Heike Brandt
Katzensprünge
Roman
Beltz & Gelberg
Lektorat Susanne Härtel © 1995 Beltz Verlag, Weinheim und Basel...
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Heike Brandt
Katzensprünge
Roman
Beltz & Gelberg
Lektorat Susanne Härtel © 1995 Beltz Verlag, Weinheim und Basel Programm Beltz & Gelberg, Weinheim Alle Rechte vorbehalten
Einband von Wolfgang Rudelius
Gesamtherstellung
Druckhaus Beltz, 69494 Hemsbach
Printed in Germany
ISBN 3 407 79681 1
Für den 11jährigen Dirk ist die Welt in Berlin zunächst völlig fremd, ganz so, wie er es befürchtet hatte. Dort scheint gar nichts normal zu sein. »Bloß cool bleiben«, sagt sich Dirk. Doch irgendwann ist das Eis gebrochen. Er lernt Paul kennen, der trotz seiner Hautfarbe kein Fußballer wie Yeboah ist, und seine Schwester Amina, die sich nichts gefallen läßt. Und den Skater Emil, dessen Baseballmütze Dirk einfach eingesteckt hat. Dabei ist »Emil ohne Mütze wie Regen ohne Pfütze«. Dann passiert die Sache mit Markus, der immer mit diesen blöden Typen zusammen ist. Vielleicht weiß Markus nicht, daß nur Katzen sieben Leben haben. – »Katzensprünge« ist mehr als eine Berlingeschichte. Ein sensibler Roman voller Beobachtungen, der Mut macht, eigene Entscheidungen zu treffen. Heike Brandt, geboren 1947, ist Dipl.-Pädagogin und arbeitete zehn Jahre lang in einem Kinderbuchladen-Kollektiv. Seit 1986 ist sie als freie Übersetzerin, Rezensentin und Autorin tätig und lebt in Berlin. Im Programm Beltz & Gelberg erschienen von ihr bisher die Biographie über Hedwig Dohm Die Menschenrechte haben kein Geschlecht und der Roman Wie ein Vogel im Käfig.
1. Kapitel
Dirk drückte seine Nase an die Fensterscheibe und starrte hinaus auf den zementierten Hinterhof und die Fensterfronten ringsum. Vom blauen Himmel war nur ein eckiger Ausschnitt zu sehen. Hinter Dirk stapelten sich seine Sachen in vier Umzugskisten. »Fang schon mal an mit Auspacken!« hatte seine Mutter gesagt, ehe sie einkaufen ging und ihn gleich nach ihrer Ankunft in der neuen Wohnung allein gelassen hatte. Dirk rutschte mit der Nase die Scheibe rauf und runter. Eigentlich waren es zwei Höfe, getrennt durch einen Maschendrahtzaun vor einem flachen Schuppen, der schon zum Nachbarhof gehörte. Auf Dirks Seite wuchs ein Walnußbaum mit dichtem grünen Blattwerk. Sieht aus wie eine Oase zwischen den grauen Steinen, dachte Dirk. Vielleicht kann ich da raufklettern. Er hauchte ans Glas und malte mit der Nasenspitze ein großes D auf die Scheibe. Plötzlich hörte er schrille Schreie, direkt über sich, wie das Kreischen einer Katze. Und nahezu im selben Augenblick sauste etwas Dunkles an seinem Gesicht vorbei nach unten. Es platschte kurz. Dann war es ganz still. Dirk riß das Fenster auf und lehnte sich hinaus, konnte aber nichts sehen. Ein Vorbau, ein kleines Dach, versperrte ihm die Sicht. Soll ich runtergehen? Dirk lief in die Diele, wo er unschlüssig verharrte. Im Treppenhaus polterte es. Laute Stimmen drangen durch die Wohnungstür, eine piepsig und aufgeregt, die andere dunkler, etwas ruhiger. Dirk flitzte zurück zum Fenster. Ein dünner Junge mit stoppelkurzen Haaren, kantigen Stiefeln und grünen
Militärhosen kam aus dem Vorderhaus in den Hof gerannt, gleich hinter ihm ein kleines, pummeliges Mädchen mit zwei kurzen Rattenschwänzen. »Miezi!« schrie die Kleine. »Miezi! Was hast du?« Mit ein paar schnellen Sprüngen durchquerte Dirk die Wohnung und raste die Treppe hinunter. Er zog das schwere Tor zum Hof auf und blieb stehen. Die Katze hatte den Sturz nicht überlebt, das sah Dirk auf den ersten Blick. Reglos lag das schwarze Tier auf der Seite, alle viere von sich gestreckt, aus dem Maul sickerte Blut, färbte den weißen Flecken auf der Brust dunkelrot. Dirk schluckte. Das kleine Mädchen hockte vor der toten Katze und streichelte ihr vorsichtig über das Fell. »Markus, du hast se totgemacht!« schluchzte sie. Der Junge starrte auf das reglose Tier und kratzte sich am Kopf. Sein rechter Arm hatte blutige Schrammen. »Mone, ick…«, brummte er. »Du hast gesagt, ganz sicher, ganz, ganz sicher, daß gar nüscht passiert. Daß se von so hoch springen kann, daß se einfach auf die Füße landet und fertig. Das hast du gesagt, hast du wohl!« Die Kleine blickte mit verheulten Augen zu dem Jungen auf. Der steckte die Daumen hinter seine Hosenträger und zuckte mit den Achseln. »Hab ick gesagt, hab ick gesagt. Ja, hab ick ooch jedacht. Is eigentlich ‘ne todsichre Sache, echt. Mann, jetzt hör doch uff zu flennen, davon looft das Vieh ooch nich wieder. Und mach nich so ‘n Alarm.« Der Junge hockte sich neben die Kleine und legte ihr den Arm um die Schultern. »Kiek ma, wie die mir zerkratzt hat!« sagte er und hielt ihr seinen Unterarm unter die Nase. »Vielleicht hat se gewußt, daß se die einzige Ausnahme ist und eben nich von so hoch springen kann.«
»Du bist gemein!« schluchzte das Mädchen und schob den Arm weg. Doch gleich darauf lehnte sie sich an den Jungen. »Arme Miezi. Nu isse tot. Wie is das, wenn man tot ist?« »Weeß ick doch nicht! Jetzt isse im Katzenhimmel. Und gar nüscht tut ihr weh. Vielleicht guckt se jetzt schon von oben runter und denkt, Mann, war das ‘n geiler Flug! Stell dir mal vor, du segelst von da ganz oben runter…« Der Junge schaute hinauf zum Dach, und dabei fiel sein Blick auf Dirk. Er musterte ihn abschätzend. »Wer bist’n du?« fragte er schließlich und richtete sich langsam auf. Er war über einen Kopf größer als Dirk und älter auch. Durch die kurzen Haare wirkten die Augen groß in dem schmalen Gesicht. Auf der Oberlippe hatte er schon ein bißchen Flaum. »Ich, äh, ich, wir sind da oben eingezogen, dritter Stock links. Vorderhaus. Heute.« »Ach, in die Wohnung von der Schmidtn? Wo is’n die hin?« »Nach Afrika, für zwei Jahre.« »Afrika? Zu die Kanaken? Na, danke.« Er machte eine abfällige Bewegung mit der Hand, schob beide Hände in die tiefen Taschen seiner Hose und starrte auf die tote Katze. »Ich heiße Dirk«, sagte Dirk tapfer. Aber der andere sagte bloß: »Kann ick mir ooch nüscht für koofen« und hockte sich wieder neben das kleine Mädchen. »Mone, wir müssen die Katze jetzt wegmachen. Und bloß kein Wort zu Papa, hörste! Sie is aus ‘m Fenster gefallen. So war’s doch, oder? Oder? Mone!« Er kaute auf seiner Unterlippe herum. »Aber…« Die Kleine schaute unsicher zu ihrem Bruder auf. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, schwarze Spuren blieben zurück. »Nix aber!« sagte der Junge. Dirk drückte mit dem Rücken die schwere Tür auf. Bloß weg, dachte er. Den Typen konnte er vergessen. Und wie die hier redeten!
»Was’n hier los?« Aus dem Seitenflügel kam ein Mädchen mit einer Plastiktüte in der Hand. Ungefähr Dirks Alter. Ziemlich groß, dunkle, halblange Haare. »Miezi is tot!« sagte die Kleine und fing wieder an zu weinen. Das Mädchen bückte sich und nahm Mone in den Arm. »Wie ist denn das passiert?« Das große Mädchen blickte Markus an. »Is aus ‘m Fenster geplumst!« brummte Markus. »Runtergefallen, meinste?« »Ja, Mann, runtergefallen. Stimmt’s, Mone?« Die Kleine preßte die Lippen aufeinander und nickte. »Da denkste, Katzen können so was, aber nicht die Bohne. Von wegen sieben Leben!« Markus kickte ärgerlich mit der Stiefelspitze auf den Boden. »Woher willste denn wissen, wie viele sie schon verbraucht hat, vorher, meine ich. Meine Oma, die hat ‘ne Katze, und die ist vom Balkon gefallen, vierter Stock. Und die hat bloß den Kopp geschüttelt, und das war’s. Bloß auf ‘n Balkon will se nicht mehr.« »Siehste, Mone!« sagte Markus. »Und jetzt, was machste jetzt?« fragte das Mädchen und richtete sich auf. »Na – in Müll, oder?« »Nein!« rief Mone. »Ich will Miezi beerdigen! Hilfst du mir, Hannah?« Das Mädchen nahm zwei Bücher aus ihrer Plastiktüte, und Markus schob die tote Katze hinein. »Bitte schön, aber ohne mich. Und mach hinne, Mone, Mama kommt bald.« Dirk ließ die Tür hinter sich zufallen und lief die Treppe hinauf. Kurz darauf hörte er die beiden Mädchen durch den Hausflur auf die Straße gehen und Markus’ schwere Schritte auf der Treppe. Im ersten Stock klappte eine Wohnungstür. Dann war es still im Haus. In Dirks Ohren dröhnten noch das schrille Katzengeschrei und das anschließende Platschen. Er schüttelte sich. Die arme Katze! Keine Chance hatte sie gehabt. Das waren doch bestimmt fünfzehn Meter vom Dach
bis hinunter auf den Hof. Dieser Markus hatte ein richtiges Experiment mit dem Tier gemacht. Dabei hätte er doch damit rechnen müssen, daß die Katze das nicht überlebt. Fieser Typ! Und mit dem mußte Dirk ab jetzt in einem Haus wohnen. Aus dem Weg werde ich ihm gehen, beschloß er. Wer weiß, was dem noch alles einfällt. Inzwischen war Dirk oben im dritten Stock angelangt. Noch stand Irene Schmidts Name an der Tür, hinter der er von nun an mit seiner Mutter wohnen würde. Gleich wollte er in den Kisten nach seinen Filzstiften suchen und ein neues Schild malen: Dirk und Regina Hempel. Nur noch zwei Namen, nicht mehr drei, wie in Heiersdorf. Aber die Tür war zu. Natürlich, er war doch vorhin einfach hinausgelaufen und hatte die Tür hinter sich zufallen lassen. Mist! Und hier gab’s keinen Hintereingang oder ein offenes Fenster oder einen Ersatzschlüssel unter der Kellertreppe wie zu Hause. Waren wir doch bloß bei Papa geblieben! Dirk hockte sich auf die oberste Treppenstufe, streckte die Beine aus und kniff die Augen zu. Bloß nicht heulen. In der Schule hatte er beim Abschied zusammen mit seinem Freund Micha gegrölt: »Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin«, wie die Fußballfans bei Pokalspielen, aber innen drin war ihm doch ziemlich mulmig gewesen. Alles würde neu und fremd und anders sein, hatte er befürchtet. Und genauso war’s auch. Was soll ich bloß hier? Dirk holte tief Luft, machte die Augen wieder auf und betrachtete die beiden anderen Wohnungstüren. An der mittleren klebte ein buntes Bild, Striche und Punkte, Rot und Gelb und Blau, schwarze Linien. Das Namensschild war aus lauter ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammengeklebt, wie ein Erpresserbrief. Almut Steinhilper hieß die Nachbarin. An der Tür gegenüber hing ein länglicher Spiegel, auf dem mit schwarzem Filzer fünf Namen geschrieben waren. Rosa
Kaminski, Thilo Kaminski, Robert Kaminski, Amina Taylor, Paul Taylor. Sind das zwei Familien? In einer Wohnung? überlegte Dirk. Wenn da ein Junge in meinem Alter dabei ist, aber nicht so beknackt wie dieser Markus, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Taylor klingt englisch. Aber Amina…? Von unten hörte Dirk Tütenrascheln und Schritte. Er beugte sich über das Treppengeländer, und ganz kurz blitzte ein blauer Blusenärmel auf. Seine Mutter. Endlich. Mit Karacho sauste ihr Dirk entgegen.
Dirks Mutter schnaufte noch, als sie die Tüten auf dem Küchentisch auspackte. »Puh!« sagte sie zu Dirk. »Da muß ich mich erst wieder dran gewöhnen! Diese vielen Treppen bringen einen ja um.« »Dann bleibst du wenigstens in Form. Oder wo willst du hier joggen? Auf der Straße zwischen den Autos?« meinte Dirk. »Stell dir vor, was ich eben…« »Gleich, Dirk«, unterbrach seine Mutter ihn. »Laß mich mal alles an seinen Platz stellen und die Küche ein bißchen einrichten. Damit wir’s schön gemütlich haben. Ist doch schließlich unser neues Zuhause!« Mit einer energischen Kopfbewegung warf sie sich die Haare aus dem Gesicht und machte sich an die Arbeit, räumte, wischte und putzte. »Mama, vorhin, da…«, versuchte er es noch einmal. Aber in dem Moment hatte seine Mutter den Wasserhahn aufgedreht. »Dirk, ich versteh jetzt sowieso kein Wort. Deck doch mal den Tisch. Ich bin gleich fertig, dann kannst du mir alles erzählen. Den Rest mache ich morgen. Ich hätte gedacht, daß Irene ordentlicher ist!« Du wolltest ja unbedingt nach Berlin ziehen, dachte Dirk, in die Wohnung von dieser Irene Schmidt. »Nun beweg dich mal, Junge! Da, in der Schublade ist Besteck. Gläser und Teller findest du oben im Schrank.« Mißmutig zog
Dirk an der Schublade, auf die seine Mutter gezeigt hatte. Ein bißchen zu kräftig wohl, denn ehe er sich’s versah, war der ganze Kasten draußen, und ein Haufen Besteck polterte zu Boden. Erschrocken starrte Dirk auf die leere Schublade in seiner Hand. »Dirk!« schimpfte seine Mutter. »Kannst du denn nicht aufpassen! Ich hab doch wirklich genug zu tun!« Schon kniete sie neben Dirk auf der Erde und sammelte das Besteck auf. »Da, schon gleich was kaputt, das fängt ja gut an!« schnaubte sie und hielt Dirk zwei Teile eines großen Porzellanlöffels vor die Nase. »Wie kann man nur so ungeschickt sein! Geh jetzt und wasch dir die Hände. Wir können dann essen.« Sie nahm Dirk den leeren Besteckkasten ab, und Dirk verdrückte sich ins Bad. Nach dem Händewaschen klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, mehrmals hintereinander. Das half immer, wenn er die Tränen verscheuchen wollte oder wenn er wütend war. Papa hatte ihm den Trick gezeigt, zu Hause, in dem großen, hellen, gekachelten Badezimmer. Das war nicht so ein winziges, fensterloses Kabuff wie hier. Rotgestrichene Wände, wo gibt’s denn so was! Als Dirk zurückkam, hatte seine Mutter den Tisch gedeckt, und sein Platz war mit Gummibärchen und bunten Lakritzstangen dekoriert. »Hab ich heute Geburtstag oder wie?« fragte er säuerlich. »Nun sei doch kein Spielverderber! Damit will ich dir den Anfang versüßen. Auf unser neues Leben in Berlin!« Sie hob ihr Weinglas und stieß mit ihm an. »Auch wenn wir in der Küche essen müssen!« Die Cola war lauwarm, schmeckte gemein. »Gefällt dir dein Zimmer? Bist du schon aufs Hochbett geklettert? Und wie weit bist du mit dem Auspacken?« fragte seine Mutter. Ihr Ärger war verflogen, sie klang richtig fröhlich.
»Ich… ich konnte noch gar nicht anfangen, weil…« Endlich konnte Dirk die Geschichte mit der Katze loswerden. »Du meinst, der Junge hat die Katze absichtlich runterfallen lassen?« fragte seine Mutter entsetzt. »Das kann ich mir nicht vorstellen!« »Doch, hat er wohl! Der wollte das seiner kleinen Schwester beweisen. Hab ich selber gehört.« Dirks Mutter schüttelte nachdenklich den Kopf. »Also, ich weiß ja nicht. Irene hat doch gesagt, hier wohnen lauter nette Leute im Haus…« »Von wegen!« Dirk schmierte sich sein zweites Brot, die Butter ganz dünn und die Wurst ganz dick. Dann klappte er das Ganze zusammen und biß ab. »Na, wenn das wirklich stimmt, dann solltest du dich vor dem Jungen lieber in acht nehmen. Wer weiß, was das für eine Familie ist. Aber hast du nicht gesagt, der ist älter als du?« »Beschtimmt schon…« fing Dirk an. Als er den mahnenden Blick seiner Mutter sah, machte er erst den Mund leer und wiederholte dann: »Bestimmt schon dreizehn.« »Wart’s ab – du wirst sicher bald Freunde in deinem Alter finden.« »Aber nicht solche wie Micha!« brummte Dirk. »Und überhaupt, wo soll ich denn hier spielen? Auf diesem doofen Hof vielleicht? Und warum müssen wir in einer fremden Wohnung wohnen, ohne Garten und alles?« »Herrje, weil’s keine andere Wohnung gab, jedenfalls nichts Bezahlbares! Ich hab ja gesucht! Und ich bin gottfroh, daß wir bei Irene unterschlüpfen konnten. Das war die einzige Möglichkeit!« »Gar nicht wahr«, murmelte Dirk. »Wir hätten zu Hause bleiben können.« Seine Mutter seufzte. »Dirk, das haben wir doch schon tausendmal besprochen. Du weißt doch, Papa und ich…«
»Ja, ja, ja!« unterbrach Dirk sie und hielt sich die Ohren zu. Er wollte nicht schon wieder hören, warum seine Mutter nicht mehr mit Papa in Heiersdorf leben, sondern zurück in ihre Heimatstadt Berlin wollte, ihr eigenes Leben führen! Was immer das zu bedeuten hatte. Und Dirk mußte einfach mit. Weil er angeblich nicht bei Papa bleiben konnte. Mit beiden Händen griff Dirks Mutter über den Tisch und zog ihm die Hände von den Ohren weg. »Junge, jetzt hör mir mal gut zu. Ich weiß, daß das alles nicht leicht ist für dich.« Leise fügte sie hinzu: »Für mich doch auch nicht.« Immer noch hielt sie seine Hände fest, drückte sie ein wenig, als wollte sie ihn aufmuntern. »Ein bißchen Geduld mußt du schon haben, aber du wirst dich bald einleben, ganz bestimmt. Morgen gehst du in die Schule, und da sind auf alle Fälle jede Menge Kinder in deinem Alter!« Da hatte sie recht. Also sollte er sich auch noch auf die Schule freuen. So was Verrücktes! Dirk wand sich aus dem Griff seiner Mutter, stopfte sich den letzten Happen in den Mund, spülte mit dem Rest Cola nach und stand auf. »Ich geh jetzt auspacken!«
2. Kapitel
Am nächsten Morgen war Dirk schon wach, bevor ihn seine Mutter wecken kam. Er fühlte sich kribbelig wie damals bei seiner Einschulung, als er mit der dicken Schultüte auf dem Schulhof stand und so aufgeregt herumzappelte, daß seine Mutter ihn dauernd ermahnen mußte. Zu Hause hätte er heute auch die Schule gewechselt, aber er wäre mit Micha und den anderen zusammen auf die Realschule gegangen und nicht mehr auf die Grundschule wie hier. Gleich heute abend ruf ich Micha an und frag ihn, wie’s war, nahm sich Dirk vor. Er warf seine Decke zur Seite und kletterte die Leiter des Hochbettes hinunter. Praktisch, so eine zweite Etage im Zimmer. Da brauchte er bestimmt nicht sein Bett zu machen, und seinen Teddy würde von unten auch niemand entdecken. Überall waren jetzt seine Sache verteilt, verstaut oder aufgestellt. Vertraut war ihm das Zimmer deshalb noch lange nicht. Was soll ich anziehen? überlegte er. Welche Marke ist hier angesagt? Vorsichtig zog er die Kommodenschublade auf und wählte ein langes, dunkelblaues T-Shirt mit einem sehr klein aufgedruckten Firmenzeichen, dazu seine ausgebleichten Jeans und die hohen Turnschuhe. Das konnte nicht verkehrt sein, oder? Er stellte sich vor den großen Spiegel im Bad. Wenn ich doch nicht so klein geraten wäre, bloß ein Meter vierzig! Er schnitt eine Grimasse und grinste sein Spiegelgesicht mit den Sommersprossen unter den rötlichen Fransenhaaren an. Pfiffig siehst du aus, hatte Papa immer gesagt. Oder frech. Je nachdem, was er für eine Laune hatte. Egal, jedenfalls gehört
über das T-Shirt eine Weste und zwar die hellblaue, entschied Dirk. In der Küche dudelte Radiomusik. Dirks Mutter saß schon fertig angezogen und geschminkt am Frühstückstisch. »Na, ausgeschlafen?« fragte sie vergnügt. »Hast du was geträumt? Was man in der ersten Nacht in einem neuen Bett träumt, soll doch wahr werden!« »Nö, ich weiß nichts mehr. Aber ist prima da oben«, sagte Dirk. »Wie in einer Höhle.« »Aber deswegen brauchst du ja nicht gleich wie ein Höhlenmensch rumzulaufen!« sagte seine Mutter leicht vorwurfsvoll. »Wie meinst du das denn?« fragte Dirk und guckte erstaunt an sich hinunter. »Du willst doch wohl nicht in diesen Hosen zur Schule gehen! Die kannst du höchstens noch zum Spielen anziehen! Ich dachte, ich hätte die längst aussortiert.« Hattest du auch, dachte Dirk, aber ich habe sie gerettet. »Aber…« »Kein aber, Dirk! Was sollen denn die Leute von uns denken? Du willst doch einen guten Eindruck machen, oder?« »Aber die anderen…« »Nun lauf schon, zieh deine neuen Jeans an. Verdirb dir doch nicht den ersten Schultag!« Widerwillig stapfte Dirk in sein Zimmer und zerrte die neuen Hosen aus der Schublade. Unbequem steif saßen die. Als er sich an den Tisch setze, lag ein fertig geschmiertes Brot auf seinem Teller. Auf die weiße Käsecreme hatte seine Mutter ein Lachgesicht aus Gürkchen gelegt. Dirk trank einen großen Schluß Orangensaft und starrte das Brot an. Das Gurkengesicht grinste hämisch. In Dirks Kopf summte es. Wie sind die Kinder hier in der Schule? So wie dieser Markus? Ob ich in meiner Klasse einen Freund finde? Ob das Mädchen aus dem Seitenflügel in dieselbe Schule geht?
»Dirk, träum nicht. In zehn Minuten müssen wir los.« »Was soll ich denn mitnehmen?« Er nahm das Brot in die Hand und biß dem Gurkengesicht das Grinsen ab. »Ich denke, deine Federtasche reicht. Und dein Aufgabenheft. Dein Lehrer wird dir schon sagen, was du brauchst.« Während seine Mutter sich frisierte, mummelte Dirk an seinem Brot herum. Am liebsten hätte er es einfach liegengelassen, aber das hätte Ärger gegeben. Die Hälfte schaffte er. Er blickte aus dem Fenster in den Hof. In dem Moment kam das Mädchen von gestern, diese Hannah, aus dem Seitenflügel. Sie trug abgeschnittene Jeans und ein langes T-Shirt. Nichts Besonderes. Und einen Rucksack. Keinen Schulranzen. Dirk lief in sein Zimmer und packte Federtasche, Aufgabenheft und Schulbrot in seinen Rucksack. Den Ranzen warf er hinauf aufs Hochbett. Bevor sie losgingen, gab seine Mutter ihm einen Wohnungsschlüssel mit einer Schnur daran. »Kann sein, daß ich noch nicht zurück bin, wenn du aus der Schule kommst.« Am späten Vormittag hatte sie einen Vorstellungstermin wegen einer Stelle in ihrem alten Beruf als Krankengymnastin. Während Dirk den Schlüssel ausprobierte, warf seine Mutter einen kritischen Blick auf den Rucksack. Aber sie sagte nur: »Verlier bloß den Schlüssel nicht! Häng ihn dir um den Hals!«
Die kurze Straße, in der sie jetzt wohnten, fiel leicht ab. Rechts und links ragten die Häuser vier, fünf Stockwerke hoch, weit und breit weder Baum noch Strauch, dafür waren beide Straßenseiten so dicht mit Autos zugeparkt, daß man kaum auf den gegenüberliegenden Bürgersteig kam. Auf die Fassaden waren große, eckige, ineinander verzahnte Buchstaben
aufgesprüht, die Dirk nicht entziffern konnte, und allerhand Sprüche geschmiert, die ihm nichts sagten. »Iiih, pfui Teufel!« rief Dirk plötzlich. Er war in einen Hundehaufen getreten. Widerlicher Gestank stieg ihm in die Nase. »Schweinerei!« fluchte er. »So eine Scheiße!« »Na, na!« mahnte seine Mutter. »Ist doch wahr«, murmelte Dirk und kratzte mit der Schuhsohle über die Kante des Rinnsteines, bis er den gröbsten Dreck vom Schuh hatte. Ekelhaft!
Die Schule war ein großes Gebäude aus gelben Ziegelsteinen. Davor lag ein Hof mit Bänken und Büschen und Bäumen, einer Sprunggrube, vier steinernen Tischtennistischen und weißen Markierungen auf dem Asphalt. Rechts von der Schule schien sich ein Spielplatz anzuschließen, jedenfalls konnte Dirk einen Teil einer großen Spinne sehen, ein Geflecht roter, federnder Seile, die von einem Mast hinunter auf den Boden gespannt waren. An der Brandmauer des Wohnhauses, das den Schulhof links begrenzte, prangte ein riesiges, buntes Wandbild, auf dem ganz viele unterschiedliche Kinder zu sehen waren. Alle waren anders gemalt, so daß es fast so aussah, als hätte sich jedes Kind der Schule an dem Bild beteiligt. Oben drüber stand WIR SIND KINDER EINER ERDE, und unten waren Ländernamen von Albanien bis Zaire aufgezählt. Und in Dirks Augen sahen auch viele der Kinder, die von allen Seiten herbeiströmten, ausländisch aus, fremd. Dirk wußte von seiner Mutter, daß in Kreuzberg viele Menschen aus der Türkei lebten und er wahrscheinlich Türkenkinder in der Klasse haben würde, aber daß auch asiatische und afrikanische Kinder in seine Schule gingen, hätte er sich nicht träumen lassen. Wie mag das sein, überlegte Dirk, diese Fremden sind
doch alle ganz anders als wir? Im Augenblick allerdings war er derjenige, der sich reichlich fremd und verloren fühlte. Er kam als einziger mit seiner Mutter zur Schule. Und so nagelneue Hosen trug auch niemand. Überhaupt waren die meisten nicht besonders gut angezogen. Seine ausgeblichenen Jeans wären überhaupt nicht aufgefallen. Die anderen Kinder begrüßten sich, waren zu zweit oder in kleinen Gruppen unterwegs, sie schwatzten und lachten, rannten und schubsten sich und drängelten schließlich alle die breite Treppe hinauf, wo sie von dem riesigen Portal verschluckt wurden. Schilder wiesen den Weg zum Sekretariat. Dirk staunte, wie hoch das Treppenhaus und die Gänge waren. Es war ein altes Gebäude, der Putz bröckelte an vielen Stellen ab, aber die Schaukästen mit Bildern oder Bastelarbeiten sahen kaum anders aus als in seiner modernen Heiersdorfer Schule. Auch Geruch und Geräusche schienen Dirk irgendwie vertraut. Schule bleibt Schule. Als seine Mutter ihn im Sekretariat anmeldete, hörte Dirk nur mit halbem Ohr zu. Er war in Gedanken schon in seiner neuen Klasse und versuchte sich für den ersten Auftritt zu wappnen. Cool bleiben, sagte er sich und straffte die Schultern, bloß cool bleiben. Nervös fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. Daß seine Mutter jetzt ging, machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er hätte es schrecklich gefunden, wenn sie ihn bis in die Klasse begleitet hätte. Die anderen hätten ihn bestimmt ausgelacht. Die Sekretärin brachte ihn zum Klassenzimmer. Sie schob Dirk vor sich her durch die Tür, und da stand er nun wie auf einer Bühne. Er zwang sich, den vielen Augen entgegenzusehen, die auf ihn gerichtet waren. Alles verwischte, er konnte kein einzelnes Gesicht erkennen. Die Lehrerin begrüßte ihn freundlich. »Ich bin Frau Gülsevdi. Willkommen in der 5a.« Dann stellte sie Dirk der Klasse vor: »Euer neuer Mitschüler Dirk Hempel!«
»Himpelchen-Pimpelchen«, zischte es von rechts vorne. Das ist neu, dachte Dirk, das hat noch keiner zu mir gesagt. »Wo kommst du denn her?« fragte die Lehrerin. »Aus Heiersdorf.« »Is det im Osten?« rief jemand. »Machense da imma Heia, oder wie?« »Nee, da machense die Heiermänner!« Was ist denn das, fragte sich Dirk und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er wollte sich setzen, einfach dazugehören. Alles übrige würde sich schon ergeben. »Also, Kinder, nun ist aber gut. Dirk, wir sind gerade beim Rechnen. Setz dich mal… dahinten, neben Murat ist noch Platz. Hast du was zu schreiben mit? Ja?« Dirk nickte. »Hier hast du einen Arbeitsbogen, und dann probier mal, ob du die Aufgaben kannst. Ich komm gleich zu dir und helf dir, wenn nötig.« Dirk warf einen Blick auf das Blatt. Ein Glück, das hatten sie schon gehabt. Kein Problem. Während er so tat, als wäre er in seine Aufgaben vertieft, blickte er sich vorsichtig um. Der Junge neben ihm stieß dauernd mit dem Fuß an das Stuhlbein und kaute an seinem Bleistift herum. Plötzlich kam ein Papierkügelchen geflogen und traf Murat am Kopf. Blitzschnell drehte der sich um und zischte: »Yapma, Ian!« Was heißt denn das? fragte sich Dirk. Ist das türkisch? Er konnte nicht sehen, wer geworfen hatte. Und Murat beschäftigte sich wie die meisten anderen mit seinem Arbeitsbogen. Unauffällig ließ Dirk seine Blicke durch die Klasse wandern. Es schienen hier mehr Kinder zu sein als in Heiersdorf. Ein kräftiger blonder Junge las einen Comic unter der Bank. Weiter vorne flüsterten zwei Mädchen leise miteinander. Von der einen sah er nur den Rücken, aber die andere war das
Mädchen aus seinem Haus! »Hannah und Amina, hört auf zu schwatzen, macht euch an die Arbeit.« Die Mädchen kicherten, dann rutschten sie auseinander und beugten sich brav über ihre Blätter. Da sah Dirk, daß das Mädchen neben Hannah, diese Amina, schwarze Haut hatte und kriselkrause Haare. Und wenn ihn nicht alles täuschte, dann wohnte die nebenan in der Wohnung mit den vielen Namen. Da hatte doch Amina auf dem Spiegel gestanden. Ob die alle so schwarz sind? Ist denn hier gar nichts normal? dachte Dirk und machte sich an seine Aufgaben. Wenigstens damit kannte er sich aus. Nach der Mathestunde hatten sie Deutsch bei Frau Scholle, der Klassenlehrerin. »Die ist toll!« hatte Murat in der Fünfminutenpause gesagt, als er Dirk kurz den Stundenplan zeigte. Aber dann hatte er sich nicht weiter um Dirk gekümmert, der still auf seinem Platz sitzen blieb und die fremden Kinder beobachtete. Manche sahen so aus, als kämen sie aus einem anderen Land, aber sie redeten Deutsch wie er, beziehungsweise dieses komische Berliner Deutsch – Dirk klang hier wie »Dürk!« An der hinteren Wand des Klassenzimmers hingen an einer Leiste Fotos, auf denen Dirk Kinder aus der Klasse erkannte. Und jeweils daneben stand ein kurzer Text. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte sich die Tafeln angeguckt. Aber er traute sich nicht. Morgen vielleicht. Frau Scholle war wirklich nett. Sie nahm sich Zeit für Dirk, erklärte ihm, was er für die Schule brauchte, und gab ihm einen Stundenplan. Sogar der Unterricht machte Spaß. Sie lasen ein Gedicht, »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« hieß es und handelte von einem Gutsherrn und Knechten und Mägden und Birnen. Es klang schön, wie ein Lied. Dirk hätte nie gedacht, daß Gedichte Spaß machen könnten. Und er wollte auch versuchen, es auswendig zu lernen, so etwas hatte er noch nie gemacht. Was soll ich
nachmittags auch sonst tun? Nach der zweiten Stunde war Hofpause. Dirk holte seine Butterbrote aus dem Rucksack und schob sich in den Strom der Kinder, die ihn nicht beachteten. Als wäre er unsichtbar. Unten auf dem Hof stellte Dirk sich an einen Baum, aß seine Brote und schaute sehnsüchtig den anderen zu, die Fangen spielten oder Seil hüpften, einem schlappen Gummiball hinterherrannten oder an der Sandgrube Weitsprung übten. Auf der Spinne turnten Kinder herum. Viele aus seiner Klasse umlagerten die Tischtennisplatten aus Stein. Sie spielten China, rannten im Kreis um den Tisch und schlugen nach dem Ball. Das hatten sie in Heiersdorf auch gespielt, aber auf Rasen und an einer richtigen Platte mit einem richtigen Netz und nicht auf so einem Betonteil. Dirk schlenderte zum nächsten Papierkorb, knüllte seine Tüte zusammen und versuchte aus etwa drei Meter Entfernung das weit aufgerissene Maul des Metallfrosches zu treffen. Daneben. »Eh, heb dein Scheißpapier auf!« Ein Junge mit einem langen Stock, der sich am Ende zu einer Art Zange gabelte, baute sich vor ihm auf. Er war viel kleiner als Dirk, aber das schien ihn nicht im mindesten zu stören. »Ick bin doch nicht dein Sklave, eh, bloß weil ick Hofdienst hab!« »Spul dich nicht so auf«, murmelte Dirk vor sich hin und bückte sich nach dem Papier. Der Junge mit der Zange war schon weitergegangen und hob eine bunte Pappschachtel auf. Dirk trat zwei Schritte zurück und machte einen zweiten Versuch. In dem Moment rannte ihn ein Mädchen beinahe um, und das Papier landete wieder auf der Erde. Blöde Ziege, dachte Dirk und schaute neidvoll hinterher, wie sie ein anderes Kind abschlug, sofort davonflitzte und schrie: »Hoa! Du bist!« Hoa hatte schmale schrägstehende Augen und braune Haut. Aber das schien hier niemandem aufzufallen. Dirk hob das Papierknäuel auf und stopfte es dem Frosch ins Maul. Erstick doch dran! dachte er. Dann rannte er los, hinüber
auf die andere Seite des Hofes, und stieg die Spinne hinauf, sich rücksichtslos an Kleineren vorbeidrängelnd. Die dicken roten Seile federten unter seinen Tritten, das ganze Netz bewegte sich im Rhythmus der Kinder, die herumkletterten oder sich von einer Ebene zur nächsten schwangen. Dirk arbeitete sich bis nach ganz oben vor und blickte dann hinab auf die Kinder, die unten auf dem Hof herumwuselten. Dort blieb er, bis ein Gong zum Unterricht rief. In der Klasse setzte er sich schnell an seinen Platz. Da fühlte er sich sicher. »Gülay war wieder voll gut heute!« rief Hannah einem dunkelhaarigen Mädchen mit Brille zu, ließ sich auf ihren Platz fallen und steckte den Tischtennisschläger in ihren Rucksack. »Is ja nich wahr! Die hat bloß Glück jehabt!« Das war der kräftige blonde Junge. »Typisch Manuel!« meinte Amina. »Kannst einfach nicht kapieren, daß jemand besser ist.« »Aber du, wa?« Manuel fischte seinen Comic unter der Bank vor und streckte die Beine aus. »Achtung, Koslowski kommt!« Alle Kinder flitzten auf ihre Plätze. Murat flüsterte Dirk zu: »Vor dem mußte aufpassen! Der ist voll übel!« Ein nicht sehr großer Mann, der trotz der sommerlichen Wärme einen Schlips umgebunden hatte, betrat mit energischen Schritten den Raum. Er legte seine Aktentasche auf den Tisch, begrüßte die Klasse, warf Dirk einen kurzen Blick zu und holte dann sein Notizbuch aus der Tasche. Zunächst notierte er sich Dirks Namen. Dann rief er drei Kinder auf, die ihre Hefte vorzeigen mußten. Dirk seufzte. So einen Lehrer hatten sie auch in Heiersdorf. Was hatte Murat gesagt? Voll übel. Und so waren die nächsten beiden Bio-Stunden dann auch. Stinklangweilig. In der zweiten Hofpause verzog sich Dirk wieder auf die Spinne, kletterte hinauf bis in die Spitze. Saß wie in einem Ausguck, unbehelligt.
Die letzte Stunde war Musik. Da ging es drunter und drüber. Und dem Lehrer schien das überhaupt nichts auszumachen. Sie sollten noch einmal den griechischen Tanz üben. Ein Mädchen namens Nermin protestierte und behauptete, der Tanz wäre türkisch, woraufhin ein heftiger Streit zwischen ihr und Kostas entbrannte, in den sich auch andere Kinder einmischten. Herr Baier hörte sich das eine ganze Weile in aller Ruhe mit an, bevor er eingriff und versprach, beim nächsten Mal ein Buch mitzubringen, in dem sie genau nachlesen könnten, wo überall auf diese Art getanzt werde. Tänze seien sowieso älter als Nationen, behauptete er. Und sie seien für alle da, die Spaß daran haben. »Is doch schnuppe!« sagte ein Mädchen. »Hauptsache tanzen! Los, Musik!« Etwa zehn Kinder stellten sich in einem Halbkreis auf und legten die Arme umeinander oder faßten sich an den Händen. Herr Baier zeigte noch einmal den Schritt und stellte dann die Musik an. Und los ging’s. Zuerst war es noch ein ziemliches Durcheinander, aber nach und nach bewegten sich alle gleichmäßig im Takt. Wer keine Lust mehr hatte, hörte einfach auf, dann sprangen andere Kinder ein. Niemand wurde gezwungen mitzumachen. Herr Baier hatte Dirk kurz einen aufmunternden Blick zugeworfen, aber nichts gesagt, als Dirk den Kopf schüttelte und verlegen wegguckte. Manuel hatte sich in seinen Comic vertieft, auch zwei, drei andere blieben auf ihren Plätzen. So einen komischen Ringelreihen hatte Dirk noch nie getanzt, und es wäre ihm peinlich gewesen, einfach den Arm um ein fremdes Kind zu legen.
Nach Schulschluß folgte Dirk den beiden Mädchen aus seinem Haus, Hannah und Amina, sie hatten ja den gleichen Heimweg.
Er wußte nicht, ob Hannah ihn wiedererkannt hatte, sie hatte sich jedenfalls nichts anmerken lassen. Nach einer Weile hörte er hinter sich jemanden rennen, ein Junge überholte ihn. Er war schwarz wie Amina. Klar, dachte Dirk, die können ja alle rennen wie nix, diese Schwarzen. Die guten Langstreckenläufer kommen doch alle aus Afrika. Die haben das im Blut. Bestimmt ist der Junge auch ein guter Fußballer. Wie Anthony Yeboah oder Jay-Jay Okocha. Vielleicht gibt’s eine Mannschaft an der Schule. Das wäre doch was! Der Junge rannte, bis er die beiden Mädchen eingeholt hatte. Wahrscheinlich wohnte der auch in der Nachbarwohnung. So hatte sich Dirk seinen neuen Freund allerdings nicht vorgestellt. Wenn doch bloß Micha hier wäre! Verdrossen kickte Dirk eine leere Bierdose vor sich her. In dem Moment sauste ein Junge auf einem Skateboard an Dirk vorbei, die Bierdose verfing sich in den vorderen Rollen, das Brett bremste abrupt, und der Junge schoß im hohen Bogen nach vorne, gefolgt von einer leuchtend roten Baseballkappe. Vor Schreck blieb Dirk stehen. Doch der Junge landete geschickt auf beiden Füßen und machte eine Rolle vorwärts, um den Schwung abzufangen. Und sofort stand er wieder, drehte sich um, packte sein Skateboard und rief Dirk zu: »Blödmann, paß doch auf! Ich hätte mir das Genick brechen können, du Arschloch!« Meine Güte! Dirk atmete tief durch. Woher soll ich denn wissen, daß du da hinter mir angerast kommst? Aber er sagte nichts. Schon hatte der Skateboardfahrer das Brett wieder hingestellt, stieß sich ein paarmal mit dem linken Fuß ab und sauste weiter. Seine Jeans waren hinten quer unter den Gesäßtaschen eingerissen, bei jedem Rollerschritt blinkte die Haut durch, manchmal auch ein Stück Unterhose. »Pa-aul!« brüllte er. »Paule!« Der schwarze Junge dreht sich um und wartete, bis der Skateboardfahrer ihn eingeholt hatte.
Dirk bückte sich nach der roten Baseballkappe, die in den Rinnstein gefallen war, und schob sie sich unter sein T-Shirt in den Hosenbund. Selber Blödmann, dachte er. Arschloch! Und versetzte der Bierdose einen zweiten Tritt.
3. Kapitel
Als Dirk klingelte, machte niemand auf. Also war seine Mutter noch nicht da. Aber er hatte ja den Schlüssel. Zweimal nach rechts schließen, die Tür ein bißchen anziehen, und schon war Dirk in der Wohnung. Ein bißchen kam er sich wie ein Eindringling vor, als hätte er hier eigentlich gar nichts zu suchen. »Hab ich ja auch nicht«, brummte er vor sich hin. In der Küche lag ein Zettel: »Dirk, mein Schatz, ich hab noch einen zweiten Termin. Kann sein, daß ich schon nächste Woche eine Stelle bekomme. Ich hab dir Brötchen gekauft und Mortadella. Zum Nachtisch Joghurt. Heute abend koche ich dann!« Dirk pfefferte seinen Rucksack in sein Zimmer, setzte sich an den Küchentisch und zerknüllte wütend den Zettel. Noch nie war er mittags nach der Schule alleine zu Hause gewesen. Immer war seine Mutter da gewesen oder wenigstens die Putzfrau, die ihm was zu essen gemacht hatten. Mißmutig starrte er auf den surrenden Kühlschrank. Dann gab er sich einen Ruck, stand auf und stellte auf den Tisch, was er brauchte. Wenn seine Mutter Arbeit fand, dann würde er jeden Mittag alleine sein. Es sei denn, sie arbeitete nur vormittags. Beim Essen ließ er Die phantastischen Vier in voller Lautstärke dröhnen und las einen Comic. Das hätte er nicht gedurft, wenn seine Mutter da gewesen wäre. Schwacher Trost.
Später, nachdem er eine Weile unentschlossen in der Wohnung herumgetigert war, packte er seinen Fußball und rannte
hinunter in den Hof. Vielleicht guckte dieser Paul aus dem Fenster. Bei ihm zu klingeln, hatte Dirk sich nicht getraut. Unangemeldet jemanden zu besuchen gehörte sich nicht. Außerdem hatte Dirk es noch nie mit dunkelhäutigen Menschen zu tun gehabt. Aber Fußballspielen geht bestimmt, ist jedenfalls besser als alleine rumzuhängen. Wenn der Junge meinen nagelneuen Tango sieht, kommt er bestimmt gleich runter, dachte Dirk und ließ den Ball einmal auftitschen. Die Erde um den Nußbaum war von einem kleinen Mäuerchen umrandet, darauf setzte er sich. Von hier unten sah der Hof wieder ganz anders aus. Hinter Dirk reckte sich der Walnußbaum, gegenüber war der Aufgang zum Seitenflügel, rechts der zum Hinterhaus und links der zum Vorderhaus mit dem Durchgang zur Straße. Ganz schön verwirrend. Neben den Mülltonnen befand sich ein Fahrradständer. Dirk hatte sein Rad in Heiersdorf lassen müssen. »Erst mal sehen, ob du in Berlin überhaupt damit fahren kannst«, hatte sein Vater gesagt. Erwartungsvoll guckte Dirk die Hauswand hoch zu den Fenstern, hinter denen er Paul vermutete. Aber es tat sich nichts. Ein junger Mann in Lederjacke und mit einem Motorradhelm in der Hand kam aus dem Hinterhaus und durchquerte den Hof. Er schien Dirk überhaupt nicht zu bemerken. Kurz darauf wurde die Tür vom Vorderhaus aufgezogen. Dirk pfiff leise durch die Zähne. Sein Plan hatte geklappt! Aber Paul war nicht alleine, Hannah und Amina begleiteten ihn. Hannah hatte noch ihren Rucksack auf. Die drei kamen auf ihn zu. »Na?« sagte Amina. »Dann bist du also der Neue von nebenan.« Sie war überhaupt nicht ganz schwarz. Mehr nutellabraun. Und links hatte sie ein Grübchen. Das sah lustig aus. »Ja«, sagte Dirk und schluckte. Er wußte nicht, was er sagen sollte.
»Jetzt kommt schon«, drängelte Hannah. Dirk faßte sich ein Herz. »Du«, sagte er zu Paul, der ein bißchen größer war als er selbst; schwarze krause Haare standen wuschelig von seinem Kopf ab. »Hast du Lust, ein bißchen zu kicken? Ich meine, du bist doch bestimmt ‘n astreiner Fußballer!« Dabei stand Dirk auf und ließ den Ball vom Fuß zum Oberschenkel tanzen. »Wie kommst du denn darauf?« fragte Paul im Gehen. »Na ja…« Dirk hielt den Ball fest. Wieder wußte er nicht, was er sagen sollte. »Ich spiel nicht Fußball«, sagte Paul. »Aber ich dachte…«, druckste Dirk verlegen. »Pah!« schnaubte Paul. Einen Moment zögerte er, als wolle er noch etwas hinzufügen, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung und ließ Dirk stehen. Nur Amina sagte freundlich »tschüs«, dann verschwanden die drei im Seitenaufgang. Volltreffer, dachte Dirk und schoß den Ball mit aller Kraft an die Mauer hinter dem Walnußbaum. Oben wurde ein Fenster aufgerissen, und eine Frauenstimme keifte hinunter in den Hof: »Fußballspielen im Hof ist verboten! Wär ja noch schöner! Ihr habt mir schon genug Scheiben zerdeppert!« Der Ball rollte neben die Mülltonnen. Soll er doch da liegenbleiben, dachte Dirk enttäuscht. War eh nichts mit Fußball. Was dieser Paul bloß hatte? Und jetzt? Dirk drehte sich um und schätzte mit den Augen ab, wie lange er brauchen würde, um auf den Baum zu kommen. Erst auf den Zaun zum Dach des Schuppens vom Nachbarhof und von da auf den ersten Ast. Dürfte kein Problem sein. Nachdem er jeden Schritt und Handgriff im Kopf geübt hatte, blickte er sich noch einmal um, dann setzte er über das kleine Stück Erde um den Nußbaum, und kurz darauf saß er auf einem der oberen Äste mitten im dichten, grünen Blattwerk. Dort war Dirk nicht zu sehen, es sei denn, jemand stellte sich direkt unter ihn. Dirk strich mit den Händen über die rissige Rinde und sog den bitteren Walnußgeruch ein. Wenn er die Augen zumachte,
dann konnte er sich vorstellen, in Heiersdorf zu sein, auf dem Baum in Michas Garten. Bis hinauf in die Spitze waren sie geklettert und hatten von dort einen phantastischen Blick in alle Nachbargärten und weit darüber hinaus gehabt. Eine hohe Stimme riß ihn aus seinen Träumen. »Guck ma, Markus, da liegt ‘n Ball!« Dirk spähte durch das Blattwerk. Die kleine Mone hatte seinen Fußball entdeckt. Markus setzte sich auf das Mäuerchen. »Na, komm, schieß her, ich bin Torwart«, sagte Markus. »Und wo ist das Tor?« rief Mone begeistert und legte sich den Ball zurecht. »Warte.« Markus kramte ein Stück Kreide aus der Tasche und malte zwei Striche an das kleine Mäuerchen. »Eh, das ist zu klein, da treff ich nie!« »Mußte eben üben.« Markus hockte sich wieder hin. Um Mones Bälle zu halten, brauchte er nicht einmal aufzustehen. Die Kleine war begeistert bei der Sache, nahm Anlauf, trippelte kurz vor dem Ball – und traf ihn nur mit der Außenkante ihres Schuhes, so daß der Ball einfach zur Seite trudelte. »Noch mal! Und nicht mit Pieke, ich hab dir doch gezeigt, wie’s geht.« Mone traf nun richtig und schoß, und Markus rollte ihr den Ball zurück, ein ums andere Mal. Manchmal machte er eine spektakuläre Fangaktion, und Mone quietschte vor Vergnügen. Kleinkinderfußball ist offenbar erlaubt, stellte Dirk fest. Oder hat die Frau vorhin gedacht, ich gehöre nicht auf den Hof? Hat sie ja irgendwie recht. Das Tor vom Vorderhaus ging auf. Inzwischen kannte Dirk das knarrende Geräusch. Zwei Jugendliche begrüßten Markus. Sie waren ein paar Jahre älter als er und trugen gleichfalls Springerstiefel, Militärhosen und weiße T-Shirts. Der eine, ein untersetzter kräftiger Typ, verschwand gleich im Hinterhaus. Der andere setzte sich neben Markus.
»Eh, Andi, heute jeht’s nich«, sagte Markus. »Wat’n, wieso?« »Na, die Kleene!« Markus deutete mit dem Kinn auf Mone, während er ihr den Ball zurollte, allerdings so, daß sie hinterherlaufen mußte. »Meine Oma is im Krankenhaus, ich muß auf Mone aufpassen.« Andi fischte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Na, willste eine?« fragte er großzügig. »Logo.« Markus bediente sich, hielt die Zigarette allerdings in der Hand versteckt, und bevor er einen Zug nahm, schaute er sich um. Der Typ von vorhin hatte im Hinterhaus jemanden abgeholt. Auch der war älter als Markus, trug aber die gleichen Klamotten wie die anderen. Ob die eine Bande sind? fragte sich Dirk. Jedenfalls gehören die zusammen, das ist wohl klar. »Na, Kleener, sollen wa dich heute wieder mitnehmen?« fragte der Untersetzte. Sein Hinterkopf war bis hoch über die Ohren kurzgeschoren, die Kopfhaut schimmerte rosa durch. Oben auf dem Kopf waren die Haare länger. »Nee, Bulli, ick muß bei Mone bleiben!« »Ach, mußte Kindermädchen spielen? Gib ma ‘ne Kippe, Andi.« Der zog seine Zigaretten aus der Tasche und stieß dann Markus in die Seite. »Aber ‘n bißchen wat Flüssiges kannste trotzdem besorgen, oder? Ick komm um vor Durst«, krächzte er und rieb sich mit der Hand über die Kehle. Markus schien kurz zu zögern, dann sagte er: »Na jut. Ick jeh ma gucken, wat sich machen läßt.« Er stand auf und sagte zu der Kleinen, die immer noch mit dem Ball spielte: »Mone, ick komm gleich wieder!« Dann verschwand er im Vorderhaus. »Vorne bei Markus aufer Etage wohnt jetzt ‘ne türkische Familie. Mit ‘nem Balg«, sagte der Typ aus dem Hinterhaus.
»Die müssen die Wohnung mit ‘m Trick gekriegt haben. Sonst gibt’s hier im Haus doch keene Kanaken.« »Wieso denn, Sven, ihr habt doch auch Bimbos hier«, sagte Bulli. »Na ja, der Mann is’n Deutscher.« »Schweinerei!« »Die Negerweiber sollen total geil sein!« lachte Andi. »Die bringen allet, echt!« »Hast du ‘ne Macke oder wat?« Bullis Stimme klang plötzlich scharf. »War doch bloß Spaß!« »Schöner Spaß! Guck doch, was da rauskommt. Dreckiges Mischmasch. Widerlich! Artfremd!« Bulli hackte die Worte heraus. Die beiden anderen schwiegen. Dirk saß reglos auf dem Baum. Dieser Bulli war ihm unheimlich. Dem durfte er nicht in die Quere kommen. Kurze Zeit später kam Markus zurück, in der Hand eine volle Plastiktüte. »Hier«, sagte er, »aber nich auf ‘m Hof.« Er nahm Mone an der Hand und stapfte durch das Vorderhaustor. Die drei Älteren folgten ihm kommentarlos. Als Dirk hundertprozentig sicher war, alleine zu sein, kletterte er vom Baum, griff seinen Ball und rannte die Treppe rauf in die Wohnung.
4. Kapitel
Achtlos warf Dirk die Wohnungstür hinter sich ins Schloß. Er kickte den Ball in sein Zimmer, schleuderte den Schlüssel auf die Kommode im Flur, ließ sich auf die Couch vor dem Fernseher fallen und probierte die Programme durch. Einen Zeichentrickfilm ließ er laufen. Da konnte er wenigstens lachen, wenn alles schiefging, weil er ja nur Zuschauer war. Im richtigen Leben war er der Kater, dem der Schädel breitgeklopft wurde. Was für ein blöder Tag! Alle haben Freunde, gehören irgendwo dazu, selbst dieser Markus hat seine Kumpels! Und ich? Ich bin hier völlig überflüssig, mich braucht keiner. Wenn das so weitergeht! Er schnappte sich das Telefon und gab Michas Nummer ein. Aber die Leitung war tot. Er schüttelte den Hörer, drückte mehrfach auf die Gabel, es tat sich nichts. Ob Mama das Telefon abgestellt hat, damit ich keine Ferngespräche führe? überlegte er und folgte der Leitung bis zum Anschluß an der Wand. Nein, es schien alles in Ordnung zu sein. Trotzdem ging das Telefon nicht. Selbst fernsehen mochte Dirk nicht mehr. Er drückte sich mit dem Gesicht in die Kissen, schloß die Augen und zappte sich in Gedanken nach Heiersdorf, radelte mit Micha ins Schwimmbad zu den anderen aus der Klasse. Legte sich ins Gras und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. So richtig dösig wurde ihm, wohlig warm. Doch plötzlich spukten wirre Bilder in seinem Kopf herum. Zu Hause, im Garten tanzten schwarze Krieger in Baströcken mit grell bemalten Gesichtern wild stampfend zu Trommelgedröhn um ihn herum. Am Grillplatz hing ein riesiger Kessel über dem Feuer, in dem
Fußbälle kochten. Peng! platzte einer. Dirk zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Neben ihm saß seine Mutter. »Bist du eingeschlafen?« sagte sie. »So erschöpft vom ersten Schultag? Wie war’s denn?« Sie strich ihm mit der Hand über den Kopf. Dirk schloß die Augen wieder. Sah sich in der Klasse zwischen lauter fremden Kindern sitzen, allein über den Schulhof gehen, hörte das Gemecker der Hauswartsfrau und Pauls abfälliges »Pah«. Markus’ Bande, Bullis harte Stimme. Dirk paßte nirgends rein. »Blöd«, sagte er schließlich und schlug die Augen auf. »Die sind alle so anders hier.« Seine Mutter blickte ihn besorgt an, und Dirk erzählte, was in der Schule los war und daß die Nachbarskinder schwarz waren. »Flüchtlingskinder?« fragte seine Mutter. »Woher soll ich das wissen?« fragte Dirk. »Die sprechen ganz normal deutsch, aber mehr weiß ich auch nicht.« Daß Paul ihn so hatte abblitzen lassen, erwähnte Dirk nicht, ihm war die ganze Begegnung ausgesprochen unangenehm, und er wollte sie möglichst schnell vergessen. Vom Ausflug auf den Walnußbaum durfte er keinesfalls erzählen, sonst wäre es mit dem Vergnügen ein für allemal vorbei. Seine Mutter konnte es nicht ertragen, wenn er irgendwo hinaufkletterte. Selbst wenn er nur aus dem offenen Fenster schaute, bekam sie Zustände. »Ich hab solche Angst um dich, ich kann mir auch nicht helfen!« sagte sie immer. »Weißt du, als ich damals aus Berlin wegging und mit deinem Vater nach Heiersdorf zog, da hab ich auch gedacht, ich finde mich nie zurecht, in so einem kleinen Kaff, wo sich alle kannten und ich total fremd war. Aber mit der Zeit hat’s doch geklappt…« »Und wieso bist du dann jetzt wieder weg?« »Tja… ach, aber das ist doch was völlig anderes. Ich war viel älter und… als Kind lebt man sich viel schneller ein. Du wirst
schon sehen. Und hier in Berlin ist alles viel offener, es gibt so viele Menschen, so viele Möglichkeiten.« Für dich vielleicht, dachte Dirk, du kennst dich hier ja auch aus. »Warum geht eigentlich das Telefon nicht?« fragte er. »Wen wolltest du denn anrufen?« »Na, nur so…«, druckste Dirk. »Micha.« Seine Mutter guckte ihn an. Gleich sagt sie: Ruf nicht am Tag an, das ist zu teuer oder so was in der Richtung. Aber sie meinte nur: »Ach so!« und fügte ärgerlich hinzu: »Das Telefon ist abgestellt! Irene wollte es auf meinen Namen umschreiben lassen, und da ist was schiefgegangen. Ich war schon bei der Telekom. So ein Affenzirkus! Dabei brauchen die doch bloß einen Hebel umzustellen!« Seine Mutter hob ihre Handtasche auf und kramte ein paar Papiere heraus. »Das wäre das…«, murmelte sie vor sich hin und zerriß ein paar Zettel, die sie aussortiert hatte. »Zu wenig Berufspraxis!« sagte sie verbittert. »Was soll man denn noch alles machen? Kind und Mann versorgen, charmante Gastgeberin sein und gleichzeitig Berufspraxis kriegen. Eierlegende Wollmilchsau!« Dirk mußte kichern. »Das ist überhaupt nicht komisch«, knurrte seine Mutter. »Hast du die Stelle nicht gekriegt?« fragte Dirk. »Nein, keine von beiden! Dabei hatte ich fest damit gerechnet! War vielleicht ein bißchen naiv von mir«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Warum mußt du arbeiten gehen? Ich meine…« »Weil ich Lust dazu habe! Mein Beruf macht mir Spaß, wirklich. Du glaubst gar nicht, wie toll das ist, wenn du es schaffst, daß jemand wieder richtig laufen lernt. Aber abgesehen davon muß ich Geld verdienen!« »Aber Papa hat doch genug Geld!« »Papa! Ich will mein eigenes Geld verdienen! Ich will nicht von ihm abhängig sein, nie mehr!« Dirk schwieg. Er konnte
nicht entscheiden, ob er abhängig sein wollte oder nicht. Er war es. »Aber keine Bange«, sagte seine Mutter kurz darauf besänftigend. »Ich finde schon Arbeit. War ja noch schöner!« Dirk setzte sich auf, rutschte auf die vorderste Kante des Sofas und sagte ganz schnell: »Mama, ich will wieder nach Hause.« Seine Mutter holte tief Luft. »Du bist zu Hause.« »Hach! Hier?« »Willst du denn nicht bei mir sein?« »Was hat denn das mit dir zu tun? Natürlich will ich bei dir sein. Und bei Papa«, fügte er leise hinzu. »Und bei Micha und allen.« Darauf erwiderte seine Mutter nichts. Dirk meinte, ihre enttäuschten Blicke im Nacken zu spüren. Der Wecker auf dem Tisch tickte. Dirk hielt sich mit den Augen am Sekundenzeiger fest, der unbeirrt seine Runden zog, fest verbunden mit dem kleinen Stunden- und dem großen Minutenzeiger, immer um dasselbe Zifferblatt. Doch die Uhr selbst konnte sich nicht vom Platz bewegen. »Dirk«, sagte seine Mutter schließlich und legte den Arm um seine Schultern. Dirk rührte sich nicht, obwohl er sich am liebsten einfach nach hinten fallen gelassen und sich an sie angelehnt hätte. Sie sollte merken, daß er es ernst meinte. »Wir haben doch schon so oft darüber geredet. Ich weiß, daß es schwer für dich ist. Aber es ging einfach nicht anders.« Ihre Stimme klang plötzlich ganz traurig. »Ich habe es in Heiersdorf wirklich nicht mehr ausgehalten. Dein Vater ist – wie soll ich das sagen? Er ist mir fremd geworden. Ich kann nicht mehr mit ihm leben. Das habe ich immer deutlicher gespürt. Dein Vater ist wie sein eigener Vater geworden.« Was soll denn daran schlimm sein, dachte Dirk. Der Opa ist doch nett. Meistens, jedenfalls. »Und über den hat er sich
früher immer aufgeregt. Natürlich ist er anders… aber – ach, ich hab einfach genug! Ich will mein eigenes Leben leben.« Dirk verstand nicht, was seine Mutter meinte. »Und ich?« fragte er. »Du? Ob ich von dir genug habe? Herrje, nein, natürlich nicht!« Seine Mutter lachte und zog ihn an sich heran. Als sie spürte, daß Dirk sich ganz steif machte, ließ sie ihn los und wurde wieder ernst. »Aber vielleicht wär’s sogar auch dazu gekommen, wenn ich noch länger geblieben wäre. Oder ich wäre durchgedreht. Was hättest du mit einer durchgeknallten Mutter angefangen?« »Und wenn ich nun durchdrehe?« »Dirk, nun warte doch mal ab. Wir sind gerade erst einen Tag hier. Noch kennst du dich nicht aus, hast keine Freunde, aber das wird schon werden. Wir lernen die Nachbarn kennen, wir gucken, ob’s hier einen Fußballverein gibt und…« Und wenn die Kinder mich gar nicht wollen? dachte Dirk. Bestimmt glaubt Mama, alles ist noch so wie früher, und wenn man nur will, dann schafft man alles. Sie vielleicht. Aber ich nicht. »Und, Dirk – Dirk, hörst du mir überhaupt zu?« »Wie? Ja, ja.« Er schluckte die Tränen weg. »Dirk, ich mach dir einen Vorschlag: Wenn es dir nach einer Weile hier wirklich nicht gefällt, dann kannst du zu deinem Vater ziehen. Er muß dann eben sehen, wie er alles regelt.« Sie stockte. »Ich… du mußt nicht bei mir bleiben. Ich bin dir nicht böse, wenn du lieber bei Papa bist.« Ihre Stimme war sehr leise geworden. »Aber Papa hat doch immer gesagt, das geht nicht, weil er so viel arbeiten muß, und außerdem…« Dirk biß sich auf die Lippen.
In dem Moment klingelte es. Dirk sprang auf. Vor der Tür stand der Junge mit dem Skateboard unter dem Arm, hinter ihm Paul. »Tach!« sagte der Junge. »Ick will bloß ma was fragen.« Er strich sich mit der Hand von hinten über den Kopf bis zur Stirn und fuhr dann mit gespreizten Fingern durch die Haare. »Heute mittag, mit dem Skateboard…« Aha, dachte Dirk, das ist ihm kaputtgegangen, und ich soll jetzt bezahlen. Kommt überhaupt nicht in Frage. »Seitdem is meine Mütze weg…« »‘ne knallrote«, fügte Paul hinzu. »Haste die vielleicht gesehen?« ergänzte der andere. »Nö«, rutschte es Dirk heraus, bevor er einen klaren Gedanken gefaßt hatte. »Hab ich dir doch gesagt«, meinte Paul und zog den Jungen am Ärmel. »Komm, Emil.« Dirk drückte die Tür leise ins Schloß. Bestimmt hatten die gedacht, ich hab die Mütze geklaut, versuchte er sich einzureden. Spätestens jetzt hatten sie allerdings recht. Wie konnte er nur so blöde sein? Schnell stopfte er die rote Kappe in die oberste Schublade seiner Kommode und verkroch sich auf sein Hochbett. Schob die nächstbeste Kassette in den Rekorder, warf sich auf den Bauch und preßte sein Gesicht ins Kopfkissen. Wie soll ich es hier bloß aushalten?
5. Kapitel
Am nächsten Tag wollte Dirks Mutter ihn zur Schule begleiten, weil sie sowieso zum Arbeitsamt mußte, aber er hatte abgelehnt. Er konnte sich doch nicht wie ein Kleinkind zur Schule bringen lassen. Seine Mutter hatte ihm hoch und heilig versprochen, daß sie ab jetzt mittags auf alle Fälle da sein und Essen kochen würde. Sie hatte sich seinen Stundenplan abgeschrieben und in die Küche gehängt. Hoffentlich findet sie nicht so schnell Arbeit, dachte Dirk, vielleicht ziehen wir dann zurück nach Heiersdorf. Aber wer weiß, gestern nachmittag hatte sie sehr entschlossen geklungen. Soll ich etwa allein zu Papa? Er kam sich vor wie in einer Zwickmühle, egal, welchen Zug er auch machte, er würde immer eine Figur verlieren – Mama oder Papa. Aber, spann er das Mühlebild weiter, wenn ich nur noch drei Steine habe, dann kann ich hin und her springen, wie ich will. Vielleicht ist das so, wenn ich groß bin? Auf dem Schulweg achtete Dirk sorgfältig darauf, daß er nicht wieder in Hundescheiße trat. Der Straßenverkehr dröhnte, Lastwagen, Busse, Autos und Motorräder fuhren dicht an dicht. Gestern hatte er vor lauter Aufregung gar nicht darauf geachtet. Es waren auch viele Radfahrer unterwegs, von denen einige Helme trugen. Ein Kind hatte hinten am Rad eine Stange mit einem roten Wimpel angebracht und radelte hinter seiner Mutter her, die ein zweites Kind auf einem Kindersitz transportierte. Und schon stand Dirk vor dem gelben Schulgebäude. Auf dem Hof entdeckte er Emil. Sofort mußte er an die rote Mütze in seiner Kommodenschublade denken. Irgendwie mußte er die wieder loswerden. Dirk rannte die
Treppe hinauf, raus aus Emils Blickfeld, nahm immer zwei Stufen auf einmal und bog in den Flur ein, wo seine Klasse war. Bis jetzt hatte er außer Emil noch niemanden gesehen, den er kannte. Die letzte Tür müßte die richtige sein, auf der rechten Seite. Erst noch an den Toiletten vorbei und dem großen Dinosaurierbild – nanu, dachte Dirk, haben die das über Nacht abgehängt? Das Bild, das er gestern noch bewundert hatte, mit dem Brontosaurus zwischen riesigen Farnen, war eine Gemeinschaftsarbeit seiner Klasse aus dem vorigen Schuljahr. Dirk verlangsamte seinen Schritt. Hatte er sich geirrt? Aber nein, links die Fenster, rechts die Klotüren, alles richtig. Vor der Klassentür balgten sich ein paar Kinder, aber die waren alle kleiner, zweite Klasse oder so. Einen Moment zögerte er, dann drängte er sich durch und betrat den Klassenraum. An den kleinen Stühlen und Tischen erkannte er sofort, daß er falsch war. Die Kinder, die schon auf den Plätzen saßen, starrten ihn erwartungsvoll an. Dirk spürte, wie er rot anlief, dann machte er ganz schnell kehrt. Auf dem Flur kam ihm eine Lehrerin entgegen. »Wo wolltest du denn hin?« fragte sie ihn. »Äh, ich will in die 5a«, sagte Dirk. »Die ist einen Stock höher! Bist du neu hier?« fragte sie und rief dann: »Timmy, komm mal her, bring den Jungen rauf in die 5a!« »Nein, nein, ich weiß schon!« wehrte Dirk ab. Das fehlte noch, daß er sich von einem Zweitkläßler führen ließ!
Mit dem Gongzeichen betrat er seine Klasse. Die Lehrerin stand vorne am Pult und unterhielt sich mit einem Mädchen. Blitzschnell ließ sich Dirk auf seinen Platz neben Murat fallen. Seine allererste Englischstunde konnte beginnen.
Er staunte nicht schlecht, als er hörte, daß die Lehrerin sich mit Jasmin auf englisch unterhielt. Ganz normal, als wäre es Deutsch. »Wir machen jetzt ein Spiel«, verkündete die Lehrerin, »zum Üben der englischen Aussprache. Jasmin geht auf die Fensterseite, und ich nehme die Wandseite. Packt eure Hefte weg. Schreiben kommt später. Wir wiederholen, was wir vorige Woche gemacht haben«, sagte sie dann noch zu Dirk. »Du hast also noch nichts verpaßt.« »Macht voll Spaß«, sagte Murat zu Dirk. »My name is Murat and what is your name?« »One, two, three«, antwortete Dirk grinsend. In der großen Pause liefen Emil und Paul über den Schulhof und hefteten große Zettel an die Bäume, um die sich im Nu Trauben von Kindern drängelten. Die Zettel hatten die Form einer übergroßen Baseballkappe. BELOHNUNG stand in fetten Buchstaben oben drüber, danach folgte eine genaue Beschreibung des Ortes, an dem Emil seine Mütze verloren hatte und wann das geschehen war. Der Finderlohn für die Kappe, ein einmaliges Stück von Emils Onkel in New York, bestand aus zehn Stunden Skateboardunterricht auf Emils Brett oder einer Skateboardreparatur. Um den Rand des rot ausgemalten Schirms wand sich der Spruch: »Emil ohne Mütze ist wie Regen ohne Pfütze«. Nachdem Dirk einen Blick auf den Zettel geworfen hatte, verdrückte er sich zu der Tischtennisplatte, an der viele Kinder aus seiner Klasse spielten. Den Gedanken an die rote Mütze schob er ganz weit zur Seite. Statt dessen verfolgte er mit den Augen den kleinen weißen Ball und die um die Platte flitzenden Kinder. Ein Mädchen mit Kopftuch und einem langen Rock hatte keinen Schläger, sondern schlug den Ball mit der flachen Hand. Sie war treffsicher und sehr schnell, so daß sie ein ums andere Mal im Endspiel landete. Jetzt stand ihr Amina gegenüber, die nicht
lange fackelte und mit einem Schmetterschlag den Punkt machte. »Fünf!« jubelte Amina. »Ich habe schon fünf Punkte!« Voller Freude strahlte sie Dirk an, der sich an den Baum drückte. »Los, weiter!« rief Hannah. »Komm, Gülay, geh du vor mich, dann bin ich vor deinen Bällen sicher!« Sie stellte sich hinter das Mädchen mit dem Kopftuch. »Willst du spielen?« fragte Amina und kam auf Dirk zu. »Hier, kannst meine Kelle haben.« Und ehe er sich versah, hatte er ihren Schläger in der Hand und stand hinter Hannah an der Platte. Die erste Runde überstand er gut, auch die zweite, dann flog er raus. Aber er war froh, daß er überhaupt mitgespielt hatte. Er reichte Amina den Schläger. »Danke.« Aminas Handflächen waren viel heller als die andere Haut. Dirk wandte schnell den Blick ab. »Bring doch morgen auch eine Kelle mit«, sagte sie zu ihm. »Oder hast du keine?« »Doch, doch.« In dem Moment brach das Spiel zusammen. Manuel, der Comicleser, hatte seinen Schläger auf die Platte geschmissen und stand mit geballten Fäusten vor Murat. »Du hast geschummelt! Du hast extra langsam gemacht, daß ich nicht rankomme und Oktay drinbleibt! Das gildet nicht! Wiederholung!« brüllte er. »Das ist jetzt schon das zweite Mal!« »Du spinnst ja! Bloß, weil du zu blöd bist, den Ball zu kriegen!« lachte Murat und machte mit dem Fuß einen Karatetritt in die Luft. Gefährlich nahe an Manuels Kopf vorbei. »Willste Keile oder wat?« rief Manuel empört und fuchtelte drohend mit den Fäusten. Da schob sich Oktay zwischen die beiden. »Hört auf mit der Scheiße!«
»Ach, zwei auf einen! Ist ja wieder typisch! Türken halten zusammen. Geh weg, du Pflaume, sonst kriegste auch was ab!« Manuel schob Oktay zur Seite und stellte sich vor Murat. »Also, los, Wiederholung, ja?« »Quatsch! Du bist raus!« Irgend jemand schubste Manuel gegen Murat, und der trat sofort zu. Und schon war eine Prügelei im Gange. Die anderen Kinder drängelten sich drumherum und feuerten Murat oder Manuel an. Ein riesiges Gebrüll. Es dauerte nicht lange, und eine Lehrerin kam angelaufen. »Schluß jetzt!« rief sie schrill. »Auseinander!« Mit hochroten Köpfen standen sich die beiden Jungen gegenüber. Manuel blutete aus der Nase. Murats Hemdtasche war eingerissen. Die Lehrerin zwang Manuel und Murat, sich die Hand zu geben. Sie taten es, ohne sich ins Gesicht zu sehen. Murat spuckte verächtlich auf den Boden. Dann legte er seinen Arm Oktay um die Schultern, und die beiden schoben los. Es hatte gegongt. Alle Kinder strömten zurück ins Schulgebäude. Dirk hatte gar nicht so schnell gucken können, wie das alles passiert war. Wegen so einer Kleinigkeit solch eine Prügelei! Er konnte es kaum fassen. Mit diesem Murat durfte er sich nicht anlegen, vielleicht konnte er einen anderen Platz finden. Langsam trottete er zum Eingang. Noch eine Stunde, dann war Schluß. Am Nachmittag schickte ihn seine Mutter Müll runterbringen. Dirk zog seine Samba an und klemmte sich den Fußball unter den Arm. Er wollte in den Park gehen. Vielleicht traf er dort Leute zum Spielen. Auf dem Hof fuhr Mone mit einem Kinderfahrrad im Kreis herum. Markus lehnte neben dem Nußbaum an der Mauer und rauchte. Dirk legte seinen Ball ab und kippte die Mülltüte aus. »Eh, ist das dein Ball?« fragte Markus. »Klar.«
»Dann war das deiner, gestern?« »Klar.« Worauf will der hinaus? Hatte er ihn doch auf dem Baum bemerkt? »Spielste Fußball?« »Hhm.« Dirk ließ den Ball tanzen. Locker. Zu locker, denn schon rollte er ihm weg. »Haste Lust zu spielen?« »Wo denn? Hier?« Dirk warf einen bedeutungsvollen Blick zu dem besagten Fenster. Markus schien sofort zu verstehen, was er meinte. »Nee. Hier nich. Auf ‘m Kreuzberg. Is nich weit.« Dirk zögerte einen Moment. Dann gab er sich einen Ruck. Na klar will ich Ballspielen. Von mir aus auch mit diesem Markus. Daß der keine kleinen Kinder frißt, ist ja nicht zu übersehen. »Na gut.« Dirk kickte Markus den Ball zu. Der stoppte ihn geschickt mit dem linken Fuß. Als sie auf die Straße traten, kamen ihnen Paul und Emil mit dem Skateboard entgegen. Emil trug jetzt eine schwarze Baseballkappe, mit dem Schirm nach hinten. Wortlos gingen die Jungen aneinander vorbei. Dirk hörte noch, wie Paul zu seinem Freund sagte: »Fußballer! Dicke Waden, hohle Köppe!« Markus redete nicht viel. Es dauerte, bis sie endlich auf dem Kreuzberg waren, denn Mone war nicht die Schnellste mit ihrem kleinen Rad. Und dalassen wollte sie es auch nicht. Dirk staunte, wie geduldig Markus mit seiner Schwester war. »Sag mal, mußt du immer auf die aufpassen? Wo sind denn deine Eltern?« »Die malochen. Zeitungsladen. Dahinten, anner Ecke. Von morgens bis abends. Aber morgen kommt Oma aus ‘m Krankenhaus. Dann paßt die auf.« Als sie sich dem eingezäunten Bolzplatz näherten, sahen sie, daß er besetzt war. »Hätt ick mir denken könn. Die Kanaken wieder. Überall machen die sich breit«, sagte Markus und setzte sich auf eine Bank.
Dirk ließ den Ball auf und ab tippen. Warum spielen wir nicht einfach mit? dachte er. Sind doch Kinder. Da Markus keine Anstalten machte, auf den Platz zu gehen, ließ sich Dirk neben ihm nieder. »Is echt nich zu fassen. Wo de hinspuckst, sind die Kanaken. Und für unsereinen bleibt nüscht.« »Aber wir könnten doch mit denen zusammen spielen«, wagte Dirk schließlich zu sagen. »Du hast Ideen! Ja, gloobste denn, ick laß mir mit die ein? Nachher haste’n Messer im Wanst. Nee, nee.« Dirk schwieg. Er kannte sich mit Türken nicht aus. »Jetzt sind bei uns im Haus auch schon welche eingezogen. Nirgens biste sicher vor die. Wirste ooch schon noch begreifen. Wo kommst’n du überhaupt her?« Dirk erzählte Markus das Nötigste. Und dann wurde der Bolzplatz frei. Zu zweit konnten sie allerdings nicht viel machen, ein bißchen aufs Tor schießen, fummeln, noch nicht mal »Hoch-Hinein« konnten sie spielen. Trotzdem – als Dirk nach Hause kam, war er ganz zufrieden. Es machte ihm auch wenig aus, daß seine Mutter ihm voller Freude mitteilte, sie würde mit einer alten Freundin essen gehen. An dem Abend konnte er gut alleine bleiben.
6. Kapitel
Dirk machte das Licht aus und kuschelte sich in seine Decke. Knapp eine Woche war er jetzt in Berlin. In Heiersdorf hatte er sich oft vor dem Einschlafen überlegt, wie es in Berlin werden würde. Aber selbst im Traum hätte er sich nicht ausmalen können, wie es wirklich war. So fremd. So langweilig, meistens jedenfalls. Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Gestern hatte er mit Papa telefoniert, am Nachmittag, als seine Mutter nicht da war. Der Anschluß funktionierte wieder. Aber der zu seinem Vater nicht. Dirk hatte nur blöde rumgestammelt, und sein Vater hatte keine Zeit gehabt, weil er noch vor Ladenschluß einkaufen gehen mußte. »Ich muß mich ja jetzt um alles alleine kümmern!« hatte er vorwurfsvoll gesagt. Ist das vielleicht meine Schuld? hatte Dirk gedacht, aber runtergeschluckt. »Ich ruf dich am Wochenende an!« Und damit war Schluß gewesen. Nebenan klapperte eine Schreibmaschine, seine Mutter tippte Bewerbungsschreiben. Die Wohnung roch schon vertrauter. An die fremden Möbel konnte man sich gewöhnen. Selbst an die rotgestrichenen Wände im Bad. Bloß ans Alleinsein nicht. In der Schule klappte es einigermaßen, jedenfalls im Unterricht, der oft viel spannender war als in Heiersdorf, das mußte er zugeben. Die meisten Lehrer waren in Ordnung, abgesehen von diesem Ekel Koslowski. Verlaufen hatte sich Dirk auch nicht mehr. Aber er hatte keine Freunde, er lief nur nebenher. Wie beim Fußballspiel, wenn er eingewechselt wurde und keinen Ball bekam, die anderen einfach an ihm vorbeispielten. Der Tischtennisschläger hatte sofort einen festen Platz in seinem
Rucksack bekommen. In jeder großen Pause spielte er mit den anderen Kinder China. Wenn er um den Tisch flitzte, ging es nur um die kleine weiße Kugel und um sonst nichts. Dann gehörte Dirk dazu. Nachmittags war es öde. An den letzten beiden Tagen war er alleine gewesen. Seine Mutter war gleich nach dem Mittagessen wieder aufgebrochen. Markus hatte er kurz mit dem Jungen aus dem Hinterhaus gesehen, die Nachbarkinder waren nach der Schule zusammen mit Emil in eine andere Richtung gegangen. Die rote Mütze schmorte noch immer in der Kommode. So sorgfältig hatte Dirk noch nie in seinem Leben seine Hausaufgaben gemacht. Sein Nachbar Murat nutzte das aus und schrieb fleißig ab. Seit der Prügelei hielt Dirk vorsichtig Abstand von ihm. Murat fiel das gar nicht auf, der hatte Freunde. Wie die meisten anderen auch. Das Klappern der Schreibmaschine ging Dirk auf die Nerven. Er legte eine Kassette mit ruhiger Musik ein, döste vor sich hin und schlief endlich ein. Er träumte von einem etwas kurz geratenen Jungen mit einem dicken feuerroten Wuschelschopf, der in einer großen fremden Stadt zwischen lauter gefleckten Hunden herumirrte und das Haus mit den drei Stockwerken und den vielen Fenstern im Hof nicht wiederfand. Nur Spiegel umgaben ihn, glitzernde Spiegel, in denen er alles sehen konnte, aber sich selbst nicht. Plötzlich huschte eine Katze vor seinen Füßen entlang, schnurrte mit steil aufgestelltem Schwanz und nuschelte ihm undeutlich aber unmißverständlich zu: »Ich habe keine sieben Leben, nicht mehr. Spring du für mich.« Dann sprang sie mit gespreizten Krallen und glühenden Augen auf ihn zu und fauchte: »Spring!« »Ich will aber nicht springen!« schrie Dirk und wehrte mit beiden Händen die Katze ab. Als er mit der Hand an die Lampe neben sich stieß, wachte er auf. Verwirrt blickte er sich um. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, wo er war. Er ließ die Augen offen, damit er nicht zurück in den Traum mußte.
Da hörte er im Hof laute Stimmen. Draußen war es noch dunkel, zwei Uhr, sagte ihm ein Blick auf den Wecker. Und dann meinte Dirk, Rauch zu riechen. Schwach, aber unverkennbar. Blitzschnell kletterte er vom Hochbett hinunter und riß das angelehnte Fenster auf. Unten standen zwei Feuerwehrleute, einer guckte zu ihm hoch. »Was ist denn los!« rief Dirk. »Brennt’s?« »Na, wat denkste, wat wir hier machen? Bloß keene Panik, bleib in der Wohnung und warte ab. Is nich schlimm!« Feuer! Wahnsinn! Und sie waren ganz oben. Wenn nun das Treppenhaus brannte, wie konnten sie runter vom dritten Stock? Inzwischen war Dirk schon bei seiner Mutter im Zimmer. Blaulicht zuckte durchs Zimmer. Motorenlärm von der Straße. »Mama, Mama, wach auf! Es brennt! Die Feuerwehr ist da!« Seine Mutter sprang sofort aus dem Bett und rannte zur Wohnungstür. Dirk hinterher. Noch ehe er sagen konnte, halt, nicht aufmachen, sonst kommen die Flammen rein, hatte seine Mutter die Tür schon einen Spalt weit aufgemacht. Kein Feuer, nur dicker Qualm quoll herein. Sofort knallte sie die Tür zu. Jetzt roch es nicht nur kräftig nach Rauch, der Rauch biß auch in den Augen. »Im Hof sind Feuerwehrmänner!« sagte Dirk. Sie liefen in Dirks Zimmer und machten die Tür hinter sich zu. Jetzt war der Rauchgeruch zu ertragen. »Zieh dich an, Dirk!« sagte seine Mutter und lehnte sich aus dem Fenster. »Sie, da oben!« rief ein Feuerwehrmann. »Keine Panik! Schön ruhig bleiben, is gleich vorbei.« »Der hat Nerven!« sagte Dirks Mutter. »Dirk, ich hol schnell meine Sachen. Du bleibst hier!« Fertig angezogen schauten, dann beide runter auf den Hof, wo nur noch ein Feuerwehrmann stand und hinauf zum Dachboden blickte. Dort oben rumpelte es, Taschenlampenlichter flitzten hin und
her. Dirk lehnte sich noch ein bißchen dichter an seine Mutter, die ihn fest im Arm hielt. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Kurze Zeit später klingelte es. Dirks Mutter zögerte erst, dann ging sie zur Tür. Dirk lief ihr voller Angst hinterher. Doch als sie die Tür aufmachten, war kein Qualm mehr zu sehen, es stank allerdings ekelhaft. Im Hausflur stand eine Polizistin. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß alles vorbei ist. Keine Gefahr mehr.« »Was hat denn gebrannt?« fragte Dirks Mutter. »Es hat gar nicht gebrannt. Ein Kinderwagen ist verschwelt, daher der viele Qualm.« »Ist denn jetzt wirklich alles aus?« fragte Dirk. »Kokelt da nicht noch irgendwo was?« »Nein, nein, mein Junge, keine Angst.« »Wieso verschwelt denn mitten in der Nacht ein Kinderwagen?« fragte Dirks Mutter. »Das wissen wir noch nicht genau. Wahrscheinlich eine Zigarettenkippe, die irgend jemand weggeworfen hat. Als wir kamen, rannte uns ein Penner in die Arme, der oben im Treppenhaus geschlafen hat. Aber er schwört, er war’s nicht, er wär selber vor dem Qualm abgehauen. Wir werden alles sorgfältig überprüfen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Nacht!« Dann wandte sie sich ab und klingelte bei den beiden Nachbarwohnungen. Dirks Mutter machte vorsichtig die Tür zu. Und atmete einmal tief durch. »Na, das ist ja noch mal gutgegangen«, sagte sie. »Schöner Schreck!« »Mama, kann ich bei dir schlafen?« fragte Dirk. Im Leben wollte er jetzt nicht alleine sein. »Ich komm zu dir aufs Hochbett, da ist mehr Platz.« Sie holte ihre Decke und ihr Kopfkissen, und beide kletterten hinauf. Das Fenster ließen sie sperrangelweit aufstehen. Dirk rutschte dicht an seine Mutter heran.
Beim Aufwachen dämmerten die Ereignisse der Nacht wie ein verblassender Alptraum in Dirks Kopf. Er bildete sich ein, noch immer einen Hauch von Rauch in der Luft wahrzunehmen. Neben ihm schlief seine Mutter, sie lag ruhig atmend auf dem Rücken, die Arme rechts und links neben dem Kopf. Richtig entspannt. Wie lange mochte es her sein, daß er bei seiner Mutter im Bett geschlafen hatte? Wann es war, wußte er nicht mehr, aber er konnte sich genau erinnern, wie sein Vater ihn eines Nachts wütend ins Kinderzimmer getragen und ihn regelrecht aufs Bett geworfen hatte. »Damit ist ein für allemal Schluß! Du bist jetzt ein großer Junge!« Dann war die Tür zugeknallt und von außen abgeriegelt worden. Dirk war fast erstickt in dem verschlossenen Raum und hatte am nächsten Abend hoch und heilig versprochen, nachts nie wieder ins Schlafzimmer seiner Eltern zu kommen. Es sei denn, etwas wirklich Schlimmes würde geschehen, hatte die Mutter ihm zugeflüstert. Danach blieb die Zimmertür wieder offen. Die Angst vor dem Eingesperrtsein war größer als die vor dem Alleinsein. Seitdem konnte er nicht ohne seinen Teddy schlafen. Nebenan piepste der Wecker von Dirks Mutter, und die schlug sofort die Augen auf. Dirk kuschelte sich an sie. »Glaubst du, so was passiert noch mal?« fragte er. »Ich meine, stell dir doch mal vor, hier brennt es richtig!« »Bloß nicht! Aber so was erlebt man bestimmt nur einmal im Leben! Wir haben’s hinter uns, und so schlimm war’s ja auch nicht, oder?« »Hast du denn keine Angst gehabt?« Dirk stützte sich auf seinen Ellenbogen und schaute seiner Mutter ins Gesicht. »Na ja…«, sagte sie ausweichend. »Sei ehrlich!« forderte Dirk. »Hattest du Angst?« »Ja. Und wie. Vor allem habe ich immer gedacht, wir müßten runterspringen oder so.« Nach einem Blick auf die Uhr schälte
sie sich aus ihrer Decke und kletterte vom Hochbett. »Los, Dirk, du auch«, rief sie zu ihm hinauf. »Die Schule wartet!«
Im Treppenhaus stank es noch nach Qualm und verbranntem Plastik. Unten am Treppengeländer hing an einer Kette das Skelett eines Kinderwagens. Nur der Metallrahmen, die Räder und Speichen waren übriggeblieben, manche Teile verbogen von der Hitze. Das Holz darunter schwarz verkohlt, auch das Treppengeländer zeigte Rußspuren. Amina kam die Treppe runtergelaufen und blieb neben Dirk stehen. »Schweinerei!« sagte sie. »Hm«, machte Dirk. Wie meinte sie das? »Das war doch Absicht! Ist doch sonnenklar!« »Wieso?« fragte Dirk erstaunt. Warum soll jemand einen Kinderwagen anstecken? »Ja, sag mal, bist du denn vom Mond? Der Kinderwagen gehört den Arslans aus dem ersten Stock. Und die sind Türken und…« Dirk schüttelte bloß den Kopf. »Hat du ‘ne Ahnung!« Amina ging den letzten Treppenabsatz hinunter, Dirk hinterher. Da kam Hannah vom Hof ins Haus gerannt. Sie lief die Stufen hinauf und starrte die Reste des Kinderwagens an. »Mensch, ich hab überhaupt nichts mitgekriegt! Du, Amina?« »Na klar! Thilo und Rosa haben gedacht, jemand hat das Haus angesteckt! Die haben uns geweckt, wir mußten uns anziehen, und Rosa hat die Strickleiter eingehängt…« »Was für ‘ne Strickleiter?« »Weiß du das nicht? Hat Rosa gekauft, gleich nach dem Anschlag in Mölln. Ich zeig sie dir heute nachmittag, die reicht bis unten hin!« Aber die Polizistin hat gesagt, es war bloß eine Zigarettenkippe, dachte Dirk, sagte jedoch nichts. Amina zog die schwere Haustür auf und ließ Dirk und Hannah an sich
vorbeigehen. »Wir sind jedenfalls vorbereitet«, fügte sie hinzu. »Aber ob ich mich dann traue, runterzuklettern…« Auf dem Weg zur Schule ging Dirk schweigend neben den beiden Mädchen her, die sich lebhaft unterhielten. So eine Strickleiter ist eine gute Idee, überlegte er. Mama soll auch eine kaufen. Nachher zündet wirklich jemand das Haus an, wegen der Türken. Oder wegen Amina und ihrer Familie. Wieso machen Leute so was Irres? Er schielte vorsichtig zu Amina hinüber. Wo mag die bloß herkommen? Und wieso sagt Amina zu ihren Eltern Thilo und Rosa? Vielleicht sind das gar nicht ihre Eltern? Sie heißen ja auch anders. Aber er traute sich nicht zu fragen. Wenn sie morgens die erste Stunde bei Frau Scholle hatten, durfte immer ein Kind etwas erzählen, was am Vortag passiert war – in der Schule oder zu Hause – und dann wurde kurz darüber gesprochen. Amina meldete sich und erzählte von dem verkohlten Kinderwagen und ihrem Verdacht, daß es jemand mit Absicht getan hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß hier bei uns jemand so was macht«, meinte Wolfgang. »Das war bestimmt ein Unfall oder… oder ein ganz normaler Brandstifter.« »Normal! Wat is’n daran normal!« meinte Hannah. »Ich sag dir, wenn die hier einen Türken umbringen, dann geht’s aber ab. Mußte mal meine Brüder fragen, eh«, meinte Oktay. »Wieso Türken?« fragte Kostas. »Ist doch egal, was für ‘n Ausländer, oder?« »Klar, eh, logo, meine ich doch«, erwiderte Oktay. »Aber Amina ist doch gar keine Ausländerin!« sagte Hannah. »Weil se deutsche Eltern hat!« »Nee, weil se ‘nen deutschen Paß hat!« »Pah, den hab ich auch – bloß keine deutschen Eltern«, rief Sandra.
»Mein Opa sagt, hier sind zu viele Ausländer, das ist nicht gesund!« »Gesund! Was soll das heißen? Sind wir ansteckend? Paß auf, Wolfi, du wirst krank!« sagte Oktay und küßte ihn auf die Wange. »Ihh, du Sau!« Wolfgang wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Die Türken knutschen immer!« rief Manuel. »Sogar die Männer!« »Aber doch nur zur Begrüßung, du Schwachkopf!« brüllte Murat. »Schluß damit!« sagte Frau Scholle. »So können wir nicht miteinander reden.« »Ich finde das ein Quatsch mit Ausländer und Deutsche und so!« meinte Nermin. »Ist doch scheißegal.« »Tja, schön wär’s«, sagte die Lehrerin. »Aber so ist es leider nicht. Nur wer einen deutschen Paß hat, kann ohne weiteres hier wohnen und arbeiten, wählen oder gewählt werden, hat also alle Bürgerrechte, auch wenn er oder sie ursprünglich aus einem anderen Land stammt. Die deutsche Staatsangehörigkeit hat automatisch, wer deutsche Eltern hat…« »Oder wer hier geboren ist!« »Quatsch! Ich bin hier geboren und bin nicht Deutsche!« »Ich auch!« »Ich auch!« »Nein, nur wenn die Eltern Deutsche sind, beziehungsweise einen deutschen Paß haben, dann sind die Kinder auch Deutsche«, erklärte Frau Scholle. »So ein Schwachsinn!« »In den USA ist das anders! Sogar wenn man im Flugzeug über Amerika geboren wird, ist man Amerikaner!« wußte Birgit. »Stimmt – das ist bei uns nicht so. Wer als Ausländer Deutscher werden will, muß das beantragen und dafür
bestimmte Bedingungen erfüllen, zum Beispiel so und so viele Jahre hier sein, Deutsch können, und es kostet Geld. Das sind dann sogenannte eingebürgerte Deutsche. Manche Kinder sehen gar nicht so aus wie die meisten Deutschen…« »Wie Hoa!« »Und Amina!« »… und sind trotzdem Deutsche. Aber viele halten sie für Fremde«, sagte Frau Scholle. »Das war ja nicht so schlimm«, meinte Amina. »Also, ich meine, fremd ist ja jeder immer mal irgendwo, wenn man verreist oder umzieht. Aber zu mir sagen sie, ich stinke. Oder ich bin dreckig. Oder ich gehöre in den Dschungel.« »Neulich harn’ se beim Fußball Bananen aufs Spielfeld geschmissen, weil da ein Schwarzer mitgespielt hat.« »Uhhh, uhhh, uhhh!« machte Jens. »So machen die Zuschauer immer. Hab ich mal gehört, wie ich mit meim Papa beim Fußball war. Im Olympia-Stadion.« »Klingt doch geil!« Dirk konnte nicht sehen, wer das gesagt hatte. Einen Augenblick war es ganz still. »So geil wie brennende Menschen, wa?« sagte Hannah. Damit war das Gespräch zu Ende. Die Lesebücher kamen dran. Dirk schwirrte der Kopf, er konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. So ein Durcheinander! In was für eine Welt war er bloß geraten? Noch nie hatte er sich über solche Dinge Gedanken machen müssen. »Bestimmt hat Papa versucht anzurufen«, sagte Dirk, als sie Sonnabend zurück vom Einkaufen kamen und seine Mutter Anstalten machte, die Wohnung zu putzen. »Ich ruf mal an, ja?« fragte er und drückte schon die Tasten, bevor seine Mutter geantwortet hatte. Besetzt. Vielleicht probiert er’s gerade hier. Dirk legte schnell auf und wartete. »Komm, Dirk, hilf mir mal!« rief seine Mutter. Dirk griff nach dem Telefonhörer.
»Ich bin doch am Telefon.« Wieder besetzt. Der Staubsauger dröhnte. Dirk gab die Nummer von Micha ein. Michas Mutter erklärte ihm, daß Micha bei Christian war. Dort wollten sie mit noch zwei anderen Jungen aus der neuen Klasse im Zelt übernachten. Der Garten von Christians Eltern grenzte direkt an den Wald. Dirk war schon oft dort gewesen und konnte sich genau vorstellen, an welcher Stelle sie das Zelt aufstellten. Es hörte sich nicht so an, als ob Micha ihn vermißte. Erneut drückte Dirk die Nummer seines Vaters. Endlich ein Freizeichen. Zweimal klingelte es. Dann ein Knacken, und die Stimme seines Vaters ertönte: »Hier ist der Privatanschluß von Dr. Jürgen Hempel. Im Moment bin ich nicht erreichbar, aber nach dem Pfeifton können Sie gerne eine Nachricht für mich hinterlassen.« Das gibt’s doch gar nicht, dachte Dirk und legte auf. Eben noch besetzt und jetzt keiner da? Vielleicht hat gerade in dem Moment jemand anders angerufen? Er wählte noch einmal, wartete auf den Pfeifton und sagte dann nur: »Papa, ich bin’s. Ruf doch mal an.« »Diiiirk!« rief seine Mutter. »Bist du fertig mit Telefonieren?« »Ja. Keiner da.« »Dann komm jetzt und hilf mir.« »Was soll ich denn machen?« maulte Dirk. »Wollen wir nicht rausfahren, in den Wald? Fahrräder mieten?« Aber keine Chance. Seine Mutter wollte putzen, weil sie für den Abend Gäste eingeladen hatte, für die sie kochen wollte. Wenn Dirk ordentlich helfen würde, dann könnten sie aber für zwei Stunden ins Freibad gehen. Gäste! schnaubte Dirk. Wieder irgendwelche Erwachsenen, die ich nicht kenne und die staunen, wie groß ich schon bin, und allen möglichen Schmus erzählen. Kann ich gerne drauf verzichten.
Schmollend zog Dirk den Staubsauger in sein Zimmer. Früher hatte es ihm Spaß gemacht, das große fauchende Ungetüm über den dicken Teppich im Wohnzimmer zu schieben, mit den Händen im warmen Spülwasser herumzuplanschen und ein paar Teller abzuspülen oder einen großen Wäscheberg in die Maschine zu stopfen. Weil es ein Spiel war und er jederzeit aufhören konnte. Aber jetzt schien das Ganze in Arbeit auszuarten. Ist doch nicht meine Aufgabe! Scheiß Umzug!
7. Kapitel
Am nächsten Morgen saß Dirk im Schneidersitz auf seinem Hochbett und spielte mit dem Gameboy. Dabei fiel ihm sein Computer ein, den er in Heiersdorf lassen mußte, weil hier angeblich nicht genug Platz war. Was gar nicht stimmte. Wenn Papa anruft, dann sag ich ihm das. Die Kassette mit den Prinzen lief leise, denn Dirks Mutter schlief noch. Obwohl sie bereits in der Nacht die Gläser weggeräumt, die vollen Aschbecher ausgeleert und das Fenster aufgemacht hatte, stank es in der Küche immer noch nach Rauch und Alkohol. Widerlich. Da war Dirk glatt die Lust auf Frühstück vergangen, und er hatte sich nur ein Glas Orangensaft mit ans Bett genommen. Plötzlich hörte er lautes Fahrradgeklingel auf dem Hof. Dirk warf den Gameboy zur Seite und ließ sich mit seinem neuen Trick vom Hochbett hinunter: Er packte mit beiden Händen das Querbrett und schoß kopfüber wie bei einer Rolle vorwärts hinab, blieb kurz an den ausgestreckten Armen hängen und ließ sich dann den knappen Meter zum Fußboden herunterfallen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er sich das getraut hatte, aber im Prinzip war es nichts anderes, als sich ums Reck auf dem Sportplatz zu schwingen. Micha und er hatten das tausendmal gemacht. Draußen war wunderschönes Wetter, sonnig und warm. Im Hof wurde eine Radtour vorbereitet. Amina bimmelte immer wieder ungeduldig. Sie hatte einen Rucksack auf dem Rücken und einen knatschgrünen Helm auf dem Kopf. Paul war auch dabei und eine Frau mit dunkler Haut und krausen, kurzen Haaren. Das war die Mutter der beiden, wußte Dirk inzwischen, Rosa Kaminski. Wieso aber Amina und Paul mit
Nachnamen Taylor hießen, wußte Dirk immer noch nicht. Der Mann mit den halblangen dunkelblonden Haaren war offenbar Thilo Kaminski. Im Kindersitz auf der Stange seines Fahrrads saß ein kleines braunhäutiges Kind und wackelte ungeduldig am Lenker. Das muß Robert Kaminski sein, entschied Dirk, denn so lautete der fünfte Name auf dem Türschild. Auf eine Radtour hätte Dirk auch Lust gehabt. Aber er hatte ja kein Fahrrad. Und er hätte sich sowieso nicht getraut zu fragen, ob er mitdurfte. Hannah hatte ihr Rad auf den Kopf gestellt und schraubte an irgendwas herum. Zwischendurch blickte sie immer wieder ungeduldig nach oben, zu den Fenstern ihrer Wohnung, und rief schließlich: »Katharina! Lutz! Jetzt kommt doch endlich!« Automatisch war Dirk ihrem Blick nach oben gefolgt und zuckte zusammen. Erschrocken trat er einen Schritt zurück. Auf dem Dach des Seitenflügels war eine Dachluke aufgeklappt, ein kurzrasierter Kopf und ein schmaler Körper schoben sich nach draußen. Markus. Der Junge reckte sich kurz, dann zog er eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Doch bevor er sich eine Zigarette anzündete, ließ er erst einmal vorsichtig die Klappe der Dachluke hinunter. Dann machte er ein paar Schritte auf den Rand des Daches zu, legte sich auf den Bauch und robbte auf die Dachrinne zu. Nun konnte er in den Hof blicken und genau wie Dirk sehen, daß ein Mann und eine Frau aus dem Seitenflügel kamen. Dirk stellte sich so, daß Markus ihn nicht sehen konnte. »Na endlich!« rief Hannah unten im Hof. Die Frau mußte ihre Mutter sein, aber von allein wäre Dirk nie darauf gekommen. Wie die aussah! Sie trug einen ultrakurzen, maisgelben Rock mit einem dicken Gürtel und ein rotgrün gestreiftes Top, das den Bauchnabel freiließ. Und durch ihre schwarzen, borstig abstehenden Haare zog sich eine breite, lila
Strähne. Der Mann neben ihr stand dünnbeinig in knallengen, schwarzen Jeans mit einem nietenbesetzten Gürtel, darüber ein löchriges T-Shirt. Seine struppigen Haare leuchteten karottengelb. Dirk blieb der Mund offen stehen. Hannah drehte ihr Rad um, packte das Werkzeug zusammen und verstaute es in den Satteltaschen. Aus dem Rucksack ihrer Mutter fischte sie sich ein rotes Stirnband und zog es sich über den Kopf. »Fertig!« sagte sie. »Können wir endlich?« Nach einigem Hin und Her waren die da unten schließlich zum Aufbruch bereit. Unter lautem Klingeln verließen sie den Hof. Im Hinterhaus, im zweiten Stock bewegte sich eine Gardine. Ganz kurz sah Dirk das Gesicht von Markus’ Freund Sven und dessen nackten Oberkörper, dann fiel der Vorhang wieder zu. Dirk hatte sich vorgebeugt, um die Abfahrt der Radler genau verfolgen zu können, und dabei völlig vergessen, daß Markus ihm gegenüber auf dem Dach lag. Ein leiser Pfiff lenkte Dirks Blick zu ihm hinauf. Markus grinste und winkte ihm zu. Soll ich auch aufs Dach? dachte Dirk. Schon wollte er Markus fragen, da legte der seine Finger quer über den Mund. Dann deutete er auf Dirk, auf das Treppenhaus und kletterte mit beiden Händen eine unsichtbare Leiter hinauf. Schließlich zeigte er auf sich, machte mit der Hand eine Schließbewegung. Dirk wiederholte Markus’ Handzeichen, bückte sich nach seiner Hose und wedelte sie kurz vor dem Fenster, damit Markus klar wurde, daß er sich erst noch anziehen mußte. Oben, auf dem letzten Treppenabsatz, stand Markus mit dem Fuß in der offenen Bodentür. Erst als die Tür hinter Dirk zugefallen war, fragte Markus: »Warste schon ma auf ‘m Dach?« »Nö«, sagte Dirk. »Bloß auf Bäumen oben.« »Na, denn komm.« Markus drehte sich um und ging mit seinen seltsam wiegenden Schritten davon. Obwohl er Stiefel an den Füßen trug, trat er vorsichtig auf. Auf dem Boden roch
es zum Niesen staubtrocken. Vor dem durch die großen ovalen Fenster einfallenden Licht tanzten glitzernd kleine Staubteilchen. Ein paar alte Möbel machten sich breit, aus einer Kiste quollen Lumpen. Wäscheleinen spannten sich quer über den Boden. An der Straßenseite waren mit Lattenrosten Verschläge abgetrennt, in denen allerhand Zeug lagerte. Dirk hätte sich das gerne alles genauer betrachtet, aber Markus ging zügig voran, bis er bei einer Leiter stehenblieb, die zu der Dachluke führte. »Trauste dir?« fragte Markus und stieg schon voran. »Sicher«, sagte Dirk. Höhe machte ihm nichts aus. Als er dann auf dem Dach stand, mußte er doch einmal tief Luft holen. So hoch oben war er noch nie gewesen, jedenfalls nicht ohne ein sicheres Geländer. Sie standen auf der Teerpappe eines flachen Daches zwischen meterhohen Fernsehantennen und mehreren Schornsteinen und konnten über alle anderen Dächer der Umgebung blicken, unter denen sich Straßen und Höfe wie tiefe Schluchten auftaten. Kirchtürme und Hochhäuser, goldene Kuppeln, das Denkmal auf dem Kreuzberg, das Radargerät am Flughafen, das Postbankmonster, der Fernsehturm, alles schien zum Greifen nah. Dirk konnte sich gar nicht sattsehen. »Komm«, sagte Markus. Und dann schlenderte er mit Dirk über die Dächer, als wäre dies ein gewöhnlicher Sonntagmorgenspaziergang. Markus trat manchmal beängstigend dicht an den Rand eines Daches, und Dirk ließ sich nicht lumpen und tat es ihm nach. Wobei er nicht verhindern konnte, daß seine Handflächen schweißnaß wurden und es im Bauch ganz fürchterlich zog. Dies kannte er vom Bäumeklettern, ein untrügliches Zeichen, daß er sich auf gefährlichem Gebiet bewegte. Aber um nichts in der Welt wäre er hinter Markus zurückgeblieben.
Doch als sie an das einzige schräge Ziegeldach gelangten, wäre er beinahe umgekehrt. Markus war schon auf das Brett gestiegen, das auf Schornsteinhöhe kurz unter dem Dachfirst eine Überquerung ermöglichte. Es war sehr breit, beinahe einen halben Meter, sicher verankert und verlief jeweils nur wenige Meter ganz frei, bevor wieder ein Schornstein kam, an dessen Metalltritten man sich festhalten konnte. Markus rief über die Schulter: »Komm schon. Mach dir bloß nich ins Hemd, is ‘n Klacks.« Für Schornsteinfeger allemal. Dirk wartete, bis Markus sicher drüben war. Dann faßte er sich ein Herz und stieg Markus hinterher. Nicht nach unten gucken, murmelte er vor sich hin, das Brett ist breit genug. Einen Schritt vor den anderen. Aus den Achselhöhlen tropfte ihm der Schweiß und rollte kitzelnd über die Haut. Bloß nicht stehenbleiben. Am ersten Schornstein stützte er sich nur kurz ab, am zweiten hielt er einen Augenblick inne und schaute sich um. Das glaubt mir keiner, dachte er. Wenn ich das Micha erzähle! Ganz kurz blitzte der Gedanke an die Katze auf, erinnerte er sich an das eklige Klatschen. Er konzentrierte sich auf die Aussicht, den Blick hinunter in die Straße, auf die Bäume. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, saßen Leute auf dem Balkon und frühstückten. Ein kleines Mädchen starrte zu ihm hinauf, dann zupfte sie den Mann neben sich am Ärmel. Dirk ging schleunigst weiter, wenn auch gemessenen Schrittes. Ein Sprung, und schon stand er sicher auf dem nächsten Flachdach. Markus grinste ihn an, anerkennend. »Geil, wa?« »Voll geil«, brachte Dirk heraus. Er wischte sich unauffällig die verschwitzten Hände an seiner Hose ab und schlenderte dann locker weiter. Daß seine Knie zitterten, brauchte ja keiner zu sehen. Nie wieder würde er da entlang gehen, nur im äußersten Notfall. Alle anderen Dächer waren flach, wenn auch unterschiedlich hoch, so daß sie manchmal klettern oder
springen mußten. Schließlich standen sie wieder über ihrem Hof. Dirk blickte hinunter zu seinem Fenster. Es war noch genauso angelehnt, wie er es verlassen hatte. Dabei hatte er doch eine Weltreise hinter sich. Markus setzte sich auf ein Brett, das vor einem Schornstein über zwei Steine gelegt war. Eine Bank mit Lehne. Er streckte beide Beine breit von sich. Dirk setzte sich daneben. Vom Haus konnten sie nicht gesehen werden. Markus fischte seine Zigaretten aus der Tasche und bot Dirk eine an. »Na, wat is, roochste schon?« »Nö.« Daß Dirk es schon einmal probiert und danach jämmerlich gekotzt hatte, wollte er nicht verraten. »Ist der Dachboden immer offen?« fragte er schließlich, um das Thema zu wechseln. »Nee. Aber ick hab det hier.« Er zog einen L-förmigen Metallstift aus der Hosentasche, dessen vorderer Teil ein wenig abgeflacht war. »Mit so ‘nem Dietrich kriegste jedes normale Schloß auf.« »Darfst du denn hier rauf?« »Biste bekloppt? Nee, natürlich nich. Schon wegen die Dachpappe. Und überhaupt.« Er machte eine Pause. Schließlich zog er die Beine an und stützte die Ellbogen auf seine Oberschenkel. »Sonst war noch keener mit mir hier oben«, sagte er und kratzte sich hinterm Ohr. »Echt?« »Echt.« Dirk schloß die Augen und spürte die warme Sonne auf seiner Haut. »Spielst du mal wieder Fußball mit mir?« fragte er dann. »Ma sehn.« »Du, Markus?« Dirk brannte ein Frage auf den Lippen, aber er brachte sie nicht heraus. »Wat’n?« sagte Markus nach einer Weile. »Das mit dem Kinderwagen neulich…« »Was soll’n da sein?« Markus blickte Dirk mißtrauisch von der Seite an. »Wat weeßt’n du?« »Ich? Wieso? Nichts!«
»Also.« »Na ja, ich meine, weißt du, wie das passiert ist?« »Keen Schimmer.« Dann stand Markus abrupt auf. »Los, komm, ick muß runter. Meine Alten kommen bald aus ‘m Laden.« »Und wenn es mal richtig brennt?« fragte Dirk und ging Markus hinterher. »So nachts, da merkt man das doch gar nicht. Im Fernsehen…« »Hier brennt nüscht mehr, da kannste Jift drauf nehm. Hier nich.« Mehr sagte Markus nicht, verabschiedete sich auch nicht, als er an Dirk vorbei die Treppe hinunterstapfte und Dirk seine Wohnungstür aufschloß. In der Wohnung war es so still wie zuvor. Seine Mutter schlief noch. Ein Glück. Von dem Ausflug aufs Dach brauchte sie nichts zu wissen. Aber mit irgend jemandem mußte er darüber sprechen. Dirk schnappte sich das Telefon und ging damit in sein Zimmer. Nach zehnmal läuten meldete sich eine verschlafene Stimme: »Hempel?« »Hier auch«, sagte Dirk. Und er redete seinen Vater wach.
8. Kapitel
Dirk hatte herausgefunden, daß der Schulhof auch nachmittags offen war. Wenn er seine Aufgaben erledigt hatte und seine Mutter es erlaubte, spielte er dort Tischtennis. Die Kinder aus seinem Haus waren allerdings nie da. Auch Emil sah er nach der Schule nicht, und das war gut so, denn den Gedanken an die rote Mütze hatte Dirk ganz weit weggeschoben. Die war eben einfach verschwunden. Als Dirk am späten Nachmittag in seine Straße bog, sah er Paul und dessen Mutter aus der anderen Richtung kommen. Vor der Haustür standen der alte Herr Bode aus dem zweiten Stock und Markus. Der steckte die Daumen hinter die Hosenträger, legte den Kopf in den Nacken und folgte mit den Augen dem ausgestreckten Finger des alten Mannes. Dann nickte er und kletterte auf einen Mauervorsprung, wobei Herr Bode ihn mit beiden Händen von unten abstützte. Von dem Leuchtkasten mit der Hausnummer pulte Markus einen Aufkleber, »ürken raus«, konnte Dirk noch lesen, davor hatte noch etwas anderes gestanden, aber die Buchstabenfolge ergab keinen Sinn für Dirk. Schon hatte Markus das Papier ab und warf es auf den Boden. Dann sprang er auf die Straße. »Danke, mein Junge«, sagte Herr Bode freundlich zu ihm. »Da wäre ich nie rangekommen. Ist doch unerhört so was, nicht wahr?« Markus murmelte eine Antwort, kratzte sich am Kopf und stapfte mit seinen wiegenden Schritten davon. Gustav Bode bemerkte nun Paul und dessen Mutter und zog höflich seinen Hut. Auch Dirk nickte er zu, der sich an ihm vorbei zur
Haustür schob, die er vorsichtig und umständlich weit aufdrückte. Er wollte soviel wie möglich mitbekommen. »Was klebte denn da?« fragte Frau Kaminski. »Türken raus. Sogar auf türkisch stand’s daneben. Unglaublich! Daß ich so was noch mal erleben muß!« Gustav Bode trat mit dem Fuß auf den zerknüllten Zettel, als wollte er ihn in die Erde treten, ungeschehen machen, was er gesehen hatte. »Hat das denn der Markus da hingeklebt?« fragte Frau Kaminski. »Ich weiß es nicht. Ist doch eigentlich kein schlechter Kerl, der Junge. Aber merkwürdigen Umgang hat er schon. Na ja, bei den Eltern!« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Wenn er’s war, dann ist ihm das vielleicht eine Lehre! Unglaublich!« Bevor er sich zum Gehen wandte, sagte er noch zu Paul: »Laß dir bloß keine Bange machen, mein Junge«, zog noch einmal den Hut und entfernte sich. »Komm, Rosa!« hörte Dirk, da hatte er die Haustür schon losgelassen, die in dem Moment ins Schloß fiel, als Paul den Hausflur betreten wollte. Dirk hätte es beinahe nicht bemerkt, nur im Augenwinkel erfaßte er Pauls wütendes Gesicht hinter der Scheibe. Paul und Frau Kaminski unterhielten sich erregt und laut, als sie hinter Dirk die Treppen hinaufstiegen, so daß er einzelne Worte und Satzfetzen verstand. Offenbar ging es um Pauls Geburtstag in der übernächsten Woche, nach der Fahrt ins Landschulheim. Was sie machen würden und wen Paul einladen wollte, beziehungsweise sollte. Denn Frau Kaminski schien diesbezüglich anderer Meinung zu sein als ihr Sohn. Als Dirk die Wohnungstür aufschloß, hörte er seinen Namen, danach aber war es still. Dirk schob sich schnell in die Wohnung und ließ die Tür laut und vernehmlich ins Schloß fallen. Dann bückte er sich und hob vorsichtig die Klappe vom Briefkastenschlitz ein wenig hoch, so daß er durch einen winzigen Spalt den Hausflur sehen konnte.
Frau Kaminski stellte die Taschen ab und kramte nach dem Schlüssel. Es klapperte, und gleichzeitig kullerten Kartoffeln über den Flur. »Mist!« schimpfte Pauls Mutter und sammelte die Kartoffeln auf. »Nee, den Dirk will ich nicht einladen«, sagte Paul. »Der interessiert sich doch gar nicht für uns. Kann ich ja gleich Markus und seine Kumpels einladen. Wie fändste denn das?« »Jetzt lenk nicht ab. Der Dirk, der ist bestimmt nur schüchtern. Stell dir doch mal vor, wie du dich fühlen würdest, wenn du fremd wärst… Da hinten liegt noch eine.« »Hier! Fang! – Mensch, der ist doch nicht normal, der Typ!« sagte Paul. »Wie der Amina immer anguckt. Und von mir denkt er, ich wär so was wie Anthony Yeboah. Fehlt bloß noch, daß er mich nach meiner Trommel fragt, du weißt schon, die Wilden aus dem Busch mit ihren Tam-Tams und so. Der kann mir mal gestohlen bleiben!« »Ach, Junge«, seufzte seine Mutter. »Nun sieh doch nicht überall Gespenster, du machst dich bloß verrückt damit.« »Pah! Verrückt! Reine Vorsicht…« Der Schlüssel drehte sich im Schloß, kurz danach klappte die Tür. Wenn der mich einlädt, schenke ich ihm eine Trommel, dachte Dirk. Der hat sie wohl nicht mehr alle!
Dirks Mutter war nach wie vor auf Arbeitssuche. Obwohl sie andauernd Absagen bekam, ließ sie sich nicht entmutigen. Mittags, wenn Dirk aus der Schule kam, war sie aber wie versprochen immer zu Hause und hatte das Essen für ihn fertig. Daher war Dirk völlig verblüfft, als er eines Mittags hungrig vor der Wohnungstür stand, klingelte, aber nichts passierte. Er klingelte Sturm, doch vergeblich. Seine Mutter war nicht zu Hause, und er hatte keinen Schlüssel dabei.
Ärgerlich ließ Dirk seinen Rucksack auf den Boden fallen und setzte sich auf die Treppe. Was jetzt? Aufs Klo mußte er auch. Soll ich bei den Nachbarn klingeln? Da war meistens jemand zu Hause, und der blöde Paul war mit der ganzen 6a im Landschulheim. Aber trotzdem, er kannte die Leute doch gar nicht. Oder bei Markus? überlegte Dirk. Aber der war bestimmt noch nicht da, denn soweit Dirk wußte, mußte der mit der U-Bahn zur Schule fahren. Dann geh ich eben im Park pinkeln. Ehe Dirk zu einem Entschluß kam, hörte er Schritte unter sich auf der Treppe, dazu ein Kinderlachen und schließlich eine leicht genervte Männerstimme: »Jetzt hör endlich auf, Robert, ich seh doch nichts! Ich fall gleich hin, und dann tust du dir weh! Au! Das ziept!« Herr Kaminski hatte Robert auf dem Arm und trug mit der anderen Hand eine große, voll gepackte Einkaufstasche. Robert zog seinem Vater die langen Haare vor die Augen und gluckste fröhlich. Der Mann schnaufte angestrengt und wie blind an Dirk vorbei. Oben angelangt, setzte er erst die Tasche ab, dann das Kind und atmete einmal tief durch. Als Dirk laut »Guten Tag« sagte, zuckte Herr Kaminski sichtbar zusammen. »Meine Güte«, meinte er und drehte sich um. »Hast du mich erschreckt!« »Das wollte ich nicht«, beeilte sich Dirk zu sagen. »Entschuldigung.« »Was ist los? Ist deine Mutter nicht zu Hause?« fragte Herr Kaminski, während er in der Tasche nach dem Schlüssel kramte. »Nein… ich meine, ja.« »Na, dann komm mal mit rein!« Herr Kaminski stieß die Tür mit dem Fuß auf und trug die Tasche in die Wohnung. Der kleine Robert jaulte empört auf, machte ein, zwei kleine Schritte, streckte dann die Arme aus und rief: »Aufn Arm, will aufn Arm!«
»Nimmst du ihn mal?« rief Roberts Vater und verschwand um die Ecke. Wie der sich das vorstellt! Dirk hatte noch nie im Leben ein kleines Kind auf dem Arm gehabt. Unsicher blickte er zu dem Kleinen hinunter, der ihn neugierig aus seinen hellbraunen Augen anstarrte und ihm schon seine beiden Ärmchen entgegenstreckte. »Aufn Arm!« Also bückte sich Dirk und packte ihn mit beiden Händen um die schmale Brust und hob ihn hoch. Ein Fliegengewicht. »Bist’n du?« fragte Robert und piekte ihm konzentriert mit dem Finger ins Gesicht, als zählte er die Sommersprossen. »Dirk, ich bin Dirk«, sagte Dirk, schob die Wohnungstür hinter sich zu und trug Robert in die Küche, die gleich rechts hinter dem Eingang lag. Schüchtern blieb Dirk erst mal an der Schwelle stehen. Das war mehr ein Wohnraum als eine Küche, mit einem großen ovalen Tisch voller Zeitungen und Bücher, alten Holzschränken und einem Schaukelstuhl. An der einen Wand hing eine große Weltkarte neben einem großen Bild, das aus lauter einzelnen kleinen Fotos zusammengesetzt war. Vom Schrank wucherte eine riesige Pflanze, und auf dem Fußboden lag Kinderspielzeug herum. Herr Kaminski war schon dabei, die Tasche auszupacken. »Ich nehm ihn dir gleich ab«, sagte er ohne aufzublicken. »Dann kriegt er was zu futtern, wird gewickelt und ab in die Heia.« Robert strampelte und wollte runter. Dirk hätte auch nichts dagegen gehabt, denn aus dem Windelpaket strömte kein allzu lieblicher Geruch. Doch Herr Kaminski drückte dem Kleinen einen halben Apfel in die Hand, in den Robert begeistert biß. »Siehste, er hat Hunger.« Während Herr Kaminski einen Topf auf den Herd stellte und etwas warm machte, setzte sich Dirk und betrachtete das braune Kind auf seinem Arm. Auch Roberts Handflächen waren heller als die übrige Haut, die Nase stupsig klein, die
Augen groß und rund. Seine weißen Mausezähnchen knabberten an dem Apfel, während er mit dem rechten Fuß immer wieder gegen das Tischbein trat. Als Dirk sicher war, daß Roberts Vater ihn nicht sah, strich er vorsichtig über das krause Haar. Es fühlte sich an wie eine ganz weiche Bürste. Sofort legte der Kleine vertrauensvoll den Kopf in den Nacken, Dirks neugieriges Abtasten ließ er sich wie ein Streicheln nur allzugern gefallen. »So, mein Herr!« sagte Roberts Vater, setzte das Kind auf seinen Hochstuhl, drückte ihm einen Löffel in die Hand und stellte ihm einen Teller mit Reis und Gemüse vor die Nase. Dirk spürte, wie sein Magen knurrte. In dem Moment läutete es dreimal. »Machst du auf, das ist Amina!« Herr Kaminski kramte im Kühlschrank herum. Amina guckte Dirk erstaunt an, als er die Tür öffnete. »Du?« »Bei mir ist keiner zu Hause, und ich hab keinen Schlüssel«, sagte Dirk. »Ach so.« Amina gab der Tür mit der Ferse einen Tritt, streifte ihre Schuhe ab und stellte dann ein mit Papier umwickeltes Paket auf den Küchentisch. »Hallo, Thilo!« sagte sie und gab Herrn Kaminski einen Kuß. Der drückte sie kurz und fragte: »Na, alles klar?« Nachdem Amina ihren Rucksack abgenommen und über eine Stuhllehne gehängt hatte, knuddelte sie Robert, der schon ganz begeistert in seinem Stühlchen herumhampelte. »Mina, Mina!« lachte er. Dirk stand etwas betreten daneben. »Du hast bestimmt auch Hunger!« sagte Herr Kaminski zu ihm. »Nun setz dich doch, kannst mit uns essen!« Er schob die Zeitungen auf dem Tisch zusammen, klappte ein aufgeschlagenes Buch zu und legte es ins Regal neben dem Fenster. »Wenn ich darf«, antwortete Dirk und fügte dann hinzu: »Em – ich muß mal. Können Sie mir sagen, wo die Toilette ist?« Er hielt es nicht länger aus. »Sag doch du zu mir und Thilo,
machen die anderen Kinder auch«, sagte Thilo Kaminski grinsend. Dirk nickte nur. Das ging ihm alles viel zu schnell hier. Amina zeigte Dirk das Klo, ein kleiner Raum neben dem Badezimmer. Als Dirk fertig war und sich im Umdrehen den Reißverschluß seiner Hose zuzog, sah er, daß die ganze Klotür vollgeschrieben war. Ein Stift baumelte an einer Schnur. »Heute habe ich mich schwarz geärgert. Und jetzt sieht mir das jeder an – Amina.« Alle schienen sich auf der Tür verewigt zu haben, auch die Erwachsenen. Auf einem kleinen Regal lagen ein Stapel Comics und Zeitschriften. Gemütlich, so ein Klo, dachte Dirk. So was würde Mama nie erlauben. Als er in die Küche zurückkam, stand Amina am Herd und briet Reis in einer Pfanne, während Thilo einen Salat aus Gurken und Tomaten machte. Auf einem Pappteller lagen kleine ovale Bällchen, die wie Frikadellen aussahen. »Willst du Saft oder Selters?« fragte Thilo Dirk, der sich neben Robert an den Tisch setzte. »Egal«, sagte Dirk. »Mir auch. Du mußt dich schon entscheiden.« »Beides. Gemischt.« »Na, das ist doch ein Wort.« Thilo reichte Dirk zwei Flaschen. Amina stellte die Pfanne auf einen Untersetzer auf den Tisch und setzte sich. »Nimm dir«, sagte sie zu Dirk. Dirk tat sich Reis auf und ein bißchen Salat. Dann fragte er: »Sind das Frikadellen?« »Was?« fragte Amina. »Er meint Bouletten!« sagte Thilo. »Nein, das sind Falafel, aus Kichererbsenmehl und Kräutern. Probier mal.« »Gibt’s beim Libanesen an der Ecke«, ergänzte Amina. Dirk hatte zwar keine Ahnung, was Kichererbsen sein sollten, aber er nahm sich eins von den Bällchen auf den Teller und probierte. Gar nicht mal schlecht, würzig, knusprig. »Und, hast du dich inzwischen ein bißchen eingelebt?« fragte Thilo mit
vollem Mund. Sofort mußte Dirk an seinen Vater denken: »Junge, iß erst den Mund leer, bevor du was sagst! Das gehört sich einfach so«, hatte er ihm immer eingeschärft. »Ja, danke. Geht so.« »Ich seh dich nie mit den anderen Kindern. Versteht ihr euch nicht, oder was ist los?« Dabei guckte er Amina an. »Na ja, ich… Wir kennen uns doch kaum«, antwortete Dirk. Amina beugte sich über ihren Teller. »Wir spielen zusammen Tischtennis in der Schule.« »Ach so.« Das klang nicht sehr überzeugt, aber Thilo sagte nichts weiter. Robert hatte fast aufgegessen, Thilo schob die Reste auf dem Teller zusammen und wollte Robert füttern, der preßte aber den Mund zu und schüttelte energisch den Kopf. Thilo legte den Löffel auf den Tisch und stand auf. »Na, denn nicht«, sagte er. »Ich wickel den Murkel schnell und leg ihn ins Bett. Dann hat die liebe Seele Ruh.« »Seele Ruh!« piepste Robert, dem schon fast die Augen zufielen. »Sag: tschüs, Dirk, tschüs, Amina!« »Ssüs Dirk! Ssüs, Mina!« Robert winkte Dirk und Amina zu und wischte sich dann mit den Handrücken über die Augen. Dirk und Amina aßen schweigend. »Arbeitet dein Vater denn gar nicht?« fragte Dirk schließlich. »Thilo? Doch, doch natürlich. Der arbeitet zu Hause, er übersetzt Bücher. Von Englisch in Deutsch. Romane und so was.« »Ja, aber… und deine Mutter?« »Die arbeitet auch. Als Toningenieurin beim Radio. Sie hat Schichtdienst, manchmal ist sie da am Tag, manchmal nicht. Und deine Mutter?«
»Äh, die sucht Arbeit. Die ist Krankengymnastin. Aber bis jetzt war sie immer zu Hause. Wegen mir, glaube ich, und wegen meinem Papa.« »Und dein Papa, ist der nicht hier?« »Nein, der ist doch in Heiersdorf.« »Ach so. Da haben die sich getrennt.« Wie die das sagt, dachte Dirk, als ob das völlig normal wäre. »Hm«, meinte er. Amina schwieg nachdenklich. »Meine Eltern auch!« sagte sie nach einer Weile. »Aber ich kann mich gar nicht richtig erinnern. Paul schon, glaub ich jedenfalls.« »Wie – wie meinst du das?« fragte Dirk. »Paul und ich haben einen anderen Vater als Robert.« »Ach so«, meinte Dirk. »Aber wir leben schon lange mit Thilo zusammen. Praktisch ist der unser Vater.« Mehr sagte sie nicht. In dem Augenblick klingelte es einmal ganz kurz. Thilo ging zur Tür. Es war Dirks Mutter. An ihrer Stimme hörte Dirk sofort, daß sie in heller Aufregung war. »Hier bist du!« sagte sie erleichtert, als sie in die Küche kam. »Mein Gott, ich habe mir schon Sorgen gemacht.« »Wo warst du denn?« »Stell dir vor, ich hab Arbeit gefunden! Aber jetzt bedank dich erst mal bei Herrn Kaminski…« »Das ist doch selbstverständlich. Wollen Sie was essen? Die beiden haben noch was übriggelassen, wie ich sehe.« »Nein, danke, ich bin viel zu aufgeregt. Endlich habe ich eine Stelle. Und gar nicht weit von hier, in einer Praxis. Heute morgen habe ich mich vorgestellt, und ich sollte gleich dableiben, weil die Krankengymnastin, die in zwei Monaten ihren Schwangerschaftsurlaub antritt, schon jetzt krankgeschrieben wurde.« Ihr Gesicht leuchtete. »Dann ist das bloß eine Vertretungsstelle?«
»Erst mal ja. Aber die Frau will vielleicht nach der Geburt länger zu Hause bleiben.« »Na, das hört sich ja gut an«, meinte Thilo, während Dirk seiner Mutter folgte. Sie bewegte sich, als schwebte sie einen Zentimeter über dem Boden. Und ich? dachte Dirk. An mich denkt sie gar nicht. Was wird dann aus mir? Mit einem Knoten im Bauch trottete er seiner Mutter hinterher.
9. Kapitel
Schon am nächsten Mittag war Dirk alleine. Seine Mutter hatte vorgekocht, Kartoffelsuppe, sein Lieblingsessen, hatte den Kühlschrank mit Joghurt, Cola, Wurst und Käse vollgestopft, mehrere Kilo Obst in der Schale gestapelt und sogar eine Tafel Schokolade auf den bereits gedeckten Tisch gelegt. Aber das alles konnte Dirk nicht versöhnen. Ab jetzt mußte er sich dreimal in der Woche sein Essen selber warm machen und auch alleine essen. Und wenn das immer so lief wie heute, dann könnte er am besten gleich eine Fastenkur anfangen. Er hatte den Topf mit der Suppe auf den Herd gestellt und die Gasflamme angemacht, was gar nicht so einfach war. Das Gas strömte laut fauchend heraus, und sofort nach dem Klicken des Gasanzünders bissen die Flammen nach seiner Hand. Dann mußte er aufs Klo. Es dauerte ein bißchen, vor allem, weil er Lucky Luke dabei hatte. Ein lautes Zischen jagte ihn schließlich hoch. Als er in die Küche kam, blubsten dicke Kartoffelsuppenblasen im Topf, die Suppe spritzte über den Rand, der ganze Herd war vollgekleckert, auch die Ablage daneben, und vor allem stank es widerwärtig angebrannt. Mit zwei Schritten war Dirk am Herd und riß den Topf von der Flamme. Trotzdem blubberte es noch mehrmals, und ein Klecks heißer Brei landete auf seinem Arm. Es tat höllisch weh. Sofort hielt Dirk die brennende Stelle unter fließendes kaltes Wasser und biß die Zähne zusammen. Die Suppe konnte er vergessen. Er brauchte sie gar nicht erst zu probieren, der Geruch war schon widerlich genug. Als der Arm nicht mehr wehtat, drehte Dirk den Wasserhahn zu und riß wütend das Fenster auf. Die Schweinerei auf dem Herd würdigte er keines
Blickes. Er stellte Brot, Butter und Wurst auf den Tisch und schmierte sich ein paar Brote, die er mit Cola hinunterspülte. Dabei vertiefte er sich in Lucky Luke und vergaß alles andere. Es klingelte. Dirk blickte auf. Er erwartete keinen Besuch. Zu ihm kam doch keiner. Bestimmt waren das wieder die Zeugen Jehovas oder irgendein Vertreter. Seine Mutter sagte immer: »Wir kaufen nichts« und schlug die Tür zu. Es klingelte wieder. Dirk schob den Stuhl zurück und ging zur Tür. Draußen stand Amina. »Du?« fragte er blöde. »Tach«, sagte Amina und machte einen Schritt vorwärts. Dirk blieb erst wie angewurzelt stehen, dann trat er beiseite und ließ Amina herein. »Ih, hier stinkt’s ja ekelhaft!« sagte sie und hielt sich die Nase zu. »Hast du Matratzengras geraucht?« »Nö«, grinste Dirk, »Kartoffelsuppe warm gemacht. Besser gesagt, versucht sie warm zu machen.« »Ganze Arbeit!« meinte Amina nach einem Blick auf den Herd. »Mach das lieber gleich weg, wenn das erst mal richtig klebt…« Dirk schüttelte sich. »Brrr! Das ist doch eklig!« »Und deine Mutter? Die wird doch bestimmt sauer.« »Die? Selber schuld! Warum ist sie denn nicht da mittags!« Amina blickte ihn erstaunt an. Sie schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber. Dirk stellte schnell die Sachen in den Kühlschrank, nahm die Tafel Schokolade und sagte zu Amina: »Komm, gehen wir in mein Zimmer.« Dabei wartete er immer noch darauf, daß Amina sagen würde, was sie von ihm wollte, aber sie erzählte nur, daß Hannah bei ihrer Oma und Paul im Landschulheim war. Vielleicht will sie mich einfach nur so besuchen, um nicht alleine zu sein? Aber bei ihr zu Hause ist doch bestimmt jemand. Dirk beschloß, der Sache nicht weiter auf den Grund
zu gehen: Er hockte sich auf den Boden, brach die Schokolade in kleine Stücke und sagte: »Hier, bedien dich!« »Sonst essen wir immer zusammen!« sagte Amina und nahm sich von der Schokolade. »Wer?« »Na, Paul und Emil und Hannah und ich.« Da Dirk nichts sagte, sondern nur verständnislos guckte, fügte sie hinzu: »Bei uns zu Hause oder bei Emil oder bei Hannah. Immer abwechselnd. Und wenn keiner da ist, machen wir das Essen selber warm.« Lachend deutete sie mit dem Daumen hinter sich in Richtung Küche. »Aber nicht so!« »Wieso?« »Na, das hat doch nicht besonders gut geklappt, oder?« »Hä? Ach so!« Dirk schob sich ein Stück Schokolade in den Mund. »Nein, ich meine, wieso ihr zusammen eßt!« »Wir waren früher im Kinderladen, ich meine, im Schülerladen, aber der wurde vor einem Jahr aufgelöst. Und wir haben eben weitergemacht.« Kinderladen, Schülerladen, fragte sich Dirk, was ist denn das? Jedenfalls bestimmt kein Laden, in dem man Kinder kauft oder Schüler. Er seufzte und ließ die Schokolade im Mund zergehen. Amina muß ja denken, ich bin ein Vollidiot, wenn ich dauernd blöde Fragen stelle. »Gibt’s da auch Kinderläden, wo du herkommst, in Heia…?« fragte Amina. »Heiersdorf, äh, nein, ich… ich weiß gar nicht, was das ist, ein Kinderladen!« gab Dirk schließlich zu. »Nee? Komisch. Na ja, das ist… so eine Art Kindergarten oder Hort. Wir hatten einen Laden für unsere Gruppe – vielleicht heißt das deswegen so –, und die Eltern haben das alles organisiert.« »Und da wart ihr immer, den ganzen Tag? Durftet ihr nicht zu Hause bleiben?«
»Quatsch. Wir wollten dahin, echt. War voll gut da. Bringt doch total Bock, so ganz viele Kinder. Manchmal haben wir sogar da geschlafen, nur wir Kinder! Und der Immo, der war ganz nett…«, schwärmte sie. »Der war Erzieher bei uns. Und Hannelore, die erst! Die besucht uns manchmal noch.« »Kann ich mir gar nicht vorstellen«, murmelte Dirk. »Doch, echt, wir gehen auch manchmal zu ihr!« »Nein, ich meine so einen Kinderladen oder wie das heißt. Als ich klein war, da mußte ich mal in den Kindergarten, bloß ein paar Wochen, weil meine Mutter im Krankenhaus war. Warme Milch gab’s da, mit Haut drauf! Brrr!« Dirk schüttelte sich. Noch heute konnte er nicht einmal den Geruch von warmer Milch ertragen. Und jeden Morgen hatte er geweint, wenn Papa ihn dort abgeliefert hatte. Aber das brauchte er ja nicht zu erzählen. »Ihh! Warme Milch! Ich mag noch nicht mal kalte. Höchstens Kakao.« Aber Amina war offenbar mit ihren Gedanken schon woanders, denn sie blickte sich suchend in Dirks Zimmer um. »Ist was?« fragte Dirk leicht irritiert. »Sag mal, hast du ‘ne vernünftige Schere?« fragte Amina. »Wieso?« »Ich will meine Jeans abschneiden. Die sind sowieso ein bißchen kurz, und abgeschnittene Jeans finde ich toll. Vor allem, wenn dann so Fransen kommen.« »Ja, aber… mußt du nicht erst fragen? Darfst du das denn einfach?« fragte Dirk. »Wieso denn nicht?« sagte Amina. »Das sind doch meine Hosen!« Dirk stand auf und ging nach nebenan. Seine Mutter hatte eine große scharfe Schneiderschere, an die er nie randurfte, denn die war nur für Stoff. Aber jetzt soll sie ja Stoff schneiden, sagte sich Dirk, also kann ich sie auch nehmen. »Haste nicht auch ein paar Jeans zum Abschneiden?« fragte Amina und zog sich ihre Hosen aus. Daß sie jetzt in bunten
Blümchenunterhosen dastand, schien ihr nicht das geringste auszumachen. »Nee, Quatsch«, sagte sie und zog die Hosen wieder an. »Ich muß doch wissen, wo ich abschneiden will. Wo ist denn ein Spiegel?« Dirk gab es auf, sich zu wundern. Er holte einen Stift zum Markieren, zeigte ihr den Badezimmerspiegel und überlegte dann, ob er nicht auch… Blödsinn, dachte er, das gibt nur Ärger. Nachdem Amina die Länge abgemessen hatte, legte sie die Hose auf den Boden und ritsch, ratsch! hatte sie das eine Bein verkürzt und gleich darauf das andere. Dirk schaute Amina zu. Sie hatte die Sandalen ausgezogen und jetzt sah er, daß ihre Fußsohlen so hell waren wie ihre Handflächen, dunkel nur die dünnen Falten. Noch immer wußte er nicht genau wo ihre Mutter herkam und wer ihr richtiger Vater war. Amina sprang auf, zog die kurzen Hosen über und rannte vor den Spiegel. »Und – wie findste das?« fragte sie dann. »Toll nicht – oder noch zu lang?« Ein bißchen zu lang, befand sie dann und schnitt noch einen Zentimeter ab. »Fertig!« strahlte sie. »Hast du nicht auch Lust, dir ein paar kurze Hosen zu machen?« Dirk fielen seine alten Jeans ein, die ausgeblichenen, die er nicht mehr zur Schule anziehen durfte. Dagegen konnte seine Mutter doch nichts haben. Aber wo waren die Hosen? Hoffentlich hatte seine Mutter sie nicht schon zur Altkleidersammlung gebracht. Weggeschmissen wurde bei Familie Hempel nämlich nicht. Dirk zog die oberste Schublade der Kommode auf und holte erst die guten Hosen heraus. Fehlanzeige. Dann wühlte er auf der anderen Seite, unter den T-Shirts, warf einen Kapuzenpulli zur Seite und packte schließlich einen Stapel Sachen oben auf die Kommode. Die alten Jeans waren weg, eindeutig. Aber er fand noch ein paar
hellblaue, die sahen nicht mehr sehr neu aus. Dirk hielt sie prüfend hoch. Doch, die kann ich nehmen, entschied er, Mama wird schon nichts sagen. Amina nickte zustimmend und klapperte auffordernd mit der Schere. Dirk ging ins Bad, machte die Tür zu und zog sich die Jeans an. Dann stellte er sich vor den Spiegel und rief Amina: »Kannst du mal einen Strich machen? Ich will sie genauso lang wie deine.« Amina kniete sich vor ihn hin und markierte die Stelle mit dem Filzstift, wo die Hosen abgeschnitten werden sollten. Jetzt konnte Dirk nicht mehr zurück, über den schwarzen Strich würde seine Mutter sich vielleicht sogar noch mehr ärgern. »Na, los, worauf wartest du noch?« fragte Amina und klapperte wieder mit der Schere. Daß du aus dem Bad gehst, dachte Dirk, damit ich die Hose ausziehen kann. Doch dann hatte er schon den Knopf auf und den Reißverschluß runtergezogen. Sein T-Shirt war ziemlich lang, und Amina hatte schließlich einen, nein, zwei Brüder. »Willst du schneiden? Oder soll ich?« frage Amina, ohne sich darum zu scheren, was er anhatte oder nicht anhatte. »Laß mich mal.« Dirk legte die Hose so auf den Boden wie Amina zuvor, und ritsch, ratsch! hatte auch er kurze Jeans. Reichlich schräg abgeschnittene kurze Jeans. Als er erneut vor dem Spiegel stand, um sein Werk zu bewundern, ging die Wohnungstür. Dirks Herz klopfte laut, für sein Gefühl jedenfalls. Wieso kommt Mama schon so früh? Zuerst begrüßte sie Amina freundlich. Dann entdeckte sie Dirk im Bad. »Also, Dirk!« sagte sie verblüfft. »Was soll denn das?« »Ich… wir haben… wir wollten kurze Hosen haben, und da…« »Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen! Was sind das für neue Sitten hier! Und alles völlig schief und
krumm! Kann ich dich denn nicht ein paar Stunden alleine lassen!« Wütend warf seine Mutter Schlüssel und Handtasche auf das Regal im Flur. »Und was stinkt hier so?« fragte sie. Dirk kam aus dem Bad. »Mama, die Suppe ist angebrannt, ich weiß auch nicht…« »Auch das noch!« stöhnte sie. »Himmelherrgott, ich hab gedacht, du wärst schon vernünftiger!« Dann fuhr sie Dirk an: »Zieh diesen Fetzen aus!« Amina starrte Dirks Mutter mit offenem Mund an. Sie guckte an sich herunter und sagte: »Aber ich hab doch auch solche Hosen, die sind doch…« »Was du machst, ist mir egal. Aber mein Sohn läuft nicht rum wie die Hottentotten! War ja noch schöner!« Mit diesen Worten verschwand Dirks Mutter in ihrem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Amina legte die Stoffreste sorgfältig übereinander, Kante auf Kante. In ihren Augen standen Tränen. »Das meint die nicht so«, sagte Dirk. Ihm war der ganze Auftritt unendlich peinlich. »Und warum sagt sie es dann?« sagte Amina. »Ich geh jetzt. Kommst du mit aufn Kreuzberg?« »Ja, aber ich muß erst fragen.« Dirk öffnete vorsichtig die Zimmertür. »Mama, ich geh mit Amina ein bißchen raus, ja?« »Kommt überhaupt nicht in Frage!« Seine Mutter hatte sich immer noch nicht beruhigt. »Du hast Stubenarrest, bis auf weiteres! Räum deine Kommode wieder ein, aber ordentlich. Und dann gib diese Hosen her, damit ich sie wenigstens abnähen kann. Das nächste Mal fragst du mich gefälligst, wenn du auf so verrückte Ideen kommst!« Dirk schloß ohne ein Wort zu sagen die Tür. »Ich darf nicht«, sagte er zu Amina. »Wieso nicht?« »Na, wegen der Hose.«
»Was hat das denn damit zu tun?« fragte Amina verwundert. »Strafe muß sein!« sagte Dirk und grinste blöde. Er machte sich daran, die Sachen in die Kommode zu räumen. »Aber wird denn davon die Hose wieder ganz?« fragte Amina. »Bei uns gibt’s so was nicht, Stubenarrest oder so.« »Gar nichts? Auch kein Taschengeldentzug oder Fernsehverbot?« Dirk packte alle Jeans auf einen Stapel. Amina schnitt ein Muster in die abgeschnittenen Hosenbeine ihrer Jeans. »Nee. Nie. Ich weiß auch gar nicht, wozu das gut sein soll. Und ich versteh nicht, warum du nicht mit deinen Hosen machen kannst, was du willst. Das ist doch deine Sache.« »Na ja, aber die Eltern müssen… Ich meine, ist doch ganz normal, daß die Eltern…« »Normal, was heißt denn schon normal?« unterbrach ihn Amina. »Äh, eben, was alle machen, was… Mann, normal, einfach normal.« »Für dich ist normal, was du kennst, wa? Und was andere machen ist dann nicht normal, oder wie?« »Ach, weiß ich doch nicht!« Dirk schnappte sich den Kapuzenpulli und wollte ihn in die Schublade stopfen, da flog plötzlich etwas Rotes auf den Boden. »Eh, das ist ja…«, sagte Amina plötzlich ganz aufgeregt. »Ist das nicht Emils Mütze?« Es war Emils Mütze, die da neben Dirks Fuß auf dem Teppich lag. Erstens wußte Dirk, daß sie es war, und zweitens war sie unverkennbar, es gab keine zweite, die so rot leuchtete und vorne einen springenden Skateboardfahrer drauf hatte. Dirk spürte, daß er rot wurde, seine Ohren glühten, er wagte nicht, sich umzugucken. Amina hatte die Mütze aufgehoben. »Klar, einwandfrei, das ist Emils Mütze. Der wird sich freuen!« Da klang sie noch
ganz fröhlich. Doch dann fügte sie leise hinzu: »Wie kommt denn die in deine Kommode? Also hattest du sie doch!« »Ich… ich«, stotterte Dirk und drehte sich um. Er war immer noch knallrot. »Mensch, Emil war doch hier und hat gefragt. Der war so todtraurig, das kannst du dir gar nicht vorstellen!« Amina funkelte ihn wütend an. Sie hielt die Mütze in der geballten Faust, bückte sich nach den Stoffresten von ihrer Hose und machte Anstalten zu gehen. »Dann hat Paul doch recht!« »Warte«, sagte Dirk und überlegte verzweifelt, wie er das Ganze erklären sollte. »Mann, der Emil, der hat mich so blöd angemacht, weil er hingeflogen ist. Dabei konnte ich doch gar nichts dafür. Kommt der wie ein Irrer von hinten. Und der war längst weg, wie ich die Mütze gefunden hab.« »Na und, du hättest sie ihm später geben können. Er war doch hier und hat gefragt, stimmt’s?« »Ja, da war ich so erschrocken, weil ich erst dachte, sein Skateboard wäre kaputt und ich soll das bezahlen. Sonst reden die ja auch nie mit mir«, fügte er trotzig hinzu. »Ich wollte sie ihm aber zurückgeben.« Amina starrte ihn mißtrauisch an. Dirk spürte, wie ihm die Tränen kamen. Verzweifelt schluckte und schluckte er, räusperte sich und beteuerte noch einmal: »Ehrlich, ich wußte bloß immer nicht wie. Ich wollte sie in der Schule beim Hausmeister abgeben oder…« »Das hättest du doch längst machen können.« »Na ja, ich dachte, dann denkt der, ich hab sie geklaut.« »Hast du ja auch, oder?« überlegte Amina. »Doch, irgendwie schon. Ist das nicht wirklich klauen, wenn man was findet und es nicht zurückgibt?« »Na, so ganz eigentlich nicht. Ich meine, es war ja nicht extra, mehr so… so eine Art Notwehr.«
»Notwehr?« Amina blickte ihn skeptisch an. Aber sie schien nicht mehr so wütend zu sein. »Jedenfalls nehm ich sie jetzt mit.« »Aber du sagst Emil nichts?« »Spinnst du, warum denn nicht?« »Aber ich…« »Oder willst du Emil die Mütze selber geben?« sagte sie im Gehen. Da Dirk nicht reagierte, nur stumm seine T-Shirts in die Schublade räumte, ließ sie ihm stehen und ging aus der Wohnung. Als die Tür klappte, schob Dirk mit lautem Krachen die Kommodenschublade zu, kletterte auf sein Hochbett und steckte den Kopf in die Kissen. Wieder alles im Eimer!
10. Kapitel
Das mit dem Stubenarrest hatte Dirks Mutter nicht so ernst gemeint. Wenn sie nachmittags arbeitete, konnte sie ihn sowieso nicht kontrollieren, und den Schlüssel konnte sie ihm schlecht wegnehmen. Schon am nächsten Tag erwähnte sie das Thema nicht mehr, sondern schärfte ihm nur ein, er solle sein Essen stets nur bei kleiner Flamme unter Umrühren aufwärmen und vor allem dabei bleiben. Den Herd hatte er selber putzen müssen, zähneknirschend. Eine ekelhafte Arbeit, das klebrige Zeug abzuschrubben. Wirklich zu schaffen machte Dirk die Sache mit Emils Mütze. In der Schule spielte Amina wie immer Tischtennis, auch wenn Dirk mitmachte, sie ging ihm nicht aus dem Weg, doch ansonsten schien sie sich überhaupt nicht mehr für ihn zu interessieren. Das war bitter. Dirk überlegte, ob er sich die Mütze von ihr zurückgeben lassen sollte, damit er sie selber Emil geben könnte. Oder sie dann vielleicht mit der Post schicken? Ohne Absender? Aber das war Unsinn, denn Amina wußte Bescheid, und sie würde nicht schweigen, bestimmt nicht. Morgen kam die 6a aus dem Landschulheim zurück. Bis dahin mußte Dirk sich entschieden haben. Um die öden Nachmittage zu verkürzen, kletterte Dirk manchmal auf den Walnußbaum im Hof. Noch verbarg ihn das Blattwerk vor neugierigen Blicken, aber bald würden die Blätter herabfallen, die grünen Kugeln aufplatzen und die hellbraunen Nüsse freigeben. In Heiersdorf hatte Dirk sie mit Micha aufgesammelt und die frischen, bitteren Nüsse mit Zucker bestreut gegessen. Wenn sie viel Geduld gehabt hatten, hatten sie auch das dünne Häutchen von den weißen Kernen entfernt,
deren Form Dirk an ein Gehirn erinnerte, und es schmeckte nur noch nussig-süß. Gerade als Dirk sich zu dem Schuppendach hochzog, betrat der alte Herr Bode den Hof. Dirk überlegt, was er jetzt am besten machen sollte, da kam der Mann auf ihn zu. »Willst du auf den Baum klettern?« fragte er und lächelte Dirk an. »Du wohnst doch mit deiner Mutter oben bei Frau Schmidt in der Wohnung, nicht wahr?« »Ja«, druckste Dirk. Was will der von mir? »Ich hätte direkt Lust zu probieren, ob ich das noch kann!« Ehe Dirk einen Ton herausbrachte, hatte der Mann seine Jacke ausgezogen und die Fußspitzen in die Maschen des Drahtzaunes vor der Schuppenwand gestellt. Dabei war sein Blick auf die Ansammlung von Kippen gefallen, die neben dem Stamm lagen. Markus’ Kippen. »Rauchst du schon?« fragte der Mann und schaute zu ihm hinauf. »Ich? Nö.« »Dann gibt es also noch jemanden, der meinen alten Baum schätzt.« Seinen alten Baum? Komischer Kauz, dachte Dirk. Schon war der Mann neben ihm auf der Mauer. Sein Haar war schlohweiß, die Augenbrauen buschig und ebenso weiß. Seine Augen standen eng neben der kräftigen Nase, so daß sein sehr schmal zulaufendes Gesicht an einen Raubvogel erinnerte. Sein Gesichtsausdruck war aber alles andere als beutegierig oder bösartig. Eher lammfromm. »Früher bin ich bis in die Krone hochgestiegen«, sagte der Mann und schaute nach oben. Er stellte den Fuß vorsichtig auf den ersten Ast und stieg dann energisch zwei Aststufen höher, wo sich eine bequeme Sitzmöglichkeit befand. Er schien genau zu wissen, was er tat. »Na, was ist?« rief er zu Dirk hinunter. Der kletterte an ihm vorbei, bis er schräg versetzt ein Stückchen über dem Alten hockte. Gustav Bode fuhr gedankenverloren mit der Hand über die Baumrinde. Etwas Zärtliches lag in der Bewegung. »Mein Vater hat den Baum
gepflanzt, noch bevor ich geboren wurde. Gleich nach dem Weltkrieg, dem ersten. Er war Portier, als die Herrschaften, denen das Haus gehörte, noch hier wohnten. Er wollte einen richtigen Garten anlegen, wollte Grün zwischen die Mauern bringen. Aber dazu ist es dann nicht mehr gekommen.« Der Alte machte eine lange Pause. Ein nachdenkliches Schweigen, das Dirk überhaupt nicht unbehaglich wurde. Geduldig wartete er, bis der Mann weitersprach. »Der kleine Baum wuchs gut heran. Als ich so alt war wie du, konnte ich schon auf ihm herumklettern. Aber dann kriegten wir einen Blockwart. Harte Zeiten…« Herr Bode schloß für einen Moment die Augen. »Tja, und nach dem Krieg, als ich zurückkam mit meiner Frau, stell dir vor, da stand das Haus noch, und wir bekamen eine richtig vornehme Wohnung im Vorderhaus! Und dann sind meine Kinder auf dem Baum hier rumgeklettert…« »Und Ihre Frau?« wagte Dirk zu fragen. »Ach«, seufzte der Mann. »Sie ist gestorben. Zu früh, viel zu früh… Aber, komm, was halt ich dich auf mit den ollen Kamellen. Außerdem kommt mein Freund Fritz nachher, und ich muß noch kochen. Ich wollte nur mal gucken, ob’s schon Nüsse gibt…« Der Abstieg fiel ihm etwas schwerer, doch er erreichte problemlos das Schuppendach und von dort den Hof. Ohne sich umzudrehen, sagte er im Gehen: »Keine Angst, ich verrate nicht, daß du da oben bist. Ist doch ein geheimer Platz!« Dann verschwand er wieder im Vorderhaus. Dirk machte es sich auf dem dicken Ast bequem, auf dem er sich der Länge nach bäuchlings ausstreckte. Ein angenehmes Gefühl in der Hose, wenn er ein bißchen hin und her schubberte. Die Hoftür knarrte. Markus setzte sich auf das Mäuerchen. Dirk überlegte schon, ob er Markus zu sich auf den Baum holen sollte, da kam Sven aus dem Hinterhaus.
Er gab Markus die Hand und setzte sich neben ihn. »Haste den Schlüssel?« »Schrei doch nich so, Sven«, sagte Markus mit gedämpfter Stimme. »Soll det vielleicht der janze Hof mitkriegen?« Unwillkürlich preßte sich Dirk enger an den Ast. »Ja, und? Hast’n nu?« wiederholte Sven deutlich leiser. »Ja doch!« Markus fischte einen Sicherheitsschlüssel aus seiner grünen Militärhose. »Aber ick weeß echt nicht, ob det looft. Mein Alter is so pingelig!« »Quatsch mit Soße! Der hat doch so viel Zeug da unten! Ha ick doch selber jesehn!« »Haste wat zu roochen?« fragte Markus. »Für ‘n deutschen Jungen immer!« lachte Sven und hielt Markus seine Zigaretten vor die Nase. »Bist janz schön nikotingeil, Kleener!« Markus steckte sich stumm die Zigarette an und hielt sie dann in der linken Hand versteckt. »Denn woll’n wa ma!« meinte Sven und stand auf. Markus zog ihn wieder zu sich runter. »Du, echt, ick kann das nich machen. Kannste den Stoff nich woanders besorgen?« Markus sog nervös an seiner Zigarette. Sven räusperte sich. »Wo soll ick denn die Knete hernehmen? Und ick hab versprochen, daß ick wat mitbringe. Ein deutsches Wort gilt!« »Aber der merkt das doch. Und was dann?« Markus klang unsicher. »Jetzt paß ma uff. Ick kann ooch anders.« Svens Stimme hatte plötzlich einen drohenden Ton. Dirk zuckte zusammen. Am liebsten wäre er weiter hinaufgeklettert, aber er fürchtete, sich durch ein Knacken oder Rascheln zu verraten. Also blieb er mucksmäuschenstill liegen. »Ick sage nur: Kinderwagen!« »Wie? Wa… wat meinste damit?« stotterte Markus. »Na, an dem bewußten Abend, wo du nachts heimlich raus bist und mit uns mit warst im Bunker – na, klingelt’s jetzt?« Markus drückte seine noch nicht fertig gerauchte Zigarette mit hastigen
Bewegungen am Mäuerchen aus. Dann schleuderte er sie nach hinten, zum Baumstamm hin. Dirk preßte sich noch dichter an den Ast, auf dem er lag. Wenn Markus jetzt hochguckte! Der aber starrte mit gesenktem Kopf auf das Hofpflaster zwischen seinen Stiefeln. »Ick war jedenfalls keene zehn Minuten im Bette, da kommt die Feuerwehr. Und wer is kurz vorher roochend an dem Türken sein Kinderwagen vorbei? Na?« Markus sagte noch immer nichts. Dann flüsterte er, so daß Dirk ihn kaum verstand: »Det war doch nich mit Absicht, eh!« Sven stieß ihn in die Seite. »Jetzt versteh mich doch nich falsch. War doch ‘ne korrekte Aktion, doch, doch! Bloß – was wird dein Papi dazu sagen? Kommt nicht gut für sein Laden, Sohni als Brandstifter und so…« »Jetzt hör aber ma auf! Det stimmt doch überhaupt nich!« »Ich glaub ja auch nicht, daß dein Papi was dagegen hätte. Aber seine Kunden…« Sven stand auf. »Schluß mit dem Theater. Rückste das Zeug jetzt raus oder wat?« Ohne ein Wort zu sagen, blickte Markus kurz zu den Fenstern seiner Wohnung, stand dann auf und ging zu dem überdachten vorderen Kellereingang. Sven folgte ihm. Kurz darauf waren beide über die kleine Treppe im Keller verschwunden. Blitzschnell stieg Dirk vom Baum hinunter, huschte am Zaun entlang bis zur Hauswand. Die Kellerräume im Vorderhaus hatten zu ebener Erde vergitterte Fenster, die von innen mit Brettern vernagelt waren. Dirk spähte vorsichtig durch die Ritzen des ersten Fensters. Ein schmaler Raum, vollgestopft mit Werkzeugen und Baumaterialien. Niemand zu sehen. Mit einigen schnellen Sprüngen war Dirk an der Treppe und am zweiten Fenster vorbei und stand neben der Tür zum Vorderhaus. Dort nestelte er an seinen Schuhbändern herum und schielte dabei unauffällig in den Kellerraum.
Durch einen Spalt zwischen den Brettern blickte er in einen Lagerraum voller Kisten und Kartons. Sven zog gerade eine Plastiktüte aus der Tasche und packte vier Schnapsflaschen hinein. Er wollte noch nach einer fünften greifen, aber Markus schüttelte energisch den Kopf und redete auf Sven ein, der sich dann offenbar zufriedengab. Dirk verzog sich schleunigst in den Hausflur und rannte die Treppen hoch. Oben in der Wohnung wußte er nicht, was er machen sollte. Die Gedanken in seinem Kopf fuhren Karussell oder eher noch Achterbahn. Er schnappte sich einen Apfel aus der Obstschale und ging in sein Zimmer. Kauend stellte er sich ans Fenster. Hatte also Amina doch recht gehabt mit ihrem Verdacht, daß der Kinderwagen angesteckt worden war, um der türkischen Familie eins auszuwischen? Markus hatte zwar gesagt, es war nicht mit Absicht gewesen, aber behaupten kann man alles. Andererseits konnte sich Dirk nicht vorstellen, daß Markus Feuer legte, noch dazu im eigenen Haus. »Hier brennt nichts mehr«, hatte er gesagt, als ob es ihm leid täte. Aber hatte er nicht auch die Katze vom Dach geworfen, einfach so? Und einfach so die brennende Zigarette in den Kinderwagen geworfen? Völlig bescheuert, dachte Dirk. Mindestens so blöd wie die Sache mit Emils Mütze, fügte er dann in Gedanken hinzu. Und schämte sich. Unten sah er Andi über den Hof gehen. Der pfiff auf zwei Fingern, und Sven beugte sich aus dem Fenster. »Komm hoch!« sagte er. Kurz darauf rief eine dünne Stimme durch den Hof: »Frau Bürkenaah!« Unten stand eine ältere Frau und schaute mit leicht glasigen Augen in einem roten, aufgedunsenen Gesicht nach oben. Im obersten Stock des Seitenflügels ging ein Fenster auf, und die alte Frau, die in der Wohnung neben Hannah wohnte, warf eine Hundeleine hinunter. Kurz darauf
wackelte ein kurzatmiger, wurstförmiger Dackel mit grauen Schnäuzerhaaren auf den Hof und begrüßte schwanzwedelnd die leicht schwankende Frau, die ihn an die Leine nahm und zur Straße führte. Eine Weile später würde dann wieder »Frau Bürkenaah!« durch den Hof schallen und Bessie, so hieß die Dackeldame, schwanzwedelnd mit der Leine im Schlepptau im Seitenflügel verschwinden. Dirk hatte die Hundeausführerin schon öfter auf der Straße gesehen. An der großen Kreuzung, neben einer kleinen Grünfläche, stand eine Bank, und dort hockte die Frau Tag für Tag zusammen mit mehreren Männern. Sie hatten Bierdosen in der Hand, manchmal eine Weinflasche. Dirk machte sicherheitshalber immer einen Bogen um sie herum. Aber wenn er die Frau, die Bessie ausführte, bei sich im Haus traf, grüßte er höflich, und sie lachte ihn freundlich an. Nachdem Bessie und die rotgesichtige Frau aus Dirks Blickwinkel verschwunden waren und er sich gerade überlegte, ob er sich nicht die Mütze von Amina holen sollte, damit er sie morgen Emil geben konnte, traten Andi und Sven aus dem Hinterhaus. Sven schleppte einen leuchtend roten Eimer zu den Mülltonnen und stellte ihn nach dem Ausleeren im Hinterhaus ab. Kurz darauf kamen Amina und Hannah laut lachend aus dem Seitenflügel gerannt. Amina blickte sich nach Hannah um und sah daher nicht, daß sie geradewegs auf Andi zusteuerte. Der wich nicht aus, sondern ließ die viel kleinere Amina auflaufen und gab ihr noch zusätzlich einen Stoß. Amina stürzte rückwärts zu Boden, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig mit beiden Händen abstützen, so daß sie nicht mit dem Kopf aufschlug. Hannah blieb erschrocken stehen, das Lachen in ihrem Gesicht gefror. Andi wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. »Igittigitt!« sagte er und spuckte neben Amina auf die Erde. »Paß bloß auf! Rühr mich nicht noch mal an, du Affengesicht!
Wir sind hier nicht im Dschungel!« Dabei stellte er drohend seinen rechten, stiefelbewehrten Fuß vor Amina auf. »Komm, hier stinkt’s. Gehen wir«, sagte Sven und zog Andi am Ärmel »Schwarze Ratte. Pfui Deibel!« Beide stapften Richtung Vorderhaus. »Blöde Idioten!« schrie Hannah hinterher. »Arschlöcher!« Dirk fröstelte. Er schloß das Fenster. Am liebsten hätte er auch einen Vorhang vorgezogen. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie Hannah Amina auf die Beine half. Fünf Minuten später stand Dirk mit pochendem Herzen vor der Tür der Nachbarn und klingelte. Ob sich ein unangemeldeter Besuch gehörte oder nicht, war ihm jetzt völlig egal. Thilo Kaminski machte die Tür auf und sagte nur kurz: »Komm rein! Wir sind in der Küche.« Dirk blieb schüchtern am Kücheneingang stehen. »Setz dich«, sagte Rosa Kaminski und deutete mit dem Kopf hinüber zum Tisch, an dem Hannah saß. »In der Kanne ist Tee, wenn du magst.« Ihre Stimme klang freundlich, und doch schien es Dirk, als wären alle äußerst angespannt. Amina hockte bei ihrer Mutter auf dem Schoß, die sachte auf die aufgeschürften Handflächen pustete. Langsam wippte sie mit Amina auf dem Schaukelstuhl hin und her. Der kleine Robert rüttelte am Knie seiner Mutter und wiederholte beharrlich: »Ssoß! Will auch aufn Ssoß!« »Robert, du nervst!« Thilo Kaminski schnappte sich den Kleinen und lief mit dem Kind auf dem Arm aufgeregt in der Küche auf und ab. »Den Knaben knöpf ich mir vor! War ja noch schöner!« tobte er. »Und dann?« fragte Amina und blickte auf. »Das kriegen wir doch bloß wieder ab. Misch dich da lieber nicht ein!« »Ich soll mich nicht einmischen? Wenn so ein großmäuliger Rüpel, so ein größenwahnsinniger Dreckskerl dich angreift?«
»Aber direkt angegriffen hat er mich nicht, Thilo«, sagte Amina leise. »Jedenfalls nicht richtig. Ich bin mit ihm zusammengestoßen!« »Deswegen hätte er dich aber nicht schubsen oder beschimpfen müssen!« meinte Rosa Kaminski. »Es ist zum Kotzen! Daß das nie aufhört!« »Im Gegenteil! Es wird immer schlimmer!« sagte eine junge Stimme. Ein dunkelhäutiger junger Mann mit ganz kurz rasierten Haaren kam in die Küche. »Die Politiker tönen: ›Das Boot ist voll, unsere Gesellschaft verrasst, Überfremdung droht‹ und was weiß ich noch für’n Scheiß! Da brauchste dich echt nicht zu wundern!« Er nickte Dirk kurz zu. »Mein Bruder Martin«, erklärte Rosa. »Und das ist Dirk von nebenan.« Martin sagte kurz: »Tag!« und fuhr dann fort: »Denk doch mal an den Kinderwagen! Das war doch kein Zufall!« Der junge Mann setzte sich an den Tisch und goß sich eine Tasse Tee ein. »Soll’s denn hier erst mal richtig brennen?« »Jetzt bleib mal auf dem Teppich, Martin, mach die Kinder doch nicht verrückt! Das mit dem Kinderwagen ist geklärt«, sagte Rosa Kaminski. »Das war eine weggeworfene Zigarettenkippe, weiter nichts. Wir haben extra noch mal mit der Kripo gesprochen.« »Die Bullen!« sagte Martin verächtlich. »Sag bloß, du weißt nicht, wie die drauf sind! Lebst du aufm Mond oder was?« »In jedem Fall haben diese Jungs eine zu große Klappe!« sagte Thilo und setzte den kleinen Robert auf den Boden. »Und die gehört gestopft, bevor die Typen noch mehr Unheil anrichten! Herrgott noch mal, das gibt’s doch gar nicht!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Im eigenen Haus!«
»Willst du die Jungs jetzt verprügeln oder wie?« fragte Rosa Kaminski in scharfem Ton. »Auf Männerart? Auge um Auge, ja?« »Jedenfalls besser als dieses ewige Sozialarbeitergewäsch!« meinte Martin und ballte die Faust. »Jetzt unterstell mir doch nicht so was!« fuhr ihn seine Schwester an. »Verdammt noch mal, jetzt streiten wir uns wegen dieser Idioten! So weit kommt’s noch!« »Wenn die noch einmal…«, sagte Thilo Kaminski. »Thilo, du machst alles bloß noch schlimmer«, unterbrach ihn Amina und rutschte vom Schoß ihrer Mutter. »Du kannst mich nicht andauernd beschützen.« Ihre Mutter streckte ihre Arme noch einen Augenblick aus, als wollte sie ihre Tochter festhalten. Amina grinste breit, nahm den Kopf ihrer Mutter zwischen die Hände und gab ihr einen Kuß. »Ich paß schon auf mich auf, Rosa!« »Solange du weißt, wer du bist, kann dir keiner was!« antwortete ihre Mutter lächelnd. Auch sie hatte ein Grübchen rechts neben dem Mund. »Aber vielleicht solltest du einen Karate-Kurs machen? Selbstverteidigung für Mädchen oder so was?« fügte sie hinzu. »Na bitte. Jetzt kommst du der Sache schon näher!« brummte Martin. »Die Zeiten haben sich geändert, Schwester! Heute wird nicht mehr gezischelt, heute wird getreten!« »Selbstverteidigung ist gut«, sagte Hannah. »Da mach ich mit!« »Kommt, wir gehen ins Kinderzimmer!« sagte Amina zu Hannah und Dirk, der die Debatte mit offenem Mund verfolgt hatte. Und dann sagte Amina noch: »Ratte hat Sven zu mir gesagt! Ratte!«
11. Kapitel
Am nächsten Tag brannte Emils feuerrote Mütze in Dirks Rucksack. Dirk hatte sich nicht lange bei Amina aufgehalten, sich nur kurz verwundert in dem großen unaufgeräumten Kinderzimmer umgeguckt, das ihm vorkam wie ein Spielgarten. Auch hier gab es ein Hochbett, sogar mit zwei Etagen. Als Dirk Amina gebeten hatte, ihm die Mütze zu geben, da hatte sie ihn einen Moment lang richtig angestrahlt und auch sofort gewußt, was er vorhatte. Hannah hingegen hatte überhaupt nicht begreifen können, wieso Amina plötzlich Emils Baseballkappe aus einer Schublade holte und sie Dirk in die Hand drückte, der sich sofort verabschiedete.
Der Bus vom Landschulheim wurde gegen Mittag vor der Schule erwartet. Im Diktat wußte Dirk plötzlich nicht mehr, wie Hase geschrieben wurde, mit einem oder mit zwei a? In der Mathestunde mußte ihn Frau Gülsevdi zweimal ermahnen, weil er nicht aufgepaßt hatte. Beim Tischtennis flog er jedesmal in der ersten Runde raus. Und dauernd hatte er das Gefühl, Aminas Blicke im Rücken zu spüren. Nach Schulschluß stand Dirk auf der Straße und sah den großen Bus um die Ecke biegen. Eltern und Geschwister der Kinder aus der 6a waren versammelt. Rosa Kaminski unterhielt sich mit einer langen, dünnen Frau. Ob das die Mutter von Emil ist? überlegte Dirk. Der ist ja auch so lang und dünn. Soll ich ihr die Mütze geben, und dann nichts wie weg?
Sobald der Bus hielt, sprang die Tür auf, und die Kinder drängelten sich lärmend mit Tüten, Kissen und Walkmen in der Hand auf die Straße. Der Busfahrer öffnete die Luken des Gepäckraumes und reichte Taschen und Koffer heraus. Emil und Paul begrüßten ihre Mütter. Die dünne Frau war tatsächlich Emils Mutter. Dirk trippelte nervös hin und her und knetete die Tüte mit der Mütze in seinen Händen. Als die beiden Jungen ihre Taschen holen gingen, gab sich Dirk einen Ruck, drückte sich durch die Wartenden und stand plötzlich vor Emil. »Du, äh, ich… ich wollte dir bloß was geben.« Hastig drückte Dirk Emil die Tüte in die Hand. Verwundert warf Emil einen Blick hinein, riß die Augen auf und schrie plötzlich ganz laut: »Juchuuuhhh!« Mit einem Griff zerrte er sich die schwarze Kappe vom Kopf und setzte die rote Mütze auf. Mit dem Schirm nach hinten. »Mensch, Paul, kiek doch mal!« jubelte er dann. Aber Paul guckte längst und alle anderen auch. Dirk sagte ganz schnell. »Ich hab sie aufgehoben, damals, du weißt schon. Und äh, na ja, jetzt hast du sie!« Und ehe Emil irgendeine Frage oder Bemerkung herausbrachte, hatte sich Dirk umgedreht und raste nach Hause. Er hatte das Gefühl, ihm wäre eine zentnerschwere Last von den Schultern gefallen. Und am liebsten hätte er auch ganz laut »Juchuuuuh!« geschrien.
Kurz darauf lag eine Einladung zu Pauls Geburtstag bei Dirk im Briefkasten, ein fotokopiertes Blatt. »Pauls Party« stand obendrüber, umrahmt von zwölf Kerzen. Am Sonnabend um fünfzehn Uhr waren Kakao, Cola, Kaffee, Tee und Kuchen angesagt. Anschließend ein Stadtspiel, zu dem jedes Kind einen Block und einen Stift mitbringen sollte; auch eine Uhr wäre praktisch, aber nicht notwendig. Verwachsene dürften
währenddessen am Kaffeetisch bleiben und quatschen. Abends dann ein Überraschungsessen. Und schließlich Disco bis zum Abwinken, jedenfalls bis zum Ende der Ausgehzeit. Ganz am Schluß des Blattes prangte ein Foto von einem greinenden Baby mit spärlichem Kraushaar, daneben ein neueres von Paul, auf dem er ausgesprochen lieb und freundlich aussah und eine üppige Haartracht zeigte. Vorher und nachher, stand darunter. Eigentlich hatte Dirk absagen wollen. Denn Paul hatte ihn doch bloß eingeladen, weil seine Mutter es wollte. Dirk hatte das Gespräch im Hausflur nicht vergessen. Andererseits hörte sich die Sache recht verlockend an, und Dirk wischte alle Bedenken beiseite. Er freute sich einfach. Und ein Geschenk war ihm auch eingefallen. An seinem letzten Geburtstag hatte er zwei Leuchtjojos bekommen, eines davon hatte er noch nie angerührt. Vielleicht konnte Paul Jojo spielen oder hatte Lust, es zu lernen. Dann könnten sie was zusammen machen. Der Gedanke an die Trommel war Dirk nur noch ausgesprochen peinlich.
Sonnabend nachmittag, kurz vor Beginn der Party, klingelte es. Dirks Mutter saß in ihrem Zimmer und paukte englische Vokabeln für ihren Englischkurs an der Volkshochschule. Dirk übte mit seinem Jojo. Da keiner von beiden zur Tür ging, klingelte es noch einmal, nun schon ungeduldig, mehrmals hintereinander. Dirk und seine Mutter standen gleichzeitig an der Tür. Dirk machte auf. »Papa!« »Jürgen?« Dirks Mutter trat einen Schritt zurück. »Papa!« rief Dirk noch einmal und sprang mit einem Satz seinem Vater auf den Arm, der es trotz Tüte und Blumenstrauß in den Händen schaffte, seinen Sohn an sich zu drücken. »Muß doch mal gucken, wie’s euch hier geht!« sagte Dirks Vater und ließ den Jungen herunter. »Mensch, Papa!« strahlte
Dirk. »Komm rein!« Dirks Mutter schien nicht ganz so begeistert zu sein. »Hallo, Jürgen«, sagte sie lahm. »Tag, Gina. Hier, für dich!« Er streckte ihr die Blumen entgegen, dann besann er sich, wickelte sie aus dem Papier und gab sie ihr. »Blumen für mich?« bemerkte Dirks Mutter. »Aber schön sind sie!« »Papa, wie lange bleibst du? Schläfst du bei uns? Wie geht’s Micha, hast du den gesehen?« Die Fragen sprudelten nur so aus Dirk heraus. »Komm, ich zeig dir mein Zimmer. Ich hab ein Hochbett, ganz toll, sag ich dir!« Er zog seinen Vater durch den Flur und bemerkte gar nicht die große Tüte, die jetzt an der Wand lehnte. Nachdem Dirk seinen Vater herumgeführt und ihm auch den Blick auf den Hof gezeigt hatte und den Walnußbaum – »Aber sag Mama nicht, daß ich da raufklettere!« –, setzten sie sich zu seiner Mutter ins Wohnzimmer. »Na, da habt ihr euch ja schön eingelebt hier!« sagte Jürgen Hempel und löste seinen Schlips. »Aber ein bißchen eng ist es schon, was?« Dirks Mutter überhörte den leisen Vorwurf. Ihr schien der Besuch eher unangenehm zu sein, sie blieb recht kurz angebunden. Mit keinem Wort ging sie auf seine Frage ein, wie sie sich fühle in Berlin. Dirk hingegen wußte gar nicht, wohin mit sich vor Freude. Obwohl er die Spannung zwischen seinen Eltern bemerkte, war er einfach nur glücklich, mit beiden zusammen zu sein. Nachdem Dirk ausführlich von der Schule erzählt hatte, war es plötzlich ganz still im Zimmer. In der Ferne heulte eine Feuerwehrsirene. »Warum bist du eigentlich hier, Papa?« fragte Dirk schließlich.
»Tja«, sagte Dirks Vater und streckte verlegen die Beine aus. Dirks Mutter verschränkte die Arme und blickte ihren Mann mit skeptischen Augen an. »Ich, äh, ich hatte geschäftlich hier zu tun, heute vormittag«, fuhr sein Vater fort. Er blickte auf seine Schuhspitzen. »Ich hatte Sehnsucht nach euch.« So traurig hatte Dirk seinen Vater noch nie gesehen. Danach herrschte wieder betretenes Schweigen. »Papa, kann ich dich in den nächsten Ferien besuchen? Darf ich, Mama?« fragte Dirk. »Sicher, wenn Papa Zeit hat! Warum nicht?« »Ja, Papa?« »Ja, ja. Natürlich.« Aber er schien gar nicht richtig zuzuhören. »Ich… geh doch mal raus, Dirk, ich will mit deiner Mutter sprechen.« Dirk rutschte auf der Sesselkante hin und her und zog einen Flunsch. Aber es nützte nichts. »Nun geh schon«, sagte sein Vater. »Und mach die Tür zu.« Sobald Dirk draußen war, legte er sein Ohr an die Tür. Er hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei. Bestimmt ging es um ihn. »Gina«, sagte sein Vater, »ich hab mir alles noch mal durch den Kopf gehen lassen. Zeit genug hatte ich ja. Und ich bin auch bereit… Also, ich meine, wollen wir’s nicht noch mal versuchen?« »Ach«, seufzte Dirks Mutter. »Wie oft hast du das schon gesagt, und nie hat’s geklappt. Es ist vorbei, Jürgen, versteh das doch endlich.« »Aber eine Ehe kann doch nicht so einfach vorbei sein.« »Das sagst du jetzt! Dabei bist du derjenige, der’s mit der Ehe nicht so genau genommen hat!« »Bitte, fang nicht wieder damit an… das haben wir doch längst geklärt!« Wovon reden die? fragte sich Dirk. »Das stimmt nicht, Jürgen. Danach war unsere Ehe nur ein einziger Krampf. Das
weißt du genausogut wie ich. Und irgendwann war für mich einfach Schluß. Aus. Ende.« »Und was ist mit dem Jungen? Für den ist das hier überhaupt nichts. Die Stadt und der ganze Verkehr und die Gewalt! Man hört ja die schlimmsten Geschichten! Nimm doch wenigstens auf das Kind Rücksicht!« »Das tue ich doch. Glaubst du, eine kaputte Ehe macht einem Kind nichts aus? Außerdem will ich dir eins sagen: So gerne ich Mutter bin – es gibt aber auch noch andere Dinge, die mir wichtig sind!« »Wichtiger als dein Kind?« fragte Dirks Vater spitz. »Unsinn«, blaffte sie. »Außerdem ist es unser Kind. Wenn du meinst, du kannst besser für Dirk sorgen, dann tu es. Aber mach mir keine Vorwürfe!« »Will ich doch gar nicht«, sagte Dirks Vater besänftigend. »Ich möchte nur, daß ihr beide zurückkommt, du und der Junge…« »Jürgen, das hat keinen Zweck!« »Jetzt warte mal ab. Ich hab kapiert, daß du wieder arbeiten willst! Und ich habe sogar eine Stelle für dich. Dr. Oetringhaus richtet neben seiner Praxis Räume für Heilbehandlungen ein, und er sucht zwei Krankengymnastinnen. Ich hab schon mit ihm gesprochen und…« »Mach dir keine Hoffnungen, Jürgen. Ich laß mich nicht mehr von dir verplanen. Mir geht’s gut hier in Berlin. In Heiersdorf ersticke ich.« »Gina, Mensch, Gina!« sagte Dirks Vater leise. »Bedeute ich dir denn überhaupt nichts mehr?« Schweigen. Geraschel. »Laß das, das hat doch keinen Sinn«, sagte Dirks Mutter dann ärgerlich. »Du fehlst mir, Gina, wirklich. Es ist so einsam in dem großen Haus. Dauernd starren mich die Sachen von dem Jungen an. Und es ist so verdammt still.« Dirks Mutter
schwieg, dann sagte sie zögernd: »Ich meine, wenn… also, wenn du wirklich willst, dann wäre ich einverstanden, daß Dirk bei dir bleibt. Ich glaube, er hat hier sowieso noch nicht so richtig Anschluß gefunden.« Dirk schluckte. Ich bin doch kein Möbelstück, dachte er, das man einfach hin und her schieben kann, wo’s am besten hinpaßt, oder wie? »Nein, Gina«, erwiderte sein Vater schnell. »Das schaff ich nicht. Ich hab so viele Verpflichtungen. Und dann noch Kind und Haushalt, nein danke.« »Du kannst dir eine Haushaltshilfe nehmen!« »Was soll ich mit einer fremden Frau im Haus, wenn ich selber eine habe!« sagte Dirks Vater lachend. Aber es klang sehr gequält, fand Dirk. »Wirklich, Jürgen, schlag dir das aus dem Kopf. Ich fange hier ein neues Leben an«, sagte Dirks Mutter mit einem so endgültigen Ton in der Stimme, daß Dirk schnell in sein Zimmer lief. Kurz darauf rief Dirks Vater: »Dirk, komm rein!« Er zog seinen Sohn zu sich auf den Schoß und sagte: »Mein Flieger geht erst heute abend um neun. Bis dahin hab ich Zeit für uns… für uns zwei«, fügte er nach einem kurzen Blick auf Dirks Mutter hinzu. »Ich habe gedacht, wir gehen in den Zoo. Warst du da schon? Oder ins Aquarium, das soll auch so toll sein. Aber erst mal holen wir uns an der Gedächtniskirche ein Rieseneis. Und später gehen wir ein großes Steak essen, ja? Oder umgekehrt, wie du willst.« Früher hatte sein Vater manchmal den ganzen Sonnabend Zeit für Dirk gehabt, und sie waren zusammen losgezogen zum Drachensteigen oder Schlittschuhfahren, Schwimmen oder Rodeln, ins Museum oder auf eine Kirmes. Vom Berliner Aquarium hatte Dirk schon gehört. Die Krokodile konnte man dort ohne Glasscheibe sehen, eine Brücke führte über ihr Gehege. »Au ja, ins Aquarium, Papa. Komm, gehen wir!«
Ungeduldig sprang Dirk auf, dabei fiel ihm das Jojo aus der Tasche. Pauls Party! Was sollte er nun machen? Im gleichen Augenblick sagte seine Mutter: »Aber Dirk, du bist doch bei Paul eingeladen!« »Wer ist Paul?« fragte Dirks Vater. »Paul? Das ist der Junge von nebenan. Der hat heute Geburtstag und…« »Und was wird nun aus uns zweien?« unterbrach ihn sein Vater, der seine Enttäuschung kaum verbergen konnte. »Ich habe mich so auf dich gefreut, Junge!« Dirk überlegte. Papa ist nur einmal da, dachte er. Und Paul hat mich ja bloß eingeladen, weil seine Mutter es wollte. Vielleicht wird die Party ja ganz doof. Ich kenne die doch überhaupt nicht richtig. »Los, Papa, gehen wir!« sagte er schließlich. »Aber, Dirk…« Seine Mutter wollte etwas einwenden, ließ es dann aber. »Aber sag wenigstens ab, hörst du?« »Kannst du das nicht machen?« »Nein, das mußt du schon selber tun.« Dirk holte das Jojo für Paul aus seinem Zimmer und den Bogen Papier, den er in der Küche in einem Schubfach gefunden hatte, lila mit silbernen Sternchen. Darin wickelte er das Jojo ein. Im Flur stolperte er über die große Tüte, die sein Vater mitgebracht hatte. »Was ist denn das hier, Papa?« rief er ins Zimmer, wo sich seine Eltern anschwiegen. »Guck rein, ist für dich!« »Ein Skateboard! Ist ja irre! Echt, ein Skateboard! Danke, Papa!« Dirk konnte es kaum fassen. Ein solides Brett, leicht aufgerauhte Oberfläche, in allen Regenbogenfarben schillernd, die butterweich rollenden Räder leuchteten weinrot. Er ließ es surrend über den Flur rollen und stellte es dann mitten in sein Zimmer. Ein wunderschöner Anblick! Mit dem Päckchen in der Hand klingelte er bei den Nachbarn. So ganz wohl in der Haut war ihm dabei nicht. Paul machte auf und strahlte Dirk an, als wäre er sein bester Freund. »Hallo!« sagte Paul. »Komm rein, du bist der erste!«
»Äh, ich… also, herzlichen Glückwunsch«, stotterte Dirk und drückte Paul das Päckchen in die Hand. »Weißt du, ich… Mein Papa ist gekommen, und der ist nur heute da und…« Pauls Miene verfinsterte sich. »Ach so«, sagte er. »Na, dann.« »Tut mir echt leid, aber…« Dirk wandte sich zum Gehen. »Viel Spaß!« »Danke«, sagte Paul verdrossen. »Danke für das Geschenk.« Aus der Wohnung rief jemand: »Wer ist das denn? Kommt doch rein!« Die Tür fiel ins Schloß. Dirk stand alleine auf dem Flur und hatte das Gefühl, eine Gelegenheit verpaßt zu haben.
12. Kapitel
Nachdem Dirk zum Frühstück ein Glas Kakao getrunken und ein Brot gegessen hatte, legte er seiner Mutter einen Zettel hin: »Bin mit dem Skateboard auf dem Kreuzberg.« Er hatte keine Lust zu warten, bis sie endlich aufwachte. Abends hatte sie wieder mal Besuch gehabt. In der Küche standen leere Weinflaschen und schmutzige Gläser, wie so oft am Sonntagmorgen. Der gestrige Ausflug mit seinem Vater schien Dirk plötzlich ewig lange her zu sein, spukte nur noch wie eine flüchtige Erinnerung in seinem Kopf herum. Papa war so schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Aber da stand dieses glitzernde, rollbereite Skateboard. Ein handfester Beweis, daß die Krokodile und Boa constrictors, die Rochen und Küchenschaben, Haifische und Seepferdchen nicht durch seine Träume gegeistert waren. Er hatte sie tatsächlich im Aquarium bewundert, im Bassin oder Gehege wie in ihrer natürlichen Umgebung, tatsächlich aber waren sie eingesperrt, jede Art für sich im gläsernen Gefängnis. Dirk zog seine hohen Turnschuhe an und klemmte sich das Skateboard unter den Arm. Auf dem Kreuzberg gab es eine Stelle, einen leicht abschüssigen, asphaltierten Weg, den nicht viele benutzten. Dort wollte er üben. Denn bis er locker in die Schule rollen konnte, mußte er das Gerät sicher beherrschen, keine Frage. Als Dirk den Hausflur betrat, ging die Tür gegenüber auf, und vor ihm stand Paul wie ein Spiegelbild seiner selbst. Hohe Turnschuhe, weite Jeans, langes T-Shirt und ein Skateboard unter dem Arm.
Ehe Dirk einen Ton herausbrachte, fragte Paul: »Kannst du Skateboard fahren?« »Nö, du?« »Nee. Ich hab’s gestern bekommen, zum Geburtstag.« »Mein Vater hat’s mir mitgebracht, auch gestern.« Bevor Paul die Tür hinter sich zuzog, rief er noch in die Wohnung: »Tschüs! Ich geh jetzt! Bis nachher!« Zu Dirk meinte er: »Wo willst du denn hin?« »Na ja, auf den Kreuzberg, vor dem Denkmal, da ist so eine Stelle. Ich glaub, da kann man ganz gut üben.« Während sie die Treppe hinuntergingen, tauschten sie die Skateboards aus. Pauls war von der gleichen Firma, aber eisblau mit dunkelblauen Rädern. Beide Jungen machten erst ausgesprochen fachkundige Gesichter, aber dann lachte Paul und sagte: »Ehrlich, ich habe eigentlich überhaupt keine Ahnung!« »Ich auch nicht«, gab Dirk zu. Paul überlegte einen Moment und sagte schließlich: »Weißt du was, ich will zu Emil, der hat versprochen, daß er mir zeigt, wie man fährt. Komm doch einfach mit!« »Na ja… ich weiß nicht«, druckste Dirk. »Wie meinst du das?« Paul drehte sich zu Dirk um. »Ich meine, äh…« Dirk wich den fragenden Augen Pauls aus. »Na, sag schon!« forderte Paul. »Wegen der Mütze!« stieß Dirk heraus. »Ach so!« meinte Paul. »Ich glaub, das ist okay. Emil war zwar sauer, aber er ist total happy, daß er die Mütze wiederhat. Und nachtragend ist Emil nicht, der nicht.« Dirk überlegte. »Aber, egal, wenn du lieber alleine übst…« Paul machte eine wegwerfende Bewegung mit der rechten Hand und polterte die Stufen voran. »Nein, nein, ich…«, Dirk mußte sich beeilen, um Schritt zu halten. »Wenn du meinst, es geht, dann komm ich mit, klar
doch. Komm, wir probierend schon mal!« Sie waren unten im Hausflur angekommen. Dirk stellte sein Skateboard auf den Boden, setzte den rechten Fuß auf das Brett, stieß sich mit dem linken ab und rollte los. Aber der Untergrund war uneben, sein Stand unsicher, so daß er sofort wieder abspringen mußte, weil er sonst gefallen wäre. »Ist gar nicht so einfach!« brummte er und bückte sich nach seinem Brett. Als die beiden Jungen das Haus verließen, kamen ihnen Andi und Bulli, der Typ mit dem kurzgeschorenen Hinterkopf, entgegen. Paul und Dirk drückten sich wortlos an ihnen vorbei. Nach ein paar Metern drehte sich Dirk um. Die beiden waren im Haus verschwunden. Am Erkerfenster im ersten Stock stand Markus mit den Daumen hinter den Hosenträgern. Dirk hatte das Gefühl, er schaute ihnen nach.
Das Haus, in dem Emil wohnte, hatte zwei Hinterhöfe. Im ersten standen Mülltonnen und Autos auf asphaltiertem Grund, im zweiten Mülltonnen und Fahrräder in einer Art Grünzone, die auch eine Buddelkiste, Tisch und Bänke barg. Alle Fenster waren ungewöhnlich breit und hoch, die Hauswände aus gelbem Klinkerstein wie die Schule. »Hier waren früher Fabriken, in den Etagen«, sagte Paul, dem Dirks erstaunte, neugierige Blicke nicht entgangen waren. »Jetzt wohnen hier Leute. Komm, wachs nicht an.« Das Treppenhaus wand sich um einen breiten Lastenfahrstuhl, den man aber nur mit Schlüssel benutzen konnte. Im zweiten Stock blieb Paul vor einer riesigen Metalltür stehen. Über der Klingel hing ein Schild mit lauter kleinen Paßfotos, neben denen Namen standen. Dirk erkannte
Emil auf einem Bild, außer ihm gab es noch zwei kleine Kinder. Die anderen waren alle Erwachsene. Ein kleines Mädchen machte die Tür auf. Sie drehte sich sofort um, rannte in die Wohnung und rief: »Emil, Paul ist da!« Und Paul ging einfach hinein. Dirk hinterher, was blieb ihm anderes übrig. Sie durchquerten einen kleinen Vorraum und standen dann in einem riesigen Saal, der durch Regale und Pflanzen mehrfach unterteilt war. An einem großen Tisch frühstückten ein Mann und eine Frau, hinter ihnen befanden sich Herd, Spüle, alte Küchenschränke, Getränkekisten. Links, an den hohen Fenstern, saß eine Frau und las Zeitung. Ein kleines Kind spielte mit Bausteinen, das größere, das die Tür aufgemacht hatte, kurvte auf einem Dreirad herum. Es war genug Platz da. Hier könnte man sogar eine Tischtennisplatte aufstellen, schoß es Dirk durch den Kopf. Paul sagte kurz »Guten Morgen« und marschierte weiter, bis sie zu einem langen Flur kamen, von dem einzelne Zimmer abgingen. In einem davon saß Emil und schraubte an einem Skateboard herum. Das Zimmer schien eher eine Werkstatt zu sein, obwohl in dem Regal mit der Schreibplatte davor auch Bücher und Schulsachen zu erkennen waren. »Da bist du ja!« sagte Emil zu Paul, blickte aber Dirk an. »Dirk hat gestern auch ein Skateboard gekriegt«, erklärte Paul. »Zeig mal!« »Ist dasselbe wie meins!« sagte Paul, während Dirk Emil sein Skateboard entgegenstreckte. »Hallo, Paulemann!« Die lange, dünne Frau, die am Bus gewartet hatte, steckte ihren Kopf ins Zimmer. »Was macht die Kunst? Und wer bist denn du?« Dabei guckte sie Dirk an. »Ich? Ich heiße Dirk Hempel, ich wohne bei Paul im Haus.« »Der kommt vom Land, und Paul paßt auf, daß er nicht im Großstadtdschungel untergeht!« grinste Emil. »Der
Mützenretter. Er hat meine Mütze im Rinnstein gefunden und sie dann schön lange aufbewahrt!« Dirk blickte verlegen zu Boden. »Darf ich vorstellen: Saskia, meine Mutter!« fuhr Emil fort. Dirk trat von einem Fuß auf den anderen. »Und was habt ihr vor? Ihr könnt nicht zufällig die Lotte mitnehmen, oder?« »Nee, keine Chance! Ich muß den Anfängern Skateboardfahren beibringen!« Emil hatte die letzte Schraube an seinem Brett festgezogen. »Das Kind hat ja auch einen Vater, wenn ich mich richtig erinnere.« »Werd bloß nicht kiebig!« Emil blickte sich betont auffällig um. »Meinst du etwa mich? So was liegt mir völlig fern. War nur eine hilfreiche Anmerkung!« Wie der mit seiner Mutter redet! staunte Dirk. »Na, wenn das so ist! Viel Spaß, ihr drei. Und brecht euch nicht die Gräten.« Schon war sie verschwunden. »Seid ihr alle eine Familie?« fragte Dirk schüchtern. »Kommt drauf an, was du mit Familie meinst«, erwiderte Emil. »Also, blutsverwandt sind wir nicht alle. Meine Mutter und ich schon, is ja klar, oder? Lotte ist meine Schwester, sie hat aber einen anderen Vater als ich. Mein Vater wohnt auch hier, mit seiner Freundin. Und dann gibt’s Kaspar mit der kleinen Olga. Und Friederike, ohne Kind und Kegel. Freischwebende Künstlerin. Fotomäßig. Alles klar?« »Klar«, log Dirk. »Ist nicht so schwer«, meinte Paul. »Das Wichtigste ist, die meisten können gut kochen.« »Denk an Saskias Fischklopse!« mahnte Emil. »Na gut, außer Saskia!« lachte Paul. »Komm jetzt, laß uns gehen! Sonst kriegste Lotte doch noch aufgedrückt.« »Wohin?« »Na, aufn Kreuzberg, oder?«
Emil fuhr rasant Skateboard. Das Brett gehorchte seinen Füßen, als wäre es angewachsen. Die rote Baseballkappe auf seinem Kopf leuchtete, während er seine Kurven drehte. »Schön aufpassen«, hatte er gesagt und war losgezischt. Drei, vier kräftige Antritte, schon stand er auf dem Brett und lenkte es mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen, die von oben nach unten durch seinen Körper schwangen. Mit den Armen hielt er die Balance, die Knie fingen federnd jede Unebenheit ab. Nach der ersten Vorstellung tippte er mit der Fußspitze auf die hintere Kante, so daß sich das Brett hochkant stellte und er es lässig mit der Hand greifen konnte. Dann zeigte er Paul und Dirk, wohin sie die Füße zu stellen hatten, wie man mit leichtem Druck auf die Kanten die Fahrtrichtung änderte. Und sie übten unter seinen kritischen Augen. Rollernd abstoßen, den zweiten Fuß aufs Brett, Balance halten, geradeaus. Das sah so einfach aus, war aber höllisch schwer. Aber Emil hatte die Ruhe weg, erklärte mit Engelsgeduld. Paul traute sich nicht, die kleine Böschung hinunterzurollen, an deren Ende eine Steinmauer lauerte, wenn man es nicht schaffte, vorher eine Kurve zu fahren. Schwierigkeitsstufe obereasy, behauptete Emil. »Nee, du, da schlag ich mir den Schädel ein!« wehrte Paul ab. »Ich bin doch nicht verrückt!« »Das ist kinderleicht, guckt!« sagte Emil und rollte los. Natürlich sah es kinderleicht aus, leichtes Knicken der Knie und zum Schluß als Zugabe noch eine ganze Drehung des Brettes, sauberer Absprung. Brett in der Hand. Zirkusreif. »Und was ist mit dir, Dirk?« Einen Moment zögerte Dirk. Es war eine Mutprobe, er könnte endlich beweisen, was er drauf hatte. In seinem Magen kniff es. Die Böschung war ziemlich steil, die Kurve ausgesprochen eng, die Steinmauer sehr solide. »Ach, kommt, dann üben wir da drüben noch mal. Sonst krieg ich noch Ärger mit euren Mamis!« sagte Emil grinsend. »Ich
hab mich das auch nicht von Anfang an getraut«, fügte er hinzu. Und dann übten sie weiter. Anrollen, aufspringen, geradeaus. Anrollen, aufspringen, leichte Kurve nach rechts. Anrollen, aufspringen, leichte Kurve nach links. Anrollen, aufspringen… da kam Paul ein Hund entgegengerannt, ein großer. Mit einem Satz sprang Paul vom Skateboard, das alleine weiterrollte, einem älteren Ehepaar direkt vor die Füße, worauf der Mann sofort drohend die Hundeleine hob. Paul blickte sich nach dem Hund um, der ihn überhaupt nicht weiter beachtete, und schnappte sich dann sein Brett. Emil rollte sofort zu Paul, Dirk klemmte sich sein Skateboard unter den Arm und blieb abwartend stehen. Der Mann kam auf die Jungen zu. »Also, so geht’s ja nun nicht«, sagte er empört zu Emil und drohte mit dem Zeigefinger. »Sag deinem kleinen Freund, wir sind hier nicht im Urwald. In Deutschland ist zivilisiertes Benehmen gefragt!« »Das können Sie ihm selber sagen, der ist nämlich Deutscher!« sagte Emil. »Aber ich sein Chinese und essen viel Hundefleisch! Grrrrr!« machte er, verzog mit den Fingern seine Augen zu schmalen Schlitzen und bleckte die Zähne. »Das ist ja unerhört! Komm, Helmut!« sagte die Frau und zog ihren Mann am Ärmel. »Früher hat’s so was nicht gegeben.« »Völlig verrasst, dieses Land. Eine Schande! Wird höchste Zeit, daß sich was ändert.« Der Mann pfiff seinem Hund, der schwanzwedelnd angerannt kam. Dirk sah, wie Paul angstvoll die Augen aufriß. Der Mann strich dem Hund über den Kopf: »Brav, Hasso, brav!« und warf Emil einen giftigen Blick zu. Der Hund sprang wieder davon. »Nazischwein«, sagte Paul deutlich hörbar. Doch der Mann beachtete ihn auch jetzt nicht, er hakte energisch seine Frau unter, reckte die Schultern, und beide schritten davon. Das
Pflaster unter ihren Füßen gehörte allein ihnen. Und ihrem Hund Hasso. »Als ich klein war, hat mal einer seinen Köter auf mich gehetzt«, sagte Paul leise wie zu sich selbst. »Seitdem hab ich gräßliche Angst vor den Viechern. Ich fang sofort an zu zittern.« »Dreckskerl«, sagte Emil und spuckte auf die Erde. »Diese Arschlöcher. Halten sich für die Größten! Schade, daß sie nicht auf die Fresse geflogen sind, als dein Skateboard angerollt kam! War doch ‘n geiles Bild gewesen!« Pauls Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Los, machen wir weiter!« sagte er zu Dirk. »Ich will noch heute diese blöde Böschung runter!«
Sie schafften es, alle beide. Erst nahm Paul, dann Dirk in sicherer Fahrt die Kurve. Die Steinmauer schien plötzlich weit entfernt zu sein, war überhaupt keine Bedrohung mehr. Emil hatte sich an die Mauer gestellt – für alle Fälle – und schaute stolz seinen beiden Schülern zu. »Okay«, sagte er. »Stufe obereasy ist geschafft. Das nächste Mal kommt easy. Aber viel üben, meine Herren!« »Also, hier seid ihr!« rief plötzlich Amina, die mit Hannah aus dem Gebüsch gekrochen kam. »Wir haben euch überall gesucht!« Dann fiel ihr Blick auf Dirk. »Du hast auch ein Skateboard?« »Ja, von meinem Vater. Der war gestern zu Besuch.« »Ach, deshalb warst du nicht auf Pauls Geburtstag«, stellte Amina fest. »Leihst du mir mal dein Brett? Dann kann Hannah das von Paul nehmen.« »Oh, nein!« rief Emil und klatschte sich mit der Hand vor die Stirn. »Mir schwant Böses!«
»Genau!« grinste Hannah. »Jetzt sind wir dran!« Und schon nahm sie sich Pauls Skateboard. »Also, Emil, noch einmal bitte: Lektion eins, erste Stunde.« Stand auf dem Brett und rollte los. Dirk hatte immer noch den Fuß auf seinem Brett, konnte sich nicht entscheiden. »Na los«, sagte Emil, »nun gib Amina schon dein Brett. Oder kannst du dich nicht trennen von deinem kostbaren Stück? Dann nimm meins, Amina, und wir wechseln uns ab.« »Nein, nein. Hier, nimm schon.« Dirk nahm den Fuß von seinem Skateboard und gab ihm einen leichten Stoß, daß es auf Amina zurollte. »Danke«, sagte Amina. Dirk und Paul setzten sich auf die Bank und schauten zu, wie Emil Hannah und Amina das gleiche beibrachte wie ihnen zuvor. »Der macht das echt gut«, sagte Dirk zu Paul. »Stimmt…. Kommst du mit zum Wasserfall? Das dauert hier bestimmt noch ewig!« Paul stand auf und nach einem Blick auf seine Uhr rief er den anderen zu: »In einer halben Stunde kommt Martin, denkt dran! Wir gehen schon mal vor!« Dirk überlegte kurz, was dann aus seinem Skateboard würde, aber er wollte sich nicht noch einmal blamieren und ging einfach mit Paul mit. »Ich bring dir dein Skateboard dann mit, Dirk, ja?« rief ihm Amina hinterher. »Klar«, sagte Dirk und winkte ihr kurz zu. »Weiß ich doch.« Dirk und Paul kletterten über die glitschigen Steine den Wasserfall hinab. Das Wasser sprang unterhalb des Denkmals eine künstlich angelegte Steinschlucht hinunter, bildete Strudel und stille Stellen, hüpfte glitzernd über die dicken, kantigen Steine, strömte breit unter einer Brücke hindurch und sammelte sich schließlich in einem zementierten ovalen Teich, in dem sich Hunde tummelten. Für die Kinder war das Wasser
schon zu kalt. Rechts und links des Wasserfalls wucherten dichte Büsche, ragten hohe Bäume in den Himmel, das Rauschen des Baches übertönte alles Großstadtgetöse und machte die Illusion eines Naturschauspiels vollkommen. Paul jedoch erzählte Dirk von der Pumpe, die das Wasser umwälzte und unaufhörlich nach oben transportierte. Mit dem Teich war der Park zu Ende, grenzte an Bürgersteig und Straße. Pauls Onkel Martin saß auf der niedrigen Parkmauer. Neben ihm lehnte ein Rennrad. Paul schlich sich von hinten an und sprang dann seinem Onkel auf den Rücken. »Was zum Teufel…«, stieß der hervor, dann packte er Paul mit beiden Händen, zog ihn über die Schulter, so daß er eine Rolle vorwärts machte, bevor er wieder auf den Füßen landete. »He, paß auf, brich mir nicht das Genick!« schrie Paul und ließ sich dann in die Arme seines Onkels fallen. »Herzlichen Glückwunsch, nachträglich!« lachte Martin. Dirk setzte sich neben Martin, dem Paul begeistert von seinem Skateboard erzählte. Dirk hörte kaum zu, sondern starrte gebannt auf ein kleines Kind, das wie am Spieß brüllend einen Mann am Jackett zerrte. Erst ging der Mann einfach weiter, dann drehte er sich plötzlich um und gab dem Kind eine Ohrfeige. Ohne jede Vorwarnung. Das Kind verstummte kurz, dann ließ es sich auf den Boden fallen und schrie noch lauter als vorher. Der Mann hob drohend die Hand und zog das Kind hoch. Schluchzend und schniefend stolperte es dem Mann hinterher. Schöner Sonntagsspaziergang, dachte Dirk. Plötzlich sagte Martin zu ihm: »Na, ißt du etwa auch gerne Eis? Nee, bestimmt nicht, was?« »Sag bloß ja, der will sich nur ums Bezahlen drücken!« lachte Paul. »Martin hat mir eine Eisparty zum Geburtstag geschenkt, weil er gestern nicht kommen konnte. Ich darf die Gäste einladen!«
Es dauerte nicht lange, und die anderen tauchten auf. »Stellt euch das vor, die haben auch schon die obereasy Stufe geschafft«, meinte Emil. »Hallo, Martin! Was macht die Kunst?« »Alles bestens«, sagte Martin, kniff Emil in den Arm und begrüßte die beiden Mädchen. »Hier, dein Skateboard. Danke.« Amina gab Dirk sein Brett zurück. »Hat echt Spaß gemacht.«
Als Dirk endlich nach Hause kam, hatte seine Mutter ausgesprochen schlechte Laune. Sie hatte sich Sorgen gemacht. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?« fragte sie wütend. »Das kannst du doch nicht machen, einfach so verschwinden, ohne daß ich weiß, was mit dir ist! Und ich steh hier mit dem Mittagessen.« Dirk war rundum satt von dem dicken Eisbecher, den Martin spendiert hatte. Und so zufrieden wie lange nicht mehr. Freudestrahlend erzählte er seiner Mutter, was er alles erlebt hatte. Und dann war sie ihm nicht mehr böse.
13. Kapitel
Nach diesem Sonntag schien das Eis gebrochen. Dirk kam sich allerdings vor, als schwämme er auf einer recht dünnen Scholle. So wie auf dem großen Teich in Heiersdorf, wenn der Frühling die Eisdecke in einzelne Stücke sprengte, auf denen die Kinder mit langen Stöcken herumruderten. Man mußte genau wissen, welche Scholle man betreten konnte, welche hielt und welche nicht und umsichtig für den richtigen Stand und die Balance sorgen, weil man sonst unweigerlich ins eisige Wasser abrutschte. Doch trotz des Tauwettergefühls hockte Dirk nach wie vor dreimal in der Woche mittags alleine vor seinem Essen. Wenn er vom Küchenfenster aus quer über den Hof in die Küche von Hannah blickte, wo manchmal der schwarzlila Borstenkopf oder der karottengelbe Typ mit den Töpfen hantierten und sich vier Kinder um den Tisch versammelten, seufzte Dirk voller Neid, griff sich seinen Teller und hockte sich vor den Fernseher. Nach dem Essen rollte Dirk manchmal mit seinem Skateboard auf den Schulhof oder auf den Kreuzberg. Insgeheim hoffte er, Paul oder Emil mit ihren Brettern zu treffen, aber das war nie der Fall. Alleine machte das Fahren nur halb soviel Spaß, und er hatte außerdem ein bißchen Angst, seit er gehört hatte, daß es Banden geben sollte, die Kindern Sachen wegnahmen. Inzwischen kannte Dirk fast alle Leute im Vorderhaus. Die verrückte Lilo von Werderitz, die über zehn Katzen in der Wohnung hatte und Dirk immer wieder ein junges Kätzchen andrehen wollte. Den Taxifahrer Kuhlbrodt, der sich ständig mit seiner Nachbarin über den Katzengestank
stritt und drohte, alle Viecher zu vergiften. Den Briefträger Erol Arslan, dessen Frau Hülya und ihr Baby Nazim mit den großen blauen Kulleraugen, das immer fröhlich war. Wenn der Kleine ihn anstrahlte, dann war Dirk, als nähme er ein Paket Wärme die Treppen mit hinauf. In der Wohnung neben den Arslans war nie jemand. Einmal war Dirk dazugekommen, wie zwei Männer das Schloß aufbohrten. Frau Arslan hatte die Männer gefragt, was um Himmels willen sie dort machten. Der Mann in Schlips und Kragen zückte einen Ausweis. Er war Gerichtsvollzieher. Der Mieter neben den Arslans hatte Schulden, und nun sollte in seiner Wohnung gepfändet werden. »Es ist unglaublich«, sagte der Mann zu Frau Arslan, »ich bin dem Mann schon elf Jahre hinterher, und ich habe ihn noch nie zu Gesicht bekommen.« Herr Bode, der Baumkletterer, hatte Dirk einmal zum Tee eingeladen. Ganz alleine wohnte er in der Wohnung, die genau so groß war wie die der Kaminskis. Im Erkerzimmer stand ein Flügel. »Musik ist meine große Leidenschaft«, hatte der Alte zu Dirk gesagt. »Ich wäre so gerne Pianist geworden. Aber die Zeiten waren nicht danach…« »Was sind Sie denn?« hatte Dirk gefragt. »Ich habe als Gärtner gearbeitet und als Verkäufer, als Koch und als Fahrer. Meine Frau war Musiklehrerin, von ihr habe ich viel gelernt. Und wir haben immer musiziert, wenn’s ging. Jetzt gebe ich Klavierunterricht, privat. Kannst du Klavier spielen?« »Nö, ich bin nicht musikalisch.« »Sag nicht so was. In allen Menschen steckt Musik.« Herr Bode servierte den Tee an einem nierenförmigen Tisch. Dirk hatte den Eindruck, daß in der Wohnung die Zeit stehengeblieben war und sich seit Ewigkeiten nichts verändert hatte. Doch jetzt stand eine große Veränderung ins Haus. »Mein Freund Fritz«, erklärte Gustav Bode, »lebt auch alleine, seit Jahren schon. Erst sind wir sonntags zusammen
essen gegangen, dann habe ich angefangen, für uns zu kochen. Ich koche nämlich richtig gerne. Wir haben gemerkt, wie gut wir uns verstehen. Tja, und jetzt will der Fritz bei mir einziehen. Was brauchen wir zwei Wohnungen! Meine ist doch viel zu groß für einen! Und außerdem hab ich langsam das Gefühl, mir fällt die Decke auf’n Kopp!« Markus sah Dirk sehr selten. Und wenn, dann nur mit Sven zusammen, manchmal war auch Andi dabei. Und mit den beiden wollte Dirk nichts zu tun haben. Er hatte nicht vergessen, wie gemein sie zu Amina gewesen waren. Mit Markus hätte er gerne mal Fußball gespielt, er wartete darauf, daß sich eine Gelegenheit ergab. Vielleicht war das schon bald der Fall, denn Dirk hatte vom vorderen Fenster aus gesehen, wie Markus und Sven sich mächtig in der Wolle hatten. Wegen des Straßenlärms war nichts zu hören gewesen, aber beide hatten wütend mit den Armen herumgefuchtelt. Die Nachbarin mit dem bunten Bild an der Wohnungstür, Almut Steinhilper, war inzwischen mit Dirks Mutter befreundet. Sie trafen sich oft, gingen auch mal ins Kino zusammen. Almuts Lieblingsthema waren »die Männer«, darüber konnte sie stundenlang reden. Und Dirks Mutter schien das durchaus recht zu sein. Wenn das Thema aufkam, verkrümelte Dirk sich. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß er irgendwie mit gemeint war. Als Mann. Obwohl sich bei ihm noch überhaupt nichts tat in der Richtung. Wenn er nackt vor dem großen Spiegel im Bad stand, fand er sich ziemlich mickrig. Und untenrum war noch alles klein und kinderglatt, nicht ein Härchen war zu entdecken. Nur unter den Achseln sprossen seit kurzem ein paar dünne, helle Haare. Immerhin ein Anfang. Wenn er bloß genauer wüßte, wovon. Denn diese Pubertät, die ihm da
drohte, war ihm nicht so recht geheuer. Zu gerne würde er mit anderen Jungen darüber reden. Aber das wagte er nicht. Eines Abends, während des Essens, fragte Dirks Mutter, ob er sich bei den anderen Kindern beschwert habe, daß er mittags manchmal alleine sei. Dabei schob sie sich mit der Hand die Haare aus dem Gesicht. »Nö, hab ich nicht. Wieso?« »Frau Kaminski hat mich heute angesprochen. Ihre Kinder haben mit anderen Kindern einen gemeinsamen Mittagstisch.« »Mhm, isch weisch«, mampfte Dirk. Seine Mutter sagte nichts, sondern guckte nur mahnend. Dirk machte den Mund leer. »Ich weiß. Die treffen sich immer reihum. Hannah aus dem Hinterhaus ist dabei. Und Emil.« »Der mit dem Skateboard?« »Der.« »Hast du nicht gesagt, der wohnt in so einer Art Wohngemeinschaft?« »Hhm.« Wie sollte er essen, wenn sie ihn dauernd was fragte? »Also, ich weiß nicht. Das sind doch alles Fremde. Wie soll denn das funktionieren? Ich müßte doch dann auch kochen. Und wer weiß, was die für Vorstellungen haben, ich meine, es sind doch…« Seine Mutter schüttelte zweifelnd den Kopf. Die Haare fielen ihr vors Gesicht. Dirk hatte noch nie erlebt, daß seine Mutter so unentschieden war. »Du mußt ja nicht.« Sie aßen schweigend. »Hättest du denn Lust?« fragte seine Mutter schließlich, als ob sie sich einen Ruck gegeben hätte. »Na ja. Schon. Immer so alleine ist doof«, brachte Dirk heraus. So ganz sicher war er nicht, ob er mit den anderen so gut auskommen würde, daß er jeden Tag mit ihnen zusammen sein wollte. Und ob ihm das Essen schmeckte. »Vielleicht probieren wir es mal eine Weile«, schlug seine Mutter vor. »Einverstanden?«
»Einverstanden. Und du kochst auch?« »Muß ich ja dann. Was essen die wohl gerne?«
So kam es, daß Dirk nach einigen Telefonaten und Absprachen der Verwachsenen, wie die anderen Kinder immer sagten, mittags nicht mehr alleine zu sein brauchte. Fünf Kinder verteilten sich leicht auf fünf Tage in der Woche, bei Amina und Paul wurde zweimal gegessen. Bei Emil kochten nicht nur seine Eltern, sondern wer gerade Zeit hatte. Bei Hannah mußten die Kinder öfter das Essen selber warm machen, denn ihre Mutter war Maskenbildnerin und hatte völlig unregelmäßige Arbeitszeiten. Der Karottengelbe, der Freund der Mutter, war nur gelegentlich da. Als Dirks Mutter dran war, wollte sie Spaghetti kochen, das mögen alle Kinder, hatte sie gemeint. Dirk war allerdings aufgefallen, daß nie jemand wegen des Essens moserte. Jedes Kind nahm sich, was es mochte, Hannahs Ketchup-Tick ging nur den Erwachsenen auf die Nerven. Es gab nichts, was sie nicht mit der roten Soße bekleckerte. Außer dem Nachtisch natürlich. Dirk war richtig aufgeregt, als er die Wohnungstür aufschloß und Hannah, Amina, Paul und Emil einließ. Ein leichter Knoblauchgeruch stieg ihnen in die Nase. »Geht mal in Dirks Zimmer«, meinte Dirks Mutter, »ich bin noch nicht ganz fertig. Dirk, du kannst den Tisch decken. Und Stühle brauchen wir noch, hoffentlich passen alle an den Tisch!« Sie hatte rote Flecken im Gesicht. »Ach, und wascht euch die Hände im Bad, Dirk, zeig ihnen, wo das ist.« »Meine Güte«, sagte Emil, während er sich die Schuhe von den Füßen streifte. »Was’n Aufstand!« Auch die anderen Kinder zogen die Schuhe aus. Wenig später saßen alle um den Küchentisch, der sich als groß genug erwies.
»Ich weiß ja nicht, was ihr sonst so eßt, aber ich hoffe, die Spaghetti schmecken euch! Komm, Paul, gib mir mal deinen Teller.« »Können wir uns nicht selber auftun?« »Ich will erst mal nur Salat essen!« »Wo ist denn der Ketchup?« »Ich hab Durst, wo sind denn hier die Gläser? Habt ihr Saft oder Selters oder so was?« »Ich will bloß Wasser!« Hannah stand auf und ging an den Kühlschrank. Dirks Mutter guckte leicht verunsichert. »Kind, nun warte doch, ich geb dir gleich den Ketchup.« Hannah hatte die Flasche gefunden und saß wieder am Tisch. Dirk reichte Emil Gläser, der sie an der Spüle mit Wasser füllte. Amina hatte sich Salat genommen und aß schon. Hannah tat sich einen Berg Nudeln auf, einen kleinen Löffel Fleischsoße und kippte einen großen Klecks Ketchup darüber. Emil wollte seine Nudeln nur mit Butter und Parmesankäse, dazu ein bißchen Salat. Ehe sich Regina Hempel versehen hatte, waren alle Kinder versorgt. Nur sie selber hatte noch nichts auf dem Teller. »Ich weiß was, wir machen Stopp-Essen!« sagte Amina. »Mit Hexe!« »Also echt, nee, Mann, das ist doch Babykram«, maulte Emil. »Quatsch, das müssen wir doch Dirk zeigen«, meinte Amina. »Oder kennst du das schon, Dirk?« »Nö.« »Okay, ich erkläre«, sagte Paul. »Das geht so. Wenn ich ›Stopp!‹ sage, dann muß jeder…« »… und jede…« unterbrach ihn Hannah. »Du nervst. – Also, dann muß jede und jeder, also alle, die Mädchen und die
Jungen, die Frauen und die Männer, die Schwarzen und die Weißen – ist es so recht, Hannah?« »Nu mach schon!« »Also, dann muß jeder bleiben, wie er – oder sie! – gerade ist. Absoluter Stillstand. Keine Bewegung. Also, Dirk, wenn du gerade die Gabel vor dem Mund hast, denn darfst du dich nicht rühren. Wer sich bewegt, fliegt raus. Wer’s am längsten durchhält, darf als nächster Stopp sagen.« »Und bei Hexe«, ergänzte Amina, »da muß du immer wiederholen, was du gerade gemacht hast. Essen auftun oder schlucken oder dich am Kopf kratzen.« »Aber Kinder, da kommt ja keiner richtig zum Essen!« wandte Dirks Mutter ein und starrte Hannah an, die mit der Hand die Spaghetti auf der Gabel festhielt. »Doch, doch, man darf sich bloß nicht erwischen lassen!« lachte Paul. »Na gut!« sagte Dirk. »Probieren wir’s mal! Wer fängt an?« »Ich! Ich hatte die Idee!« sagte Amina. Zunächst aßen sie weiter, als wäre nichts. Nur Amina schaute sich mit Adleraugen um, weil sie natürlich den besten Moment erwischen wollte. Sie grinste schon jetzt vor Vergnügen, und Dirk bewunderte das kleine Grübchen neben ihrem Mund. Darüber hatte er völlig vergessen, auf seine Bewegungen zu achten, so wie Paul es tat, der sich nur rührte, wenn Amina gerade nicht guckte. Also hatte Dirk das Wasserglas kurz vor dem Mund, als Amina laut »Stopp!« sagte. Eine äußerst unbequeme Position. Aber Emil hatte es noch schlimmer erwischt. Er hatte sich nicht so recht auf das Spiel einlassen wollen und so getan, als ginge ihn das alles nichts an. Nun saß er da mit offenem Mund und einem Blatt Salat davor. Drei Plomben, zählte Dirk. Hannah hatte ihre Spaghetti im Mund, die Gabel lag auf dem Teller, wenn Amina nicht hinguckte, mummelte sie vorsichtig vor sich hin.
Dirks Mutter stellte fest, daß sie die Servietten vergessen hatte, sie holte schnell einen Packen aus dem Schrank und legte jedem Kind eine buntbedruckte Papierserviette neben den Teller. Als sie sich vor Dirk beugte, glaubte er, in Ruhe trinken zu können. Aber Amina hatte das vorausgesehen und sich zurückgelehnt. »Dirk! Erwischt! Du bist raus!« Kurz darauf wurde Hannah geschnappt, die Nudeln in ihrem Mund waren so breiig geworden, daß sie schlucken mußte. Emil fiel das Salatblatt von der Gabel. Paul, der seine Haltung am besten von allen geplant hatte, hatte gewonnen. »Jetzt eßt doch erst mal auf, Kinder. Es wird doch alles kalt!« mahnte Dirks Mutter. Für ihre Begriffe vertrugen sich Spielen und Essen überhaupt nicht. Aber sie meckert nicht, freute sich Dirk. Ein Glück! »Ja, ja, eßt nur«, meinte Paul. »Ich krieg euch schon.« Diesmal versuchte Dirk, Pauls Spieltechnik nachzuahmen, kurze Bewegungen schnell auszuführen. Dirk saß direkt neben Paul, so daß der ihn unmöglich ständig im Auge behalten konnte. Als Paul schließlich »Hexe!« brüllte, so laut, daß Dirks Mutter zusammenfuhr, konnte Dirk die Sache entspannt verfolgen. Er hatte weder etwas in der Hand noch im Mund. Emil hingegen mußte andauern trinken, Amina Nudeln aufdrehen und Hannah mit dem Finger in der Nase bohren. Dirks Mutter drehte sich angewidert ab. Hannah bemerkte dies und hörte sofort auf. Was zur Folge hatte, daß sie als erste rausflog. Nach und nach folgten die anderen, Dirk gewann. Aber keiner hatte mehr Lust zum Spielen. Und dann klingelte es. Dirk sprang so hektisch auf, daß sein Stuhl umfiel, und er lief zur Tür. Draußen stand Markus. Die Daumen hinter den Hosenträgern, den Kopf leicht schief. Auf der Stirn hatte er ein Pflaster. »Hallo!« sagte er einfach. »Hallo, Markus!«
»Haste Zeit? Bißchen kicken und so…« »Nö. Ja. Äh, komm doch rein!« Dirk trat beiseite. Markus putzte sich umständlich die Füße ab und ging an Dirk vorbei. Als er in der Küchentür stand und die anderen sah, schreckte er zurück. »Na, det wollt ick nu nich!« meinte er und drehte sich auf dem Absatz um. »Ich dachte, du bist alleene!« brachte er noch heraus, bevor er die Treppen hinunterpolterte. Wie belämmert setzte sich Dirk wieder an den Tisch. Die anderen stellten die Teller zusammen, Dirks Mutter räumte ab. »Dirk, hol mal die Schälchen aus dem Schrank und kleine Löffel.« »Was hat denn der?« fragte Dirk die anderen. »Ach, mit dem gibt’s doch immer Streß«, meinte Paul. »Der tickt doch nicht ganz sauber.« »Dirk, die Schälchen!« »Ja, doch!« Er stand auf und holte die Sachen aus dem Schrank. »Früher habe ich mit ihm gespielt. Aber seit Paul und Amina hier eingezogen sind, fast gar nicht mehr«, sagte Hannah. »Der hat sich echt verändert. Na ja, der kriegt auch ganz schön Kloppe von seinem Alten.« »Der is ‘n Rassist, was willste machen«, meinte Emil. »Und guck doch mal, wie der rumläuft!« »Eh, und immer steckt der mit dem Sven und denen zusammen. Die sind eklig«, meinte Amina. »Aber…«, Dirk wußte nicht, was er sagen sollte. Er kannte Markus kaum, aber irgendwie mochte er ihn. Seine karge Art imponierte ihm, und so richtig glücklich schien er mit diesem Sven auch nicht zu sein. Und das mit dem Kinderwagen – er hatte doch gesagt, daß er es nicht mit Absicht getan hatte. Noch vor einer Woche wäre Dirk heilfroh gewesen, wenn Markus mittags bei ihm aufgekreuzt wäre.
»Leute, ich muß gehen!« sagte Emil, nachdem er zwei Schälchen Quarkspeise gegessen hatte. »Eh, du bist mit Abwaschen dran!« protestierte Paul. »Mann, ich bin verabredet…« »Laß nur, mein Junge, ich mach das schon«, sagte Dirks Mutter. »Wo rennst du denn immer hin? Dauernd haust du ab!« Pauls Stimme klang enttäuscht. »Ich bin mit Sinan verabredet und mit Marek. Ist echt geil, was die machen. Komm doch mit, Paul. Breaken und sprayen und so. Ist echt irre.« »Nee. Hab kein Bock. Die denken immer, ich wär so’n HipHop-Typ. Ist mir zu blöd. Geh nur.« Sehr fest klang Pauls Stimme nicht. Dirk bemerkte, daß Hannah und Amina sich Blicke zuwarfen. Sie waren nicht eingeladen worden. Daß er selber nicht erwähnt war, machte ihm nichts aus. Er war ja erst mit einem Bein dabei. Und das andere würde er so bald wie möglich nachziehen. Hoffentlich löste sich die Gruppe nicht schon vorher auf.
14. Kapitel
»Ratten!« sagte Amina, als sie nach der Schule mit Dirk in den Hausflur trat. Emil hatte sich wieder mit Sinan verabredet, Hannah und Paul waren schon vorgegangen. »Was?« fragte Dirk. Amina tippte mit den Fingern auf einen grellgelben Zettel am schwarzen Brett, auf dem ein dicker schwarzer Totenkopf prangte. Er warnte vor giftigen Rattenködern, die in Keller und Hof ausgelegt waren. Eltern sollten auf ihre Kinder und Haustiere achten. »Diesen Ekeltypen müßte man Ratten unters Hemd stecken!« sagte sie genüßlich. »Dann wüßten sie mal, was Ratten sind!« Ihre Augen blitzten. Dirk lachte. Er wußte sofort, wen sie meinte. »Aber wie willst du das anstellen? Die halten doch nicht still.« »Nee. Aber vielleicht…« Sie verstummte. »Mal sehen, vielleicht fällt den anderen was ein!« Als sie in Hannahs Wohnung kamen, stand Paul schon am Herd und goß eine Schüssel voll verschlagener Eier in eine Pfanne, wo er sie unter vorsichtigem Rühren stocken ließ. Amina ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen und starrte aus dem Fenster. Hannah stellte krachend einen Stapel Teller vor Amina. »He, spinnst du? Willst du dich bedienen lassen oder wie?« »Tu doch bloß nicht so, als ob du immer alles machst!« erwiderte Amina. »Außerdem ist ja Dirk auch noch da.« »Immer redest du dich raus!« sagte Paul und stellte das Gas ab. »Los, jetzt macht schon, die Eier sind fertig!« Dirk holte Gläser aus dem Schrank und Gabeln aus der Schublade. Er wollte keinen Streit, vor allem hatte er Hunger.
Als sich alle aufgetan hatten, brachte Amina das Thema Ratten auf den Tisch. »Bah«, sagte Paul, »können wir nicht nachher drüber reden?« Aber auch er fand die Idee nicht schlecht, den Ekeltypen eins auszuwischen. Nur, wie sollte das gehen? »Fangen müssen wir die Ratten im Keller!« sagte Hannah nach dem Essen. »Die Kellerverschläge stehen schon lange leer, seit wir Zentralheizung haben. Früher waren da die Kohlen drin. Aber jetzt ist alles versifft, total feucht und so. Ekelhaft. Ideal für Ratten. Ich wette, wir haben noch einen Schlüssel.« »Selbst wenn wir ‘ne Ratte kriegen, was dann?« fragte Paul. »Wir stecken sie denen in den Briefkasten!« meinte Amina. »Wie denn? Wir haben doch keine Schlüssel! Oder willste so’n Vieh durch’n Schlitz schieben? Das geht höchstens, wenn se tot ist!« widersprach Hannah. »Igitt! Also ich faß die nicht an«, schüttelte sich Paul. Sie überlegten hin und her. Ihnen wollte nicht einfallen, wie sie die Ratten »an den Mann bringen könnten«, und sie waren schon nahe dran, die Sache aufzugeben. Da hatte Dirk eine Idee: »Der Sven, der muß immer den Müll runterbringen. Das hab ich schon oft gesehen.« »Willste die Ratte in die Mülltonne stecken?« fragte Amina mit leuchtenden Augen. »Und dann springt sie ihn an, wenn er den Deckel aufmacht?« »Quatsch! Wie willste denn wissen, wann der zum Müll geht?« bremste sie Paul, dessen erste Begeisterung schon verflogen zu sein schien. »Jetzt warte doch mal ab!« sagte Dirk. »Ganz oft kippt Sven den Müll aus und läßt den Eimer im Treppenhaus stehen. Und der Eimer hat einen Deckel, der mit solchen Spangen zugemacht wird!« »Ja, und da kommt die Ratte rein! Genau!« juchzte Amina. »Klasse!« lachte Hannah.
»Und wenn seine Mutter den Deckel aufmacht? Und außerdem – was ist mit Markus?« Paul war immer noch nicht zufrieden. »Markus? Wieso Markus?« fragte Dirk. »Was hat denn der damit zu tun?« »Na, der gehört auch zu den Arschlöchern, diesen strammdeutschen Jungs!« »Aber der hat euch doch gar nichts getan!« protestierte Dirk. »Bis jetzt nicht, aber kann ja noch werden! Was weißt du schon!« Paul stand auf. »Das ist doch alles Kinderkram! Ich geh Skateboardfahren.« Dirk blickte ihm unschlüssig nach. Dazu hätte er auch Lust gehabt. Aber da Paul sowieso nicht so geklungen hatte, als wollte er ihn dabei haben, hielt Dirk den Mund.
Nach langem Suchen fand Hannah den Schlüssel zum Keller. Aber wie eine Ratte fangen? »Ich weiß was!« rief Hannah. »Ich hab noch einen alten Hamsterkäfig auf dem Hängeboden!« Der Käfig hatte ein Türchen, das zum Öffnen nach oben geklappt wurde. Amina band eine Schnur daran und hockte sich mit dem anderen Ende in der Hand hinter den Küchentisch. »So, jetzt stellt euch vor, da ist ein Köder drin, Herr oder Frau Ratte kommt neugierig und überhaupt gierig heranspaziert, schnüffelt links und rechts, sieht und ahnt keine Gefahr. Eins, zwei, drei schlüpft sie in den Käfig, fängt gemütlich an zu schmatzen, und wups! zieh ich an der Strippe! So! Und das Vieh ist gefangen!« »Traust du dich das? Meinst du, das geht so leicht?« meinte Dirk skeptisch. »Warum nicht? Wir könnens doch probieren!« Während Hannah eine Dose Thunfisch aus der Speisekammer holte und den Inhalt rattengerecht auf einem Stück Karton anrichtete,
flitzte Dirk hinüber in seine Wohnung, um seine Taschenlampe zu holen. Im Keller würde es finster sein. Auf dem Rückweg begegnete ihm die Hauswartsfrau. »Na, wat habt ihr Jör’n denn schon wieder vor?« fragte sie mißtrauisch, als sie die Taschenlampe sah. »Och, wir suchen nur was auf dem Hängeboden!« erfand Dirk. »Daß ihr mir ja nicht aufn Boden jeht, hörste?« rief sie ihm hinterher. Hannah hatte sicherheitshalber drei Schlüssel mitgenommen, aber schon der erste paßte. »Hoffentlich sind die Ratten nicht schon alle hin!« flüsterte Hannah, als sie die Tür aufzog. Ein muffiger feuchter Geruch schlug ihnen entgegen. Vor ihnen lag ein schmaler Gang, der gleich nach rechts abbog. An beiden Seiten reihten sich mit Maschendraht abgetrennte Verschläge aneinander. In manchen stapelten sich Briketts, überall lag Gerümpel herum. Zwei Luken aus Glasbausteinen ließen etwas Licht herein. »Oben drüber ist der Hof«, flüsterte Hannah. In die dumpfe Stille drängte sich ein helles Geräusch. Pling! machte es in regelmäßigen Abständen. Irgendwo tropfte es. Vorsichtig tasteten sich die Kinder voran. »Ihh!« kreischte Dirk plötzlich. Direkt vor ihm lag eine tote Ratte. »Aha!« flüsterte Amina. »Es gibt also wirklich Ratten hier!« Mit der Fußspitze schob sie das Tier zur Seite. Hannah verzog das Gesicht, ging aber trotzdem mutig weiter, dicht neben Amina und Dirk. Bis zum Ende des Ganges war es nicht weit. »Wo sollen wir den Käfig hinstellen?« fragte Hannah. »Schrei doch nicht so! Sonst hauen die Ratten alle ab«, zischte Amina. Wahrscheinlich fangen wir sowieso keine, dachte Dirk, dem reichlich unheimlich war in dem finsteren Gewölbe. Vor allem hatte er Angst, daß ihm eine Ratte über die Füße laufen oder eine Spinne in den Nacken krabbeln würde. In allen Ecken und
zwischen den Maschendrähten spannten sich Spinnenfäden. Ab und zu rieselte Kalk von oben. Dirk zuckte dann jedesmal zusammen und zog den Kragen seines Hemdes zu. Amina und Hannah hatten eine Stelle für den Käfig ausgeguckt, die gut zugänglich war. Vor allem türmte sich dahinter ein Haufen Lumpen, ein ideales Eigenheim für Ratten, wie Amina fand. Hannah stellte den Käfig auf, Amina schob die Pappe mit dem Thunfisch hinein, klappte das Türchen hoch und entfernte sich rückwärts mit der Schnur in der Hand. Die drei Kinder versteckten sich in einem der offenen Verschläge hinter einem Kohlenhaufen. Dirk hatte genau überprüft, ob dort Ratten oder Spinnen hockten, aber zunächst sah er nichts. Erst als ihm langsam das rechte Bein einzuschlafen drohte und er sich vorsichtig in eine andere Stellung schob, entdeckte er eine Armlänge von sich entfernt ein Spinnennetz. Von oben fiel etwas Licht herein und tanzte glitzernd in den Spinnenfäden. Und da war auch die Spinne, die auf dem Netz herumspazierte, als suchte sie nach schwachen Stellen. Hunger schien sie nicht zu haben, denn am Rande des Netzes hing eine sorgfältig versponnene Beute. Wenn wir bloß unsere Beute auch schon hätten! dachte Dirk. Es raschelte. Hannah stieß Amina in die Seite, die stupste Dirk an. »Da!« formte sie unhörbar mit den Lippen. Eine fette Ratte trippelte quer über den Gang – ohne sich um den leckeren Thunfisch zu kümmern. Wahrscheinlich ein Probelauf, dachte Dirk. Um zu sehen, ob die Luft rein ist. Ratten sind klug. Vielleicht haben sie schon gemerkt, daß Gift ausgelegt ist, und hoffentlich riecht das nicht wie Thunfisch. Dirk stützte sich an dem Kohlenhaufen ab und veränderte wieder seine Stellung. Eine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, es juckte. Er strich sie mit der Hand weg. In dem Moment guckte ihn Hannah an und grinste.
»Schornsteinfeger!« flüsterte sie. »Psst!« machte Amina ärgerlich. Pling! tropfte es. Wenn man nicht drauf achtet, hört man es nicht, dachte Dirk. Aber jetzt hätte er jeden Tropfen zählen können. Bis hundert, dachte er, und dann haue ich ab. Das ist mir zu langweilig. Geh ich lieber Skateboardfahren. Paul war gar nicht so dumm. Obwohl sein Spruch über Markus blöde war, oder? Wenn ich eine schwarze Haut hätte, überlegte Dirk, hätte Markus wahrscheinlich nicht mit mir Fußball gespielt oder mich rauf aufs Dach geholt. Pling! Jetzt hatte er vergessen zu zählen. Amina hob vorsichtig den rechten Arm mit der Schnur. Da sah auch Dirk die vorwitzige Ratte, die um den Käfig herumhuschte und offenbar den Zugang zu dem Leckerbissen suchte. Ein Riesenvieh mit langem, nacktem Schwanz, dunkelgrauem Fell, die Öhrchen gespitzt. Seine Nase schnüffelte aufgeregt. An der Falltür blieb die Ratte stehen, hob die rechte Pfote, als dächte sie nach, dann steuerte sie entschlossen auf den Fisch zu. Amina riß an der Schnur, die Tür fiel herunter. Die Ratte drehte sich entsetzt um, suchte den Ausgang, während Amina zum Käfig sprang und mit dem Fuß die Tür andrückte. »Wir haben sie!« jubelte sie. »Wir haben sie! Warte nur, Sven, du wirst bald wissen, was ‘ne Ratte ist!« Das Tier war vor Schreck in eine Ecke gehuscht und verharrte zusammengekrümmt und wie versteinert. Amina hakte das Türchen am Gitter fest. Den Käfig mit der Ratte versteckten sie hinter dem Kohlenhaufen. Das Vieh fiepte empört. Wenn sie es regelmäßig fütterten und mit Wasser versorgten, dann konnten sie in Ruhe abwarten, bis Sven seinen Mülleimer abstellte. Das brauchte nicht heute zu sein und nicht morgen. Da war Amina ganz großzügig. In jedem Fall würden sie alle
drei den Hof im Auge behalten und dann per Telefon Alarm auslösen. An dem Nachmittag passierte nichts. Zwei Stunden lang hatten sie abwechselnd in Dirks Küche am Fenster gestanden, während die anderen beiden Schularbeiten machten. Grammatik: Subjekt, Prädikat, Objekt. »Voll ätzend!« stöhnte Hannah. Dirk sah zwar Sven aus dem Haus kommen, aber ohne Mülleimer. Er setzte sich aufs Mäuerchen, stand aber gleich wieder auf, weil Markus kam. Erst schienen sich die beiden zu streiten. Markus schüttelte dauernd den Kopf, Sven hielt den Jüngeren am Arm gepackt und redete eindringlich auf ihn ein. Verstehen konnte Dirk nichts. Dann verschwanden beide im Keller und kamen mit einer gefüllten Plastiktüte wieder heraus. Markus guckte kurz über den Hof und rief dann Sven aus sicherer Entfernung hinterher: »Det war det letzte Mal!« Sven drehte sich um und meinte nur: »Spiel dir nicht uff, Kleener!« Markus zeigte Sven seinen ausgestreckten Mittelfinger, doch Sven lachte nur und verschwand im Hinterhaus. Dirk sagte den Mädchen nichts davon. Dirks Mutter war ausgesprochen begeistert, als sie von der Arbeit kam und die Kinder gemeinsam über den Hausaufgaben brüteten. Den Ausguck mußten sie allerdings auflösen, denn von dem Rattenplan sollte sie lieber nichts erfahren. Auch am nächsten Tag passierte nichts. Hanna und Amina versorgten die Ratte mit Wasser und Fressen. Eigentlich hatten sie ihr das Leben gerettet, meinten sie, denn im Käfig wäre sie vor dem Gift sicher. Aber Sven erschlägt sie bestimmt, wenn er sie zu packen kriegt, dachte Dirk. Paul war zwar beeindruckt, daß sie die Ratte gefangen hatten, aber statt sich am Ausguck zu beteiligen, ging er nach dem Essen bei Emil lieber zu seinem Onkel in die Fahrradwerkstatt.
Emil zog es in den Kiezladen. Hannah mußte zum Zahnarzt. Dirk wäre gerne zum Spielenachmittag in die Schule gegangen, weil Murat versprochen hatte, ihm Tavla beizubringen, aber als er Aminas enttäuschtes Gesicht sah, ging er mit ihr nach Hause. Im Hausflur kam ihnen Sven entgegen. Amina und Dirk guckten sich an und rasten zum Hinterhaus. Das stand der rote Eimer. »Und wie wollen wir das jetzt machen?« fragte Dirk leise. »Am besten, wir bringen den Eimer in den Keller«, schlug Amina vor. »Dann kann keiner sehen, was wir machen.« »Okay, mach du das. Ich geh vorn ans Tor gucken, ob einer kommt.« Dirk flitzte zum Vorderhaus und auf die Straße. Kein Hausbewohner zu sehen. Amina trug den Eimer in den Seitenflügel, Dirk lief hinterher. Die Ratte saß ganz still in einer Ecke des Käfigs. »Ist die tot?« fragte Dirk mißtrauisch. »Werden wir gleich sehen!« Amina hob den Deckel vom Mülleimer. »Paß auf, ich öffne jetzt den Riegel von dem Türchen und halte den Käfig über den Eimer. Sobald die Ratte raus ist, klappst du den Deckel zu.« »Hast du denn keine Angst, daß sie dich beißt?« fragte Dirk. »Doch. Aber sie muß in den Eimer!« Amina löste vorsichtig den Riegel der Käfigtür. Die Ratte rührte sich nicht. Das Tellerchen war leergefressen. Vielleicht hoffte sie auf neue Nahrung. Amina hob den Käfig an. Die Ratte blickte sich unruhig um, ihre Schnauzhaare zitterten. Dirk hielt den Deckel des Mülleimers auf. Dann kippte Amina den Käfig nach vorne und klappte gleichzeitig das Türchen nach oben. Die Ratte rutschte hilflos auf die Öffnung zu, versuchte verzweifelt sich mit den Pfoten festzukrallen und plumpste schließlich in den Eimer, den Dirk sofort mit dem Deckel verschloß.
Sie hörten die Ratte toben, von den glatten Wänden ihres Gefängnisses abrutschen. Armes Vieh, dachte Dirk. »Toll!« strahlte Amina. Dirk überprüfte, ob die Luft rein war, und dann schleppte Amina den Eimer in Windeseile über den Hof zum Hinterhaus, wo sie ihn genau da abstellte, wo er vorher gestanden hatte. Die Ratte hatte sich nicht mehr gerührt. Dirk tastete mit den Augen die Fensterfront des Vorderhauses ab. Hoffentlich hatte sie keiner beobachtet. Aber es regte sich nichts. Oder? Was war da mit der Gardine im zweiten Stock rechts, wo der alte Bode wohnte? Bewegte die sich? Und wennschon, dachte Dirk. Der verrät uns nicht. Hoffentlich kam Sven bald zurück. Dirk und Amina malten sich aus, wie die Ratte Sven anspringen würde und er sich vor Schrecken in die Hose machte. Vielleicht springt sie aber gar nicht, dachte Dirk, im Käfig hatte sie ja auch ganz still gesessen. Sie stellten sich bei Amina in der Küche ans Fenster. Robertchen schlief, Thilo arbeitete in seiner Kammer. »Amina«, sagte Dirk plötzlich. »Kann ich dich mal was fragen?« »Was denn?« »Also, ich weiß überhaupt nicht, wo ihr herkommt. Ich meine, deine Mutter und dein Onkel, woher sind die?« »Na, aus Berlin!« »Aber…« »Du meinst, warum die schwarz sind? Wegen meinem Opa, der ist Amerikaner, schwarzer Amerikaner. Er war Soldat hier, und dann hat er sich in meine Oma verliebt und ist hiergeblieben.« »Und sind deine Großeltern immer noch in Berlin?« »Klar. Wenn du zu Pauls Geburtstag gekommen wärst, hättest du sie kennengelernt.« Sie kicherte. »Wenn Opa da ist,
dürfen wir keine Schimpfworte sagen! Da macht der immer ein Theater!« »Und…« Dirk zögerte. »Ohmchen? Ach, die ist total lieb. Die zankt sich höchstens mal mit Rosa wegen Unordnung oder so was.« »Nein, ich meine, dein Vater, du hast gesagt…« »Ach so!« sagte sie. »Der ist auch Amerikaner.« »Ist der denn noch hier?« fragte Dirk. »Nee, der ist in USA, in Alabama. Weit weg!« »Ist doch blöde! Erst heiraten und sich dann scheiden lassen! Aber vielleicht gehen wir ja zurück nach Heiersdorf«, sagte Dirk leise. »Rosa hat gesagt, es hat einfach nicht geklappt mit meinem Vater. Aber das haben sie erst zu spät gemerkt. Ich weiß nix mehr davon.« »Und seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen?« »Nein. Nur Bilder von ihm. Er schreibt uns. Aber eigentlich ist der mir total fremd. Für mich ist Thilo mehr mein Vater. Den kenn ich schon immer und… he, guck mal!« Sven betrat den Hof, zusammen mit einer Frau, beide schwer mit Tüten und Taschen beladen. »Ist die nicht Kassiererin im Supermarkt?« fragte Dirk. »Klar, weißt du das nicht? Das ist Svens Mutter.« »Aber jetzt kriegt die ja die Ratte ab!« Dirk kannte die Frau. Sie war klein, hatte schon viele graue Strähnen in ihren kurzen welligen Haaren und trug eine Brille. Ihre Stimme war sehr leise, sie war der erste erwachsene Mensch, den Dirk als schüchtern empfand. Sie arbeitete schnell, war höflich und freundlich. Auch zu Kindern. Aber warum hatte die so einen blöden Sohn? Als die beiden im Hinterhauseingang verschwanden, sah Dirk kurz etwas Rotes aufleuchten. Also nahmen sie den Eimer mit hinauf. Hoffentlich blieb die Ratte so still sitzen wie vorhin.
Amina zappelte ungeduldig hin und her. Sven wohnte im zweiten Stock. Das Küchenfenster war zur Hälfte mit einer Spitzengardine verhängt, aber da Dirk und Amina schräg von oben guckten, konnten sie einen Teil der Küche sehen und Kopf und Schultern von Sven und seiner Mutter. Die beiden verhielten sich völlig unauffällig, nichts deutete darauf hin, daß irgendwas passiert war. Doch dann holte Sven etwas aus dem Küchenschrank und bückte sich. Amina griff nach Dirks Hand und drückte sie ganz fest. Und plötzlich wurde es hektisch da gegenüber. Sven und seine Mutter sprangen hin und her, dann liefen sie aus der Küche und schlugen die Tür hinter sich zu. »Es hat geklappt, es hat geklappt!« jubelte Amina. »Jetzt weißt du, was eine Ratte ist, lieber Sven! Hoffentlich beißt sie dich, hoffentlich beißt sie dich.« In dem Moment kam Thilo mit Robert auf dem Arm in die Küche. Der Kleine war ganz verheult, strahlte aber, sobald er Amina entdeckte. »Hier ist ja jemand!« sagte Thilo ganz erstaunt. »Habt ihr den Robert nicht gehört?« »Nee«, sagte Amina und streckte die Arme aus. »Komm mal her, du Kleiner. Dich läßt der böse Sven jetzt bestimmt in Ruhe!« Sie drückte ihren Bruder an sich und tanzte in der Küche herum. Thilo blickte Dirk an. »Kannst du mir mal erzählen, was hier los ist? Habt ihr das große Los gezogen?« »So ähnlich«, grinste Dirk.
Von der Straße drang ein lautes Tatütata bis in die Küche. Dirk und Amina stürzten ans Fenster eines der vorderen Zimmer und sahen einen Feuerwehrwagen, der direkt vor ihrem Haus hielt. Sven stand da und wartete.
»Komm, wir gehen runter«, sagte Dirk zu Amina. »Nee, ich guck mir das lieber von oben an!« Dirk rannte los, und im Treppenflur begegnete er Markus mit seiner Schwester im Schlepptau. »Hallo, Markus!« grüßte Dirk. »Die Feuerwehr is jekomm!« krähte die kleine Mone und zog Markus die Treppe hinunter, der Dirk kaum merklich zugenickt hatte. Im Hof stand Svens Mutter mit der Hauswartsfrau. Beide blickten nach oben zu dem Küchenfenster. Markus setzte sich auf das Mäuerchen, Mone rannte auf die beiden Frauen zu. Dirk schlenderte hinterher. »Also, det is ja nich zu fassen!« sagte die Hauswartsfrau. »Wie lange lieg ick die Hausverwaltung schon in die Ohrn, dasse ma was wegen die Ratten unternehm. Nu ham’se schon die Kammerjäger jeschickt, und denn so wat!« »Aber«, wandte Svens Mutter vorsichtig ein. »Wie kommt denn eine Ratte in einen verschlossenen Mülleimer? Das will mir nicht in den Kopf.« »Det war’n bestimmt die Jör’n wieder!« sagte die Hauswartsfrau und schaute Dirk an. »Was denn?« fragte Dirk mit dem unschuldigsten Blick der Welt. »Ach, das ist doch Unsinn! Wie sollen die Kinder denn an eine Ratte kommen!« nahm ihn Svens Mutter in Schutz. »Wahrscheinlich war der Deckel eben doch nicht ganz zu.« In dem Moment kam Herr Bode mit einem Stapel Papier und einem Netz voll leerer Flaschen auf den Hof. »Was macht denn die Feuerwehr bei uns?« fragte er. »Hat hier schon wieder jemand gekokelt?« »Nein, nein«, sagte Svens Mutter. »Bei uns in der Küche ist eine Ratte. Wir müssen sie mit dem Mülleimer eingeschleppt haben.«
»Eine Ratte? Und wie kommt die in den Mülleimer?« Herr Bode guckte ganz ernst, doch als sein Blick auf Dirk fiel, glaubte der, in den Augen ein winziges Aufleuchten zu erkennen, so als ob der alte Mann innerlich grinste. »Mein Junge bringt doch immer den Müll runter, das macht er wirklich sehr zuverlässig«, sagte Svens Mutter. »Und heute hat er mich von der Arbeit abgeholt, ich hatte so schwer zu schleppen. Doch, er hilft mir wirklich, der Junge.« Die Hauswartsfrau verzog skeptisch die Mundwinkel. Sie schien von »dem Jungen« nicht so viel zu halten. »Jedenfalls, wenn er da ist. Na ja, und wie er vorhin einen Müllbeutel in den Eimer tun will, da hopst plötzlich eine dicke Ratte aus dem Eimer. Sven beinahe ins Gesicht. Was hat sich der Junge erschrocken!« Dirk mußte sich äußerste Mühe geben, nicht herauszuplatzen. Er blickte zu Markus hinüber. Der hörte höchst interessiert zu. »Und die Feuerwehrleute suchen jetzt die Ratte?« fragte Herr Bode. »Ja, was sollte ich denn machen? Ich kann doch keine Ratte totschlagen!« Und der Junge? lag es Dirk auf der Zunge. Aber er hütete sich, auch nur einen Ton zu sagen. Nachher verriet er sich noch. Kaum hatte Herr Bode das Papier und die Flaschen in den Containern verstaut, kamen die Feuerwehrleute und Sven auf den Hof. Einer der Männer trug eine Plastiktüte und hielt sie Svens Mutter entgegen. »Alles in Ordnung, Sie können wieder in Ihre Wohnung«, sagte er. »Aber Sie sollten mal den Kammerjäger bestellen. Wenn die sich schon so dreist herauswagen…« »Is doch längst erledigt«, mischte sich die Hauswartsfrau ein. »Überall sind Köder ausgelegt, seit drei Tagen schon.«
»Tja, Ratten sind anpassungsfähig. Passen Sie vor allem auf die Kinder auf«, sagte er mit Blick auf Mone, die das Gespräch mit offenem Mund verfolgt hatte. »Ick sag Ihn doch, det Vieh hat eener rinjesteckt in den Eimer!« sagte Sven verärgert. »Der Deckel war zu!« »Na, wenn das stimmt, dann muß dich aber einer mächtig gerne haben!« lachte der Feuerwehrmann. »Und sag das lieber nicht so laut, sonst muß ich den Einsatz in Rechnung stellen!« Damit verabschiedeten sich die Feuerwehrleute. Svens Mutter ging zurück in ihre Wohnung, die Hauswartsfrau ebenfalls. Während Dirk mit Herrn Bode zum Vorderhaus ging, hörte er, wie Sven drohend zu Markus sagte: »Ick kriege raus, wer det war!« Und Markus erwiderte: »Ja, gloobste etwa, icke?« »Blöd jenug wärste!« Dirk hielt Herrn Bode die Tür zum Vorderhaus auf. »Wird er wohl verdient haben, der Sven«, murmelte der alte Mann vor sich hin. Weiter sagte er nichts. Dirk rannte die Treppen nach oben und klingelte bei Amina Sturm.
15. Kapitel
Als Dirk am folgenden Morgen die Wohnung verließ, schien das ganze Haus kopfzustehen. Möbelpacker liefen die Treppen auf und ab. Der Freund von Gustav Bode zog ein, mit Sack und Pack. Zwei kleine Katzen witschten an Dirk vorbei, gefolgt von einer schnaufenden Frau von Werderitz. Und aus der Wohnung der Schröters klang mörderisches Gebrüll. Eine Männerstimme. Dazu Geräusche, als würde jemand mit einem Gürtel geschlagen. Dirk blieb stehen. »Dir werd ick’s zeigen, Bürschchen! Den eigenen Vater beklauen!« Dazwischen schrie Markus immer wieder: »Au! Papa, hör doch auf! Ick hab doch nüscht jemacht. Au! Aua!« »Wo haste den Schlüssel her?« »Ick hab keen Schlüssel!« »Und wo sind die Flaschen? Zwei Kartons fehlen!« Die beschwörende Stimme der Oma: »Hajo! Jetzt hör doch auf!« Mone kreischte: »Papa! Nich haun, Papa! Papa, du tust Markus weh!« »Weeß ick doch nich, Papa!« Dirk drückte sich die Hände auf die Ohren und rannte die Treppe runter. Irrenhaus. Er hätte sich gar nicht so zu beeilen brauchen. Frau Scholle war krank, die erste Stunde fiel aus. Schade. Er hatte sich vorgenommen, sich zum allerersten Mal zu melden, um etwas vom Vortag zu erzählen. Von der Feuerwehr und der Ratte in der Wohnung – natürlich ohne die Vorgeschichte. Sie sollten sich selber beschäftigen, sagte der Vertretungslehrer, er mußte nebenan unterrichten. Murat
klappte einen flachen, länglichen Holzkasten auf. »Gestern bist du ja nicht gekommen«, sagte er mit leicht vorwurfsvollem Unterton. »Dann zeig ich dir jetzt, wie Tavla geht, ja?« Es dauerte eine Weile, bis Dirk begriffen hatte, wie man die Steine am geschicktesten setzte und wie man einen Pasch klug nutzte. Das Spiel machte Spaß, aber er würde noch viel Übung brauchen, bis er so schnell ziehen konnte wie Murat. Der schien alle möglichen Zahlenkombinationen im Kopf zu haben und vor allem immer genau zu wissen, auf welche der zackigen Spielfelder er seine Steine am besten verteilte. Dirks Mutter hatte bald Geburtstag, und er wollte ihr ein Tavla-Spiel schenken. Dann hätte er auch was davon, vor allem wenn er bis dahin oft mit Murat übte. Und Murat kannte ein türkisches Geschäft, wo es billige Tavla-Bretter gab. Auch in der zweiten Stunde war kein normaler Unterricht. Zusammen mit den beiden sechsten und der anderen fünften Klasse gingen sie in die Aula, wo ihnen die Arbeitsgruppen vorgestellt wurden, die ab nächstem Monat in der Schule eingerichtet wurden – an drei Nachmittagen in der Woche. Musik, Theater, Video, Foto, Schreibwerkstatt, Holzarbeiten, Sport – die Auswahl war so groß, daß Dirk sich erst mal überhaupt nicht entscheiden konnte. Abgesehen von der Fußball-AG, die würde er in jedem Fall wählen. Für das nächste Halbjahr war in der Schule sogar ein Mittagstisch geplant. Aber darauf brauchte Dirk nicht mehr zu warten, denn er aß inzwischen jeden Mittag mit den anderen Kindern. Seine Mutter hatte nach einigem Zögern schließlich zugestimmt: »Dann brauch ich wenigstens kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich dich soviel allein lasse!« hatte sie gemeint. »Aber nur unter der Bedingung, daß du deine guten Manieren nicht vergißt.« Allerdings hatte sie sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen können, und Dirk war ihr vor Freude um den Hals gefallen.
»Mhm, es gibt Blumenkohl!« rief Amina, als sie mit Hannah und Dirk ihre Wohnung betrat. Paul und Emil saßen schon am Küchentisch, Emil hatte ein Blatt Papier vor sich und zeigte Paul, wie »tags« gemalt wurden, die Zeichen an den Hauswänden. Emil versuchte immer noch, Paul in seine Gruppe im Kiezladen zu holen, doch der sperrte sich. »Sieht gut aus«, sagte er zu Emil, »aber das ist nicht mein Ding. Ich mach bei der Video-AG mit. Und vielleicht noch bei der Theater-AG.« »Jetzt räumt mal den Tisch frei und wascht euch die Pfoten«, sagte Rosa. Paul bückte sich zu Robert, der am Boden saß und mit ernstem Gesicht Kochtöpfe übereinander stapelte. »Komm, Robert, Händewaschen!« »Händewassn«, wiederholte Robert und zog den untersten Topf weg, so daß sein Turm polternd zusammenkrachte. »Emil und Amina, deckt den Tisch, Hannah, räum die Töpfe ein, und, Dirk, geh doch mal Thilo holen. Ich hab Hunger!« Die Tür zu Thilos Arbeitszimmer, das kaum größer war als eine Kammer, war verschlossen. Das hieß: »Bitte nicht stören! Hier versucht jemand zu arbeiten!« hatte Thilo Dirk erklärt. »Hier tut jemand so, als würde er arbeiten!« hatte Amina ihn verbessert. Damit meinte sie, daß Thilo manchmal bloß dasaß und las. Das wär doch schließlich keine Arbeit! Als Dirk jetzt klopfte und nach Thilos »Ja, was ist?« eintrat, saß Thilo an seinem Computer. Vor ihm lag ein aufgeschlagenes Buch, dessen Seiten rechts und links mit Gummibändern festgehalten waren. Und um ihn herum waren überall Bücher verteilt, dicke Wälzer und dünne Heftchen. Dazwischen eine Reihe von bekritzelten Zetteln. Das totale Chaos. Es war Dirk ein Rätsel, wie sich jemand darin zurechtfinden konnte. »Das Essen ist fertig!« sagte Dirk. »Hallo, Dirk! Ich komme sofort!« Thilo rieb sich die Augen.
Dann huschten seine Hände ein paarmal wieselflink über die Tasten, und er stellte den Computer ab.
Nach dem Essen betrachtete Dirk das große Bild neben der Weltkarte. Es war eine riesige Collage aus vielen verschiedenen nebeneinandergeklebten Fotos, auf denen alle aus der Familie, Freunde und Verwandte abgebildet waren. Ein riesiges Wimmelbild. »Guck, das ist Rosa, wie sie in die Schule kommt!« sagte Amina und zeigte auf ein kleines Mädchen mit einer Schleife im Haar und einer großen Schultüte in den Händen. Daneben die stolzen Eltern. Der schlanke dunkelhäutige Mann im Anzug, das war also Aminas amerikanischer Großvater! »Und das ist aus denen geworden!« lachte Amina. Der schlanke junge Mann war nun ein stattlicher Herr, dessen kahle Stirn glänzte. Seine Frau hatte nach wie vor dichte, blonde Haare, war aber im Ganzen etwas fülliger geworden. Beide blickten noch genauso stolz auf ihre Tochter, die jetzt einen kleinen Jungen auf dem Schoß und ein winziges Baby im Arm hatte, dessen Gesicht auf dem Foto kaum zu erkennen war. »Guck, das bin ich! Eine Woche alt!« »Und dein Vater? Ist der hier auch dabei?« fragte Dirk »Klar doch, das war der schönste Mann Berlins – jedenfalls behauptet Rosa das…« »Und ich seh ihm sehr ähnlich!« rief Paul, der das Geschirr spülte. »Tss!« machte Amina und tippte sich an die Stirn. »Einbildung is auch ‘ne Bildung!« »Bist bloß neidisch!« Paul spritzte ein bißchen Spülwasser quer durch die Küche. Amina sprang zur Seite. »Idiot!« »Welcher ist denn nun dein Vater?« drängelte Dirk. Er mochte es nicht, wenn die beiden sich stritten. »Warte mal,
hier ist ein Bild von ihm mit Paul und mir.« Aminas Finger flitzte über die Collage. »Und hier…« Da klingelte das Telefon, das auf dem Küchenschrank stand. Paul nahm ab. »Hallo! – Paul. – Ja, die Hannah ist hier. Moment.« Paul grinste und legte die Hand auf die Sprechmuschel. »Hannah! Die alte Birkener aus dem Hinterhaus will dich sprechen!« Die Frau sprach so laut, daß die anderen fast verstehen konnten, was sie sagte. Hannah hielt den Hörer ein Stück weg. »Was? Die Bessie ist weg? Wie lange, sagten Sie? – Zwei Stunden? – Ach, bestimmt hockt die bei den Pennern auf der Bank. – So lange noch nie, ja, aber… – Gut, mach ich. Wir gehen mal gucken. – Ja, wir sagen dann Bescheid. – Nein, nicht gleich die Polizei. – Die Bessie geht doch nicht verloren. – Gut, ich sag dann Bescheid. Tschüs.« Hannah legte den Hörer auf und sagte: »Die Frau, die mit Bessie immer rausgeht, ist schon zwei Stunden weg. Ich soll sie suchen gehen, kommt ihr mit?« »Ich… ich kann nicht, ich bin verabredet«, sagte Emil. »Sinan und Mesut warten.« Rosa kam zurück in die Küche. »Aber einer muß hierbleiben! Ich muß gleich arbeiten gehen, und Thilo hat auch zu tun!« »Ich denke, Robert schläft!« meinte Paul. »Aber höchstens eineinhalb Stunden.« »Bis dahin sind wir längst zurück«, meinte Amina. »Wieso kann denn Thilo nicht aufpassen?« maulte Paul. »Weil er arbeitet! Ist das so schwer zu kapieren? Jetzt macht keine lange Debatten, ich muß los.« Und schon rauschte sie wieder aus der Küche. Amina versprach Thilo, in einer guten Stunde wieder da zu sein, und dann brachen sie auf. Als sie aus der Wohnungstür traten, kam Markus die Bodentreppe heruntergelaufen. Ein kräftiger Geruch nach Farbe umwaberte ihn. In das Poltern seiner Stiefel mischte sich ein helles, mechanisches Klicken. Er verzog keine Miene. Dirk wollte
ihm erst einen Gruß zurufen, aber ehe er sich entschieden hatte, war Markus schon an ihnen vorbei. »Der stinkt wie’n Sprayer!« meinte Emil. »Der doch nicht!« sagte Paul.
Zuerst gingen sie zu der Bank an der großen Kreuzung. Dort saßen aber nur Männer, die die warmen Sonnenstrahlen genossen und eine Flasche Wein kreisen ließen. Keines der Kinder traute sich, sie nach der Frau zu fragen. »Die geht mit Bessie immer aufn Kreuzberg«, meinte Hannah. »Dann braucht sie nicht die Kacke aufzusammeln.« »Als ob das irgend jemand machen würde!« »Dabei ist es Gesetz!« Am Fuße des Wasserfalles teilten sie sich auf. »Zwei so rum und zwei so rum«, sagte Paul. »Wir gehen zusammen, ja, Dirk?« meinte Amina und zupfte ihn am Ärmel. Paul warf seiner Schwester einen langen Blick zu. »Okay, Hannah«, sagte er dann, »wir gehen zur großen Wiese und zum Spielplatz und ihr zum Rosengarten und zur Teufelsschlucht.« »Und wo treffen wir uns?« fragte Dirk. »In einer halben Stunde hier«, schlug Paul vor. »Nee, besser oben am Denkmal, dann brauchen wir nicht wieder zurück«, entgegnete Hannah. »Ja, das ist gut«, meinte Amina. »Komm, Dirk.«
Sie gingen systematisch vor. Den kleinen Platz mit den Tischen und angeschraubten Stühlen, wohl für kartenspielende Rentner gedacht, überschauten sie mit einem Blick. Dort saß sowieso nie jemand. Sie durchstöberten die Büsche entlang des Wasserfalls bis zur Brücke. Dort bleiben sie eine Weile stehen
und schauten in das gurgelnde Wasser unter sich. »Hier hab ich mal einen Gummistiefel verloren, da war ich noch ganz klein«, erzählte Amina. »Ich hatte ihn ausgezogen, weil mir Wasser reingekommen war. Und dann ist er mir aus der Hand gerutscht, ins Wasser, und unter die Brücke geschwommen. Die anderen Kinder sind ganz schnell auf die andere Seite geflitzt, aber er kam nicht mehr raus.« »Vielleicht steckt er immer noch da drunter!« meinte Dirk. »Nee, glaube ich nicht, die machen doch immer sauber nach dem Winter. Bald stellen sie sowieso das Wasser ab.« Im Rosengarten hockte ein ganz in Orange gekleideter junger Mann mit einem strähnigen, langen Bart auf dem Rasen und trommelte. Ein kleines Kind schaute ihm fasziniert zu, obwohl seine Mutter schon dreimal ungeduldig gerufen hatte. Ein Stück weiter, zwischen den Rosenbeeten, saßen drei ältere Frauen mit Kopftüchern auf einer Bank und strickten, auf der Bank daneben unterhielten sich drei Männer und ließen dabei Perlenketten durch die Finger laufen. »Haben Sie eine Frau mit einem kleinen, dicken Dackel gesehen?« fragte Amina die strickenden Frauen. »Frau mit rotes Gesicht? Und Hund wie Wurst?« Amina lachte. »Genau die!« »Heute noch nicht. Aber gestern, gestern hab ich gesehen.« »Na gut, danke!« Sie durchquerten die Teufelsschlucht, von der ein Teil mit Zäunen abgesperrt war. Hier sollte auf natürliche Weise ein Teich entstehen, erzählte Amina. Sie hatten letztes Jahr einmal mit der Klasse eine Führung durch den Viktoria-Park gemacht, wie der Kreuzberg offiziell heißt. Unterwegs sahen sie jede Menge Hunde, aber keine Spur von Bessie. In der Nähe des Bolzplatzes, auf dem Dirk mit Markus Fußball gespielt hatte – vor langer, langer Zeit, wie es ihm schien –, hörten sie plötzlich ein Winseln. Es kam von einer dicht mit Büschen und
Bäumen bewachsenen Böschung, um die sich der Weg hinauf zum Denkmal schlängelte. »Komm, da steigen wir rauf!« Dirk nahm Aminas Hand und zog sie hinter sich her. Sie ließ auch nicht los, als plötzlich Bessie aus den Büschen gekrochen kam und schwanzwedelnd vor ihnen stand. »Bessie! Da bist du ja!« Die Kinder stiegen höher. Was mochte mit der Frau geschehen sein? »Hallo, hallo! Ist da wer? Hallo!« hörten sie plötzlich. Und da entdeckten sie die Frau mit dem roten Gesicht. Sie war der Länge nach hingeschlagen, offenbar von dem Weg oberhalb der Böschung gestürzt. Sie lag auf dem Rücken, äußerlich unversehrt. »Euch schickt der liebe Jott«, sagte sie mit leicht lallender Stimme. »Ick hab schon jedacht, ick müßte hier verrecken. Die dusslige Bessie konnte keenen holen. Und gloobste, eener hilft mir? Da latschen die einfach vorbei. So wat. Na, und denn bin ick erst ma wegjenickt.« Die Frau machte einen Versuch, sich aufzurichten. »Autsch!« rief sie. »Ick komm einfach nich hoch.« Sie hielt sich die linke Hand. Dirk überlegte. Was konnten sie tun? Hilfe holen, was sonst. Die hellblauen Augen in dem aufgedunsenen Gesicht blickten ihn erwartungsvoll an. Amina hatte sich schon vorgebeugt: »Kommen Sie, ich helfe Ihnen, vielleicht geht’s dann.« Die Frau schreckte zurück. »Na, du Schokoladenkind, schaffste det denn? Verheb dir ma nich! Ick bin ‘ne jewichtige Person!« »Los, Dirk, nun hilf doch mal!« Amina dirigierte ihn auf die andere Seite der Frau. Säuerlicher Alkoholgeruch stieg ihm in die Nase. »Na, jut, ihr zwei. Det soll wohl ‘n Schwarzweiß-Bild wer’n, wa!« Sie kicherte vor sich hin. Dann legte sie ihre Arme um die Schultern von Dirk und Amina, und die zogen sie hoch, so
daß sie zum Sitzen kam. »Kiek an. Gleich sieht die Welt janz anders aus!« sagte sie. »Au, mein Kopp!« »Meinen Sie, Sie können aufstehen?« fragte Amina. »Ick weeß nich, mein Knie tut höllisch weh. Aber probiern woll’n wa’s ma, wa!« »Soll ich nicht lieber erst die anderen holen, Amina?« fragte Dirk. »Oder die Feuerwehr!« »Bleib mir bloß mit die vom Leib!« sagte die Frau energisch mit nahezu klarer Stimme. »Die stecken mir bloß wieder inne Klapse.« Amina hockte sich neben die Frau. Dirk blieb zaudernd stehen. Schließlich sagte er: »Also, ich geh jetzt zum Denkmal und hol die anderen beiden. Die müssen sowieso wissen, daß wir sie gefunden haben, oder?« Dirk wollte vermeiden, daß er mit der Frau alleine bliebe. Amina nickte. »Gut, ich warte.« Es war ein schweres Stück Arbeit, die Frau auf die Beine und wieder auf den Weg zu bekommen. Aber mit vereinten Kräften schafften sie es. Auf Hannah und Paul gestützt – die beiden waren am kräftigsten – schleppte sich die Frau bis zur nächsten Parkbank. »So, hier laßt mir ma sitzen«, schnaufte sie erschöpft. »Ja, geht denn das?« fragte Hannah. »Wir können die Bessie nach Hause bringen, aber was ist mit Ihnen?« »Ach, Kind, Unkraut verjeht nich. Mach dir ma keene Sorgen. Aber wennste mir ‘n Jefallen tun willst, denn jeh zu meine Kumpels und sag die Bescheid. Die hocken vorm Chinaladen uff die Bänke, da, wo ooch der Blumenladen is, weeßte, wo ick meine?« »Ja. Ist gut. Machen wir. Na denn… gute Besserung«, sagte Amina. »Ich dank euch auch schön. Und da schimpfen die Leute immer auf die Jugend. Zu meiner Zeit…« Sie brabbelte vor sich hin und schien vergessen zu haben, daß die Kinder noch da waren.
Hannah nahm Bessies Leine, und sie machten sich auf den Weg nach Hause. »Was wird denn jetzt aus der?« fragte Dirk. »Keine Ahnung.« Paul zuckte die Achseln. »Ich glaube, die schlafen auf Parkbänken«, meinte Amina. »Haben die denn kein Zuhause?« Dirk konnte sich das gar nicht vorstellen. Man mußte doch ein Bett haben, aufs Klo gehen, sich waschen, die Sachen wechseln, Essen kochen. »Nee. Manche pennen auch in Heimen.« »Oder in Hausfluren. Manchmal, da schlafen welche bei uns im Treppenhaus, oben, vor der Bodentür«, meinte Amina. »Das ist voll hart, eh«, meinte Hannah, »so’n Leben.« »Ob die Frau Kinder hat? Oder sonst Verwandte? Man kann doch nicht so ganz alleine sein?« überlegte Amina. »Na, die hat doch ihre Kumpels!« meinte Paul. »Die sind mir unheimlich«, sagte Amina. »Wer geht denn hin und sagt Bescheid?« Schweigen. »Ich bring Bessie zu Frau Birkener«, meinte Hannah. »Wir müssen zu Robert«, fügte Paul hinzu. »Also ich«, seufzte Dirk. »Sieht ganz so aus«, lachte Paul. »Ich geh mit!« sagte Amina. »Zu zweit trau ich mich.«
16. Kapitel
Dirk saß in seinem Zimmer und spielte mit dem Gameboy, als seine Mutter nach Hause kam. Da er gerade die schnellste Stufe zu laufen hatte, warf er ihr nur ein kurzes »Hallo!« zu. Doch schon rief seine Mutter: »Dirk, komm mal her!« »Moment«, sagte Dirk, »gleich.« »Nicht gleich! Sofort bitte!« Das war unmißverständlich. Dirk legte den Gameboy zur Seite. Schade, beinahe hätte ich einen neuen Rekord geschafft. Seine Mutter hatte die beiden vollen Einkaufstaschen auf zwei Küchenstühlen abgestellt und hängte ihre Jacke auf einen Bügel. »Junge, so geht das doch nicht!« sagte sie und deutete auf die Spüle, in der sich zwei Tassen, zwei Gläser, vier Teller, vier Messer und drei Teelöffel angesammelt hatten. »Was ist denn?« fragte Dirk. »Kannst du denn nicht mal alleine drauf kommen, daß abgewaschen werden muß?« Dann fiel ihr Blick auf Dirks Hosen. Es waren die kurzen, die er heimlich aus dem Nähkorb stibitzt hatte. »Sag mal, wieso hast du denn diese Hosen an?« sagte sie und zupfte an den Fransen. »Die müssen doch erst noch umgenäht werden! Ich will nicht, daß du so rumläufst. Und komm mir bloß nicht mit den anderen. Du kannst mir doch nicht auf der Nase rumtanzen, während ich das Geld verdiene!« Das Geld für mich schickt mein Papa, dachte Dirk trotzig. Außerdem kann ich selbst gar kein Geld verdienen. »Jetzt steh nicht so blöd rum! Zieh die Hosen aus und leg sie zum Nähkorb.«
Dirk verkrümelte sich schleunigst. Die hat ja eine Laune heute! Während er sich eine Jogginghose anzog, packte seine Mutter in der Küche unter lautem Klappern den Einkauf aus. Auf dem Weg ins Bad warf sie einen Blick in Dirks Zimmer. »Na, hier sieht’s ja auch köstlich aus. Heb sofort die Sachen auf und bring sie ins Bad! Und räum endlich die Comic-Hefte ins Regal. Herrgott noch mal, das ist ja wirklich wie bei Hempels unterm Sofa! Als wenn ich nicht schon genug um die Ohren hätte!« Dirk sammelte eilig die Sachen zusammen, fischte eine Socke unter dem Regal hervor und trug alles ins Bad. Ungerecht ist das, grummelte er vor sich hin. Ist doch mein Zimmer! Das geht Mama doch überhaupt nichts an. »Ich weiß nicht, Dirk, ob diese Kinder wirklich der richtige Umgang für dich sind!« meinte seine Mutter, während sie die Wasche in die Waschmaschine stopfte. Ihre Stimme klang nicht mehr so wütend, eher müde. »Früher warst du viel ordentlicher.« »Da war ja auch alles anders!« »Tja, das ist wohl wahr«, seufzte seine Mutter und stülpte die Taschen der Hosen um, die sie waschen wollte. »Aber so ist das nun mal.« Dirk stellte sich ans Fenster und blickte hinunter in den Hof. »Bist du immer noch böse mit Papa?« fragte er. »Na, böse ist wohl nicht das richtige Wort«, erwiderte sie. »Ich meine, willst du dich wieder mit ihm vertragen?« »Auch darum geht es nicht.« Sie legte ihre Hände auf seine Schultern. »Dirk, ich werde bestimmt nicht mehr mit Papa zusammenleben, wenn es das ist, was du wissen möchtest.« Dirk drehte sich zu ihr um. »Nie wieder?« fragte er und merkte, wie ihm die Tränen kamen. Seine Mutter nahm ihn in die Arme, und er ließ sich einfach fallen. »Das ist vorbei, Dirk. Aber deswegen verlierst du noch lange nicht deinen Papa. Und spätestens Weihnachten kannst du zu ihm fahren, das habe ich
mit ihm ausgemacht. Vielleicht sogar schon früher.« Dirk schniefte. »Aber du kommst nicht mit?« fragte er und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Seine Mutter reichte ihm ein Taschentuch. »Nein. Ich weiß sowieso nicht, ob ich überhaupt frei kriege. Und ihr zwei braucht mich doch gar nicht. Oma und Opa sind ja auch noch da und Micha!« Sie schüttete Waschpulver in die Maschine und drückte die Klappe zu. Dirk schaute wieder aus dem Fenster. Dann ist es also wirklich endgültig, dachte er. Und wir bleiben für immer hier, oder? Oder soll ich etwa zu Papa nach Heiersdorf? Quatsch, der will mich doch gar nicht! Er legte seine Stirn an die kühle Fensterscheibe. Draußen nieselte es ein bißchen. Svens Mutter durchquerte den Hof. Sofort mußte Dirk an die Ratte denken. Davon hatte er seiner Mutter nichts erzählt. Er war nicht sicher, was sie dazu sagen würde. Obwohl sie Sven ja nicht leiden konnte, weil der immer so großmäulig auftrat und nie ordentlich grüßte. Amina hatte Thilo sofort alles erzählt und Rosa bestimmt auch. Thilo hatte gegrinst und nur gemeint, daß sie deswegen trotzdem einen Selbstverteidigungskurs machen sollte, schließlich hätte sie ja nicht immer eine Ratte zur Hand. Und sie sollten bloß aufpassen, daß sich keiner verplapperte. »Der weiß doch, daß das jemand mit Absicht gemacht hat – also wird er wissen wollen, wer das war!« Gegenüber bei Hannah in der Wohnung stand Amina am Fenster und winkte Dirk zu, er solle rüberkommen. Dirk wandte sich zu seiner Mutter um, die sich Badewasser einließ. »Mama, darf ich kurz rüber zu Hannah? Ich muß noch was wegen Mathe fragen und…« »Nun hau bloß schon ab!« Dirk war schon halb aus der Tür, als seine Mutter ihm noch hinterherrief: »Halt! Nimm den Müll mit! Daß du nicht von
alleine auf so was kommst…« Im Hof begegnete er Andi und Sven, die im Hinterhaus verschwanden, während Dirk den Seitenflügel hinauflief. Sie hatten von Markus geredet, aber mehr hatte Dirk nicht mitbekommen. Glaubte Sven wirklich, daß Markus ihm die Ratte in den Eimer gesteckt hatte, weil sie sich wegen der Schnapsflaschen gestritten hatten? »Du, wir wollen Verstecken auf dem Boden spielen, machst du mit?« fragte Amina. »Ja, habt ihr denn einen Schlüssel?« fragte Dirk erstaunt. »Klar, wir haben doch einen Verschlag auf dem Boden«, meinte Hannah. »Jetzt ist es bestimmt schon ziemlich düster da oben. Das bringt voll Spaß, sage ich dir.« »Gruselig«, meinte Amina und strahlte. »Na ja«, brummte Paul. »Wir brauchen auch nicht besonders leise zu sein. Bei uns ist keiner, und die Birkener ist eh taub. Bloß die Hauswartsfrau darf uns nicht hören.« Die Bodentür des Seitenflügels führte genau an der Stelle auf den Boden, an der Dirk und Markus durch die Luke aufs Dach gestiegen waren. Die Leiter stand jetzt aber an die Wand gelehnt, wie Dirk im Schein der Taschenlampe erkennen konnte. »Jetzt kannste ausmachen!« sagte Hannah. Zuerst war es stockdunkel. Doch nach und nach gewöhnten sich die Augen an das schummrige Licht, und Dirk erkannte die Umrisse abgestellter Sachen. Die Gesichter von Paul und Amina verschmolzen fast mit der dunklen Umgebung. »He, das ist ungerecht!« meinte Dirk. »Amina und Paul sind ja gar nicht richtig zu sehen.« Kaum hatte er das gesagt, da erschrak er schon. War das eine blöde Bemerkung? »Ich finde, irgendeinen Vorteil müssen wir doch auch mal haben«, meinte Amina. »Im Krieg, da müssen sich die weißen Soldaten immer die Gesichter schwarz machen«, lachte Paul. »Mit Schlamm und
so was. Hier… willste ‘nen bißchen Farbe?« Er bückte sich und hob einen dreckigen Lumpen auf. »Nö, schon gut.« Dirk wich zurück. Bei Paul wußte er nie, wie ernst er etwas meinte. »Los, wir zählen aus!« sagte Hannah. »Eene meene miste, es rappelt in der Kiste, eene meene meck, und du bist weg. Weg bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist?« »Fast elf!« sagte Amina. Dirk mußte als erster suchen. Er stellte sich an einen Balken in der Mitte des Raumes und hielt sich die Hände vor die Augen. Wahrend er laut bis zwanzig zählte, hörte er Geflüster, trappelnde Schritte, ein Scharren und Rumpeln, aber als er gerufen hatte: »Über mir und unter mit, vor mir und hinter mir gilt nicht! Ich komme!« war es totenstill. Nur ganz weit aus der Ferne rauschte der Straßenverkehr merkwürdig gedämpft in der trockenen Bodenluft. Plötzlich kam er sich ganz alleine vor, obwohl die anderen doch in der Nähe waren. Mit pochendem Herzen strengte er die Augen an und suchte zunächst, ohne sich von dem Balken weg zu bewegen. Erfolglos. Er tat ein paar zögerliche Schritte Richtung Vorderhaus, blickte sich aber immer wieder schnell um, damit sich keiner erlösen konnte. Da! Blitzte da nicht was Weißes? Nur ein Lichtfleck. Aber dort drüben, da kauerte doch jemand hinter dem Sessel, den Buckel krumm, den Kopf zwischen den Knien. Aber wer? Links knackte es. Dirk fuhr zusammen, machte einen Schritt zur Seite. Da war aber niemand. Hatten die drei ihn vielleicht auf dem Boden eingesperrt, einfach die Tür hinter sich abgeschlossen? Auf Zehenspitzen schlich er weiter. In dem Moment ertönte lautes Getrappel hinter ihm. »Frei!« rief Amina. Dirk atmete auf. Der Schatten hinter dem Sessel schien in sich zusammenzukriechen. Doch Dirk hatte genug gesehen.
Er rannte zum Pfosten: »Anschlag Hannah! Hinter dem Sessel!« »Mist, wieso hast du mich gesehen?« »Deine weißen Turnschuhe!« Fehlte Paul. Der mit der natürlichen Tarnkappe. Dirk strich um den Balken herum, machte ein paar Ausfallschritte, drehte sich aber immer wieder um. Das brachte nichts. Er mußte sich weiter entfernen. Bloß, in welche Richtung? »Bleib, wo du bist und rühr dich nicht, der Feind ist nah und sieht dich nicht!« sang Hannah. »Eh, das ist gemein, das gildet nicht!« protestierte Amina. »Macht nichts, ich krieg den auch so!« In dem großen Schrank mit der halboffenen Tür, da mußte Paul stecken. Dirk tappte vorsichtig auf den Schrank zu. Dann riß er mit einem Ruck die Tür auf. »Hab ich dich!« Er faßte hinein, wollte Paul am Kragen packen, aber er griff nur in eine Masse weichen Stoff. Irgendwo ganz in der Nähe kicherte es leise. Dirk drehte sich auf dem Absatz um. Das war von oben gekommen! Und da hockte der Kerl, oben auf der Leiter, fast unsichtbar vor der dunklen Wand, aber nur fast. Dirk rannte zum Pfosten: »Anschlag Paul! Auf der Leiter!« »Bloß weil ich lachen mußte!« meinte Paul. »Das sah echt komisch aus, wie du in den Schrank gepackt hast. Stell dir vor, da wäre ‘ne Leiche drin gewesen.« »Ja, eh, so ‘ne ganz eklig verfaulte«, meinte Hannah. »Oder’n Vampir! Und der stürzt sich dann auf dich, grrr, und saugt dich aus!« Amina flatterte mit den Armen. »Kann er nicht!« antwortete Dirk. »Ich habe nämlich Knoblauch gegessen. Haben wir doch alle heute mittag, oder?« »Na, dann kann ja nix passieren! Los, noch mal«, drängelte Amina. Hannah war dran mit Suchen. Paul kletterte in den Schrank, Dirk und Amina liefen Richtung Hinterhaus. Da stand aber nur
ein großer Tisch, über dem mehrere alte Gardinen lagen, die bis fast zum Boden hingen. Beide guckten sich nach einem anderen Versteck um, aber es war zu spät, zum Zurücklaufen blieb keine Zeit mehr. Sie krochen unter den Tisch. Schon hatte Hannah fertig gezählt. »Ich komme!« rief sie. Unwillkürlich rückte Dirk näher an Amina heran, auch sie schien sich an ihn anzulehnen. So verharrten sie, ein bißchen atemlos, weil sie einander so deutlich spürten. Dirk schielte vorsichtig durch den überhängenden Stoff. Seine Augen hatten sich inzwischen gut an das Dämmerlicht gewöhnt. Hannah schlich um den Balken herum, genau wie er vorhin. Dann flitzte sie kurz auf Zehenspitzen zu dem Sessel, hinter dem sie gehockt hatte. Da war aber niemand. Sie überprüfte die Leiter und stand kurz vor dem Schrank, dann zögerte sie und drehte wieder um. »So blöd ist doch keiner!« murmelte sie. Als sie weit genug vom Balken weg zu sein schien, krabbelte Amina unter dem Tisch hervor und rannte los. Doch sie geriet ins Stolpern, strauchelte, fing sich wieder – und da war Hannah schon am Balken. »Erwischt! Anschlag Amina!« »Wo eine war, ist vielleicht noch einer«, meinte Hannah und marschierte auf den Tisch zu. Kunststück, sonst gab es kein anderes vernünftiges Versteck auf der Seite. Dirk wartete, bis Hannah sich bückte, die Gardine an die Seite schob und unter den Tisch guckte. Dann schrie er laut: »Huh!«, sprang mit einem Satz unter dem Tisch hervor und war schon am Balken, bevor Hannah sich von ihrem Schrecken erholt hatte. »Frei!« Paul war nicht zu finden. Hannah konnte sich einfach nicht vorstellen, daß er wirklich im Schrank war, obwohl sie dreimal zumindest oberflächlich hineingeschaut hatte. Es wurde langweilig. Außerdem mußte Dirk nach Hause. Schließlich kroch Paul aus dem Schrank. »Ich wäre beinahe eingepennt, war richtig gemütlich da drin.« Plötzlich hörten sie gedämpfte
Stimmen, und irgend jemand stocherte in dem Schloß von der Bodentür zum Hinterhaus. »Schnell, versteckt euch!« rief Paul, der als erster schaltete. Er schlüpfte in den Schrank, Hannah verkroch sich zwischen einem Balken und der Wand. Amina sprang blitzschnell unter den Tisch, Dirk hinterher. Die Bodentür schlug auf. »Eh, mach doch nicht so ‘n Lärm.« Das war die Stimme von Sven. Im Schein der Taschenlampe waren auch die anderen zu erkennen. Vorneweg Markus, der aufgeschlossen hatte und seinen Dietrich noch immer in der Hand hielt. Und Andi war auch dabei. »Ist ja richtig unheimlich hier oben«, meinte Andi. »Brauchst aber keene Angst zu haben. Hier oben is keener«, erwiderte Markus. »Wer sagt denn was von Angst, eh?« »Kiek ma, da drüben is wat zum Sitzen!« Sven leuchtete zu dem Sessel hinüber, hinter dem vor kurzem noch Hannah gehockt hatte. »Brauchen wir ‘nen Tisch?« fragte Andi und faßte an den Tisch, unter dem Dirk und Amina hockten. Die beiden zuckten zusammen. »Nee, laß ma. Wir ham ja nischt zum Ruffstelln, oder, Markus?« sagte Sven und stieß Markus mit dem Ellbogen in die Rippen. »Eh, Mann, du weißt doch, det mein Alter wat jemerkt hat. Jetzt is erst ma Schluß!« wehrte sich Markus und schob die Sessel zusammen. »Na, is schon gut. Wie man hört, haste ja einiges auszuhalten gehabt«, meinte Andi. Er zog Zigaretten aus der Tasche und hielt die Schachtel Sven hin. Der bediente sich. Markus streckte die Hand aus, Andi zögerte, dann warf er ihm eine Zigarette zu. »Hört ma, habt ihr den schon gehört?« fragte Andi. »Wat is schwärzer wie ‘n Neger? Na?«
»Nu sag schon!« »‘n verkohlter Neger.« Sven prustete los. »Der is echt gut, Mann.« Dirk wurde ganz flau, und er spürte, wie Amina neben ihm zitterte. Beide rückten noch dichter zusammen. »Aber jetzt ma im Ernst, Markus!« sagte Sven. »Wir wollen dir ‘n Angebot machen. Nich nur Sprüche kloppen und Schnaps klauen, nee, wat Echtes.« Markus blickte ihn gespannt an. »Na ja, weißt du, mit die Kumpels, mit Bulli und so, da bauen wir jetzt ‘ne richtige Truppe auf. So mit regelmäßige Treffen und so. Wir kriegen sogar ‘nen Raum, wo wir immer hinkönnen. Nur Deutsche, keine Kanaken. Und denn könn wir machen, was wir wollen.« »Astreine Sache«, sagte Andi. »Dann ist Schluß mit Bunker und Dachboden und so wat.« »Jedenfalls woll’n wir auch gleich Jüngere mit drinne haben. Von wegen Nachwuchs und so. Na, und da ha’m wa an dich jedacht. Bist doch ‘n cooler Typ. Haste Lust?« Markus rutschte in seinem Sessel hin und her. Dann fuhr er sich mit der Hand über seine stoppelkurzen Haare und meinte: »Na ja, wenn ihr meint, klar! Klingt doch geil.« »Allerdings jibt’s eine Bedingung.« »Ja«, sagte Andi. »Erstma mußte beweisen, daß du ‘n juter deutscher Junge bist.« »Wie denn?« fragte Markus mißtrauisch. Dirk saß stocksteif. Seine Beine taten weh, das linke war eingeschlafen. Amina rührte sich nicht, sie schien noch nicht einmal zu atmen. Dabei sind wir vier und die nur drei, dachte Dirk. »Also, det is so«, fing Sven an, »und det is jetzt total geheim, klar?« Plötzlich knackte es vernehmlich. Andi und Sven fuhren zusammen. »Ist hier jemand? Kommt jemand außer dir auf ‘n Boden?« flüsterte Andi.
»Nee, det is det Holz. Det knackt immer ma. Da gewöhnt man sich dran«, sagte Markus und nahm ganz lässig einen Zug von der Zigarette. »Mann, hab ick mir erschrocken!« sagte Andi. »Also, Markus! Du kennst doch den Kiezladen«, fuhr Sven fort und stieß dabei Andi in die Seite. »Wo sich die janzen Kanaken rumtreiben.« »Jenau, du bist der richtige Mann für so wat!« bekräftigte Andi. »Wieso icke?« sagte Markus mit unsicherer Stimme. »Wat soll ick denn machen?« »Na, ‘nen bißchen zündeln. Haste doch schon Erfahrung mit, du kleiner Feuerteufel! Ick sage nur: Kinderwagen! Na ja, ‘n bißchen mehr als ‘ne Kippe brauchste diesmal schon.« »Mann, ick hab dir det doch erklärt…« »Und det mußte ooch nachts machen, wenn keiner drin ist. Wir sind ja keine Unmenschen, wa!« Sven klopfte Andi auf die Schenkel. Markus schüttelte stumm den Kopf. »Jetzt paß ma uff!« Svens Stimme klang jetzt scharf, duldete keinen Widerspruch. »Halbe Sachen jibt’s nicht. Wer bei uns mitmacht, ist dabei, auf Gedeih und Verderb. Und jetzt, wo du Bescheid weißt…« »Aber ick kann doch nicht…« »Klar kannst du!« Sven klopfte Markus auf die Schulter. »Ick meine, wir können ja auch ma deinem Alten wat stecken… wenn du das willst…« »Jetzt hör doch auf, was hat denn das damit zu tun?« »Kleener, dir kann doch janüscht passieren!« meinte Andi. »Du bist noch keene vierzehn! Dir könn se nich einbuchten! Aber dich kriegt sowieso keener, du bist viel zu schlau.« Markus stierte ausdruckslos vor sich hin. »Jetzt piß dir ma nich ins Hemd! Du willst doch mitmachen bei uns, wird echt ‘ne tolle Truppe«, sagte Sven und klopfte Markus noch einmal auf die Schulter. »Kriegst rechtzeitig Bescheid, Bulli wird dir
sagen, wat du zu tun hast. So, und jetzt mach ma ‘ne Flocke, Andi und ich haben noch was zu besprechen.« »Eh, das ist doch alles Quatsch«, protestierte Markus mit unsicherer Stimme. Dabei stand er auf und ging zur Bodentür des Vorderhauses. »Und Markus, Klappe halten! Klar?« rief Andi ihm hinterher. Kaum war die Tür hinter Markus zugefallen, fingen die beiden an zu lachen. Sven konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen. »Haste gesehen, wie dem die Muffe ging?« fragte er Andi. »Der hat das echt geschluckt! Hätt ick nie jedacht! Daß der so blöd ist!« grölte Andi. »Unsere tolle Truppe! Und einen Raum ganz für uns – wo gib’s denn so wat? Voll geil, eh!« »Der Junge wird uns noch aus der Hand fressen, das schwör ich dir!« Sven klopfte sich auf die Schenkel. »Die Ratte wird der mir büßen! So wat macht der nich noch mal!« »Meinste echt, der war det?« fragte Andi. »Bringt der so wat?« »Wer’n sonst? Der war sauer wegen dem Schnaps. Und neulich hat der ‘n ziemlichen Affen jemacht. Aber da hat er sich in Finger jeschnitten! Der kriegt det doppelt wieder, dem soll der Arsch auf Grundeis jehn. Bulli macht det schon, dem macht so wat Spaß. Komm, jehn wa!« »Und wenn Bulli doch ernst macht? So wie der drauf ist? Kennst doch dem seine Sprüche! Und stell dir vor, der Kleene fackelt den Laden in echt ab! Mann, in zwei Wochen fängt meine Lehre an, ick will keen Ärger kriegen!« meinte Andi. »Ick doch ooch nich! Aber wat soll schon sein? Wir haben doch nichts damit zu tun, oder? Wer will’n det beweisen?« Polternd entfernten sich die schweren Stiefel Richtung Hinterhaus. Die Bodentür klappte. Und es war wieder still unter dem Dach. Nur das Tanzen der Staubkörnchen vor dem
Fenster wies darauf hin, daß sich hier vor kurzem etwas bewegt hatte.
Es dauerte eine Weile, bis die vier Kinder wagten, sich zu rühren. Ohne ein Wort zu sagen, stiegen sie die Treppe hinunter. Erst bei Hannah in der Küche ließ die Spannung nach. »Boah eh, das war voll kraß!« sagte Hannah. »Die haben den Markus bloß auf den Arm genommen, oder wie?« fragte Dirk. »Denkt der jetzt echt, er muß das machen für die?« »Das hat er eben davon, daß er sich an die Idioten ranhängt!« sagte Paul. »Jedenfalls müssen wir denen im Kiezladen Bescheid sagen. Nachher macht der ernst!« »Bestimmt nicht!« behauptete Dirk. »Ha, und der Kinderwagen? War doch wohl der, oder?« Paul kochte vor Zorn. »Aber nicht mit Absicht!« widersprach Dirk. »Nee, mit ‘ner Kippe…« höhnte Hannah. »Was hast du eigentlich mit dem Typen?« fuhr Paul Dirk an. »Ist der dein Kumpel oder was?« Dirk zögerte. Amina blickte ihn erwartungsvoll an. Auch Hannah und Paul warteten auf eine Erklärung. Also erzählte er, was er vom Walnußbaum aus gehört hatte. Paul verzog das Gesicht »Na und, was heißt das schon«, sagte er abfällig. Amina schwieg. Dirk machte, daß er nach Hause kam. Er hatte das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen.
17. Kapitel
Dirk brauchte Füllerpatronen und zwei Hefte und wollte sich außerdem die neue Kassette der Phantastischen Vier kaufen. Sein Vater hatte ihm einen Brief geschrieben und einen Fünfzigmarkschein reingelegt. Er ging ins Kaufhaus an der Hochbahn direkt neben der großen Bücherei, wo sie schon einmal mit der Klasse waren. Neben dem Fahrradständer hockte eine Gruppe ziemlich abgerissener Jugendlicher auf dem Bürgersteig, auf einer aufgeschlagenen Zeitung lagen Brot und ein paar große Käsestücke, daneben standen Bierdosen. Ein paar Hunde sprangen herum. Ein Mädchen mit einer Mütze in der Hand lief am Eingang auf und ab und bat alle Vorbeikommenden um ein bißchen Kleingeld. »Hamse nich ‘n paar Groschen übrig?« Eine Frau erwiderte: »Wenn ick ‘n paar Groschen über hätte, denn wär ick schon längst auf die Bahamas!« Dirk machte einen Bogen um die Gruppe, schielte aber trotzdem hinüber. Einer hatte silberne Ringe durch seine Augenbraue und durch einen Nasenflügel gezogen. Wenn da mal einer dran zieht! überlegte Dirk und schüttelte sich bei der Vorstellung. Als er die Schulsachen gekauft hatte und sich in der Musikabteilung umsah, entdeckte er plötzlich Markus, der bei den CDs herumstöberte. Dirk hatte nicht den Eindruck, daß er etwas Bestimmtes suchte. Es schien eher so, als schlüge er die Zeit tot. Ein Verkäufer strich auffällig nah um Markus herum, ließ ihn nicht aus den Augen. Schließlich stapfte Markus mit seinen wiegenden Schritten hinüber zur Fernsehabteilung, wo die Videospiele ausgestellt waren. Dirk wollte schon zu ihm gehen und ihm vorschlagen,
zusammen ein Spiel zu machen, da ging Markus weiter zur Auto- und Hobbyabteilung. Dirk hinterher. Die Kassette konnte er später kaufen. Markus zog den Reißverschluß seiner Bomberjacke bis zur Hälfte zu. Dabei war es ausgesprochen warm im Kaufhaus. Jetzt schien er ganz genau zu wissen, was er wollte. Er nahm sich einen kleinen Plastikkorb, steuerte auf die Taschenlampen und Batterien zu und legte eine einfache, billige Lampe in den Korb, dazu zwei Batterien. Ohne groß auszusuchen. Als nächstes packte er drei Farbsprühdosen mit Autolack in seinen Korb und verschwand hinter einem Regal. Kurz darauf sah Dirk ihn an der Kasse anstehen. Markus bezahlte eine Taschenlampe und zwei Batterien. Als Dirk ihm hinterher wollte, wurde er aufgehalten. »He, warte mal, was treibst du dich denn hier rum? Hast du was gekauft?« Ein älterer Mann mit strähnigen, graublonden Haaren und lauter winzigen blauen Äderchen im Gesicht stellte sich Dirk in den Weg. »Nö, hier nicht.« »Zeig mal deine Tüte!« Der Mann griff in die Tüte, verglich den darin liegenden Kassenzettel mit der Ware. »In Ordnung.« Dirk wollte sich schon zum Gehen wenden, da sagte der Mann: »Moment noch!« und tastete mit seinen Händen blitzschnell über Dirks Jacke und den Hosenbund. »He, was soll denn das?« protestierte Dirk, aber da hatte der Mann schon von ihm abgelassen. »Kommt davon, wenn man einfach so rumstromert! Wenn du nichts kaufen willst, dann mach, daß du rauskommst!« bellte der Mann ihn an und schob ihn an der Kasse vorbei. Obwohl Dirk zunächst Mühe hatte, die Tränen wegzuschlucken, mußte er dann doch grinsen. Da hatte dieser schlaue Detektiv die ganze Zeit über ihn beobachtet, während Markus in aller Seelenruhe die Spraydosen eingesteckt hatte. Dirk rannte die Rolltreppe hinab ins Erdgeschoß und zum Ausgang, doch Markus war verschwunden.
Als Dirk nach dem Kauf der Kassette aus dem Kaufhaus trat, hatte es angefangen zu nieseln. Er zog sich die Kapuze von seinem Pulli über und machte sich auf den Heimweg. Zwei Ecken weiter sah er plötzlich wieder Markus neben einer Imbißstube stehen. Er drückte sich an die Hauswand und rauchte. Kurz darauf schlug die hintere Tür der Bude auf, Bulli, der kantige Typ mit dem kurzgeschorenen Hinterkopf, kam heraus und klopfte dem schmächtigen Markus auf die Schulter. Die beiden schlugen denselben Weg ein, den auch Dirk gehen mußte, also lief er ihnen hinterher. Aus dem Nieselregen war inzwischen ein heftiges Pladdern geworden. Auf der anderen Straßenseite war ein Kinderspielplatz in eine Lücke zwischen den Häusern gequetscht – Rutsche, Buddelkiste und eine große Kletterburg aus Holz, unter der ein paar kleine Jungen vor dem Regen Schutz gesucht hatten. Bulli und Markus überquerten die Straße, als wollten sie sich auch dort unterstellen. Dirk schlüpfte in einen Hausflur, durch die Glasscheibe der Haustür konnte er den Spielplatz gut sehen. Mit ein paar Handbewegungen verscheuchte Bulli die Kleinen. »Siktir, Ian! Ecogluecek!« schrien die Kinder und rannten weg. Das klang nicht gerade freundlich. Bulli redete auf Markus ein. Der hörte angespannt zu, dann schüttelte er zaghaft den Kopf. Schließlich setzte sich der Ältere hin und steckte sich eine Zigarette an. Dann zog er Markus neben sich auf den Holzbalken, legte den Arm um ihn und redete weiter. Aber Markus schien ihm zu widersprechen. Schließlich sprang Bulli auf, schüttelte Markus, hielt ihm die flache Hand vors Gesicht, als wollte er ihn schlagen. Markus zuckte zurück und riß die Hände hoch. Bulli legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. Dann griff er nach Markus’ Tüte und warf einen Blick hinein. Er holte eine der Spraydosen heraus und durchquerte mit zwei, drei schnellen Schritten die
Buddelkiste. Im Laufen rief er Markus zu: »Denk an das, was ich dir gesagt hab, Markus!« Bulli sprühte ein großes T und ein Ü an die Hauswand, doch plötzlich warf er die Spraydose weg und flitzte los. Denn von gegenüber kamen vier türkische Jugendliche angestürmt, mit den kleinen Jungen im Schlepptau, die Bulli verscheucht hatte. Markus schnappte sich seine Dosen und raste ebenfalls los. »Nazischweine!« brüllten ihnen die Türken hinterher. Einer bückte sich und warf einen Stein, aber auf die Entfernung konnte er nicht treffen. »Kommt bloß nicht wieder hierher!«
»Eh, wißt ihr, wen ich gestern beim Kiezladen gesehen habe?« fragte Emil am nächsten Tag, als sie bei ihm in der Wohnung zu Mittag aßen. »Wen schon«, sagte Paul und nahm sich noch etwas Reis. »Na, ratet doch mal!« »Markus, aus unserem Haus?« versuchte es Dirk. Er dachte an die Spraydosen. »Genau!« »Also doch!« sagte Paul. »Hast du Bescheid gesagt?« »Klar«, antwortete Emil, »kann gar nichts passieren. Nachts ist ein Metallrollo vorm Ladenfenster, so ‘n Teil wie vorm Supermarkt. Da kann nix anbrennen. Und sonst sind immer genug Leute da. Der soll bloß kommen!« »War der denn im Laden und hat sich umgeguckt oder so?« fragte Hannah. »Nee, der war nicht im Laden, der lief da bloß rum.« »Vielleicht wollte er ja was ganz anderes?« versuchte Dirk vorsichtig einzuwenden. »Ich hab heute…« »Pah!« Paul tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Dirk schwieg. Er schob seinen Teller von sich, mochte nichts mehr essen.
»Was denn sonst? Der hängt doch wie ‘ne Klette an Sven und Andi und diesen Idioten. Der ist doch krank, eh!« sagte Paul. »Vielleicht hat er sonst keinen«, sagte Dirk und wünschte im selben Moment, er hätte den Mund gehalten. »Na ja, zu dir sagt er ja auch nicht stinkender Bimbo!« knurrte Paul. »Bist ja ‘n blonder Germane!« Dirk schluckte. Er nahm seinen Teller, stellte ihn in die Spüle, griff seinen Rucksack und wollte gehen. »Warte«, sagte Amina, »ich komme mit.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Schließlich sagte Dirk: »Weißt du, ich glaube, der Markus will weg von denen. Und er weiß nicht, wohin.« »Wie kommst du denn darauf? Der ist so wie die. Seit wir da wohnen, guckt der uns nicht an. Und macht genau so ‘ne Sprüche wie die anderen Idioten. Paul hat recht.« Aminas Stimme klang enttäuscht, als habe sie von Dirk etwas anderes erwartet. »Ich will den doch überhaupt nicht verteidigen, Amina!« Dirk blieb stehen und schaute ihr ins Gesicht, das ihm inzwischen überhaupt nicht mehr fremd vorkam. »Aber…« Er erzählte ihr, wie er mit Markus auf dem Dach war, wie er mit ihm Fußball gespielt hatte und was er gestern gesehen und gehört hatte. Für seine Begriffe hatte Markus versucht, sich gegen Bulli zu wehren. Amina schwieg. Dann sagte sie schließlich: »Und wir sollen dem helfen, oder wie? Wie stellst du dir das denn vor?« Inzwischen waren sie an der großen Kreuzung angelangt, wo die Penner auf ihrer Bank saßen. Unter ihnen die Frau mit dem roten Gesicht, die sie auf dem Kreuzberg gefunden hatten. An der linken Hand trug sie einen Verband. Als sie die beiden Kinder sah, sagte sie: »Ach, mein Schokoladenkind!«
»Ich heiße Amina, klar?« Dirk guckte Amina überrascht an. »Alles Klärchen! Schönen Tach noch!« Die Frau hob winkend die verletzte Hand und grinste. »Afrika ist die Wiege der Menschheit!« »Wie meinst’n dette, Adele?« fragte einer der Männer. Die Antwort konnten Dirk und Amina nicht mehr hören. Im Treppenhaus trafen sie Mone und Markus, der seiner Schwester das Kinderfahrrad hinuntertrug. »Ist deine Oma schon wieder im Krankenhaus?« fragte Dirk ihn. »Nee, isse nich«, sagte Markus schroff und ging vorbei, ohne Dirk oder Amina anzugucken. Auf dem Weg nach oben sagte Amina zu Dirk: »Wenn dir wirklich soviel an dem Typen liegt, warum sagst du ihm dann nicht, daß die anderen ihn nur verarschen?«
18. Kapitel
Dirk ging in sein Zimmer und warf den Rucksack Richtung Stuhl, traf aber nicht. Alles geht mir daneben, dachte er wütend. Als er sich bückte, um den Rucksack aufzuheben, fiel sein Blick auf den Fußball in der Ecke. Bald fing die FußballAG an, ein Glück. Mit der Sohle fischte er sich den Ball, beförderte ihn mit einem sanften Heber an die Wand und kickte dann ein bißchen hin und her, ließ den Ball auf dem Kopf, den Oberschenkeln und Füßen tanzen oder an der Wand abprallen. Wenig später klingelte es. Frau Arslan stand vor der Tür und bat ihn aufzuhören: »Bei mir wackelt die Lampe! Ich hab Angst, die fliegt runter!« Im Zimmer kicken war sowieso das Letzte. Und außerdem spukte Dirk noch Aminas letzte Bemerkung im Kopf herum und ließ ihm keine Ruhe. Wenn ihm was an Markus lag, mußte er Markus sagen, was er wußte. Oder? Aber Markus interessierte sich doch gar nicht für ihn. Wie der ihn vorhin abgebügelt hatte! Überhaupt, was ging ihn das Ganze an! Der Kiezladen war gewarnt, da konnte nichts passieren. Sollte Markus doch selber sehen, wie er klarkam. Was suchte der sich auch solche Freunde. Paul sah das schon richtig. Also schob Dirk den Gedanken an Markus weit weg und machte seine Hausaufgaben. Vorher allerdings wusch er das Frühstücksgeschirr ab. Damit wenigstens zu Hause alles friedlich war. Um sechs kam seine Mutter und brachte Pizza zum Abendessen mit. Sie war ausgesprochen guter Laune, weil sie auf der Straße einen alten Freund getroffen und sich noch für denselben Abend mit ihm verabredet hatte.
»Wir waren mal in einer Clique früher«, erzählte sie. »Im Jugendheim. Der konnte vielleicht toll tanzen!« Sie duschte und föhnte und schminkte sich, brauchte ewig lange, bis sie entschieden hatte, was sie anziehen wollte, und rauschte nach eineinhalb Stunden wieder ab, ohne bemerkt zu haben, daß Dirk abgewaschen hatte. Und Dirk hatte überhaupt keine Gelegenheit gehabt, auch nur das Thema Markus anzusprechen. Er hätte gerne mit seiner Mutter darüber geredet, denn Aminas Satz wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Und wenn er ehrlich war, dann mußte er zugeben, daß sie recht hatte. Er mußte eine Entscheidung treffen. Sollte er runtergehen zu Markus? Aber jetzt waren dessen Eltern schon zu Hause, und zum Fußballspielen abholen konnte er ihn um diese Zeit auch nicht mehr. Morgen also. Vom Hof klangen Stimmen. »Nein, ich hab ihn nicht gesehen!« Das hörte sich an wie Sven. Dirk machte das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Niemand zu sehen. Es dämmerte längst, der Sommer ging zu Ende. Draußen roch es schon ein bißchen herbstlich, kühl und feucht. Dirk schloß die Augen und erinnerte sich an die weiten Wiesen bei Heiersdorf, über die am Abend Nebel aufzog und alles wie in Watte hüllte. Plötzlich meinte er, einen Hauch frischer Farbe zu riechen. Er blickte sich um, sah aber nirgends ein Gerüst oder einen Maler am Werk. Komisch. Doch oben auf dem Schornstein glänzte etwas. Wer malt denn einen Schornstein an? überlegte er. Markus! Markus und die Spraydosen. Sprühte der jetzt das Dach voll? Dirk hängte sich seinen Schlüssel um den Hals und lief die Treppe zum Dachboden hinauf. Die Tür war nicht abgeschlossen. Behutsam ließ er sie hinter sich ins Schloß fallen. Es war stockdunkel. Einen Augenblick lang machte er
die Augen zu. Als er sie wieder öffnete, konnte er genug sehen, um den Weg zur Dachluke zu finden. Die Leiter war eingehängt, die Dachluke aber geschlossen. Dirk stieg vorsichtig die Sprossen hinauf und drückte dann gegen die Dachluke. Unmöglich, mit einer Hand schaffte er das nicht. Er kletterte noch eine Stufe höher und drückte dann mit beiden Händen und mit aller Kraft die Luke auf. Ein starker Geruch von frischer Farbe wehte ihm entgegen. Über ihm glitzerten erste Sterne am blaßblauen Himmel. Und überall, auf dem Dach und an den Schornsteinen, schimmerte frische Farbe. Jemand mußte wie ein Wilder hier herumgesprüht haben. Nicht so perfekt wie manche Schriftzüge, die Dirk von Hauswänden kannte. Hier hatte jemand geübt. Jemand? Markus. Aber wo war er? Dirk machte ein paar vorsichtige Schritte nach vorne. Um ihn herum blinkten die Lichter der Stadt. Die vielen Fernsehantennen reckten sich wie kahle Bäume gen Himmel. Eine eigenartige Stille lag über den Dächern, obwohl die Stadt wie immer brummte. Dirk wagte sich ein Stück weiter, so wie er damals zusammen mit Markus gegangen war. Und da sah er ihn. An der Giebelwand des Hauses mit dem schrägen Dach, das sie auf dem breiten Brett überquert hatten, stand Markus in seinen Militärhosen und einem weißen T-Shirt und sprühte. Diesmal keine Buchstaben, sondern ein Bild, eine Katze im Sprung. Immer wieder schüttelte er die Dose, die metallisch klickte. Von Schornstein zu Schornstein pirschte sich Dirk heran. Jetzt konnte er sehen, daß die Katze von einem Dach sprang. Und darunter sprühte Markus große, balkige Buchstaben: UND TSCHÜS. Und rechts unten in die Ecke: MarScH. Dann ließ er die Dose, die er zuletzt benutzt hatte, achtlos neben die anderen auf den Boden fallen. Er trat zurück und
starrte auf sein Bild. Dann kratzte er sich am Kopf, klemmte die Finger hinter die Hosenträger und stapfte zu den aufeinandergestapelten Steinen. Von dort kletterte er auf das Brett, das über das schräge Ziegeldach führte. Markus blieb reglos stehen, freihändig, ohne sich an den Schornsteinsprossen festzuhalten. Seine magere Gestalt mit dem kurzrasierten, leicht nach vorne geneigten Kopf zeichnete sich deutlich vom Abendhimmel ab. Dann griff Markus mit beiden Armen hinter sich und hielt sich am Schornstein fest. Schob den Körper ein wenig nach vorne, blickte hinunter in die Tiefe und zog hastig den Kopf zurück. Als habe er etwas Verbotenes geschaut. Was um Himmels willen will der da auf dem Brett? Plötzlich ließ Markus den Schornstein los und stand wieder freihändig. Er schien tief Luft zu holen. Dirk durchzuckte ein eisiger Schrecken. Der wird doch nicht springen wollen? »Verdammte Scheiße!« schrie Markus plötzlich, packte mit einer Hand die Schornsteinsprossen, machte zwei, drei schnelle Schritte und sprang zurück auf das Flachdach. Dort warf er sich auf den Bauch und verbarg das Gesicht in den Armen. Es klang, als ob er weinte. Dirk blieb wie angewurzelt hinter dem Schornstein hocken. Ließ die Zeit verstreichen, wußte nicht, für wen – für sich oder für Markus. Er hatte Angst, zu ihm zu gehen. Bis ihm schließlich dämmerte, daß Markus möglicherweise viel mehr Angst hatte als er selber. Noch immer zögernd kroch er hinter dem Schornstein hervor und ging langsam auf Markus zu. »Markus«, sagte er schließlich leise. Markus zuckte zusammen, krümmte sich, als erwarte er Schläge. »Markus, ich bin’s, Dirk.« Der Junge hob den Kopf, sein Gesicht glänzte tränennaß. »Du? Wat willsten du hier?« frage er mit weitaufgerissenen Augen.
»Markus. Du bist keine Katze. Du hast bloß ein Leben!« »Verdammte Scheiße«, flüsterte Markus. »Gar keins will ick, verstehste? Ick will dieses Scheißleben nich. Wozu denn? Wozu?« Er ließ den Kopf wieder auf seinen Arm fallen. Dirk hockte sich neben ihn. Er streckte seine Hand aus, nahm sie jedoch wieder zurück. Die Knie zog er hoch bis unters Kinn und legte die Arme um seine Beine. So kauerte er minutenlang neben Markus, der keinen Ton von sich gab, aber am ganzen Leib zitterte. Dirk zog seine Weste aus und breitete sie über Markus. Dabei streichelte er dem Jungen ein paarmal unbeholfen über den Rücken. »Markus«, sagte er, »ich muß dir was sagen. Also, der Sven und der Andi – die Truppe von denen, die gibt’s gar nicht. Die haben dich bloß auf den Arm genommen!« Markus’ Körper straffte sich. Mit einem Ruck hob Markus den Kopf und starrte Dirk an. »Wat sagste da?« »Das haben die sich bloß alles ausgedacht. Um dich zu leimen. Ich glaub, wegen der Ratte, dabei…« Doch den Satz führte Dirk lieber nicht zu Ende, sondern er berichtete Markus, was er auf dem Dachboden gehört hatte. Es dauerte eine Weile, bis Markus begriffen hatte. »Det jibt’s doch janich! Denn sollte ick überhaupt nich… Wat hab ick denn mit der Ratte… Und dieser Scheiß-Bulli! Verdammte Arschlöcher!« Markus haute mit der Faust auf die Dachpappe. Dann drehte er sich auf den Rücken und stierte hinauf in den Sternenhimmel. »Ick pack det nich«, sagte er nach einer Weile. »Wat solln jetzt werden? Wenn det allet rauskommt!« sagte er mit tonloser Stimme. »Aber du hast gar nichts gemacht, oder?« fragte Dirk erschrocken. »Nee, aber kiek dir ma um!« »Wieso? Ist doch alles schön bunt hier!« versuchte Dirk zu scherzen. »Wenn wir jetzt gleich abhauen, kriegt keiner raus,
daß du das warst«, fügte er dann hinzu. »Ich sag jedenfalls nichts.« Markus blickte ihn mißtrauisch an. »Und wieso nich?« »Weil… ach, egal. Ich tu’s nicht, fertig.« »Wenn ick jetzt nach Hause jehe, krieg ick Senge«, sagte Markus beinahe kühl, als bereitete er sich schon innerlich auf das vor, was ihn gleich erwartete. »Wieso? Was wissen denn deine Eltern?« »Nich deswegen. Um sieben zu Hause sein und kein Ärger. Das is dem Alten wichtig. Sonst nüscht. Sonst kann sein, was will.« Dirks Blick fiel auf das große Bild von der Katze. »Wolltest du echt springen?« fragte er. »Quatsch! Hör uff damit. Is vorbei.« Markus rappelte sich auf und drückte Dirk die Weste in die Hand. »Danke«, murmelte er. Dann liefen sie zurück zur Dachluke, die sie sorgfältig hinter sich schlossen. Die Leiter rückten sie wieder an die Wand. Vor der Bodentür blieb Dirk stehen. »Ich geh zuerst. Wenn keiner im Hausflur ist, kommst du nach.« »Warte.« Markus zog sein Hemd aus der Hose und wischte sich mit dem unteren Teil das Gesicht sauber. »Jetzt.« Alles war ruhig. Mit gesenktem Kopf schlich Markus, so leise er mit seinen dicken Stiefeln konnte, hinter Dirk die Treppe hinunter. Dirk blickte auf die Uhr. Keine halbe Stunde war vergangen. Die Katze war auf allen vieren gelandet.
19. Kapitel
Dirk stand am Fenster seines Zimmers und drückte sich die Nase platt. Schulfreier Sonnabend. Obwohl es schon nach elf war, schlief seine Mutter noch. Muß ja ein schöner Abend gewesen sein mit dem tollen Tänzer, grollte er. Auf Dirks Schreibtisch lag ein Blatt Papier. »Lieber Micha!« stand oben drüber. Er wollte endlich Michas Brief beantworten, der schon so lange in seiner Schublade schmorte. Bloß wußte er überhaupt nicht, womit er anfangen sollte. Vielleicht sollten sie lieber telefonieren. Das war leichter. Wenn er zum Dach hinaufschaute, leuchtete der Schornstein bunt. Wer weiß, wann jemand die Malereien da oben entdecken würde. Wahrscheinlich der Schornsteinfeger beim nächsten Reinigen. Dirk würde jedenfalls nichts sagen. Er hatte die Szene auf dem Dach erst mal in sich vergraben. Dirk hörte ein leises Maunzen und machte das Fenster auf. Unten, auf dem Vordach zum Kellereingang, saß ein kleines schwarzweiß geflecktes Kätzchen. Vielleicht war es aus dem Fenster der Werderitz gefallen. Dirk zog sich seine Turnschuhe an und griff nach dem Schlüsselband. Dann klingelte er gegenüber. Paul machte auf. Nicht Amina, wie Dirk gehofft hatte. »Du, im Hof auf dem Vordach sitzt ‘ne kleine Katze. Hilfst du mir, die da runterholen?« »Warum nicht?« Erst klingelten sie bei Lilo von Werderitz. Die war aber nicht da. Der Katzengeruch an der Wohnungstür war unerträglich. »Wie die das aushält«, meinte Dirk. »Ist vielleicht besser, als alleine zu sein«, überlegte Paul. Von unten war die Katze nicht
zu sehen. »Paß auf, ich mach ‘ne Hühnerleiter, und du ziehst dich hoch«, schlug Paul vor, stellte sich mit dem Rücken an die Wand und verschränkte die Hände. Und schon war Dirk oben. Das Kätzchen zog sich ängstlich zurück. »Nun komm schon, ich tu dir doch nix!« lockte Dirk. »Miez, miez, miez!« Vorsichtig robbte er näher. Das Kätzchen zitterte, wußte nicht wohin, und ehe es sich versah, hatte Dirk es in der Hand. »Ich hab sie!« rief er. »Hier, nimm sie mir ab!« Er reichte Paul die Katze herunter, aber die zappelte und kratzte und fauchte dermaßen, daß Paul sie nicht halten konnte. Sie fiel auf den Boden, überschlug sich einmal und flitzte davon. »Mist!« rief Dirk. Das Kätzchen raste über den Hof, Dirk und Paul hinterher. Es versteckte sich hinter den Mülltonnen, sauste um die Fahrräder herum, mal blitzte sein Fell weiß auf, mal schwarz. Einmal hechteten beide Jungen gleichzeitig nach der Katze und blieben dann lachend auf dem Bauch liegen. »Vielleicht sollten wir sie einfach laufen lassen!« schnaufte Paul. »Wo soll die denn hin?« fragte Dirk. »Die kann doch hier nicht überleben. Und wenn sie auf die Straße läuft, wird sie überfahren.« »Haste auch wieder recht. Wo ist sie denn jetzt!« »Ach, du liebe Scheiße! Auf ‘m Baum!« rief Dirk. »Da kriegen wir die nie runter.« »Doch, wenn wir uns nicht so blöd anstellen wie vorhin!« Das Kätzchen saß auf dem untersten Ast, dicht über dem Schuppen des Nachbarhofes. Ihr Blick erschien Dirk ängstlich und triumphierend zugleich. »Paß auf, du lenkst sie ab«, sagte er zu Paul. »Geh zu ihr und sprich mit ihr, aber nicht zu nah, damit sie nicht wieder abhaut. Und ich geh von hinten ran und schnapp sie mir!«
»Von wo denn?« fragte Paul skeptisch. »Na, ich klettere rauf. Hab ich schon oft gemacht.« Paul schlenderte langsam auf den Baum zu und erzählte dem Kätzchen, wie tapfer es sei und daß es keine Angst zu haben brauche und daß es doch nicht auf dem Baum wohnen könne – was ihm eben so einfiel. Derweil pirschte sich Dirk von hinten heran. Als die Katze ihn bemerkte, war es schon zu spät. Er packte sie mit beiden Händen und drückte sie an sich. Erst zappelte und kratzte sie wie wild. Dirk sprach beruhigend auf sie ein und hielt sie sicher mit beiden Händen fest. Nach einer Weile gab sie erschöpft den Kampf auf, kuschelte sich an Dirks Brust und fing sogar an zu schnurren. »Komm doch rauf, Paul!« rief Dirk. Dann saßen die beiden oben im Nußbaum. »Wenn die Blätter alle dran sind, dann sieht einen hier ja kein Mensch«, sagte Paul. »Dann ist man unsichtbar. Manchmal wäre das direkt schön.« In dem Moment ging die Hoftür auf. Markus und Mone schleppten zwei Tüten voll mit leeren Flaschen zum Glascontainer. Paul stupste Dirk an. »Kiek dir den an!« flüsterte er. Markus hatte Jeans an und Turnschuhe. Die Flaschen schepperten. Dann knarrte die Vorderhaustür. Sven stapfte in den Hof, Hand in Hand mit einem Mädchen. Ausgesprochen fröhlich. Markus übersah er einfach. Der bückte sich zur kleinen Mone runter und flüsterte ihr was ins Ohr. »Du, Sven!« rief die Kleine dann. »Habt ihr immer noch Ratten in der Küche?« Das Mädchen schreckte zusammen. Sie ließ Svens Hand los, stemmte die Arme in die Seiten und fragte: »Ratten in der Küche? Nich mit mir, du!« Flugs machte sie kehrt und marschierte Richtung Straße. Sven rannte ihr hinterher. »Det is doch Spinne! Jetzt warte mal!« Markus strich Mone über den Kopf und verschwand mit ihr im Vorderhaus.
Dirk grinste Paul an. Der konnte sich kaum halten vor Lachen. »Eh, ich dachte, ich flieg vom Baum!« kicherte Paul. »Aminas tote Ratte randaliert immer noch!« Dirk wurde wieder ernst. Er streichelte das Kätzchen auf seinem Arm und überlegte, ob er Paul einweihen sollte. Paul lehnte sich zurück und starrte nach oben ins lichte, gelbbraune Blätterdach. »Paul«, sagte Dirk schließlich. »Wenn ich dir was erzähle, was ich eigentlich nicht erzählen darf, also weil ich versprochen habe, es nicht zu erzählen, schwörst du dann, daß dus nicht weitersagst?« »Du meinst, so wie du’s geschworen hast?« fragte Paul spöttisch. »Wenn ein Geheimnis mehr als zwei Leuten zu Ohren kommt, dann ist es kein Geheimnis mehr, sagt meine Mutter immer.« »Ist ja schon gut!« Dirk preßte die Lippen zusammen und machte Anstalten, vom Baum zu klettern. Paul hielt; ihn am Arm fest. »Dirk«, sagte er und blickte ihn an, »so war das nicht gemeint. Tut mir leid. Ich schwöre!« Dazu hob er zwei Finger der rechten Hand und grinste. »Es geht um Markus«, sagte Dirk. »Markus?« wiederholte Paul und zog fragend die linke Augenbraue hoch. »Der ist wirklich nicht so, wie du denkst!« sagte Dirk leise, und dann erzählte er, was er auf dem Dach erlebt hatte. Paul hörte gespannt zu. Schließlich sagte er: »Na, da hat er ja gerade noch die Kurve gekratzt.« »Ja. Bloß jetzt ist er echt ganz alleine«, sagte Dirk. Plötzlich hatte er eine Idee. »Du, vielleicht kann er bei Emil mitmachen, im Kiezladen? Bei den Sprayern?« »Weißt du, wieviel Türken da sind und was sonst noch für ›Kanaken‹?« sagte Paul verbittert. »Was soll der denn da?«
»Jedenfalls ist er von diesen ekelhaften Typen weg, das ist doch wohl klar, oder?« meinte Dirk. »Das hat er ja auch geschafft.« »Stimmt«, sagte Paul. »Das muß man ihm lassen.« Dann fügte er mit nahezu feierlicher Stimme hinzu: »Man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Auch ihr habt die Chance, was zu kapieren!« Dirk blickte ihn unsicher an. Wie hat er das schon wieder gemeint? Er ließ sich vom Baum herunter, bis er auf dem Schuppendach stand. »Komm, wir bringen die Katze nach oben.« »Und wenn die Alte immer noch nicht da ist?« fragte Paul und kletterte vom Baum. »Dann nehm ich sie mit zu mir. Vielleicht behalte ich sie ja, wenn ich darf.« Lilo von Werderitz war noch nicht zurück. Also nahm Dirk die Katze mit nach oben und überlegte schon mal, wie er seine Mutter überzeugen könnte, daß er das Tier behalten durfte. Auf dem letzten Treppenabsatz sagte Paul: »Dirk?« Er räusperte sich. »Äh, hast du nicht Lust, mit mir in die Videogruppe zu gehen? Wir könnten zusammen einen Film da oben auf dem Dach machen, das wird bestimmt total gut!« Dirk holte den Schlüssel unter seinem Hemd hervor und zog das Band über seinen Kopf. Dann drehte er sich zu Paul um und fragte: »Schwarzweiß oder bunt?« »Bunt kommt besser!« grinste Paul.