende Ihres Ausschusses könnte Krug heißen, falls es Feldmann gelingen sollte, Verteidigungsminister zu werden – so viel scheint sich berechnen zu lassen. Was jedoch mit Sicherheit feststeht, ist dies: Der Mann, dessen Aussage Sie befürchten, lebt nicht mehr!« »Wirklich nicht? Oder ist selbst das nur ein neuer Trick von Ihnen?« »Da Tote nicht mehr reden können, bleiben Sie ein Ehrenmann; und damit auch, wenn Sie jetzt geschickt sind, weiterhin Vorsitzender Ihres Ausschusses, mit Einfluß auf Milliardenbeträge. Hier das Foto eines Grabes, hier die Kopie von einem Totenschein, hier zwei beeidete Bestätigungen – Sie 281
haben jetzt also den Rücken frei.« »Ist das wirklich so? Kann ich mich darauf verlassen?« »Das können Sie«, versicherte Karl Wander. »Doch sehr viel Zeit, darüber nachzudenken, haben Sie nicht. Was heißt: Sie müssen jetzt möglichst schnell handeln.« »Aber – wie?« »Indem Sie Ihre Vorteile zu wahren suchen! Was praktisch bedeutet: Sie müssen etwas dagegen tun, daß Ihnen von Feldmann und Krug die besten Möglichkeiten Ihrer politischen Laufbahn zerstört werden. Wollen Sie es darauf ankommen lassen?« »Das«, versicherte der Abgeordnete gedankenschwer, »kommt natürlich nicht in Frage. Schließlich habe ich hier eine schwere, eine besondere Verantwortung – und der darf ich mich nicht entziehen.« Aktion zwei des Karl Wander. Er begab sich zum derzeitigen Wehrbeauftragten des Bundestages. Auch der rief prompt: »Was wollen Sie denn noch?« Wander blieb in Türnähe stehen. Und von dort aus sagte er: »Sie haben sich neuerdings, sozusagen vorbehaltlos, hinter Feldmann und die Gruppe um ihn gestellt – warum genau? Handelt es sich dabei um eine Überzeugung, die sich Ihnen inzwischen aufgedrängt hat, oder um Einsicht in staatspolitische Notwendigkeiten, oder haben Sie, wenn ich es so ausdrücken darf, nur die Hosen voll?« »Wie können ausgerechnet Sie mir derartige Fragen stellen! Ich habe Sie nicht im unklaren darüber gelassen, daß die Methoden dieses Mannes und seiner Clique mir Brechreiz verursachen. Ich halte ihn für einen Totengräber aller unserer Idealvorstellungen von einer soliden, sauberen, modernen Armee. Doch was kann ich dagegen tun – wenn ich nicht 282
riskieren will, im Gefängnis zu landen?« »Letzteres wäre natürlich zuviel verlangt. Hauptsache: Sie und Ihresgleichen haben Ihr Auskommen, Ihre Einnahmen, Ihre Position – auch wenn die angeblich so geliebte Armee dabei wie Schrott verramscht wird! Doch nehmen wir einmal an, daß ich ein höchst miserables Gedächtnis besitze – nehmen wir an: ich weiß von keiner Beschuldigung, die Sie vor ein Gericht bringen könnte.« »Dann existiert immer noch das von Ihnen über mich gesammelte Material.« »Hier ist es!« sagte Karl Wander. Und er legte, auf den Schreibtisch des Wehrbeauftragten, die ihm von Fünfinger übergebenen Unterlagen, im Original. »Ein Tagebuch, verschiedene Briefe, einige literarische Fingerübungen und mehrere Adressen. Nichts fehlt. Was wollen Sie mehr?« Der Wehrbeauftragte starrte seinen Besucher ungläubig an. Dann fragte er: »Und welchen Preis fordern Sie diesmal von mir?« »Ihre Anständigkeit – was immer Sie darunter verstehen. Sie werden inzwischen doch nicht schon alle Ihre Ideale verloren haben?« Das Zwischenspiel Nummer eins. »Da bin ich wieder!« verkündete Sobottke, der Schrankmann, bieder. Er saß in Wanders Appartement. »Hilfsbereit wie immer!« »Was wollen Sie denn diesmal?« fragte Karl Wander. »Mir den Koffer packen helfen?« »Und das gerne!« sagte Sobottke freiwillig. »Mein Wagen steht unten. Vollgetankt. Ganz zu Ihrer Verfügung. Ich kann Sie damit, noch in dieser Nacht, bis nach München fahren. Dort würden Sie sich garantiert wohler fühlen als hier – es soll 283
dort eine Menge netter Mädchen geben.« »Sobottke«, sagte Wander, betont lässig. »Sie können sich jetzt dieses Privattheater ersparen. Sie kommen direkt von Krug. Er hat Ihnen den Schlüssel für mein Appartement gegeben – und Sie beauftragt, mich abzutransportieren. Doch wie stellen Sie sich das praktisch vor? Beabsichtigen Sie hier, eine Boxveranstaltung aufzuziehen? Da kann ich Sie nur warnen! Ich habe einen Freund, der Divisionsmeister bei der Bundeswehr ist; ein Wort von mir, und der legt Sie auf alle erreichbaren Bretter – falls ich das nicht schaffe!« »Sie! So sollten Sie aber nicht mit mir reden!« sagte Sobottke gekränkt. »So was kann ich nicht leiden! Außerdem bin ich freiwillig hier, ganz aus eigenem Antrieb. Keiner hat mich aufgefordert, braucht auch keiner. Das möchte ich mal feststellen! Und warum bin ich hier? Weil der Herr Krug so ein guter Mensch ist.« »Was Sie nicht sagen!« Wander war amüsiert und beunruhigt zugleich. »Ein guter Mensch«; wiederholte Sobottke, Wander in eine Ecke drängend, »das ist mein Herr Krug! Er hat mich zu sich genommen, als es mir verdammt dreckig ging – damals, gleich nach dem Krieg. Der fragte nicht: Sobottke, was hast du gemacht? Der sagte nur: Sobottke, was kannst du leisten? Und ich habe ihm gesagt: Für Sie alles! So ein Mensch ist das! Kapiert?« »Langsam kapiere ich hier so manches.« Karl Wander gab sich nachdenklich. »Darunter auch einen bestimmten Hinweis auf Sie.« »Auf mich? In welcher Hinsicht? Und durch wen?« Wander blickte mit einem Ausdruck von Nachsicht auf den Mann mit dem Sportgesicht. »Mir ist angedeutet worden, daß ich, wenn ich wollte, und bei bestimmten Gegenleistungen, Sie mühelos belasten könnte.« 284
»Mich?« fragte Sobottke entgeistert. »Sie bieten sich doch geradezu dafür an«, versicherte Karl Wander höchst ernsthaft. »Denn Sie sind der denkbar beste Mann im Hintergrund – Sie schlagen sich für Ihren Brotgeber, von ihm nehmen Sie jeden Auftrag an, für ihn bearbeiten Sie alles und jeden, besonders gern weibliche Wesen.« »Das«, rief Sobottke, »haben Sie sich aus Ihren dreckigen Pfoten gesogen!« »Haben Sie Eva Morgenrot zusammengeschlagen?« wollte Wander wissen. »Sind Sie es gewesen, der Sabine den Rest gegeben hat? Aus welchen Gründen auch immer! Irgend jemand wird sich dafür finden müssen – warum also nicht Sie? Und von allen, die sich anbieten, sind Sie am leichtesten, am bequemsten zu opfern.« »Sie!« keuchte Sobottke. »Sagen Sie so was nicht noch einmal! Sie wollen mich doch nicht etwa gegen meinen Herrn Krug aufhetzen?« »Nicht wahr – dem trauen Sie glatt zu, daß der auch Sie verkauft, falls sich das mal lohnen könnte.« »Sie sind ein ganz gemeines hinterhältiges Schwein!« Sobottke vermochte sich kaum noch zu beherrschen. »Versuchen Sie ja nicht, mir das Gehirn aufzuweichen! Mich abzuservieren wird so leicht keiner wagen! Sie haben ja gar keine Ahnung davon, was ich weiß!« »Zuviel vermutlich – und ist das nicht Grund genug?« Das Zwischenspiel Nummer zwei. Ein Telefongespräch. Geführt von einer öffentlichen Fernsprechzelle aus; zwischen Karl Wander und Marlene Wiebke, in den Mittagsstunden des nächsten Tages. Karl Wander: »Bist du allein? Oder muß ich so fragen, daß du nur mit Ja oder Nein zu antworten brauchst? Kann auch sein, daß ich falsch verbunden bin? Nein? Sehr schön. Also – 285
wie stehen dort meine Aktien?« Marlene Wiebke: »Die werden hier nicht mehr notiert! Was praktisch heißt: es hat dich, für uns, offiziell, nie gegeben. Kennst du einen gewissen Traugott?« Karl Wander: »Hinreichend! Hat man dem jetzt etwa die Jagd auf mich freigegeben?« Marlene Wiebke: »Das ist versucht worden. Aber Traugott hat dankend abgelehnt, mit großer Höflichkeit. Er fühle sich dafür nicht zuständig. Als dann versucht wurde, ihm ein Bündel Anzeigen gegen dich geradezu aufzudrängen, hat er gemeint: Staub aufwirbeln und Rechtsfragen klären sind zwei Vorgänge, die sich kaum miteinander vereinbaren lassen. Er jedenfalls wäre kaum die geeignete Person hierfür.« Karl Wander: »Ein erstaunlicher Mann! Doch weiter: Hat Krug mit General Keilhacke telefoniert, um dem mein Ausscheiden aus unserer Interessengemeinschaft mitzuteilen?« Marlene Wiebke: »Er hat es versucht. Aber General Keilhacke war nicht zu erreichen.« Karl Wander: »Es wäre gut, wenn der General auch weiterhin für Krug unerreichbar bliebe – sagen wir: bis heute abend.« Marlene Wiebke: »Sonst noch was?« Karl Wander: »Wenn es dich nicht allzusehr irritiert, möchte ich dir gerne noch sagen: Ich liebe dich!« Marlene Wiebke: »Das irritiert mich keineswegs. Ich höre es sogar gerne. Sag das noch einmal.« Karl Wander: »Ich liebe dich.« Marlene Wiebke: »Ich weiß, das kann mich sehr teuer zu stehen kommen – in dieser Situation; doch ich bin so weit, daß ich weiter nichts hören will als dies. Aber dabei dürfen wir uns jetzt – leider – nicht aufhalten. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag. Was ist heute noch für dich wichtig?« 286
Karl Wander: »Ich habe Mister Sandman bei Keilhacke zu einem Interview für sechzehn Uhr angemeldet. Könntest du, bitte – da ich in Eile bin – Sandman folgendes ausrichten: Er soll sein Interview mit dem General auf mindestens eine Stunde ausdehnen und dazu einen Fotografen mitnehmen. Sage ihm: Ich glaube, daß ich ihm dann eine besondere Spezialität bieten kann.« Aktion drei des Karl Wander. Der Mann, den er nun aufsuchte, war leicht zu finden – er stand im Adreßbuch und wohnte im neuen Hochgebäude in Nähe der Beethovenhalle, in Büroräumen mit Blick auf den Rhein. Es handelte sich dabei um den offiziellen Interessenvertreter der Münchner Bölsche-Werke. Karl Wander wurde unverzüglich empfangen – nicht etwa, weil er für eine wichtige Persönlichkeit gehalten wurde, sondern weil dieses Büro keinesfalls mit Arbeit überlastet war. Ein älterer Jüngling, betont modisch gekleidet, mit DressmanFigur und Frisiercremereklamelächeln, wollte liebenswürdig wissen: »Bitte – was kann ich für Sie tun?« »Nichts«, erklärte Wander nicht minder freundlich. »Ich beabsichtige vielmehr, etwas für Sie zu tun. Das heißt: ich will Ihnen einige Informationen zukommen lassen.« »Verkaufen?« fragte der Lobbymensch mit unverändertem Magazinlächeln. »Schenken! Warum, sollte Sie nicht weiter beunruhigen. Es lohnt sich nicht. Beschränken wir uns auf Tatsachen. Ihre Firma hat in den letzten Tagen hier in Bonn enorme Schwierigkeiten bekommen, nicht wahr? Versuchen Sie das bitte nicht erst abzuleugnen, denn ich weiß das. Ich nehme an, daß der Kanzler bereits Herrn Bölsche zur Berichterstattung aufgefordert hat. Na, sehen Sie! Und wissen Sie auch, woher – genau – diese Schwierigkeiten kommen?« »Ist das Ihre Information?« fragte jetzt der 287
Modejournaljüngling begierig – sein Lächeln hatte er vorübergehend eingefroren. »Dann allerdings muß ich gestehen ...« »Ich weiß: Sie haben lediglich herausgefunden, daß Material über die Bölsche-Werke existiert – Produktionsziffern, Entwicklungssummen und Finanzpläne. Aber den eigentlichen Lieferanten dieses Materials kennen Sie nicht! Stimmt’s?« »Das stimmt«, gab der Interessenvertreter zu. »Und eben deshalb wissen Sie auch nicht, in welche Richtung Sie nun operieren müssen, wie Sie am besten zum Gegenzug kommen, wen Sie eventuell auszuheben haben, um wenigstens noch Zeit zu gewinnen.« »Auch das stimmt – leider.« »Dann hören Sie zu: Das gesamte Material ist von einer Ihrer Konkurrenzfirmen geliefert worden, von den MorgenrotWerken, direkt vom Direktionsbüro aus.« »Das«, sagte der Lobbymann wie beschenkt, »ist sehr einleuchtend. Doch warum sagen Sie mir das? Was wollen Sie sich damit verdienen?« »Was, meinen Sie wohl, ist ein Gewissen wert?« »Da bin ich überfragt.« »Ich habe keinesfalls die Absicht, Sie zu überfordern. Ich versuche lediglich, Sie aufzuklären.« »Wofür ich Ihnen sehr dankbar bin! Wirklich – sehr dankbar! Wenn ich auch gestehen muß, daß ich mir noch nicht hundertprozentig vorstellen kann, wie Ihre Hinweise am wirksamsten zu verwerten wären.« »Das ist ganz einfach: Sie brauchen nur die Quer- und Nebenverbindungen herauszufinden, die zwischen Ihrem Interessenverein und dem von Morgenrot existieren. Am sichersten läßt sich das an Hand der Personalakten bewerkstelligen, verstehen Sie mich immer noch nicht? Es 288
handelt sich um Überläufer, Abgeworbene, Eingekaufte – mit ihnen wurde zugleich ihr Spezialwissen übernommen.« »Anständig«, meinte der Interessenvertreter klagend und anklagend zugleich, »ist so was wirklich nicht!« »Aber praktisch recht brauchbar – schon immer gewesen. Und Ihre Entrüstung können Sie sich schenken.« Aktion vier des Karl Wander. Diese Aktion war von dem Gefreiten Fünfinger geplant und vorbereitet worden. Karl Wander bezeichnete sie als »Unternehmen Keilhacke«. Die Voraussetzung dafür: bis zu Fünfinger hatte es sich herumgesprochen, daß einige clevere Leute einer benachbarten Panzereinheit auf den bemerkenswerten Einfall gekommen waren, sich die Reinigung ihres Kampfwagens zu erleichtern – sie fuhren- ihn ganz einfach bei der nächsten Tankstelle vor. Dort bestellten sie dann »ein Vollbad«. In der Zwischenzeit begaben sie sich in das schräg gegenüberliegende Restaurant, um dort ein Bierchen oder auch zwei zu trinken. Das aber war, wie Fünfinger richtig erkannt hatte, ein Fall für Keilhacke! Der konnte so, geschickt und rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht, wieder einmal beweisen, daß seinem »scharfen Auge« nichts entging, daß kein zweiter wie er mit »eisernem Besen« kehren konnte. Und so standen sie denn, in trist betonierter Vorstadtlandschaft, auf die Ankunft von General Keilhacke wartend herum: ein sanft glänzendes gepanzertes Fahrzeug vor der engen Gasse der Schnellwaschanlage; etwas abseits davon Karl Wander, auf die Uhr blickend; im Hintergrund Fünfinger in freudiger Erwartung. Der von Karl Wander herbeitelefonierte General rauschte, fast auf die Minute genau, wie vorausberechnet, mit seinem Mercedes-Dienstwagen herbei; er wurde von einem Offizier und zwei Zivilisten begleitet: von Sandman und einem 289
Fotoreporter. Keilhacke stieg aus, begrüßte Wander kurz, eilte zum Panzerfahrzeug, blieb davor stehen und staunte es an. Dabei wurde er fotografiert. »Das ist doch einfach nicht zu fassen!« rief der General in gebotenem Kasernenhofton aus. Und Sandman flüsterte Wander zu: »Schöner Anblick!« »Wird gleich noch schöner«, versprach der. Keilhacke schickte inzwischen seinen Begleitoffizier aus, um die zum Panzerfahrzeug gehörenden Soldaten zu suchen. Er selbst ließ sich den Tankstellenwart kommen; und da der erfolgreich gedient hatte, entwickelte sich alsbald ein flottes Gespräch. Der General stellte Fragen, auf die der General prompte Antworten bekam. »Wie lange steht dieser Kasten schon hier? – Was ist mit ihm gemacht worden? – Wie oft ist er bereits schon angeliefert worden? – Wann zum erstenmal? – Werden noch andere Fahrzeuge hier angekarrt? – Welche und wann?« Innerhalb von drei Minuten deckte dieser dafür besonders begabte Truppenführer einen ganzen Katalog von Mißständen auf – angefangen von »mangelhafter Dienstaufsicht« über »Gefährdung der Einsatzbereitschaft« bis »Verdacht auf Sabotage« und »Begünstigung von Spionage«. Keilhacke verbarg seine tiefe Befriedigung gekonnt und blickte mit ernsthaft-nachdenklicher Miene um sich. Auch dabei wurde er fotografiert. Dann sagte der General, zum Mitschreiben für Sandman, was der auch tat: »Wieder ein Beweis für meine Behauptung, daß sich in dieser Armee Nachlässigkeit, Leichtsinn und Gleichgültigkeit auszubreiten drohen! Eine Folge von leichtfertigen Aufweichungsmethoden! Nur noch entschlossene Disziplin und kämpferische Moral können den Verfall aufhalten!« Karl Wander war indessen – mit der halblauten Bemerkung: 290
»Mal sehen, ob ich nichts verlernt habe!« auf das Panzerfahrzeug gestiegen; dabei hatte er Sandman grinsend zugenickt. Nun klemmte er sich hinter das Steuerrad, begann nach dem Anlasser zu suchen und mit Hebeln zu hantieren. »Darf ich noch einmal um Ihre letzte Formulierung bitten, Herr General?« forderte Sandman ablenkend. »Sagten Sie: kämpferische Disziplin und entschlossene Moral – oder umgekehrt?« »Das ist doch Jacke wie Hose!« rief Keilhacke leicht unwillig; er war es nicht gewohnt, sich wiederholen zu müssen. »Hauptsache: Moral und Disziplin!« Er stand jetzt unmittelbar vor dem gepanzerten Fahrzeug, als gedenke er eine genaue Inspektion vorzunehmen. Der Motor dröhnte auf und in Sekundenschnelle danach würgte sich das Fahrzeug vor. Der General wich hastig aus – und zwar, ganz instinktiv reagierend, nach rückwärts. Dadurch geriet er, ohne das vorerst zu bemerken, in die schmale Gasse, die direkt zur vollautomatischen Waschanlage führte. Dort glühte dunkelrot warnend das elektronische Auge, das die Mechanik auslöste. »He, Sie!« rief er ungehalten dem weiterrollenden Panzerfahrzeug zu, also Wander entgegen. »Was soll das? Lassen Sie gefälligst diesen Unsinn!« Doch niemand schien ihn zu hören. Der gepanzerte Wagen bewegte sich mit jaulendem Motor weiter auf Keilhacke zu. Und der wich abermals zurück, immer weiter in die Gasse hinein, auf das Elektronenauge zu; Sandman staunte. Und der Fotograf schoß, mit dem Gefühl des Fachmannes für besondere Situationen, eine Aufnahme nach der anderen. »Ich verbitte mir das!« schrie jetzt Keilhacke, bebend vor Empörung und in aufflackernder Angst. Er begann zu ahnen, in was er hier hineingeraten war. Denn er sah: vor sich das Fahrzeug, rechts und links Wände, hinter sich das Eingangsloch der Waschanlage. »Stellen Sie sofort den Motor 291
ab! Ich befehle es Ihnen!« Doch hier hatte er nichts zu befehlen – es schien, als pralle sein Befehl gegen Panzerplatten; der entfesselte Motorenlärm zerdröhnte ihn. Zentimeter um Zentimeter, mit entnervender Langsamkeit, hüpfte das Fahrzeug dröhnend auf den General zu. Der versuchte, vergeblich auszuweichen, machte dann Anstalten, sich dagegen zu stemmen, sah aber schnell die Sinnlosigkeit solcher Bemühungen ein und wich weiter aus, noch weiter rückwärts, direkt in die Waschanlage hinein. »Sind Sie denn verrückt geworden, Mann!« brüllte er auf. Er stolperte, starrte auf die Räder, die ihn zu überrollen drohten, fiel nach rückwärts. Keuchte: »Aber so was darf man doch nicht tun!« Nun hatte er den auslösenden Lichtstrahl dieser vollmechanischen, aus den USA importierten Anlage erreicht. Stromkreise schlössen sich automatisch, lösten Impulse aus. Wasser rauschte auf, zischte Keilhacke an, durchnäßte ihn bis auf die Haut. Er fiel auf das Transportband, geriet in ein dampfendes Warmbad, versank in Schaumwolken, wurde wieder freigespült, dann rotierten Nylonbürsten um ihn, abermals wurde er bespült und hierauf ins Freie gespuckt. Dort richtete er sich auf und blieb fassungslos sitzen. »Pardon, Herr General!« rief Karl Wander, als sei er tief bestürzt. Er hatte das gepanzerte Fahrzeug zum Stehen gebracht und schaute nun aus der vorderen Fahrerluke. »Das tut mir aber mächtig leid! Doch ich wurde mit dem Motor einfach nicht fertig.« Der inzwischen herbeigeeilte Begleitoffizier betrachtete völlig verwirrt seinen Keilhacke – er vermochte nicht zu glauben, was er sah. Mühsam fragte er: »Was ist hier geschehen?« »Unser Herr General«, meinte der herbeigeeilte Fünfinger schnuppernd, »scheint sich in die Hosen gemacht zu haben. 292
Weiter ist nichts passiert.« »Herrlich!« rief Peter Sandman; er betrachtete die inzwischen bereits entwickelten Fotos, die er mitgebracht hatte. »Und völlig unglaublich!« Karl Wander lächelte mühsam. Er wollte dem Freund die gute Laune nicht verderben. »Sie können, Karl«, meinte Sandman, »mein Vergnügen offenbar nicht teilen – warum nicht? Befürchten Sie, daß Keilhacke aus diesem Vorfall eine Staatsaktion machen könnte?« »Soll er das doch versuchen – es ist mir völlig gleichgültig.« »Er wird es nicht tun – seine Rolle dabei war zu kläglich. Die Bilder machen ihn lächerlich. Sie brauchen sich deshalb keinerlei Sorgen zu machen.« Karl Wander starrte vor sich hin. »Ich gebe zu: es hat mir – im Augenblick – Spaß gemacht. Bis mir dann klar wurde: nichts als ein Kasperletheater mehr! Und das genügt hier nicht. Es reicht nicht aus, verstehen Sie!« Sie saßen in der Kneipe von Mutter Jeschke und tranken diesmal nicht Irish Stout, sondern einen federleichten Mosel. Den tranken sie wie Wasser. »Was wollen Sie denn noch, Karl?« fragte Sandman verwundert. »Sie haben dieser machtpolitischen Turnriege Feldmann-Krug massive Bremsklötze in den Weg manipuliert. Sie haben einen Ausschußvorsitzenden zum rechten Tun ermuntert, einen Wehrbeauftragten von allen seinen Belastungen befreit, eine einflußreiche Konkurrenzfirma wirksam mobilisiert. Und dann ist es Ihnen sogar noch gelungen, den zur Zeit zumindest lautesten aller restgroßdeutschen Generale aufs Kreuz zu legen. Ist das alles gar nichts?« 293
»Zuwenig«, sagte Karl Wander. »Typen wie Feldmann und Krug sind hart im Nehmen. Sie werden nicht so leicht aufgeben. Wie kann man sie stoppen, so kurz vor dem Ziel? Vielleicht müßte jetzt jemand den Kanzler, oder auch nur den Bundespräsidenten, über alle Einzelheiten aufklären? Doch so weit reichen meine Beziehungen nicht. Sie, Peter, müssen mir helfen!« »Lassen Sie mich nachdenken, Karl. Durchaus möglich, daß ich noch einiges für Sie organisieren könnte, etwa ein Abendessen mit dem amerikanischen Botschafter. Der gute John ist ein ehrenwerter Mann und mir auch in gewisser Weise verpflichtet – ich habe ihn beim Golf mehrmals gewinnen lassen. Doch eine verbindliche Äußerung oder gar eine direkte Stellungnahme ist von ihm nicht zu erwarten. Das schließt jedoch keinesfalls aus, daß er nicht etwa ein paar Tage später den bundesdeutschen Kanzler daraufhin, ebenso vertraulich wie angeblich unverbindlich, ansprechen würde. Und das möglicherweise sogar in Ihrem Sinne, Karl.« »Das wäre nicht wenig.« »Aber dennoch für Sie, vermute ich, immer noch nicht genug – und wohl auch: zu spät. Denn viel Zeit haben Sie nun nicht mehr.« Peter Sandman lehnte sich zurück, tief Atem holend. »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Sie mit Jerome bekannt zu machen.« »Wer ist das, Peter?« »Ich habe diesen Namen schon einmal genannt – gleich bei unserem ersten Gespräch in Bonn. Doch offenbar haben Sie nicht darauf geachtet.« »Hätte ich das tun müssen, Peter?« »Ich möchte meinen: ja!« »Sind Sie mit ihm befreundet?« »Der Herr bewahre mich davor! Dieser Jerome ist einer der 294
schärfsten Bluthunde auf Gottes krummem Erdboden. Er würde nicht zögern, mir bei einer entsprechenden Gelegenheit den Hals umzudrehen. Doch zur Zeit wäre das wenig zweckmäßig.« »Und dem wollen Sie mich ausliefern?« »Vielleicht«, sagte Peter Sandman, »sind Sie ihm bereits ausgeliefert. Wobei noch, bei mir, die Versuchung hinzukommt, zu behaupten: den verdienen Sie!« Der von Sandman herbeitelefonierte Jerome erschien in der Kneipe von Mutter Jeschke eine knappe halbe Stunde später. »Was gibt’s denn?« fragte er, ohne jemand zu begrüßen. Er ließ sich zwischen Sandman und Wander nieder. Dieser Mann, der Jerome genannt wurde, sah aus wie ein früh pensionierter Straßenbahnschaffner – gleichmütig, von mechanisch wirkender Freundlichkeit, zugleich solide und nichtssagend. Entsprechend lächelte er – und das in jeder nur denkbaren Situation. »Mein Freund, Karl Wander«, erklärte Sandman, »hat ein Problem.« »Es gibt kein Problem, das sich nicht lösen läßt – nicht in meinem Metier«, sagte Jerome gleichmütig. »Worum handelt es sich?« »Das«, gab Karl Wander zu bedenken, »ist eine lange Geschichte.« »Geschichten«, sagte Jerome, »interessieren mich nicht. Nur auf die Facts kommt es mir an. Auf Tatsachen, die in Akten stehen, in Fotokopien vorliegen, mit Daten, Zahlen und Namen. Konzentrieren Sie sich darauf, Herr Wander.« Jerome bekam einen doppelten Cognac serviert; er leerte sein Glas, als enthielte es Mineralwasser. Hierauf verlangte er die ganze dazugehörige Flasche. »So was gehört zu meinem täglichen Training«, behauptete er. »Lassen Sie sich dadurch 295
nicht stören, Herr Wander – fangen Sie an!« Karl Wander begann zu berichten – von Anfang an, doch möglichst kurz und sachlich. Jerome hörte völlig ausdruckslos zu. Nach drei Minuten mahnte er lediglich: »Keine Vermutungen! Bitte nur das, was sich beweisen zu lassen scheint!« Nach einer Viertelstunde sagte er drängend: »Weiter!« Und nach einer weiteren Viertelstunde forderte er: »Genauer!« Seine Cognacflasche war bereits zur Hälfte geleert. Karl Wander gab sich Mühe, dieses herausfordernd leere Gesicht neben sich zu übersehen – es gelang ihm nicht. Peter Sandman wirkte leicht erschöpft. Müdigkeit schien sich breitzumachen. Wander hörte sich reden und reden, als falle ein endloser Regen. »Stop!« sagte Jerome plötzlich, wie aus einem Halbschlaf erwachend. »Sagen Sie das noch einmal, was Sie da soeben von sich gegeben haben!« »Das über die Unterlagen, die Morgenrot geliefert hat?« »Genau das«, meinte der nun munter gewordene Jerome. »Handelt es sich dabei um telefonische Übermittlungen, um mündlich überbrachte Details oder um Dokumente?« »Um eine Art Aktenstück, mit mehreren Aufstellungen, mindestens sechs. Über neue Waffen. Dabei technische Einzelheiten und Details über Entwicklungskosten und deren Fixierung.« »Erfolgte die Lieferung dieser Unterlagen direkt – oder ist irgend jemand dazwischengeschaltet worden?« »Soweit ich informiert bin, lieferte Morgenrot direkt an Krug. Der informierte Feldmann und vermutlich auch den Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses – damit der seinerseits den Kanzler informieren konnte. Das allerdings geschah lediglich an Hand von Notizen, Abschriften oder Kopien.« 296
Der Mann namens Jerome betrachtete Wander nun hoffnungsvoll. »Das heißt also, wenn ich Sie richtig verstanden habe: die Originale wurden nicht unter die Leute gebracht – sie wurden aufbewahrt. Wo?« »In einem Panzerschrank, der im Büro von Krug steht.« »Und wer kann dort heran?« »Nur Krug selbst.« »Damit«, meinte Jerome sinnend, »müßte sich eigentlich einiges anfangen lassen.« Er nickte Sandman zu und beschäftigte sich dann weiter mit Wander. »Kennen Sie den Inhalt dieser Unterlagen näher?« »Nicht in allen Einzelheiten. Mir sind lediglich einige wenige Details bekannt. So etwa habe ich Ziffern über die Produktion von magnetischen Sprengköpfen für Kurzstreckenraketen gesehen; auch Berichte über Fehlplanungen bei der Entwicklung eines Zielgerätes – Z 69 genannt; dann Notizen über offenbar unzureichende Schutzmaßnahmen für ein Geheimprojekt mit der Bezeichnung Fokus X.« »Nicht schlecht«, sagte Jerome zu Peter Sandman. »Damit läßt sich tatsächlich etwas anfangen.« »Dann zeige mal, was du kannst, Jerome.« Der nickte und betrachtete dann wieder Wander. »Sie sehen ganz so aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe – doch kommen Sie nicht auf die Idee, das als Kompliment zu betrachten. Das ist von mir niemals zu erwarten – Sandman, der mich ein wenig kennt, weiß das. Sie wollen also, Herr Wander, wenn ich Sie richtig verstehe, diesen Krug wirksam lahmgelegt wissen – nicht wahr?« »Und möglichst Feldmann noch dazu!« »Das eine könnte das andere nach sich ziehen«, meinte Jerome. »Jedoch vielleicht nicht nur das. Aber der hier 297
gewünschte Primäreffekt müßte sich erreichen lassen.« »Wie willst du das schaffen?« fragte Peter Sandman. »Indem ich eine Art Kettenreaktion auslöse. Ein Vorgang, der überdies genau in mein augenblickliches Konzept hineinpaßt. Wofür ich aber bei dir, Peter, einen gewissen Preis kassieren werde. Abgemacht?« »Akzeptiert«, sagte Sandman. »Und wann glaubst du Resultate liefern zu können?« »Bereits in etwa drei Stunden«, versicherte Jerome. »Ich werde Samson ins Rennen schicken.« Noch nicht ganz drei Stunden danach traf der Mann namens Jerome wieder in der Kneipe von Mutter Jeschke ein. Rauchschwaden durchzogen den Raum. Auf dem Tisch vor Sandman und Wander standen nun vier leere Flaschen. Jerome setzte sich wieder zwischen sie und verlangte Cognac – abermals eine ganze Flasche, möglichst die gleiche Sorte. Mutter Jeschke bediente schweigend; sie servierte auch zwei weitere Flaschen Mosel. Danach schloß sie die Tür des Lokals ab und zog sich zurück. »Nun«, fragte Sandman begierig, »hat es geklappt?« »Ja – und nein«, sagte Jerome mit verkniffenem Lächeln. Er goß Cognac in das vor ihm stehende Glas. »Das Resultat ist nicht ganz so, wie ich erwartet habe – aber vielleicht noch besser. Mit einem kleinen Schönheitsfehler allerdings. Aber das sind nun mal die Unberechenbarkeiten in meinem Metier. Manchmal staune selbst ich noch darüber.« »Vielleicht«, empfahl Peter Sandman, »solltest du etwas weniger saufen, Jerome.« »Ich saufe nie«, versicherte der. »Ich bringe mich lediglich in Form. Alkohol gehört zur Grundausrüstung.« Er trank sein Glas leer und füllte es erneut. Sein trügerisch-biederes Beamtengesicht strahlte abendsonnige Sanftmut aus. »Ich habe 298
also, wie angekündigt, Samson ins Rennen geschickt. Dieser Samson stand bereits seit Tagen abrufbereit in meinem Stall; ich brauchte nur noch den Startbefehl zu geben.« »Seit wann beschäftigst du dich mit Pferden, Jerome«, fragte Sandman. »Ich denke, du hast es in deiner Branche hauptsächlich mit Schweinehunden zu tun.« »Dieser Samson ist ja auch ein Schweinehund«, bestätigte Jerome, »ein überaus tüchtiger noch dazu. Samson ist der Deckname für einen Agenten, der einige Jahre lang für uns gearbeitet hat, und sogar ziemlich erfolgreich. Doch seit etlichen Monaten arbeitet er auch zugleich für die Konkurrenz; und zwar nicht minder erfolgreich. Und eben deshalb war er fällig! So war denn auch von uns aus alles vorbereitet worden, diesen Samson dem bundesdeutschen Staatssicherheitsdienst auszuliefern – gewissermaßen als kollegiale Geste, im Hinblick auf gelegentliche Gegenleistung. Um so was möglichst wirksam zu machen, muß man einen Lockvogel wie diesen Samson aufpolstern, verzieren, mit Material füttern.« »Also mit den Morgenrot-Unterlagen?« »Damit in diesem Fall nur noch zusätzlich – weil die Gelegenheit gerade so günstig war.« Jerome trank genießerisch. »Ich habe also dafür gesorgt, daß Samson dieses Morgenrot-Material angeboten wurde – wir könnten es ihm liefern, wurde gesagt. Doch er winkte ab! Warum wohl? Selbst ich fand nicht gleich die Antwort auf diese Frage. Dabei ist sie verblüffend einfach: Samson kannte dieses Morgenrot-Material bereits! In allen Einzelheiten.« »Ein Bluff von diesem Kerl – was denn sonst!« »Leider nein«, sagte Jerome, »aber da die Aktion Samson bereits planmäßig abrollte, blieb uns nur noch übrig, unseren verehrten bundesdeutschen Kollegen verdeckte, aber doch unmißverständliche Hinweise auf dieses Morgenrot-Material zu geben. Dabei aber stellte sich dann heraus: auch diese Leute 299
wußten bereits davon!« »Von wem wußten sie es? Wer hatte es ihnen geliefert?« »Das herauszufinden«, sagte Jerome lässig, »ist doch wohl nicht allzu schwer. Wir, einschließlich Wander, kennen die Quelle – meine bundesdeutschen Geschäftspartner jedoch kannten lediglich das Material. Jedoch: woher es kam, für wen es bestimmt war, wohin es weitergeleitet werden sollte, vermochten sie noch nicht voll zu erkennen. Vielleicht wollten sie das, im Augenblick, auch gar nicht.« »Das«, meinte Karl Wander beunruhigt, »geht ja zu wie in einem Dschungel!« »Wo denn sonst, glauben Sie, befinden wir uns?« sagte Jerome leicht erheitert. »Ich jedenfalls zögerte nicht, mein kollegiales Entgegenkommen auf einen Höhepunkt zu treiben. Dies allerdings immer unter der Voraussetzung, Peter, daß dein Freund Wander kein Traumtänzer ist.« »Das mußt du nicht annehmen«, erklärte Sandman betont überzeugt. Jerome nickte. »Darauf habe ich mich denn auch verlassen. Denn nach Wanders Schilderungen kann dieser Morgenrot kein Idiot sein – was allein schon dadurch bewiesen wird, daß die von ihm gelieferten Unterlagen weder einen Absender aufweisen noch einen Adressaten. Dieser Morgenrot wußte also ganz genau, daß er pures Dynamit aufgestapelt und weitergeleitet hat – es durfte nicht in unrechte Hände geraten.« »Das Grundschema dabei«, sagte Karl Wander, »war folgendes: Hierbei handele es sich um ein angebliches Staatsinteresse! Und damit kann man sich so gut wie alles leisten.« »Was denn auch geschehen ist!« Jerome füllte sorgfältig sein Glas. »Nur eben daß in diesem Fall nicht alles auch nur halbwegs normal verlief. Es hat sich nicht nur um eine Rechnung, um ein Geschäft, um eine Art auswertbare Bilanz 300
gehandelt – einige, sogar zahlreiche Emotionen, menschliche Unwägbarkeiten und allzu menschliche Kurzschlüsse kamen hinzu. Hier sind auf unberechenbare Weise im Spiel Finger gewesen, die noch dazu überaus hübsch waren. Unter anderem die einer gewissen Baronin von Wassermann-Westen.« »Das darf doch nicht wahr sein!« rief Karl Wander äußerst überrascht. »Falls es sich jedoch als wahr erweisen sollte«, fragte Peter Sandman, »worum handelt es sich dabei? Etwa um Spionage für irgendeine fremde, sicherlich östliche Macht; am besten gleich für die Chinesen? Mithin um Landesverrat – oder um was sonst?« »Eine schöne Fülle von Möglichkeiten – nicht wahr?« sagte Jerome. »Aufdringlich dabei diese Tatsache: Sabine hat gewußt, wo dieses heikle Material liegt; und nur sie kann sich Zugang dazu verschafft haben.« »Nur sie?« wollte Wander wissen. »Möglicherweise auch Eva Morgenrot – sie kann zufällig an das eine oder andere Dokument herangeraten sein. Doch sie ist tot. Vielleicht deshalb. In Frage kommt auch dieser Felix Frost – dieser merkwürdige Typ; angeblich ein Millionär, der zugleich Kommunist sein soll. Nun, er ist nicht mehr erreichbar – er hat sich inzwischen nach Südamerika abgesetzt.« »Das alles«, meinte Peter Sandman nicht ohne Hoffnung, »klingt vielversprechend kompliziert.« »Das ist es auch«, bestätigte Jerome. »Eva ist tot. Was sie möglicherweise von Morgenrot entwendet hat, ist nicht aufzufinden. Anzunehmen, daß sich Sabine dieses Material gesichert hat – doch auch sie ist tot. Aber das wird der bundesdeutsche Staatssicherheitsdienst sicher lediglich registrieren; mehr wohl nicht. Er wird versuchen, sich an das zu halten, was noch irgendwie greifbar ist.« »Also an Krug!« sagte Karl Wander. 301
Der Mann namens Jerome nickte. »Die Weichen dafür habe ich gestellt.« »Damit jedoch«, sagte Karl Wander dankbar, »haben Sie sozusagen auf Anhieb erreicht, was mir, trotz intensiver Anstrengung, bisher nicht gelungen ist.« »Jubeln Sie nicht zu früh«, empfahl Jerome. »Vergessen Sie nicht: Umfallen oder zu Fall gebracht werden kann hier jeder einmal, oder sogar mehrere Male – wenn er die Spielregeln kennt, kommt er immer wieder auf die Beine.« »Das jedoch«, meinte Wander zuversichtlich, »kann seine Zeit dauern. Vorerst reicht es schon, wenn er auch nur vorübergehend ausgeschaltet wird.« Jerome sah Karl Wander fast mitleidig an. Dann sagte er: »Krug auszuschalten ist nicht gleichbedeutend damit, auch Feldmann lahmzulegen. Daß allerdings auch der nun enorme Schwierigkeiten bekommen könnte, ist durchaus vorstellbar – jedoch: nicht nur er allein.« »Lassen wir diese Spekulationen!« sagte Sandman hastig. »Denn hierbei, Jerome, kann es sich doch nur um eine deiner leicht phantastischen Theorien handeln.« »Leider nein«, sagte der. »Denn folgendes hat sich ergeben: Morgenrot lieferte und Krug profitierte – Eva versuchte sich einzumischen und Sabine gedachte, zu kassieren, möglichst doppelseitig. Martin und Felix wurden planmäßig mißbraucht. Und Wander, dein Freund, Sandman, betätigte sich als Zwischenträger – ob nun gewollt oder ungewollt, beabsichtigt oder zufällig, hineingeritten oder sich willig hineintreiben lassend!« »Heißt das«, fragte Peter Sandman bestürzt, »daß er nun nicht mehr ausweichen kann?« »Das befürchte ich.« »Aber genau darauf«, meinte Karl Wander unerschüttert, 302
»warte ich doch nur! Dann kann ich endlich auspacken.« »Ein Idealist«, sagte Jerome trocken. »Doch hoffentlich nicht auch ein Dummkopf! Ich kann Ihnen nur raten, Wander, für die nächsten Tage und Wochen auf Tauchstation zu gehen. Mache ihm das klar, Peter!« »Aber so was wäre nichts wie feige Flucht«, sagte Karl Wander widerstrebend. »Das könnte sogar als indirektes Schuldbekenntnis ausgelegt werden.« »Sandman«, rief der Mann namens Jerome, »was muten Sie mir hier zu! Also doch ein Traumtänzer! Halten Sie mich etwa für einen Arrangeur seiner Wahnvorstellungen? Bringen Sie Ihren jungen Freund zur Vernunft – auf die Dauer kann sich doch niemand in dieser Welt den beherrschenden Realitäten entziehen!« »Lieber Karl Wander«, drängte nun Peter Sandman, »wenn Sie hier nicht schleunigst verschwinden, dann müssen Sie damit rechnen, daß man Sie einsperrt und isoliert, um halbwegs brauchbare Verdachtsmomente gegen Sie einzusammeln. Wollen Sie das unbedingt riskieren?« »Ich«, sagte Karl Wander, »bin mir keinerlei Schuld bewußt.« »Das glauben Sie!« Peter Sandman vermochte seine Erregung kaum noch zu verbergen. »Doch wen wollen Sie damit überzeugen? Sogar ich zweifle jetzt daran, daß ein Don Quichotte in dieser Zeit lebensfähig ist – auch Kohl hat das eingesehen. Und wir haben stets versucht, Ihre Freunde zu sein.« »Überschätzen Sie so etwas nicht!« sagte Jerome. »Je länger ich lebe, um so weniger kann ich es mir leisten, freundschaftliche Gefühle zu zeigen. Und speziell in Ihrem Fall, Wander, ist die Versuchung dazu denkbar gering.« Karl Wander blickte hilflos um sich. »Was soll ich denn machen?« fragte er – und er schien sich selber zu befragen. 303
»Gewiß, ich kann hier abtreten! Und vielleicht rette ich damit meine Haut, ohne zu wissen, was die wirklich wert ist.« »Für den«, meinte nun Jerome und wandte sich an Sandman, »würde ich keinen Pfennig investieren. Wirklich: er ist ein hoffnungsloser Idealist.« »Mag ja sein«, sagte Karl Wander mühsam. »Aber daran will ich niemanden beteiligen; Sie am wenigsten, Sandman, sollen deshalb irgendwelche Schwierigkeiten riskieren.« »Die werden mich nicht umwerfen, Karl. Denn schließlich spiele ich nicht nur mit dem amerikanischen Botschafter Golf, ich versuche auch noch mit Jerome Geschäfte zu machen. Und der produziert nun mal Sprengbomben – wenn auch mit kleinen Schönheitsfehlern.« »Worauf warten Sie also noch, Mister Wander!« Jerome leerte seine Cognacflasche. »Oder können Sie sich von Ihrem geliebten Deutschland einfach nicht trennen?« Karl Wander hob sein Glas. »Vermutlich haben Sie recht – ich träume, also schlafe ich. Dennoch bin ich jetzt wach. Aber an diesen Zustand muß ich mich wohl erst noch gewöhnen.« »Versuchen Sie das!« sagten beide. Das versuchte Karl Wander. Er hatte nur noch wenige Stunden dafür Zeit. Doch es gelang ihm nicht. Denn bald danach wurde er verhaftet.
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